B ^34 \^^^ Digitized by the Internet Archive in 2010 with funding from Open Knowledge Commons http://www.archive.org/details/vorlesungenber12br VORLESlINdEN PHYSIOLOGIE VON ERNST BRÜCKE. UNTER DESSEN AUFSICHT NACH STENOGRAPHISCHEN AUFZEICHNUNGEN HERAUSGEGEBEN. ERSTER BAND. WINTERSEMESTER 1884 — 1885. PilYSIOLOerE DES KREISLAUFS, DER ERNÄHRUNG, DER ABSONDERUNG, DER RESPIRATION UND DER BEWEGUNGSERSCHEINUNGEN. VIERTE VERMEHRTE UND VERBESSERTE AUFLAGE. MIT 89 HOLZSCHNITTEN. WIEN, 1885. WILHELM BRAUIMÜLLER K. K. HOF- UND UNIVERSITÄTSBUCHHÄNDLKK. 1 .M'l ni.S '.IM I ; I, 1 ) / S; INHALT. Seite Die Organismen 1 Die Materie 3 Das Gesetz von der Erhaltung der Kraft 7 Das Licht 13 Emanations- und Undulationstheorie 16 Reflexion 16 Brechung 18 Beugung 20 Newton's Ringe 22 -— Polarisation 27 -^ Schwingungen der Aethertheilchen im gemeinen Lichte .... 31 -' Ultraviolette Strahlen 32 -. Die strahlende Wärme 35 Thiere imd Pflanzen . ^^ , Die thierische Wärme 43 ' Homöotherme und poikilotherme Thiere 46 Thermometer ^'^ / Temperatur der Thiere und des Menschen 50 Mittel zur Wärmeregulirung 54 Lichtentwickelung 59 .•^__. Leuchten todter Thierkörper ^1^ \/_^lectricität 63 " Grundzüge der thierischen Organisation 68 Das Blut 70 Die Blutkörperchen 70 IDas Messen der Blutkörper 78 j Gerinnung des Blutes 79 Die Eiweisskörper 86 } Das Albumin 89 Das durch Alkalien veränderte Eiweiss 92 ) Das durch Säuren veränderte Albumin 94 Paraglobulin, Vitellin und Myosin 95 Fibrin 100 Haemoglobin 104 Das Haematin 107 Anderweitige Bestandtheile des Blutes 111 Quantitative Zusammensetzung des Blutes 112 Blut in Krankheiten 119 Die Menge des Blutes im lebenden Körper 123 Blutkreislauf 125 Das Herz des Menschen 128 Das Bindegewebe 131 Elastische Fasern ..." 134 Epithelien und Endothelien 135 Die Herzklappen 136 Die Acte der Herzcontraction . . . .^ 140 ^ IV Inhalt. Seite Bau der Schlagadern '■J^t Die Capillaren „ Die Venen '^\:' '.. j ' ' 1,17 Die physikalisch-physiologischen Eigenschaften der Gefasswande ... 14^ Der Blutdruck in den Schlagadern j*° Ludwig's Kymographion |*^ Bestimmungen des mittleren Driickes lo^ Das Bourdon-Fick'sche Kymographion 15» Der Pills J^^ Die Sphygmographen ^^^ Capillarpuls t,i j " 1 ' ' * 1 «a Die Eespirationsschwankungen im arteriellen Blutdruck . . . . V06 Druckverhältnisse im Venensystem ^^^ Venenpuls '171 Druckverhältnisse im kleinen Kreislauf ^'^ Geschwindigkeit des Blutstromes ^'^ Die Dauer des Kreislaufes ^^ Der Herzstoss „„ Die Herztöne .„^ Die Mechanik der Herzpumpe :J°^ Accessorische Impulse für die Blutbewegung i»" Die Vertheilung des Blixtes im lebenden Körper l«! Blutvertheilung nach dem Tode . Die Lymphe j^gg Die Lymphgefässe 2^^ Die Lymphdrüsen „03 Entwickelung der Lymphkörperchen ^^^ Wurzeln der Lymphgefässe Die Triebkräfte für den Lymphstrom ^^^ Drüsen ohne Ausführungsgänge ^jq Die Thymus ■ „n Die Milz 2i7 Die Schilddrüse „.g Die Nebennieren , „np. Hypophysis cerebri, Steissdrüse und Glandula intercarotica ^f^ Der Stoffwechsel 226 Die Nahrungsmittel 226 Anorganische Nahrungsmittel Organische Nahrungsmittel Die Kohlehydrate ^ Die Fette „.^ Die Eiweisskörper „ Verwendimg der Nahrungsmittel im Körper ^^^ Zusammengesetzte Nahrungsmittel " Die Milch und die Milchdrüse Die Milchsäure „ca Quantitative Untersuchung der Milch ^o- Frauenmilch und deren Surrogate ^^^ Das Fleisch 278 Die Vogeleier 273 Pflanzliche Nahrungsmittel Gegohrene Getränke 236 Die Verdauung 286 Der Speichel ' ' 294 Der Schlingact 296 Die Speiseröhre 297 Der Magen 299 Die Magenverdauung ; g^g Das Pepsin • „q^ Die Säuren im Magen g Darstellung und Eigenschaften des Pepsins ^"° Quantitative Bestimmung des Pepsins \ Seite Die Verdaiinngsproducte 316 Fette und Kohlehydrate während, der Magenverdauung 320 Uebertritt der Nahrungsmittel in das Duodenum 321 Anatomie des Darmrohres 322 Die Leber 32& Das Leberglycogen 329 Die Galle 334 Gallensteine 342 Functionen der Galle 342 Das Pankreas und sein Secret 344 Der Darmsaft (Succus entericus) 351 Menge der Verdauungssäfte 353 Der Motus peristalticus 354 Dickdarmverdauung 354 Schlussbemerkungen 356 Die Resorption 359 Die Bewegung des Chylus 366 Umwandlung und Verbrauch der resorbirten Substanzen ....... 367 Die Harnabsonderung- 369 Der Bau der Niere 369 y Der Harn 373 Der Harnstoff 373 Die Harnsäure 380 Allantoin 383 Oxalursäure 384 Xanthin 384 Hippursäure 386 Baumstark's Harnbestandtheil 387 Kreatinin 388 Glycerinphosphorsäure 388 Carbolsäure 388 Indigobildende Substanz im Harne 389 Urobilin 390 Kryptophansäure 391 Der Zucker im Harne 391 Die Milchsäure im Harne 410 Sulfocyansäure 411 Quantität der ausgeschiedenen Härnbestandtheile 411 Aussergewöhnliche Härnbestandtheile 412 Cystin 412 Alloxan, Leucin, Tyrosin, Gallenbestandtheile im Harne . . . 413 Alkapton (Brenzkatechin) 414 Acetessigsäure (Diacetylsäure, Acetylessigsäure) und Aceton . . 415 Inosit 415 Umwandlungsproducte bestimmter chemischer Verbindungen, die in den Magen und Darmkanal gebracht wurden . . . 4iC Eiter, Schleim, Blut und Blutplasma (Fibrin, Eiweiss) im Harn 416 Mechanismus der Harnsecretion 418 Veränderungen des Harns ausserhalb des Körpers, Sedimente .... 424 Harnsteine 426 Die Harnsecretion 433 Schweissdrüsen und Schweiss 433 Glandiilae caen;minales • 435 Die Talgdrüsen 436 Meibom'sche Drüsen 437 Die Respiration 437 Die Luftwege der Säugethiere und des Menschen 4? Der Gaswechsel ■' Die Respirationsbewegiangen Spirometrie Die Bewegungserscheinungen Molekularbewegung VI Inhalt. Seite Pflanzenbewegiingen 470 Sarkode, Protoplasma 475 Flimmerbewegung 481 Miiskelbewegung 485 * Glatte Muskelfasern 485 Quergestreifte Muskelfasern 487 Mittel, durch welche die Muskeln in Contraction versetzt werden . 500 i Inductionsapparate 503 Der magneto-electrische Eotationsapparat 505 Neef's Magnetelectromotor 506 Der Extrastrom 509 Geringe Empfindlichkeit der entnervten Muskeln gegen Inductionsströme 510 Das Myographion iind der zeitliche Verlauf der Muskelcontraction . . 512 Die Leistungen des sich contrahirenden Muskels 516 Die Muskeln nach dem Tode 520 Die electrischen Ströme, welche aus den Muskeln abgeleitet werden können 524 Der Multiplicator 525 Zuleitungsgefässe und Electroden 527 Du Bois' Gesetz des Miiskelstromes 528 Stromschwankung im Reizungszustande 530 Spätere Modificationen der Apparate 532 Electromotorische Kraft des Muskels 534 Innere Vorgänge bei der Muskelcontraction 534 Combinirte Bewegungen - 536 Stehen, Gehen, Laufen 541 Locomotion der Thiere 544 Das Ziehen und Tragen des Menschen 546 Das Schwimmen 546 Das Fliegen 547 Stimme und Sprache 548 Der Kehlkopf 548 Die Stimmbildung 552 Flüsterstimme, Vocale, Consonanten 555 / Die Organismen. Di Me Physiologie ist die Lehre von den Organismen. Sie ist die Lehre von den Organismen als Organismen, die Lehre von den Organis- men insoferne sie Organismen sind, sie ist die Theorie der Organismen. Als Organismen bezeichnen wir die lebenden AVesen, die Thiere und die Pflanzen. Sie sind materielle Ganze, die sich in Thätigkeit befin- den, und man hat wiederholt ^ie Frage vorgelegt, wodurch sie sich von leblosen materiellen Ganzen, die sich in Thätigkeit befinden, von den Maschinen, welche wir künstlich bauen und in Thätigkeit setzen, unter- scheiden. Thatsächlich sind wir bei dem einzelnen Objecte niemals in Ver- legenheit einen Organismias von einem Mechanismus zu unterscheiden. Niemand ist in Yerlegenheit einen lebenden Menschen von einem noch so künstlichen Automaten zu unterscheiden, und Vaucanson's fressende und verdauende Ente ist von Niemandem, für eine wirkliche Ente gehal- ten worden. Aber es fragt sich, was ist denn unter den verschiedenen Eigenschaften der Organismen diejenige, die sie am vollständigsten von den Mechanismen abgrenzt? Man hat als ein solches Kriterium angenommen, dass die Organis- men aus einem inneren Grunde thätig seien^ während die Mechanismen nur per accideus thätig seien. Mit andern Worten, ein Organismus ist an und für sich in Thätigkeit ohne weiteres Zuthun, aber eine Dampf- maschine muss geheizt werden, damit sie in Thätigkeit komme, eine Uhr muss aufgezogen werden u. s. w. Bei näherer Betrachtung zeigt es sich aber, dass dieses Kriterium nicht haltbar ist: denn auch Organismen müssen geheizt werden, das heisst, die Thiere müssen Nahrung zu sich nehmen, damit ihr Organismus in Thätigkeit erhalten werde, und wir werden später sehen, dass die Nahrung bei den Thiereu eine ganz ana- loge Rolle spielt, wie die Kohlen, mit denen geheizt wird, bei den Dampf- maschinen. Man hat ferner gesagt, für einen Organismus ist die Thätigkeit wesentlich, für einen Mechanismus aber unwesentlich; wenn die Thätigkeit eines Organismus aufhört, so geht er auch zu Grunde, er zerfällt; dagegen Brücke. Vorlesungen. I. 4. Aufl. 1 i Die Organismen. bleibt eine Uhr noch immer eine Uhr, wenn sie auch Jahre lang nicht aufgezogen wurde, und eine Dampfmaschine bleibt immer eine Dampf- maschine, wenn sie auch Jahre lang nicht geheizt wird. Auch dieses Kriterium ist nicht haltbar, indem man Organismen kennen gelernt hat, deren Thätigkeit sistirt werden kann, ohne dass sie deswegen zu Grunde gehen. Kleine Thierchen, Eotatorien und Tardigraden, können vollständig ausgetrocknet werden, können als leblose Stäubchen viel länger, als an und für sich ihre Lebensdauer ist, aufbewahrt werden, und, wenn sie nachher wieder befeuchtet werden, erwachen sie zu neuer Lebensthätigkeit und schwimmen wieder ganz munter im Wasser umher. Ebensowenig kann man das Fortpflanzungsvermögen als ein Krite- rium ansehen. Es ist zwar richtig, dass die Organismen sich fortpflanzen, und dass die Mechanismen sich niemals fortpflanzen , aber von einem Kriterium, welches die beiden Abtheilungen von einander trennt, verlan- gen wir, dass es auf alle Organismen und auf jeden einzelnen Organis- mus anwendbar sei, und das ist mit der Fortpflanzungsfähigkeit nicht der Fall. Ein Organismus kann seine Fortpflanzungsfähigkeit verlieren, ohne dass er darum aufhört ein Organismus zu sein. Ja, nicht allein einzelne Individuen, sondern ganze bestimmte Reihen von Individuen werden niemals fortpflanzungsfähig, wie dies bekannt ist von den verkrüppelten Weibchen, den sogenannten Arbeiterinnen , bei den Bienen , von den Soldaten bei den Ameisen u. s. w. Vielleicht mit mehr Glück hat man als Kriterium aufzustellen versucht, dass jeder Organismus von Seinesgleichen erzeugt sein, oder doch von Seinesgleichen abstammen muss. Das ist ein Kriterium , das allerdings auf alle jetzt existirenden Organismen passt. Das ist aber nicht genug. Das Kriterium, welches wir suchen, soll auf alle Organismen passen, nicht nur auf diejenigen, die jetzt existiren, sondern auch auf alle, die existiren werden, und auf alle, die existirt haben. Auf diese letzteren aber können wir dieses Kriterium nicht anwenden , denn wir würden dadurch zu dem Schlüsse gelangen, dass alle Arten von Organis- men, die jetzt existiren, auch von Ewigkeit her existirt hätten, eine Annahme, welche aller Erfahrung widerspricht, und zu welcher keine der Schöpfuugstheorien von den ältesten bis auf die neuesten gelangt ist. Man sieht also, dass es nicht so leicht ist, die Organismen principiell von den Mechanismen zu trennen, wie man auf den ersten Anblick ge- glaubt hat. Nichtsdestoweniger existirt ein Unterschied, durch den sie vollkommen von einander geschieden sind. Die Organismen haben ein Vermögen, welches den Mechanismen gänzlich abgeht, sie haben das Ver- mögen , fremde Substanzen in sich aufzunehmen und in ihre eigene Substanz lamzuwaudeln und auf Kosten dieser so erworbenen Substanzen zuzunehmen, zu wachsen, beziehungsweise Substanzverluste zu ersetzen. Dieses Vermögen nennt man das Assimilationsvermögen. Der Werth dieses Kriteriums wird sich noch besonders zeigen, wenn wir die Thiere und Pflanzen mit einander vergleichen, und die Thiere und Pflanzen von einander abzugrenzen suchen. Es wird sich dann zeigen, dass in diesen beiden grossen Abtheilungen der Assimilationsprocess in wesentlich ver- schiedener Weise von stalten geht, und dies eben wiederum das einzige Kriterium abgibt, um Thiere und Pflanzen von einander zu trennen. Die Materie. Die Materie. Ehe wir hiezu übergehen, müssen wir uns noch einigen über die Vorstellungen, welche wir uns von der Materie machen, und über die Kräfte, die wir uns als in derselben wirksam denken. Descartes stellte als den Grundpfeiler seiner Philosophie, als das einzige unbestreitbare Axiom den Satz auf: Cogito, ergo sum, ich denke und deshalb muss ich existiren. Dasjenige aber, was in uns denkt, das Ich, das fühlen wir fortwährend verändert.; und es geht in unsere Vorstellung nicht hinein, dass für diese Veränderungen keine äusseren Ursachen voi'handen sein sollen. Die Aussen- dinge, die unser Ich verändern, bezeichnen wir, insofern sie ausgedehnt sind, mit dem Namen der Materie. Es entsteht nun weiter die Frage, ob wir uns diese Materie vor- stellen sollen als ein Continuum, als ein einheitliches Ganzes, oder ob wir uns dieselbe vorstellen sollen als zusammengesetzt aus einer grossen Menge von sehr kleinen Theilen. Durch das physikalische Studium der Körper haben wir eine Reihe von Eigenschaften an denselben kennen ge- lernt, welche ihnen gemeinsam zukommen, und aus welchen wir deshalb gewissermassen die Diagnose der körperlichen Dinge gemacht haben. Unter diesen Eigenschaften ist auch die Theilbarkeit. Wir können einen Körper in immer kleinere und kleinere Theile zerlegen, ohne dass sich von vorne- herein sagen liesse, wo sich denn die Grenze dafür findet. Wir wissen aber weiter, dass ein Körper sich in der Wärme ausdehnt, ohne dass etwas zu ihm hinzukommt, und dass er in der Kälte einen kleineren Raum einnimmt, ohne dass etwas von ihm weggegangen ist. Nun geht es aber in unser Vorstelluugsverraögen nicht hinein, dass ein continuirliches, einheitliches Ganzes sich verkleinern könnte, ohne dass etwas von ihm hinweggeht, oder dass es sich vergrössern könnte, ohne dass etwas hinzukommt. Wohl aber geht es in unser Vorstellungsvermögen hinein, dass ein Körper zu- sammengesetzt sein könne aus einer grossen Menge von kleinen Theil- chen, die sich das eine Mal an einander annähern, so dass der ganze Körper kleiner wird, und das andere Mal sich von einander entfernen können, so dass der ganze Körper grösser wird. Dies ist der Ausgangspunkt für die Atomtheorie. Ursprünglich werden also diejenigen Theile als die Atome des Körpers bezeichnet , welche an imd für sich eine constante Grösse haben, welche aber die Grösse des ganzen Körpers dadurch verändern, dass sie sich einmal an einander annähern und das andere Mal weiter von einander entfernen. Man hat der Atomtheorie vorgeworfen, dass sie in sich einen Wider- spruch enthalte, denn der Name Atom rühre her von Tsp-Vctv schneiden und dem a privativum. Atom bezeichne also ein Theilchen, das nicht mehr getheilt werden könne, während man doch in der Idee mit dem Theilen niemals zu Ende komme und nur durch äussere Schwierigkeiten an dem weiteren Theilen gehindert sei. — Das Wort Atom wird aber in diesem etymologischen Sinne gar nicht mehr gebraucht, sondern wir bezeich- iien mit dem Namen Atom nur solche Theilchen, welche ihre Grösse nicht mehr verändern, die nur die Grösse anderer Theilchen, der soge- nannten Moleküle oder Partikel, oder des Ganzen verändern, dadurch, 1* 4 Die Materie. dass sie sich weiter von einander entfernen oder dass sie sich mehr an einander annähern. Für die jetzige Nomenclatur ist der Grund von Ampere gelegt worden. Ampere unterschied zwischen Partikeln, Molekülen und Atomen. Er sagt : Partikel ist ein Theilchen eines Körpers, in welchem noch der Aggregatzustand des Körpers repräsentirt ist, der also an einem starren Körper noch starr, an einem tropf barflüssigen noch tropf barflüssig, an einem gasförmigen noch gasförmig ist. Dieses Partikel ist wiederum aus Molekülen zusammengesetzt. Die einzelnen Moleküle repräsentiren aber nicht mehr den Aggregatzustand, sondern man hat sie sich ausnahmslos als starr vorzustellen , das heisst , man hat sich vorzustellen , dass die Theilchen des Moleküls, soweit sie sich bewegen , sich um fixe Gleich- gewichtslagen bewegen. Diese Moleküle setzen sowohl die starren Körper als auch die tropfbarflüssigen und die gasförmigen zusammen. Sie setzen starre Körper zusammen, wenn sie so mit einander verbunden sind, dass sie gleichfalls ihre Bewegungen nur um fixe Gleichgewichtslagen ausfüh- ren. Sie constituiren tropf barflüssige Körper, wenn sie so unter einander verbunden sind, dass sie sich um veränderliche, und zwar schon durch die Schwere der Massen selbst veränderliche Gleichgewichtslagen bewegen, und endlich constituiren sie gasförmige Körper, wenn sie nach allen Rich- tungen auseinanderstieben oder doch nach allen Kichtungen auseinander- zustieben suchen. Dieses Auseinanderstieben der Moleküle stellt man sich heutzutage etwas anders vor als früher. Man unterscheidet unter den Atomen zweierlei Arten von Atomen, sogenannte materielle oder ponderable Atome und Aetheratome, das heisst Atome, welche auf die Wage drücken, und Atome, welche nicht auf die Wage drücken. Die ponderablen Atome ziehen sich unter einander an und die Aetheratome werden von den Körperatomen angezogen, aber sie stossen sich unter einander ab. Man sieht leicht ein, dass bei diesem Verhältnisse jedes ponderable Atom um sich eine Hülle von Aetheratomen erhalten muss^ die sich unter einander abstossen, aber von dem Körperatome angezogen werden. Wenn deshalb die Körperatome sich bis zu einem gewissen Grade einander genähert haben, überwiegt die Abstossung, sie können sich nun nicht mehr weiter an einander annähern, sie können deshalb niemals zusammenfallen, sondern die ganze Materie ist zu denken als aus Atomen zusammengesetzt , die gruppenweise an- geordnet und durch gewisse, bald grössere, bald geringere Entfernungen von einander getrennt sind. Nun sagte man früher von den gasförmigen Körpern einfach, es über- wiege bei ihnen die Abstossung und in Folge dessen suchten die einzelnen Moleküle auseinanderzustieben : heutzutage , seit eben die mechanische Wärmetheorie ausgebildet ist, seit man weiss, dass die Wärme eine Be- wegungserscheinung ist, sagt man, die Körper sind gasförmig, wenn ihre Moleküle durch eine translatorische Geschwindigkeit fortgetrieben, fort- geschleudert werden. Die Theilchen der tropfbaren Flüssigkeiten stellt man sich zwar gleichfalls in Bewegung vor, und in um so grösserer Bewe- gung, je wärmer die Flüssigkeit ist, aber man stellt sich nicht vor, dass sie auseinanderstieben, sondern man stellt sich eine solche Flüssigkeit eher vor, wie ein berühmter Physiker einmal sagte, wie einen Haufen Würmer, die durcheinanderkriechen. An der Oberfläche aber reissen sich Die Materie. Ö die Theilchen vermöge der ihnen innewohnenden Bewegung los, und fliegen fort, bis sie gegen ein Hinderniss anschlagen, von welchem sie wieder zurückprallen. Darauf beruht der Uebergang einer Flüssigkeit in Gasform, die Verdunstung an der Oberfläche der Flüssigkeit, die Ver- wandlung von Wasser in Dampf, ein Process, der immer mehr gesteigert wird, je mehr ich dem Wasser Wärme zuführe, das heisst in je heftigere Bewegung ich seine Moleküle setze, und der Druck, den der Wasser- dampf auf den Stempel einer Dampfmaschine ausübt, beruht auf all den successiven Stössen, welche die einzelnen Moleküle des Dampfes aus- üben, die durch ihre translatorische Geschwindigkeit gegen den Stempel getrieben werden. Die Moleküle sind nun wieder aus kleineren Theilen zusammenge- setzt, die untereinander in Bewegung sind, und die man eben als Atome im physikalischen Sinne des Wortes, als Atome im Sinne Ampere 's bezeichnet. Unter diesen unterscheidet man dann wieder, wie ich vor- hin schon bemerkt habe, ponderable Atome und Aetheratome. Dieser sogenannten atomistischen Vorstellung von der Materie wird eine andere entgegengestellt, welche in ihrer Betrachtung nicht von den kleinsten Theilen der Materie als solchen ausgeht, die vielmehr von den Kräften ausgeht, welche wir in den kleinsten Theilen der Materie als wirksam annehmen müssen. IS'ach dieser Ansicht heisst es: Das, was uns zunächst verändert, sind nicht die materiellen Dinge selbst, sondern die Wirkungen, welche von den materiellen Dingen ausgehen, und die Ursachen dieser Wirkungen sind die Kräfte, welche der Materie innewohnen ; von ihnen müssen wir deshalb auch zunächst ausgehen und aus ihnen die ganzen Eigenschaften der Materie ableiten. Diese Anschauung nimmt deshalb nicht sowohl Atome, kleine materielle Theile an, als vielmehr punktförmige imma- terielle Kraftcentren, von welchen die Kräfte als Ursachen der Wirkungen, welche die materiellen Theile auf einander und auf uns ausüben, ausgehen. Die Lehre von den immateriellen Kraftcentren hat im Ganzen unter den Physikern und unter den Chemikern keinen bedeutenden Anhang gefunden, und der Grund davon lässt sich auch leicht einsehen. Es fragt sich zunächst, ist es wirklich richtiger, in dieser Weise zu Werke zu gehen, von den Kräften anzufangen? Da muss man sich fragen, was sind denn diese Kräfte? Sind diese Kräfte die wirklichen Ursachen der Erscheinungen ? Das sind sie durchaus nicht, denn die wirklichen Ursachen der Verände- rungen, welche vorgehen, sind immer wieder Veränderungen, und so geht es in unendlicher Kette fort. Nur weil wir diese unendliche Kette nicht verfolgen können, darum haben wir gewisse Symbole für die gedachten Ursachen der Veränderungen aufgestellt, und diese nennen wir Kräfte. Ich soll mir also hier Kräfte vorstellen, die blos Gegenstand der Abstraction sind, und soll mir immaterielle Kraftcentren denken, an denen ich zunächst die allgemeine Eigenschaft der Materie, die Ausdehnung gänzlich läugne, denn diese Centren sollen punktförmig sein. Hiemit enthält die Lehre von den immateriellen Kraftcentren sogar eine Hypothese, welche die Atom- tbeorie nicht enthält. Die Atomtheorie verlangt nur von ihren kleinsten Theilchen, von den Trägern der gedachten Ursachen der Erscheinungen, dass sie eine constante Grösse haben. Die Lehre von den immateriellen Kraftcentren verlangt aber dafür, dass sie eine im mathematischen Sinne relativ bestimmte Grösse haben, dass sie nämlich unendlich klein seien. 6 Die Materie. Fragen wir uns, zii welchem Zwecke bilden wir denn überhaupt eine bestimmte Vorstellung über die Beschaffenheit der Materie aus? Von den Dingen selbst wissen wir überhaupt nichts. Wir wissen nur etwas von ihnen, und wir beurtheilen sie nur, insofern sie mit unserm Senso- rium in Beziehung treten, und wir entwerfen uns bestimmte Vorstellun- gen von der Materie, einerseits um die Erscheinungen, welche wir an derselben wahrnehmen, der Rechnung unterziehen 7a\ können, und zweitens um uns von Vorgängen, die wir nicht direct mit den Sinnen verfolgen können, auf inductivem Wege möglichst deutliche Vorstellungen zu machen. In Rücksicht auf die Rechnung ist es vollkommen gleichgültig, ob mau der Atomtheorie oder der Theorie von den immateriellen Kraftcentren anhängt. Beide geben in der Weise analoge Daten für die Rechnung, dass das Resultat, zu dem man schliesslich gelangt, immer dasselbe sein muss. Wenn es sich aber um die Vorstellung handelt, die ich mir von gewissen Vorgängen machen soll, die man nicht mit den Sinnen verfolgen kann, so bietet mir die Atomtheorie viel mehr, als mir die Lehre von den imma- teriellen Kraftcentren bieten kann. Ich muss, wie ich später ausführen werde, die Erscheinungen zuletzt auf Bewegungen der kleinsten Theilchen zurückführen. Ich kann die Er- scheinungen bis zu einer gewissen Grenze mit den Sinnen verfolgen, in- dem ich mein Auge bewaffne: aber das geht nur bis zu einer gewissen Grenze; darüber hinaus muss ich meine Vorstellungen auf dem Wege der Induction ableiten und ausbilden, um zuletzt auf die Vorstellung von den Bewegungen der kleinsten Theile zu kommen. Materielle Theile habe ich von verschiedener Grösse gesehen, ich kann sie mir gross, klein, sehr klein, und auch von constanter Grösse vorstellen, und weiter verlangt die Atom- theorie von mir nichts. Ich kann mir auch die Bewegungen dieser klein- sten Theilchen gegeneinander vorstellen, denn Bewegungen materieller Theile und materieller Ganzer habe ich oft genug gesehen. Dagegen ver- langt aber die Lehre von den immateriellen Kraftcentren, dass ich mir erstens diese Kraftcentren als mathematische Punkte vorstellen soll, die ich niemals als solche gesehen, und zweitens, dass ich mir Kräfte vor- stellen soll, für welche auch kein Material in meinem Sensorium vor- handen ist, welche ich gleichfalls nur als Abstraction kenne, eigentlich nur als Supposition, als eine Hypothese für gedachte Ursachen der Er- scheinungen. Das ist der Grund, weshalb die Naturforscher im Grossen und Ganzen der Atomtheorie als solcher anhängen. Sie leistet eben für ihre Zwecke mehr als die ihr gegenübergestellte Anschauungsweise. Ich habe Ihnen gesagt, dass die Kräfte die gedachten Ursachen der Erscheinungen seien. Der Ausdruck Kraft ist ursprünglich etwas, was wir von unseren eigenen körperlichen Anstrengungen hergenommen haben. Wenn ich eine Last aufhebe, so sage ich, ich wende Kraft an, ich habe die Kraft dazu, sie aufzuheben. Kann ich eine grosse Last aufheben, so sage ich, ich habe viel Kraft. Kann ich nur eine kleine Last aufheben, so sage ich, ich habe wenig Kraft. Ich sehe nun, dass ein Magnet ein Eisenstück anzieht, dass er es in die Höhe hebt, und ich supponire in derselben Weise in dem Magneten eine Kraft, durch welche dieses Eisen- stück gehobeu wird. Thatsächlich war die Ursache der Bewegung des Eisenstücks offenbar die, dass der Magnet in die Nähe desselben gebracht wurde; hier theilte sich wieder die Kette der reellen Ursachen zwischen Das Gesetz von der Erhultnng der Kraft. 7 demjenigen, der den Magnet zum Eisenstück brachte, und demjenigen, der den Magnet ursprünglich gefertigt, der ihn geschmiedet, der ihn mit einem Magnet gestrichen, dann den Veränderungen, welche in Folge des Streichens im Innern des Magneten vorgingen u. s. w. Kurz, die Kette der reellen Ursachen läuft sehr bald in solche Complicatiouen aus, dass wir sie nicht weiter verfolgen können, und deshalb haben wir für die Erscheinungen gewisse gedachte Ursachen und Symbole dieser gedachten Ursachen hingestellt, nach welchen wir die Veränderungen messen und nach welchen wir spätere und frühere, welche uns bereits bekannt sind, berechnen. Diese Symbole, welche wir für die gedachten Ursachen gemacht haben, sind es, die wir mit dem Namen der Kräfte bezeichnen. Es ist nun klar, dass wir um so mehr verschiedene Arten von Kräften haben müssen, je mehr uns die reellen Ursachen der Dinge un- bekannt sind. Als man die magnetischen Erscheinungen kennen lernte, hatte man eine magnetische Kraft, als man die elektrischen Erscheinungen kennen lernte, hatte man eine elektrische Kraft. Man hatte einen horror vacui, ehe man das allgemeine Gesetz der Schwere kannte. Man hatte endlich und hat zum Theil noch jetzt für die Summe der Erscheinungen, die an einem lebenden Organismus vorgehen, die sogenannte Lebenskraft, als die gedachte Ursache, welche man an die Stelle der gesaramten Summe der reellen Ursachen setzt, die eben die Veränderungen in dem lebenden Organismus hervorbringen. Je mehr man die reellen Ursachen der Erscheinungen verfolgen konnte, um so mehr musste sich die Lehre von den Kräften vereinfachen. So sehr sie sich aber auch vereinfacht, so muss man doch sagen, dass man schliesslich über zwei Arten von Kräften nicht hinauskommen wird, die anziehende und abstossende Kraft. Wir haben zuletzt Alles zurück- zuführen auf die Bewegung der kleinsten Theilchen, denn nur die Bewe- gungserscheinungen sind es, welche wir als Veränderungen au den Kör- pern wahrnehmen, nur Bewegungserscheinungen wirken auf uns, indem sie eben andere Bewegungserscheinungen in unseren Sinneswerkzeugen und auf diese Weise Vorstellungen hervorrufen. Die einfachste Bewegung aber, die wir kennen, und auf welche wir alle anderen zurückführen, ist die Annäherung zweier Theile aneinander und die Entfernung ZAveier Theile von einander. Wenn Sie sich zwei einheitliche und einzeln für sich unveränderliche Massen für sich allein im unendlichen ßaume unab- hängig von allen übrigen denken, so kann an diesen Massen nur zweierlei Veränderung vorgehen, entweder sie nähern sich einander oder sie ent- fernen sich von einander. Die Ursachen für die eine Veränderung bezeich- nen wir mit dem Namen der anziehenden Kraft, die Ursache der andern bezeichnen wir mit dem Namen der abstossenden Kraft. Das Grcsctz von der Erhaltung der Kraft. Wir unterscheiden die Kräfte noch in einer andern Beziehung, wir unterscheiden sie als Bewegungsursachen, die selbst nicht Bewe- gung sind, als ruhende Bcwegungsursachen, sogenannte Spannkräfte, und als Kräfte, welche selbst schon Bewegung sind, durcli welche dann wieder Bewegung hervorgerufen, übertragen wird, sogenannte lebendige Kräfte. Es wird Ihnen das am besten an einem Beispiele deutlich werden. 8 Das Gesetz von der Eihaltung der Kraft. Denken Sie sich, Sie hätten irgend einen leicht beweglichen Körper auf- gestellt, und schössen von einem Bogen einen Pfeil gegen denselben, so wird der Pfeil, wenn er das Ziel tritFt, auf den leicht beweglichen Körper stossen und denselben in Bewegung setzen. Das, was hier im Pfeile wirksam ist, ist lebendige Kraft, denn der Pfeil bewegt sich selbst und setzt den andern Körper in Bewegung, indem er einen Theil seiner eige- nen Bewegung an ihn überträgt. Der Pfeil seinerseits ist von der Sehne des Bogens fortgetrieben worden. Als die Sehne in Bewegung war, war in ihr auch lebendige Kraft wirksam, und sie hat einen Theil dieser lebendigen Kraft an den Pfeil übertragen und dadurch denselben in Be- wegung gesetzt. Als die Sehne aber noch in Ruhe war, als sie festge- halten wurde, nachdem der Bogen schon gespannt war, da war in ihr noch, keine lebendige Kraft thätig, denn die Sehne selbst war nicht in Bewegung, aber es war schon Bewegungsursache in ihr vorhanden, da- durch erzeugt, dass der Bogen gespannt worden war. Diese Bewegungs- ursache, welche noch nicht Bewegung ist, durch welche aber Bewegung erzeugt werden kann, bezeichnen wir mit dem ISTamen Spannkraft. Es gibt ein wichtiges Gesetz, das sogenannte Gesetz von der Er- haltung der Kraft, welches aussagt, dass in einem Systeme, welches keiner Einwirkung von aussen her ausgesetzt ist, die Summe, welche man durch Addition sämmtlicher lebendiger Kräfte und sämmtlicher Spannkräfte er- hält, immer dieselbe bleibt, mit andern Worten, dass in einem solchen Systeme niemals Bewegungsursache verloren geht oder zuwächst, sondern immer nur Spannkraft in lebendige Kraft, oder lebendige Kraft in Spann- kraft umgesetzt wird. Wir wollen das zuerst an einem möglichst einfachen Systeme be- trachten, am sogenannten mathematischen Pendel. Denken Sie sich, Sie hätten ein Pendel, welches ohne Reibung aufgehängt ist, welches keinen Luftwiderstand zu überwinden hat, so würde es während einer unendlich langen Zeit im Gange bleiben, und wenn man die Pendellinse nach einer Seite zu einer gewissen Höhe hinaufgehoben hätte, würde sie nach der andern Seite um ebensoviel hinaufsteigen u. s. f. Die Elongation, welche die Pendellinse macht, würde immer dieselbe bleiben. Es stellt ein solches System, das keiner Einwirkung von aussen ausgesetzt ist, einen fallenden Körper dar, bei dem der Fall unter einer gewissen Beschränkung statt- findet, nämlich so, dass der fallende Körper von einem bestimmten Punkte im Räume, dem gedachten Aufhängepunkte des Pendels, stets gleich weit entfernt bleiben muss, so dass er sich also auf einer Kugelschale bewegt. Wir wollen der Einfachheit halber noch die weitere Beschränkung hinzu- fügen, dass er sich in einer Ebene bewegen und nicht rollen soll, so dass also sein Schwerpunkt einen Kreisbogen beschreibt, wie es der Schwerpunkt eines gewöhnlichen Uhrpendels thut. Denken Sie sich, k l stelle das Pendel in seiner Gleichgewichtslage dar, so muss offenbar eine gewisse Kraft angewendet werden, um die Pendellinse l bis h zu bewegen. Die Pendellinse muss zur Höhe h c gehoben werden; dazu wird eine ge- wisse Summe von Arbeit verbraucht. Wie kann ich diese Arbeit messen? Wie kann ich sie ausdrücken? Diese Arbeit messe ich, indem ich das bewegte Gewicht, welches gleich ist der Masse m multiplicirt mit der Constanten für die Anziehungskraft der Erde, der sogenannten Erd- schwere fj, multiciplire mit der Höhe h, zu welcher es gehoben wird: Das Gesetz von der Erhaltung der Kraft. denn die Arbeit ist direct und einfach proportional dem Gewichte, das gehoben werden muss, und direct und einfach proportional der Höhe, zu der es gehoben werden muss. Dann habe ich, wenn ich die Höhe mit h be- zeichne, die Arbeit m g h, welche dazu gehört, das Gewicht ?« g auf die Höhe h zu heben. Wenn ich die Pendellinse nun loslasse, so wird sie ihrer Gleichgewichts- lage zufallen, sie wird dabei, wie jeder fallende Körper, eine immer grössere Ge- schwindigkeit erlangen; in demselben Grade wird sie aber auch die sie treibende Spannkraft verbrauchen. Die Bewegungs- ursache, welche wir erzeugten, indem wir die Pendellinse aus ihrer Gleichgewichts- lage brachten, wird verbraucht. Endlich, wenn die Pendellinse in der Gleichgewichts- lage angekommen ist, ist die Spannkraft = 0. Aber die lebendige Kraft wird jetzt im Maximum sein, und vermöge dieser lebendigen Kraft wird die Pendellinse nach der andern Seite um ebensoviel hinauf- steigen, wie sie vorher gefallen war. Es wird hiebei umgekehrt lebendige Kraft in Spannkraft umgesetzt, und da die Höhe c' ä', zu der die Linse aufsteigt, gleich der Höhe ch ist, von der sie ausging, so wird dieselbe Summe von Spannkraft, dieselbe Summe von ruhender Bewegungsursache erzeugt werden, wie diejenige, die ursprünglich vorhanden war. Wenn die Höhe h wieder erreicht ist, so ist damit auch die ganze leben- dige Kraft verbraucht, das heisst also, die Geschwindigkeit der Pendel- linse ist Null geworden. Dann wird sie wieder der Spannkraft folgen, sie wird gegen ihre Gleichgewichtslage zurückfallen, sie wird in der Gleichgewichtslage wiederum das Maximum der Geschwindigkeit er- reichen u. 8. f. Wir haben vorhin gesehen, wie wir die Arbeit messen, welche dazu nöthig ist, um eine gewisse Summe von Spannkraft zu erzeugen; wir wollen jetzt sehen, wie wir die lebendige Kraft bezeichnen müssen, die eben dieser Summe von Spannkraft gleich ist. Nach der bekannten Formel für den freien Fall ist die Geschwindigkeit, welche ein, Körper beim Fallen erreicht, v = y 2gh, das heisst sie ist gleich der Quadratwurzel aus dem doppelten Producte der Höhe, welche der Körper durchfallen hat, xmd der Constanten fiir die Anziehungskraft der Erde, der sogenann- ten Erdschwere. Demnach ist v'^ = 2gJi, mv^ = 2mgli und \mv^ = mgh. Wenn wir also hier die Summe der Spannkraft, welche wir hervorgebracht haben, mit mgh bezeichnen, so müssen wir die Summe von lebendiger Kraft, welche durch ihre Verwandlung erzielt worden ist, mit r.mv- be- zeichnen. Da die Wirkung, welche ein stossender Körper auszuüben ver- mag, abhängig ist von der lebendigen Kraft, welche er an einen andern, an den gestossenen, übertragen kann, so ist sie im günstigsten Falle, nämlich dann, wenn ihm Gelegenheit geboten wird, seine ganze lebendige Kraft an den gestossenen zu übertragen, gleich der Masse des stossenden Körpers, multiplicirt mit dem halben Quadrate seiner Geschwindigkeit. 10 Das Gesetz von der Brlialtung der Kraft. Das, was für eine einzelne Masse gilt, das gilt für jedes System von uocli so vielen Massen, wenn nur das System, um welches es sich han- delt, keinen äusseren Einwirkungen ausgesetzt ist, das heisst, wenn ihm von aussen keine Bewegungsursachen zugeführt werden, und es zugleich keine Gelegenheit hat, nach aussen hin Bewegungsursachen abzugeben. Für ein jedes solches unabhängiges oder, wenn man will, isolirtes System gilt das Gesetz von der Erhaltung der Kraft. Es kommt dazu noch ein Corollar, welches aussagt, dass, wenn nach noch so vielen Bewegungen die einzelnen Massen sämmtlich wieder an ihren Ort zurückgekehrt sind, die Summe der Spannkräfte und die Summe der lebendigen Kräfte eben so gross sind wie früher. Sie können sich dies wieder leicht an unserem Beispiele, dem Pendel, veranschaulichen. Denken Sie sich, die Pendellinse wäre in li" angekommen, sie befinde sich also noch ausserhalb der Gleichgewichtslage in der Höhe g" h" über deren Niveau; so wird die Spannkraft, welche in ihr thätig ist, gleich sein mgli" ^ und die Summe der lebendigen Kräfte, welche in ihr thätig ist, wird gleich sein mgli — mgli" . Wenn nun die Pendelliuse noch so viele Be- wegungen hin und her macht, so wird immer, wenn sie an diesen selben Ort kommt, die Summe der Spannkräfte und der lebendigen Kräfte wieder eben so gross sein, wie sie früher war. Das, was hier für die einzelne Masse gilt, gilt bei jedem unabhängigen, bei jedem isolirten Systeme für alle Massen, welche dasselbe zusammensetzen. Wir haben bis jetzt an einem idealen Apparate demonstrirt, an einem Apparate, der sich nicht realisiren lässt, an einem Pendel, das nicht nur ohne Luftwiderstand, sondern auch ohne Reibung im Aufhäuge- punkte geht. Sie wissen, dass alle noch so gut aufgehängten Pendel, die nicht durch äussere bewegende Kräfte in Bewegung gesetzt werden, nach kürzerer oder längerer Zeit zur Ruhe kommen, und man sagte Ihnen, dass dies geschehe theils durch den Luftwiderstand, theils durch die Reibung. Wie das Pendel an bewegender Kraft durch den Luftwiderstand verliert, können Sie sich leicht denken. Es stösst die Lufttheilchen fort, und, indem es dies thut, muss es einen Theil seiner eigenen bewegenden Kraft an die Lufttheilchen übertragen. ' Was ist aber das, was wir mit Reibung bezeichnen, wo bleibt hier die bewegende Kraft? Das erfahren wir, wenn wir Reibung im Grossen erzeugen: wir merken dann, dass durch die Reibung Wärme entsteht, und wir werden hiedurch dazu ge- führt, dass auch Wärme eine Bewegungserscheinung und eine bestimmte Form der lebendigen Kraft sein muss, nur eine andere als die gewöhnliche mechanische Bewegung, die Massenbewegung. In der That unterscheiden sich beide dadurch, dass sich bei der einen, bei der gewöhnlichen mecha- nischen Bewegung, die ganzen Massen bewegen, dass sich dagegen bei derjenigen Bewegung, die wir mit dem Namen Wärme bezeichnen, die kleinsten Theilchen gegen einander bewegen. Wir wissen also auch jetzt, warum ein Pendel durch die Reibung zur Ruhe kommen kann, wir wissen, warum durch die Reibung bewegende Kraft verloren geht. Es ist eben bewegende Kraft, die von den ganzen Massen auf die kleinsten Theilchen übertragen wird, so, dass diese sich gegen einander oder um einander bewegen. Wenn aber dies richtig ist, so müssen auch die Spannkräfte, welche sich in lebendige Kräfte umsetzen, nicht immer blos sichtbare Bewegung Das Gcsctj; von der Erhaltung dei- Kraft. 1 1 sondern sie müssen anch Wärme erzeugen können. Es müssen die leben- digen Kräfte, welche erzeugt werden, in zweierlei Art zur Erscheinung kommen können, erstens als Massenbewegung, als Bewegung im gewöhn- lichen Sinne des Wortes, und zweitens als Bewegung der kleinsten Theilchen, als Wärme. . Das ist auch in der That der Fall. Wir wissen, dass bei den chemischen Processen theils Wärme gebildet wird, theils Wärme, wie man sich ausdrückt, latent wird, oder, wie wir jetzt lieber sagen wollen, Wärme verloren geht. Denn die Wärme, von welcher man nach der alten Ausdrucksweise sagte, dass sie latent werde, die existirt nicht mehr als Wärme, sie ist entweder umgewandelt worden in Massen- bewegung oder in Spannkraft. Diejenigen chemischen Processe, bei denen Wärme verloren geht, das sind solche, bei welchen lebendige Kraft in Spannkraft umgesetzt wird; diejenigen chemischen Processe, bei denen Wärme entsteht, das sind solche, bei welchen Spannkraft in lebendige Kraft umgesetzt wird, die dann zunächst als Wärme zur Erscheinung kommt und secundär in Massenbewegung umgesetzt werden kann. Be- kanntermassen sind dies theils solche Processe, in denen einfache Körper, die eine grosse chemische Verwandtschaft zu einander haben, sich mit einander verbinden, theils solche Oxydationsprocesse, bei welchen niedrig oxydirte und hoch zusammengesetzte Verbindungen, indem sie Sauerstoff an sich reissen, in einfachere, höher oxydirte zerfallen. Dagegen sind diejenigen chemischen Processe, bei welchen aus einfachen, hoch oxydirten Verbindungen hoch zusammengesetzte und verhältnissmässig niedrig oxy- dirte hervorgehen, solche, bei denen Wärme gebunden wird oder, richtiger gesagt, Wärme verschwindet. Es steht das in einem bestimmten Zusammenhange mit dem Gesetze von der Erhaltung der Kraft, und die Art dieses Zusammenhanges lässt sich wiederum an unserem einfachen Beispiele vom Pendel demonstriren. Als das Pendel am meisten aus seiner Gleichgewichtslage herausgehoben war, war die Summe der Spannkräfte am grössten; wie es aber seiner Gleich- gewichtslage zufiel, nahm die Summe der lebendigen Kräfte zu, und die Summe der Spannkräfte nahm ab. Die Summe der lebendigen Kräfte er- reichte das Maximum, als die Pendellinse in der Gleichgewichtslage war, zu dieser Zeit war aber die Spannkraft = 0. Als die Peudellinsc aus der Gleichgewichtslage wieder herausging und dem Maximum der Ausweichung zustrebte, wurde die Menge der Spannkraft vermehrt und die der lebendigen Kraft vermindert. Ebenso kann man im Allgemeinen sagen, wenn in einem Systeme sich die einzelnen sich bewegenden Massen der endlichen Gleich- gewichtslage nähern, so wird in dem Systeme die Summe der lebendigen Kräfte vergrössert, und wenn die Theilchen sich von der endlichen Gleich- gewichtslage entfernen, wird die Summe der Spannkräfte auf Kosten der lebendigen Kräfte vergrössert, also die lebendigen Kräfte nehmen ab. Auf die chemischen Processe angewendet, sind die einen, diejenigen, bei welchen Wärme erzeugt wird, solche, bei welchen durch den Process die Theilchen ihrer endlichen Gleichgewichtslage genähert werden, wäh- rend andererseits der Aufbau complicirter Verbindungen, bei dem die einzelnen Theilchen gewissormasseu aus der Gleichgewichtslage heraus- geschraubt, immer mehr von derselben entfernt werden, solche bedingt, bei welchen Spannkraft auf Kosten der lebendigen Kraft entsteht, bei denen also Wärme verloren geht, Wärme verbraucht wird. 12 Das Gesetz von der Erhaltung der Kraft. Es ist ferner klar, dass sich nicht nur Spannkraft in lebendige Kraft, und lebendige Kraft in Spannkraft, sondern auch die eine Form von lebendiger Kraft in die andere Form umsetzen kann, dass ich durch Be- wegung Wärme, und umgekehrt durch Wärme Bewegung erzeugen kann. Wie man durch Bewegung Wärnie erzeugen kann, haben wir schon ge- sehen. Das geschieht auf dem Wege der Reibung. Ich kann auf dem Wege der Reibung die Welle eines Rades so erhitzen, dass sie in Flammen aufgeht u. s. w. Auch auf dem Wege der Compression kann ich Bewe- gung in Wärme umsetzen. Andererseits kann ich Wärme in Bewegung umsetzen, und dies geschieht täglich in unseren Dampfmaschinen. Ich verbrenne eine gewisse Summe von Kohlen; indem ich die Kohlen ver- brenne, setze ich die in ihnen enthaltene Spannkraft in lebendige Kraft und zunächst in Wärme um. Es geschieht dies dadurch, dass niedrig oxy- dirte Verbindungen sich mit dem Sauerstoffe der Atmosphäre verbinden und dabei in Kohlensäure und Wasser zerfallen. Diese so erhaltene Wärme übertrage ich an Wasser, setze dadurch die Moleküle desselben in immer heftigere Bewegung, bis sie in Masse nach allen Seiten fort- geschleudert werden — das ist der Zeitpunkt, in dem ich sage^ dass das Wasser siedet. Die fortgeschleuderten Moleküle stossen auf einen Stempel, den sie in Bewegung setzen, und auf diese Weise gewinne ich aus der Wärme bewegende Kraft. Da das ganze Weltall als ein System anzusehen ist, welches von andern Körpern keine Impulse erhält, denn diese würden ja mit zum Weltall gehören, und auch an andere Körper keine Impulse abgibt, denn jene Körper würden ebenfalls zum Weltall gehören; so ist auf dasselbe als Ganzes das Gesetz von der Erhaltung der Kraft anzuwenden. So ist dieses Gesetz das wichtigste Naturgesetz, welches seit dem Newton'schen Gravitationsgesetze entdeckt wurde. In neuerer Zeit hat Du Bois seiner Geschichte nachgeforscht. Schon Descartes behauptete, dass die Summe der Bewegungen und Bewegungs- ursachen constant sei, aber in unrichtiger Weise, indem er als Bewegungs- summe die Summe der Massen multiplicirt mit ihren Geschwindigkeiten, nicht mit den Quadraten ihrer Geschwindigkeiten, ansah. Leibnitz ver- besserte diesen Irrthum, und auch die BernouUi sprachen sich in diesem Sinne aus. In dem gelehrten Kreise, der sich auf Sohloss Cirey bei der Marquise Du Chatelet bildete, wurde die Frage von der Constanz der Bewegungssumme vielfach discutirt, Voltaire und die Marquise schrieben Streitschriften darüber, Voltaire vertheidigte die Ansicht von Des- cartes, die Marquise die von Leibnitz. Aber die Lehre von der Erhal- tung der Kraft im Grossen und Ganzen konnte bei dem damaligen Zustande der Wärmelehre und bei den damaligen chemischen Theorien nicht ihre ganze Tragweite entwickeln, nicht zum Abschluss gelangen. Als der erste, der das Gesetz in seiner ganzen Ausdehnung gekannt hat, muss Julius Robert Mayer bezeichnet w^erden, der es auch zuerst auf den menschlichen Organismus angewendet und somit in die Physio- logie eingeführt hat. Aber auch seine Arbeiten fanden noch wenig Beach- tung, sie hatten keinen unmittelbaren Einfluss auf den Gang der Wissen- schaft im Grossen und Ganzen, bis Helmhol tz sein berühmtes Werk über die Erhaltung der Kraft schrieb, und darin das Gesetz nicht allein allgemein aufstellte und bewies, sondern es auch durch die einzelnen Das Licht. 13 Disciplinen der Physik durchführte, es auf Electricität, Magnetismus, Wärmelehre anwendete und die physikalischen Erscheinungen nach diesem Grundprincipe erklärte. Ich habe gesagt, dass alle Naturerscheinungen auf Bewegungs- erscheinuugen zurückzuführen sind, indem nur Bewegungserscheinungen, nur Bewegungen als solche, wiederum Bewegungen in unserem Nerven- systeme hervorbringen und auf diesem Wege Vorstellungen erzeugen. Wir haben schon gesehen, dass die Wärme eine Bewegungserscheinnng ist; aber in der Physik haben wir augser der Wärmelehre noch eine Lehre vom Lichte, von der Electricität, vom Magnetismus u. s. w., wir müssen deshalb sehen, ob auch die Erscheinungen des Lichtes, der Electricität, des Magnetismus und Diamagnetismus, alle als Bewegungserseheinungen aufzufassen sind. Das Licht. Machen wir den Anfang mit dem Lichte, so finden wir, dass hier schon zur Zeit Newton's zweierlei Ansichten existirten. Die eine war die sogenannte Emanationshypothese, der Newton selbst, wenn auch mit einer die jetzige Anschauung vorbereitenden Modification, anhing, und nach welcher das Licht eine feine Materie sein sollte, welche von den leuchtenden Körpern aiisginge, sich geradlinig fortbewegte, in das Auge eindränge, und die Netzhaut dann zur Empfindung des Leuchtenden er- regte. Die zweite Ansicht, welche von Newton's Gegner Hooke vertreten wurde, lautet dahin, dass das Licht eine Bewegung sei, dass sich mit den Lichtstrahlen nicht Theilchen fortbewegten, sondern eine periodische Be- wegung an den Theilchen, dass das Licht in Wellenbewegungen der kleinsten Theilchen bestünde, welche sich nach allen Richtungen hin fortpfl.anzten, und welche sich endlich auch bis in das Auge hinein erstreckten, bis zu den Theilchen der Netzhaut, und so dieselbe zur Empfindung des Leuchtenden erregten. Bekanntermassen ist es die letztere Ansicht, welche durch die Ar- beiten von Huyghens, Thomas Young und Fresnel zum Siege gelaugte. Ehe wir aber auseinandersetzen können, weshalb sie den Vorzug vor der älteren, der Emanationshypothese, verdient, müssen wir uns mit der Natur der Wellenbewegung im Allgemeinen näher bekannt machen. Wenn Sie auf ein nicht zu straff gespanntes Seil mit einem Stocke schlagen, so erzielen Sie eine Ausbiegung, und diese pflanzt sich nach der Länge des Seiles fort. Ihr folgt unmittelbar eine Ausbiegung nach der entgegengesetzten Seite, indem die Partie, die zuerst nach rechts hinausgeschlagen worden ist, dann in ihre Gleichgewichtslage zui'ück- schwingt, durch die Gleichgewichtslage nach links durchschwingt und dann erst wieder in dieselbe zurückgeht. Das ist das Bild einer ein- fachen Wellenbewegung, welche sich linear fortpflanzt, und wir nennen solche Wellen auch wohl Seilwellen, weil ihr Schema hergenommen ist von dem Bilde einer AVelle^ welche an einem Seile durch Anschlagen erzeugt worden ist. An einer solchen Welle kann ich nun erstens die Wellenlänge unter- scheiden. Die ganze Welle besteht aus Wellenberg und Wellenthal; ich bezeichne deshalb auch als eine ganze Wellenlänge die Länge von Wellen- 14 Das Licht. berg und Wellenthal zusammengenommen, die Hälfte davon als eine halbe Wellenlänge, den vierten Theil davon als eine viertel Wellenlänge u. s. w. — Ich kann zweitens die Schwingungsdauer unterscheiden. Die Schwin- gungsdauer ist diejenige Zeit, welche je eine Partie, je ein Theilchen ge- braucht, um einmal seinen Weg aus der Gleichgewichtslage heraus zu machen, dann in die Gleichgewichtslage zurückzukehren, über dieselbe hinaus nach der entgegengesetzten Seite zu schwingen, und dann noch- mals zur Gleichgewichtslage zurückzukehren. Das ist eine ganze Schwin- gungsdauer; die Hälfte davon ist eine halbe Schwiugungsdauer u. s. f. Schwingungsdauer und Wellenlänge stehen in einem gewissen noth- wendigen Zusammenhange, aber nicht so, dass Wellen von einer be- stimmten Schwingungsdauer auch unter allen Umständen eine und dieselbe Wellenlänge hätten. Die Wellenlänge ist auch abhängig von der Natur des Mediums, in welchem sich die Welle fortpflanzt. Je rascher sich die Welle in einem Medium fortpflanzt, um so grösser wird bei gleicher Schwingungsdauer die Wellenlänge, und je langsamer sie sich fort- pflanzt, um so kürzer wird bei einer gegebenen Schwingungsdauer die Wellenlänge. Ich unterscheide ferner an einer solchen Welle die Amplitude, das heisst die Entfernung, bis zu welcher jedes Theilchen aus seiner Gleich- gewichtslage ausweicht, ehe seine Geschwindigkeit Null wird, und es wieder gegen die Gleichgewichtslage hin zurückgeht. Da die lebendige Kraft des Theilchens um so später verbraucht sein wird, je grösser die Geschwindigkeit ist, mit welcher das Theilchen durch die Gleichgewichts- lage schwingt, so hängt natürlich auch die Amplitude der Welle zusam- men mit der Geschwindigkeit, mit welcher die schwingenden Theilchen durch die Gleichgewichtslage hindurchgehen. Ich denke mir, ich hätte einen Stein ins Wasser geworfen, so ziehen sich bekanntermasseu Kreise um die Stelle, an welcher der Stein untergesunken ist, und diese Kreise sind Wellen, welche durch den plötzlichen Impuls, durch das Hineinfallen des Steines verursacht worden sind. Sie schreiten, während die Seilwellen in einer Richtung fort- schreiten, im Wasser auf der Oberfläche nach allen Richtungen, und zwar nach allen Richtungen mit gleicher Geschwindigkeit fort. Eben deswegen bildet jede einzelne Welle einen Kreis, dessen Centrum die Stelle ist, an welcher der Stein in das Wasser fiel. Endlich kann ich mir den ganzen Vorgang im Räume vorstellen. Ich kann mir vorstellen, dass die Impulse für eine Wellenbewegung von einem Punkte im Räume ausgehen, und sich nun die Welle im Räume nach allen Seiten hin mit gleicher Geschwindigkeit fortpflanzt, so werden die Wellenoberflächen, das heisst die Summen der Punkte, welche sich gleichzeitig in gleicher Phase befinden, Kugelschalen bilden, und das Centrum dieser Kugelschalen wird die Stelle sein, von der die Impulse ausgingen. Das geschieht immer, wenn sich eine Wellenbewegung fort- pflanzt in einem sogenannten isotropen Medium, das heisst in einem Medium, welches der Fortpflanzung der Wellen nach allen Richtungen hin einen gleichen Widerstand darbietet. Denn nur, wenn der Widerstand nach allen Richtungen gleich ist, ist die Fortpflanzungsgeschwindigkeit nach allen Riclitungen gleich, und nur unter dieser Voraussetzung bilden die Wellenoberflächen Kugelschalen. Die Linien, in welchen sich die Das Liclit. 15 Wellenbewegung fortpflanzt, sind natürlich Radien, Strahlen, welche von dem Ursprungspnnkte der Impulse zur Wellenoberfläche gezogen sind. Wenn nun der Ort, von dem die Impulse ausgehen, unendlich weit ent- fernt ist, so haben wir die Strahlen als parallel zu betrachten, weil sie erst in unendlicher Entfernung zur Vereinigung kommen sollen, und da die Strahlen senkrecht stehen auf der Wellenoberfläche, so haben wir uns für diesen Fall, für den Fall einer unendlich entfernten Quelle der Impulse, die Wellenoberfläche als eine Ebene vorzustellen. Bis jetzt haben wir uns bei allen diesen Arten von Wellen vor- gestellt, dass die Theilchen seitlich ausweichen, mit anderen Worten, dass sie sich in Ebenen bewegen, die senkrecht auf der Richtung stehen, in welcher sich die Bewegung fortpflanzt. Dergleichen Wellen, bei denen dies der Fall ist, bezeichnen wir mit dem Namen der Transversalwellen. Wir können uns aber auch vorstellen, dass sich eine Wellenbewegung in anderer Weise fortpflanzt, so dass die Theilchen in der Richtung fort- gestossen werden, in welcher sich die Wellenbewegung fortpflanzt. Es werden dadurch Verdichtungen und Verdünnungen erzeugt, die, wenn sie sich nach allen Richtungen mit gleicher Geschwindigkeit fortpflan- zen, wieder Kugelschalen bilden. Dergleichen Wellen bezeichnen wir mit dem Namen der Longitudinalwellen, oder auch der Verdichtungs- und Verdünuungswellen. Solche Wellen sind z. B. die Schallwellen, die sich in der Luft und zu unserem Ohre fortpflanzen. Wovon ist nun das abhängig, was wir mit dem Namen der In- tensität der Wellenbewegung bezeichnen? Die Intensität muss gemessen werden nach der Summe der lebendigen Kräfte, welche in dem Systeme thätig sind, und wenn wir also ein bestimmtes geschlossenes System von Molekülen haben, so dass wir die Masse der sich bewegenden Moleküle als constant, als ein für alle Mal gegeben ansehen, so muss, da die lebendige Kraft gleich ist der Masse der Moleküle, multiplicirt mit dem halben Quadrate ihrer Geschwindigkeit, die Intensität abhängig sein von der Geschwindigkeit, mit der die Moleküle sich bewegen, von der Ge- schwindigkeit, mit der die Moleküle durch die Gleichgewichtslage hin- durchgehen. Da nun von dieser Geschwindigkeit wieder, wie wir oben gesehen haben, die Grösse abhängig ist, um welche sie aus der Gleich- gewichtslage ausweichen, so sagt man, die Intensität der Wellenbewegung sei abhängig von der Amplitude, von der Grösse der Ausweichung der Theilchen aus der Gleichgewichtslage. Wenn gleichzeitig zwei Wellenbewegungen in ein und demselben Medium ablaufen, so werden die Moleküle desselben sowohl von den Im- pulsen des einen Wellensystems, als auch von denen des andern Wellen- systems getroffen. Die Impulse werden sich nach dem Parallelogramm der Kräfte zusammensetzen, sie werden sich addiren, wenn sie gleichgerichtet sind, sie werden sich schwächen, sie werden sich aufheben, wenn sie ent- gegengesetzt gerichtet sind. Hieraus entstehen die Erscheinungen der so- genannten Interferenz, Erscheinungen, bei denen gewisserniassen eine Bewegung durch eine andere vernichtet wird. Wenn zwei Wellensj^steme mit gleicher Wellenlänge so aufeinander treffen, dass die Wellenberge des einen auf die Wellenberge des andern fallen, so werden sich ihre Impulse addiren, die Intensität der Bewegung wird gesteigert, die Wellen werden höher werden. Wenn aber zwei Wellensysteme mit gleicher Wellenlänge 16 Emanations- und ündulationstlieoiie. Reflexion. SO aufeinander treffen, dass die Wellenberge der einen auf die Wellen- thäler des andern fallen, so werden ihre Impulse sich von einander sub- trahiren, die Intensität der Bewegung wird geschwächt werden, und wenn die Amplituden in beiden Systemen gleich gross sind, wird sie auf 0 herabsinken. Emanations- und TJndulationstheorie. Nachdem wir uns so im Allgemeinen bekannt gemacht haben mit den Erscheinungen der Wellenbewegung und mit der in der Wellenlehre herrschenden Nomenclatur, wollen wir jetzt auf die Frage näher eingehen, ob denn das Licht, wie es die Emanationstheorie wollte, aus einer sich fortbewegenden Materie bestehe, oder ob das Licht in einer Wellenbewe- gung bestehe. Es gibt gewisse Erscheinungen in der Optik, die sich gleich gut erklären lassen, sowohl nach der Emanations-, als nach der Undula- tionshypothese. Das Licht pflanzt sich geradlinig fort. Das kann es nach der Emanations- und nach der Undulationshypothese thun. Die Intensität des Lichtes nimmt ab nach den Quadraten der wachsenden Radien. Das erklärt sich aus der Undulationshypothese und erklärt sich aus der Emanationshypothese. Die Theilchen sollen nach letzterer von einem Punkte ausgehen und sollen sich nach allen Richtungen geradlinig fortbewegen, wie es die Strahlen des Lichtes thun. Es ist dann klar, dass, wenn man Kugelschalen um den Ausgangspunkt als Ceutrum durch die Strahlen hindurchlegt, die Grösse der Kugelschalen wächst mit dem Quadrate der Radien. Da aber die Menge der nach allen Seiten hin zerstiebenden Materie immer nur dieselbe bleibt, so nimmt für ein bestimmtes Areal einer solchen Kugel- schale die Menge der Theilchen, die sich darin befindet, in demselben Masse ab, wie die Kugelschalen wachsen. Die Menge der Theilchen nimmt also ab nach den Quadraten der wachsenden Entfernungen, und da die Intensität des Lichtes nach der Emanationstheorie abhängt von der Menge der in der Zeiteinheit eintreffenden Lichttheilchen, so ist hiermit die Erklärung gegeben. Aber auch die TJndulationstheorie erklärt dieses Gesetz in befriedigen- der Weise. Die TJndulationstheorie sagt: Hier ist eine gewisse Summe von lebendiger Kraft gegeben; durch diese werden immer grössere Massen in Bewegung gesetzt. Die in Bewegung zu setzende Masse wächst, indem die Bewegung fortschreitet, mit den Quadraten der Radien, denn sie wächst entsprechend der Grösse der Kugelschalen. Wenn aber die Masse zunimmt nach den Quadraten der Radien und nur eine gegebene Summe von lebendiger Kraft da ist, so müssen die Geschwindigkeiten, mit denen sich die Theilchen bewegen, entsprechend abnehmen, und deshalb nimmt die Intensität des Lichtes ab mit den Quadraten der wachsenden Ent- fernungen. Reflexion. Die Strahlen des Lichtes werden von einer spiegelnden Fläche unter demselben Winkel zurückgeworfen, unter welchem sie eingefallen sind. Reflexion. 17 Das erklärt die Emaiiatioiistlieorie nach den Gesetzen des elastischen Stossea. Eine Billardkugel kommt von der Wand unter demselben Winkel zurück, unter dem sie angespielt worden ist. Ebenso kehren die Moleküle des Lichtes nach der Emanationstheorie unter demselben Winkel nach den Gesetzen des elastischen Stosses von einer spiegelnden Fläche zurück, unter welchem sie gegen dieselbe herangeschleudert worden sind. Auch die Undulationshypothese gibt eine befriedigende Erklärung. JSTehmen wir einmal der Einfachheit wegen an, die Lichtquelle sei un- endlich entfernt. Wir hätten also parallele Strahlen, die Wellenober- fläche sei also eine Ebene und ihr Durchschnitt mit der Ebene des Pa- piers eine gerade Linie. Betrachten wir zunächstzwei Strahlen, denStrahl ha und den Strahl de, welche beide zur spiegelnden Fläche fli gehen, so wird der Strahl de früher an der Fläche ankommen, als der Strahl ha. Ein Wellenflächendurchschnitt soll ce sein; ce steht senkrecht auf ah und auch senkrecht auf cd. Versetze ich mich nun in den Zeitpunkt, wo auch der Strahl 6a in a angekommen ist, so wird zu dieser Zeit schon eine reflectirte Welle von dem Punkte c aus entstanden sein, und diese reflectirte Welle wird sich eben so schnell fortpflanzen, wie die directe, weil das Medium, in dem sie sich fortpflanzt, dasselbe ist. Um also zu wissen, wie gross diese Welle ist, wie weit die reflectirte Welle zu dieser Zeit gelangt ist, nehme ich die Entfernung ae in den Zirkel und schlage mit derselben von c aus einen Kreisbogen. Jetzt will ich von dem-Punkte a aus eine Tangente an diesen Kreis legen, und will vorläufig annehmen und erst später beweisen, dass dies die neue Wellen- oberfläche, die Oberfläche der reflectirten Welle sei. Von c aus will ich eine Senkrechte auf die Tangente ziehen, die also den Punkt trift't, wo die Tangente den Kreis berührt; sie sei de. Jetzt habe ich zwei Drei- ecke, welche mit einander gemein haben die Seite ac, welche ausserdem gleich haben die Seiten ac und ck, denn die habe ich gleich gemacht, und welche beide rechtwinklig sind, denn bei e und bei h sind der An- nahme nach rechte Winkel. Folglich sind diese beiden Dreiecke congruent. Da nun aber Z_ ^ ^ /_^ ^ /^'^ so ist ^ £ + ^ Y = Z. ? das heisst also, der Strahl de ist unter demselben Winkel zurückgeworfen, unter dem er eingefallen war. Ich habe noch zu beweisen, dass ak wirklich die neue Wellenober- fläche oder vielmehr ihr Durchschnitt mit der Ebene des Papiers sei, denn nur dann erscheint es gerechtfertigt, dass ich ck als den reflectirten Strahl ansehe. Die neue Wellenoberfläche entsteht dadurch, dass alle die einzelnen Wellen, welche von den einzelnen Punkten ausgehen, sich zusammensetzen. Ich muss also nachweiseu, dass die Partialwelleu, Brücke. Vorlesungen I. 4. Aufl. 2 18 Brechung. welche jedem einzelnen Strahle angehören, sämmtlich in der Linie aTc anlangen würden zu derselben Zeit, zu welcher der Strahl &a in a an- langt. Es sei Im ein Strahl zwischen ah und cd, und parallel mit diesen. Ich ziehe nun mp parallel mit ce und mn senkrecht auf ah, also parallel mit ck. Dann ist das Dreieck amp ähnlich dem Dreieck ace, und das Dreieck amn ähnlich dem Dreieck ach. Da ach und ace con- gruent sind, so sind amp und amn einander ähnlich. Sie haben also sämmtliche Winkel gleich und ausserdem eine gleichliegende Seite, die Hypotenuse am gemeinsam. Sie sind mithin congruent, also auch mn gleich pa. Da aber mn rechtwinklig auf ah steht, so ist es der kürzeste Weg der von m ausgehenden Partialwelle gegen ah hin, während pa das Wegstück ist, welches der Strahl ha noch bis a zu durchlaufen hatte, als der Anstoss für die Partialwelle in m gegeben wurde. Da sich dieselbe Demonstration für jeden zwischen ha und de liegenden und mit ihm parallelen Strahl wiederholen lässt, so bezeichnet ah in der That die Lage der Wellenoberfläche nach der Eeflexion und ch die Lage des Strahles de nach der Reflexion. Sie sehen also, dass hier wieder sowohl die eine als die andere Hypothese zum Resultate führt. Wir werden aber jetzt Erscheinungen kennen lernen, die sich nur der Undulationstheorie fügen. BrecliTiiig*. Wenn ein Strahl aus einem dünneren Medium in ein dichteres übergeht, so erleidet er bekanntermassen an der Trennungsfläche eine Ablenkung, und zwar in der Weise, dass er auf seinem weiteren Wege mit dem Einfallslothe, das heisst mit einer auf der Trennungsfläche, da wo der Strahl dieselbe durchbricht, errichteten Senkrechten, nunmehr einen kleineren Winkel macht als früher. Wenn er dagegen umgekehrt aus einem dichteren Medium in ein dünneres übergeht, so erleidet er eine solche Ablenkung, dass er von nun an einen grösseren Winkel mit dem Einfallslothe macht, als vor der Brechung. Man sagt deshalb, der Strahl werde, wenn er aus einem dünneren Medium in ein dichteres übergeht, zum Einfallslothe zugebrocheu, im umgekehrten Ealle werde er vom Einfallslothe gebrochen. Die Emanationshypothese erklärt dies folgendermassen: Wenn der Strahl aus einem dünneren Medium in ein dichteres übergeht, so erleidet er in demselben einen geringeren Widerstand, als er früher erlitten hat, und die Folge davon ist, dass die Lichttheilchen an der Trennungsfläche zum Einfallslothe abgelenkt werden. Wenn er dagegen aus einem dichteren Medium in ein dünneres übergeht, findet das Umgekehrte statt. — Eine andere Erklärung gibt die Undulationstheorie. Der Einfachheit halber wollen wir uns wieder vorstellen, dass die Lichtquelle in unendlicher Entfernung liege, dass also die Strahlen parallel einfallen. Wir wollen also zwei Strahlen betrachten, die parallel auf die Trennungsfläche einfallen. Wir wollen zum ersten Strahl ha das Einfallsloth cd errichten, und wollen den andern Strahl fe nennen; so ist es klar, dass die gleiche Phase in diesem zweiten Strahl noch nicht in e angekommen sein wird, wenn sie im ersten Strahl schon in a angekommen ist. Sie wird um ein Stück zurück sein, welches ich finde, wenn ich von a aus eine Senkrechte Breclmng. 19 ak auf e/ ziehe, denn diese Senkrechte auf die Richtung der Radien ist ja nichts anderes als der Durchschnitt der Wellenoberfläche. In dem zweiten Medium, das das dichtere sein soll, soll sich nun das Licht langsamer fortpflanzen als im ersten Medium. Ich will die Geschwindig- keit im ersten Medium mit v, die im zweiten mit v' bezeichnen. Ich werde also eine Grösse in den Zirkel nehmen, die sich zu elc verhält, wie sich v' zu v verhält, und damit von a aus einen Kreisbogen beschrei- ben. Der Radius dieses Bogens ist der Weg, den die Welle von a aus zurück- gelegt haben wird, wenn die gleiche Phase in e angekommen ist. Ich will nun von e aus die Tangente em an diesen Bogen anlegen und sie als den Durchschnitt der neuen Wellen Oberfläche betrachten: dass sie es wirklich ist, werde ich später beweisen. Ziehe ich dann von a aus die Senkrechte am, so gibt diese die Richtung des gebrocheneu Strahles an. Winkel cah heisse der Ein- fallswinkel und werde mit i bezeichnet, Winkel marf heisse der Brechungs- winkel und werde mit r bezeichnet. Dann ist: u : v' = efc : am = sin e : sin a £ + Y = -ß i + Y = -K £ = ^■ ferner a + ß ■= -B r ^^ = B- . mithin Das heisst in Worte übersetzt: Der Sinus des Einfallswinkels dividirt durch den Sinus des Brechungswinkels ist gleich der Fortpflanzungs- geschwindigkeit in dem ersten Medium dividirt durch die Fortpflanzungs- geschwindigkeit im zweiten Medium. Sie sehen, dass, wenn die Fortpflanzungsgeschwindigkeit in dem zweiten Mediiim kleiner ist, dann auch der Brechungswinkel kleiner sein muss, dass dagegen, wenn die Fortpflanzungsgeschwindigkeit im zweiten Medium grösser ist, auch der Brechungswinkel grösser sein muss als der Einfallswinkel. Ich habe bis jetzt niir angenommen, dass die Linie em die iieue Wellenoberfläche, die Oberfläche der gebrochenen Welle repräsentirt. Es lässt sich leicht nachweisen, daas dem wirklich so sei. Die neue Wellenoberfläche entsteht durch die Zusammensetzung aller Partial- wellen, welche hier nach und nach an der Trennungsfläche entstehen. Es ist also weiter nichts nöthig, als nachzuweisen, dass wirklich in dem betreffenden Momente, wo die Phase von k in e und die Phase 2* 20 Beugung. von a in m ankommt, auch alle übrigen Partial wellen in der Linie em an- kommen. Es sei sn ein Sti-alil zwischen fe und ba wnä parallel mit ihnen. Ich ziehe 7ij9 parallel zu ak, und nq parallel zu am, dann ist Winkel en2J := £ = z ep : nq = sin enj) : sin a = sin i : sin r = v : v' nq ist aber, da es senkrecht auf em steht, der kürzeste Weg der Partial- welle gegen em hin. Sie wird also an dieser Linie anlangen in der- selben Zeit, welche der Strahl fe braucht, um den Weg von p nach e zurückzulegen. Sie sehen also, dass die Erkläi'ung, die die Undulationstheorie von der Brechung gibt, ebenso befriedigend ist, wie die Erklärung der Ema- nationshypothese, und dass sie jedesmal einen ganz bestimmten Werth für den Brechungswinkel gibt, aber unter einer bestimmten Voraus- setzung, nämlich unter der, dass diejenigen Medien, welche wir die optisch dichteren nennen, der Fortpflanzung des Lichtes einen grösseren Widerstand entgegensetzen, dass das Licht sich in ihnen langsamer fort- pflanzt. Die Emanationstheorie hatte die entgegengesetzte Annahme machen müssen. Das hat nun zu einem experimentum crucis Veranlassung gegeben, welches in neuerer Zeit, doch schon vor mehr als dreissig Jahren, von Eizeau und von Foucault angestellt worden ist. Beide haben direct die Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Lichtes einmal in der Luft und das andere Mal im Wasser gemessen. Wenn die Undulationstheorie recht hatte, woran übrigens damals kaum noch Jemand zweifelte, musste das Licht sich in der Luft rascher fortpflanzen als im Wasser, wenn uner- warteter Weise die Emanationshypothese recht hatte, musste es sich im Wasser schneller fortpflanzen. Beide Beobachter fanden, dass das Licht sich in der Luft schneller fortpflanzt als im Wasser, und dadurch ist die Undulationstheorie endgiltig in ihrem Rechte bestätigt worden. Beugimg. Wir haben aber noch andere optische Erscheinungen zu betrachten, für welche die Emanationshypothese gar keine oder eine ungenügende Erklärung gibt, während die Undulationstheorie eine vollständige und richtige zu geben im Stande ist. Das sind zunächst die Erscheinungen der Beugung. Es wird Ihnen allen bekannt sein, dass, wenn durch einen Spalt ein Bündel Sonnenstrahlen hindurchgeht, die Beleuchtung sich auf einer gegenüberstehenden Wand oder auf einem gegenüberstehenden Schirm nicht auf das geometrische Bild des Spaltes beschränkt, sondern dass die Helligkeit sich nach beiden Seiten hin ausdehnt. Das erklärt die Ema- nationstheorie so, dass sie sagt: Von den Bändern des Spaltes werden die Lichttheilchen angezogen, dadurch werden sie aus ihrer Richtung ab- gelenkt, und somit wird ein Theil derselben seitlich zerstreut. Wenn man aber den Spalt hinreichend schmal nimmt, und alles fremde einfallende Licht abhält, so bemerkt man, dass die Erscheinung von solcher Art ist, dass sie hiedurch nicht erklärt werden kann. Man findet, dass man nicht nur ein verbreitertes helles Bild des Spaltes hat, sondern dass Beugung. 21 neben dem geometrischen Bilde des Spaltes zu beiden Seiten farbige Linien parallel mit dem Spalte verlaufen, die mit Braun anfangen, dann in Roth übergehen, und im weiteren Wechsel der Farbe jederseits sym- metrische Spectra bilden. Wenn man nun vor den Spalt ein homogen rothes Glas, ein Glas, welches nur rothes Licht durchlässt, setzt, so bemerkt man, dass nun die vielfarbige Erscheinung verschwindet, dass sich aber zu beiden Seiten helle und dunkle Linien zeigen^ die mit dem Spalte parallel sind. Das geschieht stets, wenn man ein wie immer ge- färbtes monochromatisches Glas vorlegt, nur dass die Streifen nicht bei allen Farben von gleicher Breite sind, dass sie am breitesten sind, wenn man homogenes rothes Licht anwendet, und dass sie am schmälsten sind, wenn man homogenes violettes Licht anwendet. Die Erklärung, welche die Undulationstheorie hiefür gibt, ist fol- gende. Sie sagt: Wenn ein System von Wasserwellen einen Spalt zwischen zwei Schirmen durchbricht, so sieht man von den Rändern der Fig. 4. Schirme Kreise ausgehen , das heisst, man sieht Wellen aus- gehen, deren Centren die in das Wasser eintauchenden Ränder der Schirme sind. Gerade so gehen auch hier von den Rändern des Spaltes Wellen aus, die man sich als cylindrisch denken muss, und die Räuder des Spaltes als die Axen der cylindrischen Wellen- oberflächen. In Fig. 4 sind ab der Spalt und f(j der auffangende Schirm. Die Wellen befinden sich von Hause aus beiderseits in gleichen Phasen. Wenn ich nun einen Punkt c betrachte, der dem Spalt gerade gegenübersteht, so haben die beiden Wellensysteme gleich lange Wege (rtc und hc) zu ihm zurückzulegen; sie werden also so zu ihm gelangen, dass Wellenberg auf Wellenberg, und Wellenthal auf Wellen- thal fällt. Hier also erscheint der Schirm hell. Wenn ich mich aber seitlich nach d hin entferne, und dorthin die Radien ad und bd ziehe, also die Wege beschreibe, welche die Wellen von den beiden Rändern dahin zurückzulegen haben, so finde ich, dass diese beiden Wege ungleich lang sind. Ich nehme an, ich experimentirte mit monochromatischem Lichte, und ihr Unterschied soll eine halbe Wellenlänge desjenigen Lichtes be- tragen, das ich gerade anwende, dann muss Wellenberg auf Wellenthal auffallen, und umgekehrt, die beiden Strahlen müssen einander auslöschen, es muss also hier ein dunkler Streif entstehen. Wenn ich noch weiter seitlich gehe, wird die Differenz wachsen. Sie soll für die nach e gezogenen Radien ae und be eine ganze Wellenlänge betragen, dann wird hier wieder ein heller Streif entstehen, und so fort werden helle und dunkle Streifen mit einander abwechseln. So erklären sich nicht nur die hellen und dunklen Streifen: es erklärt sich auch daraus, dass die Breite der Streifen in einem bestimmten Zusammenhange steht, einerseits mit der Breite des Spaltes, andererseits mit der Natur des Lichtes, indem Licht 22 Newton's Ringe. verschiedeuer Farben verschiedene Wellenlänge besitzt. Beim rothen Licht, bei dem die Wellenlänge am grössten ist, ist die Breite der Streifen auch am grössten, weil hier der Gangunterschied von einer halben Wellen- länge u. s. w. später erreicht wird, während sie beim blauen und violetten Lichte, das kürzere Wellenlängen hat, schmäler werden, weil hier der Gangunterschied von einer halben, anderthalb Wellenlängen u. s. w. früher erreicht wird. Sie sehen leicht ein, dass die Farben, welche wir bei ge- mischtem Lichte, bei gewöhnlichem Sonnenlichte gesehen haben, nichts anderes sind als die übereinanderfallenden Beugungsspectra der einzelnen Farben. Denn da die Streifen, welche bei Anwendung der verschiedenen Lichtsorten entstehen, verschiedene Breite haben, so kann auch, wenn ich gemischtes Licht, das heisst, wenn ich die verschiedenen Farben zu- gleich anwende, keine Abwechslung von dunklen und hellen Streifen ent- stehen, sondern die dunklen Streifen der einen Farbe fallen auf die hellen der andern Farbe, und es entsteht ein Gemisch, welches in seinem Wechsel der Farbenfolge entspricht, die ich hier wirklich wahrnehme. Newton's Ringe. Wir haben früher gesagt, dass die Emanationstheorie die Eeflexion in ebenso genügender Weise erklärt wie die TJndulationstheorie, und wir haben auch ihre Erklärung kennen gelernt. Wenn wir aber tiefer in die Erscheinungen der Eeflexion eingehen, so werden wir sehen, dass sie auch hier gegen die Undulationstheorie zurücksteht. iffewton sah, indem er zwei Gläser, ein Convexglas von grossem Eadius und ein Planglas, aufeinanderlegte, ein System von farbigen Ringen. Er untersuchte diese farbigen Ringe in verschiedenfarbigem Lichte, in rothem, in blauem Lichte u. s. w., und fand, dass immer eine Abwechslung von hellen und dunklen Ringen erschien, dass die Ringe im rothen Lichte am breitesten waren, und immer schmäler wurden, wenn man nach einander gelbes, grünes, blaues u.nd violettes Licht anwendete. Er war nicht im Stande dies zu erklären. Da er bemerkte, dass das Complement der Ringe, welches er im auffallenden Lichte sah, im durch- fallenden Lichte, wenn auch schwächer, zu sehen war, dass da, wo im reflectirten Lichte sich ein dunkler Ring zeigte, im durchfallenden ein heller zu sehen war, so sagte er, das Licht habe Anwandlun- gen, vermöge welcher es periodisch zurückgeworfen und periodisch durchge- lassen werde. Es war eben nicht möglich, vom Ständ- ig punkte der Emanations- theorie eine befriedigende Erklärung der Erscheinung zu geben. Wir wollen jetzt sehen, welche Erklärung die TJndulationstheorie nbt. Denken Sie sich AB sei die obere Fläche der Convexlinse und CD Newton's Hinge. 23 die untere des pianglases, so wird das Licht, welches in c einfällt, wenn man sich zwischen beiden Gläsern noch eine sehr dünne Luftschicht denkt, kurz hinter einander zweimal reflectirt, einmal da, wo es aus dem Planglase in die Luft übergehen soll, und das andere Mal da^ wo es, von der Convexlinse reflectirt, wiederum in die Luft, und dann zum zweiten Mal in das Planglas übergeht. Sie sehen also leicht ein, dass hier kurz hintereinander zwei Wellensysteme entstehen und mit einander zur Interferenz kommen müssen, und es fragt sich deshalb für uns: Unter welchen Umständen werden diese beiden Wellensysteme so aufein- anderfallen, dass Wellenberg auf Wellenberg fällt, und unter welchen Umständen werden sie so aufeinanderfallen, dass Wellenberg auf Wellen- thal fällt? Um das zu beurtheilen, müssen wir zuerst etwas näher in die Art und Weise eingehen, wie ein Molekül dem andern seine Bewegung mit- theilt. Wir wollen uns dies erst an grösseren Massen, an Elfenbeinkugeln anschaulich machen. Wenn Sie zwei Elfenbeinkugeln von gleichem Ge- wichte neben einander aufgehängt haben, und die eine gegen die andere fallen lassen, so bleibt immer die eine, die stossende, in der Gleichge- wichtslage, und die andere fliegt fort, begreiflicher Weise deshalb, weil die eine Elfenbeinkugel, indem sie der andern ihre Geschwindigkeit mit- theilt, ihr auch zugleich ihre ganze lebendige Kraft mittheilt, weil ihre Masse gleich der Masse der zweiten Kugel ist. Die ursprünglich stossende Kugel be- hält nichts von ihrer lebendigen Kraft übrig, sie muss in der Gleichgewichts- lage in Euhe bleiben. Es ist ein bekanntes Schulexperiment, dass man eine ganze Reihe von Elfenbeinkugeln aufhängt, die eine am Ende abhebt und fallen lässt, dann bleiben alle in ihrer Lage mit Aiisnahme der letzten, Aveil jede auf die andere ihre ganze lebendige Kraft überträgt, so dass nur die letzte, die keine andere, an die sie die lebendige Kraft übertragen könnte, neben sich hat, fortfliegt. Wir wollen jetzt untersuchen, was geschieht, wenn die beiden Elfenbeinkugeln von ungleichem Gewichte sind. Es seien die Kugeln a und h. Ich lasse die schwere h gegen die leichtere a fallen, so wird sie, wenn sie auf dieselbe stösst, ihr ihre ganze Geschwindigkeit mittheilen, da aber h beiläufig dreimal ^'°- ^• so schwer ist als a, so wird b damit noch nicht ihre ganze lebendige Kraft abgegeben haben, sondern sie wird noch zweidrittel derselben zurückbehalten. Ihr bleibt also noch eine Geschwindigkeit, und vermöge dieser Geschwin- digkeit wird sie noch weiter fortschwingen und dann erst zurückkehren. Wenn ich nach dem Stosse die beiden Kugeln gegen einander verschiebe, so dass sie sich nicht mehr an einander stossen können, so werden Sie finden, dass die beiden Kugeln gleichsinnig schwingen, wie es Fig. 6 darstellt, indem die stossende mit der gestossenen einen Hinausschwung gemacht hat, dann wieder zurückgekommen ist u. s. w. Ganz anders wird sich aber die Sache gestalten, wenn Sie die leich- tere Kugel gegen die schwerere, wenn Sie a gegen h fallen lassen. Dann wird a ihre ganze lebendige Kraft sofort an h übertragen: da diese aber dreimal so schwer ist, so wird sie ihr damit nicht die gleiche Geschwin- digkeit gegeben haben, sondern eine geringere. Diese zweite Kugel b wird sich also ihr gegenüber wie eine relativ feste Wand verhalten, von der 24 Newton's Ringe. die leichtere Kugel a vermöge ihrer Elasticität zurückprallt. Sie sehen leicht ein, dass die Folge davon ist, dass die beiden Kugeln auseinander- iliegen, und wenn ich sie jetzt gegen einander ver- Fig. 7. schiebe, so werden Sie bemerken, dass sie im ent- gegengesetzten Sinne schwingen, wie dies Fig. 7 darstellt. Setzen Sie an die Stelle der Ausdrücke schwerere und leichtere Kugel, die Ausdrücke schwerer und leichter ausweichendes Molekül, so haben Sie den Satz, dass, wenn das leichter aus- weichende Molekül auf das schwerer ausweichende stösst, eö sofort eine rückgängige Bewegung be- ginnt: wenn dagegen das schwerer ausweichende Molekül das leichter ausweichende in Bewegung setzt, so schwingt es noch in seiner ursprünglichen Ilichtung fort und geht erst dann wieder zurück. Ehe also der Impuls für die Reflexion beginnt, geht die Zeit einer halben Schwinguugsdauer, die Zeit einer halben Undulation verloren. Wenden wnr nun dies auf unseren Fall an, so denken wir uns, gemäss dem Principe der Undulationstheorie, dass die Theilchen im Glase schwerer ausweichen, und dass sie in der Luft leichter ausweichen. Beim TJebergange in die Luft findet eine Eeflexion statt, bei dieser geht die Zeit einer halben Undulation verloren; beim Uebergange aus Luft in Glas ist letzteres aber nicht der Fall. Wenn also die Dicke der Luftschicht zwischen beiden Gläsern verschwindend klein gegen eine Wellenlänge ist, so werden die beiden Wellensysteme so aufeinander liegen, dass die Wellenberge des einen auf die Wellenthäler des andern fallen: denn bei der einen Reflexion ist eine halbe Undulation verloren gegangen, bei der andern nicht, sie haben also einen Gangunterschied von einer halben Wellenlänge. Man hat darüber gestritten, ob da, wo die beiden Gläser einander berühren, wo also factisch keine Luftschicht dazwischen ist, eine Reflexion stattfinde, oder ob gar keine Reflexion stattfinde, indem das Licht unmittelbar aus dem einen Glase in das zweite übergehe. Die Ent- scheidung dieser Frage ist für unser Resultat bedeutungslos, denn wir finden, dass, wenn auch zwei Reflexionen stattfinden, doch das zweite Wellensystem die Impulse des ersten neutralisirt, dass es also so gut ist, als ob keine stattgefunden hätte. Da, wo das Licht aus der Luft wieder in das Plauglas übergehen soll, findet auch wieder eine Reflexion statt, und das hier reflectirte Licht wird theilweise wieder von der Convexlinse reflectirt u. s. f. Alle Reflexionen finden beim Uebergang in das dichtere Medium statt und sind somit gleichartig und zugleich von gerader An- zahl. Es werden bei unendlich kleinen Abständen durch sie keine neuen Gangunterschiede hervorgerufen. Also da, wo die beiden Gläser unmittelbar aufeinauderliegen, wird im reflectirten Lichte ein dunkler Fleck erscheinen. Wir wollen nun annehmen, wir hätten monochromatisches, z. B. rothes Licht. Denken wir uns, wir entfernten uns vom Ceutrum, und kämen zu einer Stelle e, an welcher der Abstand der beiden Gläser den vierten Theil der Wellenlänge des rothen Lichtes beträgt; so haben wir hier durch die ungleiche Reflexion einen Unterschied von einer halben Newton's Ringe. ZO Undulation, Der einfallende Strahl sei Ih (Fig. 5), die beiden reflectirten hi und enk. Der zweite rcfLectirte Strahl (enfc) macht aber gegen den ersten (Jii) einen Umweg [hen) von einer viertel Wellenlänge hin, und einer viertel Wellenlänge zurück, folglich hat dieser auch eine Verspätung von einer halben Undulation; es fällt also jetzt Wellenberg auf Wellenberg, und Wellenthal auf Wellenthal. In diesem Abstände vom Centrum würde also im reflectirten Lichte ein heller und in unserem Falle ein rother Ring entstehen. Die in diesem Ringe ferner noch fol- genden lichtärmeren Reflexionen vernichten einander, weil jedesmal ein Umweg von zweiviertel Wellenlänge gemacht wird. Wir gehen noch ein Stück weiter, und kommen jetzt an die Stelle m, an der der Abstand der beiden Gläser von einander eine halbe Wellen- länge betragen soll. Der einfallende Strahl sei rp. Dann wird der zuerst reflectirte Strahl pd eine Verspätung von einer halben Wellen- länge bei der Reflexion an der Luft haben, und der zweite mqg wird^ einen Umweg pjjiq von zwei halben Wellenlängen, also einer ganzen machen; pd und mqg werden also jetzt wiederum einen Unterschied von einer halben Wellenlänge haben, die beiden Wellensysteme werden sich also jetzt wiederum bekämpfen. Die weiteren lichtärmeren Re- flexionen, welche hiernach folgen, werden dabei den zweiten Strahl gegen den ersten unterstützen, weil stets neue Umwege von einer ganzen Wellenlänge gemacht werden. Dann wird eine Stelle kommen, wo der Abstand dreiviertel Wellenlänge beträgt: da wird wieder eine halbe Undulation Gangunter- schied wegen ungleichartiger Reflexion entstehen^ dann wird ein Umweg von dreiviertel Wellenlänge hin und dreiviertel Wellenlänge zurück, zusammen 1 '/2 Wellenlänge vom zweiten Strahle gemacht, es wird wieder Wellenberg auf Wellenberg, und Wellenthal auf Wellenthal fallen. Hier wird also w^ieder ein heller Ring entstehen. So werden helle und dunkle Ringe mit einander abwechseln, die alle um den dunklen, cen- tralen Fleck gelagert sind. Wenn ich statt des rotheu Lichtes ein anderes farbiges Licht an- gewendet hätte, z. B. blaues Licht, so hätten die Radien der Ringe kleiner sein müssen, und die Ringe hätten gedrängter aneinander gelegen, weil die Wellenlängen des blauen Lichtes kürzer sind, also kürzer hinter- einander die Abstände von einviertel, einhalb, dreiviertel Wellenlängen u. s. w. gefolgt wären. Da also die Ringe der verschiedenen Farben nicht räumlich zu- sammenfallen, so muss, wenn mit gemischtem Lichte experimentirt wird, kein System von hellen und dunklen Ringen entstehen, sondern ein System von farbigen Ringen. Dieselben werden eine bestimmte Farben- folge haben, weil immer Ringe von bestimmter Farbe sich theilweise decken. Dies ist die Farbenfolge des Newton'schen Ringsystems im auf- fallenden Lichte, die mit Blaugrau anfängt, und sich dann durch Weiss, Gelb, Roth, Purpur ii. s. w. fortsetzt. Was geschieht nun im durchfallenden Lichte? Im durchfallenden Lichte geht zunächst da, wo der Abstand der beiden Gläser unendlich klein ist, der Strahl einmal durch die Gläser hindurch, und zweitens wird er einmal hin und einmal zurück reflectirt werden. Beide Reflexionen werden an der Oberfläche von Glas stattfinden, also gleichartig sein: ^U Newton's Ringe. es wird mithin durch sie kein Gangunterschied erzeugt, es wird in diesen Wellensystemen Wellenberg auf Wellenberg, und Wellenthal auf Wellenthal liegen, mit andern Worten, es wird im durchfallenden Lichte in der Mitte ein heller Fleck gesehen werden, gerade so, als ob der Strahl ac einfach durchginge. Ich komme jetzt zu der Stelle e, an der sich ein Abstand der Gläser von einviertel Wellenlänge findet. Da wird wiederum der Strahl le einmal hindurchgehen, zweitens wird ein Theil desselben reflectirt nach n, und von dort wieder nach a. Dieser zweite Strahl na hat einen Umweg von zweiviertel Wellenlänge gemacht: es wird also jetzt, da die beiden Reflexionen gleichartig waren, und somit an sich keinen Gaugunterschied hervorbrachten, der Gangunterschied eine halbe Wellenlänge betragen. Da also, wo im auffallenden Lichte der erste helle Ring erschien, erscheint im durchfallenden Lichte der erste dunkle Ring, wie dies schon Newton beobachtete. Ich gehe über zur Stelle m, die im auffallenden Lichte im ersten dun- keln Ringe lag. Hier betrug der Abstand der Gläser eine halbe Wellenlänge. Der Strahl rm geht hindurch nach y- Eiii Theil wird in m und dann in q reflectirt, und erzeugt den zweiten Strahl qo mit einem Umwege von einer halben und noch einmal einer halben, also einer ganzen Wellenlänge. Hier wird also im durchfallenden Lichte ein heller Ring sein: kurz, wo im reflectirten Lichte helle Ringe waren, sind im durchfallenden Lichte dunkle Ringe. Wenn ich im gemischten Lichte beobachte, zeigt sich auch im durchfallenden Lichte ein System von farbigen Ringen. Sie sind um ein helles Centrum gelagert, und ihre Farben die Complemente, die Er- gänzungen derjenigen, die sich im auffallenden Lichte zeigen, weil immer die Farbe, die reflectirt worden, nicht durchgegangen ist, und die- jenige, welche durchgegangen, nicht reflectirt worden ist. Diese neue Farbenfolge nennt man die Farbenfolge des Newton'schen Riugsystems im durchfallenden Lichte. Ich muss bemerken , dass die Farben im durchfallenden Lichte nicht so lebhaft sind, wie im reflectirten Lichte. Das rührt daher, dass die Intensitäten der interferirenden Wellensysteme im durchfallenden Lichte viel ungleicher sind, als im reflectirten Lichte. Beim durchfallenden Lichte ist die Intentität der direct durchfallenden Strahlen immer gross im Verhältnisse zur Intensität der Strahlen, die zweimal reflectirt worden sind, und deshalb werden da, wo die Farben ausgelöscht werden sollen, diese eben nur sehr unvollkommen ausgelöscht. In derselben Weise wie die Farben des Newton'schen Farben- glases entstehen alle jene durch dünne Schichten, durch dünne Häutchen hervorgebrachten Schillerfarbeu, denen wir an Gegenständen der Natur und an Gegenständen der künstlichen Production so oft begegnen. Es kann hier vorkommen, dass solche Häutchen im auffallenden Lichte Farben der Farbenfolge des durchfallenden Lichtes zeigen. Das geschieht nicht, wenn, wie beim Newton'schen Farbenglase, die dünne Schicht schwächer bricht als die beiden Medien, welche sie begrenzen, auch nicht, wenn sie stärker bricht: aber es geschieht, wenn ihre optische Dichtigkeit zwischen der der beiden begrenzenden Medien liegt. Der Grund davon ergibt sich leicht durch Wiederholung derselben Betrach- tung, welche wir soeben über das Farbenglas angestellt haben. Sie sehen, dass auch hier wieder die Undulationstheorie sich der Auflösung der optischen Probleme viel mehr gewachsen gezeigt hat, als Polarisation. 2l dies bei der Emanationshypothese der Fall war. Wir werden also nicht anstehen, uns zur Undulatioustheorie zu bekennen, und das Licht als eine Bewegung anzusehen, welche an den kleinsten Theilchen vor sich geht. "Da das Licht sich durch Käume, aus denen wir alle pouderablen Atome 80 viel als möglich fortgeschafft haben, noch ungeschwächt fortpflanzt, so sehen wir es an als Bewegung, Avelche zunächst nicht an den ponderabeln Atomen, sondern an den Aetheratomen vor sich geht. Polaris{itioii. Es drängt sich uns jetzt die Frage auf: Wie geht denn diese Be- wegung vor sich? Sie kann so vor sich gehen, dass die Aethermoleküle in derselben Richtung gestossen werden, in der sich das Licht fortpflanzt: dann würden die Lichtwellen Longitudinalwellen sein, wie es die Schall- wellen sind. Sie kann aber auch so vor sich gehen, dass die Lichttheilchen sich in Ebenen bewegen, die senkrecht auf der Fortpflanzungsrichtung stehen, wie dies bei den Seilwellen und bei den Wasserwellen der Fall ist; dann würden die Lichtwellen Transversalwellen sein. Wenn die Licht- wellen Longitudinalwellen wären, also die Theilchen in der Richtung ge- stossen würden, in welcher sich das Licht fortpflanzt, und ich würde das Licht von einer spiegelnden Fläche reflectiren lassen, so Avürde es bei der Reflexion, wenn einmal die Fläche gegeben ist, nur auf den Winkel ankommen, unter welchem reflectirt wird. Es müsste vollständig gleich- giltig sein, ob ich dabei den Spiegel um die Verlängerung des Strahles als Axe drehe, denn dadurch würde ja die Relation zwischen den Aether- theilchen und der spiegelnden Fläche durchaus nicht geändert. Anders verhält sich die Sache, wenn ich mir vorstelle, die Licht- wellen seien Transversalwellen. Dann wird dadurch allerdings etwas in den Relationen geändert. Schwingen dann die Theilchen bei schiefer Incidenz parallel der Fläche des Spiegels, und ich drehe dann den Spiegel um den Strahl als Axe um 90'^, so schwingen sie so, dass sie auf die Fläche des Spiegels aufstossen. Nun lässt sich in der That zeigen, dass die Lage einer spiegelnden Fläche in dieser Weise nicht geändert werden kann, ohne dass nicht auch der Vorgang der Reflexion geändert würde. Denken Sie sich, Sie hätten eine Glasplatte ab, die Sie hinten schwarz angestrichen haben, zu keinem andern Zwecke, als damit die Reflexion nur an der vorderen Fläche der Glasplatte statt- finde. Denken Sie sich, Sie ^'»- ^• Hessen einen Strahl zo unter einem solchen Winkel auf- fallen, dass der gebrochene Strahl, der sich in der Glas- platte fortpflanzt, auf dem reflectirten Strahl on senk- recht stünde, so werden Sie an letzterem, wenn Sie ihn direct, und mit blossem Auge ansehen, noch nichts Besonderes bemerken. Nun stellen Sie aber einen zweiten schwarzen Spiegel cd parallel mit dem ersten auf und bringen Sie Ihr Auge in die Richtung des reflectirten Strahles np, so 2o Polarisation. werden Sie denselben ganz gut sehen, Sie werden, wenn Sie einen Gegen- stand haben, der sich im Spiegel abbildet, das Bild dieses Gegenstandes sehen. Dann fangen Sie an, den zweiten Spiegel um die Verlängerung des auf ihn auffallenden Strahles on als um eine Axe herumzudrehen, und verfolgen dabei das Bild mit den Augen, so werden Sie bemerken, dasa es immer lichtschwächer und lichtschwächer wird, und endlich, wenn Sie den Spiegel um 90^ gedreht haben, wird dieses Bild verschwinden. Es ist etwas in der Art und Weise geändert, in der die Lichtwellen auf den Spiegel fallen, und wir müssen deshalb annehmen, dass die Lichtwellen nicht Longitudinalwellen sind, sondern Transversalwellen. Es hat sich dieser Vorgang dahin erklärt, dass die Lichtwellen ursprünglich transversal, aber in sehr verschiedenen Richtungen liegen ; dass aber, wenn das Licht einmal von einer spiegelnden Oberfläche in der Weise reflectirt worden ist, wie wir es hier haben reflectiren lassen, dass dann nur noch Schwingungen stattfinden, die nahezu in einer Ebene liegen. Diese eine Ebene stellt man sich vor als senkrecht stehend auf der Reflexionsebene, indem man als Reflexionsebene diejenige Ebene bezeichnet, in welcher sowohl der einfallende, als auch der reflectirte Strahl liegen. In unserem Falle würde also die Schwingung nur noch senkrecht auf der Ebene des Papiers stattfinden. Unter diesen Umständen würde in der Lage, die ich dem Spiegel hier gegeben habe, das Licht noch reflectirt werden: wenn ich aber den Spiegel um die Verlängerung des Strahles on als Axe um 90*^ gedreht habe, findet keine Reflexion mehr statt, oder richtiger gesagt, die Impulse, welche jetzt noch reflectirt werden, sind so schwach, so unbedeutend, dass mir das Bild verschwin- det. Solches Licht nun, bei dem die Schwingungen nur noch in einer Ebene stattfinden, nennt man geradlinig polarisirtes Licht. Dergleichen geradlinig polarisirtes Licht kann man sich noch auf andere Art verschafi'en. Man kann es sich erstens durch Brechung verschaffen. Der Strahl, der in das Glas hineingeht, ist auch polarisirt, und zwar stehen seine Schwingungen senkrecht auf den Schwingungen des refleetirten Strahles, oder, wie man sich ausdrückt, er ist senkrecht gegen die Polarisationsebene des refleetirten Strahles polarisirt. Seine Polarisation ist noch eine sehr unvollkommene, er wird aber immer voll- ständiger polarisirt, wenn ich ihn einer zweiten, dritten, vierten Brechung unterziehe, und das kann ich thun, indem ich eine Reihe von Glasplatten übereinander lege, und ihn schräg hindurchgehen lasse, und zwar erlange ich das beste Resultat, wenn ich ihn so hindurchgehen lasse, dass der reflectirte Strahl auf dem gebrochenen stets senkrecht steht. Ich kann einen solchen Glassatz durch ein Dutzend Deckgläschen oder Objectträger herstellen und mir so auf dem Wege der Brechung geradlinig polarisirtes Licht verschaffen. Dergleichen Glassätze sind auch, früher mehr als jetzt, als sogenannte Köpfe, als Analyseure, für Polarisationsapparate angewendet worden. Ich kann mir ferner geradlinig polarisirtes Licht auf dem Wege der doppelten Brechung verschaffen. In den doppelt brechenden Krystallen schreiten bekanntlich zwei Wellensysteme, die zweierlei Strahlen, die soge- nannten ordinären und die extraordinären, geben, fort. Beide Strahlen sind geradlinig, und zwar rechtwinklig auf einander polarisirt. Ich kann nun Polarisation. 29 entweder beide Strahlen benützen, wie dies beim doppeltbreclienden Prisma geschieht, oder ich kann einen Strahl durch Reflexion beseitigen, wie dies beim NicoTschen Prisma geschieht, oder ich kann von vorne herein einen Krystall anwenden, in dem der eine Strahl absorbirt wird, wie dies beim Turmalin der Fall ist, der nur Schwingungen durchlässt, die in der Richtung der krystallographischen Hauptaxe schwingen. Wenn ich deshalb zwei Turmalinplatten übereinanderlege, und die eine derselben drehe, so kann ich bald durch dieselben hindurchsehen, bald bekomme ich ein dunkles Sehfeld, je nachdem das eine Mal die krystallographischen Haupt- axen der beiden Platten parallel, oder das andere Mal gekreuzt sind. Ich kann endlich statt der Turmaline auch ein künstliches Laboratorium- product, den Herapathit, das schwefelsaure Jodchinin, anwenden, das ähnliche Eigenschaften hat. Wir haben bis jetzt angenommen, dass die Polarisation eine solche sei, dass die Impulse nur noch in einer Ebene oder wenigstens nahezu in einer Ebene stattfinden, mithin die Bahnen der Moleküle geradlinig sind, beziehungsweise Ellipsen von sehr grosser Excentricität darstellen. Wir müssen aber jetzt die verschiedenen Schwingungsweisen kennen lernen, welche das Licht annehmen kann. Als wir früher von der Interferenz der Wellen gesprochen haben, haben wir immer angenommen, dass die beiden Wellensysteme, welche mit einander interferiren, in einer und derselben Ebene schwingen. Was geschieht nun aber, wenn zwei Wellensysteme zur Interferenz kommen, deren Schwiiigungeu senkrecht auf einander stehen ? Da gibt es ver- schiedene Möglichkeiten: Erstens die beiden Wellensysteme können sich in gleichen Phasen befinden. Denken Sie sich, ab sei die Schwingungs- richtung des einen Wellensystems und cd sei die des andern. Wir be- trachten ein Molekül, wenn es von seiner Gleichgewichtslage ausgeht; es würde in der Zeit einer viertel Schwingungsdauer von den Impulsen des einen Wellensystems nach a und von den Impulsen des andern Wellensystems nach d geführt werden: diese beiden Impulse setzen sich nach dem Parallelogramm der Kräfte zusammen, das Molekül wird also facti seh nach k geführt werden. Von da wird es in seine Gleich- gewichtslage zurückkehren und würde dann durch die Impulse des einen Wellen- systems nach c, durch die des andern nach b geführt werden. Thatsächlich gelangt es also nach n. Sie sehen also ein, dass die Impulse sich so zusammensetzen, dass wiederum geradlinig polarisirtes Licht entsteht, das aber nun in einer Ebene schwingt, welche gegen die beiden ursprünglichen Schwingungsrichtungen unter Winkeln von 45^* geneigt ist. Denken Sie sich aber, es sei das eine Wellensj'stem gegen das andere um eine viertel Wellenlänge voraus. Es seien ab und cd (Fig. 10) wiederum die beiden Schwingungsrichtungen, und es sei durch die Länge der Linien auch zugleich die Amplitude bezeichnet, die Elongation, bis zu Fig. 9. 30 Fm. 10. welcher das Molekül von den Impulsen jedes einzelnen Wellengystemes allein hiuausgetrieben werden würde. Wenn die beiden Wellensysteme einen Gangunterscliied von einer viertel Wellenlänge haben, wird, wenn die Elon- gation von dem einen Wellensysteme aus ein Maximum ist, das andere Wellensystera das Molekül durch die Gleichgewichtslage treiben, und, wenn dieses zweite Wellen- system es wiederum zum Maximum der Elongation gebracht hat, würde es, von dem ersten Wellensysteme allein bewegt, durch die Gleichgewichtslage getrieben werden. Wenn sich also das Molekül in a befindet, so wird es einerseits, mit der Geschwindigkeit 0 anfangend, gegen o zu- rückzufallen suchen, anderseits aber wird seine Geschwindigkeit in der Richtung cd im Maximum sein. Es wird also im ersten Momente sich in tangen- tialer Richtung fortzubewegen suchen; in dem Grade aber, als seine Geschwindigkeit in der Richtung ao zunimmt, wird es aus dieser ab- gelenkt werden, so dass es einen Bogen beschreibt. Nach einer gewissen Zeit würde das Molekül durch die Impulse des Systems alt nach _p und gleichzeitig durch die Impulse des Systems c d nach n getrieben worden sein. Thatsächlich wird es sich also in k befinden. Da wir uns die Licht- wellen durch Sinuscurven dargestellt denken müssen, so verhält sich an zu aj}, wie der Sinus des Rogens ak zu dessen Sinusversus, Der Ort also, an den das Molekül gelangt ist, liegt in einer Kreisbahn, die durch k nach d, dann nach b und durch c wieder nach a zurückgeht. Ein solches Molekül also, welches von zwei Wellensystemen, die rechtwin- kelig auf einander stehen und einen Gangunterschied von einer viertel Wellenlänge haben, getrieben wird, schwingt im Kreise herum, und solches Licht, bei dem die Moleküle nicht in einer Ebene, sondern im Kreise herumschwingen, bezeichnet man als circulär polarisirtes Licht. Dasselbe wird natürlich der Fall sein, wenn der Gangunterschied drei- viertel, fünfviertel Wellenlänge, kurz eine ungerade Zahl von Viertel- wellenlängen beträgt. Was wird nun geschehen, wenn zwei Wellensysteme, die recht- winkelig auf einander stehen, zur Interferenz kommen, und einen Gangunterschied haben, welcher weder genau eine gerade Anzahl von Viertelwellenlängen, noch genau eine ungerade Anzahl von Viertel- wellenlängen beträgt. Dann wird das Molekül weder in einer Ebene schwingen, noch sich im Kreise herumbewegen: es wird einen Weg be- schreiben, der zwischen beiden liegt. Nun liegt aber zwischen einem Kreise und einer geraden Linie die Ellipse, denn der Kreis ist eine Ellipse, deren beide Axen gleich sind, und eine Ellipse, deren kleine Axe im Vergleich zur grossen Axe unendlich klein wird, geht in eine gerade Linie über. Die Bahnen werden also Ellipsen von verschiedener Excen- tricität bilden. Licht, in dem die Moleküle in Ellipsen schwingen, nennen wir elliptisch polarisirt für den Fall, dass Verhältniss und Lage der Axen constant bleiben. Schwingungen der Aethertheilclien im gemeinen Lichte. Öl Elliptische Schwingungen sind im polarisirten Lichte überaus häufig. Ein grosser Theil von dem Lichte, was wir geradlinig polarisirt nennen, ist elliptisch polarisirt; es ist nur die eine Axe der Ellipse sehr klein. Das ist zunächst der Fall bei allem. Lichte, das durch Reflexion polarisirt ist. Es gibt aber auch Reflexionen, bei welchen die zweite Axe, die kleine Axe der Ellipse, nicht sehr klein, sondern so gross ist, dass auch bei den gröberen Versuchen das Licht sich nicht mehr als geradlinig polarisirt erweist; Das ist z. B. bei den Reflexionen an Metallen der Fall. Wie sich nun zwei auf einander rechtwinklig und geradlinig pola- risirte Strahlen zu einem circular polarisirten zusammensetzen können, so können sich umgekehrt zwei circular polarisirte Strahlen zu einem geradlinig polarisirten zusammensetzen. Man kann sich dies auf zweierlei Weise veranschaulichen. Erstens kann man sich die beiden circular polarisirten Strahlen in je zwei geradlinig polarisirte zerlegt denken. War die Drehung gleichsinnig, so fallen die vier Wellensysteme so auf ein- ander, dass sich je zwei und zwei addiren. In ihrer Zusammensetzung geben sie dann also wieder einen circular polarisirten Strahl, aber von grösserer Amplitude. War aber die Drehung ungleichsinnig, so addiren sich nur zwei von den W^ellensystemen, die beiden anderen vernichten einander, weil sie einen Gangunterschied von einer halben Wellenlänge haben. Man kann sich aber auch zwei halbkreisförmige Stücke der circulären Bahnen denken, die einander zu einem Kreise ergänzen, durch den da, wo sie aneinander gelegt sind, ein Durchmesser gezogen ist. Dann kann man sich für jedes kleinste Bahnstück die Impulse in zwei Com- ponenten zerlegen, von denen die eine jenem Durchmesser parallel ist, die andere senkrecht auf ihm steht. War nun die Kreisbewegung in beiden Strahlen ungleichsinnig, so wird man finden, dass sich zwar die ersteren Compouenten aus beiden Hälften addiren, die letzteren aber vernichten und so eine geradlinige Bewegung entsteht, deren Richtung der gezogene Durchmesser anzeigt. So lange beide Strahlen gleichen Gang haben, wird diese Richtung unverändert bleiben, wenn aber der eine Strahl dem anderen vorauseilt, so wird sich diese Richtung allmälig um das Centrum des Kreises als Axe drehen. Da diese Richtung die Schwingungsebene anzeigt, so nimmt diese somit im resultirenden Strahle die Gestalt einer windschiefen, einer aufgedrehten Fläche an, und mit ihr und in derselben Weise wird die stets senkrecht auf ihr gedachte Polarisationsebene gedreht. W^ir werden hievon später eine wichtige Anwendung machen. Scliwiiigiiiigeii der Aetliertheilclieii im gemeinen Lichte. In welcher Art schwingen die Moleküle im nicht polarisirten, im sogenannten gemeinen Lichte, wie es eben von den leuchtenden Körpern ausgeht? Es heisst, hier schwingen die Moleküle nach allen möglichen Richtungen. Nun sehen Sie aber leicht ein, dass ein Molekül sich nicht gleichzeitig nach allen Richtungen bewegen kann, sondern nur immer nach einer Richtung und zu derselben Zeit nach keiner anderen. Wie haben wir es uns also vorzustellen, dass die Moleküle zwar immer in Ebenen schwingen, die senkrecht auf der Fortpflauzungsrichtung stehen, 32 Ultraviolette Stralilen. aber dass sie dabei in sehr verschiedenen Riehtungen schwingen? Wir haben es uns so vorzustellen, dass sie in sehr kurzen Zeiträumen nach- einander ihre Schwingungsweise ändern, dass wir dies aber deshalb auch mittelst polarisirender Vorrichtungen nicht wahrnehmen, weil die Aende- rungen so ra?ch aufeinander folgen, dass in unserem Auge der erste Eindruck noch nicht gewichen ist, wenn der nächste Eindruck kommt. Bekanntermassen überdauert in unserem Auge die Erregung den Reiz immer um eine gewisse Zeit, die nach der Stärke des Reizes verschieden ist, jedenfalls um so viel, dass, wenn in sehr kurzen Intervallen hinter- einander Aenderungen eintreten, diese Aenderungen als solche nicht wahrgenommen werden, sondern ein gemischter Eindruck durch die zeitlich auseinander liegenden Reize entsteht. So mischen wir ja Farben, die auf einem Farbenkreisel aufgetragen sind, indem wir den Kreisel drehen. Die gangbarste Vorstellung ist wohl die, dass sich die Schwingungs- richtung im gemeinen Lichte successive ändert. Wenn ich einen starken Stahldraht, dessen eines Ende ein blankes Knöpfchen trägt, mit dem anderen in einen Schraubstock spanne, und dann durch Anreissen oder Anschlagen in Schwingungen versetzte, so sehe ich das Knöpfchen eine Ellipse beschreiben. Ohne mein Zuthun ändert diese Ellipse fortwäh- rend und allmälig ihre Excentricität und die Lage ihrer Axen. So denkt man sich auch die Veränderungen der Bahnen der Aethermole- kiile im gemeinen Lichte. Wenn nun gemeines Licht in geradlinig polarisirtes verwandelt wird, so geschieht dies so, dass man sich jeden einzelnen Impuls in zwei Componenten zerlegt denken muss, von denen die eine in der neuen Schwingungsrichtung liegt, die andere senkrecht auf ihr; erstere ist die wirksame, letztere die unwirksame, das heisst unwirksam für den Strahl, welchen wir eben in Betracht ziehen. Ultrayiolette Strahlen. Nachdem wir uns so mit den Vorstellungen bekannt gemacht haben, die man vom Lichte hat, kehren wir zu dem Spectrum zurück, welches wir uns aus dem gemischten Lichte dadurch verschaffen, dass wir dasselbe durch ein Prisma gehen lassen. Sie wissen, dass wir in demselben eine Reihe von Farben erhalten, Roth, Orange, Gelb, Grün, Blau und Violett, welche dadurch entstehen , dass die verschiedenfarbigen Strahlen je nach ihrer Schwingungsdauer verschieden stark abgelenkt werden, die von der kürzesten Schwingungsdauer, die violetten, am meisten, die von der längsten Schwingungsdauer, die rothen, am wenigsten. Wenn Sie aber ein solches Spectrum photographireu, so erhalten Sie ein Bild, welches dem Spectrum, das Sie mit ihren Augen sehen, vollkommen unähnlich ist. Am rothen Ende des Spectrums fehlt ein Stück, und am violetten Ende des Spectrums erscheint ein Stück, das Sie früher gar nicht gesehen haben. Es müssen also die Strahlen von grosser Wellenlänge weniger gut auf das lichtempfindliche Papier wirken, dagegen muss es aber jenseits des Violett noch eine Menge von Strahlen geben, Ultraviolette StraLlen. 33 welche man für gewöhnlich nicht sieht, und welche nichtsdestoweniger energisch auf das lichtempfindliche Papier wirken. Diese Strahlen sind es, welche man mit dem Namen der chemischen Strahlen bezeichnet. Es ist klar, dass die Wellenlänge derselben kürzer sein muss, als die Wellenlänge der für gewöhnlich sichtbaren Strahlen, denn sie sind ja stärker brechbar. Warum sehen Avir denn diese Strahlen nicht? Es kann dafür zwei Gründe geben: Erstens können die Strahlen von den optischen Medien unseres Auges absorbirt werden, so dass sie gar nicht zur Netzhaut ge- langen, und zweitens wäre es möglich, dass sie durch die optischen Medien unseres Auges zwar hindurchgingen, dass sie aber vermöge ihrer geringeren Wellenlänge nicht in gleichem Grade wie die übrigen Strahlen im Stande wären, die Netzhaut zur Empfindung des Leuchtenden zu erregen. Wir müssen die erste Möglichkeit zunächst ins Auge fassen: die optischen Medien des Auges und namentlich die Linse absorbiren in der That diese Strahlen ziemlich stark. Man bemerkt dies an der Wirkung, welche sie auf Guajakharz und andere lichtempfindliche Substanzen ausüben, vor und nachdem sie durch eine Thierlinse hindurchgegangen sind. Es ist, wie gesagt, namentlich die Linse, die diese Strahlen stark absorbirt, denn sie absorbirt davon nahezu ebenso viel, wie die ganzen optischen Medien zusammengenommen. Bei Untersuchungen, die im Laboratorium von Helmholtz gemacht worden sind, hat es sich her- ausgestellt, womit diese starke Absorption zusammenhängt. Sie hängt mit der sogenannten Fluorescenz der Linse zusammen. Man fand zuerst an gewissen Arten von Elussspath, namentlich an dem Flussspathe von Aiston Moore, eine merkwürdige Eigenschaft, die darin bestand, dass derselbe, wenn er beleuchtet wurde, aus seinem. Innern Licht zerstreute, und man nannte diese Erscheinung nach dem Flussspathe (fluor spar) Fluorescenz. Man fand dieselbe Erscheinung auch an einer Lösung von gewöhnlichem käuflichem Chinin in mit Schwefelsäure an- gesäuertem Wasser; man fand, dass, wenn Sonnenstrahlen, die durch den Spalt eines Fensterladens einfallen oder mittelst einer Linse con- centrirt sind, durch eine solche ganz klare Lösung gehen, sich darin ihr Weg in ähnlicher Weise abzeichnet, wie er es z. B. in einem Zimmer thut, in dem viel Staub herumfl.iegt, oder das mit Tabakrauch erfüllt ist. Die ganze Bahn der Strahlen ist durch eine schön lichtblaue Farbe ausgezeichnet. Man glaubte anfangs, dass dies, wie beim Staube und Tabakrauch, reflectirtes Licht sei. Wenn es reflectirtes Licht wäre, so müsste es pola- risirt sein, denn alles reflectirte Licht ist polarisirt, nur mehr oder weniger vollkommen. Wenn man aber durch eine polarisirende Vorrich- tung, z. B. durch ein Nicol'sches Prisma auf diese schöne Lichterschei- nung hinsieht, so kann man, wenn man das Prisma wie immer dreht, keinen Unterschied bemerken, die Lichterscheiuung wird nicht heller und nicht dunkler. Dieses Licht ist also nicht polarisirt und somit auch kein reflectirtes. Stokes kam nun auf den glücklichen Gedanken, das Licht, ehe es durch die schwefelsaure Chininlösung hindurchgeht, mittelst eines Prismas in seine Farben zu zerlegen, und fand, dass das Roth und das Gelb, wenn sie durch die schwefelsaure Chininlösung hindurchgehen, ihren Brücke. Vorlesungen I. 4. Aufl. '6 34 Ulti-aviolette Strahlen. Weg darin nicht verzeichnen, dass aber im Blau die Erscheinung anfängt, und dass sie weit über das violette Ende des Spectrums hinausgeht, dass noch weit jenseits des sichtbaren Lichtes der Weg von Strahlen in der Chiuinlösung verzeichnet ist, die wir für gewöhnlich gar nicht sehen. Es hatte sich schon bei früheren Versuchen, bei denen man einfach gemischtes Licht einfallen liess, gezeigt, dass die Lichterscheinuug sich durch eine sehr dicke Schicht von Ghininlösung fortsetzt, wenn die letztere sehr verdünnt ist. Wenn sie dagegen concentrirt ist, so ist zwar die Licht- erscheinung dort sehr stark, wo das Licht eintritt, wird aber nach und nach schwächer und hört endlich in einer gewissen Tiefe der Lösung ganz auf. Es weist dies darauf hin, dass durch die Erscheinung bestimmtes Licht verbraucht wird, und nun das übrige, welches noch hindurch geht, nicht mehr im Stande ist, die Erscheinung hervorzubringen. Stokes fand ferner, als er das Licht, welches hier aus dem Innern zerstreut wird, mit dem Prisma zerlegte, dass es noch zusammengesetztes Licht war. Er fand ferner , dass die Wellenlänge der einzelnen Lichtsorten immer grösser war als die des erzeugenden Lichtes. Von diesem letzteren nach Stokes benannten Gesetze hat indessen Lommel Ausnahmen gefunden an gewissen fluorescirenden Körpern, welche sich auch in Rücksicht auf die Dispersion ungewöhnlich verhielten. Nur die mittlere Brechbarkeit des Fluorescenzlichtes ist nach ihm bei allen Körpern kleiner als die des erzeugenden, während die der kurzwelligsten Strahlen des Fluorescenzlichtes auch grösser sein kann. Wenn man dies alles zusammenhält, muss man auf folgende Er- klärung kommen: Es gibt gewisse Körper, in welchen das Licht von kurzer Schwingungsdauer, wenn es hindurchgeht, nicht nur seine leben- dige Kraft einfach fortpflanzt oder in dunkle Wärme verwandelt, sondern in denen es Lichtwellen anderer Farbe, Schwingungen von anderer, und im Allgemeinen von längerer Schwingungsdauer erzeugt. Diese Lichtwellen verbreiten sich von jedem Punkte der Lichtbahn nach allen Eichtungen hin, und deshalb sehen wir die Lichtbahn leuchtend. Wir sehen die Licht- bahn auch der dunklen Strahlen jenseits des Violett leuchtend, weil die erzeugten Wellen von grösserer Schwingungsdauer und deshalb für uns sichtbares Licht sind. Man kennt jetzt eine sehr grosse Anzahl von Körpern, die in dieser Weise fluoresciren, und die Licht von sehr verschiedenen Farben zerstreuen. TJranglas fluorescirt grün, ein alkoholischer Auszug von Lakmus fluore- scirt gelb. Man weiss, dass die Erscheinung so verbreitet ist, dass es oft schwer ist, sich vor ihr zu schützen. Wenn man z. B. ein Spectrum auf einer Papierfläche auffängt, so hat man nicht mehr die wahren Farben allein, weil das Papier, wenn auch schwach, fluorescirt. Auch Theile des menschlichen Auges fluoresciren, und zwar ist es zunächst die Linse, die am stärksten fluorescirt, und daraus erklärt sich auch, warum sie die ultravioletten Strahlen so stark absorbirt. Denn das Licht, welches wir als fluorescirend sehen, wird ja nicht aiis Nichts erzeugt, sondern für dasselbe wird ja lebendige Kraft verbraucht, die lebendige Kraft der er- zeugenden Strahlen, die hier in erster Reihe die dunklen Strahlen jenseits des Violett sind. Hinzufügen muss ich noch, dass die Netzhaut selbst fluorescirt. Andererseits hatDouders nachgewiesen, dass die ultravioletten Strahlen auf diesem Wege nicht vollständig verbraucht werden, denn Ultraviolette Strahlen. 35 wenn irian sie durch die Liuse allein, oder auch durch die ganzen opti- schen Medien des Auges hindurchgehen lässt, und eine Chininlösung auf- stellt, so erzeugen sie in dieser noch einmal Fluorescenz. Man muss also annehmen, dass xmsere Netzhaut an und für sich für »Strahlen von so kurzer Schwingungsdauer untcrempfindlich ist, das heisst, dass sie dagegen weniger empfindlich ist, als gegen Strahlen von grösserer Schwingungs- dauer. Unempfindlich ist sie dagegen nicht, denn diese Strahlen, die wir als unsichtbare ultraviolette Strahlen ansehen, sind nicht ganz unsichtbar, sondern nur schwach sichtbar. Davon kann man sich überzeugen, wenn man den Theil des Spectrums, den man immer mit seinen Farben gesehen hat, mit einem Schirme bedeckt: dann tritt jenseits das Violett, wo man früher nichts gesehen, noch ein Theil des Spectruras zu Tage, weil man jetzt nicht durch die andern Farben des Spectrums geblendet ist. Schon ältere Beobachter haben auf diese .Weise einen grossen Theil der ultravioletten Strahlen gesehen, und in neuerer Zeit hat man sie bei gesteigerter Lichtstärke, Anwendung von Bergkrystallprismen statt Glasprismen, und vervollkommten Beobachtungsmethoden noch weiter ver- folgt. Es existiren verschiedene Angaben über den Eindruck der Farbe, den diese Strahlen machen. Sie scheinen in der That nicht auf alle Augen gleich zu wirken. Einige geben an, dass sie diese Strahlen violett, andere, dass sie sie blaugrau, andere, dass sie sie silbergrau sehen, ohne einen deutlichen Stich ins Blau oder Violett. Die strahlende Wärme. Fig. 11. Das Wärmemaximum im Spectrum fällt nicht nothwendig mit dem Lichtmaximum zusammen. Es hat eine verschiedene Lage, je nachdem das Licht von der Sonne oder von einem anderen glühenden Körper kommt. Auch sind die Wärmewirkungen nicht dort begrenzt, wo die Lichtwirkungen begrenzt sind. Wo nicht die Strahlen grösserer Wellen- länge vorher absorbirt sind, reichen erstere stets über das rothe Ende des Spectrums hinaus. Wir haben also hier eine mehr oder weniger grosse Menge von Strahlen von grösserer Wellenlänge als das E-oth, die wärmen, aber nicht leuchten. Fig. 1 1 zeigt das Wärmespectrum der Sonne nachLa mau sky durch ein Steinsalz- prisma entworfen. Es ist in demselben das Ende des sichtbaren Roth verzeichnet, und ausserdem die Frauen- hofer'sche Linie D im Gelb, die Linie E im Gelbgrün, F im Grün- blau und G im Indig- blau, um eine Vorstel- lung von dem Verhältniss der dunklen Wärme zur leuchtenden zu geben. Die grösste Helligkeit des Spectruras fällt zwischen D und E. Die Wärme- intensitäten sind den Höhen proportional, zu denen sich die Curve in der Figur erhebt. Es muss indessen bemerkt werden, dass ein solches 3» -Endl 13 LcTitbartaRotK. OD Die strahlende Wärme. Spectrum keine richtige Vorstellung gibt von den Wärmeintensitäten, die durch die einzelneu Strahlungen von bestimmter Wellenlänge repräsen- tirt werden. In dem durch Brechung erzeugten Spectrum werden die Strahlen um so mehr auseinandergezerrt, je stärker sie gebrochen wer- den. Es müssen also die Intensitäten am violetten Ende zu gering, am rothen Ende und noch mehr im ultrarothen Theile zu gross erscheinen. Bringt man dieses, wie es Lundquist gethan hat, in Rechnung, so findet man, dass für das durch Steinsalz gegangene Sonnenlicht das Maximum ins leuchtende Spectrum, und zwar zwischen die Frauenhofer- schen Linien D und E fällt. Zu demselben Eesultate ist auch Mouton durch seine in späterer Zeit angestellten Untersuchungen gelangt. Langley untersuchte mit einem für seinen Zweck eigens construirten Instru- mente, der actinischen Waage, direct das Gitterspectrum, welches die Verzerrung nicht zeigt, die dem prismatischen Farbenbilde anhaftet. Er fand nur ein Maximum und dieses lag im Orange. Die grossen Abweichungen verschiedener Beobachter liegen in der Natur der Sache. Die gestellte Aufgabe lässt überhaupt keine allgemeine Lösung zu. Man misst ja stets nur die Wärme, welche an die Messvorrichtung übertragen wird, und diese braucht nicht für alle Wellenlängen derselbe Bruchtheil der Gesammtwärme der Strahlung zu sein. Dieser Bruchtheil kann sich ändern mit der Natur des wärmeaufnehmenden Materials, und zwar nicht für alle Wellenlängen in derselben Weise: dass dem wirklich so sei, ist sogar in hohem Grade wahrscheinlich. Uns genügt es hier zu wissen, dass es eine grosse Menge von Wärmestrahlen gibt von grösse- rer Wellenlänge als das äusserste Roth, dunkle Wärmestrahlen. Von den grössten Wellenlängen, die man gemessen hat, gehen nach verschie- denen Angaben noch 520 bis 533 auf den Millimeter. Sie sind also nahe ■ S'/^nial so lang als die Lichtwellen im hellsten Theile des Spectrums. Um diese dunklen Strahlen möglichst vollständig zu erhalten, muss man, wie Macedonio Melloni fand, nicht ein Glasprisma, sondern ein Steinsalzprisma anwenden, da Glas eine zu grosse Menge von ihnen absorbirt. Noch weniger Wärme lässt eine Alaunplatte durch, so dass wir hier drei farblos durchsichtige Medien haben, Steinsalz, Glas und Alaun, welche die Wärme in höchst ungleichem Grade durchlassen. Das scheint darauf hinzudeuten, dass Licht und strahlende Wärme qualitativ ver- schieden sind. Melloni versuchte, um die Nichtidentität von Licht und von strahlender Wärme nachzuweisen, Licht ohne Wärme darzustellen. Dies gelang ihm in der That, indem er ein Gefäss machte, das er vorn und hinten mit einem mit Kupferoxyd grüngefärbten Glase versehloss und mit Wasser füllte. Durch diese Combination von Wasser und grünem Glase ging grünes Licht noch sehr gut hindurch, so dass es eine bedeu- tende Helligkeit verbreitete, aber mit seinem empfindlichsten Thermoskop konnte er keine Wärme mehr nachweisen. Auch bei der Untersuchung der reflectirten Wärme zeigte es sich, dass man aus der Lichtreflexion der Körper keinen Schluss machen könne auf die Wärmereflexion. Kurz in der ganzen ersten Reihe von Melloni 's Untersuchungen sah es aus, als ob sich Licht und Wärme als ein Paar vollkommen verschiedener Agentien zeigen würden. Nichtsdestoweniger ist Melloni in seinen späteren Jahren voll- ständig zu der Ueberzeugung gekommen, dass Licht und Wärme mit ein- Die strahlende Wäime. 37 ander identisch sind, dass sich die dunkle strahlende Wärme von der leuchtenden, welche wir Licht nennen, nur durch die Schwingungsdauer unterscheidet. Die anscheinenden Unterschiede verlieren ihren Werth durch folgende Betrachtung. Nehmen wir an, die dunklen Wärmestrahlen wären unsichtbar, entweder weil sie nicht zu unserer Netzhaut gelangen, indem sie von den optischen Medien absorbirt werden, oder weil sie ver- möge ihrer grösseren Schwingungsdauer nicht mehr das Vermögen haben, die Netzhaut zur Empfindung des Leuchtenden zu erregen. Dann klären sich alle anscheinenden Widersprüche auf, dann verschwinden alle schein- baren Unterschiede zwischen Licht und strahlender Wärme. Einer der wesentlichen Unterschiede bestand darin, dass wir eben diese Strahlen nicht sehen. Dieser ist hiermit von selbst aufgeklärt. Ein anderer Unter- schied bestand darin, dass gleich durchsichtige Körper die Wärme so ungleich durchlassen, dass Steinsalz sehr viel Wärme hindurchlässt, da- gegen Alaun sehr wenig Wärme hindurchlässt. Nun denken Sie sich, dass eine Alaunplatte nur gerade diejenige Wärme einigermassen gut durch- lässt, welche solche Wellenlängen hat, dass wir sie sehen ; dass die Stein- salzplatte diese Wärme auch durchlässt, aber ausserdem noch alle übrige, welche wir nicht sehen: so begreifen Sie leicht, dass beide gleich durch- sichtig sein können, und dass die eine sehr viel, die andere sehr wenig Wärme durchlassen wird. Denken Sie sich weiter, Sie hätten zwei Körper, die anscheinend das Licht gleich gut reflectiren, die aber die Wärme sehr ungleich reflectiren, so kann das so geschehen, dass der eine dieser Körper die- jenigen Wärmestrahlen reflectirt, welche wir sehen, dass der andere diese Wärmestrahlen auch reflectirt, aber ausserdem diejenigen, welche wir nicht sehen. Dann erklärt sich dieser Unterschied ebenso, wie der. welcher zwischen der Steinsalzplatte und der Alaunplatte besteht. Endlich, wenn wir uns fragen, wie war es möglich, dass Mellon i Licht ohne Wärme darstellen konnte, wenn doch beide identisch sein sollen, so ist darauf die Antwort, dass seine Combination von Wasser und mit Kupferoxyd gefärbtem grünen Glase voraussichtlich gar keine Strahlen von grosser Wellenlänge durchliess, da schon das Wasser die dxinklen in hohem Grade absorbirt, und das erwähnte Glas aus dem Spectrum auch noch das Eoth fortnimmt, dass ferner auch von dem übrigen Lichte nur ein Bruchtheil hindurchging, aber ein Bruchtheil, der sehr gut durch die optischen Medien des Auges ging. Mau braucht dann nur die unter solchen Umständen sehr wahrscheinliche Annahme zu machen, dass die Netzhaut gegen solche Strahlen viel empfindlicher war, als Melloni's Thermoskop, um zu dem Resultate zu gelangen, dass zwar noch strahlende Wärme vorhanden war, aber so wenig, dass sie sich mit dem Thermoskop nicht nachweisen liess, während sie die Retina noch lebhaft zur Empfindung des Leuchtenden erregte. Wir werden uns dieser Erklärung zuwenden, wenn wir finden, dass im Uebrigen strahlende Wärme und Licht sich ganz analog ver- halten, und das finden wir in der That. Wir wissen erstens, dass die strahlende Wärme in derselben Weise und nach denselben Gesetzen reflectirt wird, wie das Licht. Der Brenn- spiegel war bekanntlich schon im Alterthume bekannt. Wir wissen ferner, dass strahlende Wärme nach denselben Gesetzen gebrochen wird, nach 38 Die strahlende Wärme. denen das Licht gebrochen wird. Sie wissen, dass wir mit einem Brenn- glase die strahlende Wärme der Sonne concentriren. Beim Lichte waren es wesentlich die Interferenzerscheinungen, welche uns veranlasst haben, das Licht als eine Wellenbewegung anzu- sehen. Wir haben diese Interferenzerscheinungen zuerst im Beugungs- spectrum kennen gelernt. Es fragt sich: zeigt die strahlende Wärme auch Interferenz? Fizeau und Foucault haben die Interferenz auch da, nur auf anderem Wege, nachgewiesen. Sie bedienten sich dabei eines sehr kleinen Alkoholthermometers, das durch die Beugungsstreifen von Stelle zu Stelle hindurchgeführt und mittelst eines Mikroskops ab- gelesen wurde. Da sich die strahlende Wärme auch durch den leeren Raum fort- pflanzt, so müssen wir hier, wie beim Lichte annehmen , dass es nicht nur eine Wellenbewegung sei, sondern dass es eine Wellenbewegung an den Aethertheilchen sei, und es bleibt uns nur noch übrig zu fragen, ob diese Wellen Transversalwellen oder Longitudinalwellen seien. Bei dem Lichte haben wir die gleiche Frage durch die Polarisation zu entscheiden versucht. Ist die strahlende Wärme polarisirbar? Man könnte versuchen, die Wärme mittelst Brechung durch einen Satz von Glasplatten zu polarisiren. Aber die Wärme geht so schlecht durch Glas hindurch, dass hiebei sehr viel absorbirt werden würde. Der schottische Physiker Forbes fand vor einer langen Eeihe von Jahren ein anderes Auskunftsmittel. Wenn man eine Glimmerplatte erhitzt, so lösen sich die einzelnen Lamellen von einander, so dass sie nun aus einer sehr grossen Menge sehr dünner Plättchen besteht. Wenn man eine so zugerichtete Glimmer- platte schief gegen die einfallenden Strahlen aufstellt, und ihr gegenüber und parallel mit ihr eine zweite eben solche, so hat man einen Polari- sationsapparat für die strahlende Wärme. Auf dessen einer Seite stellte Forbes die Wärmequelle, auf der anderen sein Thermoskop auf. Drehte er nun die eine Glimmerplatte um den einfallenden Strahl als Axe, so zeigte das Thermoskop eine Abnahme der Wärme an. Die letztere wurde ein Minimum, wenn die Drehung 90*^' betrug, und nahm von da an wieder zu. Kurz es geschah Alles wie beim Licht, nur dass man an die Stelle der Wörter heller und dunkler, wärmer und weniger warm setzen musste. Später ist auch die Polarisation der Wärme durch Reflexion und durch doppelte Brechung nachgewiesen worden. Kurz, jeder Unterschied zwischen Licht- und Wärme wellen, mit Ausnahme der W^ellenlänge, ver- schwindet. AVir müssen uns deshalb der früher erwähnten Hypothese zuwenden, und haben uns nur noch zu fragen: Weshalb erregen diese Wärmestrahlen unsere Netzhaut nicht zur Empfindung des Leuchtenden? Gelangen sie nicht hin, oder haben sie an und für sich, ihrer grösseren Wellenlänge wegen, nicht das Vermögen, sie zur Empfindung des Leuch- tenden zu erregen? Die dunklen Wärmestrahlen jenseits des Roth werden in sehr hohem Grade vom Wasser absorbirt, und da sich in unserem Auge eine zolldicke Wasserschichte befindet, so ist dies schon hinreichend Grund dafür, dass wenigstens ein grosser Theil der Strahlen absorbirt wird. In neuerer Zeit ist die Durchgängigkeit der optischen Medien des Auges für dunkle Wärmestrahlen von Ferd. Klug direct untersucht worden. Er fand, dass die Absorption noch bedeutend stärker war als die von Wasser, Die strahlende Wärme. 39 dass aber doch noch ein nicht zu vernachlässigender Bruchtheil hin- durchging. Ganz unsichtbar sind nun zwar die Strahlen nicht, deren Brech- barkeit geringer ist, als die des rothen Endes des für gewöhnlich sicht- baren Spectrums. Der ältere Seebeck hatte sie schon im Jahre 1820 als einen schwachen Schein gesehen, und Brewster beobachtete sie, nachdem er längere Zeit im Dunkeln verweilt hatte, mittelst eines Fern- rohres, das er mit schwarzem Sammt ausgekleidet hatte. Aber sie müssten nach Ferd. Klug's Messungen doch einen viel grösseren Effect hervor- bringen, wenn sie ein ähnliches Vermögen hätten die Netzhaut zur Em- pfindung des Leuchtenden zu erregen, wie die Strahlen des für gewöhn- lich sichtbaren leuchtenden Spectrums. Es muss ihnen dasselbe theils ganz abgehen, theils in viel geringerem Grade zukommen. Wir werden später in der Optik sehen, dass dies mit unseren jetzigen Anschauungen über Licht- und Farbenempfindung keineswegs im Widerspruch steht. In welchem Verhältnisse stehen nun strahlende Wärme und soge- nannte thermometrische Wärme, die in den Körpern verharrt und sich in ihnen durch Leitung fortpflanzt, zu einander? Strahlende Wärme erzeugt thermometrische Wärme , denn sie er- wärmt die Glas- oder Alaunplatte, durch welche sie hindurchgeht, deutlich. Wir denken uns, dass dies geschieht, indem von deu Aethertheilchen Bewegung an die ponderablen Atome übertragen wird. Dass dem wirklich so sei, zeigt uns ein Wassertropfen, auf den wir eine intensive Strahlung richten, er föngt an rascher und rascher zu verdampfen, das heisst, seine stärker bewegten Theilchen werden nach allen Seiten hin fort- geschleudert. Zu dieser Vorstellung passt es auch, dass sich die Wärme durch den leereu Raum zwar durch Strahlung, aber nicht durch Leitung fortpflanzt. Andererseits erzeugt die thermometrische Wärme strahlende Wärme, indem die ponderabeln Atome die Aetheratome nach allen Rich- tungen hin in Bewegung setzen. Wenn wir nun Licht und Wärme, sowohl die geleitete als die strahlende, als Bewegungserscheinungen kennen gelernt haben, bleiben uns jetzt noch die Erscheinungen der Electricität, des Magnetismus und Diamaguetismus übrig. Können wir dieses ganze Gebiet der Physik auch als lediglich von Bewegungserscheinungen handelnd betrachten? Dazu haben wir in der That ein Recht, denn Alles, was im ganzen Gebiete der Electricität und des Magnetismus und Diamagnetismus wirklich existirt, was wirklich in die Sinne fällt, das sind alles entweder Massen- bewegungen, oder Erscheinungen von Licht und Wärme. Es nähern sich zwei Körper einander, sie ziehen, wie wir uns ausdrücken, einander an, oder sie entfernen sich von einander, wie wir uns ausdrücken, sie stossen einander ab, oder es sprühen Funken, es entstehen Blitze, es erhitzt sich ein Draht und kommt ins Glühen, kurz, wir mögen welche Erscheinung immer herausgreifen, wir kommen nur auf Licht- xind Wärmeerscheinungen und auf Erscheinungen der mechanischen Bewegung. Das, was wir als Electricität und Magnetismus bezeichnen, das sind nicht die Erscheinungen selbst, sondern die gedachten Ursachen, die wir den Erscheinungen unter- schieben, weil wir den Wechsel der Spannkräfte und lebendigen Kräfte, wie er in den Körpern stattfindet, und wie er zu den Erscheinungen Veranlassung gibt, nicht vollständig verfolgen können , und deshalb den 40 Thiere und Pflanzen. Erscheinungen gedachte TJr Sachen unterschieben, die wir mit Namen wie die der magnetischen Auziehung und der magnetischen Abstossung bezeichnen. Wir sind also schliesslich zu dem Resultate gekommen, dass alle Erscheinungen, mit denen wir es überhaupt zu thun haben, Beweguugs- erscheinungen sind, theils Massenbewegiingen, theils Bewegungen der kleinsten Theile, und so, wie wir dies auf die gesammte anorganische Natur anwenden, so müssen wir es auf die Organismen i;nd endlich auch auf den menschlichen Organismus anwenden. Thiere und Pflanzen. Wir legen uns die Frage vor, worauf der wesentliche Unterschied zwischen den beiden grossen Abtheilungen von Organismen, den Thieren und den Pflanzen, beruhe. In alten Zeiten sah man als den wesentlichen Unterschied zwischen beiden das Bewegungsvermögen an. Man überzeugte sich aber dann, dass gewisse Organismen, welche man bisher für Pflanzen gehalten hatte, weil sie auf dem Boden des Meeres festgewachsen waren, und weil sie äusserlich Aehnlichkeit mit Pflanzen hatten, Thiere waren, und später lernte man Pflanzen kennen, welche sich bewegen, nicht nur einzelne Theile bewegen, sondern wirklich ihren Ort verändern. Man konnte also das Bewegungsvermögen nicht mehr als Kriterium zwischen Thieren und Pflanzen aufstellen. Auch die thierische Wärme kann man nicht wohl benützen, um Thiere und Pflanzen von einander zu unter- scheiden. Denn, wenn auch alle Thiere Wärme bilden, so bilden doch einige von ihnen so wenig Wärme, dass wir mit unsern feinsten Hilfsmitteln nicht im Stande sind, sie nachzuweisen. Andererseits gibt es pflanzliche Organis- men, welche in einzelnen Theilen, z. B. in den Blüthenkolben zu gewissen Zeiten nicht unbedeutende Mengen von Wärme bilden. In den dreissiger Jahren dieses Jahrhunderts, als man sich mehr und mehr überzeugte, dass allen pflanzlichen Geweben eine gewisse Grundform, die der soge- nannten Zelle, zu Grunde liege, da glaubte man einen wesentlichen Unter- schied zwischen Thier und Pflanze in der Structur gefunden zu haben. Aber bald veröfi^entlichte Theodor Schwann eine Abhandlung über die Aehnlichkeit der Structur der Thiere und Pflanzen, in welcher er nach- wies, dass nicht nur gewisse pflanzliche Elemeutartheile gewissen thierischen im hohen Grade ähnlich sind, sondern dass sich in ganz ähnlicher Weise wie bei den Pflanzen auch alle thierischen Gewebselemente aus ursprüng- lich ähnlichen Grundformen entwickeln. Es blieb jetzt noch die Art der Befruchtung und der Fortpflanzung übrig, welche nach den älteren Beob- achtungen bei Thieren und Pflanzen sehr wesentlich verschieden sein sollte. Je mehr man aber in neuerer Zeit in den Befruchtungsprocess der Pflanzen, namentlich in den gewisser Kryptogamen eingedrungen ist, um so mehr haben sich die Analogien zwischen Thieren und Pflanzen auch hier gemehrt. Wenn man den wesentlichen Unterschied zwischen Thier und Pflanze auffinden will, muss man ihre Ernährung, ihren Assimilationsprocess, die Art ihres Wachsthums studiren. Die Nahrungsmittel der Pflanzen sind Wasser, dann die Kohlensäure, die in der atmosphärischen Luft und im Wasser enthalten ist, endlich die Thiere und Pflanüen. 41 Salze, welche im Wasser aufgelöst sind, und gewisse stickstoffhaltige Ver- bindungen, Salpetersäure, ferner Ammoniak und andere Verbindungen, welche grossentheils mit Leichtigkeit so zerfallen, dass Ammoniak als eines ihrer Zercetzungsproducte gebildet wird. Was erzeugt die Pflanze aus diesen Körpern, woraus besteht der Pflanzeuleib ? Der Pflanzenleib besteht der grossen Masse nach aus Kohlehydraten, das heisst aus Körpern, welche so zusammengesetzt sind, dass man sie als Verbindungen des Kohlenstoffes mit Wasser ansehen kann, weil sie aus Kohlenstoff, Sauer- stoff und Wasserstoff bestehen, und die beiden letzteren in solchen Ver- hältnissen enthalten, dass sie gerade mit einander Wasser bilden; so, dass man diese Körper, wenn man nur ihre rohe Formel berücksichtigt, als Verbindungen von Kohlenstoff mit Wasser ansehen kann. Ausserdem enthalten die Pflanzen eine grössere oder geringere Menge von sehr hoch zusammengesetzten und verhältuissmäasig niedrig oxydirten stickstoff- haltigen Vorbindungen, Eiweisskörper, die wir später genauer kennen lernen werden. Endlich enthalten sie noch eine Reihe anderer stickstoff- freier niedrig-oxydirter und zum Theil unoxydirter organischer Ver- bindungen, Fette, Harze und ätherische Oele. Wenn wir diese Bestand- theile der Pflanzen mit den Nahrungsmitteln derselben vergleichen, so finden wir, dass die Nahrungsmittel verhältnissmässig einfach zusammen- gesetzte Verbindungen sind, dabei hochoxydirt, wie Kohlensäure und Wasser und die Salze, dass dagegen die Endproducte, die daraus gebildet sind, ein hohes Atomgewicht haben, hoch zusammengesetzt und niedrig oxydirt sind. Nun haben wir früher gesehen, dass bei chemischen Pro- cessen, bei denen hochoxydirte und niedrig zusammengesetzte Substanzen in niedrig oxydirte und hoch zusammengesetzte umgewandelt werden, lebendige Kraft in Spannkraft umgesetzt wird, dass, wie man sich früher ausgedrückt hat, bei ihnen Wärme latent wird. Woher ist die Wärme gekommen, vermöge welcher Kohlensäure, Wasser, Salze und Ammoniak- verbindungen in Kohlehydrate, Eiweisskörper, Fette, Harze und äthe- rische Oele umgewandelt worden sind? Sie ist nichts anderes als die atmosphärische Wärme, die Wärme der Sonnenstrahlen. Unter ihrem Einflüsse wachsen die Pflanzen, und unter dem Einflüsse ihrer Schwin- gungen werden, wie durch eben so viele Hammerschläge, die Theilchen aus ihrer Gleichgewichtslage herausgetrieben, bis sich endlich die compli- cirten A^erbindungen aufgebaut haben, aus denen der Pflanzenleib besteht. Wir können die Wärme, welche hierbei verbraucht worden ist, wieder gewinnen, wenn wir den Pflanzenleib wiederum oxj^diren, wenn wir ihn so mit Sauerstoff' verbinden, dass die stickstofflosen Endproducte wieder Kohlensäure und Wasser sind. Das geschieht, wenn wir ihn ver- brennen. Die Verbrennungswärme eines pflanzlichen Organismus ist die Wärme, welche er verbraucht hat, während er gewachsen ist. Wenn wir im Herbst Holz in unsere Holzlagen tragen, um im Winter damit einzuheizen, tragen wir die Sommerwärme, die Sonne, die im Sommer geschienen hat, hinein, um sie im Winter in unseren Zimmern wieder frei zu machen. Wir begnügen uns nicht allein mit der Wärme aus der neueren Zeit, sondern wir nehmen auch die Wärme der vorhistorischen Zeit mit in Anspruch, indem wir die Steinkohlen aus der Erde graben, und diejenige Wärme wieder frei machen, welche beim Wachsthum vor- weltlicher Kalamiten und Araukarien verbraucht worden ist. 42 Thieie und Pflanzen. Aber äiicli freiwillig, wenn sie abgestorben sind, zerfallen die Pflanzenleiber wiederum in ähnliche Produete, wie diejenigen sind, aus denen sie entstanden. Sie zerfallen in Kohlensäure, Wasser und in stickstoffhaltige Substanzen, welche wiederum den Pflanzen zur Nahrung dienen können. Deshalb ist nicht nur die Pflanzenwelt als Ganzes unab- hängig, indem die zerfallenden, die absterbenden Pflanzen immer wieder die Nahrung für die neuen Pflanzen erzeugen, sondern man kann auch einzelne Pflanzen in einem geschlossenen Räume vegetiren lassen. Es ist dies verschiedene Male versucht worden. Man hat gewisse Pflanzen, die sich wegen ihrer Lebenszähigkeit dazu eignen , in eine hermetisch verschlossene Flasche eingeschlossen. Die Pflanze ist darin nicht ge- wachsen, sie hat nicht zugenommen, aber sie ist auch nicht ganz abge- storben, indem immer ein Theil daran abgestorben, daran verwest ist, und die Produete der Verwesung wieder dem übrigen zur Nahrung dienten, so dass wieder eine neue Knospe, ein neues Blatt getrieben wurde. Ganz anders verhält es sich mit dem Lebensprocesse der Thiere. Die Nahrungsmittel der Thiere sind lauter hochzusammengesetzte und verhält- nissmässig niedrig-oxydirte Körper. Es sind erstens die Eiweisskörper, welche entweder dem Leibe eines anderen Thieres, oder dem Leibe einer Pflanze entnommen werden, zweitens sind es die Fette, und drittens die Kohlehydrate. Diese Substanzen werden im thierischen Körper oxydirt, verbrannt. Die Zersetzungsproducte, die dabei entstehen, sind Kohlen- säure, Wasser, etwas Ammoniak und eine grosse Menge von stickstoff- haltigen Substanzen, die bei ihrer weiteren Zersetzung wieder Ammoniak geben, und welche als Nahrungsmittel für die Pflanzen, als Düngungs- mittel, gebraucht werden können: ja es ist von besonderem Interesse zu sehen, wie directe Versuche ergeben, dass gerade die im thierischen Körper entstehenden Zersetzungsproducte der Eiweisskörper einzeln und in ihrer Gesammtheit zur Pflanzenernährung geeignet sind, während viele .andere stickstoffhaltige Verbindungen, wie Chinin, Cinchonin, Kaffein und Morphium es nicht sind. Also die Substanzen, welche der Pflanzenleib aufgebaut hat , werden vom Thierleibe in umgekehrter Richtung wieder zerstört. Die Pflanze wandelt durch ihren Lebens- process lebendige Kraft in Spannkraft um und die Thiere wandeln durch ihren Lebensprocess umgekehrt Spannkraft in lebendige Kraft um. Die Thierwelt ist in Folge dieses Lebensprocesses nicht unabhängig von der Pflanzenwelt, denn jedes Thier muss direct oder indirect seine Nahrung der Pflanzenwelt entnehmen. Wenn der Wolf ein Schaf auffrisst, so frisst er in diesem nur die organischen Verbindungen, welche das Schaf der Pflanzenwelt entnommen hat. Dafür aber entwickeln die Thiere durch ihren Lebensprocess eine grössere oder geringere Menge von lebendiger Kraft, w'elche bei ihnen zur Erscheinung kommt als bewe- gende Kraft und als thierische Wärme. Durch diesen Gegensatz erklären sich nun auch die Unterschiede, welche man schon früher an Thieren und Pflanzen beobachtet hatte. Es erklärt sich daraus, dass die Be- wegung eine häufigere, eine verbreitetere Erscheinung in der Thierwelt ist als in der Pflanzenwelt, denn die Thierwelt erzeugt durch ihren Lebensprocess als solchen bewegende Kraft, die Pflanzenwelt aber ver- braucht bewegende Kraft. Dies gilt jedoch nur, so lange wir den Lebens- process als Ganzes ansehen. Auch im Thierleibe kommen Desoxydations- Die thieiische Wärme. 43 processe vor und synthetische Processe, bei denen voraussichtlich leben- dige Kraft in Spannkraft umgesetzt wird, und andererseits gehen in den Pflanzen Oxydationsprocesse vor, die man der Sauerstoffathmung der Thiere vergleichen muss, aber wenn die Bilanz des Kräfteumsatzes gezogen wird, so überwiegt bei den Thieren der Umsatz von Spann- kraft in lebendige Kraft, bei den Pflanzen der Umsatz von lebendiger Kraft in Spannkraft. Doch damit ist es uns noch nicht möglich, bei jedem einzelnen Organismus zu erkennen, ob er der Thierwelt oder der Pflanzenwelt zitzurechnen ist. Bei gewissen kleinen Organismen hat es die grössten Schwierigkeiten, zu ermitteln, ob sie lebendige Kraft in Spannkraft, oder Spannkraft in lebendige Kraft umwandeln , ob sie das Vermögen haben, wie die Pflanzen, mit Hilfe des Kohleustofi's der Kohlensäure andere Kohlenstoffverbinduugen aufzubauen, aus sogenannten anorganischen Substanzen organische zu bilden, oder ob sie, wie die Thiere, mit Nothwendigkeit mit organischen Substanzen genährt werden müssen. jSToch mehr complicirt sich die Sache dadurch, dass es zahl- reiche Organismen gibt, bei denen zwar die synthetischen Processe über- wiegen und die wir deshalb zu den Pflanzen rechnen, bei. denen es aber doch mehr als bei anderen Pflanzen nothwendig ist, dass ihnen gewisse höher zusammengesetzte organische Verbindungen zugeführt werden, ohne welche sie nicht in Thätigkeit und Wachsthum erhalten werden können. Einen eigenthümlich zusammengesetzten Lebensprocess hat K. Brandt beschrieben. Einzelne Thiere, z. B. Kadiolarien, nehmen Mgen in sich auf und können nun in filtrirtem Meerwasser ohne weitere Nahrungsmittel leben. Die Algen bilden aus anorganischen Verbin- dungen organische, und auf Kosten dieser lebt das Thier. Nach Brandt sind alle chlorophyllhaltigen Organismen Pflanzen, oder Thiere, welche Pflanzen beherbergen. Die thieriselie Wärme. Wir haben ge_sehen, dass alle Thiere vermöge ihres Lebensprocesses Wärme erzeugen, und diese Wärme ist es, mit welcher wir uns zunächst beschäftigen wollen. Wir messen die Arbeit diirch die Grösse eines Ge- wichtes, welches wir mit mg bezeichnen, multiplicirt mit der Höhe h, zu welcher dieses Gewicht hiuaufgehoben wird. Da nun bewegende Kraft nur dadurch in Wärme iimgesetzt wird, dass die Bewegung von den ganzen Massen sich an die kleinsten Theilchen überträgt, so muss ich auch für eine gewisse Arbeit eine gewisse Menge von Wärme bekommen, die mir i;mgekehrt, wenn ich sie in Arbeit zurückverwandeln würde, wieder dasselbe Quantum von Arbeit geben müsste. Ich könnte also die Wärme durch die Arbeit ausdrücken, welche ihr äquivalent ist. Ich könnte z. B. eine gewisse Menge von Wärme durch den Ausdruck ein Kilo- grammmeter bezeichnen, indem ich darunter die Arbeit verstehe, welche nothwendig ist, um ein Kilogramm einen Meter hoch zu heben. Wenn ich mir 424 solche Wärmemengen zusammengetragen denke, so ist das nach sorgfältiger Vergleichung der von mehreren Beobachtern angestellten Versuche und Rechnungen so viel, wie ich brauche, um 1 Kilogramm Wasser von 0*^ auf 1'-' Celsius zu erwärmen. Hiemit habe ich eine 44 Die thierische Wärme. Wärmeeinheit, nach der ich die Wärme messen kann. Nun ist es aber andererseits klar, dass ich durch einen bestimmten chemischen Process eine bestimmte Wärmemenge bekommen muss, ich muss z. B. dadurch, dass ich ein Gramm Alkohol verbrenne, eine bestimmte Menge Wärme be- kommen, und immer dieselbe, der Verbrennungsprocess mag verlaufen wie er will, wenn nur die Endproducte dieselben sind, und der verbrauchte Sauerstoff im freien Zustande vorhanden war; denn, indem die Atome aus einer bestimmten alten Stellung in eine bestimmte neue Stellung über- gehen, muss immer eine bestimmte Menge lebendiger Kraft erzeugt werden, gleichviel auf welchem Wege und in welcher Zeit sie in die neue Stellung gelangen. Diese Wärmemenge kann ich an Wasser von 0 '^ übertragen, und kann die Erwärmung messen, welche ich dadurch erhalte, und kann so nun wieder die Wärmemenge bestimmen, die mir ein Gramm Alkohol oder Aether oder Leuchtgas gibt. Das älteste und einfachste Instrument, das hiezu diente, war das Rumford'sche Calorimeter. Es beruht darauf, dass die Verbrennungsproducte durch ein Schlangenrohr geleitet werden, das mit destillirtem Wasser umgeben ist, damit sie ihre Wärme an das letztere abgeben, und dass man dann aus der bekannten Menge des Wassers und aus dessen Temperaturerhöhung die abgegebene Wärmemenge bestimmt. Nun denken Sie sich. Sie hätten zwei solche Calorimeter, ganz gleich beschaffen, aber in das eine füllten Sie statt des Wassers das gleiche Ge- wicht an Quecksilber von der gleichen Temperatur. Unter beiden ver- brennen Sie eine gleiche Menge von Alkohol. Dann übertragen Sie an das Wasser und an das Quecksilber gleiche Wärmemengen. Es fragt sich nun, sind Wasser und Quecksilber nach Beendigung des Versuches im gewöhn- lichen Sinne des Wortes auch gleich warm, wie sie anfangs gleich warm waren? Was heisst das, sie sind gleich warm? Lange, ehe man daran gedacht hat, Wärme zu messen, hat man sogenannte Temperatur gemessen, das heisst, man hat Quecksilber, Weingeist, Luft in Röhren eingeschlossen, imd diese in die zu untersuchenden Medien eingesenkt, und nun versucht, wie weit sie sich ausdehnen, indem man ein Zeichen gemacht hatte, da wo ihre Volumgrenze bei 0 '\ und da wo ihre Volumgrenze bei der Tempe- ratur des siedenden Wassers war; den Eaum zwischen diesen Punkten,' zwischen Gefrierpunkt und Siedepunkt des Wassers, theilte man in 80 oder 100 gleiche Theile. Was misst man eigentlich hier? Man misst offenbar keine Wärmemengen, sondern man misst nur die Grenze, bis zu welcher ein Körper Wärme an einen andern abgibt. Wenn ein Körper längere Zeit mit einem andern in inniger Berührung ist, so muss offenbar ein Zeit- punkt eintreten, wo die sich bewegenden kleinsten Theilchen des einen keine lebendige Kraft mehr an die des andern übertragen, und wenn dieser Zeitpunkt eingetreten ist, so sagt man, sie haben gleiche Tempe- ratur. Wenn Sie nun dem Quecksilber und dem Wasser gleiche Wärme- mengen zugeführt haben, nachdem sie ursprünglich gleiche Temperatur hatten, und in jedes von beiden ein Weingeistthermometer einsenken, so finden Sie, dass die beiden Flüssigkeiten keineswegs gleich warm sind, Sie finden vielmehr, dass Sie dem Wasser etwa dreissigmal so viel Wärme zu- führen müssen, ehe es auf dieselbe Temperatur kommt, auf welcher Sie das Quecksilber schon nach dem ersten Versuche gefunden haben. Wenn Sie statt des Weingeistthermometers ein Luftthermometer oder endlich ein Quecksilberthermometer anwenden, so finden Sie immer dasselbe Resultat. Die thierische Wärme. 45 Es liegt dies also nicht in einem gewissen Verhältnisse des einen oder des andern Mediums zum Weingeist, oder zur atmosphärischen Luft, oder zum Quecksilber; sondern es liegt in einer Eigenschaft der beiden Flüssig- keiten als solcher, und diese Eigenschaft bezeichnet man mit dem Namen der Wärmecapacität. Mit dem Namen der Wärmecapacität bezeichnet man die Fähigkeit eines Körpers, grössere oder geringere Mengen von Wärme aufzunehmen, ehe sich seine Temperatur von 0'^ auf 1'* erhöht, und die Wärmemenge, welche er zu diesem Zwecke aufnehmen muss, bezeichnet man mit dem Namen der specifischen Wärme, indem man die specitische Wärme des destillirten Wassers gleich 1 setzt, und die der übrigeii Körper auf dieselbe zurückführt. Wenn wir also die Wärme im thierischeu iind menschlichen Körper betrachten, so müssen wir wohl unterscheiden die Wärmemengen, welche in demselben erzeugt, und welche von demselben abgeführt werden, und die Temperaturen, welche sich im Körper finden. Wenn es z. B. heisst, der menschliche Körper hält im gesunden Zustande seine Temperatur constant, so ist damit keineswegs gesagt, dass er seine Wärmemenge constant erhält, im Gegentheile, je nach der Temperatur des umgebenden Mediums gibt er mehr oder weniger Wärme ab, so dass die Gesammtsumme der Wärme sich vermindert oder vermehrt, nur die Temperatur seiner inneren Theile hält dem äusseren Wechsel gegenüber bis zu einem gewissen Grade Stand. Die Wärmemenge in den äusseren Theilen nimmt ab und zu, und mit ihr deren Temperatur. Die thierische Wärme stammt, wie wir gesehen haben, aus der Summe der chemischen Proeesse, welche im lebendigen Körper stattfinden. Man hat darüber gestritten , ob die Wärme ausschliesslich aus der Respiratioii stamme. Dies ist eine Frage, die man mit Ja und mit Nein beantworten kann. Wenn man unter Respiration einen bestimmten abge- grenzten, etwa über das Eint oder gar nur über die Lunge verbreiteten Üxydationsprocess versteht, so stammt daraus nicht alle Wärme; wenn man aber Respiration im weitesten Sinne des Wortes nimmt, und darunter die Summe der chemischen Proeesse begreift, welche im lebenden Körper stattfinden, so ist diese es allerdings, aus der sämmtliche Wärme stammt. Man hat sich hievon durch den Versuch überzeugen wollen ^ ist aber dabei zu keinem rechten Resultate gekommen. Man hat Thiere in Blech- kästen mit doppelten Wänden gesetzt, die mit Wasser gefüllt und mit schlechten Wärmeleitern umgeben waren. Die Thiere mussten also die Wärme, die sie abgaben, zunächst durch die Wand an das Wasser über- tragen, und dort wurden sie durch die schlechten Wärmeleiter so viel als möglich zurückgehalten. Man konnte also aus der Temperaturerhöhung des Wassers die Menge der Wärme bestimmen, die das Thier innerhalb einer gegebenen Zeit abgegeben hatte. Andererseits suchte mau aus den Respirationsproducten die Wärme zu bestimmen, welche die Thiere auf chemischem Wege während derselben Zeit bilden konnten. Man fand dabei immer ein Deficit, man fand immer, dass die Thiere mehr Wärme abge- geben hatten, als sie der Rechnung nach hatten bilden können. Aber gegen diese Versuche sind wesentliche Einwürfe zu machen. Erstens ist es nicht richtig, dass die Thiere ihre Wärmemenge in dem Calorimeter constant erhalten, wenn sie auch die Temperatur ihrer inneren Theile constant hielten. Ihre Ohren, ihre Pfoten, kurz ihre äusseren Theile, die 46 Horaöotlierme und poüfilotlierrae Thiere. der umgebenden Temperatur mehr ausgesetzt waren, erkalteten bei solchen Versuchen; die Wärmemenge war also am Ende des Versuches geringer, als am Anfange desselben. Zweitens aber lässt sich auch wesentlich Einrede machen gegen die Art, wie die Rechnung angestellt worden ist. Man kann aus den Respirationsj^roducten nicht bestimmen, wie viel Wärme das Thier bilden konnte, denn die wahre Verbrennungs- wärme eines Körpers stimmt nicht mit derjenigen überein, welche man berechnet, wenn man annimmt, dass- seine oxydablen Elemente sich im freien Zustande mit dem SauerstotF verbunden hätten. Wenn z. B. ein Körper, der aus Kohlenstoff und Wasserstoff besteht, verbrennt, so bildet er nicht nothwendig dieselbe Wärmemenge, welche man durch Rechnung findet, wenn man sich denkt, dass sich der Kohlenstoff mit dem Sauer- stoffe der atmosphärischen Luft zu Kohlensäure, und der Wasserstoff mit dem Sauerstoffe der atmosphärischen Luft zu Wasser verbunden hätte. Das ist erfahrungsgemäss nur ausnahmsweise bei einzelnen Kör- pern, z. B. beim Weinalkohol näherungsweise der Fall. Endlich muss man sich aber sagen, dass diese ganzen Versuche im Principe anzugreifen sind. Bei diesen ganzen Rechnungen wird offenbar das Gesetz von der Erhaltung der Kraft vorausgesetzt: denn wenn ich das Gesetz von der Erhaltung der Kraft nicht als richtig voraussetze, dann kann ich aus den Respiratipnsproducten nicht die Wärme berechnen wollen. Dann wäre es ja möglich, dass ein Gramm Kohlenstoff einmal mehr, das andere Mal weniger Wärme gibt, je nachdem er langsam oder schnell verbrennt. Wenn ich aber dieses Gesetz anerkenne, dann kann ich mir derartige Versuche ersparen, denn dann versteht es sich von selbst, dass keine Wärme aus nichts entsteht, sondern dass sie nur durch chemische oder mechanische Processe entstehen kann, die im Körper vor sich gehen. Homöotheriuc iiiicl poikilotheriue Thiere. Bei der verschiedenen Intensität, mit welcher der Oxydationsprocess in den Thieren vor sich geht, und bei den verschieden günstigen Bedingungen, in denen sie sich befinden, um ihre Wärme zusammen- zuhalten, sollte man auf den ersten Anblick glauben, dass es Thiere von allen möglichen Temperaturen gibt, ohne eine bestimmte Grenze, und doch ist ein auffallender Unterschied vorhanden, der schon den alt«n Zoologen auffiel, und nach dem sie die Thiere im Grossen und Ganzen in warmblütige und in kaltblütige eintheilten. Wir nennen die warm- blütigen jetzt homöotherme; das soll aussagen, dass es solche Thiere sind, welche dem äusseren Temperaturwechsel gegenüber die Temperatur ihrer inneren Theile im normalen Zustande näherungsweise constant erhalten. Diejenigen Thiere, die man sonst als kaltblütige bezeichnete, nennen wir jetzt poikilotherme, wechselwarme, was nichts anderes ausdrücken soll, als dass nicht nur die Temperatur ihrer äusseren, sondern auch die ihrer inneren Theile mit der Temperatur des umgebenden Mediums schwankt. Worauf beruht nun dieser wesentliche Unterschied zwischen homöo- thermen und poikilothermen Thieren? Dieser Unterschied beruht darauf, dass die einen relativ viel Wärme bilden, und sieh unter relativ günstigen Umständen befinden, um diese ihre Wärme zusammenzuhalten, und die anderen, die kaltblütigen Thiere, entweder wenig Wärme bilden, oder Thennoraeter. 47 sich unter ungünstigeren VerhältnisHen für das Zusammenhalten ihrer Wärme befinden. Im ersterou Falle muss sich die Temperatur bedeutend über die des iimgebcnden Mediums erheben, und ein solches warmblütiges Thier kann Wärmeverluste bis zu einem gewissen Grade ertragen, ehe die Temperatur seiner inneren Theile sinkt. Bei den kaltblütigen Thieren dagegen, die wenig Wärme bilden, muss die Temperatur schon deshalb mit der des umgebenden Mediums wechseln. Andere, die, wie die Insecten, mehr Wärme bilden, sind deshalb wechselwarm, weil sie bei ihrer Klein- heit und relativ grossen Körperoberfläche die gebildete Wärme zu rasch wieder verlieren. Tliermouieter. Die Instrumente, mit welchen wir die Temperatur messen, sind bekanntlich einerseits das Thermometer, und anderseits die Thermosäule mit dem Thermomultiplicator. Letztere wollen wir hier vorläufig nicht in Betracht ziehen, weil sie mehr dazu dient, kleine Unterschiede von Temperaturen zu messen, als dazu, um Temperaturen numerisch fest- zustellen. Um letzteres handelt es sich zunächst für uns, und deshalb ist jetzt für uns das wichtigere Instrument das Thermometer. Das Ther- mometer ist auch heutzutage in der Hand des Arztes ein unentbehrliches Instrument, weil es sich gezeigt hat, dass die Temperaturbeobachtungen in Krankheiten sowohl in diagnostischer als in prognostischer Beziehung von grösster Wichtigkeit sind. Bis zu welchem Grade der Feinheit soll ein für praktisch medici- nische Zwecke brauchbares Thermometer eingetheilt sein? Wenn es sich um rein praktische Untersuchungen handelt, so genügt es immer, wenn man Zehntel-Grade ablesen kann. Handelt es sich um mehr, sollen Him- derttel-Grade bestimmt werden, so ist es nicht gerade nöthig, dass die Thermometer in Hunderttel von Graden eingetheilt sind. Mau kann auch hier mit einem in Zehntel-Grade getheilten auskommen. Wer überhaupt Untersuchungen machen will, bei denen es auf Hunderttel-Grade an- kommt, wird sich auch schon eine solche Uebung im Schätzen von Bruch- theilen eines Grades an der Thermometerscala verschafft haben, dass es ihm nicht schwer sein wird, die Hunderttel zu schätzen, wenn die Zehntel- Grade hinreichend gross an der Thermometerscala angebracht sind. Ist dies der Fall, so irrt sich ein Geübter nicht leicht um ein Hunderttel eines Grades. Besitzt man nur ein Thermometer, das in ganze Grade getheilt ist, so ist man darauf angewiesen, die Zehntel zu schätzen. Dazu ist es wieder nöthig, dass die Grade hinreichend gross seien. Welche Mittel gibt es, um die Thermometergrade hinreichend gross zu machen? Zwei Mittel: man kann entweder das Thermometerrohr sehr dünn oder die Thermometerkugel sehr gross macheu. Beides aber hat seine Un- annehmlichkeiten. Wenn man einen sehr dünnen Quecksilberfaden hat, so sieht man ihn schlecht, was namentlich aoi Krankenbette bei der oft mangelhaften Beleuchtung Schwierigkeiten bereitet. Man hat deshalb Thermometerröhren, in deren Lumen der Q,uerdurchschuitt nicht einen Kreis, sondern eine Ellipse von sehr ungleichen Axen, und die grosse Axe die Breite des Quecksilberfadens, oder hier richtiger des Quecksilber- 48 Thermometer. bandes darstellt. Dadurch wird allerdings das Quecksilber besser sichtbar, aber leider sind diese Röhren unrcgelmässiger im Kaliber, als die dreh- runden. Mit nicht geringeren Schwierigkeiten kämpft man, wenn man die Thermometerkugel sehr gross machen will. Dann dauert es sehr lange, bis die ganze Quecksilber masse die Temperatur des Körpers annimmt, und nach vielfach wiederholtem Ablesen bemerkt man noch immer ein geringes Steigen. Man hat deshalb den Mittelweg ergriffen: man macht das Q,ueck- silberreservoir massig gross, und gibt ihm dabei eine cylindrische Form, damit es eine grössere Oberfläche hat, mit der es mit den Körpertheilen in Berührung kommt. Wie soll man das Thermometer controliren? Um zu sehen, ob die Temperatur höher als die normale, oder niedriger als die normale, ist jedes Thermometer gut, das man einige Zeit im Gebrauche hat, und dessen Angaben man an gesunden Menschen geprüft. Aber diese relativen Temperatur bestimmungen genügen dem Arzte nicht, er will, dass seine Beobachtungen mit denen Anderer vergleichbar sind, er will nicht nur relative Temperaturen bestimmen, sondern er will die wahre Temperatur bestimmen. Wenn man sich in einer grösseren Stadt befindet, ist es im ganzen nicht schwer, sich eine Controle zu verschaffen. Man vergleicht sein Instrument mit den in den physikalischen Instituten, meteorologischen Anstalten, Sternwarten u. s. w. aufgestellten Normal- instrumenten. Anders verhält es sich aber, wenn man darauf angewiesen ist, es für sich selbst und unabhängig zu prüfen. Die ungenauen Angaben stammen bekanntlich zum Theile aus den Ungleichmässigkeiten im Kaliber der Röhren. Wo man keine Gelegenheit hat, den Theil der Scala, den man braucht, mit einem gut kalibrirten Normalthermometer Grad für Grad zu vergleichen, ist man geuöthigt, selbst durch Kalibriren zu controliren, indem man ein durch einen Huck abgetrenntes kurzes Quecksilbersäulchen die Scala nach und nach durchwandern lässt, und wenn es sich um seine ganze Länge verschoben hat, die letztere jedesmal genau misst. Darnach bringt man die nöthigen Correctionen an. Andere oft grössere Fehler wurzeln in der Bestimmung der Normalpunkte, des ThaujDimktes, das soll heissen des Schmelzpunktes des Eises oder, wie man auch sagt, des Ge- frierpunktes, und des Siedepunktes, und man muss deshalb ein Mittel haben, beide richtig zu bestimmen. Der Thaupunkt wird im Allgemeinen im schmelzenden Eise bestimmt. Wenn man aber zu viel Wasser und zu wenig Eis hat, so findet man den Thaupunkt etwas zu hoch, und er ist auch bei vielen käuflichen Thermometern zu hoch bestimmt. Man hat deshalb in neuerer Zeit vorgeschlagen, unterkühltes Wasser anzuwenden und zum Gefrieren zu bringen. Man kann bekanntlich Wasser, wenn man es ruhig erhält, in einer Kältemischung unter 0*^ erkälten. In solches Wasser steckt man das Thermometer, und wirft ausserdem einen Eiskrystall hinein. Dann gefriert es plötzlich. Beim Uebergange vom flüssigen Zustand in den festen wird aber Spannkraft in Wärme umgesetzt, es wird Wärme frei, und diese erwärmt das Wasser gerade bis auf die Temperatur von 0**. Den Siedepunkt coutrolirt mau in den Dämpfen, die von sieden- dem Wasser aufsteigen. An vielen Thermometern ist der Siedepunkt zu hoch bestimmt, weil man ihn nicht in den Dämpfen, die vom siedenden Wasser aufsteigen, abgenommen hat, sondern in diesem selbst. Man kann Wasser bis über die Temperatur von 100^ erhitzen, ehe es zum Sieden kommt, und dann entwickeln sich plötzlich stossend grosse Gasblasen, Tliennotnotcr. 49 indem sich im unteren Thcile des Gefässes plötzlich und mit einer Explo- sion eine grössere Wassermenge in Dampf verwandelt. Mau kann das sehr deutlich bemerken, wenn man bei gewöhnlichen chemischen Versuchen in einer Eprouvette eine Flüssigkeit kocht. Hält letztere Gase aufgelöst, so kommt sie zum regelmässigen Sieden; entfernt man sie aber, nachdem sie eine Weile gekocht hat, von der Flamme, und bringt sie dann wieder über dieselbe, so dauert es längere Zeit, ehe sie wieder siedet, und dann beginnt das Sieden mit plötzlicher, stossender Explosion. Wasser erhitzt sich bei diesem Versuche oft um mehrere Grade über 100. Man macht sich deshalb folgenden Apparat. Man verschliesst einen weithalsigen gläsernen Kolben mit einem Stöpsel, der drei Durchbohrungen hat. In die zwei seitlichen steckt man Glasröhren, die man recht- winkelig abbiegt. Sie sollen dazu dienen, die Dämpfe des siedenden Wassers so entweichen zu lassen, dass man durch sie beim Ablesen nicht behindert ist. Durch die mittlere Durchbohrung steckt man eine Eöhre, in die mittelst eines kleinen Korks das Thermometer eingepasst und die unten mit einem Läppchen Tüll oder Gaze verschlossen ist. Sie wird so weit hinabgesenkt, dass sie sich noch in einiger Entfernung vom JSfiveau des destillirten Wassers befindet, das man in den Kolben hineingegossen hat. Man bringt das Wasser zum Sieden, und während es regelmässig siedet und der Dampf entweicht, liest man das Thermometer ab. Ist der Siedepunkt schon bestimmt, so controlirt man eben durch Ablesen; soll man aber den Siedepunkt erst bestimmen, soll man ein Thermometer machen, so befeuchtet man den oberen herausragenden Theil der Röhre, und legt an ihn ein ganz kleines Stückchen Siegellack, das durch die Feuchtigkeit darauf festgehalten wird. Man verschiebt es so lange, bis es auf dem Siedepunkt steht. Dann nimmt man das Thermometer heraus, und geht damit ein paar Mal über einer SpiritusfLamme hin und her, so dass das Siegellack festschmilzt. Dann steckt man das Thermometer von Neuem in die Eöhre hinein, und corrigirt, während das Wasser im Kolben siedet, mit dem Messer so lange am Siegellack, bis es ganz genau den Stand des Quecksilbers anzeigt. Man hat dabei den Stand des Baro- meters zu berücksichtigen, indem lOO*^' die Siedepunktstemperatur für den Normaldruck von 760 Millimeter ist. Man liest, wenn man den Siedepunkt bestimmt hat, das Baro- meter ab und addirt für jeden Millimeter Quecksilberdruck über 760 bei Anwendung der Scala von Celsius jj eines Grades zu lOO*^' hinzu, für jeden an 760 Millimeter fehlenden Millimeter Quecksilberdruck zieht man y=- eines Grades von 100^' ab, um die wahre Siedepunktstemperatur zu finden. Es ist übrigens nöthig, ein Quecksilberthermometer, wenn man es auch im neuen Zustande controlirt hat, später, wenn man es brauchen will, wieder zu controliren, weil sich die Thermometer mit der Zeit ändern, und zwar so, dass sich ihre Anzeigen später als zu hoch er- weisen. Gourdon bemerkte dies zuerst. Nachher hat namentlich Bellani darüber gearbeitet. Man nennt deshalb diesen Fehler auch den Bellani- schen Fehler. Bei der Controle gilt die Regel, erst den Siedepunkt neu zu bestimmen, und erst nach einigen Tagen den Thaupunkt, weil die Bestimmung des Siedepunktes als solche eine vollständige oder theilweise wieder verschwindende Aenderung in der Lage des Thaupunktes herbei- zuführen pflegt. Biücko. Vorlcsunireii I. 4. Aull. * OÜ Temperatur der Thiere und des Menschen. Temperatur der Thiere und des Menschen. Wir gehen nun zu den numerischen Resultaten über, welche mau über die Temperatur der inneren Theile bei verschiedenen Thieren und beim Menschen erhalten hat. Bei den Thieren existiren keine grösseren Versuchsreihen, mit Ausnahme vom Hund und Kaninchen, wo eben viel- fältig für physiologische Zwecke und bei physiologischen Versuchen Tem- peraturen bestimmt worden sind. Es ist deshalb auch schwer zu sagen^ welches von den Säugethieren das wärmste, und welches das kälteste ist. Die höchsten Temperaturen hat man bei Mus musculus gefunden, und bei Vespertilio pipistrellus, 41,1, dann auch bei Canis lagopus 40 — 41,1; die niedrigsten Temperaturen hat man gefunden bei Canis lupus 35,24, bei Simia sabsea und Delphinus phocsena 35,5. Es ist auffallend, dass bei zwei Repräsentanten des Hundegeschlechtes einmal die niedrigste Temperatur gefunden wurde, und das andere Mal nahezu die höchste. Es muss aber bemerkt werden, dass nach den Erfahrungen, die man an den Haushunden gemacht hat, bei ihnen die Wärmeregulirung eine ver- hältnissmässig unvollkommene ist, so dass bei den Haushunden viel grössere Schwankungen vorkommen, und viel leichter Schwankungen ein- treten, als dies z. B. beim Menschen der Fall ist. Die Temperatur der Vögel liegt im Allgemeinen höher. Die höchsten Temperaturen sind bei Parus und Hirundo, 44,03 gefunden worden, demnächst beim Falken 43,18. Die niedrigsten Temperaturen sind bei Larus 37,8 und bei Tetrao albus 38,9 gefunden worden. Das Vermögen der Säugethiere und des Menschen, ihre Temperatur der des äusseren Mediums gegenüber constant zu erhalten, ist kein unbegrenztes. Wenn dem Körper viel Wärme entzogen wird, so erniedrigt sich auch die Temperatur der inneren Theile, und wenn dies einen gewissen Grad überschreitet und längere Zeit dauert, so geht das Thier zu Grunde. Es ist hiezu nicht etwa nöthig, dass die innere Tem- peratur auf 0*^' sinke. Wesentlich anders verhält sich eine bestimmte Reihe von Säuge- thieren, die sogenannten Winterschläfer, als welche das Murmelthier, der Siebenschläfer, die Haselmaus u. s. w. bekannt sind. Diese zeigen sich insoferne empfindlicher gegen die äussere Temperatur, als die Temperatur ihrer inneren Theile leichter schwankt. Wenn sich die der atmosphärischen Luft erniedrigt, so fallen sie in einen eigenthümlicheu Erstarrungszustand, bei welchem der ganze Stoffwechsel auf ein sehr geringes Mass herab- gesetzt ist, und in dem sie längere Zeit ausharren können, ohne zu sterben, oder auch nur einen Nachtheil davonzutragen. Das ist eben der Zustand des Winterschlafes, in dem sie den grössteu Theil des Winters in Erd- oder Baumlöchern versteckt zubringen, um im Frühling wieder zu neuem Leben zu erwachen. Sie verfallen meist in Schlaf, wenn ihr Körper auf -j- 5'^ erkaltet ist. Wird ihr Körper durch starke Kälte bis unter 0" erkältet, so sterben die Thiere. Wenn man sie im Winter in einem warmen Zimmer hält, so fangen sie auch an zu schlafen, aber sie schlafen nicht so andauernd und fest, wie sie im Freien geschlafen haben würden. Wenn man winterschlafende Thiere im Winter aus der Kälte in die Wärme bringt, so erwachen sie regel- mässig. Wenn die Thiere im Frühling aus dem Winterschlafe erwachen, Toiniioriitiu- flßr Tliicre und des Motisclien. 51 SO ist ihre Respiration eine sehr lebhafte, und ihr Nahruug.sbedürfniss ein sehr grosses, und damit erheben sie in sehr kurzer Zeit ihre Temperatur wiederum auf das gewöhnliche Mass anderer Säugethiere, auf die Normaltemperatur , Avelche sie während des ganzen Sommers behalten. Die Temperatur der kaltblütigen Thiere wechselt, wie gesagt, mit der des umgebenden Mediums. Bei den Amphibien; welche eine geringe Körpermasse und eine feuchte Hautoberfiäche haben, erhebt sich die Temperatur, so lange sie nicht in grösserer Menge zusammengehäuft sind, um ein Geringes über die des umgebenden Mediums. Bei Fröschen betrug die Differenz für gewöhnlich nur 0,04° bis 0,05"; nur während der Be- gattung stieg sie auf 0,25 bis 1". Bei den Eeptilien aber, die eine grössere Körpermasse haben, und die ausserdem durch Schuppen, also durch eine trockene Bedeckung, besser gegen Wärmeabgabe geschützt sind, als dies bei den Amphibien der Fall ist, erhebt sich die Temperatur oft recht bedeutend über die des umgebenden Mediums. Die grösste Temperatur- erhöhung, die an kaltblütigen Thieren beobachtet ist, wurde von Valen- ciennes an einem Phyton bivittatus gesehen, dessen Wärme sich 10 bis 12" über die atmosphärische erhob. Er lag zusammengerollt zwischen Decken und bebrütete seine Eier. Es ist begreiflich, dass hier, wo die Wärme eines verhältnissmässig grossen Thieres, wenn dieselbe auch lang- sam gebildet wurde, wie dies bei den kaltblütigen Wirbelthieren im Allgemeinen der Fall ist, durch die schlechten Wärmeleiter, die Decken, zusammengehalten wurde, sich die Temperatur so weit über die der Atmosphäre erheben konnte. Auch bei Fischen ist eine Temperaturerhöhung beobachtet worden: bei einem Hai von 1,3", und bei Pelamys Sarda von 1,6". Die Beob- achtungen an frisch gefangenen Fischen sind im hohen Grade unsicher, weil die Thiere sich kurz vorher in einer wärmeren Meeresströmung auf- gehalten haben können; nur die Beobachtungen an solchen, die in Wasser von constanter und gleichmässig vertheilter Temperatur gehalten worden sind, verdienen Vertrauen. Unter den wirbellosen Thieren befindet sich eine Abtheilung, welche durch die Lebhaftigkeit ihres Stoffwechsels ausgezeichnet ist. Es sind dies die Insecten. Die Insecten haben einen so lebhaften Stoffwechsel, dass, wenn man sie nach diesem beurtheilen sollte, mau sie zu den warm- blütigen Tbieren rechnen müsste. Sie sind aber doch poikilotherm, wechselwarm, ihre Temperatur ändert sich mit der des umgebenden Mediums, weil eben die Thiere zu klein sind, um ihre Wärme zusammen- halten zu können. Die Wärmeproduction ist cseteris paribus proportional der Masse, die Wärmeabgabe ist proportional der Oberfläche. Je kleiner also ein Thier ist, in um so ungünstigeren Verhältnissen befindet es sich, um die Wärme, die es bildet, zusammenzuhalten. Wenn man deshalb das einzelne Insect beobachtet, so findet man nur geringe Temperatur- erhöhungen über die des umgebenden Mediums, wohl aber kann man deren sehr bedeutende beobachten, wenn die Thiere zusammengehäuft sind, so dass die Wärme, die das eine abgibt, dem anderen wieder zu Gute kommt. Das ist in den Bienenstöcken der Fall. Der berühmte Bienen- wirth Huber fand in den Bienenstöcken im Winter 30 — 32" Celsius, im Sommer 33^ — 3ß", und zur Zeit des Schwärmens sogar 40", also eine 4* 52 Temperatnr der Thiere und des Mensclien. Temperatur , die selbst die gewöhnliche Temperatur des Menschen übersteigt. Wenden wir uns jetzt zur Temperatur des Menschen im Besonderen. Die Temperaturmessungen an Säugethieren sind meist gemacht worden, indem man das Thermometer in den Mastdarm einsenkte, zum Theil auch, indem man es direct zwischen die Eingeweide, in die Höhlen des Körpers brachte, zwischen die Muskeln u. s. w. Beim Menschen ist man in Eücksicht der Temperatur der inneren Theile auf drei Arten von Messungen angewiesen : entweder man misst die Temperatur im Mastdarm, oder bei Weibern in der Scheide, oder endlich drittens man misst die Temperatur des ausfliessenden Urins, nachdem man vorher das Gefäss, in welches der Urin gelassen wird, auf näherungsweise SS*^ Celsius erwärmt hat, damit der Urin, wenn er in dasselbe hineinüiesst, nicht gleich eine grössere Menge yon Wärme abgebe. Wenn man alle die Zahlen, die auf diese Weise gewonnen sind, zusammennimmt, und diejenigen von solchen Beobachtern ausscheidet, die überhaupt immer sehr hohe Zahlen angeben (woraus hervorgeht, dass sie ein fehlerhaftes Instrument hatten), kommt man zu dem Resultate, dass die ISTormaltemperatur der inneren Theile des llenschen zwischen 37,25'^ und 38'^ Celsius liegt. Die Differenz zwischen beiden Zahlen ist für die etwa drei Yiertheile eines Grades betragende tägliche Schwankung gerechnet. Da sich grössere Reihen von Messungen zu praktisch medicinischen Zwecken nur ausnahmsweise auf eine von diesen, drei Arten gut anstellen lassen, so hat man statt dessen Mundhöhlentemperaturen und Achsel- höhlentemperaturen abgenommen. Die Muudhöhlentemperaturen wurden so abgenommen, dass das Thermometer erst einige Zeit in der Mund- höhle gehalten wurde, bis es beim Ablesen von 5 zu 5 Minuten keine merkliche Steigerung mehr zeigte, dann veränderte man seinen Ort, indem man es noch unter die Zunge legte, und nun noch abwartete, ob ein weiteres Steigen eintrat, dann wiederum von 5 zu 5 Minuten ablas, bis die Zahl constant blieb. Es sind ganze Reihen von Beobachtungen von John Davy, von Hallmann und von Gierse, dann auch von Lichteufels und Fröhlich angestellt worden. Beistehend sind die Mittclzahlen aus den Beobachtungen der drei ersteren, nach einer von Helmholtz "•e2;ebenen Tabelle zusammenoestellt. 9^ 4h Till * 2 11" 1^ J. Davy Frülistttck Mittagessen Thee 3G, 94 36, 89 36, 89 87, 05 37, 17 37, 05 36, 83 36, 50 36, 72 36, 44 Hallmann. 7 — 8'' . . 36, 63 Vor d. Aufstehen 8—9^ . . 36, 80 Kaffee 9—10^'' . . 37, 36 10^ — 2^^ . . 37, 21 Mittagessen 5| — 7i> . . 37, 21 Abendessen 7^ — gl» . . 37, 00 9—121^ . . 36, 70 I Gierse. 7—8'' . . 36, 98 Frühstück 8 — 91^ . . 37, 08 9 — U^^ . . 37, 23 11—211 37^ 13 Mittagessen 2^ . . 37, 50 3— 6'^ . . 37, 43 6 — lOii . . 37, 29 nach \l^ . . 36, 81 Temperatur der Tliiere und des Menschen. ÖÖ Lichtenfols und Fröhlich, die sehr auHgedehnte Versuchsreihen anstellten, fanden das Minimum am Morgen nach dem Erwachen, dann stieg die Temperatur nach der Einnahme des Morgenkaffees bis gegen 10 Uhr, sank ein wenig, stieg wieder, sank dann noch einmal vor dem Essen, um sich nach demselben zu erhöhen, und zwischen 4 und 5 Uhr das Maximum zu erreichen, von dem sie langsam herabsank. Durch den Abendkatfee wurde sie noch einmal vorübergehend gehoben, um dann während der iSTacht auf das Minimum herunterzusiuken. Wenn man alle die verschiedenen Beobachtungen ansieht, so kommt man zu dem Eesul- tate, dass.das Minimum der Temperatur in die Nachtzeit, gegen Morgen fällt, und das Maximum in die Nachmittagszeit. Dieses Maximum ist keineswegs immer abhängig von der Hauptmahlzeit. Bei Davy ging die Temperatur nach derselben herunter. Vintschgau hat au Hunden wäh- rend der Verdauung sowohl im Magen als auch im Mastdarm eine Tem- peraturerniedrigung gefunden. Nach Lichtenfels und Fröhlich gibt die 3. Stunde nach der ersten Nahrungseiuuahme fast genau das Mittel für 24 Stunden. Es muss noch bemerkt werden, dass alle in der Tabelle aufgeführten. Zahlen niedriger sind, als sie erhalten sein würden, wenn die Tem- peratur der inneren Theile abgenommen worden wäre, und man hat den Mundhöhlentemperaturen vorgeworfen, dass sie ziemlich grossen Schwan- kungen unterliegen je nach der Temperatur der Atmosphäre. Das war der Grund, warum man in neuerer Zeit vorgezogen hat, die Temperatur in der Achselhöhle abzunehmen, das heisst, das Thermometer in die Achselhöhle zu legen, und nun den Arm an den Körper anzuschliessen, so dass das Thermometer ringsum von den Körpertheilen umschlossen ist. Es muss aber bemerkt werden , dass auch diese Achselhöhlentem- peraturen, wenn sie vielleicht auch constanter und verlässlicher sind als die Mundhöhlentemperaturen, doch keineswegs die Temperatur der inneren Theile geben.- Es stellt sich bei einigen Beobachtungen die Differenz von 1 bis 4 Zehntheilen , bei anderen Beobachtungen die Differenz von 3 — 5 Zehntheilen heraus. Also auch die Achselhöhlentemperatur kann, wenn sie auch mit Sorgfalt abgenommen wird, ^ Grad unter der Tem- peratur der inneren Theile liegen, und liegt thatsächlich immer mehr oder weniger unter der Temperatur der inneren Theile. Bei dieser Angabe sind nur die gewöhnlichen Fälle berücksichtigt worden. Bisweilen stellt sich der Unterschied noch höher, bis 0,8. Bei älteren Beobachtern finden sich sogar Differenzen von l** und darüber, was aber wohl nur daran liegt, dass man das Thermometer nicht lange genug in der Achsel- höhle gelassen hatte, oder dass sie nicht gixt ixnd dauernd geschlossen war. Nach Wnnderlich's reicher Erfahrung liegt die Temperatur der Achselhöhle bei Gesunden mit seltenen Ausnahmen zwischen 36,2" und 38^', für gewöhnlich nimmt er 36,25*^ und 37,5" als ihre Grenzen an. Es fragt sich weiter, ob es auch eine jährliche Periode gibt, ob etwa der Mensch in der kalten Jahreszeit kälter, in der warmen Jahres- zeit wärmer wird. Darüber haben wir eine Reihe von Beobachtungen von J. Davy, die sich wieder auf die Temperatur unter der Zunge bezichen. Er fand, dass, wenn man sich behaglich im geheizten Zimmer befindet, kein Unterschied zwischen Sommer und Winter ist. Ja, es wurden sogar in den kalten Monaten die höchsten Temperaturen gefunden. Anders verhält 54 Mittel zur ■Wärmeregulirung. sich aber die Hache, wenn man sich wirklich der Kälte ausgesetzt hat. J. Davy benutzte zu den Beobachtungen darüber die Sonntage, die Zeit, wenn er in der Kirche gewesen war und dort gefroren hatte. Wenn er dann nach Hause kam und seine Zungentemperatur mass, so fand er, dass diese merklich erniedrigt war. Die Eesultate gibt beistehende Tabelle: Tag 24. TTovember 12. Jänner 9. Eebruar 16. März Temperatur un Ztinge ter der Temperatur der Lnft 36,1 5,6 36,2 35,9 84,9 4,4 0,6 ■ 0,0 Es ist ganz erklärlich, dass die Temperatur vom Jänner zum Februar, zum März noch hinuntergeht, nicht nur, weil die Lufttemperatur an den Beobachtungstagen niedriger war, sondern auch, weil in grossen geschlosse- nen Räumen, wie in Kirchen, bekanntlich die niedrigsten Temperaturen nicht eintreten, wenn draussen die niedrigsten Temperaturen zu sein pflegen, sondern später, wenn die äussere niedere Temperatur längere Zeit eingewirkt hat. Unter den verschiedenen Lebensaltern bietet die erste Zeit nach der Geburt die grössten Schwankungen dar. Wenn das Kind geboren wird, und man die Mastdarmtemperatur untersucht, so wird sie nach überein- stimmenden Beobachtungen um ein Geringes höher gefunden, als die gleichzeitige Temperatur in der Scheide der Mutter, nach Schäfer etwa um 0,3*^'. Dann sinkt aber die Temperatur des Kindes etwa auf 35,5*^ mehr oder weniger, je nach der Behandlung desselben, je nachdem man es mehr oder weniger vor Wärmeabgabe schützt. Das rührt daher, dass der Respirationsprocess noch nicht so im Gange ist, um die hinreichende Menge von Wärme zu bilden. Deshalb müssen auch neugeborene Kinder in der ersten Zeit mehr als später gegen Wärmeabgabe geschützt werden, und daher rührt es, dass man sie nicht nur mit schlechten Wärmeleitern umgibt, sondern dass man sie auch noch zu der Mutter ins Bett legt, damit dem Kinde die Wärme der Mutter zugeführt werde. In einigen Tagen steigt die Temperatur und erreicht das normale Mass, welches sich während des ganzen Lebens erhält, auch während des hohen Alters. Davy fand bei hochbetagten Greisen noch ganz unveränderte Zungen- temperaturen. Aber die alten Leute können ihre Temperatur nicht mehr so leicht constant halten wie jüngere Individuen, sie müssen sich wärmer kleiden, sich mehr gegen Wärmeabgabe schützen. Das hängt erstens damit zusammen, dass sie sich nicht mehr mit der früheren Lebhaftig- keit bewegen, zweitens damit, dass sie in der Regel im hohen Alter abmagern, die Fettschicht verlieren, welche sie früher geschützt hat, und endlich drittens damit, dass sich in späteren Jahren ihr Stoffwechsel ver- langsamt, dass sie also thatsächlich nicht so viel Wärme bilden, als dies in früheren Jahren der Fall war. Mittel zur Wärmeregulirung-. Wir sind hiemit auf die Frage geführt, welche Mittel denn der Mensch überhaupt hat, um seine Temperatur constant zu erhalten. Wir Mittel zur \V;iiiniMi'giiliniiig. QO köiinca diese Mittel im Allgemeinen eintheilen in Mittel, welche uns gegen eine Erniedrigung unserer Temperatur schützen, und in Mittel, welche uns gegen eine Erhöhung unserer Temperatur schützen. Die Mittel, welche uns gegen eine Erniedrigung unserer Temperatur schützen, sind wiederum zweierlei. Erstens Mittel, vermöge welcher wir die Wärme, die einmal gebildet ist, zusammenhalten, und zweitens Mittel, durch welche wir unsere Wärmeproduction steigern. Die ersteren sind allgemein bekannt. Es ist bekannt, dass wir im Winter die Räume, in denen Avir uns dauernd aufhalten wollen, erwärmen, damit uns weniger Wärme entzogen wird, und dass wir uns, zweitens, mit schlechten Wärmeleitern umgeben, uns wärmer kleiden, um eben wieder weniger Wärme zu verlieren. Es muss aber hiebei bemerkt werden, dass nicht alle Menschen von Hause aus gleich gut und gleich schlecht gegen die Wärmeabgabe geschützt sind. Sehr fettleibige Menschen leiden gewöhnlich mehr von der Hitze, als von der Kälte, weil die Fettschicht, welche sich unter ihrer Haut befindet, die Wärme schlecht leitet, und sie gegen Wärmeabgabe schützt. Schinächtige, magere Menschen aber, die eine verhältnissmässig grosse Oberääche im Vergleiche zur Masse ihres Körpers haben, leiden mehr von der Kälte, weil die Wärmeabgabc proportional der Oberfläche .des Körpers erfolgt, und das Wärmepro- ductionsvermögen, wenn auch nicht proportional, so doch im Allgemeinen mit der Körpermasse wächst. Damit hängt es auch zusammen, dass kleine Individuen und Kinder einen lebhafteren Stoffwechsel haben müssen als grosse und als ausgewachsene Individuen, wenn man die Ge- schwindigkeit des Stofl'wechsels misst nach der Menge der in 24 Stunden producirten .lebendigen Kraft dividirt durch das Körpergewicht. Die Kinder müssen nicht allein relativ mehr ISTahrung zu sich nehmen als Erwachsene, weil sie noch wachsen sollen, weil sie noch Substanz anlegen sollen; sondern sie müssen auch deswegen relativ mehr Nahrung zu sich nehmen, weil sie relativ mehr Wärme verlieren, indem ihre Masse, dividirt durch ihre Oberfläche, einen ungünstigeren Quotienten gibt. Es ist ganz dasselbe auch bei den Thieren der Fall. Die kleinen Thiere haben immer einen lebhafteren Stoffwechsel als die grossen, weil sie relativ mehr AVärme verlieren. Es hängt damit zusammen, dass man kleine Thiere nicht mit demselben Vortheil züchten kann, wie grosse Thiere. Denn die Wärme, welche ein Thier abgibt, muss der Züchter bezahlen, sie durch Fütterung decken. Es geht also bei den kleinen Thieren viel mehr Futter während des Aufzüchtens für den Züchter unbenutzt verloren, als dies bei grösseren Thieren der Fall ist. Die Mittel, unsere Wärmeproduction zu steigern, bestehen darin, dass wir grössere Mengen von Nahrungsmitteln zu uns nehmen, wozu uns bekanntermassen die äussere niedrige Temperatur schon anregt. Aber auch in der Wahl der Nahrungsmittel unterscheiden sich die Bewuhncv des hohen Nordens von den Südländern. Der Bewohner des liohcn Nordens, der Körper mit hoher Verbrennungswärnie braucht , nimmt Mengen von Fett zu sich, die ein Südländer verschmähen würde. Die Bewohner des östlichen Sibiriens trinken bekanntlich die Butter pfand- weise, nachdem sie dieselbe am Feuer zerlassen haben. Wir wenden aber auch andere Mittel an, um unsere Wärme- production zu steigern, und dahin gehört namentlich die körperliche 0(3 Mittel zur Wärmeregulirung. Bewegung. Durch die Muskelcontractiou als solche wird, wie wir später sehen werden, Wärme erzeugt, und wie es scheint auf zweierlei Art, erstens primär durch den chemischen. Proccss selbst, welcher die Muskel- contraction. hervorbringt, gewissermassen als Nebenproduct bei der Er- zeugung der Arbeit, und zweitens durch die bewegenden Kräfte, welche durch innere Widerstände verbraucht und in Wärme umgewandelt werden. Wenn ich meine Muskeln contrahire, so kann ich damit erstens äussere Arbeit leisten, ich kann damit ein Gewicht auf eine gewisse Höhe hinaufheben. Die lebendige Kraft, die ich dabei' verbrauche, kann mir nicht zu Gute kommen, denn sie wird in Spannkraft umgewandelt, die in dem anderen Körper, den ich gehoben habe, angehäuft ist. Wenn ich einen Bogen spanne, so leiste ich damit auch äussere Arbeit, die mir nicht zu Gute kommt; denn ich habe durch sie Spannkraft erzeugt, die im Bogen augehäuft ist. Wenn ich aber meine Muskeln contrahire, ohne äussere Arbeit zu leisten, und die erzeugten bewegenden Kräfte durch innere, in meinem eigenen Körper liegende Widerstände verbrauche, so wird dabei nicht Spannkraft, sondern Wärme erzeugt. Ein solcher Verbrauch von bewegender Kraft durch innere Widerstände findet nun bei allen Handtirungen in grösserem oder geringerem Massstabe statt. Wir sind nie im Stande, die erzeugte bewegende Kraft vollständig an den fremden Körper zu übertragen , den wir durch iinsere Arbeit bewegen sollen. Die Muskelbewegung steigert auch indirect den Stoffwechsel, indem sie Substanzen verbraucht, indem sie die Circulatiou und Respiration anregt, und schliesslich durch den Substanzverbrauch neues ISTahrungs- bedürfniss erzeugt. Damit hängt es zusammen, dass Leute,, welche viel körperlich arbeiten, ein grosses Nahruugsbedürfniss haben, dass sie aber auch dem Wechsel der äusseren Temperatur weniger unterworfen sind, dass sie in leichterer Kleidung eine niedrigere Temperatur ertragen, als Derjenige, welcher eine ruhige, sitzende Lebensweise führt. Wenn wir nach den Hilfsmitteln fragen, vermöge welcher wir uns vor einer Erhöhung unserer Temperatur schützen, so sind es natürlich zunächst Verminderung des Stoffwechsels, also Verminderung der Nah- rungseinnahme, und körperliche E.uhe. Damit hängt die Massigkeit des Südländers zusammen, aber auch andererseits die Trägheit, von welcher mau in grosser Sommerhitze und in heissen Klimaten leicht befallen wird. Ein sehr wesentliches Mittel, unsere Wärme zu reguliren, ist der Schweiss, indem, sobald die Schweissdrüsen kräftig zu secerniren be- ginnen, die Menge des Wassers, welche von der Haut verdunstet, in hohem Grade vermehrt wird. Nun ist es Ihnen aber bekannt, dass die A^crdunstung des Wassers darin besteht, dass die einzelnen Theilchen des Wassers nach allen Eichtungen hin fortgeschleudert werden. Die bewegende Kraft, welche den Wassertheilchen mitgetheilt wird, rührt eben von der Wärme her, welche früher im Wasser vorhanden war. Diese Wärme wird also verbraucht durch Verdampfung , durch Ver- dunstung: es wird also, wie man sich ausdrückt, Wärme latent, oder richtiger gesagt, es wird dadurch Wärme verbraucht, weggeschafft. Damit hängen auch die Waschungen, die systematischen Befeuchtungen der Oberfläche des Köi-pers zusammen, vermöge welcher man demselben Wärme zu entziehen sucht. Es ist bekannt, dass man in Krankheiten, wo man Mittel zur Wilnneregnliruu^', 07 Wärme entziehen will, nicht immer Biider anwendet, sondern auch Waschungen, gewöhnlich mit Essig und \¥asser, um durch die Ver- dunstung von der KörpcroberfLüche dem Körper Warme zu entziehen und eine Temperaturerniedrigung hervorzubringen. Das einfachste Mittel, um die Temjjeratur herabzusetzen, um dem Körper Wiirme zu entziehen, scheint das kalte Bad zu sein, und wir bedienen uns desselben in der That, um uns in der grossen Sommer- hitze zu erfrischen. lieber die unmittelbare Wirkungsweise des kalten Bades existirt aber noch mancherlei Streit. Es sind die Temperaturen im Bade und unmittelbar nach dem Bade gemessen worden, und man hat meist die Temperaturerniedrigung nicht so gross gefunden, wie man sie erwartet hatte; ja Einzelne geben an, dass bei Gesunden nach einem kalten Bade gar keine Erniedrigung der Achselhöhlentemperatur ein- trete, während andere hinwieder eine solche bis auf 34", ja bis auf 29^ beobachtet haben wollen. Es scheint das damit zusammen- zuhängen, dass durch das kalte Bad als solches die Wärmeproduction erhöht wird, so dass allerdings mehr Wärme abgeleitet wird, andererseits aber auch mehr Wärme gebildet wird. Es scheint hierbei nicht gleich- giltig zu sein, auf welche Weise man durch das Bad Wärme zu ent- ziehen sucht. Am wenigsten kommt man zum Ziele, wenn man den Menschen von vornherein in Wasser von so niedriger Temperattir bringt, dass man ihn nur kurze Zeit darin belassen kann. Viel besser gelingt es Wärme zu entziehen, wenn man ihn zuerst in ein warmes Bad bringt, und dieses langsam-und allmälig abkühlt. Ziomssen schlägt deshalb vor, dass man, wenn in Krankheiten, z. B. im Typhus, Wärme entzogen werden soll, den Kranken in ein Bad von 35^ C. bringe, und dass man dann, durch einen untergetauchten Schlauch, unter leichtem Frottiren kaltes Wasser zufliessen lasse, bis die Temperatur auf 20'^ erniedrigt ist. Man soll n\in, unter leichtem Frottiren, den Krauken so lange im Bade sitzen lassen, bis trotz des Frottirens Frösteln eintritt, was gewöhnlich nach 20 bis 30 Minuten geschieht. Indessen kann man doch nach den Erfahrungen Anderer, namentlich denen v. Bamberg er 's, gerade im Typhus das Bad in den meisten Fällen mit gutem Erfolge bei einer bedeutend niedrigeren Temperatur beginnen. So vollkommen imsere Wärmeregulirung im gesunden Zustande ist, so verlieren wir dieselbe bis zu einem gewissen Grade in einer grossen Anzahl von Krankheiten, und es treten dann oft nicht unbeträchtliche Temperatursteigerungen ein. Angeblich ist im Ja,hre 1875 in England bei einer Dame eine Temperatursteigerung bis auf mehr als 51*' C. beobachtet worden. Wir werden später Thatsachen kennen lernen, welche die Richtigkeit dieser Angabe als sehr unwahrscheinlich erscheinen lassen. Die höchste Temperatur, welche von Wunderlich bei seinen zahlreichen Messungen beobachtet wurde, trat in einem Falle von Tetanus auf, und zwar eine Temperatursteigerung auf 44-|" C. Quincke beob- achtete im Gelenkrheumatismus 43,5 in der Achselhöhle, und gleich- zeitig 44,3 in der Seheide. In zwei Fällen von Quetschung des Hals- markes fand er zur Zeit des Todes im Mastdarm 43,5 und 43,6. In einem Falle von Ilcotyphus beobachtete er 5 Minuten nach dem Tode im Mastdarm 43,4". In allen fieberhaften Krankheiten steigt die Tem- peratur, und zwar nicht nur im sogenannten Hitzestadium, sondern auch Ö8 Mittel zur ^Va^Inc](>gllli^^ng. im JFroststadium. Wenn auch der Intermittenskranke vor Kälte mit den Zähnen klappernd daliegt, ist die Temperatur seiner inneren Theile er- höht, so dass ein greller Widerspruch besteht zwischen der subjectiven Empfindung des Kranken, und dem Resultate, welches die Messung mittels des Thermometers gibt. Dieser grelle Widerspruch erklärt sich daraus, dass unser Wärmegefühl nicht aus der Temperatur unserer inneren Theile stammt, sondern aus dem jeweiligen Zustande unserer Hautnerven, der wiederum von dem Zustande der Hautcirculation ab- hängig ist. Wir empfinden warm, wenn das Blut reichlich und lebhaft durch die Haut circulirt, und wir empfinden kalt, wenn das Blut in die inneren Theile zurückgetreten ist. Wenn man in ein Bad von 10 oder 11'^ springt, sich nur kurze Zeit darin aufhält, und dann wieder hinausgeht, so em- pfindet man nicht das Gefühl von Kälte, man hat im Gegentheil ein Ge- fühl von Wärme, welches sich über die ganze Haut verbreitet, wenn auch die umgebende Luft nicht warm ist. Sieht man dann die Haut an, so wird man finden, dass sie geröthet ist, dass das Blut reichlich durch die- selbe circulirt, und das ist es, was uns im Widerspruch mit der äusseren Temperatur das Gefühl der Wärme hervorruft. Der Intermittenskranke dagegen, welcher im warmen Zimmer im Bette liegt, friert erbärmlich trotz der ihn umgebenden hohen Temperatur, indem eben das Blut, wie dies auch das Aussehen seiner Haut zeigt, aus derselben zurückgetreten ist, und sich in den inneren Theilen, in der Leber und in der Milz an- gehäuft hat. Daraus erklärt sich auch theilweise, und abgesehen von der vermehrten Wärmeproduction, die das Fieber und der in demselben ver- mehrte Stoffverbrauch an sich verursacht, wieder die Temperatursteigerung im Froststadium des Fiebers, da die Wärmeregulirung wesentlich damit zusammenhängt, dass das Blut an die Oberfläche des Körpers geht, in die unter der Oberfläche gelegenen Capillaren der Haut eindringt, und hier Wärme abgibt. Wenn also weniger Blut zur Haut geht, so muss auch relativ weniger Wärme abgegeben werden, und deshalb kann die Temperatur der inneren Theile sich erhöhen. Die Temperatur bleibt erhöht im sogenannten Hitzestadium der Intermittens und sinkt erst zur Norm am Ende desselben, wenn Schweiss eintritt, das Blut nicht nur frei durch 'die Haut circulirt, sondern nun auch durch die Verdunstung des Schweisses dem Körper rasch Wärme entzogen wird. Nach dem Tode tritt in vielen Fällen noch eine Steigerung der Temperatur ein. Sie ist schon nach sehr verschiedenen Krankheiten beobachtet worden, und nach Heidenhain soll sie bei Hunden eine normale, eine physiologische Erscheinung sein. Man hat sich dieselbe so zu erklären, dass mit dem Tode des Individuums nicht auch sogleich die Wärme erzeugenden chemischen Processe aufhören, und dass mit dem Aufhören des Herzschlages iind der Athembewegungen weniger Wärme nach aussen abgegeben wird als früher. Erniedrigung der Temperatur tritt nach heftigen Reizungen sensibler Nerven ein, sie tritt ein nach heftiger Wirkung von Abführmitteln, un- mittelbar nach der Wirkung von Brechmitteln u. s. w. Sie tritt im Allge- meinen ein nach Erscheinungen, welche geeignet sind, sogenannten Col- lapsus hervorzurufen, und im Collapsus selbst. Sehr niedrige Temperaturen sind im letzten Stadium der Menin- gitis tuberculosa beobachtet, in einem Fallo unmittelbar vor dem Tode 28,6 'J C. Licliteiitivickelun;;. Du Licliteiitwickeluiig . Wir haben uns nim noch mit einer besonderen Art von Wärrae- entwickelung zu beschäftigen, mit der Lichtentwickelnng durch lebende Körper. Es ist uns auf den ersten Anblick auffallend , von einem lebenden Organismus Licht ausgehen zu sehen, weil wir ja gewohnt sind, das Licht von glühenden, von brennenden Körpern ausgehen zu sehen, und doch der lebende Organismus keine so hohe Temperatur ertragen kann, wie wir sie an unseren gewöhnlichen Lichtquellen vorfinden. Man muss sich aber klar machen, dass Licht und hohe Temperatur nicht un- trennbar mit einander verbunden sind, indem es zwar nicht gewöhnlich, aber doch an sich nicht unmöglich ist, dass eine Wärmequelle, in der die Temperatur nicht sehr hoch ist, doch schon Strahlen von so kurzer Schwingungsdauer aussendet, dass sie die optischen Medien unseres Auges wenig geschwächt durchwandern und unsere Netzhaut zur Empfindung des Leuchtenden erregen. Das geschieht bei den leuchtenden Thieren. An lebenden Menschen und lebenden Wirbelthieren ist, wenn man von dem wohlconstatirten Leuchten einzelner Wunden absieht, im Ganzen nicht viel von Lichterscheiuungen beobachtet. Es existiren einige ältere Angaben, dass der Schweiss einzelner Menschen leuchtend gewesen sei, und in neuerer Zeit hat Panceri wieder einen solchen Fall veröffentlicht, den er zwar nicht selbst gesehen, der ihm aber aus verlässlicher Quelle mitgetheilt wurde. Auch der Urin von Menschen soll in einzelnen Fällen im Augenblicke, wo er gelassen worden ist, leuchtend gewesen sein. Die Eier von Lacerta agilis und auch von einzelnen Schlangen sollen im Augen- blicke, wo sie gelegt werden, leuchten u. s. w. An einzelnen Fischen, namentlich an einer Scymnus-Art, sind leuchtende ßegionen, an anderen nur leuchtende Flecke beobachtet worden, es ist aber noch ungewiss, ob hier das Licht von den Fischen selbst herrührt, oder von Organismen, welche parasitisch auf ihnen leben. Ausserordentlich verbreitet aber ist das Leiichten unter den wirbellosen Thieren. Am bekanntesten ist in hiesiger Gegend das Leuchten von unserem gewöhnlichen Glühwürmchen oder Johanniswürmchen, Lampyris splendi- dula. Dies Insect hat auf den drei letzten Ringen seines Hinterleibes eigenthümliche Organe, die sich schon durch die Chitindecke hindurch von dem übrigen Fettkörper auszeichnen, und diese Organe sind es, von denen das Licht ausgeht. Wenn man dieselben untersucht, so findet man sie bestehend aus zwei Lagen, aus einer Lage, die iindurchsichtig ist, und sich bei näherer Untersuchung ganz durchsetzt zeigt mit Harnsäure und harnsauren Salzen, die in feinen Körnern abgelagert sind; das ist die tiefere Partie: dagegen ist die oberflächliche Partie, die unmittelbar unter der Chitindecke liegt, durchscheinend, und zahlreiche Tracheen gehen in die- selbe hinein. Wenn man nun diese uiitersucht, so findet man sie aus zwei Arten Zellen zusammengesetzt, wovon die einen unmittelbar mit den Tra- cheen verbunden sind. Max Schnitze, von dem diese Untersuchungen herrühren, hat gefunden, dass diese Zellen eine leicht oxj'dirbare Substanz enthalten, indem sie sich in Ueberosmiumsäure ausserordentlich schnell, und schneller als die übrigen färben. Die Färbung durch Ueberosmiumsäure beruht auf einem Reductionsprocesse; je leichter also die Substanzen 60 liichtentwickeluiig. oxydirbar sind, in um so kürzerer Zeit reduciren sie die Ueberosmium- sänre, und färben sich schwarz, indem sich Osmium in ihnen niederschlägt. Er hat ferner auch gefunden, dass, wenu^ er das Aufleuchten des Organs bei schwachen A'^ergrösserungen beobachtete, zuerst das Licht in zahl- reichen Pünktchen in dem Organe zerstreut war, und erst hinterher zu- sammenfloss, so das3 nun das ganze Organ leuchtend erschien. Er erklärt dies mit Recht so, dass, so lauge das Licht schwach war, die einzelnen kleinen leuchtenden Punkte noch einzelne Netzhautbilder entwarfen, dass letztere dagegen, als das Licht stärker wurde, zusammenflössen. Hienach würden es diese auf den Enden der Tracheen aufsitzenden Zellen sein^ von welchen das Licht in den Leuchtorganen ausgeht. Es zeigt sich nun, dass das Leuchten oder Kichtleuchten des Organs von der Willkür des Thieres abhängt. Wenn die Substanz aus dem Leuchtorgaue heraus- genommen, und auf dem Objectträger ausgebreitet wird, dann leuchtet sie freilich eine Zeit lang ohne äusseres Zuthuu. So lauge sie aber in dem Leuchtorgane, im lebenden Thiere liegt, leuchtet sie nicht gegen oder ohne den Willen des Thieres. Wenn sich das Thier im Hellen befindet, so löscht es sein eigenes Licht aus, und wenn es sich im Dunkeln befindet, so zündet es sein eigenes Licht wieder an. Wenn man ein Leuchtwürm- cheu am Tage untersucht, indem man es plötzlich in einen dunklen Raum hineinbringt, so findet man, dass es nicht leuchtet. Wenn man es einige Zeit in einem dunklen Räume gelassen hat, so fängt es allmälig stärker und stärker zu leuchten an. Es wird endlich so stark leuchtend, dass, wenn man es in ein Reagirglas hineingibt und mit diesem über die Zeilen eines Buches hinüberfährt, man dabei die Buchstaben erkennen kann. Wenn man des Abends oder des JSTachts ein solches starkleuchtendes Thier in ein Zimmer bringt, das durch eine Kerze beleuchtet ist, so ist das Licht der Leuchtorgane so stark, dass man dieselben selbst neben der Kerze noch als grüne glänzende Flecke wahrnimmt. Dann aber werden sie nach und nach unscheinbar, und wenn das Thier sich noch länger in heller Beleuchtung aufhält, verschwindet das Licht so vollständig, dass es nun auch plötzlich ins Dunkle gebracht kein Leuchten zeigt. Es geht schon hieraus hervor, dass das Nervensystem einen wesentlichen Einfluss auf das Leuchtorgan und auf das Leuchtvermögen hat, und das haben auch die Untersuchungen von KöUiker bestätigt. Man kann sich aber diesen Einfluss in zweierlei Art denken. Man kann sich erstens als mög- lich denken, dass die Nerven einen directen Einfluss auf die Substanz selbst haben, dass sie in ihr eine Veränderung hervorbringen, in der sie leuchtet. Andererseits kann man sich aber auch vorstellen, dass den Zellen vom Nervensysteme aus der Zutritt des atmosphärischen Sauer- stoffes bald verschlossen, bald geöffuct werde, und dass hiemit das Leuchten oder Nichtleuchten zusammenhänge. Denn das Leuchten beruht doch ofi'en- bar auf einem Oxydationsprocesse, auf einem Verbrennungsprocesse. Alle diese Zellen hängen an Tracheen : Sie können sich also denken, dass das eine Mal die Luft in die Tracheen frei eindränge oder hineingezogen würde, und das andere Mal der Zutritt zu diesen Tracheen verschlossen würde. Für eine directe Einwirkung spricht die Analogie anderer Thiere, gewisser Seethiere, bei denen sie offenbar statthat. Für eine indirecte durch den Luftzutritt spricht, dass die herausgenommene Masse noch eine Zeit lang an der atmosphärischen Luft fortleuchtet, wenn sie auch Leuchten todter Thierkörpor. 61 ausser Zusammcuhang mit dem Thiere inid mit dorn Nervensysteme steht, ja wenu sie mechanisch misshandelt und zerquetscht ist; ferner der Umstand, dass das Leuchten nicht ganz plötzlich beginnt und nicht ganz plötzlich wieder aufhört, sondern dass das Thier eine gewisse Zeit braucht, um allmälig sein Licht auf die Höhe zu bringen, und eine gewisse Zeit bi'aucht, um sein Licht wieder auszulöschen; doch soll nach den Ver- suchen von Kölliker durch das Hindurchleiten von Inductionsströmen momentanes Leuchten hervorgebracht werden, während Joiasset de Bellesme angibt, dass zwischen elektrischer Reizung und Lichtent- wickelung 6 bis 8 Secunden verstreichen. Eine andere Species von Leuchtwürmchcn ist Lampyris italica, welche in ähnlicher Weise leuchtet, wie unser Johanniswürmchen, aber das Eigen- thümliche hat, dass beim Männchen das Licht sich in regelmässiger Periode abschwächt und verstärkt, blitzartig aufleuchtet. Ein noch viel stärkeres Licht geben die sogenannten Cucujos (Elater noctilucus, in Mexico ein- heimisch), über weichein neuerer Zeit mehrfache Beobachtungen angestellt worden sind. Sie sind grössere Thiere von fast drei Centimeter Länge, und bei ihnen findet sich im Prothorax jederseits nahe dem Rande ein Leuchtorgan und ausserdem ein drittes unpaares nach C. Heinemann am Abdomen. Ausserdem kommt fast in allen Abtheilungen der wirbellosen Thiere, bei den Crustaceen, Mollusken, Medusen, Infusorien u. s. w. das Leuchten vor. Das Meerleuchten der Tropen rührt grossentheils von der Feuer- walze, Pyrosoma atlauticum, her, während das Leuchten in der Nordsee durch ein kleines Thierchen, ISToctiluca miliaris oder Mammaria scintillans, wie OS Ehrenberg benannte, hervorgerufen wird. Auch dieses leuchtet nicht continuirlich. Wenn man ein Gefäss mit Wasser, in dem diese Thiere in Menge vorhanden sind, in ein Zimmer bringt und es ruhig stehen lässt, so .hört das Leuchten ganz auf, wenn man aber an das Glas schlägt, das Wasser erschüttert, dann blitzt es darin plötzlich hell auf. Darauf beruht es auch, dass zur Zeit des Meerleuchtens die See nicht gieichmässig leuchtet, dass die M^ellenkämme und die Brandungen leuchten, oder dass bei stillem Wetter, wenn man mit einer Gerte in das Wasser schlägt, dasselbe aufleuchtet und auch beim Rudern unter dem Schlage aufleiichtet, und leuchtend von den Rudern herunterfliesst. Interessante Beobachtungen hat Panceri in IS'eapel über das Leuchten von Phyllirhoe bucephala gemacht. Bei diesem Thiere leuchten wenn es gereizt wird, wozu Panceri Ammoniak verwendete, das er auf die Tentakclii brachte, eine Menge von grösseren und kleineren hellen Punkten am ganzen Körper auf. Die grösseren dieser Punkte entsprechen einer Art von Zellen, welche zuerst Müller beobachtete, xmd die deshalb den Namen der MüUer'schen Zellen führen. Die kleineren dieser Punkte entsprechen Zellen, welche man als Ganglienzellen betrachtet. Sie haben mit den Ganglienzellen eine gewisse äussere Aehulichkeit, iind ausser- dem das mit ihnen gemein, dass sie an den Nervenfasern hängen, was übrigens auch mit den MüUer'schen Zellen der Fall ist. Leucliten todter Tliierköri)er. Thiere, welche während ihres Lebens nicht leuchten, können nach dem Tode leuchtend werden. Es ist bekannt, dass man in Seestädten 62 Leuchten todtor Tliierkorpoi'. nicht seitun den Wegwurf von Fischen leuchten sieht. Man hat auch beobachtet, dass Fische und, nach den Angaben von Hulme, auch junge Kaulquappen leuchtend werden, wenn man sie in Salzwasser oder in Glaubersalzlösung aufbewahrt. Aber auch Fleisch von anderen Thieren hat man leuchtend werden gesehen. Es existiren schon ältere Beobach- tungen darüber, von Fabricius ab Aquapedente aus dem Jahre 1592, wo in Rom der roh aufbewahrte E,est eines geschlachteten ' Lammes leuchtend wurde, von Boyle wnä von Anderen. 1780 wurde einmal einem Fleischer in Orleans alles vorräthige Fleisch leuchtend. N"ach Astley Cooper und Appletou wurde eine übrig gebliebene Extremität von einer 16 Tage früher auf die Anatomie gelangten Leiche leuchtend. Eine andere in denselben Saal gebrachte Leiche ward nach einigen Tagen auch leuchtend. Knochen, Sehnen, Membranen und Muskeln leuchteten, aber die Eingeweide des Thorax nicht. Man fand auch, dass man das Leuchten von einer Leiche auf die andere übertragen könne. Wenn mau von der leuchtenden Leiche eine Extremität auf eine andere Leiche legte, so wurde auch diese nach einiger Zeit leuchtend. Auch hier in Wien ist das Leuchten von Fleisch beobachtet worden. Es wurden, es mag etwa im Jahre 1850 oder 1851 gewesen sein, einmal bei einem Selcher die Würste leuchtend. Sie wurden von der Polizei confiscirt, und an Verschiedene, die sich dafür interessiren konnten, ver- theilt, und auch ich habe einige davon bekommen. Es fand sich auf der Oberfläche eine graue Masse, in der sich Vibrionen, Fetttropfen und Krystalle von phosphorsaurer Ammoniak-Magnesia befanden. Es war also oifenbar der Zersetzungsprocess schon weit vorgeschritten. Ich hatte aber bald Gelegenheit, mich von der Richtigkeit älterer Angaben zu überzeugen, dass Fleisch, das noch relativ frisch ist, und sonst noch keine Fäulnisserscheinungen zeigt, auch leuchten kann. Unser Laborant Brückner erzählte nämlich in einem benachbarten Gasthause von diesen leuchtenden Würsten, imd da erfuhr er, dass die Erscheinung gar nichts Ungewöhnliches sei, dass sie allen denjenigen wohl bekannt, welche häufig mit Fleisch in dunklen Räumen zu manipulireu habeu, dass nur eben nicht viel davon gesprochen wird, um Unannehmlichkeiten zu vermeiden. Er brachte mir auch in der That aus dem Gasthause eine Milz und ein Stück Muskelfleisch, die beide anscheinend vollkommen frisch waren, aber nichtsdestoweniger im Dunklen mit weissem Lichte leuchteten. Es fanden sich auf diesen Stücken keine mit den mir damals zu Gebote stehenden Mikroskopen als solche erkennbare Vibrionen, und keine Krystalle von phosphorsaurer Ammoniak-Magnesia, sondern es Hess sich von der Oberfläche nur eine Materie abstreichen, die einige feine Körnchen mit Molekularbewegung und einige Fetttröpfchen enthielt. J. Nüesh, der in neuerer Zeit, im Jahre 1877, Beobachtungen über leuchtendes Fleisch angestellt hat, leitet das Leuchten von leuchtenden Bacterien ab, 0. Lassar von einer Zoogloea, welche er Zoogloea phos- phorescens nennt. Er empfiehlt Anilinbraun und Anilinviolett zur Färbung bei der Untersuchung derselben. Es muss au diesem Orte erwähnt werden, dass diese leuchtenden Bacterien als auf Wunden, falls auch bei diesen das Leuchten von ihnen herrührt, unschädlich betrachtet werden müssen, denn Perci und Laureut sahen leuchtende Wunden rasch und gut heilen. Wunden mit Hospital brand sahen sie nur in seltenen Ausnahmsfällen Elcctncitat. DO leuchten. Wenn übrigens die vingabc richtig ist, dass bei einem mit einer leuchtenden Wunde Sterbenden das Leuchten aufhörte, als der Collaps ein- trat, so ist es eiuigermassen schwierig, das Leuchten der Wunden von Bacterien abzuleiten, es müsste denn sein , dass das Aufhören des Leuch- tens directe Folge einer eingetretenen Temperaturerniedrigung war. Es ist bekannt, dass nach dem gewöhnlichen Ausdrucke „ faulendes'' Holz häufig leuchtet: aber auch da ist das Lei;chten iiicht Folge des Verwesungs-, des Zersetzungsprocesses als solchen, wie man wohl ge- glaubt hat, denn ich habe mich früher oft in Wäldern, in denen sich viel faules Holz vorfand, nach leuchtendem Holze umgesehen, ohne es zu finden. Dann habe ich es auf einem Platze, wo Holz verarbeitet wurde, in grosser Menge gefunden an Holzspäneu, die verhältnissmässig frisch und nur häufig dem Regen ausgesetzt waren. Electricität. Die electrischen Erscheinungen werden wir hier nur theilweise betrachten, wir werden hier nur die Erscheinungen der sogenannten statischen Electricität besprechen; zur Lehre von den electrischen Strömen, welche man von den Muskeln und Nerven ableiten kann, können wir erst übergehen^ wenn wir uns mit den Muskeln und Nerven, und ihren Eigenschaften bekannt gemacht haben. Es war begreiflich, dass, nachdem man die electrischen Erscheinun- gen überhaupt zu studiren anfing, die electrischen Ladungen des mensch- lichen Körpers und die Erscheinungen, welche mau in Folge solcher Ladungen von ihm erhalten konnte, für Laien und Aerzte von grossem Interesse sein mussten, und man hat deshalb auch frühzeitig Versuche über dieselben angestellt. Was ich Ihnen in dem Folgenden über die- selben mittheile, ist dem grossen Werke über thierische Electricität von E. du Bois-Reymond entnommen. Die wichtigste Arbeit über diesen Gegenstand ist nach diesem die, welche von Ahrens im Jahre 1817 unter Pfaff's Leitung, also gewiss mit den besten Hilfsmitteln und allen Vorsichtsmassregeln angestellt wurde. Es heisst a. a. 0.: „Die Versuche wurden gewöhnlich so angestellt, dass die Person, deren Electricität untersucht werden sollte, sich auf ein Isolatorium begab, und mit der Hand (bisweilen auch mit einem anderen Theile des Körpers) die Collectorplatte eines sehr guten, und auf ein Goldblatt- electrometer aufgeschraubten Coudensators berührte, während die obere Platte des Coudensators mit ^ dem Erdboden in leitende Verbindung gesetzt wurde. Hatte die Berührung der Collectorplatte kürzere oder längere Zeit* (was keinen grossen Unterschied zu machen schien, da die Ladung gewöhnlich sehr schnell geschah) stattgefunden, so wurde die Verbindung aufgehoben, die obere Platte des Coudensators entfernt, und nun zeigten die Goldblättchen durch ihre Divergenz den Grad der mit- getheilten Electricität, deren Qualität auf die gewöhnliche Weise durch Annäherung einer geriebenen Siegellackstange oder einer Glasröhre er- forscht wurde. Die wichtigsten Resultate dieser, mehrere Monate hindurch fortgesetzten Versuche waren folgende: In der Regel ist die eigeuthümliche Electricität des menschlichen Körpers im gesunden Zustande positiv. Selten übersteigt si(> an Intensität die Electricität, welche das mit dem 64 Electricität. Erdboden in leitender Verbindung stehende Kupfer mit dem Zink hervor- bringt. Reizbare Mensehen von sogenanntem sanguinischen Temperamente haben mehr freie Electricität als träge von sogenanntem phlegmatischen Temperamente. Des Abends ist die Menge der Electricität grösser als zu den andern Tageszeiten. Geistige Getränke und der dadurch vermehrte Kreislauf vermehren die Menge der freien Electricität. Die Weiber sind öfter als die Männer- negativ electrisch, doch sind vreder die Versuche von Ahrens, noch von mir — sagt Pfaff — bisher genug vervielfältigt worden, um den Gegensatz der Electricität des weiblichen Geschlechtes gegen die des männlichen als Regel aufstellen zu können. . . . Im Winter sehr durchkältete Körper zeigten erst keine Electricität, die aber allmälig zum Vorschein kam, sobald die Haut wieder warm wurde. Dass diese eigenthümliche Electricität des Körpers ganz unabhängig von dem Reiben der Kleider an der Oberfläche sei, bewies der Umstand, dass auch der ganz nackte Körper dieselbe Electricität zeigt; auch war kein Unter- schied zu bemerken, welcher Theil des Körpers mit der CoUectorplatte in Berührung kam. Während der Dauer rheumatischer Krankheiten scheint die eigenthümliche Electricität des Körpers auf Null herabzu- sinken, und, sowie die Krankheit weicht, allmälig wieder zum Vorschein zu kommen. Hermann Nasse hat diese Versuche wiederholt, sich aber dabei, wie es scheint, nur des Electroskops, ohne condensirende Vorrichtung bedient. Er hat überall, bei Männern wie bei Weibern, an Kranken wie an Gesunden, ja an Leichen, und gleich viel ob Isolation stattfand oder nicht, positive Electricität gefunden, und leitet dieselbe in seinen, wie in Ahrens Versuchen von der Reibung ab, der die electroskopischen Vorrichtungen bei ihrer Handhabung am Körper unter- worfen sein mögen. Es ist eben ausserordentlich schwer, bei der elec- trischen Spannung, welche sich an der Körperoberfläche findet, zu unter- scheiden, inwieweit dieselbe eine Folge des Lebensprocesses als solchen ist, oder eine Folge der Reibung, welcher die Körperoberfläche an den Kleidungsstücken ausgesetzt ist. Denn, wenn auch der nackte Körper untersucht worden ist, so ist doch kürzere oder längere Zeit vorher die Körperoberfläche der Reibung der Kleidungsstücke ausgesetzt gewesen, und es ist bekanntlich sehr schwer, einen Körper von den letzten Spuren electrischer Spannung, welche seiner Oberfläche anhaftet, zu befreien. Die Erscheinungen, wie sie hier beschrieben worden sind, sind sämmt- lich solche, welche sich nur mit feineren Hilfsmitteln nachweisen lassen. Es existiren Nachrichten theils aus älterer, theils aus neuerer Zeit, nach denen einzelne Menschen viel auffallendere electrische Erscheinungen gezeigt haben sollen. Jean Domin. Cassini erzählt in seinem Reise- berichte aus Italien vom Jahre 17 75 von einem russischen • Herrn, den er in Florenz kennen gelernt, und der ihn versicherte, dass er zu ver- schiedenen Zeiten seines Lebens das Vermögen gehabt hätte, electrische Funken zu geben. Oseretskowski wurde von drei glaubhaften, und in Petersburg angesehenen, aus Sibirien gebürtigen Männern berichtet, dass Michael Puschkin in Tobolsk, 45 Jahre alt, vom Jahre 1775 an die Eigenschaft besessen habe, Jedem, der ihn berührte, einen Funken nebst Erschütterung mitzutheilen. Nur im Winter jedoch gab sich diese Eigen- schaft kund, und auch dann bedurfte er eines isolirenden Teppichs, auf dem er stand. Seine Frau sei durch den Umgang mit ihm gleichfalls Klee trici tat. ßo electrisch geworden, so dass, wenn ihre Freuudinuen beim Grusse uiich Landessitte Küsse mit ihr wechselten, sie häufig durch die im Augenblicke der Berührung von ihren Lippen überspringenden Funken erschreckt wurden. Oseretskowski ist zweifelhaft, ob nicht dieser Fall einer und derselbe mit dem von Cassini erzählten sei. Die ausführlichste und zugleich die erstaunlichste von diesen Er- zählungen ist die von der electrischen Dame zu Orford (Grafton county, New Hampshire) in den Vereinigten Staaten. A.m 25. Jänner 1837, als eben ein strahlendes Nordlicht am Himmel stand, bemerkte diese Dame, inmitten der zur Beobachtung desselben versammelten Gesellschaft, indem sie mit der Hand die Wange ihres Bruders streichelte, zu Beider nicht geringem Erstaunen, dass electrische Funken aus jeder Fingerspitze nach dem berührten Gesichte übersprangen. Die ganze, durchaus zu Zweifeln geneigte Gesellschaft überzeugte sich durch Gesicht und Gefühl von den Funken, und der etwas später hinzugekommene Berichterstatter, Dr. Wil- lard Hosford, ein „achtungswerther" Arzt, erhielt von den Knöcheln der Dame einen V4" langen Funken an die Nase, über den er im Zu- rückprallen jeden Zweifel vergass. Dies electrische Vermögen hielt bis zu Ende Februar mit wachsender Stärke an, begann dann zu sinken und verschwand erst gegen Mitte Mai. Es blieb sich während dieser Zeitdauer nicht stets an Stärke gleich; indessen sei zu vermutheu, dass vom 25. Jänner bis zum 1. April die Dame jederzeit im Stande war, electrische Funken abzugeben. Eine Temperatur von ungefähr 70 — 80" Fahren- heit, leichte Körperbewegung, Gemüthsruhe, gesellige Erheiterung be- förderten das Hervortreten der Erscheinung; unter diesen aber war der Einfluss der Temperatur am deutlichsten, da noch ehe das Thermometer den Nullpunkt erreichte, die Electricität völlig verschwunden war. Mit dem Nullpunkte ist hier jedoch, obschon nach Fahrenheit'schen Graden gerechnet wird, der Frostpunkt gemeint, was sich daraus ergeben dürfte, dass in Mussey's Bericht 25" Fahrenheit (=: — 3-88" C.) als die un- gefähre Grenze des electrischen Vermögens sich angegeben findet. Baro- meter- und Hygrometerstand übten keinen merkbaren Einfluss aus. Der Isolator, auf dem die Dame sich befand, war einfach der türkische Teppich ihres Zimmers, und gestattete keine höhere Spannung, als die sich nach- her in Funken von 1*5" Länge entlud (!); wurde aber ein metallischer Leiter Yie" "^^n ihrem Finger gehalten, so ging alle Secunden ein hör-, sieht- und fühlbarer Funke über. Wenn sie, die Füsse in der Nähe des eisernen Ofens, („on the stove-hearth [of iron]") mit Lesen beschäftigt, sass, und keine andere Bewegung vornahm, als dass sie athmete und von Zeit zu Zeit das Blatt wendete, so schlugen in der Minute drei oder mehr Funken nach dem Ofen über, trotz der Nichtleitung ihrer Schuhe und seidenen Strümpfe. Sie konnte isolirte Personen laden, ja so stark, dass diese wiederum eine dritte zu laden vermochten u. s. w. Unter den günstigsten Umständen gab sie in der Minute vier \'5" lange Funken einer bronzenen Kugel an dem Ofen ab, deren Knattern durch das ganze grosse Zimmer gehört wurde; dies geschah sogar, freilich auf Kosten des Glanzes der Funken, durch eine Kette von vier Personen hindurch. Das Haar der Dame sträubte sich nicht durch electroskopische Abstossung, unstreitig, weil es zu fest gemacht war: „her hair having been laid smooth at her toilet and firmly fixed before she appeared upon her in- Brücke. Vorle.suiigoii I. 4. Aull. 5 QQ Electricität. sulator". Sie ging gemeiniglich in Seide gekleidet; der Arzt Hess sie statt dessen Baumwolle und Wollenzeug anlegen, und ihre Schwester die seidenen von jener abgelegten Stoffe tragen: weder aber wurde diese dadurch electrisch, noch büsste die erstere ihre ausserordentliche Fähig- keit ein. Ja, sogar der Schweiss vermochte, den Erfahrungen über den gewöhnlichen Grad freiwilliger Electrisirung an isolirten Menschen zuwider, dieser Fähigkeit' nichts anzuhaben. Silliman, der den Bericht in seiner bekannten Zeitschrift wiedergibt, scheint keinen Zweifel in die Richtigkeit der Thatsache zu setzen. Er spricht, als ob er Dr. Hosfor d persönlich kenne, ist im September 1837, also wenige Monate nach dem Ereignisse, in Orford gewesen, und hat dort sowohl, als auch in der 18 englische Meilen südlich davon gelegenen Hochschule Dartmouth (at Hannover) allgemeinen Glauben an dasselbe vorgefunden. Ich kann dem hinzufügen, dass ich eine Reihe von Jahren darauf den Professor der pathologischen Anatomie von Dartmouth College gesprochen habe, und er mir sagte, dass diese Erzählung dort allgemein geglaubt werde, und man die Personen, die darüber berichtet hätten, für vollkommen vei'lässlich halte. Bei der Beurtheilung solcher Berichte muss man sich die Art und Weise vergegenwärtigen, wie die Mensehen über auffallende Naturerscheinungen zu berichten pflegen. Das Wunderbare nimmt in ihren Schilderungen immer zu, auch ohne dass sie es selbst beabsichtigen, und ohne dass sie sich irgend einer Uebertreibung schuldig fühlen. Auffallende electrische Erscheinungen bieten einzelne Personen allerdings dar. Als ich in Königs- berg war, sagte mir im Winter 1848/9 einer meiner Schüler, der zugleich Hauslehrer war, dass seine beiden Eleven, wenn sie des Abends die Wäsche wechselten und das Hemd über den Kopf zögen, durch die Rei- bung am Haare einen Lichtschein erzeugten, und dass sich das Haar sträube, offenbar durch electrische Abstossung. Ja, wenn man nur leicht über das Haar hinstreiche, so sei dies hinreichend, damit sich dasselbe durch electrische Abstossung aufrichte. Er brachte die beiden Knaben zu mir. Sie hatten ein sehr feines und zugleich sehr trockenes Haar, und eine feine, aber überaus trockene Haut. Obgleich seitdem Thauwetter ein- getreten war, also die atmosphärischen Verhältnisse den electrischen Er- scheinungen weniger günstig waren, zeigten sich diese doch noch immer in sehr auffallender Weise. Nicht allein sträubte sich das Haar durch electrische Abstossiiüg, wenn man über dasselbe hinstrich, ' sondern man konnte durch ein blos einmaliges Herüberfahren mit einem seidenen Tuche letzteres so stark laden, dass man unmittelbar darauf mit dem Knöchel eines Fingers der anderen Hand einen electrischen Funken daraus ziehen konnte. Als ich hievon in einer Gesellschaft erzählte, so sagten mir ein paar Damen, das sei ihnen gar nicht auffallend, sie kennten ähnliche Erscheinungen an sich selbst. Wenn sie sich an einem Winter- morgen im Dunklen das Haar kämmten, so sähen sie häufig aus dem Haare Funken sprühen und hörten deren Knistern. Seit die Hornkämme vielfach durch Kämme aus Hartgummi ersetzt sind, ist dies Funkensprühen noch viel häufiger geworden und jetzt im ganzen Norden allgemein bekannt. Es sind diese Erscheinungen wesentlich dieselben, welche man an einer Katze beobachten kann, wenn man sie im Dunklen gegen das Haar streichelt, indem dann auch Funken aus ihrem Pelze sprühen. Man hielt deshalb früher die Katze für ein electrisches Thier, und verwendete ihr Klectricitiit. 0 i Fell mit A^orliebe zu Reibzeugen für Electrisirmaschinen. Heutzutage weiss man, dass es sich hier nur um einen Nichtleiter handelt, welcher der Reibung ausgesetzt ist. In den fünfziger Jahren fand Loomis, dass Erscheinungen, ähnlich, wenn auch nicht von derselben Intensität, wie sie die electrische Dame von Orford dargeboten, in Nordamerika gar nicht selten seien. Er entdeckte als wesentliche Ursache derselben die Rei- bung der Schuhsohlen an Teppichen aus Wollsammt. Die Erscheinungen waren am stärksten, wenn die Luft draussen kalt und trocken war, und sie erreicht dort bekanntlich bei Westwind einen bei uns unbekannten Grad der Trockenheit. Sie fanden sich ferner vorzugsweise in Häusern mit Luftheizung, und waren um so intensiver, je besser die Räume in der Winterkälte ausgeheizt waren. Ein eigenes Capitel bildet die Electricität des Blutes und der Ab- sonderungen, über welche man früher mannigfaltige Versuche angestellt hat, ohne dass viel für die Physiologie eigentlich Verwerthbares daraus hervorgegangen ist. Interessant ist es, dass, wie Vassalli -Eandi ent- deckte, der in metallene, isolirte Gefässe gelassene Urin negativ electrisch ist. An der Sache selbst, sagt du Bois, ist nicht zu zweifeln, da Yolta sie ausführlich bestätigt, und über den Grund der Erscheinung experi- mentirt hat. Er vermuthete, dass diese Electricitäf von derselben Ursache herrühre, wie die von Tralles in der Umgebung von Wasserfällen erkannte, nämlich, dass sie Folge des Auffallens des Wassers sei. Diese Ansicht zeigte sich jedoch nicht stichhältig; denn, als er eine grosse Spritze mit warmem Urin anfüllte und nun einen viel kräftigeren Strahl, als ihn die Zusammenziehung der Blase zu erzeugen vermag, in das Becken trieb, erhielt er niemals auch nur das geringste Zeichen von Electricität. Eine andere interessante Thatsache ist von John Murray beob- achtet worden. Dieser fand, dass die frisch gezogenen Spinnfäden negativ electrisirt seien. Seine Versuche beziehen sich namentlich auf das Gespinnst der Aranea aeronautica, der Erzeugerin des „fliegenden Sommers". „Bringt man den Leitungsdraht nahe an den Faden, an welchem die Spinne hängt, besonders an die Flöckchen und wolligen Kügelchen, so wird der Faden bedeutend aus der perpendiculäreu Richtung abgezogen, und der Draht übt auf den horizontalen Faden eine Attraction aus. Nähert man eine Stange geriebenes Siegellack dem hängenden Faden, so wird er davon augenscheinlich abgestossen, folglich ist die Electricität desselben negativ. Hält man die geriebene Stange über das Thier, so steigt es augenscheinlich herab, und wenn man es auf stark geriebenes Siegellack fallen lässt, so springt es mit bedeutender Kraft in die Höhe. Am 8. Juli 1822, 4 Uhr Nachmittags, sagt Murray, näherte ich zwei aeronautische Spinnen, jede an einem besonderen Faden hängend, einander; es erfolgte eine Ab- stossungj und wenn eine momentan mit der andern in Berührung gebracht wurde, so fiel sie augenblicklich in der perpendiculäreu Richtung tiefer herab. Eine geriebene Glasröhre schien den Faden und mit ihm die Spinne anzuziehen. Wenn das Insect auf diese Weise positiv electrisirt wurde, so stieg es mit ausserordentlicher Schnelligkeit herab, und spann dabei Fäden, die, wie ich beim Aufwickeln derselben bemerkte, wenigstens 30 Fuss lang waren." Fechner bcit-^tigt diese Ergebnisse durchaus. Ueber ihren er- denkbaren Nutzen in der Oekonoraie der Spinnen urtheilt Murraj'' b(S «Ti-iuiilzüge der tliiorisrlicii ni-g;iiiis;itinn. folg-endermassen. Er stellt sich ei-stens vor, dass bei herrschender posi- tiver Electricität der oberen Luftschichten die Fäden vermöge ihrer negativen Electrisirnng von selbst einen Zug nach oben erhalten und auf- steigen können. Zv>'eiteus bemerkt er, dass die in der Luft gesponnenen Fäden sich nicht mit einander vereinigen, sich vielmehr stets von ein- ander absondern, und er vermuthet, dass dies die Folge der gleich- namigen Electrisirung aller sein dürfte. Was den Ursprung der Electricität betrifft, so sagt er nur: „Beim plötzlichen- Aufziehen eines ganz fein gesponnenen Glasfadens habe ich bemerkt, dass er in der verticaleu Eieh- tung blieb, und bei der Untersuchung fand ich ihn elcctrisch." Das sind die interessantesten Angaben aus diesem Capitel. Grrunclzüge der tliierisclien Organisation. Als das Mikroskop zuerst die Wunder einer bis dahin unsichtbaren Thierwelt erschloss, da konnten sich einige Beobachter dem Glauben hin- geben, dass die kleinen Wesen, welche man nur unter dem Mikroskop sah, und welche man damals noch ziemlich unterschiedslos mit dem Namen der Infusionsthierchen bezeichnete, noch ebenso complicirt gebaut seien, wie die höheren Thiere. Ja man scheute sich nicht auszusprechen, dass ein Infusionsthierchen ebenso complicirt und in seiner Art ebenso hoch organisirt sei, wie ein Elephant. Wenn es nun auch sicher richtig ist, dass diese mikroskopischen Thierchen noch eine reichhaltige Organi- sation haben, wenn es auch richtig ist, dass ihre Organisation weit über das hinausgeht, was wir jetzt mit unseren besten Mikroskopen sehen; so würde es doch andererseits sicher ein Irrthum sein, wenn man glauben wollte, dass die Art von complicirter Organisation, wie wir sie gerade an höheren Thieren finden, sich bei den niederen Thieren wieder- holen müsste ; mit anderen Worten, dass ein solches niederes Thier ein Athemorgan, eine Leber, ein Centralnervensystem, ein Herz u. s. w. haben müsste, wie es die höheren Thiere haben. Die Einrichtungen des Organismus der höheren Thiere sind zum Theil wesentlich an die grösseren Dimensionen geknüpft und würden bedeutungslos werden in einem sehr kleinen Organismus, gerade so, wie Eisenbahnen, Telegraphen-, Markthallen u. s. w. bedeutungslos sein würden für eine Insel in der Südsee von Yjo Quadratmeile Flächeninhalt, die sich als selbstständiger Staat constituirt hätte. Unter den niedrigsten thierischen Organismen, an denen wir noch eine complicirtere Thätigkeit wahrnehmen, sind es die Ehizopoden, und unter ihnen wieder die Amöben, welche uns deshalb besonders inter- essiren, weil sie ganz analog denjenigen Elementarorganismen, oder, wenn Sie wollen, Partialorganismen, organisirt sind, aus welchen sich die höheren Wirbelthiere und der Mensch aufbauten, und welche man mit dem Namen der Embryonalzellen belegt. Eine solche Amöbe ist ein kleines, weiches Gebilde, ein Gebilde von sehr geringer Consistenz. Wenn ich sagen würde, ein gallertartiges Gebilde, würde ich damit nicht einmal das Eichtige ausdrücken, indem nur die abgestorbene Amöbe gallertartig ist, da nur die abgestorbene Amöbe eine bestimmte Gleichgewichtsgestalt hat, wie ein Gallertflöckchen, während die lebenden Amö^-en, wie schon ihr Name andeutet, ihre Gestalt wechseln, sich platt ausbreiten, lange Fort- Onindzügc der tliiorisclien Organisation. 69 sätzG luisslreckcu, diese wieder einziehen, kurz die verschiedenartigsten Formen annehmen. In vielen von ihnen findet sich in der Mitte ein rundliches Gebilde, das man mit dem ISTamen des Kernes bezeichnet. Man kennt indessen auch kernlose Amöben. Abgesehen von diesem Kerne und kleinen Körnchen, die sich in der weichen Masse ihres Leibes, im sogenannten Protoplasma, der Sarkode, vorfinden, unterscheiden wir mit dem Mikroskope an der lebenden Amöbe nichts von einer Organisation. Wir können auch sicher sagen, dass den Amöben schon das abgeht, was wir sonst als erstes. Attribut der Organbildung zu betrachten pflegen, nämlich eine Nahrungshöhle. Wir können dies deshalb sagen, weil wir unter unseren Augen sehen, wie die Amöbe sich ernährt. Sie ernährt sich so, dass sie ihren weichen Körper um den Gegenstand, mit dem sie sich ernähren will, gewissermassen herumgiesst, in dieser Lage so lange verharrt, bis sie dem Körper die resorhirbareu Substanzen entzogen, und sich dann wieder von ihm trennt. Ein ausgezeichneter Botaniker glaubte einmal die Umwandlung eines Stärkemehlkornes in eine Amöbe gesehen zu haben, weil er fand, dass das Stärkemehl- körnchen sich mit einem feinkörnigen Saume umgab, dass dieser sich verbreiterte, und dass das Ganze ofi'enbar jetzt eine Amöbe war, in deren Innerem ein Stärkemehlkorn oder der Rest desselben lag. Er überzeugte sich aber später von seinem Irrthume; er fand, dass die Amöbe nicht aus dem Stärkcmehlkorn entsteht, sondern dass die Amöbe sich nur um das Stärkemehlkorn herumgegossen , dasselbe in ihren Körper eingeschlossen hatte, um sich davon zu ernähren. Noch viel häufiger ist es, dass kleinere Körper in grösserer Anzahl in den weichen Leib der Amöbe hineingezogen werden. Sie werden darin theilweisc aufgelöst, ausgelaugt, und der unverdauliche Eest wird wieder aus- gestossen. ' ■ Eine solche Existenz ist da möglich, wo der zu ernährende Organismus sehr klein, und der Stoffwechsel langsam ist: da kann von einer ad hoc gebildeten inneren Oberfläche aus so viel Nahrungsstoff aufgenommen werden, als eben zur Ernährung des Thieres nothwendig ist. Anders ist es, wenn die Dimensionen grösser werden, oder wenn der Stoffwechsel ein geschwinderer wird, wenn mehr lebendige Kraft erzeugt werden soll, als hier verbraucht wird. Da muss eine eigene Nahrungs- höhle vorhanden sein, in welcher die zu verdauenden Substanzen auf- genommen werden. Sie ist entweder ein Blindsack oder ein Rohr, das einfach oder gewunden durch den Körper hindurchgeht und so schon das darstellt, was wir mit dem Namen des Darmkanals bezeichnen. In dem Grade, als die Dimensionen des Körpers und die Geschwindigkeit des Stoffwechsels wachsen, in dem Grade, als relativ mehr Substanz verbrannt wird, werden eigene Organe nöthig für die Ausscheidung der zersetzten Stoffe, es wird endlich auch die Menge des Sauerstoffes, Avelchcr von der Körperoberfläche aufgenommen werden kann, zu wenig; es muss eine locale Vermehrung der Oberfläche vorhanden sein, von welcher der Sauerstofi aufgenommen wird, ein Bespirationsorgau. Dieses bedingt aber nothwendig wiederum ein Kanalsystem, in welchem sich Flüssigkeit bewegt, die einerseits die verdauten Substanzen, und anderer- seits den absorbirtcn Sauerstoff mit einander in Berührung bringt, kurz es ist ein Gofässsyslom nothwendig, und mit diesen complicirten Ein- '70 I-*'© Blutkörperclien. riclitiingeu hängen natürlich auch alle übrigen zusammen, l^fervensystem, Musiielsystem, endlich das, wie es scheint, auf verhältnissmässig sehr tiefen Stufen schon ausgebildete Eeproductionssystem, ein Sexualapparat. Das Blut. Die Blutkörperchen. Wenn wir das Blut untersuchen, so linden wir darin eine Menge von kleinen Körperchen, wovon ein Theil, aber die Minderzahl, farblos, und den Amöben im hohen Grade ähnlich ist. Sie haben mit den Amöben gemein, dass sie einen weichen Leib mit feinkörnigem Protoplasma haben, dass sie Fortsätze ausstrecken, und entweder einen einzelnen Kern oder einen Haufen von mehreren Kernen neben einander haben. Ausserdem findet sich aber im Blute eine viel grössere Anzahl von farbigen Körpern, welche unter dem Mikroskope gelbgrünlich erscheinen und in Massen zusammengehäuft roth sind, so dass das Blut ihnen seine rothe Farbe verdankt. Sie sind es, welche man insonderheit mit dem Namen der Blutkörperchen oder der rothen Blutkörperchen bezeichnet, während man die anderen farblosen mit dem Namen der weissen Blutkörperchen oder der Lymphkörperchen bezeichnet, weil sie aus der Lymphe stam- men, bei der wir sie näher betrachten werden. Die rothen Blutkörperchen sind beim Menschen kreisrunde Scheiben, die an einer oder an beiden Seiten eine Delle, einen Eindruck haben. Ihr Durchmesser beträgt im Mittel Y^^e Millimeter. Aehnlich sind sie bei den meisten Säugethieren , bald etwas grösser, bald etwas kleiner als beim Menschen, nur bei den verschiedenen Arten der Kameele und der Lamas sind sie elliptisch. Die bedeutend grösseren Blutkörperchen der Vögel, der beschuppten und der nackten Amphibien und der Fische, sind' sämmtlich mit Ausnahme der von Myxine und Petromyzon ellip- tische Scheiben. Sie haben in der Mitte, die etwas aufgetrieben, etwas dicker als der übrige Theil der Scheibe ist, einen elliptischen Fleck, der in ganz frischen und lebenden Blutkörperchen undeutlich begrenzt ist und sich durch seine lichtere Farbe auszeichnet. Man bezeichnet ihn mit dem Namen des Kernes, indem er, wenn man Jodtinctur oder andere ßeagentien hinzubringt, sich schärfer contourirt, und nun das Ansehen eines sogenannten Zellenkernes erhält. Wir sind hier an einen Punkt gekommen, wo wir uns erst näher mit der Terminologie der Zellentheorie bekannt machen müssen. Als das Mikroskop zuerst zum Studium pflanzlicher und thieriseher Gewebe verwendet wurde, beobachtete man, dass ein dünner Schnitt von einem Pflanzengewebe lauter kleine polyedrische Höhlen zeigt. Man war ursprünglich der Meinung, dass dies Höhlen in einer continuirlichen Substanz seien, ähnlich so, wie die Löcher im Brode Höhlen in einer continuirlichen Substanz sind. Dutrochet wies aber nach, dass dies nicht so sei, sondern dass der Pflanzenleib aus lauter kleinen schlauch- artigen Gebilden aufgebaut sei, die sich gegen einander abgeplattet haben, dass also jede dieser einzelnen Höhlen durch besondere Wandungen Die Blutkörperchen. 71 begrenzt und die Höhle eines ganz für sich bestehenden Gebildes, eines kleinen Schlauches oder Kästchens, sei. Diese kleinen Schläuche nannte man Zellen, und Robert Brown, der berühmte englische Botaniker, wies nach, dass bei weitem in den meisten dieser Zellen, wie man da- mals und längere Zeit später glaubte, in allen Zellen, ein sogenannter Xern vorhanden sei, das heisst ein runder Körper, der gewöhnlich nicht in der Mitte, sondern seitlich an der Wand liegt, und den eben Robert Brown mit dem Naoien des Zeilkernes bezeichnete. Auf diese Weise unterschied man an den Zellen, aus welchen die Pflanze gebildet wird, drei Theile, eine feste äussere Hülle, die Zellmembran, einen flüssigen Inhalt, den sogenannten Zellinhalt, und endlich einen festen Körper im Innern, den Zellkern. Als nun später Schwann seine berühmten Untersuchungen über die Uebereinstimmuug in der Structur und dem. Wachsthume der Thiere und Pflanzen veröffentlichte, als er nachwies, dass der Thierleib sich ebenso aus einer Summe von ursprünglich ähnlichen Gebilden aufbaue, wie der Pflanzenleib, da ging die Nomenclatur, die für die Pflanzenzelle gebildet war, auch auf die thierische Zelle über, und man war überzeugt, dass alle diese Zellen aus einer membrauösen Hülle, aus einem flüssigen Inhalte und aus dem Zellkerne bestünden. In neuerer Zeit hat man seine Vorstellungen hierüber wesentlich ändern müssen. So richtig au und für sich die Parallele ist, welche Schwann zwischen den Ihierischen Zellen und den pflanzlichen Zellen, oder, wie wir lieber sagen wollen, zwischen den thierischen und pflanzlichen Elementarorganismen gezogen hatte, so hatte er sich doch in Rücksicht auf den Bau der thierischen Zelle geirrt, und das hing damit zusammen, dass damals der Bau der Pflanzenzelle selbst noch nicht vollständig verstanden war. Das Ver- ständniss des Baues der Pflanzenzelle konnte erst aufgehen, nachdem uns Hugo von Mohl auf der Innenseite der Cellulosemembran noch ein eigenes Gebilde kennen gelehrt hatte, welches er mit dem Namen des Primordialschlauches belegte, und von dem er richtig aussagte, dass es früher da sei als die Cellulosemembran. Dieser Primordialschlauch war der eigentliche Leib des Elementarorganismus, und die sogenannte Zell- membran war nichts anderes als das Gehäuse, welches dieser Leib um sich gebildet hatte, in ähnlicher Weise, wie eine Muschel oder eine Schnecke ein Gehäuse um ihren Körper bildet. Wenn man nun die jetzt bekannten Theile der Pflanzenzelle mit der Thierzelle vergleicht, so muss der Kern der Pflanzenzelle mit dem der Thierzelle verglichen werden: der Leib der Thierzelle aber, die Substanz, die um den Kern gelagert ist, besteht, wie die neueren Untersuchungen gezeigt haben, im jugendlichen Zustande, ähnlich dem Amöbenleibe, aus einem Protoplasma, das Aviederum der Substanz des Primordialschlauches analog ist. Der Primordialschlauch ist also der eigentliche Zellenleib, der dem Leib der thierischen Zelle zu vergleichen ist. Die Höhle im Innern der Pflanzenzelle, die mit Flüssig- keit gefüllt ist, ist etwas, was in der Regel in der Thierzelle kein Ana- logon findet, und ebenso ist auch die Cellulosemembran, die auswendig den Primordialschlauch, also den Zellenleib umgibt, etwas, was in der Regel in der Thierzelle kein Analogon findet. Die thierische Zelle ist also für uns zunächst ein Protoplasmaklümpchen, welches, wenigstens in der Jugend, contractu ist, Fortsätze ausstreckt, und in welchem wir bei l2 IMp ßlutkörperchon. weitem in den meisten Fällen im Innern noch ein Gebilde unterschieden, das wir mit dem Namen des Kernes belegen. Die pflanzliche Zelle in ihrer allgemeinen Fassung braucht auch nichts weiter, aber im Verlaufe ihrer weiteren Entwickelung bekleidet sie sich nach aussen mit einem Gehäuse und innen bildet sie eine Höhle, in welcher sich Flüssigkeit ansammelt. Dass auch das pflanzliche Protoplasma, die Masse des soge- nannten Primordialschlauches, in ähnlicher Weise contractu sei, wie wir es an freilebenden Amöben, wie wir es auch an manchen Zellen des menschlichen Organismus sehen, das lässt sich sehr deutlich und schön an gewissen Pflanzenzellen, z. B. an. den Brennhaaren der Nessel, Urtica urens, wahrnehmen. Die Brennhaare solcher Nesseln bestehen aus einer grossen Zelle, die mittelst zahlreicher kleinerer in die grüne Rindenschicht eingefügt ist. Die Membran dieser Zelle ist farblos und glashell, nach innen von der Protoplasmaschicht, dem Primordialschlauche ausgekleidet, und darin liegt an der Basis der Zelle der Zellkern. Im Protoplasma sieht man fortwährend wellenförmige Bewegungen an der inneren, der Intracellularflüssigkeit zugewendeten Oberfläche, so dass man anfangs ge- glaubt hat, dass dieses Protoplasma zähflüssig sei und an der inneren Wand der Cellulosemembran entlang fliesse. Das ist aber durchaus nicht der Fall, sondern das sind Bewegungen, welche darin bestehen, dass sich eine Contractionswelle nach der andern bildet, in einer bestimmten Rich- tung fortschreitet, und dann wieder verstreicht. Im Zusammenhange mit dieser Bewegung steht eine regelmässige Fortbewegung der Körnchen im Protoplasma, welche mit dazu Veranlassung gegeben hat zu glauben, dass das ganze Protoplasma fliesse. Man kann sich aber leicht über- zeugen, dass das Protoplasma nicht fliesst, dass nur die Körnchen in einem System von Hohlräumen fliessen, welches in diesem Protoplasma vor- handen sein muss. Wenn man electrische Ströme auf ein solches Brenn- haar einwirken lässt, so werden eine Menge von Fortsätzen gegen das Innere getrieben, und augenblicklich stockt die Körnchenbewegung. Wenn die Schläge nur schwach gewesen sind, so ziehen sich diese Fortsätze wieder zurück, und das Ganze kommt wieder in seinen früheren Gang. Sind die Schläge aber zu stark gewesen, so bemerkt man, dass Körnchen in die innere Höhle austreten, dass also bei diesem Ausstossen von Fort- sätzen das Protoplasma zerrissen sein muss. Man bemerkt später, dass das Protoplasma nicht ganz wieder in seine frühere Lage zurückkehrt, dass die Körnchenbewegung aufhört, und wenn man kurze Zeit wartet, so trübt sich der Priraordialschlauch, und fängt an sich stellenweise von der Cellulosemembran abzulösen. Man hat den Leib dieser Pflanzenzelle getödtet, und daher diese Erscheinungen der Trübung, der Ablösung. Wir werden später bei der thierischen Zelle ganz analoge Erscheinungen kennen lernen. Die rothen Blutkörperchen sind nun auch als Zellen angesehen worden, und man unterschied demgemäss an den kernhaltigen Blut- körperchen eine Zellmembran, eine feste Hülle, einen flüssigen Inhalt und einen Zellkern. Wir wollen diese kernhaltigen Blutkörperchen zuerst betrachten, weil wir mehr von ihnen wissen, als von den kernlosen^ Blutkörperchen der Säugethiere und des Menschen. Zunächst fragt es sich, ob wirklich eine Zellmembran und ein flüssiger Iiihült vorhanden sei. Dein widersprechen Beobachtungen, welche I)'n' Blutkörpcrclien. 73 man an den Blutkörperchen gemacht hat, und täglich an ihnen machen kann. Man sieht Stücke von Blutkörperchen, die noch gefärbt sind, herum- schwimmen, was natürlich nicht möglich wäre, wenn das Blutkörperchen ein Bläschen, ein Schlauch, und der Farbstoff, wie man annahm, in dem flüssigen Inhalte enthalten wäre. Denn wenn das Blutkörperchen zer- trümmert ist, müsste dann der Farbstoff herausfliessen und sich mit der umgebenden Flüssigkeit mischen. Man sieht ferner, wenn mau gewisse anscheinend indifferente Substanzen, wie Harnstoff, zusetzt, die Blut- körperchen in Tropfen zerfallen, ohne dass man dabei eine Membran zerrcissen sieht. Man sieht die Blutkörperchen sich- durch enge Räume drängen, wobei sie ihre Form in so hohem Grade verändern, sich so ver- längern können, dass man nicht mehr weiss, welche Elasticität man der Membran zuschreiben sollte, die ihren Inhalt umgibt. Rollet t hat sie in Leim eingeschlossen, den Leim gelatiniren lassen und nun unter dem Mikroskope gedrückt. Er hat dabei gefunden, dass die Blutkörperchen ihre Form in ähnlicher "Weise verändern, wie es eine halbflüssige Masse thun würde, ohne dass es dabei jemals zum Zerreissen einer Membran käme. Man hat endlich Spitzen und Fortsätze aus den Blutkörperchen heraustreten sehen, wie sie mit dem Vorhandensein einer Membran nicht vereinbar sein würden. Die Bläschennatur der Blutkörperchen wird auch kaum mehr ernstlich vertheidigt; es handelt sich nur noch darum, ob eine äussere festere Schicht vorhanden ist, einfe, wenn auch an sich ziemlich weiche, doch etwas festere Schicht als der Inhalt: es ist aber schwer, etwas Sicheres über dieselbe zu erfahren. Die festen Rinden- schichten, welche man durch Zusatz von Reagentien demonstrirt hat, die mit Bestandtheilen der Blutkörper unlösliche oder schwerlösliche Ver- bindungen bilden, sind bedeutungslos, weil man hier eben durch das Reagens die Rinde härter machte, als sie von jSTatur ist. Am meisten erfährt man über die Blutkörperchen, wenn man sie ganz frisch in einprocentige Borsäurelösung hineinfallen lässt, das heisst in solche Borsäurelösung, die im Liter zehn Gramme geschmolzene Bor- säure enthält. Man verwende hiezu die Blutkörperchen von Tritonen, denen man den Kopf abschneidet, und das Blut direct in die Borsäure- lösung hineintropfen lässt. Sie senken sich darin wie ein feiner Sand, oder wie hincingestreutes Zicgelmehl zu Boden. Man giesst die über- flüssige Borsäure ab, und bringt etwas von dem Satze unter das Mikroskop. Man sieht, dass sich jedes Blutkörperchen in eine helle, ganz farblose durchsichtige Masse, und in eine gefärbte Masse, welche in ihi-em Innern den Kern enthält, trennt. Diese gefärbte Masse drängt sich immer mehr nach der Seite hin und fängt an, den Rand des farblosen Stückes zu über- ragen, und endlich trennt sie sich in vielen Fällen vollständig davon ab, so dass sie gesondert daneben liegt. Dieser ganze Vorgang, den man vom Anfange an verfolgen kann, wenn man Blut und Borsäure erst unter dem Mikroskope zusammenbringt, geht vor sich, ohne dass man etwas dem Zerreissen einer Membi-an Aehnliches sieht. Nur bisweilen bemerkt man an dem farblosen Stücke eine schwach angedeutete Linie, wie den Rand eines Kraters. Es ist das der Rand der Grube, in welcher zuletzt noch das farbige Stück gelegen hat. Das Blutkörperchen hat sicli hier also in zwei Stücke getrennt, von denen das eine den Kern und (lii> oc.i'ävhte Substanz enthält, das 74 Die Blufkörperclien. andere dagegen vollständig farblos ist. Ich will das erstere mit dem. Namen Zooid, und das zweite mit dem Namen Oekoid bezeichnen, weil ich das erstere Stück als den eigentlichen lebenden Leib des Elementar- organismus ansehe, und das zweite Stück als ein Gehäuse, in welchem dieses Zooid während des Lebens steckt. In welchem Zusammenhange beide mit einander gestanden haben, darüber bekommt man erst Auf- schluss, wenn mau eine grosse Menge von so behandelten Blutkörperchen untersucht. Dann findet man einzelne, ■ in denen die farbige Substanz in dendritischen Verzweigungen liegt, in deren Centrum sich der Kern befindet. Diese dendritischen Verzweigungen trifft man, wenn man eine hinreichend grosse Menge von Blutkörperchen in verschiedenen Stadien untersucht, einmal so, dass die dendritischen Verzweigungen sehr dicht und sehr reichlich sind, und dann wieder so, dass sie sich auf einige Fortsätze beschränken, die noch aus der übrigen, um den Kern zusammen- geballten Masse heratisragen. Man kann nicht in Zweifel sein, dass dies Zwischenstufen sind zwischen dem lebenden Zustande und dem Zustande, wie wir ihn nach Borsäurebehandlung gewöhnlich finden. Der farbige Bestandtheil des Blutkörperchens und mit ihm der eigentlich lebende Zellenleib muss in dem Oekoid in sehr feinen und dicht neben einander liegenden Räumen vertheilt gewesen sein , so dass das ganze Blut- körperchen im lebenden Zustande durch ihn gefärbt war. Wenn er sich vollständig aus diesen Räumen zurückzieht, so bildet er eben den Ballen, den wir als Zooid aus dem Oekoid austreten sehen. Wenn er sich aber nur theilweise, nur aus den letzten Räumen zurückzieht, dann bildet er die dendritischen Figuren, welche wir in verschiedenen Formen an einem Theile der Blutkörperchen sehen. Woraus das Oekoid gebildet ist, wissen wir bis jetzt nicht; von dem Zooid aber werden wir einen wesentlichen Bestandtheil später chemisch näher kennen lernen. Es ist kein Zweifel, dass alle kernhaltigen Blutkörperchen in der Weise gebaut sind, wie die Tritonenblutkörperchen. Wenn man sie mit Borsäure behandelt, so bekommt man im Wesentlichen dieselben Er- scheinungen, nur mit dem Unterschiede, dass sich nur in seltenen Fällen das Zooid vollständig von dem Oekoid trennt; es ballt sich zusammen, bleibt aber mit dem Zooid in mehr oder weniger fester Verbindung. Nach Behandlung mit kaltgesättigter Borsäurelösung hat Meiseis auch an Blutkörperchen von Meerschweinchen und vom Menschen Zooid und Oekoid unterscheiden können, nur kam es nicht zur vollständigen Trennung beider, und es Hess sich auch kein Kern wahrnehmen. Wenn man grössere Mengen von Wasser zum Blute hinzubringt , werden die Blutkörperchen immer blässer und blässer, während sich das Serum röthet; es geht also Blutfarbstoif in das Serum über, und von den Blut- körperchen bleibt zuletzt ein äusserst blasses, ungefärbtes Flöckchen, das Stroma zurück. Auch auf anderem Wege lassen sich die Blutkörperchen nach den Untersuchungen von RoUett so verändern, dass der Farbstoff austritt und sich in dem Serum auflöst, während das Stroma zurück- bleibt. Das geschieht z. B. durch Gefrieren. Wenn man Blut gefrieren lä.sst, und es dann wieder aufthaut, so ist es in der Regel schon durch- scheinend, oder durchsichtig wie eine Lackfarbe, oder wird es wenigstens jedesmal, wenn man dies Gefrierenlassen und Aufthauen mehrmals hinter Die Blutkijrperuhen. 7ö einander wiederholt. Wenn man es dann unter dem Mikroskope unter- sucht, so findet man, dass dieser lackfarbene Zustand daher rührt, dass die Blutkörperchen zerstört sind, dass sie die färbende Substanz an die umgebende Flüssigkeit abgegeben haben, und von ihnen nichts als ein kleines Flöckchen zurückgeblieben ist. Dasselbe kann man, nach den Untersuchungen von Eollett, hervorbringen, wenn man eine ganze Reihe von electrischen Schlägen hindurchsendet. Weiter kann man es dadurch erzielen, dass man das Blut möglichst vollständig entgast, in- dem man es unter die Luftpumpe bringt, und die Gase möglichst voll- kommen auspumpt. Wenn man zum Blute Kochsalz oder Glaubersalz, oder schwefel- saures Kali, oder phosphorsaures Katron u. s. w. hinzusetzt, so wird es dabei hellroth, und weun man es jetzt unter das Mikroskop bringt, so findet man, dass die Blutköi-perchen geschrumpft sind in Folge davon, dass die Salze, welche man zum Blute gebracht hat, den Blutkörperchen Wasser entzogen haben. Sie sind dabei theils napfförmig geworden, theils haben sie sehr unregelmässige Gestalten angenommen, indem durch das Entziehen von Wasser die Scheiben sehr dünn geworden sind, und sich in vielfache Formen verbogen haben. Eine eigenthümliche, räthselhafte Form der kernlosen Blutkörperchen der Säugethiere und des Menschen ist die sogenannte Sternform. Man fand sie zuerst im Blute von Typhuskranken und glaubte, dass die ver- änderte Gestalt mit der Krankheit zusammenhänge. Es hat sich aber ge- zeigt, dass die Blutkörperchen von ganz gesunden Individuen nicht nur sternförmig werden können, sondern sehr häufig sternförmig werden. Wenn man Blut unter das Mikroskop bringen will, so dass es möglichst wenig verändert ist, macht man einen kleinen Stich in die Haut, nimmt einen Objectträger, tupft damit auf und deckt nun darüber ein Deck- gläschen, ohne irgend eine Flüssigkeit hineinzubringen. Das Deckgläschen treibt den Bluttropfen auseinander, so dass die Blutkörperchen in ein- facher Schicht vertheilt werden. Hat man das rasch gethan, so sieht man die Blutkörperchen in ihrer Scheibenform; hat man aber gezögert, ist das Blut der atmosphärischen Luft ausgesetzt gewesen, so findet man sehr häufig, dass die Blutkörperchen, wie man sich ausdrückt, stern- förmig geworden sind. Wenn man diesen vermeintlichen Stern mit stärkeren Vergrösserungeu eines guten Mikroskops untersucht, so findet mau, dass das Blutkörperchen eigentlich die Form eines Stechapfels hat, es hat seine Scheibenform verloren, und nicht nur am Rande, sondern auf seiner ganzen Oberfläche ragen Spitzen hervor, wie bei einem Stech- apfel, oder wie bei den mit dem Namen der Morgensterne belegten Hiebwaff'en. Bei stärkeren Vergrösserungeu kann man oft sehen, dass diese Spitzen eine bedeutende Länge haben und weit in die umgebende Flüssigkeit hineinragen. Es siud für das Zustandekommen dieser Gestalt zweierlei Erklärungen gegeben worden: Erstens, dass das Ganze auf einem Krystallisationsprocesse im Innern des Blutkörperchens beruhe, und die Spitzen nichts anderes seien, als die hervorragenden Spitzen der Krystalle. Wir werden später sehen, dass sich in den Blutkörperchen in der That eine krystallisirbare Substanz befindet, und sogar die Haupt- masse des Blutkörperchens ausmacht, indessen ist die Riclitigkeit dieser Evkläruu"- doch in hohem Grade zweifelhaft, weil die oft schlanken und 7b Die Blutkörperclien. fadenförmigen Fortsätze keineswegs den Eindruck von hervorragenden Krystallspitzen machen. Von anderer Seite wird angenommen, es sei das Ganze eine Contractionserscheinung, es contrahire sich etwas in dem Blutkörperchen, und in Folge davon würden die Spitzen hervorgetrieben. Auch für diese Annahme fehlt der Beweis; indessen muss ich bemerken, dass man an Tritonenblutkörperchen, die man ohne jeden Zusatz von irgend einem Reagens beobachtet, oft eigenthümliche Formveränderungen vorfindet, die man versucht ist, von einer Zusammenziehung des Zooids herzuleiten, bei welcher sich dasselbe nicht wie auf Borsäurezusatz aus seiner innigen Verbindung mit dem Oekoid löst. Die mikroskopische Untersuchung des Blutes kann von forensischer Wichtigkeit werden, indem es sich darum handelt^ erstens zu constatiren, ob Blut vorhanden sei, und zweitens zu constatiren, ob es Menschenblut sei, wo nicht, von welchem Thiere es herrühren könne. Wenn das frische Blut als solches vorliegt, so bietet die Untersiichung keine Schwierig- keiten. Das ist aber in der Eegel nicht der Fall. In der Regel liegt uns eingetrocknetes Blut vor, und es handelt sich darum, wie man dieses Blut so aufweichen soll, dass man die Blutkörperchen noch erkennen kann. Wenn man es in Wasser aufweicht, so werden sie vollständig zerstört. Man hat andere Flüssigkeiten vorgeschlagen, die, wenn man das Auf- weichen unter dem Mikroskope vornimmt, wenn man z. B. einen Faden, an dem die Blutkörperchen hängen, mit der Flüssigkeit unter dem Mikro- skop in Berührung bringt, bessere Dienste leisten als das Wasser. Dazu sind vorgeschlagen worden eine concentrirte Lösung von arseniger Säure, dann Schwefelsäure, die bis zu einem gewissen Grade verdünnt worden ist. Das beste von diesen Hilfsmitteln hat aber Virchow angegeben. Es ist eine concentrirte Lösung von Aetzkali. Das Aetzkali zerstört zwar die Blutkörperchen, aber indem sich erst ein Kalialbuminat bildet, das wir später kennen lernen werden, quellen die Blutkörperchen in der Aetz- kalilösuug auf, ohne sich darin aufzulösen, sie bekommen ihre Farbe wieder und nehmen, wenn auch nicht ganz, doch wenigstens ungefähr und in einzelnen Exemplaren ihre frühere Gestalt an. Auf diese Weise kann man unterscheiden, ob Blutkörperchen überhaupt vorhanden sind, ob scheibenförmige kernlose oder elliptische kernlose, oder ob elliptische kern- haltige Blutkörperchen vorhanden sind. Auch über die Grösse der Blut- körperchen bekommt man zwar keinen genauen, aber doch einen unge- fähren Aufschluss. Wenn es sich indessen darum handelt zu entscheiden, ob das Blutkörperchen vom Menschen herrührt oder nicht, dann brauchen wir über die Grösse desselben einen genaueren Aufschluss, den wir nur durch Messen erlangen können. Die grössten Blutkörperchen haben die Amphibien, und unter ihnen nach Riddel Amphiuma tridactylum. Siren lacertina hat Blutkörperchen von jj Mm. Länge und t~ Mm. Breite. Die des Proteus anguineus, des Molchs der Adelsberger Grotte, haben -^ Mm. Länge und — Mm. Breite. Grosse Blutkörperchen haben auch Cryptobrauchus Japonicus {j^ Mm. Länge und -^ Mm. Breite), und das Axolotl (~ Mm. .Länge und ^ Mm. Breite). Milne Edwards hat in seinen Ler^ons sur la physiologie et l'anatomie compar^e alle Maasse von Blutkörpern verschiedener Thiere, so weit sie bekannt sind, zu- sammengestellt. Die Biutkörper unseres Wasserfrosches, Rana esculenta, haben jr Mm. Länge und ^ Mm. Breite. Aehnlich grosse Blutkörper I)io I'.liitkoi'iifrclK'ii. i i wie die Amphibien haben die Haie und die Eochen, dann folgen die Reptilien, dann die Knochonfipche und die Vögel. Bei den 8äugethieren sind die Blutkörperchen viel kleiner. Die des Elepbanteu haben einen Durchmesser von -~ Mm., die von Balaena boops einen Durchmesser von -—; Mm. Ihre Grösse steht im Allgemeinen in keinem Zusammenhange mit der Grösse des Thieres. Nur innerhalb der einzelnen Gruppen steht die Grösse der Blutkörperchen in einem gewissen Zusammenhange mit der Grösse der einzelnen Genera und Species. So haben z. B. die Wieder- käuer im Allgemeinen kleine Blutkörperchen, so dass z. B. die Blut- körperchen eines Ochsen kleiner sind, als die eines Hundes; aber unter den Wiederkäuern hat der kleinste Wiederkäuer, Moschus Javanicus, die kleinsten Blutkörperchen: von ihnen würden 483, der Eeihe nach neben- einandergelegt, erst einen Millimeter ausmachen. Die menschlichen Blutkörperchen haben nach Milne E d ward s im Mittel —7^ Mm. im Durchmesser, während Welker dieses Mittel um ein Geringes kleiner, nämlich zu 0,0077 Mm. angibt. Sie sind im frischen Zustande von "den Blutkörperchen aller Haussäugethiere durch Messung zu unterscheiden, weil diese sämmtlich kleinere Blutkörperchen haben. Die grössten hat unter ihnen der Hund mit j}^ Mm., die kleinsten die Ziege mit -rlr Mm. bis -r^ Mm., demnächst das Schaf mit -~ Mm. Die Blutkörper des Rindes messen j^ö ^^^ lii ^^^-i ^^^' des Pferdes jjj Mm. und die des Schweines jj^^ Mm. Auch die bei uns jagdbaren Säugethiere haben sämmtlich kleinere Blutkörperchen als der Mensch. JSTur im Korden von Europa ist ein Thier jagdbar, das nahezu ebenso grosse Blutkörperchen besitzt, wie der Mensch, der gemeine Seehund, Phoca vitulina. Für seine Blutkörper wird j^ö ^^^ Durchmesser angegeben. Nachdem das Blut einmal eingetrocknet ist, ist es meistens unmög- lich, die Blutkörper zu messen, und somit auch unmöglich, zu sagen, ob das Blut vom Menschen herrühre oder nicht. Man hat vorgeschlagen, an dem eingetrockneten Blute die Blutkörperchen zu messen und einen Schrumpfungscoefficienten in Rechnung zu bringen. Bei dem praktischen Ernst der mcdicinisch-gerichtlichen Fragen ist aber ein solches Ver- fahren gänzlich zu verwerfen. Die Blutkörper verschrumpfen so uuregel- mässig, dass man beim Messen gar nicht weiss, welchen Durchmesser der geschrumpften Blutkörperchen man als den richtigen ansehen soll. Es gibt nur einen einzigen Fall, wo Blutkörperchen im eingetrockneten Zustande noch in der Weise gemessen werden können, dass man aus ihnen den Beweis herleiten kann, dass das Blut vom Menschen und nicht von einem Haussäugethiere herrühre. Dieser einzige Fall tritt ein, wenn das Blut auf einer glatten durchsichtigen Unterlage, auf Glas, in dünner Schichte angetrocknet ist. Da lehrt nämlich die Erfahrung, dass die Blutkörperchen sich flach an das Glas ankleben und nun eintrocknen, indem sie nur in ihrem kleinen Durchmesser, in ihrem Dickendurchmesser schwinden, dass sie dagegen ihren grossen Durchmesser behalten. Wenn man also Gelegenheit hat, eine Reihe solcher Blutkörperchen durchzu- messen, so wird man bei ihnen, wenn sie vom Menschen herrühren, im Mittel einen Durchmesser von j^ Mm. finden, und da bei keinem ein- zigen Haussäugethiere die Blutkörperchen im Mittel einen solchen Durch- messer haben, so kann man in diesem einzigen Falle sagen, dass das Blut vom Menschen und nicht von einem Haussäugethiere herrühre. 78 Das Messen der Blnikörper. Das Messen der Blutkörper. Das Messen der Blutkörperclien kauu auf zweierlei Weise geschehen: mit dem Schranbenmikrometer und mit dem Glasmikrometer. Alle Mes- sungen mit dem zusammengesetzten Mikroskop beruhen darauf, dass ein umgekehrtes Bild vom Object erzeugt wird in einer Ebene innerhalb des Oculars, welche durch eine Blendung, die hier angebracht ist, ge- kennzeichnet ist. Die Messung mit dem Schraubenmikrometer wird so angestellt, dass man in dieser Blendung ein Fadenkreuz von Spinuwcb anbringt, welches man dann durch die Ocularlinse deutlich sieht. In* der- selben Ebene, in welcher dieses Fadenkreuz von Spinnweb liegt, liegt auch das umgekehrte Luftbild, so dass man gleichzeitig das Fadenkreuz und das umgekehrte Luftbild sieht. Das Schraubenmikrometer besteht nun in einem Schlitten, auf dem der Objectträger mit dem Objecte ruht, und der durch eine feine Schraube bewegt wird, deren Kopf in Grade eingetheilt und mit einem jSTonius versehen ist. Nachdem man das Ocular so gedreht hat, dass der Schlitten sich dem einen Schenkel des Faden- kreuzes parallel und gegen den andern senkrecht bewegt, legt man auf den Schlitten eine feine Glastheilung, z. B. eine solche, iu der ein Milli- meter in 1 00 Theile getheilt ist, und richtet sie so, dass die Theilstriche dem Schenkel des Fadenkreuzes parallel sind, gegen den sich der Schlitten senkrecht bewegt. Dann schraubt man sie durchs Sehfeld, und ermittelt auf diese Weise, welche Drehung der Schraube dazu gehört, um sie um je 0,01 Mm. weiter zu bringen. Dann setzt man an ihre Stelle das Object, treibt es mittelst der Schrauben bis hart an den Faden, liest am Schraubenkopf die Stellung der Schraube ab, schraubt weiter, bis es den Faden vollständig passirt hat, und liest wieder ab. Da der Werth der Schraubengänge vorher empirisch ermittelt worden ist, so hat man hiemit unmittelbar den Durchmesser des Blut- körperchens. Diese Art des Messens wird heutzutage wenig angewendet, und zwar aus verschiedenen Gründen : Erstens weil ein gutes Schrauben- mikrometer ein relativ theures Instrument ist, zweitens weil es leicht leidet, und endlich weil es eine sichere Aufstellung des Mikroskopes ver- langt, die eben in grossen Städten nicht überall zu finden ist. Man arbeitet jetzt meistens mit dem Glasmikrometer. Das Glasmikrometer besteht in einer kleinen Glasplatte, auf der eine beliebige Theilung ein- geritzt ist. Diese Glasplatte legt man mit der Theilung nach unten auf die Blendung. Es liegt dann die Theilung in derselben Ebene mit dem zu projicirenden Luftbilde. Durch die Ocularlinse werden also die Theilung und das Luftbild gleichzeitig deutlich gesehen. Wenn man sich nun auf Messungen mit dem Glasraikromeier einrichten will, so legt man zuerst als Object unter das Mikroskop ein Glas, auf dem ein Millimeter in hundert Theile getheilt ist, dann hat man von diesem im ganzen Seh- felde ein stark vergrössertes Bild. Das Bild dieser Theilung ist nicht allein durch die Ocularlinse, sondern ai;ch durch die ganzen Objectiv- linsen vergrösser t. Das Mikrometer aber, welches im Ocular liegt, ist nur vergrössert durch die Ocularlinse. Beide Bilder projiciren sich auf einander, und wenn man durch Drehen des Oculars die Striche beider Theilungen parallel machl, kann man auszählen, wie viel Intervalle, wie Gei-innung des Blutes. iv viel Theilstriche des Ocularmikrometers auf einen Zwisclieuraum zwischen zwei Theilstrichen des Bildes kommen, das von der auf dem Objecttische liegenden Theiluug herrührt. In dieser betrug der Abstand der Theil- striche 0,01 Mm. Nehmen wir an, wir fanden beim Auszählen die Zahl 6. so i'st der "Werth des Theilstriches im Ocular --^-^ Mm, In dieser Weise werthet man sein Ocularmikrometer mit allen verschiedenen Objectiven aus, welche dem Mikroskope beiliegen, und macht darüber eine Tabelle. Dann misst man später das Object einfach dadurch, dass man auszählt, wie viel Intervalle es von dem Ocularmikrometer einnimmt, und findet aus der Tabelle den Werth des gesuchten Durchmessers. Das Glas- mikrometer hat den grossen Vortheil, dass, wenn man einmal die Tabelle gemacht und. die Intervalle in Bezug auf ihre Gleichwerthigkeit unter- sucht hat, das Messen selbst viel rascher und einfacher vor sich geht, als mit dem Schraubenmikrometer. Zweitens hat es den Vortheil, dass dazu keine besonders feste Aufstellung des Mikroskopes gehört, und end- lich hat es den Vortheil, dass ein solches Glasmikrometer niemals in Unordnung kommt, wenn es einmal in allen seinen Theilen controlirt ist. Wenn man sich einmal eine vollständige Tabelle darüber gemacht hat, bleibt es natürlich ein- für allemal brauchbar und gut. Greriiinimg des Blutes. Wir wollen vorläufig von den farblosen Blutkörperchen, die wir als Lymphkörperchen noch bei der Lymphe abhandeln werden, absehen, i;nd wollen direct zum Blute als Ganzem und zu seinen Eigenschaften übergehen. Wenn das Blut aus der Ader gelassen worden ist, so gerinnt es und zwar in der Eegel in zwei bis zehn Minuten. Das geht so vor sich, dass zuerst an der Wand des Gefässes und an der Oberfläche des- selben, dann durch die ganze Masse der Flüssigkeit das Blut anfängt gelatinös zu werden, und sieh in verhältnissmässig kurzer Zeit in eine compacte Gallerte verwandelt. In diesem Zustande bleibt es einige Zeit, dann fängt aber die gallertartige Masse an sich zusammenzuziehen, und aus ihrem Innern eine gelbe oder röthliche Flüssigkeit auszustossen. Das Gerinnen, das Gallertartigwerden des Blutes, tritt nach BoU bei ganz jungen Embrj^onen nicht ein. Bei Hübnerembryonen erst, wenn sie 1 3 bis 17 Tage alt sind. Es beruht darauf, dass in dem Blute ein Eiweisskörper in den festen Zustand übergeht. Dieser Eiweisskörper ist das sogenannte Fibrin oder der Faserstoff. Dieser wenig passende Name rührt theils von der Vorstellung her, dass der Faserstoff die Grundlage der faserigen Gewebe des Körpers sei, theils rührt er von der Gestalt her, unter welcher man den Faserstoff isolirt. Man schlägt das Blut mit einem Stabe ehe es geronnen ist, dann hängen sich an den Stab lauter fadenförmige Gebilde an, die aus diesem festwerdenden Eiweisskörper bestehen, und zwar so lauge, bis sich derselbe vollständig ausgeschieden hat. Magen die nannte die hier gerinnende Substanz Coaguline, weil sie freiwillig, schon bei gewöhnlicher Temperatur gerinnt, während sich, wie wir später sehen werden, das Eiweiss des Blutes erst bei einer höheren Temperatur aus- scheidet. Dieser Name ist aber nicht durchgedrungen, sondern der ältere ist allgemein beibehalten worden. Der Faserstoff, indem er gerinnt, schliesst die Blutkörperchen ein: später fängt er an sich zusammenzu- 80 Gonniiuiig- dos Blutes. ziehen. Das kann natürlich nur geschehen, indem zugleich eine Flüssig- keit ausgepresst wird. Diese Flüssigkeit, welche nun den sogenannten Blutkuchen oder das Crassamentum sanguinis umspült, bezeichnet man mit dem Namea des Serum sanguinis. Wir haben im lebenden Blute unterschieden die Flüssigkeit des Blutes, das Blutplasma, und die Blut- körperchen, die geformten Theile im Blute. Jetzt hat sich aus dem Plasma ein Eiweisskörper ausgeschieden, und dieser hat, indem er die Blut- körperchen und die Flüssigkeit einschloss, das Blut gallertartig gemacht. Aus dieser Gallerte tritt nun wiederum eine Flüssigkeit aus, das Blut- serum. Dieses Blutserum ist also nichts anderes als die ursprüngliche Flüssigkeit, das Blutplasma, aus dem sich der Faserstoff, das Fibrin, aus- geschieden hat. Das Blutplasma ist also Blut minus Blutkörperchen, und das Blutserum ist Blutplasma minus Fibrin, während der Blutkuchen, das crassamentum, das ganze Fibrin, ferner fast alle Blutkörperchen und ausserdem eine grössere oder geringere Menge von Serum enthält, das, in seinem Innern eingeschlossen, noch nicht ausgestosseu ist. Es lässt sich leicht nachweisen, dass die Zusammenziehung des Blulkuchens und die Ausstossuug des Serums vom Fibrin ausgeht. Wenn Blut langsam gerinnt, wie dies beim menschlichen Blute in Entzündungs- krankheiten, beim Pferdeblute auch im normalen Zustande der Fall ist, so haben die Blutkörperchen, die specifisch schwerer sind als das Blut- plasma, Zeit sich zu senken: es entsteht dadurch oben eine Schicht, die frei von Blutkörperchen ist, während zu unterst eine Schicht entsteht, die überaus reich an Blutkörperchen ist. Nun gerinnt das Blut. Die klare Schicht von Plasma, welche oben stehl, verwandelt sich dadurch in eine verhältnissmässig resistente durchscheinende Schicht von . gelb- weisslicher Farbe, welcher man den Namen der Speckhaut gegeben hat wegen ihres Ansehens, den Namen crusta phlogistica, weil sie beim Menschenblute namentlich in Entzündungskrankheiten vorkommt. Wenn sich ein solcher mit einer Speckhaut bedeckter Blutkuchen zusammenzieht, so bemerkt man, dass er sich oben, soweit die crusta phlogistica reicht, stärker contrahirt, und dass er sich nach unten verbreitert, ferner, dass seine Oberfläche concav wird, ihr Band sich erhebt oder vielmehr die Mitte sich vertieft. Das zeigt, dass es das Fibrin ist, welches sich zusammenzieht, denn oben, wo viel Plasma war, wo sich also viel Fibrin ausgeschieden hat, ist die Zusammenziehung am stärksten, unten, wo der grösste Kaum von Blutkörperchen eingenommen war, wo wenig Plasma war, also auch wenig Fibrin zur Ausscheidung kam, ist die Zusammenziehung am schwäch- sten. Damit hängt es auch zusammen, dass im Blute, welches viel Fibrin ausscheidet, sich der Blutkuchen stark zusammenzieht. Das Serum ist dabei klar, weil die Blutköi'perchen von der Menge des Fibrins fest ein- geschlossen sind. Scheidet sich wenig Fibrin aus, so zieht sich der Blut- kuchen wenig zusammen, und nur eine geringe Menge Serum tritt aus. Dasselbe ist von zahlreichen Blutkörperchen rothgefärbt, weil die geringe Menge von Fibrin nicht im Stande ist, diese im Blutkuchen fest zu- sammenzuhalten. Es tritt nun au uns die Frage heran : Wann und unter welchen Umständen gerinnt das Blut und was ist die Ursaclie der Gerinnung? Die ersten Beobachtungen über Gerinnung des Blutes wurden am Blute des Menschen und der Säuo-ethierc aemaeht. Wenn solches Blut aus der ("ierinnung des Bhites. 81 Ader gelassen wird, so kommt es erstens in eine andere Temperatur, es kühlt sich ab, zweitens kommt es zur Ruhe und drittens kommt es mit der atmosphärischen Luft in Berührung. Man war also der Ueberzeugung, dass es einer dieser drei Einflüsse sein müsse, welcher das Blut gerinnen macht. Dass es die Temperaturerniedrigung nicht sei, das musste klar werden, nachdem man bemerkt hatte, dass auch das Blut von kaltblütigen Thiereu gerinnt, das sich doch nicht wesentlich abkühlt. Ueberdies zeigte Hewson, dem wir für seine Zeit bei weitem -die besten und vollständig- sten Untersuchungen über das Blut verdanken, dass frischgelasseues Blut nach Gefrieren und Wieder aufthauen noch flüssig ist und später in nor- maler Weise gerinnt. Er zeigte ferner, dass, wenn man das frische Blut bei einer Temperatur von 37 bis 38*^ erhält, also bei der Temperatur des menschlichen Körpers, es dann nicht nur nicht flüssig bleibt, sondern dass es vielmehr schneller gerinnt als bei gewöhnlicher Zimmerwärme. Es bezog sich diese Beobachtung zunächst auf das ganze Blut, und auf Blut, das bereits aus der Ader gelassen und in einem Gefässe aufgefangen war. Doch sah er auch in einer Vene abgebundenes und darin flüssig gebliebenes Blut von einem Hunde in einem Wasserbade von ISö*^ Fahrenheit gerinnen. Leon Fredericq hat in neuerer Zeit gefunden, dass man reines Pferde- plasma in einer Pferdeveue langsam bis auf 56*^^ erwärmen kann, ohne dass es sofort gerinnt, und dass es dann, wenn man diese Temperatur überschreitet, einen Eiweisskörper in Flocken ausscheidet. Die davon ab- filtrirte Flüssigkeit gerinnt nun überhaupt nicht mehr spontan, lässt aber bei weiterem Erhitzen über 67*^ C. ihr Eiweiss in den unlöslichen Zu- stand übergehen. Schon früher war, wie auch Leon Fredericq angibt, Hammarsten diese plötzliche Ausscheidung bei 56*^ bekannt gewesen. Auch schon bei etwas niedrigerer Temperatur, etwa bei 52" C, sah letzterer sie erfolgen, was an die oben erwähnte Beobachtung von Hewson erinnert. Es ist behaiiptet worden, dass das Blut bei Temperaturen, die dem Nullpunkte nahe sind, überhaupt nicht gerinne. Das ist nicht richtig, es gerinnt, aber meist unvollständig und ausserordentlich viel langsamer, als dies bei höheren Temperaturen der Fall ist. Wegen dieser langsamen Gerinnung, bei der sich zuerst nur an den Wänden und an der Ober- fläche ein dünnes Coagulum ausscheidet, was mit grosser Langsamkeit gegen die Tiefe hin wächst, hat man sich wahrscheinlich in den Irrthum führen lassen. So viel ist also jedenfalls gewiss, dass das Gerinnen des Blutes nicht von der Abkühlung herrührt. Der zweite Punkt war: Das Blut kommt zur Ruhe. Auch das ist die Ursache der Gerinnung nicht. Wenn mau Blut in Bewegung erhält, so bleibt es dadurch nicht flüssig, sondern im Gegentheil, wenn man es rührt, wenn man es schlägt, so legen sich mit grosser Geschwindigkeit die Fäden und Flocken des sich ausscheidenden Fibrins an den Stab, mit dem man eben schlägt, an. Andererseits kann man Blut längere Zeit in vollkommener Ruhe flüssig halten, wenn man es in den Gefässen des Thieres lässt. Hewson fand einmal noch nach 13 Stunden einen Theil des Blutes im Herzen eines Hundes flüssig. Ich selbst habe in den Ge- fässen eines erstickten Hundes noch 6^- Stunden, und bei einem andern noch 7,1 Stunden nach dem Tode das ganze Blut flüssig gefunden. Bei kaltblütigen Thieren kann man das Blut noch viel länger flüssig erhalten, Brücke. Vorlesungen I. 4. Aufl. 6 82 Gerinnung des Blutes. wenn man es innerhalb der Gefässe oder innerhalb des Herzens lässt. Das Blut von Schildkröten bleibt in dem unterbundenen Herzen je nach der Temperattir 24, 48 Stunden, ja bei einer Temperatur nahe dem Null- punkte sogar 7 bis 8 Tage lang fl-üssig. Es kommt also nun das dritte Moment, der Zutritt von atmo- sphärischer Luft. Da hat man zunächst gemeint, es sei der Sauerstoff der Luft, welcher das Blut gerinnen macht. Es ist allerdings wahr, dass Blut, welches man unter» verschiedenen Einflüssen hat venös werden lassen, häufig sehr langsam gerinnt, aber es gerinnt doch. Dasa der atmo- sphärische Sauerstoff nicht nöthig ist, um das Blut gerinnen zu macheu, davon kann mau sich durch folgenden, sehr einfachen Versuch über- zeugen. Man stürzt einen Cylinder in Quecksilber so um, dass er mit Quecksilber ganz erfüllt ist; man bindet jetzt in die durchschnittene Jugularvene eines Hundes, nachdem man oberhalb comprimirt hat, eine Glasröhre ein, und verbindet diese Glasröhre mit einem Kautschukschlauch. Man wartet, bis das Blut aus dem Kautschukschlauch herausspritzt, da- mit gewiss alle atmosphärische Luft ausgetrieben ist. Dann taucht man das Ende unter das Quecksilber und leitet es unter den umgestürzteii Cylinder. Das Blut tritt hinein, und nachdem sich etwa der halbe Cylinder mit Blut gefüllt hat. nimmt man den Schlauch wieder weg. Jetzt müsste dieses Blut nicht gerinnen; denn es ist ja mit der atmosphärischen Luft auf keine Weise in Berührung gekommen: nichtsdestoweniger gerinnt es ganz in der gewöhnlichen Weise, und auch nicht ungewöhnlich langsam; denn wenn die Gerinnung besonders langsam vor sich ginge, müssten die Blutkörperchen Zeit haben, sich zu senken, es würde sich oben eine klare Plasmaschicht bilden, die sich beim Gerinnen in eine Speckhaut verwandelte. Davon aber ist .durchaus nichts zu sehen. Dieser Versuch zeigt zugleich, dass das Gerinnen nicht vom Ent- weichen von Kohlensäure herrührt, wie Scudamore glaubte, oder vom Entweichen von Ammoniak, wie Richardson meint. Ich habe weiter in das Gefässsystem einer lebenden Schildkröte eine gute Quantität atmosphärischer Luft eingeblasen. — Säugethiere gehen dabei bekanntlich sofort zu Grunde, indem die Luftblasen die Capillaren der Lunge verstopfen und augenblicklich Erstickungstod eintritt. Schild- kröten sind diesem plötzlichen Erstickungstode nicht ausgesetzt, und ausser- dem überdauern die Lebenseigenschaften in den Geweben das Leben des Individuums sehr lange." Man kann deshalb auch dergleichen Versuche mit ihnen anstellen. Das ganze Blut war schaumig und hellroth, aber es gerann nicht, sondern blieb in den Gefässen flüssig. Wenn also auch aner- kannt werden muss, dass arterielles Blut im Grossen und Ganzen schneller gerinnt als venöses, so ist es doch nicht richtig, dass der atmosphärische Sauerstoff das gerinnenmacheude Moment für Aderlass- oder irgend welches andere Blut sei, das man aus dem Körper herausgelassen hat. Ich habe noch einen anderen Versuch angestellt. Wenn man das Blut einer Schildkröte aus dem Herzen herausnimmt, so kann man es eine Viertelstunde lang an der atmosphärischen Luft flüssig erhalten, wenn man es dadurch vor dem Gerinnen schützt, dass man es in eine niedere Temperatur, in eine Kälteraischung bringt. Solches Blut habe ich mittelst eines Glasrohres und eines langen Trichters wieder in das Herz zurück- geführt und das Herz zugebunden. Ich fand nach öh Stunden das Blut Gpiinminf; fies Blutes. 83 in dem Herzen noch ÜÜHHig, und erst nachdem es heraus gelassen war, gerann es langsam, aber vollständig. Es ist also klar, dass keiner der besprochenen Einflüsse das Gerinnen hervorruft. Andei'crseits hat es sich aber bei diesen Versuchen so -wiederholt gezeigt, dass das Blut flüssig bleibt, wenn es sich im lebenden Herzen oder in den lebenden Gefässen befindet, und dass es tinter allen Umständen gerinnt, wenn es aus den- selben herausgenommen wird, dass wir auf diesen Einfluss der lebenden Gefässwand unsere Anfmerksamkeit näher richten müssen. Aus dem Herzen der Schildkröte kommt eine Reihe von grossen Gefässstämmen. Ich habe nun diese abwechselnd theils einfach unterbunden, so dass sie mit Blut gefüllt waren, theils vorher kleine Glasröhren hineingebracht, denen sich die Gefässwand unmittelbar anlegte, so dass das Blut zunächst mit der Glasröhre in Contact war, nicht mit der Gefässwand selbst. Es hat sich immer und unter allen Umständen gezeigt, dass da, wo Glas- röhren eingeschoben waren, das Blut gerann, dass es aber flüssig blieb, wo es direct mit der Gefässwand in Berührung war. Da diese Versuche mit dem Herzen und mit den Gefässen in ganz ähnlicher Weise auch an anderen Reptilien angestellt werden können, und nicht nur mit Arterien, sondern auch mit Venen, so ist wohl keinem Zweifel unterworfen, dass der Einfluss der lebenden Gefässe und des lebenden Herzens das Ge- rinnen verhindert, und dass das Gerinnen eintritt, wenn dieser Einfluss aufhört. Man hat gemeint, dass es ein Einfluss sei, der vom Central- nervensysteme ausgehe, aber es zeigt sich, dass dem nicht so ist: denn man kann diese Versuche noch an ausgeschnittenen Herzen ixnd an aus- geschnittenen Gefässen anstellen. Es fragt sich weiter, ob auch die Lymphgefässe ein ähnliches Vermögen besitzen, das Blut flüssig zu er- halten. Bei den Schildkröten geht die Aorta durch einen grossen Lymph- sack; man kann sie hier anschneiden und eine Blutung in den Lymphsack hinein veranlassen. Nachdem ich dies bei einer Emys europaea gethan hatte, schnitt ich ihr das Herz aus, nachdem ich die grossen Arterien und Venen unterbunden hatte. Dann Hess ich das Thier 7| Stunden lang bei einer Temperatur von 20'-' C. liegen. Nach dieser Zeit war das Blut noch flüssig. Dieser Versuch gab bei mehrmaliger Wiederholung immer dasselbe Resultat. Wenn ich dagegen eine Staarnadel in das Pericardium einer Emys europaea brachte und das Herz anstach, so dass das Blut in den Herz- beutel floss, so gerann es darin innerhalb der ersten Stunde. Nachdem diese Erfahrungen gemacht waren, handelte es sich darum, ob bei den warmblütigen Thieren die Verhältnisse dieselben sind. Wenn man untersucht, wie lange Blut in getödteten Säugethieren und Vögeln flüssig bleibt, so findet man, dass es hier nach dem Tode des Individuums viel früher gerinnt, als in den kaltblütigen, namentlich als in den Am- phibien und Reptilien. Man muss sich dabei aber zweierlei vor Augen halten. Erstens, dass die Temperatur der warmblütigen Thiere eine viel höhere ist, und dass die höhere Temperatur das Gerinnen beschleunigt, zweitens muss man sich gegenwärtig halten, dass die Gewebe der warm- blütigen Thiere nach dem Tode viel früher ihre Lebenseigenschaften verlieren, als dies bei den kaltblütigen der Fall ist. Das ausgeschnittene Herz eines Säugethieres kann im günstigsten Falle noch einige Stunden lang schwache und partielle Contractionen zeigen, während ein aus- 6* 84 Gerinnung des Blutes. geschnittenes Schildkröten- oder Froschherz Tage laug fortpulsirt. Die Lebenseigenschaften der kaltblütigen Thiere dauern aber in den Geweben auch nicht so lange, wenn man dieselben einer höheren Temperatur aus- setzt. Ich habe deshalb solche Versuche mit den Herzen von Schild- kröten in Brütöfen bei einer Temperatur von 36*^ gemacht und gesehen, dass man hier auch das Blut in ihnen nur etwa 12 Stunden flüssig er- hält, also bei weitem nicht so lange, als man es flüssig erhalten kann, wenn man das Schildkrötenherz in der gewöhnlichen Zimmertemperatur lässt, oder wenn man es gar in eine niedere Temperatur bringt, denn Sie erinnern sich, dass bei einer Temperatur von nahe 0*^ das Blut im Schildkrötenherzen 7 bis 8 Tage lang flüssig bleibt. Es lässt sich nun in der That zeigen, dass auch das Blut von Säugethieren innerhalb der lebenden Gefässe und des lebenden Herzens flüssig erhalten werden kann. Der Igel, Erinaceus europaeus, gehört zu denjenigen Säugethieren, bei welchen die Lebenseigenschaften der Gewebe verhältnissmässig lange nach dem Tode dauern. Ich habe das frisch aus- geschnittene und unterbundene Herz eines Igels unter einer Glocke auf- gehängt, nach 4| Stunden untersucht, und habe gefunden, dass der grösste Theil des Blutes noch flüssig war; etwa zwei Dritttheile waren flüssig und etwa ein Drittel geronnen, und zwar begann das Gerinnsel in der Arteria pulmonalis und erstreckte sich von da in den Ventrikel. Das Herz hatte noch schwache Contractionen durch etwa 3 Stunden gezeigt, und es war mittelst des Magnetelectromotors noch Reizbarkeit im rechten Vor- hofe, und, wenn auch sehr schwach, im rechten Ventrikel nachweisbar. Ebenso habe ich das Blut von Kätzchen o| und 4 Stunden lang flüssig erhalten. Bei neugebornen Thieren dauern auch die Lebenseigeuschaften der Gewebe nach dem Tode länger als bei Erwachsenen. Ich habe auch versucht, Säugethierblut in Schildkrötenherzen zu bringen und es darin flüssig zu erhalten, aber letzteres ist mir nicht gelungen. Im Allgemeinen kann man wohl sagen, dass das Blut der Säuge- thiere mehr Neigung hat zu gerinnen als das Blut der kaltblütigen Thiere, da bei den kaltblütigen Thieren das Flüssigbleiben des Blutes die Reizbarkeit des Herzens oft noch überdauert, während bei den warm- blütigen Thieren noch Spuren von Reizbarkeit zurück sind, wenn das Blut bereits anfängt zu gerinnen. Ich habe übrigens bei einem Kätzchen doch auch gesehen, dass das Blut noch flüssig war, während das Herz bereits so lange aufgehört hatte zu schlagen, dass sich alle Blutkörper- chen in den Ventrikel gesenkt hatten und der Vorhof mit klarem blut- körperchenfreiem Plasma gefüllt war. Da diese Versuche am ausgeschnittenen Herzen angestellt werden können, so ist es nicht der Einfluss des Centralnervensystems, welcher das Blut flüssig erhält, sondern ein localer Einfluss, der vom Herzen selber ausgeht. Auch für die Gefässe lässt sich dies nachweisen. Ich habe Hunde erstickt und sie dann einfach liegen lassen, andere Hunde habe ich auf dieselbe Weise erstickt, und habe dann mit möglichster Vermeidung von Blutung das Centralnervensystem zerstört. In beiden Fällen ist das Blut im Mittel immer gleich lange nach dem Tode flüssig geblieben. Wäre der Einfluss vom Centralnervensysteme ausgegangen, so hätte das Blut in denjenigen Thieren, in welchen dieses zerstört war, früher gerinnen müssen. Gerinnen des Blutes. öö Wie verhält es sich denn mit dem Gerinnen des Blutes innerhalb des lebenden Körpers? Wir sehen ja das Blut innerhalb des lebenden Körpers, innerhalb der üefässe gerinnen, da wo diese unterbunden worden sind. Darauf beruht ja doch die Thrombusbilduug. Zweitens sehen wir unter gewissen Umständen, freilich immer nur an erkrankten Gefässen und da, wo die innere Oberfläche der Gefässe verändert ist, fibrinöse Auf- lagerungen selbst ans dem sich bewegenden Blut sich ausscheiden. Was die Thrombasbildung anlangt, so kann man sich dieselbe so erklären, dass man sagt: Es ist für das Säugethierblut nothwendig, dass es, damit es längere Zeit flüssig bleibe, immer von Neuem und mit neuen Partien der Gefasswand in Berührung komme: wenn es stagnirt und also immer nur dieselbe Partie mit demselben Stücke der Gefasswand in Contact bleibt, wird der Einfluss der letzteren zu schwach und das Blut gerinnt. Man muss aber noch ein zweites Moment in Betracht ziehen, man muss in Betracht ziehen, dass die Gefasswand durch das kreisende Blut ernährt und in ihren normalen Eigenschaften erhalten wird. Wenn in einer Partie des Gefässsystems die Circulation aufhört, hört auch die normale Ernährung der Gefasswand anf. Dies kann wohl von Einfluss sein, da die Gerinnung vcrhältnissmässig langsam erfolgt und der Thrombus erst nach ,36 bis 48 Stunden fertig gebildet ist, wenn auch die Gerinnung schon bedeutend früher begonnen hat. Es sind in der That wesentliche Anzeichen vorhanden, dass gerade diese secun- däre Wirkung in sehr hohem Grade in Betracht kommt, dass es wesent- lich die Veränderung der Gefasswand ist, welche es macht, dass das Blut in dem unterbundenen Gefässe gerinnt. Wenn ausgedehnte Entzündungen entstehen, in Folge welcher die Circulation in hohem Grade behindert wird, so gerinnt das Blut doch niemals in den Partien, in denen es stagnirt, bis nicht der Uebergang in Brand erfolgt oder erfolgen will. Ferner sieht man bei unterbundenen Gefässen das Coagulum immer von der durch die Ligatixr gequetschten Partie der Arterie ausgehen. Man kann deutlich verfolgen und hat deutlich verfolgt, dass jeder Thrombus hier beginnt und dann nach aufwärts wächst, bis er die Stelle erreicht hat, wo der nächste Seitenast abgeht. Einen sehr interessanten Fall hat einmal der italienische Chirurg ISTotta beobachtet. Er fand bei der Ob- duction eines Operirten, dem eine Cruralis unterbunden war, dass ein ganz kleines Gefäss nahe über der Unterbindungsstelle abging. Hier hatte sich kein Thrombus in der gewöhnlichen Weise gebildet. Er begann aller- dings au der Ligaturstelle und reichte bis zu der Stelle, an welcher der kleine Scitenast entsprang; dann aber lief er in einen cylindrischen Faden aus, der in der Cruralis bis zum Abgehen des nächsten grösseren Astes hinaufreichte. Hier hatte offenbar durch diesen kleinen Ast ein Rest von Circulation stattgefunden, das Blut hatte sich, wenn auch lang- sam, noch bewegt iind dadurch, sei es durch den wechselnden Contact als solchen, sei es dadurch, dass diese Theile der Gefasswand noch in normaler Weise ernährt wurden, war die Gerinnung an den Wänden verhütet, während sie in der Mitte sich fortgesetzt hatte. Was die Auflagerung von Fibrin auf erkrankte Gefässstellen anlangt, so muss man sie nach denjenigen Versuchen beurtheilen, bei welchen Blut geronnen ist, weil man eine Glasröhre in das Gefäss hineingeschoben hat, wie wir das früher gesehen haben, oder bei denen Blut geronnen 86 Die Eiweisskörpei'. ist zwischen üuecksilbertropfen, welche man in das Herz eines Thieres hat hineinlaufen lassen, oder, wo das Blut geronnen ist um einen zu- sammengewickelten Platindraht, den man in ein Gefäss hineingeschoben hat. In allen diesen Fällen ist das Blut geronnen, weil es mit einem fremden Körper statt mit der Gefässwand in Contact war, und so verhält es sich auch mit der erkrankten Gefässwand. Der erkrankten Partie kommt das Vermögen, das Blut flüssig zu erhalten, nicht mehr zu, und sie ver- hält sich deshalb dem Blute gegenüber wie ein fremder Körper, und da die Schichten an der Wand sich immer langsamer bewegen als das übrige Blut, so kommt es hier auch zum Absatz von Fibrinschichten. In neuerer Zeit hat Durante in Stricker's Laboratorium nachgewiesen, dass selbst krankhafte Veränderungen der Gefässwand, welche nur mittelst des Mikroskopes nachweisbar sind, einen Einfluss auf die Gerinnung ausüben. Wenn wir nun gefragt werden, wie wir uns diesen Einfiuss der lebenden Gefässwand auf das Blut denken, und wie wir uns denselben erklären, so müssen wir sagen, dass wir davon auch nicht das Allergeringste wissen, nur die Thatsache selbst ist ausser allem Zweifel, sie ist durch zahlreiche Versuche sichergestellt, und wird durch alle neueren Versuche immer wieder bestätigt. Wir wissen überhaupt über den inneren Vorgang der Gerinnung bis jetzt noch relativ wenig, und ehe wir dieses Wenige kennen lernen können, müssen wir uns mit den chemischen Bestandtheilen des Blutes, sowohl des Blutplasmas als der Blutkörperchen, bekannt machen. Dazu ist es aber nöthig, dass wir erst eine Gruppe von Sub- stanzen kennen lernen, welche wir mit dem Namen der Eiweisskörper oder der albuminoiden Substanzen belegen. Die Eiweisskörper. Die Eiweisskörper werden auch histogenetische Substanzen genannt, weil sie das Material für die Bildung der meisten thierischen Gewebe sind. Sie sind vielfältig auch Proteinkörper oder Proteinverbindungen ge- nannt worden. Vor etwa vierzig Jahren führte Mulder eine ausgedehnte Untersuchung über diese Substanzen, die sowohl im Thierreiche als auch im Pflanzenreiche vorkommen, aus und glaubte den Grundstoff gefunden zu haben, aus welchem sie sich alle zusammensetzen, die organische Ver- bindung, welche gewissermassen die chemische Grundlage für alle diese Substanzen bildet. Er löste die Körper in Kalilauge auf und fällte mit Essigsäure. Er erhielt nun aus allen Eiweisskörpern, die er anwendete, eine Substanz von derselben oder nahezu derselben procentischen Zu- sammensetzung, einen aus Kohlenstoff, Wasserstoff', Stickstoff und Sauer- stoff bestehenden Körper, welchen er nach seinen damaligen chemischen Untersuchungen für schwefelfrei hielt. Diesen Körper nannte er Protein, von TJpWTeuo), ich bin der Erste, und erklärte alle Eiweisskörper für Ver- bindungen dieses Proteins mit Sauerstoff, mit Schwefel und mit Phosphor. Seine Untersuchungen wurden im Liebig'schen Laboratorium von Laskowsky wiederholt. Dieser fand aber das Mulder'sche Protein nicht schwefelfrei. Mulder wendete dagegen ein, dass Laskowsky seine Versuche nicht so nachgemacht habe, wie er sie angestellt. Mulder hatte die Eiweisskörper bei gewöhnlicher Temperatur und sehr langsam Die Eiweissköiper. 87 in Kali aufgelöst, während sie Laskowsky rasch und in der Wärme aufgelöst, hatte. Bei diesem letzteren Verfahren war der Schwefel nur unvollständig oxydirt worden ; er war deshalb beim Fällen mit Essig- säure theilweise in Substanz herausgefallen und hatte sich dem Nieder- schlage beigemengt. Hierin hatte Mulder vollkommen recht. Nichts- destoweniger war sein Protein schwefelhaltig, und zwar enthielt es nich't unbeträchtliche Mengen von Schwefel, wie später Fleitmann nachwies, indem er es mit Salpeter und Kali schmolz und den Schwefel als schwefel- sauren Baryt bestimmte. Hiemit war ein Grundpfeiler der sogenannten Proteintheorie ge- stürzt, und auch die weiteren Untersuchungen haben gelehrt, dass man die Sache nicht so einfach auffassen kann, wie sie Mulder ursprüng- lich aufgefasst hat. Nichtsdestoweniger bleibt jenen Untersuchungen das grosse Verdienst, diese ganze Gruppe von Verbindungen zusammen- gefasst, ihre Verbreitung gezeigt und ihre gemeinsamen Reactionen studirt zu haben. Die Eiweisskörper gehören zunächst zusammen durch ihre Zusammen- setzung. Sie enthalten in Procenten nach der von Hoppe- Seyler ge- gebenen ' Uebersicht : Kohlenstoff 52,7— 54,5 pCt. Wasserstoff 6,9 — 7,3 ,, Stickstoff 15,4 — 16,5 „ Sauerstoff 20,9—23,5 „ Schwefel 0,8— 2,0 „ Manche Untersuchungen haben freilich Werthe ergeben, die weit ausserhalb dieser Grenzen liegen, so ist als Stickstoffmaximum 17,7, als Minimum 13,84 gefunden: aber diese AbAveichungen müssen mit grosser Vorsicht beurtheilt werden, weil bei ein und demselben Eiweisskörper nicht unbedeutend verschiedene Stickstoffzahlen gefunden worden sind, z. B. für Blutalbumin 15,79 und 14,25. Es wird dadurch wahrscheinlich, dass zu den Stickstoffbestimmungen nicht immer reine Substanzen gedient haben oder dass einzelne Stickstoff bestimmungen als solche mit grösseren Fehlern behaftet sind. Sie haben ferner alle mit einander gemein, dass sie, im geronne- nen Zustande in Alkalien aufgelöst und im gelösten Zustande mit Alkalien längere Zeit in Berührung gelassen, aus diesen alkalischen Lösungen durch Essigsäure oder andere verdünnte Säuren ausgefällt werden, und dann eben alle ein ähnliches Product geben, dieses sogenannte Mulder'sche Protein. Sie haben weiter mit einander gemein, dass sie sich mit Salpeter- säure gekocht gelb färben. Den gelben Körper, der sich hier bildet, belegte Mulder mit dem Namen der Xanthoproteinsäure. Wenn noch ein Alkali im Ueberschuss zugesetzt wird, vertieft sich die Farbe ins intensiv Goldgelbe. Da weder die Cellulose, noch die leimgebenden Substanzen diese Reaction zeigen, so benützt man sie, um Eiweisskörper unter dem Mikroskope aufzusuchen. Die gelbe Färbung ist so intensiv, dass sie auch noch in sehr dünnen Schichten unter dem Mikroskope zu er- kennen ist, Sie haben ferner alle mit einander gemein, dass sie durch die soge- nannte Mil Ion 'sehe Flüssigkeit beim Kochen rothbraun bis purpurfarben 88 Die Eiweissköi'per. gefärbt werden. Die Millon'sche Flüssigkeit erhält man durch Auflösen von Quecksilber im gleichen Gewichte .starker Salpetersäure, erst in der Kälte, dann bei massigem Erwärmen. Wenn das Metall gelöst ist, ver- dünnt man mit dem zweifachen Volum Wasser. Sie ist nach Milien ein Gemenge von salpetersaurem Quecksilberoxydul und salpetrichtsaurem Quecksilberoxyd. Auch diese Reaction kann man benutzen, um unter dem Mikroskope und in den Geweben als solchen Eiweisskörper nachzuweisen. Es muss indessen bemerkt werden, dass nach den Untersuchungen von Otto Nasse die Eiweisskörper die beiden letzterwähnten Reactionen mit allen einfachhydroxylirten aromatischen Körpern theilen. Wenn man Eiweisskörper in Salzsäure löst, entweder indem man concentrirte Salzsäure darüber giesst, und sie damit stehen lässt, oder, wenn man rascher zu Ende kommen will, indem man vorsichtig erwärmt, bekommt man eine violette Lösung. Die Eiweisskörper haben ferner die Eigenschaft, sich mit Kupfer- oxydsalzen und Alkalien violett zu färben. Man kann dazu sowohl die Alkalien als solche, als auch die alkalischen Erden, Kalkwasser oder Baryt- wasser verwenden. Wenn man eine Flocke von Fibrin mit einer sehr ver- dünnten Lösung von schwefelsaurem Kupferoxyd schüttelt, so nimmt das Fibrin aus dieser Lösung das Kupfersalz auf, so dass sie sich entfärbt, wenn sie hinreichend verdünnt war, und hinreichend viel Fibrin genommen wurde. Das Fibrin nimmt eine grünliche Färbung an, während die Flüssig- keit klar und wasserhell darüber steht. Fügt man nun etwas Kali oder Natron, . Kalk- oder Barytwasser hinzu und schüttelt, so nimmt das Fibrin eine violette Färbung an. Man kann auch die Fibrinilocke mit einer concentrirten Lösung eines Kupferoxydsalzes übergiessen, das über- schüssige Kupfersalz wieder auswaschen und nun ein Alkali hinzufügen. Um die Probe auf Eiweisslösungen anzuwenden, macht man dieselben alkalisch und fügt dann tropfenweise eine sehr verdünnte Kupferlösung hinzu, bis die Fällung eintritt. Diese Kupferreaction theilen die Eiweiss- körper mit dem Leim und den leimgebenden Substanzen, aber sie ist doch von grossem praktischen Werth, weil sie mit der Millon'schen Probe oder der Xanthoproteinprobe combinirt die Eiweisskörper von anderen Substanzen unterscheidet, welche letztere Reactionen auch geben. Wenn man Eiweisskörper in Wasser aufschwemmt oder in Wasser auflöst, eine geringe Menge einer Rohrzuckerlösung und dann vorsichtig unter stetem Umschütteln concentrirte Schwefelsäure zusetzt, so bekommt man eine schöne rothe Färbung der Flüssigkeit. Noch sicherer erhält man nach Drechsel diese Färbung, wenn man statt der Schwefelsäure syrupsdicke Phosphorsäure anwendet. Wenn man Eiweisskörper reichlich mit Eisessig übergiesst und er- wärmt und dann Schwefelsäure hinzusetzt, so entsteht, wie Adamkiewicz fand, eine violette Färbung und schwache grüne Fluorescenz. Die Lösung absorbirt Licht zwischen den Frauenhofer' sehen Linien b und F. Endlich werden alle Eiweisskörper aus ihren sauren Lösungen durch vorsichtigen Zusatz von Blutlaugensalz gefällt, ich sage durch vorsichtigen Zusatz, weil in einem Ueberschusse der Niederschlag wieder löslich ist. Diese Reaction hat man, freilich nicht übereinstimmend, als Grenzstein aufgestellt zwischen den Eiweisskörpern und gewissen Abkömmlingen der Eiweisskörper, die wir später kennen lernen werden, Abkömmlingen, Das Albumin. öu welche .sich bei der Verdauung bilden und den Namen der Peptone führen. Diese zeigen im Uebrigen noch manche Reactionen, die den Eiweiss- körpern zukommen; sie geben mit Salpetersäure und Alkalien die so- genannte Xanthoproteiusäure-Reaction und zeigen auch die vorerwähnte von Adamkiewicz aufgefundene Reaction. Auch mit einem Kupfer- oxydsalz und Alkalien färben sie sich sehr stark, aber purpurn, mehr roth als das Eiweiss. Eine zweite den Peptonen nicht zukommende Eigenschaft der Eiwcisskörper ist die, dass sie aus ihren sauren Lösungen gefällt werden, wenn man grössere Mengen von Salzen, von Kochsalz, Chlorkalium, von schAvefelsaurem ISTatron, von schwefelsaurem Kali u. s. w., kurz, von so- genannten Neutralsalzen in die Flüssigkeit bringt. Die neutralen Lösungen der Eiweisskörper werden gefällt durch die meisten Salze der schweren Metalle und durch die Chloride derselben, durch Jod, durch Chlor und durch die meisten Mineralsäuren, am stärk- sten durch die Salpetersäure. Auch Alkohol fällt sie: bei Gegenwart von Alkalien sind indessen die Eiweisskörper theilweise in Alkohol löslich. Das Allbumiii. Ihren Namen haben die Eiweisskörper von einer Substanz, welche sich im Weissen der Vogeleier befindet, und welche in einer Temperatur zwischen 70 und 80" gerinnt. Auf der Gerinnung dieser Substanz, des Eiweisses oder Albumins, beruht das Hartkochen der Eier. Dieses Albumin der Eier hat alle die Eigenschaften, die wir an den Eiweisskörpern im Allgemeinen kennen gelernt haben,' und ausserdem die Eigenschaft, in der Hitze zu coaguliren. Wenn es durch diese Coagulation vollständig aus- gefällt werden soll, rauss es vorher schwach angesäuert sein, so dass da- durch blaues Lakmuspapier eben purpurroth gefärbt wird. Dies ist der schwächste Grad des Ausauerns, welchen man braucht, es kann auch ein wenig stärker angesäuert werden, wenn man aber zu stark angesäuert hat, tritt wieder die unvollkommene Coagulation ein, oder das Coagulum ballt sich doch nicht gut in Flocken zusammen, und die Flüssigkeit geht beim Abfiltriren schwer durchs Filtrum. Dies ist namentlich bei salzarmen Eiweisslösungen der Fall, bei sehr salzreichen wirkt auch ein stärkerer Säuregrad nicht nachtheilig. Die Eigenschaft des Eieralbumins, bei einer Temperatur von 70" oder darüber aus seinen Lösungen ausgeschieden zu werden, ist charakteristisch für das Eiweiss, welches wir als natives bezeichnen wollen, und unterscheidet es von anderen Eiweisskörpern. Die Temperatur, bei der es gerinnt, ist aber nicht immer dieselbe und kann durch Gegenwart von viel Salzen bis auf 50" herabgedrückt werden. Durch Alkohol wird das native Eiweiss aus seinen Lösungen aus- gefällt, wenn aber die Ausfällung vollständig sein soll, muss man die Lösung, falls sie neutral oder alkalisch ist, erst so weit ansäuern, wie dies nolhwendig sein würde, damit beim Erhitzen alles Eiweiss heraus- falle. Auch zu grosse Verdünnung und Salzarmuth sind der Ausscheidung des Eiweisses in Flocken abträglich. Wenn der Säuregrad nicht ganz genau geti'ofFen ist, so entstehen in solchen verdünnten Lösungen nur opalescirende Trübungen, die sich auch beim längeren Stehen nicht als Niederschlag absetzen. yO Das Albumin. Das native Eiweiss wird durch dreibasische Phosphorsäure und durch verdünnte Pflanzensäuren nicht aus seinen Lösungen gefällt, oder wenn dies geschieht, so löst sich der Niederschlag auf Zusatz von Kochsalz- lösung wieder anf, vorausgesetzt, dass man in der Flüssigkeit nicht so viel Säure und so viel Salz anhäuft, dass sich die allgemeine Eigenschaft der Eiweisskörper geltend macht, vermöge welcher sie durch Gegenwart grosser Salzmengen aus ihren sauren Lösungen ausgefällt werden. Meta- phosphorsäure fällt dagegen uatives Eiweiss so sieher, dass sie zur Auf- suchung desselben im Harn benutzt wird. Natives Eiweiss ist nun auch im Blutserum in grosser Menge ent- halten. Um uns davon zu überzeugen, säuern wir das Blutserum mit einem Tropfen irgend einer Säure an und untersuchen, ob es soweit sauer reagirt, dass es ein blaues Lakmuspapier purpurn färbt, wir erhitzen es, und es coagulirt wie das Weisse vom Hühnerei. Indess muss ich bemerken, dass zwar das Serumalbumin und das Eieralbumin einander sehr ähnlich sind, dass sie aber doch gewisse charakteristische Unterschiede zeigen. So ist z. B. das Albumin aus dem Serum in concentrirter Salzsäure viel leichter löslich als das Albumin aus dem Hühnerei, und zweitens, wenn man zum Albumin aus dem Hühnerei Salpetersäure zusetzt, so dass zuerst ein Niederschlag entsteht, so löst sich dieser bei weiterem Zusätze von Salpetersäure viel schwerer auf, als der gleiche Niederschlag aus Serum- albumin. Worauf diese Unterschiede beruhen, ist bis jetzt unbekannt. Das Serumalbumin dreht auch die Polarisationsebene viel stärker nach links als das Eieralbumin. Sein specifisches Drehungsvermögen beträgt — 56'\ während das des Eieralbumins nur — 35,5'^ beträgt. Wenn man das native Eiweiss, Eieralbumin oder Serumalbumin oder ein anderes natives Eiweiss in seinen Lösungen erkennen will, so säuert man die Flüssigkeit in der früher erwähnten Weise schwach an und erhitzt, um es zu coaguliren. Gibt diese Probe ein negatives Resultat, so säuert man nach dem Vorgänge von Hoppe-Seyler eine zweite stärker mit Essigsäure an, mischt sie mit dem gleichen Volum einer concentrirten Lösung von schwefelsaurem Natron und erhitzt zum Kochen. Der Zusatz von schwefelsaurem Natron macht, dass sich auch bei stärkerem Säure- grad das Eiweiss noch vollständig und in Flocken ausscheidet. Im Winter, wo die Lösungen von schwefelsaurem Natron durch Herauskrystallisiren des Salzes an Concentration verlieren, setzt man nicht das einfache, sondern das doppelte Volum hinzu. Diese Probe ist sehr empfindlich und bringt die kleinsten Mengen Eiweiss zur Ausscheidung. Ich werde erst später erklären, weshalb ich empfehle, die Probe zuerst in der vor- erwähnten Weise anzustellen. Auch durch Salpetersäure, durch Ansäuern und Fällen mit Blutlaugensalz u. s. w. kann man sehr kleine Mengen von Eiweiss nachweisen, aber man weist dann Eiweisskörper im Allge- meinen nach, man weist nicht im Speciellen unser natives Eiweiss nach, weil dies eben Reactionen sind, die allen Eiweisskörpern gemeinsam zu- kommen. Will man das native Eiweiss quantitativ bestimmen, so säuert man die Flü.ssigkeit mit Essigsäure schwach an, und erwärmt unter öfterer Prüfung der Reaction, die nicht wieder alkalisch Averden darf, auf nahezu 100'\ damit sich das Eiweiss sicher vollständig ausscheidet, vermeidet aber die Flüssigkeit zu kochen oder doch, sie längere Zeit im Kochen zu erhalten. Man sammelt den Niederschlag auf einem gewogenen Das Albumin. 91 Filtrum, wäscht ihn mit destillirtem Wasser aus, extrahirt mit Alkohol und dann mit Aether, trocknet und wägt. Um auch hier unabhängiger vom Säuregrade zu sein, setzt Heynsius vor dem Erhitzen Chlornatrium hinzu, das den analogen Dienst leistet, wie das schwefelsaure Natron bei der Probe von Hoppe-Seyler. Durch Oxydation des Hühnereiweisses mittelst übermangansauren Kalis habe ich in sehr reichlicher Menge einen durch Säuren in Flocken fällbaren Körper erhalten, der die Eigenschaften einer schwachen Säure zeigte. Er war im Aeussern noch dem Eiweiss ähnlich und gab auch noch die violette Färbung mit Kupferoxyd und Kali, aber er gab weder die Xanthoproteinprobe, noch die Millon'sche Probe und enthielt auch keinen bleischwärzenden Schwefel mehr. Wenn man Eiweiss, so wie es aus dem Hühnerei kommt, mit einer concentrirten Aetzkalilösung versetzt und es mit dieser innig mengt, ändert es sich in seiner Consistenz, es wird anfangs schwer flüssig, fängt dann an Fäden zu ziehen und klumpig aiis einem Glase in das andere hineinzufallen, endlich wird es gelatinös und nach einiger Zeit hat es sich so weit verdickt, dass man das Glas umkehren kann, ohne dass das Eiweiss herausfliesst. Das beruht auf einer Verbindung des Eiweisses mit dem Kali, welche zuerst von Lieberkühn dargestellt worden ist, und welche man deshalb mit dem Namen des Lieberkühn'schen Kali- albuminates bezeichnet. Wenn man diese Gallerte, nachdem sie gehörig fest geworden ist, in Stücke schneidet und dann in Wasser vertheilt, so findet man, dass sie sich darin verhältnissmässig sehr langsam löst. Wenn man aber ausgekochtes Wasser anwendet und dasselbe immer wieder er- neut und den Zutritt der atmosphärischen Luft abhält, so löst sich doch zuletzt die ganze Gallerte auf. Wenn aber das Wasser kohlensäurehältig ist, oder wenn man es an der Luft stehen lässt, so dass es aus derselben Kohlensäure aufnimmt, zersetzt sich diese Verbindung des Kali mit dem Eiweiss, und es scheidet sich ein iinlöslicher Eiweisskörper aus. Diesen unlöslichen Eiweisskörper kann man schneller und ohne Verlust erhalten, wenn man von vorneherein dem Wasser eine sehr geringe Menge von Essigsäure zusetzt. Dann zersetzt diese nach und nach die Verbindung. Dieses aus dem festen Kalialbuminate abgeschiedene Eiweiss hat dann eine eigenthümliche Beschaffenheit, es ist fest, elastisch und hat eine gewisse Aehnlichkeit sowohl äusserlich als in seinen Reactionen mit dem Fibrin. Es hat deshalb den Namen des Pseudofibrin erhalten. — Li eber- kühn hat das Kalialbuminat benützt, um die Zusammensetzung des Eiweisses genauer als bisher zu ermitteln. Er fand das neutrale Kali- albuminat zusammengesetzt aus ^72 ^112 ^^IS ^23 ^\ ^2 und analog auch die übrigen Albuminate, welche er darstellte. Zweifelhaft muss CS sein, ob der für den Schwefel gefundene Werth dem wirklichen Schwefelgehalte des Eiweisses entsprach. Wenn man das Kalialbuminat bereitet, so sieht man, dass sich das Eiweiss beim Zusatz von Kali gelb färbt, und wenn man darauf mit verdünnter Essigsäure oder mit irgend einer andern verdünnten Säure zersetzt, so zeigt sich der Geruch nach Schwefel- wasserstoff. Es zeigt sich also, dass hier Schwefelkalium gebildet wird. Früher glaubte man, dass auch Phosphdr ein wesentlicher Bestand- theil des Eiweisses sei. Lieberkühn hat aber nachgewiesen, dass er 92 Das durch Alkalien vei-änciei-te Eiweiss. es nicht ist. Lieberkühn fällte das Eiweiss durch Eisessig und fand das so erhalt-ene Coagulum phosphorfrei. Es waren also offenbar bei den früheren Versuchen phosphorsaure Salze mit in das Object der Analyse übergegangen, die sich hier, wo Eisessig zum Coaguliren angewendet wurde, mit auswuschen. Das durch Alkalien veräuclerte Eiweiss. Wenn man das Lieberkühn'sche Kalialbuminat zersetzt, bekommt man, wie erwähnt, eine Substanz, welche eine gewisse äusserliche Aehn- lichkeit mit dem Eibrin hat, und welche deshalb den Namen Pseudofibrin führt. Sie hat mit dem Fibrin gemein, dass sie in Essigsäure aufquillt, nur erfolgt das Aufquellen bei den compacten Stücken, welche sie bildet, nicht so schnell, wie bei dem Fibrin, das in fein vertheilten Flocken und Fäden erhalten wird. Das Pseudofibrin quillt ferner, wie das Fibrin, in Wasser auf, dem man so viel Salzsäure zugesetzt hat, dass in einem Liter 1 Gramm CIH enthalten ist. Fügt man etwas mehr Salzsäure hinzu, so findet das Aufquellen noch rascher statt, erreicht aber keinen so hohen Grad, und wenn man eine gewisse Grenze überschreitet, so ver- schrumpft das gequollene Pseudofibrin wieder, wird weiss und undurch- sichtig. Dies ist Alles wie beim Fibrin. In verdünnten Alkalien werden das Fibrin und das Pseudofibrin durchsichtig und lösen sich allmälig und langsam auf. Kurz, in allen diesen Punkten verhalten sich Fibrin und Pseudofibrin ganz ähnlich. Nichtsdestoweniger sind sie ihrem Wesen nach durchaus verschieden. Wenn man Fibrin mittelst Verdauungs- flüssigkeit auflöst und die Säure, welche man bei der Verdauung ge- braucht hat, so weit wieder abstumpft, dass ein hineingetauchtes blaues Lakmuspapier sich nur violett, nicht roth färbt, dann entsteht ein Nieder- schlag; von diesem filtrirt man ab und erhitzt das Filtrat. Bei 70*^ trübt es sich und setzt reichliche Flocken von Eiweiss ab. Es war also in der Lösung natives Eiweiss enthalten. Wenn man dagegen Pseudofibrin in derselben Weise durch eine künstliche Verdauungsfl.üssigkeit löst und nun die Säure wieder abstumpft, so entsteht auch ein Niederschlag, aber die davon ab- filtrirte Flüssigkeit gerinnt nicht beim Erhitzen. Die Flüssigkeit enthält also kein natives Eiweiss mehr. Das ganze Eiweiss ist beim Abstumpfen der Säure ausgefällt worden. Löst man etwas von dem frisch bereiteten Lieberkühn'schen Kali- albuminat in Wasser auf und fügt tropfenweise Essigsäure hinzu, so ent- steht bei beginnender saurer Reaction ein Niederschlag ; wenn man aber dann mehr Essigsäure zusetzt, so verschwindet er wieder. Stumpft man die Säure ab, so entsteht er von Neuem. Dasselbe geschieht, wenn man statt der Essigsäure eine andere verdünnte Pflanzensäure oder dreibasische Phosphorsäure anwendet. Die vom vollständig ausgefällten Niederschlage abfiltrirten Flüssigkeiten geben beim Kochen kein Gerinnsel und ebenso wenig die sauren und alkalischen Lösungen. Die Eigenschaften des Eiweisses sind also im Kalialbuminat wesentlich andere geworden. Es gerinnt nicht mehr beim Erhitzen, wie es das native Eiweiss thut, aber während das native Eiweiss durch die verdünnten Pflanzensäuren und durch die dreibasische Phosfphorsäure nicht gefällt wird, so fällt aus der Lösung des Kalialbuminats der Eiweisskörper heraus, sobald man so viel Das fliircli Alkalien veränderte Eiweiss. vO Säure hinzusetzt, dass die ganze Menge des Alkali gebunden wird. Der Eiweisskörper ist jetzt nur noch durch das Alkali gelöst: so wie ihm dasselbe entzogen wird, fällt er heraiis. Der Niederschlag ist chemisch identisch mit dem Pseudofibrin. Er ist sehr fein vertheiltes Pseudofibrin. Daraus erklärt sich sein Wiederverschwinden beim Zusatz von mehr Säure. Wie jedes Stück Pseudofibrin zum glashellen Klumpen aufquillt, so quillt hier jedes einzelne Theilchen auf, und dadurch verschwindet der Nieder- schlag. Fügt man dann concentrirte Lösungen von Kochsalz oder Glauber- salz hinzu, so erscheint er wieder, wie Fibrin und Pseudofibrin, die in Säuren gequellt sind, -wieder verschrumpfen, wenn man sie in Salz- lösungen hineinwirft. Hiermit hängt es zusammen, dass Niederschläge, die in Alkalialbuminatlösungen von grossem Salzgehalte durch Säuren hervorgebracht sind, sich im Ueberschuss der Säure schwer oder gar nicht ai:flösen. Dieses Eiweiss, das man im Gegensatze zum nativen als fällbares bezeichnet, entsteht nun aus dem nativen Eiweiss überall da, wo letzteres der Einwirkung von Kali, von Natron, von Aetzkalk, von Baryt ausge- setzt ist. Die Einwirkung geht um so rascher vor sich, je mehr Alkali vorhanden ist und je höher die Temperatur ist. Sie kann rasch vor sich gehen bei gewöhnlicher Temperatur, wenn viel Alkali vorhanden ist, wie dies z. B. bei der Bildung des Lieberkühn'schen Kalialbumi- nates der Fall ist, sie kann aber auch relativ rasch vor sich gehen bei Gegenwart von wenig Alkali, wenn ich die Temperatur erhöhe. Das ist der Grund, weshalb man, wenn man natives Eiweiss aufsuchen will, vor- iger die Flüssigkeit sorgfältig neutralisiren oder vielmehr schwach ansäuern muss. Denn, wenn die Flüssigkeit alkalisch ist und man erwärmt, so wirkt während des Erwärmens und noch ehe die Temperatur von 70'^' erreicht ist, das freie Alkali und auch das kohlensaure Alkali auf das native Eiweiss ein, wandelt es in fallbares Eiweiss um, und nun gerinnt es nicht mehr beim Erhitzen. Man kann es nachher allerdings wiederum fällen, wenn man ansäuert; dann kann mau aber nicht mehr unterscheiden, ob dieses Eiweiss von Hause aus in der Flüssigkeit als natives Eiweiss oder als fällbares Eiweiss enthalten war. Deswegen ist es auch nicht anzurathen, beim Aufsucheu von Eiweiss so zu Werke zu gehen, dass man, wie es vielfach vorgeschrieben ist, erst zum Sieden erhitzt, und nachher tropfenweise Essigsäure hinzufügt, und sieht, ob ein Niederschlag entsteht. Es ist besser, vorher anzusäuern und dann zu kochen, weil man dann Aufschluss darüber bekommt, ob natives, bezie- hungsweise ob ftillbares Eiweiss in der Flüssigkeit enthalten war, während das andere Verfahren nur Aufschluss darüber gibt, ob überhaupt Eiweiss, fällbares oder natives, vorhanden w^ar. Das fällbare Eiweiss kommt als solches im Blute nicht, oder doch nicht in irgendwie beträchtlicher Menge vor. Obgleich das Blut alkalisch reagirt, so ist doch die Wirkuug des Alkali nicht stark genug, um das native Eiweiss in fallbares umzuwandeln. Dagegen verhält sich das Casein, der KäsestofF der Milch, in seinen Reactionen im Wesentlichen wie das fällbare Eiweiss. Von den scheinbaren oder wirklichen Unterschieden werden wir sprechen, wenn wir von der Milch handeln. 94 Das durch Säuren veränderte Albumin. Das durch Säuren veränderte Albumin. Wir haben gesehen, dass alle Eiweisskörper aus ihren sauren Auf- lösungen durch reichlichen Zusatz von Salzen gefällt werden. Wenn man z. B. eine Eiweisslösuug mit Essigsäure ansäuert und eine concentrirte Kochsalz- oder Glaubersalzlösung hinzusetzt, so erhält man einen Nieder- schlag. Dieser Niederschlag ist das, was Panum mit dem Namen des Acid- albumins bezeichnet hat. Wie derselbe beschaffen ist, das hängt davon ab, wie lange und wie heftig die Säure auf das Eiweiss eingewirkt hat. War die Säure verdünnt und hat sie nicht lange eingewirkt, so hat dieses Acidalbumin noch immer die Eigenschaften des nativen Eiweisses. Wenn man es auf dem Eiltrum sammelt und dann in Wasser auflöst, so wird es beim vorsichtigen Neutralisiren nicht gefällt und die neutralisirte Lösung gerinnt beim Erhitzen noch in derselben Weise, wie die vom nativen Eiweiss. Wenn aber die Säure längere Zeit oder, indem sie con- centrirter war, heftiger eingewirkt hat, so entsteht beim vorsichtigen Neutralisiren ein Niederschlag, der sich in überschüssigem Alkali wieder auflöst. Derselbe entsteht schon, ehe die Reaction vollkommen neutral geworden ist ; schon wenn die Säure so weit abgestumpft ist, dass sie ein hineingetauchtes blaues Lakmuspapier nur noch schwach röthet. Wenn man eine Eiweisslösung stark ansäuert und sie lange genug mit der Säure stehen lässt, so wird sie zuletzt so in ihrer ganzen Masse verändert, dass beim Abstumpfen der Säure alles Eiweiss herausfallt und die vom Niederschlage abfiltrirte Flüssigkeit beim Erhitzen nicht meh;- getrübt wird. Wir haben also hier wiederum eine neue Art von fällbarem Eiweiss, die aber nicht durch Einwirkung von Alkali auf das Eiweiss, sondern durch Einwirkung von Säure auf das Eiweiss entstanden ist, und dieses durch Säuren veränderte Eiweiss nennt man Syntonin. Man belegte mit diesem Namen zuerst einen Eiweisskörper, den man durch Maceraiion von Muskelfleisch in verdünnter Säure erhalten hatte. Er ist aber später auf das durch Säuren veränderte Albumin im Allgemeinen übertragen worden. Wenn man eine sehr concentrirte Lösung davon hat, so ist diese nur in der Wärme flüssig, in der Kälte gesteht sie ganz ähnlieh wie Tischlerleim. Man kann sich eine solche Lösung verschaffen, indem man entweder Blutserum oder Hühnereiweiss längere Zeit mit Phosphorsäure in Berührung lässt. Da ändert die Phosphorsäure das Eiweiss in Syntonin um, man erwärmt vorsichtig, um diese Einwirkung zu beschleunigen, hütet sich aber dabei, frühzeitig zu stark zu erhitzen, weil, wenn das lösliche Eiweiss noch nicht in Syntonin umgewandelt ist, die Flüssigkeit, dauernd coagulirt, und das Albumin in den unlöslichen Zustand übergeht. Wenn man aber vorsichtig erwärmt, kann man zuletzt bis auf 100*^ er- wärmen, ohne dass etwas gerinnt. Die Flüssigkeit ist durchsichtig, höchstens etwas opalisirend, sie ist vollkommen beweglich, wie eine wässerige Lösung, wenn man sie aber erkalten lässt, so gesteht sie zu einer Gallerte, so dass man das Glas umkehren kann, ohne dass etwas herausfliesst. Setzt man es wieder in ein warmes Wasserbad, so löst die Gallerte sich wieder auf u. s. w. Diese schmelzende Gallerte ist zuerst von Magendie dargestellt worden. Dann ist sie wieder in Ver- gessenheit gerathen, bis sie durch die Untersuchungen von Bence Jones Piiraglolnilin, Vitollin und l\ryosiii. 9o in Erinneruug gebracht wurde. Er suchte in dem Harne eines Osteoma- lacischcn nach Eiweiss. Er hatte mit Balj^ctersänrc angesäuert und fand, dass beim Kochen keine Gerinnung erfolgte, dass aber nachher beim Erkalten der ganze Harn im Probirglas zu einer Gallerte gestand. Es zeigte sich hinterher, dass dies ein solches durch Säuren verändertes Eiweiss war. Paraglolniliii, Vitollin und Myosin. Wir haben also bis jetzt kenneu gelernt uatives Eiweiss, durch Alkalien verändertes Eiweiss, durch Säuren verändertes Eiweiss. Wir müssen aber jetzt näher eingehen auf die verschiedenen Erscheinungs- weisen des nativen Eiweisses. Ich habe hier Blutserum, das vorsichtig mit ein wenig Essigsäure neutralisirt ist. Es ist weder alkalisch noch auffallend sauer, es färbt blaues Lakmuspapier violett. Nach dem Neutra- lisiren ist dieses Serum mit dem Achtfachen seines Volumens Wasser verdünnt worden; dadurch hat es sich reichlich getrübt und jetzt nach längerem Stehen hat es einen reichlichen Bodensatz abgesetzt. Dieser Bodensatz besteht aus einem Eiweisskörper, den Panitm zuerst auf die beschriebene Weise erhielt und mit dem Namen des Serumcaseins bezeichnete. Aus den Untersuchungen von Kühne und von Eichwald geht hervor, dass dieser Niederschlag in der Regel ein Gemenge aus zwei Eiweisskörpern ist, von denen der eine sich aus dem verdünnten Serum durch Kohlensäure ausfällen lässt, der andere nach vollständigem Aus- fällen mit Kohlensäure auf Zusatz von wenig Essigsäure "herausfällt. Diesen letzteren, der nach Eichwald zwar frisch gefällt durch ver- dünnte Kochsalzlösung wieder gelöst werden kann, aber nach längerer Einwirkung von Wasser die Eigenschaften des durch Säuren veränderten Eiweisses, des Sjaitonins, hat, nennen wir jetzt mit Kühne Serumcaseiu, den anderen, den durch blosses Einleiten von Kohlensäure gefällten, nennen wir Paraglobuliu. Man kann letzteres auf dem Eiltrum sammeln und mit destillirtera Wasser auswaschen, ohne dass es sich auflöst; dann nehme man es vom Filtrum herunter und schwemme es im Wasser auf. Nun versetze mau Kochsalzlösung mit so viel Ammoniak, dass sie entschieden alkalisch reagirt, und setze hiervon unter stetem [Jmschütteln so lange hinzu, bis sich das Paraglobuliu vollständig wieder löst. Die so gewonnene Flüssigkeit verhält sich nicht wie eine Lösung von fällbarem Eiweiss, sondern wie eine Lösung von nativem Eiweiss. Sic wird durch ver- dünnte Pflanzensäuren und durch dreibasische Phosphorsäure nicht gefällt, und beim Kochen gerinnt sie. Es kann nun weiter die Frage entstehen, ob dieses Paraglobuliu überhaupt wesentlich verschieden sei von dem nativen Eiweiss, welches nach seiner Ausscheidung im Serum zurückbleibt? Es könnte ja das ganze Sei'umeiweiss an und für sich nicht löslich sein und nur durch die Salze und Alkalien des Serums in Lösung erhalten werden. Wenn man einfach neutralisirt und dann mit dem achtfachen Volum Wasser verdünnt hat, dann vom Niederschlage abfiltrirt und das Filtrat weiter verdünnt, so scheidet sich kein Eiweiss mehr aus, oder wenn dies geschieht, so erreicht man doch durch weiteres Verdünnen bald eine 96 Paraglobulin, Vitellin nnd Myosin. Grenze, über welche hinaus weiterer Wasserzusatz keine neue Ausschei- dung veranlasst, wenigstens nicht sofort, während noch grosse Mengen von Eiweiss in der Flüssigkeit gelöst sind. Daraus hat man den Schluss gezogen, dass das Serumeiweiss an und für sich löslich und vom Para- globulin verschieden sei. Man muss sich aber sagen, dass mau ja die Salze durch die Verdünnung nicht wegbringt, dass immer noch auf eine gewisse Quantität Eiweiss eine gewisse Quantität von Salzen kommt, man mag verdünnen, wie man will; es miass also immer eine gewisse Quantität Eiweiss in Lösung bleiben, auch wenn dieses an sich unlöslich und nur vermittelst der Gegenwart von Salzen, Alkalien oder Säuren löslich ist. Alexander Schmidt bemerkt, dass nach seinen Versuchen die Menge der Salze, welche im Serum enthalten ist, bei weitem nicht ausreichen würde, das ganze Serumeiweiss in Auflösung zu erhalten, wenn es durchweg die Eigenschaften des Paraglobulins hätte. Anderseits ist Heyns ins durch eine Eeihe von Versuchen zu der Ansicht gelangt, dass auch der Rest des Eiweisses nicht für sich, sondern als in Verbin- dung mit anorganischen Substanzen in der Flüssigkeit gelöst sei. Als Beweis für die Existenz eines an und für sich löslichen Eiweisses wird das sogenannte Wurtz'sche Eiweiss angeführt. Man erhält dasselbe, wenn man Eieralbumin mit basisch essigsaurem Blei fällt, bei Abschluss der Luft filtrirt und mit ausgekochtem Wasser auswäscht. Das ist des- halb nöthig, weil sonst die Kohlensäure der atmosphärischen Luft und des Wassers die Bleiverbindung zersetzen würde. ^Nachdem man ausge- waschen hat, leitet man in den mit Wasser zu Brei angerührten Nie- derschlag Kohlensäure, zersetzt ihn hiedurch, und nun filtrirt man. In dem Filtrat hat man eine wässerige Eiweisslösung, die noch bleihaltig ist. Man fällt mit Schwefelwasserstoff. Das dabei gebildete Schwefelblei lässt sich aber nicht, oder nicht vollständig durch Filtration trennen. Um es wegzuschaffen hat man zwei Wege, erstens den, welchen Wurtz eingeschlagen hat, und der darin besteht, vorsichtig zu erwärmen, so dass die Coagulation des löslichen Eiweisses beginnt; dann reissen die ersten Flocken das ganze Schwefelblei mit sich, und die übrige Flüssig- keit kann rein und klar abfiltrirt werden. Ein zweiter Weg besteht darin, dass man die Lösung mit einer nicht zu grossen Quantität von sorgfältig von Salzen befreiter Thierkohle schüttelt. Auch diese reisst das ganze Schwefelblei an sich, und wenn man darauf filtrirt, bekommt man eine klare, wasserhelle Lösung. Diese gerinnt beim Kochen iind zeigt alle Eigenschaften des nativen Eiweisses. Sie kann eingetrocknet und wieder in Wasser aufgelöst werden, sie hat immer noch dieselben Eigenschaften. Sie kann, wenn sie eingetrocknet ist, über 100*^ erhitzt werden, ohne ihre Eigenschaften zu verlieren, nur wenn sie im feuchten Zustande über 70*^ erhitzt wird, geht sie in geronnenes Eiweiss über. Da dies Wurtz'sche Eiweiss schwach sauer reagirt, so nehmen Einige an, dass es noch Essigsäure enthalte, welche die Löslichkeit des Eiweisses vermitteln könnte. Dagegen wird augeführt, dass es sich nach dem Ein- trocknen wieder auflöst, während Lieberkühn fand, dass Albumin, das mit Essigsäure angesäuert worden ist, beim Eintrocknen in den unlöslichen Zustand übergeht. Es ist dies eine allgemeine Eigenschaft der Eiweiss- körper, und darauf beruhte schon die Anwendung des Essigs in der alten Temperamalerei: doch handelt es sich dabei wohl um grössere Paraglolnilin, Vitellin und Myosin. 97 Mengen von Essigsäure, als sie im Wurtz 'sehen Eiweiss enthalten sein können. Einen merkwürdigen Beitrag zu unserer Streitfrage hat Eichwald geliefert. Eichwald fand, dass er allmälig alles Eiweiss in Gestalt von Syntonin aus dem Blutserum ausfällen konnte, wenn er letzteres erst mit zehn Volum Wasser verdünnte, das Paraglobulin und Serumcasein ausfällte und durch das Eiltrum trennte und dann das Filtrat mit 40 bis 50 Volum Wasser verdünnte, nachdem er es so weit angesäuert hatte, dass aus einer Probe beim Erhitzen sich alles Eiweiss vollständig abschied. Die Syn- toninausscheidung dauerte 36 bis 48 Stunden. Eichwald sieht das Serumeiweiss deshalb als zwar verschieden vom Paraglobulin, aber doch auch als durch Salze gelöst an. Wir kommen jetzt zu einer anderen Frage, die wir mit grösserer Bestimmtheit entscheiden können, zu der Frage, ob denn das Eiweiss in seinen sogenannten Lösungen wirklich im gelösten Zustande, im chemisch- physikalischen Sinne des Wortes, enthalten sei. Es ist unzweifelhaft, dass Gummilösungen, Eiweisslösungen u. s. w. sich wesentlich anders verhalten als Kochsalzlösungen, Zuckerlösungen und Lösungen von anderen krystalli- sirbaren Substanzen. Wenn ich eine Salzlösung eindunste, so krystallisirt ein Theil des Salzes heraus, die übrige Lösung behält dagegen vollständig ihre Flüssigkeit. Wenn ich dagegen eine Gummilösung eindunste, wird sie immer dicklicher und dicklicher, und nach und nach wird die ganze Masse, nachdem sie zähe geworden ist, hart. Als Graham seine ausge- dehnten Untersuchungen über Diffusion anstellte, wurde er darauf geführt, diesen Unterschied näher zu untersuchen, und es zeigte sich, dass die- jenigen Körper, welche krystallisiren, in ihren Lösungen leicht diffusibel sind, dass dagegen diejenigen Substanzen, welche nicht krystallisiren, schwer diffusibel sind. Er theilte deshalb alle Substanzen in colloide Sub- stanzen, das heisst solche, die sich ähnlich wie eine Leimlösung verhalten, und in krystalloide Substanzen. Die ersteren waren schwer, die letzteren waren leicht diffusibel, und er gründete darauf ein Verfahren, Substanzen auf dem Wege der Diffusion, oder, wie er es nannte, auf dem Wege der Dialyse von einander zu trennen, ein Verfahren, das manchmal da noch anwendbar ist, wo die chemischen Hülfsmittel ihren Dienst versagen. Denken Sie sich z. B., Sie hätten ein Gefäss ohne Boden, das unten mit einer Blase, oder, wie man es jetzt gewöhnlich macht, mit einem Stücke Pergamentpapier verschlossen ist. In dieses Gefäss füllen Sie eine Lösung von einer coUoiden Substanz und setzen das Ganze in ein grosses Gefäss mit Wasser. Dann werden die Salze, welche in der Lösung enthalten sind, durch das Pergamentpapier hindurchgehen und Wasser wird hineinwan- dern. Es wird auch etwas von der colloiden Substanz hindurchgehen, aber unverhältnissmässig wenig im Vergleiche zu den Salzen. Wenn wir also das umgebende Wasser oft wechseln, werden nach und nach alle Salze in dasselbe übergehen und man erhält, freilich nicht ohne Ver- lust, eine fast reine Lösung der colloiden Substanz. Zu diesen colloiden Substanzen gehört auch das Eiweiss, und wir haben uns deshalb wohl zu fragen, ob es vielleicht deshalb unkrystal- lisirbar und schwer diffusibel sei, weil es gar nicht im wahren Sinne des Wortes gelöst, sondern nur in kleinen Partikeln im Wasser auf- geschwemmt enthalten ist. Brücke. Vorlesungen I. 4. Aufl. 7. 98 Paraglobnlin, Vitellin und Myosin. Die Frage, ob das Eiweiss gelöst sei, muss verschieden beantwortet werden, je nachdem die Auflösung definirt wird. Gewöhnlich sagt man, ein Körper ist in einer Flüssigkeit gelost, wenn die "Wirkung der Schwere vollständig verschwindet gegenüber der Molekularanziehung, mit anderen Worten, wenn der Körper keine Neigung hat sich zu senken und abzu- setzen, und wenn er auch keinen Auftrieb zeigt. Kach diesem Kriterium ist das Eiweis vollständig gelöst. Ich habe lange Röhren mit gut gemischter und filtrirter Eiweisslösung in einen Keller hineingestellt, und habe sie nach längerer Zeit auf ihren Eiweissgehalt in der. obersten und in der untersten Schichte untersucht und gefunden, dass beide ganz gleich zu- sammengesetzt waren: das Eiweiss hatte also durchaus keine Neigung gezeigt, sich abzusetzen. Körper, die nur suspendirt sind, die nicht aufgelöst sind, erregen ferner keinen Diffusionsstrom, keine sogenannte Endosmose. Die soge- nannten Erscheinungen der Endosmose, wie sie Dutrochet benannte, sind nichts anderes als Diffusionserscheinungen. "Wenn ich ein Gefäss unten mit einem Stück Blase zubinde und in dasselbe Glaubersalzlösung hineinfülle und es dann in "Wasser setze, so dass das innere und äussere Niveau ursprünglich gleich sind, so steigt das Niveau im Innern über das Niveau der äusseren Flüssigkeit, über das Niveau des "Wassers. Es geht also Wasser von aussen in die Lösung hinein und anderseits, wenn ich das Wasser untersuche, finde ich in demselben Salz. Es findet also ein Austausch durch die Membran statt, wobei immer das Volum des eintretenden Wassers grösser ist als das Volum der austretenden Substanz, so dass das Niveau im Innern steigt. Es hängt dies damit zu- sammen, dass beim Austausch das Wasser einen grösseren Raum einnimmt als das Aequivalent an Salz, welches gleichzeitig übergeht, anderseits damit, dass die Membran mehr Anziehting für das Wasser hat als für das Salz, das im Wasser gelöst ist. Darüber hat Ludwig sehr lehrreiche Versuche angestellt. Er hat eine Blase in Glaubersalzlösung gelegt, und gefunden, dass sie aus derselben eine Flüssigkeit absorbirt, die weniger concentrirt ist als die Salzlösung, welche man ihr angeboten hat, und wenn man sie hinterher auspresst, so wird eine Flüssigkeit ausgepresst, die concentrirter ist, als diejenige Flüssigkeit war, welche die Blase ab- sorbirt hatte. Die bewegende Ursache für den Diffusionsstrom ist die wechselseitige Anziehung zwischen den Theilchen des Wassers und den Theilchen der im Wasser gelösten Substanz. Substanzen, die nicht gelöst sind, erregen keine Diffusionsströme, erregen keine Endosmose. Wenn man nun in dieser Beziehung das Eiweiss untersucht, so verhält es sich wieder ganz wie ein gelöster Körper, es erregt einen sehr kräftigen Diffusionsstrom, eine starke Endosmose. Es geht seinerseits sehr langsam durch die Membran hindurch, zieht aber grosse Mengen von Wasser an, so dass das Niveau fort und fort steigt. Wenn man aber sagt, ein Körper ist nur dann gelöst, wenn die in der Flüssigkeit vertheilten Moleküle des- selben alle Eigenschaften eines festen Körpers verloren haben, dann ist das Eiweiss nicht gelöst; denn man kann nachweisen, dass das einzelne Eiweissraolekül, oder vielleicht sagen wir besser das einzelne Eiweiss- partikelchen, noch die Eigenschaften eines festen Körpers zeigt. Es hängt damit zunächst zusammen die Schwierigkeit, mit der sich das Eiweiss durch Membranen diftundirt. CoUoide Substanzen diffuudireu auch in Paraglobulin, Vitellin und Myosin. 99 offenen Gefässen, auch da, wo gar keine poröse Scheidewand vorhanden ist, langsamer als krystalloide, aber ausserdem finden die Eiweisstheilchen beim Durchgang durch Membranen offenbar ein Hinderniss in der Enge der Poren. Dieses Hinderniss kann so gross werden, dass anfangs gar kein Eiweiss hindurchgeht, sondern nur Salze. Wenn man ein Glasrohr mit der Schalcuhaut eines Hühnereies zubindet, die Ligaturstelle sorg- fältig mit Schellack firnisst und eine Eiweisslösung hiueingiesst, so gehen an Wasser, das sich auf der anderen Seite der Membran befindet, anfangs nur Salze über, gar kein Eiweiss. Erst nach vierundzwanzig Stunden oder später fängt auch das Eiweiss an, in geringer Menge durch die Schalenhaut hindurchzugehen. Wenn man durch thierische Membranen, z. B. durch die Pleura, eine Eiweisslösung langsam durchzupressen sucht, so geht eine Flüssigkeit durch, die ärmer ist an Eiweiss, als diejenige Flüssigkeit, die darüber stehen bleibt; das zeigt wiederum, dass die Eiweisstheilchen selbst, offenbar ihrer Grösse wegen, in den Poren der Membran ein Hinderniss finden. Damit hängt es auch zusammen, dass in den Nieren zwar die Salze und der Harnstoff, auch Zucker, welcher im Blute vorhanden ist, kurz die krystalloiden Substanzen hindurchgehen, dass dagegen wenigstens im normalen Zustande das Eiweiss nicht hindurch- geht, dass das Eiweis nur durchgeht durch die Wandungen der harn- bereitenden Organe, wenn entweder der Druck ein ungewöhnlich hoher ist, oder wenn diese Wandungen selbst degenerirt sind. Es existirt noch eine andere Erscheinung, welche in recht auf- fälliger Weise zeigt, dass das einzelne Eiweissmolekül noch die Eigen- schaften eines festen Körpers besitzt. Wenn man eine vollständige Lösung schüttelt oder schlägt, oder Luft in sie hineinbläst, so kann man allerdings Blasen hervorbringen, aber diese Blasen zerstören sich in sehr kurzer Zeit wieder, und zwar dadurch, dass von der Kuppe der Blase fortwährend Flüssigkeitstheilchen herunterrollen, bis die Blase am Ende oben so dünn wird, dass nun die Spannung der Luft im Innern hinreichend ist, um sie zu zersprengen. Dann fällt sie zusammen. Wenn man dagegen in eiaer Seifenlösung Blasen hervorbringt, so zeigen diese eine grosse Widerstandsfähigkeit. Die in der Flüssigkeit befindlichen festen Theilchen mit der Anzie- hung, die sie zum Wasser haben, hindern einander beim Herabrollen von der Kuppe der Blase, wenn diese sich bis zu einem gewissen Grade verdünnt hat. Sie halten einander, wie die Steine eines Gewölbes. Darauf beriiht die Schaumbildung auf Seifenlösungen, darauf die Möglich- keit, Seifenblasen zu machen. Wie verhält sich eine Eiweisslösung? Sie verhält sich ähnlich einer Seifenlösung. Wenn man sie schüttelt, so ent- steht ein Schaum, der nicht sofort vergeht, sondern längere Zeit stehen bleibt. Andral sagte schon vor mehr als vierzig Jahren, dass das, was ihn auf Albuminurie ai;fmerksam mache, der Schaum auf den üringläsern sei. Bei eiweissfreiem Harn bleibt der Schaum nicht stehen, während er bei eiweisshältigem stehen bleibt. Etwas Eieralbumin oder Serumalbumiu zu destillirtem Wasser gemischt, dem man einige Tropfen Kochsalzlösung zugesetzt hat, gibt eine klare, beim Schütteln stark schäumende Flüssig- keit. Wir können deshalb nicht in Abrede stellen, dass auch in ganz klaren Lösungen die darin enthaltenen Eiweisstheilchen noch in einzelnen Erscheinungen die Eigenschaften fester Körper zeigen, während sie im 7* 100 Fibrin. Uebrigen wie die Moleküle eines gelösten Körpers wirken. Es liegt hierin kein Widerspruch. Man braucht nur anzunehmen, dass die Eiweisstheil- chen auf die Flüssigkeit eine ähnlich starke Anziehung ausüben, wie die Moleküle gelöster krystalloider Substanzen , dass sie aber sehr viel grösser sind. Wir haben kurz noch ein Paar anderer Eiweisskörper zu erwähnen, die sich dem Paraglobulin ähnlich verhalten, das Vitellin, welches im Eidotter enthalten und in Chlornatriumlösung von jeder Concentration löslich ist, sich dabei nicht aussalzen, das heisst durch Eintragen von ungelöstem Chlornatrium zur Abscheidung bringen lässt, und einen von Kühne zuerst dargestellten Körper, das Myosin. Das Myosin erhielt Kühne, indem er Muskeln mit einer Kochsalzlösung verrieb, die er so bereitet hatte, dass er zu einer concentrirten Kochsalzlösung das doppelte Volum Wasser hinzusetzte. Er filtrirte darauf von dem Eückstande ab, und trug nun Steinsalz in Substanz ein. Das zog einen Theil des Wassers zu einer Lösung an sich, und in Folge davon schied sich ein Eiweiss- körper aus, welchen er auf dem Filtrum sammeln konnte, und welchen er mit dem Kamen des Myosins belegte. Man kann bis jetzt nicht mit Sicherheit sagen, in wie weit das Myosin aus Eiweisskörpern stammt, die in den Muskeln noch gelöst waren, oder aus solchen, die in den Muskeln bereits geronnen waren und durch Kochsalz wieder aufgelöst wurden. Wir werden später finden, dass die Muskeln eine ganze Reihe von Eiweiss- körpern enthalten, wovon ein Theil flüssig bleibt, ein Theil bei gewöhn- licher Temperatur und das Uebrige bei verschiedenen höheren Temperaturen gerinnt, und dass derjenige Eiweisskörper, welcher bei gewöhnlicher Tem- peratur gerinnt, ganz oder doch zum grössten Theil in Kochsalzlösung wieder auf löslich ist. Es mag hier auch noch das Gry stallin erwähnt werden, der Eiweisskörper, den man durch Verreibuag der Krystalllinse mit Wasser und Filtriren erhielt, und den man für verschieden vom ge- wöhnlichen Eiweiss hielt, v. Vintschgau hat indessen gezeigt, dass die gefundenen Unterschiede höchst wahrscheinlich nicht in den Eigenschaften der Eiweisskörper als solcher, sondern in den anorganischen Bestandtheilen der Lösungen zu suchen sind. Fibrin. Wir haben jetzt die Eiweisskörper so weit kennen gelernt, dass wir zum Fibrin zurückkehren können, zu demjenigen Körper, der sich bei der Gerinnung des Blutes ausscheidet. Wir haben schon gesehen, dass das Fibrin in verdünnten Säuren aufquillt, gallertartig durchscheinend wird. Gewisse Säuren, wie die Essigsäure und die Phosphorsäure, lassen es auch im concentrirteren Zustande in dieser gallertartigen Beschaffenheit, andere Säuren aber, z. B. die Salzsäure, machen es wieder vorschrumpfen, wenn sie in grösserer Menge zugesetzt werden; in noch höherem Grade ist dies der Fall mit der Schwefelsäure und am allermeisten mit der Salpeter- säure, welche das gequollene Fibrin schon verschrumpfen macht, wenn sie dem Wasser in verhältnissmässig sehr geringer Menge zugesetzt wird. Das Fibrin zersetzt in frischem Zustande Wasserstoffsuperoxyd. Es ist ein im hohen Grade veränderlicher Körper. Es hat, nachdem es eine Zeit lang ausgeschieden war, andere Eigenschaften als unmittelbar nach der Fihl-in. 101 Gerinnung. Die Gerinnung selbst kann man verzögern, beziehungsweise ver- hindern durch Zusatz von Salzen und auch durch Zusatz von Alkalien und Säuren, und, wie Denis zeigte, kann man eben frisch geronnenes Fibrin wieder mittelst einer Salpeterlösung auflösen, am leichtesten, wenn man derselben noch eine sehr geringe Menge von Ammoniak zuge- setzt hat. Man erhält eine Flüssigkeit, die beim Kochen gerinnt, wie eine Eiweisslösung. Später aber, wenn das Fibrin bereits längere Zeit ausgeschieden war, und namentlich, wenn es dem Einflüsse der atmo- sphärischen Luft ausgesetzt worden ist, gelingt es nicht mehr, dasselbe mittelst Salpeter wieder aufzulösen. Ein werthvolles Lösungsmittel ist in E. Ludwig's Laboratorium von Mauthner im Neurin gefunden, einer organischen Base, die dem Thierkörper entstammt und von der wir später noch sprechen werden. Wenn man das Fibrin untersucht, so findet man, dass es eine nicht unbeträchtliche Menge von anorganischen Bestandtheilen enthält. Zunächst enthält es eine wenn auch nur geringe Menge von Eisen. Lieb ig fand schon, dass das Fibrin, wenn man es faulen lässt, sich wieder auflöst, dass es dann eine Flüssigkeit gibt, die beim Kochen gerinnt, also natives Eiweiss enthält, anderseits aber auch getrübt oder gefällt wird, wenn man das im Fäulnissprocess gebildete Ammoniak mittelst einer Säure neu- tralisirt, also neben dem löslichen Eiweiss auch fällbares Eiweiss enthält, und dass in dieser Flüssigkeit schwärzliche Flocken von Schwefeleisen schwimmen. In viel grösserer Menge aber enthält es phosphorsaure Erden, phosphorsauren Kalk, und in geringerer Menge phosphorsaure Magnesia. Man kann ihm dieselben theilweise durch Säuren entziehen. Die phosphor- sauren Salze lassen sich nicht durch Wasser auswaschen, auch nicht durch die grössten Mengen von Wasser; es sind also unlösliche, normale phosphorsaure Salze. Es ist nicht wohl anzunehmen, dass diese unlöslichen Salze im lebenden Blute als solche enthalten seien. Das ist ein Punkt, mit dem man rechnen muss, wenn man über die Gerinnung irgend eine chemische Theorie aufstellen will. Es handelt sich nicht darum, dass hier lediglich ein Eiweisskörper ausgeschieden wird, sondern es wird einerseits ein Eiweisskörper ausgeschieden und anderseits normaler phosphorsaurer Kalk und normale phosphorsaure Magnesia, die als solche im Blute nicht enthalten waren. Man muss sich also denken, dass die Körper in anderer gegenseitiger Verbindung gewesen sind, dass Alkalien oder alkalische Erden in Verbindung gewesen sind mit den Eiweisskörpern und diese in Lösung erhalten haben, und anderseits wieder die Phosphorsäure nicht mit dem Kalk, sondern mit irgend einer andern Basis in Verbindung gewesen ist, mit der sie eine lösliche Verbindung bildete. Das Fibrin selbst wird auf Kosten von nativem Eiweiss im Blute gebildet: denn fällbares Eiweiss ist im Plasma in sehr geringer Menge oder gar nicht enthalten. Wenn man die Fibrinausscheidung durch Salze verhindert, so findet man das ganze Eiweiss im Plasma als lösliches Ei- ■ weiss. Wenn man frisch gelassenes Pferdeblut in eine Kältemischung bringt und darin stehen lässt, so senken sich die Blutkörper und man kann das Plasma flüssig abheben. Man theile nun eine Portion solchen Plasmas in zwei gleiche Theile. Den einen säure man mit Essigsäure an, in. dem andern bestimme man Fibrin und Eiweiss. Nach vier Stun- den neutralisire man den angesäuerten Theil bis zur schwach-sauren 102 Fibrin. Beaction. Er scheidet dann kein Fibrin mehr aus; aber wenn man ihn mit Wasser verdünnt erhitzt, so scheidet er sein ganzes Eiweiss ans. Die Wage zeigt, dass die Masse dieses Eiweisses ebenso gross ist, wie die von Fibrin und Eiweiss aiis dem andern Theile zusammengenommen. Daraus geht hervor, dass das lösliche Eiweiss des Blutplasmas das Material für die Bildung des Fibrins hergegeben hat, oder genauer ausgedrückt, dass das Material zur Fibrinbildung im Plasma in Gestalt von Eiweiss enthalten ist, das seinen Eigenschaften nach zur Gruppe der nativen oder löslichen Eiweisse gehört. Eichwald ist es gelungen, bei Abschluss der Luft mittelst con- centrirter Kochsalzlösung aus dem Blutplasma einen Eiweisskörper abzu- scheiden, der in äusserst schwacher ISTatronlösung gelöst beim Neutrali- siren derselben gerann und eine Substanz gab, die sich nach den bisher von ihm angestellten Versuchen vom Fibrin nicht unterscheiden liess. 0, Hammarsten hat den freiwillig gerinnenden Theil des Bluteiweisses, den man, so lange er gelöst ist, Fibrinogen nennt, dadurch isolirt, dass er Blut in concentrirter Lösung von Magnesiasulfat auffing und filtrirte. Aus dem Filtrate konnte das Fibrinogen mittelst concentrirter Kochsalz- lösung gefällt werden. In grosser Menge kommt das Fibrinogen im. Inhalte der Samenblasen des Meerschweinchens vor. In wie weit diese Körper von dem von Eichwald abgeschiedenen verschieden, wie weit sie mit dem- selben identisch sind, ist noch nicht hinreichend untersucht. Ueber die nächsten Ursachen der Gerinnung sind vielfache Unter- suchungen von Alexander Schmidt angestellt worden. Er machte die wichtige Entdeckung, dass gewisse eiweisshältige Flüssigkeiten, die an und für sich nicht gerannen, dann gerannen, wenn er ihnen eine kleine Quantität frischen Blutes zusetzte. Das Fibrin des Blutes kam dabei nicht in Betracht. Letzteres konnte vorher defibrinirt sein. Transsiidate, die die pathologische Anatomie geliefert hatte, Hydrokelenflüssigkeiten, die abgezapft waren, Liq^uor pericardii von Thieren, der an und für sich keine Neigung zum Gerinnen zeigte, alle diese Flüssigkeiten setzten nach kürzerer oder längerer Zeit Gerinnsel ab, wenn er ihnen eine kleine Quantität von Blut zugesetzt. Die Lymphe gerinnt an und für sich, aber sie gerinnt sehr langsam; Alexander Schmidt fand, dasS; wenn er der Lymphe eine kleine Quantität Blut zusetzte, das Gerinnen verhältniss- mässig sehr geschwind erfolgte. Es ist also klar, dass im Blute eine Substanz enthalten sei, welche das Gerinnen befördert, eventuell Flüssig- keiten gerinnen macht, welche an und für sich keine Neigung zum Gerinnen zeigen; so, dass man die frühere Eintheilung der Transsiidate in albuminöse und fibrinöse modificiren muss. Sie ist in der bisherigen Weise nicht mehr haltbar, weil Transsudate, die man sonst als albuminöse be- zeichnet hatte, da sie kein Coagulum setzen, plötzlich gerinnen, wenn man eine kleine Menge defibrinirtes Blut hinzufügt. Als albuminöse Trans- sudate kann man also hinfort nur solche bezeichnen, die auch dann kein Coagulum geben. Die nächste Frage musste sein: Sind es im Blute die Blutkörperchen oder das Blutserum, welche die Gerinnung hervorrufen? Es zeigte sich, dass das ganze defibrinirte Blut viel besser wirkte als das Blutserum, dass aber das Blutserum auch gerinnenmachende Eigenschaften' besitzt. Später fand er, dass man einen gerinnenmachenden Körper aus dem Blutserum darstellen kann, in dem die ganze gerinnenmachende Wirkung Fibrin. 103 desselben concentrirt ist. Der Weg, den er dabei einschlug, war derselbe, den wir zur Darstellung des Paraglobulins eingeschlagen haben. Dieses Paraglobulin zu Transsudaten hinzugesetzt, hat in hohem Grade die Eigenschaft, sie zum Gerinnen zu bringen. Er wurde hiedurch darauf geführt, im Blute zwei Substanzen anzunehmen, wovon er die eine die fibrinogene, die andere die fibrinoplastische nannte, und durch Vereini- gung dieser beiden entsteht nach ihm das Fibrin. Nach ihm scheidet Serum auch bei längerem Stehen kein Fibrin mehr aus, weil es zwar noch fibrinoplastische Substanz enthält, aber keine fibrinogene mehr. Wenn ein Transsudat nicht gerinnt, aber auf Zusatz von Blut gerinnt, so enthielt es zwar noch fibrinogene Substanz, aber es enthielt keine fibrinoplastische Substanz. Wenn man die fibrinoplastische Substanz, die in den Blutkörperchen und im Serum enthalten ist, in Gestalt von Blut oder Paraglobulin hinzusetzt, so tritt Gerinnung, Fibrinbildung ein. Er wurde in dieser Ansicht dadurch bestärkt, dass die Menge des gebildeten Fibrins in einem gewissen Verhältnisse stand zur Menge des Paraglobulins, welches er zugesetzt hatte, so lange er eben mit diesem Zusätze eine gewisse Grenze nicht überschritt. Es musste also eine gewisse Quantität fibrinoplastischer Substanz nöthig sein, um mit der ganzen Menge der fibrinogenen Fibrin zu bilden. Darüber hinaus aber war dann der weitere Zusatz von fibrinoplastischer Substanz unwirksam. Es war aber schon bei seinen damaligen Versuchen aufgefallen, dass das Paraglobulin nicht immer gleich wirksam, und seine Wirksamkeit auffallend verschieden ist, je nach der Art, wie es bereitet wird. Wenn er das Serum wenig verdünnt hatte, so war das ausgefällte Paraglobulin, welches sich dann nur in verhältnissmässig geringer Menge ausschied, viel wirksamer, als wenn er das Serum gleich mit dem Achtfachen seines Volumens Wasser verdünnte, und nun das Paraglobulin massenhaft heraus- fiel. AVenn es das Paraglobulin als solches war, wovon die Gerinnung ausschliesslich abhing, so hätte dasselbe immer gleich wirksam sein müssen, gleichviel ob er einen Theil desselben, oder ob er die ganze Masse aus- fällte. Es entstand schon damals der Verdacht, dass es nicht das Para- globulin selbst sei, was die Gerinnung veranlasst, sondern ein anderer mit dem Paraglobulin gefällter Körper, der entweder von ihm mitgerissen oder mit ihm gleichzeitig gefällt wurde. Alexander Schmidt hat sich später gleichfalls dieser Ansicht angeschlossen, aber wir sind bis jetzt noch zu keiner einheitlichen und allgemein anerkannten Theorie der Gerinnung gelangt, da zwischen ihm und Hammarsten, der gleichfalls andauernd über diesen Gegenstand gearbeitet hat, noch so grosse Meinungs- verschiedenheiten bestehen, dass das Feld der Untersuchung hier noch nicht als abgeschlossen betrachtet werden kann. Bizzozero betrachtet als Ursache der Gerinnung eigenthümliche, sehr vergängliche Plättchen, die er iind Andere im Blute mittelst stärkerer Vergrösseruugen gefun- den und untersucht haben, und mit deren Zerfall seiner Ansicht nach die Gerinnung zusammenhängt. Die Präexistenz dieser Plättchen im circulirenden normalen Blute ist in neuerer Zeit wieder bestritten worden. Aber auch wenn sie sich erst im Beginne des Absterbens bilden, könnten sie doch einen Antheil am Gerinnunosvorgangc haben. 104 Haemoglobin. HaemogloMn. Wenn man Blut mit atmosphärischer Luft schüttelt, oder wenn es aus den Lungen zurückkommt und in die Körperarterien fliesst, ist es bekanntlich hellroth. Wenn man es dann in dünne Schichten vertheilt, so sind diese dünnen Schichten auch noch roth, das Roth wird nur blässer und zieht mehr in das Gelbliche. Wenn man dagegen Blut venös werden lässt, so wird es dunkelroth, und nun ist es in dünnen Schichten nicht mehr roth, sondern bouteillengrün. Das kann man auf folgende Weise zeigen. Man zieht eine weite Glasröhre an zwei Stellen dünn aus und leitet eine irrespirable Gasart, Stickgas, Wasserstoff oder Kohlensäure hindurch. Man fängt das austretende Gas in Proben über Quecksilber auf, und wenn es keine atmosphärische Luft mehr beigemengt enthält, schmilzt man die Eöhre an den ausgezogenen Stellen ab, jedoch so, dass an der einen Seite ein massig langer dünner Schnabel stehen bleibt. An diesem Schnabel macht man nicht weit vom freien Ende desselben einen Strich mit einem Diamant, schiebt ihn in das vorher freigelegte Blut- gefäss, aus dem man das Blut nehmen will, und befestigt ihn mit einer Ligatur. Dann bricht man den Schnabel durch leichten Druck da, wo man ihn geritzt hat, ab, und nun tritt eine kleine Quantität Blut in die Eöhre hinein. Es ist nämlich beim Zuschmelzen die Röhre theilweise erwärmt, und dadurch ein Theil der darin enthaltenen Luft ausgetrieben worden. Die Luft in der Rohre ist also von geringerer Spannung als die ausserhalb der Röhre. Man unterbindet das Blutgefäss am Ende des Schnabels und schneidet das mit diesem verbundene Stück aus. Wenn man nun die Röhre senkrecht stellt, so dass das Blut an den Wänden herunterläuft, so bemerkt man, dass es jetzt in dicken Schichten dunkel- kirschroth, aber in dünnen Schichten nicht roth, sondern grünlich ist. Bricht man dann den Schnabel und die Spitze am andern Ende der Röhre ab und bläst Luft durch die Röhre, so dass das Blut wieder Sauerstoff absorbiren kann, so verschwindet die grüne Farbe wieder und macht der gewöhnlichen gelblichrothen des arteriellen Blutes Platz. Also hier ist das Blut dunkelroth und dichroitisch geworden dadurch, dass man es mit einer irrespirablen Gasart in Berührung gebracht hat. Die Art des Gases, ob es Kohlensäure, Wasserstoffgas, Stickgas ist, ist von untergeordneter Bedeutung: das Dunkelwerden erfolgt auch im luft- leeren Räume. Das Dunkelrothwerden, das Kirschrothwerden, das Venös- werden des Blutes hängt also wesentlich nicht vom Gehalte des Blutes an Kohlensäure, sondern davon ab, dass dem Blute Sauerstoff entzogen worden ist. Untersucht man eine Blutlösung, die man mit Luft geschüttelt hat, mit dem Spectroskop, so zeigen sich zwei Absorptionsstreifen, die in Fig. 13 dargestellt sind. Lässt man aber eine solche Lösung längere Zeit im verschlossenen Gefässe stehen, so zeigt sie nur einen Absorptions- streifen, der in Fig. 12 abgebildet ist, und der, wie man sieht, den Ort des hellen Zwischenraumes einnimmt, der zwischen den beiden in Fig. 13 abgebildeten Absorptionsstreifen lag. Diese Veränderung, so wie die Farbenveränderung des Blutes beruht darauf, dass in letzterem eine Substanz enthalten ist, welche Sauerstoff aufnimmt und denselben in einer lockeren Verbindung bindet. Diese Verbindung aber zerfällt allmälig Haemoglobin. 105 wieder, indem der Sauerstoff in andere festere Combinationen eintritt, und die Farbe kann nur durch Zufuhr von neuem Sauerstoffe wieder herge- stellt werden. Dieser Zerfall tritt beim Stehen des Blutes im verschlosse- nen Gefässe ein. Es bildet sich später auch Schwefelwasserstoff, der redu- cirend wirkt, und man kann denselben Effect auch augenblicklich erzielen, wenn man der Blutlösung etwas Schwefelammonium hinzufügt. Mit dem freiwilligen Venöswerden des Blutes, dem kein Sauerstoff zugeführt wird, hängt es auch zusammen, dass wir unter dem Mikroskope meistens die Blutkörperchen nicht röthlich, sondern grün gefärbt sehen, indem unter dem Deckglase das Blut venös wird. Noch besser kann man dies hervor- bringen, wenn man eine kleine mit Blut gefüllte Vene unter das Mikroskop bringt, einen Tropfen Glycerin darauf thut und darüber das Deckglas legt; dann sieht man die verschiedenen Farben, welche das venöse Blut im durchfallenden Lichte zeigt: erstens die grüne Färbung, da wo die Blutkörperchen einzeln liegen, und dann die kirschrothe, da wo die Blut- körperchen mehr gehäuft sind. Die gefärbte Substanz nun, welche in den Blutkörperchen enthalten einen so namhaften Theil ihrer Masse ausmacht und den Farbenwechsel durch Aufnahme und Abgabe von Sauerstoff bedingt, ist das Haemoglobin oder Haemoglobulin. Es zeigt mit dem Spectralapparate untersucht die optischen Eigenschaften des Blutes selbst. — Fig. 13 zeigt also die Absorptionsstreifen des sauerstoffreichen Haemo- B C Fig. 12. Fig. 13. B £ T, F :::!;:f: i fj 1 i!-^; globins, des sogenannten Oxyhaemoglobins, und Fig. 12 den Absorptions- streifen des reducirten Haemoglobins. Andere Absorptionsstreifen, und zwar in alkalischer Lösung, solche, wie sie Fig. 14 zeigt, gibt ein AaBG D E 1^ F G Fig. U. Umwandlungsproduct des Oxyhaemoglobins, das man Methaemoglobin nennt. Es ist, nachdem es im amorphen Zustande schon einige Zeit bekannt war, von Hüfner und J. Otto aus Schweineblut krystallisirt erhalten. Es löst sich in Wasser mit brauner, in Alkalien mit rother Farbe und enthält nicht den auspumpbaren, locker gebundenen Sauerstoff, der charak- teristisch ist für das Oxyhaemoglobin. Die darin enthaltene Sauerstoff- menge scheint nach den Versuchen von Hüfner und Külz dieselbe zu sein, aber die Bindung eine festere. Man erhält das Haemoglobin dadurch, dass man es zum Krystalli- siren bringt. In den vierziger Jahren dieses Jahrhunderts fand Reichert im Uterus eines Meerschweinchens rothe Krystalle, welche von ihm und später von Schmidt in Dorpat näher untersucht wurden, und von denen es sich herausstellte, dass ihre Hauptmasse aus einer den Eiweiss- körpern ähnlichen Substanz bestehe, was damals mit Eecht das grösste Aufsehen erregte, weil den damaligen Chemikern die Vorstellung voll- kommen fremd war, dass ein Eiweisskörper krystallisiren könne. Wie lUb Haemoglobin. wir später sehen werden, war das, was hier krystallisirt war, auch kein Eiweisskörper, aber wohl eine noch höher zusammengesetzte Substanz, welche erst bei ihrer Zersetzung einen Eiweisskörper liefert; es war Haemoglobulin, das bei der Einwirkung von Säuren in Haematin und in einen Eiweisskörper, das Globulin, zerfällt. Später wurden von Funke und von Kunde diese Krystalle dargestellt, wobei es sich zeigte, dass sie aus dem einen Blute leichter, aus dem andern Blute schwerer zu erhalten sind, z. B. leichter aus Meerschweinchenblut als aus dem Blute anderer Säugethiere, aber im Allgemeinen dadurch, dass man einen Blutstropfen eintrocknen lässt, ihn, nachdem er eingetrocknet ist, mit wenig Wasser wieder aufweicht, und dann ein Deckglas darauf- legt. Nun trocknet die Blutmasse am Bande ein und schützt dadurch die innere Masse vor dem weiteren Verdunsten, vor dem gänzlichen Austrocknen. So krystallisirt die übrige Flüssigkeit, wenn man Meer- schweinchenblut angewendet hat, tetraedrische oder oktaedrische Kry- stalle, die dem rhombischen Systeme angehören, in grosser Masse aus- scheidend. Dem rhombischen Systeme scheinen auch die aus dem Blute anderer Thiere erhaltenen, in ihren Formen zum Theile sehr abweichen- den Krystalle anzugehören, nur die aus Eiehhörnchenblut fand V, v. Lang hexagonal. Bellet hat später gefunden, dass dieses Eintrocknenlassen und Aufweichen im Wasser lediglich den Zweck hat, die Blutkörperchen zu zerstören. Damit man Krystalle erhält, ist es nothwendig, dass die Blutkörperchen ihr Haemoglobin fahren lassen, so dass es in das Blut- plasma, in die umgebende Flüssigkeit übertritt, dann krystallisirt es unter günstigen Umständen. Er zeigte, dass man so auf verschiedenem Wege Blutkrystalle erhalten kann: erstens dadurch, dass man Blut frieren lässt und dadurch die Blutkörperchen zerstört, zweitens dadurch, dass man electrische Schläge durch das Blut leitet, endlich dadurch, dass man das Blut entgast. Stan. von Stein empfiehlt die an den Bändern etwas eingetrockneten Blutstropfen mit Kanadabalsam zu bedecken. Sehr grosse Blutkrystalle erhält man nach Gscheidlen, wenn man in Glas- röhren eingeschlossenes Blut längere Zeit im Brütofen aufbewahrt und dann an der Luft ausbreitet. Durch Anwendung von Aether und Alko- hol, und indem man bei sehr niedriger Temperatur arbeitet, kann man die Krystalle auch im Grossen darstellen, und es ist auch gelungen, sie umzukrystallisiren. Sie sind nämlich in dem Plasma zwar relativ leicht löslich, aber sie sind in destillirtem Wasser von 0'-* schwer löslich, und sind auch schwer löslich in kaltem schwachem Alkohol. Man kann sie aber leicht löslich machen durch einen kleinen Zusatz von kohlensaurem Ammoniak. Dieses sättigt man wieder durch eine titrirte Phosphor- säurelösung und fügt Alkohol bis zur Wiederausscheidung der Krystalle hinzu. Auf diese Weise hat man sie rein genug erhalten können, um eine Elementaranalyse anzustellen. Man fand an Gewichtsprocenten im Haemoglobin von Hunden 53,9 C; 7,3 H; 16,2 N; 0,4 Fe; 0,4 S und 21,8 O. Nach Kühne enthält das Haemoglobin indess wahrscheinlich keinen Schwefel. Kühne fand, dass es an Schwefel immer mehr verarmt, je mehr man es reinigt, und endlich hat er es durch Umkrystallisiren so weit reinigen können, dass er nach dem Verbrennen mit kohlensaurem Natron durch Fällen mit Chlorbaryum keinen schwefelsauren Baryt mehr Das Haeraatin. 1Ü7 erhielt, sondern nur noch durch Nitroprussidnatrium eine schwach violette Färbung, wenn er es mit Aetzkali geschmolzen hatte. Das Atomgewicht ist nicht mit Sicherheit bekannt, aber jedenfalls ein sehr hohes, Haemoglobin färbt eine mit Terpentinöl versetzte alkoholische Guajak- lösung blau. Schön bein und nach ihm Andere benutzten dies zur Erkennung von Blut. Man schüttelt die zu untersuchende Flüssigkeit mit Terpentinöl und etwas Guajaktinctur. Es empfiehlt sich diese Probe durch ihre Leichtigkeit und Empfindlichkeit sehr für die Untersuchung des Harns auf Blut, denn hier hat man den Blutfarbstoff nur von den Harn- farbstoffen, eventuell vom Gallenfarbstoff, zu unterscheiden. Für gericht- liche Zwecke möchte ich sie als entscheidende Probe nicht empfehlen, weil hier, wo man Blut von allen anderen, von allen möglichen Sub- stanzen unterscheiden soll, doch ein Irrthum möglich wäre. Ihr ist hier eine andere Probe, von der wir bald sprechen werden, weit vorzuziehen. Wenn diese letztere negativ ausfällt, kann die Guajakprobe durch ein gleichfalls negatives Resultat bekräftigen, dass wirklich kein Blut vor- handen ist, durch ein positives zu erneueter Untersuchung auffordern. Das Haemoglobin ist überaus leicht zersetzbar. Es ist nur einiger- massen haltbar im neutralen und im alkalischen Zustande ; sobald Säuren hinzukommen, zersetzt es sich in Haematin und in einen Eiweisskörper, welcher sich verhält wie das Paraglobulin, und der den JSTamen Globulin führt. Der jSfame Globulin wurde von den Blutkörperchen (globulis) herge- leitet. Man kannte die Zersetzuugsproducte Haematin und Globulin viel früher als das Haemoglobin oder Haemoglobulin selbst. Der jSTame Para- globulin wurde erst viel später dem Panum'schen Serumcasein wegen seiner Aehnlichkeit mit Globulin gegeben. Das Haematin. Das zweite Zersetzungsproduct, das unter der Einwirkung von Säuren entsteht, das Haematin, ist tief gefärbt. Man glaubte früher, dass es fertig gebildet im Blute enthalten sei. Das Haematin ist zuerst von Lecanu in ziemlich reinem Zustande dargestellt worden. Man zieht getrocknetes Blut oder Blutkörperchen, die man vorher von dem übrigen Blute, nach einer Methode, die wir später kennen lernen werden, getrennt hat, mit schwefelsaure- oder weinsäurehältigem Alkohol aus. Dadurch bekommt man eine braune Lösung. Zu dieser setzt man Ammoniak, dann färbt sie sich schön roth, während zugleich ein Mederschlag entsteht, von dem mau abtiltrirt. Die ammoniakalische Lösung wird eingedunstet und dann nach einander mit Wasser, xilkohol und Aether ausgezogen. Das, was zurückbleibt, wird noch einmal in ammoniakalischem Alkohol auf- gelöst, filtrirt und das Filtrat zum Trocknen abgedampft. Das amorphe schwarze Pulver, welches zurückbleibt, ist das Haematin von Lecanu. In Lösungen verändert es seine Farbe, je nachdem es in saurer oder alkalischer Lösung vorhanden ist. In sauren Lösungen ist es, wie wir schon gesehen haben, braunroth, in alkalischen Lösungen ist es in dünnen Schichten meistens grün und in dicken Schichten roth, also in ähn- licher Weise wie das venöse Haemoglobin dichroitisch. Eine saure alko- holische Lösung, die mit Aetzammoniak alkalisch gemacht worden ist, ist nicht dichroitisch, aber sie wird es, wenn sie an der Luft Kohlensäure 108 Das Haematin. absorbirt. Haematinlösung mit kaustischem oder kohlensaurem Kali oder Natron alkalisch gemacht, ist immer dichroitisch. Auch Blut mit Kali oder Natron gekocht gibt dichroitische Flüssigkeiten. Es ist dies eine Eigen- schaft des Blutfarbstoffes, welche eine forensische Bedeutung erlangt hat. iSToch grössere forensische Wichtigkeit hat eine Verbindung des Hae- matins erlangt, welche man mit dem jSTamen Haemin belegt. Vor einer Reihe von Jahren fand Teichmann, dass man zierliche, nussbraune Kry- stalle von der in Eig. 15 dargestellten Form bekommt, wenn man zu Blutpulver eine Spur Kochsalz, dann Eisessig hinzufügt und erwärmt. Er nannte sie Haeminkrystalle. Ihre Winkel betragen nach Högyes 60" und 120*' und sie gehören wahrscheinlich dem monoklinischen Systeme an. Man wusste lange nicht, woraus eigentlich diese Haeminkrystalle bestehen, man wusste nur, dass das Haematin ein nothwendiger Bestandtheil sei und die Hauptmasse derselben bilde. Man fand, dass sie bald nur mit Zusatz von Kochsalz in einiger Menge erhalten werden, dass Fig. 15. sie aber aus manchem Blute auch ohne Zusatz von Kochsalz erhalten werden. Es stellte sich endlich durch die Unter- suchungen von Hoppe-Seyler heraus, dass sie eine Chlor- verbindung des Haematins sind. Haemin und Chlorhaematin sind also identische Bezeichnungen, oder vielmehr sie waren es bis vor Kurzem. In neuester Zeit haben Nencki und N. Sieb er vorgeschlagen, den Atomcomplex C32 i^so -ZV4 Fe O3, dessen salzsaure Verbindung nach ihnen die Teichmann'schen Krystalle darstellt, als Haemin zu bezeichnen. Beim Auflösen in Alkalien ver- wandelt sich derselbe nach Nencki und K. Sieb er in Haematin, dem sie, abweichend von der später zu erwähnenden Formel von Hoppe- Seyler, die Zusammensetzung C32 1^32 -A'4 Fe O4 zuschreiben. Das kry- stallisirte Chlorhaematin oder salzsaure Haemin, oder, nach der alten Teichmann'schen Bezeichnung, Haemin, ist deshalb von so grosser Wich- tigkeit für die forensische Medicin, weil es bei weitem das beste und sicherste Mittel an die Hand gibt, um auf chemischem Wege Blutflecken von irgend welchen anderen Flecken zu unterscheiden. Wenn sich ein verdächtiger Fleck auf Kleidern, auf Wäsche befindet, so zieht man ein paar Fäden aus, an denen noch etwas von dem Blute sitzt, legt sie auf einen Objectträger , fügt ein ganz kleines Körnchen Kochsalz hinzu und bedeckt mit einem Deckglase. Dann bringt man Eisessig, acidum aceticum glaciale, so lange hinzu, bis der ganze Eaum zwischen Deck- glas und Objectivträger angefüllt ist, und erwärmt über der Spirituslampe bis der Eisessig siedet. Man geht hiebei am besten so zu Werke, dass man den Objectträger in eine hölzerne oder beinerne Zange fasst, und ihn stets nur kurze Zeit über der Flamme hält, dann zurückzieht, wieder über die Flamme bringt und so fort. Sobald Sieden eintritt, vollendet sich die Reaction. Man bringt nun das Ganze unter das Mikroskop und sieht, wenn Blut zugegen war, dann zahlreiche Krystalle, die bald grösser, bald kleiner ausgefallen sind, und deshalb bald nur eine schwächere, bald eine stärkere Vergrösserung verlangen. Bisweilen ist das Blut wenig ein- gedrungen, so dass an den herausgezogenen Fäden nur wenig Blut haftet; man thut dann besser, die oberflächlichste Schicht des Fleckes mit einem sehr scharfen Messer, das man nach Art einer Säge bewegt, abzuschälen. Wenn auf Holz, z. B. auf dem Stiele einer Axt, Blut eingetrocknet ist, Das üaeiuatin. 109 so schneidet man mit einem Messer ein ganz dünnes Stückchen, auf dem sich eben das Blut befindet, herunter und verfahrt damit so, wie man mit den ausgezogenen Fäden verfahren ist. Es ist dies Verfahren dem Abschaben des Blutes vorzuziehen, denn einerseits ist man weniger in Gefahr, Material zu verlieren, andererseits schafft das Spänchen einen grösseren Eaum zwischen Deckglas und Objectträger, der eine grössere Menge Eisessig aufnimmt und ihn ruhiger sieden lässt. Ist aber Blut in "Wäsche oder Kleidern, und sind schon Waschver- suche gemacht worden, dann hat man an einzelnen ausgezogenen Fäden nicht mehr Blut genug, dann muss man das betreffende Stück ausschneiden, mit wenig Wasser auslaugen, und dieses Wasser unter der Luftpumpe oder doch bei niederer Temperatur eintrocknen. Den Eückstand benützt man, um noch damit die Haeminkrystalle darzustellen. Struve empfiehlt den wässerigen, oder besser mit Jodkaliumlösung bereiteten Auszug mit Tannin und so viel Essigsäure zu versetzen, dass deutlich saure Eeaction ein- tritt. Der entstandene Niederschlag wird auf dem Filter gesammelt und gewaschen und dann zur Darstellung der Krystalle benützt. V. Schwarz zieht gleichfalls mit Jodkaliumlösung aus und fällt mit essigsaurem Zink. Fig. 18. ll _IU.lMuilll G Ist das Blut in Sand, Erde oder Torf infiltrirt, so zieht er mit kalt- gesättigter Boraxlösung aus und setzt so lange essigsaures Zink hinzu, als der entstehende Niederschlag noch gefärbt ist. Beistehend sieht man das Absorptionsspectrum des Haematins in saurer (Fig. 16, nach einer Lösung von Haematin in oxalsäurehaltigem Alkohol) und das Absorptionsspectrum des Haematins in alkalischer Lösung (Fig. 17). Wenn man eine Lösung von Cyankalium auf Blut- farbstoff einwirken lässt und später noch etwas Schwefelammonium hin- zufügt, so erhält man das reducirte Haematin von Stokes, dessen charakteristisches Absorptionsspectrum (Fig. f 8) in forensischen Fällen mit Nutzen aufgesucht wird. Wenn man vorher sein Sehfeld untersucht hat, wenn man weiss, dass nichts Aehnliches schon auf dem Objectträger war, so ist die Dar- stellung der Teichmann'schen Krystalle der allersicherste und unwider- leglichste Beweis, dass man es wirklich mit Blut zu thun habe. Es kommen aber Fälle vor, wo Blut in einiger Menge vorhanden sein kann, und doch die Darstellung der Teichmann'schen Krystalle nicht gelingt, so z. B. wenn Bhit auf eisernen Mordwerkzeugen einge- trocknet ist und sich mit dem Roste des Eisens verbunden hat. Es findet sich dies nicht selten da, wo der Mörder das Mordwerkzeug von sich warf und es dann der Feuchti2;keit der Luft und des Erdbodens ausse- IIU Das Haematin. setzt war. In solchen Fällen benützt man den Dichroismus des Blut- farbstoflPes in einer von Heinrich Rose angegebenen Weise. Man schabt den mit Eint gemischten Eisenrost ab, übergiesst ihn in einer Eprouvette mit verdünnter Kalilauge und kocht ihn. Wenn Blut dabei war, nimmt die Kalilauge das Haematin auf und bildet damit eine dichroitische Lösung, eine Lösung, die in dünnen Schichten grün, wie Galle aussieht, dagegen, wenn man durch dicke Schichten derselben nach einer Licht- quelle sieht, roth erscheint. Als Formel des Haematins wird von Hoppe-Seyler ^^34 ^34 ^4 0, Fe, angegeben, doch hält er selbst diese Formel noch nicht für ganz sichei% weil es zweifelhaft ist, ob man das Haematin überhaupt schon in voll- kommen reinem Zustande in Händen gehabt hat. Hoppe-Seyler und Kühne empfehlen, das Haematin aus dem krystallisirten Chlorhaematin darzustellen. Man kann dasselbe im Grossen auf verschiedenem Wege erhalten; zunächst dadurch, dass man möglichst frisch defibrinirtes Blut mit einer grossen Menge Kochsalzlösung versetzt, die man aus 1 Volum concentrirter Lösung und 10 Volumen Wasser bereitet hat. Die Blut- körperchen setzen sich zu Boden , und die Eiweisskörper bleiben in Lösung. Man giesst von den Blutkörperchen ab, um die grösste Menge der Eiweisskörper zu entfernen. Dann schüttelt man den breiigen Rück- stand mit Aether, um die Fette und andere in Aether lösliche Substanzen zu entfernen. Die wässerige Lösung, die man behält, nachdem man den Aether abgehoben hat, dunstet man ein und erwärmt dann langsam mit Eisessig. Es scheiden sich die Teichmann'schen Krystalle aus, und die ausgeschiedenen Krystalle rührt man mit Wasser an, um noch rückständige Eiweisskörper zu entfernen, kocht sie dann wieder mit Essigsäure aus, und dann kann man sie endlich nach einem Verfahren, das von Gwosdew angegeben worden ist, umkrystallisiren. Man löst die Krystalle in abso- lutem Alkohol, der mit gepulvertem kohlensaurem Kali unter öfterem Umschütteln eine Zeitlang gestanden hat, filtrirt, verdünnt mit dem gleichen Volum Wasser, säuert mit Essigsäure an, sammelt den ent- standenen Niederschlag auf dem Filtrum, mischt ihn feucht mit Eisessig und etwas Kochsalz, und erwärmt eine Zeitlang auf dem Wasserbade. Die gebildeten Krystalle werden dann mit Wasser ausgewaschen. Bei diesem Umkrystallisiren erhält man freilich ein Gemenge von Chlor- haematin und Haematin. Dies ist aber für den Zweck von keiner Be- deutung, weil man die Teichmann'schen Krystalle nur darstellen will, um nachher daraus Haematin zu gewinnen. Eine andere Art der Darstellung besteht darin, dass man in defibrinirtes Blut Potasche einträgt, bis sich ein Brei bildet, den man mit concentrirter Potaschenlösung auswäscht und dann trocknet. Man kocht mit Alkohol aus, filtrirt und fällt das Kali der alkoholischen Lösung mit Weinsäure im Ueberschuss aus. Man dampft auf ~ des Volums ein, lässt stehen, filtrirt und wäscht, presst ab und löst die gewonnene krystallinische Masse in kohlensaurem Ammoniak, verdampft zum Trock- nen und erhitzt bis zu 130**. Den Bückstand wäscht man mit siedendem Wasser aus. Ptührt die Farbe des Haematins vom Eisen her? Mulder hat schon das Haematin mit Schwefelsäure angerieben, hat dann Wasser zugesetzt Anderweitige Bestandtlieile des Blutes. 111 und gefunden, dass ein noch tiefgefärbter Körper herausfiel, der die Zusammensetzung von eiseufreiem Haematin zeigte; das Eisen war in Gestalt von schwefelsaurem Eisenoxydul in der Lösung enthalten. Dieser Versuch, der eine Zeitlang angezweifelt worden, gelang später wieder Seh er er, und in noch späterer Zeit hat Frey er noch auf andere Weise eisenfreies Haematin, und zwar krystallisirt dargestellt. Er nennt es Haematoin. Um es zu erhalten, schüttelt er entchlortes und entfettetes Blut mit Aether und wenig Eisessig, hebt die ätherische Lösung ab und lässt langsam über Aetzkali verdunsten. Ja Preyer ist sogar der Meinung, dass in sauren Lösungen überhaupt kein eisenhaltiges Haematin existire, sondern dass, sobald das Haematin in Lösung der Einwirkung einer Säure unterliege, sich die Säure mit dem Eisen verbinde, und das eisenfreie Haematin (Haematoin) für sich gelöst sei; wenn dagegen die Lösung alkalisch gemacht wird, verbindet es sich nach seiner Ansicht wiederum mit dem Eisen. Anderweitige Bestandtheile des Blutes. Wir haben noch von einigen Bestandtheilen des Blutes zu sprechen, welche darin in verhältnissmässig geringer Menge vorkommen, und die wir deshalb nicht in der ausführlichen Weise behandeln wie diejenigen Körper, von denen wir bisher gesprochen haben. Die meisten von ihnen werden wir bei anderen Gelegenheiten noch näher kennen lernen. Vor einer Reihe von Jahren stellte Liebreich einen krystallisirten Körper aus dem Gehirne dar, den er Protagon nannte, und nach nicht langer Zeit wurde dieses Protagon auch als in den Blutkörperchen vorkommend bezeichnet. Spätere Untersuchungen über das Protagon haben wieder Zweifel darüber erregt, ob es ein chemisches Individuum, oder ob es ein Gemenge sei. Diakonow und Strecker sind bei ihren Untersuchungen zu dem Resultate gekommen, dass dieses Protagon ein Gemenge aus Lecithin und Cerebrin sei. Das Cerebrin ist eine Substanz, die Fremy zuerst aus dem Gehirn darstellte und Acide cerebrique nannte. Das Lecithin war zuerst von Gobley aus dem Dotter des Hühnereies dar- gestellt worden. Es war, wie die späteren Untersuchungen gezeigt haben, anzusehen als saures glycerinphosphorsaures Neurin, in dem zwei Atome Wasserstoff der Glycerinphosphorsäure durch die Radicale von fetten Säuren, von Stearinsäure oder Oelsäure oder von beiden, ersetzt waren. Keurin wieder war eine Base, die sich als identisch erwiesen hat mit der früher unter dem Namen Cholin dargestellten Substanz. In neuerer Zeit aber sind Gamgee und Blankenhorn wieder für die Existenz des Protagons als chemisches Individuum eingetreten und haben Liebreich's Angaben bestätigt. Ihr Protagon war aber nicht aus Blut, sondern, wie das Liebreich's, aus Hirn dargestellt, so dass ihre Untersuchungen keinen directen Aufschluss über die fragliche Substanz im Blute geben. Es muss deshalb noch zweifelhaft bleiben, ob dieselbe in der That Pro- tagon, oder wie man, als an der Existenz des Protagons gezweifelt wurde, allgemein glaubte, Lecithin sei. Es kommt ferner im Blute Cholesterin vor, dann eine Reihe von Fetten, die man nicht näher kennt. Sie sind an und für sich nie unter- sucht worden, sondern nur das Menschenfett im Allgemeinen. Von ihm 112 Quantitative Zusaramensetzuug des Blutes. weiss man, dass es ein Gemenge von Glycerinfetteu ist, und von Heintz sind Stearinsäure, Palmitinsäure und Oelsäure als fette Säuren derselben aufgefunden worden. Ausserdem fand Lerch im Menschenfett Glyceride von flüchtigen fetten Säuren. Sie sind nach Ludw. Langer's in E. Ludw ig 's Laboratorium ausgeführten Untersuchungen im Fette neu- geborener Kinder in grösserer Menge enthalten, als in dem Fette Er- wachsener. Ersteres hat auch einen höheren Schmelzpunkt, weil es im Verhältniss zu den festen fetten Säuren, Stearin- und Palmitinsäure, weniger Oelsäure enthält. Die Blutfette erleiden auch, wie das Körper- fett überhaupt, Veränderungen je nach der Nahrung, wie man dies aus Versuchen an Thieren weiss. Man hat an Thiere Pette verfüttert, deren Säuren in ihrem Pette sonst nicht vorkamen, und diese fetten Säuren später aus dem abgelagerten Pette der getödteten Thiere wieder erhalten. Dann kommt in den Blutkörperchen wahrscheinlich fertig gebildet noch ein Eiweisskörper vor, über den man auch nichts Näheres weiss. Dann kommt Zucker im Blute vor, dann Harnstoff und andere Bestandtheile des Harns in geringer Menge, und eine Anzahl verschiedener Bestand- theile, die zum Theil mit der Nahrung, die eingenommen worden ist, wechseln. Ausserdem kommen anorganische Bestandtheile vor, Salze, deren Säuren und Basen wesentlich dieselben sind, wie sie im ganzen Körper verbreitet sind, Natron, Kali, Kalkerde, Magnesia, in geringer Menge auch Lithion und Mangan, angeblich auch Spuren von Kupfer und Blei, die aber nicht immer vorhanden zu sein scheinen. Vom Eisen ist die Hauptmasse Bestandtheil des Haemoglobins, aber auch das Plasma ist nicht frei davon. Die wichtigsten Säuren, welche vorkommen, sind die Kohlensäure, die Phosphorsäure, die Schwefelsäure, endlich Salzsäure, insofern als man die gelösten Chlorverbindungen im Blute als salzsaure Salze ansehen will; in demselben Sinne auch Spuren von Plusssäure. Unsere Kenntniss von den anorganischen Bestandtheilen des Blutes stammt zum grössten Theile aus Untersuchungen über die Blutasche, beziehungsweise die Serumasche. Man muss aber stets vor Augen haben, dass sich bei der Verbrennung neue Verbindungen bilden, und so die gleichnamigen bereits im Blute enthaltenen vermehren können. So bildet sich ausser Kohlensäure, die aber ganz oder grösstentheils ausgetrieben wird, Schwefelsäure und Phosphorsäure bei der Verbrennung des Eiweisses und des Lecithins, und durch die Verbrennung des Haemoglobins bildet, sich Eisenoxyd. Quantitative Zusanunensetzung des Blutes. Es kann sich nicht darum handeln, alle Bestandtheile des Blutes einzeln abzuscheiden und quantitativ zu bestimmen, es handelt sich immer nur darum, gewisse Hauptbestandtheile in ihren Mengen zu erken- nen. Es handelt sich darum, die relative Menge der Blutkörperchen, die relative Menge des Eiweisses, die relative Menge des Pibrins, welches aus- geschieden wird, die relative Menge des Wassers und endlich auch die relative Menge der Salze und der Pette zu erkennen. Pur uns ist es in Rücksicht auf die pathologische Zusammensetzung des Blutes am wichtig- sten, die relativen Verhältnisse von Blutkörperchen, von Pibrin, von Ei- weiss und von Wasser zu bestimmen. Das Pibrin wird, wie wir gesehen Quantitative Zusammensetzung des Blutes. 11. J haben, aus dem Blute durch Schlagen erhalten. Mau bedient sich dazu, wenn man quantitative Bestimmungen machen will, eines in einen Haken umgebogenen Platindrahtes oder eines in einen Haken umgebogenen Glas- stabes, weil man am reinlichsten damit arbeitet. Es wird angegeben, man solle das Fibrin auf dem Filtrum mit Wasser auswaschen. Das gelingt aber nur einigermassen gut in der kalten Jahreszeit; in der warmen Jahreszeit erleidet man, wenn man nicht auf Eis arbeitet, immer einen nicht unbeträchtlichen Verlust. Das Fibrin fängt an, sich zu zersetzen und wird dann im Wasser löslich. Wenn man das Waschwasser untersticht, so findet man, dass man niemals mit dem Auswaschen zu Ende kommt, man findet immer, dass Eiweiss vorhanden ist, welches zuletzt nicht mehr vom Blutserum herrührt, sondern von Eiweiss, das sich durch Wieder- auflösen des Fibrins gebildet hat. Man thut deshalb besser, das ganze Fibrin in ein feines, aber starkes und dichtes Tuch einzubinden, es mit diesem Tuche unter Wasser auszuwaschen und zuletzt vorsichtig auszu- kneten: dann kann man in einer Viertelstunde das ganze Fibrin gereinigt haben, so dass man weiter keine Zersetzung zu fürchten hat. Man sammelt es dann mit der Pincette sorgfältig und mit Zuhilfenahme einer Lupe von der inneren Oberfläche des Tuches ab, kocht es mit Alkohol und dann mit Aether aus, trocknet bei 110^, lässt im Trockenraume über Schwefelsäure erkalten und wägt rasch im bedeckten Gefäss. Es sind diese Vorsichtsmassregeln nothwendig, weil das trockene Fibrin vielleicht mehr noch als die anderen trockenen Eiweisskörper hygro- skopisch ist. Man kann das Fibrin auch dadurch bestimmen, dass man den in Stücke zerschnittenen Blutkuchen auswäscht. Dann erhält man etwas grössere Zahlen. Es beruht dies darauf, dass der Blutkuchen eine Menge farbloser und farbiger Blutkörperchen einscbliesst. Beim Auswaschen wäscht man zwar die löslichen Bestandtheile vollständig aus, aber das Stroma geht nicht oder nicht vollständig mit, so dass es hinterher mit dem Fibrin gewogen wird. Doch sind die hierdurch bedingten Unter- schiede sehr gering und können vernachlässigt werden gegenüber anderen unvermeidlichen Differenzen. Es war schon früheren Beobachtern auf- gefallen, dass, wenn man eine Blutportion in zwei Theile theilt, die eine Hälfte mitunter mehr Fibrin gibt als die andere. Man hatte darüber experimentirt, welche Einflüsse hier wirksam seien. Man glaubte, dass einerseits die Temperatur, anderseits die Bewegung oder Buhe des Blutes vor und während des Gerinnens einen entschiedenen Einfluss auf die Fibrinmenge übten. Vor einer längeren Reihe von Jahren hat Sigmund Mayer hier im Laboratorium diesen Gegenstand wieder auf- genommen. Es wurde, um das Blut zu nehmen, eine gabelig getheilte Röhre in das Blutgefäss eingebunden, und dann mittels dieser Röhre das Blut gleichzeitig in zwei verschiedenen Gefässen aufgefangen. Es musste also hier das Blut in beiden Gefässen gleich zusammengesetzt sein. Nichtsdestoweniger waren die Fibrinmengen, welche erhalten wurden, ungleich, und zwar traten Unterschiede auf, die ganz unmöglich aus Versuchsfehlern, aus Ungenauigkeiten herzuleiten waren. Das Merkwür- digste aber war, dass sich gar keine Ursache für diese Unterschiede auf- finden liess, dass manchmal Blutportionen, welche auf verschiedene Weise behandelt worden waren, von denen die eine in der Kälte gewesen, die Brücke. Vorlesungen I. 4. Aufl. 8 114: Quantitative Zusammensetzung des Blutes. andere auf 45*^ erwärmt, ziemlich gleiche Fibrinmengen gaben, und ein ander Mal wieder grosse Differenzen zeigten. So gab ein Versuch in dem gekühlten Blute 0,349 pCt. Fibrin, im erwärmten 0,351 pCt., während in einem andern ganz ähnlichen Versuche das gekühlte Blut 0,557 pCt. gab, das erwärmte 0,465 pCt. In einem Versuche ergahen geschlagenes und in Ruhe geronnenes Blut ganz gleiche Fibrinmengen, während in einem andern das geschlagene und wiederum in einem an- dern das in B,uhe geronnene Blut eine bedeutend grössere Fibrinmenge ergab. In ganz gleich behandelten Blutportionen zeigten sich Differenzen bis zu 0,045 pCt., so dass aus den zwanzig angestellten Versuchen nichts als die allgemeine Unsicherheit der Fibrinbestimmungen er- schlossen werden konnte. Ein anderer Bestandtheil des Blutes, der einer genauen Bestimmung kaum geringere Schwierigkeiten entgegensetzt, sind die Blutkörperchen. Die älteste Art, die Blutkörperchen zu bestimmen, besteht darin, dass man sie auf dem Filter sammelt und wägt. Das ist die Methode von Dumas, Man mischt das durch Schlagen defibrinirte Blut mit dem drei- fachen Volum einer concentrirten Lösung von schwefelsaurem Natron, dann verschrumpfen die Blutkörperehen. Das Blut wird dabei hellroth, weil die verschrumpften Körper von ihrer Oberfläche mehr Licht reflec- tiren, aber die Farbe ist nicht die des arteriellen Blutes, sondern mehr ziegelroth. Die unveränderten Blutkörperchen sind , wie wir früher gesehen haben, im hohen Grade schlüpfrig und haben im hohen Grade das Vermögen, ihre Form zu verändern. Sie gehen deshalb auch durch die Maschen des Filtrums hindurch. Wenn man frisches geschlagenes Blut auf das Filtrum bringt, so gelingt es niemals, das Serum abzufiltriren. Wenn die Blutkörperchen aber vorher in der erwähnten Weise zum Schrumpfen gebracht worden sind, dann haben sie eine gewisse Starrheit und Sprödigkeit und fangen sich in den Maschen des Filtrums. Anfangs geht das Serum röthlich durch, dann aber klärt es sich, iind man kann ziemlich alle Blutkörperchen auf dem Filtrum sammeln und mit einer Lösung von schwefelsaurem Natron auswaschen. Im Filtrat und der Waschflüssigkeit hat man dann das ganze Serumeiweiss und kann es mit Leichtigkeit durch Coagulation bestimmen. Die Blutkörperchen auf dem Filtrum sind aber dann mit der Lösung von schwefelsaurem Natron impräg- nirt ; diese muss man herauswaschen. So lange die Blutkörperchen selbst wieder aufquellen würden, so lange darf man nicht mit Wasser waschen. Man nimmt daher da,s Filtrum und taucht es in eine siedendheisse Lösung von schwefelsaurem Natron, oder coagulirt auf andere Weise durch Wärme auf dem Filtrum. Dann wäscht man mit Wasser das schwefelsaure Natron heraus. Ein anderes Verfahren besteht darin, dass man die Blutkörper, nachdem sie mit der Salzlösung gewaschen sind, mit destillirtem Wasser durchs Filtrum hindurchwäscht, die so erhaltene Lösung auf lOO'' erwärmt, filtrirt, und den Niederschlag mit Wasser auswäscht. Man bekommt nur die Substanzen, die sich mit Glaubersalzlösung nicht auswaschen lassen, und die schon unlöslich sind oder durch Erwärmen in den unlöslichen Zustand übergeführt werden. Absolute Zahlen kann man auf diesem Wege also nicht erhalten, wohl aber relative Zahlen, und auf diese kommt es zumeist an. Man will Blut von Individuen, die an verschiedenen Krankheiten leiden, untereinander und mit dem Blute gesunder Menschen vergleichen. Quantitative Zusammensetzung des Blutes. 1 lu Eine andere Methode der Bestimmung der Blutkörperchen hat Vierordt angegeben. Er schlägt vor, man solle die Blutkörperchen zählen. Es ist dies zwar etwas mühsam, aber in der That ausführbar. Vierordt nimmt ein capillares Glasröhrchen und saugt in dieses eine kleine Quantität Blut ein, so dass sich darin ein Säulchen von Blut be- findet. Die Länge des Säulchens misst er unter dem Mikroskope, und er misst auch den Durchmesser seines Röhrcheus; dann kennt er das Blut- volum, welches er im Röhrchen hat. Nun bläst er es auf ein Glas, welches mikrometrisch in Quadrate eingetheilt ist, zieht dann mit dem Röhrchen etwas Salz oder Zuckerlösung auf, und lässt die aufgezogene Flüssigkeit auf das Blut fallen, um so alle Blutkörperchen zu erhalten. Er zählt das Areal in Quadraten aus, über welches sich der Bluttropfen verbreitet, und zählt dann in einzelnen Quadraten probeweise die Menge der Blutkörperchen, die darin enthalten sind. Dann bringt er durch Multiplication die ganze Menge der Blutkörperchen näherungsweise heraus. Diese Methode hat unzweifelhaft den Vortheil, dass sie mit einer äusserst geringen Menge von Blut ausgeführt werden kann, mit einer Menge, die man von jedem gesunden oder kranken Menschen nehmen kann. Anderer- seits liegt aber eine Schwierigkeit darin, dass man eine kleine Quantität Blut nimmt, indem wenig Garantie vorhanden ist, dass die Blutkörper- chen in diesem Blute in derselben relativen Menge vorhanden sind, wie ica Gesammtblute. Weil man zum Zählen nur einer so kleinen Blutprobe bedarf, ist es namentlich für ärztliche Zwecke zur Feststellung der Diagnose und Prognose methodisch ausgebildet worden. Potain, Gowers und Malassez haben dazu beigetragen. Das Wesentliche besteht darin, eine kleine, genau gemessene Blutprobe mit einem grösseren Volum einer Flüssigkeit von etwas, aber nur wenig geringerem specifischen Gewicht als die Blutkörperchen, welche die letzteren conaervirt, gleichmässig zu mischen, dann von diesem Gemisch wiederum eine genau gemessene Probe zu nehmen und die darin enthaltenen Blutkörperchen zu zählen. Eigens hiezu angegebene Apparate sollen dazu dienen, dies in möglichst voll- kommener und zweckmässiger Weise auszuführen. In einem Kubikmilli- meter normalen Menschenblutes sind etwa fünf Millionen Blutkörperchen enthalten. Man hat auch versucht, die Blutkörperchen indirect durch Rechnung zu bestimmen. Dies ist aber nur dann möglich, wenn man weiss, wie viel feste Bestandtheile und wie viel Wasser in den Blutkörperchen ent- halten ist. Mit absoluter Genauigkeit kann man begreiflicher Weise das nicht wissen. Denn wenn das Serum verdünnt wird, so hat dies eine Rückwirkung auf die Blutkörperchen, sie müssen vom Serum Wasser an- ziehen, das Verhältniss der festen Theile muss ein geringeres werden; umgekehrt, wenn das Serum concentrirt wird, wird den Blutkörperchen Wasser entzogen, und die relative Menge der festen Theile wächst. Man hat aber doch durch eine Reihe von Versuchen die mittlere Menge der festen Bestandtheile zu bestimmen gesucht, und C. Schmidt ist zu dem Resultate gekommen, dass die Blutkörperchen aus einem Theile fester Sub- stanz und aus drei Theilen Wasser bestehen. Unter dieser Voraussetzung lässt sich die Menge der Bhitkörperchen indirect bestimmen. Man nimmt zwei Blutportionen, nicht nach einander, weil man dann Gefahr läuft, dass sie ungleich zusammengesetzt sind, sondern gleichzeitig, indem man 8* 116 Quantitative Znsammensetzung des Blutes. sie in einem Trichter, der einen gabelig getheilten Ausfluss hat, auffängt, und so in zwei verschiedene Gefässe leitet. Die beiden Blutportionen werden gewogen, und die eine wird geschlagen, um das Fibrin zu bestimmen. Die andere Portion bedeckt man und lässt sie ruhig stehen; sie gerinnt, und der Blutkuchen stösst eine Quantität Serum aus. Dann hebt man zunächst eine Portion möglichst reinen Serums ab, und trennt dann den Blutkuchen von dem noch übrigen Serum. Der Blutkuchen und die Serum- portion werden einzeln gewogen. Dann wird der Blutkuchen im Wasser- bade zum Trocknen eingedunstet und der Rückstand gewogen. Das gefun- dene Gewicht wird von dem des feuchten Blutkuchens abgezogen, um die Menge des verdunsteten Wassers zu finden. Ebenso ermittelt man das Gewicht der festen Bestandtheile und des Wassers in der Serumprobe. Man hat dann folgende Daten aus der einen Blutmenge (A): a) den Rück- stand des Blutkuchens, b) das Wasser desselben, c) Rückstand der Serum- probe, d) Wasser derselben. — Aus der andern Blutmenge (B) hat man das Fibrin bestimmt, und daraus kann man, da man die erste Blutportion A gewogen hat, und ebenso die Blutportion B, die Menge des Fibrins in A finden. Diese Menge soll / sein. Nun werden wir noch eine Hilfsgrösse g einführen. Dieses soll den Rückstand des Serums bedeuten, welches noch im Blutkuchen enthalten ist. Der trockene Rückstand des Blutkuchens a muss gleich sein der Menge des Fibrins /, vermehrt um den trockenen Rückstand des Serums, das im Blutkuchen enthalten ist, g, mehr dem trockenen Rückstand der Blutkörperchen, den wir eben suchen und daher mit X bezeichnen wollen, also ist (I) a=f-\-g-\-x. Die Grössen / und a sind bekannt, aber g nicht, es muss erst durch bekannte Grössen ausgedrückt werden, um x bestimmen zu können. Nun ist es klar, dass das Wasser in der Serumprobe sich zum Rückstande in der Serumprobe ebenso verhält, wie sich in dem Serum des Blut- kuchens das Wasser zixm Rückstande verhält. Dieses Wasser des Blut- kuchens ist aber gleich dem ganzen Wasser des Blutkuchens, vermindert um das Wasser, welches in den Blutkörperchen enthalten. Das ganze Wasser des Blutkuchens war b und das Wasser in den Blutkörperchen ist nach unserer Voraussetzung 3 x, da ja die Blutkörperchen aus einem Theile fester Substanz und drei Theilen Wasser bestehen sollen. Also ist das Wasser des Serums gleich b — 3 x. Ich habe demnach = " getrieben werden, wenn der Seitendruck grösser wäre, die Flüssigkeit müsste steigen, so lange, bis der Druck, den die gehobene Flüssigkeitssäule hier ausübt, dem Seitendruck das Gleich- gewicht hält. Wenn dagegen umgekehrt der Druck der Säule grösser wäre, müsste Flüssigkeit in die Eöhre zurückgehen und der Druck der Säule müsste so lange sinken, bis ihm wiederum der Seitendruck das Gleichgewicht hält. JN'un denken Sie sich aber, die Eöhre stünde nicht senkrecht, sondern sei geneigt in die Lage von c/; dann kommt nicht allein der Seitendruck in Betracht, sondern es ist noch eine Grösse zu berücksichtigen, welche der Hydrauliker mit dem Namen der Geschwin- digkeitshöhe bezeichnet. In den Flüssigkeitstheilchen, die in der Eich- tung der Eöhre fortgetrieben werden, ist ja lebendige Kraft thätig, die gleich ist ihrer Masse multiplicirt mit dem halben Quadrate ihrer Ge- schwindigkeit. Diese verbleibt ihnen, bis sie auf dem Wege der Eeibung oder durch geleistete äussere Arbeit verbraucht worden ist, einfach nach dem Gesetze, das man mit dem Namen des Trägheitsgesetzes zu be- zeichnen pflegt. Diese Propulsionskraft in der Eichtung a b muss ich mir nun zerlegen in zwei Componenten, von denen die eine auf der neuen Stromrichtung c/ senkrecht steht, und die andere der neuen Stromrichtung parallel liegt. Die auf cf senkrechte Componente wird unwirksam, die andere aber wirkt noch mit dazu, die Flüssigkeit in die Ludwig's Kymographion. lol Köhre c/ hineinzutreiben. Es wird also hier ein höherer Stand i er- reicht, als er durch den blossen Seitendruck erreicht worden wäre. Umgekehrt, wenn die Röhre die Lage g c gehabt hätte, so würde sich die Ge^chwindigkeitshöhe subtrahiren, man würde einen niedrigeren Stand Ic erhalten. Es ist also nothwendig, dass das Manometer so mit der Arterie verbunden sei, dass es senkrecht in die Wand derselben eingesetzt ist. Ludwig hat dies dadurch bewerkstelligt, dass er am Ende des Manometer- ansatzes zwei auf einander passende elliptische, und dabei nach der Krümmung der Arterienwand rinnenförmig gebogene Platten anbrachte, zwischen denen die Arterienwand eingeklemmt wurde, nachdem die eine Platte durch einen kurzen Schlitz in das Innere des Gefässes hinein- gebracht worden war. Später sind auch T-förmige Canülen benützt worden, deren Enden man auf verschiedene Weise mit denen der durch- schnittenen Arterien verband. Das Kymographion ist eines der wichtigsten Werkzeuge des experimentirenden Physiologen "geworden und hat seitdem mannigfache Veränderungen und Verbesserungen erfahren , die grösstentheils von Ludwig selbst herrühren. Eine Veränderung besteht darin, dass man die Bewegung des Uhrwerks auf die Trommel nicht direct, sondern mittelst einer Frictionsscheibe überträgt. Dies gibt die Möglichkeit, bei ein und demselben Gange des Uhrwerks verschiedene Umdrehungsgeschwindigkeiten für die Trommel zu erzielen. Den Gang des Uhrwerks regulirt man jetzt mittelst eines von Foucault erfundenen Centrifugalregulators. Eine weitere und wichtige Verbesserung besteht darin, dass man sich durch einen Markirungsapparat von jeder Ungleichheit in der Um- drehung des Uhrwerks unabhängig macht. Man hat in demselben zugleich ein Mittel, auch an Bruchstücken einer Umdrehung die Umdrehungs- geschwindigkeit zu messen. Mittelst eines Metronoms, oder eines durch ein Uhrwerk in Bewegung erhaltenen Pendels, wird ein electrischer Strom geöffnet und geschlossen. Beim jedesmaligen Schliessen wird ein Hufeisen von weichem Eisen magnetisch und zieht einen Anker an, der die Marken auf der Trommel aufschreibt. Indem man von diesen Marken Senkrechte gegen die Abscissenaxe der Versuchscurve zieht, kann man dann unmittelbar den Zeitwerth der Abscissen ablesen. Das Kymographion existirt auch noch in anderer Form. Seit man durch den Markirungsapparat von der gleichmässigen Umdrehungs- geschwindigkeit der Trommel unabhängig geworden ist, hat man an- gefangen, auf Papier ohne Ende zu schreiben, das passiv von einer Bolle abgewickelt wird. Das Uhrwerk treibt hier zwei andere Rollen, durch welche das Abwickeln besorgt wird. Ein solches Instrument hat den Vortheil, dass man mit ihm sehr lange Curven zeichnen und also ein und denselben Versuch lange Zeit ohne Unterbrechung fortsetzen kann. So studirt man den Einfluss von Reizungen der Nerven auf den Blutdruck, die Wirkung von Giften u. s. w. Mittelst des Kymographions hat Ludwig nun zunächst folgende Punkte festgestellt. Erstens: Der mittlere Druck in den Arterien nimmt laugsam von den grossen Arterien gegen die Capillaren hin, dann beim Uebergange aus den Capillargefässen in die Venen plötzlich ab. Er wird auch dann 152 Ludwigs's Kymograpliion. noch immer, wenn auch langsam, geringer, je mehr man sich dem Herzen nähert. Der Grund dafür ist folgender: Denken Sie sich eine horizontal liegende Röhre, die von der einen Seite her durch ein hohes Standgefäss mit Wasser gespeist wird, und aus der dasselbe am aaderen Ende frei ausfliessen kann. Denken Sie sich ferner in diese Röhre von Stelle zu Stelle senkrechte Röhren eiugepasst, so wird in diesen das Wasser um so höher steigen, je höher der Seitendruck ist. Das Gewicht der gehobenen Wassersäule ist eben dem Seitendrucke auf ihre Basis gleich. Während nun das Wasser am Ende ausfliesst, wird der Stand in den Steigröhren verschieden hoch sein. Das rührt daher, dass der Stand der Flüssigkeit und somit auch der Seitendruck abhängt einerseits von der vis a tergo, das heisst von dem Drucke, der die Flüssigkeit treibt, und andererseits von dem Widerstände, der noch zu überwinden ist. Denken Sie sich unmittelbar am Ende eine Steigröhre aufgesetzt, so wird in dieser das Wasser nicht aufsteigen können, weil es sich ja gegen den Ort des geringeren Widerstandes bewegen und somit unmittelbar ausfliessen würde. Entfernen wir uns aber von der AusflussöfFnung, so hat das Wasser, um auszufliessen, noch einen Widerstand zu überwinden, der durch die Reibung in dem sich von dort bis zur Ausflussöffnung er- streckenden Röhrenstücke repräsentirt wird. Es wird hier das Wasser so lange in die Steigröhre steigen, bis die Theilchen desselben nicht mehr leichter in dieselbe hineingehoben als in der horizontalen Röhre fortgetrieben werden. Je weiter wir uns von der Ausflussöffnung entfernen, um so grösser wird also, bei gleicher Druckhöhe in dem speisenden Standgefässe, der Seitendruck. Dieselbe Betrachtung lässt sich unmittelbar auf den Kreislauf an- wenden. Wenn das Blut aus dem Herzen kommt, so hat es noch den Widerstand des ganzen Gefässsystems zu überwinden; es wird also im grossen Kreislauf an der Wurzel der Aorta und im kleinen Kreislauf an der Wurzel der A. pulmonalis der Druck am grössten sein. Je mehr das Blut in dem Arteriensystem fortschreitet, um so weniger Widerstände bleiben ihm zu überwinden übrig, und folglich wird der Seitendruck sinken. Da aber die grossen Arterien verhältnissmässig weite Röhren sind, so wird in ihnen kein grosser Widerstand überwunden, also der Druck sinkt nur langsam. In den kleineren Arterien wird schon ein grösserer Widerstand überwunden und endlich der grösste des ganzen Gefässsystems in den Capillargefässen. Deshalb das plötzliche Abfallen des Druckes, wenn man aus dem Arteriensystem in das Venensystem übergeht. Im Venensystem findet auch noch eine weitere Abnahme des Druckes statt, weil immer weniger Widerstand zu überwinden übrig bleibt, je mehr man sich dem Herzen nähert. Zweitens: Es existiren zweierlei Arten von Druckschwankungen, von denen die einen mit den Herzschlägen isochron sind, die anderen mit den Respirationsbewegungen. Die Curven, welche das Kymographion zeichnet, bilden also Wellen, deren Linie wiederum kleinere, kürzere Wellen darstellt. Die grossen Wellen entsprechen den Respirations- bewegungen, die kleinen dem Pulse. Bestimmung des mittleren Druckes. löo Drittens: Die Schwankungen nehmen von der Aorta an gegen die kleineren Arterien fortwährend ab und beim Uebergange in das Venen- system sind sie verschwunden. Natürlich kann man sie mit dem Kymo- graphion nicht bis in die kleinsten Arterien verfolgen, sondern immer nur bis in die Arterien Von mittlerem Kaliber, Unter dem Mikroskope aber kann man sie auch bis in die mikroskopischen Arterien hinein ver- folgen, und wir werden später sehen, dass man sich selbst mit blossem Auge am lebenden Menschen überzeugen kann, dass diese Schwankungen noch bis in die Capillaren hineingehen, dass mit jedem Pulsschlag noch die Capillaren stärker gespeist werden. Dass die kleinen Schwankungen immer mehr abnehmen, je mehr man sich von der Wurzel der Aorta gegen die kleinen Arterien hin bewegt, hängt, wie wir schon früher gesehen haben, mit der Elasticität der Arterien zusammen. Bei den Säugethieren und beim Menschen, die keinen Bulbus arteriosus haben, kann von der Wurzel der Aorta nur eine verhältnissmässig kleine Menge von bewegender Kraft während der Systole aufgespeichert werden, um während der Diastole wieder dienst- bar zu sein. Hier werden also die Schwankungen am grössten sein, der Druck wird während der Systole am höchsten getrieben und sinkt während der Diastole verhältnissmässig tief. Je mehr man im Arterien- system fortschreitet, je grösser also das Stück vom Arterienrohre ist, welches man hinter sich hat, um so grösser ist die Summe der lebendigen Kräfte, welche während der Systole aufgespeichert wnirden, und um so grösser ist die Summe der elastischen Kräfte, welche während der Diastole wieder frei werden, um so mehr muss die Differenz der während der Systole und der Diastole erfolgenden Impulse abnehmen. Weniger einfach ist die Sache in Kücksicht auf die Schwankungen, welche mit den Respirationsbewegungen isochron sind. Wir werden später wieder auf sie zurückkommen. Bestimmungen des mittleren Druckes. Es fragt sich nun weiter, wie man den mittleren Druck im Arteriensysteme bestimmt, da das Kymographion ja nur die höchsten und die tiefsten Punkte und das Auf- und Absteigen des Druckes angibt. Um den mittleren Druck zu bestimmen, muss man von einem bestimmten Punkte der Wellenlinie ausgehen, hier eine Ordinate errichten, dann muss man, nachdem man nach 1. 2, 3, 4 . . . ganzen Wellen bei einem correspondirenden Punkte (Avenn man von einem Maximum aus- gegangen ist, bei einem Maximum, wenn man von einem Minimum aus- gegangen ist, bei einem Minimum) angekommen, die zweite Ordinate errichten; hierauf das Areal einer Figur bestimmen, welche diese beiden Ordinaten und das dazwischenliegende Cnrvenstück über der Abscissenaxe begrenzen. Wenn man dieses Areal ermittelt hat, hat man es in ein Recht- eck zu verwandeln, dessen Grundlinie das zwischen den beiden Ordinaten abgegrenzte Stück der Abscissenaxe ist. Die Höhe dieses Rechtecks ist dann der halbe mittlere Quecksilberdruck, der halbe, nicht der ganze, weil die Druckhöhen proportional sind der Differenz des Quecksilber- niveaus in den beiden Manometerschenkeln, die Ordinaten aber stets gleich der Erhebung in dem einen Schenkel, also gleich der halben Differenz. lö-i Bestiramung des mittleren Druckes. Wenn man sich auf der Kymographiontrommcl eines in viele kleine gleich grosse Quadrate getheilten Papieres bedient, so kann man die Grösse des Areals annähernd auszählen nach der Anzahl der Quadrate, die auf dasselbe entfallen. Ein anderes Verfahren ist von Volkmann angewendet worden. Schon die praktischen Geometer des vorigen Jahr- hunderts, wahrscheinlich schon die früherer Zeiten, ermittelten Areale, die sich nicht ohne weiteres berechnen Hessen, dadurch, dass sie sie in Stanniol ausschnitten und das Stück auf der Wage abwogen. Anderer- seits wogen sie so und so viel Quadratzoll desselben Stanniols ab und wussten nun, wie viel das Areal, das sie in Stanniol ausgeschnitten hatten, in Quadratzollen betrug. Dasselbe Verfahren hat Alexander von Humboldt angewendet, um die Menge von Wasser und Land zu bestimmen, die es auf der Erdoberfläche gibt. Er nahm Globenkarten, Karten, mit denen die grossen Erdgloben beklebt werden, schnitt an denselben alles überflüssige Papier ab, und trennte dann, immer an der Küste entlang schneidend, Wasser und Land mit der Scheere, wog das jedem von beiden zukommende Papier ab und ermittelte so ihr Verhält- niss. Ganz ähnlich machte es nun auch Volkmann bei seinen Ver- suchen über den Blutdruck. Er bediente sich immer desselben Papiers und wog die Stücke, deren Area ermittelt werden sollte. Jetzt bedient man sich dazu allgemein des Planimeters. Das erste und noch immer das beste wurde von Weltli erfunden. Es ist dies ein höchst sinnreiches Instrument, welches auf mechanischem Wege integrirt. Ich kann hier nicht näher auf die Construction und die Theorie des- selben eingehen. Es ist in Dinglers polytechnischem Journal und in den Sitzungsberichten unserer Akademie vom Jahre 1850 beschrieben und abgebildet. Ich will hier nur bemerken, dass man mit einem Stift sich langsam an den Grenzen der zu ermittelnden Area entlang bewegt und dann schliesslich an dem Instrumente einfach die Grösse der Area abliest, wenn man wieder an dem Punkte angekommen ist, von dem man ursprünglich ausging. Auf diese Art sind nun die Mittelzahlen für den Seitendruck in den Arterien ermittelt worden. Dieselben sind, je nach den verschiedenen Umständen und je nach der Verschiedenheit des Individuums, grossen Schwankungen unterworfen. Die Zahlen, die ich ihnen hier aus Ludwigs Physiologie mittheile, dienen deshalb auch nur dazu, etwaige Drucke, wie sie im normalen Zustande in Arterien von mittlerem Durchmesser vor- kommen können, anzugeben: beim Pferde 321 — 110 Millimeter Quecksilber, beim Schafe 206 — 98 „ „ beim Hunde 172—88 bei der Katze 150 — 71 „ „ beim Kaninchen 90 — 50 ,, „ Wenn Sie diese Zahlen ansehen, so werden Sie bemerken, dass im Allgemeinen mit der Grösse des Thieres auch die Grösse des Druckes abnimmt, aber keineswegs im Verhältniss zur Grösse des Thieres, sondern viel langsamer. Sie müssen eben bedenken, dass hier nicht der Druck gemessen wird, der auf die Wand einer ganzen Carotis vom Pferde, vom Schafe u. s. w. ausgeübt wird, sondern der Druck, welcher auf die Einheit des Areals ausgeübt wird, und dass eben der Querschnitt und Das Bourdon-Fick'sclie Kymographion. 155 mithin auch die innere Oberfläche der Carotis beim Pferde viel grösser ist als beim Hunde, bei der Katze u. s. w., so dass der Unterschied des Gesammtdruckes viel bedeutender ausfällt, als ihn diese Zahlen auf den ersten Anblick zeigen. Das Boiirdon-Fiek'sclie Kymograpliion. Das Instrument, das wir bisher besprochen haben, das Kymographion mit dem offenen Quecksilbermanometer, ist besonders geeignet, um die Mitteldrucke anzugeben und um die grossen und kleinen Schwankungen als solche erkennen zu lassen. Die grossen Schwankungen erkennt man auch im Wesentlichen richtig in ilwer Gestalt, die kleinen dagegen er- leiden eine Formveränderung, weil die Quecksilbermasse in dem Manometer ein zu bedeutendes Trägheitsmoment hat. Durch die periodischen Stösse, welche das Quecksilber bekommt, geräth es in pendelartige Schwingungen und gleicht deshalb die kleinen Ungleichheiten und Eigenthümlichkeiten in der Gestalt der Pulswellen aus. Die einzelnen Wellen werden einander ähnlicher, indem die Feinheiten im Aufsteigen und Abfallen verloren gehen. Um dem zu begegnen, hat Fick für unsere Zwecke statt des offenen Quecksilbermanometers das Bourdon'sche Federmanometer an- gewendet. Denken Sie sich eine Eöhre aus dünngeschlagenem Messing, deren Querschnitt ein Kreisabschnitt ist, und die dabei der Länge nach kreisförmig zusammengebogen und an einem Ende mit einem cylindrischen Ansatzstücke versehen ist. Wenn durch dieses eine Flüssigkeit hinein- getrieben wird, so v/ächst der Krümmungshalbmesser der Röhre mit wach- sendem Drucke und nimmt ab mit abnehmendem Drucke. Fick versieht das freie Ende mit einem sehr leichten Hebelapparat und lässt das Manometer mit dessen Hilfe auf der Kymographiontrommel schreiben. Graduirt wird das Instrument vorher auf empirischem Wege, indem man die Drucke, denen man es aussetzt, mittelst des offenen Quecksilber- manometers bestimmt. Das Graduiren ist öfters zu wiederholen, da wegen der unvollkommenen Elasticität des Metalls das Instrument durch den Gebrauch gedehnt wird und die Werthe seiner Anzeigen ändert. Fick findet mit seinem Instrumente, dass bei den Pulsschlägen der Druck in den Arterien in der Regel mit grosser Geschwindigkeit zu seiner ganzen Höhe ansteigt, dann im Bogen wieder abfällt, dann wiederum rasch zu seiner ganzen Höhe ansteigt, im Bogen wieder abfällt u. s. w. Man muss indessen gestehen, dass für unsere Zwecke auch dieses Mano- meter nicht ganz vorwurfsfrei ist, indem durch den Druck hier Spann- kraft aufgespeichert wird, und diese Spannkraft, wenn der Druck nach- lässt, wieder in lebendige Kraft umgewandelt wird, indem das Manometer in seine alte Gleichgewichtsfigur zurückzugehen sucht. Die elastischen Kräfte, vermöge welcher dies geschieht, summiren sich in ihrer Wirkung und fälschen dadurch einigermassen die Figur der Curve. Wir werden aber später sehen, dass uns auch anderweitige Beobachtungen, welche am Pulse des lebenden Menschen gemacht sind, darauf führen, dass in der That bei der Systole des Herzens der Druck im Allgemeinen rasch an- steigt, und dass er, wenn auch nicht gerade in der von Fick gezeich- neten Curve, doch langsamer wieder abfällt. 156 Der Puls. Für Untersuchungen derselben Art hat Fick in neuerer Zeit noch ein anderes Instrument angegeben. Hier spannt und hebt der Luftdruck eine Kautschuklamelle, die mittelst eines auf ihr befestigten Elfenbein- knopfes auf eine Feder drückt, die ihrerseits wieder die Schreibvorrich- tung bewegt. Der Puls. Wir sind hier darauf geführt, die kleinen Druckschwankungen im Arteriensystem, die synchronisch sind mit den Contractionen des Herzens, am lebenden Menschen zu untersuchen. Wenn das Blut in die Arterien einströmt, so muss es sich in denselben Eaum schaffen, es miiss die Arterien erweitern. Dies thut es, indem es sie erstens der Dicke nach ausdehnt und zweitens der Länge nach. jS'un sind die Arterien an verschiedenen Stellen ihres Verlaufes ungleich befestigt, sie verlaufen dabei im Allgemeinen nicht ganz gerad- linig, sondern in Schwingungen. An denjenigen Stellen also, wo sie weniger befestigt sind, biegen sie sich bei ihrer Verlängerung aus, sie machen eine Bewegung. Wenn wir deshalb auf eine oberflächlich liegende Arterie, z. B. auf die A. radialis den Finger legen, so fühlen wir ver- möge dieser Bewegung die Arterie gegen den Finger anschlagen, und diesen Schlag nennen wir den Pulsschlag. Aus dem Pulse erfahren wir zunächst die Häufigkeit der Contractionen des Herzens. Wir unterscheiden deshalb einen pulsus frequens und einen pulsus rarus, je nach der Anzahl von Schlägen, welche wir in der Minute zählen. Wir finden auf diese Weise, dass die Häufigkeit der Herzcontractionen mit den Lebens- jahren abnimmt. Die mittlere Zahl der Pulsschläge ist: im 1. Lebensjahre 120 im 2. 100 im 3. 95 im 3.-6. 90- -85 im 6.— 10. 85- -80 im 10.-20. 80- -70 im 20.-50. 75- -60 im Greisenalter 60- -45. Man hat gefunden, dass kleine, kurze Leute im Allgemeinen eine etwas grössere Pulsfrequenz haben als langgewachsene, und hat dies mit der Länge der Blutbahnen in Verbindung gebracht. Die Pulsfrequenz ist aber nicht zu allen Zeiten und unter allen Umständen dieselbe. Abgesehen von den grossen Veränderungen, welche die Pulsfrequenz in Krankheiten erleidet, wird sie durch die körperliche Bewegung gesteigert. Anhaltende und anstrengende Muskelcontractionen vermehren die Pulsfrequenz bedeutend. Zweitens wird die Pulsfrequenz bei vielen Menschen schon durch die Nahrungseinnahme vermehrt, bei allen durch gewisse aufregende und reizende Substanzen, auf die wir hier nicht näher einzugehen haben. Es existirt ferner eine tägliche Periode, in der die Pulsfrequenz abnimmt und zunimmt. Die Curve der absteigenden und die der ansteigenden Pulsfrequenz ist im Allgemeinen der der absteigenden und der der ansteigenden Temperatur ähnlich, nur treten die Maxima und Minima der Pulsfrequenz immer früher ein als Der Puls. 157 die Maxima und Minima der Temperatur. Die Pulsfrequenz ist anscheinend auch abhängig von der Lage des Körpers, indem der Mensch beim Stehen mehr Pulsschläge hat als beim Sitzen und beim Sitzen mehr als beim. Liegen. Man hat einen Menschen auf ein Brett gebunden und hat dieses Brett nach und nach aufgerichtet und gefunden, dass mit dem Aufrichten des Brettes, je mehr der Mann in die senkrechte Lage kam, um so mehr sich auch die Pulsfrequenz steigerte , und wiederum gradatim abnahm, wenn das Brett horizontal gelegt wurde. Man kann dies aber wohl nicht als einen reinen Einfluss der Lage des Körpers auffassen, man muss es auch mit der Muskelanstrengung in Zusammenhang bringen, die am geringsten ist beim Liegen, welche grösser ist beim Sitzen und welche am grössten ist beim Stehen, Der Puls mancher Menschen ist ausserordentlich empfindlich gegen Muskelanstrengung, namentlich der Puls von Reconvalescenten , insonderheit von Typhusreconvalescenten. Es ist bekannt, dass bei Typhusreconvalescenten, wenn sie sich im Bette aufrichten, manchmal in Eolge davon eine so auffällige Steigerung der Pulsfrequenz eintritt, dass es für die oberflächliche Betrachtung aussieht, als ob sie wieder fieberten. Ausser der Frequenz unterscheiden wir die Grösse des Pulses. Mit dem Namen der Grösse des Pulses bezeichnen wir die Grösse der Loco- motion, welche die Arterie unter unserem Finger macht, beziehungs- weise, wenn sie an der bezüglichen Stelle weniger beweglich ist, die Grösse, um welche ihre Wand vorrückt. Die Grösse der Locomotion muss abhängig sein von der Grösse der Ausdehnung, welche sie erleidet, und diese muss wiederum von der Blutmenge abhängig sein, welche durch eine Herzsystole in das Arteriensystem hineingeworfen wird. Wenn wir also von der Grösse des Pulses sprechen, so sprechen wir von der Menge des Blutes, welches durch eine Herzsystole in das Arteriensystem hinein- geworfen wird. Es sind aber hier nur Daten vergleichbar, die zu ver- schiedenen, nicht zu weit, das heisst nicht etwa um Jahre, auseinander liegenden Zeiten an einem und demselben Individuum gewonnen wurden. Im Alter vergrössert sich nicht selten der Puls, ohne dass deshalb die Blutmenge, die bei jeder Herzsystole ausgeworfen wird, grösser geworden wäre. Es rührt dies daher, dass die grossen Arterien, die Aorta und ihre primitiven Aeste, ihre Nachgiebigkeit theilweise verloren haben. Wir unterscheiden drittens die Schnelligkeit, celeritas, des Pulses. Pulsus celer und pulsus tardus sind nicht zu verwechseln mit pulsus frequens und pulsus rarus. Die Bezeichnungen frequens und rarus beziehen sich auf die Anzahl der Locomotionen in der Minute, die Bezeichiiungen celer und tardus aber auf die Geschwindigkeit, mit der die Locomotion ausgeführt wird. Wenn ich die Arterie plötzlich und geschwind gegen meinen Finger anschlagen fühle, so nenne ich dies einen pulsus celer, wenn sie sich aber langsam bewegt, gewissermassen unter meinem Finger anschwillt, so nenne ich das einen pulsiis tardiis. Es liegt auf der Hand, dass die Geschwindigkeit der fortschreitenden Bewegung der Arterie abhängig sein muss von der Geschwindigkeit, mit der das Blut in die Arterien hineingetrieben wird, und diese wieder von der Geschwindigkeit, mit der sich der Ventrikel zusammenzieht. In der Celerität des Pulses beurtheilen wir also zunächst die Geschwindig- keit der Herzcontraction. 158 Der Puls. Es wird aber die Bezeichnung celer tind tardus nicht nur auf die fortschreitende, sondern auf die ganze, also auch auf die rückgängige Bewegung der Arterie bezogen, auf die Schnelligkeit oder Langsamkeit, mit der die Arterie ihre rückgängige Bewegung antritt. Doch diese hängt wiederum ab von der Geschwindigkeit, mit der sich der Ventrikel zu- sammenzieht. Zieht sich der Ventrikel rasch zusammen, so wird während seiner Contraction der Abfluss aus den Arterien in die Venen noch nicht merklich vermehrt, es wird rasch das Maximum der Ausdehnung der Arterien erreicht und fällt mit dem Aufhören der Contraction ebenso plötzlich wieder ab. Zieht sich aber der Ventrilcel langsam zusammen, so tritt gegen das Ende der Contraction, wenn die Blutmenge, welche er in der Zeiteinheit auswirft, schon abnimmt, ein Stadium ein, in welchem ebensoviel Blut aus den Arterien abfliesst, wie er hineintreibt. Indem also die Arterien weder ausgedehnt werden noch zusammenfallen, wird das für den pulsus tardus charakteristische Ruhen der Arterie am tastenden Finger hervorgebracht. Endlich unterscheiden wir noch die Härte des Pulses. Wenn wir die Härte des Pulses bemessen wollen, legen wir zwei Finger auf die A. radialis und drücken mit dem stromaufwärtsliegenden Finger so lange, bis der stromabwärtsliegende keine Pulsation mehr fühlt. Aus der Stärke des Druckes, den wir hiezu anwenden müssen, beurtheilen wir die Härte des Pulses. Die Stärke dieses Druckes aber ist abhängig von dem Seiten- drucke des Blutes, und zwar von dem Maximum des Seitendruckes. Wir messen also in der Härte des Pulses die Maxima des Seitendruckes in der A. radialis. Wenn dieser Seitendruck auf sehr hohe Maxima steigt, dann sagen wir, der Puls sei hart, wenn nur kleine Maxima erreicht werden, dann sagen wir, der Puls sei weich. Die Höhe des Druckes, welche erreicht wird, hängt, wie wir früher gesehen haben, wiederum ab von der Grösse der Triebkraft, welche das Herz aufbringt, und von der Grösse des Widerstandes, welcher zu überwinden ist. An die Stelle des drückenden Fingers hat S. v. Basch eine druckmessende Vorrichtung gesetzt. Sie besteht in einem Wassergefäss, das durch eine kleine Oeffnung mit einer Quecksilberbirne communicirt, in welche ein Steigrohr so ein- gesetzt ist, dass beide miteinander ein Manometer bilden, welches den Druck angibt, unter den das Wasser gesetzt wird. Das Wasser ist nach unten durch einen weichen Verschluss von Kautschuk und Seidenstoff abgeschlossen. Drückt man es mit demselben auf die A. radialis, so muss im Augenblicke des Wegdrückens des Pulses der Druck, unter dem das Wasser steht, den Blutdruck in der Arterie eben überschreiten, und diesen Druck gibt die Differenz der beiden Quecksilberstände an. Dieses Instrument, das Sphygmomanometer, wird in der Praxis benützt, um den Blutdruck am Menschen zu bestimmen. Um es handlicher zu machen, bedient sich v. Basch statt des Quecksilbermanometers jetzt einer Kapsel, wie sie zur Anfertigung der Aneroide dient. Diese wird mit Wasser gefüllt und durch einen Schlauch mit dem Gefässe verbunden, das auf die Radialis gesetzt wird. Das Zifferblatt ist so getheilt, dass der Zeiger den Druck in Centimetern Quecksilber angibt. In dem Bisherigen habe ich die einfachen, die Grundqualitäten des Pulses aufgezählt. Wir unterscheiden ausserdem noch eine Reihe zu- sammengesetzter Qualitäten. Wir unterscheiden z. B. einen pulsus fortis, Der Puls. 159 das ist nichts anderes als ein puLsus magnus et durus, einen pulsus debilis, der nichts anderes ist als ein pulsus parvus et mollis, einen puLsiis undosus, das ist ein pulsus magnus et mollis, und einen pulsus contractus, das ist ein pulsus parvus et durus. Man hat weiter einen pulsus vermicularis unterschieden, einen Puls, der klein und dabei sehr frequent ist; dann unterschied man einen pulsus plenus und einen pulsus inanis, gleichsam als ob man mit dem aufgelegten Finger den FüUungs- grad der Arterie direct messen könnte. Ein pulsus plenus ist aber im Grunde nichts anderes als ein pulsus fortis, als ein pulsus magnus et durus; wenn man einen Unterschied zwischen beiden machen will, so kann man sagen, dass beim pulsus fortis mehr Werth auf die Härte, beim pulsus plenus dagegen mehr Werth auf die Grösse des Pulses gelegt wird. Ebenso ist der pulsus inanis wiederum nichts anderes als ein pulsus debilis, das heisst ein pulsus parvus et mollis: man kann nur wiederum sagen, dass beim pulsus debilis mehr Werth auf die Weichheit, beim pulsus inanis mehr Werth auf die Kleinheit des Pulses gelegt wird. Man hat ferner einen pulsus serratus unterschieden; das ist ein pulsus fortis et celer, dessen bildliche Bezeichnung von dem Bilde der Zacken einer Säge herrührt; es erfolgt der Pulsschlag kräftig und dabei plötzlich, mit ge- schwinder Locomotion gegen den Finger, als ob die Zähne einer Säge unter dem Finger weggezogen würden. Mit dem Namen des pulsus vibrans hat man einen pulsus fortissimus, einen sehr grossen und harten Puls bezeichnet, bei dem man mit jedem Schlage eine vibrirende Bewegung unter dem Finger zu fühlen scheint. Die elastischen Kräfte, welche in einer Arterie aufgespeichert werden, wenn sie durch die hineintreteude Blutwelle ausgedehnt wird, sind abhängig von der Grösse der Ausweichung der Arterienwand aus ihrer Gleichgewichtslage und von dem Grade der Spannung, welcher in der Arterie erzeugt wird, also von der Grösse und von der Härte des Pulses. Für gewöhnlich geht nun eine Arterie in ihre Gleichgewichtslage zurück, ohne noch fühlbare Schwingungen um dieselbe zu machen; wenn Sie aber denken, dass die Spannung sich sehr hoch steigert, und die Locomotion sehr bedeutend ist, so ist die Summe der elastischen Kräfte auch eine grössere, und in Folge davon kann die Arterie kleine vibrirende Bewegungen um ihre Gleichgewichtslage machen, und diese sind es, welche zu der Benennung des pulsus vibrans Ver- anlassung gegeben haben. Man unterscheidet ferner einen pulsus dicrotas, der aus zwei Schlägen besteht, von denen der erste stärker ist als der zweite. Er kann darauf beruhen, dass die einzelnen Herzcontractionen discontinuirlich sind. Wir werden aber später sehen, dass wenigstens in einem Theile des Arteriensystems auch ein normaler, ein physiologischer pulsus dicrotus existirt, indem wirklich das Blut in Folge jeder einzelnen, auch regelmässigen Contraction zwei Impulse hintereinander bekommt. Von dem pulsus dicrotus hat man einen anderen Doppelschlag unter- schieden, bei dem der zweite Schlag stärker ist, und diesen hat man mit dem Namen des pulsus capricans bezeichnet. Ausserdem hat man noch einen pulsus myurus, einen mäuseschwanzähnlichen Puls, unterschieden, der mit einem grossen Schlage anfangend in eine Reihe von immer kleiner werdenden Schlägen ausläuft, bis wieder eine kräftige Herzcon- traction kommt, der wieder schwächere und schwächere folgen u. s. w. Einen Puls, in dessen Intervallen sich keine strenge Regel mässigkeit 160 Die Spliygmograplien. kein Ehythmus auffinden lässt, bezeichnet man als pulsus irregularis. Gewöhnlich sind hier auch die einzelnen Schläge ungleich stark, indem meistens auf eine längere Pause eine kräftigere Herzcontraction folgt. Einen Puls, der an einer Arterie mehr oder weniger Schläge zeigt als an einer anderen, bezeichnet man als pulsus differens. Die Angaben über den pulsus differens sind im Allgemeinen alt. In neuerer Zeit, da man mehr Einsicht in das Wesen des Pulses bekommen hat, kommt auch dieser pulsus diiferens nicht mehr zur Beobachtung. Zu Täuschungen kann Ver- anlassung geben ein nicht nur in Rücksicht auf den Rhythmus, sondern auch in Rücksicht auf die Grösse unregelmässiger Puls. Es kann ge- schehen, dass man die schwächeren Schläge an einer Arterie noch fühlt, an einer andern nicht. Einige Angaben über den pulsus differens be- ziehen sich darauf, dass an einer Arterie doppelt so viel Schläge zu fühlen gewesen seien, als an einer anderen. Offenbar hat man es mit einem Zustande zu thun gehabt, in dem jeder zweite Herzschlag stärker war, und deshalb an einzelnen Arterien noch alle Herzschläge zu fühlen waren, an anderen Arterien dagegen nur noch jeder zweite. Endlich unterscheidet man die Asphyxie, die Pulslosigkeit, das heisst den Mangel eines fühlbaren Pulses. Ich muss Sie aber darauf aufmerksam machen, dass die Pulslosigkeit keineswegs ein Zeichen ist, dass das Herz sich nicht mehr contrahire, sondern dass es nur ein Zeichen ist, dass ent- weder ein locales Hinderniss vorhanden sei, welches Pulslosigkeit an einer oder der andern Arterie hervorruft, oder dass das Herz sich, wenn überhaupt, sehr schwach contrahire. Sehr schwache Herzcon- tractionen bringen keinen fühlbaren Puls mehr hervor, auch solche nicht, welche durch die Auscultation noch deutlich wahrgenommen werden können. Die Pulslosigkeit im praktischen Sinne des Wortes ist deshalb kein signum mortis, es muss immer erst das Herz auscultirt werden, es muss immer untersucht werden, ob nicht mittelst des Gehörs noch Herz- contractionen wahrzunehmen sind. Die Spliygmograplien. Man hat eine Reihe von Vorrichtungen ersonnen, um mit exacteren Hülfsmitteln, als es der fühlende Finger ist, den Puls zu untersuchen. Hörisson band eine nach unten trichterförmig erweiterte Glasröhre mit einer Kautschuklamelle zu und füllte Quecksilber hinein, setzte dann das Ganze auf die A. radialis und sah nun, dass das Quecksilber in hüpfende Bewegung gerieth. Diese Vorrichtung ist kaum zu etwas anderem gut, als einem grösseren Auditorium gleichzeitig die Frequenz des Pulses zu zeigen. Den ersten schreibenden Pulsmesser hat Vierodt aufgebaut. Er bestand in einem Hebelwerke, welches mit einer Schreibfeder versehen war, die auf einer Ludwig'schcn Kymographiontrommel schrieb. Später hat Marey einen Sphygmographen construirt, welcher mehr in Gebrauch gekommen ist, weil die schreibende Vorrichtung ein geringeres Trägheits- moment darbietet als das Vierodt'sche Hebelwerk, und zweitens, weil das Marey'sche Instrument leichter zu appliciren ist und leichter damit gearbeitet wird. Es ist Fig. 23 nach der Zeichnung abgebildet, die Marey Die Sphygmographen. 161 in Brown Sequards Journal de la physiologie gegeben hat. d e ist ein einarmiger sehr leichter Hebel, der mittelst einer durch eine Schraube Fig. 23. Fig. 24. verstellbaren Pelotte aus Elfenbein mit der A. radialis in Verbindung gebracht wird. Die Art, wie dies geschehen kann, ist in Fig. 24 schematisch dargestellt, ah und cb sind in b federnd mit einander verbunden. In a ist die Pelotte, c überträgt ihre Bewegung auf den Hebel, die Schraube / dient dazu, c und cl zu nähern oder von einander zu entfernen, je nachdem dies nöthig ist, um dem Hebel die zum Schreiben nöthige Stellung zu geben, g ist eine Feder, die den Hebel wieder herabdrückt, wenn er durch c gehoben wor- den ist. PP Fig. 23 ist eine berusste Glasplatte, welche durch ein Uhr- werk H in Bewegung gesetzt wird. Auf ihr schreibt der sich bewegende Hebel eine Curve, deren Ordinaten freilich nicht geradlinig, sondern kreisbogenförmig sind. Um das Ganze nun am^ Arme zu befestigen, ist es mit einem aus Schienen bestehenden Gerüste B B B verbunden, das durch Einge und Bänder am Arme festgemacht wird. Der Vortheil dieses Instrumentes ist, dass man es ganz auf dem Arme, wie ein Stück einer Rüstung befestigt, und zweitens, dass der Hebel sehr leicht ist und des- halb ein geringes Trägheitsmoment hat. Es hat aber in seiner ursprünglichen Form noch einen Uebelstand. Dem Hebel wird leicht eine schnellende Bewegung ertheilt, ver- möge der er sich trotz der Feder g von c abhebt, dann zurückfällt und sich ein zweites Mal hebt. Es wird hierdurch ein unechter Pulsus dicrotus verzeichnet. Um dem abzuhelfen, ist von Mach die Anordnung so getroffen, wie sie Fig. 25 zeigt, in der die Platte in c mit dem Hebel ef durch ein Gelenkstück cd untrennbar verbunden ist. Brücke. Vorlesungen I. 4. Aufl. 11 Fig. 25. 162 Die Sphygmographen. Fig. 26. Eine audere Constrnctiou, gleichfalls von Mach, ist in Fig. 26 dargestellt. Hier ist der Hebel h durch eine in Charniergelenken bewegliche Stange/a untrennbar mit ' der Pelotte verbunden, und die Einstellung desselben zum Schreiben wird dadurch bewirkt, dasa man seinen festen Punkt mittelst der Schraube i nach Bedürfniss höher oder tiefer stellt. Eine den gleichen Zweck erfüllende Einrichtung befindet sich an den Sphygmographen, die jetzt aus Breguet's Atelier hervorgehen. Hier befindet sich an der Axe des Schreib- hebels eine kleine Scheibe, in deren Circum- ferenz die Gänge einer Schraubenmutter ein- geschnitten sind, und in diese greifen die Gänge einer Schraube, die mit der Pelotte drehbar, aber sonst fest verbunden ist. Wenn man die Schraube dreht, stellt man zugleich den Schreibhebel höher oder niedriger. Ausser diesem Sphygmographen sind noch andere Vorrichtungen zur Untersuchung des Pulses angegeben worden. Czcrmak klebt ein Glimmerplättchen auf die Haut und beobachtet einen darin gespiegelten Lichtpunkt mittelst der Lupe, oder er steckt mittelst einer Kadel, die unter die Epidermis geführt wird, einen leichten Glasspiegel, ein ver- silbertes Deckgläschen, auf die A. radialis und lässt davon ein Strahlen- bündel an die Wand oder an einen entfernten Schirm reflectiren. Das hat den grossen Vortheil, dass das Trägheitsmoment des Instrumentes äusserst gering ist, und zugleich die Bewegung im vergrösserten Mass- stabe wiedergegeben wird. Er schlug auch vor, die Photographie zur Eixirung solcher auf einen Schirm projicirten Curven zu benützen. Ferner hat Landois ein Gassphygmoskop angegeben, welches darin besteht, dass eine flache Metall- rinne luftdicht über der A. radialis auf den Arm aufgebunden wird. In diese wird das Gas unter constantem Druck eingeleitet und wieder hinausgeleitet durch ein in eine dünne Spitze auslaufendes Böhrchen. Die Ausströmungsöffnung ist sehr klein, und somit entsteht beim Anzünden eine sehr kleine Flamme, die steigt und zusammenfällt, je nachdem der Pulsschlag unter der Rinne das Ausströmen des Gases beschleunigt oder Fig. 27. verzögert. Er hat ausserdem ein schreibendes Instrument construirt, das er Angiograph nennt, und das in seiner Lehre vom Arterienpulse durch die beistehende Fig. 27 absebildet ist. Capillarpnls. Die Resiiirationsspliwantung^en im arteriellen Elutilrnck. Ißo Sie müssen sich die Bewegung der Glastafel t, auf der geschrieben wird, senkrecht auf der Ebene des Papiers denlien; dann ist die übrige Construction leicht verständlich, c ist die auf der Eadialis liegende Pelotte, die zunächst den Hebel er bewegt, der durch auf die Schale Q gelegte kleine Gewichte nach Bedürfnis» herabgedrückt wird, und durch die Zahnstange das Zahnrad g und durch diese den Schreibhebel e i in Be- wegung setzt, der mittelst einer durch Charniergelenke befestigten, leicht gebotenen Nadel Ic auf der Platte t schreibt. Capillari)iils. Es fragt sich nun, wie weit reicht der Arterienpuls in das Gefäss- system hinein? Man hat häufig bei mikroskopischen Untersuchungen an lebenden Thieren Gelegenheit sich zu überzeugen, dass selbst in den kleinsten, mikroskopischen Arterien das Blut noch eine Beschleunigung während der Systole erleidet. H. Quincke hat ferner beobachtet, dass man die Folgen dieser Beschleunigung während der Systole noch an der Speisung der Capillargefässe wahrnehmen kann ; so dass es also in der That noch einen Capillarpuls gibt, wenn derselbe auch nicht fühlbar ist. Die Röthe, welche durch die Nägel hindurchscheint, rührt zwar nicht ausschliesslich, aber doch zum grössten Theile von den darunter liegenden Capillargefässen her. Die kleinen Arterien und die kleinen Venen haben daran einen geringeren Antheil, namentlich ist der Antheil der kleinen Arterien sicher sehr gering. Man hat nun nicht selten Gelegenheit zu beobachten, dass bei gewissen Stellungen der Einger sich auf dem Nagel ein weisser Fleck ausbildet, ein Fleck, an dem die Unterlage, das Nagel- bett, nicht so roth durchscheint, wie durch den übrigen Theil des Nagels. Wenn man ein solches Feld längere Zeit ansieht, so ist es gar nicht selten, dass man beobachtet, wie es sich synchronisch mit dem Pulse verkleinert. Das ist natürlich nichts anderes als ein Capillarpuls, indem die Capillaren unter dem Einflüsse der Herzsystole stärker mit Blut gespeist werden, imd dadurch dieser weissliche Fleck sich einengt. Die Respiration sseliwaiikimgeii iiu arteriellen Blutdruck. Wir haben schon früher gesehen, dass abgesehen vom Pulse noch andere Druckschwankungen im Arteriensysteme existireu, welche isochron sind mit den Respirationsbewegungen. Erst Ludwig allein und dann Ludwig und Einbrodt haben diese Schwankungen studirt, indem sie ein Manometer in die Carotis und ein zweites Manometer in die Thorax- wand einsetzten. Der Einsatz des zweiten Manometers war an und für sich unten offen, aber mit einem Kautschukbeutelchen zugebunden. Hiemit wurde es durch einen Zwischenrippenraum in den Thorax ein- gesenkt und zeigte die Druckschwaukungen in demselben an, indem diese auf das Quecksilber im Kautschukbeutelchen wirkten, das direct in die Quecksilbermasse des Manometers überging. Beide Manometer trugen Schwimmer, welche auf ein und derselben Kj'mographiontrommel schrieben. Man erhielt so Doppelcurven, von denen 11* 1Ö4: Die Respirationsscbwankungen im arteriellen Blutdruck. beispielsweise eine in der Fig. 28 dargestellt ist. Die starke Linie gibt den Respirationsdruck, die feinere Linie den Blutdruck an. Beim üeber- gange von der Inspiration zur Exspiration steigert sich der Druck im Thorax ganz plötzlich. Die entsprechenden Stellen sind in der Fig. 28 Fig. 28. ,;yifliMAA^ _ j^^MfMÄ miw leicht zu erkennen. Bei der Inspiration muss der Druck im Luugenraume unter dem atmosphärischen sein, denn sonst könnte die Luft aus der Atmosphäre nicht in die Lunge einströmen. Bei der Exspiration muss er höher sein als der atmosphärische, damit die Luft ausströme. Auf der Grenze beider tritt also eine plötzliche Steigerung ein. Während die Luft ausfliesst, nimmt der Druck ganz allmälig ab. Dann folgt die Inspiration, während welcher der Druck weiter abnimmt, um dann mit zunehmendem Einströmen der Luft wieder fast stationär zu werden, bis er sich mit beginnender Exspiration von neuem plötzlich steigert. Wenn Sie hiebei die dazu gehörige Pulscurve betrachten, das heisst die Curve, die das Manometer zeichnete, welches in der Carotis steckte, und welche die feinere Linie unserer Fig. 28 wiedergibt, so sehen Sie, dass die Maxima während der Exspiration erreicht wurden; dann fällt aber schon während derselben die Curve ab und erreicht ihr Minimum, während der Thorax inspiratorisch erweitert wird. Dann fängt sie noch während der Inspiration wieder an zu steigen, erreicht aber ihr Maximum erst, nachdem die Exspiration begonnen hat. Beim Beginne der Exspiration erhöht sich plötzlich der Druck in der Brusthöhle bedeutend. Diese Erhöhung des Druckes muss den pro- pulsatorischen Kräften zu gute kommen, denn der Druck sucht ja das Blut aus den Gefässen innerhalb des Thorax in die Gefässe ausserhalb des Thorax zu treiben, er muss temporär die Menge des Blutes ver- grössern, die in der Zeiteinheit durch die grossen Aeste der Aorta abgeführt wird, und daher das Ansteigen des Blutdruckes auf das Maxi- mum. Dann tritt aber ein Abfallen ein während der Exspiration, weil das Herz, da das Blut aus den Köipervenen weniger frei nachfliesst, schlechter gespeist wird, und weil seine Schläge seltener werden, wie dies die Pulscurve Fig. 28 zeigt. Das Minimum wird während des Actes der inspiratorischen Erweiterung erreicht, weil während derselben der Druck auf die Gefässe innerhalb der Brusthöhle rasch abfällt, also nun die Einwirkung, welche früher den propulsatorischen Kräften zu gute gekommen ist, ihnen entgegenwirkt. Mit abfallendem Drucke aber wird das Herz wieder besser gespeist, und seine Contractionen werden wieder häufiger. Zugleich wird durch das Hinabtreten des Zwerchfelles der Druck in der Bauchhöhle grösser. Mithin wächst der Widerstand, den das Blut, welches in die Gefässe innerhalb derselben eintreten soll, erfährt. Diese Momente zusammen bedingen die gleich nach dem Minimum beginnende iuspiratorische Steigerung des Blutdruckes in den Arterien. DnickvorhiUtnissc im Vencns3-stciu. 1 65 Es hat sich, indessen gezeigt, dass die Respirationsschwankungen eine viel complicirtere Erscheinung sind, als man früher glaubte, dass man in der Schlagfolge, in der Speisung des Herzens, in den Druck- verhältnissen im Thorax und in der Bauchhöhle nicht alle Eactoren in der Hand hat, welche für die Respirationsschwankungen in Betracht kommen. Im Jahre 1865 fand Traube, dass, wenn man ein Thier mit Curare vergiftet, ihm die Vagi und Sympathici durchschneidet, eine Weile künstliche Respiration einleitet und dann diese unterbricht, der Blutdruck sehr stark in die Höhe geht, dabei aber langsame Schwankungen, Wellen, macht. Er brachte dies schon in Zusammenhang mit der Erregung des Centralnervensystems, welche durch das bei der Erstickung an Kohlen- säure reich werdende Blut entsteht, und Ludwig und Thiry fanden später, dass, wenn man bei der künstlichen Respiration ein Gemenge von atmosphärischer Luft und Kohlensäure statt der gewöhnlichen atmo- sphärischen Luft athmen lässt, dann der Blutdruck sich steigerte, und zwar fanden sie die Ursache der Steigerung in einer Zusammenziphung der kleinen Arterien. Es war also eine Erregung auf die Arterien selbst oder auf ein ihre Contractilität beherrschendes ÜSTervencentrum ausgeübt Avorden. Dieser Erklärung schloss sich dann auch Traube an und erklärte die von ihm beobachtete Erscheinung dahin, dass durch das kohlensäure- reiche Blut die Medulla oblongata in der Weise erregt wird, dass perio- dische Schwankungen in der Innervation der kleinen Arterien eintreten, so dass der Blutdruck im Ganzen steigt, aber nicht gleichmässig ansteigt, sondern mit Schwankungen, mit Wellen. In späterer Zeit hat dann Hering diesen Gegenstand wieder untersucht, und er ist ebenso wie Ludwig und Thiry zu dem Resultate gekommen, dass das Ansteigen des Druckes und die Druckschwankungen von rhythmischen Zusammenziehungen der kleinen Arterien herrühren. Er fand, dass die Erscheinung ganz unab- hängig vom Herzen sei, er konnte die Schwankungen noch beobachten, wenn er einer Katze das Herz abgebunden hatte und wenn er ihr mittelst einer kleinen Pumpe Hundeblut in die Aorta einpumpte. Er fand aber weiter, dass diese Schwankungen isochron seien mit den Respirations- bewegungen, so dass wir also hier bei der Beurtheilung der Druck- schwankungen, welche von den Respirationsbewegungen abhängen, die- selben nicht mehr ausschliesslich aus den mechanischen Verhältnissen innerhalb des Thorax und aus der Speisung des Herzens erklären dürfen, sondern dass wir auch die rhythmische Zusammenziehung der kleinen Arterien, welche mit jedem Athemzuge, nach den übereinstimmenden Resultaten von Traube, Ludwig, Thiry und Hering, eintritt, mit in Rechnung ziehen müssen. Druckverliältnisse im Venen System. Auch der Blutdruck in den Venen lässt sich mittelst des Kymo- graphions untersuchen und ist auch damit untersucht worden. Der Mano- metereinsatz für die Venen unterscheidet sich nur etwas A'on dem für die Arterien. Es muss immer ein Röhrchen als solches eingesetzt werden^ weil die weiche Venenwand sonst zusammenfällt, während die Arterie ihr Lumen selbstständig oifen hält. Es ist aber hier von keiner Be- deutung, bestimmte einzelne Zahlen, bestimmte Druckhöhen, welche iu 16(3 Drnckverhältnisse im Venensystem. den Venen gefunden worden sind, anzugeben, weil diese Druckhöhen so ausserordentlich verschieden sind, nicht nur nach dem Orte des Venen- systems, den man untersucht, sondern auch nach den Umständen, unter welchen man diesen Ort untersucht. Es ist bekannt, dass, wenn man einem kräftigen Manne eine Aderlassbinde umlegt und ihm dann eine Vene anschlägt, das Blut hoch hinaufspritzt, als ob man eine Arterie angeschlagen hätte, nur dass es eben nicht im hüpfenden Strahle wie aus der Arterie springt, sondern im continuirlichen Strahle hoch auf- steigt. W^enn man die Venen nach Anlegung der Binde ansieht, so findet man, dass sie zu starken Strängen angeschwollen sind, man findet sie prall und hart. Alles dieses zeigt übereinstimmend, dass das Blut jetzt in den Venen unter einem sehr hohen Seitendrucke stehe, einem ähnlich hohen wie in den Arterien. Dies ist auch leicht begreiflich; denn der Druck in den Venen ist ja nur deshalb im Allgemeinen so viel niedriger als in den Arterien, weil nur noch ein sehr geringer Widerstand bis zum Herzen zu überwinden ist. Wenn Sie durch die Aderlassbinde die Vene comprimiren, so stellt ja das liohr der Vene mit den Arterien, aus welchen es gespeist wird, ein System von communicirenden Röhren ohne Abfluss dar, es muss also aus den Arterien *so lange Blut zuflliessen, bis der Druck in den Venen ebenso hoch gesteigert ist, wie in den Arterien: erst dann kann die Bewegung aufhören. Mit dieser Druck- steigerung durch noch zu überwindende Widerstände hängt es auch zusammen, dass die Venen der verschiedenen Körpertheile sehr ver- schieden gefüllt sind, je nach der Stellung dieser Körpertheile, Wenn Sie eine Hand herabhängen lassen und sehen Sie dann an, so finden Sie die Venen angelaufen, einfach deshalb, weil hier dadurch, dass das Blut noch bis zur Schulterhöhe hinaufgehoben werden sollte, ein Widerstand gesetzt ist. Wenn Sie dagegen die Hand hinaufheben und sehen jetzt die Venen an, so finden Sie, dass sie relativ leer sind, weil nun das Blut durch seine eigene Schwere gegen die Schulter hinabrinnt und des- halb durch die Triebkraft, durch die vis a tergo, kein besonderer Wider- stand zu überwinden ist. Damit hängt es zusammen, dass das Gesicht eines Menschen sich röthet, dass es endlich blauroth wird, wenn man ihn mit dem Kopfe nach abwärts befestigt. Damit hängt es zusammen, dass diejenigen Handwerker, welche, wie die Tischler und Bäcker, viel stehend arbeiten müssen, Ausdehnungen an den Venen der Beine be- kommen, weil auf deren Wänden beim Stehen ein grösserer Druck lastet als beim Sitzen und beim Liegen, wenn auch die Klappen noch den Rückfluss des Blutes hindern. Es wird ja eine bedeutendere Triebkraft verlangt, um das Venenblut bis zum Herzen in die Höhe zu treiben. Andererseits kann aber auch der Druck in den Venen so gering werden, dass wir ihn als negativ bezeichnen müssen, das heisst als negativ in dem Sinne, dass der Druck, den die atmosphärische Luft von aussen ausübt, grösser ist. Das kommt bei grossen Venen, die in der Nähe des Herzens liegen, vor oder, richtiger gesagt, an Stellen des Venensystems, an welchen das Blut nicht weit mehr vom Herzen entfernt ist, denn je näher es dem Herzen ist, um so geringer ist der Widerstand, der noch zu überwinden ist. Es hat dieser Gegenstand eine praktische Wichtigkeit, weil, wenn eine solche Vene verletzt wird, die Gefahr vorhanden ist, dass Luft von aussen her in das Innere der Vene eindringe, und hierdurch Diuckvcrhaltnisso im Vencnsystem. 167 den Tod herbeiführe. Wenn man einem Pferde Luft in die Vena jiigu- laris einbläst, so stürzt es bald darauf um und verendet nach kurzen Krämpfen. Hunde vertragen im Verhältniss zu ihrer Grösse mehr, gehen aber doch auch, wenn eine gewisse Quantität überschritten wird, rettungs- los zu Grunde. Ebenso ist es auch beim Menschen. Der Tod erfolgt hier dadurch, dass die Luft in das Herz und vom Herzen in die Aeste der A. pulmonalis gelangt. Sie bildet dann in den kleinsten Arterien und den Lungencapillaren einen Widerstand, durch welchen eine solche Störung des Lungenkreislaufs eintritt, dass der Tod die unmittelbare Folge davon ist. Jeder praktische Anatom sucht, wenn er eine Partie des Gefässsystems einspritzen will, so viel als möglich alle Luft vor der Spritze zu entfernen, weil die feinen Luftbläschen, wenn sie in die Capillaren hineingetrieben werden, ein unübersteigliches Hinderniss für das Fortschreiten der Injection sind. Gerade so geht es auch hier in den Lungen, wo eben der Lungenkreislauf, wie gesagt, in der Weise gestört wird, dass in kurzer Frist der Tod eintritt. Es tritt also an uns die Frage heran, in welchen Venen kann der Druck negativ werden, und in welchen Venen wird er am leichtesten negativ, ist am meisten Lufteintritt zu befürchten? Zunächst ist es das Gebiet der Vena cava superior und der Jugularvenen. Die meisten Beobachtungen über Eintritt der Luft sind bei den Aderlässen gemacht worden, die man früher an den Jugularvenen machte. Hier wirken zwei Momente zusammen: die Bewegung des Blutes nach abwärts und die Aspiration gegen den Thorax hin, welche die Folge seiner inspiratorischen Erweiterung ist. Wenn man kurz hintereinander und in gleichen Zeit- abständen Kugeln von einer Höhe herunterfallen lässt, so bleiben sie nicht in gleichen räumlichen Abständen. Je länger eine Kugel schon gefallen ist, um so weiter hat sie sich von den ihr zunächst folgenden entfernt. Das ist, wie Sie leicht einsehen, die einfache Folge der Gesetze des freien Falles, die einfache Wirkung der beschleunigenden Kraft der Erdschwere. Dieselben Gesetze auf Flüssigkeiten angewendet ergeben, dass sich ein Wasserstrahl, der von der Höhe herunterfällt, in seiner unteren Partie in Tropfen auflöst. Die unteren bereits stärker beschleunigten Wassermassen reissen sich von den oberen erst schwächer beschleunigten los. Geht das Fallen in einer geschlossenen Eöhre vor sich, so muss durch die Tendenz zum Abreissen negativer Druck erzeugt werden, und wenn sich in der Eöhre eine Seitenöffnung befindet, so wird Luft eintreten und mit der fallenden Flüssigkeit fortgerissen werden; so geschieht es in dem alten Wassertrommelgebläse, dessen Princip von Bunsen auf seinen jetzt in allen Laboratorien eingeführten Filtrirapparat angewendet worden ist. Beim Wassertrommelgebläse fällt das Wasser in einer hohen Röhre, in deren Wand Seitenöffnungen schräg von aussen und oben nach unten und innen verlaufend angebracht sind. Durch diese wird die Luft hereingerissen, die, von dem Wasser in grossen Blasen fortgeführt, den Windkessel speist und endlich zur Düse hinausgetriebeu wird. Also das Fallen der Flüssigkeitsmasse, ihre Bewegung von oben nach unten ist an und für sich schon ein begünstigendes Moment für die Erzeugung von negativem Druck. Dazu kommt bei der Jugularis noch die Beschleunigung, die das Blut durch die jedesmalige Inspiration er- fährt. Bei der Inspiration sinkt ja der Druck in der Brusthöhle unter den 168 Dnickveiliältnisso im Yenensystem. atmosphärischen, es muss also das Blut Bachgesaugt werden, wie aus derselben Ursache die Luft durch die offene Stimmritze aspirirt wird. Man hat deshalb mit Eecht die Regel gegeben, dass der comprimirende Daumen beim Aderlasse an der Jugularis niemals weggenommen werden darf, ehe nicht der Verband angelegt worden ist, damit keine Gelegenheit für den Lnfteintritt in die Jugularis geboten werde. Wo kann ausserdem noch Luft eintreten? Offenbar auch noch in die Axillarvene, denn sie liegt noch nahe genug beim Herzen, dass bei der Inspiration der Druck hier negativ werden könne. In der That ist auch schon Lufteintritt in dieselbe beobachtet worden. Es soll aber auch Lufteintritt an den Venen der unteren Extremitäten beobachtet worden sein. Die Beschreibungen sind nicht von der Art, dass man sich sicher davon überzeugt halten kann. Es heisst, die Luft sei eingetreten mit einem pfeifenden oder sausenden Geräusche. Das entspricht nicht den gewöhnlichen Wahrnehmungen, denn wenn man Thiere durch Luftein- tritt tödtet, so hört man immer ein schlürfendes Geräusch, hegreiflich, weil die Luft sich gleich mit dem Blute mischt. A priori ist es einiger- massen unwahrscheinlich, dass in Venen der unteren Extremität Luft ein- dringe, da der Druck in der Bauchhöhle, wenn man sich nicht gerade auf Knie und Ellenbogen hinhockt, meist dauernd höher ist als der atmosphärische, und die Luft in den Venen der Beine doch erst die Venen der Bauchhöhle zu passiren hätte, ehe sie zum Herzen gelangen würde. Dagegen ist mir eine ganz unzweifelhafte Beobachtung bekannt, nach der Luft aus den Venen des Uterus in das Herz eingedrungen, vom Herzen in die Lunge gelangt war und so den Tod veranlasst hatte. Es liess sich bei der Obduction der Weg der Luft genau verfolgen, bis in das schaumige Blut im Herzen und in den Lungen. Hier ist wahr- scheinlich die Luft im Uterus eingeschlossen gewesen. Daselbst waren wahrscheinlich die Gase durch Zersetzungsprocesse entstanden, und es hatte sich ein viel grösserer Druck als der atmosphärische ausgebildet, so dass es dadurch möglich war, dass die Luft die Venen der Bauchhöhle passiren und so endlich in das Herz und in die Lunge gelangen konnte. Bei der Exspiration steigt der Druck innerhalb des Thorax über den atmosphärischen. Aus demselben Grunde, aus dem früher bei der Inspiration der Blutlauf in den grossen Venen beschleunigt wurde, muss jetzt der Blutlauf in eben diesen grossen Venen gehindert werden, es muss eine vorübergehende Stauung entstehen. Die Klappen in den Venen hindern zwar bis zu einem gewissen Grade das Zurückschieben des Blutes, aber der Abfluss des Blutes bleibt gehindert, und da vom Arteriensystem durch die Capillaren fortwährend Blut nachfliesst, so muss im Venen- system eine relative Ueberfüllung entstehen, welche sich bis in die Capillaren hinein fortpflanzt. Also auch die Capillaren haben Druck- schwankungen, nicht nur solche, welche synchronisch sind mit den Con- tractionen des Herzens, und die wir bereits bei Gelegenheit des Capillar- pulses kennen gelernt haben, sondern auch solche, welche von den Re- spirationsbewegungen abhängen. Aber diese letzteren Druckschwankungen in den Capillaren sind nicht identisch mit den Schwankungen im Arterien- systeme, welche die Respirationsbewegungen begleiten, denn die Zu- sammenziehung der kleinen Arterien, die den Druck im Arteriensysteme steigert, bewirkt ja, dass das Capillarsystem in dieser Zeit schlechter DrnokvcrhiXltnisse im Vencnsystera. 169 gespeist wird als vorhei", während andererseits eine Rückwirkung von den Venen aus stattfindet, die wir eben kennen gelernt haben. Mit den Druckschwankungen, welche im Capillarsystem stattfinden, und mit der damit verbundenen periodisch wachsenden und periodisch abneh- menden Blutfülle hängen die Hirnbewegungen zusammen, welche man bei penetrirenden Schädelwunden direct wahrnimmt, welche man aber auch an jedem Kinde sehen kann, bei dem die Fontanellen noch nicht verknöchert sind, indem man die Haut in der Fontanelle periodisch auf- und niedergehen sieht. Man muss erwarten, dass, wenn die Fontanellen einmal verknöchert sind, und also das Gehirn in eine feste, unnach- giebige Kapsel eingeschlossen ist, dann diese Bewegungen nicht mehr in derselben Weise von statten gehen können, und das hat auch Donders durch die directe Erfahrung bestätigt gefunden, indem er einem Kanin- ehen ein Stück der Schädeldecke wegnahm und statt dieses ein Glas- täfelchen einsetzte. Wenn schon bei jeder ruhigen Exspiration der Druck in der Brust- höhle steigt, und dadurch der Eückfluss des Blutes gehindert sein muss, so ist das begreiflicher Weise in noch viel höherem Grade der Fall, wenn irgend ein Hinderniss für die Exspiration eintritt. Ein solches Hinderniss kann künstlich gesetzt werden, z. B. durch ein Blasinstrument, eine Trompete, die vor den Mund genommen wnrd. Beim Hineinblasen wird, weil ein grosser Druck im Thorax erzielt werden muss, der Rückäuss des Blutes in den grossen Venen und speciell auch in den Arenen des Kopfes gehindert, und daher das geröthete und gedunsene Gesicht, das beim angestrengten Blasen entsteht. Es tritt aber auch periodisch ein solches Hinderniss beim Husten ein, weil beim Husten die Stimmritze krampfhaft verschlossen ist, und dieser Verschluss durch eine heftige Exspirationsanstrengung jedesmal durchbrochen werden muss. Deshalb steigt den Leuten, wie sie sich ausdrücken, beim Husten das Blut zu Kopf, wenn sie sich im Dunkeln befinden, sehen sie Funken, sie werden roth im Gesichte, das Gesicht schwillt an, wird gedunsen, und bei der Tussis convulsiva treten nicht selten Zerreissungen kleiner Gefässe in der Conjunctiva und iSTasenbluten ein. Nachdem die Krankheit einige Zeit bestanden hat, bildet sich aus gleicher Ursache Oedem unter den Augenlidern aus. Man kann daher in einer Keuchhustenepidemie die Kinder, welche von der Krankheit befallen sind> erkennen, ohne dass man sie husten hört, lediglich aus dem Oedem, das sie unter den Augenlidern haben, eventuell auch aus kleinen Blutergüssen unter der Conjunctiva. Welchen Einfluss haben die Herzcontractionen auf den Blutdruck im Venensystem? Wir haben gesehen, dass die Wirkung der Systole, welche durch das Arteriensystem fortgepflanzt wird, ihr Ende in den Capillar.en erreicht, dass von da an das Blut in den Venen continuirlich fliesst. Andererseits haben aber die Herzbewegungen einen Einfluss auf den Blutlauf in den grossen Venen, welche in das Herz einmünden, auf den Blutlauf in der oberen und unteren Hohlvene und offeiibar auch, worüber nur die Erfahrungen fehlen, in den Lungenvenen. Dass dag Herz einen Einfluss auf den Blutlauf in dpn Hohlvenen hat, davon kann man sich überzeugen, wenn man einem Hunde durch die Vena jugularis einen Katheter hinabsenkt, welchen man mit einem Kautschukrohre 17U Druckverliältnisse im Vencnsystera. verbunden hat, au dem. sich wieder eine Glasröhre befindet, die in ein Glas mit gefärbter Flüssigkeit hineintaucht. Da findet man, dass die Flüssigkeit mit hüpfenden Bewegungen in die Glasröhre hineinsteigt, man findet, dass diese Bewegungen dieselbe Periode haben wie der Puls, und dass die Erhebungen zeitlich zusammenfallen mit der Systole des Ventrikels. Das ist die sogenannte Herzaspiration. Ihr Grund ist folgender: Denken Sie sich das Herz in eine knöcherne Kapsel einge- schlossen, die von den hereintretenden Venen und den heraustretenden Arterien durchbohrt wird. Dann müsste, wenn das Herz sich zusammen- zieht, da kein leerer Raum zwischen ihm und der Kapsel entstehen kann, in derselben Zeit, während welcher der Ventrikel sich entleert, dieselbe Blutmenge durch die Venen in ,den Vorhof nachfl.iessen. Es würde unter diesen Umständen, wie Sie leicht einsehen, die Ventricularcontraction in nichts Anderem bestehen als darin, dass die Grenze zwischen Vorhof und Ventrikel nach abwärts geht, in ganz ähnlicher Weise, wie wir es beim Frosche an dem im Herzbeutel eingeschlossenen Herzen gesehen haben. Es würde also durch die Ventricularsystole gerade so viel Blut aus den Venen nachgesaugt werden, als durch die Arterien zu derselben Zeit ausgetrieben wird. j^un ist das Herz nicht in eine knöcherne Kapsel eingeschlossen, aber es ist von einer häutigen Kapsel umgeben, welche noch anderweitige Befestigungen hat, kurz, die Umgebung des Herzens gibt bei der Contraction der Ventrikel nicht ohne jeglichen Widerstand nach, und, indem dieser Widerstand überwunden werden soll, muss der Druck in dem Vorhofe plötzlich sinken, es muss also auch Blut aus den Venen nachströmen, aus den Venen aspirirt werden. Wenn nun aber die Menge dieses aspirirten Blutes, eben weil die Umgebung des Herzens nachgiebig ist, nicht so gross ist wie die Menge, welche in derselben Zeit ausgetrieben wird, so sehen Sie leicht ein, dass das Herz nicht zu allen Zeiten gleich gross ist, dass das Herz am grössten ist, am meisten Blut enthält, unmittelbar vor der Systole der Ventrikel, und dass es am kleinsten ist, am wenigsten Blut enthält, unmittelbar nach der Systole der Ventrikel. Diese beiden Zustände belegt Ceradini mit den ISTamen der Auxocardie und der Meiocardie, und er hat durch einen sinnreichen Versuch gezeigt, dass sich beide direct am lebenden Menschen wahrnehmen lassen. Es gehört dazu nur Jemand, der seine Athembewegungen sistiren kann, ohne die Stimmritze zu schliessen. Einem solchen drückt man ein Nasenloch leicht zusammen, nachdem man ihm in das andere mittelst eines Stöpsels ein kleines U-förmig gebogenes Rohr eingesetzt hat, in dem sich ein flüssiger Index, ein Tropfen ge- färbter Flüssigkeit befindet. Dann wird bei jeder Systole des Herzens dieser Tropfen angezogen, und während der Diastole des Herzens geht er wieder zurück, einfach deshalb, weil die Zusammenziehung, die Ver- kleinerung des Herzens während der Systole bei sistirten Athem- bewegungen den Druck in der Brusthöhle hinreichend verändert, um dies am Index wahrnehmbar zu machen, oder richtiger gesagt, weil diese Druckdifferenzen erzeugt werden durch das mit den Herzphasen wechselnde Verhältniss zwischen der Blutmenge, die durch die Arterien die Brusthöhle verlässt, und der Blutmenge, "welche durch die Venen in die Brusthöhle zurückkehrt. Venenpuls. Druckveibältnisse ira kleinen Kreislauf. 1 i 1 Venciipiils. Die Vena jugularis interna pulsirt, weil sich der Zufluss in die- selbe periodisch steigert durch die Drucksteigerung, welche die arterielle Pulswelle in der Schädelhöhle hervorbringt. Aehnliches findet gewiss auch bei anderen Venen statt, welche Blut aus dem. Schädelwirbelraum abführen. Andere Venen können pulsiren, wenn sie anomaler Weise mit einer Arterie in Verbindung gesetzt sind, wenn z. B. beim Aderlass am Arme die Arterie mit verletzt worden ist, und die beiden Wunden so zusammen- heilen, so dass eine Communication zwischen Arterie und Vene entsteht. Das Blut der Arterie wird in die Vene herübergetrieben, die Aeste der Vene werden durch den höheren Druck ungewöhnlich ausgedehnt, aber sie sind nicht nur ausgedehnt, sondern sie pulsiren auch, weil jetzt das Blut von der Arterie aus stossweise hineingeworfen wird. Es kann aber auch das Venensystem in grösserer Ausdehnung pulsiren. Das geschieht bei Insufficienz der Valvula tricuspidalis. Dabei wird das Blut, welches in die A. pulmonalis getrieben werden soll, zum grossen Theile in den Vorhof zurückgetrieben, es wirkt von hier aus auf das Blut in den Venen, und so entsteht ein Rückstoss im Hohlvenensystem, der anfangs nur bis zu den ersten Klappen reicht, der aber später, in- dem er die Venen erweitert — es tritt ja eine Stauung in den Venen ein — die Klappen insufficient macht, und so sich auf den grössten Theil des Hohlvenensystems fortpflanzt. Es sind gar nicht selten Eälle beobachtet worden, bei denen das Pulsiren sich bis auf die Venen des Handrückens verfolgen liess, während die Jugularvenen dem Auge als ein Paar grosse pulsirende Geschwülste an den Seiten des Halses erscheinen. Druckverliältnisse im kleinen Kreislauf. In ähnlicher Weise, wie man die Druckverhältnisse im Körper- kreislauf untersucht hat, hat man auch die Druckverhältnisse im Lungen- kreislauf untersucht. Aber die Untersuchung ist hier ausserordentlich viel schwieriger, und man kommt nicht zu so sicheren Resultaten. Auf die Blutbewegiing in den Lungen hat die Respirationsbewegung und der Druck innerhalb des Thorax einen sehr wesentlichen Einfluss, und es ist eben sehr schwer, den Druck in der A. pulmonalis zu untersuchen, ohne dass man den Luftdruck im Thorax wesentlich verändert. Sie sehen leicht ein, dass, wenn man die Brusthöhle eröffnet und nun in die blossgelegte A. pulmonalis ein Manometer einsetzt, dass dann die Be- dingungen nicht entfernt mehr denjenigen gleichen, welche während des Lebens vorhanden sind, und andererseits hat es grosse Schwierigkeit, diirch die Thorax wand hindurch ein Manometerrohr in die A. pulmonalis einzusetzen. Schliesslich ist auch damit noch nicht alles erreicht, indem wiederum das Instrument ein Hinderniss für die Respirationsbewegungen ist und so die Bedingungen, unter denen der Druck untersucht wird, von der jSTorm entfernt. Als Mittel hat man bei Kaninchen 22 Mm. Quecksilber, bei Katzen 17 Mm. und bei Hunden 29 Mm. gefunden. Bei gleichzeitiger Untersuchung des Druckes in der Carotis fand sich \i2 Geschwindigkeit dos Blutstromes. derselbe bei Kaninchen viermal, bei Katzen fünfmal, bei Hunden drei- mal grösser. Eines haben also alle Versuche bestätigt, dass der Druck in der A. pulmonalis unter allen Umständen sehr viel geringer ist, als der Druck in der Aorta und in den Körperarterien. Das hängt einerseits zusammen mit dem geringeren Widerstände, welchen die kleine Blut- bahn darbietet, und andererseits mit der entsprechend geringeren Pro- pulsionskraft des rechten Herzens. Schon die relative Dünnheit des rechten Ventrikels, die relative Dünnheit der Wände der A. pulmonalis und der Semilunarklappen an der Wurzel der A. pulmonalis musste mit Sicherheit darauf führen, dass der Druck in der A. pulmonalis viel ge- ringer ist als der Druck in der Aorta. Es ist die Frage aufgeworfen worden, ob das Blut leichter durch die zusammengefallene oder durch die atisgespannte Lunge hindurch- fliesse. Man findet bei Vivisectionen, dass, wenn man die künstliche Eespiration einstellt und die Lunge zusammenfällt, der linke Ventrikel an Blut verarmt, und der rechte sich nicht mehr gehörig vom Blute entleert. Versuche, welche H. Quincke über diesen Gegenstand ange- stellt hat, ergaben, dass es nicht sowohl darauf ankommt, ob die Lunge ausgedehnt oder zusammengefallen ist, als vielmehr darauf, welcher Druck auf den Gefässen lastet, dass einmal durch die ausgebreitete Lunge das Blut leichter hindurchgehen kann, wenn sie, wie dies bei der normalen Inspiration der Fall ist, dadurch ausgedehnt worden ist, dass der Druck "in der Thoraxhöhle vermindert wurde, dass aber anderer- seits auch durch die entwickelte Lunge das Blut schwerer hindurchgehen kann als durch die zusammengefallene, wenn eben die Luft durch die Luftröhre eingepresst wird, statt in den Thorax eingesaugt zu werden. jV^ach de Jager nimmt bei der Inspiration die Capacität der Venen mehr zu, als die der Arterien, was auch ihrer geringeren Resistenz wegen natürlich erscheint. In erster Reihe wird also der Blutlauf durch die Capillaren beschleunigt. Erst secundäre Wirkung ist es, wenn auch mehr Blut in den linken Vorhof entleert wird; diese secundäre Wirkung muss aber dann auch bis in die Exspiration hineindauern, wo der Blut- lauf in den Lungencapillaren sich schon wieder verlangsamt hat. Greschwindigkeit des Bliitstromes. Unsere ganze Kenntniss von der Geschwindigkeit des Blutstromes beschränkt sich auf Daten aus dem grossen Kreislaufe, indem der kleine Kreislauf uns in dieser Beziehung mit Ausnahme der Lungencapillaren der Amphibien unzugänglich ist. Die Geschwindigkeit, mit welcher das Blut sich in den Capillargefassen bewegt, ist an der Schwimmhaut des Frosches zuerst gemessen worden, und zwar mit ziemlich übereinstimmen- den Resultaten von Ernst Heinrich Weber und von Valentin. Es hat sich hier herausgestellt, dass ein Blutkörperchen in den Capillaren der Froschschwimmhaut während einer Secunde wenig mehr als einen halben Millimeter Weglänge zurücklegt. Es ist dies auf den ersten An- blick überraschend für den, der eben unter dem Mikroskope die anschei- nend so grosse Geschwindigkeit gesehen hat, mit der sich die Blut- körperchen fortbewegen. Man muss aber nicht vergessen, dass die Geschwindigkeit gleich ist dem Räume dividirt durch die Zeit, und dass Geschwindigkeit des Blutstromes. 173 Fi}?. 29. das Mikroskop den Raum, wenigstens scheinbar, vergrössert, dass es aber die Zeit nicht vergrössert. Bei den fSäugethieren ist die Geschwindigkeit etwas grösser; Volkmann fand, dass im Mesenterium eines jungen Hundes die Blutkörperchen in der Secunde einen Weg von acht Zchntheilen eines Millimeters zurücklegten. Die Geschwindigkeit in den Arterien ist viel grösser. Sie ist zuerst von Yolkmann mittelst eines sogenannten Haemodromometers untersucht worden, einer langen, in zwei Schenkel U-förmig umgebogenen Glasröhre, deren Enden mit den durchschnittenen Enden einer Arterie verbunden wurden, und an der Vorrichtungen au- gebracht waren, vermöge welcher es möglich wurde, die Zeit des Ein- trittes und des Austrittes des hindurchströ- menden Blutes genau zu beobachten. Ein anderes Instrument für unseren Zweck hat Vierordt erfunden und Haemotachometer genannt. Es besteht in einem Kästchen, durch welches der Blutstrom geleitet wird und ein Pendel ablenkt. Aus der Ablenkung des Pendels wird auf die Geschwindigkeit des Blutstromes geschlossen, und zu diesem Zwecke wird das Instrument vorher empirisch graduirt, indem man defibri- nirtes Blut mit wechselnder Geschwindigkeit hindurchleitet, und die bei verschiedenen Ab- lenkungen des Pendels in der Zeiteinheit durch- fiiessenden Mengen misst. Endlich hat Ludwig in neuerer Zeit ein Instrument construirt, welches den Namen der Ludwig'schen Strom- uhr führt, und das auf dem Principe der Aichung beruht. K K Eig. 29 sind zwei Gefässe, die geaicht sind, das heisst, deren Inhalt genau bekannt ist, und welche oben mit einander communiciren. K ist im Aufriss, K, in äusserer Ansicht dargestellt. Sie stecken unten offen in einer Scheibe ^>ip, die auf einer anderen Scheibe s s luftdicht aufgeschliffen und drehbar ist. Durch diese letztere communiciren die Arterien- einsätze c und c, mit den Gelassen K und K,. Nachdem man die metallenen Röhrenstücke und das Glasgefäss A', mit Blut gefüllt hat, füllt man K von / aus mit üel. Ist nun die Richtung des Blutstromes von c nach c,, so füllt sich A' mit Blut, das das Oel vor sich hertreibt und in Kf hiuübcrdrängt, während das darin ent- haltene Blut bei c, ausfl-iesst. Sobald das Oel bei n ankommt, dreht man die Kugeln um ISO" um die Axe a h, so dass K an die Stelle von K, kommt. Nun wird das Oel wieder aus A', verdrängt und nach K geschoben iind so fort. Aus der Zahl der Wendungen, die man vor- genommen hat, berechnet man die Blutmenge, Avelche während einer gegebenen Zeit durch das Instrument "-eoano-en ist. Schon Volkmaun 1/4 Geschwindigkeit cles Blutstromes. fand bei seinen Untersuchungen mit dem Haemodromometer für die mittlere Stromgeschwindigkeit in der Carotis des Hundes sehr weit von einander abweichende Werthe; Werthe von 205 — 357 Mm. in der Secunde. Bei den Versuchen, die später Dogiel mit der Stromuhr von Ludwig an- stellte, hat es sich auch wieder gezeigt, dass in der That die Strom- geschwindigkeit in den Arterien in sehr hohem Grade variirt, und von sehr verschiedenen Umständen abhängig ist; so dass es nicht möglich ist, für ein bestimmtes Thier und eine bestimmte Arterie eine mittlere Stromgeschwindigkeit auch nur mit annähernder Genauigkeit anzugeben. Aber Eines geht doch aus allen Versuchen hervor, dass die Strom- geschwindigkeit in den grossen Arterien ausserordentlich viel grösser, 200 — SOOmal grösser als die Stromgeschwindigkeit in den Capillaren ist. Was heisst das? Das heisst nichts anderes, als dass der Querschnitt der Capillaren, die Breite des Strombettes in den Capillaren 200 bis SOOmal grösser ist, als der Querschnitt des Strombettes in den grossen Arterien. Die einzelnen Blutbahnen verengern sich am meisten in den Capillaren, indem sie so eng werden, dass die Blutkörperchen nur in einfacher Reihe hintereinander fortrücken: aber die Summe, der Ge- sammtstromquerschnitt, ist in den Capillaren bei Weitem am grössten. Wenn man von der Aorta anfängt und die Summe der Querschnitte ihrer Aeste zusammenzählt , so findet man, dass diese schon grösser sind, als der Querschnitt der Aorta, und überall, wo man die Querschnitte von zwei Arterienästen, in die sich ein Stamm gabelig theilt, durchmisst, findet man, dass die Summe dieser beiden Querschnitte grösser ist, als der Querschnitt des Stammes, aus dessen Spaltung sie hervorgegangen sind. Es nimmt also die Breite des Strombettes von der Wurzel der Aorta an im Arteriensysteme fortwährend zu, sie nimmt um so mehr zu, je mehr Theilungen erfolgen, und endlich erfolgt die rascheste Zu- nahme beim Uebergange in das Capillarsystem. Vom Capillarsystem aus nimmt der Querschnitt in den Venen erst schnell, dann langsam wieder ab, erreicht aber niemals wieder das Minimum, welches er am Anfange des Arteriensystems hatte: denn wenn Sie sich den Querschnitt der oberen und der unteren Hohlvene zusammengelegt denken, so erhalten Sie eine viel grössere Area, als sie der Querschnitt durch die auf- steigende Aorta bietet. Hieraus geht hervor, dass die Stromgeschwindig- keit in den Venen wieder zunimmt im Vergleiche mit der in den Capillaren, dass aber die mittlere Stromgeschwindigkeit in den Venen niemals so gross wird, wie sie in den grossen Arterien war. Wenn Ludwig 's Stromuhr wesentlich dazu diente, die mittlere Stromgeschwindigkeit zu ermitteln, so ist ein anderes Instrument von Chauveau erfunden worden, welches hierzu weniger geeignet ist, dafür aber die periodischen Veränderungen in der Stromgeschwindigkeit des Arteriensystems sichtbar macht. Dieses Instrument besteht in einer dünnen Röhre von Blech, Fig. 30 a b, die bestimmt ist, in den Verlauf einer durchschnittenen Arterie eingefügt zu werden. Sie hat eine kleine rechteckige Oeffnung, über welche eine dünne Lamelle von vulkanisirtem Kautschuk c gebunden ist. Durch diese und die rechteckige Oefi'nung wird die platte Nadel d d eingeführt, die aus ihrer senkrechten Lage wm so stärker abgelenkt wird, je grösser die Stromgeschwindigkeit im Rohre ah ist. gg ist ein Gradbogen, an dem diese Ablenkung abgelesen Geschwindigkeit dos Blutstromes. 175 wird, / eine Handhabe und o eine Tubulatur, die entweder verstopft oder nach Bedürfniss mit einem Manometer in Verbindung gesetzt werden kann. Vor dem Gebrauche wird das Instrument empirisch graduirt, indem man defibrinirtes Blut durch dasselbe hindurchtreibt, und die bei ver- schiedenen JSTadelablenkun- gen in der Zeiteinheit durch- '?■■'• gehenden Mengen misst. Hier- auf wird es in die Arterie eingesetzt. Das von Chau- veau coiistruirte war seinen Dimensionen nach für die Ca- rotis des Pferdes bestimmt, und seine Versuche sind auch an dieser gemacht worden. Es zeigte sich, dass die Nadel die grösste Ablenkung erreicht durch die Coutraction des Ven- trikels, dass dann aber, wenn die Contraction des Ventrikels nachlässt, die Geschwindigkeit plötzlich abfällt und die Nadel unmittelbar vor dem Ver- schluss der Semiluuarklappeu ganz oder nahezu auf Null zurückgeht. Das hängt damit zusammen, dass in diesem Augenblicke in der Aorta eine rückläufige Bewegung stattfindet. In dem Augenblicke, in welchem der Ventrikel erschlafft, sollen sich ja die Semilunarklappen schliessen. Die Semilunarklappen liegen aber zu dieser Zeit an der Wand der Aorta, und eine Portion Blut liegt zwischen ihnen und an der Seite der Klappen, welche dem Ventrikel zugewendet ist. Diese Portion Blut muss also nothwendig in den Ventrikel zurückfallen, denn die Klappen haben ja keine eigene Bewegung, sondern sie haben nur passive Bewegung, indem sie die Bewegung des Blutes mitmachen. Erst wenn diese Portion Blut in den Ventrikel zurückgefallen ist, werden die Klappen sich voll- ständig geschlossen haben. Nun kann aber diese Portion Blut nicht in den Ventrikel zurückkehren, ohne dass nicht die Blutsäule in der Aorta theilweise eine rückläufige Bewegung machte. Es existirt also im Aorteu- systeme ein Moment, in welchem das Blut leichter gegen das Herz hin, als gegen die Capillaren hin ausweicht, und das ist der Moment, in dem die Geschwindigkeit in der Carotis ganz oder nahezu Null wird, die Nadel auf ihren Nullpunkt zurückkehrt. Sind die Klappen einmal ge- schlossen, dann weicht das Blut nicht mehr gegen das Herz hin aus, die elastische Zusammenziehung der Arterien dauert aber fort, das Blut bekommt also im Arteriensystem jetzt einen zweiten Impuls, und dieser ist es, welcher den physiologischen, den normalen pulsus dicrotus her- vorbringt. Dieser zweite Impuls treibt das Blut wieder fort, die Ge- schwindigkeit erreicht wieder ein Maximum, das aber unter dem ersten Maximum steht, und dann sinkt sie wieder bis zum Beginne der neuen Systole. Die Zahlen, welche Chauveau mit seinem Instrumente gefunden hat, sind folgende: Die Geschwindigkeit im ersten Maximum beträst 176 Die Dauer des Kreislaufes. Der Herzstoss. iu der Carotis des Pferdes im Mittel 52 Cm., die im zweiten Maximum beträgt im Mittel 22 Cm. uud von da sinkt die Geschwindigkeit auf etwa 15 Cm. in der Secunde, um sich dann wieder mit der neuen Systole auf 52 Cm. zu steigern. Durch äussere Umstände wird die Ge- schwindigkeit leicht geändert, namentlich bringt das Fressen eine bedeu- tende Steigerung hervor. Die Dauer des Kreislaufes. Eine andere Frage ist die: In welcher Zeit vollendet sich der Kreislauf? Wie lange dauert es, dass das Blut, welches von einem Punkte ausgeht, wieder an denselben Punkt zurückgelangt ist? Darüber existiren Versuche von Hering in Stuttgart. Er stellte sie au Pferden in der Weise an, dass er in die eine Jugularvene einen kleinen Trichter ein- setzte, und, indem er sie unter dem Trichter comprimirte, in den letz- teren Blutlaugensalz eingoss und dann dasselbe auf ein gegebenes Zeichen in die Jugularvene eintreten liess. Die andere Jugularis wurde ange- schlagen und in Zeiten von fünf zu fünf Secunden wurden Proben von dem austliessenden Blute genommen. Dasselbe wurde hinterher mit Eisenchlorid untersucht und auf diese Weise ermittelt, wann die erste Portion blutlaugensalzhältigen Blutes wiederum in der andern Jugularis angekommen war. Es zeigte sich, dass der Kreislauf sich in 25 bis 30 Secunden, manchmal auch noch früher vollendete. Der Herzstoss. Wir haben jetzt die Mechanik des Kreislaufes so weit kennen ge- lernt, dass wir uns mit einem in physiologischer Hinsicht zwar unschein- baren, aber praktisch wichtigen Gegenstande beschäftigen können, nämlich mit dem Herzstosse und mit den Herztönen. Der Herzstoss wird ver- schieden definirt. Einige bezeichnen den Herzstoss als den' Choc, welchen die Hand empfindet, wenn sie auf die Herzgegend aufgelegt wird. Andere bezeichnen den Herzstoss als die Hervortreibung eines Eippenzwischen- raumes durch das Herz, oder, wie sie sich gewöhnlich ausdrücken, durch die Herzspitze. Es handelt sich darum, zu ermitteln, was hier vorgeht, und in welcher Weise das Herz die Brustwand in Bewegung setzt, be- ziehungsweise einen Zwischenrippenraum hervorwölbt. Man hat den Herz- stoss zu beschreiben und zu erklären gesucht nach Beobachtungen, welche theils an Thieren gemacht worden sind, denen man die Brusthöhle öffnete, theils an Thieren oder Menschen, bei denen entweder das Herz unmittel- bar zugänglich war, oder doch iu den knöchernen Theilen der Thorax- wand ein solcher Defect vorhanden war, dass die untersuchende Hand nur durch häutige Bedeckungen vom Herzen getrennt war. Ehe man aber das hier Beobachtete verwerthet, muss man sich klar machen, dass in allen diesen Fällen ausnahmslos die Herzbewegung nicht so von Statten ging, wie sie im normalen Zustande vor sich geht. Wenn Sie das Herz eines Frosches anfangs so blosslegeu, dass es noch im Herzbeutel eingeschlossen ist, und dann die vordere Wand des Herzbeutels weg- nehmen, so werden Sie den grossen Unterschied nicht verkennen können Der Herzstoss. 177 der in der ganzen Gestalt der Herzbewegung sofort eintritt. Die normalen Widerstände, welche die freie Bewegung des Herzens einschränken, üben einen wesentlichen Einiluss auf die ganze Gestalt dieser Bewegungen aus. Wenn ein Theil dieser Widerstände weggenommen, oder wenn sie alle weggeräumt sind, sieht man die Herzbewegungen nicht so, wie sie in Wirklichkeit stattfinden, man sieht sie anders. Nichtsdestoweniger werden wir uns doch die Bewegung, welche das ungehemmte Herz macht, an- schaulich machen müssen, um die Bewegung des gehemmten Herzens im lebenden, im normalen Zustande zu verstehen. Wenn das Herz in der Diastole angefüllt ist, so bietet seine er- schlaffte Wand trotz der Anfüllung einen geringen Widerstand, und auch die Vorhof Systole ändert daran nicht viel, weil die Muskulatur der Vor- höfe eine verhältnissmässig schwache ist, und sie auch bei ihrer Zu- sammenziehung keinen wesentlichen Widerstand findet. Anders verhält es sich aber von dem Augenblicke an, wo sich die Muskulatur der Ven- trikel zusammenzieht. Von diesem Augenblicke an wird das Blut in dem Herzen unter einen Druck gesetzt, der sich so hoch und höher steigert, als das Maximum des Druckes in der Aorta ist, denn nur da- durch, däss der Druck im Herzen grösser ist, als in der Aorta, fliesst ja das Blut aus dem Herzen in die Aorta hinein. Das Herz hat dabei einen wesentlichen Widerstand zu überwinden, nämlich der linke Ven- trikel den Widerstand des ganzen grossen Kreislaufes, der rechte den des ganzen kleinen Kreislaufes. Von dem Augenblicke an wird das Herz prall, und es wird mit nicht unbedeutender Gewalt in eine neue Lage ein- zutreten suchen. Diese ist aber nicht ausschliesslich abhängig von der neuen Gestalt des Herzens, sondern auch von der Lage und Gestalt der grossen Arterien, an denen das Herz aufgehängt ist, und diese wird wiederum dadurch verändert, dass das Herz Blut in dieselben hineintreibt. Indem das Herz sich zusammenzieht, verkleinert es sich auch. Es hat das Maximum an Grösse im Beginne der Systole, das Minimum am Ende der Systole. Es strebt dabei einer bestimmten neuen Gestalt zu, der Gestalt des contrahirten leeren Herzens. Wie unterscheidet sich diese von der Figur des vollen Herzens? Nach den Untersuchungen, welche Ludwig und Andere darüber angestellt haben, ändert sich der Ventrikel bei seiner Zusammenziehung so, dass er erstens kürzer wird, zweitens dass sein Querdurchmesser abnimmt, dass das Herz also schmäler wird; der dritte Durchmesser, der Durchmesser von vorn nach hinten, ändert sich am wenigsten. Die wesentliche Verkleinerung des Herzens findet also statt im Längendurchmesser von der Basis nach der Spitze und im Durchmesser von rechts nach links. Wenn man sich dabei noch oben eine Schuittebene durch die Atrioventriculargrenzen gelegt denkt, so bildet sowohl das sich contrahirende volle, als das contrahirte leere Herz mit seinen Ventrikeln einen Kegel, dessen Basis jene Schnittebene, dessen Spitze die Herzspitze ist, und dessen nach hinten und unten gewendete, auf dem Zwerchfell ruhende Seite abgeflacht ist. Mit der Systole hebt sich die Herzspitze von links und hinten nach vorn und rechts. Das Herz macht dabei vermöge seiner Befestigung an der Aorta und der A. pulmonalis und der Art und Weise, wie diese umein- ander gedreht sind, eine leichte Axendrehung, die schon Kürschner beobachtete und beschrieb. Bi'üclfe. Vorlesungen I. 4. Aufl. 12 17ö Der Herzstoss. Diese Bewegung muss in dem Augenblicke beginnen, in dem. die Systole beginnt, und sich, im Laiife derselben vollenden. Mit dem Ende derselben fällt das Herz erschlafft zurück und folgt theils dem Drucke der umgebenden Theile, tbeils dem des einerseits von den Vorhöfen aus, andererseits durch die Coronarien eintretenden Blutes. In dieser systolischen Bewegung ist nun das Herz durch die Thorax- wand relativ gehindert, und indem die Thoraxwand diese Bewegung theilweise hindert, wird sie durch das sich contrahirende Herz erschüttert, sie fängt den Choc des Herzens auf. Man hat gesagt, das Herz bringt den Stoss hervor, indem es gegen die Thoraxwand anschlägt. "Wenn das Herz gegen die Thoraxwand anschlagen sollte, so müsste es sich erst vorher von der Thoraxwand entfernen können; das kann es aber nur sehr bedingungsweise. Ein leerer oder ein mit Flüssigkeit gefüllter Eaum zwischen dem Herzen und dem Thorax existirt nie. Sie wissen, dass die Menge der Herzbeutelflüssigkeit im normalen Zustande so gering ist, dass das Herz sich nicht frei in derselben bewegen kann, sondern dass alle Bewegungen des Herzens nur unmittelbar an der Wand des Herzbeutels stattfinden. Sie wissen ferner, "dass der Herzbeutel durch Bindegewebe mit der vorderen Wand des Thorax verbunden ist, dass aber allerdings dieses Bindegewebe verschiebbar ist, und dass ein Theil der linken Lunge bald mehr zwischen das Herz und die Thoraxwand eindringt, bald sich mehr zurückzieht. Die Lage des Herzens im Thorax ist deshalb eine andere in der Inspiration, in welcher sich die Lunge mehr vorschiebt, und in der Exspiration, bei welcher sie mehr zurück- geht. Sie ist eine andere, wenn das Individuum auf dem Rücken liegt, indem dann die Schwere des Herzens dasselbe von der Thoraxwand ab- zieht, sie ist eine andere, wenn das Individuum nach vorneüber liegt, so dass also die Schwere des Herzens dasselbe gegen die Thoraxwand anlegt. Ein Zurückgehen und ein Anschlagen des Herzens gegen die Thoraxwand kann im eigentlichen Sinne des Wortes nie stattfinden, sondern nur ein Erschüttern der Thoraxwand, welcher das Herz anliegt. Man hat ferner gesagt: das Herz bringt seinen Stoss hervor, indem es mit der Spitze nach abwärts stösst. Ob das Herz mit der Spitze nach, abwärts stösst, das lässt sich nicht allgemein entscheiden, es lässt sich auch nicht speciell bei einem einzelnen Individuum sagen, solange das- selbe intact ist, solange man an demselben nicht experimentirt, wie man an Menschen nicht experimentiren darf. Die Sache ist folgende. Wenn das Herz sich zusammenzieht, werden die Ventrikel kürzer, zugleich, treibt es aber Blut in die A. pulmonalis und in die Aorta hinein. Die Räume dieser beiden Gefässe werden nicht nur nach der Dicke, sondern auch nach der Länge ausgedehnt. Dadurch, dass das Herz sich verkürzt, würde die Herzspitze nach aufwärts rücken; dadurch, dass die grossen Gefässe sich verlängern, würde das Herz nach abwärts rücken. Es handelt sich also darum, wie sich bei den einzelnen Thieren und bei den einzelnen Menschen diese beiden Verschiebungen compensiren. — Wenn man bei einem Hunde einen Schlitz in die Bauchwand macht und den Finger unter das Diaphragma einführt, so hat man allerdings das Gefühl, als ob das Herz bei jeder Systole nach abwärts gegen den Finger anstiesse: Versuche aber, die ich an einem Kaninchen angestellt habe, haben zu einem andern Resultate geführt. Ich stecke durch die Die Herztöne. 179 Zwischenrippenräume feine Nadeln mit der Spitze bis iu das Herzfleisch hinab. Dann neigen sich mit der Systole der Ventrikel diese JN"adeln um ao mehr gegen das Kopfende des Thieres, je näher sie den Ostien stecken. Die Nadel in der Herzspitze neigt sich nicht. Sie macht nur bei jeder Systole eine leichte zitternde Bewegung. Das heisst nichts anderes als: Alle Theile des Ventrikels bewegen sich während der Systole nach ab- wärts, nur die Herzspitze nicht. Sie bewegen sich um so mehr nach abwärts, je näher sie den Ostien liegen. Hier wird also die Verlängerung der grossen Gefässe durch die Verkürzung des Ventrikels genau com- pensirt. Im Augenblicke, wo das Thier stirbt, legen sich alle Nadeln nach abwärts, sie neigen sich mit ihren Köpfen dem Fussende des Thieres zu, die in der Herzspitze am wenigsten, und die, welche den Ostien am nächsten steckt, am meisten. Das Herz ist jetzt erschlafft, die grossen Arterien entleeren sich, und in Folge ihrer Entleerung und vermöge ihrer Elasticität contrahiren sie sich, und Aorta und Carotiden zerren den Ventrikel gegen das Kopfende des Thieres hin aus. Das ist auch der Zustand, in dem Sie in allen Leichen das menschliche Herz vor- finden. Sie finden in keiner Leiche das Herz in seiner natürlichen Lage, sondern Sie finden immer die arteriösen Ostien in unnatürlicher, in einer dem Leben nicht entsprechenden Weise nach aufwärts gezerrt, wegen der Zusammenziehung der grossen Arterien nach dem Tode. Ob also das Herz mit seiner Spitze nach abwärts stösst, kann man nicht mit Bestimmtheit behaupten, und wenn man es von einem Men- schen wüsste, würde man es darum noch nicht von allen wissen, weil hier möglicherweise individuelle Verschiedenheiten vorkommen können. Nach den anatomischen Verhältnissen ist es nicht wahrscheinlich, dass sich beim Menschen die Herzspitze während des Verlaufes der Systole nach abwärts bewegt. Insofern ein Spitzenstoss stattfindet, findet er also voraussichtlich im ersten Momente der Systole statt, in dem Momente, wo sich die Ventrikel um ihren Inhalt spannen, aber noch keine in Betracht kommende Blutmenge ausgetrieben ist. Wodurch wird nun die Kraft für den Herzstoss aufgebracht? Die Kraft für den Herzstoss wird offenbar durch das Herz selbst aufgebracht. Das Herz erschüttert die Brustwand dadurch, dass es bei seiner Contraction seine Lage zu verändern sucht und dabei ein harter Körper wnrd, und das geschieht wiederum dadurch, dass es beim Austreiben des Blutes in das Arteriensystem einen bedeutenden Widerstand findet. Die Pro- pulsionskraft des Herzens einerseits und andererseits der Widerstand, den das Herz beim Austreiben des Blutes findet, sind die Factoren, ver- möge welcher der Druck im Herzen in die Höhe getrieben wird. Es sind ganz dieselben Factoren, durch welche der Druck in den Arterien in die Höhe getrieben wird. In der That bilden ja während der Systole des Herzens, während die Semilunarklappen offen sind, Herz und Arterien einen und denselben Hohlraum und der Herzstoss ist nichts Anderes als der Pulsschlag des Herzens. Die Herztöne. Es existiren bekanntlich zwei Herztöne, von denen der erste mit der Systole des Ventrikels zusammenfällt und der zweite der Systole 12* 180 Die Herztöne. nachfolgt. Als die Ursache des ersten Herztones muss man zunächst die Spannung der Klappen und der Sehnenfäden in Anspruch nehmen. Wenn Sie ein Tuch plötzlich zupfend anspannen, so gibt es einen Ton; das geschieht dadurch, dass das Gewebe in Schwingungen um seine Gleich- gewichtslage versetzt wird. Ganz dasselbe muss nun mit den Klappen und mit den Sehnenfäden geschehen, sobald sie durch die Systole des Herzens gespannt werden. Es macht keinen wesentlichen Unterschied, dass die Klappen nicht in der Luft, sondern in einer Flüssigkeit, im Blute, schwingen, indem die Schwingungen aus der Flüssigkeit an feste Theile, von den festen Theilen an das Stethoskop und sodann an das Ohr über- tragen werden. Einen wie wesentlichen Antheil die Klappen an dem ersten Herztone haben, zeigt sich auch bei Insufficienz der einen oder andern Atrioventricularklappe, weil man bei solcher i hört, dass in dieser Herzhälfte der normale Herzton nicht nur erin Geräusch neben sich hat, sondern in ein Geräusch ausgezogen, oder völlig in ein Geräusch um- gewandelt ist, indem nun die Klappe weniger gespannt wird, und dafür Blut mit einem Geräusche aus dem Ventrikel in den Vorhof regurgitirt. Als zweites Moment für die Erzeugung des ersten Herztones hat Charles Williams das sogenannte Muskelgeräusch in Anspruch ge- nommen. Wenn man seinen M. biceps contrahirt und auf denselben einen kleinen Trichter setzt, der mit einem Kautschukrohre verbunden ist, dessen anderes Ende man ins Ohr bringt, so hört man ein dumpfes, summendes Geräusch. Es entsteht durch das Vibriren des Muskels selbst und der Theile, mit welchen er verbunden ist. Man kann in diesem Geräusche eine bestimmte Tonhöhe unterscheiden, und diese hängt, wie Helmholtz gezeigt hat, ab von der Zahl der Einzelcontractionen, welche der Muskel in der Zeiteinheit macht, um sich eben im tetanischen, im Contrahirten Zustande zu erhalten. Die dauernde Contraction der Skeletmuskeln ist nämlich kein wirklich continuirlicher Act, sie kommt dadurch zu Stande, dass der Muskel sich vielmal und so rasch hinter- einander zusammenzuziehen sucht, dass er keine Zeit hat, dazwischen zu erschlaffen. Es wird also in einem solchen Muskel immer von neuem und von neuem Spannung erzeugt und dadurch geräth er in Vibration, Dieses Muskelgeräusch hat nun, wie gesagt, Charles Williams als einen wesentlichen Bestandtheil des ersten Herztones in Anspruch ge- nommen. Es lässt sich dagegen a priori anführen, dass von allen Muskeln des menschlichen Körpers gewiss das Herz derjenige ist, welcher sich unter den ungünstigsten Bedingungen für die Hervorbringung eines solchen Muskelgeräusches befindet. Erstens hat das Herz keine Ursprungs- und keine Anheftungssehnen, wie die Skeletmuskeln, und zweitens ist das Herz nicht mit festen Theilen, mit Knochen verbunden, die es ein- ander zu nähern sucht, sondern es zieht sich nur um Blut zusammen. Ja noch mehr: nach dem, was wir bis jetzt über die Herzcontraction wissen, können wir dieselbe auch als einen continuirlichen Act ansehen, nicht, wie die dauernde Contraction der Skeletmuskeln, als einen Act, der aus einer Eeihe von einzelnen Impulsen zusammengesetzt ist, A priori ist es im hohen Grade unwahrscheinlich, dass das Muskelgeräusch eine wesentliche Rolle bei der Erzeugung des ersten Herztones spiele. Nichtsdestoweniger haben Ludwig und Dogiel gefunden, dass ein relativ leeres Herz, ein Herz, das nur noch wenig Blut enthält, viel zu Die Mechanik der Herzpumpe. 181 wenig Blut, als dass die Atrioventricularklappen noch durch dasselbe in der gehörigen Weise gespannt würden, noch einen mit der Systole zusammenfallenden Ton gibt. Es kann dabei nicht die Rede sein von einer Täuschung, die von einem Anschlagen oder Reiben des Stethoskops an der Ohrmuschel herrührt, denn es war als Schaltstück zwischen dem Ohr und der stethoskopischen Vorrichtung, welche sie anwendeten, immer ein Kautschukschlauch angebracht, und sie haben auch das Material der stethoskopischen Yorrichtung mehrmals geändert, um nicht durch einen Ton getäuscht zu werden, den das sich contrahirende Herz au der stethoskopischen Vorrichtung hervorbringt. Als drittes Moment, welches zur Erzeugung des ersten Herztoues mitwirken soll, ist auch das Anschlagen des Herzens an die Brustwand angeführt worden. Wir haben aber bereits gesehen, dass das Herz nicht wie ein Hammer an die Brustwand anschlägt, und dass also von einem Tone, der durch dieses Anschlagen erzeugt würde, nicht die Rede sein kann. Wohl aber haben wir gesehen, dass das Herz die Brustwand erschüttert, und da in ihm selbst akustische Impulse in dem Momente erzeugt werden, wo es sich fest an die Brustwand anlegt, so müssen auch diese akustischen Impulse als solche an die Brustwand direct über- tragen werden; es kann also auch die Brustwand selbst, indem sie in Schwingungen versetzt wird, zur akustischen Verstärkung des ersten Herztones beitragen, wenigstens insofern, dass derselbe in grösserer räum- licher Ausdehnung hörbar ist, als ihn ein nacktes Herz hören lassen würde. lieber die Entstehung des zweiten Tones ist kein Zweifel. Der zweite Herzton entsteht in der Aorta durch das Zusammenschlagen ihrer Semilunarklappen und ebenso in der A. pulmonalis. Das wird auch durch die Art der Geräusche bestätigt, welche man hört, wenn die Klappen an der Wurzel der Aorta insufficient geworden sind, also das Blut wäh- rend der Diastole in den Ventrikel zurückfällt. Die Mechanik der Herzpiimpe. Kehren wir jetzt noch einmal zur Mechanik der Herzpumpe zurück, um diese noch etwas genauer ins Auge zu fassen. Wir haben, als wir das Herz im Allgemeinen und speciell das Herz der Fische betrachteten, gesehen, dass sich an der Grenze der Hohlvene und des Vorhofes eine Klappe befindet, welche bei der Contraction des Vorhofes die rückgängige Bewegung in die Vene hindert. Ich habe schon damals gesagt, dass diese Klappe bei den meisten Säugethieren nur rudimentär vorkommt, und beim Menschen kaum noch eine Spur derselben zu sehen ist, wenn man nicht das sogenannte Tuberculum Loweri noch als einen Rest davon ansehen will. Wie geht es zu, dass der Mensch, wenn ich mich so ausdrücken darf, diese Klappe nicht braucht, dass beim Menschen und auch bei denjenigen Säugethieren, welche diese Klappe nicht haben, doch keine Regurgitation gegen die Hohlvenen und Lungenvenen hin stattfindet? Wir haben gesehen, dass sich zuerst die Hohlvenen und die Lungen- venen contrahiren, da, wo sie in das Herz einmünden, und dass diese Contraction unmittelbar in die Contraction der Vorhöfe übergeht. Zuerst also wird einmal die Einmündnnssstelle der Venen in den Vorhof ver- 182 Die Mechanik der Herzpumpe. engt; sie wird nicht verschlossen, weil hier keine Klappen sind, aber sie wird verengert, und dadurch für das zurückfliessende Blut schon ein grösserer Widerstand gesetzt. Zu gleicher Zeit findet das Blut aber einen äusserst geringen Widerstand, wenn es aus dem Vorhofe in den Ventrikel übergeht, und es ist deshalb gar keine Ursache für dasselbe vorhanden, sich nach rückwärts gegen die Venen hin zu bewegen. Es findet keinen Widerstand beim Uebergange in die Ventrikel, weil zu dieser Zeit die Ventrikel erschlafft und die Klappen offen sind, so dass gar keine bestimmte Grenze zwischen der Höhle des Vorhofes und der Höhle des Ventrikels existirt. Es ist hier beim Menschen nicht wie bei den Amphibien eine Enge zwischen Vorhof und Ventrikel, sondern Vor- hof und Ventrikel stehen durch eine sehr weite Communication mit ein- ander in Verbindung, so dass sie einen gemeinsamen Sack bilden, der nicht einmal durch eine vorspringende Grenzleiste in zwei Theile getheilt ist. Zweitens hat aber auch das Blut gar keine irgendwie in Betracht kommende Ortsbewegung zu machen, um aus dem Vorhofe in den Ven- trikel zu gelangen, denn indem der Ventrikel erschlafft, rückt einfach die Grenze zwischen Vorhof und Ventrikel nach aufwärts. So gut wie man sagt: der Vorhof stösst das Blut in den Ventrikel hinein; so gut kann man auch sagen: der Vorhof zieht den Ventrikel über das Blut hinüber; ein Theil des Ventrikels erleidet eine grössere Ortsveränderung als ein Theil des Blutes, das in den Ventrikel übergeht. Endlich hat das Blut nicht einmal nöthig, die Herzhöhle, in welche es aufgenommen werden soll, zu erweitern, sondern diese Herz- höhle erweitert sich von selbst. Wir haben schon gesehen, dass, wenn das Herz sich zusammenzieht, der Herzbeutel und die umgebenden Theile einen gewissen, wenn auch nur geringen Widerstand entgegen- setzen, und dass damit die Herzaspiration zusammenhängt. Da nun das Herz wieder erschlafft, so werden die elastischen Kräfte, die bei der Systole erzeugt wurden, so weit sie nicht für die Herzaspiration ver- braucht worden sind, in der entgegengesetzten Richtung wirken, und schon dadurch wird der Erweiterung des Ventrikels Vorschub geleistet. Es ist aber noch ein anderes Moment vorhanden, durch welches die Herzhöhle ausgedehnt wird. Man setze in die Aorta eines todten Herzens eine lange Eöhre, die man senkrecht stellt, schneide den rechten Vorhof auf, so dass die Flüssigkeit, die man durch die Bohren in die Coronar- arterien eintreibt, aus der Coronarvene frei nach aussen ablaufen kann, nicht in den Vorhof und in den Ventrikel hineingelangt. Wenn man nun Wasser in die Eöhre hineingiesst, so sieht man unter dem steigenden Drucke des Wassers, das durch die Coronargefässe geht, das Herz, wenn ich mich so ausdrücken soll, sich entfalten, so dass man die Finger in die leeren Ventrikel hineinstecken kann, deren Höhle eben durch den Druck der Flüssigkeit geöffnet ist. Es rührt dies daher, dass das ent- faltete, das entwickelte Herz mehr Blut in seine Gefässe aufnehmen kann, als das zusammengezogene. Es sind also alle möglichen Bedingungen vor- handen, um das Blut, welches aus dem Vorhofe kommt, in die Herzhöhle aufzunehmen, ohne dass es bei der Systole der Vorhöfe gegen die Venen hin zurückgetrieben würde. Da dieses Entfalten durch den Druck des Blutes in den Coronar- gefässen erfolgt, so muss ja auch, wenn sich das Herz wieder zusammenzieht, Die Mechanik der Herzpuinpe. LÖO dieser Druck überwunden werden, und es fragt sich nun, ob das Herz ihn vollständig zu überwinden hat, oder ob vielleicht ein Theil dieser Arbeit dem Herzen erspart wird. Das Urtheil darüber hängt ab von der Meinung, die man über den controversen Punkt hegt, ob die Coronar- arterien durch die heraufgeschlagenen Semilunarklappeu während der Systole zugedeckt werden oder nicht, denn in ersterem Falle kann nach dem Zustandekommen dieses Verschlusses kein Blut mehr aus der Aorta in die Coronararterien einströmen. Ich will Ihnen nun die Gründe vor- tragen, die dafür und dagegen geltend gemacht worden sind, und im Vorhinein bemerken, dass ich zu denjenigen gehöre, welche der Ansicht sind, dass die Coronarostien durch die heraufgeschlagenen Semilunar- klappeu geschlossen werden. Man hat zunächst gesagt: die Coronararterien können nicht gedeckt werden, weil sie in der Eegel ausserhalb der Sinus Valsalvae entspringen. Das ist nicht richtig. Ausserhalb des Sinus Valsalvae entspringen von 100 Coronararterien etwa 4, alle übrigen Coronararterien entspringen entweder in der Linie, welche den Sinus Valsalvae nach oben begrenzt, oder in dem Sinus Valsalvae selbst. Man hat weiter gesagt, während der Systole des Herzens müssen die Coronarostien nach oben gezogen werden, und also um so mehr dem Bereiche der Klappen entzogen werden, weil ja bei der Systole der Ventrikel die Aorta in die Länge ausgedehnt wird. Nun ist es aber, wie Ihnen wohl bekannt sein wird, eine allgemeine Eigenschaft der Flüssigkeit, also auch des Blutes, dass sich ihr Druck nicht blos in einer Richtung, sondern nach allen Eichtungen gleichmässig fortpflanzt, es ist deshalb auch nicht abzusehen, wie durch den Druck des Blutes die Coronararterien, wenn sie einmal innerhalb der Sinus Valsalvae ent- springen, aus den Sinus Valsalvae herausgezerrt werden können, und das geschieht auch thatsächlich nicht. Ich habe eine Reihe von Aorten mit einer Gypsmasse unter hohem Drucke ausgegossen, theilweise unter Drucken, wie sie im lebenden Körper normaler Weise gar nicht vor- kommen. Stets zeigte sich, dass dies auf die Coronarien gar keinen Ein- fluss hatte ; sie entsprangen in den untersuchten Aorten nach wie vor aus dem Sinus Valsalvae und unter der Linie, welche den Sinus Valsalvae von der übrigen Aortenwand trennt. Richtig ist es aber, dass bei weitem die meisten Coronarostien in der Leiche von der dazu gehörigen Klappe nicht gedeckt werden. Wenn man Ventrikel und Aorta aufschneidet und die Klappen herauflegt, so findet man in der Regel, dass der Rand der Klappe nicht über dem Coronarostium, sondern gerade unter demselben hinweggeht. Das hängt damit zusammen, dass ein Theil der Klappe an das Herzfleisch angewachsen ist, und sich deshalb nur mit diesem be- wegen kann. Dieser angewachsene Theil ist im Herzen, so wie man es in der Leiche findet, schräg nach abwärts gerichtet, indem Aorta und Arteria pulmonalis bei ihrer postmortalen Verkürzung die äusseren Schichten des Herzfleisches, an denen sie zunächst befestigt sind, stärker nach aufwärts gezogen haben als die inneren. Wenn ich nun die Klappe am Leichenherzen gegen die Aorta hinaufzulegen suche, so lege ich nicht die ganze Klappe hinauf, sondern nur den freien Theil. Sie erscheint mir deshalb zu kurz, und zwar fast um die doppelte Breite des 1 84 Die Mechanik der Herzpumpe. angewachsenen Theiles, denn erstens fehlt er mir beim Hinauflegen und zweitens ist er schräg nach abwärts gerichtet und verlegt dadurch die Umbiegungsstelle, wenn ich mich so ausdrücken darf, das Gelenk der Klappe, noch nach abwärts. Ganz anders verhält es sich während der Systole der Ventrikel im lebenden Körper. Ich muss hier vorwegnehmen, dass der lebende Muskel eine viel geringere Consistenz hat als der todte, dass er den Impulsen der Schwere fast wie eine flüssige Masse folgt, und dass er, nach den Untersuchungen von Eduard Weber, selbst während seiner Contraction weich bleibt und erst hart wird, wenn er anfängt, seine eigene Substanz zusammenzudrücken, oder wenn durch einen Widerstand eine solche Spannung in ihm erzeugt wird, dass er dadurch hart wird. Ich kann auf die näheren Ursachen hievon augenblicklich nicht eingehen: ich will nur im Allgemeinen bemerken, dass, wenn irgend ein Molekül eine Ten- denz hat nach einer bestimmten Eichtung fortzuschreiten, es dadurch anderen Impulsen nicht unzugänglich ist, sondern wie ein ruhendes Molekül noch seitlich und in gleicher Eichtung fortgeschoben werden kann, und nur einen Widerstand entgegensetzt, wenn man es in der entgegen- gesetzten Eichtung bewegen will. Die ganze Masse des Herzens ist also, wie man dies bei der Contraction des lebenden leeren Herzens auch wahrnehmen kann, vollkommen weich, es sind die inneren Schichten des Herzfleisches gegen die äusseren Schichten desselben leicht verschiebbar. Während der Systole der Ventrikel nun unterliegen die ersteren dem Drucke der letzteren. Sie bewegen sich also in ähnlicher Weise gegen den Ort des kleiasten Widerstandes hin, wie es das Blut selbst thut. Der Ort des kleinsten Widerstandes ist aber die Aorta, da geht das Blut hin, und gegen diese hin verschiebt sich auch die innere Partie des Herzfleisches. Es richtet sich also der Theil der angewachsenen Klappe, der im todten Zustande nach abwärts gerichtet war, nach auf- wärts, und dadurch reicht die Klappe fast um die doppelte Breite der angewachsenen Partie weiter hinauf. So ist sie nun allerdings im Stande, das Coronarostium zu schliessen. Man hat behauptet, dass zwar bei vielen Thieren, aber nicht beim Menschen, die Klappen am Herzjleische angewachsen seien. Der directe Augenschein lehrt, dass dies doch der Fall ist. Man mache einen Längs- schnitt, der gleichzeitig Coronarostium, Klappe und Herzfleisch trifft, und man wird sich leicht überzeugen, dass die mit dem Herzfieische verwachsene Zone in der That vorhanden ist, wenn auch nicht in solcher Breite, wie sie bei manchen Säugethieren vorkommt. Man hat ferner gesagt: Es ist ganz gleichgiltig, ob die Klappe während der Systole bis über das Coronarostium hinaufreicht oder nicht, weil sie sich doch nicht an die Wand der Aorta anlegt. Man hat dafür verschiedene Gründe angegeben. Erstens hat man gesagt, die Eänder der Klappe seien zu kurz, sie könnten sich gar nicht so weit ausbauchen, dass sie sich an die Aortenwand anlegen, sie bildeten vielmehr während der Systole ein Dreieck mit mehr oder weniger bogenförmigen Seitenrändern. Es ist vollkommen richtig, dass die Eänder der Klappe zu kurz sind, wenn man sich vorstellt, dass dieselben sich in die Concavitäten der Sinus Valsalvae hineinlegen sollen; sie sind aber nicht zu kurz, wenn sie, wie wir es nach dem, was ich Die Mechanik der Herzpurape. 185 oben über die angewachsene Zone und die Bewegung des Herzfleisches gesagt habe, annehmen müssen, so weit gehoben werden, dass sie sich nicht in die Concavität der Sinus Valsalvae hineinlegen, sondern an die Wand der Aorta, da, wo sie die obere Grenze des Sinus Valsalvae bildet und in denselben übergeht. Dass sie dafür nicht zu kurz sind, davon kann man sich durch Messungen überzeugen, welche man einmal macht an der Circumferenz der Aorta und das andere Mal an den Eändern der ausgespannten Klappe. Man hat weiter empirisch zeigen wollen, dass die Klappen sich nicht an die Wand der Aorta anlegen. Man hat dazu verschiedene Wege eingeschlagen. Man hat erstens die Aorta vom Ventrikel aus mit einer Talgmasse injicirt und, während dieselbe hineingetrieben wurde, die Aorta zugeklemmt. Hinterher, nachdem die Masse erstarrt war, machte man Durchschnitte, und nun wurden allerdings die Klappen nicht an der Wand anliegend gefunden, sondern in der Injectionsmasse mit ihren Eändern ein Dreieck bildend. Der Erfolg ist aber durchaus be- greiflich, denn die Klappen werden ja nur mit ihren Rändern an der Wand festgehalten durch den fortschreitenden Flüssigkeitsstrom; sobald man diesen Strom unterbricht, so gehen sie in ihre frühere Gleich- gewichtslage zurück, sie entfernen sich von der Wand und begeben sich dahin, wo man sie nachher auf Durchschnitten gefunden hat. Man hat auch einen andern Versuch angestellt, welcher darin bestand, dass man die Aorta über dem Sinus Valsalvae und über den Ostien der Coronar- arterien abschnitt, dann in den Stumpf eine Glasröhre hineinsetzte, durch die man auf die Klappen sehen konnte, und die Glasröhre mit einem Kautschukschlauche verband. Nun wurde Flüssigkeit hindurch- getrieben und der Stand der Klappe beobachtet. Auch jetzt legten sich die Klappen nicht an die Wand, sondern flottirten in der Flüssigkeit. Man hat aber auch hier nicht die Bedingungen hergestellt, wie sie im Leben vorhanden sind. Im Leben ist die Wand der Aorta glatt und gibt nicht zur Bildung von Wirbeln Veranlassung; hier aber hatte man ein Glasrohr hineingesteckt, das einen vorspringenden Rand bildete. Also gerade an der Stelle, wo die Klappe sich anlegen sollte, musste sich ein Wirbel bilden und das feste Anlegen der Klappe verhindern; sie musste im steten Flottiren erhalten werden. Der directe Beweis, dass sich die Klappen wirklich an die Wand anlegen, ist durch einen Versuch geliefert worden, den Ludwig in seinem Lehrbuche, dem auch die beistehende Figur entnommen ist, beschrieben hat. Beim Herzen des Schweines ist die Klappe, die dem rechten Coronarostium gegenüber- steht, in beträchtlicher Ausdehnung an das Herzfleisch angewachsen, die Klappe aber, welche dem linken Coronarostium gegenübersteht, ist gar nicht angewachsen, und diese deckt deshalb im todten Schweineherzen noch immer das Ostium, In diese Coronaria wird nun, nachdem sie früher von aussen augeschnitten wurde, eine Federspule, Fig. 31 a, ein- geführt, so dass die Flüssigkeit, welche man in das Ostium hineintreibt, aus dieser ausfliesst. Dann wird das Herz in einen konischen Trog, Fig. 31 a, hineingesetzt und in den linken Vorhof eine hohe hölzerne Röhre, Fig. 51 bb, gesteckt, die von einem Hahne c durchbohrt ist. Die Aorta wird nicht dicht über den Coronarostien abgeschnitten, son- dern es wird der ganze Arcus aortae daran gelassen, und die von ihm 186 Die Mechanik der Herzpumpe. abgehenden Aeste werden unterbunden. Am Schnittende wird mittelst einer Glasröhre die Aorta mit einem Kautschukrohr d cl in Verbindung gesetzt, und dieses in ein Standgefäss g hinübergeleitet. Jetzt wird erst bei offenem Hahne c der ganze Apparat durch das Rohr b b mit Wasser angefüllt, bis das letztere anfängt in g hinüberzufliessen. Dann wird der Hahn c zugedreht, und die Röhre b b vollständig und bis oben hin- auf angefüllt. Wenn der Hahn nun plötzlich wieder geöffnet wird, fliesst kein Tropfen aus der in der Coronaria steckenden Eederspule a, obgleich es im vollen Strome durch Herz und Aorta geht und nach g hinüber- fliesst. Worin der Fehler des früher erwähnten Versuches bestand, zeigt sich an diesem Versuche sehr deutlich, denn so wie die geringste Vibration entsteht, so wie ^^' ' man die Röhre b b halb auslaufen lässt und dann Venoben nachgiesst, flliesst augenblicklich aus der Federspule das Wasser aus, weil nun wegen der vibrirenden Bewegung der Flüssigkeit die Klappe sich nicht mehr ruhig anlegt. Ebenso gelingt der Ver- such, den ich oftmals an- gestellt habe, nie mit einem Herzen, an dem man die aufsteigendeAorta durchschnitten und in sie das Glasrohr eingesteckt hat. Es muss immer der Arcus aortae noch daran sein, damit sich über dem Klappenrand keine Wirbel bilden. Man hat gesagt : Wenn die Klappe sich an die Wand anlegt, wie sollte sie dann behufs des Ver- schlusses der Semilunar- klappen wieder von der Wand zurückkommen? Es ist schwer zu sagen, wie man glauben kann, dass bei einer rückgängigen Bewegung der Flüssigkeit die Klappe ruhig an der Wand liegen bleibe. Sie geht von der Wand zu- rück, sobald die Kraft zu wirken aufhört, welche sie gegen die Wand andrückt, wie wir dies schon oben gesehen haben; umsomehr muss sie von der Wand zurückgehen Die Meclianik der Herzpuinpe. 187 bei dem jähen Abfall des Druckes, der auf der innern Seite der Klappe stattfindet, sobald der Ventrikel erschlafft, und die Blutmasse, welche sich im Bulbus arteriosus zwischen den drei Klappen befindet, in das Herz zurückstürzt. Es ist weiter gesagt worden: Wenn auch wirklich die Klappe das Coronarostium verschliesst, so wird dadurch in der Sache gar nichts ge- ändert, weil dies erst am Ende der Systole geschehen wird, folglich in einer Zeit, in welcher ohnehin durch die Systole als solche kein Blut mehr in die Coronarien eingetrieben würde. Die Behauptung, dass der Verschluss erst am Ende der Systole eintritt, ist offenbar grundlos. Es ist kein Grund vorhanden zu behaupten, dass das Heraufschlagen der Klappen gegen die Coronarostien mehr Zeit beansprucht, als das Zurück- fallen der Klappen in ihre Verschlusslage. Wenn also das Heraufschlagen der Klappen bis an die Aorta so viel Zeit in Anspruch nehmen würde, dass sich während derselben schon der ganze Ventrikel entleert hätte, so müsste man consequenter Weise auch annehmen, dass die ganze Blut- menge, die das Herz ausgetrieben hat, auch vollständig Zeit hat, in den Ventrikel zurückzufallen, ehe die Klappen sich wieder verschliessen. Das würde aber, wie Sie leicht einsehen, nichts anderes heissen, als dass das Herz gänzlich ohne Nutzeffect arbeitet. Das ist bekanntlich nicht der Fall; die Klappen schliessen, nachdem derjenige Theil des Blutes, der sich zwischen ihnen befand, oder wenig mehr in das Herz zurückgefallen ist, indem sie eben nur passive Bewegung haben, indem sie alle Be- wegungen mitmachen, welche das sie bespülende Blut macht. Voraussicht- lich sind also die Klappen an die Aorta hinaufgelegt, wenn eine ähn- liche Blutmenge ausgetrieben ist, eine Blutmenge, die nur einen massigen Bruchtheil des Blutes darstellt, das mit einer Systole vom Herzen aus- getrieben wird. Der Bruchtheil ist, ich kann nicht sagen ob ganz richtig, auf -^ geschätzt worden. Man hat weiter experimentell durch Vivisectionen beweisen wollen, dass die Coronarostien während der Systole nicht geschlossen werden. Man hat gesagt, wenn es wahr wäre, dass die Coronarostien während der Systole geschlossen werden, so müssten sie nicht systolisch, sondern diastolisch spritzen. Nun hat man das Herz eines lebenden Thieres bloss- gelegt, und hat die eine oder die andere Coronaria angestochen und gefunden, dass sie systolisch spritze. Wir haben schon früher gesehen, dass die Bewegungen des Herzens, wenn es ausserhalb des Herzbeutels, ausserhalb seiner natürlichen Umgebung liegt, wesentlich verschieden sind von den Bewegungen, welche das Herz im Herzbeutel macht, dass es schleudert und sich unregelmässig bewegt. Aber ganz abgesehen davon fragt es sich, ob man denn überhaupt erwarten konnte, dass die Coronarien diastolisch spritzen würden, wenn ihre Ostien während der Systole verschlossen werden. Fangen wir einmal beim Beginne der Systole an: Das Herz zieht sich zusammen, der Druck an der Wurzel der Aorta steigert sich. Zu dieser Zeit liegen die Klappen noch nicht an, der erste Effect ist also, dass der Blutstrahl aus der Coronaria höher aufspringen muss. Die Coronaria muss also systolisch spritzen, wie jede andere Arterie. Im Verlaufe der Systole wird nun allerdings nach unseren Vorstellungen die Klappe vor das Ostium gelegt, so dass der weitere Bluteintritt gehindert wird. Unterdessen ist aber mit dem 188 Die Mechanik der Herzpumpe, Herzen eine Veränderung vorgegangen und geht fortwährend vor sich. Das Herz zieht sich stärker und stärker zusammen, und dadurch wird der Abfluss des Blutes aus den Coronararterien durch die Capillargefässe in die Coronarvenen gehindert. Der Druck in den Coronarien kann a,lso nicht plötzlich abfallen. Nun erschlafft das Herz. Allerdings fliesst jetzt durch die Coronarostien wieder Blut hinein, aber der nächste Effect ist, dass während des Zurückgehens der Semilunarklappen in die diastolische Lage eine plötzliche Druckverminderung an den Coronarostien eintritt, durch welche die Geschwindigkeit, mit der das Blut in sie eintritt, sicher vermindert, vielleicht sogar gleich Null oder negativ wird. Gleichzeitig wird das Capillargefässsystem wieder frei und es tritt eine Druck- verminderung im Systeme der Coronararterien ein, indem plötzlich ein grosser Widerstand zum grossen Theile hinweggeräumt wird. Dieses Experiment ist also gar nicht geeignet, um überhaupt die Frage zu entscheiden, ob die Coronarostien während der Systole gedeckt werden oder nicht. Man hat freilich behauptet, die ganze Vorstellung, dass das Herz durch seine Zusammenziehung seinen eigenen Kreislauf, das AbfLiessen des Blutes aus den Coronararterien in die Coronarvenen hindere, sei unrichtig. Man hat dabei vergessen, dass sich das lebende Herz unter g'anz anderen Bedingungen befindet, als jeder andere sich contrahirende Muskel. Fangen wir einmal an der inneren Oberfläche des Herzens an: Ein Papillarmuskel oder ein Fleischbalken, der in das Innere der Herz- höhle vorspringt, ist während der Systole einem Drucke von Seiten des Blutes ausgesetzt, der gleich, oder im strengen Sinne grösser ist, als der gleichzeitige Druck in der Wurzel der Aorta, denn zu dieser Zeit fliesst ja das Blut von der Herzhöhle gegen die Aorta. Da der Druck im Coronarostium derselbe ist wie in der Wurzel der Aorta, so ist es also kaum glaublich, dass aus den Coronarien auch nur die allergeringste Menge von Blut in diese Fleischbalken und in diese Papillarmuskeln hineingebracht werden könnte: hier muss die Circulation gänzlich ge- hindert sein, so weit nicht etwa, was möglich, aber nicht bewiesen und bei der Structur des Herzmuskelfleisches nicht einmal wahrscheinlich ist, durch die Spannung der Muskelfasern die zwischen ihnen liegenden Capillaren thei] weise vor dem Drucke geschützt werden. Jetzt gehen wir weiter nach aussen. Je weiter wir nach aussen kommen, umsomehr nimmt der Druck ab, weil ja nur noch die Partie des Herzfleisches, welche von der untersuchten Stelle nach aussen liegt, drückt. Es ist also jetzt, wenn wir bis zu einer gewissen Tiefe gekommen sind, kein absolutes, aber noch immer ein relatives Hinderniss für die Fortbewegung des Blutes vorhanden, ein Hinderniss, welches umsomehr abnimmt, je mehr man sich der äusseren Oberfläche nähert. Es kann also nicht be- stritten werden, dass die Zusammenziehung des Herzens ein sehr be- deutendes Hinderniss für die Fortbewegung des Blutes aus den Coronar- arterien in die Coronarvenen abgibt. Man hat freilich gesagt: Die Er- fahrung lehrt, dass dem nicht so sei, denn, wenn das Capillarsystem des Herzens bei der Systole comprimirt würde, so müsste ja das Herz wäh- rend der Systole blass werden, das thut es aber nicht. Man hat hier zweierlei vergessen. Erstens, dass das Herz selbst nicht aus weissem, sondern aus rothem Fleische besteht, und zweitens, dass das Herz seine Die Mechanik der Herzpumpe. 189 rothe Farbe nicht den tiefen Gefässen verdankt, die man nicht sieht, sondern, soweit sie nicht der Muskelsubstanz als solcher angehört, den oberflächlichsten Gefässen, deren Circulation am wenigsten durch die Zusammenziehung des Herzens leidet. Die Farbe belehrt also durchaus nicht über das, was in der Tiefe des Herzfleisches vorgeht. Ferd. Klug hat in Prof. Jendrassik's Laboratorium experimentell erwiesen, dass das Herz seine Capillaren zusammendrückt. Durch Reizung der Nervi Vagi kann man, wie wir später sehen werden, das Herz lebender Thiere in der Diastole still stellen. Dies benutzte Klug, um es an Kaninchen in diesem Zustande zu unterbinden. Die Capillaren fanden^ sich, nach- dem das Blut künstlich mittelst verdünnter Schwefelsäure zum Gerinnen gebracht war, mit Blut gefüllt. An anderen Kaninchen brachte er das so still gestellte Herz mittelst eines momentanen Reizes, mittelst eines Inductiousschlages, zur einmaligen Contraction und unterband es in der Sj^stole. Nur die oberflächlichen Capillaren fanden sich bei diesen voll Blut, die tieferen waren nahezu blutleer. Es gibt nun noch einige Erfahrungen, welche darauf hinweisen, dass nicht nur bei vielen Thieren, bei denen es schon nach dem anato- mischen Bau auf der Hand liegt, sondern dass auch beim Menschen wirklich die Coronarostien geschlossen werden. Ich bewahre ein Herz auf, bei welchem sich an der Anheftung der einen Klappe eine Ver- knöcherung befindet. Diese Verknöcherung hat gehindert, dass mit dem Herzen diejenige Leichenveränderuug vor sich gehe, welche ich Ihnen früher erwähnt habe, und von welcher es eben abhängt, dass die her- aufgelegte Klappe das Coronarostium nicht mehr schliesst. Wenn man nun auf diese Verknöcherung drückt, so macht die Klappe offenbar die- jenige Bewegung, welche sie während des Lebens gemacht hat, und dann schliesst sie das dazu gehörige Coronarostium. lieber demselben liegen atheromatöse Ablagerungen, und diese sind genau dem Rande der Klappe entsprechend abgeschnitten, so dass man sieht, dass gerade bis an diese der Rand der Klappe hinaufgereicht habe, und sie legt sich auch jetzt noch genau in derselben Linie an. Nun sieht man manchmal an andern Aorten, bei welchen keine solche Verknöcherung stattgefunden hat, und an denen die Klappe in der Leiche nicht mehr über das Coronarostium hinaufreicht, ähnliche atheromatöse Ablagerungen auf dieselbe Weise scharf über dem Sinus Valsalvae abgeschnitten, so dass die Linie, in welcher sie abgeschnitten sind, ganz das Bild des Randes der Klappe darstellen. Es liegt also nahe, dass auch hier die Klappe gerade bis an diese Stelle hinaufgereicht habe. Ich bewahre ferner ein anderes Herz auf, an dem die zwei den Coronarostien gegenüberliegenden Klappen mit einander verwachsen sind. Sie sind so mit einander verwachsen, dass sie eine Tasche bilden, in der die Coronarostien liegen, so dass, wenn man an die Verwachsungsstelle andrückt, die Coronarostien gedeckt werden, was schwerlich der Fall sein würde, wenn sie während des Lebens nicht auch gedeckt worden wären, und zwar nicht nur seit der Verwachsung, sondern auch vor derselben. Es kommen ferner in der Lunula, im dünnen Theile der Klappen, der jederseits neben dem No- dulus Arantii liegt, nicht selten Perforationen vor, und diese entsprechen ganz auffallend oft einem Coronarostium. Dabei sieht mau das Stück der Klappe, welches über der Perforation liegt, nach oben in einen 190 Accessorische Impulse für die Blntbewegung. Bogen ausgezerrt, so dass man sicli nicht der Vorstellung erwehren kann, dass das Blut nicht über diesen Bogen hinüber in die Coronararterie gekommen, sondern dass es durch das Loch der Klappe in die Coronar- arterie gelangt sei. Dies führt aber wieder auf die Vorstellung, dass früher im normalen Zustande, und ehe die Klappe perforirt war, das Corouarostium gedeckt wurde, und dass an der Stelle des Coronarostiums, dort, wo der Widerstand geringer war, die Klappe durchlöchert wurde. Ich bewahre auch ein Herz auf, an dem in dem einen Sinus Valsalvae statt einer Coronarie zwei entspringen und mithin von Hause aus zwei Coronarostien von einer Klappe gedeckt wurden, und an dem sich diesem entsprechend zwei OefFnungen in einer und derselben Lunula befinden. Man kann nun fragen, welche Veränderungen eintreten, wenn ein Corouarostium nicht gedeckt wird. Welche Erscheinungen in Folge davon im Leben eintreten, wissen wir nicht. Wir sind lediglich auf den Leichen- befund angewiesen. Wenn der Mangel an Deckung erworben ist durch Perforation oder durch Verzerrung der Klappe, habe ich niemals eine Veränderung gefunden, die sich davon ableiten Hesse. Wenn aber die eine Coronaria anomal entsprang, so dass sie von frühester Zeit an nie- mals gedeckt worden war, fand ich immer diese Coronaria grösser als die andere, gleichviel ob es die rechte oder die linke war. Das spricht wiederum dafür, dass im Leben die Coronarien normaler Weise gedeckt werden, und dass vermöge dieser Deckung ein geringerer Druck auf ihren Wandungen lastet als bei mangelnder Deckung. Accessorisclie Imimlse für die BliitTbewegimg. Bringt das Herz für sich allein die ganze Arbeitskraft auf, welche den Kreislauf im Gange erhält, oder findet es dabei irgend welche Unter- stützung? Wenn man auch nicht in Abrede stellen kann, dass unzweifel- haft das Herz die Hauptarbeitskraft aufbringt, so darf man sich doch nicht verhehlen, dass auch andere Muskelbewegungen dasselbe wirksam unterstützen. Wir haben gesehen, dass bei der Inspiration der Druck in der Brusthöhle unter den atmosphärischen erniedrigt wird, und dass in Folge davon das Blut aus den Venen ausserhalb des Thorax in die Venen innerhalb des Thorax einströmt. Wir haben gesehen, dass bei der Ex- spiration der Druck sich über den atmosphärischen steigert, und deshalb der Rückfluss des Blutes gehindert Avird. Wenn wir uns nun vergegen- wärtigen, dass die fortschreitende Bewegung des Blutes in der Richtung ihres natürlichen Stromlaufes frei ist, dass dagegen alle rückläufigen Bewegungen von Stelle zu Stelle durch Ventile gehindert sind; so müssen wir uns sagen, dass der Wechsel des Druckes im Allgemeinen der Fortbewegung des Bliites förderlich sein muss, dass er mehr fördern als hindern muss, und dass deshalb die Action der Respirationsmuskeln mit in Betracht kommt als Hilfsarbeitskraft für das Herz. Besonders gilt dies noch für den Blutlauf in der unteren Hohlvene, indem bei der Inspiration nicht nur der Druck in der Brusthöhle unter den atmo- sphärischen sinkt, sondern auch der Druck in der Bauchhöhle nicht unbeträchtlich gesteigert wird, so dass durch die Inspiration das Blut in der unteren Hohlvene gewissermassen heraxifgepumpt wird. Die Vertheilung des Blutes im lebenden Körper. 191 Es sind nicht die Eespirationsbewegungen allein, welche hier in Betracht kommen, wenn sie auch in erster Reihe zu berücksichtigen sind, auch alle übrigen Muskelbewegungen müssen den Blutlauf beför- dern, nicht nur secundär, indem sie auf das Herz zurückwirken und das Herz zu stärkerer Action anregen, sondern auch primär, insofern sie von Zeit zu Zeit den Druck, der auf den Gefässen lastet, verändern. Man muss bedenken, dass im Allgemeinen jeder kurzdauernde Druck der Vorwärtsbewegung des Blutes zu gute kommt, weil die Rückwärts- bewegung früher oder später durch Klappen gehindert ist. Es hat nicht an Leuten gefehlt, welche vermöge seltsamer Miss- verständnisse über die Gruudlehren der Mechanik die Schwere mit als eine Hilfskraft für die Circulation betrachtet haben, von Heberwirkungen sprachen u. s. w. Es wurde dabei eben vergessen, dass ein Kilogramm Blut, wenn es ein Meter herunterfällt, nur so viel Arbeit erzeugt, wie verbraucht wird, um ein Kilogramm Blut ein Meter hoch zu heben. Aber auf die Vertheilung des Blutes hat, wie Jedermann weiss, die Schwere einen sehr wesentlichen Einfiuss, und sie kann somit auch den Zufluss des Blutes zu einem bestimmten Körpertheile erleichtern und befördern. Darauf beruht es, dass Ohnmächtige, deren Herz zu schwach arbeitet, um die Circulation durch's Gehirn gehörig zu speisen und im Gange zu erhalten, leichter erwachen, wenn man sie niederlegt, als wenn man sie aufrichtet. Aus demselben Grunde gab früher, als man noch bis zur Ohnmacht zur Ader Hess, Marshall Hall die Regel, man solle dies nie am liegenden Kranken thun, ihn stets vorher aufrichten, damit man durch die beginnende Ohnmacht rechtzeitig gewarnt werde. Mit der Blutfülle eines Organes ändert sich natürlich innerhalb gewisser Grenzen sein Volum. Dies hat Mosso benützt, um die Ver- änderungen in der Blutfülle eines Gliedes, des Armes und der Hand, zu beobachten. Ein selbstregistrirender Apparat verzeichnet die Volum- veränderungen mittelst der Elüssigkeitsmengen, die von dem Arme und der Hand aus einem von starren Wänden umgebenen Räume verdrängt wurden. Ein solches Instrument heisst Plethysmograph. Liegt die Binde, welche den in der Flüssigkeit befindlichen Theil von dem freien Theile trennt, so fest an, dass dadurch ein Widerstand für den Rückfluss des Blutes gemacht wird, gegen den die sonstigen Widerstände in den Arm- venen und ihr Wechsel vernachlässigt werden können, so ist die Blut- fülle hauptsächlich abhängig vom Seitendrucke in den Arterien, so dass aus den Anzeigen des Instrumentes Rückschlüsse auf das Wachsen und Abnehmen desselben gemacht werden können. Aehnliche Untersuchungen hat V. Basch mit einem Instrumente von etwas anderer Construction angestellt. Mosso hat theils mit dem Plethysmographen, theils durch andere Hilfsmittel gezeigt, dass auch geistige Thätigkeit und Gemüths- affecte von objectiv nachweisbarem Einfluss auf die Vertheilung des Blutes im Körper sind. Die Yertlieilung des Blutes im lelbenclen Körper. Die Vertheilung des Blutes ist im Leben sehr verschieden und hängt von sehr verschiedenen Umständen ab, man kann aber doch ver- suchen, sich im Grossen und Ganzen eine Vorstellung über dieselbe zu loJ Die Vertheilnng des Blutes im lebenden Körper. verschaffen, und das hat Ranke dadurch zu thun versucht, dass er im lebenden Thiere einzelne Organe abgebunden hat, die Blutmenge der- selben feststellte, und zugleich die Blutmenge des übrigen Thieres be- stimmte. Er unterscheidet zwischen Bewegungsapparat und Drüsenapparat, Unter Bewegungsapparat versteht er die Muskeln und die Nerven mit Einschluss der Haut und der Knochen, und unter Drüsenapparat ver- steht er die gesammten Eingeweide. Es ist das also ungefähr dieselbe Eintheilung, wie sie die alten Biologen machten, wenn sie von einem animalen und von einem vegetativen Leibe sprachen; denn unter ani- malem Leibe verstanden sie das I^ervensystem mit Ausschluss des Sym- pathicus, ferner die Muskeln, die Knochen, die Haut u. s. w., unter dem vegetativen Leibe verstanden sie die Eingeweide der Brust- und Bauch- höhle. Nach dieser Eintheilung nun kommt nach Versuchen, die Ranke an Thieren gemacht hat, auf den animalen Leib ungefähr ein Drittheil der gesammten Blutmasse, auf den vegetativen etwa zwei Drittheile. Von den Organen dieses letzteren enthält wiederum die Leber das meiste Blut, indem sie nach Ranke ein Viertel der Gesammtblutmasse beher- bergen soll. Die Capacität der Gefässe des chylopoetischen Systems ist dabei noch mit Ausschluss der Leber so gross, dass Thiere, denen die Pfortader unterbunden wird, unter den Erscheinungen der inneren Ver- blutung zu Grunde gehen, weil sich in der Pfortader und ihren Zuflüssen so viel Blut ansammelt, dass die übrigen Organe daran verarmen. Denken wir an die Ursachen, durch welche die normale Blutver- theilung gestört werden könnte, so fällt uns zunächst auf, dass dies ge- schehen müsste, wenn die beiden Herzen, das rechte und das linke Herz, mit ungleichem Nutzeffect arbeiteten. In den alten Lehrbüchern der Anatomie finden Sie noch dem Leichenfunde gemäss das relative Grössenverhältniss vom rechten und linken Ventrikel beschrieben, als ob sie beide verschieden gross wären. Nun, das kann im Leben offenbar nicht der Eall sein: denn die beiden Herzen werfen im normalen Zu- stande offenbar beide gleichviel Blut aus. Wenn das rechte Herz dauernd mehr Blut auswürfe als das linke Herz, so müsste nach und Jiach alles Blut in den kleinen Kreislauf gelangen, und im übrigen Körper würde gar nichts bleiben, und umgekehrt, wenn das linke Herz dauernd mehr Blut auswürfe als das rechte Herz, so würde alles Blut in den Körperkreis- lauf gelangen müssen, und es würde zuletzt für die Lungen gar nichts mehr übrig bleiben. Sie entleeren sich aber auch beide bei der Systole nahezu vollständig, und ein leerer Raum existirt in ihnen auch nicht. So weit man also überhaupt von der Grösse von Höhlen, deren Capacität so veränderlich ist, wie die der Herzhöhlen, sprechen kann, muss man sagen, dass die beiden Herzhöhlen im Leben gleich gross sind. Es könnte aber doch sein, dass das eine Herz anfängt mit geringerem Nutzeffect zu arbeiten als das andere. Denken wir z. B. das linke Herz bekäme einen Fehler an den Aortaklappen, entweder eine Stenose oder eine Insufficienz; so würde bei der Stenose die Oeffnung, durch welche das Blut ausgeworfen wird, zu klein werden, und das Herz würde dadurch mit geringerem Nutzeffect arbeiten; bei der Insufficienz würde es mit geringerem Nutzeffect arbeiten : weil ein grösserer Theil des ausgeworfenen Blutes wieder in das Herz zurückfällt, als im normalen Zustande. Davon sollte nun die Folge sein, dass sich das Blut im kleinen Kreislauf so Die Vertheilung des Blutes im lebenden Körper. ivo lange anhäuft, bis das linke Herz so viel besser und das rechte Herz so viel schlechter gespeist ist, dass dadurch der Fehler am linken arteriösen Ostium compensirt wird. Das geschieht nun in Wirklichkeit in der ersten Zeit nicht, und zwar deshalb nicht, weil das Herz, dem jetzt die grössere Arbeit aufgelastet ist, das linke Herz, hypertrojphisch wird, nach dem allgemeinen Gesetze, dass ein Muskel, dem eine grössere Arbeit aufgelastet wird, so lange er dieser Arbeit überhaupt noch ohne dauernde Ermüdung Herr werden kann, an Masse zunimmt. Das ist die sogenannte compensirende Hypertrophie, welche den Individuen noch ein relatives Wohlbefinden verschafft, abgesehen von gewissen Erscheinungen, welche von der anomalen Füllung des Arteriensystems herrühren. Bei der Stenose sind es die Erscheinungen der mangelhaften Füllung, Blässe, Neigung zu Ohnmächten u. s. w., bei Insufficienzen, bei denen unge- wöhnlich grosse Blutmengen in das Arteriensystem hineingeworfen werden müssen, weil ein grosser Theil des Blutes zurückfällt, wo also das Arteriensystem bei jeder Systole sehr stark ausgedehnt wird, sind es Er- scheinungen von Congestion, Neigung zu apoplektischen Anfällen u. s. w. — Erst wenn die compensirende Hypertrophie nicht mehr ausreicht, wenn das eine Herz nun wirklich anfängt, mit geringerem jSTutzeffect zu ar- beiten als das andere, erst dann tritt secundär eine CTeberfüllung des Lungenkreislaufes mit ihren Folgeerscheinungen auf. Anders verhält es sich, wenn das Herz deshalb mit geringerem ISTutzefi'ect arbeitet, weil die Insufficienz sich am venösen Ostium be- findet, wenn die Valvula mitralis nicht schliesst, so dass ein Theil des Blutes in den Vorhof zurückgeworfen wird. Dann muss sich der kleine Kreislauf thatsächlich mit Blut überfüllen, so lange, bis nun das linke Herz so viel besser gespeist wird als das rechte, dass trotz seines Fehlers von ihm ebensoviel Blut befördert wird, wie vom rechten Herzen. Des- halb tritt bei Insufficienz der Mitralis auch immer Kurzathmigkeit auf wegen der Ueberfüllung des kleinen Kreislaufes und im weiteren Ver- laufe Neigung zu Katarrhen, zu Haemoptoe u. s. w. — Wenn aber der Lungenkreislauf überfüllt wird, so wird natürlich in ihm auch das Blut unter einen grösseren Druck gesetzt, und die Folge davon ist, dass nun das rechte Herz eine grössere Arbeit zu überwinden hat, und in Folge davon tritt die compensirende Hypertrophie nun nicht an dem eigentlich kranken Herzen, sondern au dem gesunden rechten Herzen auf. Was ich hier über die Unterschiede in den Folgen von Klappenfehlern einerseits am arteriösen und andererseits am venösen Ostium des linken Herzens gesagt habe, das können Sie mutatis mutandis ebenso vom rechten Herzen gelten lassen. Es kann aber die ungleiche Vertheilung des Blutes auch eine andere Ursache haben, z. B. in einem Hinderniss, welches sich im Capillarsysteme befindet. Es kann z. B. in den Capillaren der Lunge ein ungewöhnlicher Widerstand gesetzt sein, wie dies bei einer ausge- breiteten Lungenentzündung der Fall ist. Dann wird die nächste Folge sein, dass der Druck sich hinter diesem Hinderniss steigert, es steigt der Blutdruck in der Lungenschlagader, es wird also dem rechten Herzen eine grössere Arbeit als im normalen Zustande aufgelastet, es wird diese Arbeit bis zu einem gewissen Grade leisten, aber endlich, wenn es sie nicht mehr leistet, wird es sich unvollkommen entleeren, es wird deshalb Brücke. Vorlesiingen I. i. Aufl. lo 194 Die Vertlieilung des Blutes im lebenden Körper. auch von der venösen Seite weniger Blut aufnehmen können, als im normalen Zustande. Die Folge davon muss sein, dass sich die Stauung auf die Körpervenen fortsetzt, es tritt Ueberfüllung des Hohlvenen- systems ein, die sich dem Arzte äusserlich in der Turgescenz der Jugular- venen zeigt. Andererseits kann aber auch ein ähnliches Hinderniss in den Capillaren des grossen Kreislaufes liegen, und hier ist es namentlich die Leber, in welcher dergleichen Hindernisse vorkommen. Nun wissen Sie aber, dass die Leber das Blut durch die Pförtader aufnimmt, welche sich aus den Venen des chylopoetischen Systems sammelt. Wenn deshalb ein Hinderniss in der Leber ist, so muss zunächst der Druck in der Pfortader steigen, und dieser Druck muss sich nach rückwärts fort- pflanzen und muss sich übertragen auf die ganzen Capillaren des chylo- poetischen Systems. Daher rühren auch die mannigfaltigen Beschwerden und krankhaften Zustände, welche der Pfortader schon bei den alten Aerzten den Namen der porta malorum verschafft haben. Die Füllung des Capillarsystems im Grossen und Ganzen hängt wesentlich von zweierlei Momenten ab: Erstens von der Art, wie das Herz arbeitet, und zweitens von dem Contractionszustande der Arterien, und dieser ist wiederum am veränderlichsten in den kleineren und mittleren Arterien, so dass diese einen viel grösseren Einfluss auf die Vertheilung des Blutes haben als die grossen. Wenn das Herz kräftig arbeitet, so steigt der Blutdruck im Arteriensysteme, es wird folglich das Capillarsystem reichlich gespeist, es füllt sich mit Blut. Wenn das Herz schwach arbeitet, so ist die Folge davon, dass der Blutdruck in den Arterien sinkt, dass die Capillargefässe schlecht gespeist werden, daher die Blässe der Ohnmächtigen, die Blässe der Sterbenden. Anderer- seits kann aber bei ein und derselben Herzthätigkeit die Menge des Blutes in den Capillaren vermindert werden durch eine stärkere Con- traction der Arterien, und es kann ebenso die Menge des Blutes in den Capillaren vermehrt werden dadurch, dass die Muskulatur der Arterien erschlafft, die Wege, durch welche das Blut zu den Capillaren befördert wird, weit offen werden. Das kann aber nicht allein geschehen gleich- zeitig in Eücksicht auf den ganzen Körper, sondern es kann sich dies auch in einzelnen Gefässgebieten ereignen. Wir können uns davon sehr deutlich an Kaninchen überzeugen, denen wir den Halstheil des Sym- pathicus, in welchem die Nerven für das Carotidensystem verlaufen, auf einer Seite durchschneiden. Dann überfüllt sich das ganze Carotiden- system derselben Seite mit Blut, man sieht in den Ohren im durch- fallenden Lichte die Arterien stark mit Blut gefüllt neben den Venen liegen, man sieht das ganze Ohr reichlicher mit Blut gespeist als das andere, und man fühlt es auch wärmer, indem es durch das aus dem Innern des Körpers reichlicher kommende Blut mehr erwärmt wird als das andere. Dieser Zustand ist es, welchen wir mit Eeeht mit dem Namen der Hyperämie, des ungewöhnlichen Blutreichthums, bezeichnen. Den Gegensatz davon, die locale Anämie, können wir sogleich hervorrufen, wenn wir das peripherische Stück des durchschnittenen Sympathicus reizen. Dann ziehen sich alle Arterien zusammen, die Capillaren ver- armen an Blut und die Folge davon ist auch, dass die Temperatur sinkt. Eine andere Art der anomalen Blutvertheilung findet in der Ent- zündung statt. Man ist nach der hero-ebrachten Nomenclatur der Pathologie Die Vertlieilung des Blutes im lebenden Korper. 195 gewohnt, die Hyperämie als ein Vorstadium, gewisscrmassen als den Anfang der Entzündung anzusehen. Das ist aber vollkommen unrichtig, denn aus einer Hyperämie wird niemals eine Entzündung. Noch Nie- mand hat daraus, dass er einem Thiere den Sympathicus am Halse durchschnitten und hiedurch eine locale Hyperämie hervorgebracht hat, eine Entzündung entstehen gesehen. Die Blutvertheilung in der Ent- zündung ist aber auch ihrem Wesen nach eine ganz andere als bei der Hyperämie. Bei der Hyperämie sind die Gefässe erweitert, und das Organ führt mehr Blut als im normalen Zustande, bei der Entzündung sind es nicht die gesammten Bestandtheile des Blutes, welche gleich- massig in der entzündeten Provinz innerhalb der Gefässe angehäuft sind, es ist vielmehr nur ein Bestandtheil des Blutes, es sind nur die Blut- körperchen, welche in den Capillaren und auch in den kleinsten Arterien und Venen angehäuft sind; Blutplasma ist sogar in den Gefässen der entzündeten Provinz weniger enthalten als im normalen Zustande, weil eben die kleinen Gefässe mit Blutkörperchen vollgestopft sind, welche auch denjenigen Eaum einnehmen, den normaler Weise das Plasma ein- nimmt. Bei der vollkommen ausgebildeten Entzündung, bei der Stase, bei der die Blutkörperchen in den Gefässen fest zusammengedrängt sind und ihre Bewegung vollständig stockt, stopfen sich manchmal die Arterien bis zu einer nicht unbeträchtlichen Höhe mit Blutkörperchen voll, so dass man nach dem Tode noch die eigentliche Entzündungsröthe von der sogenannten Leichenhypostase, von der Gefässfülle, die dadurch ent- steht, dass das Blut nach den Gesetzen der Schwere einen Theil der Gefässe vorzugsweise anfüllt, dadurch unterscheiden kann, dass man in der entzündeten Provinz neben den mit Blutkörperchen augefüllten kleinen Venen auch die in ähnlicher Weise mit Blutkörperchen ange- füllten kleinen Arterien sieht, und dass die Blutkörperchen in dieselben fest eingestopft, in denselben nicht verschiebbar sind. Die Entzündung kommt auch in ganz anderer Weise zu Stande als die Hyperämie. Es entsteht zuerst, nachdem für kurze Zeit der Kreislauf beschleunigt ge- wesen ist, eine Verlangsamung desselben in der Partie, welche der Entzündung entgegengeht, in einzelnen kleinen Gefässen sogar eine rückgängige Bewegung, dabei häufen sich die Blutkörperchen immer mehr an; während sich eine oder mehrere zuführende kleine Arterien eine Strecke lang verengert haben, erweitern sich unter der Anfüllung mit Blutkörperchen die Capillaren und die Venen, und endlich tritt Still- stand ein. Es ist weiter bekannt, dass sich die Wandungen der kleinsten Gefässe verändern, und dass nicht allein Plasma in grösserer Menge aus- tritt, sondern auch Blutkörperchen, namentlich farblose, dieselben durch- wandern und nun ausserhalb der Gefässe als Eiterkörperchen auftreten. Endlich verlieren die in den Gefässen angehäuften Blutkörper ihre Con- touren, sie fliessen für das Auge zu einer rothen Masse zusammen, im weiteren Verlaufe infiltrirt sich der Farbstoff in das umgebende Gewebe, und wenn sich die Circulation nicht wieder herstellt, so erfolgt der TJebergang in Brand, das heisst in Tod und Zerstörung der Gewebe der entzündeten Provinz. Wenn sich die Circulation wieder herstellt, so setzen sich zuerst an der Grenze der entzündeten Provinz die Blut- körperchen in den kleinen Gefässen wieder in Bewegung, indem bald an der einen Stelle, bald an der andern eine Partie von Blutkörperchen 13* 196 Blutvertheilnng nach dem Tode. plötzlich lierausgestossen wird, die Blutkörperchen sich wieder von ein- ander trennen, und durch den vorübergehenden Blutstrom mit fort- gerissen werden. Auf diese Weise frisst sich gewissermassen die Circu- lation nach und nach in die entzündete Partie hinein, bis sie die Stase gänzlich verzehrt hat. Ich kann hier nicht näher auf die Theorien über das Zustande- kommen der Entzündung eingehen, weil uns das zu weit auf das Feld der Pathologie führen würde, dagegen aber kann ich die Lehre von der Blutvertheilnng im Körper nicht verlassen, ohne noch der Blutvertheilnng in der Leiche zu gedenken. Bliityertlieilimg' nacli dein Tode. Das Blut vertheilt sich nach dem Tode anders, weil das Herz nicht mehr arbeitet. Die Blutvertheilnng in der Ohnmacht, die Blut- vertheilnng, wenn das Herz schwach arbeitet, ist gewissermassen der Anfang, der Uebergang zu der Blutvertheilnng nach dem Tode, wo das Herz gar nicht mehr arbeitet. Durch das Herz wird fortwährend das Blut in das Arteriensystem hineingetrieben und der Druck im Arterien- system gesteigert. Wenn das Herz zu arbeiten aufhört, wird das Blut aus den Arterien so lange abfliessen, als der Druck in den Arterien noch grösser ist als der Druck in den Venen. Es wird nicht nur aus den xlrterien, es wird auch aus den Capillaren abfliessen, da ja auch in den Capillaren der Druck während des Lebens grösser ist als in den Venen. Mit andern Worten: das Blut wird nach dem Tode aus den Arterien und den Capillaren abfliessen und sich im Venensysteme an- häufen. Hiezu kommt aber noch ein zweites Moment, das schon Tiede- mann bekannt war, der Umstand, 'dass einige Zeit nach dem Tode die Arterien enger gefunden werden, als man sie später, eine längere Zeit nach dem Tode, findet. Die organischen Muskelfasern der Media ziehen sich vor oder während des Absterbens zusammen, und dadurch werden die Arterien, namentlich die mittleren und die kleineren, sehr stark verengert, später aber lässt diese Verengerung wieder etwas nach. Durch diese Verengerung wird ein Theil des Blutes, welches noch darin ent- halten war, wiederum in das Venensystem hineingetrieben, und daher rührt es, dass die Arterien, namentlich die mittleren und kleineren, relativ so blutleer gefunden werden. Sie werden so leer von Blut ge- funden, dass bekanntlich die ältesten Anatomen, die den Blutgefässen ihren Naaien gaben, den N'amen der Arterien aus der Idee ableiteten, dass dieselben gar kein Blut, sondern dass sie Luft führten. Auch die grösseren Arterien sind relativ leer, relativ zu ihrer Füllung im Leben. Die Verengerung, so weit sie von den elastischen Elementen herrührt, bleibt und äussert sich zum Theil auch darin, dass manche grössere Arterien, nachdem sie sich elastisch auch der Länge nach zusammen- gezogen haben, in Folge der Art ihrer Befestigung an die Umgebung und in Folge ihrer Uebergänge und Durchgänge bandartig abgeplattet sind. Wenn nun solche Arterien durchschnitten werden, so verkürzen sie sich und werden dabei durch ihre elastischen Kräfte wieder zur drehrunden Gestalt zurückgeführt. Nur genügt ihr spärlicher Inhalt nicht mehr, um das Lumen zu erfüllen. Dasselbe erscheint deshalb als leer, Die Lymphe. 1 97 das heisst als mit Luft gefüllt. Wirklich leer sind aber die Arterien post mortem nicht. Namentlich an den grösseren Arterien, kann man sich durch die dort vorhandenen Gerinnsel leicht überzeugen, dass die- selben sich keineswegs vollständig entleert haben, und auch von den mittleren und kleinen Arterien wird nur ein Theil vollstäüdig leer ge- funden, die Arterien, die so liegen, dass sie sich bei der Verkürzung, welche sie durch ihre Elasticität, wenn der Druck von innen her auf- hört, erleiden, platt, bandartig angespannt und so ihr Lumen nahezu auf Null reducirt haben. Einen sehr wesentlichen Einfluss auf die Blut- vertheilung in der Leiche hat begreiflich auch die Schwere, indem das Blut aus den höher liegenden Gefässen in die tiefer liegenden abfliesst. Hierdurch wird die Blutüberfüllung derjenigen Theile, die am tiefsten liegen, hervorgerufen, die sogenannte Leichenhypostase. Die Lymi)he. Es gab eine Zeit, in welcher man die Lymphe für ein Colliquament der Organe hielt. Es hing das mit den damaligen Vorstellungen vom Stoffwechsel zusammen. Man glaubte, dass sich aus dem Blute, welches die Orgaue durchströmt, die Substanzen ansetzen, sich in die Organe hineinbilden, dort eine Zeit lang dienstbar sind, und, wenn sie unbrauch- bar geworden, sich wieder verflüssigen und nun durch die Lymphgefässe fortgeführt werden. Es ist dies eine Ansicht, die wir heutzutage ver- lassen haben. Wir wissen, dass die Lymphe ihrer Haiiptmasse nach der Eest des Blutplasmas ist, welches zur Irrigation der Organe, der Gewebe gedient hat. Die eigentliche Ernährungsflüssigkeit für die Orgaue, für die Gewebe ist das Blutplasma, welches unter dem Blutdruck fort und fort durch die Wandungen der Capillargefässe hindurchgeht. Dieses durchtränkt die Organe, und der Ueberschuss wird von einem Eöhren- system, welches überall in die Organe hineingelegt ist, zurückgeführt, und dieses Röhrensystem, dieses Drainagesystem, wenn ich mich so aus- drücken soll, ist das Lymphgefässsystem. Es ist dabei nicht ausgeschlossen, dass auch Producte des Zerfalles mit fortgeführt werden, die so wieder ins Blut gelangen und endlich ausgeschieden werden. Es gibt also für das Blutplasma zweierlei Wege: der eine ist der Weg in geschlossenen Bahnen, der Weg von den Arterien durch die Capillaren in die Venen hinein, und der andere ist der Umweg durch die Gewebe, indem ein Theil des Plasmas durch die Wandungen der Gefässe hindurchgepresst wird, dann durch einen langsamen Filtrations- process als Gewebsflüssigkeit durch die Gewebe hindurchgeht, bis er mittelst des Lymphgefässsystems wieder in die Venen zurückkehrt. Die Flüssigkeit der Lymphe, das Plasma der Lymphe, enthält des- halb auch alle wesentlichen Bestandtheile des Blutplasmas, es ist nur quantitativ etwas anders zusammengesetzt. Es ist ärmer an Eiweiss- körpern, weil ein Theil der Eiweisskörper in den Organen verbraucht worden ist: es ist ferner die Lymphflüssigkeit relativ reicher an Wasser und an Salzen, und dann lehrt die Erfahrung, dass die Lymphe in der Eegel stärker alkalisch reagirt als das Blutplasma. Die Lymphe scheidet beim Gerinnen auch weniger Fibrin aus als das Blutplasma, sie zeigt auch weniger Neigung zum Gerinnen, so dass sie in der Regel in den 198 Die Lymphgefässe. Lymphgefässen flüssig bleibt und erst, wenn sie aus diesen heraus- genommen -wird, an der atmosphärischen Luft, langsam gerinnt. Es hängt dies wohl einerseits zusammen mit ihrer starken Alkalescenz, anderer- seits auch mit ihrem Mangel an rothen Blutkörperchen. Denn, wenn man der herausgenommenen Lymphe eine ganz kleine Portion Blut, auch defibrinirtes Blut, hinzusetzt, so gerinnt sie in kürzerer Zeit. Die geformten Elemente der Lymphe sind die Lymphkörperchen, welche wir bereits im Blute unter dem Namen der farblosen Blut- körperchen kennen gelernt haben. Sie werden in den Lj^mphdrüsen gebildet, und die Art, wie dies geschieht, werden wir bei den Lymph- drüsen näher kennen lernen. Die Lymphkörperchen selbst sind amoeboide Zellen und haben als solche keine bestimmte Gestalt, indem sie vermöge der Contractilität ihres Protoplasmas ihre Gestalt fortwährend ändern, Fortsätze ausstrecken, dieselben wieder einziehen u. s. w. Sie haben meistens keine einzelnen Kerne, sondern statt dessen einen Kernhaufen, der aus drei, zwei, auch vier Kernen besteht. Das Protoplasma zeigt sich in der Regel mehr oder weniger körnig, aber es ist im einzelnen Falle schwer zu sagen, was von diesen Körnern dem Lymphkörperchen von Hause aus angehört, nud was etwa aufgenommen ist. Durch einen ähnlichen Process, wie der, durch den sich die Amöben ernähren, nehmen auch die Lymphkörperchen von ihrer äusseren Oberfläche andere kleinere Körperchen, namentlich Fetttröpfchen auf, dann auch, wenn man ihnen dieselben darbietet, andere kleine Körnchen, welche ihnen nicht zur Nahrung dienen können, z. B. Zinnoberkörnchen. Sie sind im Blute normaler Weise in sehr viel geringerer Menge enthalten als die rothen Blutkörperchen. Krankhafter Weise kann sich aber, wie dies theils bei Milztumor, theils bei Hypertrophie der Lymphdrüsen geschieht, das Ver- hältniss umkehren, so dass die weissen Blutkörperchen in der Majorität, die rothen Blutkörperchen in der Minorität sind. Das ist dann der Zu- stand, welchen man mit dem Namen des weissen Blutes bezeichnet. Sie sind beim Menschen und bei den Säugethieren grösser als die rothen Blutkörperchen. Bei den Thieren, die elliptische, kernhaltige Blutkörper- chen haben, bei den Vögeln, bei den Reptilien und Amphibien und bei den Fischen, sind sie kleiner als die rothen Blutkörperchen. Ihr Ver- hältniss zu den rothen Blutkörperchen ist noch nicht festgestellt. Man hat freilich angenommen, dass sie sich durch eine Metamorphose in rothe Blutkörperchen iimwandeln , oder, wie andere wollen, dass sie rothe Blutkörperchen in sich erzeugen: es sind dies aber Angaben, für welche bis jetzt noch kein Beweis vorliegt. Die Lymi)ligefässe. Die Lymphgefässe bilden ein verzweigtes, in seinen einzelnen Theilen zum Theil netzartig mit einander verbundenes Röhrensystem, welches über- all in die Organe eingelagert ist, und welches sich vor allen andern Ge- fässen auszeichnet durch die grosse Anzahl von Klappen, welche jede rück- gängige Bewegung hindern. Die Klappen sind Taschenventile, die aus je zwei Taschen besteheii, ganz so wie bei den Venen; aber sie stehen ausserordentlich viel dichter als in diesen, so dass, wenn ein Lymphgefäss stark angefüllt ist, wenn sich die Lymphe darin stauet, dasselbe varicös, Die Lympbgefässe. I "9 knotig erscheint, weil die Lymphe die Taschen ausbaucht, und die Taschen so dicht aneinanderliegen, dass das ganze Gefäss ein perlschnurartiges Ansehen bekommt. Man kann an den Lymphgefässen von mittlerem Durchmesser, wie an den Arterien und an den Venen, drei Häute unter- scheiden, eine Tunica intima, eine Tunica media und eine Tunica ad- ventitia. Die Intima besteht zunächst aus einem Epithel, das dem Epithel der Blutgefässe insofern ähnlich ist, als es auch ein einfaches Pflaster- epithel ist. Es unterscheidet sich aber von dem Epithel aller Blut- gefässe dadurch, dass die Kerne weniger abgeplattet sind, dass sie elli- psoidisch sind und deshalb stärker gegen das Lumen des Gefässes her- vorragen, als dies bei den Blutgefässen der Eall ist; auch sind die ein- zelnen Zellen nicht so wie bei den Blutgefässen in die Länge gezogen. Auf dieses Epithel folgt eine elastische Längsfaserhaut, die der elastischen Intima der Blutgefässe entspricht, und bei den grösseren Lymphgefässen auch längsverlaufendes Bindegewebe. Dann kommt die Media mit Ring- muskelfasern und dazwischen eingewebten elastischen Fasern. Dann kommt die Adventitia, welche aus Bindegewebe besteht, ausserdem aber auch Läugsmuskelfasern enthält, die aber nicht immer genau der Länge nach gehen, sondern mehr oder weniger schief gerichtet sind. Wenn man bis zu den grössten Lymphgefässen, bis zum Ductus thoracicus hinaufsteigt, so hat man erst ein Epithelium, dann eine elastische In- tima, nicht nur aus Fasernetzen, sondern auch aus elastischen Platten bestehend, dann eine Schicht von Bindegewebe, dann kommt die Media mit ihren Ringmuskeln und mit ihrem elastischen Gewebe, und endlich eine sehr starke Adventitia aus Bindegewebe, in welcher aber ganze Bündel von im Allgemeinen längsverlaufenden Muskelfasern enthalten sind, die unter einander rhombische Maschen bilden. Wenn man die Gefässe gegen ihre feineren Verzweigungen hin verfolgt, gegen ihre mikroskopischen Enden, so werden die Häute erst im Allgemeinen dünner und dann verschwinden die Muskelfasern aus der Media. Man hat dann noch ein Epithelium, ausserdem noch eine Schicht von Bindegewebe und spärlichen elastischen Fasern, aber auch noch Längsmuskelfasern. Die Längsmuskelfasern der Adventitia gehen weiter auf die feinen Zweige hinauf als die Ringmuskelfasern der Media. Endlich verschwinden auch sie, und man hat jetzt nur noch Bindegewebe, das eine Röhre bildet, eben das Lumen des Gefässes, dessen innere Seite noch mit einem Epithel ausgekleidet ist. Man ist sich nicht überall darüber einig, wie weit denn überhaupt eigentlich die Wandungen der Lymphgefässe reichen. Wir werden auf diesen Gegenstand noch zurückkommen, wenn wir von den Anfängen der Lymphgefässe sprechen. Es ist eine allgemeine Frage, in wie weit man überhaupt einem Kanal oder einem Gefässe noch eine Wand zuzuschreiben habe. Es kommt ganz darauf an, was man unter einer Wand versteht. Wenn ich einen Tunnel durch einen Berg grabe und ihn mit Mauersteinen auskleide, so ist kein Zweifel darüber, dass diese Mauersteine nun die Wand des Tunnels bilden, und als die Wand des Tunnels anzusehen sind. Ehe ich ihn aber mit Mauersteinen aus- gekleidet habe, hat er auch eine Wand gehabt^ das heisst eine Wand im Sinne der Begrenzung, denn sonst konnte er ja keinen Hohlraum bilden, aber das was ihn begrenzt hat, ist nicht mehr verschieden von der übrigen Substanz, von dem Gesteine, das ihn umgibt. Es ist nun eben 200 Die Lymphdrüsen. Sache der Convenienz, ob man in der Anatomie die Begrenzung eines Kanals auch dann noch eine Wand nennen will, wenn sie von dem iim- gebenden Gewebe nicht verschieden ist , oder ob man einen solchen Kanal im anatomischen Sinne als wandlos bezeichnen will. Es kann hiernach weiter als ein Gegenstand der Convenienz angesehen werden, ob man alle Räume, die mit einem Endothel ausgekleidet sind, blos des- wegen schon als mit selbstständigen Wandungen versehen betrachten will. Die Entwicklungsgeschichte macht es einigermassen wahrschein- lich, dass diese Endothelzellen genetisch von dem umgebenden Gewebe nicht verschieden sind, sondern sich nur wegen ihrer Lage an einer Oberfläche in anderer Form entwickelt haben. Die Lymplidrüsen. Im Verlaufe der Lymphgefässe sind, wie Ihnen allen bekannt ist, drüsenähnliche Organe eingeschaltet, die Lymphdrüsen, die den Anatomen viel Arbeit gemacht haben, bis man endlich ihren Bau genauer kennen gelernt hat. Die Lymphdrüsen haben in der Regel eine nierenförmige oder bohnenförmige Gestalt und sind eingeschlossen von einer binde- gewebigen Hülle, die reichlieh mit organischen Muskelfasern, contractilen Easerzellen, durchsetzt ist, und sich nach beiden Seiten, stromaufwärts und stromabwärts, in die Wand der Lymphgefässe, zunächst in die Tunica adventitia derselben fortsetzt. Die Lymphgefässe, welche in die Drüse hineingehen, bezeichnet man mit dem Namen der Vasa inferentia, und die Lymphgefässe, welche aus der Drüse herauskommen, bezeichnet man mit dem !Namen der Vasa efFerentia. Die letzteren sind immer geringer an Zahl als die ersteren. Wir wollen uns nun, da die verschiedenen Lymphdrüsen zwar ihrem Wesen nach, aber nicht ihrer Form, ihrer Architektur nach, gleichgebaut sind, eine bestimmte Art von Lymph- drüsen, die Mesenterialdrüsen, als Paradigma wählen. Wenn Sie sich eine solche durchschnitten denken, so können Sie an ihr eine Cortical- substanz und eine Medullarsubstanz unterscheiden. Sie unterscheiden beide schon an ihrer Consistenz: die Corticalsubstanz ist fester, die Mark- substanz weicher. Sie unterscheiden sie auch an ihrer Farbe: die Corticalsubstanz ist im Allgemeinen mehr weisslich, die Marksubstanz mehr grauröthlich. Sie unterscheiden sie an ihrem Gefässreichthum, indem die Corticalsubstanz an grösseren Gefässen arm ist, während die Arterien und Venen neben einander an einer meist etwas eingebuchteten Stelle, dem sogenannten Hilus, zum grössten Theile in die Marksubstanz hineintreten. Wenn Sie die Corticalsubstanz auf Durchschnitten näher ansehen, so werden Sie bemerken, dass sie aus lauter sphäroidischen, ovoidischen oder keulenförmigen, oft auch sehr unregelmässig gestalteten, zum Theil mit einander verbundenen Massen besteht, die nach aussen deutlich und scharf begrenzt sind, nach innen aber gegen die Marksub- stanz keine deutliche Begrenzung, sondern einen allmäligen Uebergang zeigen. Diese Körper sind es, welche ich mit dem Namen der Drüsen- elemente der Corticalsubstanz bezeichne. In der beistehenden Figur ist ein Ausschnitt aus einer Drüse dargestellt. Die Corticalsubstanz ist nach oben gewendet und in den Schnitt fallen ein ganzes, A, und zwei Dia Lymphdrüsen. 201 halbe B, C, Drüsen elemente. Unterhalb diefser Drüsenelemente sieht man die Marksubstanz. Wenn. Sie zunächst die Corticalsubstanz ansehen, so finden Sie, dass die Drüsenelemente sich an der Oberfläche markiren, und dass sie nach unten hin keine deutliche Begrenzung haben, sondern allmälig in die Marksubstanz übergehen. Sie sehen, dass dieselben von einander durch tiefe spaltförmige Räume getrennt sind, und dass in diese Räume Fortsätze // hinabgehen, welche von der muskulösen Hülle der Lymphdrüsen aus- gehen, und sich in der Tiefe befestigen. Diese Fortsätze enthalten selbst Muskelfasern, und wenn sich diese letzteren in der Hülle und in den Fortsätzen zusammenziehen, so wird die Hülle, c c, heruntergezogen, zu- sammengezogen auf die Kuppe dieser Drü- senelemente, und die Räume s s, welche Sie zwischen beiden sehen, verschwinden. Wenn dagegen die Muskeln wieder nachlassen, wer- den diese Räume wie- der hergestellt. Auf diese Weise wird an der Oberfläche der Drüsen ein Sinussystem ge- bildet, welches die oberflächlichen Lymphbahnen darstellt. Die Lymphe gelangt aus den Vasa inferentia in die Vasa efferentia auf zweierlei Wegen, erstens durch diese Sinus und zweitens durch die Wege in der Marksubstanz, welche wir später kennen lernen werden. Die oberfläch- lichen Lymphbahnen sind, wie gesagt, nicht zu allen Zeiten offen, sie sind nur offen, so lange eben die erwähnten Muskelfasern erschlaff't sind. Sie können das besonders schön an Thieren sehen, welche sich in der Resorption befinden, und welche einen fettreichen Chylus resorbiren. Dieser fettreiche Chylus ist milchweiss, während die Elemente der Corticalsubstanz mehr durchscheinend sind. Wenn Sie eine solche Drüse ansehen, so bemerken Sie an der Oberfläche lauter kleine, runde, durch- scheinende Flecke, und zwischen denselben sehen Sie, wie milchweisse Striche ein JSTetz bilden, so dass darin die durchscheinenden Gebilde wie kleine Perlen in weisser Fassung liegen. Diese durchscheinenden, perl- artigen Punkte sind die Drüsenelemente, und die milchweissen Striche, die zwischen ihnen hindurchgehen, rühren vom Chylus her, der sich in den Sinus befindet. Wenn Sie nun durch eine solche Drüse die Schläge eines Magnetelectromotors hindurchleiten, dann finden Sie, dass der Chylus, die weisse Substanz, gänzlich verschwindet, und dass die Drüse, die früher auf der Oberfläche glatt und glänzend war, rauh wird, lauter kleine Höcker bekommt, was eben darauf beruht, dass die Hülle ZÖZ Die Lymphdrüsen. zusammengezogen und an den Stellen der Sinus hineingezogen, und da- durch zugleich der Chylus aus den Sinus herausgetrieben wird. Was nun die Substanz der Diiiseneleraente anlangt, so bestehen sie aus einem zarten Bindegewebe, welches zugleich ein Keimlager für lym- phoide Zellen ist. Es findet sich darin eine grosse Menge von Kernen, in der Mitte die kleinsten, nach dem Rande hin die grösseren, zum Theil auch schon mit kleinen Mengen von Protoplasma, aber immer mit geringer Entwicklung desselben. Von den Blutgefässen verlaufen die grösseren nahe der Oberfläche und senden ihre feinsten Aeste und Capillaren in das Innere. Wenn Sie nun von einem solchen Drüsenelemente nach innen zu gegen das Centrum der Drüse hin fortschreiten, so werden die lymphoiden Zellen immer grösser, sie bekommen immer mehr Protoplasma, kurz sie machen immer mehr den Eindruck einer nackten Zelle, die sich ihrer Eeife nähert. Sie liegen dabei zuletzt nicht mehr so gedrängt in einem Stroma von Bindegewebe, sondern dieses wandelt sich in ein eigen- thümliches Gerüste um, das Sie sich in seiner Gestalt vorstellen können, wenn Sie sich denken, dass Sie die Zwischenräume eines Kugelhaufens mit Masse ausgössen, und wenn Sie sich dann die Kugeln herausgenommen, und an Stelle derselben die lymphoiden Zellen hineingelegt denken. Nur müssen Sie sich dieses Gerüste selbst noch wieder hohl denken, Sie müssen sich denken, dass in die Substanz desselben noch sinuöse Gänge hineingehen, so dass die Zellen wie von äusserlich mit einander ver- wachsenen Kapseln eingeschlossen sind; diese sind aber wiederum in ihrer Substanz mehrfach durchbrochen, so dass sie zum grossen Theile nur Maschenräume bilden, in denen die Zellen einlogirt sind. Von den Gängen werden wir später mehr sprechen. Aus dieser Substanz, die ich Ihnen hier beschrieben habe, aus Zellen, aus einem Gerüste, in dem diese Zellen liegen, ferner aus den Blutgefässen, durch welche dieses Gerüst ernährt wird, besteht nun der Hauptmasse nach die Marksubstanz. Diese Formation ist in Gestalt eines Netzwerks von vielfach mit einander verbundenen Balken angeordnet, und man nennt diese Balken (Fig. 32 z, z) wegen der grossen Menge von Zellen, welche sie enthalten, die Zellenbalken. Zwischen diesen Balken müssen natürlich Bäume bleiben, die ein Labyrinth von Gängen darstellen, und diese Räume sind es, durch welche die Lymphe aus den Vasa inferentia in die Vasa efferentia hinüberfliesst und ausschliesslich hinüberfliesst, wenn die oberflächlichen Lymphwege durch Contraetion der Muskelfasern der Kapsel gesperrt sind; es sind die Lymphwege der Marksubstanz. Aber sie sind nicht völlig frei, sondern in denselben be- finden sich ziemlich starke Stränge von festerem Bindegewebe b b, die für sich auch eine Formation von Balken bilden, und die man deshalb die Bindegewebsbalken nennt. Sie unterscheiden sich von den Zellen- balken erstens dadurch, dass sie sehr viel dünner und meist abgeflacht sind, zweitens unterscheiden sie sich durch ihre Armuth an feineren Blutgefässen: sie enthalten theils gar keine Gefässe, theils ein einzelnes grösseres, das dann meist gegen die Corticalsubstanz hinzieht, um sich dort capillar zu verzweigen; endlich drittens durch ihre Armuth an zelligen Elementen, indem sie nur solche enthalten, wie sie unter dem Namen der Bindegewebskörperchen in allem Bindegewebe vorkommen. Entwickelung der Lyinphkörperchen. ■ 20ö Diese Bindegewebsbalken sind mit den Zellenbalken durch netzartiges Bindegewebe verbunden, welches seine Fasern von Zellenbalken zu Bindegewebsbalken, nnd von Bindegewebsbalken zu Zellenbalken hinüber- spannt, und ein zierliches Netzwerk in den tiefen Lymphbahnen, wie es die Fig. 32 zeigt, bildet. (In Fig. 32 ist die Strombahn der Lymphe ebenso wie die des Blutes überall schwarz gehalten, und dieXetze und ihre Fäden grenzen sich weiss in der schwarzen Strombahn ab.) Diese Architektur hat einen wesentlichen Nutzen für die Integrität der Lymph- drüsen; denn Sie sehen leicht ein, dass bei Stauungen diese von sehr weichen Wänden umgebenen und unregelmässig gestalteten Lymphbahnen sackartige Ausdehnungen bekommen würden, wenn sie nicht irgend welchen Halt in sich selbst hätten. Diesen Halt bekommen sie eben dadurch, dass in ihrem Innern diese kleinen Stränge von netzförmigem Bindegewebe von einer Wand zur andern hinübergehen. Die Lymphe, welche durch die tiefen Lymphbahnen ihren Weg nimmt, passirt also kein freies Röhrensystem, sondern ein System von labyrinthartig verzweigten Räumen, in welchen überall Netze gespannt sind, durch deren Maschen sich die Lymphe hindurchdrängen muss, um in die Vasa efferentia zu gelangen. Von den tiefen Lymphwegen aus gehen ferner in die Zellenbalken feine Gänge hinein. Ich habe vorhin gesagt, dass Sie das Gerüst der Zellenbalken sich vorstellen können als dadurch entstanden, dass die Zwischenräume eines Kugelhaufens ausgegossen sind, dass Sie sich dieses Gerüst aber selbst wieder als hohl denken müssen, so dass also jede Zelle, welche in einem solchen Räume liegt, von einer eigenen, wenn auch nicht immer vollständigen Kapsel umgeben ist, und die Kapseln wieder äusserlich mit einander theilweise verwachsen sind. Diese Hohl- räume in dem Gerüste communiciren nun mit den tiefen Lymphwegen, indem sie von allen Seiten als feine, unregelmässige Gänge in dieselben ausmünden. Diese Gänge sind also auch während des Lebens mit Lymphe gefüllt, es gehen keine Lymphkörperchen hinein, weil sie dazu zu eng sind, aber es geht die LymphAüssigkeit, das Plasma der Lymphe hinein. Diese Gänge sind zuerst nach einer Lymphdrüse, welche C. Ludwig von den Vasa inferentia aus mit löslichem Berlinerblau injicirt hatte, von Kowalewski beschrieben worden, und sie führen nach ihm den Namen der Kowalewski'schen Gänge. Entwickelung der Lymphkörperchen. Die Lymphkörperchen entstehen in den Lymphdrüsen. Dafür kann man einen einfachen und sehr schlagenden Beweis liefern. Bei den reissenden Thieren sind alle Lymphdrüsen des Mesenteriums in eine grosse Lymphdrüse gesammelt, in das sogenannte Pankreas Asellii, die halbmondförmig an der Wurzel des Mesenteriums liegt. Wenn man nun Lymphe aus den Lymphgefässen des Mesenteriums nimmt, welche in die Drüse hineingehen, so findet man in dieser Lymphe fast gar keine Lymphkörperchen. Es ist gut, das Thier — man wählt am liebsten eine Katze — mit möglichst fettfreiem Fleische zu füttern, weil dann der Chylus der Vasa inferentia klar, w^asserhell ist. Wenn mau nun zu der- selben Zeit den Chylus der Vasa elferentia untersucht, so findet man, 204 Entwickelung der Lyniphkörperclien. dass er trübe ist, dass er opalisirt, und unter dem Mikroskope sieht man, dass dies nur herrührt von einer sehr grossen Menge von Lymph- körperchen, die darin enthalten sind. Wenn also die Vasa inferentia diese Lymphkörperchen nicht enthalten, so müssen sie offenbar aus der Drüse gekommen sein. Wir sind auch nicht in Verlegenheit zu sagen, woher sie kommen: denn wenn wir die ganzen Zellenmassen, von den Drüsenelementen der Corticalsubstanz an bis an die Oberfläche der ein- zelnen Zellenbalken hin, betrachten, so finden wir lauter lymphoide Zellen, von ihrem ersten Anfange an als ein kleines Körnchen, bis zu ihrer vollständigen Ausbildung mit einem vollkommen entwickelten Proto- plasmaleibe, und diese am meisten entwickelten Zellen liegen an der Oberfläche der Zellenbalken und begrenzen unmittelbar die tiefen Lymph- bahnen. Es unterliegt also keinem Zweifel, dass diese Zellen hier, nach- dem sie ihre volle Reife erlangt haben, abfallen, dass sie vom Strome der Lymphe fortgespült und nunmehr in den Vasa efferentia als Lymph- körperchen gefunden werden. Man findet, wenn auch nicht viele, so doch einzelne Lymphkörper- chen auch in Lymphgefässen, welche noch keine solche Lymphdrüse passirt haben. Es führt uns dies darauf, dass es noch eine andere Art von Lymphdrüsen gibt als diejenigen, welche wir bis jetzt kennen ge- lernt haben. Diejenigen, welche wir bis jetzt kennen gelernt haben, waren die intercalirten Lymphdrüsen, die in den Verlauf der Lymph- gefässe eingeschaltet sind, und die deshalb Vasa inferentia und Vasa efferentia haben. Es gibt aber noch eine andere Art von Lymphdrüsen, welche wir mit dem Namen der peripheren oder terminalen Lymph- drüsen bezeichnen, die keine Vasa inferentia haben, aber ganz analoge Keimstätten für die Lymphkörperchen, wie die in den Verlauf der Lymphgefässe eingeschalteten Lymphdrüsen zeigen. Die ersten dieser Gebilde, welche als Lymphdrüsen erkannt wurden, waren die Peyer'schen Drüsen, und ich will deshalb diese auch als Paradigma wählen, um Ihnen zu zeigen, wie der Bau dieser Gebilde mit dem der Lymphdrüsen zusammenhängt, und wie er auf den Bau der Lymphdrüsen zurückgeführt werden kann. Die Peyer'schen Drüsen bestehen aus einem Haufen von einzelnen Elementen, welche, wie Sie wissen, zu sogenannten Plaques neben einander gelagert sind. Wenn man durch eine solche Plaque einen Durchschnitt macht, so findet man, dass sie aus lauter ovoiden Körpern besteht, die mit ihrer breiteren Seite gegen die Muskelhaut gewendet sind, mit ihrem Körper im submucösen Bindegewebe liegen und mit ihrem verdünnten Kopfende gegen die Höhle des Darmes hin und zwischen den Darmzotten hervorragen. Sie entsprechen einem einzelnen Drüsenelemente der Corticalsubstanz einer Mesenterialdrüse, sie haben ein ähnliches Capillargefässsystem mit centripetal verlaufenden Maschen, sie haben ein ganz analoges Keimlager, in dessen mittlerer Partie die jüngsten Elemente liegen, welchen nach der Oberfläche hin immer weiter entwickelte Elemente folgen, und sie haben endlich an ihrer der Muskel- haut zugewendeten Seite Eäume, welche den Sinus entsprechen, die die Elemente der Corticalsubstanz von der Kapsel der Lymphdrüsen trennen. Diese Sinus communiciren unmittelbar mit den Chylusgefässen. Das kann man durch ein einfaches Experiment darthun. Man bindet das untere Stück vom Dünndarm ab und spritzt in dasselbe Terpentinöl, das mit Entwiokelung der Lymphkörperchen. 205 Alkanna roth gefärbt ist. Verstärkt mau nun den Druck, so reisst irgendwo die Kuppe eines Peyer'schen Drüsenelementes ein, und wenn dies nicht geschieht, so drückt man eine Partie der Drüse, um zwischen den Fingern eine oder die andere Kuppe zu zersprengen. Dann tritt das mit Alkanna gefärbte Oel hinein, und man sieht ein zierliches Netzwerk von rothen Linien um die einzelnen Elemente der Peyer'schen Drüsen herum entstehen, iind von diesen rothen Linien aus injiciren sich Bahnen zu den Chylusgefässen, die erst unter dem Peritonäalüber- zuge des Darmes und dann im Mesenterium verlaufen. Es sind dies also, terminale Lymphdrüsen, welche an den Enden der Chylusgefässe ange- hängt sind, und das Netz von rothen Linien, das sich im Beginn der Injection füllte, entspricht den Sinus derselben. Wir werden auch später in der Lehre von der Eesorption sehen, dass die Eetttröpfchen des Chylus in einzelnen Fällen in diesen Drüsen selbst kenntlich sind. Nun zeigt die Vergleichung des Baues dieser Drüsen mit dem der solitären Drüsen, welche durch den ganzen Dünndarm zerstreut sind, dass diese ganz dieselben Bildungen sind, und dass die Peyer'schen Drüsen von den solitären sich nur dadurch unterscheiden, dass sie in Plaques, in Haufen vereinigt, während die anderen zerstreut liegen. Also auch die solitären Drüsen sind periphere Lymphdrüsen. Wir finden dann ganz dieselben Drüsen im Processus vermiformis verhältnissmässig dicht gestellt, wir finden sie im ganzen Dickdarm zerstreut unter dem Namen der Solitärdrüsen, der Glandulae simplices majores oder, wie sie auch früher fälschlich genannt wurden, der Schleimfollikel. Wir finden endlich ähnliche Drüsen spärlich im Magen; hier führen sie den Namen der Glandulae lenticulares. Wir finden dergleichen Drüsen in den Ton- sillen, wir finden sie auf einer Zone, die auf dem Grunde der Zimge quer von einer Tonsille zur andern übergeht. Diese Gebilde sind sämmt- lich periphere Lymphdrüsen. Wenn man aber diese Untersuchungen am Menschen anstellt, so findet man, dass die Drüsenelemente nicht so deutlich in ihrer Porm getrennt sind, wie dies bei den Peyer'schen Drüsen und bei den solitären Drüsen des Dünndarmes der Fall ist. Man kann auf den ersten Anblick im Zweifel sein, ob" man es wirklich mit solchen peripherischen Lymphdrüsen zu thun habe. Wenn man aber dann die Tonsillen und den Grund der Zunge eines Schweines unter- sucht, so findet man hier die einzelnen Elemente auf das schönste von einander getrennt, gerade so, wie man sie im Darme als solitäre Drüsen und Peyer'sche Drüsen gefunden. Es beruht dies darauf, dass beim Schweine das Bindegewebe der Organe stark entwickelt ist, iind dass in allen Theilen die bindegewebigen Scheiden, mit denen die Organe und Organtheile umgeben sind, vollständiger sind als beim Menschen. Man kann also nicht im Zweifel sein, dass auch beim Menschen diese Gebilde in den Tonsillen und am Grunde der Zunge, die sogenannten Balgdrüsen, peripherische Lymphdrüsen sind. Da aber die Masse mehr difius ver- breitet ist, weniger bestimmt in Drüsenelemente gesammelt, so hat man für diese Art von Gewebe, für diese difl^us verbreiteten Keimlager, einen eigenen Namen erfunden, man bezeichnet sie mit dem Namen der adenoiden Substanz. Dergleichen adenoide Substanz findet man auch noch an anderen Orten, z. B. an der Kückwand des Rachens. Ueberall wo diese sogenannte adenoide Substanz sich findet, kann mau sagen, dass 206 Wurzeln der Lympligefässe. man es mit periplierisclien Lymphdrüsen zu thun habe, mit Keimlagern, welche die Eolle von peripherischen Lymphdrüsen spielen, und die nur nicht so gut, so vollständig getrennt sind, wie die peripherischen Lymph- drüsen im Darme. Lymphkörperchen also, die man in Lymphgefässen findet, welche noch keine Lymphdrüse passirt haben, können ihren Ursprung haben aus peripherischen Lymphdrüsen, wenn auch der Vegetationsprocess nicht immer ein gleich lebhafter ist, und im Allgemeinen ein viel lang- samerer zu sein scheint, als in den intercalirten Lymphdrüsen, den grossen Drüsen, welche im Verlaufe der Lymphgefässe liegen; sie können aber auch noch einen andern Ursprung haben. Man hat beobachtet, dass man in manchen Lymphgefässen, welche sich im normalen Zustande äusserst arm an Lymphkörperchen erwiesen, eine grosse Menge von Lymphkörperchen findet, wenn in ihrem Quellgebiet ein Eeizungs-, ein Entzündungszustand eintritt. Wir wissen, dass bei der Entzündung weisse Blutkörperchen durch die Wandungen der Blutgefässe auswandern. Diese müssen also in die interstitielle Gewebsflüssigkeit hineingelangen und können dann wieder von den Lymphgefässen aufgenommen werden. Ja bei manchen Thieren und an manchen Orten scheiden ja die Wurzeln der Lymphgefässe die kleinen Blutgefässe bis zu einer nicht unbeträcht- lichen Höhe ein, so dass noch die kleinen Arterien und Venen inner- halb der Lymphgefässe liegen, und mithin das, was aus dem Blutgefässe herauskommt, direct in das Lymphgefäss hineingelangt. Hering hat diesen Uebergang direct verfolgt, er hat farblose Blutkörperchen aus einem Blutgefässe austreten, in das einscheidende Lymphgefäss eintreten und mit der Lymphe in entgegengesetzter Kichtung wieder fortfliessen gesehen. Wurzeln der Lymi)ligefässe. Es ist beschrieben worden, dass die Lymphgefässe mit blinden, handschuhfingerförmigen Wurzeln anfangen. Es ist auch beschrieben worden, dass sie mit geschlossenen I^etzen anfangen. Es ist wahr, dass im Verlaufe des Lymphgefässsystems blinde, handschuhfingerförraige Enden vorkommen, es ist auch wahr, dass ganz am Ende und ganz peripherisch Netze vorkommen, aber diese Netze und diese blinden An- fänge sind nicht wirklich, sondern nur scheinbar geschlossen. Sie haben immer kleinere oder grössere Zugänge, von welchen aus sie gespeist werden. Es ist auch in der That schon an und für sich nicht wahr- scheinlich, dass sie geschlossen seien, denn man würde dann nicht be- greifen, wie die Lymphe aus den Organen in die Lymphgefässe hinein- kommen soll. Wenn man ein Eöhrensystem behufs der Drainage in einen Acker einlegt, so müssen die Drainager Öhren immer an ihren Enden offen sein, denn sonst kann keine Flüssigkeit in dieselben hinein- gelangen. Gerade so ist es nothwendig, dass die Drainageröhren, welche in die Organe hineingelegt sind, OefFnungen haben, durch welche die Flüssigkeit hineingelangt. Man hat gesagt, die Flüssigkeit solle durch die Wandungen hindurchsickern, sie soll aufgesaugt werden, wie von Capillai'- röhren. Man scheint eine wunderbare Vorstellung von den Capillar • Wirkungen zu haben, wenn man glaubt, dass durch Capillarwirkung aus Wurzeln der Lyraphgefässe. 4U i den interstitiellen Gewebsräumen die Flüssigkeit in die im Verhältuiss zu diesen interstitiellen Gewebsräumen weiten Lymphräume hineinsteigen sollte. Wenn man sich denkt, dass die Lymphe durch Druck in die handschuhfingerförmigen Wurzeln oder in die Endnetze hineingelange, so vergisst man dabei, dass die Wände an einander gedrückt w^erden würden und somit das Eintreten der Flüssigkeit hindern müssten. Es lässt sich aber auch empirisch nachweisen, direct mit den Augen ver- folgen, dass diese Röhren mit offenen Enden anfangen, das heisst mit den interstitiellen Gewebsräumen in Communication stehen. Das kann man am besten am Darme verfolgen. Aus der Darmschleimhaut nehmen die Lymphgefässe nicht blos das überschüssig ausgeschiedene Blutplasma, sondern auch das, was aus der Höhle des Darms an Nahrungsstoffen resorbirt ist, den sogenannten Chylus auf. Dieser ist meistens milch- weiss wegen des Fettes, welches in ihm emulgirt ist, und man kann ihn deshalb leicht auf seiner Wanderung verfolgen. Da gibt es keine Irrthümer, welche bei künstlicher Injection durch zu starken Druck oder dergleichen hervorgerufen werden, denn hier ist der Chylus in seiner natürlichen Lage, man sieht ihn in seinem natürlichen Wege und ver- folgt ihn bis in die Lymphgefässe des Mesenteriums, und dabei sieht man, dass sich jede Zotte ja oft die ganze Darmschleimhaut in ihren interstitiellen Gewebsräumen mit Chylus antrinkt, so dass sie gleichsam einen Sumpf von Chylus darstellt, und dass die Chylusgefässe nun wie Abzugskanäle aus diesem Sumpfe hervorgehen und sich mit Chylus füllen. Auch hier fangen die Abzugskanäle als kolbige oder netzförmige, innere Zottenräume anscheinend geschlossen an, aber sie erhalten eben überall Zuflüsse aus dem Zottengewebe und haben auch in der übrigen Schleim- haut noch Communication mit den interstitiellen Gewebsräumen der- selben, durch welche Communicationen nicht nur Flüssigkeit, sondern auch Fetttröpfchen ein- und austreten können. Es war ferner schon den älteren Anatomen bekannt, dass man manchmal bei der Einspritzung von Blutgefässen, namentlich wenn dieselbe bald nach dem Tode ge- macht wird, Injectionen der Lymphgefässe bekommt, so schön, wie mau sie sonst durch viele Mühe und Arbeit nicht darstellen konnte, einfach dadurch, dass sich Capillarextravasate bildeten und die lujectionsmasse, welche in das Gewebe übergetreten war, ihren Weg durch die Lymph- gefässe zurückfand. Ausserdem hat Herbst schon vor längerer Zeit einen Versuch angegeben, den ich mehrmals wiederholt und immer bestätigt gefunden habe. Man injicirt einem lebenden Hunde Milch in die Jugularis, so viel er eben verträgt; man lässt sie am besten langsam durch einen Trichter einfliessen. Dann injiciren sich die Lymphgefässe überall auf das schönste mit einer weisslichen Flüssigkeit. Auf der Lunge, auf der Leber kann man die oberflächlich liegenden Stämme mit blossen Augen verfolgen, und wenn man den Inhalt der Lymphgefässe untersucht, so findet man, dass eine grosse Masse von Milchkörperchen und Blutkörperchen darin ist. Es ist also klar, dass die Wände der Capillaren nachgegeben haben, dass Milch und Blut mit einander gemischt in die interstitiellen Gewebsräume gelangt sind, und dass sie sofort vom Lymphgefässsystem zurückgeführt wurden, war wiederum darauf hinweist, dass das Lymphgefässsystem an seiner Peripherie offene Communicationen besitzt, indem nicht nur Flüssigkeit, sondern auch Milchkörperchen und 208 Wurzeln der Lymphgefässe. Blutkörperchen auf diesem Wege zurückgelangt sind. Dann ist es Ludwig gelungen, die Lympligefässe des Hodens bei Hunden vom Samenstrange aus zu injiciren, und er hat hier gefunden, dass die Injectionsmasse in Eäume gelangte, welche im Bindegewebe zwischen den einzelnen Samenkanälchen liegen, und in welchen sich auch die Capillargefässe befinden, die Blutcapillaren, von welchen die Samen- kanälchen umsponnen sind. Es hatte also hier die directe Erfahrung gerade das gezeigt, was man erwarten musste, nämlich, dass die Quellen des Lymphgefässsystems da liegen, wo die Capillaren des Blutgefässsystems liegen. Denn die Lymphe ist ja eben das überschüssig ausgeschiedene Plasma, und folglich müssen die Lymphgefässe ihre Quellgebiete da haben, wo dieses Plasma ausgeschieden wird. V. Eecklinghausen hat in einer E-eihe von Organen ein eigenes System von Kanälen, wie er sie nennt, Saftkanälchen beschrieben, kleine Häume, von denen die Gewebe durchzogen und durchgraben sind, und die im Leben theils mit Flüssigkeit gefüllt sind, theils aber auch mit den Fortsätzen von zelligen Elementen, welche noch ihre Contractilität bewahrt haben und Fortsätze in diese Eäume hineinstrecken, eventuell sich auch in diesen Räumen fortbewegen. Speciell aus diesem Systeme von Saftkanälchen hat man das Lymphgefässsystem abgeleitet. Wenn auch kein Zweifel vorhanden ist, dass es mit dem Quellgebiete des Lymphsystems in Communication ist und räumlich einen Theil desselben ausmacht, so ist es doch nicht gerechtfertigt, es vor anderen inter- stitiellen Gewebsräumen, insonderheit vor den Räumen, welche sich den Blutcapillaren zunächst befinden, zu bevorzugen: denn die wahren Quellen des Lymphstromes sind doch nur immer da, wo sich das Material ansammelt, welches ihn speist, und dieses Material ist das ausgeschiedene Blutplasma. Man könnte freilich auch alle Räume in den Geweben und Orgauen, in denen das irrigirende Plasma fortsickert, und aus denen es in die Lymphgefässe gelangt, als Saftkanälchen bezeichnen, aber man würde damit kaum das Passende getroffen ^'°- 2^- haben, da diese Räume nicht alle die Gestalt f^ und Eigenschaft von Kanälen haben. /^l ■■ In den serösen Häuten gibt es nun y^ auf den ersten Anblick ganz andere Lymph- •- "^ ^) gefässe, oder Lymphgefässe mit einer ganz l andern Art des Anfanges. Da findet man I schöne Netze mit anscheinend geschlossenen Wandungen, die ein zierliches und feines j Maschenwerk bilden, sowohl auf der unteren ^ ' Seite des Zwerchfelles, als auf der Pleura. ''^^^'^ j/ Auch diese Anfangsnetze der Lymphgefässe / sind nur scheinbar geschlossen. Sie haben directe Communication mit den serösen Höhlen, v. Reckling hausen fand schon vor einer Reihe von Jahren, dass, wenn man einem lebenden Kaninchen Milch in die Bauchhöhle injicirt, diese nach einiger Zeit die Lymphgefässe des Zwerchfelles an- füllt. Ebenso hat man am frisch getödteten Thiere von der concaven Seite des Zwerchfells die Lymphgefässe desselben injicirt, indem man dui'ch künstliche Respiration einen wechselnden Druck erzeugte. Die Triebkräfte für den Lymphstrom. 209 Die sich hier füllenden Netze liegen unter der Oberfläche und communicircn durch eigene Oeffnungen, durch eigene Stomata, mit den serösen Höhlen. Ludwig iind Schweigger-Seidel haben diese I^etze mit löslichem Berlinerblau injicirt, und die Communicationen mit den serösen Höhlen auf Querschnitten dargestellt. Sehr leicht kann man sie an dem Peritoneum des Frosches auffinden. Sie sind in Fig. 33 nach Schweigger -Seidel und Dogiel von der Fläche gesehen dargestellt. Durch einen Eest von contractilem Protoplasma, das sich die sie zu- nächst umgebenden Zellen bewahrt haben, scheinen sie sich schliessen und öffnen zu können. In Fig. 33 zeigt a ein geschlossenes, h ein halb- geöffnetes, c ein ganz geöffnetes Stoma. Ausserdem scheinen diese Netze auch mit interstitiellen Gewebs- räumen zusammenzuhängen, die nur hier wegen der Festigkeit, mit der das umgebende Gewebe gefügt ist, spärlich und eng sind. Die Haupt- masse ihres Inhaltes stammt jedenfalls aus den serösen Höhlen, aus denen sie die überschüssig ausgeschiedene, ihrerseits aus den unter der Oberfläche verbreiteten Blutgefässen stammende Flüssigkeit zurückführen. Die Triebkräfte für den Lymplistrom. Wir haben gesehen, dass die Lymj)he ihrer Hauptmasse nach der Rest des in die Gewebe ausgeschiedenen Plasmas ist. Das Blutplasma wird unter dem Drucke ausgeschieden, welcher in den Capillaren herrscht. Dieser Druck ist aber jedenfalls grösser als der Druck in den Venen, und namentlich grösser als der Druck in den Venen da ist, wo die grossen Lymphstämme, der Ductus thoracicus und der Ductus lymphaticus communis dexter in das Venensystem einmünden. Nun erreicht zwar der Druck in den Geweben nicht den, der in den Capillargefässen herrscht, denn dadurch eben, dass er geringer ist, wird ja Plasma aus den Ca- pillaren in die interstitiellen Gewebsräume ausgeschieden, aber immerhin müssen wir annehmen, dass der Druck hier grösser sei als im Bildungs- winkel der Vena anonyma dextra und sinistra, wo er zur Zeit der Inspiration so beträchtlich sinkt, und dass die Lymphe in den Lymph- gefässen schon deshalb fortgetriebeu wird, weil sie aus der Gegend des grösseren Druckes gegen die Gegend des geringeren Druckes hinfliesst: zweitens aber müssen alle Bewegungen, insofern sie einen wechselnden Druck auf die Lymphgefässe ausüben, mit dazu beitragen, die Lymphe in ihrer natürlichen Stromesrichtung vorwärts zu schieben, weil jede Bewegung in entgegengesetzter Richtung durch die zahlreichen Klappen gehindert ist. Insbesondere aber sind es wieder die Respirations- bewegungen, welche einen wesentlichen Werth für die Fortbewegung der Lymphe haben, indem bei der Inspiration der Druck in der Brust- höhle vermindert und der Druck in der Bauchhöhle vermehrt wird, und so die Lymphe aus den Gefässen der Uuterleibshöhle in den Ductus thoracicus förmlich aufgepumpt wird. Aber auch der Eiufluss der activen und passiven Bewegungen der Glieder ist stets aufs deutlichste hervor- getreten, wenn man an den grossen Lymphstämmen der Extremitäten experimeutirte und die aus ihnen ausfliessende Lymphe auffing. Man kann aber auch kaum zweifeln, dass die Contractilität der AVände der Lymphgefässe selbst mif zur Fortbewegung der Lymphe Brücke. Vorlesungen I. 1. Aufl. 14 ZlU Drüsen oliae Austubrungsgänge. Die Thymus. beiträgt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Lymphe, wenn sie ein Lymphgefäss bis zu einem gewissen Grade prall anfüllt, als Reiz für die Muskelfasern in den Wänden dieses Lymphgefässes wirkt und sie zur Contraction anregt, so dass das Lymphgefäss seinen Inhalt austreibt. J^ach den Beobachtungen von Arnold Heller ist die Contraction sogar eine rhythmische. Arnold Heller hat an durch Chloralhydrat betäubten Meerschweinchen, deren Mesenterium er über einen Korkring heraus- gelegt hatte, unter dem Mikroskope die Lymphgefässe sich im Mittel . sechsmal in der Minute zusammenziehen und sich wieder erweitern ge- sehen. Es schritt dabei die Contraction von der Peripherie gegen das Centrum, also vom Darme gegen die Anheftungsstelle des Mesenteriums hin vorwärts, und somit in der natürlichen Richtung, in welcher die Lymphe fortbewegt wird. Lymphherzen, wie man sie bei den andern Wirbelthieren kennt, locale Pumpwerke, durch welche die Lymphe aus dem Lymphgefässsystem in das Blutgefässsystem eingepumpt wird, kennt man bis jetzt bei den Säugethieren und beim Menschen nicht. Drüsen oline Ausfüliruiigsgänge. Wir haben jetzt eine Reihe von Organen zu betrachten, welche in der Anatomie mit dem Namen der Drüsen ohne Ausführungsgänge, auch mit dem der Blutgefässdrüsen belegt sind, und von denen uns einige noch nahe Beziehungen zum Lyrnj^hgefässsysteme darbieten werden. Wir wollen den Anfang machen mit der Thymus. Die Thymus. Die Thymus besteht aus einer grossen Menge von kleinen Läppchen, die durch Bindegewebe mit einander verbunden sind, und deren jedes insofern sein eigenes Gefässsystem hat, als in jedes eine oder mehrere kleine Arterien hineingehen, und das Blut durch eigene kleine Venen wieder herausgeführt wird. Abgesehen von den Capillaren, welche diese kleinen Arterien in die Läppchen hineinschicken, bestehen die letzteren aus einem bindegewebigen Stroma und einer grossen Menge von Zellen- keimen in verschiedenen Graden der Entwiekelung zu • lymphkörper- ähnlichen Zellen, kurz wir haben hier das vor uns, was wir mit dem Namen der adenoiden Substanz bezeichnen. Die Thymus wächst im Em- bryo rascher als andere Organe, sie hat aber zur Zeit der Geburt noch nicht das Maximum ihrer Grösse erreicht, indem sie während des ersten Jahres noch weiter wächst. Dann bleibt sie eine Weile stationär und geht mit dem zwölften oder dreizehnten Jahre ihre regressive Metamorphose ein. Ivöllikcr gibt indessen an, dass er manchmal bei Individuen von zwanzig Jahren noch eine ganz succulente Thymus ge- funden habe. Man beschreibt in der Thymus eine eigene Höhle, welche den Namen der Thymushöhle führt. Sie kommt aber nicht überall vor. Man kann sehr häufig die Thymus von neugeborenen Kindern durch- schneiden, ohne dass man irgend etwas von dieser Thymushöhle vor- findet. Da, wo sie vorkommt, sind ihre Wände rauh und die um- gebende Substanz erweicht. Sie ist eine Lücke, welche aus einem Die Milz. 211 im Innern der Thymus stattfindenden Schmelzungsprocesse hervorge- gangen ist, einem Schmelzungsprocesse, mit dem die regressive Meta- morphose einhergeht, welche nach und nach die ganze Substanz der Thymus aufzehrt und ein lockeres, sich später mehr verdichtendes Binde- gewebe zurücklässt. Nach ihrem mikroskopischen Baue muss man die Thymus den peripherischen oder terminalen Lymphdrüsen anreihen, indem sie ganz aus sogenannter adenoider Substanz besteht, welche aber nur während des embryonalen Lebens und während des jugendlichen Alters functiouirt und später zu Grunde geht. Es treten auch beträchtliche Lymphgefässe heraus, die sich aus oberflächlich verlaufenden Aesten zusammensetzen. Die mit ihrer Lymphe austretenden Zellen sind, wie angegeben wird, im Durchschnitte etwas weniger weit entwickelt, als die aus den Lymph- drüsen kommenden. Sie gelangen wie die Lymphe, der sie angehören, nicht direct in den Ductus thoracicus, sondern erst, nachdem sie eine oder mehrere Lymphdrüsen passirt haben. Dass eine Lymphdrüse ausschliesslich für das jugendliche Alter existire und später schwinde, hat nichts Unwahrscheinliches. Es mag in der Jugend ein grosser Bedarf an farblosen Blutkörperchen gedeckt werden müssen. Auch die übrigen Lymphdrüsen sind in der Kindheit relativ gross und im späteren Alter, im Greisenalter, nehmen sie nicht nur relativ, sondern auch absolut an Masse so bedeutend ab, dass be- rühmte Anatomen des vorigen Jahrhunderts noch in Zweifel sein konnten, ob nicht im höchsten Alter die Lymphdrüsen gänzlich verschwänden. Es geht dieser Process so vor sich, dass nicht mehr so viel Zellen nach- gebildet werden, als fortwährend in Gestalt von Lymphkörperchen aus den Lymphdrüsen herausgeschwemmt werden, dass mithin die Zellen- balken immer kleiner und dünner, manche von ihnen ganz aufgezehrt werden, so dass nun die Anzahl der tiefen Lymphbahnen im hohen Alter geringer ist, aber die einzelnen Lymphbahnen viel breiter sind als in frühereu Lebensjahren. Endlich setzt sich der Process der Atrophie oder vielmehr der mangelhaften Nachbildung auf die Elemente der Corticalsubstanz fort, so dass die ganze Lymphdrüse auf den dritten, auf den vierten Theil, ja noch weniger, ihres früheren Volums ver- schrumpft. Die Milz. Die grösste unter allen sogenannten Drüsen ohne Ausführungsgang ist die Milz. Die Milz hat eine fibröse Kapsel, welche eng mit dem Bindegewebe zusammenhängt, das in der Milz selbst verbreitet ist. Dieses Bindegewebe ist bei verschiedenen Thieren verschieden reichlich ent- wickelt und bildet bei manchen derselben, z. B. bei den Pferden, ein starkes Balkennetz, welches die ganze Milz durchsetzt, und welches überall an seinen Enden mit der fibrösen Kapsel in Verbindung steht. In diesem Balkenwerk verlaufen die grossen Stämme der Gefässe und auch die Nerven, und ausserdem enthält dieses Balkenwerk reichliche, zum grossen Theil gesammelt in starken Bündeln, als Muskelbalken, auftretende organische Muskelfasern, vermöge welcher sich die Milz zusammenziehen kann. Es wird dabei der grösste Theil des in ihr 14* 212 Die Milz. enthaltenen Blutes ausgetrieben, während sie wiederum, wenn die Muskel- fasern erschlaffen, eine grosse Menge von Blut aufnimmt. Damit hängt die sehr variable Grösse der Milz zusammen. Man kann die Contractilität der Milz direct untersuchen, indem man einen Hund mit Opium narkoti- sirt, ihm einen Schnitt in die Bauchdecken macht und die Milz zu Tage legt. Anfangs zieht sie sich gewöhnlich auf den Eeiz der atmosphärischen Luft zusammen, wenn man aber dann eine Zeit lang wartet, so ver- grössert sie sich wieder, ihre Oberfläche wird glatt und glänzend, und ihre Farbe wird tief dunkelroth. Wenn man nun die einander bis auf etwa fünf Millimeter genäherten Electroden eines Neef'schen Magnet- electromotors auf eine Stelle der Milz aufsetzt, so entsteht an dieser eine Grube, und die Stelle erblasst, indem hier eine locale Contraction entsteht, vermöge welcher das Blut ausgetrieben wird. Ja man kann auf einer solchen Milz förmlich schreiben, man kann mit den nahe aneinanderstehenden Electroden langsam Linien- ziehen, und es bilden sich Furchen und blasse Streifen in der Richtung, in welcher man die Linien gezogen hat. Weniger gut ist die Contractilität an der Meuschen- milz nachgewiesen. Es unterliegt keinem Zweifel, dass auch in der Menschenmilz Muskelfasern enthalten sind, denn es verzweigen sich ja in ihr zahlreiche Blutgefässe, und die Blutgefässe als solche enthalten schon in ihren Wandungen Muskelfasern. Aber das Balkenwerk ist in der Milz des Menschen bei Weitem nicht so entwickelt, als dies bei Hunden, Pferden und Schweinen der Fall ist, und man hat auch keine so gute Gelegenheit, sich an der Leiche von der Contractilität desselben zu überzeugen. Die einzigen Leichen, welche sich zu solchen Unter- suchungen eignen, weil man sie früh genug bekommt und früh genug öffnen darf, sind die Leichen von Geköpften. Diese haben aber immer eine so grosse Menge von Blut verloren, dass an und für sich die Milz schon sehr zusammengefallen ist, so dass man Contractionen an derselben nicht mehr mit der Deutlichkeit wahrnimmt, mit welcher man sie an den blutreichen Milzen lebender Thiere beobachten kann. Es sind des- halb die Versuche an Hingerichteten mit ungleichmässigen Resultaten angestellt worden; die Einen geben an, sie hätten Contractionen in der Milz gesehen, die Andern geben an, sie hätten keine gesehen. Die aber, welche angeben, sie hätten Contractionen bemerkt, beschreiben sie so, dass man sagen muss, dass die Erscheinungen im Wesentlichen mit den- jenigen übereinstimmen, welche man an der Hundemilz gesehen hat. Auch haben Botkin und seine Schüler Verkleinerung vergrösserter Menschenmilzen an Lebenden mittelst Percussion beobachtet als directe Folge einer Reihe von Inductionsschlägen, welche durch die Haut zu- geleitet wurden. Man hat deshalb keinen Grund, an der Contractilität der Menschonmilz zu zweifeln, wenn auch die Contractionen nicht mit solcher Kraft erfolgen können, weil das muskulöse Balkengewebe nicht so entwickelt ist, wie beim Hunde und Pferde. In das Balkengewebe treten nun, wie wir gesehen haben, die Aeste der grossen Blutgefässe ein.' Die Arterien verzweigen sich im Ganzen baumförmig, dann aber fangen sie auch an zahlreiche Aeste unter spitzen Winkeln zu treiben, so dass sie mehr pinselartig verzweigt erscheinen. Zwischen ihren kleineren Aesten und an ihren kleineren Aesten hängen eigenthümlichc Bildungen, die wir mit dem Namen der Malpigbi'schen Die Milz. 213 Körperclien bezeichnen. Diese sind Keiralager, ähnlich, wie wir sie in der Corticalsubstanz der intercalirten Lymphdrüsen und in den terminalen Lymphdrüsen finden, nur sind sie ärmer an ■Elutgefässen. Die Menge der Capillaren, die in sie hineingeht, ist nicht so gross wie in den Solitärdrüsen, wie in den Elementen der Peyer'schen Plaques und der Corticalsubstanz der Lymphdrüsen. Ln Uebrigen aber liaben sie wie diese ein zartes Bindegewebsstroma und bilden ein ISTest von lymphoiden Zellenkeimen in verschiedenen Entwickelungsstadien. Sie sind mit einer mehr oder weniger vollkommenen Bindegewebskapsel umgeben. Beim Schweine ist wiederum diese Bindegewebskapsel sehr vollständig ent- wickelt, und darum lassen pich diese kleiiien Körperchen am Schweine am besten untersuchen. Wenn man die Milz eines Schweines, nachdem man die Kapsel abgezogen hat, unter Wasser zerdrückt und ausschwemmt, so schwemmt man eine weiche Substanz heraus , welche unter dem Namen der Milzpulpe bekannt ist, und behält nun das Balkengewebe mit den Arterien und Venen zurück, und da sieht man an den kleinen Arterien, wie Beeren an Stielen, kleine runde Körperchen hängen, welche unter dem Mikroskope sich als die Malpighi'schen Körperchen erweisen. Manchmal umgibt das Körperchen das ganze Gefäss, so dass es von der kleinen Arterie durchbohrt wird: manchmal sitzt es auch gerade an oder in einer gabiigen Theilung der Arterie, manchmal umgiebt es die Theilungs- stelle. Beim Menschen lassen sich für die Beobachtung mit der Lupe und im auffallenden Lichte die Malpighi'schen Körperchen nicht so gut wie aus der Schweinemilz darstellen, weil sie durch die Kapsel weniger gut gegen die umgebende Substanz abgegrenzt sind, so dass sie beim Zerdrücken und beim Auswaschen der Milz unter Wasser häufig zerfallen, wenigstens nicht mit so bestimmten Begrenzungen erscheinen, wie dies bei der Schweinemilz der Fall ist. Bei diesem Auswaschen der Schweinemilz unter Wasser haben wir zwei durch ihre Consistenz sehr verschiedene Substanzen unterschieden, wir haben sie durch einen ziemlich rohen Process von einander ge- trennt, nämlich einerseits das Balkengewebe mit den Gefässen und den Malpighi'schen Körperchen, und andererseits die sogenannte Pulpa lienis, welche wir zerquetscht und ausgewaschen haben. Was ist nun diese Pulpa lienis? Sie ist, abgesehen von ihren Gefässen, eine sehr weiche, sehr zerreibliche adenoide Substanz, das heisst, sie besteht aus lymphoiden Zellen, aus nackten Zellen in allen möglichen Stadien der Entwickelung, welche in ein sehr lockeres Stroma eingeschlossen sind. Dieses Gewebe füllt den ganzen Raum zwischen den Balken und den Malpighi'schen Körperchen aus. Ein sehr eigenthümliches Verhalten zeigen die Blutgefässe in dieser Pulpa lienis, die in einem von Billroth zuerst beschriebenen Netzwerke oder Fachwerke, das dicht mit lymphoiden Zellen gefüllt ist, ihre Stütze findet. Nachdem die Arterien capillar zerfallen sind, verbreiten sich diese Capillaren zunächst mit ihrem ganz gewöhnlichen Charakter, als Capillaren, die mit besonderen Wänden versehen , sind, sowohl in dem Gewebe der Balken, als auch in den Malpighi'schen Körperchen. Von da ab treten sie aber in die Pulpa lienis über, und in dieser nehmen ihre Wände einen ganz eigenthümlichen Charakter an, oder richtiger gesagt, ihre Wände hören im stricten Sinne des Wortes auf zu existiren, indem 214 Die Milz. sich die Gefässe in eine Menge von Blutbahaen auflösen, welche sich in der Pulpa lienis als Kanäle verzweigen, die nicht mehr drehrund, sondern unregelmässig gestaltet sind, mit austretenden Kanten und Spitzen, die seitlich in engere Kanäle auslaufen, ziemlich ähnlich den Kowalewski- schen Gängen, welche wir in den Lymphdrüsen kennen gelernt haben, nur mit dem Unterschiede, dass in diesem Kanalsysteme, welches hier in das lockere Gewebe der Pulpa lienis gegraben ist, nicht Lymphe, sondern Blut fliesst, beziehungsweise Blutplasma in denjenigen sich seit- lich abzweigenden Kanälen, die zu eng sind, um Blutkörperchen auf- zunehmen. In diesem sogenannten intermediären Gefässsysteme bespülen Blut und Plasma unmittelbar die Zellen der Milzpulpa tind das Stroma, in welches dieselben eingelagert sind. Aus diesem Labyrinth von Blutbahnen sammelt sich das Blut wieder in kleine Venen, und diese durchbohren mit ziemlich kurzen Stämmen die Wände der grösseren und münden in dieselben ein. Schnei- det man eine solche grössere Vene auf, so findet man, dass sie auf der inneren Fläche viele, viele Löcher hat, als ob sie mit einer Nadel durch- prickelt wäre. Diese Löcher sind die Einmündungen der kleinen Venen und führen den Namen der Stigmata Malpighii. Es ist behauptet worden, dass auch in der Pulpa lienis die Ca- pillaren ebenso ihre Wandlungen hätten, wie in der übrigen Milz, dass überhaupt die Capillaren der Pulpa lienis gewöhnliche Capillaren seien, wie die anderer Organe, dass man sie nur bei der Injection leicht zer- reisse, und dann ein Lacunensystem fühle, das normaler Weise und im Leben gar nicht mit Blut gefüllt sei. Diese Behauptung ist aber un- richtig. Man kann sich auf leichte Weise davon überzeugen. Man legt bei lebenden Thieren vorsichtig eine Schlinge um die Arteria und Vena lienalis und zieht dieselbe zu. Dann kann natürlich von einem Extra- vasate keine Rede sein, sondern man fixirt nur das Blut, man ertappt es an den Orten, die es gerade einnimmt. Jetzt schneidet man die Milz aus und legt sie in Chromsäure. Wenn man dann von einer solchen Milz Durchschnitte macht, so findet man die Blutkörperchen in diesem sogenannten intermediären Gefässsysteme, so dass man nicht daran zweifeln kann, dass dasselbe normaler Weise mit Blut gefüllt sei. Man sieht auch schon die Unregelmässigkeit der Begrenzungen und überzeugt sich, dass diese vom Pulpagewebe selbst gebildet werden und nicht von eige- nen, von diesem verschiedenen und trennbaren ^'S- ^*- Wandungen. Wenn man die Milz mit einer Injectionsmasse aus Leim und löslichem Berliner- blau füllt, so erhält man ganz dieselben Bilder, wie sie Wilhelm Müller in einer Abhandlung über den Bau der Milz gegeben hat. Fig. 34 zeigt eines dieser Bilder aus der Milz der Saat- krähe, einen Arterienast mit von ihm abgehen- den Capillaren, die das Blut in das intermediäre Gefässsystem der Pulpa führen. Es ist al^o kein Zweifel, dass dieses Gefässsystem in dieser Gestalt wirklich vom Blute durchkreist wird; dabei bleibt es aber allerdings richtig, dass man schliesslich so viel Injections- masse hineinpressen kann, dass die natürlichen Räume über das Maass Die Milz. 215 ausgedehnt werden, auf welclie sie im Leben das Blut ausdehnt, und dass endlich auch künstliche Eäume erzeugt werden, die an und für sich nicht in der Milz vorhanden sind. Es zeigt sich letzteres daran, dass das in guten Injectionen in einem reichen, aber feinen Kanal- systeme vertheilte Berlinerblau zu grösseren extravasatartigen Massen zusammenfliesst. Wir haben es versucht, uns eine Einsicht in den Bau der Milz zu verschaffen, es handelt sich jetzt darum, so viel als möglich von der Function derselben kennen zu lernen. Der kürzeste Weg hiezu erscheint auf den ersten Anblick zu sein, dass man die Milz ausschneidet und unter- sucht, welche Functionen ausfallen. Das hat man auch zu wiederholten Malen gethau. Die Thiere haben in der Eegel die Operation gut über- standen, aber seinen Zweck hat man nicht erreicht, denn die Thiere waren eben nachher, wie sie vorher gewesen waren. Erst in neuerer Zeit sind bei genauerer Untersuchung massige Gewichtszunahmen der Lymphdrüsen und gewisse Veränderungen des Blutes, beziehungsweise der Gefässe, bemerkt worden, so das« nach Winogradow reichlicher als sonst rothe Blutkörperchen in die Lymphbahnen übergehen. Man hat behauptet, die Milz spiele eine Kolle bei den Geschlechts- functionen. Da man fand, dass auch Thiere, denen die Milz ausgeschnitten wurde, noch ihr Geschlecht fortpflanzten, so hat man gemeint, die Thyreoida vicarire für die Milz. Es hat sich aber durch die Versuche von Bardeleben gezeigt, dass dies auch unrichtig ist, dass man auch die Thyreoidea ausschneiden kann, ohne etwas Wesentliches zu ändern. Aus diesen Versuchen geht nun so viel hervor, dass die Milz, trotzdem sie ein so grosses und mächtiges Organ ist, keiner Cardinalfunction aus- schliesslich vorsteht, und wir müssen uns daher fragen, was sie denn sonst wohl leisten mag? Zunächst ist es klar, dass sie als Blutreservoir dienen kann, und dass sie die Blutmenge verändern kann, welche in andere Theile, speciell in den Magen hineingeht. Wenn die Muskelfasern der Milz erschlafft sind, so kann die Milz eine bedeutende Menge von Blut aufnehmen, es kann auch in der Zeiteinheit eine beträchtliche Menge von Blut durch sie hindurchgehen. Wenn die Muskelfasern der Milz sich zusammenziehen, so muss erstens das Blut, welches in der Milz enthalten ist, grösstentheils in die übrige Circulatiou zurückkehren, zweitens ist aber dann auch die Circulatiou durch die Milz in sehr hohem Grade erschwert. Sie Averden das erwarten müssen, wenn Sic bedenken, dass das Blut nicht nur durch die gewöhnlichen Capillaren, sondern auch durch die Blutbahnen des intermediären Gefässsystems hindurchgehen muss, und diese Blutbahnen nun alle in der Weise zu- sammengedrückt sind, dass die Milz erblasst. Wegen der Anastomosen nun, welche die A. linealis mit den übrigen Aesten der Coeliaca hat, die direct und indirect zum Magen hingehen, muss der Contractions- zustand der Milz einen wesentlichen Einfluss auf die Circulations- verhältnisse des Magens ausüben. ZAvei Schüler von Botkin, Drosdoff und Botschetschkaroff, haben ferner nachgewiesen, dass mit dem Zustande der Milz auch der Blutgehalt der Leber variirt. Wurde das peripherische Ende des durchschnittenen Plexus lienalis gereizt, so zog sich die Milz zusammen und die Leber vergrösserte sich. War in die Leber eine Stichwunde gemacht, so floss aus derselben nur wenig Blut, so lange 216 Die Milz, die Milz von Blut geschwellt war; wurde aber diese zur Contraction gebracht, so iloss das Blut reichlich aus der Stichwunde. Zweitens ist nach verschiedenen älteren Beobachtern, denen unter den neueren G. Bizzozero und G. Salvioli beigetreten sind, in der V. lienalis eine viel grössere Menge von weissen Blutkörperchen enthalten, als in der A. lienalis. Diese farblosen Blutkörperchen müssen also in der Milz gebildet worden sein, und die Milz spielt somit auch die Rolle einer peripherischen, einer terminalen Lymphdrüse, indem in derselben Lymph- körperchen gebildet w'erden, die nun in den Blutstrom hineingelangen. Auf welche Weise sie in den Blutstrom gelangen, darüber fehlt es an directen Beobachtungen, aber um den Ort ihrer Entwickelung können wir kaum in Verlegenheit sein. Wenn wir das Gewebe der Milz an- sehen, so finden wir sowohl in den Malpighi' sehen Körperchen, als im Gewebe der Milzpulpe überall Zellen, die Lymphkörperchen, farblosen Blutkörperchen in ihren verschiedenen Entwioklungsstadien ganz ähnlich sind, und wir können nur sagen, dass die reifen Lymphkörperchen zunächst aus demjenigen Theile kommen müssen, in dem die am meisten entwickelten Zellen vorhanden sind, und dies ist die Milzpulpa. Nun sind zwei Möglichkeiten vorhanden: diese Lymphkörperchen könnten mit der Lymphe der Milz zunächst in grösseren, innerhalb der Milz verlaufenden Stämmen gesammelt werden , und diese könnten in die Bkitgefässe, in die Milzvenen einmünden, land so die Lymphkörperchen in dieselben hineinbringen. Dergleichen Stämme kennt man aber bis jetzt nicht. Wohl aber sieht man in den Blutbahnen des intermediären Gefässsystems das Blut überall direct Zellen bespülen, welche ausgebil- deten Lymphkörperchen bereits vollkommen ähnlich sind, und es wird deshalb die zweite Möglichkeit ziemlich wahrscheinlich, die, dass in ähn- licher Weise, wie in den Lymphdrüsen, die reifen Lymphkörperchen von den Zellenbalken abfallen und in den Lymphstrom gelangen, hier von den Wandungen des intermediären Gefässsystems gleichfalls reife lym- phoide Zellen abfallen und in den Blutstrom hineingelangen, und dass diese es sind, welche von der Vena lienalis aus der Milz herausgebracht werden. Es muss indessen hinzugefügt werden, dass dieses Freiwerden von lymphoiden Zellen in der Milz wahrscheinlich nicht continuirlich stattfindet, indem mehrere neuere Zählungen ein von den älteren An- gaben sehr verschiedenes Resultat ergeben haben. Vor einer langen Reihe von Jahren beschrieben Kölliker und Ecker blutkörperchenhaltige Zellen in der Milz, die auch später von Andern wiedergefunden wurden. Damals glaubte man noch, dass jede Zelle mit einer Membran umgeben sein müsse. Man war deshalb auf die höchst unwahrscheinliche Voraussetzung hingedrängt, dass sieh die Zellen um die Blutkörperchen herum bildeten, ein Vorgang, für den sich keine Analogie vorfand, und zu dessen Annahme sich ein Theil der Physiologen mit Recht nicht entschliessen konnte. Diese Schwierigkeit fällt nun weg, indem wir wissen, dass die nackten Zellen Fetttröpfchen, Karminkörn- chen, Zinnoberkörnchen, also vielleicht auch rofche Blutkörperchen in ihr Inneres aufnehmen, in ähnlicher Weise, wie eine Amöbe sich sogar ein ganzes Stärkekorn einverleiben kann, um dasselbe als Nahrung zu ver- brauchen. Es hat auch in neuerer Zeit W. Müller bei seinen Unter- suchungen über die Milz diese Zellen wiedergefunden, und er ist der Die Schilddrüse. 217 Meinung, dass es die Pulpazellen seien, in welche, wie er sich ausdrückt, die rothen Blutkörperchen hineingewandert wären. Dieses Hineinwandern, oder richtiger gesagt, dieses Verzehrtwerden der Blutkörperchen durch Zellen, die aus der Pulpa stammen, hat Dr. Kusnetzow im hiesigen Laboratorium direet beobachtet. Es ist dazu nöthig, dass man die Temperatur des menschlichen Körpers, wenn auch nicht ganz, so doch einigermassen herstellt, dass man auf einem heizbaren Objecttische das Object bis auf circa 30 bis 35" erwärme. Er hat gesehen, dass die lymphoiden Zellen der Pulpa Blutkörperchen in sich aufnehmen, und dass die Blutkörperchen in diesen Zellen in Stücke zerfallen. Man weiss nun freilich daraus noch nicht, in wie weit dieses Verzehrtwerden von farbigen Blutkörperchen durch farblose fortwährend im lebenden Körper vor sich geht; man hat aber in der Milzpulpa Zellen gefunden, welche ein dunkles, körniges Pigment enthalten, von dem man glaubt, dass es vom Haemoglobin des Blutes abstamme, und man ist deshalb der Meinung, dass auch im Leben Blutkörperchen in dieser Weise von den Zellen der Milzpulpa verzehrt werden, dass sie darin zu Grunde geben, und endlich nur ein Zersetzungsproduct des Haemoglobin« in denselben zurückbleibe. Wenn sich dies weiter, und Schritt für Schritt ausführen und verfolgen Hesse, so würde man daraus einerseits in einem schon vor Jahren von Virchow angedeuteten Sinne die Bildungsstätte und den Ursprung des Pigmentes gefunden haben, welches sich bisweilen krank- hafter Weise im Blute ansammelt und den Zustand bedingt, welchen wir Melanaemie nennen, und andererseits könnte es einen Aufschluss geben über die Leukaemie, insofern man dadurch darauf geführt würde, wie es zugeht, dass bei einer sehr grossen Zunahme der weissen Blutkörperchen die farbigen Blutkörperchen auffallend abnehmen. Es wäre dann ein Darwin'scher Kampf ums Dasein, in dem die rothen Blutkörperchen von den weissen Blutkörperchen, von den lymphoiden Zellen gefressen würden, während sich bisher diejenigen, die annehmen, dass die rothen Blutkörper aus den farblosen hervorgehen, der Ansicht zugeneigt haben, dass die rothen Blutkörperchen deshalb in der Leukaemie an Zahl ab- nehmen, weil die Metamorphose der farblosen Blutkörperchen in rothe stocke. Man hat auch die Milz mit der Blutbildung in Zusammenhang gebracht, namentlich mit der Bildung der rothen Blutkörperchen. Diese Ansicht hat in neuester Zeit wieder namhafte Vertreter gefunden. Doch sind die von den letzteren gemachten Beobachtungen nicht so einfach und leicht darlegbar, dass ich hier die Consequenzen derselben ohne weiteres ziehen könnte. Es wird auch die Milz nicht als einzige Haupt- bildungsstätte der rothen Blutkörperchen angesehen, sondern als zweite neben ihr das rothe Knochenmark, das später an vielen Orten durch Verfettung in das weisse oder sogenannte Fettmark übergeht. Charles S. Boy giebt an, dass sich die Milz periodisch zusammen- zieht und wieder ausdehnt, bei Hunden und Katzen etwa einmal in der Minute. Die Schilddrüse. Bis jetzt haben wir uns mit der Thymus und mit der Milz noch immer an das Lymphgefässsystem anlehnen können : das ist aber nicht 218 Die Nebennieren. ■mehr der Fall mit der Schilddrüse. Wir kennen keinen Zusammenhang zwischen der Schilddrüse und dem Lymphgefässsysteme, und der Bau der Schilddrüse weicht von dem der Lymphdrüsen völlig ab. Man findet zwar auch hier runde Körner, von welchen man im ersten Augenblicke, wenn man sie mit der Lupe ansieht, glauben könnte, sie seien etwas Aehnliches wie die Drüsenelemente der Lymphdrüsen: untersucht man sie aber näher, so findet man, dass dies nicht der Fall ist. Man findet, dass es lauter anscheinend sphäroidische oder polyedrische membranöse Schläuche sind, welche in ihrem Innern mit einem zierlichen, kubischen Epithel ausgekleidet sind und im normalen Zustande eine wasserhelle, fl.üssige, im pathologischen Zustande eine mehr zähe oder gelatinöse Substanz enthalten. Man findet diesen Bau am einfachsten bei den Schildkröten dargelegt, weil bei diesen sehr wenig Bindegewebe vor- handen ist, und alle diese kleinen Schläuche mit den zierlichen Gefäss- netzen, welche sie umgeben, aber niemals Gefässe in sie hineinschicken, eine neben der andern liegen. Von unsern Haussäugethieren sind es die Schafe, deren Schilddrüsen sich am besten zur Untersuchung eignen. Von menschlichen Leichen bekommt man, mit Ausnahme von ganz jungen Kindern, nicht viel gutes Material. Nach einer schon vor längerer Zeit gemachten Angabe sollen die Höhlen dieser anscheinend sphäroidischen oder polyedrischen Schläuche mit einander communicireu und ein aus- gedehntes System von Hohlräumen in verzweigten Schläuchen darstellen. Man kann auf bedeutende Verschiedenheiten in dieser Kichtung gefasst sein, seit Wölfler nachgewiesen hat, dass die gesammten Epithelial- keime ursprünglich jederseits in einer einzigen Gruppe vereinigt sind, und erst mittelst Bildung cylindrischer Massen und Zertheiluug derselben durch Gebilde des mittleren Keimblattes, Bindegewebe und Gefässe, in die Gruppen zerfällt werden, welche später das Epithel für die einzelnen Drüsenelemente hergeben. Ueber die Function der Schilddrüse fehlt sogar jede Hypothese. Sie ist bei Thieren und bei Menschen aus- geschnitten worden, sie ist in ihrer ganzen Masse degenerirt, sie ist nach dieser Degeneration, nach und nach auf chirurgischem Wege zerstört worden, ohne dass man daraus irgend welche Belehrung über die Func- tion der Schilddrüse geschöpft hätte. Nur so viel hat man erfahren, dass ihre Entfernung nicht so gleichgiltig ist, wie man nach älteren Thierversuchen glauben konnte. Man hat im Verfolge der Zeit schwere und selbst zum Tode führende Störungen in den Functionen des Central- nervensystems auftreten sehen. Die Nel)eimiereii. Ein Gebilde, welches von Alters her mit zu den Drüsen ohne Ausführungsgang gerechnet wird, ist die Nebenniere. Die Nebennieren erreichen im Embryo verhältnissmässig frühzeitig eine bedeutende Ent- wickelung, ohne dass man sie deswegen für ein embryonales oder ein speciell nur dem Embryonalleben gewidmetes Gebilde ansehen könnte. Die Nebennieren bestehen aus einer Corticalsubstanz und aus einer Mark- . Substanz, welche Sie, wenn Sie eine menschliche Nebenniere durch- schneiden, mit blossem Auge unterscheiden können. Die Rindensubstanz der Nebenniere ist von der Marksubstanz durch ihre mehr gelbliche Die Nebennipren. 219 und hellere Earbe unterschieden, die Marksubstanz ist mehr grauröthlich und weicher. Auch verlaufen die grossen Blutgefässe alle in der Mark- substanz und in der Kapsel der Nebennieren, die eigentliche Cortical- substanz bekommt nur kleinere Aeste, welche von den tiefen zu den oberflächlichen hinaufgehen und Capillarnetze bilden zwischen den soge- nannten Drüsenschläuchen der Corticalsubstanz. Diese Drüsenschläuche sind cylindrische, oder, richtiger gesagt, prismatische Abtheilungen in der Corticalsubstanz, welche von bindegewebigen Septis gebildet werden, und welche mit polyedrischen, ziemlich uiiregelmässigen Zellen angefüllt sind, deren Bedeutung man nicht kennt. Im Innern, in der Marksubstanz, finden sich dreierlei Arten von Zellen. Erstens die von Virchow darin gefundenen sehr grossen und mit deutlichen Nervenfortsätzen versehenen Ganglienkörper, die in gar nicht unbeträchtlicher Anzahl darin enthalten sind. Eine zweite Art von Zellen, die Holm näher beschrieben hat, ist bedeutend kleiner. An diesen Zellen, die in grosser Menge in der Mark- substanz vorkommen, lassen sich keine Nervenfortsätze nachweisen; der Protoplasmaleib infiltrirt sich aber noch mit Karrain schön roth, wie bei den Ganglienkörpern, mit denen sie in ihrem Ansehen eine unverkennbare Aehnlichkeit haben. Namentlich ähneln sie den kleinen Ganglienzellen, welche sich in den mikroskopischen Ganglien des Darmkanals, im Meissner- schen und Auerbach'schen Plexus finden. Diese Zellen kommen ausserdem immer nur in der nächsten Umgebung der Nerven vor, so dass sie in Masse an Nervensträngen aufsitzen, oder an Theilungsstellen derselben angehäuft sind, in ganz ähnlicher Weise, wie die Ganglienkörper, welche den Nerven aufsitzend ein mikroskopisches Ganglion bilden, nur mit dem Unterschiede, dass an diesen Zellen noch keine Nervenfortsätze nach- gewiesen sind. Wegen der Aehnlichkeit, welche sie mit den Zellen mikroskopischer Ganglien haben, und deshalb, weil sie immer nur un- mittelbar an den Nerven vorkommen, ist es nicht unwahrscheinlich, dass sie auch noch dem Nervensysteme angehören. Endlich kommt in der Marksubstanz noch eine dritte Art von Zellen vor. Die Zellen dieser Art sind die zahlreichsten von allen: sie haben meist eine cylindrische oder prismatische Gestalt, und der Zellenleib fä,rbt sich nicht oder doch schwer mit Karmin, so dass an ihnen meist nur der Kern gefärbt erscheint, wenn schon der Zellenleib der anderen Zellen von Karmin schön roth ist. Ueber diese Zellen weiss man ebenso wenig etwas, wie über die Zellen in der Corticalsubstanz. Wenn man sich nun fragt, was man aus diesem mikroskopischen Befunde schliessen soll, so muss man sich sagen, dass es wahrscheinlich ist, dass die Nebennieren als ein Theil des Nervensystems, und natürlich als ein Theil des sympathischen Nervensystems anzusehen sind. Das wird deshalb wahrscheinlich, weil im Verhältnisse zu der Kleinheit des Organs eine sehr grosse Menge von Nerven in dasselbe hineingeht, zweitens weil die Nerven, die in das Gebilde hineingehen, dort keine peripherischen Endgebilde finden, sondern solche Endgebilde, wie man sie in den Ganglien, und wie man sie im Centralorgane findet, Ganglienkörper, welche wir nach unsern anderweitigen Erfahrungen nicht als Nervenendigungen, sondern als Nervenursprünge betrachten müssen. Die Nebennieren zu den Drüsen zu zählen, haben wir keine Veranlassung, da wir keine absondernde Thätigkeit an ihnen kennen, und auch nicht einmal eine wahre adenoide Formation wie in der Milz und in der 220 Hypophysis oeretin, Steissdrüse und Glandula intercarotica. Der Stoffwechsel. Thymus in ihnen vorfinden. Bei den Versuchen, die Nebennieren auf operativem Wege zu entfernen, starben anfangs alle Versuchsthiere, dann hat man aber auch eine Reihe derselben am Leben erhalten, zuerst weisse Ratten, dann auch andere Thiere, Meerschweinchen, Kaninchen und Hunde. Beim Menschen ist bei Degeneration der ISTebennieren viel- fältig eine eigenthümliche bronzeartige Verfärbung der Haut beobachtet worden. Hypophysis cerebri, Steissdrüse und Grlandula intercarotica. Wir hätten als Drüsen ohne Ausführungsgang etwa noch zu be- sprechen die Hypophysis, die Steissdrüse und die Glandula intercarotica. Die Hypophysis ist in einer ausführlichen und sehr genauen Arbeit von Peremeschko in Rücksicht auf ihren anatomischen Bau untersucht worden. Es hat sich dabei gezeigt, dass sie kein einheitliches Gebilde ist, sondern dass zwei Partien der Hypophysis einen wesentlich verschiedenen Bau haben. Aus dieser Untersuchung ist aber bis jetzt für die Physiologie nichts Sicheres hervorgegangen. Ebenso verhält es sich mit den Unter- suchungen, welche über die Steissdrüse und über die Glandula inter- carotica angestellt wurden. Der StofTwechsel. Wir unterscheiden uns in unseren Ansichten über den Stoffwechsel nicht unbeträchtlich von unseren Altvordern. Wenn wir die Schriften derselben durchgehen, so zieht sich wie ein rother Faden durch dieselben die Vorstellung, dass wir unsere Nahrungsmittel zu uns nehmen als Er- satz für dasjenige, was fortwährend durch den Lebensprocess vom Körper zerstört wird. Sie sehen leicht ein, dass damit eine übertriebene Vor- stellung von dem Stoffwechsel, welcher fortwährend im Körper stattfindet, zusammenhängt. Denn, wenn wir binnen vierundzwanzig Stunden immer so viel von unserem Körper zerstören würden, als wir an Nahrungsmitteln, ich will auch nur sagen, an Eiweisssubstanzen in unserer Nahrung, wieder zu uns nehmen, so müsste in verhältnissmässig kurzer Zeit von dem Ganzen, was an unserem Körper gewesen ist, nichts mehr übrig sein. Heutzutage denken wir uns die Sache anders. Wir denken uns^ dass wir unsere Nahrungsmittel zu uns nehmen, um Wärme und um Arbeit zu erzeugen, und dass wir fortwährend mir einen verhältnissmässig kleinen Theil unseres Organismus verbrauchen, dass der grösste Theil der Sub- stanzen, welche wir consumiren, um Arbeit und Wärme zu erzeugen, Bestandtheile der Nahrungsmittel sind, welche wir zu uns nehmen. Wir haben auch hiezu gute Gründe, indem die Erfahrung zeigt, dass wir unsere Nahrungsmittel sozusagen im kurzen Wege verbrauchen, indem sich unsere Ausscheidungen, sowohl unsere Respirationsproducte, als auch die Ausscheidungen durch die Nieren, in verhältnissmässig kurzer Zeit ändern, je nach der Nahrung, welche wir zu uns nehmen. Es ändert sich die Menge der Kohlensäure, welche wir ausscheiden, je nachdem wir in unserer Nahrung Kohlehydrate oder Fette oder Eiweisskörper zu uns Der Stoffwechsel. 221 nehmeu, es ändert sich die Natur des Harnes, je nachdem wir pflanzliche oder thierische Kost essen. Man kann einem Pflanzenfresser in kurzer Zeit den Harn eines Fleischfressers verschaff'en, wenn man ihn mit Fleisch füttert. Der Harn wird klar und sauer, wie der eines Fleischfressers, und ebenso wird der Harn eines Pflanzenfressers, den man gänzlich fasten lässt, klar und sauer, weil er dann gegen seinen Willen Fleischfresser wird, weil er dann auf Kosten seiner eigenen Substanz respiriren muss. Die Kenntuiss, welche wir von dem Wechsel der geformten, der organisirten Substanz im Körper haben, ist gering. Wir wissen, dass sich ein Theil der Oberhaut fortwährend abstösst, wir wissen, dass die Haare und die Nägel, also im Allgemeinen die Horngebilde fortwährend wachsen, und dass wir sie durch Scheere und Messer stückweise entfernen. Wir wissen ferner, dass aus gewissen Drüsen nicht blos ein flüssiges Secret kommt, sondern dass auch ganze Enchymzellen mit aus den Drüsen aus- gestossen werden, und ebenso, dass auch von den inneren Epithelien, von dem der ISTasenschleimhaut, dem der Bronchialschleimhaut, und dem des Tractus intestinalis gelegentlich etwas ausgestossen wird. Indessen hat man auch in dieser Beziehung früher übertriebene Vorstellungen gehabt. Man hat sich z. B. eine Zeit lang vorgestellt, dass die Secretion des Magensaftes, der Verdauungsflüssigkeit immer so erfolge, dass die ganzen Enchymzellen aus den Pepsindrüsen ausgestossen würden. Man wurde auf diese Idee geführt dadurch, dass bei den Kaninchen, bei denen der Magen niemals leer wird, sich an der inneren Oberfläche desselben zwischen dem Mageninhalte und der Magenwand eine Schicht anhäuft, die aus lauter Zellentrümmern besteht. Wenn man aber den Magensaft des Hundes und auch den frisch secernirten Magensaft des Menschen untersucht, so findet man, dass er eine klare Flüssigkeit ist, in der nur sporadisch geformte Elemente vorkommen. Ebenso glaubten einige Physiologen, dass behufs der Resorption das Cylinderepithel des Darmkanals abgestossen würde, dass die Spitzen der Zotten frei würden, damit sie resorbiren können. Man weiss jetzt, dass dies bei Weitem nicht der Fall ist, sondern dass das Epithel ein durchaus nothwendiger Factor der Resorption ist, und dass tiefe, gewaltsame Störungen im Organismus eintreten, wenn das Epithel des Darmkanals in grösserer Ausdehnung abgestossen wird. Andererseits kennt man wiederum Thatsachen, welche darauf hin- deuten, dass, namentlich in gewissen Geweben, der Wechsel der geformten Bestandtheile ein sehr geringer ist. In den Knochen finden zwar be- deutende Wandlungen statt, so lange sie wachsen, indem sie in einzelnen Partien schwinden, während sie in anderen neue Substanz ansetzen; aber später, wenn sie einmal ihre volle Ausbildung erreicht haben, scheint der Wechsel ihrer festen Substanz, namentlich der ihrer organischen Grund- lage sich sehr zu beschränken. Eine interessante und lehrreiche Er- scheinung zeigt bisweilen die Linse des Auges. Man findet bisweilen in ihr eine einzelne getrübte Schicht, die in der übrigens klaren Linse liegt, und einen so geringen Durchmesser hat, dass man mit Bestimmtheit sagen kann, dass sie schon während des Embryonallebens abgelagert worden ist, und doch hat sie sich Jahre lang erhalten. Die Persistenz der Hornhautflecke, die Langsamkeit, mit der sich Narben verändern, deutet darauf hin, dass der Wechsel der stickstoffhaltigen Substanzen sich auch 222 Dei' Stoffwechsel. hier viel mehr auf die gelösten Theile bezieht, als auf diejenigen, welche bereits Gestalt, welche bereits Form angenommen haben, und somit Formbestandtheile des Körpers geworden sind. Es ist indessen unzweifelhaft, dass immer eine gewisse Menge stickstoffhaltiger Substanzen verbraucht werden muss, und, wie es scheint, auch immer eine gewisse Menge von Substanz unseres Körpers verbraucht werden muss, auch wenn eine hinreichende Ernährung stattfindet. Man weiss, dass man den Stickstoffumsatz des Körpers nur auf eine gewisse untere Grenze, nicht weiter herunterdrücken kann, man mag die Er- nährung regeln wie man will. Man mag mit stickstofflosen Substanzen noch so reichlich füttern, um den Stickstoffumsatz zu beschränken, um die Respiration wesentlich auf Kosten stickstoffloser Substanzen stattfinden zu lassen: es bleibt immer eine gewisse Menge von stickstoffhaltigen Sub- stanzen, namentlich von Harnstoff, welche binnen vierundzwanzig Stunden ausgeschieden wird, und welche zeigt, dass immer eine gewisse Menge von stickstoffhaltigen Substanzen im Körper zersetzt werden muss. Wenn nur stickstofflose Substanzen gefüttert werden, so müssen diese stickstoff- haltigen Substanzen natürlich dem Körper als solchem entnommen werden, und das Individmim geht deshalb bei einer solchen Ernährung rettungslos zu Grunde. Interessant ist es, dass es nicht einmal gelingt, das Individuum im Stickstoffgleichgewicht zu erhalten, wenn man ihm dieselbe Menge Stickstoff, welche es unter solchen Umständen ausscheidet, in Gestalt von Eiweisskörpern in der Kahrung gibt. Die Menge des ausgeschiedenen Stick- stoffes wächst dann, so dass das Individuum wieder ein Stickstoffdeficit hat. Pettenkofer und Voit mussten ihrem Versuchshunde sogar 2i-mal so viel Stickstoff in der TSTahrung zuführen, als er bei stickstofffreier Nahrung ausschied, um Gleichgewicht, um Beharrungszustand zu erzielen. Wenn also nicht die hinreichende Nahrung zugeführt wird, quali- tativ oder quantitativ, so ist die Folge davon, dass die Substanz des Organismus angegriffen wird, und wenn dies fortdauert, so geht das Individuum demjenigen Zustande entgegen, welchen wir mit dem Namen der Inanition bezeichnen. Es werden aber dabei die verschiedenen Be- standtheile des Körpers in sehr verschiedener Weise angegriffen. Ueber diesen Gegenstand liegen uns ausführliche Untersuchungen von Chossat vor. Er liess Tauben verhungern, und bestimmte an den verhungerten Tauben das Gewicht der einzelnen Organe, während er früher dieselben Organe anderer wohlgenährter Tauben von gleichem Gesammtgewichte und gleichem Alter mit seinen Versuchsthieren dem Gewichte nach be- stimmt hatte. Daraus ergab sich schliesslich folgende Tabelle, in welcher die Menge der verlorenen Substanz in Bruchzahlen von der ursprünglich vorhandenen Substanz ausgedrückt ist. Die Menge der ursprünglich vor- handenen Substanz wurde erschlossen aus den Zahlen, die an den er- wähnten wohlgenährten Tauben gefunden worden waren. Verhist in Bruchtlieilen des ursprünglichen Gewichtes der Organe. Fett 0,933 Milz 0,714 Pankreas 0,641 Leber . 0,520 Herz 0,448 Därme 0,424 Ucr Stoffwechsel. 223 Verlust in Bruclitlieilen des iirsprüngliclien Gewichtes der Organe. Willkürliche Muskeln 0,423 Magen . . . . 0,397 Schlundkopf', kSpeiseröhrc . . . . 0,342 Haut 0,333 Nieren 0,319 Lungen 0,224 Kehlkopf- und Luftröhrenknorpel . 0,214 Knochen 0,167 Augen 0,100 Nervensystem 0,019 Dass das Fett so rasch schwindet, hängt damit zusammen, dass es verhältnissraässig leicht verbrennlich, leicht oxydirbar ist, und also leicht dem Respirationsprocesse unterliegt. Es wird deshalb auch das Fett im Körper im Vorrath abgelagert, es ist ein Eespirationsmaterial, welches für gelegentliche Zwecke aufbewahrt wird. Die Laien meinen freilich, die mageren Menschen hielten, wenn sie krank würden, mehr aus, als die fetten : wenn die fetten einmal krank würden, dann ginge es bald mit ihnen zu Ende. Das ist eine falsche Vorstellung, die sich daraus gebildet hat, dass die fetten Menschen gewissen, rasch zum Tode führenden Leiden mehr ausgesetzt sind, als magere. Im Ganzen muss man sagen, dass ein Individuum, welches eine gewisse Menge von Fett im Vorrathe abgelagert hat, eine Krankheit, die mit Nothwendigkeit eine längere Zeit dauernde, unvollständige Ernährung bedingt, besser aushält, als Individuen, welche bereits mager waren, als sie von dieser Krankheit befallen wurden. In der That ist es auch bekannt, dass diejenigen Individuen, welche längere Zeit gekränkelt haben, ehe sie einen Abdominaltyphus bekommen, dem Verlaufe des Typhus im Allgemeinen schlechter widerstehen, als diejenigen, welche von demselben in voller Gesundheit befallen worden sind. Gewisse Menschenracen haben eine besondere Neigung, Fett in Vor- rath anzusetzen. Dazu gehören vor Allen die Hottentotten, Sie können dem entsprechend auch längere Zeit Entbehrungen aushalten. Theophilus Hahn, der im Caplande aufgewachsen ist, erzählt von einem Hotten- tottenknaben, dem in der Jahreszeit, in welcher er zu Hahn's Eltern ins Haus zu kommen pflegte, die Beinkleider hinten stets zu eng wurden, während er später, wenn er wieder zu seinen eigenen Eltern zurückkehrte, ohne Krankheit oder Schwäche in auffälliger Weise abmagerte. Das allerbelehrendste Beispiel von Fettablagerung ist aber das Kameel. Der Araber sagt ganz richtig,- das Kameel lebe auf den Karawanenreisen von seinem Höcker. Wenn das Kameel gut ernährt wird, lagert es in dem Bindegewebe des Höckers eine grosse Menge von Fett ab. Dieses Fett verbraucht es nach und nach auf der Karawauenreise, während welcher es unvollkommen ernährt wird, ohne dass sein übriger Körper beträcht- lich leidet, und wenn es dann zur rechten Zeit ankommt, kann es iu einer kurzen Zeit durch bessere Ernährung für weitere Strecken, be- ziehungsweise für den Rückweg, wieder arbeitsfähig gemacht werden. Dass die Milz in der Abnahme gleich nach dem Fette folgt, hängt wahrscheinlich mit zweierlei Umständen zusammen: erstens damit, dass das Gewicht der Milz grösstentheils durch den Blutgehalt bedingt ist, und wenn in Folge des Fastens die Blutmcngc im Allgemeinen abnimmt, 224 Der Stoffwechsel. namentlich, die Milz an Blut verarmt. Zweitens aber auch, wohl damit, dass in der Milz ein reicher Stoffwechsel stattfindet, wegen der Menge von zelligen Elementen, welche in derselben producirt werden, und welche, wie wir gesehen haben, grossentheils mit dem Blute der Milzvene fort- geführt werden. Auffallend ist die sehr geringe Abnahme des Nervensystems, indem dieses noch nicht um zwei Hundertstel abgenommen hat zu einer Zeit, wo schon fast alles Fett geschwunden war. Es scheint dies damit zusammenzu- hängen, dass der grösste Theil des Nervensystems und namentlich der Theil, der hier gewogen worden ist — denn das kann ja nur das Central- nervensystem sein, die peripherischen Theile konnten ja nicht einzeln herauspräparirt werden — in eine knöcherne Kapsel eingeschlossen ist, und dass deshalb die Versorgung mit Blut weniger leidet^ als dies bei den peripherischen Theilen der Eall ist. Es kann also die Gesammtmenge des Blutes bedeutend heruntergehen, ohne dass das Centralnervensystem wesentlich schlechter mit Blut versorgt wird, als dies im normalen Zu- stande der Fall ist. Mit dieser geringen Abnahme des Nervensystems hängt die Länge der Zeit zusammen, während welcher ein Individuum der Inanition widerstehen kann. Ein sehr merkwürdiges Resultat, das Chossat gefunden hat, ist, dass der Tod in Folge des Verhungerns ziemlich allgemein dann eintritt, wenn die Thiere 0,4 ihres Gesammtgewichtes verloren haben. Es ist dabei nach Chossat gleichgiltig, ob den Thieren das Futter ganz entzogen wurde, oder ob sie unzureichend ernährt wurden. Im letzteren Falle leben sie natürlich länger, sterben aber auch, wenn sie 0,4 ihres Gesammtgewichtes verloren haben. Es zeigte sich diese Zahl nicht nur bei Säugethieren und Vögeln, sondern auch bei Amphibien und Fischen constant. Obgleich die Amphibien dreiundzwanzigmal länger lebten, so starben sie doch, wenn sie 0,4 ihres Gesammtgewichtes verloren hatten. Es geht also daraus nichts Anderes hervor, als dass der Stoffwechsel in den Amphibien dreiundzwanzigmal laugsamer war, und wir werden sehen, dass das ganz gut übereinstimmt mit anderen Zahlen, die wir aus ver- gleichenden Untersuchungen über die Eespiration der Amphibien und die der warmblütigen Thiere gewonnen haben. Diese Zahl 0,4 wird nur alterirt durch den Zustand, in welchem das Thier in den Versuch hinein- ging. Wenn nämlich das Thier bereits mager war, so konnte es nicht mehr 0,4 seines Gewichtes verlieren, ehe es starb, wenn es aber sehr fett war, konnte es mehr als 0,4 verlieren, ehe es starb, begreiflicher Weise deshalb, weil der Fettverlust ohne Kachtheil ertragen wurde, und ein fettes Thier einen Theil seines Fettes verbrennen konnte, ohne seine wesentlichen Schätze, die stickstoffhaltigen Substanzen der Organe, in grösserer Ausdehnung anzugreifen. Es geht dem Organismus, wie dem berühmten Töpfer Bernhard Palissy, der, nachdem er sein Holz ver- brannt hatte, zuletzt seinen Tisch und seine Stühle in die Flammen warf, um das Feuer nicht ausgehen zu lassen. In Rücksicht auf die Zeit, während welcher das Fasten ertragen werden kann, haben namentlich die Beobachtungen am Menschen Interesse, und da zeigt es sich nach den Rechnungen, welche Moleschott auf Grund der von Tiedemann gesammelten Materialien angestellt hat, dass im Mittel aus achtzehn Beobachtunaeu das Fasten einundzwanzio- bis Der Stoffwechsel. 225 zweiundzwanzig Tage ertragen wurde. Die Zahl wird Ihnen sehr gross erscheinen ; man muss aber dabei berücksichtigen, dass hier eine Reihe von Melancholikern mitgerechnet ist, die ungewöhnlich lange fasten, weil bei ihnen krankhafter Weise der Stoffwechsel verlangsamt ist. Wenn man die Melancholiker ausschliesst, so gibt ein Mittel aus zehn Beobachtungen als mittlere Zeit des Fastens vierzehn Tage. Dagegen gaben sechs Melancholiker, die Wasser getrunken, aber nicht gegessen hatten, unter sich allein gerechnet, das erstaunliche Mittel von 41,6 Tagen. Für die Erhaltung des Lebens und der relativen Euphorie von fastenden oder unzureichend ernährten Individuen sind als wesentliche Bedingungen an- zusehen : völlige Ruhe des Körpers und Wärme, in der Weise, dass die vom Körper producirte Wärme so wenig als möglich abgeleitet wird. Die grösste Körperruhe scheint es wesentlich zu sein, welche das lange Fasten der Melancholiker ermöglicht; sie verbrauchen so wenig als möglich Substanz , um bewegende Kraft zu erzeugen. Andererseits ist es klar, dass das Fasten um so länger muss ertragen werden können, je weniger das Individuum Wärme zu bilden braucht, und es braucht um so weniger Wärme zu bilden, je weniger Wärme von ihm abgeleitet wird. Dieser Satz, dass man unvollkommen Genährte möglichst vor der Wärmeabgabe zu schützen, und ihnen möglichst Muskelanstrengungen zu ersparen hat, ist durch vielfältige Erfahrungen in Spitälern bestätigt, namentlich da, wo man gegen Syphilis die Fricke'sche Cur anwendet, bei der kein Queck- silber gegeben wird, sondern die Individuen als Medicament nur schwefel- saures Natron bekommen , und einer sehr strengen und knappen Diät unterworfen werden. Hier hat es sich immer gezeigt, dass die Cur bis zu einem gewissen Grade durchführbar war , so lange die Individuen ruhig im Bette liegen konnten, dass sie aber, sobald man versuchte, sie ausser Bett zu halten, sofort darunter litten und sich bitter über Hunger, Frost und Schwäche beklagten. Wir haben gesehen, dass die Menschen und die Thiere um so länger den Hunger ertragen können, je langsamer ihr Stoffwechsel ist, weil es um so länger dauert, bis sie die verhängnissvollen 0,4 von ihrem Körper verloren haben. Damit hängt es auch zusammen , dass die Kinder den Hunger nicht so lange ertragen können als Erwachsene , weil sie eben einen geschwinderen Stoffwechsel haben. Hippokrates sagt schon: Die Kinder ertragen das Hungern kürzere Zeit als die Erwachsenen , die Männer kürzere Zeit als die Frauen, und Greise ertragen es länger als beide. Man kann das letztere jedoch nicht durchwegs sagen, indem abgelebte Greise der Nahrungsentziehung verhältnissmässig früh erliegen. Die Leichname verhungerter Menschen haben gewisse Kennzeichen, welche in forensischer Beziehung wichtig sind. Es sind im Wesentlichen dieselben, welche Chossat bei seinen verhungerten Thieren gefunden hat. Zunächst ist fast sämmtliches Fett geschwunden. Der Körper ist abgemagert, der Magen ist leer, das heisst er enthält keine zur Ernährung dienenden Substanzen, wohl aber enthält er manchmal andere Substanzen, die aus Noth verschlungen worden sind, Gras, Stroh, Papier, Zeug und dergleichen. Durch das Verschlingen von unverdaulichen Substanzen kann zwar das Leben nicht verlängert, aber doch das Hungergefühl weniger peinigend gemacht werden. Das Hungergefühl ist ein doppeltes, ein all- gemeines Gefühl der Inanition und ein Localgefühl des Hungers im Magen, Brücke. Vorlesungen I. 4. Aufl. 15 22Q Anorganisclie Nahrnngsiuittcl. das durch Anfüllung desselben gedämpft werden kann. Es trat das sehr deutlich an einer Kranken hervor, auf welche wir noch zurück- kommen werden, und die von Busch in Bonn beobachtet worden ist. Diese hatte eine verhältnisamässig hoch liegende Fistel im Dünndarm, aus der die genossenen Speisen austraten, so dass sie nur einen sehr kurzen Weg durch den Körper machten, und deshalb nicht die hin- reichende Menge davon resorbirt wurde. Die Kranke, trotzdem sie grosse Mengen von JSTahrung zu sich nahm, litt an Inanition, bis sie auf der Klinik in einer andern Weise, die wir später kennen lernen werden, ernährt wurde. Wenn sie sich recht voll gegessen hatte, und man sie fragte, ob sie satt sei, so sagte sie, sie habe zwar das Gefühl, dass ihr Magen voll sei, aber Hunger habe sie doch noch, das heisst, das allge- meine Gefühl der Inanition war durch die Anfüllung des Magens nicht gehoben, wohl aber das Gefühl der Magenleere, und dies letztere ist es, welches wir gewöhnlich an uns als Hunger bezeichnen, da wir es nicht bis zum allgemeinen Hungergefühle kommen lassen. Die Muskeln Verhungerter sind sehr welk und leicht zerreisslich. Milz und Leber sind klein, und letztere ungewöhnlich dunkel gefärbt. Die Menge des Blutes in den GefäsSen ist im Allgemeinen gering, und die Darmwände sind mehr oder weniger verdünnt. Es ist diese Ver- dünnung häufig deshalb nicht in die Augen fallend, weil der ganze Darm und auch der Magen sich stark zusammengezogen haben. Diese Erscheinungen gelten im Ganzen für solche Individuen, denen die Nahrungsmittel nach und nach ausgegangen sind, sie scheinen nicht unter allen Umständen anwendbar zu sein auf Individuen, welche durch plötzliche absolute Nahrungsentziehung zu Grunde gegangen sind. Es scheint, dass diese bisweilen sterben, noch ehe es bis zu dem Grade der Inanition gekommen ist, dem dieser Leichenbefund entspricht. Es ist in neuerer Zeit ein solcher Fall in England vorgekommen. Da war ein Mädchen, eine gewisse Sarah Jakob, die angeblich nichts ass, dabei aber ausserordentlich fett war. Da man mit Eecht einen Betrug ver- muthete, so wurde das Kind bewacht. Es ass jetzt thatsächlich nichts. Nach acht Tagen, also verhältnissmässig früh, starb es. Als es sich nun darum handelte, ob das Kind Hungers gestorben sei, wurde auf Grund des Obductionsbefundes geltend gemacht, dass der Panniculus adiposus am Thorax und am oberen Theile des Bauches noch einen halben Zoll und am unteren Theile des Bauches nahezu einen Zoll dick gewesen sei. Es ist dies ein Befund, wie er wohl erklärlich ist, da das Kind ausserordentlich fett war, und nur acht Tage gefastet hatte, der aber in den Fällen niemals vorkommt, in denen Individuen durch langsame Inanition zu Grunde g-eganaen sind. Die Nahrungsmittel. Anorganische Nalirungsmittel. Die Nahrungsmittel theilen wir ein in anorganische und organische. Die anorganischen Nahrungsmittel dienen uns als Bestandtheile unseres Körpers, um gewisse Theile unseres Körpers aufzubauen, theils auch, Anorganische Nahrungsmittel. 227 um diejenigen anorganischen Substanzen zu ersetzen, welche durch den Harn fortwährend aus dem Körper ausgeschieden werden. In Rücksicht auf den Ausbau unseres Leibes sind uns in erster Reihe die phosphor- sauren Salze wichtig, weil wir ja von ihnen eine grosse Menge zum Aufbau unseres Knocheusystems verwenden. Wir brauchen aber auch andere anorganische Substanzen, schwefelsaure Salze, Chlorverbindungen, welche einen Bestandtheil unseres Körpers ausmachen. Im Ganzen kom- men uns aber alle diese Verbindungen oder die Materialien für dieselben durch unsere gewöhnliche Nahrung zu. Die phosphorsauren Salze sind theils als solche in der vegetabilischen und in der animalischen Nahrung enthalten, theils werden sie auf Kosten von Lecithin und anderen phos- phorhaltigen organischen Verbindungen gebildet. Ebenso ist es mit den schwefelsauren Salzen. Sie sind theils in unserer Nahrung enthalten, theils werden sie in unserem Körper durch die Oxydation des Schwefels gebildet, welchen wir in den Eiweisskörpern in nicht unbeträchtlicher Menge zu uns nehmen. Der Kalk, dessen wir bedürfen, ist theils in unseren Nahrungsmitteln, theils in unserem Trinkwasser enthalten. Wir brauchen also im Allgemeinen für diese Zwecke keine anorganischen Substanzen als solche gesondert einzuführen. Nur eine macht davon eine Ausnahme, das Kochsalz. Es werden fortwährend mit dem Harne so viel Chlorverbindungen ausgeleert, dass wir unseren Normalzustand nicht völlig constant erhalten können, ohne den Speisen Kochsalz zuzusetzen. Man hat ja gefunden, dass auch das Vieh besser gedeiht, wenn man ihm eine gewisse Menge von Kochsalz in Substanz zuführt. Selbst die Thiere des Waldes gehen dem Kochsalz nach. Die Förster legen bekannt- lich Salzlecken an, um die Hirsche an gewisse Orte hiuzugewöhnen. Der reiche und üppige Salin st preist im hohen Grade die Massigkeit der Aethiopier und sagt von ihnen, dass sie kein Salz gekannt hätten, weil bei ihnen die Speisen dazu dienten , den Hunger zu befriedigen und nicht als irritamentum gulae genossen wurden. Auch Avir kennen noch äthiopische Stämme, bei denen das Salz selten und theuer ist, aber wir wissen, dass sie suchen, es sich zu verschaffen, wo sie Gelegenheit finden. Zugleich sollen diese Stämme mehr als andere an Eingeweidewürmern, namentlich an Tänien leiden. Es mag das zu- sammenhängen mit ihrer anderweitigen Lebensweise, es mag das aber auch zum Theilc mit der geringen Menge von Salz zusammenhängen, die sie verbrauchen. Dass wir Europäer auf die Dauer nicht ohne Salz leben können, das hat sich in früherer Zeit in auffälliger Weise gezeigt, als häufig Militärllüchtlinge im salzburgischen, oberösterreichischen und kärntnerischen Hochgebirge als Wildschützen lebten. Diese salzten das Gemsfleisch, von dem sie sich zum grossen Theile nährten, eine Zeit lang mit Schiesspulver, wenn ihnen das Salz ausgegangen war: dann aber konnten sie es nicht mehr aushalten, sie stiegen mit Gefahr ihrer Freiheit und ihres Lebens ins Dorf hinab, um Salz zu holen. Wenn anderweitige anorganische Substanzen genossen werden, so geschieht es wesentlich zu drei verschiedenen Zwecken. Erstens um in Zeiten der Noth den Localhunger, den Magenhunger zu beschwichtigen, den Magen anzufüllen, dann aus Leckerei (ganze Völker haben gewissen anorganischen Substanzen Geschmack abgewonnen"), und drittens aus krankhaftem Gelüste. 15* 2.2.0 Anorganisclie Naliningsmitttl. In Schweden ist in früherer Zeit, wo bei den pchlechteu Communi- catiouen öfters locale Huugersnoth eintrat, nicht selten eine oder die andere Erdart mit unter das Brod verbacken worden. Auch bei den wilden Völkern Südamerikas, namentlich bei den Otomaken, hat Hum- boldt beobachtet, dass sie aus einer gewissen Thonart Klösse formten und diese in der Zeit, wo sie Mangel an Nahrungsmitteln litten, mit ihren sonstigen Vorräthen verspeisten. Dann ist im dreissigj ährigen Kriege nach den Angaben des Chronisten Micraelius, selbst in dem sonst getreidereichen Pommern, Erde unter das Brod verbacken worden u. s. w. Man kann übrigens von einer Erde, ehe man sie näher unter- sucht hat, nicht aussagen, dass sie durchaus nichts Nahrhaftes enthalte. Es bilden bekanntlich nicht nur Jnfusorienreste , sondern auch noch lebende Organismen ausgedehnte Lager, so dass die angebliche Erde noch für den Menschen brauchbare organische Verbindungen in grösserer oder geringerer Menge enthalten kann. Die Eälle, wo Erden als Leckerei genossen werden, weil man ihnen einen Geschmack auch in weiteren Kreisen abgewonnen hat, sind gar nicht selten. Moleschott erwähnt deren mehrere in seiner Physiologie der Nahrungsmittel. Schon Plinius erzählt von einer Speise, zu der eine Erdart zugesetzt werden musste. In der Mongolei werden Schalen aus einer wohlriechenden Erde geformt; in diese wird Wasser gegossen, das den Geruch und Geschmack derselben annimmt: das Wasser wird getrunken, und dann werden die Schalen zerbrochen und gegessen. Etwas Aehnliches existirt in Chile und auch in Portugal. Es ist aber ziemlich schwer, hier die Grenze festzuhalten zwischen dem, was noch ein verbreiteter Appetit, und dem, was bereits krankhaftes Gelüste ist. Zu letzterem muss man schon das Essen der Siegelerde rechnen, dem im Orient namentlich die Frauen in den Harems fröhnen. Es erinnert schon an die Pica chlorotica unserer einheimischen Mädchen, die in den Schulen häufig die Kreide, manchmal auch Schiefertafel und Griffel nicht in Ruhe lassen können. Worin diese Pica chlorotica eigentlich ihren Grund hat, ob die erste Veranlassung dazu reichlichere Absonderung von Säure im Magen ist, die durch Kreide abgestumpft werden soll, weiss man nicht mit Sicherheit. Man weiss aber, dass das, was wir davon sehen, nur kleine Anfänge sind gegenüber einer entsetzlichen Krankheit, welche man in Afrika; mehr aber noch in denjenigen Theileu von xVmerika, in denen viele schwarze Sklaven lebten und leben, beob- achtet hat, nämlich der Geophagie. Diese zeigt sich zuerst mit den Erscheinungen der Verarmung an Blut. Die Individuen werden dabei matt, träge, mürrisch, gleichgiltig gegen äussere Dinge, suchen die Ein- samkeit auf, und ihre Haut fängt an, sich zu verfärben, die der Neger wird olivenfarbig, die der Mulatten grau, und die . der Aethiopen wird weisslichgelb. Sie bekommen Palpitationen, Schwindel u. s. w. Diese Erscheinungen wachsen immer mehr, die Mattigkeit wird immer grösser, und dabei fühlen sie sich gedrungen, erst eine Erde, die sie noch mit einiger Sorgfalt aussuchen, dann beliebige Erde oder Thon zu geniessen, später auch andere ungeniessbare Dinge, selbst Holz und Papier zu verschlingen. Zuletzt tritt häufig Diarrhöe und Erbrechen hinzu, und meist gehen sie hydropisch zu Grunde oder sterben an irgend einer Organisehe Nahrungsmittel. Die Kohlehydrate. 229 intercurrenten Krankheit, von welcher ihr geschwächter Körper befallen wird, namentlich an Dysenterie. In der Weise, in welcher uns die organischen jSahrungsmittel dienen, können uns die anorganischen Nahrungsmittel niemals dienen. Die organischen Nahrungsmittel dienen uns nicht allein zum Aufbau unseres Körpers , sondern sie dienen uns auch dazu , bewegende Kraft und Wärme zu erzeugen. Dazu können uns aber die anorganischen Nahrungsmittel deshalb nicht dienen, weil sie in unserem Körper keinen Verbrennungsprocess, keinen Oxydationsprocess mehr durchmachen, durch welchen bewegende Kraft und Wärme erzeugt würde. Organische Nahrungsmittel. Je nachdem wir unsere organischen Nahrungsmittel verwenden einerseits zum Aufbaue unseres Körpers, und andererseits um sie zu verbrennen und bewegende Kraft und Wärme zu erzeugen, hat man sie in zwei Abtheilungen gebracht, nämlich in Nahrungsmittel im engeren Sinne des Wortes — darunter hat man die albuminiden Substanzen verstanden , also die Hauptmasse unserer stickstoffhaltigen Nahrungs- mittel — und in Eespirationsmittel — darunter hat man die stickstoif- losen Substanzen verstanden, welche wir zu uns nehmen > die Kohle- hydrate und die Fette. Es lässt sich aber diese Eintheilung nicht streng durchführen , denn einerseits brauchen wir ja die Eiweisskörper nicht ausschliesslich zum Aufbau unseres Körpers, sondern wir brauchen nur eine gewisse Menge dazu; den Ueberschuss , den wir zu uns nehmen, verbrennen wir und verbrauchen ihn in ganz ähnlicher Weise zur Er- zeugung von bewegender Kraft und Wärme, wie die stickstofflosen Nahrungsmittel , und andererseits können wir von den stickstoffloseu Nahrungsmitteln nicht durchwegs sagen, dass wir sie nur für die Eespi- ration gebrauchten. Wenn dies auch möglicher Weise richtig ist für die Kohlehydrate , so ist es doch gewiss nicht richtig für die Fette, denn wir müssen doch die Fette auch mit als wesentlichen Bestandtheil unseres Körpers ansehen , und wir können kaum daran zweifeln , dass von den Fetten, welche wir zu uns nehmen, ein Theil direct in unserem Körper abgelagert wird und kürzere oder längere Zeit Bestandtheil unseres Körpers bleibt. Die Kohlehydrate. Beginnen wir die Lehre von den organischen Nahrungsmitteln mit den Kohlehydraten. Diese bilden eine Gruppe von Substanzen , denen es gemeinsam ist, dass sie aus Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff bestehen , und dabei letztere beide Elemente in solchen Verhältnissen enthalten, dass sie ohne Rest mit einander Wasser bilden würden. Man kann sie also ansehen als zusammengesetzt aus Kohlenstoff und aus Wasser. Daher der Name Kohlehydrate. Wenn sie sich oxydiren , so dass als Endproducte Kohlensäure und Wasser entstehen, so brauchen sie dazu so viel Sauerstoff, als nothwendig ist , um mit ihrem Kohlenstoff Kohlensäure zu bilden : die Bestandtheile des Wassers können dann als in ihnen schon vorhanden betrachtet werden. 230 Die Kohleliydrate. Bei weitem der wichtigste von diesen Körpern ist für unsere Ernährung die Stärlce. Man gibt ihr wie der Cellulose , der Substanz, aus der die Membran der Piianzenzelle besteht, die Formel Cg i7,Q O5. Sie kommt meistens in kleinen geschichteten Körpern vor, deren Schichtung unter den einheimischen Stärkearten namentlich an der Kartoffelstärke sehr schön und deutlich zu sehen ist. Es liegen sehr zahlreiche Schichten um einen gewöhnlich excentrisch gelegenen Punkt herum. Das einzelne Stärkekorn besteht aus dreierlei Substanzen: aus der Granulöse, die sich mit Jod blau färbt, aus der Erythrogranulose, die sich mit Jod roth färbt, und aus der Cellulose, die sich mit Jod nicht oder gelblich färbt. Die grösste Masse des Korns pflegt die Granulöse zu bilden, eine geringere die Cellulose. Die Erythrogranulose bildet in den darauf unter- suchten Stärkesorten stets nur einen sehr kleinen Bruchtheil. In ,der Kartoffelstärke ist sie nur in kaum nachweisbaren Mengen enthalten. Wenn man Weizenstärke mit einer grösseren Menge von Jod versetzt, so färben sich die Stärkekörner tief dunkelblau bis schwarzblau. Das rührt daher, dass sich die Granulöse, die bei weitem die Hauptmasse des ganzen Stärkekorns ausmacht, mit Jod blau färbt, und durch diese Farbe jede andere verdeckt. Wenn Sie aber zu der Weizenstärke nur sehr wenig Jod hinzusetzen, indem Sie sich dazu einer Lösung von Jod in destillirtem Wasser ohne allen Zusatz bedienen, und sie längere Zeit damit schütteln, so dass sich dieses Jod ganz gleichmässig in allen Stärkekörnern vertheilen kann, dann färbt sich die Stärke nicht blau, sondern blass- roth. Das rührt daher, dass die Erythrogranulose eine grössere Verwandt- schaft zum Jod hat als die Granulöse. Wenn deshalb nur sehr wenig Jod vorhanden ist, so nimrat die Erythrogranulose dieses ausschliesslich für sich in Anspruch, und nicht nur die Cellulose, sondern auch die Granu- löse bleibt weiss. Wenn die Stärkekörner mit Wasser erhitzt werden, so ziehen sie das Wasser an sich, die Schichten quellen und blättern sich auseinander. Dadurch entsteht eine pappige Masse, welche unter dem Namen des Stärkekleisters bekannt ist, und welche sich gleichfalls mit Jod blau färbt. Wenn man einen solchen Kleister, der mit Jod blau gefärbt worden ist , erhitzt , so erblasst er , es vergeht die blaue Farbe vollständig. Wenn man ihn aber dann erkalten lässt, so stellt sich die Farbe wieder her. Es ist dies einmal so erklärt worden , dass beim Kochen das Jod verdampfe, sich aber in Dampfform über der Flüssigkeit lagere und nun beim Erkalten der Flüssigkeit wieder absorbirt werde. Man kann aber leicht zeigen, dass diese Erklärung unrichtig ist. Zu diesem Zwecke füllt man ein Reagirglas halb mit Stärkekleister an, setzt Jod hinzu und erhitzt, bis die Flüssigkeit farblos geworden ist , dann steckt man das untere Ende des Reagirglases in kaltes Wasser. Dann müsste, wenn sich das Jod oben angehäuft hätte , die Färbung sich zuerst oben wieder- herstellen. Das geschieht aber nicht, sondern die Färbung stellt sich unten wieder her , während die oberen Partien noch farblos sind. Man sieht also daraus, dass das Ganze eine Dissociationserscheinung ist, dass das Jod bei höherer Temperatur sich von der Stärke trennt, dass es aber noch in der Flüssigkeit bleibt und sich hinterher beim Erkalten wieder mit der Stärke verbindet. Wenn man längere Zeit kocht, kann man allerdings alles Jod aus der Flüssigkeit austreiben, Die Kohlehydrate. 231 dann stellt sich aber die Farbe auch nicht her, wenn man die Flüssig- keit erkalten lässt. Wenn man nach dem Erhitzen das Reagirglas ins Wasser bringt, so bemerkt man hänfig, dass die Flüssigkeit nicht blau, sondern dass sie roth wird. Das bemerkt man namentlich , wenn man einen etwas dickeren Stärkekleister anwendet und etwas länger erwärmt. Es rührt dann daher, dass im Verhältnisse zu der Menge der Stärke nur sehr wenig Jod vorhanden ist , so dass die Granulöse nichts mehr davon abbekommt , indem die Erythrograntilose im Kleister das ganze Jod für sich in Anspruch nimmt. Wir werden später mehrere Fermente kennen lernen, welche das Amylum in Dextrin und Zucker umwandeln. Sie greifen alle die Gra- nulöse früher an, als die Erythrogranulose, so dass in einem gewissen Stadium ein Rest zurückbleibt, der sich mit Jod nicht mehr blau, sondern roth färbt, und aus Cellulose und Erythrogranulose besteht. Es wird uns bequem sein, für diesen Rest einen eigenen Namen zu haben, und ich will ihn deshalb als Erythramylum bezeichnen. Es ist behauptet worden, die Erythrogranulose als besondere von der Granulöse verschiedene Substanz existire nicht. Die rothe Färbung beruhe einerseits darauf, dass die Jodgranulosefärbung , je nach ihrer Intensität und je nach der Dicke der Schicht mehr roth oder blau erscheine , andererseits auf theilweiser Umwandlung des Jods in Jod- wasserstofFsäure. Es ist allerdings richtig, dass unter gewissen Um- ständen unter Bildung von Jodwasserstoffsäure Entfärbung eintritt, und dass die früher blaue Masse dabei vorübergehend roth wird. Wenn die rothe Farbe aber der Granulöse inhärirte , so müsste auch jede verdünnte Stärkelösung , die durch reichlichen Jodzusatz noch tiefblau wird, durch vorsichtigen auch roth gemacht werden können, was durchaus nicht der Fall ist. Es gelingt dies nur, wo Amylum, rohes oder ge- kochtes, in grösserer Menge angehäuft ist , denn hier allein ist genug Erythrogranulose vorhanden, um ihre Farbenreaction sichtbar zu machen. Dicker Stärkekleister und rohe Weizenstärke in Substanz können geradezu roth gemacht werden, ohne eine Spur von Blau : bei Zusatz von mehr Jod wird die Farbe tiefer, gesättigter und geht, indem sich auch die Granulöse färbt, durch Violett in Blau über. Wenn die rothe Farbe der Granulöse inhärirte , müsste sie sich bei verschiedenen Stärkesorten in gleicher Weise zeigen, und doch ist sie bei der Kartofi'elstärke so schwach, dass sie hier ganz geleugnet ist. Dieser Unterschied erklärt sich einfach dadurch, dass die Kartoffelstärke weniger Erythrogranulose enthält als die Weizenstärke. Wenn man Stärke mit Wasser, dem man zwei Procent käuflicher Schwefelsäure zugesetzt hat, anhaltend kocht, und nach einiger Zeit die Flüssigkeit mit Jod probirt, so findet man, dass sie sich nicht mehr blau färbt, sondern roth. Schon vorher aber, als sie sich noch blau färbte, hatte die Stärke durch die Einwirkung der Schwefelsäure eine Verän- derung erlitten, sie war löslich geworden. Diese lösliche Stärke, Nasse's Amidulin, unterscheidet sich von der aufgequollenen Stärke dadurch, dass sie klare Lösungen gibt ; im Uebrigen aber hat sie alle Reactionen, alle chemischen Eigenschaften der Granulöse. Sie entsteht aus der Stärke, erstens durch langes Kochen mit Wasser, zweitens durch Kochen mit Pflanzensäuren. Am besten bereitet man sie sich durch Kochen 232 Die KoMehydrate. mit Oxalsäure oder Weinsäure. Sie entstellt auch durch Kochen mit Mineralsäuren, aber diese sind nicht geeignet, um sie darzustellen, denn, wenn man mit Mineralsäuren, z. B. mit verdünnter Schwefelsäure, länger kocht, ändert sich diese lösliche Stärke weiter in einen Körper um, der sich mit Jod nicht blau, sondern roth färbt, und welcher den Namen Dextrin führt. Er führt den Namen Dextrin, weil er die Polarisations- ebene nach rechts dreht. Es ist dies keine ihm besonders zukommende Eigenschaft : es dreht auch die lösliche Stärke, es dreht auch ein Theil der Zuckerarten die Polarisationsebene nach rechts ; aber als man diesen Körper zuerst näher untersuchte, fiel sein stai'kes Drehungsvermögen nach rechts hin auf, und deshalb 'hat man ihm den Namen Dextrin gegeben. Dieses. Dextrin hat die Eigenschaft eines Gummi, es löst sich im Wasser zu einer klaren, im concentrirten Zustande klebrigen Flüssig- keit auf und wird deshalb auch in der Industrie als Surrogat für Gummi gebraucht, als Mittel zum Appretiren. Es hat einen faden Geschmack wie das Gummi, es wird wie das Gummi durch Alkohol und auch durch Eisessig aus seinen wässerigen Lösungen herausgefällt u. s. w. Es wird für den technischen Gebrauch in verschiedener Weise dargestellt. Ehe der jetzt am meisten verbreitete Process der Dextrinfabrikation, bei dem die Stärke mit 5 bis 10 pro Mille Kieselfliiorwasserstoifsäure angesäuert wird, in Gebrauch kam, ward es zuerst einfach durch ßösten der Stärke dargestellt : das war das Dextrin , . das für gewöhnlich in den Handel kam und zum Appretiren gebraucht wurde. Es ward die Stärke entweder in Trommeln, ähnlich denen, welche man zum Katfeebrennen braucht, oder in andern Vorrichtungen geröstet, bis sie sich bräunte und bis sie im Wasser löslich ward. Dieses Dextrin war ein Gemenge aus Cellulose, aus Erythrogranulose, aus löslicher Stärke und aus Dextrin. Da es noch grosse Mengen von löslicher Stärke enthielt, so färbte es sich in der Regel in seinen wässerigen Lösungen mit Jod blau oder violett. Reiner war ein anderes Dextrin, welches in Frankreich nach der Angabe von Payen bereitet wurde. Man rührt, um es zu bereiten, zuerst die Stärke mit kleinen Mengen von verdünnter Salpetersäure zu einem Brei an und formt daraus flache Kuchen: diese werden getrocknet und, nachdem man sie zerkleinert, schwach geröstet. Wenn Sie solches Dextrin mit sehr ver- dünnter Jodlösung (man wendet für alle diese Versuche am besten eine Lösung von Jod in reinem Wasser an) versetzen, so sehen Sie, dass es sich schön roth färbt. Je reiner das Dextrin ist, je mehr es von löslicher Stärke frei ist, um so mehr färbt es sich roth, je mehr lösliche Stärke noch darin enthalten ist, um so mehr färbt es sich violett. Diese Farben fallen aber bei Gemengen von Dextrin und löslicher Stärke verschieden aus, je nachdem man viel oder wenig Jod hinzusetzt. Wenn man sich eine Lösung von Jod in destillirtem Wasser bereitet, und davon zu einem Gemenge von Dextrin und löslicher Stärke hinzusetzt, so färbt sich zuerst die Flüssigkeit rein blau : wenn man aber dann mit Wasser weiter ver- dünnt, so dass das Blau blass wird, und setzt nun noch einen Tropfen Jodlösung hinzu u. s. w., so kommt man zuletzt an einen Punkt, wo in Jor blassblauen Flüssigkeit auf Zusatz der Jodlösung nicht mehr eine blaue, sondern eine rothe Wolke entsteht. Das beruht einfach auf Fol- gendem: Die lösliche Stärke hat eine viel grössere Verwandtschaft zum Jod als das Dextrin : so lange also wenig Jod da ist, nimmt die lösliche Die Kohlehydrate. 2öö Stärke alles Jod für .sich in A^nspruch : erst wenn sie sich mit dem Jod vollständig zu Jodstärke verbunden hat, dann geht bei weiterem Zusatz von Jodlösung das Jod an das Dextrin und bringt nun die rothe Färbung hervor. Es ist leicht, das Erythramylum, das früher immer mit dem Dextrin verwechselt ist und für ein Umwandlungsproduct der Stärke gehalten wurde, von dem Dextrin zu unterscheiden. Weun man aus einem Ge- menge von Dextrin , löslicher Stärke und Erythramylum die lösliche Stärke durch Gerbsäure ausfällt, so fällt man das ganze Erythramylum mit aus, während das Dextrin in Lösung bleibt. Zweitens, wenn eine zu untersuchende Lösung mit Jod eine rothe Farbe gibt, von der man im Zweifel ist, ob sie von Dextrin oder von Erythramylum herrührt, so kann man dies folgendermassen entscheiden. Man versetzt die Flüssigkeit reichlich mit Jod und säuert an ; dann senkt sich nach längerem Stehen das ganze Erythramylum zu Boden , und wenn kein Dextrin in der Flüssigkeit ist, so bleibt darüber eine ungefärbte oder gelbliche Flüssigkeit stehen, während umgekehrt, wenn die rothe Reaction nur von Dextrin herrührt, kein Niederschlag entsteht, indem das Joddextrin sich in sauren Auflösungen nicht ausscheidet, wie es das Erythramylum thut. Endlich hat, wie wir gesehen haben, das Erythramylum, oder richtiger, die in ihm enthaltene Erythrogranulose, eine stärkere Verwandtschaft zum Jod als die Granulöse, das Dextrin aber eine geringere. Ein Gemenge von Granulöse und Erythrogranulose wird mit wenig Jod roth, mit mehr Jod blau, ein Gemenge von Granulöse und Dextrin wird mit wenig Jod blau, mit mehr Jod roth, vorausgesetzt, d.ass so viel Dextrin darin enthalten ist, dass die Jodreaction noch deutlich ausfallt, nachdem man so weit verdünnt hat, dass die durch Jod blaugefärbte Granulöse sie nicht mehr verdeckt. Wenn man mit dem Kochen der Stärke mit verdünnter Schwefel- säure fortfährt und von Zeit zu Zeit wieder Proben herausnimmt, so Ijvird man finden, dass nach einiger Zeit auch die rothe Eeaction ver- schwindet, dass die Flüssigkeit sich mit Jod nicht mehr, oder nur noch gelblich färbt. Wenn man jetzt die Säure' neutralisirt und die Flüssigkeit kostet, so wird man bemerken, dass sie süsslich schmeckt, es hat sich ein Zucker in ihr gebildet. Versetzt man aber die filtrirte Flüssigkeit mit Alkohol, so bekommt man noch einen Niederschlag. Wenn man diesen Niederschlag auf dem Filtrum sammelt, ihn in wenig Wasser wieder auf- löst, so findet man, dass er, ähnlich wie das Dextrin, welches wir bisher kennen gelernt haben, eine gummiartige Masse darstellt, die sich aber durch Jod nicht mehr färbt. Auch diese Substanz dreht die Polarisations- ebene noch nach rechts, und sie ist in der That auch vielfaltig mit deiü Namen Dextrin belegt worden , namentlich von allen französischen Chemikern. Daher kommen die verschiedenen Angaben in den Lehr- büchern, indem es einmal heisst : das Dextrin färbt sich mit Jod violett — das bezieht sich auf das gewöhnliche käufliche Dextrin — ein anderes Mal heisst es : das Dextrin färbt sich mit Jod roth — das bezieht sich auf reineres Dextrin — und ein ander Mal heisst es : es färbt sich das Dextrin mit Jod gar nicht oder gelblich — das bezieht sich auf diese zweite Art von Dextrin, die sich erst bei längerer Einwirkung der Säure bildet. Da diese beiden Körper , wie wir später sehen werden , sehr wesentlich von einander verschieden sind, so können sie auch nicht beide 2o4: Die Kohlehydrate. ohne weiters den iSTamen Dextrin führen, wir müssen sie deshalb durch yerschiedene ISTamen unterscheiden. Ich will dasjenige Dextrin, das sich mit Jod roth färbt, Ery throdextrin, und dasjenige Dextrin, das sich mit Jod nicht färbt, Achroodextrin nennen. Diese beiden Körper hat schon Otto N'asse genau gekannt, der den sich mit Jod roth färbenden Dextrin, und den sich mit Jod nicht färbenden Dextrinogen nannte. Ich. behalte den ISTamen Dextrinogen deshalb nicht bei, weil dieser Körper von allen französischen Chemikern ausnahmslos als Dextrin bezeichnet worden ist, und auch von den übrigen nicht vom Dextrin unterschieden wurde , wenn sie aiich angaben , es färbe sich das Dextrin mit Jod- tinctur roth. Ausser diesem Achroodextrin befindet sich also jetzt in der Flüssig- keit noch ein Zucker, und wir nennen diesen Zucker, weil er ans der Stärke hervorgegangen ist, Stärkezucker, weil er aus dem Dextrin ent- standen ist, Dextrinzucker, wir nennen ihn auch Glycose, und nennen ihn endlich im krystallisirten Zustande auch Traubenzucker, weil man ihn zuerst in dem weissen Mehle fand, welches sich auf getrockneten Wein- beeren findet. Also Stärkezucker, Dextrinzucker, Glycose und Trauben- zucker sind im Wesentlichen ein und dasselbe, man macht nur den Unter- schied, dass man den Namen Traubenzucker stets nur für den bereits krystallisirten Zucker nimmt, und den Namen Dextrinzucker mehr auf den unkrystallisirten Zucker, wie er z. B. im Kartoffelsyrup enthalten ist, anwendet. Man nannte diesen Zucker ursprünglich auch Krümelzucker, weil man ihn nicht wie den Rohrzucker in wohlausgebildeten Krystallen erhalten konnte. Dieser Name ist aber ungebräuchlich geworden, weil man auch den Traubenzucker durch Krystallisation aus verdünntem Wein- geist in verhältnissmässig grossen und gut ausgebildeten Krystallen er- halten hat; Er hat die Zusammensetzung Cg 11^2 ^ '^'^^ ^™- krystalli- sirten Zustande die Zusammensetzung Cq H^^ O7 , während den beiden Dextrinen noch, wie der Stärke, die Zusammensetzung Cg H^f^ O5 zut geschrieben wird. Er ist sehr leicht in Wasser löslich und ist auch ziemlich leicht löslich in Weingeist. Er ist direct gährungsfähig, das heisst, er zerfällt unter der Einwirkung von Hefe in Kohlensäure und Alkohol, ohne vorher in einen andern Zucker überzugehen. Er geht in Alkohol schwer lösliche Verbindungen mit Kali , Kalk und Barj^t ein. Er geht auch eine krystaliisirte Verbindung mit Chlornatrium ein. Mit kaustischem oder kohlensaurem Kali oder Natron erwärmt , bräunt er sich, und die Lösung nimmt einen eigenthümlichen Geruch an. Er hat die Eigenschaft, alle leicht reducirbaren Metalloxyde in alkalischen Lösungen zu reduciren. Er reducirt auch die Wolframsäure und die Molybdensäure, die erstere nur in alkalischen, die letztere aber in sauren und in alkalischen Lösungen. Dieses sein Vermögen, als Eeductiousmittel zu dienen, wird vielfältig angewendet, um ihn in Flüssigkeiten auf- zusuchen. Man wendet zu diesem Zwecke einerseits Kupferoxydsalze an, i'nd darauf beruht die Trommer'sche Zuckerprobe , oder man wendet Magisterium bismuthi, basisch salpetersaures Wismuthoxyd an — man kann sich auch statt dessen des Wismuthoxydhydrats bedienen — und darauf beruht die Böttger'sche Zuckerprobe. Diese beiden Proben sind nicht etwa specielle Reactionen auf Zucker, sondern sie sind nur Reductions- proben, und man muss sich, wenn man mit denselben Zucker nachweisen Die Kohlehydrate. 235 will, immer überzeugen, dass nicht ausserdem anderweitige Substanzen in der Flüssigkeit sein können, welche dieselbe Eeduction veranlassen. Um die Reduction eines Kupferoxydsalzes zu erhalten, nimmt man die zuckerhaltige Flüssigkeit, setzt Kali hinzu, und dann eine verdünnte Lösung von schwefelsaurem Kupferoxyd. Man setzt davon so lange zu, als sich der Niederschlag von Kupferoxydhydrat beim Umschütteln noch wieder auflöst. Wenn der Niederschlag anfängt, sich schwerer zu lösen oder gar schon die erste Spur einer bleibenden Trübung entsteht, hört man auf. Jeder weitere Zusatz von Kupferlösung ist der Deutlichkeit und Empfindlichkeit der Probe abträglich. Der durch die stattfindende B-e- duction erzeugte Niederschlag zeigt sich bei gewöhnlicher Zimmer- temperatur erst nach Stunden oder Tagen ; wenn man aber erwärmt, tritt er schon bei einer Temperatur von 5Q^ bis 57*^ C. reichlich auf und nimmt bei weiterem Erwärmen rasch zu. Er entsteht entweder von vorneherein mit rother Farbe, oder er entsteht mit gelber Farbe, die sich dann aber meist bei längerem Kochen in eine rothe umwandelt. Der gelbe Niederschlag, welcher entsteht, ist Kupferoxydulhydrat , der rothe Niederschlag ist Kupferoxydul. Wenn also der gelbe Niederschlag sich in einen rothen umwandelt, so geschieht dies dadurch , dass beim längeren Kochen das Kupferoxydulhydrat sein Wasser verliert. Wir werden später , wenn wir von der Aufsuchung des Zuckers im Harne sprechen , noch ausführlicher wiederum auf diese Probe zurückkommen. Wenn man die Böttger'sche Probe anstellen will, so fügt man zu der Flüssigkeit gleichfalls zuerst Kali und dann nimmt man eine kleine Portion von basisch salpetersaurem Wismuthoxyd und schüttet dasselbe hinein. Man muss die Portion um so kleiner nehmen, je kleiner die Menge von Zucker ist, welche man erwartet. Denn da eine kleine Menge von Zucker nur eine kleine Menge von Wismuthoxyd reducirt, so wird durch den Ueberschuss die charakteristische dunkle Färbung verdeckt. . Beim Kochen wird die Flüssigkeit rauchig , beim Stehen klärt sie sich, und es setzt sieh dann ein schwarzes Pulver, Wismuthmetall, zu Boden. Bisweilen ist, auch wenn man eine kleine Menge von Wismuthsalz ge- nommen hat, das Pulver, welches sich an den Boden setzt, nicht schwarz, sondern grau. Das ist ein Zeichen, dsss die Menge von Zucker, welche vorhanden ist, sehr gering war. Es hat sich dann kein Wismuthmetall gebildet, sondern nur Wismuthoxydul. Wenn gar kein Zucker und über- haupt keine das Wismuthoxyd reducirenden Substanzen in der Flüssigkeit vorhanden sind, so färbt sich das Pulver nicht grau, sondern gelb von gebildetem Wismuthoxyd. Die Böttger'sche Probe bedarf aber einer Gegenprobe: denn es wäre ja möglich, dass der schwarze Körper, der sich bildet, nicht Wismuthmetall wäre, sondern Schwefelwismuth, das sich in Folge der Zersetzung irgend einer schwefelhaltigen Substanz in der Flüssigkeit gebildet hat. Um sich zu überzeugen, nimmt mau eine neue Probe der Flüssigkeit, setzt wieder Kalilösang hinzu und fügt dann eine ganz kleine Portion fein gepulverter Bleiglätte oder einen Tropfen von der Lösung eines Bleisalzes hinzu und kocht damit. Wenn die Flüssig- keit ungefärbt bleibt, x;nd sich auch das Pulver nicht färbt, so ist kein derartiger Körper in der Flüssigkeit. Denn wenn ein solcher in der Flüssigkeit wäre, so müsste sich gerade so, wie sich Schwefelwismuth gebildet hat, auch Schwefelblei bilden. 236 I*ie Kohlehydrate. Wir haben gesehen, dass die Stärke beim Kochen mit verdünnter Schwefelsäure zuerst in lösliche Stärke übergeht, dann in Erythrodextrin, dann in Achroodextrin und endlich in Zucker. Alle diese Körper drehen die Polarisationsebeue nach rechts. Schon die lösliche Stärke thut dies, und zwar in noch höherem Grade als das Dextrin, welches davon seinen Namen hat. Auch der Stärkezucker, der aus dem Dextrin entsteht, dreht rechts. Da wir mit dieser Eigenschaft noch öfter zu thun haben werden, und wir das Drehen der Polarisationsebene nach rechts oder links als Unterscheidungsmittel für verschiedene Zucker gebrauchen, so müssen wir etwas näher darauf eingehen. Wenn wir geradlinig polarisirtes Licht in eine sogenannte inactive Flüssigkeit, das heisst in eine Flüssigkeit, welche die Polarisationsebene nicht dreht, hineintreten lassen, so bleibt die Polarisationsebene , wie sie war : wenn dagegen die Polarisationsebene von der Flüssigkeit nach rechts oder nach links gedreht wird, so wird die Ebene in eine wind- schiefe Fläche umgewandelt, und zwar wird die Polarisationsebene, wenn die Flüssigkeit nach links dreht , eine nach links windschiefe Fläche, und wenn die Flüssigkeit nach rechts dreht , eine nach rechts wind- schiefe Fläche. Dies ermitteln wir durch die Polarisationsapparate für Flüssigkeiten, von denen einer der einfachsten der Mitscherlich'sche ist. Er besteht im Wesentlichen aus einer für die Aufnahme der Flüssigkeit bestimmten, zwei Decimeter langen Eöhre , die zwischen einem festen und einem drehbaren Nicol'schen Prisma aufgestellt ist. Zunächst der Lichtquelle und dieser zugewendet befindet sich das feste Nicol'sche Prisma, aus dem das Licht geradlinig polarisirt herauskommt, und dann durch eine Sammellinse in das für die Aufnahme der Flüssigkeit be- stimmte , an beiden Enden mit planparallelen Glaswänden versehene Messingrohr geleitet wird. Aus diesem gelangt es durch ein zweites, drehbares Nicol'sches Prisma zum Auge. Dieses zweite Nicol'sche Prisma trägt einen mit ihm fest verbundenen Zeiger, der, wenn man es um seine Axe dreht, an einem Gradbogen den Werth der Drehung angibt. Der Zeiger ist von Hause aus so fixirt, dass bei der Stellung auf Null die Schwingungsebenen der beiden Nicol'schen Prismen senkrecht auf einander stehen , so dass man also, wenn man den Zeiger auf Null stellt, für den Fall, dass die Flüssigkeit nicht dreht , dunkles Sehfeld hat. Ich will jetzt annehmen, das Licht, in dem beobachtet werden soll, sei monochromatisches Licht. Sie können sich auf die leichteste Weise gelbes und rothes monochromatisches Licht verschafi^en, gelbes monochro- matisches Licht, indem Sie den Docht einer Spirituslampe mit Kochsalz einreiben, oder wenn Sie über Gas disponiren, den Gasbrenner da , wo das Gas ausströmt, mit etwas kohlensaurem Natron bestreichen, so dass die Flamme des Gases, welche Sie so regulirt haben, dass sie an und für sich wenig leuchtend sein würde, jetzt mit der gelben Farbe des Natrons brennt, endlich sehr zweckmässig dadurch, dass Sie in die lichtlose Flamme des Brenners eine vorher durch vorsichtiges Schmelzen bereitete Kochsalzperle hineinhängen. Rothes, nahezu monochromatisches Licht können Sie sich verschaffen, indem Sie vor dem ersten oder hinter dem zweiten Nicol ein mit Kupferoxydul roth überfangenes Glas anbringen und dann nach einer beliebigen Lichtquelle visiren. Wir wollen an- nehmen , Sie wendeten gelbes monochromatisches Licht an ; dann ist, wenn sich in der Röhre eine Dextrin- oder Stärkezuckerlösung befindet, Die Kohlehydrate. 237 bei der Stellung des Zeigers auf Null das Sehfeld nicht dunkel. Sie müssen erst mehr oder weniger nach rechts drehen, damit es dunkel werde, weil die Schwingungsebene, also auch die Polarisationsebene beim Austritte des Lichtes nicht mehr dieselbe ist, wie beim Eintritte. Sie hat ihre Lage verändert in dem Sinne, in dem der Zeiger an der Uhr seine Lage verändert , das heisst : die Flüssigkeit dreht nach rechts. Würde sie sie im entgegengesetzten Sinne verändert haben, so würde man sagen: die Flüssigkeit dreht nach links. Die Anzahl von Graden, um welche Sie nach rechts drehen müssen, um dunkles Sehfeld zu erhalten, ist erstens abhängig von der Länge des Rohres : denn da Sie sich die Polarisationsebene in demselben als eine windschiefe Fläche, die beim Fortschreiten in der Richtung des Rohres ihre Natur nicht ändert , zu denken haben , so hätten Sie , wenn das Rohr nur halb so laug wäre, auch nur die halbe Ablenkung. Weiter ist die Drehung abhängig von der Concentration der Flüssigkeit, das heisst von der Menge der activen Substanz , die in einem Liter der- selben enthalten ist, und von der Wirksamkeit dieser activen Substanz, vom sogenannten specifischen Drehungsvermögeu, Letzteres wird durch r -1 . a einen Winkel [aj ausgedrückt, der gleich ist , wenn man mit a den direct abgelesenen Winkel , mit l die Länge des Rohres und mit cl die Concentration bezeichnet. Da also d = ^-p- ist, so kann man, wenn [al bekannt ist, die Concentration aus der Drehung bestimmen, und [aj er- mittelt man wieder , indem man die durch eine Lösung von derselben Substanz und bekannter Concentration hervorgebrachte Drehung bestimmt. Es muss letzteres aber bei demselben Lichte geschehen , bei dem man die Concentrations -Bestimmungen vornehmen will, weil sich [a], das specifische Drehungsvermögen, mit der Farbe des Lichtes ändert. Ausser- dem ist die Temperatur zu berücksichtigen, und bei manchen Substanzen wird die Arbeit dadurch sehr erschwert , dass sich ihr specifisches Drehungsvermögen nach der Auflösung noch ändert. Es wird aber dann nach längerem Stehen, beziehungsweise durch Erwärmen, constant. Eine Erschwerung und Einschränkung haben diese Bestimmungen in neuerer Zeit auch durch die Erfahrung gefunden, dass der Werth von [a] nicht unabhängig von der Concentration ist, sondern sich bei manchen Sub- stanzen sogar beträchtlich mit derselben ändert. Wenn Sie nicht monochromatisches Licht, wenn Sie gewöhnliches Tageslicht oder Kerzenlicht anwenden , so werden die verschiedenen Farben, je nach ihrer verschiedenen Brechbarkeit, mehr oder weniger stark abgelenkt. Daraus folgt, dass Sie, Sie mögen drehen, wie Sie wollert, niemals einen Stand des Zeigers finden , bei dem Sie absolut dunkles Sehfeld haben. Die Helligkeit ändert sich , sie nimmt erst ab und sie nimmt dann wieder zu ; dazwischen liegt eine Reihe von Farben, durch die Sie hindurchgehen. Dabei kommen Sie auf eine Farbe, welche eine verhältnissmässig geringe Lichtintensität hat, ein Purpurviolett, das, wenn man um sehr wenig nach der einen Seite dreht , gleich in Blau, und wenn man nach der andern Seite dreht, gleich in Roth übergeht. Wegen der Empfindlichkeit , welche diese Farbe zeigt , wegen der 238 Die Kohlehydrate. Leiclitigkeit, mit der sie bei geringer Verstellung das eine Mal in Blau, und das andere Mal in Roth übergeht, benützt man sie, wenn man mit nichtmouochromatischem Lichte arbeitet, zum Einstellen , und man be- nennt sie mit dem ISTamen der Uebergangsfarbe, der Teinte de passage. Wenn Sie lösliche Stärke, die beiden Dextrine und Zucker unter- suchen, so finden Sie, dass diese in verschiedenem Maasse drehen, und dass die specifische Drehung um so grösser ist, je näher Sie sich noch an der Stärke befinden, so dass also die specifische Drehung des Körpers bei der Einwirkung der Säure, während welcher die lösliche Stärke in Dextrin, das Dextrin in Achroodextrin und das Achroodextrin in Zucker umgewandelt wird, abnimmt. Ich muss Ihnen beiläufig bemerken, dass die Zahlen, welche für das specifische Drehuhgsvermögen des Dextrins in den Lehr- und Handbüchern stehen, nur bedingten Werth haben, weil die Eeindarstellung der einzelnen Dextrine, von denen einige Che- miker noch mehr als zwei unterscheiden, kaum jemals vollständig ge- lungen sein mag. Wir werden später bei der Bestimmung des Zuckers im Harne noch auf die verschiedenen Polarisationsaj)parate zurückkommen. Ich will hier nur kurz auf die Erklärung eingehen, welche Fresnel von unserer Erscheinung gegeben hat. Ich muss auf etwas zurückkommen, was wir bereits in der Ein- leitung (S. 30 und 31) beschrieben haben, nämlich darauf, dass einerseits ein geradlinig polarisirter Strahl zerlegt werden kann in zwei circular polarisirte Strahlen mit entgegengesetzter Bewegungsrichtung, und dass also andererseits die beiden circular polarisirten Strahlen auch wieder zu einem geradlinig polarisirten Strahle zusammengesetzt werden können. Jetzt denken Sie sich, Sie hätten zwei circular polarisirte Strahlen Fig. 35 mit entgegengesetzter Bewegungsrichtung : sie sollen in solchen Phasen gegen einander stehen, dass in a nnd in b die Impulse entgegengesetzt gegen einander gerichtet sind, und dass in c und in d die Impulse gleichgerichtet sind. So lange nun diese beiden Strahlen sich in einer Flüssigkeit, beide mit gleicher Geschwindigkeit fortpflanzen , werden die Impulse nach jedem Umlaufe immer wieder so zusammenkommen, dass sie in a und in b entgegengesetzt imd in c und d gleich gerichtet sind. Wenn ich des- halb diese Strahlen irgendwo in einem Nicoi- schen Prisma auffange, so dass sie wieder in eine Schwingungsebene eintreten müssen, so werde ich die volle Licht- stärke immer dann haben, wenn die Schwingungsebeue in a h liegt, und ich werde die Lichtstärke Null haben , wenn die Schwingungsebene in der Eichtung c d liegt. Nun denken Sie sich aber, dass der eine Strahl dem andern vorausliefe, dass er sich schneller fortpflanzte als der andere, so wird nach einer grösseren oder geringeren Anzahl von Umläufen der •Punkt a, in dem die Impulse gerade entgegengesetzt waren , nach a, gerückt, nach weiteren Umläufen wird er nach a,, verrückt sein , und so wird er bei jedem neuen Umlaufe sich immer weiter verschieben, und so wird die Polarisationsebene in eine windschiefe Fläche ver.wandelt. Die Kohlehydrate. 239 Ich muss also auch jetzt , wenn ich absolute Dunkelheit haben will, das Nicorsche Prisma in eine neue Lage bringen, und die Drehung wird um so grösser sein, je länger das Eohr ist, je grösser also die Anzahl von Umgängen ist, welche die beiden Strahlen gemächt haben. Das Entgegengesetzte findet natürlich statt, wenn der andere Strahl der- jenige ist, welcher sich schneller fortjjflanzt; dann wird nicht mehr, wie ich es hier gezeichnet habe, eine Drehung der Polarisationsebene nach rechts stattfinden, sondern es wird umgekehrt eine Drehung der Polari- sationsebene nach links stattfinden. Eine analoge Veränderung der Stärke, wie wir sie durch Kochen mit verdünnter Schwefelsäure hervorgebracht haben, lässt sich auch noch auf ganz anderem Wege hervorbringen. In den Knospen und in keimenden Samen entwickelt sich eine ihrem Wesen nach noch wenig bekannte Substanz , welche man mit dem Namen Diastase belegt , und unter deren Einfluss sich die Stärke, welche in die Samen eingelagert ist, in Dextrin und Zucker umwandelt. Dieselbe Substanz benützen wir, um zu technischen Zwecken Stärke und Dextrin in Zucker umzuwandeln. Wir lassen Gerste keimen und trocknen, wir nennen dieses Product Malz und verwenden es zur Umwandlung von Stärke in Dextrin und Zucker, indem wir das Malz, wie es in der Bierbrauerei geschieht, direct benützen, oder, wie wir es zu Laboratoriumszwecken thun , indem wir das Malz mit Wasser ausziehen und diesen wässerigen Auszug anwenden. Es geht die Umwandlung in der Kälte sehr langsam von statten, steigert sich aber bis zu einem gewissen Grade mit der Steigerung der Temperatur und erreicht ihr Maximum, wenn die Temperatur zwischen 60" und 75'' ist. Erhitzt man dann weiter bis zum Sieden, so zerstört man die Wirksamkeit der Diastase, und es findet nun keine Umwandlung mehr statt. Darauf beruht es, dass, wenn man einen Auszug von Malz mit gekochter Stärke zusammenbringt, in dieser sich in der Kälte die Stärkereaction sehr lange erhält. Wenn man aber langsam und vorsichtig erwärmt , so tritt die Wirkung bald ein, die Stärkereaction verschwindet, es findet sich nachher Dextrin und Zucker in der Elüssigkeit. Wenn man aber das Ganze sehr rasch zum Kochen bringt , so findet sich trotz längeren Kochens die Stärkereaction noch, weil man durch die zu hohe Temperatur die Wirk- samkeit der Diastase zerstört hat, noch ehe die Umwandlung vollendet war. Der Process geht hier nicht ganz so, aber doch einigermassen ähnlich von statten , wie beim Kochen mit verdünnter Schwefelsäure. Zuerst wird die Granulöse umgewandelt. In Folge davon bekommt man schon nach kurzer Einwirkung, wenn man Jodtiuctur zu der Flüssigkeit hinzusetzt, keine blaue, sondern nur eine rothe Farbe. Diese rothe Farbe rührt einerseits her von dem Körper , welchen wir mit dem Namen Erythramylura bezeichnet haben , dem Reste der Stärke , welcher aus Cellulose und aus der mit ihr verbundenen und schwerer als die Granulöse umwaudelbaren Erythrogranulose besteht. Ausserdem kann aber auch die rothe Farbe von Erythrodextrin herrühren, wenn sich solches in einiger Menge in der Flüssigkeit befindet. Das hängt von der Menge der Diastase ab, welche man angewendet hat. Wenn man eine zu geringe Menge von Diastase angewendet hat, häuft sich das Erythrodextrin in der Flüssigkeit an ; wenn man die Diastase in hinreichender Menge angewendet hat, wird das gebildete Erytlirodextrin glciob wieder in Achroodextrin und 240 Die Kohlehydrate. Zucker umgewandelt. Wenn man die Diastase noch länger einwirken lässt, und dann die Flüssigkeit wieder mit Jod prüft, so bekommt man auch keine rothe Reaction mehr, sondern die Plüssigkeit färbt sich nur noch gelb. Es bleibt zwar noch ein Eest von der Stärke zurück, aber dieser Rest besteht ausschliesslich aus Celluloae. Es wird also sowohl die Granulöse, als auch die Erythrogranulose durch die Diastase vollständig in Dextrin und Zucker umgewandelt ; aber man findet auch, wenn man diesen Process noch längere Zeit fortführt , immer noch grosse Mengen von Achroodextrin in der Flüssigkeit. Es führt uns diese Wahrnehmung zu einer sehr wichtigen Controverse, der wichtigsten , welche in der Theorie dieser ganzen Umwandlungen existirt. Die gangbare Vorstellung war die, dass durch die Diastase die Stärke in Dextrin und das Dextrin wieder in Zucker umgewandelt werde. Gegen diese Anschauung ist aber Musculus aufgetreten, der sagt: Das Dextrin wird durch Diastase nicht in Zucker umgewandelt. Er versteht dabei unter Dextrin nur das Achroodextrin. Er sagt : Die Stärke zerfällt in Dextrin — in unser Achroodextrin — und in Zucker: das ist ein Spaltungsprocess, und die Diastase hat weiter auf das Achroodextrin keinen Einfluss mehr. Aller- dings, sagt er, ist es wahr, dass bei der Gährung nach und nach nahezu die ganze Masse in Alkohol umgewandelt werden kann: das beruht aber nicht mehr auf der Einwirkung der Diastase, sondern auf einem Zersetzungs- oder IJmwandlungsprocesse , den das Achroodextrin später während der Gährung durch die Gährung erleidet. Mehrere Chemiker haben diese Ansicht verworfen und sind bei der früheren geblieben : aber eines kann nicht bestritten werden, dass nämlich die Wirkung der Diastase auf das Achroodextrin eine ausserordentlich geringe ist. Die Diastase wirkt auf die Stärke, sowohl im aufgequollenen als im auflös- lichen Zustande, mit der grössteu Energie ; sie wirkt mit nicht geringer Energie auf das Erythrodextrin, die rothe Reaction verschwindet in ganz kurzer Zeit, wenn man dasselbe mit einer warmen Diastaselösung zu- sammenbringt. Ganz anders aber verhält sich das Achroodextrin. Ich habe ein paar Versuche darüber angestellt, unter andern einen in folgender Weise. Ich mass von einer Lösung von Achroodextrin zwei Portionen ab, und ebenso von einem Malzauszuge. Ich hatte also vier Flüssigkeits- portionen, von denen je zwei gleichartig waren. Zwei ungleichartige goss ich zusammen, so dass ich nun nur drei Flüssigkeitsportionen in drei Gläsern hatte ; alle drei Gläser setzte ich in ein Wasserbad von 60** C. und liess sie drei Stunden darin. Wenn die Diastase eine bedeutende Wirkung gehabt hätte, so hätte hier in kurzer Zeit das Achroodextrin schwinden und in Zucker umgewandelt werden müssen. Das war aber durchaus nicht der Fall. Denn, als ich nach drei Stunden den Inhalt des Glases, in dem die Mischung stattgefunden, in eine gemessene Quan- tität Alkohol hineingoss und gleichzeitig den Inhalt der beiden getrennten Gläser in ein anderes Gefäss, das eine gleiche Quantität Alkohol enthielt, so wog der l^iederschlag von Achroodextrin im ersteren Gefässe 1,343, im zweiten 1,427 Gramm. Es war also nur wenig Dextrin zerstört worden. Es muss auch erwähnt werden, dass der beim Malzprocess zunächst auftretende Zucker nicht der vorhergenannte Stärkezucker ist, sondern ein anderer, der sich zunächst dadurch unterscheidet, dass er eine wesentlich geringere Menge von Kupferoxyd zu Oxydul reducirt. Die Kohlehydrate. , / ,-; 241 — etwa nur 66 bis 67 gegen 100 vom gewöhnlichen Stärkezucker reducirte Gewichtstheile — ferner dadurch, dass er die Polarisationsebene bedeutend stärker nach rechts dreht. Nach E. Meissl gab eine Lösung von 4,95 pCt. bei 150 C. [a] = 138,67. Der Werth nimmt mit wachsender Concentration und steigender Temperatur ab. Frisch bereitete Lösungen haben nicht das richtige Drehungsvermögen. Erst nach 10 bis 12 Stunden ist dasselbe erreicht. Man nennt diesen Zucker Maltose und gibt ihm die Formel ^12 -^22 ^11- Ich muss diese Dinge hier mit solcher Ausführlichkeit durch- nehmen, einerseits, weil sie uns für die Bereitung eines unserer ge- bräuchlichsten Getränke interessiren, für die Bereitung des Bieres, und andererseits, weil wir auf dieselben Dinge bei der Verdauung zurück- kommen werden, bei der Umwandlung der Stärke in Dextrin und Zucker im Darmkanale. Wir haben uns bisher mit demjenigen Kohlehydrate beschäftigt, welches für unsere Ernährung das wichtigste ist, mit der Stärke und mit deren Umwandlungsproducten. Es reihen sich dieser nun einige Substanzen an, welche uns auch zur Nahrung dienen. Unter diesen steht der Stärke am nächsten der stärkemehlartige Körper im isländischen Moos, in der Cetraria islandica, das sogenannte Lichenin. Es wird von uns für ge- wöhnlich nicht genossen, wohl aber wird es benützt als Ernährungsmittel für Kranke, und namentlich in früheren Zeiten wurde es an Brustkranke vielfältig verabreicht. Man gewinnt das Lichenin, indem man die Cetraria islandica wenigstens vierundzwanzig Stunden mit einer sehr verdünnten Lösung von kohlensaurem Natron macerirt. Dadurch wird eine bittere Substanz aus derselben ausgezogen, welche man hinterher mittelst Wasser sammt dem kohlensauren Natron auswäscht. Die so behandelte Flechte wird dann zerkocht und die Flüssigkeit, welche man durch Kochen er- hält, wird durch ein Tuch geseiht. Wenn sie hinreichend concentrirt ist, gesteht sie in der Kälte zu einer Gallerte. Wenn man sich das Lichenin reiner verschaffen will , fällt man es aus einer wässerigen Lösung mit Alkohol. Man kann es dann auf dem Filtrum sammeln, und erhält es als ein weisses Pulver, welches die Zusammensetzung der Stärke hat, und sich mit Jod blau färbt. Eine andere der Stärke nahestehende Substanz, eine Substanz, die sich in ihren Eigenschaften zwischen Stärke und Erythrodextrin stellt, und welche für uns von grossem physiologischen Interesse ist , ist das sogenannte Glycogen. Das Glycogen wurde gleichzeitig von Bernard und Hensen in der Leber entdeckt. Es ist ein weisses, der Stärke ähnliches Pulver, das sich mit Jod nicht blau, sondern roth färbt, wie das Erythrodextrin. Es gibt aber nicht, wie das Erythrodextrin , mit Wasser klare Lösungen, sondern die verdünnten Lösungen sind opalisirend, die concentrirteren milchig trübe. Es wird durch Alkohol, durch Eisessig aus seinen wässerigen Lösungen gefällt, ganz wie das Dextrin und die Gummiarten. Durch Gerbsäure wird es aus seinen sauren, und bei grossem Ueberschuss derselben auch aus seinen ursprünglich neutralen Lösungen gefällt. Auch von essigsaurem Blei , das man mit Ammoniak versetzt hat, wird es niedergeschlagen. Dieses Glycogen, welches man, weil es zuerst in der Leber gefunden wurde , auch als Leberglycogen bezeichnete, und das bei Behandlung mit Säuren in ähnlicher Weise in Brücke. Vorlesungen I. 4. Aufl. IG 242 Die KoMehydrate. Zucker übergeht, wie die Stärke und das Erythrodextrin, kommt nicht allein in der Leber vor, sondern auch in den Muskeln, in der mütter- lichen Placenta , dann in den embryonalen Geweben reichlicher als in den fertigen Geweben, so dass es im Embryo in einzelnen Partien, nament- lich in der Anlage der Hufe und Klauen der Thiere, in der Anlage der Lunge in sehr grosser Menge abgelagert ist und daraus später vollständig oder nahezu vollständig verschwindet. Wir nehmen das Glycogen zu uns erstens in der Leber , zweitens im Muskelfleische , und zwar um so mehr, je frischer das Fleisch in den Kessel kommt,, denn nach dem Tode ändert sich das Glycogen sehr bald in Zucker, und der Zucker in Milch- säure um. Auch in den Austern und anderen Schalthieren ist Glycogen in beträchtlicher Menge enthalten und wird als solches von uns ge- nossen. Eine dritte hier anzureihende Substanz ist das Inulin oder Dahlin, so genannt, weil es erstens gefunden worden ist in der Wurzel von Inula Helenium , und zweitens in den Knollen der Dahlien oder Georginen. Es wird, und wurde früher häufiger als jetzt, in den sogenannten Erd- birnen, den Knollen der Helianthus tuberosus, dem Topinambur, genossen, der, ehe die Kartoffeln so verbreitet waren wie jetzt, in grosser Menge in Oesterreich angebaut wurde. Das Inulin aus dem Topinambur verhält sich übrigens etwas verschieden von dem Inulin aus der Inula Helenium. Das letztere wird aus Inula Helenium durch Kochen gewonnen. Man filtrirt, erhält eine klare Flüssigkeit, und diese setzt beim Erkalten ein Pulver ab , welches nur in geringer Menge in kaltem , aber leicht in warmem Wasser löslich ist, sich mit Jod nicht färbt, und gelöst die Polarisationsebene nach links dreht. Das Inulin aus Topinambur unter- scheidet sich dadurch, dass es im Wasser löslicher ist, als das andere. Es scheint in einem physiologischen Zusammenhange mit dem Rohrzucker zu stehen. Wenn man im Herbste die Knollen des Topinambur aus der Erde nimmt, so enthalten sie verhältnissmässig wenig Zucker und grosse Mengen von Inulin, wenn man sie dagegen im Frühlinge aus der Erde nimmt, so enthalten sie viel weniger Inulin, dafür aber eine sehr grosse Menge von Zucker, und dieser Zucker ist nicht Traubenziicker, sondern Kohrzucker. Es sind hier ferner die Gummiarten anzureihen. Wir theilen die Gummiarten, welche im Handel vorkommen, ein in solche, welche Arabin enthalten, und in solche, welche aus Bassorin bestehen. Die ersteren sind die , welche mit Wasser klare Lösungen bilden , die andern die- jenigen, welche im Wasser nur zu einem Schleime aufquellen. Man be- zeichnet "auch die ersteren Gummiarten als arabischen Gummi, die anderen als Tragantgummi. Das Arabin kommt auch mit anderen Substanzen ver- unreinigt in unserem gewöhnlichen einheimischen Kirschgummi vor. Es löst sich in Wasser zu einer klebrigen Flüssigkeit auf, dreht die Polari- sationsebene nach links , und wird durch Alkohol aus seinen Lösungen ausgefällt, so lange es in seiner Verbindung mit Kalk, wie im natürlichen arabischen Gummi, darin enthalten ist. Auch durch Eisessig werden Gummilösungen gefällt. Sowohl das Arabin als das Bassorin dienen zwar nicht bei uns, aber in Afrika sehr häufig zur Nahrung. Auch in dem Zuckerwerk des Orients, welches bis hieher verführt und auch bier genossen wird, ist Arabin in beträchtlicher Menge enthalten. Die Kolilehyilrate. 24:0 Wir haben noch, verschiedene Zuckerarten anzureihen , zunächst unseren gewöhnlichen Rohrzucker, oder wie man jetzt sagen sollte, Eübenzucker. Chemisch unterscheidet sich der Rohrzucker vom Rüben- zucker nicht. Man gibt ihm die Formel C'^2 -^22 ^ii- -^^ krystallisirt in grossen und gut ausgebildeten Krystallen, dreht die Polarisationsebene nach rechts und unterscheidet sich vom Traubenzucker dadurch, dass er die ge- wöhnlichen Zuckerprobeu nicht gibt. Er bräunt sich nicht beim Kochen mit Kali, und er reducirt auch nicht direct Kupferoxyd, Wiamuthoxyd u. s. w. in alkalischen Lösungen. Ferner ist er auch nicht direct gährungsfähig. "Wir bringen ihn zwar vielfältig zum Vergähren, aber dann muss er vorher eine Veränderung eingehen, welche man mit dem Namen der Inversion bezeichnet. Er zerfällt nämlich vorher in zwei Zucker, in einen rechts- drehenden, den gewöhnlichen Traubenzucker, und einen linksdrehenden unkrystallisirbaren Zucker , welchen wir mit dem jS"amen des Frucht- zuckers bezeichnen, weil er in den süsssauren Früchten vorkommt. Diese Inversion können wir immer rasch eintreten lassen dadurch, dass wir den Rohrzucker mit einer verdünnten Säure erwärmen. Dann entstehen die beiden erwähnten Zucker, der Traubenzucker und der Fruchtzucker, und da beide sich mit Kali bräunen , da beide die Trommer'sche und die Böttger'sche Zuckerprobe geben, so hat man hierin ein Mittel, um auch den Rohrzucker in Flüssigkeiten mittelst dieser Proben nachzuweisen. Man überzeugt sich zunächst, dass die Lösung nicht direct reducirt, dann setzt man zu einer neuen Probe etwas Salzsäure und erwärmt. Dann übersättigt man wieder mit Kali und stellt die Zuckerproben au : tritt nun Reduction ein, so kann man, wenn die Gegenwart anderer durch die verdünnte Säure leicht zersetzbarer Körper, von denen eine redu- cirende Substanz abgespaltet werden könnte, ausgeschlossen ist, auf Rohrzucker schliessen.' Wenn der Rohrzucker vergähren soll, so muss er, wie gesagt, sich vorher in rechtsdrehenden Traubenzucker und in linksdrehenden Frucht- zucker spalten, und diese vergähren dann beide nach einander. Der Stärkezucker gährt aber viel leichter als der Fruchtzucker, und daher geschieht es, dass zuerst während der Gährung, wenn man Proben her- ausnimmt, und im Polarisationsapparate untersucht, die Drehung immer weiter nach links geht : dann aber erreicht die Linksdrehung ihr Maxi- mum, sie fängt an, langsam zurückzugehen, und kommt endlich wieder auf ITull zurück. Der Zeitpunkt , wo sie das Maximum erreicht hat, war derjenige, in welchem der rechtsdrehende Traubenzucker in Alkohol und Kohlensäure zerfallen war, der Fruchtzucker aber noch nicht ver- gohren war : dann kommt der Fruchtzucker an die Reihe, und wenn auch dieser ganz zerfallen ist, daun ist das Drehungsvermögen der Flüssigkeit Null, und die Gährung ist beendigt. Eine wesentliche Rolle unter den Nahrungsmitteln spielt ferner noch der Milchzucker, der heutzutage in den Sennereien der Schweiz fabriksmässig gewonnen wird. Man gibt ihm die Formel C^2 ^-^24 ^12' Er krystallisirt, dreht die Polarisationsebene nach rechts, er gibt die Zuckerproben, er ist direct gährungsfähig. Dies sind alles Eigenschaften, welche er mit dem Traubenzucker gemein hat, und in der That verhält er sich in Lösungen dem Traubenzucker sehr ähnlich. Hat man ihn aber zum Krystallisiren gebracht, so unterscheidet er sich dadurch, 16* 244 Die Kohlehydrate. Die Fette. dass er sowohl im Wasser, als besonders in Alkohol schwerer löslich ist als der Traubenzucker. Ausser diesen Zuckern ist als Bestandtheil unserer Nahrung noch ein zuckerähnlicher Körper zu erwähnen , ein süssschmeckendes Kohle- hydrat, welches von Scherer im Muskelfleische entdeckt worden ist und den Namen Inosit führt. Der Inosit [Og S'^j Og + 2 Sj O], der identisch ist mit dem in den grünen Bohnen (Phaseolus vulgaris) vor- kommenden Phaseomannit , hat mit den Zuckern gemein, dass er ein Kohlehydrat ist, dass er süss schmeckt, dass er fähig ist, die Milchsäure- gährung einzugehen. Er unterscheidet sich aber von ihnen dadurch, dass er weder direct, noch indirect die Alkoholgährung eingeht, dass er sich beim Kochen mit Kali nicht bräunt, und dass er weder die Trommer- sche, noch die Böttger'sche Zuckerprobe gibt. Es gibt aber für ihn eine andere charakteristische Reaction. Man nimmt eine kleine Portion vorher möglichst gereinigten Inosits , dampft sie , mit etwas Salpetersäure be- feuchtet, auf einem Platinbleche oder in einer Porcellanschale ein, be- feuchtet dann den Rückstand mit Chlorcalcium und Ammoniak und ver- dampft wieder; dann tritt beim Erwärmen eine rosenrothe Färbung ein. Dieselbe hält aber nur so lange an , als die Probe trocken gehalten wird. Die Farbe verschwindet an feuchter Luft, indem durch das Chlorcalcium Wasser angezogen wird, und man muss die Probe, wenn man sie längere Zeit erhalten will, in einen Trockenraum bringen, oder in einem gewärmten Baume aufbewahren. Das sind die hauptsächlichsten der Kohlehydrate, welche Bestand- theile unserer Nahrung ausmachen. An sie schliesst sich noch das Pectin an. Das Pectin kommt in den sauren Früchten fertig gebildet vor , und auf dem Gehalte an Pectin beruht es , dass der Saft dieser sauren Früchte, wenn er eingekocht wird, gelatinirt. Ausserdem wird das Pectin aber auch in der Küche erzeugt. Es findet sich in den un- reifen Früchten eine schwer lösliche Substanz, welcher man den Namen Pectose gegeben hat. Diese Pectose kommt ausserdem in vielen Wur- zeln vor , in den Möhren u. s. w. Wenn man dieselbe längere Zeit, oder mit Zusatz von Säuren kürzere Zeit kocht, geht sie in das lösliche Pectin über. Man nimmt an, dass beim Reifen der Früchte das Pectin, welches später in ihnen enthalten ist, sich langsam unter dem Einflüsse der Säure und eines Fermentes aus der unlöslichen Pectose bildet. Das Pectin ist kein Kohlehydrat, man gibt ihm die Formel C^2 ^is ^32- Die Fette. Die zweite Gruppe unserer Nahrungsmittel ist die Gruppe der Fette. Es dienen uns im Allgemeinen alle neutralen Glycerinfette zur Nahrung, deren Schmelzungspunkt derart ist, dass sie in unserem Darm- kanale in den flüssigen Zustand übergehen. Das ist der wesentliche Punkt ; sie müssen im Magen und im Darmkanale schmelzen, damit sie in Emulsion übergehen und resorbirt werden können ; denn wir werden später sehen, dass die Fette im emulgirten Zustande resorbirt werden. Die Eiweisskörper. 245 Die Eiweisskörper. Unter den stickstoffhaltigen Nahrungsmitteln treten uns in erster Reihe als die wichtigsten entgegen die Eiweisskörper, und zwar nicht nur die Eiweisskörper des Thierreichs, welche wir schon zum Theile kennen gelernt haben, sondern auch die Eiweisskörper des Pflanzenreichs. Die Pflanzen enthalten ein natives Eiweiss, welches dem im Thierkörper ganz ähnlich zu sein scheint , und welches man als lösliches Pflanzeneiweiss bezeichnet ; sie enthalten auch einen freiwillig gerinnenden Eiweisskörper. Im ausgepressten Pflanzensafte sieht man häufig ein grünlich gefärbtes Coagulum sich abscheiden, das aus einem Eiweisskörper besteht, der freiwillig geronnen ist, und der die Chlorophyllkörner in ähnlicher Weise eingeschlossen hat, wie beim Gerinnen des Blutes das Fibrin die Blutkörperchen einschliesst. Indem wir gewohnt sind, im Thierreiche die freiwillig gerinnenden Eiweisskörper mit dem Namen Fibrin zu bezeichnen, sowohl den freiwillig gerinnenden Eiweisskörper im Blute, als auch den in den Muskeln ; so können wir auch diesen freiwillig gerinnenden Eiweiss- körper mit dem Namen des Pflanzenfibrins belegen. Ausserdem existiren aber in den Pflanzen noch andere Eiweisskörper , so der Kleber in den Cerealien, und in grösster Menge im Weizen. Wenn Sie Weizenmehl in ein Tuch binden und unter Wasser auskneten, so drücken Sie nach und nach alles Amylum durch die Zwischenräume des Tuches aus, und in dem Tuche bleibt eine überaus zähe Masse, die sich in ganz dünne Schichten ausziehen lässt. Dies ist der rohe Kleber, welcher noch mehr oder weniger Amylumkörner eingeschlossen enthält, und welcher, mit heissem Weingeist extrahirt, an denselben noch stickstoffhaltige Substanzen abgibt, eine, die sich beim Erkalten des Weingeistes ausscheidet, und welche wir mit dem Namen Pflanzencasein bezeichnen, und eine, welche beim Abdampfen der abfiltrirten kalten alkoholischen Lösung zurückbleibt, und welche man mit dem Namen Glutin belegt hat. Man hat den Kleber, Gluten, auch mit dem Namen des Pflanzenfibrins belegt, aber mit Unrecht : denn wir kennen keine grössere Analogie zwischen dem Kleber und dem Fibrin, als dass der Kleber mit dem Fibrin die procentische Zusammen- setzung und die allgemeinen Reactionen der Eiweisskörper theilt. Unter der Oberfläche, der Epidermis, des Korns kommt eine Schicht von Zellen vor mit gelblichen Körnchen darin, welche man früher mit dem Namen der Kleberzellen bezeichnet hat, weil man glaubte, die gelblichen Körn- chen seien der Kleber. Prof. Schenk hat aber nachgewiesen, dass dies kein Kleber und überhaupt kein Eiweisskörper ist, dass der Kleber vielmehr in der ganzen Masse des inneren Kornes , des Endosperms, verbreitet ist, im Allgemeinen — nach der Millon'schen Reaction , die indessen auch das Pflanzeneiweiss gibt — in den peripherischen Partien reichlicher als in den centralen. Der Kleber hat die Eigenschaft, Wasser zu binden und sich damit in eine zähe Masse zu verwandeln, und dies ist eine Eigenschaft, welche ihn für uns besonders werthvoU macht : sie bewirkt, dass der Teig, welchen wir aus dem Mehle bereiten, zähe wird. Das blosse Amylum, mit Wasser angerührt, gibt keine zähe, sondern eine zerreissliche Masse. Beim Brodbacken wird bekanntlich in dem Brodteige Kohlensäure erzeugt, welche das Brod porös macht. Je kleberreicher nun 246 Verwendung der Nahrungsmittel im Körper. das Mehl ist, um so schwerer zerreisslich ist der Teig , um so = poröser kann also das Brod werden ; je kleberärmer der Teig ist, um so leichter können die Gasblasen entweichen, um so fester und schwerer verdaulich wird das Brod. Wenn man daher Surrogate für unser gewöhnliches Mehl nimmt, Kartoffel-, Erbsenmehl u. s. w., so muss man immer Weizenmehl zusetzen, um ein brauchbares Brod zu backen. Ein anderer Eiweisskörper ist in grosser Menge in den Erbsen, Bohnen und Linsen enthalten, und macht eben die Samen dieser Legu- minosen zu den stickstoffhaltigsten pflanzlichen Nahrungsmitteln , und somit zu denjenigen, welche die thierische Nahrung am besten zu ver- treten im Stande sind. Er ist hier gemengt mit Amylum in allen Zellen eingelagert. Wenn Sie Erbsen-, Linsen- oder Bohnenmehl mit Wasser versetzen, und damit, am besten an einem warmen Orte, eine Zeitlang stehen lassen und dann filtriren, bekommen Sie ein sauer reagirendes Filtrat. Wenn Sie nun dazu noch einige Tropfen Essigsäure hinzusetzen, entsteht ein reichlicher Niederschlag, der sich auf dem Filtrum sammeln lässt, und sich als aus einem Eiweisskörper, dem Legumin, bestehend erweist. Er besitzt die procentische Zusammensetzung und die allge- meinen Reactionen der Eiweisskörper , ist aber vielleicht ein Gemenge aus mehreren verschiedenen Substanzen. Verwendung der Nahrungsmittel im Körper. Wir fragen uns nun nach den Verwendungen dieser verschiedenen Gruppen von Nahrungsmitteln. Was machen wir aus ihnen ? Welchen Nutzen können sie uns bringen? Es ist zunächst klar, dass wir die Eiweiss- körper brauchen, um auf Kosten derselben unseren Organismus aufzubauen, da ja die Hauptmasse der festen Theile unseres Organismus aus Eiweiss- körpern besteht oder entsteht. Es ist klar, dass uns diese Eiweisskörper im kindlichen Alter am nothwendigsten sind, weil eben zu dieser Zeit der Körper wachsen soll, und zu keiner Zeit des Lebens rächt sich eine mangelhafte Zufuhr von Eiweisskörpern so schwer, als eben im kindlichen Alter. Aber auch im spätem Alter können wir die Eiweisskörper nicht entbehren, weil unser Lebensprocess, wie wir schon früher gesehen haben, einen nothwendigen Stickstoffumsatz mit sich bringt. Wenn wir uns stickstoffhaltige Nahrungsmittel entziehen, uns aber reichlich mit stick- stofflosen ernähren, so hören dadurch die stickstoffhaltigen Ausscheidungen nicht auf. Der Harnstoff und die andern stickstoffhaltigen Bestandtheile des Harns sinken zwar in ihrer Ziffer, aber nur bis zu einem gewissen Grade : es wird binnen vierundzwanzig Stunden immer noch eine be- stimmte Menge von Stickstoff ausgeführt ; die Individuen magern ab, sie können sich nicht im Stickstoffgleichgewichte erhalten, auch dann nicht, wenn ihnen eine Menge von Eiweisskörpern zugeführt wird, welche so viel Stickstoff enthält, als sie im Minimum, das heisst bei reichlicher, aber stickstofffreier Kost, Stickstoff ausscheiden. Pettenkofer und Voit gelang es, wie wir oben gesehen haben, erst ihren Versuchshund im Gleichgewichte, im Beharrungszustande, in dem er weder an Gewicht zu- noch an Gewicht abnahm, zu erhalten, wenn die Menge der zuge- führten Eiweisskörper 2imal so viel Stickstoff enthielt, als im Minimum von ihm ausgeschieden wurde. Verwendung der Nahrungsmittel ira Körper. 24/ Arbeiten wir auch auf Kosten der stickstoffhaltigen IS'ahrungs mittel, auf Kosten der Eiweisskörper ? Es ist zunächst leicht einzusehen, dass wir nicht ausschliesslich auf Kosten der stickstoffhaltigen Nahrungsmittel arbeiten können. Wenn man die in vierundzwanzig Stunden geleistete Arbeitsgrösse mancher Menschen und mancher Thiere evaluirt , wobei natürlich auch der Arbeit des Herzens und der Athemmuskeln nicht ver- gessen werden darf, und sie in Wärme umrechnet, und damit die Ver- brennungswärme vergleicht, welche die Eiweisskörper, die sie binnen vier- uudzwanzig Stunden zu sich nehmen, geben würden, so zeigt es sich in vielen Fällen, dass die Verbrennungs wärme der genossenen Eiweisskörper nur ein kleiner Bruchtheil ist von derjenigen, welche das Aequivalent der factischen Arbeitsleistung des Individuums ist. Pettenkofer und Voit sind aber durch ihre Untersuchungen sogar zu dem Resultate gekommen, dass die Eiweisskörper sich direct an der Erzeugung von Arbeit kaum betheiligen. Sie haben gefunden, dass die Stickstoffausscheidungen sich fast gar nicht verändern, gleichviel ob das Individuum, das untersiicht wird, arbeitet oder ob es in Euhe ist. Und dieses Resultat ist später von Fick bestätigt worden, der mit einem Freunde zusammen das Faulhorn bestieg und nun die Stickstoffausscheidungen bei einem solchen Marsche, und andererseits die Stickstoffausscheidungen in der Euhe untersuchte. Es ist zwar ursprünglich bei den Versuchen von Pettenkofer und Voit nur der Harnstoff berücksichtigt worden, aber einerseits bildet der Harnstoff die Hauptmasse der stickstoffhaltigen Substanzen, welche aus- geschieden werden, und andererseits hat es sich bei späteren Versuchen gezeigt, dass wirklich, wenn man auch die stickstoffhaltigen Substanzen im Allgemeinen berücksichtigt, doch eine verhältnissmässig geringe Aen- derung durch die Arbeit eintritt. Es ist dem freilich in neuerer Zeit widersprochen worden, und wesentlich auf Grund von ein paar Wetten, welche in England angestellt worden sind, Wetten, in Folge derer grosse Märsche innerhalb einer gegebenen Zeit gemacht wurden, und wo dann zugleich die Stickstoffausscheidungen untersucht und vermehrt gefunden worden sind. Ich glaube aber nicht, dass diese Wetten etwas beweisen. Sie wurden beide verloren, und höchst wahrscheinlich war Ueberanstren- gung eingetreten. Die eine Wette ist folgende: Ein Herr W. hatte ge- wettet, 400 englische Meilen in fünf Tagen zu gehen. Er ging nur 311 j Meilen. Er gab an den fünf Gehtagen und an den fünf späteren Tagen 722 bis 727 Grains Stickstoff aus, während er bei derselben Diät sonst nur 628 Grains Stickstoff ausgab. In diesen zehn Tagen gab er 634 Grains Stickstoff mehr ab, als er einnahm, und verlor in den ersten fünf Tagen 3-| Pfund an Gewicht. Es ist dies offenbar ein Versuch, der für die gewöhnliche Arbeitsleistung nicht herangezogen werden kann, denn es ist bekannt, dass nach grossen körperlichen Anstrengungen, nach Anstrengungen , die bis zur Erschöpfung gehen , febrile Erscheinungen auftreten, Vermehrung der Pulszahl, Erhöhung der Temperatur, Unruhe, Schlaflosigkeit und febriler Harn. Es ist also der Eiweisszerfall , wie er hier aufgetreten ist , auch wahrscheinlich als ein pathologischer zu betrachten. Allerdings liegen von Liebig und Sarokin positive Angaben darüber vor, dass in Folge von Muskelcontractionen sich stickstoff'haltige Zersetzungsproducte, Kroatin und Kreatinin , in den Muskeln anhäufen. Dass nicht sofort eine auffällioe Vermehrun«: der Stickstoffausschciduns: ^48 Verwendung der Naliningsmittel im Körper. eintritt, kann davon lierrüliren, dass diese Producte erst nach, nnd nach zur Ausscheidung kommen; aber jedenfalls ist ihre Gewichtsmenge zu gering, um aus der lebendigen Kraft, welche durch die entsprechende Eiweisszersetziing erzeugt werden konnte, einen bedeutenden Bruchtheil der geleisteten Arbeit abzuleiten. Nach Allem scheint es also festzu- stehen, dass die Arbeit im Grossen und Ganzen nicht auf Kosten der Eiweisskörper, sondern auf Kosten der stickstofflosen Substanzen geleistet wird , vorausgesetzt, dass diese dem Körper in hinreichender Menge zugeführt werden, während, wenn dies bei gesteigerter Arbeit nicht geschieht, auch Eiweisskörper in grösserer Menge zerlegt und ihre Spann- kräfte zur Aufbringung der Leistung verwendet werden. Die stickstoff- losen Substanzen können Fette und können Kohlehydrate sein. Dafür, dass Eette in den Muskeln bei der Arbeit verbraucht werden , haben wir bis jetzt keinen unmittelbaren Beweis. Wir wissen, dass gerade diejenigen Muskeln, welche vortrefflich, welche am besten arbeiten, die Herzmuskulatur und die Muskeln magerer, aber an Arbeit gewöhnter Individuen, wenig Fett enthalten. Da indessen der Fettmangel kein ab- soluter ist , so kann hieraus nicht ohne weiters geschlossen werden, dass das Fett bei der Muskelcontraction ganz unbetheiligt sei. lieber den wirksamen Verbrauch von Fett behufs der Arbeit im Allgemeinen sind Untersuchungen mit positivem Resultate vorhanden. Kellner wurde durch combinirte Fütterungs- tind Arbeitsversuche am Pferde zu dem Schlüsse geführt, dass 49 pCt. der Spannkräfte des Nahrungsfettes für Zwecke der Arbeitsleistung verwerthet werden können. Mit Bestimmtheit wissen wir, dass Kohlehydrate bei der Muskelcontraction direct ver- braucht werden. Im Muskel ist Glycogen und ausserdem noch eine zuckerartige Substanz, Inosit, enthalten. Von diesem Glycogen in den Muskeln hat nun Nasse schon vor längerer Zeit nachgewiesen, dass es bei der Muskelcontraction verbraucht wird. Er hat die Muskeln der einen Seite tetanisirt und die der andern Seite nicht tetanisirt, und hat beide dann auf ihren Glycogengehalt untersucht : er hat immer gefunden, dass die nicht tetanisirten mehr Glycogen enthielten. Nasse hat damals das Glycogen nicht in Substanz bestimmen können , weil es dazu an einer hinreichend genauen Methode fehlte. Er hat deshalb das Glycogen erst in Zucker umgewandelt und hat es aus dem Zucker, den es ge- geben, bestimmt. Sigmund Weiss hat aber hier im Laboratorium diese Versuche wiederholt xind dabei das Glycogen direct gewogen und die Nasse' sehen Resultate vollständig bestätigt. Wir wissen ferner aus den Untersuchungen von du Bois, dass bei der Muskelcontraction auch Milchsäure gebildet wird , sei es aus dem Inosit oder aus dem aus Glycogen gebildeten Zucker oder aus beiden. Er hat nachgewiesen, dass der an und für sich alkalisch reagirende Muskel durch eine Reihe von aufeinanderfolgenden Contractionen saure Reaction annimmt. Wir haben also hier zum ersten Male eine Einsicht in einen Theil des chemischen Processes, durch welchen die mechanische Kraft bei der Muskelarbeit aufgebracht wird. Dass ein chemischer Process stattfindet, hatte schon früher Helmholtz nachgewiesen, indem er tetanisirte und nicht teta- nisirte Muskeln nach einander mit Wasser, Alkohol und Aether auszog und fand , dass in den tetanisirten Muskeln das wässerige Extract ab- genommen, dagegen das Alkohol extract zugenommen hatte, was jetzt, Verwendung der Nahrungsmittel im Körper. 24:V wenigstens theilweise, auf die Umwandlung des Glycogens zurückgeführt werden muss. Aus dem Umstände nun, dass die Arbeit der Hauptmasse nach auf Kosten stickstoif loser Substanzen erzeugt wird, könnte man schliessen, dass ein Arbeiter, der nur so viel Eiweisskörper bekommt, als dazu gehören, einen ruhenden Menschen im Beharrungszustande zu erhalten, auch be- liebig viel arbeiten könne, wenn man nur dafür sorgt, dass er mit stickstotflosen Nahrungsmitteln reichlich versehen ist. Das ist aber ein Irrthum. Die ausgedehntesten Erfahrungen sprechen dafür , dass der Arbeiter immer auch mehr Eiweisskörper in seiner Nahrung braucht, wenn er bei der Arbeit ausdauern soll, als ein ruhender Mensch. Die Erfahrungen sind zum grossen Theile sehr alt. Leute, welche sich sonst mit wenig Fleisehnahrung , mit wenig stickstoffhaltiger Nahrung über- haupt^ begnügt haben, so lange sie eben nicht viel zu arbeiten brauchten, haben zu allen Zeiten , wenn sie viel arbeiten sollten , eine stickstoff- haltigere Kost verlangt. Aehnliches zeigt sich bei Thieren. Den Arabern ist es seit längerer Zeit bekannt , dass sie , wenn sie Pferden ausser- ordentliche Leistungen zumuthen, ihnen eine stickstoffhaltigere Nahrung geben müssen, als sie ihnen sonst geben. So füttern sie Pferde, welche sie zur Straussenjagd gebrauchen, mit einer Art von Bohnen, die durch ihren Legumingehalt eine viel grössere Menge von Eiweisskörpern ent- halten als die Gerste, die sonst im Oriente allgemein an die Pferde verfüttert wird. Ebenso wird von Reisenden erzählt, dass sie die Pferde mit Kameelmilch tränkten, wenn solche in hinreichender Menge vor- handen war. Auch an unseren einheimischen Pferden hat man ähnliche Erfahrungen gemacht. Es ist bekannt, dass ein sehr grosser Theil des Hafers und somit auch ein sehr grosser Theil der Stärke des Hafers ungenutzt durch den Körper des Pferdes hindurchgeht. Man ist deshalb auf die Idee gekommen, den Hafer zu Brod zu verbacken, um auf diese "Weise die Stärke in Kleister und in Dextrin zu verwandeln und sie so der Verdauung leichter zugänglich zu machen. Man konnte dann mit weniger Hafer ausreichen, und es zeigte sich, dass man den Pferden am Quantum so viel abbrechen konnte, dass die Kosten des Backens ge- deckt waren , und ausserdem noch ein Vortheil übrig blieb. Das ging alles ganz gut bei Luxuspferden , die nur hie und da zu kleinen Arbeitsleistungen verwendet wurden. Als man diese Brodfütterung aber auch mit Arbeitspferden anfing, zeigte es sich, dass sie weniger leisteten, dass sie bald in Schweiss geriethen , bald müde wurden. Die Pferde hatten offenbar nicht die hinreichende Menge von stickstoffhaltigen Sub- stanzen bekommen, denn sie hatten an dem rohen Hafer die stickstoff- haltigen Substanzen leichter ausgenützt als die rohe Stärke und die Cellu- lose ; indem sie nun aber die Stärke leichter ausnutzten, war ihnen von dem Gesammtquantum ein guter Theil abgebrochen , sie waren also mit einer geringeren Menge von stickstoffhaltigen Substanzen ernährt worden als früher , und das machte sich an ihrer 'geringeren Dauer- haftigkeit bemerkbar. Ebenso hat Voit bei seinen Versuchen bemerkt, dass Hunde, welche er auf verschiedene Weise ernährte, nicht in gleicher Weise Neigung hatten, sich freiwillig zu bewegen. Diejenigen Hunde, welche er mit reichlicher, stickstoffhaltiger Kost gefüttert hatte, bewegten sich xöO Verwendung der Nahrungsmittel im Körper. viel mehr freiwillig, waren lebhafter und munterer als diejenigen , bei denen er einen grossen Theil der stickstoffhaltigen Nahrung durch Kohlehydrate und Fette ersetzt hatte. Es knüpft sich hieran die Frage : Was hat man von der Lehre der sogenannten Vegetarianer zu halten, welche behaupten, dass der Mensch, um recht gesund zu werden, aufhören müsse. Fleisch zu essen. Man muss da zunächst zweierlei Arten von Vegetarianern unterscheiden, die reinen Yegetarianer, die wirklich nur Pflanzenkost zu sich nehmen, und die- jenigen Vegetarianer, die nur kein Fleisch und keine Fleischbrühe nehmen, die aber Käse, Milch und Eier geniessen. Bei der letzteren Art von Vegetarianern kann man sich schon einige Zeit lang in die Kost geben. Wenn man Milch, Eier, Käse hat , so kann man damit in kurzem Wege eine hinreichende Menge von Stickstoffsubstanzen in den Organismus einführen. Anders verhält es sich aber mit den reinen Vegetarianern. Diesen kann man zu ihren guten Verdauungswerkzeugen gratuliren, wenn sie beim Essen von reiner Pflanzenkost so viel Stickstoff- substanzen in sich hineinbringen, um sich im Stickstoffgleichgewicht zu erhalten. Das ist einfach eine Frage der Quantität, es handelt sich immer darum, ob das betreffende Individuum so viel essen kann, dass es sich im Stickstoffgleichgewicht erhält und dabei noch arbeitet. Allgemein möchte ich diesen Vegetarismus nicht empfehlen, weil es doch Individuen gibt, welche nicht das hinreichende Quantum von solchen Nahrungs- mitteln bewältigen und ausnützen können , und die deshalb zu Grunde gehen. Es ist erwiesen, dass unter den Wohlhabenden unseres Himmels- striches im Allgemeinen Luxusconsumtion von Eiweisskörpern herrscht, aber dem Vegetarismus reden weder die Erfahrungen das Wort, welche wir an unserer einheimischen armen Bevölkerung machen, noch der physische Entwicklungsgang A^on Nationen, die wie die Hindu durch locale Anhäufung, zum. Theil auch durch religiöse Vorurtheile, auf Pflanzenkost angewiesen waren. Wir haben gesehen, dass wir die Eiweisskörper brauchen zum Auf- bau unseres Organismus und zu seiner Erhaltung in seiner Masse und in seiner Leistungsfähigkeit. Wir wissen ferner, dass die Eiweisskörper die Hauptmasse derjenigen Apparate ausmachen, mit welchen wir ar- beiten, nämlich der Muskeln, wenn auch bei jeder Muskelcontraction nur ein sehr kleiner Theil der Eiweisskörper des Muskels der Zersetzung anheimfällt. Wir können aber weiter auch nicht in Zweifel sein, dass bei der Zersetzung der Eiweisskörper Wärme producirt wird, und dass uns deshalb Eiweisskörper auch als sogenannte Respirationsmittel dienen. Es muss jedoch bemerkt werden, dass auch diejenigen Völker, welche ausschliesslich oder fast ausschliesslich auf thierische Nahrungsmittel an- gewiesen sind, nicht ganz auf Kosten der Eiweisskörper respiriren. Denn erstens enthält das Fleisch, wie wir gesehen haben, Kohlehydrate, Gly- cogen , beziehungsweise Zucker , der aus dem Glycogen entstanden ist, und Inosit, und ausserdem geniessen sie ja mit dem Fleisch immer eine grössere oder geringere Menge Fett. Es scheint sogar, dass die Ueber- ladung des Körpers mit Eiweisssubstanzen und die damit verbundene Production einer grossen Menge von stickstoffhaltigen Zersetzungsproducten nachtheilig sei, denn wir sehen bei den Völkern, die fast ausschliesslich auf thierische Nahrung angewiesen sind, dass sie immer sehr grosse Verwendung der Nahrungsmittel im Körper. 2Di Mengen von Fett, wie wir sie bei unserer gemiscliten Nahrung niemals in uns hineinbringen, verzehren, um neben ihren Eiweisssubstanzen auch ein stickstoffloses Eespirationsmittel in grösserer Menge zu haben. Freilich liegt hiefür auch noch ein anderes Motiv vor. Diese Völker sind Völker kalter Zonen, und sie mögen auch deshalb die grosse Neigung zur Fett- nahrung haben, weil das Fett wegen seiner hohen Verbrennuugswärme und seines relativ leichten Zerfallens vor anderen Substanzen geeignet ist, Wärme für den thierischen Organismus zu produciren. Die Eiweisskörper sind unsere wichtigsten stickstoffhaltigen Nah- rungsmittel, aber nicht die einzigen. Abgesehen von anderen stickstoff- haltigen Substanzen, die nur als kleinere Bruchtheile in unsere Nahrung eingehen , geniessen . wir Leim und leimgebende Gewebe und Chondrin in nicht unbeträchtlicher Menge. Man ist zu verschiedenen Zeiten über den Werth des Leims als Nahrungsmittel sehr verschiedener Meinung gewesen. Es existirte ehemals für die Reconvalescenten ein eigenes Ernährungsmittel, das Hirschhorn- gelee, das aus zerraspelten Hirschgeweihen gekocht wurde. Da dasselbe ziemlich theuer zu stehen kam, war es nur den Wohlhabenden zugänglich. Es wurde mit Madeirawein, Rheinwein , französischem weissen Weine und andern guten Dingen gewürzt, und es ist, so viel man weiss, den Reconvalescenten gut bekommen , natürlich nur dann , wenn sie auch anderweitig gut zu essen bekamen. Als die Chemie weitere Fortschritte gemacht hatte, konnte man sich der Ueberzeugung nicht verschliessen, dass dieses Hirschhorngelee doch eigentlich eine sehr gemeine Substanz sei, nichts Anderes als Tischlerleim, und man fühlte sich deshalb gedrungen, den Nährwerth des Leimes näher zu untersuchen , weil es vielleicht doch möglich war, die Wohlthaten des Hirschhorngelee's in anderer Gestalt auch der minder bemittelten Bevölkerung zugänglich zu machen. Die Versuche, die man an Thieren anstellte, fielen sehr wenig befriedigend aus. Die Thiere , die man ausschliesslich mit Leim fütterte , gingen sämmtlich unter den Erscheinungen der Inanition zu Grunde. Es will dies an iind für sich nichts sagen, denn bei jeder chemisch einfachen Nahrung gehen die Thiere durch Inanition zu Grunde, auch dann, wenn sie ausschliesslich mit Fibrin oder ausschliesslich mit Eiweiss gefüttert werden. Aber es zeigte sich, dass der Leim auch die Eiweisskörper in der Nahrung nicht zu ersetzen im Stande ist. Einige sprachen ihm sogar jeglichen Nährwerth ab. Hiermit ging man offenbar zu weit. Die Versuche von Voit haben gezeigt, dass der Leim in ähnlicher Weise als Brennmaterial verbraucht werden kann , wie auch Kohle- hydrate und Fette. Wenn man einem Hunde ausser dem Fleisch, mit dem er gefüttert wird , noch Leim oder leimgebende Gewebe gibt, so kann man ihn mit weniger Fleisch erhalten , als wenn man ihn aus- schliesslich mit Fleisch füttert. Zweifelhaft ist es, ob Leim im Körper noch zur Bildung von leimgebenden Geweben verwendet werden kann, und ob Chondrin , wenn es genossen wird, im Körper zur Bildung von chondringebenden Geweben verbraucht ward. Die leimgebenden Gewebe, welche wir geniessen, sind durch Kochen und Braten mehr oder weniger verändert und bereits auf dem Wege der Umwandlung in Leim begriffen. Wenn man leimgebende Gewebe kocht, so gehen sie nicht plötzlich, sondern allmälig in Leim über, die junger 2o2 Verwendung der Nahrungsmittel im Körper. Thiere schneller, die alter langsamer. Wenn deshalb das Fleisch gekocht wird, so ist immer nur ein Theil der leimgebenden Gewebe in wirk- lichen Leim umgewandelt, und dieser ist in die Brühe übergegangen: ein anderer Theil der leimgebenden Gewebe existirt noch im Fleische als eine mehr oder weniger gequollene , mehr oder weniger gelatinöse Masse, je nach dem Grade der Veränderung, welche er bereits durch das Kochen erlitten hat. Je weiter diese Veränderung vorgeschritten ist, um so leichter unterliegt das leimgebende Gewebe im Magen und Darm- kanal der Auflösung und Kesorption. Welche Bedeutung haben die Kohlehydrate für uns als Nahrungs- mittel ? Es unterliegt keinem Zweifel , dass sie im Körper verbrannt, oxydirt werden , in Wasser und in Kohlensäure zerfallen und dabei Wärme bilden. Ausserdem haben wir gesehen, dass sie eine wesentliche Rolle bei der Productien der Arbeit spielen, insofern das Glycogen in den Muskeln während der Muskelcontraction und durch die Muskel- contraction in Zucker und dann in Milchsäure übergeht. Es ist indessen noch keineswegs bewiesen, dass Kohlehydrate, die wir zu uns nehmen, als solche bei der Muskelcontraction verbraucht werden , nicht einmal, dass die Kohlehydrate in den Muskeln von den Kohlehydraten der Nah- rung abstammen. Wir wissen von den letzteren mit Bestimmtheit nur, dass sie verbrannt werden, aber sie haben eben einen hohen Werth da- durch, dass sie vorzugsweise und mit Leichtigkeit der Zersetzung unter- liegen, so dass dadurch andere Substanzen, die als bleibende Bestandtheile des Körpers einen Werth haben, geschont werden. Dass dem wirklich so sei, das wird dadurch nachgewiesen, dass, wenn ein Thier mit Kohle- hydraten reichlich gefüttert wird, es zunächst ausschliesslich oder nahezu ausschliesslich auf Kosten der Kohlehydrate respirirt. Dass dies der Fall sei, kann man durch die Untersuchung seiner gasförmigen Ausscheidungen und seiner gasförmigen Einnahmen erfahren. Die Kohlensäure, welche wir ausathmen, muss gebildet werden mit Hilfe des Sauerstoffs, den wir einathmen. Wenn sich nun der Sauerstoff, den wir einathmen, ausschliess- lich mit Kohlenstoff verbindet, so wird die Menge des Sauerstoffs in der ausgeathmeten Kohlensäure eben so gross sein, wie die ganze Menge des in derselben Zeit verbrauchten Sauerstoffs, mit andern Worten, es wird aller eingeathmete Säuerstoff wiederum in der Kohlensäure als Exspira- tionsproduct erscheinen. Das ist aber nur möglich, wenn Kohlehydrate oxydirt werden; denn nur diese können, indem sie Sauerstoff aufnehmen, um ihren Kohlenstoff zu oxydiren, in Kohlensäure und Wasser zerfallen. Werden dagegen Fette oder Eiweisskörper oxydirt, so miiss immer noch eine Quantität Sauerstoff verbraucht werden, um sich mit Wasserstoff zu Wasser, bei den Eiweisskörpern auch mit Schwefel zu Schwefelsäure zu verbinden. Wenn also der ganze inspirirte Sauerstoff in der exspirirten Kohlensäure erscheint, so haben wir ein Recht, zu sagen, dass das In- dividuum jetzt auf Kosten der Kohlehydrate, mit denen es gefüttert wurde , respirirt und nicht auf Kosten der Substanzen seines eigenen Körpers. Bildet sich aus den Kohlehydraten noch irgend etwas Anderes ? Auf die Idee, dass sich Eiweisskörper daraus bilden, ist man kaum ver- fallen ; es ist das auch viel zu unwahrscheinlich : wohl aber hat man lange Zeit fast allgemein geglaubt, und man ist auch jetzt noch dieser Verwendung der Nahrungsmittel im Körper. ZDO Ansicht, dass sich auf Kosten der Kohlehydrate im Organismus Fett bilde. Es schien dies wahrscheinlich dadurch, dass die hauptsächlichsten Mastmittel mehlreiche, also amylumreiche Substanzen sind. Es entspann sich über diese Eettbildungsfrage ein lebhafter Streit zwischen Lieb ig einerseits, und Boussingault andererseits. Boussingault vertheidigte die Ansicht, dass alles Fett, welches im Körper abgelagert wird, als solches eingeführt werde, während Liebig die Ansicht vertheidigte, es werde nur ein Theil des Fettes als solches eingeführt, ein anderer Theil bilde sich aus dem in den Körper eingeführten Amylum, beziehungs- weise aus Zucker. Boussingault berief sich darauf, dass, wenn man Enten mit Eeis stopft, sie dabei mager bleiben, dass sie aber, wenn man dem Reis regelmässig eine geringe Menge Butter zusetzt, in kurzer Zeit sehr fett werden. Er schloss also : Das Amylum ist es nicht, welches in den meisten Mastmitteln mästet , sondern das Fett, welches darin neben dem Amylum enthalten ist. Er machte ferner Versuche an seinen Milchkühen und wollte gefunden haben, dass sie im Futter so viel Fett einnehmen, als sie in der Milch wieder ausgeben. Liebig wies ihm aber nach, dass er hiebei Bestandtheile der Chlorophyllkörner als Fett mitge- rechnet hatte, welche unresorbirt durch den Darmkanal hindurchgehen. Wenn diese, wie es geschehen musste, in Abschlag kamen, blieb nun im Futter nicht mehr so viel Fett, als die Kühe, welche sich im Beharrungs- zustande befanden, nicht abnahmen und nicht zunahmen , in der Milch ausgegeben hatten. Es kamen noch andere Beobachtungen der Theorie von Liebig zu Hilfe. Der berühmte Bienenwirth Huber fand, dass die Bienen noch längere Zeit Wachs bilden, wenn man sie auch nur mit reinem Zucker füttert, und dass auch im Honig, den sie in einer gegebenen Zeit ver- zehrten, nicht so viel Fett enthalten war, als sie in Gestalt von Wachs während derselben Zeit von sich gaben. So geschah es, dass die Ansicht von Liebig eine Zeitlang von den meisten Gelehrten, sowohl Chemikern als Physiologen, rückhaltslos angenommen wurde. Man konnte sich aber der Wahrnehmung nicht verschliessen , dass bei diesem ganzen Streite die Eiweisskörper in einer auffallenden Weise vernachlässigt worden waren. Man hatte die Möglichkeit, dass sich auch aus den Eiweiss- körpern Fett bilden könne, nicht hinreichend berücksichtigt, und war so über eine mögliche Quelle des Fettes ohne nähere Untersuchung hinweggegangen. Es lagen aber allerdings schon damals gewisse That- sachen vor, welche es nicht unwahrscheinlich machten, dass sich aus Eiweisskörpern Fette bilden können , wenn dies auch nicht von Allen zugegeben wurde. Man hatte im vorigen Jahrhundert in Paris einen Friedhof für arme Leute eingerichtet , in welchem in den einzelnen Gräbern die Leichen in ungewöhnlicher Menge übereinandergesetzt worden waren. Nachdem derselbe längere Zeit benutzt worden, brach in einer anstossenden Strasse eine Epidemie aus. Man schrieb dies der Nachbar- schaft des Friedhofs zu, und er musste geräumt werden. Dabei fand man zu seinem Erstaunen eine grosse Menge von Leichen mumificirt und in ihrer Form ziemlich erhalten, und als man die Substanz dieser Leichen näher untersuchte, fand Fourcroix, dass ihre Hauptmasse aus einer fettartigen Substanz bestehe, welche er mit dem Namen Adipocire belegte , und die man später in Deutschland Leichenfett nannte. Als 2u4c Venrendnng der Nahrungsmittel im Körper. Chevreul seine berühmte A-rbeit über den Verseifungsprocess und über die Chemie der Fette überhaupt gemacht hatte , untersuchte er auch dieses Adipocire. Er kam zu dem Resultate, dass dasselbe ein Gemenge von Seifen mit verschiedenen Basen sei, namentlich Kalk, und dass das Material zu demselben von dem Fette der Individuen herrühre, welche dort beerdigt worden waren, während andererseits die stickstoffhaltigen Substanzen grösstentheils durch die Fäulniss zerstört worden seien. Immerhin blieb es auffallend , so grosse Mengen dieser Substanz an Leichen von Individuen zu finden, die doch wahrscheinlich nicht gerade besonders fett gewesen waren. Später haben sich anderswo ähnliche Fälle ereignet, darunter einer in Königsberg. Ich habe noch ein Stück Leichenfett in die Hände bekommen, welches sich dort gebildet hatte. Es schien der Form nach von einem Muskel herzurühren , so dass es nicht recht wahrscheinlich war , dass dies Adipocire aus dem eigenen ursprünglichen Fette der Leiche hervorgegangen sei , dass es vielmehr dem Ansehen nach wahrscheinlicher erscheinen musste, dass es wirklich, wie man in Paris anfangs geglaubt hatte, durch Zersetzung der Eiweiss- körper und Bildung von Fett aus denselben entstanden sei. Man hat auch mehrmals in Macerirtrögen ähnliche Stücke gefunden und auch Adipocire erzeugt durch Einschliessen von Leichentheilen in Glasgefässe, deren übriger Eaum mit "Wasser gefüllt war. Gibbes, Quain, Virchow und J. Kratter haben aus der Untersuchung solcher Objecte geschlossen, dass sich Eiweisskörper in Fett umgewandelt hätten, während Wetherill, Lehmann, Huppert und Ed. Hofmann alles vorgefundene Adipocire von Fett ableiten, das schon während des Lebens vorhanden war. Ein anderer in ähnlicher Weise zweifelhafter Process ist das Reifen der Käse. Es wurden in den Käsekellern zu Eochefort Untersuchungen über das Eeifen der Käse angestellt, und Blondeau wollte gefunden haben, dass unter dem Einflüsse von Penicillium glaucum, welches in den Käsen vegetirt, das Casein in Fett, in Ammoniak und andere stickstoff- haltige Substanzen, die im Käse enthalten sind , zerfalle. Es ist diese Angabe von Andern, die auch reifende Käse untersucht haben, bestritten worden , so dass man auch hier zu keinem bestimmten Resultate ge- kommen ist. Schon vor einer Reihe von Jahren stellte Hoppe-Seyler Fütterungs- versuche an Thieren an, die es einigermassen wahrscheinlich machten, dass sich bei ihnen aus Eiweisskörpern Fett bilde. Die Herstellung des Beweises hiefür ist aber erst durch die Respirationsversuche von Petten- kofer und Voit gelungen. Diese haben gefunden, dass, wenn man Hunde mit Fleisch reichlich füttert, über ihren Bedarf füttert , dann, wenn schon aller Stickstoff der Nahrung wieder in den Ausscheidungen erscheint, eine bedeutende Menge Kohlenstoff im Körper zurückbleibt. Es muss also eine kohlenstoffhaltige und stickstofflose Substanz im Körper zurückbleiben, und diese kann in Rücksicht auf die bedeutende Menge des in den Ausscheidungen fehlenden Kohlenstoffes nichts anderes sein als Fett. Dieses Fett muss auf Kosten von Eiweisskörpern gebildet worden sein. Indem nun der Beweis einmal hergestellt war , dass im Körper aus den Eiweisssubstanzen sich Fett bilden könne, verlor damit die Liebig'sche Fettbildungstheorie aus Kohlehydraten vorläufig ihren Boden, denn jetzt Hessen sich alle Erscheinungen so erklären, dass die Zusammengesetzte Nahrungsmittel. Die Milcli nud die Milclidrüse. 2ö5 Kohlehydrate verrespirirt , uud dadurch die im Körper aus Eiweiss- substanzen gebildeten Fette geschont werden. Die Thiere konnten im Fleische unverändert bleiben, wenn auch fortwährend in ihrem Körper Eiweisssubstanzen so zerfielen , dass einerseits stickstoffhaltige Harn- bestandtheile gebildet wurden, und andererseits Fett. Die Menge der so zerfallenden Eiweisskörper musste nur die Menge der eingeführten nicht übersteigen. Das so gebildete Fett konnte mit dem eingeführten in die Milch übergehen, und somit das täglich in dieser ausgeführte Fett die Fetteinfuhr übersteigen. Die Bienen Hub er 's konnten eine Zeitlang Wachs gebildet haben, wenn sie auch nur mit Zucker gefüttert wurden, indem sie den in ihrem Körper vorhandenen Vorrath von Fetten und Eiweisssubstanzen theilweise verbrauchten. Wenn sie mit Honig gefüttert wurden , konnten sie dauernd mehr Wachs gebildet haben , als dem Fettgehalte des Honigs entsprach , indem in letzterem auch stickstoff- haltige Substanzen enthalten sind , vermöge welcher sie sich im Be- harrungszustande erhalten konnten , auch wenn in ihrem Körper fort- während ein gewisses Quantum von Eiweisskörpern behufs der Wachs- bildung zerfiel. Wenn wir den Process der Mast betrachten, so gibt uns der von Boussingault mit Enten angestellte Versuch den Schlüssel zu einer andern Auffassung desselben. Die Enten waren mager geblieben, so lange sie nur mit Kohlehydraten gefüttert wurden ; sie waren aber fett geworden, so wie sie ausser Reis auch Fett bekamen. Mastmittel enthalten Kohlehydrate, Eiweisskörper und Fette ; die Eiweisskörper und die Fette können zur Substanzbildung verwendet werden, die Kohle- hydrate werden verrespirirt, und sie sind deshalb Mastmittel, weil sie es ermöglichen , dass das Fett abgelagert wird : denn , wenn sie nicht eingeführt wären, hätte das Fett der Oxydation unterliegen müssen. Die Erfahrungen aller Viehzüchter haben auch gezeigt, dass eine schnelle Mast nur erzielt werden kann, wenn man fettreiches Körnerfutter, wie z. B. Mais, dazu verbraucht , welcher auch vielfältig dazu verwendet wird, und etwa 5*^/o, ja angeblich bisweilen bis 9% Fett enthält, oder indem man zu den Mastmitteln fettreiche Substanzen, wie Milch, Oel- kuchen u. dgl. hinzusetzt. Dieser Weg der Erklärung reicht aus , so lange es sich nicht zeigt, dass mehr Fett abgelagert wird, als aus dem genossenen Fette einerseits und aus dem Zerfalle von Eiweisskörpern, beziehungsweise von Leim, andererseits abgeleitet werden kann. Dass dies in der That geschehen könne , dass in der That mehr Fett abge- lagert werden könne, als ohne Zuhilfenahme der Kohlehydrate möglich, wird auf Grund messender Versuche behauptet. Namentlich beruft sich B. Schulze auf Mästungsversuche, die er an Gänsen angestellt hat. Erst weitere Versuche müssen zeigen , welcher Antheil bei der Fettbildung den Eiweisskörpern und welcher den Kohlehydraten zuzusprechen sei. Zusammengesetzte NahruDgsmittel. Die Milch iintl die Milclidrüse. Wir haben uns eine Uebersicht verschafft über die Verwcrthung der drei Hauptarteu von Nahrungsmitteln, und wir wollen jetzt über- gehen zu den zusammengesetzten Nahrungsmitteln, und zwar zunächst 256 Die Milch und die Milchdrüse. zur Milch. Die Milch ist eine Emulsion, welche gebildet wird aus einer Flüssigkeit, welche Salze, ausserdem zwei Eiweisskörper und ein Kohle- hydrat, Milchzucker, enthält, und in welcher ein zusammengesetztes Fett, das Butterfett, emulgirt ist. Ehe wir zur Betrachtung dieser einzelnen Substanzen übergehen , müssen wir uns mit dem Baue der Milchdrüse näher bekannt machen. Die Milchdrüse zeigt sich in ihrer ersten Anlage schon im vierten Monate des intrauterinen Lebens. Sie stellt zuerst eine kaum merkliche Erhabenheit mit einer Grube in der Mitte dar, und von dieser Grube gehen später blind endigende Gänge nach den Seiten hin aus : sie sind die erste Anlage der Ausführungsgänge der Milchdrüse. Sie münden also anfangs in ein gemeinsames ßeceptaculum. Später erhöht sich die Stelle, an welcher die Grube war, und die Gänge münden nun einzeln aus , während die erhöhte Stelle zur Brustwarze wird. Im sechsten Monate fand von Langer, dem wir in der Beschreibung der Milchdrüse folgen, schon Theilungen, die sich später weiter dichotomisch fortsetzen, so dass ein System von dendritisch verzweigten Schläuchen mit' kolben- förmigen Endigungen entsteht. In dieser Weise entwickelt sich die Drüse bei beiden Geschlechtern fort bis zur Zeit der Pubertätsent- wickelung ; dann bleibt sie beim Knaben stehen oder geht etwas zurück, während sie sich beim Mädchen weiter entwickelt, und zwar in zweierlei Weise. Erstens entwickelt sich zwischen den Gängen eine grosse Menge von succulentem Bindegewebe, durch welches die Mamma bedeutend an Volum zunimmt, und zweitens entwickeln sich die Drüsengänge selbst weiter und bilden nun an ihren Enden zahlreiche kolbenförmige Acini. In diesem Zustande verbleibt die Drüse bis zur Schwangerschaft. Während der Schwangerschaft tritt aber eine ausserordentliche Entwicklung der eigentlichen Drüsensubstanz ein, indem überall Acini entstehen, nicht allein an den Enden, sondern auch seitlich aufsitzend an den Gängen, so dass das Ganze in eine mächtige traubige Drüse \imgewandelt wird. Diese neugebildeten Acini sind mit einem Epithel oder Enchym aus- gekleidet, in dessen Zellen sich zahlreiche Fetttröpfchen absetzen, und gegen Ende der Schwangerschaft werden diese Fetttröpfchen in die Höhle des Acinus hineingestossen , indem zugleich in dieselbe eine Flüssigkeit hineinsecernirt wird. Es werden aber nicht allein die Fett- tröpfchen aus dem Protoplasma der Zellen ausgestossen, sondern es lösen sich anfangs auch ganze Zellen vom Epithelium ab und gelangen in das Innere des Acinus hinein, grosse, nackte Zellen, welche voll mit kleinen Fettkörnchen angefüllt sind und auf dem geheizten Objecttische amöboide Bewegungen zeigen. Diese grossen Zellen, welche sich von Epithel ab- lösen und mit Fetttröpfchen angefüllt sind, heissen Colostrumkörper oder Colostrumkugeln. Sie werden namentlich in den ersten Tagen nach der Geburt ausgestossen, später wird ihre Zahl immer geringer, so dass sie nur noch selten und vereinzelt erscheinen. Es wird dann nur noch eine Flüssigkeit secernirt, in der zahlreiche Fetttröpfchen schwimmen, die von dem Protoplasma der Enchymzellen der Acini ausgestossen worden sind. Diese Flüssigkeit mit den darin schwimmenden Fetttröpfchen ist die Milch. Dieser Zustand bleibt im Wesentlichen unverändert, so lange die Milchdrüse zum Säugen verwendet wird. Wenn dies aber nicht mehr ge- schieht — gleichviel ob die Milchsecretion immer schwächer und schwächer Die Milch und die Milchdrüse. 257 wird und endlich von selbst aufhört, oder ob sie dadurch, dass das Kind nicht mehr angelegt wird, zum Stehen gebracht wird — dann geht die Drüse einen Involutionsprocess ein, in welchem die neugebildeten Acini wieder verschwinden, und die eigentliche Drüsensubstanz bedeutend an Vohim abnimmt, indem sie der Hauptsache nach auf die schon früher gebildeten Gänge reducirt wird. Wenn eine neue Schwangerschaft eintritt, so tritt während derselben wiederum dieselbe progressive Metamorphose wie während der ersten Schwangerschaft ein. Es wird wieder eine grosse Menge von Acinis gebildet u. s. w. Diese Wechsel können eintreten bis in die Zeit der klimakterischen Jahre. Dann, wenn die Menses cessiren, tritt auch ein Involutionsprocess in der Brustdrüse ein, die Acini ver- schwinden nun vollständig, so dass die Gänge der Milchdrüse blind in Fig. 37. Fig. 36. # Strängen von Bindegeweben endigen ; ja bei der weiteren Involution schwinden auch die feineren Gänge, so dass nur. noch die gröberen mit blinden Enden im Bindegewebe zurückbleiben. Eig. 36 zeigt Milchgänge einer Puerpera mit zahlreichen Endbläschen, Eig. 37 zeigt Milchgänge einer alten Erau ohne Endbläschen, beides nach v. Langer. In seltenen Fällen entwickelt sich bei männlichen Individuen die Drüse so weit, dass sie Milch absondert. In Giessen wurde die Milch eines Bockes analysirt und Casein, Zucker und Eett darin gefunden. Die Milch enthält ausser anorganischen, namentlich phosphorsauren Salzen, die dem Säuglinge zum Aufbaue seines Knochcusystems dienen, Milchzucker, Butter und Casein nebst etwas nativem Eiweiss, also ein Kohlehydrat, Eett und Eiweisskörper, so dass die drei grossen Gruppen der Nahrungsmittel in ihr vertreten sind. Krücke. Vürlcsuiigou I. 1. Au(l. 1' 2öo Die Milch und die Milchdrüse. Den Milchzucker haben wir bereits kennen gelernt. Wir haben gesehen, dass er direct gährungsfähig ist, dass er krystallisirt, die Polari- sationsebene nach rechts dreht, dass er die gewöhnlichen Zuckerproben gibt, und dass er, da er alle diese Eigenschaften mit dem Traubenzucker gemein hat, sich diesem sehr ähnlich verhalt, so lange er sich in Lösung befindet, dass er sich aber, wenn er im festen Zustande dargestellt ist, dadurch unterscheidet, dass er schwerer in Wasser und namentlich viel schwerer in Alkohol löslich ist als der Traubenzucker. Die Butter ist ein gemengtes Glycerinfett. lieber die Butter aus der Menschenmilch gibt es noch keine Untersuchungen, einfach deshalb, weil Untersuchungen über gemengte Fette immer ein beträchtliches Material beanspruchen, und die Butter aus der Menschenmilch noch nicht in hin- reichender Menge zu haben gewesen ist. Die Kuhbutter ist dagegen von Heintz untersucht worden, und es hat sich ergeben, dass sie ein ge- mischtes Glycerinfett ist, und folgende Fettsäuren darin enthalten sind oder vielmehr, richtiger gesagt, folgende Fettsäuren durch den Ver- seifungsprocess daraus abgeschieden werden können : Buttersäure Capronsäure Caprylsäure Caprinsäure Myristinsäure Palmitinsäure Stearinsäure ., Butinsäure Oelsäure Das Casein hat alle Eigenschaften gerinnt beim Kochen nicht, es wird aber durch alle Säuren, auch durch verdünnte Pflanzensäuren und durch die dreibasische Phosphorsäure, aus der Milch niedergeschlagen. Es ist deshalb frühzeitig die Frage aufgeworfen worden, ob denn nicht vielleicht das Casein, neben dem immer noch etwas lösliches Ei weiss in der Milch enthalten ist , identisch sei mit einem gewöhnlichen Natronalbuminat, welches man sich künstlich bereiten kann, indem man eine verdünnte Natronlösung auf gewöhnliches, natives Eiweiss einwirken lässt. Die Milch gerinnt, wenn man ihr ein Stückchen von einem Kälbermagen oder überhaupt ein Stückchen von dem Magen eines frischgeschlachteten Thieres oder etwas von dem Extract eines solchen Magens zusetzt und sie damit erwärmt. Man bezeichnet die getrock- nete und zu diesem Zwecke präparirte Schleimhaut des Kälbermagens, oder auch die wirksame Substanz darin, mit dem Namen Lab, und auch das flüssige Extract , welches man daraus macht , mit dem Namen des Labextracts. Man sagt deshalb : Das Casein wird durch Lab zum Ge- rinnen gebracht. Auf dem Gerinnen durch Lab beruht die Bereitung der süssen Molke. Man setzt der Milch Lab oder Labextract zu und erwärmt vorsichtig, bis die ganze Masse des Caseins in ein Coagulum zusammengeronnen ist. Man kann dann die Milchflüssigkeit davon ab- filtriren, oder auf einem Seihtuche davon abtropfen lassen. Diese Flüssig- keit ist die süsse Molke. Sie unterscheidet sich von der sauren Molke, welche man durch Zusatz von Essigsäure , Weinsäure oder Weinstein bereitet, dadurch, dass sie keinen sauren Geschmack hat, und weniger C4 Hs O2 Cß Hr2 O2 Cg Hl 6 O2 ^10 H20 O2 Cl4 H28 O2 C'ie H32 O2 ^18 H36 O2 ^20 H40 O2 ^IS H34 0, en eines fällbaren Eiweisses ; es ■ Die Milch und die Milchdrüse. 259 phosphorsaure Salze enthält , weil bei dem Gerinnenmachen durch Lab das sich ausscheidende Casein einen grossen Theil der phosphorsauren Salze mitreisst, während dieselben in Lösung bleiben, wenn man das Casein durch Essigsäure oder Weinsäure ausfällt. Dieses Gerinnen durch Lab war immer ein Unterschied zwischen dem Casein in der Milch und dem gewöhnlichen Kali- oder Natronalbuminate ; denn dieses gerinnt durch Lab nicht. Dann zeigte aber Schretzka, dass, wenn aus Kali- oder Natronalbuminat, Zucker und Butter eine Emulsion, also eine künst- liche Milch bereitet wird, diese auch durch Lab zum Gerinnen gebracht werden kann. Er zeigte weiter, dass diese künstliche Milch auch im natürlichen Wege sauer wird und gerinnt , was übrigens nichts Auf- fallendes war, da, wie wir später sehen werden, das Sauerwerden und das Gerinnen in Folge des Sauerwerdens darauf beruht, dass der Zucker in der Milch die Milchsäuregährung eingeht, und die so gebildete Milch- säure das Casein aus seiner Verbindung mit dem Natron ausfällt. Es existirt aber noch ein anderer Unterschied zwischen dem Casein in der Milch und dem Natronalbuminat. Reines Natronalbuminat ist nur flüssig, so lange es alkalisch reagirt. Sobald man so viel Säure zusetzt, dass es gegen Lakmuspapier sauer reagirt, fällt auch der Eiweisskörper heraus : dagegen kann man der Milch vorsichtig so viel Säure zusetzen, dass sie gegen Lakmuspapier sauer reagirt, ohne dass sie gerinnt. Ja es zeigt sich, dass die Milch in Städten, die in der Regel sauer reagirt, wenn man sie kauft, dennoch für die meisten Zwecke vollkommen gut und brauchbar ist, und dass sie bei Kühen, die mit Schlempe gefüttert werden, häufig schon unmittelbar nach dem Melken sauer reagirt. Wenn man der Milch etwas mehr Säure zusetzt, aber noch nicht so viel, dass das Casein unmittelbar herausgefällt wird, und sie zum Sieden erhitzt, so läuft sie zusammen : es wird dann Casein und auch Eiweiss heraus- gefällt. Darauf beruht es , dass manche Milch, die anscheinend noch vollkommen gut ist, beim Kochen zusammenläuft. Das ist eben Milch, bei der schon so viel Milchsäure gebildet ist, dass zwar nicht bei ge- wöhnlicher Temperatur, wohl aber in der Siedhitze das Casein heraus- fällt. Gibt man noch mehr Säure hinzu, so fällt das Casein bei gewöhn- licher Temperatur heraus. Rollett hat gezeigt, dass Natronalbuminat sich ebenso verhält, wenn man ihm phosphorsaures Natron zugesetzt hat. Der Unterschied also, den künstliche Natronalbumiuatlösung und Milch beim Ansäuern zeigen , liegt nicht in den Eiweisskörpern als solchen, sondern darin, dass das eine Mal phosphorsaure Salze zugegen sind, das andere Mal nicht. Man war also im ilUgemeinen der Meinung, dass das Casein in der Milch doch mit dem Natronalbuminate identisch sei. Da zeigte Zahn, dass, wenn man Milch durch einen porösen Thoncylinder filtrirt, mittelst des Bunsen'schen Filtrationsapparates durchsaugt , eine Flüssigkeit durchgeht, welche zwar Eiweiss , aber kein Casein enthält. Es schien also hiemit ein wesentlicher Unterschied zwischen Casein und Natronalbuminat gefunden zu sein, denn das letztere passirt in ähnlicher Weise wie natives Eiweiss die poröse Thonwand. Später ist aber einer- seits das Casein filtrirt worden, und andererseits ist uufiltrirbares Natron- albuminat gemacht worden. Schwalbe wies nämlich nach, dass Milch, der man eine kleine Menge Senföl zugesetzt hat , Monate laug nicht gerinnt, und dass, wenn solche Milch in den Thoncylinder gebracht wird, 17* 260 Die Milcli und die Milchdrüse. nicht nur Wasser, Salze, Zucker und Eiweiss, sondern auch Casein durch die Wand desselben durchgesaugt werden kann. Anfangs erscheint zwar mit den krystalloiden Substanzen nur Eiweiss , später aber folgt das Casein nach. Andererseits hat Soxhlet künstliches JSTatronalbuminat in ähnlicher Weise wie das Casein der Milch unfiltrirbar gemacht. Er bereitete eine Emulsion aus Natronalbuminat und Butter und fand, dass sie sich bei der Filtration durch einen Thoncylinder wie Milch verhielt. Nach L. Hermann findet hier Oberflächenwirkung statt. Wenn man drei Theile Milch mit vier Theilen Pulver von fein zerstossenen und zerriebenen Thoncylindern mengte und dann filtrirte , so erhielt das Filtrat oft gar kein Casein. Bei geringern Mengen des Pulvers konnte solches noch nachgewiesen werden, aber stets nur in geringerer Menge. Unter Mitwirkung des Fettes und bei Bildung der Emulsion geht ferner eine Veränderung mit dem Casein vor. Schon vor vierzig und einigen Jahren fand Asche rson, ein Arzt in Berlin, dass bei Bereitung von Emulsionen aus Eiweisslösungen und Fetten sich eine feste Schicht um jeden Fetttropfen bildet. Er nannte diese Schicht die Haptogentnembran, weil sie bei der Berührung von zwei Körpern entsteht. Eine solche Haptogenmembran hat schon , gleichfalls vor einer langen Reihe von Jahren, Henle den Milchkügelchen zugeschrieben. Er beruft sich darauf, dass man die Milch mit Aether schütteln kann , ohne dass der Aether die Fetttropfen aufnimmt, was doch der Fall sein müsste, wenn die letzteren ganz frei und ungeschützt in der Flüssigkeit herumschwimmen würden; dass aber andererseits das Fett beim Schütteln leicht in den Aether übergeht, sobald man dem Gemenge auch nur eine sehr geringe Menge von Kali oder Natron zusetzt. Später hat v. Witt ich die Entstehung der Haptogenmembran dahin erklärt , dass bei der Berührung des Fettes mit dem Natronalbuminate eine doppelte Zersetzung stattfinde ; das Natron gehe an das Fett und bilde eine Natronseife , und dadurch werde gleichzeitig ein Theil des Caseins, der, welcher sein Natron abgegeben hat, unlöslich. Die Seife und der Eiweisskörper bilden hiernach miteinander die Haptogenmembran. Diese Haptogenmembran ist vielfach und auch noch in neuerer Zeit bestritten worden. Die Versuche von Soxhlet leiten aber wieder darauf hin, dass doch das Fett den Eiweisskörper in einen besonderen Zustand überführt, und Schwalbe ist mit neuen Versuchen für die Existenz der Haptogenmembran eingetreten. Wir begreifen nur bis jetzt nicht, wie das Fett auf die Filtrirbarkeit des ganzen Caseins einwirkt, da sich wenigstens nach den bisherigen Anschauungen doch nur ein Theil desselben an der Bildung der Haptogenmembran betheiligt. Wenn wir nun alle diese zahlreichen Versuche zusammennehmen , so müssen wir uns leider ge- stehen, dass wir weder mit Sicherheit wissen, in welchem Zustande das Casein in der Flüssigkeit der Milch enthalten ist, noch auch wissen, ob es identisch sei mit dem künstlichen Natronalbuminat oder nicht. Bis jetzt ist nur gezeigt, dass alle Unterschiede, welche zwischen dem Natron- albuminate und dem Casein aufgestellt wurden, nicht haltbar siiid : damit ist aber die Identität der beiden Körper noch nicht erwiesen. Hoppe- Seiler wendet gegen den Identitätsbeweis aus den besprochenen Reac- tionen mit Recht Folgendes ein : Wenn man Casein mit einer Lösung von Kali oder Natron behandelt, so bildet sich Schwefelkalium, beziehungsweise Die Milchsäure. 261 Schwefelnatrium. Wenn man nachher den Eiweisskörper mit einer ver- dünnten Sälire wieder ausfällt, so zeigt er noch alle die vorerwähnten, dem Casein und Alkalialbuminat gemeinsamen Eeactionen, und doch ist er sicher nicht mehr derselbe, der er früher war; denn abgesehen von den Veränderungen, die er sonst erfahren haben mag, hat er einen Theil seines Schwefels abgegeben. Es ist also möglich, dass man zwei Körper hat, welche die uns bekannten Eeactionen mit einander gemein haben, und welche dennoch nicht identisch sind. Hiernach rauss man auch die Angabe beurtheilen, dass das Casein in der Milch vermehrt werde, wenn man dieselbe bei 38^ digerirt. Es ist nämlich angegeben worden, wenn man die Milch bei 38° digerire, nehme die Menge des Eiweisses darin ab, und die Menge des Caseins nehme in entsprechender Weise zu. Die Versuche beweisen aber nur, dass die Menge des nativen Eiweisses ab- und die des fällbaren Eiweisses zunimmt, Dass das geschieht, ist bei alkalisch reagirender Milch leicht begreiflich, denn fast alle alkalischen Flüssigkeiten wirken bei erhöhter Temperatur, wenn auch schwach und langsam, auf das native Eiweiss und ändern einen Theil desselben in fällbares Eiweiss um. Es handelt sich nur darum, ob das hier gebildete fällbare Eiweiss und das Casein identisch sind ; dann kann man sagen, dass hier auf Kosten des löslichen Eiweisses durch blosses Digeriren bei 38^ wirklich Casein gebildet worden sei. Nach den Untersuchungen von Eugling ist das Casein in der frisch gemolkenen Milch als Caseintri- calciumphosphat enthalten, wobei das Casein als reiner Eiweisskörper nicht als Alkalialbuminat aufzufassen ist. Den Ausgangspunkt dieser Untersuchungen bildete die Thatsache , dass oxalsaures Ammoniak aus solcher Milch kein Kalkoxalat fällt, der Kalk also in ihr in fester organischer Verbindung ist. Die Milchsäure. Wenn die Milch an der Luft steht, so wird sie nach und nach sauer, indem der Milchzucker, der darin enthalten ist, in Milchsäure um- gewandelt wird. Die Milchsäure hat die Zusammensetzung C^ Bq O3. Man kann also diese Umwandlung betrachten als Zerfall des Milchzuckers. Indem sich die Milchsäure vermehrt, verdrängt sie zuletzt das Casein aus seiner Verbindung, und die Folge davon ist, dass die Milch gerinnt, gesteht. Die Säurebildung beginnt also schon viel früher, als die Milch gerinnt oder einen säuerlichen Geschmack annimmt , sie beginnt sehr bald, nachdem die Milch gemolken worden ist, und schreitet je nach der Temperatur rascher oder langsamer fort. Erwähnen muss ich, dass schon ein geringer Zusatz von Senföl die Milchsäuregährung, wie Aug. Vogel nachwies, fast vollständig hindert. Milch, welcher man auf 20 Gramme einen Tropfen Senföl zusetzt, bleibt, wie ich bereits früher erwähnte, nach einer Beobachtung von Schwalbe, Wochen und Monate lang flüssig. Dies beruht darauf, dass die Säurebildung verhindert wird. Leider ist aber aiich durch einen so geringen Zusatz von Senföl die Milch völlig ungeniessbar gemacht. Wie das Senföl wirkt, weiss man bis jetzt nicht. Der am nächsten liegende Gedanke ist der, dass es bestimmten lebenden Organismen, deren Mitwirkung bei der Säurebildung nothwendig ist, die Existenz unmöglich macht, in ähnlicher Weise, wie sich in Traubensaft 262 Diß Milchsäure. keia Alkohol bilden würde , wenn man ihm eine auf die Hefe absolut tödtlich wirkende Substanz zugesetzt hätte. Wenn man sich Milchsäure verschaffen will, so stellt man sie in der Regel nicht aus Milch allein dar, sondern schlägt ein Verfahren ein, welches von Bensch angegeben worden ist: man lost 3 Kilogr. Rohr- zucker und 21 Gramm Weinsteinsäure in 13 Kilogr. Wasser auf, und lässt die Lösung einige Tage stehen. Das hat den Zweck, den Rohr- zucker zu invertiren, ihn in rechtsdrehende Glycose und linksdrehenden Fruchtzucker umzuwandeln. Hierauf fügt man zu dem Ganzen 167 Gramm alten stinkenden Käse , 4 Kilogr. abgerahmte geronnene Milch und l| Kilogr. geschlemmte Kreide. Alles zusammen lässt man einige Tage bei einer Temperatur von 30^ bis 35^ stehen. Die Milch und der Käse haben den Zweck, die Milchsäuregährung einzuleiten, die Kreide hat den Zweck, die gebildete Milchsäure aufzunehmen, so dass sich unter Austreibung der Kohlensäure milchsaurer Kalk bildet, Nach einigen Tagen ist das Ganze in einen steifen Brei verwandelt, den man mit 10 Kilogr. siedenden Wassers verdünnt, dann 21 Gramm Aetzkalk hinzu- fügt und eine halbe Stunde lang kocht , dann durch einen Spitzbeutel filtrirt. Aus der filtrirten Flüssigkeit scheidet sich in Form von Drusen und krystallinischen Körnern der gebildete milchsaure Kalk aus. Diesen sammelt man nun auf dem Spitzbeutel und presst ihn in Presstüchern aus. Man löst ihn wieder in seinem zweifachen Gewicht Wasser auf und setzt auf jedes Pfund 146 Gramm vorher mit ihrem gleichen Gewichte an Wasser verdünnter Schwefelsäure zu. Die Schwefelsäure bildet mit dem Kalk Gyps, und die Milchsäure bleibt in Lösung. Die so erhaltene unreine Milchsäure filtrirt man vom Gyps ab, fügt auf jedes Pfund der angewendeten Schwefelsäure 688 Gramm kohlensaures Zinkoxyd hinzu und kocht eine Viertelstunde lang; man filtrirt heiss, worauf beim Er- kalten Krystalle von milchsaurem Zinkoxyd entstehen. Diese trennt man. von der Mutterlauge, löst sie in heissem Wasser wieder auf, leitet Schwefelwasserstoff hindurch und filtrirt vom gebildeten Schwefelzink ab. Die so aus dem milchsauren Zink erhaltene , nun schon reinere Milch- säure dampft man ein und zieht sie dann mit reinem Aether aus. Nach dem Verdunsten des Aethers bleibt die reine Milchsäure zurück. Die so erhaltene, unter der Luftpumpe über Schwefelsäure entwässerte Milch- säure hat ein specifisches Gewicht von 1,215 und syrupartige Consistenz. Die Milchsäure ist eine relativ starke Säure, indem sie die Kohlen- säure aus ihren Verbindungen austreibt, und hat einen intensiv sauren Geschmack, der jedoch durch Verdünnen mit Wasser bald an seiner In- tensität verliert. Die Milchsäure nehmen wir nicht nur in der sauren Milch, sondern auch in den vegetabilischen Nahrungsmitteln zu uns, in welchen Zucker durch einen ähnlichen Gährungsprocess in Milchsäure übergeht. Dies ist der Fall im Sauerkraut und in den sauren Rüben. Die Milchsäure entsteht zwar in letzter Reihe immer aus Zucker, aber sie kann auch in nicht zuckerhaltigen Gemengen entstehen, wenn die- selben Amylum enthalten, welches in Dextrin und Zucker umgewandelt wird, und wo dann der Zucker nachher wieder in Milchsäure zerfällt. Es ist dies ein Process, der bei dem gewöhnlichen Sauerwerden der Schlichte, des Mehl- oder Stärkekleisters, vor sich geht, und dessen Be- deutung wir bald bei der Verdauung näher kennen lernen werden. Quantitative Untersuchung der Milch. 2bö Quantitatire Untersiicliiing der Milcli. Wenn man die Milch quantitativ untersucht, so handelt es sich gewöhnlich darum, die relativen Verhältnisse von Casein, von Fett und von Zucker kennen zu lernen. Die kürzeste und beste Methode hiefür ist die Methode von Hei dien. Dieselbe beruht darauf, dass man die Eiweisskörper der Milch durch Gyps unlöslich macht, während sie bei den übrigen Methoden durch Essigsäure herausgefallt werden. Bei der Methode von Hei dien wägt mau etwa 15 Gramm Milch in einem kleinen mit einem Deckel versehenen, vorher gewogenen Schälchen oder Tiegel ab, und setzt dazu 5 Gramm reinen Gyps. Man kann sich denselben aus 'dem gewöhnlichen käuflichen gebrannten Gyps verschaifen, indem man diesen mit "Wasser anrührt, ihn erstarren lässt und hinterher zu einem feinen Pulver verreibt. Dieses feine Pulver laugt man sorgfältig mit Wasser aus, um es von allen im Wasser leichter löslichen Bestandtheilen zu befreien, und trocknet es dann bei höchstens 110*^. Von solchem Gyps mischt man eine genau gewogene "Menge, etwa 5 Gramm, der Milch zu, wägt diases Gemenge nochmals und trocknet es auf dem Wasserbade ein. Dann trocknet man im Luftbade bei höchstens 110^ so lange" weiter, bis man bei wiederholtem Wägen keinen Gewichtsverlust mehr wahr- nimmt. Auf diese Weise ermittelt man die Menge des Wassers, welche fortgegangen ist. Da man nun ausserdem die Menge des Gypses gewogen hat, so erhält man durch Subtraction des Gewichtes des Gypses von dem des Rückstandes die Menge der festen Bestandtheile der Milch. Von dem so erhaltenen Rückstande pulvert man nun eine Portion ganz fein, thut sie in einen Kolben und wägt sie darin ab, nachdem man vorher getrocknet hat , um das Wasser zu vertreiben , welches die Masse in- zwischen vermöge ihrer Hygroskopicität wieder angezogen hat. Dann fügt man eine kleine Menge absoluten Alkohols hinzu und kocht damit auf. Dann fängt man an, mit Aether zu extrahiren, und zwar in der Weise , dass man Aether aufgiesst, damit aufkocht, absetzen lässt und den Aether, wenn er sich vollständig geklärt hat, abhebt oder vorsichtig abgiesst, so weit er sich eben klar abgiessen lässt. Das wiederholt man so lange , bis der abgehobene Aether , wenn man einen Tropfen davon auf eine Glasplatte fallen lässt, keinen Fettring zurücklässt, mit anderen Worten, so lange als der Aether noch Fett aiif nimmt. Wenn der Aether kein Fett mehr aufnimmt, so verdampft man den Rest desselben und wägt den Kolben wieder. Das so erhaltene Gewicht zieht man von dem Anfangsgewichte ab : die Differenz besteht in den mit Aether auszieh- baren Substanzen , welche man als Fett verrechnet. Jetzt fängt man an , den Rückstand mit Alkohol auszuziehen , der mit Wasser auf das specifi-sche Gewicht von 0,85 verdünnt worden ist. In solchem Alkohol ist der Milchzucker noch einigermassen löslich, und indem man wieder- holt damit extrahirt, zieht man ihn nach und nach aus und auch zugleich die in verdünntem Alkohol löslichen Salze, deren Gewicht man aber ver- nachlässigt, weil es im Verhältniss zu dem des Milchzuckers sehr gering ist. Man extrahirt wiederum so lange fort, als der Alkohol noch etwas aufnimmt. Ist dies nicht mehr der Fall, so verjagt man den Rest, trocknet und wägt. Die Differenz wird als Milchzucker verrechnet, mit dem aber, 264 Quantitative Untersuchutig der Milch. wie gesagt, einige im verdünnten Alkohol lösliche Salze und ausserdem noch die unbekannten sogenannten Extractivstoffe mitgerechnet sind. Wenn man endlich von dem Reste das Gewicht des zugesetzten Gypses abzieht, so bleibt das Gewicht des Käsestoffes übrig, oder richtiger gesagt, das Gewicht der Eiweisskörper mit Einschluss der in verdünntem Alkohol nicht löslichen Salze, deren Gewicht aber wiederum dem des Käsestoffs gegenüber verhältnissmäasig gering ist. Man erhält also durch diese Procedur eine annähernd richtige Vorstellung von dem relativen Verhältnisse von Butter, Zucker und Eiweisakörpern in der Milch und zugleich von der Concentration derselben. Da dieses Verfahren immer noch verhältnissmässig zeitraubend ist, so hat man einzelne Proben angegeben^ welche dazu dienen, uns einiger- massen über den Werth der untersuchten Milch zu orientiren. Die ge-' wohnlichen sogenannten Milchprober, wie sie von den Marktcommissären gebraucht werden, sind nichts Anderes als Areometer, mittelst welcher man das specifische Gewicht der Milch feststellt. Nun ist aber die Milch eine Emulsion, das specifische Gewicht des Fettes, welches sie enthält, ist geringer als das des Wassers ,' das specifische Gewicht der anderen werthvollen Bestandtheile, des Caseins und des Zuckers, ist aber grösser als das des Wassers. Der Stand des Areometers in der Flüssigkeit ist nun in erster Reihe abhängig von dem specifischen Gewichte der Lösung, in welche das Areometer eingetaucht wird. Die in der Flüssigkeit suspendirten Fetttröpfchen üben aber auch einen Einfluss auf den Stand desselben aus. Was man also durch die Milchprobe erfährt, ist der Gehalt der Milch an Casein, kurz an gelösten Substanzen, und auch in Rück- sicht auf diese wird durch die wechselnde Menge der Fetttröpfchen das Resultat weniger genau. Man kann durch die Milchprobe auch nicht erfahren, ob etwa die Milch , ehe sie auf den Markt gebracht wurde, abgerahmt, worden ist, man erfährt nur, ob sie in gröblicher Weise mit Wasser versetzt wurde oder nicht. TJm nun auch den Fettgehalt der Milch auf kurzem Wege zu bestimmen, hat Donne ein sogenanntes Lactometer oder Galactometer construirt. Dieses Instrument ist ein Diaphanoraeier. Die Milchflüssigkeit, an und für sich durchsichtig , wird getrübt durch die Milchkügelchen, welche darin enthalten sind. Je mehr Milchkügelchen, d. h. Fettkügelchen die Milch enthält, um so undurchsichtiger ist sie. Das wissen schon die Hausfrauen, indem sie von der schlechten Milch sagen, sie sei ganz blau in den Schalen, weil eben der dunkle Grund der Schale durch die fett- arme durchscheinende Milch hindurch wirkt und ihr dadurch eine blaue Farbe verleiht. Donne misst die Dicke einer Milchschicht, die opak genug ist, um die Flamme einer Stearinkerze von bestimmter Qualität vollständig zu verdecken. Die Milchschicht von wechselnder Dicke stellt er dadurch her, dass er zwei mittelst planer Glasplatten geschlossene Röhren in einander verschiebt. Indem auf der einen Röhre eine Theilung aufgetragen ist , kann der Apparat durch eine Reihe chemischer Fett- bestimmungen empirisch graduirt werden, so dass man dann den Fettgehalt nach einer blossen Ablesung annähernd bestimmen kann. Auf demselben Principe beruht die Milchprobe von A. Vogel. Hier ist der Abstand der Gläser, also die Dicke der trüben Schicht constant gleich 5 Millimeter, und es wird die Mene;e Milch geraessen , welche Frauenmilch und deren Surrogate. 2bö man 100 Knbikcentimetern Wasser zusetzen muss , um die Contouren der Lichtiiamme Yerschwindeu zu machen. Für die Resultate dieser Probe hat man folgende empirische Formel aufgestellt : 23,2 , X = — h 0,23 m In ihr bedeutet x die Menge des Fettes der Milch in Procenten und m die Anzahl von Kubikcentimetern Milch, welche man verbraucht hat. Frauenmilcli und deren Surrogate. Die Frauenmilch enthält im Mittel in 1000 Theilen 28,11 Käse- atoff. Die Eiweiss menge ist in den quantitativen Analysen, denen dieses Mittel entnommen ist, und die alle aus einer älteren Zeit herstammen, nicht gesondert bestimmt worden, weil man damals nicht wusste, dass alle Milch Eiweiss enthält, sondern das Eiweiss nur fand, wenn es in grosser Menge in der Milch auftrat. Man hielt es deshalb für einen blos pathologischen Bestandtheil der Milch. Es sind deshalb auch die Caseinwerthe verschiedener Analysen nicht ohne Weiteres vergleichbar. Es handelt sich immer darum, ob die Procedur so war, dass man das Casein allein erhielt, oder ob Casein und Eiweiss zusammen bestimmt wurden. Sie enthält ferner in 1000 Theilen 35,66 Butter, 48,17 Milch- zucker, 2,42 Salze und 885,66 Wasser. Von dieser mittleren Zusammen- setzung, welche ich nach Moleschott 's Physiologie der Nahrungsmittel wiedergebe, kommen sehr grosse Abweichungen vor. Erstens ist die Milch in den ersten Tagen nach der Geburt wesentlich anders zusammen- gesetzt. Es ist dies die Zeit, wo von der Brustdrüse noch das sogenannte Colostrum abgesondert wird. Das Colostrum enthält eine viel grössere Menge von Eiweisskörpern tind besonders von nativem Eiweiss. Das native Eiweiss ist im Colostrum nicht nur in absolut grösserer MengQ enthalten als in der späteren Milch, sondern auch in einer relativ grösseren Menge im Verhältnisse zum Casein. Im Mittel kommen in 1000 Theilen 52,73 Eiweisskörper , 33,47 Butter, 44,66 Milchzucker, 4,74 Salze und 864,40 Wasser vor. Ausserdem ist aber während des Säugens die Milch in einer fortwährenden Veränderung begriffen, nicht allein nach der Nahrung, welche die Säugende bekommt, sondern auch je nach der Zeit, welche seit der Geburt verstrichen ist. Das ist der Grund , weshalb man beim Suchen von Ammen für Kinder möglichst solche zu finden sucht, welche in derselben oder nahezu in derselben Zeit mit der Mutter des Kiudes niedergekommen sind. Endlich ist die Zusammensetzung der Milch nach dem Lebensalter der Säugenden ver- schieden. Es ist von Doyere die Milch einer 45jährigen Amme anaiysirt worden, und es zeigte sich, dass sie nur 8-j Theile Käsestoif, aber 4,0 Theile Eiweiss, 76 Butter, 73,1 Milchzucker, 1,5 Salze in 1000 Theilen enthielt. Wenn man aus dieser einen Untersuchung einen Schluss machen könnte, so nähmen in vorgerückteren Lebensjahren die Eiweisskörper und unter diesen besonders das Casein ab, dagegen nähmen die stickstoiFlosen Sub- stanzen, Butter und Milchzucker zu. Es muss jedoch bemerkt werden, dass die Milch einer 36jährigen Frau, welche Simon analysirte, wenig von der mittleren Zusammensetzung abwich , und die gleichfalls von 266 Frauenmilch und deren Surrogate. Simon analysirte Milch einer 20jährigen Amme an Caseingehalt sogar noch um ein Geringes übertraf. Endlich ist die Milch verschieden zu der Zeit, wo das Kind an- gelegt wird, und zu der Zeit, wo das Kind schon einige Zeit gesogen hat. Man hat bemerkt, dass anfangs immer eine fettärmere, später eine fettreichere Milch kommt. Es wurde dies auch an den Kühen beobachtet, und die Landleute sind noch jetzt bisweilen der Meinung, dass die Milch sich in den Eutern der Kühe ausrahme. Da das Euter der Kühe nach demselben Typus gebaut ist wie die Brustdrüse des Menschen, so kann begreiflicher Weise von einem solchen Ausrahmen nicht die Eede sein. Worauf es beruht, dass die spätere Milch immer fettreicher ist als die frühere , weiss man nicht. Man kann nur vermuthen , dass in den Enchymzellen der Drüsenbläschen ein Vorrath von Fetttröpfchen ange- häuft ist, und dass dieser während des Saugens von den Enchymzellen ausgestossen wird und in die Milch gelangt. Auch die Milch beider Brust- drüsen zeigt sich nicht gleich zusammengesetzt. Wie gross im Allgemeinen die Abweichungen der Einzelwerthe von den aus ihnen gezogenen Mitteln sind, davon kann man sich aus der reichen Zusammenstellung überzeugen, welche J. König in seinem Buche über die chemische Zusammensetzung der menschlichen N'ahrungs- und Genussmittel gegeben hat. Th. Brunner, der in Huppert's Laboratorium eine Reihe von Frauenmilchanalysen nach einer neuen Methode anstellte, ist ferner der Meinung, dass in fast allen älteren Analysen von Thier- und Menschen- milch die Werthe für Eiweisskörper und Fette zu hoch angegeben wurden. Es ist kein Zweifel, dass die Muttermilch, beziehungsweise die Ammenmilch, das zweckmässigste ÜSTahrungsmittel für junge Kinder sei. Wo solche nicht zu beschaffen ist, ist man auf die sogenannte künstliche Ernährung angewiesen. Es fragt sich: Welches ist das beste Surrogat, das man der Muttermilch substituiren kann? Die Kuhmilch enthält, wenn sie gut ist, mehr Fett als die .Menschen- milch, aber sie enthält zugleich nahezu doppelt so viel Casein. Bei der Frau ist in der Milch im Mittel 28,11 Casein gefunden worden, bei der Kuh 54,04. Butter ist in der Frauenmilch 33,47, in der Kuhmilch 43,05, Milchzucker in der Frauenmilch 44,66, in der Kuhmilch 42,63, also noch etwas weniger als in der Frau. Aschenbestandtheile sind in der Menschen- milch 4,74, in der Kuhmilch 7,84. Es zeigt sich nun, dass Kinder, namentlich junge Kinder, die unverdünnte Kuhmilch in der Regel schlecht vertragen, dass sie sie in brockenartigen Gerinnseln ausbrechen. Da dies nicht nur mit der Qualität, sondern auch mit der Quantität des Caseins zusammenhängt, so ist das gewöhnliche und auch ganz rationelle Aus- kunftsmittel, dass man die Kuhmilch mit der Hälfte, in den ersten Wochen nach der Geburt sogar mit zwei Dritttheilen Wasser verdünnt. Dann ist sie aber an zwei Bestandtheilen verarmt, sie enthält dann weniger Zucker und Fett als die Menschenmilch. Den Zucker pflegt man ihr in Gestalt von Rohrzucker zuzusetzen, und da der Kandiszucker, das heisst der in grossen Krystallen krystallisirte Rohrzucker , von den im Handel vorkommenden Sorten der reinste ist, pflegt man Kandiszucker zu diesem Zwecke zu verwenden. Der Chemiker W. Heintz hat aber schon am Ende der vierziger Jahre angefangen, Frauenmilch und deren Surrogate. Zoi dem Eohrzucker Milchzucker zu substituiren, der ja jetzt allgemein im Handel zu haben ist. Der Milchzucker ist ein sehr leicht zersetzbarer Zucker, während der Rohrzucker ein entschieden schwerer zersetzbarer Zucker ist, und erst im Magen invertirt, in Trauben- und Fruchtzucker verwandelt werden muss, um seine weiteren Veränderungen einzugehen. Zweitens enthält aber der Milchzucker immer eine grössere oder geringere Menge von phosphorsauren Salzen, welche er beim Herauskrystallisiren aus den Molken mit sich reisst, und diese phosphorsauren Salze sind offenbar etwas, was dem Säugling zum Aufbaue seines Knochensystems zu Gute kommen kann. Es hat auch diese Ersetzung des Rohrzuckers durch den Milchzucker, wo sie immer versucht worden ist, im Allgemeinen einen guten Erfolg gehabt. jS'ur muss man nicht erst mit Rohrzucker an- fangen und dann hinterher Milchzucker substituiren , weil die Er- fahrung lehrt, dass dann das Kind die mit Milchzucker versüsste Milch nicht nimmt, weil der Milchzucker viel weniger süss schmeckt als der Rohrzucker. Da die Milch auch fettärmer ist, so hat man vorgeschlagen, ihr Milchrahm zuzusetzen. Es ist das auf den ersten Anblick vollkommen gerechtfertigt, aber in der Praxis stellt sich die Sache etwas anders. Die Milchsäuregährung wird bekanntlich durch ein Ferment eingeleitet, und ist von einer Milch in die andere übertragbar^ und selbst die un- bedeutendsten Mengen, welche an der Wand eines Gefässes hängen ge- blieben sind, sind hinreichend, um in der Milch, die in solche Gefässe hineingegossen wird, rasch Milchsäuregährung einzuleiten. Wenn man Milch ausrahmen will, muss man sie 24 Stunden lang stehen lassen. Man lässt sie zwar nicht sauer werden, aber man kann nicht hindern, dass nicht während dieser Zeit der Process der Milchsäuregährung be- ginnt, speciell nicht hindern, dass das Ferment schon anfängt , sich in dieser Milch zu vermehren. Wenn man nun den Rahm dieser Milch in andere frischere überträgt, so ist das von keiner besonderen Gefahr, wenn dieses Gemenge sofort verbraucht wird. Wenn es aber noch auf- bewahrt wird, so theilt sich der Process der Milchsäuregährung dieser so gemengten Milch mit, und sie verdirbt in kürzerer Zeit, als sie ohne Rahmzusatz verdorben wäre. Man ist deshalb zu dem alten, seit Jahr- hunderten geübten Verfahren zurückgekommen, möglichst fette Kuhmilch zu nehmen, diese mit der Hälfte Wasser zu verdünnen, und sie zu zuckern, nicht aber ihr noch Rahm von anderer Milch zuzusetzen. Wo man dies thun will, benutze man wenigstens nicht den käuflichen Rahm, sondern bringe ganz frische Milch an einen möglichst kühlen Ort, und sobald sich eine Rahmschicht gebildet hat, schöpfe man dieselbe ab und verwende sie. Wo gute Kuhmilch zu Gebote steht, ist aber der Rahm- zusatz umsoweniger nothwendig, als man in den oben erwähnten Zusammen- stellungen von J. König findet, dass beste Kühe über 6 Percent Fett in ihrer Milch aufwiesen, und andererseits sieht, dass bei saugenden Kindern fast immer eine nicht unbedeutende Menge Fett mit den Fäces abgeht. Das Verdünnen ist nicht zu allen Zeiten gleich nothwendig und nützlich. Man hat mit demselben abzunehmen und zuletzt vom siebenten, achten oder neunten Monate an das Kind schon mit unverdünnter Kuh- milch zu ernähren. 2ßö Frauenmiloli und deren Surrogate. In den englischen Eecepten für sogenannte künstliche Frauenmilch findet man einen uns seltsam erscheinenden Zusatz, nämlich Kalkmilch. Bei der Art und Weise, wie sich manchmal Dinge in der Praxis fort- pflanzen, welche aus theoretischen Gründen vorgeschlagen sind und gar keine praktische Erfahrung für sich haben , könnte man glauben, dass dieser Zusatz von Kalkmilch nur in der Idee gemacht worden sei, den Kindern den Kalk zuzuführen, auf Kosten dessen sie ihr Knochensystem aufbauen sollen. Da aber, die Mütter für einen solchen Zusatz schwerlich viel Neigung haben werden , so ist es nicht wahrscheinlich , dass die Aerzte darauf beharrt haben würden, wenn sie nicht einen guten Grund dafür gehabt hätten. Und dieser Grund ist wahrscheinlich ein rein localer. Bei der Ausdehnung von London und bei den dortigen Verkehrs- verhältnissen ist es sehr wohl glaublich, dass der grösste Theil der Milch^ wenn sie in das Haus kommt, schon saure Reaction zeigt, und dass dieser Zusatz von Kalkmilch gemacht wird , um die in der Milch enthaltene Milchsäure in milchsauren Kalk umzuwandeln und der Milch alkalische ßeaction zu geben. Man hat der Milch auch in den späteren Monaten der Säuglings- ernährung Amylacea zugesetzt. Es geschieht dies einmal in Gestalt der verderblichen Breifütterung, welche bei uns noch so vielfältig auf dem Lande gehandhabt wird, andererseits in verfeinerter Weise, indem man eine Stärke, die einen besondern Euf der leichten Verdaulichkeit hat, die Pfeilwurzelstärke, das sogenannte Arrow-root, das aus der Wurzel von Maranta arundinacea gewonnen wird , der Milch zusetzt. Es darf hiebei nicht vergessen werden, dass die wesentlichste Nährsubstanz in der Milch, dass die Eiweisskörper nicht vermehrt werden, und dass es nach- theilig ist für ein Kind, wenn man ihm eine verhältnissmässig zu grosse Menge von Kohlehydraten zuführt und sucht, ihm dabei an der Masse der Eiweisskörper, die ihm zugeführt werden sollen, etwas abzubrechen. Der bekannte Kinderarzt Routh in London sagt in Bezug hierauf, dass eine Anzahl Londoner Kinder nur durch die XJnbotmässigkeit der Wär- terinnen gerettet werden , indem diese sie nebenbei aus ihrer Schüssel essen lassen, während sie sonst bei Arrow-root verhungern würden. Eine andere Art des Zusatzes von Kohlehydraten hat Liebig an- gegeben. Er benutzt Weizenmehl, das insofern einen Vorzug vor dem Arrow-root hat , als es nicht unbeträchtliche Mengen (bei uns nach Horsford und Krocker 157 Gewichtstheile in tausend) von Eiweiss- körpern enthält. Die Stärke im Weizenmehl sucht er dadurch leichter verdaulich zu machen, dass er sie gewissermassen einen Theil des Ver- dauungsprocesses schon vorher durchmachen lässt , da?s er sie durch Malz in Achroodextrin und Zucker umwandelt. Er gibt dazu zweierlei Recepte. Erstens: 1 Loth Weizenmehl wird mit 10 Loth Milch gekocht, dazu wird dann, wenn die Masse bis 70*^ abgekühlt ist, 1 Loth Malz- mehl mit 2 Loth Wasser und 30 Tropfen einer Lösung gesetzt, welche 2 Theile doppeltkohlensaures Natron in 11 Theilen Wasser enthält; hierauf wird das Ganze bei 70'* digerirt. Das zweite Recept, das im Wesentlichen dasselbe Resultat gibt, ist folgendes: es werden 1 Loth Weizenmehl, 1 Loth Malzmehl, 7~ Gran doppeltkohlensaures Natron, 2 Loth Wasser und 10 Loth Milch zusammengemischt und vorsichtig unter Umrühren und Schütteln über der Spirituslampe gewärmt. Man Frauenmiloh und deren Surrogate. 2v\) lässt das Gemisch aber nicht zum Aufkochen kommen, sondern erwärmt es nur bis auf etwa 70°. Man braucht dazu kein Thermometer, man richtet sich nach der Veränderung in der Consistenz. Hat man nämlich eine Weile erwärmt, so wird die Masse dicklich, indem die Stärke quillt und sich in Kleister umwandelt. Wenn man dann unter stetem Rühren und Umschütteln weiter erwärmt, so wird sie wieder dünn, indem der Kleister in Dextrin imd in Zucker übergeht. Endlich, wenn die Masse wieder dünn und süssschmeckend geworden ist, wird sie aufgekocht, um die Diastase zu zerstören. Die Suppe wird, mag sie nach dem einen oder andern Eecepte bereitet sein, je nach dem Alter des Kindes mit verschiedenen Mengen Wasser verdünnt und durch ein Tuch oder ein feines Haarsieb geseiht. Es sind jetzt schon zahlreiche Versuche mit dieser sogenannten Liebig'schen Suppe angestellt worden, und wenn auch ein Theil von ihnen weniger befriedigend ausgefallen ist, so muss man doch sagen, dass sie in anderen Fällen wieder gute Erfolge gehabt hat, und gewiss, wenn eben die Suppe mit Sorgfalt bereitet ist, eine der besseren Arten ist, um mit der Milch Kohlehydrate in grösserer Menge dem Körper zuzuführen. Bei schwachen, abgemagerten Kindern verdünnt man die Kuhmilch mit Fleischbrühe statt mit Wasser, und zwar meistens mit Kalbfleisch- brühe, häufig aber auch mit Eindfleischbrühe, von der vorher das Fett abgeschöpft worden ist. Der Erfolg ist erfahrungsgemäss ein guter. In wie weit die Fleischbrühe als solche dabei zur Ernährung des Kindes beitragen kann, werden wir erst später^ wenn wir vom Fleische sprechen, erfahren. Ausser der Kuhmilch kann auch die Milch anderer Thiere zur Ernährung der Kinder dienen. Da ist es namentlich die Ziegenmilch, welche in südlichen Ländern meist ganz unverdünnt und direct vom Thiere verbraucht wird. Eouth erzählt, dass auf Malta nicht selten die Kinder unmittelbar an die Ziege angelegt werden und dabei ganz vor- trefflich gedeihen. Die Milch der Einhufer, die Milch der Eselin und der Stute, kommt bei uns für die Ernährung der Kinder nicht in Betracht. Sie ist ärmer an Eiweisskörpern als die Menschenmilch. Das Mittel für die Menschenmilch hatte sich auf 28,11 Gewichtstheile Casein in tausend gestellt, für die Milch der Eselin stellt sich dasselbe auf 20,18 und für die der Stute auf 16,41. Dabei ist die Milch der Eselin verhältniss- mässig fettarm. Die Menge des Fettes stellt sich für die Eselin auf 12,56, dagegen gibt Moleschott für die Stutenmilch eine sehr hohe Ziffer, nämlich 68,72 an. Beide aber, sowohl die Milch der Eselin, als die Stutenmilch, sind sehr reich an Milchzucker. Milchzucker und Aschenbestandtheile betragen in der Milch der Eselin 57,02, in der Stutenmilch sogar 86 2. Die Milch der Eselin ist namentlich in früherer Zeit vielfältig an Brustkranke verabreicht worden, und sie nähert sich insofern den süssen Molken, als sie im Vergleiche zu anderen Milchsorten eine geringere Menge von Fett und eine geringere Menge von Eiweiss- körpern enthält, dafür aber eine relativ grosse Menge von Milchzucker. Noch grösser ist die Menge des Milchzuckers , wie wir eben gesehen haben, in der Stutenmilch, und daher ist diese mehr als andere Milch geeignet, ein gegohrenes, berauschendos Getränk, den sogenannten Kumis, 270 Das Fleisch. ZU geben, den die Kirgisen schon seit alter Zeit bereiten. In neuerer Zeit haben ihn die russischen Aerzte Brustkranken verordnet : es haben sich auch in anderen Theilen von Russland Anstalten zur Erzeugung von Kumis gebildet, und vor etwa 1 2 Jahren ist auch hier in der Nähe von Wien eine solche eingerichtet worden. Aus der Milch werden an secundären Producten gewonnen zunächst die Butter und die Buttermilch. Mit letzterer wird in unsern Alpen noch verschwenderisch umgegangen, indem man sie meistens dem Vieh gibt, während sie anderwärts, wohl in grösster Ausdehnung in Irland, von Menschen genossen wird. Man kann nicht verkennen, dass ihr noch ein nicht unbeträchtlicher Nährwerth zukommt. Man muss bedenken , dass sie noch die gesammten Bestandtheile der Milch enthält mit Ausnahme des Butterfettes , und mit Ausnahme dessen , was an Milchzucker in Milchsäure umgewandelt worden ist. Ein anderes secundäres Product ist der Käse, der hier insofern zu erwähnen ist, als er Eiweisskörper in der concentrirtesten Gestalt enthält, wenigstens in concentrirterer Gestalt als alles frische Fleisch. Ein Pfund Käse enthält etwa um die Hälfte mehr Eiweisskörper als ein Pfund frisches Fleisch. Wir sehen deshalb, dass in denjenigen Gegenden, in welchen die Milchproducte relativ wohlfeil sind, in der Ernährung der ärmeren Bevölkerung dem Fleische vielfach Käse substituirt wird. Das Fleisch. Das Fleisch, wie es in den Topf kommt, ist zusammengesetzt aus Muskelfasern, aus den Sehnen der Muskeln, aus Fett, aus Blutgefässen, Nerven u. s. w. Die hauptsächlichsten Substanzen , welche für uns in Betracht kommen, sind erstens eine Reihe von Eiweisskörpern, welche wir später, wenn wir vom Muskel und seiner Physiologie handeln, noch näher kennen lernen werden, zweitens die leimgebenden Substanzen, welche beim Kochen, wenn auch nicht vollständig, so doch theilweise in Leim übergeführt werden , und dann eine Reihe von nicht eiweiss- artigen löslichen Substanzen im Fleische. Unter diesen ist zunächst zu erwähnen das Glycogen, welches wir schon bei den Kohlehydraten be- sprochen haben. Wir erhalten es aber in der Regel nicht mehr als Glycogen in der Nahrung, indem bei uns die Gewohnheit herrscht, das Fleisch, damit es leichter mürbe werde, längere Zeit hängen zu lassen, es nicht sofort nach dem Schlachten des Thieres zu kochen. Während dieses Ablagerns wird das Glycogen in Zucker und dann in Milchsäure umgewandelt. Ein zweites Kohlehydrat, das wir schon besprochen haben, und welches ebenfalls im Fleische vorkommt, ist der Inosit. Er hat die Formel C^ IZ",g Og. Er hat mit den Zuckern gemein, dass er ein Kohle- hydrat ist und dass er süss schmeckt ; er geht aber weder direct, noch indirect die Alkoholgährung ein und ist deshalb nicht als ein wahrer Zucker zu betrachten. Dagegen wandelt er sich in Milchsäure um, und zwar, wie es scheint, unter denselben Verhältnissen, unter denen sich die Glycose in Milchsäure umwandelt. Demnächst haben wir im Muskelfleische eine Reihe von stickstoff- haltigen Substanzen, die keine Eiweisskörper sind, zunächst das Kreatin, welches Chevreul im Fleischsafte entdeckt und Liebig näher untersucht Das Fleisch. 271 hat. Er hatte die Eiweisskörper durch Aufkochen aus dem Fleischsafte entfernt , hierauf mit einem Gemenge von salpetersaurem Baryt und Aetzbaryt versetzt, um die Schwefelsäure und Phosphorsäure auszufallen, sodann vom Niederschlage abfiltrirt, die Mutterlauge eingeengt, und sie zum weiteren Abdunsten und Krystalliren hingestellt. Dabei schied sich das Kreatin krystallisirt aus. Es besteht aus C'^ Hq N^ O2. Wenn man es mit Barytwasser kocht, so zerfällt es in Harnstoff (C H^ N.^ 0) und in Sarkosin (C^H-NO^)- Den Harnstoff werden wir als wichtigsten stickstoifhaltigen Bestandtheil des Harns kennen lernen, das Sarkosin ist zwar als solches kein Harnbestandtheil, aber interessant durch den Ein- fluss, welchen es, in den Körper gebracht, auf die Harnbestandtheile ausübt. Behufs der eben erwähnten Metamorphose nimmt das Kreatin ein Atom Wasser auf: wenn man es dagegen mit Säuren kocht, so gibt es ein Atom Wasser ab und geht nun in einen andern Körper über, in das Kreatinin, welches aus (Tj H-j N^ 0 besteht. Dieselbe Veränderung erleidet es durch längeres Kochen, so dass in der Fleischbrühe stets neben Kreatin auch viel Kreatinin enthalten ist. Dieses Kreatinin ist eine entschiedene Basis, und wir werden es als regelmässigen Harn- bestandtheil kennen lernen. Ferner kommt im Fleische noch ein Körper vor, der den Namen Hypoxanthin oder Sarkin führt und aus C^ H^ N^ O besteht. Wir werden, wenn auch nicht diesen Körper, doch in der Zusammensetzung ihm nahestehende gleichfalls unter den stickstoffhaltigen Harnbestand- theilen kennen lernen. Dann haben Hlasiwetz und Weidel im Fleisch- extracte eine Substanz entdeckt, welche sie mit dem Namen Carnin bezeichnet haben, und welche die Bestandtheile eines Oxytheobromins, oder auch die von Sarkin und Essigsäure enthält. Das Carnin besteht aus C-j H^ N^ O3. Es ist in kaltem Wasser schwer , in heissem leicht löslich ; Alkohol und Aether lösen es nicht. Mit Chlorwasserstoffsäure bildet es glasglänzende Nadeln von salzsaurem Carnin. Es gibt eine Farbenreaction, die ihm mit dem Sarkin gemeinsam ist. Erwärmt man eine kleine Menge mit frischem Chlorwasser und etwas Salpetersäure, bis die Gasentwickelung aufhört, verdampft dann zur Trockenheit und setzt den weissen Rückstand unter einer Glocke einer Ammoniakatmo- sphäre aus, so färbt er sich dunkel rosenroth. Es wird diese Beaction, welche noch ein paar anderen Körpern zukommt, nach ihrem Entdecker die Weidel'sche Eeaction genannt. Endlich hat Liebig in seiner berühmten Arbeit über die Bestand- theile des Fleisches die Inosinsäure beschrieben, von der er das Barytsalz analysirt hat, und der er die Formel C^ H^ N^ Og gibt. Diese Säure soll in ihren Lösungen den Geschmack der Fleischbrühe haben. Sie ist von Hlasi- wetz bei der Untersuchung des Fleischextractes nicht wieder aufgefunden worden, sie scheint also nicht immer, nicht in allem F-leische vorzukommen. Ausser diesen organischen Bestandtheilen enthält das Fleisch eine Quantität anorganischer Bestandtheile, von welchen für unsere Ernährung namentlich die phosphorsauren Salze von Wichtigkeit sind. Es muss hier hervorgehoben werden, dass die Hauptmasse der phosphorsauren Salze im Fleische phosphorsaures Kali ist. Kali und Natronsalze sind im Blute und im Muskelüeische keineswegs gleichmässig vertheilt, im Blute herr- schen die Natronsalze, im Muskelüeische die Kalisalze vor. 272 Das Fleisch. Wenn Avir das Fleisch geniessen wollen , so pflegen wir es zu kochen oder zu braten. Man hat vorgeschlagen, das lieber zu unterlassen und das Fleisch roh zu essen, da ja die Thiere , die im Naturzustande leben, dem sich der Mensch möglichst zu nähern suchen müsse, das Fleisch auch roh verzehren. Die Welt hat aber daran keinen Geschmack gefunden , und ausserdem hat das Kochen schon darin seinen guten Grund, dass wir uns durch dasselbe vor den Parasiten sicher stellen, und vor den Ansteckungsstoffen, welche etwa im Fleische enthalten sein können. In Rücksicht auf die Parasiten liegt die Sache, namentlich seit den Erfahrungen, die wir in neuerer Zeit über ihre Wanderungen gemacht haben, auf der Hand. Es wird Niemand mehr empfehlen, rohes Schweinefleisch zu essen, seit die Trichinen einen solchen Schrecken über ganz Europa verbreitet haben. Aber auch in Rücksicht auf nicht greifbare , nicht sichtbare Contagien ist das Kochen oder Braten des Fleisches gewiss von hoher Wichtigkeit, denn es hat sich gezeigt, dass von Thieren , die an ansteckenden Krankheiten gelitten hatten , das Fleisch ohne Schaden genossen worden ist, wenn es vorher gehörig ge- kocht war. Es dürfte jetzt beiläufig 40 Jahre her sein, dass in Böhmen eine grosse Rinderpest war, und dort eine Menge Vieh erschlagen und verscharrt wurde. Es ist später ruchbar geworden, dass arme Leute zur Nachtzeit diese Cadaver ausgegraben haben , dass sie das Fleisch gekocht und sich davon genährt haben, ohne dadurch an ihrer Gesundheit Schaden zu erleiden. Im TJebrigen muss anerkannt werden , dass rohes Fleisch unter Umständen dem gekochten vorzuziehen ist. Man hat schwache, abgemagerte Kinder noch mit gutem Erfolge mit rohem Fleische ernährt, wo es mit gekochtem, und gebratenem allein nicht in gleicher Weise gelingen wollte. Schwieriger ist es zu entscheiden, ob dies daher rührte, dass das rohe Fleisch leichter verdaulich war, oder daher, dass die Siedhitze in den Eiweisskörpern Zerstörungen anrichtet, die ihren Nährwerth herabsetzen. Die Frage, ob denn das Fleisch durch das Kochen schwerer verdaulich werde, kann man bejahen und verneinen, je nach den Bestandtheilen des Fleisches, welche man in Betracht zieht. Die Eiweisskörper im Fleische werden durch das Kochen entschieden schwerer verdaulich, da sie gerinnen, und wir werden später sehen, dass sie von dem sauren Magensafte im gekochten Zustande viel schwerer gelöst werden, als im ungekochten Zustande. Dagegen aber wird das Bindegewebe durch das Kochen seiner Umwandlung in Leim entgegen- geführt. Im rohen Fleische, welches in Stücken, nicht schon fein zer- kleinert, in den Magen hineinkommt, sind die Eiweisskörper in dem Gerüste von Bindegewebe zusammengehalten und dadurch im Innern vor der Einwirkung des Magensaftes geschützt, der Magensaft kann nur auf der Oberfläche einwirken. Wenn dagegen das gekochte Fleisch in den Magen kommt, wird, das Bindegewebe zwischen demselben sehr bald auf- gelöst, und in Folge davon zerfällt nun das Muskelfleisch in lauter ein- zelne Muskelfasern, die der Einwirkung des Magensaftes leichter zugäng- lich sind. Ich muss übrigens hiebei von vorneherein bemerken , dass man die Brauchbarkeit einer Fleischspeise nicht immer nach ihrer leichten Verdaulichkeit beurtheilen darf. Dazu hat man allerdings Ursache bei Kranken und bei schwächlichen Personen, denen das Unverdaute lästig im Magen liegt. Wenn es sich aber darum handelt, sonst gesunde und Das Fleisch. 273 kräftige Individuen mit einer möglichst geringen Menge von Eiweiss- körpern gut zu ernähren, so ist es mögliclier Weise gar nicht vortheil- haft, wenn diese Eiweisskörper der Einwirkung der Verdauung zu schnell unterliegen : denn wir werden später sehen , dass gewöhnlich ein Theil der Eiweisskörper bei der Verdauung soweit verändert wird , dass die entstandenen Producte sich wahrscheinlich nicht zu Eiweisskörpern rege- neriren, sondern direct weiter zerfallen, zerfallen bis zu den weiteren Zersetzungsproducten , welche endlich als solche ausgeschieden werden, während die weniger veränderten Eiweisskörper nach ihrer Resorption zum Aufbau und zum Ersätze des Organismus dienen. Es ist vielleicht nicht in jeder Hinsicht vortheilhaft, wenn der Auflösungs-, Umwand- lungs- und Zerfällungsprocess , den wir Verdauung nennen, zu rasch fortschreitet. Es ist also vielleicht für die Oekonomie mit den Eiweiss- körpern vortheilhafter, wenn dieselben nicht so schnell verdaut und, ehe sie zur Resorption kommen, nicht so weit verändert werden. Wenn wir das Fleisch kochen, so trennen wir dabei, wenn auch unvollkommen, die in heissem Wasser löslichen und die in heissem Wasser unlöslichen Bestandtheile. Eiweiss, welches bereits in das Wasser diiFundirt ist, gerinnt in demselben und wird durch das sogenannte Abschäumen entfernt. Die übrigen Eiweisskörper gerinnen im Fleische. Dagegen gehen die löslichen Bestandtheile des Fleisches grösstentheils in die Brühe über und zugleich diejenigen Eiweisskörper, welche der Gerinnung etwa ent- gehen, und diejenigen Eiweisskörper, welche bei längerem Kochen wieder löslich werden. Schon Mulder wusste, dass Eiweisskörper, welche durch die Hitze gerinnen, sich bei längerem Kochen theilweise, wenn auch sehr langsam wieder auflösen, indem eine lösliche Verbindung gebildet wird, welche Mulder damals Trioxyprotein nannte. Nach vierzigstündigem Kochen hatten sich von 100 Theilen coagulirten Albumins fast 34 Theile wieder aufgelöst. Endlich geht noch der Leim in die Brühe über, welcher durch das Kochen der leimgebenden Substanzen gebildet wird. Die Menge des Leimes, welcher in die Brühe übergeht, ist abhängig erstens von dem Alter des Thieres, indem bei jungen Thieren das Bindegewebe viel leichter in Leim übergeführt wird, als bei alten, und zweitens von der Länge der Zeit, w^ährend welcher man kocht. Nach diesen Daten muss der Nähr- werth der Fleischbrühe beurtheilt werden. Die Menge der Eiweisskörper darin ist unter allen Umständen eine geringe, um so geringer, je kürzer die Zeit ist, während welcher gekocht worden ist. In Rücksicht auf die Menge der Eiweisskörper, welche in den Organismus eingeführt werden, spielt also die Fleischbrühe eine ganz untergeordnete Rolle, weil, wie wir gesehen haben, bei Weitem der grösste Theil der Eiweisskörper im geronnenen Zustande im Fleische zurückbleibt. Ueber den Nährwerth des Leimes, welcher in die Siippe übergeht, haben wir schon früher gesprochen. Wir haben gesehen, dass er dem Körper dienen kann, inso- fern er in demselben zersetzt wird, und seine Verbrennungswärme oder doch den grössten Theil derselben hergibt, dass er in diesem Sinne auch als Schutzmittel für die Eiweisskörper im Organismus dienen kann, welche sonst statt seiner verbi-annt worden wären, dass er aber im Körper nicht zur Erzeugung von Eiweisskörpern dient; und wahrscheinlich beim Auf- baue unseres Organismus keine wesentliche Rolle spielt. Es bleiben also die löslichen Substanzen noch übrig , die Salze , welche im Fleische Brücke. Vorlesungen I. 4. Aufl. 18 2(4: Das Fleiscli. enthalten sind, und diejenigen stickstofFhaltigen inid stickstofi'losen Be- standtheile, von denen wir schon gesprochen haben. In den Salzen führen wir die zum Aufbaue und zur Befestigung unseres Knochensystems noth- wendige Phosphorsimre ein. Man bezeichnet deshalb die Salze des Fleisches auch mit dem Namen der Nährsalze. Die Kohlehj-drate im Fleische sind an Menge gering. Wenn das Fleisch frisch in den Topf kommt, ist Gly- cogen, Inosit, Zucker und Milchsäure darin enthalten, wenn es längere Zeit gehangen hat, so sind die Kohlehydrate bereits Veränderungen ein- gegangen, über deren Natur und Tragweite noch verschiedene Ansichten herrschen. A priori sollte man meinen, dass sie darin bestehen, dass aus dem Glycogen Zucker und aus Zucker und auch aus Inosit Milchsäure entsteht. Doch muss bemerkt werden, dass die aus Muskeln dargestellte Milchsäure nicht identisch ist mit der gewöhnlichen Gährungsmilchsäure. Letztere ist optisch inactiv, die Fleischmilchsäure oder Paramilchsäure aber dreht die Polarisationsebene nach rechts. Es bleiben noch die stickstoffhaltigen Substanzen des Fleischsaftes; aber wir müssen gestehen, dass wir bis jetzt von keiner derselben mit völliger Sicherheit ihre physiologische Wirkung kennen. Es sind mit dem Kreatin, dem Kreatinin und mit dem Carnin Versuche angestellt worden, die aber bis jetzt zu keinem entscheidenden Resultate geführt haben. Es ist dies um so mehr zu bedauern, als bisher nur der hohe Preis dieser Stoffe uns gehindert hat, ausgedehntere Versuchsreihen anzustellen. Es ist behauptet worden, das, was wesentlich in der Fleischbrühe nützlich ist, seien die sogenannten Nährsalze, und die ganze Fleischbrühe wirke wesentlich wie eine Auflösung dieser Salze. Das scheint indess mit der Erfahrung nicht übereinzustimmen. Nicht nur alle Aerzte, sondern auch alle Patieaten stimmen darin überein, dass die Fleischbrühe ein Mittel sei, welches erfrische und kräftige, welches die Reconvalescentea stärke u. s. w. Ich glaube nicht, dass die Aerzte und die Patienten ein ähnlich günstiges Urtheil fällen würden, wenn man den letzteren dafür die entsprechende Menge einer warmen Lösung von phosphorsaurem Kali mit Kochsalz einflössen würde. Worauf aber die Wirkung der Fleischbrühe beruht, das können wir bis jetzt nicht sagen. So günstig wir aber auch über die Fleischbrühe als Genussmittel und als Hilfsmittel bei der Er- nährung urtheilen, so können wir ihr doch keineswegs einen gleich hohen Rang als Nahrungsmittel anweisen. Wir haben früher gesehen, dass man schwachen, abgemagerten Kindern die Kuhmilch mit Fleischbrühe statt mit Wasser verdünnt, und dass man dies im Ganzen mit dem besten Erfolge gethan hat. Ganz anders hat sich aber die Sache gestellt, wenn man versucht hat, Kinder ausschliesslich mit Fleischbrühe zu ernähren, die Fleischbrühe der Milch zu substituiren. Es geschieht nicht selten, dass Kinder, die künstlich ernährt werden, die Milch, welche mau ihnen verschaffen kann, durchaus nicht vertragen, dass sie von einer Diarrhoe befallen sind, die nicht steht, so lange sie die Milch bekommen, die aufhört, wenn sie ihnen entzogen wird, und gleich wieder eintritt, wenn man ihnen die Milch wieder gibt. In solchen Fällen hat man einige Male versucht, und ich bin selbst einmal unfreiwilliger Zeuge davon gewesen, solche Kinder statt mit Milch mit Fleischbrühe zu ernähren. Es tritt dann ein jäher Verfall ein, so dass man in kurzer Zeit ge- nöthigt ist, das Regime zu ändern. Die Ursache davon ist leicht einzusehen. Das Fleisch. 275 Die Fleischbrühe enthält relativ zum Wasser uud zu den Salzen zu wenig nährende organische Bestandtheile, zu wenig Eiweisskörper, zu wenig Kohlehydrate, und das Fett nicht in so leicht assimilirbarem Zustande wie die Milch. Das ist auch ein Punkt, der wohl zu beherzigen ist, wenn man die Fleischbrühe als Ernährungsmittel für Kranke anwendet. In einigen Kraukenhäusern pflegt oder pflegte man an acuten Krankheiten leidenden Patienten, wenn sie stärker fiebern, namentlich Typhuskranken, Alles mit Ausnahme der „lauteren Suppe" zu verbieten. Ich will ganz davon absehen, dass in Spitälern der Gehalt der lauteren Suppe schwer zu controliren ist : ich will voraussetzen, dass die Patienten wirklich mit einer vortrefflichen Fleischbrühe versorgt werden, so ist damit doch immer noch verhältnissmässig wenig für ihre Ernährung gethan. Es werden ihnen allerdings Salze mit der Fleischbrühe zugeführt zum Ersatz derer, die sie fortwährend durch den Urin verlieren, andererseits werden aber auch dem Blute Zersetzungsproducte von Eiweisskörpern zugeführt, mit denen es bei Fieberkrauken voraiissichtlich an sich schon überladen ist. Die Menge der zugeführten organischen Nährsubstauzen ist verhältniss- ■ massig gering. Es gehört nun aber nicht allein zu den Pflichten des Arztes, das Leben des Kranken zu erhalten, sondern auch ihm eine möglichst rasche und vollkommene Reconvalescenz zu verschafi'en, ihn so wenig als möglich herunterkommen zu lassen. Dies kommt namentlich bei solchen Kranken in Betracht, für welche, wie für die Typhuskranken, die Zeit des Fieberns und des Fastens lang ist. Man hat deshalb im Norden von Deutsch- land und in Schweden vielfältig solchen Kranken Abkochungen von Kohle- hydraten, oder vielmehr von den die Kohlehydrate enthaltenden Cerealien gegeben, durchgeseihte Abkochungen von Hafergrütze oder Gerstgraupen und von Reis. Gewöhnlich wird denselben noch Zucker und Kochsalz, und auch etwas Butter zugesetzt. In Schweden hat man mehr als anders- wo und, wie es heisst, mit gutem Erfolge versucht, ihnen auch Milch zu geben. In Ptücksicht auf die praktischen Erfolge, in Rücksicht auf die Mortalität bei dem einen oder bei dem andern Regime lässt sich schwer etwas Bestimmtes aussagen, da zu viele andere Momente auf dieselbe einwirken ; wenn man sich aber fragt, welches Regime dasjenige ist, welches voraussichtlich den Körper des Kranken mehr conservirt, so muss mau sagen, dass es das letztere sei. Denn, wenn es gelingt, dem Kranken Milch ohne Nachtheil beizubringen, so hat er darin ein vollkommeneres Nahrungsmittel , worin alle drei Gruppen unserer Nahrungsmittel in reichlicherer Menge vertreten sind, als in der Fleischbrühe, und auch wenn es nur gelingt, die Bestandtheile der erwähnten Abkochungen, neben denen ja Fleischbrühe nicht ausgeschlossen ist, ohne Nachtheil zuzuführen, so ist damit etwas Wesentliches gewonnen, weil dadurch das Materiale des Körpers geschont wird. Alles, was über die Fleischbrühe gesagt wordeii ist, gilt auch mutatis mutandis für das Liebig'sche Fleischextract , indem dieses eine condensirte fettfreie Fleischbrühe ist uud auch unmittelbar zur Bereitung der Fleischbrühe benutzt wird, in- dem man es mit heissem Wasser verdünnt und mit Grünzeug u. s. w. aufkocht. Also auch das Liebig'sche Fleischextract ist keine Substanz, mit welcher mau Jemand ernähren kann. Wenn man versuchen wollte, die dazu uöthigen Massen zuzuführen, so würde die Wirkung der Salze, 18* 276 Das Fleisch. namentlich der Kalisalze, die bekanntlich, wenn man über gewisse Dosen hinausgeht, eine deletäre ist, so in den Vordergrund treten, dass man in der liürzesten Zeit von diesem Versuche würde abstehen müssen. Zu bemerken ist überdies, dass Fleischextract mehr Ammoniakverbindungen als frische Fleischbrühe enthält und die letztere deshalb, wo man sie haben kann, vorzuziehen ist. Eiweisskörper längere Zeit mit Wasser gekocht, bilden immer etwas Ammoniak : die grössere Menge desselben im Fleischextract entsteht wahrscheinlich während des Einkochens auf Extractconsistenz. Viel ist über den Nährwerth des ausgekochten Fleisches gestritten worden. Man hat eine Zeit lang behauptet, dass dasselbe ganz werthlos sei, weil es selbst von hungrigen Hunden versehmäht werde. Dem ist aber nicht so. Versuche, bei denen es dem Schweinefutter zugesetzt wurde, haben seinen Nährwerth bewiesen. Dass es von den Hunden verschmäht wird, hat zunächst seinen Grund in der insipiden Beschaffen- heit dieses Fleisches. Die löslichen Substanzen, die ihm seinen Geschmack und Geruch verleihen, sind ihm entzogen worden. Bis zu einem solchen Grade, wie es in jenen Versuchen geschah, pflegen wir übrigens das ge- kochte Fleisch nicht zu erschöpfen, und seiner geringeren Wirkung auf die Geschmacksnerven und auf die Absonderung der Verdauungsflüssig- keiten pflegen wir dadurch abzuhelfen, dass wir es mit reizenden Sub- stanzen , mit pikanten Saucen geniessen , wir pflegen Fett hinzu- zufügen u. s. w. Auf diese Weise machen wir einen ausgedehnten Gebrauch davon, und offenbar mit gutem Erfolge , da Dienst- und Arbeitsleute überall Werth darauf legen, nicht nur die Suppe zu bekommen, sondern auch das Fleisch, von dem die Suppe gekocht ist. Wenn wir das Fleisch braten, so pflegen wir es vorher noch längere Zeit nach dem Schlachten aufzubewahren, als dies bei dem Fleische, das für die Suppe bestimmt ist, zu geschehen pflegt. Die Erfahrung lehrt, dass dann das Fleisch beim Braten mürber, dass es zarter wird, und das beruht auf der Säurebildung im Fleische während des Hängens, durch welche das Bindegewebe des Fleisches gequellt wird , so dass es beim Braten sich leichter in Leim verwandelt, als dies beim frisch geschlagenen Fleische der Fall sein konnte. Auch auf das Muskelfleisch selbst wirkt wahrscheinlich die gebildete Säure, denn wir wissen, dass auch die Muskelfasern in verdünnten Säuren aufquellen, wenn sie auch keiner solchen Metamorphose entgegengeführt werden, wie dies bei den leim- gebenden Geweben der Fall. Hiemit hängt es auch zusammen, dass das Fleisch von Thieren, welches beim Braten besonders schwer mürbe wird, z. B. das von alten Auerhähnen, erst in Essig eingebeizt wird und längere Zeit in Essig liegen muss. Der Essig thut hier denselben Dienst in noch energischerer Weise, den beim Hängen des Fleisches die in den Muskeln gebildete Säure leistet. Die Essigsäure wirkt auf das Bindegewebe und in zweiter Eeihe auf die Muskelfasern. Das Braten selbst hat den Vor- theil , dass es die löslichen Bestandtheile erhält , mit Ausnahme des Bruchtheiles, der in die Sauce übergeht, und dass es an der Oberfläche des Fleisches Zersetzungsproducte erzeugt , die erregend auf unsere Geschmacksnerven wirken. Anderweitige Processe, das Fleisch für die Consumtion vorzubereiten, bestehen darin, dass man es räuchert oder selcht, Processe die in ihren Das Fleisch. 277 Zwecken identisch sind, beide darauf hinauslaufen, gewisse Destillations- producte des Holzes dem Fleische einzuverleiben , nur dass dies beim E-äiichern und beim Selchen in verschiedener Weise geschieht. Früher wurde namentlich im Norden von Europa sehr viel geräuchertes Fleisch in rohem Zustande genossen. In neuerer Zeit, seit die Trichinenfurcht sich über Europa verbreitet hat, geschieht dies nicht mehr in derselben Ausdehnung wie früher. Es ist wahrscheinlich, dass das rohe geräucherte Fleisch mindestens einen ebenso hohen , vielleicht einen höheren Nähr- werth hat als das gekochte, und die Erfahrung lehrt auch, dass manche Reconvalescenten früher rohes geräuchertes Fleisch, westphälischen Schinken, vertragen als frisches Fleisch. Wenn dagegen das geräucherte Fleisch noch gekocht wird, so wird es härter, widerstandsfähiger und schwerer verdaulich als das frisch gekochte oder gebratene Fleisch. Es muss das Kranken und schwächlichen Individuen gegenüber berücksichtigt werden. Es geht aber keineswegs daraus hervor, dass das gekochte ge- räucherte Fleisch, abgesehen davon, dass ihm während des Pökeins ein Theil seines Saftes und damit auch Eiweiss entzogen ist, ein schlechteres Nahrungsmittel für sonst gesunde aber nahrungsbedürftige Individuen ist : denn wir haben schon früher gesehen, dass möglicher Weise, das am leichtesten verdauliche Fleisch gar nicht dasjenige ist, welches für den Körper am vor theilhaf testen ausgenützt wird. Es zeigt sich, dass die meisten Leute eine grössere Menge von Fleisch vertragen, wenn sie ab- wechselnd frisches und geräuchertes Fleisch bekommen, als wenn sie nur frisches bekommen. Manche Menschen, die es nicht durchführen können, Mittags und Abends frisches Fleisch zu essen, die davon Diarrhoe be- kommen, können es durchführen. Mittags frisches^ Abends geräuchertes Fleisch oder umgekehrt zu essen. Der Vorwurf, dass, gesalzenes und geräuchertes Fleisch Scorbut erzeuge', gilt nur da, wo ausschliesslich Salzfleisch genossen wird und frisches Fleisch und frische Gemüse fehlen. Einer besonderen Erwähnung verdient noch das Fleisch der Fische. Es enthält alle nahrhaften Bestandtheile des Fleisches der Säugethiere und der Vögel, . aber es hat einen grösseren Wassergehalt. Es kann also vollkommen die Fleischnahrung ersetzen , nur müssen etwas grössere Quantitäten davon eingeführt werden. Dass die Fische die Fleischnahrung vollkommen ersetzen können, das zeigt sich an der Fischerbevölkerung der deutschen Nord- und Ostseeküsten, die das ganze Jahr über, ausser an den höchsten Festtagen , kein anderes Fleisch als Fischfleisch isst, und nichtsdestoweniger sich durch Grösse, Stärke, Arbeitsfähigkeit und namentlich durch Ausdauer in Wind und Wetter auszeichnet. Bei uns im Binuenlande haben die Fische im Allgemeinen Luxuspreise, so dass sie keine wesentliche Eolle bei der Volksernährung spielen. Es könnte dies jedoch an einigen Orten, namentlich an den Seen Oberösterreichs und des Salzkammergutes anders sein. Ein Theil unserer ländlichen Be- völkerung in jenen Gegenden leidet unter dem Maugel an Fleischnahrung. Die Leiite essen nicht gerade wenig, sie hungern nicht, aber sie essen unzweckmässig. Duss sie wirklich durch den Mangel an Fleischnahruug leiden, davon überzeugt man sich am besten, wenn man von Dorf zu Dorf geht und sich überall die Familie des Fleischhauers ansieht. Diese scheint immer einer andern Menschenrace, als die übrige ländliche Be- völkerung anzugehören. Der Fehler wird schon während der Aufzucht 21o Die Vogekdej-. Cerealien. gemacht. Das Fleisch, welches zu Hause in der Familie gekocht und mit den Kindern verzehrt werden sollte , isst der Vater Sonntags im Wirthshause, und die Kinder, denen es vor andern Noth thäte, werden fast ausschliesslich mit vegetabilischer Nahrung und Milch gefüttert, und doch könnten an manchen dieser Seen, z. B. am Attersee, die müssigen Kinder leicht so viel Fische mit der Angel fangen, wie sie zur Regulirung ihrer Ernährung brauchen. Aber die ordinären Fische, die verschiedenen Cyprinusarten, die dort in Menge vorkommen, sind verachtet, weil sie viele Gräten haben. Man überlasst ihren Fang, auch da wo Niemand am Angeln gehindert wird, ja oft da, wo das Haus selbst eine Fischerei- gerechtigkeit besitzt, ausschliesslich den Fischern von Profession, und diese füttern damit Forellen und Saiblinge, um solche um hohen Preis nach Ischl und nach Wien zu verkaufen. Die Yogeleier. Das Volk schreibt den Eiern einen ganz besonderen Nährwerth zu. Wenn wir die Menge der Eiweisskörper in den Eiern mit denen im Fleische vergleichen, so ist dies durchaus nicht gerechtfertigt. Ausser dem Vitellin, dem Eiweisskörper des Dotters, enthält der letztere ein leicht verdauliches Fett. Aber auch das kann die grosse Vorstellung nicht rechtfertigen, welche man sich von dem Nährwerth der Eier ge- bildet hat. Es ist jedoch die Möglichkeit vorhanden, dass die Eier wirk- lich in einer bestimmten Beziehung mehr werth sind als das Fleisch: sie enthalten in ihrem Dotter eine beträchtliche Menge von Lecithin. Nun wissen wir bis jetzt nicht, ob wir dieses in unserem Organismus bilden können, .oder ob wir es in Substanz einführen müssen. Sollte das letztere der Fall sein, dann würde man allerdings dem Eidotter einen besonderen Werth zuschreiben müssen, weil wir mit ihm eine beträchtliche Menge Lecithin in den Organismus einführen. Pflanzliche Nahrungsmittel. Unter den einheimischen Getreidesorten nimmt der Weizen den ersten Platz ein. Er steht zunächst vor allen andern Getreidesorten obenan mit der Menge seiner Eiweissstoffe, indem er im Mittel nach König 123,5, nach Moleschott 135,37 auf 1000 Theile enthält. Er wird an Stärke- mehl, wovon er 568,64 auf 1000 enthält, und an Kohlehydraten über- haupt nur vom Reis und vom Mais übertroffen , und nur der Reis enthält weniger Zellstoff als er. An Fett ist er relativ arm, er enthält nur 18^ pro mille. Einen besonderen Werth erhält der Weizen, wie schon erwähnt, dadurch, dass er einen grossen Theil seiner Eiweissstoffe in Gestalt von Kleber enthält, und deshalb aus ihm das leichteste und poröseste Brod gebacken werden kann. Die Bereitung des Brodes besteht bekanntlich darin, dass aus dem Weizenmehl ein Teig angemacht, dass derselbe gesalzen wird, und dass man ihn dann einem Gährungsprocesse überlasst, vermöge dessen sich Cerealien. 2iv Kohlensäure entwickelt, die den Teig blasig auseinandertreibt, ihn porös macht, dass dann das ganze in eine erhöhte Temperatur gebracht wird, um die Stärke in Kleister, beziehungsweise in Dextrin und Zucker über- zuführeu, um das Brod, wie man sich ausdrückt, gar zu machen. Der mittlere Theil des Brodes bleibt feucht, die Rinde aber trocknet aus, ihre Temperatur steigt auf 120*^ und darüber, und so wird ihr Amylum in ein Gemenge von löslicher Stärke und Erj^throdextrin umgewandelt, wie wir es unter dem Namen des Leiokoms, des gewöhnlichen käuflichen Dextrins, durch Rösten von Stärke bereiten. Deshalb ist auch ein viel grösserer Theil der Rinde im Wasser löslich als von der Krume des Brodes. Es sind also die Laien im Rechte, wenn sie glauben, dass die Rinde des Brodes leichter verdaulich sei als die Krume desselben. Denn in der Krume ist nur das Dextrin enthalten, welches sich beim Säuerungs- processe, beim Gährungsprocesse, bildete und dem Zerfalle in weitere Producte, Zucker, Milchsäure, Alkohol und Kohlensäure entging, in der Rinde aber ist das ganze Amylum durch Rösten verändert. Bei der Gährung des Brodteiges wird ein, wenn auch nicht grosser Theil der Eiweisskörper zerstört. Man hat daran gedacht, dies zu ver- meiden, indem man die Gasblasen, welche den Teig auseinandertreiben sollen, auf andere Weise erzeugt. Man hat dem Brodteige nacheinander kohlensaures Natron und Salzsäure zugesetzt. Auf diese Weise hat man einmal das Kochsalz erzielt, das man dem Teige sonst als solches zusetzt, und zweitens auch die Kohlensäure, welche dazu dient, das Brod porös und leicht zu macheu. Hierauf beruht die Bereitung des englischen Patentbrodes. Es hat dasselbe aber keine grosse Verbreitung gefunden, wenigstens bei uns nicht, weil es einen faden Geschmack hat, weil ihm eben derjenige specifische Geschmack fehlt, welcher dem Brode durch den Gährungsprocess gegeben wird. Nach dem Weizen ist bei uns zu Lande der Roggen zu nennen. Er steht an Eiweisskörpern nicht unbeträchtlich niedriger als der Weizen, mit 107i in 1000 nach Moleschott und 115,2 in 1000 nach König. Er steht an Stärkemehl gleichfalls niedriger, aber nur unbedeutend, mit 555 in 1000 gegen 568,- im Weizen, dafür enthält er eine grössere Menge von Dextrin, 84,7, während der Weizen nur 46^ enthält, aber etwas weniger Zucker als der Weizen, indem der Weizen davon 48^, der Roggen 28f pro mille enthält. Ausserdem enthält der Roggen eine grössere Menge von Zellstoff, 49*, während der Zellstoff des Weizens sich nur mit 32:' berechnet. Der Roggon gibt ferner, weil der Teig, der aus dem Roggenmehl bereitet wird, weniger zähe ist, ein weniger poröses, ein weniger leichtes Brod als der Weizen. Man kann aber nicht sagen, dass dieses Brod denjenigen, die einmal daran gewöhnt sind, nachtheilig sei. Die Vorwürfe, welche namentlich von englischen Schriftstellern dem Roggenbrode gemacht Avorden sind, sind völlig ungerecht. Die Erfahrung von Jahrhunderten hat bewiesen, dass eine Bevölkerung sich bei Roggen- brod gerade so gut eruäbren kann, dass sie eben so stark und so kräftig sein kann, wie bei Weizenbrod, wenn es nur nicht an den übrigen Nahrungsmitteln fehlt. Lii ganzen Norden des europäischen Continents ist das Weizenbrod ein Luxusbrod. Das wesentliche Nahrungsmittel au Brod ist Roggenbrod. Die Kriebelkrankheit , der morbus convulsivus cerealis, die Vergiftung mit Mutterkorn, kommt jetzt, wo der Mühlenprocess 280 Cerealien. besser geregelt und beaufsichtigt, und die Bevölkerung selbst über das Mutterkorn aufgeklärt ist, nur noch selten vor. Dem Roggen reiht sich die Gerste an. In Rücksicht auf die Eiweiss- substanzen steht sie nach König dem Roggen nahezu gleich, nach Moleschott sogar etwas über ihm; aber die Menge des Zellstoffes ist noch bedeutend grösser (97-| in 1000) als beim Roggen und die Menge des Stärkemehls ist geringer, 482| auf 1000 Theile. Die Gerste wird ausnahmsweise und im hohen Norden zu Brod verbacken, oder richtiger gesagt, mit unter das Brod verbacken ; sonst wird sie im Allgemeinen nur als Mehl, als Grütze verbraucht. Dasselbe gilt vom Hafer. Der Hafer steht in Rücksicht auf die Eiweisskörper schon niedriger mit 90|, nach König mit 104 in 1000 und sein Zellstoff steigt schon auf llGi. Der Stärkemehlgehalt ist wieder etwas höher als bei der Gerste, 503-i in 1000. Auch der Hafer wird nur im hohen Norden noch mit unter das Brod verbacken, sonst wird das Mehl desselben nur als solches zu Brei verkocht oder andern Speisen zugesetzt. Vielfältig wird der Hafer zu Grütze vermählen, aus welcher eine vortreffliche Tisane für Kranke gewonnen wird. In Schweden und namentlich in Schottland ist das Hafermehl und die Hafergrütze mehr Nahrungsmittel, als dies in den übrigen Ländern Europas der Fall ist. Hafer und Gerste werden deshalb in den nördlichen Ländern mehr cultivirt, weil sie noch in der kurzen Frist eines nordischen Sommers zur Reife gebracht werden können. In dieser Beziehung müssen wir diesen Getreidesorten noch eine andere Frucht anschliessen, den Buchweizen oder Heiden, das Heiden- korn, angeblich so genannt, weil es die Hunnen mit nach Europa ge- bracht haben sollen. Der Buchweizen geht in seinem Gehalte an Eiweiss- stoffen noch unter den Hafer herunter, er enthält nur 78 auf 1000 Eiweiss- körper, er enthält an Stärkemehl 45 7 in 1000, dabei aber eine fast doppelt so grosse Menge von Zellstoff als der Hafer. Nichtsdestoweniger wird er in grosser Ausdehnung angebaut, weil er eine verhältnissmässig kurze Frist zur Zeitigung gebraucht. Er wird aus diesem Grunde im hohen Norden von Europa angebaut, aber auch bei uns, namentlich in Steier- mark, in grosser Ausdehnung als zweite Ernte. Ein wichtiges Volksnahrungsmittel im Süden von Europa ist der Mais. Der Mais steht an Eiweisskörpern etwa dem Hafer gleich oder noch niedriger. Er steht aber an Stärkemehl über unseren besten Getreidesorten, indem er 637| pro mille Stärke aufweist, und dabei enthält er mehr Fett als irgend eine andere Getreidesorte, er enthält im Mittel b^J^ Fett. Dieser Fettgehalt kann nach Dumas fast auf S*'/^ (87| in 1000) nach Hellrigel sogar über 9% (91,6 in 1000) steigen. Dieser grosse Fettgehalt ist es, welcher den Mais namentlich zum Mast- mittel geeignet macht, welcher ihm aber offenbar auch einen Werth als Nahrungsmittel für Menschen gibt. Bekanntlich ist in einem grossen Theile von Italien der Mais so sehr Volksnahrungsmittel, dass man sagen kann, der Mais sei das eigentliche, das Hauptnahrungsmittel der niederen Bevölkerung. Dem Mais haftet der Vorwurf an , dass er Veranlassung gebe zum Pellagra, zum Mal de sole, aber nicht der Mais an und für sich, sondern der durch einen Pilz verderbte, der einer Krankheit, einer Verderbniss unterworfene^ die man in Italien mit dem Namen Verderame (Grünspan) bezeichnet. Leguminosen. Kartoffeln. 281 Der Eeis steht unter allen Getreidesorten, welche wir erwähnt haben, in Eücksicht auf die Eiweisskörper am allerniedrigsten. Er hat nur etwa 51, nach König 78, pro mille. Dagegen steht er am aller- höchsten in Eücksicht auf Stärkemehl, er enthält davon 823 auf 1000. Ausserdem enthält er noch etwas Dextrin und Zucker. Wir können uns mit keinem natürlichen Nahrungsmittel so entschieden auf Kosten von Kohlehydraten ernähren, als wenn wir Eeis zu uns nehmen, oder richtiger gesagt, unter unseren ISTahrungsmitteln ist kein Naturproduct, mit dem wir Kohlehydrate, insonderheit Stärke, in so concentrirter Form einführen könnten. Damit hängt es aber auch zusammen, dass Bevölkerungen, welche wie die Hindu in der Weise auf den Eeis angewiesen sind, dass dieser Hauptnahrungsmittel und fast ausschliessliches Nahrungsmittel ist, in ihrer physischen Constitution zurückgehen, weil sie nicht die hin- reichende Menge von Eiweisskörpern zu sich nehmen. Neben Fleisch oder anderweitiger stickstoffreicher Nahrung, und in gleichzeitiger Verbindung mit Fett ist aber natürlich der Eeis ein vortreffliches Nahrungsmittel. Die Früchte der Leguminosen sind zwar kein so allgemeines und entschiedenes Volksnahrungsraittel, wie die Getreidesorten, aber sie bilden doch eine wesentliche Hilfe nicht nur wegen der Kohlehydrate, wovon sie etwa 50*^/0 enthalten, grösstentheils Amylum, sondern durch ihren bedeutenden Gehalt an Eiweisskörpern, besonders an Legumin, welches mit dem Amylum zusammen in den Zellen eingelagert ist. Diese Eiweiss- substanzen steigen hier viel höher, als sie bei irgend einer Getreidesorte steigen. Die Erbsen haben 223j- pro mille, die Schminkbohnen 225| und die Linsen sogar 265 pro mille. Die Linsen sind also das stickstoffreichste Pffanzennahrungsmittel, das uns überhaupt zu Gebote steht, und sie sind am meisten geeignet, da wo es an thierischer Nahrung fehlt , diese zu ersetzen. Freilich muss man bei allen diesen Werthbestimmungen berücksichtigen, dass es an genauen Untersuchungen darüber fehlt, wie viel von den stickstoffhaltigen Substanzen im verdaulichen Zustande in der Frucht enthalten sei, und thatsächlich zur Nahrung dienen könne. Klein ist aber die Summe der nährenden Eiweisskörper in den Legu- minosen sicher nicht ; das zeigt die Menge des Legumins, das man direct in Lösung gewinnen kann. Von diesem weiss man sicher, dass es verdau- lich ist, während bei den meisten Getreideanalysen der Gehalt an Eiweiss- körpern, oder wie man jetzt correcter sagt, an stickstoffhaltiger Substanz, aus dem Gehalt an Stickstoff berechnet wurde, indem man annimmt, dass die Eiweisskörper im Durchschnitt 16 p. C. ihres Gewichtes an Stickstoff enthalten. Es kann aber in den Getreidesorten Stickstoff noch in anderen, vielleicht unverdaulichen Verbindungen enthalten gewesen sein. Ausser den Samen der Getreidearten und der Leguminosen ist bei uns in Mitteleuropa und auch im nördlichen Europa die zweite Basis der Volksernährung die Kartoffel. Wenn man die Zusammensetzung der Kartoffeln ansieht, so findet man, dass sie an Eiweisssubstauzen sehr wenig enthalten, nach älteren Angaben nur etwas über 13, nach König 19 pro mille, und dass sie selbst in Eücksicht auf das Stärkemehl niedrig stehen, indem sie nur 154| pro mille enthalten. Es hängt dies mit dem grossen Wassergehalte zusammen, welchen sie verglichen mit den Samen der Getreidearten und der Leguminosen haben. Sie sind also im Allge- meinen ein wenig concentrirtes und ausserdem an Zellstoff ziemlich reiches 2ö^ Gemüse. Nahrungsmittel. Dass sie dennoch die halbe Welt erobert haben, das hängt zusammen mit den Productionsverhältuisseu und den wiederum von diesen Productionsverhältuisseu abhängigen Preisen. Es kann eben in einem grossen Theile von Mittel- und Nordeuropa ein gegebener Nähr- werth auf keine andere Weise so wohlfeil erbaut werden als durch den Kartoffelbau, und deshalb ist die Kartoffel in diesem Theile von Europa eine nothweudige Grundlage der Volksernährung geworden. Alles, was man in früherer Zeit den Kartoft'eln nachtheiliges nachgesagt hat, ist unrichtig. Die Kartoff'elu sind ein gutes und ein vortreffliches Nahrungs- mittel, so lange mau noch ein anderes stickstoffreicheres und ausserdem Eett daneben hat : sie bewähren sich, so lange es an der hinreichenden thierischen Nahrung, bestehe sie in Fleisch oder in Fischen, nicht gebricht. Das zeigt wiederum die Eevölkerung der deutschen Ost- und Nordsee- küsteu, welche Kartoffeln in grösster Ausdehnung geuiesst, der aber dabei noch Fische als thierisches Nalirungsmittel zu Gebote stehen. Auch die Irländer haben sich bei der Kartoffelnahruug im Allgemeinen nicht schlecht befunden, indem sie neben derselben Buttermilch in grossen Quantitäten zu sich nahmen. Vor dem Hereinbrechen der Kartoffel- krankheit bestand die Basis der ganzen Ernährung des armen Irläuders auf dem, Lande wesentlich darin, dass er Kartoffel ass, und dass er Buttermilch dazu trank : er ist dabei gediehen und hat ein sprichwört- lich hohes Alter erreicht. Eine verheerende Seuche, der sogenannte Hungertyphus, brach erst aus, nachdem die Kartoffeln in Folge der Kartoffelkrankheit verdorben waren. Nur eines kann man den Kartoffeln mit Recht nachsagen, dass sie, wenn sie von Jugend auf in grosser Menge genossen werden, weite Bäuche machen, und an ein grosses Volum von Nahruugsmitleln gewöhnen. Das hat sich auch damals in Irland gezeigt. Es wurde von den Engländern sogleich werkthätige Hilfe ge- leistet und Fleisch, Weizenbrod u. s. w. nach der grünen Insel geschickt ; es zeigte sich aber, dass man viel zu kurz gerechnet hatte, weil die Irländer an ein grosses Volum von Nahrung gewöhnt, von diesen nahr- haften und concentrirten Nahrungsmitteln eine viel grössere Menge consumirten als der von Jugend auf mit ihnen ernährte Engländer. Als weitere vegetabilische Nahrungsmittel haben wir die auf ver- schiedene Art zubereiteten Wurzeln und Buben und die Gemüse nament- lich die verschiedenen Arten von Kohl und Kraut, welche wir geniessen, zu erwähnen. Sie sind alle im Verhältnisse Avenig concentrirte Nahrungs- mittel, indem sie bei ihrem grossen Wassergehalte weder hervorragende Mengen von Eiweisskörpern, noch von Kohlehydraten enthalten. Sie werden also auch im Allgemeinen nicht die Grundlage der Volkseruährung bilden, selbst bei uns Deutschen nicht, die wir bei unseren westlichen Nachbarn als Sauerkrautesser bekannt sind ; aber sie unterstützen dieselbe und bringen eine wohlthätige Abwechselung in unsern Tisch, welche uns vor den Uebeln bewahrt, welche eine zu einförmige Ernährung nach sich zieht, und zugleich das beste Heilmittel gegen diese Uebel ist. Dasselbe muss man von den Baumfrüchten sagen. Diese spielen noch weniger als die Gemüse eine wesentliche Rolle in der Ernährung im Gi'ossen und Ganzen. Sie sind, wenigstens in unseren Klimaten, mehr Genussmittel. Abgesehen von der Abwechslung, die sie auf unserem Tische hervorbringen , ist der grosse, der specifische Nutzen für die (icjjohiene Getränke. 2oO Gesundheit, welchen man ihnen zugeschrieben hat, durch nichts bewiesen. Es wird oft behauptet, namentlich von Laien, dass das Obst besonders gesund sei. Manche Eltern, die ihren Kindern aus Aengstlichkeit alles Mögliche entziehen, lassen sie Obst nach Belieben essen, denn Obst, heisst es, ist ja sehr gesund. Das sind Redensarten, die durch nichts begründet sind. Wenn man die Kinder in den Gegenden ansieht, wo sie Obst essen Iiönnen, so viel sie wollen, so sind sie nicht gesünder als die andern, die davon wenig oder nichts bekommen. Der einzige Unterschied ist der, dass sie häufiger an Diarrhoe leiden, allenfalls auch, dass sie schlechtere Zähne haben, was indessen nicht immer zutrifft. Gegohrene Getränke. Wir machen hier billig mit dem ältesten derselben, mit dem Weine den Anfang. Der Wein entsteht a\is dem Traubensafte bekanntlich da- durch, dass ein grösserer oder geringerer Theil des Zuckers, der darin enthalten ist, in Kohlensäure und Alkohol zerfällt. Die Menge des Zuckers, welcher der Zersetzung anheimfällt, und somit der Alkohol- gehalt des Weines, hängt einerseits ab von der Menge des ursprünglich vorhandenen Zuckers, andererseits von der Menge der stickstoffhaltigen Substanzen, die den Gähruugsprocess kürzere oder längere Zeit unter- halten. Es ist viel gestritten Avorden über die Vorzüge und die Nach- theile des Weines. . Es ist viel darüber gestritten worden, ob man den Kindern schon in verhältnissmässig früher Zeit Wein geben dürfe, oder ob man ihnen denselben vorenthalten solle, bis sie erwachsen sind. Es sind dies Fragen, die schwer allgemein zu beantworten sind. In Rücksicht auf die Kinder handelt es sich um die Körperbeschaffenheit der einzelnen, und um die Menge des Weines, welche ihnen verabreicht werden soll. Man kann aber im Grossen und Ganzen fragen : Wie sieht es aus mit der Bevölkerung und dem Gesundheitszustande in denjenigen Ländern, wo der Wein wächst und von dem grössten Theile der Bevölkerung ge- nossen wird, und da, wo er nicht wächst? Da muss man dann sagen, dass man die üblen Folgen des Weines für die Gesundheit häufiger in denjenigen Ländern sieht, in denen der W^ein nicht wächst, als man sie in den Ländern sieht, wo er wächst. In einem grossen Theile der Wein- länder wird der AVeiu nicht häufig im Ueberinasse genossen, weil das Klima nicht dazu auffordert. Aber auch da, wo er wie bei uns, in ver- hältnissmässig bedeutender Menge genossen Avird, sieht man doch die Nachtheile davon weniger, als man sie gerade in denjenigen Ländern sieht, wo der Wein nur einer geringeren Menge a'OU IndiAnduen zugäng- lich ist, Avo er nicht wächst, avo er allerlei Reisen und Proceduren durch- gemacht hat, ehe er an Ort und Stelle ankam. Jedenfalls kann man dem Weine das Gute nachsagen, dass er unter den drei gegohrenen Getränken, Wein, Bier und Branntwein, dasjenige ist, welches noch am wenigsten nachtheilig auf die physischen und moralischen Eigenschaften der Volksmassen geAvirkt hat. Er ist in neuerer Zeit vielfältig durch das Bier verdrängt worden, und man sieht manchmal darin einen wesent- lichen Vortheil, weil man das Bier für besonders nahrhaft hält und in der ^84 Gegohrene Getränke. That auch die Erfahrung lehrt, dass Leute beim Biertrinken im Allge- meinen Fleisch und Fett ansetzen, und dass manche Kranke, welche man auch mit Zuhilfenahme von Wein nicht mehr in die Höhe bringen kann, in ihrer Ernährung durch Bier noch wieder gehoben werden. Man kann, aber nicht glauben, dass es das Bier direct ist, das so ernährt, wenn man bedenkt, dass die nährenden Substanzen, Dextrin, Zucker und Piianzeneiweiss, in guten Bieren fünf bis sechs Procent betragen. Dem Alkohol, der im Körper unvollkommen zersetzt wird, könnte man nur einen höchst untergeordneten Werth als sogenanntes Kespirationsmittel zuschreiben. Der Alkohol ist aber auch im Weine enthalten, wie im Biere ; hier also wo es sich um den grösseren Nährwerth des Bieres handelt, kann er überhaupt nicht in Betracht gezogen werden; aber das Bier ist, ausserdem, dass es ein alkoholisches Getränk ist, ein bitteres Mittel. Bei Individuen also, die sonst ihre Nahrung nicht gut ausnützen lind verdauen, kann das Bier mit dazu dienen, dass sie ihre Nahrung besser ausnützen und auch eine grössere Menge von Nahrung bewältigen. Das geschieht aber nur, so lange das Bier in massiger Quantität genossen wird. Wird das Bier in unmässiger Quantität genossen, dann zeigt sich die gegentheilige Wirkung, die Leute gehen in ihrem Nahrungsbedürfnisse herunter, und nehmen dann auch nicht mehr an Kraft zu, sondern ab. Ich brauche ferner nicht darauf hinzuweisen, dass das Bier mehr als der Wein eine gewisse Schwerfälligkeit des Körpers und des Geistes hervor- bringt, die leider manchmal massenhaft und in sehr ausgeprägter Weise zur Erscheinung kommt. Auch vermindert es, wenn es im Uebermasse genossen wird, in auffälliger Weise die Widerstandsfähigkeit gegen acute Krankheiten, so dass häufig anscheinend kräftige und torose Individuen denselben in kurzer Zeit, und für diejenigen, welche diesen Umstand nicht kennen, in räthselhafter W^eise erliegen. Das dritte, und das mit Recht am meisten verschrieene und ver- folgte gegohrene Getränk ist der Branntwein. Es ist so viel über den Genuss desselben geschrieben und gesprochen worden, und der Streit ist so allgemein in die Laienwelt eingedrungen, dass ich hier nur auf einzelne Punkte aufmerksam machen will. Man entschuldigt bisweilen den Brannt- weingenuss in dem armen Theile der Bevölkerung damit, dass man sagt : Die armen Leute hungern und frieren, sie haben kein Geld, sich Nahrung zu kaufen, und deshalb kaufen sie sich Branntwein, um sich zu erwärmen. Das würde richtig sein, wenn die Verbrennungs wärme des Branntweines grösser wäre, als die Verbrennungswärme des Getreides oder der Kar- toffeln, aus welchen der Branntwein gebrannt worden ist. Das kann aber unmöglich der Fall sein. Wenn das Amylum in Zucker umgewandelt wird, und der Zucker vergährt, so wird dabei Wärme gebildet ; die Maische erwärmt sich bekanntlich nicht unbedeutend, es wird also Wärme frei, es wird lebendige Kraft aus der vorhandenen Spannkraft gebildet, die sich von der ursprünglichen Verbrennungswärme subtrahiren muss. Ausserdem wird ein gasförmiges Product gebildet, die Kohlensäure, welche entweicht ; dazu wird wiederum lebendige Kraft gebraucht. Es ist also ganz unmöglich, dass das Aequivalent von Alkohol eine eben so grosse Verbrennungswärme habe, als die Stärke hatte, aus welcher der Alkohol bereitet wurde. Wenn Sie nun ausserdem berücksichtigen Regiekosten, Steuern, Gewinn u. s. w., so sehen Sie leicht ein, dass der arme Mann Gegohrene Getränke. 2öD seine Wärme in Gestalt von Branntwein ansserordentlich viel theurer bezahlt, als er sie in Gestalt von Brod oder in Gestalt von Kartoffeln bezahlen würde. Der Brauntweingenuss bei der armen nicht arbeitenden Bevölkerung hat keine physiologische, höchstens eine psychologische Ent- schuldigung. Etwas anders verhält es sich bei der arbeitenden Bevölkerung. Diese hat bei der schweren Arbeit häufig nicht die hinreichende Müsse, ihre Nahrungsmittel zu bewältigen, die Menge von Nahrungsmitteln zu bewältigen, welche sie bei der Arbeit braucht und sie nimmt deshalb mit der Nahrung Branntwein zu sich, um bald wieder zur Arbeit auf- gelegt zu sein, um wieder arbeiten zu können, und zugleich auch, iim sich in einen gewissen Aufregungszustand zu versetzen, welcher sie leb- hafter, freudiger zur Arbeit macht, und welcher ihnen auch eine grössere Widerstandsfähigkeit gegen die Einflüsse der Witterung und gegen Stra- pazen gibt. Es hat sich vor vielen Jahren in der preussischen Armee gezeigt, dass die Mitglieder der Mässigkeitsvereine bei Märschen und Uebungen von den Strapazen und den Temperatureinflüssen mehr litten, dass sie häufiger in Folge derselben erkrankten, als die übrigen Soldaten, was aber wohl zum Theile daher rührte, dass ihnen, wie dies aber auch bei dem nordischen Arbeiter der Fall ist, der Wein des Preises wegen unzugänglich war, und sie sich deshalb darauf angewiesen sahen, ent- weder unvermischtes Wasser oder das damals auf dem Lande meist sehr schlechte Bier zu trinken. Wenn man aber auch zugeben muss, dass für die arbeitende Bevölkerung ein massiger Brauntweingenuss nicht gerade- zu schädlich ist, und dass derselbe sie unter Umständen in ihrer Thätig- keit fördert, so kann man doch andererseits nicht in Abrede stellen, dass das, was über die Folgen des übermässigen Brauntweingenusses gesagt und geschrieben wurde, in grosser Ausdehnung begründet ist, und dass man deshalb das Fortschreiten des Bieres gegenüber dem Branntweine im Ganzen als eine Wohlthat für die Menschen ansehen muss. Ich will die Lehre von den Nahrungsmitteln nicht schliessen, ohne noch einige Daten über den täglichen Verbrauch an solchen anzugeben. Nach J. Forst er enthielt die tägliche Nahrung von vier erwachsenen Männern im Mittel 2945,9 Grm. Wasser, 131,2 Grm. Eiweisssubstanzen, 88,4 Grm. Fett und 392,3 Grm. Kohlehydrate. Die Menge der Eiweiss- körper ist möglicher Weise zu hoch angegeben, da sie aus dem Stick- stoffgehalt des Trockenrückstandes berechnet wurde. Es waren in diesen Nahrungsmengen zusammen 312,2 Grm. Kohlenstoff und 20,3 Grm. Stick- stoff. Viel geringere Mittclwerthe gab die Kost von Pfründnerinnen. Hier fand sich 67 Grm. Eiweiss, 38,2 Grm. Fett und 265,9 Grm. Kohle- hydrate. Das 7 Wochen alte Kind eines Arbeiters verzehrte täglich 29,3 Grm. Eiweiss, 19,5 Grm. Fett und 120 Grm. Kohlehydrate. Das im fünften Lebensmonat stehende Kind eines Beamten, das mit conden- sirter Milch genährt wurde, 21,28 Grm. Eiweiss, 18,39 Grm. Fett und 120 Grm. Kohlehydrate, Diese Zahlen illustriren deutlich, wie viel grösser das Nahrungsbedürfniss des Kindes im Vergleiche zu seinem Gewichte ist, denn das 7 Wochen alte Kind des Arbeiters verzehrte täglich 4,5 Grm. Stickstoff und 81 Grm. Kohlenstoff, also an Stickstoff zwischen ~ und -J-, an Kohlenstoff mehr als \ von dem, was ein erwach- sener Mann consumirte. Wenn man nach von verschiedenen Beobachtern gegebenen Daten für erwachsene Männer , die nicht oder doch nicht Alter der Kinder Jahren in 2 3- —5 8- — 9 10- — 11 286 Uoi- Speichel. scliwev arbeiten, das Eiweissbedürfniss auf ein Kilogramm Körper- gewicht berechnet, so findet man, dass es meistens über 1-i Grm. beträgt, aber tinter gewöhnlichen Verhältnissen in unserem Klima 2 Grm. nicht erreicht. Die auf das Kilogramm Körpergewicht berechneten Werthe stellen sich, wenn man nach dem factischen Eiweissyerbrauch von Kindern fragt, wesentlich höher. Die folgende Tabelle enthält in der ersten Columne das Lebensalter der beobachteten Kinder in Jahren, und in den folgenden Columnen die Namen der Beobachter mit den von ihnen berechneten. Eiweissmengen, letztere in Grammen. Beohachter: Camerer Uffelmanu S. Hasse 4,4 4,1 3,8—3,9 3,4 — 3,5 3,6 3,6 — 3,8 2,7 — 2,6 2,9 2,6 2,2—2,6. Die Verdauung. Del* Speichel. Wir haben bis jetzt von den Nahrungsmitteln als solchen gehandelt und gehen nun über zu den Veränderungen, welche sie innerhalb des Körpers erleiden, zu der Lehre von der Verdauung. Der erste Ver- dauungssaft, mit welchem die Nahrungsmittel in Berührung kommen, ist der gemischte Mundspeichel. Auf die Fette und auf die Eiweisskörper scheint derselbe keine besondere Einwirkung zu haben; aber seit einer Eeihe von Jahren ist es durch Leuchs bekannt, dass der Speichel die Stärke in. Dextrin und Zucker umwandelt. Lange Zeit hielt man diesen Zucker für gewöhulichen Stärkezucker, Glycose, bis 0. Nasse zeigte, dass es ein eigenthümlicher Zucker von anderem Reductions- und Drehungsvermögen sei, der aber durch Kochen mit verdünnter Schwefel- säure in Glycose • übergeführt wurde. Er nannte ihn Ptyalose, Nach Musculus und Mering ist die Ptyalose identisch mit der unter Einwirkung der Diastase entstehenden Maltose. Da dieser Zucker secundär in Gly- cose übergeht, und das Wann und Wo hiefür bis jetzt nur unvollkommen bekannt ist, so will ich im Folgenden für das bei der Verdauung der Stärke entstehende süss schmeckende Product einfach den Ausdruck Zucker beibehalten, gleichviel ob es schon Glycose ist oder die primär entstehende Ptyalose. Der Speichel übt seine Wirkung nur laugsam und schwierig aus auf rohe Stärke, dagegen übt er sie bei der Tem- peratur des menschlichen Körpers in sehr kurzer Zeit aus auf gekochte Stärke, auf Stärkekleister, und es ist ja bekannt, dass wir alle Stärke, welche wir geuiessen, entweder im gekochten oder gerösteten Zustande zu uns nehmen. Um sich von der Einwirkung des Speichels auf Stärke- kleister zu überzeugen, nimmt man eine Portion Mundspeichel, setzt dazu etwas dünnen Stärkekleister, schüttelt beides durcheinander und stellt es in ein Wasserbad von 38", Nach kurzer Zeit, schon in den ersten Der Speichel. 287 Minuten, bemerkt man, wenn man die Flüssigkeit lievausnimmt, dass in dei'selben eine Veränderung- eingetreten ist. Man findet, dass sie weniger trüb, weniger undurchsichtig ist, und auch weniger dicklich. Sie ist dünn- jäüssiger, limpider, und wenn man jetzt ansäuert und Jodtinctur hinzu- setzt , so findet man , dass nicht die tiefblaue Färbung der Stärke auftritt, sondern je nach, der Länge und Energie der Einwirkung eine violette oder weinrothe Färbung. Um. Dextrin und Zucker von einander zu trennen, schüttet man, nachdem der Speichel hinreichend eingewirkt hat, eine reichliche Menge Alkohol hinzu ; dadurch wird der grösste Theil der organischen Substanzen des Speichels und das Dextrin gefällt, während der Zucker in dem verdünnten Alkohol in Auflösung bleibt. Mau filtrirt nun, dampft das Filtrat ab, löst in wenig Wasser wieder auf und stellt mit der so gewonnenen Flüssigkeit die gewöhnlichen Zuckerproben an. Man nennt den im Speichel wirksamen Stoff" ein Ferment und war früher zu der Ansicht geneigt, dass eine kleine Menge dieses Speichel- ferments unbegrenzte Mengen von Stärke in Dextrin und in Zucker umwandeln könne, und dass das Speichelferment als solches dabei nicht verbraucht werde. Im Jahre 1871 hat indessen Paschutin gezeigt, dass dem nicht so ist, dass, wenn Speichel schon einmal gedient hat, Stärke in Dextrin und Zucker umzuwandeln, dieser selbe Speichel, wenn man ihn ein zweites Mal zu demselben Zwecke gebrauchen will, schwächer wirkt, als Speichel, der noch keine Stärke in Dextrin und Zucker umgesetzt hat. Er hat auch gezeigt, dass dies keineswegs an der hindernden Wirkung der bereits erzeugten Ümwandlungsproducte liegt. Dieselbe Anschauung, dass eine gewisse Menge von Speichel nur für eine gewisse Menge von Stärke wirksam sein könne, wird auch noch durch andere Versuche bestätigt. Man findet nämlich, dass die Producte, welche man erzielt, sehr verschieden ausfallen, je nach der Menge des Speichels, welche man anwendet. Wenn man eine verhältnissmässig grosse Menge von Speichel und relativ wenig Stärkekleister anwendet, so wird fast gar kein Erythrodextrin erzeugt. Es wird zwar, selbst wenn die ganze Reaction beendigt ist, das Gemenge, wenn man ansäuert und Jodtinctur hinzusetzt, noch roth gefärbt. Diese rothe Färbung rührt aber nicht her von Erythrodextrin, sondern von Ei-ythramylum. Dass sich kein Erythrodextrin in einigermassen merklicher Menge vorfindet, beruht darauf, dass dasselbe durch den Speichel immer sogleich weiter in Achroodextriu und in Zucker umgewandelt wird. Wenn mau dagegen eine sehr geringe Menge von Speichel und eine grosse Menge von Stärke- kleister nimmt, so werden bedeutende Mengen von Erythrodextrin ge- bildet. Es scheint also , dass die erste Wirkiing des Speichels darin besteht, die Stärke in Erythrodextrin umzuwandeln, und dass dann erst, wenn noch disponibles Ferment übrig ist, die weitere Umwandlung von Erythrodextrin in Achroodextriu und Zucker erfolgt. Es ist gestritten worden über die Bedeutung, welche das sogenannte Speichelferraent im Allgemeinen hat. Die Einen haben dem Speichel eine sehr bedeutende Wirkung bei der Verdauung der Amylacea zugeschrieben; sie haben gemeint, dieselben könnten nur dann mit Erfolg verdaut werden, wenn sie recht gut durchgekaut und eingespeichelt sind. Die Andern haben dem entgegen gesagt: Die Wirkung des Speichels ist eine höchst 288 Der Speichel. untergeordnete ; denn die Zeit, während welcher die Amylacea im Munde zerkaut und mit Speichel vermischt werden, ist eine sehr kurze: wenn sie aber einmal verschlungen sind und in den Magen und in den sauren Magensaft hineinkommen, dann hört die Wirkung des Speichels auf, weil zu seiner Wirkung alkalische Eeaction nothwendig ist, weil die saure Reaction, welche im Magen herrscht, die Wirkung des Speichels aufhebt. Sie haben sich weiter darauf gestützt, dass selbst, wenn Amylum in reichlicher Menge genossen wird, sich doch im Magen entweder kein Zucker oder nur Spuren von Zucker finden, während später im Dünn- darme immer beträchtliche Mengen Zucker gefunden werden, so dass man hienach schliessen müsste, dass das Amylum, beziehungsweise der Kleister oder das Dextrin , erst im Dünndarme in Zucker umgewandelt werde. Was die erstere Angabe anlangt, die Angabe, dass die saure Eeaction die Wirkung des Speichels auf die Stärke aufhebt, so ist sie im Allgemeinen richtig. Es ist zwar nicht richtig, dass die Umwandlung durch den Speichel nur vor sich geht bei alkalischer Eeaction, sie geht aber nur vor sich bei alkalischer und bei sehr schwach saurer Eeaction. Wenn man sich zum Ansäuern des Verdauungsgemisches der Chlorwasser- stoffsäure bedient, was man deswegen thut, weil die hauptsächlich wirk- same Säure im Magen die Chlorwasserstotfsäure ist, so findet man, dass bei einem Säuregrade von i pro mille, das heisst in einer Flüssigkeit, die im Liter |- örm. ClH enthält, die Umwandlung noch vor sich geht. Wenn aber der Säuregrad auf 1 pro mille steigt so geht die Umwand- lung nicht mehr vor sich. Ob also die Wirkung des Speichels im Magen sistirt wird oder nicht, hängt von dem Säuregrade, der eben im Magen herrscht, ab. Es ist dieser bei verschiedenen Thieren verschieden. Der Säuregrad ist bei Fleischfressern, also auch bei Hunden, an denen bis jetzt die meisten Versuche gemacht sind, verhältnissmässig hoch, beim Menschen ist er geringer. Was die Angabe anbelangt, dass man auch nach reichlicher Fütterung mit Stärkekleister im Magen gar keinen oder nur Spuren von Zucker finde, so ist diese gleichfalls im Allgemeinen richtig. Ich habe unter sehr vielen Fällen nur in einem einzigen Falle einigermassen erhebliche Mengen von Zucker gefunden. Sonst findet man Spuren und selbst kaum nachweisbare Spuren von Zucker. Da nun im Magen Milchsäuregährung stattfindet, so kann man vermuthen, dass der gebildete Zucker gleich wieder in Milchsäure umgewandelt wird, und das mag auch bis zu einem gewissen Grade der Fall sein. Der aus- schliessliche Grund dieser Abwesenheit von Zucker im Magen bei der Stärkeverdauung kann es indessen nicht wohl sein. Wenn man nämlich dem Futter kleine Mengen von Zucker zusetzt, oder wenn man statt des reinen Stärkekleisters Mehlkleister füttert, Kleister aus Weizenmehl, der an und für sich schon kleine Mengen von Zucker enthält, dann findet man im Magen des Versuchsthieres merklich grössere Mengen von Zucker, und es ist kein Grund vorhanden, dass, wenn der frischgebildete Zucker sofort in Milchsäure umgewandelt wird, nun der in den Magen hineingebrachte nicht auch sollte in Milchsäure umgewandelt worden sein. Andererseits muss bemerkt werden, dass gerade bei reichlicher Fütterung mit Stärke die Menge des Speichels unzureichend gewesen sein kann, so dass es deshalb der Hauptsache nach nur zur Bildung von Dextrin gekommen ist. Doch ist dies schwerlich überall der Fall gewesen. Der Speichel. 289 WO der Zucker ganz oder abgesehen von sehr kleinen Mengen ver- misst würde. Aus dem Allen geht hervor, dass man schwer etwas Allgemeines über die Speichelwirkung im Magen aussagen kann. Bekanntlich ist zu Anfang der Fütterung und zu Anfang des Essens keine so grosse Säure- menge im Magen. Es werden die Ingesta mit dem Speichel hinein- gebracht, es kommt dazu noch der Speichel, der namentlich nach dem Essen gewöhnlich in ziemlicher Menge von Menschen und Thieren hinuntergeschlungen wird. Also zu Anfang kann im Magen eine Um- setzung der Stärke in Dextrin und Zucker stattfinden. Es wird von der Menge des Speichels abhängen, ob hier nur Dextrin, und zwar Erythro- dextrin, allein gebildet wird, oder ob die Veränderung noch weiter fort- schreitet bis zur Bildung von Achroodextrin und Zucker. Aber während diese Bildung sich einleitet und stattfindet, wird auch der Säuregrad im Mageu steigen, und dem entsprechend kann der weiteren Einwirkung des Speichels ein Hinderniss, eine Grenze gesetzt werden. Die chemische Untersuchung des Speichels hat bis jetzt keinen Aufschluss über die Natur des sogenannten Speichelfermentes gegeben. Man hat, indem man den Speichel mit Alkohol fällte, daraus einen flockigen Niederschlag erhalten, dem noch die umsetzende Wirkung an- haftet. Wenn man ihn in Wasser auflöst, so kann man damit noch wieder Stärke in Dextrin und Zucker umwandeln. Man bezeichnete diesen Körper als Speichelstoff oder Ptyalin. Man weiss aber jetzt hin- reichend, dass dies keine einfache Substanz ist, sondern ein Gemenge von Mucin und einer Reihe von unbekannten Körpern. Man weiss, dass die Menge der festen Bestandtheile im Speichel überhaupt sehr gering ist, im Durchschnitte nicht einmal I^q, nur etwa 8 pro mille beträgt. Man weiss, dass darin etwas Ehodankalium (Schwefelcyankalium) ent- halten ist, was man durch Zusatz einiger Tropfen, ein^ sehr verdünnten Lösung von Eisenchlorid zu dem mit Salzsäure bis zur schwachsauren Reaction versetzten Speichel und die dabei entstehende goldgelbe bis orangerothe Farbe nachweisen kann. Aber das gibt keinen Aufschluss über die merkwürdige und schnelle Wirkung, welche der Speichel auf gekochte Stärke ausübt. Wenn man den Speichel mikroskopisch untersucht, so findet man darin eine grosse Menge von abgestossenen Piiasterzellen , von dem geschichteten Pflasterepithel, mit welchem die Mundhöhle ausgekleidet ist. Es sind dies grosse, in ihrer Grundform sechseckige, aber häufig auch sehr unregelmässig gestaltete, schollenförmige Zellen mit einem im Allgemeinen ovalen Kerne. Ausserdem findet man darin die sogenannten Speichelkörperchen. Es feind dies nackte, kugelrunde Zellen, sie haben einen mehrfachen Kern, einen sogenannten Kernhaufen, und sind ganz durchsetzt mit feinen Körnchen, die darin eine lebhafte Molekular- bewegung zeigen. Sie sind beiläufig gesagt eines der besten Probeobjecte und ein Probeobject, das man immer zur Hand hat, wenn man die Güte eines Mikroskopes prüfen will. Ein gutes Mikroskop muss schon bei massiger Vergrösserung die Molekularbewegung in diesen Speichelkörper- chen deutlich zeigen, und bei starker Vergrösserung müssen die Körner noch scharf begrenzt, nicht wie von einem grauen Hofe umgeben er- scheinen. Wenn die Speichelkörper eine Zeit lang unter dem Mikroskope Brücke. Vorlesungen I. 4. Aufl. 19 290 Der Speichel. gelegen haben, so hört die Molekularbewegung auf, die Formen werden unregelmässig, und die Zellen sterben ab. Zum Theil zerplatzen sie auch, stossen einen Theil der Körnchen aus, und die übrigen bleiben dann in ßuhe. Plötzlich kann man diese Veränderung hervorbringen, wenn man electrische Schläge hindurchleitet. Wenn man die Schläge eines Magnet- electromotors hindurchleitet, so zerplatzt ein Theil dieser Speichelkörper- chen, ähnlich wie ein Mollusk, das sich zusammenzieht, sein eigenes Gefässsystem zersprengt, und sein Blut und seine Säftemasse herausspritzt. So tritt auch hier die Flüssigkeit mit den Körnern heraus, die Körner bewegen sich noch eine Zeit ausserhalb und dann kommt Alles zur Ruhe. Aber auch die andern, die nicht zerplatzen, sterben ab unter den Schlägen des Magnetelectromotors, und die Molekularbewegung in ihnen hört auf. Einiges Verständniss über die Katur dieser Zellen bekommt man, wenn man Blut, in dem sich eine hinreichende Menge von farblosen Blutkör- perchen befindet, mit Wasser verdünnt. Dann sieht man die farblosen Blutkörperchen, welche bisher unregelmässig, amöbenartig waren, Fort- sätze ausstreckten und wieder einzogen, kugelrund und den Speichel- körperchen ähnlich werden, und die Körnchen, die bisher im Protoplasma ruhig lagen, und nur die Bewegungen desselben mitmachten, sieht man dieselbe lebhafte Molekularbewegung annehmen, wie die in den Speichel- körperchen. Wenn man nun bedenkt, dass der Speichel doch eine viel verdünntere, an festen Bestandtheilen viel ärmere Flüssigkeit ist, als das Blutplasma und das Blutserum, so sieht man leicht ein, dass das ver- schiedene mikroskopische Yerhalten dieser beiden Arten von Körperchen viel mehr in der Natur des Mediums, in welchem sie sich befinden, als in der Natur der Körper selbst begründet ist. Die Hauptbildungsstätte der Speichelkörperchen scheint die Glandula submaxillaris zu sein. Der gemischte Mundspeichel ist das Secret einer ganzen Eeihe von Drüsen, welche man in Schleimdrüsen und in Speicheldrüsen eintheilt. Die Schleimdrüsen sind kleine, zerstreut liegende, zusammengesetzte, tubulöse Drüsen, welche im submucösen Bindegewebe, beziehungsweise zwischen den Muskeln, welche unmittelbar unter der Schleimhaut liegen, eingebettet sind und die Schleimhaut mit ihren Ausführungsgängen durchbohren. Man theilt diese Drüsen ein in die Glandulae labiales, linguales, buccales, palatinae und pharyngeae, je nach der Region der Schleimhaut, unter welcher sie vorkommen. Man hat sie früher allgemein als acinöse Drüsen beschrieben. Puky Akos hat aber nachgewiesen, dass sie zu den tubulösen Drüsen zu rechnen sind. Bei den eigentlichen acinösen Drüsen, wie es z. B. die Meibom' sehen Drüsen sind, existirt ein verzweigter Ausführungs- gang, und an diesem hängen die secernirenden Elemente in Form von Beeren, von Acinis. Ganz anders aber verhält es sich bei den Schleim- drüsen. Die Schleimdrüsen haben, wie man dies namentlich an den grossen Oesophagealdrüsen des Hundes sehen kann, einen ganz kurzen und meist verhältnissmässig nicht weiten Ausführungsgang, dieser geht über in den secernirenden Drüsenschlauch, der sich sofort mehrfach theilt, und an dem nun die Endstücke theils in Form von länglichen Kolben, theils in Form von Knäufen aufsitzen. Da die Endstücke des Schlauches häufig, sogar meistens, verhältnissmässig kurz und knaufartig sind, so könnte man diese als Acini bezeichnen ; das ist aber deshalb nicht zulässig, weil diese Acini nicht an dem Ausführungsgange aufsitzen, sondern, weil Der Speichel. 291 sie nichts anderes sind als die Endstücke eines tubulösen Systems, von dem sie sich in nichts, auch nicht in der Natur des Epitheliums, unter- scheiden. Wenn man die Drüsen eintheilt in acinöse und tubulöse Drüsen, so muss man dieselben eintheilen nach der Grundform, nach dem Typus, welchen die secernirenden Elemente selbst darstellen, und das Secer- nirende ist hier bei den Schleimdrüsen offenbar nichts anderes, als ein mehrfach verzweigter und in seinen Verzweigungen gewundener Schlauch. Es ist auch die Angabe unrichtig, dass man den eigentlichen Bau der Schleimdrüsen schon vor den Untersuchungen von Puky Akos gekannt habe, dass man sie eben nur des Herkommens wegen mit dem Namen der acinösen Drüsen bezeichnet habe : denn man mag alle Abbildungen ansehen, die von Schleimdrüsen in früherer Zeit gegeben worden sind, sie wurden in allen abgemalt wie eine Weintraube, wie ein verzweigter Ausführungsgang, an welchem die secernirenden Elemente als Beeren aufsitzen. Die von Donders beschriebenen tubulösen Schleimdrüsen am Pylorus, die Glandulae pyloricae, die von ihm richtig als tubulöse Drüsen erkannt wurden, wurden stets als Schleimdrüsen angesehen, die nach einem besonderen Typus gebaut sind, während sie ganz unter den all- gemeinen Typus der Schleimdrüsen gehören, nur dass bei ihnen die Schläuche mehr gestreckt sind, so dass es auf den ersten Anblick in die Augen fiel, dass man es mit einer tubulösen und nicht mit einer acinösen Drüse zu thun habe. Das Epithelium in dem secernirenden Schlauche ist ein Cylinderepithelium, welches in der Mitte nur ein ver- hältnissmässig kleines Lumen übrig lässt, und dessen Kerne der Wand des Drüsenschlauches sehr nahe stehen. Wenn man das Präparat mit Karmin färbt, so färbt sich der Kern sehr schön roth, während die übrige Epithelzelle farblos und glashell durchsichtig bleibt. Das Secret dieser Drüsen ist eine klebrige und fadenziehende Flüssigkeit, klebrig imd fadenziehend eben durch den charakteristischen Stoff, den sie ent- hält, das Mucin, welches sich dadurch charakterisirt, dass es durch Essig- säure aus seinen Lösungen gefällt wird, durch einen Ueberschuss von Essigsäure das Coagulum sich nicht wieder auflöst, wohl aber in Mineral- säuren löslich ist. Zu den Speicheldrüsen rechnet man die Submaxillardrüse , die Parotis und die Sublingualdrüsen. Eine zweifelhafte Stellung nimmt die sogenannte JSTuhn'sche Drüse unter der Zungenspitze ein. Es ist dies ein Drüsenhaufen, den schon Blandin beschrieben, der aber wieder in Ver- gessenheit gerathen, und dann von Nuhn von Neuem und ausführlich beschrieben worden ist. Es ist, wie gesagt, ein Drüsenhaufen, von welchem man nicht recht weiss, ob die einzelnen Elemente desselben zu den Speicheldrüsen oder mehr zu den Schleimdrüsen zu rechnen seien. Aiif eine andere Art von Drüsen zweifelhafter Function hat von Ebner in neuerer Zeit aufmerksam gemacht. Sie liegen unter der Schleimhaut der Zunge in der Gegend der Papillae circumvallatae und der Papilla foliata oder, wie man nach der Conformation des Gebildes beim Men- schen, von der wir später genauer sprechen werden, lieber sagen sollte, Regio foliata, und wurden früher für gewöhnliche Schleimdrüsen gehalten. Von diesen aber unterscheiden sie sich durch die Beschaffenheit ihrer Enchymzellen, Dieselben sind denen der Speicheldrüsen ähnlich, haben ein körniges Protoplasma und sind auch nicht hohe sechskantige Prismen, 19* 292 Der Speichel. wie bei den Schleimdrüsen, sondern mehr polyedrisch gegen einander abgeplattet und um. das enge Lumen zusammengedrängt. Von Ebner nennt diese Drüsen seröse Drüsen. Diejenige Speicheldrüse, an welcher die meisten Untersuchungen angestellt worden sind, ist die Glandula submaxillaris. Sie hat wie die übrigen Speicheldrüsen einen verzweigten Atisführungsgang, an dessen mit sehr schönem und regelmässigen Cylinderepithel ausgekleideten End- stücken die eigentlichen secernirenden Elemente hängen, welche man als Acini bezeichnet, was indessen nicht so wörtlich zu nehmen ist, dass man sich diese Endgebilde etwa als kugelig aufsitzende Beeren am Ende der Ausführungsgänge und somit die Speicheldrüsen als wahre acinöse Drüsen vorstellen müsste. Sie sind gleichfalls verlängert, sind kolbenartig, handschuhfingerförmig, zum Theil verzweigt, und so neben einander gelagert, dass eine möglichst vollständige Raumerfüllung ein- tritt. Das Epithel, welches diese secernirenden Elemente, Acini, der Speicheldrüsen auskleidet , ist dem in den Schleimdrüsen einigermassen ähnlich, aber doch von ihm zu unterscheiden. Erstens sind die Zellen weniger hoch und breiter, zweitens erscheint auch der Inhalt nicht so farblos durchsichtig, wie dies bei den Schleimdrüsen der Fall ist; man findet immer mehr körnige Elemente in dem Protoplasma der Zellen der Speicheldrüsen, als dies bei denen der Schleimdrüsen der Fall ist. Dem ist hinzuzufügen, dass sich in den Submaxillardrüsen Partien befinden, welche in ihrem Bau den Schleimdrüsen völlig gleichen. Vielleicht hat man es hier mit Schleimdrüsen zu thun, deren Ausführungsgänge in die Ausführungsgänge der Submaxillardrüsen einmünden. An der Glandula submaxillaris sind für die Physiologie im Allge- meinen überaus wichtige Versuche von C. Ludwig angestellt worden. Man wusste seit langer Zeit, dass die Absonderung gewisser Drüsen unter dem Einflüsse des Nervensystems steht. Man wusste, dass auf psychische Erregungen hin Weinen eintritt. Man wusste auch, dass Speichelabson- derung eintritt, nicht nur beim Kauen, sondern auch durch Einwirkung schmeckender Substanzen auf die Zunge, ja dass Speichelabsonderung eintritt in Folge psychischer Aff'ecte, durch die blosse Vorstellung von etwas, was gut schmeckt, nicht blos beim Menschen, sondern auch bei Thieren. Es ist bekannt, dass, wenn man einem Hunde ein Stück Fleisch vorhält, er so viel Speichel secernirt, dass ihm derselbe zum Maule herausfliesst. Aber es war durch directe Reizung von Nerven noch keine Drüsenabsonderung erregt worden, als Ludwig diese Versuche zuerst an der Glandula submaxillaris ausführte, indem er ihre Secretionsnerven, von denen, wie wir später sehen werden, die wichtigsten vom Facialis durch die Chorda tympani zu ihr kommen, erregte. Die erste Vorstellung konnte wohl die sein, dass diese Speichelabsonderung durch einen Filtra- tionsprocess eingeleitet werde, dass sich etwa auf Reizung der Nerven die Venen zusammenzögen, die das Blut aus der Glandula submaxillaris zurückführen, dass dadurch ein erhöhter Druck in den Capillaren ent- stehe, und hiedurch mehr Flüssigkeit in die Drüse hineingepresst, und somit mehr abgesondert werde. Die Untersuchungen von Ludwig haben indessen sogleich gezeigt, dass dem nicht so sei. Wenn der Secretions- druck in der Drüse nichts wäre als der fortgepflanzte Blutdruck, so ist es klar, dass er nie höher steigen könnte, als der Druck in der Carotis. Der Speichel. 293 Nun setzte Ludwig ein Manometer in den Ductus Whartonianus , in den Ausführungsgang der Submaxillaris , und das andere Manometer setzte er in die Carotis ein. Das Manometer in der Carotis stieg natür- lich gleich zu seiner ganzen Höhe, das Manometer im Ductus Wharto- nianus stieg ganz allmälig, aber es stieg zu der höchsten Höhe, welche das Quecksilber in der Carotis erreichte, und stieg endlich noch weit über dieselbe hinaus. Der Secretionsdruck war also grösser als der Blutdruck in der Carotis. Später zeigte Bernard auch, dass die Venen sich keineswegs zusammenziehen. Im Gegentheile, wenn man die Vene der Drüse anschneidet, und die Drüse nicht secernirt, so fliesst eine spärliche Menge dunklen Blutes heraus. Wenn man aber dann den Facialis oder die Chorda tympani reizt, und die Drüse zur Absonderung bringt, so fliesst eine reichliche Menge von viel weniger dunklem Blute heraus. Es zeigt dies, dass während der Secretion eine grössere Menge Ton Blut durch die Gefässe circulirt, dass nicht nur die Capacität der Gefässe sich vergrössert hat, das Blut geht auch rascher hindurch, es ist in der Drüse weniger venös geworden, als es wird, wenn die Drüse nicht secernirt. Wir haben bis jetzt keine Erklärung für die Art und Weise, wie die Flüssigkeit aus dem Blute in das Innere der Drüse ge- langt. Wir können nur sagen, dass wir ähnlichen Vorgängen auch anders- wo begegnen. Vergleichen lässt sich dieser Vorgang mit " Bestimmtheit mit keinem physikalischen Vorgange, am ehesten noch mit der sogenannten electrischen Diffusion, wo durch den electrischen Strom Flüssigkeit durch ein Diaphragma hindurchgetrieben wird. Bemerkenswerth ist es, dass, wenn man den Abfluss des Speichels hemmt, und dabei die Drüse zur Secretion zwingt, das Gewebe derselben sich mit Flüssigkeit infiltrirt, auch das Bindegewebe zwischen den Läppchen. Es stellt sich uns noch eine andere wichtige Frage : was geht aus den Blutgefässen in die Drüse ? Wird aus den Blutgefässen der Speichel als solcher abgesondert, oder eine Flüssigkeit, welche die wesentlichen Bestandtheile des Speichels erst in der Drüse vorfindet und aus derselben herausschwemmt? Diese Frage ist gleichfalls von Ludwig in Angriff genommen worden. Er liess die eine Submaxillaris eines Thieres durch directe Reizung der Nerven längere Zeit secerniren, dann tödtete er das Thier und schnitt beide Submaxillardrüsen aus. Er trocknete sie auf dem Wasserbade, wog sie und fand, dass regelmässig diejenige Drüse, welche er durch längere Zeit zur Secretion gezwungen hatte, leichter war. Es war also hiemit der Beweis geliefert, dass während der Secre- tion der Drüse Substanzen aufgelöst und mit dem Speichel aus derselben herausbefördert werden. Das Secret der Submaxillardrüse ist beim Menschen sehr dünn- flüssig, es enthält nur wenig feste Bestandtheile, sein specifisches Ge- wicht beträgt nach Eckhard nur 1,0025 bis 1,0038. Es enthält kein Rhodankalium, hat aber im hohen Grade das Vermögen, Stärkekleistcr in Dextrin und Zucker umzuwandeln. Es ist beim Menschen isolirt zuerst von Eckhard untersucht worden, der ein Röhrchen in den Ductus Whartonianus des lebenden Menschen einführte, das reine Secret auf- sammelte und es so untersuchte. Auf demselben Wege hat Eckhard auch das Parotidensecret untersucht. Es ist etwas reicher an festen Bestandtheilen als das Submaxillardrüsensecret. Sein specifisches Gewicht 294 Der ScMingact. beträgt 1,0044 bis 1,0061. Es enthält Ehodankalium, und das Ehodan- kalium des gemischten Mundspeichels scheint ausschliesslich aus dem Parotidensecret zu stammen. Es hat gleichfalls für sich allein schon im hohen Grade das Vermögen, Stärkekleister in Dextrin und Zucker um- zuwandeln. Das Secret der Sublingualdrüsen hat beim Menschen bis jetzt nicht für sich allein aufgefangen und untersucht werden können. Der Sehlingaet. Nachdem die Speisen eingespeichelt worden sind, werden sie in der Mundhöhle zu einem Bissen formirt, und dieser wird verschlungen. Das geht in folgender Weise vor sich. Zunächst sammelt man die Bestand- theile des Bissens auf der Mitte der Zunge, dann wird der vordere Theil der Zunge mehr nach oben gedrückt , und der hintere Theil gesenkt, dabei gleitet der Bissen auf die Zungen wurzel hinunter. Jetzt, wenn der Bissen im Isthmus faucium anlangt, handelt es sich darum, einerseits den Weg in den Kehlkopf zu verschliessen, und andererseits den Weg in die Nasenhöhle, den Weg durch die Choanen, zu verschliessen. Der Weg in den Kehlkopf wird dadurch verschlossen, dass sich der Kehl- deckel herablegt, indem sich zugleich die Zungenwurzel nach hinten und unten senkt, und so schon den Kehldeckel gegen den Kehlkopfeingang hindrängt. Wir werden ausserdem später sehen, dass eigene Muskeln vor- handen sind, vermöge welcher der Kehlkopfeingang verschlossen werden kann. Von dem Wege durch die Choanen nahmen schon die alten Ana- tomen und Physiologen an, dass er verschlossen wird durch die soge- nannte Gaumenklappe, dadurch, dass der weiche Gaumen nach hinten und oben gezogen wird, dass er sich gegen die Pückwand des Pharynx anlehnt, und auf diese Weise einen A.bschluss gegen die Nasenhöhle zu Wege bringt. Da trat Dzondi mit der Behauptung auf, dass der Ver- schluss der Nasenhöhle auf andere Weise zu Stande komme. Er be- hauptete, dass sich die hinteren Gaumenbögen, die Arcus palatopharyngei, von beiden Seiten coulissenartig vorschöben, so dass zwischen ihnen ein Spalt gebildet wird, dass dieser Spalt sich endlich verschliesse, indem die Gaumenbögen vollständig aneinanderrückten, dass sie dadurch ein planum inclinatum bildeten, an welchem der Bissen herunterglitte. Er stützte sich darauf, dass man, wenn man den Pinger zwischen die hinteren Gaumenbögen bringt, und dann Schlingbewegungen intendirt, fühlt, wie von beiden Seiten die hinteren Gaumenbögen gegen den Pinger heran- rücken und denselben berühren. Diese Angabe ist richtig, aber der Schluss, den Dzondi daraus gezogen hatte, war unrichtig. Der Verschluss kommt in der That so zu Stande, wie es bereits die alten Anatomen und Physiologen angenommen haben. Es ist dies jetzt ganz unbestritten, und ich habe schon vor einer langen Reihe von Jahren einmal Gelegen- heit gehabt , mich an einer Operirten meines verstorbenen Freundes Schuh zu überzeugen, dass der weiche Gaumen sich wirklich an die Rückwand des Pharynx anlegt. Es war derselben eine Geschwulst ex- stirpirt worden, und behufs der Exstirpation hatte in der Oberkiefer- gegend eine Wunde gemacht werden müssen, vermöge welcher man von oben her auf den weichen Gaumen sehen konnte, wenn derselbe gehoben wurde. Wenn nun die Frau einen festen Bissen schlang, oder wenn man Der Schlingact. 295 ihr auch nur etwas zu trinken gab, so sah man sehr deutlich von oben- her, wie sich das Gaumensegel hob, wie sich dasselbe gegen die Rückwand des Pharynx anstemmte und auf diese Weise den Verschluss zu Stande brachte. Das coulissenartige Vorrücken der hinteren Gaumenbögen, wie es Dzondi beschrieben hat, findet auch statt; jedoch nicht in der Weise, dass die freien Ränder der Gaumenbögen wirklich einander berühren ; es bleibt noch ein ziemlich weiter Spalt zwischen ihnen. Die Mechanik ist folgende. Bekanntlich kommen die beiden Levatores palati mollis in der Mittellinie des weichen Gaumens zusammen. Sie sind dabei in ihrem Verlaufe schräg von hinten und oben und aussen nach vorn, unten und innen gerichtet. Wenn Sie sich dieselben projicirt denken auf die Mittel- ebene des Körpers, so verlaufen sie schräg von hinten und oben nach vorn und unten. Die Musculi palatopharyngei , die in den hinteren Gaumenbögen verlaufen, kommen gleichfalls im weichen Gaumen zusammen und, nach abwärts gelangt, an der Eückwand des Pharynx, nähern sie sich mit ihren unteren Ausläufern einander. Sie verlaufen also, so lange das Gaumensegel herabhängt, von oben und vorn nach unten und hinten, wenn Sie sich dieselben auf die Mittelebene des Körpers projicirt denken. Wenn nun der Levator palati mollis sich jederseits zusammenzieht, hebt er das Gaumensegel nach hinten und oben. Die Musculi palatopharyngei sind insofern seine Antagonisten, als sie das Gaumensegel nach abwärts ziehen , sie haben aber eine Componente , welche gleichsinnig wirkt mit dem Levator palati mollis, nämlich eine Componente. welche von vorn nach hinten zieht. I^un ist der Levator palati mollis bekanntlich vielmals stärker als der Musculus palatopharyngeus, also die Componente, die dem Levator entgegenwirkt, wird sofort aufgehoben, sowie sich der Levator contrahirt, aber die andere, die gleichsinnig wirkende bleibt. Wenn sich daher mit dem Levator gleichzeitig auch die Musculi palato- pharyngei zusammenziehen, so helfen sie das Gaumensegel nach hinten gegen die Eückwand des Pharynx hin befördern. Da sie aber im er- schlafften Zustande gekrümmt in den hinteren Gaumenbögen liegen, müssen diese hinteren Gaumenbögen sich jetzt gerade richten, indem die Musculi palatopharyngei angespannt werden, und daher rührt es, dass die hinteren Gaumenbögen sich beim Schlingact coulissenartig von beiden Seiten vorschieben. Einen wesentlichen Beitrag zur Mechanik des Verschlusses der Gaumenklappe hat Passavant gegeben. Er hat nämlich gezeigt, dass die Eückwand des Pharynx einen Wulst hervortreibt, so dass dadurch die Gaumenklappe sie leichter erreichen und sich leichter an sie anlegen kann. Dieser Wulst kommt bei der Contraction des Constrictor pharyngis superior zu Stande. Es wird Ihnen bekannt sein, dass eine Portion des Constrictor pharyngis superior von einem Hamulus pterygoideus zum andern herübergeht, mithin bogenförmig hinter der Eückwand des Pharynx verläuft. Diese Portion zieht sich mit dem übrigen Constrictor pharyngis superior zusammen, und da sie in den Hamulis pterygoideis zwei feste Punkte hat, so wird der Bogen abgeflacht, und dadurch wird an der Eückwand des Pharynx ein Wulst hervorgetrieben, an welchen sich die gehobene Gaumenklappe mit Leichtigkeit anlegen kann. Indem sich nun die Wurzel der Zunge hebt, indem das ganze Zungenbein und der Kehlkopf gehoben wird, wird der Bissen über die 296 Die Speiseröhre. Wurzel der Zunge und über den Kehlkopf hinübergeschoben. Er befindet sich jetzt in der Gewalt der Constrictores pharyngis, welche ihn weiter nach abwärts und in den Oesophagus hinabtreiben. Im Oesophagus läuft nun eine Contractionswelle ab, indem sich derselbe über den Bissen zusammenschnürt, um den Bissen herum die Längsfasern sich verkürzen, und über demselben die Eingfasern sich zusammenziehen, so dass auf diese Weise der Bissen bis in den Magen hinabgetrieben wird. Bei manchen Thieren, z. B. bei Schwänen, Gänsen, Enten u. s. w., kann man nach den Untersuchungen von Ludwig von jeder Stelle des Oeso- phagus aus Zusammenziehungen auslösen, die dann von der gereizten Stelle ablaufen. Beim Menschen aber werden immer nur vollständige Schlingacte ausgelöst, so dass, wenn der Bissen irgendwo im Oesophagus stecken geblieben ist, der Schlingact wieder von vorn angefangen werden muss. Beim Menschen wird nach den Untersuchungen von Kronecker und Folk der Hauptimpuls für die Fortschaifung des Bissens, beziehungs- weise der geschluckten Flüssigkeit, durch das vorerwähnte Heben der Zunge sammt dem Kehlkopfe und den dadurch erzeugten positiven Druck hervorgebracht, und das Hinabgleiten erfolgt mit bedeutender Geschwindig- keit, so dass flüssige Massen nach ihnen geradezu hinabgespritzt werden. Man muss hiebei berücksichtigen, dass nach den directen Untersuchungen von Mikulitsch der Brusttheil des Oesophagus für gewöhnlich eine oifene Röhre bildet. Nach den Untersuchungen von Mosso setzt sich im Oesophagus die Contraction über durchschnittene Stellen fort, und sie überspringt solche, die durch seitliches Abschneiden der zutretenden Nerven gelähmt sind, indem der ganze Schlingact im Nervensystem prästabilirt ist. Die Speiseröhre. Durch den Schlund und durch den Oesophagus setzt sich das ge- schichtete Pflasterepithel fort, welches wir bereits in der Mundhöhle kennen gelernt haben. Es ist nach dem allgemeinen Typus der geschich- teten Piiasterepithelien gebaut. Die untersten Zellen sind die höchsten, nähern sich der Form des sogenannten Cylinderepithels ; dann kommen polyedrische Zellen und oben kommen platte Zellen, wie in allen ge- schichteten Pflasterepithelien. Darunter liegt das eigentliche Schleim- hautgewebe, Bindegewebe mit dem Capillarnetz der Schleimhaut und den Nerven, welche bis unmittelbar unter das Epithel gelangen. Auf der Grenze zwischen dem eigentlichen Gewebe der Schleimhaut und dem submucösen Bindegewebe liegt durch den ganzen Oesophagus hindurch ein System von glatten Muskelfasern, welche nach der Länge verlaufen. Sie bilden kein zusammenhängendes Lager, keine Muskelhaut, sondern sind in einzelne Längsbündel, in einzelne Längsstränge getheilt. Es ist dies der Anfang des submucösen Muskellagers, welches wir später im Magen und im Darmkanale kennen lernen werden. Darauf folgt das sub- mucöse Bindegewebe, ein im Oesophagus sehr reichliches, sehr weiches und zugleich verschiebbares Bindegewebe, in welchem zum Theile die Körper der Schleimdrüsen des Oesophagus liegen, die ganz ebenso gebaut sind wie die Schleimdrüsen der Mundhöhle und mit ihren Ausführungsgängen die Schleimhaut durchbohren.' Nach aussen von diesem submucösen Der Magen. 297 Bindegewebe liegt das eigentliche Muskelsystem des Oesophagus, eine innere Ringfaserschicht iind eine äussere Längsfaserschicht. Wenn die Ringfaserschicht sich im einigermassen contrahirten Zustande befindet, wie dies im Halstheile für gewöhnlich der Fall ist, so ist die Schleim- haut in Längsfalten gelegt, und verschliesst so das Lumen der Speise- röhre. Die Faltenbildung erfolgt mit grosser Leichtigkeit wegen der reichlichen Menge von verschiebbarem Bindegewebe, welches die soge- nannte Tunica nervea oder das submucöse Bindegewebe zusammensetzt. Wenn Sie sich also durch den Halstheil des Oesophagus in seinem ge- wöhnlichen Zustand einen Querschnitt hindurchgelegt denken, so würde die Schleimhaut durch die Längsfalten, in welche sie gelegt ist, in diesem Querschnitte einen Stern darstellen. Die Muskulatur des Schlundes und des Oesophagus ist in den verschiedenen Regionen verschieden zusammen- gesetzt. Im Halstheile des Oesophagus besteht noch fast die ganze Mus- kulatur aus quergestreiften Muskelfasern. Diese schwinden aber, wenn der Oesophagus in die Brusthöhle eintritt, und werden durch glatte oder organische Muskelfasern ersetzt, so dass nach den Untersuchungen von Gillette im mittleren Theile des Oesophagus überhaupt keine quer- gestreiften Muskelfasern vorkommen. Dann kommen aber im unteren Theile des Oesophagus, in der Nähe des Foramen oesophageum, wieder quergestreifte Muskelfasern vor. Diese sollen aber grösstentheils dem sogenannten Musculus phrenooesophageus angehören. Der Magen. Der Magen besteht aus folgenden Schichten : Erstens aus der Schleimhaut, zweitens aus dem submucösen Mukellager, drittens aus der Tunica nervea seu vasculosa oder dem submucösen Bindegewebe, — Diese Schicht wurde von den alten Anatomen als Tunica nervea seu vasculosa bezeichnet, weil die grossen Blutgefässe und diejenigen Nerven, welche der damaligen Zeit allein zugänglich waren, sich in ihr befanden. Nach aussen davon folgt das Ringmuskellager des Magens, auf dieses das Längsmuskellager und darauf der Peritonaealüberzug. Die Schleimhaut des Magens hat ein Cylinderepithel. Das Pfiasterepithel der Speiseröhre hört in der Cardia mit einem gezackten Rande auf und wird von nun an durch ein Cylinderepithel ersetzt, welches von hier an durch den ganzen Darmkanal bis zum After hin fortläuft. Die Schleimhaut des Magens ist sehr reich an Drüsen ; diese sind in derselben so dicht ge- stellt, dass man sagen könnte, die ganze Schleimhaut des Magens sei eine grosse fläch enartig ausgebreitete Drüse. Aber diese Drüsen sind nicht von einerlei Art. Es kommen im Magen zwei Arten von secer- nirenden Drüsen und ausserdem peripherische Lymphdrüsen vor. Die letzteren sind klein und wenig zahlreich, sie liegen unter der Schleim- haut und führen den Namen der Glandulae lenticulares. Die secernirenden Drüsen sind erstens die Magensaftdrüsen, die sogenannten Pepsindrüsen oder Wasmann'schen Drüsen, und zweitens Schleimdrüsen, die sich an zweierlei Orten im Magen finden, in einer ringförmigen Zone an der Cardia und in bedeutender Ausdehnung in der Regio pylorica. Die ganze übrige Partie des Magens ist beim Menschen mit den sogenannten Pepsin- drüsen besetzt. Diese sind tubulöse Drüsen, welche senkrecht gegen die 298 Der Magen. Fig. 38. Pig. 39. Oberfläclie der ScMeimhaut gestellt sind, deren Schläuche ziemlich gerade verlaufen, und die meist zu vieren mit einander in eine kleine, mit Cylinderepithel ausgekleidete Grube einmünden. Auch in den obersten Theil der einzelnen Drüsen setzt sich dieses Cylinderepithel noch fort, in den tieferen Theilen aber gibt es zweierlei Zellen : Erstens Zellen, welche ihrer Form und ihrem mikroskopischen Verhalten nach noch den Cylinderzellen, die sich im Halstheile befinden, ähnlich sind, aber niedriger und schwerer zu beobachten. Nach aussen von denselben befinden sich andere mehr rundliche, zum Theil auch polyedrisch gegen einander ab- geplattete, verhältnissmässig grosse Zellen, mit einem körnigen Inhalte. KöUiker hat zuerst diese zwei Arten von Zellen unterschieden, dann sind sie von Heidenhain und von Rollet näher untersucht worden. Eollet bezeichnet die nach aussen liegenden grossen Zellen als delo- morphe, die nach innen gegen die Axe liegenden als adelomorphe Zellen. Fig. 38 zeigt nach Heidenhain eine Magensaftdrüse eines nicht in der Verdauung befindlichen Hundes, die dunklen Zellen aa sind die delo- morphen, die lichten Zellen bb die adelomorphen. Zwischen diesen Drüsen verlaufen Capillargefässe, welche dieselben umspinnen und ihnen die Flüssigkeit zuführen, welche sie zur Secretion gebrauchen. Unmittelbar unter der Ober- fläche, zwischen den gemeinsamen Gruben, in welche die Gruppen von Drüsen ein- münden, verlaufen grössere Gefässe, Venen, so dass die Arterien in der Tiefe der Schleim- haut capillar zerfallen, die Capillaren die secernirenden Schläuche umspinnen und sich oben wieder in Venen sammeln , welche nun unmittelbar unter der Oberfläche ein dichtes und beträchtliches Netzwerk bilden. Es ist dies deshalb von einer gewissen praktischen Wichtigkeit, weil man daraus sieht, dass, wenn Erosionen, auch oberfläch- liche, an der inneren Oberfläche des Magens stattfinden, dabei nicht, wie bei Abschürfun- gen an der äusseren Körperoberfläche, nur Capillaren verletzt werden , sondern, dass durch solche Erosionen sogleich eine Menge von kleinen Venen verletzt wird. Die Schleimdrüsen sind im Allgemeinen nach dem gewöhnlichen Typus der Schleim- drüsen gebaut, nur dass bei den Glandulis pyloricis die einzelnen Schläuche mehr gestreckt liegen, als dies sonst bei den Schläuchen der Schleimdrüsen der Fall zu sein pflegt. Sonst pflegen auch die eigentlichen secernirenden Schläuche der Schleimdrüsen meist unter der Schleimhaut zu liegen und die Schleimhaut nur mit dem Ausführungsgange zu durchbohren. Die Glandulae pyloricae liegen aber in ähnlicher Weise wie die Pepsindrüsen innerhalb der Schleim- haut, so dass das submucöse Muskellager unter ihnen weggeht, und sie geben mit ihren verzweigten Schläuchen und verhältnissmässig weiten Ausführungsgängen solche Bilder, wie sie schon Donders frühzeitig und Die Magenverdauung. 299 richtig von ihnen geliefert hat (siehe Pigur 39). Sie sind mit einem Cylind erepithel ausgekleidet, ganz ähnlich dem, wie es auch die übrigen Schleimdrüsen zeigen. Die Längsfasern des submucösen Muskellagers sind die Fortsetzung der submucösen Längsfasern des Oesophagus. Es kommen aber zahlreiche neue hinzu ; erstens, weil ja das Lumen des Magens viel grösser ist, und zweitens, weil sich dieses Muskellager stärker entwickelt. Es kommen auch Ringmuskelfasern hinzu, aber Längs- und Ringmuskelfasern sind hier im Magen noch nicht streng yon einander geschieden, sie durch- flechten sich noch mattenartig. Erst wenn man den Pylorus passirt, treten zwei getrennte Schichten im submucösen Muskellager auf, ein inneres Eing- und ein äusseres Längsmuskellager. Auf die Muskellager folgt das Peritonaeum, ein bindegewebiger Ueberzug, in dem wie in anderen serösen Häuten ein feines elastisches Fasernetz liegt, und der von einem ungeschichteten Päasterepithelium bekleidet ist. Die MagenYerdauimg. Verdauungsversuche an lebenden Thieren wurden schon von den Mitgliedern der Accademia del cimento angestellt, und zwar in der Weise, dass sie Nahrungsmittel in durchlöcherten Röhren in den Magen brachten und diese nachher untersuchten. Sie fanden schon, dass der Inhalt solcher Röhren sich erweichte und nach und nach verschwand. Da sie aber zu ihren Versuchen vorzugsweise körnerfressende Vögel benutzten, welche bekanntlich eine sehr starke Muskulatur und eine starke Hornschicht im Magen haben, mit der sie die Körner zermalmen, gewissermassen im Magen kauen, so war der Verdacht nicht ausgeschlossen, es könnten hier auch mechanische Kräfte in Action getreten sein. Der Inhalt konnte beim Quellen durch die Löcher der Röhren hervorgedrungen und abgerieben worden sein, und auf diese Weise war unzweifelhaft auch ein Theil des Inhaltes aus den Röhren verschwunden. Die Frage nach der Auflösung der Nahrungsmittel im Magen wurde erst vollständig von Reaumur ent- schieden. Er wendete bei seinen Versuchen Raubvögel an, denen er auch Nahrungsmittel, die in Röhren eingeschlossen waren, in den Magen hinein- brachte. Er hatte hiebei den Vortheil, dass diese Thiere nach kürzerer oder längerer Zeit, gewöhnlich nach 24 Stunden, diese Röhren wieder aus- spieen, wie sie bekanntlich überhaupt dasjenige, was sie nicht verdauen, Federn, Haare u. s. w., in einen Ballen geformt, wieder , auszuspeien pflegen. Reaumur konnte hier auf das Bestimmteste feststellen, dass eine chemische Auflösung stattfinde, und zwar wurden von seinen Raub- vögeln auf chemischem Wege nicht nur Fleischstücke, sondern selbst Hühnerknochen verdaut. Er Hess die Thiere auch Schwämme verschlingen, zog dieselben dann wieder an Fäden, die er daran angebracht hatte, heraus und sammelte auf diese Weise eine Portion Magensaft. Er wollte damit künstliche Verdauungsversuche anstellen, er wollte ausserhalb des Magens mit dem Secrete des Magens verdauen. Dies gelang ihm aber noch nicht. Einen Versuch, wie ihn Reaumur an Vögeln angestellt hatte, stellte ein schottischer Arzt Namens Stevens am Menschen an. Er fand einen Gaukler, der Steine verschlang und sie wieder von sich gab, und diesen benutzte er dazu, um ihm auch durchlöcherte Röhren bOO Die Magenvordauung. und Kapseln mit eingeschlossenen ISTahrungsmitteln einzugeben, und diese nach der Zeit von einigen Stunden wieder ausspeien zu lassen. Er fand entsprechend den Resultaten von Eeaumur, dass auch hier die IS'ahrungs- xnittel verdaut wurden. Spallanzani aber war der erste, dem die Ver- dauung ausserhalb des Magens, dem die künstliche Verdauung gelang. Er erhielt seinen Magensaft auch dadurch, dass er Thiere, namentlich Vögel, Schwämme verschlingen Hess, und mit diesen Schwämmen dann den Magensaft wieder herausbeförderte, während später Tiedemann und Gmelin, die ähnliche Versuche anstellten, den Magensaft dadurch erhielten, dass sie den Thieren Kieselsteine in den Magen brachten, sie hinterher tödteten und den Magensaft benützten, welcher durch den mechanischen Reiz zur Absonderung gebracht worden war. Hier in Wien erhielt Dr. Helm dadurch Gelegenheit, Verdauungsversuche anzustellen, dass eine Hauersfrau aus Breitenweida in Unterösterreich, welche eine Magenfistel hatte, in seine Behandlung kam. Die Fistel liess sich er- weitern, und er konnte nun Nahrungsmittel hineinbringen, theils in Beuteln, theils in durchlöcherten Kapseln eingeschlossen, und konnte auf diese Weise sich überzeugen, wie die Substanzen im Magen chemisch aufgelöst wurden. Er stellte vergleichende Versuche über eine Reihe van Nahrungsmitteln an, und stellte dann auch an sich selbst und an einem zu diesem Zwecke gemietheten Individuum Versuche in der Weise an, dass beide durchlöcherte Kapseln mit Nahrungsmitteln verschlangen, und er die Veränderungen untersuchte, welche die Nahrungsmittel darin eingegangen waren, wenn sie endlich durch den After wieder abgingen. Ganz ähnliche Versuche, wie sie Helm an der Hauersfrau anstellte^ stellte der amerikanische Arzt Beaumont an einem canadischen Jäger an, der durch einen Schuss verwundet worden war und gleichfalls eine Magenfistel bekommen hatte. Er kam dabei in Rücksicht auf die Zeit der Verdauung im Wesentlichen zu denselben Resultaten, zu welchen Helm gekommen war. Daraufhin legte ein russischer Arzt Namens BassoW; wie ich nebst anderen historischen Daten aus Milne Edward's Legons sur la physiologie et l'anatomie comparee entnehme, zuerst einem Hunde eine Magenfistel an, machte an ihm eine Reihe von Verdauungs- versuchen, und empfahl dieses Verfahren, welches später von Blondlot und Anderen vielfach angewendet worden ist. Man verfährt dabei nach Bardeleben am besten so, dass man vom Processus xiphoideus nach abwärts einen Schnitt durch die Bauchdecken macht, dann die Wand des Magens, ohne sie zu durchschneiden, vorzerrt, in die Wunde hinein- näht und jetzt einen Verband anlegt. Es tritt Gangrän der Magen wand ein, und auf diese Weise bildet sich eine Magenfistel. Man zieht die Wand des verschlossenen Magens in die Wunde, damit sich ringsum eine Verlöthung bilde; wenn sich diese bereits gebildet hat, tritt die perforirende Gangrän ein, und nun erst stellt sich die Fistel her, ohne dass Magencontenta in die Bauchhöhle gelangen könnten. Hinterher wird sie mit Pressschwamm erweitert und es wird dann eine weite Canüle eingelegt. Es sind zu diesem Zwecke verschiedene '^Canülen an- gegeben worden. Eine der einfachsten ist die von Bardeleben, welche in einer kurzen Röhre besteht, die oben einen breiten Rand, eine Krampe trägt, welche das Durchrutschen derselben durch die FistelöfFnung und in den Magen hinein verhindert. Nachdem man sie eingebracht hat. Die Magenverdauung. 301 legt man ein paar an ihren Bändern gut geglättete Doppelhaken ein, die man aus der Fläche nach gebogenen Silberblechstreifen hergestellt hat. Wenn man diese durch einen Kork- oder Kautschukstöpsel, der die Canüle verschliesst, an die Wand derselben anpresst, so verhindern sie das Herausfallen. Es wird das Ganze durch einen Verband geschützt, damit der Hund nicht, wie er es sonst gerne thut, den Stöpsel heraus- zieht und an der Canüle herumzerrt. Will man die Fistel benutzen, so wird der Verband abgenommen, der Stöpsel herausgezogen, nach Um- ständen zu verdauende Substanzen eingebracht oder Magensaft oder Magencontenta herausgelassen. Bei allen diesen Versuchen lernte man, abgesehen von einer Beihe von Einzelerfahrungen, im Grunde genommen doch nicht viel mehr als das, was schon Beaumur gewusst hatte, dass die Speisen im Magen verdaut, und zwar dass sie auf chemischem Wege aufgelöst werden, dass sie aufgelöst werden durch den sauren Magensaft, der im Magen ab- gesondert wird. Wesentliche Fortschritte machte die Lehre von der Ver- dauung erst, als man den Weg von Spallanzani wieder betrat, den Weg der künstlichen Verdauung, wie es Wasmann und wie es Schwann thaten. Es zeigte sich, dass sich im Magen eine eigenthümlich wirksame organische Substanz befindet, welche die Eiweisskörper auflöst, und die Schwann mit dem Namen des Pepsins belegt hat. Sie äussert Wirkun- gen nur, wenn zugleich saure Beaction, und zwar saure Beaction von einem gewissen Grade vorhanden ist. Eine durch Maceration der Magen- schleimhaut in verdünnter Chlorwasserstoffsäure dargestellte künstliche Verdauungsliüssigkeit verdaut in derselben Weise, wie der natürliche, von dem Thiere selbst abgesonderte Magensaft verdaut. Es war auch leicht nachzuweisen, dass es nicht die blosse Säure ist, welche die Eiweiss- körper auflöst, denn gegen die meisten Eiweisskörper verhält sich 'eine blos verdünnte Säure von demselben Grade wesentlich anders, wie dieser künstliche Verdauungssaft. Wenn man die Labdrüsenschicht irgend eines Thieres, gleichviel, ob nüchtern oder in der Verdauting, abpräparirt und dann mit Salzsäure , die 1 Gramm CIH auf 1 Liter Wasser enthält, macerirt, so erhält man eine solche Verdauungsflüssigkeit. Vergleicht man die Wirkung derselben mit der blos verdünnter Chlorwasserstoff- säure von demselben Säuregrade, so findet man, dass sie rohes Fibrin verhältnissmässig rasch, oft schon in 10 Minuten auflöst, während dasselbe Fibrin in der verdünnten Salzsäure nur aufquillt, aber sich nicht sofort auflöst, bei kühler Temperatur Tage lange unaufgelöst bleibt, und erst dann langsam zerfällt. Wenn man Weisses von hartgekochten Eiern in beide Flüssigkeiten hineinlegt, so bleibt es in verdünnter Salzsäure ganz unverändert, während es sich in der künstlichen Verdauungsflüssigkeit, wenn auch viel langsamer als das rohe Fibrin, auflöst. Wenn man in beide Flüssigkeiten rohes Bindfleisch hineinlegt, so löst sich dieses aller- dings in der blos verdünnten Chlorwasserstoffsäure auch auf. Wir werden aber später sehen, dass dies darauf beruht, dass im Muskel selbst Pepsin enthalten ist, oder doch ein Körper, der sich in Bücksicht auf alle Unterscheidungsmittel, die wir bis jetzt kennen, gerade so verhält wie das Pepsin. Das Pepsin lässt sich aus der Schleimhaut des ausgewaschenen Maccns auch nach und nach mit Wasser extrahiren. Aber man bekommt öO^ Die Magenverdanung. auf diese Weise, wenn man auch die Flüssigkeit hinterher ansäuert, immer nur eine verhältnissmässig schwach wirkende Verdauungsflüasigkeit, während man viel stärker wirkende Verdauungsfilissigkeiten bekommt, wenn man von vorneherein mit einer verdünnten Säure macerirt. Es geht daraus hervor, dass das Pepsin in den Drüsen in einem für "Wasser schwer löslichen Zustande enthalten sein muss, dass es sich aber in ver- dünnter Säure viel leichter auflöst. In neuerer Zeit wird nach v. Wittich's Vorgang Glycerin vielfach zur Extraction des Pepsins benützt. Dass das Pepsin wirklich in den Drüsen der Schleimhaut im Vorrathe abgelagert ist, in ähnlicher Weise, wie wir gesehen haben, dass feste Bestandtheile des Speichels in den Speicheldrüsen im Vorrathe abgelagert sind, und bei der Secretion nur herausgewaschen wird, ergibt sich auch aus anderen Versuchen. Wenn man die ganze Magenschleimhaut künstlich verdaut, so dass sie zerfällt, und nur einige krümliche Reste übrig bleiben, wenn man diese auf einem Piltrum sammelt und untersucht, so findet man, dass das Bindegewebe, die Drüsenschläuche u. s. w. zerstört sind, dass man nur Zellen und Trümmer von Zellen, die aus den Drüsen der Schleimhaut herstammen, gemengt mit elastischen Easern, unter dem Mikroskope hat. Wenn man nun diesen Detritus von Neuem mit ver- dünnter Salzsäure macerirt, so erhält man wiederum noch eine sehr wirksame Verdauungsflüssigkeit. Es wird hier in Wien für therapeutische Zwecke ein Pepsin in den Handel gebracht, welches dem Vernehmen nach bereitet wird durch Auspressen der Schleimhaut und durch Trocknen der ausgepressten Substanz bei niederer Temperatur, Aus diesem Pepsin kann man alles Lösliche herauswaschen, man kann es Tage lang auf dem Eiltrum mit Wasser auswaschen, und wenn man dann den Pest, der auf dem Filtrum zurückbleibt, noch wieder mit 1 pro mille Salzsäure macerirt, so bekommt man immer wieder noch eine kräftig wirkende Verdauungsflüssigkeit. Eine weitere Erage ist nun : In welchen Drüsen des Magens ist das Pepsin abgelagert? Wenn man den Magen während der Verdauung ansieht, so wird man bemerken, dass er auf seiner inneren Oberfläche ganz anders aussieht, als während des nüchternen Zustandes; er ist an seiner inneren Oberfläche geröthet, die Blutgefässe sind injicirt. Nun sind bei mehreren Thieren, wie beim Schweine und bei der Ratte, die Labdrüsen nur über einen Theil der Magenoberfläche verbreitet, während ein beträchtlicher Theil der Magenoberfläche lediglich Schleimdrüsen führt. Bei diesen Thieren sieht man, dass sich zur Zeit der Verdauung nur der Theil der Magenoberfläche röthet, in welchem sich Labdrüsen befinden. Dieses und das von gewöhnlichen Schleimdrüsen abweichende Aussehen der Labdrüsen musste auf die Vermuthung führen, dass sie es sind, in welchen die wirksame Substanz, in welchen das Pepsin ab- gelagert ist. Dies ist auch thatsächlich der Eall. Sondert nun die Pars pylorica, soweit in derselben keine Labdrüsen, sondern nur die oben erwähnten von Donders beschriebenen Drüsen vorkommen, gar kein Pepsin ab? JNach den Untersuchungen von Wasmann, Kölliker, Goll, Eriedinger und von v, Wittich lässt sich das Pepsin aus der Pars pylorica vollständig oder fast vollständig auswaschen. Nach den messenden Versuchen von Eriedinger betrug im gut ausgewaschenen Hundemagen die Menge Pepsin, die sich aus einem Gewichtstheil der Schleimhaut Das Pepsin. 303 der Pars pylorica gewinnen liess , nur den sechzelinten bis zweiund- dreissigsten Theil von der Menge, welche sich aus dem gleichen Ge- wichte von mit Labdrüsen versehener Schleimhaut gewinnen liess. Es lag also die Vermuthung nahe, dass dies Pepsin nur infiltrirtes war, das sich dem Auswaschen entzogen hatte. Dies konnte um so eher ver- muthet werden, als es vom Pepsin bekannt ist, dass es sich festen Körpern sehr beharrlich anhängt. Allein Heidenhain, Grützner, Rollet i;nd Klemensiewicz sind auf Grund ihrer Versuche der An- sicht, dass doch auch von der Pars pylorica Pepsin abgesondert werde. Es gelang ihnen, an lebenden Hunden die Pars pylorica zu isoliren und diese Hunde lange genug am Leben zu erhalten, dass nicht mehr der Einwand erhoben werden konnte, die verdauenden Wirkungen des Pylorus- secretes , mit dem sie experimentirten , hätten noch von infiltrirtem Pepsin herrühren können. Das Pepsin. Das Pepsin ist seit seiner Entdeckung vielfältig als ein Ferment bezeichnet worden. Der Name ist von der Hefe hergenommen, welche den Zucker in Kohlensäure und Alkohol umsetzt. Wir wissen, dass diese Hefe sich selbst regenerirt aus den stickstoffhaltigen Substanzen, welche sich in der Maische befinden, und dass man deshalb mit einer kleinen Menge von Hefe, wenn man ihr nur das Material für die Eegeneration bietet, grosse Mengen von Hefe erzeugen, und somit auch unbegrenzte Mengen von Zucker in Kohlensäure und Alkohol umsetzen kann. Des- wegen hat man namentlich solche Körper Fermente genannt, welche einen TJmsetzungsprocess einleiten, der immer weiter greift, sich immer von Neuem erzeugt, und bei dem zuletzt durch eine kleine Menge von Substanz grosse, ja imbegrenzte Mengen von anderen Substanzen um- gesetzt, chemisch verändert werden können. Passen diese Angaben auf das Pepsin ? Das Pepsin kann nicht, wie es einmal behauptet worden ist, sich selbst während der Verdauung vermehren, von Neuem erzeugen. In einer verdauenden Flüssigkeit nimmt die Menge des Pepsins nicht zu. Das lässt sich einfach durch folgenden Versuch darthun. Man thut Blutfibrin in eine Verdauungsfl-üssigkeit hinein, und wenn dieses Fibrin verdaut worden ist, mischt man eine Portion 1 pro mille Chlorwasser- stoffsäure, thut Fibrin hinein und giesst etwas von der ersten Verdauungs- flüssigkeit hinzu. Dieses Fibrin wird auch noch verdaut. Man macht dieselbe Procedur ein zweites Mal, man nimmt wieder ebenso verdünnte Salzsäure und Fibrin, und giesst nun von dem zweiten Glase wiederum etwas hinzu. Das thut man zwei-, dreimal. Es wird das Fibrin anfangs noch verdaut, dann fängt der Verdauungsprocess an, sich zu verlang- samen, und verlangsamt sich endlich, wenn man diese Versuche immer weiter fortsetzt, so, dass man so viele Stunden zum Auflösen braucht,^ als im ersten Versuche Minuten gebraucht wurden. Endlich verhält sich die Flüssigkeit nur noch, wie sehr verdünnte Chlorwasserstoffsäure, das Fibrin quillt darin auf, bleibt aber Tage lang darin, ohne zu zerfallen. Das ist nicht vereinbar mit der Vorstellung, dass sich beim Verdauungs- processe und durch den Verdauungsprocess das Pepsin vermehre : denn, wenn ich diese selben Versuche z. B. mit einer "ährendcn Flüssigkeit 304 Die Säuren im Magen. angestellt hätte, so würde ich alle Gläser fort und fort in Gährung versetzt haben, weil sich immer neue Hefe gebildet hätte und ich diese neugebildete Hefe übertragen haben würde. Hier ist die Menge von Pepsin dieselbe geblieben, und nach und nach sind immer kleinere Mengen auf neue Verdauungsgemische übertragen worden, bis sie endlich durch die wiederholte Theilung so klein wurden, dass sie keine merk- liche Wirkung mehr ausübten. Man kann sich fragen : Ist es in der That der hohe Grad der Verdünnung gewesen, ist nicht vielleicht das Pepsin durch die Ver- dauung ganz verbraucht worden? Es lässt sich aber wiederum zeigen, dass dies nicht der Fall ist. Es wird bei der Verdauung das Pepsin weder vermehrt, noch wird auch Pepsin verbraucht. Um letzteres zu beweisen, füllt man in zwei grosse Pulvergläser gleiche Mengen 1 pro mille Chlorwasserstoffsäure, dann, wirft man in das eine Glas so viel Fibrin hinein, als darin vollständig aufquillt, in das andere Glas wirft man eine einzige Fibrinflocke. Dann nimmt man von einer Verdauungs- flüssigkeit gleiche, und zwar nur kleine Mengen, und diese giesst man je eine in die beiden Gläser. Dann wird man bemerken, dass die grosse Masse des Fibrins in dem einen Glase eben so schnell aufgelöst wird, wie die eine Flocke, welche sich in dem anderen Glase befindet, und das geschieht noch, wenn man so kleine Mengen von Verdauungsflüssigkeit hinzugegossen hat, dass die Zeit der Verdauung sich auf Stunden hinzieht. Man hat dann jedenfalls eine unzureichende Menge von Pepsin hinzu- gefügt. Würde das Pepsin durch die Verdauung verbraucht, so müsste in dem einen Glase, da so viel Fibrin darin ist, die Verdauung verzögert worden sein, oder es müsste gar ein Rest von ungelöstem Fibrin bleiben Das ist aber nicht der Fall. Es wird also, wie gesagt, bei der Ver- dauung weder Pepsin gebildet, noch Pepsin verbraucht ; aber es ist eine gewisse Menge von Pepsin nöthig , damit der Verdauungsprocess mit seiner gehörigen Geschwindigkeit vor sich gehe. Diese Menge von Pepsin scheint freilich, wenn wir sie nach der Wage beurtheilen, ausserordent- lich gering zu sein, doch ist die Menge des Pepsins nicht gleichgiltig : wenn man unter ein gewisses Minimum herunter geht, so verlangsamt sich die Verdauung, und zwar in sehr auffallender Weise. Die Säuren im Magen. Wir haben gesehen, dass das Pepsin nur der eine Factor bei der Verdauung ist, dass der zweite Factor dabei die Säure ist. Pepsin ohne Säure ist unwirksam, und Säure ohne Pepsin ist auch relativ unwirksam, das heisst, sie bringt die Substanzen zum Aufquellen, aber nicht oder nur ganz unverhältnissmässig langsam zur Lösung. Es kommt darauf an, dass der saure Magensaft Pepsin und auch Säure in solcher Quantität und Qualität enthält, dass die Eiweisskörper darin aufquellen. Der saure Magensaft, wie wir ihn bei Hunden aus Magenfisteln sammeln, ist eine klare, stark sauer reagirende Flüssigkeit. Die Säuren, welche darin gefunden wurden, sind in erster Reihe Salzsäure, zweitens Phosphorsäure, und drittens in geringer Menge Schwefelsäure. Dann ist auch Milchsäure darin gefunden worden, wenn Kohlehydrate genossen worden waren. Wenn Substanzen genossen worden waren, aus welchen Die Säuren im Magen. 305 sich keine Milchsäure bilden konnte, so hat man im Magen die Milch- säure vermisst, woraus hervorzugehen scheint, dass die Milchsäure im Magen aus den Nahrungsmitteln und nicht aus den Labdrüsen stammt. Indessen ist diese Angabe nicht ohne Widerspruch. Kichet gibt au, dass der von Nahrungsmitteln freie Magensaft des Menschen an Aether beim Schütteln kleine Mengen von Milchsäure abgebe. Er beziifert die- selben mit 0,43 Gramm in 1000 Gramm Magensaft. Man kann fragen: Welche von den Mineralsäuren ist im Magen die freie Säure und die eigentlich wirksame? Wenn wir eine Flüssigkeit haben, die mehrere Salze enthält, und ausserdem überschüssige Säure, so können wir, so lange die Substanzen gelöst sind, niemals sagen, dass die eine Säure frei sei und die andere an Basen gebunden. Bei der Zusammenstellung der Resultate der chemischen Analyse pflegt man freilich so zu Werke zu gehen, dass man die Basen sich als gebunden vorstellt an die stärkste Säure, und dann die schwächere Säure als die in der Flüssigkeit freie Säure annimmt, wenn keine Basis mehr vorhanden ist, um sich mit derselben zu verbinden. Das ist aber eine Fiction, welche man sich erlaubt hat, weil man unter gewissen häufig realisirten Bedingungen schwächere Säuren durch stärkere vollständig austreiben kann. Es ist im hohen Grade wahrscheinlich, dass immer mehrere Säuren frei sind, aber eben je nach ihrer Stärke, je nach ihrer Verwandtschaft zu den vorhandenen Basen, in verschiedenen Quantitäten. Hierbei ist noch zu berücksichtigen, dass schon die Menge des vorhandenen Wassers die Art der Bindungen wesentlich verändern kann. Dies zeigt in sehr schöner und schlagender Weise folgender Versuch. Man tröpfelt in eine tief gefärbte Lösung von salicylsaurem Eisenoxyd so viel Salzsäure , dass die purpurviolette Farbe ganz verschwindet und einer gelblichen Platz macht. Es ist dann alle Salicylsäure frei gemacht und das Eisen ledig- lich an Chlor gebunden. Verdünnt man jetzt mehr und mehr mit Wasser, so wird die Flüssigkeit wieder purpurviolett , salicylsaures Eisenoxyd stellt sich wieder her. Von einer Säure im Magensaft aber können wir sagen, dass sie jedenfalls im freien Zustande vorhanden sei, das ist die Salzsäure. Bidder und Schmidt haben bei der Untersuchung des Magensaftes des Hundes gefunden, dass, wenn man alle Basen, welche darin enthalten sind, als nur mit Salzsäure verbunden ansieht, doch immer eine beträchtliche Quantität Salzsäure übrig bleibt, welche nicht durch diese Basen neutralisirt werden kann. Auch im Magensäfte des Menschen ist Chlorwasserstoffsäure enthalten, wenn auch nicht in solcher Menge, wie im Magensafte des Hundes, weil überhaupt der Magensaft des Hundes mehr freie Säure hat als der des Menschen. Wenn wir nach der Wirksamkeit der verschiedenen Säuren fragen, so ist die ver- dünnte Salzsäure eine sehr wirksame Säure bei der Verdauung. Aber auch die Phosphorsäure ist bei der Verdauung sehr wirksam. Man kann mit verdünnter Phosphorsäure ebenso erfolgreich verdauen, wie mit ver- dünnter Salzsäure. Nicht dasselbe gilt von der Schwefelsäure. Mit dieser gehen die Verdauungsversuche mit Eiweisskörpern weniger gut. Es sind also die Salzsäure und die Phosphorsäure, welche uns als die wirk- samsten erscheinen, nur muss die Phosphorsäure frei sein: mit sauren phosphorsauren Salzen allein kann man keine erfolgreichen Verdauungs- versuchc anstellen. Wenn Milchsäure vorhanden ist, so muss auch diese Brücke. Vorlesungen I. 4. Aufl. 20 306 Die Samen im Majjen. ZU den wirksamen Säuren gerechnet werden : die Eiweisskörper quellen in ihr auf, und man kann mit ihr sehr erfolgreiche Verdauungsversuche anstellen. Maly hat ferner noch gezeigt, dass die Milchsäure im freien Zustande die Chloride theilweise zerlegt, so dass also da, wo beide mit einander vorhanden sind, stets auch freie Chlorwasserstoffsäure in Wir- kung tritt. Er goss ein Gemisch von Milchsäure und Kochsalzlösung in den Grund eines Glascylinders, darüber schichtete er Wasser und über- liess das Ganze der Diffusion. Er rechnete darauf, dass die schneller diffundirende Salzsäure sich früher in den oberen Schichten verbreiten werde als das Chlornatrium, Dies bestätigte sich auch. Die oberen Schichten enthielten nach einigen Tagen mehr Chlor, als dem Natrium entsprach, und die unteren mehr Natrium, als dem Chlor entsprach. Es hatten sich also neben Chlornatrium und Milchsäure gebildet milchsaures Natron und Salzsäure. Es ist behauptet worden, dass der Magensaft erst im Magen selbst sauer werde, dass er von den Drüsen nicht im sauren Zustande abge- sondert werde. In der That ist es eine auf den ersten Anblick auffallende Erscheinung, dass das Parenchym der Drüsen im lebenden Thiere nicht sauer reagirt. Wenn man einem lebenden Kaninchen die Bauchhöhle öffnet, die Muskelhaut des Magens an einer Stelle abträgt, und nun vor- sichtig mit einer krummen Scheere ein Stückchen der Schleimhaut so ausschneidet, dass man dieselbe nicht durchlöchert, so findet man, dass das ausgeschnittene Schleimhautstückchen zwischen blauem Lakmus- papier zerquetscht keinen rothen Fleck gibt, und wenn ja ein solcher entsteht, so ist er äusserst schwach. Sobald man aber an die innere Oberfläche kommt, sobald man die ganze Schleimhaut herausnimmt, hat man gleich ausserordentlich stark saure Eeaction. Hieraus könnte man, wie gesagt, allerdings schliessen, dass das Secret der Drüsen an und für sich nicht sauer sei, sondern dass es erst im Magen sauer werde. Einer- seits ist aber nicht wohl einzusehen, durch welchen Process innerhalb des Magens Mineralsäuren, wie die Salzsäure, frei werden sollen, und andererseits ist dieser Versuch und andere ähnliche, welche angestellt worden sind, auch nicht beweisend. Es befindet sich ja in dem aus- geschnittenen Gewebe auch alkalische Flüssigkeit, denn es kreist ja durch die Schleimhaut fortwährend das alkalische Blut, und die Gewebsflüssig- keit zwischen den Drüsen ist alkalisch. Es kann also diese kleine Menge von alkalischer Flüssigkeit dazu dienen, eine entsprechend geringe Menge von Säure zu neutralisiren, und nur eine sehr geringe Menge von Säure braucht ja in den Drüsen gegenwärtig zu sein, wenn das Secret sofort an die innere Oberfläche des Magens ausgestossen wird. Wenn man sich an andere Thiere als an Säugethiere wendet, dann kann man in der That das saure Secret innerhalb der Drüsen nachweisen. Im Drüsen- magen der Vögel befinden sich flaschenförmige Körper, die so gross sind, dass man sie schon mit blossem Auge sehen kann. Diese flaschenförmigen Körper, die einen engen Ausführungsgang besitzen, haben eine verhältniss- mässig weite innere Höhle, und ihre dicke Wand besteht aus lauter Labdrüsen, welche in diese innere Höhle ausmünden. Man spült nun den Drüsenmagen eines soeben getödteten Huhnes oder einer eben ge- tödteten Gans mit sogenannter Magnesiamilch, das heisst mit Magnesia iista, die in Wasser aufgeschwemmt ist, aus, um alle freie Säure auf Die iSäuroii im Miigen. 307 der inneren Oberfläche des Magens zu tilgen. Hierauf sucht man unter diesen flaschenförmigen Drüsenkörpern einen aus, der mit Secret gefüllt ist, durchschneidet ihn und untersucht das Secret, welches sich in der Höhle desselben angesammelt hat. Man findet , dass es stark sauer reagirt, so stark sauer , wie der Magensaft innerhalb der Höhle des Magens bei anderen Thieren. Dies spricht also dafür, dass das saure Secret bereits innerhalb der Drüsen abgesondert und nur immer gleich wieder ausgestossen wird, so dass der kleine Rest von Säure, der im Gewebe zurückbleibt, beim Zerquetschen der Schleimhaut neutralisirt wird durch die umgebende alkalische Gewebsflüssigkeit. Man könnte einwenden, dass beim Huhne vielleicht der saure Magensaft aus der Magenhöhle in die Drüsenhöhlen zurückgelangt sei, aber dies ist an sich unwahrscheinlich, und wird es noch mehr dadurch, dass immer nur ein Theil der Drüsen prall mit Secret angefüllt ist. Es entsteht aber die weitere Frage : Wie ist es möglich, dass aus dem alkalischen Blute und aus der alkalischen Gewebsflüssigkeit ein Saft abgesondert werden kann, der so viel freie Säure enthält? Wie dies zugeht, wissen wir nicht. Wir können nur im Allgemeinen sagen, dass es unter dem Einflüsse des IS'ervensystems geschehen muss, und dass diese Erscheinung in der Natur nicht isolirt dasteht, sondern dass es noch andere viel auffallendere Erscheinungen dieser Art gibt. Als sich Johannes Müller und Troschel ihrer zoologischen Untersuchungen wegen in Messina befanden, nahm Troschel ein grosses Exemplar von Dolium galea und warf es auf den Boden, der mit Marmorplatten belegt war. Er sah zu seinem Erstaunen, dass da, wo das Thier seinen soge- nannten Speichel hinspritzte, ein starker Schaum entstand, also offenbar eine Gasentwicklung stattfand. Als er den Speichel näher untersuchte, fand er in der That, dass er so sauer war, dass er den Marmor des Bodens angriff und Kohlensäure daraus entwickelte. Es wurde dieser Saft dann gesammelt und dem Professor Bödecker in Bonn zur chemi- schen Untersuchung übergeben. Er enthielt in 100 Theilen nur 1,6 Theile an Basen und an organischer Substanz, aber 0,4 Chlorwasserstoff- und so viel Schwefelsäure, dass, wenn man alle Basen als an Schwefelsäure gebunden ansah, dem Gewichte nach noch 2,7 Hunderttheile der ganzen Flüssigkeit als freie Schwefelsäure übrig blieben. Wenn eine solche Flüssigkeit unter dem Einflüsse des Nervensystems aus dem Blute ab- gesondert werden kann, so kann es uns sicher nicht wunderbarer er- scheinen, dass an der Innenwand des Magens eine saure Flüssigkeit abgesondert wird , dass eine Zersetzung der Chlormetalle unter dem Einflüsse des Nervensystems eintritt, so dass das Alkali nach der einen Seite und die Säure nach der andern Seite hingeht. Das ist jedenfalls nicht wunderbarer, als dass ein an und für sich harmloses Organ durch den Einfluss der Nerven in einen heftig wirkenden electrischen Apparat verwandelt wird, wie dies bei den electrischen Fischen der Fall ist, oder dass eine Masse von Eiweisskörpern, die Masse der Muskeln, ihre inneren Attractionsverhältnisse unter dem Einflüsse der Nerven plötzlich so verändert, dass sie aus einer weichen, in allen ihren Theilen der Schwere folgenden Substanz sich in eine Masse umändert, die mit der grössten Gewalt einer ganz bestimmten Gleichgewichtsfigur zustrebt ; 20* 308 Darstellung und Eigenschaften des Pepsins. Tremmng von Säuren "und Basen ist unter diesen räthselhaften Vor- gängen noch derjenige, welcher uns durch die Analogie der Electrolyse am leichtesten vorstellbar wird. Darstellung und Eigenscliaften des Pepsins. Das Pepsin galt früher für einen Eiweisskörper, und es hängen hiemit wesentlich zusammen gewisse Vorstellungen, welche man von der Verdauung hatte. Man glaubte, das Pepsin sei eine sehr leicht zersetzbare Substanz und reisse dann andere Eiweisskörper mit in diesen Zersetzungs- process hinein, dadurch werde ihre Auflösung bewirkt u. s. f. Nun ist aber das Pepsin gar nicht so sehr der freiwilligen Zersetzung unterworfen, wie man glaubt. Es kann nicht nur im trockenen Zustande lange Zeit unzersetzt aufbewahrt werden, sondern selbst in Lösungen. Selbst wenn der Schimmel einen halben Zoll hoch in Verdauungsflüssigkeiten gewachsen ist, so sind sie dadurch noch nicht nothwendig unwirksam ; wenn man sie wieder filtrirt und Fibrin oder Eiweiss hineinthut, so findet man in der Regel, dass sie noch verdauen. Das Pepsin ist aber überhaupt kein Eiweiss- körper. Dass man es dafür gehalten hat, rührte daher, dass man es mit Eiweisskörpern zusammen niedergeschlagen hatte, welche theils in dem Magensafte an und für sich enthalten waren, theils aus den Nahrungs- mitteln oder der künstlich verdauten Magenschleimhaut herrührten. Wenn man das Pepsin im reineren Zustande haben will, so kann man dazu die Eigenschaft desselben benutzen, sich an kleine feste Körper anzuhängen, Sie wissen, dass die meisten Farbstoffe diese Eigenschaft haben, dass, wenn man z. B. rothen Wein mit Kohlenpulver durchschüttelt und ihn dann filtrirt, eine farblose Flüssigkeit abfliesst, und der ganze rothe Farbstoff in dem Kohlenpulver zurückbleibt. In ähnlicher Weise adhärirt nun auch das Pepsin. Wenn man in die wirksamste Verdauungs- flüssigkeit einen Löffel voll Thierkohle hineinschüttet, durchschüttelt und filtrirt, so bekommt man eine Flüssigkeit, welche absolut gar nicht mehr verdaut. Ja wenn man die zu verdauende FibrinfLocke mit der Kohle in die Verdauungsflüssigkeit hineinwirft und schüttelt, so dass sich die Fibrin- flocke in die Kohle einbettet, welche nun das Pepsin an sich gerissen hat, so ist das Pepsin schon unwirksam. Dies Adhäriren kann man nun benutzen, um das Pepsin von Eiweisskörpern zu trennen, da die Eiweiss- körper zwar auch adhäriren, aber in viel geringerem Grade als das Pepsin. Man geht dabei am besten so zu Werke, dass man die Schleim- haut eines Kälber- oder Schweinemagens zerkleinert, mit Wasser über- giesst und mit Phosphorsäure ansäuert. Sie unterliegt auf diese Weise der Selbstverdauung. Die erste Flüssigkeit giesst man weg, weil sie zu viel Verdauungsproducte enthält, die bei der Eeinigung des Pepsins zu lange aufhalten würden. Dann giesst man neues Wasser und neue Phos- phorsäure auf und digerirt weiter. Die so erhaltene Flüssigkeit benutzt man entweder in der gleich zu beschreibenden Weise, oder man giesst sie, wenn sie noch zu viel Verdauungsproducte zu enthalten scheint, fort und verschafft sich durch eine dritte in derselben Weise einzuleitende Digestion die weiter zu verarbeitende Flüssigkeit. Diese versetzt man, nachdem man sie filtrirt hat, mit so viel klarem Kalkwasser, dass ein blaues Lakmuspapier noch schwach violett gefärbt wird. Der herausfallende Darstellung und Eigenschaftou des Pepsins. 309 phosphorsaure Kalk reisst das Pepsin mit sich. Man braucht den phosphor- sauren Kalk nicht vollständig herauszufällen , weil schon die ersten Portionen nahezu die ganze Masse des Pepsins mit sich reissen, und wenn man später noch mehr Kalkwasser zusetzt, man keinen weiteren Vortheil hat, sondern nur phosphorsauren Kalk bekommt, der sehr wenig Pepsin mit sich genommen. Den phosphorsauren Kalk sammelt man auf dem Spitzbeutel, presst ihn ab und vertheilt ihn dann in Wasser, dem man vorsichtig und in kleinen Portionen so viel verdünnte Salzsäure hinzusetzt, dass er sich wieder löst. Dann setzt man wieder klares Kalk- wasser zu, um ihn wieder theil weise her auszufällen. Es hat das den Zweck, die Eiweisskörper, die das erste Mal noch mitgerissen worden sind, in Lösung zu erhalten, während das Pepsin immer wieder von dem phosphorsauren Kalk mitgerissen wird. Man sammelt wieder auf dem Spitzbeutel , presst wieder ab , und löst den Eückstand wieder mittelst sehr verdünnter Chlorwasserstoffsäure auf. Man giesst die so erhaltene Flüssigkeit in eine Plasche und senkt einen langhalsigen, bis auf den Boden der Plasche reichenden Trichter hinein. Durch diesen giesst man eine Lösung von Cholesterin in 4 Theilen Alkohol und einem Theile Aether hinein. Aus dieser scheidet sich, wenn sie in die wässerige Lösung hineinkommt, das Cholesterin in fein ver- theiltem Zustande aus und bildet nun ähnlich wie früher der phosphor- saure Kalk einen Schlamm, an welchen sich das Pepsin anhängt. Man schüttelt mit diesem Schlamme noch gehörig durch, filtrirt und wäscht anfangs mit Wasser, das mit etwas Essigsäure angesäuert ist, dann mit reinem Wasser aus. Man hat dann auf dem Eilter Cholesterin, an welches sich das Pepsin angehängt hat. Dieses gibt man ohne zu trocknen in ein Pulverglas und schüttet alkoholfreien Aether darüber, Aether, welchen man zuvor durch Schütteln mit Wasser vom Alkohol befreit hat. Der Aether zieht das Cholesterin aus, und unten bleibt eine wässerige Schicht stehen, welche das Pepsin enthält. Man giesst den Aether ab, ersetzt ihn durch neuen u. s, f. Endlich, wenn man alles Cholesterin auf diese Weise entfernt hat, lässt man die letzte Menge von Aether, welche sich nicht mehr rein abgiessen lässt, verdunsten und filtrirt die Flüssigkeit. Das Filtrat zeigt nun im hohen Grade verdauende Eigen- schaften, so dass ein einziger Tropfen, in 5 Kubikctm. angesäuerten Wassers hineingegeben, eine Fibrinflocke noch innerhalb einer Stunde auflöst. Diese Flüssigkeit, welche so stark verdaut, wie irgend eine andere Flüssigkeit, zeigt nun aber nicht mehr die Reactionen der Eiweiss- körper. Von allen Reactionen der Eiweisskörper zeigt sie nur noch zwei. Sie wird gefällt durch neutrales und durch basisches essigsaures Blei, und wird getrübt durch Platinchlorid. Dr. Krassilnikoff, der später hier im Laboratorium meine Versuche zur Reindarstellung des Pepsins fortsetzte, gelang es, durch Dialyse die Pepsinlösuug so weit zu reinigen, dass sie auch durch Platinchlorid nicht mehr getrübt wurde, aber durch neutrales und basisches essigsaures Blei wurde sie noch gefällt. Das Pepsin ist also kein Eiweisskörper, es ist auch kein Ferment, denn es vermehrt sich nicht bei der Verdauung, es wird aber auch bei der Verdauung nicht verbraucht. Wenn es nun bei der Verdauung nicht verbraucht wird, wo bleibt es? Wird es resorbirt ? Schaden kann es im Körper nicht anrichten, denn es kommt zu alkalischen Flüssigkeiten, 310 Darstellung und Eigenschaften des Pepsins. in denen es keine verdauende Wirkung ausüben kann. Die Nothwendig- keit der Säure zur Verdauung ist ja auch der Grund, warum die Magen- wand nicht verdaut wird. Die Magenwände werden nicht verdaut, weil sie vor der Verdauung geschützt sind durch das alkalische Blut, welches fortwährend durch sie hindurchcirculirt. Wenn die Circulation an irgend einer Stelle der Schleimhaut aufhört, wie dies bei gewissen krankhaften Aifectionen der Magenschleimhaut geschieht, so wird dieses Stück der Schleimhaut allerdings verdaut, und wenn ein Thier in der Verdauung stirbt, so wird auch die Magenwand von der secernirten Verdauungs- flüssigkeit angegriffen. Claude Bernard pflegte in seinen Vorlesungen einen Versuch zu machen, der darin bestand, dass er einen Hund während der Verdauung tödtete, und ihn dann in einen Apparat hineinlegte, in welchem das Cadaver auf einer Temperatur von 38^ erhalten ward. Wenn er dann nach einer Zeit von mehreren Stunden herausgenommen und geöffnet wird, so findet man in der Eegel, dass nicht nur der Magen, sondern dass auch noch ein Theil der Milz und der Leber verdaut worden ist. Aber während des Lebens sind, wie gesagt, alle diese Wirkungen durch das circulirende alkalische Blut paralysirt. Das Pepsin kann also ohne ISTachtheil resorbirt werden, und es wird offenbar resorbirt, denn es lässt sich in den Muskeln und im Urin nachweisen. Wenn man Urin mit so viel Phosphorsäure versetzt, dass eine Probe davon eine Pibrinfloeke aufquellen macht, dann mit solcher Flüssigkeit zwei Peagirgläser halb anfüllt, in dem einen derselben die Flüssigkeit bis zum Sieden erhitzt und sie wieder abkühlt, dann in beide Gläser FibrinfLocken hineinwirft, so verhalten sich diese sehr verschieden. In dem Urin, der vorher zum Sieden erhitzt worden ist , bleibt die Fibrinflocke im aufgequollenen Zustande liegen, in dem andern Glase aber, in welchem die Flüssigkeit nicht zum Sieden erhitzt worden ist, löst sie sich, wenn auch sehr langsam, auf. Es erweckt dies den Verdacht, dass in dem Urin Pepsin enthalten sei, denn es ist eine charakteristische Eigenschaft des Pepsins, dass es durch Erhitzen seiner Lösungen zum Sieden seine Wirksamkeit verliert. Man kann das trockene Pepsin auf 100*^ und darüber erwärmen, ohne dass es die Fähigkeit, Fibrin zu lösen, verliert, wenn man aber eine Lösung von Pepsin einmal bis zum Sieden erhitzt hat, so ist sie für alle Zeit unwirksam geworden. Wir kennen bis jetzt keine Substanz, welche wie das Pepsin die Eigenschaft hätte, die geronnenen Eiweiss- körper in saurer Flüssigkeit zu lösen, und dabei die Eigenschaft hätte, ihre verdauende Wirkung gänzlich zu verlieren, wenn die Lösung erhitzt wird. Man kann sich aber noch weiter überzeugen, man kann das ver- dauende Princip wirklich aus dem Urin isoliren. Man nimmt eine grössere Menge Urin, versetzt sie, um einen etwas reichlicheren Niederschlag zu haben, mit einer kleinen Menge von Phosphorsäure, fügt nun Kalkwasser hinzu und fällt auf diese Weise den phosphorsauren Kalk heraus. Man sammelt denselben auf dem Spitzbeutel und schlägt nun ganz den Weg ein, welchen ich zur möglichsten Reindarstellung des Pepsins angegeben habe : man erhält dann in ähnlich er Weise, wie früher aus der Ver- dauungsflüssigkeit, Pepsin, wenn auch in sehr geringer Menge. In ähn- licher Weise kann man das Pepsin, oder wenigstens eine in allen bis jetzt bekannten Eigenschaften sich analog verhaltende verdauende Sub- stanz, aus den Muskeln isoliren. Man presst frisches Fleisch aus und Quantitative Bestimmung des Pepsins. 311 behandelt den ausgepressten Saft, ohne ihn vorher zur Coagulation der Eiweisskörper zu erhitzen, in der vorbeschriebenen Weise. Man erhält auch hier wieder eine wirksame verdauende Flüssigkeit, die aber ihre Wirksamkeit sofort verliert, wenn sie einmal bis zum Sieden erhitzt worden ist. Es ist indessen zweifelhaft, wie viel vom Pepsin zur Eesorption kommt. Da es von verdünnten Alkalien allmälig zerstört wird und diese Zerstörung, wie schon W. Kühne gezeigt hat, bei der Temperatur von 38*^ C. rascher fortschreitet, als in der Kälte, so ist es nach J. N. Langley wahrscheinlich , dass der grösste Theil des Pepsins auf seinem Wege durch den Dünndarm zu Grunde geht. Quantitative Bestimmung- des Pei>sins. Kann man das Pepsin auch quantitativ bestimmen ? Da man keine Garantie hat, dass das Pepsin jemals in wirklich reinem Zustande dar- gestellt worden ist, da man nur weiss, dass man es in relativ reinem Zustande dargestellt, das heisst, dass es von den Eiweisskörpern, mit welchen es sonst zusammen vorkommt, getrennt worden ist ; so lässt sich das Pepsin nicht nach absoluten Quantitäten bestimmen : aber relativ lässt es sich bestimmen ; man kann, wenn man zwei Verdauungsflüssig- keiten Ä und B hat, ermitteln, dass die eine doppelt oder dreimal so viel Pepsin enthält, als die andere. Ich gehe dabei folgendermassen zu Werke: Ich füge zu jeder der zu untersuchenden Flüssigkeiten so viel Salzsäure, dass sie 1 Grm. freie CIH im Liter enthält, und mische in sieben Gläsern nach dem folgenden Schema mittelst der Flüssigkeit Ä sieben Verdauungsflüssigkeiten. Die Zahlen drücken die Volumina der Mischflüssigkeiten in Kubikcentimetern aus. ■o • 1.. A Wasser vom Pepsmlosune: A vom o- j ■• ^^^' feauregrad = 1 (l Gramm C^fl" im Liter) I 16 0 II 8 8 in 4 12 IV 2 14 V 1 15 VI 0,5 15,5 VII 0,25 15,75 In analoger Weise mische ich in sieben anderen Gläsern sieben andere Verdauung-sflüssigkeiten mit Hilfe der Flüssigkeit B. Pepsinlösung B vom Wasser vom Glas Säuregrad = 1 Säui-egrad = 1 1 16 0 2 8 8 3 4 12 4 2 14 5 1 15 6 0,5 15,5 7 0,25 15,75 312 Quantitative Bestimmung der Milch. Nachdem jedes einzelne Glas gut gemischt, gut durchgeschüttelt ist, werfe ich in jede dieser Flüssigkeiten eine Fibrinflocke und lasse die Gläser nun ruhig stehen. Wenn diese Verdauungsflüssigkeiten einiger- massen wirksam sind, so verdauen die ersten Gläser, welche die Ver- dauungsflüssigkeit ungemischt enthalten, verhältnissmässig schnell, aber je weniger sie von der Pepsinlösung enthalten, desto langsamer verdauen sie. T^un denken Sie sich, die zweite Flüssigkeit enthalte nur halb so viel Pepsin, als die erste, so wird das Glas 1 so langsam verdauen, wie das Glas II. Enthält die Flüssigkeit B nur den vierten Theil, so wird das Glas 1 so langsam verdauen, wie das Glas III u. s. f. — Auf diese Weise wird man also, indem man die Gläser vergleicht, in welchen die Verdauung gleichen Schritt hält, ermitteln können, wie vielmal mehr Pepsin in der einen Flüssigkeit enthalten ist als in der andern. HäTifig bemerkt man, dass der Versuch anscheinende Widersprüche aufweist. Man findet z. B., dass Glas 3 mit Glas I Schritt hält, aber zugleich Glas 7 mit Glas VI ; man könnte also in Zweifel sein, ob die Flüssig- keit B doppelt oder viermal so viel Pepsin enthält, als die Flüssigkeit A. Es kann auch geschehen, dass die Gläser niederer Ziffern 1, 2, 3, I, II, III alle gleich schnell verdauen, dagegen aber die Gläser höherer Ziifern sehr bedeutende Differenzen zeigen. In allen solchen Fällen haben immer die Gläser höherer Ziffern, die Gläser, welche die ver- dünnteren Flüssigkeiten enthalten, den Gläsern niedriger Ziffern gegenüber Kecht. Jene scheinbaren Anomalien entstehen nämlich aus folgenden zwei Ursachen. Erstens ist die Vermehrung des Pepsins über einen ge- wissen Grad hinaus nutzlos : wenn also in Glas 3 dieser Grad schon erreicht ist, so können 1 und 2 nicht schneller verdauen als dieses. Zweitens kann das Pepsin in einer verdünnten Lösung seine volle ver- dauende Wirkung, welche es überhaupt zu äussern hat, besser äussern, als in einer Lösung, die vorher nicht verdünnt worden ist: denn in jeder Verdauungsflüssigkeit befinden sich ausser Pepsin auch noch andere Sub- stanzen, und diese hindern die Verdauung, und zwar um so mehr, je grösser die relative Menge ist, in welcher sie in der Flüssigkeit enthalten sind. jSTamentlich sind es die aus den EiweisskÖrpern entstehenden Verdauungs- producte, die den weiteren Fortgang der Verdauung hindern und endlich ganz sistiren. Schon Schwann bemerkte, dass er manchmal Verdauungs- flüssigkeiten hatte, welche besser verdauten, wenn er vorher die Hälfte ihres Volums von saurem Wasser hinzugefügt, wenn er sie vorher mit angesäuertem Wasser verdünnt hatte. Es liegt nicht etwa in der Ver- dünnung des Pepsins ein Vortheil, aber es war so viel Pepsin in der Flüssigkeit, um auch noch bei der Verdünnung um die Hälfte oder um das Dreifache hinreichende verdauende Wirkungen auszuüben ; zugleich waren so viel Verdauungsproducte, so viel schädliche Substanzen vor- handen, dass die Flüssigkeit deshalb besser verdaute, nachdem sie mit angesäuertem Wasser verdünnt worden war. Manchmal steht eine Ver- dauung vollständig still, macht keinerlei Fortschritte mehr, und wenn man dann mit angesäuertem Wasser verdünnt, setzt sie sich wieder in Gang. Es scheint dies wesentlich daran zu liegen, dass die Eiweisskörper oder ihre Verdauungsproducte durch ihre Anziehung zum Wasser das- selbe binden , so dass der Quellungsprocess der noch unveränderten Eiweisskörper nicht in der gehörigen Weise erfolgt. Bisweilen kann man Quantitative Bestimmung des Pepsins. 313 in Verdauungsfllissigkeiten, welche mit Phosphorsäure angemacht sind, auch ohne Zusatz von Wasser die Verdauung wieder in Gang bringen, indem man noch etwas Phosphorsäure hinzufügt. Bei Salzsäure geht das nicht, weil ein Ueberschreiten des Säuregrades an und für sich den Quellungsprocess der Eiweisskörper behindert, was bei der Phosphor- säure nicht der Fall ist. Es scheint, dass auch im lebenden Körper manchmal eine solche Hemmung der Verdauung durch eine zu grosse Menge von Verdauungsproducten zu Stande kommt. Denn es geschieht manchmal, dass zwölf, achtzehn Stunden nach einer reichlichen Fleisch- mahlzeit ein saurer Mageninhalt entleert wird, in welchem eine grosse Menge des eingenommenen Fleisches, der eingenommenen Eiweisskörper noch im unverdauten Zustande enthalten ist. Dieser Mageninhalt, der so ausgeleert wird, ist dann gewöhnlich relativ dickflüssig. Da er stark sauer reagirt, so muss man erwarten, dass die hinreichende Menge von saurem Magensaft abgesondert worden ist, und dass es deshalb wahr- scheinlich nur die zu grosse Menge von Eiweisskörpern und die damit verbundene zu grosse Menge von Verdauungsproducten war, welche es nicht zu einer vollständigen Verdauung hat kommen lassen. Die quantitative Probe auf Pepsin kann man ganz in der Weise, wie ich es hier mit Fibrinflocken beschrieben habe, auch mit Eiweiss anstellen, und dies ist sogar in gewisser Hinsicht vorzuziehen, da mau sich die Eiweissstücke gleichförmiger verschaifen kann, als die Fibrinflocken. Man muss aber, da das Eiweiss langsamer verdaut wird, länger auf das Kesultat warten. Man nimmt das Weisse von hartgekochten Hühnereiern, schneidet dasselbe in Würfeln von zwei bis drei Millimetern Seite^ und verwendet diese Würfel, um sie in die verschiedenen Gläser hineinzulegen, welche man in der Weise zugerichtet hat, wie ich es Ihnen früher beschrieben habe. Hier geht aber der ganze Process, wie gesagt, langsamer vor sich. Das in der Hitze geronnene Eiweiss wird langsamer verdaut als das rohe Blutfibrin, weil das rohe Blutfibrin in seiner ganzen Masse aufquillt, während der Aufquellungsprocess, der der Lösung vorhergehen muss, beim geronnenen Hühnereiweiss nur immer an der Oberfläche stattfindet. Dann muss sich erst wieder eine Schicht lösen, damit der Aufquellungs- process wiederum weiter eingreifen kann. Es scheinen dabei verschiedene Bestandtheile des Eiweisses ungleich schnell angegriffen zu werden. Form und Grösse des Würfels ändern sich anfangs nicht, aber er wird an den Kanten durchscheinend. Auch hier gilt die Regel, dass immer diejenigen Gläser, in welchen die verdünntesten Verdauungsflüssigkeiten sind, das sicherste Resultat geben. Ich pflege den relativen Pepsingehalt abzuschätzen nach Gläsern, welche bei diesen Versuchen 6 bis 8 Stunden brauchen, um mit ihrem Eiweisswürfel fertig zu werden. Denn eine Pepsinlösung, welche mit einem Eiweisswürfel von 3 Millimeter Seite in weniger als 3 Stunden fertig wird, hat schon überhaupt das Maximum der Verdauungsfähigkeit, und wenn man eine andere daneben hat, welche drei, vier, ja zehnmal so viel Pepsin enthält, so verdaut sie darum doch nicht schneller. Man kann die Zeit etwa abkürzen, indem man sich nicht der Eiweisswürfel bedient, sondern das rohe Eiweiss mit Wasser verdünnt durch ein Tuch laufen lässt, und hierauf, nachdem man ■ es neutralisirt hat, erhitzt, wo es sich dann in feinen Flocken abscheidet. bl-i Quantitative Bestiminuiig des Pepsins. Es sind zwar diese Flocken nicht so gleichmässig in ihrer Grösse und so gleich beschaffen, wie die Eiweisswürfel, aber man kann die gleich- gehenden Gläser doch in der Regel gut erkennen, denn es ist bei solchen Proben bald zu ersehen, ob die Verdauung begonnen hat, und ob sie vorwärts geht, oder ob sie nicht vorwärts geht. So lange nämlich nichts verdaut ist, klärt sich die Flüssigkeit sofort wieder, wenn man sie auf- geschüttelt hat, die Eiweissflocken senken sich sofort wieder zu Boden; wenn aber bereits eine Portion verdaut ist, und man schüttelt, so trübt sich die ganze Flüssigkeit und klärt sich nicht vollkommen wieder. Das beruht darauf, dass beim Verdauen des Eiweisses immer ein sehr fein vertheilter, molekularer Rückstand bleibt, welcher sich viel schwerer aus der Flüssigkeit heruntersenkt, als die noch unverdauten Eiweissflocken. Man benützt auch künstlich gefärbte Fibrinflocken zu Verdauungs- proben, weil man dann an der zunehmenden Färbung der Flüssigkeit gut sieht, ob sie sich rasch oder langsam auflösen. Ein anderes Verfahren hat Grünhagen angegeben. Es besteht darin, dass man in Salzsäure von 2 pro mille so viel Fibrin einträgt, dass das Ganze eine gallertige Masse bildet, und diese gallertige Masse auf einen Trichter legt. Nun fügt man eine Anzahl Tropfen der zu untersuchenden Verdauungsfiüssigkeit hinzu. Je reicher an Pepsin die Verdauungsflüssigkeit ist, um so rascher tropft Flüssigkeit aus dem Trichter ab, denn es tropft ja nur das ab, was sich löst, das, was nur aufgequollen ist, bleibt auf dem Trichter. Man beurtheilt deshalb die Menge des Pepsins nach der Menge von Flüssigkeit, welche in der Zeiteinheit vom Trichter abtropft. Es ist dieses Verfahren wohl zu brauchen, um zu schätzen, ob eine Flüssigkeit mehr oder weniger Pepsin enthält, als eine andere : Quantitäten, auch relative, lassen sich damit nicht bestimmen, da kein Beweis dafür vorliegt, dass die Menge des in der Zeiteinheit gelösten gradlinig wächst mit der Menge des Pepsins. Am allerunbrauchbarsten, man kann sagen völlig unbrauchbar, ist dasjenige Verfahren, welches am allerhäufigsten eingeschlagen worden ist, das Verfahren, die Menge von Pepsin in einer Verdauungsflüssigkeit zu beurtheilen nach der Menge von Eiweiss, welches dieselbe überhaupt auflöst. Es ist dieses Verfahren geradezu ohne allen Sinn. Denn es würde ja nur einen Sinn haben, wenn man mit einer bestimmten Quan- tität Pepsin stets nur eine bestimmte Quantität Eiweiss auflösen könnte. Das ist aber durchaus nicht der Fall, sondern es kommt ja immer darauf an, wie viel Flüssigkeit für die Auflösung gegeben ist. Wenn ich auch nur eine relativ kleine Menge von Pepsin habe, mir aber gestattet ist, diese kleine Menge von Pepsin in einer hinreichend grossen Menge einer richtig titrirten verdünnten Säure aufzulösen, und wenn mir zweitens unbegrenzte Zeit für die Verdauung gegeben ist, so kann ich mit dieser kleinen Menge von Pepsin eine sehr grosse Menge von Eiweiss auflösen. Wenn ich dagegen auch eine verhältnissmässig grosse Menge von Pepsin mit einer kleinen Menge von verdünnter Säure anmache und in diese nun eine überschüssige Quantität von Eiweiss hineinthue, so wird nach kürzerer oder längerer Zeit die Menge der Verdauungsproducte so gross, dass die ganze Verdauung sistirt wird, und ich bilde mir nun ein, ich hätte diejenige Menge von Eiweiss gelöst, welche ich mit der vorhandenen Pepsinmenge überhaupt hätte auflösen können, während ich thatsächlich, Quantitative Bestimmung des Pepsins. dlO wenn ich mehr verdünnte Säure genommen und mir mehr Zeit gelassen hätte, vielleicht die hundertfache Eiweissmenge mit derselben Quantität Pepsin hätte auflösen können. Bei allen quantitativen Pepsinbestimmungen ist es wichtig, den Säuregrad immer gleich einzurichten, und den passenden Säuregrad zu treffen, denjenigen, bei welchem die Verdauung am besten von statten geht. Dieser ist nun nicht ganz gleich für rohes Fibrin und für durch Hitze geronnenes Eiweiss. Wenn man die Versuche bei gewöhnlicher Zimmertemperatur, also bei einer Temperatur von 18° C. anstellt, so liegt der beste Säuregrad für Fibrin zwischen 0,8 und 1,0 Gramm CIH im Liter, dagegen liegt der beste Säuregrad für in der Hitze geronnenes Eiweiss bei derselben Temperatur zwischen 1,2 und 1,6 Gramm im Liter. Das Eiweiss verlangt also etwas mehr Säure als das rohe Blutfibrin. Einen wesentlichen Einfluss hat die Temperatur. Wenn man nämlich die Verdauungsversuche in einem Brütofen zwischen 37*^ und 38*^ C, also der Temperatur des menschlichen Körpers anstellt, so findet man, dass viel rascher verdaut wird. Damit hängt es zusammen, dass die warmblütigen Thiere sehr viel rascher verdauen als die kaltblütigen. Das Pepsin der kaltblütigen Wirbelthiere verhält sich in höheren Tempe- raturen ganz so wie das der warmblütigen, und soll nach den Versuchen von Morisier seine Wirksamkeit noch bei 0 Grad gezeigt haben, während mit Hundepepsin bei dieser Temperatur nicht mehr merklieh verdaut wurde. Es scheint, dass bei den Insecten noch dasselbe verdauende Princip vorkommt oder doch ein sehr ähnliches. Dr. v. Basch hat in den sogenannten Speicheldrüsen der Blatta orientalis einen sauren Saft gefunden, welcher sich bei Verdauungsversuchen ganz so verhält, wie der saure Magensaft der Wirbelthiere. Möglicher Weise ist das Pepsin selbst in der Pflanzenwelt verbreitet. Das Ob und Inwieweit ist indessen noch nicht sichergestellt. Nur das ist unzweifelhaft, dass im Pflanzenreiche Substanzen vorkommen, die in ähnlicher Weise lösend auf geronnene Eiweisskörper einwirken. Es wird nicht nur rascher verdaut bei der Temperatur des menschlichen Körpers, sondern man ist auch unabhängiger vom Säure- grade, indem bei dieser erhöhten Temperatur die Verdauung des durch Hitze geronnenen Eiweisses ziemlich gleich gut mit Säuregraden von 1 bis 7 pro mille vor sich geht. Bei den kaltblütigen Thieren, die über- haupt sehr langsam verdauen und einen langsamen Stoffwechsel haben, kommt nicht viel darauf an, ob sie das eine oder das andere Mal etwas rascher oder langsamer verdauen. Bei uns aber, bei unserem raschen Stoffwechsel kommt es immer darauf an, dass unsere Verdauung zur rechten Zeit beendigt sei, dass sie nicht protrahirt werde. Es ist des- halb bei uns wünschenswerth, dass bei unserer Körpertemperatur von 37*^6 C. ein grösserer Spielraum für den Säuregrad vorhanden sei; der Fortgang unserer Verdauung ist dadurch weniger von der etwas mehr oder weniger sauren Beschaffenheit unseres Magensaftes abhängig. F. Kretschy stellte an einer Kranken mit einer Magenfistel Ver- suche über den Säuregrad des Mageninhaltes an. Er bediente sich dabei einer Lösung von kohlensaurem Natron , von der 1 Kubikcentimeter 10 Milligramme Oxalsäure sättigte. Im Laufe der Verdauuugszeit steigerte sich die Säuremenge und hob sich im letzten Viertheile oder Dritt theile ol6 Die Verdauungsproducte. ZU solcher Höhe, dass für den Liter Flüssigkeit das ISTeutralisations- äquivalent von 3. Grammen ClH nothwendig gewesen sein würde. In den Zwischenzeiten zwischen den verschiedenen Verdauungen trat neutrale E.eaction ein, Heidenhain fand bei Hunden im direct aufgefangenen Secret der Fundusdrüsen die Säure im Mittel entsprechend 0,52 % Salzsäure und unabhängig von der Verdauungszeit. Es ist deshalb wahrscheinlich, dass aiich beim Menschen die am Magensaft beobachteten Schwankungen des Säuregehalts nicht mit einem Schwanken des Säuregehalts des Secretes der besagten Drüsen zusammenhängt , sondern daher rührt, dass dieses Secret bald einen grösseren, bald einen geringeren Bruch- theil des gemischten Mageninhaltes ausmacht. Die Yerdauimg 81)1*0 (liiete. "Wir müssen unterscheiden zwischen Verdauungsproducten erster Ordnung, das heisst zwischen dem, was unmittelbar nach der Lösung entsteht , und zwischen Verdauungsproducten zweiter Ordnung oder secundären Verdauungsproducten, welche bei weiterer Einwirkung des Magensaftes entstehen. Das Bindegewebe wird umgewandelt in eine leimähnliche Substanz, in eine Substanz, welche sich gegen Eeagentien wie Leim verhält. Bei dieser Umwandlung spielt ohne Zweifel die Säure wiederum eine wesent- liche Rolle. Denn man kann auch ohne Pepsin Bindegewebe nach Ein- wirkung einer Mineralsäure durch Wasser von verhältnissmässig niederer Temperatur in Leim umsetzen. Es wurde dazu zuerst von Kuthay schwefelige Säure, dann von Rollet Schwefelsäure angewendet, und es ist bekannt, dass Bindegewebe beim Kochen in angesäuertem Wasser viel schneller in Leim umgewandelt wird, als beim Kochen in reinem Wasser. Es wird als ein wesentlicher Unterschied des sogenannten Leim- peptons, das heisst des Verdauungsproductes des Leimes angegeben, dass dasselbe beim Erkalten keine Gallerte gibt. Ich habe aber keine Er- fahrung darüber, ob dieses Product im Magen unmittelbar nach der Lösung des Bindegewebes entsteht, oder ob erst gewöhnlicher Leim ent- steht, der dann erst bei weiterer Einwirkung des Magensaftes seine Gerinnbarkeit verliert. Beim Menschen muss man noch hinzubringen, dass ja das Bindegewebe von ihm nicht im rohen Zustande genossen wird, sondern dass es theils ganz, theils halb in Leim umgewandelt ist. Rohes Hühnereiweiss, natives Eiweiss, wird nach und nach in fällbares Eiweiss umgewandelt. Man kann leicht zeigen, dass hierzu die Säure allein ausreicht; denn, wenn man Eiweiss mischt einerseits mit der verdünnten Säure allein, andererseits mit einer Verdauungsfl-üssigkeit von gleichem Säuregrade, so geht diese Umwandlung in fällbares Eiweiss in der Verdauungsflüssigkeit durchaus nicht schneller von statten als in der blos verdünnten Säure. Ja in Meissner 's und meinen Versuchen ging sogar in der blos verdünnten Säure diese Umwandlung schneller von statten, als in der Verdauungsflüssigkeit. Wenn man rohes Blutfibrin verdauet, und unmittelbar nach der Aiiflösung die filtrirte Flüssigkeit mit etwas Ammoniak neutralisirt, so Die Verdauungsproducte. dl7 bildet sich, sobald die Säure so weit abgestumpft ist, daes die Flüssig- keit blaues Lakmuspapier nur noch violett oder schwach roth färbt, ein Niederschlag. Dieser Niederschlag löst sich in überschüssigem Alkali wieder auf und löst sich auch wieder auf in überschüssiger Säure. Er verhält sich hierin wesentlich wie Syntonin, wie durch Säuren verändertes Ei- weiss. Wenn man aber die Flüssigkeit, welche man von diesem Nieder- schlage abfiltrirt hat, zum Sieden erhitzt, so gibt sie noch wiederum ein Coagulum; sie enthält also noch natives Eiweiss. Der Grund, dass man dieses native Eiweiss früher oft übersehen hat, liegt darin, dass man die sauren Verdauungsproducte erhitzte und nun erwartete, dass sich ein Coagulum bilden sollte. Es coagulirte aber nichts, weil bei einem solchen Säuregrade in der Wärme das native Eiweiss in Syntonin um- gewandelt wird und sich nicht ausscheidet, wenn es nicht in sehr grosser Menge vorhanden oder mit viel Salzen gemischt ist. Das rohe Fibrin gibt also ein fällbares Eiweiss und lösliches Eiweiss als erste Verdauungsproducte, und gerade so verhält es sich mit dem rohen Fleische. Anders aber verhält es sich mit sämmtlichen gekochten Eiweisskörpern, mit gekochtem Fleische, gekochtem Fibrin und gekochtem Hühnereiweiss. Alle diese geben zwar auch das sogenannte Neutralisations- präcipitat, das heisst, die Lösung lässt eine Quantität eines Eiweiss- körpers fallen, wenn man sie neutralisirt, aber wenn man dann die abfiltrirte Flüssigkeit erhitzt, so bekommt man kein Coagulum mehr, es ist also kein natives Eiweiss in den Verdauungsproducten vorhanden. Es liegt darin ein grosses Räthsel unserer Ernährung. Der grösste Theil unserer Säftemasse ist mit nativem Eiweiss durchsetzt, natives Eiweiss verbrauchen wir und natives Eiweiss müssen wir wieder ersetzen. Nun nehmen wir aber alle Eiweisskörper im gekochten Zustande zu uns, und am Ende der Magenverdauung können wir in den Verdauungsproducten gar kein natives Eiweiss nachweisen. Dieses muss also auf irgend einem anderen Wege wieder entstehen. Der Eiweisskörper, welcher in Gestalt des Neutralisatiouspräcipitats herausgefällt wird, ist eigentlich nicht wirklich gelöst in der Flüssigkeit enthalten, sondern nur in hohem Grade aufgequollen. Man kann sich davon überzeugen, wenn man die filtrirten Verdauungsproducte ansieht, während die Sonne darauf scheint. Man bemerkt dann, dass die Flüssig- keit opalisirend ist, und wenn man eine Linse nimmt und lässt einen Lichtkegel hineinfallen, so sieht man den Weg des Lichtkegels wie in einer fluorescirenden Flüssigkeit. Es ist dies aber keine Fluorescenz, sondern es rührt dies her von Reflexion an kleinen festen Körpern : denn, wenn man eine Turmaliuplatte oder ein Nicol'sches Prisma vor seinem Auge herumdreht und durch dasselbe die Flüssigkeit mit dem Strahlenkegel ansieht, so bemerkt man, dass es eine Stellung gibt, bei der der Strahlenkegel ein Maximum von Helligkeit hat, und dass bei einer Drehung um 90*^ ein Minimum der Helligkeit eintritt, dass also das Licht, das aus der Flüssigkeit kommt, polarisirt ist. Wenn neutra- lisirt wird, geschieht eigentlich nichts Anderes, als dass die kleinen Flöckchen schrumpfen und sich nun als Niederschlag zu Boden senken. Damit klärt sich die Flüssigkeit und ihre Opalescenz, ihre anscheinende Fluorescenz hat aufgehört. Sie entsinnen sich, dass wir schon bei dem fällbaren Eiweiss im Allgemeinen gesehen haben, dass die Erscheinungen ol8 L>ie Verdauungsprodncte. 1 SO sind, dass sie sich viel besser auf einen Quellungsprocess und einen Schrumpfungsprocess zurückführen lassen, als auf eine wahre Auflösung und Fällung. Wenn man künstliche Verdauungsversuche anstellt und von Zeit zu Zeit die Flüssigkeit untersucht, so findet man, dass die Fällungsmittel für Eiweisskörper eins nach dem andern unwirksam werden, und dass zuletzt die Flüssigkeit von allen den Reagentien, welche Lösungen von Eiweisskörpern fällen, nicht mehr gefällt wird, mit Ausnahme von Gerb- säure, von Phosphorwolframsäure, von Phosphormolybdänsäure und Jod- quecksilberkalium, welche in der sauren Lösung noch einen Niederschlag hervorbringen. Die Körper, welche nun darin sind, haben nicht mehr die Charaktere der Eiweisskörper, wenn sie auch noch einzelne derselben besitzen, namentlich sich noch mit Salpetersäure und Ammoniak gelb färben. Diese Körper nennt man Peptone. Da die ßeactionen der Eiweiss- körper allmälig verschwinden, muss man eine gewisse Grenze festsetzen, von welcher an man diese Körper Peptone nennt. Man findet diese Grenze conventioneil in der Fällung mit Blutlaugensalz aus der sauren Lösung. So lange ein Bestandtheil des Verdauungsgemisches noch durch Blutlaugen- salz aus sauren Lösungen gefällt wird , heisst er ein Eiweisskörper : wenn er aber nicht durch Blutlaugensalz aus sauren Lösungen gefällt wird, aber noch gefällt wird durch Gerbsäure, Phosphorwolframsäure, Phosphormolybdänsäure und Jodquecksilberkalium, dann heisst er ein Pepton. Es herrscht indessen in der Nomenclatur keine Ueberein- stimmung. Lehmann und Meissner nennen Substanzen Peptone, die noch durch Blutlaugensalz gefällt werden, während Mulder von seinen Peptonen verlangt, dass sie aus saurer Lösung nicht nur nicht durch Blutlaugensalz, sondern auch nicht durch Alkohol gefällt werden. Diese Peptone sind von Einigen für Umwandlungsproducte, von Anderen für Zersetzungsproducte der Eiweisskörper gehalten worden. Jetzt nimmt man gewöhnlieh an, dass die ersten chemischen Veränderungen in Hy- dratation, in der Aufnahme der Elemente des Wassers bestehen, da es Hofmeister gelungen ist, durch Wasseraustreibung an Verdauungs- producten Eiweissreactionen, die sie nicht mehr zeigten, wieder herzu- stellen. Ueber ähnliche Regenerationsversuche berichtet Danilewski. W. Kühne sieht das Eiweiss an als aus zwei präformirten Theilen bestehend, welche einzeln und nach einander der Magenverdauung unter- liegen und verschiedene Verdauungsprodncte geben. Er hat in Gemein- schaft mit E. Chittenden die Eigenschaften und die procentische Zu- sammensetzung derselben untersucht. In der That ist ja die Einfachheit der Eiweisskörper, wie wir sie als Albumin, Fibrin, Syntonin, Casein u. s. w. benennen, nicht bewiesen. Vielleicht bedarf es gar nicht einmal einer Spaltung im chemischen Sinne des Wortes, um sie in Bestandtheile zu zerlegen. Vielleicht sind sie, wie dies auch schon vermuthet worden ist, Gemenge von untereinander ähnlichen, aber nicht identischen Substanzen, die sich miteinander ausscheiden, miteinander gefällt werden. Chemische Individuen sind sie für uns nur so lange, als wir sie nicht in Gemeng- theile zerlegt haben. Wir wissen über die chemische Natur der soge- nannten Peptone wenig, es ist indessen durch mehrere Untersuchungen in hohem Grade wahrscheinlich geworden , dass ausser dem in dem Neutralisationspräcipitate enthaltenen Eiweisskörper, noch ehe weitere Die Verdauuii^'sproduule. öU Zersetzungen eintreten, ein anderes Product entsteht, das der Gruppe der Eiweisskörper als solcher zugezählt werden muss, aber durch Neutra- lisation nicht mehr fällbar ist. Man hat früher allgemein die Vorstellung gehegt, dass diese Peptone sich im lebenden Körper wieder vereinigten oder regenerirt würden zu Eiv^eisskörpern, dass alle Eiweisskörper erst in Peptone umgewandelt werden müssten, und dass sich der Körper aus diesen Peptonen wiederum das Eiweiss schaffe, das er braucht. Man war durch eine seltsame Eeihe von Missverständnissen und Fehlschlüssen zu der Idee gekommen, dass überhaupt die Eiweisskörper als solche nicht resorbirt werden könnten, und deshalb sah man sich zu der Annahme gedrängt, dass sie erst in Peptone umgewandelt und dann regenerirt werden müssten. Man weiss aber jetzt, dass die Eiweisskörper als solche, und zwar in nicht un- beträchtlicher Menge, der Eesorption anheimfallen. Es ist also auch die Annahme nicht mehr selbstverständlich, dass die Peptone zu Eiweiss- körpern regenerirt werden. Wenn sie noch weiter bestehen soll, so muss sie durch positive Thatsachen gestützt werden. Dies zu thun haben in neuerer Zeit Plosz und Maly unternommen. Ersterer fütterte einen jungen Hund mit Zucker, Fett iind den Verdauungsproducten von Fibrin, aus denen er alles native Eiweiss und alles durch JS'eutralisation fällbare entfernt hatte. Das Thier wuchs und nahm an Gewicht zu, und zwar in 18 Tagen um 101 Gramm. Letzterer fütterte unter Beihülfe von Kohlehydraten, Fett und Weizenasche eine Taube mit dem Alkohol- präcipitate eines Gemenges von Fibrinverdauungsproducten, aus dem das durch Neutralisation und Kochen fällbare abgeschieden war, das aber noch theilweise gefällt wurde durch Blutlaugensalz , wenn nur freie Essigsäure, keine freie Salzsäure, darin enthalten war. Die Fütterung gelang gleichfalls, und das Thier nahm nicht unbeträchtlich an Gewicht zu. Es wird sich nun darum handeln, eine bestimmte Reaction zu er- mitteln, welche die Verdauungsproducte, die im engeren Sinne des Wortes assimilirt werden oder assimilirt werden können, von denen unterscheidet, bei welchen dies nicht der Fall ist, von denen, die resorbirt direct dem weiteren Zerfalle entgegengehen. Dass dieser Zerfall stets für einen Theil der Eiweisskörper der Nahrung eintritt, darüber kann nach den Fütterungsversuchen von Voit kein Zweifel mehr obwalten. Es bezieht sich darauf, was ich Ihnen früher sagte, dass die am leichtesten ver- daulichen Nahrungsmittel vielleicht nicht gerade diejenigen sind, welche am besten ausgenützt werden. Denn am besten ausgenützt wird nach unseren jetzigen Vorstellungen ein Eiweisskörper als Nahrungsmittel dann, wenn von ihm möglichst viel in wenig modificirter Gestalt resorbirt wird, und möglichst wenig schon im Magen oder Darmkanal eine tiefer eingreifende Zersetzung erfährt. Wenn man Verdauungsproducte von Eiweisskörpern mit Kali und einem Kupferoxydsalz versetzt , als wolle man nach Eiweisskörpern suchen, so erhält man eine schön purpurrothe Färbung. Da man mittelst Biuret auf demselben Wege eine ähnliche Färbung hervorrufen kann, so nennt man diese Eeaction die Biuretreaction oder Peptonreaction. Wenn man durch die so erhaltene rothe Flüssigkeit andauernd Kohlen- säure hindurchleitet, so wird sie blau, wie dies auch bei der eigentlichen Biuretreaction geschieht. Am stärksten gibt die Biuretreaction ein 020 Fette und Kohlehydrate während der Magenverdauung. Verdauungsproduct, das nicht durch die gewöhnlichen Eällnngsmittel für Eiweisskörper, wohl aber durch Phosphorwolframsäure, Phosphor- molybdänsäure und Kaliumquecksilberjodid gefällt wird. Es ist in Alkohol löslich, so dass es durch diesen aus der wässerigen Lösung bei keiner Eeaction ausgefällt werden kann, weder bei saurer, noch bei neutraler, noch bei alkalischer, färbt sich mit Salpetersäure und Kali gelb und gibt auch die Eeaction mit der Milton'schen Flüssigkeit. Man benutzt die sogenannte Biuretreaction, um „Pepton" — wir haben früher gesehen, dass dies nur ein Sammelname ist für verschiedene Verdauungsproducte der Eiweisskörper — nachzuweisen; aber nur grössere Mengen der sich mit Kali und Kupferoxyd roth färbenden Verdauungsproducte lassen sich neben Eiweisskörpern so nachweisen, geringe Spuren nicht, da die Eiweiss- körper als solche schon eine violette, nicht, wie bisweilen gesagt wird, eine blaue Farbe geben. Dass bei der Magenverdauung bei Weitem nicht alle Eiweisskörper in sogenannte Peptone umgewandelt werden, kann man auf das schla- gendste beweisen. Erstens findet sich zu jeder Zeit der Magenverdauung Eiweiss in den Verdauungsproducten, das durch ISTeutralisation gefällt werden kann, und zweitens werden die Eiweisskörper im Magen gar nicht einmal vollständig gelöst. An einer Patientin, welche in Folge einer Verwundung eine hochliegende Dünndarmfistel hatte, beobachtete Busch, dass die ersten Spuren der genossenen Speisen schon zwischen 15 und 35 Minuten nach der Nahrungseinnahme aus der Fistelöffnung austraten. Bekanntlich verweilen im Ganzen die Nahrungsmittel im Magen drei bis vier, in manchen Fällen auch sechs bis sieben Stunden. Nach dieser Zeit entleert sich der Magen ; nur die Nacht macht nach den Beobachtungen von Busch eine Ausnahme, indem er häufig noch am andern Morgen Nahrungsmittel aus der FistelöfFnung austreten sah, die am Abend vorher genossen worden waren. Aber selbst die Zeit, die hier verflossen war, w^ürde nach unseren künstlichen Verdauungs- versuchen viel zu kurz sein, um alle Eiweisskörper in Peptone umzu- wandeln, und die directe Erfahrung zeigt auch, dass nicht nur Eiweiss- körper in den Dünndarm übergehen, sondern dass selbst noch ungelöste Eiweisskörper in den Dünndarm in ziemlicher Menge übergehen. Wenn man den Dünndarminhalt mikroskopisch untersucht, so findet man immer eine grosse Menge von Muskelfasern und Trümmer von Muskelfasern in demselben. Es beruht dies darauf, dass im Magen das Bindegewebe aufgelöst worden ist, die Muskelfasern auseinandergefallen sind, aber dass nicht die hinreichende Zeit vorhanden war, um auch alle Muskel- fasern aufzulösen. Fette und Kohlehydrate während der MagenTerdauung'. Ehe wir die Magenverdauung verlassen, müssen wir noch der übrigen Nahrungsmittel gedenken, der Fette und der Kohlehydrate. Die Fette werden im Magen wenig verändert, man findet sie in grossen Tropfen und anscheinend unverändert vor. Nur ausnahmsweise und unter nicht näher bekannten Umständen scheinen sich fette Säuren in einiger Menge abzuspalten. Von der Veränderung der Kohlehydrate, speciell TTeberti'itt der Nahrungsmittel in das Duodenum. 321 von der Veränderung der gekochten Stärke haben wir schon gesprochen. Wir haben gesehen, dass zu Anfang, so lange die Reaction noch nicht zu sauer ist , der Speichel seine Wirkung fortsetzt, und namentlich Stärke in Dextrin und zunächst in Erythrodextrin umsetzt. Nach Ver- suchen an Hunden tritt aber im späteren Verlaufe der Mageuverdauung, mehrere Stunden nach der iSTahrungseinnahme noch eine andere Verände- rung, die Milchsäuregährung auf. Dass Milchsäure im Magen aus den Kohlehydraten gebildet wird, weiss man seit langer Zeit. Aber man hat dies immer so aufgefasst, als ob diese Milchsäure nur ans dem eingefiihrten, oder aus dem durch die Einwirkung des Speichels aus der Stärke erzeugten Zucker gebildet würde. Es hat sich nun gezeigt, dass auch die Stärke durch den Umsetzuugsprocess, der die Milchsäure er- zeugt, in Mitleidenschaft gezogen wird, und zwar, dass sie zunächst um- gewandelt wird in Erythrodextrin, von Erythrodextrin in Achroodextrin, dann weiter verändert wird und Milchsäure gibt, höchst wahrscheinlich, indem zuerst Achroodextrin und Zucker gebildet wird, der sich gleich wieder verwandelt, so dass man davon immer nur verhältnis.smässig sehr geringe Mengen im Magen findet. Es ist wesentlich derselbe Process, wie er beim Sauerwerden der Weberschlichte vor sich geht. Wenn man Kleister sich selbst überlässt , verschwindet nach und nach die blaue Stärkereaction ; eine Probe von der Substanz färbt sich mit Jod roth, sie wird dabei sauer, es geht die bekannte Umwandlung von Stärke in Erythrodextrin und Zucker, und endlich in Milchsäure vor sich. Wir glauben zu wissen, dass ausserhalb des Körpers diese Veränderung durch ein Ferment erzeugt wird, welches aus der Luft in den Kleister hinein- gelaugt. Wahrscheinlich geht in analoger Weise auch innerhalb de.s menschlichen Körpers dieser Gähruugsprocess vor sich, indem ja der Magen nicht systematisch gereinigt wird, sondern alles Mögliche in ihn hineingelangt. Die wesentlichsten Versuche sind bis jetzt an Hunden angestellt worden. Bei diesen wird die Reaction viel früher und stärker sauer als beim Menschen. Eei Hunden kommt also weniger von der Umwandlung der Stärke auf Rechnung des Speichels, und mehr auf Rechnung der Milchsäuregährung. Beim Menschen wnrd offenbar relativ mehr von der Umwandlung der Stärke auf Rechnung des Speichels kommen, weil der Speichel wegen der schwächer sauren Reaction länger einwirken kann. Uebcrtritt der Naliriiiigsmittcl in das Duodenum. Die Nahrungsmittel verlassen, wie gesagt, den Magen nicht plötzlich, sondern allmälig, und schon in einer sehr frühen Periode sah Busch, wie erwähnt, kleinere Mengen in den Darm gelangen. Aber zuletzt, gegen das Ende der Verdauung, pflegen sich doch die Contractionen, die den Speisenbrei in den Dünndarm hinüberführen, zu verstärken, iind es kann die Frage entstehen : Was ist es eigentlich, was diese Contractionen anregt? Ein mechanischer Reiz kann es nicht wohl sein, denn als die Speisen verschlungen wurden und noch nicht aiifgelöst waren, mussten sie offenbar mehr mechanischen Reiz ausüben als später, nachdem sie verdaut worden sind. Man kann also nur entweder annehmen, dass das Ausstossen des Speisenbreies aus dem Magen eine Er.scheinuug sei, Brücke. Vorlesungen I. 4. Aufl. 21 o2i2i Anatomie des Danurohres. welche bis zvi eiuem gewissen Grade an eine bestimmte Zeit gebunden ist, so dass aus inneren Ursachen, ohne dass ein besonderer äusserer Eeiz einzuwirken braucht, Contractionen des Magens erfolgen, welche den Speisenbrei austreiben, oder man muss annehmen, dass es die vermehrte Säure ist, welche einen Reiz auf die Magenwanduugen ausübt. Die Menge der Säure steigt gegen das Ende der Verdauung. Die Substanzen, die wir in den Magen hineingebracht haben, reagiren an und für sich nicht nothwendig sauer, und wohl selten so sauer wie der Magensaft; aber während der Verdauung wird fortwährend neuer Magensaft abge- sondert und damit seine Eeaction die herrschende. Nach dem Genüsse von Kohlehydraten wird, wie wir gesehen haben, ausserdem noch Säure aus diesen gebildet. Anatomie des Darmrohres. Wir unterscheiden im Darmkanale ebenso wie im Magen drei Schichten : die Schleimhaut, das submueöse Bindegewebe oder die Tunica nervea seu vasculosa und die Muskelhaut; dazu kommt noch an den- jenigen Th eilen , an welchen der Darm vom Peritonäum überzogen ist, der Peritonäalüberzug. An der Schleimhaut bemerken wir lange Hervor- raguugen, die Darmzotten, und zwischen diesen sack- oder handschuh- fingerförmige Einsenkungen unter das Niveau der Schleimhaut, die Lieberkühn'schen Krypten. Die Zotten sind überzogen von dem Cylinder- epithel, das, wie wir gesehen haben, in der Cardia anfängt und sich von da an durch den Magen und durch den ganzen Darm fortsetzt und auch die Krypten auskleidet. Die Cylinderzellen der Zotten zeigen an ihrer Oberlääche, an ihrem dem Darme zugekehrten Ende einen eigenthüm- lichen Saum, welchen schon Gruby und Delafond kannten und mit dem Namen des bourrelet bezeichneten, weil er sich gewöhnlich oben etwas verbreiterte, so dass sie ihn mit dem Fries an der Kanone ver- glichen, welcher im Französischen bourrelet heisst. Später entdeckte man an diesem Saume eine Streifung, welche mit der Längsaxe der Zellen parallel läuft, und man deutete diese Streifung anfangs fälschlich als den Ausdruck eines Systems von Porenkanälen, welche die hier oben angeb- lich verdickte Zellenwand durchsetzen sollten. Hier oben existirt aber gar keine Zellenwand, sondern die Zellmembran aller Cylinderzellen, auch der Flimmerzellen, ist becherförmig, und oben ist sie offen, so dass das in dem Becher liegende Protoplasma nach oben zu nirgends von ihr bedeckt wird, und Brettauer und Steinach haben gezeigt, dass unser Saum aus einem System von äusserst kleinen, ^'&- **'• stäbchenförmigen Gebilden besteht , welche cz=>, unmittelbar auf das Protoplasma aufgepflanzt Äj;s|, I / oder in das Protoplasma eingepflanzt sind und '%li<§ \ / demselben wie die Haare einer Bürste auf- w sitzen. Man kann sich davon am besten über- a 0 c zeugen, wenn man dergleichen Zellen in einer verdünnten Lösung von chromsaiirem Kali oder von phosphorsaurem Natron macerirt. Da geht das Protoplasma bei einer grossen Anzahl von Zellen aus der becherförmigen Hülle heraus : man sieht die becherförmige leere Hülle daneben liegen, uiid Anatomie des Darmrohres. ö2ö sieht das rundlich aufgequollene oder unregelmässige Protoplasma, auf dem an einer Seite die kleinen Stäbchen aufsitzen. Fig. 40 zeigt in a zwei unversehrte Cylinderzellen mit den Stäbchen, b zeigt den ausge- tretenen Protoplasmaleib, wiederum mit den Stäbchen, und c die leere becherförmige Hülle, die Zellmembran. Dieser Saum, oder wie wir es jetzt nennen wollen, dieses Stäbchenorgan scheint eine sehr grosse Ver- breitung im Thierreiche zu haben. Man findet es nicht nur bei den Wirbelthieren, man kennt es schon bei den Insecten, und mau kennt es auch bei Ascaris lumbricoides, welcher sogar das schönste Object für die Untersuchung bietet, weil die Stäbchen ausserordentlich viel grösser und länger sind als beim Menschen. Bei den Wirbelthieren gehören sie mit zu den schwierigsten Objecten der mikroskopischen Untersuchung. Brettauer und Steinach haben bemerkt, dass bei Thieren, welche gefastet haben, der Saum breiter ist, und die Streifen deutlicher sind, dass dagegen bei Thieren, welche gefüttert worden sind, bei Thieren, die sich in der Kesorption befinden, der Saum schmäler ist und die Strichelung desselben undeutlicher. Man kann dies vielleicht so erklären, dass sich, wenn die Resorption im Gange ist, die einzelnen Stäbchen verkürzen und dabei dicker werden. Die Folge davon muss sein, dass der Saum schmäler, und zweitens, dass die Strichelung weniger deutlich wird, weil sich dann die einzelnen Stäbchen aneinanderdrängen, während umgekohrt, wenn sie länger und dünner werden, die Strichelung deut- licher werden muss, und zugleich der Saum breiter. Man lässt gewöhnlich auf das Cylinderepithel der Zotten eine soge- nannte Grundmembran, oder wie sie von den Engländern, die sie zuerst beschrieben, genannt wird, eine basement membrane folgen. Es ist jedoch dieselbe auf den Zotten niemals isolirt worden , sondern nur an den Lieberkühn'schen Krypten, und man lässt sie, da mau nicht sagen kann, dass sie am Grunde der Zotten aufhöre, sich auch über diese erstrecken. Unter dem Epithel, beziehungsweise unter der hypothetischen Grund- membran, liegt das mantelartig gebildete Capillargefassnetz der Zotten. In jede Zotte geht eine kleine Arterie hinein, welche bereits in der unteren Hälfte capillar zerfällt und das mantelartige Capillarnetz bildet, aus dem sich im oberen Theile der Zotte eine Vene entwickelt, die, jedesmal nach innen von den Capillargefässen liegend, in der Zotte herabläuft. Es können dieser Arterien und Venen auch mehrere sein. Die Zotten sind nämlich bei verschiedenen Thieren und an verschiedeneu Orten bald faden- oder fingerförmig, bald keulenförmig, bald zungenförmig, bald flach und blattförmig, und in diese breiteren, blattförmigen Zotten geht nicht nur eine Arterie hinein und eine Vene heraus, sondern mehrere. Die Zotten des Menschen dagegen sind im Allgemeinen nicht breit und nur massig abgeplattet, so dass in der Regel nur eine Arterie hineingeht und eine Vene wieder herauskommt. Die in einzelnen Büchern gemachte Angabe, dass die Arterie in der Zotte hinauflaufe, sich oben in das Capillargefassnetz vertheile, und dass sich aus diesem Capillarnetz an der Wiirzel der Zotte die Vene sammle, rührt von einer Verwechslung '»on Venen xind Arterien her. Nach innen von dem Capillarnetz und in den Maschen der Capillargefässe liegt das eigentliche Zottenparenchym. Man bezeichnet es gewöhnlich mit dem Namen des Bindegewebes, so wie man auch das Stroma der eigentlichen Schleimhaut mit dem Namen 21* o24 Anatomie des Darmrohres. des Bindegewebes bezeichnet. Es ist aber ein eigenthüraliches Gewebe, welches wir später bei der Resorption genauer werden kennen lernen. In diesem Stroma liegeii glatte Muskelfasern, welche nicht einen zu- sammenhängenden Mantel bilden, sondern einzelne Bündel oder Stränge, welche die Zotte hinauflaufen. In der Axe der Zotte befindet sich ein Hohlraum, der sogenannte innere Zottenraum , in welchem, wie wir später sehen werden, sich der Chylus zuerst ansammelt, welcher also in dieser Beziehung als der Anfang des Chylusgefässsystems bezeichnet werden kann. Ejne selbstständige Wand lässt sich an demselben noch nicht unterscheiden. Er erscheint auf Durchschnitten wie ein direct im Zottenparenchym gegrabener Hohlraum. Wenn er mit salpetersaurem Silber ausgespritzt und das Object belichtet wird, erscheinen indessen an seinen Wandungen Zeichnungen, wie man sie jetzt allgemein als Endothelzeichnungen benennt. Die Einsenkungen unter das Niveau der Schleimhaut sind die Lie- berkühn'schen Krypten. Sie sind kleine handschuhfingerförmige oder, da sie im Verhältnisse zur Dicke nicht so lang sind wie ein Handschuhfiuger, beuteiförmige oder sackförmige Vertiefuugen, in welche das Cylinder- epithel der Schleimhaut hinabgeht. Hier kann mau unter dem Cylinder- epithel eine eigene basement membrane, eine Grundmembran nachweisen. Wenn man eine Zotte mit einer sehr kleinen Pincette anfasst — was namentlich bei den grossen blattförmigen Zotten grösserer Vögel, z. B. der Hühner, sehr gut geht — und sie herausreisst, so reisst man von den umstehenden Lieberkühn'schen Krypten das Epithel und die Grund- membran mit heraus, so dass, wenn man das Ganze bei schwächerer und dann bei stärkerer Vergrösserung ansieht, man bemerkt, dass an der Basis der Zotten Beutelchen aus einer glashellen Membran hängen, die mit einem Cylinderepithel ausgekleidet sind, und die nichts Anderes sind als ausgerissene Lieberkühn'sche Krypten. Auf die Grundmembran folgt wiederum das eigentliche Gewebe der Schleimhaut, von welchem wir bei der Lehre von der Resorption näher sprechen werden, und darunter folgt das Muskellager der Schleimhaut, welches die letztere vom submucösen Bindegewebe trennt. Dieses ist hier schon vollständig in zwei Lager gesondert, in ein inneres stärkeres Ringmuskellager und in ein äusseres dünneres Längsmuskellager. Die Elemente desselben gleichen denen in den Zotten, mit welchen sie auch in unmittelbarem Zusammenhange stehen. Sie unterscheiden sich von denen im subperitonäalen Muskellager des Darmes dadurch, dass sie kleiner, namentlich kürzer sind als diese. Hierauf folgt das submucöse Bindegewebe, die Tunica nervea seu vasculosa der Alten, in der die grösseren Gefässe verlaufen, sowohl Blutgefässe als Chylusgefässe, dann folgt das Ringmuskellager, dann das Längsmuskellager des Dünndarms und endlich der Peritonäalüberzug, wo er vorhanden ist. Ueber die Blutgefässe des Darmes ist weiter nichts Besonderes zu bemerken, als dass ihre Capillareu in den verschiedenen Lagern sich vertheilen, endlich die Arterien mit ihren Endästen das submucöse Muskellager durchbohren, die Gefässe in die Zotten hineinschicken und ausserdem Capillaren bilden, welche zwischen den Lieberkühn'schen Krypten in die Höhe gehen und die Mündungen derselben mit zierlichen Gefässkränzen umspinnen, aus denen dann wieder kleine Venen das Blut abführen, die in grössere Anatomie des Darmrohres. 32o einmünden, welche dann das submucöse Muskellager durchbohren und als Venen der Tunica nervea seu vasculosa weiter gehen. An Nerven ist die Darmwand ausserordentlich reich, aber man kennt nirgendwo ihre Endigungen. Man weiss nur, dass zwei grosse Plexus vorhanden siiid, der Meissner'sche Plexus und der Auerbach'sche Plexus oder plexus myentericup, von denen der eine im submucösen Bindegewebe, der andere in der Muskelhaut liegt, reiche Plexus mit zahlreichen mikrosko^jischen Ganglien, die aus einer verhältnissmässig geringen Anzahl von Ganglien- zellen bestehen, die wiederum ihrerseits kleiner sind als die Ganglien- kugeln in den grösseren Ganglien. Im Duodenum liegt ausser den Lieberkühn'schcn Krypten noch eine eigene Art von Drüsen, die Glandulae Brunnerianae oder Brunnianae. Sie sind den Schleimdrüsen sehr ähnlich und wurden früher gleichfalls für acinöse Drüsen gehalten, bis Ant. Schlemmer nachwies, dass sie tubu- löse Drüsen seien. Sie liegen in dichter Schicht, bei manchen Thieren noch viel dichter gestellt als beim Menschen, im submucösen Binde- gewebe, und durchbohren mit ihren Ausführungsgängen die Schleimhaut, lieber ihr Secret wissen wir bis jetzt nichts , weil wir niemals im Stande gewesen sind, dasselbe im isolirten Zustande aufzufangen. Lie- berkühn'sche Krypten und Brunner'sche Drüsen sind die einzigen secer- nirenden Drüsen, welche in der Wand des Dünndarmes vorkommen ; alle übrigen Drüsen , welche hier sonst noch gefunden werden, sind periphere Lymphdrüsen. Sie werden eingetheilt in die Glandulae soli- tariae und in Glandulae agminatae seu Peyerianae. Die Glandulae soli- tariae, welche, wie wir gesehen haben, schon unter dem Namen der Glandulae lenticulares in der Magenwand vorkommen, sind durch den ganzen Dünndarm zerstreut. Die Haufen solcher Drüsen dagegen, die Glandulae agminatae, befinden sich, wie Sie wissen, nur im unteren Theile des Ileums, der Insertion des Mesenteriums gegenüber, und führen den Namen der Peyer'schen Plaques. Jede Solitärdrüse besteht aus einem eiförmigen Drüsenkörper, welcher seiner Hauptmasse nach im submucösen Bindegewebe liegt, sich aber mit seiner spitzeren Kuppe durch das sub- mucöse Muskellager hindurchschiebt. Diese Kuppe liegt zwischen den Darmzotten und ist überzogen von dem Cylindei-epithel des Darms. Der Drüsenkörper selbst ist ein Keimlager^ bestehend aus einem Stroma und aus Zellenkeimen, ganz in ähnlicher Weise, wie wir sie in der Cortical- substanz der Lymphdrüsen kennen gelernt haben. Es gehen auch von aussen Gefässe hinein, so zwar, dass aussen die grösseren Gefässe, die Arterien und Venen liegen, und Capillarschlingen von aussen nach innen gegen die Mitte hinsenden. Nach aussen davon liegt ein becherförmiger Sinus, der in der Mitte in ziemlich grosser Ausdehnung durchbrochen ist. Er umfasst den Drüsenkörper, wie eine Eichel von ihrem Kelche umfasst wird. Dieser Sinus communicirt, wie wir später sehen werden, mit den Chylusgefässen. Wenn Sie sich einmal eine deutliche Anschauung von einer solchen Solitärdrüse verschafft haben, so ist es nicht schwer, sich auch im Baue der Peyer'schen Drüsen zurecht zu finden. Sie haben sich nur eine grosse Menge Solitärdrüsen aneinandergereiht zu denken. Beim Menschen sind sie so nahe aneinandergerückt, dass sie sich berühren, dass sie durch Brücken mit einander verbunden sind, ja manchmal in einiger 326 Diß Leber. x-lusdehnung förmlich mit einander confLuiren. In Folge davon können natürlich die Synns auch nicht einzeln bleiben, sondern dieselben bilden auf der dem Peritonäum zugewendeten Seite ein Netzwerk mit sechs- eckigen Maschen, in welches Sie sich die unteren breiteren Seiten der Drüsenkörper hineiugesenkt denken müssen. Der Dickdarm unterscheidet sich in seinem Baue vom Dünndarme zunächst dadurch, dass hier keine Zotten vorhanden sind, keine Hervor- ragungen über das Niveau der Schleimhaut, sondern nur Einsenkungen unter das Niveau derselben. Diese Einsenkungen sind wiederum die Lieber- kühn'schen Krypten, und hier sind sie mehr handschuhfingerförmig, das heisst, sie sind tiefer, länger als sie im Dünndarme sind. Darunter geht das submucöse Muskellager und das submucöse Bindegewebe hin ; dann folgen die Muskelhäute, von denen die Längsmuskelhaut nicht dem ganzen Dickdarm einen vollständigen TJeberzug gibt, sondern in bandartige Streifen, die sogenannten Tänien, welche das Kolon entlang laufen, ge- sammelt ist. Nach aussen davon folgt der Peritonäalüberzug. Secernirende Drüsen kommen im Dickdarm ausser den Lieberkühn' sehen Drüsen nicht vor, wohl aber periphere Lymphdrüsen, welche hier von Ludwig Böhm unter dem Namen der Glandulae simplices majores beschrieben wurden, im Gegensatze zu den Lieb erkühn' sehen Krypten, welche er als Glandulae simplices minores bezeichnete. Die peripheren Lymphdrüsen des Dick- darmes sind auch vielfach unter dem Namen der Schleimfollikel be- schrieben worden, indem man sie für balgförmige Drüsen hielt, welche. Schleim absondern. Das hängt folgendermassen zusammen. Jede dieser Drüsen liegt im submucösen Bindegewebe und schiebt, wie wir gesehen haben, ihre Kuppe durch das submucöse Muskellager hindurch. Die Kuppe ragt aber nicht sehr hoch empor ; dagegen ist aber die Schleimhaut, von der sich nur das Cylinderepithel über die Kuppe fortsetzt, im Dick- darm verhältnissmässig dick, und die Lieberkühn'schen Krypten sind ver- hältnissmässig hoch. So geschieht es, dass die Kuppen dieser Drüsen, wie sie von den in der Schleimhaut liegenden Krypten umstanden werden, in Gruben liegen. Diese Gruben füllen sich mit dem Schleime, der sich an der ganzen inneren Oberfläche des Dickdarmes befindet, und wenn man einen Druck auf sie ausübt, so treten Schleimklümpchen hervor. Daher glaubte man, dass dies balgförmige Drüsen seien, welche Schleim secerniren. Die Lel>er. Wenn der Speisebrei in den Dünndarm hineinkommt, so wird ihm zunächst das Secret zweier grosser Drüsen zugemischt, welche nicht in der Wand des Darmkanals liegen, das Secret der Leber und das des Pankreas. Wir wollen uns zuerst mit der Leber und mit dem Secrete derselben, mit der Galle beschäftigen, und wollen die Einwirkung stu- diren, die dieselbe auf den Speisebrei ausübt, und dann zum Pankreas- safte übergehen. Sie finden in den Büchern nicht selten die Angabe, dass die Leber eine acinöse Drüse sei. Diese Angabe ist aber nach den Vorstellungen, die man ietzt mit einem Acinus, einem beerenförmigen Secretionselemente, Die Leber. - 327 verbindet, durchaus unrichtig. Diese Angabe hatte nur so lange einen Sinn, als man unter Acinus noch jedes Läppchen verstand, das irgend wie mit einem Ausführungsgange in Verbindung stand, als man noch nicht die wirklich mikroskopischen Elemente der Drüsen kannte, sondern nur diejenigen, welche man durch die Lupe wahrnimmt. Diese angeblichen Acini waren nichts anderes als, wenn ich mich so ausdrücken darf, die Partiallebern, welche man als kleine von rothen Linien abgegrenzte gelb- liche Felder auf der Oberfläche vieler Lebern mit blossem Auge oder mit der Lupe sehen kann. Diese Felder sind dadurch abgegrenzt, dass zwischen ihnen die Aeste der Pfortader, die Aeste der Arteria hepatica, und die Gallenkanälchen verlaiifen. Man nennt deshalb diese Gefässe auch die Vasa interlobularia, indem man heutzutage eine solche Partialleber nicht mehr als einen Acinus, sondern als einen Lobulus der Leber bezeichnet. Häufig sieht man in der Mitte dieses Lobulus noch ein rothes Pünktchen : das ist das Blutgefäss, welches das Blut abführt, das dem Leberläppchen durch die Pfortader und durch die Leberarterie zugeführt worden ist. Es sind diese Pünktchen die Venae intralobulares, die Endäste der Leber- venen. Jede der Partialleberu besteht nun der Hauptmasse nach aus den Leberzellen, aus den Secretionszellen der Leber. Sie enthält ausserdem das Capillarnetz, aus dessen Blut die Galle abgesondert wird, und ent- hält die ersten Anfänge der Gallenkauäle. Die Capillargefässe bilden in radicaler Richtung verlängerte Maschen, welche sich von den Vasa inter- lobularia zu den Vasa intralobularia hinüberspinuen, und auf diese Weise den ganzen Lobulus durchsetzen. Ihre Zwischenräume sind von den Leberzellen ausgefüllt. Die Leberzellen sind polyedrisch gegen einander abgeplattet, haben einen oder mehrere Kerne und ein> körniges Proto- plasma. Zwischen ihnen liegen die Anfänge der Galleukanäle, ausser- ordentlich kleine, enge, wandlose Kanäle, viel enger als die Blutcapillaren. Man glaubte früher von ihnen, dass sie auf den Kanten der Leberzellen hinliefen. E. Hering hat aber nachgewiesen, dass sie durch je zwei Halbrinnen gebildet werden, die auf den Flächen der Leberzellen hin- laufen. Sie bilden auf diese Weise ein zusammenhängendes Netzwerk, welches, sich zwischen den Maschen der Blutgefässe hindurchschiebeud, durch den ganzen Lobulus hindurchgeht. Leichter verständlich ist dieses Verhältniss an den Lebern der niederen Wirbelthiere. Hering hat namentlich die Schlangenleber untersucht und gefunden, dass die Anfänge der Gallenkanälchen Tubuli sind, gebildet von den Leberzellen, wie der Tubulus einer tubulösen Drüse von dem secernierenden Epithel, von den Enchymzellen gebildet wird. Die Schlangenleber ist also als eine tubu- löse Drüse zu betrachten. Um nun den Uebergang zu finden von einer solchen Leber zu der Leber der Säugethiere und des Menschen, muss man sich vorstellen , dass die Zahl der Zellen, welche den Tubulus bilden, für jeden Querschnitt auf zwei reducirt ist ; aber während bei der Schlangenleber jede Zelle nur an der Bildung eines Gallenkauälchens Theil nimmt, betheiligen sich hier die Zellen gleichzeitig an der Bil- dung von mehreren Gallenkanälen ; denn die Galleukanäle liegen überall zwischen den gegeneinandergewendeten Flächen der Leberzellen; aber sie liegen niemals zwischen einer Leberzelle und einem Blutcapillar- gefässe und verlaufen auch niemals so, dass sie etwa mit einem blinden Ende auf ein Blutgefäss aufstiessen, sondern stets so, dass sie in ihrer 328 Die Leber. ganzen Ausdehnung von der Substanz der Leberzellen begrenzt sind und überall geschlossene Maschen, niemals blinde Enden bilden. • Aus dem dichten Netzwerke, welches in dieser Weise gebildet wird, sammeln sich an der Oberfläche des Lobulus grössere Gallengefässe, welche mit einem flachen Epithel ausgekleidet sind, und welche an der Grenze des Lobulus eine bindegewebige Wand bekommen. Dies sind die An- fänge der interlobulär verlaufenden Gallenkanälchen. Sie setzen sich baumförmig zusammen , das Epithel wird immer höher , es wird ein Cylinderepithel, und die bindegewebige Wand wird immer dicker, es treten organische Muskelfasern in derselben auf, die sich zu einer Schicht formiren, welche sich bis an die Einmündung des Gallenganges in den Darm und andererseits auch auf die Gallenblase fortsetzt. Die grossen Gallenkanäle sind in ein ziemlich dickes Lager von Bindegewebe ein- gebettet. Dieses Bindegewebe setzt sich zwischen die Lobuli fort und dringt auch in dieselben ein. Nach den Untersuchungen von v. Fleischl umfasst es mit seinen letzten Ausläufern selbst die einzelnen Leberzellen theilweise. Es ist dasselbe Bindegewebe, in welchem auch die Blut- gefässe verlaufen, und welches die Partiallebern mehr oder weniger voll- ständig, beim Menschen sehr unvollständig, von einander trennt. Beim Schweine, beim Eisbären und bei manchen anderen Thieren ist dieses Bindegewebe viel reichlicher und schliesst deshalb die Partiallebern in besondere Kapseln ein. Das ist aber beim Menschen nicht der Fall, beim Menschen ist es nur spärlich vorhanden, so dass die einzelnen Partiallebern unmittelbar miteinander zusammenstossen, in ziemlicher Ausdehnung mit einander communiciren und auch durch ihre Blutgefässe überall in Verbindung stehen. In diesem Bindegewebe nun, da wo es die grossen Gallenkauäle umgibt, liegen Schleimdrüsen, welche ihr Secret in die Gallgänge hinein ergiessen und der Galle beimischen. Diese Schleimdrüsen sind tubulöse Drüsen, wie alle Schleimdrüsen, welche wir bisher betrachtet haben, aber ihre Tubuli sind im Allgemeinen weniger aufgeknäuelt, sie sind mehr entwickelt und verlaufen darum häufig als lange gewundene Kanäle neben den Gallengängen in dem umgebenden Bindegewebe hin. Sie haben einmal zu einem seltsamen Irrthume Ver- anlassung gegeben , indem man sie für die eigentlichen Anfänge der Gallenkanäle gehalten hat, da sie sich begreiflicher Weise mit Masse injiciren, wenn man solche vom Ductus hepaticus aus einspritzt. Ausserdem sind noch die sogenannten Vasa aberrantia hepatis im Ligamentum trianguläre sinistrum, in der Fossa longitudinalis sinistra, ferner am Fundus der Gallenblase und hinter derselben, zu erwähnen. Sie sind bei Injectionen der Gallengänge als lange schlauchartige Ge- bilde , welche im Bindegewebe verliefen, gefunden worden. Sie sind zuerst von IS,. H. Weber unter dem Namen der Vasa aberrantia hepatis beschrieben und seitdem mehrmals untersucht worden. Nach den Unter- suchungen von Toldt und Zuckerkandl entstehen sie dadurch, dass während des Wachsthums der Leber auch Lebergewebe schwindet, die Leberzellen und feinen Gallengänge vergehen und die gröberen Gallen- gänge nun als Vasa aberrantia zurückbleiben. Das Leberglycogen. «S29 Das Leberglycogen. Die Leberzellen enthalten einen eigenen Stoff, welcher für den ganzen Stoffwechsel von hoher Wichtigkeit ist, und dessen wir schon früher erwähnt haben, das Glycogen. Es wurde gleichzeitig von Bernard und Hensen in der Leber entdeckt und ist seitdem im Körper auch an andern Orten gefunden worden, bei Erwachsenen namentlich in den Muskeln, nicht nur in den Skeletmuskeln, sondern auch in den glatten Muskelfasern, also in allen Organen, in welchen Muskelfasern vorkommen. Im Blute dagegen finden sich nur geringe Mengen eines sich mit Jod rothfärbenden Körpers, von dem man noch immer zweifelhaft sein kann, ob es Glycogen ist, was allerdings nicht unwahi'scheinlich , oder ob es direct resorbirtes Erythrodextrin ist. Das Glycogen ist ferner von Bernard in der Placenta gefunden w^orden. Es kommt ausserdem in den Geweben des Fötus in viel grösserer Menge vor als in den Geweben des Erwachsenen: erstens enthalten die Muskeln des Fötus davon viel mehr, und zweitens kommt es auch im Lungengewebe in bedeutender Menge vor. Die Lunge von Schafembryonen, die 15 Centimeter lang waren, enthielt nach M'Donuell über öO'^/q ihrer trockenen Substanz Glycogen. Endlich kommt es auch in den Hufen und Klauen der Embryonen vor. Hier soll es zunehmen, bis der Schafembryo eine Länge von 9 Centi- meter hat ; dann soll es später wiederum abnehmen, gerade so, wie später das Glycogen auch im Lungengewebe abnimmt. Die beste Quelle, um sich das Glycogen im reinen Znstande zu verschaffen, ist noch immer die Leber. Möglichst rasch nach dem Tode, weil später sich das Glycogen in Zucker umsetzt, entfernt man die Leber aus dem Thierkörper, schneidet sie sofort in Stücke, wirft sie in siedendes Wasser und kocht sie auf. ]S"achdem sie einmal durchgekocht ist, nimmt man sie heraus, zerreibt sie in einem Mörser, thut sie wieder ins Wasser und kocht sie nun längere Zeit. Dann nimmt man das Gefäss vom Feuer und giesst die Brühe vorsichtig ab. Die Brühe ist milchig getrübt. Man giesst noch einmal Wasser auf, kocht wieder, und wenn auch die zweite Flüssigkeit noch milchig getrübt ist, so dass sich noch eine Aus- beute erwarten lässt, vereinigt man diese zweite Flüssigkeit mit der zuerst abgegossenen, kühlt ans und, nachdem man ausgekühlt hat, was zur Beschleunigung am besten mit eiskaltem Wasser oder mit Schnee geschieht, fällt man, indem man abwechselnd verdünnte Salzsäure und eine Lösung von Jodquecksilberkalium hinzusetzt. Diese Lösung von Jodquecksilberkalium bereitet man sich, indem man eine Jodkaliumlösung mit Sublimatlösung fällt, den Niederschlag auswäscht und dann davon so lange in eine heisse Jodkaliumlösung einträgt, als er sich darin noch auflöst. Da das Jodquecksilber in der kalten Jodkaliumlösung weniger löslich ist, als in der heissen, so muss sich beim Erkalten wieder ein rother krystalliuischer Niederschlag ausscheiden. Die so erhaltene Flüssigkeit ist das Reagens, mittelst dessen man aus der mit Chlorwasserstoffsäure angesäuerten Flüssigkeit die darin enthaltenen Eiweisskörper und andere durch Alkohol fällbare stickstoffhaltige Substanzen ausfällt. Man be-. kommt einen reichlichen, sehr compacten, sich stark zusammenziehenden Niederschlag, der sich gut absetzt, und von diesem filtrirt mau die 330 Das Lebei-glycogen. Flüssigkeit ab. Nun setzt man so viel xilkohol hinzu, dass das Glycogen sich reichlich ausscheidet, nicht mehr, weil man durch den Ueberschuss kein Glycogen mehr bekommen würde und durch Vermehrung des Alkohols noch Salze, die im verdünnten Alkohol löslich waren, ausgefällt werden könnten. Man filtrirt vom Glycogen ab und wäscht dasselbe erst mit Alkohol von 61 Volumprocent, dann mit solchem von 95 Volumprocent. Das letztere geschieht deshalb, weil erfahrungsgemäss Glycogen, das nur mit schwachem Alkohol ausgewaschen ist, auf dem Filtrum gummiartig zusammenbackt, während das Glycogen, welches mit starkem Alkohol ausgewaschen und dadurch mehr entwässert worden ist, hinterher auf dem Filtrum in Pulverform bleibt wnä sich leicht von demselben herunter- nehmen lässt. Das so erhaltene Glycogen löst man noch einmal auf und fällt es mit Alkohol, dem man eine sehr kleine Menge von Ammoniak hinzugefügt hat. Man wäscht es wiederum aus, löst es nochmals auf und fällt es wieder mit Alkohol, dem man eine kleine Quantität Eisessig zugesetzt hat, filtrirt wieder ab und wäscht es wiederum erst mit schwachem und dann mit starkem Alkohol aus. Man kann, wenn man jedesmal mit Alkohol exact ausfällt und von vorne herein mit etwas stärkerem Alkohol auswäscht, dieses Auflösen und dieses Wiederausfällen beliebig oft ohne Verlust wiederholen, weil das Glycogen an und für sich im Wasser eigentlich nicht löslich ist, sondern nur darin aufquillt. Es hat noch Niemand eine klare Glycogenlösung gesehen. Alle Glycogen- lösungen sind opalisirend, und wenn sie concentrirter sind, sogar milchig getrübt. Wenn man mittelst einer Linse ein Bündel Sonnenstrahlen durch eine solche opalisirende Glycogenlösung hindurchgehen lässt, und mittelst einer Turmalinplatte oder eines Nicol' sehen Prismas das von innen her zerstreute Licht untersucht, so findet man, dass es polarisirt ist. Es zeigt sich also, dass kleine feste Körper in der Flüssigkeit sind, welche das Licht zerstreuen, tind, da selbst die reinste Glycogenlösung diese Erscheinung gibt, so hat man ein Recht zu schliessen, dass diese Körper nichts Anderes sind, als die aufgequollenen Theilchen des Gly- cogens selbst, welche wiederum verschrumpfen, wenn man Alkohol hinzu- fügt, und wieder aufquellen und sich scheinbar lösen, wenn man den Alkohol abfiltrirt und wiederum Wasser hinzufügt. Das auf die beschriebene Weise erhaltene Glycogen verbrennt auf dem Platinblech ohne Rückstand, es erweist sich als völlig stickstofffrei, gibt weder beim Glühen mit Natronkalk Ammoniak, noch gibt es Berliner- blau, wenn man versucht, mittelst Natrium und Eisenchlorid solches daraus zu bilden. Es färbt sich, wie schon erwähnt, mit Jodtinctur roth, und zwar ist die Farbe am schönsten roth, wenn das Glycogen noch nicht getrocknet gewesen ist. Schon getrocknetes und aufbewahrtes oder unreines Glycogen färbt sich mehr bräunlich, und das geschieht auch, wenn man zu reinem und frischem Glycogen Jod im Ueberschusse hinzusetzt. Man bedient sich zur Reaction am besten einer Jodlösung, welche man sich dadurch bereitet, dass man Jod in Wasser einträgt, welches darin bekanntlich sehr wenig löslich ist, und nun nur so viel von einer Jodkaliumlösung hinzusetzt, dass sich beim anhaltenden Schüt- teln die Flüssigkeit weingelb färbt. Die von M. Abeles analysirte Baritimverbindung des Glycogens ergab die Zusammensetzung C'j § 7^313 Ojg^aj. Das Lebeiglycogen. 331 M. Abel es hat auch eine andere Methode angegeben, um dasGlycogen rein darzustellen. Er fällt das Eiweiss, statt mit Jodquecksilberkalinm, mit einer Chlorzinklösung und kocht falls im Filtrat beim Erhitzen auf 100" noch eine Trübung entsteht. Ein noch anderes Verfahren schlägt Ad. Landwehr ein. Er beseitigt die Eiweisskörper durch Sieden mit essigsaurem Zink. Dann fällt er mittelst Eisenchlorid, eine Verbindung von Glycogen mit Eisenoxyd, sammelt sie auf dem Filtrum, zerlegt sie mittelst Salzsäure xind fällt dann das Glycogen, indem er das Ganze in das dreifache Volumen von 96procentigem Alkohol giesst. Wenn man das Glycogen bestimmen will, so zerkocht man das be- treffende Organ in verdünnter Kalilösung ; hierauf säuert man mit Salz- säure an, fällt mit Jodquecksilberkalium, filtrirt ab und wäscht den Niederschlag mit "Wasser aus, dem Salzsäure und Jodquecksilberkalium zugesetzt sind. Man vereinigt das Waschwasser mit dem Filtrat, man fällt mit Alkohol, wäscht erst mit schwächerem, dann mit stärkerem Weingeist und verfährt nun ganz so, wie ich es früher bei der Rein- darstellung des Glycogen beschrieben habe. Zuletzt sammelt man das Glycogen auf einem gewogenen Filter und wägt es. Wenn man aber das Organ vorher mit Kali zerkocht hat, so hat man nun das Glycogen nicht aschenfrei gewonnen, es enthält immer eine kleine Menge von Aschenbestandtheilen , welche mitgewogen werden. Um ein genaues Resultat zu haben, muss man deshalb einäschern und das Gewicht der Asche, welche man bekommt, von dem gefundenen Gewichte abziehen. Das Zerkochen mit Kali ist nicht bei allen Organen unbedingt noth- wendig. Bei den Muskeln muss man es allerdings thun, weil sie das Glycogen schwer hergeben, bei der Leber aber, welche sich im Wasser zerkochen und dann leicht zerreiben lässt, kann man auch durch das Zerkochen mit blossem Wasser alles Glycogen, das darin enthalten ist, im aschenfreien Zustande gewinnen und dessen Gewicht direct bestimmen. Wo man sonst mit Kali zerkochte, zieht Rud. Boehm dreimal mit heissem Wasser aus und zerkocht dann im Digestor, um den Rest des Glycogens zu gewinnen. Was wird aus dem Glycogen? Wozu dient es und woher kommt es? Die ursprüngliche Ansicht von Bernard war die, dass das Glycogen in der Leber, und zwar mittelst eines Fermentes, welches ihm durch das Pfortaderblut zugeführt wird, in Zucker umgewandelt werde. Er stützte sich darauf, dass er in dem Blute der Lebervenen mehr Zucker gefunden hatte als in dem der Pfortader. Dieser Zucker sollte dann weiter zer- setzt werden, der Oxydation unterliegen u. s. w. Da trat Pavy auf und läugnete auf Grund seiner Untersuchungen erstens, dass in dem Blute der Lebervenen mehr Zucker enthalten sei, als in dem der Pfortader, zweitens dass in der Leber des ganz frischgetödteten Thieres überhaupt Zucker enthalten sei, und in Folge davon leugnete er auch, dass sich das Glycogen der Leber im Leben normaler Weise in Zucker umsetze. Es hat sich bei späteren Versuchen herausgestellt, dass der Unterschied im Ziickergehalte des Blutes der Pfortader und des Lebervenenblutes, wenn er auch vielleicht existirt, doch so gering ist, dass er sich nicht mit Sicherheit feststellen lässt. Andererseits hat es sich aber bei Ver- suchen, welche Tscherinoff im hiesigen Laboratorium angestellt hat, auch gezeigt, dass die Leber des ganz frisch getödteten Thieres, ja dass 'oo2 Das Leberglycogen. die Lebei', welche dem sterbenden Thiere aus dem Leibe gerissen wird, nicht zuckerfrei ist, dass sie bereits Zucker, wenn auch in sehr geringer Quantität enthält, und in viel geringerer Quantität als kurze Zeit nach- her. Es kann also immer noch nichts Wesentliches eingewendet werden gegen die ursprüngliche Anschauung von Bernard, dass das Glycogen der Leber in Zucker umgesetzt werde und dieser in den Kreislauf ge- lange. Es muss nur gesagt werden, dass Bernard sich vielleicht die Menge von Glycogen, welche in der Zeiteinheit in Zucker umgesetzt wird, grösser gedacht hat als sie thatsächlich ist, und dass, wie es namentlich nach den Untersuchungen von v. Wittich und von Tiegel scheint, dieses Ferment, welches er im Pfortad erblute suchte, im Blute überhaupt vorkommt, iudem das Blut im Allgemeinen die Eigenschaft hat, Glycogen in Zucker umzusetzen. Es muss auch hinzugefügt werden, dass nach Seegen nicht aller in der Leber postmortal gebildeter Zucker von Glycogen abzustammen braucht. Nach Seegen's Untersuchungen wird in der Leber auch aus den Verdauungsproducten der Eiweisskörper Zucker gebildet. Die zweite Frage war die: Wo kommt denn das Glycogen her? Bernard, welcher von der Idee ausging, dass sich das Glycogen in Zucker umsetze, konnte es nicht wahrscheinlich finden , dass es aus Zucker entstehe. Denn es wäre doch eine sonderbare Art der Metamor- phose, wenn der Zucker, den wir entweder in Substanz geniessen oder aus der Stärke bereiten, sich in der Leber in Glycogen verwandeln würde, um sich nachher wieder in Zucker umzuwandeln, und dann wieder in den Kreislauf zu gelangen. Er war deshalb der Meinung, dass das Glycogen in der Leber durch einen Spaltungsprocess der Eiweisskörper entstände, bei dem einerseits Bestandtheile der Galle, andererseits Glycogen gebildet würde, und dass sich dieses Glycogen, wie gesagt, später in Zucker umsetze. Er wurde in dieser Idee dadurch bestärkt, dass ein Fuchs, welcher ausschliesslich mit Fleisch gefüttert worden war, in seiner Leber nicht unbeträchtliche Mengen von Glycogen hatte. Das würde für iins kaum mehr ein Grund sein, seit wir jetzt aus den Unter- suchungen von 0. Nasse wissen, dass die Muskeln auch der erwachsenen Thiere eine nicht unbeträchtliche Menge von Glycogen enthalten, also das Glycogen in Substanz mit dem Muskelfleisch in den Fuchs hinein- gekommen sein konnte. Favy vertheidigte in seiner schon erwähnten Arbeit eine ganz andere Vorstellung. Er sagte : Alles Glykogen entsteht aus Kohlehydraten, denn, wenn man Thiere mit Kohlehydraten füttert, mit Stärke oder auch mit Zucker, so bedingt dies immer eine rasche Zunahme des Glycogens in der Leber, während, wenn man ihnen alle Kohlehydrate entzieht, in drei, vier Tagen die Leber schon ganz oder nahezu frei von Glycogen ist. Seine Versuche sind hier im Laboratorium von Tscherinoff wiederholt worden, und sie haben sich vollständig bestätigt, aber die Schlüsse, welche daraus gezogen worden sind, sind nicht vollkommen berechtigt. Man kann sich vorstellen, dass in der Leber fortwährend Glycogen gebildet werde aus den Eiweisssubstanzen oder aus irgend welchen anderen nicht näher zu bezeichnenden Materialien, dass dieses Glycogen verbraucht werde, wenn keine andern Kohlehydrate in die Blutmasse hineinkommen, dass aber, wenn wir reichlich Kohle- hydrate geniessen, und also auf anderem Wege Kohlehydrate oder deren Zersetzungsprodiictc in das Blut gelangen, das Glycogen in der Leber V Das Lehcrglycogen. 333 geschont und doshalb angehäuft werde. Pavy's Ansicht und diese letztere stehen sich noch heute unvermittelt einander entgegen. Für die letztere kann geltend gemacht werden, dass Glycerin , wie Sigmund Weiss im hiesigen Laboratorium nachwies , in ähnlicher Weise wie Kohle- hydrate, wie Stärke, Eohrzuckei-, Traubenzucker, das Leberglycogen rasch vermehrt, obgleich es doch nach den Versuchen von Scheremetjewski sehr schnell im Organismus zerstört wird, ferner, dass man in Hunger- thieren, bei denen voraussichtlich das Leberglycogen geschwunden wai-, solches fand, nachdem sie mit Leim oder leimgebenden Substanzen ge- füttert waren; endlich die von C. Aeby beobachtete Thatsache , dass bei Winterschläfern während des Winterschlafes Glycogen in der Leber gebildet, beziehungsweise abgelagert wird. Für die Ansicht von Pavy ka,nn geltend gemacht werden, dass mit Ausnahme des Glycerins alle Substanzen, die das Glycogen rasch vermehren, sich in ihrer rohen Formel vom Glycogen nur durch die Bestandtheile des Wassers unterscheiden, und dass es, abgesehen vom Glycerin, bis jetzt nicht gelungen ist, mit Hilfe anderer leicht oxydabler Substanzen Glycogen in der Leber in ähnlicher Weise anzuhäufen. Andererseits ist es freilich niemals gelungen, Unterschiede am Glycogen nachzuweisen, je nach den Kohlehydraten, welche genossen worden sind ; nach der Einfuhr aller, gleichviel ob sie rechts oder links drehen, häuft sich dasselbe rechtsdrehende Glycogen in der Leber an. Es hat sich, wie erwähnt, bei den Untersuchungen von Pavy, Tscherinoff und Sigmund Weiss gezeigt, dass das Glycogen in der Leber je nach der Fütterung ausserordentlich raschen Schwankungen unterliegt, dass es sehr rasch zunimmt, wenn man mit Kohlehydraten oder mit Glycerin füttert, und dass es sehr rasch abnimmt, wenn man solche Substanzen vollständig aus der Nahrung entfernt, dass es ebenso rasch abnimmt, wie natürlich, wenn man ein Thier hungern lässt. Nun hat andererseits Nasse gezeigt, dass das Glycogen bei der Muskel- contraction verbraucht wird : wenn nun das Glycogen im ganzen Körper, also auch in den Muskeln, eben so rasch schwindet, wie in der Leber, so ist zu erwarten, dass ein Thier, welches keine Kohleh5-drate in der Nahrung bekommt, in Rücksicht auf sein Bewegungsvermögen, in Rück- sicht auf seine Muskelkraft , sehr bald einen wesentlichen Nachtheil spüren muss, während wir doch aus Erfahrung wissen, dass die Thiere, welche wir längere Zeit unter Entziehung sämmtlicher Kohlehydrate ge- füttert hatten, mit ihrem Beweguugsapparate noch ganz gut im Gange waren. Sigmund Weiss hat deshalb die Schwankungen des Muskel- glycogens in ähnlicher Weise untersucht, wie früher die Schwankungen des Leberglycogens bei verschiedener Fütterung von Pavy und von Tscherinoff untersucht worden sind, und es hat sich gezeigt, dass das Muskelglycogeu, keineswegs so leicht Schwankungen ausgesetzt ist, sondern dass das Muskelglycogeu nahezu intact vorhanden ist, während das Leber- glycogen schon fast vollständig verbraucht worden ist. Die Leber ist also, wenn ich mich so ausdrücken soll, eine Vorrathskammer, in der bei Ersparuug das Glycogen rasch abgelagert wird, und aus der es wieder entnommen und verbraucht wird, wenn kein anderes Material an Kohle- hydraten zugeführt wird. 334 Die Gfalle. Wenn man die Galle mit Wasser verdünnt und dann Alkohol hin- zufügt, so entsteht ein reichlicher Niederschlag von Schleim. Es ist dies das Secret der Schleimdrüsen, welche in die Gallengänge einmünden. Das, was in Alkohol gelöst bleibt, ist die eigentliche Galle, wie sie in den Anfängen der Gallenkanäle secernirt wird. Sie besteht aus den Natron- und Kalisalzen zweier Säuren, welche man als die Gallensäuren bezeichnet, aus Cholesterin und Lecithin. Auch Neurin ist unter dem Namen Cholin aus ihr dargestellt. Es ist ungewiss, in wie weit es als solches regelmässiger Gallenbestandtheil ist, und in wie weit es als Zer- setzungsproduct des Lecithins entsteht. Endlich enthält die Galle einen oder mehrere stark gefärbte Stoife, welche man in etwas unpassender Weise mit dem Namen der Gallenfarbstoffe bezeichnet. Man spricht von wesentlichen Bestandtheilen und von Gallenfarbstoffen. Man kann nicht läugnen, dass dies beinahe so aussieht, als ob man sich vorstellte, dass, wie man eine Arznei erst macht und sie hinterher färbt, so auch erst die Galle da gewesen wäre, und diese hinterher mit einem Farbstoffe gefärbt worden sei. Die Stoffe, die wir Farbstoffe nennen, sind nichts Anderes als Bestandtheile des thierischen und pflanzlichen Körpers, welche sich dadurch von den übrigen unterscheiden, dass sie die ver- schiedenen Strahlen des Sonnenspectrums in sehr ungleicher Weise ab- sorbiren. Unsere Kenntuiss von der Galle gründet sich hauptsächlich auf die Untersuchungen, welche Strecker vor einer Eeihe von Jahren über die Ochsengalle angestellt hat. Er fällte die Ochsengalle mit neutralem essigsaurem Blei, trocknete den Niederschlag, welchen er erhielt, und kochte ihn mit Alkohol aus. In die alkoholische, möglichst concentrirte Flüssigkeit leitete er, ohne abzukühlen, Schwefelwasserstoff ein, filtrirte und wusch mit Wasser nach. Nachdem sich die Flüssigkeit beim Nach- laufen des Wassers trübte, nahm er sie weg und stellte sie kalt, und nun wurde sie ganz durchsetzt mit einem Systeme von feinen Nadeln. Das, was sich hier ausschied, war eine der Gallensäuren, diejenige, welche wir jetzt mit dem Namen der Glycocholsäure bezeichnen. Sie war durch essigsaures Blei als Bleiverbindung aus der Galle gefällt worden: die Bleiverbindung ist im heissen Alkohol löslich, sie war also durch diesen extrahirt worden, es war nachher Schwefelwasserstoff eingeleitet worden, um die Bleiverbindung zu zersetzen; er hatte also eine alko- holische Lösung der Säure von dem Schwefelblei abfiltrirt. Da diese Säure weniger löslich ist im Wasser als im Alkohol, hatte sich die Lösung beim Nachfliessen des Wassers getrübt, die Säure hatte sich in Krystallen ausgeschieden. Wir nennen diese Säure, wie gesagt, jetzt Glycochol- säure, Strecker nannte sie Cholsäure, weil offenbar Gmelin eine lange Reihe von Jahren vorher diese Säure schon in der Hand gehabt und sie mit dem Namen der Cholsäure bezeichnet hatte. Dann hatte aber später Demargay eine andere Säure aus der Galle dargestellt, welche ein Zersetzungsproduct dieser Säure ist, iind welche wir jetzt Cholalsäure nennen, und hatte diese als Cholsäure bezeichnet. Es konnte deshalb Verwechslung eintreten zwischen der Cholsäure von Gmelin und der Die Galle. 335 Yon Demarc;ay, so dass man von diesen Bezeichnungen heutzutage ab- gegangen ist. Wir nennen jetzt die Cholsäure von Gmelin Glycochol- säure, weil sie beim Zerkochen mit Alkalien in Glycocoll (Leimsüss) lind in die Cholsäure von Demarc^ay zerfällt. Die Cholsäure von Demargay nennen wir jetzt Cholalsäure, eine Benennung, welche, so wie manche andere in der Chemie, gebildet wurde dadurch, dass die Anfangssilben mehrerer Wörter zu einem neuen Worte verbunden wurden. So ist Cholalsäure aus Cholsäure durch Anhängung der Anfaugssilbe des Wortes Alkali entstanden, weil die Cholalsäure durch Behandlung der Cholsäure von Gmelin mit Alkalien entsteht. Am bequemsten stellt man die Cholalsäure, die eine krystallisirbare Säure ist, dar dlirch Kochen mit Barytwasser. Man gibt die Glycocholsäure in einen Kolben mit Barytwasser und setzt ein langes Rohr darauf, so dass der Dampf sich in demselben wieder verdichtet und als Wasser zurückfiiesst ; man kocht anhaltend und erhält so cholalsauren Baryt. Diesen zersetzt man mit Schwefelsäure und gewinnt so unsere jetzige Cholalsäure oder die Chol- säure von Demargay. Das zweite Product, das Glycocoll, hat man zuerst aus. dem Leim erhalten durch Zerkochen desselben mit Schwefel- säure, und die Benennung rührt her von colla Leim und von YAuy.u? süss, denn diese Substanz schmeckt süss, weshalb sie auch im Deutschen den Namen Leimsüss führt. Die Zersetzung ist nun folgende : Cholalsäure C24 I?4Q O5 , Glycocoll C'2 -H5 -ZVO2 , addire ich das zusammen, so erhalte ich C^Q H^^ NO-, nehme ich daraus ein Wasseratom weg, so bekomme ich Gjg i?43 NOq und das ist die Formel der Glycocholsäure. Die Glycochol- säure nimmt also ein Atom Wasser auf und zerfällt dabei in Cholal- säure und Glycocoll. Man kann die Glycocholsäure auch nach einer andern Methode darstellen, als nach der von Strecker, welche ich Ihnen vorher angegeben habe. Man dampft Rindsgalle zur Trockne — man kann dies auf dem Oelbade thun, aber auch auf dem Wasserbade, wenn man nur die Galle, sobald sie zähflüssig wird, anhaltend rührt, bringt man sie auf diesem auch zur völligen Trockne. Wenn man die trockene Galle in Alkohol auflöst und Aether hinzufügt, so entsteht ein Nieder- schlag, bei welchem die Gallenfarbstoife mit niederfallen. Von diesem giesst man ab^ und fügt nun weiter Aether hinzu, bis eine neue Trübung eintritt. Dann setzen sich in der Kälte nach und nach Krystalle am Boden und an der Wand an, welche der grössten Masse nach aus dem Natronsalze der Glycocholsäure bestehen. Wenn man diese aufsammelt, auf ein Filter wirft und nachher in wenig Wasser auflöst, so kann mau durch Zusatz einer Säure die Glycocholsäure, die in Wasser schwer löslich ist, davon abscheiden. Als das kürzeste und zweckmässigste Ver- fahren empfiehlt Hüfner frische Rindsgalle in einen engen Glascylinder fliessen zu lassen, etwas Aether darüber zu schichten und dann den zwanzigsten Theil vom Volum der Galle an reiner starker Salzsäure hinzuzufügen. Die Glycocholsäure scheidet sich aus und wird allmälig krystallinisch. Wenn dies geschehen ist, giesst man den Aether ab, wäscht mit eiskaltem Wasser bis dasselbe farblos abiiiesst, und krystal- liairt aus Wasser um, indem man eine heisse concentrirte Lösung be- reitet und diese erkalten lässt. Doch soll dieses Verfahren nicht auf jede Art von Galle mit gleich gutem Erfolge anwendbar sein. 336 Die Galle. Wenn man die Glycocliol.süure statt mit Barytwasser mit verdünnter Schwefelsäure oder mit verdünnter Salzsäure kocht, so bekommt man auch Glycocoll, ausserdem aber eine harzige Masse, welche gewöhnlich mit dem Namen Choloidinsäure bezeichnet wird. Wenn man diese noch weiter kocht> so stellt sie einen Körper dar, welcher nicht mehr die Eigenschaften einer Säure hat, aus C24 H^ß O3 besteht, also zwei Atome Wasser weniger enthält, als die Cholalsäure, und Dyslysin genannt wird. Wenn man dieses Dyslysin mit einer alkoholischen Kalilösung kocht, so bekommt man wieder eine Kaliverbindung, welche in ihrer Zusammen- setzung mit dem eholalsauren Kali übereinstimmt. Man pflegte früher zu sagen, dass 'man auf diese Weise die Choloidinsäure regenerirt habe und das erhaltene Salz choloidinsaures Kali sei. Es sind jedoch von Hoppe- Seyler Untersuchungen angestellt worden, welche die Existenz der Choloidinsäure als sehx zweifelhaft erscheinen lassen. Hoppe-Seyler hat nachgewiesen, dass sich beim Kochen mit verdünnter Salzsäure ein Theil der Glycocholsäure nicht spaltet, sondern nur ein Atom W^asser verliert und eine neue Säure darstellt, welche den JSTamen Cholonsäure führt: das Uebrige ist nach Hoppe-Seyler Cholalsäure und Dyslysin, und das, was aus dem Dyslysin mittelst alkoholischer Kalilösung re- generirt wird, ist nicht choloidinsaures Kali, sondern cholalsaures Kali. Er hat auch daraus die krystallisirte Cholalsäure abgeschieden, während Choloidinsäure immer für eine unkrystallisirbare Substanz gegolten hat. Wir haben gesehen, dass Strecker aus der ßindsgalle die Glyco- cholsäure dargestellt hat durch Ausfällen mit neutralem essigsaurem Blei. Als er zu der Flüssigkeit, welche er von dem Bleiniederschlage abfiltrirt hatte, basisch essigsaures Blei und ausserdem noch Ammoniak hinzusetzte, erhielt er einen zweiten Niederschlag, der wiederum die Bleiverbindung einer Säure war, welche aber beim Kochen mit ChlorwasserstofFsäure nicht so wie die Glycocholsäure in Cholalsäure und Glycocoll, sondern in Cholalsäure und Taurin zerfiel. Das Taurin an und für sich hatte man längst gekannt. Es besteht aus Gj H~ NSO^. Es ist ein schön kry- stallisirter Körper, welcher in grossen Prismen erhalten wird, und den man bereits künstlich dargestellt hat. Als Redtenbacher zuerst den Schwefel im Taurin nachwies, zeigte er, dass das Taurin wie saures schwefligsaures Aldehydammoniak zusammengesetzt sei. Er stellte das saure schwefligsaure Aldehydammoniak dar, fand aber, dass es in seinen Eigenschaften vom Taurin gänzlich verschieden sei. Beide Körper waren also isomer, aber nicht identisch. Später wurde das Taurin künstlich aus isäthionsaurem Ammoniak dargestellt. Dasselbe setzt sich bei 220*^ unter Verlust eines Wasseratoms in Taurin um. Die Isäthionsäure (C^ -Hß SO^) ihrerseits wird erhalten aus isäthionsaurem Baryt, den man darstellt, indem man Schwefelsäuredampf in Alkohol leitet, Wasser zusetzt, aufkocht und mit Baryt sättigt. Man kann also aus Schwefelsäure, Alkohol, Wasser und Ammoniak das Taurin künstlich im Laboratorium aufbauen. Die Säure nun, welche beim Kochen mit verdünnter Salzsäure in Choloidin- säure (Cholalsäure) und Taurin zerfällt, bezeichnet man jetzt mit dem Namen der Taurocholsäure, Strecker nannte sie Choleijisäure. Bei der Spaltung nimmt sie gerade so ein Atom Wasser auf, wie dies die Glycocholsäure thut, und zerfällt so wie diese, nur dass man dem Spaltungsproducte Glycocoll das Spaltungsproduct Taurin substituiren muss. Die Galle. - 337 Spätere Untersuchungen haben nun gezeigt, dass in den Gallen ver- schiedener Thiere verschiedene Gallensäuren enthalten sind, z. B. in der Schweinsgalle eine Hyocholinsäure, in der Gänsegalle eine Chenocholin- aäure, und da man die Menschengalle in ganz frischem Zustande niemals in hinreichender Quantität gehabt hat, um eine vollständige Untersuchung derselben durchführen zu können, so muss man zweifelhaft sein, ob man die Kesultate, welche Strecker bei Untersuchung der Ochsengalle er- halten hat, ohne Weiteres auf den Menschen übertragen darf. GlycocoU hat man gefunden, aber gegen die Identität der aus Menschengalle er- haltenen Cholalsäure mit der, welche man aus Ochsengalle gewinnt, sind in neuerer Zeit Zweifel erhoben worden. In Rücksicht auf das Taurin schwanken die Meinungen auch hin und her. Ein vor einiger Zeit gemachter Versuch, Taurin aus frischer Menschengalle , die aus einer Gallenfistel floss, zu gewinnen, hat zu einem negativen Resultat geführt; neuerdings gibt aber Trifanovsky wieder an, mikroskopische Krystalle von Taurin aus Leichengalle erhalten zu haben. Pettenkofer hat eine schöne Reaction gefunden, welche sowohl die Glycocholsäure, als auch die Taurocholsäure und die Choloidinsäure, beziehungsweise die Cholalsäure gibt. Offenbar gehört sie der letzteren an. Sie besteht darin, dass man die Substanz, in welcher man die Gallen- säuren vermuthet, oder wo möglich die schon bis zu einem gewissen Grade gereinigten Gallensäuren in Lösung bringt und ein wenig Zucker und dann Schwefelsäure hinzufügt. Beim vorsichtigen Zusetzen der Schwefelsäure und beim Umschütteln entsteht eine Temperaturerhöhung, und, wenn diese einen gewissen Grad erreicht hat, eine schön weinrothe Farbe. Eine ganz ähnliche Reaction geben bekanntlich die Eiweiss- körper ; man musste deshalb früher, um die beiden Reactionen aus- einanderzuhalten , die Eiweisskörper sorgfältig entfernen. In neuerer Zeit haben jedoch Bogomoloff und Schenk das Spectrum der rothen Flüssigkeit, welche man durch die Pettenkofer'sche Probe erhält, unter- sucht und Absorptionsstreifen gefunden. Die Angaben über die einzelnen Absorptionsstreifen stimmen nicht vollständig überein, aber so viel ist doch sicher, dass, da die Eiweissreaction nicht solche Absorptionsstreifen zeigt, man an diesen die Pettenkofer'sche Gallenreaction von der Eiweiss- reaction unterscheiden kann. Nach den Untersuchungen von Schenk gehören nur zwei Absorptionsstreifen, einer bei der Frauenhofer'schen Linie E und der andere bei F, den Gallensäuren als solchen an, während ein dritter Streifen, der bisweilen noch gesehen wird, von andern bei- gemengten Stoffen herrührt. Noch empfindlicher ist die Pettenkofer'sche Gallenprobe, wenn man sie nach Neukomm's Vorschrift anstellt. Man fügt dann der mit einer Spur von Zucker versetzten zu untersuchenden Flüssigkeit Alkohol und nur eine geringe Menge von Schwefelsäure hinzu und verdampft auf dem Wasserbade oder vorsichtig über der Lampe. Bei einer bestimmten Concentration, d. h. wenn so viel Alkohol und Wasser verdampft ist, dass der Schwefelsäuregehalt auf einen bestimmten Procentsatz gestiegen, tritt dann plötzlich die Purpurfarbe hervor. Gehen wir jetzt über zu den sogenannten Farbstoffen der Galle, so erhalten wir denjenigen, welcher das Fundament und die Muttersiibstanz aller übrigen zu sein scheint, wenn wir Menschengalle, so wie wir sie aus der Leiche nehmen, mit Chloroform schütteln, das Chloroform von Brüclfe. Vorlesungen I. 4. Aufl. • 22 338 Die Galle. der übrigen Galle trennen, es in eine Retorte hineingiessen und ab- destilliren; dann bleibt ein schwarxer pechartiger Eückstand. TJebergiesst man ihn mit Alkohol, so löst er sich darin auf, färbt denselben tief- dunkelbraun und unten am Boden der braunen Flüssigkeit sehen wir einen rothen Sand wie Ziegelmehl liegen. Wenn wir denselben unter dem Mikroskope betrachten, so finden wir, dass er aus schönen orange- roth gefärbten rhombischen Krystallen besteht. Die.?er Farbstoif führt jetzt den ISTamen Bilirubin und besteht aus C32 ^35 -^^4 0^. Diese Formel unterscheidet sich von Kencki's Formel für das Hätnatin dadurch, dass sie kein Eisen aber zwei Wasseratome mehr enthält. Die Geschichte des Bilirubins ist eine ziemlich complicirte. Man hatte schon vor vielen Jahren aus der Galle einen gelben Farbstoff dargestellt, welchen man mit dem Namen Cholepyrrhin bezeichnete. Dieses Cholepyrrhin war nichts Anderes als unser jetziges Bilirubin, aber im amorphen und vielleicht nicht ganz reinen Zustande. Man hatte ferner einen bräunlichen Farbstoff erhalten. Man nannte ihn Biliphäin. Es war Cholepyrrhin, gemengt mit einem später zu beschreibenden dunkeln Farbstoffe. Dann hatte Berzelius in Galle, die lange Zeit im eingedickten Zustande gestanden hatte, Krystalle gefunden, welche er mit dem IS^amen Bilifulvin belegte. ISTach der Beschreibung dieser Krystalle ist es mehr als wahrscheinlich, dass sie Bilirubin, dass sie Cholepyrrhinkrystalle waren. Dann fand Valentiner vor einer Reihe von Jahren, dass man durch Schütteln der Galle mit Chloroform einen krystallisirten Farbstoff darstellen könne, und das war unser jetziges Bilirubin. Damit war auch zugleich ein Mittel gegeben, sich diese Substanz in beliebiger Menge zu verschaffen. Es zeigte sich nun bald, dass, wenn man diesen Körper in alkalischen Flüssigkeiten auflöst und ihn aus denselben durch JSTeutralisation fällt, dass dann ein amorphes Pulver niederfällt, welches dieselben Eigen- schaften besitzt, welche man früher dem Cholepyrrhin zugeschrieben hat. Es ist dies also nichts minderes als das Cholepyrrhin der alten Beob- achter, und wenn man dieses Cholepyrrhin wieder in Chloroform auf- löst und das Chloroform abdunsten lässt, so bekommt man wieder die rothen Krystalle, welche wir jetzt mit dem J^amen Bilirubin bezeichnen. Der Käme Bilirubin ist von Städeler aufgestellt worden, als er diesen Körper von ISTeuem untersuchte und eine Elementaranalyse desselben vornahm; man muss aber sagen, dass es incorrect ist, eine xand dieselbe Substanz einmal im amorphen und das andere Mal im krystallisirten Zustande mit verschiedenen Kamen zu belegen. Das krystallisirte Cholepyrrhin ist mehrfach verwechselt worden mit einer gelben krystallisirten Substanz, die Virchow vor vielen Jahren in alten apoplectischen Herden fand und Haematoidin nannte. Aber Virchow selbst hatte schon auf die Unterschiede zwischen ihr und dem gelben Gallenfarbstoff hingewiesen, und nach den Untersuchungen von Holm und von Lieben scheint die Substanz, welche er unter Händen hatte, vielmehr identisch gewesen zu sein mit derjenigen, dem der Eido-tter und die sogenannten Corpora lutea an den Eierstöcken ihre gelbe Farbe verdanken und die man jetzt Lutein, oder zum Unter- schiede von dem in der Reseda luteola enthaltenen gelben Färbestoffe Haemolutein nennt. Die Galle. 339 Wenn man das Cholepyrrhin in alkalischer Lösung der atmosphä- rischen Luft aussetzt, so zieht es Sauerstoff an, und die Lösung färbt sich dabei grün. Es entsteht hier ein neuer Farbstoff, das Biliverdin. Dasselbe entsteht auch durch Behandlung des Cholepyrrhins mit Säuren. Man hat also auf diese Weise ein Mittel, sich dieses Biliverdin, das man gleichfalls früher gekannt hat, das man früher direct aus der Galle bereitete, in reinem Zustande darzustellen, indem man reines krystalli- sirtes Cholepyrrhin, d. h. Bilirubin dazu verwendet. Einen etwaigen Rückstand von Cholepyrrhin kann man leicht entfernen, denn das Chole- pyrrhin ist leicht löslich in Chloroform, in dem das Biliverdin schwer löslich ist ; hingegen ist das Cholepyrrhin, namentlich das krystallisirte, schwer löslich in Alkohol, während das Biliverdin in Alkohol sehr leicht löslich ist. Das, was sich von dem pechartigen Rückstande, den wir beim Abdestilliren des Chloroform zurückbehalten, in Alkohol auflöst, ist haupt- sächlich Cholesterin und ein anderer Farbstoff, welchen ich mit dem Namen Bilifuscin bezeichnet habe. Da dieses Bilifuscin nicht krystallisirt und sich auch nicht aus einem krystallisirten Materiale darstellen lässt, so kann ich nicht sagen, dass ich es im reinen Zustande gehabt habe, aber ich habe es wenigstens vollständig von Cholepyrrhin und Biliverdin gereinigt. Davon konnte ich mich auf das bestimmteste überzeugen ; denn das Cholepyrrhin und Biliverdin geben eine sehr schöne Reaction, welche unter dem Namen der Gmeliu'schen Gallenprobe bekannt ist. Wenn man zu einer Lösung einer dieser Substanzen concentrirte Salpetersäure, welche, wie Heintz gezeigt hat, damit die Reaction gelinge, etwas sal- petrige Säure enthalten muss, hinzufügt, so ändert sich die Farbe, wenn Cholepyrrhin da war, erst in Grün, dann in Blau, dann in Violett, dann in Roth, dann wird die Farbe gelblich und erblast. Biliverdin gibt denselben Farbenwechsel, nur dass er hier vom Grün ausgeht : es erscheinen nach diesem Blau, Violett, Roth, dann erfolgt das Erblassen mit demselben gelblichen Tone wie beim Cholepyrrhin. Diese Gmelin'sche Gallenprobe wird auch benützt, um Gallenfarbstoffe im Urin und ander- weitig nachzuweisen. Man stellt dieselbe jetzt meistens so an, dass man erst nur verdünnte und ausgekochte Salpetersäure hinzufügt, und zwar so wenig dass die Reaction nicht sofort eintritt, dann fügt man vor- sichtig aber mit einem Guss, nicht tröpfelnd, concentrirte Schwefelsäure hinzu. Die Schwefelsäure sammelt sich am Boden des Reagirglases. entwässert und zersetzt die darüberstehende Salpetersäure, und nun fängt die Reaction so an, dass sich erst ein grüner Ring bildet, welcher auf- steigt, während sich unmittelbar unter ihm ein blauer, dann ein violetter, ein rother u. s. w. bildet, so dass man also ein Ringsystem hat, das dort, wo sich die Reaction begrenzt, grün ist, darunter blau, dann violett, dann roth, worauf dann die durch die Zersetzung der Farbstoffe bereits entfärbte Flüssigkeit folgt. Man hat aber stets darauf zu achten, dass auch das Grün deutlich sei, denn ein bläulicher und röthlicher Ring allein lassen nicht auf Cholepyrrhin oder Biliverdin schliessen. E. V. Fleischl wendet statt der verdünnten ausgekochten Salpeter- säure eine Lösung von salpetersaurem Natron an. Es hat dies den Vor- theil, dass hier sicher keine Zersetzung eintritt, ehe man die Schwefel- säure hinzufügt und dass dieselbe dann schai-f an der Grenze der letzteren 22* 340 Die Galle. beginnt und, wenn man nicht zu viel salpetersaures Natron hinzugefügt hat, langsam und regelmässig fortschreitet. Bei diesem Verfahren bleibt die ßeaction bisweilen beim Blau oder gar beim Grün stehen, aber auch dann ist die Färbung immer charakteristisch. Man fällt auch den IJrin mit Kalkwasser. Der entstehende Nieder- schlag von normalem phosphorsaurem Kalk nimmt das Pigment mit. Man sammelt ihn auf dem Filtrum , löst ihn mit Hilfe von reiner, sehr verdünnter Salpetersäure und fügt dann vorsichtig die Schwefel- säure hinzu. Rosenbach filtrirt den zu untersuchenden Urin und lässt, nachdem dies geschehen, einen Tropfen Salpetersäure auf dem Filter herabrinnen. Man kann auch die beiden zuletzt erwähnten Me- thoden mit einander verbinden, erst mit Kalkwasser fällen, filtriren und dann den pigmenthaltigen phosphorsauren Kalk auf dem auf einem Porzellanteller ausgebreiteten Filtrum mit kleinen Mengen concentrirter Salpetersäure zersetzen. Huppert zieht den durch Kalkwasser erzeugten Niederschlag mit schwefelsäurehaltigem Alkohol aus, filtrirt und dampft ein. Die Flüssig- keit färbt sich dabei grün von Biliverdin. Städeler hat später aus Gallensteinen auch einen Farbstoff unter dem Namen Bilifuscin dargestellt, von welchem er aber sagt, dass er die Gmelin'sche Gallenprobe gab. Es ist also Städeler's Bilifuscin entweder ein anderes^ oder es ist nicht vollständig gereinigt gewesen, es hat ent- weder noch Biliverdin oder Bilirubin oder beide enthalten. Das von mir beschriebene Bilifuscin ist später von Simony wieder dargestellt und näher untersucht worden. Es ist in Alkohol, Eisessig oder Alkalien leicht löslich, schwerer in Chloroform, unlöslich in Wasser, Aether und verdünnten Säuren. Ueber Schwefelsäure geschichtet geben die Lösungen des Bilifuscins an der Grenze einen dunkelrothbraunen bis schwärzlichen Ring. Vom Bilifuscin rührt auch der tief dunkelbraune Ring her, welcher im Harne Ikterischer oft entsteht, wenn man vorsichtig Schwefelsäure hinzufügt, so dass sich diese in getrennter Schicht am Boden des Reagir- glases ansammelt. Wenn man sich nun fragt, wie und unter welchen Umständen diese Gallenfarbstoffe in der Galle vorkommen, so muss man sagen : In der normalen Galle ist zunächst Cholepyrrhin enthalten, denn die normale Galle ist rein gelb gefärbt. Man kann dies sehen bei Galle, welche aus Gallenfisteln gewonnen wird, man kann dies sehen bei Galle, welche nach anhaltendem Erbrechen entleert wird, wo zuletzt die Magencontenta und der saure Magensaft vollständig heraus sind, und nur noch Galle entleert wird. So lange aber noch saurer Magensaft und Mageninhalt entleert wird, ist die mitentleerte Galle meist grün gefärbt, weil sich unter dem Einflüsse des sauren Magensaftes Biliverdin gebildet hat. Bilifuscin kommt in der Leichengalle vor. Es scheint aber auch im lebenden Körper sich zu bilden, denn es kommt offenbar im ikterischen Harne vor. Der ikterische Harn hat beim Schütteln einen grünlichen Schimmer, welcher von Biliverdin herrührt, ist aber meistens zugleich braun, wie ihn Cholepyrrhin und Biliverdin nicht färben könnten. Die älteste Probe zur Untersuchung auf Gallenfarbstoffe im Urin scheint auch Bilifuscin zum Object gehabt zu haben. Man tauchte einen Lein- Die Galle. 341 wandlappen in den zu untersuchenden Urin und sah zu, ob er beim Trocknen einen braunen Fleck behielt. Wir haben unter den Bestandtheilen der Galle das Cholesterin genannt. Das Cholesterin kommt in der Galle vor, ausserdem bildet es einen Hauptbestandtheil der meisten Gallensteine, es ist aber auch im ganzen Körper verbreitet und namentlich ist es in grosser Menge im Nervenmarke enthalten, so dass, wenn man keine Gallensteine hat, um sich Cholesterin daraus darzustellen, man weisse Gehirnsubstanz als das wohlfeilste und ausgiebigste Material dazu benützt. Am leichtesten be- kommt man das Cholesterin aus Gallensteinen. Man kocht dieselben mit heissem Alkohol aus, das Cholesterin ist in heissem Alkohol sehr leicht, in kaltem aber schwerer löslich, und es krystallisirt deshalb aus der heissen gesättigten Lösung heraus. Es krystallisirt in schönen rhombischen Tafeln, deren Winkel 100*^ 30' und 79*^' 30' betragen, und besteht wasser- frei aus C26 -^44 0- ^^^ ^^^ Zimmertemperatur getrockneten Krystalle enthalten ausserdem ein Aequivalent Wasser, das bei 100^ entweicht. Es ist löslich in Aether, aber ganz unlöslich in Wasser. Es existiren sehr charakteristische Reactionen auf Cholesterin. Man fügt zu den Krystallen, welche man für Cholesterinkrystalle hält, Schwefelsäure in verschiedenen Concentrationsgraden. In concentrirter Schwefelsäure zer- fliessen die Krystalle zu gelben Tropfen, in etwas verdünnterer werden sie zwar auch benagt, behalten aber ihre Form und nehmen eine rothe Farbe an ; ist die Schwefelsäure noch verdünnter, wird die Farbe nicht mehr roth, sondern purpurfarben und die Krystalle erhalten sich in ihrer Form; endlich wenn man noch Jodtinctur hinzufügt, geht die Farbe in blau über. Die Krystallform, die Löslichkeitsverhältnisse und diese Reactionen genügen an und für sich schon, um das Cholesterin als solches nachzuweisen. In neuerer Zeit ist aber von Salkowski noch eine andere schöne Reaction angegeben worden. Man löst den für Cholesterin gehaltenen Körper in Chloroform auf, fügt dann Schwefel- säure hinzu, schüttelt und lässt die Flüssigkeiten übereinander stehen ; dann färben sich nach einiger Zeit die beiden Schichten, welche sich gebildet haben in höchst charakteristischer Weise. Die unterste Schicht, die Schwefelsäureschicht färbt sich je nach der Conceutration im durch- fallenden Lichte gelb oder roth und fluorescirt mit schön grünem Lichte ; die obere Schicht, die Chloroformschicht, färbt sich im durchfallenden Lichte roth bis purpurn, und fluorescirt mit gelber Farbe. Wenn man Cholesterinkrystalle in Seifenlösuug suspendirt, so bilden sich auf denselben nach Ben ecke 's Entdeckung mikroskopische Tropfen, die durch einen Quellungsprocess entstehen, bei dem die Cholesterin- krystalle, als solche nach und nach ganz zerstört, aufgezehrt werden. Im polarisirten Lichte bei gekreuzten Prismen zeigen die Tropfen ein dunkles Kreuz , die grösseren sich gegen das Deckglas abplattenden ausserdem einen mehr oder weniger ausgedehnten dunkeln Fleck im Centrum. Es rührt dies daher, dass sich doppeltbrechende Theilcheu in den Tropfen in bestimmter Weise orientireu, und zwar im Allgemeinen so, dass sich die optischen Axen senkrecht gegen die Oberfläche des Tropfens richten. Das Cholesterin ist im Körper, wie gesagt, sehr verbreitet, mehr noch in gewissen krankhaften Zuständen, so dass es in allen thierischen 342 Gallensteine. Functionen der Galle. Flüssigkeiten mit x\.usnahme der Thränen und des Harns bereits gefunden worden ist ; in diesen beiden Flüssigkeiten nicht, weil sie wässerige Lösungen sind, welche sehr wenig organische Substanz enthalten, und das Cholesterin an und für sich im Wasser unlöslich ist und die Lösung des- selben in wässerigen Lösungen nur durch andere Substanzen vermittelt wird. Man hat das Cholesterin früher Gallenfett genannt und als Lipoid bezeichnet, weil es gewisse äussere Eigenschaften mit den Fetten gemein hat. Diese Ausdrücke sind aber obsolet geworden, seit man die Consti- tution der Fette und die des Cholesterins näher kennen gelernt hat. Grallensteine. In der Galle bilden sich, wie gesagt, Concremente, Gallensteine, welche, wenn sie ungefärbt sind, fast vollständig aus Cholesterin bestehen. Sie erreichen manchmal eine bedeutende Grösse, so dass ein Gallenstein die ganze Gallenblase ausfüllt und ein Modell, einen Ausguss derselben darstellt. In dem Innern auch der ganz weissen Steine findet man ge- wöhnlich eine gefärbte Stelle, die meist weniger compact ist als der übrige Stein. Es scheint sich hier ein Klümpchen, vielleicht eine Schleim- flocke, gefärbt durch in ihr niedergeschlagenes Pigment, gebildet zu haben, und um dieses herum haben sich die Cholesterinkrystalle angelagert, bis sie am Ende zu einem grossen Gallensteine angewachsen sind. Manche Gallensteine sind in ihrer ganzen Substanz gefärbt ; sie enthalten dann auch Cholesterin, aber daneben grosse Mengen von Gallenpigment. Ausser den Farbstoffen , welche wir bei der Galle besprochen haben , hat Städeler aus einem grossen Material von Gallensteinen noch ver- schiedene andere Pigmente dargestellt. Beide sind aber nicht als solche, nicht im freien Zustande in den Gallensteinen enthalten , wie dies zuerst Bramson nachgewiesen hat; sie sind in den Steinen an Kalk gebunden. Functionen der Gfalle. Wenn die Galle in den Darmkanal hineingelangt und sich hier mit dem Speisenbrei mischt — es scheint, dass durch den Eeiz, den der saure Speisenbrei beim Uebergange in den Dünndarm hervorbringt, eine plötzliche Entleerung der Galle in den Dünndarm hervorgerufen wird — so entsteht ein reichlicher Niederschlag, der mitunter eine käsige Con- sistenz hat und sich ziemlich fest an die Zotten des Duodenums anlegt. Dieser Niederschlag,, auf welchen Bernard zuerst aufmerksam gemacht hat, entsteht dadurch, dass die Galle Eiweisskörper , welche in dem Speisenbrei enthalten sind, ausfällt, dabei selbst aber durch die Säure des Magens zum Theil zersetzt wird, so dass dieser Niederschlag aus gefälltem Eiweiss und aus Gallensäuren besteht. Diese Einwirkung der Galle auf den Speisenbrei hat eine sehr wichtige Folge, nämlich die, dass mit einem Schlage die Pepsinverdauung, die Verdauung unter saurer Reaction sistirt wird. Es wird zwar später der Speisenbrei durch den reichlichen Zufluss von alkalischen Secreten wohl meistens entsäuert, und schon dadurch würde die Pepsinverdauung aufhören; dies würde Functionen der Galle. o4ö aber immer einige Zeit beanspruchen, während die Galle ganz plötzlich und augenblicklich die Pepsinverdauung stillstellt, und zwar auf zweierlei Weise : Erstens indem sie Eiweiss fällt. Nach den Untersuchungen von Maly handelt es sich hierbei nicht um ein blosses Aussalzen der Eiweiss- körper aus ihrer sauren Lösung, sondern um die specifische Wirkung einer bestimmten Gallensäure. Unter den beiden Säuren der Eindsgalle erkannte er die Taurocholsäure als die wirksame. Die Galle macht dabei auch alle Eiweisskörper, welche noch im Quellen begriffen sind, ver- schrumpfen und schon hiedurch ihre Verdauung in saurer Lösung un- möglich. Zweitens aber reisst der ^Niederschlag, welcher entsteht, auf mechanischem Wege das Pepsin mit, so dass hierin ein neues Moment liegt, die Magenverdauung aufhören zu machen. Man hat sich die Erage gestellt, ob die Galle weiter noch eine Function im Darmkanale habe, oder ob sie nur als ein Excret zu be- trachten sei, welches aus dem Körper entleert wird. Der nächste Weg, diese Frage zu entscheiden, schien der zu sein, dass man untersuchte, wie sich Thiere verhalten, denen man die Galle aus dem Körper herausleitet, so dass sie nicht in den Darmkanal hineinkommt. Man legte also an Hunden Gallenfisteln an. Die nächste Erscheinung, die sich zeigte, war, dass die Hunde die Galle trotz ihrer Bitterkeit mit grosser Begierde aufleckten. Man verhinderte sie daran und die Hunde starben. Später jedoch gelang es Schwann, Hunde, denen Gallenfisteln angelegt waren, und welche die Galle nicht auflecken konnten, längere Zeit hindurch am Leben zu erhalten, obgleich ihre Faeces zeigten, dass durchaus keine Galle in den Darmkanal hineingelangte. Aber diese Hunde verhielten sich nicht wie andere. Wenn sie auf die Ration gesetzt wurden, mit welcher man einen andern Hund derselben Grösse im Gleichgewicht er- halten kann, so gingen sie an Inanition zu Grunde. Sie mussten eine grössere Menge von Futter erhalten, und so lange sie diese bekamen und bewältigten konnten, erhielten sie sich am Leben. Es deutet dies darauf hin, dass vielleicht einerseits die Galle, welche hier verloren ging, noch im Körper theilweise resorbirt worden wäre, und somit jetzt, wo das nicht mehr geschah, durch ein Plus von Nahrungsmitteln ersetzt werden musste : andererseits ist es aber auch möglich, dass die Galle selbst noch bei der Verdauung und bei der Resorption eine Rolle spielt, und dass die Thiere, wenn dieselbe nicht in den Darmkanal hineingelangt, ihre Nahrung schlechter ausnützen als sonst. Was das erstere anlangt, so hat man einerseits die Menge der Galle zu bestimmen gesucht, welche binnen 24 Stunden abgesondert wird, andererseits die Menge der Galle in den Excrementen. Es hat sich immer gezeigt, dass man mit der Rechnung zu kurz kam, dass weniger Galle oder Zersetzungsproducte der Galle in den Faeces enthalten waren, als präsumptiver Weise ab- gesondert worden war. Solche Rechnungen haben immer ihr Bedenk- liches, da die Menge, welche bei Galleufisteln herausfliesst, bei verschie- denen Thieren und zu verschiedenen Zeiten sehr verschieden ist. Aber es sind noch andere Gründe da, welche es wahrscheinlich machen, dass wirklich ein Theil der Galle im Darmkanale resorbirt und im Körper noch weiter zersetzt und verbrannt wird. Die Farbstoffe gehen in die Faeces und theilweise in den Urin über : sie werden also theilweise resorbirt, sie werden auch chemisch verändert, aber, wie wir später sehen d44 Das Pankreas und sein Secret. werden, nicht so, dass der Körper aus diesem Processe lebendige Kraft gewänne. Es wird auch Dyslysin und es werden auch Gallensäuren in den Faeces gefunden ; also auch von diesen geht ein Theil ungenützt fort: aber da im ganzen Dünndarm alkalische Reaetion ist, also die Gallensäuren sich mit Alkalien verbinden können, und ihre Verbindungen mit Alkalien leicht löslich sind, so ist es im hohen Grade wahrschein- lich, dass ein Theil der Gallensäuren im Dünndarme wieder resorbirt wird. Dass die resorbirte Galle wenigstens theilweise zerlegt wird, wird dadurch wahrscheinlich, dass beim Ikterus, also da, wo sich viel Gallen- bestandtheile im Blute befinden, nach den bisherigen Erfahrungen die Gallensäuren nicht in demselben Verhältnisse in den Harn übergehen, wie die Farbstoffe, während in anderen Fällen, es ist dies zum Beispiel in Fällen von Lungenentzündung beobachtet worden , Gallensäuren in den Harn übergehen, ohne dass Ikterus vorhanden ist und ohne dass sich Gallenfarbstoff im Urin findet. Die zweite Frage, die, inwiefern die Galle bei der Verdauung und bei der Resorption mitwirkt, können wir nicht isolirt behandeln, wir müssen uns vorerst um einen zweiten Verdauungssaft kümmern, um den Succus pancreaticus. Das Pankreas und sein Secret. Das Pankreas wird gewöhnlich als eine acinöse Drüse beschrieben. Es ist dies aber auch nicht im stricten Sinne des Wortes zu nehmen. Das Pankreas ist nicht etwa eine acinöse Drüse, wie die Meibom'schen Drüsen, auch nicht wie die Talgdrüsen es sind. Es hat einen verzweigten Ausführungsgang, an welchem dann wieder Drüsenschläuche sitzen, die ebenfalls verzweigt sind und mit länglichen Kolben endigen, welche sehr verschieden und unregelmässig gestaltet sind. Sie sind in neuerer Zeit von Latschenberge r wieder untersucht worden. Sie sind so an- einandergelegt, dass eine möglichst vollständige Raumerfüllung erzielt wird, da nur wenig Bindegewebe zwischen ihnen liegt. Daraus geht schon hervor, dass sie nicht beereuförmig, auch nicht ellipsoidisch sein können, sondern dass sie ihrer Gestalt nach sehr verschieden sind. Im Allgemeinen sind es Kolben oder längere Schläuche, welche sich zu andern zusammensetzen, die dann in einen Ausführungsgang einmünden. Die Enchymzellen der secernirenden Partie der Drüse sind nach Latschen- berger's Untersuchungen nackte Zellen mit einem succulenten Proto- plasmaleibe. In der Mitte lassen sie in den Schläuchen und Kolben einen centralen Gang. Wenn man vom Ausführungsgange des Pankreas aus das Pankreas injicirt, bekommt man demnach ein dendritisches Gezweige, welches mit seinen letzten Enden in den Endkolben steckt. Es ist hier ein Netzwerk von Gängen beschrieben, welches angeblich die einzelnen Secretionszellen des Pankreas umspinnen soll. Dieses Netzwerk existirt aber als selbstständiges Gebilde nicht, sondern es erscheint nur an vom Ausführungsgange aus injicirten Drüsen dadurch, dass die Injectionsmasse nicht nur in den centralen oder richtiger axialen Kanal, sondern auch noch in die Zwischenräume zwischen den Secretionszellen eindringt, wie dies Latschenberger ausführlich nachgewiesen hat. Bei dem Ueber- gange der secernirenden Partie in den Ausführungsgang ändert sich das Das Pankreas und sein Secret. 345 Epithel, so dass die Zellen flach und in die Länge gezogen werden und in diesem Charakter nun die Ausfiihrungsgänge auskleiden, bis in den stärkeren ihre Höhendimension wieder zunimmt, so dass sie sich in Cylinderzellen umgestalten. Der Pankreassaft, das Secret des Pankreas, ist eine eiweisshaltige Flüssigkeit, eine Flüssigkeit, welche, je concentrirter sie ist, um so mehr lösliches und auch fällbares Eiweiss enthält, alkalisch reagirt und eine Reihe merkwürdiger Wirkungen ausübt, über welche die chemische Unter- suchung des Secrets bis jetzt nur noch sehr unvollständigen Aufschluss gegeben hat. Der Pankreassaft hat zunächst die Wirkung, Stärke in Dextrin und Zucker umzusetzen, und zwar in einem solchen Grade, wie sie kein anderer Yerdauungssaft besitzt. Bei der Temperatur des mensch- lichen Körpers und selbst bei der gewöhnlichen Temperatur bringt er die Umwandlung der Stärke in Dextrin und Zucker in verhältnissmässig sehr kurzer Zeit zu Stande. Es entsteht dabei, wie unter der Einwir- kung der Diastase und auch des Speichels, nach Musculus und Mering Maltose. Stärkekleister wird in kurzer Zeit so vollständig «»verändert, dass das Jod keine blaue und auch nicht einmal mehr eine rothe Färbung gibt. Der Pankreassaft wirkt auch auf das Achroodextrin, er setzt auch das Achroodextrin noch kräftig in Zucker um, während wir gesehen haben, dass die Diastase auf das Achroodextrin entweder gar keine oder eine kaum merkliche Wirkung hat. Das Pankreassecret der körnerfressenden Thiere und auch das Infusum des Pankreasgewebes dieser Thiere wirkt auch auf rohe Stärke ziemlich energisch ein, es wandelt zuerst die Granulöse der rohen Stärkekörner um, so dass diese sich dann mit Jodtinctur noch roth färben : dann wandelt es auch die Erythrogranulose um, so dass sich das Stärkekorn mit Jod nicht mehr oder je nach der Concentration der Jodlösung gelblich, färbt. Die Folge der Einwirkung des Pankreassaftes auf die Stärke zeigt sich bei Versuchen an Hunden sehr deutlich. Wenn man die Thiere zu der Zeit tödtet, wo eben der Inhalt des Magens theilweise in den Dünn- darm übergegangen ist, und den Mageninhalt herausnimmt, so findet man in demselben regelmässig noch grosse Mengen von Erythrodextrin und Erythramylum. Ja man findet in vielen Fällen zu dieser Zeit noch un- veränderte Granulöse, so dass, wenn man mehr Jod hinzusetzt, die Farbe aus Roth in Blau übergeht. Wenn man von demselben Thiere den Inhalt des Dünndarms ansäuert und Jodtinctur hinzusetzt, so findet man nur in seltenen Fällen irgend eine Färbung, wenn nicht etwa dem Thiere rohe Stärke mit verfüttert worden ist, welche sich dann auch noch im Dünndarme blau färbt. Wenn man den Inhalt des Magens auf Zucker untersucht, so findet man, wie wir gesehen haben, trotz reichlicher Fütterung mit Stärke kaum nachweisbare Spuren von Zucker. Untersucht man aber von demselben Thiere und zu derselben Zeit den Dünndarm- inhalt, so findet man beträchtliche Mengen von Zucker. Durch den Zufluss der drei alkalischen Secrete, der Galle, des Pankreassaftes und des Secrets der Brunner'schen Drüsen, wird der Speisenbrei neutral und dann alkalisch. Man könnte daraus schliessen, dass die Milchsäuregährung, welche im Magen begonnen, jetzt gänzlich aufhört. Es ist dies aber wohl nicht der Fall. Man merkt nur nichts d4b Das Pankreas und sein Secret. von ihr, weil die geringe Menge der gebildeten Säure von den zvl- fliessenden alkalischen Secreten immer wieder neutralisirt wird. Denn wir werden später sehen, dass da, wo diese alkalischen Secrete nicht mehr in solcher Menge abgesondert werden, wo nur sogenannter Succus entericus abgesondert wird, in Folge der Milchsäuregährung der Darm- inhalt wieder sauer wird. Es ist nun doch nicht wahrscheinlich, dass die Milchsäuregährung im Magen beginnt, dass sie dann im Dünndarme aufhört, und dass sie sich im Dickdarme wieder in Gang setzt. Es ist wahrscheinlich, dass sie sich verdeckt im Dünndarme fortsetzt, und dass wir sie nur nicht bemerken, weil durch den Zufluss der alkalischen Secrete die gebildete Säure getilgt wird. Eine zweite nicht minder wichtige und merkwürdige Wirkung des Pankreassaftes ist die Wirkung desselben auf das Fett. Man kann einen Fetttropfen auf eine Eiweisslösung setzen und ihn damit schütteln; der Fetttropfen wird nicht aufgelöst und auch nicht emulgirt ; man kann einen Fetttropfen in ein Reagirglas mit Galle fallen lassen und schütteln ; nachdem die Flüssigkeit zur Ruhe gekommen ist, sammelt sich das Fett wieder an der Oberfläche an, es ist nicht emulgirt worden. Schüttelt man aber das Fett mit Pankreassaft, so erhält man sofort eine schnee- weisse haltbare Emulsion. Man könnte dieses Verhalten einer eigen- thümlichen kräftigen Wirkung der Eiweisskörper des Pankreassaftes zu- schreiben, man könnte der Meinung sein, dass dieses Eiweiss sich be- sonders eigne, um eine Emulsion hervorzubringen ; aber die Sache hat offenbar noch einen andern Grund. Bernard, der diese merkwürdige Eigenschaft des Pankreassaftes zuerst bemerkt hat, hat nachgewiesen, dass der Pankreassaft auch leicht zersetzbare Fette zersetzt, so dass Fettsäuren gebildet werden. Im Kleinen kann man den Versuch folgender- massen anstellen. Man löst ganz frische und säurefreie Butter in Aether auf, mit dieser ätherischen Lösung tränkt man ein Stück Pankreasgewebe. Man lässt nun den Aether verdunsten, fügt etwas Wasser hinzu und legt das Stückchen Pankreasgewebe, nachdem man eine kleine Quantität blauer Lakmustinctur hinzugefügt hat, zwischen zwei Glasplatten mit ineinander verschraubten Fassungen, wie man sie als sogenannte Quetscher bei mikroskopischen Arbeiten braucht. Man bemerkt nach kurzer Zeit, dass sich in der Lakmustinctur um das Stück Pankreasgewebe herum ein rother Hof bildet. Bernard hat sogar vorgeschlagen, dies als Reagens auf Pankreasgewebe anzuwenden, indem er kein anderes Drüsengewebe fand, welches diese merkwürdige Veränderung in den Fetten hervorruft. Er hat dann diese Versuche im Grossen angestellt und hat sich über- zeugt, dass hier Buttersäure gebildet wird. Man hat aber lange nicht gewusst, was man mit dieser merkwürdigen Eigenschaft des Pankreas- gewebes anfangen solle. Denn die Fette werden bei Weitem der Haupt- masse nach, wie wir dies später ausführlich sehen werden, nicht im zerlegten, sondern im unzersetzten Zustande, nur im mechanisch fein vertheilten Zustande, als Emulsion resorbirt. Man kann Schritt für Schritt die ganze Resorption des Fettes verfolgen. Es gibt kaum in der Phy- siologie etwas so Klares, etwas so Einfaches, wie die Resorption des Fettes. Man findet in den Chylusgefässen das neutrale Fett wieder, man findet, dass es auch in das Blut übergeht, nachdem ein grosser Theil desselben von den Lymphkörperchen, beziehungsweise Chyluskörperchen, Das Pankreas und sein Seciet. ö47 aufgenommen worden ist. Erst in diesem, erst im Blute wird es weiter zerlegt, wie es scheint, indem es zunächst einem langsamen Verseifungs- procease unterliegt. In neuerer Zeit hat es sich indessen gezeigt, dass doch die theilweise Zerlegung des Fettes, welche im Darm durch den Pankreassaft bewerkstelligt wird, wenn sie sich auch nur auf einen sehr kleinen Theil des Fettes erstreckt, einen sehr wesentlichen Nutzen hat. Man reinige Olivenöl vollständig von allen Fettsäuren. Zu dem Ende setzt man so viel Barytwasser hinzu, dass dadurch nur ein kleiner Theil des Fettes zerlegt werden könnte. Man rührt dann in der Wärme durch. Das Barium-Hydroxyd greift das Fett nicht an, so lange nicht alle freien Fettsäuren gebunden sind. Man lässt erkalten. Die gebildeten Baryt- seifen senken sich in die untere wässerige Schicht und oben kann man nun das säurefreie Oel abheben. Wenn man solches Oel mit einer Lösung von kohlensaurem Natron oder von Borax schüttelt, so erhält man keine Emulsion, das Oel trennt sich wieder vollständig in einer zusammen- hängenden Schicht. Wenn man aber denselben Versuch mit Oel macht, so wie man es kauft, wo es immer eine, wenn auch nur kleine Quantität von Fettsäuren enthält , und schüttelt dieses mit einer Lösung von kohlensaurem Natron oder Borax, so entsteht gleich nach dem ersten Aufschütteln eine dichte und haltbare Emulsion. Das ist so sicher, dass man dies als Probe anwenden kann, ob ein Oel wirklich frei von Fett- säuren ist oder nicht. Es hängt damit zusammen, dass das kohlensaure Natron und das borsaure Natron an und für sich nicht im Stande sind, das neutrale Fett zu zersetzen, dass aber, wenn freie Fettsäure vorhanden ist, diese einen Theil der Basis an sich reisst, da dieselbe nur durch schwache Verwandtschaft gebunden ist und auf diese Weise eine Seife bildet. Gad hat in neuerer Zeit die wichtige Beobachtung gemacht, dass sich jßLüssige fettsäurehaltige Fette in Lösungen von kohlensauren Alkalien auch von selbst und ohne alle äussere mechanische Einwirkung emul- giren. indem ein merkwürdiger Zertheilungs- und Zerstäubungsprocess mit ihnen vorgeht. Diese freiwillige Emulgirung erklärt sich folgender- massen : Da die beiden ursprünglichen Flüssigkeiten sich nicht mit ein- ander mischen, so besteht der einzige Weg, die Vereinigung der Oelsäure mit dem Alkali möglichst schnell zu erzielen, in einer möglichst grossen Ausdehnung der Berührungsfläche zwischen eben jenen Flüssigkeiten. Dieser wirkt die Oberflächenspannung entgegen, indem sie die Trennungs- fläche so klein als möglich zu machen siicht. Die Oberflächenspannung sinkt aber nach G. Quincke durch die Seifenbildung, wenn man den Oel- tropfen als ursprünglich auf Wasser liegend betrachtet, von 2"30 Milligr. auf 0'36 Milligr. oder um 84%. Die chemischen Kräfte überwiegen also und streben, da die Wiedervereinigung der einmal entstandenen Tropfen durch die um sie gebildeten Seifenhäutchen verhindert wird, bis zu einer gewissen Grenze mit Erfolg ihrem Ziele zu. Diese Grenze kann entweder dadurch gesetzt werden, dass die Oelsäure aufgezehrt ist oder das Alkali; oder die Grenze kann dadurch gesetzt werden, dass die Tropfen so klein werden, dass die aus ihnen frei werdenden Kräfte nicht mehr im Stande sind, die Oberflächenspannung zu überwinden, beziehungsweise das gebildete Seifenhäutchen zu zerreissen. Nun ist im Darmkanale durch die Galle und durch die andern alkalischen Secrete immer eine grosse Menge Alkalien vorhanden, welche 348 Das Pankreas und sein Secret. nur durch schwache Verwandtschaften gebunden sind. Diese können die Fettsäuren an sich reissen und die eben beschriebene freiwillige Emul- girung der Fette, so weit sie bei der Temperatur des Körperinneren flüssig sind, bewirken. Man ist wirklich im höchsten Grade erstaunt, wenn man zum ersten Male ein Thier, das mit Fett gefüttert ist, öiEfnet. Bis an den Pylorus und selbst im oberen Theile des Duodenums sind noch Fetttropfen vorhanden, im Magen in grosser Masse, und so wie man an den Ausführungsgang des Pankreas und über denselben hinaus- kommt, so sieht man plötzlich Alles in eine milchige Masse verwandelt, ohne dass doch diejenige kräftige mechanische Action vorhanden wäre, welche in der Apotheke immer angewendet werden muss, um das Fett zu emulgiren. In dieser Beziehung unterliegt es also keinem Zweifel, dass der Pankreassaft sehr wesentlich mitwirkt für die Resorption der Fette, und man hat in der That auch bei Erkrankungen des Pankreas gefunden, dass die Faeces viel fettreicher waren als im normalen Zustande, ja dass das Fett in Substanz auf den Faeces schwamm und erstarrte. Es ist zwar auch beobachtet worden, dass, trotzdem kein Pankreassaft in den Darmkanal hineingelangte , Fett resorbirt wurde, was sich aber daraus schon hinreichend erklären würde, dass ja das Fett, welches wir zu uns nehmen, nicht vorher gereinigt ist, sondern dass es Fettsäuren enthält, die dann in ähnlicher "Weise Seifen bilden können und in ähnlicher Weise zur Emulgirung mitwirken, nur dass dann der ganze Process in kleinerem Maassstabe vor sich geht, als wenn der Pankreas- saft zugeflossen ist. Ausserdem hat aber auch die Galle einen wesent- lichen Einfluss auf die Fettresorption. Aus den gewöhnlichen Fällen, wo es sich blos darum handelt, dass bei einem Ikterus die gallenfreien Faeces reich an Fett gefunden wurden, lässt sich eigentlich nicht viel schliessen, denn da gelangt keine Galle in den Darmkanal, weil die Schleimhaut des Duodenums geschwellt ist und den Gallengang verschliesst. Wenn sie aber dies thut, so wird sie wahrscheinlicher Weise auch den Ausführungsgang des Pankreas verschliessen. Es existiren aber Unter- suchungen von Voit, nach denen die Fettresorption sehr beschränkt ist, wenn keine Galle in den Darmkanal gelangt, wie sich dieses bei Hunden zeigte, denen eine Gallenblasenfistel angelegt war. Nicht nur die absolute, sondern auch die relative Menge des mit dem Kothe ab- gehenden unresorbirten Fettes war um so grösser, je mehr Fett verab- reicht war. Die Galle kann dadurch zur Fettresorption beitragen, dass sie durch schwache Verwandtschaften gebundene Alkalien zur Disposition stellt, ausserdem aber auch dadurch, iind hierauf legt Voit besonderes Gewicht, dass das mit Gallenlösung durchtränkte Zottengewebe die Fette leichter passiren lässt. Auf der mangelhaften Fettresorption beim Mangel der Galle beruht es nach Voit, dass Hunde mit Gallenfisteln mehr Futter bedürfen als normale, wie ich dies früher bei der Lehre von der Function der Galle erwähnt habe. Wo nur fettfreies Futter verabreicht wurde, bedurften Hunde mit und ohne Gallenfistel gleiche Mengen, um sich im Gleichgewichte zu erhalten. Eine dritte Wirkung des Pankreassaftes besteht darin , dass er geronnene Eiweisskörper auflöst und resorptionsfähig macht. Es ist dies zuerst von Corvisart beobachtet worden, es wurde hinterher mehrfach bestritten, aber Kühne hat dann in einer ausführlichen Arbeit die Das Pankreas und sein Secret. 349 Richtigkeit der Angaben von Corvisart nachgewiesen. Die Auflösung erfolgt aber unter wesentlich andern Erscheinungen als bei der Magen- verdauung. Kühne operirte so, dass er nicht das aus künstlich angelegten Pankreasfisteln gewonnene Secret, sondern die Pankreassubstanz selbst zur Verdauung verwendete und als Object der Verdauung sich meist des gereinigten und gekochten Blutfibrins bediente. Er fand dann,, dass das- selbe nicht aufquoll, sondern dass es mürbe und zerreisslich wurde und am Ende sich verflüssigte. Wenn er das Fibrin, nachdem es durch die Einwirkung der Pankreasflüssigkeit mürbe und zerreisslich geworden war, auswusch, so dass er also das lösliche Eiweiss und das Eiweiss, welches im Pankreassafte selbst enthalten ist, fortschaffte, so fand er, dass der Rest zum grossen Theile in verdünnter Kochsalzlösung löslich sei, und dass die so erhaltene Lösung beim Kochen gerann. Es war hier also aus dem gekochten Blutfibrin, das, wie alle gekochten Eiweis;skörper, bei der Magenverdauung nur fällbares Eiweiss gibt, eine Lösung erhalten worden, welche sich wie natives Eiweiss verhielt. Es ist dies deshalb von besonderer Wichtigkeit, weil es, wie wir früher schon gesehen haben, räthselhaft ist, auf welche Weise speciell wir Menschen uns das native Eiweiss verschaffen, da wir alle Eiweisskörper im gekochten oder im gebratenen Zustande zu uns nehmen, und die durch Hitze coagulirten Eiweisskörper bei der Magenverdauung nur wieder fällbares, niemals natives, sogenanntes lösliches Eiweiss geben. Dieses Verdauungsvermögen erstreckt sich auf alle geronnenen Eiweisskörper, aber nicht wie das des Pepsins auch auf leimgebende Substanzen, Bindegewebe, Sehnen u. s. w. Kühne nennt die eiweissverdauende Substanz im Pankreassafte Trypsin, von Tpu^epö?, morsch. Dasselbe wirkte, nachdem er es möglichst gereinigt hatte, nicht auf Stärke und Dextrin. Es ist ein sogenanntes ungeformtes Ferment, nach Kühne 's Ausdruck ein Enzym. Er ist der Ansicht, dass es das zu verdauende Eiweiss in zwei Körper spaltet, die er als Pepton und Antipepton bezeichnet , letzteres wird durch das Trypsin nicht weiter verändert. Als Producte weiterer Zersetzung treten bei der Pankreasverdauung auch Leucin, Tyrosin und ein sich mit Brom violett färbender Körper auf, nach G. Salomon auch Hypoxanthin (Sarkin) und Xanthin, ferner nach E. und H. Salkowski Toluylsäure, ferner Indol, letztere beide nur unter Mitwirkung von Bacterien. Diese Mitwirkung kann aber auch im lebenden Körper stattfinden, da, wie Billroth gezeigt hat, die Keime sich schon im lebenden Pankreas finden. Leucin und Tyrosin treten bei der chemischen Zersetzung der Eiweiss- körper, sei es, dass dieselben durch Alkalien, sei es, dass dieselben durch Säuren zerstört werden, als die allerhäufigsten Producte auf. Sie treten ferner auch bei der Fäulniss der Eiweisskörper auf, und so auch hier bei der Pankreasverdauung. Sie sind auch in einzelnen Organen gefunden. Sie treten unter pathologischen Verhältnissen an Orten auf, wo sie normaler Weise nicht gefunden werden, und können dann auch in den Urin übergehen, während sie im gewöhnlichen, im normalen Zustande im Organismus weiter zersetzt werden. Dasselbe gilt von der Asparagin- säure, die von Salkowski und Radziejewski gleichfalls unter den Producten der Pankreasverdauung gefunden ist. Das Leucin besteht aus Cr H^^ NO^. Es krystallisirt theils in Nadeln, theils in Blättchen, ist im Wasser ziemlich leicht, in Alkohol 350 Das Paakreas und sein Secret. schwerer, in Aether sehr schwer löslich und kann im unzersetzten Zu- stande sublimirt werden. Es bildet dabei, wenn man es in einem Probir- röhrchen erhitzt, wollige Flocken, die in der Luft umherfliegen in ähn- licher Weise wie Zinkoxyd. Man muss es übrigens, um es mit Sicherheit zu erkennen, einigermassen rein darstellen. Es hat keine charakteristische Reaction, durch welche es sich im unreinen Zustande, oder doch in sehr unreinem Zustande von andern Körpern unterschiede. Wenn man es einigermassen rein dargestellt hat, und man dampft es auf einem Platin- blech mit Salpetersäure ab, so gibt es einen farblosen, ganz unschein- baren Rest. Setzt man zu diesem Reste einige Tropfen Natronlauge hinzu und dampft vorsichtig ab, so löst sich dieser Rest in der Natron- lauge zu einem ölartigen Tropfen auf, der, wenn er eine gewisse Con- centration erreicht hat, ohne Adhäsion wie eine Kugel auf dem Platin- blech herumrollt. Wenn mau Leucin mit verdünnter Schwefelsäure und Braunstein erwärmt, so gibt es den charakteristischen Geruch nach Valeronitril. Mmmt man concentrirte Schwefelsäure und treibt die Oxj^dation weiter, so entsteht Valeriansäure. Das Tyrosin ist schwer löslich im Wasser, Alkohol und Aether und besteht aus Cy i7y ^^3. Es gibt zwei sehr empfindliche Reactionen ; die eine ist bekannt imter dem Namen der Piria'schen Reaction und wird dadurch erzielt, dass man die für Tyrosin gehaltene Substanz in Schwefelsäure auflöst, sie einige Zeit damit stehen lässt, dann mit kohlen- saurem Kalk die Schwefelsäure sättigt und aufkocht. Die Flüssigkeit filtrirt man jetzt vom Gypse ab und setzt nun eine kleine Menge einer neutralen Eisenchloridlösung hinzu ; dann entsteht, wenn die Substanz in der That Tyrosin war, eine schön violette Farbe. Man thut aber wohl, die Eisenchloridlösung sehr stark zu verdünnen und sie tropfen- weise hinzuzufügen, denn eine sehr geringe Menge von Eigenchlorid ist hinreichend, um die Färbung zu erzeugen, und fügt man mehr hinzu, so verdirbt man die schon entstandene Färbung. Die andere Probe ist die Hofmann'sche Tyrosinprobe. Sie besteht darin, dass man den für Tyrosin gehaltenen Körper in einer durch Salpetersäure sauren Lösung von salpetersaurem Qaecksilberoxyd kocht. Wenn wenig Tyrosin zugegen ist, färbt sich die Flüssigkeit nur rosenroth bis dunkelpurpurroth ; wenn aber mehr Tyrosin vorhanden ist, dann scheiden sich aus der dunkel- purpurrothen Lösung reichliche rothe Flocken aus. L. Mayer stellt die Probe so an, dass er sich erst neutrales salpetersaures Quecksilberoxyd bereitet, indem er Salpetersäure auf überschüssiges Quecksilber einwirken lässt, und dieses zu der Tyrosinlösung hinzusetzt. Dann entsteht beim Aufkochen ein gelblichweisser Niederschlag , und nun mischt er zu Wasser etwas rauchende Salpetersäure hinzu und trägt diese verdünnte Salpetersäure tropfenweise ein. Wenn er nun aufkocht, dann entsteht wiederum dieselbe rothe Farbe, von der ich vorhin gesprochen habe, eventuell bei grösserer Menge von Tyrosin die rothen Flocken, welche sich ausscheiden. Er nimmt rauchende Salpetersäure, weil immer eine kleine Menge salpetrige Säure zugegen sein muss, und v. Vintschgau räth deshalb, wenn man die Probe nach Hof mann anstellen will, noch einen kleinen Krystall von salpetrigsaurem Kali hinzuzusetzen, um sich des Erfolges der Reaction zu vergewissern. Die rothe Verbindung, die bei dieser Reaction gebildet wird, scheint identisch zu sein mit der Der Darmsaft (Succus enteiicus). 351 rotheu Verbindung, welche die Farbenreaction bedingt, die man erhält, wenn man Eiweisskörper mit sogenannter Millon'scher Flüssigkeit kocht. Das Tyrosin ist von Erlenmeyer künstlich dargestellt, und wie L. V. Barth schon 186^ vermuthete, eine Parahydroxiphenylamidopropion- säure, und zwar nach Erlenmeyer die a-Amidosäure. Das Indol C',ß H^^ N2 gehört zu den Reductionsproducten, welche sich aus dem Isatin erhalten lassen, das wiederum aus Indigo mittelst Oxydation durch Salpetersäure dargestellt wird. Die Asparaginsäure C4 H- NO^ wird auch durch Zersetzung der Eiweisskörper mittelst Schwefelsäure und mittelst Brom erhalten und findet sich fertig gebildet in der Zuckerrübenmelasse. Sie heisst Asparaginsäure, weil sie zuerst aus dem in den Spargelkeimen enthaltenen Asparagin Cj H^ N^ O3 erhalten wurde, indem man dasselbe mit Säuren kochte. Die Secretion des Pankfeassaftes steht nach den Beobachtungen von Bernstein unter dem Einflüsse des jSTervensystems. Während der Magenverdauung beginnt und steigert sich die Pankreassecretiou, so dass ein reichliches Secret ergossen wird, wenn der Speisenbrei eben aus dem Magen in den Dünndarm übergeht. Zu dieser Zeit findet man auch das Infus, welches aus der Substanz der Drüse bereitet wird, wirksamer als zu andern Zeiten. Dagegen hemmt nach den Beobachtungen von Bern- stein Erbrechen und selbst Würgen die Pankreassecretiou vollständig, und es gelang ihm auch, dieselbe stillzustellen durch Reizung des cen- tralen Vagusstumpfes, während die Reizung des peripheren Vagusstumpfes unwirksam war. Die Pankreassecretiou scheint also unter dem doppelten refl.ectorischen Einflüsse der Vagusfasern zu stehen, einmal von solchen, die die Pankreassecretiou anregen, und das andere Mal von solchen, welche sie hemmen, welche sie sistiren. Der Darmsaft (Succus entericus). Das Secret der Bruuner'scheu Drüsen können wir uns, wie schon erwähnt, nicht im reinen Zustande verschaffen ; es lässt sich deshalb auch über dessen chemische Zusammensetzung und über dessen physiologische Wirkung nichts sagen. Dagegen hat man sich zu wiederholten Malen den sogenannten Succus entericus, das Secret der Darmwand oder, wie mau gewöhnlich annimmt, der Lieberkühu'schen Krypten im unver- mischten Zustande verschafft. Man kann dies thuu, indem mau eine Darmschlinge abbindet, oder indem man ein Darmstück isolirt dadurch, dass man den Darm an zwei Stellen durchschneidet und mit Ausschluss des Zwischenstückes wieder zusammenheilt, oder aber dadurch, dass man Darmfisteln so anlegt, dass das Secret, welches aus dem oberen Theile des Dünndarms kommt, aus dem Körper herausfliesst, also die Flüssigkeit, die sich in dem unteren Theile ansammelt, nun reiner Succus entericus ist. Die belehrendsten Beobachtungen wüä Versuche in Rücksicht auf den Menschen sind diejenigen, welche Busch in einer ausgezeichneten Krankengeschichte beschrieben hat. Ich habe Ihnen schon früher er- wähnt, dass er auf der chirurgischen Klinik in Bonn Gelegenheit hatte, eine Person zu beobachteu, welche von einem wüthenden Stiere auf die 302 Dei- Darmsaft (Succus entericus). Hörner genommen worden war, und welche im oberen Theile des Dünn- darms eine derartige Darmfistel davongetragen hatte, dass der ganze Chymus, welcher aus dem Magen kam, nach aussen entleert wurde, und ebenso Galle, Pankreassaft und Secret der Brun^ier'schen Drüsen, und nichts davon in das untere Stück des Dünndarms hineingelangte. Obgleich diese Person grosse Mengen von Nahrungsmitteln durch den Mund zu sich genommen hatte, war sie doch so sehr abgemagert, dass man täglich ihrem Ende durch Inanition entgegensah. Der Grund davon war leicht einzusehen. Sie hatte die Nahrungsmitteln zu sich genommen, dieselben waren die Magenverdauung eingegangen, sie waren mit dem Pankreas- safte und der Galle gemischt, aber das Stück Darmkaual, welches sie jetzt zu durchwandern hatten, war zu kurz gewesen, es hatte durch dasselbe nicht die hinreichende Menge von Nahrungsmitteln resorbirt werden können, es war deshalb der grösste Theil derselben wieder ungenützt ausgeleert worden. Busch kam deshalb auf den Gedanken, sie von dem unteren Stücke des Darmkanales aus zu ernähren, und stopfte deshalb flüssige und feste Nahrungsmittel in die in dasselbe führende und zu diesem Zwecke erweiterte Fistelöffnung. Die Person kam nach kurzer Zeit zu Fleisch und zu JKräften, und merkwürdiger Weise gelang es später sogar^ sie im Gleichgewichte zu erhalten durch die Nahrung, welche man ihr durch den Mund gab. Dieses schnelle Wiederindiehöhe- kommen durch die Ernährung von der unteren Fistelöffnuug aus weist an und für sich schon darauf hin, dass im Darmkanale verdaut werden kann, ohne Magensaft, ohne Pankreassaft, ohne Galle und ohne das Secret der Brunner'schen Drüsen, unter der blossen Wirkung des Succus entericus und derjenigen Zersetzungen, welche etwa freiwillig, unter Beihilfe von Mikroorganismen bei der Temperatur von 38^ in den hineingebrachten Substanzen vor sich gehen. Biisch hat nun die Wirkung des Succus entericus, welcher, wie er stets beobachtet hat, nur in verhältnissmässig geringer Menge abgesondert wird, auf die Nahrungsmittel untersucht. Er fand zunächst, was schon frühere Beobachter bei ihren Versuchen an Thieren gefunden, dass der Succus entericus in ziemlichem Grade das Vermögen habe. Stärke in Dextrin und Zucker umzuwandeln. Er steht hierin zwar hinter dem Pankreassafte zurück, hat aber noch immer das Vermögen in hinreichendem Grade, um die ganze gekochte Stärke der Nahrung in Dextrin und Zucker umzuwandeln. Zweitens fand er aber auch, dass der Succus entericus das Vermögen habe, geronnene Eiweisskörper aufzulösen. Busch füllte geronnenes Eiweiss in Tüll- säckchen und senkte diese an Fäden in die untere Fistelöffnung hinein, liess sie darin gegen fünf Stunden und nahm sie dann wieder heraus. Nachdem er vorher das feuchte Gewicht der hineingegebenen Eiweiss- körper gewogen hatte und den trockenen Rest des gleichen Gewichtes von diesem Eiweiss bestimmt hatte, so bestimmte er jetzt wiederum den trockenen Eest des Rückstandes und er fand, dass der Gewichtsverlust 5, 6, 10, ja in den günstigsten Fällen sogar 35% der angewendeten Substanz betrug. Demant läugnet dagegen, dass der Darmsaft Eiweiss- körper löse. Sollte sich diese seine Angabe bestätigen, so würde man annehmen müssen, dass bei der Kranken von Busch die Auflösung unter Mitwirkung von Bacterien zu Stande kam, was auch nach unseren jetzigen Kenntnissen keineswegs unwahrscheinlich ist. In den Beobach- Menge der Verdaiiungssafte. oOS tungen von Busch zeigte sich keine besondere Einwirkung des Succus entericus auf die Emulgirung der Fette. Butter, welche im zerlassenen Zustande in die untere OeiFnung der Fistel hincingespritzt wurde, er- schien oft nach längerer Zeit wieder in grösseren zusammenhängenden Massen, indem sie durch eine zufällige peristaltische Bewegung wieder ausgetrieben wurde. Auch Demant gibt au, dass neutrale Fette nicht emulgirt würden, nur solche, die freie Fettsäuren enthielten. Ebenso wenig hatte nach Busch der Succus entericus das Vermögen, Rohr- zucker in Invertzucker, d. h. in Traubenzucker und Fruchtzucker um- zuwandeln. Diese Umwandlung geschieht allerdings während der normalen Verdauung, aber man weiss noch nicht, welchen Antheil daran beim Menschen die Säure des Magensaftes hat, welchen Fermente der Magen- und Darmschleimhaut. Pavy hat bei Säugethieren solche Fermeut- wirkungen gefunden, aber sie gestatten noch keinen Schluss auf den Menschen, da sie nicht bei allen Säugethieren gleich waren. Pavj^ fand auch eine solche Fermentwirkung, durch welche das Reductionsvermögen des Traubenzuckers vermindert wurde und dann durch Kochen mit zweipercentiger Schwefelsäure wieder hergestellt werden konnte. Menge der Verdauiiiigssäfte. Busch hat bei dieser Gelegenheit auch Versuche angestellt über die Menge der Verdauungsflüssigkeiten, welche in dem oberen Theile des Darmkanals in den Tractus intestinalis hinein entleert werden. Er machte dies so, dass er seiner Kranken kurze Zeit nur trockene Nahrungsmittel gab und dann die ganze Masse auffing, die aus der oberen Fistelöffnung abging. Das Gewicht derselben minus dem Gewichte der angewendeten trockenen Nahrungsmittel gab das Gewicht der Verdauungsflüssigkeiten, und wenn man die aufgefangene Masse zur Trockne abdampfte und von der Menge des trockenen Rückstandes die Menge der Nahrungsmittel abzog, so gab dies zwar nicht genau, aber doch näherungsweise die Menge des festen Rückstandes der abgesonderten A'^erdauungssäfte. Es musste nämlich dabei das ausser Betracht gelassen Averdeu, was etwa auf dem Wege bis zur Fistelöffnung schon resorbirt worden war. Er fand auf diese Weise, dass bei seiner Kranken die Menge von Verdauungs- flüssigkeiten, welche binnen 24 Stunden in den Darmkanal hinein er- gossen wird , den siebzehnten Theil des ganzen Körpergewichtes der Patientin betrug. Nun können Sie das nicht auf den gesunden Menschen übertragen und sagen, er secernire binnen 24 Stunden den siebzehnten Theil seines Körpergewichtes an Verdauungsflüssigkeiten, an Magensaft, Galle und Pankreassaft ; das geht schon deshalb nicht, weil die Person sehr abgemagert war, vielleicht drei Zehntel und mehr von ihrem Körpergewichte verloren hatte, als sie in die Behandlung von Busch kam, und auch später, als diese A'^ersuche augestellt wurden, bei AA'eitem nicht auf ihr normales früheres Gewicht gebracht worden war. Immerhin zeigen aber diese A^ersuche, dass die Menge der Flüssigkeiten, welche in den oberen Theil des Darmkanales hineinergossen worden, eine sehr be- deutende ist. Da die Kranke damals sicher nicht mehr um -^ unter ihrem normalen Gewichte stand, so greift man wohl nicht zu hoch, wenn Brücke. Vorlesungen T. 4. Aufl. 2" 354 Der Motus peristalticus. Dickdarmverdauung-. man sagt, die Flüssigkeit habe wenigstens ^ von dem Gewichte betragen, das sie hatte, ehe sie die Yerletznng erlitt. Da nun die Menge von Flüssigkeit, welche normaler Weise binnen 24 Stunden aus dem unteren Ende des Darmkanals entleert wird, eine sehr geringe ist, so muss nahezu diese ganze Flüssigkeitsmasse auf dem Wege durch den Darmkanal resor- birt werden. Es ergibt sich daraus, dass ein förmlicher Kreislauf durch den Darmkanal existirt, dessen wesentliche Zuflüsse aus der Mundhöhle, dem Magen und dem Duodenum kommen, während der Abfluss auf der ganzen Strecke des Darmkanals stattfindet. Dieser Flüssigkeitsstrom, dieser Flüssigkeitskreislauf durch den Darm reisst die ernährenden Sub- stanzen mit sich, welche aus dem Darmkanale durch die Chylusgefässe in die Säftemasse übergeführt werden sollen. Der Strom der secernirten Verdauungsflüssigkeiten ist auf seinem Rückwege zugleich der ernährende Resorptionsstrom. Der Motus peristalticus. Der Speisebrei wird fortgeführt im Dünndarme und später auch im Dickdarme durch den sogenannten Motus peristalticus. Derselbe besteht im Wesentlichen darin, dass sich an irgend einer Stelle eine Contraction bildet, welche nach abwärts über ein grösseres oder geringeres Stück des Darmkanals abläuft, während sich vor der Contractionswelle die Längs- fasern des betroffenen Darmstückes zusammenziehen. Auf diese Weise wird der Inhalt oder vielmehr ein Theil des Inhalts des Darmes weiter nach abwärts befördert. Auch über den Motus peristalticus hat Busch an seiner Kranken eine Reihe von Beobachtungen angestellt. Die Gelegenheit dazu bietet sich aber auch manchmal in andern Fällen, namentlich an Indi- viduen, welche an Diastase der Bauchmuskeln leiden, und welche zugleich sehr abgemagert sind, so dass nur eine dünne Decke über ihren Bauch- eingeweiden liegt. Da kann man die Windungen, des Darmes ganz deutlich unter den Bauchdecken abgezeichnet seheUj und man kann die Bewegungen derselben verfolgen. Man sieht, dass oft lange Zeit Euhe herrscht, dass dann local Bewegungen anfangen, dass eine Periode der Bewegung eintritt, dass darauf wieder Euhe folgt u. s. w. Wenn keine Darmbewegungen vorhanden sind, so kann man dieselben durch äussere Reize hervorrufen, durch blosses Anlegen einer kalten Hand auf Stellen, welche vorher mit der Decke bedeckt waren. Die Bewegungen, welche man an Thieren beobachtet, denen man die Leibeshöhle geöffnet, sind im hohen Grade unregelmässig und sind durch verschiedene Ursachen bedingt, sie sind theils veranlasst durch die Einwirkung der atmosphä- rischen Luft, theils durch das Aufhören der Circulation ii. s. w. Dickdarmverdauung. Nachdem der Speisenbrei seinen Weg durch den Dünndarm gemacht hat, gelangt er in den Dickdarm. Das Secret der Schleimhaut desselben ist noch im Stande, Stärkekleister in Dextrin und Zucker überzuführen, scheint aber sonst nichts mehr für die Verdauiing zu leisten. Es emulgirt kein Fett, und Czeruy und Latschenberger, die an einem isolirten Dickdaimverdanung. 3ö5 Dickdarmstücke experimentirten, das von der Flexura sigmoidea bis zum After reichte, fanden durch Hitze coagulirtes Hühnerei weiss noch wieder, nachdem es zwei und einen halben Monat im Darme verweilt hatte. Es war äusserlich wenig verändert, nur au den JRändern benagt, morsch und von Bacterien durchsetzt. Auch eine Einwirkung der Darmschleim- haut auf lösliches, natives Eiweiss konnten sie nicht wahrnehmen. Der Speisenbrei hat, wenn er in den Dickdarm gelangt, schon sehr viel von seinen löslichen Substanzen verloren, auch ist in der Kegel schon alles Fett, was überhaupt zur Resorption kommt, resorbirt. Nur in Ausnahms- fällen werden vom Dickdarm aus noch Fette resorbirt. Vom Dickdarme aus wird aber noch immer eine bedeutende Menge von Flüssigkeit resor- birt, 80 dass sich die Consistenz des Chymus, während er durch den Dickdarm hindurchgeht, beträchtlich vermehrt, und er sich im S Romanum und im Mastdarm zu zusammenhängenden Massen ballt. Bei den Wieder- käuern und bei den vegetabilienfressenden Säugethieren überhaupt ver- bleiben die Reste der Nahrungsmittel sehr lange im Dickdarme. Diese Thiere haben ein sehr grosses Coecum; das Coeeum des Kaninchens hat eine Capacität, welche der des Magens dieses Thieres ziemlich gleich ist, und dieses Coecum ist immer mit Nahrungsresten angefüllt. Bei diesem langen Verweilen im Dickdarme und namentlich im Coecum tritt ein Zersetzungsprocess unter der Mitwirkung kleiner Organismen auf, und diese Zersetzung führt den Namen der Digestio secundaria. Es scheint das ein sehr complicirter Process zu sein, indem Zersetzuugsprocesse verschiedener Art, je nach den Substanzen, welche sich zersetzen, neben- einander hergehen. Einerseits findet Milchsäuregährung statt, es wird so viel Milchsäure gebildet, dass der Speisenbrei im Dickdarme wieder sauer wird, obgleich die innere Oberfläche des Dickdarms und also auch das Secret derselben alkalisch reagirt. Wenn man den Dickdarm öffnet und ein Lakmuspapier auf die Schleimliaut desselben legt , so findet man, dass diese alkalisch reagirt, auch der Schleim, welcher sich auf der Oberfläche der Contenta befindet, reagirt alkalisch. Wenn man aber die Contenta selbst im Innern untersucht, so findet mau saure Reaction, ein Zeichen, dass die saure Reaction nicht herrührt vom Dickdarme und seinem Secrete, sondern vom Zersetzuugsprocesse, welcher im Speisen- brei statthat. Ausserdem zersetzen sich Eiweisskörper in einer Weise, die nahe verwandt ist der gewöhnlichen Fäulniss , wie solche auch ausserhalb des Organismus stattfindet. Es werden bei diesem complicirten Zersetzungsprocesse eine Reihe von Gasen gebildet, Kohlensäure, Gruben- gas (C'iTj), Wasserstoflgas, Stickgas und eine kleine Menge A^on Schwefel- wasserstoff, welche aber häufig ganz fehlt. Das sind die Dickdarmgase, welche durch den freiwilligen Zersetzungsprocess im Dickdarm entstehen, und welche häufig in solcher Menge sich entwickeln, dass dadurch eine mächtige Auftreibung des Unterleibes entsteht. In Folge dieser compli- cirten Zersetzungsprocesse werden immer noch lösliche Substanzen ge- bildet, die resorbirt werden, wenn die Menge des aus dem Dickdarme Resorbirten bei den Fleischfressern und beim Menschen , welche ein verhältnissmässig kleines Coecum und einen verhältnissmässig kui'zen Dickdarm haben, auch nicht gross ist, wenigstens nicht gross im Ver- hältniss zu der Menge der nährenden Substanzen, welche aus dem Dünndarme resorbirt werden. Auf diese Weise verarmen die Contenta 23* OOb Sclilussbenierkuiiyeii. immer mehr au Wasser und an lösliclieu Substanzen, und was schliess- lich, übrig bleibt, sind die Faeces. Woraus bestehen die Faeces: Die Faeces bestehen aus den unverdauten, nicht resorbirbaren Eesten der Nahrungsmittel und aus deren nicht resorbirbaren oder doch nicht resor- birten Zersetzungsproducten. Unter diesen hat namentlich das Skatol (Cg H^ N^, Nencki) in neuerer Zeit die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Es ist den Chemikern als letztes Fäulnissproduct der Eiweisskörper bekannt, und seine Anwesenheit in den Faeces gibt somit Zeugniss dafür, dass schon im Darmkanal ein Theil der Eiweisskörper so weit zersetzt wird , dass an ein Wiederumzusammentreten der Zersetzungs- producte, an eine Regeneration zu histogenetischen Substanzen nicht zu denken ist. Ferner bestehen die Faeces aus den unlöslich gewordenen Resten der Verdauungsflüssigkeiten, namentlich aus den unlöslichen Gallen Substanzen , und endlich aus abgestossenen Epithelien, Mucin, welches aus den Schleimdrüsen des Tractus intestinalis stammt u. s. w- Scliliisslbemerkungeii. Wenn wir jetzt noch einmal einen Blick auf die Nahrungsmittel und ihre Schicksale im Darmkanaie werfen, so sehen wir, dass die Fette in Emulsion übergeführt und im normalen Zustande ziemlich vollständig resorbirt werden, wenigstens dann, wenn sie nicht in grossem Ueber- masse eingeführt worden sind. Sie werden dann schon resorbirt im Dünndarme, oft schon im Jejunum, so dass das untere Ende des Ileums schon fettfreien Chylus resorbirt. Es ist deshalb ein Vorurtheil, wenn man Fette an und für sich für schwer verdauliche Substanzen hält. Schwer verdaulich, d. h. relativ schwer in den resorbirbaren Zustand überzuführen, sind gewisse gemengte Fette durch die Höhe des Schmelz- punktes einzelner Gemengtheile. Im Uebrigen aber beruht das, was mau gegen die Fette gesagt hat, auf einem Vorurtheil. Fett kann, wenn es im Uebermasse genossen wird, oder bei schlechter Verdauung Unbequem- lichkeit im Magen machen, es können sich Fettsäuren im Magen bilden, ranziges Aufstossen u. s. w. entstehen. Es kann weiter bei geschwächten Individuen, oder wenn es im Uebermasse genossen wird, wenn es nicht resorbirt wird, zu einer vorübergehenden Diarrhöe Veranlassung geben. Die weiteren secundären Nachtheile aber, die man dem Fette zuschreibt, existiren nicht. Es ist fast komisch anzusehen, wie manchmal Mütter ihren Kindern ängstlich Fett vorenthalten, weil es ihnen unreine Haut, Ausschläge u. s. w. erzeugen könne , während die Kinder , wenn sie thatsächlich voller Grind sind , Leberthran als Heilmittel löffelweise nehmen müssen. Für die Stärke gibt es drei Verdauungssäfte, welche sie in Dextrin und Zucker umwandeln und somit ihre Verdauung einleiten, den Speichel, den Pankreassaft und den Succus entericus. Ausserdem haben wir aber gesehen, dass, abgesehen von irgend welcher Einwirkung der Verdauungs- säfte, die Milchsäuregährung, welche im Tractus intestinalis stattfindet, als solche die Stärke in Dextrin und demnach in Zucker und dann in Milchsäure umsetzt. Die gekochte Stärke, wenn sie nicht in so compacten Massen in den Äragen hineinkommt, dass sie überhaupt gav nicht von Schlussbeiuertungeii. 357 Flüssigkeit durchdrungen werden kann , kann also niemals unverdaut irgendwo im Darmkanale liegen bleiben. Selbst w^enn weder Magensaft noch Pankreassaft, ja selbst wenn der Speichel nicht abgesondert würde, so könnte zwar die Verdauung der Stärke verzögert werden, schliesslich müsste sie aber doch schon durch die blosse Berührung mit der Darm- wand und somit mit dem Succus entericus und ausserdem durch die Milchsäuregährung, durch den Gährungsprocess, welcher im Magen und im Darmkanale vor sich geht , endlich verdaut und zur Resorption gebracht werden. Daraus erklärt es sich, dass in krankhaften Zuständen, in denen weder grössere Mengen von Fett, • noch grössere Mengen von Eiweisskörpern, namentlich von Eiweisskörpern in compactem Zustande, verdaut werden, dass in solchen noch Kohlehydrate verdaut und Kohle- hydrate ohne Wachtheil genossen werden. Andererseits wird aber die Stärke, auch die gekochte Stärke, niemals ganz vollständig verdaut. Von der rohen Stärke ist es längst bekannt, dass Thiere, welche dieselbe zu sich nehmen, z. B. die Pferde, in ihren Faeces eine grosse Menge von unverdauter Stärke haben. Voit hat aber auch bei Hunden nach- gewiesen, dass durch den Genuss von gekochter und gebackener Stärke, von Brod, immer die Menge der Faeces sehr vermehrt wird, so dass bei Brodnahruug eine viel grössere Menge von Faeces abgeht als bei Fleischnahrung. Eine analoge Beobachtung ist auch an Menschen gemacht worden. Menschen, welche sich der Bantingkur unterziehen, welche, um ihre Fettleibigkeit los zu werden, sich des Fettes und der Kohlehydrate möglichst enthalten und sich fast ausschliesslich von Fleisch nähren, bekommen entweder nach kurzer Zeit Diarrhöe, und dann müssen sie die Kur abbrechen; wenn dies aber nicht der Fall ist, so vermindert sich die Menge ihrer Faeces in auffallender Weise. Damit hängt es zusammen , dass die Einen behaupten , die Bantingkur mache ihnen Diarrhöe, die Andern sagen, sie seien bei der Bantingkur verstopft. Der Grund dieser anscheinenden Verstopfung liegt meistens darin, dass die Menge der Faeces, welche im Darmkanale gebildet wird, viel geringer ist als bei der gewöhnlichen gemischten Nahrung. Der Rest, der bei der Stärke zurückbleibt, kommt offenbar auf Rechnung desjenigen Be- standtheils der Stärke, Avelchen Naegeli mit dem Namen der Cellu- lose bezeichnet hat. Denn wir haben gesehen, dass die Granulöse zuerst verdaut und umgewandelt wird , und dass auch die Erythrogranulose beim Uebergange in den Dünndarm iimgewandelt wird, indem hinterher auch keine Reaction auf Erythrogranulose zu finden Avar. Es ist zwar die Cellulose an und für sich für den Menschen nicht durchaus unver- daulich, wenn er auch nicht so viel daA^on zur Verdauung und zur Re- sorption bringt, als dies bei den grasfressenden Säugethieren der Fall ist: aber doch bleibt xon der Stärke ein bedeutender Rest zurück, welcher nur Cellulose sein kann. Von den Zuckern, welche wir in uns hineinbringen, bleibt begreif- licher "Weise kein solcher Rest zurück. Wir können aber nicht etwa die Stärke als Nahrungsmittel durch Zucker ersetzen wollen, denn der Zucker kann gar nicht in einer solchen Quantität genossen Averden wegen der anderweitigen Unordnungen, welche er im Darmkanal hervorruft, theils durch die starke Anziehung zum Wasser, welche Zucker in Substanz, und welche concentrirte Zuckerlösung hat, theils durch die Leichtigkeit, mit 358 Schlussljemertungen. welcher er die Milchsäuregährung eingeht. Es ist bekannt, dass Zucker im Magen die Säure sehr rasch vermehrt, während Stärke sie nur sehr langsam vermehrt. Das beruht darauf, dass der Zucker, wenn er als solcher fertig in den Magen hineingebracht wird, gleich in Masse die Milchsäuregährung eingehen kann, während die Stärke, in den Magen gebracht, nur sehr allmälig Veranlassung zur Bildung von Milchsäure geben kann, nämlich in dem Grade, als sie erst in Dextrin, dann in Zucker nnd endlich in Milchsäure umgesetzt wird. Es beruht deshalb auf einer verkehrten theoretischen Anschauung, wenn man die Leute fett machen oder ernähren will dadurch, dass man ihnen grosse Mengen von Zucker gibt, und dass man sie mager machen will, indem man ihnen den Zucker als solchen entzieht. Die Mengen von Zucker sind es nicht, welche das Eett- und Magerwerden bedingen, weil überhaupt der Zucker auf die Dauer nicht in solchen Quantitäten hineingebracht wird und hineingebracht werden kann, dass er der Stärke gegenüber wesentlich in Betracht kommt. Wenn man Zucker in zu grossen Mengen einführt — davon kann man sich auch an Thiereu überzeugen — tritt oft Diar- rhöe und in Folge davon Abmagerung ein. Was die dritte Gruppe der Nahrungsmittel , die Eiweisskörper, anlangt, so werden sie so ziemlich vollständig verdaut, so dass ein ver- hältnissmässig sehr kleiner Rest zurückbleibt. Die Schlangen verdauen bekanntlich die Fleischnahrung so vollständig, dass in ihren Faeces fast nur Harnbestandtheile abgehen, und der eigentliche Rückstand der Magen- und Darmverdauung ein äusserst geringer ist. Auch die Raubvögel ver- dauen , nachdem sie die für sie unverdaulichen Substanzen , Federn, Haare, Knochen durch Erbrechen ausgestossen haben, das Uebrige sehr vollkommen. Auch die fleischfressenden Säugethiere und die Menschen verdauen den grössten Theil des Fleisches bis auf die elastischen Fasern, welche unverdaut abgehen. Auch diese sind nach Etzinger nicht ganz unverdaulich; sie waren nach zehntägiger Digestion mit künstlicher Ver- dauungsflüssigkeit grösstentheils aufgelöst. Ebenso wurde Knorpel künst- lich grösstentheils verdaut, und bei Hunden konnte durch Knorpelfütterung die Menge des Harnstoffs gesteigert werden. Es wurde also sicher ein Theil derselben resorbirt und verwerthet. Die Menge der Faeces bei Fleischnahrung bei Fleischfressern und beim Menschen ist deshalb eine verhältnissmässig geringe. Aber das Fleisch und die geronnenen Eiweiss- körper überhaupt verlangen unnachsichtlich die Wirkung der Verdauungs- säfte. Sie iinterliegen nicht wie die Kohlehydrate durch sogenannte spontane Zersetzung demselben .Processe , den sie bei der Verdauung durchmachen. Darum gilt geronnenes Hühnereiweiss, welches in grossen Stücken in den Magen hineingebracht wird, im Allgemeinen als schwer verdaulich, weil es durch die Wirkung des Magensaftes allmälig von der Oberfläche her aufgelöst werden muss. Auch das Fleisch muss der Wir- kung des Magensaftes unterliegen, zunächst damit das Bindegewebe ver- daut wird, welches dasselbe zusammenhält, und dann ein Theil der Eiweisskörper, während ein Theil der Muskelfasern noch in den Dünn- darm übergeht und hier weiter verändert wird. Es muss darauf auf- merksam gemacht werden, dass das Bindegewebe in dem Zustande, in welchem wir es geniessen, im gekochten oder gebratenen Zustande, wo es doch immer vorher der Hitze ausgesetzt worden ist, leichter der Die Resorption. 359 Verdauung unterliegt als die Muskelfasern selbst. Damit hängt es offen- bar zusammen, dass Leute, welche kein Fleisch mehr vertragen, noch andere eiweissartige Substanzen, z. B. Hirn oder Thymus, vertragen können. Ich habe einen alten Mann von 81 Jahren gekannt, der übrigens vollkommen gesund war, der aber kein Fleisch mehr verdauen konnte. Um sich die eiweissreiche thierische Nahrung nicht gänzlich zu entziehen, wechselte er fortwährend mit Hirn, Thymus, weicher Geflügel- leber u. s. w. Er verdaute eben das durch die Zubereitung schon halb in Leim umgewandelte Bindegewebe dieser Substanzen und konnte dann auch einen Theil der nun in sehr fein vertheiltem Zustande in seinem Darmkanale befindlichen Eiweisskörper zur Resorption bringen. Vor Allem muss man festhalten, dass es wesentlich die Magenverdauung ist, welche so zu sagen zunächst die gröbste Arbeit an der Fleischnahrung thut, und das ist auch offenbar der Grund, weshalb thierische Nahrung, namentlich thierische Nahrung im compacten Zustande, Fleisch in Stücken, in krankhaften Zuständen, namentlich in fieberhaften, nicht vertragen wird, wo Kohlehydrate oft noch leicht vertragen werden, und wo Eiweiss- körper im fein vertheilten Zustande, z. B. als Eidotter, Milch u. s. w., auch noch vertragen und verdaut werden. Die Resorption. Was wird nun von den Nahrungsmitteln resorbirt? Die Fette werden grösstentheils in Substanz und in Gestalt einer Emulsion resor- birt. Wir haben gesehen, dass nur ein kleiner Theil derselben zersetzt wird, Seifen bildet, und dass diese Seifen als Mittel dienen, um das übrige noch unzersetzte Fett in Emulsion zu erhalten und zur Resorption zu bringen. Wir werden sehen, dass wir den Weg der einzelnen Fett- tröpfchen vollständig verfolgen können. Von den Kohlehydraten werden resorbirt der Zucker, welchen wir im Chylus und im Blute nachweisen können, es werden resorbirt milch- saure Salze, indem die gebildete Milchsäure sich im Dünndarme mit den dort zur Disposition stehenden Basen verbindet und leicht lösliche milch- saure Salze bildet. Es wird wahrscheinlich auch Dextrin, namentlich Achroodextrin resorbirt, es fehlt darüber aber an einer entscheidenden Untersuchung , weil man, um die Dextrine im Chylus nachzuweisen, grössere Mengen von Material gebraucht, und es grosse Schwierigkeiten hat, sich grosse Mengen von reinem Chylus zu verschaffen. Das Achroo- dextrin ist an sich schAver nachweisbar, und das Erythrodextrin ist deshalb als Bestandtheil thierischer Organe und thierischer Flüssigkeiten schwer nachweisbar, weil es seine charakteristische Reaction, die rothe Färbung mit Jod,, mit dem Glycogen gemein hat. Man hat im Blute kleine Mengen einer Substanz gefunden, welche sich mit Jod roth färbte und offenbar ein Kohlehydrat war, von der es sich aber wegen der geringen Menge, in welcher sie vorhanden war, nicht entscheiden Hess, ob sie Glycogen oder Erythrodextrin sei. Von den stickstoffhaltigen Substanzen wird, wie bereits erwähnt, der Leim weiter verändert, verliert seine Gerinnbarkeit und wird wahr- scheinlich in diesem Zustande resorbirt. Man weiss über seine weiteren 360 T)ie Resorption. Schicksale nichts. Von den Eiweisskörpern nahm man, wie gesagt, früher an, dass sie nur als Peptone resorbirt würden. Wir haben den Begriff der Peptone so gefasst, dass wir Eiweisskörper noch jene Substanzen nennen, welche durch Blutlangensalz aus ihren sauren Lösungen gefällt werden, dagegen diejenigen Abkömmlinge derselben, welche noch nicht krystallisiren und noch durch Tannin gefällt werden, aber nicht mehr durch Blutlaugensalz aus sauren Lösungen gefällt werden, als Peptone bezeichnen. Dass nun Eiweisskörper im eigentlichsten Sinne des Wortes resorbirt werden, davon kann man sich auf verschiedene Weise über- zeugen. Als ich mich vor einer Reihe von Jahren mit der Untersuchung der Chylusgefässe beschäftigte und vor Allem auf natürlichem Wege angefüllte Chylusgefässe zu erhalten suchte, bemerkte ich, dass man zu nichts gelangt, wenn man die Thiere unmittelbar nach dem Tode öffnet, weil dann die Muskelfasern in den Zotten und der Schleimhaut, und auch die subperitonäalen Muskellager sich zusammenziehen und den Chylus aus den ersten Anfängen der Chylusgefässe, die uns ja gerade inter- essiren, hinaustreiben. Ich liess deshalb die Thiere 48, manchmal auch nur 24 Stunden in einem kalten ßaume liegen und öffnete sie erst dann. Nun erreichte ich meinen Zweck, jetzt waren die Muskelfasern abgestorben, zugleich fand ich aber auch ganz in der Regel den Chylus vollständig zu einer käsigen Masse geronnen. Wenn ich mit einem Lakmuspapier die Reaction untersuchte, so fand ich sie sauer. Es war also hier offenbar unter dem Entstehen der sauren Reaction ein fällbares Eiweiss herausgefällt worden. Da es meist saugende Thiere waren, an denen ich arbeitete, so war es klar, dass dies das Casein der Milch sei, welches sie resorbirt hatten, und welches beim Sauerwerden der Reaction nun herausgefällt wurde, in ganz ähnlicher Weise, wie es sich in der Milch ausscheidet, wenn dieselbe sauer wird. 'Nun haben wir aber früher gesehen, dass, wenn man durch einen Thoncylinder Milch filtrirt, dann 'erst das lösliche Eiweiss hindurchgeht, und dass das Casein zurück- bleibt. Das Casein der Milch ist also schwerer filtrirbar als das lösliche Eiweiss der Milch. Es konnte also keinem Zweifel unterliegen, dass hier lösliches Eiweiss, so weit es in der Milch vorhanden war, mit resorbirt wurde, denn durch Oeffnungen, durch welche das Casein hindurchgegangen war, war sicher auch das lösliche Eiweiss hindurchgegangen. Uebrigens handelt es sich gar nicht um Wege von einer solchen Feinheit, dass ein Eiweissmolekül nicht hindurchgehen könnte, da ja die Fettkugeln in Sub- stanz hindurchgehen. Man findet auch immer im Chylus, wenn Eiweiss- körper genossen werden, nicht nur wenn Milch genos.sen ist, sowohl fäll- bares als lösliches Eiweiss, wovon man sich überzeugen kann, wenn man 'den Chylus auffängt und ihn mittelst Ansäuerns und mittelst Erwärmens untersucht. Auch wenn keine Milch genossen wurde, enthält der Chylus meist so viel fällbares Eiweiss, dass er beim Sauerwerden des Darm- inhaltes freiwillig gerinnt, und oft ebenso compact gerinnt, als wenn Milch genommen worden wäre. Man kann also nicht daran zweifeln, dass beide Arten des Eiweisses , soweit sie im Dünndarme vorhanden sind, resorbirt werden. Die Schwerfiltrirbarkeit des Eiweisses, durch welche man früher zu der Idee gekommen ist, dass dasselbe als solches nicht resorbirt werden könne, ist keineswegs allem Eiweiss gleichmässig eigen. Das Hühncreiweiss , welches durch theilweise Gerinnung mit Die Rcsoviitinn. 361 gelatinösen Massen durchsetzt ist, ist allerdings schwer filtrirbar, auch das Serumeiweiss ist ziemlich schwer filtrirbar, aber z, B. das lösliche Eiweiss, welches in der Milch enthalten ist, ist, wie wir gesehen haben, verhältuissmässig leicht filtrirbar, und ebenso ist das reine Wurz'sche Eiweiss leicht filtrirbar. Auch das lösliche Eiweiss, das sich bei der Magenverdauung bildet, oder vielmehr, welches bei der Magenverdauung verbleibt, ist leicht filtrirbar. Wenn man mit einer künstlichen Ver- dauungsflüssigkeit rohes Fleisch verdaut und gleich nach der Auflösung oder noch vor der völligen Auflösung desselben die Flüssigkeit abfiltrirt, nahezu neutralisirt, vom Niederschlag abfiltrirt und die nur schwach sauer reagirende Flüssigkeit jetzt erhitzt, so bekommt man eine reich- liche Ausscheidung von Eiweiss. Wenn man aber von derselben Flüssig- keit, von welcher man eine Probe erhitzt hat, etwas filtrirt, so kann man sehen, dass sie mit grosser Leichtigkeit, ähnlich wie eine Wurz'sche Eiweisslösung, durch das Filtrum hindurchgeht. Es wird also von den Eiweisskörpern resorbirt fällbares Eiweiss, zunächst durch Säuren ver- ändertes fällbares Eiweiss, das sich mit Hilfe der Alkalien im Dünndarme wieder gelöst hat, und lösliches Eiweiss, soweit es im Darmkauale vor- handen ist. Ausserdem können natürlich die weiter gebildeten löslichen Producte resorbirt werden und werden resorbirt. Inwieweit dieselben nach der Resorption noch wieder die Eigenschaften von nativem Eiweiss annehmen oder gewebebildend und gewebeernährend auftreten, und inwieweit sie unmittelbar der weiteren Zersetzung anheimfallen, muss erst durch weitere Versuchsreihen ermittelt werden. Eine weitere Frage ist : Wo wird resorbirt ? Wir haben gesehen, dass im Dickdarme Flüssigkeit in bedeutender Menge resorbirt wird. Bauer hat nachgewiesen, dass nicht nur Flüssigkeit, sondern selbst gelöste Stoff"e, ja selbst Eiweisskörper im Dickdarme resorbirt werden. Er spritzte in den Dickdarm sogenannte Peptonlösung, er spritzte in den Dickdarm auch eine Lösung von Eiweiss mit Kochsalz ein, bei Thieren, Avelche er vorher so weit hatte fasten lassen, dass die Harnstoffmenge, welche sie ausschieden, constant geworden war, und er fand, dass dann sogleich die Menge des Harnstoffes, welche sie binnen. 24 Stunden aus- schieden, nicht unbeträchtlich, um (S und auch um 8 Gramm, zunahm. Daraus ging hervor, dass sie wirklich nicht nur Flüssigkeit, sondern auch Eiweiss resorbirt hatten. Czerny iind Latschenberger fanden gleich- falls, dass lösliches Eiweiss im Dickdarm resorbirt wurde. Auch Stärke- kleister kam zur xiufsaugung, offenbar nachdem er vorher durch das Secret der Schleimhaut in Dextrin und Zucker A'erwandelt worden war. In seltenen Fällen findet auch Fettresorption im Dickdarme statt, das heisst, man hat Chylusgefässe, welche vom Dickdarme ausgingen, mit fetthaltigem Chylus gefüllt gesehen. In der Regel ist dies nicht der Fall, in der Regel kommt die ganze Fettresorption auf den Dünndarm. Das Fett von Emulsionen, welche Czerny und Latschenberger direct in den Dickdarm brachten, wurde theilweise resorbirt. Im Magen wird niemals Fett resorbirt, weil das Fett im Magen in der sauren Flüssigkeit nicht in Emulsion, nicht in resorptionsfähigen Zustand kommt, vielleicht auch noch aus andern Gründen. Sonst aber findet im Magen mitunter eine reichliche Resorption statt. Man findet manchmal, wenn man Thiere während der Verdauung tödtet, die Lymphgefässe auf der Oberfläche des oh2 Die Eesorption. Magens in ähnlicher Weise strotzend gefüllt, wie die Chylusgefässe, welche vom Dünndärme kommen, aber mit einer farblosen durchsichtigen Flüssig- keit. Es ist dies indessen nicht häufig; was hier resorbirt wird, ist unbekannt. Die Hauptresorption findet im Dünndarme statt, indem hier am reichlichsten die Verdauungsproducte aus allen drei Hauptgruppen der Nahrungsmittel resorbirt werden. Die Kanäle, durch welche dies geschieht, sind die Chylusgefässe. Früher, ehe man die Chylusgefässe kannte, glaubte man, dass die Blutgefässe des Darms die Nahrung resorbiren. Später, nachdem die Chylusgefässe entdeckt waren, nachdem man sie mit einer milchigen Flüssigkeit angefüllt gefunden hatte, schrieb man natürlich ihnen die Hauptthätigkeit bei der Resorption zu. Es wurde aber ein Versuch gemacht, welcher beweisen sollte, dass es doch eigentlich die Blutgefässe seien, welche resorbiren. Man brachte Blutlaugensalz in den Darm und untersuchte, ob man dies früher wiederfinde im Blute der Vena jugularis oder im Ductus thoracicus. Man fand es regelmässig früher in der Vena jugularis und schloss hieraus anfangs mit einem Scheine von Recht, dass es wesentlich die Blutgefässe seien, welche resorbiren. Dieser Schluss war unrichtig. Eine gelöste Substanz kann allerdings durch die Blutgefässe schneller verbreitet werden als durch die Chylus- gefässe, denn das Blut kreist im Körper, es nimmt durch Diffusion, durch sogenannte Endosmose, im Darmkanal etwas von dem Blutlaugen- salze auf und ist in sehr kurzer Zeit darauf in der Vena jugularis. Hier kann dieses Blutlaugensalz dann nachgewiesen werden , während das Blutlaugensalz, welches in die Chylusgefässe hineingeht, den langsamen Gang des Chylus verfolgt, bis es im Ductus thoracicus anlangt, einen Gang, welcher um so langsamer ist, je weniger das Thier gefüttert ist, je weniger es resorbirt. Aber nichtsdestoweniger geht der grosse Strom der ernährenden Flüssigkeiten nicht durch die Blutgefässe, sondern durch die Chylusgefässe. Die Blutgefässe sind ganz ungeeignet dazu, grössere Mengen von nährenden Substanzen aufzunehmen, denn die Blutgefässe können nur auf dem Wege der Diffusion aufnehmen. Sie werden mit Begierde Salze aufnehmen , welche in den Darmkanal hineingebracht werden, und welche nicht, oder doch nicht in ähnlicher Menge im Blute enthalten sind. Es wird auch Zucker auf dem Wege der Endosmose in die Blutgefässe aufgenommen, wenn auch nicht in verhältnissmässig grosser Menge. Aber Eiweisskörper befinden sich im Blute, und wenn sie sich auch ausserhalb der Gefässe befinden, so ist damit keine Anregung zu einem Diffusionsprocesse gegeben. Fette gehen gar nicht durch die Wandungen der Blutgefässe hindurch, werden von denselben gar nicht aufgenommen. Zudem findet in den Blutgefässen ein Druck statt, welcher immer im Innern der Gefässe grösser ist als ausserhalb derselben, so dass im Ganzen keine Aufnahme von Material, sondern im Gegentheile eine Ausscheidung von Material stattfindet. Ganz anders verhält es sich mit den Chylusgefässen. Es geht ein beständiger Strom in die Chylus- gefässe hinein und zum Ductus thoracicus hin, und wir werden sehen, dass dieser Strom nicht ein Diffusionsstrom ist, sondern dass dieser Strom eine Filtration ist, und zwar eine Filtration durch ein Filtrum, dessen Poren weit genug sind, dass sogar ungelöste Körper, die kleinen Fett- kügelchen des Chylus, hindurchgehen. Die Resorption. ouö Wir haben uns jetzt näher mit den Wegen zu beschäftigen. Es ist zunächst für Jeden, der ein Thier in der Resorption untersucht, deutlich, dass die einzelnen Cylinderzellen sich vollständig mit Fett anfüllen. Dass Fettkörnchen in dieselben hineinkommen, das ist an sich nicht räthselhaft, weil eich an ihrer der Darmhöhle zugewendeten Seite keine Zellenmembran befindet, sondern nur das sogenannte Stäbchenorgan, welches dem Protoplasma direct aufsitzt. Welchen Weg die Fetttröpfchen durch das Stäbchenorgan hin- durch nehmen, wis- ^'S- *'• sen wir bis jetzt j '^^ ^.^^^^^..^y nicht. Wir bemerken ,^'^®( ^ / a zwar ab und zu ein- ~; "^^ ^-^ li^Ji zelne Fetttröpfcheu ' "'"^^/V. ■ Äl j' '' ^~1 __ innerhalb des Saumes, j;t W, f f K 1 aber ohne genauer V V':'*'; ■'.■"' "-'4' 1/ ihre Lage angeben zu •••',;.. ^ können; die meisten i Fetttröpfchen liegen ,•• I im Protoplasma der i.;;: ••,:, Zelle. Von den Epi- ^: .: ;^, O^::, .-,^..:% , thelzellen gehen sie « — ;;; , ' ' ■ ■ ■' \UO':i>-'s: | über in das Stroma V^-.- 'i :.; der Zotte. Offenbar muss die Epithelzelle, '^^^^^ '^iS so wie sie oben eine ®'-'' Oeffnung hat, auch unten, da, wo sie in die Zotte eingepflanzt ist, eine Oeffnung haben, durch welche die Fetttröpfchen wieder heraustreten können. Bisweilen sieht man auch hier eine Stelle, an welcher ein kleiner Zapfen von Protoplasma heraushängt. Man kennt jedoch dieses untere Ende der Zelle nicht so genau, wie das obere freie Ende derselben. Demnach füllt sich nun das ganze Zottengewebe mit Fetttröpfchen an, so dass die ganze Zotte im auffallenden Lichte weiss und im durchfallenden Lichte unter dem Mikroskope schwarz erscheint. ISTach den Unter- suchungen, die V. Basch im hiesigen Laboratorium angestellt hat, besteht das Zottengewebe aus einem Gerüste, das rundliche Räume hat, in denen nackte, verhältni.ssmässig grosse runde Zellen (o, o, « Fig. 41) liegen, und dieses Gerüst, das von den Längsmuskelbündeln der Zotte (Fig. 41 b b) durchsetzt wird, hat offenbar Hohlräume : denn erstens lässt es sich mit löslichem Berlinerblau injiciren, und zweitens füllt es sich zur Zeit der Resorption ganz dicht mit Fetttröpfchen, wie dies Fig. 41 zeigt. Die schwarzen Punkte sind die Fetttropfen, dieselben waren in den Präparatiouen von v. Basch mittelst Ueberosmiumsäure schwarz gefärbt worden. Sie müssen natürlich sich ein solches Gerüst nicht hart und unnachgiebig vorstellen, denn die ganze Zotte ist ja weich, also muss auch dieses Gerüst verhältnissmässig weich und mit Flüssigkeit im- bibirt sein. Aus diesem Gerüste des Zottenparenchyms gelangt der Chylus in den inneren Zottenraum, welcher vom Zottenparenchym unmittelbar be- grenzt wird. Insofern, als der innere Zottenraum der erste gefässartige 364 Die Resoi'ption. Raum ist, in welchen der Chyliis hineingelangt, kann man ihn als den Anfang des Chylusgefässsystems betrachten. Es sind auch nach Injection mit Silberlösung Zeichnungen an seiner Begrenzung beobachtet worden, die als Grenzlinien von Endothelzellen gedeutet werden. Die eigentlichen Chylusgefässe aber mit selbstständigen Wandungen beginnen erst, wie wir später sehen werden, an der Grenze von Schleimhaut und submucösem Muskellager. Der innere Zottenraum geht nach unten über in eine Er- weiterung, die sich namentlich, dann sehr deutlich auszeichnet, wenn die Zotte sich schon zusammengezogen und so diese untere Erweiterung mit Chylus gefüllt hat. Wenn die Muskelfasern der Darmzotte sich zusammen- ziehen, so runzelt sie sich der Quere nach und bekommt dadurch quere Einkerbungen, wie eine Oestruslarve. Man hat deshalb diesen Zustand das östruslarvenartige Aussehen der Zotte genannt. Dabei wird begreif- licher Weise der innere Zottenraum verkleinert, und die Folge davon ist nun, dass sich der Chylus in dem weiteren Theile unter der Zotte an- häuft. Wenn sich dann die Zotte wieder ausdehnt und sich oben wieder mit Chylus füllt, so steht der dünnere obere Theil des Raumes, der innere Zottenraum im engeren Sinne des Wortes, wie ein Flaschenhals auf dem unteren erweiterten Theile. Deshalb ist dieser Theil von dem älteren Nathan ael Lieb erkühn mit dem Namen der Ampulle belegt worden. Manche Autoren haben irrthümlich Lieberkühn's Ampulle an der Spitze der Zotte gesucht. Wenn man. den Originaltext nachliest, so kann man nicht darüber im Zweifel sein, dass sie, wenigstens der Körper derselben, unter der Zotte liegt. Jede Ampulla ist in Verbindung mit einem kleinen Chylusgefässe, das unter ihr das submucöse Muskellager durchbohrt. Die Zotten sind aber keineswegs die einzigen Theile der Darmschleimhaut, welche sich mit Chylus füllen. Wenn ein Thier eine nicht zu grosse Menge von Fett resorbirt, so sieht man allerdings die Zotten wie weisse Härchen auf dem mehr durchscheinenden Grunde stehen ; wenn aber ein Thier grosse Mengen von Fett resorbirt hat, so ist die ganze Schleimhaut weiss und undurchsichtig, und wenn die Blut- gefässe der Zotten stark gefüllt sind, so kann es geschehen, dass man die Zotten als rothe Härchen auf weissem Grunde sieht. Wenn man eine solche Schleimhaut mit Glycerin oder mit einer concentrirteu Lösung von Kalialbuminat, die man so weit neutralisirt hat, als es geschehen kann, ohne das Eiweiss auszufällen, durchsichtig macht: so findet man, dass das ganze Gewebe der Schleimhaut, welches zwischen den Lieber- kühn'schen Krypten liegt, in ganz ähnlicher Weise, wie^das Zottenparen- chym, vollständig mit Fettkörnchen durchsetzt ist. iNur das Cylinder- epithel der Lieberkühn'schen Krypten ist frei A'on Fett. Selbst die solitären Drüsen und, wenn die Fettresorption recht reichlich ist, auch die Peyer'schen Drüsen sind mit Fettkörnchen durchsetzt, die Sinus der letzteren oft strotzend mit milchweissem Chylus gefüllt. Ln Zustande der vollen und reichlichen Resorption ist also die ganze Schleimhaut gewisser- raassen ein Sumpf, der mit Chylus statt mit Wasser gefüllt ist, und aus dem die Chylusgefässe wie Ableitungsröhren den Chylus in die Gefässe des submucösen Bindegewebes, der sogenannten Tunica nervea der älteren Anatomen , und dann in die Gefässe des Mesenteriums hineinführen. Wenn man bei künstlichen Injectionen blind endigende oder netzartig verbundene Gefässe bekommt, so rührt dies begreiflicher Weise daher, Die Keboiptioii. doO dass die Injectionsmasse uur in gewisse, uur iu die weiteren Räume eindringt. Wenn man das vollständige Resorptionsgebiet kennen lernen will, dann muss man die Thiere in der vollen Resorption untersuchen. Man muss die ersten Wege des Chylus in ihrer natürlichen Anfiillung ixntersuchen ; nur dann erfährt man, welche Bahnen die Resorption geht, und dann sieht man, dass die ganzen interstitiellen Gewebsräume der Schleimhaut und ausserdem der ganze Epithelialüberzug der Zotten sich vollständig mit Chylus anfüllen. Die räumliche Anordnung ist bei verschiedenen Thieren etwas ab- Aveichend vom Menschen. So findet sich da, wo breite Zotten sind, z. B. bei den Ratten, nicht ein Zottenraum, sondern mehrere. Dasselbe findet sich auch bei den Wiederkäuern, und Teichmaun ha,t durch Injection netzförmig mit einander verbundene Chylusräume in den breiten Zotten des Hammels dargestellt. Diese sogenannten Endnetze der Chylusgefässe entsprechen, wie gesagt, dem Innern Zottenratime , und in dieselben gelangt gleichfalls der Chylus aus dem Parenchym der Zotten hinein. Der Unterschied zwischen beiden ist ein rein formeller, nämlich der, dass bei der cyliudrischen Zotte nur ein centraler Raum, und bei diesen grossen, breiteren, platten mehrere Räume vorhanden sind, welche sich mit einander netzförmig verbinden. Aehnliche solche Enduetze hat V. Langer bei Amphibien und Reptilien injicirt, wo sie sehr nahe unter der Oberfläche liegen, indem an den flachen Falten und blattförmigen Hervorragungeu, welche hier vorkommen, die Parenchym schicht, welche zwischen diesen Anfängen des Chylusgefässsystems und zwischen dem Epithelium liegt, sehr dünn ist. Der feinere Bau ist aber allen Schleim- häuten gemeinsam, bei allen gelangt der Chylus zuerst in interstitielle Gewebsräume und aus diesen in die Chylusräume , wie sie genannt werden, wenn sie einfache Kanäle in der Mitte einer Cylinderzotte sind, oder in die Endnetze, wie man sie nennt, wenn die Zotten breiter, blattartig, faltenförmig und die Räume netzartig mit einander ver- bunden sind. Die eigentlichen mit selbstständigen bindegewebigen Wandungen und einem Epithel versehenen Chylusgefässe tauchen als kleine klappenlose Röhren aus der Schleimhaut auf, im Dünndarm indem sie direct mit einer Lieberkühn'schen Ampulle in Verbindung stehen, wo, was nicht bei allen Säugethieren der Fall, solche Ampullen deutlich ausgeprägt sind. Aber auch, wo sie es nicht sind, stehen diese kleinsten Chylus- gefässe mit den inneren Zottenräumen in verhältnissmässig weiter und offener Verbindung, während ausserhalb dieser relativ weiten Communi- cationen nur die unvergleichlich kleineren Räume liegen, welche ich interstitielle Gewebsräume der Schleimhaut nenne und die sich, wie in der Zotte, so in der übrigen Schleimhaut nicht als solche sichtbar machen lassen, sondern nur dadurch erkennbar sind, dass sie sowohl lösliches Berlinerblau aufnehmen, als auch mit fettreichem Chylus gefüllt gefunden werden. Im submucösen Bindegewebe bekommen die Chylusgefässe nach kurzem Verlaufe, und nachdem sie einige Verbindungen mit einander eingegangen sind, Klappen. Sie verlaufen von jetzt an, sich in dendri- tischen Formen zusammensetzend, bei Menschen, Hunden, Wieseln und Schweinen ganz selbstständig neben den Blutgefässen , und zwar die stärkeren so, dass immer Arterie und Vene von je einem Lymphgefässe 366 Die Bewegung des Cliylns. begleitet werden, so dass immer zusammen vier Gefässe die. Muskelhaut durchbohren und in das Mesenterium übertreten, eine Arterie, eine Vene und zwei Chylusgefässe. Bei den Kaninchen sind die Chylusgefässe in der ganzen Darmwand noch verhältnissmässig breite, vielfach mit ein- ander communicirende Bahnen. Darauf beruht der räthselhafte Anblick, welchen ein in der Resorption befindlicher Darm eines Kaninchens zeigt. Wenn Sie ein Kaninchen öffnen, das fettreichen Chylus resorbirt, so ent- steht ein lebhafter Motus peristalticus, und während desselben scheint der Verlauf der Chylusgefässe in der Darmwand fortwährend zu wechseln. Das rührt daher, dass, so wie der Darm sich zusammenzieht, der Chylus in diesen grossen Chylusgefässen mit breitem Strombett und zahlreichen Communieationen hin- und hergeschoben wird, so dass au einer Stelle ein Gefäss auftaucht, an einer andern eines verschwindet. Die Blut- gefässe liegen anscheinend in den Chylusgefässen, von den letzteren wie von Scheiden umgeben. Felix v. Winiwarter hat indessen durch seine Injectionen nachgewiesen, dass diese Einscheidung nur eine scheinbare ist, dass die Blutgefässe ausserhalb der Chylusgefässe liegen und die letzteren nur hart an der Wand der erstereren verlaufen. Bei anderen Nagern, Ratten, Mäusen, finden sich Uebergänge von dieser Foi-m zu der Form, wie sie beim Menschen und bei den reissenden Thieren vor- kommt. Auch bei ihnen sind die Chylusgefässe in der Dai'mwand, so weit sie mir bekannt sind, klappenlos. Die Bewegung des Chylus. Welche siud nun die treibenden Kräfte, durch die die Resorption bewirkt wird? Wir haben gesehen, dass sich zunächst die Epithelzellen mit Fetttröpfchen anfüllen. Wenn eine nackte, freilebende Zelle sich mit Fetttröpfchen anfüllt, so wissen wir, wie das geschieht. Wir wissen, dass sie Fortsätze ausstreckt, mit diesen das Fetttröpfchen umfasst und es in ihre Substanz hineinzieht. Auch bei den Cylinderzellen des Darms ist eine mechanische Thätigkeit des Stäbchenorgans, beziehungsweise des Protoplasmas an sich nicht unwahrscheinlich, nur ist es schwerer, sich hier eine directe Ueberzeugung zu verschaflfen. Spina und auch v. Wieders- heim geben an, in dieser Richtung an Thieren Beobachtungen mit posi- tivem Resultat gemacht zu haben. Auch abgesehen von einer solchen Thätigkeit ist in der Zotte eine Triebkraft für eine gegen den inneren Zottenraum gerichtete Strömung vorhanden. Denken wir uns zuerst die Zotte zusammengezogen, ihre Muskulatur contrahirt und also den inneren Zottenraum entleert, und nun denken wir, dass die Zotte wieder erschlafft und dadurch ausgedehnt wird, dass das Blut in die in ein mantelförmiges Netz angeordneten Capillaren der Zotte einströmt. Ist der innere Zottenraum leer, so wird der Druck im Innern jetzt geringer sein als der Druck von aussen, und es wird also eine Tendenz der Flüssigkeit vorhanden sein, von aussen nach innen zu strömen. Wie gesagt, wir wissen nicht, ob dies das einzige Moment ist, durch welches ein Flüssigkeitsstrom in das Innere der Zotte hineingeführt werden kann. Ist nun der innere Zottenraum einmal gefüllt, so zieht sich die Zotte wieder zusammen und treibt dadurch natürlich ihren Inhalt gegen die tTiTiwamllung und Verbrauch der resovl)ir^en SuVistanzen. 367 Ampulle und gegen die Chylusgefässe hin aus. Wenn sich das submucöse Muskellager zusammenzieht, so wird dadurch der Druck nach innen vom submucösen Muskellager grösser, als der Druck nach aussen von demselben ist. Man muss immer festhalten, dass in dem vielfach gewundenen und geknickten Darmrohr der Chymus nicht ohne Widerstand fortbewegt wird und gelegentlich auf Hindernisse stösst, wenn auch nur auf solche, welche er überwindet. Der Chylus, der einmal in der Schleimhaut ist, wird durch die offenen Wege, die ihm zu Gebote stehen, leicht in die Chylus- gefässe des submucösen Bindegewebes abfliessen. Hier steht er aber, wenn sich die Muskelhaut des Darmes zusammenzieht, noch wiederum unter einem grösseren Druck als im Mesenterium; er wird also wieder aus dem Theile der Chylusgefässe, der im Darm verläuft, hinausgetrieben werden und in denjenigen Theil der Chylusgefässe, der im Mesenterium verläuft, übergehen. Es muss berücksichtigt werden, dass wegen der zahlreichen Klappen in den Chylusgefässen auch ein blos vorübergehender Druck niemals wirkungslos bleibt, weil der Chylus nur nach einer Eich- tung bewegt werden kann, der Rückgang ihm durch die Klappen ver- wehrt wird. Die Wirkung des Motus peristalticus ist zuerst von Rudolf Wagner direct beobachtet worden. Er spannte das Mesenterium junger lebender Thiere, welche Milch resorbirten^ bei schwacher Vergrösserung unter dem Mikroskope auf. Er konnte nun in den Chylusgefässen den Strom des Chylus fiiessen sehen, und er bemerkte, dass derselbe jedes- mal eine Beschleunigung erfuhr, wenn über das Darmstück eine Con- tractionswelle hinlief. Wenn der Chylus einmal in den Gefässen des Mesenteriums angelangt ist, so steht er lediglich unter dem Drucke, welcher in der Bauchhöhle herrscht. Dieser ist noch immer grösser als der Druck in der Brusthöhle, er steigert sich namentlich bei der Inspiration über denselben. Wir kommen hier wieder auf das zurück, was wir schon früher bei -der Lymphe gesehen haben, darauf, dass durch die Respirations- bewegungen, durch die Contractionen des Zwerchfells die Lymphe und also auch der Chylus aus den Lymphgefässen, beziehungsweise aus den Chylusgefässen der Unterleibshöhle, in den Ductus thoracicus hinauf- gepumpt wird. Wir kommen auch hier wieder auf die selbstständige Contractilität der Wandungen der Lymphgefässe zurück. Bis jetzt ist dieselbe nur von Heller am Meerschweinchen beobachtet worden, aber gerade hier an den Chylusgefässen des Mesenteriums. Er fand, dass die- selben sich periodisch, und zwar so lange das Thier noch einigermassen gut bei Kräften war, zehnmal in der Minute, später beim Absterben nur sechs- bis viermal in der Minute zusammenzogen. Umwandlung und Verbrauch der resorbirten Substanzen. Welche sind die weiteren Schicksale der resorbirten Substanzen? Die Fette werden, wie wir gesehen haben, grösstentheils im unveränderten Zustande resorbirl, und es unterliegt keinem Zweifel, dass sie direct mit zur Ablagerung im Körper verwendet w^erden, andererseits aber, dass sie, wo Bedarf an Brennmaterial vorhanden ist, wo sich ein Zerfall ein- leitet, auch mit Leichtigkeit wieder zerfallen. Die Art und Weise, wie dies geschieht, ist nicht mit Sicherheit bekannt. OÜÖ Uiinvaiullunjj und Verbrauch der resorbirten Substiuizen. Von den Kohlehydraten werden die Producte ihrer sauren Gährung, unter denen Milchsäure wohl die Hauptmasse ausmacht, resorbirt, und man kann kaum zweifeln, dass die milchsauren Salze, die aus dem Darmkanale resorbirt werden, sich umwandeln in kohlensaure Salze, dass sie zu kohlen- sauren Salzen verbrannt werden. Damit hängt es auch zusammen, dass die Pflanzenfresser einen alkalischen oder wenigstens neutralen und von Phosphaten getrübten Urin haben, denn sie verlieren denselben und be- kommen einen klaren und stark sauer reagirenden Urin wie die Fleisch- fresser, wenn man sie mit Fleisch füttert, oder wenn man sie hungern lässt und sie dadurch hindert, auf Kosten von pflanzlichen Nahrungs- mitteln zu respiriren, sie zwingt, auf Kosten der Substanz ihres eigenen Körpers zu leben. Ausserdem werden von den Kohlehydraten Zucker, wahrscheinlich auch Dextrin resorbirt, und hier herrscht nun eben ein Zweifel, ob der Zucker im Organismus oxydirt, verbrannt wird und in seine Endproducte Kohlensäure und Wasser zerfällt, oder ob der Zucker in Glycogen umgewandelt, als Glycogen in der Leber und in den Mus- keln abgelagert wird, um dann vielleicht entweder secundär wieder in Zucker umgewandelt und verbrannt zu werden, oder in histogenetische Substanzen überzugehen, wie Pavy meint, und zum weiteren Aufbau des Organismus beizutragen. Die Eiweisskörper werden , wie wir gesehen haben , theilweise resorbirt als Eiweisskörper , theilweise werden sie resorbirt in ihren Abkömmlingen, als sogenannte Peptone. Wir müssen jedenfalls unter diesen solche unterscheiden, die den Eiweisskörpern noch näher stehen, und solche, die bereits Producte einer tiefer greifenden Zersetzung sind, denn die Eiweissreactionen verschwinden nicht auf einmal, sondern eine nach der andern. Nach den früher erwähnten Versuchen von Pldsz und von Maly können die dem Eiweiss noch näherstehenden Producte im Körper noch als Baumaterial verwendet werden. Ob sie dabei zunächst ihre verlorenen Eiweissreactionen wieder erlangen, oder ob sie, so wie sie sind, den Gewebstheilen als Nahrungs- und Ersatzmaterial dienen, ist unbekannt. Die Producte der weiteren Veränderung sehen Einige als Spaltungsproducte an, die sich nach der Resorption wieder zu Eiweiss zusammensetzten. Nun weiss man aber, dass vom Eiweiss eine Partie als Eiweiss resorbirt wird, eine andere in wenig vei'ändertem Zustande ; man weiss ferner, dass man ein Thier nicht im Gleichgewichte erhalten kann, wenn man ihm nur so viel Eiweiss gibt, dass ihm damit so viel Stickstoff zugeführt wird, als es im Minimum mit dem Harn ausscheidet. Pettenkofer und Voit fanden, dass, wenn sie ein Thier mit stickstoff- freier Nahrung fütterten, der Harnstoff herunterging auf eine coustaute Ziffer. Nun versuchten sie dem Thiere so viel Stickstoff in Gestalt von Eiweiss zuzuführen, als es täglich im Harne ausschied. Sie fanden aber, dass das Thier dabei der Inanition entgegenging, indem es jetzt mehr Stickstoff ausschied, als der eingeführten Eiweissmenge entsprach. Sie mussten mit der Fütterung auf eine Eiweissmenge steigen, die das 2|fache an Stickstoff enthielt von dem Stickstoffminimum, welches das Thier beim Hungern ausschied ; erst dann gelang es, dasselbe vor dem Ver- hungern zu schützen, es im Gleichgewichte zu erhalten. Durch diese Thatsachcn wird die Theorie von der Reconstruction der Eiweisskörper uiinöthig. Wenn wir annehmen, da.ss das Thier 40*^/^, von den Eiweiss- Der Bau der Niere. 369 körpern, welche ihm gegeben wurden, im wenig oder nicht veränderten Zustande resorbirte, so konnte es diese benützen, um seinen Körper im Gleichgewichte zu erhalten ; es blieben dann noch 60^0 "^o^i ^^^ dargereichten Futter, welche in secundäre und tertiäre Producte umge- wandelt resorbirt oder als Rückstand in den Faeces geblieben sein konnten. Dass ein Theil der Eiweisskörper bereits im Darmkanal vollständig und so, dass Niemand mehr an eine Eeconstruction denken wird, zersetzt wird, dafür haben wir jetzt den directeu Beweis in Händen, indem wir wissen, dass Indol, Phenol und Skatol im Darme aus ihnen gebildet werden. Es liegt der Gedanke nahe, dass die schon eingreifend veränderten Peptone weiter zersetzt werden, in jene Zwischenproducte zerfallen, welche zwischen den ersten Abkömmlingen der Eiweisskörper und den letzten liegen. Diese weiteren Producte haben wir theils schon kennen gelernt, theils werden wir sie noch kennen lernen. Wir haben sie kennen ge- lernt als die stickstoffhaltigen Bestandtheile der Galle, wir haben sie kennen gelernt als Kreatin, Leucin und Tyrosin, wir werden sie weiter noch kennen lernen als sogenanntes Sarkin oder Hypoxanthin, und dann endlich als eigentliche Harnbestandtheile, als Xanthin, Harnsäure, Hippur- säure, Kreatinin und Harnstoif. Der vollständigste Zerfall der organischen Substanzen ist natürlich der in Kohlensäure, Wasser und Stickgas. In- wieweit aber Stickgas im Körper freigemacht und ausgeschieden wird, das ist, wie wir später sehen werden, noch zweifelhaft. Selbst das nächst- einfachste Product, das Ammoniak, wird nur in verhältnissmässig geringer Menge im Körper gebildet. Es befindet sich davon immer eine kleine Menge im Blute, welche man nachweisen kann, wenn man frisches Blut in einem Gefässe luftdicht verschliesst und an dem Deckel des letzteren eine Porzellanscherbe anbringt, welche mau mit verdünnter Weinsäure oder Schwefelsäure angestrichen hat , und nach einer oder mehreren Stunden diese Scherbe mit dem Nessler'schen Reagens untersucht. Man findet dann, wie wir später sehen werden, immer Ammoniak, und auch im Harn findet es sich normaler Weise , aber in verhältnissmässig geringer Menge. Latschenberger fand indessen^ dass der in Form von Ammoniak ausgeschiedene Stickstoff im normalen Menschenharne doch den 18. Theil des Gesammtstickstoffs des letzteren betragen kann. In Folge von Krankheiten der Harnwege oder durch Zersetzung des Harns ausserhalb des Körpers kann jenes Verhältniss noch viel grösser werden. Beim Rind fand Latschenberger in der Milch mehr Ammoniak als im Blute, in der Galle aber weniger. Die Harnabsonderung. Der Bau der Niere. Die Anatomie der Nieren im Grossen und Ganzen ist Ihnen be- kannt, wir wollen deshalb hier nur näher auf denjenigen Apparat ein- gehen, welcher speciell der Ausscheidung des Harns dient. Bekanntlich besteht noch beim neugebornen Kinde die ganze Niere aus einzelnen, durch Bindegewebe zusammengehaltenen Abtheilungen, den sogenannten Brüclce. Vorlesungen I. t. Aufl. 2-1 370 Der Bau der Niere. Fig. 42. -~^ Renculis. In jeder dieser Abtheilnngen liegt wieder eine sehr zahlreiche Menge von, ich möchte sagen, Elementaruieren, von kleinen Apparaten, welche der Harnabsonderung dienen. Diese Apparate sind die Malpighi- schen Körperchen der Nieren. Jedes dieser Malpighi'scheu Körperchen besteht aus einem "Wundernetze eines Astes der Arteria renalis, aus welchem das Material für die Harnabsonderuug herstammt, und aus einer Kapsel, welche den abgesonderten Harn zunächst aufnimmt und ihn in die Farnkanäle überleitet. Das Wundernetz, hier (Fig. 42 g) Glomerulus genannt, wird so gebildet, dass ein kleiner Ast (Fig. 42 i) der Arteria renalis in eine grosse Menge von kleineren Aesten zerfällt, welche wiederum in Windungen aufgeknäult sind, und deren Blut sich wieder sam- melt in eine kleine Arterie (Fig. 42 e), welche aus dem Wundernetz austritt, und zwar nicht an der entgegenge- setzten, sondern an derselben Seite mit der einführenden Arterie. Es sind auch nicht alle Gefässe des Glomerulus von gleichem Kaliber. Schon Bowm an, dem wir die erste richtige Anschauung über die menschliche Eiere verdanken, wusste, dass ein grösseres Gefäss direct aus der Arteria inferens in die Arteria efferens übergeht. Der Glomerulus ist eingeschlossen in eine Kapsel, und diese geht durch einen etwas verengten Hals direct in den Anfang eines Harnkanals über. Es ist darüber gestritten worden, ob der Glomerulus nackt in der Kapsel liege, oder ob er in die Kapsel hineingestülpt sei in ähnlicher Weise, wie man sich zur Erleichterung der anatomischen Beschreibung das Herz in den Herzbeutel hinein- gestülpt denkt. Die Sache ist folgende : Es liegt einerseits der Glomerulus nicht vollständig nackt in der Kapsel, andererseits hat er aber auch keinen Ueberzug, der an Dicke und Haltbarkeit zu vergleichen wäre mit der äusseren Wand der Kapsel. Er hat einen Ueberzug von einer Epithelialmembran, die aber so zart ist, dass man sie nur an einigen Stellen zu Gesichte bekommt. Wenn man ein gut injicirtes Präparat gefärbt hat und nun zufällig eine Stelle zur Ansicht bekommt, wo zwei Gefässschlingen nebeneinander liegen, da sieht man dann von dem con- vexen Bogen der einen Gefässschlinge zum convexen Bogen der andern einen Contur herübergehen und auch allenfalls einen gefärbten Kern in diesem Contur liegen. Bei Neugebornen ist das Epithel höher, meist sogenanntes cubisches Epithel. Die äussere Wand der Kapsel (Fig. 42 a) geht, wie gesagt, direct über in die Membrana propria des Harnkauäl- chens (Fig. 42 Jj). Sie hat anfangs auch ein ganz niedriges Epithel, ein Pflasterepithel, dessen Kerne nur wenig prominiren : gegen den Hals der Kapsel werden die Epithelzellen höher und im Beginn des Harn- kanals geht das Epithel in ein cubisches (Fig. 42 c) über. Der Harnkanal Der Speichel. 371 Fig. 43. macht zahlreiche Windungen und stellt auf diese Weise einen Tubulus contortus dar. Dann verdünnt er sich und steigt in die Marksubstanz in Gestalt einer steilen Schleife herab, steigt dann wieder hinauf mit einem etwas dickeren Schenkel, macht dann wieder mehrere Windungen und mündet nun einzeln oder mit andern zusammen in eine sogenannte Sammelröhre (Fig. 43 c), in einen Tubulus rectus ein. Dies absteigende Stück (Fig. 43 ss) bezeichnet man mit dem Namen der Henle'schen Schleife, weil He nie darauf aufmerksam gemacht hat, dass das Epithel in ihnen wesentlich verschieden ist von dem Epithel in den Tubulis contortis und auch in den Tubulis rectis, indem, wie der Kanal sich verdünnt, auch das Epithel sich verdünnt , sich erniedrigt , zu einem Pflasterepithel wird. In Folge dieser Ver- änderung des Epitheliums hielt man diese Henle'schen Schleifen zuerst für ein anderes System von Ptöhren. Ludwig hat aber nach- gewiesen, dass die Schleife an beiden Enden mit den Harnkanälchen im Zusammenhange ist und nur ein in die Marksubstanz herab- steigendes Stück des Harnkanälchens darstellt. Die Tubuli recti vereinigen sich unter einander, indem sie sich wie die Zweige einer Pyramidenpappel in spitzen Winkeln zusammensetzen. So wird zuletzt ein Gang gebildet, der neben anderen auf der Papilla renalis ausmündet (s. Fig. 43 m). Das Epi- thelium wird mit der Erweiterung der Köhren höher, so dass es in den Sammelröhren ein entschiedenes Cylinderepithelium ist. Es bleibt aber immer einschichtig. Eine zusammengesetzte Sammelröhre mit allen ihren Tubulis contortis und den Malpighi'schen Kapseln, welche daran hängen, bilden zusammen eine Ferrein'sche Pyramide. Die ganze Summe von solchen Ferrein'schen Pyramiden, welche ein und demselben Nieren- kelche angehört , bildet eine Malpighi'sche Pyramide. Diese sind an ihrem inneren Ende, wo sie in die Calices renum hineinragen, vollständig von einander geschieden , au ihrem äusseren Ende aber in der Cortical- substanz confluiren sie, indem hier die Tubuli contorti der nebeneinander liegenden Malpighi'schen Pyramiden sich direct einar-ler berühren und nur im kindlichen Alter noch deutlich .von einander getrennt sind. Die Malpighi'schen Körperchen und die Tubuli contorti sind nicht beschränkt auf die Corticalsubstanz, sondern sie liegen auch zwischen den einzelnen Malpighi'schen Pyramiden, \u\d man kann sie hier bis zu 04* 372 Der Bau der Niere. einer ziemlichen Tiefe in die Markaubstanz hinein verfolgen. Diese von Tubulis contortis und Malpighi'schen Körperclien gebildeten Zwischen- stücke heissen Columnae Bertini. Sie bilden thatsächlich keine Säulen, sondern vielmehr ein Pachwerk, in dem die Pyramiden stecken, aber sie haben ihren Namen erhalten, weil sie auf Durchschnitten, die in der Richtung der Sammelröhren gemacht sind, wie Säulen, die zwischen den einzelnen Malpighi'schen Pyramiden stehen, erscheinen. Das Vas efferens, welches aus den Malpighi'schen Körperchen her- auskommt, die kleine Arterie, geht zunächst über in ein Capillarnetz, welches die Harnkanälchen umspinnt, und aus welchem die Venen wieder hervorgehen, von denen der grösste Theil gestreckt in der Marksubstanz zwischen den Tubulis rectis und den Henle'schen Schlingen liegt. Eug. Steinach hat gefunden, dass Lycopodiomkörnchen , welche lebenden Hunden und Kaninchen rückläufig in die Carotis und so in die absteigende Aorta injicirt wurden, in die Nierenvenen übergingen, während sie doch ihrer Grösse halber weder den Glomerulus noch die Capillargefässe passiren konnten. Die Wege, auf denen dieser Uebergang erfolgt, sind noch unbekannt. Steinach hat auch an Menschennieren durch Injectionen in die Nierenarterie theilweise die Venen erfüllt, ohne dass die Injections- masse das Wundernetz des Glomerulus und die Capillaren passirt hatte. Gegenüber von Steinach's Thierversuchen scheint es nicht gerechtfertigt, diese Erscheinungen ohne Weiteres auf Zerreissungen zwischen nahe aneinander liegenden Arterien und Venen zurückzuführen, so lange die- selben nicht nachgewiesen sind. Andererseits schliesst die wohlconstatirte Thatsache, dass bei Veneninjectionen niemals Masse in die Arterien über- geht, directe Communicationen nicht aus. Sie können nur unter kleinem Winkel abgezweigt zwischen nahe aneinander liegenden Arterien und Venen schief verlaufen, um bei Injectionen in die Venen ventilartig verschlossen zu werden. Allerdings entsinne ich mich, einmal eine Kaninchenniere mit Leim und Chromgelb injicirt zu haben, bei der die Venen mit Leim gefüllt waren, sich aber Chromgelb nur in den Arterien befand. Aber hier könnten, da die Injection gleich nach dem Tode des Thieres gemacht wurde, die Communicationen contrahirt gewesen sein. Man kann sich durch Injectionen von den grossen Arterien der Flussschildkröte aus leicht überzeugen, welchen Einfluss bei diesen der Contractionszustand der Ductus anteriosi Botalli auf das Resultat der Injection hat. lieber die Mechanik der Harnsecretion will ich vorläufig nur be- merken, dass die Malpighi'schen Körperchen die Apparate sind, in welchen der Harn abfiltrirt wird, und dass er dann durch die Tubuli contorti in die Henle'schen Schlingen, dann in die Sammelröhren und endlich in das Nierenbecken hineingeleitet wird. Wir werden später noch auf die Mechanik der Harnsecretion zurückkommen. Wir können dies aber erst thun, wenn wir die Bestandtheile des Harns näher kennen gelernt haben. Das Nierenbecken ist nicht mehr ausgekleidet mit einem Cylinder- epithel, sondern mit einem geschichteten Pflasterepithel, dessen Formen ziemlich unregelmässig sind. Dieses selbe Pflasterepithel, regelmässiger werdend, setzt sich durch den Ureter und durch die Harnblase, beim Weibe auch durch die Urethra fort. Beim Manne hingegen tritt in der Harnröhre ein Cylinderepithel auf, das bis zur Fossa navicularis reicht Der Harn. Der Harnstoff. 373 unH hier wiederum einem Pliasterepithel Platz macht. Die Zellen des Harnblasenepithels erscheinen auf Durchschnitten von erhärteten Leichen- blasen häufig höher als breit. Dies rührt, wie Paneth gezeigt hat, von einer Formveränderung her, die sie bei der Contraction der entleerten Blase erleiden. Wenn man Blasen frisch getödteter Thiere mittelst einer Spritze mit Alkohol anfüllt und sie so im gefüllten Zustande in Alkohol von gleicher Stärke erhärtet, so erkennt man die Pflasterzellen in ihrer Form, wie ihnen solche im Leben bei gefüllter Blase zukommt. Im Nierenbecken liegen unter der Schleimhaut organische Muskelfasern, welche dem Ureter eine vollständige röhrige Hülle geben und mit der reichlichen Muskulatur der Harnblase in Verbindung stehen. Der Harn. Der Harn ist eine gelb gefärbte, in normalem Zustande klare, sauer reagirende Flüssigkeit. Seine Farbe wechselt von einem ganz blassen Strohgelb bis zum tiefen ßoth oder Eothbraun. Aber bei Weitem nicht immer, ja man kann wohl sagen in der Mehrzahl der Fälle, rührt die tiefere Färbung nicht her von einem Auftreten neuer Farbstoffe, sondern von einer ungewöhnlichen Concentration des Harns, oder doch ungewöhnlichen Mengen von Farbstoff, welche darin enthalten sind. Denn ein jeder Urin zeigt sehr verschiedene Farben, je nach der Dicke der Schichte, in welcher man ihn ansieht. Man kann von concentrirtem Urin, wenn man ihn in dünneren Schichten ansieht, das Strohgelb haben, welches sonst nur verdünnter Urin zeigt, und man kann, wenn man die Schicht hinreichend dick macht, auch mit verdünnterem Urin ein tiefes Rothbraun erhalten. Es beruht dies darauf, dass die kurz- welligen Strahlen vorzugsweise absorbirt werden, in Folge davon die Farbe des rothen Endes des Spectrums immer mehr hervortritt, und die Farbe zugleich immer dunkler wird. Das specifische Gewicht hält sich zwischen 1,005 und 1,03. Der Harnstoff. Von den organischen Bestandtheilen des Harns interessirt uns zunächst der Harnstoff. Wir stellen ihn deshalb an die Spitze, weil er die grösste Menge der organischen Bestandtheile des Harns ausmacht und durch ihn die Hauptmasse des Stickstoffs aus dem Körper heraus- geführt wird. Der Harnstoff wird auf dem einfachsten Wege aus dem Harne erhalten, indem man denselben abdampft, den Rückstand mit Alkohol auszieht, den Alkohol wiederum abdestillirt und den Rückstand hinstellt. Dann wird derselbe bald krystallinisch, wenn er nicht schon gleich nach dem Abdampfen krystallinisch gewesen ist, und wenn man ihn in Fliess- papier einwickelt, so zieht sich die Unreinigkeit, die demselben anhaftet, in das Fliesspapier hinein. Durch Wiederholen dieser letzteren Operation wird er immer mehr gereinigt und endlich kann man ihn noch durch Auflösen und Umkrystallisireu aus Alkohol weiter reinigen. Ich führe 374 Der Harnstoff. dieses Yerfahren deshalb an, weil es das einfachste und mit dem gerifig- sten Aufwände von chemischen Hülfsmitteln durchzuführen ist. Der Harnstoff besteht aus CH^ ^2 ^j ^^' ist sehr leicht löslich im Wasser und verbraucht bei seiner Auflösung eine bedeutende Menge von Wärme, so dass er in ähnlicher Weise wie Kochsalz zu Kältemischungen verwendet werden könnte. Er ist löslich im Alkohol, und zwar im heissen bei Weitem leichter als in kaltem, weshalb er mittelst Alkohol unter nur massigem Verluste umkrystallisirt werden kann. Er ist unlöslich in Aether. Er geht Verbindungen ein mit Metallsalzen, er geht auch Ver- bindungen ein mit Säuren. Unter diesen Verbindungen mit Säuren sind zwei schwer löslich, und diese können deshalb zu seiner Reindarstellung mit Vortheil angewendet werden. Die eine dieser Verbindungen ist die Verbindung mit Salpetersäure, die man erhält, wenn man zu einer einigermassen concentrirten Harnstofflösung oder zu dem Eückstande von dem alkoholischen Harnauszuge Salpetersäure hinzusetzt , welche man vorher ausgekocht hat, um sie von der salpetrigen Säure zu befreien. Man erhält dann schöne Krystalle, welche rhombische Tafeln darstellen. In ähnlicher Weise kann man durch Vermischen einer concentrirten wässerigen Harnstofflösung mit einer concentrirten Lösung von Oxal- säure Krystalle von oxalsaurem Harnstoff erhalten. Der Oxalsäure Harn- stoff ist im Alkohol schwer löslich, weshalb man ihn nur in kleinen Krystallen erhält, wenn man eine alkoholische Lösung von Oxalsäure und eine alkoholische Lösung von Harnstoff mischt. Der Harnstoff kann auch künstlich dargestellt werden. Die vor- theilhafteste Methode ist die älteste von Wohl er und Liebig ange- gebene. Man mischt Blutlaugensalz, Braunstein und kohlensaures Kali mit einander. Braunstein hat den Zweck, mit dem Cyan des Cyaneisen- kaliums Cyansäure, oder nach Einigen Pseudocyansäure, zu bilden. Die Pottasche, welche man hinzufügt, hat den Zweck, die gebildete Cyan- säure an Kali zu binden und auf diese Weise die ganze gebildete Cyan- säure in cyansaures Kali überzuführen. Man erhitzt, um die möglichst grösste Ausbeute zu haben, so lange, bis die anfangs pulverförmige trockene Masse anfängt, zusammenzubacken : dann bringt man die Masse vom Feuer weg, lässt sie erkalten und übergiesst die harte schlacken- artige Schmelze, welche man zuvor in Stücke zerschlägt, mit einer con- centrirten Lösung von schwefelsaurem Ammoniak. Die Schwefelsäure verbindet sich mit dem Kali zu schwefelsaurem Kali und das Ammoniak mit der Cyansäure zu cyansaurem Ammoniak. Das schwefelsaure Kali krystallisirt zum Theile als Haarsalz an der Oberfläche der Schmelze heraus. Man filtrirt davon ab, dampft das Filtrat ab und zieht den Rückstand mit Alkohol aus. Was der aufnimmt, ist nun nicht mehr 'cyansaures Ammoniak 1 -^tt \ 0 j, sondern Harnstoff, es ist nichts aus- getreten, es ist nichts hinzugekommen, aber es hat eine Umlagerung der Atome stattgefunden. Das schwefelsaure Kali, welches im Alkohol unlöslich ist, bleibt zurück. Beim Erkalten der concentrirten alkoholischen Lösung krystallisirt der Harnstoff in grossen wasserhellen ISTadeln, Prismen mit quadratischem Querschnitt und oktaedrischen Endflächen, heraus. Man wendet dieses Verfahren immer an, wenn man sich Harn- stoff zu chemischen und zu physiologischen Zwecken verschaffen will, Der Harnstoff. 375 weil man ihn so leichter und wohlfeiler als aus dem Harne darstellen kann. Die Entdeckung der Synthese des Harnstoffs durch Wohle r hat seiner Zeit mit Eecht das grösste Aufsehen gemacht, weil es das erste und gerade ein so wichtiges Product des Thierkörpers war, wel- ches man künstlich im Laboratorium aus verhältnissmässig einfachen chemischen Verbindungen aufbauen lernte. Seitdem ist der Harnstoff auf verschiedene Weise künstlich dargestellt worden, so aus Cyanamid, indem dasselbe, wenn man ihm in wässeriger Lösung etwas Salpeter- säure zusetzt, sein Wasser wieder aufnimmt, wieder zu cyansaurem Ammoniak und demnächst zu Harnstoff wird. Endlich wurde er von Natanson aus kohlensaurem Aethyl und Ammoniak dargestellt. Es hat diese Darstellung deshalb eine besondere Wichtigkeit und ein be- sonderes Interesse gewonnen, weil schon früher Dumas den Harnstoff als Carbamid, als das Amid der Kohlensäure bezeichnet hatte, indem, wenn man aus dem normalen kohlensauren Ammoniak | NH^yO^ | zwei Atome Wasser wegnimmt, also auf diese Weise das Amid erzeugt, man die Formel des Harnstoffs bekommt , und andererseits der Harnstoff unter den verschiedensten Einflüssen immer zerfällt in Kohlensäure und Ammoniak. Er zerfällt in Kohlensäure und Ammoniak beim Erhitzen mit Säuren, ferner an und für sich schon bei hoher Temperatur, dann bei der Fäulniss u. s. w. Hier hatte nun jSTatanson wirklich den Harnstoff als Carbamid, als Aruid der Kohlensäure dargestellt. Drechsel hat mittelst Durchleiten von alternirenden electrischen Strömen durch eine Lösung von carbaminsaurem Ammoniak kleine Mengen von Harnstoff erhalten. Endlich hat W. G. Mixt er Harnstoff dadurch erhalten, dass er trockenes Ammoniak und trockene Kohlensäure in ein rothglühendes Glasrohr leitete. In einem kühleren Theile des Eohres setzte sich Harn- stoff ab. Der Harnstoff ist kein Product der jSTieren, sondern ein Product des gesammten Stoffwechsels. Er ist im ganzen Körper verbreitet, in allen thierischen Flüssigkeiten, im Blute, im Speichel u. s. w. Nur häuft er sich aus Gründen, welche wir später kennen lernen werden, im Harne in viel grösserer Menge an , als in irgend einer andern thierischen Flüssigkeit. Dass er ein Product des allgemeinen Stoffwechsels sei, ist in Zweifel gezogen worden ; er könnte ja auch in den Nieren bereitet und von den Nieren aus diffuudirt werden u. s. w. Aber schon vor einer langen Reihe von Jahren haben Strahl und Lieberkühn nachgewiesen, dass, wenn man Thieren die Nieren ausschneidet, dadurch nicht die Menge des Harnstoffs im Blute abnimmt, was doch der Fall sein müsste, wenn die Niere den Harnstoff bereitete, sondern dass durch die Nephrotomie der Harnstoff im Blute zunimmt, und dies ist in neuerer Zeit durch die Untersuchungen von Grehant auf das Vollständigste bestätigt worden. Um den Harnstoff quantitativ zu bestimmen, ist eine Reihe von Methoden angegeben. Die älteste bestand darin, dass man den Harn abdampfte, mit Alkohol auszog, den alkoholischen Auszug bis zur Syrup- consistenz abdampfte und dann mit Salpetersäure, welche man vorher, um sie von salpetriger Säure zu befreien, ausgekocht hatte, übergoss. 376 Der Harnstoff. Dann bildet sich salpetersaurer Harnstoff, der in überschüssiger Salpel^r- säure schwer löslich ist und abgepresst iind gewogen wird. Später hat man es vortheilhafter gefunden, den Harnstoff aus seinen Zeraetzungsproducten zu bestimmen. Der Harnstoff zerfällt in Kohlen- säure und Ammoniak. Hierauf beruht die Methode von Bunsen. Er versetzt den zu untersuchenden Harn in bestimmter Menge mit einer Lösung von Chlorbarium, der eine kleine Menge von Ammoniak zugesetzt ist, und schüttelt durch, lässt absetzen und filtrirt. Von dem Filtrate wird eine bestimmte Quantität, etwa 30 bis 40 Kubikcentimeter, in eine starke Glasröhre hineingegossen, in welcher sich eine kleine Quantität von festem Chlorbarium befindet. Dann wird das obere Ende der Glas- röhre, das man sorgfältig vor Benetzung geschützt hat, an der Lampe zugeschmolzen, und nun die Glasröhre längere Zeit auf 220*^ bis 240*^ erhitzt. Der Harnstoff zerlegt sich in Kohlensäure und Ammoniak, die Kohlensäure verbindet sich mit Barium zu kohlensaurem Baryt, welcher hinterher abfiltrirt und gewogen wird. Salkowski hat dies Verfahren dahin erweitert, dass er sich durch Bestimmung des gleichzeitig ge- bildeten Ammoniaks überzeugt, inwieweit etwa auch andere Substanzen als Harnstoff zersetzt worden sind. War dies nicht der Fall, so müssen begreiflicher Weise auf je ein Aequivalent Kohlensäure zwei Aequivalente Ammoniak erhalten werden. Eine andere Methode ist gleichzeitig und unabhängig von Eagsky und von Heintz vorgeschlagen und ausgeführt worden. Bei ihr wird die Zersetzung durch Schwefelsäure vorgenommen, und die Menge des Ammoniaks bestimmt, welche sich aus dem Harnstoffe bildet. Es werden zwei gleiche Volumina Harn genommen, und aus der einen wird die Summe des Kali und des Ammoniaks bestimmt, welche darin enthalten ist, indem man auf dem gewöhnlichen Wege, wie es sonst bei A.mmoniak- und Kalibestimmungen zu geschehen pflegt, Chlorplatinkalium und Chlor- platinammonium bildet, diese hinterher glüht und das Platin wägt. Die andere Menge von Harn wird mit Schwefelsäure gemengt und dann er- wärmt. Der Harnstoff zersetzt sieh, die Kohlensäure geht fort und das gebildete Ammoniak verbindet sich mit der Schwefelsäure. Man bestimmt nun wieder in dieser Portion Harn die Gesammtmenge des Kali und des Ammoniaks, ebenfalls wieder mittelst Platinchlorid als Chlorplatinkalium und Chlorplatinammonium, glüht wieder, wägt die Menge des Platins, zieht von derselben die Menge des Platins ab, welche in der ersten Portion gefunden worden ist, und rechnet nun den Eest des Platins zurück in Chlorplatinammonium, und aus dem Ammoniak berechnet man dann wieder die Menge des Harnstoffs, welche nöthig war, um diese Menge von Ammoniak zu geben. Beide Methoden, sowohl die von Bunsen, als die von Ragsky und von Heintz, verlangen eine gewisse Geschicklichkeit in chemischen Ar- beiten und gewisse Einrichtungen. Um mit möglichst wenig Apparat in kurzem Wege die Menge des Harnstoffs auch ohne Wage bestimmen zu können, hat Liebig eine andere Methode angegeben. Eine Harnstoff- lösung wird gefällt durch eine Lösung von salpetersaurem Quecksilber- oxyd. Es bildet sich dabei ein in der neutralen Flüssigkeit ganz unlös- licher Niederschlag, welcher auf 1 Atom Harnstoff 2 Atome Quecksilber- oxyi^^^^^^^^ (Juergestreifte Muskelfasern. 4:vö Strahl b s zerfällt. Beide gelangen zunächst an die Balsamschicht m n. Der extraordinäre Strahl, der sich im Kalkspath als in einem negativ doppeltbrechendeu Körper mit grösserer Geschwindigkeit fortpflanzt, für welchen also der Kalkspath sich als ein weniger stark brechendes Medium verhält als für den ordinären Strahl, passirt sie und pflanzt sich weiter in der Richtung nach e hin fort. Der ordinäre Strahl aber wird, weil er sich mit geringerer Geschwindigkeit im Kalkspath fort- pflanzt, stärker von seiner ursprünglichen Richtung abgelenkt und bekommt dadurch an der Grenze der Balsamschicht einen grösseren Einfallswinkel. Die Balsamschicht ist für ihn relativ zum Kalkspath ein schwächer brechendes Medium. In dieses soll er übergehen. JSTun hat aber bei schiefer Incidenz das Uebergehen eines Strahles aus einem stärker brechenden Medium in ein schwächer brechendes seine Grenze. Wir ^ -TV- -1 1 **''^ * "" haben gesehen, dass das allgemeine Gesetz der Dioptrik lautet —_ = — sin r V das heisst, der Sinus des Einfallswinkels verhält sich zum Sinus des Brechungswinkels, wie sich die Fortpflanzungsgeschwindigkeit im ersten Medium zur Fortpflanzungsgeschwindigkeit im zweiten Medium verhält. Diese Gleichung muss unter allen Umständen für sin r einen Werth geben, welcher kleiner ist als 1, so lange die Fortpflanzungsgeschwindig- keit in dem zweiten Medium, also v', kleiner ist als v. Wenn aber umgekehrt v' grösser ist als v, dann tritt beim Wachsen von sin i, also bei zunehmender schiefer Incidenz, eine Grenze ein, wo man sin r gleich 1 findet, das heisst der gebrochene Strahl liegt in der Trennuugsfläche. Wächst sin i noch weiter, so wird sin r grösser als 1. Es gibt bekannt- lich keinen Sinus, der grösser ist als 1, und unser Resultat bedeutet nichts Anderes als : Es gibt in diesem Falle keinen gebrochenen Strahl, der Strahl wird vollständig reflectirt. In diesen Fall der totalen Reflexion gelangt hier an der Balaamschichte der ordinäre Strahl h c\ er wird nach li hin reflectirt und gelangt somit nicht in ein Auge, das in der Richtung e a durch das Prisma hindurchsieht. Sie haben also jetzt ein Wellensystem, und zwar das Wellensystem der extraordinären Strahlen, mit geradlinig polarisirtem Lichte. Dieses Prisma leistet Ihnen mithin denselben Dienst, wie eine Turmalinplatte, und wir haben es auch schon früher bei den Polarisationsapparaten zur Bestimmung des Zuckers im Harne kennen gelernt. Ein solches Nicol'sches Prisma wird nun angebracht unter dem Objecttisch und ein zweites über dem Oculare. Weil ein solches Nicoi- sches Prisma über dem Ocular das Sehfeld einengt, so hat man versucht, das zweite Nicol'sche Prisma, welches ja nur zwischen dem Auge und dem Object zu liegen braucht, in dem unteren Theile des Rohres des Mikroskops anzubringen. Die diesfälligen Versuche sind missglückt, wenigstens waren alle so construirten Polarisationsmikroskope, die ich zu sehen Gelegenheit hatte, für wissenschaftliche Zwecke unbrauchbar. Man ist deshalb wiederum zu der alten Einrichtung zurückgekehrt, das zweite Nicol'sche Prisma oben auf das Ocular drehbar aufzusetzen. Untersucht man mit dem so eingerichteten Polarisationsmikroskope die Muskeln, so findet man, dass nicht die ganze contractile Substanz gleichmässig doppeltbrecheud ist, sondern dass nur die sarcous Clements doppeltbrechend sind. Die Zwischensubstanz, sowohl diejenige, welche 494 Quergestreifte Muskelfasern. der Länge nach zwischen ihnen liegt, also die sogenannten Fibrillen von einander trennt, als auch diejenige, welche der Quere nach zwischen ihnen liegt und die sogenannten Bowman'schen Scheiben von einander trennt, ist isotrop. Ich unterscheide die Zwischensubstanz ausdrücklich in diese zwei Arten, da sie sich im geronnenen Muskel den Macerations- mitteln gegenüber so verschieden verhalten. In verdünnter Chlorwasser- stoffsäure zerfällt der Muskel immer zuerst der Quere nach, während beim Maceriren im verdünnten Weingeist der Muskel immer zuerst der Länge nach, also in Fibrillen zerfällt, und dann die einzelnen Fibrillen sich erst bei weiterer Maceration in sarcous elements zerlegen. Man hat in neuerer Zeit von isotropen Scheiben gesprochen, welche die doppeltbrechenden Bowman'schen Scheiben von einander trennen, ja man hat sogar von Kästchen gesprochen, in welches jedes einzelne sarcous elements eingebettet ist. Man darf aber niemals vergessen, dass diese Substanzen im Leben nicht die Consistenz haben, welche sie nach dem Tode erlangen. Nach dem Tode haben sie allerdings eine ziemliche Consistenz, während des Lebens haben sie aber offenbar eine äusserst geringe. Denken Sie sich einmal, wie fest, wie widerstandsfähig ein Muskel sein müsste, in welchem von so ausserordentlich kleinen Theilen, wie es die sarcous elements sind, jedes einzelne in ein Kästchen von relativ fester Substanz eingebettet wäre. Thatsächlich aber verhält sich der lebende Muskel fast wie eine flüssige Masse ; so lange er nicht erregt ist, folgt er in allen seinen Theilen der Schwere, und selbst wenn er anfängt, sich zusammenzuziehen, thut er dies noch, und erst wenn er anfängt, seine eigene Substanz zusammenzudrücken, oder wenn er auf einen äusseren Widerstand stösst, verhärtet er sich. Ja Kühne theilt sogar mit , dass er in einer lebenden Muskelfaser eine Filaria habe herumschwimmen gesehen, welche sich zwischen den einzelnen sarcous elements durchschlängelte ohne dem Anscheine nach etwas zu zerreissen und ohne hinter sich eine Lücke zu lassen. Man sieht die sarcous elements sehr schön hell auf dunklem Grunde, wenn man einfach die Nicol'schen Prismen kreuzt und dann die Muskelfaser so orientirt, dass sie mit ihrer Längsaxe einen Winkel von 45*^ macht mit den Schwingungsebenen in den Nicol'schen Prismen. Es ist nicht unter allen Umständen angenehm, im dunklen Sehfelde zu beobachten. Wenn man aber die beiden Nicol'schen Prismen parallel stellt um helles Sehfeld zu machen, so sieht man nun die Polarisations- erscheinungen keineswegs so deutlich wie früher bei gekreuzten Prismen, und zwar deshalb nicht, weil bei der ganzen Masse des Lichtes, welches ungeschwächt hindurchgeht und das Sehfeld erhellt, die Unterschiede nicht mehr so gut markirt sind, welche durch die doppeltbrecheuden Theile hervorgebracht werden. Man nimmt deshalb seine Zuflucht zu einem andern Kunstgriff. Man legt einen doppeltbrechenden Körper von bestimmter Dicke , eine Lamelle von einem Gypskrystall oder eine Glimmerplatte unter das Object. Diese macht ein farbiges Sehfeld, und man schafft sich auch hier dadurch^ dass man sie in bestimmter Dicke anwendet, eine Teinte -de passage, wie wir sie beim Mitscherlich'schen Polarisationsapparate kennen gelernt haben, das heisst, man sucht sich ein Purpurviolett, welches bei Veränderung der Dicke der doppeltbrechen- den Schicht einerseits rasch in Blau, andererseits rasch in Roth oder Quergestreifte Muskelfasern. 495 Gelb übergeht. Dann bekommt man Bilder, bei denen der Grund hell und gleiehmässig purpurfarben ist, während die sarcous elements sich je nach der Lage des Muskelbündels entweder mit blauer oder mit gelb- rother bis gelber Farbe von dem Grunde absetzen. Wenn man abgestorbene Muskeln im gewöhnlichen oder im polari- sirten Lichte untersucht, so findet man eine grosse Menge verschiedener Anordnungen, wie sie in Fig. 63 bis 71 so dargestellt sind, dass die doppeltbrechende Substanz hell, die isotrope dunkel gezeichnet ist. Man findet theils sarcous elements, die durch gleichmässige Zwischenräume von einander getrennt sind, andererseits findet man zwischen den grösseren sarcous elements Schichten von kleineren sarcous elements, gleichsam Fig. 63. Fig. 64. Fig. 65. Diin,iim.D llülUM Fig. 66. imraimunrmimiü] fnMirfMfirnifiiiiilMfniiiii Fig. 69. Fig. 67. Fig. 70. Tum Fig. 68. Fig. 71. als ob diese von den grösseren sich abgetrennt hätten in dünneren Bowman'schen Scheiben und nun durch besondere Zwischensubstanz getrennt. Welches Schema im einzelnen Falle zur Erscheinung kommt, das hängt nicht allein von der Natur der Muskeln ab, sondern sehr wesentlich von den Bedingungen, unter welchen sie abgestorben sind. Fig. 63 bis 67 sind sämmtlich nach abgestorbenen und in Weingeist erhärteten Schenkelmuskeln von Hydrophilus piceus gezeichnet, Fig. 68 nach Muskeln von Tropidonptus natrix und Fig. 69 und 70 nach Muskeln von Menschen. 496 Quergestreifte Muskelfasern. Bei lebenden Muskeln, die sich unter dem Mikroskope eontrahiren, sehen Sie um so weniger von der Zwischensubstanz, je frischer und je unveränderter sie noch sind. Sie sehen entweder die isotrope Zwischen- substanz nur als eine ganz feine Linie, welche die sarcous elements von einander trennt^ oder Sie sehen selbst die sarcous elements einander unmittelbar berühren und durch eine Eeihe von rhombischen Punkten von einander nur unvollkommen getrennt, wie dies in Fig. 71 nach einer lebenden Schenkelmuskelfaser von Hydrophilus piceus dargestellt ist. Damit hängt es auch zusammen, dass man manchmal an ganz frischen Muskeln gar keine Querstreifen wahrnimmt. Schon in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts war diese Thatsache unter den Mikroskopikern allgemein bekannt. Dieselben Muskeln können aber unter andern Be- dingungen, nachdem sie abgestorben sind, verhältnissmässig breite und deutliche Querstreifen zeigen, indem sich die sarcous elements mehr ver- kürzt und nun für eine Schicht von isotroper Zwischensubstanz Platz gelassen haben. Man darf sich auch, wenn man etwas über die Structur des Contrahirten Muskels aussagen will, niemals auf irgend ein Bild verlassen, welches man an einem abgestorbenen Muskel sieht, man muss sich an diejenigen Bilder halten, welche man von lebenden, noch con- tractionsfähigen und sich noch contrahirenden Muskeln erhält. Besonders geeignet für diese Untersuchungen sind die Schenkelmuskeln eines in ganz Mitteleuropa vorkommenden grossen Wasserkäfers, des Hydrophilus piceus. Man bringt sie nur mit dem Deckglase bedeckt , ohne allen Zusatz irgend einer Flüssigkeit, unter das Mikroskop. Wenn die Muskeln sich eontrahiren, so werden ihre sarcous ele- ments kürzer und dicker. Mit jedem einzelnen sarcous element geht dieselbe Veränderung vor, wie mit dem ganzen Muskel, Der ganze Muskel, wenn er sich contrahirt, wird nicht grösser xind auch nur um ein höchst unbedeutendes kleiner, er behält im Wesentlichen sein Yolum, aber jede einzelne Faser wird kürzer und dicker, Dass der Muskel bei der Contraction sein Volum nahezu behält, das kann man durch folgenden Versuch demonstriren. Durch einen Korkstöpsel, der auf eine kleine weithalsige Flasche passt, steckt man in der Mitte eine an beiden Enden offene Glasröhre, so dass sie nach oben um einige Zolle, nach unten aber gar nicht hervorragt. Zu beiden Seiten derselben steckt man durch den Kork ein paar Kupferdrähte, die man hakenförmig umbiegt, und die untere Hälfte , die durch ein Stück Wirbelsäule verbundenen Beine, eines enthäuteten Frosches so daran aufhängt , dass ein electrischer Strom, der von einem Haken zum andern geht, die Muskeln der Beine in Zusammenziehung versetzt, indem er deren Nerven durchwandert. Nun füllt man die Flasche völlig mit Wasser an, oder besser mit Koch- salzlösung von 0,6 Procent, und drückt den Stöpsel so in den Hals, dass keine Luftblase bleibt und die Flüssigkeit, welche man, um besser abzu- lesen, noch färben kann, in der Glasröhre bis zu einer gewissen Höhe aufsteigt. Dann versetzt man die Muskeln der Böine mittelst electrischer Ströme in Contraction und sieht, wie sich das Niveau der Flüssigkeit verhält. Es bleibt entweder ungeändert, oder wenn man eine sehr dünne Steigröhre angewendet hat, so dass man recht kleine Volum- veränderungen beobachten kann, so sieht man wohl, dass es im Augen- blicke, wo sich die Muskeln zusammenziehen, um ein geringes fällt. Quergestreifte Muskelfasern. 497 Das rührt daher, dass die Muskeln bei der Contraction um ein Geringes ihre Substanz zusammendrücken. Ehe wir zu ermitteln suchen, was bei der Contraction in jedem einzelnen der sarcous elements vorgeht, wollen wir versuchen, näher in ihre optischen Eigenschaften einzudringen. Sind sie positiv doppelt- brechend oder sind sie negativ doppeltbrechend ? Sind sie einaxig oder zweiaxig ? Es gibt, wie erwähnt, Krystalle, die einaxig doppeltbrechend sind, und Krystalle, welche zweiaxig doppeltbrecheud sind, das heisst solche, die nur eine Linie haben, in welcher ordinärer und extraordinärer Strahl sich mit gleicher Geschwindigkeit fortpflanzen, und solche, die zwei solcher Linien, also zwei optische Axen haben. Es lässt sich im hohen Grade wahi'scheinlich machen, dass die sarcous elements einaxig doppeltbrechend sind, und dass ihre optische Axe parallel läuft mit der Axe der Faser. Es lassen sich zwar hier die strengen Methoden nicht anwenden, welche man in der Krystallographie anwendet, aber auf dem Wege des Ausschliessens kommt man zu dem Resultate, dass die sarcous elements einaxig doppeltbrechend sind. Wenn man Querschnitte von Muskelfasern macht und unter das Mikroskop bringt, so findet man immer, dass die- jenigen, in wel- Fig. 72. chen die Fasern, d also auch die sarcous elements genau senkrecht stehen, optisch inactiv sind, und dass nur die- jenigen, welche gegen die Axe des Mikroskops geneigt sind, beim Umdrehen auf dem Object- tische in den wirksamen Azi- muthen hell, in den unwirk- samen dunkel er- scheinen. Es unterliegt also keinem Zweifel, dass eine optische Axe vorhanden ist, welche parallel ist zur Axe der Muskelfaser. Eine zweite optische Axe können wir nicht auffinden. Da die erste mit einer Cardinal- richtung in den Muskelfasern, mit der Längsrichtung, parallel ist, so wird es schon dadurch wahrscheinlich, dass keine zweite optische Axe vorhanden ist. Die zweite Frage ist : Sind die sarcous elements positiv oder negativ doppeltbrechend. Um dies zu ermitteln, bedient man sich eines Apparates, der Fig. 72 abgebildet ist, und den man auf dem Objecttische des Polarisationsmikroskops anbringt. Die quadratische Platte a a ist von Metall und trägt einen Schlitten c c, der als Eahmen einen flachen Keil von Bergkrystall mit einem Winkel von 1*^ 6' 54" trägt, den man parallel Brücke. Vorlesungen I. 4. Aufl. 32 49ö Quergestreifte Miiskelfasern. mit der Richtung der krystallographischen Hauptaxe geschnitten hat. Dieser Schlitten kann mittelst der Mikrometerschraube h hin und her bewegt werden. Ueber demselben bewegt sich ein zweiter Schlitten dhehe, und zwar mittelst eines Parallelogrammes ff g, so dass die optische Axe eines zweiten Quarzkeils von 1*^ 6' 54", den dieser zweite Schlitten trägt, immer genau senkrecht steht zu der optischen Axe des ersten Quarzkeiles. • Der zweite Quarzkeil ist in derselben Weise erhalten dadurch, dass man parallel mit der krystallographischen Hauptaxe eines Bergkrystalls geschnitten hat. Nun sehen Sie leicht ein, dass die Impulse der ordinären Strahlen in dem einen Quarzkeil, weil der zweite mit seiner optischen Axe senkrecht darauf liegt, in letzterem die extra- ordinären Strahlen erzeugen müssen, und umgekehrt, die Impulse der extraordinären Strahlen in dem ersten Quarzkeile die lebendigen Kräfte hergeben müssen für das Wellensystem der ordinären Strahlen im zweiten Quarzkeile. Wenn also das eine Wellensystem dem andern in dem ersten Quarzkeile um ein Stück vorausläuft und es im zweiten Keile eine gleiche Dicke zu durchwandern hat, so erleidet es in dem zweiten Keile wieder eine derartige Verzögerung, dass sich die Wirkungen beider Keile vollständig compensiren. Je nachdem ich nun eine dickere oder eine dünnere Stelle des zweiten Keiles über eine bestimmte Stelle des ersten bringe, kann ich einen grösseren oder geringeren Gangunter- schied hervorbringen. Es dienen mir also diese beiden Quarzkeile in derselben Weise, wie mir Glimmerplatten von verschiedener Dicke dienen würden, ich kann dadurch alle den Farben des Newton'schen Eing- systems analogen Farben hervorbringen, die, welche den Farben des reflectirten Lichtes analog sind, und die, welche den Farben des durch- gelassenen Lichtes analog sind, je nachdem ich meine Nicol'schen Prismen kreuze oder parallel stelle. Die Nuancen der einzelnen Farben, welche entstehen, sind dann bestimmt durch die Geschwindigkeiten, mit denen sich die einzelnen monochromatischen Farben im ordinären und im extra- ordinären Strahle fortpflanzen. Nun benutze ich den einen dieser Quarzkeile, den oberen, der frei in der Einne lih zwischen den Leisten ee liegt, als Objeetträger : auf ihm breite ich die Muskelfasern aus, welche ich untersuchen will 5 ich lege einige so, dass ihre optische Axe der optischen Axe dieses Quarzkeils parallel liegt, andere so, dass ihre Axe senkrecht gegen die optische Axe des Quarzkeiles liegt. Nachdem ich nun den Quarzkeil mit den Muskel- fasern an seinen Ort im Instrumente zurückgelegt und eine bestimmte Farbe eingestellt habe, erfahre ich mit Leichtigkeit aus der Drehung der Schraubenmutter v m, wie die Farben auf einander folgen, welche einer Verdickung des Keils entsprechen, und wie die Farben auf einander folgen, welche einer Verdünnung des Keils entsprechen. Ich kann also auch ermitteln, ob die daraufliegenden Muskelfasern, welche nun eine andere Farbe zeigen, als der Grund, wirken wie eine Verdünnung oder wie eine Verdickung des Keils. Ich finde dann, dass die Muskelfasern, welche auf dem oberen Keile parallel mit seiner optischen Axe liegen, wirken wie eine Verdickung eben dieses oberen Keils und diejenigen, welche senkrecht darauf liegen, alo parallel mit der optischen Axe des unteren Keiles, wirken wie eine Verdünnung des oberen Keiles, bezie- hungsweise wie eine Verdickung des iinteren. Die Muskelfasern wirken Quergestreifte Muskclfiisern. 499 also immer wie eine Verdickung desjenigen Keiles, mit dessen optischer Axe ihre optische Axe parallel liegt, das heisst, die Muskelfasern sind positiv, denn der Bergkrystall, aus dem die Keile geschnitten worden sind, ist ein positiv doppeltbrechender Körper. Jetzt muss ich mich weiter fragen : Wie verhält sich das sarcous Clement in seinen optischen Eigenschaften bei der Contraction. Das ist mir von besonderer Wichtigkeit für die ganze Vorstellung, welche ich mir vom sarcous dement zu machen habe. Ist das sarcous element ein ein- heitlicher Körper, so müssen, wenn sich dasselbe verkürzt und verdickt, die optischen Constanten desselben sich ändern, denn in einem einheitlichen Körper geht eine Veränderung der äusseren Form auf das Molekül über, bringt eine Veränderung des Moleküls hervor. Wenn ich ein Glasstück von zwei Seiten zusammendrücke, so wird es doppeltbrechend, wenn ich einen Kautschukriemen ausziehe, wird er doppeltbrechend. Wenn dagegen das sarcous element aus lauter kleinen doppeltbrecheuden Theilen be- stehen sollte, welche nur ihre Anordnung ändern, so werden sich die optischen Constanten des sarcous element nicht ändern. Ich betrachte zunächst einen lebenden Muskel während der Con- traction unter dem Mikroskope. Der Musculus mylohyoideus vom Frosch lässt sich dazu anwenden, da er dünn genug ist, um eine Untersuchung im polarisirten Lichte zu gestatten : aber die Bewegungen desselben sind geschwind, zuckend, und dann zieht er sich auch auf den electrischen ßeiz ungleichmässig zusammen. Es zieht sich die eine Partie zusammen und reckt die andere Partie aus. Ich habe aber wenigstens Gelegenheit, zu sehen, dass die sich zusammenziehende Partie, also die dickere, immer eine dieser grösseren Dicke entsprechende Farbe annimmt, während die andere Partie, welche ausgereckt wird, immer ihrer Verdünnung ent- sprechend, die Farbe einer dünneren Schichte annimmt. Viel entschei- dendere Antwort auf meine Frage erhalte ich, wenn ich Muskeln vom Hydrophilus piceus zwischen die zwei Gläser eines sogenannten Com- pressoriums cinschliesse, so dass sich die Dicke der beobachteten Schichte nicht verändern kann. Die Muskeln sterben durch den gelinden Druck, den sie dabei zu ertragen haben, nicht ab, sie contrahiren sich nach wie vor. Beobachte ich sie unter dem Polarisationsmikroskop, so sehe ich, dass die sarcous Clements ihre Farbe nur ändern, insoweit bei der Contraction ihre Azimuthe sich ändern ; insofern sich dieselben nicht ändern, bleibt ihre Farbe dieselbe. Es macht sich also während der Contraction keine Aenderung der optischen Constanten bemerkbar, und ich sehe mich deshalb genöthigt, anzunehmen, dass jedes sarcous element noch wiederum aus einer Anzahl von kleinen doppeltbrechenden Körpern besteht. Diese kleinen doppeltbrecheuden Körper habe ich nach dem Ausdrucke, dessen sich der Entdecker der Doppeltbrechuug im Kalkspath bedient, mit dem Namen der Disdiaklasten bezeichnet. Ob dieselben einzeln jemals Gegenstand der directen Beobachtung gewesen sind, weiss man nicht mit Sicherheit. Wenn man lebende Muskeln in dcstillirtes Wasser hineinwirft, und sie darin absterben lässt, und dann die End- stücke derselben, welche zunächst von dem destillirten Wasser zerstört worden sind , unter das Polarisationsmikroskop bringt , sieht man im dunkeln Sehfelde nicht die sarcous elements, sondern einen feinen, silber- grauen, molekularen Staub, in welchen die sarcous elements zerfallen 32* OOO Mittel, durch welche die Muskeln in Contraction versetzt werden. sind. Ob die kleinen doppeltbrechenden Körper, welche diesen Anblick hervorrufen, die Disdiaklasten selbst oder noch Gruppen derselben sind, das weiss man nicht; so viel ist aber gewiss, dass hier jedes sarcous element in eine grosse Anzahl kleiner doppeltbrechender Körper zerfallen ist, und dass es aus einer grossen Anzahl von kleinen doppeltbrechenden Körpern besteht. Diese directe Beobachtung macht die Frage nach der Existenz der Disdiaklasten unabhängig von der Präge, ob sich die Doppelt- brechuug bei der Contraction ändert oder nicht. Valentin und von Ebner geben an unter der Contraction eine Abnahme der Doppelt- brechung beobachtet zu haben, während L. Herrmann zu demselben negativen Kesultate gekommen ist, wie ich. Beiläufig will ich erwähnen, dass gesagt worden ist, ich hätte die Disdiaklasten als Crystalle be- zeichnet. Ich habe dies nie gethan, und würde dazu auch kein Recht gehabt haben, da nicht Alles, was doppeltbrechend ist auch krystallinisch zu sein braucht. Die quergestreiften Muskeln, deren feinere Structur wir in dem bisherigen kennen gelernt haben, sind, wie bekannt, im Allgemeinen Prismen, die sich entweder an einer Sehne, und zwar, wie du Bois nachgewiesen hat, in der Regel mit facettenförmigen Enden, das heisst mit Enden, welche so beschaffen sind, als ob sie durch schräge Schnitte zugeschnitten worden wären, anheften, oder auch spitz zulaufend im Innern von Muskeln endigen, oder sich endlich, wie dies z. B. in der Zunge und im Herzen der Fall ist, mannigfach verzweigen. Sie ent- halten ausser der contractilen Substanz eine grössere oder geringere Menge von Kernen, welche die Ueberbleibsel sind derjenigen Zellen, welche ursprünglich den Muskel aufgebaut haben. Sie tragen auch an ihren beiden Enden immer noch eine grössere oder kleinere Menge von unmetamorphosirtem Protoplasma. Da man die Reste der Zellen, welche den Knochen aufgebaut haben, mit dem Namen der Knochenkörperchen bezeichnet, da man in der Uebereinstimmung damit die Zellen, welche das Bindegewebe aufgebaut haben, mit dem ISfamen der Bindegewebs- körperchen bezeichnet, so bezeichnet man diese Kerne mit ihrem Proto- plasmareste auch wohl mit dem Namen der Muskelkörperchen. Mittel, durch welche die Muskeln in Contraction versetzt werden. Die Reize, durch welche die Muskeln in Contraction versetzt werden können, sind sehr verschiedener Art. Wenn man Muskeln eines frisch getödteten Thieres kneipt, zerrt, oder wenn man etwas hart mit einer Sonde herüberfährt, sieht man sie sich zusammenziehen. Man glaubte früher, dass dies nur davon herrühre, dass Nerven gereizt worden sind : man ist aber jetzt durch ein Indianer-Pfeilgift, das Curare, im Stande, die Nerven innerhalb der Muskeln zu vergiften, so dass ihre Reizbarkeit vollkommen erlischt, und man es dann nur mit der Muskelsubstanz zu thun hat. Man findet, dass dergleichen mit Curare vergiftete Muskeln nicht nur nicht unempfindlich, sondern sogar im hohen Grade empfind- lich gegen mechanische Reize sind. Es ist also die Muskelsubstanz, welche hier direct gereizt wird. Dasselbe gilt von den chemischen Reizen. Die chemischen Reize können wirken von den Nerven aus, Mittel, durch welche die Muskeln in Contraction versetzt werden. OOl welche sich im Muskel verbreiten, sie wirken aber auch auf den nerven- losen Muskel, sie wirken direct auf die contraetile Substanz, und zwar wirken gewisse chemische Keize auf die contraetile Substanz, welche auf den Nerven angebracht, unwirksam sind. Es ist z. B. nicht gelungen, einen Muskel vom Nerven aus mittelst Ammoniak zum Zucken zu bringen ; wenn Sie dagegeij über eine Ammoniakliasche einen Muskel an einer Pincette halten, so dass er nur von den Dämpfen des Ammoniaks ge- troifen wird, geräth er in zuckende Bewegungen. Bei unseren physio- logischen Versuchen werden aber mechanische und chemische Heize wenig angewendet, wir bedienen uns meistens der electrischen Reize und mit diesen wollen wir uns hier näher beschäftigen. Das älteste electrische Reizmittel war die sogenannte einfache Armatur. Sie bestand in einem spitzig zugeschnittenen Stücke Zinkblech und einem ebenso gestalteten Stücke Kupferblech, welche beide mittelst eines Kupferdrahtes mit einander verbunden waren. Wenn sie auf den Muskel oder Nerv aufgesetzt wurden, wirkte derselbe als feuchter Leiter, das Ganze bildete Kette mit einander, und indem der Stromkreis ge- schlossen oder geöffnet wurde, entstand eine Zuckung. Als Volta später seine Säule aufbaute, bemerkte er bald, dass man von dieser viel heftigere physiologische Wirkungen haben könne , Wirkungen , welche, wie wir jetzt wissen, theils auf die Nerven, theils aber auch direct auf die Muskelsubstanz ausgeübt werden. Wenn man kräftige physiologische Wirkungen haben will, so wendet man jetzt zwar nicht die Volta' sehe Säule an, weil es unbequem ist sie stets neu aufzubauen, und weil ihre Wirkung bald abnimmt, weil sie keine constante Kette bildet : aber man wendet Ketten nach dem Principe der Volta'schen Säule an, indem man eine Reihe von Elementen zusammensetzt, welche man so einzurichten pflegt, dass ihr Strom constant ist, dass der SauerstoiF und der Wasser- stoff, welche an den wirksamen Metallen ausgeschieden werden und den Kettenstrom schwächen, weil sie Kette in entgegengesetzter Richtung bilden, wieder verzehrt werden, und deshalb die Wirkung einer solchen Kette längere Zeit ungeschwächt fortdauert. Wir begnügen uns dabei mit Elementen von massiger Grösse und vermehren die Zahl derselben so lange, bis wir dadurch die hinreichende Wirkung haben. Wir müssen das deswegen thun, weil wir durch Vergrösserung eines einzelnen Ele- mentes niemals kräftige physiologische Wirkungen erlangen würden. E Die Intensität eines electrischen Stromes ist nämlich J= — -, darin L -\- K bedeutet E die electromotorische Kraft, L bedeutet den sogenannten wesentlichen oder inneren Widerstand, das heisst den Widerstand in der Kette selbst, und X bedeutet den ausserwesentlichen oder äusseren Wider- stand, das heisst denjenigen Widerstand^ welchen ich durch den Schliessungs- draht und durch die eingeschalteten Theile zu Wege bringe. Nun kann ich die Intensität des Stromes, J, vergrössern, entweder indem ich den Nenner des Bruches verkleinere, oder indem ich den Zähler des Bruches vergrössere. Verkleinern kann ich den Nenner nur wirksam, wenn zu- gleich X, der äussere Widerstand, klein ist. Zu dem äusseren Wider- stände tragen aber hier bei thierische Theile, durch welche ich den Strom hindurchleiten muss, und deren Widerstand immer relativ gross ist : deshalb würde es mir nichts nützen , durch Vergrösserung des 502 Mittel, diircli nrclclie die Muskeln in Contraction versetzt werden. Querschnittes meiner Kette den Leitungswiderstand zu verringern. Es bleibt mir nichts übrig, als den Zähler des Bruches zu vergrössern. Die electromotorische Kraft ist abhängig von der Natur der Elemente und von der Anzahl- der Elemente. Ich vermehre deshalb die Anzahl der Elemente so lange, bis ich diejenige physiologische Wirkung habe, welche ich brauche. Wenn ich nun auf diese Weise einen für meine Zwecke brauch- baren Constanten Strom hergestellt habe, und dessen Wirkung auf die Muskeln untersuche, so finde ich, dass er, während er geschlossen ist, viel weniger wirksam ist, als während des Schliessens und des Oeffnens. Das hat in folgendem seinen Grund. Der constante Strom wirkt von den Nerven aus auf die Muskeln in der Eegel gar nicht. Nur gewisse sehr empfindliche Präparate, wie man sie von durchkälteten und dann in die Wärme gebrachten Fröschen erhält, macheu eine Ausnahme. Auch die Zungenmuskulatur scheint sich abweichend zu verhalten, denn Eck- hard beobachtete in der Zunge ein Flimmern, wenn er durch den N. Hypo- glossus einen mittelstarken constanten Strom absteigend fliessen liess. Auf die Muskelsubstanz direct wirkt der constante Strom allerdings insofern ein Muskel, wenn ein starker constanter Strom durch ihn fiiesst, fortwährend bis zu einem gewissen Grade contrahirt bleibt. Wenn man aber die Stromstärke stufenweise schwächt, so findet man, dass schwache Ströme, welche den mit Curare vergifteten, den entnervten Muskel beim Schliessen und Oeffnen noch zucken machen, ihn nicht mehr in eine wahrnehm- bare dauernde Zusammenziehung versetzen. Wenn ich die Stromstärke steigere, bekomme ich auch während der Dauer des Stromes eine Ver- kürzung, erst eine geringere und zuletzt, wenn ich sehr starke Ströme anwende, eine bedeutende. Diese Zusammenziehung hat einen eigenthüm- lichen Charakter. Es ziehen sich nicht alle Theile des Muskels gleichzeitig zusammen, sondern man sieht unregelmässige partielle und wellenförmige Contractionen über ihn ablaufen. Sie verbreiten sich bei starken Strömen über die ganze durchflossene Strecke, sie sind am stärksten und dauern am längsten in der Nachbarschaft der negativen Electrode, sie sind am schwächsten und vergehen zuerst in der Nachbarschaft der positiven Electrode, so dass sie bei schwachen Strömen nur an der negativen Electrode merklich werden. Ich kann aber den Muskel auch in dauernde Zusammenziehung versetzen, wenn ich ihn so rasch hintereinander zu Zuckungen bewege, dass er dazwischen keine Zeit hat, zu erschlaffen. Dies bezeichnet man mit dem Namen des Tetanisirens. Das kann ich nun machen, indem ich die Kette, welche mir den constanten Strom gibt, rasch hinter ein- ander öffne und schliesse, und ich wende, um dies mit einer gewissen Hegelmässigkeit thun zu können, ein sogenanntes Neef'sches Blitzrad an. Dieses besteht aus einem Sterne aus Kupfer, der an einer Axe gedreht wird, und mit seinen Zacken in ein Quecksilberniveau eintaucht. Jedes- mal, wenn ein Zahn eintaucht, wird der Strom geschlossen, indem der eine Poldraht mit dem Quecksilber, der andere mit dem kupfernen Stern leitend verbunden ist, jedesmal, wenn der Zahn aus dem Quecksilber herausgehoben wird, wird der Strom geöffnet. Ich kann auch statt des Sternes aus Kupfer eine Scheibe aus Kupfer anfertigen, welche am Rande Ausschnitte besitzt, welche mit Elfenbein oder Buxholz eingelegt sind. Inductionsaiiparate. 503 Auf dem Rande schleift eine metallene Feder, mit der der eine Poldraht verbunden ist, während der andere Poldraht mit der Scheibe verbunden ist. Die Scheibe wird gedreht ; sobald sich die metallische Feder auf dem Kupfer befindet, ist der Strom geschlossen, wenn sie sich auf den dazwischen liegenden Stücken von Elfenbein oder Buxholz befindet, ist der Stromkreis offen. Indiictionsapparate. Ich kann mit der eben besprochenen Vorrichtung alle physiologischen Wirkungen erzielen, auch die stärksten, welche man nur irgendwie in der Physiologie oder in der Electrotherapie braucht ; aber bequem sind diese Apparate nicht. Ich muss immer eine grosse Menge von Elementen zu einer Kette zusammensetzen, um einen hinreichend wirksamen Strom zu bekommen, wenn ich den menschlichen Körper oder Theile desselben einschalte, wie dies in der Electrotherapie geschieht. Man zieht es des- halb in vielen Fällen vor, statt des sogenannten primären Stromes, von welchem ich hier gesprochen habe, den secundären Strom, den Inductions- strom anzuwenden. Wenn in einem geschlossenen Leiter ein Strom entsteht oder ver- geht, so entsteht jedesmal in einem benachbarten geschlossenen Leiter auch ein Strom, und diesen Strom nennt man den Inductionsstrom, während man den Strom, der ihn inducirt hat, als den primären be- zeichnet. Der Inductionsstrom ist dem primären Strome entgegengesetzt -4 Fig. 73 \i -X to ^ns U gerichtet, wenn der letztere entsteht, er ist ihm gleich, gerichtet, wenn derselbe vergeht. Es entsteht nicht nur beim Schliessen und Oeft'nen des primären Kreises in dem benachbarten geschlossenen Leiter ein Strom, sondern stets wenn der primäre Strom anwächst, oder wenn der primäre Strom abfällt. Wenn der primäre Strom anwächst, entsteht ein Strom, welcher dem primären entgegengesetzt gerichtet ist, wenn er abfällt, entsteht ein Strom, welcher ihm gleich gerichtet ist. Fig. 73 zeigt ein Coordinateusystem, die Zeiten sind als Abscissen, die Strom- stärken als Ordinaten aufgetragen. Mit der Zeit t^^^ soll der Strom anfangen und soll ansteigen bis zu einem gewissen Maximum , soll dann eine Weile constant sein, dann soll er absinken, wieder constant werden, wieder ansteigen, wieder constant werden und endlich soll die Strom-, stärke rasch bis auf Null abfallen. Dann besteht ein Inductionsstrom, bis der Strom zu seiner ganzen Höhe an2,-esticQ,en ist, während er constant 504: Indiictionsapparate. ist, bestellt keiner, wenn er abfällt, besteht wieder einer, wenn er constant wird, verschwindet er u. s. w., endlich wenn der Kreis ge- öiFnet wird oder der Strom aus irgend einer anderen Ursache rasch bis auf Null abfällt, entsteht wiederum ein kurzdauernder gleichgerichteter Inductionsstrom. Wenn Sie einen Maasstab haben wollen für die Stärke des Inductionsstromes zu irgend einer Zeit t„, so legen sie da, wo die zugehörige Ordinate die Curve trifft, eine Tangente an dieselbe : diese wird mit der Abscissenaxe einen Winkel «p machen, und tgo gibt einen Maasstab für die Stärke des Inductiousstroms, indem, wenn wir die zugehörigen Winkel mit tpQ, «p^ . . . . (p„ bezeichnen, die Stromstärken zu den Zeiten t^ und t^ sich unter einander verhalten, wie tg a^,,^ zu tg (^j^. Je plötzlicher also der Strom ansteigt und je plötzlicher er abfällt, um so kürzere Dauer, aber um so grössere Intensität haben die Inductions- ströme. Ist der Winkel cp in der Richtung offen, in der man auf der Abscissenaxe fortschreitet, so ist der Inductionsstrom dem primären Strome entgegengesetzt gerichtet, ist cp nach rückwärts offen, so ist er ihm gleichgerichtet, d. h. ein durch Stromabnahme hervorgebrachter inducirter Strom ist dem primären gleich, ein durch Stromzunahme erzeugter ihm entgegengesetzt gerichtet. Ich kann nun mit einem einzelnen Elemente sehr starke Inductions- ströme erzeugen. Ich gebe diesem einzelnen Elemente eine ziemliche Grösse und leite seinen Strom in einen dicken Kupferdraht, aus dem ich eine Spirale aufwickle. So erhalte ich die Spirale für den primären Strom , die sogenannte primäre Spirale. Auf diese schiebe ich eine zweite Spirale von sehr feinem Kupferdraht ; das ist die Spirale, in welcher die Inductionsströme erzeugt werden sollen. Ich nehme für die primäre Spirale dicken Kupferdraht, weil ich nur ein Element angewendet E habe, und deshalb in meinem J = — - der wesentliche Widerstand, L, L — j— A klein ist. Es ist mir bei diesem Umstände möglich, eine grosse Strom- intensität zu erzielen, wenn ich den ausserwesentlichen Widerstand X auch klein mache. Dagegen nehme ich in der zweiten Spirale, in der Inductionsspirale, einen sehr dünnen Kupferdraht, damit ich ihn inner- halb eines engen Eaumes möglichst oft um die primäre Spirale herum- führen und dadurch die Inductionswirkung vermehren kann. Ob ich dabei den Leitungswiderstand in der secundären Spirale erhöhe oder nicht, kümmert mich wenig, weil ich ausserdem den beträchtlichen Widerstand thierischer Theile einschalten muss. Ich kann also ohnehin nicht daran denken, die Stromstärke zu erhöhen dadurch, dass ich den Leitungs- widerstand auf ein sehr geringes Maass herabdrücke ; ich bin darauf angewiesen, die Stromstärke zu steigern durch Multiplication der electro- motorischen Wirkungen, und das geschieht eben dadurch, dass ich den Draht der Inductionsspirale immer von Neuem und immer von Neuem um die primäre Spirale herum führe. Ich brauche nun in den Kreis der primären Spirale nur ein Blitzrad einzuschalten, dieses zu drehen, so den primären Strom rasch hintereinander zu schliessen und zu öffnen, und bekomme in Folge jeder Schliessung und Oeffnung einen Inductions- strom, welchen ich unmittelbar verwerthen kann. Um die Wirkung noch zu verstärken, lege ich ein Bündel von gefirnissten Eisendrähten in die primäre Spirale hinein ; die letztere wirkt auf diese Eisendrähte Der magneto-electrische Rotationsappaiat. 505 magnetisirend, und der entstehende und vergehende Magnetismus dieser Eisendrähte wirkt inducirend auf die secundäre Spirale im Sinne einer Verstärkung der Inductionsströme ; denn der entstehende Magnetismus inducirt in einem benachbarten geschlossenen Leiter einen Strom ent- gegengesetzt demjenigen, der ihn selbst hervorbringt, oder hervorbringen könnte, und der vergehende Magnetismus erzeugt einen diesem gleich- gerichteten Inductionsstrom. Dass man ein Bündel gefirnisster Drähte und nicht einen einzigen dicken Eisencylinder wählt, hat darin seinen Grund, dass man das Entstehen von Strömen in einer grösseren zusammen- hängenden Eisenmasse vermeiden will. Apparate dieser Art sind vielfältig in Gebrauch gewesen, aber sie sind noch nicht die zweckmässigsten, welche man haben kann. Man muss erstens dabei noch eine Kette anmachen, und zweitens muss man eine Kurbel drehen. Eines von beiden kann man sich ersparen. Fig. 74. Der magneto-electrische Rotationsai)parat. Wenn man sich das Anmachen einer Kette ersparen will, so be- dient man sich einer sogenannten Pixii 'sehen oder Stöhrer'schen Maschine. Es ist dies ein Instrument, welches auf der Wirkung der magnetischen Induction beruht. Vor einem starken Hufeisenmagneten, den man gewöhn- lich durch einfache oder terrassenförmige Aueinanderlageruug mehrerer Hufeisenmagnete herstellt, wird ein Anker aus weichem Eisen gedreht, dessen beide Schenkel mit einer Drahtspirale umwickelt sind. Der Draht liegt auf dem Anker so, dass er erst den einen Schenkel mit allen Windungen umspinnt, die er bekommen soll, dann auf den anderen Schenkel übergeht und nun diesen in einer gleichen Anzahl von Win- dungen umgibt. In dem Augenblicke, wo sich die Enden des weichen Hufeisens den Polen des Magnets nähern, wird, indem das Hufeisen magnetisch wird, ein electrischer Strom indu- cirt, und in dem Augenblicke, wo sie sich da- von entfernen, um sich in gewechselter Stellung den Polen wieder zu nähern, ein entgegen- gesetzter. Wenn man also mittelst der Enden der doppelten Drahtspirale diese Ströme zu einem Muskel oder Nerven ableitet, so hat man eine Reihe von Schlägen, die denselben in stets wechselnder Richtung durchzucken. Je rascher man dreht, um so kürzer, aber auch um so kräftiger sind die Stromstösse. Nun kann es aber bisweilen wünschenswerth sein, nicht entgegengesetzt gerichtete, sondern immer gleichgerichtete Ströme zu haben, und das wird erzielt durch eine eigenthümliche A'orrichtung, die bewirkt, dass die Electroden, die an Muskel oder Nerv angelegt sind, jedesmal in demselben Augenblicke ihre Verbindung mit den Enden der Drahtspirale umtauschen, in welchem sich in letzterer der Strom umkehrt. Ihre Enden gehen des- halb nicht direct zu den Electroden, sondern zu zwei isolirt in einander steckenden messingenen Hülsen, welche die stählerne Drehungsaxe des \ n 506 Neefs Magnetelectromotor. Apparates umgeben und je zwei Messingscheiben tragen. Diese vier Scheiben seien ah cd in Fig. 74. Dann ist a und d mit dem einen Drahtende und h und c mit dem anderen Drahtende leitend verbunden. Jede dieser Scheiben ist nun in der in Fig. 75 gezeichneten Weise beschnitten, so dass jedes Paar derselben, sowohl das Paar ah, als auch das Paar cd, in der Kichtung der Axe projicirt, die Fig. 76 gibt. Die Fig. 75. auf den Scheibenpaaren schleifenden gespaltenen messingenen Federn n und n', durch welche der Strom zu den Electro- den geleitet wird , berühren deshalb bei der Drehung der Axe gh stets je eine der Scheiben und vertauschen durch die Stellung, die man den Scheiben gegeben hat, ihren Contact gerade in demselben Augenblicke, in welchem sich in der Drahtspirale der Strom umkehrt. So wird der sich umkehrende Strom wieder umgekehrt und behält deshalb in dem Bahnstücke von 11 zu n' stets dieselbe Richtung. Diese Art von Instrumenten wird jetzt im Ganzen zu therapeutischen Zwecken wenig angewendet, Fig. 76. weil sie nur massig starke Wirkungen geben, wenn sie in kleinen Dimensionen ausgeführt werden ; und wenn man sie in grossen Dimensionen ausführt, so werden sie durch die Schwere der permanenten Magnete unbequem. Man entschliesst sich deshalb heut zu Tage eine Kette anzumachen und erspart sich dafür das Drehen einer Kurbel, man arbeitet jetzt fast ausschliesslich mit Instrumenten, welche nach dem Principe des Neef'schen Magnetelectromotors gebaut, das heisst mit einem Neef'schen Hammer versehen sind. Neefs Magnetelectroinotor. Ein solcher Apparat besteht aus zwei wesentlich verschiedenen Theilen. Der erste Theil ist die Kette mit der primären Spirale und den Mitteln den primären Stromkreis rasch hinter einander zu öffnen und zu schliessen, der zweite Theil des Apparates ist die secundäre Spirale mit ihren Electroden und dem von du Bois angegebenen Schlitten, auf welchem die secundäre Spirale hin und hergeschleift werden kann, um die Wirkung des Instrumentes beliebig bis auf Null abschwächen zu können. Je mehr man nämlich die secundäre Spirale von der primären entfernt, um so geringer wird natürlich die Inductionswirkung. Mit diesem Schlitten versehen wird das Instrument als Schlitteninductorium von du Bois Reymond bezeichnet. Da der Schlitten sehr lang sein muss um bei starken primären Strömen und zahlreichen Windungen auf der secundären Spirale durch blosses Entfernen der letzteren die Inductionsströme in ihr so weit abzuschwächen, dass ihre Wirkung nur eben noch an empfindlichen Präparaten merklich ist, so hat Bowditch dem Schlitten noch eine andere Einrichtung hinzugefügt. Wenn die secundäre Spirale ganz von der primären abgezogen ist, so steht sie auf einer Drehscheibe, auf der sie bis zu 90*^ um ihre Längsaxe gedreht werden kann. In den Ausdruck für die Inductionswirkung geht nämlich als Factor ein der Cosinus des Winkels, den primäre und secundäre Windungen mit einander machen. Sind sie einander parallel, so ist dieser Neef's Magnetelectromotor. 507 Fig. 77. C Factor = 1 , machen sie einen Winkel mit einander, so ist er ein echter Bruch und ist dieser Winkel ein rechter, so ist der Factor = 0, d. h. die Inductionswirkung ist bis auf Null abgeschwächt. Die Kette besteht in einem massig grossen Elemente, wozu man ein constautes Element wählt oder ein anderes hinreichend starkes, nach der gangbaren Be- zeichnung nicht constantes, ein Element nach Smee, wie es in den Telegraphenstationen gebraucht wird. Die primäre Spirale ist nach unseren früher entwickelten Grundsätzen wiederum aus verhältnissmässig dickem Drahte gewunden, und geht zugleich über die beiden säulenförmigen Schenkel eines Hufeisens von weichem Eisen. Dies dient dazu, dieses Hufeisen von weichem Eisen zu magnetisiren. Der Strom ist geschlossen, so lange ein federndes Metallstück Fig. 7 7 eab an der Schraube c an- liegt. Die Säule cid ist die Seitenansicht des temporären Hufeisenmagneten. Wenn er magnetisch wird, zieht er das Eisenstück a e, welches sich am Ende von eab befindet, an und hebt dadurch den Contact mit der Schraube c auf. Dadurch wird der Strom hier geöifnet, es entsteht ein Strom in der secundären Spirale der dem ursprünglichen Strome gleich ge- richtet ist. Da nun aber der Strom in der primären Spirale aufhört, so verliert das Hufeisen seinen Magnetismus, der sogenannte Hammer hae (Wagner's Ham- mer) geht vermöge der Elasticität seines Stieles, der bei b durch die Schraube r mehr oder weniger fest eingeklemmt werden kann, wieder in seine frühere Lage zurück, der primäre Strom wird wieder geschlossen, und es wird wieder ein Inductionsstrom erzeugt, aber jetzt in entgegengesetzter Eichtung. Zugleich wird das Hufeisen wieder magnetisch, es zieht den Hammer wieder an, der Strom wird wieder geöifnet u. s. w. Es entstehen also fortwährend Inductionsströme, welche entgegen- gesetzt gerichtet sind. Diese Inductionsströme sind aber von sehr un- gleicher Dauer und sehr ungleicher Stärke, indem derjenige Inductions- strom, welcher beim Schliessen des primären Stromes entsteht, immer länger dauernd, aber schwächer ist, während der Oeffaungsinductions- strom immer viel kürzer dauernd, aber stärker ist. Das beruht darauf, dass beim Schliessen des Stromes die Windungen der primären Spirale auf einander inducirend wirken : jede einzelne Windung inducirt in der benachbarten einen Strom, der ihrem eigenen primären Strome entgegen- gesetzt ist. Diese Inductionswirkungen hindern also die Entwickelung des primären Stromes, halten sie auf. Deshalb steigt der primäre Strom nicht plötzlich, sondern allmälig zu seiner ganzen Stärke an: der Induc- tionsstrom dauert länger und ist schwächer , als er bei plötzlichem Austeigen sein würde. Wenn aber der primäre Strom geöifnet wird, entsteht kein Inductionsstrom in der primären Spirale, weil dann der priaiäre Stromkreis off'en ist, und kein Strom in einem offenen Kreise entstehen kann. Dann fällt also der primäre Strom plötzlich von seiner ganzen Höhe bis auf Null, und es entsteht ein momentaner sehr starker OOb Neef's Magnetelectromotor. Inductionsstrom, ein sogenannter Inductionssclilag im eigentlichen Sinne des Wortes. Da es nun bei physiologischen Versuchen nicht angenehm ist, zweierlei sehr -verschieden starke Ströme unmittelbar nach einander zu haben, hat Helmholtz eine Vorrichtung angegeben, vermöge welcher der Oeffnungs- und Schliessungsinductionsstrom einander ähnlicher ge- macht werden. Sie beruht auf folgendem. Fig. 78 stelle die Kette (K) sammt der primären Spirale p s und dem temporären Magneten m in schematisch dar. Bei der gewöhnlichen Einrichtung des Electromotors wird, wie wir gesehen haben , die Demagnetisirung dadurch hervor- gebracht, dass der Stromkreis an einer bestimmten Stelle geöffnet wird : sie kann aber auch dadurch hervorgerufen werden, dass sich ein Contact herstellt, der eine Nebenschliessung ab zw. Stande bringt, welche den Strom von der ganzen primären Spirale ableitet, aber dieselbe dabei als geschlossenen Kreis bestehen lässt. Eine solche Nebenschliessung wird durch die Säule Fig. 11 gh er- zeugt. Man macht durch eine veränderte Drahtverbindung das Geschlossen- sein des Stromes unabhängig von dem Fig. 78. Contact mit der Schraube c und schraubt diese so weit in die Höhe, dass der Hammer sie nicht mehr er- reicht, dann schraubt man die Schraube h so weit in die Höhe, dass die Spitze, PQ-ÜQJ) QOQQO^iS wenn der Hammer vom Magnete an- gezogen wird, die untere Fläche des Hammerstiels, an der für den Contact ein Platinplättchen angebracht ist, eben berührt. Dann geht vom Augenblicke der Berührung an kein merk- licher Stromantheil mehr durch die Spirale, aber sie bildet nach wie vor ein Stück eines geschlossenen Kreises. Die Grösse der Wirkungen des Apparates leidet unter dieser An- ordnung, denn gerade die Oeffnungsinductionsschläge sind es, welche sehr kräftige Wirkungen ausüben ; aber er wird für viele physiologische Zwecke brauchbarer, weil eben Oeffnungs- und Schliessungsstrom ein- ander nicht mehr so unähnlich sind. Völlig gleich sind sie einander nicht. Der Schliessungsinductionsstrom ist jetzt der stärkere. Dies muss man erwarten, da sich nach der Herstellung der Nebenschliessung a b der in der primären Spirale p s erzeugte Inductionsstrom unter gerin- gerem Widerstände abgleicht, als bei Aufhebung dieser Nebenschliessung. Im letzteren Falle muss er durch die Kette K gehen. Dieser Unter- schied muss sich um so mehr fühlbar machen, je schwächer der Ketten- strom ist, denn um so schwächer ist dann auch der in der primären Spirale erzeugte Inductionsstrom. Will man also mit schwachen und ein- ander mögliehst ähnlichen Inductionsschlägen aus der secundären Spirale arbeiten, so muss man nicht den primären Strom schwächen, sondern die Inductionsschläge unter Anwendung der Vorrichtung von Helmholtz dadurch schwächen, dass man die secundäre Spirale von der primären entfernt. Handelt es sich um Verstärkung des primären Stromes, so muss man diese, wenn Schliessungs- und Oeffnungsschlag einander mög- lichst gleich sein sollen, nicht zu erzielen suchen durch eine mehr- Der Extiastrom. 509 elementige Kette , sondern durch ein Element von grosser electro- motorischer Kraft und möglichst geringem Widerstände. Pur grössere Electromotoren ist der Hammer etwas modificirt worden. Statt der ursprünglichen Feder, der Schiene aus Messing oder Neusilber, wendet man einen doppelarmigen Hebel an, dessen langer Arm den Hammer trägt, während der kurze durch eine Spiralfeder, die durch eine Schraube stärker und schwächer angespannt werden kann, nach abwärts gezogen wird. Auf dem langen Hebelarm zwischen ihm und der Schraube c liegt einseitig befestigt und das Platinplättchen für den Contact tragend, eine dünne federnde Metalllamelle, die, wenn der Hammer vom Magneten angezogen wird, den Contact noch kurze Zeit fortbestehen lässt , damit der Magnetismus des temporären Magneten noch fortwirke. Die Höhe, bis zu welcher sich die Lamelle vom Hebel- arm abheben kann, und die davon abhängige Verlängerung des Contacts wird mittelst einer kleinen Schraube regulirt. Der Extrastrom. An dem Magnetelectromotor kann man ausser dem Inductionsstrome der secundären Spirale auch noch einen Inductionsstrom der primären Spirale anwenden, den Inductionsstrom, welchen Farad ay mit dem Namen des Extrastromes belegt hat. Denken Sie sich, K sei die Kette, ^i^- '^^^ p s die primäre Spirale, m m der temporäre Magnet und i der Punkt, an dem der Stromkreis durch das Spiel des Hammers geöffnet und geschlossen wird. E und E, seien zwei Zweigdrähte, zwischen denen ich mit meinem Körper, beziehungs- weise mit dem Muskel, oder dem Nerv, den ich erregen will, schliesse. Wenn der Hammer den Stromkreis bei i öffnet, wird er zwar immer noch geschlossen bleiben, denn er ist ja noch geschlossen durch die Ver- bindung von E nach E,, da er aber hier durch einen Halbleiter hindurch- gehen muss, so fällt im Augenblicke der Unterbrechung bei i der Strom wegen Vermehrung des Leitungswiderstandes jählings ab. Die Folge davon ist ein kurzdauernder, mit dem primären Strome gleich gerichteter Inductionsstrom, der den noch geschlossenen Kreis, also auch die Strecke E E, durchjäiesst. Dieser Strom ist Faraday's Extrastrom, der von den Electrotherapeuten in gewissen Fällen mit Vorliebe angewendet wird, weshalb an den grossen Inductionsapparaten für therapeutische Zwecke immer die Einrichtung getroffen ist, dass man nach Belieben die Induc- tionsstrome aus der secundären Spirale, oder den Oeffnungs- oder hier Schwächungs-Inductionsstrom aus der primären Spirale, den Extrastrom, ableiten und benutzen kann. Man kann den Apparat auch so einrichten, dass der Extrastrom ein wirklicher Oeffnungs-Inductionsstrom ist. Das würde der Fall sein, wenn der Zweigdraht E sich nicht von der Strecke i K, sondern irgendwo von der Strecke s K abzweigte. Dann würde, wenn bei i geöffnet wird, der primäre Stromkreis völlig unterbrochen werden, 510 Geringe Empfindliclikeit der entnervten Muskeln gegen Inductionsströme. und der dadurch entstehende Oeffnungs-Inductionsstrom in der Spirale würde sich durch den Körper, der mit E und E^ leitend verbunden ist, abgleichen. Diese letztere Einrichtung ist es, welche man bei den gang- baren Maguetelectromotoren gewöhnlich vorfindet. Greringe Emi)flii(llielikeit der eiitiieryten Muskeln gegen Inductionsströme. Es muss hier bemerkt werden, dass man mit den Inductionsströmen immer zunächst durch die Nerven auf die Muskeln wirkt, weshalb auch die Electrotherapeuten, wenn sie mit Inductionsströmen arbeiten, die sogenannten ISTervenpunkte aufsuchen, das heisst die Eintrittsstellen der Nerven in die Muskeln, die Stellen also, wo sie möglichst intensive Ströme durch eine möglichst grosse Summe von Nerven durchleiten. Wenn die Muskeln ihrer Nerven beraubt 'sind, dann sind Inductions- ströme für sie im Allgemeinen wenig wirksam. Es wurde diese Unter- empfindlichkeit für Inductionsströme zuerst beobachtet von Beierlacher bei einer Facialislähmung. Bekanntlich degeneriren die Nerven, w^enn sie durchschnitten oder gequetscht oder stark comprimirt sind, in ihren peripherischen Enden am Ende der ersten oder am Anfange der zweiten Woche nach dem Insult. Ein solcher Fall von Degeneration war es, wie sich später herausgestellt hat, welchen Beierlacher untersuchte. Es waren die motorischen Nerven der einen Gesichtshälfte degenerirt, sie waren nicht mehr erregbar , und hieraus erklärt es sich , dass Beierlacher mit Inductionsströmen, mit welchen er auf der andern Seite heftige Zuckungen hervorbrachte, auf der gelähmten Seite nichts ausrichtete, dass er aber noch Contractionen in den Muskeln bekam, wenn er einen constanten Strom schloss und öffnete, ja dass gegen einen constanten Strom sogar die Muskeln der gelähmten Seite empfind- licher waren als die Muskeln der gesunden Seite, und dass sich auch gegen mechanische Reize , gegen Darüberstreichen, Drücken u. s, w., die Muskeln der gelähmten Seite empfindlicher zeigten, als die der gesunden. Einen ganz ähnlichen Fall hat später Dr. Benedikt Schulz in Wien beobachtet und beschrieben, und später ist noch eine grosse Eeihe solcher Fälle beobachtet worden, alle diejenigen, bei welchen die Nervenleitung wirklich vollständig aufgehoben war , und welche hinreichend lange gedauert hatten, damit die Nerven in den Muskeln ihre Reizbarkeit durch Degeneration vollständig einbüsten. Es hat sich nun durch weitere Untersuchungen herausgestellt, dass die Unwirksatfikeit der Inductionsströme auf die nervenlosen Muskeln auf ihrer kurzen Dauer beruht. Die Muskelsubstanz als solche ist gegen sehr kurz dauernde Ströme wenig empfindlich, dagegen sehr gut em- pfindlich gegen etwas länger dauernde Ströme. Man kann leicht nach- weisen, dass es nicht eine besondere geheimnissvolle Eigenschaft der Inductionsströme ist, sondern eben ihre kurze Dauer, worauf ihre rela- tive Wirkungslosigkeit beruht. Wenn man einem Frosche um den Ober- schenkel eine sogenannte Massenligatur anlegt, das heisst, wenn man ihm durch ein plattes Band den Oberschenkel zusammenschnürt , so dass die Blutgefässe comprimirt werden, und man ihn dann mit Curare vergiftet, so wird der ganze Frosch gelähmt, bis auf das eine Bein, Geringe Empfinclliclikeit der entnfrvteri Muskeln gegen Indnctionsströme. Oll ZU dem das Gift nicht hinkommt. Die Lähmung betrifft, wie mau aus anderweitigen Versuchen weiss, spccicll die motorischen Nerven und in erster Reihe die der willkürlichen Muskeln. Wenn man die beiden Beine in Bezug auf ihre Eeizbarkeit untersucht, so findet man, dass sie gleich gut empfindlich sind gegen das Schliessen und Oeffnen eines Constanten Stromes, dass aber das nicht vergiftete Bein viel empfind- licher ist gegen Indnctionsströme als das vergiftete. Wenn man aber in dem constanten Strome ein Blitzrad einschaltet und es schnell dreht, so zeigt sich der vergiftete Schenkel auch lanterempfindlich im Vergleich zu dem andern, weil man jetzt mittelst des Blitzrades ähnlich kurz dauernde Ströme hervorgebracht hat, wie die Indnctionsströme sind. Andererseits kann man zeigen, dass die Indnctionsströme wirksam sind, wenn sie nur lange genug dauern. Zu dem Ende schaltet man die Schenkel zwischen Electroden ein, die mit den Enden der secundären Spii'ale eines Magnetelectromotors zusammenhängen, und schiebt einen Spahn oder ein zusammengelegtes Papier unter den Hammer (Fig. 7 7 e «) um seinen Stiel dauernd an die Schraube c (Fig. 77) anzudrücken und so die Eröfi'nung des primären Kreises zu hindern. Dann sendet man durch diesen einen constanten Strom, zieht die secundäre Spirale auf dem Schlitten von du Bois von der primären herunter und schiebt sie mit einiger Geschwindigkeit wieder hinauf. Dabei entsieht ein Inductions- strom, der verhältnissmässig nicht stark ist, der aber eine ziemliche Dauer hat, so lange dauert, als die Bewegung der secundären Spirale, und für diesen Inductionsstrom zeigt sich nun der vergiftete Schenkel so empfindlich wie der unvergiftete. Die Erforschung des Verhaltens gelähmter Muskeln gegen Indnctions- ströme und gegen den constanten Strom, beziehungsweise gegen das Schliessen und Oetfnen desselben, ist von wesentlicher diagnostischer und prognostischer Bedeutung. Reagiren die Muskeln schwer oder anscheinend gar nicht auf Indnctionsströme, aber auf das Schliessen oder Oeffnen einer Kette leichter oder doch ebenso leicht, wie die der gesunden Seite, so weiss man, dass die Nerven degenerirt, aber die Muskeln wohl erhalten sind. Hieraus geht ferner hervor, dass die Störung der Leitung eine peripherische ist, d. h. dass sie nicht jenseits der grossen Ganglien- zellen liegt, aus denen, wie wir später sehen werden, die motorischen Nerven zunächst entspringen, und die ihnen als trophische Centren dienen. Reagiren die Muskeln noch am zehnten Tage und später nach erfolgter vollständiger Lähmung auf Indnctionsströme eben so gut, wie die der gesunden Seite, so liegt die Störung jenseits dieser Zellen, sie ist, wie wir uns ausdrücken, eine centrale. Bei vollständigen peripheren Läh- mungen wird der Unterschied meistens schon in der ersten Woche merklich. Nur in den Fällen, in denen die Muskeln sowohl auf Indnc- tionsströme als auch auf Kettenströme schwer oder gar nicht reagiren, erfährt man auch während des weiteren Verlaufes der Lähmung aus dieser Untersuchung nichts über den Sitz der Krankheit; man weiss dann nur, dass die Muskeln bereits so weit in ihrer Textur verändert sind, dass sie sich nicht mehr in normaler Weise zusammenziehen. 512 Das Myograpliion und der zeitliche Verlauf der Muskelcontraction. Das Mj ographion und der zeitliche Yerlauf der Muskel- contraction. Nachdem wir die Reize kennen gelernt haben, deren wir uns be- dienen, um die Muskeln in Zusammenziehung zu versetzen, wollen wir den Verlauf der Muskelcontraction. kennen lernen. Derselbe ist zuerst mittelst eines Instrumentes untersucht worden, welches man Myographien nennt. Sie sehen es hier in seiner ursprünglichen Construction, welche ihm Helmholtz gegeben hat. Es ist so gezeichnet, als ob durch einen durch die Mitte gehenden, aber die Zahnräder und deren Axen intact lassenden Schnitt der innere Mechanismus blossgelegt wäre. Fig. 81 zeigt in AA einen Glascylinder, der glatt abgeschliffen ist; er ist drehbar mit seiner Axe, und diese wird bewegt durch ein Uhrwerk, von welchem Sie hier nur einen Theil in cde abgebildet sehen. Der Gang der Axe wird regulirt durch eine sehr schwere Bleischeibe K K, welche denselben Dienst leistet, welchen ^^s- 80. bei den Dampfmaschi- nen das Schwungrad mitleistet, den Dienst, das Trägheitsmoment zu vergrössern und dadurch die kleinen Ungleichheiten des Ganges auszugleichen. Ausserdem befinden sich daran zwei Schirme m in, welche in einer Rinne mit Oel gehen und dreh- bar sind, so dass sie, je nachdem man sie radial oder tangential einstellt, einen grös- seren oder geringeren Widerstand in dem Oele finden. Der Glas- - — cylinder wird berusst, denn er soll dazu dienen, dass in ähnlicher Weise, wie auf einer Kymographiontrommel, auf ihm eine Curve aufgeschrieben wird. Der Schreibapparat ist durch den Haken l in Verbindung gesetzt mit einem lebenden Muskel. Man wählt gewöhnlich den Gastrocnemius des Frosches. Indem er sich con- trahirt, hebt er den Schreibstift (n), und es werden dadurch die Hub- höhen in bestimmtem Maasse vergrössert als Ordinaten aufgetragen. Der Schreibapparat besteht in einem Stahlstift (n), der an einer Messingstange (rx) befestigt ist, welche ihrerseits wiederum von einem Gitter (rq) herabhängt, welches in zwei Stahlspitzen drehbar ist, so dass der Schreibstift nach aufwärts und nach abwärts geht, ohne irgendwelche seitliche Schwankungen zu machen. Dieses Gitter ist in Fig. 81 rg im Das Myographion und der zeitliche Verlauf der Muskelcontraction. 513 Profil abgebildet und zugleich die Art und Weise, wie es mit dem Haken l, an dem dei' Muskel wirkt, verbunden ist. Fig. 82 zeigt die Fig. 81. Ansicht des Gitters von oben. Von dem Schreibstift geht nach rückwärt.s ein Faden, welcher hier um einen Cyliuder o läuft und unten um einen Brüclie. Vorlesungen I. 4. Aufl. 3o 514 Diis Myographion und der zeitliche Verlauf der Muskekontraction. Stab ay gewunden ist, durch dessen Drehung er so weit angezogen wird, dass der Schreibstift den Glascylinder eben berührt. Die Kraft, mit der er an letzteren angedrückt wird, kann ausserdem regulirt werden durch das Laufgewicht g, welches auf dem horizontalen Arm ig verschoben werden kann, der seinerseits wieder auf rx verschiebbar ist. Der Nerv des zu benutzenden Muskels wird an zwei Electroden gelegt, welche die Enden einer Inductionsspirale sind. Durch einen Oeffnungsinductionsschlag aus dieser Spirale soll der Nerv und durch ihn der Muskel gereizt werden. Der primäre Kreis muss also im Beginne des Versuches geschlossen sein und sich öffnen in dem Augenblicke, in dem der Reiz erfolgen soll. Die Unterbrechung erfolgt im betreffenden Momente dadurch, dass durch Umlegen des Hebels oX (Fig. 81) und der Axe vv (Fig. 80 und Fig. 81) der Contact mit der Platinplatte p (Fig. 80) aufgehoben wird. Ehe nun der eigentliche Versuch beginnt, und ehe man das Uhrwerk in Gang setzt, dreht man den berussten Glascylinder A A einmal langsam herum, indem man die Bleischeibe KK (Fig. 81) mit der Hand bewegt. Hierbei fasst der Daumen Z (Fig. 80) einer mit der Blei- scheibe verbundenen Messingplatte den Hebel o A (Fig. 81), legt ihn um und unterbricht den Strom. Hierauf zuckt der Muskel und der Schreib- stift zeichnet eine Senkrechte zu der Horizontalen, die er in Folge des Umdrehens gezeichnet hat. Diese Senkrechte ist die Ordinatenaxe und bezeichnet den Moment, in welchem der Reiz erfolgt. Wenn nun experimeutirt werden soll, so wird das Brett tuv bei v mit dem Finger heruntergedrückt. Dadurch wird der Faden so viel an- gezogen, dass der Schreibstift von dem Glase abgehoben wird. Jetzt wird der Hebel wieder aufgerichtet, um den primären Kreis wieder zu schliessen und das Uhrwerk wird in Gang gesetzt. Nachdem dasselbe constante Geschwindigkeit erlangt hat, nimmt man den bei v drückenden Finger weg, das Brett hebt sich in Folge der Wirkung der Feder, der Stift tritt an den Cylinder heran und schreibt. Mit dem Herabdrücken des Brettes war auch der Hebel 37^ aus dem Bereich des Daumens Z, Fig. 80, gezogen ; jetzt aber, so wie der Stift an das Glas heranreicht, gelangt nun auch der Hebel o A wieder in den Fig. '83. Bereich des Daumens Z, und wenn jetzt die Scheibe sich so weit herum- gedreht hat, dass letzterer den Hebel berührt, schlägt er ihn zur Seite und öffnet dadurch den primären Strom. Der Reiz erfolgt, der Muskel zieht sich zusammen und zeichnet jetzt bei der schnellen Umdrehung des Cylinders nicht eine Senkrechte, sondern eine Curve von der Gestalt Fig. 83. Wenn zu der in der beschriebenen Weise markirten Zeit i„ der Reiz erfolgt ist, so erfolgt, wie die Fig. 83 zeigt, nicht in demselben Moment die Zusammenziehung, sondern es ist ein Stadium der latenten Reizung vorhanden, das heisst ein Stadium, während dessen an dem Das Myograpliion und der zeitliche Verlauf der Muskelcontraction. 515 Muskel äusserliuh noch uichts vorgeht, wo er sich noch nicht aus seiner früheren Gleichgewichtsfigur herausrührt. Es dauert nach unserer Fig. 83 bis zur Zeit ^j. Dann zieht er sich allmälig zu seinem Maximum zu- sammen, das er zur Zeit t<^ erreicht, erschlafft allmälig und kommt nach einer durch den Fall der Belastung bedingten Verlängerung \t.^) nahezu wieder auf seine ursprüngliche Gleichgewichtsfigur zurück. Die blitzartige Zuckung, welche eintritt, wenn wir den IS'erven eines Muskels reizen, geht in der That nur für unser Auge in einem unmessbar kleinen Zeittheilchen vor sich ; wenn man feiner messende Instrumente anwendet, kann mau diese Zeit zerlegen in ein Stadium der latenten Reizung, in ein Stadiiim der anwachsenden Contraction und in ein Stadium der Erschlaffung. Seit jenen ersten Versuchen von Relmholtz sind zahlreiche an- dere Myographien construirt worden. Die wesentlichen Neuerungen be- ziehen sich auf zwei Punkte. Erstens hat man an die Stelle des beschwerten Schreibhebels eine Schiene gesetzt, welche der sich con- trahirende Muskel bog. Man wählte dazu theils Metall, theils Glas, theils Fischbein, letzteres wegen seines geringeren Trägheitsmoments und seiner geringeren Nachsehwingungen. Eine solche federnde Schiene hat den Yortheil, dass sie die erzeugten lebendigen Kräfte sofort in Spannkräfte umsetzt. Beim beschwerten Hebel geschieht dies nicht, er erlängt eine grössere oder geringere Wurfgeschwindigkeit. Die gezeichnete Curve gibt also ein sehr unwahres Bild von den Veränderungen der Spannung, welche der Muskel nach einander erreicht, ein Bild, das erst durch Rechnung auf das Wahre reducirt werden muss, wie es auch Helmholtz gethan hat. Für die directe Herstellung eines wahren Bildes ist die Fig. 84. federnde Schiene vorzuziehen. Beistehender Holzschnitt Fig. 84 a zeigt eine Zuckungscurve, welche vom Gastrocnemius eines Frosches mittelst einer Fischbeinschiene gezeichnet ist. Die dornartige Spitze, welche vor ihrem Anfange steht, ist das sogenannte Reizzeichen. Sie rührt von einer Muskelzuckung her, die man bei sehr langsam bewegter Schreibfläche schreiben liess, um näherungsweise den Zeitpunkt zu fixiren, in welchem der erregende Stromstoss durch den Nerven ging. Ihr Anfang entspricht also nahezu der Zeit ^q in Fig. 83. Bei Anwendung einer solchen Schiene zeigt es sich nun, dass die Zeit, in der das Maximum der Verkürzung erreicht wird innerhalb enger Grenzen, beim nicht ermüdeten Gastrocnemius des Frosches im Sommer etwa 0,06 und 0,07 Secunden schwankt, gleich viel ob ein starker oder ob ein schwacher Reiz stattgefunden hat, ob also die Ver- kürzung gross oder gering ist. Hieraus ergiebt sich, dass die Geschwin- digkeit, mit der sich die Bewegung vollzieht, in letzterem Falle geringer ist und durch weitere Abschwächung des Reizes weifer herabgesetzt 33* Olb Die Leistungen des sicli contrahirenden Muskels. werden kann. Es wird uns dies später bei der Beurtheilung der will- kürlichen Bewegungen von Wichtigkeit sein. Man muss übrigens solche Versuche an ein und demselben Muskel und kurz nach einander anstellen ; denn die gesuchte Zeit ist in hohem Grade abhängig von anderen Um- ständen, von Temperaturänderung, von Ermüdung und vom Absterben. Muskeln verschiedener Thiere verhalten sich sehr verschieden und auch verschiedene Muskeln eines und desselben Thieres. Wo rothe und weisse Muskeln neben einander vorkommen, wird, so weit die Erfahrungen bis jetzt reichen, das Maximum von den weissen Muskeln in der Eegel schneller erreicht und schneller passirt als von den rothen. Die zweite Neuerung besteht darin, dass man die Zeiten nach den Schwingungen von Stimmgabeln oder einfachen Stahlschienen bestimmt, um sich nicht mehr auf den gleichmässigen Gang des Uhrwerkes verlassen zu müssen, eventuell um dasselbe ganz beseitigen zu können. Fig. 84 & zeigt die von einer Stahlschiene während des Entstehens der Zuckungs- curve Fig. 84 a geschriebene Wellenlinie. Die Abscissenaxe dazu wurde vorher geschrieben dadurch, dass die Schreibfläche bei ruhender Stahl- schiene bewegt wurde. Die Leistungen des sich eontraliirenden Muskels. Zunächst ist zu bestimmen die Grösse des Gewichtes, welches ein Muskel noch eben von seiner Unterlage zu heben im Stande ist. Eduard Weber, dessen Untersuchungen wir hier folgen, hat dazu den Musculus hyoglossus des Frosches angewendet. Er bietet den wesentlichen Vortheil, dass er sehr einfach gebaut, dass er der Länge nach gefasert ist. Man kann ihn leicht an einem Haken aufhängen, indem man denselben durch die Stimmritze steckt, mit welcher das Zungenbein, von dem der Muskel entspringt, verbunden ist. An dem andern Ende des Muskels hängt die Zunge. Durch diese steckt man wiederum einen Haken, und an diesem hängt man ein leichtes Schälchen auf. Von diesem Haken geht ein Draht zu einem Quecksilbernapf und man kann nun die Schläge eines Inductionsapparates durch den .Muskel leiten, indem man die zuleitenden Drähte einerseits verbindet mit dem Haken, an dem der Muskel auf- gehängt worden ist, andererseits mit dem Quecksilbernapf, in welchem der von dem unteren Haken abgehende Draht eintaucht. Es werden nun auf das Schälchen so lange Gewichte gelegt, als der Muskel bei seiner Reizung das Schälchen noch von der dai'unter befindlichen Unterlage abhebt. Wenn dies nicht mehr geschieht, zählt man die Gewichte aus, welche er eben gehoben hat, addirt sie zum Gewichte des Hakens und der Schale, und dieses Gesammtgewicht, welches er eben noch von der Unterlage zu heben im Stande war, bezeichnet man als das Maass für die absolute Kraft des Muskels. Es ist nun klar, dass, wenn sich neben einem solchen gerade gefa- serten Muskel ein anderer eben solcher befunden hätte, dieser das gleiche Gewicht gehoben haben würde, also beide Muskeln zusammen das doppelte. Es ist auch klar, dass, wenn wir beide Muskeln quer durchschnitten hätien, der Querschnitt der beiden Muskeln doppelt so gross gewesen wäre, als der Querschnitt des einen Muskels, Es hängt also die absolute Die Leistungen des sich contrahirenden Muskels. 517 Kraft eines Muskels, das heisst das Gewicht, welches er zu heben im Stande ist, von seinem Querschnitte ab. Aber es muss hier etwas hinzu- gefügt werden, es muss ein Querschnitt sein, der erzielt ist, indem man senkrecht auf sämmtliche sich contrahirende Fasern durchgeschnitten hat. Man nennt diesen Querschnitt den physiologischen Querschnitt. Er fällt mit dem sogenannten anatomischen Querschnitt nur dann zusammen, wenn der Muskel einfach längs gefasert ist: wenn dagegen der Muskel ein gefiederter oder ein doppeltgefiederter ist, so kann der physiologische Querschnitt nicht ohne Weiteres gefunden werden, weil er eine Ober-' fläche ist, welche man sich senkrecht durch sämmtliche Fasern gelegt denkt. Wenn jedoch diese Fasern genau oder doch näherungsweise gleich lang sind, dann lässt sich der physiologische Querschnitt auf verhältniss- mässig einfache Weise finden. Man bestimmt das absolute Gewicht des Muskels in Gra.mmen und dividirt es durch das specifische Gewicht, dann hat man das Volum des Muskels in Kubikcentimetern, und wenn man dieses Volum durch die Faserlänge dividirt, so hat man den physiologi- schen Querschnitt, mit anderen Worten, man hat die Grundfläche eines Prismas von dem ermittelten Volum und von einer Höhe, welche gleich ist der Faserlänge. Es kommt aber nicht allein darauf an, ein wie grosses Gewicht der Muskel hebt, es kommt auch darauf an, zu wissen, wie hoch er ein Gewicht heben kann. Früher haben wir ihn so lange belastet, bis er die Schale mit dem Gewichte nur eben noch von der Unterlage abhob : wenn wir ihn aber mit einem sehr geringen Gewichte belasten, so zieht er sich noch nahezu oder ganz so weit zusammen, wie wenn er unbe- lastet zur Contraction gereizt würde. Um wie viel kann sich nun ein Muskel zusammenziehen ? Die alten Anatomen und Physiologen rechneten im Mittel, dass sich ein Muskel um ein Drittel seiner Länge verkürzen könne. Sie hatten hiebei viel zu kurz gerechnet, begreiflicher Weise deshalb, weil sie als Paradigmata hiefür gefiederte und doppeltgefiederte Muskeln genommen hatten, bei denen die Länge der einzelnen Fasern weit hinter der anatomischen Länge des ganzen Muskels zurückbleibt. Machen wir einmal den Versuch mit dem Hyoglossus des Frosches, indem wir durch das untere Ende desselben einen Cocoufaden hindurchziehen, ihn horizontal über zwei entfernte Stützen leiten, und hinter ihm eine Theilung aufstellen, so dass wir bei der Verkürzung des Muskels sehen, um wie viel er in die Höhe gehoben wird ; so finden wir nach dem Vorgange von Eduard Weber, dass sich der M. hyoglossus um | seiner Länge zusammenzieht, so dass nur -| von der Länge, die der erschlaffte Muskel zeigt, übrig bleibt. Der M. hyoglossus befindet sich hinsichtlich seiner Verkürzung in besonders günstigen Umständen, denn erstens ist er einfach der Länge nach gefasert, zweitens ist er in lockeres Binde- gewebe gehüllt, welches ihm bei der Contraction keinerlei Hinderniss entgegensetzt. Ein leichtes Gewicht wird also von ihm um | .meiner Länge gehoben. Wenn ich mir an diesen Hyoglossus einen andern an- gehängt denke, und dieser zöge sich gleichzeitig auch zusammen, so würde natürlich dasselbe Gewicht um das Doppelte gehoben werden. Also die Hubhöhe, die Höhe, bis zu welcher ein Muskel ein geringes Gewicht heben kann, hängt ab von der Länge der Fasern, von der physiologischen Länge des Muskels. ölb Die Leistungen des sich contrahirenden Muskels. Die Arbeit, welche ein Muskel durch eine Contraction zu leisten vermag, ist ausgedrückt durch mgh, worin m die Masse bedeutet, g die Erdschwere, also mg das Gewicht des gehobenen Körpers auf der Erde, und h die Höhe, zu welcher es gehoben wird. Hängen wir ein sehr geringes Gewicht an den Muskel an, so wird zwar h ein Maximum, aber dafür ist mg jetzt sehr klein ; wir haben also doch nur ein kleines Product. Hängen wir das grösste Gewicht an, welches der Muskel eben zu heben im Stande ist, so hebt es der Muskel eben nur von der Unter- lage ab ; es ist also h sehr klein. Zwischen diesen beiden Bedingungen muss es irgend eine andere geben, durch welche der Muskel das Maxi- mum der Arbeit leistet, welche er durch eine Contraction zu leisten im Stande ist. Diese Bedingung hat Ed. Weber ermittelt indem er nach einander verschiedene Gewichte auflegte, bei jedem die Hubhöhe und das Gesammtgewicht notirte, und nun sah, bei welcher Belastung er das grösste Product erhielt. Bei seinen Versuchen ergab sich als die absolute Kraft des Hyoglossus des Frosches 0,692 Kilogramm auf den Quadratcentimeter Querschnitt. Rosenthal hat später eine bedeutend grössere Zahl, 1 Kilogramm und darüber, erhalten. Der grösste Nutz- effect wurde von Ed. Weber erhalten, wenn er den Quadratcentimeter Querschnitt nur mit 450 Gramm belastete, dann hob der Muskel das 93fache seines Gewichtes 15 Millimeter hoch. Wir haben gesehen, dass die absolute Kraft abhängt von dem phy- siologischen Querschnitte und die Hubhöhe von der Faserlänge. Das ge- hobene Gewicht multiplicirt mit der Hubhöhe entspricht der Arbeit, welche der Muskel leistet bei einer Contraction: diese ist also mgh. mg ist ab- hängig vom physiologischen Querschnitte, h von der Faserlänge ; es muss also das ganze Product abhängig sein von einem Producte, welches ich erhalte, wenn ich die Länge der Fasern mit dem physiologischen Quer- schnitte multiplicire. Dann erhalte ich aber nichts Anderes, als das Volum der sich contrahirenden Muskelmasse ; mit anderen Worten die Arbeit, welche ein Muskel leistet, ist seinem Volum, seiner Grösse, proportional. Je nach der Art der Leistung aber, welche von dem Muskel verlangt wird, ist er verschieden gebaut. Wenn seine Hubhöhe eine bedeutende sein soll, so liegen die Fasern einfach geradlinig neben einander, wenn dagegen eine bedeutende Last nur um ein Geringes bewegt werden soll, so hebt an ihr ein Muskel, der gefiedert oder doppelt gefiedert ist, d. h. ein Muskel, welcher eine grosse Anzahl von relativ kurzen Fasern hat. Das finden wir im ganzen Körper bewahrheitet. Wenn wir z. B. die Augenmuskeln ansehen, welche den nach allen Seiten hin äquilibrirteu Bulbus innerhalb bedeutender Amplituden bewegen sollen, so finden wir, dass in denselben die Fasern einfach neben einander liegen, wie im Hyoglossus des Frosches, wenn wir aber damit den M. gastrocnemius ver- gleichen, so finden wir, dass derselbe eine innere Sehne hat, dass er auch eine äussere Sehne hat, und dass die Muskelfasern schräg gestellt, viel kürzer sind, als das Aeussere des Muskels auf den ersten Anblick glauben läset, dass sie dafür aber in viel grösserer Anzahl verhanden sind, so dass der physiologische Querschnitt des Gastrocnemius viel grösser ist, als der anatomische Querschnitt desselben. Der Gastrocnemius soll den ganzen Körper an einem verhältnissmässig kurzen Hebel, an dem Hebel, welchen ihm das Fersenbein liefert, oftmals hinter einander heben können. Die Leistungen des sich contiabirenden Muskels. Ol 9 Mit dieser Betrachtung fällt auch alles das zusammen, was man sonst über die ungünstigen Hebelverhältnisse am menschlichen Körper gesagt hat. Man hat sich immer gefragt: Warum arbeiten denn die Muskeln, sie mögen die Knochen bewegen wie einen einarmigen oder wie einen doppeltarmigen Hebel, immer an verhältnissmässig kurzen Hebelarmen, während die Last an dem langen Hebelarme aufgehängt ist ; der Mensch würde ja viel stärker sein, wenn seine Muskeln an dem langen Hebelarme wirkten und die Last an dem kurzen u. s. w. Man hat aber hiebei nicht bedacht, dass das, was an Kraft gewonnen würde, an Geschwindigkeit wieder verloren ginge, und andererseits haben erst die Untersuchungen von Ed. Weber gezeigt, dass diese anscheinend ungünstigen Hebel Verhältnisse wiederum compensirt sind in den Muskeln. Ed. Weber hat nun auch die Leistung der Muskeln innerhalb des menschlichen Körpers, namentlich die absolute Kraft derselben zu be- stimmen gesucht. Er wählte hiezu die Wadenmuskeln, indem er nach der Methode, welche ich vorhin besprochen habe, den physiologischen Quer- schnitt derselben bestimmte. Er bestimmte ihn an mehreren Leichen und übertrug die erhaltene Grösse auf lebende Individuen. Um das Gewicht zu finden, welches die Wadenmuskeln heben können, stellte er den Men- schen, der zum Experimente diente, mit beiden Füssen auf ein festes Lager. Zwischen den Füssen ging ein Balken durch, der auf der einen Seite einen festen Punkt hatte, um welchen er drehbar war, indem er mit einer aufstehenden Kante in eine Rinne eingriff. Der Mensch hatte einen Gürtel um den Leib, und von diesem ging ein Strick herunter, der unten an einen Haken befestigt wurde, der in den Balken ein- geschraubt war. Auf dem Balken befand sich ein Laufgewicht, welches verschoben werden und nach rückwärts weiter hinaus gesetzt werden konnte. Wenn das Individuum sich nun auf die Ballen seiner beiden Füsse zu erheben suchte, musste es mittelst des Strickes den Balken von seiner Unterlage heben. Das Laufgewicht wurde jetzt so weit hinaus- gesetzt, dass das Individuum nur eben noch im Staude war, sich um ein Geringes auf der Unterlage zu erheben. Durch Messungen dieser Art, die an mehreren Personen angestellt wurden, wurde die absolute Kraft der Wadenmuskeln ermittelt und hieraus nach dem gefundenen physio- logischen Querschnitte die Grösse derselben für den Quadratcentimeter Querschnitt berechnet. Schon Weber fand die absolute Kraft hier grösser, als er sie beim Frosche gefunden hatte, er fand 700 Gramm bis 1087 Gramm für den Quadratcentimeter. Später haben Henke und Koster noch viel grössere Zahlen erhalten, indem sie für den Unterschenkel 5,9 Kilogramm und für die Muskeln des Armes 8 Kilogramm fanden. Es ist nun wohl kein Zweifel, dass ein Theil dieser Difi'erenz auf Rech- nung der Verschiedenheit der Individuen kommt, denn es ist bekannt, dass verschiedene Individuen mit einer anscheinend gleich gut entwickelten Muskulatur, doch sehr verschieden stark sind ; andererseits muss ich aber hinzufügen, dass Henke und Kost er auch ihre Rechnungen auf andere mechanische Anschauungen gegründet haben, als Weber, und dass daraus auch ein grosser Theil der Differenz zu erklären ist. 520 Die Muskeln nach dem Tode. Die Muskeln nach dem Tode. Wenn ein Thier stirbt, so erlischt bekanntermassen die Contracti- lität der Muskeln nicht sofort. Die Muskeln bleiben noch längere Zeit nach dem Tode reizbar, und zwar ist diese Zeit sehr verschieden je nach der Natur des Thierßs, und je nach den äusseren Umständen, unter denen sich die Muskeln befinden. Am längsten nach dem Tode bleiben die Muskeln der Reptilien und der Amphibien reizbar, die Muskeln der Schildkröten findet man noch 8 bis 10 Tage nach dem Tode reizbar, und nahezu ebensolange können unter günstigen Verhältnissen die Mus- keln der Frösche ausdauern. Schon viel kürzere Zeit dauert die Reiz- barkeit nach dem Tode bei den Fischen und am kürzesten bei den warmblütigen Thieren und unter diesen bei den Vögeln am kürzesten. Die Muskeln leben am längsten nach dem Tode nicht etwa bei der Temperatur des menschlichen Körpers, sondern bei einer Temperatur, welche sich nicht viel über 0*^ erhebt. Eine Temperatur unter 0^ ist ungünstig, weil die Muskeln dann gefrieren. AiTch die verschiedenen Muskeln des Körpers verlieren ihre Reizbarkeit nicht zu gleicher Zeit : am frühesten die des Stammes, die ISTackenmuskeln, die Rückenmuskeln und die Kaumuskeln, dann die Muskeln der oberen und der unteren Extremität; am längsten reizbar bleibt, wie schon Haller wusste, der rechte Vorhof, speciell das rechte Herzrohr, welches deshalb als das ultimum moriens Halleri bezeichnet wird. Vulpian sah das Herz eines Hundes sich noch am vierten Tage nach dem Tode contrahiren. Eine noch längere Dauer der Reizbarkeit sah Sertoli an einem aus glatten Fasern, contractilen Faserzellen, bestehenden Muskel, dem Retractor penis, der den meisten Säugethieren zukommt, aber dem Menschen fehlt. Dieser Muskel dem Pferde entnommen und in Pferdeserum von 5^ bis 8*^ liegend blieb in einem Falle vom 18. bis zum 24. Januar, in einem anderen vom 28. Januar bis zum 4. Februar erregbar. Wenn die Muskeln ihre Reizbarkeit verlieren, so geht noch eine anderweitige Veränderung mit ihnen vor, sie verlieren ihre Weichheit, ihre Dehnbarkeit, sie werden starr und widerstandsfähig, zuletzt in solchem Grade, dass man namentlich bei stai'ken und muskulösen Individuen einen Arm, der gebeugt ist, nur mit Schwierigkeit strecken kann, und einen gestreckten Arm nur mit Schwierigkeit beugen kann. Deshalb geschieht es, dass man den Verstorbenen gleich nach dem Tode entkleidet, weil man weiss, dass nach längerer Zeit die Leiche starr ist, und man die Kleider nicht mehr herunterbringen würde, dass man sie herunterschneiden müsste. Diesen Zustand, der so in den Leichen eintritt, bezeichnet man mit dem Namen der Todtenstarre, des rigor mortis. . Die Todtenstarre tritt, wie gesagt, dann ein, wenn die Muskeln ihre Reizbarkeit verlieren, also Alles, was vorhin über das Aufhören der Reizbarkeit gesagt worden ist, lässt sich unmittelbar auf das Eintreten der Todtenstarre anwenden. Die Todtenstarre tritt am spätesten bei den Schildkröten, demnächst bei den Fröschen ein, sie tritt am schnellsten ein bei den warmblütigen Thieren und unter diesen am schnellsten bei den Vögeln, sie tritt schneller ein, wenn die Leichen in warmer Temperatur aufbewahrt werden, als wenn sie sich im kalten Räume befinden, sie entwickelt sich Die Muskeln nach dem Tode. 521 nicht in allen Theilen gleichzeitig, zuerst in den Nacken muskeln, und in den Muskeln des Stammes u. s. f. Die Todtenstarre umfasst alle muskulösen Gebilde, so dass nicht nur in den willkürlichen, sondern auch in den unwillkürlichen Muskeln, Todtenstarre eintritt, wenn sie in ihnen auch weniger merklich ist als in den willkürlichen, schon wegen ihrer geringeren Masse. Die Todtenstarre rührt her von der Ausscheidung eines Eiweiss- körpers in den Muskeln, welchen wir mit dem Namen des Muskelfibrins bezeichnen, weil er freiwillig und bei gewöhnlicher Temperatur gerinnt. Einige sind der Ansicht, dass er identisch sei mit Kühne 's Myosin. J^achdem man schon aus den äusseren Umständen und Erscheinungen, welche sich bei der Todtenstarre wahrnehmen liessen, erschlossen hatte, dass dieselbe von dem Gerinnen eines Eiweisskörpera herrühre, hat Kühne diesen Eiweisskörper zuerst dargestellt, er hat ihn zuerst ausserhalb der Muskeln gerinnen lassen. Hiezu war es nöthig, dass man den Muskel aus- spritzt und ihn dadurch vom Blute befreit. Wenn man ihn aber mit Wasser ausspritzt, so geräth er sofort in Tetanus und wird todtenstarr. Man hält das Wasser gewöhnlich für eine indifferente Flüssigkeit, man bringt es ohne Weiteres auf alle Wunden, man bringt es auf die Quer- schnitte durchschnittener Muskeln u. s. w. ; für die Muskeln ist aber das Wasser, auch das destillirte, und gerade dieses am meisten, keineswegs ein indifferentes, sondern ein im höchsten Grade zerstörendes Medium. Da, wo die Muskelfasern mit Wasser in Berührung kommen, sterben sie augenblicklich unter fibrillären Zuckungen ab, und wenn man sie mikro- skopisch untersucht, so findet man, dass die sarcous elements zerstört sind. Es gibt aber eine andere Flüssigkeit, in welcher sich die Muskeln sehr gut erhalten, viel besser als in destillirtem Wasser — was übrigens nichts sagen will, denn sie erhalten sich z. B. in einer concentrirten Lösung von arseniger Säure oder in einer Borsäurelösung besser als in Wasser — und diese Flüssigkeit ist die einpercentige oder, noch genauer gesagt, die ^/^Vo oder 0'6% Kochsalzlösung. Es würde also viel zweck- mässiger sein, auf die Muskelwunden niemals Wasser anzuwenden, sondern immer eine Lösung von 0'6^/q Kochsalz, wenn nicht der Uebelstand be- stünde, dass das Wasser verdunstet, und nun eine concentrirtere Kochsalz- lösung zurückbleibt, welche ihrerseits feindlich auf die Muskelsubstanz und auf die Nerven einwirkt. Einer solchen verdünnten Kochsalzlösung bediente sich Kühne, um das Blut aus den Muskeln auszuspritzen. Er konnte dadurch einen lebenden und vollständig blutfreien Muskel erhalten. Diesen presste er unter der Schraubenpi^esse aus und erhielt eine Flüssig- keit, aus welcher sich das Muskelfibrin ausschied, derjenige Körper, welcher sich sonst nach dem Tode innerhalb des M^^skelR ausscheidet, und welcher den Muskel fest, consistent macht und durch seine Aus- scheidung die Erscheinungen der Todtenstarre zu Wege bringt. Mit diesen fibrösen Aiisscheidungen hängt es auch zusammen, dass der Körper immer todenstarr wird in derjenigen Lage, in welcher er sich eben befindet. Wenn man einen Arm streckt, so wird er in ge- streckter Lage todtenstarr, wenn man einen Arm beugt, wird er in gebeugter Lage todtenstarr. Das ist der Grund, weshalb man die Leichen nach dem Tode zurechtlegt, damit sie in einer bestimmten Lage starr werden, dass man ihnen Münzen auf die Augen legt, ein Buch unter k)22 Die Muslreln nach dem Tode. den Unterkiefer schiebt, damit die Augen und der Mund geschlossen seien u. s. w. Ganz jedoch wird die Stellung nicht eingehalten. Es beginnen nämlich im Verlaufe der Entwickelung der Todtenstarre langsame Be- wegungen, welche zuerst von Sommer beobachtet worden sind, und welche deshalb die Sommer'schen Bewegungen heissen. Diese setzen sich auch, wie Storoscheff gezeigt hat, noch fort, nachdem die Starre sich schon vollkommen entwickelt hat. Sie bestehen darin, dass der Arm im Ellbogengelenk etwas gebeugt wird, dass die Finger etwas gekrümmt werden, und der Daumen etwas nach innen gezogen wird, kurz diese Bewegungen sind immer solche, dass man sieht, die stärkeren Muskeln überwiegen ihre schwächeren Antagonisten. Da am Arme und an der Hand die Beuger die Strecker überwiegen, so tritt eine geringe Beugung im Ellbogengelenk und eine geringe Krümmung der Finger ein. Diese Bewegungen haben ihren Grund in Verkürzungen der sterbenden und todten Muskeln. Wenn man in einen todtenstarr gewordenen Muskel einen tiefen Querschnitt hineinmacht, so wird dieser Schnitt nach und nach keilförmig, es ziehen sich die Wundlippen etwas zurück und in der Tiefe der Schnittfurche sammelt sich eine kleine Menge von Flüssigkeit an. Letztere Erscheinung scheint indess unwesentlich zu sein, denn sie fehlt häufig und zeigt sich, wo sie vorkommt, erst so spät, dass man sie nicht mehr mit den Ursachen der Sommer'schen Bewegungen in Zusammenhang bringen kann. Es scheint, dass während des Gerinnungs- processes und durch den Gerinnungsprocess selbst sich ein Spannungs- zustand entwickelt, vermöge dessen sich der Muskel zusammenzieht. Er zieht sich dabei nicht in allen Richtungen zusammen, wie das geronnene Blutfibrin , sondern nur in der Längsrichtung ; in der Quere wird er dicker. Es ist mehrfach behauptet worden, dass Muskelcontractionen, welche während des Lebens -stattfinden, unmittelbar in die Todtenstarre über- gehen könnten. Es ist behauptet worden, dass bei dem Tetanus die krampfhafte Starre unmittelbar in die Todtenstarre übergehe, ohne ein dazwischenliegendes Erschlaffen. Es ist das nach neueren, besseren Beob- achtungen nicht richtig. Die Muskeln werden nur, wenn ein Individuum an Tetanus stirbt, sehr früh todtenstarr : denn die Muskeln verlieren ihre Reizbarkeit um so früher und sterben um so früher ab, je mehr sie vor dem Tode durch Contractionen erschöpft worden sind. Ich habe z. B. bei Kaninchen, welche ich so mit Strychnin vergiftet hatte, dass sie noch mehrere Krampfanfälle vor dem Tode bekamen, die Todten- starre schon 10 Minuten nach dem Tode des Thieres eintreten gesehen ; aber ich habe niemals gesehen, dass ein Tetanusanfall unmittelbar in die Todtenstarre übergegangen wäre : es war immer ein freies Intervall von näherungsweise 10 Minuten. Es ist ferner in neuester Zeit wieder die Behauptung aufgetaucht, dass Muskelcontractionen unmittelbar in die Todtenstarre übergingen. Es ist dieselbe mitgebracht von Kriegschirurgen aus dem amerikanischen und dem letzten deutsch-französischen Kriege. Sie haben Leichen in eigenthümlichen Stellungen aufgefunden, von denen sie glaubten, dass es gerade diejenigen Stellungen seien, welche die Individuen unmittelbar vor dem Tode angenommen hatten. Es ist nirgendwo der Beweis geführt, Die Muskeln nach dem Tode. 523 dass dies wirklich dieselben Stellungen waren, und andererseits kann man Thiere auf irgend welche Weise und in irgend welcher Lage tödten , es ist ganz gleich, es tritt immer erst ein Stadium der Er- schlaffung ein, und dann werden die Thiere starr in derjenigen Lage, in welche man sie hineinbringt. Ich habe niemals, weder an einem Thiere noch an einem Menschen, etwas gesehen, was von diesem Ge- setze abgewichen wäre. Eäthaelhafter als die Skeletmuskeln ist mir in dieser Hinsicht der Zustand des Herzens erschienen. Man findet nämlich in den Leichen, wenn man eine grosse Menge von Herzen iintersucht, dieselben in sehr verschiedenen Zuständen. Bei weitem die Mehrzahl der Herzen findet man in der Leiche in vollständig erschlafftem Zustande vor, mit Blut gefüllt oder weniger mit Blut gefüllt und dann abgeplattet, kurz in ganz passiven Formen starr geworden. Dann findet man aber dazwischen Herzen, welche, wenn auch nicht gerade vollständig, doch nahezu den systolischen Zustand rapräsentiren, indem ihre Ventrikel eng sind, ihr Muskelfleisch dick ist u. s. w., ohne dass sonst an dem Herzen irgend etwas Anomales zu finden wäre, so dass man berechtigt wäre, an eine concentrische Hypertrophie zu denken. Das Aufhören der Todtenstarre rührt davon her, dass durch die beginnende Fäulniss ein Theil des ausgeschiedenen Fibrins sich wieder verflüssigt. Die Todtenstarre löst sich also um so früher, je früher der Fäulnissprocess eintritt, sie löst sich früher in höherer Temperatur als in niederer, sie löst sich früher in Leichen, welche zur Fäulniss geneigt sind, als in solchen, die derselben längere Zeit widerstehen. Es muss übrigens bemerkt werden, dass sich immer das ausgeschiedene Fibrin nur theilweise verflüssigt, dass die Muskeln niemals wieder die Weichheit bekommen, welche sie während des Lebens und unmittelbar nach dem Tode haben. Nur in den Anfängen der Todtenstarre lässt sie sich wieder lösen und lässt sich der Muskel wieder reizbar machen, und zwar in den allerersten Stadien dadurch, dass man Blut wieder durch die Gefässe des Muskels circuliren lässt: dann verliert sich die beginnende Starre, der Muskel fängt wieder an, reizbar zu werden. Wenn er aber stärker starr geworden ist, und namentlich, wenn er schon saure Eeaction an- genommen hat, geht es auf diesem Wege allein nicht mehr. Frey er hat es indessen dahingebracht, auch in einem späteren Stadium die Muskeln noch zu beleben.- Es löst sich nämlich das Fibringerinnsel in der ersten Zeit noch wiederum durch Kochsalzlösung ; er behandelt also einen solchen Muskel mit Kochsalzlösung, löst dadurch das Fibrin auf, und dann lässt er Blut hindurch circuliren, und hiedurch macht er ihn wieder reizbar, so dass er den Muskel, der thatsächlich todtenstarr gewesen ist, noch wiederum zum Functioniren bringt. Der Eiweisskörper , welcher sich allmälig nach dem Tode aus- scheidet und die Todtenstarre hervorbringt, das Muskelfibriu, scheidet sich plötzlich aus bei kaltblütigen Thieren, wenn die Muskeln auf 40^ erwärmt werden, bei warmblütigen Thieren und beim Menschen, wenn die Muskeln auf 4.5" erwärmt werden. Wenn aber Froschmuskeln auf 45*^ und Säugethiermuskeln auf 50" erwärmt werden, so scheidet sich noch ein Eiweisskörper aus, der sich auch in dem ausgepressten Muskel- 024: Die electrischen Ströme, welche aus den Muskeln abgeleitet werden können. safte durch. Erwärmung auf 50*^ nachweisen lässt. Hierdurch wird noch eine stäi-kere Starre erzeugt, die sogenannte Wärmestarre. Man kann dieselbe auch am lebenden Thiere erzeugen. Wenn man einem Frosche die Hinterbeine zusammenbindet und dieselben in Wasser von einer Temperatur von 45" bis 50*^ hineinsteckt, und sie eine Weile darin lässt, so werden die Beine vollkommen starr, und zwar starrer als die eines todtenstarren Frosches, weil jetzt nicht nur das eigentliche Muskel- fibrin geronnen ist, sondern auch dieser bei 45° gerinnende Eiweiss- körper. Dabei lebt der Frosch noch, schwimmt im Wasser umher, schleppt aber die Hinterbeine wie ein paar Stöcke nach. Wenn man den ausgepressten Muskelsaft noch weiter erwärmt, erfolgen noch partielle Eiweissausscheidungen, bis zu einer Temperatur von 70*^ bis SO**, wo das gewöhnliche lösliehe Eiweiss vollständig ge- rinnt, und nun bei weiterer Temperaturerhöhung keine weitere Aus- scheidung erfolgt. Ausser dem Muskelfibrin, das sich freiwillig ausscheidet beim Absterben des Muskels, kommt also im Muskelsafte noch eine Reihe von Eiweisskörpern vor, welche sich bei verschiedenen Temperaturen von öO*^ bis 70° ausscheiden, und von denen eben das zuletzt sich ausscheidende, dem löslichen Eiweiss, wie es sich im Blutserum, im Hühnerei u. s. w. vorfindet, am meisten entspricht. Die electrisclien Ströme, welche aus den Muskeln abgeleitet werden können. Die ersten erfolgreichen Schritte auf dem Gebiete der Muskel- electrieität wurden von Galvani gemacht. Es zeigte sich, dass Frosch- präparate, welche sich in der !Nähe des geladenen Conductors einer Electrisirmaschine befanden, zuckten, wenn man Funken aus dem Con- ductor zog, während die Froschpräparate mit dem Erdboden in leitender Verbindung standen. Diese Erscheinung erklärt sich einfach nach der Theorie des Eückschlages. Durch die Ladung des Conductors, wir nehmen an mit -\- E, wurde eine gewisse Quantität von — E aus dem Frosch- präparate gebunden , und das Aequivalent an -\- E wurde abgeleitet. Es hatte also eine electrische Vertheilung im Froschpräparate statt- gefunden. Jetzt wurde aus dem Conductor ein Funke gezogen und ihm ein Theil seines -\- E entzogen : der Rest von -f- E konnte nicht mehr das ganze — E binden, welches früher gebunden war; nach der ge- wöhnlichen dualistischen Anschauung von diesem Vorgange mussten sich also -|~ E und — E vereinigen und dadurch einen Strom geben, vermöge dessen das Froschpräparat zuckte. Es ist also an diesen Beobachtungen an und für sich nichts von thierischer Electricität. Galvani kannte aber damals die Theorie des Rückschlages noch nicht. Es fiel ihm des- halb diese Erscheinung in hohem Grade auf, er hielt sie für eine Aeusserung thierischer Electricität und sie veranlasste ihn, mit grossem Eifer über die electrischen Wirkungen von Muskeln und Nerven zu experimentireu. Er fand , dass man bei sehr empfindlichen Frosch- präparaten eine Zuckung bekommt, wenn man den Nerven eines Muskels mit letzterem durch einen metallischen Bogen verbindet. Volta wies aber nach, dass es nach den bisher bekannten Thatsachen wahrscheinlich Der Multiplicator. 525 sei, dass die electrischen Differenzen mehr in den leitenden Bögen und in deren Berührungsstellen mit den thierischen Theilen zu suchen seien, als in den thierischen Theilen selbst. Galvani war deshalb eifrig be- müht, den metallischen Schliessungsbogen ganz zu vermeiden, und dies gelang ihm auch, indem er den Nerv über einen Glasstab hinüber legte und ihn auf den Muskel herabfallen Hess ; dann trat bei empfindlichen Präparaten eine Zuckung ein , und dies war , wie wir später sehen werden, die erste wahre thierisch-electrische Erscheinung, welche beob- achtet worden ist. Später, als Oersted die Ablenkung der Magnetnadel durch den eleetrischen Strom nachgewiesen hatte, construirten Schweiger und Poggendorff sogenannte Multiplicatoren, das heisst sie führten den Strom in einem aufgewundenen Drahte sehr oft an der Magnetnadel vorüber und erzielten dadurch eine viel stärkere Wirkung, so dass jetzt die Magnetnadel als ein empfindliches Reagens für einen vorhandenen Strom dienen konnte. Eines solchen Multiplicators bediente sich Nobili, um die thierischen Theile auf ihre Electricität näher zu untersuchen, und er fand, dass, wenn er Wirbelsäule und Füsse eines nach Galvani 's Vorschrift präparirten Frosches in zwei Gefässe mit Salzlösung tauchte, welche mit den Drahtenden eines Multiplicators verbunden waren, sich eine Ablenkung der Magnetnadel zeigte, welche einen Strom angab, der im Schliessungsdrahte vom Kopfe nach den Füssen des Frosches gerichtet war. Dieses ist der sogenannte Nobilische Froschstrom, der, wie wir später sehen werden, nur die Eesultante von den verschiedenen Strömen ist, welche aus den einzelnen Muskeln des Frosches abgeleitet werden. Durch die weiteren Bemühungen von JSTobili, von Matte ucci und be- sonders von Emil du Bois Reymond ist jetzt dieses Gebiet zu einem hohen Grade von Entwickeluug gelangt, und wir wollen uns zunächst mit den namentlich durch du Bois vervollkommneten Instrumenten be- schäftigen, mit deren Hilfe die weiteren Resultate erlangt worden sind. Beginnen wir mit derjenigen Form und Anordnung, deren sich du Bois bediente, als er seine grundlegenden Entdeckungen machte. Der Multiplicator. Die Magnetnadel des Multiplicators, wie er zu thierisch-electrischen Versuchen gebraucht wird, ist eine astatische Doppelnadel, das heisst es werden durch ein Zwischenstück von Schildpatt oder von Aluminium zwei gleiche Magnetnadeln so mit einander verbunden, dass der Nordpol der einen Nadel über dem Südpol der andern Nadel steht und umgekehrt. Das hat den Zweck, die Wirkung des Erdmagnetismus aufzuheben oder doch in hohem Grade abzuschwächen. Eine einfache Magnetnadel stellt sich bekanntlich in den magnetischen Meridian, mit ihrem Gen-Nord-Pol nach Norden, mit ihrem Gen-Süd-Pol nach Süden weisend, und wird durch die Wirkung des Erdmagnetismus in dieser Lage festgehalten, so dass schwache electrische Ströme nur eine geringe Ablenkung hervor- bringen. Um also die Wirkung des Erdmagnetismus zu compensireUj verbindet man mit einer Magnetnadel eine ebenso starke zweite in um- gekehrter Polrichtung. Es wird dann, wenn die magnetischen Kräfte in beiden Nadeln einander wirklich genau die Wage halten, das System 526 Dei' Multiplicator. gar keine Richtkiaft haben. Was geschieht nun, wenn ich um dieses System einen Strom so herumleite, dass die Windungen des Drahtes, in welchem der Strom circulirt, um die untere Nadel herumgehen, und die obere Nadel frei über den Windungen schwebt? Um das zu verstehen, muss man sieh an das Gesetz der Ablenkung der Nadel aus ihrer Gleich- gewichtslage erinnern. Nach dem bildlichen Ausdrucke Ampere's wird der Nordpol immer abgelenkt zur linken Hand eines Männchens, welches man sich mit dem Gesichte gegen die Nadel gewendet in dem Strome und mit dem Strome schwimmend ^'^- ®^' denkt. Fig. 85 stelle schematisch das Nadelpaar und die Drahtwiudungen dar; die Pfeile sollen die Stromrichtung angeben. Wir wollen uns zunächst das Männchen unter den Nadeln und mit dem Gesichte gegen dieselben gewendet in dem Strome und mit dem Strome schwimmend denken. Dann streckt es seine linke Hand zur Ebene des Papiers hinein. Der unter den Nadeln liegende Theil der Windungen wirkt also auf beide Nadeln in entgegengesetzter Richtung, indem er beide Nordpole nach unserer Zeichnung in das Papier hineindrängt. Die Wirkungen heben also einander auf, nur ist die Wirkung auf die untere Nadel wegen der grösseren Nähe stärker. Anders verhält es sich mit dem Theile der Windungen , der zwischen den beiden Nadeln liegt. Denken wir uns in ihm das Männchen zuerst mit seinem Gesichte gegen die untere Nadel gewendet. Da wird es seine linke Hand wieder in das Papier hineinstrecken, es wird also der Nordpol der unteren Nadel durch diesen Theil der Windungen auch in das Papier hineingedrängt werden. Um nun ihre Wirkung auf die obere Nadel zu ermitteln, kehren wir das Männchen um, so dass es sein Gesicht gegen die obere Nadel wendet. Dann streckt es seine linke Hand uns entgegen und zum Papier heraus. Der zwischen den Nadeln liegende Theil der Windungen drängt also den Nordpol der oberen Nadel uns entgegen und zum Papier heraus. Er wirkt also auf beide Nadeln gleichsinnig. Während also die Wirkungen des Erdmagnetismus auf beide Nadeln ein- ander aufheben, wird das Nadelpaar von einem Strome in den Draht- windungen in einem durch die Stromrichtung bestimmten Sinne ab- gelenkt und findet hierbei keinen, oder einen doch bis auf einen beliebig kleinen Werth zu verringernden Widerstand von der Richtkraft des Erdmagnetismus. Die Wirkung auf die Nadel fällt bei ein und derselben Strom- stärke um so grösser auSj je grösser die Anzahl der Windungen ist. Andererseits wird aber durch die Vermehrung der Windungen der Leitungswiderstand vergrössert und so die Stromstärke herabgedrückt. Bei der Untersuchung von Thermoströmen arbeitet man deshalb mit Multiplicatoren, die nur wenige Windungen von verhältnissmässig dickem Draht haben, weil hier, wo die Kette ganz aus Metallen besteht, bei dem geringen wesentlichen Widerstände die Vermehrung des ausser- wesentlichen Widerstandes mehr schadet, als durch die weitere Ver- mehrung der Windungen genützt wird. Da bei unsern Versuchen aber die Kette aus relativ schlecht leitenden thierischen Theilen besteht. Zuleitungsgefässe und Electroden. 527 Fig. 86 *). also der wesentliche Widerstand schon an und für sich gross ist, so kommt es uns nicht darauf an, auch den ausserwesentlichen Widerstand zu vergrössern, wenn wir dadurch in die Lage gesetzt sind, den Strom öfter um die Nadel herum zu führen. Wir werden also eine sehr grosse Menge von dünnem besponnenem Kupferdraht auf ein Gestell so auf- wickeln, dass die untere Nadel so zwischen den Windungen schwebt, wie es in dem Schema Fig. 8.5 angedeutet ist. Ein solcher Mul- tiplicator muss viele tausend Windungen haben, damit er empfindlich genug sei nicht nur für die Ströme , welche von Muskeln abgeleitet werden, son- dern auch für die schwerer nach- weisbaren, welche von den Nerven abgeleitet werden. Um der Nadel, welche an einem Coconfaden auf- gehängt ist, einen grösseren oder geringeren Grad von Richtkraft geben zu können, befindet sich auf dem messingenen Schnabel, Fig. 8Q ox, ein sehr kleiner Magnet, welcher dem Pole der oberen Nadel genähert und von demselben entfernt und auch seitlich verschoben werden kann. Eines solchen Hilfsmittels be- diente sich schon Nobili, aber er wendete einen grösseren Magnet an, den er in einem Halter be- festigte und diesen in grösserer Entfernung von dem Multiplicator aufstellte. Fig. 86 zeigt den Multiplicator in seiner Aufstellung mit dem Glassturze, welcher ihn bedeckt, um ihn vor Luftströmungen und vor Staub zu schützen. Unter den kleinen Knäufen rr befinden sich kleine vorspringende Gliramerstückehen, die sogenannten Hemmungen, an welche die Nadel anschlägt, wenn sie einen Impuls erhält, der sie sonst über 90^ hinausgetrieben hatte. Die Schraube m dient dazu, das Azimuth der Aufstellung zu reguliren. Die Drähte n und n, führen von den Multiplicatorwindungen zum Muskel. Zuleitungsgefässe und Electroden. Wenn man diese Drähte unmittelbar mit den thierischeu Theileu in Verbindung bringen würde, so würde man Ströme erhalten, welche freilich sehr kräftig auf die Nadel wirken, welche aber zum grössten Theile mit dem eigentlichen Muskelstrome, welchen wir suchen, nichts *) Fig. 86 ist im Wesentlichen aus J. Rosenthal's Electricitätslehre für Mediciner (Berlin bei Hirschwald) entnommen. 0^8 Du Bois' Gesetz des Muskelstromes. ZU thun haben, sondern lediglich Folge der electrischen Differenzen sind, welche sich an den Drahtenden vorfinden. Selbst wenn man an den Drahtenden Platinplatten anbringt und mit diesen die thierischen Theile berührt, so ist das noch nicht hinreichend. Man muss erst die Platin- platten in eine leitende Flüssigkeit tauchen, wozu sich du Bois der concentrirten Kochsalzlösung bediente. Man muss in diese Flüssigkeit Papierbäusche hineinsetzen, welche sich mit derselben infiltriren, und damit die Kochsalzlösung die .thierischen Theile nicht anätzt, muss man. den Kand des Bauches, welchen man mit den thierischen Theilen in Berührung bringen will, mit kleinen Stückchen Blase, die in Hühner- eiweiss aufgeweicht sind, bedecken. Wenn man aber nun das Ganze zusammengesetzt hat und durch einen Papierbausch schliesst, welcher in Kochsalzlösung getränkt ist, so bekommt man noch Wirkungen, welche die Nadel zu einem grösseren oder geringeren Ausschlage im einen oder anderen Sinne treiben. Das rührt davon her, dass noch bedeutende electrische Differenzen in dem Stromkreise vorhanden sind. Um dies auszugleichen, bedeckt man die Platinplatten mit Fliesspapier, man firnisst sie oben, damit sie immer nur bis zu einer gewissen Höhe benetzt werden, man taucht sie ein und schliesst nun das Ganze durch einen Papierbausch. Dann bekommt man noch immer eine bedeutende Ablenkung, aber nun lässt man das Ganze ruhig stehen, dann wird die Ablenkung immer geringe!', und endlieh kommt die Nadel auf 0*^ zurück. Das rührt daher, dass sich auf den Platinplatten durch Electrolyse der Salzlösung die sogenannte secun- däre Polarität entwickelt, deren electromotorische Wirkung der primären entgegengesetzt und schliesslich, wenn letztere nicht eine gewisse Grenze übersteigt, genau gleich ist. Darauf beruht es ja auch, dass die ge- wöhnlichen Ketten keine constanten Ketten sind, sondern dass sie mit der Zeit an Wirksamkeit verlieren ; sie zersetzen die Flüssigkeiten und die Zersetzungsproducte, die sogenannten Jonen, häufen sich an den Elementen und an den Electroden an und laden dieselben im entgegen- gesetzten Sinne , so dass dadurch nach und nach die Wirkung der electrischen Differenzen im Stromkreise mehr und mehr aufgehoben wird. Was bei der electrischen Kette im Grossen geschieht, das geschieht hier im Kleinen, indem die kleinen electrischen Difi'erenzen, welche im Stromkreise vorhanden waren, auf die Summe 0 gebracht werden. Dass dies geschehen ist, davon überzeugt man sich indem man den Papier- bausch wegnimmt und ihn wieder auflegt, wobei die Nadel vollkommen ruhig bleiben muss. Du Bois' Gfesetz des Muskelstromes. Jetzt ist man im Stande, mit dem Muskel zu experimentiren und zwar in der Weise, dass man von einem gerade gefaserten Muskel, z. B. vom M. gracilis des Frosches, ein Stück nimmt, an welchem zwei künst- liche Querschnitte angelegt sind, und es so auflegt, dass auf der einen Seite der Längsschnitt und auf der andern Seite der Querschnitt berührt wird. Man hat während dies geschehen, noch daneben mit dem Papier- bausch geschlossen, der Strom des Muskels geht also noch grösstentheils durch den Papierbausch, weniger durch den Multiplicator. Jetzt nimmt Du Bois' Gesetz des Muskelstromes. 529 man aber den Papierbausch weg. JSTun sieht man, dass die Nadel bedeu- tend abgelenkt wird, dass sie einen Strom anzeigt, der im Schliessungs- drahte vom Längsschnitte zum Querschnitte des Muskels circulirt. Nimmt man den Muskel weg und legt den Schliessungsbausch auf, so bekommt man eine Ablenkung der Nadel nach der entgegengesetzten Richtung, zum Zeichen, dass der Muskel wirklich als Kette gewirkt hat, denn er hat jetzt die Electroden im entgegengesetzten Sinne polarisirt, er hat Zersetzungsproducte an ihnen angehäuft und auf diese Weise electrische Differenzen im Kreise hervorgerufen, welche vorher nicht vorhanden waren. Nachdem sich diese Differenzen wieder ausgeglichen haben, die Nadel auf 0 zurückgekommen ist, legt man den Muskel so auf, dass er auf der einen Seite zwar wieder mit dem Längschnitte, auf der anderen aber mit dem anderen Querschnitte den ableitenden Bausch berührt. Man bekommt nun eine Ablenkung von ungefähr der gleichen Grösse wie vorhin, welche abermals so gerichtet ist, dass sie einen im. Draht vom Längsschnitte zum Querschnitte circulirenden Strom anzeigt. Wenn man dagegen den Muskel so auflegt, dass er an beiden Seiten nur mit seinem Querschnitte berührt, so bekommt man keinen Strom. Wenn man zwei Punkte des Längsschnittes ableitet, welche gleich weit von der Mitte entfernt sind, so bekommt man auch keinen Strom ; wenn man aber einen Punkt des Längsschnittes ableitet, welcher der Mitte nahe ist, und einen andern Punkt des Längsschnittes ableitet, welcher dem Querschnitte nahe ist, so bekommt man einen Strom, welcher im Schliessungsdrahte von demjenigen Ende ausgeht, das den Muskel näher zur Mitte ableitet, und hingeht zu dem Ende, welches ihn von der näher zum Ende, zum Querschnitte gelegenen Stelle ableitet. Aber dieser Strom ist viel schwächer als der, den man erhält, wenn man auf der einen Seite mit dem Längsschnitte, auf der andern mit dem Quer- schnitte aufgelegt hat. Die electrischen Differenzen der Muskelsubstanz zeigen sich noch an einem Bruchstücke einer Muskelfaser ; es ist deshalb nicht unmöglich, dass sie ihren Sitz haben in den kleinsten Elementen des Muskels, in denjenigen Theilen, von welchen die Contractionserscheinungen ausgehen. Als Ganzes betrachtet, verhält sich nach dem Bilde, welches du Bois davon gegeben hat, ein prismatisches Mixskelstück wie ein System von Kupferdrähten, welche auf der Mantelfläche verzinkt und auf dem Ende roth gelassen sind, so dass dadurch ein ähnlicher Gegensatz zwischen Längsschnitt und Querschnitt hervorgerufen ist. Wenn man statt des künstlichen Querschnittes das natürliche Ende des Gracilis auflegt, bekommt man auch einen Strom, und zwar in fast gleicher Stärke und in der nämlichen Richtung, wie vorhin. Dieser Strom rührt daher, dass die Sehne als ein indifferenter, der Muskel- substanz aufgelegter Leiter angesehen werden kann, während unter der Sehne die Muskelfasern . nach du Bois facettenförmig enden, so dass nach seinem Ausdrucke das sehnige Ende des Muskels als natürlicher Querschnitt zu betrachten ist. Nicht an allen Muskeln sind die Verhältnisse so einfach, wie bei dem regelmässig gebauten Gracilis. Am Gastrocnemius z. B. sind sie viel verwickelter ; allein auch hier kann die Ausbreitung der Achillessehne, Brücke. Vorlesungen I. 4. Aufl. 34 5oü Stromschwankung im Reiznngszustande. welche den Muskelbauch löffeiförmig umfasst, als ein indifferenter Ueber- zug über darunterliegende natürliche Querschnitte gelten, der deshalb negativ gegen nacktes Fleisch, d. h. gegen den Längsschnitt am Muskel- kopfe, ist. Diese Wahrnehmung gibt den Schlüssel zu der vorerwähnten Zuckung ohne Metalle. Wenn ich den aus dem Oberschenkel heraus- präparirten und über einen Glasstab zurückgelegten Nerven so auf den Gastrocnemius fallen lasse, dass er den mit der sehnigen Ausbreitung der Achillessehne bekleideten Theil des Muskels berührt, so stellt sich hier eine Leitung her zwischen Längsschnitt und natürlichem Quer- schnitt, der Strom geht durch den Muskel und also auch durch den Nerven hindurch und er ist es, welcher, indem er geschlossen wird, die Zuckung veranlasst. Bei diesem Strome zwischen Längsschnitt und natürlichem Quer- schnitt zeigt sich aber eine merkwürdige Erscheinung. Man findet, dass er, namentlich an Fröschen, die der Kälte ausgesetzt waren, oft ausser- ordentlich schwach ist, dass oft kaum eine merkliche Nadelablenkung entsteht. Wenn aber die sehnige Ausbreitung angeätzt oder einem ander- weitigen Insulte ausgesetzt wird, so tritt der Strom plötzlich in seiner ganzen Stärke hervor. Du Bois leitet dies ab von einer Schichte der Muskelsubstanz, welche sich unmittelbar unter der Sehne befindet und in ihren Molekülen so angeordnet ist , dass sie dem ursprünglichen Strome entgegenwirkt, ihn unwirksam macht. Er bezeichnet diese Schicht mit dem Namen der parelectronomischen Schicht, und die Aetzung, die Insulte wirken nach ihm dadurch , dass sie diese parelectronomische Schicht unwirksam machen und nun den ursprünglichen Strom zwischen Längsschnitt und Querschnitt hervortreten lassen. L. Hermann betrachtet dagegen den stromlosen Zustand insofern als den normalen, als er alle Ströme von Differenzen in der contractilen Substanz herleitet, welche seiner Ansicht nach im ruhenden unversehrten Muskel nicht vorhanden zu sein brauchen. Stromseliwaiikimg- im Reizimg sziistande. Bis jetzt haben wir nur von dem Strome des ruhenden Muskels gesprochen. Der Muskelstrom erleidet aber eine wesentliche Veränderung durch Keizung des Muskels zur Zusammenziehung. Wenn man den Muskel auflegt und seinen Nerven über die Electroden eines Neef'schen Magnet- electromotors oder eines raagnetelectrischen Rotationsapparates hinüber- brückt, und nun, nachdem die Nadel eine feste Stellung eingenommen hat, den Muskel mittelst der Schläge des Inductionsapparates vom Nerven aus tetanisirt, so geht die Nadel zurück. Es zeigt sich hier also eine Abnahme des Muskelstromes unter dem Einflüsse der Reizung. Du Bois wies bereits nach, dass diese Stromabnahme im Tetanus nicht von einer Formveränderung des Muskels herrührt, indem sie noch auftrat, wenn der Muskel auch so befestigt war, dass er sich nicht thatsächlich zix- sammenziehen konnte, sondern dass er nur zur Zusammenziehung gereizt wurde, und Helmholtz wies nach, dass diese negative Stromschwankung sogar eintritt vor der Contraction, in demjenigen Stadium, welches wir durch die Myographionvcrsuche kennen gelernt haben als das Stadium Stromschwankung ira Reizungszustande. 5dl der latenten Reizung. Bernstein hat dann später nachgewiesen, dasa, wenn irgendwo ein Muskel local gereizt wird, an dieser Stelle eine negative Stromschwankung hervorgerufen wird, welche sich mit einer Geschwindigkeit von etwas weniger als 4 Meter in der Secunde fortpflanzt, dass sie immer der Contraction vorangeht, und dass ihr in näheruugsweise constanter Zeit die Contractionswelle folgt, dass die Cou- tractiouswelle annähernd mit derselben Geschwindigkeit über die Lq,nge der Muskelfasern abläuft, wie die negative Stromschwankung. Diese negative Stromschwankung gibt wieder einen Aufschluss über einen andern interessanten Versuch, über die sogenannte secundäre Zuckung. Denken Sie sich, Sie hätten einen Froschschenkel, welcher enthäutet wäre, und Sie legten der Länge nach über den Gastrocnemius desselben, so dass er rothes Muskelfleisch und Sehne gleichzeitig berührt, den herauspräparirten Nervus ischiadicus eines anderen Froschschenkels, der auch enthäutet sein kann, es aber nicht sein muss : wir wollen zum Unterschiede annehmen, er sei nicht enthäutet. Jetzt reizen Sie den enthäuteten Schenkel von seinem Nerven aus auf irgend eine Art, mechanisch, chemisch oder electrisch ; in demselben Augenblicke zuckt auch der zweite Schenkel. Es ist nämlich durch die Zusammenziehung des enthäuteten Gastrocnemius in ihm eine negative Stromschwankung entstanden. Da der Nerv des nicht enthäuteten Schenkels schloss zwischen natürlichem Längsschnitt und natürlichem Querschnitt dieses Muskels, so musste die Stromschwankung nicht allein durch den Muskel des ent- häuteten, sondern auch durch den Nerven des nicht enthäuteten Schenkels hindurchgehen, und in Folge davon zuckte auch der letztere. Wenn Sie eine Reihe von Zuckungen hervorbringen, wenn Sie z. B. durch den Neef'schen Magnetelectromotor tetanisiren, so contrahirt sich auch der nicht enthäutete Schenkel, weil bei jedem neuen luductionsschlage eine neue Stromschwankung in den Muskeln des nicht anthäuteten Schenkels entsteht. Ein anderer noch viel interessanterer Versuch, der auf der nega- tiven Stromschwankung beruht, ist die Ablenkung der Magnetnadel durch die willkürliche Muskelcontraction eines Mensehen. Sie nehmen die Bäusche aus ihren Kochsalzgefässen heraus und stecken statt dessen von jeder Ihrer Hände einen Finger in die Kochsalzlösung hinein, um so durch ihren Körper den Multiplicatorkreis zu schliessen. Die Nadel wird durch allerlei dabei sich geltend machende electromotorische Unterschiede der Finger einigermassen abgelenkt werden, Sie warten, bis sich diese Differenzen ausgeglichen haben, und die Nadel näheruugsweise bis auf den Nullpunkt zurückgekommen ist, dann contrahiren Sie die Muskeln eines Ihrer Arme und lassen die des andern erschlafft, sofort bekommt die Nadel eine Ablenkung, welche einen Strom anzeigt, der in dem Arme, dessen Muskeln contrahirt sind, aufsteigt, durch die Brust geht und in dem erschlafften Arme absteigt. Du Bois hat das Resultat dieses Versuches bis auf die Richtung des Stromes lange vorhergesagt, ehe die Empfindlichkeit seiner Apparate weit genug gediehen war, um ihm zu erlauben, ihn mit Erfolg anzustellen. Er erklärt ihn folgender- massen. Die Muskeln beider Körperhälften haben ihre Ströme ; da sie entgegengesetzt gelagert sind, so compensiren sich deren Resultanten so, dass wenn alle Muskeln in Ruhe sind, der Kreis stromlos ist. Nun 34* DÖ2 Spätere Modificationen der Apparate. contrahirt man die Muskeln des einen Armes. Dadurch tritt negative Stromschwankung ein, und in Folge davon geht ein Strom durch den Körper, welcher in dem Arme, dessen Muskeln contrahirt sind, aufsteigt und in dem Arme , dessen Muskeln nicht contrahirt sind , absteigt, woraus zu schliessen ist, dass im menschlichen Arme der Strom in der Ruhe absteigt. Spätere Modificationen der Api)arate. In späterer Zeit haben die Apparate, welche zu thierisch-electrischen Versuchen dienen, mancherlei Veränderungen erlitten, von denen ich hier sprechen muss,, nachdem ich Ihnen diejenige Anordnung auseinander- gesetzt habe, mit welcher von du Bois die eigentlichen Tundamental- versuche zuerst angestellt worden sind. Diese Veränderungen beziehen sich einerseits auf den Multiplicator und andererseits auf die Zuleitungs- gefässe. Beim Multiplicator entsprechen begreiflicher Weise die Ab- lenkungen nicht den Stromstärken, denn je mehr die Nadel aus ihrer Gleichgewichtslage abgelenkt wird, um so grösser muss die Kraft sein, welche sie noch weiter ablenken soll, und ein unendlich starker Strom könnte auch nicht mehr thun, als die Nadel senkrecht auf die Windungen stellen. Nur bei sehr kleinen Ablenkungen, die an einem solchen Multi- plicator wegen des Schwankens der Nadel kaum mit Sicherheit abzulesen sind, sind die Ablenkungen den Stromstärken proportional, weil bei sehr kleinen Winkeln die Sinus und die Tangenten noch proportional den Bögen wachsen. Um nun sehr kleine Ablenkungen abzulesen, hatte zuerst Poggen- dorff den Magnet mit einem Spiegel verbunden und in diesem Spiegel liess er sich eine entfernte Theilung abspiegeln, deren Bild dann wieder durch ein Fernrohr beobachtet wurde. Diese Einrichtung, welche Gauss und Weber bei ihren Untersuchungen über den Erdmagnetismus an- wandten, ist auch auf unser Instrument übertragen. Statt der astatischen Doppelnadel wird ein Magnet aufgehängt, der entweder einen Spiegel trägt, oder an dem selbst eine spiegelnde Fläche geschliffen ist, es wird eine feste Theilung aufgestellt, und durch ein Fernrohr das Spiegelbild dieser Theilung abgelesen, welches einerseits durch die laugen Schenkel des Winkels, andererseits durch die Vergrösserung des Fernrohrs bei äusserst kleinen Bewegungen sehr grosse, durch das Gesetz der Reflexion ohnehin verdoppelte Elongationen im Sehfelde des Fernrohrs macht. Der Magnet pflegt in einer kupfernen Hülse zu hängen, damit die Ströme, welche er in derselben inducirt, seiner jedesmaligen Schwinguugsbewe- gung entgegenwirken und ihn dadurch früher in der neuen Gleichgewichts- lage zur Ruhe kommen lassen. Dabei braucht man den zweiten Magnet, welcher den Erdmagnetismus compensirt, nicht mit dem aufgehängten Magnete in Verbindung zu bringen ; man weist ihm seine Stellung fix, oder von unten nach oben verschiebbar darunter, oder in veränderlicher Lage und Entfernung seitlich an, und es ist du Bois gelungen, diesen Magnet auf eine solche Weise anzubringen, dass der schwebende Magnet möglichst bald zur Ruhe kommt. Er geht in der That direct in die neue Gleichgewichtslage über, ohne merkliche Schwingungen um dieselbe zu machen. Es beruht dies auf Anschauungen iind Rechnungen, " welche Spätere Modificationen der Apparate. 533 ursprünglich von Gauss ausgegangen sind, aber deren praktische Con- sequenzen früher nicht zur Ausführung kamen. Es ist die nach den soeben auseinandergesetzten Principien con- struirte Wiedemann'sche Bussole, welche jetzt ata meisten bei electrisch- physiologischen Arbeiten gebraucht wird. Es kommen aber bei ihr auch noch andere Mittel der Dämpfung in Anwendung. Die gewöhnlichste ist die Luftdämpfung. Der Magnet hängt so, dass der Abstand zwischen ihm und der Wand ein sehr geringer ist, und er deshalb bei seinen Schwingungen immer einen relativ grossen Luftwiderstand zu über- winden hat. Auch hängt man den Magneten in Glycerin auf, jedoch nur an Bussolen, die besonderen Zwecken dienen sollen. Eine wesent- lich andere Bussole für schwache Ströme ist neuerlich von J. Eosen- thal angegeben und im 23. Bande von Wiedemann's Annalen beschrieben worden. Auch mit den Zuleitungsgefässen sind wesentliche Veränderungen vorgegangen. Es hat sich zunächst gezeigt, dass die Platinplatten mit Kochsalzlösung keineswegs die vortheilhafteste Combination waren, welche man anwenden konnte, es hat sich gezeigt, dass es vortheilhafter ist, statt des Platinbleches amalgamirtes Zinkblech anzuwenden, welches in eine concentrirte Lösung von Zinkvitriol taucht. Diese Combination hat den Vortheil, dass sich, wenn die Platten gut amalgamirt sind^ von vorne- herein keine redenswerthen Differenzen im Stromkreise zeigen ; wenn man mit einem Papierbausch schliesst, der mit einer concentrirten Lösung von Ziukvitriol getränkt ist, so verändert die Nadel ihren Stand nicht. Zweitens aber erweisen sich solche Platten als unpolisirbar. Wenn man den Muskel aufgelegt hat, und man nimmt ihn fort, so sind die Platten in dem früheren Zustande, sie geben, wenn man jetzt mit einem mit Zinkvitriollösung durchfeuchteten Papierbausche schliesst, keinen Aus- schlag in entgegengesetzter Richtung. Statt der mit Eiweiss getränkten Blasenstücke, durch die man sonst die thierischen' Theile vor dem Angeätztwerden durch die Salz- lösung der Bäusche schützte, wendet man jetzt vielfältig Thon an, wel- cher mit dreiviertelprocentiger Steinsalzlösung angeknetet ist. In solcher Lösung erhalten sich nach KöUiker's Erfahrung Muskeln und Nerven so lange leistungsfähig, wie in dem der Circulation beraubten Körper nelber und werden demgemäss auch durch längere Berührung mit dem damit angekneteten Thone in ihren electromotorischen Eigenschaften nicht verändert. Statt der in Thon- oder Glasgefässen stehenden Bleche wendet man jetzt meistens nach du Bois' Vorgang als Electroden Zinkgefässe an, die inwendig amalgamirt sind, und die mit concentrirter Lösung von Zink- vitriol gefüllt sind. Kur um an einzelne Stellen des Muskels besser herankommen zu können, benützt man noch Bleche, die dann, lang und schmal geschnitten, in entsprechend weiten, platten Glasröhren stecken, welche mit einer Zinkvitriollösung gefüllt sind. Vorn knetet man einen konischen Knopf aus Thon an, der mit verdünnter Kochsalzlösung auge- macht ist. Indem diese Electroden mittelst Kugelgelenken frei im Baume beweglich gemacht werden, kann man ohne den Muskel selbst in seiner Lage zu verändern, hintereinander verschiedene Stellen seiner Oberfläche ableiten und so seinen electrischen Zustand innerhalb eines Gebietes 534 Electromotorisclie Kraft des Muskels. Innere Vorgänge bei der Muskelcontraction. von wenigen Quadratmillimetern erforschen. E. v. Fleischl bedient sich statt der Thonspitzen feiner Malerpinsel, welche mittelst Gyps in die mit Zinkvitriollösung gefüllten Glasröhren endständig eingekittet sind und welche, wenn man mit ihnen arbeiten will, mit ^^P^ocentiger Kochsalzlösung getränkt werden. Electromotorisclie Kraft des Muskels. Auch die electromotorische Kraft des Muskels ist untersucht wor- den. Ueber sie erfährt man durch die einfachen Multiplicatorversuche nichts ; man erfährt bestenfalls, wenn nämlich der Multiplicator graduirt, oder das Gesetz seiner Ablenkungen bekannt ist, etwas über die Stärke des Stromes, welchen man vom Muskel ableiten kann. Wenn man aber den Strom im Multiplicator durch einen andern Strom compensirt, so erfährt man auch etwas über die electromotorische Kraft des Muskels. Indem der compensirende Strom durch dieselbe Leitung hindurchgeht, hat er dieselben Widerstände zu überwinden; es muss also auch die electromotorische Kraft des compensirenden Stromes gleich sein der des compensirten. Ich kann also auf dem Wege der Compensation die electro- motorische Kraft in den Muskeln bestimmen. Es hat sich in den hierauf gerichteten Versuchen von du Bois gezeigt, dass sie gar nicbt gering ist, sie beträgt 0,08 von der electromotorischen Kraft eines Daniell- schen Elementes und kann sogar bei gewissen Anordnungen bis auf 0,14 Daniell steigen. Später hat Engelmann die electromotorische Kraft des Muskels am Thomson'schen Quadrant-Electrometer direct bestimmt und er ist zu demselben Eesultate wie äi\ Bois gelangt. Innere Vorgänge l>ei der Muskelcontraction. Wir müssen jetzt noch einmal auf den Process der Muskelcon- traction im Ganzen zurückgehen. Wir haben gesehen, dass der Muskel, indem er sich contrahirt, einer neuen Gleichgewichtsfigur zustrebt, und zwar in der Weise, dass die einzelnen sarcous elements kürzer und dicker werden durch eine veränderte Anordnung ihrer Theilchen. Wir haben gesehen, dass diese veränderte Anordnung der Theilchen durch eine Veränderung des electrischen Verhaltens des Muskels eingeleitet wird, durch die negative Stromschwankung. Wir haben weiter gesehen, dass durch die Muskelcontraction eine beträchtliche Arbeit geleistet werdeh kann. Da nun aber die Consistenz des erschlafften Muskels zeigt, daiss in ihm keine mechanischen Spannkräfte angehäuft sind, so muss ein chemisches Aequivalent für die Arbeit vorhanden sein, das heisst es muss auf chemischem Wege die lebendige Kraft aufgebracht werden, welche die Arbeit repräsentirt. Dass bei der Contraction ein chemischer Process in dem Muskel stattfindet, hat zuerst Helmholtz nachgewiesen indem er die tetani- sirten und nicht tetanisirten Muskeln von Fröschen nach einander mit Wasser, Alkohol und Aether auszog und zeigte, dass bei den tetanisirten das Wasserextract ab- und das Alkoholextract zugenommen hatte. Wir können auch jetzt nicht sagen, dass wir im Grossen und Ganzen eine Einsicht in die JSTatur dieses Processes haben, aber einzelne Thatsacheu / Innere Vorgänge bei der Muskelcontraction. ö3o sind uns bekannt. Bekannt ist uns nach den Versuchen von Nasse und von S. Weiss, dass Glycogen bei der Muskelcontraction verbraucht wird. Forner ist bekannt, dass auch Zucker verbraucht wird, dass das Glycogen sich nicht blos in Zucker umwandelt, sondern dass Milchsäure gebildet wird. Wir vermuthen auch, dass Inosit in Milchsäure umgewandelt wird. Du Bois hat zuerst nachgewiesen, dass die Muskeln nicht nur beim Absterben sauer werden, sondern dass sie auch sauer werden durch die Contraction. Wenn man einen lebenden Muskel sich oftmals hinterein- ander contrahiren lässt, so nimmt er saure Reaction an, noch ehe er thatsächlich abstirbt. Ferner lassen die relativ grossen Mengen von Kreatin, die man in Muskeln gefunden hat, welche sich vor dem Tode rasch und oft hintereinander contrahirt hatten, vermuthen, dass auch in den stickstoffhaltigen Bestand theilen des Muskels Wandlungen eintreten, wenn auch in geringem Umfange. Aiisscrdem ist es wohl keinem Zweifel unter- worfen, dass bei der Contraction und behufs der Contraction noch weitere chemische Veränderungen im Muskel vor sich gehen, die wir bis jetzt nicht kennen. Die vermehrte Kohlensäurebildung des thätigen Muskels gegenüber dem ruhenden deutet darauf hin, dass hier die wirksamen chemischen Processe weiter fortschreiten, als wir sie bis jetzt verfolgt haben. Es kann also bei der. Muskelcontraction nicht nur Milchsäure gebildet, sondern auch Milchsäure zerstört werden. Zu bemerken ist, dass der Muskel auch für eine Weile sich zu contrahiren und Kohlen- säure zu bilden vermag in einem Medium, dem er keinen Sauerstoff entnehmen kann. Eine weitere Frage ist die, ob alle lebendige Kraft, welche hier freigemacht wird, als Arbeit zum Vorscheine kommt, oder ob sie auch als Wärme erscheint. Dass Wärme bei der Muskelcontraction gebildet wird, hat Dutrochet und hat auch Helmholtz nachgewiesen, indem er eine Kette aus Eisen und Neusilber construirte, deren einzelne Theile aus lauter dünnen Schienen bestanden, die er durch die Muskeln hin- durchstecken konnte ; er brachte dann die Muskeln zur Contraction und konnte an dem entstehenden Thermostrome nachweisen, dass eine Tem- peraturerhöhung stattfand. Es ist ferner bekannt, dass im Tetanus eine oft s,chr bedeutende Erhöhung der Eigenwärme eintritt, und Billroth hat direct nachgewiesen, dass ein Theil dieser Wärme local in den con- trahirten Muskeln gebildet wird, dass sich die Temperatur der Muskeln im Tetanus und auch beim künstlichen Tetanisiren über die der übrigen Theile erhöht. Also über das Factum, dass Wärme und zwar eine nicht unbeträchtliche Menge von Wärme bei der Muskelcontraction gebildet wird, ist kein Zweifel; aber diese Wärme hat möglicher Weise zweierlei Quellen. Sicher rührt sie zum grossen Theile her von Arbeit, welche innerhalb des Muskels durch die Widerstände verbraucht wird. Wenn ein Mnskel sich so weit contrahirt, dass er seine eigene Substanz zu- sammendrückt, so erzeugt er dadurch auf mechanischem Wege Wärme, und wenn er ein Gewicht hebt, so erzeugt er eine gewisse äussere Arbeit, zugleich aber auch in seinem Innern secundär eine gewisse Quan- tität von Wärme. Ausserdem ist es aber auch möglich, dass primär schon beim chemischen Processe selbst nicht die ganze Quantität der leben- digen Kraft als Arbeitskraft, sondern dass ein Theil derselben als Wärme zum Vorschein kommt. Eines können wir aber mit Gewissheit sagen, 536 Combinirte Bewegungen. i dass nicht umgekehrt Wärme, welche durch den chemischen Process gebildet wird, secundär in Bewegung umgesetzt wird ; denn in den Mus- keln fehlt jegliche Vorrichtung, durch welche Wärme in bewegende Kraft umgesetzt werden könnte. Coinlbinirte Bewegimgen. Wir haben früher gesehen, dass wir einen Muskel in dauernde Zusammenziehung versetzen, wenn wir ihm oder seinem Nerven in so rascher Aufeinanderfolge Reize zusenden, dass er in den Zwischenpausen nicht Zeit findet, zu erschlaffen. Wenden wir dies auf die willkürliche Action an, z. B. auf den Zustand in einem ausgestreckten Arme, der ein Gewicht hält, so dürfen wir uns nicht vorstellen, dass die Ent- ladungen in allen Nervenenden der in Action tretenden Muskeln gleich- zeitig erfolgen. Wenn diese Entladungen salvenartig erfolgten, so müsste man von enthäuteten willkürlich bewegten Thiermuskeln secundären Tetanus erhalten, wenn man auf sie den Nerven eines stromprüfenden Froschmuskels legt. Den aber erhält man nicht, sondern nur eine ein- malige Zuckung und dann Stromabnahme, die sich, wie wir gesehen haben, auch beim Menschen am Multiplicator nachweisen lässt. Man hat freilich geglaubt diesen Grund beseitigen zu können. Prof. E. v. Fleischl hat ein Instrument, das Eheonom oder Orthorheonom erfunden, durch welches er die Stärke eines Stromes in ganz regelmässigem Wechsel mit beliebiger Steilheit auf und absteigen lassen kann. Mittelst desselben versetzt er Froschmuskeln in langsame Contractionen, die den willkür- lichen Contractionen ähnlich sind und auch keinen secundären Tetanus verursachen. Man hat also gesagt : Es ist dies eine besondere Art von Reizen , und ähnliche Reize können es auch sein , welche im lebenden Körper die willkürlichen Bewegungen veranlassen. Es ist aber nicht bewiesen, ^ dass nicht, wie dies leicht möglich ist, der besondere Erfolg derRheonom^-eize, eben daran seinen Grund hat, dass wegen des allmälichen Ansteigens des Reizstromes die Fasern des Nerven- stammes nicht gleichzeitig, sondern je nach ihrer Erregbarkeit nacheinander so weit erregt werden, dass sie in den Muskelfasern, zu denen sie hin- gehen, Contraction hervorrufen. Da das Orthorheonom ein für experimentelle Untersuchungen wesentlicher Apparat ist, so will ich das Princip desselben kurz auseinander setzen. Man denke sich einen geschlossenen Kreis (Fig. 87), in welchem der Strom der Kette K bei a eintritt und in dem gegenüber liegenden Punkte b austritt. Verbinde ich nun a und b durch einen Leiter, so wird noch ein Theil des Stromes durch die Hälften des Kreises, ein anderer aber durch den hinübergebrückten Leiter gehen. Denke ich mir dagegen den Leiter in die Lage c d gebracht, so wird durch ihn, vorausgesetzt, dass der Widerstand in allen Theilen des Kreises acdb der gleiche ist, kein Strom gehen. Wird er in derselben Fig. 87. Combinirte Bewegungen. 537 Kichtung weiter gedreht bis er in die Lage h a kommt, so wird ein Strom durch ihn hindurchgehen, von derselben Stärke wie der, welcher durch ihn hindurchging als er in der Lage ab war, aber von entgegen- gesetzter Richtung. Wird er endlich durch den letzten Quadranten hin- durchgedreht bis er in die Lage de kommt, so wird die Stromintensität in ihm wieder auf Null herabsinken. Der Leiter ist eine sogenannte Wheatstone'sche Brücke. Denke ich mir dieselbe rotirend um eine im Centrum des Kreises senkrecht auf dessen Ebene errichtete A.xe, so wird der Strom in ihr linear hin und her schwanken zwischen der Intensität Null und dem Maximum, welches er erreicht, wenn sie in die Lage ab kommt, und zwar abwechselnd in der einen und der anderen Richtung. Ich kann nun dieser Brücke eine andere Gestalt geben, ce und cli seine Leitungen, welche zu dem Nerven des Muskels m führen, dann ist ceicl die Wheatstone'sche Brücke. Auch jetzt wird in ihr ein Strom existiren, wenn von ii-gend welchen anderen Punkten als von c und d abgeleitet wird ; nur muss man dafür sorgen , dass jetzt der ^'^- ^^• Kreis ach d einen hinreichend -^-—^ grossen Widerstand biete. E. v. y^y^^^ ^\ _ne Fleischl hat concentrirte Zink- sulfatlösung gewählt, die sich in einer Kreisrinne aus Hartgummi befindet. Aus ihr leitet er, um die Polarisation möglichst gering zu machen, mittelst zweier amal- gamirter Ziukschwerter, welche die Enden der Brücke bilden, ab. Wenn dieselben rotiren, bekommt er für die Intensitätskurve des Brückenstromes auf- und absteigende Zacken, die im allgemeinen geradlinig begrenzt sind, nur erfolgt das Ansteigen und Abfallen in der Nähe der Gipfel um ein geringes lang- samer. Die Höhe und die Steilheit der Zacken hängen natürlich von der Stärke des Stromes im Maximum und von der Geschwindigkeit der Rotation ab. Es lässt sich wohl denken, dass die Zeit, in welcher die Erregung in der einzelnen Nervenfaser bis zur Auslösung einer Con- traction in ihren Muskelfasern anwächst, von ihrer Erregbarkeit abhängt, und es ist wenig wahrscheinlich, dass diese Erregbarkeit in allen Fasern eines Stammes stets gleich gross sei. Wir haben uns also vorläufig noch vorzustellen, dass wir ein Pelotonfeuer von Entladungen in die Muskeln senden. Zur Regulirung der Bewegung kann Veränderung in der Häufig- keit und Veränderung in der Stärke der einzelnen Entladungen dienen. Erstere ist ein Regulirungsmittel, weil rasch aufeinanderfolgende Con- tractionen sich zusammensetzen, indem die zweite den Muskel noch im verkürzten Zustande vorfindet. Auf der Abschwächung der Entladungen beruht, wie man leicht einsieht, die Möglichkeit, auch bei geringen Widerständen noch langsame Bewegungen auszuführen. Wir haben S. 515 gesehen, dass die absolute .Geschwindigkeit, mit der sich der Muskel bewegt, abnimmt, wenn die Grösse des Reizes unter eine gewisse Grenze gesunken ist und dann noch weiter herabgesetzt wird. Diese beiden ööö Combinirte Bewegungen. Eegulirungsmittel sind aber nicht die einzigen. Ein drittes besteht darin, dass wir, wo uns die gegebenen Widerstände nicht auszureichen scheinen, künstliche Widerstände schaffen, indem wir Antagonisten der arbeitenden Muskeln gleichzeitig in entsprechende Action versetzen. Unter gewissen Ilmstäuden kann man diese Action direet wahrnehmen. Man verdecke die Fenster eines Zimmers bis auf eine Oeffnung von j bis 1 Q,iiadratschuh, je nach der Helligkeit, die draassen herrscht. Dann sind Gegenstände oder Personen, die sich der Fensteröfi'nung gegenüber befinden, noch kräftig beleuchtet, aber ihre Körperschatten setzen sich dunkel gegen die dem. Lichte zugewendeten Partien ab, weil die Menge des diffusen Lichtes, das von den Wänden und von der Decke zurückgeworfen wird, bedeutend vermindert worden ist. In einem solchen Raum stelle man sich einen nicht fetten, muskulösen Mann, bei dem das Spiel der Muskeln unter der Haut gut gesehen wird, mit ent- blösstem Arm. gegenüber. Man lasse ihn den Arm im Ellbogengelenk bis etwa 90 Grad beugen und in eine solche Lage bringen, dass die ganz geöffnete Hand mit nach oben gewendetem Daumen frei vor der Regio epigastrica schwebt. Der Vorderarm, dessen Streckseite dem Beobachter zugewendet ist, muss dabei so beleuchtet sein, dass sich alle Muskel- bewegungen unter der Haut durch Veränderung von Licht und Schatten möglichst stark markiren. Xun lasse man den Mann die Hand, nicht die Finger, abwechselnd langsam beugen und strecken. Man wird dann während der Beugebewegung ein leichtes Flimmern an der Haut der Streckseite beobachten, von welchem es sofort deutlich ist, dass es von den unter der Haut liegenden Muskeln herrührt. Führt man dieselbe Streck- und Beugebewegung aus, indem man die Hand des Mannes er- greift und führt, während er der Bewegung keinerlei Widerstand ent- gegensetzt, so bemerkt man nichts von einem solchen Flimmern. Dieselbe Ei'scheinung kann man unter analogen Umständen auch an der vorderen äusseren Seite des Unterschenkels sehen. Der Beuge- bewegung der Hand ents^^richt hier das Nachabwärtsstrecken des Meta- tarsus mit gestreckten Zehen. Hier habe ich auch ein Flimmern beobachtet, wenn eine Streck- bewegung im anatomischen Sinne des Wortes, das heisst ein Heben des Metatarsus und der Zehen gegen den Unterschenkel langsam, aber nahe bis zur Grenze des Möglichen ausgeführt wurde. Es liegt hierin ein ob- jectiver Beweis, dass in den arbeitenden Muskeln die Thätigkeit eine discontinuirliche ist, wenn auch nicht unter allen Umständen die Bedin- gungen günstig sind, um die Discontinuität der Entladungen wahrzu- nehmen. Es zeigt sich auch ein deutliches Flimmern da, wo der untere Theil des Vastus externus unter der Haut liegt, wenn mit leicht nach vorne gehobenem Beine das Kniegelenk langsam, aber so weit als möglich gestreckt wird. Machen wir nun bei allen langsamen Bewegungen Widerstände dadurch, dass wir Antagonisten der arbeitenden Muskeln in Thätigkeit setzen, oder geschieht dies nur dann, wenn die gegebenen Widerstände zu gering sind, um es uns leicht möglich zu machen, eine hinreichend langsame Bewegung mit hinreichender Sicherheit auszuführen, oder wenn Wirkungen gehemmt werden sollen , deren Resultat ausserhalb der Combinirte Bewegungen. 5<39 intendirten Bewegung liegt, z. B. die Beugung der Finger, wenn die langen Fingerbeuger bei der Beugung der Hand mithelfen, während die Finger gestreckt bleiben sollen? Dass wir auch noch in anderen, als in den vorher erwähnten direct beobachteten Fällen Widerstände machen, kann kaum bezweifelt werden. Man blicke in einen Spiegel und fixire seine eigene Pupille im Spiegelbilde. Man wende dann den Kopf langsam hin und her. Man wird sich das Auge in der Lidspalte mit einer Sicherheit und Gleich- mässigkeit bewegen sehen, dass mau bei dem geringen Widerstände, den ein Eeichenauge Bewegungsimpulsen entgegensetzt, kaum zweifeln kann, dass es sich hier um ein Zusammenwirken mehrerer, vielleicht aller Augenmuskeln handelt. Zu demselben Resultate kommen wir, wenn wir das Auge eines Menschen betrachten, der seinen Blick nacheinander auf verschiedene Gegenstände richtet, nur sind hier die Bewegungen rascher, und die Wirkung der Antagonisten zeigt sich zunächst in der Plötzlichkeit und Sicherheit, mit der der Bew^egung Halt geboten wird. Auch kann man nicht zweifeln, dass beim Zeichneu, beim Geigen und anderswo, wo langsame Bewegungen unter geringem Widerstände mit grosser Präcision und scharf bestimmter Begrenzung ausgeführt werden sollen, mit den arbeitenden Muskeln zugleich die Antagonisten in Thätig- keit gesetzt w^erden. Anders verhält es sich, wo grosse gegebene Widerstände vorhanden sind, die mit Anstrengung überwunden werden müssen. Will man sich hier eine Ueberzeugung verschaffen, so muss man möglichst einfache Beispiele wählen. Bei bedeutenden xlnstrengungen ziehen sich nicht nur die Muskeln zusammen, welche nach dem. ana- tomischen Schema die Bewegung ausführen sollen, sondern auch andere, theils weil sie, obwohl der Hauptsache nach anderen Bewegungen dienend, doch mit einer Componente für die in Rede stehende Bewegung wirk- sam sein können, theils weil sie die zu bewegenden Körpertheile in ihrer Lage gegen einander fixiren müssen, weil sie Fascien oder Schleim- beutel spannen u. s. w. und es kann schwierig sein, in einer complicirten Action, bei der zahlreiche Muskeln in Thätigkeit kommen, die Rolle jedes einzelnen sicher zu beurtheilen. Ich stelle mich vor einen Schrank oder einen Thürstock und lehne mich an denselben durch Anlegen des unteren Endes der Ulna, während der Oberarm sagittal in horizontaler Ebene, der Vorderarm frontal in horizontaler Ebene gestellt und die Hand pronirt ist. Nun stemme ich mich durch Strecken des Ellenbogengelenkes von dem Gegenstande ab. Der Biceps brachii bleibt vollständig erschlafft und auch am Bra- chialis internus ist keinerlei Contraction fühlbar. Da der Biceps brachii nicht reiner Beuger, sondern zugleich Su- pinator ist, und der Brachialis internus weniger günstig für das Getast liegt, so suchte ich noch nach einem anderen Beispiele. Der Abductor digiti indicis ist besonders leicht iiud sicher zu tasten. Ich lege den Zeigefinger mit seinen zwei Gelenken, gleichviel ob gerade oder gebeugt, auf den Rand der Tischplatte und mache oder intendire eine Adductions- bewegung, während ich andererseits durch die Muskeln des Armes die Hand mit einiger Kraft herabdrücke. Der Abductor bleibt vollständig Ö4Ü Combinirte Bewegungen. weich und es zeigt sich in ihm keine Spur von einer Contractions- bewegung. Ich komme also zu dem Resultate, dass Widerstände nur gemacht werden, wenn die gegebenen Widerstände nicht ausreichen, damit durch blosse Regulirung der willkürlichen Entladungen eine hinreichend lang- same, hinreichend gleichmässige und hinreichend präcis begrenzte Bewe- gung erzielt werde. Was geschieht, wenn die Summe der gegebenen Widerstände negativ ist? Was geschieht, wenn wir z. B. den ausgestreckten Arm, der beim Nachlassen aller Muskelcontraction plötzlich herabfallen würde, allmälig herabsinken lassen ? Die Antwort darauf ist leicht gefunden, wenn wir von dem Zustande ausgehen, in welchiem der ausgestreckte Arm in seiner Lage erhalten wurde. Wir haben uns dann nur vorzustellen, dass die Impulse in den Muskeln, welche ihn in seiner Lage erhalten, allmälig schwächer, vielleicht auch seltener werden. Die Folge muss das allmälige Herabsinken des Armes sein. Jeder Gegenstand, der durch einen Muskel schwebend erhalten wird, sei es der eigene Arm, oder sei es ein angehängtes Gewicht, ver- hält sich ähnlich wie eine Kugel, die vom Strahle eines Springbrunnens getragen wird. Werden die nach aufwärts treibenden oder ziehenden Impulse stärker, so tritt Steigen ein, werden sie schwächer, Sinken. Welche Eolle die Widerstände spielen, davon kann man sich auch durch electrische Reizung am lebenden Menschen überzeugen. Wenn wir den Schlittenelectromotor anwenden und die weit von einander ent- fernten Spiralen in kleinen Schritten nähern, so finden wir, dass die Contractionen anfangs keineswegs rasch sind, selbst wenn wir ihnen keinen willkürlichen Widerstand entgegensetzen, also nur die gegebenen Widerstände in Betracht kommen. Erst bei weiterer Annäherung der Spiralen an einander beschleunigen sie sich. Auch dann können wir sie noch durch willkürliche Action vollständig auf Null reduciren oder doch ihre Geschwindigkeit bedeutend vermindern, bis endlich bei noch weiterer Annäherung der Rollen der Widerstand mehr und mehr vergeblich wird. Und doch werden bei dieser Art von Versuchen, in dem ersten Stadium, d. h. bei den weiteren Rollenabständen, nur die Nerven in den Muskeln, nicht die Muskeln selbst, gereizt. In Muskeln, deren Nerven degenerirt sind, rufen Inductionsströme von dieser Stärke noch gar keine Contrac- tion hervor, während die eigene Muskelreizbarkeit nicht herabgesetzt, sondern, wie bekannt, meistens sogar erhöht ist. Auch plötzliche Stoss- und Wurfbewegungen, bei denen die An- tagonisten völlig erschlafft sind, können, wenn sie kraftvoll entwickelt sein sollen , nicht durch einmaligen Impuls erzeugt werden , sondern durch eine Reihe von rasch auf einander folgenden Impulsen , deren Wirkungen sich nach dem erwähnten von Helmholtz zuerst darge- legten Principe der Addition summiren. Bei dem Zusammenwirken der Muskeln zu combinirten Bewegungen gilt das allgemeine Gesetz, dass, wenn irgend eine wesentliche Anstren- gung gemacht werden soll, nicht nur diejenigen Muskeln, welche direct und auf dem kürzesten Wege die betreffende Bewegung zu Stande brin- gen, wirksam sind, sondern dass auch alle diejenigen Muskeln mitwirken, welche etwas zum Zustandekommen der Bewea-ung beitragen können. stehen, Gehen, Laufen. 541 Die Ermüdung eines Muskels, welche ihn unfähig macht zu weiteren Leistungen, beruht auf dem Verbrauch von nutzbarem Material und auf der Anhäufung von Zersetzungsproducten, welche bei der Contraction in dem Muskel entstehen; je grösser also die Summe der Muskeln ist, auf welche sich die Arbeit vertheilt^ um so später tritt der Moment ein, wo der Materialverbrauch so weit vorgeschritten ist, und die Anhäufung der Zersetzungsproducte einen solchen Grad erreicht hat, dass dadurch die Muskeln leistuugsunfähig werden. Wo deshalb der menschliche oder thierische Körper Arbeit leisten soll, und zwar Arbeit an künstlichen Vorrichtungen, an Maschinen, ist immer darauf zu achten, dass die Maschinen so eingerichtet sind, dass er mit möglichst vielen Muskeln an denselben arbeitet, dass er mit verschiedenen Theileu seines Körpers bei der Arbeit in Thätigkeit sein kann. Es ist das z. B. der Grund, warum die alte Häckselschneidmaschine durch die neueren Maschinen, bei denen ein Rad gedreht wird, noch nicht verdrängt worden ist, denn bei den neueren Maschinen coricentrirt sich die Arbeit auf den Arm, der das Rad dreht ; bei der alten Maschine aber arbeitet man mit dem linken Arme, indem man das Stroh mittelst der Gabel vorschiebt, mit dem rechten Arme, indem man das Messer führt, und mit dem einen Beine, beziehungsweise mit dem Gewichte seines Körpers , indem man das Trittbrett her untertritt. Stelieii,^ Gfelien, Laufen. Der Mensch leistet Arbeit, auch wenn er nicht fremde Massen bewegt, sondern nur seine eigene Masse ; ja es bedarf einer gewissen Muskelthätigkeit, um überhaupt den eigenen Körper aufrecht zu erhalten. Wenn der menschliche Körper aufrecht stehen soll, so ist es nothwendig, dass sein Schwerpunkt unterstützt sei, das heisst, dass die sogenannte Schwerlinie, die Senkrechte, welche durch den Schwerpunkt des Körpers geht, in den Bereich seiner Unterstützungsfläche falle. Zweitens ist es aber auch nöthig, dass der Körper durch Muskelaction aufrecht erhalten werde ; denn eine Leiche, wenn man sie auch so aufstellte, dass ihr Schwerpiiukt unterstützt sein würde, fällt zusammen, weil ihre Gelenke nachgeben. Die Gelenke, welche zunächst in Betracht kommen, sind das Sprunggelenk, das Kniegelenk, das Hüftgelenk ; dann müssen auch der Kopf und die Wirbelsäule durch Muskelaction in ihrer Lage erhalten werden. Unter den genannten Gelenken sind aber zwei, bei welchen die Muskelaction bis zu einem gewissen Grade durch Bänder unnöthig gemacht wird ; diese sind das Ki^egelenk und das Hüftgelenk. Wenn Sie an einer Leiche das Kniegelenk strecken und dann weiter nach hinten durchzubiegen suchen, so werden Sie bald auf einen Widerstand kom- men, welchen Sie nicht überwinden können. Dieser Widerstand wird hervorgebracht durch das Ligamentum cruciatum anticum, welches aus der Grube vor der Eminentia intercondyloidea entspringt, nach rück- wärts zieht und sich am inneren Umfange des Condylus externus femoris festsetzt. Die.ses Ligament ist erschlafft in gebogener Stellung des Knies ; so wie das Knie gestreckt wird, spannt es sich an und hindert, dass das Kniegelenk über einen gewissen Grad hinaus gesti'eckt, richtiger 542 Gehen, Stehen, Laufen. durchgebogen wird. Wenn a]so einmal das Kniegelenk so weit nach hinten durchgebogen ist, dass dieses Ligament gespannt ist, so bedarf es in aufrechter Stellung keiner Muskelaction mehr, um das Bein in dieser Lage gestreckt zu erhalten : denn die beiden Knochen stehen jetzt so, dass sie bereits einen Winkel nach hinten machen, dass sie also von oben belastet nicht mehr nach vorn ausweichen können. Etwas Aehn- liches findet im Hüftgelenke statt. Sie wissen, dass, wenn Sie das ge- streckte Hüftgelenk nach vorne durchbiegen wollen, dies nur bis zu einem gewissen Grade möglich ist: wenn Sie das Bein weiter nach hinten bringen wollen, so müssen Sie den Körper nach vorn überneigen. Das geschieht deshalb, weil jetzt schon das Ligamentum ileofemorale gespannt ist, welches vom oberen Pfannenrande und über demselben unter der Spina ossis ilei anterior inferior entspringt, vor dem Gelenks- kopfe nach abwärts geht und sich mit divergirenden Fasern an der Linea intertrochauterica anterior anheftet. Wenn Sie also auf beiden gestreckten Beinen stehend das Becken so weit nach vorn bringen, dass dieses Ligament auf beiden Seiten ausgespannt wird, wenn Sie ferner das Kniegelenk so weit nach hinten durchbiegen, dass das Ligamentum cruciatum anticum angespannt wird, so bedürfen Sie weiter keiner Muskelaction, um den Körper in diesen Gelenken aufrecht zu erhalten. G. H. Meyer sagt deshalb mit Kecht, dass der Rumpf beim ruhigen und möglichst passiven Stehen am Ligamentum ileofemorale gewisser- massen aufgehängt sei. Beim Stehen auf beiden Füssen fällt die Schwerlinie zwischen die beiden Füsse. So lauge sie sich hier befindet, kann ich kein Bein vom Boden aufheben, denn sobald ich einen Fuss vom Boden aufheben sollte, würde mein Schwerpunkt nicht mehr unterstützt sein, ich würde nach der betreffenden Seite herüberfallen. Wenn ich aber den Körper so weit auf eine Seite herüberbringe, dass die Schwerlinie nicht mehr zwischen beide Füsse, sondern in die Sohle eines Fusses fällt; so kann ich nun das andere Bein aufheben, es wird für die Bewegung frei. In solcher Stellung unterscheidet man das eine Bein, das, in dessen Sohle die Schwerlinie fällt, als das Standbein, das andere, welches frei ist für die Bewegung, welches nicht mehr zur Unterstützung des Körpers dient, als das Spielbein. Wenn Sie den Körper so weit nach vorwärts neigen, dass die Schwerlinie den Ballen des Staudbeins passirt, so würden Sie, wenn Sie noch weiter nach vorn gehen, nicht mehr unterstützt sein, wenigstens würden Sie darauf angewiesen sein, sich mühselig mit Ihren Zehen zu unterstützen: wenn Sie aber das Spielbein in diesem Augen- blicke vom Boden lösen, so schwingt es, da es im Hüftgelenke frei be- weglich ist, nach den Pendelgesetzen «ach vorwärts, und wenn Sie es in seiner Elongation nach vorwärts auf den Boden setzen, so gewinnen Sie dadurch einen neuen Stützpunkt; Sie sind nach vorwärts gefallen, aber zum Glück auf Ihre eigenen Füsse oder vielmehr aiif das neue Standbein. Jetzt machen Sie das Bein, welches früher Standbein war, zum Spielbeine, Sie neigen sich wieder nach vorn, so dass die Schwer- linie den Ballen des Fusses passirt, Sie lassen das andere Bein nach vorwärts schwingen, setzen es auf, gewinnen einen neuen Stützpunkt u. s. w. Das ist die Mechanik des Gehens. stehen, Gehen, Laufen. 543 Das Gehen ist also gewissermassen ein fortwährendes Fallen nach vorn, was immer dadurch verhindert wird, dass das vorwärtsschwingende Bein einen neuen Stützpunkt gewinnt. Das Bein schwingt dabei nach den Pendelgesetzen und jeder Mensch hat deshalb eine natürliche Schritt- dauer, welche der Länge seiner Beine entspricht. Es geht daraus hervor, dass die Schrittdauer der langbeinigen Individuen grösser ist als die der kurzbeinigen, und letztere deshalb durch die grössere Anzahl der Schritte, welche sie in der Zeiteinheit machen, einigermassen die grössere Schritt- länge der langbeinigen Individuen compensiren. Es geht ferner daraus hervor, dass zum Gehen das Minimum der Muskelaction nöthig ist, wenn man in seiner natürlichen, durch die Länge der Beine bedingten Schritt- dauer geht. Das ist der Grund, warum man die Soldaten bei grösseren Märschen nicht im Tritt gehen lässt. Sie würden viel früher ermüden, weil sie dabei Muskelanstrengungen zu Actionen brauchten, welche, wenn jeder nach seiner natürlichen Schrittdauer geht, ganz ohne Muskel- anstrengung, einfach nach den Pendelgesetzen von Statten gehen. Wenn deshalb ein Individuum schnell gehen will, so muss sein Gang durch Muskelaction beschleunigt werden: es kann ihn aber auch bis zu einem gewissen Grade ohne Muskelaustrengung beschleunigen, indem es die Beine in den Knien krümmt, sie beim Schreiten nicht ganz streckt. Dadurch wird das schwingende Pendel verkürzt und zugleich kann dabei das schreitende Bein noch weit ausgreifen. Das ist der Gang, welcher aus Gewohnheit bei Individuen entsteht, welche viel und rasch in den Strassen gehen müssen, bei Briefträgern, Bai-bieren u. s. w. Das Laufen unterscheidet sich vom Gehen nicht durch die Geschwin- digkeit der Fortbewegung; man kann sehr langsam laufen und sehr schnell gehen. Das Gehen unterscheidet sich vom Laufen dadurch, dass beim Gehen noch immer ein Stützpunkt vorhanden ist, dass nicht beide Füsse gleichzeitig vom Boden gelöst werden, während beim Laufen der Körper vom Boden abgeschnellt wird. Der Körper schwebt also beim Laufen einen Moment in der Luft, ehe das zweite Bein wiederum den Boden berührt hat. Wenn man hiebei seinen Körper nicht nach vorn wirft, so kommt man gar nicht vom Fleck und kann so die Bewegung des- Laufens an Ort und Stelle machen; man kommt nur vorwärts in dem Grade, als man seinen Körper nach vorne überneigt, um seinen Schwerpunkt nach vorn zu bringen. Wenn man sich nämlich abschnellt, während der Schwerpunkt unterstützt ist, so schnellt man sich gerade nach aufwärts, wenn man aber den Körper so vornübergeneigt hat, dass der Sehwerpimkt nicht unterstützt ist, so schnellt man sich durch das Standbein schräg nach aufwärts und vorwärts, und nun wird, während der Körper in der Luft schwebt, das Spielbein nach vorn geworfen und dadurch eine bedeutende Schrittweite und eine schnelle Locomotiou erlangt. Die Brüder W. und E. H. Weber, welche ein ausgezeichnetes Werk über die Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge geschrieben haben, haben gehende und laufende Menschen, gehende Beine und lau- fende Beine, in den verschiedenen Phasen des Schrittes nach genauen Beobachtungen und Messungen dargestellt. Was wir eben beim Laufen kennen gelernt haben, ist auch auf das Springen anwendbar. Ein Individuum, welches einfach in die Höhe sprin- gen will, ohne vom Fleck zu kommen, beugt die unteren Extremitäten 544 Locomotion der Thiere. im Hüftgelenke, im Kniegelenke und im Sprunggelenke, wobei es seine Schwerlinie zwischen die Ballen der Füsse fallen lässt, und wenn es jetzt alle Gelenke streckt, wird es gerade in die Höhe geschnellt. Wenn da- gegen der Schwerpunkt so gelegen hätte, dass das Individuum, wenn es nicht gesprungen wäre, yornübergefallen wäre, und es schnellt sich jetzt ab, indem es die Gelenke streckt, so wird es nicht gerade nach aufwärts, sondern schräg nach oben und vorn geschnellt, und je stärker die Neigung ist, desto grösser wird die Sprungweite, desto grösser wird die transla- torische Geschwindigkeit, die Anfangsgeschwindigkeit der Bewegung in horizontaler Richtung. Die Bewegung in horizontaler Richtung kann ferner nach dem Gesetze der Trägheit noch dadurch verstärkt werden, dass das Individuum seinem Körper vorher schon eine gewisse Geschwin- digkeit in horizontaler Richtung gibt, was es dadurch hervorbringt, dass es einen Anlauf nimmt, ehe es springt. Locomotion der Thiere. Die Locomotion der Thiere mit vier Extremitäten ist viel com- plicirter. Wir wollen hier ganz absehen von den niederen Wirbelthieren, wir wollen nur von den Säugethieren sprechen, namentlich von solchen, welche uns durch ihre Locomotion dienstbar sind. Bei diesen unterscheidet man den einfachen Schritt, eine Gangart, in vier Tempi. Bei diesem Gange wird erst der eine Vorderfuss, dann der demselben diagonal gegenüberliegende Hinterfuss, dann der andere Vorderfuss und dann der diesem diagonal gegenüberliegende Hinterfuss bewegt. Verschieden davon ist der Pass, der darin besteht, dass zwei Extremitäten derselben Seite gleichzeitig nach vorwärts gesetzt werden. Es muss hier, ähnlich wie dies auch in grösserem oder geringerem Grade beim Menschen stattfindet, eine seitliche Bewegung gemacht werden, da einmal die Extremitäten der einen Seite, das andere Mal die Extremitäten der anderen Seite als Stützpunkte dienen. Der Körper des Thieres be- wegt sich also nicht in gerader Richtung nach vorwärts, sondern er macht Bewegungen hin und her. Diese Gangart ist bei einzelnen Thieren, wie bei den Giraffen, die natürliche, andere verfallen in dieselbe, wenn sie sich schneller fortbewegen wollen. Auch Elefanten und Kameele sind Passgänger. Bei den Pferden sieht man das Passgehen bei uns als eine Unart an, die man ihnen abzugewöhnen sucht. Die südamerikanischen Landleute, die wegen des Mangels an Landstrassen noch viel zu Pferde reisen, sind darüber anderer Meinung: sie gewöhnen ihren Pferden ge- flissentlich den Pass an, weil sie damit ziemlich schnell fortkommen, und weil die Bewegung eine für den Reiter weniger angreifende ist, als wenn die Thiere im Trabe gehen. Der Trab ist eine Gangart, welche nicht mehr dem Gehen, sondern dem Laufen des Menschen entspricht. Es werden darin die Beine diagonal zusammengeordnet vorwärts gesetzt in zwei Tempi, dabei aber stösst sich das Thier vom Boden ab. Beim Trabe weicht der Körper des Thieres nicht seitlich aus, sondern er macht Bewegungen von oben nach unten, und daher kommt die unangenehme stossende Bewegung des Trabes. Locomotion der Thiere. 545 Der Galopp ist eine Gangart in drei Tempi, indem das Thier erst das eine Vorderbein und dann das andere Vorderbein aufhebt, sich, auf die Hinterbeine aufstemmt, sich dann mit den Hinterbeinen abstösst und nun die Vorderbeine in derselben Eeihenfolge niedersetzt, in der dieselben erhoben wurden. Die Gangart ist insofern als eine natürliche zu be- trachten, als man sie schon an jungen Pferden in der Koppel sieht: andererseits wird sie wegen ihrer Eleganz an den Pferden durch künst- liche Dressur besonders entwickelt. Wenn das Pferd sich mit möglichster Geschwindigkeit fortbewegen will, so verfällt es in den sogenannten gestreckten Galopp. Das ist wiederum eine Gangart in zwei Tempi, bei welcher sich das Thier, nach- dem es die Vorderfüsse gehoben, mit den Hinterbeinen vom Boden ab- stösst, dann mit den Vorderbeinen aufschlägt, sich mit denselben wiederum vom Boden abstösst und die Hinterbeine nach vorn wirft und dabei solche Sprünge macht, dass es sehr häufig die Hinterbeine vor den Stellen aufsetzt, von denen es mit den Vorderbeinen abgestossen hat. Es ist dies die schnellste Gangart, bei der gute Rennpferde sich mit einer Ge- schwindigkeit von 80 Euss in der Secunde fortbewegen, also mit einer Geschwindigkeit, wie sie bei uns als mittlere Geschwindigkeit nur die stärksten Gewitterstürme haben. Es ist dies überhaupt diejeüige Gangart, in welche die meisten Säugethiere verfallen, wenn sie gejagt werden, wenn sie sich durch Flucht ihren Verfolgern entziehen wollen. Wenn ein Arbeitsthier durch Zug wirkt, so kann man es dabei be- trachten als ein in seinen Winkeln bewegliches Parallelogramm, dessen Grundlinie am Boden liegt, dessen beide absteigenden Seiten durch die Extremitäten des Thieres dargestellt v/erden, und dessen obere Parallele dargestellt wird durch den Rumpf des Thieres. Wenn man sich ein solches Parallelogramm in seiner oberen Parallele belastet denkt, und wenn Sie sich die durch die Beine dargestellten Parallelen nicht senkrecht, sondern schräg von oben und vorn nach, unten und hinten gerichtet denken, so wird die belastete obere Parallele, also der Rumpf des Thieres, durch, die Last nach vorn gedrängt werden. Denken Sie sich ihn mit einer Last, welche fortzubewegen ist, z. B. mit einem Wagen verbunden, so wird dieser fortgezogen werden. Diese Bewegung erzeugt sich, dadurch immer von neuem, dass die Beine immer wieder nach vorwärts gesetzt und durch Muskelaction gerade gerichtet, gestreckt werden, also Schritt für Schritt das Parallelogramm immer wieder von Neuem aufgebaut wird. Dieser Vergleich mit dem Parallelogramme lehrt, wesshalb bei einem Zugthiere das absolute Gewicht des Körpers so sehr in Betracht kommt. Es ist allgemein bekannt, dass für den schweren Zug auch schwere Thiere gebraucht werden, und man bringt das gewöhnlich nur in Zu- sammenhang mit der grösseren Muskelkraft dieser schweren Thiere. Diese ist aber nicht allein von Bedeutung, sondern das schwere Pferd arbeitet im schweren Zuge unter viel günstigeren Verhältnissen als das leichte, weil es mit der Last seines eigenen Körpers am Zuge wirkt. Ein leichtes Pferd muss sich viel mehr nach vorwärts neigen, es muss viel mehr, wie die Fuhrleute sagen, lang werden, wenn es mit derselben Kraft ziehen soll, mit der ein schweres Pferd schon in einer ziemlich natürlichen und bequemen Stellung zieht. Brücke. Vorlesungen I. 4. Aufl. 35 04b Das Ziehen und Tragen des Menschen. Das Schwimmen. Das Ziehen und Tragen des Menschen. Die Vierfüssler ziehen beim Zuge wesentlichen Vortheil daraus, dass sie vier Stützpunkte haben; der Mensch ist wenig für den Zug geeignet, weil er nur zwei Stützpunkte hat, und sein Körper senkrecht auf diesen zwei Stützpunkten aufgebaut ist. Man sieht deshalb auch, dass Menschen, die an Handwagen ziehen, sich sehr stark vornüber neigen müssen, um nur eine massige Last zu ziehen, dass sie schliesslich, wenn ihnen der Boden nicht sehr günstig ist, keinen Widerstand mehr finden, und 'in der That nicht mehr im Stande sind, den Wagen fortzubringen, ausgleiten, hinfallen u. s. w. Dagegen ist der Mensch seiner steil gestellten Wirbelsäule wegen sehr geeignet zum Tragen, und er trägt auch im Ver- hältniss zu seiner Muskelmasse sehr bedeutende Lasten. Ein kräftiger Mensch bringt eina Last, die ihm auf den Handwagen geladen ist, und welche er durch Zug an dem Handwagen nicht bergauf fördern kann, mit Leichtigkeit fort, wenn er einen Theil der Last auf die Schultern ladet und nun an dem Handwagen zieht. Der Grund ist einsichtlich: er hat das Gesammtgewieht seines Körpers, von dem die Eeibung abhängt, ver- grössert, er trägt die Last mit Leichtigkeit, und er hat jetzt die Last, welche er durch Zug fortbringen sollte, in entsprechender Weise ver- mindert. Wenn ein Mensch eine Last trägt, so muss er, um überhaupt auf- recht zu bleiben, eine bestimmte Stellung einnehmen, welche verschieden ist, je nach der Art und Weise, wie er die Last trägt; denn sein Körper bildet ja jetzt mit der Last zusammen eine Masse, deren Schwerpunkt und Schwerlinie unterstützt sein muss. Wenn deshalb Jemand eine Last vor sich trägt, so muss er seinen Körper nach rückwärts neigen, wenn er sie auf dem Eücken trägt, so muss er sich nach vorwärts neigen, trägt er sie auf der einen Schulter, so muss er sich nach der andern Seite neigen. Das Schwimmen. Die Fortbewegung im Wasser ist für den Menschen bekanntlich eine angelernte Kunst. Er ist übrigens dafür in nicht so gar ungünstigen Ver- hältnissen. Das mittlere specifische Gewicht des Körpers ist etwas geringer als das des Wassers. Es ist das bei verschiedenen Menschen verschieden. Leute, welche feine Knochen, reichliches Fett und grosse Lungen haben, haben ein geringes mittleres specifisches Gewicht und können namentlich, wenn sie eingeathmet haben, auf dem Wasser liegen, so dass nicht nur das Gesicht, sondern noch ein beträchtlicher Theil des Körpers aus dem Wasser herausragt. Anders verhält es sich mit denjenigen, welche ein stark entwickeltes Knochensystem haben, dabei mager sind und kleine Lungen besitzen. Sie" müssen grössere Anstrengungen machen, um sich nur mit ihrem Kopfe über Wasser zu erhalten. Das Schwimmen besteht in zweierlei: erstens in dem Haushalten mit dem Athem, so dass man immer eine möglichst grosse Luftmenge im Thorax hat, und deshalb das mittlere specifische Gewicht möglichst gering ist, iind zweitens in der Locomotion, welche bekanntlich dadurch zu Wege gebracht wird, dass die oberen und die unteren Extremitäten gegen das Wasser mit mehr oder Das Fliegen. 547 weniger schiefer Fläche wirken und den Körper fortschieben. Diese Locomotion selbst dient aber mit dazu, den Körper am Untersinken zu hindern. Es gibt viele leidlich gute Schwimmer, welche gar nicht im Stande sind, ruhig auf dem Wasser zu liegen, welche sich immer nur durch die Locomotion selbst über Wasser halten, indem der Stoss nicht in horizontaler Eichtuug erfolgt, sondern schräg von vorn und oben nach hinten und unten; so dass er eine horizontale und eine verticale Com- ponente hat. Die Letztere dient dazu, den Kopf ausser Wasser zu halten. Schwimmer, die in Flüssen schwimmen gelernt haben, und solche, welche im Meere schwimmen gelernt haben, unterscheiden sich wesentlich durch die Lage, welche sie im Wasser einzunehmen pflegen. Der Flussschwiramer, welcher nicht mit den Wellen zu kämpfen hat, liegt fast horizontal und schwimmt deshalb mit grosser Geschwindigkeit; der Schwimmer, der gewohnt ist, im Meere zu schwimmen, und der mit den Wellen zu kämpfen hat, liegt schräg im Wasser, damit er jedesmal durch einen Stoss sich über den Wellenkamm, soweit ihn derselbe nicht selber hebt, hinwegbringen kann. Das Fliegen. Zum Fliegen, zur Fortbewegung in der Luft ist der Mensch nicht geeignet. Es wird dies klar, wenn man den Flug der Vögel und den der Flatterthiere betrachtet. Diese erhalten sich dadurch in der Luft, dass sie, indem sie mit der Fläche ihrer Flügel auf die Luft drücken, sich in jedem Augenblicke ebenso viel oder mehr heben, als sie in derselben Zeit ohne ihre Action fallen würden. Ein Vogel, um sich zu heben, bringt seine Flügel halb geschlossen und zum geringen Widerstand ge- wendet nach oben, und dann schlägt er sie ausgebreitet im grossen Bogen nach abwärts, bringt sie wieder in der vorerwähnten Weise herauf u. s. f. Mit jedem Flügelschlage also hebt er sich um ein Stück. Man kann dies sehr gut an einer senkrecht aufsteigenden Lerche beobachten. Wenn der Vogel schräg aufsteigt, ist er abhängig von der Wind- richtung, er kann nur aufsteigen, wie dies ja längst jeder Jäger weiss, gegen den Wind, er kann nicht aufsteigen mit dem Winde, und zwar aus demselben Grunde, aus dem man einen Drachen immer nur gegen den Wind und niemals mit dem Winde aufrennen kann. Er bietet nämlich dem Winde eine schräge Fläche dar, trifft ihn der Wind von rückwärts, so drückt er ihn nieder und hindert ihn am Aufsteigen, trifft er ihn aber von vorn, so hebt er ihn. Man hat sich oft gewundert, dass Vögel mit ausgebreiteten Flügeln weite Strecken in der Luft fortschiessen, ja grosse Kreise beschreiben, fast ohne eine merkliche Bewegung zu machen. Das rührt aber nur daher, dass ein Körper, welcher in der Luft stabil ist, sehr langsam fällt, wenn er der Luft eine im Verhältniss zu seinem absoluten Gewichte sehr grosse Oberfläche darbietet. Man kann auch andere Körper, todte Körper, in der Luft durch Eotation stabil machen, und dann sieht man an ihnen ähnliche Erscheinungen, wie man sie an den fliegenden Vögeln wahrnehmen kann. Die Neuseeländer haben sich, um nach den Vögeln, die am Ufer schwärmen, zu jagen, ein eigenes Geschoss gemacht, welches, wenn es nicht getroffen hat, zum Schützen zurückkehrt; es ist dies das sogenannte Bumarang. Wenn man es zum 35* 548 Der Kehlkopf. ersten Male werfen sieht, so ist man erstaunt, das Instrument schräg auf- wärts in die Luft wirbeln, dann plötzlich still stehen und nun in einer nach oben concaven Curve zurückkehren zu sehen. Die Sache ist folgende. Das Bumarang ist eine über die Schärfe hyperbolisch gekrümmte, etwas weniger als handbreite Holzschiene. Diese fasst man an dem einen Ende, und nun wird sie schräg nach aufwärts geworfen, so dass sie in der Luft mit möglichster Geschwindigkeit rotirt. Sie steigt jetzt schräg auf in der Richtung, in welcher sie geworfen wurde, welche zugleich die ihrer eigenen Lage ist, so dass sie die Luft immer mit ihrer Schärfe triift. Wenn sie ihre translatorische Geschwindigkeit schon verbraucht hat, hat sie ihre Rotationsgeschwindigkeit noch nicht verbraucht, sie rotirt noch immer, durch das Rotiren ist sie stabil, sie kann also jetzt nicht ohne weiteres herunterfallen, sondern, weil sie senkrecht zu ihrer Fläche der Luft einen grossen, und in der Richtung der Schärfe einen kleinen Wider- stand bietet, fällt sie in dieser letzteren Richtung zurück und gelangt in die Nähe dessen, der sie geworfen hat. Die Bewegung nach aufwärts wird noch begünstigt, die nach abwärts verzögert dadurch, dass das Bumarang ganz wenig windschief ist und nun so geworfen wird, dass seine Bewegung eine aufstrebende Componente bekommt, die senkrecht auf der Ebene steht, in welcher es rotirt. Die Wirkung wird hier ganz nach demselben Principe erzielt, nach der ein Propeller sein Schiff vor- wärts treibt. An den Bumarangs, die hier als Spielzeug verkauft werden, ist die windschiefe Biegung meist übertrieben. Sie wirbeln zwar jäh in die Höhe, sind aber ungeeignet für den Zweck, zu dem sie erfunden wurden. Der Mensch ist deshalb ungeeignet zum Fliegen, weil er kein Paar von Flügeln mit seinen Brustmuskeln in hinreichend starke Bewegung versetzen könnte, um die bedeutende Last seines Körpers in die Luft hinauf zu heben. Schon unter den jetzt lebenden fliegenden Vögeln ist keiner von den Dimensionen und dem absoluten Gewichte des Menschen, und alle fliegenden Vögel haben eine starke Brustbeingräte und dem ent- sprechend entwickelt starke Brustmuskeln, wie solche dem Menschen nicht zukommen. Der Mensch würde also immer angewiesen sein, sich durch von anderweitigen Kräften getriebene Maschinen in die Luft heben zu lassen; diese selbst repräsentiren dann aber ein solches absolutes Gewicht, dass sie die Kraft nicht aufbringen können, um sich zu erheben, so dass bis jetzt dem Menschen das Erheben in die Luft nur mittelst des Luft- ballons möglich ist. Stimme und Sprache. Der Kehlkopf. Zu den combinirten Bewegungen gehören auch die, welche der Stimme und Sprache dienen. Die menschliche Stimme wird hervor- gebracht durch die Schwingungen zweier elastischer Membranen, welche man mit dem Kamen der wahren Stimmbänder bezeichnet. Sie sind an einem knorpeligen Gerüste befestigt, dessen einzelne Theile durch Muskeln so bewegt werden, dass dadurch die beiden Membranen, die beiden Der Kehlkopf. 549 Stimmbänder, mit ihren Rändern einander genähert oder von einander entfernt werden, dass sie angespannt, dass sie erschlafft werden können u. s. w. Die Stimmbänder bestehen aus elastischen Fasern, untermischt mit' Bindegewebe, und sind mit ihren vorderen Enden an den Schild- knorpel zu beiden Seiten der Mittellinie desselben angeheftet; mit ihren hinteren Enden sind sie angeheftet an den Processus vocalis der Giess- beckenknorpel, welche ihrerseits eine Gelenkverbindung haben mit dem Ringknorpel, mit welchem auch der Schildknorpel Gelenkverbindung hat. Die Stimmbänder werden dadurch angespannt, dass der Schild- knorpel sich um eine Axe dreht, welche Sie sich durch seine unteren Hörner gelegt denken müssen. Wenn er sich um diese Axe in der Weise dreht, dass sein vorderer oberer Theil, derjenige, welcher den sogenannten Adamsapfel macht, nach vorn und nach abwärts gezogen wird, so wird dadurch die eine Anheftung des Stimmbandes von der andern entfernt und dadurch das Stimmband gespannt. Diese Bewegung wird ausgeführt durch einen Muskel, welcher zu beiden Seiten vom Ringknorpel ent- springt und sich mit schräg nach aufwärts und rückwärts verlaufenden Fasern an den Schildknorpel ansetzt. Der Antagonist dieses Muskels ist ein Muskel, welcher zu beiden Seiten von der Innenfläche der Platte des Schildknorpels entspringt, nach aussen vom wahren Stimmband, neben demselben und mit demselben verbunden nach rückwärts verläuft und sich an den vorderen unteren Theil des Giessbeckenknorpels ansetzt. Dieser Muskel, der Thyreoarytaenoideus, kann die beiden Insertionen des wahren Stimmbandes einander nähern und die Stimmbänder abspannen, indem er den Schildknorpel um die vorerwähnte Axe so dreht, dass sein vorderer Theil nach rückwärts und nach oben rückt, vorausgesetzt, dass sein Antagonist, der Musculus cricothyreoideus, den Schildknorpel nicht in einer andern Lage fixirt erhält. Die beiden Giessbeckenknorpel setzt ein ziemlich complicirter Muskelapparat in Bewegung, welcher besteht aus den Muse, arytaenoidei transversi und Muse, arytaenoidei obliqui, aus dem Cricoarytaenoideus posticus und lateralis und dem Thyreoarytaenoideus. Die Muse, arytaenoidei transversi liegen auf der concaven Rückseite der beiden Giessbecken- knorpel und spannen sich von dem äusseren Rande des einen Giessbecken- knorpels zum äusseren Rande des andern hinüber. Wenn sie sich also zusammenziehen, so haben sie zunächst die Wirkung, dass sie die beiden Giessbeckenknorpel einander nähern. Aehnliche Wirkung haben auch die Arytaenoidei obliqui, welche auf den Arytaenoidei transversi liegen. Indem sie vom unteren Winkel des einen Giessbeckenknorpels entspringen und zum oberen Ende des äusseren Randes des andern Giessbeckenknorpels hingehen, bilden sie ein liegendes Kreuz. Wenn diese Muskeln sich zusammenziehen, so nähern sich die beiden Giessbeckenknorpel einander. Sie haben dabei noch die specielle Wirkung, dass, wenn die oberen Enden der beiden Giessbeckenknorpel mit den auf ihnen sitzenden Santorinischen Knorpeln, den Cornua laryngis, sich von einander entfernt haben, sie dieselben einander wieder nähern und hierin mit dem oberen Theile des Arytaenoideus transversus zusammenwirken. Wenn man den oberen Ansatz des Arytaenoideus obliquus verfolgt, so findet man, dass ein Theil seiner Fasern sich über den äusseren Rand des Giessbeckenknorpels fortsetzt in ein dünnes Band von Muskelfasern, 550 Der Kehlkopf. welches im Ligamentum aryepiglotticum zum Kehldeckel hingeht, und also, wenn es sich zusammenzieht, den Kehldeckel auf die Giessbecken- knorpel herunterzieht. Die Arytaenoidei obliqui und die beiden Muse, aryepiglottidei können Sie also zusammen als eine Schlinge ansehen, in welche die beiden Giessbeckenknorpel und die Epiglottis eingeschaltet sind. Wenn sich diese Schlinge zusammenzieht, schliesst sie den ganzen Kehlkopf zu, indem sie die beiden Giessbeckenknorpel an einander an- nähert und den Kehldeckel auf die Giessbeckenknorpel herunterzieht. Diese Schlinge, welche aus den beiden Arytaenoidei obliqui und den beiden Aryepiglottidei besteht, bildet also eine Art von Sphincter für den Kehlkopf. Weniger einfach ist die Wirkung der M. cricoarytaenoidei postici und laterales. Der Cricoarytaenoideus posticus entspringt von der hinteren Fläche, von der Siegelplatte des Ringknorpels und setzt sich an den Processus muscularis des Giessbeckenknorpels an. Der M. cricoarytaenoi- deiis lateralis entspringt von der Seitenfläche des Ringknorpels und geht schräg nach hinten und aufwärts laufend gleichfalls an den Processus muscularis des Giessbeckenknorpels. Der eine liegt also der Hauptmasse nach in einer Ebene, welche senkrecht steht auf der Mittelebene des Körpers, und der andere, der Cricoarytaenoideus lateralis, liegt wesent- lich in einer Ebene, welche parallel steht mit der Mittelebene des Körpers. Denken Sie sich die Projection auf eine horizontale Ebene gemacht, so finden Sie also, dass die horizontalen Componenten der Zug- wirkungen beider Muskeln mit einander einen nahezu rechten Winkel machen. Beide werden den Giessbeckenknorpel zu drehen suchen. Die Cricoarytaenoidei postici werden die beiden Giessbeckenknorpel so zu drehen suchen, dass die beiden Processus vocales sich von einander ent- fernen; wenn aber das geschehen ist, und die Cricoarytaenoidei laterales ziehen sich zusammen, so drehen sie den Giessbeckenknorpel wieder so, dass die beiden Processus vocales einander genähert werden, beziehungs- weise einander berühren. Man hat deshalb den Cricoarytaenoideus posticus den Oeffner der Stimmritze genannt und den Cricoarytaenoideus lateralis den Verengerer, beziehungsweise Verschliesser der Stimmritze. Diese Bezeichnung ist jedoch einseitig, denn beide Muskeln können so zusammen- wirken, dass sie die Stimmritze öffnen, sogar auf ihre grösste Weite. Indem der Cricoarytaenoideus posticus den Giessbeckenknorpel umdreht und die Stimmritze öffnet, kann er derselben immer nur eine lanzett- förmige Gestalt geben, denn er zieht ja, während er den Processus vocalis nach aussen wendet, gleichzeitig mit seiner drehenden Compo- nente den Giessbeckenknorpel nach innen, er nähert die beiden Giess- beckenknorpel einander. Wenn Sie nun aber einem Individuum, das frei einathmet, mit dem Kehlkopfspiegel in den Larynx hineinsehen, so werden Sie bemerken, dass beim freien Einathmen die Stimmritze keineswegs Lanzettform hat, sondern, dass sie frei und offen ist in der Weise, wie Sie es nach Czermak nebenan abgebildet sehen. Der in perspectivischer Verkürzung gesehene Kehldeckel ist e c, die wahren Stimmbänder sind zz; a a sind die in perspectivischer Verkürzung ge- sehenen inneren Flächen der Giessbeckenknorpel; oo die oberen oder falschen Stimmbänder, s und w sind die von der Schleimhaut bedeckten Santorin'schen und Wrisberg'schen Knorpel, t die vordere Wand der Der Kehlkopf. 551 Fig. 89. Trachea, v v die Eingänge in den Bronchus dexter und sinister, und m die in perspectivischer Verkürzung gesehene Innenseite der hinteren Kehlkopfwand. Es erschlaffen die Arytaenoidei transversi und obliqui 90, dass die beiden Giessbeckenknorpel weit von einander entfernt werden können. Es geschieht dies dann, weil das Kapselband, durch welches E-ingknorpel und Giessbeckenknorpel mit einander verbunden sind, hin- reichend locker und weit ist, mit grosser Leich- tigkeit. Nun ziehen sich der Cricoarytaenoideus posticus und lateralis gleichzeitig zusammen. Dann wirken ihre drehenden Componenten einander entgegen. Ausser der drehenden Com- ponente haben beide Muskeln eine Componente, welche nach abwärts zieht, die also in beiden Muskeln gleichsinnig wirkt. Die Gelenkfläche, auf welcher der Giessbeckenknorpel "steht, ist nach der Seite hin abschüssig, und indem die beiden Muskeln zusammenwirken und an dem Processus muscularis nach abwärts ziehen, wird jeder Giessbeckenknorpel auf dieser abschüssi- gen Gelenkfläche nach aussen und nach abwärts geschleift und so beide von einander entfernt. Zugleich überwiegt nun der stärkere Cricoary- taenoideus posticus mit seiner drehenden Com- ponente, wendet den Processus vocalis nach aussen, und so wird die Stimmritze auf ihr Maximum erweitert. Wenn also die Arytaenoidei transversi und obliqui zusammengezogen sind und der Cricoarytaenoideus posticus und lateralis abwechselnd wirken, so ist der erstere der Oeffner, der letztere der Verschliesser der Stimmritze, wenn aber die Arytaenoidei transversi und obliqui erschlafft sind und der Cricoarytaenoideus posticus und lateralis, wie beschrieben, zusammen- wirken, so bewirken sie eine Erweiterung der Stimmritze, wie sie beim freien Einathmen statt hat. Ausser diesen Muskeln, deren Mechanik ich Ihnen bisher ausein- andergesetzt habe, sind noch am Kehlkopfe mehr oder weniger incon- stante Muskeln zu erwähnen; erstens ein Musculus thyreoarytaenoideus superior, der die drehende Wirkung des cricoarytaenoideus lateralis unter- stützt, dann zwei Musculi thyreoepiglottici, Partien von Muskelfasern, welche vom Schildknorpel aufsteigen, sich an die vordere Seife und den Rand des Kehldeckels anheften und denselben beim Verschluss des Kehl- kopfs, und wenn die M. aryepiglottidei wirken, nach abwärts ziehen, und ihn so auf die falsche Stimmritze herunterdrücken helfen. Dann existirt noch ein M. cricoceratoideus, dessen Wirkung man nicht näher kennt, ein kleiner inconstanter Muskel, d*r nach aussen vom M. crico- arytaenoideus posticus entspringt und an das absteigende Hörn des Schild- knorpels sich ansetzt. Die innere Auskleidung des Kehlkopfes bildet eine Schleimhaut, welche mit Flimmerepithelium überkleidet ist. Dieses beginnt an der hinteren Fläche des Kehldeckels und kleidet den ganzen Kehlkopf aus, mit Ausnahme der wahren Stimmbänder, welche ein Pflasterepithelium tragen. In der Schleimhaut des Kehlkopfes liegt eine grosse Menge von 552 ßie Stimmbildung. Schleimdrüsen, welche nach demselben Typus gebaut sind, wie die Schleimdrüsen, welche wir im Oesophagus und in der Mundhöhle kennen gelernt haben. Da, wo die Schleimhaut durch lockeres Bindegewebe von ihrer Unterlage getrennt ist, liegen die Körper der Drüsen in diesem Bindegewebe und durchbohren die Schleimhaut mit ihren Ausführungs- gängen. In der Epiglottis liegen die Körper der Drüsen in dem Netz- knorpel selbst, welcher die Epiglottis bildet, und darauf beruht es, dass wenn man die Epiglottis macerirt, sie hinterher wie mit einer Nadel durchprickelt erscheint. Die Löcher, welche hier entstehen, sind die Lücken, in welchen während des Lebens die Schleimdrüsen gelegen haben, üeber den wahren Stimmbändern bildet (^ie Schleimhaut ein Paar grosse von vorn nach hinten gerichtete Falten, welche unter dem Namen der falschen Stimmbänder bekannt sind. Zwischen ihnen und den wahren Stimmbändern befindet sich der Eingang in die Morgagni'schen Ventrikel, zwei von der Schleimhaut ausgekleidete Taschen, welche sich zu beiden Seiten nach aufwärts und, wenn die Epiglottis heruntergelegt ist, mit ihren oberen Hörnern über die Epiglottis erstrecken. Die failschen Stimmbänder haben ihren Namen daher, dass sie den wahren Stimm- bändern äusserlich ähnlich sind, aber, so viel wir wissen, nichts zur Stimmbildung beitragen. Die Stimmbilcliiiig. Auch die wahren Stimmbänder hat man als Schleimhautfalten be- zeichnet. Diese Bezeichnung ist aber eine unrichtige, denn das wahre Stimmband ist keine Falte, sondern ein compacter Körper, ein Band, eine Brücke, welche sich im Kehlkopfe von vorn nach hinten erstreckt, und es fehlen hier selbst die Attribute der Schleimhaut. Es sind im vor- springenden Rande keine Schleimdrüsen vorhanden, und es findet sich hier auch nicht die eigenthüraliche bindegewebige Grundlage, wie sie sonst das Gewebe der Schleimhäute ausmacht; im Gegentheil liegt hier gleich unter dem Pflasterepithel ein Gemenge von längsgespannten elasti- schen Fasern und von Bindegewebsfasern, welche das Stimmband zu- sammensetzen. Wenn man die wahren Stimmbänder an einer Leiche ansieht, und ihre abgerundete Kante betrachtet, so begreift man kaum, wie diese Gebilde durch einen verhältnissmässig leichten Luftzug, welcher aus der Lunge herausströmt, in Schwingungen versetzt werden. Ebenso wenig begreift man dies, wenn man sich mit Wachs oder Gyps einen Ausguss aus dem Innern des Kehlkopfes macht, wo man dann gleichfalls in diesen Ausguss die wahren Stimmbänder mit ganz stumpfen Rändern eingreifen sieht. Ganz anders aber erscheint die Sache, wenn man einem Individuum einen Kehlkopfspiegel einführt und mittelst desselben die tönende Stimmritze untersucht'; Man findet dann, dass, sobald die Stimme anspricht, von jedem Stimmbande ein dünner Saum hervorspringt, und diese beiden Säume einander genähert werden, so dass nur noch ein ganz schmaler Spalt zwischen ihnen bleibt, und so wie nun die Luft ausströmt, werden sie in lebhafte Schwingungen versetzt, welche man unmittelbar mit dem Kehlkopfspiegel beobachten kann. Diese Veränderung in den Stimmbändern wird dadurch hervorgebracht, dass mittelst des M. cricoarytaenoideus lateralis und thyreoarytaenoideus der Processus vocalis Die Stimmbildung. 5o3 nach innen gewendet wird, und sich deshalb die vom Processus vocalis ausgehenden Fasern des Stimmbandes, die an ihrer vorderen Insertion am Schildknorpel von beiden Seiten her ganz nahe an einander gerückt sind, gerade spannen und deshalb einen schmalen, scharf gezeichneten Spalt zwischen sich lassen. Man kann dasselbe auch noch an dem Kehlkopfe einer Leiche hervorbringen. Zu diesem Ende drückt man die Processus vocales zusammen und stösst eine starke Nadel quer durch die Giessbecken- knorpel. Wenn man sie nun mittelst eines Fadens, welchen man in Achtertouren um die Nadel herumlegt, in dieser Lage festhält, so kann man einen solchen Leichenkehlkopf anblasen und kann ihm, je nachdem man die Stimmbänder mehr oder weniger spannt, höhere oder tiefere Töne entlocken. Diese Töne gleichen denjenigen,, welche ich vor längerer Zeit von einem Wahnsinnigen gehört habe, der mit einem Rasirmesser zwischen Kehlkopf und Zungenbein eingedrungen war bis auf den Schlund, so dass er die vordere Schlund wand noch durchschnitten und mithin das ganze Ansatzrohr, die ganze Rachen- und Mundhöhle von dem eigent- lichen Stimmwerke, vom Kehlkopfe getrennt hatte. Wir haben früher gesehen, dass die Stimmbänder durch den M. crico- thyreoideus in der Richtung von vorn nach hinten angespannt werden. Nun lassen sich auf jedes System von Fasern, welches nur in einer Rich- tung gespannt ist, die Lehrsätze anwenden, welche für schwingende Saiten gelten. Diese können wir deshalb auch anwenden auf die von vorn nach hinten gespannten Stimmbänder des Menschen. Es ist Ihnen bekannt, dass die Schwingungsdauer einer Saite in geradem Verhältnisse wächst mit ihrer Länge, so dass also die Schwin- gungszahl der Saite, das heisst die Anzahl der Schwingungen, welche die Saite in der Zeiteinheit vollendet, im umgekehrten Verhältnisse zu ihrer Länge steht. Diejenigen Menschen also, welche längere Stimmbänder haben, haben im Allgemeinen eine tiefere Stimme, diejenigen Individuen, welche kürzere Stimmbänder haben, haben im Allgemeinen eine höhere Stimme. Die längsten Stimmbänder haben die ausgewachsenen Männer, und diese haben deshalb auch die tiefsten Stimmlagen, entweder Bass oder, wenn sie kürzere Stimmbänder haben, Tenor. Die kürzesten Stimmbänder haben die kleinen Kinder. Die Stimmbänder wachsen bis zu einer gewissen Zeit allmälig, dann nehmen sie beim Weibe nur noch wenig zu, während sie beim Manne sich während der Pubertäts- entwickelung in verhältnissmässig kurzer Zeit verlängern. Deshalb singen Knaben, Mädchen und auch Frauen Sopran und Alt, während die Stimme der Männer während der Zeit des sogenannten Mutirens, je nach dem Wachsthume, welches der Kehlkopf erfährt, entweder in Tenor oder in Bass übergeht. Wenn den Knaben vor dem Mutiren die Hoden ausge- rottet werden, wenn sie castrirt werden, so stellen sich diese Verände- rungen nicht ein. Ihre Stimmbänder bleiben verhältnissmässig kui'z, sie bekommen keinen stark nach vorn entwickelten Kehlkopf, keinen soge- nannten Adamsapfel, und sie sind deshalb während ihres ganzen Lebens im Stande, Sopran oder Alt zu singen. Bekanntlich wurde früher in Italien eine grosse Anzahl von Knaben zu musikalischen Zwecken castrirt, während in neuerer Zeit, seit das Castriren der Knaben im Occident bestraft wird, dergleichen junge Castraten aus dem Oriente bezogen und im Gesänge ausgebildet wurden. 554 Die Stimmbildung. Ausser von der Länge ist aber auch die Schwingungszahl einer Saite abhängig von ihrer Spannung, und zwar wachsen die Schwingungs- zahlen bei wachsender Spannung nach den Quadratwurzeln der spannen- den Gewichte. Die Schwingungsdauer steht also im. umgekehrten Verhält- nisse mit den Quadratwurzeln aus den Zahlen der spannenden Gewichte. Je stärker also das Stimmband angespannt wird, um so mehr geht der Ton in die Höhe, und jedes Individuum kann deshalb durch Spannung seiner M. cricothyreoidei den Ton seiner Stimme bis zu einem gewissen Grade treiben. Man hat sogar eine Zeit lang geglaubt, dass dies das einzige Mittel sei, durch welches wir mit der Bruststimme aus den tieferen Tönen in die höheren aufsteigen. Garcia aber, der den Kehl- kopfspiegel zuerst mit Erfolg angewendet und namentlich zur Unter- suchung der Mechanik des Singens benützt hat, zeigte, dass dem nicht so sei ; sondern dass wir auch beim Hinaufgehen unsere Stimmbänder verkürzen und zwar dadurch, dass die Processus vocales stärker auseinandergedrängt werden, und dadurch der hintere Theil der Stimmbänder so gegenein- ander gedrückt wird, dass er nicht mitschwingt, dass ein Knoten ent- steht, in ähnlicher Weise, wie ein solcher an einer Violinsaite dadurch erzielt wird, dass man den Finger auf die Saite aufsetzt und sie nieder- drückt. Rühlmann hat darauf aufmerksam gemacht, dass möglicher Weise im vorderen Theile des Stimmbandes ein zweiter Knoten gebildet werden kann. Hier liegt ein kleines knorpelartiges Gebilde, das man als Luschka's vorderen Sesamknorpel bezeichnet. Ein Theil der Fasern der inneren Partie des Musculus thyreoarytaenoideus, welche man als Thyreoarytaenoideus internus bezeichnet, heftet sich an denselben; andere ziehen nach aussen hart an ihm vorüber. Es ist also wohl möglich, dass diese Fasern, indem sie sich anspannen, beide Sesamknorpel aneinander drängen und so einen vorderen Knoten bilden. Auf der Erzeugung solcher Knoten im vorderen oder hinteren Theile der Stimmritze beruht es wohl, dass die Sänger einhellig angeben, dass, wenn sie angesetzt hätten zu einem gewissen Tone, sie dann durch eine Peihe von Tönen aufsteigen könnten, ohne etwas in ihrem Kehlkopfe zu verändern, dass sie aber dann, wie sie sich ausdrücken, einen neuen Einsatz nehmen müssten, um wieder weiter im Tone aufsteigen zu können. Es erklärt sich dies so, dass sie erst ihre Giessbeckenknorpel und ihre Processus vocales in einer bestimmten Lage fixiren, dann durch Anspannen der Stimmbänder mittelst des Cricothyreoideus aufsteigen, so weit sie können ; dann aber, wenn sie noch weiter aufsteigen sollen , erst ihre Processus vocales stärker aneinanderdrängen, mit einer schwächeren Spannung der Stimm- bänder anfangen und nun wiederum durch stärkere Spannung der Stimm- bänder aufsteigen. Diese Art der Stimmbildung bei welcher das Stimmband, so weit es nicht durch Aneinanderdrängen der Processus vocales festgestellt ist, als Ganzes und in seiner ganzen Breite gleichsinnig schwingt, ist nicht die einzige. Es ist Ihnen bekannt, dass Männer, welche doch an sich eine verhältnissmässig tiefe Stimme haben, mit schwächerer Stimme auch in einer verhältnissmässig hohen Tonlage singen können. Man nennt diese veränderte Stimme die Fistelstimme. Ich habe in Heidelberg einen Stu- denten gekannt, der das Duett zwischen Don Juan und Zerline allein sang, den Don Juan mit Bruststimme, die Zerline mit Fistelstimme. Flüsterstimrac. Vocale. Consonanten. öOO Ueber die Art und Weise, wie das Falset zu Stande kommt, hat Oertel in neuerer Zeit Aufschluss erlangt, indem er die Bewegungen der Stimm- bänder mittelst stroboskopiscber Scheiben, nach dem Bd. II auseinan- derzusetzenden Principe beobachtete. Er fand , dass hier Rand und Aussenstück in entgegengesetztem Sinne schwang, so dass sich also jeder- seits eine von vorn nach hinten verlaufende Knotenlinie gebildet hatte. Bei höheren Falsettönen konnten sich jederseits drei solcher Knoten- linien bilden, so dass dann jedes Stimmband, die Randzone mitgerechnet, in vier schwingende Theile zerlegt war. Auf die Höhe des Tones der Stimme hat man auch der Weite, der Oeffnung der Stimmritze einen wesentlichen Einfluss zugeschrieben, aber mit Unrecht. Thatsächlich ist die Tonhöhe in dem Sinne unabhängig von der Weite der Stimmritze, dass ein und derselbe Ton bei weiterer und engerer Stimmritze hervor- gebracht werden kann. Man kann das nicht sowohl wahrnehmen bei der Bruststimme, weil die Bruststimme überhaupt nur bei relativ enger Stimmritze hervorgebracht werden kann ; sehr deutlich aber bei der Fistelstimme. Wenn diese schwach angegeben wird, so sieht man die Stimmritze dabei bisweilen verhältnissmässig weit offen, und man be- merkt dabei das Vibriren der Ränder der Stimmbänder. Wenn man aber den Sänger denselben Ton immer stärker und stärker angeben lässt, so verengert sich die Stimmritze, bis sie endlich einen ganz schmalen Spalt bildet. Der Grund hievon ist leicht einzusehen : wenn der Sänger seinen Ton verstärken will, so kann er dies nur dadurch, dass er die Luft seiner Brusthöhle unter einen stärkeren Druck setzt. Wenn er sie aber unter einen stärkeren Druck setzt, würde sie zu rasch ausfliessen, wenn er hiebei die weite Stimmritze behielte, welche er beim piano gehabt hat; es würde die Luft mit solcher Geschwindigkeit ausfliessen, dass er den Ton nicht halten könnte, und deshalb muss er, je stärker er den Ton angibt, um so mehr die Stimmritze verengern. Flüsterstimme, Yocale, Consonanten. Ausser der Bruststimme und der Fistelstimme unterscheiden wir noch die sogenannte Flüsterstimme, vox clandestina. Die Flüsterstimme ist aber eigentlich keine Stimme. Unter Stimme verstehen wir wesentlich die tönende Stimme, und Töne werden bekanntlich nur dadurch erzeugt, dass die Luft in regelmässige, periodische Schwingungen versetzt wird. jS'icht so verhält es sich bei der Flüsterstimme. Die Flüsterstimme ist ein blosses Geräusch. Sie wird dadurch hervorgebracht, dass die Stimmritze zwar massig verengert wird, dass aber die Processus vocales nicht so gestellt werden, dass jener dünne membranartige Rand vorspringt, von dem ich früher gesprochen, wnä vermöge dessen das Stimmband zum Ansprechen geeignet wird. Das Stimmband setzt vielmehr dem Strome der Luft eine mehr stumpfe Kante entgegen, die Luft, indem sie vorübergeht, reibt sich an dem Stimmbande, und so werden unregelmässige Impulse und damit ein Geräusch erzeugt. Die Flüsterstimme dient uns dazu, den Ton der Stimme zu ersetzen, wenn wir leise sprechen. Die Flüster- stimme wird dann ebenso den Vocalen und den tönenden Consonanten mitgegeben, wie beim lauten Sprechen die tönende Stimme den Vocalen und den tönenden Consonanten mitgegeben wird. OÖD Flüsterstimme, Vocale, Consonanten. Abgesehen von der Stimme werden die wesentlichen Bedingungen für die meisten Vocale und Consonanten in der Mundhöhle hergestellt, aber gewisse Sprachelemente haben ihren Ursprung im Kehlkopfe. Dazu gehört zunächt das H. Wenn Sie die Stimmritze etwas mehr erweitern, wie sie bei der Flüsterstimme erweitert ist, aber doch nicht auf ihr Maximum, so geht ein breiter Luftstrom, der gegen die Rachenwand an- fällt, mit einem schwachen Eeibungsgeräusche aus der Stimmritze heraus, und das Reibungsgeräusch, welches er hier macht, und welches noch durch seinen Anfall an die Rachenwand modificirt wird, ist der Laut des gewöhnlichen H. Ausser diesem gewöhnlichen H haben die Araber noch ein verstärktes H, welches dadurch hervorgebracht wird, dass die Stimm- ritze zwar nicht zum Tönen verengt wird, dass aber bei etwas von ein- ander entfernten Giessbeckenknorpeln die Processus vocales gegen einander gewendet sind, so dass sie vorspringende Ecken bilden, Grenzpfeiler zwischen einem vorderen Theile der Stimmritze, welcher zwischen den Stimmbändern liegt, und welchen man als Glottis vocalis bezeichnet, und einem hinteren Theile der Stimmritze, welcher zwischen den Giessbecken- knorpeln und zwischen den beiden Ligamentis triquetris liegt, und den man seltsamer Weise mit dem Namen Glottis respiratoria bezeichnet. Ueber der so gestalteten Stimmritze wird dann noch der Kehlkopfeingang verengt, indem sich die Muse, cricoarytaenoidei obliqui und die Muse, aryepiglottidei zusammenziehen, somit die Giessbeckenknorpel und der Kehldeckel einander genähert werden, und auch die falschen Stimmbänder näher gegen einander treten, so dass hier eine Reihe von Anfractuositäten gebildet wird, an denen sich die Luft mit einem starken, rauhen Ge- räusche reibt, welches dieses starke H der Araber darstellt. Auch der einfache Verschluss des Kehlkopfes, das einfache Anein- anderdrücken der Stimmbänder ist ein Sprachelement. Wir bezeichnen in unserer Schrift den Verschluss der Stimmritze nicht besonders, weil er überall da stattfindet, wo ein Wort mit einem Vocal anfängt, und weil er bei uns im Innern der Wörter seltener vorkommt. Bei den Griechen aber wurde er durch ein eigenes Schriftzeichen, durch den Spiritus lenis ausgedrückt. Wenn der beginnende Vocal angesprochen werden sollte aus der verschlossenen Stimmritze, so bekam er den so- genannten Spiritus lenis, und wurde dann so angesprochen wie bei uns alle anlautenden Vocale, wenn er dagegen den Spiritus asper erhielt, so wurde er mit offener Stimmritze angesprochen, und zwar bei massig entfernten, sich dann einander nähernden Stimmbändern, so dass ihm ein Reibungsgeräusch, ein H vorherging. Die Araber betrachten den Verschluss der Stimmritze geradezu als einen Consonanten, welchen sie mit dem Namen Hamze bezeichnen. Es kommt bei ihnen dieser Ver- schluss als Sprachelement nicht nur zu Anfang, sondern auch in der Mitte und selbst zu Ende der Wörter vor, und deshalb haben sie für ihn ein eigenes Schriftzeichen, welches sie mit zu den Consonanten- zeichen rechnen. Wenn man die Stimmbänder aneinander drückt und ihren Verschluss gewaltsam durchbricht, dabei aber die Stimmbänder noch weiter aneinander drückt, so dass die Luft in kleinen Explosionen fortgeht, so erzeugt man dadurch ein knarrendes Geräusch. So lange die Stimmritze nur verengt ist, so lange erleidet die Luft nur Verdichtungen und Verdünnungen, Flüsterstimine, Vocale, Consonanten. Oö7 welche je nach der Schwingungsdauer der Stimmbänder einen höheren oder tieferen Ton geben 5 wenn man aber die Stimmbänder aneinander drückt, wird jedesmal die Luft vollständig abgeschnitten, es werden nur successiv und rasch hinter einander kleinere Luftquantitäten hinaus- gestossen, welche durch die rasch auf einander folgenden Explosionen jenes knarrende Geräusch erzeugen. Dieses Geräusch ist das Ain der Araber. Es führt den Namen Ain, Auge, nach dem Schriftzeichen, welches die Araber dafür haben. Es ist der A.nfangsconsonant z. B. in Adam, Ali, wo wir keinen Consonanten sprechen, weil wir diese Wörter einfach aus dem Kehlkopfverschlusse ansprechen, während die Araber sie mit jenem knarrenden Geräusche ansprechen, welches den für den Europäer so schwer auszusprechenden arabischen Consonanten Ain reprä- sentirt. Die Vocale entstehen nicht im Kehlkopfe, sondern in der Mund- und in der Rachenhöhle, in dem Ausatzrohre, welches an das Stimmwerk angesetzt ist, und zwar entstehen sie durch Reflexionen, welche die Schallwellen, die aus dem Kehlkopfe herauskommen, in diesem Ansatz- rohre erleiden. Wenn verschiedene Wellensysteme, direct fortschreitende und reflectirte, auf einander treffen, so setzen sich, wie Sie wissen, die Impulse zusammen nach dem Gesetze von der Coexistenz der kleinsten Bewegungen, ähnlich wie sich auf einem Wasserspiegel auch die fort- schreitenden und die reflectirten Wellen zusammensetzen, nur dass die Wasserwellen Transversalwellen sind, während man es beim Schall mit Longitudinalwellen zu thun hat. So entstehen also in der Mund- und Rachenhöhle complicirte Wellensysteme, welche an unser Ohr gelangen und dort wieder in verschiedene Systeme von pendelartigen Schwingungen zerlegt werden, wie wir das später in der Akustik werden kennen lernen. Vermöge dieser verschiedenen Systeme von pendelartigen Schwingungen, die wir durch eine Art physiologischer Analyse erhalten, werden ver- schiedene Arten von Nervenfasern in unserem Ohre erregt, und dadurch werden uns qualitativ verschiedene Tonempfindungen erzeugt, welche wir mit dem Namen der verschiedenen Färbungen der Stimme belegen. Unter die Kategorie dieser verschiedenen Färbungen fallen auch die Vocale ; sie werden alle dadurch hervorgebracht, dass man dem Ansatzrohre ver- schiedene Dimensionen und verschiedene Gestalt gibt. Man kann die Vocale in eine natürliche Reihenfolge bringen, die aber nicht lautet a e i 0 u, sondern i e a 0 u. Beim i ist das Ansatzrohr am kürzesten, indem der Kehlkopf am höchsten gehoben wird, die Lippen zurückgezogen werden und die Mundspalte der Breite nach erweitert wird. Zugleich ist beim i die Ausflussöffnung relativ gross, wegen der in die Breite gezogenen Mundspalte. Beim u dagegen ist das Ansatzrohr am längsten, indem der Kehlkopf herabgezogen wird, und die Mundöff'nung nach vorn geschoben und zugleich verengt wird, da ja die Lippen in eine runde Oeffnung zusammengezogen werden. Sie sehen also, dass hier ähnliche Mittel in Anwendung gebracht werden, um auf den ursprünglichen Ton zu wirken, wie dies bei der Physharmonika der Fall ist. Ausserdem ist beim i und e der Mundkaual in eine vordere und hintere Abtheilung gebracht, indem die Zunge in der Mitte gehoben und dem Gaumen ge- nähert wird. Man hat zu verschiedenen Zeiten künstliche Maschinen gebaut, welche die menschliche Sprache nachahmen sollten. Zuerst hat 558 Flüsterstimme, Vocale, Consonanten. Wolfgang von Kempelen ein solches Instrument verfertigt, das, so weit es sich um Erzeugung der Vocale handelte, aus einem Stimmwerke und einem Kautschuktrichter bestand. Dadurch, dass er letzteren mit der Hand in verschiedener Weise und mehr oder weniger deckte, und so die Resonanz des Stimmwerkes veränderte, ahmte er die verschiedenen Vocale nach. Zu derselben Zeit hat Kr atzen stein, Professor der Physik in Jena, um eine Preisaufgabe der Petersburger Akademie zu lösen, die verschiedenen Vocale dadurch nachgeahmt, dass er auf ein Stimmwerk Ansatzröhren von verschiedener Form und verschiedenen Dimensionen setzte. Wenn man Kempelen's Vocaltrichter aus Holz nachbildet, in den Hals ein Stimmwerk, eine der Stimmen, wie sie zum Bau einer Mund- harmonika verwendet werden, einsetzt, und die vordere breitere Oeffnung durch ein Brett mehr oder weniger verschliesst, so wird der Ton merk- lich vocalisch verändert. Der Trichter gibt a, o und u ziemlich deutlich ; a bei der grössten, u bei der kleinsten Oeffnung. Die Vocale e und i lassen sich auf diesem Wege nicht erkennbar hervorbringen. Willis hat einen andern, flacheren Vocaltrichter construirt, welcher ein erkenn- bares e, aber auch kein i gibt. Es hängt dies damit zusammen, dass die Bedingungen, welche zum Entstehen des i nöthig sind, nicht erfüllt werden. Erstens müsste, wie dies bei der Mundhöhle geschieht, die Höhle des Trichters in zwei Theile getheilt werden können, und ausserdem kommt noch hinzu, dass beim Hervorbringen des i auf natürlichem Wege die die Mundhöhle umgebenden Theile viel stärker mitschwingen, als bei anderen Vocalen. Das ist auch den Taubstummenlehrern bekannt, und sie lehren den Taubstummen das i erkennen, indem sie seine Hand auf ihren Kopf legen, während sie i anhaltend hervorbringen, wo er dann ein Schwirren fühlt, welches er nicht wahrnimmt, wenn ein a oder o oder ein anderer sogenannter offener Vocal lautet. Die reinen Vocale werden hervorgebracht bei geschlossener Gaumen- klappe; wenn die Gaumenklappe geöffnet wird, so sind die Vocale nasalirt. Man hat dies bestritten und hat dagegen angeführt, das Oeffnen der Gaumenklappe könne es nicht sein, was das Nasaliren hervorruft, weil man ja mit zugehaltener Nase ganz gut nasaliren könne. Man hat aber hier verkannt, was eigentlich das Wesentliche sei. Es ist ja nicht be- hauptet worden, dass das Nasaliren dadurch entsteht, dass die Luft aus der Nase ausströmt. Das Nasaliren entsteht dadurch, dass die Luft in der Nasenhöhle in Mitschwingungen geräth. Wenn ich die Nase zuhalte, so thue ich nichts Anderes, als dass ich ein offenes Ansatzrohr in ein geschlossenes verwandle, in welchem jetzt die Luft im Allgemeinen noch besser mitschwingt als in einem offenen Ansatzrohre. Dass wirklich bei den reinen Vocalen die Gaumenklappe geschlossen ist und beim Nasaliren offen, davon kann man sich überzeugen, indem man die Flamme eines Wachsstockes in die Nähe der Nase hält, so dass sie getroffen wird von Luft, welche aus der Nase kommt, aber nicht von der, welche aus der Mundhöhle ausströmt. So lange man einen reinen Vocal spricht oder singt, bleibt die Flamme ruhig, sowie man nasalirt, flackert die Flamme. Ein anderes, noch empfindlicheres Verfahren hat Czermak angegeben. Er bringt einen Spiegel, der hinreichend warm ist, um nicht zu be- schlagen, wenn man ihn au die Haut ansetzt, mit der spiegelnden Fläche Flüsterstimme, Vocale, Consonanten. 559 nach oben gewendet, an die Oberlippe und spricht oder singt einen reinen Vocal ; dann beschlägt der Spiegel nicht : beim Nasaliren dagegen entsteht sofort ein Beschlag. Czermak hat auch gezeigt, dass bei verschiedenen Vocalen das Gaumensegel verschieden stark angezogen wird, am wenigsten beim a, am meisten beim i, dem am meisten geschlossenen Vocal. Der Grund davon ist leicht einzusehen. Wenn die Luft vorn frei ausfliessen kann, so braucht der Verschluss gegen die Nasenhöhle hin nur ein lockerer zu sein ; wenn die Luft aber durch einen engen Kanal ausgetrieben werden soll, so muss das Gaumensegel schärfer hinaufgezogen werden, um einen festeren Verschluss zu bilden, damit die Luft nicht gegen die Nasen- höhle hin durchbreche und die Luft in derselben in Mitschwingungen versetze. Um das Factum zu beweisen, biegt er einen Draht rechtwinklig um und wickelt dann das eine Ende desselben in eine in der Fläche liegende Spirale auf. Diesen Draht führt er durch den unteren Nasen- gang ein, so dass die Spirale, welche er, um ihr ihre Rauhigkeiten zu nehmen, mit Wachs bekleidet hat, auf dem Gaumensegel ruht. So wie das Gaumensegel sich hebt, wird dies merklich durch eine seitliche Schwankung des Drahtes, der zur Nase heraushängt. Wenn man von a durch ä und e in i ijbergeht, so bemerkt man, dass die Ablenkung immer stärker wird, zum Zeichen, dass beim i das Gaumensegel stärker hinauf- gezogen wird als bei den anderen Vocalen. Von den Consonanten beruhen nur die M-, N- und NG-Laute, wie die Vocale , lediglich auf Resonanz. Sie unterscheiden sich von den Vocalen dadurch, dass bei ihnen die Mundhöhle irgendwo geschlossen wird, entweder mit den Lippen, oder mit dem vorderen Theil der Zunge, oder mit dem mittleren oder hinteren Theile der Zunge, während bei den Vocalen der Mundkanal in seiner ganzen Länge offen ist. Weil diese Consonanten wie die Vocale auf Resonanz beruhen, sind sie auch als Halbvocale bezeichnet worden. Die übrigen Consonanten werden alle bei geschlossener Gaumenklappe gebildet, und es tritt entweder ein Verschluss im Mundkanale ein, das geschieht bei b, p, d, t, g und k, oder es wird irgendwo ein von der Stimme unabhängiges accessorisches Geräusch gebildet, welches entweder für sich allein den Consonanten repräsentirt, wie dies bei den tonlosen Consonanten der Fall ist, oder welches neben dem Tone der Stimme erscheint, wie dies bei den tönenden Consonanten der Fall ist. (Ende des ersten Bandes.) Druck von Adolf HolzLausen in Wien, k. k. Hof- und üniversitäts-ßuchdrueker. VORLESUNGEN ÜBER PHYSIOLOGIE VON ERNST BRÜCKE. UNTER DESSEN AUFSICHT NACH STENOGRAPHISCHEN AUFZEICHNUNGEN HERAUSGEGEBEN. ZWEITER BAND. SOMMEESEÄIESTEE, 1886. PHYSIOLOGIE DER NERVEN UND DER SINNESORGANE UND ENTWICKELUNGS- GESCHICHTE. VIERTE VERMEHRTE UND VERBESSERTE AUFLAGE. MIT 104 HOLZSCHNITTEN. WIEN, 1887. WILHELM B R A U :\r Ü L L E R K. K. HOF- UXD UNIVERSITÄTSBUCHHÄNDLER. INHALT. Seite Nervensystem, Allgemeines 1 Functionelle Verschiedenheiten der Nerven 20 Motorische Nerven 28 Elektrische Organe und ihre Nerven 38 Centripetalleitende Nerven . > 43 Rückenmark und Gehirn 45 Die Nerven: Nervus oculomotorius 85 Nervus trochlearis 91 — abducens 92 — trigeminus 93 — facialis seu communicans faciei 101 — glossopharyngeus 106 — vagus und Nervus accessorius Willisü 109 — hypoglossus 121 — sympathicus 122 Gesichtssinn: Das Auge 128 Die Hornhaut 130 Die Sclerotica 135 Die Tunica uvea 136 Retina 142 Zonula Zinna 148 Die Linse 149 Der Glaskörper 151 Die Bindehaut 152 Das Sehen und die Farben 154 Zeitlicher Verlauf der Netzhauterregung 163 Nachbilder 167 Thoma« Young's Theorie 169 Farbenblindheit ' 172 Unterscheidungsvermögen der Netzhaut 174 Mario tte's blinder Fleck 176 Dioptrik des Auges 177 Scheinbare Grösse 183 Sehweite und Accommodation 187 Mängel des diojstrischen Apparates: Chromasie 193 Polyopia monophthalmica 195 Astigmatismiis 196 Mangelhafte Centrirung 198 Refractions- und Accommodationsanomalien 199 Vergrösserungsmittel für die Nähe und Ferne: Lupe, Dissectionsbrille und einfaches Mikroskop 211 Das zusammengesetzte Mikroskop und das Keppler'sche oder astrono- mische Fernrohr 212 Galilei'sches Fernrohr und Chevalier's Lupe 213 Die Augenspiegel 215 Die J3eobachtung von Gegenständen im eigenen Auge 218 Binoculäres Sehen 222 Stereoskope 226 Horopter 233 IV Inhalt. Seite Das Gehör 235 Aeusseres Ohr 243 Trommelfell und mittleres Ohr 244 Inneres Ohr 247 Theorie der Tonempfindungen 250 Geruchssinn 257 Geschmackssinn: Verbreitungsgebiet 260 Die Zunge 262 Geschmacksempfindungen 265 Tastsinn und Gemeingefühl 266 Zeugung und Entwickelung: Urzeugung- 272 Vermehrung durch Th eilung 276 — durch Knospenbildung 278 Fortpflanzung durch Keimkörper und durch Eier 279 Generationswechsel 280 Die Eier v^nd der Eierstock 283 Ablösung der Eier 287 Menstruation 289 Corpus luteum 291 Uebergang des Eies in die Tuba 292 Der Same . 293 Die Befruchtung 295 Der Furchungs- oder Zerklüftungsprocess des Dotters 298 Die Keimblätter 300 Eihäute und Placenta 303 Zwillinge und Drillinge 309 Superfötation 310 Aufbau des Embryo 311 Entwickelung des Nervensystems 314 — des Auges 315 — des Geruchsorgans 317 — des inneren Ohres 317 — des Knochen-, Haut- und Muskelsystems 318 — der inneren Geschlechtstheile 323 Descensus testiculorum 325 Entwickelung des chylopoetischen Systems 326 — des Peritonaeums 328 — der Milz und der Lymphdrüsen des Mesenteriums . . 329 — der Lungen 329 — des Herzens und der Arterien 329 — der Venen 331 Der schwangere Uterus .' 332 Die Geburt * 333 Das Kind nach der Geburt 334 Entwickelung der Gewebe (Histogenesis) : Die Horngebilde. Die Oberhaut . 337 Die Nägel 338 Die Haare 339 Der Knorpel 342 Das Bindegewebe 343 Die Knochen 344 Die Zähne und ihre Entwickelung 350 Der Zahnwechsel 353 Zeiten des Hervorbrechens der Zähne 353 Entwickelung der Elemente des Nervensystems 354 — der Muskelfasern „ 355 — der elastischen Fasern 356 — der Linse 357 — der Blutgefässe 358 Nervensystem. Allgemeines. Wir haben uns jetzt mit der Physiologie des Nervensystems zu be- schäftigen. Ehe wir darauf eingehen, müssen wir uns zuerst näher mit den Formbestandtheilen des letzteren bekannt machen. Man theilt die Elemente des Nervensystems ein in zellige und in faserige. Man kann das Nervensystem vergleichen mit dem Telegraphensysteme eines Staates, wo dann die zelligen Elemente die aufgestellten Apparate vorstellen, während die faserigen, die Nervenfasern, die Drahtleitungen vorstellen, auf welchen die Impulse, einerseits vom Centrum gegen die Peripherie, andererseits von der Peripherie nach dem Centrum befördert werden. Man muss dann das Gehirn und Rückenmark ansehen als die grosse Telegraphenstation der Hauptstadt und die in den verschiedenen Theilen des Körpers zerstreuten Ganglien als die Stationen der kleineren Orte. Wir wir später sehen werden, lässt sich dieser Vergleich nicht im Einzelnen durchführen und aufrechterhalten, im Grossen und Ganzen kann man ihn aber gelten lassen. Wenn an einer Nervenfaser Alles, was daran vorhanden sein kann, vorkommt, so besteht sie aus der Scheide, einer membranösen, röhrigen Hülle, aus dem Marke und aus dem Axencylinder, nach seinem Entdecker Purkinje, der Purkinje' sehe Axencylinder genannt. Er wird auch bezeichnet mit dem Namen des Remak'schen Bandes. Der Axencylinder ist an der frischen Nervenfaser nur ausnahmsweise deutlich zu unter- scheiden, meist muss man sich künstlicher Mittel bedienen, um ihn sichtbar zu machen. Das Nervenmark besteht theils aus Eiweisskörpei*n , theils aus Cerebrin, Lecithin (Protagon, s. Bd. I, S. 109), Cholesterin und aus Fett, also aus Körpern, von denen ein grosser Theil in Alkohol löslich ist. Man nimmt ein Nervenbündel und kocht es in Alkohol aus. Nachdem dies geschehen, zerfasert man es. Das Nervenmark ist nun krümlich geworden und man sieht in demselben den Axencylinder als einen centralen Strang ver- laufen. Er ist aber durch das Auskochen mit Alkohol stark geschrumpft, auf die Hälfte oder ein Dritttheil seines wahren Durchmessers. Häufig gelingt es auch, beim Zerreissen der Nervenfaser den Axencylinder eine kürzere oder längere Strecke lang aus der Scheide und den darin befindlichen Pesten des Markes heraushängen zu sehen. Wenn man durch Auskochen mit Alkohol und Aether so vollständig als möglich erschöpft, so bleibt ein anscheinend gitterförmiger, mit der äusseren Hülle direct verbundener Eest der Markscheide zurück. Seine Siibstanz verhält sich gegen Reagentien Brücke. Vorlesungen. JI. 4. Aufl. 1 i Nervensystem. und Verdauungsflüssigkeiten ähnlich wie Hornsubstanz. W.Kühne nennt diese Substanz deshalb Neurokeratin. Ein anderes Hilfsmittel, das von Pflüg er angegeben ist, besteht darin, dass man ein Stück eines ganz frischen Nervenstammes, ohne Wasser hinzuzufügen, auf dem übjectträger zerzupft und dann einen Tropfen Collodiumlösung darauf setzt; dann in- filtrirt sich die Nervenfaser mit CoUodium und nun sieht man im Innern derselben den Axencylinder verlaufen. Noch viel besser kann man den Axencylinder sehen an gehärteten und gefärbten Präparaten. Man nimmt ein Stück von einem Nerven oder ein Stück des Eückenmarks und legt es in Chromsäure, worin es sich soweit erhärtet, dass man es in dünne Schnitte zerlegen kann. Diese dünnen Schnitte bringt man, nachdem mau die Chromsäure mit Wasser wieder ausgewaschen hat, in eine ammonia- kalische Carminlösung. Dann färbt sich zuerst der Axencylinder ; das Nervenmark nimmt die Färbung schwierig an, so dass zu einer Zeit, wo der Axencylinder schon tief roth gefärbt ist, das Nervenmark noch völlig weiss ist. Dann sieht man auf Längsschnitten den gefärbten Axencylinder durchschimmern, und auf Querschnitten sieht man im Centrum den schön roth gefärbten Axencylinder, rundum das Mark und nach aussen davon einen Contour, welcher die Scheide der Nervenfaser darstellt. So schön diese Bilder sind, so sind sie indessen, wie v. Fleischl nachgewiesen hat, doch in hohem Grade unwahr. Man hat hier nur das geschrumpfte Ge- rinnsel des eigentlichen Axencj^linders, wie er im Leben existirt, vor sich. Des letzteren Consistenz ist wahrscheinlich so gering, dass man sich, wie dies ja bei lebenden Gebilden öfter der Fall ist, schwer entscheiden kann, ob man ihn fest oder flüssig nennen soll. Wenn man Stücke eines und desselben Nerven oder eines und desselben Eückenmarks in Chromsäure, in Alkohol und in Ueberosmiumsäure härtet, so ist der Axcncj^linder in den in den beiden letzteren Flüssigkeiten gehärteten Präparaten immer viel dicker im Verhältnisse zum Mark, und an Längsschnitten von Chrom- säurepräparaten sieht man oft statt des geraden Stranges, den der Axen- cylinder darstellen soll, einen vielfach angeschwollenen, ja ganz unregel- mässigen, mit einer Menge von seitlichen, hernienartigen Ausstülpungen, die sich weit in das Mark hinein erstrecken, versehenen. Besser conservirt der Axencylinder seine Gestalt in sehr verdünnter Ueberosmiumsäure; man kann ihn auch hier auf Querschnitten sehr schön erkennen, wenn man die Sä\ire so lange einwirken lässt, dass sich das Mark dunkel färbt, nicht aber der Axencylinder. Aus den Untersuchungen von Bemak, Babuchin, Max Schnitze, S. Freud und Kupfer hat sich mit ziemlicher Sicherheit ergeben, dass der lebende Axencylinder aus feinen Fäden besteht, die nebeneinander wie die Drähte eines Kabels in einer Flüssigkeit liegen. Freilich kann man über die Consistenz, welche diese Fäden im Leben haben, noch nichts Sicheres aussagen, dass sie aber histologisch verschieden sind von der sie umgebenden Flüssigkeit, daran kann man wohl nicht mehr zweifeln ; auch kann man sie nach den Bildern, welche sie im gefärbten Zustande auf Längs- und Querschnitten von mit Osmiumsäure gehärteten Nerven geben, nicht für zufällige fadenförmige Gerinnsel halten. Der Axencylinder ist offenbar der wesentliche Theil der Nerven- faser, in welchem die Fortleitung der Nervenerregungen stattfindet, denn alle anderen Theile der Nervenfaser können fehlen, nur der Axencylinder Allgemeines. ö muss vorhanden sein. Eine Nervenfaser kann als nackter Axencylinder aus einer Gangiienkugel entspringen, dieser kann dann nachher erst eine Markscheide und eine Hülle bekommen, er kann mit dieser eine Strecke lang verlaufen als markhaltige Nervenfaser, und dann kann er gegen sein peripherisches Ende wiederum die Markscheide verlieren, es kann der Axencylinder allein sich fortsetzen, so dass wir deutlich sehen, dass es der Axencylinder ist, der als wesentlicher Theil der Nervenfaser conservirt wird. Wenn die Nervenfaser aus dem Körper herausgenommen und unter das Mikroskop gebracht wird, besonders wenn man Wasser oder verdünnte Kochsalzlösung hinzusetzt, so geht das Nervenmark eine eigenthümliche Veränderung ein, sei es Gerinnung, sei es Quellung, oder beides zugleich, und bei dieser Veränderung geschieht es, dass sich am Rande zwei mehr oder weniger unregelmässige Contouren neben einander bilden, indem das stark lichtbrechende Mark sich nicht nur nach aussen, sondern auch nach innen, das heisst gegen den noch nicht geschrumpften, schwächer lichtbrechen- den Axencylinder absetzt. Wegen dieser doppelten Contouren, welche diese markhaltigen Nervenfasern unterm Mikroskope erhalten, bezeichnet man sie mit dem Namen der doppelrandigen Nervenfasern. Eine andere Art von Fasern kommt vor in der weissen Substanz des Gehirns, dann im Stamme des Nervus olfactorius, dann im Opticus und im Acusticus. Diese verhalten sich, wenn sie aus dem Körper her- ausgenommen werden, anders als die eben besprochenen doppelrandigen Nervenfasern. Sie verändern sich so, dass das Mark sich in einzelne tropfenförmige Klumpen zusammenballt, die gewissermassen Perlen dar- stellen, welche auf den Axencylinder aufgezogen sind, und diese Fasern nennt man die markhaltigen perlschnurförmigen oder die varicösen Nervenfasern. Also die doppelrandigen Nervenfasern sind nicht im lebenden Körper doppelrandig und die markhaltigen varicösen sind im lebenden Körper auch nicht varicös : beide Arten von Nervenfasern sind glattrandig, wenn sie aber aus dem Körper herauskommen, besonders wenn Wasser zugesetzt wird, so verändern sie sich in dieser Weise, und weil diese Veränderungen charakteristisch und leicht wieder zu erkennen sind , so nennt man die eine Art die doppelrandigen, die andere die varicösen oder perlschnur- förmigen Fasern. Die Nervenfasern haben eine sehr verschiedene Dicke. Die dicksten kommen bei den Fischen vor. So hat der Zitterwels, Malapterurus elec- tricus, zu jeder Seite eine einzige Nervenfaser für das ganze elektrische Organ. Diese entspringt als ein sehr dicker Axencylinder, der sich mit einer ebenso dicken Scheide umgibt und sich nun nach und nach so lange dichotomisch theilt, bis er das ganze Organ versorgt hat. Eine andere sehr dicke Faser liegt bei den Fischen jederseits im Rückenmarke, in dem sie von oben nach abwärts verläuft. Diese Faser hat man auch mit dem Namen der colossalen Faser bezeichnet. Von den Nervenfasern, welche in den Nervenstämmen verlaufen , sind im Allgemeinen . die motorischen dicker als die sensiblen ; vorherrschend dünne Fasern verlaufen im Grenz- strange des Sympathicus. Ausser diesen markhaltigen Nervenfasern gibt es nun noch raark- lose, also Fasern, die aus einem Axencylinder in einer marklosen Hülle bestehen. Als Remak diese marklosen Fasern zuerst im Sympathicus 1* 4: Nervensystem auffand, da war man geneigt, sie für eine eigene Art von Nervenfasern zu halten, und man bezeichnete sie mit dem Namen der grauen Fasern, im Gegensatze zu den gewöhnlichen oder markhaltigen Fasern. Die mark- haltigen Fasern sind weiss wegen des stark lichtbrechenden Markes, welches in ihnen enthalten ist, und wegen der starken Reflexion, die dieses Mark bedingt. Deshalb ist die weisse Substanz des Gehirns weiss und die weisse Substanz des Rückenmarkes weiss. Die graue Substanz des Gehirns und Rückenmarkes ist deshalb dunkler gefärbt, weil sie eben diese mark- haltigen Fasern in geringerer Menge enthält, weil sie hauptsächlich aus zelligen Elementen und aus marklosen Fasern, Blutgefässen u. s. w. besteht. So erscheinen nun auch diese marklosen Fasern da, wo sie in grösserer Masse zusammenliegen, dem blossen oder nur mit der Loupe bewaffneten Auge grau, im Verhältnisse zu den entschieden weissen markhaltigen Fasern, und deshalb hat man ihnen den Namen der grauen Fasern ge- geben. Man hat aber später eingesehen, dass dies überhaupt keine eigene Art von Nervenfasern ist, und dass man die Nervenfasern im Allgemeinen nicht eintheilen kann in markhaltige und marklose Fasern, weil ein und dieselbe Nervenfaser marklos entspringen kann, nämlich als nackter Axen- cylinder, dann markhaltig wird, indem sie sich mit einer Markscheide umgibt, und endlich in ihrer peripherischen Ausbreitung wiederum mark- los wird. Ja, manche Arten von Nervenfasern sind selbst im Extrautcrin- leben, in der Kindheit, noch marklos, während sie sich doch in einer späteren Zeit mit einer Markscheide umgeben. Mit diesem Allen soll indessen keineswegs gesagt sein, dass es nicht Nervenfasern gebe, die das ganze Leben hindurch von ihrem Ursprünge an bis zu ihrer peripheren Endigung marklos bleiben. L. Königstein fand in den Aesten und in der Wurzel des N. trigeminus sehr feine marklose Fasern, die in ihrem Aussehen und in ihrem Verhalten ganz solchen glichen, wie er sie in den Hornhautästen aus der Theilung mark- haltiger Nervenfasern hervorgehen sah, und doch liess es siph nicht wahr- scheinlich machen, dass diese marklosen Fasern ausserhalb des Centralorgans irgendwo mit markhaltigen in Verbindung gestanden hätten. Es ist hiermit nicht gemeint, dass diese dünnen marklosen Fasern zur Cornea verlaufen. Eher kann man vermuthen, dass sie an irgend einem der Wurzel näher liegenden Orte endigen, denn nach Schwalbe sind im Allgemeinen die dickeren Fasern der Wurzeln für einen längeren Verlauf bestimmt, die dünneren für einen kürzeren. Von den marklosen Nervenfasern gibt es wiederum verschiedene Formen. Erstens gibt es solche, welche entweder rundlich oder platt- gedrückt sind, und auf welchen man von Stelle zu Stelle längliche Kerne findet. Das ist die erste Form von allen embryonalen Nervenfasern und zugleich kommen sie, wie gesagt, selbst im Extrauterinleben an Stellen vor, wo man später markhaltige findet. Wenn man den harten Gaumen eines neugebornen Kindes untersucht, so findet man dort eine grosse Menge von Fasern mit länglichen Kernen, so dass man bei dem ersten Anblicke glaubt, man habe es mit glatten Muskelfasern zu thun. Verfolgt man diese aber weiter, so sieht man, dass sie in Stämmchen zusammenlaufen und den Charakter der Nerven an sich tragen. Vergleicht man damit den Gaumen eines Erwachsenen, so findet man an ihrer Stelle markhaltige Nervenfasern, indem sie später eine Markscheide erhalten haben. Allgemeines. O Andere Arten von Xervenfasern. die man mit dem !Xainen der mark- losen varicösen Fasern bezeichnet, gleichen einem dünnen Faden, der von Stelle zu Stelle kemartige Anseh-wellungen hat. IS^och andere sind mehr oder "weniger drehmnd oder abgeplattet, bald gröbere und bald feinere Fäden, die entweder parallel nebeneinanderlaufen oder sich dicho- tomisch Terzweigen. 3Xan sieht also, dass diese Arten von Xervenfasem nichts Charakteristisches haben. Man kann also auch einer solchen mark- losen Nervenfaser unter dem Mikroskope nicht ansehen, ob sie eine Ner- venfaser ist oder ob sie keine Nervenfaser ist. Ganz anders verhält es sich, wie wir gesehen, mit den markhaltigen. Diese kann man durchaus mit keinem andern Gewebselemente verwechseln, und wenn man deshalb unter dem Mikroskope Fasern hat. von welchen man Verdacht schöpft, dass sie marklose Nervenfasern seien, so kann man die Gewissheit hierüber nur dadurch erlangen, dass man sie zu verfolgen sucht bis zu ihren Verbin- dungen mit einer markhaltigen Faser. Diese marklosen Nervenfasern sind eben äusserst blass und äusserst schwer in den Geweben zu sehen, und man hat deshalb verschiedene künstliche Hilfsmittel angewendet, um sie in den Geweben noch sichtbar zu machen. Nun hat man gefunden, dass sich mittelst Imprägnation mit Goldlösung und nachfolgender Eeduction die Nerven eigenthümlich violett färben lassen, und man hat deshalb diese violette Färbung in den Organen vielfältig benützt, nm in denselben noch Nervenverbreitungen sichtbar zu machen, die man ohne weitere Präparation nicht mehr sehen kann. Da diese Färbung mit Goldchlorid auf einem Eeductionsprocesse beruht, und nicht blos Nervenfasern, sondern auch andere Gebilde sich färben, so kann man den Satz, dass sich Nervenfasern mit Gold färben, nicht ohne Weiteres umkehren und nicht sagen, das. was sich mit Gold färbt, ist Nervenfaser; sondern man muss immer suchen, die Nervenfasern nach rückwärts zu verfolgen und ihre Verbindungen mit markhaltigen Fasern nachzuweisen : erst dann hat man die Ueberzeugung . dass man es mit marklosen Nervenfasern und nicht mit anderen Gewebselementen zu thun habe. Man war früher der Meinung, dass die Nervenfasern ungetheilt von ihrem Anfange bis zu ihrem Ende verlaufen. Indessen hatte Schwann schon einmal eine getheilte Nervenfaser im Schwänze einer Froschlarve gesehen, als in den Vierzigerjahren dieses Jahrhunderts von Joh. Müller in den Augenmuskeln Theilungen von Nervenfasern aufgefunden wurden. Nachdem die Nerven in die Muskeln eingetreten sind . theilen sie sich mehrfach dichotomisch. um dann erst zu endigen. Später hat Reichert ein noch geeigneteres Object an einem kleinen Muskel gefunden, der seit- lich vom Brustbein der Frösche zur Haut geht. An diesem lassen sich sehr schön eine grosse Menge von Theilungen beobachten. Noch viel zahlreicher sind die Theilun^n der motorischen Nerven an den Glieder- thieren, z. B. bei den Krebsen, wo sich die Nervenfasern förmlich baum- artig verzweigen, ehe sie sich an die einzelnen Muskelfasern vertheilen. Auch andere Nervenfasern als die motorischen verzweigen sich. Am zahl- reichsten kommt dies bei den elektrischen Nerven vor. besonders bei den Nerven von Malapterurus electricus. Auch die sensiblen Nervenfasern ver- zweigen sich, theils so lange sie noch markhaltig sind, theils nachdem sie ihr Mark verloren haben. Wenn sich eine markhaltise Nervenfaser b Nervensystem. verzweigt, so geschieht dies in der Weise, dass an dem Marke und der Scheide eine kleine Einschnürung entsteht und von dieser Einschnürungs- stelle aus zwei oder manchmal drei Nervenfasern abgehen, indem sich der Axencylinder dem entsprechend in eben so viele neue Fäden theilt. Dergleichen Verzweigungen können mehrmals hintereinander stattfinden. Solche Einschnürungen, wie sie an den Theilungsstellen der markhaltigen Nervenfasern regelmässig vorkommen, fi.ndet man auch sonst im Verlaufe der Nerven. Man nennt sie Eanvier'sche Schnürringe. Die Theilungen marklos gewordener Fasern gehen so vor sich, dass sie in feine Fäden zerfallen, die complicirte Strickwerke und Plexus bilden können, wie solches namentlich von den Nerven der Hornhaut bekannt ist. Es fragt sich nun, wie entspringen die Nervenfasern? Die Nerven- fasern entspringen im Centralorgane, im Gehirn- und Rückenmark und in den Ganglien, von eigenthümlichen Zellen, welche man mit dem Namen der Ganglienzellen oder Ganglienkugeln belegt hat. Man fand sie zuerst, indem man Ganglien unter dem Mikroskope im Wasser zerzupfte. Da riss man die Ursprünge der Nervenfasern von den betreifenden Zellen ab. Diese waren im Wasser zu sphäroidi sehen Massen aufgequollen, stellten also Kugeln dar, und daher rührt der Name Ganglienkugeln. Heutzutage, wo man die Sachen besser in situ und an gehärteten Präparaten studiren kann, da weiss man, dass von diesen Zellen wohl keine einzige eine wirk- liche Kugel ist, sondern dass sie eine sehr unregelmässige Gestalt haben; weshalb auch von Manchen der Name Ganglien kugeln vermieden wird, so dass sie als Ganglienzellen, als Ganglienkörper oder auch schlechtweg als Nervenzellen bezeichnet werden. Jede dieser Ganglienkugeln besteht aus einem Protoplasmaleibe, zu dem noch eine äussere Hülle hinzukommen kann, und aus einem Kerne. In diesem Kerne befindet sich wieder ein Kernkörperchen, und in einigen Ganglienkugeln hat Mauthner in diesem Kernkörperchen noch ein Kernkernkörperchen gefunden, welches er mit dem Namen Nixcleololus bezeichnet. Gewöhnlich sieht man den Kern in dem körnigen Protoplasma der Ganglienzelle als eine runde oder mehr oder weniger unregelmässige, aber doch immer scharf begrenzte Masse liegen und in ihm das Kernkörperchen. Es scheint aber, als ob im Leben der Kern nicht immer so streng von dem übrigen Protoplasma geschieden Aväre, es scheint, dass er mit ihm in einem näheren Zusammenhange ist. Wenigstens muss man dies aus Bildern schliessen, welche E. v. Fleischl bekommen hat, indem er ganz frische, lebende Ganglienkugeln in Bor- säurelösung hineinbrachte, wo sich dann der Kern gewissermassen nach und nach aus dem Protoplasma losschälte, mit dem seine Masse offenbar in einer innigeren Verbindung war, als man sie an den bereits abgestor- benen Ganglienkugeln wahrnimmt. Die Ganglienkugeln theilt man ein in apolare, d. h. in solche, die keine Fortsätze haben, sondern blos aus einem runden Protoplasmaleibe mit oder ohne Hülle bestehen, in welcher ein Kern mit Kernkörperchen liegt. Zweitens in unipolare, d. h. in solche, von denen ein Fortsatz aus- geht, der dann in eine Nervenfaser übergeht. Oder in bipolare, die mit zwei Nervenfasern in Verbindung stehen, die gewöhnlich nach entgegen- gesetzter Piehtung abgehen, so dass die Ganglienkugel in den Verlauf der Nervenfaser eingeschaltet erscheint. Endlich in multipolare, bei denen drei oder mehrere Fortsätze vorhanden sind, von denen wenigstens einer Allgemeines. ( in eine Nervenfaser übergeht. Diese Fortsätze an den miiltipolaren Ganglien- zellen gehen nämlich keineswegs alle in Nervenfasern über, wenigstens nicht direct, sondern die meisten von ihnen verzweigen sich in immer feinere Aeste, und diese dringen zwischen die umgebenden Gewebstheile ein, so dass die Ganglienkugel durch diese Fortsätze gewissermassen wie durch Wurzeln und Würzelchen in dem umgebenden Gewebe befestigt ist : dies sind die sogenannten Protoplasmafortsätzc. Der Nachweis, wie viel JFortsätze direct in Nervenfasern übergehen, wie viele indirect und wie viele gar nicht, ist in den einzelnen Fällen schwer zu führen. Wenn wir die Ganglienkugeln durch Zerzupfen isoliren, so reissen wir sehr leicht einen oder den andern Fortsatz ab und erkennen dann hinterher die Stelle nicht mehr, an denen diese Fortsätze abge- rissen sind. Daher rührt es auch, dass man in neuerer Zeit, wo man bessere Untersuchungsmethoden hat, nicht mehr so viel apolare Ganglien- kugeln findet wie früher, wo man Alles durch Zerzupfen darstellte. Früher erschienen bei Weitem die meisten Ganglienkugeln apolar, weil man ihi'e Fortsätze abgerissen hatte, und nur ausnahmsweise gelang es, die eine oder andere zu finden, die noch m.it einer Nervenfaser in Verbindung stand. Auf Durchschnitten von gehärteten Präparaten sieht man wiederum nur die Fortsätze, welche in der Ebene des Schnittes liegen, und man ist also nicht sicher, alle Fortsätze einer solchen Gangiienkiigel zu haben. Das Beste ist es noch, um die Fortsätze einer Ganglienkugcl möglichst vollständig zu haben, dass man erst härtet und dann zerzupft, weil dann die Fortsätze eine grössere Consistenz haben und weil, wenn man sie ab- reisst, man wenigstens die Stellen, an denen ein Fortsatz abgerissen ist, da Alles geronnen ist, leichter erkennt, als wenn man die Gebilde frisch zerzupft. Wir werden später im Rückenmarke grosse Ganglienzellen kennen lernen, aus denen die Bewegungsnerven ihren Ursprung nehmen. An diesen ist immer ein Nervenfaserfortsatz als solcher ausgezeichnet: er tritt direct und ungetheilt in die motorische Wurzel über. Die übrigen, verzweigten, sogenannten Protoplasmafortsätze sollen nach Gerlach indirect durch ein nervöses Netzwerk mit eentripetalen Bahnen in Verbindung stehen. Dass jede dieser Zellen eine oder mehrere Verbindungen mit dem Gehirn haben müsse, ist selbstverständlich; wir werden aber später sehen, dass auch innerhalb des Rückenmarks indirectc Verbindungen mit eentripetalen Bahnen vorhanden sein müssen. Die bisher besprochenen Ganglienzellen oder Ganglienkugeln hat man auch mit dem Namen der Grossganglienkugeln bezeichnet, weil sie ver- hältnissmässig grosse Gewebselemente sind, sowie sie sich im Gehirn und Rückenmark und sowie sie sich in den Wurzelganglicn der Spinalnerven und in den grösseren Ganglien des Sympathicus finden. Diese Unterscheidung der Ganglienkugeln als Grossganglienkugeln ist aber eine unglückliche, weil sie keineswegs eine bestimmte Grösse haben, sondern auch kleinere Gewebsele- mente vorkommen, die ihnen functionell ganz gleich stehen. Wenn man auf die kleineren, mikroskopischen Ganglien des Sympathicus übergeht, z. B. auf die Ganglien in der AVand des Darmkanals und in der Wand der Harn- blase, so findet man viel kleinei'c derartige Gebilde, die im Uebrigen ganz so beschaffen sind, die in derselben Weise mit Nervenfasern in Verbin- dung stehen, welche also den sogenannten Grossganglienkugeln voraussicht- lich functionell ^^leichwerthis; sind. b Nervensystem. Im Centralorgane findet man ausser diesen Ganglienzellen noch andere Arten von zelligen Gebilden. Zunächst verhältnissmässig zarte, blasse Zellen, welche mit den weissen Gehirnfasern in Verbindung stehen und die man daher imzweifelhaft auch als Nervenzellen bezeichnen muss. Ausserdem findet man kleinere Zellen, bei welchen der Protoplasmaleib im Verhält- nisse zur Grösse des Kernes klein ist, und endlich solche, bei denen der Protoplasmaleib so klein geworden ist, dass da, wo sie in Masse zusammen- liegen, nur ein Kern neben dem andern zu liegen scheint. Dies sind die sogenannten Nuclearformationen, wie sie im Gehirne und in der Retina vorkommen. Nach der Constanz, mit der sie immer in bestimmten Theilen des Centralorganes und in der Retina vorkommen, und da sie eben in anderen nicht nervösen Theilen kein Analogen finden, kann es wohl keinem Zweifel unterliegen, dass auch diese Elemente functionell zum Nervensysteme gehören. Ausserdem findet sich im Centralorgane eine nicht unbeträchtliche Menge von Zellen und von Fasern, von denen man nicht mehr mit Be- stimmtheit weiss, ob man sie functionell noch zum Nervensysteme rechnen oder ob man sie als Formationen betrachten soll, die mehr dem Binde- gewebe angehören und welche zum Stützen und Zusammenhalten der Nervenelemente dienen. Daher rührt es auch, dass seit langer Zeit ein bis jetzt noch unentschiedener Streit darüber geführt wird, was im Cen- tralorgane Nervenelement und was sogenanntes Bindegewebe sei. Eigent- liches Bindegewebe kommt übrigens im Rückenmarke verhältnissmässig wenig vor. Das eigentliche Bindegewebe löst sich in einem Gemische von Salpetersäure und chlorsaurem Kali auf. Das ward schon seit lange von Budge und Anderen angewendet, um das Bindegewebe in den Organen zu zerstören und in das Bindegewebe eingelagerte Theile, Muskeln, Drüsen u. s. w. zu isoliren. Wenn man nun einen Rückenmarkschnitt in dieses Gemisch einlegt, so findet man, dass nichts zerstört wird als die Pia mater mit den Fortsätzen, die sie in das Rückenmark hineinschickt. Die übrigen Gewebe sind also offenbar kein wirkliches Bindegewebe. Da aber nichtsdestoweniger Vieles darunter ist, was man nicht mit Fug und Recbt zum Nervensysteme zählen kann, so hat Kölliker hiefür den Namen Stützgewebe vorgeschlagen, und dieser ist allgemein angenommen worden. Eine weitere Frage ist die: wie endigen die Nervenfasern? Indem man sich die Fortleitung der Impulse in den Nervenfasern in ähnlicher Weise dachte wie in Drahtleitungen, welche man zur Fortleitung elek- trischer Ströme braucht, so glaubte man gefunden zu haben, dass die Nerven in Schlingen endigen. In der That kann man auch in den Muskeln und an anderen Orten nicht selten Schlingen finden, aber das sind keine Endschlingen, sondern die Nerven verlaufen noch weiter, ver- zweigen sich dichotomisch, um dann in anderer Weise, die wir bald kennen lernen werden, zu endigen. Man weiss jetzt, dass von allen Nerven, deren Endigungsweise wir kennen, kein einziger in Schlingen- form endigt. Diejenigen Nervenendigungen , welche man zuerst kennen lernte, waren die in den sogenannten Vater' sehen oder Pacini sehen Körperchen (Figur l). Der deutsche Anatom Vater fand, dass unter der Haut im Bindegewebe in der Vola manus und der Planta pedis eigenthümliche Körper liegen, welche wie eiförmige Beerchen an den Endigungen der Nerven Allgemeines. hängen. Diese Entdeckung ist wieder in Vergessenheit gerathen, bis später Pacini diese Körperchen wieder fand und sie mikroskopisch untersachte. Sie führen deshalb den Namen der Vater'schen oder Pacini'schen Körperchen. Denkt man sich eine markhaltige Nervenfaser, so tritt diese in ein eiförmiges Gebilde und verliert nach und nach ihr Mark, während sie eine Keihe von bindegewebigen, membranösen Schichten Fig. i. durchbohrt, aus welchen das Pacini' sehe Körperchen besteht. Diese Schichten sind sehr zahlreich, iTnd nachdem die Nervenfaser sie alle durchbohrt und ihr Mark verloren hat, tritt endlich der nackte Axencylinder in einen inneren, mit einer durch- sichtigen Substanz gefüllten Raum, wo er mit einer knopfförmigen Anschwellung endigt. Bisweilen theilt sich dieser Axencylinder so, dass er mit zwei Knöpf- chen endigt, niemals aber sieht man eine Schlinge. Bisweilen ist auch der Axencylinder in grösserer Ausdehnung getheilt, und bisweilen ist das ganze Körperchen getheilt, so dass es einen Zwilling dar- stellt, und die Nervenfaser sich in zwei Aeste theilt, deren jeder in derselben Weise wie eine unge- theilte endigt. Es fragt sich, was dies für Nerven sind, und was diese Körperehen zu bedeuten haben? Motori- sche Nerven können es offenbar nicht sein, da nichts vorhanden ist, was sie bewegen könnten. Man hat sie deshalb zunächst für Tastnerven gehalten. Als man aber die Verbreitung der Pacini'schen Körperchen näher kennen gelernt, musste man von dieser Idee zurück- kommen. Denn erstens liegen sie in der Vola manus und auch in den Fingerbeeren durchaus nicht günstig für das Tasten. Sie liegen in der Tiefe, im Bindegewebe unter der Cutis. Man hat .sie aber auch später an Orten gefunden, wo an ein Tasten noch weniger zu denken ist, so im Mesenterium der Katzen und beim Menschen im Bindegewebe hinter dem Pankreas. Wenn man sie auch im Allgemeinen als Endigungen von Empfindungsnerven ansehen kann, so kann man sie doch nicht als Tast- organe deuten. Das beste Object diese Körperchen zu untersuchen bietet das Mesen- terium der Katze. Dieses braucht man nur gegen das Licht zu halten, dann sieht man die Körperchen an den Aesten der Nerven hängen, die neben den grossen Gefässen des Mesenteriums verlaufen. Man sieht sie in dem umgebenden Fette als kleine, helle, durchsichtige Punkte liegen. Beim Menschen findet man sie am leichtesten, indem man einen Durch- schnitt durch die Fingerbeere macht. Da liegen sie unter der Haut, im Bindegewebe der Fingerbeerc, und da beim neugebornen Kinde ebensoviel Pacini'sche Körperchen vorhanden sind wie beim Erwachsenen, die Finger- beere aber viel kleiner ist. so dass sie auf einen kleineren Raum be- schränkt sind, so kann man sie hier am leichtesten und reichlichsten finden. Die wahren Tastkörperchen sind von Meissner entdeckt worden, und man bezeichnet sie deshalb mit dem Namen der Meissner' sehen Tastkörperchen. Wenn man einen Durchschnitt durch die Fingerbeere macht, so findet man, dass die Hautpapillcn nicht sämmtlich gleiche lü Nervensystem. Länge haben, sondern dass zwischen verhältnissmässig langen Papillen kürzere und dickere Papillen vorkommen. In den langen Papillen gehen die Gefässschlingen ganz hinauf bis an die Spitze, in den kurzen Papillen aber liegt nur eine Gefässschlinge im unteren Theile derselben, und dafür liegt im oberen Theile ein längliches, eiförmiges oder, wie man gesagt hat, tannenzapfenartiges Gebilde, in welches hinein sich ein oder mehrere doppelrandige markhaltige ISTervenfasern verfolgen lassen. Diese sieht man sieh darin noch marklos theilen. Nach den von G. Thin im hiesigen pathologischen Institute ausgeführten Untersuchungen enthält jedes Tast- körperchen so viele von einer Kapsel umschlossene Einzelkörper, als ISTerven- fasern eintreten, die in den Einzelkörpern endigen. Es gibt darnach Ein- linge, Zwillinge und Drillinge. Jedes Einzelkörperchen ist hiernach das Endgebilde einer und nur einer '^' ^' '^' ■ ^Nervenfaser. Das ganze Körper- .^'^'^^^^^""^ chen ist mit Querstreifen bedeckt, ./^^^:rr''~ ~'\ als ob es aus einem oder mehreren V, fadenförmigen Gebilden zusammen- ^ ' ~ geknäult wäre. Thatsächlich aber t'- rühren diese Querstreifen von ^ ^/ ^v ¥=r-'' ' Scheiben- oder schoUenförmigen Zellen her, aus denen die ganzen Körperchen aufgeschichtet sind. Figur 2 a zeigt ein der Bindegewebs- hülle entkleidetes oberes Stück eines Tastkörperchens, Figur 2 b die platten Zellen, aus denen es aufgebaut ist, beides nach Mor. Kraus. Die Art und Weise, wie die ISTervenfasern in diesem Gebilde endigen, kennt man nicht genau; man weiss nur, dass die Endäste der Nervenfaser sich zunächst in Furchen zwischen den einzelnen aufeinander geschichteten Zellen hinein- legen. Auch am rothen Theile der Lippen und an der Glans penis sind vereinzelt solche Körper gefunden worden. An anderen Stellen des Körpers hat man unmittelbar unter der Oberfläche kolbenartige Gebilde gefunden, in welche offenbar sensible Nerven hineingehen. Man würde aber irren, wenn man daraus schliessen wollte, dass die sensiblen Nerven immer und überall mit ähnlichen End- gebilden endigen müssen. Cohnheim hat die Nerven der Hornhaut näher untersucht und mit Hilfe der Vergoldungsmethode gefunden, dass die Nerven der Cornea, in der Nähe der Oberfläche derselben, ein reiches Netzwerk von mark- losen Fasern, einen wahren Plexus bilden, und dass von diesem Plexus aus wieder kleine Fäden hinaufgehen an die Oberfläche und zwischen den Epithelzellen blind endigen. Es ist dies nicht der einzige Fall, in welchem Nervenfasern zwischen Epithelialzellen eindringen und dort ohne besondere Endorganc endigen. Es sind auch in der Schnauze des Maul- wurfs, in der Schnauze des Ptindes und in den Papillen der Zunge mit voller Sicherheit intraepitheliale Nerven nachgewiesen worden. Es gehören auch die Zellen der Meissner' sehen Tastkörperchen selbst ihrer ursprüng- lichen Anlage nach der Oberhaut an. Mor. Kraus hat dies vermuthungs- weise ausgesprochen und später ist es duxch direete embryologische Unter- suchungen bestätigt worden. Die ersten Endigungen motorischer Nerven hat Doyere beobachtet, und zwar bei Gliederthieren, bei Tardigraden. Er beobachtete, dass das Allgemeines. 11 Fig. Sarkolemma der Muskelfaser sich in einen Hügel erhebt und dann sich unmittelbar fortsetzt in die Scheide einer Nervenfaser, die in diesem Hügel endigt. Dieser Hügel liegt der contractilen Substanz äusserlich auf und er heisst nach seinem Entdecker der Doyere'sche Nerven- hügel. Kühne hat später nachgewiesen, dass dies eine ganz allgemeine Art der Endigung ist, nicht nur bei anderen Gliederthieren, sondern auch bei den Wirbelthieren und beim Menschen. Die markhaltige Nervenfaser verliert, wenn sie imBegriffeistindie Muskelfaser einzu- treten, ihrMark, die Scheide geht in das Sarkolemma über und bildet einen Doyere' sehen Hü- gel,der bald flacher, bald mehr convex ist. Der Axency lin- der derNervenfaser breitet sich in eine gelappte Platte aus, die, in einer körni- gen gelatinösenMas- sc eingebettet, der ^ contractilen Sub- stanz aufliegt. Diese gelappte Platte, die sogenannte Endplatte mit dieser körnigen gelatinösen Substanz, bilden zusammen den Inhalt des Doyere' sehen Nervenhügels. Figur 3 zeigt zwei Muskelfasern eines Meerschweinchens (nach Engelmann) mit je einem Nervenhügel, den einen von oben ge- sehen, den andern von der Seite. Durch Goldfärbung hat Kühne in der gelappten Platte die vielästige, hirschgeweihartige Endigung der Nerven- faser sichtbar gemacht. So endigen die motorischen Nerven in allen denjenigen Skelet- muskeln, die nach dem Typus der menschlichen Skeletmuskeln gebaut sind, bei denen also auf dem Querschnitte jedesmal nur ein wandstäpdiger Kern sich vorfindet. Wir wissen aber, dass bei den Amphibien und auch in gewissen Muskeln der Vögel Muskelfasern vorkommen, die nach einem andern Typus gebaut sind, in welchem gewissermassen mehrere einzelne Fasern zusammengefasst sind, so dass mehrere Kerne auf einem und dem- selben Querschnitte gefunden werden, die dann innerhalb der contractilen Substanz vertheilt sind. Solche Muskeln haben auch eine andere Art der Nervenendigung. So bildet bei den Fröschen, nachdem die Scheide des Nerven in das Sarkolemma der Muskelfaser übergegangen ist, der Axen- cylinder keine zwischen Sarkolemma und contractiler Substanz liegende Endplatte, sondern er dringt in das Innere der contractilen Substanz ein, verzweigt sich darin und endigt dann in mehreren kernhaltigen Gebilden, die Kühne mit dem Namen der Endknospen bezeichnet. Dass wir diese Nervenendigungen so gut und so vollständig haben untersuchen können, hat darin seinen Grund, dass die Nervenfasern bis zuletzt ihr Mark behalten, und der Grund, dass wir an frischen Präparaten L2 ' Nervensystem. nichts Sicheres über die Endigungen der Nervenfasern in den organischen Muskeln sehen, ist der, dass bei diesen die Nervenfasern ihr Mark ver- hältnissmässig früh verlieren, und dass es dann sehr schwer ist, sie zu verfolgen. Nach Beobachtungen, die an Vergoldungspräparaten gemacht worden sind, stehen die feinen Fäden, in welche sich die Nerven theilen, mit den Protoplasmaresten in Verbindung, welche sich um den Kern der Muskelfaser herum befinden , und können in einzelnen Fällen bis zum Kern selbst verfolgt werden. Es ist bekannt, dass, wenn sich eine Muskel- faser ausbildet, die Umwandlung des embryonalen Protoplasmas in con- tractile Substanz im Allgemeinen von der Peripherie beginnt, und dass an dem Kerne jederseits eine bald grössere, bald kleinere Menge nicht oder anders metamorphosirten Protoplasmas zurückbleibt. An diesem hat man nun feine Fäden hängen gesehen, von welchen man schon seit längerer Zeit glaubte, dass sie mit den letzten Fäden, die man wiederum an den Nerven beobachtet hat, zusammenhängen. Es hatte dies die Analogie für sich mit der Endigungsweise der Nervenfasern in den Froschmiiskeln, in den sogenannten Endknospen. In neuerer Zeit hat Lustig die Verbin- dung dieser Fäden mit Nervenfasern, und somit diese selbst bis zum Kerne der Muskelzellen verfolgen können. Nachdem wir uns nun mit den Elementen des Nervensystems in morphologischer Beziehung im Grossen und Ganzen bekannt gemacht haben, wollen wir näher eingehen aiif die physiologischen Eigenschaften der Nerven. Wir haben früher gesehen, dass sich das Nervensystem im Grossen und Ganzen mit einem ausgebreiteten Telegraphensysteme vergleichen lasse, aber dabei bemerkt, dass dieser Vergleich im Einzelnen nicht durch- führbar sei. Die Nerven sind in Rücksicht auf die Art, wie sie leiten, auf die Geschwindigkeit, mit welcher sie leiten, und in Bücksicht auf ihr Leitungsvermögen überhaupt in hohem Grade verschieden von den metallischen Leitungen, welcher wir uns zum Fortleiten elektrischer Ströme bedienen. Zunächst haben sie für die , elektrischen Ströme einen ausser- ordentlich viel grösseren Leitungswiderstand als Metallleitungen. Nach den Untersuchungen von Weber ist der Leitungswiderstand der Nerven- substanz ungefähr fünfzigmillionenmal so gross als der des Kupfers. Aber auch die Geschwindigkeit, mit der die Nervenfasern ihre eigenen Impulse leiten, ist verhältnissmässig sehr gering im Vergleiche mit der Geschwindigkeit, mit der sich die elektrischen Erregungen fort- pflanzen. Die Geschwindigkeit, mit der sich die Erregungen in den Nerven fortpflanzen, ist zuerst durch Helmholtz nach zwei verschie- denen Methoden gemessen worden. Er benutzte bei der ersten Methode das Myographien, das dazu dient, den zeitlichen Verlauf der Muskelcontraction in einer Curve darzu- stellen. Dabei beobachtet man zuerst ein Stadium der latenten Beizung, hierauf erfolgt die Contraction des Muskels, erreicht ihr Maximum, dann erschlafft der Muskel und kommt endlich nach einigen Schwingungen um seine Gleichgewichtslage zur Ruhe. Wenn man nun z. B. den Nerven des Gastroknemius des Frosches, welcher am Myographien arbeitet, lang herauspräparirt hat und einmal den Inductionsschlag, mit dem gereizt wird, dicht am Muskel durchgehen lässt, während man ihn ein anderes Mal in beträchtlicher Entfernuno- vom Muskel hindurchsendet, so erhält Allgeraeines. lo man zwei Zuekungscurven , die Biclit zusammenfallen, sondern um ein Stück gegeneinander verschoben sind. Ximrat man nun zwei correspon- dirende Punkte der beiden Gurren und misst die horizontale Entfernung zwischen ihnen, so erhält man das Stück, um welches die zweite Curve gegen die erste verschoben ist, und wenn man die Geschwindigkeit kennt, mit der der Cylinder, auf dem der Stift schreibt, rotirte, so kann man daraus die Zeit berechnen, die verbraucht wurde, damit die Erregung von der höheren Reizstelle bis zur tieferen fortgepflanzt wurde. Die zweite Methode, mittelst der Helmholtz die Fortpflanzungs- geschwindigkeit der Nervenerregungen bestimmte, beruht auf einer Me- thode von Pouillet, die derselbe angegeben, um überhaupt sehr kleine Zeiträume zu messen. Wenn durch eine Tangentenbussole ein elektrischer Strom eine sehr kurze Zeit hindurchgeht, so lenkt er die Magnetnadel ab; er lenkt sie aber natürlich nicht zu dem ganzen Ausschlage ab, welcher erzielt worden wäre, wenn der Strom längere Zeit hindurch- gegangen wäre. Wenn man nun die constante Ablenkung kennt, welche die Magnetnadel dieser Bussole erhalten würde, wenn der Strom von derselben Stärke dauernd durch dieselbe hindurchginge, und die Schwin- giingsdauer der Magnetnadel, so kann man daraus die Zeit berechnen, während welcher der Strom hindurchgegangen ist, um eben diese ge- ringere Ablenkung, die man beobachtet hat, hervorzurufen. Nachdem man also die constante Ablenkung der Bussole durch einen Strom von be- stimmter Stärke experimentell ermittelt hat, dient das blosse Ablesen der kleinen Ablenkung, welche dadurch erzielt wird, dass derselbe Strom eine sehr kurze Zeit hindurchgeht, dazu, eben die Dauer dieser sehr kurzen Zeit zu berechnen. Dieses Verfahrens hat sich nun Helmholtz in der W^eise bedient, dass er einen Muskel vom Nerven aus einmal dicht am Muskel durch einen Inductionsschlag reizte. Gleichzeitig mit dem Eeizc trat der Strom in den Multiplicatorkreis ein. Wenn der Muskel anfing sich zusammen- zuziehen, hob er eine Platinspitze von einer Platte ab und öffnete dadurch diesen Kreis. Dann hörte also der Strom im Multiplicator auf. Unmittelbar darauf hob der Muskel, indem er sich weiter zusammenzog, auch noch eine Spitze aus Quecksilber und öffnete so den Kreis an einer zweiten Stelle. Das Quecksilberniveau war so eingerichtet, dass, wenn die Metallspitze einmal herausgehoben war und dann auch wieder herunterfiel, sie das Quecksilberniveau nicht mehr berührte. Es war nämlich vorher ein Quecksilbertropfen aufgezogen worden, so dass, so lange als der Contact dauerte, die Leitung stattfand ; so wie aber durch Herunterfallen des Tropfens der Contact unterbrochen worden, stellte er sich nicht mehr her. Auf diese Weise war also der Strom durch die Drahtwindungen gegangen von der Zeit an, wo der Reiz erfolgte, bis zur Zeit, wo der Muskel sich so weit contrahirte, dass er die Platinspitze abhob. Nun wurde derselbe Versuch so angestellt, dass am oberen Ende des Nerven gereizt wurde, und man erhielt so zwei Zeitwerthe, die man von einander subtrahirte, und die Difterenz, welche man erhielt, war offenbar die Zeit, welche verbraucht worden war, damit die Erregung sich von der oberen bis zur unteren Reizstelle fortpflanze. Die Mittelwerthe der Versuche, die nach diesen beiden Methoden angestellt waren, haben merkwürdig übereinstim- mende Resultate ergeben. Helmholtz erhielt nämlich als Mittelwerth 14 Nervensystem. bei der ersten Methode 27'25 Meter in der Secunde, nach der zweiten 26*40. Man sieht ans diesen Zahlen, wie ausserordentlich langsam diese Leitung vor sich geht, im Vergleiche mit der Geschwindigkeit, mit welcher sich elektrische Vorgänge fortpflanzen. Auch diese Zahlen gelten nur für die Leitung in den Nervenstämmen. S. Exner hat nachgewiesen, dass die Fortpflanzungsgeschwindigkeit im Gehirn und Rückenmarke des Frosches noch geringer ist. Auch an den Kerven lebender Menschen hat Helmholtz die ersten Versuche über Fortpflanzungsgeschwindigkeit angestellt, und zwar zunächst an sensiblen Nerven. Der Mensch, der zum Versuche dient, gibt ein Zeichen, wenn ein momentaner Reiz zum Centralorgan gelangt. Derselbe Reiz wird einmal an einer dem Centralorgane näheren, das andere Mal an einer vom Centralorgane entfernteren Stelle angebracht, z. B. einmal am Oberarm, das andere Mal am Unterarm; die gefundenen Zeiten werden von einander subtrahirt und aus der Differenz und aus dem Abstände der Reizstellen wird die Geschwindigkeit berechnet. Aber anfangs stimmten seine Versuche und die anderer Beobachter sehr wenig überein. Nun hatte sich bei den Versuchen an Fröschen schon gezeigt, dass, wenn die Frösche vorher erkältet worden sind, die Leitung in den Nerven be- deutend verlangsamt ist, und als Helmholtz im Vereine mit Baxt diese Versuche an Menschen von Neuem aufnahm und nun motorische Nerven untersuchte, richtete er seine Aufmerksamkeit darauf, ob nicht vielleicht die Temperatur eine wesentliche Ursache der abweichenden Resultate sei. In der That fanden die beiden Beobachter, dass die Werthe sehr verschieden ausfielen, je nachdem sie den Arm, an dem sie experimen- tirten, künstlich erwärmten oder erkälteten, und zwar war die Geschwin- digkeit immer grösser, wenn sie vorher erwärmt hatten, und geringer, wenn sie früher erkältet hatten. Sie erhielten dabei Werthe, von denen der eine gegen den andern beiläufig um das Doppelte verschieden war. Es war aber nicht allein die Temperatur, sondern auch die Länge der durchlaufenen Strecke, die in Beti'acht kam. Wenn sie an zwei Stellen des Unterarms reizten und dann die Geschwindigkeit berechneten, mit der sich die Erregung fortpflanzte, so bekamen sie einen geringeren Werth, als wenn sie das eine Ma] hoch oben am Oberarm, das andere Mal unten am Unterarm reizten. Auf solche Weise, durch Temperaturveränderungen und durch Veränderungen in der Länge der durchlaufenen Strecke konnte an einem und demselben Individuum einmal eine Geschwindigkeit von 36Y2 Meter in der Secunde, das andere Mal eine Geschwindigkeit von 89^2 Meter in der Secunde erzielt werden. Alle diese Angaben gelten nur für die peripherischen Nerven von der Willkür unterworfenen Muskeln, und man darf aus ihnen nicht ohne Weiteres Schlüsse auf andere motorische Bahnen machen. Für die Fortpflanzung motorischer Impulse im mensch- lichen Rückenmark fand S. Exner 11 bis 12 Meter in der Secunde. Man schätzt nach den bisher angestellten Versuchen die Fort- pflanzungsgeschwindigkeit in den Empfindungsnerven ungefähr so gross wie in den Bewegungsnerven. Die Fortpflanzung in sensiblen Bahnen des menschlichen Rückenmarkes schätzt S. Exner nur auf 8 Meter in der Secunde. Wir haben eben gesehen, dass die Versuchsresultate verschieden ausfielen, je nachdem man eine kürzere oder längere Strecke der moto- Allgemeines. lO rischen Kerven benützte, um die Fortpflanzungsgeschwindigkeit in derselben zu messen. Es führt uns dies zu einer andern merkwürdigen Eigenthüm- lichkeit der Nerven, durch die sie sich auch wieder ganz von den elek- trischen Leitungen entfernen. Wenn man den Nerven eines Muskels lang herauspräparirt und abschneidet und nun den geringsten Reiz, den schwächsten Stromstoss sucht, der, wenn man nahe am Ende reizt, noch Muskelcontraction hervorruft, so zeigt sieh, wie Pflüger fand, dieser Stromstoss imwirksam, wenn man ihn in der Nähe des Muskels durch den Nerven sendet, mit anderen Worten, die Reizbarkeit des Nerven nimmt vom Muskel gegen das abgeschnittene Ende hin zu, und zwar in sehr auffallender Weise. Diese Thatsache ist von Bedeutung für den Experimen- tator, der, wie dies oft geschieht, einen Froschschenkel mit seinem Nerven als physiologisches Rheoskop, als sogenannten stromprüfenden Frosch- schenkel benützt, um kurzdauernde Stromschwankungen oder schwache Stromstösse zu beobachten. Heidenhain fand später, dass auch in der Nähe des Muskels die Reizbarkeit Avächst, wenn man den Nerven verkürzt. Bei jedem Stück Nerv, das man abschneidet, erhöht sich die Reizbarkeit von Stufe zu Stufe und erreicht ihr Maximum, wenn die Elektroden dicht am Schnittende liegen. Man muss deshalb die stromprüfenden Frosch- schenkel, d. h. die Nervmuskelpräparate, welche man benützt, um schwache und kurzdauernde Stromstösse zu signalisiren, immer so mit den Eleetroden in Verbindung bringen, dass die eine derselben ganz nahe am Nervenende liegt. Die andere kann man einige Millimeter davon gleichfalls an den Nervenstamm legen, oder mit gutem Erfolge auch an den enthäuteten Muskel, wenn der Nerv hinreichend kurz ist, um keinen zu grossen Leitungs- widerstand zu machen. Aber nicht allein auf den Angriffspunkt des Stromstosses kommt es an, sondern auch auf die Richtung desselben. Helmholtz und ebenso L. Hermann bemerkten dies schon vor Jahren. In neuerer Zeit fand E. V. Fleischl, dass bei frei herauspräparirten, aber undurchschnittenen, noch mit dem Rückenmarke in Zusammenhang stehenden Nerven die Reiz- barkeit allgemein oder innerhalb gewisser Strecken für absteigende Ströme mit der Entfernung vom Muskel wachse, für aufsteigende dagegen abnehme. Zwischen Rückenmark und Muskel befinden sich nach ihm irgendwo eine oder mehrere Stellen, an denen die Erregbarkeit für aufsteigende und absteigende Ströme gleich gross ist. Er nennt solche Stellen Aequatoren. Schneidet man den Nerven durch, so rückt während der nächsten Minuten der noch erhaltene Aequator vom Schnittende gegen den Muskel fort, oder, wenn man unterhalb sämmtlicher Aequatoren durchschnitten hat, so bildet sich zwischen ihm und dem Muskel ein neuer. Die dem Aequator zu- gerichteten Ströme sind immer die wirksameren, und die Ungleichheit in der Wirksamkeit nimmt um so mehr zu, je weiter man sich vom Aequator entfernt. Sind zwei Aequatoren vorhanden, so findet man zwischen ihnen einen Punkt, an dem aufsteigender und absteigender Strom plötzlich ihre Rolle vertauschen, der wirksamere der unwirksamere und der unwirk- samere der wirksamere wird. Eine wichtige Eigenthümlichkeit der Nervenfasern ist die, dass sie nach du Bois' Entdeckung selbst elektromotorisch wirken, und mit dieser hat man auch die eben berührten Erscheinungen in Zusammenhang ge- bracht. Sie wirken in ganz ähnlicher Weise wie die Muskeln, nur dass 16 Nervensystem. die Ströme, welche sich von den Nerven ableiten lassen, viel schwächer sind als die Ströme, die man von den Muskeln erhält. Denken wir uns wieder die Zuleitungsgefässe, den Multiplicator und die Bäusche, und stellen wir uns vor, dass ein Stück Nerv so aufgelegt wäre, dass es auf der einen Seite mit dem natürlichen Längsschnitte, d. h. also mit der natürlichen Oberfläche, auf der andern mit dem Quer- schnitte berührt, so erhalten wir einen Strom im Multiplicatordrahte, der vom Längsschnitte des Nerven zum Querschnitte desselben gerichtet ist, gerade so wie wir dies bei den Muskeln gesehen haben. Legen wir den Nerven so auf, dass er auf beiden Seiten mit dem Längsschnitte berührt, und zwar mit symmetrischen Punkten, d. h. Punkten, die gleichweit von den Enden des Nervenstückes entfernt sind, so erhalten wir keinen Strom, und ebensowenig erhalten wir einen Strom, wenn wir ein Nervenstück so mit den Bäuschen in Verbindung bringen, dass auf beiden Seiten der Querschnitt berührt. Es wiedei'holt sich hier also Alles, was wir bei den Muskeln kennen gelernt haben, wir brauchen nur statt des Wortes Muskel- faser das Wort Nervenfaser zu setzen. Die Ströme sind schwächer, aber nur wegen des grösseren Widerstandes. Die elektromotorische Kraft ist nach du Bois so gross wie bei den Muskeln, wenn nicht grösser. Wir haben in den Muskeln eine negative Stromschwankung kennen gelernt, welche eintritt, wenn wir durch intermittirende elektrische Ströme die Muskeln zur Zusammenziehung reizen. Die analogen Erscheinungen finden sich auch bei den Nerven. Auch hier haben wir eine negative Stromschwankung, die von du Bois entdeckt ist. Er fand, dass sie an der Peizstelle beginnt und sich von hier nach beiden Seiten des Nerven fortpflanzt, dass sie mit der Stärke des Pelzes wächst und durch eine gequetschte oder durchschnittene Stelle nicht hindurchgeht. Um die ne- gative Schwankung wahrzunehmen ist es nicht nöthig, den Nerven elek- trisch zu erregen. Du Bois hat sie auch an Nerven lebender Frösche beobachtet, die durch Strychnin in Tetanus versetzt wurden, wie auch am heraushängenden Nerven eines Proschbeines, welches mit siedender Koch- salzlösung verbrüht wurde. Später ist die negative Schwankung von Bern- stein mit grossem Scharfsinne studirt worden. Er zeigte, dass sie sich jederseits mit einer Geschwindigkeit von etwa 28 Meter in der Secunde fortpflanzt, einer Geschwindigkeit also, die von derjenigen, mit der sich die motorischen Impulse in den Eroschnerven fortpflanzen, voraussichtlich nicht wesentlich verschieden ist. Auch zeigte er, dass sie so Aveit ge- steigert werden kann, dass in dem Augenblicke der negativen Strom- schwankung der ursprüngliche Nervenstrom nicht nur gänzlich verschwindet, sondern dass er sich auch umkehrt, ja, dass der Strom in der entgegen- gesetzten Pichtung den ursprünglichen Strom um das Mehrfache übertrifft. Er hat ferner gefunden, dass diese durch einen Strom von verschwinden- der Dauer erzeugte negative Stromschwankung keine unmessbar kleine Zeit dauert, sondern dass sich die Zeit ihrer Dauer bestimmen lässt, und zwar fand er, dass die Dauer einer solchen negativen Schwankung 0,00065 Seeunden beträgt. Da nun dies die Dauer einer einzigen Schwan- kung ist, und dieselbe sich mit der Geschwindigkeit von 28 Meter in der Secunde fortpflanzt, so ergibt sich daraus, dass die Stromschwankung sieh in Gestalt einer Welle längs des Nerven fortpflanze, die eine Länge von 18 Millimetern hat, d. h. wenn der Nerv an irgend einer Stelle erregt Allgemeines. 1 i wird, so beträgt die Strecke, innerhalb welcher die elektromotorischen Eigenschaften desselben so verändert sind, dass der Nervenstrom nicht in seiner ursprünglichen Stärke existirt, dass er entweder geringer oder sogar entgegengesetzt gerichtet ist, 18 Millimeter. Man kann sich dies unter dem Bilde vorstellen, als ob bei jedem Stromstosse ein Strom in entgegengesetzter Richtung in die betreffende Nervenstrecke hineinbräche und erst den ISTervenstrom compensirte, endlich einen Strom in entgegengesetzter Eichtung hervorbrächte und dann allmälig wieder aufhörte. Eichtiger stellt man sich die Sache vor, wenn man sich denkt, dass im Nerven selbst eine molekulare Veränderung vor sich geht, vermöge welcher zuerst der ursprüngliche Nervenstrom abnimmt, dann Null wird, und endlich, indem die molekulare Veränderung noch weiter fortschreitet, durch die veränderte Anordnung nunmehr ein Strom in ent- geo-ena-esetzter Eichtung hervorgebracht wird, bis dann die Moleküle in ihre ursprüngliche Lage zurückfallen und so wiederum der ursprüngliche Nervenstrom in seine alten Eechte eintritt. Wenn ein aufgelegter Nerv durch die gewöhnlichen tetanisirenden Vorrichtungen erregt wird, so zeigt die Multiplicatornadel beim Tetanisiren des Nerven, trotz der momentanen Umkehrung des Stromes, wie dies schon du Bois wusste, niemals einen umgekehrten Strom an, sondern immer nur eine Stromabnahme. Das rührt daher, dass jede dieser negativen Stromschwankungen nur eine sehr kurze Zeit dauert und dazwischen sich immer die reizfreien Zeiten einschieben, in welchen der ursprüngliche Nervenstrom wieder hervortritt. Die Nadel folgt bei der Trägheit ihrer Bewegungen nicht dem einzelnen Stromstosse, sondern den summirten Wirkungen der negativen Stromschwankungen und der zwischen denselben wieder hervortretenden ursprünglichen Nervenströme. Eine andere auffallende Veränderung in dem Strömungsvorgange wird hervorgebracht, wenn man einen constanten Strom durch den Nerven hin- durchleitet. Denkt man sich einen Nerven auf der einen Seite mit dem Längsschnitte, auf der anderen mit dem Querschnitte aufgelegt, so nennt man die Strecke, welche mit den feuchten Multiplicatorenden in Berührung ist, die abgeleitete Strecke, und die Strecke, durch welche man den constanten Strom hindurchsendet, die erregte Strecke. ' Nun gibt es zweierlei Möglichkeiten. Es kann der Strom in der erregten Strecke gleich- gerichtet sein mit dem Strome, der im Nerven in der abgeleiteten Strecke fliesst. In diesem Falle nimmt die Ablenkung der Magnetnadel zu, der Nervenstrom ist also in seiner Intensität erhöht. Wenn man dagegen den constanten Strom umkehrt, so geht die Nadel zurück, man erhält eine geringere Ablenkung, es ist also jetzt der Nervenstrom vermindert, es ist, als ob sich ein entgegengesetzter Strom etablirt hätte, der den Nerven- strom compensirt. Dieser Zustand , in den ein Nerv dadurch versetzt wird, dass eine Strecke desselben von einem constanten Strome durch- flössen wird, ist der von du Bois entdeckte Electro tonus. Du Bois hat auch nachgewiesen, dass man es hier keineswegs mit hereinbrechenden Stromschleifen zu thun habe, welche den Nervenstrom compensiren oder verstärken könnten. Er durchschneidet den Nerven zwischen erregter und abgeleiteter Strecke und legt die Enden wieder so aneinander, dass sie sich mit ihren feuchten Elächen berühren. Dies kann für den elektrischen Strom kein Hinderniss abgeben : der elektrische Strom geht durch eine feiichte Schichte ebenso hindurch wie durch einen Nerven. Brücke. Vorlesungen. II. 4. Aufl. 2 lö Nervensystem. Es müsste also dieses Nervenstück auch dann in Electrotonus zu versetzen sein, falls man es in der That nur mit Stromschleifen zu thun hätte. Dies ist aber nicht der Eall. Ja, wenn man den Nerven mit einem nassen Faden zwischen der abgeleiteten und durchliossenen Strecke umschnürt, hört jede Wirkung auf, obwohl dies doch durchaus kein Hinderniss für eine hereinbrechende Stromschleife abgibt. Der Electrotonus setzt sich in derselben Weise nach beiden Seiten fort, wie die negative Stromschwan- kung, welche einem momentanen Stromstosse folgt. Wenn man an dem andern Ende des Nerven einen zweiten Multiplicator anbringt, so dass der Nei'v auch am andern Ende mit Längsschnitt und Querschnitt be- rührt, so treten auch am zweiten Multiplicator dieselben Erscheinungen, wie an dem ersten auf. Jedesmal wird, wenn der Strom in der abgeleite- ten Strecke gleichgerichtet ist mit dem in der erregten, die Ablenkung der Magnetnadel zunehmen, wenn das Umgekehrte der Eall ist, wird die Ablenkung der Magnetnadel abnehmen. Also auch hier wird ganz gleich- massig nach beiden Seiten hin, nach aufwärts und abwärts nach der natürlichen Lage des Nerven, die Veränderung fortgepflanzt, die durch den elektrischen Strom hervorgebracht wird. Die Stärke des Electrotonus hängt wesentlich von zwei Momenten ab. Erstens von der Stärke des durch- fliessenden Stromes und zweitens von der Länge der durchflossenen Strecke, so dass er mit dieser zunimmt. Die Erscheinungen des Electrotonus zeigen sich ferner am stärksten in der Nähe der durchflossenen Strecke und nehmen von da an mit zunehmender Entfernung ab. Mit diesen Veränderungen, die durch den elektrischen Strom her- vorgebracht werden, steht ein sehr merkwürdiger Versuch im Zusammen- hang. Nimmt man einen vorsichtig herauspräparirten Nerven, z. B. den Ischiadieus eines Frosches, und legt neben ihn und an ihn einen zweiten Nerven, welcher noch mit einem Muskel oder mit einem ganzen Schenkel in Verbindung steht, und reizt das erste Nervenstück durch Sehliessen und Oeffnen eines elektrischen Stromes, so tritt Zuckung ein, vorausgesetzt, dass die Präparate hinreichend frisch und einem empfindlichen Frosche entnommen sind. Obgleich nun diese beiden Nerven gar nicht mit einan- der in organischer Verbindung stehen, zuckt doch der Muskel, wenn ich den ersten Nerven reize. Der Nerv, an dem noch der Muskel hängt (Figur 4, a), schliesst, indem er an den andern (Figur 4, h) angelegt ist, einen Stromkreis, durch den der Nervenstrom eben dieses andern circulirt. Dieser Strom durch- fliesst also den Nerven, der noch mit dem Muskel in Verbindung ist, er ist durch denselben abgeleitet. Die Schwankung, die man durch den etwa in c angebrachten elektrischen Strom in dem einen Nerven hervor- ruft, erstreckt sich auf dessen ganze Länge, somit auch auf die abgeleitete Strecke desselben, und durch die Schwankung, welche so in dem den andern Nerven durchfliessenden Nervenstrome entsteht, wird ein Reiz er- zeugt, vermöge welches sich der Muskel zusammenzieht. Man kann diesen Versuch auch noch in anderer Weise anstellen. Man nimmt zwei Nerven in ihrer natürlichen Zusammenlagerung. Ein Nervenstamm spalte sich in zwei Aeste ; man präparirt den einen Ast eine Strecke lang heraus und lässt den andern in Verbinduno- mit seinem Muskel. Nun schickt man Allgemeines. \v durcli das heraiispräparirte Ende einen elektrischen Strom. Da zuckt der Muskel, wenn der Strom liinroichend stark ist, obgleich man doch an- scheinend keinen Nerven gereizt hat, der mit diesem Muskel in directer Verbindung steht. Das kommt wiederum daher, dass der Strom des einen Nerven durch den andern Nerven abgeleitet, für ihn ein Stromkreis ge- schlossen wird. Der in diesem Kreise circulirende Nervenstrom wird durch den hindurchgesendeten Strom in Schwankung versetzt, und diese Schwan- kung ruft die Zuckung im Muskel hervor. In dieser Gestalt pflegt man den Versuch mit dem Namen der paradoxen Zuckung zu bezeichnen. Diese paradoxen Zuckungen können zu einer Quelle der Täuschung für den experimentirenden Physiologen werden. Wir müssen, wenn wir einen Nerven elektrisch reizen, dem unmittelbar anliegend andere Nerven verlaufen, stets besorgt sein, dass auch diese gegen unsere Absicht gereizt werden. Man muss deshalb, wenn man sich elektrischer Reize bedient, die schwächsten nehmen, mit denen man überhaupt auskommen kann, weil man dann am wenigsten zu fürchten hat, solche Stromschwankungen hervorzurufen, durch welche in benachbarten Nervenbündeln Erregungen hcrvorgeriifen und somit paradoxe Zuckungen erzeugt werden können. Um diesen Befürchtungen und überdies denen vor hereinbrechenden Stromschleifen ganz zu entgehen, hat man in neuerer Zeit in der spe- ciellen Nervenphysiologie wieder mehr die mechanische Eeizung in Ge- brauch gezogen. Die mechanischen Reize haben aber, wenn man sie auf die gewöhnliche Weise durch Zwicken mit einer Pincette anwendet, den Nachtheil, dass dadurch die Nervenfaser theilweise verbraucht wird und nur noch die Theile derselben gereizt werden können, die weiter nach aufwärts liegen bei sensiblen, oder weiter nach abwärts liegen bei moto- rischen Nerven. Um nun an einer und derselben Stelle mehrmals me- chanisch reizen zu können, und auch um an einer und derselben Stelle sehr rasch hintereinander mechanische Reize anbringen zu können, hat Heidenhain ein Instrument construirt, das er mit dem Namen des Te- tanomotors belegt. Er befestigt an dem Hammer eines Neef sehen Magnetelektromotors einen Stab mit einem kleinen, über den Magneten hinausragenden Häm- merchen. Darunter stellt er eine Rinne, welche auf einem Stabe steht, der wiederum in einer Hülse mittelst einer Schraube auf und ab bewegt werden kann. In dieser Rinne wird der zu reizende Nerv hineingelegt, und nun wird er so weit in die Höhe gebracht, dass er gerade eben von dem Hammer leicht getroffen, dadurch eine Reizung hervorgerufen, der Nerv aber nicht zerquetscht wird. Da dieses Hämmerchen mit dem Hammer des Neef sehen Magnetelektromotors verbunden ist, hat es oft Schwierig- keiten, zu dem zu reizenden Nerven hinzukommen. Heidenhain hat deshalb einen andern Tetanomotor construirt, bei dem ein eben solches Hämmerchen durch eine Kurbel und Zahnräder in Bewegung gesetzt wird, ähnlich wie die Zahnärzte den Bohrer bewegen, mit welchem sie inner- halb des Mundes Zähne ausbohren. Auf diese Weise kann er den me- chanischen Tetanomotor mit Leichtigkeit an die Stelle hinbringen, welche er reizen will. Andere Apparate für die mechanische Nervenreizung sind später von Tigerstedt und von Hällsten construirt worden. Es ist von ihnen wesentlich der Zweck verfolgt worden, die Stärke der Schläge, welche der Nerv erhält, möglichst genau auswerthen und graduiren zu können. 2* 20 Fiinctionelle Verscliiedenheiteii der Nerren. Es tritt die Frage an uns heran, was für verschiedene Arten von Nerven es gibt und wie sich dieselben von einander unterscheiden. Es muss schon bei oberflächlicher Betrachtung auffallen, dass zwei sehr wesent- lich verschiedene Thätigkeiten existiren, die eine, bei der Eindrücke von aussen aufgenommen werden, die uns Empfindungen verursachen, und die andere, bei der Erregungen vom Centralorgane zu den Muskeln hingehen, durch die letztere zur Contraction bestimmt, durch die Bewegungen aus- gelöst werden. Erst durch die fast gleichzeitigen Bemühungen von Charles Bell und Magendie hat man die eine Art der Nerven, die Bewegungs- nerven, von der andern Art, den Empfindungsnerven, unterscheiden ge- lernt. Bell fand nämlich zuerst auf dem Wege der Beobachtung und Induetion, dass diejenigen Hirnnerven, welche vorderen Rückenmarks- wurzelij entsprechen, indem sie wie diese ohne ein Wurzelganglion ent- springen und aus Theilen hervorgehen, welche als Eortsetzung der vorderen grauen Substanz des Rückenmarks erscheinen, motorische Nerven sind ; dass dagegen diejenigen Hirnnerven, die mit einem Wurzelganglion ent- springen und sich analog den hinteren Wurzeln der Rückenmarksnerven verhalten, sensible Nerven sind, und er schloss deshalb, dass die vorderen Rückenmarkswurzeln motorische und die hinteren Rückenmarkswurzeln sen- sible Wurzeln der Nerven seien. In der Hauptsache zu demselben Resultate gelangte Magendie auf dem Wege des directen Versuches. Aber auch Johannes Müller hat noch wesentlich mit zur Begründung und Be- festigung des Bell'schen Gesetzes beigetragen, indem er die Versuche, die Magendie an Säugethieren angestellt hatte, zuerst an Fröschen anstellte, wo sie ein viel klareres und unzweifelhafteres Resultat ergaben als bei den Säugethieren. J. Müller durchschneidet auf einer Seite die sämmt- lichen hinteren Wurzeln derjenigen Rückenmarksnerven, welche zu den unteren Extremitäten des Frosches gehen. Dann ist die betroffene Ex- tremität vollkommen empfindungslos. Sobald aber das Thier sich ein wenig erholt hat, bewegt es diese Extremität wieder ebenso wie die andern. Er durchschneidet nun auf der andern Seite von den sämmtlichen Nerven, die zur hinteren Extremität gehen, die vorderen Wurzeln und lässt die hinteren unversehrt. Dann ist dieses Bein vollständig gelähmt, aber es hat noch seine Empfindung. Wenn man einen solchen Frosch an dem Beine kneipt, welchem die vorderen Wurzeln durchschnitten sind, so kann er dieses Bein nicht wegziehen, weil es gelähmt ist ; aber er sucht mit den drei anderen Extremitäten zu entfliehen. Wenn man dagegen an dem andern Beine kneipt, dem die hinteren Wurzeln durchschnitten sind, so em- pfindet er hievon durchaus nichts, ja man kann ihm mit der Scheere stückweise von den Zehen angefangen diese Extremität abschneiden; wenn man nicht das ganze Thier dabei erschüttert, so empfindet es nichts davon und bleibt ganz ruhig sitzen. Hiemit stimmen auch die Reizversuche vollkommen überein, indem J. Müller fand, dass, wenn er die centralen Stümpfe der durchschnittenen hinteren Wurzeln reizte, er dann lebhafte Schmerzensäusserungen von Seite der Thiere bekam, dass er dagegen, wenn er die centralen Enden der durchschnittenen vorderen Wurzeln reizte, keine Schmerzempfindung er- hielt. Reizte er den peripherischen Stumpf der durchschnittenen vorderen Functionelle Verschiedenheit. 21 Wurzeln, bekam er Zuckungen in den betreffenden Muskeln, reizte er aber die periplierisclaen Stümpfe der durchschnittenen hinteren ^Yurzeln, bekam er keinerlei Zuckung. jSTicht so einfach und auf den ersten Anblick verständlich waren die Eesultate, welche Magendie an Säugethieren erhalten hatte. Es niuss zu- nächst bemerkt werden, dass, so einfach diese ganze Operation und diese Versuche an Fröschen sind, sie keineswegs so einfach und leicht an Säuge- thieren auszTiführen sind. Es ist hier eine viel schwierigere Operation, das Eiickenmark blosszulegen. Man hat mit der Blutung und der Er- schöpfung des Thieres zu thun. Endlich verlaufen die Nervenwurzeln der Säugethiere nur eine verhältnissmässig kurze Strecke im Wirbelcanal, weil sie weniger schräg gegen die Richtung des Rückenmarks abtreten. Bei den Fröschen aber verlaufen sie in einer längeren Strecke zu beiden Seiten des ßückenmai'ks nach abwärts, so dass man sie hier an jedem Orte dieser Strecke durchsehneiden und an den durchschnittenen Wurzeln experimen- tiren kann. Magendie fand nun, dass, wenn er bei Säugethieren die hinteren Wurzeln reizte, er dann allerdings Schmerzensäusserungen bekam; er fand aber auch, dass er Schmerzensempfindungen bekam, wenn er die vordere Wurzel reizte, und es fragt sich deshalb, woher diese Empfind- lichkeit der vorderen Wurzel kommt. Hierüber haben in späterer Zeit namentlich Longet und Bernard gearbeitet. Dieser fand, dass erstens die iinversehrten vorderen Wurzeln sich empfindlich erweisen, so lange die hinteren Wurzeln noch erhalten sind. Wenn man eben eine solche vordere M^urzel durchschneidet und dann den centralen Stumpf derselben reizt, so bekommt man dadurch keine Empfindung ; diese tritt aber auf, wenn man das peripherische Stück der durchschnittenen vorderen Wurzel reizt. Hat man vorher die dazu gehörige hintere Wurzel durchschnitten, so bekommt man weder von der intacten vorderen Wurzel, noch von dem peripherischen Stumpfe, noch vom centralen Stumpfe der durchschnittenen vorderen Wurzel eine Empfindung. Alle diese Erscheinungen, so complicirt sie auf den ersten Anblick scheinen, erklären sich durch eine sehr ein- fache Annahme. Man nimmt nämlich an, dass Fasern, die aus den sen- siblen Wurzeln stammen, nachdem sie in diesen fortgelaufen sind bis zur Vereinigung mit den motorischen Wurzeln, im Nervenstamme umbiegen und in der motorischen Wurzel wieder zurücklaufen. Unter dieser An- nahme habe ich erstens Empfindlichkeit der vorderen Wurzel, so lange die hintere existirt. Dieselbe hört aber begreiflicherweise auf, wenn ich die hintere Wurzel durchschneide , weil dann die betreffenden Fasern nicht mehr mit dem Centralorgane in Verbindung stehen. Wenn ich die hintere Wurzel erhalte, dagegen die vordere durchschneide, so kann ich keine Empfindung mehr bekommen vom centralen Stumpfe der vorderen Wurzel , weil ich hier nur sensible Nervenfasern reize , die bereits zwischen der Reizungsstelle und dem Centralorgane durchschnitten sind. Wenn ich aber den peripherischen Stumpf der durchschnittenen vor- deren Wurzel reize, so reize ich sensible Nervenfasern, die noch durch die hintere Wurzel mit dem Centralorgane in Verbindung stehen. Diese Empfindlichkeit des peripherischen Stumpfes muss aber aufhören, wenn ich die hintere Wiirzel durchschneide, was auch in der That der Fall ist. Diese Art der Sensibilität bezeichnet man mit dem Namen der recurrir end en Sensibilität. Es ist klar, dass die recurrirendc 22 Nerven. Sensibilität durclians nichts gegen die Allgemeingiltigkeit des Bell' sehen Gesetzes beweist. Es stellt sich weiter die Frage : wie soll man denn das Bell' sehe Gesetz verstehen? Soll man sich denken, dass es zwei verschiedene Arten von Nerven gibt, die in ihrer Substanz, in ihrem Wesen so verschieden sind, dass die einen nur im Stande sind Impulse vom Centrum nach der Peripherie zu leiten, das würden die Fasern der vorderen Wurzeln sein, und eine andere Art, die nur im Stande ist Impulse von der Peripherie nach dem Centrum zu leiten, das würden die Fasern der hinteren Wurzeln der Pückenmarksnerven sein. Oder soll man sich denken, dass an und für sich jede Nervenfaser Impulse sowohl nach abwärts als nach aufwärts leiten könne, dass aber für die eine Art von Nervenfasern die Impulse immer vom Centrum herkommen, und für die andere Art von Nerven- fasern die Impulse immer von der Peripherie herkommen? Man sieht leicht ein, dass dann die einen Fasern nur motorische Wirkungen ausüben können, obwohl sie doppelsinnig leiten, wenn sie nämlich an ihrem peri- pherischen Ende in Verbindung stehen mit Muskeln und an ihrem cen- tralen Ende mit Ganglienkugeln, von welchen aus die Willensimpulse gehen, die die Muskeln in Zusammenziehung versetzen ; während die anderen Nerven, die aus den hinteren Wurzeln entspringen, an und für sich möglicherweise auch doppelsinnig leiten können, aber begreiflicherweise deshalb keine Bewegung hervorbringen, weil sie an ihren peripherischen Enden nicht mit Muskeln, sondern mit empfindenden Theilen in Ver- bindung stehen, während umgekehrt ihre centralen Enden mit Nerven- zellen in Verbindung stehen, welche uns eben diese Eindrücke als solche zum Bewusstsein bringen. In der That neigt man sich in neuerer Zeit dieser letzteren Vorstellung zu, nämlich der, dass an und für sich die Nerven insofern gleichwerthig seien, als beide Arten sowohl von der Peri- pherie nach dem Centrum als von dem Centrum nach der Peripherie leiten können, dass ihre functionelle Verschiedenheit nicht sowohl von ihrer eigenen Natur abhängt, als vielmehr von den Gebilden, mit denen sie einerseits im Centralorgan und andererseits an der Peripherie in Ver- bindung stehen. Es sind dafür verschiedene wichtige Gründe aufgebracht worden. Erstens hat du Bois nachgewiesen, dass der Eloetrotonus und die negative Stromschwankung sieh in jeder Art von Nerven ganz gleich nach aufwärts und nach abwärts fortpflanzen. Wenn man irgendwo durch einen Nerven einen Stromstoss durchleitet, so bekommt man jedesmal eine ne- gative Schwankung, die sich mit gleichmässiger Geschwindigkeit nach beiden Seiten des Nerven hin fortsetzt. Aus den Versuchen von Bernstein geht, wie wir gesehen haben, hervor, dass die negative Schwankung mit gleicher Geschwindigkeit fortgesetzt wird wie die Nervenerregung. Man kann also kaum zweifeln, dass die Welle der negativen Stromschwankung auf demselben inneren Vorgange beruht mit der Eeizwelle, die über die Nervenfaser abläuft, und es wird eben dadurch sehr wahrscheinlich, dass nach beiden Seiten hin die Peizwelle gleichmässig ablaufen kann. Ferner hat Kühne einen Versuch, der für die doppelsinnige Leitung der Nerven in Anspruch genommen wird, angestellt. Kühne hängt den M. Sartorius vom Frosche frei auf. Im Sartorius des Frosches reichen die Nerven beiderseits nicht ganz bis zum Ende, namentlich an der einen Fnnctionelle Verschiedenheit. 2ö Seite befindet sich ein bedeutendes Stück nervenfreier Muskelsubstanz. Nun spaltet er den Sartorius durch dieses nervenfreie Stück bis hinauf in die nervenhaltige Substanz. Dann schneidet er mit einer Scheere den einen der so gebildeten Lappen stückvs^eise ab. So lange er in der nerven- freien Substanz sich befindet, zuckt immer nur die Seite des Muskels, an welcher er schneidet. Wenn er aber über eine gewisse Gi'enzc hinaus- kommt, und zwar in die nervenhaltige Substanz, so zuckt plötzlich bei einem Schnitte die zweite Seite des Muskels mit, ja der ganze andere Lappen verkürzt sich mit. Kühne erklärt diesen Versuch folgend ermassen : Die Nerverfasern im Sartorius verzweigen sich vielfach dichotomisch. Nun kann es nicht fehlen, dass von einer solchen dichotomischen Theilung das eine oder das andere Mal ein Ast in den einen Lappen, der andere in den zweiten hineingeht. Wenn man so weit schneidet, dass der eine Ast einer solchen Nervenfaser angeschnitten wird, so reizt man ihn und da- durch wird der andere Ast, welcher in den andern Lappen geht, mit- gereizt , und dieser andere Lappen mit in Zusammenziehung versetzt. Man sieht leicht ein , dass bei dieser Erklärung vorausgesetzt werden muss, dass in dem ersten Aste eine Leitung in umgekehrter Richtung, eine Leitung nach aufwärts in einer motorischen Nervenfaser stattfinde. Endlich hat Babuchin für die doppelsinnige Leitung in den Nerven des elektrischen Organs der Zitterfische einen entscheidenden Versuch ge- macht, indem es ihm beim Zitterwels, bei dem das Organ jeder Körper- hälfte durch eine einzige sich vielfach theilende Nervenfaser von ungemeiner Dicke versorgt wird, gelang, in dieser Faser sich Reize in der der natür- lichen entgegengesetzten Richtung, also centripetal, fortpflianzen zu lassen. Wir haben bis jetzt nur von sensiblen und motorischen Nerven gesprochen. Es ist aber klar, dass vom Centrum nach der Peripherie auch andere Impulse fortgeleitet werden können, als solche, die eine Bewegung erzeugen. Es können zunächst Impulse fortgeleitet werden in Nerven, welche sich in Drüsen verzweigen, so dass das Anlangen dieser Impulse die letzteren zur secretorischen Thätigkeit anregt. Solche Nerven nennen wir Absonderungsnerven. Dann können bei den elektrischen Fischen Impulse fortgepflanzt werden in Nerven, welche zum elektrischen Organe gehen, Impulse, die, wenn sie eintrefi^en, die molekulare Anordnung dieses Organs so verändern, dass sie dasselbe plötzlich in eine kräftig wirkende Batterie verwandeln. Solche Nerven nennen wir elektrische Nerven; nicht, weil sie selbst elektrisch sind, sondern weil sie Impulse fortleiten zu den elektrischen Organen, oder vielmehr, weil sie diese Organe in Wirksamkeit versetzen. Wir unterscheiden endlich noch Hemmungs- uervcn. Diese sind solche, in deren Bahnen Impulse fortgeleitet werden, vermöge welcher eine Bewegung, die sonst eingetreten wäre, gehindert wird. Man hat diese Art von Nerven zuerst durch Eduard Weber kennen gelernt, der in den Bahnen des Vagus Fasern verlaufend fand, die zum Herzen gehen, und wenn sie erregt werden, nicht das Herz stärker schlagen, sondern in der Diastole still stehen machen und also die Con- traction des Herzens verhindern. Ausser diesen fünf Arten von Nerven hat man noch trophische Nerven unterschieden, d. h. Nerven, welche Impulse vom Centrum zur Peripherie bringen, vermöge welcher die Ernährung in den betreftenden Gebilden in regelmässigem Gange erhalten werden soll. Man hat nach der 24 Nerven. Dtirchschneidung von Nerven Entzündungen, Geschwürsbildungen, Gangrän eintreten gesehen und diese Entzündungen mit dem Namen der neuro- paralytischen Entzündungen belegt. Man hat ferner gewisse Hautausschläge genau dem Verbreitungsbezirke gewisser Nerven folgen gesehen und in einzelnen Fällen sogar die Erkrankung der Haut mit Verletzungen oder Erkrankungen an bestimmten Nerven in Zusammenhang bringen können. Endlich hat Lewaschew, der im Laboratorium von Botkin arbeitete, auch trophische Veränderungen an Hunden hervorgebracht durch andauernde Reizung von Nerven. Letztere bewirkte er dadurch, dass er mehrmals hintereinander Eäden einnähete, die in schwacher Schwefelsäure- oder in Kochsalzlösung getränkt waren. Alle diese Thatsachen haben dazu Ver- anlassung gegeben, eine eigene Art von Nerven, die sogenannten trophi- schcn Nerven anzunehmen. Von den Thatsachen, die hier erwähnt worden sind, subtrahirt sich freilich zunächst eine Reihe. Von manchen Erscheinungen, welche man als sogenannte neuroparalytische Entzündungen betrachtet hat, hat es sich später herausgestellt, dass sie nicht herrühren von der Durchschneidung der Nerven als solcher, von der Durchschneidung trophischer Nerven, die zu den Theilen hingingen, sondern vielmehr davon, dass die Theile un- empfindlich waren, dass von den betreffenden Stellen keine Reflexe mehr ausgelöst wurden, dass deshalb die Theile Lisulten und Schädlichkeiten ausgesetzt waren, die sie früher nicht zu erleiden hatten, und dass diese Insulte, nicht etwa die Durchschneidung des Neyvenstammes als solche, die directe Ursache der Entzündung waren. Aber selbst wenn man diese Thatsachen abzieht, so bleiben noch Erscheinungen übrig, welche aller- dings Veranlassung zu der Annahme von trophischen Nerven geben können. Ich glaube jedoch, dass man sich bei der Annahme in diesem unbestimmten Sinne nicht beruhigen darf, dass man suchen muss näher zu erörtern, welche Wirkungen man etwa von diesen trophischen Nerven erwarten könne. Man muss bedenken, dass die Bewegungsnerven nicht blos zu den willkürlichen Muskeln gehen, sondern auch zu den unwillkürlichen, also auch zu den Muskeln der Blutgefässe, und dass deshalb Blutgefässe und Circulation nach der Durchschneidung der Nerven sich anders verhalten als früher. Wahrscheinlich von noch grösserer Bedeutung für unseren Gegenstand ist ein anderer Punkt. Wir haben gesehen, dass beim Chamäleon die Pigmentzellen in der Haut unter dem Einflüsse von motorischen Nerven stehen, wir haben dasselbe bei den Fröschen beobachtet. Bei letzteren hat Ehrmann auch die Nerven direct in die Pigmentzellen eintreten sehen, wie Leydig dies bereits früher an mehreren Reptilien beschrieben hatte, welche einen mehr oder weniger deutlichen Farbenwechsel zeigen. Kühne gibt ferner an, dass Zellen in der Hornhaut, die man mit dem Namen der Hornhautkörperchen bezeichnet, in ganz analoger Weise von den Hornhautnerven in der Art erregt werden können, dass sie ihre Fort- sätze einziehen. Man muss sich sagen, dass es wahrscheinlich nur an der besseren Gelegenheit zur Beobachtung liegt, dass diese Abhängigkeit von in den Geweben verbreiteten Zellen vom Nervensysteme nur bei Pigmentzellen und bei den Zellen der durchsichtigen Hornhaut beobachtet worden ist. Man darf voraussetzen, dass es im Körper noch eine grosse Menge von anderen Zellen gibt, die ganz ähnlich unter dem Imperium des Nervensystems stehen, wie dies bei den Pigmentzellen der Frösche Fnnctioneile Verschiedenheit. 2D und Chamäleonen und vieler anderer Thiere der Fall ist. Wenn man aber denkt, da.ss diesen Zellen ihre Nervenfasern durchschnitten oder andauernd gereizt werden, so kann man erwarten, dass dadurch auch Veränderungen, Abweichungen von der Norm entstehen, welche wir mit dem Namen der trophischen Störungen bezeichnen, und welche man bisher ohne nähere Bezeichnung auf die Lähmung oder Reizung der sogenannten trophischen Nerven zurückgeführt hat. In der That haben Landowsky, Maddox und Calberla Verbindungen von Nervenfasern mit sogenannten Binde- gewebskörperchen beschrieben, und in neuerer Zeit hat E. F. Ho ff mann hier im Laboratorium gleichfalls solche aufgefunden. Wir sehen ferner, dass die Absonderungsnerven der Drüsen, wenn sie erregt werden, die chemischen Vorgänge im Organe und den Zufluss von Flüssigkeit we- sentlich verändern. Es ist also keineswegs unmöglich, dass auch zu anderen Organen Nerven gehen, welche einen wesentlichen Einfluss auf die chemischen A'^orgänge und hiermit auch auf die Ernährung ausüben. Einen indirecten Einfluss auf die Ernährung der Muskeln üben schon ihre Bewegungsnerven dadurch aus, dass sie zur Contraction anregen, denn wir sehen sie mit der Zeit atrophiren, wenn der motorische Einfluss gehemmt ist. Aber auch Muskeln, die nie gelähmt waren, können in ihrer Ent- wickelung zurückbleiben, weil ihre Nerven irgendwie geschädigt wurden. Man sieht dies theils an der Abgrenzung der Muskelgruppc, die in ihrer Entwickelung zurückgeblieben ist, theils liegt auch die Schädlichkeit, die den Nervenstamm betroffen hat, offen zu Tage, indem Krämpfe vorhanden waren und Schmerzen an der peripherischen Ausbreitung der sensiblen Nerven, die in demselben Stamme verliefen. Wie die von den motorischen Nerven ausgelöste Muskelcontraction selbst in gewisser Beziehung ein chemischer Vorgang ist, so können mit den motorischen Nerven auch noch andere Nerven zu den Muskeln gehen, deren Erregung in ihnen wieder andere chemische Vorgänge bedingt. Um die Eeihe der Arten von ceutri- fugalleitenden Nerven vollständig zu machen, müssen wir, wenn wir nicht allein die Wirbelthiere im Auge behalten, sondern auch die wirbellosen berücksichtigen, noch die Leuehtnerven nennen, das heisst solche, die, zu bestimmten Organen gehend, diese, wenn sie erregt werden, zur Licht- entwickelung anregen. Das, was ich bei Gelegenheit der Lichtentwickelung durch lebende Thiere nach den Beobachtungen von Panceri über Phil- lorrhoe bueephala berichtet habe, und Aehnliches, was an anderen Sce- thieren beobachtet wurde , lässt sich kaum in einem anderen Sinne deuten. Man ist darauf angewiesen, anzunehmen, dass hier durch Nerven- einfluss ein Proeess, der mit Lichtentwicklung verbunden ist, direct an- geregt wird. Auch die Nerven, welche Impulse von der Peripherie zum Centrum bringen, können wir uns nicht blos als sensible Nerven denken. Wir müssen zunächst unter den sensiblen Nerven verschiedene Abtheilungen unterscheiden, je nach der Natur der Empfindungen, der Vorstellungen, welche durch sie hervorgerufen werden. Wir unterscheiden Nerven, welche die Gesichtsempfindungen vermitteln, Nerven, welche die Gehörsempfin- dungen vermitteln, Nerven, welche die Geruchsempfindungen vermitteln, Nerven, welche die Geschmacksempfindimgen vermitteln, Nerven, welche die Tastempfindungen vermitteln, Nerven, mittelst deren wir warm empfin- den, Nerven, mittelst deren wir kalt empfinden u. s. w. Wir sind mit Ju Nerven. dem Theilen noch nicht vollständig zu Ende gekommen bei den verschie- denen empfindenden Nervenfasern. Wir wissen noch nicht im Einzelnen, inwieweit die verschiedenen Empfindungen in verschiedenen Arten der Nervenfasern oder in verschiedenen Erregungszuständen einer und der- selben Art von Nervenfasern begründet sind. Abgesehen von den Nervenfasern, welche Empfindungen erregen, gibt es solche, welche von der Peripherie zum Centrum fortleiten, dort ihre Erregungen auf andere Nervenelemente übertragen und einen neuen Act, wir wollen sagen zunächst eine Bewegung, veranlassen. Eine solche Bewegung, die entsteht, wenn eine Erregung von der Peripherie zum Cen- trum fortgeleitet wird und hier auf eine Ganglienkugel oder auf Ganglien- kugeln übertragen wird, welche mit motorischen Nerven in Verbindung stehen, nennen wir eine Reflexbewegung. Unter Peripherie verstehen wir hier immer die äusseren oder inneren Oberflächen, beziehungsweise die Organe, in denen die Nerven endigen, unter Centrum das Rückenmark, die Medulla oblongata und den Hirnstamm, unter Umständen aber auch ein einzelnes Ganglion, in dem die Uebertragung der Erregung auf moto- rische Bahnen stattfindet. Die Leitung von den oberflächlichen Theilen des Gehirns, der Hirnrinde, zu den in der Tiefe liegenden und umgekehrt muss gesondert betrachtet werden, wenn man nicht die ganze Lehre von den Reflexbewegungen verwirren will. Wir betrachten die Reflexbewe- gungen im Gegensatze zu den willkürlichen. Auch diese sind ursprünglich durch centripetale Impulse bedingt; aber hier geht die Leitung durch Theile des Gehirns, die dem Bewusstsein, den Yorstellungen, dem Willen dienen. Der Begründer der Theorie der Reflexbewegungen ist Des carte s, der ausdrücklich sagt, es würden Impulse von der Peripherie nach dem Centrum fortgeführt und in letzterem würden sie auf motorische Nerven reflectirt. Als der zweite muss Prohaska genannt werden. Später hat Marshall Hall diese Lehre in etwas anderer Weise aufgestellt und be- deutend erweitert. Die Uebertragung der Reflexe entsteht in der Regel im Rückenmarke oder im verlängerten Marke, oder in solchen Theilen des Gehirns, welche wir als directe Fortsetzungen des Rückenmarks und der Medulla oblongata ansehen können. Wir können aber nicht sagen, dass dies die einzigen Orte seien, an welchen Reflexe übertragen werden können. Wir werden Thatsachen kennen lernen, die dafür sprechen, dass auch in den Ganglien Reflexe übertragen werden können. Zur Ueber- tragung eines solchen mag ja an und für sich nichts gehören als eine Nervenfaser, welche im Stande ist einen Impuls in centripetaler Richtung fortzuleiten, eine Ganglienkugel, mit der diese Nervenfaser in Verbindung steht, und eine zweite Faser, welche den motorischen Impuls fortpflanzt und die, entweder direet, oder indirect durch eine andere Nervenzelle mit dieser Ganglienkugel verbunden ist. Eine solche Anordnung kann gerade so gut in einem Ganglion, wie im Rückenmarke und in der Me- dulla oblongata vorkommen. Nerven, durch welche Reflexe ausgelöst werden, heissen Reflex- nerven oder exci tomotorische Nerven und ihre Thätigkeit ist für die Instandhaltung und für die ganzen Thätigkeitsäusserungen des Orga- nismus von der grössten Wichtigkeit. Es fällt zunächst auf, dass eine Reihe von Acten, welche den Organismus schützen, Schädlichkeiten von demselben abhalten und aus demselben entfernen, auf reflectorischem Wege Functionelle Verschiedenheit. i* ausgelöst werden. Wenn man z. B. die Conjunctiva des Auges berührt, so scMiessen sich auf reilectorischem Wege die Augenlider. Wenn Staub oder andere kleine fremde Körper in die Nase gelangen, so entsteht auf reflectorischem Wege Niessen, um diese Körper hinauszuschaffen. Wenn ein fremder Körper in die Trachea einzudringen sucht, so tritt zuerst Verschluss der Stimmritze ein, wodurch das Hineintreten des Körpers verhindert wird, und dann tritt in Gestalt des Hustens eine Reihe heftiger Exspirationsbewegungen ein, welche dazu dienen, den fremden Körper aus den Luftwegen hinauszuwerfen. Wenn wir noch weiter in die Thätig- keiten des Körpers eingehen, so stossen wir überall auf Reflexbewegungen, wir sehen, dass das Schlingen, das Athmen, kurz viele der wichtigsten Thätigkeiten des Körpers mit Reflexbewegungen zusammenhängen oder auf dem Wege des Reflexes zu Stande kommen. Es können aber in diesen excitomotorischen JSTerven nicht nur Impulse fortgeleitet werden, welche Reflexbewegungen auslösen, sondern auch solche, welche Reflexabsonderungen hervorrufen. Ebensogut, wie die Erregung im Centralorgan auf einen motorischen Nerven übertragen wird, kann sie auch auf einen Absonderungsnerven und auf einen elektrischen Nerven übertragen werden. Wir unterscheiden deshalb Reflexabsonderungen, und wir werden bei den elektrischen Fischen sehen, dass die Thätigkeit ihrer elektrischen Organe durch Anregung der Nerven auf reflectorischem Wege hervorgerufen werden kann. Ja, es kann die Erregung im Centrum auch übertragen werden auf einen Hemmungsapparat, und dann haben wir die- jenige Erscheinung, die wir mit dem Namen der Reflexhemmung be- zeichnen. Es fragt sich, sind die excitomotorischen Nerven und die sensiblen Nerven verschieden von einander oder sind es die gewöhnlichen sensiblen Nerven, in denen auch die Impulse fortgeleitet werden, welche Reflex- bewegungen, Reflexabsonderungen und Reflexhemmungen auslösen. Wir kennen keine Thatsache, welche uns zwingt anzunehmen, dass in den gewöhnlichen sensiblen Bahnen nicht auch reflectorische Erregungen fort- gepflanzt werden können : aber wir kennen umgekehrt eine Menge von Thatsachen, die uns zeigen, dass es centripetalleitende Bahnen gibt, in welchen Impulse fortgeleitet werden, die Reflexe erregen, ohne dass sie uns eine Empfindung verursachen. Man sieht leicht ein, dass dies nur in den centralen Verbindungen begründet ist, welche die centripetalleitenden Bahnen, von denen wir sprechen, eingehen. Sind die Verbindungen derart, dass die Erregungen in diejenigen Theile des Gehirns fortgepflanzt werden, die uns bewusste Empfindungen und Vorstellungen zubringen, so sagen wir, dass die Erregung dieser Nerven uns eine Empfindung verursache. Findet aber im Centralorgane die Uebertragung einfach auf eine centri- fugalc Bahn statt, ohne dass die Kette der Veränderungen durch solche Theile abläuft, in welchen für uns die Quelle bewusster Empfindungen zu suchen ist, so wird eine Reflexbewegung oder Reflexabsonderung er- zeugt, ohne dass uns daraus eine bewusste Empfindung erwächst. Es können im Centralorgane nicht nur Erregungen übertragen werden von centripetalen auf centrifugale Bahnen, sondern es können auch Erre- gungen übertragen werden auf andere Nervenelementc, welche mit anderen centripetalen Bahnen in Verbindung stehen. Da aber diese Erregungen ganz ähnliche Folgen haben, als wenn die centripetalen Bahnen, mit denen 2o Functionelle Verschiedenheit. — Motorische Nerven. diese Elemente in Verbindung stehen, erregt worden wären, so entsteht dadiTrch eine Empündung, die anseheinend ihre Ursache an dem peri- pherischen Ende eben jener centripetalen Bahnen hat, und eine solche Empfindung bezeichnen wir mit dem Namen der Mitempfindung. Im Ohre verzweigt sich ein kleiner Ast des Vagus, der Ramus auri- cularis nervi vagi. Von diesem gehen einige Fäden in den tiefsten Theil des äusseren Gehörganges. Wenn man mit einem Federbart oder einem zusammengedrehten Papiere immer tiefer und tiefer in den äusseren Gehör- gang hineinbohrt, so spürt man endlich, wenn man an eine bestimmte Stelle kommt, ein Kitzeln im Kehlkopfe. Dann ist die Erregung auf Ele- mente im Centralorgane übertragen worden, die mit dem Nervus laryngeus superior, dem Empfindungsnerven des Kehlkopfes, in Verbindung stehen, und daher fühlt man das Kitzeln im Kehlkopfe. Es dauert aber nicht lange, so tritt auch Husten ein. Dieser ist eine Reflexbewegung. In un- serer Vorstellung ist es so, als ob wir husten müssten, weil wir Kitzeln im Kehlkopfe fühlen, weil der gewöhnliche Angriffspunkt für die Reflex- bewegung des Hustens in der Kehlkopfschleimhaut liegt: in der That ist aber die wahre Ursache der Reflexbewegung, die ausgelöst worden ist, hier die Eri-egung des Ramus auricularis nervi vagi. Diese hat uns eine Mitempfindung im Laryngeus superior verursacht und in zweiter Reihe, indem der Reiz auf Elemente übertragen worden, die mit motorischen Bahnen in Verbindung stehen, Husten als Reflexbewegung ausgelöst. Es können endlich weiter, wenn Erregungen auf motorische Centren übertragen sind, diese sich in denselben ausbreiten, und es können dadurch Bewegungen, die wir nicht die Absicht haben hervorzurufen, entstehen. Wenn wir z. B. die Hand auf den Tisch legen und einen Finger nach dem andern aufzuheben suchen, so finden wir, das uns dies das erste Mal nicht ganz gut gelingt, dass wir den einen oder andern Finger, der nicht mitgehoben werden sollte, mitaufheben, bis einige Uebung uns nach und nach dazu bringt die Finger vollkommen isolirt zu bewegen. Dies ist eine Erfahrung, die bei allen Kindern gemacht wird, die Ciavierspielen lernen, indem sie Schwierigkeiten haben die Bewegungen der Finger zu isoliren, es aber später ganz gut lernen. Dergleichen Bewegungen, deren Ursachen unwillkürlich von einem motorischen Centram auf das andere übertragen worden sind, bezeichnet man mit dem Namen der MitbeAve- gungen. Motorische Nerven. An den motorischen Nerven hat man mit besonderer Sorgfalt und mit dem Aufwände von sehr viel Arbeitskraft die Erregungen durch den elektrischen Strom untersucht. Bei den älteren Versuchen waren, je nach- dem man stärkere oder schwächere Ströme anwandte, je nachdem man sie eine kürzere oder längere Zeit hindurchleitete, die Resultate so ver- schieden, dass man sich gar nicht aus diesem Gewirre herausarbeiten konnte. Erst durch die grosse Arbeit von Pflüger über den Electrotonus ist in diesen Gegenstand eine grössere Klarheit hineingekommen. Früher pflegte man die Versuche so anzustellen, dass man die Elektroden ohne- weiters an den Nerven selbst anlegte. Nun wissen wir aber, dass die Producte der Zersetzung, die durch den elektrischen Strom hervorgebracht werden, sich am positiven und am negativen Pole ansammeln. Diese Pro- Motorisclie Nerven. ^«7 ducte der Zersetzung können in doppelter Weise bei dem Versuche nacli- theilig wirken: erstens insofern sie den Strömungsvorgang selbst verändern, denn sie bilden Kette in entgegengesetzter Richtting, und andererseits, indem sie an Ort und Stelle einen directen, einen cliemisclien Reiz auf die ISTervensubstanz ausüben. Es war also ein wesentlicber Portscbritt, dass Pflüger zuerst die Nerven mit unpolarisirbaren Elektroden unter- suchte. Er untersuchte nicht allein die Erregung, Avelche durch den elek- trischen Strom, den man öffnet und schliesst, hervorgebracht wird, sondern seine wesentlichen Untersuchungen waren darauf gerichtet, die Verände- rungen zu erforschen, welche in der Erregbarkeit des motorischen Nerven dadurch hervorgebracht werden, dass durch eine Strecke desselben ein elektrischer Strom hindurchgeleitet wird, mit anderen Worten, er unter- suchte die Erregbarkeitsveränderungen im Electrotonus. Denkt man sich den Gastroknemius eines Frosches, an dem der herauspräparirte ISTerv hängt, und legt man an den Nerven eine Kette so an, dass der Strom aufsteigend (siehe Figur 5) durch den Nerven hin- durch geht, so sagt Pflüg er von derjenigen Strecke, die jenseits der positiven Elektrode liegt, die also stromaufwärts liegt, sie sei im Anelectro- tonus, und von derjenigen Strecke, welche stromabwärts liegt, sagt er, Fig. 5. Katelectrotonus <— ««.f- Anelectrotonus sie sei im Katelectrotonus. Wenn er nun in dieser Weise einen Strom hindurchleitet, so findet er zunächst bei schwächeren Strömen, dass die Erregbarkeit erniedrigt ist im Gebiete des Anelectrotonus, und dass die Erregbarkeit erhöht ist im Gebiete des Katelectrotonus. Wenn er die Intensität der Ströme, mit denen er reizt, mit denen er die Erregbarkeit der verschiedenen Nervenstrecken prüft, immer herabmindert, so findet er, dass er an der negativen Elektrode mit einer Stromstärke noch Erregungen hervorbringen kann, die am normalen Nerven keine Erregungen hervor- gebracht hätte, dass er dagegen in der Region des Anelectrotonus eine beträchtlich grössere Stromstärke braucht, um dieselbe Wirkung hervorzu- rufen. Wenn er die Intensität des Stromes, der unseren Nerven von e bis e, durchfliesst, immer mehr steigert, so findet er, dass die Erregbarkeit in der Gegend des Katelectrotonus nicht fortwährend steigt, sondern nachdem sie ein Maximum erreicht hat, abnimmt und endlich unter die Norm herabsinkt. Das erklärt Pflüger so, dass zwar in der Gegend des Katelec- trotonus an und für sich die Erregbarkeit nicht abnehme, dass aber die Beweglichkeit der Moleküle in der Strecke, welche sich im Anelectrotonus befindet, so herabgesetzt Avird, dass schliesslich die Erregung, die an der Stelle, die sich im Katelectrotonus befindet, erzeugt wird, nicht mehr bis 30 Motorische Nerven. zum Muskel fortgeleitet wird. In der That sinkt in der Gegend des An- eleetrotonus die Erregbarkeit immer tiefer und tiefer und erstreckt sich nicht nur auf die Nervenstrecke bis zum Muskel hin, sondern auch auf die Verzweigungen des Kerven innerhalb des Muskels. Wir haben auf diese Weise in dem aufsteigenden Strome ein werth- volles Mittel, um die Nervenfasern innerhalb des Muskels unempfindlich zu machen. Durch einen starken elektrischen Strom, den wir aufsteigend durch den Nerven hindurch schicken, können wir nicht nur diesen, son- dern auch alle Verzweigungen desselben innerhalb des Muskels unerregbar machen. In der Zeit, als noch darüber gestritten wurde, ob die Muskeln eine selbstständige Erregbarkeit hätten, oder ob sie nur von ihren Nerven aus erregt werden könnten, hat Kühne dies benützt, um die selbststän- dige Erregbarkeit der Muskelsubstanz nachzuweisen. Der Versuch, den er machte, war folgender. Er bediente sich wieder des Sartorius des Frosches mit seinen nervenfreien Endstücken. Mit den Elektroden eines Magnetelektromotors tastete er den ganzen Muskel ab und fand, dass die Erregbarkeit für die Inductionsströme am grössten war an der Stelle, avo der Nerv in den Muskel eintritt, dass sie abnahm gegen das Ende des Muskels zu und am geringsten war in den nervenfreien Stücken. Wir haben schon früher gesehen, dass eben die Muskelsubstanz an sich gegen Inductionsströme viel unempfindlicher ist als die Nerven, die sich in den Muskeln verzweigen. Nachdem er so die Erregbarkeit an allen Theilen des Muskels geprüft hatte, schickte er einen starken aufsteigenden Strom durch den Nerven des Sartorius und tastete wieder mit den Elektroden seines Magnetelektromotors die ganze Strecke des Muskels ab. Er fand, dass er jetzt überall nur dieselbe Erregbarkeit besitze, wie er sie vor dem Durch- leiten des Stromes an den nervenfreien Enden beobachtet hatte. Er zog hieraus mit Eecht den Schluss, dass die Muskeln im normalen Zustande zweierlei Erreg- barkeit haben, eine von den Ner- ven aus und eine, bei der die Mus- kelsubstanz direct erregt werde, und dass nur die letz- tere Art der Er- regbarkeit übrig geblieben, nach- dem er einen auf- steigenden Strom durch den Nerven des Sartorius hindurchgeleitet hatte. Wir senden nun den elektrotonisirenden Strom in entgegengesetzter Richtung durch den Nerven, so dass er, wie Figur 6 von e nach e,, also absteigend fliesst. Dann befindet sich die Strecke nach dem Muskel zu im Katelectrotonus und die Strecke weiter aufwärts am Nerven im An- electrotonus. Wenn man nun die Strecke in der Nähe des Muskels unter- sucht, so findet man sie bei schwachen und stärkeren elektrotonisirenden Strömen im Zustande der höheren Erregbarkeit. Untersucht man die andere Strecke, die im Anelectrotonus befindliche, so findet man sie durch- weg im Zustande der erniedrigten Erregbarkeit. Hier hat man also die Anelectrotonus Fig. 6. Katelectrotonus Fig. 7. Motorische Nerven. 31 ErsclieinuBgen des Katelectrotoniis und Aneleetrotonus im reinen Zustande vor sicli, nämlich durchweg erhöhte Erregbarkeit in der Strecke des Kat- electrotonus und Verminderung derselben in der Strecke des Aneleetrotonus. Prüft man die intrapolare Strecke mittelst chemischer Reize, so ver- hält sie sich verschieden je nach der Stärke der elektrischen Ströme, die hin- durchgeschickt werden. Bei schwächeren Strömen befindet sieh die ganze Region um die negative Elektrode herum im Zustande der erhöhten Erreg- barkeit , die Depression beginnt erst nahe an der positiven Elektrode. In Fig. 7 be- deutet die hori- zontale Linie die elektrotonisirte Nervenstrecke, e und e, sind die ,..-■' angelegten Elek- c b . , _ ^ .. troden, und die \ ^^^_^^^^ ..■■■■' Curven folgen '■-.. ,.--' der Erhöhung der Erregbarkeit über das Niveau des Normalen und der Depression unter dasselbe, die Linie aa ist die Curve, welche der Wirkung schwacher elektrotonisirender Ströme entspricht. Bei Anwendung stärkerer Ströme tritt ein grösserer Theil der intrapolaren Strecke in die Phase der verminderten Erregbarkeit. Diesen Zustand zeigt in Figur 7 die Linie hb an. Endlich, wenn man noch stär- kere Ströme anwendet, so befindet sich fast die ganze intrapolare Strecke in der Phase der vei'minderten Eri'egbarkeit, und niir die Stelle an der negativen Elektrode befindet sich in der erhöhten Erregbarkeit, wie dies die Curve cc in Figur 7 versinnlicht. Pflüger benützte seine Resultate, um ein Gesetz der Zuckungen auf- zustellen, um eine Formel dafür zu finden, unter welchen Umständen Zuckung entstehen muss, wenn man einen Strom aufsteigend oder ab- steigend durch den Nerven hindurchsendet. Er geht hiebei von der Idee aus, die er auch durch seine weiteren Resultate begründet hat, dass die Zuckung immer durch das Entstehen des Katelectrotonus und diu'ch das Vergehen des Aneleetrotonus entsteht, dass aber das Vergehen des Kat- electrotonus und das Entstehen des Aneleetrotonus keine Zuckung hervor- rufen. Mit anderen Worten, da, wo plötzlich die Erregbarkeit erhöht wird, tritt Zuckung ein, wenn dieser Zustand wieder aufhört und ziu* Norm zurückkehrt, macht das keine Zuckung. Wenn eine Depression eintritt, so ist das an und für sich keine Ursache zu einer Zuckung, wenn aber dieser Zustand der Depression aufhört, Avenn die Moleküle gegen ihre normale Lage zurückfallen, so vcriu'sacht dies Zuckung. Die Thatsachen stellen sich nun folgendermassen. Wenn ich mit den kleinsten Strom- stärken anfange, so bekomme ich anfangs überhaupt keine Zuckung, weil die Erregung erst ein gewisses Maass erreichen muss , ehe sie eine Zuckung auslösen kann. Ist diese Grenze einmal mit Avaclisender Strom- stärke erreicht , so erhalte ich zunächst ntu" eine Schliessungszuckung, gleichviel ob ich den Strom aufsteigend oder absteigend hindiu-chleite. Dieses Anfangen mit sehr schwachen Strömen und dieses Graduiren der Ströme, wie es Pflüger bei seinen Untersuchungen durchgeführt hat, 32 Motorisclie NeiTen. wurde ihm möglicli durch eine Erfindung von du Bois, durch die Er- findung des Rheochords. Wenn man die Leitung, welche von einer Kette ausgeht, in zwei Theile theilt, von denen der eine durch den Nerven und der andere durch einen andern Leiter geschlossen werden kann, so kann man den Strom- antheil, der durch den Nerven hindurchgeht, beliebig klein machen da- durch, dass man mit einem guten Leiter schliesst. Man kann mit einem so guten Leiter schliessen, dass ein kaum merklicher Stromantheil durch den Nerven hindurchgeht. Je mehr Widerstände man aber in die Neben- schliessung einschaltet, um so grösser wird der Stromantheil, der durch den Nerven geht. Das E-heochord von du Bois beruht nun darauf, dass die Nebenschliessung zunächst in einer Eeihe von massiven Metallstücken besteht, welche einerseits durch metallene Zapfen mit einander in Ver- bindung stehen, andererseits aber auch noch durch mehr oder weniger lange Schlingen von dünnem Draht miteinander verbunden sind. So lange die Zapfen stecken, geht der Strom durch diese hindru'ch, und der Leitungs- widerstand in der Nebenschliessung ist ein sehr geringer. Wenn ich aber einen Zapfen ausziehe und dadurch die Verbindung unterbreche, welche er zwischen zwei benachbarten Metallstücken herstellte, so zwinge ich nun den Strom, von dem einen derselben zum andern durch die Schlinge von dünnem Draht hindurchzugehen, welche einen viel grösseren Wider- stand darbietet. So kann ich also, indem ich die Zapfen einen nach dem andern aiTSziehe, den Widerstand in der Nebenschliessung und damit den Stromantheil, der durch den Nerven geht, stufenw^eise vergrössern. Um die Stromstärke noch feiner und ganz allmälig abstufen zu können, sind die beiden Branchen der ersten Drahtschlinge durch eine verschiebbare metallische Brücke mit einander verbunden, so dass man also die Strecke, welche der Strom in ihr durchlaufen muss, ganz nach Gutdünken ver- ändern kann. Die ersten Ströme, die überhaupt Zuckungen erregen, rufen also, wie gesagt, immer nur Schliessungszuckungen hervor, ob der Strom auf- steigend oder absteigend durch den Nerven hindurchgeschickt wird. Das heisst nichts Anderes, als dass das Entstehen des Katelectrotonus geeigneter ist Zuckungen zu erregen, als das Vergehen des dazu gehörenden An- electrotonus. Beim jedesmaligen Schliessen und Oeffnen des Stromes ent- steht einmal ein Katelectrotonus und vergeht einmal ein Anelectrotonus. So lange aber die Ströme schwach sind, ist es nur das Entstehen des Katelectrotonus, welches eine Zuckung erzeugt. Dies ist die sogenannte erste Reizstufe. Nimmt man stärkere Ströme, so bekommt man von einer gewissen Grenze an sowohl beim Schliessen als beim Oeffnen des Stromes Zuckung, gleichviel ob man den Strom aufsteigend oder absteigend hin- durchschickt. Das ist die sogenannte zweite Eeizstufe. Diese charakterisirt sich dadurch, dass jetzt auch das Vergehen des Anelectrotonus bereits ein hinreichender Eeiz ist, um eine Muskelcontraction auszulösen. Die dritte Reizstufe charakterisirt sich dadurch, dass der Strom jetzt so stark ist, dass, wenn man denselben in aufsteigender Richtung schliesst, man gar keine Zuckung erhält, einfach deswegen, weil jetzt eine so starke Depres- sion an der positiven Elektrode eingetreten ist, dass die Erregung, welche das Entstehen des Katelectrotonus hervorbringt, nicht mehr bis zum Muskel fortgepflanzt wird. Oeffnet man aber, so crliält man eine OefFnungszuckung, Motorische Nerven. 33 manchmal sogar, je nach der Stärke des Stromes und der Länge der Zeit, während welcher er geschlossen war, eine Reihe von Zuckungen, einen sogenannten OefFnungstetanus, indem dann der Anelcctrotonus eine gewisse Zeit braucht, um zur Norm abziifallen, und dadurch eine Eeihe von Er- regungen hervorbringt, die eine Reihe von Zuckungen im Muskel bewirken. Was geschieht, wenn ich diesen starken Strom, der aufsteigend keine Zuckung gab, absteigend schliesse? Dann erhalte ich eine starke Sehliessungs- zuckung und darauf tritt Ruhe ein, und wenn ich nun öffne, so erhalte ich sehr verschiedene Resultate, je nach der diu'chlaufenen Strecke und je nachdem der Strom kürzere oder längere Zeit geschlossen war. War er • nur kurze Zeit geschlossen, so erhalte ich eine relativ unbedeutende Oeffnungszuckung. Man erklärt sich das daher, dass die Strecke, die sich im Katelectrotonus befand, weniger geeignet ist, die Erregung, die durch das Vergehen des Anelectrotonus erzeugt wird, bis zum Muskel fortzu- pflanzen. War dagegen der Strom einige Zeit geschlossen gewesen und man öffnet dann, so erhält man eine viel stärkere Oeffnungszuckung, ja man kann dann eine Reihe von Oeffnungszuckungen, einen förmlichen OefFnungs- tetanus, nach seinem Entdecker Ritter'scher Tetanus genannt, in ähn- licher Weise, wie früher, bekommen. Diesen Oeffnungstetanus, der entsteht, nachdem der absteigende Strom geöffnet ist, hat Pflüger benützt, um die Richtigkeit seiner Annahme über die Ursache der Zuckungen zu erweisen. Er sagt nämlich: Wenn es richtig ist, dass das Vergehen des Anelectrotonus diesen Tetanus hervor- bringt, dann muss er aufhören, wenn ich die Strecke, die sieh im An- electrotonus befindet, ausser Verbindung mit dem Muskel setze. Er dui-ch- schnitt deshalb beim Beginne des Oeffnungstetanus die intrapolare Strecke. Die Strecke des Katelectrotonus blieb dabei noch mit dem Muskel ver- bunden. Wenn also von dem Katelectrotonus die Zuckungen hergerührt hätten, so müsste der Muskel noch zucken; er hört aber auf zu zucken, zum Beweise, dass es der Anelectrotonus war, dessen Vergehen die Zuckungen hervorgebracht hatte. Dass dies in der That so ist, geht daraus hervor, dass diese Wirkung ausblieb, wenn er den Nerven so diu'chschnitt, dass ein Theil der Strecke, die sich im Anelectrotoniis befand, mit dem Muskel noch im Zusammenhange blieb; dann hörte der Tetanus nicht auf. Dieser Tetanus beim Oeffnen von constanten Strömen, die den Nerven längere Zeit durchflössen haben, zeigt, dass die Veränderung, die im Nerven hervorgebracht wird, nicht plötzlich aufhört, sondern dass er einige Zeit braucht, um zur Norm zurückzukehren. Dieser Oeffnungstetanus kann sofort aufgehoben werden, wenn ich den Strom wieder herstelle, weil dann die Ursache desselben aufgehoben ist, er wird aber gesteigert, sobald ich einen Strom in entgegengesetzter Richtung dui'chsende, weil dieser Strom die Anordnung der Moleküle umzukehren sucht und so die Ursache ver- mehrt, die die Erregung hervorrief. Nun ist aber das Stadium, in dem der Muskel zuckt, niu* ein Theil des Stadiums, in welchem der Rückgang in den früheren Zustand stattfindet. Wenn der Mitskel aufhört zu zucken, so ist der Nerv noch nicht zu seiner Norm zimickgekehrt, sondern die Veränderungen, die in ihm vorgehen, sind nur nicht stark genug, um eine Zuckung im Muskel hervorzurufen. Dass er dann noch im ver- änderten Zustande ist, zeigt sich, Avenn man ihn mit auf- und absteigen- den Strömen untersucht. Leitet man einen Strom in derselben Richtung Brücke. Vorlesungen. 11. 4. Aufl. 3 34 Motorische Nerven. hindurch, in dex' der frühere circulirte, so zeigt sich der ISTerv relativ un- empfindlich, leitet man aber in entgegengesetzter Richtung von dem frühe- ren einen Strom durch den Nerven, so zeigt er sich relativ empfindlich. Dies war eine wesentliche Quelle der paradoxen Erscheinimgen, die man früher, ehe man diese Verhältnisse kannte, Avahrgenommen und nicht zu erklären wusste. Man muss den Satz Pf lüger 's, die Zuckung entstehe durch das Entstehen des Katelectrotonus und diu'ch das Vergehen des Anelectrotonus, als die Auslegung eines schon früher von du Bois aufgestellten Gesetzes ansehen. Dieses sagt, dass nicht der ru.hig fliessende Strom als solcher die Zuckung auslöst, sondern dass die Erregung beim Ansteigen und Ab- fallen des Stromes entsteht, und dass die Erregung um so stärker ist, ceteris paribus, je schneller der Strom ansteigt oder abfällt. Es entsteht also eine Erregung beim Schliessen und Oeifnen des Stromes, es entsteht aber auch eiiie Erregung, wenn während des Durchfliessens des Stromes dieser plötzlich zunimmt oder plötzlich abnimmt. Kurz, es entsteht eine Erregung unter denselben Umständen, unter welchen in einem benachbarten geschlossenen Leiter ein Inductionsstrom inducirt worden Aväre. Diese Erregimg entsteht, wie wir durch Pf lüg er 's Versuche gelernt haben, da- durch , dass entweder irgendwo ein Katelectrotonus entsteht oder sich steigert, oder ein Anelectrotonus vergeht oder doch plötzlich auf einen viel geringeren Grad abfällt. Daraus, dass es der elektrische Strom nicht eigentlich als solcher ist , der iinmittelbar die Muskelzusammenziehung hervorruft, sondern dass es der entstehende Katelectrotonus oder der ver- gehende Anelectrotonus ist, wird sich eine untere Grenze in Bezug auf die Stromdauer für das du Bois' sehe Gesetz ergeben, d. h. wenn ein Strom eine allzu kurze Dauer hat, so wird er, wenn er auch plötzlich ansteigt und wieder abfällt, doch keine Zuckung hervorbringen, weil die Zeit für das Entstehen des Electrotonus nicht vorhanden ist. Man darf nicht sagen, weil die Zeit für die vollständige Entwickelung des Stromes nicht vorhanden, denn wir wissen, dass der Strom sich in Leitern von solchen Dimensionen, wie die sind, mit denen wir es zu thun haben, mit ganz ausserordentlicher Schnelligkeit entwickelt. Aber nicht mit gleicher Schnelligkeit entwickeln sich die Veränderungen, die der Strom im N^erven hervorruft und die wir mit dem Namen des Electrotonus bezeichnen. Diese Voraussetzung hat sich durch die Versuche von Eiek vollständig bestätigt. Fick fand, dass, wenn man die Dauer eines Stromes, der noch stark genug ist, beim Schliessen und Oeffnen den Nerven zu reizen, immer mehr und mehr abkürzt, man endlich zu einer imteren Grenze gelangt, von der an der Stromstoss keine Zuckung mehr hervorbringt. Auf diese untere Grenze kommt man um so früher, je schwächer der Strom schon an und für sich ist, und zwar aus einem begreiflichen Grunde. Je stärker der Strom ist, um so rascher wird ein gewisser Grad von Electrotonus erzielt werden, um so kürzer wird also auch die Zeit sein können, während welcher dieser Strom wirksam zu sein braucht, um einen solchen Grad von Electrotonus hervorzurufen, dass dadurch eine Zuckung ausgelöst wird. Es hat sich auch ebenso gezeigt, dass, wenn ein Strom eine sehr kurze Unterbrechung erleidet, keine Zuckung eintritt, wenn die Unterbrechung zu kui'Z ist. Bei der Unterbrechung soll die Zuckung durch das Abfallen und durch das Sichwiederherstellen des Electrotonu.s entstehen. Wenn Motoiisclic Nerven. OO aber die Zeit dafür, dass der Eleetrotonus wesentlicli von seiner Höhe herabfallen kann, zu kurz ist, so kann weder das Herabfallen, noch das R ichwiederherstellen desselben einen solchen Reiz bedingen, dass dadurch der Muskel in Zusammenzichung versetzt Avird. Auch hier zeigt sich wieder, dass je stärker der Strom ist, um so kürzer auch die Unter- brechungen sein können, die noch hinreichend sind, um einen Muskel in Zusaramenziehung zu versetzen. Wir müssen diese Thatsachen im Zusammenhang mit einer andern betrachten, mit der nämlich, dass, wie dies schon du Bois wusste und in seinem Gesetze aussprach, ein Muskel nicht in Zusammenziehung ver- setzt wird, wenn der Strom, den man durch seinen Nerven hindurch- schickt, zu langsam ansteigt oder zu langsam abfällt. Der Strom muss mit einer gewissen Geschwindigkeit ansteigen oder abfallen, damit über- liaupt eine Zuckung ausgelöst wird. Je steiler er ansteigt oder abfällt, um so kräftiger fällt die Zuckung aus. Wir haben gesehen, dass es nicht der Strom als solcher ist, welcher direct die Muskelzusammenziehung hervor- bringt, sondern dass der Strom in den Nerven Veränderungen hervorruft, bei deren Entstehung die Erregungsursachen erzeugt werden, Avelche den Muskel in Contraction versetzen. Wenn diese Erregungsursachen beliebig lange fortbestehen, sich also fortwährend summiren könnten, so würden endlich, wenn ein Strom auch langsam ansteigt, so viel Erregungsiu'sachen summirt werden, dass doch eine Muskelcontraction ausgelöst wird, voraus- gesetzt, dass der Strom schliesslich zu einer hinreichenden Stärke ansteigt. Das ist aber nicht der Fall. Es zeigt sich, dass die Erregungsursachen, die hier erzeugt werden, wieder verschwinden, wenn sie nicht sofort zur Wirkung kommen, und unter dieser Annahme erklären sich alle weiteren Erscheinungen. Steigt nämlich der Strom plötzlich an, so werden alle Erregungs- ursachen, die er bei seinem Ansteigen hervorbringt, in einer kürzeren Zeit erzeugt, können sich also vollständig summiren, und es entsteht eine Zuckung. Steigt er dagegen sehr langsam an, so verschwindet während seines weiteren Ansteigens ein Theil der Erregungsursachen. Es werden zwar neue erzeugt, dafür verschwinden aber immer andere, die schon früher erzeugt waren, so dass nie eine Summe erzielt wird, die hoch genug wäre, den Muskel in Zusammenziehung zu versetzen. Von diesem Standpunkte aus verstehen wir auch, warum ein Strom, wenn er immer schneller und schneller unterbrochen wird, schliesslich keinen Tetanus mehr erzeugt. Jeder einzelne Stromstoss ist zu kiu'z, um an und für sich eine Zusammenziehung hervorzubringen. Würden die Erregungsursachen per- manent sein, so würden sie sich schliesslich aus einer licihe von Strom- stössen summiren, und es würde endlich doch eine Erregung zu Stande kommen. Nun sind aber diese Erregungsursachen nicht permanent, sondern verschwinden nach einer verhältnissmässig kurzen Zeit, wenn sie nicht sofort zur Wirkung kommen, und es können sieh deshalb, wenn ein Strom in sehr kurzen Zeiten hintereinander unterbrochen wird, die kleinen Stromstösse in ihren Wirkungen nicht so weit summiren, dass dadurch eine Keizsumme entstünde, die hoch genug wäre, um den Miiskel in Contraction zu versetzen. Durch diese Betrachtungen und durch Combination der Thatsachen, die wir bisher kennen gelernt haben, lässt sich auch ein Band herstellen zwischen den Erscheinungen, die wir auf Reizungen an den Muskeln der 3* 36 Motorisclie Nerven. Frösche beobaclitet, und den merkwürdigen, anscheinend ganz abweichenden Erscheinungen, die Fick vor längerer Zeit am Schliessmuskel der Bivalven beobachtet hat. Er fand, dass der Schliessmuskel der Bivalven sich noch auf einen Strom zusammenzieht, der so langsam ansteigt, dass es nicht mehr möglieh wäre, durch diesen Strom einen Froschmuskel in Contraction zu versetzen. Andererseits fand er, dass gegen einen mit einer gewissen Geschwindigkeit unterbrochenen Strom, der einen Froschmuskel noch in Tetanus versetzte, der Muskel der Bivalve sich ebenso verhielt wie gegen einen constanten Strom, der geschlossen wird; dass nämlich der Schliess- muskel der Bivalve auf einen unterbrochenen Strom von gewisser Schlag- folge sich bis zu einer gewissen Grösse zusammenzog, dann stehen blieb und, wenn diese Schlagfolge unterbrochen wurde, wenn sie aufhörte, sich noch einmal zusammenzog, als ob ein constanter Strom geöffnet worden wäre. Alle diese Erscheinungen erklären sich aus der Lang-samkeit, mit der die Veränderungen in dem Muschelpräparate erzeugt werden, und an- dererseits aus der Langsamkeit, mit der diese Veränderungen und somit auch die Erregungsiu-saehen wieder vergehen. Ich habe diese Dinge in einer kleinen Abhandlung näher auseinandergesetzt, im 58. Bande zweiter Abtheilung der Sitzungsberichte unserer Akademie. Ausser den elektrischen Beizen kommen für die motorischen ISTerven noch die mechanischen, thermischen und chemischen Beize in Betracht. Unter thermischen Beizen versteht man die Erregungszustände, die da- durch hervorgebracht werden, dass der 'Nerv plötzlich einer sehr hohen oder einer sehr niedrigen Temperatui" ausgesetzt wird. Eckard hat Unter- suchungen über die motorischen Nerven in Bücksicht auf thermische Beize angestellt und bei seinen Versuchen gefunden, dass durch Temperatui*en unter — 4" und über -|- 54*' Zuckungen erregt werden können, dass aber die Temperaturen zwischen — 4^ und -f- 54** unwirksam sind. Die chemischen Beize wurden früher in der experimentellen Nerven- physiologie mehr angewendet als jetzt. Die ausführlichen Untersuchungen über dieselben sind von Kühne angestellt worden. Es hat sich aber bis jetzt kein bestimmtes Gesetz herausgestellt, nach dem man im Vorhinein aus der ehemischen Constitution einer Substanz bestimmen könnte, ob sie einen Beiz für die motorischen Nerven abgeben werde oder nicht. Es wirken als Beize im Allgemeinen die eoncentrirten Mineralsäuren. Bei den Alkalien wirken Kali und Natron als Beizmittel, dagegen zeigt sich Ammoniak, auf den Nerven applicirt, unwirksam, obschon es ihn örtlich sogleich tödtet. Chlornatrium und concentrirte Chlorcalciumlösung zeigen sich wii'ksam, auch salpetersaures Silberoxyd, während eine Beihe von Salzen anderer schwerer Metalle sich als unwirksam erwiesen hat. Da nicht alle Substanzen, die den Nerven chemisch reizen, auch den Muskel reizen, und umgekehrt Substanzen, die den Muskel chemisch reizen, sich unwirksam gegenüber den Nerven bewiesen haben ; so hat Kühne seinerzeit die Verschiedenheit benützt, um den Beweis für die eigene Erregbarkeit, für die Irritabilität der Muskelsubstanz herzustellen. Dazu diente ihm in erster Beihe das Ammoniak. Er stellte folgenden A'ersuch an. Er brachte auf einem Gestell einen kleinen Metallschirm mit einem Loche an, durch das er den Nerven eines Gastroenemius hindurch- zog. Diesen Nei"ven legte er auf eine kleine., Sehale und brachte ihn mit Ammoniak in Berührung, ohne dass die Dämpfe des Ammoniaks au den Motorische Nerven. 37 Muskel herankommen konnten, da der Muskel durch den Schirm geschützt war. Es zeigte sich, dass es nicht möglich war, vom Nerven aus eine Zusammenziehung des Muskels mittelst Ammoniak hervorzurufen. Wenn er dagegen eine oft'ene Ammoniakflasche hinstellte und darüber den Muskel aufhing, so fing der Muskel zu zucken an und gerieth in immer lebhafter werdende Bewegungen in Folge der Erregung, welche das auf die Muskel- substanz wirkende Ammoniak hervorbrachte. Blicken wir noch einmal auf die Reize für die motorischen Nerven und ihre Wirkungen im Allgemeinen zurück, so müssen wir sagen, dass eine Veränderung, die entweder durch den elektrischen Strom, oder diu'ch mechanische, thermische, chemische Reize erzeugt wird, sich den Nerven entlang fortpflanzt, bis sie endlich zu den Nervenendplatten gelangt, und dass sie von diesen aus diejenigen Muskelfasern jedesmal in Zusammen- ziehung versetzt, deren contractiler Substanz die betreffende Nervenend- platte aufliegt. Es gilt hiebei, soweit nicht die elektrischen Stromschwan- kungen in Betracht kommen, von denen wir früher gesprochen, durchweg das Gesetz der isolirten Leitung, d. h. es wird eine Erregung aus einer Nervenfaser niemals auf eine andere übertragen, sondern sie folgt immer den dichotomischen Verzweigungen dieser Nervenfaser und erzeugt deshalb auch nur Contractionen in denjenigen Muskelfasern , zu welchen diese Nervenfaser Endplatten gibt. Je grösser also die Menge der Nervenfasern ist, welche vom Centralorgane kommen, um so grösser ist das Vermögen der Isolation, um so mehr können einzelne Muskelpartien in Zusammen- ziehung versetzt werden. Wo aber ein solcher höherer Grad- von Isolation nicht nothwendig ist, da kann auch eine verhältnissmässig geringe Anzahl von Nervenfasern grössere Muskelpartien versorgen, indem die einzelnen Fasern sich dichotomisch verzweigen und endlich eine grosse Anzahl von Muskelfasern mit Endplatten versorgen. Wenn man die Muskelnerven eines Krebses und die eines Wirbelthieres mit einander vergleicht, so findet man einen sehr auffallenden Unterschied. Bei den Wirbelthieren verlaufen die Muskelnerven einfach und imgetheilt im Stamme, und erst wenn sie in den Muskel eingetreten sind, verzweigen sie sich dichotomisch und bilden dann ihre Endplatten. Es wird in den Stämmen zu den ein- zelnen Muskeln eine verhältnissmässig grosse Anzahl von Nerven geschickt. Betrachtet man dagegen die motorischen Nerven eines Krebses, so findet man, dass sich die einzelnen Fasern förmlich baumartig verzweigen, und dass, nachdem sie eine grosse Menge von dichotomischen Theilungen ein- gegangen, sie zu den Muskelfasern hintreten und ihre Endplatten bilden. Das hängt offenbar mit der Verschiedenheit in dem Baue der Wirbelthicre einerseits und der Gliederthiere andererseits zusammen. Die Ki-ebse mit ihrem äusseren Skelet und ihren vielen Charniergelenken können ohnehin nicht so zahlreiche Bewegungen ausführen, brauchen ohnehin keinen solchen Grad von Isolation in der Zusammenziehung der einzelnen Partien ihi*er Muskeln, als dies bei den Wirbelthieren der Fall ist, und können sich deshalb mit einer geringeren Anzahl von Nervenfasern für ihre Muskeln begnügen, wenn diese sich hinreichend verzweigen, um alle Muskelfasern mit Endplatten zu versorgen. Johannes Gad hat durch Versuche gezeigt, dass man nur dann die volle Muskelcontraction erzielt, Avenn man alle Endplatten erregt, d. h. wenn man alle Nerven reizt, die zu dem Muskel gehen. Erhält ein Muskel Nervenbündel aus zwei verschiedenen Wurzeln, Oö Elektrische Fische. lind man reizt erst die eine, dann die andere, so erlangt er nur solche Spannungen, dass die Summe derselben der Spannung gleich ist, welche er erlangt haben ATOrde, wenn man beide gleichzeitig gereizt hätte. Auch ermüdet man durch wiederholte Eeizung von einer Wurzel aus den Muskel nur für diese, nicht auch für die andere. Elektrische Organe und ihre Nerven. Von den Zitterfischen kennt man erstens den Zitteraal, (jymnotus, zweitens die verschiedenen Arten des Zitterwelses, Malap terurus, und drittens die Zitterrochen. Von den Zitterrochen kennt man eine Reihe von Genera, nämlich Narce, ISTarcine, Temera, Astrape, Discopyge, Torpedo. Ausserdem kommen beim Genus Gymnarchus und beim Genus Mormyrus ähnliche Organe vor. Das Organ von Mormyrus gibt nach den Zeugnissen von Eabuchin und von Fritsch elektrische Schläge. Ferner zeigen auch die eigentlichen Eochen Eaja und Myliobates Organe, welche man nach du Bois-Eeymond und Fritsch als unvollkommene elektrische Organe bezeichnet. Ihre nahe Verwandtschaft mit denen der Zitterfisehe lässt sich nicht verkennen, aber sie weichen in ihrer Structur doch wesentlich von denselben ab. Die elektrischen Organe sind im Zustande der Euhe wirkungslos, werden aber plötzlich durch Erregung der zu ihnen gehenden Nerven in kräftig wirkende elektrische Batterien verwandelt. Die elektrischen Ströme, die sie dann, geben, unterscheiden sich in nichts von den Strömen, die man durch physikalische Hilfsmittel hervorruft. Man hat von diesen Strömen Funken erhalten, man hat mit ihnen chemische Zersetzungen vor- genommen, man hat die Magnetnadel abgelenkt, man hat Stahlnadeln magne- tisirt, kurz alle möglichen Eroben mit ihnen gemacht, um zu erweisen, dass sie wirklich eben solche Ströme sind wie die, welche imsere physi- kalischen N'orrichtungen geben. Die Art, wie die elektrische Wirkung wachgerufen wird, bietet viel Analogie mit der Art und Weise, in der die motorischen Nerven die Muskel- contractionen auslösen. Erstens unterliegen sie dem Willen des Thieres. Das Thier gibt elektrische Schläge nach Willkür und bedient sich der- selben, theils um sich gegen seine Feinde zu schützen, theils um seine Beute zu betäuben. Zweitens werden die Ströme durch directe Eeizung der zu den elektrischen Organen gehenden Nerven ausgelöst. Drittens werden die Ströme auch auf refiectorischem Wege ausgelöst, und endlich zeigt sich das ' elektrische Organ in derselben Weise ermüdbar wie die Muskeln. Wenn das Thier eine Eeihe von Schlägen abgegeben hat, werden dieselben schwächer und schwächer, gerade so, wie eia Muskel, nachdem er eine Eeihe von Contractionen gemacht hat, nicht mehr im Stande ist, sich mit der früheren Kraft zusammenzuziehen. Gymnotus electricus ist ein Süsswasserfisch Südamerikas, wo er namentlich in den Landseen von Surinam vorkommt. Aus diesen sind mehrere Exemplai-e nach Europa gebracht worden, so nach Neapel, ferner auch nach London, wo sie in der dortigen Adelaidengallerie gezeigt -v^nirden. Wenn man die Haut des Zitteraales auf der Seite öfi'net, so findet man, dass jederseits den ganzen Körper entlang das elektrische Organ gelagert ist, so dass es oben an die Muskeln der Wirbelsäule anstösst und unten Elektrische Fische. öo durch die Muskeln, welche die lange, die Mittellinie des Bauches entlang laufende Flosse bewegen, begrenzt wird. Wenn man das Organ näher be- trachtet, so findet man an demselben eine Menge von Längsstreifen, die ebenso vielen Septis, ebenso vielen bindegewebigen Scheide- wänden entsprechen. Auf diesen senkrecht und noch dichter gestellt, findet man zartere Querwände, so dass also das Ganze in lauter Kästchen (siehe Figur 8 "') getheilt ist. In jedem dieser Kästchen liegt eine gallertartige Platte, an die von rückwärts her ein Endast einer Nervenfaser herantritt und daselbst endigt, indem er in ein feines Netzwerk oder Gitterwerk übergeht. Diese Plättchen sind in der beistehenden Figur durch Punktirung kenntlich gemacht. Wenn man die Wirkungen des Zitteraals untersucht, so findet man, dass der Strom in der Weise verläuft, dass er vom Kopfende zum Schwanz- ende des Thieres in dem umgebenden Leiter, im Wasser, geht. Das Kopfende wird also positiv, das Schwanzende negativ. Da das Thier einem GelDilde zu vergleichen ist, an welchem seitlich Eeihen von Yolta'schen Säulen angelegt sind, so wird auch die Seite des Elementes der Yolta- schen Säule positiv sein, die dem Kopfende entspricht, und die Seite, die dem Schwanzende entspricht, wird negativ sein. Man hat beobachtet, dass der Zitteraal, wenn er einen Fisch erschlagen will, sich kreisförmig um denselben herumbeugt und nun eine Entladung durch ihn gehen lässt. Du Bois hat nachgewiesen, dass bei dieser Stellung des Fisches kein dichterer Strom durch sein Opfer hindurchgeht, als bei der zu den Enden des Organs symmetrischen ausserhalb des Kreises, und dass er also diese Stellung nicht annimmt, um seine Beute auf möglichst wirksame Weise zu treffen, sondern damit sie ihm nicht entrinne. Der Zitterwels des Nils, Malapterurus electricus, wurde von Bilharz, der längere Zeit Professor der Anatomie und Physiologie in Cairo war, anatomisch genau und gründlich untersucht. Auch bei diesem liegt das elektrische Organ zu beiden Seiten des Körpers, als ein paariges Gebilde. Es ist aber hier mehr mantelförmig, so dass das Thier gewissermassen in dasselbe eingehüllt ist. Jederseits entspringt aus dem vorderen, an die Medulla oblongata grenzenden Theile des Eückenmarks eine colossale Nervenfaser als nackter Axencylinder von einer sehr grossen Gangiienkugel. Nach G. Fritsch entspringt er von derselben nicht einfach, wie der Deiters' sehe oder Wurzelfaserfortsatz der motorischen Rückcnmarks-Ganglien- zellen, sondern aus einem reichen Geflechte von Protoplasmafortsätzen, welche die fragliche Zelle aussendet, indem eine grössere Anzahl von Fortsätzen zu einer Faser, der Stammfaser für das elektrische Organ, ver- schmilzt. Dieser Axencylinder tritt in eine Nervenscheide ein und geht als elektrischer Nerv zu dem Organe hin, vertheilt sich in demselben *) Fig. 8, 9 und lU nach Max Scliultze. 40 Elektrische Fische. dichotomisch, und zwar so lange, bis er alle Elemente desselben mit Endi- gungen versorgt hat. Hieraus erhellt, wie es Babuchin möglich Aviu'de, Reize in umgekehrter Richtting ablaufen zu lassen und ihre Wirkung zu beobachten. Es wurde der Stamm des Nerven durchschnitten. Dann wui'de, nachdem der frei präparirte Werv eines Froschschenkels an das elektrische Organ angelegt war, ein frei präparirter peripherischer Nervenast desselben gereizt und der Froschschenkel zuckte. Das elektrische Organ besteht hier wiederum aus einer grossen Menge von bindegewebigen Kästchen, ganz ähnlich, wie wir dies beim Zitteraale kennen gelernt ha- Pig 9 hen, nur liegen hier die Käst- chen nicht wie beim Zitteraale in Längsreihen, sondern alter- nirend (siehe Figur 9). In jedem einzelnen dieser Käst- chen liegt wiederum eine Gal- lertscheibe, die elektrische End- platte (sie ist in der Figur Avieder durch Punktirung kennt- lich gemacht), und zu dieser tritt jedesmal von hinten her der Endast einer Nervenfaser. Da bei den übrigen bekannten Zitterfischen die Seite der Platte, auf der sich die Nervenendigung befindet, negativ wird, so könnte man meinen, dass atich hier das Kopfende des Thieres positiv und das Schwanzende negativ werde. Ranzi hat aber nachgewiesen, dass umgekehrt das Schwanzende positiv und das Kopfende negativ wird. Max Schnitze erklärte diesen scheinbaren Widerspruch in folgender Weise : Wenn man die elektrische Endplatte näher unter- sucht, so findet man, dass sie an ihrer vorderen Seite in der Mitte eine nabeiförmige Hervorragung hat, und wenn man den Endast des Nerven verfolgt, so sieht man, dass dieser die Endplatte durchbohrt und nicht an ihrer hinteren Fläche, sondern vorn in dieser nabeiförmigen Hervor- ragung endigt. Boll ist indessen dieser Auffassung entgegengetreten, indem er das, was Max Schultze als den diu'chbohrenden Nerven deutete, als einen stielartigen Fortsatz der Platte ansieht, in den der Nerv über- geht. Auch ZitterAvelse sind nach Europa gekommen und ausführlich von dii Bois untersucht worden, der mehrere Exemplare durch Goodsir er- hielt und im Berliner Museum in einem Troge mit gewärmtem Wasser aufbewahrte, um alle ihre Gewohnheiten zu studiren. Die dritte Art der elektrischen Fische sind die Zitterrochen, von denen das Genus Torpedo in mehreren Species im Mittelmeere verbreitet ist und deshalb vielfach und frühzeitig untersucht wurde. Bei den Zitter- rochen liegt das elektrische Organ zwischen dem Kiemengerüst des Thieres einerseits und der Brustflosse andererseits und nimmt ein ausgedehntes Areal ein, das sich an der Bauchseite schon dui"ch die Haut hindurch auszeichnet, dadurch kenntlich, dass es in eine Menge kleiner sechseckiger Felder eingetheilt ist. Diese entsprechen ebenso vielen Säulen von elek- trischen Elementen, die von der Bauchseite des ThieTes nach der Rücken- seite hindurchgehen. Wenn man sich also den Rochen der Uuere nach Elektrische Fische. 41 durchschnitten denkt, so liegt in der Mitte desselben der Körper, zu beiden Seiten die vorderen Extremitäten, und der Eaum zwischen beiden ist durch die Säulen des elektrischen Organes erfüllt, deren sechseckige Basen man an der Bauchseite des Thieres sehen kann. Betrachtet man eine ein- zelne solche Säule, so findet man, dass ^'S- ■^''• sie der Quere nach durch lauter Septa getheilt ist, dass da- durch flache Käst- chen (siehe Figur 1 0 ) entstehen, und in je- dem dieser sich eine elektrische Platte in Gestalt einer galler- tigen Scheibe befin- det, zu der von unten her der Endast einer Nervenfaser herantritt und sich nach mehrfachen dichotomischcn Theilungen mit einem feinen End- netze, oder richtiger Endgitter, hier verzweigt. Die untere Seite wird hier also negativ, die obere positiv. Der Strom geht somit im Wasser von der Rückenseite um das Thier herum zur Bauchseite. Da die Säulen, die der Axe des Thieres näher liegen, höher sind und mehr Platten ent- halten als die entfernter liegenden, so werden an der Eückseite die Par- tien in der Nähe des Rumpfes mehr positiv sein als die Partien in der Nähe der Brustflosse, und an der Bauchseite werden die Partien in der Nähe des Rumpfes mehr negativ sein als die in der Nähe der Flossen. An der Rückenseite des Thieres kann man also schwächere Ströme er- halten, welche von einem der Axe nähergelegenen zu einem dem Rande nähergelegenen Punkte verlaufen, und an der Bauchseite kann man Ströme erhalten von einem dem Rande nähergelegenen Theile des Organs zu einem Theile desselben, der der Axe des Körpers näher liegt. Die europäischen Zitterrochen sind kleinere und schwächere Thiere als die Zitteraale und die Zitterwelse, aber an der Westküste von Nordamerika kommt ein rie- siger Zitterroche vor, Torpedo occidentalis, von dem ein Exemplar von 127 <=™- Länge und 91™- Breite mit Sicherheit bekannt ist und der angeblich bis 152'^™- lang werden soll. Diese Art hat jedcrseits über tausend elektrische Säulen. An jedem einzelnen Elemente eines elektrischen Organs sind nach Babuchin zwei verschiedene Theile zu unterscheiden, von denen er den einen den nervösen, den andern den metasarcoblastischen nennt. Babuchin hat nämlich die merkwürdige Entdeckung gemacht, dass sich jedes Ele- ment embryonal entwickelt wie ein Stück quergestreiften Muskels, das mit einem Nervenende in Verbindung steht. Das, was sich dann diu-ch Metamorphose der muskelartigcn Anlage entwickelt, ist der metasarco- blastisehe Theil. Wenn es uns nun in Erstaunen setzen muss, dass diu-ch die Impulse, die von einem Nerven ausgehen, ein anscheinend ganz harmloses Organ in eine kräftig wirkende elektrische Batterie verwandelt werden kann, so ist dies im Grunde doch nicht wunderbarer, als dass durch ähnliche Im- pulse in einem Muskel eine solche Veränderung eintreten kann, dass er 4:'2 Elektrische Fische. plötzlich einer gaaz neuen Gleichgewichtsfigur zustrebt, und dass durch ähnliche Impulse in einer Drüse eine solche Veränderung eintreten kann, dass sie plötzlich aus der umgebenden Gewebsflüssigkeit und aus dem Blute eine grosse Menge von Flüssigkeit aufnimmt und ein Secret abzu- sondern anfängt, endlich dass durch solche Impulse eine Bewegung ge- hindert werden kann, welche sonst auf alle Fälle ausgelöst worden wäre. Das, was an diesen Erscheinungen dtu'chaus nicht in den Kreis unserer Vorstellungen hineinpasst, ist, dass die Fische sich nicht selbst erschlagen. Denn da der elektrische Strom bekanntermassen in allen Abschnitten des Stromkreises mit gleicher Gesammtstärke circulirt, so muss er auch mit dieser selben Gesammtstärke durch den Fisch, der ihn hervorbringt, durch- gehen. Es fragt sich also : Warum werden die elektrischen Fische von diesen Strömen nicht beschädigt? Die Antwort darauf hat du Bois an seinen Zitterwelsen gefunden. Sie lautet einfach : Die elektrischen Fische sind gegen elektrische Sehläge in ganz ausserordentlicher Weise unempfind- lich. Du Bois machte, um dies zu erweisen, folgenden einfachen Ver- such, den er oft wiederholt hat. Er setzte in das Wasser, in dem seine Zitterwelse sieh befanden, gewöhnliche Flussfische und ausserdem Frösche. Nun senkte er von beiden Seiten die Elektroden eines kräftig wirkenden Inductionsapparates in das Wasser hinein und Hess Schläge desselben hin- durchgehen. Die Flussfische verfielen in Tetanus, wendeten sich um und gingen nach kurzer Zeit zu Grunde. Aehnlich verhielten sich auch die Frösche. Die Zitterwelse aber schwammen zwischen den Sterbenden ganz munter herum, und man merkte ihnen nichts Anderes an, als dass sie sieh, wenn sie in die jS^ähe der Elektroden kamen, von denselben ab- wendeten, dass sie umkehrten und sich ruhig weiter entfernten. Eine an- dere Frage, auf welche wir die Antwort nicht wissen, ist die : Wie ist es möglich, dass Thiere, die ganz nach dem Typus der anderen Wirbelthiere gebaut sind, deren IS^erven, Gehirn und Bückenmark anscheinend aus den- selben Formen und Materialien aufgebaut sind wie die der übrigen Thiere, sich einer solchen Immunität gegen elektrische Schläge erfreuen können: Diese Immunität der Zitterfisehe scheint nur eine relative, ein hoher Grad von Unterempfindliehkeit zu sein. Du Bois bemerkt, dass es gar nicht zweckmässig sein würde, wenn der Fisch den eigenen Schlag nicht fühlte, denn er würde dann nicht wissen, wann und wie stark er schlägt. Er führt auch an, dass sich Zitterwelse und Zitteraale durch Schläge gegen fremde Schläge wehren. Den Grad der Unterempfindlichkeit im Ein- zelnen zu bestimmen, hat grosse Schwierigkeit. Angaben, dass unter gün- stigen Umständen ein Thier durch den Schlag des anderen zuckte, sind von Steiner in Rücksicht auf die Zitterrochen, von Babiichin in Rück- sicht auf die Zitterwelse gemacht worden. Ich muss schliesslich noch anführen, dass mehrere Gelehrte, die sich in neuerer Zeit mit der mikroskopischen Untersuchung der elektrischen Organe und der motorischen ISTervenendplatten beschäftigt haben, zu der Ansicht gelangt sind, dass eine sehr enge Analogie zwischen den Platten in den elektrischen Organen und den Kühne'schen Endplatten der moto- rischen Nerven an den Muskelfasern bestehe. Hiernach könnte man sich das elektrische Organ als einen Muskel denken, aus dem alle Muskel- fasern herausgezogen und die Endplatten alle zusammengelegt wären, und andererseits könnte man sich wieder den Muskel als ein contractiles Centripctalleitende Nerven. 4:3 Gebilde denken, auf dessen einzelnen Fasern elektrische Eridplatten ver- theilt wären, so dass nun die Impulse, welche zu diesen elektrischen End- platten gelangen, sich auf die contractile Substanz übertragen und die Zusammenziehung derselben hervorrufen. Wenn man annimmt, dass die Reizung des Muskels vom Nerven aus immer eine elektrische sei, und wenn man annimmt, dass die elektrischen Wii'kungen in den Endplatten nur bei Stromschwankungen entstehen, so würde dies erklären, weshalb der constante Strom auf den Muskel zwar direct, aber nicht vom Nerven aus wirkt. Es hat indessen diese von mehreren Seiten aufgestellte Hypo- these die Experimentalkritik nicht ausgehalten, welche du Bois-Ecy- mond an sie gelegt hat. Centripetalleiteiicle Nerven. Gehen wir jetzt zu den eentripetalleitenden Nerven über, so gilt für sie zunächst in derselben Weise, wie für die motorischen, das Gesetz der isolirten Leitung. Es können von einem Organe aus so viel getrennte Im- pulse zum Centrum geschickt werden, wie Nervenfasern dahin verlaufen, indem eben ein Impuls im Verlaufe der Nervenfasern niemals von der einen auf die andere überspringt. Dieses Gesetz der isolirten Leitung ist oifenbar für die eentripetalleitenden Nerven ebenso wichtig wie für die centrifugalleitenden. Denn es handelt sich beim Auslösen einer Eeflex- bewegung darum, dass die Erregungen im Centralorgane auf bestimmte Gruppen von Ganglienkugeln übertragen werden. Um dasselbe handelt es sich bei den Reflexabsonderungen, bei den Reflexhemmungen. Ebenso klar ist es, dass unser ganzes räumliches Unterseheidungsvermögen, welches uns mittelst der empfindenden Nerven zukommt, nur auf dem Gesetze der isolirten Leitung beruht, dass nur vermöge dieses Gesetzes getrennte sogenannte Localzeichen zum Centralorgane gelangen können, vermöge wel- cher wir uns in der Aussenwelt zurechtfinden, vermöge welcher wir uns durch unsere Tastnerven orientii'en, vermöge welcher wir Bilder erhalten, indem die verschiedenen Nervenfasern des Opticus uns verschiedene Local- zeichen zum Gehirne schicken. Wenn aber die Impulse einmal im Centralorgane angelangt sind, so erleidet hier das Gesetz der isolirten Leitung, wie wir schon im Vorüber- gehen gesehen haben, gewisse Einschränkungen, indem dann die Impulse auf motorische Nerven, auf Absonderungsnerven übertragen werden können, um Reflex zu ei'zeugen, und auch auf die sensiblen Elemente übertragen werden können, wodurch dann Mitempfindungen entstehen. Wir haben schon gesehen, dass die Ursachen dieser Mitempfindungen nicht im Central- organe vorgestellt werden, sondern an den Enden von empfindenden Nerven, welche mit den erregten Gebilden im Centralorgane in Verbindung stehen. Die Mechanik davon ist ganz eiufach. Das, was uns die Vorstellung ver- ursacht, ist die Erregung im Centralorgane. Da nun die Gruppe von Nervenzellen im Centralorgane gewöhnlich von den Enden gewisser peri- pherischer Nerven aus erregt wird ; so ist es klar, dass jetzt, wo sie auf einem andern Wege erregt worden ist, ohne dass uns davon etwas Näheres in das Bewusstsein einging, wir uns wiedei'um vorstellen, es finde eine Erregung an den peripherischen Enden eben jener Nerven statt. Damit hängt folgende Erscheinung eng zusammen. Wenn ein empfindender Nei"v 44: Centripetalleitende Nerven. irgendwo in seinem Verlaufe gereizt wird, so kann er immer nnr eine Empfindung im Centralorgane hervorbringen, welche die Vorstellung er- weckt, dass sein peripherisches Ende gereizt worden wäre. Es geschieht ja weiter nichts, als dass eine Gruppe von Nervenzellen im Centralorgane erregt wird. Wie lang die Nervenstrecke ist, welche die Erregung bis dahin durchlaufen hat, davon wissen diese Nervenzellen nichts. Sie haben aber die Erfahrung gemacht, dass für gewöhnlich die Erregungen, die ihnen zukommen, ihre Ursachen an den peripherischen Enden der sensiblen Nerven haben, sie bringen also auch wiederum die Empfindung in Zusammenhang mit Vorstellungen von Erregungen an den Enden der sensiblen Nerven. Dieses Gesetz, welches sagt, dass, wenn ein sensibler Nerv in seinem Ver- laufe oder an seinem centralen Ende erregt wird, doch die Ursache der Empfindung und deren Ort an der peripherischen Ausbreitung desselben gesucht wird, nennt man das Gesetz der excentrischen Erscheinung. Es kann sich dabei herausstellen, dass man anscheinend Empfindtingen hat in Theilen, welche thatsächlich gar nicht mehr vorhanden sind. Jo- hannes Müller pflegte von einem Invaliden zu erzählen, der ein Bein in dem Feldzuge von 1813 verloren hatte. Er prophezeite schlechtes Wetter nach Schmerzen, die er in den Theilen des Beines, die ihm ab- genommen worden waren, fühlte. Die Sache erklärt sich einfach. Von den Nerven des Stumpfes gingen Erregungen aus, die zum Centralorgane fort- gepflanzt und nach dem Gesetze der excentrischen Erscheinung nach wie vor an die früheren peripherischen Enden eben dieser durchschnittenen Nerven versetzt wurden. In derselben Weise erklären sich die Schmerzen, die frisch Amputirte sehr häufig in den Zehen, im Eiste, in der Ferse u. s. w. einer unteren Extremität fühlen, die ihnen vor kurzer Zeit abgesetzt wor- den ist. Aehnliche Beobachtungen sind auch bei Neubildungen von Nasen aus der Stirnhaut gemacht worden. Man hat gefunden, dass, wenn aus der Stirnhaut eine Nase frisch gebildet war, und ihre Empfindlichkeit ge- prüft wurde, während sie noch durch die Hautbrücke mit der Stirnhaut in Verbindung stand, sie sich empfindlich zeigte, aber so, dass der Ort der Reizung falsch angegeben wurde. Es wurde angegeben, es fände die Be- rührung an der Stirne statt. Dann, nachdem die Brücke durchschnitten war, zeigte sich die Nase einige Zeit unempfindlich. Aber später stellte sich nach und nach wieder Empfindlichkeit her, nun aber mit dem rich- tigen Ortsgefühle, offenbar indem von Nerven, welche früher zu der feh-' lenden Nase geführt hatten, sich wieder solche neu in die neue Nase hineingebildet hatten, und auf diese Weise sich die Empfindlichkeit am Avahren Orte wieder herstellte. Die sensiblen Nerven können ebenso wie die motorischen durch sehr verschiedene Reize in Action versetzt werden, durch elektrische, thermi- sche, chemische, mechanische. Es lässt sich aber die Wirkung jener Reize nicht unter ähnlichen allgemeinen Gesichtspunkten betrachten, wie wir dies bei den motorischen Nerven gethan haben, indem die verschiedenen empfindenden Nerven sich gegen chemische, thermische und elektrische Reize ganz verschieden verhalten, und durch einen und denselben Reiz Empfindungen und Vorstellungen ganz verschiedener Kategorien von ver- schiedenen Nerven erzeugt werden. So werden durch chemische Reize ganz verschiedene Empfindungen in den Geschmacksnerven, in gewöhn- lichen Gefühlsnerven und endlich wieder in Geruchsnerven hervorgerufen. Kückenmarlc. 45 Die Wirkung des Reizes, welchen die strahlende Wärme ausübt, ist eine andere, wenn diese Strahlen einerseits die Hautnerven, andererseits die Endigungen des Nervus opticus in der Eetina treffen. Auch bei elek- trischen Reizen zeigen sich analoge Erscheinungen. Es erzeugt im All- gemeinen das Schliessen und Oeffnen einer constaiiten Kette stärkere Erregungen als der ruhende Strom, aber der eonstante Strom bringt, wäh- rend er dui'chfliesst, auch Erregungen hervor, welche dann wieder ver- schieden sind, je nach der Natur der sensiblen Nerven, welche er duxch- iiiesst. Es ist dies das Gesetz der specifischen Energien, wie wir es mit Johannes Müller nennen, dass ein und derselbe Reiz ganz ver- schiedene Empfindungen hervorbringt, je nach der Natur des Nerven, welchen er trifft, einmal eine Gesichtsempfinduug, ein zweites Mal eine Tastempfindung, das dritte Mal eine Gehörsempfindung u. s. w., und dass andererseits jede einzelne Art von empfindenden Nerven, wenn sie erregt wird, immer zu einer ganz bestimmten Kategorie von Empfindungen und Vorstellungen Veranlassung gibt, gleichviel welcher Axt der Reiz war, durch den die Erregung hervorgerufen wurde. So repräsentiren alle Er- regungen des Opticus nur Gesichtsempfindungen, alle Erregungen des Acusti- cus nur Gehörsempfindungen, alle Erregungen des Olfactorius nur Geruchs- empfindungen u. s. w. ^ Rückenmark und Greliirn. Nachdem wir uns bis jetzt mit den peripherischen Bahnen der Nerven beschäftigt haben, wollen wir in unseren Betrachtungen zum Centralorgane übergehen. Das Centralorgan baut sich zunächst durch das Rückenmark und dessen oberstes Ende, durch welches es mit dem Gehirne in Verbin- dung steht, auf. Dies letztere Stück bezeichnen wir mit dem etwas selt- samen Namen des verlängerten Markes, der Medulla oblongata. Hier aber ist noch nicht das wahre Ende, indem sich ein Theil des Gehirns, we- sentlich die Region, die den Aquaeductus Sylvii umgibt, duj.'ch die Analogie der darin vorkommenden Gebilde als directe Fortsetzung des Rückenmarks erweist. Dazu treten grosse neue Massen, welche zunächst aus den Hemi- sphären des grossen Gehirns und denen des kleinen Gehirns bestehen. Als analoge Gebilde schliessen sich die Oliven der Medulla oblongata an. Ihr Bau erweist sie gleichfalls als Hemisphärenbildungen, die nur wegen ihrer Kleinheit nicht auf den ersten Anblick als solche erkannt werden. Wenn wir das Rückenmark quer diu'chschneiden, so sehen wir, dass die Rinde desselben weiss gefärbt ist, dass sich aber in der Mitte eine Figur befindet, welche bald mehr an ein römisches X, bald mehr an ein Paar ausgebreitete Schmetterlingsfiügel (siehe Figur 11*) erinnert, die sich grauröthlich und dunkel gegen die umgebende weisse Substanz absetzt. Diese beiden Substanzen finden wir bei Querschnitten durch das ganze Rückenmark immer, nui* dass sich je nach der Höhe, in welcher wir durch- schneiden, die Form der inneren, grauen Substanz ändert. Die äussere Substanz besteht der Hauptmasse nach aus den markhaltigen Längsfasern des Rückenmai'ks, und sie ist weiss vermöge der Menge des Lichtes, das von dem Marke der Nervenscheiden refiectii"t wird, oder richtiger: sie ist *) Fig. 11 nach Stilling'. 46 Kücken marlc. weiss, weil in ihr das stark lichtbrecliende Nervenmark mit schwächer lichtbrechenden Gebilden abwechselt, und beim Uebergange des Lichtes aus der stark lichtbrechenden Substanz in die schwach lichtbrechende und umgekehrt kräftige Reflexionen hervorgebracht werden. Die ganze Sub- stanz besteht aus Nervenzellen, dann aus Fasern, die aber vöi'herrschend marklose sind, nackten Axencylindern, aus Blutgefässen, und endlich aus einem Gewebe, welches wir mit Kölliker mit dem Namen des Stütz- gewebes bezeichnet haben. Da, wo sich die beiden symmetrischen Hälften des Rückenmarks aneinanderschliessen, befindet sich in der Mitte ein Canal, der vom Calamus scriptorius anfängt und durch das ganze Rückenmark hindurchgeht, mit Flimmerepithel ausgekleidet ist und den Namen Canalis centralis medullae spinalis (Figur 11 aj führt. Vor und hinter dem Canale gehen zahlreiche Fig. 11. Fasern von einer Hälfte des Rückenmarks zur andern hinüber. Die Fasern, die hinter dem Canal von einer Hälfte der grauen Substanz zur andern Hälfte derselben hinübergehen, sind vorherrschend marklose, und man be- zeichnet sie deshalb als die hintere oder graue Commissur des Rücken- marks (Figur 11 c), während vorn, abgesehen von vielen marklosen, eine grössere Menge von markhaltigen Fasern von einer Seite zur andern geht. Man bezeichnet deshalb diese vordere Commissur (Figur 11 d) auch als die weisse Commissui". Es muss übrigens bemerkt werden, dass auch in der grauen Commissur, wie überhaupt im ganzen Centralnervensj^stem, sehr viel mehr markhaltige Fasern enthalten sind, als man noch vor we- nigen Jahren glaubte, bis Sigm. Exner in der successiven Anwendung der Ueberosmiumsäure und Ammoniak ein Mittel gefunden hatte, ihren Bahnen nachzuspüren. Man sieht also, dass die beiden Hälften des Rücken- marks durch die vordere und die hintere Medianfui'che nicht ganz von einander getrennt sind, sondern dass Fasern, markhaltige und marklose, Rüctcnmark. 47 hinüber und herüber gehen. Das ist aber nicht die einzige Faserverbin- dung, die zwischen den beiden E,ückenmarkshälften existirt. Wenn man in der vorderen Medianfurche nach aufwärts geht, so kann man in dem Bindegewebe, welches die beiden Hälften der weissen Substanz von ein- ander trennt, verhältnissmässig tief eindringen. Geht man aber immer höher hinauf und nähert man sich dem Calamus scriptorius, so kommt man, ehe man auf das Niveau desselben gelangt, an eine Stelle, wo man nur ganz oberflächlich in die vordere Medianfui'che eindringen kann, und diese Stelle beträgt in der Länge etwa 6 bis 7 Millimeter. Wenn man diese Stelle näher untersucht, so findet man, dass hier dicke, mit freiem Auge sichtbare Stränge von dem einen vorderen Strang des Rückenmarks in den andern sich hineinflechten, dass sie au dieser Stelle, die man mit dem Namen der Decussation der Pyramiden bezeichnet, wie die Stränge einer Haarflechte übereinander liegen und dann, nach aussen und rück- wärts absteigend, in den Seitenstrang des Rückenmarks übergehen. Hiermit hängt es einerseits zusammen, dass Lähmungen, die vom Gehirn ausgehen, wie man sich ausdrückt, gekreuzt sind, d. h. dass die gelähmte Körper- seite nicht der kranken, sondern der gesunden Hirnseite entspricht, und andererseits dass, wie von Woroschiloff in Ludwig's Laboratorium durch zahlreiche Versuche experimentell dargethan ist, die Seitenstränge des Rückenmarks, deren motorische Eigenschaften man schon seit lauger Zeit kannte, die Hauptmasse der vom Gehirn kommenden motorischen Bahnen nach abwärts führen. Ein Theil der Pyramidenfasern nimmt indessen an dieser Kreiizung in der Regel keinen Autheil, sondern läuft auf derselben Seite unmittelbar neben der vorderen ]\[edianfurche nach abwärts. Dieser Theil wird als Pyramideuvorderstrang bezeichnet, während man die im Seitenstrange der anderen Seite hinablaufenden Pyramidenfasern als Pj'- ramidenseitensträuge bezeichnet. Doch war nach Flechsig 's Erfahrungen in 11 p. C. der von ihm untersuchten Fälle die Kreuzung eine vollstän- dige, so dass unterhalb der Decussation nui' Pyramidenseitenstränge exi- stirten. In 14 p. C. der untersuchten Fälle tauschte die eine Pyramide innerhalb der Decussation die Seite vollständig, während die andere noch einen auf derselben Seite verbleibenden Vorderstrang nach abwärts schickte; so dass hier unterhalb der Decussation drei Pj^ramidenstränge existirten, ein Pyramideuvorderstrang und zwei Pyramidenseitenstränge. Die Pyra- midenbahnen leiten sich wesentlich ab aus motorischen Fasern, welche von den Tbeilen der Grosshirnrinde kommen, die der willkürlichen Bewegung des Rumpfes und der Glieder vorstehen, und steigen dui'ch den Fuss des Grosshirnschenkels in das verlängerte Mark hinab. Wir haben also gesehen, dass das Rückenmark sowohl nach vorn als nach hinten jederseits eine starke Ausladung seiner grauen Substanz hat. Auf dem Querschnitte bezeichnen wir die beiden vorderen Aus- ladungen als die vorderen Hörner der grauen Substanz (Figui* 11 ^) und die beiden hinteren Ausladungen als die hinteren Hörner der grauen Sub- stanz (Figur 11 B). Nun ist es aber klar, dass diese Hörner nichts weiter sind als Querschnitte von hervorragenden Leisten, und dass man also die graue Substanz als aus je zwei Säulen bestehend ansehen kann, die jeder- seits aneinander gedrückt worden sind, so dass sie noch mit ihren con- vexen Flächen hervorragen, und die dann wieder gegen die Mitte durch eine Brücke in Verbindiiug o-esetzt sind. Deshalb bezeichnet man diese 4o Eüctenmark. Theile des Eückenmarks als die vorderen graiTcn Colonnen und als die hin- teren grauen Colonnen und sagt, die motorischen Nerven (Figur 11 h,h, h) entspringen aus den vorderen Colonnen, weil man in denselben auf Quer- schnitten zahbeiche Ganglienkugehi findet, aus welchen N'ervenfasern ent- springen, die man in die vorderen Wtu'zeln hinein verfolgen kann. Wir haben früher gesehen, dass man die Fortsätze der miiltipolaren Ganglien- kugeln in ISTervenfaserfortsätze eintheilt und in Protoplasmafortsätze. Letz- teren Namen hatte Deiters für die verzweigten Fortsätze eingeführt, jedoch ohne deren nervöse E"atiu- in Abrede zu stellen. Von jeder dieser Ganglien- kugeln, die in den vorderen Hörnern liegen, sieht man einen ISTervenfaser- fortsatz gegen die vordere Wm-zel hinabgehen. Diese Ganglienkugeln sind verhältnissmässig gross, haben zahlreiche Fortsätze, sind sehr unregel- mässig von Gestalt, namentlich sehr entfernt von der Kugelgestalt. Manch- mal sind sie sehr lang . ausgezogen. Sie haben einen Kern und Kern- körperchen. Kach den Untersuchungen von Ger lach sind die Ganglienzellen, welche Fasern zu den vorderen Wurzeln geben, keineswegs auf die eigent- lichen vorderen Hörner oder die vorderen grauen Colonnen beschränkt, sondern es liegen auch nach aussen und selbst etwas nach hinten vom Centralcanale ähnliche Ganglienzellen, die gleichfalls Fortsätze zu den vor- deren Wurzeln senden. Dagegen kennt man nicht mit Sicherheit Fasern, welche vom Gehirne herabkommen und direct in die vorderen Wui'zeln der Eückenmarksnerven übergehen. Es scheint also, dass die Commu- nication zwischen dem Gehirn und zwischen den vorderen Wurzeln, die Communication zwischen den Bahnen für die Willensimpulse und den von ihnen abhängigen motorischen JSTerven, immer mittelbar durch Ganglien- zellen stattfinde, ja nach den Untersuchungen von Birge, der sowohl die Zellen, als auch die Wurzelfasern an Fröschen zählte, kann man hieran kaum mehr zweifeln. Weniger gut als die Ursprünge der vorderen Wurzeln kennen wir die centralen Verbindungen der hinteren (Figur 11 ä;, ä;, A:, A-). Mauthner konnte Fasern der hinteren Wtirzeln im Rückenmarke des Hechtes zu Ganglienkugeln verfolgen, welche im oberen Theile des Rückenmarks zu beiden Seiten des Centralcanals lagen und sich in ihrem Aussehen wesent- lich von denen unterschieden, aus welchen die motorischen Wurzeln ihren Ursprung nahmen. Diese Ganglienzellen hatten einen Kern, der den Ein- druck eines kugelrunden Bläschens machte, der sich beim Imbibiren mit Carmin immer weniger färbte als das Protoplasma der Zelle, während bei doTi Ganglienzellen, aus welchen die motorischen Wurzeln ihren Ursprung nahmen, die Kerne den Eindruck einer compacten Masse machten, die sich stärker als das Protoplasma der Zelle färbte. In diesem bläschenartigen Gebilde lag ein Kernkörperchen, das sich mit Carmin wieder stärker färbte. Auch die Kerne, aus denen sensible Hirnnerven hervorgehen, schienen dafür zu sprechen, dass dort dergleichen Verbindungen mit solchen Ganglien- kugehi stattfinden. Später fand Kutschin bei Petromyzonten im Rückenmark Ganglien- zellen, von denen aus er Fasern zu den hinteren Wurzeln verfolgen konnte, und S. Freud hat diesen Befund bestätigt und weitere Untersuchungen über diese Zellen angestellt. Sie waren nicht zahlreich genug, um allen Fasern der hinteren Wurzeln Ursprung zu geben. Da nun zahlreiche Fasern der hinteren Wurzeln in diesen selbst, im Wurzelgaugiiou, mit einer Rückenmarl:. 49 Ganglienzelle in Znsammenhang standen, so lag die Vermuthung nahe, dass die Zellen im Eückeumark nur solchen Fasern Ursprung geben, welche einfach durch die Wui'zelganglien hindurchgehen , ohne hier zu einer Ganglienzelle anzuschwellen. Versuche an höheren Wirbelthieren haben gezeigt, dass die motorischeii Nerven degeneriren, wenn man ihre Wurzeln durchschneidet, die sensiblen aber grösstentheils erhalten bleiben, wenn mau das Wurzelganglion mit ihnen in Verbindung lässt, wenn man zwischen Ganglion und Rückenmark durchschneidet. Die Zellen des Wurzelganglions sind also für sie trophische Centren, wie für die motorischen die Ursprungs- zellen im Rückenmarke. Da nun die Entwiekelungsgeschichte lehrt, dass die Zellen der Wtu'zelganglien im Rückenmarke entstehen und erst später aus denselben auswandern, so kann man sich denken, dass bei den Petro- myzonten ein Theil der Ursprungszellen der centripetalleitenden Fasern in die Ganglien hinauswandert, ein anderer im Rückenmark verbleibt. Bei Petromyzon reichen die bekannten Zellen der letzteren Art im Rücken- marke nicht hin, allen die Ganglien durchsetzenden Fasern Ursprung zu geben, es müssen also noch andere, wahrscheinlich höher liegende, Ur- sprünge vorhanden sein. Bei Säugethieren hat Ger lach schon vor langer Zeit Fasern der hinteren Wurzeln beschrieben, welche sich im Rücken- marke in ihrem centripetalen Verlaufe verzweigen und in ein Netzwerk übergehen. Auch bei Petromyzon hat Freud aufsteigende Fasern sich theilen gesehen, konnte aber über das centrale Ende der Aeste keinen sicheren Aufschluss erhalten. Wir haben gesehen, dass das Rückenmark eine vordere Medianfurche hat, den sogenannten Sulcus longitudinalis anterior, dem gegenüber nach rückwärts eine Linie liegt, der sogenannte Sulcus longitudinalis posterior. An den beiden so gebildeten Seitenhälften des Rückenmarks kann man noch jederseits eine Linie unterscheiden, auf der sich die vorderen Wur- zeln sammeln und zu Tage treten, und diese nennt man den Sulcus col- lateralis anterior, und dann jederseits eine Linie, auf welcher die hinteren Wurzeln sich sammeln und zu Tage treten, und diese nennt man den Sulcus coUateralis posterior. Wenn man sich nun einerseits das Rücken- mark von der einen Medianfurche zur anderen getrennt denkt, und denkt sich andererseits, man machte Diu'chschnitte jederseits vom Sulcus coUate- ralis anterior zum Centralcanale, und ferner vom Sulcus collateralis poste- rior zum Centralcanale, so würde man in jeder der Rückenmarkshälften wieder drei Abtheilungen erhalten. Diese hat man als Stränge des Rücken- marks bezeichnet und hat somit im Rückenmarke, zunächst in der weissen Substanz, sechs Stränge unterschieden, zwei Vorder-, zwei Hinter- und zwei Seitenstränge. Diese Stränge sind aber eine Fiction, indem sie keineswegs durch eine bestimmte Grenze von einander getrennt sind. Wenn alle Nervcnwui'zelfasern genau in einer Ebene übereinander das Rücken- mark durchsetzen würden, so würde dadurch eine Scheidung zwischen Vorder-, Seiten- und Hintersträngen zu Stande kommen können. Das ist aber diu-chaus nicht der Fall, sondern die Wurzeln verlaufen in der Tiefe zerstreut, sammeln sich erst unter der Oberfläche und treten erst im Sulcus collateralis anterior und Sulcus collateralis posterior in geradliniger Reihe heraus. Man hat also zwischen den centralen Bahnen der vorderen und hinteren Nervenwiu-zeln Partien des Rückenmarks , die man nicht mit vollem Rechte zu den Vorder- oder Hintersträngen, aber auch nicht zu Brücke. Vorlesungen. II. 4. Aufl. 4 50 Rückenmark. Fig. 12. den Seitensträngen rechnen kann. Wenn man von Vorder-, Hinter- und Seitensträngen spricht, so hat man damit Regionen des Eüekenmai'ks, aber durchaus nicht scharf begrenzte Abtheihmgen desselben bezeichnet. Diese Regionen haben bereits angefangen sich für uns in Unterabtheilungen zu zerlegen, zu welchen ja auch die Pyramidenstränge gehören. Auf noch andere ist man aufmerksam geworden durch ihre gleichzeitige Erkrankung, beziehungsweise durch die Art, wie Degenerationsprocesse in ihnen fort- schreiten, und ferner durch die Art und Reihenfolge, in welcher während der Entwickelung die Fasern markhältig werden. Ich gebe beistehend die Hälfte eines Rückenmarksdurchsehnittes, auf dem die mit einiger Sicherheit bekannten Unterabtheilungen nach den An- gaben von Flechsig und mit dessen Benennungen abgegrenzt sind. Die punktirte Partie entspricht den Pyramidensträngen , die mit senkrechten unterbrochenen Strichen bezeichnete dem sogenannten Kleinhirn-Seitenstrang. Seine Fasern steigen durch die Corpora restiformia in das Kleinhirn auf. IN'ach abwärts stehen sie nach Flechsig in Verbindung mit den Clarke'schen Säulen (a, Figur 12). Dies sind Gruppen von Ganglienzellen, welche von denen der vorderen Hörner {VH, Figur 12) verschieden sind, und von denen man ver- muthet, dass sie hintere Wurzeln auf- nehmen. Die mit horizontalen unterbroche- nen Strichen gezeichnete Partie entspricht dem Goll'schen Strange. Der mit verschie- denen Namen (Keilstrang, Burdach' scher Strang) belegte Rest des Hinterstranges, von dem sich der GoU'sche durch sein vorzugsweises Erkranken beim Symptom- complex der Tabes dorsualis unterscheidet, ist mit ununterbrochenen horizontalen Stri- chen gezeichnet , der noch nicht hin- reichend erforschte Theil des Vorder- und Seitenstranges mit ununterbrochenen vertiealen Strichen. Die Austritts- stelle der vorderen Wurzel ist mit VW, die der hinteren mit HW be- zeichnet. Wenn man das Rückenmark nach aufwärts verfolgt, so öffnet sich seine hintere Seite im Calamus scriptorius, und dadurch entsteht der so- genannte Sinus rhomboidalis, der vierte Ventrikel. Diejenigen Partien, die im Rückenmarke hintere sind, werden in der Medulla oblongata äussere Partien, und diejenigen, die im Rückenmarke vordere sind, die Vorder- stränge mit der zu ihnen gehörenden grauen Substanz, liegen in der Me- dulla oblongata zu beiden Seiten der Mittelebene, stellen also innere, der Axe näher gelegene Theile dar. Nachdem die Oliven und die Hemisphären des kleinen Gehirns gebildet sind, schliesst sich der Sinus rhomboidalis nach oben wieder, und es entsteht dadurch ein geschlossener Canal, die Fort- setzung des Canalis centralis medullae spinalis, der den ISTamen des Aquae- ductus Sylvii führt. Um diesen hcriim befinden sich diejenigen Theile, Rückenmark. Ol die als directe Fortsetzung des Rückenniarks im Geliiriie zu betraeliteu sind, und dazu treten dann die Theile des Grosshirns im engeren Sinne des Wortes. Wir haben also gesehen, dass das Eückenmark keineswegs blos aus Strängen von Fasern besteht, die Impulse zum Gehirn oder vom Gehirn leiten und als Nerven von dem Stamme des Rückenmarks abgehen, wie die Aeste sich von einem Baume abzweigen, sondern dass das Rücken- mark selbst ein wesentlicher Theil des Centralorgans ist und dass die graue Substanz mit ihren Nervenursprüngen und ihren centralen Verbin- dungen sich von oben nach abwärts im Rückenmarke erstreckt. Damit hängt es auch zusammen, dass nicht etwa das Rückenmark, indem es mehr und mehr Nerven abgibt, von oben nach abwärts immer dünner wird, sondern dass es da anschwillt, wo es starke und zahlreiche üSTerven abzugeben hat, dass es sich dann wieder verdünnt, ein zweites Mal an- schwillt, wenn es wieder grosse Nervenmassen abzugeben hat, und sich dann schliesslich wieder verdünnt. Diese beiden Anschwellungen sind bekanntlich die Anschwellungen, aus denen die Nerven für die oberen und unteren Extremitäten hervorgehen. Bei denjenigen Thieren, bei wel- chen die Extremitäten verkümmert sind, z. B. bei den Schlangen und den fusslosen Eidechsen, existiren auch diese Anschwellungen im Rückenmarke nicht, ja wenn man Säugethieren , z. B. Kaninchen, in früher Jugend ein Hinterbein hoch oben im Obersehenkel amputirt und es dann, nach- dem es aufgewachsen ist, tödtet, so findet man die Lendenanschwellung des Rückenmarks auf der Seite, an der die Amputation stattgefunden hat, schwächer entwickelt als auf der anderen. Im ganzen Rückenmarke und in denjenigen Theilen des Gehirns, welche als Fortsetzung des Rückenmarks erscheinen, bis ins Meseneephalon hinauf, werden Reflexe übertragen. Die Hemisphären des grossen Gehirns sind hiebei ganz umiöthig. Ja ein Theil der Reflexbewegungen, die- jenigen, deren Reflexherde weiter nach unten liegen, können noch aus- gelöst werden, wenn nicht nur das Gehirn, sondern auch die Medulla ob- longata und selbst der oberste Theil des Rückenmarks entfernt wurde. Wenn ich einen Frosch im Schultergürtel durchschneide, so gibt das untere Stück noch Reflexbewegungen, ja noch ziemlieh complieirte. Ich tauche seine Zehenspitzen in schwefelsäurehaltiges Wasser, und er zieht sofort das Bein an sich mit ähnlicher Bewegung, wie es ein unversehrter Frosch thuu würde. Ich kann noch weiter schneiden und damit noch, andere, tiefer gelegene Theile des Rückenmarks entfernen, und noch immer hebt er die Pfote heraus. Bei einem weiteren Schnitte hört dies auf. Derselbe ist in den Reflexherd gefallen und hat denselben thcils zerstört, theils von den Beinen getrennt. Es finden uuregelmässige zitternde Zuckungen in den ganzen Beinen statt, aber sie werden nicht mehr aus der verdünnten Schwefelsäure herausgehoben. Wenn man einem Frosche nur das Gehirn weggenommen hat, so gibt er noch eine Reihe sehr complicirtcr Reflexbewegungen, die den Charakter der Zweckmässigkeit an sich tragen. Wenn ich einem soleheu Frosche etwas Schwefelsäure auf das Bein tupfe, so zieht er nicht blos das Bein sofort zurück, sondern er wischt auch mit dem andern Beine die Schwefelsäm'e ab. Dergleichen Versuche lassen sich vielfältig variiren, wie dies namentlich Pflüger in sinnreicher Weise gethan hat. Wenn 4* 52 Eückenmark. man z. B. den Schwanz einer enthaupteten Eidechse an eine Kerzen- liamme heranbringt, so findet die Reizung auf der Seite der Kerzenflanime statt ; man müsste also zunächst glauben , dass die Reflexbewegung auf derselben Seite ausgelöst würde, und somit die enthauptete Eidechse den Schwanz in die Flamme hinein bewegen würde. Dies geschieht aber nicht, sondern sie wendet stets mit grosser Geschicklichkeit den Schwanz aus der Flamme. Auf diese Weise hat Pflüger eine grosse Menge von Versuchen an Fröschen, Eidechsen und anderen Amphibien angestellt und immer gefunden, dass die Eeflexbewegungen im hohen Grade den Cha- rakter der Zweckmässigkeit an sich tragen, ja, dass sie den Charakter von etwas Prämeditirtem, von etwas wohl Ueberlegtem hatten, und er ist des- halb zu dem Schlüsse gekommen, dass bei diesen niederen Wirbelthieren das Bewusstsein nicht nur im Gehirne, sondern auch im Rückenmarke seinen Sitz habe. Man pflegt diese Theorie wohl als die Lehre von der Rückenmarksseele zu bezeichnen. Man muss indessen mit der Beurtheilung der Erscheinungen, wie wir sie hier vor uns haben, vorsichtig sein. Man muss sich zunächst sagen, dass Eeflexbewegungen in denjenigen Bahnen leichter ablaufen, in welchen sie schon oft abgelaufen sind. Nun ist es sicher, dass ein Frosch, wenn er irgendwo von einem Reiz betroffen worden, immer gesucht hat, sich dieses Reizes aufs Zweckmässigste zu erwehren, und dass er deshalb auf den Reiz hin Bewegungen gemacht hat, wie er sie jetzt, nachdem er enthauptet wurde, ausführt. Es ist sicher, dass, wenn ein schmerzhafter Reiz auf die eine Seite eines Eidechsenschwanzes eingewirkt, die Eidechse niemals den Schwanz gegen das sehmerzerregende Agens hin , sondern immer weggewendet hat, dass also voraussichtlich diese selbe Bewegung schon öfter abgelaufen ist und deshalb nach dem Enthaupten leichter ab- laufen wird als die Bewegung in entgegengesetzter Richtung. Es ist aber noch weiter zu bedenken, ob nicht möglicherweise auch dergleichen, wenn ich mich so ausdrücken soll, ausgelaufene Bahnen von Reflexbewegungen sich von Individuum auf Individuum forterben können, ja, dass sie in dem Individuum als ein- für allemal vorhanden, als prästabilirt angesehen werden können. Endlich muss man sich noch sagen, dass es ja ein blosser Anthropo- sophismus ist, bei zweckmässigen Handlungen und Bewegungen immer ein Bewusstsein vorauszusetzen. Das thuen wir, weil unsere Handlungen sämmtlich bewusste Handlungen sind. Es ist aber durchaus nicht der Beweis geliefert, dass Zweckmässigkeit immer ein Bewusstsein voraussetze, und dass es keine zweckmässigen Handlungen geben könne, ohne dass die- selben zum Bewusstsein gelangen. Der eigentliche Beweis für das Vor- handensein eines Bewusstsein kann niemals durch die blos anscheinende oder wii'kliche Zweckmässigkeit der Bewegungen, die ausgeführt werden, oder durch die Zweckmässigkeit der Veränderungen, die an einem Thiere vor sich gehen, geliefert werden. Den aus der Analogie geschöpften Ver- muthungen stehen andere Thatsachen gegenüber, welche es nicht wohl zu- lassen, auch im Rückenmarke ein individuelles Bewusstsein anzunehmen. Wir versetzen also das Bewusstsein und die Intelligenz ausschliesslich in das Gehirn, und in Rücksicht auf den Menschen und die höheren Wirbelthiere herrscht darüber unbedingte Einstimmigkeit. Es fragt sich nun, welches sind die Gründe, die wir dafür anführen können. Wir wissen zunächst, dass das Bewusstsein schwindet, wenn das Blut nicht in GeWin. 53 gehöriger Weise diu-clis Gehirn circulirt. Wir wissen, dass bei Ohn- mächtigen, denen das Be-wnsstsein geschwunden, dieses oft in kürzester Zeit zurückkehrt, sobald der Kopf niedrig genug gelegt wird, damit das Blut mit grösserer Leichtigkeit durch das Gehirn circuliren kann. Wir wissen ferner, dass Zerstörungen, Druck u. s. w., wenigstens wenn sie beide Hemisphären des grossen Gehirns betreffen, Verlust des Bewusst- seins und also auch der Intelligenz nach sich ziehen. Wir finden endlich drittens, dass da, wo beide Hemisphären atrophisch sind, bedeutend unter ihrem normalen Maasse stehen, als unausbleibliche Folge sich Idiotismus einstellt, wie wir dies bei dem sporadischen und auch an gewissen Orten bei endemisch vorkommendem Idiotismus sehen. Wir können ferner mit Leichtigkeit bemerken, dass, wenn wir von den niederen Wirbelthieren zu den höheren und endlich zum Menschen aufsteigen, wir in dem Baue des Gehirns eine fortwährende Progression, eine weitere Entwickelung beobachten, und zwar in der Weise, dass die Gehirne der Embryonen aller Wirbelthicre sich im hohen Grade ähnlich sehen, dass aber, je höher das Thier in der Eutwickelungsreihe steht, sich später das Gehirn um so weiter von dem embryonalen Zustande entfernt. Das Gehirn der Fische und der Amphibien ist dem embryonalen am meisten ähnlich, während das Gehirn des Menschen am weitesten davon entfernt ist. Es fragt sich weiter, wie sollen wir aus dieser progressiven Ge- hirnentwickelung einen Maassstab für den Grad der Intelligenz, für die Stufe, auf welche ein Thier zu stellen sei, entnehmen. Es ist klar, dass wir dabei nicht das absolute Gewicht des Gehirns als Maassstab nehmen dürfen. Wir können aber auch nicht das relative Gewicht des Gehirns im Vergleiche zum Körpergewichte nehmen: darnach müsste einzelnen höchst bevorzugten Thieren ein niedriger Grad von Intelligenz zuerkannt werden. Besonders auffallend wäre dies in Rücksicht auf den Elephauten, bei dem ein sehr kleiner Bruch als relatives Gewicht des Gehirns zum Körpergewichte resultiren würde, während er doch unter allen Thieren, die wir kennen, bei Weitem das intelligenteste ist. Er handelt in einer Weise sclbstständig, wie kein anderes Thier. Man kann es ihm über- lassen, ein Boot zu laden, wobei er alle Sachen so hineinlegt, dass nichts davon nass wird. Er ladet auch das Boot wieder selbstständig ab. Der Elcphant kann dazu benützt werden, ein Geschütz diu'chs Gebirge zu schaffen. Kommt er dabei an eine Stelle, wo er merkt, dass er in der gewöhnlichen Weise nicht weiter könne, zieht er sich von selbst aus dem Geschirre, bringt seine Stosszähne unter das Geschütz und schafft es womöglich über den Widerstand hinweg. Man hat ferner vorgeschlagen, nicht das Gewicht des Gehirns, son- dern die Oberfläche der Hemisphären zu berücksichtigen, d. h. die Grösse der Oberfläche, die man erhalten würde, wenn man sich alle Gyri aus- geplättet denkt, die Oberfläche der entwickelten Hemisphären, wie man sich früher ausdrückte. Diese Anschauung hat in neuerer Zeit, namentlich durch die Untersuchungen von Professor Meynert, einen theoretischen Hintergrund erhalten, indem dieselben es mehr als wahi'schcinlich gemacht haben, dass die graue Gehirmnnde in der Art, wie es sieh schon der alte englische Anatom Willis vorstellte, ein grosses Projectionsfcld ist, auf welches die Eindrücke hingebracht werden, dort in eine Menge Wechsel- beziehungen treten und wieder auf centrifuc-alleitende Bahnen übert!;ehen 54 Gehirn. können, um Bewegungen auszulösen. Es ist dieser Vorgang ein wesentlich rerschiedener von dem der Eeflexbewegungen, welche, wie wir gesehen haben, im Rückenmarke und in den Theilen des Gehirns, die eine Fort- setzung desselben darstellen, ausgelöst werden. Bei den Eeflexbewegungen geht der centripetale Impuls zu einer Gruppe von Ganglienzellen und wird auf andere Ganglienzellen übertragen, von denen motorische Nerven entstehen. Das Ganze kann ablaufen, ohne dass davon etwas zum Be- wixsstsein gelangt, ohne dass dabei ein oder mehrere bewusste Zwischen- glieder zwischen der centripetal fortgepflanzten Ursache und der centrifugal fortgeleiteten Wirkung entstehen. Anders verhält es sich aber bei den früher erwähnten Vorgängen in der grauen Gehirm-inde, indem immer eine oder mehrere bewusste Zwischenglieder entstehen, die einerseits die Ursache, andererseits die Wirkung mit einander verbinden. Im Einzelnen lässt sich aber doch dieses Messen der Hirnoberfläche, das blosse Messen des Areals ohne Berücksichtigung der Beschaffenheit der Hirnrinde, nicht durchführen. Es haben gewisse Thiere, namentlich die Wiederkäuer, die als dumm und ungelehrig bekannt sind, verhält- nissmässig zahlreiche und tiefe Gyri, so dass sie durch ihre Hirnober- fläche, wenn man nach derselben die Intelligenz bemessen sollte, höher gestellt werden müssten, als es ihnen in der That zukommt. Den besten Maassstab zur Beurtheilung der Intelligenz eines Thieres hat Johannes Müller angegeben. Er sagt nämlich, wenn man die Stellung eines Thieres beurtheilen will, so muss man die Hemisphären desselben mit dem Corpus quadrigeminum vergleichen. Beim Frosche liegen die Hemisphären des grossen Gehirns, die Corpora quadrigemina und die MeduUa oblongata mit nur schwach angedeutetem kleinen Gehirne, hinter- einander. Die Corpora quadrigemina sind dabei die massigsten Gebilde des ganzen Centralorgans. Vergleichen wir damit das Gehirn einer Schild- kröte, Emys europaea, so finden wir die Hemisphären schon mehr ent- wickelt, ihre hintere Partie erstreckt sich schon zu beiden Seiten der Corpora quadrigemina, so dass diese zum Theil zwischen sie eingeschoben sind, auch das kleine Gehirn ist bereits mehr entwickelt. Beim Huhne reichen die Hemisphären des grossen Gehirns schon bis an das kleine Gehirn und bedecken theilweise das Corpus quadrigeminum. Beim Hunde geschieht dies vollständig. Das Corpus quadrigeminum ist hier bereits ein verhältnissmässig kleines, in der Tiefe verborgenes Gebilde. Aber die Hemisphären des grossen Gehirns und kleines Gehirn liegen hier noch hintereinander, so dass sie in der Scheitelansicht des Hirns beide gleich- zeitig gesehen werden. Beim Menschen endlich haben die Hemisphären des grossen Gehirns auch das Kleinhirn vollständig überwachsen, so dass man in der Scheitelansicht nur sie und nichts mehr vom Kleinhirne sieht. Mit diesen Verhältnissen hängen, wie Meynert gezeigt hat, ge- wisse andere Eigenthümlichkeiten des Säugethiergehirns gegenüber dem Mensch engehirne zusammen. Bekanntlich unterscheidet man an der Masse der Grosshirnschenlcel eine obere Partie, welche in directer Verbindung mit den Seehügcln und den Vierhügcln, dem Mesencephalon, steht, und die man mit dem Namen der Haube des Grosshirnschenkcls bezeichnet, und eine untere Partie von Fasern, welche darunter weggeht und sich in die Hemisphären des grossen Gehirns ausbreitet. Man bezeichnet sie mit dem Namen des Fusses der Grosshirnschcnkel. Je grösser die Hemisphären Gehirn. 55 im Vergleiche zu den Corpora quadrigemina sind, um so grösser ranss auch die Masse des Fusses des Hirnschenkels gegenüber der Haube aus- fallen und daher kommen die verschiedenartigen Querschnitte, welche hier das Menschengehirn und das Gehirn von Säugethieren, namentlich niedrig stehenden, zeigt. Macht man durch ein Menschengehirn in der Höhe der Vierhügel einen Durchschnitt und einen eben solchen bei einem Säugethierc, so findet man beim Vergleiche dieser Durchschnitte, dass beim Menschen die Masse des Fusses über die der Haube prävalirt, während beim 8äu"-ethiere das Umorekchrte stattfindet. Fig. 13. Fig. 14. Fig. In. Fig. IG. /' P Figur 13 zeigt einen Durchschnitt durch die hinteren zwei Hügel vom erwachsenen Menschen nach Meynert, pp stellt daiün die Masse des Fusses der Grosshirnschenkel dar, begrenzt nach oben durch die Substantia nigra. Figur 14 zeigt einen analogen Schnitt von Ccrcopithccus griseo-viridis, Figur 15 einen solchen vom Haushunde, Figur 16 einen solchen vom Meerschweinchen. An diesen, den Gehirnen von Thieren entnommenen Durchschnitten ist die Region, welche Meynert als Analogen der Substantia nigra des Menschen betrachtet, gleichfalls durch Punktirung kenntlich gemacht. Wenn wir die Brücke betrachten, so sehen wir den Fuss des Hirnschenkels in dieselbe eingehen. Die Entwickelung der Brücke ist also auch wesentlich von der Entwickelung des Fusses des Gehirn- schenkels abhängig. Je massenhafter der Fuss des Hirnschenkels ist, um so höher ist auch die Brücke. Die Pyramiden endlich sind eine Fort- setzung der Fasern des Fusses des Hirnschenkels : sie sind also um so stärker, je grösser die Masse des Hirnschenkels, also aucli je massenhafter die Hemisphären sind. Beim Menschen drängen sie deshalb die Oliven nach den Seiten hin, indem sich ihre Masse in der Mitte entwickelt. Bei den Säugethieren dagegen sind sie dünner, so dass die Oliven hinter den Pyramiden liegen, und da sie schmäler sind, so kommt jederseits von den darunter liegenden Querfasern noch eine Partie zum Vorschein, der man den jSTamen des Corpus trapezoides gegeben hat. Es fragt sich nun weiter, welche Veränderungen bei Thieren ein- treten, wenn man die Hemisphären des grossen Gehirns, im engeren Sinne des Wortes, abträgt? Niedere Wirbelthiere sind zu Beobachtungen hierüber wenig geeignet, da sich bei ihnen der Verlust des Gehirns zu wenig in äusseren Erscheinungen ausprägt. Ein enthirnter Frosch verhält sich, wie wir schon gesehen haben, Reizen und Eindrücken gegenüber, einem un- versehrten sehr ähnlich. Erwachsene Säugethiere sind zu diesen Ver- suchen auch nicht geeignet, weil sie zu rasch zu Grunde gehen. Junge Säugethiere ertragen die Operation besser, aber sie überleben sie doch 56 Gehirn. nur einige Stunden. Dagegen kann man die Hemisphären des Grosshirns junger Vögel, Hühner, Tauben, abtragen und diese dann noch unbestimmte Zeit am Leben erhalten. Die erste auffallende Erscheinung, die man bei der Operation wahr- nimmt, ist die, dass die Thiere zwar Schmerz äussern, so lange man in den weichen und harten Schädeldecken schneidet, dass sie aber beim Einstechen in das Gehirn, ja bei der schichtweisen Abtragung der grossen Hemisphären sich vollkommen ruhig verhalten. Wenn das Huhn sich von der Operation einigermassen erholt hat, so ist es doch, namentlich in der ersten Zeit, schlafsüchtiger als ein Huhn, welches im Besitze seiner Hemisphären ist. Es sitzt den grössten Theil des Tages ruhig da, den Kopf unter einen Flügel gesteckt. "Wenn es aufgeschreckt wird, läuft es umher, aber sein Gang hat, namentlich in der ersten Zeit, etwas Unbeholfenes, und es weicht Hindernissen nicht in der Weise aus wie ein normales Huhn. Steht ihm ein Hinderniss im Wege, so rennt es ganz nahe an dasselbe heran und macht eine plötzliche Wendung, um ihm auszuweichen. Anfangs muss den Thieren das Futter eingestopft werden, wenn sie am Leben erhalten werden sollen ; später aber kann man sie dahin bringen, dass sie wieder selbst fressen, wenn sie dies auch nicht mit solcher Geschicklichkeit thun wie andere Thiere. Man muss ihnen das Futter immer sehr reichlich hinwerfen, dann stossen sie dazwischen herum und bringen so viel in sich hinein, als zu ihrer Er- nährung nothwondig ist. Auffallend ist die Herabsetzung der moralischen Eigenschaften eines solchen Thieres. Es verliert seine Initiative. Während es keine Zeichen von Furcht gibt, mangelt ihm andererseits das, was wir Muth und Ent- schlossenheit nennen. Es mangelt ihm z. B. der Entschluss, auch von einer ganz massigen Höhe herabzuflattern. Ein normales Huhn würde sich nicht wie ein Falke auf der Hand herumtragen lassen, es würde sofort herabfliegen. Das operirte Hiihn aber bleibt ruhig sitzen, und wenn man es reizt, kneipt, bewegt es sich hin und her, schlägt mit den Flügeln und kommt, nachdem es endlich heruntergeflattert, in un- beholfener Weise zu Boden. Wie verhält es sich mit dem Bewusstsein und den Sinneswahr- nehmungen eines solchen Thieres? fragen wir zunächst, empfindet ein solches . Thier Schmerz ? Wenn man das Huhn kneipt, fängt es an zu flattern und sucht zu entfliehen. Man hat auch enthirnte Thiere zum Schreien gebracht. Man hat daratis geschlossen, dass sie Schmerz empfin- den. Man sieht aber leicht ein, dass dies durch die Erscheinungen nicht bewiesen wird. Denn diese können ebensogut als Reflexbewegungen aus- gelöst worden sein, und zwar nicht imr das Schlagen mit den Flügeln, sondern auch das Schreien, ohne dass Schmerz zum Bewusstsein kömmt. Longet beruft sich auf die Kläglichkeit, mit der die Thiere schreien. Dies ist aber offenbar ein Missverständniss, denn die grössere oder ge- ringere Kläglichkeit des Schreiens hängt nui" von der Art und der Energie der Reflexbewegungen , die ausgelöst werden , ab. Wenn wir einen Menschen kläglich schreien hören, dann wissen wir allerdings, dass er bedeutende Schmerzen habe, denn ein Reiz, der im Stande ist, eine der- artige Reflexbewegung auszulösen, wird ihm sicher auch einen heftigen Schmerz verursachen. Beim Thiere, das keine Hemisphären hat, kann Gehirn. 57 sehr wohl dieselbe Eeflexbewegung ausgelöst werden, während möglicher Weise von der Empfindung gar nichts zum Bewusstsein gelangt. Den- selben Maassstab müssen wir bei der Beantwortung der Frage anlegen, ob das Thier sieht. Es ist sicher, dass die Pupille auf Lichtreize noch reagirt. Wir werden später sehen, dass dies ganz natürlich ist, weil der Reflexherd zwischen Opticus und Oculomotorius im Mesencephalon liegt, und wir dem Thiere nur die Hemisphären des Grosshirns genommen haben. Das Thier folgt nach Longet's Versuchen den Bewegungen einer brennenden Kerze, die man im Dunkeln vor seinen Augen bewegt, und hieraus hat man geschlossen, dass das Thier sehe. Nach der Ausdehnung aber, die wir an den Eeflexacten kennen, können wir diese Bewegungen auch als einen blossen Reflexact ansehen. Wir wissen daraus keines- wegs, ob das Thier eine wirkliche, bewusste Gesichtsempfindung habe. Ebenso verhält es sich mit den Gehörsempfindungen. Das Thier schrickt bei einem plötzlichen Geräusche zusammen, dies ist aber wieder als ein blosser Beflexact zu erklären. Ich glaube ferner, an jungen Hühnern, die schon seit längerer Zeit operirt waren, und die ich wieder an freiwillige Nahrungseinnahme zu gewöhnen suchte, bisweilen bemerkt zu haben, dass das Thier leichter nach dem Futter zu stossen, leichter zu fressen begann, wenn ihm die Körner mit Geräusch vorgeworfen wurden, als dann, wenn man ihm das Futter leise hinschob. Man könnte das als Folge einer bewussten Gehörsempfindung ansehen. Man muss sich aber sagen, dass es auch hier nicht festgestellt ist, dass dem Thiere etwas von den Zwischengliedern, die hier zwischen der Gehörsempfindung und dem Aufpicken der Köi-ner lagen, zum Bewusstsein kommt, sondern dass sich nur eine natürliche Kette von der Ursache ziu- Wirkung zwischen diesen beiden Erscheinungen hergestellt hat. Die Geruchs- empfindung ist nach allen gut angestellten Versuchen vollständig ver- loren gegangen. Magendie fand freilich, dass die Thiere noch zurück- wichen, wenn ihnen Essigsäure oder Aetzammoniak vorgehalten wurde. Diese wirken aber nicht blos auf den Olfactorius, sondern auch auf den Trigeminus, indem sie sehr heftige Gefühlsempfindungen und Reflexe vom letzteren aus auslösen. Wenn also das Thier sich davon abwendete, so beweist dies nicht, dass ihm noch Empfindungen vom Olfactorius zu- kamen. Ueber Geschmacksempfindungen existiren keine Versuche, die ein sicheres Resultat ergeben haben. Auf die Bewegungen äussert die Abtragung der Hemisphären des Grossgehirns je nach der Art des Thieres einen verschiedenen Einfluss. Wir haben Frösche ohne Hemisphären des Grossgehirns sich ebenso bewegen sehen wie andere. Wir haben beim Huhne Aehnliches gesehen. Menschen dagegen werden oft in Folge ver- hältnissmässig unbedeutender A^crletzungen einer Hemisphäre hemiplektisch, und zwar stets so, dass die gelähmte Seite diejenige ist, auf welcher sich die gesunde Hemisphäre befindet. Wir Averden später noch sehen, welche Partie der grauen Hirnrinde bei diesen Hemiplegien die Hauptrolle spielt. Ausserdem macht nach Meynert Zerstörung des Linsenkerns immer und unter allen Umständen hemiplektisch, und wir werden später sehen, dass dies nicht nur in Meynert's aus anatomischen Thatsachen geschöpften Anschauungen und in seinen Leichenbefunden, sondern auch in den von Nothnagel an Thieren angestellten Versuchen seine Bc- Ki'ünduna; findet. 58 Gehirn. Die Intelligenz, von der wir gesehen haben, dass sie her abgedrückt ist, wenn beide Hemisphären verkümmert sind, kann merkwürdiger Weise erhalten sein, wenn auch eine Hemisphäre in hohem Grade verkümmert ist. In einem Pariser Krankenhause befand sich, nach der Erzählung Longet's, eine Kranke, die dort lange Zeit verpflegt wurde und dem ganzen Personale als sehr intelligent bekannt war. Sie war unvoll- kommen gelähmt an der linken Seite und bei ihrem Tode fand man die rechte Hemisphäre nur halb so gross als die linke. In einem anderen Krankenhause starb Vaquerie, ein Mensch von gewöhnlicher Intelli- genz, er war hemiplektisch von Geburt an gewesen. Die rechte Hemi- sphäre fehlte, wie es im Obductionsberichte heisst, und der Raum war mit Flüssigkeit ausgefüllt. Ein sehr merkwürdiger Fall ist in Dalmatien von Dr. Kratter beobachtet worden. Ein Morlaek aus dem ISTarenta- Districte, Ivan Mussuli n, erhielt in einem Paufhaudel einen Sehlag mit einem Steine auf das Scheitelbein. Er stürzte nieder, stand aber wieder auf und erholte sich so schnell, dass er nach zwei Stunden auf die Prätur ging und selbst seine Klage einbrachte. Er wurde verbunden und befand sich zwanzig Tage lang ziemlich wohl, so dass er seinen gewöhnlichen Hantirungen und auch dem. Boccespiele nachging. Er war immer guter Laune und vollkommen bei sich. Am 21. Tage ging er noch mit hinaus zum Boccespiele, fühlte sich aber nicht wohl und wollte nicht mitspielen, äusserte indess noch seine Meinung über die Art und Weise, wie die Kugeln fielen. Er war also zu dieser Zeit noch im Be- sitze seiner Intelligenz. Beim Nachhausegehen stürzte er nieder mit dem Ausrufe : „ Es ist mir übel ! " und war in wenigen Minuten todt. j^ach achtzehn Stunden wurde die Obduction von Dr. Kratter gemacht. Sie ergab, dass die Lamina vitrea des Scheitelbeines sternförmig zer- splittert und die Splitter durch die Dura mater eingedrungen waren. Die ganze linke Hemisphäre war nach Dr. Kratter' s mündlicher Mittheilung in eine eiterige, mit Blutstreifen durchzogene Masse verwandelt, in der graue Flocken von Gehirnsubstanz schwammen. Wir werden später sehen, dass, wenigstens so lange er ging und so lange er beide Arme willkürlich bewegte, gewisse Theile der Hemisphäre vermuthlich noch functions- fähig waren. Auch die Folgen und die Tödtlichkeit der Gehirnverletzungen werden meistens in hohem Grade überschätzt. Der alte Anatom Carpi zog einem Knaben einen Nagel aus der Stirn heraus, der drei Querfinger tief ein- gedrungen war. Nichtsdestoweniger behielt derselbe seine Intelligenz. Er Avui'de vollkommen geheilt \ind gelangte, wie erzählt wird, später noch zu hohen Würden. Ein anderer merkwürdiger Fall ist in neuerer Zeit von einem amerikanischen Arzte, Dr. Halsted, im medicinischei? Journal von Boston beschrieben worden. Ein siebzehnjähriger, kräftiger Jüngling wurde durch einen Theil seiner Flinte, der absprang, an der Stirn ge- troffen. Derselbe durchbohrte das Stirnbein und drang 4^2 Zoll weit in die Gehirnhemisphärc vor. Nach der Verwundung verlor der junge Mann keineswegs das Bewusstsein. Er sank nur auf Hände und Knie nieder und hörte durch einige Zeit einen anhaltenden Ton. Nach wenigen Augenblicken hatte er sich bereits wieder so weit erholt, dass er im Stande war aufzustehen, das Eisen aus der Stirne zu ziehen und sich das Blut abzuwischen. Hierauf hielt er sein Gesicht längere Zeit in einen Gehirn. 59 Teich und hatte endlich noch Kraft genug, sein Pferd zu besteigen und bis zu dem nächsten, eine englische Meile entfei'nten Hause zu reiten, wo er halb bewusstlos ankam. Die eingedrungenen Knochensplitter wurden cxtrahirt, die Wunde vernäht, und nach 2 '/^ Monaten war der Kranke wieder völlig hergestellt. Den allerauffälligsten Fall theilt L enget (nach Quesnay: Remar- ques sur les plaies de cerveau) mit. Einem italienischen Lakaien fiel ein Stein auf den Kopf und schlug ihm ein Scheitelbein ein, so dass beim ersten Verbände ein Theil der hervorgequollenen Gehirnsubstanz abgetragen werden musste, was sich später bei Erneuerung desselben noch wieder- holte. Am 18. Tage fiel er aus dem Bette, und dabei trat wieder Ge- hii'nsubstanz heraus, die abgetragen werden musste. Am 35. Tage betrank er sich, riss den Verband und mit der Hand die hervorgequollene Ge- hirnsubstanz weg. Der behandelnde Arzt bemerkt, dass der Theil, welcher in der Wunde vorlag, schon nahe am Corpus callosum sein musste. Den- noch kam der Mensch mit dem Leben davon. Er blieb hemiplektisch, behielt aber seine Intelligenz. Ueberhaupt ist bei theilweiser Zerstörung einer Hemisphäre keines- wegs die gewöhnlichste Folge Verlust der Intelligenz, sondern Hemiplegie und epileptische Anfälle. Epileptische Anfälle bringt Meynert mit De- generationen im Ammonshorne in Zusammenhang. Auch fremde Körper können im Gehirne einheilen und lange Zeit darin aufbewahi-t werden. Th. Simon fand in der linken Grosshirn- hemisphäre einer 79jährigen Frau eine stellenweise incrustirte IS^adel, welche mit ihrer Spitze bis unter das Ependym des linken Seitenven- trikels reichte. Er hält es für höchst wahrscheinlich, dass diese Nadel ihr in frühester Kindheit in den Schädel gestossen worden sei. Früher hatte man vergebens gesucht, die Beziehungen der Hemi- sphären des grossen Gehirns zu den willkürlichen Bewegungen auf experi- mentellem Wege näher zu erforschen. Dies ist erst in neuerer Zeit Fritsch und Hitzig gelungen, und zwar dadurch, dass sie an Hunden, denen sie das Gehirn biossiegten, bestimmte Orte des vorderen Theiles desselben mit schwachen elektrischen Strömen reizten. Sie setzten dabei die Elektroden sehr nahe nebeneinander, in der Eegel nur 2 — 3 Milli- meter von einander entfernt, auf das Gehirn und bewirkten die Schliessung und Ocffnung mittelst des Schlüssels von du Bois, der in den Strom- kreis eingeschaltet war. Sie fanden dabei zunächst am meisten nach vorn ein Centrum für die Nackenmuskeln (A), d. h. wenn sie (siehe Figur 17) an dieser Stelle reizten, bekamen sie Bewegungen in den Nackenmuskelu. Eine zweite Stelle (-f-) fanden sie für die Dreher und Beuger des Vorderbeins. Eine dritte ( -|- ) für die Extensoren und Abductorcn des Vorderbeins. Sie sehen also, dass hier für verschiedene Muskelgruppcn des Vorderbeins in den Hemisphären des Grosshirns die Centren ganz nahe nebeneinander liegen. Ausserdem fanden sie ein Centrum (±1:), durch dessen Heizung sie Bewegungen des Hinterbeins auslösen konnten. Und endlich noch ein Centrum (o-o), in welchem sie Bewegungen in den Muskeln, die vom Nervus facialis versorgt wurden, auslösen konnten. Sie haben ausführlich gezeigt, dass ihre Resultate nicht etwa von Stromschleifen herrühren, die in die Tiefe gegangen wären imd direct Nei'venursprünge gereizt bätten. 60 Geliirn. Fifir. 17. das heisst Nervenursprünge im gewöhnlichen Sinne, Ursprünge aus Nerven- zellen, die den grossen Nervenzellen der vorderen grauen Colonnen des Rückenmarks entsprechen. Es ist dies übrigens schon aus der Verschie- denheit der Erfolge ersichtlich, die sie durch Eeizung der verschiedenen von ihnen bezeichneten Stellen erhielten. In späteren Untersuchungen hat Hitzig auch ein Centrum für die geraden Augenmuskeln gefunden, das mit dem Facialiseentrum zusammenfällt, und zwar mit dem mehr median- wärts gelegenen Theile desselben, von dem aus die Muskeln der oberen Gesichtshälfte erregt werden. Er fand ferner im Bereiche des Hinter- lappens eine Stelle, deren Reizung Verengerang der Pupille der anderen Seite, deren Exstirpation Blindheit auf der anderen Seite hervorbrachte. Es ist lehrreich, diese Angabe mit der früherer Autoren zusammenzuhalten, welche glaubten bemerkt zu haben, dass Thiere, denen die ganzen Hemi- sphären abgetragen sind, noch sehen. Ich habe indessen schon früher dar- auf hingewiesen, wie unsicher der Schluss war, durch den sie zu dieser Ansicht gelangten. Offenbar liefen vom Opticus aus noch die Erregungen ab, für die der Hirnstamm genügte, aber die, welche ihren Weg durch die Hemisphären nehmen mussten, gingen verloren und mit ihnen die bewusste Vorstellung. Es fragt sich nun, was geschieht, wenn z. B. das Centrum für die Muskeln des Vorderbeines aus- geschnitten wird. — Dann tritt keine vollständige Lähmung des Vorderbeines der anderen Seite ein, sondern es wird noch bewegt, und zwar beim Laufen ähnlich wie das andere, nur mit we- niger Sicherheit. S. Exner hat ex- perimentell nachgewiesen, dass Theile, deren Bewegung im Leben doppelseitig combinirt ist, auch von der Hemi- sphäre derselben Seite erregt werden können. So erhielt er bei Kanin- chen von der Hirnrinde aus nicht nur Bewegung der Pfote der anderen Seite, sondern auch Bewegung der Pfote derselben Seite. Dies geschah selbst noch nach Durchschneidung des Balkens. Daraus und aus den vom Hirnstamme ausgehenden Erregungen er- klärt es sich, dass ein so operirter Hund noch mit allen vier Beinen läuft. Aber das Thier hatte keine klare Vorstellung mehr von der Lage des einen Vorderbeines. Wenn man das Vorderbein der nicht gelähmten Seite in irgend eine ungewöhnliche und unbequeme Lage brachte, so setzte der Hund das Bein in die gewöhnliche Lage. Wenn man dies dagegen mit dem anderen Vorderbeine that, so licss es der Hund darin, und erst bei einer zufälligen Bewegung wurde es später wieder in eine Gehirn. 61 gewöhiiliclie Lage zurückgebraclit. Ganz ähnliche Erfahrungen hat Noth- nagel an Kaninchen gemacht, nachdem er die der Stelle (-[- -)-) ent- sprechende Partie durch Injection von concentrirter Chromsäure zerstört hatte. Merkwürdig ist es, dass in seinen Versuchen die Störung nur wenige Tage dauerte , während sie bei Hitzig' s Versuch noch nach 28 Tagen bestand. Die durch Chromsäure zerstörte Partie konnte nicht wieder functionsfähig geworden sein. Es musste sich also auf einem anderen Wege ein Rapport zwischen Empfindung und Bewegung herge- stellt haben. Die Wechselwirkung zwischen beiden findet ja auch im normalen Zustande nicht stets auf dieselbe Weise statt. Wir stellen uns vor, dass die Bewegung unserer Glieder auf zweierlei Weise regulirt wird : erstens durch reflectorische Vorgänge, bei welchen von der Kette der . IJrsachcn und Wirkungen, welche abläuft, nichts zum Bewusstsein kommt, und zweitens dui'ch bestimmte willkürliche Impulse, bei welchen die Glieder absichtlich hierhin und dorthin bewegt werden, und das würden die Bewegungen sein, die hier ganz an der Oberfläche des Gehirns, in dem grossen Projectionsfelde, um mit Meynert zu reden, vermittelt und ausgelöst werden. Es haben diese Versuche einigermassen einen Schlüssel zu einer anderen räthselhaften Erscheinung gegeben, die man vor längerer Zeit beobachtet hat, nämlich der Erscheinung der Aphasie. Man hatte beob- achtet, dass manche Individuen nach plötzlichen Anfällen oder auch bei allmälig fortschreitenden Erkrankungen in einen Zustand kommen, bei dem sie zwar ihr Bewusstsein haben, bei welchem auch ihre Zunge nicht geradezu gelähmt ist, da sie sie noch bewegen, in dem sie aber doch nicht sprechen können. Wenn sie etwas sagen wollen, bringen sie es nicht heraus, gibt man ihnen aber ein Papier, so können sie es bisweilen noch aufschreiben. Bouillaud und nach iJim andere Aerzte haben beob- achtet, dass diese sogenannte Aphasie im Zusammenhange mit Störungen, namentlich mit linksseitigen, im Vordertheile des Grossgehirns vorkommt, und nach Meynert ist es ausser dem der Sylvi'schen Grube anliegenden Theile des Stirnhirns die Insel und die Vormauer, deren Degeneration Aphasie nach sich zieht. Die Aphasie im engeren Sinne, bei der die Kranken das, was sie, trotzdem sie ihre Zunge frei bewegen können, nicht sagen können, aufzuschreiben im Stande sind, scheint namentlich mit Zer- störungen in der dritten Stirnwindung zusammenzuhängen. Bei derselben findet sich die Zerstörung in der Eegel in der linken Hemisphäre. Da, wo eine Zerstörung, die nur die rechte Hemisphäre betraf, Aphasie gemacht hatte, waren es Individuen, die man als Linkshänder gekannt hatte. Man glaubt deshalb, dass diejenige Hemisphäre, welche vorzugsweise die Han- tirungen dirigirt, sei es die linke oder die rechte, auch vorzugsweise und massgebend die Impulse für die Sprechbewegungen aussendet. Wenn man das in derselben Weise betrachtet wie diese Bewegungserscheinungen, so kann man sich sagen: Die Zunge des Menschen ist nicht gelähmt, er hat auch im Allgemeinen noch seinen Verstand, aber es fehlen ihm die Mittelglieder zwischen seinen Vorstellungen und zwischen den Sprach- bewegungen. Er kann die mit seinen Vorstellungen verknüpften Impulse nicht auf diejenigen Nervenbahnen übertragen, welche eben die Zunge in die entsprechenden Bewegungen versetzen können, und darin ist dieser an und für sich so räthsclhafte und seltsame Zustand der Aphasie begründet. K)2 Gehirn. Man hat als einen wesentlichen Einwand gegen die Deutung der Hitzig'sehen Eeizversuche angeführt, dass man dieselben Bewegungen noch erhalte, wenn man das bezügliche Stück der Hirmünde ausschneidet und den Grund der Wunde reizt. Ich sehe nicht ein, wieso? Man reizt dann die Fasern, welche in radialer Eichtung von der Hirm-inde ausgehen. Man braucht nur anzunehmen, dass es hier wie bei den centrifugalleiten- den peripheren üSTerven für die Qualität des Erfolges gleichgiltig ist, ob man sie an ihi'em Ursprünge oder in ihrem Verlaufe reizt. Nothnagel hat an der Aussenseite der grossen Hemisphäre und ein wenig weiter nach vorn als das Centrum (-\- -)-) beim Kaninchen eine »Stelle gefunden, deren Zerstörung mittelst Chromsäure das Thier unvoll- kommen hemiplektisch macht. Die Hemiplegie zeigt sich, wie bei allen centralen Lähmungen, an den Gliedern der unverletzten Seite. Hatte. IS^othnagel diese Stelle auf beiden Seiten zerstört, so sass das Thier regungslos da und liess seine Glieder widerstandslos -in die verschiedensten Lagen bringen. Wenn es gekniffen wurde, wackelte es bei seinen Yersuchen zu entfliehen haltungslos hin und her. Aehnliche Erscheinungen sah Noth- nagel, nachdem er Chromsäureherde in der weissen Markmasse der Hemi- sphären, namentlich im hinteren Theile derselben, in der Nachbarschaft des Cornu ammonis angelegt hatte. Endlich hat Nothnagel nahe der hinteren Spitze der Hemisphäre und innerhalb derselben einen Punkt ge- funden, dessen Verwundung überaus heftige Sprungbewegungen auslöst. Dieselben dauern einige Minuten und lassen dann nach. Sie sind offenbar Folge der Reizung, nicht Folge der Zerstörung eines Gebildes. Nachdem so der Eiufluss bestimmter Theile der Hemisphären des grossen Gehirns auf eombinirte Bewegungen nachgewiesen; nachdem in der grauen Binde derselben bestimmte psychomotorische Centra, oder, wenn man lieber will, psychomotorische Begionen entdeckt waren, handelte es sich darum, die Oertlichkeit derselben am Menschenhirn festzustellen. Es gelang dies, indem man in Fällen von Verletzung oder von beschränkter Erkrankung der grauen Hirnrinde den Leichenbefund sorgfältig mit den im Leben beobachteten Erscheinungen verglich. Es waren, nachdem Hitzig auch hievon zuerst den Weg gezeigt hatte, namenlich französische Aerzte, und unter ihnen besonders Charcot und Pitres, welche mit Eifer und Erfolg denselben verfolgten. In neuerer Zeit hat S. Exner dieses Feld kritisch bearbeitet. Er schliesst nicht allein aus dem Zusammenfallen gewisser Störungen mit ge- wissen Verletzungen auf ihren Zusammenhang, er berechnet auch in Pro- centen, wie oft in einer gegebenen Anzahl von Fällen eine solche Coincidenz statthatte und wie oft nicht. Er untersucht ferner, welche Hirnpartien immer und unter allen IJmständcii intact waren, wenn ein bestimmtes Symptom, z. B. Lähmung des rechten Armes, nicht vorhanden war. Er gewimit dadurch die Ueberzeugung, dass die psychomotorischen Impulse für die Armbewegungen mit Nothwendigkeit aus dieser Eegion stam- men, und nennt sie das absolute Bindenfeld des rechten Armes. Dieses absolute Bindenfeld für den rechten Arm erstreckt sich über den Lo- bulus paracentralis, den Gyrus centralis anterior, dessen unteres Ende es aber nicht erreicht, und den Gyrus centralis posterior, von dem es sich noch auf den Lobulus parietalis supcrior hin erstreckt (für die Benennungen siehe die nach Ecker bezeichneten Figuren: IS, 19, 20, 2l). Ein analoges, Gehirn. 63 Fig. 19. aber kleinere« absolutes Eindenfeld ergab sich für den linken Arm auf der rechten Hemisphäre : Es nahm nur den Lobulus paracentralis ein, dann den obersten Theil der hinteren Ceutralwindung und die vordere Central^vindung ziemlieh bis zu derselben Tiefe, bis zu der auf der linken Hemisphäre das absolute Eindenfeld für den rechten Ann reichte. 64 Geliirn. Das absolute Rindenfeld für das rechte Bein deckt sich grossentheils mit dem für den rechten Arm, es erstreckt sich aber nicht wie dieses auf den Gyrus centralis anterior und auch nicht auf den untersten Theil des Gyrus centralis posterior, dagegen reicht es nach rückwärts über die ganze Länge des Lobulus parietalis superior und sogar bis auf den Gyrus occipitalis superior. Doch muss es vorläufig noch unentschieden bleiben, welche Bedeutung diese Abweichungen haben. Fig. 20. Das Rindenfeld, welches für das linke Bein nach derselben Methode ermittelt wurde, deckt sieh nicht ganz mit dem des rechten. Hier greift das absolute Rindenfeld des Beines auch auf einen Theil des Gyrus centralis anterior und reicht weniger weit nach rückwärts als das des rechten Beines. Ein absolutes Rindenfeld für das Gebiet des Nervus facialis Hess sich nach der erwähnten Methode nur auf der linken Hemisphäre ermitteln. Es lag im mittleren Theile des Gyrus centralis anterior, in der Höhe der Einmündung des Sulcus frontalis inferior in den Sulcus praecentralis. Für die rechte Hemisphäre war insoferne kein solches erweisbar, als in einem Falle von Hemiplegie nach der Krankengeschichte der Nervus 65 facialis nicht betheiligt war, während doch die Zerstörung sich auf die untere Hälfte der vorderen Centralwindung erstreckte, also voraussichtlich das Gebiet, welches sieh auf der linken Hemisphäre als Facialisgebiet dar- stellte, wenigstens theilweise noch mit betraf. Die Impulse für die Bewegungen im Gebiete des Hypoglossus scheinen aus dem unteren Theile des Gyrus centralis anterior zu kommen, da, wo er an den Gyrus frontalis inferior angrenzt. So wenigstens muss man Fig. 21. urtheilen nach der Häufigkeit von Zungenlähmungen bei Zerstörungen in diesem Gebiete. Es i.st hier daran zu erinnern, dass der Herd der Aphasie im engeren Sinne des Wortes mit Erhaltung des Wortverständ- nisses und ohne Zungenlähmung im Gyrus frontalis inferior gesucht wird. Nachdem wir so das motorische Gebiet beim Menschen kennen ge- lernt haben, welches Fritsch und Hitzig für den Hund experimentell ermittelten, muss es uns auffallen, wie klein beim Hunde das Gebiet ist, welches wir nach der Analogie mit dem Mensehen als das Stirnhirn be- zeichnen müssen, wenn wir derselben Nomenclatui' wie Hitzig folgen. Schon hierdurch müssen wir auf die A^ermuthung gebracht werden, dass im Stirnhirn etwas zu suchen sei, was beim Menschen ungleich stärker Brücke. Voilesungeu. II. 4. Aufl. 5 QQ Gehirn. entwickelt ist als beim Hunde, und wir müssen zunächst daran denken, ob liier nicht die complicirteren geistigen Processe ablaufen, welche wir beim Hunde nicht in gleicher Weise voraussetzen können. Wir werden in dieser Vermuthung dadurch bestärkt, dass bei mangelhafter Entwiekelung oder theilweiser Zerstörung des Stirnhirns auf beiden Seiten auch die Intelligenz geschädigt ist. Dass dies nicht oder doch nicht immer der Fall ist, wenn die Zerstörung nur auf einer Seite vorhanden ist, lässt sich dahin erklären, dass wir, so weit nicht die Wahrnehmungen und die Be- wegungen unserer beiden Körperhälften in Betracht kommen, mit beiden Hemisphären des Grosshirns parallel arbeiten. Ich bin natürlich nicht der Meinung, dass das übrige Hirn nichts mit der Intelligenz zu thun habe, wie dies ja auch bei dem inneren Zusammenhange der geistigen Thätig- keiten ganz undenkbar wäre. Der Hund besitzt, trotzdem dass sein Stirn- hirn im Vergleiche mit dem des Menschen winzig klein ist, einen hohen Grad von Intelligenz, aber seine Intelligenz ist eine andere als die des Menschen. Ein blödsinniger Mensch und ein gescheidter Hund sind nicht sowohl quantitativ als qualitativ von einander verschieden. Nach, den Erfahrungen von Goltz büsst ein Hund mehr von seiner Intelligenz ein, wenn man ihm ein Stück des Hinterhirns abträgt, als wenn er ein gleich grosses Stück seines Vorderhirns verliert. In ähnlicher Weise wie das Stirnhirn bleiben nach Prof. Meynert's Untersuchungen bei den Säugethieren, selbst schon bei den intelligenteren, wie Hund und Bär, die vorderen Partien der Schläfenlappen in der Ent- wiekelung zurück. Eine bestimmte Art der psychischen Thätigkeit müssen wir wahr- scheinlich in die obere und mittlere Windung des Schläfenlappens ver- setzen. Wir haben früher gesehen, dass sich Zerstörungen in der dritten Stirnwindung combinirten mit sogenannter reiner oder . ata,ktischer Aphasie, das heisst mit dem Zustande , in dem das Sprechen unmöglich oder mangelhaft ist, trotzdem, dass die Zunge nicht gelähmt ist, und trotzdem, dass das Wort, welches der Kranke nicht aussprechen kann, ihm nicht fehlt ; denn er kann es aufschreiben. Es gibt aber oifenbar noch andere Ursachen, welche die Rede von Hirnkranken beeinträchtigen und eine Art von Aphasie hervorbringen. Darunter hat eine die Aufmerksamkeit in neuerer Zeit besonders auf sieh gezogen, die sogenannte Worttaubheit. Die Kranken hören, sie sind nicht taub, aber obgleich sie sonst bei Be- wusstsein sind und richtig urtheilen können, auch der Sprache an und für sich nicht beraubt sind, so verstehen sie doch das Gesprochene nicht. Es fehlt ihnen das Vermögen, den Sinn der Lautfolge zu combiniren, welche in ihrem Ohre abläuft. Diese Worttaubheit nun trifft ungewöhnlich häufig mit Zerstörungen in der oberen oder mittleren Windung des Schläfenlappens zusammen. Wenden wir uns von diesen dem Verständniss schwerer zugäng- lichen Funetionsstörungen noch einmal zurück zu den Bewegungsstörungen und zu den aus ihnen erschlossenen motorischen Rindenfeldern, so sehen wir, dass dieselben nicht wie Areale neben einander liegen, von denen das eine an das andere angrenzt, sondern dass sie einander theilweise decken. Es weist dies darauf hin, dass die Nervenzellen, welche Impulse für verschiedene Muskelpartien geben, bis zu einer gewissen Ausdehnung einzeln oder in kleineren Gruppen unter einander gemengt vorkommen. Gehirn. 67 Ausserdem fand Exner in Uebereinstimmung mit früheren Beobachtern, dass in vielen Fällen auch ausserhalb des absoluten Eindenfeldes gelegene Zer- störungen Lähmungen in dem diesem Rindenfelde angehörigen periphe- rischen Gebiete hervorgerufen hatten. Besonders häufig lagen solche Zer- störungen in der nächsten Umgebung des absoluten Rindcnfeldes, manchmal aber auch weiter davon entfernt. Der nächste Gedanke, den auch schon frühere Beobachter gehegt hatten, musste sein, dass hier während des Lebens fortgepflanzter Druck oder fortgepflanzte Circulationsstörung die J.ähmung bedingt hatten. Aber Versuche an Thieren zeigten, dass diese Erklärung freilich für manche Fälle richtig sein mochte, aber keineswegs die einzige war, welche man in Betracht zu ziehen hatte. Durch Reize Hessen sich auch ausserhalb des als Rindenfeld im engeren Sinne bezeich- neten Gebietes Bewegungen auslösen, wenn auch weniger leicht. Es bot sich hier zunächst der Gedanke dar, dass die Erregung durch parallel zur Oberfläche verlaufende Fasern zum Rindenfelde hin fortgepflanzt werde. Aber diese Erklärung reichte nicht aus; denn Exner fand, dass er noch wirksam reizen konnte, wenn er die bezügliche Stelle umschnitten hatte, dass er aber nicht mehr wirksam reizen konnte, nachdem er die Stelle unterschnitten hatte. Die wesentlichen Leitungsbahnen mussten also doch zunächst in die Tiefe gehen. Diese Thatsachen veranlassen Exner, ausser den absoluten Rindenfeldern, von denen wir gesprochen haben, relative Rindenfelder zu unterscheiden, welche sich in der Umgebung der absoluten mehr oder weniger ausbreiten. Für den Arzt ist zunächst die möglichst genaue Ivenntniss der absoluten Rindenfelder von Wichtigkeit, da ihm diese bei der Diagnose als Führerin dienen muss, wenn er auch mit Rück- sicht auf die relativen Rindenfelder seine Vorhersage des eventuellen Obductionsbefundes einzuschränken hat. Betrachten wir jetzt noch die absoluten motorischen Rindenfelder, die von Exner nach der Methode der negativen Fälle ermittelt sind, in ihrer Gesammtheit. Sie verbreiten sich im Wesentlichen über den Gj-rus centralis anterior, den Gyrus centralis posterior, den Lobulus paracentralis und auch noch auf den Lobulus parietalis superior. Dieses Gebiet nun enthält nach der Entdeckung von Betz in Kiew eigenthümliche pyramiden- förmige oder gewürznelkenförmige Nervenzellen, welche man, da sie grösser als andere ähnliche Zellen der Hirnrinde sind, Riesenpj-ramidenzellen nennt. Man hat ferner gefunden, dass gerade da, wo Theile dieses Rin- dengebietes zerstört sind, Degeneration von Nervenbahnen bis in die Pja'amidenstränge des Rückenmarks, sogenannte absteigende Degeneration, vorkommt. Es liegt deshalb die Vermuthung nahe, dass in den Riesen- pyramidenzellen die trophischen Centra und somit im physiologischen Sinne die wahren Ursprünge der motorischen Stabkranzfasern zu suchen seien. Die Willensimpulse hätten darnach folgende Wege zu machen : Riesen- pyramidenzellen, psychomotorische Stabkranzfasern, deren Fortsetzung diu'ch den Fuss des Hirnschenkels, Pyramiden, DeciTssation, Pyramidenstränge, Ganglienzellen der vorderen graiien Rückenmarkscolounen, von denselben entspringende (Deiters-Fortsatz) motorische Nerven, Muskeln. Die Aufnahme tactiler Erregungen scheint in denselben Regionen der Hirnrinde stattzufinden, von denen die psychomotorischen aiisgehen. Ich sage scheinen. In allen Fällen, in denen sensible und motorische Störungen fehlten, zeigten sich der Gyrus centralis anterior und posterior 68 Gehirn. und der Lobulus paracentralis unverletzt. Es lässt dies zwar keinen bin- denden Schluss zu, andererseits hat man aber Jieine Ursache gefunden andere E-egionen als rein taetile anzusprechen. Die Eiechsphäre befindet sich nach den Versuchen von Munk bei Hunden im Gyrus hippocampi, die Hörsphäre im Schläfenlappen, für die Tonempfindungen in einem convexen Bogen um die Eissura postsylvii Owen. Mit der hinteren Partie dieser Region sollen die tieferen Töne ge- hört werden, mit den vorderen die höheren. Beim Menschen fehlt es hierüber noch an sicheren Beobachtungen, dagegen hat Ferrier nach Versuchen an Affen, die schon im Jahre 1875 angestellt wurden, die Hörsphäre zwar auch in den Schläfenlappen, aber in den oberen, an die Fossa Sylvii angrenzenden Theil desselben versetzt, in die obere soge- nannte Tempore- Sphenoidalwindung. lieber die centrale Aufnahme von Gesichtseindrücken und über ihre Beproduction als Erinnerungsbilder hat Munk besonders ausgedehnte Unter- suchungen gemacht. Er ist zu dem Resultate gekommen, dass diese Vor- gänge in den Hinterhauptstheil des Grosshirns verlegt werden müssen. Wird bei einem Hunde ein kreisrundes Bindenstück von 15 Millimeter Durchmesser und 2 Millimeter Dicke an einer bestimmten Stelle des Hinterhauptlappens exstirpirt, so erkennt nach ihm das Thier ihm früher wohlbekannte Gegenstände nicht mehr. Der Grund liegt nach Munk da- rin, dass es deren Erinnerungsbilder nicht mehr reproduciren kann, weil ihr Ort in dem exstirpirten Theile war. Er nennt ein solches Thier seelenblind. !Nach einiger Zeit lernt ein solcher Hund wieder Gegenstände durch das Gesicht erkennen, aber er fixirt sie nicht mehr wie ein gesunder Hund mit den Augen. Es liegt dies nach Munk darin, dass er sich nicht mehr wie früher des mittleren Theiles seiner Netzhaut bedient, denn das Bindenstück, mit dem dieser verbunden war, ist ihm auf beiden Seiten genommen. Aber die Rindenpartien, mit denen die Seitentheile der Netz- häute, auf deren Bilder er früher so wenig achtete, wie wir es thun, und von denen ihm deshalb keine Erinnerungsbilder geblieben waren, verbunden sind, besitzt er noch. Nun sieht er mit diesen Seitentheilen und erwirbt dadurch neue Erinnerungsbilder, nach denen er die Gegenstände erkennt. Schälte Munk einem Affen von beiden Hinterhauptlappen in ganzer Ausdehnung die Hirm'inde ab, so wurde er bleibend blind. Was geschah, wenn er dies nur auf einer Seite that? Dann sah der Affe nur noch mit einer Hälfte jeder Netzhaut, und zwar, wenn die Zerstörung links war, mit der rechten, wenn die Zerstörung rechts war, mit der linken. Es sind darnach beim Affen beide Hinterhauptslappen mit beiden Augen ver- bunden, und dies ist nach Munk auch beim Hunde der Fall, wenn auch die Verbindungen mit dem Auge derselben Seite weniger reichlich vor- handen sind als beim Affen. Dies zuerst beim Affen gewonnene Resultat hat dadurch einen besonderen Werth, dass auch beim Mensehen mehrere Fälle von Blindheit auf gleichnamigen Netzhauthälften, der rechten oder der linken beobachtet sind, in denen die Obduction eine Zerstörung im gleichnamigen Hinterhauptslappen nachwies. Allerdings sind auch Fälle beobachtet worden, in denen mit einer krankhaften Veränderung in einem Occipitallappen Blindheit auf einer ganzen Netzhaut bei Erhaltung des Seh- vermögens auf der anderen einherging. Auch ist es zwischen Munk und Gehirn. 69 seinen Gegnern strittig, was und wie viel man am Hinterhirn zerstören muss, um Blindheit zu erzeugen. Nach Ferrier muss man bei Affen ausser der Rinde des Hinterhauptslappens auch noch den das obere Ende der sylvischen Spalte umgreifenden Gyrus angularis wegnehmen. Wird eine solche Operation nur auf einer Seite ausgeführt, so entsteht Halbsehen (Visus dimidiatus, Hemianopsie), wie es Munk als Folge der Zerstörung der Rinde blos eines Occipitallappens beschreibt. Wenn man nach derjenigen Rindenregion fragt, bei deren Erkran- kungen am Menschen im Leben am häufigsten Sehstörungen beobachtet wurden, so liegt diese auch hier im hintersten Theile des Grosshirns. Es sind zunächst der Gyrus occipitalis superior und medius und dann die unter dem Namen des Cuneus bekannte, der Falx zugewendete Partie des Hinterhirns. Von da breitet sich die Region nach aufwärts noch auf einen Theil des Praecuneus, nach abwärts auf einen Theil des Gyrus occipito- temporalis medius aus. Auch auf der äusseren Oberfläche des Hirns ist das Feld nicht strenge begrenzt, indem auch oberhalb des Gyrus occipitalis superior und schon im Lobulus parietalis superior liegende Erkrankungen der Hirnrinde mit Sehstörungen verbunden waren. lieber den Fornix und das Corpus callosum wissen wir nichts Sicheres, Es muss bemerkt werden, dass ausgedehnte Degenerationen im Corpus cal- losum gefunden worden sind, ohne dass während des Lebens überhaupt etwas wahrgenommen wurde, das auf diese Degenerationen hätte bezogen werden können. Eine ganze Abtheilung von Säugethieren, die Beutelthiere, haben bekanntlich gar kein solches Corpus callosum, wie es dem Menschen zukommt. Gehen wir zu den sogenannten Grosshirnganglien über. Als solche bezeichnet man den Sehhügel und das Corpus striatum in der weiteren Bedeutung des Wortes. Letzteres zerfällt wieder in den Linsenkern und in das Corpus striatum im engeren Sinne des Wortes, den sogenannten Nucleus caudatus, den in den Ventrikel hineinragenden oberen und inneren Theil. Zwischen beiden liegt die sogenannte Capsula interna mit dem Fusse der Strahlenkrone Reil's, mächtigen Bündeln markhaltiger Fasern, welche von den Hirnschenkeln aus sich fächerförmig ausbreitend durch die Hemisphären gegen die Gehirnrinde hinziehen. Wenn Nothnagel beide Linsenkerne mittelst Chromsäure zerstört hatte, so sassen die Thiere stundenlang absolut regungslos da, wenn sie in den Schwanz gekneipt wurden, machten sie einen Sprung, um dann eben so regungslos wie früher zu bleiben. Auch zum Fressen waren sie nicht zu bringen. Selbst wenn man ihnen eine Rübe zwischen die Zähne steckte, knapperten sie nicht daran. Dass ein Kaninchen noch aufrecht dasitzt, nachdem ihm beide Linsenkerne zerstört sind, und selbst fort- springt, wenn es gekneipt wird, während der Mensch bei einem Blut- erguss in den Linsenkern hemiplektisch umfällt, ist nicht wunderbar, denn erstens muss der Mensch bei seiner aufrechten Stellung viel mehr im Vollbesitze seiner Herrschaft über die Muskeln sein, um sich stehend zu erhalten, als das auf den Bauch und vier Beine gestützte Kaninchen, und zweitens sind die Ortsbewegungen beim Menschen mehr unter der Con- trole des Willens, weniger bedingt durch blos reflcctorische oder auto- matische Wirkungen, das heisst durch Wirkungen, deren Kette nicht durch die Hirnrinde, sondern nur durch den Hirnstamm, theilweise sogar nur durch das Rückenmark läuft. Truthähne und Straussc rennen, obgleich sie wie 70 Gehirn. der Mensch nur zwei Stützpunkte haben, bekanntlich noch eine Strecke fort, nachdem sie geköpft worden sind, indem sich die Ursachen für die nöthigeu Mu'skelcontractionen noch eine Reihe von Malen in ihrem Rücken- marke reprodueiren. Der automatische Charakter der Ortsbewegungen zeigte sich beim Kaninchen noch in auffallender Weise in einem anderen Versuche, den Nothnagel angestellt hat. Im vorderen Theile des Streifenhügels im engeren Sinne, im Niicleus caudatus, liegt ziemlich oberflächlich eine Stelle, deren Verwundung, wie schon Magendie sah, heftige Laufbewe- guBgen zur Folge hat, und die Nothnagel deshalb als Nodus cursorius bezeichnet. Nothnagel verwundete diese Stelle an Kaninchen, denen er vorher beide Linseiokerne mittelst Chromsäure zerstört hatte, und sah noch dieselben Laiifbewegungen eintreten. Die vom Hirnstamme kommenden sensiblen Bahnen scheinen zumeist zwischen Linsenkern und Niicleus caudatus, in der sogenannten Capsula interna als Strahlenla-one Eeil's zur Hirnrinde zu ziehen, wenigstens ist dies das Resultat, zu dem Türk, Charcot und Veissier durch ihre Er- fahrungen geführt worden sind. Es ist hier der Ort, daran zu erinnern, dass ich schon mehi'mals darauf aufmerksam gemacht habe, wie man sich bei Versuchen über das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein bewusster Empfindung nicht durch Reflexbewegungen täiischen lassen darf. Thiere, bei denen die erwähnten Bahnen durchschnitten sind und die auf Reize noch combinirte Bewegungen ausführen, sind deshalb noch keine Thiere, die empfinden. Es scheinen sensible und motorische Bahnen hier hart neben einander zu verlavifen, denn C. Wernicke fand bei einer Erkrankung im dritten Gliede des Linsenkerns und in der inneren Kapsel zwischen Linsenkern und Nucleus caudatus gar keine Sensibilitätsstörung, aber obere und untere Extremität der anderen Seite vollständig gelähmt. Dagegen fand Fr. Müller in Graz für eine halbseitig totale Anästhesie der Haut und der tieferen Theile bei der Obduction keine andere Ursache als einen an der Spitze des dritten Gliedes des Linsenkerns liegenden und von da in die anliegende Markmasse eingreifenden erbsengrossen, ins Gelbliche entfärbten, gelockerten, stellenweise ganz zerfliessenden Herd. Motorische Lähmung war nur vorübergehend vorhanden gewesen. Nach Charcot und Bris Saud ist im vorderen Schenkel der inneren Kapsel ein Bündel centrifugalleitender Fasern enthalten, welche den medialsten Theil des Hirn- schenkels bildet. Die Physiologie des Nucleus caudatus ist, abgesehen von dem be- stimmten Erfolge, der auf Verletzung des Nodus cursorius eintritt, noch ziemlich dunlvel. Nothnagel versuchte den Nucleus caudatus auf beiden Seiten mittelst der Nadel möglichst vollständig zu zerstören. Die auf- fallendste und constanteste Erscheinung war erhöhte Erregbarkeit gegen äussere Eindrücke, namentlich gegen Gesichts- und Gehörseindrücke, und im Zusammenhange damit scheiie Sprung- und Laufbewegungen. Nicht weniger dunkel ist die Physiologie der Thalami optici. Die Effecte bei ihrer Verwundung fallen offenbar verschieden aus, je nach der Verletzung der Sehhügelmasse im engeren Sinne des Wortes und je nach der Verletzung der den Sehhügel durchsetzenden Hirnschenkelbahnen. Oberflächliche Verwundimgen bleiben oft ganz ohne sichtbaren Erfolg. Bei tiefer greifenden Zerstörungen sind Ablenkung der Beine der gesunden Gehirn. 71 Seite, namentlich des Vorderbeines, nach innen, grössere oder geringere Motilitätsstörungen aut' der unverletzten Seite und anomale Stellung des Kopfes, auch der Wirbelsäule, beziehungsweise sogenannte Manegebewe- gungen nach der unverletzten Seite die am häufigsten beobachteten Er- scheinungen. Wir werden von den letzteren noch bei der A'ei'letzung der Grosshirnscheakel als solcher sprechen. Christiani fand beim Kaninchen in den Thalami optici, und zwar im inneren Theile nahe dem Boden des dritten Ventrikels, und den Cor- pora quadrigemina eine Region, deren Reizung Stillstand in der Inspi- rationslage, beziehungsweise inspiratoriseh vertiefte und beschleunigte Ath- mung hervorrief. Das Mesencephalon mit seinen tinter dem Namen der Corpora qua- drigemina bekannten Hervorragungen ist für uns zunächst wichtig als Reflexcentrum für die Augenbewegungen und für die Veränderungen, welche die Pupille erleidet, einerseits indem der Sphincter pupillae reflec- torisch vom Nervus opticus erregt wird, und andererseits indem sie mit den Augenmuskeln Mitbewegungen hat. In Rücksicht auf die Bewegungen der Augen sind von Dr. E. Adamük aus Kasan im Laboratorium von Donders Versuche angestellt worden, deren Resultate ich hier mit dem Wortlaute des Verfassers mittheile : „Das Hauptergebniss dieser Versuche ist, dass beide Augen eine gemeinschaft- liche motorische Innervation haben, welche von den vorderen Hügeln der Corpora quadrigemina ausgeht. Der rechte von diesen Hügeln regiert die Bewegungen der beiden Augen nach links und der linke die beider Augen nach rechts. Durch die Reizung der verschiedenen Punkte jedes Hügels kann man mannigfaltige Bewegungen hervorrufen, aber immer mit beiden Augen zu gleicher Zeit und in derselben Richtung. Wird länger gereizt, so dreht sich auch der Kopf nach derselben Seite wie die Augen. Wenn durch eine tiefe Incision die beiden Hügel getrennt sind, beschränkt sich die Bewegung nur auf die Seite der Reizung. Damit die Erschei- nungen recht klar zu Tage treten, sollen die Augen vor der Reizung divergirend etwas nach unten stehen, wie sie sich im Ruhezustande leicht einzustellen pflegen. Dann stellen sich bei Reizung in der Mitte des vorderen Theiles der genannten Hügel, das ist bei der Commissura poste- rior, die Au-gen sogleich mit parallel gerichteten Axen ein. Wird die Reizung in der Mitte zwischen den vordei'en Hügeln mehr nach hinten gemacht, so erfolgt Bewegung beider Augen nach oben, mit Erweiterung der Pupille. Diese Bewegimg nach oben geht desto mehr in eine con- vergente über, je mehr nach hinten die Reizung stattfindet. Wenn wir den hinteren unteren Theil der vorderen Hügel reizen, so bekommen wir starke Convcrgenz mit Neigung nach unten. In noch stärkerem Grade bekommt man diese letzte Bewegung, wenn der Boden des Aquaeductus Sylvii gereizt wird" (Anfang des Nervus oculomotorius). „Jede Bewegung nach innen und unten ist mit Verengerung der Pupille verbunden. Die Reizung der freien Oberfläche eines jeden Hügels gibt die Bewegung beider Augen nach der entgegengesetzten Seite, und dabei, es möge links oder rechts gereizt sein, um so mehr nach oben, je mehr wir nach innen, nach unten dagegen, je mehr wir nach aussen und unten reizen. Bei allen diesen Bewegungen bleibt die Piipillc unverändert. Die Innervation der Bewegungen nach unten mit der Medianebene parallelen Axen hat 72 Gehirn. wahrscheinlich ihren Sitz an der Basis der Hügel. Eine solche Bewegung konnte ich aber nicht hervorrufen, was vielleicht der Zerstörung durch die Schnitte, welche zur Aufsuchung der Basis gemacht werden, zugeschrieben werden muss. Die gleichzeitige Reizung der beiden vorderen Hügel rief Bewegungen der Augen hervor, wie sie bei Nystagmus beobachtet werden. Aus diesen Beobachtungen geht hervor, dass beide Augen in Betreff der Bewegungen ein untheilbares Ganzes darstellen, so dass man Gelegenheit hat zu sehen, wie Hering's Ausdruck , Doppelauge' den Sachverhalt gut ausdrückt." Es schliesst dies nicht aus, dass von der Hirnrinde auch Impulse ausgehen, welche nur ein Auge, das der anderen Seite, bewegen. In der That hat Hitzig bei seinen späteren Versuchen an Hunden eine Stelle gefunden, von der aus solche Bewegungen angeregt werden können. Sie liegt auf ziemlich engen Eaum begrenzt in demselben Gebiete, von dem aus die Muskeln des oberen Theils des Gesichtes angeregt werden. Indess sind normaler Weise unsere Aiigenbewegungen stets in der Weise combinirt, wie es das binoculäre Sehen verlangt, und ebenso ist dies bei den Hunden der Fall. Die auffälligste Unabhängigkeit beider Augen von einander zeigt das Chamäleon, das mit beiden Augen ganz verschiedene Fixationspunkte aufsucht und gelegentlich mit einem Auge nach aufwärts, mit dem anderen nach abwärts sieht. Schon vor viel längerer Zeit hat Elourens angegeben, dass ein- seitige Lähmung der Iris auftritt und auch einseitige Blindheit, und zwar, wegen der Kreuzung der Sehnerven im Chiasma nervorum opticorum, auf der anderen Seite, wenn das Corpus quadrigeminum auf der einen Seite zerstört wird, und diese Angabe ist auch von anderen späteren Beobachtern bestätigt worden. In neuerer Zeit hat aber Knoll diesen Gegenstand wieder vorgenommen und ist zu etwas abweichenden Resul- taten gekommen. Er fand, dass es nicht die eigentliche Substanz der Vierhügel im engeren Sinne des Wortes ist, deren Zerstörung diese Ver- änderung hervorbringt, sondern dass es nur die Verletzung des Tractus opticus ist. Man kann die Vierhügel zerstören; so weit man den Tractus opticus dabei nicht verletzt, tritt keine Lähmung der Iris und noch weniger Blindheit ein. Dagegen hat Knoll auf Reizung der Corpora quadrigemina Erweiterung der Pupille beider Seiten und am meisten der Pupille der Seite, an welcher gereizt wurde, beobachtet. Er leitet dies von Fortpflanzung der Reizung auf einen Theil des Rückenmarks her, welchen wir später kennen lernen werden als eine Region, durch welche Fasern gehen, die, in den Grenzstrang des Sympathicus übertretend, nach- dem sie in demselben aufgestiegen sind, den Dilatator pupillae innerviren. Ueber die centrale Anregung zur Verengerung der Pupille ist Fol- gendes bekannt. Adamük, Hensen und Völkers konnten vom Boden des dritten Ventrikels die Pupille zur Contraction bringen, und zwar erhielten letztere, wenn sie von vorn nach rückwärts fortschritten, in der hinteren Partie des dritten Ventrikels angelangt zuerst Accommodation des Auges für die Nähe, dann Pupillenverengerung, dann Contraction des Rectus internus und beim Fortschreiten im Aquaeductus Sylvii Contractionen der übrigen Augen- muskeln. Sie befanden sich hier in der Nähe der Oculomotoriusursprünge, und in diese, nicht in die Corpora quadrigemina, verlegt Bechterew das Reflexcentrum für den Sphincter pupillae. Die oberflächlichen Schichten Gehirn. 73 der Corpora quadrigemina konnte er abtragen, ohne den in Rede stehenden Reflex aufzuheben. Ebensowenig wurde er aufgehoben durch Durch- schneidung des Tractus opticus. Die excitomotorischen Fasern für den- selben verlaufen nach Bechterew von der Ketzhaut kommend und im Chiasma auf derselben Seite bleibend zu der grauen Substanz, welche den dritten Ventrikel umlagert, und so zu den Oeulomotoriusursprüngen. Durchschneidung eines Grosshirnschenkels unmittelbar vor dem Rons lässt das Thier auf die andere Seite fallen, obgleich die Glieder dieser andern Seite noch Bewegungen machen können. Anschneiden des einen Hirnschenkels macht sogenannte Manegebewegungen, d. h. das Thier geht nicht gerade aus, sondern macht einen Bogen nach der gelähmten Seite hin, so dass die Convexität des Bogens an der Seite liegt, an der man den Hirnschenkel angeschnitten hat. Das ist davon abgeleitet worden, dass die Glieder der andern Seite dem Thiere nicht mehr in der gewöhn- lichen Weise zu Gebote stehen, und dass es deshalb mit den Gliedern derselben hinter denen der Seite, an welcher die Verletzung stattgefunden hat, zurückbleibt, und somit ein Bogen entsteht, der gegen die Seite, an der mau den Schnitt gemacht, convex und gegen die andere concav ist. Man kann aber nicht sagen, in wie weit hier nicht Wahnvorstellungen, gestörte Raumvorstellungen mitspielen. Wir wollen hieran einige andere derartige Bewegungen anschliessen, welche man unter dem Namen der statischen Krämpfe kennt. Die Quer- fasern des Pons gehen bekanntlich in die Hemisphären des kleinen Gehirns über. Es sind dies die sogenannten Crura cerebelli ad pontem. Durch- schneidet man an einer Seite in einiger Entfernung von der Mittellinie diese Querfasern des Pons, oder das Grus cerebelli ad pontem, so wird das Thier auf einer Seite mehr oder weniger vollständig gelähmt und rollt nach dieser Seite hin um seine Axe. Die Drehung erfolgt immer nach der gelähmten Seite, aber die gelähmte Seite ist, wenn man in den hinteren Theil des Pons oder des Grus cerebelli eingeschnitten hat, die verwundete, wenn man dagegen in den vorderen Theil des Pons oder Grus cerebelli eingeschnitten hat, die entgegengesetzte. Auf oberflächliche Schnitte folgen statt der Rollbewegungen Manegebewegungen in demselben Sinne, indem das Thier dann noch im Stande ist, sich aufrecht zu. erhalten und zu gehen. Auch die Rollbewegungen hat man wie die Manegebewegungen ledig- lich aus der einseitigen Lähmung erklärt. Das Thier stürze um, stemme, um sich aufzurichten, die gesunden Glieder gegen den Boden, stosse sich dadurch ab, überschlage sich u. s. w. Es ist aber deshalb bedenklich, dergleichen Bewegungen nur aus völligen oder theilweisen Lähraimgen zu erklären, weil man analoge Bewegungen an kranken Mensehen kennt, bei denen von Lähmungen gar keine Spur vorhanden war, und bei welchen sich aufs Deutlichste ein ganz anderer Grund dieser Zwangsbewegungen herausstellte, und zwar eine imrichtige Vorstellung von der Relation ihres Körpers gegenüber den Aussendingen, so dass sie glaubten, sie müssten diese Bewegungen machen, um nicht hinzustürzen, Scheinbewegungen in ähnlicher M^eise, wie sie beim Schwindel aiiftrcten. Es kommt nament- lich vor, dass ein Mensch bei Degeneration im Kleinhirn nach rückwärts läuft. Er ist dabei vollkommen bei Bewusstsein und gibt Rechenschaft, er müsse nach rückwärts laufen, Aveil er das Gefühl habe, er würde sonst 74 Gehirn. nach rückwärts hinstürzen. Es kommt auch vor, dass solche Kranke in Folge ähnlicher Wahnvorstellungen nach vorwärts laufen. Sie müssen dies thun, weil sie das Gefühl haben, dass sie sonst vornüber fallen würden. Ich habe ferner einmal auf der Abtheilung des verstorbenen Professors Türk eine Kranke gesehen, die nach einem heftigen Schreck, den sie im Jahre 1848 erlitten, von statischen Krämpfen befallen wurde. Das Mädchen, das anscheinend ganz gesund im Bette lag, wälzte sich von Zeit zu Zeit mit dem Ausdrucke der Angst nach einer Seite herüber: fragte man, warum sie das thue, so sagte sie, sie habe das Gefühl, als ob das Bett aufgehoben und umgedreht würde, sie müsse sich also nach der andern Seite wälzen, um nicht aus dem Bette za fallen. Es unterliegt hiernach keinem Zweifel, dass beim Menschen er- fahrungsmässig Wahnvorstellungen subjectiv als Ursache erscheinen von Bewegungen, welche man als statische Krämpfe bezeichnet hat, und es ist wohl höchst wahrscheinlich, dass auch Thiere, wenn sie ähnliche Er- scheinungen darbieten, von Wahnvorstellungen beherrscht werden. Da, wo der Einfluss der Wahnvorstellungen mit Wahrscheinlichkeit aixsge- schlossen werden muss, ist man noch nicht berechtigt, sich ohne Weiteres der Lähmungshypothese zuzuwenden. Es handelt sich allgemein genommen darum, dass eine Kette von Impulsen im Gehirn und durcbs Gehirn ab- läuft, und dass in ihr, nicht in der Lähmung, die oft gar nicht vorhanden ist, die wesentlichen Ursachen liegen für den anomalen Typus der Be- wegungen. Es wird von dem Wege dieser Kette und von dem jeweiligen Zustande des Gehirns abhängen, ob Glieder derselben als Wahnvorstellungen zum Bewusstsein gelangen, die dann von solchen Individuen, welche Rechenschaft geben können, als Grund der Bewegungen anerkannt werden. Es gibt vielleicht Eollbewegungen, welche blos davon herrühren, dass die eine Seite gelähmt ist, und dass das Thier sich mit der andern Seite aufrichten will. Aber alle Eollbewegungen kann man nicht so erklären, und auch nicht alle Manegebewegungen lassen sich ausschliesslich aus dem unvollkommenen Gebrauche der einen Hälfte der Extremitäten er- klären, denn man sieht manchmal aus der bleibend abnormen Stellung des Kopfes der Thiere und der Verdrehung der Augen, dass dieselben von Wahnvorstellungen beherrscht sind, in welchen sie die Lage ihres Körpers zu den Aussendingen nicht richtig beurtheilen. In sehr interessanter Weise kann man solche Zustände bei Thieren verfolgen, denen man das Gehirn gar nicht verletzt, sondern blos einen oder den andern Bogengang des Gehörorgans. Fl Dürens machte vor einer langen Beihe von Jahren die Ent- deckung, dass Tauben, denen ein Bogengang angeschnitten wird, anomale Stellungen annehmen und anomale Bewegungen ausführen. Ich will hier einen Auszug aus den Resultaten, die Flourens erhielt, mittheilen, wie ihn Professor Goltz in Pflüger's Archiv gegeben hat. Hier heisst es: „Wenn man bei einer Taube den am oberflächlichsten gelegenen horizon- talen Bogengang abschneidet, so macht das Thier unmittelbar darauf Be- wegungen des Kopfes von rechts nach links und umgekehrt. Ueberlässt man hierauf das Thier sich selbst, so hören diese Bewegungen nach einiger Zeit auf. Sobald man aber denselben Bogengang auf der andern Seite auch durchtrennt, treten jene Bewegungen mit verstärkter Leb- haftigkeit auf. Setzt man die Taube auf den Boden, so dreht sie nicht Gehirn. 7ö blos den Kopf nach rechts und links, sondern häufig folgt auch der Rumpf derselben Richtung, so dass das Thicr rechts oder links sich im Kreise herumdreht. Die geschilderten Bewegungen gehen fast unaufhörlich vor sich. Hat sich das Thier beruhigt, so beginnen die Bewegungen sofort wieder, wenn die Taube in irgend einer Weise erregt wird. Je heftiger das Thier gereizt wird, um so stürmischer werden die merkwürdigen Bewegungen. Durchschneidet man bei einer Taube einen der senkrecht gerichteten Bogengänge, so macht das Thier auch Bewegungen des Kopfes, aber diese gehen jetzt in einer andern Ebene vor sich, als bei dem vorhin beschriebenen Versuch. Ein Thier mit durchschnittenen senkrechten Bogen- gängen bewegt den Kopf fortwährend von oben nach unten, oder von unten nach oben. Dem entsprechend hat es die Neigung sich vorwärts oder rückwärts zu überkugeln. Aehnlich wie im früher erwähnten Falle werden auch hier die Bewegungen lebhafter, wenn man das Thier irgend- wie beunruhigt. Durchtrennt man mehr als einen Bogengang, so beob- achtet man Störungen, welche sich zusammensetzen aus den verschiedenen Störungen nach Durchschneidung einzelner Bogengänge. Mögen mm die senkrechten oder wagrechten Bogengänge verwundet sein, immer verlieren die Thiere die Fähigkeit zu fliegen. Nur mit Mühe vermögen sie Nahrung selbstständig aufzunehmen. Sich selbst überlassen pflegen sie ungern den Standort zu wechseln. Macheu sie eine freiwillige Fortbewegung, so wird die Erreichung eines Zieles durch jene sofort auftretenden Drehbewegungen des Kopfes und Rumpfes erschwert oder unmöglich gemacht. Man erhält dabei den Eindruck, als wenn die Thiere vom Schwindel ergriffen werden. Flourens hat verschiedene von ihm operirte Tauben Jahre lang am Leben erhalten, ohne dass sich in den räthselhaften Erscheinungen, die sie darboten, etwas geändert hätte. Die Drehungen des Kopfes treten übrigens erst dann ein, wenn man nach Durchtrennung der knöchernen auch die häutigen Bogengänge angeschnitten hat. Eine Verletzung, die sich auf die knöchernen, halbz irkeiförmigen Kanäle beschränkt, führt die beschriebenen Störungen nicht nach sich. Wenn Flourens sich nicht damit begnügte, die Bogengänge zu durchschneiden, sondern grössere Stücke derselben ganz und gar zerstörte, so verloren die Thiere voll- ständig das Gleichgewicht, vermochten nicht einmal zu stehen, geschw^eige denn sich regelmässig fortzubewegen. Nach wilder Rollbewegung und Ueberkugelung gingen solche Thiere zu Grunde. Die beschriebenen räthsel- haften Bewegungsstörungen Hessen sich in ganz derselben Weise beob- achten, wenn Flourens die Bogengänge bei Tauben verletzte, denen er einige Zeit vorher die Halbkugeln des grossen Gehirns fortgenommen hatte. Der Entdecker dieser wunderbaren Erscheinimgen überzeugte sich ferner durch sorgfältige Prüfungen, dass Tauben mit verletzten Bogengängen fort- während das Gehör behalten, während Thiere, bei denen man die Schnecken beschädigt, taub werden, ohne Bewegungsstörungen zu zeigen. Ausser an Tauben hat Flourens dieselben Versuche an vielen Vögeln der verschie- densten Arten mit demselben Erfolge wiederholt, und auch Kaninchen zeigten im Wesentlichen dieselben Störungen nach Verletzung der Bogen- gänge." Diese Angaben von Flourens sind bestätigt worden von Har- less, Czermak, Brown-Sequard, Vulpian und Goltz. Goltz zeigte die in Rede stehenden Erscheinungen auf der Naturforscherversammlung zu Innsbruck tmd seitdem sind überall Tauben nach der Methode von Floureng 76 Gehirn. operirt und hier in Wien von Breuer ausführliclie Untersuchungen an solchen angestellt worden. Besonders interessant ist es, zu sehen, wenn die Thiere den Kopf in der Weise verdrehen, dass die untere Seite des Schnabels nach oben gewendet ist, bisweilen mit solcher Beharrlichkeit, dass, wenn man ihnen Putter darbietet, sie dasselbe so aufnehmen, dass sie mit dem Kopfe verkehrt in das Futter hineingehen und die Körner erfassen. Wenn man übrigens solchen Thieren den Kopf eine Weile aufrecht erhält, so beruhigen sie sieh, sie machen auch keine Anstrengungen den Kopf wieder in die alte Lage zurückzubringen. Man kann sie dann loslassen und sie halten den Kopf in seiner natürlichen Lage. Wenn sie aber gereizt werden, fangen sie an den Kopf wieder zu verdrehen, und haben sie dies gethan, so bleiben sie in dieser Lage, bis man sie wieder aufrichtet und beruhigt. Diese Erscheinung ist für uns von grosser Wichtigkeit. Sie zeigt, dass wir es nicht mit Zwangsbewegungen im eigentlichsten Sinne des Wortes zu thun haben, mit Bewegungen, bei welchen durch unwill- kürliche Muskelcontractionen der Kopf in eine andere Lage gebracht würde, denn diese Muskelcontractionen müssten gefühlt werden, wenn man dem Thiere den Kopf hält. Dies ist aber nicht der Fall. Sie halten den Kopf vollkommen ruhig. Man kann die Hand wegnehmen und der Kopf bleibt in seiner Lage. Das Thier wird also durch Wahnvorstellungen dahin ge- bracht, den Kopf in dieser Weise zu verdrehen. Dafür spricht auch der Umstand, dass es, sobald es beunruhigt wird, den richtig gestellten Kopf in die falsche Lage zurückzuführen pflegt. Schon vor den neueren Untersuchungen über unseren Gegenstand führte der französische Ai'zt Meniere, gestützt auf die Angaben von Flourens, gewisse Bewegungsanomalien, die mit starkem Schwindelgefühl einhergingen, auf Störungen in den Bogengängen und im Gebiete des Ner- vus vestibuli zurück. Seine Ansieht hat sich seitdem vollständig bestätigt und man nennt das Leiden nach ihm die Meniere'sche Krankheit. S. Exner hat dieselbe auch mehrmals an Kaninchen beobachtet. Sie ging von einer Eiterung in der Trommelhöhe aus. Das Gehirn war in allen Fällen voll- kommen gesund. Flourens fand, wie oben erwähnt, dass die Thiere, denen er auf beiden Seiten die Schnecke und den Schneckennerven zerstörte, ausnahmslos taub wurden, dass aber Zerstörung des Nervus vestibuli nicht den gleichen Erfolg hatte, wie auch mit der Meniere' sehen Krankheit nicht nothwendig Taubheit desselben Ohres verbunden ist. Er zog daraus den richtigen Schluss, dass der sogenannte Nervus acusticus aus zwei ganz verschiedenen Nerven bestehe, und dass nur der Nervus Cochleae Gehörnerv sei. Vom Nervus vestibuli sagte er, er repräsentire ein neues Hirnnervenpaar, das unsere Bewegungen regulire. Beim Menschen sind beide Nerven in ihrem Stamme nicht getrennt, wohl aber in ihrem Ursprünge, indem der Gehör- nerv ausschliesslich aus der Medulla oblongata, theils als Stria acustica, theils aus dem Tuberculum laterale hervorgeht, während der Nervus vesti- buli in seinem centralen Verlaufe zu einem Theile in die Medulla oblon- gata, zum anderen bis in das kleine Gehirn verfolgt ist. Beim Schafe sind, wie Horbaczewski gefunden hat, beide Nerven, die sich auch durch die Beschaffenheit ihrer Fasern unterscheiden, in ihrem ganzen Verlaufe vollständig von einander getrennt, während beim Menschen nach Retzius der anatomische Ramus vestibuli nur den Utriculus, die AmpuUa sagittalis Gehirn. 7 i und die Ampulla horizontalis versorgt, der Ramus Cochleae dagegen die AmpuUa frontalis, den Saeculus und die Cochlea. Wir müssen also Flourens vollkommen beistimmen und können seine Angabe mit Breuer und Mach dahin erläutern, dass der Einfluss auf die Bewegungen dadurch geübt wird, dass der Nervus vestibuli uns unbewusst Sensationen zuführt über Be- schleunigungen, die unserem Körper mitgetheilt werden, und über das Auf- hören derselben. Der Nervus vestibuli hat auch in seinem Stamme eine Anhäufung von Ganglienzellen, ähnlich dem Wurzelganglion anderer sen- sibler Nerven. Es muss indessen bemerkt werden, dass uns solche Sensa- tionen nicht ausschliesslich durch den Nervus vestibuli zukommen, sondern auch durch den Opticus und durch die sensiblen Nerven unserer Glied- massen. Es ist bekannt, dass manche Bückenmarkskranke, bei denen die Sensibilität in den Beinen gesunken oder verloren gegangen ist, umfallen, wenn ihnen die Augen verbunden sind. Man muss aus dieser Thatsache weiter den Schluss ziehen, dass die Sensationen, die vom Nervus vestibuli ausgehen, uns nicht so prompt zukommen, wie es für die Erhaltung des Gleichgewichts ohne andere Hilfsmittel nothwendig ist, wenn wir nicht annehmen wollen, dass durch die Krankheit auch schon die Eunctions- fähigkeit der Nervi vestibuli gelitten hat, oder dass der Kranke wegen der Schwäche seines motorischen Systems mit Hilfsmitteln nicht ausreicht, die dem Gesunden genügen würden — Annahmen, die allerdings nicht von vornherein ausgeschlossen werden können. Gewiss ist nur, dass für das Gleichgewichtsgefühl und die Sicherheit der Ortsbewegungen die Inte- grität der Nervi vestibuli und ihrer Endapparate nothwendig ist; denn, wie oben erwähnt, zeigten die Tauben von Flourens ihre anomalen Be- wegungen noch nach Jahr und Tag, nachdem also alle Reizungserscheinungen längst geschwunden sein mussten und nur die gesetzte Zerstörung noch in Betracht kam. Ueber das kleine Gehirn haben wir nur dürftige Kenntnisse. Eines ist ausser Zweifel, das kleine Gehirn steht in einem gewissen Zusammen- hange mit der Coordination der Bewegungen. Wir haben gesehen, dass ein Huhn, dem man die Hemisphären des grossen Gehirns abgetragen hat, seine Bewegungen im Allgemeinen noch in ähnlicher Weise coordinirt, wie ein unverletztes, dass es auf Kneipen mit Reflexbewegungen antwortet, mit Versuchen zu entfliehen, die ganz so geordnet sind, wie sonst. Ganz anders aber verhält es sich, wenn man ihm das Kleinhirn weggenommen hat. Ein solches Thier stolpert, fällt hin, wenn es gereizt wird, schlägt mit den Flügeln, strampft mit den Beinen, macht eine Reihe unregel- mässiger Bewegungen, die keineswegs den Charakter der Zweckmässigkeit haben, wie man sie an Thieren sieht, die noch im Besitze ihres Klein- hirns sind. Nach den Versuchen, die Nothnagel an Kaninchen angestellt hat, handelt es sich dabei wesentlich um die Unterbrechung der Verbindung von Wurm und Kleinhirnhemisphäre in der Tiefe des Organs, beziehungs- weise um gleichzeitige Zerstörung der tiefen Partien des Wurmes und der einen oder der andern Hemisphäre. In der oberen vorderen Partie des Wurmes oder auch an den Hemisphären können Verletzungen hervoi'gebracht werden, die als solche keine Coordinationsstörungen zur Folge haben. Es ist wohl mehr als wahrscheinlich, dass das Coordinationscentrum im Kleinhirn im Zusammenhange steht mit der aus dem Kleinhirn kom- menden Wurzel des Nervus vestibuli, und dass Erregungen des Nervus 78 Gehirn. vestibuli auf dieses Centrum wirken. In wie weit aber bewusste Vorstel- lungen von Scheinbewegungen, wie sie z. B. beim. Drehschwindel eintreten, Vorgängen im Kleinhirn, uifd in wie weit sie Vorgängen im Grosshirn entsprechen, ist unbekannt ; jedenfalls ist letzteres mit betheiligt, da es Gesichtsempfindungen sind, die in der Wirklichkeit nicht entsprechende Vorstellungen umgesetzt werden. Beim Menschen sind bei Degenerationen im Kleinhirn Coordinations- störungen häufig, aber bei einseitigen und oberfiächlichen Degenerationen nicht immer beobachtet worden. Häufig ist schwankender Gang: er ist wie der eines Betrunkenen. Der, bei dem der Gang durch eine Rücken- marksafi'ection unsicher geworden ist, bewegt sich geradlinig fort, zögernd und unsicher wie der Seiltänzer, der ohne Balancirstange das Seil entlang geht, oder er schleudert und stampft mit den Beinen, aber er beschreibt nicht wie ein Betrunkener und wie der Kleinhirnkranke im Gehen auf dem Boden eine Wellenlinie. Zweitens hat man das kleine Gehirn mit den Geschlechtsfunctionen in Zusammenhang gebracht. Es sind einige pathologische Beobachtungen gemacht worden, die darauf hiiideuten. Serres fand, dass bei apoplek- tischen Ergüssen ins Kleinhirn, speciell in den Wurm, Ereetion des Penis eintritt, und er hielt dies für so constant, dass er Ereetion des Penis bei apoplektischen Anfällen für ein sicheres Kennzeichen davon hielt, dass der Erguss in den Wurm stattgefunden habe. Ferner beobachtete Larrey, der berühmte Chefchirurg der napoleonischen Armeen, dass ein Soldat, dem in Egypten das kleine Gehirn verletzt worden war, sein Geschlechts- vermögen verlor und ihm die Hoden atrophisch wurden. Es hat sich indessen diese Theorie nicht halten lassen, wesentlich wegen einer Beob- achtung, die in Paris im Hospice des orphelins gemacht wurde. Eine Kranke, eine gewisse Alexandrine Labrosse, die bis zu ihrem Ende der Onanie ergeben war, starb. Bei der Obduction wurde kein Kleinhirn ge- funden, sondern an Stelle desselben Flüssigkeit und eine gallertartige, halb- zirkelförmige Membran. Verletzung des Wurms erzeugt bei Kaninchen, wie Eckhard nach- gewiesen hat, reichliche Absonderung von sehr verdünntem Harn, so- genannte Hydrurie oder, wie man sich auch wohl ausdrückt, Diabetes insipidus. Ich kann das Gehirn nicht verlassen, ohne der Setschenow' sehen Theorie von dem grossen Hemmungscentrum zu erwähnen. Setschenow ist der Ansicht, dass sich in den unteren Theilen der Sehhügel, dann in den Corpora quadrigemina und zum Theil auch noch im obersten Ende der MeduUa oblongata ein grosses Centrum befinde, von dem Hemmungs- nerven ausgehen, welche die Auslösung von Reflexbewegungen erschweren, beziehungsweise hindern können. Die Versuche, welche er anstellte, um seine Lehre zu erweisen, sind folgende. Er macht einem Frosche zuerst einen Schnitt, durch den er die Hemisphären an ihrem hinteren Ende quer durchschneidet, so dass er den grössten Theil derselben abtrennt. Das hat nur den Zweck, dass das Thier keine willkürlichen Bewegungen in der Weise wie ein unversehrter Frosch mache. Ein solcher Frosch lässt die Beine herunterhängen. Nimmt man mit wenig Schwefelsäure angesäuertes Wasser (nur so, dass es sauer schmeckt) und hängt die eine Pfote hinein, so zieht er sie nach einio;en Secunden hei'aus. Die Zahl derselben notirt Gehirn. 79 man. Dann schneidet man dem Frosche das Gehirn im oberen Theile der Medulla oblongata ab, und macht man jetzt denselben Versuch, so findet man, dass er dann nach kürzerer Zeit das Bein herauszieht, dass also die Reflexbewegung leichter ausgelöst wird. Man muss sich hier das Auslösen der Reflexbewegung in einer Weise denken, wie wir es später noch häufig kennen lernen werden, durch sogenannte Summirung der Reize: dadurch, dass ein schwächerer Reiz längere Zeit einwirkt, summiren sich die Wir- kungen, so dass endlich die Reflexbewegung ausgelöst wird. Wenn die Reflexbewegung leichter erfolgt, so ist die Zeit, welche zu ihrer Auslösung erforderlich ist, kürzer, weil die zu erzielende Reizsumme kleiner ist. Jetzt nimmt er einen anderen Frosch und macht diesem einen Schnitt zwischen die Sehhügel und Vierhügel und bringt Kochsalz auf die Schnitt- fläche. Vorher hatte er die Zeit notirt, nach der er nach Abtragung der Hemisphären das Bein herauszog. Dann findet er, dass er das Bein lang- samer herauszieht, so dass die Zeit, in welcher sich die Reize summiren, grösser ist als bei einem normalen Frosche. Er sagt: das eine Mal habe ich das ganze Hemmungscentrum vom Rückenmarke abgetrennt und des- halb ist die Reflexbewegung leichter erfolgt ; das andere Mal habe ich das Hemmungscentrum durch Kochsalz chemisch gereizt, dadurch dasselbe erregt, es ist also die Reflexbewegung gehindert worden, der Reflex wurde später ausgelöst als unter normalen Verhältnissen. Wir wollen hier nicht eingehen in die Controverse, zu welcher diese Lehre, gegen die namentlich Herzen aufgetreten ist, Veranlassung gegeben hat. Wir wollen nur ganz allgemein die Angabe festhalten, dass im Ge- hirne Centra enthalten seien, von denen Wirkungen ausgehen, welche die Auslösung von Reflexbewegungen erschweren oder verhindern können. Unzweifelhaft ist es, dass vom Gehirne aus Reflexbewegungen entgegen- gewirkt werden kann ; das lehren die Erfahrungen des täglichen Lebens. Man kann bis zu einem gewissen Grade willkürlich das Husten unter- drücken, man kann sich bei schmerzhaften Empfindungen des Schreiens erwehren u. s. w. Aber man kann bis jetzt nicht sagen, dass das Bereich dieser Gegenwirkungen beim Menschen mit Bestimmtheit begrenzt wäre, und die Apparate und die Bahnen, in denen sie ablaufen, sind nicht mit Bestimmtheit bekannt. Es ist auch die Mechanik dieser Hemmungen nicht immer dieselbe. In überaus zahlreichen Fällen findet die Hemmung an der Peripherie statt, indem Antagonisten der Muskeln, welche die Reflex- bewegung ausführen sollen, contrahirt werden, oder indem die Reflex- bewegung durch sonstweiche mechanische Mittel verhindert wird, wie z. B. wenn wir die Lippen nicht nur zusammenpressen, sondern sie auch mit den Zähnen festhalten, um nicht zu lachen. Sehen wir von diesen bewussten Hemmungen ab und bleiben bei dem seiner Hemisphären beraubten Frosche stehen, so bietet unser Gegen- stand der Betrachtung noch eine andere Seite dar. Man muss die von Setschenow und von Herzen beobachteten Er- scheinungen in Zusammenhang bringen mit denjenigen, welche Brown- Sequard und Türk schon früher nach halbseitiger Durchschneidung des Rückenmarks beobachtet hatten. Türk fand, dass pathologische Entartungen in der Weise in beiden Seiten des Rückenmarks fortgeschritten waren, dass sie beiderseits über die Mittelebene hinausgingen. Sie lagen dabei noch A^erhältnissmässig nahe aneinander. Hier müsste also jede directe, auf dei*- 80 Gehirn. selben Seite verbleibende Längsleitung irgendwo unterbrochen sein, und doch war während des Lebens keine Erscheinung vorhanden, die darauf hindeutete. Es könnte hienach auf den ersten Anblick scheinen, als ob die Leitung im Eüekenmarke keine bestimmte, im Allgemeinen vorge- schriebene Bahnen hätte, sondern dass sie auf jeder beliebigen Bahn im Rückenmarke fortzuschreiten vermöchte, so lange nur noch eine Substanz- brücke vorhanden ist, durch die sie hindurchgehen kann. Man könnte hierbei an das Gerlach'sche Ketz von Kervenfasern denken, das das ganze Rückenmark durchsetzt. Aber dieser auffallende Befund und der Gegen- satz desselben zu den Erscheinungen im Leben hängt offenbar damit zu- sammen, dass sich im Laufe der Zeiten, ebenso wie sieh die Degenerationen bildeten, auch neue Nervenbahnen gebildet haben, auf welchen nun Impulse fortgeschritten sind, die im gesunden Rückenmarke diese Wege nicht nahmen. Dies geht daraus hervor, dass man andere Resultate erhält, wenn man am Rückenmarke Schnitte anlegt. Wenn man einem Frosche die eine Hälfte des Rückenmarks bis zur Mittelebene durchschneidet, so wird das Bein an der Seite, wo der Schnitt im Rückenmarke gemacht wurde, unvollkommen gelähmt; dies sagt also, dass die Kreuzungen der Bahnen, welche vom Gehirne zu den motorischen Nerven gehen, verhältnissmässig hoch oben stattfinden, und dass dann die motorischen Bahnen auf derselben Seite verlaufen, auf der sich die Gan- glienkörper befinden, die den motorischen Nerven derselben Seite als Ur- sprung dienen. Wie steht es nun mit der Empfindlichkeit? Dasselbe Ver- fahren, welches später Setschenow anwandte, um die Reflexerregbarkeit zu untersuchen, nämlich das Eintauchen der Zehen des Frosches in sehr verdünnte Schwefelsäure, wendete damals schon Türk bei Fröschen an, denen er das Rückenmark in der früher angegebenen Weise durchschnitten hatte. Er fand, dass das Bein der anderen Seite unterempfindlich war, d. h. dass dieses später als im normalen Zustande aus der verdünnten Schwefelsäure herausgezogen wurde. Dieselbe Unterempfindlichkeit an der unverletzten Seite zeigte sich auch bei Kaninchen. Wenn man diesen die Halbscheid des Rückenmarks durchschnitten hat, wird das Bein derselben Seite unvollkommen gelähmt, das der anderen Seite wird unterempfindlich. Beim Kneipen der Haut zeigen sich später Sehmerzensäusserungen, als im normalen Zustande. Fragt man, was dies bedeute, so kann man nichts Anderes antwor- ten, als dass sensible Bahnen kurze Zeit, nachdem sie in das Rückenmark eingetreten sind, auf die andere Seite sich begeben und dann in dieser Seite nach aufwärts laufen, so dass durch den Schnitt Hautnerven der anderen Seite ausser Communication mit dem Gehirne gesetzt wurden. Wie verhält sich aber das unvollkommen gelähmte Bein in Rück- sicht auf seine Empfindlichkeit? Es erweist sich sowohl bei den operirten Fröschen, als bei den operirten Kaninchen als überempfindlich. Der Frosch zieht dieses Bein nach kürzerer Zeit aus der verdünnten Schwefelsäure heraus, als er es früher gethan hat. Das Kaninchen äussert schon bei massigem Kneipen der Haut Schmerzen, und wenn man dieselbe unter stärkerem Drucke zwischen den Fingern wälzt, so schreit es laut, wie es ein gesundes Thier unter gleichen Umständen nicht zu thun pflegt. Wir haben also hier eine ähnliche Ueberempfindlichkeit, wie sie sich bei dem Setschenow'sehen Versuche zeigte. Es werden Reflexbewegungen auf der Gehirn. öl verletzten Seite leichter ausgelöst, und zwar nicht nur durch chemische, sondern auch durch tactile Reize. Beim Frosche könnte man dies so er- klären, dass der Schnitt das Reiiexcentrum vom Hemmungscentrum getrennt hat. Für das Schreien des Kaninchens aber ist diese Erklärung unzulässig, da hier das Reflexcentrum in der Medulla oblongata liegt, also dm*ch den Schnitt im Rückenmarke nicht vom Hemmungscentrum getrennt sein konnte. Auch an Menschen sind nach A'erwundungen eines Seitenstranges des Rückenmarks analoge Erscheinungen beobachtet, in einzelnen Fällen sogar vollständige Anästhesie auf der einen Seite und Lähmung nebst Ueber- empfindlichkeit auf der andern Seite. Auf der anästhetischen, also der nichtverwundeten Seite, war der Kraftsinn, das heisst das Unterscheidungs- vermögen für zu hebende Gewichte immer erhalten. Es gibt dafür zweier- lei Erklärungen : erstens die Annahme, dass die empfindenden Nerven der tieferen Theile im Rückenmarke andere Wege gehen als die Haut- nerven, und zweitens die Annahme, dass der Patient die Gewichte sehätzt nach der Grösse der Intentionen, der Willensimpulse, welche er braucht, um sie zu heben, ähnlich wie ein Billardspieler die Kraft seines Stosses schon im Voraus abmisst, noch ehe ihm aus demselben irgend eine tactile Erfahrung erwachsen ist. Beim Menschen scheinen die Hautnerven des Rumpfes eine ziemliche Strecke lang auf derselben Seite zu verlaufen. Dell'Armi sah einen jungen Menschen, der zwischen den Dornfbrtsätzen der Wirbelsäule und dem linken Schulterblatte durch einen Stich verwundet war. Das linke Bein war gelähmt, das rechte gefühllos ; aber die Anästhesie reichte rechts nur bis zur Schenkelbeuge, von da nach aufwärts befand sie sich auf der linken Körperhälfte sowohl an der Bauch-, als an der Rückenseite. In einem Falle, den Senator beschrieb, befand sich ein Herd in der linken Hälfte der Medulla oblongata, und hier war auch die Anästhesie am Rumpfe rechtsseitig, ebenso an der oberen und der unteren Extremität. Dabei war aber die linke Gesichtshälfte empfindungslos, was sich daraus erklärte, dass der Herd auch die linke aufsteigende Trigeminuswurzel umfasste. lieber den Grund der IJeberempfindliehkeit, der vermehrten Schmerz- empfindliehkeit und der vermehrten Reflexerregbarkeit, auf der verwun- deten Seite haben auch die Erfahrungen am Menschen keinen genügenden Aufschluss gegeben. Man weiss nicht, in wie w^eit sie in den einzelnen Fällen von dem durch gleichzeitige Durchtrennung vasomotorischer Nerven vermehrten Blutreichthum abhängig war, wie weit sie auf Reizerscheinungen, wie weit sie auf Lähmung zurückgeführt werden musste. Bei Hunden scheinen nach den Versuchen von S. Stricker und N. Weiss verschiedene sensible Nerven einer und derselben Pfote in ver- schiedenen Höhen auf die andere Seite überzutreten. Ein Hund, bei dem Alles bis auf den linken Seiten- und Yorderstrang durchschnitten war, winselte bei starkem Druck auf die Hinterpfote, gleichviel ob es die rechte oder die linke w^ar. Wir gehen zu dem verlängerten Marke, zur Mediilla oblongata über. Wenn man den Boden des vierten Ventrikels ansieht, so findet man unter den Uuerfasern des Acusticus, in der Mitte des Bodens des vierten Ven- trikels, eine keilförmige Partie von weisser Substanz. Nach aussen davon sieht man in Gestalt eines Mottenflügels eine graue Partie liegen, Arnold's Brücke. Vorlesungen. JI. 4. Auü. G 82 Verlängertes Mark. Ala cinerea. Diese graue Partie ist der Kern, aus dem ein mächtiger Nerv, der Nervus vagus, hervorgeht. Die Partie von dieser Ursprungs- stelle nach abwärts, beim Kaninchen 'etwa bis 3 Mm. nach abwärts, ist der sogenannte Lebensknoten von Flourens. Plourens fand, dass der plötzliche Tod, welcher eintritt, nachdem man an dieser Stelle eingestochen, von Sistirung sämmtlicher Respirationsbewegungen herrühre. Tlourens hat sich mit der Physiologie dieser merkwürdigen Stelle der Medulla oblongata eingehend beschäftigt. Er fand, dass die Eespirationsbewegungen fortdauern, wenn man das Centralorgan irgendwo oberhalb dieser Region durchschneidet, und dass dieselben theilweise fortdauern, wenn man das Rückenmark irgendwo unterhalb dieser Stelle durchschneidet. Es bleiben dann diejenigen Respirationsmuskeln in Thätigkeit, welche ihre Nerven aus Partien des Rückenmarks beziehen, die noch in Zusammenhang mit der Medulla oblongata, also mit dem Lebensknoten stehen. Es stellen dagegen diejenigen Respirationsmuskeln ihre Action ein, die ihre Nerven aus Partien des Rückenmarks beziehen, welche nicht mehr mit der Me- dulla oblongata in Zusammenhang stehen. Indessen stehen einige Angaben neuerer Zeit nicht ganz im Einklänge mit den Resultaten von Flourens. Prok. Rokitansky fand, dass Thiere, denen die Medulla oblongata durchschnitten ist, nach Einspritzung von Strychnin vorübergehend wieder Athembewegungen machen. Er glaubt, dass Athemcentra tiefer hinab- reichen, die nach Trennung der Medulla oblongata nicht selbstständig func- tioniren, aber diu'ch Strychnin vorübergehend angeregt werden. Auch die obere Grenze der Athmungscentra scheint noch nicht genau bekannt zu sein. Thiere, denen das Mark im Pons Varolii durchschnitten ist, athmen nach Prok. Rokitansky oft nur kurze Zeit, wenn die Athmung nicht von Zeit zu Zeit durch künstliche Respiration und die dadurch beschleu- nigte Circulation wieder angefacht wird. Auch hier lassen sich nach dem Aufhören der Athembewegungen durch Strychnineinspritzung neue hervor- rufen. Athembewegungen in schwacher Strychninnarkose beobachtete auch Langend orf nach Abtrennung der Medulla oblongata. Seiner Meinung nach liegt das eigentliche Centrum für die rhythmischen Athembewegungen nicht in letzterer, sondern im Rückenmark. Er bringt es in Zusammen- hang mit den Ganglienzellen, aus welchen der Phrenicus seinen Ursprung nimmt. Nach seinen und Prok. Rokitansky's Beobachtungen ist wohl die Thätigkeit rhythmisch auf das Zwerchfell wirkender Gebilde im Rücken- mark sichergestellt, aber es ist dadurch nicht ausgeschlossen, dass diese Thätigkeit während des Lebens von der Medulla oblongata aus angeregt wird. Man muss beides streng auseinanderhalten, dann verlieren die alten Versuche von Flourens nichts von ihrer Bedeutung. In früherer Zeit, ehe man die Ludwig'sche Methode, Thiere mit Opium zu narkotisiren, kannte, und ehe man Aether, Chloroform, Chloralhydrat und andere Be- täubungsmittel kannte, wurde für physiologische Zwecke häufig die Medulla oblongata durchschnitten und dann künstliche Respiration eingeleitet, um die Circulation im Gange zu erhalten und so an dem Thiere noch als an einem lebenden experimentiren zu können. Ein anderes wichtiges Centrum im verlängerten Marke ist das für die vasomotorischen Nerven. Schon frühere Beobachtungen von Ludwig hatten darauf hingewiesen, dass im verlängerten Marke ein Centrum für die vasomotorischen Nerven sei, in der Weise, dass von demselben dauernd Verlfingertes Mark. 83 Impulse ausgehen, denen die Gefässwände ihren Tonus verdanken, d. h. den normalen Contractionszustand ihrer Muskelelemente. Andererseits zeigte sich dieses Centrum auch als ein reflectorisches, indem durch Erregung desselben von der Peripherie aus Zusammenziehungen in den Gefässen hervorgerufen wurden. Nach den Untersuchungen, welche Owsjannikoff und später Dittmar im Ludwig'schen Laboratoi-ium angestellt haben, ist über die Existenz eines solchen vasomotorischen Centrums in der Medulla oblongata kein Zweifel mehr vorhanden; zweifelhaft ist dessen untere Grenze, indem gewisse Versuchsresultate zu der Vermuthung geführt haben, dass auch noch weiter nach abwärts im Mark Apparate vorhanden sind, welche zur E-egulirung des Tonus der Gefässwandungen dienen. Auch die obere Grenze ist nicht mit Sicherheit bekannt. Verletzungen und Extravasate im Pens, den Vierhügeln, in den Sehhügeln und Fig. 22. Streifenhügeln haben veränderten Zustand der Gefässe der Haut, angeblich auch Blutungen in den Eingeweiden zur Polge gehabt. w Die meisten Beobachtungen beziehen sich auf Gefässerweiterung auf der gelähmten Seite hemiplektischer Individuen; man weiss aber nicht, in wie weit man es hier mit directer Lähmung, in wie weit mit Reflexlähmung, das heisst mit hemmender, mit de- primirender Einwirkung auf das Centrum in der Medulla oblon- gata zu thun hatte. Ein drittes singuläres Gebiet in der Medulla oblongata hat vor einer Reihe von Jahren Bernard gefunden. Er durchstach das verlängerte Mark an einer bestimmten Stelle und brachte da- durch künstlich Diabetes mellitus hervor. Er bediente sich hiezu eines meisselförmigen Instrumentes,- das er später so modificirte, dass er von der in querer Stellung eindringenden Schneide des- selben einen Dorn (Eigur 22) ausgehen Hess, der dazu diente, (Jas Instrument nur bis zu einer gewissen Tiefe in die Medulla oblongata eindringen zu lassen, damit keine stärkere Verletzung hervorgebracht werde, als sie zur Erzeugung des Diabetes nöthig ist. Uni den richtigen Punkt zu treffen, sucht Bernard bei einem Kaninchen die kleine flache Erhabenheit am Hinterhatiptc auf, welche am Kaninchenkopfe mit Leichtigkeit zwischen den Ohren zu fühlen ist. Diese Erhabenheit hat nach hinten eine kleine Depression, die man gleichfalls durch die Bedeckungen leicht hindurchfühlen kann. In diese Depression stösst er den Meisscl ein und führt ihn dann an der Rückwand des Hinterhauptes nach abwärts. Dadurch gelangt er mit dem Meissel zwischen Knochen ' und Kleinhirn hindurch, ohne dass letzteres verletzt wird, und ^ ' nun dringt der Meissel in die Medulla oblongata ein. In Eolge n , dieser Operation tritt Diabetes mellitus mit allen seinen Erschei- [ [ nuugen auf. Die Blase füllt sich rasch, der sich darin ansammelnde Urin ist zuckerhaltig und die Secrction ist dauernd vermehrt. Die Thicrc gehen theils zu Grunde, theils kommen sie davon. Es hängt dies von der Grösse der Verletzung ab, die sie erlitten haben. Bei den Thieren, die davon kommen, bessert sich der Diabetes und verschwindet endlich ganz, bei denen, die zu Grunde gehen, pflegt der Diabetes mellitus auch zu verschwinden, ehe sie sterben. Es ist sehr viel über die Ursache dieser Erscheinungen experimentirt worden, die, als sie bekannt wurden, das 6* 84 Verlängertes Mark. grösste Aufsehen machten. Man glaubte zuerst, dass die Wirkung dieser mit dem !Namen der Piqure bezeichneten Operation darin begründet sei, dass der Vaguskern getroffen und in Folge dessen der Respirationsact be- einträchtigt werde, dass deshalb der Zucker, der normaler Weise im Blute vorhanden, nicht wie gewöhnlich verbrannt werde, sich somit im Blute ansammle und durch die Nieren ausgeschieden werde. Bernard hat aber nachgewiesen, dass sich die Sache anders vei'hält. Erstens wird der Vagus- kern nicht getroffen. Zweitens merkt man den Thieren keinerlei Beein- trächtigung ihrer Respiration an. Drittens kann die Respiration gesunder Kaninchen beeinträchtigt werden, ohne dass sie diabetisch werden. Endlich kann man die Vagi selbst durchschneiden, ohne dass dadurch Diabetes hervorgerufen wird. Allerdings sahen spätere Beobachter bisweilen nach Durchschneidung der Vagi am Halse Diabetes auftreten, aber dies beweist nichts für die erwähnte Ansicht, da Eckhard fand, dass dieser Diabetes rasch vorübergeht, und Bernard's Angabe bestätigte, dass Vagusreizung regelmässig Diabetes erzeugt. Der bei der Durchschneidung beobachtete vorübergehende Diabetes kann also bei seiner Inconstanz mit mehr Wahr- scheinlichkeit von Reizung abgeleitet werden, die von der Durchschnitts- stelle ausgeht. Es handelt sich also nicht darum, dass der Zucker, der normaler Weise ins Blut gelangt, nicht in der gewöhnlichen Weise ver- brannt wird, sondern man muss vielmehr annehmen, dass eine ungewöhn- lich grosse Menge von Zucker in das Blut hineingelangte. Es fragt sieh nun, auf welche Weise dies geschieht. Es hat sich bis jetzt darüber keine bestimmte Meinung feststellen lassen, aber man hat Fingerzeige bekommen, durch welche Cyon und Adaloff zu einer Hypothese über die Ursache des Diabetes gelangt sind. Man hat gefunden, dass durch die Aus- schneidung des Ganglion cervicale inferius Diabetes erzeugt wird, und zwar geben Cyon und Adaloff an, dass dies von einer Hyperämie, die in der Leber eintritt, herrühre. Sie glauben deshalb, dass die vasomoto.- rischen Nerven der Leber, die ihr Centrum in der Medulla oblongata haben, durch die Rami communieantes aus dem Rückenmarke aus- und in den Sympathicus eintreten und so endlich zur Leber gelangen. In Folge der Lähmung dieser Nerven trete Hyperämie in der Leber ein, dadurch sei die reichlichere Zuckerbildung in derselben zu erklären und hieraus die grössere Zuckermenge im Blute, also der Diabetes. Sie geben an, dass dieser Diabetes nach Ausschneiden des Ganglion cervicale inferius aus- geblieben sei, wenn sie vorher den Splanchnicus durchschnitten hätten. Sie erklären dies so, dass durch die Durchschneidung des Splanchnicus, der bekanntlich die vasomotorischen Nerven für einen grossen Theil des chylopoetischen Systems führt, die Blutbahnen im Darmcanale erweitert und so für das Blut gewissermassen ein so breiter Nebenweg eröffnet worden sei, dass das Ausschneiden des Ganglion cervicale inferius jetzt keine Hyperämie in der Leber hervorgebracht habe. Es muss übrigens bemerkt werden, dass nach blosser Durchschneidung des Nervus splanchnicus auch Diabetes beobachtet wurde, wenn auch nicht immer. Auch ist Eckhard auf Grund seiner Versuche den Ansichten von Cyon und Adaloff entgegengetreten. Als ein merkwürdiges, aber auch bis jetzt ganz unerklärtes Factum ist hier nochmals Eckhard's Beobachtung zu erwähnen, dass reine Polyurie ohne Zuckerausscheidung entsteht, wenn man nicht die Medulla oblongata, aber den Wurm verletzt. Bewegungsnerven des Auges. ÖO Auch nach Verletzung einzelner anderer Theile des Nervensystems, als dem von Bernard bezeichneten, hat man Zucker im Urin auftreten sehen, aber nicht mit derselben E-egelmässigkeit. Andererseits sind mehrfach in ausgesprochenen Fällen von Diabetes mellitus beim Menschen durch die Obduction pathologische Veränderungen im Boden des vierten Ventrikels nachgewiesen worden. Die Nerven. Nervus ociilomotorius. Wir gehen nun zur Betrachtung der einzelnen Nervenbahnen über und machen den Anfang mit dem Nervus oculomotorius. Derselbe zeigt sich gleich bei seinem Ursprünge als ein motorischer Nerv. Er entspringt unterhalb des Aquaeductus Sylvii jederseits aus einem grauen Kerne, der in der Fortsetzung der vorderen grauen Colonnen des Rückenmarks liegt, und die Ganglienzellen , aus denen der Oculomotorius seinen Ursprung nimmt, entsprechen in ihrem Aussehen noch ganz denen, ausweichen die motorischen Rückenmarksnerven entspringen. Gleich bei seinem Ursprünge xmd am Kern selbst schliessen sich nach Duval dem Oculomotorius Fasern aus dem hinteren Längsbündel der Haube an, die vom Abducenskern der anderen Seite stammen. Duval vermuthet, dass sie ausschliesslich zum Rectus internus gehen und dessen Zusammenwirken mit dem Abducens der anderen Seite vermitteln. Andererseits ist von Gudden der Meinung, dass vom Oculomotoriuskern auch Fasern auf die andere Seite gehen. Wir haben schon früher gesehen, dass die Lendenanschwellung der rechten Seite bei einem Kaninchen, dem man in früher Jugend das rechte Hinterbein hoch oben amputirt hat, kleiner ist als die der linken. Nun nahm von Gudden einem jungen Kaninchen ein Auge mit allen seinen Muskeln heraus. Als es erwachsen war, tödtete er es und untersuchte das Gehirn. Der Oculomotoriuskern war auf beiden Seiten defect, am meisten natürlich auf der Seite, auf welcher das Auge herausgenommen war. Sein hiateres (unteres) Ende liegt unter dem lateralen Winkel des vierten Ventrikels. Nach aussen von ihm, lateralwärts, liegen die zum Austritt sammelnden sen- siblen Trigeminusfasern. Der Oculomotorius läuft nach abwärts und tritt zu beiden Seiten nach innen vom Fusse des Hirnschenkels zu Tage. Er anastomo- sirt bei seinem Eintritte in die Augenhöhle mit dem ersten Aste des Tri- geminus iind nimmt hier die sensiblen Fasern auf, die er in seinem weiteren A^erlaufe führt. Er theilt sich in zwei Aeste, einen kleinen oberen, welcher den Levator palpebrae superions und den Rectus superior versorgt, und in einen grösseren unteren Ast für den Rectus internus, rectus inferior und obliquus inferior, der noch ausserdem die Radix brevis ad ganglion ciliare abgibt. Der Oculomotorius versorgt nicht blos die äusseren Muskeln des Auges, sondern auch zwei von den Binnenmuskeln desselben. Solche gibt es bekanntlich drei. Erstens den Musculus tensor chorioideae, der vom Rande der Hornhaut entspringt und dessen Fasern sich rückläufig an die Chorioidea ansetzen, der Muskel, welcher, wie wir sehen werden, die Accommodation des Auges für die Nähe vermittelt. Seine Nervenfasern sind nach Hensen und Völkers dem Ursprünge nach die vordersten aller ob Bewegungsnerven des Auges. Oculomotoriusfasern. Zweitens den Sphincter pupillae, welcher in Form eines etwa einen Millimeter breiten Einges die Pupille umgibt. Endlich den Dilatator pupillae, dessen Fasern radial hinter den grossen Gefässen der Iris vom Margo ciliaris iridis bis zum Sphincter hinlaufen. Von diesen drei Muskeln versorgt er den Tensor chorioideae, und zwar nach den Unter- suchungen von Hensen und Adamük, die an Hunden gemacht wurden, ausschliesslich durch Fasern, welche vom Ganglion ciliare kommen. Zwei- tens versieht er den Sphincter pupillae. Der Dilatator pupillae wird nicht von ihm versorgt. Um die Bewegungen der Iris im Zusammenhange behandeln zu können, müssen wir auch von der Innervation des Dilatator pupillae sprechen. Petit wusste schon im Jahre 1727, dass, wenn man den Sympathicus am Halse durchsehneidet, merkwürdige Veränderungen im Auge vor sich gehen, die in neuerer Zeit wieder ausführlieh theils von Bernard, theils von Budge und Waller studirt worden sind. Diese Veränderungen be- stehen in Folgendem: Sobald der Sympathicus am Halse durchschnitten worden ist, verengert sich die Pupille des Auges derselben Seite, das Auge schielt nach innen, es ist etwas in die Orbita zurückgesunken, so dass • die Lidspalte enger wird, indem die Lidspalte ihre Oeffnung nicht blos der Wirkung des Levator palpebrae superioris, sondern auch dem Drucke verdankt, den der Bulbus von innen heraus ausübt. Endlich bei denjenigen Thieren, welche ein drittes Augenlid, eine Nickhaut haben, zieht sich diese so vor, dass sie die Pupille grösstentheils, bisweilen sogar gänzlich bedeckt. Gleichzeitig mit diesen Veränderungen ändert sich auch der Füllungsgrad der Blutgefässe des Kopfes; dies ist bei Thieren mit durchscheinenden Ohren, wie den Kaninchen, zunächst dadurch auffallend, dass sich die Gefässe des Ohres der operirten Seite sichtlich stärker mit Blut füllen. Namentlich fällt es auf, dass nicht allein die Venen als rothe Stränge stärker sichtbar sind als im normalen Zustande, sondern, dass neben ihnen auch die stärker gefüllten Arterien als ähnliche rothe Stränge verlaufen. Auch am Auge kann man diese stärkere Gefässfüllung, wenn auch weniger auffallend als an den Ohren beobachten. Auch die Tempe- ratur der beiden Ohren ist ungleich, indem das Ohr der operirten Seite wärmer ist als das der anderen Seite. Es fragt sich : woher rühren alle diese Erscheinungen? Um das zu erfahren, muss man das peripherische Ende des durchschnittenen Sympathicus reizen. Reizt man dieses mit den Elektroden eines Magnetelectromotors, so erweitert sich die Pupille weit über ihr gewöhnliches Maass, das Auge richtet sich Avieder gerade, ja sogar etwas nach aussen, die Kickhaut zieht sich zurück, der Bulbus wird hervorgedrängt und dadurch die Lidspalte weiter geöffnet als die des andern Auges. Kurz die Erscheinungen sind das gerade Gegentheil von denjenigen, die durch das Durchschneiden erzielt worden sind. Wenn man jetzt die beiden Ohren miteinander vergleicht, so sieht man, dass in dem Ohre der Seite, auf welcher gereizt wird, die Gefässe fast vollständig ver- schwunden sind, dass sie sich im hohen Grade verengert haben. Dasselbe kann man im Auge wahrnehmen. Wenn man während der Reizung mit dem Augenspiegel untersucht, so bemerkt man, dass die Gefässe der Retina und Chorioidea sich in Folge derselben zusammenziehen. Es kann jetzt nicht mehr zweifelhaft sein, dass die Pupillenverengerung daher rührte, dass man die Nerven durchschnitten hatte, welche den Dilatator pupillae Bewegungsnerven des Auges. o7 innerviren. Dadurch hatte der Sphincter das Uebergewicht bekommen und die Pupille hat sich verengert. Jetzt reizt man dieselben Nerven, die Folge davon ist, dass die Pupille sich stark erweitert. Warum tritt das Auge beim Reizen hervor, und warum sinkt es bei der Durchschneidung in die Orbita zurück? Das erklärt sich aus dem Vorhandensein eines Muskels in der Orbita, der von Heinrich Müller entdeckt wurde und unter dem Namen des MüUer'schen Maskeis bekannt ist. Er besteht aus glatten Muskelfasern und überspannt die Pissura orbi- talis inferior. So lange dieser Muskel erschlafft ist, liegen seine Fasern bogenförmig, wenn er sich aber zusammenzieht, so spannen sie sich gerade, verengern dadurch den Raum der Orbita und müssen das Auge heraus- drängen. Denkt man sich, dass dieser Muskel im Leben in einem mitt- leren Grade von Zusammenziehung sich befindet, so wird- er vollständig erschlaffen, nachdem der Sympathicus, der ihm Nerven sendet, am Halse durchschnitten ist, das Auge wird also zurücksinken. M^enn aber der Sympathicus gereizt wird, werden diese Muskeln sieh zusammenziehen, er wird also das Auge aus der Orbita herausdrängen. Gleichzeitig mit diesem Muskel hat Müller glatte Muskelfasern beschrieben, welche auf der inneren Seite der Augenlider und in senkrechter Richtung verlaufen, so dass sie bei ihrer Zusammenziehung das Auge mit öffnen helfen können. Wenn also diese Muskelfasern ihres jSTerveneinflusses beraubt sind, ist auch das eine Ursache, dass die Lidspalte enger werde, während umgekehrt, wenn diese Muskeln zur Contraction gereizt werden, bei gleicher Innervation des Levator palpebrae superioris die Lidspalte sich über das frühere Maass erweitern muss. Am wenigsten klar ist bis jetzt das Schielen nach innen. Es scheint daher zu rühren, dass auch Fasern aus dem Sympathicus zu dem Musculus rectus externus gehen, durch deren Lähmung der rectus internus das Uebergewicht erlangt, so dass das Auge eine andere Stellung erhält. Diese Fasern, welche durch den Halstheil des Sympathicus zum Auge hingehen, haben ihren Ursprung nicht im Sympathicus selbst, sondern, wie durch die Untersuchungen von Budge und Waller nachgewiesen ist, im Rückenmarke, im untersten Theile des Halsmarkes und im obersten des Brustmarkes. Diese Gegend nennt man Regio ciliospinalis. Wenn man sie reizt, so treten dieselben Veränderungen im Auge ein, welche wir auf Reizung des Halstheiles des Sympathicus beobachtet haben ; schneidet man diese Gegend aus, so treten die Veränderungen auf, die nach Durchschnei- dung der besagten Nervenbahn auftreten. Bei Hunden verlassen sie nach den Untersuchungen von Bernard mit dem siebenten imd achten Cervical- nerven und mit dem ersten Dorsalnerven das Rückenmark imd treten durch die entspi'echenden Rami communicantes in den Sympathicus ein. Durchschneidet man diese Rami communicantes, so treten dieselben Ver- änderungen ein, wie wir sie bei Durchschneidung des Halstheiles des Sym- pathicus beobachtet haben. Diese von der Regio ciliospinalis zum Auge gehenden Nerven haben, wie Bernard nachgewiesen, ein ganz ungewöhnlich ausgedehntes Reiiexgebiet. Sie können nämlich von jeder Stelle des Körpers aus .erregt werden, vorausgesetzt, dass ein hinreichend starker Reiz er- zeugt wird. Wenn man ein Thier an irgend einer Stelle sehr heftig kneipt oder anderweitig misshandelt, so treten am Auge die Veränderungen ein, die bei Reizung des Halstheiles des Sympathicus beobachtet werden. 38 Bewegungsnerven des Auges. Hieraus erklären sich die Beschreibungen, welche uns von früheren Autoren über die Veränderungen des Aussehens von Leuten, die auf die Folter gespannt wurden, gegeben werden. Es wird erzählt, es seien unter den Schmerzen die Augen aus ihren Höhlen herausgetreten. Salkowsky ist der Ansicht, dass das eigentliche Centrum cilio- spinale aufwärts vom Atlas liegen müsse. Es veranlasst ihn dazu folgende Erfahrung. Wenn man ein Thier mit Curare vergiftet und dann künst- liche Respiration eingeleitet hat, so erweitert sich die Pupille, wenn man die künstliche Eespiration aussetzt und das Thier der Erstickung entgegen- geht. Diese Pupillenerweiterung bleibt aus, wenn man vorher das Hals- mark durchschnitten hat. Das venöse Blut muss also von einem höher liegenden Orte aus auf die Dilatatornerven eingewirkt haben. Die moto- rischen Bahnen der Avillkürlichen Muskeln haben, wie wir früher sahen, mehrere Innervationscentra über einander liegen, im Rückenmark, in den Stammganglien des Hirns, in der Hirnrinde. So mögen auch die hier in Betracht kommenden Nerven unwillkürlicher Muskeln ein Centrum im Rückenmark, ein oder mehrere andere im Gehirn haben. Was die Veränderungen des Gefässsystems anlangt, so ist es klar, dass die Erweiterung von nichts Anderem herrührt, als davon, dass wir mit dem Halstheile des Sympathicus auch zugleich in demselben verlaufende vaso- motorische Nerven des Carotidensystems durchschnitten haben. Reizen wir dieselben Nerven, so tritt das Gegentheil ein, es ziehen sich die Gefässe zusammen. In Rücksicht auf die Temperaturerhöhung glaubte man anfangs, hier eine eigene Quelle für Wärmebildung eröffnet zu haben. Die späteren Untersuchungen haben aber überzeugend nachgewiesen, dass die Erhöhung der Temperatur sich lediglich aus dem reichlicheren Blutzuflusse erklärt. Das Ohr mit seiner sehr grossen Oberfläche ist fortwährend der Ab- kühlung ausgesetzt. In seiner knorpeligen Masse und seiner dünnen Haut wird verhältnissmässig sehr wenig Wärme gebildet. Es wird also gewisser- massen fortwährend geheizt durch den Strom des warmen Blutes, der durch die Gefässe hindurchgeht. Wenn das Blut reichlicher zugeführt wird, so wird in derselben Zeit mehr Wärme zugeführt als früher. Das Ohr muss also wärmer werden als das andere, dem die normale Menge Blutes zuge- führt wird. Demnach erhebt sich auch die Temperatur des Ohres niemals über die in den inneren Theilen herrschende. Man war anfangs der Meinung, dass auch diese vasomotorischen Nerven ihren Ursprung in der Regio ciliospinalis hätten. Bernard hat aber gezeigt, dass dies nicht der Fall ist, sondern dass sie das Rücken- mark weiter unten verlassen. Wenn man beim Hunde den Grenzstrang des Sympathicus zwischen der zweiten und dritten Rippe durchschneidet, so treten die Veränderungen im Gefässsystem auf, aber nicht die Ver- änderung in der Stellung des Auges und in der Grösse der Pupille. Bei denselben Untersuchungen hat er sich auch bemüht, noch andere Wege von vasomotorischen Nerven nachzuweisen. Er hat dabei gefunden, dass, wenn man das Ganglion thoracicum primum ausreisst, die obere Extremität sich erwärmt, und dass, wenn man das Ganglion, das beim Hunde auf dem fünften und sechsten Lendenwirbel aufliegt, ausreisst, die untere Extremität des Thieres sich erwärmt. Man hat also durch diese Operationen die Bahnen der betreffenden vasomotorischen Nerven unterbrochen. • Bewegungsnerven des Auges. ov Wir haben nun die (iuellen kennen gelernt, aus denen die drei Binnen- muskeln des Auges ihre Nerven erhalten. Wir wollen uns jetzt fragen: unter welchem Einjäusse steht die Pupille, wovon ist ihre Erweiterung und Verengerung abhängig? Der Einfluss, den wir am leichtesten beob- achten können, ist der des Lichtes. Wenn wir Licht in ein Auge fallen lassen, verengert sich die Pupille, und wenn wir das Licht wieder ab- halten, erweitert sie sich. Das ist eine Reflexbewegung, welche durch Reizung des Nervus opticus ausgelöst wird. Sie bleibt aus, wenn der Nervus opticus durchschnitten ist, sie kann also nicht ausgelöst werden durch die Ciliarnerven. Wir kennen auch die ganze Kette der durch- laufenen Bahnen. Wir können den Nervus opticus zu den Vierhügeln verfolgen ; unter den Vierhügeln entspringt der Oculomotorius. Es ist also klar, dass die Erregung von den centralen Enden des Opticus auf die Ur- sprünge des Oculomotorius übertragen wird, und dass dadurch die Ver- änderungen in der Pupille zu Stande kommen. Die Veränderung ist aber nicht auf die Pupille des einen Auges beschränkt, sondern es bewegt sieh aach die des andern mit. Man kann sich davon leicht überzeugen, wenn man das eine Auge des Beobachteten abwechselnd verschliesst und wieder öffnet und dabei stets das andere Auge betrachtet. Die beiden Pupillen haben also Mitbewegung miteinander, und es ist deshalb der Stand der Pupille von der Lichtmenge, welche in beide Augen fällt, abhängig, so dass, wenn man das eine Auge schliesst, man nicht die Hälfte des Lichtes für das Sehen verliert, indem sich dann die andere Pupille erweitert. Dadurch wird der Verlust wenigstens theilweise ersetzt. Andererseits sind aber die verschiedenen Theile der Netzhaut für den Reflex nicht gieich- werthig. Man schneide in eine schwarze Pappscheibe ein Loch und hinter dieses setze man ein Licht. Nun lasse man im übrigens dunkeln Zimmer ein Individuum abwechselnd das Loch, tTnd dann irgend einen Punkt neben oder über oder unter demselben fixiren. Man wird sehen, dass sich in letzterem Ealle die Pupille sehr auffällig erweitert, so auffällig, dass' dies linmöglich davon abgeleitet werden kann, dass jetzt überhaupt etwas weniger Licht in die Augen fällt. Es ist auch den Augenärzten bekannt, dass die Pupille bei Patienten, denen kein Atropin eingeträufelt ist, sich jedesmal stark verengert, wenn sie die Macula flava behufs der Untersuchung direct beleuchten. Die reflectorische Erregbarkeit ist also hier grösser als in den übrigen Theilen der Netzhaut. Ausserdem hat die Pupille Mitbewegung mit dem Rectus internus und dem Tensor chorioideae. Der Rectus internus, der Tensor chorioideae und der Sphincter pupillae, die alle drei vom Oculomotorius innervirt werden, agiren mit einander. Es hängt das mit der Veränderung der Augenstellung beim Sehen zusammen. Wenn man einen näheren Gegen- stand fixirt, ihn mit beiden Augen ansieht, so müssen die beiden Gesichts- linien stärker convergiren ; hiebei muss sich der Tensor chorioideae zu- sammenziehen, um das Auge für die grössere Nähe einzustellen. Dabei contrahirt sich auch der Sphincter pupillae. Sieht man einen fernen Gegenstand an, so müssen die Gesichtslinien parallel gestellt werden, es muss also der Rectus internus nachgeben. Dann erschlafl't aiich der Tensor chorioideae und der Sphincter pupillae, indem die Pupille sich erweitert, so dass sie bei derselben Lichtmenge beim Sehen in die Ferne weiter ist als beim Sehen in die Nähe. Man kann deshalb auch willkürlich seine J\j Bewegungsnerven des Anges. Pupille verengern, indem man nach innen schielt. Wenn dabei auch nur ein Auge sich stark gegen die ISTasenseite wendet, so verengert sich nicht nur die Pupille dieses Auges, sondern auch die des andern. Es fragt sieh: Kann man seine Pupille auch willkürlich erweitern? Die Antwort darauf ist, dass dies einzelnen Menschen möglich ist. Ich kannte einen Dr. S . . . ., der seine Pupillen ziemlich bedeutend erweitern konnte. Was er dabei machte, wusste er selbst nicht genau. Er wusste nur, dass er eine ziemliche Anstrengung machen müsse, die sich auf eine Reihe von Muskeln erstreckte, damit die Pupillen sich erweitern. John Aitken erzählt in der „Nature" vom 16. April 1885, dass er und Andere ihre durch Blicken auf einen hellen Grund verengte Pupille dadurch erweitern können, dass sie durch Beissen der Zunge oder Kneifen des Arms die Auf- merksamkeit vom Gesichtsfelde ablenken. Es ist zweifelhaft, ob hier der schmerzerregende Reiz nicht als solcher reflectorisch wirkt. Die meisten Menschen sind nicht im Stande, die Bewegungen der Accommodation und die Irisbewegungen von denen des Rectus internus zu isoliren. Wenn sie die Gesichtslinien parallel stellen, können sie meist nicht für die Nähe accommodiren, und umgekehrt, wenn sie die Gesichtslinien convergiren lassen, so können sie ihre Augen nicht für die Ferne einstellen. Durch Uebung lässt sich jedoch die Fähigkeit hiezu erwerben, und wir werden später von Versuchen sprechen, bei denen dies in Betracht kommt. Welches sind nun die Veränderungen, die beim Menschen eintreten, wenn der Oculomotorius gelähmt ist, und woran erkennt man also die Oculo- motoriuslähmung ? Eine vollständige Lähmung des Oculomotorius zeigt sich durch höchst auffallende Erscheinungen. Das Augenlid der gelähmten Seite hängt herunter, weil der Levator palpebrae superioris gelähmt ist : diesen Zustand nennt man Blepharoptosis paralytica. Hält man einem solchen Menschen das andere Auge zu, so richtet er den Kopf nach rück- wärts und sucht unter dem Augenlide hervorzusehen. Das Auge selbst ist seiner Beweglichkeit grösstentheils beraubt, indem nur noch der Obli- quus superior und der Rectus externus agiren. Es schielt dem entsprechend nach aussen, steht fest, macht die Bewegungen des andern Auges nicht mit. Wenn man den Kopf hin und her neigt, so behält innerhalb gewisser Grenzen das Auge der gesunden Seite seine Lage gegen den Horizont bei, wie ein Schiflfscompass, der frei beweglich aufgehängt ist. Das Auge der gelähmten Seite dagegen macht jede Bewegung des Kopfes mit, weil von den beiden schiefen Augenmuskeln nur einer innervirt ist. Die Pupille ist erweitert, aber nur massig, nicht etwa so, als ob sie künstlich durch Atropin erweitert worden wäre, denn nur der Sphincter ist gelähmt, der Dilatator aber nicht activ contrahirt. Das Auge ist dabei dauernd für ein und dieselbe Sehweite eingestellt. Der Patient kann es nicht für eine kürzere, nicht für die Nähe einstellen. Dies rührt, wie wir später sehen werden, her von der Lähmung des Tensor chorioideae. Die theilweisen Lähmungen charakterisiren sich dadurch, dass, wenn der obere Ast gelähmt ist, die Ptosis vorhanden ist, aber das Auge noch nach der Seite bewegt werden kann, weil der Internus und Externus in ihrem Antagonismus noch wirksam sind. Bei Lähmung des unteren Astes ist die Ptosis nicht vorhanden, dafür Pupillenerweiterung und Schielen des Auges nach aussen, weil der Rectus internus gelähmt ist. Auch die Ac- commodation und die Drehbewegungen des Auges sind gestört. Bewegungsnerven des Auges. 91 Krankhafte Erweiterung der Pupille durch Kückenmarkreizung wird zunächst im Tetanus beobachtet. Thiere, die in Tetanus versetzt sind durch solche Substanzen, die an und für sich nicht auf die Pupille wirken, zeigen im Anfall doch eine bedeutende Erweiterung derselben. Wenn sie im An- falle sterben, verengert sich die Pupille plötzlich, indem nun die Contraction des Dilatator nachlässt. Da die Binnenmuskeln des Auges ein so weites Reflexgebiet haben, so ist es nicht wunderbar, dass sie auch von den Ein- geweiden, den Unterleibsorganen aus erregt werden können. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass die alten Aerzte behaupten, dass dauernde Erweiterung der Pupille bei Kindern ein Zeichen der Wurmkrankheit sei. Andererseits können diese Muskeln die Erscheinungen der reflectorischen Lähmung darbieten. Ich beobachtete einmal bei einer Typhuskranken, dass während ihrer Krankheit und während der Reconvalescenz, wenn vorübergehend eine Verschlimmerung eintrat, dieselben Veränderungen am einen Auge sich zeigten, als wenn der Halstheil des Sympathicus durch- schnitten wäre. Mit der vollständigen Genesung schwanden diese Er- scheinungen. Nervus trochlearis. Wir wollen, des Zusammenhanges wegen, jetzt die übrigen Nerven, welche zu den Augenmuskeln gehen, behandeln und mit dem Nervus trochlearis den Anfang machen. Er entspringt jederseits von der Raphe aus einem grauen Kerne, der unter dem Aquaeductus Sylvii liegt. Die Ganglienkugeln, aus denen er entspringt, sind wieder solche, wie sie in den vorderen Hörnern der grauen Substanz vorkommen. Der ISTerv charak- terisirt sich also durch seinen Ursprung als ein motorischer. Seine Fasern verlaufen nun bogenförmig nach aufwärts und sollen dann, nach der ge- wöhnlichen Annahme, in der Valvula cerebelli über dem hier im Quer- schnitte T-förmig gestalteten Aquaeductus Sylvii sich vollständig kreuzen. Wenn man das Verhalten der übrigen motorischen Hirnnerven vergleicht, so muss man dies a priori für wenig wahrscheinlich halten. In der That erhielt Exner bei einseitiger Trochlearisreizung Wälzen des Auges der- selben Seite. In neuerer Zeit sind indessen wieder mehrere Autoren auf Grund anatomischer Untersuchungen für die vollständige Trochleariskreuzung eingetreten. Der Trochlearis anastomosirt in der Wand des Sinus cavernosus mit dem Trigeminus. Er nimmt dort sensible Fasern auf und geht dann zum Musculus obliquus superior seu Musculus trochlearis, den er innervirt. Demnach ist seine Physiologie sehr einfach. Seine Lähmung ist weniger durch äussere Erscheinungen kenntlich wie die des Oculomotorius, weil das Auge nur wenig in seiner Stellung verändert ist. Der Kranke selbst aber wird darauf aufmerksam, dass etwas in der Stellung seiner Augen nicht in Ordnung sei, denn er sieht doppelt, und zwar stehen die Bilder in ungleicher Höhe. Das Bild des kranken Auges steht tiefer als das andere und schräg, so dass die Entfernung des unteren Theiles beider Bilder grösser ist als die des oberen. jSTeigt man den Kopf etwas nach vorn und nach der gesunden Seite, so gehen die Bilder in eins zusammen. Senkt man das zu fixirende Objcct, so findet ein leichtes Einwärts- und Aufwärts- schielen mit dem kranken Auge statt. Die Schiefstellung des Kopfes y^ Bewegungsnerven des Auges. gewöhnt sich an und kann sogar Contractur des Sternocleidomastoideus der gesunden Seite nach sich ziehen. Es gibt noch ein anderes Zeichen. Wir haben gesehen, dass das gesunde, in allen seinen Muskeln normal innervirte Auge wie ein SchifFscompass sich im Gleichgewichte hält, dass, wenn man den Kopf nach der einen oder der anderen Seite innerhalb ge- wisser Grenzen neigt, das Auge seinen Horizont beibehält. Thut man dies mit einem Individuum, das an einer einseitigen Trochlearislähmung leidet, so macht das gelähmte Auge die Bewegungen des Kopfes mit. Das rührt daher, dass das Auge seine Drehbewegungen zwischen Obliquus superior und inferior macht. Diese beiden erhalten es in seiner Stellung, wenn man den Kopf auf die Seite neigt. Hier aber ist der Obliquus superior gelähmt, und der Obliquus inferior hat das Auge nach sich ge- zogen. Die äussere Stellung des Auges ist dabei nicht sehr auffallend verändert, aber das Auge steht jetzt fest, es dreht sich nicht mehr um die Axe, um welche die beiden schiefen Augenmuskeln die Augen be- wegen. Wenn ich also den Kopf hin- und herbewege, macht es alle Bewegungen des Kopfes mit. ISTervus abdueens. Der letzte Augenmuskelnerv, mit dem wir es zu thun haben, ist der Nervus abdueens. Er entspi'ingt aus einem gi'auen Kerne, der am Boden der Eautengrube zu beiden Seiten der Mittellinie unter der Emi- nentia teres liegt, im sogenannten inneren oder centralen Knie des Facialis, d. h. eines Bogens, der von Facialisfasern in ihrem centralen Verlauf be- schrieben wird, und der bis unter die Oberfläche der Eminentia teres reicht. Die Ursprünge des Abdueens und des Facialis konnten auf rein anatomischem Wege nicht mit Sicherheit getrennt werden. Es scheint, dass ein Theil der Facialisfasern aus Zellen hervorgeht, welche man ihrer Lage nach zum Abducenskerne rechnen würde, denn bei der gänzlichen Degeneration der als Facialiskern bekannten Gruppe werden, wenn der Abducenskern intact ist, der Orbicularis palpebrarum und der M. frontalis nicht gelähmt. Schon anatomische Untersuchungen hatten dazu geführt, dies zu vermuthen. Entgegenstehende Resultate an Thieren halte ich nicht für beweiskräftig, weil bei ihnen die topographische Anordnung anders sein kann als beim Menschen. Allerdings bleibt, wenn man von ihnen absieht, noch ein Fall von Gowers, in welchem er bei Entartung beider Nervi abducentes auch beide Abducenskerne vollständig entartet fand, darin aber Facialisfasern, die nicht degenerirt waren. Der Abdueens durchsetzt in seinem centralen Verlaufe die Brücke, tritt am hinteren Rande derselben zu Tage, läuft unter ihr nach vorn zum Sinus cavernosus, nimmt bei seinem Eintritt in die Augenhöhle Fasern vom Trigeminus auf, geht dann, in der Orbita angelangt, nach aussen, um den M. rectus externus zu innerviren. Da, wo der Nervus abdueens die Carotis kreuzt, geht er mit dem Sympathicus eine starke Anastomose ein. Diese ist so bedeutend, dass sie die alten Anatomen, die den Sympathicus vom Hirn herleiteten, als den Ursprung desselben ansahen. Jetzt hat man darüber eine ganz andere Ansicht. Wir haben gesehen, dass, wenn man den Sympathicus am Halse durchschneidet, das Auge nach innen schielt. Diese Erscheinung erklärt sich nun, wenn man annimmt, dass ein Theil der Fasern, die aus Nervus trigeminus. vO der Eegio ciliospinalis kommen und im Halsthcile des Sympathicus aui- steigen, durch die erwähnte Anastomose in den Abducens übergeht und mit ihm zum Eectus externus gelangt. Dieser ist dann von zweierlei Nerven innervirt, erstens vom Abducens, dann von motorischen Fasern, die ihm aus der Regio ciliospinalis des Rückenmarks zukommen. Werden die letzteren mit dem Halstheile des Sympathicus durchschnitten, so hat der Rectus externus einen Theil seiner Innervation verloren, er wird also seinem Antagonisten, dem Rectus internus gegenüber nachgeben, und die Folge davon wird das Schielen des Auges nach innen sein. Die Lähmung des Abducens zeigt sich dadurch, dass das Auge nach innen schielt, aber im Uebrigen beweglich ist, so dass das Schielen nicht von einer Contractur des Rectus internus herrühren kann. Nervus tri§eiuinus. Der Nervus trigeminus ist ein gemischter Nerv und entspringt mit einer stärkeren sensiblen und einer schwächeren motorischen Wurzel. Die motorische Wurzel entspricht einer vorderen, die sensible einer hinteren Rückenmarkswurzel. Demgemäss nimmt nur die sensible Wurzel an der Bildung des Wurzelganglion dieses Nerven, das Ganglion semilunare Gasseri, Theil. Die motorische Wurzel geht an demselben vorbei, ohne sich an dessen Bildung zu betheiligen. Diese letztere entspringt aus einem Kern, der jederseits unter dem oberen Theile des Bodens des vierten Ventrikels hingestreckt ist und sich nach aufwärts bis zu der Region erstreckt, in welcher der Ventrikel schon von der Valvula cerebelli überdacht ist. Hier, wo sich der Ventrikel verschmälert, liegt der Kern dann nicht sowohl nach unten, als vielmehr nach aussen und unten von ihm. Das Gebiet, über welches sich die Ursprünge der sensiblen Wurzel zu verbreiten scheinen, ist ein sehr ausgedehntes, und das liegt in der Natur der Sache. Man muss bedenken, dass der Trigeminus, als sensibler Nerv, nicht nur sei.:cr motorischen Portion entspricht, sondern ausserdem den Augen- muskelnerven, die wir bereits kennen gelernt haben, und auch dem Nervus facialis und einem Theil des Hj^poglossus. Meynert unterscheidet vier Arten von Ursprüngen des sensiblen Trigeminus, einen aus einem Kerne, der lateralwärts vom Kerne des motorischen Trigeminus liegt, einen im Kleinhirn, eine aufsteigende Wurzel, welche mit dem Hinterstrang des Rückenmarks zusammenhängt, und absteigende Wurzeln, welche theils aus den Vierhügeln, theils aus der Substantia ferruginea hervorgehen, theils noch nicht ganz bis zu ihren Anfängen verfolgt sind. Wir wollen mit der Physiologie der vorderen Wurzel beginnen. Die motorische Wiu'zel des Trigeminus versorgt vor Allem die Kaumuskeln, den Temporaiis, den Masseter, den Pterygoideus internus, den Pterygoideus externus, aber nicht den Buccinator, obgleich dieser ein Hilfsmuskel beim Kauen ist. Der Buccinator ist insofern ein solcher, als er durch seine Contraction den Theil der Speisen, welcher in die Backentaschen hinein- gelangt ist, zwischen die Mahlzähne zurückdrängt. Der Buccinator wird vom Nervus facialis innervirt. Ferner gibt die motorische Portion des Trigeminus einen Ast ab, der durch das Ganglion oticum hindurch und zum Musculus mallei internus seu tensor tympani geht. Dann versorgt sie einen Muskel des weichen Gaumens, d. h. einen Muskel, der zwar nicht 94 Nervus trigeminus. im weichen Gaumen liegt, aber mit zur Bewegung desselben dient, den Musculus tensor palati mollis. Endlich gibt sie Aeste ab zum Mylohyoi- deus und versorgt den vorderen Bauch des Digastricus, während der hin- tere vom Facialis innervirt wird. Die sensible Portion des Trigeminus versorgt alle Haut- und Schleim- hautbedeckungen des Kopfes mit gewissen Ausnahmen. Erstens mit Aus- nahme des grössten Theiles des Pharynx, der hinteren Gaumenbögen und des hinteren Theiles der Zunge, wo sich Vagus und Glossopharyngeus verbreiten , ferner der Tuba Eustachii und der Trommelhöhle , weiter des tiefsten Theiles des äusseren Gehörgangs, der vom Eamus auricularis nervi vagi versorgt wird, und endlich eines Theiles der Ohrmuschel und des Hinterhauptes, wohin Cervicalnerven gehen. Die übrigen Haut- und Schleimhautbedeekungen des Kopfes werden empfindungslos, wenn der Trigeminus durchschnitten wird. Diese Operation kann man am Kaninchen leicht ausführen. Der erste, der es that, war Fodera. Er sprengte ein Stück vom Seitentheile des Schädels weg und durchschnitt den Trigeminus gleich an seinem Ursprünge. Später hat Magendie diese Operation vielfältig ausgeführt und ein eigenes Messer dafür erfunden. Das Messer hatte die Form eines kleinen, an seiner Schneide vorn spitz zulaufenden Beiles. Auf dem stählernen Stiele desselben befand sich ein Zeichen, bis zu welcher Tiefe das Messer eindringen musste. Dieses Messer stiess er von der Seite durch den Schädel bis zu dem Zeichen auf dem Stiele, dann drehte er es und machte den Schnitt. Jetzt macht man diese Operation gewöhnlich mit einem Messer, das zu diesem Zwecke von Bernard angegeben wurde und einem kleinen DiefFen- bach' sehen Tenotom sehr ähnlich ist. Man umwickelt dasselbe, so weit es nicht eindringen soll, mit Zwirn, nimmt es dann in die Hand, setzt den Daumen derselben auf den äusserlieh fühlbaren knöchernen Theil des äusseren Gehörganges, führt das Messer, indem man nach vorn vom Gehör- gange einsticht, horizontal ein, geht auf der Basis des Schädels und auf dem Felsenbeine horizontal nach einwärts, bis man so weit eingedrungen ist, wie es die Bewickelung des Messers gestattet. Dann dreht man das Messer um, so dass die Schneide nach abwärts sieht, und indem man jetzt das Heft hebt und die Schneide nach abwärts drückt, zieht man das Messer langsam heraus. Dadurch fasst die Schneide den Trigeminus auf dem Felsenbeine und schneidet ihn daselbst zwischen der Brücke und dem Ganglion semilunare Gasseri durch, und zwar ohne anderweitige Ver- letzung. Das erste Zeichen, dass man den Trigeminus durchschnitten hat, ist ein lauter, gellender Schrei, den das Thier ausstösst. Kaninchen sind bekanntlich nicht sehr empfindlich , man kann allerlei mit ihnen vor- nehmen, ohne sie zum Schreien zu bringen, aber bei dieser Operation stossen sie stets, falls sie gelungen, einen anhaltenden Schrei aus. Sieht man in diesem Augenblicke die Pupille an, so findet man sie stark ver- engert, später aber erweitert sie sich wieder. Jetzt handelt es sich darum, zu untersuchen, ob man den Trigeminus vollständig durchschnitten hat. Zu diesem Zwecke untersucht man die Lippen an beiden Seiten mit Na- deln. Man wird bemerken, dass, sowie man an die Lippenhälfte der ge- sunden Seite kommt, diese zurückgezogen wird, dass aber mit der Lippen- hälfte der gelähmten nicht dasselbe geschieht, sondern dass sie sich, wie todt, mit der Nadel fortschieben lässt. In derselben Weise untersucht Nervus trigeminus. 95 man die Hornhaut und den inneren Augenwinkel. Wenn man die Con- junctiva oder die Hornhaut der gesunden Seite mit der jSTadel berührt, so tritt sofort Blinzeln ein, auf der kranken Seite ist dies nicht der Fall. Die ganze Gesichtshälfte erweist sich als empfindungslos. Wenn man aber eine Sonde in den äusseren Gehörgang hineinsenkt, so reagirt das Thier zwar anfangs darauf nicht, kommt man aber bis zu einer gewissen Tiefe, so fängt es an den Kopf zu schütteln, zum Zeichen, dass man an die Stelle gekommen, wo sich der Ramus auricularis nervi vagi verbreitet. Wir haben eben gesehen, dass, wenn der Trigeminus in der Schädel- höhle durchschnitten wird, das Thier nicht mehr blinzelt, wenn seine Cornea oder Conjunctiva gereizt wird. Das Blinzeln ist also eine Reflexbewegung, die vom Trigeminus ausgelöst wird. Dadurch ist der Trigeminus gewisser- massen als Wächter des Auges hingestellt, indem er Schädlichkeiten von demselben durch den plötzlichen Verschluss der Augenlider, den er hervor- ruft , fernhält. Auch die schmerzhafte Empfindung des Geblendetseins rührt nicht vom Opticus, sondern vom Trigeminus her, weil die Reizung des Opticus immer nur Lichtempfindung verursachen kann, niemals Schmerz, wie die Reizung eines gewöhnlichen sensiblen Nerven. Eine zweite Reflexbewegung, welche vom Trigeminus ausgelöst wird, ist das Niesen. Es wird zunächst von der Nasenschleimhaut ausgelöst, wenn fremde, namentlich staubförmige, reizende Körper in die Nase hinein- gebracht werden. Das Niesen besteht darin , dass zuerst eine tiefe In- spiration gemacht wird, dass die Zunge sich an die coulissenartig von beiden Seiten hervortretenden, hinteren Gaumenbögen legt und so einen Verschluss bildet, der die Respirationswege sowohl gegen die Mundhöhle, als auch gegen die Nasenhöhle abschliesst. Dann folgt eine plötzliche, heftige , krampfhafte Exspirationsbewegung , bei der dieser Verschluss gleichzeitig nach der Mundhöhle und nach der Nasenhöhle durchbrochen wird, und hierin besteht eben das Niesen. Mit dem Umstände, dass gleich- zeitig der Verschluss nach Mund und Nasenhöhle durchbrochen wird, hängt es auch zusammen, dass, wenn Jemand beim Essen vom Niesen befallen wird, gelegentich die Bestandtheile des Bissens nicht allein zum Munde, sondern auch zur Nase hinausgeschleudert werden. Das Niesen wird auch in zweiter Reihe von den Ciliarnerven ausgelöst. So erklärt sich wenig- stens am xmgezwungensten die Thatsache, dass manche Menschen, wenn sie in die Sonne sehen oder plötzlich geblendet werden, vom Niesen be- fallen werden. Der Trigeminus ist aber nicht der einzige Nerv, von dem aus Niesen erregt wird. Es kann keine Reflexbewegung so leicht von so verschiedenen Orten ausgelöst werden, wie das Niesen. Es gibt fast keine Stelle der Körperoberfläche, von der aus bei empfindlichen und zum Niesen disponirten Menschen dasselbe nicht hervorgerufen werden könnte. Manche Menschen niesen bekanntlich, sobald sie sich der Zugluft aussetzen. Ja, ich habe einen Mann gekannt, der niesen musste, wenn er im Winter eine kalte Thürschnalle anfasste, und sogar oft von heftigem, anhaltenden Niesen in Folge davon befallen wurde. Das Niesen hörte auf, wenn man ihm ein Stück trockener Semmel oder Brotrinde gab, die er zerkauen konnte. Das Niesen mag aber als Reflexbewegung von welchem Ort immer ausgelöst werden, stets geht demselben eine Mitempfindung voraus, ein Gefühl von Kriebeln in der Nase, also eine Mitempfindung im Trigeminus. Es wird die Reflexbewegung des Niesens immer als Folge dieser Empfin- 96 Nervus trigeminus. dung in der Nase vorgestellt, während sie tliatsächlich dies nicht ist, sondern die Folge eines peripherischen Reizes, der an einem andern Nerven angebracht wurde und nun später sowohl auf die Trigeminusursprünge, als auch auf die Ursprünge derjenigen motorischen Nerven übergegangen ist, welche das Niesen vermitteln. Nur insofern kann das Kriebeln in der Nase als die Ursache des Niesens angesehen werden, als es nicht un- wahrscheinlich ist, dass die Erregung im Centralorgan zunächst auf Theile überging, die mit dem Nerven der Nasenschleimhaut direct verbunden sind, wodurch eben das Kriebeln hervorgerufen wurde, und dass sie dann von diesen in gewohnten Bahnen auf das motorische Centrum, welches das Niesen vermittelt, fortgeleitet wurde. Der Trigeminus löst auch zwei Reflexabsonderungen aus. Erstens die Absonderung des Speichels. Durch Reizung des Ramus lingualis nervi trigemini kann Speichelabsonderung hervorgerufen werden. Es ist bekannt, dass, wenn scharfe Sachen auf die Zunge gebracht werden, Speichelabson- derung erfolgt. Dasselbe geschieht, wenn man Hunden Essig oder eine Lösung von Weinsäure auf die Zunge spritzt. Bernard hat aber auch durch elektrische Reizung des centralen Stumpfes des durchschnittenen Nervus lingualis Speichelabsonderung auf reflectorischem Wege hervor- gebracht. Die zweite Absonderung, welche der Trigeminus auslöst, ist die Thränensecretion. Wenn fremde Körper die Nasenschleimhaüt reizen, oder wenn die Conjunctiva durch mechanische oder chemische Mittel gereizt wird, dann ist die Folge davon, dass Thränenfluss eintritt. Der Trigeminus gilt auch für den Secretionsnerven der Thränen- drüse. In der That gibt er ja den Nervus lacrymalis, den Hauptnerven für die Thränendrüse ab, und man hat auch bei Versuchen an verschie- denen Thieren, Hunden und Schafen, sowohl vom Nervus lacrymalis, als vom Subcutaneus malae aus Thränenabsonderung hervorrufen können. Wol- ferz gibt an, dass er auch einmal durch Reizung der Trigeminuswurzel Thränenabsonderung hervorgerufen habe. Erfolgreiche Reizung des peri- pherischen Theiles der durchschnittenen Trigeminuswurzel würde allerdings beweisend sein. Andererseits aber muss man gestehen, dass dieser Erfolg a priori schwer verständlich ist. Die Secretionsnerven, die wir sicher kennen, gehen mit motorischen Nerven aus dem Centralorgane heraus. Das passt vollkommen in den Kreis unserer Vorstellungen, da ja diese Nerven, wie die motorischen, Impulse centrifugal leiten. Wie ist es nun hier beim Trigeminus? Wir wissen, dass die ganze motorische Portion desselben mit dem dritten Aste zur Schädelhöhle hinausgeht. Es können also keine Fasern, welche mit der motorischen Wurzel hervorgetreten sind, zur Thränendrüse gelangen. Sollte es sich nicht bestätigen, dass man vom peripheren Stücke der durchschnittenen Wurzel des Trigeminus aus Thränen- absonderung erzielen kann, so wäre es nicht unmöglich, dass sowohl die Fasern im Lacrymalis, als die im Subcutaneus malae entliehene sind. In der That ist Reich bei Reizung des peripherischen Stückes der durch- schnittenen Trigeminuswurzel nur zu negativen Resultaten gelangt. Seine Versuche sprachen aber auch noch in anderer Hinsicht gegen die An- nahme, dass die Secretionsnerven der Thränendrüse aus der Trigeminus- wurzel stammen. Wenn man einem Kaninchen flüchtiges Senföl mit wenig Weingeist gemischt in das Nasenloch oder den Conjunctivalsack einer Seite Nervus trigeminus. U i einführt, so bekommt man Thräncncrgiiss auf beiden Seiten. Dies geschah auch noch, nachdem auf der andern Seite der Trigeminus in der Schädel- höhle vollständig durchschnitten worden war, also Fasern, welche in ihm zur Thränendrüse verliefen, nicht mehr vom Centrum aus erregt werden konnten. Der Eeflcx musste also in anderen Bahnen übertragen worden sein. Reich macht es auf dem Wege des Ausschliessens Avahrscheinlich, dass die Nerven, welche die Thränensecretion direct einleiten, aus dem verlängerten Marke stammen und auf sympathischen Bahnen in den Tri- geminus hinein gelangen. Eine weiter unten zu citirende Beobachtung von Goldzieher gibt zu der Vermuthung Anlass, dass die Selections- ncrven der Thränendrüse wenigstens eine Strecke lang in der Bahn des Facialis verlaufen. In Folge der Durchschneidung des Trigeminus treten noch gewisse Erscheinungen auf, welche wir hier betrachten müssen. Zunächst trübt sich nach verhältnissmässig kurzer Zeit die Cornea. Das Auge injicirt sich, es treten alle Erscheinungen einer Augenentzündung auf. Dieselbe wird immer stärker, und wenn ihren weiteren Fortschritten nicht vorgebeugt wird, so geht sie in Panophthalmie über und das Auge geht zu Grunde. Auch die Nasenschleimhaut auf der Seite, wo der Trigeminus durch- schnitten wtu'de, pflegt sich zu röthen. Endlich treten an bestimmten Stellen an der Lippe und dem Zahnfleische neben den Backenzähnen Ge- schwürsbildungen auf. Alle diese Erscheinungen hat man ursprünglich als sogenannte neuro- paralytische aufgefasst. Man nannte diese Augenentzündung eine neuropara- Ij-tische und war überzeugt, dass sie dadurch entstehe, dass trophische jSTcrvcn mit dem Trigeminus durchtrennt sind, und dass deshalb, wie man sich ausdrückte^ T^rnährungsstörungen in den betrefi"enden Theilen eintraten. Man fand sich in dieser Idee dadurch bestärkt, dass man auch beim Menschen nach Durchschneidung einzelner Aeste des Ti'igeminus theilweise Nekrotisirungen von Geweben, Exfoliationen von Knochen u. s. w. beob- achtete. Der Trigeminus ist bekanntlich der Sitz einer sehr heftigen iSTeu- ralgie, des sogenannten Tic douloureux, und man hat mehrfach Aeste des- selben durchschnitten, um die Sehmerzen der Patienten zu lindern. In Folge solcher Operationen hat man diese Nekrotisirungen beobachtet. Nun ist aber seitdem eine Reihe von solchen Operationen ausgeführt worden, bei denen man nichts davon gesehen, und andererseits haben auch die Er- scheinungen, welche an operirten Kaninchen beobachtet wurden, durchweg eine anderweitige Erklärung gefunden. Zunächst hat Sn eilen gezeigt, dass die Ophthalmie, welche eintritt, nur von äusseren Schädlichkeiten abhängt, welche jetzt, da die Empfin- dung und die Reflexbewegung dem Auge mangelt, nicht mehr abgehalten werden. Er verschloss das Auge und fand, dass, wenn er die Augenlider miteinander vereinigte und das Auge so geschützt hatte, die Augenent- zündung langsamer verlief. Aber nichtsdestoweniger trat sie noch ein. Er kam dann darauf, dass er seinen Versuch noch nicht mit allen Cautelen angestellt habe. Die Haut der Augenlider war ja unempfindlich, also wenn auch der Staub vom Innern des Auges abgehalten war, so konnte sich das Thier doch noch mit dem Auge anstossen und reiben, ohne davon schmerzhafte Empfindungen zu haben. Er sagte sich also : Ich muss einen neuen Wächter vor das Auge hinstellen, und diesen fand er Brücke. Vorlesungen. II. i. Aufl. 7 yb Nervus trieeminus. in dem Ohre des Kaninchens. Wir haben gesehen, dass zur Aussenfläche des Ohres des Kaninchens Cervicalneryen hingehen, und dass dieses daher seine Empfindlichkeit behält, wenn auch der Trigeminus durchschnitten ist. Er nahm also das Ohr und nähte es über das Auge herüber, und nun trat die Trigeminusophthalmie nicht ein. In ähnlicher Weise hat man derselben dadurch vorgebeugt, dass man einen kleinen Hut auf dem Auge des Kaninchens befestigte, so dass weder Staub in dasselbe eindringen, noch auch das Thier sich anstossen und so das Auge insultiren konnte. Es ist wohl kaum zu bezweifeln, dass auch die Röthung der Nasen- schleimhaut daher rührt, dass Staub und andere fremde Körper, die in die Nase eindringen, keine Reflexbewegung hervorrufen und also nicht sofort ausgestossen werden. Auch die Geschwürsbildungen an den Lippen, an dem Zahnfleische und am Gaumen rühren von mechanischen Insulten her. Die Kaninchen als Nagethiere nützen bekanntlich ihre Schneidezähne fortwährend ab, und dieselben wachsen allmälig wieder nach. Die Schneide bleibt hiebei gerade gerichtet, so lange das Thier mit seinen Zähnen gerade aufeinander beisst. Wenn aber der Trigeminus durchschnitten ist, so sind die Kaumuskeln, also auch die M. pterygoidei an der einen Seite gelähmt, und in Folge dessen beisst das Kaninehen nicht mehr gerade, sondern schief aufeinander. Seine Zähne beissen sich nun nicht mehr gerade, sondern schief ab. Dadurch kommt aber an der einen Seite eine Spitze zum Vorschein, und diese stösst an die Lippe an. Die Eolge davon ist, dass nach und nach durch das stete Anstossen eine kleine Abschürfung und dann ein Geschwür erzeugt wird, gerade so, wie manchmal bei Menschen durch Ecken von cariösen Zähnen solche Geschwüre an der Zunge hervorgerufen werden. Nun stehen aber auch die Backenzähne nicht gerade aufeinander, und deshalb beissen sieh auch diese schief ab. Es entstehen hervortretende Spitzen, die an der Innenseite der Backenzähne an das Zahnfleisch, da, wo es in den Gaumen übergeht, anstossen und auf mechanischem Wege Geschwürsbildung hervorrufen. Alle diese Erscheinungen, welche man nach der Durchschneidung des Trigeminus beobachtet hat, und die man früher als neuroparalytische auffasste, kann man heutzutage nicht mehr als solche deuten. Man hat früher behauptet, diese Erscheinungen träten sämmtlich nicht ein, wenn man den Trigeminus zwischen Hirn und Ganglion Gasseri mit sorgfältiger Schonung des letzteren durchschnitte. Diese Behauptung ist unrichtig : Bernard fand, dass nach solcher Durchschneidung die Augenentzündung schon in vollem Gange war, während sich keine Sptir von Degeneration der Nervenfasern auffinden liess. Man hat eine Zeitlang dem Trigeminus einen wesentlichen Einfluss auf die Sinneswahrnehmungen zugeschrieben, man sah ihn gewissermassen als einen Hilfsnerv für die sämmtlichen Sinnesnerven an. Diese An- schauungsweise hat sich aber nicht als haltbar bewiesen. Was zunächst das Gesicht anbelangt, so besteht dasselbe fort, so lange die Cornea noch durchsichtig ist. Es haben sich mehrere namhafte Physio- logen durch dii-ecte Versuche überzeugt, dass die Thiere noch sehen und, wie es scheint, in normaler Weise sehen, wenn auch der Trigeminus auf beiden Seiten durchschnitten ist. Auch beim Menschen hat man bei Trige- minuslähmung keine Störung der Gesichtsempfindung als solcher beobachtet. Nervus trigcminus. 99 Auch die Angaben über den Verlust des Gehörs bei Trigeminus- durchschneidung haben sich nicht bestätigt. Wenn die Operation in der gehörigen Weise ausgeführt ist, wenn der Nervus acusticus dabei nicht verletzt wurde, so ist auch das Gehör nach wie vor vorhanden. Ob der Geruch vorhanden ist, lässt sich an Thieren kaum mit solcher Gewissheit entscheiden. Die Versuche, auf Grund derer man eine Mit- wirkung des Trigeminus beim Gerüche annahm, rechtfertigen diesen Schluss nicht. Es ist hier wiederum mit Substanzen experimentirt worden, die hauptsächlich durch Empfindungen wirken, welche an und für sich durch den Trigeminus vermittelt werden. Es wurden z. B. Aetzammoniak und Essigsäure angewendet. Wenn ein Thier vor einer Ammoniakflasche zu- rückfährt, so thut es dies zunächst nicht, weil ihm der Geruch desselben unangenehm wäre, sondern, weil ihm Schmerz erzeugt wird. Wenn also ein Kaninchen, dem der Trigeminus auf beiden Seiten durchschnitten ist, nicht so vor dem Ammoniak zurückscheut wie ein gesundes, so beweist dies nicht, dass es seinen Geruch verloren hat. An Menschen sind an- scheinend ganz vollständige Trigeminuslähmungen beobachtet worden, bei denen der Geruch auch noch auf der kranken Seite vorhanden war. Es bleibt noch übrig, von dem Geschmackssinn zu sprechen. Wir werden später sehen, dass der Hauptgeschmacksnerv der Nervus glosso- pharyngeus ist, und dass durch ihn nach den Versuchen von Stannius die Geschmacksempfindung des Bitteren ausschliesslich vermittelt wird. Stannius fand, dass Kätzchen, denen er den Glossopharyngeus auf beiden Seiten durchschnitten hatte, Milch, welche mit schwefelsaurem Chinin bitter gemacht w""^ ebenso nahmen, wie andere Milch. Nichtsdestoweniger zeigte sich beim Menschen, wenn der Eamus lingualis nervi trigemini auf einer Seite durchschnitten war, vollständiges Aiifhören der Geschmacks- empfindung auf derselben Seite auf dem vorderen Theile der Zunge. Es ist dabei die Geschmacksempfindung des Bitteren miteingeschlossen. Ich habe selbst einen solchen Fall gesehen und untersucht. Es war eine Kranke, die vom Professor Weinlechner operirt wurde, wobei es nicht hatte vermieden werden können, mit einer zu exstirpirenden Geschwulst auch ein Stück aus dem Ramus lingualis nervi trigemini auszuschneiden. Der hintere Theil der Zunge konnte wegen Verengerung der Mundspalte nicht mit Sicherheit untersucht werden. Auf dem vorderen Theile der- selben zeigte sich die ki-anke Seite vollständig ohne Geschmacksempfindung. Die Kranke sprach sich auch sehr bestimmt darüber aus. Wenn man ihr schwefelsaures Chinin auf die gesunde Seite einpinselte, so nahm sie es sofort wahr. That man dasselbe auf der kranken Seite, so bemerkte sie davon nichts. Gab man ihr aber Wasser, sich den Mund auszuspülen, so schmeckte sie deutlich, wie sich das Chinin im Munde verbreitete. Sie gab auch an, dass sie beim Essen wahrnehme, dass sie nur auf einer Seite der Zunge schmecke. Es wüi'de unrichtig sein, hieraus zu schliessen, dass die Geschmacks- empfindung des Bitteren durch Fasern vermittelt werde, welche aus dem Trigeminus stammen. Es ist ja sehr möglich, dass dies Fasern sind, welche dem Glossopharyngeus angehören, aus diesem in die Jakobson' sehe Anastomose, von da in den Nervus petrosus superficialis minor, und end- lich durch das Ganglion otieum in den Lingualis übergegangen sind, Sie konnten dabei ihren Weg direct oder durch die Anastomose vom Ganglion 100 Nervus trigeminus. oticum zur Chorda nelimen. Es können auch Fasern des Glossopharyngeus vom Plexus tympanicus zum Genu nervi facialis und so zur Chorda ge- langen, und dass ein Theil der Geschmacksfasern diesen Weg nimmt, wird wahrscheinlich durch Bernard's Versuche an Thieren, bei denen die Chorda in der Trommelhöhle zerstört wurde, und durch mehrere Krankheitsfälle. Dass die Chorda Geschmacksfasern zum Lingualis bringt, kann kaum mehr bezweifelt werden ; dass der Trigeminus vom Hause aus Geschmacksfasern enthalte, muss dagegen als zweifelhaft erscheinen, nachdem in neuerer Zeit von Lussana, Vicioli und Althaus drei Fälle von vollständiger ein- seitiger Trigeminuslähmung publieirt worden sind, bei denen die Geschmacks- empfindung gar nicht alterirt war. Lussana spricht deshalb dem Trige- minus jeden Einfluss auf die Geschmacksempfindung ab. Hiezu muss indessen bemerkt werden, dass darüber nicht Alle gleich urtheilen, welche Gelegenheit hatten, vollständige einseitige Trigeminuslähmungen zu beob- achten. So entsinne ich mich aus mündlichen Mittheilungen von Professor Türk, dass ein Kranker auf seiner Abtheilung süsse und saure Substanzen auf der Seite, auf welcher er eine vollständige Trigeminuslähmung hatte, weniger schmeckte, als auf der gesunden. Die Sache steht also bis jetzt so, dass man wohl sagen kann, dass die Empfindung des Bitteren ausschliesslich vom IST. glossopharyngeus vermittelt werde, man aber nicht dasselbe von allen übrigen Geschmacksempfindungen aussagen darf. Wir werden später sehen, dass wahrscheinlich die ver- schiedenen Geschmacksempfindungen durch verschiedene Arten von Nerven- fasern vermittelt werden, dass also auch möglicher Weise nicht alle diese verschiedenen Nervenfasern in einer Wurzel zu Tage treten. In Rücksicht auf die Geschmacksempfindung des Süssen und Sauren sind, wie gesagt, die Beobachter nicht miteinander in Einklang. Man muss bei der Em- pfindung des Sauren bemerken, dass diese vielleicht keine reine Geschmacks- empfindung sei, sondern dass auch Gefühlsnerven mit an der Sensation des Sauren, wenigstens, wenn dieselbe stärker ist, Theil haben können. Hieran schliesst sich die Bemerkung, dass Kranke, welche die Geschmacks- empfindung durch Verletzung des Lingualis verloren haben, präcis und unaufgefordert angeben, dass sie auf der einen Hälfte der Zunge nicht schmecken, während bei Geschmackslähmungen, bei denen die Sensibilität der Zunge vollständig erhalten ist, das nicht schmeckende Gebiet erst durch Versuche in seiner Ausdehnung ermittelt und begrenzt werden muss. Manchmal weiss der Kranke gar nichts von einer theilweisen Geschmacks- lähmung, dieselbe wird erst durch die ärztliche Untersuchung ermittelt. Urbantschitsch hat in neuerer Zeit Beispiele gesammelt, wonach bei zahlreichen Individuen schwache Erregungen eines Sinnesnerven unter gleichzeitiger Erregung eines anderen Nerven besser als sonst wahrge- nommen werden, und solche Wahrnehmungen mögen auch mit dazu bei- getragen haben, den Trigeminus in den Ruf eines Hülfsnerven der Sinnes- nerven zu bringen. Die Trigeminuslähmung beim Menschen ist äusserlich nicht durch auffallende Erscheinungen charakterisirt. Im Zustande der Ruhe fällt die Lähmung der Kaumuskeln an der einen Seite nicht auf, indem der Mensch noch gerade aufeinander beisst. Man kann sich aber von der Lähmung derselben überzeugen, Avenn man die Finger auf die beiden Schläfen- rauskeln oder auf die beiden Masseteren setzt und nun den Kranken zu- Nervus facialis. 101 sammenbeissen lässt. Dann fülilt man deutlicli, wie auf der gesunden Seite die Muskeln sich contrahiren, und wie sie dies auf der gelähmten Seite nicht thun. Gibt man dem Kranken etwas zu kauen, so zeigt sich die Lähmung deutlich an der ungleichmässigen Bewegung der Kiefer. Da das Kauen auf der gesunden Seite stattfindet, so wälzt der Kranke mit der Zunge die Theile des Bissens, die auf die andere Seite gerathen sind, nach der gesunden zurück. Ferner zeigt sieh im Gebiete des Trigeminus Empfindungslosigkeit. Man kann förmlich an ihr die Ausbreitung der Lähmung auf Haut- und Schleimhautoberfläche abtasten und so ermitteln, ob alle Aeste gelähmt sind oder nur einer oder zwei. Dabei zeigt sich auch der Mangel der Eeflexbewegungen, den wir bereits besprochen haben. Nervus facialis seii communicans faciei. Der Nervus facialis entspringt in der Tiefe unter dem Boden des vierten Ventrikels, etwa 4^/2 Millimeter ventralwärts von demselben. Von den Ganglienzellen, aus denen er seinen Ursprung nimmt, gehören, wie bereits früher erwähnt wurde (S. 92) diejenigen, aus welchen die Fasern für den Orbicularis palpebrarum und den M. frontalis kommen, wahrscheinlich dem Facialis- Abducenskern von Meynert an. Die hier gegebene Orts- bezeichnung bezieht sich auf den auch schlechtweg Facialiskern genannten unteren Facialiskern von Meynert. Da der Nerv, nachdem er zu Tage getreten ist, sich hart au den Nervus aeusticus anlagert und mit diesem in den Meatus auditorius internus eintritt, so sahen die alten Anatomen den Facialis und Aeusticus als ein Nervenpaar an, das sie in eine Portio dura, den jetzigen Facialis, und eine Portio moUis, den jetzigen Aeusticus eintheiltcn. Zwischen beiden unterschied später "Wrisberg noch ein mittleres Bündel, welches dem Facialis beitritt und mit dem Namen der Portio intermedia Wrisbergii bezeichnet wird. Duval hält aus vergleichend ana- tomischen Gründen ihre Fasern für Geschmacksfasern, die aus einem Theil des Glossopharyngeuskerns entspringen und in die Chorda tympani übertreten. Indessen lassen sich die Geschmacksfasern der Chorda auch auf anderen Wegen vom Glossopharyngeus herleiten, so dass die Ansicht von Duval, dass die Fasern der Portio intermedia Wrisbergii Geschmacksfaseru seien, zwar richtig sein kann, aber nicht richtig sein muss. Sapolini leitet die Fasern der Portio intermedia aus den Corpora restiformia und dem Funiculus innomiuatus her und kommt durch anatomische Präparation gleichfalls zu dem Eesultate, dass sie in die Chorda tympani übergehen. Dies letztere Resultat vertritt auch Vulpian. Der Facialis führt in seinem Verlaufe zahlreiche sensible Fasern, welche er grösstentheils dem Trigeminus, zum Theil auch dem Vagus ent- lehnt hat. Wenn man den Trigeminus in der Schädelhöhle durchschnitten hat, so wird der Stamm des Facialis bei seinem Austritte aus dem Foramen stylomastoideum noch nicht ganz unempfindlich gefunde;i. Schon Longet leitete diesen Rest von Empfindlichkeit vom Vagus her, und zu demselben Resultate ist später auch Bernard durch seine A'^ersiiche gelangt. Der Facialis versorgt die sämmtlichen Muskeln, welche dem mimi- schen Ausdrucke des Gesichtes vorstehen, mit Einschluss des Buccinator. Ausserdem gibt er einen Ast zum Stylohyoideus und versorgt den hinteren Bauch des Digastricus. Dann "ibt er hoch oben schon einen kleinen Ast 102 Nervns facialis. ab, welcher zum M. stapeditis geht. Die beiden Muskeln des inneren Ohres werden also von verschiedenen Nerven versorgt : der M. mallei internus von der motorischen Portion des Trigeminus, der M. stapedius vom Facialis. Ferner gibt er Aeste ab zu den Mnskeln des äusseren Ohres, zum M. occipitalis und dem Platysmamyoides, wohin übrigens auch Cervicalnerven gehen, endlich zu zwei Muskeln des Ganmensegels. Auch zur Zunge sendet der Facialis, nach Bernard nnd nach Vulpian, moto- rische Fasern, und zwar auf dem Wege der Chorda tympani. Heidenhain leugnet aber diese Fasern. Allerdings kann man nach Durchschneidung des Hypoglossus und nachdem derselbe degenerirt ist, durch Reizung der Chorda noch Bewegungen in der Ziinge hervorrufen ; aber sie unterscheiden sich wesentlich von solchen, die diu'ch Reizung von Muskelnerven erzielt werden, nnd entstehen nach Heidenhain dadurch, dass die nicht degene- rirten motorischen Endplatten des Hypoglossus bei der Chordareizung durch irgend einen nicht mit Sicherheit eruirten Vorgang indirect erregt werden. Zu den Muskeln des Gaumensegels gelangt er in der Bahn des Nervus petrosus superficialis major, der vom Genu nervi facialis kommt, den Vidischen Nerven bilden hilft und als Bestandtheil desselben in das Ganglion sphenopalatinum übergeht. Durch dieses begeben sich die Faci ausfasern nach abwärts in das Gaumensegel, und zwar zum Levator palati moUis und Azygos uvulae. Beide Muskeln hat man sich beim mimischen Gesichts- krampf contrahiren sehen. Der Facialis scheint aber nicht ihr einziger Bewegungsnerv zu sein. Es haben sich bei Thieren auf Beizung der Glossopharyngeuswurzel angeblich nicht nxir der Levator veli, sondern auch der Azygos uvulae contrahirt. Nach Schlemm und Wolfert gibt der Glossopharyngeus den Ramus petrosalpingostaphylinus für den gleichnamigen Muskel ab, und Sanders fand bei Facialislähmung denselben nur unvoll- kommen gelähmt, den M. palatoglossus und M. palatopharyngeus gar nicht, obgleich auf der kranken Seite Taubheit eingetreten war, so dass er auf eine hoch oben liegende Lähmungsursache schloss. Der N. facialis ist ferner der Secretionsnerv der Speicheldrüsen. Bekanntlich entdeckten Ludwig und Bahn, dass die Speicheldrüsen nur dann secerniren, wenn ihre Nerven erregt werden. Sie beobachteten dies zunächst an der Glandula submaxillaris. Der Weg, den die Facialisfasern dahin nehmen, wurde später näher bestimmt als der Weg der Chorda tympani. Diese geht vom Facialis ab, macht ihren Weg durch die Trom- melhöhle, legt sich an den N. lingualis an, geht von demselben wieder ab, um in das Ganglion submaxillare seu linguale Meckelii einzutreten, und von diesem gehen die Nerven in die Glandula submaxillaris hinein. Als Bernard die Chorda in der Trommelhöhle durchschnitten hatte, konnte er auf reflectorischem Wege die Secretion dieser Speicheldrüse nicht mehr anregen, er konnte sie aber noch anregen, wenn er die Chorda oder den Lingualis da, wo er mit derselben vereinigt ist, reizte. Ai;sserdem gehen aber auch Fäden des Sympathicus vom carotischen Geflechte zum Ganglion maxillare, und in der That gehen auch Sympa- thicusfasern in die Drüse hinein, so dass man auch vom Sympathicus aus Speichelabsonderung erregen kann. Ludwig fand schon, dass der Facialis nicht der einzige Nerv sei, von welchem aus Speichelsecretion hervor- gerufen werden kann. Er fand, dass dies auch durch Beizung des Sympa- thicus geschähe, aber in viel geringerem Grade als dui'ch Beizung des Nervus facialis. 103 Facialis. Da beobachtete Czermak, dass, -wenn man Speichelabsonderung durch Reizung des Facialis hervorruft und dann den Sympathicus reizt, die Seeretion nun abnimmt. Sie wird nicht ganz aufgehoben, sie wird aber viel geringer als vor der Reizung des Sympathicus. Man kann sich dies so erklären, dass durch den Sympathicus der Drüse zweierlei Fasern zugehen, erstens solche, welche die Secretion erregen, und zweitens solche, welche die Gefässe verengern. Wir wissen ja, dass im Sj^mpathicus die vasomotorischen Nerven für das Carotidensystem verlaufen. Nun hat Bernard früher gezeigt, dass, während der Facialis oder die Chorda gereizt wird und die Drüse secernirt, aus der durchschnittenen Vene das Blut reichlicher und weniger dunkelroth herausfliesst, dass es dagegen viel spärlicher und viel dunkler venös gefärbt aus der Vene der nicht secer- nirendcn Drüse abtröpfelt. Es ist also klar, dass bei der durch den Fa- cialis angeregten Secretion das Blut reichlicher durch die Gefässe der Drüse hindurchfliesst, und zwar mit einer gewissen Geschwindigkeit, was sich darin zeigt, dass das Blut so unvollständig desoxydirt wurde. Wenn nun durch die Reizung des Sympathicus die Gefässe sich zusammenziehen, so wird dadurch die Blutzufuhr zur Drüse vermindert und daher die . Secretion, die durch den Facialis eingeleitet wurde, beeinträchtigt. Schwie- riger ist es zu erklären, dass, wie angegeben wird, durch Reizung des Sympathicus bei gleichzeitiger Reizung der Chorda oder des Facialis die Secretion unter dasjenige Maass herabgedrückt werden kann, welches diu'ch Reizung des Sympathicus allein erreicht wird. Eckhard und später Grützner fanden, dass auch durch Reizung der MeduUa oblongata Speichelsecretion hervorgebracht werden kann, so lange die Chorda erhalten ist stärkere, nach ihrer Durchschneidung schwächere. Ist auch noch der Sympathicus diu'chschnitten, so erhält man gar keine Secre- tion mehr. Es können hiernach nicht nur die durch den Facialis gehenden, sondern auch die durch den Sympathicus gehenden Secretionsnerven der Glandula submaxillaris von der MeduUa oblongata aus erregt werden. Der Facialis ist aber nicht blos der Secretionsnerv für die Sub- maxillaris, sondern auch für die Subungualis. Nach den Untersuchungen, welche in Heidenhain's Laboratorium von "Nawrocki angestellt worden sind, sendet er auch Secretionsfasern zur Parotis, und zwar dxu'ch den N. petrosus superficialis minor in das Ganglion oticum und von da in den N. auriculotemporalis, von wo aus sie zur Parotis verlaufen. Diesem wider- spricht Vulpian. Er sah auf direete Reizung der Facialiswurzel nur die Submaxillaris und Subungualis secerniren ; wenn er dagegen die Glosso- pharyngeuswurzcl reizte, so secernirte die Parotis. Dabei erweiterten sich die Gefässe hinter den Papulae circumvallatae, während ki'äftige Facialis- reizung Gefasserweiterung in den vorderen zwei Dritttheilen der Zunge hervorrief. Heidenhain nimmt für die Speicheldrüsen zweierlei Secretions- nerven an : Secretionsnerven im engeren Sinne, die wesentlich Wasser- übertritt in die Drüse vermitteln, sie sollen grösstentheils im Facialis verlaufen, imd trophische, d. h. solche, die die Umsetzung der Substanz der Sccretionszellen in Seeretionsbestandtheile vermitteln, und diese sollen grösstentheils im Sympathicus verlaufen. Es ist ihm in der That gelungen, durch Reizung des Halssympathicus in der Parotis sichtbare Veränderungen hervorziu'ufcn. Die Zellen AViu'dcn trübe und ihre Begrenzungen weniü'cr 104 Nervus facialis. deutlich, dabei trat ein gewisser Grad von Schrumpfung, von Verkleinerung ein, entsprechend der grösseren Menge von organischer Substanz, die in das Secret überging. Wir haben gesehen, dass schon Bernard wahrnahm, wie bei Eeizung der Chorda tympani das Blut aus der durchschnittenen Vene der Glandula submaxillaris reichlicher und heller roth floss. Vulpian hat später gefunden, dass sich zugleich die Zunge auf derselben Seite reichlicher mit Blut an- füllt und dabei die Vena ranina, wenn sie angeschnitten wird, dieselbe Erscheinung zeigt wie die Vene der Glandula submaxillaris. Die Gefässe erweitern sich also, wenn die Chorda gereizt wird. Wenn sie keine Muskelfasern haben, welche sie erweitern können, so bleibt uns nur übrig anzunehmen, dass gewisse Chordafasern den vasomotorischen Nerven gegen- über hemmend wirken und so den Tonus, das heisst den gewöhnlichen Contractionsgrad der Gefässmuskeln, temporär herabsetzen. Die Lähmung des IST. facialis zeigt sich in sehr auffallenden Er- scheinungen. Zunächst ist es klar, dass die Muskeln, welche den mimi- schen Gesichtsausdruck vermitteln, auf der kranken Seite gelähmt sind. Die Eolge davon ist, dass an der gelähmten Seite die Stirne glätter erscheint, dass der Nasenflügel daselbst abgeflacht, dass die Mundspalte um etwas nach der andern Seite herübergezogen ist. Diese Erscheinungen werden viel auffälliger, wenn der Kranke zu sprechen oder zu lachen anfängt, indem sich dann die Muskeln der gesunden Seite activ zusammen- ziehen iTud so die Mundspalte nach der gesunden Seite herüberzerren. Das Auge kann nicht geschlossen werden, weil der M. orbicularis palpe- brarum seinen Dienst versagt. Es ist dies der sogenannte Lagophthalmus paralyticus. Der Kranke kann also auch nicht sein Auge durch Blinzeln abwischen. Er muss durch Contraction des M. rectus superior das Auge nach auswärts rollen, um es unter das obere Augenlid zu bringen. Schief- stellung des Gaumensegels, namentlich der Uvula, ist in einigen, aber nicht in allen Fällen beobachtet worden. Es ist dies begreiflich, weil die meisten Facialislähmungen ihren Grund haben in einer Compression, welche der ISTerv irgendwo während seines langen Verlaufes durch den Canalis Eallo- piae erleidet, die Nerven für' das Gaumensegel aber schon vom Genti nervi facialis abgehen. Es sind überhaupt die Angaben über Schiefstellung der Uvula in jedem einzelnen Ealle mit Vorsieht aufzunehmen. Die Einen geben an, die Uvula sei nach der kranken, die Andern, sie sei nach der gesunden Seite abgelenkt gewesen. Es ist möglich, dass dies wirklich in verschiedenen Innervationsstörungen seinen Grund hat. Es ist aber auch möglich, dass bei einem Theile der betrofi^enen Individuen die Uvula von vorneherein schief gestanden hatte. Untersucht man den Rachen bei ver- schiedenen Personen, so wird man viele finden, bei denen die Uvula nicht in der Mittellinie steht, sondern nach der einen oder anderen Seite geneigt ist. Die Schlingbeschwerden, die etwa durch Lähmung des Gaumensegels hervorgerufen werden könnten, sind entweder gar nicht vorhanden gewesen oder waren von keiner besonderen Bedeutung. Eine sehr merkwürdige Complication mancher Facialislähmungen ist theilweise Geschmackslähmung. Man kennt sie bis jetzt nur an solchen Fällen, in denen der Facialis comprimirt war in einer Höhe, in der er die Chorda tympani noch nicht abgegeben hatte. Wir werden von ihr noch beim Nervus glossopharyngeus spi-echcn. Nervus facialis. 105 Aucli Gehörsstörungen sind beobachtet worden. Bei Einigen hcisst es, die EJL'anken hätten auf der gelähmten Seite schlechter gehört oder seien taub gewesen, was auf Comprcssion des Aeusticus zu beziehen ist. In anderen Fällen soll aber die sogenannte Hyperacusis Willisiana beobachtet worden sein, das heisst eine cigenthümliche, schmerzhafte Empfmdlicbkeit gegen stärkere Töne und Geräusche, was vom Schlottern des Steigbügels im ovalen Fenster abgeleitet wird. Es muss aber bemerkt werden, dass dies nur selten beobachtet wurde, was vielleicht damit zusammenhängt, dass der N. stapedius verhältnissmässig hoch oben vom Facialis abgeht. In neuerer Zeit ist in ein paar Fällen auch Steigerung der Gehörschärfe für tiefe Töne beobachtet worden. Die Lähmung des Facialis ist wegen dos Verlaufes des Nerven dui'ch einen langen engen Knochenkanal bei Weitem die häutigste von allen Hirnnervenlähmungen. Da sie schon durch blosse Schwellung der Bein- haut in demselben zu Stande kommt, so ist die Prognose im Allgemeinen eine günstigere und gibt nicht zu den düsteren Rückschlüssen Veranlassung, zu welchen die Lähmungen anderer Hirnnerven zumeist auffordern. Wenn indessen die Lähmung des Facialis eine bleibende ist, dann ist sie keines- wegs ein so unbedeutendes Uebel. Abgesehen von der Entstellung, die sie mit sich bringt, und die sich im Laufe der Zeit noch vermehrt, indem die gelähmten Theilc immer mehr schlaff und hängend werden, kann sie mit der Zeit das Auge benachtheiligcn, weil es nicht in seiner gewöhn- lichen Weise diirch das obere Augenlid geschützt ist. Namentlich ist Thränenträufeln und Neigung zu Entzündungen der Bindehaiit als häufige Folgeerscheinung beobachtet worden. Auch der mangelhafte Lippen ver- schluss und in Folge davon leichtes Verschütten von Getränk ist den Be- troffenen oft sehr lästig. Goldziehe r beobachtete an einer Kranken mit Facialislähmung, dass, wenn sie weinte, die Thränen nur auf der gesunden Seite flössen. Später, als die Lähmung gewichen war, weinten wieder beide Augen. In der Jugend erworbene und bleibende Facialislähmung zieht noch andere Folgen nach sich. Ich habe im April des Jahres 1872 zwei Kaninchen, die bis auf etwas mehr als die Hälfte ihrer späteren Länge erwachsen waren, den Facialis auf einer Seite ausgerissen und habe sie dann aufwachsen lassen. Im Laufe des Winters sind sie von Herrn Schauta untersucht worden, und zwar erst lebend, dann todt, um die Veränderungen zu constatiren, die am Kopfe derselben zu beobachten waren. Es zeigte sich zunächst an diesen Thicren eine auffallende Veränderung des Gesichtes. Die Mund- spaltc war nicht nach der gesunden Seite verzogen, wie dies bei ^lenschcu mit Facialislähmungen der Fall ist, sondern es war die jMundspaltc und die ganze Schnauze nach der gelähmten Seite hingerückt. Auch die Vor- derzähnc sowohl im Oberkiefer als im Unterkiefer standen schief. Als die Thiere, um sie besser mit dem elektrischen Strome untersuchen zu können, rasirt worden waren, fanden sich auf der kranken Seite Falten, welche senkrecht standen auf einer Linie, die man sich vom Auge zum Mundwinkel gezogen denkt. Die Haut war also nicht zu kurz, es musstc etwas unter der Haut liegen, was das Maul herüberzog. Bei der Unter- suchung mit dem elektrischen Strome zeigte sich die gelähmte Seite im hohen Grade untcrempfindlich gegen Inductionsströme, dagegen zeigte sie 106 Nervus glossopharyngeus. sich, im massigen Grade überempfindlich gegen das Schliessen und Oeffnen eines constanten Stromes. Es stimmt dies ganz mit den Beobachtungen überein, welche zuerst Beierlacher und dann Benedict Schulz über ältere Facialislähmungen am Menschen veröffentlicht haben. Wir wissen jetzt, dass die Unterempfindlichkeit davon herrührt, dass die nervenlosen Muskeln zwar durch elektrische Ströme erregt werden, dass sie aber durch so kurzdaiiernde elektrische Ströme, wie die Induetionsströme, viel schwerer erregt werden als die Nerven und also auch als solche Muskeln, deren Nerven noch erregbar sind (vergl. Bd. I, S. 499). Nachdem diese Unter- suchungen am lebenden Kaninchen beendet waren, wurden die Thiere ge- tödtet und zunächst die Muskeln untersucht. Bei dem einen Kaninchen war der Querschnitt der Muskeln auf der kranken Seite nicht wesentlich verschieden von dem der Muskeln der gesunden Seite, und es zeigten sich auch keine Erscheinungen von Atrophie oder Entartung an denselben. Anders verhielt es sich mit dem andern Kaninchen, das zwei Monate länger nach der Operation gelebt hatte. Bei diesem waren die Muskeln der gelähmten Seite dünn und atrophisch, und es zeigte sich auch in der mikroskopischen Structur die regressive Metamorphose deutlich ausgeprägt. Es hatte also hier die Ernährung der Muskeln die Integrität der Nerven sehr lange Zeit überdauert. Die Nerven degeneriren bei warmblütigen Thieren und beim Menschen im Laufe der ersten oder am Anfange der zweiten Woche, wenn so exscindirt wurde, dass sie sich nicht wieder mit den Stämmen, von denen sie getrennt wurden, vereinigen können. Die Speicheldrüsen waren auf der gelähmten Seite kleiner und leichter als auf der andern, so dass demnach ihre Entwickelung unter der frühzeitigen Zerstörung ihres Hauptseeretionsnerven gelitten hatte. Das Auffallendste und B,äthselhafteste war eine Veränderung in dem Knochenbaue des ganzen Schädels. Es war der Schädel gewissermassen nach der gelähmten Seite gekrümmt, das heisst, wenn man sich die Mittel- ebene durch den Schädel gelegt denkt, so war diese bei den operirten Thieren keine Ebene, sondern eine Fläche, welche nach der gesunden Seite convex, nach der kranken concav war. Diese Veränderung war an beiden Schädeln wahrnehmbar, und zwar sowohl am Ober-, als am Unter- kiefer. An dem einen Schädel war sie auffallender als an dem andern. Aehnliche Beobachtungen waren schon früher von Bro wn-Sequard (1853) und von Lussana und Vlacovich gemacht worden, und dieselben hatten gefunden, dass die Verzerrung der Weichtheile nach der gelähmten Seite bei Kaninchen ziemlich bald nach der Operation eintritt. Nervus glossopliaryiigeiis. Der Kern dieses Nerven liegt vor dem des Vagus, das heisst, wenn man vom Rückenmarke gegen das Hirn rechnet, nach aufwärts vom Vagus- kerne, so dass er eine Fortsetzung desselben genannt werden kann. Er liegt nicht so oberflächlich wie dieser, sondern etwas tiefer. Er besteht nach H. Obersteiner aus drei verschiedenen Zellengruppen, entsprechend den drei später aufzuzählenden Functionen der Nerven. Von den zu Tage tretenden Wurzelfasern des N. giossopharyngeus, die nach H. Obersteiner noch durch den grösstcn Theil der Fasern des, seinem Ursprünge nach nicht sicher bekannten Solitärbündols von S tili in g verstärkt werden. Nervus glossopharyngeus. 107 bildet ein Theil ein kleines Ganglion, während der andere Thoil der Fasern an diesem Ganglion vorübergeht und sich daran nicht betheiligt. Dieses kleine, stecknadelkopfgrosse Ganglion ist von Ehrenritter entdeckt worden. Es gerieth dann in Vergessenheit und wurde später von Johannes Müller wieder gefunden. Es führt den Namen des Ehrenri tter-Müller'schen Ganglions. Dann bildet der Glossopharyngeus in der Fossula petrosa das Ganglion petrosum seu Anderschii. In Rücksicht auf diese Ursprungsweise hat sich ein Streit darüber erhoben, ob der Glossopharyngeus ein gemischter Nerv sei, d. h. gemischt aus centripetal- und centrifugalleitenden Bahnen, oder ob er ausschliesslich aus centripetalleitenden Bahnen bestehe. Die letztere Ansicht war die herrschende, als Johannes Müller dafür eintrat, dass der Glossopharyn- geus ein gemischter Nerv sei. Er berief sich wesentlich darauf, dass das von ihm wieder entdeckte Ganglion das eigentliche Wurzelganglion des Nerven sei, und dass es nur einen Theil der Fasern umfasst, während die anderen an demselben vorbeigehen. Longet erklärte sich später wieder für die alte Ansicht und berief sich darauf, dass alle Fasern des N. glosso- pharyngeus aus der Verlängerung des Sulcus coUateralis posterior aiistreten, und dass er ja auch ein zweites Ganglion bilde, und wenn ein Theil der Fasern sich wirklieh nicht an dem Ganglion betheilige, so könne dies daher rühren, dass der N. glossopharyngeus gemischt sei, aber nicht aus einem sensiblen und einem motorischen, sondern aus einem Tastnerven imd einem Geschmacksnerven. Es sei ja nicht sicher, dass die Geschmacks- nerven sich, wie die hinteren Rückenmarks wurzeln, an der Bildung eines Wurzelgangiions betheiligen. Bis dahin hatte man niu* immer die Reizversuche am Halstheile des Glossophai'yngeus vorgenommen. Es konnte also ungewiss sein, ob die Muskelcontractionen, die man hier erzielt hatte, wirklich von den Fasern des letzteren herrühren oder nicht. Jetzt muss man, wenn man nicht geradezu die Angaben guter und gewissenhafter Beobachter leugnen will, zugeben, dass die Ansicht von Johannes Müller die richtige ist, indem angegeben wird, dass auf Reizung der Wiu'zel Contraction im M. stylo- pharyngeus, im Constrictor pharyngis medius, im Levator palati mollis und im Azygos uvulae erzielt worden seien. Vv^ir sehen hier also eine zweite Quelle für die motorische Innervation des weichen Gaumens, die erste haben wir im N. facialis kennen gelernt. Im Uebrigen ist der N. glossopharyngeus wenigstens in Rücksicht auf seinen Zungenast vor Allem Geschmacksnerv. Er verbreitet sich vor- Aviegend im hinteren Dritttheile der Zunge und versieht die Papillae circumvallatae. Er gibt aber auch einen von Hirschfeld entdeckten Ast ab, der in der Zunge fortläuft und bis an den vordersten Theil derselben gelangt. Wir haben femer gesehen, dass auch der Ramus lingualis N. tri- gemini wahrscheinlich der Zunge Glossopharyngeusfasern zuführt. In einem von K. B. Lehmann beobachteten Falle von Fractiu* der Schädelbasis war die Empfindlichkeit der ganzen Zunge vollständig erhalten, während auf der linken Seite die Geschmacksempfindung überall fehlte, mit Ausnahme der Spitze, wo sie auch etwas geringer war als auf der anderen Seite, und der Glossopharyngeus wird von Vielen für den ausschliesslichen Geschmacks- nerven gehalten. In Rücksicht, auf die Geschmacksempfindung des Bitteren ist hierüber auch kein Zweifel vorhanden. Nicht "'anz so steht es, wie 108 Nervus glossopliaryngeus. bereits erwähnt wurde, in Rücksicht auf die Empfindung des Süssen und Sauren, indem nach einigen Beobachtern Individuen, bei denen der Trige- minus, nicht aber der Glossopharyngeus gelähmt war, süsse und saure Substanzen auf der gelähmten Seite schwächer schmeckten als auf der gesunden. Eerner erzählt Bernard von einem Falle von Facialislähmung, in dem Citronensäure, die man auf die gesunde Seite einstrich, schneller als auf der kranken Seite gespürt wurde. Bernard leitet dies von der Lähmu.ng der Chorda tympani ab, und er gibt an, dass, wenn er Hunden die Chorda tympani in der Trommelhöhle zerstört hatte, sie auf die kranke Seite gebrachte Weinsäure weniger rasch bemerkten als auf der gesunden Seite. Auch von Duchenne und von Romberg sind Fälle beschrieben worden, welche für eine Betheiligung der Chorda an den Geschmacks- empfindungen sprechen. 0. Wolf durchschnitt in einem Falle beim Men- schen die Chorda in der Paukenhöhle. Die Vorderzunge verlor auf der- selben Seite die Geschmacksempfindung von der Spitze an in der Länge von zwei Centimetern, in der Mittellinie gemessen. Zugleich verschwand nach Wolf in diesem Gebiete die Temperaturempfindung und die Tastempfindung, insofern als rauhe Gegenstände wie glatt gefühlt wurden. Wir haben schon früher beim Nervus facialis Erscheinungen besprochen, welche hierher ge- hören. Wenn auch sicher Geschmaeksfasern in der Chorda tympani ver- laufen und durch diese zur Zunge gelangen, so muss doch ihr Ursprung noch als unbekannt bezeichnet werden. Keinesfalls kann derselbe in der Facialiswurzel gesucht werden, mit grösserer Wahrscheinlichkeit in der des Glossopharyngeus oder doch in deren Kern, und zwar, wie schon früher erwähnt, so, dass sie sich durch die Portio intermedia Wrisbergii aus dem Glossopharyngeuskern herleiten, oder so, dass sie ihren Weg vom N. glossopharyngeus zunächst durch den Plexus tympanicus genommen haben und dann das Genu nervi facialis passirend zur Chorda gelangt sind, oder absteigend durch den IST. petrosus superficialis minor zum Ganglion oticum und von diesem entweder direct in den Stamm des N. lingualis oder auf dem Umwege durch die Chorda. Die zahlreichen Fälle von Geschmacks- anomalien bei Erkrankungen der Paukenhöhle weisen gleichfalls deutlich auf Geschmacksfasern in der Chorda oder im Plexus tympanicus oder mit mehr Wahrscheinlichkeit in beiden hin. Sie sind in neuerer Zeit von V. Urbantschitsch gesammelt und durch eigene Beobachtungen vermehrt worden. Auch sind beim Ausspritzen der PaiTkenhöhle subjective Ge- schmacksempfindungen beobachtet worden. Man kann kaum zweifeln, dass der K. glossopharyngeus auch ein Empfindungsnerv sei, einerseits in Rücksicht auf die Aeste, welche zur Wurzel der Zunge gehen, namentlich aber in Rücksicht auf seinen Schlund- theil. Dieser verflicht sich so mit den Aesten des Vagus, dass es schwer ist, die Functionen beider Nerven hier von einander zu trennen. Wir werden die Reflexbewegungen , die hier ausgelöst werden , nicht beim Glossopharyngeus, sondern beim Vagus abhandeln, obgleich es sich nicht mit Sicherheit sagen lässt, ob sie diesem ausschliesslich zugehören. Der Glossopharyngeus gilt ferner auch für den Hauptempfindungsnerven der Tuba Eustachii und der Trommelhöhle. Nach Vulpian führt Reizung des N. glossopharyngeus Blutüber- füllung des hinteren Theiles der Zunge herbei. Er schreibt ihm deshalb vasodilatatorischc Fasern für die hier verlaufenden Gefässe zu, das heisst Vagus und Accessorius. lOD solche, welche den Zusammenziehurigsgracl ihrer Miiskeln herabsetzen. Auch staninacn nach Vulpian die Secretionsncrven der Parotis^ wie ich bereits früher erwähnt habe, aus dem Glossopharyngeus. jSTach den Untersuchungen von Kr oneeker und Melzcr kann durch Reizung des 'N. glossopharyngeus die Auslösung von Schluckbewegungen gehemmt werden. Nervus vagiis und Nervus accessorius Willisii. Wir müssen diese Nerven im Zusammenhange betrachten, weil ein Theil des Accessorius in seinem Verlaufe so mit dem Vagus verbunden ist, dass wir ihre Functionen nicht überall von einander trennen können. Dieser Theil, es ist der, welcher aus der MeduUa oblongata entspringt, wurde von Willis gar nicht zum Accessorius gerechnet, sondern zum Vagus, und Holl hält diese Auffassxmg auf Grund seiner anatomischen Untersuchungen für die natürlichere. Im Folgenden bediene ich mich der Nomenclatur der gangbaren Lehrbücher. Der, welcher die ursprüngliche von Willis vorzieht, hat für Ausdrücke „innerer Ast des Accessorius", „MeduUa oblongata -Wurzeln des Accessorius", den Ausdruck: „Untere ge- trennte Vaguswurzeln" zu substituiren. Ueber den Ursprung des Vagus in der MeduUa oblongata haben wir bereits gesprochen. Der K. acces- sorius entspringt abweichend von allen übrigen Nerven, indem er weder wie die hinteren Wurzeln, noch wie die vorderen zu Tage tritt, sondern zwischen den hinteren und vorderen Wurzeln der Spinalnerven. Seine Fasern, die im Eückenmarke zerstreut in den Seitensträngen verlaufen, sammeln sich gegen die Oberfläche der letzteren und treten hier zu Tage. Der centrale Verlauf dieser Fasern ist schief nach abwärts gerichtet, wie dies schon der äusserliche Verlauf der Aceessoriuswurzeln andeutet, nament- lich des Theiles, der seinen Ursprung aus dem Rückenmarke nimmt. Ja, man ist sogar der Meinung, dass die letzten Accessoriuswoi'zeln ihren Ur- sprung tief unten im Brusttheile des Rückenmarkes haben. Der Accessorius charakterisirt sich als ein motorischer Neiw. Man hat die Wurzeln desselben zwar auch empfindlieh gefunden, aber Bernard, der übrigens diese Sensibilität bestätigt, hält sie für eine recui'rircnde und leitet sie von Fasern sensibler Rückenmarksnerven ab, die sich an die Wurzeln des Accessorius anlegen. Der Accessorius theilt sich in einen vorderen oder inneren und in einen hinteren oder äusseren Ast. Letzterer durchbohrt den Sternocleidomastoideus, gibt ihm Aeste und verzeigt sich dann im Cucullaris. Der vordere innere Ast tritt in die Scheide des N. vagus. Wir müssen deshalb seine motorischen Eigenschaften im Zu- sammenhange mit denen des Vagus betrachten. Die ei'ste Frage, die sich uns aufdrängt, ist die, ob der Vagus in seiner Wurzel motorische Fasern führt, ob er nicht ein rein sensibler Nerv ist. Nach der älteren Ansicht, die von Bischoff und Longet vertreten wird, wäre dies der Fall, und der Accessorius wäre die motorische Portion des Vagus. In neuerer Zeit ist man aber zu anderen Resultaten ge- kommen, indem man dui'ch Rciz;ing dos Vagus an der Wurzel desselben Muskelzusammenziehungen erhalten hat, und zwar im Constrictor pharyngis superior, medius und inferior, endlich auch im Oesophagus bis auf den Magen hinab, ferner im Levator palati mollis, im Palatopharyngeus und 110 Vagus und Accessorius. Azygos uvulae. Es muss bemerkt werden, dass, wie erwähnt, zweien dieser Muskeln des weichen Gaumens auch Nerven vom Facialis und vom Grlossopharyngeus zukommen. Es liegt uns nun ob, die motorische Wirkung des N. vagus und des N. accessorius. so viel als möglich von einander zu sondern. Zunächst also, wie verhält es sich mit den Bewegungen im Schlünde und im Oeso- phagus? Wenn einem Thiere die beiden N. vagi am Halse durchschnitten sind, so füllt sich sein Oesophagus vollständig mit Speisen an, indem es ihm unmöglich ist, dieselben in den Magen hinabzubringen. Man kann darüber einen sehr lehrreichen Versuch anstellen. Man füttert ein Kanin- chen längere Zeit mit einem und demselben Futter, so dass sich im Magen kein anderes Futter als dieses befindet. Hierauf, nachdem die Vagi durch- schnitten worden sind, gibt man ihm ein anderes, und zwar ein leicht kenntliches Futter, z. B. blauen Kohl oder gelbe Rüben. Dem Thiere fällt dabei häufig, weil ihm die Reflexe fehlen, ein Theil des Futters in die Respirationswege und es geht stiflfocatorisch zu Grunde. Geschieht dies nicht, so tödtet man es und findet dann den Oesophagus bis zur Cardia hin mit dem neuen Futter angefüllt, dagegen im Magen nicht die geringste Quantität desselben. Bei Vögeln kann man sehr gut von einer Wunde aus, die man im Nacken macht, die beiden Vagi durchschneiden. Hat man dies gethan, so frisst das Thier wie gewöhnlich, aber es füllt sich nur den Kropf an, in den Magen gelangt nichts. Man könnte glauben, dies hänge damit zusammen, dass die Reflexe fehlen, die beim Schlingen nöthig sind, während die eigentlichen Bewegungen, als solche, vom Acces- sorius vermittelt würden. Das ist aber nach Bernard 's Versuchen nicht der Fall. Wenn die Muskeln des Oesophagus vom Accessorius innervirt würden, so müsste auch das Schlingen unmöglich werden, wenn der Acces- sorius auf beiden Seiten ausgerissen wird. Bernard hat ihn aber auf beiden Seiten ausgerissen und die Thiere waren nichtsdestoweniger im Stande, aus der Mundhöhle bis in den Magen hinab zu schlingen. Man muss also demnach sagen, dass zwar der Accessorius auch Muskeln in- nervirt, die beim Schlingen thätig sind — denn es ist Beschwerlichkeit im Schlingen auch am Menschen bei Accessoriuslähmung beobachtet — dass aber der Oesophagus vom N. vagus innervirt wird, so dass die Be- endigung des Schlingactes wesentlich durch motorische Wirkung des N. vagus erfolgt. Das Ablaufen der Contraction über den Oesophagus erfolgt dabei nicht durch Fortpflanzung der Erregung in der Musculatur als solcher und auch nicht durch ein in der Wand des Oesophagus liegendes Ganglien- system; es erfolgt eine Reihe von Reflexen, die in typischer Folge im Centralorgane ausgelöst werden, denn einerseits werden durch theilweise Durchschneidung der Nerven, welche zum Oesophagus treten, entsprechende Abschnitte desselben gelähmt, andererseits hat Mos so den Oesophagus ganz durchschnitten, ja ein Stück aus demselben ausgeschnitten, und doch pflanzte sich ein im Schlünde erregter Schlingact bis zum Magen fort. Bernard hat Thiere, denen der Accessorius ausgerissen war, längere Zeit am Leben erhalten. Die Speisen mussten also aus dem Magen fort- geschafft worden sein, und dies rechtfertigt die Annahme, dass der Vagus auch der Bewegungsnerv des Magens sei. Es muss hier noch ein älterer Versuch von Budge erwähnt werden, der in Folgendem besteht. Man legt einem Kaninchen das kleine Gehirn bloss, nimmt ihm Herz, Lungen und Vagus und Accessorius. 111 Zwerchfell heraus, so dass der Oesophagus und der Magen ganz frei liegt. Nun reizt man das kleine Gehirn elektrisch und sieht eine Contraction ablaufen, die im Schlünde beginnt, über den Oesophagus hingeht und sich über den Magen erstreckt. Das tritt jedesmal ein, so oft die Elektroden an das kleine Gehirn angelegt werden. Wenn man aber die Vagi durch- schneidet, so hört diese Wirkung auf, zum Zeichen, dass dieselbe durch den Weg des Vagus zum Magen hingeführt worden ist. Der N. vagus ist auch für den Secretionsnerven des Magens gehalten worden. Es wurde behauptet, dass, wenn die N. vagi durchschnitten seien, kein saurer Magensaft mehr abgesondert werde. Es steht dies aber im directen Widerspruche mit den Versuchen von Bidder und Schmidt und ebenso mit den von mir angestellten. Bidder und Schmidt haben bei Säugethieren die Vagi durchschnitten und hinterher nicht nur gefunden, dass noch saurer Magensaft abgesondert wurde, sondern sie haben selbst den Säuregrad desselben numerisch bestimmt. Ich habe ähnliche Versuche an Tauben und Hühnern gemacht und habe nichtsdestoweniger auch mehrere Tage nachher noch stark sauren Magensaft im Magen gefunden, dagegen niemals unverdaute Speisenreste, was doch der Fall sein müsste, wenn nach Durchschneidung der Vagi die Verdauung sistirt würde. Nach Ver- suchen, die später von Pinkus angestellt wurden, soll der Magensaft alkalisch werden, wenn die Vagi im Foramen oesophageum durchschnitten worden sind. Hiernach würden also dem Vagus in seinem Verlaufe die Secretionsfasern für die Labdrüsen beigesellt werden. Diese Fasern sollen aus dem Sympathicus entspringen, in den sie wahrscheinlich durch E,ami communicantes eintreten. Der Vagus und Accessorius geben auch die Bewegungsnerven für den Kehlkopf ab und es entsteht somit die Frage : wie theilen sie sich in Rücksicht auf die Innervation der Kehlkopfmuskeln? Nach der einen Ansieht, die von Bischoff aufgestellt und von Longet bestätigt wurde, ist der Accessorius der ausschliessliche Bewegungsnerv des Kehlkopfs, und der Vagus schickt nur sensible Fasern zu demselben. Sie berufen sich darauf, dass bei Ziegen, denen sie die Wurzeln des Accessorius durch- schnitten, die Muskeln des Kehlkopfs sämmtlich und vollständig gelähmt waren. Anders sind die Angaben von Bernard, der sagt, dass nach Aus- reissung der beiden Accessorii die Thiere zwar vollkommen stimmlos ge- wesen seien, dass aber der Kehlkopf wie bei der Inspiration offen gestanden. Wenn er dagegen den N. vagus am Halse durchschnitten hätte, wo er die Accessorius- und die Vagusfasern zusammenführt, dann seien alle Kehlkopf- muskeln gelähmt gewesen, und die Stimmritze sei nicht dauernd offen gestanden, sondern die Stimmbänder hätten geschlottert. Er schliesst hieraus, dass die Kehlkopfmuskeln sowohl vom Accessorius, als vom Vagus moto- rische Fasern bekommen, dass die Fasern, die vom Accessorius kommen, wesentlich zur Stimmbildung dienen, und er bezeichnet ihn deshalb als den Stimmnerven des Kehlkopfs, dass dagegen die Fasern, welche vom Vagus kommen, die Muskeln innerviren, welche bei der Inspiration die Stimmritze erweitern, damit die Liift frei einströmen könne. Es sind vielfältige Versuche darüber angestellt worden, ob die eine oder die andere Ansicht die richtige sei, man ist aber noch nicht zu übereinstimmenden Eesultaten gekommen, und es scheint fast, als ob die Schuld nicht nur an den verschiedenen Beobachtern, sondern wesentlich an 112 Vagns und Accessorius. Verschiedenheiten zwischen den Thieren, an welchen man experimentirte, lag, so dass mau sich also keinen bestimmten Schluss auf die Anordnung der Fasern und die Innervation der einzelnen Muskeln im menschlichen Kehlkopfe erlauben darf. Vielleicht sind auch Wurzelfasern, welche von den Einen noch zum Accessorius gerechnet wurden, von Anderen schon zum Vagus gezählt, denn es handelt sich hier gerade um die obersten der Vaguswtu'zel zunächst liegenden TJrsprungsfäden des Accessorius. Von den tiefer entspringenden, namentlich von den im Rüekenmarke, nicht mehr in der Medulla oblongata, entspringenden, weiss man mit Sicherheit, dass sie überhaupt keine Fasern zu den Kehlkopfmuskeln senden. Zum Kehlkopfe gehen bekanntermassen zwei grössere Aeste des Vagus, der Laryngeus superior und der Laryngeus inferior seu N. laryngeus re- currens. Dieser letztere war schon Galen als ein wichtiger Nerv für die Stimmbildung bekannt, indem er fand, dass Schweine nicht mehr schreien konnten, wenn er die Recurrentes umschnürt hatte. Dieser ist es auch in der That, welcher die Hauptmasse der Muskelnerven für den Kehlkopf abgibt. Der Laryngeus superior ist grösstentheils Empfindungsnerv. Er theilt sich in einen kleineren, äusseren Ast, der ist ein Muskelnerv und geht zum M. cricothyreoideus und M. cricoarytaenoideus lateralis, und in einen inneren Ast, der die Membrana hyothyreoidea durchbohrt und sich in der Schleimhaut des Kehlkopfs verzweigt, indem er hier die Empfindungen und die Eeflexbewegungen vermittelt. Der M. cricothyreoideus erhält ausserdem den von S. Exner entdeckten, aus dem Ramus pharyngeus N. Vagi stammenden, beim Menschen sehr dünnen N. laryngeus medius, und die Musculi arytaenoidei, sowie der cricoarytaenoideus posticus er- halten nach demselben Autor ausser ihi-en Aesten vom IST. laryngeus recur- rens noch Aeste vom IST. laryngeus superior. Auch beschränken sich nach ihm die Nerven nicht auf ihre Seite, sondern überschreiten die Mittel- ebene, so dass beim Thyreoarytaenoideus internus, bei den arytaenoidei transversi und obliqui und selbst beim cricothyreoideus die durch ein- seitige Nervendurchschneidung hervorgerufenen Degenerationen auch auf die andere Seite hinübergreifen. Wenn die Recui'rentes laryngis durch- schnitten sind, der Laryngeus superior und medius aber noch vorhanden, so sind die inneren Kehlkopfmuskeln, so weit sie nicht von diesen Nerven versorgt werden, gelähmt; aber da der M. cricothyreoideus nicht gelähmt ist, zieht dieser den Schildknorpel nach sich und spannt auf diese Weise die Stimmbänder an. Der N. vagus verzweigt sich auch in den Bronchien und im Lungen- gewebe, und man nimmt deshalb an, dass die motorischen Fasern, welche er fühi't, auch zur Innervation der glatten Muskelfasern, die sich in den Bronchien und im Lungengewebe befinden, dienen. Der N. vagus fühi-t in seinem Stamme ausser seinen motorischen Impulsen noch einen anderen centrifugal laufenden Impuls, einen Hem- mungsimpuls. Er führt nämlich Hemmungsnerven für das Herz. Eduard Weber entdeckte vor einer Reihe von Jahren, dass, wenn man die N. vagi irgend eines Thieres am Halse dui'chschneidet, das Herz in einem schnel- leren Rhythmus schlägt, als es vorher geschlagen, und dass, wenn man die peripherischen Stümpfe der durchschnittenen Vagi reizt, das Herz lang- samer schlägt, und wenn die Reizung stärker ist, sogar stille steht. Das- selbe Resultat kann man durch Reizung jedes der beiden Vagi einzeln Vagus unil Accessorins. llo erhalten; aber der rechte Vagus ist der -wirksamere. Dies wurde zuerst von A. B. Meyer an der gemeinca Flussschildkröte (Emys Europaea) beobachtet, bei der der Unterschied besonders auffallend ist. Das Herz steht still in der Diastole. Das also, was hier hervor- gerufen wird, ist eine wirkliche Hemmung. Es stehen alle Theile des Herzens in der Diastole still, so dass man die Sache nicht so auffassen kann, als ob das Herz in irgend einer Phase seiner Contraction fest- gehalten wüi'de. Wenn man an einer Schildkröte, an der sich diese Ver- suche wegen der Grösse des Herzens und ihrer Lebenszähigkeit besonders gut anstellen lassen, die Vagi reizt und den Ventrikel abschneidet, so stehen die Vorhöfe noch still. Schneidet man auch diese weg, so sieht man, dass die Vena cava und die sogenannten Venae subclaviae, welche bei der Schildkröte die Vena cava superior ersetzen, in der Diastole still stehen. Der Stillstand tritt nicht sofort bei Beginn der Keizung ein, sondern es dauert eine Zeit lang, ehe er eintritt. Hat der Eeiz aufgehört, so überdauert der Stillstand das Aufhören desselben einige Zeit, und dann fängt das Herz an mit einer kräftigen Contraction und setzt sich allmälig in seinen gewöhnlichen Rhythmus. Der Herzstillstand auf Vagusreizung ist auch am Menschen beob- achtet worden, und zwar zuerst in Wien in einem pathologischen Falle. Es kam. zu einem hiesigen Arzte ein Kranker, der ihm klagte, er habe von Zeit zu Zeit das Gefühl heftiger Angst, und während dieser Zeit stehe ihm das Herz still. Später kam er zur Obduction, und bei dieser zeigte es sich, dass der eine Vagus in ein Paquet geschwellter Lymph- drüsen derart eingeschlossen war, dass er unter gewissen Umständen ge- drückt oder gezerrt werden konnte, was eine Reizung desselben und in Folge davon den Herzstillstand bedingte. Später hat Joh. Czermak durch Reizung der N. vagi am Halse an sich selbst mittelst Druck das Herz zum Stillstande gebracht. Li neuerer Zeit hat H. Q.uinke zahlreiche Versuche hierüber angestellt und gefunden, dass sich bei vielen Mensehen vorüber- gehende Pulsverlangsamung hervorbringen lässt mittelst Reizung des Vagus am Halse durch Druck, Es fragt sich nun: Wird der Stillstand des Herzens durch Vagus- oder durch Accessoriusfasern hervorgerufen, mit anderen Worten: haben die Hemraungsfasern, die zum Herzen gehen, ihren Ursprung in den Vagus- oder in den Aecessoriuswurzeln? Haben sie ihren Ursprung in den Acces- soriuswurzeln, so ist zunächst zu erwarten, dass sie in dem Theile der- selben entspringen, der aus der MeduUa oblongata kommt. Denn Bernard hat gezeigt, dass die Fasern, die aus der Medulla oblongata kommen, den Ast des Accessorius zusammensetzen, der in die Scheide des A^agus übergeht, während andererseits der Theil der Fasei'n, der tiefer entspringt, den Ast des Nerven zusammensetzt, der zum Sternocleidomastoideus und Cucullaris geht. Schon Waller hat gefunden, dass, wenn man den Accessorius aus- reisst, Beschleunigung des Herzschlages eintritt. Reisst man einen Acces- sorius aus, wartet drei Tage und reizt den Vagus derselben Seite am Halse, so erhält man keinen Stillstand des Herzens, während sich solcher durch Reizung des Vagus auf der anderen Seite erzielen lässt. Es muss ausdrücklieh erwähnt werden, dass dieser Erfolg schon nach drei Tagen, wo also noch keine für das Auge deutliche Degeneration des Nei*ven ein- tritt, beobachtet wird, so dass er seine Reizbarkeit offenbar früher verloren Brücke. Vorlesungen. II. 4. Aufl. 8 114 Vagus und Accessorius. hat, als die Degeneration äusserlich sichtbar geworden. Es hat sich dieses Resultat durch spätere Versuche, welche im Laboratorium von Heiden- hain in grosser Anzahl angestellt wurden, in vollstem Maasse bestätigt. Nachdem wir so die centrifugalen Impulse, welche in den Bahnen des Vagus verlaufen, betrachtet haben, gehen wir jetzt über zu den centri- petalen Bahnen, die, wie wir gesehen haben, ausschliesslich im Vagus zu suchen sind. Der N. vagiis ist der Empfindungsnerv für den Schlund, den Oesophagus und den Magen. Er ist ferner der Empfinduugsnerv für die Bronchien und die Lungen im Allgemeinen. Er löst durch seine centripetalen Bahnen eine ganze Eeihe von Reflexbewegungen aus. Zunächst das Erbrechen, von dem man freilich nicht sagen kann, ob es ausschliesslich vom Vagus ausgelöst wird, indem es möglicher Weise auch vom Glossopharyngeus ausgelöst werden könnte. Es ist bekannt, dass durch Reizung der Rückwand des Pharynx, der Gaumenbögen und auch der UviTla Erbrechen erregt werden kann. Das Gebiet, von dem aus Erbrechen als Reflexbewegung ausgelöst werden kann, ist bei verschiedenen Menschen verschieden. Es ist grösser bei empfind- lichen Individuen, kleiner bei nichtempfindlichen. Das Erbrechen kommt dadurch zu Stande, dass zunächst eine tiefe Inspiration gemacht wird, vermöge welcher das Zwerchfell so viel als möglich abgeflacht wird. Der Sinn dieser Bewegung ist, dass dadurch ein Widerlager gebildet wird, gegen das nachher die Unterleibseingeweide angedrückt werden können. Dann folgt aber nicht, wie fälschlich in einigen Büchern steht, sofort eine Exspirationsbewegung, sondern eine Contraction der Bauchmuskeln, wo- durch die Bauchwand die Eingeweide und somit auch den Magen zu- sammendrückt und der Inhalt desselben zum Oesophagus und Munde hinausgetrieben wird. Hierauf folgt dann mit dem Aufhören des Brech- actes Erschlafi^ung des Zwerchfells und Exspiration. Es ist darüber gestritten worden, ob das Erbrechen durch Contrac- tion der Bauchdecken oder der Musculatur des Magens erfolgt. Um dies zii entscheiden, schnitt Magendie einem Hunde, dem er Brechweinstein in die Venen eingespritzt hatte, die Bauchdecken auseinander. Er fand nun, dass allerdings Brechbewegungen eintraten, dass aber jetzt der Magen- inhalt nicht mehr herausbefördert wurde. Die Contraction des Magens genügte also nicht zur vollständigen Ausführung des Brechactes. Er füllte nun eine Blase mit Flüssigkeit, schnitt den Magen an der Cardia ab, ver- band die Blase mit dem Oesophagus und nähte die Bauchdecken zusammen. Traten jetzt Breehbewegungen ein, so wurde die Flüssigkeit aus der Blase zum Oesophagus und Munde herausbefördert. Daraus schloss er mit Recht, dass es wesentlich die Musculatur der Bauchdecken sei, durch welche die Kraft aufgebracht wird, die den Mageninhalt entfernt. Es betheiligeu sich aber auch am Brechacte die Musculatur des Oesophagus und des Magens durch eine Contraction ihrer Längsfasern, die, wie bekannt, in einander übergehen. Dadurch wird nicht blos die Cardia gehoben und erweitert, sondern auch der Blindsack des Magens abgeflacht, voraussichtlich auch der Halstheil des Oesophagus eröffnet, während nach den Beobach- tungen von Mikulicz der Brusttheil ohnehin offen steht, und die Aus- stossung des Mageninhaltes wird erleichtert. Eine andere Reflexbewegung, die vom Vagus ausgelöst wird, und über deren Mechanik wir bereits früher gesprochen haben, ist das Schlingen. Vagus lind Aocessorius. llO Es wird vom Pharynx iintorlialb der Jiegion, von der aus Brechen aus- gelöst werden kann, und von da nach abwärts von jedem Orte des Oeso- phagus ausgelöst. Es ist den Chirurgen bekannt, dass, wenn man mit einem Instrumente in den Pharynx eindringt, zuerst Würgbewegungen ein- treten, welche das Instrument zurückzudrängen suchen. Ist man aber mit demselben bis zu einer gewissen Tiefe gekommen, dann treten Schling- bewegungen ein, durch welche das Instrument herabgezogen wird. Es ist ferner bekannt, dass, wenn irgendwo im Oesophagus ein Bissen stecken bleibt, von Zeit zu Zeit vollständige Schlingbewegungen ausgelöst werden, die den Bissen in den Magen hinabzubringen suchen. Wir begegnen hier wieder einer Erscheinung, mit der wir es noch öfter zu thuii haben werden, nämlich der Erregung von Reflexbewegungen durch Summirung der Eeize. Wenn ein solcher Bissen im Oesophagus liegt, so übt er da- selbst einen beständigen Eeiz aus. Es dauert eine Zeit lang, bis die Reize sich soweit summirt haben, dass sie eine Reflexbewegung auslösen können. Sobald diese ausgelöst ist, tritt vorübergehend Ruhe ein, bis sich wieder vom Neuen im Centralorgane die Impulse so weit angesammelt haben, dass die Erregung für die motorischen Centren gross genug wird, um wiederum eine solche Reflexbewegung auszulösen u. s. w. Eine dritte Art von Reflexbewegungen, welche vom Vagus ausgelöst wird, ist das Schluchzen, Singultus. Es wird von den Magenästen dieses Nerven ausgelöst. Sonst gesunde Menschen werden auf einen kalten Trunk hin und auf andere plötzliche Reizungen der Magenschleimhaut von dem- selben befallen. Das Schluchzen besteht darin, dass das Zwerchfell sich plötzlich gewaltsam contrahirt und nicht wie bei der Inspiration zugleich auch die Stimmritze geöffnet wird. In Folge davon schlagen die Stimm- bänder ventilartig zusammen, und durch die darauf eintretende Luft- verdünnung im Thorax entsteht ein Widerstand und dadurch die Empfin- dung eines Stosses. Es entsteht nun die Frage, ob von den Magenästen des Vagus auch Erbrechen ausgelöst werden kann. Einfache Reizung der Magenschleimhaut bringt nicht Erbrechen hervor, wie die Reizung der Gaumenbögen und des Schlundes. Es lässt sich aber nicht in Abrede stellen, dass durch Summirung der Reize auch vom Magen aus Erbrechen ausgelöst werden kann. Dies geschieht aber nur bei Menschen, die zum Erbrechen geneigt sind. Diese machen nicht selten die Erfahrung, dass, wenn sie etwas schwer A^erdauliches genossen haben, sie dieses eine oder mehrere Stunden bei sich behalten, dass aber dann plötzlich Brechbewegungen eintreten, die so lange andauern, bis der Mageninhalt entleert ist. Ein anderes wichtiges Reflexgebiet hat der Vagus in den Respira- tionswegen. Zuerst bewirkt er Verschluss der Stimmritze, und zwar durch den Laryngeus superior. Wenn man die obere Seite der Stimmbänder berührt, so tritt in Folge davon sofort Verschluss der Stimmritze ein. So- bald man aber etwas tiefer kommt und in die sogenannte Glottis respira- toria, den Raum zwischen den Giessbeckenknorpeln, und etwa eine Linie nach abwärts eindringt, so tritt Husten als Reflexbewegung ein. Es ver- schliesst sich nicht nur die Stimmritze, sondern es treten auch krampf- hafte Exspirationsbewegungen ein , die den Verschluss der Stimmritze stossweise durchbrochen. Es ist leicht einzusehen, dass diese Anordnung der Reflexe vollkommen den Zwecken für die Erhaltung dos Organismus 8* 116 Vagus und Accessorius. entspricht. So lauge ein fremder Körper über den Stimmbändern liegt tind die Oberfläclie derselben berührt, schliessen sich die Stimmbänder, um ihn nicht eindringen zu lassen. Wenn er aber die Stimmritze passirt hat, dann treten plötzliche Exspirationsbewegungen, Husten ein, vermöge welcher der fremde Körper womöglich herausgeworfen wird. Besonders empfindlich zeigt sich die Fossa interarytaenoidea. Der Kehlkopf ist aber nicht das einzige Gebiet, von dem aus Husten als Eeflexbewegung aus- gelöst wird. Nach Versuchen an Hunden wird er auch durch Berührung der Bifurcationsstellc der Bronchien prompt ausgelöst. Endlich wird Husten durch Summirung der Reize von der ganzen Bronchialschleimhaut aus- gelöst. Daher rührt es, dass, wenn ein fremder Körper in den Bronchien steckt, nicht permanente, sondern periodische Hustenanfälle hervorgerufen werden. Ebenso finden darin die periodischen Hustenanfälle, die bei An- sammlung von Schleim, Eiter u. s. w. auftreten, ihre Erklärung. Kohts gelang es, auch durch Heizung der Pleura costalis Husten hervorzurufen. Der Weg der Uebertragung ist hier noch unermittelt. Der Husten kann ausserdem noch von der Wurzel der Zunge aus- gelöst werden. An der Wurzel der Zunge befinden sich zu beiden Seiten unter dem Kehldeckel zwei kleine Gruben. Wenn in diese beim Essen Speisen hineiugelangen, so geschieht es nicht selten, dass ziemlich heftige Hustenanfälle darauf erfolgen. Das rührt daher, dass dort ein kleiner Ast des N. laryngeus superior sich verbreitet. Eine andere Stelle, von der Husten ausgelöst werden kann, ist, wie schon erwähnt, der tiefste Theil des äusseren Gehörganges, in dem sich der Ramus aurieularis nervi vagi verbreitet. Es fragt sich, ob auch vom Magen Husten ausgelöst werden kann. Die directen Versuche, die man mit Beizung der Magenschleimhaut an- stellte, haben negative Resultate ergeben. Auch Ueberladung des Magens, Hineingelangen grösserer fester Körper in denselben u. s. w. gaben an und für sich keine Veranlassung zum Husten. jSTichtsdestoweniger nahmen die alten Aerzte einen sogenannten Magenhusten an, und es fragt sich, wie sie dazugekommen sind. Die Fälle, die sie zu der Annahme ver- anlassten, bestanden darin, dass Individuen von einem hartnäckigen Husten befallen waren, der aufhörte, nachdem der Mageninhalt durch Erbrechen entleert warde; so dass es also nahe lag, anzunehmen, dass die Sub- stanzen im Magen hier die Vagusäste gereizt und so den Husten hervor- gerufen hätten. Solche Fälle existiren nun allerdings. Ich selbst habe einen Knaben gesehen, der Tag und Nacht hustete und mit solcher Heftig- keit und Hartnäckigkeit, dass er laut über die Schmerzen klagte, die er unter den Rippen in Folge der häufigen Zusammenziehung der Bauch- muskeln fühlte. Darauf trat reichliches Erbrechen ein und von da ab kein einziger Hustenanfall mehr. Ich glaube aber, dass diese Fälle noch eine andere Erklärung zu- lassen. Es ist bekannt, wenn auch nicht hinreichend erklärt, dass der Brechact auch dazu beiträgt, Substanzen nicht nur aus dem Magen, son- dern auch aus den Luftwegen herauszubefördern. Bekanntlich werden beim Croup Brechmittel gegeben, damit sich beim Erbrechen zugleich die Croupmembi'anen abstossen und ausgeworfen werden. Ebenso wäre es möglich, dass hier der Husten erzeugende Körper sich nicht im Magen, sondern in den Luftwegen befand, und dass er beim Erbrechen in ähnlicher Nervus vagus. 117 Weise , wie auf ein gegebenes Brechmittel die Croupmembranen , aus- gestossen wurde. Kohts, der bei Reizung der MagenscUeimhaut auch negative Resultate erhielt, fand, dass bei Zerrung und Quetschung des Oesophagus Hustenstösse eintraten, wie schon Kr im er s angegeben. Bis- weilen konnte er auch durch Reizung der Pharyngealschleimhaut Husten erregen. Auch durch Reizung nicht nur des Vagus- und Laryngeus- stammes in ihrem Verlauf, sondern auch durch Reizung des N. pharyn- geus hat er Husten erzeugt. Bei Kranken und in Folge der Krankheit sehr empfindlichen Indi- viduen kann der Husten auch von Stellen des Körpers ausgelöst werden, an welchen sich der Vagus nicht verbreitet. Es ist bekannt, dass solche Menschen husten müssen, sobald sie irgend einen Theil ihres Körpers der Zugluft aussetzen. Dies kann nicht abgeleitet werden davon, dass sie zu- gleich diese selbe Luft einathraen ; denn das, was wir Zugluft nennen, ist nicht eine kältere, sondern eine bewegte Luft, kann also die Respirations- werkzeuge nicht durch eine niedrigere Temperatur afficiren. Ebenso bringt bekanntlich Berührung der Hände und Füsse mit kaltem Wasser bei manchen Individuen sofort Husten hervor. Abkühlung wirkt indessen vielleicht nicht durch Reflex allein. Golz fand, dass Hunde, denen das Rückenmark zwischen Brust- und Lendenmark durchschnitten war, und die an Bronchialkatarrh litten, husteten, wenn der hintere Theil des Körpers mit kaltem Wasser gewaschen wurde. Ebenso zitterte die vor- dere Körperhälfte vor Erost, wenn nur die hintere mit kaltem Wasser gewaschen wurde. Man muss diesen Husten ableiten von der Wirkung des abgekühlten Blutes auf die Vagusäste, die den Husten reflectorisch auslösen, oder auf den sogenannten Vaguskern, die Region der Ala cinerea, denn diese ist das Reflexcentrum für den Husten, oder man muss ihn ableiten von Verbindungen, die durch den Sympathicus zwischen vorderer und hinterer Körperhälfte unterhalten werden. Zu den Reflexen, welche vom Vagus ausgelöst werden, gehört auch das Athmen. Man hat schon frühzeitig untersucht, welchen Einfluss die Reizung des Stammes des Vagus auf die Athembewegungen habe. Man fand, dass, wenn man das centrale Ende des durchschnittenen Vagus- stammes reizte, und der Reiz heftig genug war, Stillstand der Respirations- bewegungen eintrat. Es wurde zuerst angegeben, es trete der Stillstand in der Inspirationslage ein, so dass das Zwerchfell contrahirt bleibe ; später aber beobachteten Andere Stillstand in der Exspirationslage. Nach Rosen thal's Untersuchungen über die Athembewegungen stellte sich die Sache folgen dermassen dar: Wenn der Stamm des Vagus allein gereizt wird, nachdem er den Laryngeus superior abgegeben hat, so tritt Stillstand in der Inspirationslage ein. Wird der Stamm des Vagus gereizt, ehe er den Laryngeus superior abgegeben hat, oder gehen Strom- schleifen durch den Laryngeus superior und reizen diesen mit, so tritt Stillstand in der Exspirationsstellung ein. Um uns die Einsicht in die Verhältnisse zu erleichtern, will ich zunächst die Respirationstheorie besprechen, welche von Rosenthal in Folge seiner ausgedehnten Untersuchungen aufgestellt wurde. Er sagt: Das Centrum der RespirationsbeAvegungen ist, wie allgemein bskannt, die Me- dulla oblongafa. Die Erregung zum Einathmen entsteht dadurch, dass weni ger sauerstoflliältiges, nicht hinreichend oxydirtes Blut zur Medulla 1 lö Nervus vagus. oblongata gelangt. Dieses Blut wirkt daselbst als Eeiz und erzeugt die Inspiration. Nachdem die Inspiration vorüber ist, tritt ein Augenblick der Ruhe ein, dann, bis die Eeize sich wieder summirt haben, eine andere Inspiration u. s. w. Die Lebhaftigkeit der Respiration wird also von der Menge des Sauerstoffs, welchen man dem Blute zuführt, abhängig sein. Pührt man zu wenig Sauerstoff zu, so tritt Dyspnoe ein. Das Thier muss kräftig und häufig athmen, um sich den hinreichenden Sauerstoff zu ver- schaffen. Die Anregung dazu wird dadurch gegeben, dass dieses venösere Blut einen stärkeren Reiz ausübt, und sich deshalb in einer kürzeren Zeit die Reize so weit summiren, dass eine Inspiration erfolgt. Er machte hierauf gewissermassen die Probe, indem er einem Thiere durch künst- liche Respiration grosse Mengen von Luft zuführte, so dass er das Blut desselben mit Sauerstoff übersättigte. Dadurch brachte er sogenannte Apnoe hervor, d. h. das Thier setzte mit den Respirationsbewegungen ganz aus, weil eben jetzt nach Rosenthal das Blut, das zur MeduUa oblongata gelangte, zu viel Sauerstoff hatte, um überhaupt einen hinreichenden Reiz zur Auslösung einer Inspiration abzugeben. Dieser Versuch ist in neuerer Zeit von Bieletzky in lehrreicher Weise modificirt worden. Er durch- feilte bei Raubvögeln pneumatische Knochen und leitete mittelst der so erhaltenen Oeffnungen einen constanten Luftstrom durch die Lungen. Auch so konnte er Apnoe erzeugen, und zwar verhältnissmässig schnell, zum Theil schon nach ^/^ Minuten. Von diesem Reize des venösen Blutes leitet Rosenthal auch den ersten Athemzug ab. Er sagt, das Kind athmet nicht im Mutterleibe, so lange die Placentarcirculation im Gange ist, weil das Blut, das zur Me- dulla oblongata gelangt, nicht hinreichend venös ist. Wenn aber das Kind aus dem Uterus heraus ist, zieht sich der letztere zusammen, die Pla- centarcirculation wird sofort gestört, und nun wird das Blut venöser, wodurch der erste Reiz zum Inspiriren gegeben ist. Man beruft sich zur Unterstützung dieser Theorie vom ersten Athemzuge wesentlich darauf, dass, wenn Störungen in der Placentarcirculation eintreten, wenn z. B. die Nabelschnur comprimirt wird, Inspirationsbewegungen noch innerhalb des Uterus, innerhalb der Eihäute eintreten können. Vor mehr als fünfzig Jahren gab ein Arzt über die Todesursache eines im Uterus zu Grunde gegangenen Kindes ein Gutachten ab, und sagte darin, er könne sich nicht anders ausdrücken, als dass das Kind im Fruchtwasser ertrunken sei. Darüber wurde damals viel gelacht, es hat sich aber gezeigt, dass bei solchen Inspirationsbewegungen im Uterus Kinder nicht unbeträchtliche Mengen von Fruchtwasser aspiriren, was später Ur- sache zu mangelhafter Anfüllung der Lungen mit Luft gibt. Rosenthal schliesst weiter aus seinen Versuchen, dass der Vagus durch die Erregungen, welche er von der Lunge aus zu der Medulla oblongata bringt, die Auslösung der Inspiration erleichtert. Damit bringt er CS in Zusammenhang, dass, wenn man Thieren die N. vagi am Halse durchschnitten hat, der Typus der Respiration sich in auffallender Weise ändert. Es werden die Athembewegungen viel seltener und tiefer. Das rührt nach Rosenthal daher, dass jetzt der Reiz, den die atmosphä- rische Luft auf die Lungenäste des Vagus ausübt, nicht mehr zur Medulla oblongata gelangt und deshalb die Auslösung der Athembewegungen schwerer erfokt, sich verzögert. Nun sammeln sich aber die Reize um Nervus vagus. 119 SO länger an, und daher tritt endlich eine tiefe Inspirationsbewegung ein. Die Eeizung des Laryngeus superior dagegen hat den entgegengesetzten Erfolg, sie widersteht der Auslösung der Respirationsbewegungen. Dies zeigt sich auch bei Reizung der oberen Fläche der Stimmbänder. Denn mit dem Verschluss der Stimmritze, nicht nur durch denselben, wird auch die Inspiration angehalten. Daraus erklären sieh auch die Erscheinungen, die bei Eeizung des Vagusstammes beobachtet wurden. Wurde der Vagus- stamm allein gereizt, so ist in Folge dessen eine Inspirationsbewegung leichter ausgelöst worden, ja, wenn der Reiz kräftig genug war, trat Krampf der Inspirationsmuskeln ein, dieselben standen tetanisch in der Inspirationslage still. Wurde aber der Vagus gereizt, da, wo er den Laryn- geus superior noch nicht abgegeben hatte, oder gingen durch den letzteren Stromschleifen, dann überwog die hemmende Wirkung des Laryngeus superior, und es standen nun Thorax und Zwerchfell in der Exspirations- lage still. Später hat Rosenthal's Theorie von den Athembewegungen eine Ergänzung und Modification zunächst durch Hering und Breuer gefunden. Diese sahen, dass, wenn man Luft in die Lunge einbläst, also dieselbe mit Luft auszudehnen versucht, sofort eine Exspirationsbewegung erfolgt, dass dagegen, wenn man Luft aus der Lunge aussaugt, als Reflex sofort eine Inspirationsbewegung eintritt. Hieraus erklärt sich eine Thatsache, die den Physiologen schon lauge bekannt war, die Thatsache, dass, wenn man an Thieren künstliche Respiration einleitet, der Rhythmus der Athem- bewegungen sich dem Rhythmus aecommodirt, den man der künstlichen Respiration gibt, einfach deshalb, weil man durch das Einblasen von Luft, also durch die künstliche Inspiration, sogleich die dazu gehörige Exspira- tion hervorruft. Es geht hieraus zugleich hervor, dass die Lungenäste des Vagus nicht blos inspiratorische Fasern führen, d. h. nicht blos Fasern, die durch Reflexe eine Inspirationsbewegung hervorrufen, sondern auch Fasern, durch deren Reizung eine Exspirationsbewegung hervorgebracht Avird. Es steht dies in Uebereinstimmung mit der Thatsache, dass Schleim, Eiter u. s. w., wenn sie in der Lunge angesammelt sind, Hustenanfälle hervorrufen, denn diese bestehen ja wieder aus einer Reihe von exspira- torischen Bewegungen. Früher hatte man die Reize, welche die atmosphärische Luft auf die Lungenäste des Vagus ausübt, immer wesentlich in Zusammenhang gebracht mit dem SauerstofFgehalte derselben. In diesen Versuchen von Hering und Breuer ergab sich auch die auffallende Thatsache, dass hier die mechanische Wirkung auf die Lunge, nicht die chemische, das Wesentliche war. Irrespirable Gase ergaben dieselben Resultate wie atmo- sphärische Luft. Auch geben neuere Beobachter an, dass durch directe Reizung des Vagus, da, wo derselbe den Laryngeus superior bereits ab- gegeben hat, sowohl exspiratorische als inspiratorische Bewegung erhalten werden könne, aber so, dass sie bei exspiratorischer Athmungsphase in- spiratorisch ist, bei inspiratorischer exspiratorisch. In einem andern Punkte weicht Brown-Sc'quard von den An- gaben Rosenthal's ab. Er sagt, dass die Apnoe, die durch reichliches Einführen von Luft, die das Blut hoch arteriell macht, erzeugt wird, nur eintrete, so lange die Vagi erhalten sind. Hat man einem Thiere die beiden Vagi durchschnitten, dann soll diese Apnoe nicht mehr zu Stande 120 Nervus vagus. kommen. Filehne hat aber seitdem nachgewiesen, dass auch nach durch- schnittenen Vagis durch reichliche Luftzufuhr Apnoe zu Stande gebracht werden kann, nur schwerer. Der normale Eeiz zur Inspiration, der sich bei Mangel an Luft zur dyspnoischen Wirkung steigert, scheint also ein combinirter zu sein und einerseits von den Vagusästen der Lunge, das heisst von deren peripherischen Enden, andererseits von der Medulla oblon- gata selbst auszugehen. Das Athmungscentrum ist als paarig zu denken. Jeder Vagus wirkt auf seine Hälfte imd durch Commissurfascrn in der Medulla oblongata auch auf die andere. Wird die Medulla oblongata in der Höhe des Athmungscentrums ihrer ganzen Dicke nach gespalten, so geht die Respi- ration noch gleichmässig fort. Als aber 0. Langender ff nach solcher Spaltung den einen Vagus durchschnitt, verlangsamten sich nur die Athem- bewegungen dieser Seite, die der andern nicht. Durchschnitt er auch den Vagus der andern Seite, so trat auch auf dieser Verlangsamung ein, aber die Athembewegungen beider Seiten wurden doch nicht mehr isochron, wie sie es früher waren. Wurde einer der beiden centralen Stümpfe greizt, so stand das Zwerchfell nur auf der Seite still, wo die Reizung stattfand. Auf die Athembewegungen wirken nach Pflüger und J. Camp- bell-Graham auch die Splanchnici, und zwar reflectorisch hemmend. Reizung des centralen Stumpfes der durchschnittenen Splanchnici, auch eines allein, macht Stillstand in der Exspirationslage. Durchschneidung des Rückenmarks zwischen eilftem und zwölften Dorsalwirbel verhindert dies Resultat nicht, ebenso wenig die Durchschneidung der Medulla oblon- gata in ihrem vordersten Theile, auch nicht Durchschneidung der Vagi und Sympathie! am Halse. Wenn man aber das Rückenmark zwischen viertem und fünftem Dorsalwirbel durchschneidet, so ist die Reizung unwirksam. Sie wird also durch das Rückenmark zur Medulla oblongata fortgepflanzt. Auch vom Herzen sind Reflexbewegungen, und zwar in den Beinen, durch die Bahnen des Vagus ausgelöst worden. Goltz, der diese Ver- suche zuerst an Fröschen anstellte, fand, dass die Bewegungen nicht mehr erfolgten, nachdem die Vagi durchschnitten waren. Aehnliche Resultate erhielt Gurboki an Kaninchen, denen er die hintere Fläche der Vorhöfe mit Schwefelsäure reizte. An Kätzchen aber erhielt Goltz die Reflexbewe- gungen vom Herzen aus auch noch, nachdem die Vagi durchschnitten waren. Der Vagus soll auch reflectorisch die Absonderung des Magensaftes anregen. Man schliesst dies daraus, dass er seine Aeste zur Magenschleim- haut sendet und von dieser aus die Secretion angeregt wird. Es muss aber bemerkt werden, dass die Secretion nicht aufhört, wenn die beiden IST. Vagi am Halse durchschnitten sind und somit Reflexerregungen in seinen Bahnen nicht mehr zum Centrum gelangen können. Mit ebenso viel und ebenso wenig Recht kann man dem Vagus auch das Vermögen zuschreiben, die Speichelabsonderung reflectorisch zu erregen. Hunde schlingen in der ersten Zeit der Verdauung eine grosse Menge von Speichel hinab. Die Mengen desselben, welche man im Magen vorfindet, kann man nicht davon herleiten, dass sie dieselben beim Fressen ver- schluckt hätten. Auch findet man manchmal den Speichel noch in Klumpen in der Cardialgegend beisammen, so dass man deutlich sieht, dass er nach den Speisen verschluckt worden ist. N. hypoglossus. l2x Ein A^agusast von ganz eigcnthümlicher und merkwürdiger Wirkung ist der Nerviis depressor, Ludwig und Cyon fanden ihn zuerst beim Kaninchen auf. Er entspringt hier gewöhnlich mit zwei Wurzehi, einer aus dem Vagus, einer aus dem Laryngeus superior, bisweilen auch aus letzterem allein, läuft hinter der Carotis nach abwärts, nimmt Aeste aus dem Gangl. stellatum auf und sendet solche zum Herzen. Durchschneidet man ihn und reizt das peripherische Stück, so erzielt man dadurch keinerlei Wirkung; reizt man aber das centrale Stück, während gleichzeitig in die Carotis ein Manometer eingesetzt ist, so sieht man, dass der Blut- druck beträchtlich sinkt. Auch das Herz pulsirt langsamer : diese Ver- langsamung ist aber nicht die einzige Ursache des Sinkens des Blutdruckes, denn, wenn derselbe sein Minimum erreicht hat, schlägt das Herz wieder schneller, ohne dass der Blutdruck steigt. Die wesentliche Ursache ist Erweiterung der Gefässe. Ludwig und Cyon nahmen dieselbe direct an der Niere -w^ahr und fanden auch, dass das Sinken entsprechend geringer ist, wenn die Gefässe der Baucheingeweide durch Durchschneidung der Splanchnici, in denen ihre Nerven verlaufen, schon vorher erweitert sind. Der Nerv wirkt also hemmend auf das vasomotorische Centrum in der MeduUa oblongata. Wenn der N. vagus durchschnitten wird und die Thiere nicht sufFo- catorisch zu Grunde gehen, verfallen sie einer Pneumonie, der sogenannten Vaguspneumonie, welche man früher auch als ein Beispiel der neuropara- ly tischen Entzündungen aufführte. Traube stellte zuerst die Ansicht auf, dass dieselbe lediglich davon herrühre, dass die Reflexe fehlen, dass die Empfindlichkeit des Kehlkopfs und der Bronchialschleimhaut verloren gegangen ist und in Folge dessen fremde Körper in die Luftwege eindringen. Traube's Erfahrungen hierüber sind auch von Billroth bestätigt worden. Von den am Menschen zu beobachtenden Lähmungserscheinungen im Gebiete der soeben besprochenen Nerven sind die vom Accessorius her- rührenden die deutlichsten : Schiefstellung des Kopfes (Caput obstipum paralyticum), niedriger Stand der Schulter der gelähmten Seite, veränderte Lage des Schulterblattes, so dass sein unterer Winkel der Wirbelsäule näher steht, der obere weiter entfernt, Schwäche im Arme, sämmtlich Erscheinungen der Lähmung im Sternocleidomastoideus und Cucullaris, dabei Heiserkeit und Schlingbeschwerden. Das sogenannte Caput obstipum spasti- cum, bei dem die erwähnten Miiskeln contrahirt sind, beruht im Gegen- theile darauf, dass die Accessoriuswurzeln sich im Zustande der Reizung befinden. Einseitige Vaguslähmung ist am häufigsten an scrophulösen Kindern beobachtet worden, bei denen sie durch Compression eines Vagus durch geschwellte Bronchialdrüsen hervorgerufen wurde. Es zeigte sich dabei Veränderung der Stimme, Heiserkeit bis zur Aphonie, Husten, Er- stickungsanfälle u. s. w. und namentlich, was charakteristisch ist, Mangel der Reflexbewegungen, Anhäufung von Schleim in den Bronchien in solchem Grade, dass man das Schleimrasseln schon ohne nähere Untersuchung hören konnte, und doch kein subjectives Gefühl davon, keine Neigung die Massen auszuwerfen. Nervus hyi)Oglossus. Dieser ist der Bewegungsnerv der Zunge : man zeichnet ihn des- halb auch als den Nervus loquens. Er entspringt als motorischer Nerv aus \2a N. sympathicus. einem Kern, der jcderseits neben der Mittellinie unter dem Boden des hinteren Theiles des vierten Ventrikels liegt. Nach Clarke, Kölliker und Laura geht ein kleiner Theil der Pasern durch Kreuzung in der Raphe auf die andere Seite. Er versorgt nach der Gestalt, die ihm die gewöhnliche anatomische Präparation mit dem Messer verleiht, nicht allein die Zunge, sondern ausserdem noch den M. geniohyoideus, den M. hyothy- reoideus, den M. omohyoideus, den M. sternohyoideus und den M. sterno- thyreoideus. Mit seinem Hauptstamme und den Aesten desselben versorgt er von den genannten Muskeln den Geniohyoideus und den Thyreohyoideus. Der M. omohyoideus, sternohyoideus und sternothyreoideus werden vom Ramus descendens nervi hypoglossi versorgt, der eine grosse Menge von Nervenfasern führt, welche ihm aus den Cervialnerven zugekommen sind. Nach Ho 11 versorgen die eigenen Fasern des Hypoglossus lediglich die Zunge mit Einschluss des Musculus hyoglossus, genioglossus und styloglossus. Alle übrigen Muskeln, welche der Hypoglossus sonst noch scheinbar ver- sorgt, erhalten nach ihm nur Cervicalnerven, die in seine Scheide auf- genommen worden sind. Im Eamus descendens gehen auch sensible Fasern aufwärts bis zur Zunge. Damit hängt es zusammen, dass, wenn man den Trigeminus in der Schädelhöhle oder beiderseits den Lingualis durch- schnitten hat, die Zunge zwar an ihrer Oberfläche unempfindlich ist, dass man sie cauterisiren kann, dass aber beim Kneipen mit einer Zange das Thier noch Schmerz äussert, weil dann die sensiblen Fasern gereizt werden, welche der Hypoglossus als entliehene mitgebracht hat. Die Lähmung des Hypoglossus zeigt sich durch einseitige Lähmung der Zunge. Wenn die Zunge herausgestreckt wird, so ist sie nach der kranken Seite abgelenkt, wenn sie hereingezogen wird, so ist die Spitze derselben nach der gesunden Seite abgelenkt. Die Sache ist einfach folgende : wenn die Zunge hereingezogen wird, so ziehen sich die Längs- fasern auf der gesunden Seite zusammen, diese werden also kürzer als die auf der kranken Seite, folglich muss die Zunge nach der gesunden Seite hin abweichen. Wenn sie aber herausgereckt wird, so wird erst das Zungenbein gehoben, und ausserdem werden die Uuerfasern zusammen- gezogen, um die Zunge schmäler und länger zu machen. Dies geschieht nur auf der gesunden Seite, es wird diese also länger als die kranke, und in Folge davon tritt beim Herausrecken eine Ablenkung nach der kranken Seite ein. Nei'YUs sympathicus. Wir sollten nun nach unserm bisherigen Plane der Reihe nach die verschiedenen Rückenmarksnerven und endlich den N. sympathicus durch- nehmen. Bei den Rückenmarksnerven geht aber ihre Function zum grossen Theile schon aus der blossen anatomischen Betrachtung hervor, und zum Theil ist dieselbe unbekannt. Die Untersuchung wird dadurch erschwert, dass von einer Wurzel aus verschiedene Muskeln innervirt werden, die ein und derselben combinirten Bewegung dienen, die aber behiifs anderer combinirter Bewegungen noch wieder Nerven aus anderen Wurzeln be- kommen, so dass, wie J. Gad gezeigt hat, ein Theil der Fasern des Muskels von einer Wurzel, ein anderer Theil derselben von einer andern Wurzel versorgt wird. Erwähnt zu werden verdient der Zusammenhang der N. sympathicus. l^ö Wurzeln des Plexus brachialis mit der Ecgio ciliospinalis des Eücken- marks, indem ersterer aus den vier unteren Cervicalnerven und dem ersten Dorsalnerven hervorgeht. Daher leitet Hutchinson die von ihm beobachtete häufige Coineidenz der Lähmung des Plexus brachialis mit Lähmung der oculopupillären Pasern, also mit Zurücksinken des Auges derselben 8eite, Schielen nach innen und Verengerung der Lidspalte und der Pupille. Der N. sympathicus ist kein selbstständiger Nerv, sondern ein Striek- wcrk aus ISTervenfäden und Nervenknoten, so zwar, dass die jSTerveniaden freilich zum grossen Theile ihren Ursprung aus Nervenknoten, aus den Ganglien des Sympathicus nehmen, dass sie aber auch zum grossen Theile aus dem Rückenmarke und aus dem Gehirne entspringen und durch die Rami communicantes und durch Anastomosen, durch welche Hirnnerven mit dem N. sympathicus verbunden sind, in diesen übergehen. Im Ver- laufe der Stränge lassen sich diese Fasern nicht ohne Weiteres von denen trennen, die in den Ganglien selbst ihren Ursprung haben. Wir wollen uns deshalb nur noch mit der Innervation einzelner Organe beschäftigen, die Nerven durch Vermittelung des N. sympathicus und aus ihm erhalten, zunächst mit denen des Herzens und der Gefässe. Wenn man einem Frosche oder einer Schildkröte das Herz aus- schneidet und es also aus allen seinen Verbindungen mit dem Central- nervensystem trennt, so schlägt es noch viele Stunden, ja Tage lang fort. Das Säugethierherz schlägt freilich, wenn es ausgeschnitten ist, nur kurze Zeit ausserhalb des Körpers fort. Das liegt aber nur daran, (Jass die Gewebselemente der Warmblüter viel früher absterben, als dies bei Am- phibien der Fall ist. Schon bei jungen Thieren, bei Kätzchen, bei jungen Hunden schlägt das ausgeschnittene Herz stundenlang fort und ebenso auch bei einigen erwachsenen Thieren, z. B. beim Igel (Erinaceus europaeus). Man kann aber auch durch einen von Ludwig zuerst angestellten Ver- such nachweisen, dass nur das Absterben, nicht der Mangel des Zusammen- hanges mit dem Centralnervensystem, es bewirkt, dass das Herz aufhört zu schlagen. Ludwig verbindet die Aorta des ausgeschnitteneu Herzens mit einer Arterie eines lebenden Thieres, so dass durch die Kranzgefässe arterielles Blut hindurchgeht, oder er leitet geschlagenes, an der Luft arteriell gemachtes Blut in dieselben hinein und sieht nun, dass auch Kaniuchenherzen längere Zeit nach dem Tode fortschlagen. Es geht also hieraus hervor, dass das Herz die Ursache seiner rhythmischen Bewegungen in sich selbst trägt. Untersucht man das Herz näher, so findet man darin zahlreiche Ganglien, und diese müssen als die Ursache der Bewegungsimpulse ange- sehen werden, die in dem Herzen fortwährend erzeugt werden. Im Säuge- thierherzen finden sich diese Ganglien sowohl in den Ventrikeln, als in den Vorhöfen. Untersucht man dagegen ein Froschherz, so findet man, dass die Masse der Ganglien in den Vorhöfen, hauptsächlich in der Scheide- wand der A''orhöfe und am Ursprünge der Venen, im Venensinus, ange- häuft ist. Trennt man die Ganglien vom Herzen, so hört der Ventrikel auf zu schlagen, ebenso wenn man sie quetscht. Legt man einen Faden um die Grenze zwischen Vorhof und Ventrikel, so schlagen die Vorhöfe weiter fort, der Ventrikel aber bleibt ruhig. Manchmal führt er in viel grösseren Intervallen als die Vorhöfc Contractionen aus. Man kann Achn- 124 I^- sympatliictis. liches auch dadurch erreichen, dass man die Yorhöfe abschneidet. Schneidet man sie gerade vom Ventrikel ab, so sieht man oft, dass sich letzterer noch wie gewöhnlich, contrahirt. Das hängt damit zusammen, dass noch etwas von dem nervösen Centrum zurückgeblieben ist. Fasst man den Rest der Scheidewand sammt den inneren Klappen der venösen Ostien mit der Pincette, zieht sie etwas vor und trägt diese Partie mit dem der Vorhofgrenze zunächst liegenden Theile des Ventrikels ab, so bleibt der Ventrikelrest ruhig, während die abgeschnittenen Vorhöfe fortpulsiren. Der Ventrikel hat aber dabei keineswegs seine Reizbarkeit verloren, denn, wenn man ihn mit einer IS'adel sticht oder einen Inductionsschlag hin- durchsendet, so sieht man ihn noch sich zusammenziehen. Auf die Thätigkeit des ausgeschnittenen Herzens hat die Temperatur einen bedeutenden Einiiuss. Legt man ein ausgeschnittenes Froschherz auf eine Sehale mit lauem Wasser, während ein anderes auf Eis gelegt wird, so bemerkt man, dass das erste viel schneller pulsirt als das zweite. Es kommt aber viel früher zur Euhe als das auf dem Eise liegende, und setzt man, nachdem dies geschehen, das letztere in laues Wasser, so fängt es an schneller zu schlagen und kommt erst, nachdem es noch einige Zeit auf dem lauen Wasser pulsirt hat, zur Euhe. Es ist durch Versuche nachgewiesen worden, dass auch auf das Herz innerhalb des lebenden Körpers die Temperatur einen ähnlichen Einiiuss habe, so dass also die Temperaturerhöhung, wie sie in fieberhaften Krankheiten eintritt, an und für sich schon ein Beschleunigungsmittel für die Herzbewegung abgibt, andererseits also, wenn sie einen gewissen Grad überschreitet, auch eine Ursache werden kann, dass das Herz seine Kräfte um so früher erschöpft. Am embryonalen Herzen hat Schenk den Einfliiss der Temperatur studirt. Wenn dasselbe bei gewöhnlicher Temperatur aufgehört hat zu schlagen, so fängt es in der Brutwärme wieder an. Selbst an einzelnen Stücken des zerschnittenen Herzens lässt sieht diese Erscheinung noch beobachten. Wir haben gesehen, dass, wenn man Blut durch die Coronargefässe eines Herzens hindurchleitet, dasselbe ausserhalb des Körpers viel länger fortschlägt, als wenn dies nicht geschieht. Auch wenn nur Blut oder Semm in die Herzhöhlen hineiugefüUt ist, erhält sich das Herz länger thätig, als wenn dies nicht der Fall ist. Legt man ein blutleeres Frosch- herz, das schon aufgehört hat zu schlagen, in Blut oder Serum hinein, so hat man nicht selten Gelegenheit zu beobachten, dass es wieder zu schlagen anfängt. Tiedemann hat schon vor vielen Jahren beobachtet, dass, wenn man ein Herz unter die Glocke der Luftpumpe legt, der Herzschlag immer matter wird und endlich aufhört. Wartet man, bis dies eingetreten und lässt dann Luft zu, so fängt das Herz von Xeuem an zu pulsiren. Ausser diesen Impulsen, welche das Herz aus seinem eigenen Gan- gliensysteme empfängt, und vermöge welcher es sich rhythmisch zusammen- zieht, nachdem es aus dem Körper entfernt worden ist, erhält es auch Impulse vom Centralorgane. Es ist dies schon aus der alltäglichen Beob- achtung ersichtlich, indem wir wissen, dass die Gemüthsbewegungen auf den Rhythmus der Herzthätigkeit einen sehr grossen Einfluss ausüben. Die hemmenden Xerven für das Herz haben wir bei Gelegenheit des ]Sr. vagus kennen gelernt. Wir haben gesehen, dass er regulirende Fasern für das Herz führt, welche aus dem Aecessorius Willisii in seinen Stamm ein- N. sympathicus. 125 getreten sind. Wir müssen uns jetzt sagen, dass diese nicht direct auf die Muskelfasern des Herzens wirken, sondern auf die Ganglien, die inner- halb des Herzens liegen, und von welchen die motorischen Impulse für die Musciilatur des Herzens ausgehen. Man kann deshalb mit Eid der die Hemmung der Herzbewegung diux-h den IST. vagus als eine Reflex- hemmung- bezeichnen, indem sie mit den Reflexhemmungen im Gehirne und Rückenmarke das gemein hat, dass die Hemmung zunächst auf die nervösen Centren, die hier sympathische Ganglien sind, ausgeübt wird, während bei den Hemmungen im Gehirn und Rückenmai'k es Ganglien - körper sind, die im Centralorgane liegen. Es sind aber auch in neuerer Zeit die beschleunigenden Nerven des Herzens gefunden worden. Dieselben gehen ihm zu vom Halstheile des Sympathicus. Bezold machte daraiif zuerst aufmerksam. Man war aber damals noch nicht im Stande, ander- weitige Möglichkeiten auszuschliessen, indem bei Reizung dieser Jferven auch der Blutdruck sehr bedeutend steigt und somit die Erhöhung der Pulsfrequenz eine secundäre, durch den erhöhten Widerstand veranlasste sein könnte. Ludwig und Cyon haben aber später gezeigt, dass diese Easern auch, abgesehen von der Erhöhung des Blutdruckes, die Herz- bewegung beschleunigen. Die Gefassnerven haben wir schon an verschiedenen Orten kennen gelernt. Wir haben gesehen, dass das motorische und reflectorische Haupt- centrum für das gesammte Gefässsystem in der MeduUa oblongata zu suchen sei. Wir haben gesehen, dass, wenn man den Sympathicus zwischen der zweiten und dritten Rippe durchschneidet, das Carotidensystem seinen Tonus verliert, dass hier also die Easern durchpassiren müssen, die durch den Plexus caroticus zum Carotidensysteme gehen. Dieser Einfluss er- streckt sich jedoch nach Dastre und Morat nicht auf alle Theile des Carotidensystems. Sie fanden, dass bei Reizung des Sympathicus die Schleimhaut der inneren Wangenfläche, der Lippen, des Zahnfleisches und des Gaumens nicht erblasste, sondern im Gegentheile sich mit Blut über- füllte. Günstig für den Versuch ist es, wenn das Thier mit einer geringen Dosis Curare unbeweglich gemacht wird. Wir haben ferner gesehen, dass nach dem Ausreissen des Ganglion thoi'acieum primum die obere Exti'e- mität, und nach dem Ausreissen des Ganglions, welches bei Hunden auf dem 5. und 6. Lendenwirbel liegt, die untere Extremität hyperämiseh wird. Gefässverengernde Nerven für die Hinterbeine verlassen nach S. Stricker beim Hunde das Rückenmark noch bis zum vierten Brustnerven hinauf. Wir haben ferner gefunden, dass die N. splanchnici die vasomotorischen Nerven für den Darmkanal führen, dass sie somit ein Gefässgebiet von sehr grosser Capacität innerviren, indem das Gefässgebiet des chylopoetischen Systems geräiimig genug ist, nahezu die ganze Bhitmenge des Körpers auf- zunehmen. Unterbindet man einem Thiere die Pfortader, so geht es unter den Erscheinungen der Anämie zu Grunde, weil sich im chylopoetischen System so viel Blut ansammelt, dass die übrigen Organe an Blut verarmen. Eine Erscheinung, die hier noch mit aufgezählt werden muss unter denjenigen, welche von vasomotorischen Nerven abhängig sind, ist die Erection des Penis. Eckhard hat gefunden und experimentell an Hunden nachgewiesen, dass aus dem ersten, zweiten und dritten Sacralnerven Fasern in den Sympathicus übergehen, welche mit diesem zu den Gefässen des Penis gelangen, und dass die Reizung dieser Nerven Erection des 126 N. sympathicus. Penis hervorruft. Es ist noch nicht ausgemacht, in wie weit hier er- regende und in wie weit hier hemmende Wirkungen übertragen werden ; gewiss ist nur, dass die Erection nicht ausschliesslich und auch nicht der Hauptsache nach durch gehinderten Eücldluss des Venenblutes hervor- gebracht wird. Es strömt bei derselben eine viel grössere Blutmenge als sonst durch die Arterien in die Bluträume des cavernösen Gewebes ein. Die Nervi erigentes können bekanntlich durch die IST. optici und N. olfac- torii vom Gehirne aus erregt werden, ebenso von den verschiedensten Tastnerven der Körperoberfläche. Die Kette der Erregungen braucht aber nicht immer durchs Gehirn abzulaufen. Hunden, denen Goltz das Rücken- mark durchschnitten hatte, konnten Erectionen durch Streichen am Penis leichter und sicherer erzeugt werden als unversehrten Hunden. Es liegt also auch im Lendenmarke ein Reflexcentram für die Erection und, wie aus einer Beobachtung von Brächet hervorgeht, auch für die Ejaculation. Druck auf eine Hinterpfote oder elektrische Reizung der Gefühlsnerven hebt diese Reflexerection auf, ebenso wie an unversehrten Thieren kräf- tigere Einwirkung auf sensible Nerven die Erection aufhebt. Hier ist also nicht der Schmerz als solcher das Wirksame, sondern der Vorgang im Nervensysteme, der uns zugleich das Gefühl des Schmerzes hervorruft. Wir haben in dem Bisherigen mehrfach Eälle kennen gelernt, in denen auf Reizung von Nerven ein stärkerer Blutzufluss zu einer bestimmten Partie des Gefässsj^stems stattfand. Es handelt sich hier nicht um solche Fälle, in denen die Wirkung reflectorisch ausgelöst wurde, sondern nur um diejenigen, in welchen sie durch Reizung des peripheren Stumpfes des durchschnittenen Nerven erzielt wurde. Solche Nerven nennt man gefäss- erweiternde Nerven. Bezüglich der Extremitäten haben S. Stricker, Vulpian, E. Kühlwetter und C. Eckhard über diesen Gegenstand gearbeitet; es ist aber noch keine hinreichende Uebereinstimmung in den Versuchsresultaten erzielt worden. Erwähnen will ich noch, dass die Gefässnerven die Gefässstämme auf lange Strecken zu begleiten scheinen, nicht erst in der Region der peripherischen Ausbreitung die Nervenstämme zu verlassen und zu den Gefässen überzutreten. Goltz durchschnitt an dem Schenkel eines Kanin- chens Alles bis auf Arterie und Vene galvanocaustisch. Wenn er dann die Haut desselben rieb oder mit Senföl bestrich, so röthete sie sich noch. Einen merkwürdigen Reflexhemmungsnerven für das gesammte Gefäss- system haben wir schon früher im N. depressor kennen gelernt. Untersucht man den Darmkanal, so findet man, dass zwischen den J^Cuskellagen desselben eine grosse Anzahl von mikroskopischen Ganglien zerstreut liegt, der sogenannte Plexus myentericus von Aiierbach. Es liegt auf den ersten Anblick der Schluss nahe, dass dies Ganglien seien, welche in ähnlicher Weise, wie die des Herzens die Pulsationen desselben vermitteln, die zwar nicht rhythmischen, aber doch in einer gewissen Reihenfolge ablatifenden Bewegungen des Darmes zu Stande bringen. Man muss aber mit dergleichen Schlüssen vorsichtig sein ; denn zerstreute, mikroskopische Ganglien kommen auch anderweitig vor, wo von solchen periodischen oder in einer gewissen Reihenfolge ablaufenden Bewegungen nichts bekannt ist. Sie kommen z. B., wie Jakubowitsch vor einer Reihe von Jahren entdeckt hat, in der Harnblase vor. Es ist überhaupt schwer zu sagen, durch welche Izniervationsvorgänge der Motus peristal- N. sympatliicus. x2l ticxis des Darmkanals zu Stande kommt, und wie viel bei demselben jedes- mal auf die Erregung von Nervenfasern und wie viel auf die dirccte Erregung der Muskelfasern zu rechnen sei. Da dem Darmkanale mit dem Sympatbicus die verschiedenartigsten Nervenfasern zugehen, motorische, vasomotorische, hemmende u. s. w., so sind auch die Erscheinungen, welche auf Reizung desselben eintreten, in hohem Grade inconstant. Man hat Bewegungen des ruhenden Darmkanales auf Reizung der N. splanehnici eintreten gesehen. Man hat aber andererseits den bewegten Darmkanal auf Reizung der N. splanehnici zur Ruhe kommen gesehen und hat daraus geschlossen, dass der IST. splanchnicus ein Hemmungsnerv für den Darm- kanal sei. Alle diese Erscheinungen aber, welche man hier auf Reizung erhält, sind deshalb schwer zu beurtheilen, weil auch noch andere Ein- flüsse in Betracht kommen als diejenigen, welche man durch die Nerven- reizimg direct erzeugt. Vor Allem wirkt die atmosphärische Luft ein. Der Einfluss dieser wurde in neuerer Zeit durch Sanders insofern bis zu einem gewissen Grade eliminirt, als die ganzen Versuche in einer Kochsalzlösung von O'G'^/q angestellt wurden. Dann wirkt aber auch das Blut ein, welches in grösserer oder geringerer Menge in den Darmkanal hineinfliesst, und namentlich ist es nach den Versuchen von Sigmund Mayer und v. Basch der venöse Zustand des Blutes, welcher Contraetionen hervorruft. Sie haben unter allen Umständen, wo das Blut in den Darm- gefässen venös wurde, oder wo venöses Blut in die Darmgefässe hinein- floss, Contraetionen im Darmkanale eintreten gesehen. Bei dieser Viel- fältigkeit der Bewegungsursachen kann man sich wohl nicht wundern, dass die Resultate der Versuche und die Schlüsse, die aus ihnen gezogen wurden, bei verschiedenen Beobachtern so verschieden ausfielen. Von der reflectorischen Wirkung der Splanehnici auf die Athembewegungen ist schon früher gesprochen, als der Einfluss des Vagus auf dieselben erörtert wurde. Die Nerven der Milz stammen nach J. Bulgak wesentlich aus dem oberen Theile des Rückenmarks. Von der Medulla oblongata aus lässt sie sich nicht in Contraction versetzen ; leicht dagegen, wenn man den oberen Abschnitt des Rückenmarks vom Atlas bis zum vierten Halswirbel reizt. Reizt man weiter nach abwärts, so fallen die Contraetionen schwächer aus ; bei Reizungen unterhalb des eilften Brustwirbels bleiben sie ganz aus. Der Austritt motorischer Nerven für die Milz erfolgt nach ihm bei Hunden in allen vorderen Wurzeln zwischen dem dritten und zehnten Brustwirbel ; sie sammeln sich im N. splanchnicus major der linken Seite und werden so dem Ganglion coeliacum und der Milz zugeführt. Nach Charles S. Roy kann man indessen auch durch Reizung der peripherischen Stümpfe der durchschnittenen Vagi die Milz in Zusammen- ziehung versetzen. Nach ihm kann ferner durch Reizung sensibler Nerven auf dem Wege des Reflexes Milzcontraction hervorgerufen werden, auch dann noch, wenn beide Vagi und beide Splanehnici durchschnitten sind. Die motorischen Blasennerven stammen nach Versuchen von Budgc aus dem dritten und vierten Sacralnerven. Die zugehörigen centralen Bahnen sollen durch die Vorderstränge bis in die Peduneuli ccrebri verfolgt werden können. Blasenlähmungen nach Rückenmarksverletzungcn in den verschiedensten Höhen sind auch allen Acrzten wohl bekannt. Nach Gia- nuzzi und nach Goltz bekommen indessen Hunde, denen das Rücken- mark durchschnitten ist, meist wieder nach einiger Zeit das Vermögen 128 ÄBge. Harn zu lassen. Der Harn Üiesst uiclit passiv ab, sondern wird unter Beihilfe des Bulbocavernosus ausgestossen. Bisweilen kann auch solche Harnentleerung durch äusseren Eeiz reflectorisch hervorgerufen werden, es muss also ein Eeflexcentrum im Lendenmark liegen. Aehnliches findet Goltz für den Afterschliesser. Aehnlichen Schwierigkeiten, wie beim Darm, begegnen wir bei den Bewegungen des Uterus, über welche in neuerer Zeit namentlich von Oser und Schlesinger Versuche angestellt worden sind. Diese haben ergeben, dass auch hier, ähnlich wie dies auch beim Darmkanal beobachtet wurde, Abhalten des Blutes aus den Gefässen des Uterus Contractionen hervorbringt, dass aber der Erfolg einige Zeit auf sich warten lässt. Der Erfolg tritt aber viel plötzlicher auf, wenn man allgemeine oder wenn man Gehirnanämie hervorbringt. Sie überzeugten sich auch durch Durch- schneidung der Medulla oblongata zwischen Atlas und Hinterhaupt, dass Impulse vom Gehirne zum Uterus gehen und ihn in Contraction versetzen, und dass sie das Eückenmark entlang fortgepflanzt werden. Die Gehirn- anämie wurde nämlich unwirksam, wenn sie die Medulla oblongata durch- schnitten hatten, während die locale Anämie noch ihre Wirkung äusserte. Diese Impulse sind aber sicher nicht die einzigen. Ein 24jähriges Mädchen erlitt Avährend der Schwangerschaft einen Bruch des dritten und vierten Halswirbels. Obere und untere Extremitäten waren gelähmt, ebenso Mast- darm und Harnblase. Ebenso verbreitet war die Empfindungslosigkeit. Das Mädchen gebar ohne Schmerzen, aber das Vorhandensein von Wehen, von Uteruscontractionen, konnte • objeetiv sicher und deutlich constatirt werden. Von besonderem Interesse ist folgende Beobachtung von Goltz. Er hatte einer Hündin in ihrer Jugend das Eückenmark in der Höhe des ersten Lendenwirbels durchtrennt. Das Thier war geheilt, aber die Leitung nicht wieder hergestellt. Als es erwachsen war, wurde es brünstig, und Goltz liess es belegen. Es gebar ein lebendes Junges, dem noch zwei andere todte folgten, wenn auch so langsam, dass man die Entbindung durch Kunsthilfe beendigte. Es ist bemerkcnswerth, dass das Thier, welches sonst alle männlichen Hunde weggebissen hatte, sich, nachdem es brünstig- geworden, gutwillig belegen liess, obgleich ihm doch durch das Rücken- mark keinerlei Empfindungen von seinen Geschlechtstheilen aus zugeleitet werden konnten. Es musste dies also entweder durch Bahnen des Sym- pathicus geschehen, oder es musste, wie es Goltz nicht für unwahr- scheinlich hält, die geschlechtliehe Umstimmung durch eine veränderte Beschaffenheit des Blutes bewirkt sein. Bemerkenswerth ist auch, dass sich sämmtliche Milchdrüsen entwickelten und mit Milch anfüllten, auch die vorderen, und dass das Thier dem Jungen dieselbe Zärtlichkeit und Obsorge zuwendete wie eine Hündin mit unverletztem Nervensystem. Gesichtssinn. Das Auge. Im Alterthmne sah man das menschliche Auge als aus drei Flüssigkeiten und drei Häuten bestehend an. Die drei Flüssigkeiten waren: der Humor aqueus, der diesen Namen auch jetzt noch trägt, der Humor crystal- Auge. 129 linus, den wir jetzt Lens crystallina nennen, und der Humor vitreus, den wir jetzt mit dem Namen des Corpus vitreum bezeichnen. Auch, in den drei Häuten der alten Anatomen finden wir unsere Angenhäute wieder; aber die Namen haben mannigfache Wandlungen durchgemacht. Mit dem Namen Sclera, Cornea, Dura bezeichneten die alten Anatomen die jetzige Cornea und Sclerotica zusammengenommen, die äussere Haut des Augapfels. Erst später ist der Name Cornea auf den vorderen durch- sichtigen Theil übergegangen, während der Name Sclera oder Sclerotica dem undurchsichtigen Theile geblieben ist. Die zweite Haut der alten Anatomen war die Tunica uvea. Sie war so genannt von einer Wein- beere, an der man den Stengel ausgerissen hat. Es war darunter nichts Anderes verstanden als die jetzige Chorioidea mit Einschluss der Iris, so dass die Pupille das Stengelloch für die Weinbeere darstellte, aus der eben der Stengel ausgerissen war. Diese Haut führte auch zugleich den Namen Chorioeides oder Chorioidea, wie es heisst, weil man ihr eine Aehnlich- keit mit dem Chorion zuschrieb. Später trennte sich der Name so, dass der hintere Theil den Namen Chorioidea behielt, und der Name Uvea, der ursprünglich das Ganze bezeiclinct hatte, auf den vorderen Theil beschränkt wurde. Der vordere Theil aber, am lebenden Menschen von vorne gesehen, führte schon den Namen Iris, es blieb also jetzt nur übrig, dass eine hintere Partie dieser Iris mit dem Namen Uvea bezeichnet wurde, und daher ist das seltsame Missverständniss gekommen, welches eine Zeit lang herrschte, dass die Blendung aus zwei an einander liegenden und mit einander verwachsenen Häuten bestünde, von welchen die vor- dere den Namen Iris und die hintere den Namen Uvea führte. Wir werden in dem Folgenden immer den Namen Uvea, in demselben Sinne wie die alten Anatomen, für die Gesammtheit dieser Haut gebrauchen, und dagegen die Namen Iris und Chorioidea auf die einzelnen Partien in der jetzt üblichen Weise vertheilen. Die dritte dieser Häute war die Tunica retina, auch Aranea Arachnoidea, die Spinnwebenhaut genannt. Diese umfasste das, was wir jetzt Ketina nennen, ausserdem das, was wir jetzt Zonula Zinnii nennen, und in der ältesten Zeit auch noch die vordere Wand der Linsenkapsel. Die Namen dieser Haut rühren sämmtlich von einem Theile her, den wir jetzt nicht mehr mit dem Namen der Retina bezeichnen. Sie wurde Eetina genannt, weil man sie mit einem Netze, das oben zusammengezogen ist, verglich, und der zusammengezogene Theil, der zu diesem Vergleiche Ver- anlassung gab, war, wie begreiflich, nicht unsere jetzige Retina, sondern die Zonula Zinnii. Auch der Name Aranea oder Arachnoidea rührt von der Zonula Zinnii her, indem man die strahlige Figur, die die Zonula Zinnii von vorne gesehen darbietet, mit dem strahligen Gewebe einer Kreuzspinne verglich. Später wurde die Linsenkapsel als besondere Haut, als Phakoeides, unterschieden, so dass also der Name Retina oder Aranea auf unsere jetzige Retina und auf unsere jetzige Zonula Zinnii, welche noch in verhältnissmässig später Zeit als ein Theil der Retina betrachtet wurde, beschränkt war. Auch das, was wir jetzt mit dem Namen Conjunctiva bezeichnen, ist in der Weise, wie wir es jetzt beschreiben, erst in verhältnissmässig später Zeit beschrieben worden. Wir finden freilich eine Tunica adnata beschrieben, aber diese entspricht im Alterthumo imd in der ganzen gale- Brüelce. Vorlesungen. II. 4. Aufl. 9 130 Hovnliaut. nistisclieii Periode, ja selbst noeli bei mehreren Anatomen des 17. Jahr- hunderts nicht dem, was wir jetzt Conjnnetiva nennen, sondern einem Bindegewebstracte, welcher sich aus der Tiefe der Orbita, vom Eande des Foramen opticum über den Augapfel hin verfolgen lässt. Es ist dies die Capsnle du globe de l'oeil einiger späterer französischer Anatomen. Vesal leitete als der Erste die Conjunctiva so wie wir von der inneren Haut der Augenlider her. In Wahrheit ist unsere Conjunctiva keine selbst- ständige Membran. So wie wir sie für die anatomische Demonstration präpariren, können wir sie nur darstellen, indem wir eine Menge von Bindegewebe durchschneiden. Wir unterscheiden bekanntlich eine Con- junctiva bulbi und eine Conjunctiva palpebrarum. Wir präpariren sie so, dass wir das ganze Auge mit den Augenlidern ausschneiden und dann das Bindegewebe rückwärts wegnehmen, so dass wir eine sackförmige Haut erhalten, an der, wenn wir sie an den Augenlidern aufheben, der Bulbus hängt, indem er mit der Hornhaut den convexeu Boden dieses Sackes bildet. Wir sind aber dabei nur einer Oberfläche gefolgt, die uns durch ihre Erkrankungen ein wesentliches Interesse darbietet, nicht die Ober- fläche einer anatomisch selbstständigen Haut darstellt. Wir haben mit dem Messer die Faserzüge durchtrennt, mittelst welcher sich die Substanz der sogenannten Bindehaut in die des tiefer liegenden Bindegewebes der Augen- höhle fortsetzte. Die Hornliaut. Die Cornea stellt den Scheitelabschnitt eines etwas schiefliegenden Ellipsoids dar, das man sich durch Umdrehung einer Ellipse um ihre grosse Axe entstanden denken muss. Sie ist in ihrer ganzen Ausdehnung näherungsweise von gleicher Dicke, beim Erwachsenen aber in der Mitte, gegen den Corneascheitel hin, etwas dünner, am Rande etwas dicker. Beim Neugebornen findet das Umgekehrte statt, indem bei diesem die Cornea im Scheitel am dicksten ist und ihre Dicke gegen den Rand hin etwas abnimmt. Die Cornea besteht aus vier Schichten : einem vorderen geschichteten Pflasterepithel, dann aus der sogenannten Substantia propria corneae, die bei Weitem die Hauptmasse derselben ausmacht, drittens aus der glasartigen Lamelle der Hornhaut oder der sogenannten Descemet'schen Membran, und endlich aus einem Epithel, das die Descemet' sehe Haut rückwärts bekleidet. Das vordere äussere Epithel steht in directem Zu- sammenhange mit dem der Bindehaut. Die tiefste Schicht desselben besteht ans verhältnissmässig hohen und schlanken Zellen, die durch polj^- edrische in abgeplattete übergehen, welche an der Oberfläche in mehreren Schichten über einander liegen. Die zweite Schicht, die Substantia pro- pria corneae, hat zu mancherlei Controversen Veranlassung gegeben. Man erkannte frühzeitig, dass sie aus Fasern besteht, und Johannes Müller fand, dass das Hornhautgewebe sich auch in chemischer Hinsicht wesent- lich von dem der Sclera und vom Bindegewebe und fibrösen Gewebe überhaupt unterscheidet. Er fand, dass es beim Kochen Chondrin gibt. Er sagte deshalb, die Cornea sei der einzige wahre Faserknorpel, weil dei- gewöhnlich sogenannte Faserknorpel aus leimgebenden Fasern und Knorpel- substanz, die zwischen den leimgebenden Fasern eingesprengt ist, besteht. Morochowetz gibt indessen an, dass die Corneafasern beim Kochen nur Leim ohne alle Chondrinreactionen geben, wenn man ihnen durch Kalk- Hornhaut. 131 oder Barytwasser alles darin Lösliche entzogen hat. Später ist die faserige Natur der Cornea geleugnet worden. Man hat sie als lediglich aus La- mellen bestehend dargestellt. Rollet t hat aher nachgewiesen, dass die alte Ansicht, dass die Cornea aus Fasern bestehe, die richtige ist. Man hatte immer den Vorwurf erhoben, dass die Easern durch künstliche Spaltung, durch Bearbeiten der Cornea mit der Kadel hervorgebracht würden; die Streifung, die man auf dem Schnitte sehe, rühre nicht von Fasern, sondern von Lamellen her. Rollett wies aber nach, dass man auch ohne Anwendung von Nadeln die Fasern erhalten könne, wenn man die Kittsubstanz, die dieselben hier, wie im Bindegewebe, miteinander verbindet, diu*ch übermangansaures Kali zerstört. Dann kann man durch blosses Schütteln die ganze Cornea in ein Haufwerk von Fasern auflösen. Diese Fasern liegen in Bündeln, die mattenartig durchiiochten sind und gerade in der menschlichen Cornea einen verhältnissmässig unregelmässigen Verlauf haben. Schon bei den Wiederkäuern haben diese Bündel eine etwas regelmässigero Lage, kreuzen sich mehr unter rechten Winkeln. In noch höherem Grade ist dies bei den Vögeln der Fall. In dem von den Bündeln gebildeten Mattenwerk sind bestimmt geformte und begrenzte Zwischenräume, und diese sind von lebenden Zellen bewohnt, welche den Bindegewebskörperchen analog sind, tind die man hier mit dem Namen der Corncakörperchen bezeichnet. Diese Zellen haben aber nicht alle feste Wohnsitze. Sie strecken zum Theil nicht nur wie andere amöboide Zellen Fortsätze aus und ziehen sie zurück, sondern sie strecken Fortsätze in der Weise aus, dass sie sich in ein langes, keulenförmiges Gebilde ver- wandeln. Der Fortsatz ist in einen Communicationsgang zwischen zwei grösseren Bäumen hineingesteckt, und wird immer weiter bis in den andern Raum vorgeschoben, dann immer mehr und mehr von dem Proto- plasma nachgezogen, so dass endlich die Figur einer Keule in umgekehrter Lage entsteht, dass sich der Zellenleib dort befindet, wo früher die Spitze des Fortsatzes war. Der Fortsatz, der jetzt dem Protoplasmaleibe nach- schleppt, wird endlich eingezogen, und auf diese Weise hat die ganze Zelle einen Weg in der Cornea zurückgelegt. Diese Zellen sind die so- genannten Wanderzellen der Cornea. Recklinghausen hat vor einer Reihe von Jahren gezeigt, dass auch Lymphkörperchen in die interstitiellen Gewebsräume der Cornea ein- wandern können. Er zerstörte in einer Hornhaut auf mechanischem Wege die darin enthaltenen Hornhautkörperchen. Hierauf brachte er sie in den Lymphraum eines Frosches und fand nun, dass die amöboiden Zellen, die Lymphkörperchen, aus dem Lymphraume des Frosches in die Cornea einwanderten und sie von Neuem bevölkerten. Die Cornea niederer Thiere, namentlich die der Frösche und der Salamander, gibt das beste Objcct ab, um die Wanderung von amöboiden Zellen, wie sie unzweifelhaft auch an anderen Orten im menschlichen Körper stattfindet, zu beobachten. Sie wird frisch ausgeschnitten und als Ganzes in der feuchten Kammer, von der mehrere Formen von Recklinghausen und von Stricker angegeben wurden, vor Verdunstung geschützt, beobachtet. Dann sieht man, wie diese Zellen ihre Fortsätze ausstrecken und einziehen, wie sie ihren Ort verändern u. s. w. Wenn man den todten Augapfel zwischen den Fingern presst, so wird die Hornhaut trüb, und klärt sich wieder, sobald der Druck naeh- 9* 132 Hornhaut. lässt. Ebenso beobachtet man Trübung der Hornhaut am Lebenden, wenn der Druck im Inneren des Auges, der sogenannte intraoculäre Druck, sich über ein gewisses Maass steigert. ISTach den Untersuchungen von E. v. rieischl hängt diese Trübung damit zusammen, dass die Fasern der Horn- haut durch den von der stärkeren Spannung herrührenden Zug doppel- brechend werden. Man hat an der Substantia propria corneae oder vielmehr zwischen ihr und dem Epithel eine Tunica elastica anterior beschrieben, so dass man dann die Descemet'sche Haut als Tunica elastica posterior bezeichnete. Eine solche selbstständige Tunica elastica anterior existirt aber nicht, son- dern nur eine festere, dichtere, oberflächliche Lage der Substantia propria corneae. Beim Menschen zeichnet sie sich auf Querschnitten besonders aus, mehr als bei den meisten Thieren, und ihre Verbindung mit der übrigen Hornhaut ist namentlich gegen den Eand hin weniger fest. Hier sieht man bisweilen von hereinwuchernden Neubildungen eine Schicht ab- gehoben, die der Descemet' sehen Haut täuschend ähnlich ist. Aber auch sie ist nichts Anderes als die von Hornhautkörperchen fast vollständig freie vorderste Schicht der Substantia propria corneae. Schon RoUett wies nach, dass diese vorderste Schicht von übermangansaurem Kali ebenso angegritfen wird wie die übrige Substantia propria, während die Desce- met'sche Haut unversehrt bleibt. Auch durch entzündliche Auflockerung und Geschwürsbildung wird sie unter denselben Erscheinungen zerstört Avie die übrige Substantia propria. Auf die Substantia propria corneae folgt die Descemet'sche Haut. Diese ist eine glasartige, structurlose Membran. Sie ist so gieichmässig durchsichtig, dass, wenn ein Lappen von ihr unter dem Mikroskope liegt, der das halbe Sehfeld einnimmt, man nicht weiss, auf welcher Seite der Schnitt liegt und auf welcher Seite kein Object vorhanden ist. Nur auf Schnitt- und auf Rissflächen sieht man eine leichte Streifung, welche auf einen lamellösen Bau schliessen lässt. Beim Menschen bringt man sie ge- wöhnlich nur in kleineren Stücken herunter, die, wenn sie etwas grösser sind, sich krümmen und einrollen, in ähnlicher Weise wie ein Papier, das längere Zeit zusammengerollt gewesen ist. Bei manchen Thieren aber, beim Kaninchen und mehr noch beim Hasen, kann man sie durch Mace- ration als Ganzes darstellen. Sie wurde unter verschiedenen Namen be- schrieben : als Membrana Descemetii, Membrana Demoursii, Membrana Duddeliana, Membrana humoris aquei u. s. w. Wenn man sie nach ihrem Entdecker nennen will, muss man sie Membrana Descemetii nennen, weil sie Descemet zuerst und richtig besehrieben hat. Den Namen der Mem- brana humoris aquei hat man ihr irrthümlicher Weise gegeben, indem man glaubte, dass sie die ganzen Augenkammern auskleide und den Humor aqueus absondere. Es hing das mit gewissen Vorstellungen zusammen, nach welchen die Flüssigkeiten, welche sich in den serösen Höhlen be- finden, von den Häuten, die diese Höhlen begrenzen, durch eine eigene specifische Thätigkeit abgesondert werden sollten. Wir Avissen aber heut- zutage, dass es nicht die serösen Häute als solche, sondern vielmehr die Blutgefässe sind, welche in dem durch ihre Wandungen gedrungenen Plasma das Material zu solchen Flüssigkeiten hergeben. Wenn es aber eine Haut gibt, die ungeeignet wäre, Flüssigkeiten abzusondern, so ist es gewiss die Descemet'sche Haut, weil sie fester, widerstandsfähiger, undurch- Hornhaut. 133 gängiger ist als irgend eine Membran des nicnsclilichen Körpers, die Linsenkapsel etwa ausgenommen. Man kann mit melir Wahrscheinlichkeit sagen, dass ihr wesentlicher lüfutzen darin besteht, dass sie die hintere Fläche der Cornea mit einer für wässerige Flüssigkeiten schwer durch- gängigen Schicht bekleidet und so die Infiltration des Humor aqueus in die Cornea beschränkt. Ihre. Widerstandsfähigkeit zeigt sich auch bei Geschwürsbildungen. Wenn ein trichterförmiges Geschwür schon die ganze Substantia propria corneae durchbrochen hat, sieht man noch im Grunde des Geschwürs die Descemet' sehe Membran erhalten, so dass sie wie eine helle, durchsichtige Perle im Grunde des Geschwürs steht und erst nach längerer Zeit durchbrochen wird. Ferner zeigt sie sich sehr widerstands- fähig gegen Reagentien und widersteht dem Kochen lange Zeit ; von alkali- scher Trypsinlösung aber wird sie nach Ewald und Kühne unter starkem AiifqueUen verdaut. Sie bekleidet, wie gesagt, die Rückseite der Cornea, geht aber nicht auf die Iris über, sondern hört an der Grenze der Sclera mit einem Rande auf, der sich zwischen diese und den an ihr angehefteten Ciliartheil der Iris einschiebt, und an dessen Innenseite sieh der später zu beschreibende Musculus tensor chorioideae ansetzt. Dieser Rand weist grosse Verschiedenheiten und merkwürdige Bildungen auf. Einerseits um- gibt er bei manchen Thieren scheidenförmig Faserbündel, die als Theile des Ligamentum iridis pectinatum von der Iris zur Hornhaut gehen, andererseits endet er beim Menschen verdünnt und zugeschärft zwischen und hinter den Strängen des Ligamentum iridis pectinatum und stellen- weise von denselben durchbohrt. ISTach innen ist sie mit einem einschich- tigen Pflasterepithel bekleidet, das aus einer einfachen Lage durchsichtiger Zellen mit stark prominirenden Kernen besteht. Dieses Epithel der Desce- met'sehen Haut setzt sich auf die Iris fort und geht in die oberste Lage der Zellen über, welche die Iris nach vorn zu überkleiden. Die Kerven der Cornea kommen von den Ciliarnerven und treten ringsum am Rande der Hornhaut als kleine Stämmchen ein. Sie ver- zweigen sich in der ganzen Ausdehnung derselben und scheinen in zweierlei Weise zu endigen. Zunächst in der Tiefe der Cornea. Hier hat Kühne auf ein eigenthümliches Verhalten der Nerven zu den Hornhautkörpern aufmerksam gemacht. Er fand, dass diese, wenn sie ihre Fortsätze aus- gestreckt hatten, durch letztere wenigstens theilweise mit den Enden der Nervenfasern in Verbindung standen. Reizte er die Nerven, so zogen die Corncakörperchen ihre Fortsätze ein und standen nun nicht mehr mit den Nervenfasern in Verbindung, so dass hier kein wirkliches Zusammenhängen, sondern nur eine Aneinanderlagerung von Fortsätzen und Nervenfasern stattfindet und doch eine TJebertragung der Erregung, wenn man nicht etwa annehmen will, dass die Verbindung vorher eine wirkliche war und durch die plötzliche Contraction zerriss. Der Zusammenhang der Nerven- fasern mit den Hornhautkörperchen ist mehrfach bestritten, aber in neuerer Zeit von Königstein insofern bestätigt worden, als er an Hornhäuten, die mit Gold gefärbt waren, die Hornhautkörperchen noch an den Nerven- fliden hängend fand, nachdem er die Fasern durch Salzsäure zerstört hatte. Mit der anderen Art der Endigung der Nervenfasern sind wir durch die Untersuchungen von Cohnheim bekannt gemacht worden. Er fand an Goldpräparaten, dass auf der oberen Schichte der Substautia pro- pria corneae ein dichter Plexus von sehr feinen marklosen Fasern liege. 134: Hornhaut. die sieh nach rückwärts bis zu den schon früher bekannten tieferliegenden Fasern verfolgen Hessen. Von diesen dringen sehr feine marklose Fäden nach aufwärts zwischen die Epithelzellen, um zwischen denselben blind zu endigen. Blutgefässe hat nur der Randtheil der Cornea. Sie kommen von der Conjunctiva und überschreiten den Rand der Cornea an beiden Seiten etwa um 1 Mm., von unten her etwa um 1^2 Mm., und von oben her etwa um 2 Mm. Es entsteht dadurch ein gefässfreies Feld auf der Cornea, wel- ches seiner Gestalt nach einer Ellipse mit horizontal liegender grosser Axe nahe kommt. Am Rande dieser Ellipse endigen die Blutgefässe mit arkadenförmigen capillaren Schlingen. Mehr in der Tiefe werden die ein- tretenden Kervenstämmchen von umspinnenden Gefässen begleitet, die noch etwas weiter vordringen als die eben erwähnten, von der Conjunctiva stammenden Blutgefässe. Man hat der übrigen Hornhaut noch ein System von feineren Gefässen, welches von den Capillargefässen aus gespeist werden soll, zugeschrieben, ein System von so feinen Gefässen, dass in sie keine Blutkörper eindringen, sondern nur Plasma. Ein solches existirt hier nicht. Man glaubte die speisenden Capillaren in feinen, radial verlaufenden und anscheinend blind endigenden Gefässen am Hornhautrande zu sehen. Aber diese sind nichts Anderes als die radial verlaufenden Schenkel der Endschlingen. Wenn man dergleichen Injectionen im frischen Zustande untersuchi;, so findet man noch Blutkörperchen im Verbindungstheile zweier solcher Schenkel angesammelt. Diese Bilder entstehen dadurch, dass die Injectionsmasse von beiden Seiten eine Portion Blut zwischen sich eindrängt und nun nicht die ganze Schlinge erfüllen kann. Man hat sich vielfach auf die pathologischen Erscheinungen berufen und gesagt, es müssten normaler Weise in der Hornhaut Gefässe vorhan- den sein, weil diese bei Entzündung derselben so rasch erscheinen. Diese Beweisführung hat aber heutzutage keinen Werth mehr, seit man die Ge- schwindigkeit kennt, mit welcher sich pathologische Gefässe bilden können. Früher, als man sich noch der erstarrenden körperlichen Injectionsmassen bediente, konnte man glauben, dass hier in der That ein feines Gefässnetz sei, welches nur äusserst schwer injicirt wird. Heutzutage aber, wo wir jnit Injectionsmassen, die keine festen Körper enthalten, mit Carmin, lös- lichem Berlinerblau u. s. w. injiciren, können wir mit Sicherheit sagen, dass hier keine Gefässe vorhanden sind, da an gesunden Augen sich die Gefässgrenze immer in ein und derselben Weise darstellt. Lymphgefässe sind auch in der Cornea beschrieben worden. Es ist keine Frage, dass, wenn man einen Einstich macht und eine gefärbte Masse hineintreibt, mittelst derselben ein System von interstitiellen Gewebsräumen, von Saftkanälen, zwischen den Fasern der Cornea erfüllt wird. Es sind dies dieselben interstitiellen Gewebsräume, in welchen die Corneakörper- chen theils liegen, theils ihre Wanderungen vollziehen, erweitert und ge- legentlich auch vermehrt durch den Druck der Injectionsmasse. Von wirk- lichen Lymphgefässen kann aber hier keine Rede sein, schon deshalb nicht, weil hier keine Blutgefässe vorhanden sind und bekanntlich die Lymph- gefässe immer nur die Kanäle darstellen, die das von den Capillaren über- flüssig ausgeschiedene Plasma zurückführen. Sclerotica. 135 Die Sclerotica. Die (Sclerotica ist eine fibröse Membran. »Sie ist am diclisten am hinteren Umfange des Auges, verdünnt sich dann gegen den Aequator des Augapfels hin und dann noch mehr unter den Ansätzen der geraden Augen- muskeln ; dann verdickt sie sich wieder, indem die Fasern von den Sehnen der geraden Augenmuskeln nach vorne und nach den Seiten hin in sie ausstrahlen und so gewissermassen, indem sie sich mit den Scleroticafasern verflechten, eine neue Schicht bilden. Diese vordere Verdickung, welche die Sclera unter Mitwirkung der Sehnen der geraden Augenmuskeln erfährt, ist als eigene Membran, als die sogenannte Tunica innominata Columbi beschrieben worden. Sie stellt aber keine solche dar, sondern lässt sich nur gewaltsam mit dem Messer ablösen. Die Sclera ist verhältnissmässig gefässarm und enthält unter ihrer inneren Oberfläche ein ziemlich weit- maschiges Netz von Capillaren. An der Eintrittsstelle des Sehnerven findet sich ein schon Haller bekannter arterieller Gefässkranz, der zahlreiche Aeste in das Bindegewebe sendet, welches die einzelnen Bündel der Seh- nervenfasern von einander trennt. An der inneren Seite der Sclera hat man eine Lamina fusca scleroticae unterschieden. Unter diesem Namen sind aber zwei verschiedene Dinge beschrieben worden. Bei vielen Thieren hat die innere Partie der Sclera selbst Pigmentzcllen, so dass die innere Oberfläche derselben gefärbt ist ; und das hat man als Lamina fusca sclero- ticae beschrieben. Andererseits aber befindet sich zwischen der Chorioidea und der Sclera ein zartes, bei brünetten Menschen pigmentirtes Gewebe, das seinem histologischen Charakter nach dem Stroma der Chorioidea gleich ist, das aber häufig der Sclera fester anhaftet als der Chorioidea, so dass es, wenn man in der gewöhnlichen Weise die Sclera von der Chorioidea abtrennt, als ein weicher, gefärbter Ueberzug auf der Innen- fläche der Sclera bleibt. Auch dieses Gewebe ist mit dem Namen der Lamina fusca scleroticae bezeichnet worden. Die Sclera ist bald mehr kugelförmig, bald bildet sie ein schief- liegendes Ellipsoid, das man sich durch Umdrehung einer Ellipse um ihre kleine Axe entstanden denken kann ; seltener bildet sie ein schiefliegendes Ellipsoid, das man sich durch Umdrehung einer Ellipse um ihre grosse Axe entstanden denken kann. Letzteres kommt bei den sehr langen Augen vor, die wir später als die sehr kurzsichtiger Individuen kennen lernen werden. Man sagt gewöhnlich, dass die Sclera nach vorn mit der Cornea in der Weise verbunden sei, dass die Cornea wie ein Uhrglas in eine Uhr in sie eingesetzt sei. Das ist aber nicht ganz richtig. Das Uhr- glas ist in die Uhr mittelst eines eigenen Falzes eingefasst, und dem ent- sprechend sprach man auch von einem Falze der Sclera, in welchen die Cornea eingesetzt sei. Ein solcher Falz existirt aber nicht, sondern die Grenze zwischen Cornea und Sclera läuft von vorne nach hinten gerad- linig fort, und zwar an den Seiten ziemlich der Augenaxe parallel, oben und unten aber gegen diese geneigt, und zwar in der A\"eise, dass sie sich nach vorn zu derselben nähert, nach rückwärts sich von derselben entfernt. Die vordere Ansicht der Hornhaut stellt deshalb eine querliegende Ellipse dar, während sie von rückwärts kreisförmig erscheint. Bei diesem theil- weise schrägen Verlaufe zwischen Cornea und Sclera kann man bei der beträchtlichen Dicke der Häute schon in einiger Entfernung von der 136 Tunica uvea. äusserlich siclitbaren Grenze zwisclien Cornea und Sclera ein Instrument dnrch die letztere stossen und gelangt mit demselben doch noch in die vordere Augenkammer. Erst wenn man noch weiter nach rückwärts ein- geht, kommt man in die hintere Augenkammer und zum Linsenrande. Die Descemet'sche Haut hört an dieser Stelle, wie erwähnt, mit einem zu- geschärften Rande auf. Unmittelbar an der Grenze der Cornea, aber noch in der Substanz der Sclera, liegt der sogenannte Canalis Schlemmii. Schlemm fand an Erhängten einen mit Blut gefüllten E.ing, der die Peri- pherie der Cornea umfasste. Er untersuchte denselben näher und fand, dass er in jedem Auge vorhanden, nur nicht stets mit Blut gefüllt sei, dass man ihn aber an jedem Auge mit Quecksilber füllen könne. Er be- schrieb diesen E.ing, der schon früher gesehen, aber mit dem später zu beschreibenden Canalis Fontanae, dann auch mit dem Circulus venosus Hovii verwechselt war, als einen venösen Sinus, der die Cornea um- fasse, und dieser Sinus ist nach ihm der Canalis Schlemmii genannt worden. Er ist aber kein einfacher Sinus im gewöhnlichen Sinne des "Wortes, sondern er besteht, wie spätere Untersuchungen gezeigt haben, aus mehreren Venen, die sich zu einem ringförmigen Plexus vereinigen und die Peripherie der Cornea umfassen. Die Tunica uvea. Die Tunica uvea kann räumlich eingetheilt werden in die Blendung, in den Ciliartheil (Corpus ciliare) und in die Chorioidea im engeren Fig. 23. Sinne des Wortes. Wenn man sich von dem Aufbaue der Uvea eine Vorstellung machen will, so fängt man am besten mit der Beschreibung Tunica uvea. der Gefässe an, die hier einen grösseren Bruchtlieil der Gesammtmasse als bei den meisten anderen anatomischen Gebilden ausmachen. Erst durch eine ausgezeichnete, von Leber im J.udwig'schen Laboratorium ausgeführte Arbeit haben wir eine richtige Einsicht in die Anordnung derselben und in den Blutlauf des Augapfels erhalten. Man muss dreierlei arterielle Zuflüsse unterscheiden. Erstens die Arteriae ciliares posticae breves, kleine Stämmchen, die etwa zwanzig an der Zahl am hinteren Pole des Auges und im Umkreise des Sehnerven die Sclera durchbohren, in die Chorioidea eintreten, sich in derselben verbreiten und ein reiches, dichtes Capillarnetz bilden, welches die innerste Schichte des Gefässgerüstes bildet. Die Capillaren liegen also hier nach innen von den Arterien und Venen. Zweitens muss man die Arteriae ciliares posticae longae (Figur 23 l) unterscheiden, die, zwei an der Zahl, die eine an der Schläfenseite, die andere an der Nasenseite, nach vorwärts gehen, sich, wenn sie im Ciliartheile der Cho- rioidea angelangt sind, gabelförmig theilen und mit ihren Aesten einen Kranz bilden, indem diese miteinander anastomosiren. Dieser Kranz um- fasst die Iris und heisst der Circulus iridis arteriosus major (Eigur 23 a, a). Von diesem gehen Aeste in den Ciliartheil der Chorioidea, in den ^'S- ^^■ später näher zu beschreibenden Spannmuskel und in die Ciliar- fortsätze. Ein anderer Theil der Aeste geht in die Iris. Die dritte Art der arteriellen Zuflüsse be- steht in kleinen Aesten, die sich von den Augenmuskelarterien ab- ZAveigen , die Sclera in ihrem vorderen Theile diu'chbohren (Ei- gur 24 c, c) und ihr Verbreitungs- gebiet theils im Ciliartheile der Chorioidea, theils in der Iris haben. Diese Gebilde haben also zweifache arterielle Zuflüsse, die einen durch die Arteriae ciliares posticae longae, die anderen durch die Arteriae ciliares anticae. Die Arterien der Blendung bilden nahe dem Pupillarrande einen zweiten Anastomosenkranz, den Circulus iridis arteriosus minor (Eigur 23 n, n). Das Venenblut, das aus dem vorderen Theile der Uvea zurückgeführt wird, hat verschiedene Abflüsse. Es geht theils durch Venen ab, welche als Venae ciliares anticae bezeichnet werden, am vorderen Theile des Auges die Sclerotica durchbohren und mit den Venen des Canalis Schlemmii, die aber kein Irisblut aufnehmen, zusammenhängen ; theils fliesst es durch die Venen- netze der Processus ciliares, Eigur 2B p, Eigur 24 b, die der Hauptsache nach von den Irisvenen gespeist werden, aber auch etwas Blut aus dem nach aussen von ihnen liegenden Spannmuskel aufnehmen. Diese Venen- netze, welche das eigentliche Gerüst der Ciliarfortsätzc bilden, sind, 70 bis 72 an der Zahl, zwischen die Ealten der Zonula Zinnii eingesenkt. Aus ihnen verlaufen die Venen in kleinen, parallel neben einander liegenden Fig. 23 und "24 nach Leber. 138 Tunica uvea. Stämmen nach rückwärts bis zur Ora serrata retinae, wo das Capillarnetz der Chorioidea beginnt. Sie nehmen dessen Blut auf und setzen sich zu grösseren Aesten (Figur 2o d) zusammen, die in bogenförmigem Verlaufe in sechs, bisweilen auch nur in fünf oder vier Stämme zusammenfliessen, so dass springbrunnenförmige Gefässiigviren entstehen, die schon mit blossem Auge und ohne Injection als solche kenntlich sind. Das sind die Vasa vorticosa Stenonis, so genannt nach dem dänischen Anatomen Stenson. Diese also führen, indem sie nicht weit hinter dem Aequator die Sclero- tica durchbohren , den bei weitem grössten Theil des Venenblutes der Uvea aus dem Augapfel ab. Die Tunica urea enthält drei Muskeln. Erstens den M. tensor chorioideae, der mit einer Insertion, die, aus verzweigtem, netzförmigea Bindegewebe gebildet, am Rande der Descemet' sehen Haut befestigt ist. Die Pasern laufen nach rückwärts und setzen sich an die Chorioidea an. Es sind glatte, organische Muskelfasern. Wenn sich diese Fasern con- trahiren, so ist es begreiflich, dass sie die Chorioidea um die Retina und den Glaskörper anspannen müssen. Ich habe deshalb diesen Muskel Tensor chorioideae genannt. Er wird in neuerer Zeit auch als Ciliarmuskel be- zeichnet. Gegen diesen jSTamen ist einzuwenden, dass er insofern zu Verwechslungen Anlass geben kann, als man früher irrthümlicher Weise Mtiskeln in den Ciliarfortsätzen angenommen hat, die zur Linse gehen sollten , und diese vermeintlichen Muskelfasern mit dem Namen des M. ciliaris belegte. Später ist von Heinrich Müller noch eine tiefere, circuläre Schicht des Tensor besehrieben worden. In späterer Zeit sind gegen dieselbe Zweifel erhoben. Es ist sicher, dass die Fasern der tie- feren Schicht meist weniger gerade von vorn nach hinten verlaufen als die der oberflächlichen. Man sieht auf Meridianschnitten vom Tensor chorioideae meistens zahlreiche Querschnitte von Muskelfasern nach innen von den Längsschnitten. Nun bekommt man aber leicht von schräg ver- laufenden Muskelfasern Querschnitte, und ausserdem geschieht es bei der Weichheit der Gebilde, dass, wenn die oberflächlichen Fasern sich etwas zusammenziehen, die tiefer liegenden sich im Zickzack biegen und dadurch Querschnitte entstehen. Es ist angegeben worden, dass man bisweilen glückliche Schnitte erhalte, auf denen gar keine Querschnitte von Muskel- fasern zu sehen sind. Aber diese können wiederum nicht als beweisend betrachtet werden gegen die Existenz eines inneren Ringmuskellagers, denn nach den Untersuchungen von Iwanoff verhalten sich verschiedene Augen sehr verschieden. Nach ihm fehlt das Ringmuskellager in kurz- sichtigen Augen in der Regel, ist aber in solchen, die in der Richtung der Axe besonders kurz sind, und die wir später unter dem Namen der hypermetropischen kennen lernen werden, auffallend stark und deutlich entwickelt. Diese Angaben sind auch von anderen Ophthalmologen be- stätigt worden. Der zweite Muskel ist der Sphincter pupillae, der als ein Band von etwa 1 Mm. Breite die Pupille umgibt und hier, abgesehen von der hinteren Pigmentlage, sich durch die ganze Iris erstreckt. Von ihm aus lässt sich der viel ausgedehntere, aber viel dünnere M. dilatator pu- pillae verfolgen. Dieser inserirt sich einerseits am Sphincter pupillae, andererseits an der Verbindung des Marge ciliaris Iridis mit dem Ciliar- theile der Chorioidea. Er bildet eine dünne radiale Lage, die nach hinten Tuiiica Uvea. lö;:' von den Blutgefässen, den Nerven und dem Irisstroma, aber nach vorn von der hinteren Pigmentbckleidung der Iris liegt. Das Stroma, in welches alle diese Gebilde eingelagert sind, ist so- wohl bei der Chorioidea als bei der Iris verzweigtes Bindegewebe. Die braunen und die schwarzen Augen sind solche, in denen dieses Stroma pigmentirt ist, die blauen sind solche, bei denen dieses Stroma nicht pig- mentirt ist, wo deshalb das durchscheinende Gewebe der Iris als ein trübes Medium vor einem dunklen Hintergründe , vor der hinteren Pigment- bekleidung der Iris, liegt. Da dieses Stroma sein Pigment meistens erst im extrauterinen Leben bekommt, so werden die Kinder in der Regel mit blauen Augen geboren, wie dies schon Aristoteles gewusst hat. Er sagt: Die Kinder werden mit dunkelblauen Augen geboren und erst später bekommen sie braune oder hellblaue Augen. Das Letztere ist ebenfalls richtig. Die Augen werden heller blau, weil die Masse des trübenden Gewebes sich vermehrt, und deshalb eine grössere Menge Lichtes reflectirt wird, als dies bei jSTeugeborenen der Fall ist. — Dieses verzweigte Binde- gewebe bildet einen dichten Filz, so dass namentlich in der Chorioidea des Erwachsenen es kaum noch möglich ist, die einzelnen Zellen mit ihren Fortsätzen von einander zu isoliren. Man kann aber bei sehwach pigmen- tirten Augen sehr gut einzelne stark pigmentirte Zellen mit ihren Aus- läufern in der schwächer pigmentirten Umgebung wahrnehmen. Das Stroma der Chorioidea wird, wenn man von aussen nach innen fortschreitet, immer fester und schliesst nach innen zu ab mit einem dünnen, glashellen, von feinen, wie es scheint, elastischen Fasern durchzogenen Häutchen, Kölliker's Glashaut oder elastischer Lage der Chorioidea. Das Innere der ganzen Chorioidea ist von einer Schicht von Zellen ausgekleidet, welche ihrer Entwickebing nach schon zur Eetina gehört, anatomisch aber zur Chorioidea gerechnet wird. Sie ist in allen Augen mit Ausnahme derer von Albinos pigmentirt. Es ist dies die sogenannte innere Pigmentauskleidung der Chorioidea. Sie besteht aus sechseckigen, sehr regelmässigen Zellen, die mit körnigem Pigmente erfüllt sind und in welche die äussersten Elemente der Eetina, die Stäbchen und Zapfen, eingesenkt sind. Nach den Untersuchungen von Ant. Frisch wird das Pigment erst nach dem Tode rundkörnig oder, wie es oft abgebildet wird, nierenförmig. Im Leben stellt es scharfkantige Gestalten dar, oft prismen- oder schienenförmig, die sich in die Zwischenräume zwischen den Enden der Retinastäbchen einschieben. Die Zellen setzen sich nach vorn zu fort, werden im Ciliartheile der Chorioidea mehr platt und geschichtet, über- ziehen die Processus ciliares, und das Lager erreicht seine grösste Dicke an der hinteren Seite der Iris, wo es sich bis zum Rande derselben fort- setzt. Es ist in diesem ganzen Verlaufe pigmentirt, nur auf den Firsten der Ciliarfortsätze ist es bei Erwachsenen nicht pigmentirt. Wenn man deshalb das Auge eines Erwachsenen durchschneidet und die vordere Hälfte desselben von rückwärts ansieht, so sieht man um die Linse herum einen weissen Strahlenkranz, der durch die nicht pigmentirten Firste der Ciliar- fortsätze hervorgebracht wird. Bei neugeborenen Kindern ist dies nicht der Fall. Die Nerven der Tunica uvea sind die Ciliarncrven. Sie durchbohren die Sclerotica in vierzehn, selten weniger, häufig mehr Stämmen an ihrer hinteren Hemisphäre in der Richtung von hinten nach vorn, so dass sie 140 Tunica uvea. häufig in einer Länge von 3 bis 4 Millimetern in derselben verharren. Der grösste Theil derselben nimmt seinen Ursprung aus dem Ganglion ciliare, durch das sämmtliche motorische Fasern für das innere Auge gehen, wäh- rend demselben ein Theil der sensiblen durch die N. ciliares longi aus dem Nasociliaris zukommt. Die axd und in dem Gewebe der Chorioidea nach vorn verlaufenden Ciliarnerven verzweigen sich im Ciliartheil, zumeist im Spannmuskel der Chorioidea, dann in der Iris und in der Hornhaut. Die Tunica uvea ist mit dem Eande der Descemet'schen Haut und der Sclera durch die Insertion des Spannmuskels der Chorioidea verbunden, und andererseits gehen nach vorn von dieser Faserbündel von dem Ge- webe der Iris zur Descemet'schen Haut und durch diese hindurch zur Substantia propria corneae, so dass, wenn man die Iris etwas anzieht, diese Fasern, über welche das Epithel hinübergeht, sich in kleinen Eiffen anspannen. Die gestreifte Verbindung, die auf diese Weise entsteht, ist das sogenannte Ligamentum iridis pectinatum. Zwischen diesen Verbin- dungsstellen, zwischen der Uvea einerseits und der Cornea und Sclera an- dererseits, ist mehrfach ein Kanal unter dem IS'amen des Canalis Fontanae beschrieben worden. Der eigentliche Canalis Fontanae, d. h. das, was Fontana an Ochsenaugen als solchen beschrieben hat, existirt im Menschen- auge nicht. Im Menschenauge liegen die Befestigung der Iris an der Cornea und die Insertion des Tensor chorioideae unmittelbar nebeneinander. Beim Ochsenauge dagegen besteht eine Verbindung zwischen Iris einerseits und Cornea und Sclera andererseits, und dann kommt erst nach einer Strecke die Insertion des Tensor chorioideae, welche diq zweite Verbindung der Uvea und der Sclera darstellt. Zwischen diesen beiden Verbindungen liegt nur lockeres Chorioidealstroma, so dass man, wenn man Queck- silber hineinlaufen lässt, einen ringförmigen Raum erfüllen kann, der nach innen von der Uvea, nach vorn von der Verbindung der Iris mit der Cornea, beziehungsweise Sclerotica, nach hinten von der Verbindung des Tensor chorioideae mit der Sclera und nach aussen von der Sclera begrenzt ist. Dieser Raum war es, welchen Fontana in einem Briefe an den Ana- tomen Murray als einen von ihm neuentdeckten Kanal beschrieb. Dieser Kanal wurde mit dem Canalis Schlemmii verwechselt, indem man Schlemm, als er seinen Kanal beschrieb, den Vorwurf machte, dass der- selbe nichts sei als der längst bekannte Fontana' sehe Kanal. Das ist aber unrichtig, denn der Schlemm' sehe Kanal ist ein ringförmiger Venenplesus, welcher in der Sclera liegt, während der Fontana' sehe Kanal kein Venen- plexus ist und auch kein Sinus, und nicht in der Sclera liegt, sondern zwischen der Sclera und der Uvea. Der Canalis Fontanae ist ferner mit dem Circulus venosus Hovii verwechselt worden. Dieser ist aber erstens vom Canalis Fontanae gänzlich verschieden, und zweitens ist der Circulus venosus Hovii im menschlichen Auge auch nicht vorhanden. Dieser Circulus venosus Hovii, der in der berühmten Dissertation von Hovius de circulari motu in oculis beschrieben wurde, ist nichts Anderes als eine grosse Venenanastomose zwischen den Aesten der Vasa vortieosa, die den hinteren Rand des Tensor chorioideae umfasst, während der wahre Canalis Fontanae nach vorn vom Tensor chorioideae liegt. Ausser ihrer Verbindung mit der Sclera und Cornea hat die Uvea noch eine Verbindung mit der Zonula Zinnii, die darin besteht, dass die Ciliarfortsätze in den Falten der Zonula Zinnii stecken und mit letzterer Tunica uvea. 141 verbunden sind. Da andererseits die Zonnla Zinnii sich an die Linsen- kapsel ansetzt, so ist hiemit eine indirecte Verbindung zwischen der Linsen- kapsel und der Tunica uvea hergestellt. Es ist aber unrichtig, wenn be- hauptet wird, dass die Ciliarfortsätze selbst bis an die Linse heranreichen. Es ist dies an der Leiche nicht der Fall und auch nicht im Leben. Man kann sich davon überzeugen an Albinos, d. h. an solchen Individuen, bei welchen mit den übrigen sonst mehr oder weniger pigmentirten Geweben die Uvea iind ihre Auskleidung nicht pigmentirt und deshalb durch- scheinend ist, so dass die Augen durch die Farbe des Blutes roth er- scheinen. Bei diesen kann man bei passender Beleuchtung durch die Iris hindurch erstens den Band der Linse und zweitens auch die Enden der Ciliarfortsätze sehen. Professor Otto Becker hat mir einmal einen solchen Albino vorgestellt, den er selbst bereits untersucht hatte, und bei dem man sich mit Leichtigkeit überzeugen konnte, dass sowohl bei der Aceommo- dation für die IS'ähe, als auch beim Sehen in die Ferne, kurz unter allen Umständen immer noch ein kleiner Eaum zwischen den Enden der Ciliar- fortsätze und der Linsenkapsel blieb. Dagegen ruht die Iris mit ihrem Pupillarrande auf der Linse auf, . wie dies in dem bekannten Augendurchschnitte von Arlt dargestellt worden ist, und schleift bei ihren Bewegungen auf der Oberfläche der Linse. Da- mit hängt die Buhe und die Pi,egelmässigkeit ihrer Bewegungen zusammen, denn bei Augen, bei welchen die Linse aus ihrer Lage gebracht oder cxtrahirt ist, sieht man nicht selten die Iris schlottern, kleine wellen- förmige Bewegungen an ihrem Pupillarrande ausführen. Mit dem Schleifen des Pupillarrandes auf der Linse hängt es auch zusammen, dass, wenn die Iris sich contrahirt, der Pupillarrand etwas nach vorn geht, und, wenn die Pupille sich erweitert, der Pupillarrand etwas zurückweicht. Es ist dies die natürliche Folge davon, dass die vordere Fläche der Linse convex ist. Man kann sich von diesen Verhältnissen am besten durch ein kleines Instrument überzeugen, welches bereits von Petit angegeben wurde, das aber dann in Vergessenheit kam und in neuerer Zeit von Czermak wieder selbstständig erfunden ^mirde. Es besteht in einem Kasten mit rechtwinkelig gegen einander gestellten Seitenwänden, die aus planparallelcn Gläsern gemacht sind. An diesem Kasten fehlt die obere und die hintere Wand, und die untere, die innere, für die Nasenseite bestimmte, und die äussere, für die Schläfenseite bestimmte sind so ausgeschnitten, dass das Instrument an Wange und Schläfe genau angelegt werden kann. Dieser Kasten wird fest angedrückt und mit Wasser gefüllt, dann kann man von der Seite hineinsehen und sieht nun die vordere Kuppe der Linse und die auf derselben schleifende Iris in ihrer natürlichen Lage. Dass man die Iris und die Linsenkapsel ohne ein solches Instrument nicht in ihrer natürlichen Lage sieht, beruht ja darauf, dass die Cornea eine convexe brechende Oberfläche hat. Da nun aber der Humor aqueus näherungs- weise die Dichtigkeit des Wassers hat, und andererseits die Cornea an ihrem Bande nur wenig dicker ist als in der Mitte und daher nahezu wie ein gekrümmtes Planglas wirkt, so sehen wir, wenn wir eine solche Wasserschicht vor die Cornea gelegt haben, in welche wir durch eine plane Oberfläche hinsehen, indem die Brechung der convexen Oberfläche der Cornea aufgehoben ist, die Theile in der Tiefe der vorderen Augen- kammer in \hrrv wahren Lage. Man kann sich dann überzeuo-en, dass L4:2 Tunica retina. die Iris bei mittlerem Stande der Pupille meist ziemlieli eine Ebene bildet, dass, wenn die Pupille sieh verengert, die Iris einen flachen ab- gestumpften Kegel nach vorn bildet, und dass, wenn die Pupille sich stark erweitert, der Pupillarrand der Iris sich nach rückwärts begibt, bisweilen in solchem Grade, dass die Fläche der Iris vom Ciliarrande gegen den Pupillarrand hin deutlich nach rückwärts gekrümmt erscheint. Eine Zeit lang glaubten Viele, dass die ganze hintere Oberfläche der Iris, nicht nur der Pupillarrand derselben, auf der Linse aufliege. Das ist aber nur bei neugeborenen Kindern der Eall. Es ist deshalb nicht wahr, dass auch bei Erwachsenen eine hintere Augenkammer nicht existire. Es existirt eine solche im alten Sinne des Wortes. Es ist nur keine so breite Communieation zwischen vorderer und hinterer Augenkammer, als früher angenommen wurde, als man nicht wusste, dass der Rand der Iris auf der Oberfläche der Linse aufruht. Retina. Wir kommen jetzt zur dritten Schicht der Augenhäute, zu der Re- tina und zur Zonula Zinnii. Die Retina ist als die vordere, peripherische Ausbreitung des IST. opticus anzusehen. Man kann sie aber nicht mit der peripherischen Ausbreitung eines gewöhnlichen sensiblen jSTerven verglei- chen, sondern man muss sie als einen Theil des Centralnervensystems an- sehen, der in ein Sinnesorgan, in das Auge hinein, vorgeschoben ist. Die Retina wird nach vorn durch die sogenannte Ora serrata be- grenzt. Hier hören die nervösen Elemente mit einem gezackten Rande (Ora serrata) auf. Es setzt sich aber noch eine Schicht von Zellen fort, welche zwischen der Pigmentauskleidung der Chorioidea und der Zonula Zinnii liegt. Diese Zellensehicht ist zu verschiedenen Zeiten als Pars ciliaris retinae beschrieben worden. Wir wissen heutzutage, dass diese Partie keine Lichteindrücke mehr empfängt, wir lassen deshalb die Netz- haut mit der Ora serrata endigen. Die Retina selbst besteht aus folgenden Schichten. Erstens aus der sogenannten Stäbchenzapfenschicht (Figur 25 a). Die Stäbchen sind palis- sadenartige, helle, durchsichtige Gebilde, welche sich nach dem Tode sehr bald verändern, namentlich wenn sie mit Wasser oder anderen Flüssig- keiten in Berührung kommen, sich krümmen, sich der Quere nach in plattenartige Stücke aufblättern u. s. w. Sie sind mit ihren Enden in das Protoplasma und zwischen das Pigment der sechseckigen Zellen ein- gesenkt, die das Innere der Chorioidea auskleiden. Diese so eingepflanzten Palissaden sind nach einer Entdeckung von BoU im Leben mehr oder weniger stark roth gefärbt, um so stärker, je weniger sie dem Lichte aus- gesetzt waren. Kühne fand, dass man vermöge dieses lichtempfindlichen Roth auf der Netzhaut förmlich photographiren könne. Es gelang ihm auch, mittelst Gallensäuren den rothen Farbstoff als solchen auszuziehen und in Lösung zu bringen. Man hat dieses Roth Sehroth, auch Sehpurpur genannt. Zwischen ihiien stehen andere Gebilde, die man mit dem Namen der Zapfen bezeichnet. Diese Zapfen, Coui, sind namentlich in ihrem unteren Theile dicker als die Stäbchen. Sie bestehen aus einem Innen- gliede, welches in die nächstfolgende Schicht eingesenkt ist und sich mit Carmiu roth färbt, und aus einem äusseren konischen Gliede, welches sich Tunica retin.n. 143 Fig. 25, mit Carmin nicht oder weniger färbt, glashell, durchsichtig und zwischen die Btäbchen eingeschoben ist, so dass das Ganze die Form einer sehr langen, dünnen Flasche erhält. VanGenderen, Stört und Engelmann haben beobachtet, dass die Innenglieder der Zapfen sich auf Lichteinwirkung verkürzen, doch scheint die Lichtempfindung hiermit nicht in unmittel- barer Verbindung zu stehen, denn wenn man gleichzeitig das andere Auge bedeckt und später auch dieses untersucht, so findet man auch in diesem die Innenglieder der Zapfen verkürzt. Dasselbe findet man an Fröschen, die mit Strychnin vergiftet sind. Auch die Zeit stimmt nicht, indem die Verkürzung langsamer eintritt und langsamer wieder verschwindet, als dies von der Lichtempfindung vorausgesetzt wer- den kann. Es erwächst aber andererseits aus den gemachten Versuchen die sehr merkwürdige That- sache, dass zu den Zapfen und, wie sich zeigte, auch zum Pigmentepithel reflectorisch, also auch in eentri- fugaler Richtung, Impulse fortgepflanzt werden. Es wurden die Augen von Fröschen durch Kopfkappen geschützt und dann der Körper gleichzeitig berieselt und belichtet. An den im Dunkeln exstirpirten Augen fanden sich ähnliche Veränderungen vor, als ob sie belichtet worden wären. Die Zapfen sind nicht überall gleiehmässig in der Netzhaut vertheilt. Sie sind in grösster Menge an der Stelle der Ketzhaut vorhanden, mit welcher wir am deutlichsten sehen, und auf welcher wir deshalb die Gegenstände abzubilden suchen, die wir sehen wollen. Diese Stelle bezeichnen wir mit dem Namen des Centrum retinae. Sie ist im todten Auge gekennzeichnet durch einen gelben Fleck, die Macula lutea oder Macula flava retinae. In dessen Mitte liegt eine kleine Grube, die wir mit dem Namen der Fovea centralis retinae bezeichnen (Figur 25 A). An dieser Stelle, die nach Kühne 's Untersuchungen nicht immer wie die übrige Macula gelb gefärbt, sondern bisweilen farblos oder doch weniger gefärbt ist, finden sich nur Zapfen, ohne dass Is d Stäbchen zwischen sie eingeschlossen wären. Je weiter man sieh aber von ihr entfernt, um so mehr Stäbchen treten auf, und zwar zuerst nur ein einfacher Ring um jeden Zapfen, später in grösserer Menge. Die zweite Schicht ist die sogenannte äussere Körnersehicht (Figur 25r), die aus kernartigen Gebilden besteht, welche mit feinen Fäden zusammen- hängen, die sich an das System von Fäden anschliessen, das in senkrechter Richtung, das heisst senkrecht auf der Oberfläche des Glaskörpers, die Re- tina durchzieht. Dann kommt eine Schicht, an der sich keine bestimmte Structur erkennen lässt, die im frischen Zustande durchsichtig ist, in der c q p Figur 25 stellt einen Dnrclisclniitt dnreh Schnitze dar. das Centrnm retinae nach Max 144 Tunica retina. man nur feine radiäre Fäden dnrcligehen sieht, und die an in Chromsäure oder Müller' scher Flüssigkeit gehärteten Augen fein gekörnt erscheint. Diese Schicht heisst deshalb die molekulare Schicht (Figur 25 j?). Sie verdickt sich gegen den gelben Fleck bedeutend, und die Fasern, die sonst die Schichten der Retina senkrecht oder nahezu senkrecht durchsetzen, richten sich hier in der Weise schief, dass, wenn man ihren Verlauf von aussen nach innen verfolgt, sie sich immer mehr vom Centrum retinae entfernen (siehe Figur 25). Unter dem Boden der Fovea centralis verdünnt sich diese Schicht wie alle folgenden auf ein Minimum. Ihr folgt eine Lage, die wiederum aus kernartigen Gebilden besteht, die innere Körnerschicht (Figar 25 q), dann wieder eine ähnliche molekulare, eine Zwischenschicht (Figur 25 c), und hierauf eine Lage von Ganglienzellen (Figur 25 d) mit Fortsätzen, die mit Nervenfasern in Verbindung stehen. Dann folgt endlich die Ausbreitung dieser letzteren (Figur 25 s). Sie hat eine sehr ver- schiedene Dicke je nach dem Orte der Retina, welchen man durchschneidet. Begreiflicher Weise ist sie am dicksten unmittelbar an der Eintrittsstelle des Sehnerven. Je mehr sich die Bündel von der -Eintrittsstelle des Seh- nerven entfernen, um so mehr Fasern finden ihre Endigung, und daher wird diese Schicht um so dünner, je mehr man sich der Ora serrata nähert. Es gibt aber noch eine andere Stelle der jSTetzhaut, an welcher sich diese Schicht der Retina auf ein Minimum verdünnt, und diese ist das Centrum retinae. Durch dieses geht keine einzige Sehnervenfaser, sondern sie laufen theils direct, theils im Bogen zu derselben hin. Ein Theil der Fasern findet hier in der Fovea centralis seine Endigung, und die anderen umfassen bogenförmig das Centrum retinae, um in den mehr peripherisch gelegenen Theilen ihre Endigung zu suchen. Da an dieser Stelle die Retina überhaupt verdünnt ist und namentlich hier keine zu- sammenhängende Faserschicht existirt, so ist sie an dieser Stelle besonders zerreisslich, und man findet die Netzhaut deshalb an Leichen nicht selten im Grunde der Fovea centralis retinae mit einem kleinen Loche durch- bohrt. Diese Durchbohrung, die am Lebenden nicht existirt, ist das so- genannte Foramen Sömmeringii. Die Sehnervenfasern für das Centrum retinae und dessen nächste Umgebung, Grube und gelben Fleck, scheinen beim Durchtritt des Sehnerven durch das Foramen opticum in dessen Axe zu liegen, dann aber schräg und schläfenwärts zu verlaufen, so dass sie an der Eintrittsstelle des Sehnerven in den Bulbus ein keilförmiges Bündel an der Schläfenseite des ersteren bilden. Die Retina ist im lebenden Zustande durchsichtig. Man kann sich davon überzeugen, wenn man irgend einem Thiere die Augenlider öff'net und ihm dann den Kopf unter Wasser taucht, so dass man, ähnlich wie mit dem Petit'schen Kästchen, in das Auge des Thieres hineinsehen kann. Man kann sich aber auch am lebenden Menschen durch den Augenspiegel davon überzeugen. Fach dem Tode wird die Retina trübe. Dass die Re- tina durchsichtig sei, erfordert natürlich, dass die Sehnervenfasern ihr Mark verlieren, wenn sie einmal in die Retina eingetreten sind und sich in derselben verbreiten. Das ist .auch beim Menschen normaler Weise der Fall. Bei manchen Thieren aber, z. B. beim Kaninchen und Hasen, existii'en zwei Faserbüschel, die nach entgegengesetzter Richtung aus-, strahlen und aus märkhaltigen und deshalb weissen Fasern bestehen. Beim Menschen kommt dies als Anomalie vor, und bei solchen Menschen hat Tunica retina. 145 deshalb der blinde Fleck, von dem wir später sprechen werden, eine grössere Ausdehnung und eine andere Gestalt als im normalen Auge. Die grossen Blutgefässe der Retina verlaufen auf der Innenfläche derselben als Arteria und Vena centralis retinae mit ihren Aesten. Die Hauptmasse des Gefässnetzes liegt auf der inneren Oberfläche der Seh- nervenfaserschicht : wo dieselbe noch dick ist, gehen auch kleinere Aest- chen und Capillaren in die Tiefe hinein, so dass sie die Sehnervenbündel umspinnen. Einzelne Capillaren dringen bis in die innere Körnerschicht, ja bisweilen selbst bis in die Zwischenkörnerschicht vor. Die Retina ist nach innen von einer glashellen Haut, der Membrana limitans Pacini (Figur 25 l) begrenzt. Mit dieser steht ein grosser Theil der die Retina senkrecht durchsetzenden Fasern in Verbindung, die gegen dieselbe hin spitzbogenförmige Arkaden bilden, in deren Lichtungen die Bündel der Sehnervenfasern eingebettet sind. Man hat diese Membrana limitans Pacini auch als Membrana limitans interna unterschieden, indem Max Schnitze an der äusseren Grenze der Körnerschicht, zwischen ihr und der Stäbchenzapfenschicht, auch eine festere Grenzschicht unterschieden hat, welche er als Membrana limitans externa bezeichnete. Es muss aber bemerkt werden, dass diese letztere Membran kein so selbstständiges und für sich abziehbares Gebilde darstellt wie die Membrana limitans interna; man hat sie sich vielmehr als ein Gitterwerk zu denken, das sich an er- härteten Netzhäuten durch seine Consistenz unterscheidet, und durch dessen Maschenräume die einzelnen Elemente durchgesteckt sind. Nachdem wir die histologischen Elemente der Netzhaut kennen ge- lernt haben, kommen wir zu der wichtigen Frage, welche Elemente es sind, die dem Lichte als erster Angriffspunkt dienen. Es ist schon von vornherein klar, dass dies nicht die Nervenfasern in ihrem Verlaufe sein können, da alles deutliche Sehen darauf beruht, dass auf der Netzhaut Localzeichen erzeugt werden, welche einzeln und gesondert zum Gehirne gebracht werden. Wenn aber dergleichen Localzeichen im Verlaufe einer Faser erzeugt werden könnten, so würden gleichzeitig verschiedene auf ein und dieselbe Faser fallen können, und es würde dadurch eine Verwirrung der Eindrücke entstehen. Das Princip, nach welchem diese Eindrücke empfangen werden, muss das sein, dass sie zunächst auf mosaikartig an- geordnete Gebilde übertragen werden, die einzeln entweder direct oder indirect mit den Sehnervenfasern in Verbindung stehen. Ein Versuch von Heinrich Müller, den wir später beschreiben werden, hat überdies ge- zeigt, dass der Angriffspunkt für das Licht gar nicht auf der vorderen Seite der Netzhaut liegen kann, sondern dass er an der andern Seite, nahe der Chorioidea liegen muss. Er hat gezeigt, dass er in der Stäbchen- zapfenschicht liegen muss. Fragen wir da nun wieder, ob es die Stäbchen oder die Zapfen sind, welche wir mit Wahrscheinlichkeit als diejenigen be- zeichnen können, die zunächst erregt werden, so müssen wir sagen, dass es wahrscheinlicher ist, dass wir die Zapfen dafür in Anspruch zu nehmen haben. In der Fovea centralis retinae sehen wir am deutlichsten, hier haben wir das feinste Unterscheidungsvermögen, also auf einem gegebenen Räume die grösste Summe von Localzeichen ; hier aber befinden sich gar keine Stäbchen, sondern nur Zapfen. Je weiter wir zu den Seitcnthcilen der Netzhaut fortschreiten, je mehr wir ins indirecte Sehen hineinkommen, um so mehr Stäbchen finden wir zwischen die Zapfen eingelagert, und Brücke. Vorlcsuiisrcn. lt. t. Aufl. 10 14b Tunica retina. um SO geringer wird aucli unser Unterscheidungsvermögen. Man hat des- halb auch eifrig nach dem nervösen Zusammenhange zwischen den Zapfen und den Sehnervenfasern geforscht, ist aber über die Art desselben noch nicht völlig einig. Die erste Verbindung eines Zapfens mit einer Nerven- zelle beschrieb schon im Jahre 1853 von Vintschgau, während man andererseits wusste, dass die Nervenzellen (Ganglienkugeln) Fortsätze aus- senden, die mit den Sehnervenfasern in Verbindung stehen. Wenn aber nicht die einzelnen Opticusfasern noch aus Fibrillen zusammengesetzt sind, so kann nach den von Fr. Salzer im hiesigen Laboratorium vorgenommenen Zählungen nicht jeder Zapfen seine eigene Faser bekommen, denn darnach mögen die Zapfen die Opticusfasern an Zahl um das Sechs- bis Achtfache übertreffen. Da die Sehschärfe der Seitentheile der Netzhaut sehr weit hinter der des Centrum retinae zurücksteht, so ist es möglich, ja wahr- scheinlich, dass jeder Zapfen der Fovea centralis seine eigene Leitung hat, die Nervenfasern aber, welche auf den mehr peripherisch gelegenen Regionen endigen, sich verzweigen und gleichzeitig mehrere Zapfen ver- sorgen. E. V. Fleischl hat es ferner durch physiologische Gründe wahr- scheinlich gemacht, dass dann hier die Aeste jeder einzelnen Faser nicht an eine geschlossene Gruppe von Zapfen gehen, sondern sich über ein grösseres Gebiet verbreiten, in dem auch Zapfen stehen, welche von an- deren Fasern versorgt werden. Ob die Stäbchen bei der Lichtperception direct betheiligt sind oder nicht, wissen wir bis jetzt nicht. Es spricht dafür bis jetzt kein einziger haltbarer Grund. Wir wissen auch nicht, ob sie überhaupt mit Opticusfasern in Verbindung stehen. Aber das können wir sagen, dass auf alle Fälle ihre palissadenartige Gestalt und ihre mosaik- artige Anordnung für das Sehen von Bedeutung ist. Es geht dies aus folgender Betrachtung hervor. Das deutliche Sehen kommt dadurch zu Stande, dass ein Lichtkegel von einer bestimmten Farbe ein einzelnes Nervenelement erregt. Nun ist die Retina durchsichtig, er geht also durch das Nervenelement hindurch, gelangt zur Chorioidea und wird hier beim Menschen zum grossen Theile durch das Chorioidealpigment absorbirt. Alles Licht wird aber hier nicht ab- sorbirt, wie dies heutzutage aus den Augenspiegelbeobachtungen hinreichend bekannt ist, wo wir ja die Dinge im Auge nur vermöge des Lichtes sehen, das aus demselben zurückkommt. Noch viel mehr Licht wird aber bei manchen Thieren reflectirt, z. B. bei den Katzen, Hunden, Schafen, Rin- dern u. s. w. Bei diesen liegt auf der pigmentirten Chorioidea zwischen dem Stroma derselben und dem Capillargefässnetz eine eigene Schicht, das sogenannte Tapetum oder die Membrana versicolor Fielding ii. Diese be- steht bei den Carnivoren aus Zellen, bei Herbivoren aber und bei allen denjenigen Beutelthieren, welche ein Tapetum haben, aus Fasern. Bei allen diesen Thieren hat sie aber das gemein, dass sie Interferenzfarben gibt und eine grosse Menge von Licht reflectirt. Wenn man die Fasern des Tapetum des Rindes bei schwacher Vergrösserung unter das Mikroskop legt, so sieht man sie darunter im auffallenden Lichte in schönen Farben, und wenn man das auffallende Licht abblendet und durchfallendes Licht macht, so sieht man in diesem die complementären Farben, zum Beweise, dass man es hier mit Interferenzfarben, mit sogenannten Newton'schen Farben zu thun habe. Dieses Tapetum reflectirt also eine grosse Menge von Licht, und wenn dieses Licht unrcaelmässis; zerstreut auf die Netzhaut zurück- Tunica retina. 14: i / kommen würde, so würde dadureli eine Verwirrung in den Eindrücken ent- stehen. Nun bilden aber die Stäbchen mit den zwischen ihnen liegenden Aussengliedern der Zapfen einen Apparat, vermöge dessen das Lieht auf seinem Rückwege grösstentheils wieder durch das Kervenelemeut hindurch- gehen muss, durch welches es eingefallen ist. Das beruht auf der totalen Reflexion. Denke ich mir (Figur 26) eine Trennungsfläche a h zwischen zwei Medien und errichte ich mir darauf eine Senkrechte c d und denke mir, ich hätte einen einfallenden Strahl / e, so ist i der Einfallswinkel. Wenn ich annehme, dass das zwei-te Medium dünner ist als das erste, so müssen die Strahlen vom Einfallslothe abgebrochen werden. Der Brechungswinkel r ist also grösser als der Einfallswinkel i. ISTach der Fundamentalgleichung der Dioptrik ist ^^ = c, wobei c eine Constante vorstellt, welche mau ^ sin r " 7 " erhält, wenn man die Fortpflanzungsgeschwindigkeit im ersten Medium dividirt durch die Fortpflanzungsgeschwindigkeit im zweiten Medium. Da diese Constante in unserem Falle kleiner als 1 ist, so muss beim Wachsen von / der sin r schon gleich 1 werden, wenn sin i noch kleiner als 1 ist. Wächst dann i noch weiter, so erhalten wir durch unsere Gleichung für sin r einen Werth, der grösser ist als 1. Nun gibt es aber keinen Sinus, der grösser ist als 1, und unser Resultat hat keinen anderen Sinn als den, dass hier kein gebrochener Strahl mehr existirt, son- d dorn dass alle Strahlen reflectirt werden. Nimmt man ein leeres Reagirglas und taucht es ins Wasser, so erhält es einen metallischen Glanz. Das beruht darauf, dass eine sehr grosse Menge Lichtes wegen der schiefen Incidenz an der inneren Oberfläche, wo es in die Luft übergehen sollte, reflectirt wird, eine Menge, die ähnlich gross ist wie die, welche ein metallischer Körper reflectirt. Die stabförmigen Körper nun sind stark lichtbrechend und sind von einander getrennt durch eine schwächer brechende Z^vischensubstanz. Diese triff't alles Licht, welches einmal in einen solchen Stab eingetreten ist, unter sehr schiefer Incidenz, es wird deshalb total reflectirt, es ist gewissermassen eingesperrt und muss, abgesehen von dem, was etwa nach dem Austritte am äiissersten Ende zerstreut wird, auf demselben Wege zurück, auf dem es gekommen ist. Die Hauptmasse des zurückkommenden Lichtes geht also durch das- selbe Netzhautelement , das es schon auf dem Hinwege getrofi'en hat. Hieraus erklärt es sich, dass die Thiere mit einem Tapetum nicht nur nicht schlechter sehen als wir, sondern dass sie in der Dämmerung sogar viel besser sehen als wir. Beim Menschen kommt das Licht, das durch die Netzhaut hindurchgeht, grösstentheils nur einmal zur Wirkung. Bei diesen Thieren aber kommt eine viel grössere Menge Lichtes zurück. Dieses Licht, das zurückkehrt, verbrauchen sie ein zweites Mal, es muss also dieselbe Lichtmenge eine stärkere Erregung in ihrer Netzhaut hervor- rufen, als dies bei Thieren der Fall ist, die kein Tapetum haben. Möglicherweise ist auch bei den Zapfen blos das lunenglied der eigent- liche Angriffspunkt für das Licht, und das Aussenglied des Zapfens, das 10* Fig. 26. 7, u —' 7* e 'J — ^ 14ö Zonula Zinnii. zwischen den Stäbchen steckt, ist vielleicht nur ein Theil des katoptri- schen Apparates des Auges, der dazu dient, durch totale Reflexion die Strahlen wieder auf dasselbe Element zurückzubringen, durch welches sie eingefallen sind. Zonula Zinnii. Die Zonula Zinnii entsteht an der Ora serrata retinae, geht unter Aufnahme von Verstärkungsfasern, welche theils von den Ciliarfortsätzen, theils aus den Tiefen zwischen denselben entspringen, nach vorwärts, faltet sich wie eine Halskrause und setzt sich mit auf- und absteigenden Falten an die Linse an, und zwar, wenigstens grösstentheils, an den vorderen Theil der Linse, indem die absteigenden Falten den grössten Kreis der- selben wenig oder gar nicht überschreiten. In diese Falten sind, wie wir gesehen haben, die Ciliarfortsätze hineingesteckt, und da diese Falten sich andererseits wieder an der Linse befestigen, so ist dadurch eine Verbin- dung zwischen dem Ciliartheile der Chorioidea und der Linse gegeben. Wenn man in die Zonula Zinnii, nachdem man die Ciliarfortsätze herausgerissen hat, eine kleine Oeffnung macht und von oben her mit einem Tubus Luft einbläst, so fängt sich die Luft unter den Falten der Zonula und schlägt dieselben nach aufwärts. Dadurch entsteht ein Kanal, der nach oben Buckel hat wie eine Halskrause. Diesen Raum, der so mit Luft gefüllt wird, beschrieb zuerst Petit und nannte ihn nach seinen Buckeln den Canal godronne. Heutzutage pflegt mau ihn als den Canalis Petiti zu bezeichnen. Es muss aber bemerkt werden, dass dieser Raum in der Ausdehnung, wie man ihn hier darstellt, nicht im lebenden Auge vorhanden ist, sondern dass es erst möglich ist, ihm durch Lufteinblasen diese räumliche Ausdehnung zu geben, nachdem man die Ciliarfortsätze aus den Falten der Zonula herausgerissen hat. So lange diese darin stecken, existirt nur ein capillarer Raum zwischen den absteigenden Falten der Zonula und dem darunter liegenden Glaskörper. Früher hat man die Zonula für eine continuirliche Membran ge- halten, welche in der beschriebenen Weise in Falten gelegt sei. Aber schon im Frühjahr 1870 sind mir von Professor Vlacovitsch in Padua Präparate zugeschickt worden, an welchen man sehen konnte, dass Oeff- nungen in der Zonula waren, und dass dieselbe aus Fasern bestand, welche zur Linse hingingen und sich, indem das Auge in Terpentinöl gehärtet worden war, in einzelne Stränge zusammengezogen hatten. Zu demselben Resultate ist auch Schwalbe gekommen, indem er fand, dass lösliches Berlinerblau, das er in die vordere Augenkammer einspritzte, in den. Canalis Petiti eindrang. Nun fragt es sich: Wie ist es den möglich, dass man doch die Zonula Zinnii als Ganzes aufblasen und dadurch den Canalis Petiti in der alten Weise darstellen kann, wenn sie kein Continuum ist, sondern aus einer Menge von radiären Fasern besteht? Man kann sich dies nur daraus erklären, dass die sehr feinen, radiären Fasern diu'ch die anhaftende Flüssigkeit aneinander kleben und deshalb, so lange sie nass sind, ein Continuum bilden, wenn aber das Auge in Terpentinöl ge- härtet ist, ihre Continuität verlieren und sich in einzelne Bündel strang- förmig zusammenlegen. In neuerer Zeit ist Chr. Aeby wieder für den membränösen Charakter der Zonula eingetreten. Er hält die erwähnten Die Linse. 149 Spalten für künstlich. Die Zoniilafasern als solche sind in gehärtetem und gefärbtem Zustande leicht nnd sicher zu beobachten. Ihre Bündel sind platt, d. h. relativ zu ihrer Dicke yerhältnissmässig breit, und verlaufen, soweit sie analoge Ursprünge und analoge Anheftungen haben, parallel neben einander. Doch sollen sie nach Wilh. Czermak auch, verzweigt und unter einander netzförmig verbunden sein. Ein Theil derselben ent- springt nach Berg er und nach Czermak von den Firsten der Ciliar- fortsätze. Zweifelhaft kann es nur sein, ob die nebeneinander liegenden Fasern im Leben noch durch eine, jedenfalls sehr dünne Membran mit- einander verbunden sind oder nicht. Bei der complicirten Anordnung der Fasern, wie man sie jetzt kennt, könnte sich diese Verbindung schwerlich auf die Gesammtheit derselben erstrecken. Die Zonula führt uns zur Linse. Die Linse. Wir finden dieselbe als einen Rotationskörper, dessen vordere Fläche wir uns entstanden denken können durch Rotation einer Ellipse um ihre kleine Axe, und deren hintere Partie wir uns entstanden denken können durch Umdrehung einer Parabel um ihre Axe, also als den Scheitel- abschnitt eines Paraboloids. Die Linse im engeren Sinne des Wortes ist von einer häutigen Kapsel, der Linsenkapsel, eingeschlossen. Diese ist eine Glashaut, wie die Descemet'sche Membran, und ist wie diese structur- los. Die Dicke ihrer vorderen Hälfte beträgt 0,008 bis 0,019 Millimeter, die der hinteren nur 0,005 bis 0,012 Millimeter. Sie hat auf der vor- deren Hälfte nach innen zu ein Epithel, welches, wie wir später sehen werden, in innigem Zusammenhange mit der Art und Weise steht, wie sich die eigentliche Linsensubstanz erzeugt. Die Linse im engeren Sinne des Wortes besteht aus sechskantigen Fasern, die so aufeinander gelagert sind, dass der kleine Durchmesser des sechseckigen Durchschnittes immer radial, also senkrecht auf die Schicht gestellt ist, während der grösste Durchmesser des Sechsecks immer in tangentialer Ebene liegt. Die einzelnen Sechsecke sind dabei so aneinandergelagert, dass sie alternirend, wie Baiisteine, liegen. (Siehe Fig. 27. Figur 27.) Aus solchen Fasern ist nun die ganze Linse gewissermassen aufgewickelt. Die Art, wie dies geschieht, ist eine ziemlich compli- cirte. Man kann sich aber darin leicht eine Einsicht vcrschaifen, wenn man sich einen Kreis vorstellt, in dem vom Mittelpunkte aus drei Strahlen so ausgehen, dass sie miteinander Winkel von 120*^ einschliessen. Der Punkt, von dem die Strahlen ausgehen, soll dem vorderen Pole der Linse entsprechen, wir bezeichnen ihn mit 0, und von da aus schreiben wir auf jeden Strahl in gleichen Abständen von einander und vom Nullpunkte die Ziffern 1, 2, 3, 4, 5 auf. (Siehe Figur 28.) jS'un denkt man sich an der Rückseite der Linse einen Punkt, der dem hinteren Pole der Linse entspricht, von dem aus ebensolche drei Strahlen aiisgehen Avie vom vorderen Pole, die aber mit den Strahlen an der vorderen Fläche in der Art altcrniren, dass die Durchschnittspunktc des grössten Linsen- kreises mit den Strahlen an der vorderen Fläche von den Durchschnitts- punkten eben dieses Kreises mit den Strahlen an der hinteren Fläche immer um eine Bogenweite von (30'^ abstehen. Auf die Strahlen der 150 Bie Linse. hinteren Fläche sehreibt man nun ebenfalls die Zahlen 1, 2, 3, 4, 5, aber so, dass 1 am Eande tind 5 am Pole der Linse steht, und dann verbindet man durch gedachte •"^'S- 28. Faserzüge jede Zahl der vor- deren Fläche mit der ihr zu- nächstliegenden gleichnami- gen der hinteren Fläche. Dann erhält man die beistehende Figur, die in ihrem Kreis- felde die geometrische Pro- jeetion der Faserung der vor- deren Fläche gibt, und deren drei Lappen nach rückwärts zusammengeklappt die Fase- rung der hinteren Fläche ge- ben würden. So ist der Kern der menschlichen Linse an- gelegt, so die ganze Linse vieler Säugethiere. Beim Men- schen wird der Bau der obe- ren Schichten complicirter, indem diese drei Axen sich zweimal verzweigen, so dass in der Eegel 12 Endäste vorhanden sind, wie es Figur 29 zeigt. Am einfachsten sind die Linsen der I^age- ^is- 29. thiere : hier sind die drei Axen auf zwei reducirt, - '^""'^---..^ die zusammen eine gerade Linie bilden. \ Denkt man sich die Linse durchschnitten, so ^^^ bemerkt man, dass die Schichten sich, je mehr '^*^ man nach innen konrait, der Kugelgestalt nähern. ,' Endlich gehen sie sogar über in die Gestalt eines \ ^' Eotationsellipsoids, welches entstanden ist durch Um- %' ^ drehung einer Ellipse um ihre grosse Axe, und diese '^'li-^U^J'-^'^ liegt nun in der Axe der Linse. In beistehen- der Figur 30 ist dies dargestellt nach den Linsen- durchschnitten, welche 0. Becker in seinem Werke über die Anatomie der gesunden und kranken Linse abgebildet hat. Man bemerkt daran erstens, dass die vorderen und hinteren Oberflächen immer convexer werden, und zweitens, dass der Kern der Linse nicht in einer Ebene liegt, die man sich durch den grössten Kreis der Linse gelegt denkt, sondern hinter dieser Ebene, so dass die Oberfläche, welche man sich durch sämmtliche grösste Kreise der Linsenschichten gelegt denkt, nach hinten convex, nach vorn concav ist. Zugleich nimmt der Bre- chungsindex von aussen nach innen Die Substanz der Linse ist eben im Kerne am dich- Daraus folgt, dass das Fig. 30. immer mehr zu testen, an der Oberfläche am wenigsten dicht Glaskörper. lol Licht beim Eintritte in jede neue Schicht von Neuem gebrochen wird, so dass es also, da diese Schichten ausserordentlich dünn sind, nicht gerad- linig hindurchgeht, wie durch eine Glaslinse, sondern einen krummlinigen Weg durch die Linse macht. Daher rührt es, dass die Linse eine viel kürzere Brennweite hat, al? man ihr nach der Gestalt ihi-er Oberflächeu und nach ihrer mittleren Dichtigkeit zuschreiben sollte. Ja, sie hat sogar eine kürzere Brennweite, als sie haben würde, wenn sie homogen gebaut wäre und in ihrer ganzen Substanz den hohen Brechungsindex des Kernes hätte. Daher rührt es auch, dass die älteren Physiker, die sich mit der Berechnung der Brennweite des Auges beschäftigen, niemals zu einem brauchbaren Resultate gelangten, da sie immer herausbrachten, dass die Strahlen sich erst hinter der j^etzhaut zu einem Bilde vereinigen könnten, während doch die Beurtheilung des Sehprocesses dazu führte, dass die Strahlen sich in der Netzhaut zu einem Bilde vereinigen müssen. Hiermit sind aber die elementaren Betrachtungen über die optische Wirkung der Linse nicht erschöpft. S. Exner fand an Durchschnitten von Insecten- augen, dass planparallele Durchschnitte der sogenannten Krystallconi Bilder gaben. Er leitete dies davon her, dass der Brechungsindex ihrer Substanz von der OberÜiiche gegen die Axe hin zunehme. Er goss nun Leim- cylinder und konnte denselben die Wirkung von Sammellinsen geben, wenn er ihre Oberfläche im Wasser anquellen Hess, dagegen nahmen sie die Eigenschaft von Zerstreuungslinsen an, wenn der Manteltheil durch Ver- dunstung von Wasser stärker brechbar wurde. Später hat das optische Institut in Jena für ihn gekühlte Glascylinder angefertigt, welche Linsen- wirkung zeigten. Der Grund der Erscheinung ist leicht zu übersehen. Denken Sie sich ein Bündel paralleler Strahlen falle parallel der Axe auf die Basis eiues homogenen Cylinders , so wird es auf der gegenüber- stehenden parallelen Endfläche senkrecht wieder austreten, die Wellen- oberfläche wird also nach wie vor eine Ebene sein. Denken Sie sich aber, der Brechungsindex nehme vom Mantel gegen die .Ixc zu, so werden die Strahlen um so langsamer fortgepflanzt, je näher sie der Axe liegen ; die Wellenoberfläche wird also concav, und die Strahlen treten nicht parallel, sondern convergirend aus. Das Gegentheil erfolgt, wenn der Brechungs- index vom Mantel gegen die Axe hin abnimmt. Diese Betrachtung findet auch auf die einzelnen Linsenschichten überall da Anwendung, wo sie in einiger Länge von Strahlen durchsetzt werden, und hierbei sind auch die Kernschiehten nicht zu vernachlässigen, welche Rotationsellipsoide um eine mit der Axe der Linse zusammenfallende grosse Axe darstellen. Der €rlaskörx)er. Der frische Glaskörper hat eine gallertartige Consistenz. Wenn man ihn aber zerschneidet und auf ein Filter legt, so tropft nach und nach alle Flüssigkeit ab, so dass nur ein ganz geringer Best von fester Sub- stanz übrig bleibt. Es fragt sich nun, da der Glaskörper oflenbar ein Aggregat aus festen und flüssigen Theilen ist, wie die festen Theile darin angeordnet sind. Wenn man Augen sehr lange in Chromsäure liegen lässt, so werden im Glaskörper membranöse Schichten sichtbar. Bei den Haus- säugethieren hat Hannover diese Schichten coneentrisch gefunden, so dass sie sich nach Art der Schalen einer Zwiebel übereinanderlegen. Beim lo2 Tiinioa conjunctiva. Mensclieii dagegen fand er membranöse Schichten, die radial gegen eine Linie gestellt waren, die man sich von vorn nach hinten im Glaskörper gezogen denkt. Die Membranen waren also hier in ähnlicher Weise, wie die Septa in einer Orange gestellt. Es ist nun erstens nicht wahrschein- lich, dass ein so fundamentaler Unterschied zwischen den Säugethieren und den Menschen vorhanden sein sollte, dass bei den einen nur zwiebel- schalenförmige, bei den anderen dagegen nur radial gestellte Septa vor- handen ' wären. Zweitens müsste, wenn nur eine Art von Häuten vor- handen wäre, beim Durchschneiden des Glaskörpers die ganze Flüssigkeit desselben sofort ausfliessen. Das ist aber nicht der Fall. Wenn man den Glaskörper in Stücke zerschneidet und diese einzeln hinlegt, so sieht man sehr langsam und allmälig die Flüssigkeit aus denselben aussickern, bis sie endlich nach längerer Zeit und ganz allmälig zusammensinken. Man wird hiedurch zu dem Schlüsse geführt, dass beide Arten von Membranen, so- wohl die tangential, als die radial gestellten, im Auge der Säugethiere und des Menschen vorhanden seien, dass aber bei den ersteren die con- centrischen, bei den letzteren die radial gestellten stärker entwickelt und daher leichter sichtbar zu machen sind. In neuerer Zeit hat man den Glaskörper mit dem Schleimgewebe verglichen, oder vielmehr man hat ihn unter dasselbe eingereiht. Das Prototyp des von Virchow aufgestellten Sehleimgewebes ist die Wharton'sche Sülze im l^abelstrang , mit deren Bau der des Glaskörpers keine Aehnlichkeit hat. Die äusserste der Häute des Glaskörpers unterscheidet man mit dem Namen der Tunica hyaloidea. Sie liegt in ganzer Ausdehnung der Membrana limitans Pacini an und verbindet sich an der Ora serrata retinae mit dem vordersten Theile derselben. Hier ist sie auch mit der Zonula verbunden, von der sie sich dann wieder trennt, indem sie die hintere Wand des Petit' sehen Kanales bildet und sich dann mit der Rück- wand der Linsenkapsel verbindet und die tellerförmige Grube auskleidet. Man kann die Sache so auffassen, dass aus dieser Verbindung der Hya- loidea mit der Membrana limitans Pacini die Zonula hervorgehe, die anfangs glatt ist und sich später in Falten legt; einen besonderen Werth kann man aber dieser Auffassung kaum zuschreiben, da die Zonula sich durch ihren faserigen Bau sowohl von der M. limitans Pacini, als auch von der Hyaloidea wesentlich unterscheidet. Die Bindehaut. Nach vorn wird der Bulbus von der Tunica conjunctiva bedeckt, welche wir in die Conjunctiva palpebrarum und in die Conjunctiva bulbi eintheilen. Man hat auch ein Bindehautblättchen der Cornea unterschieden, das heisst man hat sich vorgestellt, dass sich die Conjunctiva über die Hornhaut fortsetze. Wenn sich die Conjunctiva auf die Hornhaut fort- setzt, so müssen, da sie eine zusammengesetzte Membran ist, oifenbar auch ihre einzelnen Theile sich auf die Hornhaut fortsetzen. Die Conjunctiva besteht aus einem bindegewebigen Stroma, aus einem bedeckenden, ge- schichteten Epithel, Pflasterepithel auf der Conjunctiva bulbi, Cylinder- epithel auf der Conjunctiva palpebrarum und im Fornix conjunctiva, welch' letzteres indessen, wie dies auch an anderen Orten geschieht, in Pflasterepithel umgewandelt sein kann; ferner aus Gefässen und aus Nerven. Tunica conjunctiva. 153 Das gescliichtete Pflasterepithel geht am Eande der Cornea in das Epithel der Hornhaut über, und Avenn man Gefallen daran findet, so kann man letzteres als eine Fortsetzung des Epithels der Conjunctiva betrachten. Das bindegewebige Stroma der Conjunctiva geht nicht über die Hornhaut fort, sondern endet am Eande der durchsichtigen Hornhaut, und wenn dasselbe durch aus den Blutgefässen ausgetretene Flüssigkeit geschwellt wird, bildet es einen wallartigen Rand um die durcbsichtige Cornea herum. Die Blut- gefässe der Conjunctiva gehen aber auch nicht über die Cornea hinüber. Wir haben allerdings gesehen, dass die Blutgefässe der Hornhaut aus denen der Conjunctiva stammen, dass sie sich aber nicht über die ganze Cornea verbreiten, sondern den Rand dei'selben nur um ein Geringes überschreiten. Endlich setzen sich die Nerven der Conjunctiva nicht auf die Hornhaut fort. Wir haben gesehen, dass die Nerven der Hornhaut gar nicht aus der Conjunctiva stammen, sondern dass sie von den Ciliarnerven aus der Tiefe kommen. Das Resultat von diesem Allen ist, dass sich die Conjunc- tiva nicht über die Cornea fortsetzt, dass es kein Bindehautblättchen der Cornea und also auch keine Entzündung desselben gibt, wie sie die älteren Augenärzte annahmen. Die Conjunctiva reiht sich in ihren Eigenschaften den Schleimhäuten an, und sie hat auch, wie andere Schleimhäute, Schleimdrüsen, die ihr Secret auf ihre Oberfläche ergiessen. Diese Schleimdrüsen sind die Ea'ause- schen Drüsen. Sie wurden von dem älteren Krause zuerst beschrieben, liegen im Bindegewebe über dem Eornix conjunctivae und durchbohren die Conjunctiva selbst mit ihren Aiisführungsgängen. Wenn man die Con- junctiva in der gewöhnlichen Weise präparirt, so dass man das hinter ihr liegende Bindegewebe wegnimmt, dann sucht man nach diesen Drüsen ver- gebens, weil man die Körper derselben mit abgetrennt hat. Man muss das ganze Bindegewebe über dem Fornix conjunctivae herausnehmen, um die Körper, nicht blos die durchbohrenden Ausführungsgänge dieser Drüsen zu erhalten. Kleinere, einfache und wenig tiefe tubulöse Drüsen, vielleicht sind es auch Schleimdrüsen, finden sich in der Conjunctiva palpebrarum. Die vordere Fläche des Augapfels ist also von dreierlei Secreten ■befeuchtet: erstens vom Secrete der Thränendrüsen, zweitens von dem der Meibom'scheu Drüsen, drittens vom Secrete der Krause'schen Drüsen. Das Secret der Thränendrüsen wird normaler Weise in geringer Menge ab- gesondert. Wenn aber die Nerven der Conjunctiva gereizt werden, tritt in Folge reflectorischer Erregung Secretion ein. Die Nerven der Thränen- drüsen können reflectoriseh erregt werden erstens von der Conjunctiva und zweitens von der Nasenschleimhaxit aus. Ausserdem können sie aber auch central erregt werden durch Gemüthsaffecte, avo dann reichlicher und an- dauernder Thränenfluss zu Stande kommen kann. Bei solchem zeigt es sich, dass die Thränen, wo sie für sich allein und nicht gemengt mit den beiden anderen Secreten auf die Conjunctiva einwirken, dieselbe reizen, indem sich Blutinjection und ein der Entzündung ähnlicher Zustand auf der Conjunctiva einstellt. Das Secret der Meibom'scheu Drüsen ist eine Emulsion. Das Secret der Krause' sehen Drüsen kennen Avir nicht näher, es ist aber wahrscheinlich von dem der übrigen Schleimdrüsen nicht Avescntlich verschieden. Das Gemenge dieser di-ei Secrete wird durch den Thränenlcitungs- apparat aus dem Auge abgeleitet. Es gelangt zunächst durch die Thränen- 154 Das Sehen und die Farben. punkte in die Thränenröhrclien, von diesen in den Thränensack, von diesem in den Thränenkanal und von da in die Nasen- tind Rachenhöhle. Die Triebkraft für die Fortschaffung' dieser Secrete wird auf zweierlei Weise aufgebracht. Erstens durch den Lidsehlag, indem, wenn sich der Orbicu- laris palpebrarum zusammenzieht, ein Druck auf die Flüssigkeiten, die sich im Conjunctivalsacke befinden, ausgeübt wird. Die Lidspalte wird ge- schlossen, und durch den Zug und Druck, welchen der am Ligamentum canthi interni befestigte Orbicularis palpebrarum an den Augenlidern aus- übt , wird die Flüssigkeit gegen die Thränenpunkte hin und in die Thränenpunkte hineingetrieben. Das zweite mechanische Moment für die Ableitung der Thränen ist, abgesehen von der Schwere, durch welche sie nach unten abfliessen, die Inspiration. Wenn man einathmet, sinkt der Druck nicht nur in den Lungen, sondern auch in der Nasenhöhle unter den atmosphärischen, denn nur dadiu'ch wird es möglich, dass die atmo- sphärische Luft in die Nasenhöhle eindringt. Es wird also hiedurch eine Tendenz der Thränenflüssigkeit nach abwärts erzeugt. Der TJeberdruck, der bei der Exspiration in der Nasenhöhle stattfindet, und vermöge dessen die Luft aus der Nasenhöhle in die Atmosphäre getrieben wird, scheint ganz oder grösstentheils durch Klappen aufgehoben zu sein. Man unter- scheidet im Ganzen sieben Klappen oder klappenartig vorspringende Schleim- hautfalten : eine an der Mündung des Thränenkanals in die Nasenhöhle, welche als vorspringende Schleimhautfalte an der inneren Seite liegt und nach aussen iind abwärts gerichtet ist; ferner eine an der Grenze zwischen Thränengang und Thränensack, eine an der Einmündung der Thränen- röhrchen in den Thränensack, zwei am Grunde der Ampullen, der trichter- förmigen Erweiterungen der Thränenröhrchen , und zwei an den Ein- gängen, an den Thränenpunkten. Es ist schwierig, im Einzelnen zu ver- folgen, in wie weit diese klappenartigen Gebilde thatsächlieh als Ventile wirken, und es finden sich in Bezug darauf auch gewiss individuelle Ver- schiedenheiten. J. Gad bemerkt mit Recht, dass die Gesammtmenge der für ge- wöhnlich in den Conjunctivalsack ergossenen Flüssigkeit nicht gross sein kann, da bisweilen die Ableitung ganz gestört ist, ohne dass Thränen- träufeln eintritt. -Vlacovitsch sah bei Neugeborenen die Nasenschleimhaut den Thränengang ununterbrochen überziehen, und Verga sah dasselbe Ver- halten, wenigstens auf der einen Seite, bei fünf Kindern zwischen vier und dreizehn Jahren, Das Sehen und die Farben. Was nennen wir sehen? Sehen nennen wir das Zumbewusstsein- kommen der Erregungszustände unseres N. opticus. Ja, wir können im Allgemeinen sagen : das Bewusstwerden der Zustände des N. opticus, denn wir sehen ja auch die Dunkelheit, wir empfinden, dass es dunkel ist, weil wir in der Dunkelheit unsern N. opticus im Zustande der Ruhe empfinden. Ein Wesen, das keinen Sehnerven hätte, und dem auch die Theile des Centralorgans fehlten, durch welche uns die Gesichtsempfindungen zum Bewusstsein kommen, würde auch die Dunkelheit nicht empfinden, so wenig wie wir urtheilen, dass es hinter uns dunkel sei, weil wir nach rückwärts keine Augen haben. Das Sehen und die Farben. loö Alle Erregungszustände des N. opticus kommen uns als Liehtempfin- dungen zum Bewusstsein, auch die durch mechanische oder elektrische Reize erzeugten, ebenso wie die, welche das Licht hervorruft. Wenn man im äusseren Augenwinkel einen Druck auf die Sclera ausübt, so sieht man vor der Nasenwurzel eine helle Scheibe. Macht man den Druck etwas stärker, so bekommt die Scheibe in der Mitte einen dunklen Fleck, breitet sich aber mehr aus, so dass sie ein heller Ring mit verwaschenen Rändern wird. Die Lichterscheinung ist die Wirkung des mechanischen Reizes, den man auf die ISTetzhaut ausübt. Wenn man im Dunklen die Augen rasch hin und her wirft, so sieht man Lichtblitze. Diese sind nichts Anderes als die Folgen der Zerrung des IST. opticus. Hustet man im Dunklen, so sieht man Lichtblitze vor den Augen. Diese sind nichts Anderes als Folgen der Reizung, welche durch die plötzliche Stauung beim Husten im N. opticus hervorgerufen wird. Auch auf elek- trischem Wege kann man die I^etzhaut und den Sehnerven zur Licht- empfindung reizen. Es ist dies vielfältig geschehen, und man sieht dann sowohl beim Oeffnen, als beim Schliessen des Stromes, aber auch während des Stromes, Lichtfiguren, die am genauesten von Purkinje studirt worden sind, der sie folgendermassen beschreibt: „Brachte ich den Leiter des Kupferpols in den Mund und berührte mit dem Leiter des Zinkpols den Augapfel, so erschien in dem früher finsteren Gesichtsfelde an der mir sonst wohlbekannten Eintrittsstelle des Sehnerven eine hellviolette lichte Scheibe ; im Axenpunkte des Auges war ein rautenförmiger dunkler Fleck, mit einem rautenförmigen gelblichen Lichtbande umgeben, darauf folgte ein gleiches finsteres Intervall und auch ein etwas schwächer leuchtendes gelb- liches Rautenband; die äusserste Peripherie des Gesichtsfeldes aber deckte ein schwacher, lichtvioletter Schein, der, wie man das Auge rollte, ab- wechselnd an einzelnen Stellen heller wurde. Hob ich die Berührung auf, so kehrten sich die Farben um. Wechselte ich die Pole, brachte ich den Kupferpol ins Auge und den Zinkpol in den Mund, so kehrten sich die Farben, sowie auch die Licht- und Schattenpartien um. Am Eintrittsorte des Sehnerven war ein finsterer, kreisrunder Fleck, mit einem hellvioletten Scheine umgeben, der als ein hellviolettes Rautenband gegen die Mitte des Gesichtsfeldes auf- und niederstieg und sich mit zwei convergirenden Schenkeln auf der entgegengesetzten Seite schloss ; diesem nach innen war ein finsteres Intervall und im Axenpunkte des Sehfeldes eine glänzende, hell- violette Rautenfläche. Diese Figur, sowie auch die vorige erscheint jedesmal am lebhaftesten beim Eintritte der Berührung, ist während ihrer Andauer, wenn die Leitung nicht auf irgend eine Weise unterbrochen wird, nur schwer zu bemerken und erscheint auf einen Augenblick mit entgegen- gesetzten Licht- und Farbstellen bei der Trennung wieder. Die Intensität bei Anwendung des Kupferpoles, also bei aufsteigendem Strome, ist un- gleich grösser als die beim Zinkpole. Das Lichtviolett ist in dieser Erscheinung gesättigt und den Grund vollkommen deckend, das gelbliche Licht hingegen erscheint selbst bei den stärksten Entladungen nur wie der Ueberzug eines schwachen Firnisses, wie wenn eine gelbe Saftfarbe auf schwarzen Grund aufgetragen Avürde." Die Erregung kann auch von den Centralthcilen ausgehen und ihre Ursache dann nach dem Gesetze der excentrischen Erscheinungen nach aussen versetzt werden. So entstehen die Traumbilder und so entstehen die 156 Das. Seilen und die Farljen. phantastischen Gesichtserscheinnngen, die am häufigsten am Abend vor dem Einschlafen auftreten. Man hat bei ihnen das entschiedene Gefühl des Sehens, das sich wesentlich unterscheidet vom blossen Vorstellen. Oft ist dies Gefühl so mächtig, dass die Erscheinung für eine reelle, eine objective gehalten wird. Dies ist die Regel bei Irren und bei Fieberkranken, die von solchen Hallucinationen befallen werden. Aber auch bei Menschen, die übrigens gesunden Geistes und bei vollem Bewusstsein sind, können Phantasmen zu wirklichen Täuschungen Veranlassung geben. Joh. Müller hat über diese phantastischen Gesichtserscheinungen ein lehrreiches und geistvolles Buch geschrieben, in dem solche Beispiele verzeichnet sind. Der gewöhnlichste äussere Reiz ist das Licht. Das Licht wirkt entweder als weisses Licht auf das Auge ein, oder als farbiges. Das gewöhnliche Sonnenlicht ist aus einer ganzen Reihe von Farben zusam- mengesetzt, die, wenn sie alle miteinander auf die ISTetzhaut wirken, den Eindruck von Weiss erzeugen. Wenn aber nur eine dieser Farben auf die ISTetzhaut einwirkt, so entsteht ein farbiger Eindruck, welcher je nach der Wellenlänge des Lichtes verschieden ist. Die grösste Wellenlänge der sichtbaren Strahlen macht den Eindruck von Roth, dann kommt Orange, dann bei weiter abnehmender Wellenlänge Gelb. Der Eindruck von Gelb tritt ein da, wo sich die Fraunhofer' sehen Linien D befinden, die Natron- linien, die jetzt durch die spectroskopischen Untersuchungen so allgemein bekannt geworden sind. Dann kommen Gelbgrün, Grün, Blaugrün und bei F Blau. Dieses Blau bei F ist sogenanntes Türkisenblau, das heisst ein Blau, welches dem Grün noch einigermassen nahe steht. Man be- zeichnet es auch als Cyanblau, weil es durch Berlinerblau, also durch Eisencyanidcyanür oder Ferrocyaneisen dargestellt wird. Schreitet man weiter fort gegen G hin, so ändert das Blau seinen Ton und nimmt die Farbe des Ultramarin und Indigo an, und weiterhin geht es über in Violett, als dessen Hauptlinie die Fraunhofer' sehe Linie H bezeichnet werden muss. Jenseits H nimmt die Lichtintensität allmälig ab, und es kommen dann bei J, M, N, 0, P die sogenannten ultravioletten, schwach sicht- baren Strahlen, die als lavendelgraue Strahlen bezeichnet werden. Ueber ihre Färbung machen verschiedene Beobachter verschiedene Angaben, einigen erscheinen sie auch violett, anderen stahlblau, anderen lavendelgrau, noch anderen silbergrau. Wir können die Farben in einen Kreis ordnen, und zwar so, dass je zwei einander gegenüberstehende mit einander, wenn sie gemischt werden, Weiss bilden. Gewöhnlich ordnet man die Farben so an, dass Roth und Grün, Blau und Orange, Gelb und Violett einander gegenüberstehen. Es muss aber bemerkt werden, dass das Grün, welches dem spectralen Roth complementär ist, nicht das gewöhnliche Grasgrün ist, sondern ein Blau- grün. Dem eigentlichen Grasgrün ist eine Farbe complementär, welche im Spectrum gar nicht vorkommt, nämlich Purpiu*, eine Farbe, welche wir uns entstanden denken können dadurch, dass wir das Spectrum zusammen- biegen und das rothe und violette Ende desselben übereinanderfallen lassen. Man kann sich dieses Purpur künstlich aus zwei Spectren mischen. Wenn man mittelst eines Doppelspathprismas zwei sich theilweise deckende Spcctra erzeugt, so dass das violette Ende des einen über das rothe des andern zu liegen kommt, dann erhält man als Mischfarbe Purpur. Auch dem Orange ist nicht alles Blau complementär, sondern nur das Blau, welches Das Seilen uud die Fiiiben. 157 wir mit dem Namen Türkisenblau bezeichnet haben. Dagegen ist dasjenige Blau, welches wir als Ultramarin bezeichnet haben, dem eigentlichen Gelb complementär, dem Gelb von der Linie D, das repräsentirt wird durch das Chromgelb, das doppelt chromsaure Bleioxyd. Das Complement des Violett ist ein Gelbgrün, das wir mit dem Namen des Citronengelb zu bezeichnen pflegen, weil es die Farbe einer noch nicht ganz reifen Citrone hat. Wenn wir in correcter Weise die verschiedenen Complementc neben- einander schreiben Avollen, so haben wir : Roth und Blaugrün, Orange und Türkisenblau, Gelb und Ultramarin, Gelbgrün und Violett, Grün und Purpur, dann wieder Blaugrün und Eoth und so fort. Diese einzelnen Farben des Farbenkreises können nicht nur durch monochromatisches Licht hervorgebracht werden. Wie der Eindruck des Purpur immer durch gemischtes Licht erzeugt wird, so können auch die übrigen Farben durch gemischtes Licht hervorgerufen Averden. Ja, man braucht nur eine Farbe aus dem Spectrum wegzunehmen, so geben alle übrigen zusammen das Complement zu dieser Farbe. Daher rührt eben der Name Complementfarben, weil sie Farben sind, die entstehen, wenn man weisses Licht in irgend welche zwei Theile theilt, so dass der eine Theil die Ergänzung zum andern gibt. Die Complementfarben haben nun sehr interessante Eigenschaften. Sie haben die Eigenschaft, dass, wenn sie nebeneinandergesetzt werden, sie ihren Eindruck erhöhen, so dass sie also die glänzendsten Farbenzusammen- stellungen geben, z. B. Gelb und Blau, Grün und Purpur u. s. w. Sie haben aber auch die Eigenschaft, dass, wenn dem Auge nur eine Farbe dar- geboten wird, diese auf subjectivem Wege ihr Complement, die zweite Farbe, hervorruft. Chevreuil erzählt, dass zu ihm Händler mit ge- musterten Stoffen kamen und sich über die Fabrikanten beklagten : sie hätten ihnen Stofl^e hingegeben, damit sie schwarze Muster daraufdruckten, sie hätten ihnen aber auf einen rothen Stoff ein grünes und auf einen blauen Stoff ein gelbliches Muster aufgedruckt, Chevreuil erkannte so- fort, dass dies auf einer Täuschung beruhe. Er pauste daher das Muster diu'ch, schnitt es a jour in Papier aus und bedeckte dann mit dem Papier den farbigen Grund, so dass nur das Muster allein zu sehen war, und da zeigte es sich sofort, dass die Druckfarbe schwarz gewesen, und dass der Schein des Farbigen nur durch den farbigen Grand hervorgerufen worden war. Die Farben, die auf diese Weise subjectiv hervorgerufen werden, bezeichnet man mit dem Namen der Farben durch simultanen Contrast. Es gibt eine Reihe verschiedener Versuche, durch welche man diese Farben zur Anschauung bringen kann. Am besten gelingt dies durch die Spiegelversuche, wie sie zuerst Fechner und Dove in grösserer Auswahl angegeben haben. Eine Form, in der sich ein solcher Spiegelversuch sehr gut anstellen lässt, ist von Ragona Scina beschiäeben. Sie besteht darin, dass man zwei Papierblätter, deren jedes einen schwarzen Ring trägt, rechtwinklig gegeneinander aufstellt und nun eine grüne Glastafel dia- gonal zwischen diese beiden Papiere so stellt, dass man das eine Papier durch dieselbe dioptrisch, das andere katoptrisch sieht. Dann fällt in das Auge grünes Licht, das wir dioptrisch, und weisses Licht, das wir katop- trisch sehen, das gespiegelt wird. An der Stelle, wo sich der schwarze Ring befindet, fällt im dioptrisch gesehenen Papier der Eindruck des Grünen aus, im katoptrisch gesehenen an der entsprechenden Stelle der 158 Das Sehen und die Farben. Eindruck des Weissen. Da, wo der Eindruck des "Weissen wegfällt, haben wir ein stärkeres Grün als im Grunde; der gespiegelte Ring erscheint daher grün. Der andere Ring aber erscheint durch Wirkung des Con- trastes roth. Wenn man die Tafel bewegt, bleibt der rothe Ring stehen, während der grüne sich bewegt: der rothe wird also dioptrisch gesehen, der grüne gehört dem Spiegelbilde an. Diese ganze Erscheinung rührt von einer Verschiebung unseres Urtheils her. Wir haben grünes Licht mit weissem gemischt, welches in unser Auge hineinfällt. Dadurch wird unsere Vorstellung vom Weiss, vom neutralen Grau verschoben, so dass wir jetzt etwas, was grau gefärbt ist, für complementär gefärbt halten, für roth. Wir würden ein schwaches Grün jetzt, wo wir unter dem Ein- drucke der Masse grünen Lichtes stehen, eben nicht mehr für Grün, son- dern für Weiss halten. Dass wirklich diese Art der Verschiebung unseres Urtheils wesentlich in Betracht kommt, das sieht man an folgendem Ver- such, der von Helmholtz angegeben ist. Man nimmt ein graues Papier und klebt es auf einen purpurrothen Grund. Dann erscheint das graue Papier schon einigermassen grün. Dass es wirklich nicht grün ist, davon kann man sieh leicht überzeugen, wenn man das Roth rund herum zu- deckt, die Täuschung schwindet dann völlig. Die Täuschung wird aber ungleich grösser, sobald man über das rothe Papier ein anderes durch- scheinendes weisses hinüberlegt, einfach deswegen, weil man hier nun einen anscheinend weissen Grund hat, der aber thatsächlich nicht weiss ist, indem das rothe Papier durch das weisse hindurch wirkt. Das Weiss des oberen Blattes täuscht uns über die wahre Farbe des Grundes. In derselben Weise erklären sich die farbigen Schatten. Wir beleuchten ein Papier gleichzeitig mit Tages- und mit Kerzenlicht und stützen einen Bleistift darauf. Er wirft zwei Schatten, der eine ist blau, der andere ist gelb. Blau ist der, der dem Kerzen- Fig. 31. O lichte angehört, denn hier fehlt das Gelb, der andere ist durch den Con- trast gelb, weil das Papier, das auch vom Tageslichte beleuchtet ist, weniger gelb ist. Dergleichen Verschiebungen unseres Urtheils existiren nun nicht blos in Rücksicht auf die Farben, sondern sie kommen in derselben Weise in Rück- sicht auf Hell und Dunkel vor, indem uns ein dunkler Gegenstand neben einem hellen besonders dunkel, und ein heller neben einem dunklen be- sonders hell erscheint. Sie existiren auch in Rücksicht auf die räumlichen Verhältnisse, in Rücksicht auf Bewe- gungen. Wenn man eine Zeit lang aus einem Fenster auf eine belebte Strasse hinabgesehen hat, in der sich zahlreiche Wagen nach einer Richtung hin bewegen, und diesen mit dem Auge gefolgt ist, und blickt das Strassen- pflaster an, so scheint es, dass dasselbe sich in entgegengesetzter Richtung I I Das Sehen und die Farben. 159 bewege. Wenn man längere Zeit anf einen Wasserfall sieht und plötzlich auf die danebenstehenden Felsen blickt, so scheinen sie aufzusteigen. Es ist gewisserraassen, als ob die Geschwindigkeit des fallenden Wassers in einer späteren Periode nicht mehr denselben Eindruck machte wie im ersten Augenblick, so dass, wenn im ersten Augenblick die Geschwindig- keit V wäre, sie später eine kleinere Grösse wäre, V — k: wenn wir daher auf einen ruhenden Gegenstand sehen, scheint uns dieser mit der Ge- schwindigkeit k aufzusteigen. Sitzt man in einer Eisenbahn in einem Hintercoupe und entfernt sich von einem Gebirge, und der Wagen hält plötzlich an, so scheint es, als ob das Gebirge näher heranrücke u. s. w. Ja, selbst auf die Beurtheilung von Gerade und Schief, von Parallel und Nichtparallel hat eine solche Verschiebung unseres Urtheils einen wesentlichen Einfluss, wie man dies an der beistehenden, von Zöllner angegebenen Eigur sieht. Die senkrechten schwarzen Striche sind parallel, und doch erscheinen sie geneigt, weil uns die schief auf sie gerichteten Striche beirren. Kehren wir zu unseren Farben zurück, so ist es klar, dass, während je zwei und zwei Farben des Farbenkreises miteinander Weiss geben, die- jenigen, die nicht miteinander complementär sind, nicht Weiss, sondern irgend eine andere Farbe geben müssen, und diese Farben sind die Misch- farben, welche im Farbenkreise zwischen den complementären Farben ein- geschlossen sind. So gibt Roth mit Gelb Orange, Gelb mit JBlau gibt Grün, das heisst mit demjenigen Blau, welches ihm nicht complementär ist, mit dem Türkisenblau oder Cyanblau. Blau und Roth geben miteinander Violett, Roth und Violett Purpur. Die Wirkungen des Contrastes machen sich nun auch zwischen zwei Naehbarfarbcn geltend, indem jede Farbe, neben ihre Nachbarfarbe gestellt, in derselben ihre eigene Farbe ertödtet und ihr<^ complementäre Farbe hervorruft. So erscheint z. B. Orange, wenn es neben Roth gestellt wird, gelb. Gelb neben Orange lässt das Orange mehr roth erscheinen u. s. w. Als Helmholtz zuerst zeigte, dass Gelb und Ultramarinblau mit einander Weiss geben, erregte dies allgemeines Erstaunen. Namentlich alle Maler waren fest überzeugt und sind es zum Theil noch heute, dass Gelb und Blau nicht miteinander Weiss geben können, weil sie täglich aus Gelb und Blau Grün mischen. Die Mischung aber, welche dort vor- genommen wird, ist eine andere als diejenige, welche auf der Netzhaut stattfindet. Das Licht, das von gemischten Pigmenten zurückkommt, hat sich durch Subtraction gemischt, das Licht aber, das sich auf der Netz- haut mischt, mischt sich durch Addition. Wenn der Maler aiis Gelb und Blau Grün mischt, so mischt er gelbe und blaue Körnchen durcheinander. Das Licht, indem es durch die gelben Körnchen hindurchgeht, verliert die am stärksten brechbaren Strahlen, und indem es durch die blauen Körnchen hindurchgeht, verliert es die am schwächsten brechbaren Strahlen; die mittleren, die grünen Strahlen bleiben übrig. Darum ist das Resultat dieser Mischung grün. — Auf der Netzhaut aber geschieht die Mischung durch Addition, indem auf derselben Stelle der Eindruck Blau und zu- gleich auch der Eindruck Gelb erfolgt. Aber auch abgesehen hievon, auch bei Versuchen, welche auf Mischung durch Addition beruhen, ferner bei Versuchen über subjective Farben, über Contrastfarben , hatten die früheren Beobachter meist als complementäre Farbe für Gelb nicht Blau, 160 I^'is Sehen und die Farben. sondern Violett gefunden. Es war allgemein die Meinung verbreitet, die wahre Complementfarbe zu Gelb sei Violett, nnd man war deshalb be- fremdet, als Helmholtz dnrch directe Mischung der Spectralfarben nach- weisen konnte, dass Gelb und Elan miteinander Weiss geben. Diese Differenz der Ansichten hängt mit der verschiedenen Sättigung der Farben zusammen. Wenn ich mein Auge durch monochromatisches Gelb erregen lasse, so wirken auf dasselbe nur Strahlen von einer Wellen- länge. Ich kann aber auch das Gelb dadurch erzeugen, dass ich von dem Ultramarinblau eine Portion aus dem Spectrum heransnehme ; dann gibt das übrige Licht zusammen den Eindruck Gelb. Aber diese beiden Gelb unterscheiden sich wesentlich von einander. Das eine Gelb ist ein gesät- tigtes Gelb, nämlich das monochromatische, das andere ist nicht gesättigtes Gelb, es ist gemischtes Licht, indem nur die gelben Strahlen vorherrschen, nachdem blaue herausgenommen worden sind. Ich kann also dieses gelbe Licht, das ich durch Wegnehmen von Blan aus dem Spectrum erhalte, als bestehend ansehen aus weissem Lichte, dem gelbes hinzugefügt ist. So kann ich alle Farben als bestehend ansehen ans irgend einer bestimmten Farbe des Farbenkreises und aus Weiss, beziehungweise Grau, das in grösserer oder geringerer Menge hinzugemischt ist. Je grösser die Menge des neutralen Lichtes, des Weiss oder Grau ist, das ich hinzugefügt habe, desto weniger ist die Farbe gesättigt. Sie ist am gesättigtsten, wenn die Menge dieser Beimischung Null ist, wenn ich es mit einer monochroma- tischen Farbe zu thun habe, oder, da monochromatisches Purpur nicht, existirt, mit einem Purpur, das blos gemischt ist aus reinem Eoth nnd reinem Violett. Nach dieser Begriffsbestimmung brauchte übrigens eine Farbe nicht nothwendig monochromatisch zu sein, um als im physikalischen Sinne vollständig gesättigt zu gelten. Es ist nur nothwendig, dass in ihr nicht zwei oder mehrere Farben enthalten seien, die mit einander Weiss bilden. Wenn ich den höchsten Grad der Sättigung Eins nenne 'und somit die niederen Grade durch echte Brüche ausdrücke, so kann ich für die Sättigung folgende Formel aufstellen : S = y-^y, in welcher S die Sätti- gung, W die Menge des weissen Lichtes bedeutet und F die Menge des farbigen Lichtes, welches übrig bleibt, nachdem ich alle farbigen Lichter, soweit sie mit einander Weiss geben, entfernt habe. Nun haben wir bis jetzt das Tageslicht als weisses Licht angesehen. Wir halten dasselbe für weiss, weil es das dominirende Licht ist, und finden das Kerzenlicht neben ihm gelb. Es lässt sich aber nachweisen, dass das gewöhnliche Tageslicht nicht weiss ist, sondern roth, und darauf beruhen die verschiedenen Resultate, die man bei Benrtheilung der com- plementären Farben erhalten hat. Man wird bemerken, dass niemals ein Streit darüber gewesen ist, was das Complemcnt von Poth sei. Man wusste immer, dass das Complement von Roth Grün ist. lieber das Complement von Blau aber, beziehungsweise über das des Gelb hat man hin und her geschwankt. Denken Sie sich, ich habe eine Tafel, die mit schwefelsaurem Baryt angestrichen ist und daher vollkommen weiss erscheint. Ich lege auf die- selbe ein Blättchen Papier, das mit Ultramarin gefärbt ist, und lasse dieses blaue Papier auf weissem Grunde in einem Glase spiegeln, das selbst durch die Dicke angesehen keine Farbe hat. Ich neige den Spiegel und richte ihn wieder auf. Ich sehe, dass das Bild mehr oder weniger Das Sehen und die Farben. lol Sättigung bekommt je nacli der Neigung des Spiegels. Man sieht ja durch das Glas auf den weissen Grund, es mischt sich also das dioptrisch ge- sehene weisse Licht mit dem katoptrisch gesehenen blauen, und jetzt wird man bemerken, dass das Bild, indem es heller wird, indem seine Farbe weniger gesättigt wird, nun nicht mehr in derselben Schattirung bleibt, sondern gegen Violett hin ausweicht, dass es einen Stich zum Violett be- kommt. Das Licht also, das mir weiss erschien, wenn ich es an und für sich betrachtete, das hat sich, zu einer bestimmten Farbe gemischt, als roth erwiesen, denn es hat als Mischfarbe Violett gegeben. Denselben Versuch kann man mit Chromgelb anstellen. Legt man dieses auf die weisse Tafel und lässt man es spiegeln, so ist das Spiegelbild blassorange, wenig- stens mehr orange als das Chromgelb selbst: das anscheinende Weiss erweist sich hier bei der Mischung wieder als röthlich. Wenn ich durch ein blaues Cobaltglas hindurchsehe, so dass ich damit die Hälfte der Pupille bedecke, so erseheint der Grenzstreifen, der durch den Rand des Cobalt- glases gegeben ist, violett, weil sich hier eine Zone auf der Retina bildet, wo sich weisses Tageslicht mit dem blauen Lichte mischt, das durch das Cobaltglas zur Netzhaut gelangt. Alle diese Versuche zeigen deutlich, dass das Tageslicht nicht, wie man früher geglaubt hat, weiss ist, sondern dass es roth ist. Wir empfin- den das nicht, weil wir das dominirende Licht immer für weiss halten, gerade so, wie wir auch Gas- oder Kerzenlicht, wenn wir hinreichend lange kein aoderes gesehen haben, für weiss halten. In unserem Laboratorium sind vor einer Reihe von Jahren von Dr. Memorsky Untersuchungen ge- macht worden über die Farbe der verschiedenen Beleuchtungen. Da hat es sich gezeigt, dass Kienspähne, Kerzen, Leuchtgas, Oel und Petroleum sämratlich Licht von gelboranger Farbe geben. Am meisten gefärbt ist das Licht des Kienspahns, dann folgen Talgkerzen und Oellampen, dann Stearinkerzen, Leuchtgas und Petroleum. Das Magnesiumlicht, das man für weiss gehalten hat, ist blassviolett, und das einzige Licht, das Me- morsky weiss fand, war Licht der Kohlenspitzen, elektrisches Licht. Auch hier war es nur das gute Glück, welches uns Kohlen in die Hände ge- geben hatte, die weisses Licht gaben. Ich habe seitdem mehrfach elektri- sches Kohlenspitzenlicht gesehen, das entschieden röthlich war. Aus der farbigen Beschaffenheit des Tageslichtes erklärt sich das verschiedene Urthcil über die Contrast- und die Complementärfarben. Helm- holtz machte aus reinem Gelb und aus reinem Ultramarinblau Weiss. Nun haben wir aber gesehen, dass, wenn wir dieses Ultramarinblau mit Weiss auf der Netzhaut mischen, wir dann nicht Ultramarinblau, sondern einen violetten Ton erhalten. Wenn wir also zu dem Gelb eine nicht gesättigte Complementiirfarbe aufsuchen wollen, so kann diese nicht mehr Ultramarin sein, sondern sie ist Violett, wie dies auch bei früheren Versuchen mit Pigmenten und beim Aufsuchen der Contrastfarbe auf weissem oder grauem Grunde gefunden wurde. Die gesättigte Complementfarbe zum Blau ist Chromgelb. Wir haben aber gesehen, dass, wenn wir das Licht, das von Chromgelb zurückkommt, mit weissem Lichte mischen, wir dann eine Farbe erhalten, die sich dem Orange nähert. Wenn ich also zum Blau eine nicht gesättigte complementäre Farbe suche, so ist diese nicht mehr Gelb, sondern in der That ein blasses Orange, wie es auch ältere Beob- achter gefunden haben. Brücke. Vorlesungen. 11. 4. Aufl. 11 102 Das Sehen und die Faiten. Mit der rothen Färbung des Tageslichtes und mit dem diffusen Lichte, das durch die Selera in unser Auge einfällt, hängt es zusammen, dass unsere Retina unterempiindlich ist für rothes Licht, das heisst, dass die Eetina für rothes Licht weniger empfindlich ist als für Licht von kürzerer Wellenlänge. Dass das Licht, welches durch unsere Selera eindringt, roth sein muss, ergibt sich erstens schon daraus, dass es durch ein System von trüben Medien hindurchgegangen ist und dadurch also vorwiegend die kurzwelligen Strahlen verloren hat, und zweitens daraus, dass es durch zahlreiche Blutgefässe hindurchgegangen ist und hier der Absorption des Blutfarbstoffes unterworfen wurde. Es gibt aber auch einen Yersuch dafür, der zuerst in etwas anderer Form und ohne genügende Erklärung von Dr. Smith in Fochabers beschrieben wurde. Er besteht in Folgendem: Man stellt sich so, dass man mit der Seite des Gesichtes nach dem Fenster gewendet ist, oder dass man neben sich zur Seite eine Kerze oder eine Lampe hat, und sieht eine weisse Fläche an. Nun schliesst man ab- wechselnd das eine und das andere Auge, dann verfärbt sich diese weisse Fläche, und zwar in der Weise, dass, wenn man die weisse Fläche mit dem Auge, welches an der Lichtseite ist, ansieht, dieselbe grün erscheint, während sie dem Auge, das an der Schattenseite ist, roth erscheint. Der Grund ist folgender: von der Lichtseite fällt eine Menge Lieht durch die Sclerotica ein, dieses wirkt auf die Retina des Auges an der Lichtseite und macht sie noch mehr unterempfindlich gegen Roth, als sie schon für gewöhnlieh ist. Es erscheint ihr deshalb weisses Licht als Grün. Schliesse ich dieses Auge und sehe ich mit dem andern die weisse Fläche an, so erscheint sie durch den Contrast roth. Von der TJnterempfindlichkeit für langwellige Strahlen rührt es auch her, dass bei stärkerer Beleuchtung eine Landschaft einen mehr rothgelben Ton hat. Es ist dies die sonnige, die goldige Beleuchtung, während an einem trüben Tage die Landschaft vielmehr einen graublauen Ton hat. Fechner hat gezeigt, dass, wenn die objective Helligkeit, die Beleuchtung, in geometrischer Progression zunimmt, die Verstärkung der subjectiven Empfindung, der subjectiven Helligkeit, nur in arithmetischer Progression fortschreitet. Er hat ferner gezeigt, dass für jeden Reiz, der auf Nerven, also auch auf den Sehnerven ausgeübt wird, eine sogenannte Reizschwelle existirt, das heisst eine gewisse Höhe, die der Reiz erreichen und welche er überschreiten muss, um überhaupt eine Wirkung zu erzielen. Denken Sie sich, dass die Reizschwelle für Roth am höchsten liege und von da gegen Blau hin immer niedriger werde, und dass nach und nach die Helligkeit immer zunehme, so muss anfangs die Wirkung des Roth bei geringer Helligkeit relativ gering sein, weil man sich noch wenig von der Reizschwelle des Roth entfernt hat, während man sich bei den übrigen Farben schon weiter von der Reizschwelle entfernt hat, da ihre Reiz- schwelle niedriger ist. Je weiter aber die Helligkeit steigt, um so mehr wird dieser Unterschied in den Hintergrund treten, und um so mehr werden also auch die langwelligen Strahlen, die rothen und gelben zur Geltung kommen. Mit dieser Ungleichheit in der Lage der Reizschwelle für das Roth und das Blau hängt es zusammen, dass man, wie Purkinje und Dove bemerkten, die Helligkeit der Farben anders beurtheilt, je nachdem sie stark oder schwach beleuchtet sind. Wenn ich Jemanden bei heller Tagesbeleuchtung aus einer Reihe von Papieren ein rothes und ein Zeitliclier Verlauf der Netziauterregnng. l6o blaues aussuchen lasse, die ihm und Anderen gleich hell erscheinen, und lasse diese selben Papiere in der Dämmerung, oder sonst bei schwacher Beleuchtung, aber im neutralen Lichte, untersuchen, so finden Alle, dass das blaue Papier heller sei als das rothe, weil man nun eben mit dem Roth näher der Reizsehwelle steht und deshalb der Eindruck des Roth nicht niu* absolut, sondern auch relativ schwächer ist, als er bei heller Tagesbeleuchtung war. Da wir uns, wie wir oben gesehen haben, alle Farben vorstellen können als gemischt aus einer bestimmten Parbe des Farbenkreises und aus Weiss, beziehungsweise Grau, so müssen wir auch die Farben in ein System bringen können. Man hat diesem Systeme viele verschiedene Formen gegeben, und in der That kommt auf die Form wenig an. Anfangs hatte man die Farben in einen Kreis anzuordnen gesucht. Es hatte sich aber da gezeigt, dass man wohl die verschiedenen Grade der Sättigung auf- tragen könne, dass man aber nicht die verschiedenen Grade der Helligkeit und Dunkelheit erhalte. Nimmt man eine Kugel und trägt auf diese nicht nur die Farben auf, sondern denkt sich auch das Innere dieser Kugel mit Farben erfüllt, dann kann man in der That alle Pigmentfarben in ein System bringen. Im Aequator der Kugel sind die reinen Pigmente aufgetragen. An dem einen Pole gehen sie in Schwarz über, an dem andern gehen sie in Weiss über. Man hat also an der Oberfläche der Kugel alle Farben in ihren Uebergängen zum Weiss und Schwarz. In der Axe dieser Kugel muss man sich aber eine Linie denken vom Weiss zum Schwarz, die Linie des neutralen Grau. Im Innern der Kugel wäi-en dann alle Mischfarben des neutralen Grau, die verschiedenen Arten von Braun, Grau u. s. w. zu finden. Nach demselben Principe hat man die Farben auf und in einer Pyramide und auf und in einem Kugeloctanten vertheilt. Auf letzterem stand das Weiss in der Mitte des sphärischen Dreieckes, die reinen Farben an den Seiten und Ecken desselben und das Schwarz am Kugelcentrum. Zeitlicher Verlauf der Netzbaiiterregung. Der Erregungszustand im Sehnerven überdauert jedesmal den Act der Erregung. Die Wirkung überdauert die Ursache. Wenn deshalb mehrere Eindrücke rasch aufeinanderfolgen, so kann es geschehen, dass die späteren eintreffen, ehe die Wirkung der ersten aufgehört hat, so dass also ein continuirlicher Eindruck aus einer intermittirenden Reizung entsteht. Darauf beruht es, dass man einen feurigen Kreis sieht, wenn man eine glühende Kohle im Dunkeln im Kreise herumschwingt. Bringt man auf eine Scheibe zwei Farben und dreht sie sehr schnell, so fallen hier auch die Reize über einander und man erhält die Mischfarbe. Auf diese Weise kann mau zeigen, dass die verschiedenen Farben mit einander Weiss geben, man kann zeigen, wie Mischfarben entstehen u. s. w. Eine solche Ein- richtung ist der Farbenkreisel. Bei Versuchen mit dem Farbenkreisel ist es natürlich von Wichtig- keit , dass die Farben in gewissen Verhältnissen miteinander gemischt werden, da eine gewisse Menge Roth nur eine gewisse Menge Grün com- pensirt und eine gewisse Menge Blau nur eine gewisse Menge Gelb. Je zwei Complementärfarbcn können also auch auf dem Farbenkroiscl nur 11* 164 Zeitliclier Verlauf der Netzliauterregutig. dann Weiss geben, wenn sie in einem bestimmten Verhältnisse auf dem- selben vertlieilt sind. Da hat nun Maxwell eine Art von Scheiben an- gegeben, vermöge welcher man auf dem Wege des Experimentirens diese Verhältnisse finden kann. Er schneidet nämlich die Papiere aus in Form der vorstehenden Figur 32, in der c das Loch für die Axe des Kreisels ist. Sie können dann in einander gesteckt und durch Drehung beliebig verschoben werden, so dass die eine Papierscheibe die andere mehr oder weniger deckt. Man dreht nun, nachdem die Papiere in einer bestimmten Lage befestigt sind, in solcher Richtung, dass die freien Lappen der Scheiben durch den Luftwider- stand nicht gehoben, sondern herabgedrückt werden. Beim Suchen des neutralen Weiss oder Grau (wirkliches Weiss kann, weil dazu nicht die hinreichende Menge von Licht vorhanden ist, hier nicht erzielt werden) verkleinert man nun die Farbe, welche sich als im Ueber- schuss vorhanden erweist, so lange, bis das Grau nicht mehr rothgrau oder grüngrau, gelbgrau oder blaugrau ist, sondern mit dem aus Weiss und Schwarz; gemischten Grau übereinstimmt. Es muss also, wenn wir Ultra- marin und Gelb mischen, in dem Blau eine solche Menge blauen Lichtes enthalten sein, dass sie gerade durch das von dem gelben Felde reflee- tirte gelbe compensirt wird. Solche sich einander genau compensirende Mengen complementärgefärbten Lichtes betrachten wir als chromatisch gleichwerthig und sagen von zwei Papieren, die Weiss geben, wenn jedes von ihnen die halbe Scheibe des Farbenkreisels bedeckt, ihre Farben hätten gleiche Intensität. Es ist damit nicht gesagt, dass auch die so- genannte physikalische Intensität, die Summe der lebendigen Kräfte, in beiden farbigen Lichtei'n gleich sei. Von dieser haben wir überhaupt nur sehr dürftige Kenntniss. Die Mengen Weiss, die dabei in jeder von beiden enthalten sind, sind an und für sich ganz gleichgiltig. Es führt uns dies zu der Formel zurück, welche wir früher (S. 160) für die Sättigung aufgestellt haben. Die Helligkeit der Farbe hängt ab von der Menge des Lichtes, das sie überhaupt zurückstrahlt. Die Inten- sität der Farbe hängt ab von der Menge des Lichtes ihrer eigenen, ihrer specifischen Farbe, welche sie zurückstrahlt. Die Sättigung drückt das Ver- hältniss aus zwischen diesem specifischen Lichte und dem weissen Lichte, mit dem es gemischt ist, so dass die Sättigung ein Maximum ist, wenn die Menge des Weiss Null ist, während umgekehrt die Sättigung ein Minimum ist, das heisst die Farbe entweder Weiss oder Grau ist, wenn gar keine specifische Farbe vorhanden ist. Mittelst eines solchen MaxAvell- schen Farbenkrcisels kann man auch wiederum beweisen, dass die Fai'bo des gewöhnlichen Tageslichtes nicht weiss, sondern röthlich ist, ja man kann sogar zeigen, dass nicht unbeträchtliche Mengen von rothem Lichte in demselben überschüssig sind. Man nimmt ein ultramarinblaues Papier und ein weisses und lässt diese mit einander rotiren, so bekommt man eine lichte Mischfarbe. Diese fällt aus der Schattirung, sie geht ?um Violett, ein Zeichen, dass das gewöhnliche Tageslicht nicht weiss, sondern röthlich Zeitlicher Verlauf der Net^ihauterregung. 165 ist. Um dieses Roth zu compcnsiron, schaltet man einen grünen Scctor ein, und man sieht, dass man je nach der Helligkeit der Farbe einen mehr oder weniger breiten grünen Sector einschalten muss, um das überschüssige Roth des Tageslichtes zu compensiren und auf diesem Wege die hellere Schattirung zum Ultramariublau zu erhalten. Von dem Verharren des Lichteindruckes im Auge ist noch eine Reihe von anderweitigen Anwendungen gemacht worden, von denen wir hier einige besprechen müssen. Zunächst kann man dadurch den Weg eines sich sehr schnell und dabei periodisch bewegenden Körpers beobachten. Den Weg einer schwingenden Basssaite kann man an und für sich nicht deutlich wahrnehmen. Wenn man aber auf derselben einen kleinen, glän- zenden Metallknopf, z. B. einen Stecknadelkopf, anbringt und die Basssaite anreisst tind sie so betrachtet, dass sie sich perspectivisch verkürzt, so ^ieht man an diesem Metallknopf den Weg, den die Basssaite beim Schwin- gen beschreibt. In ähnlicher Weise kann man durch Anbringen von Licht- reflexen auf schwingenden Stäben den Weg, den sie beschreiben, beobachten. Li neuerer Zeit hat namentlich Helmholtz dies benützt, um mittelst Stimmgabeln die Zusammensetzung von Schwingungen zu studiren. Er hat zu diesem Zwecke ein eigenes Instrument, das Vibrationsmikroskop, angegeben und in seinem Werke über Tonempfindungen beschrieben. Man sieht hier durch eine Lupe, die durch eine schwingende Stimmgabel ver- tical auf- und abbewegt wird, auf ein beleuchtetes Stärkekernchen, das von einer anderen Stimmgabel horizontal hin- und herbewegt wird. In neuester Zeit hat Marey die Dauer des Lichteindruckes benützt, um den Weg zu sehen, welchen die Flügel der Insecten beschreiben. Er hat einer Brummfliege auf den vorderen Rand des Flügels gegen das Ende hin ein kleines Stückchen Blattgold aufgeklebt. Wenn nun das Thier mit seinen Flügeln schlägt, so sieht man an dem Lichtreflexe den Weg, welchen der Flügel in der Luft beschreibt. Wenn die Bewegung in der Weise periodisch ist, dass jeder Punkt des sich bewegenden Körpers nach bestimmten, gleichen Zeiten immer wieder an denselben Ort zurückkehrt, so kann man nicht nur den Weg, sondern auch die Bewegung selbst für das Auge dar- stellen. Denken Sie sich, es hätte ein Körper die Schwingungsdauer t und er würde mir immer wieder sichtbar in Intervallen von der Dauer n t, worin n irgend eine ganze Zahl bedeuten soll, so würde ich ihn jedes Mal an demselben Orte sehen, und da diese Eindrücke sehr rasch aufeinander folgen sollen, so würde ich diesen Körper im Zustande der Ruhe sehen. Nun denken Sie sich aber, der Körper würde mir nicht sichtbar nach Intervallen von der Dauer n t, sondern nach Intervallen von der Dauer nt -\- k, worin k eine verhältnissmässig kleine Grösse, einen geringen Bruch- theil von t bezeichnen soll, so würde ich ihn nun nicht mehr an dem- selben Orte sehen, sondern ich würde ihn an einer andern Stelle sehen, bis zu der er in der Zeit k vorgerückt ist. Das nächste Mal werde ich ihn wieder etwas weiter vorgerückt sehen, und da diese Eindrücke sehr rasch auf einander folgen sollen, so wird in meinem Auge ein continuir- licher Eindruck entstehen in der Weise, als ob sieh der Körper in seiner natürlichen Schwingungsrichtung fortbewegte. Wenn ich mir denke, ich bekäme ihn wiederum zu Gesichte in Intervallen von nt — k, so würde ich ihn auch seinen natürlichen Weg machen sehen, aber rückwärts. Dieses Princip ist zuerst von Savart angewendet worden, um die periodischen Ißß Zeitliclier Verlauf der Netzhauterregung. Bewegungen in einem Wasserstralile zu beobachten. Es ist dann später in seinen Methoden und Anwendungen von Doppler entwickelt. In neuerer Zeit hat auch Toepler über dasselbe gearbeitet. Das Sichtbar- machen und das Verschwinden des sich bewegenden Körpers kann wesent- lich in zweierlei Weise hervorgebracht werden : erstens dadurch, dass man den Körper in der Periode nt -\- k momentan beleuchtet, oder dadurch, dass man den Körper periodisch für das Auge verdeckt und ihn in Perioden von nt -\- k frei werden lässt. Andererseits kann man auch periodische Bewegungen bildlich dar- stellen. Dazu dienen die sogenannten stroboskopischen Scheiben, die un- abhängig von einander von Purkinje, von Plateau und von Stampfer erfunden worden sind. Sie beruhen darauf, dass ein in periodischer Be- wegung befindlicher Körper in bestimmten Lagen gezeichnet und in diesen Bildern dem Auge schnell nacheinander dargeboten wird. Man lässt so immer Bilder in veränderter Lage aufeinander folgen, bis endlich die periodische Bewegung alle ihre Phasen durchgemacht hat. So stellt man kreisförmige, geradlinige und elliptische Schwingungen, so stehende und fortschreitende Wellen, Maschinentheile in Bewegung, ein sich contrahi- rendes Herz u. s. w. dar. Es kann dies auf zweierlei Weise erzielt werden. Entweder dadurch, dass man zwei Scheiben hintereinander auf einer Axe befestigt, wovon die vordere Spalten hat und die hintere die Abbilder trägt, so dass man dann während der Umdrehung durch die Spalten auf die Abbilde'r sieht. Das ist die Purkinje'sche Construction, das sogenannte Kinesoskop. Oder dadurch, dass die beiden Scheiben miteinander ver- einigt sind, das heisst, dass eine und dieselbe Scheibe die Abbilder trägt und zwischen ihnen iind der Peripherie die Spalten, durch welche man nun während der Umdrehung die Bilder im Spiegel ansieht. Das ist die Construction von Plateau und von Stampfer. Fig. 33. Man kann endlich auch eine Erscheinung des localen Contrastes auf der Netzhaut sehr gut darstellen durch das Princip der Persi- stenz der Erregungszustände. Man trägt auf einer schwarzen Scheibe weisse Sectoren auf. Die Winkelwerthe der weissen Sectoren neh- men gegen die Peripherie hin immer mehr ab, und zwar in jedem neuen Einge um die Hälfte. (Pigur 33). Wenn man diese Scheibe in Drehung versetzt, so entsteht ein System von grauen Pingen. Diese werden immer dunkler gegen die Peripherie hin. Das ist begreiflich, weil die Menge des dem Schwarz beigemengten AYeiss gegen die Peripherie hin immer geringer wird. Zugleich bemerkt man aber, dass jeder Ring da am dunkelsten ist, wo er an den nächsten helleren anstösst, und da am hell- sten, wo er an den nächsten dunkleren anstösst, so dass das Princip des Contrastes nicht nur platzgreift im Centralorgane überhaupt, sondern auch in den einzelnen Partien des Sehfeldes. Mach hat diese Scheibe, während sie rotirte, photographirt, und noch an der Photographie konnte man unterscheiden, dass die Ringe immer dunkler erscheinen da, wo sie an einen helleren ano;renzen, und da heller, wo sie an einen dunkleren Nachbilder. 167 angrenzen. Wenn man Krystallmodollc oder andere von ebenen Flächen begrenzte Körper, die aus Gyps gegossen oder weiss angestrichen sind, beobachtet, wird man auch bemerken, dass die glcichmässig beleuchteten Flächen da heller erscheinen, wo sie an schwächer beleuchtete angrenzen, und da dunkler, wo sie an stärker beleuchtete angrenzen. Daraus, dass die Ringe, die jene Scheibe bei der Drehung gibt, immer im Allgemeinen mit der Abnahme der Breite des Sectors dunkler werden, geht schon hervor, dass ein Lichteindruck eine gewisse Zeit braucht, um zu seiner vollen Wirkung zu gelangen ; denn, wenn er auch in der kleinsten Zeit seine volle Wü'kung ausüben könnte, so müssten ja alle diese Ringe gleichmässig weiss sein. Sigmund Exner hat nun mit einem Apparate, der von Helmholtz angegeben ist, und der von ihm mit dem Namen des Tachistoskops bezeichnet wurde, den zeitlichen Verlauf der Erregung untersucht und gefunden, dass die Zeit, welche ein Lichteindruck braucht, um zu seiner vollen Wii'kung zu gelangen, sehr verschieden ist, je nach der objectiven Helligkeit, und zwar zeigt es sich hier, dass, wenn die objective Helligkeit in geometrischer Progression zu- nimmt, die Zeiten, die ziu* Erreichung der , vollen Wirkung nöthig sind, in arithmetischer Progression abnehmen. Wenn man deshalb sagt, dass etwa der fünfte Theil einer Secunde dazu nöthig sei, dass ein Licht- eindruck seine volle Wirkung ausübe, so g'ilt das nur von einem Licht- eindrucke von mittlerer Stärke, wie ihn etwa ein von gewöhnlichem diffusem Tageslichte beleuchtetes Blatt Papier hervorbringen kann. Stärkere Licht- intensitäten brauchen beträchtlich kürzere Zeit, während andererseits ge- ringere Lichtintensitäten längere Zeit ziu' Entwickelung ihrer vollen Wir- kung brauchen. Wir haben ferner gesehen, dass es für die Erregung eine gewisse Reizschwelle gibt, das heisst eine gewisse Intensität, welche ein objectives Licht haben muss, um wii'klich eine Ei'regung hervorzurufen. Da nun hier die Wirkungen sich zeitlich allmälig entwickeln, so ist es von vorneherein klar, dass es auch zeitlich eine gewisse Reizschwelle geben wird, dass ein Licht von einer gewissen Intensität immer eine gewisse Zeit eingewirkt haben muss, che man es überhaupt bemerkt. Auch diese Zeit ist von Exner mit dem früher erwähnten Apparate untersucht worden, und es hat sich auch hier ergeben, dass, wenn die objective Lichtiutensität im geometrischen Verhältnisse zunimmt, die für die Wahrnehmung nöthigen Zeiten in arithmetischer Progression abnehmen. Nachbilder. Wenn ein Lichteindruck eine Zeit lang gedauert hat, so verschwindet er wieder. Es fragt sich nun, kommt dann die Netzhaut sofort in Ruhe, oder setzt sich etwas an seine Stelle? Das ist verschieden, je nach der Stärke des Lichteindruckes, der hervorgebracht worden ist. Diese hängt wiederum ab von der Stärke des objectiven Lichtes und von der Zeit, während welcher das objective Licht eingewirkt hat. Nach stärkeren Reizen erfolgen Nachbilder, die vielfach von Purkinje, Plateau und Fechner studirt worden sind. Man theilt sie ein in gleichfarbige und in com- plementär gefärbte , also in solche, die dieselbe Farbe haben wie das Object, und in solche, die die entgegengesetzte, die complementäre Farbe 168 Nachl)iiaer. haben. Man theilt sie ferner ein in positive und in negative, wobei man diesen Bezeichnungen denselben Sinn iinterlegt, wie er in der Photo- graphie gebräuchlich ist. Man nennt nämlich positiv dasjenige Nachbild, in welchem das hell ist, was im Object hell ist, und negativ nennt man dasjenige Nachbild, in welchem das dunkel ist, was im Objecte hell ist. Das erste Nachbild, das zur Erscheinimg kommt, ist das positive complementär gefärbte Nachbild, das von Purkinje entdeckt worden ist. Purkinje beschrieb, dass, wenn er eine glühende Kohle langsam herum- schwang, er hinter derselben einen rothen Streifen gesehen; das war die directe Verlängerung des Lichteindruckes. Dann sei ein kurzes dunkles Intervall gekommen und hierauf ein grünes Bogenstück, ein grünes Nach- bild, das sich weniger im Baume ausbreitete als der rothe Streifen, der vom verlängerten directen Lichteindrucke herrührte. Dieses Grün setzt sich hell auf dunklem Grunde ab. Einige sehen dieses Nachbild etwas anders. Exner beschreibt es so, dass das dunkle Intervall fehlt und das Roth durch eine Art von Grau in das Grün des positiven complementär gefärbten Nachbildes übergeht. Man kann dieses positive complementär gefärbte Nachbild auch sehen, wenn man längere Zeit in eine Kerzen- flamme durch ein farbiges, z. B. rothes Glas hineinstarrt. Wenn man dann plötzlich, ohne den Augapfel mit den Augenlidern zu drücken, die Augen schliesst, sieht man eine grüne Flamme, in der das hell ist, was in der Flamme selbst hell ist, und das dunkel, was in der Flamme selbst dunkel ist, also ein positives complementär gefärbtes Nachbild. Die positiven gleich gefärbten Nachbilder muss man ansehen als hervorgegangen aus der Wiederkehr des Erregungszustandes, welchen das ursprüngliche Licht hervorgebracht hat, die negativen Nachbilder aber, die immer complementär gefärbt sind, sind Abstumpfungsbilder, das heisst sie rühren daher, dass das einwirkende Licht eine Partie unserer Netzhaut unterempfindlich gemacht hat für objectives Licht, und dass deshalb, wenn wir zum Beispiele rothes Licht gesehen haben, der Eindruck von Roth fehlt, wenn gemischtes Licht auf dieselbe Stelle fällt, und deshalb an dieser Stelle der Eindruck von Grün entsteht, welches dunkler ist als der Grund. Es ist über die Richtigkeit die'ser Erklärung gestritten worden, weil dieses negative complementär gefärbte Nachbild auch bei geschlossenen Augen, ja selbst, wenn man die Augen mit beiden Händen bedeckt, gesehen wird. F e c h n e r hat aber darauf aufmerksam gemacht , dass dies damit zu- sammenhängt, dass wir unsern Sehnerven niemals im Zustande der völligen Ruhe empfinden, dass wir auch, wenn wir die Augen mit den Händen bedecken, nicht ganz schwarzes Sehfeld haben, sondern gewöhnlich ein Sehfeld, das uns etwas gelblich, wie mit feinem Goldstaub durchstreut er- scheint, und dass in diesem subjectiven Lichte auch die Farbe fehlt, die die Erregung hervorgebracht hat, und deshalb ein Nachbild in comple- mentärer Farbe und dunkler als der übrige Grund erscheint. Die Richtig- keit seiner Erklärung bestätigt sich dadurch, dass, wenn man die Hände etwas lüftet und Licht diu'ch die Augenlider hineinfallen lässt, diese Bilder nicht verschwinden, sondern sich deutlicher auf deni nun helleren Grunde absetzen. Bei starken monochromatischen Lichteindrücken, z. B. wenn man durch ein rothes Glas in die Sonne sieht, folgen sich die Nachbilder ge- wöhnlich in folgender Weise. Erst das positive gleichgefärbte Nachbild, dann ein negatives complementär gefärbtes Nachbild, dann taucht wieder. Thomas Young's Theorie. , 169 wenn ein hinreichend starker Eindruck g-emacht ist, ein positives gleich- gefärbtes Nachbild auf, daim wechseln negatives complcmentär gefärbtes und positives gleichgefärbtes Nachbild mehrmals mit einander ab, um so häufiger, je stärker der Eindruck gOAvesen ist, und endlich steht das ne- gative complementär gefärbte Nachbild noch eine Weile, und die Retina kommt dann wieder zur Ruhe. Wenn der Eindruck nicht von monochro- matischem Lichte gemacht wurde, sondern von weissem, gemischtem Liclite, hat man keineswegs immer weisse oder schwarze Nachbilder, sondern bei stärkeren Lichteindrücken hat man farbige Nachbilder, bei denen eine Farbe die andere verdrängt. Das beruht darauf, dass die Nachbilder der verschiedenen Farben zeitlich auseinandcrfallen und deshalb auch nicht miteinander Weiss geben können, sondern verschiedene Farben nachein- ander zum Vorschein kommen. Man hat dies mit dem Namen des Ab- klingens des Nachbildes diu'ch verschiedene Farben bezeichnet. Es ist dabei merkwürdig, dass, wenn man ein positives Naclibild von einer be- stimmten Farbe bei geschlossenen und bedeckten Augen hat, und man das Auge öffnet und auf einen hellen Grund sieht, auf dem hellen Grunde das negative complementär gefärbte Nachbild auftritt. Das Auge ist also objectiv unterempfbidlich gegen die Farbe, die es eben subjectiv empfun- den. Wenn nun kein Naclibild mehr vorhanden ist, so ist doch nach den Lichteindrücken das Auge nicht ganz in seinem Normalzustände, in ähn- licher Weise, wie wir gesehen haben, dass ein Nerv, durch den ein Strom hindurchgegangen ist, noch nicht ganz in seinem Normalzustande ist, wenn auch kein Ocffnungstetamis melir vorhanden ist. Dies zeigt sich an einer Verstimmung der Retina, in welcher die Farben anders wahr- genommen werden als sonst, und das gibt Veranlassung zu einer neuen Art von Contrastwirkungen. Diu'ch den dauernden Eindruck einer Farbe ist die Retina unterempfindlich geworden gegen dieselbe Farbe, und man sielit daher die eomplementärc Farbe sixbjectiv verstärkt. Wenn wir eine Zeit lang auf einen rothen Gegenstand gesehen haben, und sehen von demselben weg auf einen grauen Gegenstand, so erscheint uns dieser grün- lich, und umgekehi't, wenn längere Zeit hindiu'ch grünes Licht auf unser Auge eingewirkt, so erseheint uns ein grauer Gegenstand, auf den Avir sehen, röthlich u. s. w. Thomas Yoim§'s Theorie. Es handelt sich nun darum, wie sollen wir uns alle diese Farben- erscheinungen erklären, wie* sollen wir uns überhaupt eine Vorstellung davon machen, dass es möglich sei, dass wir so viele Arten von Farben imterseheiden? Unterscheiden wir sie, weil in ein und derselben Art von Nerven durch sie verschiedene Erregungszustände hervorgerufen werden, oder unterscheiden wir sie dadxu'ch, dass Avir verschiedene Arten von Nervenfasern im N. opticus haben, die jede, sie mögen von was immer für Licht erregt werden, wenn sie einmal erregt, uns immer eine bestimmte Farbenempfindung verursachen? Wenn ich sage, verschiedene Arten von Nervenfasern, so meine ich hier, wie andersAvo, nicht dass die Nerven- fasern als solche verschieden sein müssen, sondern nur, dass sie mit ver- schiedenartigen Ccntralgebilden, Nervenzellen des Ccntralorgans, verbunden sind, und dass uns qualitativ verschiedene Empfindungen erAvachsen, je 170 Thomas Young's Theorie. nachdem die eine oder die andere Art von Centralgebilden erregt wird. Die erstere Vorstellimg, die, dass die verschiedenen Farben je nach ihrer Wellenlänge verschiedene Erregungszustände im IST. opticus hervorriefen, war bis vor verhältnissmässig kurzer Zeit die herrschende. Aber Thomas Young hatte schon im Anfange dieses Jahrhunderts eingesehen, dass man mit dieser Art der Erklärung nicht auskommen könne, und er stellte des- halb eine andere Theorie auf, die ganz in Vergessenheit gerathen war, bis Helmholtz sie von Neuem auseinandergesetzt und mit neuen Beweis- mitteln gestützt hat. Die Young-Helmholtz'sche Theorie von der Perception der Farben sagt aus, dass sich im Sehnerven dreierlei Arten von Nerven- fasern befinden, von denen die einen, wenn sie erregt werden, uns die Empfindung Roth verursachen, die anderen die Empfindung Grün und die dritten die Empfindung Violett hervorrufen. Alle drei Arten von üSTerven- fasern können zwar erregt werden durch alle Strahlen, die uns überhaupt leuchtend erscheinen, aber diejenigen, welche uns die Empfindung E-oth verursachen, werden am stärksten von den langwelligen Strahlen erregt, die Nervenfasern, welche uns die Empfindung Violett veriu'sachen, werden am stärksten dui'ch die kurzwelligen Strahlen des Spectrums erregt, und diejenigen Nervenfasern, welche uns die Empfindung Grün verursachen, werden am stärksten erregt durch die Strahlen von einer mittleren Wellen- länge, durch die Strahlen, die dem spectralen Grün an Wellenlänge ent- sprechen. Fällt nun auf unser Auge monochromatisch rothes Licht, so wird dies alle Nervenfasern erregen, aber die rothempfindenden am stärksten, wir werden also Roth sehen. Fällt grünes Licht in unser Auge, so wird es alle Arten von Nervenfasern erregen, aber die grünempfindenden am stärksten, wir werden also Grün sehen. Wenn violettes monochromatisches Licht in unser Auge fällt, wird es alle Arten von Nervenfasern erregen, abef die violettempfindenden am stärksten, wir werden also Violett sehen. Wenn monochromatisch gelbes Licht in unser Auge fällt, so wird es so- wohl die rothempfindenden, als auch die grünempfindenden Fasern relativ stark erregen, und dadurch wird für uns ein gemischter Eindruck ent- stehen, den wir Gelb nennen. Ist die Wellenlänge grösser, wird das Roth vorherrschend, und wir werden Orange sehen. Ist die Wellenlänge etwas geringer, so wird die Erregung der grünempfindenden Fasern vorherrschend, und wir werden Gelbgrün sehen. Wirkt monochromatisch blaues Licht auf unsere Netzhaut, so werden sowohl die grün- als die violettempfindenden Fasern erregt, dadurch wird ein gemischter Eindruck entstehen, welchen wir Blau nennen. Ist die Wellenlänge der Strahlen etwas grösser, so wird der Eindruck zum Grün hinziehen, indem die grünempfindenden Fasern stärker erregt werden. Wird dagegen die Wellenlänge kürzer, wird er mehr zu Ultramarin und Indigo ziehen, weil nun die violettempfindenden Fasern stärker erregt werden. Da jede Art von Licht nach dieser Theorie alle drei Arten von Nerven erregt, so sind nach ihr auch die reinen Spectralfarben im physio- logischen Sinne nicht absolut gesättigt, und in der That hat Helmholtz gezeigt, dass man ihre Sättigung dadurch noch erhöhen kann, dass man das Auge vorher gegen die Complenientärfarbe abstumpft. Wir haben gesehen, dass ganz ähnliche Eindrücke, wie sie die ein- zelnen Spectralfarben hervorbringen, auch hervorgebracht werden können durch gemischte Farben, dass z. B. Roth und Grün, welches wir auf dem Thomas Toung's Theorie. 171 Farbenkreisel miteinander mischen, Gelb geben, dass Grün und Violett mit- einander Blau hervorbringen können u. s. w. An der Erklärung dieser Er- scheinung ist man früher, che die Young'sche Theorie wieder in Aufnahme kam, immer gescheitert. Man hat sie erklären wollen aus der Wellen- theorie nach dem Principe der Interferenz. Aber man ist hiebei niemals zu Resultaten gelangt, die mit der Wirklichkeit übereinstimmen, und es lässt sich auch leicht zeigen, dass überhaupt nach dem Principe der Inter- ferenz diese Erscheinungen nicht erklärt werden können. Denn erstens kommt es nicht nur darauf an, welche Farben wir miteinander mischen, sondern auch darauf, in welcher Menge wir dieselben miteinander mischen. Ich kann aus einem bestimmten Poth und einem bestimmten Grün alle dazwischen liegenden Arten Gelb mischen, einfach dadui'ch, dass ich ein- mal mehr die Intensität des Grün, und das andere Mal mehr die Inten- sität des Roth wachsen lasse: zweitens aber, und das ist ein absolutes Hinderniss für jede Erklärung aus der Undulationstheorie, ich kann die Farben für mein Gesicht in der Weise mischen, dass die eine Farbe nur in das eine Auge und die andere Farbe nur in das andere Auge hinein- kommt. Wenn ich derci einen Auge Roth und dem andern Blau darbiete und fixire einen bestimmten Punkt, so sehe ich, wie wir später erfahren werden. Violett. Hiemit ist jede Art von physikalischer Erklärung solcher Farbenmischung atisgesehlossen. Die Young'sche physiologische Theorie gibt aber eine sehr einfache Erklärung. Sie sagt nämlich: Wenn gemischtes oder monochromatisch rothes Licht auf meine Augen wirkt, so erregt es alle Fasern, aber die rothempfindenden am stärksten, und wenn grünes Licht, gemischtes oder monochromatisches, auf meine Augen einwirkt, so erregt es alle Fasern, aber die grünempfindenden am stärksten. Beide gleichzeitig geben also einen gemischten Eindruck, der Gelb ist, weil er analog ist demjenigen Eindrucke, den das gelbe Licht hervorbrachte, das auch alle Fasern erregte, aber die roth- und grünempfindenden Fasern stärker als die violettempfindenden. Mit dieser Erklärung ergibt sich auch sehr leicht, warum man alle Nuancen zwischen Grün und Roth hervorbringen kann, je nachdem man die Intensität der einen oder der andern Strahlen steigert. Man bringt nämlich durch Steigern der Intensität des rothen Lichtes dasselbe hervor, was man bei Versuchen mit monochromatischem Lichte dadui'ch hervorbringt, dass man von Gelb weiter gegen Roth hin geht. Wenn ich aber bei gemischtem Lichte die Intensität des Grün stei- gere, wii'd die Erregung der grünempfindenden Fasern grösser, ich bringe also dasselbe hervor, als wenn ich mich bei Versuchen mit monochroma- tischem Lichte gegen die Seite des Grün hin begebe. Es sind nicht Alle einig darüber, welche die Grundfarben seien, da es ja möglich sein würde, auch aus anderen Farben als aus Roth, Grün, Violett die übrigen zu mischen. Man hat in früherer Zeit Roth, Gelb und Blau allgemein als die Grundfarben aufgestellt. Dies rührte daher, dass man aus Pigmenten zwar Grün und Violett, aber nicht Gelb und Blau mischen konnte. Aber das ist hier durchaus nicht massgebend, weil bei den Pigmenten, wie wir früher gesehen haben, durch Subtraction gemischt wü'd, und auf der Netzhaxit, in unserer Empfindung, durch Addition, diu'ch gleichzeitige Erregung mehrerer Arten von Nervenfasern. Darin, dass zwei der Gnindfarben Roth und Grün seien, sind alle Anhänger der Young- Helmholtz' sehen Theorie einis;. Es handelt sich nur noch um die dritte. 172 Farbenblinclheit. Während Helmholtz Violett für die dritte Grundfarbe hielt, sind Max- well und Exner der Meinung, dass es nicht das eigentliche Violett sei, sondern die als Indigo bezeichnete Zone, die zwischen dem eigentlichen Violett tmd dem Blan liegt. Exner sagt: Die Grundfarben erregen zwar alle Fasern, aber immer eine am stärksten. Da aber andererseits die ge- mischten Farben immer zwei Arten von Nervenfasern stärker erregen, so muss man die gemischten Farben mehr als die Grundfarben verändert finden, wenn man das Auge gegen eine Art von Licht abstumpft und dann die betreffende Spectralfarbe ansieht. Diejenigen Farben, welche sich so untersucht am unveränderlichsten zeigen, das müssen die Grundfarben sein. Er ist auf diese Weise zu dem Resultate gekommen, dass Roth und Grün zwei der Grundfarben seien; er fand aber, dass Violett veränderlicher ist als jene Zone des Indigo. Wenn er sein Auge gegen Roth abstumpfte, so erschien ihm spectrales Violett mehr Blau, wenn er dagegen sein Auge durch intensives blaues Licht abstumpfte, dann erschien ihm das Violett auffällig röther als im gewöhnlichen Zustande. Ich betrachte, um mir die Grundfarben zur Anschauung zu bringen, ein reines, aber sehr lichtsehwaches Spectrum, clamit die Schwingamgen jeder Dauer möglichst nur eine Art von Nervenfasern wirksam erregen, diejenigen, welche sie am stärksten erregen, und nicht auch eine zweite oder dritte, welche sie erst in zweiter oder dritter Reihe zu erregen ge- eignet sind. Dann bleiben bei abnehmender Lichtstärke drei Farben übrig, Roth, Grün und Violettblau. Dieses Violettblau ist wahres Veilchenblau und gleicht nicht ganz dem äussersten Violett des lichtstarken Spectrums. Es liegt auch nicht an dessen Stelle, sondern da, wo im lichtstarken Spectrum Indigoblau liegt. Die Zone, die im lichtstarken Spectrum das eigentliche Violett darstellt, ist schon durch ihre Lichtschwäehe unsichtbar geworden. Aus dem Gesagten geht zugleich hervor, dass die Farbe auch des physikalisch einfachen Lichtes nicht allein von seiner Schwingungs- dauer abhängt, sondern auch die Amplitude unter Umständen einen wesent- lichen Einfluss ausübt. Da, wo man im lichtschwachen Spectrum Veilchen- blau sieht, sieht man im lichtstarken wahres Blau, nach der Theorie, in Folge von Miterregung der grünempfindenden Fasern. Farlbenlblindlieit. Farbenblind nennt man solche Menschen, welche verschiedene Farben verwechseln oder sich mit den Normalsichtigen über die Benenniingen der Farben nicht einigen können. Es ist dabei keineswegs vorausgesetzt, dass sie überhaupt keine Farben empfinden. Wo Letzteres der Fall ist, müsste man dies als absolute Farbenblindheit oder als Farbenblindheit im engeren Sinne des Wortes bezeichnen. Denken Sie sich, Sie könnten für das prismatische Farbenbild eine Curve entwerfen, welche durch die Höhe ihrer Ordinaten die Grösse der Wirkung angibt, welche jede einzelne schmale Zone des Specti'ums, jede einzelne Farbe auf den Normalsichtigen ausübt, und min denken Sie sich ein Auge, für welches diese Curve Avesentlich anders ausfällt, so wird dieses Auge im gewöhnlichen Sinne farbenblind sein, denn es sieht die Farben der Dinge, die ja in der Regel zusammengesetzte, gemischte sind, anders als die Normalsichtiffen. Farbenblindheit. l^O Die am. längsten bekannte Art der Farbenblinden wird gebildet von den Eothblinden, das heisst solchen, bei denen die langwelligen Strahlen eine unverhältnissmässig geringe Wirkung haben, so dass das Spectruni für sie am rothen Ende mehr oder weniger verkürzt erscheint; doch hat man auch zahlreiche Pällc beobachtet, in denen Unterempfindlichkeit für andere Partien des Spectrums vorhanden war. Mace und Nicati fanden bei ihren Untersuchungen an Parbenblinden, dass bei Unterempfindlichkeit für einen Thcil des Spectrums Ueberempfindlichkeit für einen andern Theil des Spectrums vorhanden sein kann. Man kennt auch seit langer Zeit solphe Menschen, welche überhaupt keine Farben sehen, welchen die Welt grau in Grau erscheint, wie ein Kupferstich. Ein solcher Zustand kann verschiedene Ursachen haben. Es könnten für zwei der Grundfarben die sie vorstellenden Ncrv^enelemente entweder an sich functionsunfähig sein oder in ihrem peripherischen End- organe, den zugehörigen Zapfen, oder dui'ch Mangel der Leitung. Dann würde nur eine Farbenempfindung existiren und somit kein Unterscheiden von Farben. Es könnte aber auch die Verschiedenheit der Elemente in Rücksicht auf ihre Eigenschaft, von Licht von verschiedener Schwingungsdauer ver- schieden stai'k erregt zu werden, sehr gering sein, oder diese Verschieden- heit könnte gar nicht vorhanden sein. Die Erregbarkeitscurven, die Curven, welche das Wachsen und Abnehmen der Erregbarkeit je nach der Schwin- gungsdauer darstellen, könnten für alle drei Arten von Elementen dieselben sein. Dann würden auch keine Farben unterschieden werden. Diese letz- tere Erklärung ist wahrscheinlich für die meisten Fälle dieser Art die zu- trefi^ende, denn alle Menschen unterscheiden nur mit einem beschränkten Theile ihrer Netzhaut, mit der sogenannten Region des directen Sehens, der Gegend um das Centrum retinae, die Farben gut und richtig, mit den Seitentheilen schlechter und um so schlechter, je mehr man sich der Ora serrata retinae nähert. Wenn man ein prismatisches Farbenbild gegen diese Region hin verscliiebt, so wird zuerst der mittlere Theil desselben weiss- lich, das langwellige Ende wird orangegelb und verblasst, indem es an Sättigung verliei't; am längsten erhält sich als noch deutliche Farbe ein Blau am kurzwelligen Ende des Spectrums. Da nun Weiss und Grau im indirecten Sehen, das heisst auf die Seiteiitheile der Netzhaut projicirt, ihr Aiissehen gar nicht verändern, so kann obige Erscheinung nur aiif eine Abnahme der Unterschied sempfindlichkeit zurückgeführt werden, nicht auf den Mangel einer oder zweier Fax'benempfindungen. J. Samuel söhn beobachtete einen Patienten, bei dem die beiden linken Hälften der Gesichtsfelder keine Farben unterschieden, während die Sehschärfe in denselben eine normale war. Will man diesen Fall nach der Young-Helmholtz'schen Theorie erklären, so liegt es am nächsten, an- zunehmen, dass für jede Einzelleitung im Centrum zwei räumlich getrennte Ganglienzellen vorhanden smd, von denen die eine die Helligkcitsempfin- dung, die andere die Farbenempfindimg erzeugt. Beide werden, da sie einer Bahn angehören, für gewöhnlich gleichzeitig erregt, aber eine von ihnen, wenigstens die, welche die Fai'be empfindet und die wir als mehr centralwärts liegend zu denken hätten, kann functionsunfähig werden, ohne dass die andere leidet. Nach der Natur des Falles muss man aniiehmen, dass in jeder der beiden Hemisphären diese beiden Arten von Zellen ihi'er 174 Unterscheidungsvevmögen der Netzhaut. ganzen Masse nach an zwei verscliiedenen Orten liegen. Dass nur eine Art von Zellen vorhanden sei, deren Erregbarkeit zwar erhalten, deren qualitative Verschiedenheit aber unmerklich geworden sei, ist eine Vor- stellung, die zwar auch dem Falle genügen würde, die wir aber weniger leicht durchzubilden vermögen. Die Annahme, dass in dem erwähnten Falle zwei Farben fehlten, ist nicht wohl zulässig, da der Kranke die Farben als grau bezeichnete. TJnterscheidungsYermögen der Netzhaut. Wir verlassen jetzt die Erregungszustände der Netzhaut im All- gemeinen und gehen auf das Unterscheidungsvermögen über und auf die örtliche Verschiedenheit desselben. Es ist klar, dass, da in der Netzhaut nur eine bestimmte Summe von Sehnervenfasern ihre Endigung findet, jedesmal auch nur eine bestimmte Summe von Localzeichen an das Gehirn überliefert werden kann. Wir werden also von einem gegebenen Räume des Sehfeldes auch nur immer eine bestimmte Summe von Localzeichen bekommen können. Es wird demnach unser IJnterscheidungsvermögen eine gewisse Grenze haben, und wenn wir diese Grenze überschreiten, so werden die Farbeneindrücke zusammenfliessen. Wenn wir z. B. eine Abwechslung von sehr kleinen blauen und gelben Feldern haben, so werden diese Felder blau und gelb erscheinen, wenn wir sie in der Nähe ansehen. Entfernen wir uns aber weiter, wird der Sehwinkel immer kleiner, so werden sie endlich zusammenfliessen, die Farben werden sich aufheben, und wenn wir die Felder gegeneinander richtig abgepasst haben, werden wir neutrales Grau erhalten. Es wird dies von den Malern benützt, um bei grossen Bildern, die für einen weiten Abstand bestimmt sind, Farben durch Addition auf der Netzhaut zu mischen. So setzen sie z. B., namentlich der berühmte Land- schaftsmaler Hildebrandt bediente sich dieses Kunstgriffs, Zinnober und Grün nebeneinander, um Gelb zu erzeugen. Es fragt sich nun, welches ist die Grenze unseres Unterscheidungs- vermögens, und wie stimmt diese überein mit der Grösse unserer Netzhailt- elemente? Wir sind durch anderweitige Gründe dazu geführt, die Zapfen als die ersten Angriffspunkte für das Licht anzusehen. Wir müssen daher auch von vorne herein der Meinung sein, dass nur zwei Punkte neben- einander als zwei Punkte gesehen werden können, die sich auf zwei ver- schiedenen Zapfen abbilden, dass aber zwei Punkte, die so nahe bei ein- ander liegen, dass sie Beide auf einem und demselben Zapfen abgebildet werden können, auch nur einen Eindruck geben. Diese Voraussetzung bestätigt sich auch. Wenn man mit stark beleuchteten Linien die Gesichts- schärfe untersucht, indem man zusieht, wie weit man sich von ihnen ent- fernen und sie doch getrennt sehen kann, und daraus die Abstände der Netzhautbilder von einander berechnet, so findet man, dass diese Abstände mit der Breite der Zapfen übereinstimmen. Helmholtz unterschied noch zwei weisse Striche, die so weit von einander entfernt waren, dass zwei gerade Linien in gleicher Höhe von der Mitte jedes dieser geraden Striche zu den correspondirenden Punkten des Netzhautbildes gezogen sich unter einem Winkel von 64 " kreuzten. Aber nicht immer und namentlich nicht an punktförmigen Bildern bewährt sich die Sehschärfe bis zu diesem Grade. Zwei Sterne, deren Winkelabstand nicht über 60 " beträgt, er- Untersclieidungsverraögen der Netzhaut. 175 Fig. 34. scheinen auch nicht kurzsichtigen Augen meistens als ein Stern. Helm- holtz hat bei seinen Beobachtungen die merkwürdige Wahrnehmung ge- macht, dass zuletzt die schwarzen und weissen Striche nicht gerade bleiben, sondern dass die schwarzen sich etwas im Zickzack biegen und die da- zwischen liegenden weissen kleine Anschwellungen bekommen. Er leitet dies von dem Mosaik der Zapfen in der Fovea centralis retinae ab und von der Art und Weise, wie die weissen Striche, die ja das Erregende sind, die in Sechsecken neben einander gestellten Zapfenbasen beleuchten. Die Figuren 34 zeigen A die Erscheinung selbst und B die schematische Darstellung der Art und Weise, wie sie nach der Ansicht von Helmholtz zu Stande kommt. Die directen Messungen der Gesichtsschärfe von Helmholtz und von Anderen verglichen mit den Messungen, welche Köllicker an den Zapfen der Fovea centralis vornahm, bestätigen, wie gesagt, dass wir so scharf sehen, wie wir dies theoretisch nur voraussetzen können, dass also unser Auge als optischer Apparat scheinbar Alles leistet, was nur von ihm erwartet werden kann. Wir werden später Gelegen- heit haben, uns darüber einigermassen zu wundern, indem wir sehen werden, dass das Auge als optischer Apparat keineswegs im höchsten Grade vollkommen ist, dass es keineswegs das leistet, was ein idealer op- tischer Apparat leisten sollte, nämlich alle Strahlen von einem deutlieh gesehenen Punkte wieder auf einen Punkt der Netz- haut zu vereinigen. Es kommt aber dafür etwas Anderes in Betracht. Wir tasten mit den Augen in ähnlicher Weise auf dem Gesichtsobjecte herum, wie ein Blinder mit seinen Fingerspitzen auf einem Gegenstande herum- tastet, um sich eine klare Vorstellung von der Beschaffenheit, von den Er- hebungen und Vertiefungen desselben zu verschaffen. Indem wir mit den Augen auf dem gesehenen Gegenstande herumgleiten, und somit die Bilder der kleinen Gegenstände von einem Zapfen auf den andern übergehen lassen, verschaffen wir uns deutlichere Vorstellungen, als sie uns ein ein- maliger Eindruck verschaffen könnte. Dass dem wirklich so sei, davon überzeugt man sich leicht, wenn man den Lichteiudruck so kurz macht, dass es unmöglich ist, während dieser kurzen Zeit eine merkliche Augenbewegung auszuführen. Wenn Avir einen rotircnden Farbenkreisel mit dem Lichte des elektrischen Funkens beleuchten, so sehen wir die Farben nicht gemischt, sondern wir sehen die einzelnen, verschieden geförbten Sectoren neben einander stehen. Der elektrische Funke dauert nur so kurze Zeit, dass der Kreisel während dieser Zeit nui" einen sehr kleinen Bruchtheil seiner Umdrehung ausführen kann, dass er sich während dieser Zeit bei Weitem nicht um die Breite eines Sectors gedreht hat, denn sonst müssten die Farben gemischt sein. Nun kann ich diese Beleuchtung durch den elektrischen Funken stark genug machen, dass ich die Gegenstände völlig hell sehe; es wird mir aber niemals gelingen, die Gegenstände so deutlich zu sehen, wie ich sie beim ruhigen Ausehen und dauernder Beleuchtung sehe, selbst wenn diese Beleuchtung verhältnissmässig schwach ist. Wenn des Nachts ein starker 176 Mariotte's blinder Fleck. Blitz die Landschaft erhellt, so sieht man alle Gegenstände hell beleuchtet, aber nicht einmal in der Deutlichkeit, in der man sie in der Dämmerung sieht, weil eben der Eindruck ein so kurzer ist, dass es nicht möglich ist, sich in den Gesichtsobjecten sicher zu orientiren. Diese Schärfe des Unterscheidungsvermögens, von der wir eben ge- sprochen haben, existirt aber nur in der Fovea centralis retinae. Je mehr man sich von dieser entfernt, je mehr man in das sogenannte indirecte Sehen kommt, um so schwächer wird das Unterscheidungsvermögen. Man kann sich davon überzeugen, indem man einen Gegenstand fest ansieht und das eine Auge schliesst und dann einen zweiten Gegenstand unmittel- bar neben denselben bringt. Man wird dann, wenn man das Auge für diese Sehweite einstellt, ihn vollkommen scharf sehen können. Bleibt man aber in der Fixation für den andern Gegenstand und bewegt diesen Gegen- stand seitlich fort, so wird man bemerken, dass das Bild immer undeut- licher wird. Gegen die Ora serrata hin ist das Unterscheidungsvermögen ein so stumpfes, dass wir die Gegenstände, die sieh dort abbilden, die also nahe der Grenze, unseres Sehfeldes liegen, nicht mehr in ihrer Form erkennen, dass wir nur noch einen unbestimmten Eindruck davon haben, dass sich daselbst hellere und dunklere und farbige Gegenstände befinden. Es muss ferner bemerkt werden, dass dieses Unterscheidungsvermögen nur existirt für Hell und Dunkel, für Schwarz und Weiss; für verschiedene Farben von gleicher Helligkeit ist es viel geringer. Es erklärt sich dies nach der Young-Helmholtz' sehen Theorie daraus, dass die drei Grundfarben sich in die Gesammtzahl der Zapfen theilen müssen, also auf jede etwa, nur ein Dritttheil derselben kommen mag. In diesem Falle würde sich nach der Theorie das Unterscheidungsvermögen für gleich helle Farben zu dem für Schwarz und Weiss verhalten wie 1 zu V^; dem widerspricht auch die Erfahrung nicht, indem die Versuchsresultate bald nach der einen, bald nach der andern Seite von diesem Werthe abweichen. Also je ge- ringer der Helligkeitsunterschied zweier Farben ist, je mehr sie gleich hell sind, um so schlechter werden sie in kleinen Feldern von einander unter- schieden. Dies kann man als photometrisches Princip benützen, um ver- schiedene farbige Lichter, Grün, Eoth, Blau, unter einander und mit neu- tralem Lichte in Eücksicht auf ihre Helligkeit zu vergleichen. Hierauf beruht Dove's Photometer. Unter ein Mikroskop wird bei schwacher Ver- grösserung eine Mikrophotographie auf Glas gelegt und gleichzeitig von unten und oben mit den beiden zu vergleichenden Lichtern so beleuch- tet, dass man das eine oder das andere gradatim abschwächen kann. Beide Lichter sind gleich, wenn die Einzelheiten der Photographie mög- lichst vollständig verschwinden. Auf demselben Principe beruht auch die Helligkeitstafel. Es ist dies eine von Schwarz bis Weiss in Tusche abgetonte Fläche. Auf ihr verschiebt man das Papier oder den Stoff, dessen Helligkeit man ermitteln will, nachdem man zuvor ein Loch hineingesehnitten. Der Ort, an dem das Loch unter dem grössten Gesichtswinkel verschwindet, gibt die Helligkeit der Farbe in Grau von bestimmter Helligkeit an. Mariotte's blinder Fleck. Es gibt einen Punkt der Netzhaut, mit dem wir gar nichts sehen, und das ist die Eintrittsstelle des N. opticus. Weshalb wir mit dieser Ein- Dioptrik des Auges. 177 trittsstelle nicht sehen, ist begreiflich. Wir sehen nämlich mit dieser Stelle nicht, weil hier keine Zapfen- und Stäbchenschicht vorhanden ist, sondern das Licht, das hier auffallt, nur die austretenden Fasern des IST. opticus trifft. Mariotte bemerkte zuerst, dass man diesen blinden Fleck im Seh- felde sich subjectiv bemerklieh machen kann. Man macht zwei Zeichen auf einem Papier, ein Kreuz und eine Kreisscheibe (siehe Figur 35); man Fig. 35. + schliesst dann das eine Auge und fixirt dasjenige Zeichen, welches nach der Nasenseite hin liegt, und nun nähert und entfernt man das Papier. Dann kommt man auf eine Stellung, wo bei fester Fixation das äussere Bild, das an der Schläfenseite, versehwindet. Nähert man das Bild wieder oder entfernt es, so kommt es wieder zum Vorschein. Dieser blinde Fleck im Sehfelde heisst nach Mariotte der Mariotte' sehe Fleck. Er liegt etwa 15^ nach auswärts vom Centrum des Sehfeldes, das heisst von dem fixirten Punkte oder von der in sich selbst projicirten Gesichtslinie. Auf der Netz- haut liegt er also etwa 15*^ nach imien vom Centrum retinae. Er erstreckt sich nämlich von 13^ bis 19*^, indem er einen Durehmesser von beiläufig 6 " oder etwas darüber hat. Will man deshalb die beistehende Figur zum Versuche benutzen, so bringt man das Buch, um eins der Zeichen ver- schwinden zu lassen, in eine Entfernung von 26 bis 28 Centimeter, ge- messen vom oberen Augenlide zum fixirten Zeichen. Helmholtz hat an seinem Auge den blinden Fleck abgetastet und hat in seinem Haudbuche der physiologischen Optik eine Abbildung davon gegeben, in der man nicht nur die Eintrittsstelle des Sehnerven deut- lich wieder erkennt, sondern auch den Anfang der grossen Blutgefässe der Netzhaut. Dioptrik des Auges. Nachdem wir uns so mit der Art beschäftigt haben, wie sich die Retina gegen Eindrücke verhält, müssen wir uns mit der Art und Weise beschäftigen, wie ihr die Gesichtseindrücke zugeführt werden, wir müssen zu der Dioptrik des Auges übergehen. Man sagt, das Auge sei gebaut nach dem Principe der Camera obsciu-a, weil durch einen Apparat, der im Wesentlichen eine Sammellinse ist, also dem Objectiv der Camera obscura entspricht, auf dem auffangenden Schirme, auf der Netzhaut, ein um- gekehrtes Bild entworfen wird, wie ein solches auf dem auffangenden Schirme der Camera obscura zu Stande kommt. Das umgekehrte Bild auf der Netzhaut lässt sich am leichtesten an einem pigmentlosen Kanincheu- aiige zeigen. Wenn man dasselbe herauspräparirt luid es aufhängt, so sieht man die Gegenstände, die demselben gegenüberliegen, auf der Netzhaut in umgekehrtem Bilde durch die him-eichend durchscheinende Sclerotica. In Bezug auf dieses umgekehrte Netzhautbild hat mau sich oft die Frage gestellt, wie es denn möglich sei, dass wir die Dinge aufrecht sehen. Brücke. Vorlesungen. II. 4. Aufl. 12 178 Dioptrik des Anges. während sie docli auf der Netzhaut umgekehrt abgebildet werden. Es gibt eine grosse Menge von Theorien, die sich theils damit beschäftigen, zu beweisen, dass das umgekehrte Netzhautbild doch eigentlich nicht ver- kehrt, sondern aufrecht sei, und andere, die sich damit beschäftigten, durch welche Proecsse dieses umgekehrte Netzhautbild noch einmal im Gehirn umgekehi't werde und nun aufrecht zum Be-^nisstsein komme. Alle diese Dinge braucht man begreiflicher Weise nicht: denn da der Mensch überhaupt nichts von seinem Netzhautbilde weiss, so kann er auch nichts davon wissen, dass das Netzhautbild in seinem Auge vei'kehrt ist. Er kann nur ein Localzeichen haben von etwas, das unter oder über dem Horizont liegt, er kann ein Localzeichen haben von etwas, das rechts, und von etwas, das links liegt, und da die Localzeichen, die von der- selben Oertlichkeit ausgehen, immer wieder analoge Punlvte der Netzhaut treffen, so orientirt er sich natürlicher Weise ganz eonsequent und ganz unbekümmert um sein umgekehi-tes Netzhautbild in der Eäumlichkeit der Aussendinge. Johannes Müller pflegte schon zu sagen, er begreife nicht, wie man von verkehrt sprechen könne da, wo einmal Alles um- gekehrt sei, da doch dann das Ki'iterium für das Aufrechte abhanden ge- kommen sei. Es fragt sich nun, wie kommt dieses umgekehi'te Netzhautbild zu Stande? Es kommt durch Brechung zu Stande. Die »Strahlen treffen erst die Oberfläche der Hornhaut; hier werden sie am stärksten ge- brochen, weil sie aus einem sehr dünnen Medium, aus Luft, in ein ver- hältnissmässig dichtes Medium, in die Substanz der Hornhaut übergehen. Dann werden sie ein zweites Mal gebrochen, indem sie aus der Horn- haut in den Humor aqueus übergehen, der einen niedrigeren Breelnings- index hat als die Hornhaut. Dann werden sie zum Einfallslothe gebrochen, wenn sie in die Linse übergehen, so lange sie in dichtere LinsenschichteTi übergehen, dann aber vom Einfallslothe, wenn sie wieder in die dünneren Schichten derselben gelangen und endlich aus der Linse herauskommen. Der Glaskörper hat in seiner Dichtigkeit ntir geringe Aenderungen, so dass man den Gang der Strahlen durch denselben als geradlinig betrach- ten kann. Wie soll man diese verschiedenen Brechungen der Rechnung unter- ziehen? Wir haben gewisse hergebrachte Formeln, welche uns erlauben, mit ziemlicher Leichtigkeit die Brennweite, die Ausdehnung der Bilder und die Eigenschaften der Bilder bei sphärischen Linsen zu untersuchen. Nun haben wir aber im Auge nicht mit sphärischen Linsen zu thun, son- dern mit lauter Botationsoberflächen und, wie wir später sehen werden, nicht einmal ganz reinen Rotationsoberfläehen, von Curven, die sich am meisten Curven zweiten Grades anschliessen. Wir können uns aber die Sache einigermassen vereinfachen, wenn wir nur Strahlen berücksichtigen, die ganz nahe der Axe einfallen, um welche wir uns die optischen Medien des Auges centrirt denken. Zu jeder Curve lässt sich ein Ea'eis finden, der sie an irgend einer Stelle berührt und sich an dieser Stelle möglichst langsam von ihr ent- fernt. Denken Sie sich, ich hätte an die betreffende Stelle einen berüh- renden Kreis an eine Curve a h (Figur 3G) angelegt, und dieser Kreis wachse fortwährend, bleibe aber dabei immer mit der Curve in Berührung (Figur 3G), so wird er eine Zeit lang bei seinem Wachsen sich noch Dioptiik des Anges. 179 immer nach innen von ihr entfernen, aber später, wenn sein Radius immer grösser wird, wird ein Punkt kommen, wo der Kreis nach aussen von der Curve liegt. Dazwischen muss aber irgend ein Kreis sein, der länger als alle übrigen mit der Curve in unmittcl- bai'er Berührung ist. Von diesem Kreise ^'^' ^^" sagt mau, dass er mit der Curve an dieser Stelle die Osculation der höch- sten Ordnung habe. Dieser Kreis lässt sich durch Rechnung finden. Denken Sie sich, ich hätte ihn gefunden, und ich drehe nun den Kreis und die Curve um die Senlcrechte in dem Berührungs- punkte als Axe, so werden dadurch eine Kugel und ein Rotationskörper entstehen, die sich berühren und da, wo sie sich berühren, was hier in eini- ger Ausdehnung stattfindet, identisch sind. Ich kann also für eine solche Oberfläche, die nicht nach einem Kreise gekrümmt ist, eine sphärische substi- tuircn, die durch die Rotation des Kreises erzeugt wird, der an dieser Stelle mit der Curve die Osculation von der höchsten Ordnung hat. Auf diese Weise kann ich, so lange es sich um Strahlen handelt, die ganz nahe der optischen Axe einfallen, anderweitigen Rotationsoberflächen sphärische substituiren. ISTun hat Gauss eine Rechnung entwickelt, ver- möge welcher man für jedes optische System , welches niu- sphärische Flächen hat, imd in dem die sphärischen Flächen alle um eine Axe cen- trirt sind, durch gewisse Gleichungen, in welche eingehen erstens die Krümmungshalbmesser der brechenden Flächen, zweitens der Abstand der brechenden Flächen von einander, drittens die Breehungsindices der an und zwischen den brechenden Flächen gelagerten Medien, den Ort von vier Punkten finden kann, die als der vordere und der hintere Brennpunkt und als der vordere und der hintere Hauptpunkt bezeichnet werden. "Wenn man diese vier Punkte berechnet hat, so kann man durch eine einfache Construction den Weg eines jeden Strahles nach seiner letzten Breclumg finden, wenn man den Weg dieses Strahles vor seiner ersten Brechung kennt. Diese Rechnung, die also im Wesentlichen die Lösung unseres Problems gibt, ist später von Helmholtz und dann noch von Victor V. Lang modificirt iind vereinfacht worden. Nehmen wir an, wir hätten ein beliebiges dioptrischcs System von n sphärischen Flächen, welche alle um die Axe OX centrirt sind, imd wh- hätten die vier Punkte gefunden. Der hintere Brennpunkt ist derjenige Punkt, in welchem sich alle Strahlen vereinigen, die mit der Axe OX parallel von links nach rechts einfallen; wir bezeichnen ihn mit F,. Ich lege mir nun durch denselben eine Ebene senkrecht auf die Axe imd nenne sie die hintere Brennpunktsebcnc. Nun kann ich mir aber auch denken, dass von der andern Seite des dioptri- sehcn Systems, von rechts nach links Strahlen parallel mit der Axe ein- fielen, dann werden sich diese in einem andern Punkte vereinigen, in dem vorderen Brennpunkte, den ich mit F bezeichne. Durch ihn lege ich mir eine Ebene senkrecht aiif die Axe und nenne diese Ebene die vordere 12* 180 Dioptrik des Auges. Brennpunktsebene. Dann denke ich mir, ich hätte ans den Gleichungen die beiden Punkte gefunden, die Gauss mit dem Namen des vorderen und hinteren Hauptpunktes bezeichnet. Den vorderen Hauptpunkt bezeichne ich mit E und lege durch denselben eine Ebene senkrecht auf die Axe, die vordere Hauptpunktsebene, den hinteren bezeichne ich mit E, und lege diu'ch denselben eine Ebene senkrecht auf die Axe, die hintere Haupt- punktsebene. Wenn mir jetzt irgend ein einfallender Strahl, z. B. der Strahl ab gegeben ist, und es soll sein Weg nach der letzten Brechung gefunden werden, so ziehe ich eine Parallele Fm mit diesem Strahle vom vorderen Brennpunkte aus bis zui* vorderen Hauptpunktsebene, dann ziehe ich eine Parallele zuv Axe von dem so gewonnenen Durchschnittspunkte m aus, bis ich zur hinteren Brennpunktsebene gelange. Damit habe ich einen der Punkte ermittelt, die ich brauche, ich habe den Punkt e gefunden, in welchem der Strahl nach seiner letzten Brechung die hintere Brennpunkts- Fig. 37. ebene schneiden wird. Um den "Weg des Strahles nach seiner letzten Bre- chung zu finden, ziehe ich von dem Durchschnittspunkte p, den er mit der vorderen Hauptpunktsebene hat, eine Parallele mit der Axe zur hin- teren Hauptpunktsebene, bezeichne den hier erhaltenen Dui'chschnittspuukt mit q und verbinde ihn mit dem früher gefundenen Durchschnittspunkte e durch eine gerade Linie: dann habe ich in ihr den Weg, welchen der Strahl nach seiner letzten Brechung nimmt. Ein jedes solches dioptrisches System hat nun aber noch zwei Punkte, welche eben so weit von einander entfernt sind wie die beiden Haupt- punkte, und dabei ebenso weit vom hinteren Brennpunkte entfernt sind, wie die beiden Hauptpunlde vom vorderen Brennpunkte. Diese beiden Punkte bezeichnen wir mit K und K^ und nennen sie den vordei'en und den hinteren Knotenpunkt. Wir legen durch jeden eine Ebene senkrecht auf die Axe, die vordere und die hintere Knotenpunktsebene. Diese beiden Punkte haben eine merkwürdige Eigenschaft, nämlich die, dass ein Strahl, der auf den ersten Knotenpunkt zielt, durch alle Brechungen, die er nach einander erleidet, schliesslich seine Richtung nicht geändert hat, sondern seiner ursprünglichen Kichtung parallel ist, aber um ein Stück längs der Dioptrik des Auges. 181 Axe verschoben, und dieses Stück ist nichts Anderes als die Entfernung der beiden Knotenpunkte von einander. Ich nehme also einen Strahl, der auf den vorderen Knotenpunkt zielt, ich will beispielsweise denjenigen nehmen, welcher dem früher betrachteten einfallenden Strahle ab parallel ist, hlc; so finde ich den "Weg desselben nach der letzten Brechung, wenn ich vom hinteren Knotenpunkte /i, aus eine Parallele mit ihm ziehe. Da E F = K, F, ist, so muss dieser Strahl in unserem Beispiele auch in e ankommen, wie wir dies auch gefunden haben würden, wenn wir seinen Weg nach der letzten Brechung mittelst der Hauptpunkte aufgesucht hätten. Alle Strahlen, welche unter sich parallel einfallen, müssen irgendwo in der hinteren Brennpunktsebene mit einander zur Vereinigung kommen, ebenso wie alle Strahlen, die der Axe parallel einfallen, sich im hinteren Brenn- punkte vereinigen. Wenn wir also im menschlichen Auge die Hauptpunkte oder die Knotenpunkte, ferner den vorderen und den hinteren Brennpunkt bestimmt hätten, so würden wir daraus eine Construction ableiten können, vermöge welcher wir mit Leichtigkeit, wenn wir irgend ein Object haben, das Netzhautbild dieses Objectes construiren können. ISTun haben wir aber da noch bedeutende Schwierigkeiten. Den Krümmungshalbmesser im Scheitel der Hornhaut können wir messen und ihr eine sphärische Oberfläche sub- stituiren. Ebenso am vorderen und hinteren Linsenpol. In der Tiefe der Linse aber kommen immer neue Curven, so dass wir den Krümmungs- halbmesser der Scheitel nicht mehr mit Genauigkeit messen können. Wir können auch die mittlere Dichtigkeit der Linse bestimmen, aber wir kennen nicht das Gesetz, nach dem von Schicht zu Schicht die Dichtigkeit zu- nimmt. Zudem ist die Anzahl der Schichten so gross, dass, wenn alle diese Schichten als einzelne Flächen in Berechnung gezogen werden sollten, man eine im höchsten Grade complicirte Rechnung erhalten würde. Um diese Schwierigkeiten zu überwinden, hat Listing dem wirk- lichen Auge ein schematisches substituirt, an dem man die Rechnung aus- führt. Dies schematische Auge erhält er folgendermassen. Er nimmt vorn eine sphärische Oberfläche an, welche den Krümmuiigshalbmesser mit dem Corneascheitel gemein hat. Da die Hornhaut nahezu wie ein in eine con- cave Form gedrücktes Planglas wirkt, so vernachlässigt er ihre Substanz ganz und nimmt an, dass hinter dieser brechenden Fläche ein Medium von dem Brechungsindex des Humor aqueus gelagert sei. In dem Abstände des vorderen Poles der Linse vom Corneascheitel nimmt er eine zweite, sphä- rische, brechende Fläche an, deren Krümmungshalbmesser dem des vorderen Poles der Linse entspricht, und am Orte der hinteren Linsenoberfläche nimmt er eine sphärische Fläche an, deren Ki'ümmungshalbmesser dem des hinteren Poles der Linse entspricht. Darauf folgt ein Medium von der Dichtigkeit des Glaskörpers. Das Normalauge ist im Zustande der Ruhe für die unendliche Ferne eingestellt; Listing muss also seine hintere Brennpunktsebene in der Ebene der Retina annehmen. Er muss aber schliesslich durch seine Rechnung herausbringen, dass die Strahlen, welche parallel unter sich einfallen, sich in dieser hinteren Brennpunktsebene ver- einigen. Das kann er nui-, indem er, wenn er dem Glaskörper seinen wirklichen Brechungsindex zuschreibt, der Linse einen höheren Brechungs- index gibt, als selbst ihr Kern hat. Auf Grundlage dieser Voraussetzungen fand Listing den vorderen Brennpunkt etwa einen halben Augendurch- messer vor dem Corneascheitel. Er fand die Hauptpunkte wenige Zehn- 182 Dioi^tiik des Auges. theile eines Millimeters von einander entfernt im Humor aqueus. Er fand endlich die Knotenpunkte gleichfalls nur wenige Zehntheile eines Milli- meters von einander entfernt in der Linse, und zwar nahe dem hinteren Pole derselben. Wir haben uns diese Punkte auf eine Linie aufgetragen, Ton der wir uns denken, dass die optischen Medien des Auges um diese Linie als Axe centrirt seien, und die wir deshalb die Augenaxe nennen. Wir werden später sehen, dass im strengen Sinne des Wortes diese Linie nicht existirt, weil das menschliche Auge thatsächlich nicht richtig centrirt ist. Diese Linie nun, die nur näherungsweise Eichtigkeit beansprucht, fällt auch nicht genau zusammen mit der Gesichtslinie, das heisst mit der geraden Linie, welche den fixirten Punkt mit dem Centrum der Fovea centralis retinae verbindet. Die Gesichtslinie weicht nämlich gegen die Nasenseite hin um einen bei manchen Augen grösseren, bei anderen ge- ringeren Winkel von dieser Axe ab. Es handelt sich also nun darum, ob diese so auf der Augenaxe ge- fundenen Punkte der Wirklichkeit entsprechen, ob man sie benützen kann, um Netzhautbilder zu construiren. Ueber die hintere Brennpunktsebene ist kein Zweifel da, wo es sich eben um das Normalauge handelt. Theoretische Betrachtungen lehren ausserdem, dass die Veränderungen, welche Listing an seinem schematischen Auge vorgenommen, kaum einen wesentlichen Einüuss auf die Lage des vorderen Brennpunktes ausüben. Es ist ferner auch nach dem ganzen Baue des Auges und nach den Brechungsindices, die darin vorkommen, zu erwarten, dass in der That die beiden Knoten- punkte und die beiden Hauptpunkte, jeder nm- um ein Geringes von ein- ander entfernt sein werden. Aber was sichergestellt werden muss, das ist die Lage der Knotenpunkte, weil diese uns immer als Anhaltspunkte dienen bei der Construction der Netzhautbilder. Es handelt sich darum: liegen die Knotenpunkte wirklich nahe dem hinteren Pole der Linse? Dies ist nun durch einen Versuch von Volkmann sichergestellt worden. Wenn man bei jugendlichen, schwach pigmentirten Individuen das Auge stärker nach aussen wenden lässt, und bringt dann in einem dunklen Zimmer eine Kerzenflammc nach der Schläfenseite hin, so rückt, wenn man diese von der Gesichtslinie immer weiter entfernt, das Netzhautbild natürlich ent- sprechend immer weiter nach vorwärts, und wenn das Auge stark nach aussen gewendet ist, kommt das Netzhautbild endlich in der Lidspalte zum Vorschein, indem es durch die schwach pigmcntirte Chorioidea und durch die Sclcrotiea hindurchscheint. Wenn man diesen Versuch macht, so hat man folgende Stücke: Erstens die Gcsichtslinie, in der man den Punkt hat, der fixirt wird, und ausserdem den Drehpunkt des Auges oder Mittel- punkt des Auges, was man hier als gleichbedeutend ansehen kann. Man hat zweitens den Ort der Kerzenflamme: diesen hat man willkürlich ge- wählt. Man hat ferner den Ort des Netzhautbildes als Gegenstand directer Beobachtung. Verbindet man Bild und Object mit einander durch eine gerade Linie, so findet man den Punkt, an dem diese Gerade die Gesichts- linie schneidet. Dieser Punkt aber muss zwischen den beiden Knoten- punkten des Auges liegen, er muss also den Ort der Knotenpunkte angeben. Dieser Versuch von Volkmann hat in der That gezeigt, dass Listing den Ort der Knotenpunkte richtig bestimmt hat. Listing hat seine Untersuchungen zuerst in den „Göttinger Studien" publicirt, dann hat er sie später noch einmal ausführlich und mit den ganzen dazu gehörigen Sclieiabare Grösse. 183 llechuungen, die jetzt die Grundlage aller dioptrischen Rechnungen sind, die sich auf das menschliche Auge beziehen, in dem Artikel ,,Dioptrik des Auges" in Kudolf Wagner 's Handwörterbuch der Physiologie nieder- gelegt. Wenn wir also die Grösse des Netzhautbildes von einem Objecte bestimmen wollen, so ziehen wir von dessen Endpunkten nach dem vor- deren Knotenpunkte gerade Linien, und mit diesen parallel ziehen wir gerade Linien vom hinteren Knotenpunkte ziu' Netzhaut, dann erhalten wir das JSTetzhautbild in seiner umgekehrten Lage und in seiner Grösse. Es verhält sich also jeder Durchmesser des Netzhautbildes zu dem ent- sprechenden des Objectes, wie sich verhält die Entfernung des Netzhaut- bildes vom hinteren Knotenpunkte zur Entfernung des Objectes vom vor- deren Knotenpunkte. Das ist der Satz, auf dem die ganze malerische Perspective beruht. Da nun diese beiden Knotenpunkte nur sehr wenig von einander entfernt liegen, so kann man für eine Menge praktischer Fragen ihre Ent- fernung von einander vernachlässigen und sie als in einen Punkt zusammen- fallend ansehen. Diesen Punkt bezeichnet man mit dem Namen des Kreu- zungspunktes der Schstrahlen, weil man ihn als Durchsehnittspunkt erhält, wenn man zwei oder mehrere Punkte des Objectes mit correspondircnden Punkten des Bildes durch gerade Linien verbindet. Scheinbare Grrösse, Es fragt sich nun: Was ist die scheinbare Grösse, Magnitudo appa- rens, der Gesichtsobjecte? Die scheinbare Grösse wächst natürlich mit dem Netzhautbilde. Je grösser das Netzhautbild wird, um so grösser erscheint uns ein Gegenstand. Die Grösse des Netzhautbildes ist aber abhängig von der Entfernung desselben vom hinteren Knotenpunkte und von der Grösse des Winkels, den ich erhalte, wenn ich von gegenüberliegenden End- punkten des Bildes gerade Linien zum hinteren Knotenpunkte ziehe: dieser Winkel ist aber kein anderer als der Winkel, welchen ich erhalte, wenn ich von den entsprechenden gegenüberliegenden Punkten des Objectes ge- rade Linien zum vorderen Knotenpunkte hinziehe. Da nun beim Sehen mit unbewaffnetem Auge die Knotenpunkte nui" wenig ihren Ort verändern — sie verändern ihren Ort bei der Accommodation, aber in verhältniss- mässig engen Grenzen — so ist im Grossen und Ganzen die scheinbare Grösse von diesem Winkel abhängig, welchen man mit dem Namen des Sehwinkels bezeichnet. Nun ist aber die Grösse des Nclzhautbildes nicht das einzige Mittel, wonach wir die Grösse der Gegenstände beui'theilcn. Wir begnügen uns damit niu* bei kleinen Gegenständen, die wii" mit einem Blicke übersehen. Wenn wir es aber mit grösseren Gegenständen zu thun haben, so durch- messen wir sie mit unseren Augen in ähnlicher Weise, wie der Astronom die Grössen am Himmel mit seinem Fernrohre diu'chmisst und ihre Ab- stände nach den Lagen bestimmt, die er demselben geben muss, um ein Object nach dem andern einzustellen. Hiebei dreht sich das Auge, indem es aus der Fixation des einen Endes des Gegenstandes in die des andern Endes des Gegenstandes übergeht, um eine Axe, und bei einer andern Bewegung wieder Tim eine andere Axe. Alle diese Axcn schneiden sich 184 Scheinbare Grösse. zwar nicht genau, aber näherungs weise in einem Punkte, und diesen nennen wir den Drehpunkt. Der Drehpunkt ist also derjenige Punkt im Auge, den man sich bei den verschiedenen Bewegungen desselben als ruhend zu denken hat. Dieser aber fällt weder mit dem vorderen, noch mit dem hinteren Knotenpunkte zusammen. Die scheinbare Grösse, der Winkel, den ich bei diesem Durchmessen erhalte, stimmt somit nicht genau mit dem überein, was ich früher als Gesichtswinkel bezeichnet habe. So lange die Objecto sehr klein sind, so lange ich es nur mit Punkten zu thun habe, die dem Fixationspunkte ganz nahe liegen, so lange wird diese Differenz nicht merklich; je mehr ich aber grössere Augenbewegungen mache, um so mehr wird dieser Unterschied merklich, und das ist, wenn auch keines- wegs der einzige, doch mit ein Grand für die mangelhafte Orientirung, welche wir im indirecten Sehen haben. Dass der Drehpunkt des Auges wirklich hinter den Knotenpunkten liegt, davon kann man sich durch einen einfachen Versuch überzeugen. Denken Sie sich, ich hätte ein Object (Fig. 38 a), und ich verdecke es, während ich es fixire, vollständig durch Fig. 38. a einen vorgeschobenen Schirm h c und wende jetzt mein Avige so, dass die Gesichtslinie von dem Eande des Schirmes, also auch vom Objecte ab- gewendet wird, die Lage von hg annimmt; so kommt das Object hinter dem Eande des Schirmes wieder zum Vorschein. Wie geht das zu? Das rührt daher, dass ich mit der Gesichtslinie auch die Knotenpunkte bewegt habe, und dass sie einen Kreisbogen m n beschrieben haben. Das Object a wird jetzt im indirecten Sehen gesehen, und wenn ich sein Netzhautbild finden will, so muss ich eine gerade Linie durch den sogenannten Kreuzungs- punkt der Sehstrahlen n ziehen, dann finde ich das Bild in a. Will ich das Bild des Schirmrandes c finden, so muss ich von diesem wieder eine gerade Linie durch n ziehen und finde dasselbe in ß. Da nun a dem Centrum retinae c näher liegt als ß, so kann a nicht mehr von b c verdeckt werden. Auf alle Fälle aber ist die scheinbare Grösse, mag ich sie bestimmen aus dem Netzhautbilde oder aus den Augenbewegungen, ein Winkelwerth, und sie kann nicht im Linearmasse ausgedrückt werden und auch nicht durch Vergleichung mit anderen Dingen, die mit Linearmass gemessen werden. Scheinbare Grösse. 185 Es ist gar nicht selten, dass man Laien miteinander streiten hört, wie gross man den Mond sehe. Der eine sagt, er sehe den Mond so grogs wie einen Fassboden, der andere sagt, er sehe ihn so gross wie einen Teller, der dritte sagt, er sehe ihn so gross wie einen Silbersechser. Die drei können sich natürlich nicht miteinander einigen, aber sie haben alle drei Recht. Denn es handelt sich nur darum, wie weit ich mir den Fassboden, den Teller oder den Silbersechser vom Auge entfernt vorstelle, um einen Winkelwerth herauszubringen, welcher gleich ist demjenigen der scheinbaren Grösse des Mondes. Ich muss hiebei bemerken, dass die Entfernung, in welcher wir der- artig entfernte Körper, wie den Mond, sehen, bei Weitem unterschätzt wird, und dass wir meist geneigt sind, das Bild des Mondes mit dem von verhältnissmässig grossen terrestrischen Dingen zu vergleichen, die wir uns unbewusst mehr oder weniger entfernt vom Auge vorstellen. Helmholtz bemerkt, dass auf dem blinden Flecke der Netzhaut, also auf der Eintritts- stelle des Sehnerven, eilf Vollmonde nebeneinander Platz haben. J. Plateau hat über das Unterschätzen der Entfernung des Mondes folgenden interessanten Versuch durch seinen Sohn anstellen lassen. Der letztere projicirte das Nachbild des Vollmondes auf eine Mauer und näherte oder entfernte sich, bis ihm das projicirte Nachbild ebenso gross erschien, wie ihm der Mond erschienen war. Seine Entfernung von der Mauer fand sich dann gleich 51 Meter. Er hatte also, als er den Mond ansah, diesen in einer Entfernung von nur 51 Metern vorgestellt. Eine nur theilweise erklärte Thatsache ist es, dass der Mond am Horizont uns immer grösser erscheint, als wenn er höher am Himmel steht. Natürlich kann dies nur daher rühren, dass wir die Entfernung des Mondes grösser schätzen, wenn er sich am Horizont befindet, als wenn er hoch am Himmel steht. Es fragt sich aber, wie das zu erklären sei. Man sagt, dass es davon herrühre, dass in dem unteren Theile der Atmo- sphäre mehr Dünste seien, und es Einem vermöge der stärkeren Wirkung der Luftperspective vorkomme, als ob der Mond entfernter sei. Es reicht aber diese Erklärung nicht ganz aus, denn bei terrestrischen Gegenständen unterliegt man ähnlichen Täuschungen. In meiner Heimat befand sich eine sehr hohe Stange, auf welche alljährlich ein Holzvogel gesteckt wurde, um darnach zu schiessen. Wenn dies geschehen sollte, wurde sie horizontal gelegt, und ich erinnere mich, dass mir der Vogel immer kleiner erschien, wenn sie aufgerichtet war, als ich ihn vorher vom Fussende der Stange aus gesehen hatte. Es scheint, dass man auch mitberücksichtigen muss, dass uns der Boden und die Gegenstände, die sich auf dem Boden be- finden, einen Anhaltspunkt für die Schätzung der Entfernung geben, und dass man die Entfermmg da mehr unterschätzt, wo Einem solche Anhalts- punkte nicht zu Gebote stehen. Dass die scheinbare Grösse ein Winkelwerth ist, das wird auch manchmal bei der Angabe der Vergrösserungen des Mikroskops vergessen. Man glaubt genug zu thun, wenn man sagt, dieses Linsensystem ver- grössert mit dem und dem Oculare fünfhundertmal. Das hat aber nur einen Sinn, wenn man eine bestimmte Entfernung zu Grunde gelegt, in welcher man sich das Object vor dem Auge vorstellt. Wenn ich sage : Der Gegenstand erscheint mir fünfhundertmal vergrössert, so hat das an und für sich keinen Sinn. Wenn ich aber sage, der Gegenstand erscheint löD Sclieinbaie Grösse. mir unter dem Mikroskope füufliiiudertmal so gross, als mir derselbe Ge- genstand erscheinen würde, wenn er sich vor dem. freien Auge und acht Pariser Zoll vom Corneascheitel entfernt befinden würde, so hat dies aller- dings einen Sinn. Pliemit hängt es zusammen, dass auch bei Zeichnungen bisweilen die Vergrösserung, in welcher die Zeichnung den Gegenstand darstellt, ganz incorrect angegeben wird. Der Mikroskopiker zeichnet seinen Gegenstand aus dem Mikroskop, „so wie er ihn sieht", wie er sich wohl ausdrückt. Dann nimmt er die Tabelle, die ihm der Optiker über die Vergrösserung mitgegeben hat, und sieht, bei welcher Vergrösserung er gezeichnet. Diese schreibt er als Vergrösserung seines Bildes dazu. Dabei findet man nun manchmal die gröbsten Incongruenzeu, wenn man die Vergrösserung wirk- lich in correcter Weise bestimmt, das heisst, wenn man einen bekannten Gegenstand in der Abbildung, z. B. ein Blutkörperchen durchmisst tmd dieses Mass mit der reellen Grösse des Blutkörperchens vergleicht. Man soll deshalb die Vergrösserung von Zeichnungen, wenn man sie überhaupt angibt, immer so angeben, dass man das Object mikrometrisch unter dem Mikroskope durchmisst und dann die Zeichnung misst. Die zuletzt ge- fundene Grösse dividirt man durch die zuerst gefundene : der Quotient ist dann die Zahl, mit welcher man die Vergrösserung bezeichnen muss. Wenn man für gewöhnlich nach dem Augenmasse die Durchmesser von Dingen angibt, so gibt man sie nicht in scheinbarer, sondern in wirklicher Grösse an, man gibt sie in linearem Maasse an. Man fällt ein Urtheil über die wirkliche Grösse, indem man einen unbewussten Schluss zieht aus der scheinbaren Grösse und aus der Entfernung, welche man dem Gegenstande zuschreibt. Dieser Schluss ist, wie gesagt, unbcwusst : derjenige, der schätzt, gibt sich keine Eechenschaft über die Entfernung des Gegenstandes und noch weniger über die scheinbare Grösse desselben. Wenn man einen Förster fragt: Wie dick ist der Baum, der da steht? so sagt er mit ziemlicher Genauigkeit : Er hat so und so viel im Durch- messer. Fragt man aber den erfahrensten Förster, wie gross der Seh- winkel sei, unter dem er diesen Baumstamm sieht, so wird er nicht im Stande sein, darüber aiTch nur die geringste Auskunft zu geben. Hiemit hängt es zusammen, dass auch die wirkliche Grösse der Dinge überschätzt oder unterschätzt wird, je nachdem man die Entfernung, in welcher sich die Gegenstände befinden, überschätzt oder unterschätzt. Nordländer, die in den Alpen reisen, unterschätzen anfangs alle Entfernungen. Es hängt das mit der grösseren Durchsichtigkeit der Luft zusammen. Mau kann nicht selten bemerken, dass sie mit der Grösse der Entfernung aiich im hohen Grade die Dimensionen der Gegenstände unterschätzen. Ich habe einmal an einem unserer Gebirgsseen zwei Reisende darüber streiten hören, was denn der rothe Fleck am anderen Ufer des Sees sei. Der eine meinte, es sei ein rothes Tuch. Der andere meinte, es sei ein Zeichen von rothangestrichenen Brettern, das sich die Fischer gemacht hätten. In Wahrheit aber war dieser rothe Fleck nichts Anderes als ein Lager von rothem Gestein mit einem quadratischen, zu Tage liegen- den Querschnitte, der vielleicht das Zwaiizigfache von dem Areale hatte, welches ihm der Ileisende zuschrieb, indem er es mit einem rothen Tuche verglich. Sehweite und Accoramodation. 187 Sehweite und Aceommodation. Wir haben jetzt das Auge immer so betrachtet, als ob es für die unendliche Ferne eingestellt wäre, denn wir haben die hintere Brenn- punktsebene in die Netzhaut selbst verlegt. Da wir nun aber nähere Gegenstände willkürlich deutlich sehen und dann wieder deutlich fernere Gegenstände, so ist es klar, dass wir unser Auge für verschiedene Ent- fernungen einstellen können. Es fragt sich nun zunächst, ist das Auge im Zustande der Ruhe für den fernsten Punkt eingestellt, für welchen es sich überhaupt einstellcu kann, oder flu* einen nähern? Was geschieht, wenn ein Gegenstand dem Auge so nahe gerückt wird, dass die Strahlen nicht mehr auf der Netzhaut, sondern hinter der Netzhaut ziu* Vereinigung kommen, wie z. B. die Strahlen, welche in Figur 39 von h ausgehen und sich in &, vereinigen, während die Strahlen, diB von a ausgehen, sich in a, auf der Netzhaut vereinigen? Hier geht die Netzhaut diu'ch einen Lichtkegel, und der Dui'chschnitt dieses Licht- kegels wii'd auf der Netzhaut als eine Scheibe erscheinen. Diese be- zeichnen wii" mit dem Namen des Zerstreuungskreises. Wenn wir eine Menge von Punkten haben, so werden die Zerstreuuiigskreise theil- "SS'-^-^h. weise einander decken und dadiu'ch das Sehen undeutlich machen. Legen wir vor das Auge einen Schii'm c d, in dem sich eine kleine OeflFnung befindet, so kann von dem ganzen Strahlenkegel, der von b ausgeht, niu- ein sehr dünnes Strahlenbündel hindiu'chtreten, und dieses wird auch mu" einen sehr kleinen Zerstreuiuigskreis geben können. Wir werden daher Gegenstände, die unserem Auge zu nahe sind, als dass wir sie deutlich sehen könnten, wenn sie anders gut beleuchtet sind, noch deutlich sehen dadiu-ch, dass wir sie durch eine kleine Oeffnung betrachten. Dasselbe ist der Fall, wenn der Gegenstand zu fern für das Aiige liegt. Wenn z. B. ein Kiu'zsichtiger auf die Gegenstände der Landschaft sieht, so vereinigen sich die Strahlen vor der Netzhaut, wie die Strahlen p 11 und qm in Figur 39 sich in e vereinigen: sie divcrgircn hierauf, man erhält auf der Netzhaut einen Durchschnitt (r s) des divergirenden Lichtkegels, also wieder einen Zei'streuungskreis. Auch diesen kann man durch eine sehr kleine Oeffnung auf ein Minimum reduciren. Ich kann deshalb einem Kurzsichtigen die Landschaft auch ohne Brille, Avenn sie nur gut beleuchtet ist, deutlich zeigen, dadurch, dass ich durch eine Yisitenkarte mit einer Nadel ein Loch steche und ihn dieses vor das Auge bringen lasse. löö Accommodation. Scheiner's Versuch. Denken Sie sieh, ich hätte statt der einen Oeffnung, welche sich im Schirme befindet, zwei solche, die so nahe bei einander liegen, dass die Strahlenbündel, welche durch beide hindurchgehen, gleichzeitig durch die Pupille ins Auge gelangen können. Ich hätte nun einen Gegenstand, der so weit vom Auge entfernt ist, dass alle Strahlen, welche von ihm ins Auge gelangen, auf der Netzhaut zur Vereinigung kommen. Dann werden auch die beiden Strahlenbündel, welche durch die beiden Löcher hindurchgehen, auf der Netzhaut zur Vereinigung kommen, ich werde also von diesem Gegenstande ein Bild haben. Denkt man sich aber, die Ebene der Netzhaut läge vor dem Vereinigungspunkte der Strahlen, so würde ich den Gegenstand nicht einfach, sondern doppelt sehen, denn ich würde zwei Bilder von jedem seiner Punkte haben, wovon das eine dem einen, das andere dem anderen Loche angehörte. Das würde also geschehen, wenn ich einen Gegenstand in einer Entfernung diesseits des deutlichen Sehens hätte. Ich denke mir nun, ich hätte einen Gegen- stand in einer Entfernung jenseits des deutlichen Sehens. Es sei das beobachtende Auge ein kurzsichtiges, und ich hätte einen Gegenstand in eine grössere Entfernung gebracht , so dass die Netzhaut hinter dem EJreuzungspunkte der Strahlen liegt. Dann werden die beiden Strahlen- bündel sich vor der Netzhaut schneiden, und wenn sie dieselbe treffen, schon divei'giren. Ich werde also von dem einen Gegenstande wiederum zwei Bilder haben. Dieser Versuch ist unter dem Namen des Scheiner'schen Versuches bekannt. Er bietet uns ein Hilfsmittel dar, um zu finden, für welche Entfernung ein Auge eingestellt ist. Ich stelle einen solchen Schirm mit zwei Oeffnungen auf und sehe durch dieselben nach einem kleinen, gut beleuchteten Gegenstande und nähere und entferne ihn so lange, bis die beiden Bilder vollständig in eines zusammenfallen. Auf diesen Scheiner'schen Versuch begründete schon Young ein Optometer, ein Instrument, um prak- tisch die Sehweite des Auges zu bestimmen. Derartige Optometer werden heutzutage wenig mehr gebraucht, weil wenigstens die Augenärzte bessere Hilfsmittel haben, um sich von der Sehweite eines Individuums zu über- zeugen. In Wien ist das Young' sehe Optometer bei den Optikern da, wo es sich noch findet, in einer Form in Gebrauch, die ihm Stampfer gegeben hat. Es sind an demselben statt der beiden Löcher zwei parallele Spalten vorhanden, und durch diese wird nach einem dritten gleichgerichteten Spalt gesehen, der vor einem matten Glase aufgestellt ist, damit man ihn leichter gieichmässig beleuchten kann, und damit er weniger Veranlassung zu Beu- gungserscheinungen gibt. Dieser Spalt kann mittelst eines Getriebes entfernt und genähert werden, indem er in einer Eöhre angebracht ist, die sich in einer andern verschiebt, welche an ihrem vorderen Ende die beiden erstgenannten Spalten trägt. Damit man nun aber schon innerhalb einer endlichen Entfernung den Fernpunkt jedes Auges erhält, das heisst den fernsten Punkt, für den es sich einstellen kann, so ist hinter der Doppelspalte eine Sammellinse angebracht, durch welche jedes Auge, das hindujchsieht, in Rücksicht auf den dritten Spalt in ein kurzsichtiges verwandelt wird. Auf der inneren Eöhre selbst ist bei den Theilstrichen die Brennweite der Brillengläser angegeben, welche man dem zu geben hat, der für den bezüglichen Theilstrich einstellt. Den Scheiner'schen Versuch nun hat Volkmann benützt, um nach- zuweisen, dass das menschliche Auge im Zustande der Euhe für seinen Sclieiner's Versuch. Accommodation. 189 Fernpunkt eingestellt ist. Er stellte ihn so an, dass er durch zwei Oefi'- nungen auf einen weissen Faden sah, welchen er über einem dunklen Grunde so aufgespannt hatte, dass sich derselbe perspectivisch sehr stark verkürzte. Von diesem Faden musste er einen Theil einfach sehen, den Theil, der in der Entfernung seines deutlichen Sehens lag. Die näheren und entfernteren Partien aber musste er doppelt sehen. Er musste also den Faden als zwei helle Linien sehen, die sich unter einem spitzen Winkel kreuzen. Er fand nun, dass, wenn er das Auge yorher geschlossen hatte und, dasselbe öffnend, durch beide Löcher auf den Faden blickte, er immer die Kreuzungsstelle in einer solchen Entfernung sah, dass er dieselbe nicht willkürlich weiter hinausschieben konnte, wohl aber durch willkürliche Accommodation, durch willkürliches Einstellen seines Auges, weiter heranziehen. Die Einstellung des Auges für die Nähe muss darin bestehen, dass wir das Auge in der Weise verändern, dass Strahlen, welche im ruhen- den Auge erst hinter der Netzhaut zur Vereinigung gekommen wären, auf der Netzhaut zur Vereinigung kommen. Es fragt sich: Auf welche Weise kann dies bewerkstelligt werden? Dies könnte erstens dadurch be- werkstelligt werden, dass der Krümmungshalbmesser des Corneascheitels kleiner wird. Dann müssten gleich nach der ersten Brechung die Strahlen stärker convergiren, sie würden sich also früher vereinigen. Zweitens kann es dadurch geschehen, dass der Krümmungshalbmesser am vorderen oder am hinteren Pole der Linse oder an beiden kleiner wird: denn, da die Linse dichter ist als der Humor aqueus und der Humor vitreus, so würde dies auch eine Verkürzung der Brennweite des Systems nach sich ziehen. Es könnte weiter aiich dadurch geschehen, dass die Linse nach vorne rückt, und endlich dadurch, dass die ßetina nach hinten ausweicht und somit in eine Ebene hineingelangt, in welcher sich Strahlen vereinigen, die sich hinter ihr vereinigten, als sie sich in ihrer gewöhnliehen Euhelage befand. Wenn man nun diese verschiedenen Hilfsmittel für die Accommo- dation einzeln durchnimmt, so lehrt zunächst die Erfahrung, dass die Hornhaut den Krümmungshalbmesser ihres Scheitels beim Sehen in die Nähe und in die Ferne durchaus nicht verändert. Das Spiegelbild, welches ein Fenster oder eine Flamme auf der vorderen Fläche der Cornea gibt, ist überaus deutlich : man kann es mit Leichtigkeit mit einem Fernrohre beobachten. Zwei solche Flammenbilder müssten sich einander nähern, wenn der Krümmungshalbmesser der Cornea kleiner würde. Das ist aber durchaus nicht der Fall. Alle A^ersuche stimmen darin überein, dass die Lage und die Grösse der Flammenbilder unverändert bleibt und mithin die Cornea ihren Krümmungshalbmesser nicht ändert. Anders verhält es sich mit der Linse. Die Linse gibt zweierlei Spiegelbilder, solche von der vorderen Fläche und solche von der hinteren Fläche. Diese Bilder sind fast gleichzeitig und unabhängig von einander von Kramer und von Helmholtz untersucht worden, und Beide haben gefunden, dass zwei Bilder, welche der vorderen LinsenHäche angehören, sich beim Sehen in die Nähe einander nähern, beziehungsweise, wenn nur ein Bild beobachtet wird, dass sich dieses eine Bild verkleinert. Die vordere Linsenoberfläehe wird also convexer, und die Beobachtung der Bilder von der hinteren Oberfläche zeigt, dass auch diese convexer wird. 190 Accomtnodation. Es fragt sich dabei, ob die Linse auoli ihren Ort verändert. Um dies zn tintersucheu, hat Helmholtz ein eigenes Instrument construirt, das Ophthalmometer, mit welchem er die Entfernung des Scheitels der Cornea vom vorderen und hinteren Pole der Linse bestimmen konnte. Bei diesen Untersuchungen fand er, dass der hintere Pol der Linse seinen Ort nicht verändert, dass aber der vordere Pol etwas nach vorn rückt, dass also die Linse dicker wird. Auf welche Weise kommt diese Formveränderung der Linse zu Stande ? Wir sehen, dass die Accommodation gelähmt wird, wenn die Muskeln des inneren Auges gelähmt werden. Wir sehen erstens, dass die Accommodation bei Oculomotoriuslähmungen aufgehoben ist; da sind aber auch die äusseren Augenmuskeln gelähmt. Dann sehen wir aber auch, dass, wenn wir einem Auge Atropin einträufeln, wodurch nur innere Augenmuskeln gelähmt werden, das Auge dauernd für seinen Eernpunkt eingestellt wird. Wir haben also den Tensor chorioideae und die Muskel- fasern der L'is, zunächst den Sphineter pupillae, zu berücksichtigen. Wenn der Tensor chorioideae sieh zusammenzieht, so verkleinert er eine Ober- fläche, die nach vorn durch die Hornhaut, nach hinten durch die Cho- rioidea und die in ihr liegende Retina begrenzt ist. Er muss also die Chorioidea mit der in ihr liegenden Eetina um den Glaskörper anspannen, beziehungsweise den Theil der Chorioidea, an den er sich zunächst in- serirt, nach vorn ziehen. Die Folge davon ist, da dieser Theil an der Zonula Zinnii befestigt ist, dass auch die Zonula mit nach vorn gezogen wird, und somit die Zonula Zinnii und speciell der Theil, der sich an die Linse ansetzt, der von den Ciliarfortsätzen zur Linse geht, erschlafft wird. Dieser Theil aber hat früher einen peripherischen Zug an der Linse ausgeübt, der jetzt iiachlässt, so dass die Linse in eine andere Gleichgewichtsfigur übergeht, dass sie nach voi'n und hinten eonvexer und damit auch dicker wird. Diese Accommodationstheorie ist in neuerer Zeit durch die Versuche, welche Hensen an Hunden und Katzen und auch an einem Affen an- gestellt hat, zur vollen Evidenz gebracht worden. Erstens hat er durch directe Reizung der Ciliarncrven die Accommodation hervorgebracht. Zwei- tens hat er sich auch überzeugt, dass die ausgeschnittene Hundelinse der- jenigen Gestalt entsprach, welche sie im Auge hat, wenn das Auge für die Nähe aecommodirt ist. Damit, dass die Accommodation durch diese Formveränderung der Linse hervorgebracht wird, hängt es auch zusammen, dass sie im Alter verloren geht. Die jugendliche Linse ist nachgiebig, verändert ihre Form sehr leicht, die alte Linse aber ist widerstandsfähiger, sie behält deshalb, es mag der Zug der Zonula an ihr ausgeübt werden oder nicht, ihre Form bei oder ändert sie doch nur wenig, und das ist der Zustand, den wir mit dem Namen der Presbyopie, des Gesiehtsfehlers der Alten, be- zeichnen. Presbyopie ist nicht Weit- oder Uebersichtigkeit, nicht der Gegensatz von Kurzsichtigkeit, denn alte Leute können kurzsichtig sein und doch presbyop! scli, indem ihr Auge ebenso stabil für eine geringe Entfernung eingestellt ist, wie das von Greisen, die in ihrer Jugend Normalaugen gehabt haben, für die unendliche oder doch für eine sehr grosse Entfernung eingestellt ist. Fragen wir uns weiter, ob auch die Muskeln der Iris bei der Ac- commodation irgend eine Rolle spielen. Die Iris verengert sich, wie wir Accomniodation. luL früher gesehen haben, etwas bei der Aecommodation fiü* die Nähe. "Wenn der Sphincter und Dilatator pupillae sich gleichzeitig zusammenziehen, so müssen sie die Iris, wenn sie nicht in einer Ebene liegt, wenn sie einen abgestumpften Kegel bildet, in eine Ebene bringen. Man hat deshalb, indem man der Meinung war, dass die Iris nach vorne kegelförmig oder kuppeiförmig ausgebaucht sei, geglaubt, dass diu'ch die gleichzeitige Con- traction des Sphincter und Dilatator pupillae ein Druck auf die Linse aus- geübt werde. Dadiu'ch bilde sich an der vorderen Oberfläche der Linse und in der Pupille eine kleine Kuppe. In der That findet man in den Augen von Leichen nicht selten Liiisen, an denen eine solche Kuppe zu sehen ist, so dass man glauben könnte, die Linse habe in der That hier oftmals einen Druck auf einer ringförmigen Zone erlitten. Der verstorbene Pro- fessor V. Vi veno t hat, als er als junger Mann hier im Institute arbeitete, viele Linsen in Gyps abgegossen, und an diesen Gypsabgüssen war auf Querschnitten nicht selten diese kuppenartige Hervorragung an der vor- deren Fläche zu sehen. Andererseits muss man sich aber sagen, dass keineswegs immer die Iris nach vorne voi'gebaucht ist, sondern dass sie nur kegelförmig vorgeschoben ist in gewissen Augen und bei bedeutender Verengerung der Pupille, indem dann ihr Hand auf der convexen vorderen Fläche der Linse nach vorne schleift. Zweitens muss man sich sagen, dass bei der Schwäche der Muskeln der Iris und bei dem geringen Werthe der Componente, welche bei der gleichzeitigen Zusammenziehung des Sphincter und des Dilatator pupillae für unsern Druck zur Wirkung kommt, derselbe jedenfalls ein sehr geringer sein muss, so dass man ihm kaum einen irgendwie in Betracht kommeiTdcn Einfluss auf die Gestalt der Linse zitschreiben kann. Helmholtz hat durch Rechnung gezeigt, dass die Gestaltveränderung, die die Linse bei der Aecommodation erleidet, hinreicht, um diejenige Ae- commodation hervorzubringen, welche sich bei dem betreifenden Individuum thatsächlich vorfindet. Es muss aber dennoch die Frage erörtert werden, ob CS ausser der Gestalt und Lageveränderung der Linse noch andere Accommodationsmittel gebe. Die Hornhaut haben wir schon besprochen und haben gesehen, dass wir mit dieser nicht accommodiren. Es bleibt mu" noch die Netzhaut übrig. Es fragt sich, ob die Netzhaut bei der Aecommodation zurückrückt. Hierüber sind die Ansichten verschieden. Alle stimmen darin überein, dass Augen, aus denen die Linse beseitigt worden ist, wie dies bei der Staaroperation geschieht, nicht etwa blos in einer Ebene deutlich sehen, sondern dass sie auch annäherungsweise ebenso deutlich in einer etwas geringeren oder grösseren Entfernung sehen. Die Art, wie dies erklärt wird, ist eine verschiedene. Die Einen führen es darauf zurück, dass an und für sich schon nicht alle Strahlen, welche von einem leuchtenden Punkte ausgehen, bei vollkommener Einstellung des Auges wieder in einen Punkt der Netzhaut versammelt werden. Wenn man zugleich in Betracht zieht, dass vermöge der im Auge angebrachten Blendung, der Pupille, die Lichtkegel, die auf die Netzhaut stossen, ver- hältnissmässig kleine Winkel liaben, so erhellt, dass nach der einen xinä der andern Seite hin der Durchmesser der Zerstreuungskreise anfangs sehr langsam wächst. Die Individuen mögen es deshalb nicht bemerken, ob ein Gegenstand etwas diesseits oder jenseits der Ebene liegt, für welche ihr Auge eingestellt ist. Sie mögen auch etwas diesseits und etwas jen- 192 Accominodation, seits dieser Ebene die Gegenstände mit annähernd gleicher Deutlichkeit sehen. Andere dagegen sind der Meinung, dass solche linsenlose Augen wii'klich noch eingestellt werden, und zwar dadurch, dass die Eetina beim Sehen in die Nähe, wenn auch nur um ein Geringes zurückweicht. Wie kann das geschehen? Das kann man sich theoretisch etwa folgender- massen zurechtlegen. Wir haben gesehen, dass sich die Sclerotica in ihrer Gestalt bald mehr einem EUipsoid annähert, das dm*ch Umdrehung einer Ellipse um ihre kleine Axe entstanden ist, bald melir einem EUipsoid, das durch Umdrehung einer Ellipse um ihre grosse Axe entstanden ist. Im. ersten Falle nun kann man sich allerdings denken, wie es zugehen kann, dass die Eetina beim Sehen in die Nähe zurückweicht. Denken Sie sich, der Tensor chorioideae spannt sich an, so sucht er dabei eine geschlossene Oberfläche zu verkleinern, die einerseits dxu'ch die Cornea gebildet wird und andererseits durch die Chorioidea und die in ihr lie- gende Eetina. Diejenige Gestalt, welche bei gleichem Inhalte die kleinste Oberfläche hat, ist die Kugel. An der Cornea kann dieser Zug nichts ändern und ändert factisch nichts, das weiss man aus directer Beobachtung. Es wäre aber möglich, dass das EUipsoid der Sclerotica sich mehr der Kugelform annähert, und dass dadurch die Retina etwas nach hinten zurückweicht. Die Wirkung des Tensor chorioideae könnte noch durch die Wirkung der Augenmuskeln unterstützt werden : denn die geraden Augenmuskeln ziehen, am vorderen Theile der Sclera angeheftet, diesen nach hinten. Die schiefen Augenmuskeln drehen das Auge. Da sie aber am hinteren Theile der Sclera angeheftet sind, und die Insertion des Obliquus inferior und die Trochlea weiter nach vorn liegen, so ziehen sie, wenn sie gleichzeitig wirken und somit ihre drehenden Componenten ein- ander eompensiren, die hintere Hälfte der Sclerotica nach vorn. Wirken also die geraden und schiefen Augenmuskeln zusammen, so muss die Eolge davon sein, dass die Scleroticalsphäre sich mehr der Kugelform annähert. Allerdings könnte dies nichts helfen bei den hochgradig kurzsichtigen Augen. In den Eällen von hochgradiger, angeborner Kurzsichtigkeit, wo das Auge eine ungewöhnliche Tiefe hat und die Sclerotica sich der Ge- stalt eines EUipsoids annähert, das durch Umdrehujig einer Ellipse um ihre grosse Axe entstanden ist, da müsste das gerade Gegentheil nach derselben Betrachtungsweise stattfinden. Kun weiss man aber anderer- seits, dass gerade bei diesen Augen sich mit der Zeit der hinterste Theil der Sclerotica kuppeiförmig nach hinten ausbaucht und so der Zustand bedingt wird, welchen man mit dem Namen des Staphyloma posticum bezeichnet. Man weiss weiter, dass durch Accommodationsanstrengungen oder, vorsichtiger gesprochen, dass durch die dauernde Fixation naher Gegenstände die Entwickelung dieses sogenannten Staphyloma posticum befördert wird, und das ist dahin gedeutet worden, dass bei der Accom- modation in die Nähe die Betina nach hinten auszuweichen suche, kann aber auch erklärt werden durch die Annahme, dass die stärkere Con- vergenz der Gesichtslinien Bedingungen mit sich führe, welche zur Ent- wickelung des Staphyloma posticum Veranlassung geben. Dies sind die Gründe, welche sich für und gegen die Accommodation durch Zurück- weichen der Betina anführen lassen. Ich muss hinzufügen, dass Donders nach seiner Erfahrung den Best von wahrer Accommodation, der so erklärt werden soll, gänzlich leugnet, das heisst, er leugnet, dass das Auge, Chromasie des Auges. 193 nachdem die Linse entfernt worden ist, noch willkürlich und wechselnd verschieden entfernte Gegenstände verschieden deutlich sehen könne. Es fragt sich nun weiter : Gibt es in der That keine Accomnioda- tion für die Ferne? Dui'ch den Volkmann' sehen Versuch haben sieh nicht Alle vollständig befriedigt erklärt. Namentlich Kui-zsichtige sagen, dass sie auf kurze Zeit in die Ferne deutlicher sehen können als gewöhnlich, nur müssen sie dabei eine Anstrengung machen, die sie auf die Dauer nicht fortzusetzen vermögen. Wenn man nun beachtet, was die Kui*z- sichtigen thun, wenn sie in die Ferne sehen wollen, so wird man be- merken, dass sie den Orbicularis palpebrarum zusammenziehen, dabei aber durch den Levator palpebrae superioris die Lidspalte offen erhalten, so dass sie eine verkleinerte Lidspalte haben, und mit dem Orbicularis pal- pebrarum einen Druck auf die Cornea ausüben. Es scheint, dass sie auf diese Weise durch momentane Abflachung der Cornea, vielleicht auch da- durch, dass sie auf der Oberfläche derselben einen Flüssigkeitsmeniscus zu Stande bringen, ihr Auge für kurze Zeit für eine grössere Entfernung einstellen. Es ist dies aber jedenfalls ein Act, der mit der inneren Accom- modation, wie wir sie behufs der Einstellung des Auges für die Nähe kennen gelernt haben, nicht verglichen werden kann. Mängel des dioptrischen Apparates. Chromasie. Bis jetzt haben wir immer angenommen, dass das Auge, wenn es einmal genau eingestellt ist, alle Strahlen, welche von einem deutlich gesehenen Punkte kommen, auch wieder auf einen Punkt der Netzhaut vereinige. Das erleidet aber bedeutende Einschränkungen. Zunächst werden im Auge, wie überall, die Strahlen von kurzer Wellenlänge stärker ge- brochen als die Strahlen von grösserer Wellenlänge. Letztere werden sich deshalb voraussichtlich später vereinigen. Bei unseren künstlichen, aus Glas gebildeten optischen Instrumenten vermeiden wir diesen Uebelstand dadurch, dass wir eine Sammellinse von Crownglas mit einer Zerstreuungs- linse von Flintglas verbinden. Der Brechungsindex von Flintglas ist aller- dings höher als der des Crownglases, aber das Farbenzerstreuungsvermögen des Flintglases ist beinahe doppelt so gross als das des Crownglases, und dadurch wird es möglich, dass wir zwei solche Linsen zusammensetzen können, die mit einander noch eine Sammellinse bilden und die doch die rothen und die violetten Strahlen in einer und derselben Entfernung ver- einigen. Es geschieht dies dadurch, dass die Zerstreuungslinse von Flint- glas, indem sie eben stark genug ist, die ganze Farbenzerstrciiung auf- zuheben, welche durch die Crownglaslinse bedingt wird, nur einen Theil der gesammten Ablenlcung wieder aufhebt, welche die einzelnen Strahlen durch die Crownglaslinse erlitten haben. Es sei Figur 40 A die Crown- glaslinse, B die Flintglaslinse, O der Lichtpunkt und x' der Vereinigungs- punkt der von diesem ausgehenden Strahlen, so bezeichnet 0 K einen auf- fallenden Strahl gemischten Lichtes. Der weitere Weg desselben nach der ersten Brechung ist für die Strahlen von der grössten Wellenlänge Brücke. Vorlesungen.il. 4. Aufl. 13 194 Chromasie des Auges. ausgezogen, für die Strahlen von der kleinsten Wellenlänge punktirt dar- gestellt. Die Möglichkeit dieser achromatischen Combinationen wurde zu- erst von Euler dargethan, und von Dollond in London wurden die ersten achromatischen Objective ausgeführt. Kg. 40. Es fragt sich nun : Ist das Auge auch nach diesem oder nach irgend einem andern Principe achromatisirt, und zwar in der That in so voll- kommener Weise, dass die brechbarsten und die am wenigsten brechbaren Strahlen sich wirklieh in einer und derselben Entfernung hinter der Linse vereinigen? Wir wissen durch die Untersuchungen von Fraunhofer, dass letzteres nicht der Fall ist. Wollast on hatte im Sonnenspectrum eine Reihe dunkler Linien aufgefunden, und mit der Untersuchung dieser Linien beschäftigte sich später Fraunhofer. Vermöge seiner vortrefflichen optischen Instrumente entdeckte er noch eine grosse Anzahl schwächerer Linien, die der Beobachtung von Wollaston entgangen waren. Alle diese Linien im Spectrum werden jetzt nach Fraunhofer mit dem Namen der Fraunhofer' sehen Linien bezeichnet. Bei diesen Arbeiten bemerkte er, dass er sein achromatisches Fernrohr verstellen musste, wenn er die Linien im ßoth beobachtet hatte und nun zur Beobachtung der Linien im Gelb, Grün, Blau übergehen wollte. Da er wusste, dass sein Fernrohr achro- matisch sei, so schloss er daraus, dass sein Auge nicht achromatisch sein könne, und dies zeigte sich auch in der That. Man kann auch mit an- deren Hilfsmitteln, z. B. dadurch, dass man Theilungen mit verschieden- farbigem Lichte beleuchtet, oder die Theilungen auf verschiedenfarbigen Gläsern einritzt, zeigen, dass das Auge jedesmal weitsichtiger ist für die rothen Strahlen und kurzsichtiger ist für die blauen und violetten, weil eben im Auge die kurzwelligen Strahlen stärker gebrochen werden als die langwelligen. Man kann auch die Farbenzerstreuung für das Auge sichtbar machen, wenn man ein Netzwerk aus weissen Fäden in einer solchen Ent- fernung ansieht, dass die Fäden vermöge der gebildeten Zerstreuungskreise nicht mehr scharf gesehen werden ; dann findet man die Ränder der Faden- bilder farbig. Warum sieht man für gewöhnlich von dieser Farbenerseheinung nichts? — Die Zerstreuung ist keine so bedeutende, dass die Farben des Spectrums vollständig von einander getrennt würden. Bei dem eben er- wähnten Versuche sieht man nur blaue und gelbrothe oder rothgelbe Säume. Nun sei in Figur 41 oa ein. weisser, ab ein gelber, ac ein blauer Strahl, so würden von der andern Seite gleichfalls zwei Strahlen kommen a, b und a, c,. Wenn die Netzhaut zwischen dem Vereinigungspunkte für die violetten Strahlen und dem für die rothen Strahlen liegt, so schneidet sie an einer Stelle durch, an der die langwelligen Strahlen, die von der einen Seite kommen, auf die kurzwelligen fallen, die von der andern Seite Polyopia TnonopMlialmica. 195 kommen, und umgekehrt. Nun ist, wie gesagt, die Farbenzerstreuung zu gering, als dass die Farben vollständig von einander getrennt wären, sie beschränkt sich daratif, dass man auf der einen Seite mehr Gelbroth Fig. 41. und auf der andern mehr Blau hat. Fallen also die Strahlen von beiden Seiten her übereinander, so compensiren sich die Farben und heben ein- ander auf. Wenn aber die lletina entweder durch den Vereinigungspunkt der violetten Strahlen oder durch den der rothen fällt, dann ist dies nicht der Fall, und deshalb sehen wir die farbigen Säume an Gegenständen, für welche das Auge nicht eingestellt ist. Ferner, wenn wir mit einem Gegenstande unsere halbe Pupille verdecken, so sehen wir sofort an weissen Gegenständen, die sich auf dunklem Grunde absetzen, farbige Säume, weil wir nun die Compensation aufheben, indem wir die Strahlen, die durch die eine Hälfte des Auges gehen, abblenden. Von der Verminderung der Sehschärfe, welche die Farbenzerstreuung des normalen Aiiges bedingt, merken wir für gewöhnlich nichts. Dass sie dennoch vorhanden ist, davon kann man sich in folgender Weise über- zeugen. Man wählt auf die Seite 176 beschriebene Art zwei gleich helle farbige Gründe, z. B. ein rothes und ein blaues Papier, von denen das eine, sagen wir das rothe, nur Farben von wenig verschiedener Wellen- länge, etwa nur Farben bis zu den Z) -Linien ziirückgibt, das andere aber Strahlen aus allen oder fast allen Theilen des Spectrums. Nun projiciren wir auf beide ein schwarzes Gitter und suchen den kleinsten Gesichts- winkel, unter dem wir die Stäbe desselben unterscheiden. Wir werden finden, dass das Unterscheidungsvermögen bei Anwendung des rothen Grun- des besser ist. Jetzt mischen wir beide Farben auf optischem Wege, so dass wir di'ei gleich helle Gründe erhalten, einen rothen, einen purpur- farbenen und einen blauen. Wir werden jetzt finden, dass das Unter- scheidungsvermögen auf dem purpurfarbenen Grunde noch schlechter ist als auf dem blauen. Dieser Versuch zeigt zugleich, dass man das Unter- scheidungsvermögen nicht allgemein als Mass für die Helligkeit einer Beleuchtung anwenden kann, sondern nur für gewisse praktische Zwecke. Polyopia monoplitlialmiea. Der Mangel an Achromasie ist niclit die einzige Un Vollkommenheit des optischen Apparates des Auges. Bekanntlich gibt es an unseren künst- lichen Instrumenten noch eine zweite Unvollkommenheii, welche wir mit dem Namen der sphärischeii Aberration bezeichnen. Wenn auf eine Linse 13* 196 Astigmatismus. mit sphärischen Oberflächen von irgend einem Punkte ans Strahlen fallen, so kommen die Strahlen, welche durch den Eandtheil einfallen, früher zur Vereinigung als diejenigen, welche durch die Mitte einfallen. Das hängt folgend ermassen zusammen. Wenn ich Strahlen, die von einem Punkte ausgehen, durch eine Brechung unter sich parallel machen will, so brauche ich dazu eine hyperbolische Oberfläche, den Scheitelabschnitt eines Hyper- boloids. Will ich diese parallelen Strahlen wieder in einen Punkt ver- einigen, so muss ich eine zweite hyperbolische Oberfläche dazu verwenden. Ich vereinige also alle Strahlen, die von einem Punkte ausgehen, wieder in einen Punkt durch eine biconvexe Linse mit hyperbolischen Oberflächen. Nun sehen Sie leicht ein, dass, wenn wir diesen Scheitelabschnitten von Hyperboloiden Kugeloberflächen substituiren , die in den Scheiteln mit ihnen zusammenfallen und Osculationen der höchsten Ordnung mit ihnen haben, diese Kugeloberflächen um so mehr nach innen zu von den hyper- bolischen Oberflächen abweichen, je mehr ich mich von der Axe entferne, und folglich fallen die Strahlen, die weiter von der Axe entfernt einfallen, immer schiefer auf, haben einen grösseren Einfallswinkel und werden also stärker abgelenkt, als sie abgelenkt werden müssten, wenn sie sich mit den gegenüber liegenden correspondirenden in demselben Punkte vereinigen sollten, in dem sich zwei der Axe ganz nahe einfallende Strahlen ver- einigen. Sie werden sieh früher vereinigen. Speeiell auf diese Art der Abweichung, das heisst auf die sphärische Aberration, haben wir im menschliehen Auge nicht zu rechnen, weil im Auge sphärische Oberflächen nicht vorkommen. Daraus folgt aber nicht, dass nicht anderweitige Abweichungen wegen Gestalt der Oberflächen im Auge vorkommen, auch solche, die von der Textur der Medien, speeiell von der Textur der Linse herrühren. Man kann sich in der That über- zeugen, dass selbst Strahlen monochromatischen Lichtes, die von einem letichtenden Punkte ausgehen, auch wenn derselbe in die Entfernung des deutlichen Sehens gebracht worden ist, dennoch nicht genau in einen Punkt vereinigt werden. Wäre dies der Fall, so müssten solche leuch- tende Punkte, dem durch die Pupille kreisförmig begrenzten Strahleukegel entsprechend, einfach kreisscheibenförmige Zerstreuungskreise geben, wenn sie diesseits und jenseits der Grenzen des deutlichen Sehens gebracht werden. Das ist aber nicht der Fall : sie geben eine grössere Anzahl von sieh theilweise deckenden Bildern nebeneinander und übereinander, die man noch einzeln von einander unterscheiden kann. Diese Erschei- nung bezeichnet man mit dem Namen Polyopia monophthalmiea. Sie kann eine physiologische sein, indem sie sich auf das gesunden Augen gemein- same Mass beschränkt, und eine pathologische, wenn sie dieses über- sehreitet und ungewöhnliche Gesiehtserscheinungeu verursacht. Astigmatismus. Eine Unregelmässigkeit in der Gestalt der Oberflächen , die den Augenarzt ganz besonders interessirt, ist der sogenannte Astigmatismus. Wir haben bis jetzt die brechenden Oberflächen im Auge als ßotations- oberflächen angesehen, als Oberflächen, die durch Umdrehung einer Curve um ihre Axe entstanden sind. Das sind sie aber im strengen Sinne des Astigmatismus. 197 Wortes nicht, und spceicll ist es die Hornhaut nicht. In der Regel ist der Ba'ümmungshalbmesser der Hornhaut im verticalen Durchschnitt etwas kleiner als der Krümmungshalbiuesser der Hornhaut im horizontalen Durch- schnitt. Dies bedingt den sogenannten normalen oder physiologischen Astigmatismus. Indem die vertieal divcrgircnden Strahlen früher zur Vereinigung kommen als die horizontal divergirenden Strahlen, gibt es keinen einzelnen Punkt, wo das Lichtbündel, welches repräsentirt ist durch den Lichtkegel der convergirenden und durch den darauf gesetzten der divei'girenden Strahlen, am dünnsten ist; sondern es gibt eine Strecke, in der es näherungsweise gleich dünn ist, wo also die Zerstreuungski'eise sehr wenig wachsen, wenn die Retina etwas nach vorn oder nach hinten zurückweicht. Dies ist, was Sturm mit dem Namen Intervalle vocal be- zeichnet hat. Sturm wollte aus dem normalen Astigmatismus die ganze Accommodation für verschiedene Sehweiten erklären oder vielmehr hinweg erklären. Er sagte: Das Auge braucht gar keine Accommodation, es ist vermöge dieser Asymmetrie der Oberflächen um die Axe schon von vorne- herein so eingerichtet, dass es in verschiedenen Entfernungen deutlich sieht. Es ist hinreichend dargethan, dass zwar das Intervalle focal exi- stirt, aber ausserdem noch eine Accommodation durch Gestaltveränderting der Linse. Das Intervalle focal erklärt nur die Accommodationsbreite, oder richtiger die Breite des deutlichen Sehens, welche übrig bleibt, wenn die Linse aus dem Auge entfernt worden ist. Der Astigmatismus kaun anomal sein durch die Richtung, insofern als die Ebene der kürzesten Vereinigungs- weite nicht nur die verticale Ebene, iTud die Ebene der grössten Ver- einigungsweite nicht - die horizontale Ebene ist. Es kann aber auch un- gewöhnlich sein durch seinen Grad, und zwar in solcher Weise, dass dadiu'ch das Sehen wesentlich beeinträchtigt wird. Der Astigmatismus war schon Thomas Young bekamit, der ihm selbst in bedeutendem Grade unterworfen war. Ebenso der königliche Astronom Airy, der dui'ch Astigmatismus wesentlich am deutlichen Sehen gehindert wurde und ihn deshalb mit einer Cylinderlinse corrigirte. Sie sehen leicht ein, dass, wenn ich eine Convexcylinderlinse so vor das Auge lege, dass die Axe der Cylinderfläche in der Ebene der kürzesten Vereinigungsweite liegt, ich dadurch die Asymmetrie des Auges compen- siren kann. Ich kann machen, dass die horizontal und die vertieal diver- girenden Strahlen sich in einer und derselben Entfernung vereinigen. Das ist zu thun, wenn das astigmatische Auge weitsichtig ist ; ist es aber kurzsichtig, dann werde ich eine Concavcylinderlinse vor das Auge setzen und hicmit den Astigmatismus eorrigiren, indem ich nun die Axe der Cylinderfläche in die Ebene der grössten Vereinigungsweite verlege. Ich kann auch, wenn die Cylinderlinse noch nicht den Accommodationsfehler in der wünschenswerthen Weise corrigirt, sie noch mit einer sphärischen Sammel- oder Zerstreuungslinie combiniren. Die ausgedehntesten Arbeiten über den Astigmatismus hat Donders gemacht, und seitdem ist auch die Lehi'c von demselben und die Art und Weise, wie man ihn ermittelt und corrigirt, allgemein in die Augenheilkunde übertragen. Ein bedeu- tender Grad von Astigmatismus wird schon merklich, wenn man zwei unter rechtem Winkel gekreuzte Linien dem Auge nähert und wieder entfernt. Man findet dann, dass nicht beide gleichzeitig imdeutlich und nicht gleichzeitig deutlich werden. Deutlicher noch tritt der Einfluss der 198 Mangelhafte Centrirung. Eichtung an Figur 42 hervor, und noch deutlicher an Figur 43, weil sich hier grauschimmernde Sectoren bilden, da, wo die Kreislinien auf- hören scharf begrenzt zu sein. Fiff. 12. Fig. 43. Wandtafeln zur Untersuchung des Astigmatismus sind von 0. Becker angegeben. Mangelhafte Centrirung. Der optische Apparat des Atiges hat noch einen andern Fehler, er ist nicht richtig centrirt. Wenn ich ein »System von optischen Medien habe, welche alle genau um eine Axe centrirt sind, so werden, wenn es nicht achromatisch ist, die Vereinigungspunkte für die verschiedenfarbigen Strahlen, die von einem Punkte der Axe ausgehen, zwar nicht zusammen- fallen, aber sie werden alle in der Axe liegen, zuvorderst der für die violetten Strahlen, dann der für die blauen und zuletzt der für die rothen Strahlen. Wenn aber ein solches System nicht richtig centrirt ist, dann werden auch diese Vereinigungspunkte nicht in solcher Weise liegen, son- dern das ganze System wird sich wie eine Linse verhalten, an die ein Prisma angesetzt ist. Die Strahlen, die in der Axe der ersten brechen- den Fläche eingefallen sind, werden sämmtlich aus derselben abgelenkt werden, und die Bilder von Punkten in der Axe werden ausserhalb der Axe liegen. Da der Brechimgsindex der Medien für kurzwellige Strahlen ein grösserer ist als für langwellige Strahlen, so werden auch die kurz- welligen Strahlen mehr abgelenkt werden, und in Folge davon wird die seitliche Ablenkung für die Bilder eine verschiedene sein. Wenn wir nachweisen können, dass sich auch im menschlichen Auge eine ähnliche Erscheinung beobachten lasse, so geht daraus mit Sicherheit hervor, dass das menschliehe Auge nicht richtig centrirt ist, wenigstens nicht um die Gesichtslinie, wenn wir die Erscheinung im direeten Sehen wahrnehmen. Um nun dies zu beobachten, klebt man ein rothes Papier zwischen zwei blaue und schneidet aus dieser Zusammenstellung schmale Streifen, so dass sich in der Mitte ein rothes Stück und zw beiden Enden ein blaues befindet. Nun hält man einen solchen Streifen in einiger Entfernung gegen einen möglichst dunklen Grund. Es ist klar, dass das rothe Stück etwas verbreitert erscheinen muss, wenn man ihn in eine solche Ent- fernung bringt, dass das Auge genau für die blauen Stücke eingestellt ist, und umgekehrt, wenn man den Streifen so weit entfernt hält, dass das Auge für das rothe Stück eingestellt ist, die blauen verbreitert erscheinen. Kefractionsanoraalien. 199 Wäre das Auge genau centrirt, dann müssten zwar die Stücke ungleich breit sein, aber in einer Linie liegen, das lieisst das breitere Stück müsste nach beiden Seiten symmetrisch über das schmalere hinübergreifen. Dies ist aber nicht der Fall, sondern sie weichen, bei dem einen Auge mehr, bei dem andern weniger, seitlich aus, und zwar sind die Richtungen, in denen sie ausweichen, bei den verschiedenen Augen verschieden. Daraus geht hervor, dass das menschliche Auge nicht um die Gesichtslinie cen- trirt ist, und wenn man bedenkt, dass die Farbenzerstreuung nur ein Bruchtheil von der ganzen Ablenkung ist, welche die Strahlen erfahren, denn sie ist ja nur die Differenz zwischen der Ablenkung der kurzwelligen und der langwelligen Strahlen, so bemerkt man, dass dieser Mangel an Centrirung bei den meisten Augen keineswegs ein unbedeutender ist. Refractions- und Accominodationsanoinalien. Wir haben bis jetzt im Allgemeinen von solchen Augen gesprochen, welche im Ziistande der Ruhe für die unendliche Ferne eingestellt sind. Diese Augen pflegt man mit dem Namen der emmetropischen oder nor- malen Augen zu bezeichnen. Normale AiTgen nennt man diese Augen deshalb, weil sie in der Jugend die vortheilhaftesten und brauchbarsten sind, weil man mit ihnen in der unendlichen Ferne deutlich sehen kann und auch so weit für die Nähe aecommodiren, dass man feine Schrift lesen, feine Arbeiten ausführen kann ii. s. w. — Wenn man aber das ganze Leben überblickt, so muss man sagen, dass diese Augen keineswegs die vortheilhaftesten sind, welche man haben kann, namentlich nicht für einen Gelehrten, und nicht für Jemanden, der auf feine, im Kleinen aus- zttführende Arbeiten angewiesen ist. Diese Augen werden bereits im mittlereii Lebensalter dadurch, dass sie an Accommodationsvermögen ver- lieren, für die Nähe unbrauchbar. Man blicke auf umstehende Tafel, welche die Sehweite des emmetropischen Auges in den verschiedenen Lebensaltern nach Dondcrs darstellt. Oben stehen die Lebensjahre, links die Entfernungen, pp ist die Linie, welche den Veränderungen des Nahe- punktes in den verschiedenen Lebensaltern folgt, r r die Linie für den Fernpunkt. Das Auge kann im zehnten Lebensjahre bis auf eine Ent- fernung von 22/3 Zoll aecommodiren. Die Accommodation des Kindes ist demnach eine ausserordentliche. In späteren Jahren aber nimmt dieses Accommodationsvermögen rasch ab. Schon mit 23 Jahren aecommodirt das Normalauge nur noch auf 4 Zoll, mit 40 Jahren nur noch auf 8 Zoll, und vor Anfang der fünfziger Jahre weicht der Nahepunkt auf 12 Zoll zurück, also auf eine Entfernung, in der man schon recht feine Arbeiten nicht mehr gut vornehmen kann und feine Schrift niu- noch mit An- strengung liest. Für diese Entfernung wird jetzt schon die ganze Ac- commodationsanstrengung, die man ntir für kurze Zeit erträgt, gebraucht, während der Jüngling für diese Entferming noch mit einem Bruchthcile seiner Accommodation ausreichte. Es miTss bemerkt werden, dass dies noch keineswegs die ungünstigsten Fälle sind, bei denen das Normalauge gegen Ende der vierziger Jahre seinen Nahepunkt 12 Zoll entfernt hat; es kommt vor, dass die Accommodation noch rascher verloren geht und der Nahepunkt in diesem Alter schon bis nahe auf 24 Zoll hinausgerückt ist. Nach späteren Untersuchungen von Dondcrs stellt sich sogar das 200 Refractionsan omal i en . Mittel ungünstiger, als es die Tafel zeigt, indem der Nahepunkt rascher hinausrückt und die Accommodationsbreite alter Leute etwas überschätzt worden ist. Mit 60 Jahren ist er nach unserer Tafel normal auf mehr als 24 Zoll hinausgerückt, eine Entfernung, in der man nur noch grosse Schrift lesen kann, und in der es ganz unmöglich ist, feinere Arbeiten auszuführen. Später rückt er hinaus Isis in die unendliche Ferne und kann im hohen Alter bis über die unendliche Ferne hinausgerückt sein, das heisst das Auge bringt dann häufig nur noch schwach convergirende Strahlen zur Vereiniguns. Fig. 44. 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 1 : 2 2V5 2^3 3 33/, 4 6 8, 12 24 oo 24 12 8 6 iV5 Um das fünfzigste Jahr herum oder früher wird also ein normales Auge einer Brille bedürfen. Es bedarf natürlich einer Convexlinse, die die Strahlen weniger divergirend macht, so dass Strahlen, die sonst erst hinter der Netzhaut zur Vereinigung gekommen wären, nun in derselben zur Vereinigung kommen. Eine andere Frage ist es, wie früh soll man einem solchen Pres- byopischen eine Brille geben. Dies soll man dann thun, wenn er findet, dass er nicht mehr wie sonst dauernd und ohne Anstrengung ohne Brille lesen kann. Bei den Laien herrscht ein Vorurtheil gegen die Brillen. Sie sagen, wenn sie einmal eine Brille nehmen, so müssen sie dann zu immer stärkeren übergehen. Sie Avollten ihr Auge nicht verwöhnen u. s. w. Dass die Betroffenen eine immer stärkere Brille nehmen müssen, ist 1 X \ V \ \^ \ \, - \ \ ^ \. s 'Ss ^ r ^^ JL .r — 1 Kefiaotionsanomalien. ^Ul richtig: das rührt aber nicht von der Brille her, sondern davon, dass die Leute immer älter werden. Dui'ch den Gebrauch der Brille wird man der unnützen Anstrengungen, die man behufs Accommodation zu machen genöthigt ist, überhoben; schon hierin liegt ein Vortheil und überdies braucht man nicht mehr die Objecte in so grosser Entfernung vom Auge zu halten, erhält dadurch und dm-ch die Wirkung, welche das Brillenglas selbst auf die Lage des hinteren Knotenpunktes ausübt, grössere Netzhaut- bilder und erzielt somit einen Gewinn, dem gegenüber man sich den Lichtverlust durch die zweimalige Reflexion am Brillenglase gefallen lassen kann. iNicht selten kommt es vor, dass solche Presbyopische, die längere Zeit gewöhnt waren, in grösserer Entfernung zu lesen, wenn sie eine Brille bekommen und die Objecte dem Auge nun näher halten als früher, sich beklagen, dass die Brille sie anstrenge, dass sie Schmerzen in der Supra- orbitalgegend, Schwindel bekommen, dass sie schliesslich doppelt sehen u. s. w. Das rührt davon her, dass sie gewohnt waren. Alles in grösserer Entfernung zu betrachten und daher sich entwöhnten, ihre Gesichtslinien stärker convergiren zu lassen. Jetzt, wo sie wieder stärker convergiren sollen, macht ihnen die Contraction der Recti interni Anstrengung, ver- ui'sacht ihnen Ermüdung und die oben erwähnten Besehwerden. Diesem kann man dadurch, dass man die Brillen nicht eentrirt, abhelfen. Wenn mau vor jedes Auge ein Prisma von kleinem Winkel legt, so dass die brechenden Kanten der Prismen nach der Schläfenseite gewendet sind, also die dicken Seiten der Prismen nach der Nasenseite, so ist es klar, dass die Strahlen, die zu den beiden Augen von einem näheren Punkte kommen, durch die Prismen so abgelenkt werden, als wenn sie zu den Augen von einem entfernteren Punkte kämen. Wenn ich mir also diese Prismen mit Sammellinsen vereinigt denke, so kann ich mit einer Con- vergenz der Sehaxen, die sonst niu- für fernere Objecte geeignet ist, nähere Objecte einfach sehen. Eine solche Vereinigung eines Prismas mit einer Linse ist sehr leicht herzustellen. Man braucht nur ein Glasstück convex schleifen zu lassen, gross genug, um zwei Brillengläser daraus zu machen, dieses in der Mitte durchzuschneiden und jede der beiden Hälften in Form eines Brillenglases abzurunden. Dann erhält man zwei prismatische Convexgläser. Ich brauche es auch nicht gerade so zu machen. Wenn ich den Winkel des Prismas bei gleicher Brennweite der Linse kleiner haben Avill, kann ich die Brillengläser etwas grösser schleifen, als ich sie an- wenden will, und aus diesen etwas grösser geschliffenen Brillengläsern nicht das mittlere Stück, sondern ein excentriseh liegendes verwenden. Diese Stücke lege ich nun wieder so an, dass sie mit der dicken Seite gegen die ISTasenseite, mit der dünnen gegen die Schläfenseite gewendet sind; dann habe ich wieder Gläser, die mir den Dienst einer Vereinigung von Prismen und Linsen leisten, sogenannte prismatische Gläser. Sie sind von ausgedehnter Anwendung, weil die Eälle, in denen dauernde Con- traction der Interni nicht ertragen wird, nicht blos bei Presbyopen, sondern auch bei anderen Individuen gar nicht selten vorkommen. Man bezeichnet diesen Zustand als Insufficenz der Recti interni. Sic sehen leicht ein, dass ein wesentlicher Nachtheil daraus ent- stehen muss, wenn umgekehrt die Brillengläser in der Weise mangelhaft eentrirt sind, dass die dünnere Seite derselben nach der Nasenseite, die dickere nach der Schläfenseitc liegt, dass also die Gesichtslinie nach innen 202 Refiactionsanomalien. von der Axe des Brillenglases fällt. In diesem Falle müssen die Recti interni stärkere Anstrengungen machen als im normalen Zustande, und dies führt noch einen anderen JSTachtheil mit sich. Der Tensor chorioideae hat wie der Sphincter pupillae Mitbewegung mit dem Rectus internus. Wenn also der Rectus internus stärker zusammengezogen wird, so ist damit auch eine unwillkürliche Accommodationsbewegung und somit eine ganz unnöthige Anstrengung für das Auge gegeben. Nach der Tafel Figui- 44 verändert sich aiTch der Fernpunkt in den späteren Jahren, so dass er über die unendliche Ferne hinausgeht. Das Auge bringt also, wenn auch der ISTahepunkt im späten Alter sozusagen die Grenze der Unendlichkeit überschreitet, nur noch Strahlen zur Ver- einigung, die convergent auf das Auge fallen. Das ist nun beim Normal- auge nicht immer der Fall. Es lässt sich über den Gang des Fernpunktes Fig. 45. 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 22/ " In 2=^/3 3 33/, 4 6 8 12 24 oo 24 I ^v I nichts Sicheres angeben. Manchmal geht der Ferupunkt über die unend- liche Ferne hinaus, manchmal bleibt er in der unendlichen Ferne, manch- mal wird er etwas herangezogen. Leute, bei denen letzteres statt hat, sehen im Alter in einer bestimmten endlichen Entfernung vollkommen scharf, so wie sie in ihrer Jugend gesehen haben, während sie in der un- endlichen Ferne nicht so scharf wie früher sehen. Diese Fälle gehören zu den Seltenheiten und kommen vielleicht nur bei Augen vor, die vor- herrschend mit nahen Gegenständen beschäftigt waren. Ein Auge, das im Zustande der Ruhe nicht mehr für die unend- liche Ferne, sondern für irgend eine endliche Entfernung eingestellt ist, nennen wir ein kurzsichtiges. Bei dieseni müssen wir nach Donders drei Arten unterscheiden, die nicht allein durch den Grad der Kurzsichtigkeit, sondern auch durch die Veränderungen, die die Kurzsichtigkeit in den verschiedenen Lebensjahren erleidet, von einander abweichen. Das erste ist das stationär kurzsichtige Auge. (Figur 45 gibt ein Bild seiner Lei-. Ucfnictionsanoinalien. 203 stungen.) Es ist im Zustande der Iliihe in der Kindheit, auf eine Entfer- nung von 24 Zoll eingestellt und kann bis auf 2^5 accommodiren. Das Accommodationsv ermögen nimmt natürlich mit den Lebensjahren ab. Im Alter von 40 Jahren kann ein solches Auge noch auf 6 Zoll accommodiren und in einem Alter von 60 Jahren noch auf 12 Zoll, während das nor- male Auge in diesem Alter ntir noch auf 24 Zoll accommodiren kann. Ein Individuum mit solchen Augen kann also im Alter von 60 Jahren gewöhnliche Schrift noch ohne Brille lesen. In den früheren Lebensjahren brauchte es beim Lesen und Schreiben bei Weitem nicht so grosse Accom- modationsanstrengungen wie der Normalsichtige, sondern nur einen Bruch- theil seiner Accommodation. Das sind deshalb die unverwüstlichen Augen, die Nächte hindurch arbeiten, ohne davon besonders angestrengt zu werden. Fig. 46. 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 2 2V3 3 33/, 4 4V5 6 8 12 24 00 24 V ! ^ ■^ ^ K \ -- — — \ \l V s^ A y r" "~"™ 1 ^.' / i T^ / 1 !" i ^ Das sind ferner die Augen, die im Alter insofern die besseren Dienste leisten, als sie für das Sehen in die Nähe länger als Normalaugen ohne Brille gebraucht werden können. Ein anderes Auge, schon weniger beneidenswerth, ist das zeitlich progressiv kurzsichtige Auge, wie es Donders nennt. Das ist (wie Figur 46 zeigt) von vorneherein mit einem höheren Grade von Kurzsichtigkeit be- haftet. Der Fernpunkt liegt in der Kindheit zwischen 8 und 12 Zoll und es kann atif 22/j, Zoll accommodirt werden. Der Nahepunkt nähert sich noch im mittleren Lebensalter zwischen 20 und 30 Jahren, aber auch der Fernpunkt ; das Auge wird also kurzsichtiger. In einem Alter von 30 Jahren kann das Auge auf keine viel grössere Entfernung als etwa 5' Zoll eingestellt werden. Die Accommodation nimmt im zunehmenden Alter fortwährend ab, so dass zuletzt eine bleibende Sehweite von 5 bis 6 Zoll entsteht. Begreiflicher Weise ist ein solches Auge nicht nur un- brauchbar zum Sehen in die Ferne, sondern auch schon ungüustiü; für das 204 Refractionsanomalien. Sehen in die Nähe. In so geringer Entfernung kann meist nicht mehr dauernd und ohne Anstrengung binoculär gesehen werden, weil man die Recti interni zu stark contrahiren muss, um noch von beiden Augen in einer solchen Entfernung einfache Bilder zu haben. Das bleibend progressiv kurzsichtige Auge ist das schlechteste von allen. Es ist das kurzsichtigste schon in der Jugend, der Fernpunkt liegt nach dem von Donders gegebenen Schema (s. Figur 47) zwischen 6 und 8 Zoll, der Kahcpunkt bei 2%i Zoll. Der Nahepunkt rückt noch heran in den Jünglingsjahren, später rückt er hinaus mit schwindender Accom- modation. Der Fernpunkt rückt mit zunehmenden Jahren heran. Er ist mit 60 Jahren auf 2'Y3 Zoll herangerückt und nähert sich dann allmälig Fig. 47. 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 2 2V3 3 33/, 4 6 8 12 24 oo — 1:24 p ^x X 'v -£ 1 ■ x^ ^ / / / ^ noch mehr. Dies sind die Augen, in denen sich Staphyloma posticum und Gesichtsschwäche in Folge beginnender Netzhaut-Atrophie ausbildet, und die häufig im hohen Alter ganz erblinden. Ausser diesen verschiedenen Formen von Kurzsiehtigkeit, die Folgen des Baues des Auges, der Krümmungshalbmesser der brechenden Flächen und der Länge der Augenaxe sind, gibt es noch eine erworbene Kurz- sichtigkeit, oder richtiger eine angewöhnte Kurzsichtigkeit. Diese beruht darauf, dass Leute, die schon in ihrer Jugend viel in der Nähe arbeiten, Gymnasiasten, die viel Texte mit kleiner Schrift lesen, Stickerinnen, die sehr feine Arbeiten machen, zuletzt das Vermögen verlieren, ihren Accom- modationsapparat vollständig zu entspannen. Sie lassen ihr Auge dauernd für die Nähe eingestellt, sie wissen nicht mehr, wie sie es machen sollen, um ihr Auge so weit für die Ferne einzurichten, dass sie es für den wahren Fernpunkt, der der Gestalt der optischen Medien und der Tiefe des Auges entspricht, einstellen. Refractionsanomalien. 20d Es fragt sich, was soll man mit einem kurzsichtigen Auge thun? Mit was für einer Brille soll man ihm nachhelfen? Es ist gelehrt worden, man solle ein kurzsichtiges Auge auf ein normales Auge eorrigiren, mit anderen Worten, man solle ihm dauernd ein Brillenglas vorlegen, das mit seinem Auge zusammen ein optisches System bildet, welches im Zustande der Ruhe des Auges für die unendliche Ferne eingestellt ist. Diese Lehre ist nicht zu rechtfertigen; denn ich verwandle dauernd ein kurzsichtiges Auge in ein Normalauge, während es in meiner Macht steht, das kurz- sichtige Auge nur zeitweise in ein Normalauge zu verwandeln, nur dann, wenn es als Normalauge gebraucht werden soll, wenn es eben in der un- endlichen Ferne deutlich sehen soll. Ich kann also allerdings einem kurz- sichtigen Auge eine Brille geben, die sein Auge auf ein normales Auge oder doch nahezu auf ein normales Auge corrigirt, aber nur zu dem Zwecke, die Brille zum Sehen in die Ferne zu gebrauchen. Braucht Jemand eine Brille, um in einer bestimmten endlichen Entfernung genau zu sehen, so gibt man ihm eine Brille, die sein Auge so weit corrigirt, dass sein Fern- punkt in dieser Entfernung liegt. Hat z. B. ein Schulknabe in einem Ab- stände von 5 Schuh auf die Tafel zu sehen, so gibt man ihm eine Brille, mit der sein Auge im Zustande der Ruhe, das heisst bei möglichst ent- spanntem Accommodationsapparat, in einer Entfernung von 5 Schuh deut- lich sieht. Man muss sich aber hüten, dem Patienten zu empfehlen, diese Brille auch beim Lesen und Schreiben zu gebrauchen, man muss ihm im Gegentheil sagen, dass er sie dazu jedesmal ablegen müsse. Man ladet ihm ja durch eine solche Brille beim Lesen und Schreiben eine ganz unnütze Accommodationsanstrengung auf, die er sich ohne Weiteres ersparen kann. Nun gibt es aber Kurzsichtige, die ohne Brille die Objecto so nahe halten müssen, dass sie sie nicht mehr einfach sehen. Diesen kann man zum Sehen in der Nähe eine schwächere Zerstreuungsbrille geben, die ihr Auge so weit corrigirt, dass [nunmehr der Fernpunkt etwa bei 9 bis 12 Zoll liegt. Dann werden sie ohne oder mit nur geringer Accommodations- anstrengung mit derselben lesen und schreiben können. So lange aber die Kurzsichtigkeit nicht einen sehr hohen Grad er- reicht, ist es gar nicht nöthig eine Zerstreuungslinse zu geben, man kann viel einfacher helfen. Ich gebe eine Zerstreuungslinse, damit der Patient das Buch weiter vom Auge entfernt halten könne. Sie hat für ihn den Naehthcil, dass die Lichtintensität, wie dies bei jeder Brille der Fall ist, wegen der Reflexionen an den beiden Flächen der Gläser geschwächt wird. Ausserdem hat er kleinere Netzhautbilder, als er sie haben würde, wenn er nicht durch Zerstreuungsgläser sähe. Diesen letzteren Nachtheil vermeide ich, wenn ich statt der Zerstreuungslinsen plane Prismen vor das Aiige lege. Ich gebe Brillen, in welche statt der Linsen Prismen eingesetzt sind, mit der dicken Seite gegen die Nase, mit der dünnen gegen die Schläfe gewendet. Diese bringen die Strahlen so zu beiden Augen, als ob sie von einem entfernteren Punkte kämen. Nun kann der Patient das Buch so nahe bringen, wie er es zum Sehen mit seinen kurzsichtigen Augen nöthig hat. Er braucht jetzt nicht mehr die Gesichtslinien so stark convergiren zu lassen und hat dabei die grossen Netzhautbildor seines kurzsichtigen Auges. Ich habe diesen Versuch an einem jungen Manne gemacht, der behauptete, binoculär nicht ohne Brille lesen zu können. Er fand, dass er diu'ch eine solche Brille besser und mit weniger Anstren- 206 Eefractionsanomalicn. gung las, als durch, eine Zerstreuungsbrille. Er konnte später die Brille weglegen und auch mit blossen Augen binoculär lesen. Ich halte es aber für besser, die Brille beizubehalten. Denn wenn es später dahin kommt, dass der Patient auch ohne Brillen binoculär lesen kann, so muss er doch eine stärkere Anstrengung der Interni und wegen der Mitbewegung, die zwischen llectus internus und Tensor chorioideae besteht, eine Accommo- dationsanstrengung machen, die vermieden wird, wenn er sich dauernd dieser Prismen bedient. Man kann sich indessen bei höheren Graden von Kurzsichtigkeit gezwungen sehen, Zerstreuungsgläser auch für die Nähe zu geben, weil es namentlich beim Schreiben lästig ist, das Auge dem Papier sehr nahe bringen zw müssen. Dann ist es von Wichtigkeit, dass diese so gestellt sind, dass die Gesichtslinie in keinem Falle nach aussen von der Axe der Linse fällt, sondern dass sie etwas nach innen von der Axe zu liegen kommt. Würde die Gesichtslinie nach aussen von der Axe der Linse durchgehen, so würde die Zerstreuungslinse vor dem Auge prismatisch wirken in einem solchen Sinne, dass nun eine grössere Convergenz der GesJchtslinien noth wendig wäre als bei genau centrirter Linse. Wenn dagegen die Gesichtslinie nach innen von der Axe der Linse, nach der Nasenseite zu, fällt, so wirkt die Linse zugleich als ein Prisma, dessen dicke Seite der Nasenseite, und dessen dünne Seite der Schläfenseite zu- gewendet ist. Sie verlangt also von dem Betreffenden eine geringere Con- vergenz der Gesichtslinien, als wenn wirklich die beiden Linsen mit den Augen richtig centrirt worden wären. Dies ist deshalb von Wichtigkeit, weil ja mit der grösseren Convergenz auch immer eine unwillkürliche Accommodationsanstrengung für die Nähe verbunden ist, die der Correction entgegenwirkt, welche wir durch die Brille anstreben, und ausserdem im Laufe der Zeit die Myopie steigert. In späteren Jahren, wo gerade bei den hohen Graden der Kurzsichtig- keit oft zugleich auch Schwaehsichtigkeit, mangelhaftes Unterscheidungs- vermögen wegen beginnender Atrophie der Netzhaut eintritt, geschieht es nicht selten, dass solche Individuen keine Zerstreuungsbrille mehr finden, mit der sie überhaupt noch etwas lesen können, wenigstens keine, mit der sie noch feineren Druck zu lesen im Stande wären. Solchen Augen kann man für einige Zeit noch durch Brillengläser helfen, welche ihr Auge für einen brauchbaren Abstand einstellen und dabei ein etwas vergrössertes Bild geben. Diese Brillen, die jetzt in ziemlich ausgedehntem Gebrauche sind, scheinen zuerst hier in Wien von dem verstorbenen Optiker Pro- keseh, vielleicht schon von dessen Vorgänger, verfertigt worden zu sein. Denken Sie sich, ich könnte an mein Auge vorn ein Stück ansetzen, ich könnte es unter Beibehaltung der vorderen convexen Fläche nach vorne zu vergrössern, so möchte es mir dadurch gelingen, den hinteren Knotenpunkt weiter nach vorne zu rücken, und ich würde dadurch ein entsprechend grösseres Netzhautbild erhalten. Nun kann ich zwar dem Auge nicht direct ein Stück ansetzen, aber ich kann ihm eine Linse vorlegen, die in ähn- licher Weise wirkt, als ob ich nach vorne zu ein Stück an das Auge an- gesetzt hätte. Denken Sie sich eine Linse, welche nach vorne convex ist, und welche die aus einer endlichen Entfernung, z. B. aus einer Entfernung von 10 Zoll, kommenden Strahlen aufnimmt, so werden diese durch die vordere convexe Oberfläche der Axe zugebrochen werden. Die hintere Refractionsanomalien. • 207 Oberfläche sei concav, sie wird also die aiistrct enden Strahlen wieder stärker divergirend machen. 8ic sei nun so abgepasst, dass diese aus- tretenden Strahlen so divergiren, als ob sie von einem nur 4 Zoll ent- fernten Punkte ausgegangen wären. Sie werden dann auf der Netzhaut eines in so hohem Grade Kurzsichtigen, dass sein Fernpunkt bei 4 Zoll liegt, noch zur Vereinigung kommen. Das Bild aber ist, wenn das Glas hinreichend dick ist, nicht wie bei einem gewöhnlichen Zerstreuungsglase verkleinert, sondern vergrössert. Es beruht dies, wie ich schon angedeutet habe, darauf, dass vor das Auge gelegte Linsen mit diesem zusammen ein optisches System mit neuen Cardinalp unkten bilden, deren Lage für die verschiedenen Fälle von Mauthner, Knapp und Donders erörtert worden ist. Der einfachste Fall ist der, wo die Linse in der vorderen Brenn- punktsebene des unbewaffneten Auges liegt und so dünn ist, dass der ört- liche Unterschied ihrer brechenden Flächen vernachlässigt werden kann. Dann behalten die vorderen Cardinalpunkte des Auges, das heisst der vor- dere Brennpunkt, der vordere Hauptpunkt und der vordere Knotenpunkt, ihren Ort, die hinteren Cardinalpunkte, das heisst der hintere Hauptpunkt, der hintere Knotenpunkt und der hintere Brennpunkt, werden sämmtlich um eine gleiche Grösse verschoben, durch Sammellinsen nach vorn, durch Zerstreuungslinsen nach hinten. Es bleibt also hier, wenn auch das Netz- hautbild wegen des veränderten Abstandes des hinteren Knotenpunktes von der Netzhaut grösser oder kleiner erscheint, doch die Grösse des Netzhaut- bildes, so weit man es als ein auf der jeweiligen hinteren Brennpunkts- ebene entworfenes Bild ansieht, ungeändert. Anders, wenn obige Bedin- gungen nicht erfüllt sind : es kann dann je nach der Natur und Anordnung der brechenden Flächen vergrössert oder verkleinert werden, vergrössert und verkleinert, je nachdem sich die Entfernung vom hinteren Knoten- punkte zum hinteren Brennpunkte verändert. Unser dickes Brillenglas, vorn convex und hinten concav, ist seinem Wesen nach, wie wir später sehen werden, ein Galiläi'sches Fernrohr mit schwacher Vergrösserung. Brillen mit solchen Gläsern würdeii in noch viel ausgedehnterem Ge- brauche sein, wenn sie nicht durch ihre Schwere in hohem Grade un- bequem wären. Das diametrale Gegentheil des kui'zsichtigen Auges ist das von Don- ders so benannte hypermetropisehe. Dies charakterisirt sich dadurch, dass das Auge im Zustande der Ruhe weder für eine endliche, noch für die unendliche Ferne eingestellt ist, dass es iui Zustande der Buhe nur con- vergircnde Strahlen zur Vereinigung bringt. Bei den geringeren Graden von Hypermctropie wird dies gar nicht bemerkt. Die Hj-permetropen können ihr Auge im Zustande der Ruhe niemals gebrauchen, sie sind immer darauf angewiesen zu accommodiren, auch für die unendliche Ferne, sie verlernen es vollständig, ihre Accommodation zu entspannen. Wenn man ihnen ein schwaches Convexglas gibt, so sehen sie deshalb meistens diu'ch dasselbe in der Ferne nicht besser als mit blossen Augen. Es gibt aber ein Mittel, um zu zeigen, dass bei ihnen das Auge im Zustande der Ruhe wirklich für convergii'ende Strahlen eingestellt ist. Man entspannt den Accomniodationsapparat künstlich, indem man ihn durch Einträufeln von Atropin in das Auge lähmt. Figur 48 zeigt nach Donders die Sehweiten des in geringem Grade hypermetropischen Auges. Der Fernpunkt liegt in der Jugend in unend- 208 Refractionsanomalien. lieher Ferne. Dabei ist aber schon die Accommodation wirksam. Bei Atropineinträufelung ist der Fernpunkt auf fast — 12 Zoll zurückgegangen (siehe die punktirte Linie), das heisst, es würden jetzt Strahlen zur Ver- einigung kommen, welche so zum Auge gelangen, dass sie, wenn sie nicht in die optischen Medien des Auges hineingingen, sondern in der Luft fort- schritten, sich 12 Zoll hinter dem Auge vereinigen würden. Da in. der Jugend die Accommodationsbreite gross ist, so merkt ein solches Indi- viduum, das nur in geringem Grade hypermetropisch ist, von seinem Fehler in der ersten Jugend nichts. Erst in den zwanziger Jahren bemerkt es, dass es beim Lesen eher ermüdet, weil es jetzt schon, um sein Auge auf eine Entfernung von etwa 10 Zoll einzustellen, seine ganze Accommodations- breite braucht. Wenn das Individuum aber 30 Jahre alt ist, kann es selbst mit seiner ganzen Accommodationsanstrenoung das Auge nicht mehr auf Fig. 48. 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 33/, 4 4V5 6 8 12 24 G<5 24 12 8 6 44/5 4 ^P \ > \ \ \ s. s k r — -_.. ^^^:k^i^J_ F" _. 12 Zoll einstellen. Mit 35 Jahren liegt der jSTahepunkt bei 24 ZoU: das Individuum ist also schon in den Blüthejahren darauf angewiesen, eine Brille zu gebrauchen. In späteren Jahren rückt der Nahepunkt immer weiter hinaus und endlich auch über die unendliche Ferne, so dass das Auge nur noch convergirende Strahlen zur Vereinigung bringt. Einen höheren Grad der Hypermetropie besitzt das von Donders mittelmässig hypermetropisch benannte Auge (dessen Sehweiten in Figur 49 dargestellt sind). Da liegt schon in der Jugend der Fernpunkt nach Aus- schliessung der Accommodation dui'ch Atropin (siehe die punktirte Linie) zwischen — 8 und — 12. In der Kindheit kann noch fürs Lesen und Schreiben accommodirt werden; aber schon mit dem fünfundzwanzigsten Lebensjahre ist der Nahepunkt über 12 Zoll hinausgerückt. Von jetzt an ist schon die ganze Accommodationsanstrengung nöthig, um eine kleinere Eefractionsanoinalien. 209 Schrift noch lesen zu können: es tritt also schon jetzt die Zeit ein, wo das Auge relativ unbrauchbar wird. Ein noch höherer Grad von Hypermetropie ist nach Benders in Fio'ur 50 dargestellt, das stark hypernietropische Auge. Da liegt der Fern- punkt des Auges unter MitAvirlamg des Accomniodationsapparates schon in der Jugend bei — 12 Zoll, nach deren Ausschliessung zwischen — 6 imd — 5 Zoll. Es kann hier selbst in der Kindheit nicht auf 12 Zoll accom- modirt werden. Im Alter von 21 Jahren kann aber noch für die unend- liche Ferne eingestellt werden. Von da ab werden nur noch Strahlen ziu- V^creinigung gebracht, die convergirend zum Auge gelangen. Die Hypermetropie ist ein Gesichtsfehler, der lange Zeit verkannt wurde, und dessen Verkennung und Vernachlässigung schwere Nachtheile nach sich zieht. Selbst diejenigen Hypermetropen, die noch für eine Ent- fig. 49. 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 4 4V5 12 24 oo 24 12 8 6 44, 4 xr i r ^ L_^__ fernung accommodiren können, in welcher man zu lesen pflegt, brauchen, wie wir gesehen haben, schon ihre ganze Accommodationsanstrengung, um das Auge für diese Entfernung einzustellen. Dies halten sie aber niu* verhältnissmiissig kurze Zeit aus; es tritt bald ein Zustand ein, wo sie anfangen doppelt zu sehen, wo ihnen, wie sie sagen, die Buchstaben inein- andcrflicssen, wo sie ein Gefühl von Schwindel, Schmerzen in der Supra- orbitalgcgend u. s. w. bekommen. Es führt ferner die Hypermetropie, abgesehen von der Unmöglich- keit, die später eintritt, feinere Arbeiten auszuführen, noch einen andern Nachtheil nach sich, nämlich den, dass die Betroffeneu häufig schielen. Es wurde bereits mehrfach erwähnt, dass der Tensor chorioideac Mit- bewegungen hat mit dem llcctus intei*nus. Die Hypermetropen sind nun dai'auf angewiesen, sehr starke Accommodationsanstrcngungen zu machen, und helfen sich dabei, indem sie zugleich ihre Sehaxcn für einen sehr Brücke. Vovlesungcn. II. 4. Aufl. 14 210 Refractionsanoiiialien. nahen Punkt convergiren lassen. Da sie aber ihr Auge für diesen nahen Punkt nicht mehr einstellen können, da sie die Objecte nicht so nahe, sondern entfernter halten müssen, und sie beim Sehen mit beiden Augen Doppelbilder haben würden, so sehen sie nur mit einem Auge und schielen mit dem andern nach innen, indem sie dasselbe ganz ve];;nachlässigen. So entsteht habituelles Schielen bei Hypermetropen. Um alle diese ISTachtheile zu verhüten, gibt es kein anderes Mittel, als den Hypermetropen zur rechten Zeit Brillen zu geben. Es versteht sich von selbst, dass diese keine anderen als Convexbrillen, Sammelbrillen sein können. Bei den Kurzsichtigen hatten wir den Grundsatz, dem Pa- tienten jedesmal die schwächste Brille zu geben, mit der er für den gege- benen Zweck auskommen kann, um unnöthige Aecommodationsanstrengungeu zu ersparen. Bei Hypermetropen gilt dieser Grundsatz nicht, man darf Fig. 50. 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 33/, 4 47^ 6 8 12 24 oo 24 12 8 6 4V5 4 1 ■ ^''. k \ \ ■ r "^ "^ "^ -^ .... '\"~'r^- rrr ~ - ::-^ i 1 1 ihnen nicht die schwächsten Brillen geben, mit denen sie auskommen, weil sie dann noch immer die ganze Accommodation bei ihren Arbeiten gebrauchen müssten. Wir sind deshalb genöthigt, Brillen zu geben, die stark genug sind, um ohne grosse Accommodationsanstrengung mit den- selben zu arbeiten. Es ist auch keineswegs rathsam, zu warten, bis der Zustand unerträglich wird oder bereits Schielen eingetreten ist. Im Gegen- theile, wenn ein hypermetropisches Auge als ein solches erkannt wurde, so soll man ihm eine Brille geben, durch welche es rechtzeitig auf ein normales Auge corrigirt wird. In späteren Jahren, wenn zur Hypermetropie noch Presbyopie hinzutritt , ist es nothwendig, in der Correction noch weiter zu gehen, sobald es sich um das Sehen in die Nähe, um Lesen und Schreiben u. s. w. handelt. Man muss dann durch die Brille das hypermetropische Auge wie das Normalauge in ein kurzsichtiges ver- wandeln. Vergrössernngsmittel. ^11 Die Auswahl der Brillen geschieht mittelst geordneter Sammlungen von Brillengläsern, sogenannter Brillenkästen. In den älteren derselben entspricht die Nummer des Brillenglases entweder der empirisch ermittelten Brennweite in Zollen, oder bei biconvexen auf beiden Seiten auf derselben Schale geschliffenen Gläsern dem Radius der Oberfläche in Zollen. Beides liommt auf dasselbe hinaus unter der Voraussetzung, dass der Brechungs- index des Glases gleich 1'5 ist, denn wir haben bei Vernachlässigung der Dicke der Gläser — = (n — l) ( '\- — ), worin F die Brennweite ist, n der F \r, ?•./ Brechungsindex, r, der Iladius der vorderen und r^ der Radius der hinteren 1 / 3 \ 2 Oberfläche des Glases, also — =r ( 1 ) — , woraus F ^= r folgt. Für F \2 / r' die hellsten Strahlen des Spectrums ist aber n thatsäehlich etwas grösser, etwa 1'528 bis 1*530. In neuerer Zeit hat man Brillenkästen, in denen die Nummer des Glases die Anzahl sogenannter Dioptrien anzeigt, welche ihm zukommt. Eine Linse von 1 Meter Brennweite hat eine Dioptrie, eine Linse von 1/2 Meter Brennweite zwei Dioptrien, eine Linse von — Meter Brennweite n Dioptrien. Will man die alte Bezeichnung in die n neue überführen, so dividirt man 40 diirch die alte Brillen kästen nummer des Glases und erhält dann die Anzahl von Dioptrien, welche ihr zu- kommen. Z. B. das Glas ist alt mit 8 bezeichnet, es hat 5 Dioptrien. Vergrössernngsmittel für die Nähe und Ferne. Lupe, Disseetionsb rille und einfaches Mikroskop. Wir haben gesehen, wie man den Refractionsanomalien des Auges nachhelfen, wie man sie compensiren kann. Nun gibt es aber für jedes Auge, auch das kurzsichtige, eine gewisse Nähe, in welcher es überhaupt nicht mehr deutlich sehen kann, und doch würden wir, wenn wir den Gegenstand noch näher bringen könnten, von ihm ein noch grösseres Netz- hautbild haben. Wir würden ihn vergrössert sehen und würden Einzel- heiten an ihm erkennen, die wir mit freiem Auge nicht mehr unter- scheiden. Zu diesem Zwecke legen wir eine Sammellinse vor das Auge und nennen diese eine Lupe. Diese verschafft uns ein grösseres Bild, erstens weil wir den Gegenstand näher vor das Auge bringen können, und zweitens weil die Sammellinse mit unserem Auge ein neues optisches System bildet, in welchem der hintere Knotenpunkt weiter nach vorn liegt, als er früher in unserem Auge lag. Da sich eine solche Lupe von einem Convexbrillenglase nur durch die kürzere Brennweite unterscheidet, so würden wir auch vor jedes der beiden Augen eine Lupe legen können, wenn wir die M. recti interni stai'k genug zu contrjihiren vermöchten, um damit noch einfach zu sehen. Das gelingt aber niu*, wenn wir die Lupen prismatisch machen. Wir schleifen ein Glas, gross genug, um zwei Brillengläser zu geben, auf der einen Seite convcx, so dass es eine Brennweite von G bis 7 Zoll be- kommt, schneiden es in zwei symmetrische Stücke und setzen diese mit der convexen Seite dem Auge zugewendet und mit dem dicken Rande 14* 212 Vergrösserungsmittel. gegen die Nase gekehrt in ein Brillengestell, dem wir zwei seitliche Schirme geben, um das seitlich einfallende Licht abzuhalten. Eine solche Brille, die sich für anatomische Arbeiten sehr gut eignet, heisst eine DissGctionsbrille. Wenn die Brennweite der Lupe bis zu einem gewissen Grade ver- kürzt wird , so wird die sphärische Aberration immer auffälliger und verdirbt das Bild immer mehr. Wir ziehen es für solche Pälle vor, zwei Sammellinsen miteinander zu combiniren, und nennen ein solches Instru- ment eine Doppellupe, ein Doublet. Wir können auch drei Sammellinsen in solchen Krümmungen und solcher Reihenfolge miteinander verbinden, dass die sphärische Aberration auf ein Minimum reducirt wird, dass eine sogenannte aplanatische Combination entsteht. Da wir jetzt stärkere Ver- grösserungen erzielen und das Instrument nicht mehr gut aus freier Hand handhaben können, bringen wir es in ein Stativ, so dass es durch einen Trieb nach aufwärts und abwärts bewegt werden kann; wir verbinden es ferner mit einem Tische und einem Beleuchtungsspiegel und nennen das Ganze ein einfaches Mikroskop. Ein einfaches Mikroskop unterscheidet sieh im Wesenthchen von einer Lupe nur durch die kürzere Brennweite und durch die Art der Montirung, dadurch, dass es mit einem eigenen Arbeitstischchen und einem Beleuchtungsspiegel versehen ist. Das zusammengesetzte Mikroskop und das Keppler'sche oder astronomische Fernrohr, Anders verhält es sich mit dem zusammengesetzten Mikroskope, dessen wir uns bei unseren Arbeiten so vielfältig bedienen. Bei diesem wird erst durch das Objectiv ein umgekehrtes Luftbild entworfen, und dieses sehen wir mit der Ocularlinse an. Im Principe ist also das zu- sammengesetzte Mikroskop ebenso gebaut wie ein astronomisches oder Keppler'sehes Fernrohr. Beim astronomischen Fernrohre in einfachster Form hat man eine Objectivlinse, die ein umgekehrtes Bild liefert, und eine Ocularlinse, durch welche man dieses Bild vergrössert und ansieht. Da ich aber mit dem Mikroskope sehr nahe Gegenstände betrachte, von denen ich ein umgekehrtes Luftbild haben will, das grösser ist als das Object selbst, muss ich mit meinem Objeete sehr nahe an das Objectiv heranrücken,- und dieses muss eine sehr kurze Brennweite haben. Ich reiche deshalb mit einer Objectivlinse nicht aus, ich muss eine Reihe von Objectivlinsen hintereinander aufstellen, und so entsteht dann das gewöhn- liehe, aus drei Linsen bestehende Objectiv des Mikroskops. Ich sage, das Objectiv besteht gewöhnlich aus drei Linsen. Dies ist aber eigentlich nicht richtig. Ich hätte sagen sollen aus vier Linsen : denn es ist eine Linse, die zum Objectiv gehört, weil sie zwischen Objectiv und umge- kehrtem Luftbild liegt, vom Objectiv weggenommen und mit dem Ocular vereinigt worden. Es ist nämlich zweckmässiger, durch die Objectivlinsen des Mikroskops die Strahlen noch nicht zur Vereinigung kommen zu lassen, sondern sie nur im Rohre des Mikroskops hinaufzuleiten und noch eine vierte Sammellinse im Oculare, das heisst durch die Messingfassung mit der eigentlichen Ocularlinse verbunden, anzubringen, die man mit dem Namen des Collectivs bezeichnet, und die erst die Vereinigung der Strahlen zu einem umgekehrten Luftbilde zu Stande bringt. Dieses umgekehrte Vergrösserungsmittel. 213 Bild, welches grösser ist als das Object, weil es weiter vom hinteren Knotenpunkte entfernt ist als das Object vom vorderen Knotenpunkte, wird noch einmal durch eine Lupe, durch die eigentliche Ocularlinse vergrössert und so angesehen. Das zusammengesetzte Mikroskop ist also ein astronomisches Fernrohr von sehr kurzer Brennweite, und das astro- nomische Fernrohr ist ein Mikroskop, dessen Objectiv eine sehr grosse Brennweite hat. Die weiteren Verbesserungen imd Vervollkommnungen des Mikroskops haben sich einerseits darauf bezogen, dass man die Objectivlinsen des Mikroskops achromatisch gemacht hat, indem man Flintglaslinsen mit Crowngiaslinsen eombinirtc, und andererseits bestanden sie darin, dass man die sogenannten aplanatischen Combinationen einführte imd verbesserte, das heisst, dass man Linsencombinationen zusammenstellte, bei welchen diu'ch die Art der Zusammenordnuug die sphärische Aberration, die Ab- weichung wegen der Kugelgestalt der Oberflächen, auf ein möglichst kleines Mass zurückgeführt wurde. In neuerer Zeit ist noch ein wesentlicher Fortschritt gemacht worden. Amici Hess die unterste Objectivlinse in Flüssigkeit eintauchen, sie nicht mehr durch Luft, sondern durch eine tropfbare Flüssigkeit von dem Ob- jecto getrennt sein. Es werden hiedurch wesentliche Vortheile erzielt, in- dem zwei sehr starke Eeflexionen, die gerade bei starken Vergrösserungen nachtheilig wirken, die Eeflexion der Strahlen beim Aiistritte aus dem Dcckglase und beim Eintritte in die erste Objectivlinse, in viel schwächere Reflexionen verwandelt werden, da statt der Luft ein stärker brechendes Medium zwischen Deckglas und Objectivlinse eingeschoben wiu'de, was natürlich auch einen entsprechenden Einfluss auf die beiden gleichzeitig mit den Eeflexionen stattfindenden Brechungen ausübte. Amici wendete zu diesem Zwecke Oel und Wasser an, Oel, weil es einen höheren Bre- chungsindex hat, Wasser, weil es sich bequemer anwenden lässt. Der all- tägliche Usus hat sich füi' Wasser entschieden, weil das Oel das Arbeiten sehr erschwert. Wir bringen bei den starken Vergrösserungen, bei unseren sogenannten Immersionssystemen oder Tauchlinsen, die namentlich durch die Anstrengungen von Hartnak zu immer grösserer und grösserer Voll- kommenheit gebracht worden sind, einen Wassertropfen unten auf die Objectivlinse und schrauben sie dann herunter, so dass dieser Wasser- tropfen auch das Deckglas benetzt. Auf diese Weise sind Vergrösserungen erzielt worden von einer Vortrefflichkeit und Lichtstärke, wie sie Irüher niemals erreicht wurden. Galilei'sches Fernrohr und Chcvalier's Lupe. Ausser dem astronomischen Fernrohre gibt es noch ein anderes, das sogenannte Galilci'sche Fernrohr. Galilei' ist aber nicht der eigentliche Erfinder desselben. Der cigentliclie Erfinder ist ein holländischer Brillen- macher, Hans Lippcrshey. Sehr bald nach ihm erfand es selbstständig ein zweiter Holländer, Metius; Galilei hörte nun von den Wirkungen dieser Fernrohre, ohne ihre Construction zu kennen, und fand dann diese selbstständig. Wir haben schon früher gesehen, dass wir uns durch ein sehr dickes convex-concaves Brillenglas deutliche Bilder versehaft'en können, indem wir 214: Vergrösserungsmittel. die Strahlen zusammenbrechen und dann durch die hintere Oberfläche wieder divergirend herausgehen lassen, so dass sie jetzt auf der Netzhaut zur Vereinigung kommen. Wir haben das damals nur für Kurzsichtige angewendet : dasselbe Princip lässt sich aber für jedes Auge anwenden. Hierauf beruht ein kleines Instrument, welches man mit dem Namen des Steinheir sehen Conus zu bezeichnen pflegt. Es entsteht, wenn man sich eine jener dicken convex-concaven Glaslinsen in der Axe noch mehr ver- längert denkt, es sei ein Glaskegel, der vorn eine convexe und hinten eine concave Fläche hat. Die Strahlen werden in demselben zusammen- gebrochen und werden durch die hintere Fläche so divergirend gemacht, dass sie in das Auge hineingelangen, wie Strahlen, die aus der Ent- fernung des deutlichen Sehens zum Auge gelangt sind. Dies ist nun auch das Princip des Galilei' sehen Fernrohres, nur mit dem Unterschiede, dass der Conus mit seinen beiden Flächen in zwei Gläser zerlegt ist, in eine Sammellinse, durch welche die Strahlen, die von dem entfernten Gegen-, stände kommen, convergirend gemacht werden, und eine Zerstreuungslinse, durch welche sie so weit divergirend gemacht werden, dass sie in der Ebene der Netzhaut zur Vereinigung kommen. Man kann bekanntlich die Divergenz der hier austretenden Strahlen iind somit die Einstellung eines solchen Fernrohres für die Nähe und für die Ferne damit reguliren, dass man die Zerstreuungslinse von der Sammellinse entfernt oder derselben nähert. Da die beiden Linsen mit dem optischen Apparate des Auges ein System bilden, in welchem der hintere Knotenpunkt viel weiter nach vorn liegt als im Auge allein, so gibt eine solche Combination ein ver- grössertes Bild. Während das Galilei' sehe Fernrohr für astronomische Zwecke nicht mehr in Gebrauch ist, dient es uns noch allgemein iinter der Form des Opernguckers. Es liegt nun nicht im Principe des Galilei' sehen Fernrohres, dass man es nur für grosse Entfernungen anwenden könnte. Wenn man die Brennweite des Objectivs verkürzt, kann man es auch für geringere Ent- fernungen benützen. Die Brennweite wird dadurch verkürzt, dass man statt einer Sammellinse zwei nimmt. Nun werden Strahlen, die von ver- hältnissmässig nahe liegenden Gegenständen kommen, durch diese beiden Linsen so weit convergirend gemacht, dass sie, durch die Zerstreuungslinse wieder divergirend gemacht, so austreten, dass sie sich auf der Netzhaut vereinigen. Dann erhält man wieder ein vergrössertes Bild. Diese Lupe, die nach dem Principe des Galilei' sehen Fernrohres construirt ist, hat vor der gewöhnlichen einen wesentlichen Vortheil, den, dass sie einen viel grösseren Objectabstand gibt. Bei der gewöhnlichen Lupe muss man sich dem Gegenstande sehr nähern, bei dieser Lupe ist das nicht nöthig. Eine solche Lupe dient also erstens zu anatomischen Präparationen, um Objecte zu untersuchen, die sich unter Wasser befinden, zur Untersuchung von Hautkranken, zur Untersuchung der Iris und dergleichen mehr, kurz überall, wo man sich nicht so unmittelbar den Gegenständen nähern kann oder will, wie dies bei der gewöhnlichen Lupe nothwendig ist. Sie wurde von Chevalier erfunden, kam aber wieder in Vergessenheit, so dass erst, als sie von Neuem erfunden und in Gebrauch gekommen war, Harting in seinem Werke über das Mikroskop nachwies, dass sie Chevalier bereits bekannt gewesen. Augenspiegel. .210 Die Augenspiegel. Wir haben also gesehen, dass man sich deutliche Netzhautbilder ver- schaffen kann, erstens von Gegenständen, die zu klein sind, als dass man sie deutlich sehen könnte, und zweitens von Gegenständen, die zu entfernt sind, um ein hinreichend grosses Netzhautbild zu geben. Wir können uns jetzt noch die Frage vorlegen : Wie können wir in das Aiige eines Andern hineinsehen? Wenn wir das Auge eines Andern ansehen, so sehen wir bekanntlich durch die Pupille einen schwarzen Grund, aber wir sehen nichts auf diesem Grunde. Das hat zweierlei Ursachen. Erstens sehen wir nichts auf diesem Grunde, weil die Netzhaut mit ihren Ge- lassen und die Chorioidea, die wir sehen sollten, nicht in der Entfernung des deutlichen 8ehcns sind, und zweitens sehen wir nichts, weil der Augen- grund nicht hinreichend beleuchtet ist. Die Beleuchtung können wir uns verschaffen. Es wird keineswegs alles Licht im Auge absorbirt; es ist be- kannt, dass die Augen derjenigen Thiere, die ein Tapetum haben, wie die Hunde und die Katzen, angeblich im Dunklen leuchten. Sie leuchten aber nicht im Ganzduuklen, sondern sie geben nur von einer Lichtquelle so viel Licht zurück, dass sie im Theilweiscdunklen unter gewissen Um- ständen leuchtend erscheinen. Wenn zum Beispiel ein solches Thier irgendwo im dunklen Räume in einem Winkel sitzt, und man öffnet die Thüre und es fällt Licht durch dieselbe ein, so leuchtet das Auge dieses Thieres auf. Dies geschieht deshalb, weil die Strahlen, die aus dem Auge zurück- kommen, dieselben Brechungen erleiden wie die, welche in das Auge hineingelangten, und somit das Licht näherungsweise an denselben Ort zurückkehrt, von dem es ausgegangen ist. Stehe ich also in der offenen Thüre, so muss das Licht zu mir zurückkehren, und folglich muss ich das Auge des Thieres leuchtend sehen. Auch aus dem Auge des Menschen kommt Licht zurück, wenn auch viel weniger als von dem Auge dieser Thiere, weil er eben kein Tape- tum hat, immerhin so viel, dass man auch das menschliche Auge unter passenden Umständen leuchtend sehen kann. Denken Sie sich das Auge eines Individiiums und vor demselben eine Liclilflamme, so wird die Lichtflamme ein Bild auf die Netzhaut werfen, und die Strahlen, die zu- rückkommen, werden im Allgemeinen den Weg der eingetretenen Strahlen gehen. Wenn sich nun dem zu beobachtenden Auge gegenüber näherungs- Aveise in einer Linie mit der Lichtflamme ein anderes befindet, und man verdeckt diesem die Lichtflammc, so wird ein Theil des Lichtes, das nicht genau denselben Weg zurückgelegt hat, in das beobachtende Auge ge- langen, und dieses wird dann das beobachtete Auge leuchten sehen. Ich kann dies aber auch noch anders beAvirken. Ich kann ein Planglas, a h Figur 51, schief aufstellen, und zur Seite davon eine Lichtquelle, dann wird das Licht von dem Planglase in das beobachtete Auge A reflectirt werden, es wird ein Flammenbild /, auf der Netzhaut entstehen; das Licht, das von diesem zurückkommt, geht diirch das Planglas hindurch und gelangt zum beobachtenden Auge, das sich hinter dem Planglase be- findet. Ich kann auch mehrere Platten hintereinander legen, damit die Reflexion stärker wird und eine grössere Menge Lichtes in das beobachtete \md somit auch aus demselben in das beobachtende Auge B gelangt. Dies war die Beleuchtung, welche Helmholtz, der Erfinder des Augenspiegels, 216 Augenspiegel. angewendet hat, und welche in der beistehenden Figur dargestellt ist. Nachdem er so das Innere das Auges beleuchtet hatte, handelte es sich darum, wie er sich ein deutliches Bild von den Gegenständen verschaffte, welche nun- beleuchtet im Grunde des Auges zu sehen waren. Denken Sie sich, das beobachtete und das beobachtende Auge seien beide für die unendliche Ferne eingestellt, so sehen Sie leicht ein, dass die Strahlen, die aus dem ersten Auge parallel herauskommen, auf der Netzhaut des andern zur Vereinigung kommen. Zwei Normalaugen, die beide für die unendliche Ferne eingestellt sind, können also das eine auf dem Grunde des andern deutlich sehen. Nun stellt sich aber ein Normalauge dem Beobachter gegenüber selten für die unendliche Ferne, sondern meistens auf eine endliche Ferne ein, so dass also die Strahlen aus Normalaugen und noch mehr aus kurzsichtigen Augen convergirend herauskommen. Ich kann also mit meinem blossen Au2;e, unter der Voraussetzung, dass es ein Normalauge sei, nur im Grunde des Auges eines Hypermetropen , der Fig. 51. überhaupt auf keine endliche Ferne accommodirt, deutlich sehen. — So- bald das beobachtete Auge anfängt, für eine endliche Entfernung zu accommodiren, kommen die Strahlen convergirend heraus : ich muss also eine Correctionslinse, eine Zerstreuungslinse d Figur 51 zwischen mein Auge und das beobachtete einschalten. Dergleichen Correctionslinsen sind nun im Helmholt z' sehen Augenspiegel in drehbaren Scheiben angebracht, so dass sie einzeln oder zu zweien vor das Auge gelegt werden können. Dieser Augenspiegel ist also nach dem Principe des Galilei'schen Fern- ■ rohres construirt. Die Strahlen kommen aus dem Auge convergirend, wie aus dem Objective eines Galilei'schen Fernrohres, sie werden durch eine Zerstreuungslinse so weit divergirend gemacht, dass sie sich auf der Netz- haut des beobachtenden Auges vereinigen. Als der , Hclmholtz' sehe Augenspiegel bekannt wurde, sagte sich der verstorbene Augenarzt Euete: Wenn ich nach dem Principe des Galilei- schen Fernrohres auf dem Grunde des Auges deutlich sehen kann, dann muss ich auch nach dem Principe des astronomischen Feriu'ohres auf dem Grunde des Auges deutlich sehen können, und construirte nach diesem Augenspiegel. 217 Principe eineu zweiten Augenspiegel. Denken Sie sich , die Strahlen kommen aus dem Auge A Figur 52 parallel oder schwach convergireud heraus, und ich bringe vor dasselbe eine Sammellinse p, so werden die Strahlen zusammengebrochen werden, und es wird von dem Netzhautbilde ein umgekehrtes Luftbild (siehe den Pfeil) entworfen werden. Dieses sehe ich durch eine Sammellinse q an, welche ich als Ocular vor meine xiugen lege. Durch Abändern der Entfernung zwischen diesen beiden Sammellinsen oder ihrer Entfernung vom Auge kann ich mir also ähnlich wie beim Einstellen eines astronomischen Pernrohres immer ein deut- liches Bild vom Grunde des Auges verschaffen. Es handelt sich jetzt nur darum: Avie beleuchte ich? Dazu hat Ruete folgenden Weg eingeschlagen. Er nimmt einen ziemlich grossen Concavspiegel d r, der in der Mitte von einem Loche durchbrochen ist, und stellt demselben gegenüber eine Licht- Fig. 52. quelle / auf. Das Licht wird durch den Concavspiegel in das Auge A A reflectirt, und durch die Oeffnung, die M in der Mitte des Spiegels angebracht n "^ ist, kann dasselbe von dem Auge B beobachtet werden. Diese beiden Augenspiegel sind die Vorfahren aller Augenspiegel, die seitdem in grosser Anzahl erfunden worden sind. Die Allgenspiegel lassen sich nur immer nach einem von den beiden Prin- cipien erfinden, die Ausführung aber lässt sich in mannigfacher Weise variiren. Man kann z. B. einen solchen durchbrochenen Spiegel als Mittel zur Beleuchtung nehmen, und kann das beobachtende Auge mit einer Zerstreuungslinse eorrigiren, die vor oder hinter dem Loche des Spiegels angebracht ist. Dann hat man das optische Princip vom Helm- holtz'schen Spiegel hergenommen, die Beleuchtung aber nach Euete ein- gerichtet. Man kann ferner, wie Hasner gcthan hat, Zerstreuungs- linsen auf der planen oder convexen Seite mit Spiegclfolie belegen und diese in der Mitte wegnehmen, so dass man hier hindurchsehen kann, und somit diese foliirte Linse als Beleuchtungsapparat und zugleich als Correctionslinse verwenden. 218 Entommatisclies Sehen. Die Beobachtung von Gegenständen im eigenen Auge. Wenn ich die Gegenstände im Auge eines Andern untersuchen kann, so kann ich vielleicht atich die Gegenstände in meinem eigenen Auge sehen. Das Sehen von Gegenständen im eigenen Auge bezeichnet man mit dem Namen der entommatischen Gesichtswahrnehmung. Warum sehe ich für gewöhnlich die Gegenslände in meinem Auge nicht? Deshalb nicht, weil sie kein deutliches Bild geben können. Wenn ich einen Gegenstand meinem Auge immer mehr nähere, so wird das Bild immer undeutlicher, und lange noch , ehe ich die Cornea berühre , ist es völlig undeutlich geworden. Es ist also klar, dass von den Gegenständen auf der Cornea und hinter der Cornea kein deutliches Bild entstehen kann, weil die Strahlen nicht mehr auf der Netzhaut vereinigt werden. Wir haben aber früher gesehen, dass alle Dinge nur undeutlich werden durch die Grösse der Zerstreuungskreise, und dass wir durch eine kleine Oeffntmg in jeder Entfernung deutlich sehen können. Wir werden also durch eine kleine Oeffnung vielleicht Gegenstände deutlich sehen können, die sich ganz nahe unserem Auge befinden, ja die sogar in unserem Auge selbst sind. Das ist in der That der Fall. Wir sehen nicht nur Dinge, die jenseits der Oeffnung liegen, deutlich, sondern auch solche, die diesseits derselben liegen. Denken Sie sich, Sie sehen durch einen Metallschirm, der' mit einer ganz kleinen Oeffnung versehen ist, und versuchen mit den Augen zu blinzeln, so würden Sie in demselben Augenblicke, wo Sie das obere Augenlid herabsenken, von unten lange, starke, schwarze Schatten heraufkom- men sehen, wie die Schatten von Binsen, die im Wasser wachsen. Das geht folgendermassen zu. Denken Sie sich, A Figur 53 sei Ihr Auge und vor demselben befinde sich, wir wollen der Einfachheit halber annehmen im vor- deren Brennpunkte, also einen halben Augendurchmesser von dem Seheitel der Cornea entfernt, ein Schirm c d mit einer kleinen Oeffnung e. Dann gehen alle Strahlen, die zu dem Auge gelangen konnten, so zu ihm, als ob sie von einem Punkte, von dieser Oeffnung ausgingen. Dergleichen Licht, das von einem Punkte aus- geht, bezeichnet man mit dem Namen des honiocontrischen Lichtes. Wenn sich nun eine Cilie in diesen Lichtkegel herabsenkt, so wird sie von diesem Lichtkegel eine Keihe von Strahlen auffangen und diese werden nicht wie die übrigen parallel im Glaskörper verlaufenden zur Netzhaut kommen. Es werden also die Cilien einen Schatten werfen in dem homocentrischen Lichte, und dieser Schatten wird sich auf die Netzhaut projiciren. Er befindet sich aber auf der Netzhaut über dem Horizonte, er muss also im Sehfelde umgekehrt, unter den Horizont versetzt werden. Es ist also klar, dass, wenn man das obere Augenlid liorabsenkt und die Cilien in diesen Kegel hineintreten, die Schatten derselben unten erscheinen werden, und das sind eben diese binsenartigen Gebilde. Wodurch ist hierbei das Sehfeld begrenzt? Wenn Sie durch ein solches Loch hindurchsehen und bringen dasselbe dem Auge immer näher. Fig. 53. Eiitommatisches Sehen. ZLa SO wird CS immer grösser, und Sie glauben deshalb auch, es sei dieses runde Sehfeld noch immer von dem Eandc des Loches begrenzt. Der Schirm befindet sich aber Ihrem Auge so nahe, dass Sie von dem Rande des Loches kein deutliches Bild haben können. Die Grenze dieses hellen Sehfeldes wird durch etwas ganz Anderes gebildet, nämlich durch den Pupillarrand der Iris. Die Iris schneidet von dem Lichte, das im Auge fortschreitet, um zar Netzhaut zu gelangen, ein ringförmiges Stück ab, sie wirft einen schwarzen Schatten auf die Netzhaut; nur das Licht, das durch die Pupille eingeht, erhellt die Netzhaut und bringt eben dieses kreisförmige Sehfeld zu Stande. Wenn deshalb die Pupille nicht rund ist, so ist es auch das Sehfeld nicht. Man kann im homocentrischen Lichte Rauhigkeiten auf der Horn- haut wahrnehmen. Wenn Sie sich z. B. zuerst das Gesichtsfeld in dieser Weise ansehen, und Sie sehen es wiederum an, nachdem Sie das Auge gerieben haben, so werden Sie eigenthümliche, wellenförmige Schattirungen im Sehfelde bemerken, die von den Rauhigkeiten auf der Hornhaut her- rühren, die Sie durch das Reiben erzeugt haben. Wenn Thränen über die Hornhaut fliesscn, so sehen Sie dies in dem Sehfelde, nur so, dass die Bewegung des Schatten gebenden Körpers von unten nach oben statt- zufinden seheint. Es können auch Gegenstände im Glaskörper und in der Linse gesehen werden. Wir haben aber auch ein Mittel, annähernd den Ort der Binnen- objecte im Auge zu bestimmen. Denken Sie sich, Sie hätten einen Punkt c Figiu' 54 in der Ebene der Pupille und in der Mitte derselben, der einen Schatten wirft ; so wird dieser Schat- ten in c, liegen, also in der Mitte Fig. 54. des Sehfeldes. Denken Sie sich weiter, Sie hätten das Centrum des homo- centrischen Lichtes, also die Oeffnung im Schirme, von a nach b hin be- wegt, so wird der Schatten in c,, und, da das Sehfeld durch den Rand der Iris begrenzt ist, der in derselben Weise wandert wie der Schatten von c, noch immer in der Mitte des Sehfeldes liegen; er wird also seinen Ort im Sehfelde behalten. Also Ob- jecte, deren Schatten beim Bewegen des Schirmes ihren Ort im Sehfelde behalten, liegen in der F^bene der Pupille. Denken Sie sich aber, der Gegenstand hätte nahe dem Scheitel der Hornhaut bei e gelegen, und ich hätte nun den Schirm verschoben, so wird der Schatten nun nicht mehr in der Mitte des Sehfeldes erscheinen, wie vor der Verschiebung des Schirmes, sondern er wird nach Verschiebung des Schirmes nach c, fallen. Er hat sich also auf der Retina im entgegengesetzten Sinne, also im Sehfelde, im gleichen Sinne mit dem Loche im Schirnui bewegt. Gegen- stände also, die sich bei Bewegung des Schirmes im Sehfelde gleichsinnig mit der BoAvcgung des Schirmes verschieben, liegen vor der Ebene der Pupille. Wir nehmen nun an, ein Gegenstand hätte in der Axc gelegen hinter der Ebene der Pupille, und zwar bei q, so würde, nachdem der Schirm verschoben ist, sein Schatten in q, liegen; er würde sich in A^ü Entommatisclies Seilen. entgegengesetzter Eichtung bewegt haben von der des früheren Schatten- bildes. Er würde auf der Netzhaut in gleicher Richtung, im Sehfelde in entgegengesetzter mit der Bewegung des Schirmes sich verschoben haben. Gegenstände, die sich mit der Bewegung des Schirmes in ent- gegengesetzter Eichtung im Sehfelde verschieben, liegen hinter der Ebene der Pupille, und um so mehr, je stärker sie sich verschieben. Gegen- stände endlieh, welche schon deutliche Schattenbilder geben, wenn man gegen einen hellen Grund sieht, das sind Gegenstände, die sehr nahe der Netzhaut liegen, denn sonst könnten sie bei einer solchen Oeflfnung, wie sie die Pupille darbietet, nicht schon sichtbare Schatten werfen. Solche Schattenbilder sind z. B. die so häufigen sogenannten Perlschnurspectra. Das homocentrische Licht, das man zum Sehen dieser entommatischen Gegenstände braucht, kann auch noch auf andere Art hergestellt werden. Es kann hergestellt werden durch das Sonnenbild, das von einer Thermo- meterkugel oder einer andern kleinen, glänzenden Kugel reflectirt wird. Es kann hergestellt werden dadurch, dass ich nach einer entfernten Gasflamme durch eine Sammellinse sehe und mir von derselben ein ver- kleinertes umgekehrtes reelles Bild verschaff'e. Es kann endlich dadurch hervorgebracht werden, dass ich durch eine starke Concavlinse nach einer entfernten Gasflamme sehe und mir dadurch ein aufrechtes virtuelles Bild von der Gasflamme verschaffe, dessen Ort sich hinreichend nahe vor den Augen befindet. Alle diese Arten haben aber keinen Vortheil vor dem Schirme mit der kleinen Oefi'nung, der, wenn man über einen hin- reichend hellen Grund disponirt, das beste Mittel ist, um die Gegenstände im eigenen Auge zu sehen. Man sieht Gegenstände in der Hornhaut, der vorderen Augenkammer, Gegenstände, die mit der Structur der Linse zusammenhängen, Gegenstände im Glaskörper. Das ist nach den verschie- denen Augen verschieden. Heutzutage, wo man den Augenspiegel hat, sind diese Wahrnehmungen von keiner besonderen praktischen Bedeutung: früher aber konnte ein intelligenter Patient durch die entommatischen Gesichtswahrnehmungen Aufschlüsse über Dinge in seinem Auge verschaff'en, die dem Arzte unzugänglich waren. Unter gewissen Umständen ist es uns auch möglich, die Gefässe unserer Netzhaut zu beobachten. Purkinje fand zuerst, dass, wenn er in einen dunklen Eaum hineinstarrte und dann im indirecten Sehen eine Lichtquelle, z. B. eine Lampe hielt und sie hin und her bewegte, dass dann nach einiger Zeit immer deutlicher und deutlicher ein Gefässbaum ihm vor dem Auge erschien, der offenbar nichts Anderes war als der Baum der Netzhautgefässe. Es ist das die Erscheinung, welche man mit dem Namen der Purkinje' sehen Aderfigur bezeichnet. Diese ist später von Heinrich Müller aiich noch auf andere Weise hervorgebracht worden. Warum sehen wir die Aderfigur nicht immer, da die Gefässe doch un- mittelbar auf der Netzhaut liegen und also immer ihren Schatten auf dieselbe werfen müssen ? Die Antwort lautet : wir sehen sie deshalb nicht, weil für gewöhnlich der Schatten immer an dieselbe Stelle fällt und wir eben nur Veränderungen an unserer Netzhaut wahrnehmen, das Bleibende aber für uns ein- für allemal verborgen ist. So bemerken wir auch den blinden Fleck für gewöhnlich nicht, welcher durch die Eintrittsstelle des Sehnerven gegeben ist. Wenn nun aber im Auge irgendwo eine Licht- quelle gebildet wird, vermöge welcher die Netzhautgefässe ihren Schatten Entoraraatisches Sehen. '22 1 auf einen andern, auf einen iingewölinlichen Ort werfen, dann sehen wir den Baum der Netzhautgefässe. Das geschieht beim Purkinje' sehen ^^er- suche in der Weise, dass, wenn man eine Lichtquelle im indirectcn 8ehen anbringt, diese auf der sonst dunklen Netzhaut irgendwo seitlich ein Flammenbild hervorbringt; von diesem geht Licht nach allen Seiten aus, und in diesem werfen die Netzliautgefüsse einen Schatten am ungewöhn- lichen Orte. Dieser Schatten ist es, welchen wir als Purkinje'sche Ader- tigur bezeichnen. Purkinje hat noch einen andern Weg eingeschlagen, um die Ader- figur sichtbar zu machen. Er hat das Flammenbild, das als Beleuchtung dienen soll, an Ort und Stelle dadurch hervorgebracht, dass er eine Sammellinse neben dem Auge aufstellte und die Strahlen einer Lichtquelle durch diese Sammellinse auf einen Punkt der Selerotica concentrirte, so dass sie durch die Sclera und die Chorioidea hindui'chgingen und auf der Netzhaut einen Lichtpunkt bildeten, von dem aus sie wieder divergirten und so einen anomalen, sichtbaren Gefässschatten hervorriefen. Auf diese Weise kann die Purkinje'sche Aderfigur noch deutlicher zur Erscheinung gebracht werden als nach dem vorerwähnten Verfahren. S. Exner hat zu- erst auf die anscheinend paradoxe Thatsache aufmerksam gemacht, dass man bei dieser Form des Versuches den direct erleuchteten Fleck der Netzhaut nicht als hell sieht. Es besagt dies auf den ersten Anblick, dass die Zapfen nur erregt werden, wenn das Licht sie von Innen nach Aussen durch- fliesst, dass in umgekehrter Richtung hindurchgehendes Lieht wirkungslos sei; aber Exner macht selbst schon darauf aufmerksam, dass sich die Zapfen diesem Lichte gegenüber in sehr geschützter Lage befinden, so dass möglicher Weise sehr wenig davon in sie eindringt. Heinrich Müller hat diesen Versuch benützt, um eine wichtige Thatsache zu eruiren, die Thatsache, dass die Netzhautclemente, die als erste Angriffspunkte für das Licht dienen, nicht an der vorderen, sondern an der hinteren Fläche der Netzhaut liegen. Wir haben schon gesehen, dass die Figur deutlicher wird, wenn die Lichtquelle sich bewegt. Heinrich Müller hat seine Lichtquelle durch Hin- und Herschieben der Linse bewegt und bemerkt, dass sich dann auch die Aderfigur im Seh- felde bewegte. Nun sehen Sie leicht, dass das nicht wohl möglich wäre, wenn der Angriffspunkt für das Licht ganz vorne auf der Netzhaut liegen würde, da, wo die Gefässe selbst liegen. Wenn ich ein solches Gefiiss einmal von der einen, das andere Mal von der andern Seite beleuchte, so wird dadurch die Lage des Schlagschattens in einer Ebene, die mit der, in der das Gefäss selbst liegt, nahezu zusammenfällt, nicht merklich ver- ändert. Wenn aber die auffallende Fläche für den Schlagschatten weiter nach hinten liegt, dann fällt bei Beleuchtung von verschiedenen Seiten auch der Schlagschatten an verschiedene Orte derselben, er muss sich also auf ihr verschieben, wenn die Lichtquelle bewegt wird. Heinrich Müller mass nun die Verschiebung der Lichtquelle und zugleich auch die Verschiebung, die die Aderfigur im Sehfelde erlitt, und berechnete daraus, wie weit die auffangende Fläche hinter den Gefässcn liegen müsse. Er kam zu dem Resultate, dass die auffangende Fläche in der hintersten Schichte der Netzhaiit, also in der Stäbchenzapfenschichte, liegen müsse. Der Gefässbaum ist uns für gewöhnlich nicht sichtbar, weil er sieh ruhend an einem und demselben Orte befindet und seinen Schatten immer Jjjjjj Bhioculäres Sehen. an einen und denselben Ort wirft ; aber die sieb bewegenden Theile, die Blutkörpereben, sind uns unter Umständen scbon mit freiem Auge siebtbar. Wenn wir gegen einen sebr bellen Grund, z. B. gegen den hell beleuch- teten Himmel seben, so dass die Pupille sebr enge wird, dann seben wir im Sehfelde eine Menge beller Punkte, die sich in einer gewissen Reihen- folge, mit einer gewissen ßegelmässigkeit und in gewissen Pichtungen bewegen. Wenn wir diese Punkte längere Zeit beobachten, so können wir kaum bezweifeln, dass dieselben dem optischen Effecte der Blutkörperchen in den Netzbautgefässen ihren Ursprung verdanken. Sie sind Schlagschatten im physikalischen Sinne des Wortes, aber man muss dabei berücksichtigen, dass Schlagschatten in Polge der Pefraction und der Diffraction nicht überall dunkler sind als der Grund, auf dem sie sich abzeichnen. Binoculäres Sehen. Durch das binoculäre Sehen, durch das gleichzeitige Auffassen mit beiden Augen wird es möglich, dass Pehler und Unvollkommenheiten des einen Auges bis zu einem gewissen Grade durch das andere Auge ausge- glichen werden. Ferner beruhen auf dem binoculären Seben zum guten Theile unsere Vorstellungen von der Körperlichkeit der Dinge und im Zu- sammenbange damit auch die Vorstellungen von der Entfernung der Dinge von uns. Wenn wir einen Gegenstand deutlich sehen wollen, so suchen wir ihn in beiden Augen im sogenannten Centrum retinae, im Grunde der Fovea centralis retinae, abzubilden. Wir suchen also eine gedachte gerade Linie auf ihn zu richten, welche durch den zwischen den Knoten- punkten liegend gedachten Kreuzungspunkt der Sebstrablen und durch das Centrum retinae hindurchgeht. Diese Linie nennen wir die Gesichts- linie. Die Gesichtslinie ist also von allen Sehstrahlen, das beisst von allen geraden Verbindungslinien zwischen Bild und Object, diejenige, welche das Centrum retinae im Grunde der Fovea centralis trifft. Einen Punkt im Sehfelde, auf den eine Gesichtslinie gerichtet ist, nennen wir einen Blickpunkt, und einen Punkt, auf den beide Gesicbtslinien gerichtet sind, an dem also zwei Blickpunkte in einen zusammengefallen sind, be- zeichnen wir mit dem Namen des Fixationspunktes, wir sagen von diesem Punkte, er sei in der Fixation. Die Stellen der Bilder der Blickpunkte, die ja in beiden Augen in den Grund der Fovea centralis, in das soge- nannte Centrum retinae fallen, sind identische Stellen, d. h. ihre Eindrücke werden nicht doppelt, sondern einfach empfunden, indem wir deren Ur- sachen für beide Augen an einen und denselben Ort des Sehraumes ver- setzen. Das fixirte Object wird also einfach gesehen. Denken Sie sich, der Punkt OL Figur 55 sei der Fixationspunkt, so wird dieser in beiden Augen in der Fovea centralis retinae abgebildet, und zwar in a, und a„. Wir sprechen hier zunächst nur von Augen, die eine normale Fixation haben, wir nehmen aus die schielenden, bei denen entweder ein Auge feststeht oder doch nur Bewegungen in beschränkter Ausdehnung macht, oder bei denen das zweite Auge zwar dem ersten in seinen Bewegungen folgt, aber so, dass keine Fixation zu Stande kommt, dass der angesehene Punkt nicht in beiden Augen, sondern nur in einem Auge im Grunde der Fovea centralis retinae abgebildet wird. Denken Sie sich nun, es wäre diesseits von a ein zweiter Punkt ß, und Sie zögen von ihm durch den Kreuzungs- Binofuläres Sehen. 223 punkt der 8ehstrahlen zur Netzhaut hin eine Gerade, um sein Bild zu finden, so wird er in dem einen Auge in ß,, im andern Auge in y,, ab- gebildet werden. Er wird also in beiden Augen nach der Schläfenseite hin abgebildet werden. Das eine Auge muss ihn also im Sehfelde nach links vom fixirten Punkte versetzen, das andere Auge muss ihn nach rechts davon versetzen. Es ist also klar, dass dieser Punkt Doppelbilder geben muss, und zwar sogenannte gekreuzte Doppelbilder, indem, wenn ich das rechte Auge schliesse, das zur linken Hand liegende Doppelbild ver- schwindet, und wenn ich das linke Auge schliesse, das zur rechten Hand liegende Doppelbild verschwindet. Denke ich mir umgekehrt, ich hätte einen Punkt y, der jenseits von a liegt, so wird dieser Punkt, wenn ich von ihm eine Gerade durch den Kreuzungspunkt der Sehstrahlen ziehe, in dem einen Auge in y,, in dem andern in ß,,, in jedem nach der Nasen- seite hin, abgebildet. Das rechte Auge muss ihn also nach rechts von dem fixirten Punkte verlegen und das linke nach links von dem fixirten Punkte. Ich kann also auch diesen Punkt nicht einfach sehen, sondern Fisr. 55. ich muss ihn doppelt sehen, und zwar habe ich hier sogenannte gleich- sinnige Doppelbilder, indem, wenn ich das rechte Auge schliesse, das rechte Doppelbild verschwindet, und wenn ich das linke Auge schliesse, das linke Doppelbild verschwindet. Die Doppelbilder werden im Allgemeinen weniger deutlich gesehen als die einfachen Bilder von Gegenständen, die in der Gegend des Fixations- punktes liegen : erstens, weil jedes Doppelbild nur auf einer Netzhaut ab- gebildet wird, und auf der anderen Netzhaut an der betreffenden Stelle etwas Anderes abgebildet ist, zweitens, weil die Doppelbilder im indirecten Sehen liegen, und drittens, weil das Auge für die Entfernung der Gegen- stände, welche Doppelbilder geben, in der Eegel nicht eingestellt ist. Für gewöhnlich und bei der Mehrzahl der Individuen stellt sich das Auge für die Entfernung ein, in welcher sie fixiren, es müssen also sowohl die Gegenstände diesseits als jenseits weniger deutliche Bilder geben. Dies letztere kann allerdings mitunter nicht der Fall sein. Es kann z. B. ein Kurzsichtiger einen ferneren Gegenstand fixiren, er kann mit der Fi.xation über seine Sehweite hinausgehen, so dass er zwar den Gegenstand noch 224: Binocnläres Sehen. einfach, aber nicht mehr deutlich sieht : dann kann er von einem Gegen- stande, der diesseits liegt, und für welchen sein Auge besser accommodirt ist als für den fixirten, Doppelbilder haben, die nun reiner contourirt sind als das Bild des fixirten Gegenstandes selbst. Im Allgemeinen aber folgt, wie gesagt, die Accommodation der Fixation, so dass die Accommo- dation sich für dieselbe Entfernung anpasst, für welche sich die Conver- genz der Gesichtslinien einrichtet, das heisst für die Entfernung, in der die Gesichtslinien beider Augen einander treffen. Es hat daher seine Schwierigkeiten, und man erlangt es erst durch Uebung, die Convergenz der Sehaxen bis zu einem gewissen Grade von der Accommodation unab- hängig zu machen, so dass man z. B. seine Gesichtslinien in einem ver- hältnissmässig nahe liegenden Punkte kreuzen und dabei doch an einer entfernten Wand deutlich sehen kann. Wenn ich aus der Fixation für einen näheren Gegenstand in die für einen entfernteren übergehe, muss ich meine Gesichtslinien mehr parallel stellen, wenn ich aus der Fixation für einen entfernteren in die für einen näheren übergehe, muss ich meine Gesichtslinien stärker conver- giren lassen. Da ich dies nun fortwährend beim Ansehauen der körper- lichen Welt thue, so ist es klar, dass ich hierin einen Massstab für die Nähe und die Entfernung eines Gegenstandes habe. Schon Keppler sagt, die Linien, durch welche die Drehpunkte der beiden Augen verbunden sind, seien die trigonometrische Basis, auf Grund welcher wir die Ent- fernung der Gegenstände von uns absehätzen. Dass in der That das Zu- sammenwirken beider Augen für das Schätzen der Entfernung von Wich- tigkeit ist, das sieht man an den Einäugigen. Diese sehätzen freilich Entfernungen ganz gut da, wo ihnen äussere Hilfsmittel, die Gegenstände, die sich zwischen ihnen und einem bestimmten Objecte befinden u. s. w., zu Hilfe kommen ; wenn sie aber dieser Hilfsmittel bar sind, und wenn zugleich die Entfernungsunterschiede nicht gross genug sind, damit sie ihnen an der Accommodation, an der Einstellung ihres Auges, fühlbar werden, dann sind sie im hohen Grade unsicher. Ich weiss von einem einäugigen Maler, der in der Anschauung und Reproduction der Objecte durchaus nicht behindert war, da ja alle Bilder so gemalt werden, als ob die dargestellten Dinge mit einem Auge gesehen wären, der aber, wenn er malen wollte, wenn er seinen Pinsel auf die Leinwand bringen wollte, nicht den Zeitpunkt wusste, in dem der Pinsel die Leinwand be- rührte. Er musste sich ihr mit einer gewissen Vorsicht nähern, und erst, wenn der Pinsel auf der Leinwand angelangt war, konnte er ruhig weiter malen. Wenn man Jemandem ein Auge zuhält und ihm dann eine nach der Fläche gekrümmte Scheere vorhält, so räth er nicht selten falsch, wenn man ihn fragt, ob ihm die con-cave oder die convexe Seite zugekehrt sei : lässt man ihn dies aber mit beiden Augen be- urtheilen, so räth er nicht falsch, weil er aus dem Zusammenwirken beider Augen sieht, ob ihm das Schloss oder die Spitze der Scheere näher ist. Rollet hat einen Apparat construirt, der in recht auffälliger Weise zeigt, wie wir je nach der Convergenz unserer Sehaxen die Entfernung schätzen. In einem Gestelle befinden sich zwei dicke planparallele Prismen A und B aus Glas. Diese sind so gegeneinander gesteht, dass sie mit einander einen rechten Winkel einschliessen. Wenn nun dem Punkte K Binocnläres Sehen. 225 des Winkels zugekehrt ist, so machen die Strahlen, um zu m und n zu gelangen, einen Weg, wie er in Figur 5(5 dar- Sie o-elangen also zum Auge, als ob sie von dem näherliegenden Fig. 56. die Spitze den Augen gestellt ist. Punkte K, ausgegan- gen wären. An einem Drahte befinden sich nun in K übereinan- der zwei ganz gleiche Holzschienen, die an demselben so ange- bracht sind, dass die eine durch die Pris- men, dieanderegleich- zeitig mit freien Ausen gesehen werden kann. Dann erscheint die, welche durch die Prismen gesehen wird, näher und kleiner als die andere. Nun kehrt man die Prismen um, so dass der Winkel gegen das Objeet hin offen und gegen das Gesicht des Beobachters geschlossen ist. Dann er- scheint umgekehrt die durch die Prismen gesehene Schiene grösser und entfernter als die andere. Dass jedesmal die Schiene, die uns entfernter erscheint, sich als die grössere darstellt, beruht darauf, dass unser IJrtheil über die Grösse eines gesehenen Objects auf Grundlage der Grösse des Netzhautbildes und der Entfernung, welche wir dem Objecte zuschreiben, gefällt wird. Wenn wir also in der Convergenz unserer Sehaxen eine Grundlage für das Schätzen der Entfernungen haben, so muss ja damit auch unsere ganze räumliche Vorstellung und das ganze körperliche Sehen überhaupt zusammenhängen. Dies ist auch in der That der Fall. Diese Grundlage verliert aber immer mehr an Sicherheit, je grösser die Entfernung wird, weil zuletzt unsere trigonometrische Basis für die zu messende Entfernung zu klein wird, und darum sind wir später, um ein Urtheil über die Ent- fernung abzugeben, auf andere Dinge angewiesen, auf die sogenannte Luft- perspective, auf die scheinbare Grösse bekannter Gegenstände, auf die Menge der Gegenstände, welche sich zwischen uns und den Gegenständen befinden, deren Entfernung wir schätzen. Es stellt sich dabei heraus, dass wir, je mehr uns unser erstes Hilfsmittel und diese weiteren Hilfsmittel im Stiche lassen, um so mehr die Entfernung unterschätzen, niemals über- schätzen. Wenn man eine entfernte Gebirgskette ansieht, wenn Sie z. B. auf die hohe Warte gehen und die kleinen Karpathen ansehen, so scheint es, als ob diese Berge steil anstiegen, während sie in der That schwach geneigte Abhänge haben. Wenn Sie Gebirgsketten hintereinander aufsteigen sehen, so scheinen sie, auch wenn sie meilenweit von einander entfernt sind, coulissenartig hintereinander aufgestellt zu sein. Erst wenn Sie sich ihnen nähern, so sehen Sie, dass sie mit verhältnissmässig sanften Abdachungen ansteigen, dass weite Thäler zwischen ihnen liegen, kurz, dass Sie grosse Entfernungen in auffälligster Weise unterschätzt haben, weil Ihnen eben die gewöhnlichen Mittel abhanden gekommen sind, ver- möge welcher wir Entfernungen schätzen. Brücke. Vorlesungen. 11. 4. Aufl. 15 226 Stereoskope. Fig. 58. Stereoskope. Mit diesem körperlichen Sehen, damit, dass wir die Entfernung der Gegenstände nach der Convergenz unserer Sehaxen bemessen, hängt ein Instrument zusammen, welches von dem englischen Physiker Wheatstone in seiner ersten Gestalt erfunden wurde, das Stereoskop. Das ursprüng- liche Wheatstone' sehe Stereoskop besteht aus zwei Spiegeln, welche unter nahezu rechtem Winkel aneinander Fig. 57. gelegt sind, und aus zwei seitlichen Laden , in welchen perspectivische Zeichnungen eines und desselben Gegenstandes eingeschoben werden, aber perspectivische Zeichnungen der Art, dass das eine Mal der Gegen- stand gezeichnet ist, wie er mit dem rechten Auge gesehen wird, und das andere Mal der Gegenstand gezeich- net ist, wie er mit dem linken Auge gesehen wird. Wenn man nun die eine Zeichnung, die vom linken Auge, an die rechte, und die vom rechten Auge an die linke Seite legt, so entstehen Spiegelbilder, die im Sehfelde übereinander fallen, und aus diesen Spiegelbildern entsteht uns das Relief des Körpers, wir glauben den Körper selbst vor uns zu sehen. Wir wollen mit einem recht einfachen Gegen- stande beginnen. Denken Sie sich, Sie hätten einen abgestumpften Kegel, und Sie bringen ihn der Nasen- wurzel gegenüber ziemlieh nahe vor die Augen, so wird er jedem der beiden Augen als aus zwei Krei- sen bestehend erscheinen, einem grösseren, der der Basis entspricht, und einem kleineren, der der Ab- stumpfungsfläche entspricht. Diese Abstumpfungs- fläche wird aber für beide Augen nach verschiede- nen Seiten aus dem Centrum gerückt sein. Nun den- ken Sie sich zwei entsprechende Zeichnungen, A und B, Figur 57, eine für das linke und die andere für das rechte Auge ins Stereoskop gelegt, so fallen ihre Spiegelbilder wie in l cf Figur 58 im Sehfelde übereinander. Denken Sie sich weiter, Ihre Gesichts- linien convergirten zunächst für den Punkt c so, dass die beiden grossen Kreise auf identischen Stellen der Netzhäute abgebildet würden und im Sehfelde in den hier perspectivisch gezeichneten Kreis If zusammen- fielen: dann bildet sich der kleine Kreis in den bei- den Augen auf verschiedenen, auf nicht identischen Stellen der Netzhäute ab. Sie müssen, um ihn ein- fach zu sehen, Ihre Gesichtslinien convergiren lassen für einen näheren Punkt, für d, und die Folge davon ist, dass Sie die Entfernung dieser beiden, jetzt in einen zusammenfallenden Kreise geringer schätzen, als sie ist. Es schiebt sich der kleinere einfach gesehene Kreis vor den grösseren, es ist, als ob er in r n läge, und ich habe dadurch Stereoskope. 227 das Bild eines abgestumpften Kegels ^ r 7i / im Relief. Wenn wir gefragt werden, warum wir denn hiebei über die Doppelbilder hinwegsehen und eben nur die einfachen Gesichtseindrüciie wahrnehmen, so lautet die Ant- wort darauf, dass wir das immer thun: denn wir sehen ja, wenn wir die Aussenwelt ansehen, viel mehr Doppelbilder als einfache Bilder und nichts- destoweniger nehmen wir von jenen nichts wahr. Wir nehmen nur die einfachen Gesichtseindrücke wahr, und es bedarf einer besonderen An- strengung, einer besonderen Ueberlegung, um die Doppelbilder wahrzu- nehmen, zum Bewusstsein zu bringen. Wenn ich die Doppelbilder wahr- nehmen will, dann muss ich erst einen Punkt ganz fest fixiren, so dass meine Gesichtslinien fest in ihm vereinigt sind, und nun muss ich mir erst geflissentlich die entstehenden Doppelbilder zur Anschauung bringen. Gerade dasselbe geschieht auch hier im Stereoskop. Wenn ich meine Gesichtslinien fest und dauernd für eine bestimmte Entfernung einstelle, so fällt das Belief in zwei Flachbilder auseinander. Manchmal sieht man im ersten Augenblicke, wenn man in das Instrument hineinsieht, die Doppelbilder, aber meistens nach verhältnissmässig kurzer Zeit vereinigen sie sich vollständig miteinander. Wir sehen also beim ruhigen stereosko- pischen Sehen gerade so wie beim Sehen der körperlichen Dinge der Aussenwelt mit schwankenden Sehaxen, das heisst, wir gehen bald aus einer näheren Fixation in eine entferntere und umgekehrt über und sehen also die verschiedenen Theile der Zeichnung nacheinander einfach. Aus den veränderlichen, aus den wandernden Bildern auf unseren Netzhäuten entsteht für uns die Vorstellung des Körperlichen, des Vertieften und des Erhabenen. Dieser Anschauung steht anscheinend eine vielfach bestätigte That- sache entgegen. Dove hat gezeigt, dass man Gegenstände auch stereo- skopisch sieht in einem so kurzen Zeiträume, dass in diesem gar kein merkliches Schwanken der Sehaxen stattfinden kann. Wir wissen, dass der elektrische Funke eine sehr kurze Zeit dauert, dass ein sich drehender Farbenkreisel, der durch denselben beleuchtet wird, stillzustehen scheint. Man kann also sicher sagen, dass die Gesichtslinien keine merkliche Be- wegung während der Dauer des elektrischen Funkens machen können, und doch erblickt man, wenn man in das Stereoskop hineinsieht, beim Lichte des elektrischen Funkens die Gegenstände, wenn nicht immer, doch häufig noch körperlich. Diese Beobachtung steht anscheinend nicht in Ueberein- stimmung mit der Vorstellung, die wir uns bis jetzt gemacht haben, mit der, dass wir die näheren Gegenstände dadurch einfach sehen, dass wir die Gesichtslinien stai'k convergiren lassen, dass wir sie dann für die ent- fernteren weniger stark convergiren lassen, und dass hieraus uns die Idee von der dritten Dimension, von der Tiefe des Raumes erwächst. Die Sache ist aber folgende. Eine Gesichtswahrnehmung muss, um vorgestellt zu werden, zu einem bestimmten concreten Abschluss gelangen. Das Ge- hirn übernimmt es, das, was an dem unmittelbaren Sinneseindruck mangel- haft ist, zu ergänzen. Wir könnten nach dem momentanen Sinneseindrucke erst einmal die Doppelbilder sehen, welche thatsächlich diesen momentanen Sinneseindi'uck darstellen. Ueber Doppelbilder aber sind wir unser ganzes Leben lang gewöhnt hinwegzusehen, die nehmen wir nur mit Schwierig- keit wahr, wir müssen erst einen bestimmten Punkt fixiren, damit uns die übrigen Punkte, die näher oder ferner liegen, in Doppelbilder auseinander- 15* 228 Stereoskope. weichen. Dass der momentane Gesichtseindmek den Erfolg haben wird, die Doppelbilder zur Anschauung zu bringen, ist also keineswegs wahr- scheinlich, und in der That hat er auch diesen Erfolg nur bei einzelnen Individuen oder unter gewissen künstlich hergestellten Bedingungen, die dem Erscheinen von Doppelbildern besonders günstig sind. Welch' andern kann er dann haben? Er kann den Anstoss zu einer räumlichen Vor- stellung geben, gerade so, wie, wenn wir die Augen öffnen und die Dinge um uns im ersten Momente erblicken, wir auch nur den ersten Anstoss zu der räumlichen Vorstellung haben und diese dann erst weiter vervoll- ständigen. In unserem Gehirne gehen die Dinge wie in einem Kaleidoskop. Wenn der erste Anstoss erfolgt ist, wenn die Dinge ins Rutschen ge- kommen sind, so mnss immer eine in sich abgeschlossene Eigur entstehen, und eben diese ist hier die Vorstellung vom Relief. Es geben daher schon die beiden perspectivischen Ansichten, die wir von dem Körper bekommen, dadurch, dass wir ihn mit dem rechten und zugleich auch mit dem linken Auge ansehen, das Materiale für die ganze räumliche Vorstellung ab, und das Schwanken der Sehaxen ist nicht absolut nothwendig, um sie zum Bewusstsein zu bringen. Man darf sich dies nicht so vorstellen, als ob man aus den beiden perspectivischen Flachbildern das Relief abstrahire, denn das würde voraussetzen, dass diese Flachbilder als solche wahr- genommen werden, was thatsächlich nicht der Fall ist. Man muss sich vorstellen, dass die beiden Bilder im Gehirn den Anstoss zu einer Reihe von Vorgängen geben, die denen analog sind, welche beim dauernden Anschauen des Körperliehen statthaben. Hiermit hängt es auch zusammen, dass wir den Eindruck des Körper- lichen viel weniger entschieden und energisch bei momentaner Beleuchtung eines Gegenstandes haben, als wir ihn bei dauerndem Ansehen desselben Gegenstandes erhalten. Wenn wir ein Zimmer mit den Gegenständen, die darin sind, mittelst eines elektrischen Funkens beleuchten, so sehen wir alle Dinge im Zimmer, wir sehen sie qualitativ nicht anders, als wie wir sie sonst sehen, wir sehen sie nicht etwa in Doppelbildern, weil wir keine Zeit haben, solche zu entwickeln. Es erwächst uns die allgemeine Vor- stellung von den körperlichen Dingen, wie sie im Zimmer verbreitet sind, aber sie erwächst uns nicht mit der Vollkommenheit, mit der Schärfe, mit welcher wir den Eindruck haben, wenn wir alle diese Gegenstände nach einander in Fixation bringen können. In derselben Weise unterscheidet sich das stereoskopische Sehen, das heisst das Sehen der Trugbilder im Stereoskop, bei momentaner Beleuchtung und bei dauernder. Wenn ich bei momentaner Beleuchtung in das Stereoskop sehe, so nehme ich meistens kein Doppelbild wahr, ich bringe die verschiedenen Ansichten, die beide Augen wahrnehmen, auch zu einem Körperlichen zusammen ; aber dieses Körperliche hat etwas Schemenliaftes, es hat nicht die Bestimmtheit, welche es gcAvinnt, wenn man dauernd in das Stereoskop hineinsieht. Wenn man sich aiifmerksam beobachtet, wird man bemerken, dass, wenn man im ersten Momente hineinblickt, die Vorstellung des Körperlichen auch nicht so scharf hervortritt, als nachdem man bereits kurze Zeit hineingesehen. Wenn man Zeit gehabt, die verschiedenen Theile der Bilder durch ver- schiedene Convergenz ztir Deckung zu bringen, dann vertieft sich das Ganze, dann bekommt man die volle Vorstellung von der Räumlichkeit der Objecte. Stereoskope. 229 Damit, dass schon die beiden pcrspectivischen Ansichten, die die beiden Augen haben, an und für sich genügen, um in unserer Vorstellung das Körperliche aufzubauen, hängt es zusammen, dass wir, wie Hering gezeigt hat, den Eindruck des Käumlichen unter Umständen haben, wo wir dem Gegenstande auch bei dauernder Beleuchtung nicht mit der Con- vergenz unserer Sehaxen folgen können. Denken Sie sich, ich hielte einen Stab in einer gleichen Entfernung von beiden Augen und drehte ihn in der Medianebene so, dass sich mir das obere Ende nähert, das untere von mir entfernt, so werde ich diese drehende Bewegung wahrnehmen. Ich werde bemerken, dass sich das obere Ende des Stabes mir zudrehe, und dass das untere Ende des Stabes sich von mir entferne ; und doch könnte ich ja nicht gleichzeitig meine Gesichtslinien stark convergiren lassen, um das nähere Ende des Stabes einfach zu sehen, und zu gleicher Zeit schwächer, um das entferntere Ende desselben einfach zusehen. Hering hat im Stereoskop eine solche Bewegung als Scheinbewegung zu Stande gebracht, indem er die Bilder eines solchen Stabes in entsprechender Weise in den Bildebenen bewegte. Auch hier kommt derselbe Effect zu Stande, auch hier hat man die Scheinbewegungen, obgleich man thatsächlich nicht gleichzeitig das eine und gleichzeitig das andere Ende des Stabes hat zur Vereinigung bringen können. Der Einfluss zweier verschiedener perspectivischer Ansichten macht sich auch geltend, wenn beide nach einander einem und demselben Auge dargeboten werden. Wenn man unter dem einfachen Mikroskope eine Gefässinjection betrachtet, so sieht man sie körperlich, das heisst so, wie man etwa auch ein gut gemaltes Bild körperlich sehen würde; aber der Eindruck des Körperlichen wächst und drängt sich uns mit unwider- stehlicher Gewalt auf, sobald wir das Auge hin und her bewegen und uns so nach einander vörschiedene perspectivische Bilder der Injection verschaffen. Wir ziehen eben unbewusste Schlüsse aiis allen Sinncseiu- drücken, aus welchen sie gezogen werden können, und die ganze Welt unserer Vorstellungen setzt sich aus solchen Schlüssen zusammen. Es fragt sich nun, was geschieht, wenn ich beiden Augen Dinge darbiete, die sie überhaupt nicht zur Vereinigung bringen können, wenn ich z. B. dem einen Auge im Stereoskop einen Kreis darbiete, in Avelchen ein S gezeichnet ist, und dem andern Auge einen Kreis, in welchem ein T gezeichnet ist? Dann werde ich freilich im gemeinsamen Sehfelde die beiden Kreise zur Deckung bringen, aber die beiden Buchstaben kann ich natürlich nicht in einen gemeinsamen Eindruck vereinigen. Nun entsteht der sogenannte Wettstreit der Sehfelder, man sieht momentan beide Buchstaben, aber schwächer gezeichnet als den umgebenden Kreis : dann verschwindet abwechselnd der eine und der andere, manchmal bricht auch der eine ent- ZAvei, dann der andere, so dass man von jedem derselben ein Stück sieht. Was geschieht, wenn das eine Auge hell sieht da, wo das andere dunkel sieht? Dann hat man auch zwei Eindrücke, welche man nicht zur Vereinigung bringen kaim. Nehmen wir an, ich hätte die beiden Bilder A und B Figur 59. Die eine Pyramide hat schwarze Flächen iind weisse Kanten, die andere hat weisse Flächen und schwarze Kanten. Ich stecke beide in das Stereoskop, um sie zur Vereinigung zu bringen. Dann sehe ich eine grane Pyramide, die aber glänzt. Sie sieht aus, als sei sie aus Graphit geschnitten. 230 Stereoskope. Es fragt sich: woher kommt hier der Eindruck des Glanzes? Der Eindruck des Glanzes stammt aus einem unbewussten Schlüsse. Wenn ich einen matten Körper an- Fig. 59. sehe, so sind zwar die beiden Netzhautbilder in ihren Zeichnungen ungleich, aber sie sind insofern einander ganz ähnlich , dass überall, wo das eine Auge dun- kel sieht, das andere Auge auch dunkel sieht, und wo das eine Auge hell sieht, auch das an- dere'hell sieht. Anders verhält es sich bei glän- zenden Gegenständen. Vermöge der Spiege- lung werden hier Par- tien, die von dem einen B Auge hell gesehen werden, von dem andern Auge dunkel gesehen und umgekehrt. Jetzt biete ich nun meinen Augen Bilder dar, "durch welche das eine Auge gezwungen ist, da hell zu sehen, wo das andere dunkel sieht. Dann heisst es in mir: So etwas ist mir niemals passirt, wenn ich auf einen matten Gegenstand gesehen habe, so etwas ist mir nur passirt, wenn ich auf einen glänzenden Gegenstand gesehen habe, und folglich urtheile ich mittelst eines unbewussten Schlusses, dasa der Körper, den ich unter dem Stereoskope sehe, glänze. Hierauf beruht es auch, dass in den stereoskopischen Bildern der wirkliche Glanz der Gegenstände wiedergegeben wird, mit einer Wahrheit, mit der ihn ein Flachbild nie- mals wiedergibt. Man hat stereoskopische Bilder italienischer Interieurs, z. B. aus dem Vatican, in denen sich geschliffene Marmorsäulen und Fuss- böden befinden, die glänzen. Wenn man die stereoskopischen Bilder mit freiem Auge ansieht, so bemerkt man an ihnen nichts Anderes als an jeder anderen Photographie ; wenn man sie aber in das Stereoskop hinein- legt, so erscheint der geschliifene Marmor wirklich glänzend, einfach des- wegen, weil Licht und Schatten in den beiden stereoskopischen Bildern nicht gleichmässig vertheilt sind und wir deshalb mit einem Auge an derselben Stelle dunkel sehen, an der wir mit dem andern hell sehen. Es wird also hier im Stereoskope die Vorstellung des Glanzes nach den- selben Principien in uns erzeugt, wie sie durch das Anschauen der Gegenstände selbst erzeugt wird. Man hat sich dies zu Nutze gemacht, um eine Täuschung bei anderen Interieurs hervorzubringen, in denen hängende Glaslustres dargestellt sind. Um die glänzenden Punkte der facet- tirten Gläser hervortreten zu lassen, hat man nur in einem stereoskopischen Bilde die Lichtpunkte an denselben durchgeprickelt, so dass diese be- sonders hell sind und also an gewissen Stellen das eine Auge besonders hell, das andere dunkler sieht, und folglich wiederum die Vorstellung des Glanzes in uns wachgerufen wird. Auch wenn Sie farbige Zeichnungen auf farbigem Grunde durch farbige Gläser ansehen, können Sie sich Stereoskope. 231 dadurch die Vorstellung des Glanzes hervorrufen. Einen solchen Versuch hat Dove angegeben, von dem auch der früher erwähnte ülaiizversuch herrührt. Er führte eine blaue Zeichnung auf rothem Grunde aus und sah sie an, indem er vor das eine Auge ein rothes und vor das andere ein blaues Glas setzte. Dabei erscheint durch das rothe Glas die blaue Zeichnung beinahe schwarz, der rothe Grund aber hell, während durch das blaue Glas der rothe Grund sehr dunkel und die blaue Zeichnung hell erscheint. Sieht man durch beide gleichzeitig, so scheint die ganze Figur zu glänzen. Was geschieht, wenn ich ohne grossen Hclligkeitsunterschied beiden Allgen verschiedene Farben darbiete? Ich kann dies im Stereoskope thun. Ich mache zwei Tafeln, die in der Weise farbig sind, dass jede ein rothes und ein blaues Feld hat, und auf der einen das rothe Feld breiter ist als das blaue Feld, auf der andern das blaue breiter als das rothe. Wenn ich diese beiden im Stereoskope zur Vereinigung bringe, dann habe ich auf der einen Seite einen Streifen, der roth ist, und auf der andern Seite einen Streifen, der blau ist. In der Mitte muss das Resultat derjenige Eindruck sein, der dadurch hervorgebracht wird, dass das eine Auge von Blau, das andere von Roth getroffen wird. Dieser Eindruck ist Violett. Die Farben kommen also zur Mischung. Man kann das noch auf andere Weise wahrnehmen. Man bringt ein blaues Glas vor das eine Auge und ein gelbes vor das andere Auge. Da hat man freilich anfangs einen Wett- streit der Sehfelder, man sieht bald Blau, bald Gelb. Wenn man aber einen bestimmten Punkt auf weissem Grunde fest fixirt, so verschwinden alle Farben, das Gelb, und das Blau eompensiren sich, und man hat blos den Eindruck, als ob man diirch eine Rauchbrille sähe. Sobald man das eine oder das andere Auge schliesst, treten natürlich die Farben wieder hervor. Also zwei Farben, von welchen die eine das eine Auge, die andere das andere Auge trifft, bringen ihre Mischfarbe hervor, beziehungsweise, wenn es complementäre Farben sind, heben sie einander auf. Das ist ein Satz von grosser Tragweite, weil er von vorneherein alle physikalischen Erklärungen, alle Erklärungen nach dem Principe der Interferenz, für die Farbenmischung ausschliesst. Denn es ist klar, dass, um Interferenz her- vorzubringen, die Wellenzüge als solche auch wirklich zusammenkommen müssen. Wenn die Mischung auch hervorgebracht wird, indem die eine Farbe nur die eine Netzhaut und die andere Farbe nur die andere Netz- haut trifft, so geht daraus mit Sicherheit hervor, dass die Farbenmischung kein physikalischer, sondern ein physiologischer Process ist. Das Stereoskop selbst, das für die Theorie des hinoculären Sehens so fruchtbar geworden ist, ist in seiner Construction wesentlich verändert worden, und zwar ist die jetzt gebräuchliche Construction von Brewster angegeben. Das Brewster'sche Stereoskop ist ein dioptrisches Stereoskop. Denken Sie sich, es lägen zwei stereoskopisch zu vereinigende Zeichnungen so vor Ihnen, dass die entsprechenden Punkte der Zeichnungen keine grössere Entfernung von einander hätlen als die Drehpunkte Ihrer beiden Augen. Wenn Sie nun Ihre Gesichtslinicn für die unendliche Ferne ein- stellen und einen Schirm dazwischen bringen, so dass Sie mit -dem einen Auge nur die eine, mit dem andern Auge die andere Zeichnung sehen, so müssten diese im Sehfelde zusammenfallen. Nun liegt es erstens nicht 232 Stereoskope. in Jedermanns Macht, seine Gesichtslinien willkürlich parallel zu stellen, und zweitens würde bei einem Versuche in dieser Gestalt auch die Aus- dehnung der Zeichnungen sehr be- ^'^' ''°' schränkt sein. Wenn die correspon- direnden Punkte einmal weiter von einander rückten, als die Drehpunkte unserer Augen von einander entfernt sind, so sollten wir unsere Gesichts- linien divergirend stellen, um sie zu vereinigen, und das können wir in der Regel nicht. Es gibt aber ein leichtes Hilfsmittel, um diese Zeich- nungen, die nebeneinander liegen, im Sehfelde übereinander fallen zu lassen. Denken Sie sich, a e h und b g c seien die Zeichnungen, denken Sie sich, A und B seien meine beiden Augen, und ich lege vor jedes Auge ein Prisma mit der brechenden Kante nach der Nasenseite hin, also umgekehrt von der Lage, in welche wir die prismatischen Gläser für unsere prismatischen Brillen bringen ; so werden die Strahlen e n und g m in der Weise gebrochen werden, wie es die Figur 60 zeigt, e wird für das Auge A nach b, g wird für das Auge B auch nach h verschoben werden, und jetzt fallen die beiden Zeichnungen im Sehfelde übereinander. Jetzt kann ich mir die Zeichnungen noch ver- grössern, indem ich mir auf jedes Prisma noch eine planconvexe Sammel- linse klebe, wie dies in der Figur 60 dargestellt ist. Dann sehe ich diese beiden Bilder durch eine Lupe an. Nun kann ich aber von vorneherein, und das geschieht thatsächlich, zwei prismatische Sammelgläser schleifen und diese gleich benützen, erstens um die Zeichntmgen zu vergrössern, zweitens um ihre Bilder in der Weise im Sehfelde zu verschieben, dass sie im Sehfelde übereinander fallen. Wenn Sie sich also denken, Sie nehmen aus einer Dissectionsbrille die Gläser heraus und drehen sie so herum, dass das, was in der Brille an der Schläfenseite war, jetzt an der Nasenseite liegt, so haben Sie Gläser, wie sie in das Brewster'sche Stereo- skop hineingehören. Helmholtz hat noch ein sogenanntes Telestereoskop construirt. Dieses besteht aus zwei Spiegeln, c d und c e, und aus zwei anderen Spiegeln, g f und li i. Nun denken Sie sich, a wäre das linke Auge vmd b das rechte, und ich sehe in diese Spiegel hinein, so werden sich ent- fernte Gegenstände durch doppelte Reflexion spiegeln. Das Auge a wird diese Gegenstände in derselben Weise sehen, wie das von ihm selbst durch doppelte Reflexion erzeugte Spiegelbild a, die Dinge sehen würde, und das Auge b wird die Dinge sehen, wie sie sein durch doppelte Re- flexionen erzeugtes Spiegelbild b, sehen würde. Es ist also so, als ob sich die beiden Augen viel weiter von einander entfernt, das eine in a,, das andere in 6,, befänden. Die trigonometrische Basis, von welcher aus ich Entfernungen schätze, ist vergrössert, und ich sehe jetzt Gegenstände, die ich früher unter einem kleinen Convergenzwinkel der Gesichtslinien gesehen habe, unter einem viel grösseren. Ich werde daher, entsprechend Horopter. 233 dem grösseren Convei'genzwinkel der GesichtslinieTi, die Gegenstände für viel näher halten. Ich werde, da ich sie für näher halte, sie auch für kleiner halten, und weil die Ungleichheit der Ketzhautbildcr in beiden Augen jetzt viel grösser ist, als wenn ich mit freiem Auge sehe, so werde ich auch die Tiefendimensionen viel besser beurthcilcn können, als ich Fig. 61. a i ^JJ^y es früher gekonnt, indem viel grössere Veränderungen im Convergenz- winkel meiner Gesichtslinien nothwendig sind, um einmal einen ferneren und ein anderes Mal einen näheren Punkt in die Fixation zu bringen. Ich werde die Gegenstände sehen, als ob sie in kleinen, in zwerghaften Dimensionen ausgeführt und nahe vor mir wären. Horopter. Wir haben uns bis jetzt immer begnügt zu sagen: Wenn ein Gegen- stand weiter von uns entfernt ist als der Fixationspunkt, wird er doppelt gesehen, und wenn ein Gegenstand näher ist als der Fixationspunkt, so wird er auch doppelt gesehen. Nun fragt es sich : welche Punkte zwischen den entfernteren und den näheren werden denn ausser dem Fixationspunktc einfach gesehen ? Denken Sic sich, ich hätte in a mein linkes Auge und in h hätte ich das rechte ; / sei der Fixationspunkt. Denke ich mir durch die Drehpunkte meiner beiden Augen und durch den Fixationspimkt einen Kreis, und untersuche ich, ob mir der Punkt c in demselben einfach oder doppelt erscheinen muss, so finde ich, dass ich beide Augen um gleich viel Grade nach links wenden müsste, um ihn in die Fixation zu be- kommen, denn c K f und c T f sind Peripheriowinkel auf demselben Bogen. Er wird also beiden Augen um gleichviel nach links von dem einfach gesehenen Fixationspunkte / und somit auch einfach erscheinen. Auf die- selbe Weise lässt sich für jeden anderen Punkt dieses Kreises darthun, er einfach gesehen werden muss. Der Kreis ist der Horopterkrcis 234 Horopter. Fig. 62. von Johannes Müller, indem wir mit dem Namen Horopter den In- begriff der Punkte bezeichnen, die gleichzeitig einfach gesehen werden. Nun denken Sie sich, ich hätte in / eine senkrechte Linie aufgerichtet, wobei vorausgesetzt ist, dass / hier in der Median- ebene liegen soll, die ich mir durch meinen Kopf hindurchgelegt denke. Dann wird, wenn ich irgend einen Punkt dieser Linie betrachte, für beide Augen dieselbe Bewegung nach aufwärts oder dieselbe Bewegung nach ab- wärts nothwendig sein, um den Punkt in die Fixation zu bringen ; er wird also für beide Augen senkrecht über oder senkrecht unter dem Fixationspunkte liegen und für beide Augen gleich hoch über dem Fixationspunkte oder gleich tief unter ihm. Alle Punkte dieser Linie müssen somit von beiden Augen an einem und demselben Orte und somit einfach gesehen werden. Nun haben aber die Untersuchungen von Helmholtz und von Hering gezeigt, dass dieser Horopter nur für einen speciellen Fall gilt. Diesen Fall müssen wir jetzt näher definiren. Es gibt für jedes Auge eine Lage, welche man die Primärlage nennt. An diese Lage knüpft sich ein wichtiges Gesetz über die Augenbewegungen, das von Listing aufgestellt wurde und nach ihm das Listing' sehe Gesetz genannt wird. Dieses Gesetz sagt uns, dass, wenn ein Auge sich in der Primärlage befindet und in irgend eine andere Lage übergeht, es sich jedesmal um eine Axe dreht, welche auf einer Ebene senkrecht steht, die der alten Gesichtslinie und der neuen Gesichtslinie gemeinschaftlich ist, in der sowohl die alte als die neue Gesichtslinie liegt. Diese Primärlage des Auges lässt sich ermitteln, indem man auf einem Brettchen A B ein zweites Holzstück in der Weise be- festigt, wie es Figur 63 nach Helm- holtz zeigt. Bei A wird auf beiden Seiten Siegellack aufgeträufelt, in das man, wenn es zu erhärten beginnt, die Zähne hineinbeisst, damit das Brettchen ein- für allemal dieselbe Lage gegen den Kopf des Beobachters behält. Nun bringt man an dem aufrechtstehenden Holzstücke den verschiebbaren Papierstreifen C C, an, . der, je nachdem man kurzsichtig oder weitsichtig ist, näher oder weiter vom Auge entfernt und hinreichend starr, aus Kartenpapier geschnitten sein muss. Dann blickt man nach einem entfernten Punkte und lässt die Doppelbilder dieses Papierstreifens so übereinander fallen, dass sie sich mit ihren Enden decken. Dann schneidet man so lange ab, bis die Enden A Gehör. 235 der Bilder sich gerade berühren und somit die Länge des Papierstreifens gerade der Entfernung der Drehpunkte der beiden Augen von einander gleich ist. Jetzt ist das Instrument zugerichtet und man kann darangehen, die Primärstellung für die Augen aufzusuchen. Zu dem Ende befestigt man an einer entfernten Tapetenwand, an der horizontale und verticale Linien kenntlich sein müssen, einen lebhaft gefärbten horizontalen Streifen, z. B. ein lebhaft gefärbtes Band, und blickt mit dem einen Auge an der Spitze C, vorbei, indem man zugleich das Band so lange fixirt, dass ein Nachbild entstehen muss. Nun lässt man das Auge nach aufwärts und nach abwärts blicken: es muss dann das Nachbild horizontal bleiben, und wenn man horizontal nach rechts oder nach links blickt, so muss man wieder ein horizontales Nachbild erhalten. Man verschiebt den Streifen C C\ so lange, bis dies erreicht ist, und nun ist die Primärstellung für das eine Auge gefunden und fixirt durch den Ort des Auges und den Ort von C\, durch den die Gesichtslinie in der Primärstellung hindurchgeht. In ana- loger Weise bestimmt man die Primärstellung des anderen Auges. "Wenn ich mir durch die beiden Gesichtslinien in der Primärstellung eine Ebene gelegt denke, so habe ich die Visirebene, die Blickebene in der Primär- lage. Nun haben Hering und Helmholtz gefunden, dass dieser Horo- pter, , wie ich ihn früher auseinandergesetzt habe, nur für den Fall gilt, in dem die Visirebene in der Primärlage ist, und in dem zugleich der Fixationspunkt in der Medianebene liegt. Für alle anderen Stellungen ändert sich dieser Horopter ; er ist in seiner allgemeinsten Form die Durchschnittslinie zweier Oberflächen vom zweiten Grade, und man kann ihn sich auf einen Gylinder gezeichnet denken als eine Linie, die erst senki'echt, das heisst parallel der Cylinderaxe, nach abwärts geht, dann eine Biegung macht, um den ganzen Cylinder zu timkreisen, und dann wieder eine Biegung macht, um weiter senkrecht nach abwärts zu gehen. Der Kreishoropter mit der verticalen Linie ist nur ein specieller Fall des allgemeinen Horopters, der dadurch entsteht, dass die Schleife, mit der er den Gylinder umkreist, sich schliesst und so die aufsteigende und die absteigende Branche sich zu einer geraden Linie vereinigen. Das Gehör. So wie wir bei allen Erregungen des N. opticus immer Licht- empfindung hatten, so haben wir bei allen Erregungen des N. acusticus Gehörsempfindungen. Die gewöhnlichen Wahrnehmungen, welche demselben zukommen, sind Erschütterungen, die ihn in Gestalt von Schallwellen treffen. Aber auch alle anderen wirksamen Erregungen rufen in ihm Gehörsempfindungen hervor. So kann der N. acusticus pathologisch erregt sein. Am häufigsten geschieht dies in der Weise, dass man für kurze Zeit, manchmal auch für längere Zeit, sehr hohe Töne hört; häufig auch so, dass man ein Sausen und Kauschen hört, wie das Sausen des Windes und das Brausen des Meeres, auch wohl wie entferntes Wagcnrollen. Dieser Zustand kann permanent werden und so quälend, dass die davon Heimgesuchten in Melancholie verfallen. 236 Öehör. Die Erregungen des IST. acusticus können endlich auch vom Central- organe ausgehen. Sie haben dann den Charakter von eombinirten Er- regtingen, nicht nur von bestimmten Tönen, sondern auch von einer be- stimmten Reihenfolge von Tönen oder Geräuschen, gewöhnlieh von Worten, die gerufen oder gesprochen werden. Es sind dies Gehörshallucinationen, die den Irrenärzten nur zu bekannt sind, und deren erste Anfänge sie mit dem Namen des Stimmenhörens zu bezeichnen pflegen. Die gewöhnlichen Erregungen aber, welche dem N. acusticus zu- kommen, sind, wie gesagt, Schallwellen, die ihm entweder durch die Luft oder durch feste Theile zugeleitet werden. Für gewöhnlich kommen uns zwar die Schallwellen durch die Luft zu, aber wir können sie auch eben so wirksam mit Ausschluss der Luft blos durch eine Kette von festen Theileu zuleiten. Wenn man eine Stimmgabel so schwach anschlägt, dass sie durch die Luft nicht hörbar ist, und sie dann auf den Kopf setzt, so hört man sie, indem die Schwingungen der Stimmgabel an die Kopf- knochen und von da an das Gehörorgan und den N. acusticus übertragen werden. Es erwächst hieraus ein wichtiges diagnostisches und prognosti- sches Zeichen für den Arzt. -Er will, wenn sich ihm ein Tauber vorstellt, wissen, ob bei demselben der Gehörnerv noch functionirt und das Hinder- niss für das Hören nur im schallleitenden Apparate liegt, oder ob wirklich der N. acusticus nicht fähig ist, erregt zu werden. Zu diesem Zwecke schlägt er eine Stimmgabel an and setzt sie dem Kranken auf das Scheitel- bein. Fimctionirt der IST. acusticus noch, und liegt das Hinderniss nur im schallleitenden Apparate, so hört der Kranke die Stimmgabel. Auf diese Weise können uns sogar Klänge mit ausserordentlicher Intensität zugeführt werden. Ein bekanntes Spielwerk besteht darin, dass man einen silbernen Löifel oder einen eisernen Ladstock in einen Bindfaden einknüpft, die Enden des Bindfadens in die Ohren steckt und nun den Löffel oder den Ladstock gegen eine Wand anschlägt. Dann werden durch den Bindfaden die Schwingungen dem Ohre so mitgetheilt, dass man das stärkste Glocken- lauten zu hören glaubt. Die meisten Erregungen aber, diejenigen, welche uns hier zunächst beschäftigen, kommen dem N. acusticus von Schallwellen zu, die in der Luft fortgepflanzt werden. Wir müssen uns, ehe wir zur Lehre vom Hören übergehen, mit diesen Schallwellen und mit den Gesetzen, nach denen sie erregt und fortgepflanzt werden, einen Augenblick beschäftigen. Wenn irgendwo die Luft durch einen plötzlichen Impuls, z. B. durch die Detonation einer Zündkapsel oder eines Kanonenschlages, erschüttert wird, so entsteht dadurch ein Schall. Es wird die Luft nach allen Seiten hingestossen, und es entsteht dadurch um die Schallquelle eine Kugelschale von verdichteter Luft. Die Bewegung pflanzt sieh nach den Gesetzen des elastischen Stosses fort. Auf die Schichte verdichteter Luft folgt dann eine Schichte verdünnter Luft, und so schreiten eine Verdichtungs- welle und eine Verdünnungswelle hinter einander nach allen Seiten mit gleicher Geschwindigkeit fort, und zwar bei der Temperatur von 0'^ mit einer Geschwindigkeit von 331 Metern in der Secunde. Hieraus ergibt sich schon das Gesetz für den Schall, dass seine Intensität abnimmt mit dem wachsenden Quadrate der Entfernung. Das erklärt sich einfach folgendermassen. Durch die Schallquelle wird eine gewisse Summe lebendiger Kraft ei'zeugt : diese wird an die Luftschicht Gehör. 237 Übertragen, welche die Schallquelle zunächst nmg'ibt, hierauf an die näcbste u. s. f., und da der Schall sich nach allen Eichtungen mit gleicher Geschwindigkeit fortpflanzt, bilden die Schallquellen immer Kugelschalcn. Nun hängt aber die Intensität des Sehalles ron den lebendigen Kräften ab, welche in den einzelnen Molekülen thätig sind, und da die Suramen der in Bewegung gesetzten Moleküle wie die Oberflächen der Kugelschalen, also wie die Quadrate der Eadien, wachsen, so müssen die lebendigen Kräfte der einzelnen Moleküle in gleichem Masse abnehmen und mit ihnen die Intensität des Schalles. Ich habe gesagt, dass die Moleküle nach allen Seiten hin gestossen werden, und dass dadurch die Schallwelle entsteht. Ich habe also ange- nommen, dass die Moleküle bei ihrer Schwingung sieh in der Richtung bewegen, in welcher sich die Schallwellen fortpflanzen, nicht, wie bei dem Lichte, in einer Ebene senkrecht auf die Fortpflauzungsrichtung. Es sind also hiernach die Schallwellen Longitudinalwellen, und wenn wir sie gra- phisch darstellen, indem wir die Verdichtungswelle als einen Wellenborg und die Verdünnungswelle als ein Wellenthal darstellen, so tragen wir in den Ordinatcn nicht die Verschiebung der Moleküle in ihrer wirklichen Lage auf, sondern wir tragen sie nur ihrer Grösse nach auf, senkrecht auf die wirkliche Richtung der Verschiebung. Wenn wir ims eine Ver- diehtungswelle und eine Verdünnungswelle vorstellen wollen, so müssen wir sie uns als eine Reihe von Punkten vorstellen, die von Strecke zu Strecke einander angenähert und von Strecke zu Strecke weiter von ein- ander entfernt sind. Wenn nun eine solche Welle an unser Ohr sehlägt, so bringt sie einen Schall hervor : treffen mehrere Stösse in unregelmässiger Reihenfolge unseren Gehörnerven, so entsteht das, was wir ein Geräusch nennen. Wenn aber eine Reihe von Stössen in periodischer Reihenfolge so rasch auf ein- ander folgt, dass der Eindruck des ersten Stosses noch nicht erloschen ist, wenn schon der zweite kommt, so entsteht dadurch eine continiiirliche Empfindung, welche wir mit dem Namen der Tonempfindung bezeichnen. Die Empfindimg hoher Töne wird hervorgebracht dui'ch Stösse, welche rasch aufeinander folgen, und die Empfindung tiefer Töne wird erzeugt durch Stösse, die langsam aufeinander folgen. Da die Schallschwingungen sich nach den Gesetzen der Wellenbewegung fortpflanzen, so müssen sie natürlich auch nach den Gesetzen der Wellenbewegung reflectirt und nach den Gesetzen der Wellenbewegung gebrochen werden. Sie werden nach den Gesetzen der Wellenbewegung reflectirt, indem ein Schallstrahl, der auf eine feste Wand fallt, von derselben ziu-ückgeworfen wird unter dem- selben Winkel, unter dem er eingefallen ist. Er wird aber nicht zurück- geworfen mit der ganzen Stärke, mit welcher er eingefallen ist, weil ein Theil der lebendigen Kraft der Moleküle auf die Wand selbst übertragen wird. Mit dieser Zurückwerfung des Schalles unter demselben Winkel, unter dem er eingefallen ist, hängt bckanntermasscu das Echo zusammen. Wir haben ein Echo, wenn wir uns in einer so bedeutenden Entfenumg von einer ausgedehnten festen Wand befinden, dass der reflectirte Schall an unser Ohr gelangt, wenn schon der Eindruck des ursprünglichen Schalles erloschen ist. Durch mehrfache Reflexion entsteht das mehrfache Echo. Es hängt mit der Reflexion aber auch die Störung zusammen, welche in grossen Räumen durch den Wiederhall entsteht, die Störung, die in ^38 Getor. grossen RäTimen für Sprechende, z. B. für Kanzelredner in nicht akustisch gebauten Kirchen fühlbar ist, die Störung, welche entsteht in zu grossen und unzweekmässig angelegten Theatern und Concertsälen dadurch, dass die reilectirten Wellen und die ursprünglichen für den Hörenden zu weit auseinander fallen, so dass Unordnung in die Gehörswahrnehmungen kommt. Durch die Reflexion des Schalles ist es möglich, die lebendige Kraft einer Schallwelle für einen entfernten Ort besser zusammen zu halten, als dies geschehen wäre, wenn man die Schallstrahlen nach allen Seiten sieh hätte ausbreiten lassen. Wenn Sie z. B. in eine Eöhre hineinsprechen, so wird von den Wänden der Röhre der Schall reflectirt, und die Schall- wellen müssen sich der Röhre entlang bewegen. Nahezu die ganze leben- dige Kraft wird auf Luftschichten von verhältnissmässig geringem Quer- schnitt übertragen, die sich in dieser Röhre befinden. Darauf beruhen die Sprachröhren, welche man in den Gebäuden anbringt, um sieh von verschiedenen Räumen aus mit einander zu besprechen. Darauf beruhen auch die Hörrohre, die Schwerhörigen gegeben werden, damit sie mit ihrer Umgebung sich verständigen können. Dieselben haben sehr ver- schiedene Formen, die man ohne eigentliche theoretische Grundlage viel- fach geändert hat. Das Wesentliche, allen Gemeinsame ist aber, dass sie ein verengertes Ende haben, welches in das Ohr eingesetzt wird, und ein trichterförmig erweitertes Ende, in welches der Sprechende hineinspricht. Hierauf endlich beruhen auch die Sprachrohre, deren man sich auf Schiffen bedient. Denken Sie sich, Sie hätten ein Paraboloid, und im Brennpunkte desselben befindet sich eine Schallquelle, so werden die Schallstrahlen, die von dem Brennpunkte ausgehen, alle in einer bestimmten Richtung, alle parallel der Axe des Paraboloids fortgeleitet werden. Denkt man sich nun das Paraboloid am Scheitel abgestutzt und an den Mund gesetzt, so wird man durch dasselbe die durch die Stimme erzeugten Schallwellen in bestimmter Richtung fortleiten können. Dasselbe leistet mehr oder weniger jeder trichterförmige Hohlkörper, der vor den Mund gesetzt wird. Die griechischen Schauspieler hatten derartige trichterförmige Vorrichtungen vor der Mundöffnung an ihren Masken, um der Stimme mehr Tragweite zu geben. Nach den allgemeinen Gesetzen der Wellenbewegung müssen die Schallwellen auch zur Interferenz kommen. Die Interferenz kann man am besten an den Schwingungen, welche von einer Stimmgabel ausgehen, zeigen. Von einer schwingenden Stimmgabel gehen Stösse aus an der Fläche der Zinken und von dem Räume zwischen den Zinken, indem diese, wo sie gegen einander schwingen, die Luft verdichten und nach beiden Seiten hinausstossen. Sie sehen aber leicht ein, dass bei der einen Art von Wellen die Verdichtungswelle gebildet wird, wenn die Zinken nach aussen schwingen, bei der andern Art von Wellen aber die Verdichtungswelle entsteht, wenn die Zinken nach innen schwingen. Die Folge davon ist, dass da, wo die Schallwellen übereinander fallen, Ver- dichtungswellen auf Verdünnungswellen und umgekehrt fallen müssen. Dieses Aufeinanderfallen muss stattfinden in den Diagonalen, welche ich mir durch die Stimmgabel hindurchgezogen denke, und es ergibt sich, dass in diesen Diagonalen keine Wellenbewegung stattfindet, dass hier die beiden Wellenbewegungen einander aufheben. Dass dem wirklich so sei, davon kann man sich überzeugen, wenn man die Schallschwingungen auf Gehör. 239 eine Luftmasse übei'trägt, die in einei' Messinghohlkugel, in einem soge- nannten Resonator enthalten ist. Wenn ich die schwingende Stimmgabel über demselben drehe, so lischt jedesmal der Ton aus, wenn eine Dia- gonale senkrecht auf die OctFnung des Hohlkörpers zu stehen kommt. Anders gestaltet sich die Sache, wean die beiden Wellensysteme nicht gleiche Schwingungsdauer haben; dann müssen periodische Abwechs- lungen kommen, in welchen einmal Wellenberg auf Wellenberg, das andere Mal Wellenberg auf Wellenthal fällt. Diese periodischen Abwechslungen zeigen sich in ihrer einfachsten Form als die sogenannten Schwebungen. Wenn zwei Töne mit einander erklingen und nur sehr wenig von ein- ander verschieden sind, so sind natürlich die Perioden, während welcher der eine dem andern um eine halbe und um eine ganze Schwingung vorauseilt, sehr lang. Es soll also zuerst eine Periode kommen, wo Wellen- berg auf Wellenberg fällt, da wird der Ton verstärkt ; dann wird eine Periode kommen, wo Wellenberg auf Wellenthal fällt, da wird der Ton geschwächt u. s. w. Man hört also ein allmäliges Abschwellen und An- schwellen des Tones. Deshalb sagt der Musiker, es seien die beiden Töne um eine Schwebung von einander verschieden, das heisst sie sind um ein so Geringes von einander verschieden, dass man ntu* ein allmähges An- schwellen und Abschwellen des Tones hört. Wir haben hier noch eine für die Theorie des Gehörs wichtige Frage zu erörtern, die Frage, ob und wie die Schallwellen verstärkt werden können. Im eigentlichsten Sinne des Wortes kann ein Schall als Ganzes nicht verstärkt werden. Eine Schallui'sache gibt eine gewisse Summe von lebendiger Kraft : die kann ich nicht grösser und nicht kleiner machen, als sie ein- für allemal ist, also den Schall als solchen kann ich nicht verstärken. Aber ich kann es so einrichten, dass von dieser lebendigen Kraft in der Zeiteinheit mehr an mein Ohr übertragen wird. Die Ein- richtungen, welche man zu diesem Zwecke trifft, bezeichnet man als Yer- stärkungsmittel für den Schall. Ich kann auch durch einen momentanen Impuls als Schallursache einen Ton erzeugen, der einige Zeit dauert, oder ein Geräusch, und kann durch künstliche Vorrichtung bewirken, dass das tongebende Instrument die lebendige Kraft des einmaligen Im- pulses langsamer oder, schneller verbraucht. Im letzteren Falle wird für jede einzelne Schwingung eine grössere lebendige Kraft disponibel sein; wenn ich es also so einrichte, dass von den lebendigen Kräften, die das tonangebende Instrument verbraucht, das heisst abgibt, möglichst viel an meine Gehörnerven übertragen wird, so ist auch dieser schnellere Ver- brauch ein Mittel zur Verstärkung des Schalles. Das einfachste Verstärkungsmittel für den Schall ist der Resonanz- boden. Wenn ich eine Stimmgabel anschlage und in der Luft schwingen lasse, so wird sie bei einer gewissen Stärke des Anschlages kaum gehört werden. Stütze ich sie aber auf den Tisch auf, so hört man sie sogleich erklingen, weil der Tisch als Resonanzboden dient. Was geht hier vor? Wenn die Stimmgabel in der Luft schwingt, so kann sie wegen ihrer kleinen Dimensionen bei der einzelnen Schwingung nur eine sehr kleine Summe von lebendiger Kraft an die umgebende Luft übertragen : die In- tensität des Schalles nimmt ab nach den Quadraten der wachsenden Ent- fernungen : es kommt also davon nur ein geringer Bruchtheil au meinen 240 Gehör. äussei*en Geliörgaug uiid mein Ohr. Wenn ich dagegen die Stimmgabel auf den Tisch setze, so überträgt sie ausser den lebendigen Kräften, die sie au die Lnft überträgt, auch lebendige Kräfte auf die Tischplatte. In Folge davon fängt die Tischplatte an, mit ihr isochron zu schwingen, und überträgt in derselben Periode wiederum mit ihrer ganzen Fläche lebendige Kräfte an die Luft, so dass jetzt eine viel grössere Menge von Bewegung in der Zeiteinheit übertragen wird und viel mehr davon zu meinem Ohre gelangt. Es braucht gerade keine feste Platte zu sein, an welche die leben- dige Kraft übertragen wird ; es kann die lebendige Kraft auch an eine eingeschlossene Luftmasse übertragen und dadurch der Schall verstärkt werden. Wenn ich z. B. eine Stimmgabel anschlage und halte sie über einen Cylinder, der bis zu einer bestimmten Höhe mit Wasser gefüllt ist, so hört man die Stimmgabel deutlicher, als wenn ich sie in freier Luft halte. Das rührt daher, dass die Luft im Cylinder in sogenannte stehende SchAvingungen versetzt worden ist. Denken Sie sich, die Höhe des Luft- raumes in diesem Cylinder betrage den vierten Theil der Wellenlänge des Tones der Stimmgabel in der Luft, so wird durch die Stimmgabel, wenn sich deren Zinke aus der Gleichgewichtslage nach abwärts bewegt, die Luft im Cylinder heruntergestossen werden ; dieser Stoss wird sich fortpflanzen bis an den Boden, da werden die Moleküle nicht ausweichen können, es wird sich nach den Gesetzen des elastischen Stosses der Stoss nach rückwärts fortpflanzen, und die Moleküle Averden am Eingange des Cylinders von unten nach oben gestossen werden. Da hierüber aber die Zeit einer- halben Schwingung vergangen ist, so wird das eben geschehen, wenn die Zinke der Stimmgabel nach aufwärts schwingt, also sich in der- selben Bewegungsrichtung befindet wie die Luft. Wenn die Luftmoleküle ihre Exciu-sionen gemacht haben, wird die Stimmgabel wiederum nach abwärts schwingen und wird ihnen also in der Richtung, in welcher sie sich nach den Schwingungsgesetzen ohnehin bewegen sollten, jetzt wieder einen neuen Stoss versetzen, sie werden deshalb jetzt noch stärker aus ihrer Gleichgewichtslage herausweichen als früher ; unten wird wiederum der Impuls reflectirt werden , es wird wieder die Zeit einer halben SchAvingungsdauer vergehen, bis die rückgängige Bewegung an den Ein- gang des Cj'linders gelangt, es wird dann noch die Zeit einer Viertel- schAvingung dauern, bis die Moleküle ihre Excursion nach oben gemacht haben, sie werden, indem sie im Begriff sind umzukehren, einen neuen Stoss von der Stimmgabel bekommen und so fort. Mit jedem Stosse der Stimmgabel wird die Ausweichung der Moleküle eine grössere werden, sie werden bis zu einer geAvissen Grenze in immer stärkere Schwingungen versetzt, bei denen die Luftmoleküle periodisch nach abwärts gestossen Averden und zurückschnellen und dadiu'ch die Luft in der Tiefe der Röhre abwechselnd verdichtet und verdünnt wird. Die lebendige Kraft dieser Schwingungen wird sich der umgebenden Luft und dem Glase mittheilen, und dadurch wird eben der Schall verstärkt werden. Die gasförmige elastische Masse leistet hier denselben Dienst wie früher die feste elasti- sche Platte. Wir haben gesehen, dass es dazu nöthig ist, dass die Höhe des cylindrischen Hohlraumes gerade den vierten Theil einer Wellenlänge betrage. Wäre dieser Cylinder unten offen gewesen, dann würden auch Gehör. 241 Fig. 04. Reflexionen erzeugt worden sein : aber dann würde man die günstigsten Bedingungen haben, wenn der Luftraum in dem Cylinder doppelt so lang, also halb so lang als die Tonwelle ist. Das hängt damit zusammen, dass dann die Keflexion an dem oiFenen Ende der Köhre stattfinden würde, an dem sich Luftmoleküle befinden, die leichter ausweichen als diejenigen in der Röhre. Wenn ich Schwingungen in einer gedeckten Röhre habe, so kann ich sie mir graphisch folgendermassen darstellen, abc d Figur 64 soll der Längs- schnitt der Röhre sein, e / die Axe der Röhre, die ich zugleich als Abscissenaxe benütze, auf welcher ich als Ordinaten die Ausweichungen p der Luftmoleküle nach oben positiv und die ^L nach unten negativ auftrage. Dann habe ich hier immer die grösste Ausweichung am Ende und das Minimum der Aus- weichung da, wo die feste Wand ist, wo also die Moleküle nicht oder doch nur sehr wenig ausweichen können. Hier ist also ein unmittelbar durch den Widerstand fester Theile gegebener Ruhepuukt. Wenn aber die Röhre often ist, so sind die grössten Ausweichungen der Moleküle an beiden Enden und das Minimum der Ausweichung der Moleküle ist in der Mitte. Es entsteht also in der Mitte ein Knoten und die Schwin- gungen in der Röhre sind durch die nebenbezeichnete ^'S- ^°- Eigur 65 dargestellt. Die Re- flexion geht in verschiedener Weise vor sich, je nachdem ein leichter ausweichendes Molekül auf ein schwerer ausweichendes, oder ein schwerer ausweichendes auf ein leichter ausweichendes Molekül stösst. Im letzteren Falle wird das Molekül fortgestossen, und erst wenn es zu- rückkommt, beginnt auch die rückgängige Bewegung in der Röhre. Dar- über ist die Zeit einer halben Schwingungs- dauer vergangen. Die Luft schwingt an beiden Enden isochron von aiissen nach innen und von innen nach aussen, während sich in der Mitte ein Querschnitt befindet, in dem sie in Ruhe ist, indem sie nur abwechselnd ver- dichtet und verdünnt wird. So hat jeder Hohlkörper einen Ton, durch den die Luft in ihm in die stärksten und einfachsten Schwingungen versetzt wird, und man bedient sich deshalb nach Helmholtz' Vorgange solcher Hohlkörper, namentlich kugelförmiger, unter dem ISTamen der Resonatoren, um einen bestimmten Ton, den Eigenton des Resonators, zu verstärken. Figur 66 zeigt einen solchen Resonator, der einerseits dazu dient, eine auf seinen Ton ab- gestimmte Stimmgabel, die man über seine Oeffnung hält, stärker hörbar zu machen, andererseits aber auch mit seinem verjüngten Ende ins Ohr gesetzt wird, um seinen Eigenton in einer Klangmasse zu verstärken und dadiu'ch kenntlich zu machen. Wir haben gesehen, dass, wenn Impxilse, die unser Ohr treffen, in unregelmässiger Reihenfolge aufeinander folgen, ein Geräusch entsteht, dass Brücke. Vorlesuncfen. ü. 4. Aufl. 16 'Fi?. CG. 242 Geliör. aber, wenn dieselben regelmässig, periodisch aufeinander folgen, ein Ton entstellt. Wir haben ferner gesehen, dass die Töne verschieden sind durch ihre Höhe und durch ihre Stärke. Wir unterscheiden aber noch eine andere Verschiedenheit an den Tönen, die sich auf die Qualität der- selben bezieht. Wir können z. B. den Ton einer Geige nicht mit dem Tone einer Flöte verwechseln, und wir können auch die Töne von ver- schiedenen Menschenstimmen mit Leichtigkeit von einander unterscheiden. Worin kann diese qualitative Verschiedenheit der Töne liegen? In der Wellenlänge kann sie nicht liegen, von der hängt die Höhe der Töne ab, in der Amplitude kann sie nicht liegen, von der hängt die Stärke der- selben ab : es bleibt also nichts übrig, als dass diese Verschiedenheit von der Form der Schwingung abhängt. Wenn Sie die Luft durch eine über einen Eesonator gehaltene Stimmgabel in Schwingungen versetzen, so schwingen die einzelnen Moleküle nach den Pendelgesetzen. Die Schwin- gungen können durch die Sinuscurve dargestellt werden. Diese erhält man dadurch, dass man sich einen Kreis auf der Abscissenaxe abgerollt denkt und die Ordinaten nach dem Sinus der abgerollten Bogenstüeke oder, was dasselbe ist, nach dem. Sinus der bei dem Abrollen durchlaufenen Winkel bemisst. a.b c Figur 67 sei die eine Hälfte des abzurollenden Kreises. Fig. 67. Die Peripherie ist in gleiche Stücke getheilt und auf der Abscissenaxe abgetragen. Die Ordinaten sind den Sinus der zugehörigen Bogen, multi- plicirt mit dem Halbmesser, gleich gemacht. Würde ich die Zahlen für die Sinus nicht mit dem Halbmesser des abgerollten Kreises, sondern mit irgend einer kleineren Grösse multiplicirt haben, so würde ich ein Wellen- system von kleinerer Amplitude, aber immer noch das Bild von pendel- artigen Schwingungen erhalten haben. Nun denken Sie sich die Art und Weise, wie eine Geigensaite die Luft in Schwingung versetzt. Die Geigensaite wird durch den Bogen fort- geschleppt, dann reisst sie sich von dem Bogen los und schwingt frei zurück, dann wird sie wieder vom Bogen erfasst u. s. w. Die Schwin- gung wird daher eine ganz andere Gestalt haben, indem die Bewegung nach der einen und nach der anderen Seite nicht mit gleicher Geschwin- digkeit erfolgt. In solchen qualitativen Verschiedenheiten der Schwingungen ist auch die qualitative Verschiedenheit der Töne begründet, das, was wir mit dem Namen des Timbre oder der Klangfarbe bezeichnen. Wir werden aber später sehen, dass wir vermöge der Organisation unseres Gehörorganes Schwingungsgestalten nicht als solche wahrnehmen, sondei'n, dass in tinserem Ohre ein eigenthümlicher Zerlegungsproeess mit den Schwingungen vor sich seht. Aeusseres Ohr. 243 Aeusseres Ohr. Wir müssen uns erst mit dem Baue des Ohres und mit der Art und Weise, wie die Sehallwellen an den Gehörnerven übertragen werden, bekannt machen. Zuerst treffen die Schallwellen die Ohrmuschel und den äusseren Gehörgang. Im äusseren Gehörgange werden sie wie in einem Sprachrolu'e fortgeleitet. Von der Ohrmuschel hat man gesagt, dass sie dazu diene, den Schall zu concentriren und in den äusseren Gehörgang hinein zu rcflectiren, ja man hat sogar Betrachtungen darüber angestellt, wie alle einzelnen Windungen des äusseren Ohres gerade so gestaltet seien, dass sie in dieser Beziehung das Mögliche leisten. Es ist nun keine Frage, dass ein Theil der Schallwellen, die die Ohrmuschel treffen, auf dem Wege der Reflexion in den äusseren Gehörgang hineingelangt. Anderer- seits ist es aber ausser Zweifel, dass gerade bei dem Ohre des Menschen die Menge der Schallwellen, welche auf diese Weise reflectirt wird, keine bedeutende ist, keine so bedeutende wie bei vielen Thieren, die grosse trichterförmige Ohren haben, deren Trichteröffnung sie gegen die Schall- quelle hin richten können. Es kommen aber nicht allein die Schallwellen in Betracht, die auf dem Wege der Reflexion von der Ohrmuschel in den äusseren Gehörgang hinein reflectirt werden; es kommen auch die Schall- wellen in Betracht, die an die Ohrmuschel übertragen werden. Die Ohr- muschel besteht aus einem Netzknorpel mit einer verhältnissmässig ge- ringen Menge von Zwischensubstanz, welcher mit dem fibrösen Ueberzuge, welcher das Perichondrium bildet, eine im hohen Grade elastische, mehr- fach gebogene Lamelle darstellt. Von dieser wird indessen doch nur ein sehr kleiner Theil der lebendigen Kraft der Schallwellen auf die Knochen und so auf das innere Ohr übertragen. Es ist nicht gerade selten, dass man Individuen mit fehlender Ohrmuschel beobachten kann. Bei solchen hat es sich gezeigt, dass sie zwar auf der Seite, wo ihnen die Ohrmuschel fehlt, weniger gut hören als auf der andern, dass sie aber doch nicht in hohem Grade harthörig sind. Der Werth der Ohrmuschel für das Hören ist also beim Menschen nicht so gross, wie dies Laien anzunehmen ge- neigt sind. Auffallend ist es auf den ersten Anblick, dass Hindernisse im äusseren Gehörgange, wenn sie denselben nicht geradezu verstopfen, das Hören sehr wenig erschweren. Es ist bekannt, dass ein Schall in seiner Fortleitung am meisten durch fein vertheilte, feste Körper gehindert wird. Wenn man sich vor dem Ciavierspiele eines Nachbars, von dem man durch eine doppelte Thüre getrennt ist, schützen will, so füllt man den Zwischen- raum zwischen den Thüren mit Heu oder Stroh aus, um durch die zahl- reichen Reflexionen, die die Schallwellen an den vielfach vertheilten festen Körpern erleiden, die Töne zu schwächen. Nun ist aber der äussere Ge- hörgang mit Haaren besetzt, die in den späteren Lebensjahren oft eine bedeiitcnde Länge erreichen, ja büschelförmig zum äusseren Gehörgang herauswacliscn können, ohne dass dadiu'ch das Hören wesentlich beein- trächtigt wird. Man kann sich ferner überzeiigcn, dass ein Baumwollen- bausch, lose in den äusseren Gehörgang gesteckt, das Hören niu* wenig hindert: man muss erst den Gehörgang förmlich tamponiren, um sich im hohen Grade harthörig zu machen. Es hängt dies offenbar mit der Kürze des Weges zusammen, den der Schall im äusseren Gehörgange zurückzulegen hat. 16* 244 Mittleres Ohr. Trommelfell und mittleres Ohr. Vom äusseren Geliörgange gelangen die Schallwellen an das Trommel- fell. Das Trommelfell ist eine fibröse Platte, welche ans einer äusseren radiären Lage von Fasern besteht und aus einer inneren ringförmigen, die am Rande stärker ist, nach innen gegen das Centrum hin schwächer wird. Nach aussen, sagt man, gehe die Cutis über dasselbe hin. Das, was aber von der Cutis über das Trommelfell hingeht, besteht in einigen Elementen von gemeinem Bindegewebe und dem äusseren Epithel des Trommelfells, welches hier als eine Fortsetzung des Oberhäutchens des äusseren Gehör- ganges erscheint. ISTach innen setzt sich in ähnlicher Weise die Aus- kleidung der Trommelhöhle fort. .Die Trommelhöhle ist mit einem binde- gewebigen, gefässreichen Ueberzuge ausgekleidet, der ein Flimmerepithel trägt. Ein Theil dieses Bindegewebes setzt sich fort auf das fibröse Ge- webe des Trommelfells, nnd ebenso setzt sich das Epithel, welches die Trommelhöhle auskleidet, fiiacher werdend auf die innere Oberfläche des Trommelfells fort. Es soll hier beim Menschen in der Regel nicht flim- mern, so wie auch am Promontorium die Flimmern vermisst worden sind; in einigen Fällen ist jedoch ein deutliches Flimmerepithel auf der Innen- fläche des Trommelfells auch beim Menschen beobachtet worden. Das Trommelfell kann durch den Hammer concav angespannt werden und ist für gewöhnlich concav angespannt. Hiebei wirkt bekanntlich ein Muskel, der M. tensor tympani seu M. mallei internus. Es fragt sich nun : "Welchen N'utzen hat diese Anspannung des Trommelfells ? Man hat den M. mallei internus im Zusammenhang mit dem M. stapedius früher als den Accommodationsmuskel des Ohres angesehen. Dies beruhte auf folgender Betrachtung. Wenn gegen eine gespannte Membran ein Zug von Schallwellen ankommt, so wird die Membran dadurch in Schwingungen versetzt. Jede gespannte Membran hat nun ihren Eigenton, der sich mit der Spannung ändert. Das ist der Ton, den man hört, wenn man die Membran anschlägt, und der dadurch entsteht, dass die angeschlagene Mem- bran mit Schwingungen von einer gewissen Dauer in ihre Gleichgewichts- lage zurückkehrt, und ehe sie dieselbe wieder bleibend einnimmt, um die- selbe hin- und herschwingt. Es ist nun klar, dass, wenn die Schwingungszahl des Wellensystems, welches gegen die Membran anrückt, mit der Schwin- gungszahl des Eigentons übereinstimmt, die Membran, wenn sie durch eine VerdichtungsweUe vorgeschoben ist, gerade zurückschwingen wird, während die Verdünuuugs welle sie trifft: sie wird also in derselben Richtung zu schwingen suchen, wenn die nächste Verdichtungs welle ankommt, sie wird so in die lebhaftesten Schwingungen versetzt werden. Sie wird also stärker mitschwingen als mit jedem andern Ton und wird diese Schwin- gungen höchst vollständig an das hinter ihr liegende Medium, an die Luft, übertragen. Kun hat man sich früher gedacht, der M. tensor tympani habe die Function, das Trommelfell jedes Mal so anzuspannen, dass sein Eigenton derart wird, dass es möglichst mit den Tönen, welche ankommen, mitscliAvingt und deshalb diese möglichst vollkommen an die Luft der Paukenhöhle überträgt. Man sieht aber leicht ein, dass sich dies eben nur auf Töne beziehen könnte, und zwar auf Töne von einiger Dauer, da man nur diesen immer auf solche Weise mit der Accommodation des Ohres folgen könnte, dass dies nicht mehr möglieh wäre bei Tönen, die Mittleres Ohr. 245 mit grosser Geschwindigkeit wechseln, und dass es gar keinen Sinn haben würde bei Geräuschen, und doch ist uns Feinheit des Ohres für die Geräusche viel wichtiger als die für Töne. In der menschlichen Sprache sind es gerade die Geräusche, die Consouauten, welche viel schwerer zu erfassen sind als die Vocale. Der Taubstummeulehi'er sagt von einem Eleven, er habe noch Vocalgehör, das heisst, er hört noch so viel, dass er die Tocale von einander unterscheiden kann, aber nicht mehr so viel, dass er die Consonanten unterscheiden kann. Für das feine Auffassen der Geräusche würde eine solche Accommodation des Trommelfells gerade sehr nachtheilig sein : denn eine Alembran, die in starke Schwingungen ver- setzt wh"d und in diesen fortschwingt, langsam austönt, ist sehr unge- eignet, gleich darauf und noch ehe sie zui* Ruhe gekommen wieder andere Schwingungen aufzunehmen, weil diese in den noch restirenden Schwin- gungen eben so vielen Störungen begegnen. Gerade eine Membran, die schlecht mittönt und deshalb gleich wieder zur Euhe kommt, ist am meisten geeignet, Geräusche aufzufassen, verschiedeuai'tige Impulse in ganz unregelmässiger Reihenfolge gewissermassen in getreuem Abdruck wieder an die dahinter befindliche Liift zu übertragen. Ein sehr rasches Ans- tönen aber wird bekaimtlich dui'ch das Princip der Dämpfung erzielt, da- dm-ch, dass die schwingende Membran mit anderen, sie belastenden und hemmenden festen Körpern verbunden ist, an welche sie beim Schwingen diejenigen lebendigen Kräfte überträgt, die sie nicht beim ersten Impulse an die Luft übertragen hat. Es ist deshalb aus theoretischen Gründen wahrscheinlicher, dass der ganze Apparat der Gehörknöchelchen in Rück- sicht auf das Trommelfell mehr als Dämpfer dient, als dass er zur Accommodation des Trommelfells für Töne von verschiedener Höhe ver- wendet wird. Hensen fand bei directer Untersuchung an Hunden und Katzen, dass der Muskel Töne und Geräusche bei ihrem Entstehen mit einer Zuckung beantwortet. Dieselbe ist um so stärker, je lauter, aber auch um so stärker, je höher der Ton ist. Dauernde Töne versetzen den Muskel nach Bockendahl in dauernde Contraction. Es beweist dies aber strenge genommen mn; dass der Muskel beim Hören in Action tritt, nicht aber dass er das Trommelfell jedes Mal für verschieden hohe Töne accommodii-t. Wir haben gesehen, dass der Hammer mit dem Hammermuskel das Trommelfell nicht allein anspannt, sondern dass er es concav in einer bestimmten Form anspannt, und Helmholtz hat darauf aufmerksam ge- macht, dass gerade diese Concavität des Trommelfells eine Bedeutung für die Mechanik des Hörens habe. Er sagt : Es kommt darauf an, dass die lebendigen Kräfte, welche in den Schallwellen thätig sind, möglichst voll- ständig an das innere Ohr übertragen werden, dass dabei aber doch keine grosse Amplitude entsteht, indem diese für die Einrichtung des Ohi-es nicht verwendbar wäre. Wenn eine concave Membran bis zu einer ge- wissen Amplitude fortgetrieben, weiter ausgebaucht werden soll, so ist damit eine grössere Dehnung verbunden, als wenn die Membran von vorneherein flach gewesen wäre. Indem eine grössere Dehnung dazu ge- hört, wird auch eine grössere Summe von lebendigen Ki'äften erfordert. Diese werden in Spannkraft umgesetzt, und vermöge dieser grösseren Summe von Spannkraft schwingt dann diese Membran wieder energisch zurück. Es werden also bei verhältnissmässig kleinen Amplituden verhältniss- 246 Mittleies Olir. massig grosse Summen von lebendigen Kräften atif die Gehörknöchelchen imd von diesen dann wiederum mit kleinen Amplituden auf die Membran des ovalen Fensters und das Labyrinth übertragen. Helmholtz hat ferner auf eine andere interessante Eim-ichtung an den Gehörknöchelchen aufmerksam gemacht. Er hat darauf aufmerksam gemacht, dass das Gelenk, durch welches Hammer und Ambos mit ein- ander verbunden sind, nicht ganz so frei ist, wie man auf den ersten Anblick glaubt. Es befinden sich am Hammer und Ambos Hervorragungen, die wie Bperrzähne in einander greifen. Diese hindern einander nicht bei der Bewegung des Trommelfells und des Hammers nach aussen. Deshalb können Trommelfell und Hammer ein Stück nach aussen gehen, ohne dass dadurch Ambos oder Steigbügel mitgenommen werden. Gehen sie aber nach innen, so fassen die Sperrzähne art, so dass sich jetzt die Gehör- knöchelchen als ein zusammenhängendes Ganzes bewegen und somit ein Impuls vom Trommelfell direct auf die Fenestra ovalis fortgepflanzt wird. Bei den Vögeln und Amphibien ist ja auch statt der Kette der Gehör- knöchelchen nur ein solches Gehörknöchelchen, die sogenannte Columella, vorhanden, die den Dienst leistet, den bei uns die drei miteinander durch Gelenke verbimdenen Gehörknöchelehen leisten. Auf diese Weise werden also Impulse, die das Trommelfell treffen, durch die Kette von festen Theilen, welche die Gehörknöchelchen darstellen, auf die Membran des ovalen Fensters und somit auf die Labyrinthflüssig- keit und den Gehörnerven übertragen. Daneben existirt eine Schallleitung dxu'ch die Luft. Es werden ja auch Impulse an die Luft der Trommel- höhle übertragen, die sich bis auf die Labyrinthflüssigkeit und den Gehör- nerven fortpflanzen. Bei der Schwierigkeit aber, mit der Schallwellen von festen Theilen auf die Luft und umgekehrt von der Ltift auf feste Theile •übergehen, kann man sagen, dass die Leitung, die in festen Theilen ver- bleibt, bei Weitem die wichtigere ist, und dass die Schallleitung durch die Luft der Trommelhöhle nur eine untergeordnete Eolle spielt. Wichtig für die Schallleitung ist die Spannung der Luft der Trommel- höhle, weil hievon die Spannung des Trommelfells abhängt. Aus der Trommelhöhle führt eine Eöhre in die Kachenhöhle hinein, diu*ch welche Secrete, die sich in der Trommelhöhle angesammelt haben, in die Rachen- höhle abfliessen können. Es ist dies die Tuba Etistachii. Indem die Tuba Eustachii von Zeit zu Zeit beim Schlingen geöffnet wird, bei einzelnen Individuen sogar bleibend offen zu stehen scheint, wird eine Communi- cation zwischen der atmosphärischen Luft und der Luft in der Trommel- höhle hergestellt, so dass sich der Druck der Liift in der Trommelhöhle nicht wesentlich von dem der atmosphärischen entfernen und folglich auch keinen Einfluss auf die Spannung des Trommelfells üben kann. Anders verhält es sich, wenn die Tuba Eustachii verstopft ist. Dann kann der Druck in der Trommelhöhle über den atmosphärischen steigen oder unter denselben sinken und wird in beiden Fällen einen Einfluss auf die Span- nung des Trommelfells haben. Dieser ist, wie die Erfahrung lehrt, im hohen Grade nachtheilig. Davon kann man sich überzeugen, wenn man bei geschlossener N'ase die Luft aus der Trommelhöhle ansaugt oder Luft in dieselbe hineinpresst. Der Arzt ist deshalb nicht selten im Falle, durch Katheterismus die Tuba Eustachii wieder wegsam zu machen, um das Trommelfell wieder unter normale Verhältnisse zu versetzen. Inneres Ohr. ^47 Inneres Ohr. Wir sind mm den Schallwellen in die Tiefe, bis zum inneren Ohre, gefolgt. Wir haben gesehen, dass sie theils durch feste Theile nnd theils durch die Luft übertragen werden. Von jetzt an wird eine Flüssigkeit in Bewegung gesetzt, und diese erregt wieder durch ihre Bewegungen die Endigungen des JST. acusticus. Nun zerfällt bekanntlich das innere Ohr in zwei Theile. Den einen stellt die Schnecke, den andern das Labyrinth mit den Bogengängen und Ampullen dar. Es fragt sich zunächst: Wozu dienen die Bogengänge? Man hat die Behauptung aufgestellt, dass die Bogengänge dazu dienen, die Eichtung wahrzunehmen, aus welcher der Schall kommt, und man kann nicht läugnen, dass die Anordnung derselben in drei fast senkrecht aufeinander stehenden Ebenen, die mit merkwüi'diger Kegelmässigkeit fast durch die ganze Wirbelthierreihe hindiu'chgeht , zu einem solchen Gedanken Veranlassung gibt. Nichtsdestoweniger lässt sich darthun, dass diese Idee unbegründet ist. Inwieweit wissen wir denn überhaupt, woher der Schall kommt? Wir wissen es, insoweit wir wahr- nehmen, dass wir mit dem rechten oder linken Ohre stärker hören, weiter nicht. Man verbindet einem Menschen die Augen und halte ihm eine tickende TJhi* in der Medianebene bald vor die Stirn, bald über den Scheitel, bald vor das Kinn oder hinter den Hinterkopf und frage, wo sich die Uhr befinde. Allerdings gibt er häufig ihren Ort richtig an, aber häufig auch unrichtig. Wenn wir aber eine unmittelbare AVahi-nehmung von der Eichtung, aus welcher der Schall kommt, hätten, müsste der Ort der Uhr unter allen Umständen richtig angegeben werden, was nicht der Eall ist. Es zeigt aber auch schon die Erfahrung des gewöhnlichen Lebens, dass wir keine directe Wahrnehmung von der Eichtung haben, aus welcher uns der Schall zukommt. Worauf beruhen die Künste der Bauch- redner? Was thut der Bauchredner? Er kann nichts Anderes, als seine Sprache mit seinem Kehlkopfe und seinen Mundwerkzeugen hervorzubringen, er kann die Schallquelle nicht an einen andern Ort verlegen, aber er ver- ändert den Ton seiner Stimme, er spricht einmal, wenn er sich selbst- redend einführt, mit dem lauten und hellen Tone seiner Stimme, dann dämpft er den Ton, er verschleiert ihn und sucht zugleich die Vocale und die Consonanten hervorzubringen, ohne dass er die Lippen bewegt, oder wenigstens so, dass er die Lippen möglichst wenig bewegt, um uns nicht merken zu lassen, dass er es selbst ist, der spricht. Dadurch, dass er den Ton der Stimme dämpft, glauben wir, dass die Laute aus einem andern Eaiime herkommen, und der Bauchredner deutet auf einen be- stimmten Ort hin und macht uns glauben, dass sich dort ein Individuum befinde, mit dem er sich unterhält. Auch bei den gewöhnlichen Kinderspielen, bei den Versteckspielen, bei denen gerufen oder gepfifien wird, um ein Zeichen zu geben, zeigt sich, dass wir keine directe Wahrnehmung von der Eichtung haben, aus der der Ton kommt, abgesehen von der Wahrnehmung, die uns daraus erwächst, dass wir einmal mit dem einen, das andere Mal mit dem andern Ohre stärker hören. Wir kennen bis jetzt überhaupt gar nicht mit Sicherheit eine Be- ziehung der Bogengänge als solcher zum Hören, wir kemicn aber eine Be- ziehung der Bogengänge zu dem Gefühlen vom Gleichgewichte des Körpers. 248 Inneres Olir. Ich erinnere hier an die Versuche von Elourens und seinen Nachfolgern, welche wir, als wir von der Physiologie des Gehirns handelten, ausführ- lich besprochen haben. Es ist dabei aiTsdrücklich gesagt worden, dass beim Anschneiden, ja beim Zerstören der Bogengänge die Thiere nicht taub geworden seien, während sie beim Zerstören der Schnecke taub wurden. Fälle, in denen Menschen, deren eine Schnecke nachweislich aus- gestossen worden war, auf dem kranken Ohre angeblich noch hörten, sind nicht beweisend. Dove wies schon vor 40 Jahren nach, dass die Schall- wellen durch den Kopf von einem Ohre zum anderen fortgepflanzt werden, indem er die Schwebungen zweier Stimmgabeln hörte, von denen die eine vor das eine Ohr, die andere vor das andere Ohr gehalten wurde. Ehe wir weiter die EoUe des inneren Ohres beim Hören erörtern, muss ich noch Einiges über den Bau desselben bemerken. Es sind in neuerer Zeit einige früher unbekannte Thatsachen eruirt worden. Die Aeste des 'N. vestibuli, welche zum häutigen Labyrinthe gehen, sind hier bis in gewisse epitheliale Gebilde verfolgt worden, ohne dass bis jetzt bei Säugethieren und Menschen die Art und Weise ihrer Endigung mit Sicherheit bekannt wäre. Vom häutigen Labyrinthe selbst nun gab man früher an, dass es, mit der Endolymphe gefüllt, in der Perilymphe schwimme. Püdinger hat aber nachgewiesen, dass dies nicht der Fall ist, sondern dass die Bogengänge an das Periost durch eine bindegewebige Brücke befestigt sind und auch sonst bindegewebige Habcnulae vom Periost zum Labyrinth gehen, so dass dasselbe weniger frei, als man sonst ge- glaubt hat, in der Perilymphe liegt. Hensen hat ferner gefunden, dass der Schneckenkanal durch den Canalis reuniens mit dem Sacculus seu Sacculus rotundus communicirt, und andererseits hat Arth. Boettcher gefunden, dass der Eecessus labyrinthi, den man früher nur als embryo- nale Bildung kannte, und von dem man wusste, dass er in den Aquae- ductus vestibiili umgewandelt werde, den man Fig. 68. blos für den Durchgangskanal einer Vene hielt, dass dieser als Hohhaum fortexistirt. Es zeigte sich, dass er an seiner inneren, gegen die Dura mater gerichteten Seite mit einem angeschwollenen Ende blind endigt, und dass er sich an seiner dem Labyrinth zugewendeten Seite in zwei Aeste theilt, von denen der eine mit dem Sacculus, der andere mit dem Utriculus seu Sacculus ellipticus communicirt, so dass auf diese Weise Bogen- gänge, Utriculus, Sacculus und Schneckenkanal mit einander in der Weise communiciren , wie es in der beistehenden Figur 68, theilweise nach Waldeyer, dargestellt ist. u ist der Utriciilus, s der Sacculus, c die Schnecke und p der Aquaeductus vestibuli. In der Schnecke kennt man seit langer Zeit zwei Abtheilungen, die Scala tympani und die Scala vestibuli, und diese beiden sind von einander durch eine Scheidewand getrennt, die theils häutig, theils knöchern ist, und deshalb in die Lamina spiralis ossea und die Lamina spiralis membra- nacea getheilt wird. Nun hat aber Beissner noch eine weitere Membran entdeckt, Figur 69 rr, welche von der Lamina spiralis ossea schräg durch die Scala vestibuli verläuft und sich an die äussere Wand des Schnecken- Inneres Ohr. 249 kanals ansetzt. Sie heisst nach ihm die Reissner'sche Membran. Der Quer- schnitt des Bchncckenkanals ist also nicht blos in zwei Abtheihingen, in die Scala tympani und 8cala vcstibuli, gcthcilt, sondern dazwischen liegt eine dritte Abtheilung, die auf Kosten der alten Scala vestibuli gebildet ist und den Namen Canalis eochlearis oder Scala media führt. Gerade in dieser Abtheilung liegen alle diejenigen Gebilde, welche in neuerer Zeit das Interesse besonders in Anspruch genommen haben. Vor einer Reihe von Jahren entdeckte Corti, dass sich auf der Lamina spiralis membranacea eigenthümliche zellige Gebilde befinden, die in Reihen angeordnet sind, welche den Spiralen Windungen der Schnecke folgen. Davon waren besonders zwei elastische Gebilde auffallend, welche nach Art eines Dachfirstes gegeneinander gestemmt waren, ein massiverer Theil, Fig, G9. Figur 69 a, welchen man in neuerer Zeit mit dem Jfamcn des Steges, und ein dünnerer schlankerer Theil, Figur 69 &, den man in neuerer Zeit mit dem Namen der Saite bezeichnet hat. Ausserdem liegen daneben noch mehrere Arten von Zellen, die zum Theil von Corti schon gekannt waren, zum Theil erst von späteren Beobachtern beschrieben wurden und mit den Namen der inneren (d) und der äussern (ccc) Corti' sehen Zellen. der Deiter'schen Zellen (eee), der Claudius' sehen Zellen (g), der innei'en und äiTsseren Bodenzellen (7t ä^, des Innern Epithels (lll) u. s. w. benannt werden. Das ganze Gebilde in seinem Zusammenhange wurde mit dem Namen des Corti' sehen Organs bezeichnet. Dasselbe ist überdeckt von einer streifigen Membran, die den Namen der Corti'schen Membran führt (siehe Figur ), die fibröse Grundlage der ganzen Lamina spiralis membranacea, radial .gefasert, so dass man mit grosser Wahrscheinlichkeit annehmnn kann, dass ihre Span- nung in tangentialer Richtung, also senkrecht auf die Richtung der Fasern, verschwindend ist im Vergleiche zu ihrer Spannung in radialer Richtung. Unter diesen Umständen ist es erlaubt, sie physikalisch anzusehen als ein System von nebeneinanderliegenden Saiten, so dass die einzelnen radialen Zonen in verschiedenen Perioden, je nach ihrer Länge und ihrer Spannung, schwingen können. Helmholtz nimmt deshalb jetzt an, dass es die Mem- brana basilaris sei, deren einzelne Zonen zunächst in Mitschwingung ver- setzt werden, und dass durch diese die unmittelbar daraufliegenden Theile und mit ihnen die Nervenenden des Aeusticus erregt werden. Wir haben gesehen, dass die Klänge im Ohre zerlegt werden, indem daselbst nur pendelai'tige Schwingungen entstehen und also jeder Klang in diejenigen pendelartigen Schwingungen zerlegt wird, für welche er nach der Form und Periode seiner Schwingungen Impulse abgeben kann. Wir nehmen also eigentlich nicht den Klang als solchen wahr, sondern wir nehmen den Grundton desselben und die harmonischen Obertöne wahr; aber wir sind uns dessen für gewöhnlich nicht bewusst, weil wir immer den Klang als Ganzes auffassen, und es bedarf einer besonderen Aufmerk- samkeit und Ueberlegung, um in der Klangmasse einzelne Obertöne zu erkennen. Nun kann ich aus zwei Wellensystemeu nicht nur ein neues erzeugen, sondern mehrere, indem ich sie mir mit ihren Phasen in ver- schiedener Weise auf einander gelegt denke. So wurde Figur 70 aus A und B das System C erzeugt; es kann aber durch eine andere Aufein- anderlegung auch das System D erzeugt werden. Es kann also ein System von mitschwingenden Körpern in seinem actuellen Zustande gleichzeitig Wellensystemen von verschiedener Form, aber gleicher Periode entsprechen. Es fragt sich deshalb, nimmt das Ohr wirklich die Gestalt der Wellen wahr, die ihm zukommen, oder nimmt es, wie man nach dem Bisherigen erwarten muss, nur das Resultat der Analyse wahr, die es mit den Klängen vorgenommen hat? Helmholtz hat mittelst Stimmgabeln dieselben Wellensysteme that- sächlich zu verschiedenen Formen zusammengesetzt und gefunden, dass der Klang ein und derselbe war. Das Ohr nimmt also nicht die Gestalt der Welle als solche wahr, sondern nur das Resultat der Analyse. Gleiche Klänge müssen, wenn ich mich so ausdrücken darf, physikalisch isomer sein, aber sie brauchen nicht physikalisch isomorph zu sein. Die Welle braucht nicht dieselbe Gestalt zu haben, wenn nur das Resultat der Ana- lyse dasselbe ist, wenn ich bei der Zerlegung nur dieselben Wellensysteme pendelartiger Schwingungen mit denselben Amplituden erhalte. Den zu dieser Anschauung führenden Erfahrungen von Helmholtz hat R. König nach seinen Erfahrungen widersprochen. Er hört bei Veränderung der Phasendifferenz eine massige Veränderung der Klangfarbe. Die Theorie des Hörens im Allgemeinen ist von dieser Controverse, über die man noch weiteren Aufschluss erwarten muss, unabhängig. Wir haben bis jetzt immer nur Rücksicht genommen auf einen ein- fachen Klang; es ist aber klar, dass, wenn mehrere Klänge zugleich an- Theorie der Tonempfindungen. 2öö gegeben werden, diese sieh auch in der Luft zusammensetzen müssen, da ja ein Luftmolekül in demselben Augenblicke immer nur in einer Weise und nicht gleichzeitig auch in einer andern Weise bewegt werden kann. Wir haben nun angenommen, dass bei dieser Zusammensetzung eine ein- fache algebraische Addition stattfinde; dabei haben wir aber yorausgesetzt, dass die Ausweichung der Moleküle aus ihrer Gleichgewichtslage nur sehr klein sei im Verhältnisse zum Abstände der schwingenden Moleküle von einander. Da, wo diese Bedingung nicht erfüllt ist, ist dieses Gesetz nicht mehr giltig, und da entstehen durch die Zusammensetzung von zwei Tönen sogenannte Combinationstöne. Es gibt deren zwei Arten, die einen, die stärker hörbaren, sind die Differenztöne, die dadurch charakterisirt sind, dass die Schwingungszahl des neuen Tones gleich ist der Differenz der Schwingungszahlen der beiden zusammensetzenden Töne. Diese sind von Sorge entdeckt, später auch von Tartini beschrieben worden, nach dem sie den Kamen der Tartini'schen Töne führen. Die zweite Art der Com- binationstöne bilden die Summationstöne. Diese sind dadtu'ch charakterisirt, dass die Schwingungszahl des Combinatioustones gleich ist der Summe der Schwingungszahlen der beiden zusammensetzenden Töne. Sie sind von Helmholtz entdeckt und zuerst in den Berichten der Berliner Akademie und in Poggendorf's Annalen beschrieben worden. Die Combinationstöne können nun nicht blos durch Zusammensetzung der Grundtöne entstehen, sondern auch durch Zusammensetzung der Ober- töne. Es kann also, wie Sie leicht einsehen, die Zahl der Töne, die aus einer Klangmasse hervorgeht, die das Ohr aus einer Klangmasse heraus- analysirt, eine sehr bedeutende sein. Aber das Ohr fasst nicht jeden dieser Töne einzeln auf, sondern nur den Klang im Ganzen, und wenn es in einem Concerte seine besondere Aufmerksamkeit auf bestimmte Töne richtet, so sind diese auch nicht einfache Töne, sondern Klänge. Es ist ein be- stimmtes Instrument mit seinem Klange, dessen Gang man in der ganzen Klangmasse mit seiner Aufmerksamkeit verfolgt. Wir unterscheiden consonirende tmd dissonirende Töne und consoni- rende und dissonirende Klänge. Wir sagen, dass zwei Noten miteinander eine Consonanz, und dass zwei Noten miteinander eine Dissonanz geben. Man wusstc seit langer Zeit, dass im Allgemeinen diejenigen Töne, deren Schwingungszahlen in einem einfachen Verhältnisse stehen, eine Consonanz geben, und dass diejenigen, deren Schwingungszahlen in einem complicirten Verhältnisse stehen, eine Dissonanz geben; aber worauf die Consonanz und Dissonanz eigentlich beruhe, ist erst von Helmholtz aufgedeckt worden. Helmholtz hat gezeigt, dass Consonanz nicht Anderes heisst als conti- nuirliche Tonempfindung, und Dissonanz nichts Anderes heisst als discon- tinuirliche Tonempfindung. Zwei Töne, welche um ein sehr Geringes von einander entfernt sind, geben, wie wir früher gesehen haben. Schwebungen, indem sich durch das abwechselnde Aufeinanderfallen von Wellenberg und Wellenberg und dann wieder von Wellenberg und Wellenthal die Impulse in der einen Periode zu einander addiren, in der andern sich von einander abziehen, einander vernichten. Wenn die Differenz der Töne grösser wii'd, so nuiss die Periode, in der diese Abwechslungen erfolgen, kleiner werden, es müssen also mehr Schwebungen in der Zeiteinheit entstehen, und end- lich rücken die Schwebungen so nahe an einander, dass dadurch ein ge- wisses Stossen, ein gewisses Knarren, eine unangenehme llauhigkcit des 256 Theorie der Tonempfindungen. Tones entsteht, und das ist es, was man mit dem Namen Dissonanz be- zeichnet. Die Rauhigkeit der Töne ist am grössten, wenn etwa 33 Schwe- bungen in der Seeunde stattfinden. Wenn weniger Schwebungen in der Secunde stattfinden, ist die Dissonanz weniger unangenehm, weil dann die Schwebungen doch noch weiter auseinanderfallen und sich nicht so scharf markiren. Wenn mehr Sehwebungen als 33 in der Secunde stattfinden, so verwischen sie sich wieder mehr, fliessen mehr ineinander und sind dadurch weniger lästig. Es gilt dies für alle Tonlagen. Es gilt auch für hohe Tonlagen, in welchen sich noch viel mehr als 33, ja noch mehr als 40 Schwebungen in der Secunde durch ihre Rauhigkeit kenntlich machen. Helmholtz hat nun den Grad der Rauhigkeit der einzelnen Töne berechnet, rein nach physikalischen Grundsätzen, und hat dann gefunden, dass in der That das Resultat ein solches war, dass sich wirklich die- jenigen Intervalle, welche als die reinsten und die besten bekannt sind, auch hier bei der Rechnung als die reinsten und besten erwiesen, und dass in der That für diejenigen Combinationen, welche in der Musik als entschie- dene Dissonanzen bekannt sind, das Maximum der Rauhigkeit herauskam. Sie sehen leicht ein, dass hiermit eine theoretische Grundlage für die Musik gegeben ist, auf der Helmholtz auch in seinem Werke fortge- baut hat. Damit überhaupt die Empfindung eines Tones entstehe, ist es noth- wendig, dass bestimmte Nervengruppen lange genug erregt werden, damit der Ton als solcher erkennbar sei. Da, wo dies nicht der Fall ist, ent- stehen nur Geräusche. Sie werden zwar nach Sigm. Exner mit denselben Nerven gehört wie die Töne, aber die einzelnen Erregungen sind zu kurz oder zu rasch und unregelmässig wechselnd um es zxrr Tonempfindung kommen zu lassen. Auch unter den Geräuschen unterscheidet man tiefe und hohe, je nach der Art der Nervenfasern, welche erregt werden. Ein Kanonenschuss, ein Pistolenschuss, das Explodiren eines Zündhütchens und das Ueberspringen eines kleinen elektrischen Funkens bilden eine Reihe vom tiefen zu hohen. Einzelne lange Luftwellen machen tiefe Geräusche, kurze Luftwellen machen hohe Geräusche und setzen sich periodisch wieder- kehrend erst zu Tönen zusammen, wenn eine gewisse Geschwindigkeit der Aufeinanderfolge erreicht ist, bei der schon ein relativ hoher Ton erzeugt wird. Tiefe Töne können sie nicht erzeugen, weil sie die tiefgestimmten Endgebilde nicht dauernd in Bewegung setzen. Deshalb existirt, abgesehen von der allgemeinen unteren Tongrenze, für jede Art von Impiilsen eine eigene, im Allgemeinen höher liegende, untere Tongrenze, welche in erster Reihe von der Schwingungsdauer der einzelnen Impulse abhängt, während die Höhe des Tones, falls ein solcher entsteht, abhängig ist von dem zeit- lichen Abstände der gleichnamigen Phasen der Impulse. Eine Kinder- schnarre, in sehr schnelle Umdrehung versetzt, kann einen hohen Ton erzeugen, aber bei langsamerer Umdrehung erfolgt kein tiefer Ton, sondern ein Geräusch. Die meisten Explosivgeräusche bestehen aus mehreren Luft- wellen, von denen die erste die kräftigste ist, nicht aus einer; aber die Gesammtdauer ist zu kurz um einen Ton als solchen erkennen zu lassen. Geruchssinn. 257 Geruchssinn. Beim Rieclien haben wir es mit Substanzen zu tliun, welche m^it Nerven in Berührung kommen und dieselben chemisch erregen. Es fragt sich: Wie sind diese Nerven beschaffen, und mit welchen Endgebilden sind sie versehen für die Aufnahme der Substanzen, von welchen sie erregt werden sollen? Es ist bekannt, dass der N. olfactorius in seinem intra- craniellen Theile nicht das ist, was wir mit dem Namen eines Nerven zu bezeichnen pflegen, sondern dass er ein vorgeschobener Hirntheil ist, der durch einen Stiel mit dem übrigen Gehirne in Verbindung steht. Das weist sowohl der Bulbus olfactorius durch seinen Bau nach, als auch die Natur der Fasern im Stiele des Bulbus olfactorius. Das weist auch die vergleichende Anatomie nach, indem bei den niederen Wirbelthieren der Bulbus olfactorius mit dem N. olfactorius zusammen in eine gedrungene Masse, in einen sogenannten Lobus olfactorius, umgewandelt ist. Von dem Bulbus nervi olfactorii gehen nun die Riechnerven aus und verzweigen sich in der Nasenhöhle, aber nur in einem Theile derselben, in demjenigen Theile, welchen wir mit dem Namen der Regio olfactoria bezeichnen, und der sich durch seine gelbliche, von einem Pigmente her- rührende Farbe und dui'ch seinen Mangel an Flimmerbewegung auszeichnet. Diese Regio olfactoria nimmt den kleineren, oberen Theil der Nasenscheide- wand ein, ferner die obere Muschel und einen Theil der mittleren Muschel. Hier verzweigen sich die Fasern des Riechnerven, welche als verhältniss- mässig dünne, glattrandige Nerven dahin verlaufen. Sie endigen hier, in- dem sie sich in Zusammenhang setzen mit der Epithelialbekleidung. Die Schleimhaut der Regio olfactoria, die sich als solche durch eigene tubulöse Schleimdrüsen von verhältnissmässig einfachem Bau, die in dieselbe ein- gesenkt sind, charakterisirt, ist überdeckt mit einem Epithelium, dessen Zellen im Ganzen die Form von Cylinderzellen haben. Diese Zellen waren schon von Ecker und von Eckhard in ihrer Gestalt beschrieben worden, als man später mit Max Schnitze allgemein zwei Arten von Zellen unter- schied, von denen die einen als Cylinderepithelzellen, die anderen als Riechzellen bezeichnet wui'den. Die Cylinderepithelzellen sollten nach Max Schultze's Ansicht nicht in Zusammenhang mit den Fasern des Olfactorius stehen. Dagegen sollten aber die Riechzellen, die sich diu'ch schlankeren Bau, namentlich durch ein verschmälertes oberes Stück (siehe Figur IIa und Figur 72 a) von den Cylinderepithelzellen (Figur 72 bb) unter- scheiden, wenigstens aller Wahrscheinlichkeit nach in directer Verbindung stehen mit den Fäden des N. olfactorius. Es zeigte sich nämlich, dass die Zellen nach abwärts laufende fadenförmige Fortsätze hatten, die ganz ähnlich waren den letzten Enden der Fasern des N. olfactorius, welche Max Schnitze beobachten konnte. Es gelang freilich nicht, eine Olfac- toriusfaser direct in einen solchen Fortsatz zu verfolgen, aber dui'ch das besondere Aussehen dieser Zellen, dadui'ch, dass sie sich eben von den Epithelzellen dui'ch ihre schlankere Gestalt unterschieden, und dadiu'ch, dass sie immer diese fadenförmigen Fortsätze nach abwärts schickten, war es wahrscheinlich, dass sie wirklich mit den Fäden des N. olfactorius im Zusammenhange stehen. Brücke. Vorlesungen. JI. 4. Aufl. 17 258 Geruchssinn. Fig. 71. Fig. 72. Die Sache hat sich indessen in neuerer Zeit nach den Untersuchungen S. Exner etwas anders gestaltet. Exner hat an Stückchen der Nasenschleimhaut von Menschen und von Thieren, die in Ueber- osmiumsäure erhärtet und dann zerfasert waren, gesehen, dass ganz allgemein die Fasern des IST. ol- factorius nicht direct in solche Zellenfortsätze übergehen, sondern dass die Fasern des IS", olfactorius sich in ein maschenförmiges Ge- webe (Figur 71 cc) auflösen, in dessen Lücken Zellen und Zellen- kerne eingelagert sind. Mit diesem Maschengewebe stehen die ober- flächlichen Zellen der Riechschleim- haut in Verbindung, und zwar beide Arten, sowohl diejenigen, welche man als Epithelzellen be- zeichnet hat, als auch diejenigen, welche man früher als Eiechzellen bezeichnete. Sie stehen aber damit in verschiedener Weise in Verbindung, Die einen, die Epithelzellen der Autoren, dadurch, dass sie sieh unten in plattenartige Stücke (Figur 72 d) verbreitern, deren Substanz unmittelbar in die des Ma- schenwerkes übergeht, und die anderen, indem sie einen feinen Fortsatz nach abwärts senden, der sich auch in dieses Maschenwerk einsenkt und sich mit demselben ver- bindet. Man kann also in der Eiechschleimhaut nach wie vor zwei Arten von Zellen unterscheiden, die Epithel- zellen der Autoren und die schlankeren Eieehzellen der Autoren, aber man kann nicht mehr sagen, dass aus- schliesslich die einen oder die anderen zui* Aufnahme der riechenden Substanzen bestimmt seien, denn Exner' s Untersuchungen haben gelehrt, dass keine von beiden Arten direct mit den Endigungen des IST. olfactorius in Verbindung steht, dass aber beide indirect mit den Endi- gungen des IST. olfactorius in Verbindung stehen und zwar insofern in ganz gleichwerthiger Weise, als sie beide in ein Maschenwerk übergehen, in welches auch die Enden des IST. olfactorius auslaufen. Nach den späteren Unter- suchungen von Lustig degeneriren, wenn die Eiech- nerven durchschnitten sind, auch beide Arten von Zellen. Es ist wahrscheinlich, dass die verschiedenen Gerüche darauf be- ruhen, dass verschiedene Nervenfasern stärker erregt werden, die mit verschiedenen Centralgebilden in Verbindung stehen deren Erregung uns verschiedene Geruchsempfindungen hervorruft; aber wir sind hier in der Analyse noch nicht so weit vorgeschritten wie beim Gesichte und beim Gehör, nicht einmal so weit wie beim Geschmack. Wir benennen die Ge- rüche wesentlich nur noch nach den Dingen, von denen sie ausgehen. Wir sagen, es rieche etwas nach Veilchen^ oder es rieche etwas nach Terpentin, Geruchssinn. ^59 oder es rieche etwas faulig, das heisst es verbreite einen Gcnicli, wie er von faulenden Körpern ausgeht. Geruchsempfindungen können einander übertäuben, bis zur Unkenntlichkeit; aber wir kennen keine bestimmten Gesetze, nach denen sie sich zusammensetzen. Damit ein Stoff riechbar sei, muss er zweierlei Eigenschaften haben : er muss erstens flüchtig sein, damit er sieh in der Luft verbreiten könne, und zweitens muss er wenigstens bis zu einem gewissen Grade im Wasser löslich sein, weil er sich ja in der Flüssigkeit, mit welcher die Riech- schleimhaut dui'chtränkt ist, verbreiten soll. Anscheinend ist indessen alles beides nicht nöthig. "Wir riechen z. B. auch Metalle, wir riechen mit einem eigenthümlichen, wie wir sagen, metallischen Gerüche eine alte Münze, und doch wissen wir nicht mit Bestimmtheit zu sagen, was an dieser Münze flüchtig sei, und was sich in der Eiechschleimliaut der Nase auflöse. Es hängt dies mit der ausserordentlichen Empfindlichkeit unseres Geruchssinnes zusammen, der allen chemischen Untersuchungen weit voraus- eilt. Es gibt kein Reagens, welches sich an Empfindlichkeit irgendwie mit unseren Geruchsnerven messen könnte. Ein Stückchen Moschus, das zwischen Kleidern aufbewahrt worden ist, und das an die Kleider unwägbare Mengen abgegeben hat, theilt diesen seinen Geruch in der Weise mit, dass er wochenlang au denselben nicht nur in deutlicher, sondern auch in höchst störender, für Manche unerträglicher Weise haftet. Und doch ist das Geruchsorgan des Menschen verhältnissmässig stumpf gegen das Ge- ruchsorgan der Thiere. Schon die reissenden Thiere, z. B. die Hunde, haben einen viel feineren Geruch, indem sie der Spui- des Menschen, des Wildes und der anderer Hunde folgen und dabei dui'ch den Geruchssinn geleitet werden. Ihr Geruchssinn wird aber nach dem Urtheile erfahrener Jäger von dem der Hirsehe und Rehe au Leistungsfähigkeit noch bei Weitem übertroften. Aber Eines ist nöthig, damit Geruchsempfindungen percipirt werden : dass ein Luftstrom durch die Nase hindurchzieht und an der Regio olfac- toria vorübergeht. Es zeigt sieh hier wieder, dass Avir nur Veränderungen empfinden und keine dauernden Zustände. Es muss den Geruchsuerven immer neue riechende Substanz zugeführt werden, wenn die Geruchsempfin- dung fortdauern soll. Man kann die Geruchsempfindung zum Yersehwin- den bringen, sobald man den Athem anhält. Man braucht sich nicht die Nase zu verhalten, man braucht nur den Athem anzuhalten, damit kein Luftstrom durch die Nase zieht, so hört die Gerachsempfiudung sofort auf. Sobald mau aber den Luftstrom wieder herstellt, stellt sich auch die Geruchsempfindung wieder her. Damit hängt es auch zusammen, dass wir, um eine lebhafte Geruchsempfindung hervorzurufen, die Luft von den zu riechenden Körpern mit Energie in die Nase ziehen. Damit hängt es ferner ziisammen, dass bei Eacialislähmungen auf der gelähmten Seite der Geruch in der Regel schwächer ist als auf der gesunden Seite, weil man auf der gelähmten Seite die Luft weniger gut in die Nase einziehen kann, als dies auf der gesunden Seite geschieht, indem, wenn man die Luft ein- zieht, diese hauptsächlich den Weg durch die gesunde Seite geht, weil sie diesen freier und oftener findet als den auf der la'anken Seite. Es fragt sich: Wie verhält es sich mit den Thicren, die nicht in der Luit leben? Wie verhält es sich mit dem Riechen der Fische? Die Fische haben ein sehr ausgebildetes Gcnichsorgan, und doch hat man ihnen 17* 260 Gesolimackssinn. den Geruch vollständig abgesproclien. Es ist die Behauptung, dass die Fische nicht röchen, von den englischen Anglern ausgegangen, als die- selben zuerst ausgedehnte Erfahrungen darüber machten, wie sich Fische, z. B. Forellen und Saiblinge, durch einen unechten Köder täuschen Hessen, dadurch, dass man Insecten aus Seide, Flor, Rauschgold und anderen Uten- silien nachgemacht hatte. Da haben nun die Angler gesagt, wenn der Fisch röche, da müsste er ja die Witterung haben, und dann könnte er nicht auf einen solchen künstlichen Köder anbeissen. Das beruht aber, wie ich glaube, auf einem Missverständnisse, denn der Fisch riecht auch das wirk- liche Insect nicht, das über der Oberfläche des Wassers herumflattert, sondern springt nach demselben, weil er es sieht, und gerade so springt er auch nach dem künstlichen Köder, weil er denselben sieht. Da das Thier im Wasser lebt und nicht in der Luft, so muss auch sein Geruchs- sinn insofern andere Fähigkeiten haben^ als hier nicht Substanzen gerochen werden, die in der Luft verbreitet sind, sondern Substanzen, die im Wasser verbreitet sind, ähnlich wie wir die Substanzen, die im Wasser verbreitet sind, schmecken. Es ist sehr wohl möglich, dass den Fischen ihr Geruchsorgan im Wasser als Wegweiser dient, so dass sie durch das- selbe die Regionen kennen lernen, die ihnen zuträglich sind, und diejenigen, welche ihnen nicht bekommen, diejenigen Regionen, wo sie sich Rechnung machen können, ihre Existenz zu finden, wo sie ihren Laich absetzen können u. s. w. Geschmackssinn. YerlbreitiiiigsgeTbiet. Wir haben schon früher bei der Physiologie der Hirnnerven aus- führlich besprochen, welche jS'erven wir für die Geschmaeksnerven halten, welchen Nerven wir einen Antheil an der Geschmacksempfindung zu- schreiben. Jetzt tritt aber eine andere Frage an uns heran, die, mit welchen Theilen wir schmecken. Es existirt von den rothen Lippen an bis in den Oesophagus hinein kein Ort, von dem nicht einmal gesagt worden ist, dass er schmecke. Es fragt sich nun: Was ist hieran That- sächliches? Von welchen Theilen der Schleimhaut können wirklich Ge- schmacksempfindungen erregt werden? JSTach den Untersuchungen von Stich und Klaatsch, die ausführlieh mit süssen, sauren, bitteren und salzigen Substanzen experimentirt haben, können Geschmacksempfindungen von dem Rande der Zunge aus erregt werden, von einem Streifen der um den Rand der Zunge herumgeht, aber oft nur eine Breite von 2 Linien hat; dann von den hinteren zwei Dritttheilen der Zungenoberfläche und von der unteren Fläche des weichen Gaumens. Ueber den Rand der Zunge und über die zwei hinteren Dritttheile der Zungenfläche ist kein Zweifel vorhanden, über das Schmecken am Gaumen sind Zweifel erhoben worden, indem nicht alle Versuche früherer Experimentatoren ein positives Resultat ergeben haben. Es fragt sich, wie ist es möglich, dass die Angaben über die schmeckenden Partien der Schleimhaut so verschieden ausfallen konnten, und wie kann es überhaupt so grosse Schwierigkeiten haben, das Gebiet Gesclimackssinn. 2üL ZU begrenzen, innerhalb dessen geschmeckt wird? Das hat verschiedene Gründe. Erstens soll bei solchen Versuchen eine Geschmacksempfindung ausgelöst werden von einer verhältnissmässig kleinen Stelle, denn nur da- durch ist es möglich, das Gebiet genau zu begrenzen. Nun wachsen aber die Geschmacksempfindungen mit der Grösse des Areals, welches von der schmeckenden Substanz berührt wird; man kann deshalb sehr fein schmecken, wenn man eine Flüssigkeit im Munde verbreiten kann : von einer kleinen Stelle eine deutliche Geschmacksempfindung hervorzurufen, hat seine Schwierigkeiten. Es ist auch nicht gestattet, die Zunge in den Mund zurücknehmen, weil sich sonst die Substanz in der Mundhöhle ver- breitet; somit fällt auch das gewöhnliche Umhertreiben der zu schmeckenden Substanzen und das Ansaugen an den Gaumen, wie es beim Kosten statt- findet, weg. Es ist noch das beste Verfahren, dass man auf die be- schränkte schmeckende Stelle die zu untersuchende Substanz dauernd ein- streicht oder gelinde einreibt; eine blos einmalige Berührung hat nicht dasselbe Resultat, als wenn man mit einem Pinsel oder mit dem Einger die schmeckenden Substanzen einige Zeit mit der Zunge in Berührung bringt. Ein zweiter Grund liegt darin, dass möglicher Weise das Ver- breitungsgebiet nicht für alle schmeckenden Substanzen ein und dasselbe ist. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die verschiedenen Geschmacks- empfindungen des Süssen, des Sauren, des Bitteren nicht auf verschie- denen Erregungszuständen einer und derselben Nervenfaser, sondern dass sie auf Erregungszuständen verschiedener Nervenfasern beruhen, deren Ver- breitungsgebiete ja nicht nothwendig übereinanderzufallen brauchen. Denn wir müssen auch hier, wie anderswo, davon ausgehen, dass die qualitativ verschiedenen Empfindungen uns erzeugt werden dui'ch qualitativ ver- schiedene Centralgebilde, und dass demnach jede Empfindung von aussen her nur dann hervorgerufen wird, wenn Nervenfasern erregt werden, die mit dem sie erzeugenden Centralgebilde in Verbindung stehen. Es konnten also verschiedene Experimentatoren, je nach dep Substanzen, mit welchen sie vorzugsweise experimentirten, ein verschiedenes Verbreitungsgebiet für die schmeckende Eegion erhalten. Drittens liegt eine wesentliche Schwierig- keit bei den Geschmacksversuchen darin, dass die Geschmacksempfindungen sich mit Gefühlsempfindungen und mit Geruchsempfindungen combiniren. Dass sie sich mit Geruchsempfindungen combiniren, liegt auf der Hand. Es ist bekannt, dass Menschen, die keinen Geruch haben, auch rücksicht- lich vieler Substanzen ein nur unvollkommenes Unterscheidungsvermögen in Bezug auf den specifischen Geschmack besitzen. Die Empfindungen von Süss, Sauer, Salz und Bitter existiren für sie noch, aber sie haben nicht den specifischen Geschmack des Käses, nicht den specifischen Geschmack der Fleischbrühe; Chloroform, Alkohol, Aether werden als süss, süss tmd brennend, bitter und brennend bezeichnet. Aber auch mit Gefühlsempfin- dungen combiniren sich Geschmacksempfindungen. Es ist kein Zweifel, dass die Geschmacksempfindungen des Kühlenden, des Brennenden, des Herben, ja selbst des Sauren immer eine gewisse Beimischung von einer Gefühls- empfindung haben. Es ist in dieser Beziehung sehr bezeichnend, dass Kranke, denen wegen Durchschneidung des Ramus lingualis Nervi trigemini mit dem Geschmacke auch die Tastempfindung verloren gegangen ist, schon ohne vorhergehende Untersuchung sagen, dass sie vorne nur bis zur Halb- scheid der Zunge schmecken, während reine Geschmackslähmungen einseitig 262 l^ie Zunge. oft ohne Wissen des Kranken bestellen. Man bringt Chinin auf die ge- sunde Seite; es wird sofort deutlich geschmeckt; man bringt es ganz in derselben Weise auf die ki-anke Seite; es wird nicht geschmeckt. Nun lässt man den Patienten den Mund schliessen, das Chinin verbreitet sich in der Mundhöhle, und nun gibt er an, er schmecke es auf beiden Seiten. Der Geschmackssinn ist dabei, ich möchte sagen, der unsicherste, der un- verlässlichste von allen unseren Sinnen. Seine Verlässlichkeit ist nicht zu vergleichen mit der des Gesichtssinns und des Gehörsinns, auch selbst nicht mit der des Geruchssinns. Wenn man wirklich über das TJnterscheidungs- vermögen des Geschmacksorganes experimentirt, so findet man, dass das- selbe keineswegs so verlässlich ist, als dies Laien gewöhnlich zu glauben pflegen. Weintrinker sind nicht im Zweifel darüber, dass der rothe Bor- deaux einen von allen weissen Weinen verschiedenen Geschmack habe, und dass nichts leichter sei, als ihn von solchen zu unterscheiden. Die einen trinken 'nur weissen Wein und mögen durchaus keinen rothen, die anderen trinken dagegen nur rothen Wein. Nichtsdestoweniger kann man zeigen, dass selbst über solche Unterschiede, die ganz zweifellos scheinen, sich Menschen täuschen können. Wenn man Jemandem die Augen verbindet und ihm rothen und weissen Wein zu kosten gibt, so unterscheidet er ihn das erste Mal allerdings richtig; wenn er aber einige Male hin- und her- gekostet hat, so fängt er, wenigstens bei gewissen Sorten weissen Weines, an Fehler zu machen, so dass man sieht, dass sein Unterscheidungsver- mögen jetzt nicht mehr die volle Sicherheit hat. Es ist dies ein Experi- ment, das oft gemacht ist, und bei dem manche Wette verloren wui'de. Das sind die Gründe, weshalb sich Geschmacksversuchen nicht un- bedeutende Schwierigkeiten entgegensetzen. Die Zunge. Unser Avesentliches Geschmacksorgan ist die Zunge. Wir wollen diese näher betrachten und sehen, ob wir hier die ersten Angriffspunkte für die schmeckenden Substanzen finden können. Die Zunge trägt bekanntlich eine Schleimhaut, die mit einem ge- schichteten Pflasterepithel bekleidet ist, unter welchem eine Menge Schleim- drüsen liegen, die Glandulae linguales, und in der eine Zone von periphe- rischen Lymphdrüsen liegt, welche sich von der Wurzel der einen Tonsille quer über die Zunge zur Wurzel der andern Tonsille hinüberzieht. Es sind dies die sogenannten Balgdrüsen. An der Oberfläche der Schleimhaut befinden sich drei Arten von Papillen, die wir als Papulae filiformes, Papulae fungiformes und Papulae circumvallatae unterscheiden. Die Papulae filiformes bestehen aus einer im AUgemeinen konischen Hervorragung der Schleimhaut, in welche eine kleine Arterie hineingeht, darin ein zierliches Capillarnetz bildet, und aus welchem wieder eine kleine Vene das Blut abführt. Die Papulae filiformes sind mit einem sehr dicken geschichteten Pflasterepithel überkleidet. An den Spitzen der Papulae filiformes ver- längern sich die Epithelzellen und liegen dabei dachziegelförmig aufein- ander. Sie bilden zwar beim Menschen nicht, wie bei den Katzenthieren, förmliche Stacheln, aber sie bilden doch ein oder mehrere ziemlich lange spitzige Hervorragungen. Die spitzigen Hervorragungen können manchmal so lang werden, dass durch dieselben die ganze Zunge wie behaart erscheint, Die Zunge. 263 indem man in der That, wenn man über dieselben streicht, eine Menge haarförmiger Gebilde in die Höhe richtet, welche nichts Anderes sind als die Epithelfortsätze der Papulae filiformes. Der Ausdruck behaarte Zunge, der mehrfach für solche Fälle gebraucht worden ist, ist insofern unrichtig, als dies nicht wirkliehe Haare sind, indem sie nicht den Bau eines Haares haben und nicht nach Art eines Haares in den Mutterboden eingepflanzt sind. Sie haben aber allerdings mit den Haaren gemein ihre fadenförmige Gestalt und das, dass sie eben Horngebildc siiid wie die Haare. Zwischen den Epithelzellen wuchert hier und anderswo auf der Zunge häufig in grosser Menge ein kleiner Pilz, der seine Fäden zwischen die einzelnen Epithelialzellcn eindrängt, die Zellen umspinnt und überspinnt, und auf diese Weise die Hauptmasse des gelbweissen Beleges auf der Zunge bildet, den man mit dem Namen des katarrhalischen Beleges bezeichnet. Man hat eine Zeit lang geglaubt, dass dieser Beleg nur aus gelockerten und deshalb undui'chsichtig gewordenen Epithelzellen bestehe ; die mikroskopische Untersuchung lehrt aber, dass darin zu gleicher Zeit eine grosse Menge von Fäden und Sporen dieses Pilzes enthalten ist. Die zweite Art von Papillen sind die Papulae fungiformes. Diese stehen nur vereinzelt und sparsam auf dem vorderen Dritttheil der Ober- fläche der Zunge, aber sie stehen in grösserer Menge auf den zwei hin- teren Dritttheilen der Zunge und auf dem ganzen Eande der Zunge ver- theilt. Sie haben die Form eines etwas plattgedrückten Knöpfchens, eine Form, welche man mit der gewisser Pilze verglich, mad deshalb diesen Papillen den ISTamen der Papulae fungiformes gab. Sie sind mit einem geschichteten Pflasterepithel überzogen, das aber dünner ist und nicht so verhornt wie das, welches die Papulae filiformes überzieht. Zu diesen Papillen ziehen zahlreiche Kerven hin, welche offenbar in denselben endigen. Die dritte Art der Papillen sind die Papulae cireumvallatae. Sie stehen in Form eines römischen Y auf der Wurzel der Zunge, stellen ihrer Gestalt nach, im Allgemeinen kui'ze Cylinder oder abgestumpfte Kegel dar und sind ringsum mit einer grabenförmigen Yertiefung umgeben. In diese grabenförmige Vertiefung mündet ein ganzer Ki-anz von Schleimdrüsen ein, deren Körper zwischen den Muskelfasern der Zunge liegen, und welche mit ikren Ausführungsgängen in der Tiefe des Grabens die Schleimhaut durchbohren. Das Plateau der Papille hat eine, durch Erhebungen und Vertiefungen variirte Oberfläche, und darüberhin geht das geschichtete Pflasterepithel, welches atich die übrige Zunge überkleidet. Auch in diese Papillen treten zahlreiche Nerven und Gefässe hinein. Wenn wir nun fragen, welche von diesen Papillen dem Geschmacke dienen, so müssen wir zunächst antworten, dass wahrscheinlich die Papulae filiformes mit der Geschmacksempfindung nichts zu thim haben, wenigstens ist dies für einen Theil derselben kaum zu bezweifeln. Sie kommen vor auf der ganzen Oberfläche der Zunge, auch auf dem vorderen Dritttheil derselben, wo die Geschmacksempfindung jedenfalls sehr stumpf ist, nach Einigen, wie nach Stich und Klaatseh, gänzlich fehlt. Wir haben des- halb auch kein Recht die in grosser Menge zu ihnen gehenden Nerven, welche selbst bis zwischen die Epithelzcllen eindringen, für Geschmacks- nerven zu halten. In Rücksicht auf die Papulae cireumvallatae macht schon ihre Lage an der Wurzel der Zunge, wo wir Geschmacksempfin- 264 Die Zwinge. dungen, namentlich die des Bitteren, gewöhnlich mit grosser Intensität verspüren, wahrscheinlich, dass sie der Geschmacksempfindung dienen. Aber wir können mit Sicherheit sagen, dass es nicht die Papulae circumvallatae allein sind, mit welchen wir schmecken, da wir auch durch Theile der Zunge, in welchen keine solche, wohl aber Papulae fungiformes, vorhanden sind, Geschmacksempfindungen haben. Dies sind nicht allein Theile der Oberfläche, in welchen keine PapiUae circumvallatae liegen, sondern auch der Rand der Zunge, wo keine Papulae circumvallatae, aber reichliche Papulae fungiformes zu finden sind. Die Papulae circumvallatae und die Papulae fungiformes sind es, welche wir als die schmeckenden Gebilde der Zunge ansehen müssen. Nun ist vor einer langen Eeihe von Jahren zu beiden Seiten an der Zungenwurzel des Kaninchens ein Organ gefunden worden, das aus lauter kleinen, parallel nebeneinander liegenden Schleimhautfalten besteht. Dieses Organ scheint zuerst Eapp bekannt gewesen zu sein und ist später im Jahre 1842 ausführlich bei einer Reihe von Säugethieren und auch beim Menschen, bei dem es wenig entwickelt ist, von Professor Mayer in Bonn beschrieben worden. Es ist seitdem iinter dem Namen Papilla foliata be- kannt und ist in neuerer Zeit mehrfach Gegenstand der Untersuchung ge- wesen. Es hat Brühl schon vor mehr als 30 Jahren zwischen den Blättern dieser Papilla foliata an der Oberfläche der Schleimhaut kleine rundliche Gebilde gefunden, die er damals für Drüsen hielt. Solche sind in neuerer Zeit von Loven, Schwalbe, von Wyss und Engelmann näher unter- sucht worden, und es hat sich gezeigt, dass sie eigenthümliche, in das Epithel eingebettete Gebilde sind, die wahrscheinlich mit Nerven in Ver- bindung stehen, und welche man deshalb mit dem Namen der Schmeck- becher bezeichnet. Diese sogenannten Schmeckbecher finden sich nicht nur in den Ealten der Papilla foliata, sondern auch in den Papillis circum- vallatis, und zwar an der steilen Wand des Grabens, welcher dieselben umgibt. Sie finden sich ferner auch an den Papillis fungiformibus mehr vereinzelt, theils eine, theils zu zweien auf dem Durchschnitte, so dass man sie jetzt nicht nur bei den Säuge- thieren, sondern auch beim Menschen an denjenigen Papillen gefunden hat, welchen man Geschmacksvermögen zu- schreibt. Auch an den grösseren Papillen des weichen Gaumens, namentlich am oberen Theile der Uvula sind sie nach- gewiesen worden. Die Schmeckbecher sind kleine, in das Epithel eingebettete und aus verlängerten Epithelzellen ge- bildete Organe von der Gestalt, wie sie beistehende Eigur 73 zeigt. In den- selben liegen längliche, zu beiden Seiten des Kernes in stab- oder schienenförmige Stücke ausgehende Zellen, welche mit ihren peripherischen Enden etwas zur Oeffnung des Schmeckbechers (Figur 73 c) herausragen. Man glaubt nun, dass diese Gebilde mit den Nerven in Verbindung stehen, welche in die Papille hineingehen, und die man zu ihnen hinziehen sieht. Die Verbindung Nach Hanns von Wyss. Geschmacksempfindungen. 265 selbst ist nicht mit Sicherheit beobachtet worden. Da man aber die Schmeck- becher an denjenigen Partien findet, mit welchen geschmeckt wird, da man die Kerven zu ihnen hinziehen sieht, so ist es im hohen Grade wahr- scheinlich, dass in der That die schmeckenden Substanzen in sie eindringen und hier Gebilde erregen, die mit den IST erven im Zusammenhange stehen. Ja noch mehr. Da nach v. Vintschgau's Beobachtungen die Schmeck- becher nach Durchschneidung des N. glossopharyngeus schon in der ersten Woche degenerircn, so darf man sie wohl mit einiger Berechtigung als mit diesem Nerven functionell verbundene Endorgane ansehen. Es ist in- dessen sehr zweifelhaft, ob sie die einzigen Geschmacksorgane sind. Sertoli hat in der Papilla foliata des Pferdes mittelst Goldfärbung intraepitheliale IS'ervenverzweigungen gefunden, von denen es ihrer geschützten Lage wegen nicht wahrscheinlich ist, dass sie den Tastempfindungen dienen. Vielleicht dienen die Schmeckbecher nur einer bestimmten Geschmacksempfindung, die durch eine bestimmte Art von Nerven vermittelt wird. Gfeschmacksempfiiidungen. Wir haben oben gesehen, dass die verschiedenen Geschmacksempfin- dungen wahrscheinlich nicht verschiedene Erregungszustände in ein und derselben Faser sind, sondern, dass sie wahrscheinlich Erregungszustände verschiedener Arten von Nerven sind, die miteinander in das schmeckende Organ eintreten. Wenn U. Mosso und A. Adduco fanden, dass eine im Mimde gehaltene Lösung von salzsaiirem Cocain für eine Weile die Ge- schmacksempfindung des Bitteren vernichtet, sie aber die des Salzigen und Süssen bestehen lässt, so müssen wir dies so deuten, dass Cocain zunächst die Bitter empfindenden Fasern ihres Perceptionsvermögens beraubt. Weini wir fragen, welche Eigenschaft eine Substanz haben muss, um überhaupt Geschmacksempfindung zu ei'regen, so können wir im Allgemeinen nur sagen, dass sie zunächst löslich sein muss, damit sie sich überhaupt in der Flüssigkeit, welche die Zungenschleimhaut durchtränkt, verbreiten kann. Wir wissen aber, dass viele lösliche Substanzen durchaus keinen Geschmack haben, oder dass sie wenigstens einen so unbestimmten Eindruck auf die Geschmacksnerven machen, dass wir den Geschmack als fade bezeichnen. Mit anderen Worten, sie afficiren die Nervenendigungen nicht viel anders, als diese schon von der Mundflüssigkeit afficirt werden, mit welcher die- selben immer in Berührung stehen. In Rücksicht auf andere Substanzen aber, denen wir einen specifisehen Geschmack zuschreiben, theilen wir den Geschmack in gewisse Kategorien ein, welche in einem gewissen Zusammen- hange mit den chemischen Eigenschaften der Substanzen stehen. Von diesen Kategorien sind die am besten begrenzten die des Salzigen, des Süssen, des Sauren, des Bitteren, und diese sind insofern an gewisse chemische Verbindungen geknüpft, als Reihen von unter sich verwandten chemischen Verbindungen gerade diese Geschmacksempfindungen hervorrufen. So ruft ein grosser Theil der Körper, die wir Säuren nennen, uns die Geschmacks- empfindung des Saiu'en hervor. Die Zucker und das Glycerin, freilich auch mehrere andere, mit diesen durchaus chemisch nicht verwandte Körper rufen uns die Geschmacksempfindimg des Süssen hervor, das Chlornatrium und Chlorammonium rufen uns die Geschmacksempfindiing des Salzigen hervor, und eine Reihe von organischen Basen, aber auch andere organische 20V Tastsinn und Gemeingefühl. Verbindungen, rufen uns die Empfindung des Bitteren hervor. Es ist jedoch dieser Zusammenhang zwischen den Stoffen und den Geschmacksempfin- dungen, welche sie erregen, durchaus kein solcher, dass er in grösserer Ausdehnung in Eücksicht auf das chemische System durchgeführt werden könnte. Wenn wir also von der Idee ausgehen, dass verschiedene Ge- schmacksempfindungen auf der Erregung von verschiedenen Nerven beruhen, können wir nur sagen: Diejenigen jN'erven, welche uns die Empfindung des Sauren erregen, werden von denjenigen Körpern am stärksten erregt, welche wir Säuren nennen, oder vielmehr von einer Eeihe dieser Körper, und diejenigen Nerven, welche uns die Geschmacksempfindung des Süssen zubringen, werden am meisten erregt von den Zuckerarten u. s. w. Die schon von früheren Beobachtern gemachte Angabe, dass eine und dieselbe Substanz auf verschiedenen Theilen der Zunge verschieden schmecken könne, ist in neuerer Zeit von M. v. Vintschgau bestätigt worden. V. Vintschgau erklärt dies, wie mir scheint mit Eecht, daraus, dass die Nerven, welche uns die verschiedenen Geschmacksempfindungen zu- bringen, in der Zunge verschieden vertheilt seien, und zwar sei die Zungenspitze reich an sauerempfindenden Nerven, während die bitter- empfindenden sich am zahlreichsten im hinteren Theile der Zungenober- fläche verbreiten. Es lehrt nun die Erfahrung, dass gewisse Geschmacksempfindungen einander compensiren können, ohne dass die chemischen Eigenschaften der erregenden Körper einander compensiren. Es ist bekannt, dass etwas, was uns unangenehm sauer schmeckt, durch Zucker corrigirt werden kann, und dass es auch bis zu einem gewissen Grade durch Kochsalz corrigirt werden kann; und doch sind Zucker oder Kochsalz keine Substanzen, die die Eigenschaften der Säxu'e neutralisiren könnten. Man muss also zu der An- schauung kommen, dass die Erregungszustände im Centralorgane einander compensiren, denn man kann nicht annehmen, dass der Zucker oder das Salz die eine Art von Nerven, die, mit welchen wir sauer schmecken, weniger erregbar mache für Säuren. Die Anschauung, dass es sich um eine Compensation der Empfindungen im Centralorgane handle, findet auch darin ihre Bestätigung, dass wir nicht sagen können, dass die Geschmacks- empfindung als solche schwächer wird. Wenn Säuren durch Zucker oder Salz corrigirt werden, wird die Geschmacksempfindung dadurch nicht schwächer, wir finden unsere Zunge nicht weniger afficirt, aber die Ge- schmacksempfindung wird weniger imangenehm, weniger lästig. Darauf be- ruhen die Corrigentia, sowohl in der Koch-, als auch in der E.eceptirkunst. Tastsinn und Gemeingefühl. Wir gehen zu einem andern Sinne über, zum Tastsinne. Durch den Tastsinn haben wir das Vermögen, räumliche Verhältnisse zu unterscheiden, indem wir von der Oberfläche unseres Körpers Localzeichen erhalten, welche zum Centralorgane fortgepflanzt werden. Die Anzahl der Localzeichen, welche wir von einem gegebenen Stücke unserer Oberfläche bekommen können, ist je nach dem Orte dieses Stückes sehr verschieden. Darüber hat Ernst Heinrich Weber eine ausgedehnte Eeihe von Versuchen an- gestellt, die darin bestanden, dass er einem Menschen, dessen Augen ver- Tastsinn und Uemeingefühl. äD < banden waren, zwei Cirkelspitzcn aufsetzte und untersuchte, wie weit er diese beiden Spitzen nähern konnte, während sie noch als doppelt empfun- den wurden, also noch von jeder der beiden Spitzen ein gesondertes Local- zeichen zum Gehirne gesendet wurde. Er fand auf diese Weise folgende Entfernungen als die kleinsten für getrennt wahrnehmbare Eindrücke: An der Zungenspitze \ 2 I*ar. Liii. An der Volarseite des letzten Fingergiiedes 1 » « Am rothen Theile der Lippen 2 „ „ An der Volarseite des zweiten Fingergliedes 2 „ „ An der Dorsalseite des dritten Gliedes der Finger ... 3 „ „ An der Nasenspitze 3 „ „ An der Volarseite der Capitula ossium metacarpi . . . 3 „ „ Auf der Mittellinie des Zungenrückens, 1 Zoll weit von der Spitze 4 „ „ Am Rande der Zunge, 1 Zoll von der Spitze .... 4 „ „ Am nicht rothen Theile der Lippen 4 „ „ Am Metacarpus des Daumens 4 „ „ An der Plantarseite des letzten Gliedes der grossen Zehe 5 „ „ Auf der Rückenseite des zweiten Gliedes der Finger . . 5 „ „ An den Backen 5 „ » An der äussern Oberfläche des Augenlides 5 » „ An der Mitte des harten Gaumens 6 » » An der Haut auf dem vorderen Theile des Jochbeines . 7 „ „ An der Plantarseite des Mittelfussknochens der grossen Zehe 7 „ ,, Auf der Rückenseite des ersten Gliedes der Finger . . 7 „ „ Auf der Rückenseite der Capitula ossium metacarpi . . 8 „ „ Auf der inneren Oberfläche der Lippen nahe am Zahnfleische 9 „ „ An der Haut auf dem hinteren Theile des Jochbeins . . 10 „ „ Am unteren Theile der Stirn 10„ „ Am hinteren Theile der Ferse 10 „ „ Am behaarten unteren Theile des Hinterhauptes ... 12 „ „ Auf dem Rücken der Hand 14 „ „ Am Halse unter der Kinnlade 15 „ „ Auf dem Scheitel 15 „ „ An der Kniescheibe und in ihrer Umgebung 16 „ „ Auf dem Kreuzbeine 18 „ „ Auf dem Glutaeus 18 „ „ Am oberen und unteren Theile des Unterarmes .... 18 „ „ Am oberen und unteren Theile des Unterschenkels ... 18 „ „ Auf dem Rücken des Fusses in der Nähe der Zehen . . 18 „ ,, Auf dem Rrustbeine 20 „ „ Am Rückgratc, am Nacken unter dem Hiuterhaupte . . 24 „ „ Am Rückgrate in der Gegend der fünf oberen Brustwirbel 24 „ „ Am Rückgrate in der Lenden- und oberen Brustgegend . 24 „ „ Am Rückgrate an der Mitte des Halses 30 „ „ Auf der Mitte des Oberarmes und Oberschenkels ... 30 „ „ Es steht nun zwar im Allgemeinen die Menge der Localzeichen, die gleichzeitig von einem Areal kommen kann, im Zusammenhange mit der Menge der Nerven, welche sieh auf diesem Areal verbreiten; man darf sich aber nicht etwa denken, dass, wenn man die beiden Cirkelspitzen als 2bo Tastsinn und Gemeingefühl. einfach empfindet, sie dann nothwendig innerhalb des Verbreitungsgebietes einer einzigen Nervenfaser stehen. Man hat sich die Haut nicht zu denken als eingetheilt in Bezirke, so dass ein Bezirk der Nervenfaser a, ein zweiter Bezirk der Nervenfaser b und ein dritter der Nervenfaser c angehört, und hat sich nicht zu denken: Wenn ich die beiden Cirkelspitzen so aufsetze, dass sie beide innerhalb des Verbreitungsgebietes der Nervenfaser a fallen, müssen sie einfach empfunden werden, wenn aber eine der Spitzen im Verbreitungsgebiete der Nervenfaser a, die andere im Verbreitungsgebiete h zu liegen kommt, dann müssen sie doppelt gefühlt werden. Dann müsste es dem Zufalle anheimgestellt werden, ob ich mit derselben Oeffnung der Cirkelspitzen einmal beide im Verbreitungsgebiete a aufsetze oder die eine im Gebiete von a, die andere im Gebiete von b. Eine solche Abgrenzung im Ver- breitungsgebiete der Nerven der Haut existirt nicht: diese schieben sich vielmehr zwischen einander ein, so dass ein und dasselbe Hautstück gleich- zeitig von mehreren Nervenfasern versorgt wird. Wenn ich die beiden Cirkelspitzen als doppelt empfinde, so heisst dies nichts Anderes, als dass ich jetzt mit beiden Cirkelspitzen so weit verschiedene Nervenfasern treffe, dass die Localzeichen, die im Gehirne anlangen, hinreichend von einander verschieden sind, um eben als doppelt empfunden zu werden. Lichtenfels und JFröhlich haben nachgewiesen, dass der Abstand der Cirkelspitzen, bei dem sie an einer bestimmten Stelle noch eben als zwei empfunden werden, abhängt vom Unterscheidungsvermögen im Central- organ, dass der Abstand nicht nur zunimmt, wenn dieses durch Narkotika in seiner Erregbarkeit herabgesetzt wird, sondern auch abnimmt, wenn letztere gesteigert wird. Man kann sieh also bildlich vorstellen, dass die Erregungen im Centralorgane Zerstreuungskreise werfen, die bald grösser, bald kleiner sind, je nach seinem actuellen Zustande. Czermak hat ferner gezeigt, dass es auch nicht ganz gieichgiltig ist, ob man die beiden Cirkelspitzen gleichzeitig oder nacheinander auf- setzt. Wenn man die beiden Cirkelspitzen nacheinander aufsetzt, so werden in kleineren Abständen die Spitzen noch als doppelt empfunden, als wenn man sie gleichzeitig aufsetzt. Das wird von dem sogenannten mechani- schen Zerstreuungskreise abgeleitet. Wenn ich eine Cirkelspitze aufsetze, so bringe ich dadurch eine Depression hervor, ich mache einen fiiaehen Trichter. Ich wirke also durch den Druck der Spitzen nicht blos auf einen Punkt, sondern auf einen Punkt am stärksten, aber auch noch auf die umgebenden Punkte, in welchen die Haut auch herabgedrückt wird, und die Summe dieser umgebenden Punkte bezeichnet man mit dem Namen des mechanischen Zerstreuungskreises. Setze ich nun die beiden Cirkelspitzen nebeneinander auf, so ist beiden Zerstreuungskreisen ein Stück gemeinsam. Es ist das ganze Stück zwischen den Cirkelspitzen deprimirt. Setze ich dagegen die Cirkelspitzen nacheinander auf, so mache ich erst an der einen Stelle eine Depression und dann an der andern. Es fallen also jetzt die mechanischen Zerstreuungskreise bei demselben Abstände der Cirkelspitzen nicht in derselben Art theilweise zusammen, wie dies der Fall ist, wenn ich die beiden Cirkelspitzen gleichzeitig aufsetze. Es tritt nun weiter die Frage an uns heran: Inwieweit sind die anderweitigen Empfindungen, welche uns von der Haut zugehen, auch Empfindungen der Tastnerven ? Man unterscheidet eine Eeihe von Empfin- Tastsinn und Gemeingefülil. 269 düngen als dem Gemeingefühle angeliörig, indem man es gewöhnlich so auffasst, dass man bei den Sinneswahrnehmungen und auch beim eigent- lichen Tasten in der Vorstellung nicht seinen eigenen Körper, sondern die Objecte fühlt, die man ansieht, die man riecht, die man hört, die man betastet ; dass wir dagegen bei gewissen anderen Empfindungen das Gefühl haben, dass wir unseren eigenen Körper empfinden, und dies bezeichnet man mit dem Namen des veränderten Gemeingefühles. Als den "Ver- änderungen des Gemeingefühles angehörig sieht man also an Schmerz, Kitzel, Schaudern, Unbehagen u. s. w. Es fragt sich also : wenn die Haut gekitzelt wird, und zwar so weit, dass dadurch ein Schaudern als Reflex in den Nerven der glatten Muskel- fasern der Haut ausgelöst wird, oder dass Lachen, also Eeflex in den Ee- spirationsmuskeln entsteht ; ist dieses Kitzeln auch eine Empfindung der Tastnerven oder kommt mir diese durch andere Nerven zu? Ich glaube, dass das Kitzeln nichts Anderes ist als eine besondere Art der Empfin- dung in unseren Tastnerven. Das Kitzeln entsteht dann, wenn entweder eine Gruppe von Tastnerven sehr oft hintereinander schwach erregt wird, oder wenn nacheinander Gruppen von Tastnerven schwach erregt werden. Es entsteht, wenn ich mit einem Federbart oder einem Strohhalm leise über die Haut hinfahre, es entsteht aber auch dann, wenn ich den Finger an eine schwingende Saite bringe, so dass sie sehr rasch hintereinander dieselbe Gruppe von Nerven wiederholt erregt. Wir fragen dann weiter, ob der Schmerz, der uns erregt wird, wenn heftig gerieben wird, oder wenn die Haut gekneipt wird u. s. w., ob uns dieser auch durch die Tastnerven zugeht oder nicht. Sehr ver- breitet ist die Ansicht von Johannes Müller, dass der Schmerz von gewöhnlichen Empfindungsnerven herrühre, die im Allgemeinen unseren Tastnerven als gleich werthig zu betrachten sind, und die eben in sehr hohem Grade erregt worden sind. Darnach müsste man also sagen, die höheren Grade von Erregungen der gewöhnlichen Empfindungsnerven sind es, welche wir als Schmerz empfinden. Man hat sich freilich auf die qualitativen Verschiedenheiten des Schmerzes, auf einen stechenden, einen schneidenden, einen drückenden Schmerz u. s. w. berufen ; aber es lassen sich diese Verschiedenheiten auch auf die verschiedene Art der Erregung zurückführen. Wenn eine bestimmte kleine Gruppe von Nerven in sehr hohem Grade erregt wird, so haben wir einen stechenden Schmerz. Pflanzt sich die Erregung linear fort, dann haben wir einen schneidenden Schmerz. Wird dagegen eine grössere Menge von Nerven schwächer, aber gleich- zeitig erregt, dann haben wir einen drückenden Schmerz u. s. w. Ein sehr wichtiger Einwand gegen diese Theorie ist gemacht worden. Es sind nämlich Fälle beobachtet worden, in denen die Empfindlichkeit gegen Schmerz verloren gegangen war und doch noch ein ziemlich gutes Tastgefühl existirte. Man kann diese Beobachtungen nicht von der Hand weisen; eine derselben, die berühmteste, wurde von einem Genfer Arzt, Vieusseux, der seinen Zustand ausführlich beschrieb, an sich selbst ge- macht. In neuerer Zeit sind die Aussagen hinzugekommen, welche ein- zelne Individuen über ihren Zustand in der Aether- oder Chloroform- narkose gemacht haben. Sie haben ausgesagt, sie wären so weit narkotisirt worden, dass sie keinen Schmerz empfunden hätten, aber sie hätten noch gehört, gesehen, sie hätten noch die Dinge gefühlt. Es scheint dies auf 2/0 Tastsinn und Gemein gefülil. den ersten Anblick zu beweisen, dass verscbiedene Arten von ISTerven uns die Tastempfindungen und die Scbmerzempfindungen vermitteln. Man kann aber die Sache auch anders erklären. Man kann sie sich auch so erklären, dass zwar noch Eindrücke zum Gehirne fortgepflanzt werden können, dass aber diese Eindrücke im Centralorgane nicht mehr diejenige Höhe erreichen können, um eben Schmerzempfindungen zu veranlassen, und dass deswegen die betrefii'enden Individuen zwar noch fühlen, aber keinen Schmerz empfinden. Man kann sieh auch vorstellen, dass im Gehirne, abgesondert von den Theilen, in denen unsere Tastempfindungen ausgebildet werden, eigene Gebilde vorhanden seien, deren Erregung uns Schmerz verursacht, und die ich als Schmerzcentra bezeichnen will. Sie könnten von den Tastnerven aus erregt werden, aber nur durch E.eize von einer gewissen Stärke, von einer grösseren Stärke, als sie nöthig ist, um Tastempfindungen zu erregen. Es würde für sie eine eigene Eeiz- schwelle, die Schmerzschwelle existiren, und sie würden vermöge dieser gewissermassen als Wächter für die Integrität unseres Leibes aufgestellt sein, indem sie uns, sobald die Schmerzschwelle überschritten wird, zur Abwehr oder zur Elucht aufrufen. Denke ich mir nun, dass speciell diese Centra bei Vieusseux gelähmt waren, und dass das Chloroform diese Centra zuerst lähmt, so begreift sich der anscheinend so räthselhafte Zustand. Diese Vorstellung würde, wie man leicht einsieht, auch mit der verschiedenen Erscheinungsweise, welche der Schmerz je nach der ver- schiedenen Art der Erregung annimmt, sehr wohl vereinbar sein. Wir sehen hier zugleich, dass wir wohl unterscheiden müssen zwischen der Verschiedenheit der Centra und der Verschiedenheit der Zuleitungsbahnen. Unsere jetzige Anschauung von den Sinnesempfiudungen treibt uns dahin, für alle Empfindungen, die einmal als eigenartig erkannt sind, eigene empfindende Gebilde im Centralorgane zu suchen; es sei denn, dass sie erklärt werden können aus der gleichzeitigen Erregung mehrerer Central- gebilde, deren Einzelerregung qualitativ verschiedene Empfindungen hervor- ruft. Aber es braucht nicht jedes Centralgebilde eine eigene Bahn zu haben, welche ihm von der Peripherie aus Erregungen zuführt. So nehmen wir hier an, dass für die Schmerzempfindung eigene Centra vorhanden sind, dass denselben aber die Bahnen gemeinsam sind mit den Centren, welche uns die Tastempfindungen erzeugen. Mehr Schwierigkeit bereiten die Fälle von sogenannter tactiler An- ästhesie, bei denen doch nach den Angaben der Beobachter durch kräftige tactile Reize noch Schmerz hervorgebracht werden konnte. Waren dann auch vielleicht andere Nerven angegriff'en als diejenigen, welche eben vorher bei den leichteren Berührungen als reactionslos befunden worden waren? Oder soll man sich vorstellen, dass das Centrum für die Empfin- dung der tactilen Eindrücke die Function versagte, aber nichtsdestoweniger die Erregung bis zum Sehmerzcentrum fortgepflanzt werden konnte? Bei Berücksichtigung aller Bahnen, die Schmerzempfindungen aus- lösen können, kommen ferner noch andere als die der Tastnerven in Be- tracht. M. Blix und nach ihm Goldscheider bemerkten, dass gewisse Punkte der Haut nur tactile Empfindungen haben, andere nur warme Körper als warm, noch andere nur kalte Körper als kalt empfinden. Nach ihnen sollen die beiden letzteren Arten von Punkten auf elektrische Reize mit ihrer eigenartigen Empfindung mit grösserer oder geringerer Deut- Tastsinn und Gemeingefühl. 271 lichkeit antworten, die wärniccmpilndcnden mit der Enipfindunp; : Warm, die kälteempfindenden mit der Empfindung: Kalt. Bei angeblichem Verluste der Temperaturempfindung muss man also unterscheiden : Werden kalte Körper nicht als solche erkannt? Werden warme Körper nicht als solche erkannt? Werden beide nicht von solchen unterschieden, die näherungs- weise die Temperatur der Haut haben? A. Herzen beobachtete eine alte Frau mit taetiler Anästhesie an den Beinen, während das Schmerz- gefühl normal erhalten war. Die Berührung mit kalten Körpern, selbst mit Eis, spürte sie nicht, wohl aber erkannte sie die warmen als warm und unterschied sogar die mehr oder weniger warmen ganz gut. Bei der Obduction ergab sich eine Myelitis, welche die Hinterstränge und die directe Kleinhirnstrangbahn ergriffen hatte. Herzen ist der Meinung, dass Tast- und Kältegefühl durch Bahnen der Hinterstränge vermittelt werden, Wärmegefühl und Schmerz dagegen durch Leitungen in der grauen Hubstanz des Rückenmarks. Carpenter erzählt, dass Dr. Budd einen Paraplectischen beobachtete, der die Berührung an seinen Beinen fühlte, aber an denselben warme Körper nicht als warm empfand. Es heisst auch, das Schmerzgefühl habe an den Beinen gefehlt. Nach eigenen Erfahrungen kann ich über die dui'ch M. Blix in eine ganz neue Bahn geleitete Lehre von der Temperaturempfindung noch nicht sprechen, da die Untersuchungen, welche in unserem Laboratorium über diesen Gegenstand angestellt werden, noch nicht abgeschlossen sind. An die Theilung der Hautempfindung in drei Arten, in Tast- empfindung, Kälteempfindung und Wärmeenipfindung, zu denen als vierte noch die Schmerzempfindung mit einiger Reserve gebracht werden kann, schliesst sich die Frage, ob es sonst noch einen Sinn gibt. Abgesehen von den Irrthümern, welche durch Magnetiseure, durch Mesmeristen ver- breitet worden sind, sind es wesentlich die Versuche von Spallanzani, welche dazu geführt haben, diese Frage zu erörtern. Es fiel Spallanzani auf, dass die Fledermäuse auch in der Dun- kelheit Hindernisse, welche sich ihnen entgegenstellen, mit grosser Ge- schicklichkeit vermeiden und niemals mit den Flügeln an irgend ein solches Hindcrniss anstossen. Um zu sehen, ob es das Gesicht sei, welches sie leitet, blendete er die Fledermäuse. Er fand aber, dass sie auch dann in derselben Weise und mit derselben Geschicklichkeit die Hindernisse ver- miedeii. Er spamite Fäden in seinem Zimmer aus und fand, dass die Fledermäuse zwischen denselben herunifiatterten und aiich an die Fäden nicht anschlugen. Man hat aus diesen Versuchen den Schluss gezogen, dass die Fleder- mäuse einen sechsten Sinn haben müssen, dass sie Perceptionsorgane haben müssen, die nach einem andern Principe gebaut sind als unsere Sinnesorgane und Wirkungen vermitteln, welche unsere Simieswerkzeiige ihrer Natur nach nicht vermitteln können. Es ist jedoch dieser Schluss nicht vollkommen gerechtfertigt. Es ist bekannt, dass auch wir die Strah- lungen wahrnehmen, die von den Aussendingen ausgehen, und zwar nicht nur durch unsere Augen, sondern auch dui'ch die Nei'ven unserer Haut- oberfläche. Nur bekommen wir durch die Nerven unserer Hautobcrfiäche begreiflicherweise keine Bilder, wir empfinden niir die Strahlungen als solche, und empfinden sie verhältiiissmässig stumpf: deshalb bemerken wir von den einigermassen gleichwarmeu Körperu im Allgemeinen nichts. 272 TJrzeagting. Wenn wir aber in die ISTälie eines warmen Ofens oder in die Nähe eines Feuers kommen, so nehmen wir diese Dinge nicht allein durch das Gesicht wahr, sondern auch durch die Strahlung, welche unsere Haut trifft. Da nun von allen Körpern Strahlungen ausgehen, und zwar nicht blos, wenn sie beleuchtet sind, sondern auch im Dunkeln, aber eben Strahlungen, die wir nicht sehen, sondern Strahlungen von dunklen Wärmestrahlen, so ist es, wenn wir uns die Empfindlichkeit von Hautnerven sehr erhöht und ver- feinert denken, nicht ganz unmöglich, dass die Ausstrahlungen der Körper als solche von Thieren empfunden werden, und dass sie dadurch geleitet werden, dieselben zu vermeiden. Freilich setzt dies eine Schärfe des Unterscheidungsvermögens voraus, von welcher unter uns Menschen selbst der Empfindlichste keine Vor- stellung hat : aber haben wir denn eine Vorstellung von der Feinheit des Geruchssinnes eines Hundes oder eines Eehes ? Bei den Fledermäusen kommen ausserdem sehr ausgebreitete und zarte Hautoberliächen vor. Zu- nächst die Hautoberfläche der Flügel mit ihren sehr zahlreichen Nerven, dann die Hautfalten auf der ISTase, welche namentlich bei einem Genus, das davon den Namen Phyllostoma erhielt, zu förmlichen gefalteten blatt- artigen Fortsätzen entwickelt sind. Wenn man dies berücksichtigt, so kann man es nicht für unmöglich halten, dass vielleicht hier Eindrücke auf sehr empfindliche und in vortheilhafte Bedingungen gesetzte Tast- oder Temperaturnerven übertragen und durch diese wahrgenommen werden. Nach Jurine sollen geblendete Fledermäuse an Hindernisse anstossen, wenn ihnen jederseits der äussere Gehörgang mit Pomade oder Stärke- kleister verschmiert ist. Bei sehenden soll dies nicht der Fall sein. Es ist sehr schwer zu urtheilen über die Frage nach dem sechsten Sinn, weil wir von einem solchen uns gar keine Vorstellung machen können. Alle unsere Vorstellungen stammen aus den fünf Sinnen, die wir besprochen haben, und für die Vorstellungen, die uns aus den Wahr- nehmungen eines sechsten Sinnes erwachsen könnten, fehlt es deshalb in unserem Gehirne ganz an Materiale : wir können uns eben diese Vor- stellungen nicht bilden. Zeugung und Entwickelung. Urzeugung. Auf welche Weise können sich Organismen, also im Allgemeinen Thiere und Pflanzen vermehren? Da tritt uns zunächst die grosse Frage von der Urzeugung, von der sogenannten Generatio aequivoca seu spon- tanea entgegen. Es handelt sich nicht darum, die Frage zu erörtern, ob überhaupt jemals Organismen aus unbelebten und anorganischen Dingen entstanden sind, sondern es handelt sich darum, die Frage zu erörtern, ob noch heutzutage ans unbelebten Dingen lebendige hervorgehen. Die Generatio aequivoca hat im Laufe der Zeiten immer mehr an Terrain verloren. Im Alterthume gab man ihr die weiteste Ausdehnung. Selbst Aristoteles glaubte, dass die Raupen aus den grünen Blättern, dass die Maden aus dem Käse entstehen, ja dass gewisse Fische, die sich Urzeugung. 2lö im Hclilamme und im Sande finden, aus dem Schlamme und Sande ent- standen seien. Erst die Academia del Cimento legte die Axt an diese Theorie, in- dem Eedi nachwies, dass die Maden nicht aus dem Käse und aus dem Fleische, sondern aus Eiern entstehen, welche die Fliegen an das Fleisch hinlegen. Eedi bedeckte Fleisch mit einem Sturz aus Gaze und fand nun, dass sich in dem Fleische keine Maden entwickelten: er sah aber, dass die Fliegen das Fleisch umschwärmten, und dass sie da, wo das Fleisch nahe an der Gaze lag, ihre Eier an dem Sturze absetzten. In späterer Zeit wurden diese Beobachtungen von Anderen fort- gesetzt. Vor Allen ist es aber Swammerdam, der durch genaues Studium des Lebens, der Metamorphose und der Fortpflanzung der Insecten in Rücksieht auf diese die Lehre von der Urzeugung für alle Zeiten un- möglich gemacht hat. Er legte seine Beobachtungen in dem berühmten Werke, das er Biblia naturae seu Historia insectorum benannte, nieder. Während man nun auf diese Weise über die höher entwickelten Thiere belehrt wtirde, eröffnete sich durch das Mikroskop ein neues weites Feld für die Lehre von der Generatio spontanea, indem man eine ganz neue Welt von kleinen thierischen und pflanzlichen Organismen kennen lernte, welche anscheinend aus leblosen Dingen hervorgingen. Man schuf eine ganze Abtheilung von Thieren, die noch heute als solche in der Zoologie existirt, die Abtheilung der Infusorien oder Aufgussthierchen, das heisst der Thiere, die man in Aufgüssen von verschiedenen Dingen fand und züchtete, zum Theil von Dingen, von denen man glauben sollte, dass sie wenig geeignet sind, organischem Leben zu dienen, z. B. in Auf- güssen von Pfefi^er. Da man nun solche Thierchen in allen möglichen Aufgüssen entstehen sah, auch in solchen, in welchen anscheinend keine anderen solchen Thiere oder deren Keime hineingekommen waren, so glaubten Viele die Generatio aequivoca für die Infusorien aufrecht erhalten zu müssen. Da war es in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts namentlich Ehrenberg, der durch seine ausgedehnten Untersuchungen über die In- fusorien die Entstehung derselben auf dem Wege der Urzeugung in wirk- samer Weise bekämpfte. Er konnte aber immer ntir zeigen, dass die Ge- neratio aequivoca auch für die Infusorien höchst unwahrscheinlich sei. Der experimentelle Beweis, dass sie auch für die niedrigsten Organismen nicht existire, wurde erst später, und zwar am Ende der dreissiger und am Anfange der vierziger Jahre geliefert von Schwann, von Schnitze und von Helmholtz. Man wusste seit längerer Zeit, dass man die Gährnng, bei der sich bekanntlich ein mikroskopischer Pilz entwickelt, diu'ch hermetischen Ver- schluss hindern könne, dass man sie auch hintanhalten könne durch kleine Mengen von Substanzen, welche dem organischen Leben feindlich sind, so z. B. durch kleine Mengen schwefeliger Säure. Darauf beruht das Schwefeln des Mostes und der Weinfässer, das ja seit langer Zeit geübt wurde. Man wusste ferner, dass man die Schimmelbildung durch her- metischen Verschluss hindern kann. Darauf beruht das Einsieden des Dunstobstes. Es wird das Obst zu diesem Zwecke in Gläser hineingelegt, die mit einer Thierblase oder jetzt mit Pergamentpapier verschlossen werden. Dann werden diese längere Zeit auf 100" erhitzt, so dass die Brücke. Vorlesungen. II. 4. Aufl. 18 274 Urzeugung. ganze Plüssigkeit im Innern die Temperatur von 100'^ annimmt. Dann nimmt man sie heraus und lässt sie, ohne sie zu öffnen, stehen. Der Process, der hier vorgegangen ist, ist uns jetzt ganz klar. Wir wissen, dass die Keime des Organischen darin zerstört worden sind, und dass eben der hermetische VerscMuss gehindert hat, dass neue Keime hinein- kamen imd dass deswegen keine Schimmelbildung eintritt. Alle diese Wahrnehmungen mussten also zu der Idee führen, dass es die Keime des Organischen seien, welche die Schimmelbildung und die Gährung einleiten, und dass eben die Keime des Organischen von aussen hineinkommen, dass sie nicht durch Generatio aequivoea in den Substanzen entstehen. In der That überzeugte Milne Edwards sich, dass, wenn man die Aufgüsse, in welchen die Infusorien in Masse entstanden, in einem Glasgefässe auf 100** längere Zeit erhitzte und das Glasgefäss zuschmolz, dann auch die Infusorien sich nicht bildeten. Die Parteigänger der Ge- neratio aequivoea machten aber geltend, dass man hier den Organismen ja die Lebensbedingungen abschneide : man könne nicht erwarten, dass sich mikroskopische Thiei'e oder Pflanzen entwickeln sollten, wenn man ihnen den Sauerstoff der atmosphärischen Luft vorenthalte. Um diesem Einwände zu begegnen , wurden nach einander von Schwann, von Schnitze und von Helmholt z Versuche angestellt, bei welchen atmo- sphärische Luft reichlich zugeführt wurde, bei denen aber die Keime des Organischen in der atmosphärischen Luft vorher zerstört waren. Denken Sie sich eine Flasche oder einen Kolben, in welchem sich die Flüssig- keit befindet, welche der Fäulniss oder der Gährung unterliegen soll, denken Sie sich, dieselbe sei zum Sieden erhitzt, um die Keime des Organischen in ihr zu zerstören, und von da ab werde ihr zwar die Luft- zufuhr nicht abgeschnitten, aber es werde ihr nur solche Luft zugeführt, die entweder vorher in ganz kleinen Blasen durch coneentrirte Schwefel- säure gegangen und dann wieder mit Wasser gewaschen ist, oder die man vorher so weit erhitzt hat, als es das zuführende Glasrohr, wozu man ein enges Rohr aus schwer schmelzbarem böhmischen Glase wählt, erträgt, ohne weich zu werden ; dann entstehen in der Flüssigkeit keine Organismen, es entsteht keine Schimmelbildung, keine Gährung und auch keine Fäulniss im gewöhnlichen Sinne des Wortes, weil deren Erschei- nungen wesentlich unter der Mitwirkung niederer Organismen zu Stande kommen. In neuerer Zeit hat man ein noch viel einfacheres Mittel, die atmo- sphärische Luft zu reinigen, ein Mittel, das sich, wenn auch nicht immer, so doch häufig wirksam erweist. Man braucht eine Flasche, in der man z. B. eingesottenes Obst aufbewahrt, gar nicht hermetisch zu verschliessen, wenn sie nur einen hinreichend langen Hals hat, welchen man mit loser Baumwolle vollstopfen kann, so ist diese lose Baumwolle, obwohl sie die atmosphärische Luft nicht abhält, doch ein Schutzmittel gegen die Schimmel- bildung. Die Sporen des Schimmels, die sonst auf das Obst gefallen wären, bleiben jetzt an den Fasern der Baumwolle hängen. Zu jener Zeit, als die erwähnten Versuche gemacht wurden, in den Jahren 1836 und 1837, wurde auch die richtige Theorie der Alkohol- gährung aufgestellt, die Theorie, welche aussagt, dass der Zucker unter dem directen Einflüsse der kleinen lebenden Organismen zerfalle, welche Urzeugung. 2 iO wir mit dem Kamen der Gährungspilze, Torula cerevisiae, bezeichnen. Ca gniard- Latour und bald darauf und unabhängig von ihm Th. Schwann hatten den Vegetationsprocess derselben während der Gährung mit Hilfe des Mikroskops direct beobachtet. Mein verstorbener Lehrer Eilhard Mitscherlich ist damals von einem berühmten Fachgenossen verspottet worden, weil er die Theorie vertheidigte, welche heutzutage allgemein angenommen ist und seltsamer Weise in manchen Kreisen als eine Er- rungenschaft der neuesten Zeit angesehen wird. Es bleibt nun noch eine Reihe von Thatsachen übrig, die für die Generatio spontanea in Anspruch genommen wurden, von denen es sich aber auch gezeigt hat, dass sie in ganz anderer Weise zu erklären sind. Man hatte zunächst gefunden, dass sich Thiere und Pflanzen mitunter in Gegenden entwickeln, in denen sie früher gar nicht gefunden worden sind, so dass man auf den ersten Anblick nicht recht begritf, woher denn die Keime gekommen sein sollten, aus denen sich diese Thiere oder Pflanzen entwickelten. Es versumpfte z. B. eine Gegend, die früher trocken ge- legen hatte, und wo meilenweit keine Sumpfpflanzen zu finden waren, und mit der Versumpfung stellte sich auch eine ganze Flora von Sumpf- pflanzen ein. Eine chlornatriumhaltige Quelle wurde zu Tage gefördert, und um die Salzquelle herum zeigten sich nach einiger Zeit solche Pflan- zen, welche auf einem chlornatriumh altigen Boden zu gedeihen pflegen, sogenannte Katronpflanzen , die früher in der ganzen Gegend nicht zu finden waren. Ofienbar hat es sieh aber hier nicht um eine Generatio spontanea gehandelt, sondern nur darum, dass Keime dahin vertragen worden sind, die auch früher dahin vertragen wurden, und von denen manche vielleicht lange an Ort und Stelle gelegen hatten, für welche aber die günstigen Bedingungen zur Entwickelung fehlten. Wir wissen, dass die Samen mancher Pflanzen ihre Lebensfähigkeit viele Jahre lang be- wahren können, und dass es dann nur der günstigen Bedingungen für ihre Entwickelung bedarf, um die letztere hervorziu'ufen. Somit können wir aus solchen Thatsachen, wie die eben erwähnten, keinen Grund mehr für die Generatio spantanea ableiten. Ein anderes Factum ist folgendes : Man fand in sonst ganz dürren Gegenden in Gruben von Gestein, in welchen sich Wasser angesammelt hatte, ja selbst in Dachrinnen, die man früher leer gefunden, die auch gelegentlich gekehrt worden waren, wenn sich Wasser darin ansammelte, kleine Thiere, Eäderthierchen und Tardigraden. Man glaubte annehmen zu müssen, dass dieselben diirch Generatio aequivoca entstanden seien. Nun ist es aber bekannt, dass bei diesen Thiereu nicht nur die Keime, sondern die Thiere selbst eine wunderbare Dauerhaftigkeit besitzen. Sie können gänzlich austrocknen und können dann durch Monate lang auf- bewahrt werden. Sie sind bis neun Monate lang im getrockneten Zustande aufbewahrt worden, und wemi man sie dann wieder aufweichte, so lebten sie wieder auf und waren wie vor dem Austrocknen. Sie können also auch im ausgetrockneten Zustande vom Winde als Staub vertragen werden und da, wo sie niederfallen, wieder aufleben, wenn ihnen das dazii nöthige Wasser zukommt. Man könnte sagen, auf diesen Gesteinen und in diesen Dachrinnen, wo sich eine sehr hohe Temperatm* durch die Sonnenstrahlen entwickelt, müssten die Thiere umgekommen sein, da ja bckanntcrmassen die meisten 18* 276 Vermelirung durch Tlieilung. Thiere keine Temperatur von ÖO*^ und darüber aushalten. Aber die ver- trockneten Thiere verbalten sieb anders als die feucbten. Doyere bat die vertrockneten Tbiere auf 120*^, ja auf 140° erbitzen können, obne dass sie dadurcb ibre Lebensfähigkeit verloren hätten. Es hängt das offenbar damit zusammen, dass die Eiweisskörper in höheren Temperaturen nur dann in den unlöslichen Zustand übergehen, wenn sie durchfeuchtet sind. Gewöhnliebes lösliches Eiweiss, wenn es eingetrocknet wird, kann längere Zeit auf 100^ erhitzt werden, ohne dass es dadurch seine Lös- lichkeit verliert. Doyere's Angaben ist in neuerer Zeit widersprochen worden , aber in einer Weise , welche in Eücksicht auf die Generatio aequivoca nichts ändert. Es sollen nicht die Tbiere sein, welche wider- stehen, sondern die Eier derselben, aus denen dann neue Thiere hei'vor- gehen. Andere Gründe für die Generatio spontanea hat man von den Ein- geweidewürmern hernehmen wollen. Es schien, als habe man hier mit weniger Unwahrscheinlicbkeit zu kämpfen als bei der Generatio spontanea im weiteren Sinne. Die Eingeweidewürmer sollten nicht aus etwas Leb- losem entstehen, sondern aus Elementen des Wohntbieres, welche sich in anomaler Weise entwickelt hatten. Man muss sich daran erinnern, dass die Spermatozoiden längere Zeit für Thiere gehalten wurden, und da sich diese oifenbar aus Elementen des menschlichen Organismus entwickelten, so kam den Leuten der Schritt nicht so gross vor, auch noch anzunehmen, dass andere Tbiere, welche sich im Organismus finden, dass Eingeweide- würmer aus den Elementen desselben hervorgehen. Die ausgedehnten Studien, die in neuerer Zeit über Eingeweide- würmer gemacht worden sind, haben aber von alledem nichts bewahr- heitet, sie haben nur gezeigt, dass die Eingeweidewürmer sich aus Keimen entwickeln, die von ihresgleichen herrühren, niemals aus solchen, welche vom Hause aus ihrem Wohnthiere eigenthümlich angehören und einen integrirenden Bestandtbeil von dem Leibe desselben ausmachen. Vermehrung durcli Theilung. Die einfachste Art der Fortpflanzung und der Vermehrung, welche wir kennen, ist die durch Theilung. Man muss die Vermehrung dui'cb Theilung im Zusammenhange auffassen mit dem Keproductionsvermögen. Das ßeproductionsvermögen ist im Allgemeinen um so grösser, je niedriger die Thiere in der Tbierreihe stehen. Menschen und Säugethiere repro- duciren, wie bekannt, nur gewisse Gewebe, sie reproduciren die Horn- gebilde, Knochen, Bindegewebe, bis zu einem gewissen Grade Theile des Nervensystems, insofern als ein durchschnittener Nerv, wenn die Enden nicht zu weit von einander entfernt sind, zusammenheilt, so dass er wieder leitend wird. Sie reproduciren aber keine ganzen Körpertheile, keine ganzen Organe. Schon bei den Reptilien kommt die Reproduction ganzer Körper- theile, wenn auch unvollkommen, vor. Man sieht nicht selten Eidechsen, die statt ihres langen, zierlichen Schwanzes einen kurzen, missgefärbten Kegel an einem natürlich gefärbten Stumpf angesetzt tragen. Das sind solche, bei denen der Schwanz verloren gegangen, bei denen er sich in Gestalt eines solchen Kegels reproducirt hat. Vermehrung durch Theilung. 277 Bei den Frosclilarven und noch, mehr bei den Tritonen kommen Reproductionen ganzer Extremitäten vor. Beinchen, die man ihnen ab- geschnitten hat, werden wieder reproducirt, auch ein halber Unterkiefer, ein halbes Auge kann reproducirt werden. Noch viel grösser ist das Reproductionsvermögen bei manchen wirbel- losen Thieren. Das grösste Reproductionsvermögen findet sich bei manchen Würmern und bei manchen Polypen. So bei den Naiden, unter denen namentlich Nais proboscidea zu einer Reihe von Versuchen gedient hat. Man kann dieselbe nicht blos durchsehneiden, so dass dann das eine Stück und. das andere Stück hintereinander fortkriechen und am hinteren Stücke ein neuer Kopf entsteht und am vorderen ein neuer Schwanz, sondern man kann sie sogar in mehrere Stücke schneiden, und jedes dieser kann sich noch zum vollständigen Thiere entwickeln. Die Planarien kann man in verschiedenen Richtungen durchschneiden, und die einzelnen Stücke er- gänzen sich dann wieder nach und nach zu vollständigen Thieren. Unser kleiner Süsswasserpolyp, die- Hydra viridis, .hat ihren Namen nach ihrem Reproductionsvermögen, weil sie in dieser Beziehung mit der Hydra ver- glichen wird, dem Märchen des Reproduetionsvermögens, das uns das Alter- thiim überliefert hat. Abraham Trembley hat an der Hydra viridis eine lange Reihe von Versuchen gemacht, diu'ch welche er gezeigt hat, dass grössere Stücke der Axe sich zu ganzen Thieren reproduciren, ein- zelne abgeschnittene Arme zwar im Wasser fortleben, aber kein ganzes Thier wieder aufbauen. Sie brauchen jetzt an die Stelle dieser künstliehen Theilung niu* eine natürliche zu setzen und haben dann das, was wir mit dem Namen der Portpiianzung, der Vermehrung durch Theilung benennen. Denken Sie sich z. B., dass die Glocke einer Vortieelle sich zuerst am Rande einbiegt, dass die Einbiegung immer tiefer wird, so dass aus der becherförmigen Glocke zuletzt zwei Glocken entstehen, dass sich diese vollständig von einander trennen, dass jeder der beiden ein eigenes Stiel- stück nachwächst, so haben Sie nun zwei Vorticellen, zwei Individuen statt des früheren einfachen Individuums. Auch bei anderen Infusorien kommt in ähnlicher Weise Vermehrung durch Theilung sehr häufig vor. Es muss indessen bemerkt werden, dass man eine Zeitlang auch Erschei- nungen als Theilungsbilder gedeutet hat, die es nicht waren. Leeuwen- hoek hatte schon am Ende des 17. Jahrhunderts angegeben, dass sich zwei Thiere gleicher Art an einander legen, so dass sie eine Masse zu bilden scheinen. Es war dies die jetzt sogenannte Conjugation. Solche Doppelthiere hat man später durch längere Zeit für Infusorien in Theilung angesehen, nachdem man die Theilung als verbreitete Vermehrungsart bei den Infusorien erkannt hatte. In neuerer Zeit haben aber zahlreiche Beobachter bestätigt, dass jene Doppelthiere in der That durch Vereinigung zweier früher einzeln lebenden Individuen entstehen. Ueber die Bedeutung dieser Conjugation herrschen verschiedene Ansichten. Die meisten stimmen aber darin überein, dass sie dieselbe, wenn auch in verschiedener Weise, für einen vorbereitenden" Act für die weitere Fortpflanzung und Ver- mehrung halten. Die Fortpflanzung durch Theilung ist nicht auf freilebende Orga- nismen beschränkt : sie kommt auch im ausgedehntesten Masse in den 278 Veimeliruiig durcU Knospenbildung. Elementarorganismen vor, welche unseren Körper zusammensetzen, in den Zellen. Sie ist hier angenommen worden, so lange überhaupt die Zellen- theorie existirt, aber direct beobachtet ist sie erst später von S. Stricker. Die früheren Angaben über Theilung der Zellen beziehen sich darauf, dass man eine Reihe von Bildern neben einander gehabt, bei welchen man verschiedene Grade der Einschnürung gesehen hatte, und deshalb auch mit einem gewissen Rechte auf eine Theilung der Zellen schloss. Es ist aber noch ein Unterschied, ob man einen solchen Schluss aus einer Reihe von Bildern macht, oder ob man vor seinen Augen solche Theilungen vor sich gehen sieht. Das ist eben erst später geschehen. Es zeigte sich, dass, während das Protoplasma einer Zelle gewöhnlich eine Hauptmasse ist, von der die Fortsätze ausgehen, dasselbe sich zunächst so anordnet, dass es zwei Hauptmassen bildet, die aber noch durch eine Brücke mit ein- ander in Verbindung stehen. Diese Brücke wird nach und nach immer dünner und länger, manchmal kann sie sich dazwischen wieder verdicken, die Protoplasmamassen können temporär wieder zusammenfliessen, dann gehen sie wieder auseinander, endlich kommt ein Moment, wo diese Protoplasmabrücke reisst und aus einem Individuum, aus einer Zelle zwei geworden sind. Die Theilung des Zellkernes geht der des Protoplasmas kürzere oder längere Zeit voran, und sie wird in vielen Fällen einge- leitet durch sichtbare Veränderungen des Kernes. Es entstehen in dem- selben sich metamorphosirende, zum Theil sehr zierliche Figuren von an- scheinenden Fasern, Fäden oder Röhrchen, die sich schliesslich in zwei Gruppen anordnen, welche anfangs noch zusammenhängen, sich aber end- lich vollständig von einander trennen. Man nennt diesen Vorgang Karyo- kinesis. Verinehrimg durch Knospenbildimg. Die andere Art der Fortpflanzung ist die durch Knospenbildnng. Das Wesentliche der Knospenbildung ist, dass irgendwo an dem mütter- lichen Organismus ein Gebilde, eine Hervorragung entsteht, die sich in der Weise diflPerenzirt, dass man darin die Anlage des neuen Individuums erkennt, dass dieses neue Individuum sich bis zu einem gewissen Grade von Vollkommenheit an dem mütterlichen Stamme entwickelt, während es sieh allerdings später von demselben ablösen kann. Der Name und das Paradigma der Knospenbildung ist, wie Sie leicht einsehen, von den Pflanzen hergenommen, wo Sie den Process der Knospung täglich und stündlich vor sich gehen sehen. In der That sind es auch die Thiere, welche man früher als Pflanzenthiere bezeichnete, an welchen die Knos- pung zuerst beobachtet wurde. Es bildet sich bei ihnen ein Stamm, an dem wie an einer Pflanze neue Knospen und neue Aeste sich entwickeln. Aber wesentlich derselbe Process kommt auch bei anderen Thieren vor. So fand Milne Edwards an der sicilianischen Küste einen Wurm, My- rianida fasciata, der an seinem hinteren Ende durch Knospung ein neues Individuum erzeugte, dann zwischen seinem Hinterende und dem Vorder- ende des Jungen ein zweites und so fort, bis eine Kette von sechs Indi- viduen entstand. Dabei hatten die Jungen Geschlechtsorgane, während die- selben dem Mutterthicre fehlten. Einen ähnlichen Process der Knospung stellt die Gliederung bei den Bandwürmern dar, nur dass hier keine Fortpflanzung durch Keimkörper und durch Eier. 2(9 vollständigen Thierc, sondern unselbstständige, der geschlechtliclien Fort- pflanzung dienende Partialorganismen erzeugt werden. Fortpflanzung durcli Keimkörper und durch Eier. Die dritte Art der Fortpflanzung und Vermehrung ist die durcli Keimkörper und durcli Eier. Man hat diese früher so von einander unter- schieden, dass man gesagt hat, Keinikörper sind solche Körper, aus denen sich in ähnlicher Weise wie aus Eiern junge Individuen entwickeln können, aber ohne dass sie erst befruchtet werden. Die Eier unterscheiden sich dadurch von den Keimkörpern, dass sie die geschlechtliche Fortpflanzung repräsentiren, dass es nothwendig ist, dass das Ei vor seiner Entwickelung erst befruchtet wird. Dieser Unterschied hat sich aber in neuerer Zeit nicht mehr als haltbar erwiesen. Denn es hat sieh erstens gezeigt, dass die ersten Anfange der Entwickelung bei allen Eiern statthaben, gleichviel, ob sie befruchtet sind oder nicht, dass sie sich also in Rücksicht auf ihre Entwickelungsfahigkeit von den Keimkörpern nur dadurch unterscheiden, dass sie nach den allerersten Anfängen der Entwickelung stehen bleiben. Aber noch mehr: die Eier gewisser Thiere entwickeln sich, wenn sie auch nicht befruchtet worden sind, vollständig. Es findet dies statt bei der sogenannten Parthenogenesis. Dieselbe wurde zuerst durch Beobachtungen an Bienen sichergestellt. Es ist bekannt, dass die Bienenkönigin den Stock fortpflanzt, dass es aber ausserdem in dem Stocke eine grosse Menge von verkümmerten Weibchen gibt, welche den IS'amen der Arbeitsbienen führen. Diese sind in ihren ersten Anfängen, als junge Maden nicht verschieden von der Königin, sie werden niu* durch die Art der Aufzucht verschieden gemacht. Es zeigt sich, dass, wenn die jungen Königinnen in einem verhältnissmässig frühen Stadium zu Grunde gehen, die Arbeitsbienen, damit der Stock seines Oberhauptes nicht beraubt wird, Arbeitermaden in die Königinnenzellen hineinschleppen und anfangen, sie mit einem besseren und reichlicheren Futter, dem sogenannten Königinnenbrod, zu füttern, und dass sie sich da- durch neue Königinnen aufzuziehen wissen. Es ist weiter bekannt, dass die Bienenkönigin sich niemals inner- halb des Stockes begattet, sondern dass sie dies immer nur auf ihren Ausflügen thut. Nun haben Bienenwirthe beobachtet, dass, wenn eine Königin flügellahm wird, sie nicht aufhört Eier zu legen, und dass auch diese Eier sich noch entwickeln, aber dass sich aus diesen nur Drohnen entwickeln, und man sagt dann, die Königin sei drohnenbrütig geworden. Es war dies schon eine sehr wichtige Erfahrung, weil man einerseits mit grosser Gewissheit wusste, dass sich die Königin niemals innerhalb des Stockes begattet, und man hier andererseits doch die Thatsache vor sich hatte, dass eine solche nicht befruchtete Königin noch Eier legte, aus welchen Larven und aus diesen wieder Bienen hervorgingen. Der Pfarrer Dzicrzon scheint der Erste gewesen zu sein, der die Consequenz aus dieser Erfahrung gezogen hat. Er cxperimentirte auch über den Gegen- stand, indem er einen Stock dadurch drohnenbrütig machte, dass er die Königinnonbrut zerstörte und niu' eine jungfräuliche Königin zui'ücklicss, der er die Flügel abgeschnitten hatte. 280 Generationsweclisel. Nun kam noch eine andere Beobachtung hinzu. Man hatte aus Italien die sogenannte Goldbiene eingeführt, weil sie sehr fleissig arbeitet und friedfertiger ist als unsere einheimische Biene. Da ist es nun ge- schehen, dass sieh die Königinnen von solchen Goldbienen auf ihren Ex- cursionen mit Drohnen von unseren einheimischen Bienen begattet haben. Dadurch sind Bastarde entstanden. Aber nur die Weibchen trugen die Zeichen davon, nur die Königinnen und die Arbeiterinnen, die Drohnen waren nach wie vor reine Goldbienen. Wenn man nun dies mit der Er- fahrung zusammenhält, die man früher mit drohnenbrütigen Königinnen gemacht hatte, so musste man es wahrscheinlich finden, ^dass sich über- haupt bei den Bienen die Arbeiterinnen und die Königinnen, also die weiblichen Individuen, aus befruchteten Eiern entwickeln, dass sich aber die Drohnen aus unbefruchteten Eiern entwickeln. Von Siebold untersuchte nun eine grosse Menge von Eiern, welche bereits in die Zellen gelegt waren, und er fand auf den Eiern, die er Drohnenzellen entnommen hatte, niemals ein Spermatozoid, dagegen konnte er in der Mehrzahl der Eälle auf den Eiern, die aus den Königinnen- oder Arbeiterzellen genommen waren, Spermatozoiden nachweisen. Es lag also klar zu Tage, dass die Weibchen sich aus befruchteten, die Männchen aus unbefruchteten Eiern entwickeln. Hiemit war auch ein anderes Factum aufgeklärt, die Thatsache, dass sich in einer Drohnenzelle immer nur ein Männchen und in den anderen Zellen immer nur Weibchen entwickeln. Man hat sich gefragt: wie macht es die Königin, dass sie die Eier in ihrem Leibe unter- scheidet und in die eine Art von Zellen Drohneneier, in die anderen Weibcheneier legt? Dies geschieht aber nicht, sondern sie legt dieselben Eier in alle Zellen, aber den einen gibt sie Samen aus ihrer Samentasche mit, den anderen nicht. Wann sie dies zu thun hat und wann nicht, erfährt sie aus den Dimensionen der Zelle, die sie mittelst ihres Hinter- leibes ermisst. Später hat man die Parthenogenesis auch bei mehreren Schmetter- lingen beobachtet; bei Liparis dispar hat sie Weyenbergh bis zur dritten Generation verfolgt, und hier entstanden Männchen und Weibchen, und zwar in ziemlich gleicher Menge. Wir sehen also, dass man gar keinen Halt mehr hat, im Grossen und Ganzen einen Unterschied zwischen einem Keimkörper und einem Ei in der Weise zu machen, dass man sagt, das Ei kann sich nur ent- wickeln, wenn es befruchtet wird, der Keimkörper entwickelt sich un- befruchtet. Denn wir sehen hier, dass sich Eier sowohl befruchtet, als nichtbefruchtet entwickeln, ja dass aus den befruchteten Eiern Männchen und Weibchen, und ebenso aus den unbefruchteten Männchen und Weib- chen hervorgehen. Grenerationsweclisel. Ehe wir näher auf die Natiir der Eier eingehen, muss ich noch bemerken, dass keineswegs jedes Thier oder jede Species auf eine Art der Fortpflanzung angewiesen ist. Bei ein und derselben Art können verschiedene Arten der Fortpflanzung vorkommen. Generationswechsel. 281 Fig. 74.*) Durch die Untersuchungen von Sars und Steenstrup ist dies zu- nächst für die Medusen sichergestellt worden. In der Ostsee kommt eine Meduse in sehr grosser Menge vor, die den Namen Aurelia aurita führt. Aus den • Eiern derselben geht ein kleiner bewimperter Embryo hervor, der im Wasser herumschwimmt. Dieser nimmt dann Birnform an und setzt sich mit einem Ende fest. Jetzt wächst er aus zu einem kleinen Polypen, er nimmt eine Vasenform an, oben bilden sich Höcker aus, und er wächst nun, indem er höher und höher wird. Dann fängt diese kleine Vase an, Einker- bungen zu bekommen, sich der Uiiere nach zu theilen. An den Eändern dieser so theilweise von einander ge- sonderten Scheiben bilden sich Hervor- ragungen, die Theilung greift tiefer, und das Ganze besteht nun aus Scheiben, die miteinander durch einen Stiel in Verbindung stehen. Endlich atrophirt dieser Stiel, die Scheiben fallen aiiseinander und schwimmen selbstständig als Medusen im Meere herum. Figur 74 zeigt einen älteren Zapfen, von dem schon mehrere Medusen abgefallen sind, ferner in B einen Zapfen in Theilung und in A eine frei gewordene Meduse. Auch durch Sprossung auf den Seiten der festsitzenden Larven bilden sich Medusen. Ferner gibt es Polypenformen, bei welchen das Geschäft der Ernährung und der Fortpflanzung zwischen den Individuen getheilt ist. Figur 75 zeigt einen Ast von Campanularia gelatinosa ; o ist der Ernährungspolyp, b eine sogenannte Brutkapsel, in der Knospen sprossen, die sich zu Medusen entwickeln, c ein leerer Becher, B und 0 sind successive Entwickelungsstadien und D ist die frei gewordene Meduse. Diese Medusen werden wieder geschlechtsreif, aus ihren Eiern geht später wieder ein Embryo hervor, der sich wieder festsetzt, aus dem Embryo geht wieder ein Polypenstock hervor u. s. w. Dies ist die merkwürdige Erscheinung, welche mit dem Namen des Generationswechsels belegt worden ist. Man muss sagen, dass sie uns nur bei den Thieren merkwürdig und fremdartig erscheint: denn bei den Pflanzen haben wir sie alle Tage vor uns. Wir legen ein Samenkorn in die Erde, und daraus geht ein Strauch oder ein Baum hervor, und an dessen Aesten gibt es Blüthenknospen imd Blattknospen. Die Blattknospen entsprechen den Polypenglocken, welche dem Stamme die Nahrung zuführen, und die Blüthenknospen den Brut- kapseln des Polypenstockes, denen die Fortpflanzung anheimgegeben ist. In ihnen entwickelt sieh ein Gebilde, welche Sie der Meduse vergleichen können, die vom Polypen abstammt, die Blüthc. Diese setzt eine Frucht an und bringt Samenkörner, Eier, zur Eeife, aus denen wieder der Baum *) Fig. 74 und 75 aus Prof. Schmarda's Zoologie. 282 GeneiatioDsweclisel. entsteht. Sie haben also hier wieder Fortpflanzung durch Knospung und geschlechtliche Fortpflanzung neben einander. Der ganze Unterschied be- steht darin, dass beim Polypenstocke die Blüthe abfällt, noch ehe sie zur Frucht gereift ist, und dass sie dann frei im Meere herumschwimmt und sich weiter entwickelt. Das hängt mit dem Unterschiede zwischen Thier- und Pflanzenleben zusammen. Die Blüthe der Pflanze kann nicht zur Reife kommen ohne den Stamm, aus dem sie ihre Nahrung nimmt, die Blüthe des Polypenstockes fällt ab, schwimmt frei herum und kann die Nahrung selbst suchen und aufnehmen und so das Material sammeln, um in sich Frucht anzusetzen. Aehnliche Erscheinungen unter anderer Form kommen bei den Würmern vor, und sie sind uns am bekanntesten bei den Einge- weidewürmern. Aus dem Gliede eines Bandwurmes, aus den be- fruchteten Eiern, die sich darin befinden, geht ein Embryo hervor, der sich zu einem Blasenwurm entwickelt. Dieser pflanzt sich durch Knospung fort, bis das Thier, in dem er lebt, von einem andern gefressen wird. Dann wandeln sich die Knospen des Blasenwurmes in diesem anderu Thiere durch eine andere Art von Knospung in einen Band- wurm um. In den einzelnen Gliedern desselben entstehen nun wieder Eier und Samen, der Bandwurm legt sich zusammen, so dass sich zwei Glieder mit einander begatten, die Eier werden befruchtet, aus ihnen geht wieder ein Embryo hervor, und so beginnt der Kreislauf von Neuem. So kennen wir jetzt die Erscheinungen des Generationswechsels bei einer Reihe von niederen Thieren, die theils nicht parasitisch, theils ganz parasitisch leben, theils einen Theil ihres Lebens ausserhalb, den andern innerhalb eines Wohnthieres zubringen. Wenn wir das ganze Gebiet überblicken, so müssen wir sagen, dass der Schlüssel zu allen diesen Erscheinungen in dem Lehrsatze liegt, dass unter Umständen auch Larven, auch unentwickelte Thiere, sich fortpflanzen können. Darin, dass die alten Zoologen diesen Satz nicht anerkannten, ist es begründet, dass ihnen von vorneherein alle diese Erscheinungen so fremdartig, so unbegreiflich waren. Dass aus einem Ei ein Thier hervor- gehen kann, das dem Muttcrthierc völlig unähnlich ist, wusste man seit Eier und Eierstock. Aoö Jahrhunderten. So lange man die Metamorphose der Inseeten kannte, wusste man, dass aus den Eiern Thierchen hervorgehen können, die erst Umwandlungen durchmachen müssen, ehe sie dem Mutterthiere ähnlich werden. Aber man glaubte, dass sie sich niemals fortpflanzen, ehe sie diese Metamorphose durchgemacht haben. Jetzt sehen wir aber den Generationswechsel eben darin beruhen, dass sich Larven, unentwickelte Thiere, auf verschiedene Weise fortpflanzen, dass dann die Abkömmlinge erst Metamorphosen durchmachen und sich dann wiederum auf eine andere Weise fortpflanzen. Dieser Satz, dass unter Umständen auch Larven sich fortpflanzen können, hat in den sechziger Jahren dieses Jahrhimderts eine bedeutende Erweiterung erlitten. Er muss heutzutage in gewissem Sinne sogar auf die Wirbelthiere ausgedehnt werden. Man brachte aus Mexico eine Reihe von Axoloteln (Siredon pisciformis) nach Paris, die dort im Jardin des plantes gehegt wurden. Dieselben pflanzten sich fort und die Kinder schwammen, wie die Eltern, im Wasser herum. Dann aber, nach einigen Generationen, verloren einzelne Thiere, deren Grosseltern noch im Wasser herumschwammen, ihre äusseren Kiemen und ihre Flossen, formten sich in die Gestalt eines Landsalamanders um, verliessen das Wasser und lebten von jetzt an im Moose, das man ihnen am Rande des Wassers hinlegte. Zur Zeit der Weltausstellung im Jahre 1867 hatte man bereits Gelegen- heit, diese merkwürdigen Thiere zu sehen. Wenn man diese Metamorphose mit der des Landsalamanders ver- gleicht, so kann man sie nicht als eine regressive betrachten, man muss vielmehr das im Wasser lebende Axolotel, das sich geschlechtlich fort- pflanzte, mit der Larve des Salamanders vergleichen. Die Eier und der Eierstocli. Wir kommen nun dazu, die Eier, den Eierstock und die Entwicke- lung der Eier näher zu betrachten. Das Ei besteht aus drei wesentlichen Stücken: aus der Dotterhaut, aus dem Dotter und aus dem Keim- bläschen, der Vesicula germinativa Purkinjii. Die Dotterhaut kann sehr verschieden beschaff'en sein, sie kann sehr dünn und zart, andererseits sehr stark sein. Der Dotter besteht aus eiweissartigen Substanzen, in welchen eine grössere oder geringere Menge von stark lichtbrechenden Körnchen eingelagert ist, so dass er dadurch mehr oder weniger undurchsichtig ist. Das Keimbläschen ist ein anscheinend bläschenartig gebildeter Körper, der im Innern des Dotters liegt und so lange leicht und gut zu unter- scheiden ist, als eben der Dotter eine geringere Menge von körnigen Ele- menten enthält. Später aber, wo der Dotter iindurchsichtig geworden ist, muss erst die Dotterhaut zersprengt werden, damit das Keimbläschen aus dem Dotter heraustritt und beobachtet werden kann. In dem Keimbläschen hat man noch wiederum einen Körper, den Wagner' sehen Kcinifleck, die Macula germinativa Wagneri unterschieden. Diese ist aber nicht beständig vorhanden und kommt manchmal einfach, manchnial mehrfach vor. Aus ihr oder doch aus dem Inhalte des Keimbläschens geht nach neueren Untersuchungen der weibliche Keim hervor, der sich mit einem aus einem Spermatozoid sich bildenden männlichen Keime vereinigt. Beim Säuge- thiere ist die Dotterhaut vcrhältnissmässig dick, so dass, wenn wir das ^o4 Eier und Eierstock. ganze Ei unter das Mikroskop bringen, die Querschnittansicht der Dotter- hant, welche das Mikroskop gibt, sieb als eine lichte, durchsichtige Zone von dem darinliegenden, durch die stark lichtbrechenden Körner dunklen Dotter absetzt. Deshalb hat die Dotterhaut der Säugethiere und des Menschen den etwas seltsamen Namen Zona pellucida erhalten. In ihr liegt also im fertig entwickelten Ei der stark mit Körnern durchsetzte Dotter und darin das Keimbläschen. Das Ei der Säiigethiere und des Menschen ist, ehe der Entwickelungs- process begonnen hat, kugelrund, und das des letzteren hat im Zustande der Reife, das heisst zu der Zeit, wo es im Begriffe ist, vom Eierstocke abzufallen, eine Zehntel- bis eine Achtellinie, also etwa einen Viertelmilli- meter im Durehmesser. Ich muss vorweg bemerken, dass das Ei der Säugethiere zu den- jenigen Eiern gehört, bei welchen sich die Entwickelung von den ersten Anfängen an über die ganze Dottermasse erstreckt, so dass der ganze Dotter zum Aufbau des Embryo und der Eihäute verwendet wird. Es gibt aber Thiere, bei denen dies nicht der Fall ist, bei denen ausser diesem sogenannten Bildungsdotter noch ein anderer Dotter, der ISTahrungs- dotter vorkommt, ein Dotter, der nicht direct zum Aufbau des Embryo verwendet wird, sondern der dem bereits bis zu einem gewissen Grade entwickelten Embryo zur Nahrung dient. Dieser Kahrungsdotter kommt in grösster Ausdehnung bei den Vögeln und den Eeptilien, ausserdem aber auch bei den Fischen vor, bei den einen in grösserer, bei den anderen in geringerer Entwickelung. Da wir nun vielfach die Entwickelung des Hühnchens als Paradigma benützen werden, so muss ich hier auf den Bau des Vogeleies, das mit einem solchen Nahrungsdotter versehen ist, näher eingehen. Das Vogelei in seinen ersten Anfängen besteht aus dem Dotter, der anfangs nur Bil- dungsdotter ist, und aus dem darinliegenden Keimbläschen. Nun wächst es weiter, und es sammeln sich unter dem Bildungsdotter kugelige Ele- mente an, die sich polyedriseh gegen einander abplatten, und die ganz durchsetzt sind mit sehr zahlreichen Fettkörnchen, Fetttropfen. Diese Fett- tropfen sind das Dotterfett, das Dotteröl, das namentlich aus den Eiern der Schildkröten in Südamerika und auf den Inseln der Südsee vielfach gewonnen wird. Diese Elemente scheinen nicht vom Bildungsdotter und damit nicht von der eigentlichen Eizelle abzustammen, sondern von den denselben zunächst umgebenden Gewebselementen ; sie vermehren sich xind dadurch erlangt dieser Nahrungsdotter endlich eine so grosse Ausdehnung, dass er bei "Weitem die Hauptmasse des ganzen Eies ausmacht, und der Bildungsdotter zusammengeschoben ist an einer Stelle, in einer Scheibe, die sich durch ihre lichtere Farbe von dem gelben Nahrungsdotter aus- zeichnet. Diese lichte Schicht ist nichts Anderes als das, was wir im gewöhnliehen Leben mit dem Namen des Keimes oder des Hahnentrittes bezeichnen. Wenn wir ein Ei aufschlagen, so kommt diese Seheibe immer an die Oberfläche. Es müssen also die verschiedenen Theile des Dotters ein verschiedenes specifisches Gewicht haben, es muss der Theil, welcher der Keimseheibe gegenüber ist, specifisch schwerer sein als der Theil, an dem die Keimseheibe liegt. Das leitet nun Purkinje davon ab, dass sich von der Keimseheibe nach abwärts eine Region verfolgen lässt, welche die Gestalt einer dünnhalsigen Flasche mit nach abwärts gerichtetem Corpus Eier und Eierstock. 285 hat, und in welcher diejenigen Elemente des Nahrungsdotters liegen, welche noch am wenigsten, zum grossen Theile gar nicht, mit Fettkörnehen durch- setzt sind. Es befindet sich also in dem Theile, der der Keimscheibc gegenüber liegt, eine grössere Menge von solchen fettarmen Elementen, die specifisch schwerer sind als der fettreiche Dotter, und die deswegen dem Dotter, wenn er schwimmt, eine solche Lage geben, dass die Keimscheibe nach oben zu liegen kommt. Wenn der Nahrungsdottcr vollständig entwickelt ist, reisst sich das Ei vom Eierstocke los, und nun Avird es, indem es durch den Eileiter hindurchgeht, mit Schichten von Eiweiss umgeben. In diesen Schichten bilden sich durch theilweise Gerinnung häutige Ausscheidungen, vermöge welcher das Eiweiss einen ge^äs- Eig. 76. \l, Li sen Zusammenhang bekommt, und indem das Ei sich fortwährend im Eileiter dreht, wird die vor und hinter demselben liegende Eiweiss- masse zu Schnüren aufgedreht. Diese ziehen sich nachher zurück in die übrige Eiweissmasse, und sie sind es, welche man später im Eiweiss an den beiden Enden des Dotters als Chalazen oder Hagel- schnüre findet. Jetzt umgibt sieh das ganze Ei sammt dem Eiweiss mit einer Faserhaut, welche man als die Schalenhaut des Hühner- eies, Membrana testae, bezeichnet, und auf derselben lagern sich später die Kalksalze ab, die die feste Kalkschale bilden. Bei den- jenigen Thieren, die häutige Eier legen, ist der Process ebenso, nur dass zuletzt die Auflagerung der Kalksalze ausbleibt. Wenn wir nun zu den Eiern der Säugethiere und des Menschen zurückkehren und ihre Lagerung im Eierstocke untersuchen, so fin- den wir, dass dieser aus einem bindegewebigen Stroma besteht, in das bei einigen Thieren in grösserer, bei den anderen in geringerer Menge Zellen eingestreut sind. Ausserdem finden sich aber darin grössere und kleinere Hohlräume, welche von einer bindegewebigen Kapsel und einem Gefäss- netze umgeben sind. In diesen Hohlgebilden befindet sich ein Ei, bis- weilen deren zwei, drei; sie sind das, was wir mit dem Namen der Graaf- schen Follikel bezeichnen. So lange die Graafschen Follikel noch klein sind, so dass das Ei einen verhältnissmässig grossen Bruchtheil ihres Binnenraumes ausfüllt, sind sie im Uebrigen mit Zellen ausgefüllt, in welche das Ei eingebettet ist und die im Allgemeinen radial um das Ei angeordnet sind. Wenn aber später der Graafsche Follikel grösser wird, ist er mit Flüssigkeit gefüllt, und die Zellen bilden nur eine Auskleidung. a Eierstockhügel. 6 Epithel desselhen. c Ausführungsgang des Wolff'schen Körpers. e Durchschnittene Canäle des Wolff'schen Körpers. g Glomeruli desselhen. 286 Eier und Eierstock. An der Stelle aber, wo das Ei liegt, befindet sich eine Anhäufung jener Zellen, welche das Ei umgibt, und in welche das Ei eingebettet ist. Die Auskleidung von Zellen, dieses innere Epithel des Graafschen Follikels, nennen wir Membrana granulosa, die verdickte scheibenförmige Stelle, in welche das Ei eingebettet ist, Discus oophorus. Auf welche Weise sind nun die Eier im Eierstocke entstanden? Dar- über haben wir erst durch die Untersuchungen von Pflüg er Klarheit be-' kommen. Pflüg er fand, dass der Eierstock der Säugethiere und des Menschen in derselben Weise wie der Eierstock der Insecten von Hause aus sich wie eine tubulöse Drüse oder richtiger wie ein System von tubu- lösen Drüsen entwickelt. Er fand, dass die Eier sieh aus einzelnen Zellen entwickeln, welche von dem Epithel dieser tubulösen Drüsen abstammen, dass sich aber dann die Fig. 77. Drüsenschläuche in Stücke abschnüren , die die einzelnen Eier um- geben und enthalten, und dass diese abgeschnürten Stücke nun die Graaf- schen Follikel sind. Waldeyer hat die Ent- wickelung noch weiter nach rückwärts verfolgt. Es liegt im Em- bryo zu beiden Seiten der Wirbelsäule ein Or- gan, das wir später näher kennen lernen werden, und das man mit dem Namen des Wolff' sehen Körpers bezeichnet. Es ist das eine Primordial- niere, eine Niere für den Embryo, die ihm dient, ehe er seine blei- bende Niere hat. An, auf und zum Theil auf Kosten dieses Organs entwickelt sich die Ge- schlechtsdrüse, sowohl beim Manne als beim Weibe. Figur 76 zeigt nach Waldeyer das Epithel, welches den Wolff' sehen Körper überzieht, und welches sich hier an einer bestimmten Stelle, dem Eierstockhügel o, ver- dickt. Nun fängt es an, Fortsätze in die Tiefe, in den Eierstockhügel zu treiben, oder, richtiger gesagt, das darunter liegende bindegewebige Stroma wächst, und bestimmte Stellen wachsen nicht mit, so dass sie dadurch mit dem Epithel, das darüber liegt, in die Tiefe zurücktreten, und auf diese Weise entstehen Gruben, aus denen bei weiterer Vertiefung Schläuche werden, welche von dem Epithel ausgekleidet sind. Schon frühzeitig zeigen sich in diesem Epithel einzelne Zellen, die grösser als die anderen sind, und diese entwickeln sich jetzt so, dass sie sich von dem Mutterboden loslösen und von den anderen umgeben werden. Diese grösseren Zellen sind die Eier, und aus den anderen Zellen wird das Epithel des Graaf- Figur 77 zeigt a a das Epithel des Eierstockes, bei e einen ganz jungen, eben abgescbnürten Graaf'sclien Follikel mit dem darin liegenden Ei; l)ei d einen weiter entwickelten, darin das Ei mit der Zona pellucida z, dem Dotter und dem Keimbläsclien k. Ablösung der Eier. 2ot sehen Follikels, das heisst es werden daraus die Zellen der Membrana grauulosa und des Discus oopliorus. Der weitere Vorgang bestellt nun darin, dass sich einzelne Stücke dieser Schläuche, in deren jedem sich ein Ei befindet, abschnüren, und auf diese "Weise die Graafschen Follikel angelegt werden. In Figur 77 sieht man die Anlage eines Graafschen Follikels, der sich eben abge- schnürt hat. Endlich, wie gesagt, wird eine grosse Menge Flüssigkeit ab- gesondert, so dass sieh im Innern ein mit Flüssigkeit gefüllter Hohlraum bildet und die Zellen ringsum an der Wand des Graafschen Follikels liegen. An einer Seite bleibt eine verdickte Scheibe, der Discus oophorus, in dem das Ei liegt. Kölliker weicht von Wald ey er darin ab, dass er die Zellen der Membrana granulosa und des Discus oophorus aus Schläuchen des Wolff'schen Körpers ableitet, welche nach ihm in den sich bildenden Eierstock hineinwiichei'u und den Abschnürungsprocess der Graafschen Follikeln vermitteln sollen. Die Eier haben in ihrem ersten Jugendzustande noch keine Zona pellucida, sondern sind nackte amöbenartige Zellen, und nach Pflüg er vermehren sie sich in diesem Stadium noch durch Theilung. Erst wenn diese Vermehrung durch Theilung aufgehört hat, umgeben sich die ein- zelnen Zellen mit einer Membran, die sich zur Zona pellucida aiisbildet. So ist das Ei encystirt, und es bildet sieh der Graafsche Follikel, der in der erwähnten Weise dui-ch Abschnürung entstanden ist, weiter aus. In ganz analoger Weise geht auch die erste Entwiekelung bei den Vögeln und den Reptilien vor sieh, nur mit dem Unterschiede, dass hier, wenn das Ei so weit fertig gebildet ist, dass es eine Dotterhaut bekommen soll, sich zu dem Bildungsdotter noch ein Nahrungsdotter hinzubildet, ferner mit dem Unterschiede, dass kein mit einem Hohlräume versehener Graafscher Follikel existirt, sondern das Ei dauernd und bis zu seiner Keife eng umschlossen bleibt. Damit, mit der Grösse der Eier und mit der relativ geringen Masse des Eierstockstromas hängt es zusammen, dass bei den Eierlegern die Eier am Eierstock hängen wie die Beeren an einer Traube. Alblösiiiig der Eier. Wenn das Ei befruchtet werden soll, so muss es sieh vom Eierstock loslösen, und dies geschieht auf folgende Weise: Wenn ein Graafscher Follikel an die Oberfläche gelangt ist, bekommt er immer mehr Flüssig- keit, so dass er anfängt, über die Oberfläche des Eierstocks hervorzuragen. Mit der grösseren Menge der Flüssigkeit, die sieh in ihm ansammelt, tritt auch eine grössere Spannung, ein grösserer Druck ein. Dieser Druck hindert die Cireulation des Blutes in den Gefässen des Graafschen Folli- kels. Diese und mit ihnen das Gewebe werden atrophisch und zerreisslich, und in Folge davon tritt früher oder später eine Zerreissung des Graaf- schen Follikels an der Oberfläche ein, so dass das Ei nun diu'ch den Druck der Flüssigkeit ausgestossen wird. Es nimmt dabei immer eine grössere oder geringere Menge von Zellen des Discus oophorus mit. Früher glaubte man, dass bei diesem Abfallen des Eies vom Eier- stock jedesmal das Peritonaeum zerreisse. Man schrieb eben dem Eier- stocke einen peritonaealen Ueberzug zu; Kost er hat aber nachgewiesen, ^ÖO Ablösung der Eier. dass das Peritonaeum niehit über denjenigen Theil der Oberfläche des Eier- stocks, an welchem sich die Eier ablösen, hinweggeht, ja dass sich hier nicht einmal das Epithel des Peritonaexims fortsetzt, sondern dass der Eierstock mit einem Cylinderepithel bekleidet ist, entsprechend dem cylin- drischen Baue des ursprünglichen Keimepithels, aus welchem sich die Ä,uskleidung des Graafschen Follikels und das Ei entwickelt haben. Erst in der Zeit der Involution des Weibes, um das fünfzigste Jahr herum und später, bekommt der Eierstock einen fibrösen Uebei'zug, und damit hört dann auch das Herausfallen der Eier aus den Graafschen Follikeln auf. Bei den Vögeln ist der ganze Process ein ähnlicher, nur mit dem Unter- schiede, dass dort die grössere Spannung nicht durch Flüssigkeit hervor- gebracht wird, welche sich im Graafschen Follikel ansammelt, sondern durch das Wachstham des Nahrungsdotters. Dadurch werden die Blut- gefässe zusammengedrückt, die Haut des Graafschen Follikels mürbe und zerreisslich, und das Ei fällt ab. Es fragt sich nun: wann und unter welchen Umständen fallen über- haupt Eier ab? Man wusste schon längst, dass die Hühner lange Zeit fort- fahren, Eier zu legen, auch wenn sie nicht mit einem Hahne in Berührung gekommen sind, dass also bei diesen Thieren sicher das Abfallen der Eier vom Eierstock vom Coitus unabhängig sei. Nichtsdestoweniger hielt man in Rücksicht auf die Säugethiere und den Menschen hartnäckig die Vor- stellung fest, dass die Eier in Folge des Coitus abfallen. Man stellte sich vor, es entstehe dabei eine plötzliche Congestion zu den Geschlechtsorganen und damit auch zum Eierstocke, und diese bewirke die Zerreissung der schon im Vorhinein geschwellten Graafschen Follikel. Die Untersuchungen von Coste, von Negrier, von Raciborski, von Bischoff und von Courty haben aber vollständig sichergestellt, dass sich die Sache nicht so verhalte, sondern dass bei den Säugethieren und beim Menschen die Eier sich periodisch vom Eierstocke ablösen, ehe noch ein Coitus statt- gefunden, und unabhängig davon, ob überhaupt einer stattfindet. Bei den Säugethieren ist die Zeit, zu welcher die Eier abfallen, die Zeit der Brunst. Man hat das Abfallen der Eier constatirt, indem man Hündinnen, sowie die ersten Zeichen der Brunst eintraten, absperrte, sie hernach tödtete und die Eier im Eileiter und Uterus aufsuchte. Man hat auch Gelegenheit gefunden, die Eier beim Menschen nachzuweisen. Man hat bei Mädchen, bei denen das Hymen erhalten war, und die eines plötz- lichen Todes kurze Zeit nach der Menstruation gestorben waren, Eier theils in der Tuba, theils im Uterus nachweisen können. So ist es auch für die Menschen ausser Zweifel gestellt, dass das Abfallen der Eier nicht mit dem Coitus zusammenhängt, sondern wie bei den Thieren periodisch erfolgt. Es erfolgt hier zur Zeit der Menstruation. Diese letztere Angabe, die in den vierziger und fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts von mehreren Seiten und, wie es scheint, auf Grund guter Beobachtungen gemacht wurde, hat in neuerer Zeit zahlreiche Gegner gefunden. Die gegen sie angeführten Beobachtungen scheinen mir aber kein schlagendes Argument zu liefern. Man stützt sich darauf, dass bei Frauen, die bald nach der Menstruation starben, oft an den Eierstöcken kein frisches Corpus luteum, also keine Spur, dass vor Kurzem ein Ei ausgetreten, vorgefunden wurde, was jeden- falls nur beweist, dass nicht nothwendig bei jeder Menstrualblutung auch ein Ei abfällt, aber nicht beweist, dass die Eier nicht, wenn sie abfallen. Menstruation. 289 zur Zeit der Menstrualblutung abgefallen. Ferner stützt man sich darauf, dass Frauen, denen beide Eierstöcke ausgesclinitten waren, noch eine Zeit lang in regelmässiger Periode Blut verloren. Dies beweist, dass das Ab- fallen der Eier nicht die Ursache der Blutung ist, wenigstens nicht die einzige, aber es beweist wieder nicht, dass die Eier, welche abfallen, nicht ziu* Zeit der periodischen Blutung abfallen. Endlich stützt man sich dar- auf, dass Frauen schwanger geworden sind, welche nach einer Entbindung und während des Säugens noch nicht wieder menstruirt waren, oder solche, die aus irgend einem andern Grunde in den letzten vier Wochen oder länger vor dem Beischlafe nicht menstruirt waren, oder Mädchen, bei denen die Menstruation überhaupt noch nicht eingetreten war; aber dies kann wieder nur beweisen, dass das Abfallen der Eier beim Menschen nicht nothwendig mit einer Blutung verbunden ist, wie es ja bei den Säuge- thieren in der Regel ohne eine solche vor sich geht. Nach den Erfahrungen von Leopold erfolgt das Abfallen der Eier vorwiegend mit der Menstrua- tion, doch auch in der Zwischenzeit. Holst gibt auf Grund klinischer Untersuchungen an, dass Volum und Consistenz der Ovarien zur Zeit der Menstruation grösser seien als sonst. Menstruation. Das Eintreten der Menstruation fällt bekanntlich mit der Zeit, in welcher die Mädchen fruchtbar werden, zusammen. Die Menstruation leitet sich ein dadurch, dass etwas Schleim aus dem Os uteri und aus der Scheide ausliiesst. Der Schleim wird röthlich, und es tritt dann eine immer grössere Menge von Blut aus. Das dauert einige Tage, bei manchen Frauen bis 8 Tage, dann wird der Ausfluss wieder geringer und hört endlich ganz auf. Die Menge des Blutes, welche dabei ausgesondert wird, ist verschieden, sie wird angegeben auf 200 Gramm, sie steigt aber nach Longet auch auf 300, ja auf 500 Gramm, also ein Zollpfund. Das Men- strualblut ist an und für sich von dem gewöhnlichen Blute nicht verschieden. Aber es ist ihm immer eine grössere oder geringere Menge von Schleim beigemischt, imd deshalb kann es häufig als Menstrualblut erkannt werden. Es ist dies in gerichtlichen Fällen von Bedeutung, weil bei Haussuchungen nach blutbefleckten Kleidern, wenn sich irgend ein blutbefleckter Leinwand- lappen findet, manchmal ein Frauenzimmer der Familie auftritt und sagt: Das Blut ist von mir, ich habe diesen Leinwandlappen während der Men- struation benützt. Menstrualblut zeichnet sich, je mehr es mit Uterus- und Vaginalschleim gemischt ist, um so mehr dadurch aus, dass es die Wäsche viel mehr hart macht als Blut, das aus einer Wimde geflossen ist, während letzteres auch in geringer Menge tiefer gefärbte und schärfer begrenzte Flecken ohne farblos infiltrirten Rand macht. Der Experte kann also durch Befühlen des Leinwandstüekes und Untersuchen der Farbe und der Ränder der Flecken oft die Angabe des Frauenzimmers bestätigen; er kann sagen, es sei Menstrualbhit und nicht Blut, das aus einer Wunde geflossen ist. Dagegen ist die umgekehrte Aussage aus der Untersuchung mit blossem Auge nicht zu rechtfertigen und hat selbst nach der mikro- skopischen und chemischen Untersuchung ihr Bedenkliches, da bei profuser Menstruation das Blut so reichlich und so rein fliessen kann, dass ihm keine in Betracht kommenden Mengen von Schleim und von Epithelial- Brücke. Vorlesungen. II. 4. Aufl. 19 290 Menstruation. Zellen beigemisclit sind und es von solchem, das aus einer Wunde ge- flossen ist, nicht unterschieden werden kann. Vor etwa vierzig Jahren und länger stritt man schon darüber, ob das Menstrualblut austrete, wie man sieh damals ausdrückte, per rhexin oder per diapedesin, ob dabei die Capillaren zerreissen, oder ob das Blut durch die Wandungen der Capillaren hindurch schwitze. Da es sich zeigte, dass im Menstrualblute die Blutkörperchen enthalten sind wie im andern Blute, so erhielt die Ansicht die entschiedene Oberhand, dass das Men- strualblut durch Bhexis, durch Zerreissung von Capillaren, ausgeschieden werden müsse. Heutzutage kann man aber das Vorkommen von Blut- körperchen im Menstrualblute nicht mehr als entscheidend hiefür ansehen; denn S. Stricker hat nachgewiesen, dass nicht nur farblose Blutkörperchen, sondern auch rothe unter Umständen durch die Wandiingen der Capillar- gefässe hindurchtreten können, und diese besonderen Umstände können sehr wohl auch im menstruirten Uterus vorhanden sein. Man hat bei Inversio uteri den Process der Menstruation direct an der inneren Uterus- oberfläche beobachtet, und es wird beschrieben, es träte das Blut in kleinen Pünktchen hervor, gleichsam wie der Schweiss aus der Haut her- vortritt. Die Zeit, zu welcher die Menstruation eintritt und aufhört, ist ver- schieden. Die Zeit ist im Allgemeinen früher in warmen Ländern. Nach Long et ist das Alter, in dem die Menstruation eintritt, in Warschau im Mittel 16^/4 Jahre, in Paris I4Y4 Jahre, in Marseille noch nicht 14. In Calcutta soll für indische Mädchen, nach den Angaben englischer Aerzte, das gewöhnliche Alter der beginnenden Menstruation 12y2 Jahre sein. Es muss übrigens bemerkt werden, dass dies nicht allein vom Klima als solchem abhängt, nicht allein vom Einflüsse der Temperatur, denn auch in noi'dischen Gegenden werden Frauenzimmer, die einer südlichen Race angehören, früher menstruirt und entwickelt als die Töchter des Landes. Es ist diese Beobachtung vielfach an Zigeunermädchen gemacht worden, die sich in nördlichen Ländern aufhielten. Manche halten sogar den Ein- fluss der Eace für das Wesentliche, den des Klimas für ganz untergeordnet, wenn nicht bedeutungslos. Bei den Töchtern der Reichen pflegt die Men- struation früher aufzutreten als bei den Töchtern der Armen und in der Stadt früher als auf dem Lande. Zu allen diesen Angaben muss indessen hinzugefügt werden, dass die Mittelzahlen deshalb von geringerem Werthe sind, weil die Zeit des Eintrittes an ein und demselben Orte und unter anscheinend gleichen Be- dingungen innerhalb so weiter Grenzen vai'iirt. Nach den Zusammenstel- lungen von Wilh. Stricker tritt die Menstruation in Mitteleuropa am häufigsten im 18., 17. und 16. Lebensjahre ein, seltener, aber auch noch in vielen Fällen im 19., 20. oder 15., bedeutend seltener, nur in 1 von 16 Fällen, im 14. Verspätete Menstruationen im 21. und 22. Lebensjahre werden ziemlich häufig beobachtet und weiter mit zunehmender Seltenheit bis zum 26. Frühzeitige Menstruation von Mädchen im Alter von 12, 11 oder 10 Jahren ist schon in den verschiedensten Klimaten beobachtet. Manchmal reichen die Fälle noch in viel frühere Kindheit hinauf. Vom Schiffsarzte Lostalot wurde 1876 auf Kumea in Neucaledonien ein in London geborenes Mädchen im Alter von 4 Jahren 2 Monaten beobachtet, das mit 22 Monaten menstruirt worden war, faustgrosse Brüste und einen Corpus luteum. J91 Flaiim von Schamhaaren zeigte. Das Kind war dabei kräftig entwickelt und wog 52 englische Pfund. In neuester Zeit hat 0. Stock er einen Fall beschrieben, in dem bei einem Zwillingskinde sich schon, als es 1 Jahr alt war, die ersten Blutspuren fanden. Regelmässig stellte sich die Menstruation seit dem dritten Jahre ein, und zwar mit dreitägiger Dauer. Das Kind war körperlich gleichfalls sehr stark entwickelt. Die Periode selbst tritt bei sonst gesunden Frauen meist mit ziem- licher Regelmässigkeit im Verlaufe eines Mondmonats, also nach vier Wochen ein. Man hat aus einer grösseren Anzahl das Mittel genommen und dabei eine etwas kleinere Zahl gefunden. Aber das ist eigentlich kein Gegenstand für das Nehmen einer Mittelzahl in der Weise, dass man die Angaben von einer Reihe von Frauen addirt und dann durch die An- zahl der Angaben dividirt. Wenn man sagen will, welche Periode die normale ist, so muss man nicht das Mittel aus den Perioden einer Reihe von Frauen nehmen, sondern man muss die Periode von einer Reihe von Frauenzimmern verzeichnen und diejenige Periode als die normale be- trachten, die bei der grössten Anzahl der Frauen vorkommt. Das ist offenbar die regelmässige Periode eines Mondmonats. Das Aufhören der Periode und damit der Beginn der Involution ist nicht genau an ein be- stimmtes Lebensalter geknüpft. Manchmal beginnt es schon in den Vier- zigern, manchmal tritt es erst in den Fünfzigern auf. Corpus luteuni. Was geschieht nun im Eierstocke, nachdem sich das Ei von dem- selben abgelöst hat? Nachdem hier die Gefässe vorher durch den Druck der Flüssigkeit im Graafschen Follikel eomprimirt waren, werden sie nun plötzlich dieses Druckes entlastet, es ist zugleich eine Zerreissung des Ge- webes eingetreten, und beide Ursachen bewirken eine Congestion, welche zu einer Art von Entzündungsprocess wird. Es häuft sich an der inneren Oberfläche des zerrissenen Graafschen Follikels und in der Wand selbst eine grosse Menge von Zellen an, die sich theilweise zu Gewebe organi- siren, von der Oberfläche aus tritt eine reichliche Vaseularisation ein, und auf diese Weise bildet sich eine compacte Masse, die wir der gelben Farbe wegen, die sie später annimmt, mit dem Namen des Corpus luteum be- zeichnen. Die gelbliche Farbe rührt vom Haematoidin her, welches sich häufig in beträchtlicher Menge in diese Corpora lutea eingelagert findet. Das Haematoidin der Corpora lutea war das Material, an welchem Holm nachgewiesen hat, dass dasselbe nicht, wie man eine Zeitlang glaubte, identisch sei mit dem orangegelben oder orangerothen Gallenfarbstoffe, dem Cholepyrrhin oder Bilirubin. Es ist, wie ich schon früher beim Chole- pyrrhin erwähnte, dieser von Virehow in alten apoplektischcn Herden zuerst gefundene und beschriebene Farbstoff wahrscheinlich identisch mit dem, der den Dotter der Vogeleier gelb färbt und der Lutein oder Haemo- lutein genannt wird. Man muss zwei Arten von Corpora lutea unterscheiden: die einen, welche sich vorfinden, wenn keine Schwangerschaft eingetreten ist, und die anderen, welche sich vorfinden, wenn Schwangerschaft eingetreten ist. Die ersteren sind viel kleiner und haben eine viel kürzere Lebensdauer : sie verschwinden nach verhältnissmässig kurzer Zeit, und das Ganze zieht 19* 292 Uebergang des Eies in die Tuba. sich wieder in das Gewebe des Eierstocks zurück. Nach ein bis zwei Monaten ist keine Spur davon zu finden. Wenn dagegen eine Schwanger- schaft eintritt, dann wächst auch das Corpus luteum sehr gross aus, seine Masse kann 30 gross oder grösser werden als die des ganzen Eierstocks, und noch gegen das Ende der Schwangerschaft können sich die Reste eines solchen Corpus luteum vorfinden. So lautet wenigstens die gangbare Lehre. Das Corpus luteum, dessen Reste man in Leichen schwangerer oder während der Geburt verstorbener Weiber findet, ist nach der ge- wöhnlichen Annahme, welche die Ablösung der Eier während der Schwan- gerschaft gänzlich aufhören lässt, stets noch das Corpus luteum, welches dem Graafschen Follikel angehört, dessen Ei im Uterus zur Entwickelung kam. Diesem widerspricht jedoch Meyerhof er. Nach ihm lösen sich auch während der Schwangerschaft Eier ah. Er stützt sich darauf, dass bei Tubarschwangerschaften nahezu in der Hälfte der Fälle das Corpus luteum nicht auf derselben Seite mit der Frucht, sondern auf der ent- gegengesetzten gefunden sei, ja dass dies selbst in Fällen vorgekommen, in denen wegen anomaler Bildung des Uterus kein Ueberwandern durch die Höhle desselben stattfinden konnte. Es bleibt nach der gangbaren Lehre in solchen Fällen nichts Anderes übrig, als anzunehmen, dass das Ei in die Bauchhöhle gefallen und von dort aus in die andere Tuba gelangt sei. Die Möglichkeit einer solchen Ueberwanderung ist von Leopold bei Kaninchen experimentell nachgewiesen, indem auch solche noch trächtig wurden, denen ein Ovarium exstirpirt und die Tuba der anderen Seite doppelt unterbunden und durchschnitten war. Ob sie auch bei Menschen vorkommt, weiss man bis jetzt nicht. Es sind ferner bei Frauen, die in den ersten Tagen nach der Ent- bindung starben, in einzelnen Fällen Corpora lutea beobachtet und abge- bildet worden, denen man nach ihrem Aiissehen nicht wohl ein Alter von 9 Monaten zuschreiben konnte. Auch im Eierstocke der Vögel bildet sich, wenn das Ei abgefallen ist, ein Corpus luteum. Aber wegen der anderen Gestalt des Eierstocks, der eben keine compacte Masse bildet, wie der Eierstock des Menschen, sondern an dem die Eier frei aufgehäugt sind, kann hier keine Kuppe entstehen, die über eine Fläche hervorragt, wie dies beim Corpus luteum der Säugethiere der Fall ist. Das Corpus luteum ist hier ein gelapptes Gebilde, das neben den übrigen noch am Eierstock sitzenden Eiern an demselben hängt. Uebergaiig des Eies in die Tulba. Das Ei selbst wird, wenn es vom Eierstocke abfällt, normaler Weise von der Tuba aufgenommen. Auf welche Weise dies geschieht, ist nicht mit Sicherheit bekannt. Offenbar kann die Tuba in jenem Momente, wo sie das Ei aufnimmt, nicht die Lage haben, in der wir sie in der Leiche vorfinden, denn diese wäre dazu durchaus ungeeignet. Sie muss aufge- richtet sein, so dass sie in innigere Verbindung mit dem Eierstocke tritt. Nur eine Fimbria, die sogenannte Fimbria ovarica, reicht in der Leiche bis an den Eierstock heran, und ihr Epithel geht sogar bisweilen un- mittelbar in das Epithel des Eierstocks über, bisweilen schiebt sich aber noch anderes Epithel dazwischen ein. Aber auf welche Weise richten Same. 293 sich die übrigen Fimbrien in der Weise auf, dass sie einen Trichter bil- den, in welchen das Ei hineinfällt? Darüber gibt es zwei Vorstellungen. Nach der ersten richtet sich die Tuba durch Gefässcongestion, durch eine Art Erection auf, nach der zweiten wird die Tuba durch die Contruction ihrer Muskelfasern und dxu'ch diejenigen in der Ala vespcrtilionis an den Eierstock iu passender Weise herangebracht. Man hat aus dem Verlaufe dieser Muskelfasern ableiten wollen, dass, wenn sie sich zusammenziehen, die Tuba gerade so aufgerichtet wird, dass das Ei hineinfällt: aber bei ihrem höchst complicirten Verlaufe würde man auch manches Andere haben ableiten können, als eben dasjenige, was man ableiten wollte. Es ist aber die Vorstellung nicht ausgeschlossen, dass im Leben die Tuba dauernd eine andere Lage habe als in der Leiche, wenigstens eine andere als in der geöffneten Leiche. In der That mehren sich in neuerer Zeit die An- gaben, nach denen in gefrorenen Leichen die Fimbrien mit ihren Innen- flächen im Contact mit dem Ovarium gefunden sind. Der Same. Wenn das Ei in die Tuba gelangt ist, so kann es durch die Flimmer- bewegung der letzteren, auch durch Bewegungen in der Musculatur der Tuba gegen den Uterus hin fortbewegt werden, und auf diesem Wege oder im Uterus selbst wird es befruchtet. Die Befruchtung wird durch die Spermatozoiden ausgeführt, kleine Gebilde, die vermöge eines sogenannten Schwanzes, einer grossen Wimper, welche sich lebhaft in der Flüssigkeit bewegt, in derselben fortgetrieben werden. Die Spermatozoiden haben bei verschiedenen Thieren eine sehr verschiedene Gestalt. Die des Menschen bestehen aus einem birnförmigen Körper, an dessen dickerem Ende das Schwänzchen angesetzt ist. Man hat in diesem birnförmigen Körper noch wieder besondere Gebilde, einen Kern, ja sogar einen Saugnapf entdecken wollen: aber selbst mit den stärksten Vergrösserungen lässt sich an dem Körper der menschlichen Spermatozoiden keine feinere Organisation unter- scheiden. Es gibt aber allerdings Spermatozoiden, welche offenbar einen complicirteren Bau haben, als er an denen des Menschen sichtbar ist. Dies sind z. B. die Spermatozoiden des Salamanders, Avelehe einen länglichen Körper haben, vorne an demselben ein stachelartiges Gebilde mit einer Art Widerhaken und hinten einen sehr langen Schweif, über welchem man eine Wellenlinie sich bei den Bewegungen des Spermatozoids fortwährend be- wegen sieht. Diese Wellenlinie hat verschiedene Deutungen erfahren, bis Czermak entschieden nachgewiesen, dass auf dem Schwänzchen dieses Spermatozoids sich eine Art von Flosse befindet, ein platter Saum, der, wie die Rückenflosse eines Fisches, in Wellenform flottirt und dadurch diese wellenförmige Linie hervorruft. Um die Spermatozoiden in ihrer Entwickelung zu verfolgen, müssen wir zu den Samencanälchen des Hodens zurückgehen. Diese münden be- kanntlich in das sogenannte Rete vasculosum Halleri, aus diesem gehen die Ductuli efl^erentes hervor. Diese bilden die Coni vasculosi des IS^eben- hodens und aus diesen setzt sich wieder der Canal des Nebenhodens zu- sammen, der nach zahlreichen Windungen in das Vas deferens übergeht. Die Bildungsstätte der Spermatozoiden sind die Samencanälchen selbst. Die Spermatozoiden müssen also, ehe sie zum Vas deferens und den Samen- 294 Same. blasen hin gelangen können, den vorher beschriebenen Weg zurücklegen. Die Samencanälchen haben eine bindegewebige Membran, die, wie die Untersuchungen von Ludwig gezeigt haben, unmittelbar von Lymphe um- spült ist, so dass man die interstitiellen Gewebsräume um die Hodencanäl- chen herum direct von den Lymphgefässen des Hodens aus injiciren kann. Ausserdem werden sie von zahlreichen Blutcapillaren umsponnen, und in ihrem Innern sind sie mit einem Epithel ausgekleidet, in dem man nach den TJntersiichungen von v. Ebner und von Neumann zwei Arten von Zellen unterscheiden muss. Die einen sind mit einer sogenannten Fuss- platte, in der auch zugleich der Kern liegt, auf der Membrana propria des Samencanälchens befestigt. Sie haben einen in axipetaler Richtung schlank aufstrebenden Zellenleib, der sich im Laufe der Entwickelung an seinem oberen Ende in eine Eeihe von Lappen theilt, die nun einzeln fortwachsen. So entstehen palmenartige Gebilde, wie sie Eigur 78 und fig. 78. Fig. 79. Figur 79 von der Ratte nach Zeichnungen von Neumann zeigen. Zwi- schen denselben liegt die zweite Art von Zellen, sphäroidiscbe Zellen, Figur 79 aa, welche, in eine weiche Masse eingebettet, die ganzen Zwi- schenräume zwischen den ersten ausfüllen. In den oben erwähnten Lappen nun bilden sich die Spermatozoiden. Zuerst sieht man den Körper, wie in Figur 78, dann auch den Sehweif, wie in Figur 79. Ein weiteres Ent- wickelungsstadium zeigt Figur 80 und endlich Figur 81, das fertige, von der Mutterzelle abgefallene Spermatozoid. Sertoli gibt dagegen an, dass die Spermatozoiden aus den Rund- zellen des Hodens entstehen, die zwischen den Stielen dieser Zellen liegen (Figur 79 aa). Klein vereinigt beide Befunde dahin, dass die Rund- zellen während der Bildung der Spermatozoiden axifugale Fortsätze treiben, die letzteren mit einander verschmelzen und so den Stiel der Ebner- schen Zelle bilden. Die ausgebildeten und freigewordenen Spermatozoiden rücken in den Samencanälchen fort, bis sie in die Ductuli efferentes kommen. In diesen ändert sich das Epithel, es wird hier in ein Flimmerepithel umgewandelt. Befruchtung. 295 Fig. 80. Kun werden die Spermatozoiden von den Flinimern erfas.st, deren Bewe- gung, wie schon der Entdecker dieses Flimmerepithels, Otto Becker, WTisste, von dem Hoden gegen das Vas de- ferens hin gerichtet ist. Durch die Flim- merbewegung werden sie also in den Coni vasculosi fortgetrieben bis in den Canal des Nebenhodens hin. Am Anfange des Canals des Nebenhodens und sicher bis zur Mitte hin befindet sich ein Flimmerepithel, das noch viel grösser ist als das in den Coni vasculosi und in den Ductuli efferentes. Das in den Coni vasculosi und den Ductuli efferentes ist dem ähnlich, das sich auf der Respirationsschleimhaut und in der Nase befindet, dieses aber besteht aus viel höheren Zellen, deren Kern im unteren Dritttheil liegt iTnd die Cilien haben, welche nicht einfach wie Gerten auf- und abwärts schwingen, sondern sehr lang sind und •Wellenförmige Bewegungen machen. Von diesem Flimmerepithel werden die Spermatozoiden weiter fortgetrieben. "Wie weit dasselbe beim Menschen reicht, ist nicht mit Sicherheit bekannt, bei Säugethieren hat es Becker schon bis in das Vas deferens verfolgt. MS^ Fi!?. 81. =1^^ Auf diese Weise gelangen die Spermatozoiden in das Vas deferens und in die Samenblasen hinein und können, nachdem sie in den weiblichen Oi'ganismus hineingebracht sind und freie Bewegung in der Flüssigkeit bekommen haben, die Befruchtung vornehmen. Die Befruchtuna. Es fragt sich nun: auf welche Weise geschieht denn die Befruch- tung? Ursprünglich hatte man die Idee, dass ein flüchtiger Körper von dem Samen ausgehe, die sogenannte Aura seminalis, und dass dieser die Eier befruchte. Diese Ansicht war aber schon durch Versuche von Spal- lanzani erschüttert, indem dieser Befruchtung mit sehr verdünntem Samen vornahm, aber es immer nothwendig fand, den Samen in unmittelbare Berührung mit den Eiern zu bringen. Später haben Prevost und Dumas Versuche über diesen Gegenstand angestellt und gezeigt, dass nicht nur kein flüchtiger Körper vom Samen ausgeht, der befruchten kann, sondern dass auch die Samenflüssigkeit nicht im Stande ist zu befruchten, dass es die Spermatozoiden sind, welche zu dem Ei gelangen müssen. Sie filtrirten mit Wasser verdünnten Froschsamen und fanden, dass derselbe schlechter befruchte als nicht filtrirter, und je öfter sie ihn filtrirten, um so mehr nahm sein Befruchtungsvermögen ab, begreiflicherweise, weil zwar einige 296 Befruchtung. Spermatozoiden immer durch das Filter hindurchschlitpften, aber beim wiederholten Filtriren immer ein neuer Theil derselben auf dem Filtrum zurückblieb. Die Beweglichkeit der Spermatozoiden ist nothwendig zur Befruch- tung. Man hat keine Befruchtung erzielt durch Spermatozoiden, welche dieselbe bereits verloren hatten. Andererseits scheinen aber nicht alle Spermatozoiden, die noch beweglich sind, im Stande zu sein, zu befruchten. Schenk hat Samen frieren lassen, hat ihn dann wieder aufgethaut und die Spermatozoiden diirch eine Temperatur von 30*^ — 40*^ wieder zur Be- wegung gebracht; es ist aber nicht gelungen, mit diesem Samen noch Be- fruchtung zu bewirken. Wie geht nun die Befruchtung vor sich? "Worin besteht der Act der Befruchtung? Eine lange Zeit hatte man die Spermatozoiden immer nur an der Oberfläche des Eies gesehen. Ein englischer Beobachter, Barry, gab freilich schon vor 40 Jahren an, er habe im Innern des Kaninchen- eies Spermatozoiden gesehen, aber es hat ihm Niemand geglaubt: er hatte sich in einem andern Punkte getäuscht, und deshalb hat man dieser An- gabe keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt. Dann gab Newport an, er habe Spermatozoiden in die Eier der Frösche eindringen gesehen, und Keber gab an, dass er Spermatozoiden in die Eier von Muscheln ein-' dringen sah, und zwar durch eine eigene trichterförmige Oeffnung, die er mit dem Namen der Mikropyle belegte. Zugleich gab er auch an, er habe sie im Innern des Kanincheneies gesehen. Diesem trat Bischoff ent- gegen und wies nach, dass das, was Keber vor sich gehabt hatte, kein wahres Kaninchenei gewesen sei, und er bezweifelte deshalb damals auch die Angaben von Keber über die Mollusken. In einer späteren Abhandlung hat er aber diese Angabe von Keber bestätigt und auch in ein wahres Kaninchenei die Spermatozoiden verfolgen können. Seitdem ist bei einer grossen Anzahl von Thieren verschiedener Ordnungen und Gattungen das Eindringen der Spermatozoiden verfolgt worden, und man hat heutzutage keinen Zweifel mehr darüber, dass dies für die Befruchtung unerlässlich sei. Auch über das weitere Schicksal der Spermatozoiden scheinen neuere Untersuchungen Aufschluss gegeben zu haben. Nach ihnen bildet sich aus einem Spermatozoid ein männlicher Keim, der sich mit dem aus dem Wagner'schen Keimiieck oder doch aus einem Theil des Inhaltes des Keim- bläschens gebildeten weibliehen Keime vereinigt. Beide geben mit einander die Substanz, aus der bei der später zu besprechenden Zerklüftung des Dotters die Kerne der Embryonalzellen hervorgehen. Wenn uns die Fusion des männlichen und weiblichen Keimes begreiflich erscheinen lässt, dass sowohl die Eigenschaften des Vaters als auch die der Mutter auf das Kind übergehen, so sind anderseits die sogenannten Rückschlagerscheinungen bis jetzt ohne jede Erklärung, tind doch sind diese Erscheinungen von einer grösseren Anzahl von Thierzüchtern anerkannt. Sie bestehen darin, dass das Junge eine oder die andere Eigenschaft von einem männlichen Individuum zeigt, von dem die Mutter nicht jetzt, aber früher einmal geschwängert worden war. Eine Stute, die einmal von einem Eselhengst getragen hat, gilt als zur Pferdezucht für alle Zeiten verdorben. In neuester Zeit ist von Alfr. Lingard von einer Frau berichtet worden, die einen Mann heiratete, in dessen Familie Hypospadie durch sechs Generationen erblich war. Sie gebar ihm drei mit Hypospadie behaftete Befruchtung. . 297 Söhne. Sie ward dann Witwe, heiratete einen anderen Mann ans fehler- freier Familie und gebar auch diesem vier Söhne sämmtlich mit Hypo- spadie. Es setzt dies eine Veränderung des mütterlichen Organismus durch die Frucht voraus, die sich später noch gegenüber einer anderen Frucht geltend machen kann. Ich sage durch die Frucht und nicht durch den männlichen Samen, denn in den angeführten Fällen, für die wir eben ver- geblich Erklärung suchen, handelt es sich um Schwängerung. Fälle, in denen Cohabitation ohne Schwängerung eine solche bleibende Veränderung der Mutter hervorgebracht hätte, sind bis jetzt nicht bekannt. Wie kommen nun die Spermatozoiden in das Säugethierei hinein und durch die dicke und verhältnissmässig harte Zona pellucida hindurch? Man sieht auf der Zona pellucida bei starker Vergrösserung eine radiale Streifung, und Pflüger gibt an, dass die Zellen des Discus oophorus ge- legentlich in diese Streifen, die nach ihm von Poren herrühren, hinein- wachsen, die ganze Zona pellucida durchwachsen und dann an der inneren Seite in einen Knopf anschwellen, so dass sie wie ein vernieteter Nagel in der Zona pellucida stecken. Hienach wird es wahrscheinlich, dass die Zona pellucida des Menschen und der Säugethiere nicht eine, sondern eine grosse Anzahl von Mikropylen habe, durch welche eben die Spermatozoiden in das Innere das Eies einwandern können. Vielleicht ist aber auch die Consistenz der Zona zu dieser Zeit eine wesentlich geringere als die, welche wir ihr nach dem mikroskopischen Bilde und nach dem Verhalten von reifen Eierstockeiern beim Zerquetschen zuschreiben möchten. Hen- sen bildet nach eigenen Beobachtungen Spermatozoiden in der Substanz der Zona ab, die wesentlich von der radialen Richtung abweichen und wellenförmig gebogene Schwänze zeigen. Die so schief gestellten dringen indessen nach Hensen nicht durch, sondern bleiben in der Zona stecken. Derselbe Beobachter zählte in einem Kaninchenei bei einer Einstellung 22 Spermatozoiden, welche die Zona schon passirt hatten, und schätzt, dass wohl 40 bis 50 eingedrungen sein mochten. Wo treffen nun Spermatozoiden und Eier miteinander zusammen? Gewiss treffen sie häufig erst im Uterus miteinander zusammen, nämlich immer dann, wenn bis zur nächsten Begattung die Eier Zeit gehabt haben, ihren Weg durch die Tuben zurückzulegen und im Uterus anzulangen. Sie scheinen aber auch schon in der Tuba mit dem Samen zusammenzu- treffen. Dies muss man schliessen aus den Tubarschwangerschaften, den- jenigen Schwangerschaften, bei welchen das Ei sich nicht im Uterus, son- dern in der Tuba entwickelt, wenn man nicht annehmen will, dass das Ei erst in den Uterus gelangt und dann in die Tuba zurückgekehrt, oder von der andern Seite her durch den Uterus hindurchgewandert ist. Beim Vorrücken im Uterus und in der Tuba steht den Spermatozoiden zwar der Strom entgegen, den die Flimmerhaare hervorbringen, aber einen solchen Strom überwinden sie, wie G. Lott beobachtete, mit ruckweisen Bewegungen. Es scheint kaum mehr zweifelhaft, dass sie selbst über die Tuba hinaus in die Bauchhöhle ausschwärmen. Kann die Befruchtung auch im Eierstocke vor sich gehen, so dass Spermatozoiden in das Ei eindringen, welches sich noch im geschlossenen Graafschen Follikel befindet? Oder sollte es geschehen können, dass ein Follikel sich öffnet, ohne das Ei auszustossen, und die Spermatozoiden ein- dringen lässt? Eines von beiden würde für das Zustandekommen wahrer 298 Furchung. Eierstoekschwangerschaften nothwendig sein. Ich habe nie ein überzeu- gendes Präparat von einer solchen gesehen, doch sind von guten Beob- achtern solche beschrieben worden, bei denen angeblich beide Tuben durch- gängig und völlig intact waren, also den Verdacht ausschlössen, dass aus einer Tubarschwangerschaft durch Verlöthung und Einbeziehung des Eier- stocks anseheinend eine Eierstockschwangerschaft entstanden sei. Es kann aber auch die Befruchtung ganz am Eingange der Tuba stattfinden, und es kann dann geschehen, dass das Ei hinterher sich nicht fortwährend in der Tuba entwickelt, sondern in die Bauchhöhle hinaustritt und sich dort weiter entwickelt. Das sind die sogenannten Bauchhöhlen- schwangerschaften. Vielleicht können solche Bauchhöhlenschwangerschaften auch so zu Stande kommen, dass das Ei gleich anfangs in die Bauchhöhle fällt und dort von Spermatozoiden befruchtet wird, die durch die Tuba in die Bauchhöhle ausgeschwärmt sind. Der Furcliiings- oder Zerklüftimgsprocess des Dotters. Ehe die eigentliche Entwiekelung beginnt, findet eine Reihe von vorbereitenden Veränderungen statt. Diese beginnen damit, dass der Dotter des Eies sich in zwei Massen zusammenballt. Er zieht sich dabei etwas von der Zona pellucida zurück, das Keimbläschen verschwindet und statt der einen sphärischen Masse erscheinen ntm zwei Halbkugeln, und in jeder derselben liegt wiederum ein heller Fleck in ähnlicher Weise, wie früher das Keimbläschen im Dotter lag. Darauf fangen diese Halbkugeln an, sich von der Oberfläche in einer Furche einzuschnüren, und jede dieser beiden Halbkugeln theilt sich wieder in zwei Stücke, so dass nun der ganze Dotter in vier Stücke getheilt ist. Diese Kugelquartanten, die wie die Abtheilungen einer Orange neben einander liegen, theilen sich dann der Quere nach, so dass jetzt acht Kugeloctanten entstehen, und diese theilen sich in ähnlicher Weise dadurch, dass sich die Masse um neue Centra zusammenzieht, fort und fort in immer kleinere und kleinere Stücke, in deren jedem wieder ein heller Fleck zum Vorschein kommt. Wenn endlich die Theilung immer weiter und weiter fortgeschritten ist, so ist das Endproduct dieses Furchungs- oder Zerklüftungsprocesses eine Masse von Keimzellen; die letzten Theilungsproducte, die entstehen, gleichen im Wesentlichen, in ihren Dimensionen und ihren Eigenschaften, nackten Zellen, in welchen der helle Fleck, der sich in der Mitte befindet, den Kern darstellt. Die Furchung bezieht sich überall nur auf den Bildungsdotter, der Nahrungsdotter ist dabei vollkommen unbetheiligt. Deshalb erstreckt sich bei denjenigen Thieren, die nur einen Bildungsdotter haben, der Furchungs- process über das ganze Ei. Bei denjenigen aber, die einen Bildungsdotter und einen ISTahrungsdotter haben, erstreckt sich die Furchung nur über den Theil des Eies, welchen der Bildungsdotter ausmacht. Durch die Furchung sind die Bausteine für den Aufbau des Embryo geliefert. Sie gruppiren sich zunächst im Säugethiere so, dass sie sich gegen die Peripherie zurückziehen, so dass sich eine Höhle bildet, dass sie einen Theil des Eies mit einer einfachen Schichte auskleiden und an einem andern Theile desselben angehäuft sind. Die ganze Summe dieser Fmcliung. 299 Zellen bezeichnet man jetzt mit dem Namen der Keimhaut, und den Theil, wo sie angehäuft sind, nennt man den Embryonalfleck. Die Bausteine für den Embryo haben aber vor anderen Bausteinen den Vorzug, dass sie sieh durch Theilung vermehi'en. Zunächst entwickelt sich eine zweite Schicht von Zellen; die Keimhaut besteht von da an also aus zwei Lagen, aus zwei Blättern, die man mit dem Namen des äusseren Blattes und des inneren Blattes der Keimhaut bezeichnet, und von denen jedes, theils selbstständig, theils mit dem andern vereinigt, durch weitere Vermehrung der Zellen fortwächst. Da der Embryo zunächst aus dem Embryonalfleck oder Keimhügel hervorgeht, so ist hiemit ein Gegensatz gegeben zwischen einem Theile des Eies, in welchem sich der Embryo entwickelt, und einem andern Theile des Eies, welcher dieser Entwickelung gegenüber eine secundäre Rolle spielt. Dieser Gegensatz existirt aber nicht bei allen Eiern in gleicher Weise, Bei den Eiern der meisten wirbellosen Thiere existirt ein solcher Gegensatz überhaupt nicht, sondern, nachdem der Eurchungs- process zu Ende ist, fangen die Zellen, die sich bei der Fiu'chung gebildet haben, an, zu proliferiren, sich zur Gestalt des künftigen Embryo zu ver- schieben, u. s. w-, es wird gewissermassen aus der zusammenhängenden Masse der neue Embryo geformt. Dies sind diejenigen Thiere, von denen man sagt, dass kein Gegensatz zwischen Embryo und Dotter existire. Bei den Gliederthieren existirt dieser Gegensatz, und zwar so, dass der Embryo sich, wie bei den Wirbelthieren, an einer bestimmten Stelle entwickelt, aber nicht, wie bei diesen, mit der Bauchseite auf dem Dotter liegt, son- dei'n umgekehrt mit der Rückseite, oder, wenn man sich das Ei umgekehrt vorstellen will, so, dass der Embryo den Dotter auf dem Rücken trägt. Bei den Cephalopoden finden wir, dass der Embryo den Dotter auf dem Kopfe trägt, oder wenn Sie sich das Ei iimgekehrt denken, auf dem Kopfe stehend auf dem Dotter ruht. Endlich bei den Wirbelthieren sehen wir den Embryo bäuchlings auf dem Dotter ruhen. Unter den Wirbelthieren selbst nun muss man wieder zwei grosse Abtheilungen unterscheiden: diejenigen, die Amnion und Allantoi's, die wir bald näher kennen lernen werden, entwickeln, das sind die Säuge- thiere, die Vögel und die Reptilien, und diejenigen, die kein Amnion und keine Allantoi's haben, das sind die Amphibien und die Fische. Die Thiere der ersten Abtheilung zerfallen dann wiederum in zwei grosse Abtheilun- gen, wovon die eine von den Vögeln und Reptilien gebildet wird, bei denen ein mächtiger Nahrungsdotter vorhanden ist, welcher erst später von dem Embryo resorbirt wird. Die zweite dieser Abtheilungen bilden die Säugethiere, die keinen Nahrungsdotter haben, weil sie eben das Material für ihre weitere Ernährung und ihr Wachsthum während der Entwicke- lung dem mütterlichen Organismus entnehmen. Ehe wir zur Entwickelung des Embryo übergehen, muss ich bemerken, dass der Furchungsprocess nicht nothwendig von der Befruchtung abhängt. Die Untersuchungen, welche von Bischoff, von Hensen, von OcUacher an Wirbelthieren verschiedener Abtheilungen gemacht sind, haben gezeigt, dass der Furchungsprocess, wenn auch nicht mit der vollen Rogelmässig- keit, auch vor sich geht an unbefruchteten Eiern, dass er aber nicht voll- ständig abläuft, dass er nicht zu dem Endresultate, nicht zur Bildung der Keimhäute führt. Oellachcr hat versucht, wie das schon früher Prcvost 300 Keimblätter. und Dumas gethan hatten, nnbefruelitete Eier zu bebrüten, und er hat gefunden, dass die entstandenen Furchungskugeln proliferiren, dass sich neue Zellen am Eande entwickeln in ähnlicher Weise, wie dies bei be- fruchteten Hühnereiern geschieht, dass aber diese Zellen sich nicht mit der gewohnten Eegelmässigkeit anordnen, und dass im Centrum des Keimes bald eine regressive Metamorphose beginnt, die bei weiterer Bebrütung das TJebergewicht über die progressive erhält, die am Rande vor sich geht, so dass die Bebrütung keine weiteren Eesultate hat. Es wird dieser Vor- gang von Oellacher als parthenogenetiscjbier Vorgang aufgefasst, so dass die Eier von den luseeten, bei denen Parthenogenesis vorkommt, sich dadurch von den Eiern der Wirbelthiere unterscheiden würden, dass die unbefruchteten Eier den ganzen Entwickelungsprocess durchmachen können, während bei den nichtbefruchteten Wirbelthiereiern nur die ersten vor- bereitenden Stadien durchlaufen werden und dann der weitere Entwicke- lungsprocess, wenn ich mich so ausdrücken darf, verunglückt. Waldeyer hat ferner darauf hingewiesen, dass wahrscheinlich die sogenannten Dermoidcysten im Eierstocke aufgefasst werden müssten als parthenogenetische Producte, dass sie wahrscheinlich daraus hervorgegangen seien, dass sich ein Ei entwickelt habe, wenn auch nicht in der normalen Weise, doch zu Gewebstheilen von ähnlicher Art, wie sie im normalen Organismus vorkommen. Die Keimblätter. Der erste Schritt zur Weiterentwickelung war der, dass die Keim- haut durch Proliferation ihrer Zellen eine zweite Schicht bildete und somit zwei Blätter der Keimhaut, ein äusseres und ein inneres Keimblatt, gebildet wurden. Diese Trennung setzt sich bis zu einer gewissen Grenze in den Keimhügel hinein fort. Dann verliert der Embryonaliieck seine kreisrunde Gestalt, er wird ein wenig elliptisch und zugleich zeigt sieh in der Längsaxe der EUipse eine Furche. Diese Purche ist die sogenannte primitive Rinne. Ich will hier gleich vorwegnehmen, dass aus dieser primitiven' Rinne später bei den meisten Wirbelthieren der Canalis cen- tralis medullae spinalis und dessen Portsetzung in das Gehirn, also der vierte Ventrikel und der Aquaeductus Sylvii wird. Zu beiden Seiten dieses Centralcanals liegen ein paar Schichten, die sich später erheben, um sich schliesslich über der primitiven Rinne zu schliessen, dieselbe zu überdachen. Dies sind die sogenannten IJranlagen des Centralnervensystems. Diese bilden sich also aiis der oberflächlichen Schicht und gehören ihrer Lage nach dem äusseren Blatte der Keimhaut an. Ehe ich aber die weitere Verwendung des letzteren bespreche, muss ich darauf aufmerksam machen, dass in Rücksicht auf die Art und Weise, wie sich der Keim verhält, und wie sich das Material desselben in dem zukünftigen Embryo vertheilt, im Laufe der Zeiten sehr verschiedene Theorien geherrscht haben. Die bis zum Ende der dreissiger Jahre und Anfangs der vierziger Jahre herrschende Theorie von Pander und v. Baer nahm an, dass sich aus dem äusseren Blatte der Keimhaut der sogenannte animale Leib des Embryo bilde, also Oberhaut, Muskeln, Knochen, Nervensystem, dass sich aber aus dem inneren Blatte der Keimhaut der sogenannte vegetative Leib bilde, die Eingeweide, und dass sich dann ein drittes Blatt zwischen Keimbliltter. OÜl beiden entwickle, das Gefässblatt, aus dem die Blutgefässe hervorgehen sollten. Diese Theorie wurde zuerst von Reichert angegriffen, der sagte: Aus der äussersten Zellenschichte, aus v. Baer's äusserem. Keimblatte oder serösem Blatte bildet sich überhaupt nichts, das ist eine Um- hüllungshaut, die zu Grunde geht. Dagegen entsteht aus den Anlagen zu beiden Seiten der primitiven Rinne das Centralnervensystem, unmittelbar darunter entsteht die Chorda dorsalis, um welche herum sich hinterher die Wirbel entwickeln, und aus dem Baer' sehen Schleimblatte oder inneren Keimblatte entwickelt sich wiederum nichts Anderes als das Epithelium des Darmcanals. Alles Uebrige entwickelt sich aus einem neuen Gebilde, das zwischen beiden liegt, das aber nicht v. Baer's Gefäss- blatt ist, sondern das Reichert mit dem Kamen der Membrana inter- media bezeichnet. Diese Auffassung der Dinge basirt auf der richtigen Grundauschauung, dass die peripherischen Schichten, sowohl die oberflächlichste als die tiefste, als die ältesten sich an und für sich weniger verändern, dass aus ihnen verhältnissmässig nicht viel mehr wird, sondern dass der grösste Theil des Embryo aus der in steter Proliferation begriffenen Zellenmasse ent- steht, die zwischen ihnen liegt. Aus dieser baut sich die Membrana inter- media Reichert's auf und aus dieser fast der ganze Leib des Embryo. In Rücksicht auf die Bildung des Keimes sind in späterer Zeit noch wesentliche neue Beobachtungen hinzugekommen. Beim Hühnchen hebt sich der Keim von der Unterlage etwas ■ ab, so dass hier eine sogenannte Keimhöhle entsteht. In dieser befinden sich einige zellige Elemente, die sich nach den Beobachtungen von Stricker und Peremeschko gegen den Rand hin verschieben und sich mit anderen Elementen, welche durch Proliferation der Zellen am Rande des Keimes erzeugt werden, zwischen die beiden Blätter der Keimhaut hineinbegeben und hier eine Zwischen- schicht bilden, aus welcher sich ein sehr grosser Theil des Embryo ent- wickelt. Nach His soll der Keim nicht blos aus Elementen des gefurchten Dotters bestehen, sondern es sollen Zellen des nicht gefurchten sich direct am Aufbaue des Embryo betheiligen. Ich erwähne iudess diese Angaben hier nur kurz, weil diese frühen Stadien im Säugethicrei nicht hinreichend beobachtet sind, und die An- gaben, die vom Hühnerei entnommen sind, nicht in derselben Weise auf den Menschen übertragen werden können, wie die, welche nach Beob- achtungen an Säugethieren gemacht sind. Ich musste sie aber deshalb erwähnen, weil wir genöthigt sind, vielfach das Hühnchen, dessen Ent- wickelung der Beobachtung leicht zugänglich ist, als Paradigma für die Wirbelthicre überhaupt zu benützen. Zu der Zeit, wo diese eben besprochenen Veränderungen im Keime des Hühnereies stattfinden, fängt derselbe an seiner Peripherie zu wachsen an und wächst immer weiter über den Nahrungsdotter hin, so dass man schon äusserlich und mit blossem Auge seine Ausbreitung erkennt. Dann bildet sich in der Mitte ein heller Fleck, die sogenannte Area pellucida. In diesem hellen Flecke entwickelt sich der Embryo, ent- wickelt sich die primitive Rinne und theilen sich die verschiedenen Keim- blätter von einander. Zu der Zeit, wo die primitive Rinne sich merklich vertieft, wo sieh ihre Ränder bereits wallförmig erhoben haben, denken 302 Keimblätter. Sie sich einen ünerselinitt durch den Embryo gemacht, so haben Sie beistehende Figur 82 vor sich. Erstens das Centralnervensystem, das hier schon in Hufeisenform erscheint, und die primitive Einne a, ferner die seitliche Fortsetzung des äusseren Blattes der Keimhaut b b, aus welcher Fig. 82. d54-. hier die Epidermoidalgebilde hervorgehen. Dieses äussere Keimblatt, Remak's Hornblatt, wird jetzt meistens als Ectoderm, auch als Epiblast bezeichnet. Unter dem Centralnervensystem befindet sich die Chorda dor- salis (e) und zu allerunterst, unter der Chorda dorsalis hinziehend, das innere Blatt der Keimhaut (d d), Entoderm oder Hypoblast, aus welchem, wie schon Reichert angegeben hat, nur das Epithelium des Darmcanals und der Drüsen desselben hervorgeht, wenn nicht etwa ausserdem noch die Chorda dorsalis von ihm abstammt. Zwischen äusserem und innerem Blatt liegt eine Zellenmasse c c, aus welcher zu beiden Seiten der Chorda und des Centralnervensystems die Uranlage der Wirbel hervorgeht. Weiter seitlich spaltet sich dieses mittlere Keimblatt, Mesoderm oder Mesoblast, in eine äussere Platte, welche dem äusseren Keimblatte, dem sogenannten Hornblatte anliegt, und welche wir nach Remak mit dem Namen der Hautmuskelplatte bezeichnen, und in eine innere Platte, welche dem inneren Keimblatte, dem Schleimblatte v. Baer's anliegt, und welche wir mit dem ISTamen der Darmfaserplatte bezeichnen. Das ist das erste Stadium, in welchem die Anlage der verschiedenen Theile deutlich von einander geschieden ist. Wir gehen jetzt zu einem zweiten Stadium über, das Sie in Figur 83 dargestellt sehen. Hier ist das Centralnervensystem schon nach oben Fig. 83. geschlossen und umgibt den jetzt noch spaltförmigen Canalis centralis medullae spinalis (a). Zu beiden Seiten liegen zunächst die Massen, aus welchen später die Wirbel hervorgehen, die Uranlage des Wirbelsystems (c c). Seitlich von ihnen liegt jederseits ein Zellenhaufen, aus dem wir Eihäute. 303 später den Ausfülirungsgang der Urniere des Embryo hervorgehen sehen. Darunter liegt schon die Anlage von zwei grossen Blutgeftissen , den Aorten. Die Trennung zwischen Darmfaserplatte und Hautmuskelplatte hat sich bereits so vollständig vollzogen, dass zwischen beiden eine Höhle vorhanden ist. Diese Höhle ist die erste Anlage der Pleuroperitonealhöhle. Eihäute und Placenta. Ehe wir nun die Entwickelung des Embryo weiter verfolgen, gehen wir zu der Art und Weise über, wie er sich mit seinen Schutz- und Hilfsgebilden, den sogenannten Eihäuten umgibt. Denken Sie sich, dass der Embryo sich mit seinem Kopfe und auch mit den Partien zu beiden Seiten der Axe, aus denen sich später seine Flanken bilden, etwas nach abwärts krümme, so erhalten Sie eine Gestalt, die sich am leichtesten unter dem Bilde eines umgestürzten Kahnes vorstellen lässt, eines Kahnes, dessen Kiel nach oben und dessen offene Seite nach dem Dotter gewendet ist. Wenn Sie sich denken, der noch sehr kleine Embryo wachse und senke sich dabei in den Dotter ein, indem an seiner Peripherie das äussere Blatt der Keimhaut mit der Hautmuskelplatte so viel nachwächst, dass dadurch für das Wachsthum und die Ortsveränderung des Embryo der nöthige Spielraum geschaffen wird, so muss dadurch eine Falte entstehen, deren freier Rand oben eine der ursprünglichen Grösse des Embryo ent- sprechende Oetfnung umschliesst, den Embryo mantelartig überdeckt und an der Peripherie mit der Anlage für seine Flanke in directem Zusammen- hange steht. Dieser Mantel ist das Amnion, und die obere Oetfnung ist der Ort des Amnionnabels. Man schildert den Yorgang gewöhnlich so, als ob das Amnion über den Embryo hinaufwachse, um sich über ihm zu schliessen. Das ist aber nur theilweise richtig, indem der Em- bryo namentlich an der Peripherie und an den Enden seinen Ort mehr verändert als der freie Rand der Amuionfalte. Dieser schliesst sich nun immer enger zusammen, wobei nach den Beobachtungen von Schenk eine Zellenwucherung vom Hornblatte ausgeht, die endlich die Oetfnung vollständig verschliesst. Dann trennt sieh in diesem ISTabel das Amnion vollständig vom Reste des äusseren Blattes der Keimhaut, wobei es an der bezüglichen Stelle wieder eine kleine Oetfnung bekommt, die sich demnächst aber auch wieder schliesst. Das Amnion ist beim Menschen schon am 4. bis 5. Tage fertig. Hicmit hat also der Embryo eine neue Hülle bekommen. Ausserdem geht aber noch das äussere Blatt der Keimhaut mit der Verstärkung, die es durch die Hautmuskelplatte von dem mitt- leren Keimblatte aus erfahren hat, um das ganze Ei herum, denn Embryo und Amnion haben sich ja im Amnionnabel von ihm abgeschnürt, ohne eine Lücke zu lassen. Alles Material, das sie verbraucht haben, ist durch Wachsthum ersetzt worden. Bei den Säugethieren und den Menschen ist unterdessen die Dotterhaut, die Zona pellucida, geschwunden. Das äussere Blatt der Keimhaut bildet jetzt die äusserste Bedeckung des Eies. In Figur 84, welche das Hühnehen nach v. Baer darstellt, ist d die Dotterhaut, s das äussere Blatt der Keimhaut, 7n m der freie Rand der Amnionfalte, welcher sich zum Amnionnabel zusammenzieht. In Figur 85 (gleichfalls Hühnchen nach v. Baer) sieht man das Amnion mm bereits geschlossen und vom Rest des äusseren Keimblattes (s s) getrennt. 304 Eihäute. Bei Säugethieren und Menschen nun entstehen an der Oberfläche des Eies Fortsätze, mittelst welcher es sich in der IJterusschleimhaut wie mit Würzelchen befestigt. Ich Fig. 84. muss hier daran erinnern, dass sich an der inneren Oberfläche des Uterus eine grosse Menge von Drüsen befindet, die so- genannten Utriculardrüsen. Es sind dies schlauchförmige, ästig \ verzweigte Drüsen, welche, da der Uterus kein eigenes Schleim- ■-.-i-"^ hautgewebe hat, mit ihrem Körper bis tief in die Muskel- substanz eingesenkt sind. Der Uterus selbst ist wie die Tuba mit einem riimmerepithel ausgekleidet. Die Ausdehnung dieses Flimmerepithels wird von verschiedenen Beobachtern verschieden angegeben. Einige haben es nur im Fundus uteri, manchmal sogar nur in einer Strecke nach- weisen können , die im Fundus quer von der Mündung der einen Tuba zur Mündung der andern herübergeht. Andere haben es bis in den Cervix verfolgt. Es scheint nach den -— "^ "'"' Untersuchungen von |: Chrobak das Epithel !; .im Uterus einem viel '' grösseren Wechsel un- terworfen zu sein als das in anderen Organen, und damit hängt es auch wohl zusammen, dass die Angaben über die Ausdehnung der Flimmerbewegung im Uterus so sehr verschieden sind. Das Epithel der Uterusschleimhaut setzt sich nun in die Utricular- drüsen fort. Man war früher der Meinung, dass es hier nicht flimmere. Nur in Eücksicht auf den Uterus des Schweines war schon 1852 von Dr. ISTylander angegeben worden, dass hier auch das Epithel der Utri- culardrüsen flimmere. In neuerer Zeit hat Fried länder angegeben, dass es beim Weibe und bei der Hündin flimmere, und G. Lott fand es nicht nur beim Schweine, sondern auch bei der Kuh, dem Schafe, dem Kanin- chen, der Maus und der Fledermaus bis in den Grund dieser Drüsen hinab flimmernd, so dass man es jetzt als wahrscheinlich bezeichnen kann, dass allgemein die Utriculardrüsen bis in die Tiefe mit Flimmerepithel ausgekleidet sind. Diese Glandulae utriculares sind es nun, welche zur Befestigung des Eies dienen. In diese wachsen die Zotten hinein, welche an der Ober- fläche vom äusseren Blatte der Keimhaut aus getrieben werden. Um die Stelle herum, wo sich das Ei befestigt, wird die Drüsenschicht Eihäute. 305 hyperämiscla, sie schwillt an und umwallt das Ei. In die Drüsen dieses Walles wachsen immer neue Zotten hinein, und so wird zuletzt das ganze Ei in die Uterusschleimhaut eingeschlossen. Es ist ringsum zottig und die Zotten sind sämmtlich wie Wurzeln in die Uterusschleimhaut eingetrieben. Dieses Stadium, in dem das Ei an seiner ganzen Oberfläche mit Zotten bedeckt ist, dauert beim Menschen vom 25. bis zum 30. Tage. Reichert, der Gelegenheit hatte, ein menschliches Ei vom 12. oder 13. Tage der Schwangerschaft zu untersuchen, fand dasselbe schon vollständig über- wallt ; es war linsenförmig abgeplattet und hatte an der der Uterushöhle zugewendeten Seite noch keine Zotten. Auch am äusseren, gegen die Wand zugewendeten Pole waren erst die ersten Anfänge derselben sichtbar. Die längsten Zotten befanden sich an der Peripherie und an dem der Peripherie zunächst liegenden Theile der äusseren, der Uteruswand zu- gewendeten Fläche. Kundrat und ebenso Lieberkühn sind entgegen den Angaben früherer Beobachter der Ansicht, dass nur die ersten Zotten in Glandulae utriculares eindringen, dass sich später in der wuchern- den Schleimhaut selbstständig die Höhlen und Gänge bilden, welche zur Aufnahme der Zotten dienen , oder anders ausgedrückt , dass Uterus- substanz und Chorion in einander hineinwuchern, ohne dass die Zotten des letzteren Wege finden, die bereits im nichtschwangeren Uterus vorgebildet waren. So lange das Chorion und die Zotten gefässlos sind, heisst es das primäre oder gefässlose Chorion, dann aber entstehen auf demselben Zotten, in welche die jetzt zu beschreibende AUantoi's Gefässe hineinsendet, und damit ist es in das sogenannte secundäre oder gefässreiche Chorion um- gewandelt. Es bildet sich vor dem hinteren Ende des Darmes ein faltenartiger Wulst (Figur 84 a), dessen Inneres mit der Darmhöhle in Verbindung tritt. Er ist zuerst nach hinten, etwas später nach abwärts gerichtet, wächst dann weiter aus und nimmt die Gestalt einer Blase an (Figur 85 a), und diese ist die AUantoi's. Sie heisst auch der Harnsack, weil sie eine wahre Harnblase für den Embryo ist und das Secret der Wolff'schen Körper aufnimmt. Diese AUantois wächst an der ganzen inneren Ober- fläche des Chorion entlang, und so bringt sie ihre Gefässe, die späteren Vasa umbilicalia, die von zwei Arterien gespeist werden, und aus denen anfangs zwei, später eine Vene das Blut abführen, zu allen Theilen des Chorion, welches sich entwickelt hat. Es atrophiren nun die gefässlosen Zotten, und statt deren bilden sich neue gefässhaltige Zotten, die die alten verdrängen. So entsteht das secundäre, das gefässreiche Chorion. Bei manchen Thieren, z. B. bei den Wiederkäuern, existirt während der ganzen Schwangerschaft die AUantoi's als eine Blase, ja sie gewinnt als solche eine sehr bedeutende Ausdehnung. Beim Menschen ist dies aber durchaus nicht der Fall. Sie ist hier nur vom 15. bis 25. oder 28. Tage als Blase gesehen, später verliert sie ihr Lumen, aber sie dient noch als Träger der Gefässe, die auch hier dieselbe Function und Bedeutung haben. Da sie sich hierbei ganz dem Chorion anschliesst und mit demselben verwächst, so ist in dem, was der Geburtshelfer das Chorion nennt, der grösste Theil der Allanto'is mit enthalten. Ein anderer Theil, der sogenannte Stiel der Allanto'is, liegt später im Nabelstrange, und nur das unterste Ende bleibt oö'en und wird zur Harnblase. Der Urachus ist das Verbindungsstück Brücke. Vorlesungen. II. 4. Aufl. 20 306 Eihäute. zwischen dem Theile der Allantois, der im Nabelstrange eingeschlossen ist, und dem Theile, der zur Harnblase wird. Wir haben bei der Amnionbildung den Embryo sich abschnüren sehen, von der Höhle, welche vom inneren Blatte der Keimhaut und von einer auf demselben fortwachsenden Fortsetzung der Darmfaserplatte um- geben oder doch (bei den Eiern mit Nahrungsdotter) nach und nach um- wachsen war. Der auf diese Weise entstehende Sack ist der Dottersack oder, wie er bei denjenigen Thieren, die, wie der Mensch, keinen ISTahrungs- dotter haben, heisst, die Nabelblase. Der Gang, durch den Dottersack oder Nabelblase längere oder kürzere Zeit mit der Darmhöhle in Ver- bindung stehen, die Lichtung des Stieles der Nabelblase, der wie der Stiel der Allantois in den Nabelstraog einbezogen wird, ist der Ductus omphalomeserai'cus seu omphaloentericus. (Figur 84 o und 85 o.) Beim Menschen hat die Nabelblase frühzeitig ihr ganzes Wachsthum durchlaufen. Am Ende des ersten Monates liegt sie schon an der Wand zwischen Amnion und Chorion, wo ihre Spur auch noch am Ende der Schwanger- schaft zu finden ist. Das Amnion hat sich immer weiter ausgedehnt und die Nabelblase theils verdrängt, theils ihren Stiel in einen mehr und mehr verlängerten Nabelstrang eingeschnürt. Zwischen dem 35. und 40. Tage obliterirt der Ductus omphalomeserai'cus seu omphaloentericus. Die Ge- fässe der Nabelblase sind die Vasa omphalomeseraica seu omphaloenterica, und zwar anfangs zwei Yenen und zwei Arterien, von denen später eine Arterie und eine Vene schwindet, so dass eine Vena und eine Arteria omphalomeseraica übrig bleibt. Während bei den Säugethieren die Nabelblase ein so hinfälliges Ge- bilde ist, so existirt sie bei den Eierlegern mit Nahrungsdotter als Dotter- sack während der ganzen Zeit des Embryonallebens und überdauert dasselbe bei manchen Fischen geraume Zeit. Jetzt bei der weiten Ausbreitung der künstlichen Fischzucht hat wohl Jeder schon die jungen Forellen und Lachse mit ihren Dottersäcken herumschwimmen sehen. Es entwickelt sich in ihr ein reiches Gefässsystem, zu dem die Arteria omphalomeseraica das Blut hinführt und aus dem die Vena omphalomeseraica das Blut ab- führt. Von der Wand aus bilden sich gefässreiche Zotten in den Nahrungs- dotter hinein, und nun entwickelt sich ein Eesorptionsprocess, vermöge dessen der ganze Dotter nach und nach aufgesaugt wird. Die Art und Weise, wie dies geschieht, ist bis jetzt noch räthselhaft. Man weiss nur, dass die grösste Masse des Dotterfettes zunächst in die Leber übergeht. Man findet zu einer gewissen Zeit die Leber des Hühnerembryos ganz gelb vom resorbirten Dotterfett, welches dann später wieder verbraucht wird. Die Nabelblase oder der Dottersack bildet also bei den Eierlegern das Ernährungsorgall, und die Allantois, die sich an der inneren Ober- fläche des Eies unter der Membrana testae ausbreitet, bildet das Eespi- rationsorgan, indem ihre Blutgefässe die atmosphärische Luft aufnehmen, welche durch die Schale des Eies diffundirt wird. Schwann hat schon im Jahre 1836 nachgewiesen, dass das Hühnchen im Ei, dass der Embryo schon in verhältnissmässig früher Zeit athmet. Demgemäss bleibt die Ent- wickclung frühzeitig stehen, wenn man das Ei in irrespirable Gase hinein- bringt oder ihm in irgend einer Art den Zutritt der atmosphärischen Luft abschneidet. So findet also bei den Eierlegern mit Nahrungsdotter die Er- nährung statt durch die Nabelblase, die Respiration durch die Allantois. Placenta. 307 Wie verhält es sich nun in dieser Beziehung mit dem Ei der Säuge- thiere? Bei diesen ist Ernährungsorgan und Respirationsorgan in ein Ge- bilde vereinigt. Es liegen beide Functionen erst dem gefässreichen Chorion, später der Placenta ob. Wir haben gesehen, dass das Ei vollständig überwallt wird und also eine Zeit lang in der Wand des Uterus eingeschlossen ist : später wächst es aber, dadurch tritt an der Oberfläche eine Spannung ein, die Circu- lation wird erschwert, und dadurch werden die Zotten gegen die Ober- fläche hin atrophisch. Es bleibt das Chorion als Ueberzug, aber die Zotten verschwinden. Das Ei wächst immer weiter und weiter, und so arbeitet es sieh aus der Uterusschleimhaut zuletzt ganz heraus, so dass es nur an einer scheibenförmigen Stelle mit derselben in Verbindung bleibt. Wenn dieser Process des Herausarbeitens nicht stattfindet, wenn das Ei seinen Ueberzug von der Wand des Uterus behält, so dass es sich in der Uterus- wand weiter entwickelt, dann entsteht das, was man mit dem Namen einer interstitiellen Schwangerschaft bezeichnet. Wenn es sich nun aber herausgearbeitet hat und an seiner Ober- fläche die Zotten geschwunden sind, so haben sich dafür an derjenigen Seite, an welcher das Ei mit dem Uterus in Verbindung bleibt, die Zotten immer mehr vermehrt, sie sind immer weiter gewachsen, es hat sich vom Uterus aus eine grosse Menge neuen Gewebes gebildet, so dass hier jetzt ein massiges Organ entstanden ist, welches man mit dem Namen der Placenta belegt. In dieses Organ gehen also von einer Seite hinein die Gefässe des Embryo, die Endäste der Vasa umbilicalia, die in die Zotten hineingehen, und zwar gehen sie in der Weise in sie hinein, dass sie die Zapfen der hirschgeweihartig verzweigten Zotten mit Capillar- schlingen versehen. Dabei ist eine Capillarschlinge nicht blos für einen Zapfen bestimmt, sondern sie steigt in einen Zapfen hinauf, steigt wieder herunter, dann ebenso in den nächsten und so fort, so dass ein und dieselbe Capillarschlinge eine Reihe von Zapfen versehen kann. Von der anderen Seite kommen in die Placenta hinein die mütterlichen Gefässe. Die Zotten selbst sind mit protoplasmareichen Zellen bekleidet, die man auch als ein Epithel der Zotten bezeichnet hat, und sie sind mit diesen beim Menschen in verhältnissmässig weite mütterliche Bluträume ein- gesenkt, in die mütterliche Arterien das Blut einführen, und aus denen mütterliche Venen das Blut abführen, so dass sie direct vom mütter- lichen Blute bespült werden. Ich muss indess bemerken, dass man unsere Kenntniss vom Bau der menschlichen Placenta nicht als vollkommen, nicht als abgeschlossen betrachten kann, weil bei gewissen Tbieren, deren Placenta man mit mehr Leichtigkeit und Sicherheit untersuchen kann als die des Menschen, und bei denen uns über den Bau des Mutter- kuchens nicht der geringste Zweifel bleibt, Verhältnisse vorkommen, die so weit abweichen von dem, was wir beim Menschen vorfinden, dass es kaum glaublich ist, dass innerhalb der Reihe der Säugethierc so grosse A.bweichungen vorkommen sollten. Beim Kaninchen liegt, wie J. Mauthner durch im hiesigen physio- logischen Institute gemachte Untersuchungen nachgewiesen hat, zwischen den Zotten ein dichtes Netz von Blutcapillaren, die so gebildet werden, dass die einander gegenüberliegenden Beklcidungszellen so mit einander verwachsen, dass sie zwischen sich netzförmig zu einem Canalsystem 20* 308 Placenta. Fig. 86. verbundene Eäume lassen, in denen das mütterliclie Blut circulirt. In Figur 86 ist ss das bindegewebige Stroma der Zotten, e ein fötales Capillargefäss, n n sind die miteinander verwachsenen Bekleidungszellen und V V die von ihnen eingeschlossenen mütterlichen Capillaren, die Käume des eben erwähnten Canalsystems. Wenn die Placenta stark mit Blut überfüllt ist, so werden die Verbindungsstücke der Bekleidungszellen zu dünnen Protoplasmasträngen ausgedehnt , wie dies Figur 87 zeigt, in der die Buchstaben dieselbe Bedeutung haben wie in Figur 86. Man denke sich nun diese Stränge zerrissen, so würde ganz der Zustand hergestellt sein, wie man ihn beim Menschen findet : die Be- kleidungszellen wären das sogenannte Epithelium der Zotten. Es ist deshalb die Vermuthung nicht abzuweisen, dass auch beim Menschen im Leben zwischen den Zotten ein ähnliches geschlossenes Capillarsystem liegt, und dass die gemeinsamen Bluträume, welche man in der Placenta vor- findet, nur Leichenerscheinung sind. Jedenfalls ist, durch verhältnissmässig dünne Schichten getrennt, das Blut des Embryo in stetem DifFusionsprocesse mit dem Blute der Mutter. Es nimmt Material aus dem Blute der Mutter auf dem Wege der Diffusion und Filtra- tion auf, es nimmt aber mit demselben auch Sauerstoff aus dem Blute der Mutter auf, so dass also die Placenta zugleich Ernährungs- und Respirationsorgan für den Embryo ist. Ehe wir weiter gehen, muss ich noch anf einige Lehren aufmerksam machen, die freilich jetzt keine Geltung mehr haben, deren Terminologie sich aber noch in vielen Büchern vorfindet, und die man des- wegen kennen muss. Dasjenige Chorion, das wir das primäre Chorion genannt haben, ist das primäre Chorion Reichert's, und das, was wir das secun- däre oder das gefässreiche Chorion genannt haben, ist das secundäre Chorion Reichert's. Einige nahmen ein primäres, ein secundäres und ein tertiäres Chorion an. Das primäre sollte aus der Zona pellucida hervorgehen, es sollten die Fortsätze sein, die die Zona pellucida zuerst in die Utriculardrüsen hineinschickt. Dann war natürlich das gefässlose, vom äusseren Blatte der Keimhaut stammende Chorion das secundäre und das gefässreiche das tertiäre. Reichert hat aber nachgewiesen, dass dieses primäre Chorion nicht existirt, dass die Zona pellucida ver- schwindet, ohne ein Chorion zu bilden, und dass die Zapfen, die man auf Eiern, welche kurze Zeit im Uterus gelegen haben, findet, aus Epithelzellen bestehen und vom Epithel der Utriculardrüsen herrühren, das dem Ei angeklebt ist, und das man beim Herausnehmen des Eies mit ausgerissen hat. Zwillinge und Drillinge. 309 Ferner werden Sie in den Büchern von einer Dccidua, von einer Decidua reflexa und von einer Decidua serotina lesen. Diese ganze Ter- minologie beruht auf folgender Anschauung. Man nahm an, dass sich im Uterus durch Ausschwitzung von der Uteruswand eine Haut bilde, welche den ganzen Uterus auskleide und die drei Eingänge desselben schliesse, das war die Decidua oder hinfällige Haut. !Nun sollte das Ei von der einen oder andern Tuba hereinkommen und die Decidua vor sich herschieben, zurückstülpen. So entstand die Decidua reflexa. Endlich sollte sie dieselbe so weit vor sich herschieben, dass die Decidua und die Decidua reflexa sich an einander legten, und nun sollte an der Stelle, wo die Decidua zux'ückgestülpt, wo also eine freie Stelle an der Uterus- wand entstanden war, eine neue Ausschwitzung stattfinden, und so sollte sich die Decidua serotina bilden und aus dieser später die Placenta. Heutzutage haben diese Bezeichnungen keinen Sinn mehr, weil wir durch E. H. Weber wissen, dass diese Häute nicht existiren, dass das Ei in die offene Uterushöhle hineingelangt, von der Schleimhaut umwallt und überwallt wird, und durch sein eigenes Wachsthum sich wieder hervor- arbeitet, so dass es nur an der Placentarseite mit der Uteruswand in Ver- bindung bleibt. Zwillinge und Drillinge. Es entsteht nun die Erage : Wie gestaltet sich die Sache, wenn Zwillinge oder Drillinge sich im Uterus entwickeln? Zwillingsgeburten sind ziemlich häufig, es kommt nach Longet auf je 70 bis 80 Geburten eine Zwillingsgeburt. Dagegen sind Drillingsgeburten ausserordentlich viel seltener; man hat nach Longet unter 37.441 Geburtsfällen nur fünf Drillingsgeburten gezählt: die Drillingsgeburten sind also 100 mal seltener als die Zwillingsgeburten. Die verschiedenen Früchte sind theils voll- ständig getrennt, theils haben sie verAvachsene Placenten und deren Ge- fässe communiciren mit einander. Sie können dann auch zwei in einem Chorion, ja selbst zwei in einem Amnion liegen. Was das letztere an- langt, so nimmt man wegen der Art der Entwickelung des Amnion an, dass es anfangs bei Zwillingen immer doppelt sei und erst später durch Atrophie der aneinandergelegten Theile in Eines verschmelze. Ein ähn- licher Fusionsprocess kann erfahrungsmässig auch für das Chorion vor- kommen. Es wäre also hiernach möglich, dass alle Zwillinge in einem Chorion, so wie die in zweien, aus zwei verschiedenen Eiern stammen. Andererseits aber machen die verschiedenen Stufen und Arten der Doppel- missbildungen es wahrscheinlich, dass auch der Keim in einem Ei doppelt sein oder bei der Furchung doppelt werden könne. Man muss es deshalb dahingestellt sein lassen, inwieweit die Zwillinge mit gemeinschaftlichem Chorion aus zwei Eiern und inwieweit sie aus einem Ei stammen. Als eine merkA^nirdige Thatsache verdient erwähnt zu werden, dass sie nach den Erfahrungen der Geburtshelfer ausnahmslos, oder fast ausnahmslos gleichen Geschlechtes sind. Dass Zwillinge aus einem einzigen Ei stammen können, wird dadurch erwiesen, dass mit einander verwachsene Zwillinge, wie es die in der ganzen Welt bekannt gewordenen siamesischen Brüder waren, immer mittelst analoger Theile mit einander verwachsen sind, also einen directen Uebergang zu den Doppelmissbildungen darstellen. Xach 310 Superfötation. Analogie von Vorgängen, die Fol an den Eiern von Seesternen beobachtet hat, kann man vermuthen, dass Doppelmissgeburten oder Zwillinge aus einem Ei dadurch entstehen, dass zwei Spermatozoiden wirksam ein- dringen und zur Bildung von zwei Keimen und somit von zwei Furchungs- centren Veranlassung geben. Superfötation. Eine zweite Frage ist die, ob die beiden Eier, aus denen die Zwil- linge hervorgehen, zu gleicher Zeit oder doch nahezu zu gleicher Zeit befruchtet werden müssen, oder ob erst ein Ei in den Uterus hincin- gelangen und dort befruchtet werden kann, dem vier oder acht Wochen später ein zweites Ei folgt, um dort auch noch befruchtet zu werden und sich dann neben dem andern zu entwickeln. Es ist dies die Frage nach der sogenannten Superfötation. Die Lehre von der Superfötation stützt sich in erster Reihe darauf, dass Zwillinge zur Welt gekommen sind, von denen der eine anscheinend viel weiter entwickelt war als der andere, so dass man sich dadurch ver- anlasst sah, anzunehmen, dass der eine thatsächlich älter sei als der andere. Man muss aber wohl berücksichtigen, dass sich in der Regel die Zwillinge ungleich entwickeln, dass der eine sich stärker entwickelt als der andere, so dass es wohl den Anschein haben kann, als ob der andere jünger sei, weil er eben in der Entwickelung gegen seinen stärkeren Bruder zurückgeblieben ist. In der Mehrzahl der citirten Fälle sind aber nicht einmal beide lebendig geboren worden, sondern sie sind entweder beide todt geboren, oder der stärkere, der angeblich ältere, war lebend, während der angeblich jüngere todt geboren wurde. Nun weiss man aber, dass Kinder, die im Mutterleibe absterben, nicht faulen, sondern nur einem langsamen Macerationsprocesse unterliegen. An dem Grade desselben lässt sich nicht sicher erkennen, vor wie langer Zeit der Tod erfolgt ist. Es kann wohl vorkommen, dass der schwächere der Zwillinge abstirbt, dass er darin noch längere Zeit im Mutterleibe bleibt und nun mit dem stärkeren zusammen ausgestossen wird, wodurch dann der Anschein entsteht, als ob man es mit einer Frucht zu thun habe, die jünger ist, weil sie that- sächlich in der Entwickelung zurückgeblieben ist, weil sie nicht nur schwächer entwickelt ist, sondern weil sie die Zeichen an sich trägt, die einem früheren Entwickelungsstadium angehören. Ein Fall, der bisweilen auch für die Superfötation angeführt wird, ist folgender : Ein Frauenzimmer kam mit einem weissen Kinde und einem Mulatten nieder. Das ist aber ein Fall, der gar nichts mit der Superfötation zu thun hat, denn es ist gar nicht gesagt, dass diese beiden Zwillinge ungleich entwickelt waren, sondern nur, dass der eine ein weisses Kind und der andere ein Mulatte war. Das erklärt sich einfach so, dass bei derselben Menstruation zwei Eier in den Uterus gelangt sind, dass das Frauenzimmer wahrscheinlich ziemlich kurz hintereinander mit einem Weissen und einem Neger geschlechtlich verkehrte, und dass das eine Ei vom Samen des Weissen, das andere von dem des Negers befruchtet wurde. Solche Fälle, in der beide Befruchtungen innerhalb einer und derselben Menstruationsperiode stattgefunden haben können, unterscheidet man auch in neuerer Zeit von den Fällen von Superfötation und nennt Aufbau dos Emtryo. 311 sie mit Kussmaul Fälle von Ueberschwängerung, Fälle von Supevföciin- dation. Wenn übrigens alle verzeichneten Fälle richtig beobachtet und wahrheitsgetreu beschrieben sind, so kann man die wahre Superfötatiou nicht schlechthin leugnen, weil einzelne dieser Fälle kaum eine andere Erklärung zulassen, so namentlich der von Prof. Ed. Hof mann in seinem Lehrbuche der gerichtlichen Medicin angeführte Fall von Eisenmann, in dem eine Frau am 30. April 1748 einen ausgetragenen Knaben gebar ixnd am 17. September desselben Jahres ein zweites Kind, dessen Anwesenheit schon bei der Geburt des ersten constatirt war. Im Jahre 1755 starb die Frau, und bei der Obdaction fand sich ein einfacher, kein doppelter Uterus. Auflbau des Embryo. Wir wollen jetzt näher in den Aufbau des Embryo eingehen, und zwar wollen wir ihn ei'st im Allgemeinen und dann den Aufbau der ein- zelnen Systeme durchnehmen. Fig. 88. Fig. 89. Wir haben in den Schichten des Embryo zunächst die Anlage des Centralnervensystems kennen gelernt, dann die Fortsetzung des äusseren Keimblattes gegen die Peripherie hin (siehe Figur 88 b. Diese Figur, sowie 89, 92 und 93 sind nach grossen Wandtafeln auf Holz photographirt und geschnitten. Die Wandtafeln wurden von Seboth nach Präparaten von Hühnchen in der Weise gemalt, dass die einzelnen Arten von Zellen in den Hauptdimensionen durchgezählt wurden. Es stimmen also nicht nur die relativen Dimensionen mit der Wirklichkeit ; es stimmt auch im Grossen und Ganzen die Anzahl der Zellen), die wir nach Remak mit dem Namen des Hornblattes bezeichnet haben. Ferner haben wir unter dem Centralnervensystem die Chorda dorsalis (e) kennen gelernt, und iinter der Chorda dorsalis, unter dem ganzen Embryo hingehend, das sogenannte innere Keimblatt oder Baer's Schleimhaut (d). Zwischen beiden liegt nun das mittlere Keimblatt, die grosse Masse, die im Wesentlichen der 312 Aufbau des Embryo, Membrana intermedia von Eeichert entspricht, und welche sich von der Peripherie gegen die Axe hin in zwei Schichten spaltet, von welchen die eine mit dem Hornblatte, die andere mit dem inneren Keimblatte ver- wachsen ist. Die äussere haben wir nach Remak mit dem Namen der Hantmnskelplatte, die innere haben wir nach. Remak mit dem Namen der Darmfaserplatte bezeichnet. Wir haben in Figur 89 ein zweites Stadium. In diesem hat sich die primitive Kinne nach oben zum Canalis centralis medullae spinalis (a) geschlossen, es haben sich zwei gesonderte Zellen- massen (c) zu beiden Seiten des Rückenmarks gebildet, aus denen später die Wirbel hervorgehen werden. Man sieht in Figur 91 eine solche An- lage bei h unter dem Hornblatte liegen. Nach Aussen von der Urwirbel- anlage liegt in Figur 89 eine Zellenmasse, aus welcher später der Wolf- sche Körper, die Primordialniere, hervorgeht, dessen Ausführungsgang in Fig. 91. Fig. 90. Figur 91 schon zu sehen ist. Sein Durchschnitt liegt wie eine kleine Rosette in dem Höcker, der zwischen Darm und Flanke in die künftige Pleuroperitonaealhöhle vorspringt. Darunter liegt die (s. Figur 89) An- lage zweier grosser Blutgefässe, welche die primitiven Aorten sind, die man in Figur 91 näher aneinander gerückt wieder sieht. In Figur 90, die ein Stadium darstellt, das dem Alter nach zwischen Figur 89 und Figur 91 liegt, sind sie zu einer einfachen Aorta abdominalis (f) ver- einigt. Es rührt dies daher, dass hier der Schnitt tiefer unten durch den Bauch geht, während er in Figur 91 die Gegend des Schultergürtels trifft, in der die Aorten als Fortsetzung der Arcus aortae noch getrennt sind. In diesem Stadium ntin fängt die TJranlage des Wirbelsystems an, mit den benachbarten Theilen des mittleren Keimblattes nach aufwärts zu wuchern, und zwar so weit, dass sie hier auf das Niveau des Central- nervensystems kommt, und endlich wuchern die Elemente des mittleren Keimblattes herüber und schliessen sich, zwischen Hornhaut und Nerven- system eindringend, also auf dem Rückenmarksrohre, nach oben. Der Aufbau des Embryo. 313 Verschluss erfolgt nicht in allen Theilen zugleich, ebenso wie der Ver- schluss des Centralnervensystems nicht in allen Theilen zugleich erfolgt. Zu gleicher Zeit achreitet die Metamorphose gegen die Chorda dorsalis hin fort. Die Zellen, die sich früher nicht von den übrigen Embryozellen unterschieden, werden in Knorpelzellen umgewandelt, und es bilden sich nun die Wirbelkörper. Die Vereinigung der Aorten, oder vielmehr das Wachsthum des vereinigten Stückes der Aorten, schreitet fort, und ebenso entwickeln sich die Wolff'schen Körper weiter, deren Ausführungsgänge man in Figur 90 und Figur 91 schon erkennt. Auch haben sich schon reichlich Zellen angesammelt seitlich zwischen dem Hornblatte und der alten Hautmuskelplatte, welche jetzt die Auskleidung der künftigen Pleuro- peritonaealhöhle bildet. Diese Zellen bauen die Flanken des Embryo auf, die mit ihrem unteren Theile noch direct in das Amnion übergehen. Der Embryo ist zu dieser Zeit nach unten noch offen. Es existirt noch keine Darmhöhle, es existirt noch kein Ductus omphalomeseraicus seu omphalo- entericus. Diese bilden sich nun dadurch, dass sich das innere Keimblatt, das Sie in Figur 90 d dachförmig eingebogen sehen, mit der daraufliegen- den Darmfaserplatte nach abwärts biegt; zwischen ihnen beiden erscheinen neue Elemente (s. Figur 91), aus denen später die eigentliche Darmwand wird, während das Schleimblatt nur das innere Epithel und die alte Darm- faserplatte nur das äussere Epithel darstellt. Diese Schichten ziehen sich nach unten zusammen und bilden auf diese Weise einen verengerten Hals, so dass es jetzt zwei Höhlen gibt: die eine ist die Darmhöhle und die andere ist die Höhle der Nabelblase oder des Dottersackes. Dieser Hals wird immer enger, und nun hat er sich umgewandelt in den Ductus om- phalomeseraicus seu omphaloentericus. Neben diesen Veränderungen, durch welche der Darmcanal angelegt wird, gehen andere im äusseren Keimblatte und in der Hautmuskelplatte her. Diejenige Partie, die wir als die gegen die absteigende Amnionfalte heruntersteigende kennen gelernt haben, wächst immer weiter und weiter und umwächst auf diese Weise nach und nach den Darm, so dass sie ihn auch nach unten zu umschliesst. Auf diese Weise wird die Leibeshöhle geschlossen. Die alte Darmfaserplatte wird, wie erwähnt, zur Auskleidung der Pleurahöhle und der Peritonaealhöhle, die jetzt noch als Pleuroperi- tonaealhöhle mit einander vereinigt sind. Schon früher hat sich der Kopf des Embryo nach abwärts gebogen, und es wuchert von ihm gegen die Bauchseite eine Zellenmasse herunter, die man mit dem Namen der Baer'schen Kopfkappe bezeichnet. Unter dieser Zellenmasse entsteht eine Höhle, die sogenannte Fovea cardiaca, und in dieser findet man die Anlage des Herzens, die nach den Beob- achtungen von Schenk dadurch entsteht, dass sich die Darmfaserplatte hier unter dem Darme noch einmal ausstülpt, weiter und weiter sich aus- stülpt und endlich sich abschnürt, so dass vor dem Darme noch eine neue Höhle entsteht, die nichts Anderes ist als die Höhle des Herzens, mit welcher die grossen Gefässe, sobald sie als Höhle beobachtet wird, schon in Verbindung stehen, ohne dass die Art und Weise, wie diese Verbin- dung zu Stande kommt, mit Sicherheit bekannt wäre. Nach Darreste und nach His soll zwar das Herz aus der Darmfaserplatte hervorgehen, aber seine Anlage soll ursprünglich eine paarige sein, so dass beide Hälften in der Medianebene sich vereinigen. 314 Entwickelung des Nervensystems. Die weiteren Veränderungen des Embryo beziehen sich theils auf die Entwickelung der inneren, theils auf die der äusseren Geschlechtstheile, auf die Bildung des Gesichtes und auf das Hervorwachsen der Extremi- täten. Wir werden diese Vorgänge einzeln und in bestimmter Ordnung durchgehen. Entwickelung des Nervensystems. Wir wollen mit dem Centralnervensysteme anfangen. Wir haben gesehen, dass beim Menschen, bei den Säugethieren und den Vögeln das Centralnervensystem sich aus einer Masse anlegte, die sich rinnenförmig einbog, indem ihre Seitentheile sich erhoben, so dass die primitive Rinne entstand, und dass sich dann die Anlage des Centralnervensystems über der primitiven Rinne schloss und diese zum Canalis centralis meduUae spinalis wurde. Das ist auch ebenso bei den Reptilien und den Amphi- bien. Es ist aber nicht so bei den Knochenfischen. Vor einer Reihe von Jahren hat Schapringer hier im Laboratorium gefunden, dass bei der Forelle sich das Centralnervensystem in ganz anderer Weise anlegt. Die ursprünglich vorhandene, aber sehr flache primitive Rinne verstreicht, und das Nervensystem legt sich als ein solider Strang an. Der Quer- schnitt desselben ist etwas eiförmig oder birnförmig, so dass die lange Axe dieser Ellipse oder dieser Ovoide in der Medianebene steht. Dann dehisciren die Zellen in der Mitte, so kommt ein Spalt zu Stande. Es ergibt sich dadurch eine Ansicht, ganz ähnlich wie wir sie in Figur 89 haben, aber diese Gestalt kommt auf ganz andere Weise zu Stande, als dies eben bei den Säugethieren, den Vögeln, den Reptilien und den Amphibien geschieht. Es war nun zu untersuchen, wie sich in dieser Beziehung die sogenannten Palaeichthyes verhalten, das heisst die Ab- theilungen von Fischen, deren Repräsentanten schon vor der Kreide exi- stirten, und die jetzt noch vertreten sind durch die Haie, die Rochen, die Chimären, die Störe, die Spatularien, durch die Genera Lipisosteus, Polypterus und Amia und durch den Ceratodus Forsteri. Es ist dies auch bereits geschehen. F. M. Balfour hat bei Haien die Bildung des Rücken- marks ganz so wie bei den übrigen Wirbelthieren gefunden und ebenso Schenk, der auch bei Torpedo dasselbe beobachtete. Wenn das Centralnervensystem sich nun schliesst, so schliesst es sich nicht in seiner ganzen Länge zugleich, sondern zunächst in seiner Mitte, so dass die Wülste nach oben und unten in einem sehr spitzen Winkel auseinanderstehen. Der untere Theil schliesst sich normalerweise später vollständig. Ein Theil der oberen Partie aber bleibt offen und stellt den vierten Ventrikel mit dem Calamus scriptorius dar. In dem Theile nun, der vor demselben liegt, bilden sich Ausbuchtungen, Erweiterungen, die sogenannten drei Gehirnzellen. Aus der ersten dieser Gehirnzellen bildet sich der N. opticus, der IST. olfactorius und die Hemisphären des Grosshirns. Aus dem Verbindungsstücke zwischen erster und zweiter Hirnzelle bilden sich die Sehhügel, aus der zweiten Gehirnzelle das Mesencephalon, die Corpora quadrigemina. Aus der dritten Gehirnzelle bildet sich das kleine Gehirn, der vordere Theil der Medulla oblongata mit den Oliven und der IST. acusticus. Entwickelung des Auges. 315 Es entwickeln sich zuerst die Corpora quadrigemina (Figur 92 m und Figur 93 m) in der Weise, dass sie den übrigen Gchirntlieilen voraus- eilen und die Hauptmasse des ganzen Gehirns ausmachen. Erst später kommen ihnen das kleine Gehirn und das grosse Gehirn in der Ent- wickelung nach, bis endlich die Hemisphären des grossen Gehirns immer mehr das Uebergewicht erlangen und beim Menschen alles Uebrige, die Corpora quadrigemina und selbst das kleine Gehirn, vollständig über- wachsen. Es macht also das Gehirn während der Entwickelung einen ähnlichen Gang durch, wie sich derselbe zeigt, wenn wir den Bau des Gehirns der Wirbelthiere von den niederen zu den höheren ^'g- ^2. Fig. 93. verfolgen, wie es ja überhaupt eine allgemeine Erfahrung ist, dass die niederen Wirbelthiere diejenigen sind, die in ihrer Organisation dem embryonalen Zu- stande am nächsten stehen, wäh- rend die höchsten Wirbelthiere die sind, die sich am weitesten vom embryonalen Zustande ent- fernt haben. Man hat deshalb früher wohl gesagt : Die höheren Fig. 92 und 93 nach Keissner. Wirbelthiere durchlaufen im em- bryonalen Leben alle Stadien der Wirbelthierreihe , sie sind erst den Fischen, dann den Amphibien, dann den Vögeln und endlich den Säuge- thieren ähnlich. So ausgedrückt ist diese Angabe unrichtig ; richtig ist es aber, dass die Embryonen aller Wirbelthiere sich untereinander viel ähnlicher sehen als die entwickelten Wirbelthiere selbst, und dass sie sich im Laufe der Entwickelung nach und nach in der Weise verändern, dass sie einander immer unähnlicher werden, und sich dabei die höher stehenden immer weiter als die niedrig stehenden vom embryonalen Zu- stande eiitfernen. Von den übrigen Theilcn des Nervensystems werden zuerst die Ganglien sichtbar, und zwar zuerst das Ganglion semilunarc Gasseri und die Wurzelganglien der Spinalnerven. Hensen und Schenk sahen diese in den frühesten Stadien, als intcgrirenden Theil der Uranlage des Central- nervensystems, buckeiförmig hervorragend. Später, als sie schon zwischen den Wirbeln gefunden wurden, hatten sie sich davon getrennt und waren nur noch durch einen Strang, die spätere Wurzel, mit dem Eückenmarke verbunden. Nach Schenk stammen auch sämmtliche Ganglien des Sj^m- pathicus von der ursprünglichen Anlage des Centralnervensystems ab. Entwickelung des Auges. Im nahen Zusammenhange mit der Entwickelung des Nervensystems steht die Entwickelung der höheren Sinnesorgane. Aus der ersten Gehirn- zelle bildet sich seitlich und nach abwärts eine Ausstülpung. Diese ist nichts Anderes als die erste Anlage des N. opticus. Dieser Ausstülpung gegenüber bildet sich im äusseren Kcimblatte eine kleine Grube. Diese Grube drückt die Ausstülpung, die hohl, kolbenartig ist, von vorne und von 316 Entwickehmg des Auges. unten her ein, so dass eine Partie derselben hineingebogen, hineinge- stülpt wird. Dabei schliesst sich diese Grube mit den Zellen, welche sie bilden, nach vorn vollständig gegen das äussere Keimblatt ab und trennt sich von ihm, so dass dieses nun darüber hinweggeht. Es entsteht auf diese Weise hier ein rundliches Gebilde, das in den erwähnten Fortsatz des Gehirns hineingedrückt liegt und nichts Anderes ist als die Linse. Die Linse wächst nun durch Neubildung von Zellen immer weiter, die ursprüngliche Ausstülpung des Gehirns theilt sich in einen Stiel und in den in sich zurückgestülpten Kolben. Der Stiel ist der IST. opticus, und der in sich zurückgestülpte Kolben ist die Retina; aber wohl gemerkt, die ganze Eetina mit Einschluss der Stäbchenschichte entsteht aus dem inneren zurüekgestülpten Blatte; das äussere Blatt des Kolbens, in welches sich das andere eingestülpt hat, wird nur umgewandelt in die Pigment- schicht der Chorioidea. Aus den umgebenden Zellen, die vom mittleren Keimblatte abstammen, bildet sich nun ein bindegewebiger Ueberzug, wel- cher in das Stroma der Chorioidea umgewandelt wird, in welchem sich nun die Gefässe der Chorioidea bilden. Gleichzeitig aber lagert sich eine durchsichtige Masse zwischen der Linse und der Petina ab, und diese ist der Glaskörper. Aus dem Theile des äusseren Keimblattes, der über die Linse weggeht, ist das Epithel der Hornhaut geworden, während die anderen Schichten der Hornhaut sich aus Elementen des mittleren Keim- blattes gebildet haben, die bei der Abschnürung des Linsenkeimes rings um die Abschnürungsstelle herein wucherten. Die Augenlider sind eine spätere Bildung. Sie entstehen als Falten nach oben und unten von der Hornhaut, die gegen einander wachsen. Zwischen Linse und Hornhaut sammelt sich etwas Flüssigkeit an, der Humor aqueus. Sie haben also jetzt schon die brechenden Medien des Auges, Sie haben die Cornea, nahe dahinter die Linse, dahinter den Glaskörper, der von der Petina um- schlossen ist, die mit dem K. opticus in Verbindung steht. Darüber liegt schon die Chorioidea: nach abwärts aber, da, wo sich das äussere Keim- blatt in den Kolben eingestülpt hat, bleibt eine Zeit lang eine oifene Stelle, ein Spalt in der Chorioidea und auch in der Pigmentschicht, und dies ist das sogenannte normale oder physiologische Colobom (Figur 92 c und 93 c). Wenn sich dieser Spalt später nicht schliesst, so stellt er das vor, was mit dem Kamen des bleibenden Coloboms bezeichnet wird. Das pathologische Colobom setzt sich bekanntlich auch in die Iris fort. Aber die Iris selbst existirt zu der Zeit nicht, wo das normale Colobom sichtbar wird, sondern sie entsteht erst von der Chorioidea als ein sich nach vorn hin verbreiternder Saum, der ringsum über die Linse herüberwächst. Dann entstehen zuletzt an der Innenseite des Ciliartheils der Chorioidea die Ciliarfortsätze, welche sich nun in die Zonula Zinnii, oder vielmehr zunächst in den Ciliartheil der Petina hineinschieben, in den Theil der Retinaanlage, der nicht zur wirklichen Netzhaut verwendet wird. Auf diese Weise ist das Auge angelegt worden und enthält bereits alle wesentlichen Theile. Aber es untei'scheidet sich noch von dem voll- ständig entwickelten Auge durch seinen Gefässreichthum. Der Glaskörper hat Gefässe, die von der Arteria hyaloidea ausgehen, die Hornhaut hat Gefässe, und die Linse ist mit einer gefässreichen Kapsel umgeben. Die Gefässe des Glaskörpers schwinden dann, es bleibt aber noch eine Arterie, die durch den Glaskörper zur gefässreichen Linsenkapsel hinläuft, die Entwickelung des Geruchsorgans, des inneren Ohres. 317 sogenannte Arteria capsularis. Beim neugebornen Menschen ist die gefäss- reiche Linsenkapsel bereits geschwunden, aber nicht so bei den reissenden Thieren. Bei den jungen Kätzchen findet man sie noch vor, und wenn man sie injicirt und dann vorne die Iris aufhebt, so findet man, dass die Pupille mit einer Membran geschlossen ist, welche ein zierliches Gefäss- netz trägt. Diese Membran ist die sogenannte Membrana pupillaris, sie ist eben der Theil der gefässreichen Kapsel, der hinter der Pupille liegt und mit dem Pupillarrande der Iris verbunden ist. Dann folgt, wenn man die Iris von der Linse abhebt, ein membranöser Trichter, der als solcher erst durch das Abheben gestaltet wird. Er geht vom Papillar- rande zum Umfang der Linse und ist nichts Anderes als der Pest der vordem Hälfte der gefässreichen Linsenkapsel, ist das, was man mit dem Namen der Membi'ana capsulo-pupillaris bezeichnet. Das Auge des neugebornen Menschen unterscheidet sich noch in einigen Punkten von dem später weiter entwickelten. Die Cornea ist in der Mitte nicht dünner, sondern dicker als am Pande. Die Linse prominirt stark, so dass die Iris auf ihr in einer convexen Oberfläche ruht. Es existirt also hier keine hintere Augenkammer, wie sie später beim Er- wachsenen existirt, und auch die vordere Augenkammer ist sehr eng, weil eben die Cornea in der Mitte verhältnissmässig dick ist und die Linse stark convex. Auch die Gefässe der Hornhaut ^^' verhalten sich etwas verschieden von denen der Hornhaut des Erwachsenen. Beim Erwachsenen bildet das gefässfreie Feld der Hornhaut eine Ellipse mit querliegender grosser Axe, beim Neugebornen aber bildet es eine Figur wie die nebenstehende, indem die Gefässe von oben und von unten über die Horn- haut hinübergreifen, und zwar weiter als beim Erwachsenen, rechts und links aber nicht. Eiitwickeluiig- des Greruclisorgaiis. Das Geruchsorgan entwickelt sich so, dass der Geruchsnerv ebenso wie der N. opticus als Hirnausstülpung entsteht, während sich im äusseren Keimblatte ein Grübchen bildet, aus dessen Zellen das Geruchsepithel her- vorgeht, und mit welchem sich der N. olfactorius in Verbindung setzt. Bei Säugethieren und Menschen werden nachher durch das weitere Wachsen des Gesichtsschädels diese Gebilde in die Tiefe verlegt. EntTTickeluiig des inneren Ohres. Das Ohr legt sich in analoger Weise an. Auch hier bildet sich von der Oberfläche eine Einstülpung des Hornblattes, welche sich wiederum zii einem kleinen Säckchen schliesst und abschnürt. Dieses kleine Säckchen, mit dem das Centralnervensj-stem durch den sich bildenden N. acusticus in Verbindung tritt, ist das Gehörbläschen (Figur 92 l), die erste Anlage des inneren Ohres. Die Entwickelung des äusseren und des mittleren Ohres werden wir später kennen lernen. Aus diesem Bläschen geht nun hervor die Schnecke, der Sacculus, der Utriculus, die Bogengänge iind der Aquaeductus vestibuli. In einer verhältnissmässig frühen Periode verflacht es sich und bekommt zwei Eindrücke, so dass es in drei Abtheilungen 318 Entwickelung des Knoclien-, Haut- und Muskelsystems. getheilt erscheint (Eigur 93 l). Dann wächst die mittlere Partie weiter aus nnd bekommt eine weitere Höhle, während die seitlichen Partien nach entgegengesetzten Seiten dünner und schlanker answachsen. Das eine Stück, das nach aufwärts wächst (Figur 95 und 96 ß), ist der sogenannte Re- cessus labyrinthi oder Eecessus vestibuli, und aus ihm wird der Aquae- ductus vestibuli. Aus der Ab- theilung, die nach abwärts und innen wächst (Figur 95 und 96 y), wird die Schnecke. ISTun bilden sich faltenförmige Hervorragun- gen, welche sich von der Haupt- masse des Gehörbläschens abzwei- gen. Diese faltenartigen Hervor- ragungen sind die Anlagen der Bogengänge. Letztere entstehen so, dass Sie sich vorstellen müs- sen , dass die Falten in ihrer Fläche zusammengedrückt wer- den, und die Blätter derselben sich wieder mit einander vereinigen, so dass nur eine bogenförmige Lichtung bleibt, die dem Rande der Falte folgt. Am spätesten entwickelt sich das Corti'sche Organ. Es ist beim Menschen und Säugethiere erst vollständig entwickelt zu einer Zeit, wo das Felsenbein verknöchert ist. Darin liegt eine wesentliche Erschwerung der Untersuchung. Man kann das Gehörorgan von Embryonen sehr leicht untersuchen, so lange man durch den Knorpel des Felsenbeins Durch- schnitte machen und die Dinge frisch unter das Mikroskop bringen kann. Zu dieser Zeit ist aber an der Stelle, wo sich später das Corti'sche Organ entwickelt, nur ein Cylinderepithel vorhanden, das auf der Membrana basilaris steht, und an welchem man schon die Stellen erkennt, wo sieh Steg und Saite entwickeln werden. Aber die Zeit der Entwickelung von Steg und Saite fällt, wie gesagt, in eine Periode, in der das Felsenbein schon verknöchert ist, in der man also schon mittelst Säuren (am besten geschieht es mittelst Pikrin- oder Chromsäure) entkalken muss, um dui'ch die betreifenden Theile Durchschnitte machen zu können. Figur 95 und 96 nach Reissner. Entwickelung' des Knoclien-, Haut- und Muskelsystcms. Wir gehen nun zur Entwickelung des Knochen-, des Haut- und des Muskelsystems über. Zu beiden Seiten des Centralnervensystems und der Chorda dorsalis liegen, wie wir früher gesehen haben, ein Paar Zellen- massen, aus denen später die Wirbel hervorgehen. Ein Theil dieser Zellen- massen, und zwar zunächst der mehr nach aussen liegende, metamorphosirt sich, die Zellen verändern ihr Ansehen. Diese Metamorphose dringt immer weiter nach innen und gegen das Centralnervensystem und die Chorda dorsalis vor, so dass zuletzt beiderseits zwei Stücke von knorpeliger An- lage entstehen, welche die Chorda und das Centralnervensystem von beiden Seiten einschliessen. Von diesen baut sich weiter nach aufwärts ein im Laufe der Zeit fester werdendes Gerüst gleichfalls aus Zellen des mittleren Keimblattes und schliesst das Centralnervensystem von oben ein. Auf diese Entwickelung des Knochen-, Haut- und Muskelsystems. 319 Weise entwickeln sich die Wirbclbögen und später die Dornfortsätze. Andererseits wachsen jene Anlagen gleichzeitig um die Chorda herum upd bilden auf diese Weise die Wirbelkörper, so dass die Chorda in den Wirbelkörpern zu liegen kommt, wo sie bei den niederen Wirbelthieren theils ganz, theils in ausgedehnten Resten während des ganzen Lebens gefunden wird. Von den seitlichen Stücken, die sich zum Wirbelkörper vereinigen, geht auch die Bildung der queren wnd der schrägen Fortsätze der Wirbel aus. Die Anzahl der Wirbel, die rudimentären des Schwanz- endes mit eingerechnet, beträgt nach Fol im Maximum 38, und zwar wenn der Embryo 8 bis 9 Millimeter lang ist. Später schwinden die hintersten, aus denen bei geschwänzten Säugethieren die eigentlichen Schwanzwirbel werden. An der Schädelbasis gestaltet sich die Sache etwas anders. Da bilden sich zuerst zwei schienenartige Stücke unter dem Centralnea'vensystem und zu beiden Seiten der Verlängerung der Chorda. Fig. 97. Dies sind die Rathke'schen Schädelbalken. Erst später erkennt man in der Knorpel- masse, die sich hier bildet, drei Verknöcherungspunkte hintereinander. Diese drei Verknöcherungspunkte, die in der knorpeligen Schädel- basis erst viel später er- scheinen, sind die Grund- lage der Lehre von den drei Schädelwirbeln. Von diesen gehört der eine in den Ba- saltheil des Hinterhaupt- beines, der zweite in den hintern Keilbeinkörper, der vorderste und letzte in den vordem Keilbeinkörper. Die Schuppe des Hinterhaupt-, Stirn- und Schläfenbeins und die Scheitelbeine entstehen, wie wir später sehen wer- den, aus einer bindegewe- bigen Anlage. Auch der Ge- sichtsschädel steht nicht mit der Bildung des Wirbclsystems in unmittelbarem Zusammenhange und wir müssen ihn gesondert betrachten. Das vordere Ende der Chorda dorsalis ist nach Reichert die Hypophysis cerebri, während Rathke die Hypo- physis durch eine Einstülpung in die Schädelbasis von unten her ent- stehen lässt. Um die Entwickehmg des Gesichtsschädels zu verstehen, müssen wir an die erste Bildung des Arteriensystems anknüpfen. Gehen wir von einem menschlichen Embryo aus, der in Figiu- 97 IG^mal vergrössert nach der Natur dargestellt ist. Das Herz c richtet sich mit seinem vorderen arte- 320 Entwickelung des Knoclien-, Haut- und Muskelsystems. riellen Ende gegen den Kopf und ragt noch aus dem Leibe hervor. Da- hinter (darunter) sieht man die schon stark entwickelte Leber h, dann den Nabelstrang / und zuletzt das Schwanzende u, das durch die Schrum- pfung in Weingeist etwas stärker nach abwärts (vorwärts) gebogen ist. Yom Herzen gehen zu dieser Zeit nach oben zu jederseits die Aorten- bögen aus, nachdem bereits im Abdominaltheile des Embryo die beiden primitiven Aorten zu einer Aorta verschmolzen sind. Diese Aortenbögen sind nun zuerst jederseits einer, dann kommt ein zweiter und dann ein dritter. Zwischen diese Aortenbögen und das äussere Blatt der Keimhaut lagert sich Substanz ab, so dass zu beiden Seiten drei Schienen entstehen und zwischen denselben Spalten (Figur 92 und 93 v). Da diese Spalten den Kiemenspalten der Eische entsprechen und sich auch beim Eischembryo in die Kiemeiispalten umwandeln, so hat ihr Entdecker Bathke sie mit dem Namen der Kienienspalten belegt. Später hat Reichert ihnen den Namen der Yisceralspalten gegeben, und dieser Name hat im Allgemeinen den Vorzug erhalten, weil eben der Embryo der höheren Wirbelthiere zu keiner Zeit Kiemen oder auch nur Andeutungen derselben hat. Die Schienen nun, welche zwischen den Spalten liegen, bezeichnet man mit dem Namen der Visceralbögen, und diese spielen nach den Untersuchungen von Reichert eine wesentliche Rolle bei der Entwickelung des Gesichtsschädels. Der oberste enthält nach Reichert die Anlage für den Hammer und den Amboss und ausserdem die Anlage für den Ober- und den Unter- kiefer. Er spaltet sich in seinem vorderen Theil in zwei Stücke, in ein oberes und in ein unteres. Das obere Stück ist die Anlage für den Ober- kiefer und bildet den oberen Theil des Gesichtes zusammen mit einem Eortsatze, der von der Stirngegend des Embryo herunterwuchert, und den wir mit dem Namen des Stirnfortsatzes bezeichnen (Eigur 92 und 93 /). Wir haben gesehen, dass in einer frühen Periode auch beim menschlichen Embryo das Auge wie bei den Thieren seitlich liegt. Nun wachsen die oberen Branchen des ersten Visceralbogens unter dem Auge hin und der Stirnfortsatz wächst zwischen den beiden Augen nach abwärts; dabei aber dehnt sich das Gehirn mit den rückwärtigen Bedeckungen weiter aus, und in Eolge dieses Wachsthums werden die beiden Augen, die früher mehr seitlich lagen, mehr nach vorne gebracht. Sie haben also ein Stadium, wo von vorne gesehen die beiden Augen sichtbar sind, wo sie aber jeder- seits noch seitlich zwischen dem Stirnfortsatze und der oberen Abtheilung des ersten Visceralbogens eingeschlossen liegen, dann werden sie zugleich mit den sie zunächst umgebenden Theilen weiter nach vorne gewendet. Die beiden Visceralbögen wachsen näher aneinander, der Stirnfortsatz wächst weiter herab: indem beider Grenzen verschmelzen, bildet sich aus der oberen Hälfte des Visceralbogens jederseits der Oberkiefer, aus dem Stirn- fortsatze die Nase. Gleichzeitig gehen entsprechende Veränderungen in der Tiefe vor, indem von beiden Seiten eine Scheidewand hereinwächst, die das spätere Gaumendaeh darstellt, und von oben und hinten nach unten und vorne eine Scheidewand herunterwächst, die den Vomer und die knorpelige Nasenscheidewand darstellt. Jetzt ist noch ein weiter Spalt vorhanden, der die zukünftige Nasenhöhle mit der Mundhöhle verbindet. Dieser Spalt macht, wenn er offen bleibt, den sogenannten Wolfsrachen. Vom Stirn- fortsatz wächst, nachdem er das Material zur Nase hergegeben, noch ein Entwickelang des Knochen-, Haut- und Muskelsystems. o2L Hautlappen herunter, der die beiden Hautlappen zur Vereinigung bringt, die mit der oberen Hälfte des ersten Visceralbogens herüberkommen, und diese drei Htüeke bilden mit einander die Oberlippe. Wenn die eine oder die andere der Verbindungen des Mittelstückes mit den Seitenstücken oder beide offen bleiben, dann wird dadurch die einfache oder die doppelte Hasenscharte hervorgebracht. In derselben Zeit nun bildet sich auch der Unterkiefer. Daran nimmt der Hammer einen wesentlichen Antheil. Seine Anlage liegt nach den Untersuchungen von Schenk und Gruber der Hauptmasse nach, die des Amboss in ihrer Totalität nicht im Visceralbogen selbst, sondern beide Anlagen bilden einen Theil des knorpeligen Schädels, von dem sie sich später losschälen. Sie wissen, dass der Hammer einen Fortsatz hat, den man als den langen Fortsatz, Processus Meekelii, Ravii, Folii bezeichnet. Dieser ist frühzeitig entwickelt und sieht von jeder Seite her nach vorne, so dass die beiden Fortsätze des Hammers wie die Branchen einer Zange gegeneinander gewendet sind. Nun lagert sich darauf immer neue Sub- stanz ab, dieselbe tritt nach vorne in Verbindung, und das Ganze, was sich nun gebildet hat, ist die Anlage des Unterkiefers. Nun wächst aber nicht mehr der lange Fortsatz des Hammers, sondern die Zwischensubstanz, die sich zwischen beiden langen Fortsätzen eingelagbrt hat. Dadurch werden die beiden Hammeranlagen weit von einander getrennt, so dass sie zuletzt in den Trommelhöhlen liegen, und nur noch das Ende des langen Fort- satzes des Hammers in der Fissui'a Glaseri steckt, diu-ch die hindurch er im Fötus bis zum Unterkiefer reichte und mit demselben verbunden war. Bei denjenigen Wirbelthieren, die nur einen Gehörknochen haben, bei den Vögeln, den Beptilien und Amphibien, kann man noch ganz gut später die Betheiligang der Anlage des Hammers an der Bildung des Unterkiefers verfolgen. Da wird der Amboss zu einem Knochen, an welchem der Unter- kiefer aufgehängt ist, zum Uuadratbein, und der Hammer selbst wird zum Gelenkstück des Unterkiefers, während der übrige Theil des Unterkiefers der Zwischensubstanz entspricht, aus welcher beim Menschen schliesslich der ganze Unterkiefer hervorgeht. Die Visceralspalte, die hier offen war und von der man also ursprünglich bis in die Höhle des Pharynx hinein- gelangen konnte, schliesst sich nun. In der Tiefe befindet sich noch eine Aussackung der Mundrachenhöhle, aus der Tuba und Trommelhöhle ent- stehen. Die Trommelhöhle ist nach aussen begrenzt vom Trommelfell, dessen äussere Fläche in Continuität mit der der Haut steht und anfangs auch in gleicher Höhe liegt. Erst später bildet sich der äussere Gehör- gang durch Wachsthum nach aussen, bei dem das Trommelfell in der Tiefe zurückbleibt. Die Continuität des Hornblattes bleibt erhalten, indem es sowohl die Innenwand des äusseren Gehörganges, als auch die Aussenwand des Trommelfells überzieht. An der Wurzel des zweiten Visceralbogens liegt, nach Schenk imd Gruber noch mit dem Eande des Foramen ovale knorpelig vereinigt, die Anlage des Steigbügels, er enthält ferner die Anlage des Processus styloi- deus, des Ligamentum stylohyoideum und der oberen Hörner des Zungen- beins. Aus dem dritten Visceralbogen bilden sich die unteren Hörner des Zungenbeins, und als Verbindungsstück entstellt der Körper desselben. Indem sich so die A^isceralbögen metamorphosircn und die Visceralspalten schliessen, vereinigt sich das Hautsystem nach vorne (^unten) und die ganze Brücke. Vorlesungen. II. 4. Aufl. 21 322 Entwickelung des Knoolien-, Haut- und Muskelsystems. Region des Halses ist gebildet. In analoger Weise schliesst sich die Wand des Thorax über dem Herzen und schon früher die Bauchhöhle, indem sich die ursprünglich seitlich gewendeten Flanken des Embryo, die sich frühzeitig nach abwärts krümmten, nach unten vereinigen. Auf diese Weise ist der Embryo nach unten vollständig abgeschlossen. Im Anfange des zweiten Monats zeigt sich beim Menschen schon die erste Spur der Arme und Beine. jSTahe der Mitte des Embryo, etwas vor derselben , wachsen zwei zungenförmige Fortsätze heraus , die von hinten (oben) nach vorne (unten) gerichtet sind, das ist die Aalage der oberen Extremitäten, — und am unteren Ende des Embryo wachsen ähn- liche zwei Fortsätze aus, das ist die Anlage der unteren Extremitäten. Diese Anlagen verlängern sich und gliedern sich zunächst in drei Stücke, welche bei den oberen Extremitäten Oberarm, Yorderarm und Hand, bei den unteren Oberschenkel, Unterschenkel und Fuss sind. Dann gliedert sich das untere Stück, welches der Hand, beziehungsweise dem Fusse entspricht, weiter, indem man Finger und Zehen äusserlich durch Furchen abgetheilt sieht und zugleich im Innern die Theilung in Handwurzel, Mittelhand und Finger, beziehungsweise in Fusswurzel, Mittelfuss und Zehen eintritt. In dieser Zeit beginnt auch die Entwickelung der äusseren Geni- talien. Es bildet sich in der fünften Woche beim Menschen in der Ge- gend, wo später das Perinaeum ist, eine Längsfurche. Diese wird immer tiefer und durchbricht die Substanz des Embryo, so dass hier eine Com- munication mit der Darmhöhle entsteht, welche also auch eine Communi- cation mit dem Stiele der AUantois herstellt. Während im Uebrigen die AUantois beim Menschen aufgehört hat als Blase zu existiren, ist derjenige Theil, welchen die Flanken des Embryo mit in dessen Leibeshöhle ein- geschlossen haben, wie bereits erwähnt wurde, offen geblieben, er hat seine Höhle behalten, ■ und dieser Hohlkörper ist die Harnblase, und das obere Ende, das zum i!>J"abel hingeht, ist der Urachus. Es entsteht hier also eine Oeifuung, welche sowohl mit dem Mastdarm als mit der Harn- blase communicirt. Im vorderen Theile dieses Spaltes bilden sich jederseits zwei Her- vorragungen. Diese verwachsen beim Manne vollständig mit einander und bilden den Penis. Beim Weibe dagegen verwachsen sie nur an ihrem oberen Ende, an ihrem unteren bleiben sie getrennt. Die obere Partie wird zur Clitoris, die untere getrennte Partie zu den kleinen Schamlippen oder üSTymphen. ISTach unten und hinten von diesen Wülsten wachsen ein Paar neue heraus. Diese schliessen sich beim Manne, indem sie sich von beiden Seiten her mit einander vereinigen und den Hodensack bilden ; beim Weibe vereinigen sie sich nicht mit einander, sondern wachsen zu beiden Seiten der früher beschriebenen Wülste nach aufwärts, und später, erst in der letzten Zeit der Entwickelung des Fötus, gegen das Ende der Schwangerschaft, überwachsen sie die kleinen Schamlippen vollständig, so dass sie jetzt die äussere Schamspalte bilden. Diese zwei Wülste werden also beim Weibe zu den äusseren Schamlippen. Es entsprechen sich also, was die äusseren Geschlechtstheile anlangt, Penis einerseits und Clitoris mit den kleinen Schamlippen andererseits, der Hodensack beim Manne entspricht den grossen Schamlippen beim Weibe. Indessen hat sich wiederum eine Substanzbrücke gebildet, durch welche der hintere Theil des Ursprung- Entwickelung der inneren Geschlechtstheile. 323 liehen Spaltes vom vorderen Theile desselben getrennt ist. Diese Substanz- brücke ist der Damm, das Perinaeum. Die Trennung gellt auch in die Tiefe hinein, und es sind auf diese AVeise Harn- und Geschlechtsöffnungen vollständig gesondert von der Oeffnung zur Ausführung der Füces. Beim Weibe ist ein eigener Caual gebildet, der zu den inneren Genitalien hin- führt, die Scheide. Entwickelung' der inneren Gfesclileclitstbeile. Wir können jetzt zu der Eutwickehiug der inneren Genitalien über- gehen. Diese steht in nahem Zusammenhange mit der Entwickelung des uropoetischen Systems. Wir haben gesehen, dass sich schon in sehr früher Zeit beim Embryo die Primordialniere anlegt. Wir haben schon in den Figuren 90 und 91 die Entwickelung ihres Ausführungsganges verfolgt. An diesem entstehen Blinddärmchen, welche wahre Harncanäle sind, ähnlich den Harncanälen der bleibenden Nieren. Sie sondern die Harnbestandtheile des Embryo ab, bis die bleibenden Kieren da sind. Wir haben in Figur 9 8 einen Durch- schnitt mit durchschnittenen Harn- Fig. 98. canälen (e e) und Glomerulis (g g). Diese Urnieren, die nach ihrem Entdecker Caspar Friedrich Wolff den Namen der Wolff 'sehen Körper erhielten, liegen zu beiden Seiten des Embryo und reichen in der frühesten Zeit bis in den Kopf- theil des Embryo hinauf. Später aber wächst der Embi'yo weiter und die Wolff'sehen Körper wach- sen nicht in gleichem Grade mit. Die Folge davon ist, dass sie im Embryo immer weniger weit hin- aufreichen und zuletzt in einem gewissen Stadium der Entwickelung als ein Paar verhältnissmässig kurze Organe unten im Becken liegen. Zu dieser Zeit entwickelt sieh nun an und über ihnen ein neues Gebilde, die bleibende Niere. Schon lange vorher war die An- lage für dieselbe in schwer er- kennbarer Form vorhanden. Der epitheliale Theil derselben stammte von einer Ausstülpung des Wolff- schen- oder TJrnierenganges , während der bindegewebige Antheil nach A. Kallay aus dem IJr wirb eltheile des mittleren Keimblattes stammt. Die bleibenden Nieren stehen mit der Wurzel der Allantois durch ein Paar Ausführungsgänge, die späteren IJreteren, in Verbindung. Am Kopf- ende der bleibenden Nieren entstehen verhältnissmässig früh ein Paar ihnen kappenartig aufgesetzte Gebilde. Diese sind die Anlagen der Neben- 21* a Eierstockbügel. h Epithel desselben. c Ausführungsgang des Wolff'scben Körpers. e Diircliselinittene Canäle des Wolff'sclien Körpers. cj Glomeruli desselben. 324 Entwicbelung der inneren Geschleclitstheile. nieren, der Capsiilae suprarenales. Die Nieren wachsen immer weite^ lind weiter, während der Wolff' sehe Körper in seiner Entwickelung zurück- bleibt und eine Metamorphose erleidet. Es verdickt sich an einer Seite des Wolff' sehen Körpers das Epithel, es entsteht hier ein Hügel, der so- genannte Eierstockhügel (Figur 98 a und &), aus diesem Keimepithel ent- wickeln sich die Schläuche, aus denen die Eier entstehen, kurz es ent- wickelt sich an und auf dem Wolff' sehen Körper eine neue Drüse, die Geschlechtsdrüse. In derselben Weise entwickelt sich beim Manne der Hode, nur dass hier aus dem Keimepithel das Epithel der Samencanälchen gebildet wird. Der Wolff''sche Körper geht dabei nicht ganz zu Grunde, sondern ein Theil seiner Substanz wird beim Manne zur Bildung des Nebenhodens, beim Weibe zur Bildung des Parovariums verwendet. Der Ausführungsgang des Wolff'schen Körpers geht beim Manne auch nicht zu Grunde, sondern wird in das Vas deferens umgewandelt. Beim Weibe gehen die Ausführungsgänge des Wolff'schen Körpers zu Grunde, nur bei einigen Thieren bleiben Reste davon als sogenannte Gartner'sche Gänge. (Figur 99 a) noch ein Faden gebildet, der sich in ein hohles, blinden- digendes Gebilde (b h) Fig. 99. ccc ist die aus Blinddärmen bestellende Masse des Wolff'schen Kör- pers, in die Anlage der Generationsdrüse, die sich entweder zum Hoden oder zum Eierstock umwandelt. Fig. 99 nach Kohelt. umwandelt. In Figur 98 d ist die erste An- lage dieses Fadens nach Waldeyer im Quer- schnitt dargestellt. Man sieht sie in Form einer Volute links neben dem Querschnitte des Aus- führungsganges (c) des Wolff'schen Körpers. Der Faden ist von J. Müller entdeckt worden und heisst nach ihm der Müller' sehe Faden. Er wird zur Tuba. Er öffnet sich nicht ganz an seinem blinden Ende, sondern etwas vor demselben und bildet so den Trichter der Tuba. Das blinde Ende bleibt stehen als sogenannte Endhydatide der Tuba. Dieses blinde Ende ist auch beim Manne, wo der übrige Faden zu Grunde geht, als soge- nannte Morgagnische Hydatide zu finden. Wenn wir also die inneren Geschlechtstheile beim Manne und beim Weibe vergleichen, so haben wir als vergleichbare Dinge : Eierstock und Hoden, üSTebeneierstock und Neben- hoden. Nicht vergleichbar aber sind Tuba und Vas deferens, denn das Vas deferens entsteht aus dem Ausführungsgange des Wolff'schen Körpers, die Tuba aus dem Müller'schen Faden. Vergleichbar sind wieder die Endhydatide der Tuba und die Morgagnische Hydatide am Hoden. Wel- chem Gebilde entspricht nun der Uterus? Man hat in früheren Zeiten den Uterus mit den Sapaenblasen verglichen. Dieser Vergleich ist aber durchaus unhaltbar. Der Uterus entsteht an der Vereinigung' der MüUer- schen Fäden, die ja die Tuben darstellen. Er kann beim Manne nur mit der Prostata und der Vesicula prostatica verglichen werden, die nach dem Descensus testiculorum. 325 Ausdrucke E. H. Weber's bei einigen Thieren, wo sie stark entwickelt ist, einen förmlichen Uterus masculinus darstellt. Descensus testiculorum. Der Hode liegt ursprünglich ebenso wie der Eierstock in der Bauch- höhle ; er ist vom Peritonaeum überzogen. Er soll aber in den Hoden- sack hineingelangcn. Er muss also seinen Weg durch den Leistencanal nehmen. Diese Ortsveränderung ist der sogenannte Descensus testicu- lorum. In der Mitte des Fötallebens beginnt der Hode nach abwärts zu rücken, im siebenten Monat gelangt er an den Eingang des Leisten- canals, um im achten durch ihn hindurchzugehen und sich im neunten bis in den Hodensack hinabzusenken. Es ist bekannt, dass er bei diesem Descensus eine Reihe von Hüllen bekommt. Zunächst die Tunica vagi- nalis propria, die sich vom Peritonaeum ableitet und nichts Anderes ist als das Peritonaeum, welches über den Hoden zurückgestülpt ist und sich über demselben geschlossen und abgeschnürt hat. Zweitens die Tunica vaginalis communis funiculi spermatici et testis, die eine aus- gesackte und verlängerte Partie der Fascia transversa ist. Endlich der M. cremaster, der sich in derselben Weise vom M. obliquus internus abdominis ableitet. Es fragt sich : Auf welche Weise und durch welche Kraft erfolgt das Herabsteigen des Hodens? Vom Hoden selbst lässt sich, wenn er noch in der Bauchhöhle liegt, ein faseriger Strang verfolgen, erst bis zum äusseren Leistenringe und dann ein Theil desselben noch bis in den Grund des Hodensackes. Man stellt es nun wohl so dar, als ob dieser Strang, den man mit dem Kamen des Hunter'schen Leitbandes, Gubernaeulum Hunteri, bezeichnet, durch seine stete Verkürzung den Hoden nach sich zöge und auf diese Weise den Hoden erst in den Leistencanal hinein und dann endlich in den Hodensack hinabzöge. Auf diese Weise würde der Hode das sein, was zuvörderst bewegt wird, und er würde die Umhüllungen mitnehmen, indem er das Peritonaeum nach sich zieht und die Eascia transversa und die Easern des Muse, obliquus abdominis internus vor sich hertreibt. Wenn man jedoch den Vorgang beim Schweine verfolgt, so muss man dadurch zu einer ganz andern An- sicht geführt werden. Hier sind die Dinge weit deutlicher und klarer auseinandergelegt als beim Menschen. Hier sieht man, wenn der Hode noch ganz oben im Leistencanale ist, einen Beutel, der vom Peritonaeiim gebildet wird und von den späteren Hüllen des Hodens bereits umgeben ist, in den Hodensack hinabragen. Dieser Beutel führt den ISTamen des Processus vaginalis peritonaci. Dieser kann kaum durch eine andere Kraft hinabgetrieben worden sein, als durch den Druck der Flüssigkeit in der Bauchhöhle. Er ist gewiss durch kein Gubernaeulum Hunteri hinab- gezogen worden, denn er liegt ganz frei im Hodensacke, so dass man ihn, wenn man den Hodensack öffnet, mit Leichtigkeit aus demselben herausheben kann. Er ist von einem succulenten Bindegewebe umgeben. Dieses verliert hinterher einen grossen Theil seiner Flüssigkeit und zieht sich dadurch auf ein geringeres Volumen zusammen, wodurch die Höhle des Processus vaginalis peritonaei noch tiefer in den Hodensack hinab- gezogen und so der Raum, den der Hode nachher einnimmt, frei ge- macht wird. Diese Umwandlung succulenten Bindegewebes in weniger 326 Entwickelung des chylopoetisohen Systems. succulentes •kommt überall im Embryo vor, indem das embryonale Binde- gewebe eine viel mehr succnlente Beschaffenheit, eine gelatinöse Consistenz hat, ganz verschieden von dem fertigen Bindegewebe. Es gleicht der Warthon'schen Sülze des ISTabelstranges, dem Schleimgewebe von Virchow. Es ist ganz klar, dass beim Schweine dem Hoden erst der Ranm im Hoden- sack und der freie Weg dahin durch den Processus vaginalis peritonaei gemacht wird, und dass er allmälig in diesen bereits gemachten Eaum hineinriickt und seine Hüllen schon vorfindet. Man kann nur noch fragen: Was zieht ihn in diesen Eaum hinab? Dies kann nicht das Gubernaculum allein sein, denn es würde in dem häutigen nachgiebigen Hodensack, in den der Hode doch schliesslich hinabgelangen soll, keinen festen Punkt finden. Man muss sich denken, dass die Gefässe und Nerven des Hodens und der über ihm liegende Theil des Peritonaeums sich verlängern und ihm zur Bewegung nach abwärts Eaum geben, dass dagegen die Wand des Processus vaginalis peritonaei sich nicht in gleichem Masse ausdehnt, dann wird, da der Wasserdruck das Peritonaeum unten im Hodensack festhält, dasselbe beim weiteren Wachsen des Fötus wie über eine flüssige KoUe herübergezogen, bis schliesslich der Hode in den Hodensack gelangt ist. Man weiss, dass auch beim Menschen der Processus vaginalis peri- tonaei dem Hoden vorausgeht, nur nicht so weit wie beim Schwein ; ja es wird angegeben, dass die erste Spur desselben schon zu Anfang des dritten Schwangerschaftsmonates sichtbar sei. Es kann somit kaum zweifel- haft sein, dass auch beim Menschen die Mechanik des Descensus testiculi dieselbe ist. Entwickelimg des chylopoe'tischen Systems. Wir haben gesehen, dass das Baer'sche Schleimblatt oder das innere Keimblatt von dem inneren Theile der Eeichert' sehen Membrana inter- media, von der Darmfaserplatte Eemak's, überwachsen wird (Figur 83, 84 und lOO). Zwischen die Darmfaserplatte und das Baer'sche Schleim- blatt schieben sich neue Zellen (Figur lOl) ein, welche jnit den Zellen, die die Urwirbelanlage ausmachen, übereinstimmen, und die nach der An- sicht von Schenk auch von dieser Urwirbelanlage abstammen. Aus der Darmfaserplatte geht nach Schenk nur das Epithelium des Peritonaeal- überzuges des Darms und des Mesenteriums hervor. Aus dem Schleim- blatte geht das Epithel des Darmcanals und das Enchym der Drüsen, welche in der Wand des Darmcanals liegen, hervor. Aus den neuen Zellen, die sich zwischen beide eingeschoben haben, geht nun die übrige Wand des Darms hervor, also die Muskeln, das Bindegewebe und die Gefässe. Die so gebildete Wand schliesst sich nun, wie wir früher ge- sehen haben, nach unten, sie schnürt den Embryo vom Dotter ab, so dass er nur noch durch einen Gang mit demselben in Verbindung steht, und dieser Gang ist der Ductus omphalomeseraicus seu omphaloentericus (Figur 84 und 85 o). Der Darm, der nun mit dem Embryo in die Länge wächst, und dessen Höhle auf diese Weise gebildet wurde, ist ursprünglich gerade und liegt der Länge nach in der Mitte vor der Wirbelsäule. Dann bekommt er aber in der Mitte eine Ausbieguno; nach vorn und über derselben eine Entirickelung des chylopoetischen Systems. 327 leichte Erweiterung unterhalb der Schlundgegend. Die Erweiterung ist die Anlage des Magens: er liegt anfangs mit der Cardia nach oben, mit dem Pylorus nach unten, mit der grossen Curvatur nach hinten und mit der kleinen nach vorn. Er schliesst sich jetzt noch an den Schlund an, weil keine eigentliche Anlage für den Oesophagus vorhanden ist, oder wenigstens nur eine sehr kurze, indem die ganze Brusthöhle noch nicht gebildet ist, und somit auch der Eaum für den Oesophagus, die Strecke, die er später durchmisst, noch nicht gegeben ist. Aus der vorerwähnten Ausbiegung des mittleren Theiles des Darms wird eine Schlinge, indem der Darm vom Magen erst nach abwärts steigt, dann sich nach rechts, dann wieder nach aufwärts wendet, einen queren Bogen beschreibt und an der linken Seite wieder herabsteigt. Aus dem ersten absteigenden Theile wird der Dünndarm, der quere Bogen mit seinem aufsteigenden Fig. 100. und absteigenden Theile das Colon, das weiter absteigende Endstück bildet später die Flexura sigmoidea ujüd das Eectum. Unterdessen geht am Magen eine Veränderung vor, die darin besteht, dass sich die grosse Curvatur nach links und die kleine nach rechts wendet, und mit ihr der Pylorus und das oberste Stück des Darms, so dass das Hufeisen des Duo- denums gebildet wird. Das Darmstück zwischen diesem und dem Colon ascendens wächst nun sehr stark in die Länge, und dadurch entstehen die vielfachen Windimgen des Jejunum und Ileum, die bei ihrer grossen Gesammtlängc doch sämmtlich in einer verhältnissmässig kurzen Strecke an die Eückwand der Bauchhöhle angeheftet sind, so dass ihr Mesenterium an der Wurzel platt, an seiner Insertion an den Darm, den Windungen desselben entsprechend, vielfach gefaltet ist. Kach vorne vom unteren Ende des Magens und oberen des Dünn- darms entwickelt sich die Leber, und zwar zuerst median ; indem aber der Magen nach links geschoben wird, wird das Hufeisen des Duodenums und mit ihm die Leber nach rechts herübergeschoben, so dass die Haupt- 328 Entwickelung des Peritonaeums. masse der Leber im rechten Hypocliondrium liegt. Mehr nach hinten entwickelt sich eine andere Anlage von Zellen, in welche das Schleim- blatt hineinwuchert und sie mit einer Auskleidung versieht. Das ist das Pankreas. Entwickelung des Peritonaeums. Es fragt sich nun : Auf welche Weise entwickelt sich das Peri- tonaeum und wie bekommen diese verschiedenen Theile ihren Peritonaeal- überzug? Leber und Magen liegen ursprünglich hinter einander und sind beide von beiden Seiten vom Peritonaeum überzogen. Es existirt also eine Brücke desselben von der Abdominalwand zur Leber: diese ist das spätere Ligamentum Suspensorium hepatis und weiter nach oben, nach- dem das Zwerchfell entwickelt ist, das Kranzband mit dem Ligamentum trianguläre dextrum und sinistrum. Es existirt ferner eine Brücke zwi- schen der Leber und der nach vorne gewendeten kleinen Curvatur des Magens, und diese ist das spätere kleine ISTetz. Es existirt eine Brücke von der grossen Curvatur des Magens zur Eückwand der Leibeshöhle, und diese ist das Mesogastrium. ISTun denken Sie sieh, dass Sie die Hand auf die rechte Seite des Magens hinlegen, und dass Sie die grosse Cur- vatur des Magens, das ist die hintere, nach links hin drücken, so können Sie dies nur thun, indem Sie das Mesogastrium nach links drücken. Die Ausdrücke „rechts" und „links" haben Sie auf das Object, nicht auf sich selbst zu beziehen. Denken Sie sich, Sie dehnten das Mesogastrium in einen Sack aus und Hessen denselben vor den Windungen des Darms herabhängen, so ist dies der Saccus Winslowii, der Sack des grossen Netzes. Sie sind aber mit Ihrer Hand an der rechten Seite des kleinen ISTetzes gewesen, dieses wird also, nachdem Sie den Magen nach links geschoben, vor Ihrer Hand liegen. Wenn Sie unter der Gallenblase, schräg nach oben und hinter das kleine JSTetz mit dem Einger hinauf- gehen, so kommen Sie in eine Oeffnung, in das Foramen Winslowii, und von dieser gelangen Sie in den Saccus Winslowii, dessen Platten beim Keugebornen noch nicht mit einander verwachsen sind, so dass man ihn vom Foramen Winslowii aus noch in seiner ganzen Ausdehnung aufblasen kann. Später verwachsen die vordere und die hintere Wand mehr oder weniger vollständig mit einander, und das grosse JN^etz stellt nun eine einzige zusammenhängende Platte dar. Wir begegnen aber noch einer auffallenden Erscheinung, der Ver- wachsung des grossen Netzes mit dem Mesocolon transversum. Wie kommt diese zu Stande? Sie haben gesehen, dass die Darmschlinge, aus welcher das Colon transversum hervorging, relativ hinaufgerückt ist. Mit ihr rückte auch ihr Mesenterium hinauf. Dieses hat also seinen Ansatz an einer verhältnissmässig hohen Stelle. So ist es an einen Ort gelangt, an dem es in unmittelbare Berührung kommt mit der hinteren Wand des vor ihm herabsteigenden grossen Netzes, und mit ihm verwächst. Diese Ver- wachsung ist schon vollendet zur Zeit der Geburt, wenn die vordere und hintere Wand des grossen Netzes noch nicht mit einander verwachsen sind, wenn der Saccus Winslowii noch wegsam ist. Entwickelung der Milz und der Lymphdrüsen des Mesenteriums. 329 Entwickelimg der Milz und der Lymphdrüsen des Mesen- teriums. Die Milz entwickelt sich im Mesogastrium und wird deshalb auch mit dem Mesogastrium nach links hin verschoben. Ihr Peritonaealüberzug ist kein anderer als derjenige, welchen sie von Haus aus von den Platten des Mesogastriums bekommen hat, zwischen denen sie sich entwickelt. In derselben Weise, in der sich die Milz im Mesogastrium entwickelt, entwickeln sich die Lymphdrüsen im Mesenterium. Entwickelung der Lungen. Schon ziemlich früh, indessen erst, wenn die Leber bereits eine gewisse Ausbildung erlangt hat und die Visceralbögen angelegt sind, kün- digt sich die Entwickelung der Lungen an, zuerst dadurch, dass sich die Wand des Vorderdarms nach rechts und nach links verdickt. Diese Ver- dickung geht von der mittleren -Schichte derselben aus. An den ver- dickten Stellen entstehen Gruben, in die sich das Schleimblatt hineinsenkt. Indem die verdickten Stellen stärker herauswachsen und nun schon kleine Anhänge des Vorderdarms bilden, trennt sich das Ganze mehr und mehr von demselben, so dass nur noch eine mediane Oeffnung bleibt, die in die beiden Anhänge hineinführt ; das ist die Stimmritze. Die Anhänge wachsen, die Höhlen oder Gänge in ihnen verzweigen sich baumförmig ; so entstehen Bronchien und Infundibula. Das Letzte, was sich bildet, sind die Lungenbläschen. Entwickelung des Herzens und der Arterien. Wir gehen nun über zur Entwickelung des Herzens und der grossen Gefässe. Wir haben gesehen, dass ursprünglich im Embryo zwei Aorten vorhanden waren. Diese Aorten gingen aus einem länglichen Schlauche, dem Herzen, hervor, welcher sich nach oben zu in zwei Aeste spaltete, und sie liefen zu beiden Seiten vor der Wirbelsäule herunter. Sie gaben beim Vogelembryo an der Seite zwei Arterien ab, welche in den Dotter- sack übergingen und die Arteriae omphalomeserai'cae darstellten. Beim Menschen gingen erst seitlich eine Reihe von kleinen Gefässen ab, die aber dann verödeten bis auf zwei, und das waren die Arteriae omphalo- meseraicae. Das Blut, das aus dem Fruchthofe zurückkam, floss in grossen Venen zurück, welche sich wiederum in zwei Hauptvenen sammelten, die sich dann vereinigten und das Blut in das untere Ende des Herzens zurückbrachten. Es war dies die erste Circulationsperiode, die Circulation durch die jSTabclblase. Noch während derselben beginnen aber gewisse Veränderungen, welche sich sowohl auf das Herz und die Arterien, als auch auf die Venen beziehen. Das Herz bleibt nicht gerade, sondern wird zunächst eine Schlinge, welche aus dem Leibe des Embryo nach vorne (Figiu* 84 und 85 c, Figur 97 c) herausragt. Aus dieser Schlinge geht mm nicht mehr ein Aortenbogen jederseits hervor, sondern es cnt- 330 Entwickelung des Herzens und der Arterien. wickelt sich zu dem ersten Aortenbogen ein zweiter und dann ein dritter. Es sind dies die drei Aortenbögen, von denen wir schon früher ge- sprochen, die als die Grundlage für die drei Visceralbögen dienen. Im Herzen bilden sich nun zwei Einschnürungen, zwischen welchen der am meisten hervorragende Theil liegt. Er communicirt mit dem rückwärtigen Theile der Schlinge, aus dem der ursprünglich einfache Vorhof wird, durch eine Enge, den Canalis auricularis, und durch eine andere Enge, das Eretum Halleri, mit dem arteriellen Theile der Schlinge, aus dem der Bulbus arteriosus hervorgeht, der sich dann in die Aorten theilt. Die beiden Aorten bleiben nicht ihrer ganzen Länge nach doppelt, sondern sie verbinden sieh in der Mitte mit einander, so dass eine ein- fache Aorta abdominalis entsteht, die vor der Wirbelsäule heruntergeht und jederseits von den drei Aortenbögen gespeist wird. Unten spaltet sie sich wieder in zwei Arterien, in die Arterien der AUantois, in die Umbilicalarterien. Es kann auf den ersten Anblick unmöglich erscheinen, dass sich zwei Arterien, in denen Blut circulirt, an einander legen und sich mit einander vereinigen. Man muss sich dies aber nicht so vor- stellen, als ob die beiden Arterien sich aufthäten und dann ein gemein- sames Rinnsal bildeten. Sie legen sich an einander und werden an einer Stelle mit einander verlöthet. An dieser Stelle entsteht eine Communi- cation in ähnlicher Weise, wie eine solche lochartige Communication zwischen der Aorta dextra und sinistra des Frosches existirt. Jetzt ist also ein Stück da, das ihnen gemeinsam ist. Dieses Stück wächst nun fortwährend, so dass dadurch die getrennten Partien immer weiter von einander entfernt werden, dass ein langer Stamm entsteht, der oben von den Aortenbögen gebildet wird und sich unten in die Umbilicalarterien theilt. Diese unteren Endäste bleiben aber die Umbilicalarterien nicht immer. Wenn sich die unteren Extremitäten des Embryo gebildet haben, so muss natürlich auch zu ihnen eine grosse Menge Blutes gebracht werden, ebenso zu den sich entwickelnden Beckenorganen. Zuerst gehen verhältnissmässig kleine Gefässe hin, die von diesen unteren Endästen abgehen ; nachher aber verlangen sie eine verhältnissmässig grosse Menge Blutes, so dass die Aeste für das Becken und die unteren Extremitäten als die Endäste der Aorta erscheinen. Es sind dies die Arteriae iliacae communes. Am oberen Ende des Arteriensystems bilden sich ausser diesen drei Aortenbögen nach v. Baer's Beobachtungen noch ein vierter und ein fünfter jederseits. Dafür fangen aber die oberen jetzt zu schwinden an, so dass zur Zeit nur drei vorhanden sind. Das, was von den oberen übrig bleibt, wird jederseits verwendet zur Carotis. Aus dem dritten von oben wird jederseits die Subclavia, der vierte von oben schwindet auf der rechten Seite, auf der linken Seite wird er in den bleibenden Arcus aortae um- gewandelt, die fünften und untersten jeder Seite geben die beiden Haupt- äste der Arteria pulmonalis und der linke ausserdem den Ductus arteriosus Botalli her. Der Stamm der Arteria pulmonalis wird nach Rokitansky gebildet, indem im Bulbus arteriosus ein Septum entsteht und so dieser ursprünglich einfache Stamm in zwei Stämme getrennt wird, von denen der eine der Arteria pulmonalis, der andere der Aorta angehört. Zu dieser Zeit wird auch das Herz getrennt, und zwar bildet sich ziTcrst im Ventrikel eine Furche von vorne nach hinten. Diese Furche Entwicielung der Venen. 331 gleicht sich bei den meisten Thieren später wieder aus, aber bei einigen Säugethieren, wie beim Dügong (Halicore), prägt sie sich noch stärker aus, so dass das Herz durch einen tiefen Einschnitt äusserlich schon in zwei Ventrikel getheilt ist. So wie sich diese Furche bildet, wächst parallel mit ihr im Innern die Herzscheidewand, anfangs als sichelförmige Leiste mit nach oben gerichteter Concavität. Die schliesslich noch blei- bende Lücke wird zum Ostium aorticum verwendet. Etwa gleichzeitig wächst eine Scheidewand im Vorhof von oben nach unten. Sie beginnt nach Rokitansky, dessen Untersuchungen wir hier folgen, an der linken Seite der Circumferenz des einmündenden Körpervenenstammes. Es ist dies das Septum atriorum. Es wächst hinab bis an das ursprünglich einfache Ostium atrioventriculare, das somit in ein rechtes und ein linkes getheilt wird. Hier vereinigt sich nun das Septum ventriculorum mit dem Septum atriorum. Ehe diese Vereinigung sich vollendet, wird nach Lindes und nach Rokitansky das Septum ati'iorum in bedeutender Ausdehnung netzförmig durchbrochen. Dieser Durchbruch ist zugleich die Anlage des Foramen ovale. Die Valvula foraminis ovalis ist eine spätere Bildung. Das sind mit der Bildung der Arterien für das sich ent- wickelnde ehylopoetische System die Hauptveränderungen, welche im Arteriensysteme vor sich gehen. Ich muss nur noch hinzufügen, dass eine der beiden Arteriae omphalomeserai'cae obliterirt, so dass später nur eine vorhanden ist, und dass diese eine es ist, welche dem Darmcanal die ersten Gefässe abgibt, so dass sich ihr Stamm, wenn die Cireulation durch die Nabelblase aufhört, als der Stamm einer Arteria meseraica seu mesen- terialis darstellt. Eiitwiekeluiig- der Venen. In der ersten Circulationsperiode, in der noch keine Allantois existirt lind die ernährende Cireulation noch durch die Kabelblase geht, da fliesst im Embryo noch verhältnissmässig wenig Blut. Die ersten grösseren Venen, die sich ausbilden, sind die sogenannten Cardinalvenen von Rathke. Für jede Hälfte des Körpers existirt eine obere und eine untere Cardinal- vene. Jederseits münden die obere und die untere Cardinalvene zusammen in einen kurzen, horizontal verlaufenden Stamm. Diese beiden Stämme, die so entstehen, sind die Ductus Cuvieri, welche zusammen in das venöse Ende des Herzens einmünden. Zugeführt wird dem Embryo das Blut durch die Vena omphalomeserai'ca, die allein noch übrig ist von den beiden Venae omphalomeserai'cae, indem die andere zu Grunde gegangen ist. Bei der weiteren Entwickelung des Embryo geht die Vena omphalomeserai'ea eine Verbindung mit der Leber ein. Sowie sich die Leber entwickelt, vertheilt sich die Vena omphalomeseraica in ihr und bildet auf diese Weise ein primitives Pfortadersystem. Zu gleicher Zeit aber entwickelt sich der Darmcanal, und es kommt also auch Blut von demselben, und zwar diu'ch eine Vene, welche als Vena meseraica zu benennen ist. Diese Vene mündet in die Vena omphalomeseraica ein, und durch diese geht ihr Blut zur Leber. Nun wächst aber der Darmcanal immer weiter, und die Nabelblase bleibt im "VVachsthum zurück und atrophirt endlich, so dass, während ursprünglich die Vena meseraica als ein kleiner Ast der 332 Entwickelung der Venen. Vena omphalomeseraica erschien, jetzt umgekehrt die Vena omphalo- meseraica einen kleinen Ast der Vena meserai'ca darstellt, und der Stamm dieser Vena meseraica, der in die Leber hineingeht, ist nichts Anderes als die Pfortader, der grosse Venenstamm, der das Blut des chylopoeti sehen Systems in die Leber hineinführt. Von den beiden IN'abelvenen schwindet auch die eine, und die andere geht gleichfalls eine Verbindung mit der Leber ein, so dass eine kurze Zeit lang die Leber mehr Blut von der Nabelvene als von der Vena omphalomeseraica erhält. Das ist aber ein vorübergehender Zustand. Es entvs^ickelt sich mit den unteren Extre- mitäten und den Beckenorganen zugleich eine grosse Vene vor der Wirbel- säule, und diese ist die Vena cava ascendens. Von der Vena umbilicalis bildet sich nun eine Anastomose zur Vena cava ascendens, welche hinter der Leber weggeht, und diese Anastomose ist der Ductus venosus Arantii. Auf diese Weise wird das Blut der Nabelvene wieder von der Leber ab- gelenkt und derjenige Zustand hergestellt, der sich später zur Zeit der Geburt vorfindet. Die ganze weitere Entwickelung des Venensystems der unteren Körperhälfte beruht nun auf der Entwickelung des Systems der unteren Hohlvene, in welche die Venen der unteren Extremitäten, der Geschlechtstheile, der Nieren u. s. w. einmünden, in der Weise, wie wir es noch zur Zeit der Geburt finden. Was wird nun aus den Cardinalvenen ? Die oberen gehen direct in die äusseren Jugularvenen über, während die inneren Jugularvenen eine spätere Bildung sind. Zu dieser Zeit aber tritt das Herz nach ab- wärts. Sie entsinnen sich, dass es in der ersten Zeit des embryonalen Lebens ganz hoch am Halse lag, dass es aber mit der Bildung des dritten, vierten, fünften Aortenbogens, die sich nach einander unter dem ersten und zweiten bildeten, immer weiter nach abwärts rückte. Mit dieser Lageveränderung ist es verbunden, dass die Ductus Cuvieri, die zuerst horizontal verliefen, jetzt mit einander einen nach oben offenen Winkel machen, schräg nach abwärts gerichtet sind. Die beiden von aussen und oben nach innen und unten verlaufenden Gefässe sind die beiden oberen Hohlvenen. Die obere Hohlvene ist von Hause aus doppelt. Bei den Amphibien und Reptilien, bei denen dieser Zustand persistirt, bezeichnet man diese Venen nicht mit dem Namen der oberen Hohlvenen, sondern mit dem Namen der Subclavien. Geht man aber auf die Entwickelungs- geschichte zurück, so muss man diese beiden Subclavien, die aus den Ductus Cuvieri entstanden sind, als die oberen Hohlvenen ansehen. Von ihnen persistirt beim Säugethiere und Menschen nur die rechte. Es bildet sich nämlich eine Anastomose von der linken oberen Hohlvene zur rechten und der Stamm der linken oberen Hohlvene obliterirt. Aus den unteren Cardinalvenen ist nun rechterseits die Vena azygos und linkerseits die Vena hemiazygos entstanden. Dass rechts eine Azygos und links eine Hemiazygos entsteht, hängt damit zusammen, dass der Stamm der linken oberen Hohlvene, der linke Ductus Cuvieri zu Grunde geht und nur der rechte persistirt. Auf diese Weise stellt sich der Zu- stand her, welchen man als den Zustand der zweiten Circulationsperiode bezeichnet, und der bis zur Geburt dauert. Der schwangere Uterus. 333 Der schwangere Uterus. Während der Zeit der Gestation wäclist, wie Sie wissen, der Uterus bedeutend an Masse, und zwar kommt diese Massenzunahme wesentlich her von der Vermehi'ung der Muskelfasern, der Blutgefässe und des Blutes in den letzteren. Anfangs überwiegt die Dickenzunahme über die Ausdehnung des Uterus. Später aber bleibt diese Massenzunahme hinter der Ausdehnung zurück, so dass sich danu die Wandungen des Uterus verdünnen. E^ach Braxton Hicks soll der Uterus vom dritten Monate an leichte periodische Zusammenziehungen machen, welche drei bis fünf Minuten anhalten, und die man durch die aufgelegte Hand fühlen kann. Er legt auf diese Contractionen einen grossen Werth als auf ein diagno- stisches Hilfsmittel, um eine normale Schwangerschaft von einer extra- uterinen oder von einer Geschwulst zu unterscheiden. Wenn die Zeit der Gestation zu Ende geht, so vermindert sich die Menge des Frucht- wassers etwas. Es verdünnt sich zuletzt die Cervicalportion des Uterus, und es bereitet sich auf diese Weise der Act der Entbindung vor. Die Grebiirt. Wir wollen nur die mechanischen Grundsätze kennen lernen, nach denen das Kind aus dem Uterus ausgetrieben wird, da die Einzelheiten ausführlich in der Geburtshilfe gelehrt werden. Es wird durch die Zu- sammenziehungen des Uterus ausgetrieben, aber sö, dass der Uterus zu- nächst nicht auf das Kind selbst, sondern auf das Fruchtwasser drückt, das ist auf den Liquor Amnii. Dies ist von wesentlicher Bedeutung nicht allein für die Sicherheit und die Erhaltung des Kindes, sondern nament- lich für die Erweiterung des Muttermundes, indem nach einem bekannten physikalischen Gesetze der Druck in einer Flüssigkeit nach allen Bich- tungen sich mit gleicher Stärke fortpflanzt und deshalb die Blase, das heisst der Theil der Eihäute, der in das Orificium uteri hineingetrieben wird, viel mehr geeignet ist, das Orificium uteri zu erweitern, als irgend ein Kindestheil, der in denselben hineingedrängt werden könnte. Der alte Anatom und Geburtshelfer R ö d e r e r sagte schon , die Blase er- weitere den Muttermund wie ein Cuncus aquosus, wie ein aus Wasser gebildeter Keil. Es ist eine bekannte Thatsache, dass wenn die Blase einmal ge- sprungen ist, in der Regel die Geburt rascher vorwärts geht. Deshalb kam man einmal auf die Idee, die Geburt dadurch zu beschleunigen, dass man die Eihäute frühzeitig zerriss, die Blase sprengte. Der Erfolg war aber dui'chaus das Gegentheil von dem, was man erwartete. Die Geburt ging sehr langsam vorwärts, xmd man war häufig genöthigt, schliesslich die Zange anzuwenden und das Kind aus dem Uterus heraus- zuholen. Das lag daran, dass hier die Eihäute zu einer Zeit gesprengt waren, wo der vordringende Kopf des Kindes sich noch nicht in das eröffnete Os uteri hineindrängen konnte, weil dasselbe noch nicht hin- reichend erweitert war. I^ormalerweise ist der Voi'gang folgender. Es erweitert die Blase den Muttermund so weit, dass der Kopf in denselben 334 Das Kind nach der Geburt. sich hineindrängen kann, und wenn dies geschehen ist, dann übt der Kopf mit dem nachdrängenden Körper des Kindes anf den Theil des Fruchtwassers, welcher anf diese Weise in der Blase, das heisst in dem in den Muttermund hineinragenden Theil der Eihäute, durch den Kopf gleichsam wie durch einen Stöpsel abgetrennt wird, einen Druck aus, der in der Regel hinreicht, um die Blase zu sprengen. Nun ist die Oeffnung, das Orificium uteri externum, so erweitert, dass der Kopf selbst sich durchdrängen kann. Es werden auch heute noch Blasen zersprengt, aber nux dann, wenn sie so ausserordentlich zähe und widerstandsfähig sind, dass sie selbst in dieser Periode noch nicht zerreissen ; aber diese Pe- riode wird jetzt mit vollem Rechte von den Geburtshelfern allgemein abgewartet. Nachdem das Kind aus dem Uterus herausgetrieben ist, kann sich derselbe auf einen viel kleineren Raum zusammenziehen. Damit hängt dreierlei zusammen. Erstens das Auspressen des Blutes aus der Placenta foetalis. Dieses Blut geht in das Kind über, während die Zusamnien- ziehung der Nabelarterien den Eintritt neuen Fötalblutes in die Placenta hindert. Hiedurch erfährt das Kind in den ersten Minuten des extra- uterinen Lebens nach A. Schücking eine Gewichtszunahme von 30 bis 110 Gramm. Es ist nach ihm fehlerhaft, die Nabelschnur sofort nach der Geburt zu unterbinden, da man hiedurch dem Kinde einen Theil des ihm sonst zukommenden Blutes vorenthält. G. Vi ölet dagegen legt auf den so erzeugten Blutreichthum keinen Werth. Er verstärkt nach ihm nur den Icterus neonatorum, die Gelbsucht der Neugebornen, die er ausschliesslich vom Zugrundegehen des Ueberflusses an rothen Blut- körperchen herleitet. In der Praxis ist es schon seit sehr langer Zeit Regel gewesen, die Nabelschnur erst dann zu unterbinden, wenn sie auf- gehört hat zu klopfen, zu pulsiren. Zweitens hängt damit zusammen die Loslösung der Placenta, die schon durch trophische Vorgänge in der letzten Zeit der Schwangerschaft vorbereitet ist, und die jetzt erfolgt. Drittens hängt damit zusammen die Compression der Lumina der Gefässe, die bei der Ablösung der Placenta zerreissen. Denn obgleich hier Ge- fässe von der Dicke eines Federkiels zerreissen, so tritt doch in gewöhn- lichen Fällen keine das Leben irgendwie gefährdende Blutung ein, weil eben die Zusammenziehung des Uterus die Lumina der Gefässe, die durchrissen sind, verschliesst. Das ist auch der Grund, weshalb gefähr- liche Blutungen eintreten, wenn sich die Placenta zu einer Zeit loslöst, zu welcher das Kind sich noch im Uterus befindet, wo also der Uterus sich nicht zusammenziehen kann. Auch wenn nach der Geburt des Kindes heftige Blutungen eintreten und die Placenta noch im Uterus zurück- geblieben ist, löst man sie und befördert sie vollständig heraus, damit der Uterus sich auf ein möglichst kleines Volumen zusammenziehen und auf diese Weise die durchrissenen Gefässlumina verschliessen könne. Das Kind nach der €fel>urt. Welches sind nun die Veränderungen, die mit dem Kinde un- mittelbar nach der Geburt vor sich gehen, welches sind die Ursachen des ersten Athemzuges, und welches sind die Ursachen der Veränderungen Das Kind nach der Gebart. ödO in der Circulation? Der erste Atbemzug hat zunächst seinen Grund in der venösen Beschaffenheit des Elutes. Sobald das Kind einmal aus dem Uterus heraus ist, auch wenn es noch mit der Isabelschnur in Verbindung ist, wird sein Blut nicht mehr in der früheren Weise durch das Pla- centarblut säuerst off artig gemacht, weil der Uterus sich zusammenzieht und deshalb die Circulation durch die Placenta nicht mehr in der früheren Weise vor sich geht. Es ist schon erwähnt worden, dass man dieses Venöswerden des Blutes nach der Rosenthal'schen Theorie als die Ursache des ersten Athemzuges ansehen mnss, und dass dies auch seine Be- stätigung darin findet, dass Kinder, bei denen im Mutterleibe die ISTabel- schnur comprimirt wird, Inspirationsbewegungen machen, bei welchen sie das Fruchtwasser aspiriren. Prej^er sah Meerschweinchen auch inner- halb des Uterus und bei erhaltener Placentarcirculation athmen, wenn ihr Kopf in einer dafür gemachten Wandöffnung steckte ; ja wenn der Uterus ga^ nicht eröffnet, sondern nnr in denselben eine farbstoff haltige Flüssigkeit gespritzt war, so aspirirten sie diese mit dem Fruchtwasser, sobald sie gestochen oder gestossen wurden. Verschiedene Reflexreize waren also geeignet, Inspirationsbewegungen auszulösen. Es beweisen diese Beobachtungen aber nicht, dass die Verarmung des Blutes an Sauer- stoff als solche nicht die Ursache für den ersten Athemzug abgeben könne. Ein Anregungsmittel für den ersten Athemzug liegt auch offenbar in der Berührung der Haut mit der atmosphärischen Luft nnd in dem Temperatur- wechsel, dem das Kind ansgesetzt ist. Es ist bekannt, dass Erwachsene, und noch mehr Kinder, wenn sie in ein kaltes Bad hineinsteigen, häufig zu einer heftigen Inspirationsbewegung reflectorisch angeregt werden. Es ist ebenso bekannt, dass es bei asphyktisch geborenen Kindern zu den wirksamsten Wiederbelebungsmitteln gehört, dass man sie in ein warmes Bad hineintaucht, sie dann ans demselben heraushebt, ihnen aus einem >Schwamme kaltes Wasser auf die Brust herunterfliessen lässt und diese Operation mehrmals wiederholt. Mit dem Beginne des ersten Athemzuges hängt aber nun die Ver- änderung in der Circulation aufs Innigste zusammen. Bis jetzt war die Lnnge luftleer nnd auf einen kleinen Raum zurückgedrängt, an der Rückseite des Thorax zu beiden Seiten des Herzens gelegen. Wenn nun aber der Thorax ausgedehnt wird, so tritt Luft in die Lunge ein. Diese Luft tritt nur deshalb in die Lunge ein, weil im Thorax ein negativer Druck entsteht, das heisst, weil der Druck unter den der Atmosphäre sinkt. Aus demselben Grunde aber, aus welchem in die Luftwege der Lunge von aussen her die atmosphärische Luft eingesaugt wird, aus dem- selben Grunde muss auch in die Blutgefässe der Lunge das Blut ein- gesaugt werden, und zwar dasjenige Blut, das aus dem rechten Herzen hervorgeht und das bisher durch den Ductus arteriosus Botalli in die Aorta hineinging. Wenn man bedenkt, dass die Aorta schon Blut aus dem linken Ventrikel bekommt, dass also in derselben ein beträchtlicher Druck herrscht, so ist es klar, dass für das Blut, das aus dem rechten Ventrikel kommt, nun nicht mehr der Weg durch den Ductus arteriosus Botalli der Weg des geringsten Widerstandes ist, sondern dass es dei*- jenige sein muss, der in die Lungenschlagadern führt. Da nun Flüssig- keiten unter allen Umständen den Weg des kleinsten Widerstandes gehen, so ist es auch ganz klar, dass das Blut aus dem rechten A'entrikel nicht 336 Das Kind nach der Gebart. mehr durch den Ductus arteriosus Botalli, sondern in die Pulmonalarterie hineingehen wird. Zugleich entsteht offenbar in der Musculatur des Ductus arteriosus, wahrscheinlich auf reflectorischera Wege angelegt, eine Zusammenziehung, so dass er sein Lumen immer mehr und endlich bis auf ein Verschwinden desselben yerengert. Dadurch wird die spätere Obliteration des Ductus arteriosus Botalli eingeleitet, die wahrscheinlich in ähnlicher Weise wie die Obliteration eines jeden Gefässes erfolgt, durch welches das Blut nicht mehr hindurchcirculirt. Sie wissen, dass, wenn man ein Gefäss unterbindet, dieses sieh nicht allein an der Unter- bindungsstelle schliesst, sondern dass es obliterirt, so weit der Thrombus in dem Gefdsse hinaufreicht so weit eben keine Cireulation durch das Gefäss mehr stattfindet. Eine ähnliche Contraction findet offenbar in den Nabelarterien statt. Es zeigt sich dies in dem gänzlichen Aufhören der Cireulation durch den Nabelstrang. Wenn man das Kind zwischen die Schenkel der Mutter legt, während die Placenta noch im Uterus ist, und man fühlt von Zeit zu Zeit die Nabelschnur an, so wird man bemerken, dass sie schwächer und schwächer klopft und endlich zu klopfen aufhört. Wenn man sie jetzt durchschneidet, so spritzt nicht etwa das Blut heraus, sondern es fliessen nur wenige Tropfen Blutes heraus, und man kann sie mit aller Müsse unterbinden. Ja man kann sie sogar in der Mehrzahl der Fälle ununterbunden lassen, ohne dass das Kind sich verblutet. Es ist das ein Experiment, das nicht einmal, sondern oftmals und öfter gemacht worden ist, als es gut war. Unter einem Theile der Geburtshelfer hatte sich einmal die Vorstellung gebildet, dass die Unterbindung der Nabelschnur allerhand Nachkrankheiten zur Eolge habe. Sie sei etwas Unnatürliches, denn das Vieh unterbinde die Nabelschnur nicht, sondern beisse sie nur durch. Es wurde also thatsächlich in einer Reihe von Fällen die Nabelschnur nicht unterbunden, sondern man wartete, bis sie aufgehört hatte zu klopfen, und dann durchschnitt man sie. In der Mehrzahl der Fälle trat hiebei durchaus keine irgendwie nennens- werthe Blutung ein, dann aber passirten einige Unglücksfälle ; es hatte sich eben die Muskulatur der Nabelschnur noch nicht hinreichend zu- sammengezogen, oder die Zusammenziehung hatte nicht angehalten, es verbluteten sich ein paar Kinder, und seitdem wurde die Nabelschnur nach wie vor unterbunden. Die Contraction ist in ihren Folgen auch noch an Leichen junger Kinder nachweisbar. Das Blutgerinnsel in der Arterie ist fadenförmig verdünnt oder vollständig unterbrochen. Nur ausnahmsweise setzt es sich mit weniger verringertem Querschnitt vom intraabdominellen Theile des Gefässes in den Nabelstrang fort. Wir haben schon, als wir vom Bau der Arterien im Allgemeinen sprachen, gesehen , wie die Nabelarterien durch ihren Bau mehr als andere Schlagadern für den Selbstverschluss geeignet sind. Namentlich sind es der Mangel der elastischen Intima und die nach innen von den Eing- fasern liegenden Längsfasern, die ihnen hierbei zu . statten kommen. Letztere werden unter dem Druck der Eingfasern einseitig zusammen- gedrängt, so dass der Querschnitt des Lumens erst halbmond-, dann neu- mondförmig wird und endlich als lineares Bogenstück gänzlich ver- schwindet. Strawinski hat diesen Vorgang durch Untersuchungen an Leichen klargelegt und durch Abbildungen erläutert. Entwickelung der Gewete. 337 Auf diese Weise ist derjenige Zustand hergestellt, wie er dem Extrauterinleben gemäss ist, und hat auch die Circulation diejenige Gestalt angenommen, welche von nun an bleibt. Das Foramen ovale schliesst sich theils, theils bleibt es lange Zeit, oft das ganze Leben hindurch offen, ohne dass dadurch nothwendig bedeutende Störungen in der Circulation eintreten, weil eben das Blut aus den beiden Vorhöfen doch immer mit Leichtigkeit gegen den Ort des kleinsten Widerstandes, gegen den entsprechenden Ventrikel zu fällt. EntWickelung der Gewebe (Histogenesis). Die Horngebilde. Die Oberhaut. Wir machen den Anfang mit den Horngebilden, mit den Producten des Hornblattes. Aus dem Hornblatte geht zunächst die Oberhaut hervor. Diese besteht, wie Sie wissen, aus Zellen, die in ihrer untersten Schichte höher sind als breit, auf die dann mehrere Lagen von polyedrischen Zellen und nach oben zu mehr abgeplattete Zellen folgen, die dann endlich so weit abgeplattet sind, dass sie dünne Lamellen darstellen, dicht an ein- ander kleben, und die Kerne undeutlich werden. Das ist dann die eigent- liche Hornschicht der Oberhaut, während man die tiefer liegenden suc- culenten Schichten als Rete mucosum Malpighii bezeichnet. Es ist bekannt, dass sie sich immer aus der Tiefe regenerirt. Einzelne haben sogar in neuerer Zeit angenommen, dass die untersten Zellen der Oberhaut aus dem darunter liegenden Bindegewebe hervorwachsen können. Es scheint das aber nicht so zu sein, es scheint, dass die Horngebilde sich immer nur regeneriren aus Keimen, die ihrer eigenen Art angehören. Es spricht dafür erstens die Entwickelung aller Epidermoidalgebilde aus dem Remak- schen Hornblatte beim Embryo, und zweitens sprechen dafür auch die Versuche, welche in neuerer Zeit mit dem sogenannten Pfropfen oder Oculiren der Epidermis gemacht worden sind. Man war bei Wunden, welche vernarben, immer im Zweifel, ob der Vernarbungsprocess blos erfolgt von den Wundrändern aus, indem von da aus die Zellen des Hornblattes gewissermassen auf die Wandfläche hinüberkriechen, oder dadurch, dass aus der Tiefe Keime für neue Horngebilde nachrücken. Zu dieser letzteren Ansicht gaben die sogenaimten Inseln Veranlassung, die mit Epidermis überzogenen Elecke in der Mitte einer grösseren Wund- fläehe. Es scheint aber doch, dass sie stets, wenn auch schmale, Ver- bindungen gegen die Epidermis haben, dass es Strassen gibt, wo die Epidermiszellen vom Eande gegen die Mitte vorrücken, und dass sie nur an den Stellen, die wir als Inseln erkennen, eine grössere Ausbreitung gewonnen haben. Diese Ansicht hat eine Stütze erhalten durch die Er- fahrung, dass man den Vernarbungsprocess sehr beschleunigen kann, indem man auf die Mitte der Wundfläehe ein ganz dünn abgeschnittenes Stück von Epidermis, an dem sich noch das lebende Rete Malpighii befindet, aufpflanzt: es befestigt sich, und von ihm geht durch Zellenbildung die Brücke. Vorlesungen. II. 4. Aufl. 22 338 Entwickelung der Nägel. weitere Vernarbung aus. Die Franzosen bezeichnen ein so aufgepflanztes Epidermisstück als Greffe epidermique, indem sie den Process mit dem Pfropfen oder Oculiren der Bäume vergleichen. Die Nägel. Zu den Epidermoidalgebilden gehören auch die Nägel. Man kann, wenn man den Finger einer Leiche in siedendes Wasser steckt, wenn man ihn abbrüht, die ganze Epidermis und mit ihr den Nagel herunter- nehmen. Das Lösen der Epidermis beim Abbrühen entsteht dadurch, dass man die unteren succulenten Schichten des Pete Malpighii ganz mürbe und zerreisslich macht, so dass die feste Epidermis sich von der unterliegenden gefässreichen Cutis loslöst. Man sieht dann, dass der Nagel nicht auf der Cutis als solcher, sondern auf einer Epidermisschicht aufliegt. Der Nagel selbst besteht aus Epidermiszellen. Man erkennt das zwar nicht, wenn man einfach Durchschnitte macht und sie unter das Mikroskop legt : man sieht es aber wohl, wenn man diese Durchschnitte vorher in kohlensaurem Natron oder Kali macerirt hat. Dann quellen die verhornten Zellen wieder auf, und es zeigt sich aufs Deutlichste die Zusammensetzung des ganzen Nagels aus Epidermiszellen. Der Nagel ist eingelassen in eine Epidermisfalte , in den sogenannten Nagelfalz , und wenn man diesen zurückschiebt, oft auch schon, ohne dass man dies thut, sieht man eine halbmondförmige weissliche Stelle. Diese Stelle ist die sogenannte Lunula, die Stelle, an der die neuen Nagelzellen ent- stehen, und von der aus der Nagel wächst. Der Nagel hat kein inter- stitielles Wachsthum , er wächst durch Apposition an seinem hinteren Ende. Wenn man zwei Feilstriche in den Nagel macht und deren Ent- fernung von Zeit zu Zeit misst, so findet man, dass sie immer dieselbe bleibt, dass aber beide Feilstriche immer nach vorne rücken. Der Nagel muss deshalb auf dem Nagelbette fortrutschen, und das thut er auch. Er hat dabei in der Structur des Nagelbettes eine eigenthümliche Leitung und Führung, indem das Nagelbett der Länge nach gerifft ist, so dass hiedurch dem Nagel bei seinem Vorrücken immer eine bestimmte Kich- tung vorgeschrieben ist. Diese Riffe erstrecken sich auch auf die darunter- liegende Cutis, und in dieselben gehen Capillargefässe hinein. Indem der Nagel nun auf dem Nagelbette fortrutscht, bringt er von den Epi- dermiszellen, die zunächst unter ihm liegen (denn er selbst ist ja von der Cutis durch eine Lage von Epidermiszellen getrennt), eine Portion mit nach vorne. In der Regel gehen diese beim Waschen und Reinigen mit fort, so dass man nichts von ihnen bemerkt, aber an Spitalsleichen hat man nicht selten Gelegenheit, zu sehen, dass sich bedeutende Massen unter den Fussnägeln angesammelt haben, die, wenn man sie näher unter- sucht, sich als aus lauter Epidermiszellen bestehend erweisen. Wir kürzen bekanntlich unsere Nägel, wir schneiden sie ab. Wenn sie nicht gekürzt werden, so erlangen sie eine bedeutende Länge und wachsen zu einer förmlichen Kralle aus. In Berlin befinden sich auf dem anatomischen Museum ein Paar Finger von einem malayischen Häuptlinge, die von Sehönlein an das Museum geschenkt worden sind. An diesen sind diese Krallen zu sehen. Die Malayenhäuptlinge, um zu Entwickehing der Haare. ööu zeigen, dass sie nicht zu arbeiten brauchen, lassen ihre jSTägel wachsen und schützen sie sogar durch Futterale. Die Nägel sind in doppelter Weise gekrümmt, erstens im Querdurchmesser, wie man dies ja auch, wenn auch schwächer, an jedem geschnittenen Nagel sieht, und zweitens im Längsdurchmesser nach abwärts. Sie stellen also umgekehrte, nach dem Lauf gekrümmte Rinnen dar. Die Haare. Das Haar besteht aus dreierlei Substanzen. Am Haarschaft unter- scheidet man erstens eine äusserliche Schicht you dünnen, plattenartigen Zellen, die mit ihren Rändern dachziegelförmig übereinander liegen und die Cuticula des Haares bilden. Wenn man das Haar mit Schwefelsäure betupft, so löst sich diese Cuticula in Lappen von der Oberfläche des Haares ab. Darunter liegt die Substantia propria. Sie besteht aus Zellen, die nach beiden Enden spitz zulaufen, aus Spindeln, welche sich gegen einander abgeplattet haben und dadurch kantig geworden sind. Sie bilden bei Weitem die Hauptmasse des ganzen Haares. Nur in der Mitte liegt noch die sogenannte Marksubstanz. Diese besteht aus unregelmässig ge- J,^" stalteten Zellen , welche von der \^ = Haarzwiebel aus , dem untersten, verdickten Theile des Haares, den j, \ wir bald besprechen werden, nach oben vox'geschoben worden sind. Das ""^ ^ Mark des Haares geht aber keines- wegs immer continuirlich durch das ganze Haar hindurch, sondern es lässt nicht selten bedeutende Lücken h\fi zwischen sich, so dass es nur stellen- ' \^^<^^\'^ ^v^ weise und mit Unterbrechungen im /f Innern des Haares abgelagert ist, und fehlt in vielen Fällen ganz. Nach unten zu verdickt sich das -s: Haar und geht in die Haarzwiebel über. Diese steckt mit einem Theile des Haares im Haarbalge und ist auf der Haarpapille, der Papilla pili, befestigt. Der Haarbalg ist als eine Ausstülpung der Cutis in das subcutane Bindegewebe zu betrachten. Manchmal ragen auch, wie bei den Bart- haaren am Kinn die Wurzeln der Haare bis zwischen die einzelnen Muskelbündel hinein. Diese bindegewebige Ausstülpung geht nach unten in das subcutane Bindegewebe über, und Dr. Werthheim hat darauf aufmerksam gemacht, dass immer zu dem Grunde des Haarbalges ein eigener Bindegewebsstrang, wie ein Stiel, hingeht. Auf die bindegewebige Schicht des Haarbalges, in der zugleich die Gefässe desselben enthalten sind, folgt nach innen zu eine eigenthümliche Fasersehicht. Die Fasern sind der Quere nach ringförmig angeordnet und haben sehr stark ver- längerte Kerne, ähnlich lange Kerne, wie sie die glatten Muskolfasern 22* 340 Entwickelung der Haare. besitzen. Mau kennt aber an diesen Fasern bis jetzt keine Contractions- ersclieinungen. Auf diese Eiugfaserschicht des Haarbalges folgt die so- genannte Glashaut, eine dünne Haut, an der man keine eigentliche Structur erkennen kann, an der man nur mehrfach in spitzen Winkeln sich durchkreuzende quere Linien sieht. Ein Querschnitt durch den Haarbalg (Figur 102) zeigt dieselbe in a. Diese Glashaut grenzt den eigentlichen Haarbalg gegen die sogenannten Wurzelscheiden des Haares ab. Wurzelscheiden des Haares gibt es zwei, eine äussere und eine innere. Die äussere (Figur 102 h) Warzeischeide ist eine directe Fortsetzung des Rete Malpighii und besteht aus denselben succulenten Zellen wie dieses. Die Entwickelung und die Bedeutung der inneren Wurzelscheide werden wir später noch kennen lernen. Ich will jetzt nur darauf aufmerksam machen, dass die innere Wurzelscheide den Raum zwischen der äusseren Wurzelseheide und dem Haare ausfüllt, und dass sie aus zwei Schichten besteht, einer äusseren Schicht (Figur 102 c) von länglichen, durch- sichtigen, kernlosen Zellen, welche gewöhnlich so aneinandergefügt sind, dass sie Spalträume zwischen sich lassen: dies ist die Henle'sche Schicht. Darauf folgt nach innen eine Schicht von dickeren, kernhaltigen, aber gleichfalls glasartig durchsichtigen Zellen : das ist die Huxley'sche Schicht (Figur 102 d). Im oberen Theile der inneren Wurzelscheide sind nicht selten alle Kerne geschwunden und die Zellengrenzen unsichtbar geworden, so dass hier die innere Wurzelscheide das Bild einer Glashaut darbietet. Nach unten ist das Haar, wie gesagt, auf die Papilla pili aufgesetzt, zu welcher ernährende Blutgefässe hingehen. In ihrem oberflächlichen Theile besteht dieselbe ganz aus polyedrischen Zellen, und auf diesen keimen nun die jungen Zellen, welche sich in die Substanz des Haares umwandeln. Die äussersten verwandeln sich in die Cuticula des Haares, dann die Hauptmasse in die Substantia propria desselben : zunächst der Axe aber befindet sich häufig eine Quantität von Zellen, welche nicht spindel- förmig auswachsen, sondern unregelmässig gestaltet bleiben, gewissermassen verkümmern, und in die Axe des Haares beim Wachsthum als sogenannte Marksubstanz mit heraufgeschoben werden. Die verschiedenen Haare unterscheiden sich von einander durch ihre Farbe und durch die Gestalt des Querschnittes. Bei den dunkel- pigmentirten Haaren, bei den schwarzen und braunen, ist das ganze Haar gefärbt. Im mikroskopischen Bilde erscheint die Färbung in der Marksubstanz des Haares am dunkelsten, was aber zum Theil, vielleicht gänzlich, von der Aggregation der Zellen herrührt, indem die Substantia propria fester gefügt ist und deshalb das Licht gleichmässiger durchlässt als die Marksubstanz mit den unregelmässigen Zellen und dem zum Theil mit Luft gefüllten Räumen zwischen ihnen. Im Alter ergrauen bekanntlich die Haare. Dieses Ergrauen hat in zweierlei Dingen seinen Grund. Zunächst in dem Eintritte von Luft. Wenn die Marksubstanz und die Zellen der Substantia propria durch Eintrocknen an Volum ver- lieren, so dringt von aussen her durch die Spalträume, die sich immer in der Substantia propria finden, nach und nach immer mehr Luft in das Haar ein, und wegen der starken Reflexion, welche das Licht er- leidet, wenn es aus der stark lichtbrechenden Hornsubstanz in die schwach lichtbrechende Luft übergehen soll, erhält das Haar einen silbergrauen Entwickelung der Haare. 341 Schimmer. Das völlige Weisswerden des Haares beruht dann auch auf dem Schwunde des Pigments. Bei dem eigenthlimlichen Silberglanze des Haares der Greise spielt aber immer die Luft, die in das Haar eingetreten ist, eine wesentliche Rolle. Denn selbst das Haar der Albinos, der pigmentlosen Individuen, ist, so lange dieselben jung sind, nicht so silberglänzend wie das Haar eines Greises, der in seiner Jugend ganz schwarzes Haar gehabt hat, indem zwar das Haar des Albinos nicht pigmentirt ist, aber noch, nicht die Menge Luft in demselben enthalten ist, wie sie sich im Haare der Greise vorfindet. Der Querschnitt der Haare ist im Allgemeinen elliptisch, aber sie unterscheiden sich in mehr drehrunde und in mehr platte. Je drehrunder das Haar ist, um so schlichter ist es, weil ein Cylinder immer weniger Neigung hat, sich zu biegen, als eine Platte oder ein Streifen. Je platter das Haar ist, um so mehr ISTeigung hat es, sich zu kräuseln, und das platteste unter allen Haaren ist das Wollhaar der Neger. Die Entwickelung des ganzen Haares geht vom Hornblatte aus. Das Hornblatt treibt zuerst kleine Zapfen in die darunterliegende Cutis, in das darunterliegende Bindegewebe hinein, oder richtiger gesagt, es bilden sich, in der sich entwickelnden Cutis bestimmte Stellen, wo dieselbe nicht in der Weise, wie an den übrigen, nach aufwärts wächst, wo also da- durch, indem das Bindegewebe ja in Contact bleibt mit dem Hornblatte, zapfenförmige Portsätze vom Hornblatte in die Tiefe hineingezogen werden und in die Tiefe hineinwachsen können. Diese zapfenförmigen Fortsätze, die aus denselben Zellen bestehen wie das ganze Hornblatt, sind die An- lage des Haares. Ein solcher Zapfen bekommt nun an seinem unteren Ende einen Eindruck und dabei eine mehr birnförmige Gestalt. In diesem Eindrucke, den er unten bekommt, liegt die sich entwickelnde Papilla pili. Zugleich metamorphosirt sich ein Theil der Zellen in der Weise, dass sie sich nicht mehr polyedrisch gegen einander abplatten, sondern dass sie spindelförmig auswachsen, sich aber so an einander drücken, dass sie kantig werden und sich zu einer festeren Substanz, zur Substantia propria des Haares, vereinigen. Nach aussen davon bildet sich eine Schicht von platten Zellen, die Cuticula, und nach aussen von dieser metamorphosiren sich Zellen zu der nachherigen Henle'schen und Huxley'schen Schichte. Die nachherige äussere Wurzelscheide behält ihre frühere Beschaffenheit, indem ihre Zellen mit denen des Rete Malpighii übereinstimmen. Die Metamor- phose bezieht sich auf den kegelförmigen Raum, der sich immer mehr in die Länge auszieht, und dessen äussere Grenze die innere Wurzelscheide ist, die Sie sich anfangs als oben geschlossen denken müssen. In ihr liegt schon das junge Haar, das sich immer mehr verlängert, indem von der Papilla pili aus immer neue Zellen nachwachsen und so den gebildeten jungen Haarschaft immer weiter nach oben schieben. Er löst sich dabei in seinem oberen Theile von seiner Umgebung los und fängt an, sich an seiner Spitze umzubiegen. Zu dieser Zeit aber ist das ganze Gebilde mehr an die Oberfläche gerückt: an der Oberfläche reiben sich die Epidermis- zellen ab, stossen sich ab, und so wii'd am Ende die Spitze des Haares frei, steckt nun aus dem Haarbalge heraus und kann frei weiter wachsen. Deshalb begrenzt sich auch am Halse des jungen Haarschaftes die innere Wurzelscheide, die von demselben durchbrochen worden ist, während sich die äussere Wurzelscheide direct in das Rete Malpighii der benachbarten 342 Der Knorpel. Epidermis fortsetzt. Während sich, das Haar entwickelt, entwickeln sich noch ein paar seitliche Zapfen, die sich gleichfalls mit Zellen des Horn- blattes anfüllen, ganz in derselben Weise indem eben eine bestimmte Stelle des Bindegewebes nicht weiter wächst, und dadurch Kaum gegeben wird für das Hineinwuchern einer Quantität von Zellen des Hornblattes. Diese Zellen, die den ganzen Zapfen ausfüllen, bis sich später ein Aus- führungsgang in demselben gebildet hat, sind nichts Anderes als das Enchym der Talgdrüsen, die Secretionszellen derselben. Die äussere Partie des Haarbalgs aber mit dem M. arrector pili, der sich an denselben an- setzt und dann zur Cutis hingeht, sind Bildungen, die aus dem mittleren Keimblatte hervorgehen. Die ersten Haare, welche das Kind mit auf die Welt bringt, die Plaumhaare, fallen aus und werden durch neue ersetzt. Beim Haarwechsel lockert sich die Verbindung zwischen der Papilla pili und dem Haare, indem die Keimschicht abstirbt. Die Papille schwindet, das Haar lockert sich im Haarbalge und fällt aus. Man findet oft Haare noch im Haarbalge stecken, an denen die Papille sammt den succulenten Zellen des Bulbus schon geschwunden ist, und an denen dann die übriggebliebenen Horn- gebilde des letzteren eine Gruppe von struppigen Enden darstellen. Gleich- zeitig entwickelt sieh in demselben Haarbalge ein neuer Keim, aus welchem ganz in derselben Weise, wie früher, ein neues Haar hervorgeht und in dem alten Haarbalge fortwächst. Der Knorpel. Stellen im Embryo, an denen sich Knorpel entwickelt, zeichnen sich auf mikroskopischen Schnitten von ihrer Umgebung zunächst dadurch aus, dass sie lichter, durchsichtiger werden. Dabei rücken die einzelnen Embryonalzellen von einander, und es lagert sich zwischen ihnen eine Zwischensubstanz ab, die aber selbst Product der Zellen ist, die durch Metamorphose der eigenen Substanz der Zellen entstanden ist. Dies ist die sogenannte hyaline Zwischensubstanz des Knorpels, nach welcher der gewöhnliche Knorpel „hyaliner Knorpel" genannt wird. Knorpel, bei denen sie in sehr geringer Menge vorhanden ist, so dass der ganze Knorpel im Durchschnitte, wenn Sie sich die Zellen aus demselben herausgefallen denken, wie ein ÜSTetz erscheinen würde, hat man auch Netzknorpel ge- nannt. Als Netzknorpel im eigentlichen Sinne pflegt man indessen eine bestimmte Art sehr biegsamen gelblichen Knorpels zu bezeichnen, wie er z. B. in der Ohrmuschel des Menschen vorkommt. Hier ist die Zwischen- substanz mit zahlreichen iind dünnen elastischen Fasern derartig durch- zogen, dass dieselben ein dichtes Netzwerk bilden. Noch bestimmter be- zeichnet man diesen Knorpel als Netzfaserknorpel, auch nennt man ihn wohl gelben oder elastischen Knorpel. Bisweilen entwickelt sich im hyalinen Knorpel die Zwischensubstanz so stark, dass die ursprünglichen Knorpel- zellen ganz vereinzelt in ihr gefunden werden, so dass, wenn man einen Schnitt von solchem Knorpel unter dem Mikroskope bei starker Ver- grösserung ansieht, man oft nur zwei oder drei Knorpelzellen im Sehfelde hat. Solcher Knorpel kommt aber im menschlichen Körper nicht vor, er kommt namentlich bei den Eischen vor. Das Bindegewebe. 343 Die hyaline Zwischensubstanz des Knorpels kann wiederum ver- schiedene secundäre Veränderungen erleiden, sie kann körnig werden oder streifig, faserig, so dass es aussieht, als ob sie aus Fasern zusammengewebt wäre. Das aber, was wir gewöhnlich Faserknorpel nennen, ist nicht davon faserig, dass die hyaline Grundsubstanz zerfasert wäre; der sogenannte Faserknorpel ist Bindegewebe, beziehungsweise fibröses Gewebe, in welches Knorpelzellen einzeln oder in Nestern eingesprengt sind. Das Bindegewebe. lieber die Entwickelung des gemeinen Bindegewebes und des fibrösen Gewebes ist ein langer Streit geführt worden, indem die Einen die Binde- gewebsfasei'n aus Zellen hervorgehen lassen, die Andern aber nur die Bindegewebskörperchen von Zellen ableiten, die Fasern dagegen aus einer Zwischensubstanz, welche sich secundär zwischen diesen Zellen bilden soll. Ich kann dieser letzteren Ansicht nicht beitreten. Ich bin der Ansicht, dass sich die Bindegewebsfasern sämmtlich aus Zellen entwickelt haben, von den Zellen gebildet, gesponnen worden sind. Wenn man die frühesten Stadien des Bindegewebes untersucht, so findet man, dass die ursprüng- lich nackten embryonalen Zellen aniöbenartig Fortsätze treiben, Fortsätze ausstrecken, dass diese Fortsätze aber nicht mehr zurückgezogen werden, sondern dass sie eine eigeuthümliche Metamorphose erleiden und in immer feinere Fäden auswachsen, so dass vielfach verzweigte, in sehr fein ver- zweigte Endfäden nach verschiedenen Seiten auslaufende Fasern entstehen. Aus solchen Zellen besteht in der frühesten Zeit das ganze embryonale Bindegewebe. In späterer Zeit aber findet man sie nur vereinzelt; nur ausnahmsweise, z. B. im Stroma der Chorioida, setzen sie noch ganze Gewebe zusammen. Zwischen diesen Bindegewebszellen soll sich nun eine Zwischensub- stanz bilden, aus der sollen die Bindegewebsfasern hervorgehen, während aus den Zellen nur die Bindegewebskörperchen entstehen sollen. Diese Zwischensubstanz ist aber eine wässerige Flüssigkeit, die später resorbirt wird, und von der nichts übrig bleibt als vielleicht die Kittsubstanz RoUet's, durch welche die einzelnen Bindegewebsfasern mit einander verbunden sind. Das Bindegewebe hat zu dieser Zeit eine gallertartige Consistenz nach Art der Wharton'sehen Sulzc des Nabelstranges und es gehört in diesem Stadium dem Yirchow'schen Schleimgewebe an. Es ist gesagt worden, dass das Virchow'sche Schleimgewebe niu* da angetroffen werde, wo sich später der Panniculus adiposus bildet. Da wird es noch in einem späteren Stadium angetroffen, in einem früheren Stadium wird es aber als Anlage von allem gemeinen Bindegewebe angetroffen. Ueberall da, wo sich später das gemeine faserige Bindegewebe bildet, findet sich vor demselben eine Substanz, die aus verzweigten Zellen und einer Quan- tität von Flüssigkeit besteht, die zwischen ihnen ist, wenn sie auch nicht überall den Grad von Succulenz, wie die Wharton'sche Sülze, erreicht. In einem älteren Stadium wird sie immer ärmer an Flüssigkeit, und dabei strecken die nun sich neu bildenden Zellen ihre Fortsätze nicht mehr nach allen Seiten, sondern wesentlich nach zwei Richtungen aus, wobei gewöhnlich die Fortsätze der einen Seite viel länger werden als die der 344 Die Knochen. andern. Hiedurch entstehen eben die langen Fasern, die wir später als Bindegewebsfasern kennen. Strittig sind dabei nachfolgende Punkte: Erstens, ob immer ans einer solchen Zelle nach einer Seite hin mehrere Fasern auswachsen, oder ob auch eine Zelle so auswachsen kann, dass sie nur eine einzige Bindegewebsfaser bildet; zweitens, ob diese mehrfachen Fasern dadurch entstehen, dass ein Fortsatz sich verzweigt und nun in seinen einzelnen Aesten weiter wächst, oder umgekehrt ein Fortsatz sich auf- fasert, sich spaltet und dadurch eine Reihe von Bindegewebsfibrillen neben einander entsteht. Bei den Untersuchungen, die Dr. Kusnetzoff hier im Laboratorium über die Entwickelung der Cutis angestellt hat, hat es sich gezeigt, dass dieselbe wesentlich unter der Oberfläche, in der dem Rete Malpighii zu- nächst liegenden Partie, wächst, und daraus erklärt es sich, dass die Zapfen, welche die Haare bilden, durch ein locales Zurückbleiben in die Tiefe gezogen werden, und dass in derselben Weise Zapfen vom Horn- blatte in die Tiefe gezogen werden, aus welchen sich das Epithel der Schweissdrüsen bildet. Aehnlich verhält es sich auch mit dem Binde- gewebe der Schleimhaut des Darmcanals, so dass hier auch auf ganz ein- fache und natürliche Weise Vertiefungen entstehen, welche vom Baer' sehen Schleimblatte, Remak's Darmdrüsenblatte, das dann schon in das Cylinder- epithel des Darmes umgewandelt ist, ausgekleidet sind und die Anlagen der Drüsen in der Wand des Darmcanals darstellen. In ähnlicher Weise, wie das gemeine Bindegewebe, bildet sich auch das fibröse Gewebe, dessen Entwickelung von Ober steine r an Sehnen beobachtet worden ist. Da gibt es ein Stadium, wo die ganze Sehne aus lauter Zellen zusammengesetzt ist, die sehr lang auslaufende Fortsätze haben, und diese nach der Länge der Sehne hinlaufenden Fortsätze sind nichts Anderes als die Fasern des späteren Sehnengewebes. Das, was wir Bindegewebskörperchen und was wir Sehnenkörperchen nennen, sind die Beste der ursprünglichen Zellen. Wenn man sich fragt, wie es denn mög- lich sei, dass bei der grossen Masse von Fasersubstanz verhältnissmässig nur so wenig Zellen zu finden sind, so gibt es dafür zwei Erklärungs- gründe: erstens, es kann ein Theil der Zellen zu Grunde gegangen sein; zweitens muss man aber auch berücksichtigen, dass die Fasern immer weiter wachsen, und deshalb eine Faser, die ursprünglich von einer Zelle ausgegangen, zuletzt eine sehr grosse Länge bekommt, indem sie mit der ganzen Sehne weiter wächst, und ebenso ist es auch im Bindegewebe. Aus diesem Principe erklärt es sich hinreichend, dass, wenn wirklich alle Zellen noch existirten, wir doch verhältnissmässig wenige in der späteren Sehne und im späteren Bindegewebe finden würden; weil eben die Fortsätze so lang gewachsen sind, dass sie an Volum die noch unmetamorphosirten und als solche kenntlichen Zellenreste um ein Vielfaches übertreffen. Die Knochen. Wenn man einen Diu'chschnitt durch einen Knochen macht und einen dünnen Schliff unter das Mikroskop bringt, so fallen an demselben eine Menge mit zahlreichen verzweigten Fortsätzen versehene Gebilde auf. Es sind dies die sogenannten Knochenkörperchen. Man hat eine Zeit lang Die Knochen. 345 geglaubt, dass in diesen Knochenkörperclien die Kalksalze enthalten seien, welche eben den Knochen zum Knochen gemacht haben. Man war in diese Voraussetzung durch eine seltsame Täuschung hineingeführt worden. Man untersuchte damals noch vielfältig trockene Knochenschliffe: wenn man diese im durchfallenden Lichte betrachtete, so waren die Knochenkörperchen dunkel, schwärzlich, und wenn man sie im auffallenden Lichte betrachtete, war die Zwischensubstanz dunkel, und die Knochenkörperchen erschienen hell, weisslich. Man glaubte, dass dies vom Lichte herrühre, welches von der weissen Kalksubstanz reflectirt würde. Der Grund war aber ein ganz anderer. Diese Knochenkörperchen sind Hohlräume, und zwar sind es die Hohlräume, in welchen die Reste derjenigen Zellen liegen oder lagen, welche den Knochen aufgebaiit haben. In trockenen Knochenschliffen waren diese Hohlräume mit Luft gefüllt. Im auffallenden Lichte wurde also an den Stellen, wo sich diese Knochenkörperchen befanden, weil das Licht hier aus einem stark brechenden Medium, aus der Knochensubstanz, in ein schwach brechendes Medium, in Luft übergehen .sollte, viel Licht zurück- geworfen und wegen der höchst unregelmässigen Gestalt der kleinen Höhlen unregelmässig zerstreut. Von diesem Lichte gelangte ein guter Theil in das Mikroskop, während von den übrigen Stellen des Knochen- schliffes, da die Oberfläche polirt war, das Licht so reflectirt wurde, dass gar nichts davon ins Mikroskop gelangte. Das war der Grund, warum diese Knochenschliffe im auffallenden Lichte dunkel waren und die Knochen- körperchen sich als helle Punkte auszeichneten. Im durchfallenden Lichte war das Umgekehrte der Fall. Durch die homogene Zwischensubstauz ging das Licht einfach hindurch, dagegen wurde an den Knochenkörperchen eine grosse Menge desselben reflectirt und nach rückwärts unregelmässig zerstreut. Dieses Licht fehlte an den betreffenden Stellen, und deshalb erschienen die Knochenkörperchen schwärzlich. Die Knochenkörperchen entsprechen insofern den Bindegewebs- körperchen, als in ihnen ursprünglich die Reste der Zellen liegen, welche den Knochen aufgebaut haben. Man sollte eigentlich nicht den Hohlraum, in dem dieser Eest liegt, sondern diesen Rest selbst als das Knochen- körperchen bezeichnen. Die Knochenkörperchen findet man concentrisch gelagert um Canäle, deren Querschnitte in Querschnitten langer Knochen, und deren Längs- schnitte in Längsschnitten langer Knochen vorherrschen. Diese Canäle sind die Haversischen Canäle: sie sind Canäle, in welchen die Gefusse und die Nerven verlaufen, die durch die Foramina nutritia in die Knochen ein- dringen. Der Knochen sollte nach der älteren Vorstellung ganz aus Knorpel hervorgehen. Es war dabei schwer zu begreifen, wie die Textur des Knorpels sich durch einfache Einlagerung von Kalksalzen in die Textur des Knochens umwandeln sollte. Man erfuhr auch bald, dass die Kalksalze nicht in den Knochenkörperchen abgelagert werden, sondern dass sie in der Zwischen- substanz abgelagert werden, und dass der normale dreibasisch phosphor- saure Kalk, welcher mit etwas normaler phosphorsaiu'er Magnesia, etwas kohlensaurem Kalk und Fluor in noch räthselhafter Verbindung die Ver- knöcherungsmasse bildet, sich so mit dieser Zwischensubstanz verbindet, dass sie morphologisch, dass sie mittelst des Mikroskopes nicht von ein- ander unterschieden, sondern nur auf chemischem "Wege getrennt werden 346 Die Knochen. können. Durch chemische Mittel Jiann man die Kalksalze trennen, einer- seits, indem man sie mit Säuren auszieht, so dass man die organische Grundlage des Knochens zurückbehält, andererseits, indem man den Knochen mit Alkalien kocht, auf diese Weise die organische Grundlage nach und nach zerstört und nun ein weisses, erdiges Gerippe des Knochens zurück- behält, die Kalksalze ohne die organische Grundlage des Knochens. Spätere Untersuchungen haben aber auch gezeigt, dass von dem Skelete des ausgewachsenen Menschen nur ein verschwindend kleiner Bruchtheil noch aus Knochen besteht, der aus Knorpel verknöchert ist, dass aller anderer Knochen durch Verknöcherung einer leimgebenden, einer dem Bindegewebe verwandten Grundlage entstanden ist, und daraus erklärt es sich, dass die organische Grundlage der Knochen, wenn sie zer- kocht wird, kein Chondrin, sondern Leim gibt. Die ersten Nachrichten über diesen compJicirteren Process der Knoehenbildung und des Knochen- wachsthums sind, so viel mir bekannt, in Dr. Quain's Anatomie, heraus- gegeben von Sharpey, , enthalten. Er ist dann später von Heinrich Müller und anderen deutschen Anatomen genau und ausführlich verfolgt worden. In Rücksicht auf den sogenannten primären und den sogenannten secundären Knochen herrscht keine volle Uebereinstimmung, doch könnte man sich leicht einigen. Alle geben zu, dass sich im Knorpel Kalksalze ablagern. Das hierdiu'ch entstehende Product verdient meiner Ansicht nach allein den ISTamen primärer Knochen; alles Uebrige ist secundärer Knochen, gleichviel, ob es wieder zu Grunde geht, beziehungsweise durch secun- dären Knochen späterer Bildung ersetzt wird, oder nicht. Nehmen wir als Beispiel den Entwickelungsgang eines Röhrenknochens, weil von da aus die Bildung der übrigen Knochen leicht zu verstehen ist. Da, wo ein Röhrenknochen entstehen soll, ist zuerst eine kleine längliche, knorpelige Anlage vorhanden, die im Allgemeinen die Gestalt des späteren Knochens hat. In dem mittleren Theile dieser knorpeligen Grundlage lagern sich Kalksalze ab, es entsteht in der Mitte eine Verknöcherung. Diese ist die Anlage der späteren Diaphyse. Der Knochen wächst noch weiter an seinen Enden, während die Verknöcherung auch nach beiden Seiten vorrückt, aber nach aussen von dem verknöcherten Stück der Diaphyse bildet sich nun kein Knorpel mehr, sondern dieses Stück ist von dem früheren Perichondrium umschlossen, das jetzt, wo es auf dem Knochen aufliegt, den Namen des Periosts erhält. Zwischen diesem und dem Knochen bilden sich fortwährend junge Zellen, die jungen Zellen des Bindegewebes ähnlich sind, sich aber nicht in faseriges Bindegewebe umbilden, sondern nur spindelförmig oder keilförmig auswachsen und Fortsätze treiben. Zwischen diesen, oder richtiger in ihrer eigenen sich metamorphosirenden Substanz lagert sich Knochenerde ab, so dass sie durch sich bildende Knochenmasse in ähnlicher Weise von einander getrennt werden, wie die ursprünglichen Knorpelzellen durch die wachsende Zwischensubstanz des Knorpels immer weiter von einander getrennt wurden. Hiedurch entsteht also eine Knochensubstanz, welche nicht, wie die ursprüngliche aus dem Knorpel verknöcherte, rundliche Hohlräume enthält, in welchen die Zellen liegen, die ursprünglich den Knorpel aufgebaut hatten, sondern es ent- steht jetzt eine Knochensubstanz, in welcher spindelförmige, sehr unregel- mässig gestaltete Räume enthalten sind, in denen nun die Zellen oder vielmehr die Reste solcher Zellen liegen, wie sie jetzt an dem Aufbau Die Knochen. 347 des Knochens arbeiten. Diese Zellen bekommen, wie gesagt, auch Fort- sätze, und auf diese Weise entstehen die zahlreichen kleinen hohlen Fort- sätze, welche von den Knochenkörperchen ausgehen, und die man früher fälschlich mit dem Kamen der Kalkcanälchen der Knochen bezeichnet hat. Es scheint indess, als ob ein grosser Theil dieser hohlen Fortsätze sich erst später entwickelte, und vielleicht beruht ihre Bildung auf Corrosion einer schon gebildeten Knochensubstanz. Getrocknete Knochenschliffe zeigen ausserdem Sprünge und Dehiscenzen, die im Leben gar nicht vorhanden sind. Während auf diese Weise der Knochen in der Diaphyse in die Dicke wächst und an. den Enden durch Zunahme der Knorpelmasse in die Länge, beginnt im Innern desselben ein Schwund. In dem Axentheile degeneriren die Zellen fettig, ihre Zwischenwände verschwinden, indem die Kalksalze derselben resorbirt werden. So bildet sich in der Mitte eine weiche fett- reiche Masse, welche nichts Anderes ist als das Mark. Jetzt aber bilden sich auch an den Enden, erst an dem einen und dann an dem anderen Ende, Verknöcherungspunkte, und auf die Weise sind ntin auch die Epiphysen als Knochenstücke angelegt. Indem nun die Epiphysen in ihren mittleren Theilen verknöchern, bleiben sie an der Gelenkfläche knorpelig, und hier wächst neuer Knorpel nach, während er von innen her weiter verknöchert. Andererseits , bleibt eine knorpelige Zone jederseits zwischen der Epiphyse und der Diaphyse, und hier ist es, wo das Hauptlängenwachsthum des Knochens stattfindet. Dieses geht so vor sieh, dass sich durch Proliferation der vorhandenen Knorpelzellen immer neue und neue bilden, die sich in Reihen anordnen, die grösser auswachsen, und von denen die ältesten, diejenigen, welche zunächst an der Diaphyse liegen, in der Weise verknöchern, dass die Kalksalze zuerst in die Theile der Zwischensubstanz vordringen, welche die einzelnen Knorpelzellen zunächst umgeben, und dann sich über die ganze Zwischen- substanz ausbreiten. Indem sich nun die Markhöhle gebildet und frühzeitig mit einem gefässreichen Bindegewebe durchzogen und ausgekleidet hat, dringen die Blutgefässe immer mehr gegen die Grenze zwischen Diaphyse und Epiphyse vor. Der Resorptionsprocess, der ursprünglich in der Axe eingeleitet worden ist, nimmt eine grössere Ausdehnung an, so dass nach sehr kurzer Zeit schon die ganze ursprüngliche knorpelige Anlage des Mittelstücks geschwunden ist, und dass sie ersetzt wurde durch Knochen, der sich bereits aus einer leimgebenden Grundlage gebildet hat, durch sogenannten secundären Knochen. Aber dieser Process ist nicht auf die Diaphyse allein beschränkt, auch in der Epiphj-se geht ein ähnlicher Process vor sich. Die Zwischenwände der ursprünglichen Knorpelzellen werden resorbirt, und es entstehen nun darin grössere Höhlen: das sind die Höhlen der spongiösen Substanz der Epiphysen. In diese Höhlen zieht sich das bindegewebige Stroma hinein und mit demselben kommen Zellen- keime, welche den Wänden der Höhlen dieser spongiösen Substanz auf- sitzen. Diese Zellenkeirae wachsen zu denselben Körperchen aus, wie wir sie an der Oberfläche der Diaphyse kennen gelernt haben. Sie bauen auch hier secundären Knochen auf, indem primärer Knochen mehr und mehr verzehrt wird. So substituirt sich nach und nach der secundäre dem pri- mären Knochen, indem letzterer nahezu vollständig aufgezehrt wird. Wenn endlich das Längcnwachsthum des Knochens beendigt ist, so verschwindet die weiche Schicht zwischen Diaphyse und Epiphyse, die 348 Die Knochen. im Laufe der Zeiten immer dünner geworden ist, zuletzt vollständig, und die Epiphyse verwächst knöchern mit der Diaphyse. Da behauptet worden ist, dass der Knochen nicht nur in der "Weise, wie ich es hier dargestellt habe, wachse, einerseits in die Dicke durch Auflagerung von secundärem Knochen, und andererseits in die Länge durch ISTachbildung von Knorpelsubstanz an der Oberfläche der Epiphyse und zwischen der Epiphyse und Diaphyse, da Einige dem Knochen noch ausser- dem ein sogenanntes interstitielles Wachsthum zuschreiben, so muss ich die Gründe angeben, weshalb ich dieses interstitielle Wachsthum nicht anerkenne. Es ist erstens schon durch die Versuche von Flourens dargethan worden, dass der Knochen durch Auflagerung neuer Schichten in die Dicke wächst. Man legte zuerst einen Ring um den Knochen eines jungen Thieres und fand, dass dieser Ring vom Knochen überwallt wurde, dass er immer tiefer in die Substanz des Knochens eindrang. Es ist dieser Yersuch ursprünglich nicht ganz vorwurfsfrei angestellt worden, da ja ein Ring sich hineinschnüren muss, wenn er den Knochen rings umgibt. Man hat deshalb die Versuche später so angestellt, dass man statt des Ringes kleine Stückchen Platinblech unter die Beinhaut brachte, und diese wur- den auch überwallt und gelangten in die Substanz des Knochens hinein. Hatte man das Thier aufwachsen lassen, und tödtete man es erst dann, so fand man das Platinblech in der Markhöhle des Knochens. Es war also klar, dass der Theil, an dem das Platinblech ursprünglich gelegen hatte, vollständig zerstört worden war, und dass dort sich Markhöhle gebildet hatte. Man hat ferner Thiere während ihres Auf Wachsens mit Krapp ge- füttert und hat gefunden, dass dabei der phosphorsaure Kalk, der sich in den Knochen ablagert, den Farbstoff mitnimmt, so dass die Knochen roth gefärbt werden. I^un hat man die Thiere eine Weile mit Krapp gefüttert, dann ausgesetzt, sie dann wieder mit Krapp gefüttert u. s. w., und hat dann rothe und farblose Schichten über einander gefunden, was wieder dafür spricht, dass durch die schichtenweise Ablagerung von der Ober- fläche her der Knochen wächst. Das Längenwachsthum des Knochens ist hinreichend erklärt durch die Zunahme an Knorpel, welche einerseits an der freien Oberfläche der Gelenke stattfindet, und andererseits in der Schichte, welche sich auf beiden Seiten zwischen Epiphyse und Diaphyse befindet. Ein Wachsthum des Knochens in der Weise, dass sich der Knochen als solcher ausdehnt, ist nicht denkbar wegen der Consistenz des Knochens. Es ist zwar be- kannt, dass anscheinend harte und spröde Körper, wie z. B. das Eis, unter hohem Druck ihre Porm wie eine wachsartige Masse verändern können. Das hängt aber mit den eigenthümlichen Eigenschaften des Eises zusammen, die sich beim Knochen nicht wieder finden, und dann finden sich auch beim Knochen die Druckverhältnisse nicht wieder, die eine solche harte Masse zwingen könnten, sich wie eine plastische zu verhalten. Wenn der Knochen noch wächst, nachdem die Epiphyse mit der Diaphyse in Ver- bindung getreten, wenn er sich dann noch verändert, so kann dies auch nur immer durch Apposition und durch gleichzeitige Zerstörung eines Theiles des vorhandenen Knochens geschehen, gerade so wie eine Stadt sich nicht in ihren einzelnen Häuserreihen ohne Weiteres ausdehnen kann, wie sie sich aber wesentlich dadurch verändern kann, dass aussen Häuser Die Knochen. 349 angebaut und im Innern Häuser eingerissen und die Strassen erweitert werden: denn der Knochen ist ja selbst eine grosse Stadt, in Avelcher sich eine grosse Menge von Elementarorganismen massive Häuser gebaut hat. Diese massiven Häuser als solche können sich nicht ausdehnen oder verschieben, aber die Elementarorganismen können einige derselben ein- reissen und andere dafür anbauen, und das geschieht auch in sehr grosser Ausdehnung, nicht nur in den Röhrenknochen, sondern auch in allen übrigen. Anfangs hat man nur die Arbeiter gekannt, die die neuen Häuser aufbauen, und hat sie mit dem Namen der Osteoblasten bezeichnet. Wir haben sie in dem Vorhergehenden besprochen. Später hat KöUiker auch die Arbeiter besehrieben, die die Häuser einreissen. Es sind dies grosse Zellen, die er mit dem Namen der Osteoklasten bezeichnet, und die er überall da findet, wo Knochensubstanz zu Grunde geht, so dass er den Resorptionsprocess in wesentlichen Zusammenhang bringt mit der Thätigkeit dieser Zellen. Die übrigen Knochen bauen sich meistens auch in doppelter Weise auf wie die Röhrenknochen, und zwar die dickeren Knochen, die Knochen der Schädelbasis, der Wirbelkörper u. s. w., in ähnlicher Weise wie die Epiphyse der Röhrenknochen, so dass erst eine knorpelige Grundlage vor- handen ist, die verknöchert, und dass dann die Zwischenwände schwinden, welche die Zellen in der verknöcherten Substanz trennen, sich grössere Hohlräume bilden, äusserlich Knorpel angelagert wird, der wiederum ver- knöchert, oder zwischen dem Knochen und dem Periost Zellen entstehen, die secundären Knochen aufbauen. Es wird auch im Innern secundärer Knochen gebildet, indem sich ein bindegewebiges gefässreiches Stroma mit Osteoblasten hineinzieht. Nur die platten Knochen des Hirnschädels haben niemals eine knorpelige Grundlage. Das Scheitelbein, die Schuppe des Hinterhauptbeins, des Schläfenbeins und des Stirnbeins entstehen von vorne- herein aus einer bindegewebigen Anlage, übrigens ganz ähnlich wie der secTindäre Knochen, indem sich Zellen bilden, die in ihrer ersten Anlage Bindegew ebskeimen ähnlich sehen, die sich aber nicht in Bindegewebe, sondern in Knochensubstanz, in secundäre Knochen umwandeln. Die Entwickelungsgeschichte des Knochens ist sehr lehrreich in Rück- sicht auf Histologie luid Histogenesis überhaupt, indem man es hier so recht augenfällig vor sich hat, dass nicht in allen Zeiten die Entwickelung der Dinge auf gleiche Yf eise vor sich geht, und dass es ganz verkehrt ist, wenn man die Anfänge der Gewebselemente, wie man sie beim Erwachsenen vorfindet, in den ersten Stufen des embryonalen Lebens sucht. Das ist der Irrweg, den man auch beim Knochen gegangen ist, und daher hielt man so fest an der Idee, dass der ganze Knochen aus Knorpel entstehe. Man muss die Entwickekmg bestimmter Gewebe immer nur untersuchen wollen, wenn bereits ein Theil dieses selben Gewebes fertig oder doch in seiner wesentlichen Gestalt ausgeprägt ist: denn zu dieser Zeit erst findet man die Generationen, die sich unmittelbar in das in Frage stehende Gewebe umwandeln, findet man die Keime, aus denen unmittelbar ähnliche Gewebs- theile hervorgehen. In den früheren Stadien findet man allerdings an der- selben Stelle auch Keime, aus denen aber möglicher Weise niemals das wird, was wir hier später antreffen, sondern deren entwickelte Gestalten durch spätere, anders aussehende Generationen verdrängt und ersetzt werden; oder es ändert sich später der Modus der Entwickelung, und es treten 350 Die Zähne. neue Generationen auf, neben denen die alten zwar foi'texistiren, aber denen gegenüber sie so sehr in der Minderzahl sind, dass sie jetzt nicht mehr die wesentliche, nicht die Hauptmasse des Gewebes ausmachen. Nicht allein bei den Knochen, sondern auch beim Bindegewebe und bei den Muskelfasern hat man diesen Wechsel zu wenig berücksichtigt. Die Zähne und ihre Entwickelung. Die Zähne bestehen wesentlich aus zwei Substanzen, aus der Sub- stantia propria dentis, oder der Substantia eburnea, und aus dem sehr harten Schmelze, der Substantia adamantina. Wenn man einen Zahnschliff unter das Mikroskop bringt, so sieht man von der centralen Höhle des Zahnes, in welcher der Kest des Zahnkeims liegt, zahlreiche Röhren, die gegen die Peripherie hin verlaufen, sich verzweigen, und zahlreiche Ana- stomosen mit einander eingehen. Dies sind die Röhren der Substantia eburnea. Auf dem Querschnitte sieht man diese Röhren von einem Hofe umgeben, der je nach dem Einstellen heller oder dunkler wird und davon herzurühren scheint, dass die Substanz, welche zunächst um diese Röhren liegt, das Licht etwas anders bricht, als die übrige, vielleicht aber auch seinen Grund nur in der Zurückwerfung des Lichtes an den Wänden der Zahnröhrchen hat. Aus dieser Substantia eburnea besteht die Zahn- krone und auch die Wurzel. In ihr finden sich gegen die Oberfläche des Zahnes hin eigenthümliche kugelförmige Figuren mit Zwischenräumen, die man mit dem Namen der Interglobularräume bezeichnet hat, und die in neuerer Zeit von Czermak beschrieben worden sind, ohne dass man bis jetzt den Ursprung dieser Figuren mit Sicherheit kennt. Der Schmelz des Zahnes besteht aus lauter prismatischen Stücken, die partienweise parallel neben einander liegen, dann aber wieder partien- weise gegen einander verschoben sind , so dass sie miteinander sehr spitze Winkel machen. Die einzelnen Schmelzprismen sind nicht ganz gerade und glatt, sondern haben kleine Einbiegungen, in Folge welcher sie bei starken Vergrösserungen unter dem Mikroskope quergestreift er- scheinen. Ebur und Schmelz verdanken ihre Festigkeit der Einlagerung von denselben anorganischen Substanzen, die wir bei den Knochen als Ver- knöcherungsmasse kennen gelernt haben, und sie betragen beim Schmelz neun Zehntheile seines Gewichtes, während sie beim Knochen im Durch- schnitt nur etwas über drei Fünftheile ausmachen. Der Schmelz ist so hart, dass eine gute englische Feile sich in kurzer Zeit auf demselben abstumpft. Zu diesen beiden Substanzen des Zahnes kommt bei den blei- benden Zähnen noch eine dritte hinzu, welche sich secundtfl: auf der Wurzel auflagert, und diese ist die Substantia ossea. Sie ist wahrer secun- därer Knochen, der sich von der Beinhaut der Zahnwurzel aus auf der letzteren ablagert, ganz in derselben Weise, wie sich aus den Zellen, die sich unter der Beinhaut der Diaphyse eines Röhrenknochens bilden, auf eben dieser Diaphyse neue Schichten bilden. Die Substantia ossea des Zahnes unterscheidet sich von anderem secundärem Knochen nur dadurch, dass sie im Allgemeinen sehr dicht ist, mehr das Gefüge iind die Dichtig- keit von sclerosirtem Knochen hat, zweitens, dass die einzelnen Knochen- Die Zähne. 351 körperclien noch unregelmässiger gestaltet sind, als beim gewölmlichen secundären Knoclien, und drittens dadurch, dass sie unregelmässiger ge- lagert sind. Die Entwickelung der Zähne beginnt beim menschlichen Erahryo mit dem Ende des zweiten Monates. Da zeigt es sich zuerst, dass im gefässreichen Theile des Kiefers der äussere und der innere Rand stärker wächst, als die mittlere Partie. Dadurch entsteht eine Rinne. Da aber der Boden derselben mit dem Epithel in Contact bleibt, so wird hiedurch ein leisteuförmiger Epithelialfortsatz in die Tiefe gezogen, ganz in der- selben Weise, wie wir das Haar und die Schweissdrüsen nicht dadurch haben entstehen sehen, dass das Hornblatt in die Tiefe hineinwucherte, sondern umgekehrt dadurch, dass bestimmte Stellen der Cutis im Wachs- thume zurückblieben, und deshalb Epithelialpartien, die ursprünglich an der Oberfläche lagen, immer mehr in die Tiefe gerückt wurden. Die Epithelleiste, die auf diese Weise in die Tiefe gezogen wird, bildet den sogenannten Schmelzkeim. Später wächst nun der Kiefer weiter aus, und es wird auch die Rinne, in der dieser leistenförmige Fortsatz liegt, in ihren tieferen Theilen geräumiger. In diesen tieferen Theilen wuchern nun die Epithelialzellen, so dass der Schmelzkeim sich in seiner unteren Partie sehr bedeutend erweitert, während er gegen die Oberfläche hin durch das Gegeneinanderwachsen der Kieferränder eingeschnürt, ver- dünnt wird. Zu dieser Zeit wachsen vom Boden der ursprünglichen Rinne des Kiefers Zapfen hervor, Fortsätze, welche nichts anderes sind, als die Zahnkeime. Diese stülpen den Boden des Schmelzkeimes ein, und zugleich wachsen zwischen den Zahnkeimen Scheidewände in die Höhe, welche dieselben nun von einander trennen und im Hinaiifwachsen auch den Schmelzkeim in einzelne Stücke zerschneiden. Auf diese Weise sind also die Zellen für die einzelnen Zahnkeime gebildet, und jeder Zahnkeim hat nun seinen Antheil an dem Schmelzkeim in Gestalt einer Kappe, welche auf seiner Oberfläche aufliegt. Dann schnürt sich der Hals des Schmelzkeimes vollständig ab, und der Schmelzkeim besteht jetzt für jeden einzelnen Zahn aus einer Epithelpartie, welche in die Tiefe des Kiefers hineingezogen worden ist und wie eine Kappe auf dem Zahnkeime aufliegt. Der ganze zukünftige Zahn bildet sich zwischen Zahnkeim und Schmelzkeim auf folgende Weise. Der Schmelzkeim hat eine periphere Schicht von Epithelzellen, die cjdindrisch sind, indem sie der tiefsten Schichte des Pflasterepithels entsprechen. Man fängt von dieser Zeit an zu unterscheiden dasjenige Epithel des Schmelzkeimes, welches auf dem Zahnkeime aufliegt, das nennt man das innere Epithel, und dasjenige Epithel, das vom Zahnkeime abgewendet ist, das nennt man das äussere Epithel. Von der Masse nun, die dazwischen liegt, wachsen die mitlleren der Zellen sternförmig aus und werden dabei im hohen Grade succulent, und auch zwischen den Zellen lagert sich Flüssigkeit ab, während die Zellen selbst mit ihren Fortsätzen untereinander in Verbindung treten, so dass der äussere Anschein von einem Schleimgewebe entsteht. Von dem Schleimgewebe des Bindegewebes ist aber dieses Gebilde ganz verschieden, weil man es eben nur mit metamorphosirten Epithelialzellen, nicht aber mit einer Bindegewebsbildung zit thiin hat. Nun wachsen die Cylinder- zellen noch mehr in die Länge und fangen an, an ihrem dem Zalinkeimc 352 Die Zähne. zugewendeten und auf dem Zahnkeime aufliegenden Ende zu verknöch.ern, zu verkalken. Dabei wachsen sie immer weiter in die Länge und eine immer weitere Strecke von ihnen verknöchert. Sie sehen ein, dass auf diese Weise prismatische Stücke einer harten, verknöcherten Substanz gebildet werden, die eben die Schmelzprismen sind. Der Schmelz ist also das verkalkte innere Epithelium des Schmelz- organs. Er konnte eine solche Dicke erlangen, weil während des Ver- kalkungsprocesses der noch weich gebliebene Theil jeder Cylinderzelle noch weiter in die Länge wuchs und so den Kalksalzen noch immer neue organische Grundlage darbot. Andererseits fangen die oberflächlichsten Zellen des Zahnkeimes, der, wie wir gesehen haben, von unten her in das Schmelzorgan hinein- gewachsen ist, an, Fortsätze zu bekommen, die sich gegen die Peripherie strecken und sich verzweigen. Um diese Fortsätze herum bildet sich Knochensubstanz: oder vielleicht, richtiger gesagt, diese Fortsätze selbst wandeln sich in eine Substanz um, welche verknöchert, so dass aber immer ein Axentheil übrig bleibt, der nicht verknöchert. Diese Zellen nennt man die Odontoblasten, die verknöcherte Masse ist die Masse des Zahnbeins, und die nicht verknöchernden Axentheile dieser Fortsätze entsprechen den späteren Zahncanälchen, in welchen also die Reste der Fortsätze stecken. Nun denken Sie sich, dass sämmtliche Fortsätze weiter wachsen und der Verknöcherungsprocess weiter fortschreitet, so wird da- durch eine immer dicker werdende Schicht von Zahnsubstanz gebildet, die unmittelbar mit dem sich bildenden Schmelze verbunden, verlöthet ist. Diese verknöcherte Substanz sitzt dem weichen Zahnkeime zuerst wie eine Seheibe, dann wie ein kleines Hütchen auf, indem die Formen der späteren Zahnkrone sich immer mehr vervollständigen und zwar sogleich in ihren späteren Dimensionen, indem dieselbe von der Spitze gegen die Basis hin aufgebaut wird. Man muss hier zweierlei Wachsthum des Ebur unterscheiden, Wachs- thum in die Dicke und Wachsthum am unteren scharfen Eande. Beim Wachsthum in die Dicke müssen die bildenden Zellen, die Odontoblasten, immer weiter zurückrücken, indem ihre wachsenden Fortsätze, so wie sie gebildet werden, auch durch den Verknöcherungsprocess einbezogen werden in das sich neu bildende Ebur, ähnlich wie an den Schmelzzellen der Verknöcherungsprocess in umgekehrter Eichtung weiter vor sich geht. Es wird auch angegeben, dass mehrere dieser Odontoblasten durch ihre Fortsätze mit einander in Verbindung stehen, und dass, wenn bei der fortschreitenden Verknöcherung die eine Zelle ganz aufgezehrt wird, sie dann bei der Arbeit des Aufbaues des Zahnes von der nächsten Zelle abgelöst wird, die nun den von ihr angelegten Zahncanal weiter baut. Das Wachsthum am scharfen Rande des Ebur geschieht dadurch, dass sich hier neue Odontoblasten in Thätigkeit setzen und mittelst ihrer Fort- sätze neues Zahnbein und neue Zahnröhren anlegen, somit die ähnliche Arbeit wie ihre Vorgänger aufnehmen und nach und nach die ganze Zahn- krone aufbauen. Erst, wenn die ganze Zahnkrone in ihrer äusseren Form aufgebaut ist, bildet sich die Wurzel der Zähne von demselben Zahn- keime aus und in ganz analoger Weise, indem an der Basis der Zahnkrone, am scharfen Eande des Ebur sich neue Odontoblasten bilden, und neue Zahncanäle und neues Zahnbein sich anlegen, bis endlich auch die ganze Zahnwechsel. 3ö3 Zalinwtu'zel fertig ist. Ja es ist der Zahn noch keineswegs fertig in seiner Wurzel, wenn er bereits an der Oberfläche durchbricht, indem dann noch gar nicht der Eanm im Kiefer gegeben ist, um die ganze Wui'zel zu beherbergen. Der Zahnweehsel. Für den Zahnwechsel wird schon in frühester Zeit vorgesorgt. Bereits von den ui'sprüngiichen Schmelzkeimen sondert sich bei jedem einzelnen Zahnkeime eine kleine Partie von Epithelialzellen ab, welche einen accessorischen Keim' bildet, der ursprünglich neben dem sich ent- wickelnden Milchzahne liegt. Später, wenn der Kiefer wächst und der Milchzahn herauswächst, so wird dieser zweite Keim immer mehr nach abwärts gezogen und liegt zuletzt ganz in der Tiefe neben dem ent- wickelten Zahne. Zur Zeit aber, wo sich der Zahnwechsel vorbereitet, gehen in diesem accessorischen Keime dieselben Veränderungen vor, wie sie früher im Keime des Milchzahnes vorgegangen sind. Die Epithelzellen fangen an zu wuchern, es bildet sich aus ihnen das Schmelzorgan, und es wächst von unten her eine Zahnpapille hinein, kurz es wiederholt sich Alles, was wir beim Milchzahne beobachtet haben. Während sich nun die neue Zahnkrone anlegt und wächst, übt sie einen Druck auf die Wiu-zel des Milchzahnes aus und macht diese dadurch atrophisch. Nach Kölliker bilden sich auch hiebei seine Osteoklasten, hier Odontoklasten, die die WujL'zel des Milchzahnes nach und nach zerstören. Auf diese Weise rückt der bleibende Zahn dem Milchzahne nach, derselbe wird endlich dadurch, dass seine Wurzel resorbirt wird, locker, fällt aus, und der neue tritt an seine Stelle. Wenn der bleibende Zahn sich nicht unter dem Milchzahne entwickelt, sondern schief neben ihm, so geschieht es, dass die Wiu'zel nicht atrophirt, woraus maa sieht, dass der Druck, den der nachwachsende Zahn ausübt, einen wesentlichen Antheil an dem Atrophiren der Wurzel hat. Es wächst dann der neue Zahn neben dem Milchzahne heraus, und dieser rauss gewaltsam entfernt werden, damit der neue Zahn in seine richtige Stellung einrücken kann. Zeiten des Hervorbrechens der Zähne. Man muss zwei Dentitionsperioden unterscheiden. Die erste Deu- titionsperiode rechnet nach Monaten und umfasst das Hervorbrechen der Milchzähne. Der erste Schneidezahn bricht hervor zwischen dem 7. bis 9. Monate, der zweite Schneidezahn zwischen dem 8. bis 10. Monate, der Eckzahn im 18. bis 20. Monate. Der erste Milchbackenzahn zwischen dem 13. bis 15. Monate, der zweite Milchbackenzahn zwischen dem 23. bis 25. Monate. Der erste bleibende Backenzahn entsteht zwischen dem 7. und 8. Lebensjahre. Im 8. oder 9. Jahre fallen die Schneidezähne aus und werden durch neue ersetzt. Im 10. fallen die Milchbackenzähne weg und werden durch neue ersetzt. Im 11. Lebensjahre fällt der Eckzahn aus und wird durch einen neuen ersetzt. Im 12. Lebensjahi-e endlich beendigt sich diese Zahnungsperiode mit dem Hervortreten des zweiten grossen Backenzahnes. Brücke. Voiiesunsren, II. 4. Aufl. 23 354 Hervorbrechen der Zähne. Dann folgt nur noch der sogenannte Weisheitszahn, der keine bestimmte Zeit einhält, aber gewöhnlich zwischen dem 16. und 25. Lebensjahre hervorbricht. In der folgenden Tabelle sind in der ersten Columne die Zähne nach ihrer Stellnng im Munde mit römischen Ziffern bezeichnet, so dass I den ersten Scheidezahn, YIII den Weisheitszahn bezeichnet. Columne zwei zeigt in arabischen Ziffern den Monat an, in dem der Milchzahn, von der Geburt an gerechnet, hervorbricht. Columne drei zeigt in ara- bischen Ziffern das Lebensjahr an, in dem der bleibende Zahn hervor- bricht. Zahnungstabelle. Zahn Erste Dentitionsperiode in Monaten Zweite Dentitionsperiode in Jahren I 7—9 8—9 II 8—10 8 — 9 III 18—20 11 IV 13—15 10. V 23—25 10 VI 7—8 VII 12 VIII 16—25 Wiederholter Zahnwechsel ist mehrmals beobachtet worden, zum Theil noch in hohem Alter, aber er ist im Allgemeinen sehr selten. Entwiekelimg der Elemente des Nerven Systems. Bei der Entwickelung der Elemente des Nervensystems geht die Umwandlung von Embryonalzellen in Ganglienkugeln auf eine verhält- nissmässig einfache Weise vor sich. Sie treiben Fortsätze, und diese sind dann eben die Fortsätze der Ganglienkugeln. Anfangs sind alle diese Zellen fortsatzlos. Ueber die Bildung der Nervenfasern weiss man nur, dass sie sämmtlich marklos angelegt werden. Da, wo später markhaltige Nervenfasern entstehen sollen, verlängern sich die Kerne der Embryonal- zellen, und die ganzen Zellen strecken sich in die Länge, so dass man in einem gewissen Stadium täuschend den Anblick hat, als ob man es mit Zügen von glatten Muskelfasern zu thun hätte. Später entstehen hieraus Fasern, in deren Substanz diese Kerne noch eingelagert sind, und aus diesen Fasern entstehen dann in nicht näher bekannter Weise die markhaltigen Fasern mit ihren Axencylindern. Ob diese ganze Bildung dadurch zu Stande kommt, dass Reiben von Zellen, die der Länge. nach ausgewachsen sind, mit einander verschmelzen, oder ob sie dadurch zu Stande kommt, dass eine einzelne Zelle Sprossen treibt, der Spross wieder seinen eigenen Kern bildet und linear weitere ähnliche Sprossen forttreibt, ist nicht mit Sicherheit bekannt, doch ist Letzteres im Laufe der Zeit, wenn man alle beobachteten Thatsachen zusammenhält, das wahrscheinlichere geworden. Damit stimmen auch die Erfahrungen über- ein, welche man über Regeneration von Nerven gemacht hat. Wenn Entwicklung der Muskelfasern. 355 man ein Stück aus einem Nerveustamme ausgeschnitten hat, so gehen die Nervenfasern des peripherischen Stumpfes zu Grunde, aber vom cen- tralen sprossen neue, -svclche weiter und weiter und in das Perineurium des peripheren hineinwachsen. Anfangs sind sie mai'klos, später werden sie markhaltig;. Entwickeliiiig- der Bliiskelfasern. Etwas näher kennt man die Eutwickelung der Muskclfasei'n im Embryo. Die Bildung der Herzmuskelfasern geht nach den Untersuchun- gen, die O'Leary im hiesigen Laboratorium vorgenommen hat, folgender- massen von statten. Man findet im Herzen von Schweinsembryonen in einem gewissen Stadium spindelförmige Zellen, die in der Mitte einen etwas verlängerten Kern haben. In diesen spindelförmigen Zellen bilden sich zuerst an der Oberfläche Sarcous Clements aus, die schon regel- mässig in Längs- und Querreihen angeordnet sind, wie sie später im quergestreiften Muskel die Fibrillen einerseits und die Bowmann'schen Scheiben andererseits darstellen. Diese Umwandlung der xu'sprüngiichen Zellsubstanz in eine gegliederte, aus Sarcous Clements und einer iso- tropen Zwischensubstanz bestehende Masse schreitet allmälig von aussen gegen das Innere vor. Im Innern bleibt aber ein spindelförmiges un- metamorphosirtes Stück, das aus dem Kerne mit etwas Protoplasma an seinen beiden Enden besteht. Das ist es, was man mit dem Namen eines Muskelkörperchens bezeichnet. Bei den Muskeln mancher anderer Thiere, z. B. in vielen Muskeln von Arthropoden, bleibt in der Axe der Muskelfaser durchlaufend eine solche kernhaltige Protoplasmamasse zurück, die nicht in eigentliche Muskelsubstanz umgewandelt wird, wäh- rend die Muskelsubstanz den Mantel des Muskelcylinders bildet. Es muss übrigens bemerkt werden, dass das Herz sich bereits contrahirt zu einer Zeit, wo diese Metamorphose noch nicht vor sich gegangen ist, wo noch keine Spiu* von Sarcous elements im Herzen zu sehen ist, sondern wo das ganze Herzfleisch noch aus nackten Zellen besteht. In ähnlicher Weise geht auch die Entwickelung der Skeletmuskeln von statten, nur dass bei den Säugethieren und beim Menschen das Proto- plasma sich nicht rings um den Kern herum metamorphosirt, sondei*n seitlich von demselben, so dass der Kern nach aussen an der Scheide zu liegen kommt. Anfangs ist er häufig in die metamorphosirte Substanz eingebettet. Man findet platt , bandartig angelegte Skeletmuskeln , bei denen die Fibrillen auseinanderweichen und den Kern zwischen sich nehmen ; beim weiteren Wachsthum in die Dicke aber kommt er excen- trisch zu liegen und wird zuletzt gegen das Sarkolemma hin hinaus- gedrängt. Die Bildung der Fasern geht nach Einigen so von statten, dass mehrere Embryonalzellen miteinander zu einer verschmelzen und auf diese "Weise eine Faser bilden, nach Andern so, dass eine Embryonal- zelle eine Muskelfaser anlegt und sich immer weiter verlängert, dadiu'ch, dass sie weiter aus wächst, einen Spross bildet mit einem neuen Kern, wieder auswächst u. s. w., und das Protoplasma dieser ganzen Zellen- familie, die sieh auf diese Weisung durch Sprossung der Länge nach ver- mehrt hat, sieh schliesslich in quergestreifte Muskelsubstanz umwandelt. 23* 3o6 Elastische Fasern. Es ist dies eine Controverse, deren Entsclieidung deshalb grosse Schwierig- keiten macht, weil ja das Protoplasma der einen Embryonalzelle so eng mit dem der anderen verbunden ist, dass man im lebenden Zustande die Grenzen gar nicht sieht, und sich erst nach dem Erhärten in Erhärtungs- flüssigkeiten die einzelnen Zellengrenzen erkennen und die einzelnen Zellen von einander isoliren lassen. Erinnern Sie sich daran, dass beim Ureter dasselbe selbst im erwachsenen Thiere der Fall ist, so dass Engel- mann fand, dass sich im lebenden Ureter die einzelnen contractilen Faser- zellen nicht von einander unterscheiden Hessen, sondern das Ganze als eine contractile Masse erschien, in welcher Längskerne eingesprengt waren, und erst nach dem Tode sich die Substanz der einzelnen Faserzellen von einander trennte. Auch in späterer Zeit, auch nach der Geburt, werden noch neue Muskelfasern gebildet. Budge hat durch Zählung und Messung nach- gewiesen, dass die Muskeln nicht nur dadurch wachsen, dass die ein- zelnen Muskelfasern dicker werden, sondern dass wirklich im Extra- uterinleben sich noch neue Muskelfasern nachbilden. Diese spätere Bildung von Muskelfasern geht nicht immer in der Weise vor sich, wie sie im Embryo vor sich gegangen. Es giebt noch eine andere Art der Bil düng von Muskelfasern, die zuerst von Margo beobachtet wurde. Er gibt an, dass er eigenthümliche rundliche Zellen beobachtet habe, die er mit dem Namen der Sarcoblasten bezeichnet. Diese Zellen hätten sich, nachdem sie bis zu einer beträchtlichen Grösse herangewachsen, in mehrere wurstförmige Stücke getheilt. Diese hätten Q,uerstreifen bekommen, und seien zu Muskelfasern ausgewachsen, beziehungsweise zusammengewachsen. Seine Angaben sind von Paneth ausführlich bestätigt worden. Die wurstförmigen Körper, Sarkoblasten, bilden sich aus dem Protoplasma nackter Zellen, sie sind aber selbst keine Zellen, sondern nur Massen con- tractiler Substanz, die durch Fusion mit einander die contractile Substanz der neuen Muskelfasern bilden. Diese sogenannten Sarcoblasten fand Margo nesterweise in Spalträumen zwischen den schon fertigen Muskel- fasern eingeschlossen, von wo aus sie dann das weitere Wachsthum des Muskels, die Ztmahme der Anzahl von Fasern, seiner Ansicht nach be- wirkten. Ich muss erwähnen, dass bei den Sehnen etwas Aehnliches vorkommt, dass bei diesen auch in Spalträumen Nester von Bindegewebs- keimen, von Zellen vorkommen, aus denen später wieder fibröse Fasern hervorgehen. Eiitwiekelung der elastisclieii Fasern. Bei der Entwickelung des elastischen Nackenbandes der Wieder- käuer entstehen zuerst in einer bindegewebigen Grundlage sehr feine ela- stische Fasern, denen später dicker werdende folgen. Ich sah diese ersten Fasern, als Alex. v. Winiwarter sich im hiesigen Laboratorium mit der Untersuchung des Nackenbandes beschäftigte. Andere Beobachter haben das Gleiche gesehen. Ueber die Art und Weise der Entstehung dieser sehr feinen Fasern konnten wir damals keine bestimmte Ueber- zeugung gewinnen. Ebenso sehe ich jetzt an den Präparaten von Bene- detto Morpurgo, der sich mit der Entwickelung der Arterienwand be- Entwickelun^ der Linse. J57 schäftigt, sehr frühzeitig elastische Lamellen entwickelt, die gegen Kali schon sehr widerstandsfähig sind, aber in Rücksicht auf ihre Dicke und in Rücksicht auf die Dimensionen der Faserzeichnung nur ein zwerg- haftes Abbild der späteren Fasernetze und elastischen Platten der Media darstellen. In den Sehnen kommen Elemente vor, welche in Rücksicht auf ihren hohen Brechungsindex und ihre Widerstandsfähigkeit gegen Säuren und Alkalien ganz den elastischen gleichen. Arnold Spina hat dieselben näher untersucht. Nach seiner Ansicht entstehen sie als Abscheidungs- producte von Zellen an der Oberfläche derselben. Entwickeluns,- der Linse. Die Linse entsteht, wie wir gesehen haben, aus einem Haufen von Zellen des Hornblattes. Die Zellen in diesem Haufen, welche der Ober- haut, der nachherigen Hornhaut, zugewendet sind, behalten ihre Gestalt ; die von ihr abgewendeten wachsen cylindrisch aus und richten sich dabei senkrecht, etwas divergirend, gegen die Hornhaut, so dass es ein Stadium gibt, wo die Linse im mikroskopischen Durchschnitte das Bild eines Körbchens gibt, dessen Stangen die cylindrisch ausgewachsenen Zellen der hinteren (inneren) Hälfte des Zelleuhaufens sind. Diese cylindrisch aus- gewachsenen Zellen sind die Anlage der ersten Linsenfasern. Sie bilden die Fasern des Linsenkernes. Die vorderen (äusseren) Zellen, die ihre Gestalt behalten haben, sind Anlage des Epithels, welches die vordere Wand der sich erst später bildenden Kapsel an ihrer inneren Seite be- kleidet. Wir wollen sie schon jetzt Kapselepithelzellen nennen. Fig. 103. Fig. lo-i. An der Peripherie, in der Gegend des grössten Kreises der Linsen- anlage entstehen nun immer neue Zellen, und zwar vom Kapselepithel aus. Diese dienen theils dazu, das Kapselepithel an seiner Peri- pherie weiter zu bauen, theils wachsen sie zu Linsenfasern aus, die sich an die ursprünglichen äusserlich anlegen und sie dann umwachsen iind auf diese Weise immer neue Faserschichten bilden. Die Linse wächst also durch fort- währende Auflagerung von neuen Faserschichten, und die Fasern entstehen sämmtlich am Rande, in der Gegend des grössten Kreises der Linse, von wo aus sie sich beim weiteren Wachsen über die vordere und hintere Oberfläche ausbreiten und sich dem früher entworfenen Schema (S. 150) entspre- chend dem Pole bald mehr, bald weniger nähern. 358 jEntTHckelung der Blutgefässe. j Wenn man eine Lin!^' in der Richtung der Achse durchschneidet, so findet man, wie von Beclier gezeigt hat, eine Zone von Kernen, welche sich vom grössten Kreise der Linse gegen die Mitte hin erstreckt. Diese Zone enthält die Kerne der Linsenfasern, die sich hier entwiclielt haben. Figur 104 zeigt einen Schnitt vom Rande einer Kalbslinse nach von Becker. Die Striche deuten den Verlauf der Fasern an. Bei z beginnt die Kernzone und erstreckt sich von da ins Innere. Weiter nach innen zerstreuen sich die Kerne, weil sie beim Wachsen der Linsenfasern nach verschiedenen Orten verschoben sind. Figur 103 zeigt die Region bei z in stärkerer Vergrösserung, um zu zeigen, wie die Kernzone z s, eine Fortsetzung der Kernreihe des Kapselepithels fe ej bildet. Wenn die Linse eine gewisse Grösse erreicht hat, wird die An- lage der Linsenkapsel sichtbar. Es erscheinen zuerst Zellen, welche die ganze Linse und auch die vordere Zellenschicht umgeben : sie sind so mit einander verschmolzen, dass man ihre Grenzen nur undeutlich wahr- nimmt, selbst nachdem sie erhärtet sind. Doch nach der Lagerung der Kerne sieht man, dass man es mit einer einfachen Zellenschicht zu thun hat. Der Ursprung dieser Zellen ist nicht bekannt, und ebenso wenig die Art, wie sie sich vei*mehren. Dass sie dies thun, ist sehr wahr- scheinlich, da die Linse zu dieser Zeit noch verhältnissmässig klein ist, und also auch die Kapsel noch bedeutend wachsen mixss. Die Lage dieser Zellen unmittelbar auf der Linsensubstanz und die eigenthümliche gleichmässige Durchsichtigkeit dieser Schichte charak- terisirt sie als Anlage der gefässlosen, der eigentlichen bleibenden Linsen- kapsel, nicht der erst später nach aussen von ihr erscheinenden gefäss- reichen Kapsel. Eiitwickelung der Blutgefässe. Von den Blutgefässen kennen wir zweierlei Art der Entwickelung, erstens die Art, in der sie sich zu allererst im Fruchthofe entwickeln, und zweitens die Art, in der sie sich weiter im Embryo entwickeln, wenn derselbe wächst, und bereits ein Gefässsystem vorhanden ist. Im Fruchthofe bilden sie sich einfach durch DiflFerenzirung, dadurch, dass sich Gruppen von Zellen bilden, welche in Blutkörperchen umgewandelt werden, und die Zellen, welche zunächst um sie herumliegen, mit einander verwachsen und so die Wandungen von Räumen bilden, in welchen nun diese Blutkörperchen liegen, und in welchen sie vom Herzen aus in* Be- wegung gesetzt werden. Ganz anders ist die spätere Neubildung von Blutgefässen, die Neubildung von Capillaren und von Blutgefässen über- haupt, denn alle Gefässe werden später als Capillargefässe angelegt, und Arterien und Venen bilden sich dann nur noch durch Erweiterung, durch Wachsthum von Capillaren. Die Bildung der Capillaren besteht dann darin, dass von der Wand der Gefässe sich Protoplasmafortsätze — die Gefässwand selbst besteht ja aus Protoplasma — hinausschieben. Diese Fortsätze spannen, Entwickelnng der Blutgefässe. ööo einander begegnend, Brücken von einem Gefässe zum andern, tlieils ge- rade, theils bogenförmige. 8ie sind anfangs solid, später aber werden sie hohl, indem vom Gefässlumen sich eine trichterförmige Lichtung hineinzieht, die weiter und weiter fortschreitet, gewöhnlich von beiden Seiten zugleich, bis sich die ganze Brücke in einen hohlen Protoplasma- schlauch verwandelt hat. Die Lichtung erweitert sieh, und die Blut- körperchen strömen hindurch. Die Capillargefässe geben dann, wie gesagt, Avieder die Grundlage zur Bildung von grösseren Gefiissen, von Arterien und Venen. SCHLUSS Wien, im Jänner li Dviick von Aiiolf Holzhauspn. k. k. Hof- und UniversitÄts-Buchdrucker in "Wien. This book is due onithe Lte indicated below, or at the expiration of a definite fcerK^ after the date of borrowmg, as provided by the rules k th4 Library or by special arrange- ment with the Librari^n infcharge. 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