"*VS EtCT^« r S!r 5 1 3 ^ li^x^ A=^.f' ist die Färbung, insofern die Färbung allein noch keine Rasse ausmacht. Dennoch aber ist die Färbung innerhalb der einzelnen Unterrassen gewöhnlich eine scharf bestimmte, und es gibt in jeder Rasse Unter- rassen von sehr verschiedener Färbung. So gibt es weisse, schwarze und blaue Pfauentauben, es gibt weisse Mövchen mit rothbraunen Flügeln, aber auch rothe mit weissem Kopf und weisse Tümmler mit schwarzem Kopf u. s. w. Auch recht ungewöhnliche Färbungen und Farbenzeichnungen kommen vor. So zeigt eine Unterrasse der Tümmler ein bei Tauben sonst seltenes Lehmgelb mit schwarzen Fleckstrichen vermischt, fast an ein Steppenhuhn erinnernd, es gibt eine kupferrothe Blässtaube, eine kirschrothe Gimpeltaube, lerchen- farbige Tauben u. s. w. Dann finden sich alle möglichen Zusammen- stellungen von Farben mit ganz bestimmter Begrenzung auf bestimmte Körpergegenden, so z. B. weisse Tümmler mit rothem Kopf, rothem Schwanz und rothen Flügelspitzen, oder weisse Tümmler mit schwar- zem Kopf, rothe Mövchen mit weissem Kopf, ganz schwarze Indianer mit weissen Flügelspitzen u. s. w. Oft ist die Farbenvertheilung eine recht komplizirte, aber dennoch zeigen alle Individuen der betreffenden Tauben-Rassen. 4^ u 42 Darwin's Lehre. Rasse sie genau in derselben Weise. So gibt es sog. Blondinetten, bei welchen der Körper fast ganz kupferroth ist, die Flügel aber weiss, doch so, dass jede Flügelfeder am abgerundeten Ende ihrer Fahne einen schwarz und rothen Saum trägt. Ich könnte nicht enden, wenn ich Ihnen einen irgendwie vollständigen Begriff von der Mannich- faltigkeit der Färbungen bei den Taubenrassen geben wollte. Aber auch ein so wichtiges und bei allen wilden Vogelarten so ausnehmend konstantes Organ, wie der Schnabel hat sich in er- staunlichem Grade bei den Taubenrassen verändert. Botentauben (Fig. i, No. 6) haben einen enorm langen und starken Schnabel, der noch dazu von einer dicken rothen Wucherung der Wachshaut über- lagert wird, während bei den Mövchen (Fig. i, No. 8 und io) der Schnabel so kurz ist, wie er bei keinem wilden Vogel jemals ange- troffen wird. Aber auch die Form des Schnabels weicht bei einzel- nen Rassen erheblich von der normalen ab, so bei den Bagdetten (No. 5) mit krummem Schnabel. Ebensosehr wie der Schnabel variiren die Beine in Bezug auf ihre Länge. Die Kröpf er (No. 1) stehen auf ihren langen Beinen wie auf Stelzen, während die Beine der »Nürnberger Schwalben« (No. 4) auffallend klein sind. Seltsam und weit abweichend vom wilden Vogel muss auch die oft sehr starke Befiederung der Füsse sammt Zehen erscheinen, wie sie bei Kröpfern und Trommeltauben (Fig. 1, No. 1), aber auch bei anderen Rassen vorkommt und in der Art der Federn an einen Flügel erinnert. Ferner weicht die Zahl und Grösse der Schwung- und Schwanzfedern bei den Rassen häufig weit von der Norm ab. Die Pfauentaube (No. 7) besitzt in ihrer vollendetsten Form statt der 1 2 Steuerfedern der wilden Felsentaube deren 40, die aufgerichtet wie ein Fächer getragen werden, während das Thier den Kopf und Hals stark zurückbiegt. Bei den Hühnertauben sind die Schwanzfedern wenig zahlreich und kurz, so dass ein aufrechtstehender Hühnerschwanz zu Stande kommt. Von den sonderbaren karunkulösen Haut- wucherungen am Schnabel mancher Rassen habe ich schon ge- sprochen, sie umgeben häufig auch das Auge und sind bei der Indianer- taube (No. 2) zu förmlichen dicken Ringwülsten entwickelt, während sie bei dem englischen Carrier gleich einer unförmlichen Fleischmässe den Schnabel rundum überlagert (No. 6). Aber auch der Schädel hat sich mancherlei Veränderungen unter- *t> zogen, wie man bei Rassen mit kurzer Stirn schon am lebenden Thier sieht. Ferner zeigt sich die Zahl und Breite der Rippen, die Länge Tauben-Rassen. zj_3 des Brustbeins, die Zahl und Grösse der Schwanzwirbel bei verschie- denen Rassen verschieden, und von inneren Organen ist es besonders der Kropf, der bei manchen Rassen, den Kröpfern (No. i) eine enorme Grösse erreicht, womit dann zugleich die Gewohnheit ver- bunden ist, ihn mit Luft aufzublasen und die sonderbare aufgerichtete Stellung einzunehmen. Dass auch in dem feinsten Bau des Gehirns Veränderungen ein- getreten sind, zeigen gewisse neue Instinkte, wie das Trommeln der Trommeltauben, das Girren anderer, das Schweigen noch anderer Rassen, sowie die seltsame Gewohnheit der Tümmler oder Purzeltauben rasch senkrecht in bedeutende Höhe empor zu steigen und sich dann beim Herabfallen ein oder mehrere Male zu überschlagen. Im Gegen- satz dazu haben andere Rassen, z. B. die Pfauentauben das Hochfliegen ganz aufgegeben und bleiben meist nahe dem Schlag. Schliesslich sei noch erwähnt, dass auch ungewöhnliche Ent- wicklung einzelner Federn und Federgruppen zu Rassen- charakteren geworden sind, worauf so auffallende Bildungen beruhen, wie der über den Kopf geschlagene Feder-Mantel der Perückentaube (No. 9), die Häubchen oder Federbüsche auf dem Kopf verschiedener Rassen, die ^weissen Federbälle bei den Bart-Tümmlern, die Krausen, welche ähnlich einer Hemdkrause auf der Brust oder an der Seite des Halses herablaufen (No. 8 u. 10) und der Federwirbel, welcher die Schnabelwurzel der Bucharischen Trommeltaube auszeichnet (No. 2). Dass auch die Grösse des ganzen Körpers bei den Rassen Ver- schiedenheiten aufweist, wird nach dem bisher Gesagten Ihnen fast selbstverständlich vorkommen. Die Unterschiede sind aber recht be- deutend, denn eine der grössten Rundtauben wog nach DäRWIX fünf Mal so viel als einer der kleinsten kurzstirnigen Purzier, wie denn aut der Abbildung Fig. 1 die Kropftaube als ein Riese gegenüber dem kleinen Mövchen zu ihrer Linken erscheint. So sehen wir also, dass beinah alle Körpertheile der Taube sich während ihrer Domestikation in der verschiedensten Weise und bis zu einem hohen Betrag verändert haben, und ähnlich verhält es sich bei mehreren anderen Hausthieren, bei Hühnern, Pferden, Schafen, Rindern, Schweinen u. s. w., wenn auch der Fall bei den übrigen nicht immer so klar liegt, weil die Abstammung von nur einer wil- den Art theils nicht beweisbar, theils auch überhaupt nicht wahrschein- lich ist. Hier aber bei den Tauben ist sie sicher, und es fragt sich nun, auf welche Weise alle diese Veränderungen der Stammform zu Stande gekommen sind. 44 Darwin's Lehre. Erleichtert wird die Beantwortung dieser Frage dadurch, dass auch heute noch neue Rassen entstehen, und dass sie zum Theil wenigstens bewusst und absichtlich gemacht werden können. In England, wie auch in Deutschland und Frankreich gibt es Vereine für Geflügelzucht, und besonders in England sind die Tauben- und Hühner-Clubs zahlreich und hoch entwickelt. Sie beschränken sich keineswegs darauf, die einmal bestehenden Rassen rein weiter zu züchten, sondern sie suchen fortwährend, dieselben noch zu verbessern, d. h. ihre Charaktere zu steigern und noch schärfer auszuprägen, oder aber ganz neue Eigenschaften hinzuzufügen, und das gelingt in vielen Fällen. Es werden Preise auf bestimmte neue Abänderungen gesetzt, und so ein Wettbewerb der Züchter hervorgerufen, in welchem Jeder strebt, den verlangten Charakter möglichst rasch hervorzubringen. DARWIN erzählt: »Die englischen Preisrichter bestimmten, dass der Kamm des spanischen Hahns aufrecht sein solle, der bisher schlaff herabhing, und in fünf Jahren war dieses Ziel erreicht; sie ordneten Barte für die Hühner an, und nach sechs Jahren hatten 57 Gruppen der im Krystallpalast in London ausgestellten Hühner Barte«. Nicht immer gelingt die Umwandlung so rasch, es brauchte z. B. 13 Jahre, ehe es gelang, einer gewissen Rasse von Purzlern einen weissen Kopf aufzusetzen. Aber die Züchter verändern nach Gut- dünken alle sichtbaren Theile des Körpers und haben thatsächlich in den letzten 50 Jahren viele Rassen beträchtlich verändert. Sie verfahren dabei so, dass sie sorgfältig solche Thiere zur Nach- zucht auswählen, welche schon einen schwachen Anfang zu dem ge- wünschten Charakter besitzen. Domestizirte Thiere haben im Allge- meinen einen etwas höheren Grad von Variabilität, als wilde Arten. Dies benutzt der Züchter. Gesetzt, es handle sich darum, einer glatz- köpfigen Rasse einen Federbusch aufzusetzen, so wird ein Vogel mit ein wenig längeren Federn des Hinterkopfes ausgewählt und zur Nachzucht verwandt. Unter seinen Nachkommen werden dann viel- leicht Einige sein, die diese etwas vorstehenden Federn ebenfalls auf- weisen, und wahrscheinlich auch ein oder das andere Thier, das eine noch beträchtlichere Verlängerung dieser Federn besitzt. Diese werden dann zur Zucht benutzt, und indem man so fortfährt und von Generation zu Generation immer nur Vögel zur Nachzucht auswählt, die sich am meisten dem angestrebten Ziel nähern, gelingt es zuletzt den gewünschten neuen Charakter zu erhalten. Also nicht durch Kreuzung verschiedener Rassen, sondern durch g-eduldio-e Häufuno- unbedeutender kleiner Abweichungen Künstliche Züchtung. 45 durch viele Generationen hindurch lassen sich die gewünschten Ab- änderungen erzielen, das ist der Zauberstab, mittelst dessen der er- fahrene Züchter seine Rasse — man möchte sagen, wie der Bildhauer sein Thonmodell nach Willkür umformt und umknetet. Ganz nach seinem Wunsch erzielte er so bei den Tauben alle die phantastischen Formen, die wir kennen gelernt haben, lauter Abänderungen, die weder für das Thier, noch für den Menschen nützlich sind, vielmehr nur die Laune, durchaus nicht immer auch den Schönheitssinn des Letzteren befriedigen, denn viele der heute existirenden Rassen unserer Tauben, Hühner und anderer Hausthiere sind nichts weniger als schön; ihr Körper ist oft unharmonisch gebaut, ja nicht selten geradezu monströs. Bei den Tauben sowohl als bei anderen Hausthieren sind zum Theil Veränderungen erzielt worden, die nicht nur nicht nützlich sind, sondern geradezu schädlich für ihren Träger werden müssten, wäre die Rasse auf das Leben im Naturzustand angewiesen. Einio-e der ganz kurzschnäbligen Taubenrassen haben einen so kleinen und weichen Schnabel, dass ihre Jungen die Eischale mit demselben nicht mehr anritzen und sprengen können, und elend umkommen müssten, hülfe ihnen nicht der Mensch nach. Das Yorkshire-Schwein ist ein Fettkoloss auf so kurzen, schwachen Beinchen, dass das Thier auf sich selbst angewiesen, seine Nahrung nicht gewinnen, geschweige einem Raubthier entfliehen könnte, und unter den Pferden würde weder der plumpe Karrengaul, noch das Rennpferd den Gefahren der Wild- niss und den Unbilden der Witterung gewachsen sein. Vielfach hat sich die Züchtung darauf gelegt, dem Menschen nützliche Veränderungen zu erzielen. So gibt es Fleisch-, Milch- und Zugrassen des Rindes, und beim Schaf Fleisch- und Wollerassen, und wie weit man es hier in der Steigerung der gewünschten Eigen- schaften, z. B. in der Feinheit der Wolle gebracht hat, beweist die edelste Schafrasse, das Merinoschaf, welches statt der 5500 Haare, welche das alte deutsche Schaf auf einem Quadratzoll Haut besitzt, deren bis zu 48000 trägt. Nicht selten ist nur ein gewisses Stadium einer Art vom Men- schen umgezüchtet worden, und die übrigen mehr oder weniger un- verändert geblieben. So bei einem der wenigen domestizirten Insekten, dem Seidenspinner. Für den Menschen ist nur das Gespinnst von Werth und von diesem unterscheidet man verschiedene Rassen, nach Feinheit, Farbe u. s. w., von der Raupe dagegen und dem Schmetter- ling sind keine Rassen gebildet worden. Von der Stachelbeere ^o"s »0< 4 6 Darwin's Lehre. gibt es etwa hundert nach Form, Farbe, Grösse, Dicke der Schale, Behaarung u. s. w. verschiedene Rassen, die kleinen, unscheinbaren grünen Blüthen aber, um die der Züchter sich nicht kümmert, sind bei allen die gleichen. Umgekehrt beziehen sich die Rassen des Stiefmütterchens (Viola tricolorj nur auf die Blumen, während die Samen gleich geblieben sind. Man könnte nun fragen, wie es denn Jemand im Anfang der Domestizirung z. B. der Taube in den Sinn kommen konnte, eine Pfauen- oder Kropftaube erzüchten zu wollen, da er eine solche doch wohl nicht im Geist vorherzuschauen vermochte. Dem entgegnete Darwin, dass es eben nicht immer die heute geübte zielbewusste, methodische Zuchtwahl war, welche die Rassen hervorrief, sondern dass sehr häufig und im Anfang wohl immer unbewusste Zucht- wahl stattfand. Wenn Wilde sich einen Hund zähmten, so benutzten sie zur Nachzucht die »besten« ihrer Hunde, d. h. diejenigen, welche die von ihnen geschätzten Eigenschaften, z. B. Wachsamkeit, oder wenn sie den Hund zur Jagd benutzten, Spürsinn und Schnelligkeit im höchsten Grade besassen. Dadurch musste sich aber der Körper des Thieres in ganz bestimmter W^eise umbilden, ganz besonders wenn dabei der Ehrgeiz mitspielte und Jeden antrieb, ebenso gute oder noch bessere Hunde zu besitzen, als Andere seines Stammes. Dass wirklich auf diese Weise unbewusst dennoch auf ganz bestimmte körperliche Umgestaltungen hingearbeitet werden kann, zeigt am besten das Beispiel des Rennpferdes. Dieses ist in den letzten zwei Jahrhunderten einfach dadurch entstanden, dass man aus den Nachkommen von Kreuzungen arabischer und englischer Pferde stets die flüchtigsten zur Nachzucht auswählte. Man hätte nicht im Voraus sagen können, dass Pferde mit dünnem Hals, kleinem Kopf, langem Rumpf und dünnen Beinen nothwendig die schnellsten Renner sein müssten; aber so hat sich die Rasse gestaltet, die aus dieser Zucht- wahl hervorging, ein hässliches, aber sehr flüchtiges Pferd. Gewiss hat diese unbewusste Zuchtwahl bei der ersten Entstehung der Haus- thierrassen eine bedeutende Rolle gespielt. Aber auch bei der methodischen und völlig bewussten Erzüchtung bestimmter Charaktere verändert der Züchter nur selten blos den einen Charakter, auf welchen er sein Augenmerk richtet; meist ver- ändert sich noch eine gewisse Anzahl anderer Eigenschaften ohne sein Zuthun als unvermeidliche Begleitung der erstrebten, ins Auge gefassten Abänderung. Es gibt Kaninchenrassen, deren Ohren nicht aufgerichtet auf dem Kopf stehen, sondern schlaff herabhängen ; Künstliche Züchtung. 47 bei diesen sog. »Widderkaninchen« sind die Ohrmuskeln theil- weise degenerirt, und als Folge des nun mangelnden Muskelzuges hat der Schädel eine andere Gestalt angenommen. So wirkt die Ver- änderung eines Theils auf ein zweites und drittes Organ umgestaltend weiter, und sehr oft hat es nicht einmal dabei sein Bewenden, son- dern die Wirkungen greifen noch mehr um sich und beeinflussen weit entlegene Theile. Würde es gelingen , einem hornlosen Schaf schwere Hörner auf den Kopf zu züchten, so würden mit dieser einen, direkt erzielten Veränderung eine ganze Reihe von sekundären parallel laufen, die mindestens die ganze Vorderhälfte des Thieres betreffen würden; der Schädel würde dicker und stärker werden, um das starke Gehörn aushalten zu können, das den Kopf tragende Nackenband (Ligamen- tum nuchae) müsste sich verdicken, um den schwereren Kopf oben zu halten, und ebenso die Nackenmuskeln; die Dornfortsätze der Hals- und Rückenwirbel würden länger und kräftiger werden und auch die Vorderfüsse müssten der grösseren Last angepasst werden. Jede Art stellt also gewissermassen ein Mosaikbild dar, an dem keine Steinchengruppe herausgenommen und durch eine andere ersetzt werden kann, ohne den Zusammenhang und die Harmonie des Bildes bis zu einem gewissen Grad zu stören, so dass, um diese wiederher- zustellen, nun auch die benachbarten Steinchen verschoben oder durch andere ersetzt werden müssen. Auf dieser Correlation der Theile beruht es nach Darwin, dass sich meistens noch andere Theile des gezüchteten Thieres ver- ändern, als die absichtlich umgewandelten. Die gegenseitige Abhän- gigkeit der Theile spielt überhaupt eine höchst bedeutsame Rolle im Aufbau des Thierkörpers , wie wir später noch sehen werden, und zum Theil sind diese Zusammenhänge noch immer geheimnissvoll. So besonders der Zusammenhang zwischen den Keimdrüsen und den sog. sekundären Sexualcharakteren. Entfernung der Ersteren bringt z. B. beim Manne — wenn sie in der Jugend erfolgt — Beibehaltung der Kinderstimme, Mangel des Bartes, beim Hirsch Ausbleiben des Geweihes, beim Hahn unvollkommene Entwicklung des Kammes u. s. w. hervor, ohne dass wir klar zu erkennen vermöchten, warum dies so sein muss. Zj.8 Darwins Lehre. III. Vortrag. Fortsetzung von Darwin's Lehre. Naturzüchtung p. 48, Variation p. 49, Kampf ums Dasein p. 50, Geometrische Pro- portion der Vermehrung p. 50, Normalziffer und Vernichtungsziffer einer Art p. 52, Zufällige Ursachen der Vernichtung p. 54, Abhängigkeit des Bestandes einer Art von Feinden p. 55, Kampf zwischen den Individuen derselben Art p. 59, Naturzüchtung wirkt auf alle Theile und Stadien p. 62, Zusammenfassung p. 63. Meine Herren! Bei der künstlichen Züchtung-, durch welche be- wusst oder unbewusst die Rassen unserer Hausthiere und Culturpflanzen entstanden sind, wirken offenbar dreierlei Faktoren zusammen, nämlich erstens die Veränderlichkeit der Art, zweitens die Fähigkeit der Organismen, ihre eigenen Charaktere auf Nachkommen zu vererben und drittens der Züchter, welcher bestimmte Eigenschaften zur Nachzucht auswählt. Keiner dieser Faktoren darf fehlen ; der Züchter z. B. kann nichts ausrichten, wenn sich ihm nicht Abänderungen der Theile darbieten, in dem Sinn, in welchem er sie verändern möchte, und ebensowenig würde ein unbestimmtes, d. h. nicht durch Zucht- wahl geleitetes Variiren allein zur Bildung neuer Rassen führen; die Art würde dann möglicherweise mit der Zeit zu einem bunten Ge- misch mannichfacher Variationen werden, aber eine Rasse von be- stimmten, sich rein auf die Nachkommen vererbenden Charakteren könnte sich nicht bilden. Schliesslich wäre jeder Züchtungsprocess unmöglich, wenn die sich darbietenden Abänderungen nicht vererbt würden. DARWIN nimmt nun an, dass ganz ähnliche Umwandlungsprocesse wie sie hier unter Leitung des Menschen vor sich gehen, auch in freier Natur stattfinden; ja dass sie es vor Allem sind, welche die Umwandlung der Arten, wie sie im Laufe der Erdgeschichte statt- gefunden hat, hervorrufen und leiten. Er nennt diesen Process: Natürliche Zuchtwahl oder einfach Naturzüchtung. Dass zwei von den drei zu einem Züchtungsprocess erforder- lichen Faktoren auch im Naturzustand der Arten vorhanden sind, werden Sie gleich zugeben: Variabilität in irgend einem Betrage Darwin's Lehre. IQ fehlt bei keiner Thier- und Pflanzenart, wenn sie auch bei der einen grösser ist als bei der anderen, und dass die Unterschiede, welche das eine Individuum vom anderen kennzeichnen, sich vielfach ver- erben können, unterliegt auch keinem Zweifel. Nur dem Laien scheinen alle Individuen einer natürlichen Art ganz gleich, z. B. alle Kohhveisslinge oder alle Stücke des sog. kleinen Fuchses (Vanessa urticae) oder des Buchfinken. Wenn man aber genau vergleicht, so erkennt man bald, dass selbst bei diesen relativ sehr konstanten Arten kein Individuum dem anderen völlig gleich ist, dass bei dem einen Schmetterling 20, bei dem anderen 30 oder 25 schwarze Schüppchen einen bestimmten Fleck auf dem Flügel bilden, dass die Länge des Körpers, der Beine, der Fühler, des Rüssels um ein Ge- ringes verschieden ist, und es wird wahrscheinlich, dass genau die- selbe Combination lauter gleicher Theile überhaupt nicht zwei Mal vorkommt. Das lässt sich freilich bei Thieren nicht geradezu be- weisen, weil unser Unterscheidungsvermögen nicht fein genug ist, um die Unterschiede unmittelbar taxiren zu können, und weil Zusammen- stellung von Messungen aller Theile im Grossen nicht ausführbar ist, aber wir dürfen uns hier wohl auf die individuellen Verschieden- heiten des Menschen beziehen, die wir leicht und sicher zu erkennen vermögen. Schon allein in Bezug auf das Gesicht unterscheiden sich alle Menschen voneinander, und so zahlreiche und weitgehende Ähn- lichkeiten es auch gibt, so lassen sich doch keine zwei Menschen finden, die auch nur in den Charakteren des Gesichts völlig gleich wären. Selbst die sog. »identischen« Zwillinge lassen sich stets unter- scheiden, wenn man sie in Person oder in Photographie direkt ver- gleicht, und nimmt man den übrigen Körper hinzu, so finden sich zahlreiche kleine, zum Theil sogar messbare Unterschiede. Ganz ebenso verhält es sich bei den Thieren, und es beruht nur auf Mangel an Übung, wenn wir ihre individuellen Unterschiede häufig nicht sehen. Die böhmischen Schäfer sollen in ihren nach vielen Tausenden zählenden Schafherden jedes Stück persönlich kennen und von den übrigen unterscheiden können. Also die Faktoren der Va- riabilität und der Vererbung wären gegeben, und es fragt sich nur, Wer denn die Rolle des zur Nachzucht auswählenden Züchters in der freien Natur übernimmt. Die Beantwortung dieser Frage bildet den Kern der ganzen DARWlN'schen Lehre, welche den Lebens- bedingungen diese Rolle zutheilt, gewissen Beziehungen der Individuen zu den äusseren Einflüssen, welche sie während ihres Lebenslaufes treffen und zusammen den »Kampf ums Dasein« ausmachen. Weis mann, Descendenztheorie. 4 5o Darwin s Lehre. Um Ihnen diesen Begriff klar zu machen, muss ich etwas aus- holen. Es ist eine allgemein beobachtete Thatsache, dass von allen Arten, Thieren wie Pflanzen, mehr Keime und mehr Individuen hervorgebracht werden, als zur Reife heranwachsen, also so weit, um sich selbst wieder fortpflanzen zu können. Zahlreiche junge Individuen gehen früher zu Grunde, und zwar durch die Ungunst der Verhältnisse, durch Kälte, Dürre, Nässe, durch Hunger oder durch Feinde. Wenn wir nun fragen, welche von den Nachkommen früher zu Grunde gehen und welche erhalten bleiben zur Fortpflanzung der Art, so möchte man zunächst wohl geneigt sein anzunehmen, dass dies rein vom Zufall abhinge: allein gerade dies ist es, was DARWIN bestreitet. Nicht blos der Zufall, sondern vor Allem die Verschiedenheiten zwischen den Individuen lassen sie den Schädlichkeiten besser oder schlechter widerstehen, entscheiden also nach seiner Meinung darüber, wer untergehen soll und wer erhalten bleibt, und wenn dies so ist, dann haben wir in der That einen Züchtungsprocess und zwar einen, der immer die Besten, d. h. Widerstandsfähigsten zur Nachzucht übrig lässt, also gewissermassen »auswählt«. Sie werden zunächst einwerfen, warum denn immer so viele In- dividuen in der Jugend zu Grunde gehen müssen, ob es denn nicht ein- richtbar gewesen wäre, dass alle oder doch die meisten erhalten bleiben, bis sie sich fortgepflanzt haben. Das wäre aber eine unmögliche Ein- richtung, die schon deshalb nicht getroffen sein kann, weil die Organismen sich in geometrischer Progression vermehren, ihre Ver- mehrung demnach sehr bald ins Unermessliche gehen müsste. Nun ist ihnen ja eine Grenze gesetzt, die sie in keinem Falle überschreiten, die sie aber, wie wir sehen werden, niemals auch nur erreichen können, ich meine die Begrenzung durch Raum und Nahrung. Jede Art ist auf bestimmte Wohnbezirke beschränkt vermöge ihrer natürlichen Lebenserfordernisse, auf das Land, oder auf das Wasser, aber meist noch viel specieller auf ein bestimmtes beschränktes Stück der festen Oberfläche der Erde, wo allein das geeignete Klima sich für sie findet, oder wo allein noch viel speciellere Bedingungen ihrer Existenz erfüllt sind, wie z. B. das Vorkommen einer Pflanzenart, auf welche die betreffende Thierart als auf ihre Nahrung angewiesen ist u. s. w. Könnte sie sich ungehindert d. h. ohne Zerstörung vieler ihrer Nachkommen jeder Generation vermehren, so würde jede Art sehr bald ihr ganzes Wohngebiet erfüllen und ihren ganzen Nahrungs- vorrath für immer vernichten, um sodann selbst auszusterben. Dem Darwin's Lehre. 51 muss also irgendwie vorgebeugt sein, denn thatsächlich geschieht dies ja nicht. Sie denken vielleicht, diese Vorbeugung könne ja auch in einer Regulirung der Fruchtbarkeit der Arten gelegen sein, indem solche Arten, die kein grosses Wohngebiet besitzen, oder denen nur relativ kleine Nahrungsvorräthe zur Verfügung stehen, auch nur geringe Ver- mehrung aufwiesen, allein dem ist nicht so; schon die schwächste Vermehrung würde genügen, um jede Art sehr bald ihr ganzes Wohn- gebiet bis zu völliger Besetzung und totaler Ausbeutung der Nah- rungsvorräthe zu erfüllen. Darwin führt als Beispiel den Elefanten an, der erst mit 30 Jahren anfängt sich fortzupflanzen und damit bis zum 90. Jahre fortfährt, aber so langsam, dass er in diesen 60 Jahren im Ganzen nur etwa drei Paar Junge hervorbringt. Dennoch würde ein Elefantenpaar in 500 Jahren sich bis auf 15 Millionen Nachkommen vermehren, falls alle Jungen erhalten blieben und fortpflanzungsfähig würden. Eine Vogelart, die fünf Jahre lebt und in diesem Leben vier Mal brütet und jedesmal vier Junge aufzieht, würde sich in 15 Jahren bis auf 2000 Millionen Nachkommen vermehren. Obgleich also die Fruchtbarkeit in der That bei jeder Art genau geregelt ist, so ist doch geringere Fruchtbarkeit allein für sich noch kein Mittel, um das übermässige Anwachsen einer Art zu verhindern, und ebensowenig ist es die für eine Art vorhandene Nahrungs- menge. Mag diese sehr gross, oder sehr klein sein, wir sehen, dass sie thatsächlich niemals ganz verbraucht wird, dass sogar immer ein viel grösserer Theil derselben übrig bleibt, als verzehrt wird. Wenn es blos von der Nahrungsmenge abhinge, so würde z. B. in der tro- pischen Heimath der Elefanten Nahrung für das Viel-Tausendfache der Elefanten vorhanden sein, die thatsächlich dort leben, und bei uns könnten die Maikäfer noch viel massenhafter auftreten, als sie dies im schlimmsten Maikäferjahr thun, da in einem solchen doch niemals alle Blätter von allen Bäumen abgefressen werden, immernoch zahl- reiche Bäume und Blätter verschont bleiben. Auch vernichtet die Rosenblattlaus trotz ihrer enormen Fruchtbarkeit niemals alle Triebe eines Rosenbusches, und nicht alle Rosenbüsche eines Gartens oder gar des ganzen Wohngebietes der Rose. Allerdings aber steht die Individuenmenge einer Art in einem gewissen Verhältniss zur Menge der für sie vorhandenen Nah- rung; sie ist z. B. sehr niedrig bei den grossen Fleischfressern, dem Löwen, dem Adler u. s. w. In unseren Alpen sind die Adler mit der Abnahme des Wildes auch seltner geworden, und wo noch ein Adler- 4* 52 Darwins Lehre. paar horstet, da beherrscht es einen mehr als 20 Stunden weiten Jagd- bezirk ganz allein und ohne Conkurrenz von Seinesgleichen. Wären mehrere Adlerpaare auf einem solchen Bezirk, so würden sie die vor- handene Nahrung bald so dezimirt haben, dass sie verhungern müssten. Umgekehrt können auf demselben Jagdbezirk des Adlerpaars zahl- reiche Pflanzenfresser, Gemsen und Murmelthiere leben, da für sie Nahrung in unendlich viel grösserer Masse vorhanden ist. Gewiss ist die Zahl von Individuen, welche von einer bestimmten Art auf einem bestimmten Wohngebiet lebt, nicht genau dieselbe Jahr aus Jahr ein, sie ist vielmehr kleineren, und manchmal, wie bei Blattläusen und Maikäfern sehr grossen Schwankungen ausgesetzt, dennoch aber dürfen wir annehmen, dass sich ihre Durchschnitts- ziffer gleich bleibt, dass also in einem Jahrhundert oder gar Jahr- tausend die Anzahl von Individuen, welche während dieser Zeit in reifem Zustande gelebt hat, dieselbe bleibt. Allerdings gilt dies nur unter der Voraussetzung, dass auch die äusseren Lebensbedin- gungen sich während dieses Zeitraums gleich bleiben. Dies wird aber bis zum Eingreifen des Menschen in die Natur meist durch weit längere Zeiten hindurch der Fall gewesen sein. Nennen wir nun die Durchschnittszahl von Individuen, welche auf einem sich gleichbleibenden Wohngebiet vorkommen, die Normal- ziffer der Art, so wird dieselbe einmal dadurch bestimmt, wie viele Nachkommen jährlich hervorgebracht werden, und dann dadurch, wie viele von diesen jährlich zerstört werden, ehe sie die Reife erlangt haben. Da die Fruchtbarkeit einer Art eine bestimmte Grösse ist, so muss es auch die Grösse der Vernichtung, oder wie wir sie nennen können, die Vernichtungsziffer sein, falls die Normalziffer der Art sich bei gleichbleibenden Lebensbedingungen gleich bleibt. Es muss also jede Art einer ganz bestimmten Grösse der Vernichtung unter- worfen sein, welche sich durchschnittlich gleich bleibt, und in welcher der Grund liegt, warum eine Art nicht über ihre Normalziffer hinaus- wachsen kann, trotz des weit überschiessenden Nahrungsvorrath.es und trotz der stets zu schrankenloser Vermehrung ausreichenden Fruchtbarkeit. Es ist nun nicht schwer, die Vernichtungsziffer für eine bestimmte Art zu berechnen, wenn man ihre Vermehrung kennt, denn wenn die Normalziffer der Art gleich bleiben soll, so können nur genau zwei Junge von allen Nachkommen, die ein Paar während seines Lebens hervorbringt, wieder zur Fortpflanzung gelangen; die Übrigen müssen zu Grunde gehen. Darwins Lehre. C 7. Gesetzt z. B. ein Storchenpaar brächte jährlich vier Junge hervor und zwar 20 Jahre hindurch, so müssen von den 80 Jungen, welche innerhalb dieser Zeit entstehen, durchschnittlich 78 wieder zu Grunde gehen, und nur zwei können zu reifen Thieren werden. Gelangten mehr als zwei zur Reife, so würde die Gesammtmenge der Störche zunehmen müssen, was gegen die Voraussetzung des Gleichbleibens der Normalziffer wäre. Es ist für die Gesichtspunkte, die wir hier im Auge haben nicht unwichtig, dies noch an einigen anderen Beispielen sich vor Augen zu halten. Ein Forellen w eibchen bringt jährlich ungefähr 600 Eier hervor; nehmen wir an, dasselbe bleibe nur zehn Jahre lang fort- pflanzungsfähig, so betrüge die Vernichtungsziffer der Art 6000 weniger zwei also 5998, denn von den 6000 Eiern würden nur zwei wieder zu reifen Thieren. Bei den meisten Fischen ist die Vernich- tungsziffer eine noch ungleich grössere. So bringt ein Weibchen des Härings jährlich 40000 Eier hervor; die Lebensdauer auf zehn Jahre angeschlagen, gäbe dies eine Vernichtungsziffer von 400000 weniger zwei also 399998. Der Karpfen bringt jährlich 200000 Eier her- vor, der Stör gar zwei Millionen, und beide Arten leben lang und bleiben gewiss über 50 Jahre lang fortpflanzungsfähig. Von allen den 100 Millionen Eiern, welche im letzteren Falle während eines Lebens hervorgebracht werden, gelangen aber nur zwei wieder zur vollen Entwicklung und zur Fortpflanzung, alle anderen verfallen der vorzeitigen Zerstörung. Aber auch damit sind wir noch nicht auf der Höhe der Zer- störungsziffer angelangt, denn zahlreiche niedere Thiere bringen noch mehr Keime hervor, geschweige denn viele der Pflanzen. Schon LEUWENHOEK berechnete die Fruchtbarkeit eines Spulwurm-Weibchens auf 60 Millionen Eier, und ein Bandwurm wird kaum unter 100 Millionen Eier hervorbringen. Es besteht also ein konstantes Verhältniss zwischen Frucht- barkeit und Vernichtungsziffer, je höher die letztere ist, um so grösser muss die erstere sein, wenn die Art überhaupt Bestand haben soll. Das Beispiel des Bandwurms macht dies sehr anschaulich, hier können wir gut begreifen, warum die Fruchtbarkeit eine so ungeheure sein muss, da wir die lange Kette von Zufälligkeiten kennen, welche die Entwicklung dieses Thieres bedingen. Die Taenia solium, der gewöhnliche Menschen-Bandwurm legt seine Eier nicht ab, sondern dieselben bleiben eingeschlossen in dem abgehenden Bandwurmglied. Nur wenn dieses Letztere zufällig von einem Schwein oder anderen CA Darwins Lehre. Säuger entdeckt und gefressen wird, können sich die darin enthaltenen Eier entwickeln, aber unter Schwierigkeiten und Verlusten, und noch nicht gleich zum reifen Thiere, sondern zunächst zu mikroskopisch kleinen kugeligen Larven, die sich in die Wand des Darmes ein- bohren und, wenn sie glücklich genug sind, in den Blutstrom gelangen, um von diesem an irgend eine entfernte Stelle des Körpers getrieben zu werden. Dort entwickeln sie sich zur Finne, dem sog. Blasen- wurm, in dem der Bandwurm-Kopf entsteht. Damit aber dieser den ganzen, fortpflanzungsfähigen Wurm hervorbringe, muss das Schwein erst sterben, und nun muss der günstige Zufall eintreten, dass ein Stück des Fleisches dieses Thiers von einem Menschen oder anderen Säuger roh verschluckt wird! Erst damit gelangt die mit verschluckte glückliche Finne an ihr Lebensziel, d. h. an die Stätte, an welcher sie reif werden kann: in den Darm des Menschen. Es liegt auf der Hand, dass unzählige Eier des Bandwurms verloren gehen müssen, ehe einmal eines diesen ganzen, vom Zufall so sehr abhängigen Entwicklungsgang glücklich durchläuft. Daher die Notwendigkeit so enormer Eier- massen. Häufig sind die Zerstörungsursachen, welche eine Art in Schranken halten, schwer genau festzustellen. Feinde, d. h. andere Arten, die diese Art als Nahrung benutzen, spielen dabei eine grosse Rolle, viel- fach aber ist es auch die Ungunst der äusseren Verhältnisse, der Zu- fall, der nur einem unter Tausenden günstig ist. Die Eiche brauchte nur einen Samen in dem halben Jahrtausend ihrer Lebensdauer hervorzubringen, wäre es sicher, dass dieser jedesmal auch wieder zum Eichbaum heranwüchse; aber die meisten Eicheln werden von Schweinen, Eichörnchen, Insekten u. s. w. gefressen, ehe sie noch keimen können, Tausende fallen auf dicht bewachsenen Boden, wo sie nicht Wurzel fassen können, und wenn eine auch wirklich einmal ein Plätzchen freie Erde zum Keimen erlangt, so hat das junge Pflänzchen noch tausend Fährlichkeiten zu bestehen, Angriffe von zahlreichen kleinen und grossen Thieren, die sich von ihm ernähren möchten, Erstickung von dem benachbarten Pflanzengewirr u. s. w. Wir begreifen so einigermassen wenn auch nur ungefähr, dass die Eiche Jahr für Jahr Tausende von Samen hervorbringen muss, damit die Art ihre Normalziffer aufrecht erhalten kann und nicht unter- zugehen braucht; denn es liegt auf der Hand, dass ein stetiges, wenn auch langsames Sinken der Normalziffer, ein regelmässiges Manco nichts Anderes bedeuten würde, als das allmälige Aus- sterben der Art. Darwins Lehre. Z. C Aber auch dieser Keimreichthum ist noch nicht das Äusserste von Fruchtbarkeit, dem wir in der Natur begegnen; niedere Pflanzen viel- mehr leisten darin das Höchste. Man hat berechnet, dass ein ein- ziger Wedel des schönen, in unseren Wäldern so häufigen Farn- krautes, Aspidium filix mas, etwa 14 Millionen Sporen hervorbringt! Sie dienen der Verbreitung der Art, werden als Sonnenstäubchen vom Wind fortgetragen, und nur verhältnissmässig wenige aus diesen Millionen kommen überhaupt nur zum Keimen, geschweige denn zur vollen Entwicklung der fertigen Pflanze. So sehen wir, dass die scheinbare Verschwendung der Natur nichts ist, als eine Nothwendigkeit, als die unerlässliche Vorbedingung für die Erhaltung der Art; die Fruchtbarkeit einer Art wird bedingt durch die Zerstörung, welcher sie ausgesetzt ist. Das zeigt sich klar, wenn eine Art unter neue und günstigere Lebensverhältnisse versetzt wird, in welchen sie eine Fülle von Nahrung, aber wenig Feinde an- trifft. In diesem Falle waren z. B. die nach Südamerika eingeführten und dort verwilderten europäischen Pferde, von denen jetzt Heerden von vielen Tausend Stücken auf den weiten Grasebenen um- herschweifen. Vermindern sich die kleinen Singvögel einer Gegend, so vermehren sich die Raupen und andere dem Menschen schädliche Insekten, die diesen als Nahrung dienen. Die kolossalen Zerstörungen, welche der gefürchtete Spinner, die Nonne, von Zeit zu Zeit in un- seren Wäldern anrichtet, beruht wohl zum Theil auf einer Vermin- derung dieser und anderer Insektenfeinde, zu der dann wohl noch den Raupen günstige Witterungs-Verhältnisse mehrerer Jahre hinzu- kommen müssen. Wie mächtig, ja fast unbegreiflich die Individuenzahl der Raupen unter solchen Umständen anwachsen kann, zeigen solche Raupenfrasse, durch die z. B. in Preussen im Jahr 1856 viele Quadrat- meilen Wald vollständig abgefressen wurden. Der Raupen waren so viele, dass man schon von einiger Entfernung den fallenden Koth derselben wie einen Regen niederrauschen hörte, und dass zehn Zentner Eier ihrer Schmetterlinge gesammelt wurden, das Loth zu 200CO Eiern! Man würde aber sehr irren, wollte man aus diesem enormen und plötzlichen Anwachsen der Individuenzahl einer Art schliessen, dass die Normalziffer der Individuen durch die Zahl der Feinde allein bestimmt würde. Die durchschnittliche Individuenzahl einer Art hängt von vielen anderen Bedingungen ab, vor Allem von der Grösse des Wohngebietes und des Nahrungsvorraths im Verhältniss zur Körper- grösse der Art. Ich will darauf nicht näher eingehen, sondern nur c 6 Darwin's Lehre. hervorheben, dass es für die Fortdauer einer Art gleichgültig ist, ob sie »häufig« oder »selten« ist, vorausgesetzt dass ihre Normalziffer sich im Durchschnitt der Jahrhunderte gleich bleibt, d. h. dass ihre Fruchtbarkeit genügt, um den jedesmaligen Verlust durch Feinde und sonstige Zerstörungsursachen zu decken. Man könnte zwar gerade aus solchen Fällen plötzlicher enormer Zunahme der Individuenzahl, wie er bei einem Raupenfrass stattfindet, zu schliessen geneigt sein, dass die Feinde und andere zerstörende Ursachen am meisten Theil an der Feststellung der Normalzififer hätten. Das ist indessen nur scheinbar der Fall. Die Feinde machen eine gewisse Fruchtbar- keit der Beuteart nothwendig, damit der Ausfall jeder Generation wieder gedeckt werde; wie viele fortpflanzungsfähige Paare aber vor- handen sind, das ist dabei nicht ausschlaggebend. Man darf nicht vergessen, dass die Normalziffer der Feinde ihrerseits ab- hängig ist von der ihrer Beutestücke, dass sie steigt und fällt mit dem Steigen und Fallen der Normalziffer der Beuteart. Aus diesem Grunde kann auch eine solche enorme Steigerung der Individuenzahl wie beim Raupenfrass nicht lange andauern; sie trägt ihr Correktiv in sich. Das massenhafte Auftreten einer Raupe vermehrt von selbst ihre Feinde; Singvögel, Schlupfwespen, Mord- fliegen, Käferlarven und Raubkäfer finden reiche und bequeme Nah- rung an ihnen, pflanzen sich deshalb reichlicher fort und vermehren sich so rasch, dass sie unter Mitwirkung pflanzlicher Raupenfeinde, vor Allem der Insekten-tödtenden Pilze, bald die Raupen auf und selbst weiter unter ihre Normalziffer herabdrücken. Dann aber be- ginnt der umgekehrte Prozess, die Feinde der Raupen vermindern sich, weil ihnen nun das Futter knapp wird und sinken ihrerseits unter ihre Normalziffer, während die Raupen nun allmälig wieder zu- nehmen. Wenn auf einem Jagdgebiet die Füchse an Zahl zunehmen, so vermindert sich die Zahl der von ihnen verfolgten Hasen, und um- gekehrt bedeutet eine starke Dezimirung der Füchse durch den Menschen eine Vermehrung der Hasen dieses Gebietes. Im Natur- zustand, d. h. unter Wegdenkung des Menschen, würde ein stetes Balanciren der Individuenzahl der Hasen und der Füchse stattfinden müssen, indem jeder stärkeren Vermehrung" der Hasen immer eine solche der Füchse nachfolgen müsste, welch' Letztere dann wieder die Zahl der Hasen herabdrückt, so dass nun wieder für die vor- handenen Füchse die Nahrung nicht mehr ausreicht, und sie wieder abnehmen, solange, bis die Hasenzahl durch die geringere Nachstel- Darwin's Lehre. 5 7 hing und Zerstörung sich wieder gehoben hat. Das Beispiel ist in der Natur nicht so einfach, weil der Fuchs nicht blos von Hasen lebt, und weil der Hase seinerseits nicht blos vom Fuchs decimirt wird, aber es macht es doch anschaulich, dass ein labiles Gleich- gewicht zwischen den Arten eines Wohngebietes besteht, zwischen den Verfolgten und den Verfolgern, und zwar derart, dass die Individuenzahl beider Arten zwar stets leise auf- und abschwankt, aber dennoch sich gegenseitig so beeinflusst, dass eine Regulirung daraus hervorgeht, und eine in grösseren Zeiträumen sich gleich- bleibende Durchschnittsziffer, — eben die Normalziffer sich fest- stellt. Sie ist die Mittlere, um welche die aktuellen Mengen der Individuen auf- .und abschwanken. So einfach, wie in dem ange- nommenen Beispiel sind nun diese Beeinflussungen und Regulirungen wohl selten oder niemals, vielmehr spielen dabei meist mehrere oder viele Arten ineinander, und keineswegs blos Raub- und Beutethiere, sondern die verschiedensten, anscheinend gar nicht in Beziehung stehenden Arten von Thieren und von Pflanzen, nicht zu reden von den physikalischen, besonders klimatischen Lebensbedingungen, welche ebenfalls die Artziffer auf- und abschwanken machen. Wie verwickelt aber die Beziehungen der auf einem Wohngebiet bei einander lebenden Arten häufig sind, das möchte ich Ihnen doch an ein Paar Beispielen zeigen. Zunächst sei das berühmte Beispiel DARWIN's erwähnt von der Fruchtbarkeit des Klees, welche bestimmt wird durch die Zahl der Katzen. Es ist freilich nur ein erdachtes Beispiel, beruht aber auf richtigen Thatsachen. Die Zahl der Katzen, welche in einem Dorfe leben, bestimmt bis zu einem gewissen Grade die der Feldmäuse der Gemarkung. Diese wiederum zerstören die Nester der in Erdlöcher bauenden Hummeln, und es hängt also die Zahl der Hummeln von der der Mäuse und der Katzen ab. Da nun der Klee von Insekten befruchtet werden muss, um Samen anzusetzen, und da nur die Hummeln einen hinreichend langen Rüssel besitzen, um dies thun zu können, so wird also die Menge des jährlich hervor- gebrachten Kleesamens durch die Menge der Hummeln bestimmt und in letzter Instanz durch die der Katzen. — Man hat in der That in Neuseeland die Hummeln aus England eingeführt, weil man ohne sie keinen Samen vom Klee erhielt. Auf den Grasebenen Paraguays fehlen wilde Rinder und Pferde, weil dort eine Fliege lebt, die ihre Eier mit Vorliebe in den Nabel neugeborener Rinder und Pferde legt, welche dann durch die aus- schlüpfenden Maden getödtet werden. Die Zahl dieser Fliegen kann ^8 Darwins Lehre. man sich abhängig denken von insektenfressenden Vögeln, welche ihrerseits wieder von der Zahl gewisser Raubthiere abhinge. Letztere könnten dann in ihrer Anzahl durch die Ausdehnung der Wälder be- stimmt werden, und diese endlich durch die Zahl von Wiederkäuern, welche den jungen Nachwuchs der Wälder abweiden (Darwin). Dass wirklich Wälder durch Wiederkäuer vernichtet werden können, beweist unter Anderem die Insel St. Helena, die bei ihrer Entdeckung von dichtem Wald bedeckt war, durch Ziegen und Schweine aber im Laufe von 200 Jahren in einen völlig kahlen Felsen umgewandelt wurde, indem diese den jungen Nachwuchs stets so gründlich abweideten, dass für gefällte oder abgestorbene Bäume kein Ersatz aufkam. Sehr anschaulich wird dies durch Darwin's Beobachtung einer weiten Haide, auf welcher nur wenige Gruppen alter Kiefern standen. Die blosse Einfriedigung eines Theils der Haide genügte, um eine dichte Saat junger Kiefern innerhalb derselben hervorzurufen, während die Untersuchung des offenen Theils der Haide ergab, dass hier das weidende Vieh die jungen Kiefernpflänzchen, welche aus Samen auf- ""iiiP'en, abp/eweidet hatte, und zwar immer wieder von Neuem, so dass auf einem kleinen Raum 32 Bäumchen im Grase verborgen standen, von denen einige bis zu 26 Jahresringen zählten. W'ie bestimmt die Individuenzahl verschiedener, auf demselben Wohngebiet lebender Arten sich gegenseitig beschränkt und dadurch regulirt, suchte DARWIN auch am Beispiel des Urwaldes zu veranschau- lichen, dessen vielerlei Pflanzenarten nicht regellos durcheinanderge- mischt sind, sondern in einem bestimmten Verhältniss. Ganz ähnliche Beispiele können wir überall finden, wo auf einem bestimmten Gebiet der Pflanzenwuchs sich selbst überlassen ist. Wenn wir an den Ufern unseres Flüsschens, der Dreisam entlang gehen, treffen wir auch ein wildes Durcheinander der verschiedensten Bäume, Sträucher und kraut- artigen Pflanzen. Aber wenn es auch nicht zahlenmässig nachgewiesen ist, so dürfen wir sicher sein, dass dieselben in einem bestimmten Zahlenverhältniss vertreten sind, welches abhängig ist von den natür- lichen Eigenschaften und Bedürfnissen dieser Arten, von der Masse und Verbreitungsfähigkeit ihrer Samen, der günstigeren oder ungün- stigeren Jahreszeit ihrer Reife, ihrer verschieden grossen Fähigkeit auf schlechtestem Boden Wurzel zu fassen und rasch empor zu wachsen u. s. w. Sie beschränken sich gegenseitig, und zwar derart, dass von dieser Art ein Prozent, von jener drei, von einer dritten vielleicht fünf Prozent der sämmtlichen Pflanzen des Flussufers gestellt werden, und dass dieselbe Combination von Pflanzen in demselben Verhältniss sich Darwin s Lehre. 59 an anderen Flussufern unseres Landes, wofern die äusseren Bedinsruneen gleich sind, wiederholen wird. Ganz ebenso muss es sich mit der Thierwelt eines solchen Pflanzendickichts verhalten, auch ihre Arten beschränken sich gegenseitig und reguliren dadurch ihre Individuen- zahl, die auf einem Wohngebiet mit gleichbleibenden Verhältnissen selbst relativ stabil, d. h. zur »Normalziffer« wird. Die in jeder Art liegende Fähigkeit zu unbegrenzter Vermehrung wird also eingeschränkt durch die Mitexistenz anderer Arten; es findet bildlich gesprochen - - ein fortwährender Kampf statt zwischen den Arten, pflanzlichen wie thierischen ; jede sucht sich, soviel als nur möglich, zu vermehren, und jede wird von den anderen eingeschränkt und, soviel nur möglich, daran gehindert. Es ist keineswegs blos die direkte Beschränkung der Individuenzahl, die darin besteht, dass die eine Art die andere als Nahrung verwendet, Raub- und Beutethier, oder Heuschrecke und Pflanzen, sondern noch mehr die indirekte Be- schränkung, bildlich gesprochen: der Kampf um Boden, Licht, Feuchtig- keit bei der Pflanze, um Nahrung bei dem Thiere. Aber alles Dieses, so bedeutsam es ist, macht doch noch nicht denjenigen »Kampf ums Dasein« aus, welchem Darwin und WALLACE die Rolle des Züchters übertragen im Prozess der Natur- züchtung. Der Kampf, d. h. die gegenseitige Beschränkung der Arten kann zwar sehr wohl eine Art in ihrer Ausbreitung beschränken, ihre Normalziffer herabdrücken, möglicherweise bis auf Null, d. h. bis zu ihrer Vernichtung, aber er kann eine Art nicht anders machen, als sie einmal ist. Dies kann nur dadurch geschehen, dass inner- halb der Art selbst ein Kampf ums Dasein stattfindet, der darin besteht, dass unter den zahlreichen Nachkommen durchschnitt- lich diejenigen überleben, d.h. zur Fortpflanzung gelangen, welche die Besten sind, deren Beschaffenheit es ihnen am ehesten möglich macht, die Hindernisse und Gefahren des Lebens zu überwinden und bis zur Reife erhalten zu bleiben. Wir sehen ja, ein wie grosser Prozentsatz jeder Generation bei allen Arten immer wieder zu Grunde geht, ehe er die Reife erlangt hat. Wenn nun die Entscheidung darüber, Wer zu Grunde gehen soll und Wer die Reife erlangen, nicht immer blos vom Zufall gegeben wird, sondern zum Theil auch von der Beschaffenheit der heranwachsenden Individuen; wenn die »Besseren« durchschnittlich überleben, die »Schlechteren« vor er- langter Reife durchschnittlich absterben, dann liegt hier ein Züch- tungsprozess vor, durchaus vergleichbar dem der künstlichen Züchtung, und der Erfolg desselben muss die »Verbesserung« der Art sein, ÖO Darwins Lehre. mag nun dieselbe in diesen oder in jenen Eigenschaften liegen. Die siegreichen Eigenschaften, die früher nur einzelnen Individuen eigen waren, müssen allmälig Gemeingut der Art werden, wenn in jeder Generation die zur Fortpflanzung gelangenden Individuen sie alle besitzen, sie also auch auf ihre Nachkommen vererben können. Diejenigen der Nachkommen aber, die sie nicht erben, werden wieder im Nachtheil sein im Kampf ums Dasein, oder genauer um die Er- langung der Reife, wenn in jeder Generation stets ein höherer Pro- zentsatz derjenigen Individuen zur Fortpflanzung kommt, die sie be- sitzen, als derjenigen, die sie nicht besitzen. Dieser Prozentsatz muss von Generation zu Generation zunehmen, weil ja in jeder die natür- liche Auslese der Besseren von Neuem eingreift, und er muss schliess- lich bis auf ioo Prozent steigen, d. h. es müssen nur Individuen der besseren Sorte noch übrig bleiben. Damit ist aber der Vorgang noch nicht erschöpft, vielmehr werden wir aus den Erfahrungen der künstlichen Rassenbildung ableiten dürfen, dass die gezüchteten Eigenschaften sich von Generation zu Generation steigern können, und dass sie dies so lange thun müssen, als eine Steigerung noch einen Vortheil im Kampf ums Dasein gewährt, denn so lange wird sie zu häufigerem Überleben ihrer Träger führen. Die Steigerung wird also erst stille stehen, wenn sie den höchsten Grad von Nützlichkeit erreicht hat, und es werden auf diese Weise neue Charaktere gebildet werden können, wie ja auch bei der künstlichen Züchtung aus den kurzen, aufwärts ge- krümmten Halsfedern bei der Perückentaube eben die Perücke, ein den Kopf überdeckender Feder-Baldachin erzüchtet worden ist. Einige Beispiele von Naturzüchtung werden den Vorgang anschau- licher machen. Unser Hase ist durch seinen aus Braun, Gelb, Weiss und Schwarz gemischten Pelz sehr gut vor Entdeckung gesichert, wenn er sich im trockenen Laub des Niederholzes in sein Lager duckt. Man kann leicht an ihm vorübergehen, ohne ihn zu sehen. Ist der Boden und die Büsche mit Schnee bedeckt, so sticht er dagegen stark davon ab. Gesetzt nun, das Klima würde kälter bei uns, und der Winter brächte anhaltenderen Schnee, so würden solche Hasen, die einen stärker mit Weiss gemischten Pelz besässen, im Vortheil sein im »Kampf ums Dasein« gegenüber ihren dunkleren Artgenossen, sie würden weniger leicht von ihren Feinden, dem Fuchs, Dachs, Uhu, der Wildkatze entdeckt werden. Von den zahlreichen Hasen, welche alljährlich ihren Feinden zum Opfer fallen, würden also durchschnittlich mehr dunkle Darwin 's Lehre. 6 I als helle Individuen sein. Der Prozentsatz heller Hasen miisste somit von Generation zu Generation steigen, und je länger der Winter würde, um so schärfer und anhaltender würde die Auswahl zwischen dunkeln und hellen Hasen, bis zuletzt nur noch helle übrig blieben. Zugleich würde sich aber auch die Helligkeit selbst der Hasen steigern müssen, einmal weil es immer häufiger vorkommen würde, dass zwei helle Hasen sich paarten, und dann, weil der Kampf ums Dasein sich sehr bald nicht mehr zwischen dunkeln und hellen Hasen abspielte, sondern zwischen hellen und noch helleren. So miisste zuletzt eine weisse Hasenrasse entstehen, wie eine solche denn wirklich in den Polar- ländern und auf den Alpen entstanden ist. Oder denken wir uns eine krautartige Pflanze, etwa vom Aussehen einer Tollkirsche, blätterreich und saftig, aber nicht giftig. Sie wird ohne Zweifel von den Thieren des Waldes mit Vorliebe abgeweidet werden und kann sich deshalb nur kümmerlich halten, da nur wenige ihrer Pflanzen zur Samenbildung gelangen. Nehmen wir nun an, bei einigen Büschen dieser Pflanze entwickle sich ein widerwärtig schmeckender Stoff in Stengel und den Blättern, wie solches durch geringe Veränderungen im Chemismus der Pflanze sehr wohl ge- schehen kann. Was würde anders die Folge sein, als dass nun solche Individuen weniger gern gefressen würden, als die andern? Es müsste also ein Selektionsprozess einsetzen, der darin bestünde, dass die widerwärtig schmeckenden Büsche der Pflanze häufiger verschont blieben, also auch häufiger Samen trügen, als die wohlschmeckenden. So müsste von Jahr zu Jahr die Zahl der schlecht schmeckenden sich vermehren. Wenn der betreffende Stoff zugleich giftig wäre oder nach und nach es würde, so müsste sich allmälig eine vor dem. Frass des Wildes vollkommen geschützte Pflanze herausbilden, etwa so wie es die Tollkirsche, Atropa Belladonna, wirklich ist. Oder setzen wir den Fall, ein Stromgebiet sei mit einer Karpfen- art besetzt, die bisher keinen grösseren Feind gehabt habe und da- durch träge und langsam geworden sei, und es wandere nun vom Meere aus eine orrosse Hechtart in dieses Wasser ein. Zunächst werden die Karpfen in Menge dem Hecht zum Opfer fallen, und dieser wird sich an Zahl rasch vermehren. Wenn nun nicht alle Karpfen gleich träge und stumpfsinnig sind, sondern unter ihnen auch etwas raschere und intelligentere vorkommen, so werden diese durchschnittlich seltener den Hechten zum Opfer fallen, es werden also zahlreichere Individuen mit den besseren Eigenschaften in jeder Generation er- halten bleiben, zuletzt nur noch solche, und es wird sich nach und 5 2 Darwin's Lehre. nach zugleich eine Steigerung- der nützlichen Eigenschaften, also eine raschere und scheuere Karpfen-Rasse herausbilden müssen. Vielleicht würde aber — so wollen wir annehmen — die Steige- runsr der Schnelligkeit und Scheu allein nicht ausreichen, um die Kolonie vor dem Untergang zu schützen, sondern es müsste dazu noch eine grössere Fruchtbarkeit kommen, damit die Normalzifler der Art nicht in dauerndes Sinken geriethe; aber auch dies würde durch Naturzüchtung erreicht werden können, falls die Natur der Art und die allgemeinen Lebensverhältnisse es gestatteten. Denn Variationen der Fruchtbarkeit finden sich bei jeder Art, und wenn die Aussicht, einige seiner Eier zu reifen Thieren werden zu sehen, für das frucht- barere Weibchen grösser ist, als für das minder fruchtbare, — caeteris paribus — so müsste ein Züchtungsprozess eintreten, der eine Stei- gerung der Fruchtbarkeit, soweit sie überhaupt möglich wäre, zur Folgte hätte. Offenbar können sich solche natürliche Züchtungsprozesse auf alle Theile und Eigenschaften beziehen, auf Grösse und Körperform eben- sogut, als auf irgend einen einzelnen Theil, auf die äussere Haut und ihre Färbung, auf jedes innere Organ, auch nicht blos auf körperliche Eigenschaften, sondern auch auf geistige, auf Intelligenz und auf In- stinkte. Nur biologisch gleichgültige Charaktere können dem Prinzip nach durch Naturzüchtung nicht verändert werden. Naturzüchtung kann auch jedes Alter verändern, denn die Zer- störung der Individuen beginnt schon vom Ei an, und eine Eiart, welche in irgend einer Weise besser geeignet ist, dieser Zerstörung zu entsrehen. wird ihre nützliche Eigenschaft auf Nachkommen vererben können, weil das junge Thier dadurch häufiger zu voller Entwick- lung gelangt als solche anderer Eier. Ganz ebenso muss auf jedem folgenden Entwicklungsstadium jede der Erhaltung des Individuums günstige Eigenschaft erhalten und gesteigert werden können. Daraus geht schon hervor, dass Naturzüchtung weit mächtiger sein muss, als die künstliche Züchtung des Menschen. Während diese Letztere immer nur einen Charakter auf einmal durch planmässige Züchtung verändern kann, wird Naturzüchtung im Stande sein, eine ganze Gruppe von solchen gleichzeitig zu beeinflussen, wie auch alle Stadien der Entwicklung. Es werden eben bei der Ausmerzung der jährlich der Vernichtung anheimfallenden Individuen durchschnittlich stets die »Besten«, d. h. diejenigen übrig bleiben, welche die meisten Theile und Anlagen des Körpers in jedem Stadium in möglichst bester Ausführung besitzen. Je länger dieser Züchtungsprozess dauert, Darwins Lehre. 6 ^ um so geringer werden die Abweichungen der Individuen von dieser besten Ausführung sein, und um so geringfügigere Unterschiede in der Güte werden den Ausschlag darüber geben, Wer unterzugehen hat und Wer seine Eigenschaften fortpflanzen darf. In den ungeheuren Zeiträumen, welche der Naturzüchtung zur Verfügung stehen, und den nicht abschätzbaren Mengen der Individuen liegt denn auch das wesentlichste Moment ihrer Überlegenheit gegenüber der künstlichen Züchtung des Menschen. Fassen wir kurz zusammen, so beruht das Wesen der Naturzüchtung auf einer Häufung kleinster nützlicher Abweichungen in der Richtung ihrer Nützlichkeit; nur Nützliches wird gebildet und gesteigert, und grosse Wirkungen kommen erst langsam durch Summirung vieler kleinster Schritte zu Stande. Naturzüchtung ist eine Selbst- regulirung der Art im Sinne ihrer Erhaltung; ihr Resultat ist die unausgesetzte Anpassung der Art an ihre Lebens- bedingungen. Sobald diese sich ändern, ändert auch Naturzüchtung ihre Auswahl, denn die vorher die Besten waren, sind es jetzt nicht mehr; Theile, die vorher gross sein mussten, müssen jetzt vielleicht klein werden, oder umgekehrt, Muskelgruppen, die schwach waren, müssen jetzt stark werden u. s. w. Die Lebensbedingungen sind ge- wissermassen die Form, über die Naturzüchtung immer wieder aufs Neue die Art abgiesst. Die philosophische Bedeutung aber der Naturzüchtung liegt darin, dass sie uns ein Prinzip aufweist, welches nicht zweckthätig ist und doch das Zweckmässige bewirkt. Zum ersten Male sehen wir uns dadurch in den Stand gesetzt, die so überaus wunderbare Zweckmässigkeit der Organismen bis zu einem gewissen Grade zu begreifen, ohne dafür die aussernatürlich eingreifende Kraft des Schöpfers in Anspruch zu nehmen. Wir verstehen nun, wie auf rein mechanischem Wege, nur durch die in der Natur stets wirksamen Kräfte alle Lebensformen sich den Lebensbedingungen aufs genaueste anschmiegen oder anpassen müssen, da nur das möglichst Beste sich erhält, alles minder Gute aber fort und fort wieder verworfen wird. Ehe ich nun dazu schreite, Sie genauer in die Erscheinungen ein- zuführen, die wir auf Naturzüchung beziehen, muss ich noch kurz er- wähnen, dass DARWIN keineswegs alle Veränderungen, welche im Laufe der Zeiten an den Organismen eingetreten sind, auf seine Natur- züchtuno- zurückführt. Einmal schreibt er den korrelativen Ab- änderungen, wie schon erwähnt, einen nicht unbeträchtlichen An- theil daran zu, vor Allem aber der direkten Einwirkung veränderter 64 Darwins Lehre. Lebensbedingungen, mögen sie nun in klimatischen und anderen Ver- änderungen der Umgebung bestehen, oder in der Annahme von neuen Gewohnheiten und dadurch gesteigerten oder herabgeminderten Ge- brauch einzelner Theile und Organe. Er erkennt das von LAMARCK so stark betonte Prinzip des Gebrauchs und Nichtgebrauchs als Ursache einer erblichen Zu- und Abnahme der geübten oder vernachlässigten Theile an, wenn auch mit einer gewissen Reserve. Ich werde später wieder auf diese Faktoren der Umbildung zurückkommen und dann versuchen, Ihnen zu zeigen, dass auch sie auf Selektionsprozesse zu beziehen sind, wenn auch auf solche anderer Ordnung als die Erschei- nungen, welche auf das Darwin- WALLACE'sche Prinzip der Natur- züchtung bezogen werden dürfen. Zunächst aber scheint es mir noth- wendig, die Tragweite dieses Letzteren Ihnen zur Anschauung zu bringen, und damit wollen wir uns denn in den nächsten Vorträgen ausschliesslich befassen. Färbungen der Thiere. 65 IV. Vortrag. Die Färbungen der Thiere und ihre Beziehung auf Selektionsvorgänge. Biologische Bedeutung der Färbungen p. 67, Sympathische Färbung der Eier p. 69, Thiere der Schneeregion p. 71, Thiere der Wüste p. 71, Glasthiere p. 71, Grüne Thiere p. 73, Nachtthiere p. 73, Doppelte Farbenanpassung p. 73, Schützende Zeich- nung der Raupen p. 76, Trutzzeichnungen p. 77, Dimorphismus der Färbung bei Raupen p. 83, Zurückrücken der Färbung in der Ontogenese p. 83, Sympathische Färbung bei Tagfaltern p. 85, bei Nachtfaltern p. 87, Theoretische Erwägungen p. 87, Hat die Be- lichtung Antheil an Schutzfärbungen, Tropidoderus p. 88, Minutiöse Zusammenstimmungen der Schutzfärbung, Notodonta p.91, Einwürfe, Nachahmung fremder Gegenstände Xylina p. 93, Blattschmetterlinge Kallima p. 95, Hebomoja p. 98, Nachtfalter mit Blattzeichnung p. 99, Heuschrecken von Blattähnlichkeit p. 100, Spannerraupen p. 102. Meine Herren! Sie wissen nun, was Darwin mit Naturzüchtung meint, und Sie verstehen, dass dieser Vorgang in der That eine in kleinen Schritten erfolgende Umwandlung der Lebensformen im Sinne der Zweckmässigkeit ist, welche mit derselben Nothwendigkeit ein- treten muss, wie wenn ein menschlicher Züchter, geleitet von der Ab- sicht, ein Thier nach irgend einer Richtung hin zu verbessern, stets die »besten« Thiere zur Nachzucht auswählt. Auch in der Natur findet eine solche Auswahl statt und zwar dadurch, dass in jeder Generation die Meisten im Kampf des Lebens unterliegen, dass aber durchschnittlich Diejenigen übrig bleiben, zur Fortpflanzung gelangen und ihre Eigenschaften auf Nachkommen übertragen, welche am besten den Lebensbedingungen angepasst sind, d. h. welche diejenigen Variationen der Art-Eigenschaften besitzen, die zur Besiegung der Gefahren des Lebens am vortheilhaftesten sind. Da die Individuen stets in irgend einem Betrag variabel sind, da ihre Variationen sich auf ihre Nachkommen vererben können, und da die stets sich wieder- holende Vernichtung der Mehrheit der Nachkommen eine Thatsache ist, so muss auch die Folgerung aus diesen Prämissen richtig sein, es muss eine »Naturzüchtung« geben im Sinne einer all- mäligen Steigerung der Zweckmässigkeit und Leistungs- fähigkeit der Lebensformen. Weismann, Descendenztheorie. e 66 Färbungen der Thiere. Direkt beobachten aber lässt sich der Vorgang der Naturzüchtung nicht, dafür geht er wohl immer zu langsam vor sich, und dafür ist auch unsere Beobachtungsgabe weder umfassend, noch fein genug. Wie wollten wir es anstellen, um die Millionen von Individuen, welche den jedesmaligen Bestand einer Art auf einem Wohngebiet ausmachen, daraufhin zu untersuchen, ob sie irgend eine schwankende Eigenschaft in einem gewissen Prozentsatz besitzen, und ob dieser Prozentsatz im Laufe der Jahrzehnte oder Jahrhunderte zunimmt? Und dazu kommt noch die Unsicherheit in der Werthschätzung der biologischen Be- deutung dieser Abänderung. Selbst in Fällen, wo wir diese Bedeu- tung im Allgemeinen ganz gut kennen, vermögen wir sie doch nicht gegen die einer anderen, uns auch ganz wohl verständlichen Eigen- schaft abzuschätzen. Wir werden später von den Schutzfärbungen sprechen und dabei die Raupen eines Schwärmers besprechen, die in zwei Schutzfärbungen vorkommen, indem sie zum Theil braun, zum Theil grün sind; aus der grösseren Häufigkeit der braunen Form dürfen wir wohl schliessen, dass Braun hier eine bessere Anpassung ist, als Grün, aber wie wollten wir dies direkt aus der Eigenschaft selbst und unserer nur sehr ungefähren Kenntniss von der Lebensführung dieser Art, ihren Gewohnheiten und den ihr drohenden Gefahren ent- nehmen? Von einer direkten Abschätzung des schützenden Werthes der beiden Färbungen kann gar keine Rede sein. Das Überleben des Passendsten also lässt sich in der Natur einfach deshalb nicht konstatiren, weil wir nicht im Voraus beurtheilen können, was das Passendste sein wird. Deshalb also musste ich Ihnen den Vorgang der Naturzüchtung an erdachten, anstatt an beobach- teten Beispielen klar zu machen suchen. Aber wenn wir auch die im Naturzustand sich ununterbrochen vollziehenden Züchtungsprozesse nicht direkt verfolgen können, so gibt es doch für eine Hypothese noch eine andere Art von Beweis, als denjenigen, der in der logischen Folgerung eines Vorgangs aus richtigen Prämissen liegt, ich möchte ihn den praktischen nennen. Wenn eine Hypothese im Stande ist, eine grosse Zahl von sonst unverständlichen Thatsachen zu erklären, so hat sie damit einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit gewonnen, und noch mehr steigert sich diese, wenn keine Thatsachen aufzufinden sind, welche mit ihr in Widerspruch treten. Beides darf von der Selektionshypothese behauptet werden, ja die Erscheinungen, welche durch sie erklärt werden und auf keine andere Weise erklärbar sind, bieten sich in so ungeheurer Zahl dar Sympathische Färbungen. 67 dass an der Richtigkeit des Prinzips kein Zweifel bleiben, und nur darüber noch gestritten werden kann, wie weit das Prinzip reicht. Wenden wir uns jetzt zu einer solchen Prüfung der Theorie an den Thatsachen, und zwar lassen Sie uns beginnen mit einer Betrach- tung der äusseren Erscheinung der Organismen, ihrer Farbe und Form. Farbe und Form der Organismen. Schon ERASMUS Darwin hat in manchen Fällen die biologische Bedeutung der Färbung einer Thierart sehr richtig erkannt, und ge- wiss haben noch gar manche unter den zahlreichen guten Beobachtern früherer Zeiten ähnliche Gedanken gehabt. Von dem in der Mitte des XVIII. Jahrhunderts berühmten Nürnberger Miniaturmaler und Naturforscher RöSEL von Rosenhof kann ich sogar bestimmt aus- sagen, dass er einzelne Fälle von dem, was wir heute Farbenanpassung nennen, sehr gut erkannt und hübsch beschrieben hat. Allein er gab sie nur als vereinzelte Fälle und war noch weit davon entfernt, die Erscheinung der Farbenanpassung in ihrer Allgemeinheit zu erkennen, oder gar sich die Frage nach ihren Ursachen zu stellen. Über- wucherte doch auch seit Linne das Bestreben, neue Arten aufzustellen, sehr die feinere Beobachtung der Lebensgewohnheiten und Lebens- beziehungen der Thiere, und später seit Blumenbach, KlELMEYER, CuviER und Anderen zog wieder das eifrige Erforschen des inneren Baues die Aufmerksamkeit vielfach von jenen Beziehungen ab. Der Systematik galt die Farbe einer Thierart doch nur als ein Merkmal untergeordneten Werthes, weil sie häufig nicht ganz stetig und manch- mal sogar recht schwankend ist; man hielt sich lieber an möglichst stabile Unterschiede, wie solche in der Form, Grösse und Zahl der Theile sich darbieten. Erst CHARLES Darwin hat die Aufmerksamkeit wieder darauf hingelenkt, dass die Färbung der Thiere nichts weniger als eine gleichgültige Sache ist, dass sie vielmehr in vielen Fällen dem Thier Nutzen bringt, indem sie dasselbe schwer sichtbar macht; ein grünes Insekt auf grünem Laub tritt wenig hervor, und ebenso ein graubraunes auf der Rinde eines Baumes. Es liegt nun auf der Hand, dass eine solche mit der gewöhnlichen Umgebung des Thiers übereinstimmende, sog. »sympathische« Färbung, sich mittelst des Selektionsprinzips unschwer in ihrer Ent- stehung begreifen lässt, und ebensowohl, dass sie sich durch das 5* 68 Färbungen der Thiere. LAMARCK'sche Umwandlungsprinzip nicht erklären lässt. Durch Häufung kleiner nützlicher Farben-Variationen kann sehr wohl aus der früheren Färbung allmälig eine grüne, oder auch eine braune entstanden sein, nicht aber kann sich ein graues oder braunes Insekt dadurch, dass es die Gewohnheit annahm, auf Blättern zu sitzen, in Grün umgefärbt haben, und noch weniger kann dabei der Wille des Thiers, oder irgend welche Art der Thätigkeit mitgewirkt haben. Selbst wenn das Thier eine Ahnung davon hätte, dass es ihm nun, nachdem es sich an das Sitzen auf Blättern gewöhnt hatte, sehr nütz- lich sein würde, grün gefärbt zu sein, wäre es doch ausser Stande gewesen, irgend Etwas für seine Grünfärbung zu thun. Man hat allerdings in neuester Zeit an die Möglichkeit einer Art von Farben- Photographie auf der Haut der Thiere gedacht, allein es gibt eine Menge von Arten, die in ihrer Färbung im Gegensatz zu ihrer Umgebung stehen, bei welchen also die Haut keine farbenphoto- graphische Platte ist, und es rnüsste also zuerst erklärt werden, wie es kommt, dass dieselbe bei den sympathisch Gefärbten als solche funktionirt. Ich verlange nicht den Nachweis der chemischen Zu- sammensetzung des dabei vorausgesetzten lichtempfindlichen Stoffes. Möchte dieser Jodsilber oder ganz etwas Anderes sein, die Frage bleibt die: Wie kommt es, dass er sich nur bei solchen Arten eingestellt hat, deren sympathische Färbung ihnen im Kampf ums Dasein nütz- lich ist? Und die Antwort darauf könnte für uns nur lauten: Er ist durch Naturzüchtung bei denjenigen Arten entstanden, denen eine sympathische Färbung nützlich war. Also selbst wenn die Vermuthung, dass es sich bei den sym- pathischen Färbungen um Selbstphotographie der Haut handle, richtig wäre, würden wir in dieser einen Ausfluss der Naturzüchtung sehen müssen, aber sie ist — allgemein wenigstens — nicht richtig, wie schon aus dem obigen Einwurf hervorgeht und aus vielen an- deren Erscheinungen der Farbenanpassung, in die ich Sie jetzt ein- führen möchte. Wir werden also zur Erklärung der sympathischen Färbungen mit DARWIN und WALLACE einen Selektionsprozess annehmen, der darin besteht, dass bei einem im Laufe der Zeit eintretenden Wechsel in der Färbung der Umgebung des Thiers durchschnittlich diejenigen Individuen leichter der Verfolgung ihrer Feinde entgingen, welche am wenigsten von der Farbe der Umgebung abstachen, und dass so im Laufe der Generationen sich eine immer grössere Übereinstimmung mit dieser Farbe feststellte. Variationen in der Färbung kommen Färbungen der Eier. ÖQ überall vor; sobald sie einen solchen Grad erreichen, dass sie ihrem Träger einen besseren Schutz gewähren, als die Farbe der übrigen Artgenossen, muss der Züchtungsprozess seinen Anfang nehmen, und er wird erst dann aufhören, wenn die Übereinstimmung mit der Um- gebung eine vollständige geworden ist, oder doch eine so hohe, dass eine Steigerung derselben die Täuschung nicht mehr erhöhen könnte. Voraussetzung bei diesem Vorgang ist natürlich, dass die Art sehende Feinde habe. Dies trifft aber bei den meisten auf der Erde oder im Wasser lebenden Thieren von nicht mikroskopischer Kleinheit zu. Viele Thiere sind auch nicht nur im erwachsenen Zu- stand, sondern fast in jeder Periode ihres Lebens der Verfolgung ausgesetzt, und so werden wir im Allgemeinen erwarten müssen, dass viele von ihnen in jedem Alter diejenige Färbung ihres Körpers er- langt haben, welche sie am besten vor Entdeckung von Seiten ihrer Feinde schützt. So verhält es sich nun wirklich; zahlreiche Thiere sind vom Ei bis zum reifen Zustand durch sog. »sympathische« Färbung bis zu einem gewissen Grade geschützt. Beginnen wir mit dem Ei, so kann da nur von solchen Eiern die Rede sein, welche abgelegt werden. Von diesen besitzen viele eine einfache weisse Färbung, so die Eier zahlreicher Vögel, Schlangen und Eidechsen, und dies scheint unserer Vorhersage zu wider- sprechen; allein solche Eier werden entweder von den Thieren in Erde, Compost und Sand verscharrt, wie bei den Reptilien, oder sie werden in kuppeiförmige oder in Baumlöchern verborgene Nester gelegt, twie bei vielen Vögeln; sie brauchen also keine schützende Färbung. Im Übrigen aber besitzen zahlreiche Eier, besonders bei Insekten und Vögeln, eine Färbung, die sie nur schwer von ihrer gewöhn- lichen Umgebung unterscheiden lässt. Unsere grüne grosse Heu- schrecke, Locusta viridissima, legt ihre Eier in die Erde, und sie sind braun und gleichen völlig der Erde, die sie umgibt. Sie bilden allein schon eine Widerlegung der Hypothese von der Entstehung sym- pathischer Färbung durch Selbst-Photographie, denn diese Eier liegen in völligem Dunkel im Inneren der Erde. Insekteneier, welche an Baumrinde gelegt werden, sind häufig graubraun oder weisslich wie diese, die Eier des Taubenschwänzchens, Macroglossa stellatarum, welche einzeln an die Blättchen des Labkrauts geklebt werden, be- sitzen dieselbe schön hellgrüne Farbe, wie diese Blätter, wie denn überhaupt Grün die Farbe überaus zahlreicher Insekteneier ist. JO Färbungen der Thiere. Aber auch die Eier vieler Vögel besitzen »sympathische« Fär- bungen; so hat der Brachvogel, Numenius arquatus, grüne Eier, und er legt seine Eier ins Gras ab ; das Moorhuhn aber, Lagopus scoticus, hat schwarzbraune Eier, genau von der Farbe der umgebenden Moorerde, und man hat beobachtet, dass die Eier zwölf Tage lang unbedeckt bleiben, da das Huhn täglich nur eines legt, und mit dem Brüten erst anfängt, wenn das Geleg von zwölf Eiern vollständig ist. Darin liegt der Grund der Anpassungsfärbung, deren die Eier nicht bedürften, wenn sie immer vom brütenden Vogel bedeckt wären. Die Eier der Vögel sind auch häufig nicht blos von einer Farbe, wie denn z. B. diejenigen des Alpen-Schneehuhns, Lagopus albus, ockergelb sind mit braunen und rothbraunen Tupfen, ähnlich dem aus dürren Pflanzentheilen kunstlos gebauten Nest. Zum Theil aber er- reicht diese Mischfärbung eine erstaunliche Ähnlichkeit mit ihrer Um- gebung, so beim Regenpfeifer, Charadrius pluvialis, dessen Eier, gerade wie beim Kibitz, Vanellus cristatus, zwischen Steinchen und Gräser gelegt werden, nicht in ein eigentliches Nest, sondern in eine flache Vertiefung des Sandes, und welche nun eine bunte Fleckung und Strichelung von Weiss, Gelb, Grau und Braun besitzen, die sie vor- trefflich verbirgt. Vielleicht noch besser sind die Eier des Strand- läufers und der Möve geschützt, die mit ihrer gelb, braun und grauen Sprenkelung den Sand, in den sie gelegt werden, so gut nachahmen, dass man auf sie treten kann, ehe man sie gewahr wird. Aber wenden wir uns von den Eiern zu den erwachsenen Thieren. DARWIN hat zuerst darauf aufmerksam gemacht, dass ganze grosse Wohngebiete eine und dieselbe Grundfärbung ihrer Thierwelt aufweisen, so die arktische Zone und die Wüsten. Die verschiedensten Bewohner solcher Gebiete zeigen ganz ähnliche und zwar solche Färbungen, welche mit der Grundfarbe des Gebietes selbst übereinstimmen. Nicht nur schutzbedürftige, verfolgte Thiere, sondern auch ihre Verfolger sind dort sympathisch gefärbt, ein Um- stand, der nicht überraschen kann, wenn man bedenkt, dass die Existenz des Raubthiers von der Möglichkeit abhängt, sich in den Besitz seiner Beute zu setzen, dass es aber dabei von grossem Nutzen sein muss, so wenig als möglich von seiner Umgebung abzustechen, um sein Opfer möglichst unbemerkt zu beschleichen. Die in ihrer Färbung Bestangepassten werden sich am reichlichsten nähren und fortpflanzen, und also auch am meisten Aussicht haben, ihre nützliche Färbung auf Nachkommen zu vererben. Der Eisbär würde ver- hungern müssen, wäre er braun oder schwarz, wie seine Stammes- Thiere der Schneeregion, der Wüste etc. J I genossen; zwischen dem Schnee und Eis der Polargegenden würden ihn seine Opfer, die Seehunde, schon von weitem herankommen sehen. Gerade in der arktischen Zone ist die Farbenanpassung der Thiere an das Weiss der Umgebung sehr auffallend. Die meisten Säugethiere sind dort rein weiss oder nahezu weiss, wenigstens wäh- rend des langen Winters, und es leuchtet ein, dass sie es sein müssen, wenn sie sich inmitten des Schnees und Eises halten sollen, die Raub- thiere sowohl, als ihre Opfer. Für die Letzteren ist die sym- pathische Färbung von »protektivem« Werth, für die Ersteren von »agressivem« (PoULTON). So finden wir nicht nur den Polarhasen weiss und den Schneeammer, sondern auch den Eisfuchs, den Eisbär und die grosse Schneeeule, und wenn der braune Zobel darin eine Ausnahme macht, so lässt sich dies wohl verstehen, denn er lebt auf Bäumen, und wird am besten versteckt sein, wenn er sich dicht an den dunkeln Stamm und die Äste andrückt. Für ihn würde es kein Vortheil gewesen sein, weiss zu werden, und so ist er es nicht ge- worden. Auch die Thiere der Wüste sind fast alle sympathisch gefärbt, d. h. von einem eigenthümlichen Sandgelb, oder Gelbbraun, Lehm- gelb oder von einem Gemisch dieser Farben und zwar wieder Räuber und Verfolgte. Der Löwe muss auf geringe Entfernung noch fast un- sichtbar sein, wenn er auf den Boden geduckt seine Beute anschleicht, aber auch das Kameel, die verschiedensten Arten der Antilopen, die Giraffe, alle kleineren Säugethiere, ferner die Hornviper, Vipera Cerastes, die ägyptische Brillenschlange, Naja Haje, viele Eidechsen, Geckonen und der grosse Varanus, zahlreiche kleine Vögel und nicht wenige Insekten, besonders Heuschrecken sind wüstenfarben. Die Vögel allerdings besitzen auf Brust und Bauch häufig auffallende Farben, z. B. Weiss, allein ihre Oberseite hat die Wüstenfarbe, und sie sind vor Nachstellung geborgen, sobald sie sich an den Boden ducken. Bei einer Heuschrecke der Gattung Truxalis hat man sogar beobachtet, dass sie in dem sandigen Theil der libyschen Wüste hell sandfarbig ist, in ihrem felsigen Theil dunkel braun, also eine dop- pelte Anpassung derselben Art. Eine andere, in ihrer Färbung an die allgemeine Umgebung an- gepasste Gruppe ist die der Glasthiere, wie man sie genannt hat, besser vielleicht der Krystallthiere. Eine grosse Menge schwim- mender niederer Meeresthiere und auch einige wenige des süssen Wassers sind farblos und völlig durchsichtig, oder haben höchstens y 2 Färbungen der Thiere. einen Stich ins Bläuliche oder Grünliche, und Viele von ihnen werden dadurch, solange sie sich im Wasser befinden, geradezu unsichtbar. In unseren Seen lebt ein kleiner, etwa einen Centimeter langer Krebs aus der Ordnung der Wasserflöhe, die Leptodora hyalina, ein ge- waltiger Räuber unter den Kleinsten, der mit seinen grossen Schwimm- armen stossweise vorwärts schwimmt, seine mit stachligen Borsten bewaffneten 6 Paare von Raubfüssen wie eine Fischreuse zum Er- greifen der Beute weit aufsperrend. Sie können Dutzende von diesem Thier in einem Glase Wasser haben, ohne doch, selbst wenn Sie es gegen das Licht halten, ein einziges von ihnen zu sehen, denn die Thiere sind krystallhell und klar und haben genau das Lichtbrechungs- vermögen des Wassers. Nur bei scharfem Zusehen und wenn man sie schon kennt, gewahrt man hie und da kleine gelbliche Streifchen im Wasser, die mit Beute gefüllten und in voller Verdauung befind- lichen Magen der Thiere, für welche begreiflicher Weise Unsichtbar- keit nicht wohl eingerichtet werden konnte. Wenn Sie dann das Glas Wasser durch ein feines Tuch abgiessen, bleibt ein Haufen der wie Gallerte aussehenden Leiber der Leptodora auf dem Sieb zurück. Ganz ebenso durchsichtig und wasserklar sind nun zahlreiche niedere Thiere des Meeres, die meisten niederen Quallen, Rippen- quallen, Mollusken, die tönnchenförmigen Salpen, manche Würmer, viele Krebse der verschiedensten Ordnungen und besonders eine un- geheure Zahl von Larven der verschiedensten Thiergruppen. Ich erinnere mich, an der Küste von Mentone das Meer so voll von Salpen gesehen zu haben, dass man in jedem Glase, mit dem man auf gut Glück Meerwasser schöpfte, deren viele gefangen hatte, manchmal einen ganzen Thierbrei. Allein im Glas Wasser sah man sie nicht, und nur der Kundige erkannte sie an dem blauen Eingeweide- sack, der hinten in dem unsichtbaren Körper liegt. Erst wenn das Wasser durch ein feines Netz abgegossen wurde, hatte man einen grossen Klumpen krystallheller Gallertmasse auf dem Filter. Es leuchtet ein, dass dies als Schutzeinrichtung dient, die Thiere werden von ihren Verfolgern nicht gesehen; allerdings ist es kein absoluter Schutz, denn es gibt gar manche Verfolger, z. B. manche Fische, welche nicht warten, bis sie ihre Beute sehen, sondern welche beinah immer mit dem Maul auf- und zuschnappen, es dem Zufall überlassend, ob er ihnen Beute zuführt. Indessen keine Schutzeinrich- tung gewährt absoluten Schutz, sie schützt gegen manche, vielleicht gegen viele, niemals gegen alle Feinde. Aber wenden wir uns zu einer anderen Färbungsgruppe, den Grüne und nächtliche Thiere. 7 3 grünen Thieren. Sie kennen unsere grosse grasgrüne Heuschrecke, und wissen, wie leicht man sie übersieht, wenn sie auf einem hohen Grasstengel, umgeben von anderen Gräsern und Kräutern, ruhig da- sitzt; das lichte Grasgrün ihres ganzen Körpers schützt sie in hohem Grade vor Entdeckung; mir selbst wenigstens ist es passirt, dass ich auf blühender Wiese ihr gerade gegenüberstand und längere Zeit dicht an ihr vorbei sah, ohne sie zu gewahren. In ähnlicher Weise sind nun zahllose Insekten der verschiedensten Gruppen, Wanzen, Fliegen, Blattwespen, Schmetterlinge und ganz besonders die Raupen der Letzteren von dem Grün der Pflanze, auf welcher sie leben, und auch hier wieder nicht nur die von Feinden verfolgten, sondern auch die verfolgenden Arten. So ist die räuberische Gottesanbeterin, Mantis religiosa, grasgrün wie das Gras, in dem sie unbeweglich auf ihre Beute lauert, eine Libelle, Fliege oder einen Schmetterling. Auch grüne Spinnen gibt es, grüne Amphibien, wie den Wasser- frosch und besonders Laubfrosch, grüne Reptilien, wie Eidechsen und die Baumschlangen der tropischen Wälder. Immer sind es Thiere, die im Grün leben, wrelche grün sind. Es könnte Wunder nehmen, dass so wenige Vögel grün sind, die doch auch so vielfach im Laub sich aufhalten, doch ist das auch nur für die gemässigten Klimate richtig. Wir haben in Deutschland allerdings nur den Grünspecht, den Zeisig und einige andere kleine Vögel, und auch diese sind nicht lebhaft grün, sondern mehr grau- grün. Die Erklärung dafür liegt in dem langen Winter mit den blätterlosen Laubbäumen. In den immergrünen Wäldern der Tropen gibt es zahlreiche grüne Vogel verschiedenster Familien. Noch eine Gruppe mit gemeinsamer Farben-Anpassung möchte Erwähnung verdienen: die der nächtlichen Thiere. Sie alle sind mehr oder weniger grau, braun, gelblich, oder ein Gemenge aus diesen Farben, und es liegt auf der Hand, dass sie dadurch im Dämmerlicht der Nacht um so mehr mit der Umgebung verschwimmen müssen. Weisse Mäuse und Ratten können sich in der freien Natur nicht halten, da sie weit in die Nacht hinausleuchten, und ebenso würde es mit weissen Fledermäusen, Nachtschwalben und Eulen der Fall sein; sie alle besitzen die Nachtfärbung. Es ist gewiss sehr merkwürdig, dass diese Farbenanpassung bei manchen Thieren eine doppelte ist. Der Polarfuchs ist nur im Winter weiss, im Sommer aber graubraun, das Hermelin ebenso, und auch die grosse weisse Schneeeule der Polarländer bekommt im Sommer ein graubraun melirtes Gefieder. Nicht minder färben sich manche ^ "JA Färbungen der Thiere. der Verfolgung ausgesetzte Thiere nach der Jahreszeit um, so der Alpenhase, Lepus variabilis, der im Sommer braun und im Winter rein weiss ist, der Lemming und das Schneehuhn, Lagopus alpinus, mit denen es sich ähnlich verhält. Man hat bezweifelt, dass solche Doppelfärbung sich durch Naturzüchtung erklären lasse, allein ich wüsste nicht, wo hier eine Schwierigkeit liegen sollte, jedenfalls gibt es kein anderes Prinzip, welches hier angerufen werden könnte. Irgend eine Färbung muss der Hase gehabt haben, ehe er die saison-dimorphe Färbung erlangte; nehmen wir an, er sei braun gewesen, als das Klima kälter und der Winter länger wurde, so werden diejenigen Hasen am meisten Aussicht gehabt haben, zu überleben, welche im Winter heller wurden, und es bildete sich so eine weisse Rasse aus. POULTON hat gezeigt, dass das Weiss dadurch zu Stande kommt, dass die dunkeln Haare der Sommertracht im Anfang des Winters weiss weiter wachsen, und dass die Fülle neuer Haare, welche den Winter- pelz vervollständigt, von vornherein weiss hervorwächst. Würden nun die weissen Haare auch im Sommer stehen bleiben, so würde das für ihre Träger sehr nachtheilig sein. Es musste also eine doppelte Auslese eintreten, im Sommer wurden die weiss bleibenden, im Winter die braun bleibenden Individuen am häufigsten ausgemerzt, so dass nur diejenigen übrig blieben, die im Sommer braun, im Winter aber weiss wurden. Begünstigt musste diese Doppelzüchtung dadurch werden, dass ohnehin schon ein Haarwechsel bei Eintritt des Sommers statt- fand; die Winterhaare fallen dann aus, und der Pelz wird dünner. Im Wesentlichen unterscheidet sich der Prozess nicht von demjenigen, der eintreten muss, wenn bei einer Art zwei oder mehr verschiedene Theile oder Eigenschaften, die nicht direkt zusammenhängen, verändert werden sollen, wie etwa Färbung und Fruchtbarkeit. Der Kampf ums Dasein wird hier einerseits die Günstiggefärbten, andererseits die Fruchtbarsten begünstigen, und sollten selbst im Anfang noch beide Eigenschaften nur getrennt vorkommen, so werden sie doch durch die freie Kreuzung sehr bald vereinigt werden, und es müssen zuletzt nur solche Individuen noch vorkommen, die zugleich möglichst günstig gefärbt und möglichst fruchtbar sind. So bleiben hier nur solche übrig, die im Sommer braun, im Winter aber weiss sind. Dem Einfluss von Selektionsprozessen werden wir auch die genaue Regulirung der Dauer des Winter- und des Sommerkleides in diesen Fällen zuzuschreiben haben, wie sie besonders beim veränderlichen Hasen beobachtet sind. Dieser bleibt auf den Hochalpen sechs bis sieben Monate weiss, im südlichen Norwegen acht Monate lang, im nörd- Doppelte Farbenanpassung. 7C liehen Norwegen neun Monate lang- und im nördlichen Grönland ver- liert er sein weisses Kleid überhaupt nicht, wie denn dort der Schnee auch im Sommer nur stellenweise schmilzt und nur auf kurze Zeit. Allerdings spielt hier auch eine andere Anpassung hinein, nämlich diejenige des Haarwuchses an die Kälte. Durch einen alten vom Jahr 1835 stammenden Versuch des Capitäns J. Ross, den POULTON neuerdings wieder ans Licht gezogen hat, wissen wir, dass ein ge- fangener und im Zimmer gehaltener Lemming im Winter nicht eher weiss wurde, als bis man ihn der Kälte aussetzte. Der Organismus solcher Thiere, die Winters weiss werden, ist also derart eingerichtet, dass der Eintritt der Kälte auf ihn als ein Reiz wirkt, welcher die Haut zur Hervorbringung weisser Haare bestimmt. Auch diese Ein- richtung werden wir auf Naturzüchtung beziehen müssen, indem es begreiflicherweise sehr nützlich für die Art war, dass ihr Winterpelz dann hervorwuchs, wenn er zum Schutz gegen die Kälte nöthig war. Das schliesst aber nicht aus, dass die Dispositionen, auf den Reiz der Kälte mit Winterpelz zu antworten, bei solchen Colonien arktischer Thiere, z. B. des Hasen früher eintritt, welche in Lappland wohnen, als bei solchen, welche im südlichen Norwegen leben. Dass es aber nicht etwa die direkte Wirkung der Kälte ist, welche das Haar eines Pelzthiers weiss färbt, sehen wir an unserem gemeinen Hasen (Lepus timidus), der trotz der Winterkälte nicht weiss wird, son- dern seinen braunen Pelz behält, und nicht minder an dem arktischen Hasen (Lepus variabilis), der im südlichen Schweden im Winter auch braun bleibt, obgleich es dort im Winter recht kalt sein kann. Aber die Schneebedeckung des Bodens ist nicht mehr so ununterbrochen, wie im höheren Norden, und so würde der weisse Pelz kein besserer, sondern ein schlechterer Schütz sein, als der braune. Es handelt sich also bei der Weissfärbung der Polarthiere sicher nicht um direkte Wir- kungen des Klimas, wie man öfters gemeint hat, sondern um in- direkte, d. h. um den Erfolg von Naturzüchtung. Ich habe das an diesem Beispiel klar legen wollen, damit wir es nicht bei allen folgen- den immer zu wiederholen brauchen. Noch entschiedener wird aber jeder andere Erklärungsversuch aus- geschlossen, wenn wir jene komplizirteren Fälle von Farben- anpassung ins Auge fassen, die sich nicht durch die einfache Ge- sammtfarbe allein kund gibt, sondern durch Zuthaten von Zeichnungen und Farben-Zusammenstellungen, also von Malereien. 76 Färbungen der Thiere. So besitzen zahlreiche Schmetterlings -Raupen bestimmte Linien und Flecken auf ihrer Grundfarbe, die in dieser oder jener Weise dazu beitragen, sie vor ihren Feinden zu schützen. Die grünen Raupen vieler unserer Grasfalter (Satyriden) zeigen zwei oder mehrere an den Seiten des Thiers hinlaufende, hellere oder dunklere Linien, welche sie sehr viel weniger auffallend erscheinen lassen zwischen den Gräsern, an welchen sie fressen, als wenn sie eine einzige gleichmässig grüne Masse dar- stellten (Fig. 2). Nicht selten auch gleichen sie auffallend den Blüthen- und Samenständen der Gräser in Farbe und Gestalt. Niemals finden sich so gezeichnete Raupen an den Blättern von Bäumen, an denen sie sofort auffallen müssten; wohl aber kommt die Längsstreifung vielfach bei Raupen vor, die an anderen Pflanzen leben, als an Gräsern, aber an solchen, die im Grase wachsen, wo dann die schützende Wirkung dieselbe ist. So bei Raupen von Pieriden oder »Weiss- lingen«. Alle Raupen unserer Schwärmer da- gegen, welche an Büschen und Bäumen leben, haben an den Seiten der Segmente helle Schrägstreifen, sieben an der Zahl, welche von der Längsrichtung ihres Körpers in demselben Winkel abstehen, wie die Seitenrippen eines Blat- tes ihrer Nährpflanze von der Hauptrippe. Man kann zwar nicht sagen, dass die Raupe dadurch geradezu das Aussehen eines Blattes gewinne ; dieselbe erscheint viel- mehr, wenn man sie frei vor sich hat, gar nicht Blatt-ähnlich, allein inmitten der Blätter eines Busches oder Baumes wird sie durch diese Zeichnung doch in hohem Grade vor Entdeckung gesichert. So ist die Weidenraupe, Smerinthus ocellata, wenn sie in dem Blättergewirr eines Weidenbusches sitzt, oft recht schwer zu finden, weil ihr grosser Fig. 2. Längsstreifige Raupe eines Grasfalters (nach Rösel). Fig. 3. Erwachsene Raupe des »Abend-Pfauenauges* Smerinthus ocellata. so Subdorsalstreif. Schutz- und Trutz-Zeichnungen. J J grüner Körper nicht als ein einziger grüner Fleck erscheint, sondern ähnlich der Hälfte eines Weidenblattes in Abschnitte getheilt ist durch die seitlichen Schrägstreifen, so dass der suchende Blick darüber weg- gleitet und die Aufmerksamkeit nicht auf die Raupe gelenkt wird (Fig. 3). Ich habe als Knabe oft die Erfahrung gemacht, dass ich eine dicht vor mir sitzende Raupe längere Zeit übersah, bis ich zufällig gerade diesen Punkt des Gesichtsfelds genau fixirte. Bei den meisten dieser Raupen mit Schrägstreifen wird aber die Ähnlichkeit mit einer Blatthälfte noch dadurch erhöht, dass über dem hellen Schrägstrich noch ein breiterer farbiger Saum hinzieht, den Schlagschatten der Blattrippe nachahmend. So hat die Raupe von Sphinx Ligustri lila Farbensäume, die von Sphinx Atropos blaue. Bei beiden sollte man nicht glauben, dass diese auffallenden Farben das Thier vor Entdeckung sichern könnten, allein inmitten der in einander spielenden Schatten des Blätterdickichts ihrer Nährpflanze erhöhen sie die Ähnlichkeit mit einer Blattfläche bedeutend. Von der Kartoffelraupe, Sphinx Atropos, klingt das unglaublich, da dieselbe meist stark goldgelb ist mit himmelblauen, nach unten dunkler wer- denden Farbensäumen der schmalen weissen Schrägstriche, aber man darf nicht vergessen, dass die Kartoffel nicht die eigentliche Nähr- pflanze dieser Art ist, dass sie vielmehr in Afrika, ihrem Heimathland und noch in Südspanien auf anderen wildwachsenden Solaneen-Büschen lebt, von welchen uns NoLL berichtet, dass sie gerade diese Farben: Goldgelb und Blau an Blüthen, Früchten und theilweise auch den Blättern und Stengeln aufweisen. Dort sitzen die Raupen den ganzen Tag über auf der Pflanze, während sie bei uns die Gewohnheit an- genommen haben, nur in der Dämmerung und Nacht zu fressen, bei Tage aber sich in der Erde zu verbergen, eine Gewohnheit, die auch bei anderen Raupen vorkommt, und die wir ebenfalls einem Natur- züchtungsprozess zuschreiben werden. Einige Raupen zeigen noch andere, komplizirtere Zeichnungen, die sie nicht dadurch schützen, dass sie sie schwer sichtbar machen, son- dern dadurch, dass sie den Feind, der sie entdeckt hat, in Schrecken setzen und ihn verscheuchen. Solche Schreck- oder Trutz-Zeich- nungen finden sich z. B. bei den Raupen der Schwärmer-Gattung Chaerocampa in Gestalt grosser Augen-ähnlicher Flecken, die zu zweien nebeneinander auf dem vierten und fünften Segment des Thieres stehen. Kinder und Laien nehmen sie für wirkliche Augen, und da die Raupe, wenn ein Feind sie bedroht, den Kopf und die vorderen Ringe ein- zieht, so dass gerade das vierte dick aufgebläht wird, so scheinen die 78 Färbungen der Thiere. Augenflecke auf einem dicken Kopf zu stehen (Fig. 4), und es kann nicht Wunder nehmen, wenn kleinere Vögel, Eidechsen und andere Feinde dadurch erschreckt auf weitere Angriffe verzichten. Selbst Hühner zögern, eine solche Raupe in ihrer Trutz-Stellung anzugreifen, und ich habe einmal in einem Hühnerstall lange zugesehen, wie ein Huhn Fig. 4. Erwachsene Raupe des Weinschwärmers, Chaerocampa Elpenor, in Trutz-Stellung. nach dem andern auf eine solche Raupe, die ich hineingesetzt hatte, losstürzte, um sie aufzupicken, in der Nähe angelangt aber den schon zum Schnabelhieb bereiten Kopf wieder scheu zurückzog. Auch ein stolzer Hahn wagte es lange nicht, auf das schreckliche Thier loszu- hacken und holte mehrmals dazu aus, ehe er sich zuletzt doch dazu ent- schloss und einen kräftigen Schnabelhieb auf das Thier führte. Nachdem einmal der erste Hieb gefallen war, war die Raupe natürlich verloren. WJPP Fig. 5. Falter des Abend-Pfauenauges in Trutz-Stellung. Also auch diese Verkleidung ist nur ein relativer Schutz und nur wirksam gegen kleinere Feinde. Dass diese aber wirksam verscheucht werden, habe ich einmal beobachtet, als ich eine Raupe des gemeinen Wein-Schwärmers in den Futtertrog eines Hühnerstalls gesetzt hatte, und ein Sperling herbeifiog, um von dem Hühnerfutter zu fressen. Trutz-Zeichnunsren. 79 Er Hess sich zuerst mit dem Rücken gegen die Raupe nieder und frass lustig drauf los. Als er sich aber dann zufällig einmal umdrehte und die Raupe erblickte, besann er sich keinen Augenblick, sondern flog schleunigst von dannen. Auch bei Schmetterlingen kommen vielfach Augenflecke auf den Flügeln vor, und zum Theil wenigstens haben sie auch bei ihnen die Bedeutung einer Schreckzeichnung. So die blau und schwarzen grossen Au gen flecke auf den Hinterflügeln unseres Abend-Pfauenauges (Smerinthus ocellata). Wenn der Schmetterling ruhig dasitzt, sind sie nicht sichtbar, weil bedeckt vom Vorderflügel, sobald aber das Thier beunruhigt wird, spreizt es alle vier Flügel und nun treten die beiden Augen grell hervor auf den rothen Hinterflügeln und schrecken den Angreifer, indem sie ihm den Kopf eines viel grösseren Thieres vor- täuschen (Fig. 5). Es gibt auch Augen-artige Flecken, die nicht diese Bedeutung und Wirkung haben, so z. B. die »Augenflecken« auf den Schwanzfedern des Pfaues und Argusfasans, oder die kleinen Augen- ähnlichen Flecken auf der Unterseite mancher Tagfalter. In ersterem Fall handelt es sich um einen Schmuck, in letzterem vielleicht um die Nachahmung eines Thautropfens, der die Ähnlichkeit mit einem welken Blatt noch erhöht, aber unzweifelhaft gibt es viele Fälle, in denen die Augenflecke als Schreckmittel wirken, und zwar besonders häufig bei Schmetterlingen. Solche Schreckzeichnungen stehen auch keineswegs in Widerspruch mit sympathischer Färbung des übrigen Körpers, und wir finden sie auch thatsächlich meist mit einer solchen kombinirt, sei es, dass die Augenflecke zwar sehr auffallend sind, wie bei dem Abend-Pfauenauge, aber in der Ruhestellung des Thiers von sympathisch gefärbten Theilen — hier den Vorderflügeln — gedeckt werden, sei es, dass die mächtig grossen Schreckaugen zwar offen daliegen, aber aus denselben sym- pathischen Farben zusammen gesetzt sind, wie die ganze übrige Flügel- fläche. In diesem Falle stören sie nicht die schützende Wirkung der Gesammtfärbung, weil sie erst in nächster Nähe sichtbar werden. So verhält es sich bei den grossen Caligo-Arten von Südamerika, die nur kurz früh Morgens und Abends fliegen, bei Tage aber an dun- kelen, schattigen Stellen sich verborgen halten, wo sie durch die aus Braun, Grau, Gelb und Schwarz gemischte Färbung ihrer Unterseite von fern nicht als Schmetterling erkennbar sind. Aber auch die beste sympathische Färbung schützt nicht absolut, und wenn nun das Thier von einem in der Nähe suchenden Feind entdeckt ist, dann tritt die Schreckzeichnung in Thätigkeit, der eine grosse tiefschwarze 8o Färbungen der Thiere. Augenfleck des Hinterflügels, und scheucht den Angreifer zurück (Fig. 6). Die sympathische Färbung wird dabei zuerst entstanden, und der Augenfleck erst später durch einen neuen Züchtungsprozess hervor- gerufen worden sein, der aus der Notwendigkeit hervorging, die Art noch besser zu schützen als durch die blosse Schwersichtbar- keit. In manchen Fällen lässt sich nachweisen, dass die Fähigkeit, den Feind zurückzuschrecken, nicht so- fort mit der Herstellung von Augen- fiecken begann, sondern mit der Ausbildung neuer Instinkte. Wenn die Raupe des Weinschwärmers angegriffen wird, so nimmt sie die oben beschriebene Trutzstellung an; dieselbe auffallende Haltung kommt aber bei Raupen der ver- wandten amerikanischen Gattung Darapsa vor, wie ich einer alten Abbildung von AßBOT & SMITH entnehme, obgleich diese Art keine Augenflecke besitzt (Fig. 7). Zuerst bildlich gesprochen — die Raupe allein durch die Trutz- stellung zu schrecken, und erst im weiteren Verlauf der phyletischen Ent- wicklung kamen dann beim Weinschwärmer und anderen Arten als Er- höhung der Schreckwirkung die Augenflecken hinzu. Dass aber auch Augenflecke nicht etwa plötzlich auftraten, beweisen uns mehrere amerikanische Arten von Smerin- thus, bei welchen diese Augen- flecke in geringerer Vollkommen- heit, als bei der europäischen Art ausgeführt sind. Auch bei diesen Schwärmern ist die Trutz-Stellung früher heran gezüchtet worden, als die Augenfiecken, wie unser Pappel- schwärmer, Smerinthus populi, beweist, der auf Beunruhigung hin dieselbe öfters wiederholte seltsame Spreizung aller vier Flügel aus- führt, wie sie beim Abend-Pfauenauge die Augenflecke zur Geltung Fig. 6. Caligo, Unterseite der Flügel, also suchte Fig. 7. Raupe einer nordamerikanischen Darapsa in Trutz-Stellung (nach Abbot & Smith.) Widrigkeits-Färbungen. 8 1 bringt; er schlägt gewissermassen mit den Flügeln um sich, um den Feind zu verjagen, ein Effekt, der gewiss noch sicherer erreicht wird, wenn zugleich ein paar Augen plötzlich sichtbar werden. Es gibt nun keineswegs blos sympathisch gefärbte Raupen, vielmehr auch solche mit so auffallender, greller Färbung, dass sie das Thier nicht verbergen, sondern im Gegentheil auf weithin sichtbar machen; aber auch dieser scheinbare Widerspruch gegen den Satz von der Farbenanpassung schutzbedürftiger Thiere hat sich ge- löst, und zwar durch die scharfsinnige Auslegung von ALFRED WALLACE. Wir wissen, dass es unter den Insekten und so auch unter den Raupen manche gibt, die einen widrigen Geschmack be- sitzen. Jedenfalls werden gewisse Raupen und Schmetterlinge von vielen Vögeln und Eidechsen verschmäht. Solche Arten sind also relativ sicher davor, gefressen zu werden. Wenn sie nun Schutz- färbung besässen oder überhaupt nur den übrigen wohlschmeckenden Raupen ähnlich wären, so würden sie wenig Nutzen von ihrer Unge- niessbarkeit haben, denn jeder Vogel würde sie zuerst für geniess- bar halten, und erst beim Versuch sie zu fressen, würde er ihre Widrigkeit bemerken. Eine Raupe aber, die einmal einen Schnabel- hieb erhalten hat, ist dem Tode überliefert. Es musste also für un- geniessbare Raupen, überhaupt für ungeniessbare Thiere von grösstem Vortheil sein, wenn sie sich schon durch ihre Farbe möglichst stark von den essbaren Arten unterschieden. Deshalb also die grellen Farben, deren Zurückführung auf Selektionsprozesse nun keiner Schwierigkeit mehr begegnet, denn jedes Individuum einer widrig schmeckenden Art, welches auffallender gefärbt war, als die übrigen, musste im Vortheil sein, und mehr Aussicht auf Erhaltung haben, als die anderen, weil es weniger leicht mit geniessbaren Arten verwech- selt wurde. Noch eine andere Erscheinung möchte ich hier besprechen, die sehr geeignet ist, tiefer in die Umwandlungsprozesse der Lebens- formen hineinblicken zu lassen, nämlich den merkwürdigen Dimor- phismus der Färbung, wie er sich bei manchen der eben be- sprochenen Raupenarten vorfindet. Die Raupe des Windenschwärmers, Sphinx Convolvuli, ist im erwachsenen Zustand grün wie die Blätter der Ackerwinde, von der sie lebt, oder braun, wie der Ackerboden, auf dem diese wuchert, sie zeigt also eine zweifache Anpassung, von denen jede im Stande ist, sie bis zu einem gewissen Grade zu schützen, und man könnte glauben in gleichem Grade. Dem ist aber nicht so, die braune Weis mann, Descendenztheorie. 6 82 Färbungen der Thiere. Färbung bildet einen wirksameren Schutz, als die grüne, wie wir aus zwei Thatsachen schliessen dürfen : erstens sind die vier Jugendstadien der Raupe grün, und sie wird erst im letzten Stadium braun, falls sie nicht auch dann noch grün bleibt. Dies deutet darauf hin, dass das Braun eine relativ moderne Anpassung ist, und diese hätte nicht ent- stehen können, wenn sie nicht besser wäre, als das ursprüngliche Grün. Zweitens aber sind heute schon die grünen Raupen vom Windenschwärmer weit seltener als die braunen; letztere überleben also häufiger im Kampf ums Dasein. Wir haben hier den interessanten Fall eines noch andauernden, leicht erkennbaren Selektionsprozesses zwischen der alten grünen und der neuen braunen Varietät. Sie werden kaum fragen, warum wohl die braune Färbung hier besser schützt, denn es liegt auf der Hand, dass ein so grosser grüner Körper, wie der der erwachsenen Windig-Raupe zwischen den kleinen Windenblättern trotz seiner grünen Farbe nur schlecht ver- steckt ist, während die braune Raupe auf dem braunen Ackerboden mit seinen Steinchen, Vertiefungen und zahlreichen, unregelmässigen Schlagschatten vortrefflich geschützt ist, besonders, wenn sie sich bei Tage am Boden versteckt hält, was wirklich der Fall ist. Eine wesentliche Verstärkung erhält aber unsere Ansicht dadurch, dass dasselbe Phänomen der Doppelfärbung bei mehreren verwandten Schwärmer- Arten vorkommt, aber in einer Weise, die erkennen lässt, dass wir es mit dem gleichen, nur weiter vorgeschrittenen Umwand- lungsprozess zu thun haben. Ganz ähnlich, wie der Windenschwärmer, verhält sich die Raupe des mittleren Weinschwärmers, Chaerocampa Elpenor (Fig. 7); auch sie ist braun oder grün, und die grüne Form ist die seltnere. Bei den beiden anderen europäischen Chaerocampa- Arten aber ist die erwachsene Raupe immer braun, ja sie wird schon im vorletzten, dem vierten Stadium braun, statt wie Chaerocampa Elpenor erst im letzten fünften. Eine andere einheimische Schwärmerart, Deilephila Vespertilio, bleibt nur während der zwei ersten Stadien grün und nimmt schon im dritten die braungraue Färbung an, welche sie von da an beibehält. Offenbar beherrscht hier die dunkle Farbe schon seit geraumer Zeit die erwachsene Raupe, denn bei dieser, als dem grössten und auffallendsten Stadium muss die Umfärbung am nothwendigsten gewesen, folglich auch der Selektionsprozess zuerst eingeleitet worden sein, und erst nachdem hier das besser schützende Braun allgemein geworden war, übertrug sich dasselbe auf das zunächst jüngere Stadium, falls es auch für dieses von Vortheil war, und später auf noch jüngere Entwicklungsstufen. Doppel-Färbungen. 8' Man könnte geneigt sein, dies Zurückrücken eines neuen Charakters von einem späteren auf frühere Entwicklungsstadien auf rein innere Kräfte zu beziehen, welche solche Verschiebungen mit Nothwendig- keit und unabhängig davon, ob ihre Ausbreitung nützlich oder schäd- lich ist, bewirken. Wir werden später darauf zurückkommen und untersuchen, wie weit dies etwa der Fall ist, einstweilen aber können wir soviel wenigstens feststellen, dass dieses Zurückrücken nicht über- all und ohne Grenzen eintritt, dass vielmehr Naturzüchtung ihm Halt gebietet, sobald es nachtheilig wirken würde. Es könnte ja eine In- sekten-Metamorphose auf die Dauer nicht geben, wenn jeder Cha- rakter des Endstadiums auf die nächstjüngeren übertragen werden müsste, da dann z. B. die Charaktere des Schmetterlings sich im Fig. 8. Raupe des Sanddorn-Schwärmers, Deilephila Hippophaes. A Stadium III, B Stadium V. r Ringfleck. Laufe der phyletischen Entwicklung auf die Puppe und Raupe über- tragen haben müssten. Aber auch an den Raupenstadien selbst lässt sich erkennen, dass dieses Zurückrücken ganz bestimmte Grenzen einhält. So reicht bei den dimorphen Raupen der Schwärmer das Braun der erwachsenen Raupe niemals bis zu den jüngsten Stadien herab, sondern die kleinen Räupchen sind alle grün, wie die Blätter und Stengel, auf denen sie sitzen. Umgekehrt gibt es aber auch Arten, bei welchen auch im erwachsenen Zustand das Grün als die — wie es scheint — vortheilhafteste Färbung bestehen bleibt. So sind bei dem Sanddorn-Schwärmer, Deilephila Hippophaes (Fig. 8), welcher in den warmen Thälern der Alpen, besonders im Wallis lebt, die Raupen graugrün in allen Stadien, genau von dem Grün der Unter- seite der Sanddornblätter; sie besitzen keine Schrägstreifen, die sie 6* Sä. Färbungen der Thiere. auch den Blättern nicht ähnlicher machen würden, da die erwachsene Raupe viel grösser ist als ein solches Blatt, an dem überdies die Seitenrippen sehr wenig hervortreten. Trotzdem erfreut sich die Raupe eines sehr guten Schutzes, da sie nicht bei hellem Tag, sondern nur in der Dämmerung und bei Nacht frisst, bei Tag aber sich unter dürrem Laub und Erde am Fuss des Busches verbirgt. Ihre Ähnlichkeit mit dem Laubwerk ist sehr gross und wird noch dadurch erhöht, dass sie auf dem letzten Segment einen ziemlich grossen, orangefarbenen Fleck trägt (/-), genau von der Farbe der reifen Sanddorn-Beeren, die gerade dann reifen, wenn die Raupe erwachsen ist. Aber die Schmetterlinge selbst sind eben so vielfach verfolgte und schutzbedürftige Thiere, wie ihre Raupen, und auch bei ihnen be- gegnen wir zahlreichen Schutzfärbungen, die noch besonders dadurch interessant sind, dass sie sich regelmässig nur auf derjenigen Fläche des Thieres vorfinden, welche in der Ruhestellung desselben sichtbar bleibt, also ganz so , wie es zu erwarten war, wenn diese Färbungen durch Naturzüchtung hervorgerufen sind. Die Ruhestellung der Schmetterlinge ist aber bekanntlich bei den Tagfaltern eine ganz andere, als bei den Nachtfaltern, ist auch bei diesen nicht in allen Familien dieselbe, und demgemäss finden wir sympathische Färbungen bei den verschiedenen Familien der Schmetterlinge auf ganz ver- schiedenen Flächen angebracht. Warum nun die Schmetterlinge nur in der Schlaf- oder Ruhe- stellung durch Färbungen geschützt zu werden brauchten, hat seinen Grund darin, dass es für den fliegenden Schmetterling meistens keine Färbung geben kann, die ihn seinen Feinden schwer sichtbar macht, weil der Hintergrund, von dem sein Körper sich abhebt, während des Flugs fortwährend wechselt, und überdies die Bewegung selbst ihn verräth, auch wenn er von düsterer Farbe ist. So konnten denn im Allgemeinen nur diejenigen Flächen der Schmetterlingsflügel, welche in der Ruhe nicht sichtbar sind, ohne Gefahr auffallend und bunt gefärbt sein, die sichtbaren Flächen aber mussten durch Naturzüchtung sympathische Färbungen erlangen. Da die Tagfalter beim Sitzen die Flügel nach oben zusammen- schlagen, so ist nur ihre Unterseite sympathisch gefärbt und auch nur soweit als sie sichtbar ist, d. h. auf dem ganzen Hinterflügel und dem Vorderflügel, soweit derselbe nicht vom Hinterflügel bedeckt ist. Viele Tagfalter ziehen im Sitzen die Vorderflügel stark zurück, so dass nur die Spitze derselben noch sichtbar bleibt, und dann ist auch nur diese Spitze mit Schutzfärbung versehen, andere thun dies Unterseite der Tagfalter. 8 5 nicht und dann ist nahezu die ganze Fläche des Flügels sympathisch gefärbt. Eine einfache Schutzfärbung weist unser »Citronenfalter« (Rhodocera rhamni) auf, dessen Unterseite weisslichgelb ist und den Schmetterling sehr gut schützt, wenn er sich auf das dürre Laub am Boden der lichten Gehölze niederlässt, in denen er gern umherstreift. Auch unsere buntesten Tagfalter, die Vanessa- Arten, haben alle auf der Unterseite eine düstere Färbung, bald mehr ins Schwarzbraune gehend, wie beim Tag-Pfauenauge, Vanessa Jo, bald mehr ins Grau- braune oder Braungelbe, auch Röthlichbraune spielend. Niemals sind es einfache Färbungen, sondern immer bestehen sie aus Mischungen, verschiedener Farbentöne, ja oft ist es ein verworrenes Durcheinander vieler Farben, wie Grau, Braun, Schwarz, Weiss, Grün, Blau, Gelb und Roth, aus Punkten, Strichen, Flecken, Ringen wundersam zu einem sehr konstanten Muster verbunden, welches im Ganzen durchaus einheitlich wirkt und den Erdboden, die Fahrstrasse, auf die sich die Art gern niederlässt, mit grösserer Treue nachahmt, als eine einfarbig graue, oder bräunliche Färbung es thun würde. Ein Distelfalter, Vanessa cardui, der am Boden sitzt, ist kaum zu erkennen, und gerade diese Art ruht mit Vorliebe auf dem Boden. Andere Vanessa-Arten, die wie das Pfauenauge und der Trauermantel (Vanessa Antiopa) unten dunkelschwarzgrau oder wirklich schwarz sind, drücken sich in der Ruhe in die dunkelsten Ecken und Winkel hinein und sind dann auch aufs Beste vor Entdeckung gesichert. Manche Tagfalter wiederum, besonders die Waldschmetterlinge aus der Familie der Satyriden, ruhen mit Vorliebe an den Stämmen der Bäume aus, so Satyrus Proserpina auf den grossen Buchenstämmen der Waldlichtungen. Diese grossen, auf der Oberseite auffallend, nämlich tief sammtschwarz und weiss gefärbten Falter sind auf der Unterseite genau so gezeichnet und gefärbt wie die mit weissen, grauen, schwarzbraunen und gelben Flecken überzogene weissliche Rinde grosser Buchen, und der Schmetterling, dessen Flug man eben noch genau verfolgt hat, ist scheinbar verschwunden, wenn er sich plötzlich an einen solchen Stamm setzt. Wie ich schon sagte, reicht aber die schützende Färbung nur so weit, als sie in der Ruhestellung des Thieres gesehen wird. Da nun die Vorderflügel dabei stark zwischen die Hinterflügel zurückgezogen werden, so beschränkt sich die protek- tive Färbung auf die ganze Fläche der Hinterflügel und die Spitze der Vorderflügel, soweit dieselbe in dieser Stellung sichtbar ist; mit ziemlich scharfer Abgrenzung hört dann die protektive Färbung auf, 86 Färbungen der Thiere. und oft ist bei nahestehenden Arten die protektiv gefärbte Zone der Vorderflügel recht verschieden breit, je nachdem die Art ihre Vorder- flügel tiefer oder weniger tief zwischen die Hinterflügel zurückschiebt. So ist bei unserem gemeinen »kleinen Fuchs«, Vanessa urticae, diese protektive Fläche erheblich kleiner als beim »grossen Fuchs«, Vanessa polychloros, so ähnlich auch sonst die beiden Arten sind. Diese Übereinstimmung der Flügelspitzen mit den Hinterflügeln fehlt nirgends, wo überhaupt die Unterseite protektiv gefärbt ist, aber in manchen Fällen verbreitet sich die Schutzfärbung fast über den Fig. 9. Hebomoja Glaucippe aus Indien; Unterseite, A in fliegender, B in sitzender Stellung. ganzen Vorderflügel, und dann werden dieselben in der Ruhe nur ganz wenig zurückgezogen, wie sich später noch bei den sogen. -Blatt-Schmetterlingen« zeigen wird. Eine Gattung von Tagfaltern gibt es, welche dem Gesetz, dass die im Sitzen sichtbare Fläche die protektive Färbung trägt, zu wider- sprechen scheint, die südamerikanischen Waldschmetterlinge der Gattung Ageronia. Sie haben auf ihrer Oberseite ein rindenähnliches, Grau in Grau gemaltes, recht verwickeltes Farbenmuster, das übrigens nur die Regel bestätigt, denn wir wissen, dass sie — eine auffallende Aus- nahme von allen übrigen Tagfaltern — mit ausgebreiteten Flügeln sich auf Baumstämmen niederlassen, genau in derselben Haltung, wie viele Ursachen der Schutzfärbungen. 87 Nachtfalter aus der Familie der Spanner (Geometriden), deren Ober- seite ebenfalls oft überaus täuschend der Baumrinde gleicht, auf welcher sie ruhen. Es ist überhaupt bei allen Nachtfaltern die Oberseite der Flügel, welche sympathisch gefärbt ist, falls sich überhaupt Schutz-Färbung bei ihnen ausgebildet hat. Bei allen Schwärmern, vielen Eulen und Spinnern sind die Vorderflügel grau, von zickzackförmigen dunkleren Linien durchzogen und aus mannichfachen Nuancen von Schwarz, Grau, Gelblich, Röthlich und selbst Violett gemischt. Da die Flügel dachartig den Leib und die Hinterflügel bedecken, so machen sie den ruhenden Schmetterling schwer sichtbar, wenn er sich auf Bretter- zäunen, Stämmen von Bäumen oder auf altem Gebälk niedergelassen hat. Falls bei diesen Schmetterlingen überhaupt lebhafte Farben vor- kommen, starkes Roth, Gelb oder Blau, so zeigen es immer nur die B Fig. 10. Xylina vetusta nach Rösel; A in fliegender, />' in ruhender Stellung. in der Ruhe bedeckten Hinterflügel, wie am besten die sogenannten Ordensbänder, Arten der Gattung Catocala anschaulich machen. Unterbrechen wir aber jetzt auf einige Augenblicke unsere Muste- rung des Thatbestandes und fragen wir uns, ob denn die bisher betrach- teten Schutzfärbungen von Schmetterlingen wirklich alle nur auf Natur- züchtung bezogen werden können, ob es nicht denkbar wäre, dass andere Ursachen zu Grunde liegen. Darauf ist zunächst zu sagen, dass das von LAMARCK aufgestellte Prinzip des vererbten Gebrauchs und Nichtgebrauchs hier nicht in Betracht kommen kann, da die Färbungen der Körperflächen eine aktive Thätigkeit nicht ausüben, sie wirken einfach durch ihre An- wesenheit, und es ist für sie völlig gleichgültig", ob und wie oft sie Gelegenheit haben, ihren Träger vor Feinden zu schützen, oder ob zufällig einmal keine Feinde sich zeigen. Man hat nun öfters daran gedacht, ob nicht diese Färbungen mit der verschiedenen Stärke der Belichtung zusammenhingen, der die einzelnen Theile und Flächen 88 Färbungen der Thiere. eines Thieres ausgesetzt sind. Aber auch damit ist Nichts auszurichten, wie eigentlich schon allein aus dem öfters vorkommenden Dimorphis- mus der Raupen hervorgeht, deren grüne und braune Individuen genau der gleichen Belichtung ausgesetzt sind, vor Allem aber aus der so überaus genau abgegrenzten und doch so verschiedenen sympathischen Färbung der Unterseite bei den Tagfaltern. Doch gibt es einzelne Fälle, in denen es ganz so aussieht, als ob wirklich die direkte Wir- H haut. Fig. ii. Tropidoderus Childreni nach Brunner von Watten wyl in fliegender Stellung, V Vorderfliiijel, II. häuf. Hinterfliisjel häutiger Theil, II. hörn, horniger Theil. kung des Lichtes gewisse auffallende Unterschiede in der Färbung und ich möchte den auf welchen Brunner VON Watten- der Theile eines Insektes hervorgerufen hätte, vielleicht schönsten derselben, WYL aufmerksam gemacht hat, Ihnen hier vorführen. Er betrifft einen Gradflügler Neuhollands, die Gespenstheuschrecke, Tropidoderus Childreni Gray, welche im Allgemeinen grüne Blattfärbung besitzt, aber mit sehr eigenthümlichen Abweichungen davon auf einzelnen Körperflächen. Bei diesem Thier sind nämlich die Deckfiügel (Fig. 1 1 V) Ursachen der Schutzfärbungen. So so kurz, dass sie den langen Hinterleib kaum zur Hälfte bedecken. Dafür tritt dann der Vorderrand der Hinterflügel [Hlwrn) ein, der hart und hornartig ist wie die Deckflügel und in der Ruhe den ganzen Hinterleib schützt. Alle diese deckenden Flügeltheile sind grasgrün, mit Ausnahme der Stellen, an welchen sie sich gegenseitig zu- decken; da nun, wo dies der Fall ist, sehen sie wie abgeblasst aus, gelb statt grün. BRUNNER meint dazu: »Die Erscheinung macht den Eindruck, als ob die grellere Farbe eine vom Tageslicht erzeugte Eigenschaft sei. Wenn man mehrere Blätter weissen Papiers von ungleichen Dimensionen übereinandergelegt — « »der Sonne aussetzt, so wird nach kurzer Zeit die Silhouette der kleineren Blätter auf den grösseren entweder durch hellere oder durch dunklere Färbung her- vortreten«. So gehöre wahrscheinlich auch dieses »Abblassen« der bedeckten Stellen bei jener Phasmide »in diese Kategorie der Licht- bilder«. Das scheint schlagend, allein die analogen Erscheinungen bei anderen Insekten verhindern uns, den hübschen Vergleich mit dem Lichtbild für eine ausreichende Erklärung anzusehen. Handelte es sich um einen Schmetterling, so würde eine solche Annahme schon deshalb verworfen werden müssen, weil hier die Flügelfärbung in der Puppe sich bildet, und dann fertig und unveränderbar hervortritt, sobald der Falter ausschlüpft. In der Puppe aberliegen die Flügel gerade umgekehrt, wie in der Ruhestellung des Schmetter- lings, d. h. die protektiv gefärbte untere Fläche der Flügel ist nicht dem Lichte zugewandt, sondern von ihm ab. Ausserdem be- decken hier die Vorderflügel völlig die Hinterflügel, einerlei wie die Flügelhaltung bei dem Schmetterling später sein wird. Überdies hindert die dicke und nicht selten dunkel gefärbte Puppen- scheide die Einwirkung des Lichtes, und nicht wenige Arten ver- puppen sich an so dunkeln Orten, viele Bläulinge z. B. unter Steinen, dass das Licht sie nur wenig oder gar nicht erreicht. Wie sollte ferner das Licht, wenn es hier einen Einfluss ausübte, so verschiedene Färbungen hervorbringen, wie sie bei den Tagfaltern als protektive vorkommen, einerseits dunkle bis schwarze, dann gelbe, röthliche, ja sogar rein weisse und rein grüne, und wie sollten dieselben Licht- strahlen komplizirte Farbenmuster auf ein und derselben Fläche hervorrufen, z. B. Weiss mit Grün gesprenkelt, wie beim Aurora- Falter, Anthocharis Cardaminis? Schliesslich braucht man nur zu wissen wie zahlreiche Nachtfalter sich unter der Erde verpuppen, obgleich sie sowohl brillante als protektive Farben in zweckmässigster Vertheilung hervorbringen, um den Gedanken ein für allemal zurück- 9o Färbungen der Thiere. zuweisen, als ob die Wirkung des Lichtes irgend einen be- stimmenden Antheil an der Vertheilung der Farben auf dem Schmetterlingsflügel haben könnte. Anders ist es bei Tropidoderus. Hier wachsen die Flügel all- mälig hervor während des langsamen und im vollen Lichte erfolgen- den Wachsthume des Thieres, hier liegen die jugendlichen Flügel vermuthlich schon in ähnlicher Weise übereinander, und decken sich an denselben Stellen, wie beim erwachsenen Thier; hier könnte man also an und für sich dem Gedanken Raum geben, das Gelb der ge- deckten Stellen käme durch Abschluss vom Licht her. Sobald man aber die Verhältnisse bei den Schmetterlingen mit zu Rathe zieht, erkennt man das Ungenügende dieser Erklärung, denn hier liegt genau dieselbe Erscheinung vor, scharfe Beschränkung der protektiven Färbung auf die in der Ruhestellung sicht- baren Flächen, während zugleich jede andere Erklärung dafür ausgeschlossen ist mit Ausnahme von Naturzüchtung. Sehen wir also zu, ob wir nicht zu einem besseren Verständniss des Phänomens gelangen können. Offenbar brauchen die gelben Stellen des Thiers deshalb nicht grün zu sein, weil sie in sitzender Stellung nicht sichtbar sind, weil beim Flug aber die Heuschrecke überhaupt nicht unsichtbar gemacht werden konnte. Es bliebe also nur zu erklären, warum die gelben Stellen nicht farblos und warum sie nicht auch grün sind. Das vermögen wir nun nicht mit Sicherheit zu sagen; möglich, dass der Farbstoff, welcher das Grün bedingt, nur unter dem Einfluss des direkten Sonnenlichtes grün wird, sonst aber gelb bleibt, möglich auch, dass ähnlich wie bei den Tagfaltern (vergl. Fig. 9), nur den beim Sitzen sichtbaren Stellen die volle protektive Färbung durch Naturzüchtung zu Theil wurde, während die bedeckten Stellen irgend eine indifferente, aus dem Chemismus des Thieres leicht hervorgehende Färbung er- hielten. Gewiss aber ist, dass auch die bedeckten Stellen grün sein würden, wenn dies für die Existenzfähigkeit der Art erforderlich wäre, sogut wie die Unterseite so mancher Tag- falterflügel Grün aufweist. Diese Farbe würde dann eben durch Naturzüchtung auch dort hervorgerufen worden sein, wie sie an den verschiedensten Stellen der verschiedensten Insekten, auch solcher, die sich bei gänzlichem Abschluss vom Licht entwickeln, hervor- gerufen worden sind. Darin liegt der Unterschied von unserer Auffassung und derjenigen von BRUNNER VON WATTEN W'YL: Ohne Naturzüchtung gibt es hier keine Erklärung. Schutzfärbungen bei Nachtfaltern. 91 Ich habe bisher nur von Tagfaltern gesprochen, bei welchen der Vorderflügel eine Ergänzung der protektiven Färbung des auf seiner ganzen Fläche protektiv gefärbten Hinterflügels bildet, und hier war es stets die Spitze des Vorderflügels, welche diese Ergänzung lieferte. Es gibt aber auch bei den Nachtfaltern entsprechende Verhältnisse, nur dass hier ein Spitzchen der Hinterflügel die Ergänzung zu der protektiven Fläche des ganzen Vorderflügels liefert. Einige Spinner der Gattungen Notodonta und verwandter Formen zeigen näm- lich auf den im Übrigen weisslichen Hinterflügeln an der Hinterecke derselben einen kleinen grauen Fleck und Haarschopf, der in der Färbung und — wo er dazu gross genug ist — ■ auch in der Zeich- nung genau den protektiv gefärbten Vorderflügeln gleicht (Fig. 12). Das > warum« wird sofort klar, sobald man den Falter in der Ruhestellung betrachtet, denn diese Eckchen der Flügel ragen allein vom ganzen 3 Fig. 12. Notodonta camelina nach Rösel; A fliegend, B sitzend. Hinterflügel unter den Vorderflügeln hervor. Man hat gemeint, darin einen Beweis gegen Selektion zu sehen, denn so kleine Zipfel könnten doch durch ihre Färbung niemals den Ausschlag über Leben und Tod des Individuums geben, könnten also auch nicht gezüchtet worden sein. Dasselbe würde man auch von den Spitzen der Vorderfiügel bei den Tagfaltern sagen, obwohl dort die protektive Fläche meist grösser, oft sogar viel grösser ist. Aber Wer will darüber entscheiden, wie gross eine biosliegende, nicht protektive Stelle sein muss, damit ein nach Nahrung spähender Feind auf das sonst protektiv gefärbte Thier aufmerksam wird? oder Wer vermöchte auch nur nachzu- weisen, dass die beste und offenkundigste Schutzfärbung ihren Trä- gern wirklich Schutz gewährt! Sollte es am Ende Alles nur ein Spiel sein, ein Scherz, den sich der Schöpfer mit uns armen Sterb- lichen gestattet! Hat doch erst kürzlich ein guter Beobachter genau verfolgt, wie ein Sperlingspärchen einen Bretterzaun, an dem sich Ordensbänder (Catocala) und andere mit vortrefflichen Schutzfärbungen Q 2 Färbungen der Thiere. versehene Nachtfalter bei Tage zu setzen pflegten, Tag für Tag genau abräumten und dabei nicht leicht ein Stück übersahen. Aber Wer wollte darin etwas Anderes sehen, als, was sich von selbst versteht, dass nämlich auch die beste Schutzfärbung kein absoluter Schutz ist und niemals Alle vor dem Untergang bewahrt, sondern immer nur Einige, ja sogar recht Wenige! Woher käme denn sonst die hohe Vernichtungsziffer, und die Thatsache des Stationär- bleibens der Individuenzahl einer Art auf irgend einem, sich nicht verändernden Wohngebiet? Diese Sperlinge hatten eine, zuerst wohl zufällige Erfahrung nach Kräften ausgebeutet, und ihr Auge für das Erkennen der Ordensbänder auf dem fast gleich gefärbten Bretterzaun so geschärft, wie das bei guten Schmetterlingssammlern ebenfalls zu geschehen pflegt. Daraus folgt aber sicherlich nicht, dass die Schutz- färbung nutzlos wäre, und ebenso werden wir die Übereinstimmung der vorragenden Spitzen der Vorder- oder Hinterflügel mit den grossen protektiv gefärbten Flächen der deckenden Flügel nicht für gleich- gültig halten dürfen. Im Gegentheil! wären sie weiss wie die übrigen Hinterflügel oder sonstwie auffallend gefärbt, so würden sie sicherlich das scharfe Auge der suchenden Feinde auf diese Stelle lenken und die Beute dadurch verrathen. Statt dessen ist diese Stelle nicht nur dunkel, sondern bei Notodonta auch mit einem Haarschopf versehen, der in sitzender Stellung des Thiers (Fig. 1 2 B) an den Rücken zu liegen kommt und als ein dunkler, etwas gekrümmter Zahn hervorsteht, vor welchem ein anderer ganz ähnlicher steht, der dem Vorderflügel an- sitzt, und hinter welchem noch sieben andere, etwas kleinere solcher dunkler Zähne sitzen, die vom Aussenrand der Vorderflügel entspringen. Alle zusammen aber imitiren den gekerbten Rand eines trock- nen Blattes, wirken also trotz ihres zerstreuten Ursprungs zu einem Bild zusammen und zwar einem protektiv wirkenden ! Wie kann man da zweifeln, dass jeder dieser Haarschöpfe unter dem Einfluss von Naturzüchtung steht und durch sein Fehlen oder seine unvollkom- menere Ausbildung die Entdeckung und die Ausmerzung ihres Trä- gers zur Folge haben kann! Mir scheinen gerade diese Fälle besonders schöne Beweise für die schaffende Thätigkeit der Selektion zu sein. Genau so weit, als der Flügel unter dem anderen hervorragt, ist er protektiv gefärbt, keinen Millimeter weiter! Wie sollte es auch anders sein, wenn die Färbung der dicht daneben liegenden bedeckten Stellen gleichgültig ist für die Art, wenn also niemals ihre etwaige protektiv-farbige Va- riation zum Überleben gelangen, vererbt und gehäuft werden kann? Ursachen der Schutzfärbungen. O^ Gerade diese Beschränkung auf das Nothwendige ist hier wie überall das sicherste Zeichen, dass Selektionsprozesse den betreffenden Cha- rakter hervorgerufen haben. Wenn nun aber diese bei allen Schmetter- lingen die einzig mögliche, aber auch ausreichende Erklärung solcher auffallend scharfen Farben-Abgrenzungen bieten, so liegt kein Grund vor, bei der Gespenstheuschrecke ein anderes Moment zur Erklärung heranzuziehen, um so weniger, als ja auch hier Selektion allein für das Grün der exponirten Flächen aufkommen kann, und überdies die auch anderen Phasmiden eigene Umwandlung des vordersten grünen Streifens der Hinterflügel zu derben, schützenden Decken des weicheren Leibes ebenfalls auf Selektion hinweist; die eigentlichen Deckflügel sind hier zu kurz geworden, und so hat sich der Rand der Hinter- flügel zu einer harten Schiene umgewandelt, die den weichen Leib des Thieres beschützt (Fig. 11, H hörn). Keinerlei Belichtung und keinerlei andere direkte Wirkung irgendwelcher äusserer Einflüsse kann das hervorgerufen haben. Was könnte hier nicht noch Alles angeführt werden! Die Mannich- faltigkeit der Farben- und Form-Anpassungen ist bei den des Schutzes vor ihren Verfolgern so sehr bedürftigen Insekten, besonders aber bei den Schmetterlingen so überaus gross, dass ich nicht enden könnte, wollte ich Ihnen auch nur annähernd einen Begriff davon geben. Wenden wir uns deshalb von den jetzt betrachteten Fällen zu den höheren und höchsten Graden der Anpassung, darin be- stehend, dass nicht nur spezielle und komplizirte Färbungen nach- gebildet werden, sondern dass das ganze Thier einem fremden Gegenstand ähnlich gemacht und dadurch vor Entdeckung gesichert wird. Dahin muss schon der Fall unserer Kupferglucke, Gastropacha quer- cifolia, gerechnet werden, welche in ihrer kupferrothen Farbe sowohl, w7ie in dem sonderbaren Schnitt und den eingekerbten Rändern der Flügel und schliesslich in der ganz eigenthümlichen Glucken-artigen Haltung der Flügel in der Ruhe einigen übereinanderliegenden trockenen Eichenblättern sehr ähnlich sieht. Daran schliesst sich eine bei uns lebende Eule an, Xylina ob- soleta, welche wie ihr Name andeutet, in der Ruhestellung durchaus einem Stückchen abgebrochenen, halbfaulen Holze gleicht (Fig. 10B p. 87). Sie »stellt sich dabei todt«, wie man gewöhnlich sagt, d. h. sie zieht die Beine und Fühler dicht an den Leib und rührt sich nicht, ja man kann sie in die Hand nehmen, an den Boden werfen, sie verräth durch kein Zucken, dass sie lebt. Erst wenn man sie längere Zeit in 94 Färbungen der Thiere. Ruhe gelassen hat, dann fängt sie an, wieder lebendig zu werden und läuft eilends davon, sich besser zu verstecken. Die Färbung dieses Schmetterlings ist aus Braun, Weisslich, Schwarz und Gelb so seltsam gemischt und von spitz- winkligen Zickzacklinien und Bogen derart durchzogen, dass man nicht im Stande ist, sie blos mit dem Auge von einem Stückchen faulen Holzes zu unterscheiden. Ich habe das einmal an mir selbst erfahren, als ich im Vorübergehen an einem Zaun eine Xylina am Boden sitzen zu sehen glaubte, sie aufhob und betrachtete. Enttäuscht warf ich sie wieder ins Gras, da ich sie für ein Stückchen altes Holz zu er- kennen glaubte, besann mich aber dann doch noch und hob sie nochmals auf, und wahrlich, es war wirklich der Schmetter- ling!1 Dieser Fall der Xylina ist kaum weniger merkwürdig, und die Ähnlichkeit mit dem nach- kau m Auflr" Figf. 13. Kallima parallecta aus Indien, rechte Unterseite des sitzenden Schmetterlings. K Kopf, Lt Lippentaster, B Beine, V Vorder-, //Hinterflügel; St Schwänzchen des Letzteren, den Stiel des Blattes darstellend; gl1 u. gl2 Glasnecke, Aufl Augenflecke. geahmten Gegenstand 1 Rösel sagt darüber bereits: »Die wunderliche Gestalt dieses Papiliones ver- wahret ihn gegen viele Nachstellungen, denn, wenn er des Tages gleich frey an den Stämmen derer Bäume hängt, so siehet man ihn zehen Mal eher vor ein Stücklein Baumrinde, als vor eine lebendige Creatur an. Er ist auch bei Tage so unempfind- lich, dass er, wann man ihn ohngefehr von seiner Ruhestatt herabwirft, als leblos zu Boden fällt und ohne einige Bewegung liegen bleibet. Man mag ihn gleich in die Höhe werfen oder hin und her kehren, so wird er selten ein Anzeichen des Lebens geben. Ich habe ihrer viele davon mit Nadeln angespiesset, ohne das mindeste Merk- mal einer Empfindlichkeit hierüber an ihnen zu spüren. Um so viel merkwürdiger aber ist es, dass diese Vögel, nachdem sie bei allen Plagen und Drangsalen, die man ihnen angethan hat, unempfindlich geschienen haben, so bald man sie in Ruhe lässt und sie nichts Widerwärtiges mehr zu befürchten haben, schnell nach einem finstern Winkel kriechen und sich wider künftige Anfälle zu verbergen suchen.« Insekten- belustigungen, Nürnberg 1746, Band 1, p. 152. Blatt-Schmetterlinge. 95 weniger wunderbar, als der oft besprochene Fall der Nachahmung eines Blattes mit Stiel, Mittelrippe und Seitenrippen durch zahlreiche Waldschmetterlinge Südamerikas und Indiens. Am be- kanntesten ist die indische Kallima paralecta, die in der That täuschend ein abgestorbenes Blatt darstellt, wenn sie sich niedersetzt, und zwar entweder ein trockenes, oder ein halb verwittertes, auf welchem braune und gelbe Stellen miteinander abwechseln und eine oder zwei kleinere rundliche glashelle Stellen sich vorfinden, an welchen die Schuppen fehlen, und die vermuthlich einen Thautropfen vor- stellen. Die Oberseite dieses Falters ist von einfacher Zeichnung, aber prachtvoller Färbung, Blauschwarz mit einer rothgelben oder bläulichweissen Binde und ganz konstant. Die Unterseite dagegen, obwohl sie immer einem todten Blatte gleicht, zeigt doch sehr ver- schiedene Grundfarbe, bald mehr Grau, bald mehr Gelb, oder Braun- roth oder selbst Grünlich; oft zeigt sie die Seitenrippen des Blattes ganz so deutlich, wie auf Fig. 13, oft aber auch nur sehr undeutlich, wie denn auch die schwarzen Schimmelflecke [seh) unserer Figur noch stärker ausgeprägt sein, oder auch fehlen können. Es scheint, dass hier die Nachahmung verschiedener Blätter — so zu sagen - - angestrebt wird, so wie es in Südamerika die verschiedenen und zahlreichen Arten der Gattung Anaea thun, die meist in Wäldern leben und fast alle Blatt-ähnlich sind, von denen aber jede Art wieder ein anderes Blatt, oft auch in anderem Zustand, trocken, feucht, an- gefault nachahmt. Es ist geradezu erstaunlich, diese Mannichfaltig- keit von Blattkopien zu sehen und die ausserordentliche Treue, mit der der Eindruck des Blattes hervorgebracht wird. Dabei ist es durchaus nicht immer die Zeichnung der Blattrippen, welche die Ähn- lichkeit bedingt, sondern oft fehlt diese ganz, aber die silbern-hell- gelbe, dunkelgelbe, rothbraune bis dunkelschwarzbraune Grundfarbe, die nie ganz gleichmässig ist, und über die sich meist eine weissliche Rieselung verbreitet, und zugleich die wunderbare Nachahmung des Glanzes mancher Blätter bedingen zusammen die hochgradige Täu- schung. Fast immer ist die Oberseite dieser Falter auffallend, mit Dunkelblau, Violett oder Roth geschmückt, immer aber ohne alle Beziehung zur Unterseite. Nicht bei allen, aber bei vielen Arten dieser Gattung treten auch die bei Kallima erwähnten kreisrunden, glashellen Spiegel auf dem Flügel dazu, und bei einzelnen Arten sind noch ganz besondere Mittel angewandt, um die Blatt-Ähnlichkeit vollends täuschend zu machen. So sieht Anaea Polyxo im Sitzen wie ein Blatt aus, dem eine Raupe vom Rand her ein Stück heraus- g6 Färbungen der Thiere. gefressen hat; in Wirklichkeit fehlt zwar Nichts am Flügel, aber am Vorderrand des Vorderflügels hebt sich eine fast halbkreisförmige Stelle durch hell mattgelbe Färbung so scharf von der übrigen kastanienbraunen Flügelfläche ab, dass sie wie ein Loch im Blatt wirkt. Ein moderner Gegner der Selektionstheorie (Eimer) hat gemeint, die Zeichnung der Blattrippen und sonstiger Blatt-Ähnlichkeiten bei Kailima sei nichts weiter, als das ohnehin schon vorhandene, von den Vorfahren ererbte Zeichnungsmuster, welches nur nach inneren Entwicklungsgesetzen sich im Laufe der Zeit in eigenthümlicher Weise verschoben habe; nicht Selektion, d. h. Anpassung an die Umgebung, sondern der innere Entwicklungstrieb habe die Blattähn- lichkeit hervorgebracht. Es ist merkwürdig, wie sehr vorgefasste Meinung das Urtheil schwächen und blind machen kann. Selbst- verständlich gehen die Anpassungen nicht von einer tabula rasa aus, sondern von dem, was schon da ist; Naturzüchtung benutzt die von den Ahnen ererbten Zeichnungselemente, sie knüpft an das Ge- gebene an, um es so zu verändern und zu ergänzen, wie es am besten passt. So lässt sich leicht nachweisen, dass die glashellen Spiegel (Fig. 13, gt1 u.g/2) auf den Flügeln von Kallima durch Um- wandlung der Kerne von Augenflecken entstanden sind, ebenso wie auch die dunkeln verschimmelten Flecke [Sr/i], die häufig zur Aus- bildung kommen, sich oft im Anschluss an die ererbten Augenflecke gebildet haben; nicht immer zwar, denn manche solche Anhäufungen schwarzer Schuppen stehen an Stellen, an welchen niemals ein Augenfleck gewesen ist. So sind auch die * Blattrippen« des Schmet- terlings zum Theil durch allmälige Verschiebung, Gradstreckung und Richtungsänderung ererbter Streifen entstanden, wie z. B. auf dem Hinterflügel der Fig. 13 sehr deutlich zu erkennen ist, zum Theil sind sie aber auch neu gebildet. Aber das Geäder eines Blattes findet sich niemals auf einem Schmetterlingsflügel, dessen Art nicht zwischen Blättern zu ruhen pflegt, oder doch pflegte, und entspricht niemals der ererbten natürlichen Zeichnung einer nicht im Walde lebenden Gattung. Das Bild der Blatt- Aderung ist offenbar aus ganz ver- schiedenen Zeichnungs-Mustern hervorgegangen, und bald auf diesem, bald auf einem anderen Weg erreicht worden. Das geht schon daraus hervor, dass dasselbe bei verschiedenen Faltern in ganz verschiedener Lage auf die Flügel gezeichnet ist. Bei Kal- lima-Arten liegt der Stiel des Blattes in dem Schwänzchen der Hinter- flügel, die Spitze der Hauptblattrippe dicht neben der Flügelspitze, bei Blatt-Schmetterlinsfe. 97 Coenophlebia Archidona ist es gerade umgekehrt, die Spitze des Vorderflügels (Fig. 14) ist verlängert und bildet den Stiel (.?/), während ein breiter dunkler Streifen, die Mittelrippe [vir] von da aus mitten über beide Flügel hinläuft, und zwei bis drei Seitenrippen von ihr nach aussen abzugehen scheinen. Wenn gefragt worden ist, ob denn dieser Falter sich immer so künstlich hinsetzte, dass sein »nach oben ge- richteter Blattstiel an einen Zweig anstiesse«, so diene zur Antwort, dass ein vorbei fliegender Vogel sich schwerlich jedes Blatt im Blätter- gevvirr des Urwalds dar- auf ansehen wird, ob es auch richtig an seinem Zweig befestigt ist, so wenig, als wir das bei einem gemalten Busch thun, bei dem auch nicht selten ein Blatt in der Luft zu schweben scheint — ganz wie in der Na- tur, oder ihrem getreuen Abbild , der Photogra- phie. Wiederum ganz an- ders als bei Coenophle- bia und bei Kailima kommt die Blattzeich- nung bei einer Satyride des unteren Amazonen- thals zu Stande, bei Gaerois Chorinaeus Spannt man Fig. 14. Coenophlebia Archidona aus Bolivia in sitzender Stellung, mr Mittelrippe des Blattbildes, st Stiel desselben. (Fig. 15) diesen Schmetterling in der gewöhnlichen Weise auf, so ähnelt er durchaus nicht einem Blatt, und man sieht nur eine Anzahl sonderbar gestellter, unzusammenhängender Streifen auf der unteren Flügelfläche. Schiebt man aber die Flügel so zusammen, wie es der sitzenden Stellung des Falters entspricht, dann erscheint ein Blattbild, von dem aber nur die eine Hälfte vorhanden ist, und dessen Mittelrippe [mr) vom Innen- winkel des Hinterfiügels schräg nach vorn zieht. Auch hier fällt es nicht schwer, zu errathen, dass dieser gerade Streifen aus einer von fernen Vorfahren ererbten Bogenlinie durch Gradstreckung und Ver- schiebung entstanden ist, und diese Veränderungen sind eben 98 Färbungen der Thiere. gerade das Werk der anpassenden Selektionsvorgänge. Ebenso auch die Seitenrippen [sr) des Blattes, welche auch hier in der Zahl von vieren vorhanden sind. Aber auch schon allein die Theilung der Flügelfläche durch einen einzigen dunkeln Streifen, wie er auf dem Hinterflügel von Hebomoja (Fig. 9), einem indischen Falter, mitten über den Flügel hinzieht, er- höht die durch Farbe und Gestalt schon bedingte Blattähnlichkeit des sitzenden Schmetterlings nicht unerheblich, ja schon allein die scharfe Scheidung V der Flügelfläche in eine dunklere Innen- und eine hellere Aussenfläche, wie sie bei vielen Anaea- Arten vorkommt, bringt den Eindruck des von einer Mittel- rippe durchzogenen Blattes täuschend hervor. Nicht ohne Ab- sicht habe ich so lange bei den Blatt- Schmetterlingen verweilt. Ich möchte Ihnen vor Allem zur Anschauung brin- gen, dass es sich bei diesenTäuschbil- dern durchaus nicht Fig. 15. Caerois chorinaeus vom unteren Amazonenstrom in sitzender Stellung, V Vorder-, H Hinterflügel, mr Mittel- rippe des Blattbilds, sr Seitenrippen, st Anfang zu einem Blattstiel. einige etwa um vereinzelte Ausnahmefälle handelt' sondern um eine grosse Menge von Fällen, in denen allen die Blattähnlichkeit angestrebt wird, bei welchen sie aber in verschiedenem Grade und mit ganz ver- schiedenen Mitteln erreicht ist. Wer diese Fülle von Thatsachen über- blickt, erhält durchaus den Eindruck, als sei überall da, wo es nützlich war für die Existenz der Art, die Herstellung eines solchen Täuschbildes auch möglich gewesen. Jedenfalls gewinnt man die Überzeugung, dass es sich nicht um zufällige Ähnlichkeiten handeln kann, wie Manche in neuester Zeit wieder zu behaupten unternahmen. Blatt-Schmetterlinge. 99 Fig. 16. Phyllodes ornata aus Assam, Oberseite mit Blattzeichnung nur auf dem in sitzender Stellung allein sichtbaren Vorderfiügel; 2/3 der natürlichen Grosse. Ich bin übrigens mit dem Überblick über die Thatsachen noch nicht fertig, denn ich darf nicht vergessen, zu sagen, dass es in den immergrünen tropischen Wäldern auch grosse Nachtfalter gibt, welche ein Blatt nachahmen, theils ein grünes, theils ein braunes, abgestorbenes. Fig. 16 gibt eine solche Art, Phyllodes ornata aus Assam auf 2/3 verkleinert recht gut wieder. Die Hinterflügel sind auffallend ge- färbt, tief schwarz und gelb; sie werden in Ruhestellung des Thiers von den Vorderflügeln bedeckt, diese aber sind rothbraun mit einer schwarzen Zeichnung, welche die Rippen eines Blattes scharf und deutlich nachahmt. Die Hauptrippe beginnt nahe der Spitze des Flügels, bricht aber auf der inneren Flügel- hälfte ab an zwei silberglänzenden Flecken, wie sie auch bei manchen der faule Blätter nachahmenden Tagfalter vorkommen. Merkwürdig regelmässig gehen drei Paar von Seitenrippen von der Mittelrippe -lach vorn und hinten ab , fast genau in dem gleichen Winkel und parallel untereinander, und drei weitere Seitenrippen werden durch unV estimmtere Schatten angedeutet. Auch die Mittelrippe beginnt noch e" imal von Neuem auf dem Innenfeld des Flügels, wenn auch nur durch einen breiten Schatten. Das Ganze sieht fast aus wie zwei zerrissene und sich theilweise deckende faule Blätter; jedenfalls muss die Täuschung eine vollkommene sein, wenn der Falter am Boden auf faulem Laub oder zwischen abgefaulten Blättern sitzt. Dass alle diese in hohem Grade vortheilhaften Schutzfärbungen in dem langsamen und allmälig sich steigernden Wirken von Natur- züchtung ihre Erklärung finden, sollte nicht bestritten werden, denn dass sie auf andere Weise nicht zu erklären sind, ist zweifellos. Wenn es aber einer im Walde und unter Blättern lebenden Schmetterlingsart möglich war, durch Naturzüchtung einem Blatte in irgend einem, und allmälig in immer höherem Grade ähnlich zu werden, so müssten gar viele Insekten der Wälder, besonders der Tropenwälder eine so vorteilhafte Abänderung eingegangen sein, so sollte man denken. Dem ist denn auch so; zahlreiche Insekten Weismann, Descendenztheorie. 7 I OO Färbungen der Thiere. verschiedener Ordnungen, wenn sie nur die Grösse eines Blattes besitzen, haben Färbung, Gestalt und meist auch Zeichnung eines Blattes angenommen. So werden grüne, wie auch angefaulte oder eanz abgestorbene Blätter von den zahlreichen Heuschrecken der Tropen in täuschender Weise nachgeahmt. Ausser dem in Fig. 11, p. 88 abgebildeten Tropidoderus bietet eine Pterochroa Süd-Brasiliens ein besonders schönes Beispiel dafür, weil hier nicht blos die Grund- farbe, Braun oder Grün, mit einem faulenden oder frischen Blatte übereinstimmt, sondern zugleich noch allerlei Einzelheiten auf das Insekt hingemalt sind, die die Täuschung noch erhöhen. Schon der Schnitt der Flügel ist blattartig, dann sind Blattrippen auf die Flügel- decken in schönster Deutlichkeit eingezeichnet, und schliesslich zeigt sich besonders auf den hellgrünen Exemplaren an der Blattspitze eine angefaulte Stelle durch braune, gelbe, röthliche und violette Farben- töne, die ineinander übergehen, mit erstaunlicher Naturtreue nach- geahmt. Auch hier lässt sich der Ursprung dieser so ganz speziellen Anpassung deutlich erkennen, denn die verwaschene koncentrische Anordnung dieser Farben deutet darauf hin, dass hier bei den Vor- fahren der Art ein Augenfieck gestanden hat, ein ebensolcher, wie er heute noch auf dem in der Ruhestellung des Thiers unsichtbaren Hinterflügel steht. Wir können also auch hier etwas in die Vor- geschichte der Art zurückblicken und schliessen, dass die Auflösung und Rückbildung des Augenflecks von der Zeit an ihren Anfang nahm, als die Blattähnlichkeit sich ausbildete, und dies wird durch irgend einen Wechsel in dem Aufenthalt veranlasst worden sein, den wir nicht mehr errathen können. Zu den Blattähnlichen Heuschrecken gehören noch viele Arten der alten und neuen Welt, deren pergamentartige derbe grüne Flügeldecken den dicken, Magnolia-ähnlichen Blättern tropischer Ge- wächse höchst täuschend gleichen. Neben ihnen sei auch das schon seit einigen Jahrhunderten berühmte »wandelnde Blatt« erwähnt, bei dem nicht nur die Flügeldecken, sondern auch Kopf und Thorax, ja selbst die Beine, Blattform und Blattfarbe besitzen. Auch die Stabheuschrecken dürfen nicht unerwähnt bleiben, jene seltsamen Bewohner wärmerer Länder, deren brauner langge- streckter Körper einem kleinen knorrigen Ästchen gleich sieht, von dem die langen, ebenfalls stockartigen Beine unregelmässig und meist unbeweglich beim ruhenden Thier im Winkel abgestreckt werden. Die Thiere sind Pflanzenfresser und halten sich gewöhnlich ganz ruhig, so dass selbst der nach ihnen suchende Naturforscher über sie Spanner-Raupen. I O I hinwegsieht. Wurde doch einem so erfahrenen Insektenkenner, wie ALFRED WALLACE von einem Eingeborenen der Philippinen einst ein Stück als Stabheuschrecke gebracht, das dieser mit dem Bemerken zurückwies, diesmal sei es kein Thier sondern ein wirkliches Ästchen, bis der Eingeborne ihm nachwies, dass es doch ein solches Thier sei, dessen Ähnlichkeit mit einem Zweig aber dadurch noch erhöht war, dass es am Rücken grüne lappige Auswüchse trug, die ganz aus- sahen, wie ein Lebermoos, Jungermannia, das auf den Zweigen der dortigen Bäume vorkommt. Auch die auf den stachligen Pflanzen tropischer Wüsten und Hochebnen, besonders in Mexiko zahlreichen Dornen-Wanzen wären hier zu erwähnen, die zwei oder mehr grosse Dornen auf dem verhältnissmässig sehr kleinen Körper tragen und dadurch als ein Theil des Dornengewächses erscheinen, auf dem sie sitzen. Aber nicht nur von Insekten, sondern auch von Eidechsen wird eine Verkleidung durch Nachahmung der Dornen stachliger Pflanzen her- vorgebracht, wie der im australischen Dornengebüsch lebende über und über mit dornenartigen Auswüchsen besetzte Moloch horridus, eine Eidechse, lehrt. Diese Beispiele könnten genügen, um zu zeigen, dass die Nach- ahmung der gewöhnlichen Umgebung des ruhenden, schutzbedürf- tigen oder auch auf Beute lauernden Thieres keine vereinzelten Aus- nahmen, zufällige Ähnlichkeiten oder, wie man früher sagte, »Natur- spiele« sind, sondern im Gegentheil die Regel, welche auf natürlichen Ursachen beruht und überall da eintritt, wo diese Ursachen vorhanden sind. Wenn in wärmeren Klimaten solche schützende Ähnlichkeiten häufiger zu sein scheinen, als bei uns, so ist das wohl nur Täuschung, die darauf beruht, dass die Masse der Arten, besonders bei den In- sekten dort ungemein viel grösser ist, überhaupt der Reichthum thierischer Gestaltung ein ganz ausserordentlicher, und dass viele Insekten-Typen dort Vertreter von bedeutenderer Körpergrösse be- sitzen, was diese nicht nur für uns auffallender macht, sondern auch ihren Feinden oder Beutethieren gegenüber einer schützenden Gestal- tung bedürftiger. Doch sei hier noch eines Beispiels gedacht, das auch in unserer Thierwelt in vielen Modifikationen uns entgegentritt: der Spanner- raupen. Von diesen weichen und leicht verletzbaren Thieren glei- chen viele täuschend, in Farbe und Glanz, der Rinde des Baumes oder Strauches, auf dem sie leben (Fig. 17). Dabei haben sie die Gewohn- heit, sich in der Ruhe steif und gerade auszustrecken, so dass sie frei 7* 102 Färbungen der Thiere. und in spitzem Winkel von dem Ästchen abstehen, von dem sie ein Seitenzweig zu sein scheinen. Bei manchen Arten wird die Ähnlich- keit noch erhöht durch die sonderbare Haltung des Kopfes [K) und der klauenartigen Füsse (F), die theils dicht an jenen angedrückt, theils frei abstehend, dem Vorderende des Thiers das Ansehen zweier End- Fig. 17. Raupe von Selenia Tetralunaria auf einem Birkenzweig sitzend. K Kopf, /"Füsse, in Höcker, die schlafende Knospen darstellen; natürliche Grösse. knospen geben, während verschiedene kleine zugespitzte knötchen- artige Warzen (m), die zerstreut auf dem Körper vertheilt sind, die schlafenden Knospen des Zweigchens vortäuschen. Wer hätte nicht schon eine solche Raupe für ein Ästchen gehalten, nicht nur Laien, sondern auch Naturforscher ? Schon manches Mal bin ich selbst erst durch Berührung völlig sicher über das geworden, was ich vor mir hatte. Mimicry. IO3 V. Vortrag. Eigentliche Mimicry. Mimicry, ihre Entdeckung durch Bates p. 103, Helikoniden und Pieriden p. 104, Danaiden p. 106, Papilio Merope und seine fünf Weibchen p. 106, Die Weibchen gehen voran p. 108, Arten mit Mimicry in beiden Geschlechtern p. 109, Einwürfe p. 110, Feinde der Schmetterlinge p. in, Die Immunität der Vorbilder p. 112, Giftigkeit der Nährpflanzen immuner Arten p. 1 13, Mehrere Nachahmer derselben immunen Art p. 115, Verfolgte Arten derselben Gattung ähneln ganz verschiedenen Vorbildern, Elymnias p. 116, Grad der Ähnlichkeit p. 118, Verschiedenheit der Raupen von Vor- und Nachbild p. 118, Die gleiche Ähnlichkeit auf verschiedene Weise erzeugt, Glasflügler p. 119, Die stufen- weise Steigerung der Ähnlichkeit deutet auf mechanisch wirkende Ursachen p. 120, Seltenheit der mimetischen Arten p. 122, Bedrohung der Artexistenz ist nicht Vor- bedingung mimetischer Umwandlung p. 122, Papilio meriones und merope p. 123, Vergleich mit den dimorphen Raupen, Papilio Turnus p. 124, Mimicry-Ringe immuner Arten p. 126, Danais Erippus und Limenitis Archippus p. 128, Starke Abweichung mimetischer Arten von ihren nächsten Verwandten p. 130, Mimicry bei anderen In- sekten p. 131, Ameisen- und Bienen-Nachahmer p. 131. Wir wenden uns zur Betrachtung der merkwürdigsten aller schützenden Farben- und Form-Anpassungen, zur sog. Mimicry, jenen Fällen von Nachahmung eines Thiers durch ein anderes, wie wir sie zuerst durch Bates kennen gelernt haben, zu deren voll- ständigerem Verständniss aber später besonders A. R. WALLACE und Fritz Müller beigetragen haben. Während der englische Naturforscher BATES1 zwölf Jahre lang an den Ufern des Amazonenstroms sammelte und beobachtete, kam es ihm beim Schmetterlingsfang zuweilen vor, dass er unter einem Schwärm jener bunten, eigenthümlich gestalteten Schmetterlinge (Taf. II, Fig. 1 3), der Helikoniden, zufällig ein Stück herausfing, welches sich bei genauerer Betrachtung als etwas wesentlich Anderes erwies, als seine zahlreichen Bedeiter. Zwar o-lich es diesen in Farbe und auch in Form, aber es gehörte einer ganz anderen Familie der Tagfalter an, der der Pieriden oder Weisslinge (Taf. II, Fig. 19). Immer kamen solche Weisslinge 1 Bates »Contributions to an Insect Fauna of the Amazons Valley« Linn. Soc. Trans, vol. XXIII 1862. I OA Färbungen der Thiere. mit Helikonidenfärbung nur vereinzelt in ganzen Schwärmen von Helikoniden vor, und BATES fand, dass sie in den verschiedenen Gegenden am Amazonenstrom in auffallender Weise immer gerade der dort vorkommenden Helikoniden-Art glichen. Manche von ihnen waren auch früher schon den Entomologen bekannt gewesen, und man hatte ihnen, weil sie vom Typus der übrigen Weisslinge be- sonders in der Flügelform so sehr abwichen, den Namen Dysmorphia, die Missgestaltete, gegeben, wenn auch der Sinn dieser auffallenden »Missgestaltung« noch lange verborgen blieb. Der französische Lepi- dopterologe BoiSDUVAL kam noch einen Schritt weiter, indem er es als etwas Merkwürdiges hervorhob, dass die Natur zuweilen mehrere Arten aus ganz verschiedenen Familien völlig ähnlich macht, und dabei auf drei afrikanische Schmetterlinge hinwies, von denen wir später noch genauer zu sprechen haben werden. Aber auch er war noch zu sehr in den alten Anschauungen von der Unveränderlichkeit der Arten befangen, als dass er zur richtigen Einsicht hätte gelangen können. So war es BATES vorbehalten, hier den entscheidenden Schritt zu thun. Aus der Beobachtung, dass die Helikoniden häufig und meist in grösseren Schwärmen vorkommen, folgerte er, dass sie wenig Feinde besässen, und da er niemals sah, dass die zahlreichen, insekten- fressenden Vögel und Insekten auf Helikoniden Jagd machten, so schloss er weiter, dass dieselben etwas Widriges an sich haben müssten, das sie gegen diese Räuber sicher stellt. Umgekehrt fand er die Helikoniden-ähnlichen Weisslinge immer nur selten und nahm dies als ein Zeichen, dass sie vielverfolgte, also für Insektenfresser geniessbare Bissen seien. Wenn es nun möglich war, dass eine Weisslingsart mit der gewöhnlichen weissen Färbung dieser Familie Variationen hervorbrachte, welche sie jenen vor Verfolgung ge- sicherten Helikoniden in irgend einem Grade ähnlich machten, und wenn überdies solche Individuen sich den Schwärmen der Helikoniden beigesellten, so mussten diese Variationen bis zu einem gewissen Grade vor Nachstellung gesichert gewesen sein, und zwar um so mehr, je ähnlicher sie dem geschützten Vorbild waren. Die heutige hohe Ähnlichkeit solcher Weisslinge mit Helikoniden wird also — so schloss BATES weiter — auf einem Selektionsprozess beruhen, der darin seinen Grund hatte, dass in jeder Generation durchschnittlich immer diejenigen Individuen bis zur Fortpflanzung erhalten blieben, welche dem Vorbild ein wenig ähnlicher waren, als die übrigen, und es muss sich dadurch die anfangs wohl nur schwache Ähnlichkeit nach und nach bis zu der heutigen Höhe gesteigert haben. Mimicry. I o K Die Voraussetzungen von Bates haben sich seitdem auf das Glänzendste bestätigt; die Helikoniden besitzen wirklich einen widrigen Geruch und Geschmack und werden von Vögeln, Eidechsen und anderen Thieren durchaus verschmäht. Man hat direkt beobachtet, wie Puffvögel, Trogon-Arten und andere insektenfressende Vögel von der Spitze der Bäume herab nach Beute spähten, die Schaaren bunter Helikoniden aber unbeachtet Hessen, welche das Laubwerk unten um- flatterten, und Versuche mit verschiedenen, insektenfressenden Thieren haben dasselbe Resultat ergeben: Die Helikoniden sind immun. Wir verstehen daraus nicht nur, dass es vortheilhaft war, ihnen zu gleichen, sondern wir begreifen auch manche ihrer eigenen Eigen- schaften, so ihre Buntheit, die als Widrigkeitszeichen wirken muss, und ihren langsamen, flatternden Flug, der es den Vögeln noch mehr erleichtert, sie als ungeniessbare Beute zu erkennen, ferner das Zu- sammenhalten in Schwärmen. Alles, was diese ungeniessbaren Bissen als solche leichter kenntlich machte, muss für sie vortheilhaft ge- wesen und von Naturzüchtung begünstigt worden sein (Taf. II, Fig. 13). Ebenso wird bei den Nachahmern jede Steigerung der Ähnlich- keit die Aussicht erhöht haben, nicht aufzufallen, und es ist für Jemand, der die Schmetterlinge vielfach in der Natur beobachtet hat, sehr gut zu verstehen, dass schon recht unbedeutende Ähnlichkeiten den Anfang des Selektionsprozesses gebildet haben können, vielleicht sogar schon allein kleine Abänderungen in der Art des Flugs, ver- bunden mit der Gewohnheit, sich dem Schwann der Helikoniden bei- zugesellen. Ich selbst bin in unseren Wäldern manchmal durch einen besonders majestätisch dahinschwebenden Weissling einige Augen- blicke getäuscht worden, indem ich ihn für etwas Anderes, etwa eine Apatura oder Limenitis hielt. Wenn also am Amazonenstrom hier und da Individuen von Weisslingen vorkamen, die etwas nach Art einer Helikonide flogen und sich unter sie mischten, so werden sie vielleicht dadurch allein schon einen gewissen Grad von Schutz ge- nossen haben, der sich noch steigerte, wenn sie zugleich etwas in der Farbe abänderten. Jedenfalls kann mindestens daran kein Zweifel sein, dass in diesen Fällen wirklich eine Umwandlung der Art in Färbung und Zeichnung, oft auch im Flügelschnitt stattgefunden hat, und zwar in verhältniss- mässig moderner Zeit, sagen wir während der Ausbreitung einer schutzbedürftigen Art über einen grossen Continent, oder seit dem letzten Auseinanderweichen einer immunen Art in Lokal-Arten. Ver- schiedene Thatsachen beweisen das ; vor Allem der Umstand, dass oft IOÖ Färbungen der Thiere. nur die Weibchen schützende Nachahmung besitzen, dann, dass ein und dieselbe Art auf verschiedenen Wohngebieten eine andere immune Art nachahmt, und immer diejenige, die dort häufig vorkommt u. s. \v. Bestimmte Beispiele werden dies am besten anschaulich machen, und ich will nur vorausschicken, dass seit der Entdeckung von Bates noch zahlreiche Fälle von Mimicry bei Schmetterlingen entdeckt worden sind, nicht nur in Südamerika, sondern in allen tropischen Ländern, in welchen eine reiche Schmetterlingsfauna sich vorfindet. Auch sind es nicht blos Helikoniden und Pieriden, zwischen welchen sich diese Beziehungen ausgebildet haben, sondern verfolgte, schutzbe- dürftige Arten verschiedener Familien ahmen überall widrigschmeckende und deshalb verschmähte Arten nach, und auch diese Letzteren ge- hören verschiedenen Familien an. Die Helikoniden sind eine rein amerikanische Gruppe, aber in der alten Welt und in Australien haben die drei grossen Familien der Danaiden und der Euploeiden, sowie der Acraeiden ihre Rolle übernommen, da sie — wie es scheint — alle widrig schmecken, und von allen oder doch den meisten insektenfressenden Thieren unbeachtet bleiben. Zahlreiche Arten der Gattungen Danais (Taf. I, Fig. 8), Amauris (Taf. I, Fig. 5), Euploea (Taf. III, Fig. 25 u. 27) und Acraea (Taf. II, Fig. 21), ausser- dem aber auch noch manche Arten von Papilio und anderen Gattungen geniessen den Vorzug der Widrigkeit oder wohl selbst Giftigkeit, sind dadurch vor Verfolgung geschützt und werden dementsprechend von geniessbaren Schmetterlingen nachgeahmt. Ich wähle als weiteres Beispiel zunächst einen Tagfalter Afrikas, der 1868 durch TRIMEN als mimetisch nachgewiesen wurde, Papilio Merope Cramer1. Die Art hat eine weite Verbreitung, denn sie ist, wenn wir von geringfügigen Lokal-Abweichungen in der Zeichnung der Männchen absehen, über den grössten Theil von Afrika verbreitet, von Abyssinien bis nach dem Capland, und von Ostafrika bis zum Senegal und der Goldküste. Das Männchen ist ein schöner, grosser gelblichweisser Falter mit etwas Schwarz und mit Schwänzchen an den Hinterflügeln (Tafel I, Fig. 1), ähnlich unserem Schwalbenschwanz. Eine ganz nahestehende 1 Man hat die westafrikanische Form von Papilio Merope von der südlichen in neuester Zeit als besondere Art getrennt und nennt die Letztere Papilio cenea. Die Unterschiede der Männchen sind sehr gering: etwas kürzere Flügel, kürzeres Schwänz- chen u. s. w., Unterschiede, die gegenüber den Unterschieden zwischen Männchen und Weibchen kaum in Betracht kommen. Mimicry. 107 Art kommt in Madagaskar vor und hat dort ein ebenso gefärbtes Weibchen, das sich nur durch etwas mehr Schwarz auf den Flügeln unterscheidet. Auf dem Festland von Afrika aber sind die Weib- chen von Papilio Merope in Farbe und Flügelschnitt so ver- schieden, dass man ihre Zugehörigkeit zu den Männchen nicht glauben würde, wären nicht mehrfach aus den Eiern eines Weib- chens beide Geschlechter erzogen worden. Die Weibchen (Fig. 6) ahmen nämlich in Südafrika eine Amauris-Art nach, A. Echeria (Fig. 7), von schwarzer Grundfarbe mit weissen oder bräunlichweissen Spiegeln und Flecken, und gleichen ihr in der That aufs Täuschendste. Was aber den Fall in theoretischer Beziehung noch interessanter macht, ist der Umstand, dass die nachgeahmte Danais Echeria in der Capkolonie sich ziemlich stark von der in Natal fliegenden D. Echeria unterscheidet, und dass die Weibchen von Merope diesen Lokal- Va- rietäten gefolgt sind und ebenfalls eine Cap- und eine Natal-Lokalform darstellen. Aber auch damit sind wir noch nicht am Ende, denn in der Capkolonie fliegen noch zwei andere Weibchen von P. Me- rope. Das eine davon hat eine gelbrothe Grundfärbung (Fig. 2) und gleicht der dort massenhaft lebenden immunen Danais Chrysippus (Fig. 3); das andere ist vollkommen verschieden davon (Fig. 4), denn es ahmt sehr gut die in denselben Gegenden Afrikas häufige und immune Danaide, Amauris niavius, nach (Fig. 5), nicht nur in dem schönen reinen Weiss und tiefen Schwarz der Flügelfläche, sondern auch in der Vertheilung dieser Farben zu einem Zeichnungs-Muster. Wir haben also in Afrika vier verschiedene Weibchen von P. Merope, von denen jedes eine geschützte Danaiden-Art nach- ahmt. Sie sind nicht immer lokal getrennt, eine jede etwa auf nur ein Gebiet durchaus beschränkt, sondern ihre Verbreitungsgebiete greifen häufig übereinander, und man hat z. B. am Cap aus einem Satz Eier: Männchen und drei verschiedene Weibchenformen ge- zogen. Nimmt man noch hinzu, dass zwischen den beiden Lokal- formen von Danais Echeria Übergänge vorkommen, und dass auch die nachahmenden Weibchen von P. Merope diese Übergänge lokal genau mitmachen, so muss man zugeben, dass alle diese Thatsachen zwar mit der Erklärung durch Selektion in schönstem Einklang stehen, jeder anderen Erklärung aber spotten. Um auch den letzten Zweifel zu beseitigen, hat uns die Natur auch auf dem Festland von Afrika die ursprüngliche Weibchen form erhalten, in Abyssinien nämlich, wo neben den Mimicry-Weibchen auch solche noch gefunden wurden, welche geschwänzt sind, wie die Männchen (Fig. ij, und sich auch in IoS Färbungen der Thiere. Färbung und Zeichnung genau an dieselben anschliessen, kleine Unter- schiede abgerechnet. Wir haben also in Papilio Merope eine Art vor uns, die sich bei ihrer Ausbreitung über Afrika im männlichen Geschlecht kaum merk- lich verändert hat, im weiblichen aber überall die äussere Erscheinung eines Papilio verloren, und dafür die einer durch Ungeniessbarkeit ge- schützten Danaide angenommen hat, und zwar nicht überall derselben Art, sondern an jedem Ort derjenigen, welche dort zu Hause ist, oft mehrerer zugleich. So zeigen diese mimetischen Weibchen heute einen Polymorphismus, der aus vier Haupt-Nachahmungsformen besteht, und zu diesen kommt dann noch die ursprüngliche, dem Männchen ganz ähnliche Weibchenform hinzu, welche sich nur noch in Abyssinien erhalten hat, auch dort aber nicht als einzige Weibchen- form vorkommt, sondern neben einigen der Mimicry-Formen. Die Frage, warum hier, wie in anderen Fällen, nur die Weib- chen Nachahmer sind, haben Darwin und Wallace dahin be- antwortet, dass die Weibchen des Schutzes mehr bedürfen. Einmal treten die Männchen bei den Schmetterlingen in bedeutender Über- zahl auf, und dann müssen die Weibchen länger leben, um die Eier zur Ablage zu bringen. Dazu kommt, dass sie eben wegen der Be- lastung mit zahlreichen Eiern auch schwerfälliger fliegen und während der ganzen Dauer der Eiablage, also längere Zeit hindurch, den An- griffen zahlreicher Feinde ausgesetzt sind. Ob eines der häufigen Männchen früher oder später gefressen wird, ist für den Bestand der Art nicht entscheidend, da ein Männchen zur Befruchtung mehrerer Weibchen ausreicht. Der Tod eines Weibchens aber entzieht der Art mehrere Hundert Nachkommen. Man begreift, dass bei ohnehin selteneren Arten vor Allem die Weibchen geschützt werden mussten, d. h. dass alle nach der Richtung eines Schutzes zielenden Variationen Anlass zu einem Selektionsprozess geben mussten, der auf Steigerung der schützenden Eigenschaften ausging. Es gibt nun aber auch Schmetterlinge, bei welchen beide Ge- schlechter ein geschütztes Vorbild nachahmen. So gleichen viele Nachahmer der ungeniessbaren Acraeen (Tafel II, Fig. 21) in beiden Geschlechtern dem Vorbild, und bei den Helikoniden-Nach- ahmern unter den Weisslingen Südamerikas finden sich einige, die auch im männlichen Geschlecht das Aussehen der Helikonide be- sitzen (Tafel II, Fig. 18 u. 19), während andere wie gewöhnliche Weisslinge aussehen (z. B. Archonias Potamea Butl.). Bei vielen dieser im weiblichen Geschlecht mimetischen Arten, finden wir auch Mimicry. I OQ beim Männchen schon eine mehr oder minder starke Andeutung der mimetischen Färbungen, und zwar zuerst nur auf der Unterseite. So gleichen die Weibchen von Perhybris Pyrrha (Fig. 17) in dem Schwarz, Gelb und Orangerothen Farbenmuster der immunen ame- rikanischen Danaide Lycorea halia (Fig. 12), ihre Männchen aber sehen auf der Oberseite genau so aus, wie einer unserer gewöhnlichen Weisslinge, zeigen aber unten auch bereits die orangerothe Querbinde der Lycorea (Fig. 16). Bei anderen mimetischen Arten von Weiss- lingen ist ein solcher Anfang in noch schwächerer Andeutung vor- handen, bei wieder anderen ist auch die Oberseite des Männchens mit der Schutzfärbung versehen, und nur ein einziger weisser Fleck auf den Hinter- oder auch noch auf den Vorderflügeln zeigt das ur- sprüngliche Pieriden- Weiss (Fig. 18). Ich wüsste nicht, wie man diesen Thatsachen einen anderen Sinn unterlegen könnte, als den, dass hier zuerst die Weibchen die Schutz- färbung annahmen, und dass ihnen später und langsamer die Männ- chen darin nachfolgten. Ob dies durch Vererbung von Seiten der Weibchen her geschah, also gewissermassen mit mechanischer Noth- wendigkeit vermöge uns noch unbekannter Vererbungsgesetze, oder ob es aus einem, wenn auch in geringerem Grade vorhandenen Nutzen eines Schutzes der Männchen für die Art hervorging, die selbstständig dem Entwicklungsweg der Weibchen nachfolgten, das wäre noch zu untersuchen. Ich neige der letzteren Ansicht zu, und zwar deshalb, weil es geschützte mimetische Arten gibt, bei welchen das Weibchen einem immunen Vorbild nacheifert, das Männchen aber einem anderen, vom Vorbild der Weibchen ganz verschie- denen. Ein solcher Fall liegt vor bei einem indischen Falter, Euri- pus Haliterses, und ebenfalls bei Hypolimnas scopas, von welch' Letzterem das Männchen dem Männchen der Euploea Pyrgion aieicht, das Weibchen dem ziemlich verschiedenen Weibchen der- selben geschützten Art. Auch der indische Papilio paradoxus spricht für die Unabhängigkeit des mimetischen Anpassungsprozesses, denn das Männchen gleicht dem blauen Männchen der immunen Euploea binotata (Tafel III, Fig. 25), das Weibchen aber dem radiär gestreiften Weibchen der Euploea Midamus (Fig. 27), und dieselbe Doppel-An- passung wiederholt sich bei der zu den verfolgten Faltern gehörigen Elymnias leucocyma (Fig. 26 u. 28). Man hat der Erklärung der Mimicry durch Selektion Mancherlei eingeworfen. Man hat gemeint, die Schmetterlinge seien der Nach- stellung durch Vögel nur unbedeutend ausgesetzt, sie genüge nicht, I IO Färbungen der Thiere. um so intensive und lange anhaltende Selektionsprozesse zu begrün- den, den Vögeln seien die Tagfalter unwillkommene Bissen wegen der grossen und ungeniessbaren Flügel bei kleinem Leib, auch sei es eine zweifelhafte Sache mit der Immunität der Vorbilder, die für viele Arten, von denen man sie annehme, noch gar nicht erwiesen sei; schliesslich sei auch der Vortheil, den die Ähnlichkeit mit einem immunen Vorbild bringe, unerwiesen und rein hypothetisch; es sei wahrscheinlich, dass die Vögel die Färbung und Zeichnung des fliegenden Schmetterlings gar nicht unterscheiden und höchstens durch die Flugmanieren eines Falters getäuscht werden könnten. Das Letztere enthält gewiss Wahrheit, insofern in der That die Art des Flugs bei der Nachahmung einer fremden Art mit in Betracht kommt. Wir werden später noch sehen, wie sehr bei allen schützen- den Färbungen zugleich die Instinkte einer Art zur Täuschung bei- tragen. Es ist deshalb nicht unwahrscheinlich, dass in vielen Fällen die Nachahmung des Flugs einer immunen Art und die Gewöhnung an die Flugplätze derselben der Umfärbung vorherging. Wird ja doch gerade der langsame Flug immuner Arten (Helikoniden) von den Beobachtern übereinstimmend hervorgehoben als ein Moment, das den scharfsichtigen Vögeln ihre Erkennung erleichtert. Dass aber nicht blos in früheren Epochen der Erdgeschichte, wie man gemeint hat, sondern auch heute noch die Schmetterlinge viel verfolgte Thiere sind, und besonders auch von Vögeln viel gejagt werden, das scheint mir nach den Beobachtungen, welche das letzte Vierteljahrhundert darüber gebracht hat, unzweifelhaft. Sogar bei uns, wo sowohl Tagfalter, als insektenfressende Vögel durch die Cultur des Menschen immer mehr verdrängt werden, fallen doch auch noch viele Tagfalter im Fluge den Vögeln zum Opfer. KENNEL bringt darüber gute Beobachtungen für die Grasmücke, CASPARI für die Schwalben. Letzterer Hess etwa hundert Trauermäntel (Vanessa Antiopa) von seinem Fenster aus fliegen *aber keine zehn derselben erreichten den sehr nahen WTald«, die übrigen wurden alle von den Schwalben gefressen, »die sich förmlich vor seinem Fenster sammel- ten«. KATHARINER beobachtete auf dem Hochland von Kleinasien einen Trupp von Bienenfressern (Merops), welche zahlreiche Indivi- duen eines schönen Tagfalters (Thais Cerisyi) im Flug fingen und verschluckten. Schliesslich hat noch Pastor SLEVOGT vielfache Belege dafür bei- gebracht, dass unsere einheimischen Falter recht sehr von Verfolgung durch Vögel zu leiden haben. Von den tropischen Ländern aber kennt Feinde der Schmetterlinge. III man seit lange schon die Jagd insektenfressender Vögel auf Schmetter- linge. So sagt PÖPPIG, dass man »in den Urwäldern ohne Schwierig- keit die Stelle erkennen könne, welche einer der Glanzvögel (Gal- buliden) zum Lieblingssitz erkoren hat, denn die Flügel der grössten und prachtvollsten Schmetterlinge, deren Leib allein gefressen wird, bedecken auf einige Schritte im Umkreis den Boden«. Direkte Be- obachtungen über den Insektenfang der Vögel des Urwalds verdanken wir besonders Dr. HAHNEL, welcher bei seinen eifrigen Sammelreisen in Mittel- und Südamerika vielfach dazu Gelegenheit fand. Er schreibt: »Keiner anderen Gattung von Schmetterlingen wurde von Vögeln so nachgestellt, wie den Pieriden (Weisslingen), und oft schnappten mir diese Freibeuter die hübschesten, frischen Stücke dicht aus meiner Nähe weg, wobei die unfehlbare Sicherheit ihres Fluges mich jedes- mal in Verwunderung setzte, und ich gern mit der Einbusse eines Exemplars das Schauspiel bezahlte«. Von der Verfolgung eines jener grossen Caligo-Arten, deren blattähnlicher, mit Augenfleck ver- sehener Unterseite ich oben gedachte (Fig. 6 p. 80) sagt er: »Mit un- glaublicher Geschicklichkeit wusste das mächtig grosse Thier allen Schnabelhieben des hart ihm folgenden Vogels auszuweichen und aus einem Gebüsch ins andere sich zu retten, bis schliesslich das gehetzte Wild im dichtesten Gewirr von Zweigen geborgen war, und der er- müdete Vogel von weiterem Nachsetzen abstand«. Aber ausser von Vögeln werden die Falter des Urwalds auch von Insekten verfolgt, vor Allem von grossen räuberischen Libellen, die sich während des Flugs auf sie stürzen. HAHNEL sah öfters, wie einer der grossen, prächtig blauen Morpho Cisseis, der ruhig an den Kronen der Bäume dahinschwebte, plötzlich kopfabwärts schoss »wie ein Stier mit gesenkten Hörnern, um dann anscheinend nur mit Mühe wieder in die Höhe zu steigen, nachdem er sich von seinem plötz- lichen Angreifer losgerissen, dessen Kiefer deutliche kurze Schrammen an ihm hinterliessen«. Zu Vöeeln und Raubinsekten kommt dann noch das Heer der Eidechsen, das den Tagfaltern nachstellt. Um die Falter anzu- locken, hatte HAHNEL Köder im Wald ausgelegt, »Zuckerrohr, kleine süsse Bananen oder Ähnliches«. Auf diesem Hessen sich dann die verschiedensten Falter »Satyriden, Ageronien, Adelpha und andere Nymphaliden nieder«. Beständig sah er sie nun hier »umlauert und angefallen von gierigen Eidechsen, die trotz ihrer plumpen Figur und ihres schleppenden Ganges plötzlich hervorbrechend mit grosser Schnelle ihre Beute zu erhaschen wissen. Oft ist es aber auch I j 2 Färbungen der Thiere. wunderbar, wie geschickt ein so verfolgtes Thier den wiederholten Nachstellungen dieser Räuber entgehen kann«. So wurde einmal eine Adelpha ein Dutzend Mal von dem ausgelegten Köder von einer auf sie losstürzenden Eidechse aufgejagt, um sich dann immer kurze Zeit auf ein Blatt zu setzen und bald wieder an den Köder zu kommen, wo dann ihr Feind im Nu wieder »mit aller VVuth auf sie zuschoss, bis er es schliesslich doch aufgab«, das so prompt flüch- tende Thier weiter zu behelligen. Auch auf den Sandbänken im Fluss sammeln sich Mittags bei der srössten Sonnenhitze viele Falter, um zu trinken, und auch hier sind sie umlauert von Eidechsen. Sehr hübsch und gewiss völlig zutreffend schildert dabei Hahxel die schützende Rolle der langen Schwänze, welche viele der Segler-artigen Papilionen an den Hinterflügeln tragen ; sie gewähren »ganz augenscheinlich« Schutz gegen die Eidechsen, »die sich beim Zuschnappen sehr oft mit den blossen Schwänzen begnügen müssen, während das im Übrigen unbeschädigte Thier noch einmal davonfliegt.« Aber nicht nur die starke Verfolgung der Schmetterlinge ist That- sache, sondern auch die Immunität der als Vorbilder für Mimicry bekannten Arten. Für zahlreiche Arten wenigstens ist das jetzt sicher- gestellt. Zunächst — wie oben schon gesagt wurde — für die Heli- koniden, für die WäLLACE schon vor langer Zeit nachwies, dass sie beim Zerdrücken der Brust einen gelben Saft von widerlichem Geruch austreten lassen. Dieser wird wohl das Blut des Thiers sein, was nicht verhindert, dass der widrige Geruch des lebenden Schmetter- linsrs nicht »mehrere Schritte weit« reichen könnte, wie Seitz bei Heliconius Beskei beobachtete. Es sind auch wiederholt Versuche angestellt worden, welche er- gaben, dass solche Falter nicht nur von den insektenfressenden Vögeln des Urwalds, sondern auch von den so gefrässigen zahmen Truthühnern, Fasanen und Rebhühnern verschmäht werden. Neuer- dings hat HAHNEL diese Versuche in Brasilien mit Hühnern wieder- holt und erhielt dasselbe Resultat. Die Hühner, »die sonst alle Schmetterlinge mit Begier verzehren« verschmähten alle Ithomiden, Helikonier, die weissen Papilios, wie auch einige der bunt und heli- konidenartig gefärbten, bei Tage fliegenden Nachtfalter, wie Esthema bicolor und Pericopis Lycorea. Offenbar wirkt die bunte oder auf- fallende Färbung dieser Schmetterlinge als Widrigkeitszeichen und schützt sie vor den Versuchen der Vögel, sie auf ihren Wohlge- schmack zu untersuchen. Daher finden wir auch die Unterseite Widrigkeit immuner Arten. I I ß widriger Falter gleich der Oberseite. Schon die Menge, in welcher diese Arten umherfliegen, deutet darauf, dass sie wenig dezimirt werden müssen, und in der That findet man in den südamerikani- schen Wäldern niemals die Flügel von Helikoniden am Boden liegen, während die von Nymphaliden und anderen Faltern als Rest von Vogel-Mahlzeiten, wie oben schon erwähnt, nicht selten angetroffen werden. Ebensowenig aber wie bei den Helikoniden und Verwandten ist ein Zweifel berechtigt gegenüber dem Schutz, dessen Dan ai den, Acraeiden und Euploeiden sich in den Tropen der alten Welt durch widrigen Geruch und Geschmack erfreuen. Auch hier liegen Versuche und Beobachtungen vor, die beweisen, dass Vögel, Eidech- sen und Raubinsekten die Schmetterlinge dieser Familien unbehelligt lassen. Ich erwähne nur die Beobachtung von Trimen, welcher unter einer von Schmetterlingen viel besuchten Akazie, auf welcher Mantiden, sog. Gottesanbeterinnen, zahlreiche Schmetterlinge ver- schiedener Arten fingen und verzehrten, niemals die Flügel einer Acraea oder Danais fand. Auch diese widrigen Falter besitzen ein buntes oder doch auffallendes, von Weitem leicht kenntliches Kleid, das oben und unten gleich ist, und auch sie fliegen langsam, so dass man sie leicht erkennt. Auch zeigen sie sich meist in grosser Indi- viduenzahl, und sind in beiden Geschlechtern meistens gleich gefärbt, oder doch sehr ähnlich, jedenfalls gleich auffallend. Aber auch mit ihnen ist die Reihe der durch Widrigkeit geschützten Schmetter- linge noch nicht geschlossen; unter der sonst so stark verfolgten, also geniessbaren Familie der Pieriden (Weisslinge) gibt es eine asia- tische Gattung Delias, die sehr wahrscheinlich zu den immunen Fal- tern gehört, wie schon ihre bunte Unterseite andeutet, und auch unter Nachtfaltern verschiedener Länder und Familien finden sich einzelne Gattungen, die höchst bunt und auffallend gefärbt sind, die von Vögeln verschmäht werden, und deren widriger Geruch auf mehrere Fuss Ent- fernung hin wahrzunehmen ist (Chalcosiiden und Eusemiiden). Diese Letzteren fliegen nicht mehr unter dem Schutz der Nacht, wie ihre Verwandten, sondern sind zu Tagfliegern geworden. Es ist zu vermuthen, dass die Widrigkeit solcher »Ungeniessbaren« mit der Futterpflanze zusammenhängt, an welcher die Raupe lebt. Scharfe, nauseose, adstringirende und geradezu giftige Stoffe werden ja in vielen Pflanzen erzeugt, und wie wir später sehen werden zu ihrem eigenen Schutz; diese Stoffe müssen in das Insekt übergehen, und thun dies vielleicht zum Theil unverändert, zum Theil gewiss HA Färbungen der Thiere. auch verändert, aber doch noch immer schützend, vielleicht sogar noch besser schützend. Damit stimmt es, dass wirklich viele Raupen immuner Schmetterlinge an mehr oder minder giftigen Pflanzen leben: die Acraeen und Helikonien an Passifloren, welche Ekelstoffe enthalten, die Danaiden an milchsaftreichen, giftigen Asclepiadeen, die Euploen an giftigen Ficus-Arten, die Neotropinen an Solaneen u. s. w. Es gibt nun aber artenreiche und über die ganze Erde verbreitete Gattungen, deren Raupen an Pflanzen sehr verschiedener Familien und Eigen- schaften leben, und bei diesen sind dann die meisten Arten wohl- schmeckend, einige wenige aber auch widrig riechend und schmeckend, und dann immun. So verhält es sich bei der Gattung Papilio. Schon in den sechziger Jahren entdeckte WALLACE, dass es immune Papilio-Arten gebe, und dass diese von anderen Arten nachgeahmt werden. Später stellte sich dann heraus, dass diese immunen Papilionen meist an Giftpflanzen (in weiterem Sinn) leben, an verschiedenen Aristolochien , und HAASE hat sie neuerdings als Giftfresser (Aristochien-Falter oder Pharmacophagen) zusammengefasst und auch dem Bau nach von den übrigen Papilio-Arten abzugrenzen gesucht. Sie zeichnen sich durch auffallendes Roth am Leib des Falters aus. Auch bei einigen von ihnen z. B. bei Papilio Philoxenus ist ein widriger, faulem Harn ähnlicher Geruch des lebenden Thiers festgestellt worden. So sehen wir denn, dass die vielverfolgten und leicht verletzbaren Schmetterlinge sich die von den Pflanzen zu eignem Schutz bereiteten Giftstoffe (im weitesten Sinn!) zu Nutze machen, und überall da, wo es ihrem Chemismus nach möglich ist, dieselben zu ihrem eigenen Schutz verwenden. Es kann uns deshalb nicht wundern, wenn relativ so viele Schmetterlinge zu den Immunen gehören, und ebensowenig, dass von den viel zahlreicheren Arten der Geniessbaren ein kleiner Theil jenen Geschützten ähnlich zu werden strebte, soweit Natur- züchtung- solche Ähnlichkeit herzustellen im Stande war. Es gibt kaum eine andere, so weit verbreitete und vielgestaltige Anpassungs-Erscheinung, welche zugleich so genau beobachtet und in alle möglichen Einzelheiten hinein verfolgt wurde, wie Mimicry, und es muss wohl als ein starker Beweis für das Zutreffende ihrer Zurückführung auf Selektionsprozesse betrachtet werden, dass alle die beobachteten Erscheinungen aufs Schönste mit den Folgerungen aus der Theorie stimmen. Ich wenigstens kenne keine Thatsachen, die der Theorie widersprechen, wohl aber viele, die sich rein aus der Theorie hätten vorhersagen lassen. Mimicry. I I 0 So hätte man allein aus der Theorie vorhersagen können, dass eine immune Art oft mehrere Nachahmer haben werde, und dies ist in der That sehr häufig der Fall, und es wäre leicht, eine Menge Beispiele dafür anzugeben. So werden die beiden Danaiden Süd- und Mittel-Afrikas, Amauris echeria und Amauris niavius, nicht blos durch zwei Weibchenformen des oben ausführlich besprochenen Papilio Merope kopirt, sondern die Letztere ausserdem noch durch eine schutzbedürftige Nymphalide, Diadema Anthedon, die Erstere sogar noch durch zwei Tagfalter aus verschiedenen Familien, durch Diadema nuina und durch Papilio echerioides. So wird ferner der schwarz und roth gefärbte Heliconius Melpo- mene in Brasilien zugleich von dem Weibchen eines Weisslings, Ar- chonias teuthamis, nachgeahmt und von einem Papilio, der eben wegen dieser seiner Ähnlichkeit den Namen Papilio Euterpinus führt. So hat die immune, mit halb durchsichtigen Flügeln und schwarzen Binden darauf versehene Methona Psidii Cr. Brasiliens fünf Nachahmer aus fünf verschiedenen Gattungen, von denen eine sogar kein ächter Tagfalter, sondern einer der bei Tage fliegenden Arten der systematisch zweifelhaften Gattung Castnia ist. Die westafrikanische immune Acraeide, Acraea Gea (Taf.II, Fig. 21), wird in ihrer schmalen langen Flügelform, sowie in der aus Braun- schwarz und Weiss gemischten Zeichnung täuschend nachgeahmt von einer Nymphalide, Pseudacraea Hirce, von dem Weibchen eines Pa- pilio (Papilio Cynorta), dessen Männchen ganz verschieden ist, und von dem Weibchen einer Satyride, Elymnias Phegea (Taf. II, Fig. 20). Bei dem Papilio erstreckt sich die Nachahmung bis auf die eigenthüm- lichen pechschwarzen, glänzenden Tropfenflecke auf der Unterseite der Hinterfiüo-elbasis, wie denn alle drei Nachahmer auf beiden Flächen, also im Flug wie im Sitzen, dem Vorbild gleichen. An derselben westafrikanischen Küste fliegt auch die eigenthümlich grauschwärzlich gefärbte Acraea Egina mit ziegelrothen Flecken und Binden und pechschwarzen Tropfenfiecken (Fig. 18, Ä). Diese im- mune Art wird in ihrem Vaterland von zwei anderen Faltern täu- schend nachgeahmt, von einer Nymphalide, Pseudacraea Boisduvalii (Fig. 1 8, B) und von dem Weibchen eines Papilio, Papilio Ridleyanus (Fig. 18, C), von Letzterem nicht so genau, wie von Itrsterem, aber wohl sicher ausreichend genug, um im Flug mit dem Vorbild ver- wechselt zu werden. Weniger bestimmt hätte man von der Theorie aus vorhersagen können, dass umgekehrt die verschiedenen Arten einer schütz- n6 Färbungen der Thiere. A B bedürftigen Gattung weit verschiedene immune Vorbilder nachahmen könnten, denn Wer würde gewagt haben, vorauszusagen, wie weit die Variationsfähigkeit einer Art geht, und wie verschiedenartige Farben- trachten sie anzulegen im Stande ist? Die Thatsachen lehren uns aber, dass dies in weitem Umfang möglich ist. Am interessantesten nach dieser Rich- tung ist vielleicht die asiatisch-afrika- nische Gattung Elymnias, eine Sa- tyride, deren zahlreiche (über dreissig) Arten alle schutzbedürftig zu sein schei- nen, da viele von ihnen immune Falter nachahmen, die übrigen aber unschein- bar und unten mit Schutzfärbung ver- sehen sind. Auf Taf. II und III sind einige der Ersteren neben ihren Vor- bildern dargestellt. Die einzige afrikanische Art, Elymnias Phegea (Taf. II, Fig. 20), kopirt — wie schon erwähnt — die dortige Acraea Gea (Fig. 21). Viele der asiatischen Elymnien sind Nachahmer der immunen Euploeen, vor Allem die dunkelbraunen, stahlblau angelaufenen Arten, wie Elym- nias Patna in Indien, Elymnias Beza und Elymnias Penanga auf Borneo. In Am- boina fliegt eine Elymnias vitellia, deren Weibchen genau der dort lebenden einfach hellbraunen, zeichnungslosen Euploea Climena gleicht. Elymnias Leucocyma gleicht im Männchen (Taf. III, Fig. 26) der braunen, stark blau schillern- den Euploea binotata (Fig. 25), während das Weibchen das düstere radiär ge- streifte Weibchen von Euploea Mida- mus L. nachahmt (Fig. 27 u. 28); Elym- nias Cassiphone Männchen gleicht der schwarzbraunen stark blau schillernden Euploea Claudia, das Weibchen aber dem c Fig. 18. Oberseiten von A, Acraea Egina von der Goldküste, immun; B, Papilio Ridleyanus aus Gabun, nicht immun; C, Tseudacraea Bois- duvalii von der Goldküste, immun. nicht Mimicry. I I J Weibchen von Euploea Midamus. Eine Anzahl von Elymnias-Arten kopiren Danaiden; so beide Geschlechter von Elymnias Lais die Danais vulgaris (Taf. III, Fig. 29 u. 30), so Elymnias Ceryx und Timandra eine andere ähnliche Danaide, Danais Tytia. Nur das Weibchen von Elymnias undularis von Ceylon kopirt dem Gesammteindruck nach gut, wenn auch nur ungefähr die braungelbe Danais Genutia (Taf. II, Fig. 22 u. 23), während das Männchen eine der blauen Euploeen nachzuahmen bestrebt scheint (Taf. III, Fig. 24). Eine seltene, noch wenig in den Sammlungen vertretene Elymnias Künstleri gleicht in auffallender Weise der Danaide Ideopsis Daos Boisd. mit ihren weissen, schwarz- gefleckten Flügeln, während drei Arten die wahrscheinlich immune Pieriden-Gattung Delias besonders auf der mit Gelb und Roth ge- schmückten Unterseite nachahmen. Vielleicht am weitesten hat sich Elymnias Agondas Boisd. (Taf. II, Fig. 32) von der Papua-Region und der Insel Waigeu vom ursprünglichen Typus entfernt, indem sie auf den Hinterflügeln zwei grosse blaue Augenflecke trägt und dadurch besonders in dem fast weissen Weibchen der Tenaris bioculatus sehr ähnlich wird (Taf. III, Fig. 31). Es sind also sieben oder acht fremde Zeichnungs- und Färbungs-Typen aus sechs verschiedenen Gattungen, und eine viel grössere Zahl von Arten, welche von dieser Gattung Elymnias nachgeahmt wird. Höchst interessant ist es dabei, zu verfolgen, wie diese mimetischen Arten mehr oder weniger die ursprünglich sympathische Färbung der Unterseite aufgeben, und ihre ursprünglich auf Verstecken berechneten Zeichnungs-Elemente in den Dienst der Nachahmung stellen. Nach den schönen Untersuchungen von ERICH Haase dürfte die Grund- zeichnung der Gattung auf der Unterseite eine »graue, dunkel ge- sperberte Schutzfärbung gewesen sein«, wie solche sich noch heute bei mehreren mimetischen Arten findet, so bei Elymnias Lais (Taf. II, Fig- 30). Diese Blattfärbung verschwindet aber mehr und mehr, je vollkommener die Nachahmung des Vorbildes wird, so dass zuletzt das Vorbild auch auf der Unterseite wiederholt wird. Man vergleiche z. B. Fig. 30 u. 32. Daraus wird geschlossen werden dürfen, dass ein Kleid, das den Falter als widrigen Bissen erscheinen lässt, doch noch wirksamer schützt, als die Ähnlichkeit mit einem Blatt. Das ergibt sich übrigens schon aus der Theorie, denn die Blatt-Ähnlichkeit sichert niemals absolut vor Entdeckung und jedenfalls nur während der Ruhe, während die scheinbare Widrig- keit zu jeder Zeit den Angreifer zurückschreckt. Laien in der Schmetterlingskunde fragen gewöhnlich, wenn man Weis mann, Descendenztheorie. 8 I I 8 Färbungen der Thiere. ihnen diese Mimicry-Verhältnisse entwickelt, woher wir denn wissen, dass die dem Vorbild so ähnlichen Nachbilder wirklich einer anderen Gattung- oder gar Familie angehören. Es gibt nun allerdings Fälle, in denen die Ähnlichkeit zwischen Vor- und Nachbild so gross ist, dass auch der Zoologe ohne genaue Prüfung den Unterschied nicht erkennt, so z. B. bei gewissen glasflügligen Helikoniden Brasiliens (Ithomien) und ihren Nachahmern aus der Familie der Weisslinge. Aber auch in solchen Fällen erstreckt sich die Ähnlichkeit nur soweit, als die Theorie es verlangt, d. h. nur auf solche Charaktere, die den Schmetterling dem Auge des Verfolgers als jene andere, ihm als widrig bekannte Art erscheinen lassen, nicht auf Einzelheiten, die nur mit Lupe oder Mikroskop zu sehen sind, und vor Allem nicht auf Raupe, Puppe oder Ei. So können wir in dem angeführten Fall sicher sein, dass die Raupe der Ithomia völlig verschieden ist von der des nachahmenden Weisslings, indem die erstere nach dem Typus der Ithomien-Raupen , die andere nach dem der Weisslings-Raupen gebaut sein wird. Bis jetzt kennt man gerade diese beiden Arten in ihrer Raupenform nicht, aber in anderen Fällen kennt man sie. Ein zur Gattung unseres einheimischen »Eisvogels« (Limenitis populi) ge- höriger Tagfalter Nordamerikas, Limenitis archippus (Tafel I, Fig. 9), ähnelt stark der braungelben, immunen Danais erippus (Tafel I, Fig. 8), während die Raupen der beiden Arten ganz verschieden sind, diejenige von Danais erippus besitzt die sonderbaren, weichen und biegsamen hörnerähnlichen Fortsätze der Danaidenraupen (Fig. 10 v leicht ist der Vortheil, welchen irgend ein Schutz vor den weidenden Thieren einer Pflanze gewährt, an dem »Gestäude« zu erkennen, wel- ches sich auf allen Alpen in unmittelbarer Umgebung der Sennhütte vorfindet. Dort, wo das Vieh täglich sich versammelt, wo der Boden fortwährend aufs reichlichste von ihm gedüngt wird, stehen regelmässig grosse, üppig wachsende Gesellschaften des giftigen Eisenhuts, des bitteren Chenopodium Bonus Henricus, der Brennnessel, der Distel, Cir- sium spinosissimum, der widerlich riechenden Melde Atriplex und einiger anderen ungeniessbaren Arten, eben weil sie nicht gefressen werden, während die wohlschmeckenden Kräuter vom Vieh bei seinen täg- lichen Versammlungen um die Hütte herum nach und nach ausge- rottet wurden (KERNER). Fassen wir zusammen, so haben wir gesehen, dass sich eine ausser- ordentlich grosse Mannichfaltigkeit von Schutzvorrichtungen an den Pflanzen vorfindet, die sie vor Vernichtung durch die grösseren Pflan- zenfresser sichert. Da alle nützlichen Einrichtungen, oder wie wir sagen: alle An- passungen durch Selektionsprozesse erklärbar sind, so lässt sich also dieses ganze Heer verschiedenartigster Vorrichtungen auf Natur- züchtung beziehen, und wir erhalten hier wie bei den Thieren den Eindruck, als ob der Organismus gewissermassen jede für seine Er- haltung nöthige Abänderung auch wirklich hervorbringen könne. Wörtlich genommen, wird dies nicht richtig sein, jedenfalls aber muss die Zahl der möglichen Anpassungen bei jeder Lebensform eine überaus grosse sein, so gross, dass schliesslich doch jede Art sich in irgend einer Weise und irgend einem Grad schützen kann, sei es, dass sie ein Gift oder eine widrig schmeckende Substanz in sich her- vorbringt, sei es, dass sie sich mit Stacheln oder Dornen umgibt, und wenn es auch in gewissem Sinne »Zufall« ist, ob eine Pflanze zu diesem oder jenem Schutzmittel gegriffen hat, indem ihre einmal ge- gebene Constitution mehr die Hervorbringung der einen, wie der Mittel gegen Schneckenfrass. 143 anderen Waffe begünstigte, so wird man doch schon bei den rein chemischen Schutzmitteln nicht leicht nachweisen können, dass sie in solcher Verbreitung . und Concentration mit Nothwendigkeit aus dem Stoffwechsel der Pflanze hätten hervorgehen müssen, wären sie nicht nützlich gewesen und folglich durch Selektion gesteigert worden. Bei den mechanischen Schutzmitteln aber versagt diese Art der Erkläruno- ebensosehr, wie diejenige durch direkte Wirkung der Lebensbedin- gungen. Warum die Stechpalme unten stachlige, oben glatte Blätter haben muss, wird sich niemals aus der Constitution der Art' ableiten lassen. Wenn nun schon die Schutzmittel der Pflanzen o-eo-en wei- dende grössere Thiere stets auf Naturzüchtung hinweisen, so wird doch vielleicht unsere Vorstellung von der Anpassungsfähigkeit der Pflanzen und damit zugleich von der Macht der Naturzüchtung noch erhöht, wenn wir auch diejenigen Einrichtungen ins Auge fassen, welche sich gegen die Vernichtung der Pflanzen durch niedere und kleine Thiere richten. Man könnte zwar meinen , dass von solchen kaum Vernichtung drohen könnte, allein wenn man an den Maikäferfrass denkt oder an die Zerstörung ganzer Wälder durch die Nonnenraupe, oder auch nur an die Vernichtung junger Salatpflanzungen in unseren Gärten, wie sie durch Schnecken nicht selten mehrmals hintereinander stattfindet, so werden Sie nicht zweifeln, dass durch Insekten und Schnecken allein alle Pflanzen gänzlich zerstört werden müssten, falls dieselben nicht bis zu einem gewissen Grade gegen sie geschützt wären. Wir verdanken es den schönen Untersuchungen Stahl's, dass wir über die Mittel, durch welche sich die Pflanzen gegen die Be- drohung durch die gefrässigen und fruchtbaren Schnecken schützen, bis ins Einzelne unterrichtet sind. Auch hier kommen sowohl chemische als mechanische Schutz- mittel in Anwendung. Die geringen Mengen von Gerbsäure, welche in den Blättern des Klees enthalten sind, halten viele Schnecken ab, sie zu fressen, so z. B. die Gartenschnecke, Helix hortensis. Werden die Blätter ausgelaugt, und der Gerbstoff dadurch entfernt, so nimmt sie die Schnecke als Nahrung bereitwillig an. Die kleine weissliche Nacktschnecke, Limax agrestis, lässt sich allerdings durch den Gerb- säure-Gehalt nicht abschrecken und verzehrt auch die frischen Klee- blätter, aber absoluten Schutz gibt es eben nicht. Ich habe schon bei Gelegenheit der weidenden Säuger erwähnt, wie viele Bäume und Sträucher, Moose, Farne durch starken Gerbsäure-Gehalt in hohem I AA Schutzmittel der Pflanzen. Grade geschützt sind, dieser Schutz erstreckt sich auch gegen die Schnecken; alle diese Gewächse bleiben von Schneckenfrass so ziem- lich verschont und neben ihnen noch viele gerbsäurehaltige Kräuter, die Saxifraga- und Sedum-Arten, die Erdbeere, viele Wasserpflanzen, wie die Laichkräuter, Drapa, die Wassernuss, Hippuris, der Tannen- wedel. Alle diese Pflanzen werden von Schnecken nur in der Noth gefressen, sonst nur in ausgelaugtem Zustand. Bei anderen Pflanzen wird der Schutz durch Säuren bewirkt, be- sonders durch Oxalsäure, wie z. B. der Hasenklee unserer Wälder, Oxalis acetosella, der Ampfer, Rumex und die Begonia-Arten. Wenn STAHL die Lieblingsspeise der Schnecken, Scheiben von gelben Rüben mit einer schwachen [\%] Lösung von oxalsaurem Kali bestrich, so wurden sie von den Thieren nicht gefressen, was bei der Empfind- lichkeit schon der äusseren Haut der Schnecken nicht Wunder nehmen kann, da ihr diejenige der Schleimhaut des Mundes schwerlich nach- stehen wird. Aus diesem Grund erzeugen manche Pflanzen ätherische Öle in den Haaren, die sie bedecken, so z. B. der kleine Storchschnabel, Geranium robertianum. Selbst die fast Alles fressende Ackerschnecke, Limax agrestis, greift diese Pflanze nicht an, und wenn man sie darauf setzt, entflieht sie schleunigst dem ihre nackte Haut brennenden ätherischen Ol, indem sie sich mit Schleim bedeckt und an einem Faden zur Erde niederlässt. Die Münzen, Mentha und der Diptam, Dictamnus albus, bringen ebenfalls solche Öle hervor. Dann wären von den chemischen Schutzmitteln noch die reinen Bitterstoffe zu nennen, wie sie in den Enzian- Arten , dem Kreuz- blümchen, Polygala amara, und in manchen anderen Kräutern enthalten sind, auch die eigenthümlichen »Ölkörper« der Lebermoose. Aber auch auf mechanischem Wege vertheidigen sich die Pflanzen gegen die Angriffe der Schnecken. Da gibt es zunächst verschiedene Arten von Borstenbesatz, die die Schnecke verhindern, an der Pflanze emporzukriechen. Nie- mals werden Sie den Beinwell, Symphytum officinale, auf unseren Wiesen angefressen sehen, denn er ist über und über von steifen Borsten besetzt, die den Schnecken höchst unangenehm sind, und solche Borstenhaare schützen auch die Brennnessel, Urtica dioica, gegen die Schnecken, während dieselbe gegen grössere Thiere, wie wir sahen, durch Brennhaare gesichert ist. Wenn aber auch die meisten Pflanzen das Ankriechen der Schnecken nicht abwehren, so können sie doch denselben nicht oder Mechanische Schutzmittel. ^45 nur in geringem Masse zur Speise dienen, weil ihre grünen Theile dem Abnagen und Kauen Widerstände entgegen setzen. So verhindern die Kalkkrusten, welche die Armleuchter-Alge, Chara, bedecken, den Schneckenfrass. Entfernt man den Kalk mittelst Säuren und legt dann die Pflanze Schnecken vor, so wird sie gern gefressen. Ahnlich ist es mit der Verkieselung der Zellhäute, wie sie besonders bei Laubmoosen und Gräsern so verbreitet, und in ihren höheren Graden ein wirksamer Schutz auch gegen die grossen Pflanzenfresser ist. Unsere schwach verkieselten Gräser sind vor Schneckenfrass sicher, und dass es wirklich die Verkieselung ist, welche die Thiere abhält, die sonst willkommene Speise anzunehmen, beweist der Versuch Stahl's, der Mais in reinem Wasser wachsen Hess und so kieselarme Pflanzen erhielt, die nun von den Schnecken ohne Anstand verzehrt wurden. Von den mancherlei anderen Vorrichtungen, durch welche den Schnecken das Geniessen von Pflanzen erschwert wird, will ich nur noch der sog. »Raphiden« gedenken, jener krystallähnlichen beider- seits zugespitzten mikroskopischen Nadeln von oxalsaurem Kalk, welche in manchen Pflanzen in grosser Menge dicht beisammen im Gewebe liegen. Die Aaronswurzel, Arum maculatum, die Narcissen, Schneeglöckchen, Leucojum, die Meerzwiebel, Scilla, die Spargel enthalten sie, und alle diese Pflanzen werden von den Schnecken verschont, offenbar weil die Thiere beim Kauen der Pflanzentheile von den Raphiden unangenehm berührt werden. Selbst die gefrässige Ackerschnecke verschmäht solche Pflanzen. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass die Raphiden auch gegen alle anderen Feinde schützen müssten. Gegen Nager und Wieder- käuer sind sie in der That wirksam, auch gegen Heuschrecken, da- gegen gibt es eine ganze Anzahl von Raupen, die sich mit Vorliebe gerade solche Pflanzen zur Nahrung ausgesucht haben, welche Raphiden enthalten. So fressen gewisse Schwärmer-Raupen Galium- und Epi- lobium-Arten, die Blätter des Weinstocks und die wilde Balsamine, Impaticus, ja die Raupe von Chaerocampa Elpenor, welche besonders Vitis und Epilobium bevorzugt, hat sich den aus Südamerika stam- menden Fuchsien in unseren Gärten ebenfalls zugewendet, der Schwär- mer legt seine Eier nicht selten auf diese Pflanze ab, und die Raupen fressen sie gern; die Fuchsien aber enthalten auch Raphiden. Man kann sagen, dass fast alle wild wachsenden Phanerogamen in irgend einem Grade gegen Schnecken geschützt sind, und man könnte fast fragen, was denn nun aber überhaupt für die Schnecken I a 6 Schutzmittel der Pflanzen. als Nahrung- übrig bleibt, wenn Alles gegen sie gewappnet ist. Allein erstens bleiben unsere Culturpflanzen übrig, die wie z. B. der Garten- salat, Lactuca, oft ganz schutzlos sind, dann fressen die Schnecken die Pflanzen oft erst, wenn sie ausgerissen und faulend am Boden liegen, d. h. wenn sie durch den Regen ausgelaugt sind, und schliess- lich ist keines der vielen Schutzmittel, wie ich schon oft sagte, ein absolutes, das gegen alle Schnecken schützt. Manche dieser Thiere sind, wie Stahl sie nennt, -> Spezialisten«. So fressen die grossen Wegschnecken unserer Wälder die giftigen Pilze, die von anderen Schnecken verschmäht werden, und in ähnlicher Weise gibt es viele andere Spezialisten, die aber allein nicht im Stande sind, die Pflanze, an die sie sich angepasst haben, ganz zu zerstören. Es gibt freilich auch omnivore Schnecken, wie die schon oft genannte Ackerschnecke, Limax agrestis und Arion Empiricorum, die rothe Wegschnecke, aber gerade weil diese so ziemlich alle Pflanzen fressen, sind sie für jede einzelne Art minder gefährlich. Jedenfalls bilden auch die so mannichfachen Schutzmittel gegen Schneckenfrass einen weiteren Beleg dafür, wie unzählige Einzelheiten in der Organisation auch der Pflanzen auf Naturzüchtung bezogen werden müssen, denn es gibt für sie keine andere Erklärung. Kämen solche schützende Einrichtungen nur bei vereinzelten Pflanzen vor, so könnte man vielleicht noch vom »Zufall« sprechen, könnte sich auf die innere Constitution der Pflanze beziehen, welche eben derart sei, dass sie Borstenhaare oder Bitterstoffe oder Kieselsäure-Ablagerungen hervorbringen müsse, die nun »zufällig« gewissen Schnecken den Genuss dieser Pflanze verleide; da es sich aber gezeigt hat, dass alle Pflanzen, die eine in dieser, die andere in jener Weise gegen Schneckenfrass gefeit sind, so muss dieser Einwurf schon dadurch fallen. Nun kommt aber noch dazu, dass einzelne der schönen Versuche, durch welche STAHL die schützende Wirkung jener Einrichtungen nachwies, zugleich beweisen, dass dieselben zur Existenz der Pflanze an und für sich nicht unentbehrlich sind; der Mais bildet sich zu einer lebensfähigen Pflanze aus, auch wenn ihm die Kieselsäure ent- zogen wird, die Kieselsäure ist also nicht ein für seine Constitution unentbehrlicher Bestandtheil, sondern ein Schutzmittel gegen Thier- frass. Den schärfsten Beweis aber liefern Pflanzen, die wie der Salat, Lactuca, im wilden Zustand schützende Stoffe ausbilden, sie aber im kultivirten vollständig verloren hat — durch Nichtgebrauch, wie wir später noch genauer sehen werden. Wie die Augen der Dunkel- thiere verkümmert sind, so verlor hier die vom Menschen geschützte Mechanische Schutzmittel. ^47 Pflanze ihre natürlichen Schutzmittel, weil sie sie nicht mehr brauchte, um sich zu erhalten. Auch diese Schutzstoffe (Gerbsäure) gehören also nicht nothwendig zur Constitution der Gattung Lactuca; ihre Bildung kann auch unterbleiben, ohne dass die Pflanze sich sonst dadurch ändert. Und hier handelt es sich nicht einmal um die Ent- ziehung eines von aussen aufzunehmenden Stoffes, sondern um ein reines Stoffwechsel-Produkt. Lehrreich aber sind die Anpassungen der Pflanzen gegen Schnecken- frass noch in anderer Weise, nämlich durch ihre ausserordentliche Mannichfaltigkeit. Wir sehen hier von Neuem wieder, wie plastisch die Lebensformen sind, wie genau und doch auch wieder in wie ver- schiedener Weise sie sich den Lebensbedingungen, hier also den Schwächen ihrer gefrässigen Feinde anschmiegen können, um so alle dasselbe Ziel zu erreichen: Sicherung der Art-Existenz. Wir sehen aber zugleich, dass zahllose Kleinigkeiten im Bau und den Eigenschaften einer Art, die bedeutungslos scheinen könnten, dennoch ihren bestimmten Nutzen haben, Haare, Borsten, Raphiden so gut, als Bitterstoffe, ätherische Öle, Säuren und Gerbsäure. Freilich müssen wir erst so genaue und eingehende Forschungen über die biologischen Beziehungen dieser Eigenthümlichkeiten haben, wie sie uns STAHL geliefert hat, ehe wir den Nutzen derselben einsehen. I /J. 8 Fleischfressende Pflanzen. VII. Vortrag. Fleischfressende Pflanzen. Einleitung p. 148, Die Wasserschläuche oder Utricularien p. 149, Pflanzen mit Fang- krügen, Nepenthes p. 151, Die Schuppenwurz, Lathraea p. 152, Das Fettkraut, Pinguicula p. 152, Der Sonnenthau, Drosera p. 153, Die Fliegenfalle p. 155, Aldrovandia p. 155, Schlussbetrachtung p. 156. Meine Herren! Dass das Selektions-Prinzip die ganze Gestaltung auch der Pflanzen in hohem Grade jedenfalls beherrscht und dieselben ummodelt ganz entsprechend den Aussichten auf besseres Fortkommen, wie sie sich im Wechsel der Lebensbedingungen der einzelnen Art oder Artengruppe bieten, das tritt vielleicht nirgends schärfer hervor, als in dem Fall der sog. »insektenfressenden« oder »fleisch- fressenden« Pflanzen. Hier ist es wieder Ch. DARWIN, der die Bahn gebrochen hat, denn obgleich schon lange mancherlei Pflanzen bekannt waren, auf deren klebrigen Blattflächen Insekten leicht hängen bleiben und dann absterben, so hatte doch Niemand daran gedacht, dies als einen besonderen Nutzen für die Pflanze anzusehen, geschweige denn, dass man die eigenthümlichen Einrichtungen solcher Blätter als besonders für diesen Zweck bestimmt angesehen hätte. Erst Ch. DARWIN wies nach, dass eine nicht kleine Zahl von Pflanzen existirt — man kennt heute gegen 500 welche nur einen Theil ihrer Substanz auf dem gewöhnlichen Weg der Assimilation selbst erzeugen, einen anderen kleineren aber dadurch gewinnen, dass sie thierisches Protoplasma, vor Allem die stickstoffhaltige Muskelsubstanz auflösen und sich zu Nutze machen. Man hat anfangs die Richtigkeit dieser Auslegung bestreiten wollen, allein DARWIN zeigte, dass Muskel- stückchen, überhaupt stickstoffhaltige organische Substanzen, von den betreffenden Pflanzentheilen wirklich aufgelöst und dann resorbirt werden. Es kann also auch nicht weiter bezweifelt werden, dass die merkwürdigen Einrichtungen, durch welche Thiere von der Pflanze festgehalten, gewissermassen gefangen und getödtet werden, eben im Hinblick auf diesen Zweck entstanden sind — oder, um mich weniger Die Wasserschläuche. 149 bildlich auszudrücken, dass vorhandene Einrichtungen einer Pflanze, die es mit sich brachten, dass Thiere an ihnen hängen blieben, von Nutzen für die Ernährung der Pflanze waren und deshalb durch Selektionsprozesse gesteigert und vervollkommnet wurden. Dass dies möglich war, beweisen uns die zahlreichen insektenfressenden Pflanzen, Fig. 23. Utricularia Granana nach Kerner. A ein Pflänzchen in natürlicher Stellung im Wasser schwimmend, FA Fangapparate; B ein solcher 4mal vergrössert, sz Saug- zellen, kl Klappe, die den Eingang verschliesst; C Saugzellen an der Innenwand des Fangapparates, 250 mal vergrössert. welche heute auf der Erde leben, und dass diese Züchtungsvorgänge ganz unabhängig voneinander ihren Verlauf nahmen, auch von ver- schiedenen Theilen der Pflanze ausgehen konnten, zeigt uns die grosse Mannichfaltigkeit dieser Einrichtungen, die bei Pflanzen mehrerer Familien vorkommen. Mit einigen wenigen derselben möchte ich Sie nun etwas näher bekannt machen. Weismann Descendenztheorie. IO S& OS Ho L i5o Fleischfressende Pflanzen. In den Sümpfen unserer Gegenden, aber auch in denen wärmerer Länder, leben die Wasserschläuche, oder Utricularien (Fig. 23), ächte, schwimmende Wasserpflanzen ohne Wurzeln mit horizontal ausgebreiteten, lang dahingestreckten rankenartigen Trieben, welche theils dicht mit Wirtein weicher nadeiförmiger Blätter besetzt sind, theils aber nur spärliche Blätter von ganz eigenthümlichem Bau tragen, gestielte hohle Blasen (Fig. 23 A, FA) mit ganz engem Eingang an der Spitze, der für grössere Thiere durch weit vor- stehende borstenartige Haare versperrt ist [B). Kleine Thiere, wie Wasserflöhe (Daphnien), Cyclops- Arten, Muschelkrebschen können zwischen den Borsten hindurchschwimmen und stossen dann an eine leicht nach innen sich öffnende Klappe (B, kl), die sie ins Innere der Falle eindringen lässt. Einmal eingedrungen sind sie gefangen, denn die Klappe lässt sich nicht nach aussen öffnen, und so sterben die Thiere bald, zerfallen und werden dann von besonderen Saugzellen (B u. C sz) aufgenommen und als Nahrung von der Pflanze aufgesogen. Auf diese Weise fängt die Utricularia zahlreiche kleine Kruster und Insektenlarven, die in ihre Fallen hineinschlüpfen, vermuthlich um sich dort zu verbergen. Ein anderes Beispiel bieten die Moorpflanzen der Gattung Ne- penthes, deren Arten am Rande tropischer Wälder als Schling- gewächse leben, an den Bäumen hinaufklettern und von dort ihre langen dünnen Ranken gegen den Boden wieder herabhängen lassen, oft über Tümpel und Wasserlachen, an Plätzen also, wo eine Un- masse kleiner fliegender Insekten sich umhertummelt. Diese Pflanzen nun haben höchst merkwürdige Einrichtungen hervorgebracht, um Insekten zu fangen und als Nahrung zu verwerthen (Fig. 24). Die langen Stiele [St) ihrer Blätter [Spr) sind zuerst abwärts gebogen, wenden sich aber dann plötzlich scharf nach aufwärts, und die auf- wärts gerichtete Strecke ist zu einer Kannen-artigen Bildung [Fk] um- gewandelt, in deren Grund sich eine Flüssigkeit ansammelt, die sauer schmeckt und Pepsin enthält, demnach eine verdauende Flüssigkeit ist. Stickstoffhaltige Substanzen, wie Fleisch lösen sich in ihr auf, und Insekten, welche vom Rande der Kanne in sie hinabstürzen, werden von ihr getödtet und aufgelöst. Es gibt viele Arten von Nepenthes, von welchen nicht alle diesen Fangapparat schon in gleicher Voll- kommenheit besitzen, so dass man hier einigermassen den Weg ver- folgen kann, den die Entwicklung genommen hat, von einem breiten, an den Rändern etwas umgebogenen Blattstiel bis zu den merk- würdigen geschlossenen Kannen, wie sie bei Nepenthes villosa (Fig. 24) Kannen-Pflanzen. 151 von Borneo gefunden werden. Bei dieser Art erreichen sie eine Länge von 50 Centimeter, sind prachtvoll gefärbt, wie sie denn auch in ihrer Gestalt den Tabakspfeifen- artigen Blumen der tropischen Aristolochien ähneln. Wir werden später, wenn von der Entstehung der Blumen die Rede sein wird, noch sehen, einen wie bedeutenden Werth helle, auffallende Farben für die Anlockung von Insekten besitzen; diese prachtvolle Färbung lockt also auch hier wohl die Insekten an und veranlasst sie, sich auf den Rand der Kanne (R) zu setzen, der sie dann längere Zeit dadurch fesselt, dass sich Honig an ihm ausscheidet. Nun ist aber dieser dicke wulstige Rand glatt, wie aus polirtem Wachs gefertigt, ähnlich den Blumenblättern jener grossen prachtvollen Orchideen, der Stanhopeen; auch die ganze Innenfläche der Kanne ist glatt, wie polirt, und die Insekten, welche nach Honig suchend dort umherklettern, gleiten leicht aus und stürzen in die Tiefe der Kanne. Wenn nun auch viele von ihnen in der Verdauungs- flüssigkeit nicht sofort sterben, sondern noch im Stande sind, an der glatten Wand der Kanne empor zu klettern, so kommen sie doch nicht heraus, denn un- terhalb des wulstig nach innen vorspringenden Randes ist ein Kranz starker, mit der Spitze nach unten gerichteter Borsten oder Zähne angebracht, die wie Stacheln dem Gefangenen den Aus- gang wehren. So erbeuten und verdauen die Nepenthes- Kannen Massen von Insekten, und man kann wohl begreifen, dass der Pflanze dadurch eine erhebliche Menge werthvoller Nahrung zugeführt wird; Fig. 24. Kanne von Nepenthes villosa nach Kerner. St Stiel des Blattes, Spr dessen Spreite, Fk Fangkanne. R der mit abwärts gekrümmten Stacheln besetzte Rand der- selben. icr 152 Fleischfressende Pflanzen. denn fertiges Protoplasma ist ein bequemer Nahrungsstoff, zu dem die Pflanze wenig mehr hinzuzuthun braucht, um ihn in ihre eigene Protoplasma-Modifikation umzusetzen. Auch die Schuppen würz, Lathraea squamaria, sei hier kurz er- wähnt, weil der Insektenfang von ihr weder im Medium der Luft noch des Wassers betrieben wird, vielmehr in der Erde. Bekannt- lich schmarotzt diese Pflanze auf den Wurzeln von Laubbäumen, Fig. 25. Pinguicula vulgaris, Fettkraut. A die ganze Pflanze mit eingerollten Blatträndern und einigen von ausgeschiedenem Schleim gefangenen Insekten. B Quer- schnitt durch ein solches Blatt, 50mal vergrössert, r Rand desselben, Dr, Dr' die zweierlei Drüsen, bei C 180 mal vererössert. ist blassgelblich und gänzlich ohne assimilirende grüne Theile. Für sie musste es also besonders werthvoll sein, Thiere fangen und als Nahrung verwerthen zu können. Zu diesem Behuf haben sich nun die kurzen, bleichen Blättchen, welche dichtgedrängt wie Schuppen den unterirdisch dahinkriechenden Stengel umgeben, zu Fallen für kleinste Thiere umgewandelt. Die Blätter sind mit ihrem oberen Theil nach unten umgeklappt und mit ihren Rändern derart verwachsen, Sonnenthau. 153 dass unten an ihrer Basis nur eine kleine Öffnung bleibt, die in ein System von Hohlräumen hineinführt. Blattläuse, Räderthiere, Bär- thierchen, besonders auch Springschwänze (Poduren) kriechen hinein und werden nun dort von klebrigem Schleim festgehalten, verdaut und aufgesogen. Ein anderes Beispiel bietet die ebenfalls bei uns heimische zierliche Moorpflanze, das Fettkraut, Pinguicula vulgaris, die ihre breiten zungenförmigen, zu einer Rosette geordneten Blätter dadurch zum In- sektenfang hergerichtet hat, dass der Rand derselben aufgebogen, ihre Mitte aber zu einer Längs- rinne vertieft ist (Fig. 25). Die ganze Oberfläche des Blattes ist nun von einer ungeheueren Zahl kleiner, pilzförmiger Drüsen be- setzt [B und £", Er) , welche einen klebrigen Schleim absondern. In- sekten, die sich auf das Blatt setzen, bleiben kleben, und in- dem die Drüsen fortfahren, immer mehr Schleim abzusondern, wäh- rend zugleich die Ränder des Blattes sich durch den Reiz, den das zappelnde Insekt ausübt, noch stärker umkrempeln, werden die Thierchen völlig im Schleim er- tränkt und schliesslich aufgelöst. Denn dieses Sekret wirkt so energisch, dass selbst Knorpel- stückchen in 48 Stunden von ihm aufgelöst werden. Besonders Mücken und Eintagsfliegen fallen dieser an moorigen Stellen des Gebirges wie der Ebene häufigen Pflanze zum Opfer. Auch der Sonnenthau, Drosera rotundifolia, sei erwähnt, der seinen Namen von den scheinbaren Thautröpfchen hat, welche in der Sonne auf den Blättern funkeln (Fig. 26), und zwar auf dem geknöpften Ende langer und ziemlich dicker, wimperartiger Fäden, welche die ganze obere Fläche des Blattes besetzt halten. In Wahrheit sind es Tröpf- chen eines zähen, wasserklaren, klebrigen Schleims, welcher von den »- T^V ■ m :■■■■ . ' Fig. 26. Drosera rotundifolia, Sonnenthau nach Kerner. 154 Fleischfressende Pflanzen. drüsigen Köpfchen der stecknadelförmigen Wimpern ausgeschieden werden. Insekten, die sich auf das Blatt setzen wollen, bleiben am Schleim hängen, und nun wird auch hier eine saure, pepsinhaltige Flüssigkeit ausgeschieden, welche allmälig die Verdauung der löslichen Theile des Thieres bewirkt. Besonders merkwürdig ist dabei, dass an der Verdauung und Aufzehrung des Thiers nicht nur diejenigen Wim- pern Theil nehmen, welche in Berührung mit ihm stehen, sondern dass auch die übrigen Wimpern nach und nach ihre gewöhnliche Stellung von dem Augenblick an ändern, in dem ein stickstoffhaltiger Körper, sei es ein Stückchen Fleisch oder ein Insekt mit einigen der Wimpern in Berührung gekommen ist. Alle fangen nun an, sich dem Reizobjekt langsam zuzukrümmen (Fig. so zwar, dass nach einer bis drei Stunden alle Wim- pern ihre Köpfchen auf ihm vereinigen und Verdauungssaft auf dasselbe ausscheiden. Der Sonnenthau wächst auf Mooren, z. B. denjenigen des Schwarzwalds, auch auf den feuchten Moos-bewachsenen Rainen daselbst häufig, und Sie können dort leicht beobachten, wie nicht nur eine Schnake, Mücke oder eine kleine Libelle auf dem Blatt festhängt, sondern oft manchmal deren bis zu einem Dutzend. Auch hier also kann der Ernährungswerth dieser merk- würdigen Einrichtung kein ganz unbedeu- tender sein. Offenbar stehen wir bei dem Sonnenthau schon einer sehr verwickelten Anpassung gegenüber, da hier nicht nur eigenthümliche Säfte ausgeschieden werden, wie sie eben nur bei Thier- fangenden Pflanzen vorkommen, sondern zugleich die abscheidenden Wimpern aktiv beweglich eingerichtet wurden. Damit die vom gefangenen Thier entfernteren Wimpern veranlasst werden, sich zu diesem hin- zubeugen, ist es nöthig, dass der Reiz, welchen das Thier auf das Köpfchen der berührenden Wimper ausübt, fortgeleitet werde zur Basis und von dort bis zur Spitze der übrigen Wimpern, denn die Wimpern krümmen sich in ihrem ganzen Verlauf. Der Nutzen der Einrichtung ist ja klar, dass aber eine von den gewöhnlichen Ein- richtungen der Pflanzen so abweichende hervorgerufen werden konnte, Fig. 27. Ein Blatt vom Sonnen- thau, dessen Tentakel zur Hälfte über einem gefangenen Insekt zusammengeneigt sind ; viermal vergrössert. Flieg-enfalle. 155 weist darauf hin, wie lange Zeit hindurch die Selektionsvorgänge an- gehalten und jede kleine neue Variation den früheren hinzugefügt haben müssen. Zum Schluss sei noch zweier Pflanzen gedacht, welche bewegliche, schliessbare Fallen zum Fang von Thieren besitzen. Die sog. Fliegen- falle, Dionaea muscicapa, ist eine Moorpflanze Nordamerikas, bei welcher, wie bei Pinguicula und Drosera, die Blätter eine Rosette am Boden bilden. Das einzelne Blatt hat einen spateiförmigen Stiel und eine zweiklappige Spreite (Fig. 28 A), deren Ränder mit einer Reihe starker, langer Stacheln besetzt sind, die sich schräg nach innen richten. Diese Hälften können nun, wenn der entsprechende Reiz auf ihre Oberfläche einwirkt, in kurzer Zeit (10 — 30 Se- kunden) sich zusammenklappen. Da- bei kreuzen sich die Randdornen wie die ineinander geschränkten Finger zweier Hände und bilden ein Gitter, aus dem das gefangene Insekt nicht wieder entkommen kann. Der ad- äquate Reiz für die Auslösung der Bewegung ist eine leise Berührung, während ein stärkerer Stoss, Druck oder Luftzug die Falle nicht zur Schliessung bringen. Wenn aber eine Fliege auf dem Blatt umherkrabbelt und dabei einen der sechs kurzen, auf einem klei- nen Zellpolster aufsitzenden Stacheln [Steh) berührt, so schliesst sich das Blatt, rasch zwar, aber zugleich so 7 Fig.28. Blatt von Dionaea musci- pula nach Kekner, A, Blattspreite Spr geöffnet, St Stiel, Steh sensitive Stacheln. B Durchschnitt eines Blattes mit geschlossener Spreite. leise und unmerklich, dass die Fliege keine Gefahr merkt und nicht davonfliegt. Dann beginnen zahlreiche purpurne Schleimdrüsen die Beute mit einem Pepsin-haltigen, sauren Verdauungssaft zu umhüllen, der sie allmälig auflöst. Auch bei einer Wasserpflanze des südlichen Europas, die übrigens auch noch in Sümpfen am Nordrand der Alpen vorkommt, bei Aldro- vandia vesiculosa, findet sich neben dem eigentlichen Fang- und Verdauungsapparat noch ein aktiver Bewegungsapparat, der durch sensible Borsten ausgelöst wird. Als ich die Pflanze zum ersten Mal in einem Sumpf bei Lindau am Bodensee fand, hielt ich sie zuerst für eine Utricularia, denn in der äusseren Erscheinung ähneln sich I c(3 Fleischfressende Pflanzen. die beiden Pflanzen (vergl. Fig. 22 und 29), aber die Umwandlung der Blätter zu Fallen ist hier doch eine ganz andere. Auf den beiden Hälften der Blattspreite stehen zahlreiche Borsten (Fig. 30 A), deren leichteste Berührung durch ein kleines Wasserthier als auslösender Reiz auf die Bewegungselemente des Blattes wirkt (Stc/i). Wie bei der Fliegenfalle klappen die beiden Blatthälften ziemlich rasch, aber ruhig zusammen, und das Thier ist gefangen. Fig. 30 B zeigt den Durchschnitt einer solchen Falle in geschlossenem Zustand. Die ge- fangenen Thiere können dann nicht mehr entfliehen, weil die Ränder des Blattes fest aufeinander schliessen und mit Zähnchen besetzt sind. Zahlreiche kleine Drüsen {Dr) scheiden einen Verdauungssaft aus, und nach Tagen oder selbst Wochen findet man nur noch die un- verdaulichen Reste der kleinen Thiere im Innern der Fangklappe. Fig. 29. Aldrovandia vesiculosa, ein Zweigstück mit den Fangapparaten FA. Noch viele Fälle Thier-fangender Pflanzen könnte ich anführen, aber es liegt mir fern, Sie mit allen den Einrichtungen bekannt zu machen, welche existiren; das Gesagte genügt, um Ihnen einen Begriff davon zu geben, wie mannichfaltig, und wie bis ins Einzelne hinein zweck- mässig diese Einrichtungen sind. Sie erweitern — so scheint mir — unsere Vorstellung von der Tragweite der Naturzüchtung um ein Bedeutendes, indem sie uns zeigen, dass auch solche Anpassungen entstehen können, die dem ursprünglichen Schema des betreffenden Organismus durchaus fremd sind, ja, die den fundamentalen physio- logischen Vorgängen derselben scheinbar widerstreiten. Es bedarf auch kaum noch eines besonderen Hinweises darauf, dass sie ledig- lich durch Naturzüchtung hervorgerufen sein können, da jede andere Herleitung versagt. Klimatische, überhaupt irgend welche äussere direkte Einflüsse können diese so verschiedenartigen, aber alle mit- einander zweckmässigen Umwandlungen der Pflanzentheile nicht be- wirkt haben; sind dieselben doch auch bei dicht nebeneinander wachsenden Pflanzen, wie beim Sonnenthau und dem Fettkraut ganz Aldrovandin. *57 verschieden. Vom LAMARCK'schen Prinzip der Übung und Nicht- Übung kann bei Pflanzen überhaupt kaum die Rede sein, da sie einen Willen nicht besitzen, und vom »Zufall« wird man nicht sprechen wollen, wo es sich um so verwickelte und mannichfach zusammen- gesetzte Abänderungen handelt. Einen Züchtungsprozess dagegen kann man sich in jedem dieser Fälle sehr wohl als wirkend aus- denken. Ich überlasse es Ihnen selbst, dies zu thun, und will nur andeuten, dass es sich dabei immer um Vervollkommnungen in zweierlei Richtungen handelt, einmal um Verbesserungen in der Aus- Fig. 30. Aldrovandia, ein Fangapparat. A geöffnet, St Stiel des Blattes, Spr Spreite desselben, Steh sensitive Stacheln, Dr Drüsen. B geschlossen. Durchschnitt. nutzung thierischer Substanz, die zufällig auf dem Blatt hängen ge- blieben war, und zweitens um Verstärkung der Wahrscheinlich- keit, dass Thiere hängen bleiben und verwerthet werden können. So entstanden einerseits lösende und verdauende Säfte und Resorp- tionseinrichtungen, und andererseits zäher klebriger Schleim und Fallen verschiedener Art zum Festhalten, sowie Honig und lebhafte Farben zum Anlocken der Insekten. Aber nicht nur Abänderungen der Gestalt an Stengeln und Blät- tern sind hier zu Stande gekommen, sondern auch bedeutende phy- siologische Abänderungen. Die Reizempfindlichkeit verschiedener Theile des Blattes ist erhöht worden, schon bei dem Fettkraut mit seinen auf Reiz sich einrollenden Blatträndern, dann beim Sonnenthau ic8 Fleischfressende Pflanzen. mit seiner Reizleitung von dem berührten Tentakel nach allen übrigen hin, am wunderbarsten aber bei der Fliegenfalle und der Aldrovandia, deren reizempfindliche Stacheln den Reiz derart weiterleiten, dass das ganze Blatt dadurch getroffen und in Bewegung gesetzt wird, durchaus vergleichbar den Wirkungen der Nerven-Reizleitung bei Thieren. Das Beispiel der insektenfressenden Pflanzen zeigt uns also, dass eine Pflanze durch Naturzüchtung ganz neue Organe mittelst völliger Umgestaltung alter hervorbringen kann — z. B. die Kannen von Nepenthes — dass sie aber auch ihre physiologischen Fähigkeiten in weitgehender Weise umgestalten, steigern und bis zur Ähnlichkeit mit Leistungen des thierischen Körpers verändern kann. Instinkte. I 5 9 VIII. Vortrag. Die Instinkte der Thiere. Die Raubwespe p. 159, Fragestellung p. 160, materielle Grundlage der Instinkte p. 161, Die Instinkte keine »vererbten Gewohnheiten« p. 162, Trieb der Selbsterhaltung p. 162, Flüchtungstrieb, Todtstellen p. 163, Maskirnng der Taschenkrebse p. 164, Nahrungs- Instinkt p. 165, Monophagie bei Raupen p. 165, Verschiedene Methoden des Nahrungs- erwerbes, Ephemeriden, Seegurke, Lauerfische p. 166, »Irren« des Instinktes p. 169, Wechsel der Instinkte bei der Metamorphose, Eristalis, Sitaris p. 169, Unvollkommen- heit der Anpassung deutet auf Ursprung durch Naturzüchtung p. 172, Instinkt und Willen p. 172, Instinkte und Schutzfärbungen p. 173, Langsamer Flug der Helikoniden p. 173, Rasches Flüchten der Tagfalter p. 174, Nur einmal ausgeübte Instinkte p. 175, Verpuppung der Tagfalter p. 176, des Hirschschröters p. 177, der Seidenraupe p. 177, des kleinen Nacht-Pfauenauges p. 178, des Atlas-Spinners p. 179, Eiablage der Schmetter- linge p. 180. Wir haben bisher bei den Thieren vorwiegend nur die Verände- rung und Neubildung morphologischer Eigenschaften ins Auge gefasst, Form- und Farbe-Umwandlungen, und es fragt sich jetzt, ob auch die Handlungen der Thiere in ihrer Entstehung ganz oder theilweise auf das Selektionsprinzip zu beziehen sind. Ganz allgemein sehen wir, dass die Thiere ihre Theile oder Organe in zweckmässiger Weise zu verwenden wissen, das Entchen schwimmt sofort auf dem Wasser, das eben aus dem Ei geschlüpfte Hühnchen pickt nach Kör- nern, die auf dem Boden liegen, der Schmetterling, der gerade erst aus der Puppe gekrochen ist, weiss sofort, nachdem seine Flügel ge- trocknet und erhärtet sind, dieselben zum Flug zu gebrauchen, und die Raubwespe kennt ungelehrt ihre Opfer, eine bestimmte Raupe, eine Heuschrecke oder ein anderes bestimmtes Insekt, weiss es zu überfallen, durch Stiche zu lähmen, und zweifelt dann keinen Augen- blick, was sie fernerhin thun muss; sie schleppt das Opfer in ihren Bau, bringt es dort in eine der Zellen, die sie vorher schon für die künftige Brut hergerichtet hat, legt ein einziges Ei darauf und deckelt dann die Zelle zu. Nur dadurch, dass sie alle diese verwickelten Handlungen so präcis ausführt, als ob sie wüsste, warum sie es thut, vermag die Art sich unter den Lebenden zu erhalten, j (5o Instinkte. denn nur so kann das Heranwachsen der folgenden Generation ge- sichert werden. Aus dem Ei schlüpft die kleine Larve, die sich nun über das geraubte und gelähmte Opfer hermacht, sich von ihm ernährt, dadurch heranwächst, und nun sich unter dem Schutz der festen Zelle verpuppt und in eine fertige Wespe verwandelt. Manche Arten dieser Raubwespen legen ihr Ei nicht direkt neben oder auf das Opfer, sondern, da dessen Bewegungen ihrem Nach- kommen gefährlich werden könnten, hängen sie dasselbe an einem seidenen Faden über dem Opfer auf, so dass es gesichert ist, und auch die aus dem Ei geschlüpfte junge Larve sich, sobald ihr Gefahr von den convulsivischen Bewegungen des armen Opfers droht, an dessen Körper sie herumnagt, auf den sicheren schwebenden Platz zurückziehen kann. Jedes Thier hat eine Fülle von solchen »Instinkten«, die es zu zweckmässigem Handeln anleiten, ja zwingen, ohne dass ihm doch der Zweck bewusst sein könnte. Denn woher sollte der Schmetter- ling wissen, was Fliegen ist, oder dass er es überhaupt vermag, oder Wer sollte der Raubwespe, wenn sie aus der Puppe zu einer ganz neuen Art von Leben erwacht, gezeigt haben, was sie nun Alles zu thun hat, um sich selbst Nahrung, und der noch in ihrem Eierstock verschlossenen Brut Schutz und Unterhalt zu verschaffen? Da nun die Arten aus anderen sich entwickelt haben, so können diese Regu- latoren ihres Körpers, die Instinkte, in früheren Zeiten nicht die gleichen gewesen sein, sie müssen sich durch Umwandlung der Instinkte der Vorfahren erst gebildet haben , und es fragt sich also: durch welche Kräfte? auf welche Weise? Ist auch hier das Selektionsprinzip wirksam, oder dürfen wir die Instinkte auf die vererbte Wirkung von Gebrauch und Nichtgebrauch beziehen? Ehe ich auf diese Frage eintrete, sei noch Einiges über die phy- sische Grundlage der Instinkte gesagt. Wir können dreierlei Arten von Handlungen unterscheiden: reine Reflexhandlungen, reine In- stinkt- und reine Bewusstseinshandlungen. Bei den Ersteren sehen wir am deutlichsten, dass sie auf einem vorgebildeten Mecha- nismus beruhen, denn sie erfolgen mit Notwendigkeit auf einen be- stimmten Reiz hin, sie können nicht immer auch unterlassen werden. Grelles Licht, welches unser Auge trifft, verengert die Pupille, die Regenbogenhaut zieht sich zusammen, und in ähnlicher Weise schliessen sich unsere Lider, wenn ein Finger plötzlich gegen das Auge fährt. Wir kennen auch das Prinzip dieser Reflex-Mechanismen; sie beruhen Instinkte. I 6 I auf Nerven-Zusammenhängen ; sensible Nerven stehen in den Nerven- centren derart mit motorischen in Verbindung, dass ein Reiz, der die Ersteren an der Peripherie des Körpers, z. B. im Auge, trifft, und nun gewissen Nervenzellen des Gehirns zugeleitet wird, von diesen aus be- stimmte Bewegungscentren in Erregung versetzt, so dass bestimmte Bewegungen ausgelöst werden. Es ist selten nur ein Muskel, der dadurch in Thätigkeit versetzt wird, meist vielmehr mehrere, und damit ist der Übergang zur Instinkthandlung gegeben, welche eben in einer längeren oder kürzeren Reihe von Handlungen, d. h. Bewegungs-Combinationen, besteht. Ausgelöst aber wird auch sie, ursprünglich wenigstens, durch einen Sinneseindruck, einen äusseren Reiz, der ganz wie beim Reflex -Mechanismus einen Sinnesnerven trifft, worauf dieser den Reiz nach einer bestimmten Nervenzellen- gruppe des nervösen Centralorganes leitet, und von dort aus durch feinste Verbindungen auf Bewegungscentren überträgt. Es gibt un- gemein komplizirte Instinkthandlungen, und bei diesen löst offenbar die Vollendung der ersten Handlung die zweite aus, die Vollendung dieser zweiten die dritte und so fort, bis die ganze Kette zusammen- hängender Bewegungen, welche die Gesammt-Handlung ausmachen, abgelaufen ist. Die Instinkte haben also eine materielle Grundlage in den Zellen und Fasern des Nervensystems, und durch Veränderungen in dem Zusammenhang und der Erregbarkeit dieser Nerventheile werden sie ebensogut abgeändert;, wie irgend welche Formentheile des Körpers, wie Gestalt und Farbe. Bewusstseins-Handlungen werden vom Willen direkt veranlasst und stehen in vielfacher genauer Verbindung mit Instinkthandlungen, in- sofern diese Letzteren auch durch den Willen ausgelöst, d. h. in Gang gebracht oder gehemmt werden können, und dann, insofern auch umgekehrt reine Willenshandlungen durch häufige Wieder- holung zu instinktiven werden können. Das Erstere findet z. B. statt, wenn beim menschlichen Kind das Saugen an der Mutter- brust bis ins zweite Lebensjahr hinein fortgesetzt wird, wie dies in den südlichen Ländern Europas nicht selten vorkommt. Ein solches Kind weiss genau , weshalb es nach der Brust verlangt,, es übt also eine Bewusstseinshandlung aus, während das Neugeborene rein in- stinktiv mit dem Mund umhersucht und, wenn es das Gesuchte ge- funden, die ziemlich komplizirten Saugbewegungen von selbst ausführt. Das Zweite aber geschieht z. B. wenn wir gewohnt sind, beim Zubett- gehen die Uhr aufzuziehen, und dies auch dann thun, wenn wir uns IÖ2 Instinkte. zufällig einmal bei Tage umkleiden, obgleich es dann unzweckmässig ist, und wir es unterlassen würden, wenn diese Handlung vom be- wussten Willen hätte ausgelöst werden müssen. In wie kurzer Zeit Willenshandlungen zu instinktiven werden können, beobachtet man gar manchmal an sich selbst. Als meine Remontoir-Uhr wessen Reparatur beim Uhrmacher war, und dieser mir zur Aushilfe eine ge- wöhnliche, mit Uhrschlüssel aufzuziehende Uhr gegeben hatte, ver- wahrte ich den Uhrschlüssel in meinem Portemonnaie. Als ich nun nach acht Tagen meine Uhr zurückbekommen hatte, ertappte ich mich am ersten Abend beim Auskleiden darauf, dass ich »instinktiv« das Portemonnaie aus der Tasche holte und es öffnete, um den Uhrschlüssel herauszunehmen, den ich nun - - wie ich wohl wusste — doch nicht mehr brauchte. Wie lange Reihen komplizirter Bewegungen, die ursprünglich nur durch das Bewusstsein ausgelöst wurden, instinktiv ablaufen können, zeigt die Thatsache, dass wir auswendiggelernte Musikstücke zuweilen fehlerlos von Anfang bis Ende spielen können, während wir an ganz andere Dinge denken. In ganz ähnlicher Weise werden sich die komplizirten Instinkthandlungen der Thiere abspielen. Eine scharfe Grenze ist also weder zwischen Reflex- und In- stinkthandlung, noch zwischen dieser und der Willenshandlung zu ziehen, die eine geht in die andere über, und der Gedanke liegt nahe, dass auch in der phyletischen Entwicklung Übergänge aus der einen in die andere Handlungsform stattgefunden haben. So lange man noch an das LAMARCK'sche Prinzip als ein thatsächlich wirkendes glaubt, liegt die Vermuthung nahe, dass Handlungen, die ursprünglich vom Willen veranlasst waren, wenn sie häufig wieder- holt werden, zu Instinkten werden könnten, mit anderen Worten, dass Instinkte, vielfach wenigstens, vererbte Gewohnheiten wären. Ich werde Ihnen später zu zeigen versuchen, dass diese Annahme, so plausibel sie auch auf den ersten Blick zu sein scheint, dennoch nicht richtig sein kann; jetzt möchte ich mich darauf beschränken, Ihnen zu zeigen, dass es jedenfalls eine grosse Zahl von In- stinkten gibt, deren Entstehung nur auf Selektionsprozesse zu beziehen ist, und dass die übrigen, wenigstens prinzipiell durch sie erklärt werden können. Allgemein verbreitet ist der Trieb der Selbsterhaltung, wie er sich bei vielen Thieren darin äussert, dass sie vor ihren Feinden flüchten. Der Hase flüchtet vor dem Fuchs, wie vor dem Menschen, die Vögel fliegen auf und davon, wenn die Katze naht, der Schmetter- ling flieht schon vor dem Schatten des Netzes, das ihn fangen soll Selbsterhaltungstrieb. 163 Man könnte glauben, hier reine Bewusstseinshandlungen vor sich zu haben, und beim Hasen und den Vögeln spielt auch Erfahrung und Wille unzweifelhaft mit hinein, aber die Grundlage der Handlung ist doch auch bei diesen der Trieb; dieser und nicht Reflexion veran- lasst das Thier, auf den Anblick des Feindes hin, zu flüchten. Beim Schmetterling rauss es ja reine Instinkthandlung sein, da dieser sie schon mit derselben Präcision ausführt, wenn er eben aus der Puppe geschlüpft ist, also noch gar keine Erfahrung besitzt. Aber auch beim Vogel und Hasen würde das Flüchten in den meisten Fällen zu spät kommen, wenn erst Überlegung dazu nöthig wäre, es muss so momentan erfolgen, wie der Lidschlag des von einer Verletzung bedrohten Auges, wenn es erfolgreich geschehen soll. Der Einsiedlerkrebs (Fig. 34 auf p. 185); der seinen weichen Hinterleib in einer leeren Schneckenschale birgt und mit dieser auf dem Meeresboden umherläuft, zieht sich, sobald irgend eine verdäch- tige Bewegung sein Auge trifft, blitzschnell in sein Schneckenhaus zurück, und es hält schwer, eines seiner Beine noch rechtzeitig mit der Pinzette zu fassen, um ihn aus seiner Schale herauszuziehen. Ebenso verhält es sich mit den sog. Meerpinseln, den Würmern der Gattung Serpula und Verwandten; es gelingt nicht leicht, sie zu fassen, denn wenn man noch so rasch mit der Pinzette auf sie los- fährt, so funktionirt ihr Flüchtungsinstinkt doch noch rascher: sie schiessen in die schützende Röhre zurück, ehe man sie gefasst hat. Aber dieser Trieb, vor Feinden zu flüchten, so selbstverständlich er scheint, ist doch durchaus nicht allen Thieren eigen, bei gar vielen äussert sich der Selbsterhaltungstrieb in einer geradezu ent- gegengesetzten Weise, in dem sog. »Sichtodtstellen«, d. h. in völliger Bewegungslosigkeit, und dem Verharren in einer bestimmten, dem Thier von seinem Instinkt genau vorgeschriebenen Stellung. Ich habe Ihnen bei Gelegenheit der Schutzfärbung schon von jenem »Holz-Schmetterling« gesprochen, der Xylina, die einem abge- bröckelten, halb verwitterten Stückchen Holz so täuschend gleicht, und darauf hingewiesen, dass diese holzähnliche Färbung allein dem Thier wenig nützen würde, wäre sie nicht mit dem Trieb verbunden, bei Gefahr sich regungslos zu verhalten, sich »todt zu stellen«. Die Fühler und Beine werden dicht an den Leib gezogen, so dass sie die Maskirung eher noch verstärken, und statt davon zu laufen, rührt das Thier keinen Muskel, solange, bis die Gefahr vorüber ist. Dieser Instinkt muss sich Hand in Hand mit der Holzähnlichkeit entwickelt haben, und wie wir diese daraus herzuleiten suchten, dass der holz- 164 Instinkte. ähnlichste Schmetterling stets am meisten Aussicht hatte, zu über- leben, so wird auch immer derjenige seine Holzähnlichkeit am besten verwerthet haben, der am stillsten lag, und Beine und Fühler dicht anzog. So muss der Gehirn-Mechanismus, der das Stillhalten auslöste, wenn die Sinne Gefahr anmeldeten, immer mehr sich befestigt und vervollkommnet haben. Selbst nahe verwandte Thiere können recht verschiedene Triebe zur Sicherung gegen Gefahr besitzen. So gibt es in der Gruppe der Taschen krebse Arten, die davon laufen, wenn Gefahr droht, andere aber, die schon im Voraus sich vor Entdeckung dadurch sichern, dass sie sich gewissermassen maskiren. Sie halten mit ihrem letzten Fuss- paar ein grosses Stück eines Schwammes über sich, der dann weiter wächst und oft nur noch ihre Gliedmassen und Gesicht frei lässt. Natürlich ist hier von einem Bewusstsein dessen, was der Krebs thut, keine Rede, wie man am besten daran sieht, dass solche Krebse im Nothfall statt des Schwammes auch mit einer durchsichtigen Glas- scherbe vorlieb nehmen; aber der Trieb, sich mit irgend Etwas zu bedecken, sitzt in ihnen und äussert sich nicht bloss, wenn sie einen sie wirklich schützenden Gegenstand erblicken, sondern auch dann, wenn derselbe durchsichtig ist und seinen Zweck völlig verfehlt. Krabben, denen man ihren Schwamm genommen hat, irren solange umher, bis sie einen anderen finden: der Trieb wird also auch dadurch ausgelöst, dass sie ihren Rücken unbedeckt fühlen, nicht blos durch den Anblick des Schwammes oder Steines. Die grosse Spitzkrabbe des Mittelmeers, Maja Squinado, führt diese Maskirung in etwas anderer Weise aus. Sie hat eigenthümliche Hakenborsten auf dem Rücken und in diese hakt sie Algenbüschel ein, oft viele, so dass sie von ihnen ganz bedeckt wird, und dass man nicht ein Thier, sondern ein Tangbüschel zu sehen glaubt. Hier ist also mit der Entwicklung des Instinktes, sich zu bestecken, eine körperliche Veränderung Hand in Hand gegangen: die Borsten des Rückens haben sich hakig gebogen. Viele Instinkte sind von körper- lichen Umwandlungen begleitet, und auch bei den Krabben, die sich mit Steinen oder Schwämmen bedecken, ist dies der Fall, indem nämlich ihr letztes Fusspaar auf den Rücken gerückt ist, während es sonst an der Seite des Krebses eingelenkt ist. So können sie ihren Schwamm weit besser und dauerhafter festhalten, und da dies vortheilhaft ist, lässt sich die Veränderung aus Naturzüchtung sehr wohl herleiten. Lassen Sie uns noch eine andere Kategorie von Instinkten ins Nahrungstriebe. 1^5 Auge fassen, die allergewöhnlichsten und unentbehrlichsten, die- jenigen, welche die Nahrungssuche und -Aufnahme leiten. Das eben aus dem Ei geschlüpfte Hühnchen pickt schon die vor- geworfenen Körner auf, ohne noch Erfahrungen über das, was Fressen heisst, oder was ihm als Nahrung dienen kann gemacht zu haben; sein Nahrungstrieb äussert sich in Aufpicken, und er erwacht oder wird ausgelöst durch den Anblick von Körnern. Wie Lloyd Morgan in seinem trefflichen Buch über die Instinkte der Thiere sehr gut sagt: »Es pickt nicht nach Körnern, weil der Instinkt ihm sagt, das sei Etwas, was aufgepickt und geprüft werden müsse, sondern weil es nicht anders kann.« So erwacht der Trieb der Nahrungssuche bei dem jungen Kätz- chen beim Anblick einer Maus. Ich setzte einem solchen, ehe es noch jemals eine Maus gesehen hatte, eine solche lebend in der Falle vor. Das Thier kam in die grösste Aufregung, und als ich die Falle öffnete und die Maus davonrannte, hatte die Katze sie in wenigen Sprüngen erreicht und gepackt. Der Trieb äussert sich also hier nicht wie beim Hühnchen im raschen Senken des Kopfes und Aufgreifen der Nahrung, sondern in einer ganz verschiedenen Com- bination von Bewegungen, im Nachspringen und Erfassen des fliehenden Thiers. Aber nicht nur dies ist bei der Katze in der Instinkthand- lung eingeschlossen, sondern auch das ganze wilde und grausame Nachspiel des Fangs, das bekannte Loslassen der Maus, Wiederfangen, das leidenschaftliche Knurren der Befriedigung,, welches in seiner Wildheit viel mehr an einen blutdürstigen Tiger als an ein zahmes Hausthier erinnert. Wie der Instinkt der Eiablage bei dem Schmetterlingsweibchen nur durch Anblick und Geruch einer bestimmten Pflanze ausgelöst wird, so auch der Nahrungstrieb der Raupe. Wenn Sie einer eben aus dem Ei geschlüpften Raupe des Seidenschmetterlings, Bombyx mori, ein Maulbeerblatt hinlegen, so wird sie bald anfangen, dasselbe anzunagen; legen Sie ihr aber ein Buchenblatt, oder das irgend eines anderen einheimischen Baumes, Strauches oder Krautes hin, so wird sie dasselbe nicht anrühren und einfach Hungers sterben. Und doch würde sie viele dieser Blätter ganz wohl fressen können, auch davon ernährt werden, aber der Geruch und vielleicht auch der Anblick dieser Blätter wirken nicht auslösend auf ihren Fresstrieb. So gibt es viele Arten von Raupen, die monophag sind, und nur auf eine einzige Pflanzenart des Landes beschränkt. Sie werden vielleicht fragen, wie denn durch Selektionsprozesse eine solche Ein- Weismann, Descendenztheorie. II l66 Instinkte. schränkung der auslösenden Reize auf einen einzigen habe eintreten können, da eine derartige Beschränkung der Nahrung doch unmöglich vortheilhaft sei. Die Antwort darauf lässt sich schon aus folgender Thatsache entnehmen: auf der Tollkirsche lebt ein kleines Käferchen, dessen Fressinstinkt auch auf diese einzige Pflanze beschränkt ist. Da nun die Atropa Belladonna von anderen Thieren ihrer Giftigkeit halber völlig gemieden wird, so ist dieses Käferchen gewissermassen Alleinbesitzer der Tollkirsche; keine andere Art macht ihm seine Nahrung streitig, und darin dürfte sicherlich ein grosser Vor- theil liegen, sobald die anderen Instinkte, vor Allem der der Eiablage des Käfers derart regulirt sind, dass die Larve sicher ist, ihrer Nähr- pflanze habhaft zu werden; dies ist aber der Fall. Bei vielen Raupen wird die Monophagie in ähnlicher Weise zu verstehen sein, es ist eine Anpassung an eine bestimmte sonst wenig gesuchte Pflanze, die mit dem mehr oder weniger vollständigen Verlust der Reizfähigkeit durch andere Pflanzenarten verbunden ist. Das Zustandekommen eines so spezialisirten Nahrungstriebes beruht auf seiner Nützlichkeit, und er- folgte so, dass Naturauslese immer solche Individuen bevorzugte, deren Nahrungstrieb durch möglichst wenige Pflanzen ausgelöst wurde und zugleich solche, welche sich einer für die Art besonders vortheilhaften Pflanze am besten angepasst zeigten, deren Nahrungstrieb nicht nur am stärksten durch diese eine Pflanze ausgelöst wurde, sondern deren Magen und gesammter Stoffwechsel sie auch am besten vertrug. So verstehen wir, warum so viele Raupen an Giftpflanzen leben, nicht nur einzelne unserer heimischen Sphingiden, wie Deilephila Euphorbiae, sondern ganze Gruppen tropischer Papilioniden, Danaiden, Acraeiden und Helikoniden. Damit hängt dann auch wieder die Giftigkeit oder Widrigkeit ihrer Schmetterlinge zusammen. Wie verschieden aber der Instinkt des Nahrungserwerbs in ein und derselben Gruppe von Thieren ausgebildet sein kann, das sehen wir z. B. schon daran, dass nicht selten in einer Gruppe von Organismen sowohl Pflanzen- als Moderfresser und Raubthiere vorkommen, so z. B. in der Ordnung der Wasserflöhe oder Daphniden oder in der Klasse der Infusorien. Manche Arten ernähren sich derart, dass das Thier einen Strudel im Wasser erzeugt, der ihm einen Wasser- strom gegen seinen Mund führt und mit diesem zugleich allerlei pflanz- liche oder todte Partikelchen; andere leben vom Raub ihnen selbst ähnlicher anderer Thiere. Aber wenn auch der Nahrungsinstinkt sich bei allen Arten einer Gruppe auf lebende Beute richtet, so kann die Erreichung derselben Nahrungstriebc. 167 doch wieder durch ganz verschiedene Triebe erzielt werden. Solche feinere Abstufungen des Nahrungstriebes finden sich nicht selten schon in ganz kleinen Gruppen von Thieren, so z. B. in der der Ephemeriden oder Eintagsfliegen. Alle ihre Larven leben vom Raub, aber die der einen Familie, die durch die Gattung Chloeon repräsentirt wird, sucht ihrer Beute durch Schnelligkeit rennend und springend habhaft zu werden, die Larven der zweiten Familie mit der Hauptgattung Baetis haben den Instinkt, ihren glatten, breiten Körper sammt dem grossäugigen Kopf dicht an den Bachkiesel an- zuschmiegen, auf dem sie sitzen. Sie sind demselben in der Färbung vollkommen ähnlich, und nun lauern sie, gewissermassen unsichtbar, bis ein Opfer in ihren Bereich kommt, um sich dann mit einem Sprung auf dasselbe zu stürzen. Die dritte Gruppe, mit der Hauptgattung Ephemera, hat den Trieb, tiefe Röhren in den Schlamm am Boden der Gewässer zu graben und in diesen auf die Beute zu lauern. Wir haben also hier innerhalb dieser kleinen Gruppe der Eintagsfliegen drei Modifikationen des Raubtriebs, die sich recht wesentlich vonein- ander unterscheiden, sich aus ganz anderen Combinationen von Hand- lungen zusammensetzen, und denen folglich auch ein wesentlich ver- schiedener leitender Gehirn-Mechanismus zu Grunde liegen muss. Eines nur ist allen diesen Fällen gemeinsam : die Thiere stürzen auf die Beute, sobald sie derselben nahe genug sind. Aber auch dies ist nicht überall im Nahrungstrieb enthalten. Die Seegurke, Cucumaria (Fig. 31), ernährt sich nach den Beobachtungen, welche Eisig in den Aquarien der Zoologischen Station zu Neapel anstellte, in folgender Weise. Das Thier sitzt halb oder ganz auf- gerichtet auf einem Felsen vorsprung und entfaltet seine zehn Bäum- chen-förmigen Tentakel welche den Mund umgeben. Dieselben sind 1 1* Fig. 31. Cucumaria, Seegurke mit entfalteten Tentakeln [a) und ausgestreck- ten Füsschen [b) ; nach Ludwig. l68 Instinkte. verästelt und machen ganz den Eindruck kleiner Tangbüschel. Dafür werden sie wohl auch von vielen kleinsten Thieren genommen; denn Larven aller Art, Infusorien, Räderthiere, Würmer lassen sich auf ihnen nieder. Die Seegurke aber biegt abwechselnd den einen, dann den anderen Tentakel unmerklich langsam um, führt die Spitze in den Mund; lässt sie langsam tiefer in den Schlund gleiten, solange bis der Tentakel ganz darin steckt, um ihn nach einiger Zeit ebenso all- mälisf wieder herauszuziehen und ihn von Neuem zu entfalten. Offenbar wischt sie den Tentakel im Schlund ab und behält alles Lebende, was darauf sass für sich. Dies Spiel wiederholt sie Tag und Nacht, und es bildet für gewöhnlich die einzige sichtbare Lebens- äusserung des Thiers. Hier ist mit dem seltsamen Instinkt die körperliche Abänderung innig verknüpft, denn ohne die Bäumchen-förmigen Tentakel würde der Fang nicht oder doch schlecht gelingen. Andere Seewalzen habe andere Tentakel und benutzen dieselben auch in ganz anderer Weise, indem sie sich mittelst derselben den Mund voll Schlamm stopfen. Sehr häufig begleiten sichtbare körperliche Veränderungen den modifizirten Nahrungstrieb. Die meisten Raubfische jagen ihrer Beute nach, wie der Barsch, Hecht, Haifisch, aber es gibt auch hier Lauerer, und diese zeigen ausser dem Lauer-Instinkt noch bestimmte körper- liche Anpassungen, ohne welche dieser Instinkt nicht so vollkommen zur Geltung kommen könnte. So stehen einem Fisch des Meeres dem Sterngucker, Urano- scopus, die Augen nicht an den Seiten des Kopfes, sondern oben, und auch sein Maul ist nach oben gerichtet. Sein Instinkt treibt ihn, sich in Sand zu vergraben, so dass nur noch die Augen frei liegen. So lauert er, bis ein Opfer sich ihm nähert, um es dann durch eine plötzliche Bewegung zu erschnappen. Er hat aber ausserdem auch noch ein Lockorgan, einen weichen wurmförmigen Lappen, den er aus dem Munde vorstreckt, sobald kleine Fische sich nahen. Diese fahren auf den Köder zu und werden dabei gefangen. Solche raffinirte Fischerei, durchaus an den Forellenfang des Menschen mit künstlichem Köder erinnernd, findet sich vielfach bei Raubfischen; der Fisch handelt aber in allen diesen Fällen instinktiv, ohne Überlegung, nur auf die Wahrnehmung der Beute hin. Die Zweckmässigkeit der Handlung beruht nicht auf einem Bewusstsein derselben, auf Überlegung, sondern ist eine rein mechanische, die durch irgend einen Sinneseindruck ausgelöst wird. Wechsel der Instinkte. I 69 Das zeigt sich am besten an dem Irregehen des Instinktes, wie es stets dann eintritt, wenn das Thier in eine unnatürliche Lage versetzt wird, auf welche sein Instinkt gewissermassen nicht berechnet ist. Die Maulwurfsgrylle, welche sich der Verfolgung durch Ein- graben in die Erde zu entziehen gewohnt ist, macht heftige grabende Bewegungen mit den Vorderbeinen, auch wenn man sie auf eine Glasplatte setzt, in die sie unmöglich sich eingraben kann; ein Ameisen- löwe (Myrmeleo), der den Trieb hat, sich durch Rückwärtsschieben des Hinterleibs in lockeren Sand einzubohren, geht auch auf einer Glasplatte rückwärts, sobald Gefahr droht, und sucht sich mit grösster Anstrengung in dieselbe einzubohren. Er kennt eben kein anderes Mittel der Flucht, und sein Intellekt ist viel zu schwach, um ihm ein neues an die Hand zu geben. Auch das gewöhnlichste Verfahren der Thiere, sich einer Gefahr zu entziehen, das Davonlaufen, fällt ihm nicht ein; er handelt wie er muss gemäss des ihm innewohnenden Triebes, er kann nicht anders. Sehr merkwürdig ist mir immer der Wechsel des Instinktes in den verschiedenen Entwicklungsstadien ein und desselben Thiers erschienen; so der Wechsel des Nahrungsinstinktes bei Raupe und Schmetterling, bei deren Ersterer der Nahrungstrieb durch das Blatt einer bestimmten Pflanze, der des Letzteren nur durch den Anblick und Duft von Blumen ausgelöst wird, deren Honig er auf- saugt. Hier ist Alles anders in den beiden Entwicklungsstadien, der ganze Apparat der Nahrungssuche und Nahrungsaufnahme, wie der Nerven-Mechanismus, der die Handlungsweise bestimmt. Und wie weit stehen die Reize oft auseinander, die den Trieb auslösen! Die Larve der Blumen-suchenden und Honig-saugenden Fliege, Eristalis tenax, ist die hässliche weisse sog. Rattenschwanz-Made, welche, schon von REAUMUR gut beschrieben, schwimmend in Mistjauche lebt und sich von ihr nährt! Wie vollständige und tiefgreifende Veränderungen nicht nur des sichtbaren Baues, sondern auch der für jetzt noch nicht genau kontrollirbaren feinsten Nerven -Mechanismen müssen demnach im Wechsel der Zeiten und Umstände erzielt werden können ! Aber nicht nur der Nahrungstrieb, sondern auch der Instinkt der Selbsterhaltung, der Bewegungsweise, kurz jede Art von Instinkt kann im Laufe eines Einzellebens mehrfach wechseln. Verfolgen wir den etwas verwickelten Lebenslauf eines Käfers aus der Familie der Blasenkäfer, Canthariden, wie wir ihn zuerst durch Fabre kennen gelernt haben, so legt das Weibchen des rothschultrigen Bienen- käferchens, Sitaris humeralis, seine Eier in die Nähe des unterirdischen 170 Instinkte. Nestes einer Honig- sammelnden Erdbiene, Anthophora, auf den Boden ab. Die ausschlüpfenden Larven sind hurtig, sechsbeinig, mit hornigem Kopf und beissenden Mundtheilen, sowie mit einer Schwanz- gabel zum Springen ausgerüstet (Fig. 32, a). Die Thierchen haben zunächst keinen Nahrungstrieb, wenigstens äussert sich ein solcher nicht, vielmehr rennen sie nur umher, und sobald sie einer Biene der Gattung Anthophora ansichtig werden, springen sie auf dieselbe und verbergen sich in ihrem dichten Haarpelz. Treffen sie es glücklich, so ist die Biene ein Weibchen, gründet eine neue Kolonie und baut Zellen, in deren jede sie etwas Honig einträgt und ein Ei darauf e w~7 Fig. 32. Metamorphose von Sitaris humer alis, einem Blasenkäfer, nach Fabre. a erste Larvenform, stärker vergrössert, b zweite Larvenform, c Ruhezustand dieser Larve (sog. »Scheinpuppe«, d dritte Larvenform, e Puppe. legt. Sobald dies geschehen ist, springt die Sitaris-Larve ab, beisst das Bienenei auf und frisst den Inhalt desselben allmälig auf. Dann häutet sie sich und nimmt nun die Gestalt einer Made an mit kleinen Füsschen und unvollkommenen Kauwerkzeugen {b) ; auch die Schwanz- gabel geht verloren, sie braucht alle diese Theile nicht mehr, da sie nun ohne weitere Ortsbewegung flüssige Nahrung, den Honig der Zelle zu sich nimmt, gerade so viel, als zu ihrem Heranwachsen nöthig ist. Dann überwintert sie in ihrer erhärteten, puppenartigen Haut [c] und erst im nächsten (dem dritten) Jahr schlüpft nach nochmaliger kurzer Larvenzeit (d) und nachfolgender wirklicher Verpuppung [e] der Käfer aus. Dieser aber hat wieder beissende Mundtheile und frisst Blätter und hat Beine zum Laufen und Flügel zum Fliegen. Unvollkommenheit der Triebe. I J I Bei diesem Käfer wechselt also der Nahrungs-Instinkt drei Mal im Leben, zuerst bildet das Bienenei den auslösenden Reiz, dann der Honig, schliesslich Blätter. Ebenso verändert sich der Ortsbewegungs- instinkt, der zuerst sich im Rennen und Springen, im Anklammern äussert, dann im Stillliegen als Made in der Bienenzelle, schliesslich im Fliegen und Umherlaufen auf Büschen und Bäumen. Wir können es wohl verstehen, wie nach und nach im Laufe un- gezählter Insekten-Generationen und -Arten, die verschiedenen Ent- wicklungsstufen mittelst Selektion sich körperlich und in ihren Instinkten immer weiter voneinander entfernten, indem sie sich ab- weichenden Lebensbedingungen immer besser anpassten, und wie dann zuletzt so häufige und so stark abweichende Instinkte der ein- zelnen Lebensstadien sich ausbilden konnten. Eine andere Erklärung lässt sich aber dafür nicht geben; nur durch Natur Züchtung können wir solche Anpassungen im Prinzip wenigstens verstehen. So ist das Thier also sehr wohl einer Maschine zu vergleichen, die so eingerichtet ist, dass sie unter den gewöhnlichen Umständen richtig arbeitet, das heisst, alle Handlungen ausführt, die zur Erhal- tung des Individuums und der Art nöthig sind. Die Theile der Maschine sind aufs beste zusammengepasst und greifen so künstlich ineinander, dass unter normalen Verhältnissen stets ein zweckmässiges Resultat dabei herauskommt. Wir haben gesehen, wie genau der auslösende Reiz für eine Handlung bestimmt sein kann, und dies sichert eine weitgehende Spezialisirung der Instinkte. Wie aber jede Maschine nur mit dem Material arbeiten kann, für welches sie erbaut ist, so kann auch der Instinkt nur dann eine zweckentsprechende Handlung- hervorrufen, wenn sich das Thier unter den natürlichen Verhältnissen befindet. Seine Spezialisirung hat auch ihre Grenze, und auch darin liegt ein Grund seiner beschränkten Zweckmässigkeit. Wenn z. B. die Larven von Sitaris nicht durch jede Biene angeregt würden, auf sie zu springen und sich an sie zu klammern, sondern nur durch die weiblichen, so würde es vermieden, dass viele dieser Larven zu Grunde gehen, weil sie auf männliche Bienen gerathen, die gar keinen Stock gründen, oder dass sie gar auf andere fliegende Insekten springen, die ihnen ebenfalls nicht die Möglichkeit zur Weiterentwicklung bieten. Beides aber geschieht, wenn auch das Letztere meines W7issens noch nicht von Sitaris-, wohl aber von den verwandten Meloe-Larven beobachtet wurde. »Der Instinkt irrt« hier, pflegt man zu sagen, in Wahrheit aber irrt er nicht, sondern ist nur in Bezug auf den die Handlung aus- 1 72 Instinkte. lösenden Reiz nicht so genau spezialisirt, wie es uns als völlig zweck- mässig erscheinen würde. Gerade in dieser Unvollkommenheit aber liegt, wie mir scheint, wieder ein Beweis dafür, dass wir es hier mit den Resultaten von Selektionsprozessen zu thun haben, denn solche können ihrer Natur nach nie vollkommen sein, vielmehr immer nur relativ vollkommen, d. h. so vollkommen, als es nöthig ist, da- mit die Art besteht. In dem Moment, in welchem dieser Grad der Vollkommenheit erreicht ist, hört jede Möglichkeit einer weiteren Steigerung der Zweckmässigkeit auf, weil sie dann nicht mehr wirk- lich zweckmässig ist. Weshalb z. B. sollte sich in diesem Fall der auslösende Reiz noch genauer spezialisiren, wenn auch ohnedies immer noch genug Sitaris-Larven auf Weibchen gelangen? Nicht umsonst sind die Käfer dieser Familie so fruchtbar; was dem Instinkt an Ge- nauigkeit abgeht, das wird durch die Masse der jungen Larven er- setzt. Legt doch ein einziges Weibchen des Maiwurms mehrere Hundert Eier. Wenn wir aber das Thier eine Maschine nennen, so muss dem noch hinzugesetzt werden: eine in verschiedenem Grade verstell- bare Maschine, die auf Hoch- oder Niederdruck, auf Langsam- oder Pvasch-Arbeiten, auf Fein und Grob eingestellt werden kann. Diese Einstellungen besorgt der Verstand, das unbewusste Denken, wie es den höchsten Thieren in bedeutendem Grade zu eigen ist, wie es aber bei niederen Thieren immer mehr, schliesslich bis zur Unkenntlich- keit zurücktritt. Die Instinkthandlung kann durch Einsicht und Willen modifizirt oder unterdrückt werden, wie Sie an jedem dressirten Raub- thier sehen können, das seinen Hunger bezwingt und den Trieb, das vorgehaltene Stück Fleisch zu erschnappen, weil es weiss, dass sonst schmerzhafte Prügel die Folge sind. Ich werde in einer späteren Vorlesung auf den Zusammenhang von WTil)en und Instinkt zurück- kommen, hier handelte es sich nur darum, die Instinkte als Aus- fluss von Selektionsprozessen und als einen der indirekten Beweise für die Wirklichkeit derselben ins Auge zu fassen. Aus dem bisher Gesagten geht jedenfalls soviel hervor, dass prin- zipiell nichts entgegensteht, wenn wir die Instinkte auf Selektion be- ziehen, da ihr Wesen eben gerade ihre Zweckmässigkeit ist, und da zweckmässige Abänderungen diejenigen sind, welche im Kampf ums Dasein erhalten werden. Aber man könnte doch glauben, dass hier überall auch das Prinzip vom Gebrauch und Nichtge- brauch mitwirkt, und dass ohne dasselbe eine Abänderung von In- stinkten nicht zu Stande kommen könne. Entstehung durch Gebrauch. ^73 Es gibt indessen zahlreiche Instinkte, bei denen dies geradezu aus- geschlossen werden kann. Wir haben früher ausführlich die Schutzfärbungen besprochen, welche die Insekten, besonders die Schmetterlinge vor der Vernich- tung durch ihre zahlreichen Feinde sichern und dabei auch erwähnt, dass dieselben immer auch von entsprechenden Instinkten begleitet werden, ohne die die Schutzfärbung und die täuschende Gestalt ihnen Nichts oder doch nicht so Viel helfen würde. Hätte die der Eichen- rinde so täuschend ähnliche Raupe des Ordensbandes, Catocala sponsa, nicht zugleich den Trieb, bei Tage von den Blättern weg und in die Spalten der Rinde am Stamm der Eiche zu kriechen, so würde ihr ihre Verkleidung kaum Etwas nützen, und würde die räuberische und grasfarbige Gottesanbeterin nicht den Instinkt haben, vollkommen still im Gras auf Beute zu lauern, vielmehr ihr nachjagen, so würde sie bei ihrer ziemlich gemessenen Bewegungsart wohl keines ihrer Opfer erhaschen. Diese Anpassung der Instinkte an die Schutzfär- bungen geht bis in kleine, scheinbar unbedeutende Einzelheiten hin- ein. So ist es eine von verschiedenen Beobachtern sicher gestellte Thatsache, dass die widrigschmeckenden, zuweilen wohl auch geradezu giftigen Schmetterlinge, welche durch grelle oder kontrastirende Farben- muster gekennzeichnet sind, alle langsame Flieger sind. So die Danaiden und Euplöiden der alten, so die Helikoniden der neuen Welt; viele ihrer mimetischen Nachahmer fliegen ebenso langsam. Fragen wir nun, wie dieser Trieb des flatternden, sorglosen Flugs ihnen eigen geworden ist, so können wir die Gewohnheit als primum movens ganz ausschliessen, denn es fehlen äussere Bedingungen, welche den Schmetterling zu langsamerem Flug veranlasst haben könnten, als seine Vorfahren ihn besassen. Dass es jetzt — wo er als widrig signirt ist — für ihn vortheilhaft ist, recht deutlich gesehen und erkannt zu werden, kann keinerlei direkte Wirkung auf seine Flugweise ausüben, da er davon Nichts weiss. Nehmen wir selbst an, es träten einzelne Varia- tionen mit langsamerem Fluginstinkt auf, so würde doch ohne Selektion, kein Grund vorliegen, warum gerade diese allein sich vermehren sollten, und noch weniger, warum die zuerst nur schwache Verlang- samung des Flugs im Laufe der Generationen sich noch steigern sollte. Im Gegentheil! die Thiere fliegen ja doch sehr viel, ganz wie andere Tagfalter solange die Sonne scheint, sie üben also fort- während ihr Flugvermögen und müssten sonach — wenn Übung der einen Generation die nachfolgenden beeinflusste — allmälig wieder schneller flugfähig: werden. Es geschieht hier gerade das Entgegen- I 7 A Instinkte. gesetzte von dem, was man dem LAMARCK'schen Prinzip zuschreibt: starker Gebrauch müsste hier Herabsinken der betreffenden Theile hervorrufen. Ganz anders wenn wir Selektion in Betracht ziehen. Nun überleben die im Anfang zufällig auftretenden Variationen mit langsamerem Flug, weil sie am leichtesten erkannt und gemieden werden; sie also sind die am häufigsten Überlebenden; sie hinter- lassen Nachkommen, die den langsameren Fluginstinkt erben, und bei denen er sich solange noch steigert, als diese Steigerung noch einen Vortheil gewährt. Sobald dies nicht mehr der Fall ist, steht die Veränderung still, sie ist den nunmehrigen Lebensbedin- gungen angepasst. Ganz ähnlich werden wir uns alle die Tausenderlei Regulirungen der Bewegungen der Thiere durch den Instinkt zu Stande gekommen vorstellen können, und bei den meisten auch vorstellen müssen. Denn nur bei solchen mit hoher Intelligenz könnte in Frage kommen, ob nicht das Thier die zweckmässige Abänderung seiner Bewegungs- weise aus Überlegung habe eintreten lassen. Bei Insekten aber kann davon jedenfalls nur in sehr beschränktem Masse die Rede sein, wenn ich auch nicht bestreite, dass die intelligenteren unter ihnen lernen, Erfahrungen machen, und dass sie ihre Handlungen dem- gemäss modifiziren können. Aber beim Flüchten spielt Erfahrung nicht mit, da das erste Erwischtwerden gewöhnlich schon mit dem Tode bestraft wird. Harmlos und ohne Ahnung der von allen Seiten sie umlauernden Gefahren schweben die Schmetterlinge dahin, um- geleitet von ihren Instinkten, die aber so genau auf ihre gewöhn- lichen Lebensbedingungen passen, dass ihrer stets eine zur Erhaltung der Art hinreichende Anzahl aus den vielen Fährlichkeiten glücklich entkommt. Ich erinnere an das oben nach HAHNEL erzählte Bei- spiel des Falters, der den schnellen Eidechsen durch sein rasches Auffliegen vom süssen Köder entging, ohne Sorge aber sofort wieder sich auf demselben niederliess, um abermals vor der Eidechse auf- zufliegen, und so mehrmals hintereinander. Wir beurtheilen solche Handlungen meist viel zu menschlich; der Falter will nicht etwa dem ihm drohenden Tode entfliehen; vom Tode weiss er Nichts; es geht ihm nicht wie dem Dr. HAHNEL selbst, der einst vom Dickicht aus von einem Jaguar bedroht wurde und nun völlig erschüttert von der Todesgefahr, der er glücklich entronnen war, an demselben Ort nicht wieder vorüber will und einen weiten Umweg nach Hause macht. Der Schmetterling handelt gar nicht nach Über- legung und Vorstellungen, er fliegt blitzschnell auf, wenn die Eidechse Nur einmal ausgeübte Triebe. 17^ auf ihn losfährt, weil diese rasche Bewegung, die er sieht, als Reiz auf die Auslösung seines Flüchtungstriebes einwirkt, und dieser arbeitet so prompt, dass er ihn in den meisten Fällen vor dem Unter- gang rettet. Sein Gemüth wird aber durch die so nahe Gefahr nicht weiter getroffen, und er folgt ruhig wieder von Neuem seinem Nah- rungstrieb, der ihm gebietet, sich auf den süssen Köder zu setzen, bis der Gesichtseindruck der wiederum auf ihn losstürzenden Eidechse von Neuem wieder seinen Flüchtungstrieb auslöst. Er ist ein Spiel- ball seiner Triebe, eine Maschine, die genau so arbeitet, wie sie muss. Dass nur Sinneseindrücke und nicht Vorstellungen hier die Hand- lungen auslösen, kann man leicht an scheuen Arten von Schmetter- lingen, wie etwa unserem Schillerfalter, Apatura Iris, wahrnehmen, der von der feuchten Waldstrasse, auf der er sich eern niederlässt, mit Blitzesschnelle auffliegt, sobald irgend ein rasch bewegtes Gesichts- bild, sei es auch nur ein Schatten, sein Auge trifft. Deshalb sucht sich der Schmetterlingsjäger ihm so zu nähern, dass sein Schatten ihm nicht vorausgeht. Dann aber lässt das Thier den heran- schleichenden Feind nahe kommen und fliegt erst auf, wenn dieser das Netz rasch auf ihn zu bewegt. Wahrscheinlich ist auch das Auge dieser Thiere vorzüglich für die Wahrnehmung von Bewegungen ein- gerichtet, jedenfalls aber reagirt der Fluchtinstinkt sehr prompt auf solche Gesichtseindrücke, und wir verstehen, dass er so regulirt werden musste, wenn dies — wie wir annehmen — durch Selektions- prozesse geschah, denn die Feinde der Schmetterlinge, Vögel, Libellen, Eidechsen schiessen rasch auf ihre Beute los, und es müssen daher immer diejenigen Schmetterlinge überlebt haben, deren Instinkt sie am raschesten flüchten hiess. Es kann also in diesem, wie in tausend anderen Fällen der Instinkt des Flüchtens wie überhaupt der Bewegungsart nicht als »vererbte Gewohnheit« erklärt werden, weil der Grad von Intelligenz fehlt, der hier allein die Abänderung der bisherigen Gewohnheit, d. h. Be- wegungsweise hätte veranlassen können, und ebenso verhält es sich bei Thieren mit niederem Verstand bei allen anderen Instinkten, bei denen sonst an eine Anwendung des LAMARCK'schen Prinzips ge- dacht werden könnte. Es gibt aber auch eine ganze grosse Gruppe von Instinkten, bei welchen dieser Gedanke überhaupt nicht aufkommen kann, wie ich schon vor Jahren darlegte, und das sind alle diejenigen Triebe, die in jedem Leben nur ein Mal zur Ausübung gelangen. Diese können unmöglich auf Einübung im Einzelleben und Übertragung 176 Instinkte. dieser Übung auf die folgende Generation beruhen; sie können also nur durch Selektion erklärt werden, wenn wir nicht auf eine natur- wissenschaftliche Erklärung überhaupt verzichten und sie als »Wunder« einfach hinnehmen wollen. Dahin gehören z. B. alle die mannigfaltigen Instinkte, durch welche sich die Insekten im Puppenstadium gegen Angriffe zu schützen wissen. Schon das Sichaufhängen der Tagfalter ist keines- wegs eine so ganz einfache Instinkthandlung. Die Raupe spinnt zu- erst an einem passenden Ort eine kleine rundliche Platte von Seiden- fäden, an der sie sich dann mit dem Hinterende aufhängt und zwar so fest, dass sie nicht leicht abreissen kann. Komplizirter noch wird die Befestigung der Puppe, wenn sie nicht frei herabhängen, sondern an die Mauer oder den Baum angedrückt verharren soll, wie dies bei den Papilioniden und Pieriden der Fall ist. Hier muss die Raupe ausserdem noch in künstlicher Weise einen Seidenfaden quer um ihren Thorax hinüber spannen und zwar genau so, dass derselbe über etwa die Mitte der Flügelanlagen hinläuft, und nicht zu locker, da sonst die Puppe herausfallen könnte, aber auch nicht allzu fest, weil der Faden sonst in die Flügelanlage zu tief einschneiden und ihre Entwicklung hemmen würde. Wenn man bedenkt, dass die Raupe es ist, die das Alles thut, ehe sie noch die Puppenform angenommen hat, dass es aber Alles für die Körpergestalt der Puppe passen muss, so wird man über die ausserordentliche Genauigkeit erstaunen, mit welcher der Instinkt die einzelnen Bewegungen vorschreibt, welche die ganze verwickelte Handlung zur Ausführung bringt. Und doch vollzieht jede Raupe nur einmal in ihrem Leben diese Handlung, dieselbe kann also der einzelnen Raupe zu keiner Zeit der Artent- wicklung zur Gewohnheit geworden, kann somit keine »vererbte Ge- wohnheit« sein. Und wie verschieden sind die Arten der Sicherung der Puppen in den verschiedenen Schmetterlingsfamilien, die doch alle auf eine Wurzel zurückzuführen sind, wenn der Schmetterlingsstamm von einer Stammgruppe sich herleitet. Die Raupe der Sphingiden kriecht nicht aufwärts an Wänden und Bäumen, wenn sie zur Verpuppung reif ist, wie die der Tagfalter es vielfach thut, sondern ihr Instinkt treibt sie, solange auf der Erde umherzurennen, bis sie eine Stelle gefunden hat, die ihr geeignet scheint, um sich in den Boden ein- zubohren, oder weniger bildlich gesprochen: solange, bis sie an eine Stelle kommt, deren Beschaffenheit als auslösender Reiz auf den Trieb wirkt, sich einzuwühlen. Dann dringt sie mehr oder weniger Nur einmal ausgeübte Triebe. 177 tief ein, je nach ihrer Art, und verfertigt sich eine Kammer, die sie mit Seidenfäden austapezirt, so dass sie nicht zusammenstürzt; dann erst häutet sie sich und verwandelt sich in die Puppe. Wie genau ihr dabei die Einzelbewegungen durch den Instinkt vorgeschrieben sind, sieht man am besten daran, dass sie ihre Puppenkammer ge- nau so gross macht, wie sie sein muss, damit die Puppe bequem darin Platz hat, nicht gedrückt wird, und doch auch kein überflüssiger freier Raum bleibt. Das ist nicht so einfach, als es scheint, und geht nicht unmittelbar schon aus der Grösse des Thieres hervor, denn die Raupe ist viel länger, überhaupt voluminöser, als die Puppe. Dasselbe zeigt auch der Hirschschröter, Lucanus cervus, der grösste unserer einheimischen Käfer, der seinen Namen von den mächtigen Geweih-artigen Kiefern hat, welche das Männchen auszeichnet. Auch er verpuppt sich in der Erde und macht einen grossen und harten Ballen aus Lehm, der innen hohl und glatt, wie polirt ist, und dessen Höhlung genau auf die Grösse der zukünftigen Puppe, ja genau genommen sogar auf die des ausgebildeten Käfers passt. Denn, wie RÖSEL VON ROSENHOF seinerzeit schon »mit Ver- wunderung beobachtet hat«, haben »diejenigen Ballen, in denen die Männlein liegen, eine viel längere Höhle, als die so sich die Weib- lein bauen und dieses deswegen, weil wenn der Schröter aus der Puppe kommet, derselbe, wenn er ein Männlein ist, seine Hörner, so zuvor auf der Brust gelegen, muss ausstrecken können«. »Denn die Schröter begeben sich nicht eher aus ihrer Wohnung, als bis alle ihre Theile genugsam erstarcket, und gehörigermassen gehärtet worden sind, und diejenige Jahreszeit sich eingestellt hat, in welcher sie um- herzufliegen pflegen.- Die männliche Larve macht also gewisser- massen in Voraussicht der später erst zu so gewaltiger Grösse aus- wachsender Kiefer, ein viel längeres Puppenhaus als die weibliche Larve ! Der Instinkt ist hier zweigestaltig, wie die körperlichen Theile des Käfers weiblich oder männlich. Auch hier handelt es sich um eine nur einmal im Leben ausgeübte Handlung, und es ist somit die Möo-lichkeit einer anderen Erklärung für die Entstehung dieses Instinktes, als durch Naturzüchtung ausgeschlossen. Nicht minder bedeutsam ist der Fall der Seiden-Cocons. Die Ge- spinste, welche die Seidenraupe verfertigt, sind eiförmig und be- stehen aus einem einzigen, viele tausend Meter langen Faden, der so um die spinnende Raupe herumgeschlungen wird, dass keine Lücke bleibt. Das Gespinst ist fest, zäh und sehr schwer zerreissbar. i78 Instinkte. gewährt also der darin ruhenden Puppe jedenfalls bedeutende Sicherung gegen Nachstellungen. Allein der Schmetterling muss auch aus- schlüpfen können, und zu diesem Behuf wird die Raupe durch ihren Instinkt zu solchen Spinnbewegungen geleitet, dass das Gespinst am vorderen Ende etwas lockerer ausfällt, so dass es der zum Aus- schlüpfen reife Schmetterling mit seinen Füssen auseinanderreissen und sich einen Ausgang verschaffen kann. Aus diesem Grund — d. h. weil das Gewebe vom Schmetterling zerrissen und verdorben werden muss beim Ausschlüpfen, tödten die Seidenzüchter die Puppe vor dem Auskriechen. Es gibt nun aber auch Arten, deren Gespinst von vornherein mit einem Ausgang angelegt wird, indem die Raupe den Faden so um A B 'mm-ß Fig. 33- Gespinnst vom kleinen Nachtpfauenauge, Saturnia carpini, nach Rösel. sich herum schlingt, dass eine runde Öffnung bleibt. Diese würde nun aber nicht nur dem Schmetterling eine bequeme Pforte zum Auskriechen, sondern auch allen Feinden ein bequemer Eingang zur Puppe sein. So wird sie denn verschlossen, und zwar beim kleinen Nachtpfauenauge, Saturnia Carpini, in der Weise, dass ein Kranz spitzer steifer Borsten aus Seide innen angebracht wird (Fig. 33), deren Spitzen sich nach aussen zusammenneigen wie eine Fischreuse [r)\ von innen kann also der Schmetterling leicht die Borsten auseinander biegen (ß), indem er sich durch die Reuse drängt, der von aussen drohende Feind aber wird durch die starren Spitzen der Borsten zu- rückgeschreckt. Ein solches Gespinst ist einem Kunstwerk zu vergleichen, an dem jeder Theil mit dem Übrigen harmonirt, und alle zusammen das Nur einmal ausgeübte Triebe. I 7Q möglichst Zweckmässige herstellen. Dennoch wird es verfertigt, ohne dass die Raupe eine wenn auch noch so entfernte Ahnung von dem hätte, was sie bezweckt, wenn sie den unendlichen Seidenfaden in kunstreichen, genau vorgeschriebenen Touren um sich herum schlingt. Sie hat auch keine Zeit zum Probiren oder Lernen, sondern muss alle die verwickelten Beugungen und Drehungen ihres Kopfes, der den Seidenfaden spinnt, und ihres Vorderleibs, der in führt, gleich das erste Mal völlig genau und richtig machen, falls ein gutes Gespinst zu Stande kommen soll. Hier ist jede Möglichkeit, diesen Instinkt als »Vererbung einer Gewohnheit« zu deuten, aus- geschlossen, denn jede Raupe verpuppt sich nur einmal, und ebenso- wenig wird sie durch den Verstand geleitet, da sie weder wissen kann, dass jetzt eine Puppe aus ihr werden, noch dass diese von Feinden bedroht sein wird, welche in ihr Gespinst eindringen wollen, noch dass die Borsten-Reuse einen Schutz gegen diese abgeben kann. Nur der langsame Prozess der Häufung kleinster nützlicher Variationen des uralten Spinntriebes durch Selektion kann hier eine Erklärung anbahnen, und es ist wunderbar zu sehen, wie genau sich diese Fähig- keit des Einspinnens, den speziellen Lebensbedingungen der einzelnen Arten angepasst hat. So gibt es mehrere Saturniden, deren mächtige Raupen an grossblättrigen Bäumen leben, und diese benutzen die grossen Blätter, um sich in ihnen zu verpuppen, indem sie sie zusammenspinnen, so dass ihr Cocon zum grössten Theil vom Blatt umhüllt wird. Da nun aber das Blatt durch das Gewicht der Puppe leicht abfallen könnte, so spinnen sie den Stiel des Blattes an dem Zweig fest, an dem es sitzt, sie verbinden beide durch ein breites und starkes, fest- anliegendes Seidenband. Von dem grössten aller Spinner, dem chinesischen Attacus Atlas, erzählt SEITZ, dass diese Seidenhülle sich »bis zum nächsten stärkeren Aste fortsetzt, so dass es unmöglich ist, die Blätter, die eine Atlas-Puppe beherbergen, mit der Hand vom Baum abzulösen«. Diese Puppe wiegt freilich auch n Gramm. Da Instinkte variiren, ebensogut wie die sichtbaren Theile des Thiers, so ist die Handhabe gegeben, mittelst welcher Selektion alle diese so speziellen Anpassungen an die gegebenen Bedingungen zu Stande bringen kann, indem sie immer die zweckmässigsten Varia- tionen eines bereits vorhandenen Instinktes zur Nachzucht erhält. Jede andere Erklärung ist auch hier wieder ausgeschlossen. Ebenso verhält es sich bei vielen Insekten mit der Eiablage. Auch sie wird oft nur einmal im Leben ausgeübt, und das Thier 1 3o Instinkte. stirbt, ehe es den Erfolg seiner Handlung auch nur gesehen hat. Dennoch vollzieht es die Eiablage in der richtigen Weise und mit vollkommenster Sicherheit. Es weiss so zu sagen genau, wohin, in welcher Anzahl und wie es die Eier abzulegen hat. Manche Eintags- fliegen lassen die ganze Eiermasse auf einmal ins Wasser fallen, in dem ihre Larven leben; manche Schmetterlinge, z. B. Macroglossa stellatarum, legen ihre Eier einzeln und zwar an bestimmte Pflanzen, der eben genannte » Taubenschwanz« an Galium Mollugo ; andere wie Melitaea Cinxia legen dieselben haufenweise an die Blätter des Wege- richs Plantago media, oder wie Aglia Tau an die Rinde eines grossen Buchenstammes. Nichts an diesen verschiedenen Methoden der Ei- ablage ist zufällig oder willkürlich, Alles durch den Instinkt bestimmt und geregelt, und zwar — soweit wir es einsehen können — so zweckmässig als möglich. Wenn z. B. Macroglossa stellatarum ihre Eier einzeln oder nur zu zweien und dreien an die grünen Blätt- chen der Nährpflanze legt, so beugt sie dadurch späterem Nahrungs- mangel der ziemlich grossen Raupen vor, deren nicht viele zusammen auf einem Labkrautbusch leben könnten, während Aglia Tau ruhig mehrere Hundert Eier auf demselben Buchenstamm absetzen kann, ohne fürchten zu müssen, dass ihre Räupchen nicht alle ihre reich- liche Nahrung finden würden. Die Präcision, mit welcher der Trieb der Eiablage arbeitet, ist aber noch viel grösser bei anderen Arten, bei welchen es sich noch um speziellere Bestimmungen dabei handelt, wo die Eier etwa nur auf die Unterseite der Blätter gelegt werden, wie bei Vanessa Prorsa, oder wo dieselben ausserdem noch zu kleinen Säulchen aufeinander geklebt werden, so dass sie den grünen Blüthen- knospen der Nährpflanze (Brennnessel) täuschend gleichen. Es ist gewiss erstaunlich, wie genau hier der Reiz zur Auslösung des Triebs spezialisirt ist. Im Allgemeinen dient wohl als solcher bei den Schmetterlingen der Geruch der Nährpflanze der Raupe, dieser zieht das zum Eierlegen bereite Weibchen an, aber völlig wird der Reiz dazu doch erst durch den gleichzeitig einwirkenden Gesichtseindruck der Unterseite eines Blattes ausgelöst. Man muss erstaunen, dass so fein abgestufte Nerven-Mechanismen im kleinen Gehirn eines Schmetterlings Platz hatten, und doch würde es leicht sein, noch viel verwickeitere Instinkte der Eiablage von Insekten vor- zuführen. Hydrophilus piceus, der grosse Wasserkäfer, legt seine Eier in ein von ihm verfertigtes schwimmendes Floss, die Gallwespen müssen erst mit ihrem Legestachel in einen bestimmten Theil einer bestimmten Pflanze stechen, um ihre Eier an den richtigen Platz zu Instinkte. I 8 I bringen und dies keineswegs aufs Geradewohl, sondern mit grossem Bedacht und in ganz bestimmter Weise. Aber es kann mir hier nicht darauf ankommen, viele oder recht verwickelte Fälle von Ei- ablagen aufzuführen, ich habe Ihnen nur zeigen wollen, dass es gerade auch in den einfachen Fällen, wie bei den genannten Schmetterlingen immer eine genau regulirte Combination von Handlungen ist, welche mechanisch abrollt, und welche nicht als vererbte Ge- wohnheit erklärt werden kann, weil sie bei keinem Individuum irgend einer Generation Gewohnheit war. Damit ist denn wohl ausser Zweifel gesetzt, dass mindestens sehr zahlreiche Instinkte auf Selektion beruhen müssen, und es wäre nach dieser Richtung nutzlos, die Betrachtung noch auf andere Gruppen von Instinkten auszudehnen. Später aber werde ich noch einmal auf die Instinkte zurückkommen, nachdem wir die Grundzüge der Vererbungsgesetze kennen gelernt haben, und dann werden Sie sehen, dass auch bei höheren Thieren die Instinkte niemals aus dem LAMARCK- schen Prinzip erklärt werden können. Weismann , Descendenztheorie. 12 l52 Lebensgemeinschaften. IX. Vortrag. Lebensgemeinschaften oder Symbiosen. Einsiedlerkrebse und Seerosen p. 182, Einsiedlerkrebse und Hydroidpolypen p. 184, Fischchen und Seerose p. 188, Grüner Süsswasserpolyp p. 191, Grüne Amöbe p. 192, Seerosen und gelbe Algen p. 193, Armleuchterbaum und Ameisen p. 193, Flechten p. 195, Wurzelpilze p. 198, Entstehung der Symbiosen p. 199, Nostoc und Azolla wider- spricht scheinbar der Entstehung durch Naturzüchtung p. 200. Meine Herren! Wir haben schon an vielen Beispielen kennen gelernt, in wie ausgedehntem Masse Thiere und Pflanzen im Stande sind, sich neuen Lebensbedingungen anzupassen, wie Thiere in Farbe und Gestalt ihre Umgebung nachahmen, wie die Instinkte nach allen Richtungen abgeändert sind, wie Pflanzen die zufällige, aber häufige Berührung mit kleinen Thieren benutzt haben, um sie als Nahrung für sich zu verwerthen und Einrichtungen an sich zur Ausbildung zu bringen, die geeignet sind, viele dieser kleinen Thiere in ihre Gewalt zu bringen und sie in möglichst ausgiebiger Weise als Nahrung zu verwerthen. Zahlreiche solche Fälle konnten ihre Erklärung nur in Naturzüchtung finden, bei anderen war es mindestens sehr wahrschein- lich, dass sie bei ihrem Zustandekommen mit im Spiel war. Ganz besonders scharf nun lässt sich der Beweis für die Wirk- lichkeit der Naturzüchtung da führen, wo eine Lebensform sich mit einer anderen, von ihr sehr verschiedenen so innig vergesellschaftet hat, dass Beide aufeinander angewiesen sind, nicht ohne einander leben können — wenigstens in den extremsten Fällen — und dass zuweilen sogar neue Organe, ja ganz neue Doppelwesen aus diesem gemeinsamen Leben hervorgegangen sind. Es ist die sogenannte »Symbiose« von der ich sprechen möchte, wie sie zuerst von un- seren scharfsichtigen Botanikern Anton DE Bary und SCHWENDENER entdeckt worden ist. Symbiosen gibt es aber nicht blos zwischen Pflanzen, sondern auch zwischen Pflanzen und Thieren, und zwischen zwei Thierarten, und man versteht darunter ein Zusammenleben, wel- ches auf gegenseitigen Leistungen beruht, so dass jede der beiden Arten der anderen einen Vortheil gewährt, ihr die Existenz erleichtert. Symbiose. I 8 ^ Dadurch unterscheidet sich die Symbiose vom Parasitismus, bei welchem die eine Art von der anderen einfach ausgebeutet wird, ohne ihr irgend eine Gegenleistung zu bieten, sowie von dem harmloseren Commensalismus van Beneden's, der Tischgesellschaft, bei welcher die eine Art auf die reich besetzte Tafel der anderen ihre Exi- stenz gründet. Besonders interessant wird uns die Symbiose noch dadurch, dass neben extremen Fällen mit starken Anpassungen auch solche vorkommen von grosser Einfachheit, bei denen kaum Etwas bei beiden vergesellschafteten Arten verändert erscheint. Ich beginne mit Beispielen aus dem Thierreich. Das Zusammenleben gewisser Seerosen (Actinien) mit Einsied- lerkrebsen (Paguren) ist schon lange aufgefallen, ehe man ihm be- sondere Aufmerksamkeit zuwandte. Manche Arten von Einsiedler- krebsen tragen häufig eine grosse Seerose auf der Schneckenschale mit sich herum, welche sie als schützendes Haus benutzen, oft sitzen aber auch zwei oder drei dieser schönen vielarmigen Polypen auf ihnen, und das beruht nicht etwa auf einem Zufall, sondern auf dem beider- seitigen Instinkt der Thiere; sie haben das Gefühl der Zusammenge- hörigkeit. Nimmt man dem Einsiedlerkrebs seine Seerose und setzt sie in einen fernen Theil des Aquariums, so sucht er nach ihr solange, bis er sie findet, packt sie dann mit seiner grossen Scheere und setzt sie wieder auf sein Haus. Ja der Trieb, sich mit Aktinien zu be- setzen, ist so stark in ihm, dass er so viele seiner Freundinnen sich auflädt, als er nur bekommen kann, manchmal ihrer mehr, als darauf Platz haben. Andererseits lässt die Seerose es sich ruhig gefallen, wenn der Krebs sie packt, was Jedem erstaunlich vorkommen wird, der weiss, wie empfindlich diese Thiere sonst gegen Berührung sind, wie sie sich sofort zusammenziehen und sich bei dem Versuch, sie vom Boden loszulösen, oft eher in Stücke reissen lassen, als dass sie nachgäben. Die beiderseitigen Instinkte sind also anein- ander angepasst; im Übrigen aber hat es zunächst den Anschein, als ob körperliche Veränderungen zu Gunsten des Zusammenlebens an den Thieren nicht eingetreten seien. Am Einsiedlerkrebs ist das auch wirklich der Fall, nicht so aber bei der Aktinie, doch bemerkt man dies erst, wenn man die Thiere in ihrem Zusammenleben beobachtet. Wir verdanken das Verständniss dieser Abänderung, wie über- haupt dieses ganzen Falles von Symbiose den schönen Beobachtungen ElSIG's. Geleitet von der Voraussetzung, dass es sich hier nur um Wirkungen von Naturzüchtung handeln könne, sagte er sich, dass dieses Zusammenleben nicht nur für den einen, sondern für beide Theile 12* 184 Lebensgemeinschaften. einen Vortheil bieten müsste, sonst könnte es durch Auslese nicht entstanden sein. Worin nun der Vortheil für die Seerose besteht, lieo-t auf der Hand, da dieses langsam bewegliche, fast immer fest auf einem Platz sitzende Thier offenbaren Nutzen davon hat, vom Krebs auf dem Meeresboden umhergetragen zu werden und an dem Futter des Krebses Antheil zu haben, der Gegendienst aber, den die Aktinie dem Einsiedlerkrebs leisten könnte, leuchtet nicht sofort ein. ElSIG machte aber in einem der Aquarien der Zoologischen Station von Neapel eine Beobachtung, die auch dieses Räthsel löste. Er sah nämlich, wie ein Einsiedlerkrebs von einem Pulpen (Octopus) ange- griffen wurde, indem derselbe versuchte, mit der Spitze eines seiner acht Arme den Krebs aus seiner Schale herauszuholen. Aber ehe er noch damit zu Stande kommen konnte, quollen aus dem Körper der Seerose eine Menge dünner wurmförmiger Fäden über den Arm des Räubers hervor, und sofort Hess dieser von dem Krebs ab und kümmerte sich von da an nicht weiter um ihn. Die Fäden, Akontien genannt, sind stark mit Nesselkapseln besetzt, und verursachen auf der weichen Haut des Pulpen jedenfalls ein heftiges Brennen. Die Aktinie hat also den Trieb, ihren Partner gegen Angriffe zu ver- theidigen, und sie thut es mit solchem Erfolg, dass man wohl ver- steht, wie der Instinkt, sich mit Aktinien zu versehen, beim Krebs entstehen konnte. Die Akontien aber scheinen erst durch das Zu- sammenleben mit den Krebsen zu solcher Wirksamkeit gesteigert worden zu sein, da sie nicht bei allen Aktinien vorkommen, und stark entwickelt nur bei solchen Arten, die mit Krebsen in Symbiose leben. Während hier die körperliche Abänderung, nämlich die Umbildung der bei allen Aktinien vorkommenden Mesenterialfäden zu ausschleuder- baren Akontien, eine verhältnissmässig geringe ist, haben bei einer anderen Vergesellschaftung von Einsiedlerkrebsen und Polypen die Letzteren eine stärkere Anpassung erfahren. In Neapel ist Eupagurus Prideauxii einer der häufigsten Einsiedlerkrebse, der in einer Tiefe von etwa Hundert Fuss lebt, und oft massenweise von den Fischern auf die Zoologische Station gebracht wird. Seine Schneckenschalen sind nicht immer, aber häufig von einem kleinen Polypen, der Podo- coryne carnea bewohnt (Fig. 34), der eine Kolonie von oft meh- reren Hundert Individuen bildet, die von einem gemeinsamen, die Schale überziehenden Wurzelgeflecht entspringen. Der Polypenstock ist nach dem Prinzip der Arbeitstheilung aus verschiedenartigen Per- sonen zusammengesetzt, aus Fresspolypen (_//>), die einen Rüssel, Mund und Fangarme auf ihrem keulenförmigen Körper besitzen, aus Symbiose. 185 viel kleineren sog. Blastostylen (<£/), d. h. Polypen mit verkümmer- tem Mund und Tentakeln, die sich ganz auf die Hervorbringung von Knospen verlegen, welche sich zu den Geschlechtsthieren, kleinen frei schwimmenden Quallen entwickeln, dann aus Schutzpersonen in Gestalt von harten Stacheln [stp], hinter die sich die übrigen wei- chen Thiere zurückziehen, wenn das wogende Meer die Schnecken- schale auf dem Boden des Meeres umherrollen macht. Ausser diesen verschiedenen Arten von Personen, kommen nun noch Wehr- polypen [wp) vor, d. h. Polypen von langer, fadenförmiger Gestalt, Fig» 34« Einsiedlerkrebs [E) in einer Schneckenschale steckend, auf welcher eine Kolonie von Podocoryne carnea sich angesiedelt hat. Auf gemeinsamem Wurzel- geflecht (hier nicht deutlich ausgeführt) sitzen zahlreiche Nährpolypen mit Tentakeln (np), dazwischen kleinere »Blastostyl«-Polypen mit einem Kranz von Medusen-Knospen [mk], Stachel-Personen [stp] und am Rand der Schneckenschale eine Reihe von Wehr- polypen [wp). F Fühler, Au Augen des Krebses; schwach vergrössert. welche stark mit Nesselkapseln ausgerüstet sind, aber weder Mund, noch Tentakeln besitzen. Man wird nun zunächst meinen, diese seien zur Vertheidigung der Kolonie da, aber dem ist nicht so, viel- mehr vertheidigen sie direkt nur den Einsiedlerkrebs. Darauf deutet schon der Platz, den sie in der Kolonie einnehmen; sie stehen nämlich nicht gleichmässig über die ganze Oberfläche der Kolonie vertheilt, sondern finden sich nur am Rand derselben, und zwar nur an demjenigen Rand, der die Mündung des Schneckenhauses begrenzt. Hier stehen diese Wehrpolypen in geschlossener Reihe, manchmal spiralig zusammengezogen, manchmal, wie ein Fransensaum schlaff auf den Einsiedlerkrebs herabhängend. Sie sind bestimmt wie die 1 86 Lebensgemeinschaften. Akontien der Actinien, denselben zu vertheidigen, wenn ein Feind ihn in das Innere seines schützenden Hauses verfolgen will. Man kann sich leicht davon überzeugen, wenn man den Einsiedlerkrebs aus der Schneckenschale herauszieht und dann, nachdem die Polypen- kolonie wieder zur Ruhe gekommen ist, die Schale mit einer Pinzette fasst und langsam durch das Wasser führt. Der Wasserstrom, der dadurch an die Schale anprallt, ahmt einen Feind nach, der sich gegen die Schale bewegt, und sofort schlagen alle Wehrpo- lypen, wie auf ein gegebenes Signal gleichzeitig von oben nach unten und wiederholen dies drei bis vier Mal; sie scheuchen den vermeintlichen Feind zurück. Es hat sich also in dieser Polypen-Art eine besondere Art von Personen gebildet, mit ganz bestimmter Stellung im Stock, mit ganz besonderem Instinkt oder Reflex-Mechanismus ausgerüstet, welche direkt nur dem Einsiedlerkrebs nützen und also gewisser- massen zu Gunsten desselben entstanden sind. Durch Naturzüch- tung lässt sich dies ganz wohl verstehen, denn indirekt sind die Wehrpolypen auch der Polypenkolonie nützlich, insofern sie den werthvollen Lebensgenossen schützen und der Kolonie es möglich machen, demselben das Zusammenleben mit ihr ebenfalls werthvoll zu machen. Es bestätigt somit diese Einrichtung die Forderung, welche man vom Standpunkt des Selektionsprinzips aus an alles Neue stellen muss, dass es seinem Träger nützlich sei. Wenn aber gefragt wird, welches denn die Leistung des Einsiedler- krebses gegenüber dem Polypenstöckchen sei, so liegt diese hier, wie bei der Symbiose mit Aktinien darin, dass der Krebs die Kolonie zu ihrer Nahrung, die eben auch die seinige ist, hinträgt. Einsiedler- krebse fressen alle möglichen todten und lebenden Thiere, die sie auf dem Meeresboden finden, und die Abfälle ihrer Mahlzeit kommen den Polypen zu gute. Ich legte einmal ohne besondere Absicht einen Einsiedlerkrebs mit seiner Polypenkolonie in einer flachen Schale mit Seewasser neben einen lebenden, spangrünen Schwamm. Nach einiger Zeit waren die meisten Polypen der Kolonie spangrün geworden; sie hatten sich mit den grünen Schwammzellen vollgestopft. Ich wüsste nicht, wie wir uns bei so niederen Thieren die Ent- stehung symbiotischer Instinkte anders denken wollten, als dadurch, dass Variationen der vorhandenen Individuen dadurch vererbt und gesteigert wurden, dass sie ihre Träger erhaltungsfähiger machten. Schneckenschalen werden, seitdem es solche gibt, immer auch ge- legentlich Polypenstöckchen zur Unterlage und zum Befestigungspunkt Symbiose. I§7 gedient haben. Auch heute findet man auf denselben noch mancher- lei Arten von Polypenstöckchen, die keine besondere Anpassung an das Zusammenleben mit Einsiedlerkrebsen aufweisen. Aus dieser indifferenten Vergesellschaftung wird sich in einzelnen Fällen eine symbiotische nach und nach entwickelt haben durch Erhaltung und Steigerung jeder nützlichen Abänderung, sowohl der Instinkte und Reflexaktionen, als der Gestalt und des Baues. Ich will nicht ver- suchen, den Gang dieser Entwicklung im Einzelnen zu errathen, aber es liegt auf der Hand, dass die Bildung der Wehrpolypen und ihres Instinktes, den Krebs zu vertheidigen, weder durch irgend eine direkte Einwirkung, noch durch Wirkung von Übung erklärt werden kann, vielmehr nur durch die Nützlichkeit dieser Einrichtungen, deren An- fänge — Polypen mit Nesselorganen — ■ vorhanden waren, deren Steigerung und Vervollkommnung lediglich auf Naturzüchtung be- ruhen kann. Ganz ebenso ist es mit den Anpassungen, die sich nicht direkt auf den Krebs, wohl aber auf die Situation auf der Schneckenschale beziehen. Die Stachel-Personen, die die weichen Thiere vor dem Zerquetschtwerden schützen, wenn die Wogen sie auf dem Kies umherrollen, können unmöglich als direkte Folge der Quetschungen bei diesem Rollen betrachtet werden. Dass aber solche Kolonien, die unter ihren Personen auch solche mit stärkerem äusseren Skelett besassen, weniger leicht völlig zerquetscht wurden, als andere, leuchtet ein, und muss zu häufigerem Überleben derselben geführt haben. Bei dem Einsiedlerkrebs scheint in diesem Falle keinerlei Anpas- sung stattgefunden zu haben, doch ist das wohl nur Schein, und er würde wohl die Polypenkolonie nicht auf seiner Schale dulden, wenn nicht sein Instinkt ihn dazu zwänge, ähnlich wie ihn der Instinkt zwingt, sich mit Aktinien zu besetzen und furchtlos, das gefährliche Thier zu packen, das dann freilich, ihm gegenüber, auch nur seine sanfte Seite hervorkehrt. Wundersam genug sind sicherlich solche Instinkt-Wandlungen, aber ihr Zustandekommen durch Intelligenz ist hier ganz undenkbar, es bleibt also Nichts als Naturzüchtung. Einen Fall, in dem gar keine sichtbaren Anpassungen des Körpers eingetreten sind, und die Symbiose lediglich auf leichten Instinkt-Ab- änderungen beruht , bildet das bekannte Verhältniss der Ameisen und Blattläuse. Diese beiden Insekten-Gruppen leben auch in einer Art von Symbiose, wenn sie auch nicht unzertrennlich mitein- ander verbunden sind. Aber wo starke Blattlauskolonien die jungen Triebe einer Pflanze, z. B. einer Brennnessel, einer Rose oder eines Hollunders bedecken, da findet man fast immer auch Ameisen, die l88 Lebensgemeinschaften. oft in grösserer Zahl vorsichtig zwischen ihnen umherlaufen, hier und da bei einer anhalten, sie mit den Fühlern streicheln und den süssen Saft auflecken, den die Blattläuse in ihrem Darm enthalten und den sie nun von sich geben. DARWIN schon hat durch Versuche er- wiesen, dass die Blattläuse diesen Saft zurückhalten, wenn keine Ameisen zur Stelle sind, und ihn erst dann austreten lassen, wenn man ihnen Ameisen beigesellt. Darin liegt der Beweis, dass es sich hier doch auch um Änderung von Instinkten handelt. Zwar ist dieser Saft nicht, wie man zu Darwin's Zeit noch glaubte, das Sekret besonderer Drüsen und tritt nicht aus den sog. »Honigröhren« hervor, welche auf dem Rücken des Hinterleibs der Aphis-Arten sitzen, sondern es sind die Exkremente der Blattläuse, die flüssig, wie ihre Nahrung sind, und deren Entleerung sich an die Gegenwart der be- freundeten Ameisen instinktiv geknüpft hat. Dass die Blattläuse überhaupt die Ameisen nicht fürchten, ist schon eine Umwandlung ihrer Instinkte, denn diese bissigen und giftigen Thiere sind sonst sehr gefürchtet in der Insektenwelt. Auch sind die Blattläuse, so harmlos sie auch scheinen, doch nicht ganz ohne Ver- theidigungsmittel, aber sie wenden dieselben nie gegen die Ameisen an. Andere Thiere, die sich ihnen nähern, bespritzen sie mit dem schmierigen, öligen Sekret, welches in jenen sog. »Honigröhren« be- reitet wird, und mit dem sie besonders die Augen eines Angreifers derart verkleistern, dass dieser den Angriff einstellt. Gewiss haben die Blattläuse keine Ahnung davon, worin der Nutzen ihrer Freundschaft für die Ameisen besteht, aber ein solcher ist unschwer zu finden, da die Ameisen durch ihre blosse Anwesen- heit in der Blattlaus-Kolonie deren Feinde verscheuchen und von ihnen fern halten. Man sieht: die Bedingungen zu einem Prozess der Naturzüchtung sind gegeben: der Instinkt, den Ameisen freundlich zu sein, ist durchaus nützlich, und auch der Instinkt der Ameisen ist vortheilhaft, die Blattläuse aufzusuchen und nicht zu fressen, sondern sie zu »melken« ; er muss wohl eine alte Errungenschaft, ein früh erworbener Instinkt sein, da er bei manchen Arten so weit gesteigert ist, dass die Blattläuse in das Ameisennest getragen und dort gewisser- massen als Hausthiere gehalten und gepflegt werden. Einen hübschen Fall von Symbiose zweier Thiere hat SLUITER mitgetheilt, den ich erwähne, weil er ein Wirbelthier betrifft, bei dem schon der Intellekt mitspielt. In der Nähe von Batavia finden sich auf Korallenriffen häufig grosse gelbe Seerosen mit sehr zahlreichen und ziemlich langen Tentakeln, und ein kleiner bunter Fisch der Symbiose. I 8q Gattung- Trachichthys benutzt diesen von brennenden Nesselkapseln starrenden Wald von Tentakeln, um Schutz vor seinen Feinden zu finden. Letztere scheinen zahlreich zu sein, wenigstens fällt das Fisch- chen in Aquarien sehr bald einem derselben zum Opfer, falls man ihm die schützende Meernessel nicht beigibt. Nun schwimmt der Fisch munter zwischen den Tentakeln umher, ohne dass die Aktinie ihn brennt; von ihrer Seite also ist ebensowohl eine Instinktsabän- derung eingetreten, wie von der seinen. Der Vortheil, den sie von dem Fisch zieht, liegt darin, dass dieser ihr grössere Bissen, im Aqua- rium Fleischstückchen, die sie selbst vom Boden nicht emporziehen könnte, in den Mund steckt. Dabei zupft er selbst Fasern davon ab, ja wenn die Aktinie allzu rasch das Stück verschlingt, zieht er es wieder aus ihrem Schlund halb heraus und gestattet ihr erst dann es zu verzehren, nachdem er selbst gesättigt ist. Auch in diesem Falle ist die Instinkts-Anderung die einzige Anpassung, welche die Symbiose hervorgerufen hat, und diese scheint in ihrer Entstehung- schwer begreiflich. Wie soll der Fisch darauf gekommen sein, seine Beute, anstatt sie direkt zu fressen, der Aktinie in den Mund zu stecken? Obwohl wir nun in vielen Fällen gerade die Anfänge eines Züchtungsprozesses schwer errathen können, weil sie in den späteren gehäuften Abänderungen kaum noch zu erkennen sind, so darf man doch in diesem Falle die Sache sich vielleicht so vorstellen, dass der Fisch den Brocken, den er nicht ganz verschlucken konnte, auf den Boden fallen liess und nun wiederholt darauf niederstiess, um jedesmal ein Stückchen abzuzupfen. Da der Boden flacher Meeres- stellen oft ganz besetzt mit Aktinien ist, so kann leicht und öfters der Nahrungsbrocken auf eine Aktinie niedergesunken sein, die ihn dann als gute Beute annahm und nach ihrer Weise langsam in den Mund hinein würgte. Dabei muss dann der Fisch die Erfahrung- gemacht haben, dass er von dem von der Aktinie festgehaltenen Bissen weit leichter Stückchen abzupfen konnte, als wenn derselbe frei am Boden lag, und das mag ihn veranlasst haben, später ab- sichtlich zu thun, was zuerst Zufall gewesen war. Die Aktinie aber, die von dem Fisch nichts Schlimmes erfuhr, deren Ideen-Association, wenn der Ausdruck gestattet ist. vielmehr Fischchen und unverhoffte Beute sein musste, hatte keinen Grund, ihre mikroskopischen Pfeile gegen ihn abzuschiessen und that dies auch dann nicht, wenn derselbe sich in ihrem Tentakel wald verbarg. Diese letztere Gewohnheit des Fischchens wurde dann durch Naturzüchtung zum Instinkt, indem die Individuen, welche sie am häufigsten zur Anwendung brachten, die best- 190 Lebensgemeinschaften. geschützten, also die durchschnittlich Überlebenden waren. Ob auch bei der Aktinie das wohlwollende Benehmen gegen den Fisch als Ausfluss eines Instinktes zu betrachten sei, darüber Hesse sich streiten, denn es ist wohl denkbar, dass jede einzelne Aktinie durch das Zu- tragen des Fisches zur Sanftmuth gegen ihn gestimmt werden muss, dass also die Ausbildung eines besonderen erblichen Instinktes hier gar nicht nöthig war, weil ohnehin jede Aktinie zweckmässig reagirte. ect st ent ent zckl Fig. 35. Hydra viridis, der grüne Süsswasserpolyp. A das ganze Thier, schwach vergrössert. M Mund, t Tentakel, sp Spermarium, ov Eianlage, beide im Ektoderm gelegen, Ei ein reifes, bereits grünes Ei im Austreten begriffen. Nach Leuckart und Nitsche. — B Schnitt durch die Leibeswand, etwa an der Stelle ov vonyi. Eiz, die im Ektoderm [ect) liegende Eizelle, in welche Zoochlorellen [zchl] des Entoderms [ent] durch die Stützlamelle [st) hindurch eingewandert sind. Nach Hamann. Ahnlich mag es auch bei dem Fischchen in Betreff des Niederlegens seiner Beutestücke auf den Mund der Aktinie sich verhalten, auch hier liegt vielleicht kein erblicher Instinkt, sondern nur eine Intellekt- Handlung vor, die in jedem Leben wieder neu gelernt wird. Man könnte allerdings dieser Erklärung einwerfen, dass der Anfang derselben, die Annahme eines zufälligen Herabfallens der Beute des Fischchens gerade auf die Aktinie unwahrscheinlich sei, allein ich habe selbst einmal die vom Meere überspülten flachen Felsen des Mittel- Symbiose. 191 meeres (nicht weit von Ajaccio) so dicht mit grünen Aktinien besetzt gefunden, dass ich sie zuerst für ein mir fremdes Seegras hielt und mich von meinem Irrthum erst überzeugte, nachdem ich ein Büschel der vermeintlichen Pflanzen abgerissen und als die weichen Tentakel von Actinia cereus erkannt hatte. So wird es in dem tropischen Meere Javas auch sein, und ein niedersinkender Bissen wird also häufig auf die Mundscheibe einer Aktinie fallen müssen. Aufsehen und lebhafte Erörterung haben in den letzten Jahrzehnten auch Falle von Symbiose zwischen einzelligen Algen und niederen Thieren veranlasst. Ein Beispiel davon bildet unser grüner Süss- wasser-Polyp, die Hydra viridis (Fig. 35 A). Die schöne Farbe desselben rührt von Chlorophyll her, und man hat sich lange darüber gewundert, dass auch Thiere Chlorophyll, diesen charakte- ristischen und fundamentalen Stoff aller assimilirenden Pflanzen hervorbringen können, bis Geza Entz und M. BRAUN nachwiesen, dass das Grün gar nicht dem Thier angehört, sondern dass es einzellige grüne Algen sind, sog. Zoochlorellen, welche in den Entoderm- zellen des Polypen in grosser Menge ein- gelagert sind (Fig. 35, B, zc/il). Da diese Zellen assimiliren, also Sauerstoff aus- scheiden, so werden sie dadurch dem Polypen von Vortheil sein. Dass sie Fig. 36. A Amoeba viridis, k Kern, cv contractile Vacuole, zcJd die Zoochlorellen. B eine Zoochlorelle bei stärkerer Vergrösserung; nach A. Gruber. wie man zuerst glaubte — auch Nährstoffe an den Polypen abgeben, möchte ich trotz der scheinbar widersprechenden Versuche eines so guten Beobachters wie VON Graff für sehr wahrscheinlich halten, da ich selbst einmal eine grosse Menge solcher Thiere in reinem Wasser, welches keinerlei Nahrung enthielt, Monatelang gedeihen und sich lebhaft durch Knospung vermehren sah. Auch sprechen dafür gleich anzuführende Beobachtungen an einzelligen Thieren, bei denen eine Ernährung durch die in ihnen lebenden Zoochlorellen unzweifelhaft ist. Die kleine Alge findet ihrerseits in dem Inneren des Polypen einen ruhigfen und relativ sicheren Aufenthalt, und scheint denn auch ausser- halb desselben nicht vorzukommen; jedenfalls wandert sie heute nicht 192 Lebensgemeinschaften. mehr von aussen in das Thier ein, sondern sie überträgt sich wie ein erblicher Besitz des Polypen von einer Generation auf die andere, und zwar auf eine sehr interessante Weise, nämlich nur durch die Eier. Wie HAMANN gezeigt hat, wandern die Zoochlorellen zur Zeit wenn ein Ei sich in der äusseren Leibesschicht des Polypen bildet (Fig. 35, B, Eiz) aus der inneren Körperschicht aus, durchbohren die dazwischen liegende Stützlamelle (st), und dringen ins Ei ein [zckl). Nur das Ei wird von ihnen inficirt, nicht die Samenzellen, die auch dafür viel zu klein wären. So fehlen sie in keinem jungen Polypen dieser Art, und man begreift, warum frühere Versuche, farblose Polypen aus Eiern zu ziehen auch im reinsten Wasser nicht gelingen konnten. Ganz ähnliche grüne Algen leben in Symbiose mit einzelligen Thieren, z. B. mit einer Amöbe (Fig. 36) und einem Infusorium der Gattung Bursaria. Auf dem hiesigen zoologischen Institute befindet sich die lebende Kolonie einer grünen Amöbe und einer grünen Bursaria, die beide aus Amerika stammen, woher sie uns von Herrn Professor WILDER in Chicago in einem Briefe mit getrocknetem Sphag- num (Torfmoos) seiner Zeit geschickt worden waren. Die Pflanzen stammten aus einem stehenden Gewässer im Connecticut-Thal in Massachusets. Dass nun in diesem Falle die Zoochlorellen nicht blos durch ihre Sauerstoff- Abscheidung den Thieren, in denen sie leben, nützlich sind, sondern dass sie ihnen auch Nährstoffe abgeben, hat A. GRUBER dadurch bewiesen, dass er die beiden grünen Arten sieben Jahre lang in reinem Wasser weiterzüchtete, in welchem keine Spur irgend welcher Nahrung für sie enthalten war. Trotzdem vermehrten sie sich lebhaft und bilden heute noch an den Wänden des kleinen Glases, in dem sie gehalten werden, einen grünlichen Anflug. Zu Grunde gehen sie nur, wenn sie ins Dunkle gebracht werden, wo dann die Algen nicht mehr assimiliren können, eine nach der anderen abblassen und verschwinden, und wo dann in Folge dessen auch die Wirthe absterben müssen aus dem doppelten Grunde des Mangels an Sauerstoff und an Nahrung. Auch in diesen Fällen sind die in Symbiose vereinigten Organismen nicht unverändert geblieben; die Algen wenigstens unterscheiden sich wesentlich von anderen ihres Gleichen durch ihre Widerstandskraft gegenüber dem lebenden thierischen Protoplasma. Sie werden nicht verdaut von demselben, woraus zu schliessen ist, dass sie irgend eine Schutzeinrichtung gegen die auflösende Kraft der thieri- schen Verdauungssäfte besitzen müssen, dass sie sich also verändert und der neuen Situation angepasst haben. Wahrscheinlich ist ihre Symbiose. IC) 3 Zellmembran undurchgängig geworden für diejenigen Stoffe, welche sie auflösen würden, eine Anpassung, welche weder auf direkte Wir- kung, noch auf Übung bezogen werden kann, sondern nur auf Häufung sich darbietender nützlicher Variationen, d. h. auf Naturzüchtung. Dass auch auf Seiten des Wirthes, also des Polypen, der Amöbe und des Infusoriums eine anpassende Veränderung eingetreten ist, lässt sich nicht erkennen. Alle diese Thiere haben ihre ursprüngliche Lebensweise nicht geändert, sie verlassen sich nicht auf die Ernährung durch die Algen, sondern nähren sich von anderen Thieren, falls ihnen solche geboten werden, auch leben sie in sauerstoffreichem frischen Wasser, wie andere, ihnen verwandte Arten, bedürfen also auch nach dieser Richtung der Algen nicht durchaus; sie können sich aber frei- lich ihrer auch so wenig erwehren, als ein Schwein der Trichinen in seinen Muskeln. Ahnliche, wenn auch nicht grün, sondern gelb gefärbte Pflanzen- Zellen, Zooxanthellen genannt, leben in Masse im Entoderm ver- schiedener Seerosen und in dem Weichkörper mancher Radio- larien. In beiden Fällen sucht man den Nutzen, den sie ihrem WTirth bringen, in der Sauerstoff-Ausscheidung, die auch von ihnen ausgeht, da sie gerade so wie die Zoochlorella des grünen Armpolypen Kohlen- säure im Licht zerlegen und Sauerstoff ausscheiden; auch sie kommen heute, soviel man weiss, nicht frei lebend vor, sondern sind an ihre W'irthe gebunden, haben also auch ihre Constitution verändert und sich den Bedingungen der Symbiose angepasst. Auch höhere Pflanzen stehen zuweilen mit Thieren in einem symbiotischen Verhältniss; das merkwürdigste und bestgekannte Bei- spiel davon ist das Verhältniss zwischen Ameisen und ge- wissen Bäumen, wo die Ameisen die Pflanzen schützen, und diese ihnen dafür Wohnung und Nahrung gewährt. Wir verdanken THOMAS Belt und Fritz Müller die Kenntniss dieser Fälle, welche Schimper später noch wesentlich vervollständigt hat. In den Wäldern Südamerikas wachsen die »Imbauba-« oder »Arm- leuchter«-Bäume, Arten der Gattung Cecropia, die in der That ihren Namen verdienen, da ihre kahlen Aste nach Art von Armleuchtern emporstreben und nur an den Enden Blätterbüschel tragen. Diese Blätter nun sind bedroht von den Blattschneider- Ameisen der Gattung Oecodoma, welche über zahlreiche Pflanzenarten jener Gegen- den oft zu zehntausenden herzufallen pflegen und ihnen die Blätter abbeissen, um diese dann am Boden in Stücke zu schneiden und stückweise auf ihrem Rücken in ihren Bau zu schleppen. Dort 194 Lebensgemeinschaften. B benutzen sie dieselben zur Herstellung einer Art von Composthaufen, auf welchen dann ihnen angenehme Pilze wachsen. Der Armleuchter- baum schützt sich nun dadurch vor diesen gefährlichen Feinden, dass er sich mit einer anderen Ameise, Azteca instabilis, verbündet hat, welche in seinem hohlen, gekammerten Stamm (Fig. 37, A) sichere Wohnung findet, und in einem braunen, im Inneren ausschwitzenden Saft Nahrung. An seinem Stamm sind sogar regelmässig an be- stimmten Stellen (E) kleine Grübchen angebracht, durch welche sich die Weibchen der Azteka leicht ins Innere einbohren können. Dort legen sie ihre Eier ab, und bald wimmelt der ganze Stamm innen von Ameisen, die hervorstürzen, so- bald der Baum geschüttelt wird. Dies allein würde nun zum Schutz gegen die Blattschneider-Ameisen wohl noch nicht ausreichen, denn wie sollten die im Innern des Baums lebenden Azteken es gleich merken, dass die leise den Baum erklimmen- den Blattschneider-Ameisen da sind? Aber es ist dafür gesorgt, dass die Azteken auch aussen am Baum sich aufhalten, indem gerade da, wo der gefährlichste Angriff droht, nämlich an den Stielen junger Blätter ein eigenthümliches, sammtartiges Haarpolster an- gebracht ist (P), aus welchem ge- stielte kleine weisse Kölbchen her- vorragen (Fig. 35, B\ die nahrungs- reich sind und von den Ameisen nicht nur gefressen, sondern auch eingeerndtet werden; sie schleppen sie in ihre Wohnungen, vermuth- lich zur Fütterung ihrer Larven. Hier ist also von der Pflanze ein besonderes Organ speziell zur Anlockung der Ameisen an die bedrohte Stelle gezüchtet worden, während an dem Thier wahr- scheinlich nur der Xahrungs- und Wohnungsinstinkt geändert zu werden brauchte, da Muth und Kampfeslust bei allen Ameisen vor- handen sind, von denen wohl so ziemlich jede Art jederzeit bereit ist, sich auf eine andere zu stürzen, die sich in ihren Bereich eindrängt. Fig. 37- A ein Stück vom Zweig eines Imbauba-Baums, Cecropia ade- nopus, die Blätter abgeschnitten, an deren Basis die Haarpolster (P) stehen. E Öffnung für die verbündete Ameise, Azteca instabilis. — B ein Stück des Haarpolsters mit den eiförmigen Nah- mngskörpern (nk) nach Schimper. Symbiose. !95 Nicht alle Armleuchterbäume leben in Symbiose mit Ameisen und besitzen also einen Schutz gegen die Angriffe der Blattscheider- Ameisen. Schimper fand in den Urwäldern Brasiliens mehrere Arten von Cecropia, die niemals Ameisen in den Kammern ihres hohlen Stammes aufweisen. Diese Arten zeigen aber auch die Nahrungs- polster am Grund der Blattstiele nicht; es fehlt ihnen diese Ein- richtung, die Ameisen anzulocken und bei sich festzuhalten; nur eine Art, die Cecropia peltata, hat diese hervorgebracht, und da dieselbe für den Baum selbst keinerlei direkten Nutzen hat, so müssen wir wohl sagen: nur für die Ameisen. Also auch hier muss Natur- Fig. 38. Stückchen einer Flechte, Ephebe Kerneri, 45omal vergrössert. a die grünen Algenzellen, P die Pilzfäden nach Kerner. Züchtung die allmälige Ausbildung dieser Nahrungspolster hervorge- rufen haben, wenn wir auch bis jetzt nicht wissen, aus welchen An- fängen dieselben hervorgegangen sind. Jedenfalls kann ihre Entstehung auf irgend welche direkte Wirkung der Lebensbedingungen nicht be- zogen werden. Ich wende mich zu dem Zusammenleben zweier Pflanzen- arten, von dem die Flechten das berühmteste und wohl auch das am weitesten gehende Beispiel darbieten. Bis vor zwei Jahrzehnten hielt man die Flechten, welche in so vielfacher Gestalt die Rinde der Bäume, die Steine und Felsen überziehen, für einheitliche Pflanzen, wie die Blüthenpflanzen, die Farne oder die Moose; viele Lichenologen befassten sich mit der genauen systematischen Unterscheidung der etwa tausend Arten derselben, von denen jede durch Gestalt, Farbe ig5 Lebensgemeinschaften. und Wohnort, wie durch ihre feinere Struktur ebenso gut und genau charakterisirbar ist, wie irgendwelche andere Pflanzen. Da entdeckten DE Bary und SCHWENDENER, dass die Flechten aus zweierlei Pflanzen bestehen, aus Pilzen und Algen, die so innig vergesellschaftet und aneinander angepasst sind, dass sie bei ihrem Zusammentreffen jedes- mal dieselbe spezifische Form annehmen. Das Gerüste und damit den grössten und den gestaltgebenden Theil einer Flechte bildet der Pilz (Fig. 38, P)\ farblose Pilzfäden verästeln sich, je nach der Art des Pilzes in bestimmter Weise, und in den Maschenräumen, welche zwischen diesem Geflecht übrig bleiben, liegen einzeln oder in Reihen oder Gruppen grüne Algenzellen [a). Der Pilz vermehrt sich durch Massen winziger Sporen, welche er periodisch hervorbringt, und die durch Platzen der Sporenbehälter in die Luft verstäuben und vom Wind fortgetragen werden; die Alge vermehrt sich einfach durch fortgesetzte Zweitheilung, kann aber, wie die ganze Flechte, Eintrocknen vertragen, um nach dem Zerfall als mikroskopischer Staub ebenfalls durch die Luft weit fortgetragen zu werden. Das Zusammenleben der beiderlei Pflanzen beruht auf Gegenseitig- keit, der Pilz ist, wie alle Pilze, chlorophyllos, kann also nicht Kohlen- säure zerlegen und seine organischen Baustoffe nicht selbst bilden, er erhält dieselben von der Alge. Diese aber hat in dem Gerüstwerk des Pilzes eine sichere Unterkunft und Befestigung, denn der Pilz ver- mag in Rinden und selbst in Steine einzudringen; ausserdem nimmt er Wasser auf und Salze, und führt sie den Algen zu. Wir sehen also hier den gegenseitigen Vortheil, welchen die Gemeinschaft gewährt, und in der That ist denn auch dieselbe eine überaus innige. Pilzsporen für sich gesäet, gehen zwar auf, entwickeln einige Ver- ästelungen des Pilzschlauches, ein sog. Mycelium, aber dasselbe bleibt ohne die Alge schwach und stirbt bald ganz ab. Die Alge allerdings kann, wenn nicht in allen, so doch in vielen Fällen auch ohne den Pilz leben, wenn man ihr die nöthigen Lebensbedingungen bietet, allein auch sie wächst anders und üppiger, wenn sie mit dem Pilz vergesellschaftet ist. Ein und dieselbe Algen-Art findet sich mit verschiedenen Arten von Pilzen verbunden, und dann erscheint jede Gemeinschaft als eine besondere Flechtenart von bestimmtem, charakteristischen Äusseren; es ist sogar STAHL gelungen, künstlich neue Flechtenarten zu machen, indem er die Sporen eines Flechten-bildenden Pilzes mit Algenzellen Symbiose. IQ7 zusammenbrachte, mit denen derselbe in freier Natur noch nicht ver- bunden gewesen war. Das Merkwürdigste aber an dieser ganzen merkwürdigen Sache scheint mir die Bildung gemeinsamer Fortpflanzungskörper zu sein, eine Anpassung, der gegenüber jeder Zweifel an der Selektions- theorie schwinden muss. Periodisch bilden sich nämlich in der Sub- stanz der Flechte kleine Körperchen, sog. Soredien, deren jedes aus einer oder einigen Algenzellen besteht, die von Pilzfäden umsponnen und zusammengehalten werden. Sie stellen, wenn sie in Masse sich bilden, einen mehligen Beschlag der mütterlichen Flechten dar, die »aufbricht« und sie, gerade wie Pilzsporen, dem Wind überlässt, der sie davonträgt. Wo nun dieselben auf günstigen Boden gelangen, da bedarf es dann nur der äusseren Entwicklungsbedingungen: Licht, Wärme und Wasser, damit die flechte wieder neu entstehe. Der grosse Vortheil, der darin für die Sicherstellung der »Art« liegt, leuchtet ein, denn bei der gewöhnlichen Verbreitung der Flechten können die Pilzsporen, wenn sie auch auf eine günstige Stelle gelangt sind, sich doch nur dann zur Flechte entwickeln, wenn ihnen der Zufall nun auch die richtige Alge zuführt. Offenbar liegt in der Bildung der Soredien ein Vortheil für die »Art«, oder besser: »für die beiden Arten«, denn Pilz sowohl als Alge gemessen den Vortheil, der die Fortdauer ihrer Gemeinschaft sicher stellt. Diese Gemeinschaft selbst aber, die Flechte, ist nicht ohne Grund so lange für eine einfache, naturhistorische Art gehalten worden, ja sie ist eine solche, wenn sie auch auf ganz anderem Wege entstanden ist, als in der Regel Arten entstehen. Wie wir Arten kennen, die blos aus einzelnen Zellen bestehen, andere, die aus vielen, in verschiedener Weise differenzirten Zellen, einer Zellen- gemeinschaft, der »Person« bestehen, schliesslich solche, die sich als eine Gemeinschaft verschiedentlich differenzirter Personen, den »Stock« darstellen, so sehen wir an den Flechten, dass auch differente Arten sich zu einem neuen, physiologischen Ganzen, einer Lebenseinheit, einem Individuum höchster Ordnung, verbinden können. Wenn ich im Beginn dieser Vor- träge sagte, die Entwicklungstheorie sei heute keine blosse Hypothese mehr, ihre Richtigkeit im Allgemeinen lasse sich für Denjenigen nicht mehr bezweifeln, der die Thatsachen kennt, welche uns heute vorliegen, so dachte ich unter Anderen gerade auch an diese That- sachen der Symbiose und vor Allem an diejenigen der Flechten. Es gibt noch mancherlei interessante Symbiosen zwischen 198 Lebensgemeinschaften. zwei Pflanzen, und es sind vor Allem die Pilze, welche verhältniss- mässig häufig eine solche eingehen. Der Grund liegt nahe; da Pilze eben immer in ihrer Ernährung auf andere Pflanzen angewiesen sind, müssen sie schmarotzen, weil sie selbst die organischen Stoffe nicht erzeugen können, die sie brauchen. Sie müssen sich also mit anderen Organismen, todten oder lebenden, verbinden, um leben zu können, und meistens beuten sie ihren Genossen nur aus, entziehen ihm seine Säfte und todten ihn. Aber in nicht wenigen Fällen können auch sie Gegendienste leisten, wie wir bei den Flechten gesehen haben, Fig. 39. A Stückchen einer Silberpappel-Wurzel mit einem Mantel von symbiotischen Pilztäden (Mycel), nach Kerner. — B Spitze einer Buchenwurzel mit dicht anschliessen- dem Mycelmantel. Vergrösserung 480. und dann ist Symbiose vorhanden. Die Pilze haben nun allgemein die Fähigkeit, geringste Spuren von Wasser im Boden aufzuspüren und aufzusaugen zugleich mit den für die Pflanze nöthigen Salzen, und darin besteht, wie es scheint, der Gegendienst, den sie auch grossen, tief in der Erde befestigten Pflanzen, wie Bäumen und Sträuchern zu leisten im Stande sind. Die Wurzeln vieler unserer Waldbäume, wie Buche, Eiche, Tanne, Silberpappel, dann Büsche wie Ginster, Haidekraut und Alpenrosen sind dicht umsponnen von einem Netzwerk feiner Pilzfäden, die in dem angedeuteten Ver- hältniss der Gegenseitigkeit mit den betreffenden Pflanzen stehen (Fig. 38, A u. B). Letztere geben ihnen vom Überfluss ihrer Nähr- stoffe etwas ab und empfangen dafür Wasser und Salze, was beson- ders in Zeiten grosser Trockene von Werth für sie sein wird. Viel- leicht hängt es damit zusammen, dass Linden so schnell während grosser Sommerhitze welken und die Blätter verlieren, da diese wie manche andere unserer Bäume keinen Wurzelpilz besitzen. Symbiose. 199 So ist es also recht wohl verständlich, wie ächte »Symbiose« aus Parasitismus hervorgegangen sein kann. Doch ist das natürlich durchaus nicht der einzige Weg, der dazu führt, wie die früher be- sprochenen Fälle thierischer Symbiose bekunden. Das Zusammenleben von Polypen und Einsiedlerkrebsen wird aus ein- seitiger Tischgenossenschaft erwachsen sein, indem solche Polypen, die sich auf Schneckenschalen festsetzten, welche häufig von Einsiedlerkreb- sen benutzt wurden, besser genährt wurden, als andere, die sich auf Stei- nen ansiedelten. Es gibt heute noch Arten, welche beiderlei Unterlage benutzen. Dann erst erfolgte die Anpassung des Krebses an die Polypen, indem zunächst diejenigen am besten gediehen, welche den Polypen duldeten, dann diejenigen, die seine Gegenwart suchten, d. h. solche Schalen als Wohnung bevorzugten, welche mit Polypen besetzt waren, und schliesslich solche, welche keine anderen Schalen mehr nahmen und die Aktinie selbst daraufsetzten, wenn sie durch einen Zufall davon entfernt worden war. Intelligenz braucht dabei nicht im Spiel gewesen zu sein, auch beim Krebs nicht; man denke nur an die einmal nur im Leben ausgeübten und so komplizirten Instinkte, welche die Seiden- raupe und das Nacht-Pfauenauge zur Verfertigung ihrer Gespinste zwin- gen. Hier muss die Vervollkommnung des Spinntriebs nur durch Naturzüchtung erfolgt sein, da das Thier keine Ahnung vom Nutzen seiner Handlungsweise haben kann, und ganz so steht es bei der Aktinie oder dem Hydroidpolypen und dem Einsiedlerkrebs. So wenig die Aktinie sich bewusst ist, dass sie ihren Genossen vertheidigt, wenn sie bei Beunruhigung irgend welcher Art ihre nesselnden Akon- tien hervorschleudert, so wenig weiss der Krebs, dass die Aktinie zu seiner Sicherung beiträgt; beide Thiere handeln unbewusst, rein in- stinktiv, und die Entstehung dieser ihrer die Symbiose begründenden Instinkte können nicht aus gewohnheitsmässig gewordenen Verstandes- Handlungen hervorgegangen sein, sondern nur aus dem Überleben des Passendsten. Nach dem Prinzip der Naturzüchtung kann aber nur entstehen, was direkt oder indirekt dem Träger selbst nützt. Dennoch gibt es Fälle, die den Anschein haben, als sei da Etwas entstanden, was für die veränderte Art keinerlei Nutzen habe, vielmehr nur für die von ihr beschützte Art. Dahin gehört die merkwürdige Symbiose zwischen Alg-en der Familie Nostoc und dem auf dem Wasser schwimmenden, moosähnlichen Farn Azolla. Diese in der äusseren Erscheinung fast wie Wasserlinsen aussehende Pflanze hat an der unteren Seite ihrer Blätter eine kleine Öffnung, die in eine mit Haaren ausgekleidete, 200 Lebensgemeinschaften. relativ geräumige Höhle führt, und in dieser Höhle wohnt regelmässig eine von Gallerte eingeschlossene blaugrüne einzellige Alge, Anabaena. In keinem Blatt fehlt die Höhle, und in keiner Höhle fehlt die Alge, und zwar gelangt die Letztere dahin von einer Niederlage dieser Algenzellen, welche sich unter der umgebogenen Spitze jedes Triebes befindet. Sobald ein junges Blatt sich aus der Knospe frei macht, erhält es von dieser Niederlage aus seine Anabaena-Zellen, und man hat noch niemals Zweige oder Blätter gefunden, die frei davon gewesen wären. Bis jetzt nun ist es nicht gelungen, einen Nutzen ausfindig zu machen, der der Azolla aus dieser Gemeinschaft erwüchse. Dies wäre also ein Widerspruch gegen die Selektionstheorie, allein es fragt sich, ob nicht dennoch dem Farn ein Vortheil durch die Alge geleistet wird, den wir nur zur Stunde noch nicht einsehen. Man könnte auch daran denken, in der Blatthöhle ein Organ zu sehen, welches der Pflanze in früheren Zeiten nützlich war — etwa als In- sektenfalle — jetzt aber seine Bedeutung verloren hat, und nun von der Alge als sicherer Wohnort benutzt wird. Dem widerstreitet in- dessen die merkwürdige Verbreitung der vier Azolla-Arten, welche bekannt sind. Zwei derselben sind in Amerika und Australien weit verbreitet, die dritte lebt in Australien, Asien und Afrika und die vierte im Gebiete des Nil; alle vier haben die Höhle in den Blättern, und bei allen ist dieselbe von derselben Anabaena-Art bewohnt. Das deutet auf ein ungeheures Alter dieser Höhlung und der Vergesell- schaftung mit der Alge; die Symbiose muss aus einer Zeit datiren, ehe sich noch die vier heutigen Azolla-Arten aus einer Stammart abgespaltet hatten. So lange Zeiträume hindurch würde sich aber ein rudimentäres, d. h. ein für die Pflanze selbst nutzloses Organ schwerlich gehalten haben, wie wir später sehen werden, denn nutzlose Organe verschwinden mit der Zeit. Da die Höhlung heute noch nicht ge- schwunden ist, dürfen wir mit Wahrscheinlichkeit vermuthen, dass sie immer noch werthvoll für die Pflanze ist, sei es nun durch Vermitt- lung der Anabaena, oder auf eine andere noch unbekannte Weise. Aus unserer Unkenntniss dieses Vortheils aber ein Argument gegen die Wirklichkeit von Selektionsvorgängen ableiten zu wollen, würde kaum minder verständig sein, als wenn man trotz der vielfachen Er- fahrung, dass Steine im Wasser untersinken, von einem bestimmten Stein, den man im Wasser nicht untersinken sah, weil Gebüsch die Aussicht verdeckte, annehmen wollte, er sei möglicherweise nicht untergesunken, oder er könne schwimmen. Entstehung: der Blumen. 201 X. Vortrag. Die Entstellung der Blumen. Einleitung p. 201, die Vorläufer Darwin's p. 202, Windbestäubung p. 205, Einrichtung der Blumen für Erzwingung von Wechselkreuzung p. 206, Salbey, Läusekraut, Fliegen- blumen p. 207, Aristolochia p. 20S, Pinguicula, Daphne p. 209, Orchideen p. 210, die Blumen aus Anpassungen zusammengesetzt p. 212, Mundtheile der Insekten p. 212, Schmetterlingsrüssel p. 213, Mundtheile der Schabe p. 214, der Biene p. 214, Sammel- einrichtungen der Biene p. 216, Entstehung der Blumen p. 217, Anlockung der In- sekten durch Farben p. 219, Einschränkung der Besucherkreise p. 221, Nageli's Einwurf gegen Selektion p. 222, andere Erklärungen ausgeschlossen p. 223, Viola calcarata p. 224, Nur für ihren Träger nützliche Abänderungen entstanden p. 225, Täuschblumen, Cypripedium p. 225, die Pollinien von Orchis p. 226, der Fall der Vucca-Motte p. 227, auch hier spricht die relative Unvollkommenheit der Anpassungen für ihre Entstehung durch Naturzüchtung p. 228. Honigräuber p. 229. Meine Herren! Wenn eine Art sich mit einer anderen derart ver- bindet, dass beide nur noch in dieser Gemeinschaft dauernd leben können, so ist das gewiss ein Beispiel weitgehender gegenseitiger Anpassung, es gibt aber zahllose Fälle gegenseitiger Anpassung, bei welchen ein örtliches Zusammenleben nicht stattfindet, und dennoch die erste Lebensform nach den Eigenthümlichkeiten der zweiten zu- geschnitten ist, und die zweite nach denen der ersten. Eines der schönsten und gerade in Bezug auf Naturzüchtung lehrreichsten Bei- spiele tritt uns in den Beziehungen der Insekten zu den höheren Pflanzen entgegen, die sich darauf aufgebaut haben, dass viele In- sekten die Blüthen der Pflanzen auf Pollen oder Blüthenstaub aus- beuteten. Hier hat die Selektionstheorie ganz ungeahnte und höchst interessante Aufschlüsse gebracht, indem sie uns lehrte, wie die Blumen entstanden sind. Die frühere Zeit fasste die Schönheit, die Farbenpracht und den Duft der Blumen als Etwas auf. was zur Freude des Menschen ge- schaffen sei, oder auch als Ausfluss der unendlichen Gestaltungskraft der Mutter Natur, die sich darin gefällt, in Farben und Formen zu schwelgen. Ohne uns nun die Freude an aller dieser vielgestaltigen Schönheit verkümmern zu lassen, müssen wir heute doch eine ganz Weis mann, Descendenztheorie. 1^ 202 Entstehung der Blumen. andere Vorstellung von den Ursachen hegen, die die Blumen ins Leben gerufen haben. Wenn wir auch hier, wie überall in der Natur, nicht auf die letzten Ursachen zurückgehen können, so vermögen wir doch in eingehendem Beweise zu zeigen, dass die Blumen eine Reaktion der Pflanzen auf den Besuch von Insekten sind, dass sie hervorgerufen sind durch diesen Besuch. Es würde wohl Blüthen, nicht aber Blumen, d. h. Blüthen mit grossen, farbigen Hüllblättern, mit Duft und mit Honig im Innern geben, wenn die Blüthen nicht seit langen Zeiträumen schon von Insekten aufgesucht worden wären. Die Blumen sind Anpassungen der höheren Blüthenpflanzen an den Insektenbesuch. Darüber kann heute kein Zweifel mehr sein, wir können es — Dank den zahlreichen, bis ins Einzelste gehenden Untersuchungen einer kleinen Anzahl treff- licher Forscher — nicht nur behaupten, sondern mit aller nur wün- schenswerthen Sicherheit beweisen; die gegenseitige Anpassung von Blumen und Insekten bildet heute eines der durchsichtigsten Beispiele für die Wirkungsweise und Macht der Naturzüchtung und darf deshalb in Vorträgen über Descendenztheorie nicht fehlen. Dass die Bienen und zahlreiche andere Insekten Honig und Blüthenstaub aus den Blumen holen, ist dem Menschen seit alter Zeit wohl bekannt. Dies allein würde aber nur erklären, dass sich bei diesen Thieren Anpassungen an den Blumenbesuch gebildet hätten, der es ihnen ermöglichte, den Honig z. B. aus tiefen Kronen- röhren herauszuholen, oder aber eine grössere Menge von Pollen auf einmal sich aufzuladen und in ihren Stock zu tragen, wie dies von den Bienen geschieht. Was aber veranlasst die Pflanze, Honig her- vorzubringen und den Insekten anzubieten, da doch der Honig für sie selbst von keinem Nutzen ist? und was bewegt sie ferner, den Insekten ihren Raub so offenkundig zu erleichtern, ihre Blüthen durch auffallende Farben weithin sichtbar zu machen, oder von ihnen einen Duft ausströmen zu lassen, der selbst bei Nacht den Insekten den Weg zu ihnen anzeigt? Schon am Ende des XVIII. Jahrhunderts hat ein sinniger und scharfsichtiger Naturforscher, CHRISTIAN Konrad SPRENGEL einen starken Anlauf zur Beantwortung dieser Frage genommen. Im Jahre 1793 erschien von ihm eine Schrift: »Das entdeckte Geheimniss der Natur im Bau und der Befruchtung der Blumen«, in welcher er eine grosse Zahl der merkwürdigen, auf den Insekten-Besuch gerichteten Anpassungen der Blumen völlig richtig erkannt und gedeutet hatte. Leider begriff seine Zeit den Werth dieser Entdeckungen nicht, und Entstehuner der Blumen. 203 seine Arbeit musste mehr als ein halbes Jahrhundert auf Anerkennung- warten. SPRENGEL war vollständig" beherrscht von der Vorstellung- eines allweisen Schöpfers, der »auch nicht ein einziges Härchen ohne Ab- sicht hervorgebracht hat« und von diesem Gedanken geleitet suchte er in die Bedeutung der vielen kleinen Einzelheiten des Blumenbaues einzudringen. So erkannte er, dass die Haare, welche den unteren Theil der Blumenblätter des Wald-Storchschnabel, Geranium silvaticum, bedecken, den Nektar der Blume vor der Verwässerung durch Regen schützen, und schloss daraus ganz richtig, wenn auch in Bezug auf Fig. 40. Potentilla verna nach Hermann Müller. A von oben gesehen; Kbl Kelchblätter, Bl Blumenblätter, Nt Nektarien in der Tiefe. — B Schnitt durch die Blume ; Gr Griffel, St Staubgefässe, Nt Nectarium. die unmittelbare hervorbringende Ursache weit von unseren heu- tigen Ansichten entfernt, dass der Nektar für die Insekten da sei. Es fiel ihm weiter auf, dass die himmelblaue Krone des Vergiss- meinnichts (Myosotis palustris) einen schön gelben Ring um den Eingang der Kronenröhre herum besitzt, und er deutete denselben als ein Mittel, durch welches den Insekten der Weg zum Honig gezeigt wird, der in der Tiefe der Kronenröhre verborgen liegt. Wir wissen heute, dass solche »Saft male« bei den meisten, von Insekten besuchten Blumen vorhanden sind in Gestalt von Flecken, Linien, Figuren, meist von auffallender, d. h. von der Hauptfarbe der Blume abstechender Farbe, manchmal, wie bei den Iris-Arten, leiten sogar förmliche Strassen von kurzen Haaren nach der Stelle hin, wo der Honig liegt. Bei dem Frühlings -Fingerkraut, Potentilla verna *3 204 Entstehung der Blumen. (Fig. 40), sind die gelben Blumenblätter [A, Bl) gtgQW ihre Basis hin stark orangeroth, und zeigen so den Weg zu den Nektarien, welche an der Basis der Staubgefässe [st) liegen und von Haaren, der sog. »Saftdecke«, SPRENGEL's vor der Verwässerung durch Regen geschützt werden. Die Erkenntniss des Saftmals führte dann SPRENGEL zu der An- sicht, dass die Gesammtfarbe der Blume dasselbe im Grossen be- zwecke, was die Saftmale im Kleinen, dass sie das vorbeifliegende Insekt aufmerksam mache, wo Honig zu finden sei, ja er kam noch einen bedeutsamen Schritt weiter, indem er erkannte, dass es Blumen gebe, die sich nicht selbst befruchten können, und bei welchen das den Honig suchende Insekt sich mit Pollen bestäube, um ihn dann in der nächsten Blume an der Narbe abzu- streifen und so die Befruchtung zu vermitteln. Er wies dies nicht nur für die Iris, sondern noch für viele andere Blumen nach und schloss daraus: »Die Natur scheint es nicht haben zu wollen, dass irgend eine Blume durch ihren eigenen Staub befruchtet werde«. Wie nahe SPRENGEL der völligen Lösung des Räthsels war, geht daraus hervor, dass er sogar fand, dass manche Blumen, wie Hemerocallis fulva unfruchtbar bleiben, wenn sie mit dem eigenen Pollen bestäubt werden. Auch die zahlreichen Versuche des verdienstvollen Botanikers C. F. GÄRTNER, obwohl sie weiteren Fortschritt brachten, genügten doch nicht, um die Beziehungen zwischen Blumen und Insekten völlig ins Klare zu bringen, dazu gehörte die Grundlage der Descendenz- und Selektionslehre. Es war auch hier CHARLES DARWIN vorbehalten, den Bann zu brechen, der die Zeitgenossen bisher mit Blindheit ge- schlagen hatte. Er erkannte, dass im Allgemeinen bei den Pflanzen Selbstbefruchtung unvort heilhaft ist, dass sie weniger Samen, und diese wieder weniger kräftige Pflanzen liefern, als WTechselbefruch- tung, dass somit Blumen mit Einrichtungen für Wechselbefruchtung im Vortheil sind vor solchen, die sich selbst befruchten. Bei manchen Arten führt Selbstbefruchtung, wie schon SPRENGEL wusste, geradezu zur Unfruchtbarkeit, nur wenige sind ebenso fruchtbar mit eigenem Pollen, als mit fremdem, und DARWIN glaubte, dass Kreuzung mit anderen Blumen für alle Arten mindestens von Zeit zu Zeit noth- wendig sei, wenn sie nicht degeneriren sollen. So liegt also der Vortheil, den die Pflanze vom Insektenbesuch hat, darin, dass die Insekten die Kreuzung der Blumen ver- mitteln, und wir können nun verstehen, wieso auch die Pflanze im Entstehung der Blumen. -05 Stande war, sich dem Insektenbesuch zu liebe zu verändern, An- passungen einzugehen, die ausschliesslich zur Erleichterung des In- sektenbesuchs dienen; wir verstehen, wie es möglich war, dass eine unendliche Menge von Einrichtungen an den Blüthen sich bilden konnte, die zur Anlockung der Insekten bestimmt sind, ja wie die unscheinbaren Blüthen der ältesten Phanerogamen eben behufs An- lockung der Insekten sich zu Blumen umgestalten mussten. Trotzdem darf man nicht glauben, dass die - - wie es scheint • so wichtige Kreuzung der Pflanzen-Individuen, gewöhnlich »Fremd- bestäubung« genannt, durchaus und allein von Insekten vermittelt werden könne. Es gab früher zahlreiche und gibt heute noch eine ganze Reihe von Pflanzen, bei welchen die Kreuzung durch die Luft, den Wind besorgt wird: die windblüthigen Angiospermen. Dahin gehören die meisten Kätzchenträger, wie Hasel, Birke, dann die Gräser, Binsen, der Hanf und der Hopfen u. s. w. Bei allen diesen Pflanzen begegnen wir keinen Blumen, sondern unscheinbaren Blüthen ohne bunte Hüllen, ohne Duft und Honig; alle haben glatte Pollen- körner, die leicht zerstäuben und von der Luft fortgeführt werden, bis sie der Zufall fern von ihrem Ursprung auf die Narbe einer weib- lichen Blüthe niederfallen lässt. Bei weitem die meisten aller Phanerogamen aber, besonders sämmt- liche einheimische Blumen werden in der Regel von Insekten be- fruchtet, und es ist erstaunlich zu sehen, in wie vielfacher und zum Theil höchst spezieller Weise sie dem Besuch derselben angepasst sind. Da gibt es zunächst Blumen, deren Honig offen daliegt, und die des- halb von allen möglichen Insekten ausgebeutet werden können, dann aber solche, deren Honig schon etwas mehr verborgen liegt, aber doch leicht zu finden und auch mit kurzen Mundtheilen zu erreichen ist, erosse am Tage blühende Blumen mit auffallenden Farben und viel Pollen, wie z. B. die Magnolien. Man hat sie als Käferblumen bezeichnet, weil besonders Honig-liebende Bockkäfer sie besuchen. Andere bei Tage blühende Blumen sind ausschliesslich der Be- fruchtung durch Bienen angepasst; sie sind immer schön gefärbt, oft blau, duften und enthalten den Honig in der Tiefe der Blume, zu- o-äno-lich nur dem läng-eren Rüssel der Bienen. Sehr verschieden- artige Einrichtungen der Blume bewirken, dass die Biene den Nektar nicht gemessen kann, ohne zugleich das Kreuzungsgeschäft zu be- sorgen. So sind die Staubgefässe des Wiese n-Salbeys (Salvia pratensis) zuerst ganz in der helmförmigen Oberlippe der Blume ver- steckt (Fig. 41, st'), haben aber unten an ihrem langen Stiel einen 20Ö Entstehung der Blumen. kurzen handgriffärtigen Vorsprung, der die ganzen Antheren nach abwärts dreht (st"), sobald er von vorn her durch das in die Blume eindringende Insekt zurückgedrückt wird. Die Staubbeutel schlagen dann nach abwärts auf den Rücken der Biene und überschütten ihn mit Pollen. Wenn dieselbe dann eine zweite ältere Blume besucht, so hat sich bei dieser inzwischen der lange zuerst verborgene Griffel (gr) aus dem Helm herabgebeugt (gr") und steht gerade vor dem Blumen-Eingang, so dass die Biene einen Theil des an ihr haftenden Pollens auf die Narbe abstrei- Sf ' fen muss und dadurch die Be- fruchtung bewirkt. Es gibt auch Blumen, die speziell auf den Besuch der Hummeln eingerichtet sind, wie z. B. Pedicularis asplenifolia, dasfarnblättrige Läusekraut, eine Blume der Hochalpen (Fig. 42). Zunächst fällt hier die dichtzottige Be- haarung des Kelches (k) auf, die die Wirkung hat, kleine, flügel- lose Insekten von der Blume zurückzuhalten, dann die son- derbar nach links gerichtete gr' Fig. 41. Blume von Salvia pratensis, dem Wiesen-Salbey nach H. Müller, st' Staub- gefässe vor ihrer Reife im »Helm« der Blume geborgen, st" nach ihrer Reifung; Griffel vor seiner Reife, gr" nach derselben; U Unter- lippe, Anflugfläche für die Biene. Verdrehung der Einzelblumen, deren Unterlippe (u) nur einem stärkeren Insekt, wie der Hum- mel von links her den Eingang zu der Kronenröhre (kr) gestattet, in deren Tiefe der Honig verborgen ist. Während die Hummel nun den Honig aufsaugt, bestäubt sie sich mit dem leicht verstäubenden Pollen der Staubbeutel (st), und wenn sie dann in eine zweite Blume eindringt, stösst sie zuerst mit ihrem bepuderten Rücken an die Narbe des aus der schnabelförmig ausgezogenen Unterlippe vor- gestreckten Griffels (gi-) und bestäubt diesen mit fremdem Pollen. Schmetterlinge und kleinere Bienen können diese Blume nicht aus- beuten, sie ist eine reine »Hummelblume«. Es gibt nicht wenige derartige, auf einen ganz kleinen Besucher- kreis eingerichtete Blumen, und bei ihnen allen finden sich Einrich- tungen, welche anderen als den bevorzugten Insekten den Eingang versperren: bald sind es Borstenpolster, die das Ankriechen kleiner Bienen- und Fliegenblumen. 207 Insekten von unten her, oder Schrägstellung der Blume, die dasselbe von dem Stengel her verhindern, bald die Länge und Enge der Kronenröhre, bald die tiefe und versteckte Lage des Honigs, die es nur intelligenten Insekten gestattet, diesen aufzufinden. Sehr merkwürdig sind die den Fliegen angepassten Blumen, indem sie in mehrfacher Hinsicht den Eigenthümlichkeiten dieser In- sekten entsprechen. Einmal lieben die Fliegen faulende Substanzen und die von diesen ausgehenden Gerüche, und so haben denn auch die auf die Kreuzvermittlung der Fliegen berechneten Blumen trübe, Fig. 42. Pedicularis aspanifolia, Läusekraut. A Blume von der linken Seite gesehen; Vergr. 3 mal; der Pfeil bezeichnet die Richtung, in welcher der Hummel- rüssel eindringt. B dieselbe Blume nach Entfernung des Kelches, der Unterlippe und der linken Hälfte der Oberlippe, von der linken Seite gesehen. C Fruchtknoten, Nektarium und Griffelwurzel. D Griffelspitze mit Narbe. E Zwei einander zugekehrte Staubbeutel. 0 Oberlippe, u Unterlippe, gr Griffel, st Staubbeutel, kr Kronenröhre. hässliche Fäulnissfarben angenommen und widerliche Gerüche. Dann aber sind die Fliegen scheu und unstet, wenden sich bald hier bald dorthin, zählen nicht zu den »blüthensteten« Insekten, d. h. besuchen nicht fort und fort Blumen derselben Art, würden also leicht den Pollen nutzlos verschleppen; ausserdem besitzen sie nur geringe Intelligenz und suchen nicht mit der Beharrlichkeit nach Honig, wie Bienen und Hummeln. So sind denn manche der auf ihren Besuch eingerichteten Blumen so gebaut, dass sie sie solange festhalten, bis sie ihre Pflicht gethan, d. h. die Kreuzungsbefruchtung ausgeführt oder eingeleitet haben. Unsere Osterluzey, Aristolochia Clematitis, und die Aaronswurzel, Arum maculatum, sind » Kessel fallen- blumen«, deren lange Kronenröhren am Grund eine kesselartige 208 Entstehung der Blumen. Erweiterung haben, in welcher sowohl Antheren als Griffel stehen. Bei der Osterluzey (Fig. 42) ist die enge Zugangsröhre dicht mit kleinen steifen Haaren besetzt (A), die alle mit der Spitze gegen den Kessel gerichtet sind. Kleine Fliegen können also bequem in den Kessel hinabkriechen, dort aber sind sie gefangen und zwar so lange, bis durch erfolgte Bestäubung der Narbe die Blüthe anfängt zu welken, und zwar zuerst jene Borsten [B], deren Spitzen wie eine Reuse das Herauskriechen bisher verwehrten. Andere Fliegen-Blumen, wie z. B. Fig. 43. Blüthe von Aristolochia Clematitis, der Osterluzey, halbirt. ./ vor der Befruchtung durch kleine Flie- gen; b die Borsten. B nach der Befruch- tung. P Pollenmasse, N Narbe, b die Borsten, b' ihre Reste; nach H. Müller. A K Fig. 44. Klemmfallenblume, Pingui- cula alpina, Alpenfettkraut. A Durchschnitt durch die Blume; Ä" Kelch, bh Borsten- höcker, sp Sporn, st Staubgefäss, n Narbe. B Narbe und Staubgefäss stärker ver- grössert; nach H. Müller. das Alpen-Fettkraut, Pinguicula alpina (Fig. 44), klemmen die dicke Fliege fest ein, wenn sie sich glücklich so tief in sie hineingezwängt hat, dass sie mit ihrem kurzen Rüssel den im Sporn (ps) enthaltenen Honig erreichen kann. Die rückwärts gerichteten Borsten [bh) halten sie eine Zeit lang fest, und nur durch starkes Andrängen mit dem Rücken gegen die oben angebrachten Staubbeutel [st) und die Narbe (//) gelingt ihr ihre endliche Befreiung, aber nicht, ohne dass sie dabei entweder sich mit Pollen belädt oder aber den Pollen, den sie schon Bienen- und Schmetterlingsblumen. 209 aus einer anderen Blume mitbrachte, an der Narbe absetzt. Die Blume ist proterogyn, d. h. der Griffel reift zuerst, der Pollen später, so dass also Selbstbefruchtung ganz ausgeschlossen ist. Es wäre unmöglich, Ihnen auch nur eine ungefähre Vorstellung von der Mannichfaltigkeit der Befruchtungs-Einrichtungen der Blumen zu geben, ohne Stunden lang nur darüber zu reden, denn diese sind fast in jeder Blume wieder andere und oft weit verschieden, und selbst bei Arten derselben Gattung bleiben sie keineswegs immer gleich, und sind nicht selten bei der einen Art auf einen anderen Besucher- kreis berechnet als bei der anderen. So ist die Blume vom ge- Fig. 45. Daphne Mezereum A und C und Daphne striata B und D. Erstere von Schmetterlingen, Bienen und Fliegen besucht, Letztere nur von Schmetterlingen, ./und 2? Durchschnitte durch die Blüthe, St Staubgefässe, Gr Griffel. C und D Blüthe von oben gesehen; nach H. Müller. meinen Seidelbast, Daphne Mezereum (Fig. 44, A u. C) auf den Besuch von Schmetterlingen, Bienen und Schwebfliegen eingerichtet, ihre nächste Verwandte aber, Daphne striata (Fig. 45, B u. D), hat eine etwas engere und längere Kronenröhre, so dass sie nur von Schmetterlingen ausgebeutet werden kann. Sie sehen an diesem Bei- spiel schon, dass es reine »Schmetterlingsblumen« gibt, aber es gibt auch besondere Tagfalter- und Nachtfalter-Blumen. Die Ersteren haben meist lebhafte, häufig rothe Farben und angenehmen würzigen Duft, und bei allen liegt der Honig im Grund einer sehr engen Kronenröhre. Dahin gehören z. B. Nelkenarten, manche Orchideen, wie Orchis ustulata und die stark nach Vanille duftende 2IO Entstehung der Blumen. Nigritella angustifolia der Alpen; ferner die schön rothe Tagnelke, Lychnis diurna, und die blasser rothe Alpenprimel, Primula farinosa. Die Blumen für Nachtschmetterlinge zeichnen sich durch helle, oft weisse Farbe und starken Wohlgeruch aus, der erst nach Sonnen- wie denn viele dieser Blumen sich Letzteres ist der Fall bei der grossen Untergang auszuströmen beginnt, bei Tae eanz schliessen. weissen, ganz geruchlosen Zaunwinde, Convolvulus sepium, die haupt- sächlich von unserem grössten einheimischen Schwärmer, dem Winden- Fig. 46. Orchis mascula, Knabenbraut. A Blumen in Seitenansicht, st Stiel, sp Sporn mit dem Nektarium 11, ei Eingang in den Sporn, U Unterlippe. — B Blume von vorn; P Pollinien, Sin Saftmal, ei Eingang zum Nektar, na Narbe, r Rostellum, U Unterlippe. — C Schnitt durch Rostellum r, Pollinium (/); ei Eingang. — D Die Pollinien auf die Spitze eines Bleistifts übergesprungen. — Dieselben, einige Zeit später abwärts gekrümmt. Schwärmer besucht und befruchtet wird. Das helle Seifenkraut, Sa- ponaria officinalis, strömt in der Nacht einen feinen Wohlgeruch aus, der die Schwärmer von weither anlockt, und der süsse Duft des Geis- blatts, Lonicera Periclymenum, ist Ihnen ja wohlbekannt und wirkt ebenso; eine Geisblattlaube versammelt in warmen Juni-Nächten oft ganze Gesellschaften unserer schönsten Sphingiden und Noctuiden zur Freude der Schmetterling-sammelnden Jugend. Ich kann aber mit diesen Blumen-Einrichtungen nicht schliessen, ohne noch besonders der Orchideen etwas genauer zu gedenken, Orchideen. 211 welche mit die weitest gehenden Anpassungen an den Insektenbesuch aufweisen. Auch bei ihnen herrscht zwar grosse Mannichfaltigkeit, wie Sie daraus ersehen können, dass Darwin über die Befruchtungs- vorrichtungen der Orchideen ein ganzes Buch geschrieben hat, aber der Grundzug ist doch bei den meisten derselbe. Fig. 46 gibt eine Darstellung der Blume einer unserer häufigsten Arten, Orchis mascula; A stellt die Blume in Seitenansicht, B in Ansicht von vorn da. Am Stiel st schwebt dieselbe gewissermassen, ihren Sporn sß, der den Nektar enthält, horizontal ausstreckend. Zwischen der grossen, breiten, eine bequemer Anflugfläche darbietende Unterlippe (u) mit dem Saftmal (Sm) und der breiten, polsterartigen Narbe [n) liegt der Eingang zum Sporn. Die Befruchtung beruht nun darauf, dass die Biene oder Fliege, wenn sie im Begriff steht, ihren Rüssel in den nektarhaltigen Sporn hineinzuschieben mit dem Kopf an das sogenannte Rostellum (r) stösst, einen kleinen schnabelförmigen Vorsprung an der Basis der Staubgefässe [p). Diese sind hier sehr eigentümlich gebaut, nicht stäubend, sondern kurz gestielte Kölbchen, deren Pollen- körner miteinander verklebt und so eingerichtet sind, dass sie bei Berührung des Rostellums abspringen und sich auf dem Kopf des Insektes festkleben, wie bei D auf dem Bleistift. Wenn dann die Biene den Nektar aus dem Sporn ausgesogen hat, und nun in eine andere Blume derselben Art eindringt, haben sich die Pollinien auf ihrer Stirn inzwischen abwärts gekrümmt (E), und müssen un- fehlbar genau auf die Narbe (n) der zweiten Blume stossen, an der sie nun hängen bleiben und die Befruchtung bewirken. Welch' lange Kette zweckmässiger Einrichtungen bei einer einzigen Blumen- gruppe, von welchen keine einer anderen Erklärung zugänglich ist als der durch Naturzüchtung! Und wie vielfach sind dieselben nun wieder modifizirt bei den verschiedenen Gattungen und Arten der Orchideen, von denen die einen auf den Besuch von Tagfaltern aus- schliesslich berechnet sind, wie Orchis ustulata, die anderen auf den von Bienen, wie Orchis morio, die dritte auf den von Fliegen wie Ophrys museifera. Und bis ins Einzelnste hinein ist bei diesen Blumen die Gestalt der Blumenblätter dem Insektenbesuch angepasst, glatt, wie mit Wachs polirt, da wo sie nicht hinkriechen sollen, sammetig oder haarig, wo der Weg zum Honig und zugleich zu den Pollinien und der Narbe geht; und dann diese Mannichfaltigkeit der »Saftmale« nach Gestalt und Farbe, der »Anflugfläche«, d. h. der Unterlippe der Blume, auf welcher das Insekt sitzt und sich festhält, während es den Kopf so tief wie möglich in die Kronenröhre hineindrängt, um mit 2 12 Entstehung der Blumen. seinem Rüssel bis zu dem tief gelegenen Honig zu reichen! Wenn wir uns auch nicht vermessen können, jede Biegung und jedes Farben- fleckchen einer der grossen tropischen Orchideen wie etwa der Stanhopea tigrina in seiner Bedeutung zu errathen, so werden wir doch mit SPRENGEL ahnen dürfen, dass alles Dieses seine Bedeutung hat, oder doch bei den Vorfahren der betreffenden Art gehabt hat, und dass somit die Blume sich aus lauter Anpassungen zu- sammensetzt, aktuellen und von den Vorfahren überkommenen, heute vielleicht nicht mehr funktionirenden. So sind also hunderte und tausende von Einrichtungen an den Blumen nur für den Insektenbesuch und die Vermittlung der Kreu- zung berechnet, und die Anpassungen gehen so weit, dass man glauben möchte, sie seien Ausflüsse feinster Berechnung und der raffinirtesten Überlegung. Aber sie alle lassen die Erklärung durch Naturzüchtung zu, denn alle diese früher für zwecklose Ornamente Sfenommenen Einzelheiten sind direkt oder indirekt von Nutzen für die Pflanzenart, direkt, wenn es sich z. B. um Übertragung des Pollens auf das besuchende Insekt handelt, indirekt, wenn es sich um Mittel handelte, das Insekt anzulocken. Der Beweis für die Thätigkeit von Selektionsprozessen wird aber deshalb hier förmlich zwingend, weil es sich, wie bei der Symbiose stets um zweierlei unabhängig voneinander ablaufende An- passungen handelt, um die der Blumen an den Besuch der In- sekten, und um den der Insekten an den Besuch der Blumen. Um dies ganz zu verstehen ist es nöthig, nun auch die Insekten ins Auge zu fassen und zuzusehen, in welcher Weise sie durch die Anpassung an Blumen-Nahrung verändert worden sind. Bekanntlich besitzen mehrere Insekten -Ordnungen Mundtheile, welche zum Saugen von Flüssigkeiten eingerichtet sind, und diese haben sich aus den beissenden Mundtheilen der Urinsekten, wie sie uns heute noch in mehreren Ordnungen erhalten sind, durch Anpassung an flüssige Nahrung entwickelt. So mögen die Zwei- flügler durch das Auflecken faulender Pflanzen- und Thierstoffe, und weiter durch das Anstechen und Blutsaugen an lebenden Thieren nach und nach den Saugrüssel erhalten haben, den wir heute bei vielen von ihnen vorfinden. Aber auch bei ihnen haben sich seitdem mehrere Familien ganz speciell der Blumennahrung, dem Honigsaugen angepasst, so die Schwebfliegen, Syrphiden und Bombyliden, deren langer, dünner Rüssel tief in enge Kronenröhren eindringen und den Honig vom Grund derselben wegholen können. Die Umwandlung Mundtheile der Insekten. O T "> war hier nicht so bedeutend, da der schon vorhandene Saugapparat nur etwas abgeändert zu werden brauchte. Auch die Ordnung der Hemipteren (Wanzen) verdankt ihren Saugrüssel nicht der Blumennahrung, wie denn auch heute noch kein Mitglied dieser Gruppe sich auf Blumennahrung eingerichtet hat. Dagegen beruht der Rüssel der Schmetterlinge gänzlich auf Anpassung an das Honigsaugen, und man darf wohl sagen, dass die Ordnung der Schmetterlinge nicht da sein würde, gäbe es keine Blumen. Wahrscheinlich stammt diese grosse und vielgestaltige In- .,sektengruppe von Vorfahren der heutigen Köcherfliegen oder Phry- ganiden, deren schwach entwickelte Kiefer hauptsächlich zum Auf- lecken von zuckerhaltigen Pfian- zensäften benutzt wurden. Indem dann die Blumen sich ausbildeten, entwickelte sich bei den Ur- Schmetterlingen der Leckapparat immer mehr zu einem Saugorgan und wandelte sich schliesslich in den langen, spiralig einrollbaren Saugrüssel (Fig. 47) der heutigen Schmetterlinge um. Es hat einige Mühe gekostet, dieses Organ auf die beissenden Mundtheile der Ur-Insekten zurückzuführen , da beinahe Alles an ihm zurück- gebildet und verkümmert ist mit auo ^n Fig. 47. Kopf eines Schmetterlings. A von vorn gesehen; au Augen, la Ober- lippe, md Rudimente der Mandibeln, pm rudimentärer Mapillartaster, nix1 die zum Saugrüssel umgewandelten Maxillen, pl Lip- pentaster, an der Wurzel abgeschnitten, in B erhalten {pl); Seitenansicht; frei nach Savigny. Ausnahme der Maxillen [mx t Selbst die Taster derselben [pm sind bei den meisten Lepido- pteren so klein und unansehnlich geworden, dass man erst in neuerer Zeit ihre Reste in einem zwischen den Haaren versteckten Höckerchen erkannt hat. Die Mandibeln [md) sind ganz verkümmert, und auch die Unterlippe selbst ist geschwunden und nur ihre Taster [pl] sind wohl entwickelt (B,pl). Die ersten Maxillen aber [mxT\ obwohl sehr stark und lang, sind in Gestalt und Zusammensetzung so ausserordentlich verändert, dass sie von allen anderen Insekten-Maxillen abweichen. Sie sind zu hohlsondenartigen Halbröhren geworden, die genau auf- einander passen und dann ein geschlossenes Saugrohr von sehr kom- plizirter Zusammensetzung darstellen, aus vielen kleinsten Gliedern nach Art einer Kettensäge zusammengesetzt, die alle durch kleine 214 Entstehung der Blumen. Muskeln bewegt und durch Nerven dem Willen unterworfen sind, auch mit Tast- und Geschmackspapillen versehen. Ausser diesem merk- würdigen Saugrüssel finden sich am Körper der Schmetterlinge keine Eigenthümlichkeiten, die speciell als Anpassung an den Blumenbesuch aufzufassen wären, ganz vereinzelte Ausnahmen abgerechnet, von denen eine später noch erwähnt werden soll. Das ist auch begreif- lich, da die Schmetterlinge an den Blumen Nichts weiter zu suchen haben, als Nahrung für sich selbst; für ihre Nachkommen brauchen sie kein Futter einzutragen. Dies aber ist der Fall bei den Bienen und hier finden wir des- halb auch die Anpassungen an den Blumenbesuch nicht auf die Mundtheile beschränkt. Soweit wir heute urtheilen können, werden die blumenbesuchenden Bie- nen zunächst von Insekten herzuleiten die den heutigen Grabwespen mx sein glichen. Bei diesen leben die Weibchen sogar selbst schon von Pollen und Honig, bauen Zellen in Erdlöchern und füttern ihre Brut. Aber sie füttern sie nicht mit Blumennahrung sondern mit Thieren, Raupen, Gryllen und anderen Insekten, die sie durch einen Stich in den Bauch tödten, oft aber auch blos lähmen, so dass dann das Opfer lebend aber wehr- los in die Zelle des Stocks getragen wird und lebendig bleibt, während die aus dem Ei schlüpfende Larve der Grab- wespe ihre Verzehrung in Angriff nimmt. Wenn ich jetzt dazu schreite, Ihnen die Entstehung des Saug- rüssels der Biene aus den beissenden Mundtheilen der Ur-Insekten klar zu machen, muss ich eine kurze Betrachtung der Letzteren voraus- schicken. Die beissenden Mundtheile der Käfer, Heuschrecken und Netz- flügler (Fig. 48) bestehen aus drei Kieferpaaren, von denen das erste die Mandibel (md) eine einfache kräftige Zange darstellt zum Packen und Zerreissen oder Zermahlen der Nahrung. Sie nimmt an der Bil- dung des Saugapparates weder bei den Bienen noch bei den Schmetterlingen Theil und kann also hier ganz bei Seite bleiben. Fig. 48. Mundtheile der Schabe, Periplaneta orientalis nachR.HERT- wig. la Oberlippe, nid Mandibeln, mx1 erste Maxillen mit c Cardo, st Stipes, li Lobus internus, le Lobus externus, und pm dem Maxillar- Taster. mx2 Unterlippe ans den- selben Theilen bestehend. Mundtheile der Bienen. 215 Die beiden anderen Kieferpaare, die erste und die zweite Maxille (mx1 u. mx2), sind genau nach dem gleichen Typus gebaut, indem sie aus einem gegliederten Stamm (st), aus zwei darauf eingefügten Laden, der äusseren (le) und der inneren (//) bestehen, und aus einem nach aussen von den Laden eingelenkten gewöhnlich mehr- gliedrigen Taster oder Palpus (pm u. />/). Das zweite Maxillenpaar (mx'1) unterscheidet sich von dem ersten hauptsächlich dadurch, dass es in der Mittellinie des Körpers zusammenstösst, und hier mehr oder weniger weit miteinander verwachsen ist zur sog. »Unter- lippe«. Bei der hier als Beispiel gewählten Schabe (Blatta orien- talis) ist diese Verschmelzung nur theilweise vollständig, die Laden sind selbstständig geblieben (la u. li); bei der Biene ebenfalls, nur sind die inneren Laden (li) zu einem langen wurmförmigen Fortsatz verwachsen, der beim Saugen in den Nektar hinein- gestreckt wird. Schon bei den Grabwespen zeigen sich die ersten Verände- rungen nach dieser Richtung, in- dem die Unterlippe etwas ver- längert und zu einem Leckorgane umgewandelt ist. Kaum viel Fig. 49. Kopf der Biene. An Netz- augen, au Punktaugen, at Fühler, la Ober- lippe, nid Mandibeln, mx1 erste Maxillen mit p/n, dem rudimentären Maxillartaster mx2 die zweiten Maxillen mit den zur Zunge« (li) verwachsenen inneren Laden und den als »Paraglossen« bezeichneten äusseren Laden (le); pl palpus labiatis. weiter angepasst finden wir sie bei einer ächten Blumenbiene, Prosopis, welche auch ihre Lar- ven mit Pollen und Honig füt- tert, aber erst bei der eigent- lichen Honigbiene ist die Anpassung eine vollständige (Fig. 49). Hier hat sich die sog. »innere Lade« der Unterlippe (li) zu dem schon erwähnten wurmförmigen Fortsatz gestreckt, der ganz mit kurzen Börstchen dicht besetzt ist und der die »Zunge« der Biene (li) genannt wird. Die äusseren Laden der Unterlippe sind zu kleinen Blättchen verkümmert, den sog. Nebenzungen oder Paraglossen (le), 2 I 6 Entstehung der Blumen. während die Taster der Unterlippe (/>/) sich der Zunge entsprechend gestreckt haben und als Tast- und wohl auch Riechwerkzeuge dienen, im Gegensatz zu den Tastern der ersten Maxillen, welche zu kleinen Stummeln (pm) zusammengeschrumpft sind. Die ganze lange, auch in ihren Basalstücken gestreckte Unterlippe bildet nun zusammen mit den ebenso langen ersten Maxillen den Rüssel der Biene, indem sie sich als scheidenartige Halbröhren dicht um die Zunge herum legen und so mit ihr zusammen ein Saugrohr darstellen, durch welches der Honig aufgesogen wird. Von den drei Kieferpaaren der Insekten ist also nur das erste, die Mandibeln [md] unverändert ge- blieben, offenbar, weil die Biene eines Beisswerkzeugs bedarf, sowohl zum Fressen des Pollens, als zum Kneten des Wachses, als zum Bauen der Zellen. Aber die Bienen gemessen nicht nur selbst Honig und Pollen, sondern sie tragen ihn auch ein als Futter für ihre Larven. Die er- wähnte Prosopis nimmt Pollen und Honig mit dem Mund auf und speit den Brei später als Larvenfutter wieder aus, bei den anderen ächten Bienen aber sind dazu besondere und viel leistungsfähigere Sammelapparate vorhanden, ein dichter Haarbesatz am Bauch, oder ein Haarbesatz über die ganze Länge der Hinterbeine hin, oder schliesslich der hochentwickelte Sammelapparat, wie ihn die eigent- liche Honigbiene besitzt: das Körbchen und Bürstchen der Hinter- beine. Ersteres ist eine Delle an der Aussenfläche der Schiene, Letzteres eine bedeutende Verbreiterung der Ferse (des ersten Tar- salglieds), welche zugleich an ihrer inneren Fläche ganz mit Quer- reihen kurzer bürstenartig geordneter Borsten besetzt ist. Der Pollen wird von der Biene in das Körbchen hineingeknetet, und man sieht die Bienen dann mit dicken gelben Pollenballen an ihren Hinter- & schienen nach dem Stocke zurückfliegen. Bei den »Bauchsammlern«, wie Osmia und Megachile sitzt die gesammelte Pollenmasse als dicker Klumpen am Bauch, und bei Andrena beobachtete schon SPRENGEL wie sie mit einem Packet Pollen an den Hinterbeinen zurückflog, der grösser war, als ihr eigener Körper. Das sind also alles Einrichtungen, die erst nach und durch die Gewohnheit entstanden sind, Pollen als Nahrung für die unbehülf- lichen, in Zellen eingeschlossenen Larven einzutragen. Sie haben sich in verschiedener Weise bei verschiedenen Bienengruppen aus- gebildet, vermuthlich, weil die primären Variationen, mit denen die Züchtungsprozesse begannen, bei den verschiedenen Stammformen verschieden waren. Bei den Vorfahren der Bauchsammler wird sich Entwicklungsgang der Blumen. 2 I J von vornherein eine stärkere Behaarung der Bauchseite des Thiers der Züchtung dargeboten haben, in Folge dessen der weitere Verlauf der Anpassung sich lediglich auf diese behaarte Fläche richten musste, während Variationen anderer behaarter Stellen des Körpers unbeachtet blieben, ganz so, wie sie jetzt, wo der Sammelapparat der Bauch- sammler bis zur Vollendung gesteigert ist, unbeachtet bleiben, d. h. in Bezug auf die Auswahl zur Nachzucht gleichgültig sind. Nach allem diesen wird Ihnen der Satz nicht mehr paradox er- scheinen, dass die Existenz bunter vielgestaltiger und duftender Blumen durch den Besuch der Insekten hervorgerufen ist, und dass umgekehrt viele Insekten durch Anpassung an die Blumennahrung in ihren Mundtheilen und auch sonst noch wesentliche Umgestaltungen er- fahren haben, ja dass eine ganze grosse Ordnung von Insekten mit Tausenden von Arten — die Schmetterlinge — nicht existiren würde, gäbe es keine Blumen. Wir wollen jetzt versuchen, uns mehr im Einzelnen darüber Rechenschaft zu geben, wie, in welchen Schritten und aus welchen Zuständen heraus die Entstehung der heutigen Blumen aus den früheren Blüthenpflanzen vor sich gegangen sein mag. Ich folge dabei ganz den klassischen Darlegungen von HERMANN MÜLLER. Die Stammformen der heutigen höheren Pflanzen, sie sog. »Ur- samenpflanzen« oder »Archispermen« waren alle windblüthig, wie es die heutigen Coniferen und Cykadeen noch sind. Ihr massenhaft hervorgebrachter, glatter Pollen stäubt gleich Wolken in die Luft, wird vom Wind weiter getragen und gelangt so hierhin und dorthin, gelegentlich auch einmal auf die Narbe einer weiblichen Blüthe. Häufig sind die Geschlechter bei diesen Pflanzen auf verschiedene Stöcke vertheilt, und darin liegt gewisss ein Vortheil für die Windbefruchtung. Wie heute noch, so wurden auch in ferner Vorzeit die männ- lichen Blüthen der Archispermen von Insekten besucht, die kamen, um sich vom Pollen zu nähren, ohne jedoch der Pflanze einen Gegen- dienst dafür zu leisten; sie schädigten sie vielmehr nur durch Schmälerung ihres Pollen-Vorraths. Wenn es nun möglich war, die Insekten zu veranlassen, bei ihrem Raub des Pollens zugleich der Pflanze zu dienen, und Pollen auf die weiblichen Blüthen zu über- tragen und damit die Fremdbestäubung auszuführen, so musste dies für die Pflanze von grossem Vortheil sein, denn dann brauchte sie keine so ungeheuren Massen von Pollen mehr hervorzubringen wie bei der Windbestäubung und war doch der Befruchtung viel sicherer, als bei dieser, die gutes Wetter und richtigen Wind voraussetzt. Weismann, Descendenztheorie. \a 218 Entstehung der Blumen. Offenbar war dies nun auf zweierlei Wegen zu erreichen, einmal dadurch, dass auch die weiblichen Blüthen den Insekten etwas An- lockendes darboten, und dadurch, dass Zwitterblüthen gebildet wurden. Beide Wege sind thatsächlich von eher Natur eingeschlagen worden. Ein Beispiel für den ersteren ist die Weide, deren Wechsel- befruchtung den Insekten dadurch aufgezwungen wurde, dass sowohl die männlichen als die weiblichen Blüthen (Fig. 50 A u. B) ein Nek- tarium entwickelten {Cm. Z?, n), d. h. ein Grübchen oder Näpfchen, in welchem Pflanzenhonig abgesondert wird. Nun flogen die Insekten bald auf männliche und bald auf weibliche Weidenkätzchen, und schleppten dabei den nicht mehr stäubenden, sondern klebrig ge- Fig. 50. Blüthen der Weide, Salix cinerea nach H. MÜLLER. A Männlicher, B weiblicher Blüthenstand, C männliche Einzelblüthe, n Nektarium, D weibliche Einzelblüthe. £ Popnlus, eine ausnahmsweise zwittrige Einzelblüthe. wordenen und leicht an ihrem Körper haftenden Pollen in die weib- lichen Blüthen und auf die Narbe. Bei weitem häufiger ist es aber zur Sicherung der Wechsel- befruchtung durch Bildung von Zwitterblüthen gekommen, und wir können begreifen, dass dieser Weg in weit vollkommener Weise die vortheilhafte Kreuzung sicherte, denn hier musste die Übertragung von Blüthe zu Blüthe stattfinden, während bei Einrichtungen nach Art der Weide zahllose Einzelblüthen männlichen Geschlechts hinterein- ander nach Honig ausgebeutet werden konnten, ehe das Insekt sich entschloss, zu einem weiblichen Stock derselben Art hinüberzufliegen. Den Anfang zu der Umwandlung der eingeschlechtlichen Blüthen nach dieser Richtung dürfen wir wohl in Variationen sehen, wie sie auch heute noch bei getrennt geschlechtlichen Arten gelegentlich vor- Entstehung der Blumen. 2 I 9 kommen, indem nicht selten an deren männlichen Kätzchen einzelne Blüthen stehen, die ausser den Staubgefässen auch einen Griffel mit Narbe besitzen (Fig. 48, E zeigt eine solche abnorme Zwitterblüthe von einer Pappel). Sobald nun einmal Zwitterblüthen vorhanden waren, begann der Kampf um die Anlockung der Insekten in gesteigertem Masse. Jede kleine Verbesserung nach dieser Richtung musste den Aus- gangspunkt von Selektionsprozessen abgeben, und mußste bis zur möglichsten Vervollkommnung derselben fortgeführt und gesteigert werden. So waren es wohl zuerst die Blüthen hüllen, welche ihr ursprüng- liches Grün in andere und zwar solche Farben umwandelten, die vom Grün möglichst stark abstachen und dadurch die Insekten auf die Blume aufmerksam machten. Variationen in der Farbe gewöhnlicher Blätter kommen immer von Zeit zu Zeit vor, sei es dadurch, dass das Grün sich in Gelb verwandelt, sei es dadurch, dass das Chloro- phyll mehr oder weniger schwindet, und dass gefärbte rothe oder blaue Säfte hinzukommen. Ohne Zweifel können viele Insekten Farben sehen und durch die Grösse farbiger Blumen angelockt werden, wie denn Hermann Müller den Insektenbesuch bei zwei nahe ver- wandten Blumen sehr verschieden stark fand, von welchen die eine, Malva silvestris, recht grosse, weithin sichtbare, stark rosarothe Blumen besitzt, und die andere, Malva rotundifolia, sehr unscheinbare, kleine blassrothe Blumen. Bei ersterer flogen 3 1 verschiedene Besucher ab und zu, bei letzterer konnte er deren nur vier feststellen. Die letztere Blume ist dementsprechend auch meist auf Selbstbefruchtung angewiesen. Man hat später von verschiedenen Seiten her bestritten, dass die Insekten durch die Farben der Blumen angezogen würden und zwar besonders auch auf Grund von Versuchen mit künstlichen Blumen. Wenn aber z. B. Plateau Schmetterlinge und Bienen in solchen Versuchen zuerst auf die künstlichen Blumen zufliegen sah und dann von ihnen ablenken, ohne sich weiter um sie zu kümmern, so beweist das wohl nur, dass sie schärfer sehen, als man es ihnen zutraute, dass sie zwar auf grössere Entfernung getäuscht werden können, nicht aber in der Nähe; möglich auch, dass der Geruchsinn dabei den Ausschlag gibt. Ich habe selbst derartige Versuche ge- macht, und zwar mit Tagfaltern, denen ich in einem Wald von natür- lichen Blumen ein einzelnes künstliches Chrysanthemum hinsetzte. Es kam in der That selten vor, dass ein Falter sich auf die künstliche 14* 2 20 Entstehung der Blumen. Blume setzte, meist flogen sie dicht drüber hin, ohne aber sich nieder- zulassen. Zwei Mal jedoch sah ich sie sich auf die künstliche Blume setzen und ein Paar Momente eifrig mit dem Rüssel umher- tasten, dann freilich rasch abfliegen. Die ächten Chrysanthemum hatten sie mit Vorliebe besucht und eifrig den Nektar aus den vielen Einzelblüthen gesogen, bei der künstlichen Blume versuchten sie, es ebenso zu machen, und standen erst davon ab, als dies nicht gelingen wollte. Hier waren die Farben freilich nur Weiss und Gelb, bei Roth und Blau mag es noch schwerer sein, genau den Eindruck der natürlichen Blumenfarbe nachzuahmen, und dann fehlt immer noch der feine Duft, der von der Blume ausgeht. Jedenfalls ist die Farbe nicht das einzige Anlockungsmittel der Blumen, sondern wohl in den meisten Fällen kommt der Duft hinzu, und auch dieser ist nicht das Ziel des Insektenbesuches, sondern der Honig, zu welchem Farbe und Duft nur den Weg zeigen. Duft- und Honigentwicklung werden sich ebenso wie die Blumenfarben durch Selektionsprozesse gebildet und gesteigert haben, die in der Bewerbung um den Insektenbesuch ihre Wurzel hatten, und sobald einmal erst diese Grundeigenschaften der Blumen vorhanden waren, konnten nun auch feinere Ausgestaltungen derselben ihren Anfang nehmen, und Blumenformen ausgebildet werden, welche besonders auch in der Gestalt mehr und mehr von der ursprünglichen regel- mässigen und einfachen Form der Blüthen abwichen. Dies wird darin hauptsächlich seinen Grund gehabt haben, dass nachdem der Insektenbesuch einer Blume im Allgemeinen gesichert war, es nun vortheilhaft wurde, diejenigen Insekten vom Besuch auszuschliessen , welche den Honig raubten, ohne den Gegendienst der Kreuzbefruchtung zu leisten, alle solche also, die dazu durch Kleinheit oder Unstetigkeit des Besuchs ungeeignet waren. Bevor Schmetterlinge und Bienen existirten, werden die regelmässig gebauten, flachen Blumen mit offen daliegendem Honig von einer gemischten Ge- sellschaft von Phryganiden, Blatt- und Schlupfwespen besucht worden sein. Indem nun dann der Honig in Vertiefungen der Blume rückte, entzog er sich den weniger intelligenten Insekten, und so verengerte sich der Kreis der Besucher schon etwas. Wenn dann bei der be- treffenden Art die Blumenblätter zu einer kurzen Röhre verwuchsen, so wurden dadurch alle diejenigen Besucher ausgeschlossen, deren Mundtheile zu kurz waren, um zum Honig hinabzureichen; unter den- jenigen aber, die ihn noch erreichen konnten, begann nun der Prozess der Rüsselbildung: die Unterlippe oder die Maxillen oder beide Theile Einschränkung der Besucherkreise. 22 1 '£> verlängerten sich in gleichem Schritt mit der Kronenröhre der Blume, und es bildeten sich aus den Phryganiden die Schmetterlinge, aus den Schlupfwespen die Grabwespen und Bienen. Auf den ersten Blick möchte man vielleicht glauben, dass es vor- theilhafter für die Blumen gewesen sein müsse, recht viele verschieden- artige Besucher anzuziehen, das ist aber offenbar nicht der Fall. Im Gegentheil, specialisirte, nur für wenige Besucher zugängliche Blumen, die aber für diese wenigen anziehend sind, müssen sicherer durch sie befruchtet werden, weil Insekten, die nur an wenigen Blumenarten fliegen, diese um so sicherer besuchen, und vor Allem häufiger viele Blumen derselben Art nacheinander besuchen. HERMANN MÜLLER beobachtete, dass ein Taubenschwänzchen (Macroglossa stellatarum) in vier Minuten 108 Blumen derselben Art, des prächtigen Alpen-Stiefmütterchens (Viola calcarata) hintereinander anflog; ebensoviele Befruchtungen kann es in dieser kurzen Zeit ausgeführt haben. Es war also in der That von Vortheil für eine Blume, ihren Be- sucherkreis mehr und mehr zu verengen, indem sie so abänderte, dass nur noch die ihr nützlichen Besucher bis zu ihrem Honig dringen konnten, die übrigen nicht. So entstanden Bienenblumen, Tag- falterblumen, Schwärmerblumen, ja in manchen Fällen hat sich eine Blumenart so specialisirt, dass sie nur noch von einer ein- zigen Insektenart befruchtet wird. Dadurch erklären sich die wunder- baren Anpassungen der Orchideen-Blumen, und die enorme Länge des Rüssels gewisser Schmetterlinge. Schon unsere Schwärmer, Macroglossa stellatarum und Sphinx Convolvuli, zeigen eine erstaun- liche Länge des Rüssels, bei letzterer Art 8 cm; bei Macrosilia Cluentius in Brasilien ist derselbe über 20 cm lang, und in Madagaskar wächst eine Orchidee, deren Nektarien 30 cm lang, und im Grund fast 2 cm hoch mit Honig angefüllt sind, zu der man aber den befruch- tenden Schwärmer noch nicht kennt. Man kann also wohl sagen, dass die Blumen, indem sie nach dieser oder jener Richtung abänderten, sich bestimmte Besucherkreise gezüchtet haben, aber auch umgekehrt, dass bestimmte Insekten- gruppen sich bestimmte Blumen gezüchtet haben. Denn diejenigen Umgestaltungen der Blumen waren stets für sie die vortheilhaftesten, welche ihnen den ausschliesslichen Besuch ihrer besten Kreu- zungsvermittler sicherten, und diese Umgestaltungen waren theils solche, welche die anderen Besucher abhielten, theils solche, welche jene besten anzogen. 2 2 2 Entstehung der Blumen. Von botanischer Seite ist die Annahme, dass Blumen und Blumen- suchende Insekten durch Selektionsprozesse einander angepasst worden seien, als unhaltbar betrachtet worden, weil jede Veränderung der Blume die entsprechende des Insektes schon voraussetzte. Ich würde den Einwurf nicht erwähnen, wenn er nicht von einem so berühmten Naturforscher wie NäGELI herrührte, und wenn er nicht zugleich recht geeignet wäre, den Vorgang solcher Züchtungsprozesse sich klar zu machen. NäGELI meinte, Selektion könne z. B. eine Ver- längerung der Kronenröhre einer Blume nicht bewirkt haben, weil der Rüssel des Insektes ja gleichzeitig verlängert worden sein müsse. Verlängere sich die Kronenröhre allein und nicht zugleich auch der Rüssel des Schmetterlings, so werde die Blume nicht mehr befruchtet, und gehe die Verlängerung des Rüssels derjenigen der Kronenröhre voraus, so habe sie keinen Werth für den Schmetter- ling, könne also auch nicht Gegenstand eines Züchtungsprozesses werden. Der Einwurf übersieht, dass es von einer Blumenart und einem Schmetterling nicht nur ein Individuum gibt, sondern Tausende oder Millionen, und dass diese untereinander nicht absolut gleich, sondern ungleich sind. Darin besteht ja gerade der Kampf ums Dasein, dass die Individuen einer jeden Art verschieden, und dass die Einen besser, die Anderen minder gut beschaffen sind. Gerade in der Ausmerzung der Letzteren, der Bevorzugung der Ersteren besteht ja der Auslese- prozess, der stets das Bessere schafft, weil er fortwährend die Träger des minder Guten verwirft. Es wird also auch in unserem Falle unter den Individuen der betreffenden Pflanzenart Blumen mit längerer und solche mit kürzerer Kronenröhre, unter den Schmetterlingen solche mit längerem und solche mit kürzerem Rüssel geben. Wenn nun unter den Blumen die längeren sicherer kreuzbefruchtet werden, als die kürzeren, weil schädliche Besucher fern bleiben, so werden die längeren mehr und besseren Samen hervorbringen und ihre Eigen- schaft auf mehr Nachkommen vererben, und wenn unter den Schmetter- lingen die langrüsseligsten im Vortheil waren, weil für sie der Honig in den längeren Kronenröhren gewissermassen aufgehoben blieb, sie sich also besser ernährten als die mit kürzeren Rüsseln, so muss von Generation zu Generation die Zahl der langrüsseligen Individuen zu- genommen haben. So wird sich die Länge der Krone und die des Rüssels so lange gesteigert haben, als noch ein Vortheil für die Blume darin lag, und beide Parteien mussten sich notlrwendig in gleichem Schritt verändern, da jede Verlängerung der Krone Entstehung der Blumen. 2 2 O von einer Bevorzugung der längsten Rüsselvariation begleitet war. Die Steigerung der Eigenschaften beruhte und kann nur beruht haben auf einer Leitung der Variationen nach der nützlichen Richtung. Dieses aber eben nennen wir nach Darwin und Wallace's Vorgang: Naturzüchtung. Wir haben indessen in der Blumengeschichte noch in zweifach anderer Weise ein Mittel, die Wirklichkeit der Selektionsprozesse zu erweisen. Zunächst ist es klar, dass für eine solche gleichzeitige gegenseitige Anpassung verschiedenartiger Organismen eine andere Erklärung nicht gegeben werden könnte. Wollten wir — wie es z. B. NÄGELI that — eine innere Entwicklungskraft der Organismen annehmen, welche ihre Umwandlungen hervorruft und leitet, so wür- den wir, wie früher schon gesagt, zugleich zur Annahme einer Art von prästabilirter Harmonie gezwungen sein, so wie sie Leibniz für das Zusammengehen von Körper und Geist annahm: Pflanze und Insekt müssten von ihrer Entwicklungskraft stets korrespondirend verändert werden, so dass sie sich verhielten wie zwei Uhren, welche so genau gearbeitet sind, dass sie stets gleich gehen, obwohl sie sich nicht gegenseitig beeinflussen. Der Fall wäre nur dadurch noch ver- wickelter, als bei den Uhren, dass die Veränderungen . welche hier auf beiden Seiten eintreten müssten, ganz verschiedene, doch aber zugleich solche sind, die so genau zusammenpassen, wie Wille und Handlung. Die ganze Entwicklungsgeschichte der Erde und der Lebe- welt hätte dann bis in die kleinsten Einzelheiten hinein vorausgesehen und in die angenommene Entwicklungskraft hineingelegt sein müssen. Eine solche Annahme könnte aber schwerlich Anspruch auf eine wissenschaftliche Hypothese machen. Obgleich jedes vom Wind ver- wehte Sandkorn auf dieser Erde gewisslich nur dahin fallen konnte, wohin es wirklich fiel, so wird es doch jedem von uns frei stehen, eine Hand voll Sand so zu werfen, wie es ihm gerade beliebt, und obgleich auch dieser Wurf wieder seinen genügenden Grund in uns gehabt haben muss, so wird man doch nicht sagen können, dass seine Richtung und die Orte, an denen die betreffenden Sandkörner niederfielen, in der Geschichte der Erde im Voraus bestimmt ge- wesen seien. Mit anderen Worten: das, was wir Zufall nennen, spielt auch in der Entwicklung der Organismen eine Rolle, und es widerspricht der Annahme einer ins Einzelne hinein prädestinirenden Entwicklungskraft, wenn wir sehen, dass die Arten sich ihren zufälligen Lebensbedingungen gemäss umwandeln. 2 24 Entstehung der Blumen. Dies lässt sich gerade bei den Blumen nachweisen. Wenn z. B. das wilde Stiefmütterchen, Viola tricolor, welches in der Ebene und auf dem Mittelgebirge wächst, von Bienen befruchtet wird, die nahe- verwandte Viola calcarata der Hochalpen von Schmetterlingen, so begreift sich das leicht, weil in den niederen Regionen zwar die Bienen sehr häufig sind und somit die Befruchtung der Art sicher stellen, in den Hochalpen aber nicht. Dort überwiegen bei Weitem die Schmetter- linge, wie Jeder weiss, der einmal im Juli über die blumenbedeckten Matten in den Hochalpen gegangen ist und die Hunderte und Tausende von Tagfaltern gesehen hat, die dort von Blume zu Blume fliegen. So hat sich denn das Stiefmütterchen auf den Hochalpen zu einer Schmetterlingsblume umgewandelt durch Verlängerung ihres Nekta- riums in einen langen, nur dem Schmetterlingsrüssel zugänglichen Sporn. Der Zufall, der gewisse Individuen der Stammart und ihre Nachkommen die Hochalpen erklimmen Hess, wird also die Veran- lassung zu der Hervorbringung dieser dem dortigen Insektenbesuch angepassten Abänderungen gewesen sein. Eine prädestinirende Ent- wicklungskraft leidet solchen Fällen gegenüber vollständig Schiffbruch. Einen vortrefflichen Prüfstein für die Wirklichkeit der Selektions- prozesse haben wir aber noch weiter in der Qualität der Abän- derungen bei Blumen und Insekten. Naturzüchtung kann nur solche Abänderungen hervorbringen, welche ihrem Träger selbst von Nutzen sind; wir werden also nur solche Einrichtungen bei Blumen anzutreffen erwarten, die den Blumen selbst direkt oder indirekt nützlich sind, und umgekehrt beim Insekt nur solche, welche dem Insekt selbst nützlich sind. Und so finden wir es in der That. Alle Einrichtungen der Blumen, ihre Farbe, ihre Gestalt, ihre Saftmäler und haarigen Saftstrassen (Iris), ihr Duft und ihr Honig, sie sind alle der Pflanze selbst indirekt nütz- lich, indem sie alle so zusammengeordnet sind, dass sie das honig- suchende Insekt zur Befruchtung der Blume zwingen. Am deutlich- sten tritt dies bei den sog. »Täuschblumen« hervor, welche durch Grösse und Schönheit, durch Duft und durch ihre Ähnlichkeit mit anderen Blumen die Insekten anlocken und zur Kreuzungsvermittlung zwingen, obgleich sie gar keinen Honig enthalten. So verhält es sich nach HERMANN MÜLLER mit der schönsten unserer einhei- mischen Orchideen, dem Frauenschuh, Cypripedium calceolaris. Dieser wird von Bienen aus der Gattung Andrena besucht, die in die grosse, holzschuhförmige Unterlippe der Blume auf der Suche nach Honig hineinkriechen, um sich dann gefangen zu finden, denn dort wenigstens, Täuschblumen. 2 2 R wo sie hereinkamen, können sie wegen der steilen und glattpolirten Wände der Blume nicht wieder hinaus. Es gibt vielmehr für die Biene nur einen Ausgang; sie muss sich unter der Narbe durch- zwängen, was sie nur mit Anstrengung zu Wege bringt, und wobei sie sich mit Pollen nothwendig beschmiert, um diesen dann in der folgenden Blume, in die sie kriecht, und die sie auch nur in derselben Weise verlassen kann, mit mechanischer Nothwendigkeit auf die Narbe zu übertragen. Solche merkwürdige Fälle erinnern in gewisser Weise an die Fälle von Mimicry, indem es sich um Täuschungen handelt, die nur mit Vorsicht angewandt werden dürfen, sonst wirken sie nicht mehr. Sie könnten geneigt sein, zu vermuthen, dass ein so intelligentes Insekt, wie eine Biene sich nicht zwei Mal durch den Frauenschuh anführen lassen werde, also in keine zweite Blume hineinkriechen werde, nach- dem sie in der ersten die Erfahrung schon gemacht hat, dass kein Honig darin ist. Der Schluss wäre aber unrichtig, denn die Bienen sind daran gewöhnt, in vielen Blumen den Honig schon von anderen Genossen weggenommen zu finden; sie können also aus dem ein- maligen Nichterfolg noch nicht schliessen, dass Cypripedium überhaupt keinen Honig hervorbringe, sondern sie versuchen es in einer zweiten, dritten und vierten Blume. Hätte diese Orchidee reichbesetzte Blumen- Rispen, wie z. B. manche Orchis- Arten , und wäre zugleich die Art häufig, so würden die Bienen wahrscheinlich bald die Blume nicht mehr besuchen, allein von Beiden ist das Gegentheil der Fall: es findet sich meist nur eine, höchstens zwei offene Blumen am Frauen- schuh, und die Pflanze ist selten und steht wohl nirgends in grosser Masse beisammen. Fänden wir irgend eine Blume, die ihren Honig jedem Insekt offen darböte, ohne von demselben einen Gegendienst zu erzwingen, so würde dies eine durch Selektion nicht erklärbare Einrichtung sein ; wir kennen aber nichts Derartiges. Umgekehrt nun findet sich auch bei den Insekten keine Ein- richtung, welche nur der Blume von Nutzen, und nicht auch dem Insekt direkt oder indirekt nützlich wäre. Bienen und Schmetter- linge übertragen zwar den Pollen der einen Blume auf die Narbe der anderen, aber nicht etwa durch einen besonderen Instinkt, der sie dazu antreibt, sondern durch den Zwang, welchen der Bau der Blume ihnen auferlegt, sei es, dass ihre Staubbeutel so gestellt und einge- richtet sind, dass sie ihren Inhalt über den Besucher ausschütten müssen, oder sei es, dass ihre Antheren zu gestielten, klebrigen, bei 22Ö Entstehung der Blumen. Berührung abspringenden Pollinien umgewandelt sind, die sich dem Insekt eewissermassen auf die Nase setzen. Und auch dabei bleibt es im Falle der Orchis nicht, denn das Insekt würde aus eigenem Antrieb niemals diese Pollinien auf die Narbe der nächsten Orchis- Blume absetzen, und so musste die Blume ihr Pollinium so einrichten, dass es sich auf dem Kopf des Insekts nach kurzer Zeit nach vornen krümmt. Das stimmt also Alles aufs Beste mit der Voraussetzung. Wie hätte ein Instinkt, den Pollen der Blume auf die Narbe zu tragen, beim Insekt durch Selektion entstehen können, da doch das Insekt keinerlei Vortheil von dieser Handlung haben kann? Dementsprechend finden wir auch keine Zangen oder son- stige Greiforgane bei den Insekten ent- wickelt, welche den Pollen zu packen und zu übertragen bestimmt wären. Allerdings gibt es einen merkwür- digen Fall, in dem dies so zu sein scheint, ja sogar wirklich ist, der aber dennoch keinen Widerspruch, sondern eine Be- stätigung der Selektionslehre bildet. Der verdiente amerikanische Entomologe RlLEY hat durch genaue Beobachtungen festgestellt, dass die grossen weissen Blu- men der Yucca durch eine kleine Motte befruchtet werden, die dabei in einer sonst bei Insekten unerhörten Art verfährt. Nur die Weibchen besuchen die Blume und beschäftigen sich zunächst damit, einen grossen Ballen Pollen zu sammeln. Zu diesem Behuf haben sie am ersten Glied ihrer Kiefertaster (Fig. 52, C, vixf] einen langen, sichel- förmig gebogenen und mit Borsten besetzten Fortsatz (si), wie ihn sonst wohl kein anderer Schmetterling besitzt, und mit dessen Hülfe die Motte in kurzer Zeit einen Pollenballen zusammenkehrt, der ihren Kopf um das Dreifache an Masse übertreffen kann. Mit diesem Ballen fliegt das Thierchen in die nächste Blume und legt dort Eier mittelst eines besonderen, den Schmetterlingen sonst ebenfalls fremden Legestachels (Fig. 52, A, op) in den Fruchtknoten der Blume. Schliesslich stopft sie den mitgebrachten Pollen tief in die trichterförmige Narbe des Griffels (Fig. 51,;/) hinein und bewirkt so die Fremdbestäubung. Es entwickeln sich die Samen- Anlagen, und wenn die Räupchen nach Fig. 51. Die Yucca-Motte, Pro- nuba yuccasella, M Eier in den Fruchtknoten der Yucca-Blüthe lebend, nach RlLEY. Yucca-Motte. 22' 4 — 5 Tagen aus dem Ei schlüpfen, ernähren sie sich von denselben bis sie reif zur Verpuppung sind. Jedes Räupchen braucht etwa 18 bis 20 Samen zu seiner Entwicklung (Fig. 52, B, r). Hier also ist wirklich eine Anpassung des Instinkts und gewisser Körpertheile des Schmetterlings an die Befruchtung der Pflanze vor- handen, allein hier liegt dieselbe ebensowohl im Interesse des Schmetterlings selbst, wie in dem der Pflanze; die Motte erreicht durch die Übertragung des Pollens auf die Narbe die Entwickluno- Fig- 52' Zur Befruchtung der Yucca. A Legestachel der Yucca-Motte, op Scheide desselben, sp Spitze, op' vorgetretener Eileiter. — B Zwei Fruchtknoten von Yucca mit den Ausschlupflöchern der Motte und der Raupe der Motte (r) im Innern. — C Kopf der weiblichen Motte mit dem sichelförmigen Anhang [si am Maxillar- taster [mxp) zum Abschaben und Zusammenballen des Pollens; mx1 Rüssel, au Augen, p1 erstes Bein. — D Längsschnitt durch einen Fruchtknoten der Yucca kurz nach der Ablage zweier Eier [ei] ; man sieht den Stichkanal [stk). Nach Riley. der Samen-Anlagen, welche ihren Nachkommen als Nahrung dienen; wir haben es also hier mit einer eigenthümlichen Form der Brutpflege zu thun, die nicht wunderbarer ist, als viele andere Arten der Brut- pflege bei Insekten, Ameisen, Bienen, Mordwespen oder Schlupf- und Gallwespen. Man könnte aber einwerfen, dass es sich im Falle der Yucca nicht um Befruchtungs-Vermittlung handle, sondern um Schmarozerthum; allein die Eier, welche in einen Fruchtknoten gelegt werden, sind 2 2 8 Entstehung der Blumen. nur ganz wenige, und die Räupchen, welche aus ihnen ausschlüpfen, verzehren immer nur einen kleineren Theil der Samen-An- lagen, deren etwa 200 sind (Fig. 52, B). So ist also dafür gesorgt, dass auch die Pflanze ihren Nutzen von dem Verfahren des Schmetter- lings habe, indem noch genug Samen übrig bleiben. Die Gestalt und Stellung der Staubgefässe und der Narbe scheinen hier dem Be- such der Motte ebenso genau angepasst zu sein, als der Schmetter- ling der Übertragung des Pollens, denn die Yucca kann nur durch diese Motte befruchtet werden und setzt keine Sameii an, wenn die- selbe fehlt. Aus diesem Grunde bleiben die in Europa kultivirten Yucca-Arten steril. So löst sich also dieser scheinbare Widerspruch, und die That- sachen stimmen überall mit der Voraussetzung, dass die Anpassungen zwischen Blumen und Insekten auf Selektionsprozessen beruhen. Aber noch von einer anderen Seite her wird dieser Ursprung, wie mir scheint, unwiderleglich bewiesen, ich meine durch die blos re- lative Vollkommenheit der Anpassungen, oder wenn man lieber will, ihre relative Unvollkommenheit. Ich wies schon darauf hin, dass alle auf Selektion beruhenden Anpassungen nur relativ vollkommen sein können, der Natur der sie bewirkenden Ursachen nach, denn Naturzüchtung wirkt nur so lange, als eine weitere Verbesserung des betreffenden Charakters noch von Vortheil für die Existenz der Art ist. Darüber hinaus kann sie nicht thätig sein, da die Bevorzugung besserer Variationen von dem Augenblick an aufhört, wo diese Verbesserungen nicht mehr nöthig sind, weil die Existenz der Art von dieser Seite her nicht mehr stärker zu sichern ist; genauer gesprochen, weil weitere Variationen in der bisher befolgten Richtung keine Verbesse- rungen mehr sind, auch wenn sie uns als solche erscheinen möchten. So sind viele Blumen in ihrer Krone auf den Besuch des dicken, haarigen Kopfes und Thorax von Bienen eingerichtet, indem nur an diesem hinreichend Pollenstaub haften bleibt, um die folgende Blume zu befruchten; sie werden aber dennoch häufig auch von Schmetter- lingen besucht, und es ist an vielen von ihnen keine Einrichtung ge- troffen, die diesen unnützen Besuch verhindern könnte. Offenbar deshalb nicht, weil Einrichtungen, die dies verhindern, nur dann ihren Anfang nehmen könnten, wenn sie zur Erhaltung der Art nothwendig würden — dem Begriff nach — , in diesem Falle also erst dann, wenn durch den Raubbesuch der Schmetterlinge so zahlreiche Blumen der betreffenden Art den befruchtenden Bienen entzogen würden, dass Entstehung der Blumen. 2 2Q zu wenig Samen gebildet werden und der Bestand der Art gefährdet erscheinen müsste, indem die Normalziffer derselben dauernd herab- sänke. Solange die Bienen die Blume noch häufig genug besuchen, damit die nöthige Zahl Samen sich bilden kann, wird ein solcher Selektionsprozess nicht eingeleitet werden können, sollten aber z. B. die Bienen fast alle Blumen ihres Honigs schon beraubt finden und deshalb in ihrem Eifer nachlassen, so würde jede Abänderung der Blume, die den Honigraub der Schmetterlinge zu erschweren im Stande wäre, Gegenstand eines Selektionsprozesses werden. Wir finden nun überall solche Unvollkommenheiten der Anpas- sungen, die daraufhindeuten, dass sie auf Selektionsvorgängen beruhen müssen. So werden zahlreiche Blumen noch von anderen, als den befruchtenden Insekten besucht, die ihnen Nichts nützen, sondern nur Pollen und Honig rauben, und die schönsten Einrichtungen mancher Blumen, z. B. der Glycinien, die die Wechselbefruchtung durch Bienen bezwecken, werden dadurch illusorisch gemacht, dass Holzbienen und Hummeln von aussen her Löcher in das Nektarium beissen, um so auf dem kürzesten Weg zum Honig zu gelangen. Ich weiss nicht, ob in dem Vaterland der Glycinie Bienen leben, die es ebenso machen; jedenfalls können aber dieselben der Art keinen fühlbaren Schaden bringen, andernfalls würden Selektionsprozesse eingeleitet worden sein, welche in irgend einer Weise, etwa durch Erzielung von Stachelhaaren oder Haaren mit brennendem Sekret, oder irgendwie sonst diese Schädigung verhindert hätten. Sollte aber derartiges der physischen Natur der Blume nach nicht möglich sein, so würde die Art an Häufig- keit abnehmen und ihrem Untergang entgegen gehen müssen. Die relative Unvollkommenheit der im Allgemeinen so bewunde- rungswürdigen Blumen-Einrichtungen bildet also einen weiteren Hin- weis auf ihre Entstehung durch Selektionsprozesse. 2^0 Sexuelle Selektion. XL Vortrag. Sexuelle Selektion. Schmuckfarben männlicher Schmetterlinge und Vögel p. 231, Wai.lace's Erklärung p. 232, Überzahl der Männchen p. 233, Wählen der Weibchen? p. 235, Sehen der Schmetterlinge p. 237, Anlockende Düfte p. 237, Duftschuppen p. 238. Weibchen-Düfte p. 241, Grenze zwischen Natur- und Sexualzüchtung unbestimmt p. 241, Species-Düfte p. 241. Brunstdüfte bei anderen Thieren p. 242, Gesang der Cikaden und Vögel p. 242, Mannichfaltigkeit des Schmuckes successive erworben p. 244, Kolibris p. 244, Ersatz des persönlichen Schmuckes durch andere Liebeswerbung p. 245, Spürorgane der männ- lichen Insekten und Krebse p. 246, Vorrichtungen zum Fangen und Festhalten der Weibchen p. 247, Kleinheit gewisser Männchen p. 249, Waffen der Männchen für den Kampf um die Weibchen p. 250, Turbanaugen der Eintagsfliegen p. 252, Aufblasbare Hörner auf dem Kopf von Vögeln p. 253, Fehlen sekundärer Geschlechtscbaraktere bei niederen Thieren p. 253, Übertragung männlicher Charaktere auf die Weibchen p. 254, Lycaena, Papageien p. 256, Das Prinzip der Mode thätig bei der phyletischen Umfärbung der Arten p. 257, Zeichnungsmuster auf der oberen Fläche der Tagfalter einfacher, als auf der oberen p. 259, Zusammenfassung p. 261. Meine Herren! Wir fanden für zahlreiche zweckmässige Einrich- tungen an Pflanzen und Thieren in dem Prozess der Naturzüchtung eine Erklärung, für Gestalt, Färbung, Chemismus, für die verschiedensten Waffen und Schutzvorrichtungen, für die Existenz jener Blüthenformen, welche wir Blumen nennen, für die Instinkte u. s. w. Die charakteri- stischsten Theile ganzer Insektenordnungen können nur durch An- passung an die Umgebung mittelst Naturzüchtung in ihrer Entstehung begriffen werden, und unter dem Eindruck dieses Ergebnisses möchte man jetzt schon fast fragen, ob denn nicht vielleicht alle Umgestal- tungen der Lebewelt auf Anpassung an die stets wieder von Neuem wechselnden Lebensbedingungen bezogen werden dürften. Wir werden später auf diese Frage wieder zurückkommen, für den Augenblick aber sind wir noch weit entfernt, sie bejahen zu können, denn es gibt un- zweifelhaft eine grosse Menge von Charakteren, wenigstens an Thieren, die in der Form von Naturzüchtung, wie wir sie bis jetzt kennen ge- lernt haben, ihren Grund nicht haben können. Wie wollten wir das prachtvolle Gefieder der Kolibris, der Fasanen, der Papageien, die wundervollen Farbenmuster so zahlreicher Tagfalter Sexuelle Selektion. 23 I auf den Vorgang" der Naturzüchtung zurückführen, da doch alle diese Eigenschaften im Kampfe ums Dasein für die Art kaum eine Bedeutung haben können? Oder was sollte es dem Paradiesvogel im Kampf ums Dasein nützen, ein so herrliches Federkleid zu besitzen, oder dem lasurblau schillernden Morpho Brasiliens, dass er von Ferne schon auffällt, wenn er die Krone der Palmen umspielt? Man könnte ja vielleicht vermuthen, es seien diese prächtigen Farben Widrigkeits- zeichen, etwa wie die der Helikoniden oder der bunten Raupen, allein erstens sind diese Thiere durchaus nicht ungeni essbar und werden sogar stark verfolgt, und zweitens zeigen ihre Weibchen ganz andere und sehr viel dunklere und einfachere Färbungen. Die schillernde Pracht aller dieser Paradiesvögel und Kolibris, auch die vieler Tag- falter findet sich nur beim männlichen Geschlecht, die Weib- chen dieser Vögel sind dunkel gefärbt und ohne die funkelnden Schmuckfedern, ganz wie die Weibchen vieler Schmetterlinge. Nun hat zwar ALFRED WALLACE gemeint, dies finde in dem grösseren Schutzbedürfniss der Weibchen seine Erklärung, welche bei den Vögeln bekanntlich meist das Brutgeschäft besorgen und dabei häufig feindlichen Angriffen blosgestellt sind. Es ist auch ohne Zweifel richtig, dass die dunkle und unscheinbare Färbung der Weibchen vieler Vögel und Schmetterlinge auf diesem grösseren Schutzbedürfniss beruht, allein damit ist die prachtvolle Färbung der Männchen dieser Arten nicht erklärt. Oder sollte dieselbe keiner weiteren Erklärung bedürftig sein, gewissermassen blos eine zufällige Nebenwirkung von Strukturverhältnissen der Federn, respective der Flügelschuppen, die irgend einen anderen uns unbekannten Vortheil mit sich brächten? Etwa so, wie die rothe Farbe des Blutes aller Wirbelthiere von den Fischen aufwärts ihren Nützlichkeitsgrund nicht darin haben kann, dass sie uns roth erscheint, sondern darin, dass sie der Ausfluss der chemischen Constitution des Hämoglobins ist, eines Körpers, der zum Stoffwechsel unentbehrlich ist und der die hier gar nicht mitspielende Neben-Eigenschaft hat, die rothen Lichtstrahlen zu reflektiren. Aber daran kann schon bei den Schmetterlingen Niemand im Ernste denken, der weiss, dass die Farben derselben an den Schup- pen hängen, die den Flügel dicht bedecken, und deren Bedeutung zum Theil wenigstens eben die ist, dem Flügel Farbe zu geben. Sie sind verkümmert oder farblos bei den »Glasflüglern« unter den Schmetterlingen, und ihre Färbung beruht theils auf Pigment, theils auf Fluorescenz und Interferenz, wie sie durch feinste mikroskopische Strukturen sich kreuzender Liniensysteme auf schwach gefärbten 232 Sexuelle Selektion. Schuppen bedingt werden. Die Schuppen unserer männlichen Bläu- linge (Lycaena) erscheinen nur durch solche Strukturen blau, während die ihrer Weibchen braun erscheinen durch braunen Farbstoff. Ent- färbt man die Schuppen der Weibchen durch Kochen mit Kalilauge, und trocknet sie dann, so sehen sie nicht etwa auch blau aus, wie die der Männchen; die Männchen-Schuppen besitzen also Etwas, was die der Weibchen nicht haben. Noch weniger wird Jemand die wunderbare Pracht des Gefieders der männlichen Paradiesvögel, mit ihren aufstellbaren, metallisch glänzenden Federkragen an Hals, Brust oder Schultern, mit ihren Federbüschen, ihren vereinzelt aus dem übrigen Gefieder lang her- vorstehenden Schmuckfedern an Kopf, Flügeln oder Schwanz, mit ihrem mähnenartigen Schopf zerrissener Hängefedern am Bauch und den Seiten, kurz mit der so überaus mannichfaltigen und absonder- lichen Federn-Ausstaffirung als eine unbeabsichtigte Nebenwirkung des für den Flug und Wärmeschutz hergestellten Federkleides betrachten wollen. So auffallende, vielgestaltige und ungewöhnliche Federbil- dungen müssen noch eine andere Bedeutung haben, als die genannten beiden. Alfred Wallace betrachtet diese Auszeichnungen der Männchen als den Ausfluss grösserer Lebensenergie und lebhafteren Stoffwechsels, allein nicht nur ist es unerwiesen, dass die männlichen Thiere den Weibchen gegenüber lebenskräftiger sind, sondern es lässt sich auch nicht einsehen, wieso zur Hervorbringung einer auffallenden bunten Färbung ein energischerer Stoffwechsel erforderlich sei, als zu der einer düsteren oder schützenden Färbung. Überdies gibt es sowohl bei Vögeln als bei Schmetterlingen auch brillant gefärbte Weibchen, und bei nahe verwandten Arten sind die Männchen prachtvoll gefärbt oder ganz einfach, wie die Weibchen. Darwin bezieht die Entstehung solcher sekundärer Geschlechts- charaktere auf Selektionsvorgänge, ganz analog denen der gewöhn- lichen Naturzüchtung, nur dass es sich hier nicht um die Erhaltung der Art handelt, sondern nur um die Erreichung der Fort- pflanzung für das einzelne Individuum. Die Männchen kämpfen gewissermassen um den Besitz der Weibchen, indem jede kleine Variation eines Männchens, welche dasselbe befähigt, sich leichter, als ein anderes, in den Besitz eines Weibchens zu setzen, eben dadurch auch grössere Aussicht hat, auf Nachkommen übertragen zu werden. Auf diese Weise müssen anziehende Variationen, die einmal auftauchen, sich auf immer zahlreichere Männchen der Art übertragen, und da Zahlenverhältniss der Geschlechter. 233 unter diesen auch wieder Diejenigen am meisten Aussicht haben, ein Weibchen für sich zu gewinnen, die die anziehende Eigenschaft in höherem Grade besitzen, so rriuss also solange eine Steigerung der Eigenschaft anhalten, als sich noch Variationen nach dieser Richtung hin darbieten. Allerdings aber ist Zweierlei dabei noch Vorbedingung. Wie die gewöhnliche Naturzüchtung nicht zu Stande käme, wenn nicht von jeder Generation zahlreiche, ja die meisten Individuen wieder ver- nichtet würden, ehe sie Zeit gehabt, Nachkommen hervorzubringen, so würde der Prozess der sexuellen Selektion niemals zu Stande kommen können, falls jedes Männchen zuletzt doch auch ein Weib- chen fände, möchte es nun mehr oder weniger anziehend für Letzteres sein. Wäre die Zahl von Männchen und Weibchen einer Art stets o-leich, und käme immer auf ein Weibchen nur ein Männchen, so könnte zwar wohl eine Wahl von Seite der Weibchen, oder auch der Männchen geübt werden, allein es würden doch immer noch so viele Individuen beider Geschlechter übrig bleiben, dass kein Mann unbeweibt zu bleiben brauchte. Dem ist nun aber nicht so. Das Verhältniss der Geschlechter ist selten wie i : i, meist überwiegt die Individuenzahl der Männchen, selten die der Weibchen. Bei Vögeln sind im Allgemeinen die Männ- chen zahlreicher, bei Fischen überwiegen die Männchen noch mehr, bei Tagfaltern kommen manchmal ioo Männchen auf ein Weibchen (BATES), wenn es auch einige wenige tropische Papilioniden zu geben scheint, bei denen umgekehrt die Weibchen etwas häufiger sind. DARWIN hat darauf aufmerksam gemacht, dass man allein schon aus den Preislisten der Schmetterlingshandlung von Dr. STAUDINGER die grössere Seltenheit der Weibchen bei den meisten Schmetterlingsarten ablesen kann, indem bei allen nicht ganz gemeinen Arten die Preise der Weibchen höher, oft um das Doppelte höher sind, als die der Männchen. Unter der ganzen Liste von vielen Tausend Arten be- finden sich nur 1 1 Arten von Nachtschmetterlingen, bei denen die Männchen theurer sind, als die Weibchen. Auch bei Eintagsfliegen (Ephemeriden) sind die Männchen in der Überzahl, bei manchen von ihnen kommen 60 Männchen auf ein Weibchen, aber es gibt auch Insektenarten, z. B. Libelluliden, bei denen die Weibchen 3 oder 4 Mal so zahlreich sind; nicht zu rechnen solche Arten, die die Fähigkeit der parthenogenetischen Fortpflanzung erlangt haben, und deren Männchen im Aussterben be- griffen sind. 234 Sexuelle Züchtung. Dieses Postulat für eine »sexuelle Züchtung«, nämlich ungleiche Anzahl der Individuen in beiden Geschlechtern wäre also erfüllt in der Natur, und es fragt sich nun, ob auch das zweite Po- stulat, das der Fähigkeit des Wählens, als thatsächlich vorhanden betrachtet werden darf. Gerade dieser Punkt ist nun von vielen Seiten bestritten worden, sogar von dem Mitbegründer der ganzen Selektionslehre, von ALFRED Wallace. Dieser Forscher bezweifelt, dass bei Vögeln eine Wahl von Seiten des einen Geschlechts behufs der Paarung ausgeübt werde, und meint, dass selbst, wenn eine Wahl stattfinden könnte, diese doch nicht im Stande sei, so grosse Verschiedenheiten in Färbung und Beschaffen- heit des Gefieders hervorzubringen, weil dies voraussetze, dass die sämmtlichen Weibchen einer Art lange Generationsfolgen hindurch denselben Geschmack gehabt hätten. In ähnlicher Weise ist es be- zweifelt worden, dass Schmetterlinge eine Wahl ausübten und ein schöneres Männchen dem weniger schönen vorzögen. Man muss nun zugeben, dass die direkte Beobachtung des Wählens schwierig ist, und dass wir bis jetzt nur wenig Sicheres darüber sagen können. Immerhin gibt es aber einige sichere Beobachtungen an Säugethieren und Vögeln, welche beweisen, dass lebhafte Zu- oder Abneigung eines Weibchens gegen ein bestimmtes Männchen vorkommt. Wenn man nun diese Thatsache festhält und hinzunimmt, dass die Auszeichnungen der Männchen während ihrer Liebeswerbung in oft sehr merkwürdiger Weise entfaltet und den Weibchen entgegen- gehalten werden, dass sie bei Säugern, Vögeln, Amphibien und Fischen erst zur Zeit der Geschlechtsreife überhaupt auftreten, so kann meines Erachtens kein Zweifel darüber bestehen, dass sie bestimmt sind, die Weibchen zu bezaubern und zur Hingabe an das Männchen zu be- wegen. Die Gegner der sexuellen Selektion hängen meist viel zu sehr am einzelnen Fall, indem sie sich vorstellen, jedes Weibchen müsse eine Wahl zwischen mehreren Männchen treffen. Dessen be- darf aber die Theorie so wenig, als die Theorie der Naturzüchtung der Annahme bedarf, dass jedes Individuum einer Art, welches besser ausgerüstet ist im Kampf ums Dasein, auch nothwendig überleben und zur Fortpflanzung gelangen müsste, oder umgekehrt, dass das etwas weniger gut ausgerüstete nothwendig unterliegen müsste. Nur im Durchschnitt braucht es sich so zu verhalten, um die Theorie wahr zu machen, und so bedarf auch die Theorie der sexuellen Züch- tung nicht der Annahme, dass jedes Weibchen in die Lage kommt, aus einem Trupp Männchen eine skrupulöse Wahl zu treffen, sondern Das Wählen der Weibchen. - 3 5 darauf, dass im Durchschnitt die den Weibchen angenehmeren Männchen vorgezogen, die weniger angenehmen aber zurückge- stellt werden. Verhält sich dies so, so muss es die Folge haben, dass die für die Weibchen anziehenderen männlichen Eigenschaften die Überhand bekommen, dass sie sich mehr und mehr in der Art festsetzen, steigern und zuletzt einen festen Charakter aller Männchen bilden. Sie werden sehen, wenn wir etwas ins Einzelne gehen, dass be- sonders die Qualitäten der männlichen Auszeichnungen sich genau so verhalten, als ob sie Züchtungsprozessen ihr Dasein verdankten, dass sich mit anderen Worten die Erscheinungen der schmücken- den Sexualcharaktere von diesem Gesichtspunkt aus bis zu einem gewissen Punkt verstehen lassen. Es scheint mir geboten, den Pro- zess der sexuellen Selektion als wirklich wirksam anzunehmen, und anstatt ihn in Zweifel zu ziehen, weil man das Wählen der Weibchen nur selten direkt feststellen kann, vielmehr umgekehrt aus den zahlreichen sekundären Sexualcharakteren der Männchen, welche nur Liebeswerbung bedeuten können, zu schliessen, dass die Weibchen solcher Arten für derartige Auszeich- nungen empfänglich sind und wirklich im Stande, zu wählen. Mir wenigstens bleibt kein Zweifel, dass die sexuelle Selektion Darwin's ein bedeutender Faktor der Umwandlung der Arten ist, auch wenn ich blos solche sekundäre Geschlechtscharaktere ins Auge fasse, die auf Liebeswerbung abzielen; wir werden aber sehen, dass es noch andere gibt, bei denen ein Zweifel an ihrer Entstehung durch Züchtungsprozesse noch weniger gestattet ist, und die eben gerade dadurch auch wieder zurück auf die Charaktere für Liebes- werbung schliessen lassen. Der erste Anfang von Abänderungen ist auch bei der gewöhnlichen Naturzüchtung nicht aus ihr, sondern nur aus einer einmal gegebenen Variation zu verstehen, über deren Ursachen wir später zu sprechen haben werden, nur die Steigerung dieser ersten Abänderung in bestimmter Richtung kann auf Natur- züchtung beruhen, und sie muss darauf beruhen, insoweit die Abän- derungen zweckmässig sind. Nun lassen sich alle übrigen sekundären Sexualcharaktere als nützlich erkennen, nur die schmückenden Aus- zeichnungen nicht, obwohl auch sie als Steigerungen ursprünglich unbedeutenderer Abänderungen unzweifelhaft sich darstellen. Sollen wir nun sie allein als den reinen Ausfluss innerer Triebkräfte des Organismus auffassen, während bei den ihnen analogen Sexualcharak- teren zum Aufspüren, Fangen und Festhalten der Weibchen u. s. w., Weis mann, Descendenztheorie. I c 2l6 Sexuelle Selektion. doch die Steigerung und Richtung derselben auf Selektionsprozesse bezogen werden muss? Wenn aber ein Nutzen den schmückenden Sexualcharakteren überhaupt zukommt, so kann er nur in der stär- keren Anziehung der Weibchen liegen, und er kann sich nur geltend machen, indem die Weibchen in einem gewissen Sinn wählen. Wir werden also durch diese Schlussfolge ganz unabhängig von den Be- obachtungen über wirkliches Stattfinden einer Wahl, zur Annahme einer solchen — wie ich sie gleich genauer umschreiben werde — gezwungen. Betrachten wir aber die schmückenden Auszeichnungen der Männ- chen etwas näher, so sind sie recht verschiedener Art. Da sind zuerst die Männchen vieler Thiere durch Schönheit der Gestalt und besonders der Farbe vor den Weibchen ausgezeichnet, zahl- reiche Vögel, manche Amphibien, wie die Wassersalamander, viele Fische, viele Insekten, vor Allem Tagfalter. Besonders bei den Vögeln steht der Dimorphismus der Geschlechter in auffallender Be- ziehung zu dem Überwiegen der Individuenzahl der Männchen oder auch — was praktisch auf dasselbe herauskommt — mit Polygamie. Denn wenn ein Männchen vier oder zehn Weibchen an sich fesselt, so kommt dies einer Dividirung der Weibchenzahl durch Vier oder Zehn gleich. So sind z. B. die in Polygamie lebenden Hühner und Fasanen mit prachtvollen Farben im männlichen Geschlecht ge- schmückt, die in Monogamie lebenden Feldhühner und Wachteln aber zeigen in beiden Geschlechtern die gleiche Färbung. Gewiss ist »schön« ein relativer Begriff, und wir dürfen nicht ohne Weiteres annehmen, dass das, was uns schön erscheint, auch allen Thieren so erscheine; wenn wir aber sehen, dass alle die für unseren Ge- schmack prachtvoll geschmückten Vogelmännchen, seien sie nun Kolibris, Fasanen, Paradiesvögel oder Klipphühner, ihre herrlich ge- färbten Federräder, »Fächer«, »Kragen« u. s. w. bei der Liebeswerbung vor den Augen ihrer Weibchen entfalten und in ihrem vollen Glänze spielen lassen, so müssen wir schliessen, dass hier wenigstens der Geschmack des Menschen mit dem des Thieres zusammenfällt. Dass die Vögel scharf sehen, und Farben unterscheiden, wissen wir ohne- hin ; nicht umsonst sind die Vogelbeeren und so viele andere auf die Vögel berechneten Beeren roth, die Mistelbeeren weiss, um von dem immergrünen Laub dieser Pflanze abzustechen, die Wachholderbeeren schwarz, um sich vom winterlichen Schnee abzuheben; von dieser Seite steht also der sexuellen Selektion Nichts im Weg. Aber auch bei viel niedrigeren Thieren, z. B. bei den Schmetter- Sehen der Insekten. 237 lingen, liegt, wie mir scheint, kein Grund zu der Annahme vor, dass sie die prächtigen Farben und die oft verwickelten Zeichnungen, die Binden und Augenflecken auf den Flügeln ihrer Artgenossen nicht sehen sollten. Wenn allerdings jede Facette des Insektenauges, wie JOHANNES MÜLLER meinte, nur einen Gesichtseindruck vermittelte, so würden selbst Augen mit 12,000 Facetten nur sehr rohe und un- bestimmte Bilder von Gegenständen geben, die über einige Fuss ent- fernt wären, und ich gestehe, dass mir dies längere Zeit hindurch ein Hinderniss für die Zurückführung des sexuellen Dimorphismus der Schmetterlinge auf Selektionsprozesse zu bilden schien. Jetzt wissen wir aber durch EXNER, dass dem nicht so ist, wir wissen, dass jede Facette ein kleines Bild gibt und zwar kein umgekehrtes, sondern ein sog. »aufrechtes« Bild, und das Experiment an dem her- ausgeschnittenen Insektenauge hat uns direkt gelehrt, dass dasselbe in der That ein leidlich deutliches Bild auch fernerer Gegenstände, wie eines Fensterkreuzes, eines darauf gemalten grossen Buchstabens, ja sogar eines durch das Fenster sichtbaren Kirchthurmes auf einer photographischen Platte entwirft. Dazu kommt, dass der Bau des Auges ein ungleich schärferes Sehen in der Nähe gestattet, indem die Augen dann wie Lupen wirken und viel feinere Einzelheiten zeigen, als wir selbst zu erkennen im Stande sind. Von dieser Seite her steht deshalb kaum nach der DARWlN'schen Annahme einer Wahl der Weibchen ein Hinderniss entgegen, und ebensowenig von der Seite des Farbensehens, denn wenn es auch aus dem Bau des Auges nicht abzulesen ist, dass diese Insekten Farben sehen, und dass Farben eine besondere Erregung in ihnen hervorrufen, so ist dies doch mit Sicher- heit aus den Lebenserscheinungen derselben zu schliessen. Die Schmetterlinge fliegen auf die bunten Blumen zu, und da sie dort ihre Nahrung, den süssen Blüthen- Nektar finden, so darf angenommen werden, dass bei ihnen das Sehen der Farben ihrer Nahrungsspender mit angenehmer Empfindung associirt ist, ein Hinweis darauf, dass ihnen solche Farben auch an ihren Artgenossen angenehme Empfin- dungen erwecken werden. Befestigt wird dieser Schluss aber noch dadurch, dass zahlreiche Arten von Schmetterlingen im männlichen Geschlecht noch eine an- dere Art von Reizmittel für die Weibchen hervorbringen, nämlich liebliche Düfte. Flüchtige ätherische Öle werden von gewissen Zellen der Haut abgeschieden und strömen dann durch besonders dafür gebaute Schuppen (Haare) in die Luft aus. Gewöhnlich sitzen diese Duftapparate dem Flügel auf in Gestalt sog. Duftschuppen, 15* 238 Sexuelle Selektion. eigenthümlicher Modifikationen der gewöhnlichen farbigen Schuppen des Flügels, zuweilen auch sitzen sie in Gestalt pinselartiger Haar- büschel dem Hinterleib an, immer aber sind sie so eingerichtet, dass der flüchtige Riechstoff von der Hautzelle her in die Schuppe ein- dringt, um dann durch winzige Poren auf der Fläche der Schuppen oder durch pinselförmig gespreizte Fransen an der Spitze derselben zu verdunsten. Fig. 53 stellt Duftschuppen von verschiedenen unserer einheimischen Tagfalter dar. Viele derselben sind den Entomologen schon lange bekannt, indem sie durch ihre von gewöhnlichen Schuppen abweichende Gestalt auffielen; auch bemerkte man wohl, dass sie niemals bei Weibchen, immer nur bei Männchen vorkamen, Fig- 53- Duft schuppen von Tagfaltern, a von Pieris, b von Argynnis Paphia, c von einer Satyride, d von Lycaena; starke Vergrösserung. aber über ihre Bedeutung blieb man gänzlich im Dunkel , bis ein glücklicher Zufall Fritz Müller in seinem brasilianischen Garten den Umstand enthüllte, dass es Schmetterlinge gibt, welche duften, wie eine Blume, und bis nun genauere Untersuchung ihm den Zu- sammenhang zwischen diesem feinen Geruch und den sog. »Männ- chenschuppen« enthüllte. Man kann sich auch an einzelnen unserer Schmetterlinge von der Richtigkeit seiner Beobachtung überzeugen, wenn man mit dem Finger über den Flügel eines frisch gefangenen männlichen Weisslings (Pieris Napi) hinwischt. Der Finger ist dann von feinem weissen Staub bedeckt, den abgestreiften Flügelschuppen, und riecht sehr fein nach Citronen- oder Melissenäther, ein Beweis zugleich, das der Riechstoff an den Schuppen haftet. Duftschuppen der Schmetterlinge. 2 39 Fig. 54. Stück der oberen Seite des Flü- gels eines Bläulingmännchens, Lycaena Menalcas nach Dr. F. Köhler; bl blaue, gewöhnliche Schuppen, d Duftschuppen; starke Vergrösserung. In diesem Falle, bei den Weisslingen, sind die Duftschuppen (Fig. 53, a) ziemlich gleichmässig über die Oberseite des Flügels ver- theilt, und ebenso verhält es sich auch bei unseren Bläulingen, den Lycaeniden , deren lautenförmige kleine Duftschuppen in Fig. 53, d einzeln, in Fig. 54 aber in ihrer natürlichen Stellung zwischen den gewöhnlichen Schuppen dargestellt sind. Bei vielen anderen Tagfaltern und ebenso auch bei Nachtfaltern sind die duftenden Schuppen zu Büscheln vereinigt und auf be- stimmte Stellen lokalisirt. Sie bil- den dann oft schon mit blossem Auge leicht sichtbare grössere Flecken, Streifen oder Pinsel. So haben die Männchen unserer verschiedenen Arten von Grasfalter (Satyriden) sammetartige schwarze Flecke auf den Vorderflügeln, während der Kaisermantel (Argynnis paphia) kohlschwarze breite Striche auf vier Längsrippen des Vorder- flügels zeigt, die dem Weibchen fehlen, und die aus Hunderten von Duftschuppen zusam- mengesetzt sind; gewisse grosse, unseren Schillerfaltern ähnliche Waldschmetterlinge Südamerikas tragen mitten auf dem prachtvoll grün schillernden Hinterflügel einen dicken gelben spreizbaren Pinsel stark gelber langer Duftschuppen, und ganz ähnlich verhält es sich bei dem schönen violetten Falter der malayischen Inseln, der in Fig. 5 5 abgebildeten Zeuxidia Wallacei. Bei vielen der uns schon von der Betrachtung der Mimicry her bekann- ten Danaiden hat sich der Duftapparat noch mehr vervollkommnet, indem er sich in eine ziemlich tiefe Tasche auf den Hinterflügeln ein- gesenkt hat, in welcher die dufterzeugenden haarförmigen Schuppen solange verborgen lieo-en, bis der Falter den Duft ausströmen lassen will. Bei vielen südamerikanischen und indischen Papilio-Arten sitzen die zu einer Art von Mähne geordneten Dufthaare in einem Umschlag des Hinterflügel-Randes u. s. w. Die Mannigfaltigkeit dieser Fig- 55- Zeuxidia Wal- lacei, Männchen, vier Pinsel von langen, borstenartigen, stark gelben Duftschuppen (d) auf der Oberseite des Hinter- fiügels. 240 Sexuelle Selektion. Einrichtungen ist überaus gross, und sie finden sich in weiter Verbreitung sowohl bei Tag- als bei Nachtfaltern, bei Letzteren zuweilen in Gestalt eines dicken, glänzend weissen Filzes, der einen Umschlag des Hinter- flügel-Randes erfüllt. In vielen Fällen kann so der Duft aufgespart und dann durch plötzliches Umschlagen der Flügelfalte zum Ausströmen gebracht werden. Aber bei Weitem nicht alle Arten von Schmetter- lingen besitzen Duftschuppen, und oft fehlen sie bei nahen Ver- wandten duftender Arten; sie sind offenbar sehr späten Ursprungs und erst entstanden, als die meisten heutigen Gattungen schon ge- bildet waren. Oft sieht es aus, als ob sie in einem Verhältniss der Compensation mit der Schönheit der Färbung stünden, etwa so, wie viele bescheiden gefärbte Blumen einen starken Wohlgeruch ent- wickeln, und umgekehrt viele prachtvoll gefärbte nicht duften. Auch bei den Schmetterlingen gibt es aber, wie bei den Blumen, Arten, die zugleich Schönheit und Duft besitzen, doch gerade unsere schönsten Tagfalter, die Vanessen, die Schillerfalter und Eisvögel (Apatura- und Limenitis-Arten) besitzen keine Duftschuppen, und viele unscheinbar, d. h. protektiv gefärbte Nachtfalter duften stark, vergleichbar den meisten Nachtblumen; ich nenne nur unseren Windenschwärmer, Sphinx Convolvuli, dessen Moschusgeruch den Entomologen schon lange vor Entdeckung der Duftschuppen be- kannt war. Immer aber sind es nur die Männchen, welche einen Duftapparat besitzen. Man darf deshalb nicht glauben, dieser Duft habe die Be- deutung eines Anlockungsmittels, so wie der Duft der Blumen die Schmetterlinge zu ihrem Besuch anlockt; erstens ist nicht anzunehmen, dass dieser W7ohlgeruch weithin reicht, er ist vielmehr, soweit wir es prüfen können, nur in nächster Nähe wahrnehmbar, und darauf deuten ja auch ganz bestimmt die mannichfachen Einrichtungen der Duft- organe hin, welche alle darauf berechnet sind, den Duft zurückzu- halten und dann — in unmittelbarer Nähe des Weibchens — ihn plötzlich ausströmen zu lassen. Offenbar hat die Einrichtung keine andere Bedeutung, als die eines geschlechtlichen Reizmittels, sie soll das Weibchen dem Männ- chen geneigt machen, es bezaubern, ganz wie die schönen Farben, von denen wir dasselbe annehmen müssen. Gerade nach dieser Richtung ist das schon erwähnte Verhältniss der Compensation zwischen schöner Färbung und Wohlgeruch interessant, indem es unsere Deutung des Farbenschmucks als eines Mittels zu geschlechtlicher Erregung be- stätigt. Die am feinsten duftenden, oder aber die am schönsten Das Wählen der Weibchen. 24 I gefärbten Männchen waren es, welche die Weibchen am meisten erreg- ten, also auch am leichtesten zur Fortpflanzung gelangten. Der von DARWIN gebrauchte Ausdruck: die Weibchen > wählen« ist nur bildlich zu nehmen; sie üben nicht eine bewusste Wahl, aber sie folgen dem Männchen, das sie am stärksten erregt. Daraus ergibt sich dann der Züchtungsprozess dieser männlichen Auszeichnungen. Wären die besprochenen Duftorgane blosse Anlockungsmittel im Sinne der Ankündigung eines nahenden Artgenossen, dann müssten sie nicht den Männchen, sondern den Weibchen eigen sein, denn diese werden von den Männchen aufgesucht, nicht umgekehrt. Die Männchen sind im Stande, ihre Weibchen auf weite Entfernungen hin aufzuspüren, wovon viele merkwürdige, zum Theil fabelhaft klin- gende Beispiele bekannt sind. Die Weibchen müssen also wohl un- ausgesetzt einen Duft ausströmen, der aber viel feiner, ausnehmend weit verbreitbar und für unsere plumpen Geruchsorgane durchaus un- wahrnehmbar ist. Möglicherweise strömt er aus allen Schuppen, die die Flügel und den Körper bedecken, denn — wie ich schon vor langer Zeit zeigte — stehen die Schuppen alle noch mit lebenden Zellen der Haut in Verbindung, wenn dieselben auch klein sind, und es wäre also durchaus möglich, dass sie einen für uns nicht wahr- nehmbaren Duft erzeugen und durch die gewöhnlichen Schuppen ausströmen lassen, ähnlich wie die männlichen Duftschuppen ihr ätherisches Ol aus grossen drüsenartigen Hypodermiszellen beziehen, auf welchen sie aufsitzen. Hier sehen wir deutlich den Unterschied zwischen gewöhnlicher Naturzüchtung und sexueller Züchtung. Die männlichen Duftvorrich- tungen beruhen auf Letzterer, denn sie dienen nicht der Erhaltung der Art, sondern nur dem Wettbewerb der Männchen untereinander um den Besitz der Weibchen, dagegen müssen die angenommenen duftenden Zellen der Weibchen auf Naturzüchtung beruhen, da sie für das gegenseitige Auffinden der Geschlechter von allgemeiner Wich- tigkeit sind, die ohne sie in den meisten Fällen gar nicht möglich wäre. Dieser hypothetische — man könnte sagen — »Species-Duft« hat in erster Linie die Sicherung der Art-Existenz im Auge und ist deshalb auf Naturzüchtung zu beziehen. Der andere, der »Männchen-Duft« könnte auch fehlen und fehlt wirklich bei vielen Arten, wenn er auch da, wo er einmal männliches Artmerkmal geworden ist, zum Zustande- kommen der Fortpflanzung nothwendig ist und keinem Männchen fehlen darf, soll es nicht zur Sterilität verurtheilt sein. Dass der »Species-Duft« wirklich existirt, unterliegt keinem Zweifel, 2A2 Sexuelle Selektion. wenn wir ihn auch nicht wahrnehmen. Seit lange benutzen ihn die Entomologen, um die Männchen seltener Schmetterlinge, besonders von Nachtfaltern zu fangen, indem sie ein gefangenes Weibchen frei aussetzen. Vor Jahren hielt ich eine Zeit lang, gewisser Versuche halber, Weibchen des Abendpfauenauges, Smerinthus .ocellata, in meinem Arbeitszimmer und stellte sie zuerst absichtslos in einem mit Gaze über- zogenen kleinen Zwinger Abends in die Nähe des offenen Fensters. Schon am nächsten Morgen hatten sich einige Männchen eingestellt, die in der Nähe des Zwingers am Fenster oder der Wand des Zim- mers herumsassen, und bei Fortsetzung des Versuchs fingen sich auf diese Weise im Verlauf von neun Nächten nicht weniger als 42 Männ- chen dieser Art, von der ich nie geglaubt hätte, dass sie in den Gärten der Stadt so zahlreich vorhanden wäre. Die Männchen der Nacht- falter besitzen offenbar ein unglaublich feines Geruchsorgan, wie denn auch die Träger desselben, die Fühler, im männlichen Geschlecht meist grösser und komplicirter gebaut sind, als bei den Weibchen. Keineswegs blos die Schmetterlinge erzeugen Düfte zur Brunstzeit sondern auch andere Thiere, wenn auch bei diesen dieselben nicht immer unserem Geruchsorgan so lieblich erscheinen, wie bei jenen. Moschus und Bibergeil (Castoreum) allerdings wirken in starker Ver- dünnung auch auf den Menschen anziehend, andere aber, wie die Gerüche, welche die Hirsche, oder gar die Raubthiere von sich aus- gehen lassen, kommen uns widerwärtig vor, haben aber für die Arten, welche sie hervorbringen, dieselbe Bedeutung wie jene und sind des- halb auf sexuelle Zuchtwahl zu beziehen. Auch die verschiedenen Apparate zur Hervorbringung von Tönen bis hinauf zum Gesang der Vögel bezog Darwin auf sexuelle Züchtung, doch spielt hier wohl vielfach Naturzüchtung mit herein. Allerdings sind es immer die Männchen, welche bei Cikaden, Gryllen, Heuschrecken und Vögeln den bekannten Gesang hervorbringen, und ich sehe nicht, wie man bezweifeln könnte, dass diese Musik auf die Weibchen wirke und zwar im Sinne geschlechtlicher Erregung-, In so weit also wird der Wettbewerb der Männchen um den Besitz der Weibchen, d. h. sexuelle Züchtung, diese Singapparate hervorgerufen haben; und wie lange anhaltender und allmäliger Steigerungen es bedurfte, um aus dem Piepsen des Sperlings den Gesang der Amsel oder der Nachtigall hervorgehen zu lassen, das lehren uns die zahllosen Vogelarten, die sich in Bezug auf Schönheit des Gesanges zwischen die Beiden einschalten lassen. Wenn ich aber bei Vögeln und Insekten auch Naturzüchtung als Combination mehrerer Werbemittel. 24 "^ mitwirkend annehme, so beruht dies darauf, dass viele der singenden Arten zerstreut leben, und dass die charakteristische Stimme für sie ein Mittel sein muss, durch das sich die Geschlechter auffinden. Dass sie sich finden, ist aber eine unerlässliche Bedingung zur Er- haltung der Art. Daher offenbar hat jede Vogelart einen für sie charakteristischen »Schlag« oder Lockruf, den die Männchen zur Zeit der Brunst ausstossen, und der vom Weibchen beantwortet wird. Aus dem einfachen Lockruf wird sich allmälig der heutigre Gesansr vieler Arten mittelst sexueller Zuchtwahl entwickelt haben. • Es ist auffallend, dass auch hierbei die verschiedenen sexuellen Auszeichnungen der Männchen sich oft gegenseitig zu beschränken und auszuschliessen scheinen. Die besten Sänger unter unseren Vögeln sind unscheinbar gefärbt, grau oder graubraun, und man wird dies schwerlich als Zufall betrachten dürfen, sondern als die Wirkung- einer grösseren Empfänglichkeit der Weibchen entweder für den Ge- sang oder für die Schönheit ihrer Männchen. Nur solche Eigen- schaften der Männchen konnten aber der Theorie nach dadurch ee- steigert werden, welche die Entscheidung bei der Wahl gaben, und deshalb scheint mir dieses gegenseitige Sich-Ausschliessen der beiderlei Auszeichnungen bei den Vögeln ein weiterer Fingerzeig für die Wirk- lichkeit der sexuellen Selektion. Es beweist, — so möchte ich glauben — dass die Erregung der Weibchen wesentlich nur durch die eine Eigenschaft der Männchen zu Stande kam, dass beim Paradiesvogel vorwiegend die Brillanz des Gefieders die Weibchen erregte, bei der Nachtigall vorwiegend der Gesang. Man könnte dagegen einwerfen, dass es aber doch brillant ge- färbte Schmetterlinge gäbe, welche zugleich noch Duftschuppen be- sitzen. Das ist in der That der Fall; eine prachtvoll blau schillernde Apatura aus Brasilien trägt zugleich auf den Hinterflügeln einen grossen gelben Pinsel von Dufthaaren, und auch die schön blauen Männchen unserer Lycaeniden besitzen neben der schönen Färbung noch Duftschuppen. Das kann aber kaum als ein Widerspruch gelten, vielmehr nur als eine Ausnahme, die hier um so erklärlicher ist, als die Duftapparate relativ einfache Einrichtungen sind, die zu ihrer Aus- bildung nicht so lange Generationsreihen erfordern, wie der kompli- zirte Kehlkopf- und Gehirn-Mechanismus der Singvögel. Die Duftschuppen können auch sehr wohl später entstanden sein, als die Schmuckfärbung, und dies um so leichter, als das leuchtende Blau, sobald es einmal vollkommen ausgebildet war und allen Männ- chen einer Art in gleicher Schönheit zukam, keine Auszeichnung Aos fr?SS< >%0 244 Sexuelle Selektion. mehr war und nicht mehr besonders erregend wirken konnte, während ein neu sich ausbildender Vorzug der Männchen stärker wirkte. Ganz ebenso werden aber auch einzelne Parthien des Körpers nacheinander mit schmückenden und dadurch erregenden Auszeich- nungen versehen worden sein. Um diese Wirkung auf das andere Geschlecht zu verstehen, denke man nur an analoge Erscheinungen beim Menschen, an den stark erregenden Einfluss, den der Anblick gerade der sekundären Geschlechtscharaktere des Weibes auf den Mann ausüben kann. Durch die successive Hinzufügung immer neuer schmückender Auszeichnungen nach erschöpfender Steigerung der schon allgemein gewordenen älteren erklärt sich aber vortrefflich die Entstehung der ausserordentlichen Mannichfaltigkeit des Federschmucks bei ein und derselben Vogelart, sowie die komplizirten Schmuckfärbungen der Schmetterlinge, soweit sie überhaupt auf sexueller Züchtung und nicht auf anderen Momenten beruhen: sie sind nicht auf einmal, sondern nacheinander entstanden, jede neue Auszeichnung hat sich so lange gesteigert, als sie noch steigerbar war, aber wenn sie einmal in höchster Ausbildung allen Männchen eigen war, bildete sie keinen Gegenstand des Vorzugs mehr und besonders heftiger Erregung, es begann vielmehr dann ein neuer Züchtungsprozess an einer anderen Stelle des Körpers. So wird es verständlich, class bei Paradiesvögeln und Kolibri -Männchen eine geradezu wundersame Mannichfaltigkeit der Farben und Schmuckfedern sich bei ein und derselben Art vereinigt finden. Wer je die GoULD'sche Kolibri- Sammlung in London gesehen hat, wird mit Erstaunen bemerkt haben, wie bei den etwa 130 Arten dieser prachtvollen Vögelchen nahezu alle Federgruppen des Körpers mit zur Schmuckfärbung herangezogen worden sind. Bei dieser Art finden sich die Federchen der Kehlgegend smaragdgrün, metallisch blau oder rosa gefärbt, bei jener sind es die Federn des Nackens, welche zu einem aufstellbaren rosa metallglänzenden Halskrag-en um- gewandelt sind, dann wieder sind die das Ohr umgebenden Federchen zu glänzend gefärbten Federohren aufgerichtet, oder die Schwanz- federn sind verlängert, manchmal nur zwei von ihnen, oder sie sind treppenartig abgestuft, oder der Schwanz ist keilförmig zugespitzt oder fächerförmig oder schwalbenschwanzförmig, und das Alles wieder ver- bunden mit den verschiedensten Farben und Farbenmustern, schwarz und weiss, ultramarin blau u. s. w. ; oder es sind die äussersten Schwanzfedern am längsten, die inneren am kürzesten, oder die vier Liebesgärtchen von Amblyornis. 245 äusseren Schwanzfedern sind breit, zugespitzt nach der Seite ge- spreizt und nur halb so lang, als die lang und gerade ausgestreckten zwei anderen. Manche Arten zeigen an den Beinen eine Art feinen weichen Schwanenpelzes, andere haben ein prachtvoll metallisch rothes Häubchen auf dem Kopf, kurz die Mannichfaltigkeit ist un- beschreiblich gross, ganz so, wie sie sein müsste, wenn bald diese, bald jene zufällige Variation die Gunst des wählenden Geschlechtes auf sich gezogen hätte und nun zu seiner höchsten Ausbildung ge- steigert worden wäre. Die Schmuckfärbung der männlichen Vögel kann aber nicht blos durch die Fähigkeit des Gesanges ersetzt werden, sondern noch auf Fig. 56. Leptodora hyalina. A Kopf des Männchens, B Kopf des Weibchens, Au Auge, g. opt. Ganglion opticum, gh Gehirn, at erste Antenne mit den Riechfäden, vi und ri\ sr Schlundring. andere Weise. Nicht alle männlichen Paradiesvögel besitzen den be- kannten prachtvollen Federschmuck. Der italienische Reisende Beccari hat auf eine Art aufmerksam gemacht, deren Männchen einfach schwarzbraun gefärbt sind, ähnlich wie die Weibchen der übrigen Arten. Dieser Amblyornis inornata lockt seine Weibchen auf eine ganz besondere Weise zur Paarungszeit an sich, indem er mitten in den Urwäldern Neuguineas ein kleines »Liebesgärtchen« einrichtet, einen mehrere Fuss grossen mit weissem Sand bestreuten Platz, auf dem er glänzende Steine und Muscheln zusammenträgt und bunte Beeren aufsteckt. Hier hat sich also ein besonderer Instinkt ent- wickelt, der die persönlichen Reize des Vogels dem Weibchen gegen- über ersetzt. Theoretisch scheint er mir eben deshalb nicht bedeu- tungslos, denn er zeigt, dass jene persönlichen Vorzüge wirklich als 246 Sexuelle Selektion. Reize und Lockmittel funktioniren , falls man daran noch zweifeln wollte. Alle bisher betrachteten Auszeichnungen der Männchen bezogen sich darauf, die Gunst der Weibchen zu gewinnen, es kommen nun aber noch zahlreiche andere sekundäre Sexualcharaktere vor, die in ganz anderer Weise dazu verwandt werden, den Besitz der Weibchen zu sichern. Ich erwähnte vorhin schon, dass bei vielen Schmetterlingen die Männchen ein weit grösseres Geruchsorgan besitzen. Die Fühler der Männchen zahlreicher Käfer, z. B. der Maikäfer und Verwandten, sehr seh Figf- 57- Moina paradoxa, Männchen, (7/1 erste Antennen mit Krallen an der Spitze zum Fangen des Weibchens, fkr Krallen am ersten Fusspaar zum Anklammern; gh Gehirn, Ibr Oberlippe, md Mandibel, md Mitteldarm mit den Leberhörnchen Ih), h Herz, sp Spermarhim, aft After, sb Schwanzborsten, skr Schwanzkrallen, seh Schale, sehr Binnenraum der Schale, kic Kiemenblättchen. Bei ioofacher Vergrösserung gezeichnet. sind ebenfalls grösser und mit viel breiteren Nebenästchen für die Riechorgane versehen, als die der Weibchen, und ähnlich verhält es sich bei manchen niederen Crustaceen, z. B. bei der grossen, krystall- klaren Daphnide unserer Seen, Leptodora hyalina. Hier ist es das vordere Fühlerpaar (Fig. 56, A u. B1 at1), welches die Riechfäden trägt, und dieses ist beim Weibchen (B) klein und stummeiförmig, beim Männchen (A) aber wächst es zu einer langen, etwas gebogenen, quer ins Wasser ausgestreckten Stange aus, auf welcher ausser den neun Riechfäden des Weibchens (ri) noch 60 bis 90 weitere Riech- fäden Platz finden [ri'}. Spür- und Fangorgane bei Krustern. 247 In diesen und vielen anderen solchen Fällen ist es nicht der Kampf der Art ums Dasein, welcher diese Auszeichnung der Männ- chen so stark gesteigert hat, sondern ohne Zweifel der Kampf der Männchen untereinander, ihre Conkurrenz um den Besitz der Weibchen. Was also bei den Werbemitteln nicht hinreichend fest- zustellen ist: die Existenz eines Wettbewerbs und der endliche Sieg des Besten, das ergibt sich hier von selbst, denn durchschnittlich wird der bessere Riecher und Spürer auch leichter in den Besitz eines Weibchens gelangen, als der schlechtere, und ganz ebenso verhält es sich in allen jenen Fällen, wo die Auszeichnung der Männchen sich Fig. 58. Moina paradoxa, Weibchen. Dieselben Bezeichnungen wie bei Fig. 56; brr Brutraum, ov Ovarium. nicht auf das Aufspüren allein, sondern auch auf das Festhalten ge- wissermassen das Ein fangen des Weibchens bezieht. So besitzen die Männchen der Ruderfüsser (Copepoden) unter den Crustaceen an ihren vorderen Fühlern eine Einrichtung, welche ihnen gestattet, diese langen, peitschenförmigen Gebilde dem eilends davon- schwimmenden Weibchen wie einen Lasso über den Kopf zu werfen. Auch die Fühler der männlichen Daphniden sind bei einer Gattung (Moina) zu Fangapparaten ausgebildet, anstatt wie bei Leptodora zu Riechorganen. Fig. 57 stellt das Männchen, Fig. 58 das Weibchen von Moina paradoxa dar; die ersten Fühler des Männchens sind nicht nur viel länger und stärker als die des Weibchens {atx\ sondern noch mit Krallen am Ende bewaffnet, so dass die Thiere mit ihnen wie 248 Sexuelle Selektion. mit einer Gabel ihre Genossinnen einklemmen und festhalten können. Und das genügte noch nicht, sondern ausserdem besitzen die männ- lichen Daphniden meist noch eine grosse sichelförmige aber stumpfe Kralle am ersten Fusspaar (Fig. 57, fkr\ die ihnen dazu dient, sich an der Schale des Weibchens festzuhalten, um so an ihr hinauf- zuklettern und in die richtige Lage zur Copulation zu gelangen. Fragen wir nun nach der Entstehungsart derartiger sekundären Geschlechtscharaktere, so ist es klar, dass beide durch sexuelle Se- lektion gesteigert worden sein können, denn ein Männchen mit besserer Sichelkralle wird rascher in die richtige Copulationsstellung eelaneen als eines mit unvollkommnerer. Diese Annahme beruht nicht auf der blossen Theorie, denn ich konnte einmal durch einen glücklichen Zufall ein Weibchen unter dem Mikroskop längere Zeit beobachten, an dessen Schale sich zwei Männchen angeklammert hatten, und von welchen Jedes das Andere zu verdrängen suchte. Dennoch erscheint es mir sehr fraglich, ob diese Sichelkralle in ihrer Entstehung auf sexuelle Selektion bezogen werden darf, denn eine Copula wäre ohne dieses Klammerorgan bei den meisten Daphniden wohl überhaupt nicht möglich. Dasselbe ist also nicht ein Vorzug des einen Männchens vor dem anderen gewesen, als es sich bildete, sondern eine nothwendige Errungenschaft der ganzen Familie, die sich gleichzeitig mit den übrigen Eigenthümlichkeiten derselben, vor Allem der Schale bei allen Arten gebildet haben muss. Die Conkurrenz der Männchen untereinander ist also hier zu- gleich eine Seite des Kampfs ums Dasein der Art als solcher, und es handelt sich nicht blos um einen Charakter, der den Männchen es erleichtert, sich in den Besitz eines Weibchens zu setzen, son- dern um einen, der entstehen musste, sollte die Art nicht aussterben. Mit anderen Worten: Naturzüchtung und sexuelle Züchtung fliessen hier in Eines zusammen. Anders verhält es sich bei den zu Greifarmen umgewandelten Fühlern der Moina; sie werden nicht der Naturzüchtung sondern der sexuellen Selektion ihren Ursprung verdanken, denn derartige Fühler sind für die Existenz der Art, durch Sicherstellung der Fortpflanzung nicht unerlässlich, wie schon die nächstverwandten Gattungen Daphnia und Simocephalus zeigen, die statt ihrer ganz kurze stummelartige Fühler tragen, nur mit einigen Riechfäden mehr ausgestattet, als die der Weibchen. Wie diese überzähligen Riechfäden durch sexuelle Selektion und nicht durch die gewöhnliche Naturzüchtung hervorgerufen sind, indem immer die feineren Riecher im Vortheil waren gegenüber den Zwerg-Männchen. 249 weniger feinen, so war auch das sicherer packende Männchen der Gattung Moina im Vortheil gegenüber dem minder sicher greifenden, und so entstanden diese beiderlei Auszeichnungen der Männchen. Keine von Beiden ist ein Vortheil für die Art als solche, vielmehr nur ein Vortheil im Wettbewerb der Männchen um den Besitz der Weibchen. Nun kann aber Naturzüchtung, wo es sich um Hervorrufung einer neuen Bildung bei den Männchen handelt, nicht anders verfahren, als sexuelle Selektion verfährt; der Selektionsprozess selbst ist genau derselbe: die besser ausgerüsteten Männchen überleben, die schlechter ausgerüsteten gehen ohne Nachkommen unter, der Unterschied liegt nur darin, dass in dem einen Fall die Art als solche verbessert wird, im anderen nur das eine Geschlecht, ohne dass dadurch die Existenz der Art besser gesichert würde. Solche Fälle sind lehrreich, weil sie eine Ablehnung des Prozesses der sexuellen Se- lektion ganz unmöglich machen, sobald derjenige der Art- Selektion angenommen wird. Wenn überhaupt Selektions-Prozesse als Umwandlungsfaktoren thätig sind, dann müssen sie auch da ein- greifen, wo es sich nicht um einen Vortheil der Art, sondern nur um einen »intrasexuellen« Vortheil handelt, und der eine Vorgang muss vielfach in den anderen überspielen, so dass die Grenze zwischen ihnen für uns häufig gar nicht zu ziehen ist. Zahlreiche sekundäre Geschlechtsunterschiede beruhen wohl rein auf Art-Selektion, d. h. sie schliessen eine Verbesserung der i\rt im Kampf ums Dasein ein. So z. B. die zwerghafte Kleinheit der Männchen bei vielen schmarotzenden Crustaceen und bei einigen Würmern, bei vielen Räderthieren und den Rankenfüssern. Hier ist es kaum von Vortheil für das einzelne Männchen gewesen, kleiner zu sein, als die anderen, sondern es war vortheilhaft für die Art, mög- lichst viele Männchen hervorzubringen, um die Begegnung mit den Weibchen zu sichern; massenhafte Erzeugung von Männchen aber machte es vortheilhaft für die Art, möglichst wenig Material auf jedes einzelne zu verwenden: daher die Kleinheit derselben und in manchen Fällen, wie bei den Räderthieren und bei Bonellia ihre kümmerliche Ausstattung, Mangel der Ernährungsorgane, ephemere Existenz. Ist doch der fusslange Meereswurm, Bonellia viridis, nicht der einzige, bei dem die mikroskopisch kleinen Männchen nach Art von Schmarotzern im Inneren des Weibchens leben; auch unter den Rundwürmern ist eine Art, Trichosomum crassicaude, aus der Ratte durch LEUCKART bekannt geworden, deren Zwergmännchen im 250 Sexuelle Selektion. Fruchthalter des Weibchens leben. Das sind Alles Einrichtungen, die die Fortpflanzung der Art sichern, welche gefährdet wäre, wenn die Männchen die bei Bonellia in Felsenlöchern auf dem Grund des Meeres steckenden, oder bei Trichosomum in der Harnblase der Ratte verborgenen Weibchen nachträglich noch aufsuchen sollten. Offenbar ist es auch dieses Motiv, welches neben dem vorhin schon erwähnten die Kleinheit gewisser Männchen allein oder mit bedingt und hervorgerufen hat. Wie vielfach Art- Selektion und sexuelle Selektion ineinander spielen, sehen wir noch an einer anderen Kategorie sexueller Unter- schiede. Bei vielen Arten von Thieren sind die Männchen kampf- lustig und mit besonderen WTaffen oder auch mit grösserer allgemeiner Körperstärke ausgerüstet. Da nun bei diesen Arten die Männchen um den Besitz der Weibchen direkt kämpfen im eigentlichen Sinne des Wortes, so leitete Darwin solche Auszeichnungen von sexueller Selektion her, die dem stärkeren Männchen den Sieg über das schwächere gewährt, und so die siegreichen Eigenschaften des- selben zum Range allgemeiner Artcharaktere erhob. In der That ist es auch nicht zu bezweifeln, dass z. B. die Kraft und das Geweih des männlichen Hirsches sich durch die zur Brunstzeit in jedem Jahr wiederkehrenden Kämpfe gesteigert haben müssen, denn in dem Kampf siegt der Stärkere. Mit der Stärke und den Waffen zahlreicher anderer männlicher Thiere ist es ebenso. Der Löwe wird durch seine Mähne gegen den Biss eines Rivalen erheblich geschützt, und dieselbe Schutzvorrichtung kommt noch in einer ganz anderen Familie der Säugethiere vor, bei einer Robbe, die eben wegen ihrer Mähne »Seelöwe« genannt wird. Gerade bei den Robben sind die sekundären Geschlechtsunterschiede oft bedeutend entwickelt, wenig- stens bei allen den Arten, welche polygamisch leben, bei denen also ein scharfer Kampf um die Weibchen stattfindet. Beim »See- löwen« und »Seeelefanten« kommen oft 50 Weibchen auf ein Männ- chen, und diese sind »ungeheuer viel grösser«, als die Weibchen, während Robbenarten, welche in Monogamie leben, in beiden Ge- schlechtern die gleiche Grösse aufweisen. Darwin hat gezeigt, dass bei den meisten Säugethieren ein wirk- licher Kampf um die Weibchen geführt wird, nicht nur bei Hirschen, Löwen und Robben, sondern auch bei dem Maulwurf und bei dem furchtsamen Hasen. Auch bei Vögeln kommen solche Kämpfe vor, und zwar zum Theil gerade bei denen, deren Männ- chen die schönsten Schmuckfarben besitzen, wie bei den Kolibris. Sexuelle Selektion. 2 5 I Auch Waffen haben sich zuweilen bei ihnen entwickelt, wie der Sporn des Hahns beweist, dessen mitleidslose Kämpfe mit seinen Nebenbuhlern ja bekanntlich vom Menschen zu seiner Unterhaltung dadurch noch scheusslicher gestaltet werden, dass die Flucht des Unterliegenden verhindert wird. In Darwin's grossem Werk über sexuelle Selektion wird auch eine ziemliche Zahl von niederen Wirbelthieren, wie Krokodile und Fische, ja auch von Insekten aufgeführt, die um den Besitz der Weibchen kämpfen, und die dann auch männliche Auszeichnungen besitzen. Ich will darauf nicht näher eingehen, da es mir mehr darauf ankommt, Ihnen das Verhältniss der sexuellen Selektion zur Art-Selektion klar zu machen, als Sie mit allen Einzel-Erscheinungen der Ersteren bekannt zu machen. Gerade diese Seite derselben aber zeigt wieder deutlich ihr Zusammenwirken mit der Art-Selektion. Viele der Waffen oder Schutzmittel, welche durch sexuelle Selektion entstanden sein mögen, bilden doch zugleich eine Verbesserung der Art im Kampf ums Dasein, denn für die Art ist bedeutendere Stärke und schärferes Gebiss, oder grössere Zähne der Männchen ein Ge- winn, und es ist für sie einerlei, ob die schwächeren Männchen einem fremden Feind unterliegen (Art-Selektion), oder dem stärkeren Nebenbuhler (sexuelle Selektion), wenn nur der besser ausgerüstete in Nachkommen überlebt. Ich habe absichtlich die Betrachtung der sexuellen Selektion mit den für die Theorie schwierigsten Fällen angefangen, gegen die sich am meisten Widerspruch geltend gemacht hat, mit den Schmuck- farben und Schmuckformen, dem Gesang der Vögel und Insekten, den lockenden Düften; kurz mit den Werbemitteln der Männ- chen; sie sind die schwierigsten, weil das Wählen der Weibchen nur schwer direkt nachweisbar ist. Gehen wir aber jetzt einmal in kurzer Wiederholung den umgekehrten Gang, so wird, glaube ich, jeder Zweifel an der Wirklichkeit des Wählens schwinden müssen. Un- mittelbar mit Art-Selektion verwachsen sind die zuletzt erwähnten Sexual-Charaktere der grösseren Stärke und der vervollkommneten Waffen und Schutzvorrichtungen der Männchen. Wir müssten die ganze Art-Selektion leugnen, wollten wir diese Form der Sexual- Selektion bestreiten, die sich unmittelbar an die reine Art-Selektion anschliesst, wie sie sich uns in der Hervorbringung von Zwerg- männchen offenbart, und zwar ohne jede Mitwirkung von Sexual- Selektion. Dann kämen jene Fälle, in welchen die Spür- und Fangorgane Weismann, Descendenztheorie. l6 252 Sexuelle Selektion. der Männchen gesteigert oder vermehrt wurden, und auch hier kann wieder theils Art-Selektion gewaltet haben, z. B. bei den Sichel- krallen der Daphniden, unvermeidlich gefördert und gesteigert durch Sexual-Selektion, die hier wirksam werden musste, unabhängig von irgend einer Wahl der Weibchen, theils reine Sexual-Selektion, wie bei den Greifantennen der männlichen Moina, oder bei den so ungemein verstärkten Riechfühlern der männlichen Leptodora. Dass auch neue Organe auf diesem Wege entstehen können, beweisen die bisher wenig gewürdigten »Turban-Augen« einiger Eintagsfliegen der Gattungen Cloe und Potamanthus, wie sie vor langer Zeit schon von PlCTET, dem Monographien dieser Familie, beschrieben wurde; es sind grosse turbanförmige Netzaugen, die neben den gewöhnlichen stehen und nur den Männchen eigen sind, die gerade bei diesen Gattungen in einer Überzahl von Sechszig auf Eins vorhanden sind. Ganze Schwärme dieser Männchen fliegen über dem Wrasser dahin auf der Suche nach einem Weibchen, und das Sehorgan scheint dabei die Entscheidung zu geben, wie bei Leptodora das Riechorgan. Einen anderen Vortheil als den, das Weibchen wahrzunehmen, können beiderlei Sinnesorgane nicht haben, da die ganze Thätigkeit der kurzlebigen Eintagsfliegen auf die Fortpflanzung beschränkt ist; sie nehmen keine Nahrung zu sich und haben Nichts zu thun, als sich fortzupflanzen. Wenn wir nun zuletzt in einer ungemein grossen Zahl von Fällen neben der einen oder anderen der schon erwähnten männlichen Aus- zeichnungen noch solche antreffen, welche nicht ohne Weiteres den Besitz des Weibchens vermitteln, sondern erst durch Vermittlung der sexuellen Erregung desselben, sollen wir nun daran zwei- feln, dass hier dasselbe Prinzip gewaltet hat, dass auch hier Selektions- prozesse zu Grund liegen, darauf sich aufbauend, dass bei der Wer- bung um das Weibchen derjenige Sieger bleibt, der es am stärksten erregt? Nicht um ästhetisches Wohlgefallen handelt es sich dabei, wie Gegner der sexuellen Züchtung oft gemeint haben, sondern um sexuelle Erregung, die mit sehr verschiedenartigen Mitteln bewirkt werden kann, durch Farben und Formen, aber auch durch Locktöne, Gesang oder Gerüche. Es gibt einige tropische Vögel (Chasmo- rhynchus), die im männlichen Geschlecht als einzige Auszeichnung einen mehrere Zoll langen, hohlen und weichen Anhang auf dem Kopf tragen. Für gewöhnlich hängt er schlaff an der Seite des Kopfes herab, während der Liebeswerbung aber wird er von der Mundhöhle her aufgeblasen und steht dann wie ein Sporn aufrecht Wahl der Weibchen. 253 auf dem Kopf. Eine Art dieser Gattung- besitzt sogar drei solcher Hörner, von denen eines aufrecht, die anderen seitlich vom Kopf ab- stehen. Sollten diese sonderbaren Hörner etwa das »Schönheitsgefühl« der Weibchen befriedigen? Uns Menschen erscheinen sie weder im schlaffen, noch im aufgeblasenen Zustand schön, viel eher hässlich, jedenfalls aber sind sie auffallend und als etwas Ungewöhnliches werden sie auch die Vogelweibchen ansehen, und da sie ihnen nur bei der Liebeswerbung in voller Entfaltung entgegentreten, d. h. wenn das Männchen sexuell erregt ist, so wird es auch auf sie erregend wirken. Die aufblasbaren Hörner sind Erregungszeichen, und als solche wirken sie. In ganz derselben Weise werden auch die Schmuckfedern, die rubinrothen und smaragdgrünen Federkragen der Kolibri und Paradiesvögel nur aufgestellt und gezeigt, wenn die Mannchen werben, und auch sie wirken als Erregungszeichen. Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass die Pracht der Farben, die Augenflecken auf dem Rade des Pfauen und Argusfasans, und die Hunderte verschiedener prächtiger Federarten nicht selbst wieder eine bezaubernde Wirkung ausüben, im Gegentheil, wir können nicht umhin dies anzunehmen, da sonst kein hinreichender Grund für die Entstehung derselben aufzufinden wäre. Aber das Erste, was bei der Liebeswerbung wirkt, ist nicht das blosse Wohlgefallen des Anblicks, des Duftes oder des Gesanges, sondern das Erregungszeichen, das diese Dinge bilden. Die Vogelweibchen handeln nicht als kühl ab- wägende Preisrichter, sondern als erregbare Personen, welche Dem zufallen, der sie am stärksten erregt. Ein Gefühl der ästhetischen Befriedigung aber bei der Wahrnehmung eines solchen Zeichens mag dennoch sehr wohl sich daneben noch entwickelt haben, wenigstens bei höheren und intelligenteren Thieren. Bei niederen Thieren, bei denen nicht nur Intelligenz, sondern auch höhere und mannichfaltigere Ausbildung- von Sinneswerkzeugen fehlt, sinkt auch die Entwicklung solcher sekundärer Geschlechts- charaktere herab und schwindet bald gänzlich. Thiere, die nicht hören, können auch keinen Gesang ausbilden, und Thiere. die nicht sehen, werden keine prächtigen Färbungen annehmen können als Erregungsmittel des einen durch das andere Geschlecht. Wohl aber können geschlechtliche Farben-Auszeichnungen auch bei so niederen Thieren noch entstehen, obwohl von ästhetischem Wohlgefallen bei ihnen keine Rede sein kann; wenn sie aber nur überhaupt die Farben sehen, so kann sich auch geschlechtliche Erregung an sie anknüpfen. 16* 254 Sexuelle Selektion. Wir brauchen uns deshalb nicht zu wundern, bei den ziemlich stupiden Fischen, bei Schmetterlingen, ja bei niederen Krebsen, wie bei den Daphniden, noch brillante Färbungen zu finden, die wir kaum anders denn als Wirkungen geschlechtlicher Zuchtwahl deuten können. Auf der anderen Seite aber bildet das Fehlen solcher Charaktere bei Thieren noch niederer Art mit noch einfacheren Sinnesorganen, wie es z. B. die Polypen, Medusen, Echinodermen, die meisten Würmer und die Schwämme sind, eine Bestätigung für die Richtigkeit unserer Ansicht von der Existenz einer sexuellen Züchtung bei höher organisirten Thieren. So beruhen also zahlreiche Eigenthümlichkeiten, welche die Männ- chen einer Art vor den Weibchen auszeichnen, auf dem Prozess der sexuellen Zuchtwahl; ornamentale Auswüchse, oder Färbungen, sonder- bare Federn und Federgruppen, eigenthümliche Duftorgane, Stimm- organe, Kunsttriebe, aber auch Kampfmittel, wie Geweihe, Stosszähne, Sporne, bedeutende Körpergrösse und Stärke, dann Schutzmittel wie Mähnen; wiederum müssen auch Werkzeuge zum Einfangen und Festhalten der Weibchen, oder zum Aufspüren derselben durch Ge- sicht oder Geruch wenigstens theilweise auf ihre Thätigkeit oder Mit- wirkung bezogen werden. Die Mannichfaltigkeit der verschiedensten männlichen Sexualcharaktere ist so gross, dass ich Ihnen nur einen schwachen Begriff davon geben konnte, wollte ich mich nicht in lange Aufzählungen einlassen. Wer sich davon einen vollständigen Begriff machen will, der muss Darwin's Buch darüber selbst ein- einsehen T . Aber die Bedeutung der sexuellen Selektion ist mit der Hervor- bringung männlicher Sexualcharaktere noch keineswegs erschöpft, vielmehr übertragen diese Charaktere sich häufig mehr oder weniger vollständig auf die Weibchen und geben so Anlass zu einer Umgestaltung der ganzen Art, nicht blos ihrer männ- lichen Hälfte. Offenbar ist das eine sehr bedeutungsvolle Consequenz der sexuellen Züchtung, die, wie Sie sehen werden, unseren Ein- blick in die Mittel, durch welche neue Arten entstehen, erheblich vertieft. Zunächst seien die Thatsachen festgestellt. Viele Männchen- Charaktere sind beim Weibchen in keinem Grade vorhanden, haben sich also gar nicht auf sie übertragen, so die Mähne des Löwen, die 1 Ch. Darwin : »Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zucht- wahl- . 3. Aufl. Stuttgart 1875. Übertragung männlicher Merkmale auf die Weibchen. 2 55 Greifantennen der Moina, die Turbanaugen der Eintagsfliegen, die Steigerung des Geruchssinnes bei Leptodora, die Lasso -Antennen mancher Copepoden, die Duftschuppen der Schmetterlinge, wie die Moschusdrüsen der Alligatoren und Hirsche. In anderen Fällen aber hat eine Übertragung stattgefunden, wenn auch nur in geringem Grad. So haben manche Kolibri-Weibchen einen schwachen Anflug der prachtvollen metallischen Farben des Männchens, manche Bläu- lings-Weibchen haben einen Anflug des herrlichen Blaues ihrer Männchen, das Weibchen des Hirschschröters, Lucanus Cervus, be- sitzt eine verkleinerte Nachahmung der geweihartigen Kiefer des Männchens, und die Gryllen -Weibchen, obwohl sie nicht singen, zeigen doch eine schwache Andeutung des Singapparates ihrer Männ- chen auf ihren Flügeldecken, und einzelne von ihnen bringen auch schwache Töne zu gewissen Zeiten hervor. Nun lässt sich aber nachweisen, dass solche Übertragungen im Laufe langer Generationsfolgen sich steigern können, zuletzt bis zu demselben Grad, den die Männchen aufweisen. Ich kenne kein schöneres Beispiel dafür, als es uns die Bläulinge der Gattung Lycaena bieten. In dieser artenreichen und über die ganze Erde verbreiteten, also alten Gattung von Schmetterlingen sind bei weitem die meisten Arten wenigstens im männlichen Geschlecht blau auf der Oberseite der Flügel. Es giebt aber drei oder vier Arten, welche dunkelbraun sind, und ganz oder nahezu gleich in beiden Geschlech- tern; so die Arten: Lycaena Agestis, Eumedon, Admetus u. A. Alles deutet darauf hin, dass dies die älteste Färbung der Gattung ist. Weiter finden sich einige Arten mit braunen Weibchen, deren Männ- chen noch nicht voll blau sind, aber doch schon einen schwach blauen Anflug besitzen, so z. B. L. Alsus, der kleinste der einheimischen Bläulinge. Sodann folgt eine Schaar schön blauer Arten, wie L. Alexis, Adonis, Dämon, Corydon, und viele andere mit braunen Weibchen, und bei diesen kommen hier und da einzelne weibliche Individuen vor, deren Braun einen schwächeren oder stärkeren Anflug von Blau besitzt. Diese leiten dann zu der L. Meleager, welche zweierlei Weibchen hat, braune häufigere und blaue seltnere, und so gelangen wir zu L. Tiresias, Optilete und Argiolus, bei welcher alle Weibchen blau sind, wenn auch noch mehr oder minder stark und nie so voll- ständig, wie ihre Männchen. Den Beschluss der ganzen Entwick- lungsreihe bildet dann eine Anzahl von Arten tropischer oder doch warmer Länder, welche wie L. Beatica in beiden Geschlechtern gleich stark blau gefärbt sind. Da wir wissen, dass sexuelle Charaktere bei 2cj6 Das Prinzip der Mode wirksam. Arten mit Überzahl der Männchen immer bei den Männchen be- ginnen, so kann über die Richtung der Entwicklung dieser Reihe, also vom Braun zum Blau, kein Zweifel sein; übrigens deutet auch das gänzliche Fehlen der Duftschuppen bei den meisten Arten mit braunen Männchen auf das hohe Alter dieser Arten hin, während andererseits die Männchen aller blauen Arten, soweit ich sie unter- suchen konnte, Duftschuppen besitzen. DARWIN fasste diese Übertragung männlicher Charaktere auf die Weibchen als Vererbung auf, und in der That sieht es ja so aus, als ob es sich hier um einfache erbliche Übertragung der Errungenschaft eines Geschlechtes auf das andere handele. Es fragt sich indessen doch, ob wir bei dieser Auffassung stehen bleiben können. Jedenfalls wäre diese »Vererbung« kein zwingender physiologischer Vorgang, der rein aus inneren Gründen eintreten muss, denn wir sehen, dass er oft auch ausbleibt, und zwar in manchen Fällen, ohne dass wir einen äusseren Grund dafür geltend zu machen wüssten, in anderen aber allerdings in offenbarer Abhängigkeit von den äusseren Lebens-, bedingungen. So dürfte wohl das zähe Festhalten der Mehrzahl unserer weiblichen Lycaeniden an der braunen Färbung ihren Grund in dem grösseren Schutzbedürfniss der viel seltneren Weib- chen haben, und ebenso wird es sich bei vielen Vögeln verhalten, deren Männchen ihre lebhaften Farben nicht auf die Weibchen über- tragen haben. Wall ACE hat zuerst darauf hingewiesen, dass alle Vögel, deren Weibchen auf offen daliegenden Nestern brüten, un- scheinbar gefärbt sind im weiblichen Geschlecht, auch wenn ihre Männchen in auffallenden Farben glänzen, während solche, die ihr Nest in versteckten Orten anbringen, in Baumlöchern, oder die das- selbe kuppelartig überwölben, nicht selten glänzende Farben in beiden Geschlechtern besitzen. So verhält es sich bei Spechten und Papa- geien, während die offen brütenden Hühnervögel alle unscheinbar gefärbte, ja meistens ihrer Umgebung vortrefflich angepasste Weib- chen besitzen. Wenn wir nun die Thatsache festhalten, dass eine Übertragung der durch sexuelle Züchtung entstandenen Charaktere stattfinden kann, so gewinnen wir darin eine werthvolle Handhabe zur Erklärung vieler Erscheinungen, die sonst ganz unerklärlich bleiben würden. Was bedeuten die bunten Farben der Papageien, die in so unglaub- lich wechselnder Zusammenstellung bei den verschiedenen Arten dieser grossen und weit verbreiteten Familie uns entgegentreten? Was die wunderbar komplizirten Zeichnungen und Farben- Das Prinzip der Mode wirksam. 25 7 muster der Schmetterlinge? In einzelnen Fällen mögen sie Schutzfärbung sein, so das Grün vieler Papageien, in anderen Widrig- keitszeichen, wie die bunten Farben und kontrastirenden Zeichnungen vieler Helikoniden, Eusemiiden und anderer widrig schmeckender Schmetterlinge, aber es bleibt eine, grosse Zahl von Fällen übrig, auf die weder die eine noch die andere Deutung passt, und die wir nur als reine, Naturspiele betrachten könnten, wüssten wir nicht, dass männliche Sexualcharaktere auf die Weibchen übertragen werden können, und dass so die Art in allen ihren Individuen total um- gefärbt werden kann. Nun erklärt sich nicht nur das Vorkommen auffallender, sondern auch das verwickelter Färbungen. Darwin hat schon dargelegt, dass es sich bei den Werbemitteln, welche die Männchen im Kampf um den Besitz der Weibchen aus- bildeten keineswegs immer um solche Charaktere gehandelt zu haben braucht, welche an und für sich schon als »schön« gelten durften; vielmehr zunächst um auffallende Merkmale, die dadurch wirkten, dass sie den Besitzer vor Anderen kennzeichneten und somit auch auszeichneten. Es ist das Prinzip der Mode, welches hier wirksam war: etwas Neues wird verlangt, und womöglich das Gegentheil von dem was bisher als schön galt. So werden weisse Stellen auf schwarzem Grund den Anfang von solchen Selektionsprozessen ge- geben haben können, überhaupt helle Flecken auf dem dunkeln Grund, der wohl überall den Ausgangspunkt bildete. Waren dann im Laufe langer Generationsfolgen solche Flecken auf alle Männchen übergegangen, so lag die Möglichkeit zu weiteren Veränderungen vor, sobald ein neuer Contrast als einzelne Variation auftrat, die dann unter günstigen Umständen Anfangspunkt eines neuen Selektionsvor- gangs werden konnte. Darwin hat einige Fälle aufgeführt, wo wir aus der Vergleichung des Jugendkleides eines Vogels mit dem des Erwachsenen schliessen können, dass eine Umfärbung des ganzen Gefieders im Laufe der Phylogenese eingetreten sein muss. In anderen Fällen wird aber der Fortgang des Züchtungsprozesses derart erfolgt sein, dass nicht die Totalfärbung umgeändert wurde, sondern dass nur an einzelnen Körperstellen Veränderungen eintraten, Flecken oder Streifen, die im Laufe der Zeiten sich häuften, und zu einer immer mannichfaltigeren und verwickeiteren Farbenkarte zu- sammenwirkten, zu einer »Zeichnung« des Thieres, wie wir sie heute besonders bei Schmetterlingen, aber auch bei Vögeln beob- achten. 258 Sexuelle Selektion. Es ist eine schöne Bestätigung der Entstehung bunter Färbungen durch sexuelle Selektion, dass auch in denjenigen Gruppen des Thier- reichs, welche im Allgemeinen sexuell monomorph sind, doch immer auch Arten vorkommen, in denen Mann und Weib ganz verschieden gefärbt sind, und daneben eine Menge von Arten, bei denen die Beiden zwar in der Hauptsache gleich, in gewissen kleinen Einzel- heiten aber doch verschieden sind. Bei den Papageien herrscht im Allgemeinen Gleichheit der Färbung, aber in Neu-Guinea lebt ein Papagei, der im weiblichen Geschlecht prachtvoll blutroth ist, im männlichen von einem schönen hellen Grün; kleinere Unterschiede finden sich bei vielen Arten, so entbehrt das Weibchen des Horn- sittichs (Cyanorhamphus cornutus Gm.) die beiden verlängerten, schwarz und rothen Federn auf dem Kopf, das des Wellensittichs (Melopsittacus undulatus) ist ein wenig blässer grün und hat die schönen blauen Tropffiecken an den Backen nicht, welche das Männchen besitzt. Unzählige solche Fälle lassen sich anführen, welche darauf hindeuten, dass alle diese Auszeichnungen der Männchen schrittweise und stück- weise erworben, und langsam und stückweise auch übertragen wurden — falls überhaupt. Aber noch von einer anderen Seite her lässt sich die Richtigkeit der DARWIN'schen sexuellen Selektion aus der Zeichnung und Fär- bung der Vögel und Schmetterlinge ablesen. Es ist mir schon seit langer Zeit immer wieder bei der Betrach- tung bunter Vögel und Schmetterlinge aufgefallen, wie viel einfacher diese ihre auf sexuelle Züchtung zu beziehenden Zeichnungsmuster sind, als solche, die wir auf Art-Züchtung beziehen müssen vor Allem als »sympathische Färbungen«. Wie plump ist das Zeichnungsmuster der meisten Papageien bei allem Glanz der Farben selbst! Grosse Flächen des Körpers sind roth, andere grün, gelb, blau, gelegentlich findet man auch einen blau und roth gestreiften Federkragen, einen Kopf, der oben roth und unten gelb ist, aber selten wechseln die Farben auf einer kleinen Fläche so miteinander, dass feine orna- mentale Zeichnungen entstehen. Die buntesten unter den Papageien sind die Pinselzüngler (Trichoglossus), und auch bei ihnen geht die Feinheit der Zeichnung doch nicht weiter, als bis zur Zusammenstel- lung dreier Farben auf einer der langen Schwanzfedern, oder bis zur Herstellung doppelter Halsbänder u. s. w. Und nun vergleiche man damit die komplizirte Zeichnung der unscheinbar gefärbten Weibchen der Fasanen, die des Rebhuhns, die der Oberseite so vieler grauer, braun-schwarz und weiss melirter Vösrel, die dem Boden oder dem Sexuelle und Art-Züchtung. 259 dürren Laub ähnlich sehen, wenn sie sich niederducken, wie unend- lich viel feiner und komplizirter ist hier häufig das Farbenmuster! Mir scheint dies verständlich, wenn man einerseits bedenkt, dass Art-Selektion ungleich intensiver arbeiten muss, als sexuelle Selektion, dass es sich bei Herstellung einer Schutzfärbung um die Täuschung des Auges eines scharfsichtigen Feindes handelt, bei der sexuellen Zuchtwahl nur um das Wohlgefallen des Artgenossen. Solange der nach Beute suchende Feind noch einen Unterschied zwischen dem Zeichnungscharakter seines Opfers und dem seiner Umgebung wahr- nimmt, so lange dauert auch die stete allmälige Verbesserung der Schutzfärbung noch fort, so lange werden ihr neue Farbentöne oder neue Linien hinzugefügt. So können wir es verstehen, dass allmälig eine solche Complizirtheit der Zeichnung erreicht worden ist, wie sie von der sexuellen Züchtung zwar auch erreicht werden kann, aber doch nur an einzelnen besonders günstigen Punkten. Die Augenflecken auf den Schwanzfedern des Argusfasans und des Pfauen sind solche Punkte, und sie finden sich bei in Polygamie lebenden Vögeln, bei denen sexuelle Züchtung jedenfalls sehr intensiv auftritt, und sie stehen auf einer Körperfläche, dem radförmigen Schweif, der ganz besonders zur Übertragung der männlichen Erregung auf das Weibchen geeignet ist, von Letzteren also ganz besonders beeinfiusst werden muss. Im Allgemeinen aber lässt sich a priori sagen, dass die Intensität der Art-Züchtung eine viel grössere sein muss, als die der sexuellen Züchtung, weil die erstere mitleidlos und unausgesetzt den minder Vollkommnen vernichtet, während die An- sprüche der letzteren jedenfalls minder kategorisch sind und auch durch mancherlei Zufälligkeiten häufig noch weiterhin gemildert werden mögen. Speciell bei den Insekten kommt aber noch hinzu, dass die Schutzfärbungen von einem anderen Künstler gemalt werden, als die Schmuckfärbungen , die ersteren nämlich von Vögeln, Eidechsen und anderen mit hochentwickelten Augen begabten Verfolgern, die letzteren aber von den Insekten selbst, deren Augen für nicht ganz nahe Gegenstände doch schwerlich dieselbe Sehschärfe besitzen, wie das Vogelauge. Deshalb finden wir die Schutzfärbung der Schmetter- linge so oft von komplizirter Zeichnung, während derselbe Schmetter- ling auf seiner durch sexuelle Züchtung bunt bemalten Oberseite nur grobe, wenn auch brillant zusammengestellte Farbenmuster aufweist. So zeigt die berühmte Kallima auf der Unterseite das Bild des trockenen oder angefaulten Blattes aus einer Menge von Farbentönen 2ÖO Sexuelle Selektion. zusammengesetzt, ein ganz verwickeltes Gemälde. Betrachten wir die Oberseite, so haben wir ein stahlblau schillerndes tiefes Braun als Grundfarbe der Flügel und darauf eine breite gelbe Binde und noch ein weisses Fleckchen, das ist die ganze Zeichnung. Ahnliches finden wir noch bei anderen Waldschmetterlingen Brasiliens, aber auch bei vielen einheimischen Schmetterlingen. Die Zeichnung unserer bunte- sten Tagfalter, des Admirals und Distelfalters (Vanessa Atalanta und Cardui) ist auf der Oberseite von ziemlich grobem Muster und sehr einfach gegenüber der aus Hunderten von Punkten, Fleckchen, Stri- chelchen und Linien jeder Gestalt und Farbe zusammengesetzten Schutzfärbung der Unterseite. Umgekehrt zeigt die Oberseite der Vorderflügel bei Schwärmern und Eulen die schützende Färbung und ist aus seltsam zickzackförmigen verwickelten Linien, Strichen und Flecken so zusammengesetzt, dass sie der Baumrinde oder einer alten Bretterwand gleicht — eine Malerei, vergleichbar dem Impressionismus unserer Tage, der auch mit einem sinnlos scheinenden Durcheinander von Farbenklecksen dennoch den vollendeten Eindruck auch der Details einer Landschaft widergibt. Auch bei den Eulen (Noctuinem sind diejenigen Flügelflächen, welche lebhaft gefärbt sind, von ganz einfacher, fast plumper Zeichnung: so bei den sog. Ordensbändern (Catocala) mit ihren rothen, blauen oder gelben Hinterflügeln, über die eine grosse schwarze Binde hinzieht, während bei den Spannern (Geometriden), deren Flügel in der Ruhe flach ausgebreitet werden, die protektive Oberseite aller vier Flügel wieder von einem ver- wickelten Muster von Linien, Flecken und Strichen in verschiedenen Tönen von Grau, Gelb, Weiss und Schwarz bedeckt ist, wie es so täuschend Baumrinde oder eine Mauerfläche nachahmt. Ich konnte mir früher nicht erklären, wieso durch Naturzüchtung ein so bestimm- tes und konstantes Muster entstehen könne, wenn es sich um Nach- ahmung des Eindrucks von Baumrinde oder sonst einer unregelmässig gefärbten Fläche handelt, die ja nicht überall genau gleich gemischt ist. Ich glaube es jetzt zu verstehen, denn an dem scheinbar sinn- losen Farbengekleckse einer impressionistisch gemalten Landschaft, müssen die verschiedenen Kleckse auch so stehen, wie sie stehen, sonst kommt beim Zurücktreten vom Bild nicht ein Haarlemer Hya- zinthenfeld oder eine Allee von Pappeln mit goldigen Herbstblättern heraus, sondern ein unverständliches Geschmier. Der Typus des Farbenmusters ist es, der erreicht werden muss, und diesen erreicht die Natur sehr langsam, Schritt für Schritt, Fleckchen um Fleckchen, und deshalb wird offenbar kein einmal errungener richtiger Strich Zusammenfassung. 20 1 wieder aufgegeben, denn er sichert mit den übrigen zusammen den richtigen Typus des Farbenmusters. Nur so, meine ich, können wir verstehen, dass selbst scheinbar ganz sinnlose Linien, wie die Jahres- zahl 1840 auf der Unterseite von Vanessa Atalanta ein konstantes Eigenthum der Art werden konnte. Soll ich kurz zusammenfassen, so dürfen wir wohl sagen, dass sexuelle Selektion ein viel mächtigerer Faktor der Umgestaltung ist, als man zuerst denken sollte. Allerdings kann er bei den Pflanzen nicht mitgewirkt haben, und auch bei den niederen Thieren kann er nicht in Betracht kommen, weil dieselben sich, wie die Pflanzen, nicht paaren, oder doch ohne dabei eine Wahl treffen zu können. Thiere, die am Boden des Meeres festgewachsen oder auch nur festgeheftet sind, müssen ihre Fortpflanzungszellen einfach in das Wasser aus- stossen und vermögen nicht zu bewirken, dass dieselben sich mit denen dieses oder jenes Individuums vereinigen. So verhält es sich bei den Schwämmen, Korallenthieren und Hydroidpolypen. Andere Klassen haben noch zu niedrig entwickelte Sinnesorgane, besonders zu unvollkommene Augen, um durch Unterschiede im Aussehen oder den Äusserungen der Männchen in verschiedenem Grade erregt zu werden, denn so wird es zu verstehen sein, wenn Darwin solchen Thieren »zu unvollkommene Sinne und viel zu niedrige Geisteskräfte« zuschreibt, »um die Schönheit und andere Anziehungspunkte des an- deren Geschlechts würdigen, oder Rivalität fühlen zu können«. Dem- entsprechend fehlen bei Protozoen, Echinodermen, Medusen und Rippenquallen sekundäre Geschlechtscharaktere ganz, wie denn auch eine Paarung bei ihnen fehlt. Bei den Würmern, welche sich paaren, begegnen wir ihnen zuerst, und von ihnen angefangen aufwärts fehlen sie in keiner Gruppe voll- ständig und spielen nach und nach eine immer grössere Rolle. Die Bedeutung der geschlechtlichen Züchtung liegt aber, wie Sie sahen, nicht blos darin, dass das eine Geschlecht einer Art, und zwar gewöhnlich das männliche, umgestaltet wird, sondern in der Möglich- keit der Übertragung dieser Umgestaltung auf die Weibchen, und ferner darin, dass der Prozess der Abänderung immer wieder von Neuem anfangen, und so eine Abänderung auf oder neben die andere gesetzt werden kann. Auf diese Weise erklären sich dann gewisse komplizirte und oft phantastische Formen und Färbungen, die wir auf keine andere Weise zu verstehen im Stande wären, auf diese Art erklärt sich auch die ausserordentliche Zahl nahe verwandter Arten in solchen Thiergruppen, bei welchen die Unterschiede gerade haupt- 2Ö2 Sexuelle Selektion. sächlich in ihren Farbenmustern liegen, z. B. bei Schmetterlingen und Vögeln. DARWIN hat überzeugend nachgewiesen, dass eine überraschende Mensfe von Charakteren der Thiere aufwärts von den Würmern ihre Wurzel in der sexuellen Züchtung hat, und wahrscheinlich gemacht, dass dieselbe auch in der Entwicklungsgeschichte des Menschen eine bedeutungsvolle Rolle gespielt hat, wenn auch gerade hier noch nicht Alles so sicher und klar ist, wie bei den Thieren. Zum Schluss dieses Abschnitts möchte ich noch einmal auf die Lücke in der Annahme jeder, auch der sexuellen Züchtung hinweisen, welche offenbar darin gesehen werden muss, dass der erste Anfang der durch Züchtung gesteigerten Charaktere unklar bleibt. Darwin hält sich an die Thatsache der gewöhnlichen individuellen Variation, aber es fragt sich doch, ob so unbedeutende Abänderungen, wie diese sie zu bieten im Stande ist, schon einen Vortheil im Wettbewerb um den Besitz der Weibchen darstellen kann, und weiter, ob wir nicht Grund zu der Annahme haben, dass auch grössere Abänderungen vorkommen und sich theoretisch verstehen lassen. Diese Frage gilt auch gegenüber der gewöhnlichen Naturzüchtung, wenn auch bei ihr die Anfangsstufen kleiner gedacht werden können, da hier der Vor- theil einer Abänderung nur darin liegt, dass sie nützt, nicht darin, dass sie von Anderen bemerkt wird. In der That ist denn auch bei- den Selektionsannahmen vielfach gerade diese Frage von den ersten Anfängen der Abänderungen entgegengehalten worden, insoweit wohl mit Recht, als dies der Angriffspunkt für die weitere Forschung vor Allem zu bilden hatte. Irrig war es nur, die ganzen Selektionsvor- gänge deshalb zu verwerfen, weil man in diesem Punkt noch nicht klar sah. Wir werden später versuchen, einen Einblick in die Ur- sachen der Variation zu gewinnen und werden dann auch wieder auf die Frage nach den Anfängen der Züchtungsprozesse zurückkommen. Für jetzt sei nur gesagt, dass Darwin schon sehr wohl wusste, dass es neben der gewöhnlichen individuellen Variation auch grössere Schwankungen gibt, die sprungweise in einzelnen Individuen auf- treten, wenn auch nur sehr selten. Er wrar indessen im Allgemeinen nicht geneigt, ihnen für die Artbildung besondere Bedeutung zuzuschreiben, sondern bezog die Umwandlung der Arten, wie sie im Laufe der Erdgeschichte stattgefunden hat, vor Allem auf Steigerung der ge- wöhnlichen individuellen Verschiedenheiten, und ich glaube, dass er dabei im Rechte war, da Anpassungen ihrem Begriff nach nicht durch zufällige plötzliche Sprünge in der Organisation zu Stande kommen Sexuelle Selektion. 20^ können, sondern nur unter der Vorraussetzung- einer allmäligen Häu- fung kleiner Unterschiede in der Richtung ihrer Nützlichkeit sich so genau den zufälligen Lebensumständen anzuschmiegen im Stande sein dürften. Ob aber nicht rein sexuelle Abzeichen auch in sprung- weisem Abändern ihre erste Wurzel haben können, das wird später zu untersuchen sein. Prinzipiell steht dem jedenfalls Nichts entgegen, sofern solche Abzeichen nicht auch Anpassungen sind in dem Sinn, wie die Lasso -Fühler der Copepoden oder die Turbanaugen der Ephemeriden; blosse Auszeichnungen, Schmuckfärbungen, sonderbare Fortsätze und dergleichen mögen, falls sie in einem Anfang plötzlich auftreten, sehr Avohl die Grundlage zu weiterer sexueller Züchtung geben können, soweit sie nicht für die Existenz der Art nachtheilig sind. 264 Histonalselektion. XII. Vortrag. Intraselektion oder Histonalselektion. Wirkt das LAMARCic'sche Prinzip wirklich mit bei den Umwandlungen? Darwin's Stellung zu dieser Frage p.266, Zweifel von Galton bis heute p. 266, Neo- Lamarckianer und Neo-Darwinianer p. 267, die Vorgänge der Übung, funktionelle Anpassung p. 267, Wilhelm Roux' Kampf der Theile p. 268. Meine Herren ! Wir haben eine ganze Reihe von Vorträgen daran gesetzt, das DARWIN -WALLACE'sche Prinzip der Naturzüchtung und seinen Wirkungskreis kennen zu lernen. Dasselbe schien uns die unzähligen Anpassungen bis zu einem bestimmten Grade verständlich zu machen, d. h. ihre Entstehung aus bekannten Kräften heraus zu- zulassen. Wir verstehen jetzt, wie das Zweckmässige, welches uns überall an und in den lebenden Wesen entgegentritt, entstanden sein kann, ohne das direkte Eingreifen einer wollenden, zweckthätigen Kraft, einfach als Ausfluss und Resultat des Überlebens des Passend- sten. Die beiden Formen der Züchtungsprozesse, die »Naturzüchtung« im engern Sinn und die »geschlechtliche Züchtung« beherrschen ge- wissermassen alle Theile und alle Funktionen- des Organismus und sind bestrebt, sie den Bedingungen des Lebens auf das möglichst beste anzupassen, und wenn auch der Wirkungskreis der ersten Art von Selektion ein ungleich ausgedehnterer ist, weil er geradezu jeden Theil beeinflussen kann, so mussten wir doch auch der sexuellen Selektion bei den Thieren wenigstens einen nicht unbedeutenden Wirkungskreis einräumen, indem dadurch — soweit wir heute sehen — nicht blos die sekundären Geschlechtscharaktere in ihrer ganzen Mannichfaltigkeit entstehen, sondern durch Übertragung derselben auf das andere Geschlecht, auch das Letztere verändert, somit die ganze Art beeinflusst, ja in eine unbegrenzte Succession von Umwandlungen hineingezogen werden kann. Aber wenn nun auch Selektionsprozesse einen so bedeutenden Antheil an den Umwandlungen der Lebensformen besitzen, so fragt sich doch, ob sie die einzigen Faktoren dieser Umwandlungen sind, Histonalselektion. 265 ob nur durch Häufung- der sich darbietenden Variationen nach der Richtung der Nützlichkeit die Entwicklung der Lebewelt geleitet wird, ob nicht dabei noch andere Faktoren mitspielen. Sie wissen, dass LAMARCK die direkte Wirkung des Gebrauchs oder Nichtgebrauchs als den wesentlichsten Faktor der Umwand- lungen ansah, und dass DARWIN, obwohl zögernd und vorsichtig, diesen Faktor anerkannte und beibehielt; er glaubte, denselben nicht entbehren zu können, und in der That sieht es auf den ersten Blick auch so aus; es gibt eine grosse Reihe von Thatsachen, die nur auf diesem Weg erklärbar erscheinen, vor Allem die Existenz der unzähligen rudimentären Organe, die alle im Verlauf des Nichtgebrauchs ver- kümmert sind, die Reste von Augen bei im Dunkeln lebenden Thieren, die von Flügeln bei den laufenden Vögeln, die Reste von Hinterbeinen bei den schwimmenden Säugern, den Walen, von Ohrmuskeln bei dem seine Ohren nicht mehr spitzenden Menschen u. s. w. u. s. w. Sind doch allein beim Menschen nach WlEDERSHElM nahezu zweihundert solcher »rudimentärer Organe« aufzuzählen, und es gibt kein höheres Thier, das deren keine besässe; bei allen also steckt ein Stück der Vorgeschichte der Art noch in dem heutigen Organis- mus darin und legt Zeugniss dafür ab, wie Vieles von dem, was die Ahnen besassen, überflüssig geworden und entweder umgewandelt oder nach und nach beseitigt worden ist, d. h. noch heute in der Beseitigung begriffen ist. Es liegt aber auf der Hand, dass durch Naturzüchtung im DARWIN -WALLACE'schen Sinn dieses allmälige Kleinerwerden und Verkümmern eines nicht mehr gebrauchten Or- gans sich nicht erklären lässt, da der Vorgang so überaus langsam erfolgt, dass die geringen Grössen-Unterschiede des Organs, wie sie zwischen verschiedenen Individuen der Art zu irgend einer Zeit des Rückbildungsprozesses vorkommen, unmöglich Selektionswerth haben können. Ob das verkümmernde, nicht mehr benöthigte Hinterbein des Wals ein Wenig grösser oder kleiner ist, kann keine Bedeutung im Kampf ums Dasein haben; das kleinere Organ kann weder als geringeres Hinderniss beim Schwimmen, noch als grössere Material- Ersparung in Betracht kommen, und ähnlich verhält es sich in den meisten anderen Fällen von Verkümmerung bei Nichtgebrauch. Wir bedürfen also einer anderen Erklärung, und diese scheint das LAMARCK- sche Prinzip auf den ersten Blick zu bieten. Aber auch das Umgekehrte, die Kräftigung, Vergrösserung, stärkere Ausbildung eines Theils geht sehr häufig parallel seinem stärkeren Gebrauch, und auch hier also scheint uns das LAMARCK'sche Prinzip 2 66 Histonalselektion. eine einfache Erklärung zu gewähren. Denn wir wissen, dass Übung einen Theil kräftigt, Nichtgebrauch ihn schwächt, und wenn wir an- nehmen dürften, dass diese Übungs- oder Nichtgebrauchs-Resultate sich von der Person, welche sie im Laufe ihres Lebens an sich her- vorgerufen oder »erworben« hat, auf ihre Kinder vererben könnte, dann wäre nichts gegen das LAMARCKsche Prinzip einzuwenden, — aber eben hier liegt die Schwierigkeit: Dürfen wir eine solche Vererbung »erworbener« Eigenschaften annehmen? besteht sie? lässt sie sich erweisen? Dass LamäRCK sich diese Fragen noch gar nicht stellte, sondern eine solche Vererbung als selbstverständlich annahm, ist erklärlich aus der Zeit, in der er lebte; hatte er doch als einer der Ersten gerade den Gedanken der Transmutationshypothese gefasst und konnte froh sein, zugleich schon irgend ein Erklärungsprinzip dafür bereit zu haben. Aber auch Ch. DARWIN gestand diesem Prinzip noch einen bedeu- tenden Einfluss zu, obwohl ihm die dabei vorausgesetzte Vererbung »erworbener« Eigenschaften Bedenken verursachte. Er richtete sogar seine Vererbungstheorie, wie wir sehen werden, ganz besonders auf die Erklärung dieser dabei vorausgesetzten Vererbungsform ein, und nach dem, was ich Ihnen soeben über die Unmöglichkeit gesagt habe, durch die DARWIN -WALLACE'sche Naturzüchtung das Schwinden über- flüssig gewordener Organe zu erklären, können wir das sehr wohl verstehen. DARWIN bedurfte des LAMARCK'schen Prinzips zur Er- klärung dieser Erscheinungen, und dies war es, was ihn bestimmte, auch die Vererbung »erworbener« Eigenschaften anzunehmen, obgleich ihm die Beweise für eine solche sonst wohl nicht genügt hätten. Aber wenn wir Thatsachen gegenüberstehen, für deren Verständniss wir keine andere Möglichkeit vor uns sehen, als eine einzige, wenn auch unbeweisbare Annahme, so müssen wir diese einstweilen einmal machen, bis eine bessere gefunden wird. Auf diese Weise ist offen- bar die Stellung Darwin's zum LAMARCK'schen Prinzip zu verstehen: er verwarf es nicht, weil es ihm die einzige mögliche Erklärung für das Schwinden nutzlos gewordener Theile zu bieten schien; er behielt es bei, obgleich ihm die dabei vorausgesetzte Vererbung erworbener Eigenschaften zweifelhaft, jedenfalls nicht sicher erwiesen erscheinen musste und auch wirklich erschien. Leise und stärkere Zweifel an dieser angenommenen Vererbungs- form wurden erst spät, fast 20 Jahre nach dem Erscheinen des »Origin of Species« geäussert, so zuerst von Fr. Galton (1875), dann von HlS, der sich bestimmt wenigstens gegen eine Vererbung von Ver- Histonalselektion. 2Ö7 stümmelungen erklärte, von Du Bois-Reymünd , der in seiner Rede »Über die Übung« 1881 sagte: »Wollen wir ehrlich sein, so bleibt die Vererbung erworbener Eigenschaften eine lediglich den zu erklärenden Thatsachen entnommene und noch dazu in sich ganz dunkle Hypothese.« In der That musste sie Jedem, der sie auch nur auf ihre theore- tische Möglichkeit, auf ihre blosse Denkbarkeit prüfte, so erscheinen. So erschien sie denn auch mir, als ich 1883 versuchte, mir über sie klar zu werden, und ich sprach damals die Überzeugung aus, dass eine solche Vererbungsform nicht nur unerwiesen, sondern dass sie auch theoretisch nicht denkbar sei, dass wir somit darauf angewiesen wären, die Thatsache des Schwindens nicht gebrauchter Theile auf andere Weise zu erklären, und ich versuchte, eine solche Erklärung zu geben, wie wir später noch sehen werden. Damit war denn dem LAMARCK'schen Prinzip, der direkt umwan- delnden Wirkung von Gebrauch und Nichtgebrauch der Krieg erklärt, und es entspann sich daraus in der That ein Kampf, der sich bis in unsere Tage fortgesetzt hat, der Kampf zwischen den Neo-La- marckianern und den Neo-Darwinianern, wie man die streitenden Parteien genannt hat. Damit Sie Sich nun ein Urtheil bilden können darüber, auf welche Seite der Streitenden Sie Sich stellen wollen, wird es zu- nächst nöthig sein, dass wir untersuchen, was denn eigentlich dabei vorgeht, wenn ein Organ geübt oder in Unthätigkeit belassen wird, und ferner, ob wir annehmen dürfen, dass die Resultate dieser Übung oder Unthätigkeit auf die Nachkommen vererbt werden können. Dass überhaupt Übung einen stärkenden, Vernachlässigung eines Organs einen schwächenden Einfiuss auf dasselbe ausübt, ist längst bekannt und auch dem Laien geläufig; Turnen macht die Muskeln kräftiger, die Dicke der geübten Muskeln und ihre Faserzahi nimmt zu, der so viel mehr benutzte rechte Arm leistet 20% mehr als der linke. Ebenso wird die Thätigkeit der Drüsen durch Übung gesteigert, und die Drüse selbst vergrössert, so die Milchdrüse der Kühe durch das häufige Melken, und dass auch die Nervenelemente durch Übung günstig beeinflusst werden, beweisen die Schauspieler und Gedächt- nisskünstler, welche ihre Gedächtnisskraft durch Übung auf eine un- glaubliche Höhe hinaufgesteigert haben. Mir wurde von einem Sänger erzählt, der 160 Opern im Kopf habe, und Wer hätte nicht an sich selbst erfahren, wie rasch sich die Fähigkeit zum Auswendiglernen Weismann, Descendenztheorie. 17 2 68 Histonalselektion. durch Übung wieder steigern lässt, wenn sie etwa vorher lange ver- nachlässigt, d. h. nicht geübt worden war. Ganz besonders frappant ist mir immer die Einübung eines Musik- stückes erschienen mit seiner langen Folge von Intervallen verschie- dener Stimmen, mit seinem Wechsel in Melodie, Rhythmus und Har- monie, der sich doch durch Übung so fest dem Gedächtniss einprägt, dass er nicht nur bewusst, sondern sogar unbewusst, bei intensivem Nachdenken über ganz andere Dinge, abgespielt werden kann. Hier ist also nicht nur das Gedächtniss selbst, sondern auch der ganze komplizirte Mechanismus von successiven Muskelimpulsen mit allen ihren Einzelheiten von Schnell und Langsam, Stark und Schwach den entsprechenden Gehirnelementen eingegraben, vergleichbar einer langen Reihe sich auslösender Reflexbewegungen, und wenn wir auch die materiellen Veränderungen, die hier in den Nervenelementen ein- getreten sind, nicht speciell nachweisen können, so wird der Schluss deshalb doch nicht zweifelhaft erscheinen, dass solche eingetreten sind, und dass sie in einer Kräftigung bestimmter Elemente und Theilen von Elementen liegen, die es mit sich bringt, dass gewisse Ganglien- zellen stärkeren Impuls nach bestimmter Richtung hin geben und dass dieser sich stärker fortpflanzt u. s. w. Eine theoretische Einsicht in diese Verhältnisse haben wir aber erst durch Wilhelm Rorx bekommen, der 1881 zuerst aussprach, was bisher ein offenes, aber Niemand recht bewusstes Geheimniss gewesen war, dass der »funktionelle Reiz das Organ kräftigt«, dass also ein Organ durch seine specifische Thätigkeit selbst zunimmt. Bis dahin hatte man geglaubt, dass es der vermehrte Blutzufluss allein sei, der die Vergrösserung eines vielgeübten Theiles bewirke. ROUX machte geltend, dass »eine quantitative Selbstregulation der Grösse der Organe nach der Grösse des ihnen zugeführten Reizes« stattfinde, dass das gereizte, d. h. seine normale Funktion ausführende Organ, trotz der dadurch gesteigerten Zersetzung oder Verbrennung (Dissimi- lation) desselben auch um so stärker assimilire, dass sein Verbrauch »übercompensirt« werde und dass es somit wachse. Er nannte dies die »trophische« d.h. ernährende Wirkung des Reizes und erklärte dadurch die Zunahme des vielgebrauchten, die Abnahme des vernachlässigten Organs. Die Organe folgen also bis zu einem ge- wissen Betrag den Ansprüchen, welche an sie gestellt werden, sie nehmen zu in dem Masse, in dem sie stärker oder häufiger funktioniren, sie vermögen gesteigerten Ansprüchen der Funktion zu folgen, ein Verhalten, welches Roux als »funktionelle Anpassung« bezeichnet Histonalselektion. 2ÖQ hat. Wie ein ganzes Thier sich den Ansprüchen seiner Lebens- bedingungen anpasst, z. B. eine grüne, braune oder rothe Schutz- färbung annimmt, je nachdem es auf grünen, braunen oder rothen Pflanzen lebt, so passt sich das einzelne Organ der Stärke der Reize an, welche es zur Funktionirung zwingen, nimmt mit ihnen zu oder ab. Wenn die eine Niere eines Menschen entartet, oder chirurgisch entfernt wird, so fängt die andere an zu wachsen, bis sie nahezu die doppelte Grösse erreicht hat. Der specifische Reiz, den die im Blute enthaltenen Harnstoffe auf sie ausüben und sie zur Sekretion zwingen, ist jetzt, wo die andere Niere fehlt, doppelt so gross, und so w?ächst sie in Folge des verstärkten Reizes durch seine »trophische Wirkung« solange, bis durch ihre Vergrösserung die Funktionsstärke wieder auf das normale Mass herabgesunken ist. In umgekehrter Richtung erfolgt die Anpassung des Organs, wenn die Funktion nachlässt oder aufhört. Nach Durchschneidung des Nerven eines Muskels, einer Drüse beginnen diese Organe sehr rasch zu entarten, um schliesslich gänzlich ihre Struktur einzubüssen. Auch Gefühlsnerven entarten in ihrem peripheren Stück, wenn sie durch- schnitten werden. An dem Ernährungsapparat, den Blutgefässen u.s. w. braucht in diesen Fällen nichts geändert zu sein, aber der funktio- nelle Reiz, beim Muskel der Willensreiz, trifft das Organ nicht mehr und dadurch wird der Stoffwechsel derart in ihm herabgesetzt, dass es entartet. Man kann sehr wohl schon dieses einfache Herabsinken eines Organs durch Nichtgebrauch und seine Vergrösserung bei Vielge- brauch als die Folge eines Selektionsprozesses betrachten, indem man eben nicht nur das einzelne Organ, sondern den ganzen Organismus, dessen integrirender Theil es bildet, ins Auge fasst. Wohl könnte man sich ja auch dabei beruhigen, zu sagen: das Organ nimmt zu, weil es häufig von seinem funktionellen Reiz getroffen wird und weil dieser trophisch wirkt. Einen Schritt weiter aber führt die Erwägung, dass kein Theil des Organismus unabhängig für sich dasteht, dass alle um den einmal gegebenen Nahrungsvorrath des Blutes miteinander konkurriren, und dass also kein Organ dauernd zunehmen kann, ohne nicht anderen einen Theil der Nahrung zu entziehen. Wenn also ein Organ durch häufigen Gebrauch zunimmt, so werden andere, weniger gebrauchte dadurch im Wachsthum zurück- gehalten und zwar im Verhältniss zur Häufigkeit ihrer Funk- tionirung. Mit anderen Worten: es findet eine Selbstregulirung der Organe in Bezug auf ihren Grössenzustand statt entsprechend der 17* 2 70 Histonalselektion. Stärke ihrer Benutzung, und es liegt auf der Hand, dass diese Regu- lirung genau dem Bedürmiss entspricht, also von höchster Zweck- mässigkeit ist. Aber nicht nur eine Regulirung im Ausbildungsgrad ganzer Organe kommt durch diese Histonal- oder Gewebe-Selektion zu Stande, son- dern auch die Vertheilung und Anordnung der verschiedenen Ele- mente, welche ein bestimmtes Organ zusammensetzen, also die feinere histologische Struktur desselben, die wunderbaren Zweckmässigkeiten des Gewebe-Baues. Es ist noch nicht so lange her, dass man anfing, diese kleinsten Strukturen in ihrer Zweckmässigkeit zu verstehen, und es ist ein Ver- dienst des Anatomen HERMANN MEYER damit den Anfang gemacht zu haben, indem er 1869 zeigte, dass die sog. »Spongiosa«, d. h. das schwammig gebaute Knochengewebe im Innern der End- stücke der grossen Röhrenknochen beim Menschen und den Säugern einen auffallend zweckmässigen mikroskopischen Bau besitzt. Die dünnen Knochenbälkchen dieser »Spongiosa« stehen nämlich genau in der Richtung des stärksten Zuges oder Druckes, der den Knochen an der betreffenden Stelle trifft; gewölbeartig werden sie durch Span- gen auseinander gehalten, so dass es ein Baumeister nicht besser machen könnte, wenn ihm die Aufgabe gestellt würde, mit möglichster Materialersparung die höchstmögliche Trag- und Widerstandskraft eines komplizirten Gewölbesystems herzustellen. Diese zweckmässige Struktur erklärt sich nun aus dem Kampf der Theile ganz einfach als eine Selbstdifferenzirung, denn wenn in der Knochenanlage verschieden begabte Elemente enthalten sind, Elemente also, welche auf verschiedene spezifische Reize in Aktion treten, so müssen sich diese durch den Kampf um Raum und Nahrung lokal so anordnen, wie es der Verbreitung der verschiedenen Reize im Knochen entspricht; in den Richtungen des stärksten Druckes und Zugs wird sich am meisten Knochensubstanz bilden, weil die knochenbildenden Zellen am stärksten durch diesen ihren funktionellen Reiz zum Wachsthum und zur Vermehrung angeregt werden, so kommt die Pfeiler- und Gewölbestruktur zu Stande, zwischen welchen dann Räume frei bleiben, die von starkem Zug und Druck eben durch die Knochenbälkchen entlastet sind und deshalb Zellen mit anderen funktionellen Anlagen, wie Bindegewebezellen, Gefässen, Nerven u. s.w. Platz und Lebensbedingungen bieten. Die Struktur der Knochen- Spongiosa ist nicht überall dieselbe und hängt offenbar genau von den Druck- und Zugverhältnissen jeder einzelnen Stelle ab. So finden Histonalselektion. 2/1 sich dicht unter dem weicheren Knorpel-Überzug der Gelenkflächen keine langgestreckten Pfeiler mit kurzem Gewölbe, sondern mehr rund- liche Maschen, weil hier der Druck so ziemlich von allen Seiten her gleich stark wirkt, und die langen, parallellaufenden Pfeiler treten erst tiefer unten im Knochen auf und stehen in den beiden, sich kreuzenden Richtungen, wie sie den beiden Haupt-Druckrichtungen entsprechen. Nur unter dem funktionellen Reiz des Druckes aber sind die knochen- bildenden Zellen im Vortheil vor den anderen, vermehren sich rascher und verdrängen an diesen Stellen die auf funktionelle Reize abge- stimmten Zellen. In ähnlicher Weise erklärte Roux aus dem »Kampf der Theile« die auffälligen Zweckmässigkeiten im Verlauf, der Verzweigung und der Lumen-Gestaltung der Blutgefässe, die Richtung der sich in der Schwanzflosse des Delphins durchkreuzenden Bindegewebszüge, oder die Faserrichtungen im Trommelfell, überhaupt viele Zweckmässig- keiten der histologischen Struktur. Offenbar ist damit ein bedeutender Schritt vorwärts geschehen, denn es lap- auf der Hand, dass die Richtung der einzelnen Kno- chenbälkchen und Ahnliches nicht durch Auslese der Personen be- stimmt worden sein konnte, und ebenso alle übrigen histologischen Einzelheiten. Auch dass es sich hierbei um Selektionsprozesse han- delte, ganz analog denen, die wir nach dem Vorgang von DARWIN und WALLACE zwischen den Individuen sich abspielend denken, sollte ohne Weiteres zugestanden werden. Gerade bei Letzterer, die wir von jetzt an als Personal-Selektion bezeichnen können, die Va- riabilität und Vererbung im Kampf ums Dasein zum Überleben des Zweckmässigeren führen, so führen auch hier diese drei Faktoren zum Sieg des für die bestimmte Stelle des Körpers Zweckmässigeren, und die verschiedenen Gewebe und Gewebetheilchen müssen sich deshalb so vertheilen und anordnen, dass jedes an die Stelle kommt, an wel- cher es am häufigsten und stärksten von dem für dasselbe spezifischen Reiz getroffen wird, d. h. an welcher es den anderen Theilchen über- legen ist; diese Stellen sind aber zugleich diejenigen, deren Ausfüllung durch das bestreagirende Theilchen das ganze Gewebe am leistungs- fähigsten, die Struktur desselben also am zweckmässigsten macht. Variabilität wird dabei vorausgesetzt, da ohne sie eine Differenzirung der primitiven lebenden Substanz nicht denkbar wäre, die Vererbung ist mit der Vermehrung der Zellen durch Theilung gegeben, der, wie wir später sehen werden, eine Vermehrung kleinster Lebenseinheiten durch Theilung zu Grunde liegen wird, und der Kampf ums Dasein 2 y 2 Histonalselektion. tritt hier in der Form eines Kampfes um Nahrung und Raum auf: das durch den funktionellen Reiz rascher assimilirende Theilchen, ver- mehrt sich rascher, entzieht dadurch die Nahrung anderen, langsamer sich vermehrenden Theilchen seiner Umgebung und verdrängt die- selben dadurch mehr oder weniger. So können wir uns sehr gut vorstellen, wie aus einer primitiven einfachsten Lebenssubstanz mit gleichen, aber variirenden Theilchen unter dem Einfiuss verschiedener Reize nach und nach eine immer mannichfaltigere Differenzirung ver- schiedenster Theilchen hervorging, indem die von einem bestimmten Reiz stärker affizirten Variationen der primären Lebenssubstanz an den von diesem Reiz häufig getroffenen Stellen sich anhäufen und durch Selektion immer weiter und schärfer herausdifferenziren und die anderen Variationen dort verdrängen mussten, wie also der Körper und der einzelne Theil desselben sich genau den Ansprüchen, welche die Funktion an ihn stellte, umgestaltete. Wenn aber auch das Prinzip richtig ist, so fragt es sich doch zu- nächst noch, wie weit es reicht, und RüUX hat, wie ich glaube und wie er selbst später zugab, die Tragweite des Kampfes der Theile zuerst überschätzt, wenn er in ihr ausschliesslich das Prinzip sah, welches die feinsten Zweckmässigkeiten schafft. Wir werden später noch ein- mal auf diese Histonal-Selektion zurückkommen, um ihr Verhältniss zur Personal-Selektion festzustellen, und es wird sich dann zeigen, dass der Kampf der Theile allein ohne den Kampf der Personen nicht genügt, um jene feinsten Zweckmässigkeiten entstehen zu lassen. Roux meinte bei der Aufstellung seines Prinzips, dass die Naturzüch- tung DARWix's unmöglich die histologischen Zweckmässigkeiten ge- schaffen haben könnte, da doch z. B. die Variationen eines einzelnen Knochenbälkchens in der Spongiosa eines Knochens unmöglich den Ausschlag über Leben und Tod im Kampf ums Dasein seines Be- sitzers gegeben haben könne. So unzweifelhaft wahr das ist, und so berechtigt auch das ganze Argument zu der Zeit war, zu welcher es ausgesprochen wurde, so werden wir doch heute die Sache etwas anders ansehen. Roux meinte noch, dass die histologischen Zweck- mässigkeiten, welche im Einzelleben durch den »Kampf der Theile« entstanden waren, auf die Nachkommen sich vererbten, und dass auf diesem Wege die feinste Struktur eines bestimmten Theils, z. B. also der Spongiosa des Oberschenkelkopfes beim Menschen von Gene- ration zu Generation immer vollkommener eeworden und zuletzt bis zu dem erstaunlichen Grade gesteigert worden sei , den wir heute vorfinden. Wir aber werden heute fragen müssen, ob denn so etwas Histonalselektion. 2 J 3 überhaupt möglich sei, ob denn Veränderungen von Körpertheilen, die erst durch ihr Funktioniren im Laufe des Lebens entstanden, auf die Nachkommen übertragen werden können, — mit anderen Worten, ob denn »erworbene Eigenschaften vererbt werden können?« Damit sind wir denn wieder bei der Frage angelangt, von welcher wir in die Untersuchung eintraten ; wir wissen jetzt, dass die kräftigende Wirkung der Übung, die schwächende des Nichtgebrauchs auf dem Prozess der Histonal-Selektion beruht, aber wir sind dadurch in der Beantwortung der Hauptfrage nicht weiter gerückt, denn daraus, dass ein Kampf der Theile besteht, lässt sich noch nicht ersehen, ob dessen Ergebniss im einzelnen Fall von der Person, in der er sich abgespielt hat, auf die Nachkommen derselben vererbt werden kann oder nicht. Davon aber hängt die Bedeutung des LAMARCK'schen Prinzips für die Umwandlung der Lebensformen allein ab. Pflanzten sich alle Arten, auch die der höchsten Gruppen durch Zweitheilung fort, so könnte man ja denken, dass eine direkte Über- tragung jeder im Laufe des Einzellebens durch Übung oder Nicht- gebrauch erworbenen Abänderung stattfände, wiewohl auch dies sehr viel verwickeitere Mechanismen voraussetzte, als es auf den ersten Blick erscheint; bekanntlich ist dies aber nicht der Fall; die Haupt- masse der heute lebenden Pflanzen- und Thierarten pflanzt sich viel- mehr durch Keimzellen fort, die im Innern des Organismus sich aus- bilden, oft sehr fern von den Theilen, deren Übungs-Resultate vererbt werden sollen, und die zugleich eine ganz einfache Struktur zu be- sitzen scheinen, soweit wenigstens unser Auge zu urtheilen vermag; jedenfalls sehen wir in einer Keimzelle weder Muskeln, noch Knochen, noch Bänder, Drüsen oder Nerven, sondern nur einen Zellkörper, aus jener festweichen lebendigen Substanz bestehend, welche wir mit dem allgemeinen Namen des Protoplasmas belegen und einen Kern, von dem wir aber auch nicht sagen können, dass er sich in irgend einer wesentlichen und bestimmten Weise von dem Kern einer anderen Zelle unterschiede. Wie sollen nun die Veränderungen, die an einem Muskel durch Übung eintreten, oder die Verkümmerung, die eine Gliedmasse durch Nichtgebrauch erleidet, sich der im Innern des Kör- pers liegenden Keimzelle mittheilen, und noch dazu derart mittheilen, dass diese Zelle später, wenn sie zu einem neuen Organismus heran- wächst, an dem entsprechenden Muskel und der entsprechenden Glied- masse dieselbe Veränderung von sich aus hervorruft, die bei den Eltern durch Übung oder Nichtgebrauch entstanden waren? Das ist die Frage, welche sich mir schon früh aufdrängte, und 274 Histonalselektion. welche mich in ihrer weiteren Durchdenkung zu einer völligen Leug- nung der Vererbung dieser Art von »erworbenen Eigenschaften« führte. Wenn ich Ihnen nun zeigen soll, wie ich zu diesem Resultat ge- langte, und worin dasselbe seine Begründung findet, wird es unerläss- lich sein, zunächst die Erscheinungen der Vererbung überhaupt und der mit ihr unzertrennlich verbundenen Fortpflanzung kennen zu lernen, um dann daraus uns irgend eine theoretische Vorstellung von dem Vorgang der Vererbung zu bilden, ein wenn auch nur vor- läufiges und nothwendigerweise noch sehr unvollkommenes Bild des Mechanismus, der der Keimzelle die Fähigkeit verleiht, das Ganze wieder hervorzubringen und nicht blos — wie andere Zellen — ihres Gleichen. Wir werden so zu einer Untersuchung über die Fort- pflanzung und Vererbung geführt, nach deren Abschluss erst wir uns berechtigt fühlen dürfen, wieder zu der Frage nach der Ver- erbung erworbener Eigenschaften zurückzukehren, um unser Urtheil über die Beibehaltung oder Verwerfung des LAMARCK'schen Prinzips auszusprechen. Fortpflanzung der Protisten. 2 7^ XIII. Vortrag. Die Fortpflanzung der Einzelligen. Fortpflanzung durch Theilung p. 275, bei Amöben p. 275, bei Infusorien p. 276, Un- mittelbar sich folgende Theilungen p. 277, Keimbildung der Metazoen, Gegensatz von Keim- und Körperzellen p. 279, Potentielle Unsterblichkeit der Einzelligen p. 282, Ein- führung des normalen Todes in die Lebewelt p. 283, Knospung und Theilung der Metazoen p. 287. Meine Herren! Wenn wir die Fortpflanzung der Organismen im Hinblick auf Vererbung ins Auge fassen, so scheint diese Letztere bei den niedersten, uns bekannten Lebensformen am leichtesten ver- ständlich, denn hier ist der Bau, soweit wir mit unseren Instrumenten sehen, ein sehr einfacher und, was noch mehr in Betracht kommt, ein gleichmässiger. Gesetzt, es gäbe bakterienartige Organismen von ganz homogenem Bau, und dieselben vermehrten sich durch einfache Zweitheilung, so also, dass das stäbchenförmige Wesen sich in seiner Längsmitte quer durchtheilte, so würden seine beiden Theilhälften selbstständige Toch- terwesen darstellen, deren Bau mit dem des Mutterwesens genau über- einstimmen muss, von demselben gar nicht abweichen kann, folglich also die Eigenschaften desselben übernehmen, d. h. dieselben erben wird. Nur die Körpergrösse vererbt sich dabei scheinbar nicht, in Wirklichkeit aber potentia doch, da der Bau des Theilstückes die Fähigkeit und die Grenzen seines möglichen Wachsthums in sich enthält, und da die Körpergrösse bei keiner Art etwas Unveränder- liches ist, sondern immer nur für einen gegebenen Entwicklungs- Moment sich wiederholt. Die Vererbung besteht also hier einfach in einer Fortsetzung des Mutterwesens in seine beiden Töchter. Auch bei einer Amöbe (Fig. 59) könnte man sich den Vorgang der Vererbung noch so einfach vorstellen, obwohl dies wohl auf Täuschung beruhen würde, insofern uns der Bau dieser niedersten einzelligen Thiere einfacher und gleichmässiger erscheint, als er in Wirklichkeit sein wird; bei den Infusorien aber liegt es klar vor, dass hier die 276 Fortpflanzung der Protisten. ""? ft B •w sm Vererbung nicht durch die Halbirung- des Mutterthieres in die zwei Töchter schon vollzogen ist, sondern dass noch etwas Anderes hin- zukommen muss. Ist doch bei diesen Einzelligen die Differenzirung des l Körpers nicht nur eine hohe, sondern auch eine ungleiche, Hinter- und Vorderende sind verschieden und mit der queren Durch- schnürung des Thieres, wie sie auch hier den Prozess der Fortpflan- zung ausmacht, werden nicht etwa zwei gleiche Theilhälften erzeugt, sondern höchst ungleiche. Bei der Zweitheilung des Stentor, des sog. Trompetenthierchens z. B. (Fig. 60), enthält das vordere Theilstück den trichterförmigen Mund und Schlund mit seinem komplizirten Ernäh- rungsapparat, dem kreisförmigen Mundfeld sammt langer spiralig verlaufender Reihe zusammengensetzter Wimperplättchen, den sog. Membranellen u. s. w. ; das hintere Theilstück erhält Nichts von alledem, be- sitzt aber dafür den Fuss des Mutterthiers mit seinem Haftapparat, der dem vorderen Stück abgeht. Wenn nun jedes der beiden Theilstücke die Fähigkeit der »Regeneration« besitzt, das heisst im Stande ist, die ihm fehlenden Theile, Mund oder Fuss u. s. w., neu zu bilden, so ist das schon nicht mehr ein einfaches Fortbestehen der mütterlichen, organisirten Substanz als Tochterthier, son- dern es ist etwas Neues, was hinzukommt, und was seine besondereErklärung verlangt; wir stehen vor dem ersten Räthsel der Ver- erbung. Einfaches Wachsthum erklärt die Erscheinung nicht, denn was zur Ergänzung der Theilungshälfte hinzukommen muss, hat eine andere Struktur, andere Gestalt, andere Nebenapparate, als sie die Theilungs- hälfte selbst irgendwo besitzt. Es ändert auch Nichts an diesem Thatbestand, dass bei dem normalen Theilungsvorgang der Infusorien die Bildung des neuen Mundes und Peristomfeldes schon beginnt, ehe noch die Theilhälften sich wirklich voneinander getrennt haben, denn wenn man einen Stentor künstlich durchschneidet, ergänzen sich die Theilstücke auch zum ganzen Thier, ja ein Stentor kann in drei oder vier Stücke zerschnitten werden, und jedes Stück vermag sich unter Umständen wieder zum ganzen Thier umzubilden. Diese Stücke be- C ■ tm Fig- 59- Eine Amöbe. Thei- lungsprozess. A vor Beginn der Theilung, B Kern verdoppelt, C die 2 Tochteramöben. Vergr. etwa 400. sitzen also mehr. als blosses Wachsthumsvermögen. Wir werden Fortpflanzung der Infusorien. // später zusehen, ob sich diese wunderbare unsichtbare Übertragung- voll Charakteren, diese Ergänzung des Theils zum Ganzen in irgend einer Weise theoretisch fassen und unserer Vorstellung näher bringen lässt. Nachdem wir aber einmal diese Thatsache kennen gelernt haben, wird es uns nicht mehr in Erstaunen setzen, dass die Fortpflanzung der Einzelligen nicht immer auf einer gleichen Zweitheilung beruht, sondern dass auch ungleiche spontane Theilungen möglich sind, derart, dass ein oder mehrere kleinere Stücke des Zellkörpers, nebst Fig. 60. Stentor Roeselii, Trompetentierchen, Theilungsvorgang. wsp Wimper- spirale zum Mund [m) führend, cv kontraktile Blase. A in Vorbereitung zur Theilung. Kern k) zu einem langen Band verschmolzen; B eine zweite Wimperspirale [wsp': angelegt, Kern [k) zusammengezogen; C dicht vor der Abschnürung der beiden Tochter- Infusorien; Vergrösserung etwa 400; nach Stein. einem Fortsatz des Zellkerns sich vom Mutterthier abtrennen können, eine Form der Fortpflanzung, die besonders bei den Saug-Infusorien oder Acineten vorkommt. In Bezug auf den Vererbungs -Vorgang- wiederholt sie nur das Problem, welches schon die gleiche Zweitheilung der Infusorien stellt, und ebensowenig wird daran etwas geändert, wenn wir sehen, dass die gleiche Zweitheilung sich mehrmals, bis vielmals wiederholen kann, so dass also aus einem Thier rasch hintereinander ein ganzer Haufen von Theilstücken derselben Grösse wird. Nicht selten gehen dabei die charakteristischen Merkmale des 278 Fortpflanzung der Protisten. Mutterthiers ganz oder theilweise verloren, und die Theilstückchen scheinen nur aus homogenem Zellkörper und Kern zu bestehen, aber sie besitzen die Fähigkeit, sich wieder zu einem dem Mutterthier gleichenden Wesen zu regeneriren oder, wenn man lieber will, zu entwickeln. Man kann solche Theilstückchen ganz wohl auch Keime nennen, nur muss man sich dabei bewusst bleiben, dass das Ver- hältniss des Mutterthieres zu diesen Keimen ein anderes ist, als das eines höheren Thiers oder einer Pflanze zu ihren Keimzellen ; das ein- zellige Thier löst sich durch fortgesetzte Theilung auf in diese seine Keime«, während das Metazoon unbeschadet der Produktion von Keimzellen als lebende Person fortbestehen bleibt. \cy ma Fig. 61. Holophrya multifiliis, ein auf der Haut von Fischen schmarozendes Infusorinm. A im gewöhnlichen Zustand; ma Grosskern, mi Kleinkern, c?1 kontraktile Blasen, m Mund. B Nach mehrfach wiederholter Zweitheilung innerhalb der Cyste [cy)\ tt Theilsprösslinge, C einer derselben bei stärkerer Vergrösserung. Den Anfang einer solchen sog. »Sporen «-Bildung finden wir schon bei manchen Infusorien. So pflanzt sich die holotriche Art, Holophrya multifiliis (Fig. 61) derart fort, dass das Thier sich zuerst einkapselt, und dann rasch viermal hintereinander zvveitheilt, so dass nacheinander 2, 4, 8, 16 u. s. w Individuen entstehen, die dann später aus der Cyste wieder ausschwärmen (Fig. 61, B). Bei den Gregarinen und anderen Sporozoen hält die Theilungsperiode viel länger an, das eingekapselte Thier theilt sich bis zu 128 oder 256 oder noch mehr Theilstücken ; aber auch hier bekommt jedes Theil- stück oder die »Spore« ein Stück des mütterlichen Zellkörpers und Zellkerns, so dass also prinzipiell kein Unterschied besteht mit der einfachen Zweitheilung eines Stentor; wie dort, so wird auch hier Keim- und Soma-Zellen. 2/9 nicht der fertig differenzirte Bau des Thieres dem Theilstück mit- gegeben, sondern nur die Fähigkeit, ihn aus eigner Kraft wieder her- vorzuzaubern; also überall wieder das fundamentale Problem der Vererbung: Wie ist es möglich, dass dem einfacheren Theil- stückchen die Fähigkeit innewohnen kann, das komplicirte Ganze wieder hervorzubringen? Den Einzelligen stehen die Vielzelligen gegenüber, deren grosse Masse, die Metazoen und Metaphyten, vielzellige Thiere und Pflanzen, nicht blos durch die Vielheit der Zellen, welche sie zu- sammensetzen sich von den Einzelligen unterscheiden, sondern noch mehr durch die vielseitige Differenzirung dieser Zellen nach dem Prinzip der Arbeitstheilung in dem Sinn, dass die verschiedenen Funk- tionen des Thieres nicht durch alle Zellen in gleicher Weise aus- geführt werden, sondern dass jede Funktion einer besonderen, eigens dafür organisirten Zellenart übertragen ist. So kommt es zur Diffe- renzirung in Bewegungs-, Ernährungs- und Fortpfianzungszellen, oder es kommen dazu noch Drüsen-, Nerven-, Muskel, Hautzellen und Sie wissen ja, wie diese Differenzirung in eine grosse Zahl der ver- schiedensten Zellenarten mit sehr specialisirten Funktionen besonders bei den höheren Thieren in einer schwer zu übersehenden Fülle ein- getreten ist. Hier stehen also eine Menge der verschiedenartigsten Zellen, welche alle der Erhaltung des Lebens dienen, den einzigen Fortpflanzungszellen oder Keimzellen gegenüber. Diese allein be- sitzen die Fähigkeit, unter gewissen Bedingungen ein neues Individuum derselben Art hervorzubringen. Wir können diesen Keimzellen, welche nicht der Erhaltung des Individuums, sondern nur der der Art dienen, sämmtliche übrige Zellenarten als somatische oder Kör- perzellen gegenüberstellen. Das Problem, welches zu lösen ist, liegt nun hier in der Frage: wie kommt die Keimzelle dazu, alle die übrigen Zellen in bestimmter Reihe und Ordnung aus sich wieder hervorbringen und so den Körper eines neuen Individuums aufbauen zu können? Die Ähnlichkeit mit dem schon bei den Einzelligen formulirten Vererbungsproblem springt in die Augen, sie wird noch grösser, wenn wir erfahren, dass die Kluft zwischen Einzelligen und den höheren Thieren und Pflanzen durch einige Zwischenformen über- brückt wird, die gerade in Bezug auf die Frage der Vererbung von grossem Interesse sind. Unter den niederen Algen gibt es eine Familie, die Volvo ci nee n, bei welchen die Differenzirung des vielzelligen Körpers nach dem 28o Fortpflanzimg der Protisten. Prinzip der Arbeitstheilung gerade erst einsetzt, bei einigen Gattungen zwar schon durchgeführt ist, wenn auch in denkbar einfachster Weise, bei anderen aber noch nicht begonnen hat. So besteht bei der Gattung Pandorina das Einzelwesen aus sechszehn zu einer Kugel vereinigten grünen Zellen (Fig. 62, /), die untereinander völlig gleich sind und auch gleich funktioniren. Wohl sind sie durch eine von ihnen allen ausgeschiedene Gallertmasse zu einem kugeligen Körper, einem Ganzen, vereinigt, stellen also eine Zellenkolonie, einen Zellenstock dar, ein vielzelliges Individuum, aber Fig. 62. Pandorina momm nach Pringsheim; / eine schwärmende Kolonie, aus 16 Zellen bestehend; II eine solche, deren Zellen sich zu Tochterkolonien ver- mehrt haben; alle Zellen untereinander gleich. III Volvox, junge Kolonie, sz soma- tische, kz Keim-Zellen. jede dieser Zellen hat nicht nur alle typischen Zellorgane: Zellkörper, Kern und kontractile Vacuole, sondern auch eine Geissei als Be- wegungsorgan, einen Augenfleck und einen Chlorophyllkörper, der sie befähigt, Nahrung aus Wasser und Luft zu bereiten. Jede dieser Zellen vollzieht also sämmtliche somatische Funktionen, d. h. alle, die zur Erhaltung des Einzellebens erforderlich sind. Nun besitzt aber auch jede die Fähigkeit, das Ganze, die Kolonie aus sich wieder hervorzubringen, d. h. die Erhaltung der Art, die Fortpflanzung zu vollziehen. Wenn eine solche Kolonie unter stetem Wachsthum ihrer 1 6 Zellen eine Zeit lang im Wasser umhergeschwärmt hat, so ziehen ihre Zellen die Geissein ein, und jede beginnt, sich durch Zweitheilung zu vermehren, theilt sich in 2, 4, 8 und Volvocineen. 28 1 schliesslich in 16 Zellen gleicher Art, die zusammenbleiben, einen kugeligen Haufen bilden, durch ausgeschiedene Gallerte zusammen- gehalten (Fig. 62, II). So sind denn jetzt statt 16 Zellen in der Mutterkolonie 16 junge Tochterkolonien, deren je 16 Zellen bald Geissein und Augenflecke bekommen und dann bereit sind, aus der sich auflösenden Gallerte des- mütterlichen Stockes auszuschwärmen, als selbstständige Persönlichkeiten. Pandorina zeigt also noch keine Spur einer verschiedenen Diffe- renzirung ihrer Zellen für bestimmte und verschiedene Funktionen, aber eine nahe verwandte Gattung derselben Familie, die Gattung Volvox (Fig. 62, III) besteht bereits aus zweierlei Zellen, von denen die einen klein sind (sz) und in grosser Zahl die Wandung der hohlen Gallertkugel erfüllen, welche gewissermassen das Skelett des Volvox bildet, die anderen aber wenig zahlreich und sehr viel grösser (kz). Die Ersteren, die »Körper-« oder »somatischen« Zellen sind grün, haben einen rothen »Augenfleck« und zwei Geissein; durch Ausläufer ihres Zellkörpers stehen sie untereinander in Verbindung und ver- mögen durch ihre koordinirten Geisseischwingungen die ganze Kolonie in langsam rotirender Bewegung durch das Wasser zu wälzen. Viele von Ihnen werden diese hellgrünen, mit blossem Auge schon ganz gut erkennbaren Kugeln kennen, die im Frühjahr unsere Sümpfe und Teiche oft in zahlloser Menge bevölkern, so dass man nur ein Glas Wasser zu schöpfen braucht, um eine Anzahl von ihnen vor sich zu haben. Die eben geschilderten kleinen Geisselzellen dienen aber nicht blos der Lokomotion der Kolonie, sondern auch der Ernährung, Sekretion von Gallerte, Exkretion der Auswurfstoffe, kurz sämmtlichen Funktionen der Erhaltung des Lebens — nicht aber denen der Fort- pflanzung ; wohl können auch sie sich, solange die Kolonie noch jung ist, durch Theilung vermehren, aber sie können nicht, wie die Zellen der Pandorina, wieder eine ganze Kolonie hervorbringen, vielmehr nur ihres Gleichen, d. h. nur wieder somatische Zellen. Die Er- haltung der Art, die Hervorbringung einer Tochterkolonie ist bei Volvox der zweiten grossen Art von Zellen, den Fortpflan- zungszellen vorbehalten, die in den mit wässriger Flüssigkeit ge- füllten Binnenraum der Gallertkugel hineinragen und keine Geissein besitzen (kz), also auch keinen Antheil an den Schwimmbewegungen der somatischen Zellen nehmen. Wir sehen jetzt noch ganz davon ab, dass es ihrer mehrere Arten gibt, und stellen nur noch fest, dass die einfachsten unter ihnen, die sog. »Parthenogonidien« nachdem sie bis zu einer ziemlich beträchtlichen Grösse herangewachsen sind, in 282 Fortpflanzung der Protisten. einen Theilungsprozess eintreten, der mit der Bildung einer Tochter- kolonie endet. Gewöhnlich liegen mehrere dieser grossen Fortpflan- zuno-szellen in einer Volvox-Kolonie, und sobald diese sich zu ebenso- vielen Tochterkolonien entwickelt haben, schwärmen sie durch einen Riss der schlaff werdenden Gallertwand aus der Mutterkugel aus und führen nun ein selbstständiges Leben. Die Mutterkugel aber, die dann blos noch aus somatischen Zellen besteht, ist nicht im Stande, neue Fortpflanzungszellen hervorzubringen, sie sinkt allmälig unter Verlust ihrer regelmässigen Kugelgestalt zu Boden und stirbt ab. Bei Volvox also haben wir gewissermassen zum ersten Male die Scheidung einer Zellenkolonie in Körper- (Soma) und in Fort- pflanzungszellen vor uns; wir sehen, dass im Gegensatz zu Pan- dorina, eine grosse Menge, ja die grösste Zahl der Koloniezellen die Fähigkeit verloren hat, durch Theilung das Ganze wieder hervor- zubringen, dass nur die wenigen Fortpflanzungszellen diese Fähigkeit noch besitzen, dafür aber andere Funktionen, vor Allem die der Lokomotion verloren haben. Ihre Fähigkeit, das Ganze wieder hervor- zubringen, also ihre Vererbungskraft, stellt somit höhere Anforderungen an unseren Scharfsinn, als die der Pandorina-Zellen , denn diese brauchen nur ihres Gleichen hervorzubringen, weil es eben nur eine Zellenart dort gibt, hier aber enthält die Fortpflanzungszelle die Kraft, sowohl ihres Gleichen, als auch die Körperzellen aus sich selbst durch Theilung hervorgehen zu lassen. Das Problem ist ganz analog dem- jenigen, das uns schon bei den komplizirt gebauten Einzelligen ent- gegentrat, bei den Infusorien. Die Frage, wie kann eine Theilhälfte des Trompetentierchens, die mundlos ist, einen neuen Mund und Wimperapparat aus sich heraus neu erzeugen, verwandelt sich hier in die Frage: wie kann eine Zelle durch Theilung nicht nur ihres Gleichen, sondern auch die ganz anders gebauten Körperzellen entstehen lassen? Dies ist nun in einfachster Form die Fundamentalfrage für die gesammte Fortpflanzung durch Keimzellen, zu der wir jetzt überzugehen hätten. Zuvor aber noch eine kleine Abschweifung. Ich habe Ihnen gesagt, dass die Einzelligen sich durch Theilung, und zwar ursprünglich und auch heute noch in den bei Weitem häufigsten Fällen, durch Zweitheilung fortpflanzen. Es folgt daraus, dass sie einen natürlichen Tod nicht besitzen können, denn be- sässen sie ihn, so müsste die Art mit den alternden Individuen aus- sterben; dies geschieht aber nicht. Die zwei Töchter, welche aus Unsterblichkeit der Einzelligen. 283 der Zweitheilung eines Infusoriums hervorgehen, unterscheiden sich nicht in Bezug auf ihre Lebenskräftigkeit, jede von ihnen besitzt die gleiche Fähigkeit, sich durch Theilung wieder zu verdoppeln, und so geht es weiter — soviel wir sehen bis in unbegrenzte Zeiten. Die Einzelligen entbehren also eines natürlichen Todes; ihr Körper wird durch das Leben selbst zwar wohl abgenutzt, so dass z. B. eine Neubildung seines Wimperbesatzes u. s. w. nothwendig wird, aber er wird nicht aufgerieben in dem Sinne, in dem unser eigner Körper und der aller Metazoen und Metaphyten durch die Funk- tionirung der Organe selbst allmälig aufgerieben d. h. funktionsunfähig wird. Unser Körper altert und vermag zuletzt nicht mehr weiter zu leben, bei den Einzelligen aber gibt es kein Altern und keinen in den normalen Entwicklungsgang des Individuums gehörigen Tod. Die Einzelligen besitzen -gewissermassen Unsterb- lichkeit, d. h. sie können wohl vernichtet werden, durch äussere Agentien, Siedhitze, Gifte, Zerquetschen, Gefressenwerden u. s. w., aber ein Theil der Individuen einer jeden Epoche entgeht diesem Schicksal und setzt sich fort in die kommenden Zeiten. Denn genau ge- nommen ist ja auch das Tochterindividuum nur eine Fortsetzung des Mutterindividuums, es enthält nicht nur die Hälfte der Substanz des- selben, sondern auch die Struktur, und das Leben setzt sich unmittel- bar von Mutter auf Tochter fort; die Tochter ist einfach die halbe Mutter, die sich nachträglich ergänzt, und die andere Hälfte der Mutter lebt auch als zweite Tochter weiter fort; Nichts stirbt bei dieser Vermehrung. Man kann ja wohl sagen, die Tochter müsse die Hälfte ihres Körpers erst neu wieder bilden, sie sei deshalb eine neue Individualität und nicht die Fortsetzung der alten, folg- lich seien die Einzelligen auch nicht unsterblich; man kann spotten über die »unsterblichen« Einzelligen, die heute immer noch die gleichen Individuen sind, welche schon vor Millionen von Jahren auf dieser Ende lebten, aber alle solche Argumentationen sind nur dok- trinäre Spielereien mit den Begriffen »Individuum« und »Unsterb- lichkeit« , welche doch eben in der Natur selbst nicht vorhanden, vielmehr nur menschliche Abstraktionen sind, und deshalb nur re- lativen Werth besitzen können. Mein Satz von der potentiellen Unsterblichkeit der Einzelligen will Nichts weiter, als der Wissen- schaft zum Bewusstsein bringen, dass zwischen Einzelligen und Vielzelligen die Einführung des physiologischen, d. h. normalen Todes liegt, und diese Wahrheit wird durch keine Sophismen umgestossen werden. Weis mann, Descendenztheorie. 18 23a Fortpflanzung der Protisten. Gerade die Volvocineen zeigen uns gewissermassen genau die Stelle, an welcher der Tod einsetzt, wo er zuerst in die Lebewelt eingeführt wird. Bei Pandorina verhält es sich noch wie bei den Einzelligen, jede Zelle ist noch Alles in Allem, jede kann sich wieder zum Ganzen herausbilden, keine stirbt also aus physiologischen, im Entwicklungsgang gelegenen Gründen, sie ist in dem oben ange- gebenen Sinne »unsterblich«. Bei Volvox aber stirbt »das Individuum« ab, wenn es seine Fortpflanzungszellen entlassen hat, weil hier der Gegensatz von Keimzellen und Körper ausgebildet ist. Nur der Körper ist sterblich im Sinn eines normalen Todes, die Keimzellen besitzen die potentielle Unsterblichkeit der Einzelligen, und sie müssen sie ebensogut wie jene besitzen, wenn nicht die Art aufhören soll zu existiren. Daraus allein scheint nun noch nicht verständlich zu werden, warum denn aber das Soma dem Tode verfallen muss, und als ich zuerst diese Verhältnisse klar zu legen suchte, bemühte ich mich, die Gründe, warum ein normaler Tod für den Körper eintreten musste, aufzudecken. Ich habe nicht sofort die richtige Erklärung gefunden, will Sie aber mit meinen damaligen Fehlgängen nicht aufhalten, sondern Ihnen gleich den wahren Grund vorführen. Er liegt einfach darin, dass, wie wir später noch genauer einsehen werden, jede Funktion und jedes Organ schwindet, wenn sie für die Er- haltung der betreffenden Lebensform überflüssig werden. Die Eigenschaft unbegrenzt weiter leben zu können ist für die Körper- zellen und somit auch für den ganzen Körper überflüssig, da die- selben neue Keimzellen nicht hervorbringen können, nachdem die einmal vorhandenen abgelegt worden sind; damit hört das Individuum auf, Werth für die Erhaltung der Art zu besitzen. Was würde es der Art nützen, wenn die Volvox-Kugeln, nachdem sie ihre Keimzellen zur Ausbildung gebracht und entlassen hätten, noch unbegrenzte Zeit weiterleben könnten ? Offenbar haben ihre weiteren Schicksale keinen Einfiuss mehr auf die Bestimmung oder Erhaltung der Arteigen- schaften, und es ist gleichgültig für den weiteren Bestand der Art, ob und wie lange sie noch leben. So sind dem Soma also diejenigen Eigenschaften verloren gegangen, welche es bedingen, dass das Leben unter steter Vermehrung endlos weiter dauern kann. Man hat, diesen Anschauungen gegenüber, auch gespottet, wieso denn die »Unsterblichkeit«, wenn sie denn wirklich den Einzelligen und den noch undifferenzirten Zellenkolonien eigen wäre, verloren gehen könne, so etwa, als ob der Welt, die wir für ewig halten, die Unsterblichkeit der Einzelligen. 285 Ewigkeit abgewöhnt werden sollte. Allein der Spott fällt auf die oberflächliche Rede zurück, die nicht zu unterscheiden weiss, zwischen jener geträumten Unsterblichkeit der Dichter profaner und religiöser Art und dem realen Vermögen gewisser Lebensformen, durch den Stoffwechsel nicht dauernd abgenutzt zu werden. Dass wir dies als »Unsterblichkeit« bezeichnen, scheint mir kaum tadelnswerth, da es der Wissenschaft von jeher eingeräumt worden ist, populäre Worte und Begriffe in einem begrenzten und etwas ver- änderten Sinn auf wissenschaftliche Begriffe zu übertragen, falls es ihr zweckmässig dünkte. Dass aber das Wort »Unsterblichkeit« hier schärfer und besser, als irgend ein anderes die Sache bezeichnet, kann wohl nicht bezweifelt werden, so wenig, als dass zwischen Ein- zelligen und höheren Organismen ein wirklicher Unterschied in dieser Richtung besteht, dessen man sich bewusst werden muss. Was bei den höheren Organismen, z. B. bei uns selbst die Dauer der Art auf ferne Zeiten hinaus ermöglicht, ist nicht die Unsterblichkeit des In- dividuums, der Person, sondern nur die der Keimzellen; auf diese allein vom ganzen Körper hat sich diese Fähigkeit übertragen; ein Stückchen des Individuums ist also auch hier unsterblich, aber eben nur ein Theilchen des Ganzen, das weder morphologisch noch der Auffassung des Individuums nach gleichwerthig mit dem Ganzen ist. Oder sollte Jemand sich selbst für identisch mit seinen Kindern halten? Und wenn er versuchte, es sich vorzustellen, so würde es eben doch nicht so sein, sondern er selbst würde dereinst dem natürlichen Tode verfallen, während seine Kinder noch eine Spanne Zeit weiterlebten, bis auch sie wieder Kinder von sich abgelöst hätten, und nun ihrerseits dem Tode entgegengingen. Das ist eben doch anders bei einem Infusorium, welches niemals sich zum Sterben hinlegt, sondern sich immer wieder von Neuem in zwei weiterlebende Hälften spaltet. Es ist kaum glaublich, dass eine so einfache und klare Wahrheit so lange verborgen bleiben konnte, aber noch unglaublicher, dass, seitdem sie ausgesprochen wurde, sie als falsch, als After-Weisheit, als werthlos bis in die neueste Zeit hinein verhöhnt wurde. Es ist aber das Schicksal aller Erkenntnisse, die auf Zusammenfassung und geistiger Verarbeitung von Thatsachen beruhen, solange angegriffen zu werden, bis sie durch ihre eigene Schwere allmälig die Gegner niederdrücken und sich stillschweigende Anerkennung erzwingen. Die Thatsache, dass der natürliche Tod erst mit der Einrichtung eines Soma, eines Körpers im Gegensatz zu den Keimzellen auftritt, 286 Fortpflanzung der Protisten. wird sich auch früher oder später zur Anerkennung durchringen. Wenn ich vorhin übrigens die Erklärung des Todes darin fand, dass für das Soma, nachdem es seine Keimzellen entlassen und damit seine Pflicht gegen die Art erfüllt hat, sein unbegrenztes Weiterleben über- flüssig wurde und deshalb in Wegfall kam, so will ich damit doch nur das grobe Fundament der Einrichtung des natürlichen Todes be- zeichnet haben. Ich zweifle nicht, dass das wirkliche Zustande- kommen dieser Einrichtung noch auf anderen Wegen erfolgen konnte und erfolgt ist. Viele Zellenarten der höheren Thiere gehen in Folge ihrer Funktion zu Grunde, es ist gewissermassen ihre Aufgabe, zu Grunde zu gehen, sich aufzulösen; so ist es bei vielen Drüsen- und Epithelzellen. Es kann auch sehr wohl sein, dass bei vielen hoch differenzirten Gewebezellen, wie den Nervenzellen, Muskel, Drüsen- zellen eben gerade ihre hohe Differenzirung ein unbegrenztes Weiter- leben und Sichvermehren ausschliesst. Dadurch allein also würde Abnutzung des Körpers und ein endlicher Tod aus inneren Ursachen erklärlich. Allein die tiefere Ursache bleibt doch immer die vorhin genannte, denn Sie sehen leicht ein, dass, falls das Weiterleben, die Unsterblichkeit des Soma nothwendig für die Erhaltung der Arten gewesen wäre, sie durch Naturzüchtung auch erhalten worden wäre, d. h. dass jene mit Unsterblichkeit etwa unverträglichen histologischen Differenzirungen in diesem Fall nicht hätten eintreten können; sie würden, auf dem Wege zu ihrer Bildung, stets wieder eliminirt wTorden sein, da nur das Zweckmässige erhalten bleibt. Nur wenn die Un- sterblichkeit des Soma für die Art gleichgültig war, konnte dasselbe sich so hoch organisiren, dass es dadurch dem Tode verfiel. So ist also das alte Lied von der Vergänglichkeit des Lebens nicht für alle Lebewesen zutreffend, der natürliche Tod ist eine, ver- hältnissmässig erst spät in der Entwicklung der Organismenwelt auf- getretene Einrichtung, eine Einrichtung, die wir bis zu einem gewissen Punkte vom Standpunkt der Zweckmässigkeit aus ganz wohl verstehen können. Es würde mich zu weit von dem Ziel, dem wir jetzt zustreben, ablenken, wollte ich Ihnen, anknüpfend an den natürlichen Tod, jetzt noch zeigen, dass auch die Dauerhaftigkeit des Somas, oder wie wir gewöhnlich sagen, die normale Dauer des Lebens ihre genaue Regelung durch Naturzüchtung erfahren hat, so dass eine jede Art gerade die Lebensdauer besitzt, welche nach ihrer physischen Be- schaffenheit, ihrer physiologischen Leistungsfähigkeit und den Lebens- Fortpflanzung der Protisten. 287 bedingungen, an welche sie sich anzupassen hatte, die vortheilhafteste war1. Doch — so interessant dieser Gegenstand auch ist, so muss ich doch, um nicht ganz abzuirren, zu unserer eigentlichen Unter- suchung zurückkehren, zu der Fortpflanzung im Hinblick auf Ver- erbung. Wir hatten diese Untersuchung verlassen mit der Feststellung, dass alle vielzelligen Pflanzen und Thiere, auch die komplicirtest ge- bauten, bei welchen die Differenzirung der Körpers in eine Menge der verschiedenartigst funktionirenden Zellengruppen den höchsten Grad erreicht hat, dennoch alle im Stande sind, besondere Zellen hervorzubringen, die Keimzellen, welche die Fähigkeit in sich tragen, aus sich wieder einen Organismus derselben Art, von dem- selben komplicirten Bau hervorgehen zu lassen. Man sollte denken, solche Zellen müssten ebenfalls sehr komplicirt gebaut sein, aber in vielen Fällen sieht man davon Nichts, die Keimzellen scheinen im Gegentheil häufig einfacher gebaut, als viele Gevvebezellen , z. B. Drüsenzellen, und dort, wo sie wirklich eine ungewöhnliche Grösse oder Komplicirtheit des Baues aufweisen, lässt sich zeigen, dass dies in gar keiner Beziehung zu der Organisationshöhe des daraus hervor- gehenden jungen Wesens steht, sondern lediglich durch die beson- dern Bedingungen hervorgerufen ist, welche gerade diesen Keimzellen gestellt sind, sollen sie ein junges Wesen aus sich entwickeln können. Wir werden bald sehen, wie das zu verstehen ist. Zunächst muss ich anführen, dass Pflanzen und Thiere nicht blos durch Keimzellen sich vermehren, sondern dass viele Arten — die Pflanzen zum grössten Theil, die Thiere wenigstens in ihren einfacheren Formen — auch eine Vermehrung durch Knospung oder Thei- lung besitzen. Alle Thiere und Pflanzen, welche nicht auf der In- dividualitätsstufe der »Person« stehen bleiben, sondern sich zu der höheren Stufe des »Stockes« (Cormus) erheben, thun dies eben da- durch, dass die erste Person, von welcher die Bildung des Stockes ausgeht, durch Knospung oder wohl auch durch Theilung neue Per- sonen hervorbringt, die an ihr sitzen bleiben und nun durch weitere Hervorbringung von Knospen eine dritte, vierte und s. f. Generation von Personen entstehen lassen, die alle aneinander sitzen bleiben und die nun zusammen die Individualität des Thier- oder Pflanzenstockes ausmachen. Solche Stöcke sind die Polypen- und Korallenstöcke, die Röhrenquallen und Mooskorallen, unter den Pflanzen nach 1 Siehe: Weismann, »Über die Dauer des Lebens« Jena 1882. 288 Fortpflanzung durch Knospung. ALEXANDER BRAUN alle Phanerog-amen, die nicht blos aus einem Spross bestehen. Hier kann also von bestimmten, vielleicht oft auch von beliebigen Zellengruppen des Stockes eine neue Person aus- wachsen und es fragt sich wie wir diese Fähigkeit theoretisch uns zurechtzulegen vermögen. Auch die Entstehung neuer Stöcke kann von solchen Knospen oder von Einzelpersonen des Stockes ausgehen. Der Süsswasser- Polyp, Hydra, erzeugt durch Knospung einen kleinen Stock von drei oder höchstens vier Personen; die Knospenthiere bleiben aber nur bis zu ihrer völligen Ausbildung am Mutterthier sitzen, dann lösen sie sich los, setzen sich selbstständig irgendwo fest und fangen nun ihrer- seits an durch Knospung einen solchen kleinen und rasch vergäng- lichen Stock zu bilden. Unter den Pflanzen gibt es manche, die sich — wie z. B. Dentaria bulbifera und Marchantia polymorpha durch sogenannte »Brutknospen« vermehren, d. h. Knospen, die vom Stock abfallen, um dann zu einer neuen Pflanze auszuwachsen. Auch die ganze gärtnerische Vermehrung der Pflanzen durch Ableger beruht auf dem Vorgang der Knospung, denn was hier von der Stamm- pflanze abgeschnitten und in die Erde gesteckt wird, ist ein einzelner Spross, d. h. eine Person, welche die Fähigkeit besitzt, in der Erde Wurzeln zu treiben und durch fortgesetzte Knospen immer neue Sprosse d. h. Personen hervorzubringen, welche alle zusammen dann wieder einen neuen Pflanzenstock darstellen. Ich möchte mich indessen bei dieser sog. »ungeschlechtlichen« Fort- pflanzung durch Knospung und Theilung nicht lange aufhalten aus dem Grunde, weil sie uns kaum einen Weg zu tieferem Eindringen in die Vor- gänge der Vererbung eröffnet, wir vielmehr zufrieden sein dürfen, wenn wir im Stande sein werden, sie mit den theoretischen Anschauungen, die wir von anderen Erscheinungen aus gewinnen, einigermassen in Ein- klang zu setzen. Man hat lange Zeit diese Formen der Fortpflanzung für die ältesten und einfachsten gehalten, und erst seit Fr. BALFOUR hat sich die Überzeugung allmälig Bahn gebrochen, dass dem gar nicht so sein kann, dass sie vielmehr spätere Einrichtungen zur Vermehrung der Metazoen und Metaphyten sind, die eben deshalb auch auf kom- plicirterer Grundlage ruhen. Sie haben ja gesehen, dass mit dem ersten Auftreten eines vielzelligen Körpers auch zugleich die ersten Keimzellen da waren, der Schritt von Pandorina zu Volvox ist ein so kleiner, dass er kleiner gar nicht gedacht werden kann. Damit ist also erwiesen, dass die älteste Form der Vermehrung bei den Viel- zelligen die durch Keimzellen war, wenigstens in dieser Entwicklungs- Fortpflanzung der Protisten. 289 Linie. Volvox pflanzt sich nicht etwa auch durch Selbsttheilung- fort oder durch Bildung- einer Knospe von irgend einer Stelle der kugeligen Zellenkolonie aus. Was wir aber als Knospung bei Einzelligen kennen lernten, das ist nur eine ungleiche Zelltheilung und hat nur den äusseren Schein mit der Knospung der höheren Pflanzen und Thiere gemein; diese ist also etwas Neues und später, selbstständig Ent- standenes, das Ursprüngliche aber ist die Fortpflanzung durch einzellige Keime. 2QO Fortpflanzung durch Keimzellen. XIV. Vortrag. Die Portpflanzung durch Keimzellen. Historisches p. 291, Differenzirung der Keimzellen in männliche und weibliche p. 292, Pandorina p. 293, Volvox p. 296, Samen und Ei bei Algen p. 296, Zoospermienform der männlichen Keimzelle p. 298, Zoospermien der Muschelkrebse p. 301, Anpassung der Samenzellen an die Bedingungen der Befruchtung, Daphniden p. 302, Spermatozoen verschiedener Thiergruppen p. 304, ihr feinerer Bau p. 305, Gestaltung und Bau der Eizellen p. 306, Anpassung des Eies an die Bedingungen p. 308, Doppelte Eier bei derselben Art p. 309, Einährzellen p. 310, komplicirter Bau des Vogeleies p. 311. Meine Herren! Wenden wir uns zur Fortpflanzung" derMeta- zoen und Metaphyten durch Keimzellen, so gibt es eine grosse Zahl niederer Pflanzen, bei welchen Keimzellen hervorgebracht werden, die Nichts wTeiter zur Entwicklung eines neuen Pflänzchens bedürfen, als gewisse äussere günstige Umstände, vor Allem Feuchtigkeit und Wärme. Solche sind z. B. die »Sporen« der Farnkräuter, die auf der unteren Seite der Fiederblättchen eines Farns in kleinen, mit blossem Auge sehr wohl sichtbaren Häufchen von brauner oder gelber Farbe sich bilden, selbst aber sehr klein sind, so dass Tausende auf ein solches Häufchen, ein Sporangium, gehen und alljährlich Millionen von Sporen von einem Farnkraut geliefert werden. Jede Spore ist eine in eine schützende Kapsel eingeschlossene Keimzelle und vermag, wenn sie durch den W7ind auf eine zur Keimung günstige Stelle ge- weht wird, zu einem jungen Pfiänzchen zu werden, dem sog. Vorkeim, aus dem dann später das eigentliche Farnkraut sich entwickelt. Man hat diese Fortpflanzung durch Sporen als eine Form der sog. »ungeschlechtlichen« Fortpflanzung betrachtet und mit der Knospung und Theilung unter diesem Titel zusammengestellt. Sie hat indessen mit diesen Vermehrungsformen Nichts gemein, als den negativen Charakter, dass hier der Akt der Befruchtung, den wir bald kennen lernen werden, nicht mit in die Vermehrung hereinspielt — eine Be- griffsbildung, die heute nicht mehr Berechtigung hat, als etwa die Eintheilung des Thierreichs in Wirbelthiere und Wirbellose, wo auch Geschlechtliche Fortpflanzung. 2QI der negative Charakter des Fehlens von Wirbeln zum Zusammen- werfen ganz heterogener Thierformen in eine Gruppe geführt hat. Damit soll nicht bestritten werden, dass beide Begriffsbildungen zu ihrer Zeit ihre volle Berechtigung hatten, ja als ein Fortschritt be- grüsst werden durften. Heute hat man die »Wirbellosen« als wissen- schaftlichen Begriff längst aufgegeben, und so sollte es auch mit der Bezeichnung »ungeschlechtliche Fortpflanzung« gehalten werden, da sie ganz Verschiedenartiges zusammenwirft, nämlich die Vermehrung durch einzellige und die durch vielzellige Keime, und da ihr überdies eine ganz falsche Vorstellung dessen, was »Befruchtung« eigentlich ist, zu Grunde liegt. Als Bequemlichkeits-Ausdrücke mögen ja beide Worte Bestand behalten, doch wäre es zu wünschen, dass die von HäCKEL vorgeschlagenen treffenden Bezeichnungen — Mono- gonie für ungeschlechtliche und Amphigonie für geschlechtliche Fortpflanzung — allgemein in Gebrauch kämen. Einstweilen sei nur gesagt, dass die Vermehrung durch »Sporen« bei Moosen, Pilzen, Schachtelhalmen ganz regelmässig sich vorfindet, und dass es auch Thiere gibt, bei welchen die Keim- zellen die Fähigkeit besitzen, allein aus sich ein neues Individuum hervorgehen zu lassen. Doch sind diese Fälle der sog. Jungfern- zeugung oder Parthenogenese, an die ich dabei hauptsächlich denke, der Vermehrung durch Sporen in Beziehung auf ihre Ursprungsweise nicht gleich zu stellen; es hat mit ihrer Entstehung eine eigene Be- wandniss, die ich Ihnen erst klar machen kann, wenn wir die sog. »geschlechtliche Fortpflanzung« kennengelernt haben werden. Zu dieser selbst wollen wir jetzt übergehen. Es ist Ihnen wohl- bekannt, dass bei allen höheren Thieren, ganz wie beim Menschen ein Individuum allein nicht im Stande ist, sich fortzupflanzen; es gehören zwei dazu, und diese unterscheiden sich als Mann und Weib wesentlich in vielen Stücken voneinander. Erst ihre Vereinigung im Akte der »Zeugung« veranlasst die Bildung eines neuen Individuums, sei es dass dasselbe im Innern der Mutter in einem besonderen Fruchthälter heranreift, oder dass es zunächst als »befruchtetes Ei« abgelegt wird, wie bei Vögeln, niederen Wirbelthieren und den meisten »Wirbellosen«. Solange die Menschheit lebt, hat sie diesen Vorgang der Zeugung als die Hauptsache bei der Entstehung neuer Individuen betrachtet, und da sie in das Wesen des Vorgangs keinen Einblick hatte, musste sie die Fortpflanzung als etwas durchaus Mysteriöses auffassen und das Zusammenwirken der beiden Geschlechter als eine »Conditio sine 2Q2 Geschlechtliche Fortpflanzung. qua non« der Fortpflanzung überhaupt: Zeugung und Fortpflanzung schienen identisch. So blieb es im Wesentlichen auch dann noch, als in der »be- fruchtenden« Samenflüssigkeit des Mannes unzählige winzige Fädchen, die sog. »Samenthierchen<; gefunden wurden, was schon 1677 durch LEEUWENHOECK geschah und zwar für Säuger, Vögel und viele andere Thiere. ALBRECHT VON HALLER (1708— 1777) wollte zwar anfangs in den Samenfäden die Anlage des Embryo erblicken, kam aber später im Verlauf seines langen Lebens ganz von dieser Ansicht zurück und erklärte sie für eine Art von Schmarotzer des Samens, die Nichts mit der Befruchtung zu thun hätten. Dieselbe Ansicht wurde noch 1835 von K. E. VON BAER geäussert, entgegen der Mei- nung von PREVOST und DoiAS, die sie für das Wesentliche des Samens ganz richtig erklärt hatten. Es ist überhaupt fast unglaublich, wenn man es im Einzelnen verfolgt, wie zahlreiche Irrthümer und Umwege durchlaufen werden mussten, um auf diesem Gebiet auch nur soweit zu kommen, als man etwa um die Mitte des XIX. Jahr- hunderts gelangt war, soweit, um sagen zu können, dass die Be- fruchtung auf dem Contact der Samenfäden mit dem Körper des Eies beruhe; 1843 hatte M. Barrv schon die Samenfäden innerhalb der Eihülle des Kanincheneies gesehen, aber erst die späteren (1853) Untersuchungen MEISSNER's, BlSCHOFF's und NEWPORT's brachten die Thatsache vom Eindringen der Zoospermien durch die Eihüllen zur Anerkennung. Alles Weitere blieb noch gänzlich unklar und konnte auch nicht erschlossen werden, solange man, durch an und für sich richtige Beobachtungen irregeführt, noch glauben musste, es gehörten stets mehrere Zoospermien dazu, ein Ei zu »befruchten«. Um den Vorgang auch nur in seinen gröberen Beziehungen zu verstehen, dazu fehlte damals ausser den technischen Hülfsmitteln noch die Erkenntniss des morphologischen Werthes von Ei und Samen- faden. Erst musste das Ei und der Samenfaden als Zellen erkannt sein, ehe man ihr Zusammentreffen bei der Befruchtung als die Ver- schmelzung zweier Zellen aufzufassen lernen konnte, als eine Copu- lation oder Conjugation zweier dieser histologischen Elementar-Orga- nismen. Diese Erkenntniss brach sich aber nur sehr allmälig Bahn, und selbst in den sechziger Jahren waren die Ansichten darüber noch sehr getheilt. Überdies fehlte noch ganz die Kenntniss der »geschlecht- lichen« Fortpflanzung bei den niederen Pflanzen, den Algen, Pilzen, Moosen, Farnen, und auch jede eingehendere Kenntniss der Befruch- tungsvorgänge bei den Blüthenpflanzen. Das Alles musste erst durch Geschlechtliche Fortpflanzung der Volvocineen. 2Q3 die Arbeit einer grossen Zahl ausgezeichneter Beobachter zusammen- getragen werden, ehe man auch nur Soviel sagen konnte, dass der Befruchtungsvorgang ganz allgemein auf der Verschmelzung zweier Zellen beruht/ Ich will Ihnen hier nicht diesen ganzen langen Entwicklungsprozess unserer Einsicht vorführen, ich habe ihn nur deshalb überhaupt berührt, weil es mir darauf ankam, Ihnen anschaulich zu machen, dass unsere Vorstellung vom Befruchtungsvorgang lange Zeit eine gänzlich irrige war und erst in der jüngsten Zeit zur Klarheit gelangt ist. Lange hielt man die Begattung, wie man sie von den höheren Thieren her kannte, für das Wesentliche und vermuthete einen geheimnissvollen Leben-erweckenden Einfluss derselben; aber auch nach gewonnener Einsicht, dass nicht die Begattung, sondern die wie immer herbei- geführte Vereinigung zweier lebendiger Einheiten, der männlichen und weiblichen Keimzelle das Wesentliche der »Befruchtung-« sei, fuhr man doch fort, in dieser einen lebenweckenden Vorgang zu sehen und versperrte sich so den Weg zur richtigen Einsicht. Die einfachste Form der geschlechtlichen Fortpflanzung der Viel- zelligen finden wir unter Anderen bei den Volvocineen, jenen grünen kugeligen Zellenkolonien des süssen Wassers, welche wir schon bei Gelegenheit der Fortpflanzung durch ungeschlechtliche Keimzellen kennen gelernt haben. Bei ihnen ist es Regel, dass nach einer län- geren Reihe von Generationen, welche nur »ungeschlechtliche« Keim- zellen hervorbrachten, dann Kolonien auftreten, bei welchen nicht mehr jede Keimzelle sich allein für sich zu einer neuen Kolonie entwickeln kann, sondern nur dann, wenn sie sich vorher mit einer anderen Keimzelle vereinigt hat. Nun gibt es, wie wir gesehen haben, Volvocineen, bei welchen die Differenzirung der Zellen in solche des Körpers (Soma) und solche der Fortpflanzung noch fehlt, und alle Zellen gleich sind. Bei diesen, z. B. bei der Gattung Pandorina (Fig. 62, p. 280) löst sich dann, wenn geschlechtliche Fortpflanzung eintreten soll, die ganze Kolonie in ihre 16 Zellen auf, diese verlassen die Gallertkugel, in welcher sie bis dahin eingesenkt waren und schwärmen mit Hülfe ihrer beiden Geissein frei durch das Wasser hin, um eine andere ähnliche, eben- falls frei schwärmende Zelle aufzusuchen, und sich mit ihr zu kopu- liren. Die beiden Schwärmzellen legen sich dann aneinander, ziehen ihre Geissein ein, sinken in Folge dessen zu Boden und verschmelzen vollständig miteinander, nicht nur ihre Zellkörper, sondern auch ihre Kerne. Sie nehmen dabei eine kugelige Gestalt an, verlieren die 2QA. Fortpflanzung durch Keimzellen. Augenflecke, umgeben sich mit einer derben Zellhaut oder Cyste und verharren so kürzere oder längere Zeit, als sog. »Zygoten« oder Dauersporen. Dann entwickeln sie sich durch Zelltheilung wieder zu einer der uns schon bekannten sechszehn-zelligen Pandorina-Kolonien, welche aus der Kapsel hervordringt, um wieder frei im Wasser umher- zuschwärmen. Hier beruht also die sog. »geschlechtliche Fortpflanzung« auf der Verschmelzung zweier gleich aussehender Zellen, und man hat darin, als man diese Erscheinungen zuerst kennen lernte, einen wesentlichen Unterschied von der entsprechenden Fortpflanzung bei den übrigen vielzelligen Organismen sehen wollen. Wir wissen aber jetzt, dass ganz nahe verwandte Volvocineen, nicht nur die Gattung Volvox selbst, bei welcher schon eine Scheidung in Körperzellen und Fortpflanzungszellen vorliegt, sich durch zwei verschiedene Arten von Keimzellen geschlechtlich fortpflanzen, sondern wir haben durch GöBEL erfahren, dass auch Gattungen, welche ganz wie Pan- dorina aus gleichartigen Zellen bestehen, dennoch männliche und weibliche Fortpflanzungszellen hervorbringen können, die sich durch ihre Gestalt schon wesentlich voneinander unterscheiden. Bei Eu- dorina z. B., einer Gallertkugel mit 16 oder 32 Einzelzellen, die alle gleich sind, geht die ungeschlechtliche Vermehrung ganz wie bei Pandorina vor sich, d. h. jede dieser Zellen theilt sich vier oder fünf Mal hintereinander und bildet so eine neue Kolonie, die dann frei ausschwärmt, aber zur Zeit der geschlechtlichen Fortpflanzung ver- halten sich die Kolonien verschieden, einige werden weiblich, andere männlich. Bei Ersteren bleiben die Zellen, wie sie vorher waren, bei den männlichen Kolonien aber geht jede der 16 oder 32 Zellen einen eigenthümlichen Theilungsprozess ein, der damit endet, dass aus jeder ein Haufen (16 — 32) sog. »Zoospermien« wird, d. h. kleine, schmale, langgestreckte Zellen mit je zwei Geissein (Fig. 63, bei D solche von Volvox). Sie unterscheiden sich bei Eudorina von den weiblichen Keimzellen oder Eizellen äusserlich nur durch Gestalt und Kleinheit, sowie durch ihre weit grössere Beweglichkeit, enthalten aber grünen, später gelben Farbstoff und den rothen Augenfleck wie jene. Hier begegnen wir also zum ersten Mal unter den Vielzelligen der Differenzirung männlicher und weiblicher Keimzellen, und wir lernen daraus, dass in dieser Differen- zirung nicht das Wesen der Befruchtung liegt, da die- selbe ja auch fehlen kann, dass vielmehr diese Scheidung der Geschlechtszellen in weibliche und männliche nur ein Geschlechtliche Fortpflanzung der Volvocineen. 295 sekundäres Moment ist. Darin, dass die Eizellen grösser und träger sind, die »Samenzellen« oder »Zoospermien« kleiner und leben- diger, können wir auch bereits im Voraus ahnen, was sich mit der Erweiterung unserer Kenntniss der Thatsachen nur noch befestigen wird, dass hier eine Dif ferenzirung auch der Keimzellen nach IÄ Fig. 63. Volvox aureus nach Klein und Schenck. A Ausser den kleinen geissel- tragenden somatischen Zellen der Kolonie sind fünf grosse Eizellen (t), die zu partheno- genetischer Entwicklung befähigt sind, darin enthalten, sowie drei kürzlich befruchtete Eizellen (0), und eine Anzahl in Entwicklung begriffene männliche Keimzellen (a), aus welchen durch fortgesetzte Theilung je ein Bündel von Samenzellen hervorgeht. B In Entwicklung begriffenes Samenzellen- Bündel, aus 32 Zellen bestehend, von oben, C dasselbe von der Seite gesehen. Vergr. 687. D Einzelne Spermatozoen, Vergr. 824. d]em Prinzip der Arbeitstheilung eingesetzt hat, welche in erster Linie bezweckt, das Zusammentreffen der zur Copulation bestimmten Zellen zu erleichtern und zu sichern. Die viel kleineren und dünnen Zoospermien treiben büschelweise im Wasser umher, bis sie an eine weibliche Kolonie anstossen; nun aber lösen sie sich los voneinander, 2g6 Geschlechtliche Fortpflanzimg. bohren sich in die weiche Gallerte der weiblichen Kolonie ein und »befruchten« die Eizellen, d. h. je eine männliche Zelle verschmilzt mit einer weiblichen und bildet mit ihr eine »Dauerspore«, ganz wie bei Pandorina. Bei Volvox verhält es sich ähnlich wie bei Eudorina; auch hier gibt es ausser der »ungeschlechtlichen« Fortpflanzung durch die wie Eizellen aussehenden »Parthenogonidien« (Fig. 63, A, t), noch männ- liche und weibliche Keimzellen, die meist nur abwechselnd mit Er- steren hervorgebracht werden, zuweilen aber auch zur selben Zeit, wie z. B. in Fig. 63. Die Eizellen sind gross und geissellos, die Samenzellen liegen büschelweise beisammen, und schwärmen nach erlangter Reife (D) frei ins Wasser aus, um sich in eine andere Kolonie einzubohren und mit je « einer Eizelle zu vereinigen. Der * U^^w' • i Sp Unterschied zwischen den beiderlei * ^^i*i^sCr' "^ / Keimzellen besteht also in der * ^W^r^:^'' '- v grösseren Zahl, Kleinheit und .^ ^^i^^^fe^''-"^V~ "" "' Beweglichkeit der männlichen, in ' "'* ,*-** WS^^^P'^j' ^ ^ ^er geringeren Zahl aber viel be- ^Ql deutenderen Grösse der weiblichen jV Zellen, eine Differenzirung nach __f _j-*> dem Prinzip der Arbeitstheilung, die darauf beruht, dass die beiderlei Zel- ( len zu einander gelangen und doch „■ fi„ v , . . auch eine gewisse Masse lebenden Fig. 64. nicns platycarpus, brau- *=> ner Tang. Eizelle. Ei, von Samenzellen Protoplasmas enthalten müssen. (* umschwärmt; nach Schenck. Während die Verkleinerung, aber auch Vervielfachung der männ- lichen Keimzellen verbunden mit ihrer Beweglichkeit dem Aufsuchen und Sicheinbohren in weibliche Zellen Vorschub leistet, so ersetzt andererseits die Vergrösserung der Eizelle den Verlust an Masse, der dem befruchteten Ei sonst durch die Verkleinerung der männlichen Zelle erwachsen würde, und dieser Grössen-Unterschied kann sich noch bedeutend steigern; bei einem der braunen Meerestange z. B. sind die Spermatozoen nur 5 Mikromillimeter lang, die Eier aber sind kugelig und haben einen Durchmesser von 80 — 100 Mikro, ent- halten also 30— 6o,ooomal mehr Masse (Möbius). Fig. 64 zeigt ein solches von Samenzellen (sp) umschwärmtes Ei. Im Laufe der Artentwicklung verschärfte sich dieser Gegensatz zwischen weiblichen und männlichen Keimzellen immer mehr, nicht Männliche und weibliche Keimzellen 2 97 immer zwar in derselben, sondern je nach den Befruchtungsbe- dingungen bald in dieser, bald in jener Richtung. Es wäre falsch, sich vorzustellen, dass mit der höheren Differenzirung des Organismus als Ganzem auch die Differenzirung der Geschlechtszellen eine immer komplicirtere geworden sei. Wir finden vielmehr schon bei Algen, wie das Beispiel von Fucus zeigt, bedeutende Unterschiede zwischen den Geschlechtszellen, die bei manchen höher stehenden Pflanzen eher wieder abnehmen. Nicht von dem mehr oder minder kompli- cirten Bau des Organismus selbst hängt die Art und der Grad dieses Unterschiedes ab, sondern von den speciellen Bedingungen, unter welchen in jedem bestimmten Fall sowohl die Vereinigung der beiderlei Geschlechtszellen, als auch die spätere Entwicklung des Vereinigungs- produktes, des »befruchteten Eies« vor sich geht. So kommt es, dass z. B. die männlichen oder »Samenzellen« der niederen Pflanzen, der niederen Thiere und dann wieder der höchsten Thiere ähnlich gebaut sind. Bei allen diesen Organismen besitzen sie Kleinheit, Gestalt und Beweglichheit sogenannter »Zoo- spermien« oder »Spermatozoen«, d. h. es sind fadenförmige, sehr kleine Körperchen, die in Wasser oder anderen Flüssigkeiten rasch durch schlängelnde Bewegungen vorwärts schwimmen und durch ähnliche, bohrende Bewegungen in das Ei eindringen, nachdem sie es glücklich erreicht haben. Am vorderen Ende besitzen sie eine mehr oder minder auffallende Verdickung, den sog. »Kopf«, in wel- chem der Zellkern liegt, und auf diesen folgt der »Schwanz«, d. h. ein fadenförmiger aus Zellkörpersubstanz bestehender Faden, der die schwingenden Bewegungen, vergleichbar den Geissein der Infusorien und Volvocineen ausführt; das Ganze ist also eine specificirte »Geissei- zelle«. Als man zuerst in den Zoospermien das »befruchtende« Element bei den höheren Thieren erkannt und diese »Samenfäden« nicht nur bei allen Säugethieren und Vögeln, Reptilien, Amphibien und Fischen gefunden hatte, sondern auch bei vielen der »Wirbellosen«, da lag der Schluss nahe, es möchte eben in dieser lebhaften Beweglichkeit die Funktion der Befruchtung enthalten sein; stellte man sich doch die Befruchtung noch bis in die 70. Jahre des XIX. Jahrhunderts vielfach noch als eine »Belebung« des Eies vor. Da nun Leben auf Bewegung beruht, wenn freilich auch auf sehr viel feineren mole- kularen Bewegungen, von welchen die Ortsbewegung der ganzen Zelle nur einer der sichtbaren Ausflüsse ist, so fasste man durch einen etwas unklaren Schluss die Befruchtung auf als Lebenserregung 2qS Geschlechtliche Fortpflanzung. der zum Weiterleben für sich allein unfähigen Eizelle durch Über- tragung von Bewegung seitens des Zoosperms. Gingen doch einzelne Forscher so weit, die Eizelle geradezu für »todte organische Materie« zu halten. Ich erwähne das jetzt schon, obwohl wir die Frage nach der Bedeutung der Copulation der Geschlechtszellen fürs Erste noch nicht weiter verfolgen wollen. Die eben erwähnte Ansicht aber wird allein schon durch die Gestaltung der männlichen Keimzellen bei anderen Gruppen von Pflanzen und Thieren so gründlich widerlegt, dass ich diese Form-Unterschiede Ihnen nicht vorführen wollte, ohne zugleich darauf hinzuweisen, welche Schlüsse sich unmittelbar daraus ergeben. Allerdings besitzen bei Weitem die meisten Pflanzen- und Thier- klassen die Zoospermien-Form der männlichen Keimzellen, eine Thatsache, die darin ihre Erklärung findet, dass die zu befruchtenden Eizellen sich meist nicht in unmittelbarer Nähe des vom männlichen Wesen ausgeschiedenen Samens befinden, sondern in grösserer Ent- fernung davon. So werden bei Quallen und Polypen beiderlei Ge- schlechtsprodukte in das Wasser entleert, gleichzeitig allerdings, aber doch durch Entfernungen von Füssen oder Metern getrennt. Die Samenfäden suchen dann schwimmend im Meere die ebenfalls in ihm schwebenden Eier auf, geleitet durch eine anziehende Kraft der Letz- teren, über deren Wesen wir in diesem Falle Nichts wissen, die aber bei gewissen Farn-Eizellen auf die Ausscheidung von Apfelsäure zurück- geführt worden ist (PFEFFER). Ähnlich verhält es sich bei den Schwämmen (Spongien). Auch bei ihnen sind die Personen oder Stöcke entweder männlich oder weiblich; bei Letzteren bleiben die grossen, weichen Eizellen im Innern des Schwammes liegen und erwarten hier den befruchtenden Samenfaden, während die männlichen Schwämme den reifen Samen ins Wasser ausströmen lassen, so dass gleichzeitig Tausende und Millionen von Zoospermien, nach allen Richtungen in das umgebende Wasser ausschwärmen und nach einem weiblichen Schwämme umher- suchen, um in dessen Kanalsystem einzudringen und so schliesslich zu den Eizellen zu gelangen. Gewiss werden nur sehr wenige von den Tausenden ihr Ziel erreichen, die meisten werden sich im Wasser verlieren, eine Beute für Infusorien, Räderthiere oder andere niedere Thiere. Dieses massenhafte Verfehlen der eigentlichen Bestimmuno- zeigt uns, warum diese Zoospermien in so enormer Zahl hervor- gebracht werden müssen; es ist einfach eine Anpassung an die Spermatozoenform der Samenzellen. 299 ungeheure Zerstörungsziffer dieser Zellen, gerade wie die Anzahl der jährlich hervorgebrachten Jungen einer Thierart oder der Samen einer Pflanze durch Naturzüchtung entsprechend ihrer Zerstörungsziffer ge- regelt wird. Je zahlreichere Nachkommen der Ungunst der Umstände, den Feinden, dem Nahrungsmangel jedesmal erliegen, um so frucht- barer muss die Art sein. Ganz ähnlich verhält es sich bei der Re- gulirung der von einem Individuum hervorzubringenden männlichen Keimzellen, es müssen ihrer so viele gebildet werden, dass trotz der unvermeidlichen enormen Verluste doch immer noch die zur Er- haltung der Art nothvvendige Zahl reifer Eier durchschnittlich ihren Samenfaden erhält. Mit der massenhaften Produktion von Zoospermien hängt aber wieder ihre Kleinheit zusammen, denn aus einer gegebenen Masse organischer Substanz lassen sich um so mehr Zoospermien bilden, je kleiner diese sein dürfen. Jede Art aber ist durch ihre Grösse und die Masse ihres Körpers in bestimmte Grenzen der Pro- duktion gebannt, und es liegt also ein Vortheil in der möglichsten Kleinheit der Zoospermien, sobald die Aussicht des einzelnen Samen- fadens, ein Ei glücklich zu erreichen, eine sehr geringe ist. In allen solchen Fällen hat die Natur darauf verzichtet, dem Copulations-Pro- dukt, also der Grundlage des neuen Organismus, einen nennenswerthen Beitrag an Stoff durch die männliche Keimzelle zuzuführen, und die träge Eizelle sammelt beinahe allein in sich das Material zum Aufbau des Embryos. Die Befruchtung des Eies durch Entleerung der Samenzellen ins Wasser findet sich ausser bei niederen Thieren, wie bei Schwämmen, Quallen, Seesternen, Seeigeln und Verwandten, auch wieder bei viel höher stehenden Thieren, nämlich bei vielen Fischen und bei den Fröschen, und bei allen diesen Thieren besitzen die Samen- zellen die Gestalt beweglicher Fäden. Doch kommt die Spermatozoen- Form der Samenzellen keineswegs blos bei solchen Pflanzen und Thieren vor, die im Wasser leben, oder die, wie die Moose und viele Gefässpfianzen wenigstens zeitweise von einer dünnen Schicht Regen- oder Thauwasser bedeckt sind, in welcher die Zoospermien nach den Eizellen hinschwimmen können, vielmehr auch bei einer überaus grossen Zahl von Thieren, bei welchen der Same direkt in den weiblichen Körper gelangt, bei welchen also eine Begattung statt- findet. Trotzdem sehen wir auch hier in den meisten Fällen, so bei allen Wirbelthieren, Mollusken und Insekten die Zoospermien-Form Weismann , Descendenztheorie. ig ^OO Geschlechtliche Fortpflanzung. beibehalten. Die Ursache ist offenbar eine doppelte; einmal nämlich kann in vielen Fällen der Samen durch die Begattung nicht unmittelbar schon bis zum Ei gelangen, sondern hat noch einen weiten Weg im Innern des weiblichen Körpers zu machen, wie bei den Säugethieren, oder dieser Weg ist zwar kurz und sicher, aber das Ei ist von einer festen, schwer durchdringlichen Hülle oder Schale umgeben, und das fadenförmige Zoosperm hat nun die Aufgabe, sich durch diese Hülle durchzubohren, oder auch durch eine feine Öffnung in derselben, die sog. Mikropyle hineinzuschlüpfen. In beiden Fällen lässt sich keine Gestalt der Samenzelle ausdenken, die zur Erfüllung dieser Aufgabe geeigneter wäre, als eben die des Fadens mit zugespitztem dünnen Kopfstück und langem beweglichen Schwanz, der das Zoosperm be- fähigt, sich wie eine Schraube durch die enge Öffnung in der Eihülle hindurchzudrehen, mag dieselbe nun vorgebildet sein, oder nicht. So begreift man, warum z. B. bei den Insekten ganz allgemein die Samenzellen in der Zoospermien-Form auftreten, obgleich sie hier in eine besondere Tasche des weiblichen Fortpflanzungs-Apparates ge- langen, die »Samentasche«, und in dieser aufbewahrt werden. Wenn dann ein reifes Ei im Eileiter abwärts gleitend an die Stelle kommt, an welcher diese Tasche in ihn einmündet, so genügt der Austritt weniger Samenzellen, um das Ei mit Sicherheit zu befruchten, voraus- gesetzt, dass dieselben eben die Fadenform besitzen, welche ihnen gestattet, durch die sehr enge Öffnung der Eischale in das Ei hinein- zuschlüpfen. Man könnte nun aus dieser grossen Sicherheit, mit der hier das Ei von der Samenzelle aufgefunden werden muss, schliessen, dass nur eine geringe Zahl von Spermatozoen gebildet zu werden brauchte, und doch ist sie auch hier noch eine grosse, wenn auch nicht so enorm, wie etwa bei Seeigeln und anderen Seethieren, die den Samen ins Wasser entleeren. Das beruht einmal darauf, dass auch hier noch immer eine Anzahl von Samenfäden die Mikropyle verfehlen und verloren gehen werden, und dann darauf, dass bei vielen Insekten eine sehr grosse Anzahl von Eiern successive befruchtet werden muss. Die Bienenkönigin legt im Laufe ihres drei oder vier Jahre dauernden Lebens viele Tausende von Eiern, von denen die meisten befruchtet werden und zwar aus der nur einmal gefüllten Samentasche. Es gibt aber allerdings auch Samenzellen von Fadenform, welche nicht in solchen Massen, sondern nur in weit bescheidenerer Anzahl, etwa zu einigen Hunderten im Hoden gebildet werden. Dies kommt bei den kleinen Muschelkrebsen (Ostracoden) vor, deren im Süss- Spermatozoen der Muschelkrebse. ?oi wasser lebende Arten alle Zoospermien besitzen, aber in massiger Zahl und zugleich von ungewöhnlicher Grösse. Die verhältnissmässig geringe Zahl erklärt sich aus der Sicherheit, mit welcher jeder von ihnen das Ei erreicht, und die Grösse dürfte vielleicht ihren Grund theilweise eben in der geringeren Zahl haben, die hier genügt, und die es also erlaubte, auch der männlichen Keim- zelle an der Beschaffung des Materials zum Aufbau des Embryos einen nennenswerthen Theil zuzuweisen; wahrscheinlich aber spielt hier noch mehr die Dicke und Festigkeit der Eischale mit, denn diese entbehrt einer Öffnung für den Eintritt des Samenfadens und ist schon völlig erhärtet, wenn die Befruchtung vor sich gehen soll. Nirgends vielleicht in der Natur zeigt es sich deutlicher, wie bis ins Einzelste hinein der Bau der Organismen von dem Zweckmässigkeits-Prinzip beherrscht wird, als bei den Einrichtungen für die Befruchtung; so auch gerade bei den Muschelkrebsen. Über den komplizirten Begattungsapparat gehe ich hinweg, weil wir ihn in seinen Einzelheiten doch noch nicht verstehen. Das Wesentliche daran scheint mir nach eigenen Untersuchungen und solchen meiner früheren Schüler Dr. Stuhlmann und Dr. Schwarz darin zu liegen, dass die kolossalen Zoospermien, die im Körper des Männchens noch keinerlei Beweglichkeit besitzen, einzeln, gewissermassen im Gänse- marsch zum Austritt gebracht werden. Sie werden schon bei der Begattung einzeln hintereinander durch ein sehr feines Rohr hinaus- gepresst, und treten dann ebenfalls einzeln durch die weibliche Ge- schlechtsöffnung in einen ebenso feinen in Spiralwindungen gelegten Gang, durch den sie endlich in die geräumige birnförmige Samen- tasche, das Receptaculum seminis des Weibchens gelangen. Dort lagern sie sich zu einer mächtigen Schleife zusammen, einige Hunderte an der Zahl, und erlangen nun erst ihre volle Reife, indem sie eine äussere Cuticula abwerfen, also gewissermassen sich häuten. Erst dann zeigen sie die Fähigkeit, ins Wasser gebracht eine zuerst schwache, dann immer heftigere und wildere wellenförmige Bewegung auszuführen, Schwingungen, die sie befähigen, die kalkhaltige Eischale bohrer- artig zu durchdringen. Im normalen Verlauf geschieht dies derart, dass bei der Ablage eines reifen Eies durch die Öffnung des Eileiters zugleich oder kurz danach von dem Weibchen auch eines der riesigen Zoospermien durch den Spiralgang der Samentasche nach aussen ge- langt, und zwar gerade auf das Ei hin. Das Einbohren selbst hat man bis jetzt noch nicht beobachten können, wohl aber kurz nachher das Zoosperm spiralig zusammengerollt im Innern des Eies gesehen. 19* ;o2 Geschlechtliche Fortpflanzung. Bei diesen Muschelkrebsen sind die Samenfäden oft schon mit blossem Auge erkennbar und übertreffen bei einigen Arten die Länge des Thieres um das Zweifache, sie sind also geradezu Riesenzellen, und können wohl eine bedeutende Bohrkraft entwickeln. In Bezug auf verschiedenartige Anpassung der Samenzellen an die Bedingungen der Befruchtung gibt es wohl kaum eine interessantere Thieroruppe als diejenige der Wasserflöhe oder Daphniden. Es ist erstaunlich, wie stark schon die Grösse dieser Elemente hier variirt, wie dieselbe im umgekehrten Verhältniss zu ihrer Zahl steht, und wie Beides sich ganz offenbar nach den Schwierigkeiten richtet, welche der Erreichung des Eies für die einzelne Samenzelle abdi Fig. 65. Begattung bei Daphniden (Lynceiden'. Ent- leerung des Samens in den Brutraum; abd<§ Hinter- leib des Männchens. Ver°r. 100. entgegenstehen. Bei man- chen Arten sind dieselben sehr gross, bei anderen aber ganz minimal. Bei den Gattungen Daphnia, Lynceus und Anderen er- folgt die Begattung so wie Fig. 65 es angibt, d. h. der Samen [sp) wird vom Männchen in den geräu- migen Brutraum entleert, der in diesem Moment nur durch den Hinterleib des Männchens einiger- massen geschlossen ist, Es erscheint unvermeidlich , sonst aber hinten und ne- ben nur undicht schliesst. dass ein grosser Theil der Samen- Elemente bei den heftigen Bewegungen beider Thiere wieder herausströmt und verloren geht. Demgemäss sind hier die Samen- Zellen nur etwa ein Hundertstel Millimeter lang von rundlicher oder stäbchenförmiger Gestalt und werden in Masse in den Brutraum des Weibchens entleert. Fig. 66,_/~, g u. // stellen solche von verschiedenen Arten dar, wie sie zu vielen Tausenden den Hoden erfüllen. Bei allen solchen Arten aber, welche einen geschlossenen Brutraum besitzen, bei welchen also ein erheblicher Verlust an Samenzellen nicht ein- tritt, sind die Samenzellen viel grösser, und zugleich weniger zahlreich, und die grössten und wenigst zahlreichen zeigen solche Arten, welche wie die Gattungen Daphnella, Polyphemus und Bythotrephes ein Samenzellen der Daphniden. 303 männliches Begattungsorgan haben, wodurch dann jeder Verlust an Samenzellen ausgeschlossen ist. So sind die rundlichen weichen und klebrigen Samenzellen von Bythrotrephes (Fig. 66, b) über ein Zehntel Millimeter lang, aber sie werden auch in so geringer Zahl gebildet, dass man niemals über zwanzig von ihnen im Hoden des Männchens findet, oft nur sechs oder acht, und dass bei der Begattung nur drei bis fünf entleert werden. Da indessen jedesmal nur zwei Eier zu be- fruchten sind, und da die in den Brutraum ausgeschleuderten Samen- zellen direkt auf die Eier gelangen, um sofort an ihnen festzukleben, so genügt dies vollkommen. Es ist seltsam, wie verschieden die Samenzellen ganz nahe ver- wandter Arten bei den Daphniden zuweilen sind, wie schon ein Blick auf Fig. 66 lehrt, und an- dererseits wie ähnlich dieselben bei zwei Arten sein können, wie Bytho- trephes longimanus (b) und Daphnella hyalina [c] , die verschiedenen Familien angehören. Das Letztere erklärt sich aus Anpassung der Zel- len an ähnliche Begat- }0 o >-> tungsverhältnisse. Die beiden Arten haben wirkliche Beeattunes-Or- Fig. 66. Samenzellen von verschiedenen Daphniden, a Sida, b Bythotrephes, c Daphnella, d Moina para- doxa, c Moina rectirostris, f Eurycercus lamellatus, g Alonella pygmaea, // Peracantha truncata; alle bei derselben Vergrösserung 300) gezeichnet. gane, und ihre grossen, weichen Samenzellen müssen bei Berührung mit dem hüllenlosen Ei sofort ankleben und dann mittelst amöboider Fortsätze sich in das- selbe eindrängen. Umgekehrt beruht die Verschiedenheit der Samenzellen verwandter Arten, wie Sida crystallina (a), Moina recti- rostris und Moina paradoxa [e und d) auf verschiedenartiger Anpassung an nahezu die gleichen Begattungsbedingungen. Bei Sida (Fig. 66, a) bleiben die grossen, platten Samenzellen mit ihren ausgefransten Enden und ihrer grossen weichen Oberfläche leicht an den Eiern hängen, und dasselbe wird bei Moina rectirostris (e) durch die starren Strahlen- fortsätze bewirkt, während bei der ganz nahe verwandten Art Moina paradoxa die Samenzelle (d) einem australischen Wurfholz ähnelt und i04 Geschlechtliche Fortpflanzung. wohl wie ein Sperrholz sich zwischen die Eier und die Wand des Brutsacks einklemmt. In Fig. 67 ist eine kleine Auswahl von thierischen Samenzellen abgebildet, welche alle die Gestalt des Samenfadens oder Spermato- zoons besitzen, und doch im Einzelnen sehr verschieden voneinander sind. Es wäre sicherlich äusserst interessant, diesen feinen Anpassungen der Samenzellen an die Befruchtungsbedingungen genauer nachzugehen. n \ Fig. 67. Spermatozoon verschiedener Thiere nach Ballowitz, Kölliker und vom Rath: i) Mensch, 21 Vesperugo, 3) Schwein, 4) Ratte, 5) Buchfink, 6] Triton, 7; Raja, Rochen, 8) Käfer, 9) Gryllotalpa, Maulwurfsgrylle, 10) Paludina vivipara, Süsswasser- Schnecke, 11] Echinus. Seeigel; starke Vergrösserung. die Grösse und besonders die Gestalt derselben bei den verschiedensten Thierarten als Ausfluss der speziellen Beschaffenheit des Eies, seiner Häute, seiner Mikropylen und seiner leichteren oder schwierigeren Er- reichbarkeit nachzuweisen; aber einstweilen fehlt noch viel, bis wir uns auch nur darüber Rechenschaft geben können, warum z. B. die Samenzellen vom Salamander so ungeheuer lang, gross und spitz- köpfig (Fig. 67, 6) sind, die vom Menschen (Fig. 67, 1) verhältnismässig kurz und mit breitem platten Kopf und einem erst neuerdings ent- Spermatozoen-Bau. 305 ax deckten kleinen Spitzchen versehen, oder warum diejenigen des Men- schen und mancher Fische (z. B. Cobitis) sich so ähnlich sehen u. s. w. Nur soviel lässt sich hier errathen, dass auch in diesen einzelsten Einzel- heiten Nichts umsonst da ist, und dass sie alle auf Anpassung be- ruhen. Im Allgemeinen deuten die Besonderheiten ihrer Gestalt schon darauf hin; so müssen wohl die schraubigen Windungen des Kopfes, die besonders bei den Samenfäden der Vögel (Fig. 67, 5), bei denen des Rochens (Fig. 7) und der Süsswasserschnecke Paludina stark ausgebildet sind, korkzieherartig wirken, d. h. der Samenzelle das Einbohren durch resistente Eihüllen ermöglichen, während die scharf zugespitzten Köpfe der Insekten-Spermato- zoen (Fig. 67, 8 und 9) geeignet erscheinen, um durch feinste vorgebildete Öffnungen (Mikro- pylen) der harten Eischale hindurchzuschlüpfen. Wie fein und komplizirt aber der mikrosko- pische Bau eines Spermatozoon sein kann, davon haben uns auch erst die letzten Vervollkomm- nungen des Mikroskops und der Untersuchungs- methoden eine Vorstellung gegeben. Fig. 68 zeigt dieselbe nach einem schematischen Bild von WIL- SON. Wir sehen die Spitze (sp) zum Einbohren in das Ei, den Kern («) umgeben von dünner Lage von Protoplasma, die zusammen den »Kopf« bilden, dann das »Mittelstück«, welches das »Cen- trosoma« enthält und den »Schwanz« oder die »Geissei«, welcher die Bewegung des Ganzen be- wirkt, und der selbst wieder eine komplizirte Struktur besitzt mit einem »Axenfaden« [ax), und einer Hüllschicht, welch' Letztere öfters in eine spiralig verlaufende, undulirende Membran von äusserster Feinheit aus- gezogen ist, am deutlichsten beim Wassersalamander (Fig. 67, 6). Nicht nur bei den Daphniden, sondern noch in anderen Gruppen der Kruster kommen Samenzellen von ganz sonderbarer Gestalt vor, so beim Flusskrebs und seinen Verwandten des Meeres, den Krabben und langschwänzigen Krebsen, Zellen die wenige lange und starre dornenartige Fortsätze tragen, welche wie bei den Samenzellen von Moina sie sperrig machen und es ihnen nach Brandes ermöglichen, sich so lange zwischen den Borsten des weiblichen Abdomens zu Fig. 68. Schema eines Samenfadens nach Wil- son ; sp Spitze, ;/ Kern, c Centrosphäre, m Mit- telstück . ax Achsen- faden, e Endfaden. ^OÖ Geschlechtliche Fortpflanzung. halten, bis eines der vielen aus dem Eileiter austretenden Eier in ihren Bereich gelangt. Denn bei diesen Krebsen findet keine eigent- liche innere Begattung statt, sondern die Samenmassen werden, zu »Samenpatronen« oder »Spermatophoren« verpackt, nur in der Um- gebung der Eileiteröffnung vom Männchen angeheftet und platzen dann dort, ihren Inhalt zwischen die Füsse des Weibchens ergiessend. Alle diese seltsamen und voneinander so weit abweichenden Ge- staltungen und Einrichtungen beruhen nicht etwa auf dem Zufall oder den phantasievollen Ausflüssen einer »Bildungskraft«, wie eine frühere Zeit sich ausdrückte, sondern sie sind zweifellos alle ohne Aus- nahme Anpassungen an die intimsten Bedingungen der Befruch- tung in jedem einzelnen Fall. Ich lege besonderen Werth auf diese Erkenntniss, weil sie uns mit Sicherheit zu schliessen gestattet, dass auch die Ausgestaltungen der einzelnen Zellen, falls diese wichtig genug sind für die Art, durch Naturzüchtung geleitet werden können; denn es leuchtet ein, dass die Anpassungen der Samenzellen nicht auf Histonalselektion, sondern nur auf Personalselektion beruhen können, da es für die einzelne Samenzelle gleichgültig ist, ob sie besser oder schlechter die Befruch- tung vollzieht, nicht aber für das Thier selbst, welches sie hervor- bringt. Letzteres stirbt ohne Nachkommen, wenn seine Samenzellen nicht befruchten und muss dann die Fortführung der Art solchen Art- genossen überlassen, welche sicherer befruchtende Samenzellen hervor- bringen; also nicht die Samenzellen selbst werden selektirt, sondern die Personen, und zwar nach der Güte ihrer Samenzellen. Gegenüber der grossen Mannichfaltigkeit der Gestalt, die uns die Samenzellen zeigen, erscheint die Differenzirung der Eizelle ein- förmig, wenigstens in Bezug auf Form und Beweglichkeit. Die Grund- form ist die des Eies, von der freilich vielfache Abweichungen durch Längenstreckung oder Abplattung vorkommen. Bei niederen Lebens- formen, z. B. den thierischen Schwämmen, auch noch bei Polypen und Medusen besitzen die Eizellen bis zu ihrer Reife noch das Be- wegungsvermögen einzelliger Organismen, sie kriechen nach Art der Amöben, ja, wie ich vor Jahren zeigte, ist diese Ortsbewegung bei manchen Polypen sogar eine genau geregelte, so also, dass dieselben zu bestimmter Zeit die Stelle, an welcher sie entstanden, verlassen und z. B. aus der äusseren Zellenlage (Ektoderm) des Thiers in die innere (Entoderm) kriechen mit Durchbohrung der sog. »Stützlamelle«, dann im Entoderm weiter kriechen und schliesslich an ganz be- stimmten und oft weit entfernten Stellen wieder in die äussere Zellen- Thierische Eizelle. ß OJ läge zurückkehren (Endendrium Fig. 95). Bei einem anderen Hydroid- Polypen, Corydendrium parasiticum, verlassen die ausgereiften Eizellen ihre bisherige Lagerstätte im Inneren des Entoderms, um ganz aus dem Thier herauszukriechen, das sie hervorbrachte, und sich dann an einer bestimmten Stelle seiner äusseren Fläche festzusetzen und dort die befruchtenden Zoospermien zu erwarten. Geringe amöboide Be- wegungen können viele Eizellen ausführen, aber bei den meisten Thieren genügen sie nicht mehr zur Ortsbewegung, und die Eizellen bleiben ruhig an der Stelle, wo sie entstanden, oder werden doch nur passiv an andere Stellen verschoben. Solche Fälle, wo das Ei dem Samenelement örtlich entgegenkommt, wie ich ihn eben von einem Polypen anführte, sind Ausnahmen, im Allgemeinen aber ist das Ei eben gerade der ruhende, die Samenzelle der aufsuchende Theil der Befruchtungselemente ; die Eizelle ist mit der Herbeischaffung und Aufspeicherung des Materials betraut, dessen der Embryo zu seinem Aufbau bedarf; hauptsächlich darauf beruhen ihre Eigenthüm- lichkeiten. Bei Pflanzen allerdings ist dieses Material selten bedeutend, weil hier die Eizelle häufig auch nach der Befruchtung noch im lebenden Gewebe der Pflanze liegen bleibt, und dann von dort aus, oft sehr intensiv, mit Nährstoffen versorgt wird, weil ausserdem das junge Pflänzchen, das aus dem befruchteten Ei hervorgeht, noch sehr klein und einfach sein kann, und dennoch fähig, sich sofort selbst zu er- nähren. Doch gibt es auch davon Ausnahmen, und die Eizellen z. B. der braunen Tange des Meeres, der Fucaceen, sind wohl zwanzig Mal grösser und massiger, als die gewöhnlichen Zellen dieser Algen (Fig. 64), und enthalten eine Menge nährender Stoffe in sich. In diesem Falle werden aber die Eizellen auch vor der Befruchtung ins Wasser ent- leert, und eine Ernährung des Embryos von Seiten der Mutterpflanze ist ausgeschlossen. Bei diesen Algen begegnen wir auch wohl zum ersten Male einem besonderen Organ, in welchem die Eizellen ihren Ursprung nehmen. Bei den Thieren ist dies viel allgemeiner der Fall, und aufwärts von den Spongien an sind es immer ganz bestimmte Stellen und Gewebe des Körpers, welche allein Eizellen zu bilden vermögen, gewöhnlich sind es sogar wrohl abgegrenzte Organe von besonderem Bau, Ovarien oder Eierstöcke, wie denn bei den männlichen Thieren die Samen- zellen ebenfalls an besonderen Stellen entstehen und meist in be- sonderen Organen, den Hoden oder Spermarien. Die thierischen Eizellen zeigen sich häufig nicht blos aus dem ;o8 Geschlechtliche Fortpflanzung. einfachen lebendigen Zellkörper, dem Protoplasma und seinem Kern zu- sammengesetzt, sondern sie enthalten im Zellkörper fast immer noch sog. Deutoplasma, wie VAN ,2k Beneden die »Dotterele- mente« passend genannt hat. Es sind dies Fett-, Stärke- oderEiweiss-artige Stoffe, die oft in sehr be- deutender Menge in Ge- stalt von Kugeln, Schol- ■ , •••:'{./•••?■ ; l-:*£\>'i :V i :■)■ • '*■• «•kv'.v7. .•:v>..-'- ;:• :■ ; ^/2 WVVÖÄS •vT.,>-Vv>.v./"~ f-£ü-Wl SV= l>Cä X.'JvOKA" 1 » J ' / j > -* / i-'-!M.1,'-| »■' \5! V len, Körnchen im Zell- körper aufgehäuft liegen, Nährmaterial, das oft nur von einer geringen Menge lebendiger Substanz, d. h. von Protoplasma umgeben und eingeschlossen ist. Ohne diese Dotter-An- häufungen würde unmög- lich aus dem absfeleGften Ei einer Schlange oder eines Vogels ein junges Thier hervorgehen kön- Fig. 69. Eizelle vom Seeigel, Toxopneustes lividus nach Wilson, zk Zellkörper, k Kern (sog. Keim- bläschen;, n Kernkörperchen (sog. Keimfleck), darunter: ein Spermatozoon [sp) desselben Thiers bei derselben Vergrösserung (750). nen, denn so hoch diffe- renzirte, komplizirt gebaute Thiere könnten nicht aus einer Eizelle von mikroskopischer Kleinheit gebildet werden, wenn dieselbe während der Entwicklung ohne Nahrungszufuhr von aussen bleibt, sie verlangen eine viel grössere Masse von Baumaterial, damit alle die Organe und Theile, die aus Tausen- den und Millionen von Zellen zusammen- gesetzt sind, sich bilden können. So hängt also die Grösse thierischer Eier wesentlich davon ab, wieviel Dotter dem Ei mitgegeben werden muss, und dieses wieder wird in erster Linie davon abhängen, ob das Ei während seiner Entwicklung zum jungen Thier noch Zufuhr an Nahrungs- material von Seiten der Mutter erhält oder nicht. Deshalb sind im Allgemeinen Eier, die, umhüllt und geschützt von Schalen, abgelegt werden, viel grösser, als die Eier von Thieren, Fig. 70. Daphnella, A Som- merei, B Winterei, Oe »Öl- tropfen« des Sommereies. Thierische Eizelle. ;o9 welche ihre Entwicklung- im Inneren des mütterlichen Körpers durch- laufen. Das bekannteste Beispiel für diesen Satz bieten Säugethiere und Vögel, Thiere von ähnlicher Organisationshöhe und vergleich- barer Körpergrösse. Während die Eier der Vögel bis 15 cm lang und bis iJ/2 kg schwer sein können, bleiben diejenigen der meisten Säugethiere von mikroskopischer Kleinheit und überschreiten kaum die Länge von 0,3 mm. Dasselbe Prinzip offenbart sich aber auch oft innerhalb ein und derselben kleinen Gruppe von Thieren, ja zuweilen Fig. 71. Bythotrephes longimanus; der Brutsack [Br] des Weibchens: A mit zwei Wintereiern gefüllt [Wei), auf denen fünf grosse Samenzellen (sß) liegen, R Rücken des Thiers, Dr Drüsenschicht zur Absonderung der Schalensubstanz, Bk Begattungs- kanal. — B Brutsack [Br) mit zwei Sommereiern gefüllt [Sei) ; bei derselben Ver- grösserung (ioo) gezeichnet. bei ein und derselben Art. Auch hier wieder können die Wasserflöhe, Daphniden, als Muster dienen. Es gibt bei ihnen zweierlei Eier, Sommereier und Wintereier, von denen die ersteren in einem Brutraum am Rücken des Weibchens ihre Entwicklung zum jungen Thier durchlaufen, die anderen aber, von harter Schale umschlossen, abgelegt werden. Erstere nun er- halten durch Austreten nährender Bestandtheile des Blutes in den Brutraum bald mehr bald weniger Nahrungszufuhr von Seiten der Mutter, und brauchen deshalb weniger Dotter, als die Wintereier, die ganz auf sich selbst angewiesen sind. Dementsprechend finden wir IO Geschlechtliche Fortpflanzung. bei allen Daphniden die Sommereier mindestens etwas kleiner und dotterärmer als die Wintereier, so z. B. bei der Gattung Daphnella (Fig. 70, A u. 2>), bei einigen Arten z. B. bei Bythotrephes aber steigert sich dieser Unterschied so sehr, dass die Sommereier fast dotterlos und deshalb ganz winzig werden (Fig. 71, B). Das hat seinen Grund darin, dass hier ein mit Eiweissstoffen reich beladenes Fruchtwasser den Brutraum erfüllt, somit also der Embryo während seiner Ent- wickluno- fortwährend und intensiv ernährt wird. Für die Wintereier kommt dies nicht in Betracht, da sie abgelegt werden, und so finden wir sie riesig gross und ganz erfüllt mit Dotter (Fig. 71, A). Die Dotterbestandtheile sind in diesem Falle, wie überhaupt bei allen einfacheren Eiern Ausscheidungen des Zellkörpers des Eies, allein die Natur wendet hier noch mancherlei Kunstgriffe, wenn ich so sagen Fig. 72. Sida crystallina (Daphnide) ; ein Stück des Eierstocks mit einer der Vierzellen-Gruppen, von welchen 1, 2 und 4 Nährzellen sind, nur 3 zum Ei wird. Vergr. 300. darf, an, um die Masse des Eies und besonders des Dotters auf die erreichbar höchste Höhe zu heben. So gibt es bei manchen Kruster- Ordnungen, z. B. bei den eben erwähnten Wasserflöhen besondere Nährzellen des Eies, d. h. junge Eizellen, die sich von den übrigen weder nach Ursprung, noch nach Aussehen unterscheiden, die aber nicht zu reifen Eiern heranwachsen, sondern zu bestimmter Zeit stille stehen und dann sich langsam auflösen, so dass ihre Sub- stanz als Nahrung von der ächten Eizelle aufgenommen werden kann. Dadurch wird nicht nur ein rascheres, sondern auch ein viel bedeu- tenderes Wachsthum ermöglicht, als es bei der Ernährung allein vom Blute aus möglich wäre. Bei den Daphniden besteht das Ova- rium aus Gruppen von je vier Keimzellen, von welchen immer (nur eine zum Ei wird (Fig. 72, Ei), während die drei anderen (1. 2 u. 4) sich als Nährzellen auflösen. So bei allen Sommereiern: bei den grösseren Wintereiern nehmen aber häufig noch viel zahlreichere Thierische Eizelle. I I LR Nährzellen an der Versorgung- eines Eies Antheil, bei der Gattung Moina z. B. über vierzig. Hier ist aber auch der Grössenunterschied der beiden Eiarten sehr bedeutend, das Winterei hat den doppelten Durchmesser des Sommereies. Auch bei vielen Insekten kommen solche Nährzellen des Eies vor, so bei Käfern und Bienen, doch setzt hier zugleich noch eine andere Einrichtung ein, welche zwar zugleich der Bildung einer äusseren Eischale dient, aber doch auch dem Ei die ihm nöthigen Dotterstoffe zuführt: nämlich die Umhüllung der wachsenden Ei- zelle durch eine dichtgedrängte Lage von Epithelzellen, einen sog. »Follikel«. Auch bei Vögeln und Säugern spielen jedenfalls diese »Follikelzellen« eine be- deutsame Rolle in der Ernährung der Eizelle, wenn es auch noch nicht ganz klar ist, wie sie wir- ken, ob sie nur in sich Dotter- körner und andere Nahrungsstoffe erzeugen und sie durch feine strahlenförmige Fortsätze dem Ei zuführen, oder ob sie etwa auch zuletzt selbst in das Ei einwan- dern um sich dort aufzulösen. Jedenfalls ist es bemerkenswerth, dass alle diese Follikelzellen bei Insekten und Wirbelthieren des- selben Ursprunges wie die Ei- zellen sind, d. h. umgewandelte Keimzellen. Es ist also hier im Wesentlichen dieselbe Sache, wie bei den Nährzellen der Daphniden: die Natur opfert den grösseren Theil der Keimzellen, um eine Minderzahl von ihnen um so reicher ausstatten zu können. Sie erreicht es auf diese Weise, die Eizelle gewissermassen über sich selbst hinauszuheben, ihr ein Wachsthum zu ermöglichen, welches sie allein durch die gewöhnliche Ernährung vom Blute aus offenbar nicht leisten könnte. So verstehen wir, wie die Eizellen vieler Thiere eine so kolossale Grösse besitzen können und oft auch einen so verwickelten Bau. Ganz besonders zeichnet sich in dieser Beziehung das Vogel ei aus, Fig. 73» Schematischer Längsschnitt durch ein unbebrütetes Hühnerei nach Allen, Thomson -Balfour; Bl Keimscheibe, GD gelber Dotter, WD weisser Dotter, DM Dottermembran, E W Eiweiss, 67/ Chalazen, S Schalenhaut, Ä'S Kalkschale, LE Luft- kammer. o I 2 Geschlechtliche Fortpflanzung. über welches denn auch bis in die neuere Zeit hinein gestritten wurde, ob es wirklich nur den Formwerth einer einzigen Zelle be- sitze. Dem ist aber so, und wenn auch nur die winzige dünne Keimscheibe (Fig. 73, El) mit ihrem Kern allein der aktive Theil dieser Zelle, der eigentliche Zellkörper ist, so gehört doch alles Übrige, die enorme Dotterkugel mit ihren regelmässigen Schichten gelben [GD) und weissen Dotters ( WD), die koncentrischen Schichten flüssigen Eiweisses (E IV) darum herum, die Eischnüre oder Chalazen (C/i) und schliesslich die weiche Eihaut (S) und die kalkige Eischale [KS) mit zu dieser Zelle und ist in Abhängigkeit von ihr entstanden Fig. 73)- Der Befrachtungsvorgang. 3*3 XV. Vortrag. Der Befruchtungsvorgang. Zell- und Kerntheilung p. 313, Das Chromatin ist die Vererbungssnbstanz p. 315, die Centrosphäre der Theilungsapparat p. 3 1 5i die Chromosomen p. 316, Befruchtung des Seeigel-Eies nach Hertwig p. 321, des Ascaris-Eies nach van Beneden p.325, Die Richtungsth eilungen p. 322, Halbirung der Chromosomenzahl p. 326, dieselbe bei der Samenzelle p. 328, Die Reduktionstheilung bei parthenogenetischen Eiern p. 333, die- selbe bei der Biene p. 325, Exceptionelle und künstliche Parthenogenese p. 337, Rolle der Centrosphäre bei Befruchtung und Parthenogenese p. 338. Meine Herren ! Nachdem wir nun die beiderlei Arten von Keim- zellen kennen gelernt haben, auf deren Vereinigung die »geschlecht- liche Fortpflanzung« beruht, schreiten wir zur genaueren Besprechung desBefruchtungsvorganges selbst. Zuvor jedoch ist es unerlässlich, dass ich Sie mit den Vorgängen der Kern- und Zelltheilung be- kannt mache, wie wir sie im Laufe der letzten Jahrzehnte allmälig sehen und verstehen gelernt haben. So sonderbar es scheinen mag, dass die Vorgänge der Theilung Licht werfen sollen auf die schein- bar ganz entgegengesetzten der Zellverschmelzung, so ist es doch so, und ein Verständniss der Letzteren ist unmöglich ohne Kenntnis der Ersteren. Seit Entdeckung der Zelle bis in die sechsziger Jahre hinein be- trachtete man die Zelltheilung als einen höchst einfachen Vorgang, als eine Durchschnürung; man sah, dass eine in Theilung begriffene Zelle (Fig. 5g, A) sich streckte, ihr Kern ebenfalls länglich wurde, dass zuerst Letzterer sich in der Mitte verdünnte und Bisquitform an- nahm, um sich dann nach und nach ganz durchzuschnüren, und in zwei Kerne zu zerfallen (B), worauf dann auch der Zellkörper sich durchschnürte und zwei Tochterzellen fertig waren (C). Bei gewissen alternden oder hoch differenzirten Zellen scheint auch wirklich eine derartige Zelltheilung vorzukommen, die sog. »direkte«, allein bei jungen, überhaupt bei allen lebenskräftigen Zellen scheint der Vor- gang nur so einfach, ist aber in Wirklichkeit viel verwickelter, und 14 Der Befrachtunasvor^ansf. &""£>• zwar vor Allem dadurch, dass der Bau des Kernes ein ungleich kom- plizirterer ist, als man es früher wusste, und dass die Natur einen ganz besonderen, wunderbar feinen Apparat in die Zelle gelegt hat, mittelst dessen die Bestandtheile des Kernes auf die beiden Tochter- kerne vertheilt werden. Lange Zeit hindurch vermochte man am Zellkern nichts weiter zu unterscheiden, als eine Membran und einen flüssigen Inhalt, in welchem ein oder mehrere Kernkörperchen oder Nucleolen schweben. Damit ist aber der heute erkennbare Bau des Kernes noch keines- wegs erschöpft, ja die wichtigsten Bestandtheile desselben sind damit noch nicht einmal genannt, denn der oder die Nucleolen (Fig. 74, A, kk), denen man früher eine hohe Bedeutung beizulegen geneigt war, haben sich durch die neueren Untersuchungen besonders HACKER1 s als vergängliche Gebilde erwiesen, welche keine lebendigen Theile, sondern blosse Ansammlungen organischen Stoffes sind, »Zwischen- produkte des Stoffwechsels«, welche zu gewissen Zeiten, nämlich vor der Kerntheilung, aus dem Kernraum verschwinden, indem sie verbraucht werden. Wir wissen heute, dass in der ruhenden, d. h. nicht in Theilung begriffenen Zelle (Fig. 74, A) ein sehr feines und oft schwer sichtbar zu machendes Netzwerk blasser Fäden die ganze Kernhöhle durchsetzt, ähnlich Spinnweben oder feinstem Seifenschaum, und in diesem sog. Kerngerüst sind Körnchen rundlicher oder eckiger Gestalt eingebettet (A, ehr), welche aus einer Substanz bestehen, die sich mit Farbstoffen, — Carmin, Hämatoxylin, allen Anilinfarben u. s. w. — tief färbt und die deshalb den Namen des Chromatins erhalten hat. Oft, ja meistens sind diese Körnchen ungemein klein, zuweilen aber auch grösser, und dann weniger zahlreich und leicht sichtbar zu machen; in allen Fällen aber sind sie in gewissem Sinn die wichtigste Substanz des Kerns, denn von ihnen gehen — wie wir annehmen müssen — Wirkungen aus, welche das Wesen der Zelle bestimmen, welche ihr gewissermassen den spezifischen Stempel aufdrücken, die junge Zelle zur Muskelzelle oder zur Nervenzelle machen, ja, welche der Keimzelle die Fähigkeit verleihen, durch fortgesetzte Vermehrung mittelst Theilung einen ganzen vielzelligen Organismus von bestimm- tem Bau, bestimmter Differenzirung, kurz ein neues Individuum der bestimmten Art hervorzubringen, zu welcher die Eltern dieses Nachkommen gehörten. Wir bezeichnen die Substanz, aus welcher diese Chromatinkörnchen bestehen, mit dem Namen, den zuerst NäGELI in die Wissenschaft einführte, wenn auch für eine ideale, nur postulirte, aber damals noch nicht beobachtete Substanz, die er Vorgang der Kerntheilung. 3*5 sich in den Zellkörpern enthaltend dachte, mit dem Namen des Idioplasmas, d. h. einer das Wesen (die Gestalt sidog) bestimmen- den Lebenssubstanz. Ich schicke dies hier schon voraus, und behalte mir die nähere Erklärung" für später vor, wo ich Ihnen dann auch nach und nach alle die Thatsachen vorzuführen gedenke, welche diese eben angedeutete Auffassung der »Chromatinkörnchen« als »Idio- plasma«, oder wie wir auch sagen können, als »Vererbungssub- stanz« begründen. Dass dieses »Chromatin« etwas ganz Besonderes sein müsse, sehen wir schon aus den Vorgängen der Zell- und Kerntheilung, wie ich sie Ihnen jetzt kurz schildern will. Wenn eine Zelle sich zur Theilung anschickt, bemerkt man zuerst, dass die Chromatinkörnchen, die bisher zerstreut im Kernnetz vertheilt lagen, sich einander nähern und sich zu einem langen und dünnen Faden aneinander reihen, welcher unregelmässig durcheinander ge- schlungen einen lockeren Knäuel bildet, das sog. Knäuelstadium (Fig. 74, B). Der Faden nimmt dann zu an Dicke, und etwas später erkennt man, dass er sich in eine Anzahl gleichlanger Stücke getheilt hat, etwa als ob man ihn mit der Scheere in gleiche Stücke zer- schnitten hätte (C). Diese Stücke oder Chromosomen verkürzen sich dann durch lanesame Zusammenziehuno- und nehmen dabei die Gestalt einer winklig gebogenen Schleife, eines geraden Stäbchens oder auch die eines rundlichen, eiförmigen oder kugeligen Körpers an (Fig. 74, C,chrs). Während dies geschieht, bemerkt man an einer Seite des Kerns, demselben dicht anliegend, eine blasse, längsstreifige Figur mit einer Anschwellung an beiden Enden, ähnlich einer Hantel, die sog. Kern- spindel [ksp) oder Centralspindel. Dies ist der Theilungsapparat des Kerns, der schon vorher da war als ein kleines, färbbares Körperchen, das »Centrosoma«, umgeben von einer hofartigen Schicht, der Centrosphäre oder schlechthin »Sphäre«. Man hat dasselbe lange Zeit hindurch übersehen, doch nimmt die Mehrzahl der Forscher heute an, dass es, wenn auch sehr unscheinbar und oft schwer sicht- bar zu machen, doch in jeder theilungsfähigen Zelle vorhanden ist, dass es also einen dauernden und unentbehrlichen Bestandtheil der Zelle ausmacht (Fig. 74, A u. B, cspli). Wenn eine Zelle sich zur Theilung anschickt, so tritt dieses merk- würdige Zellorgan, das vorher als ein bedeutungsloses blasses Kügel- chen erschien, in Thätigkeit und zwar zunächst dadurch, dass es sich — oft schon vor Bildung des Chromatin-Knäuels — durch Theilung Weis mann. Descendenztheorie. 20 3i6 Vorgang der Kerntheilung. verdoppelt (Au. B cspli), zuerst nur das Centrosoma, dann auch die Sphäre (B), und dass nun während die Theilung- vor sich geht, feine chrs Fig. 74. Schema der Kerntheilung, frei nach Wilson. A Ruhende Zelle mit Zellkörper (zk), Centrosphäre [csph), welche zwei Centrosomen enthält, Kernkörperchen ■Ikk) und Chromosomen (c/ir), Letztere im Kernnetz zerstreut. — B Das Chromatin zu einem knäuelförmig gewundenen Faden vereinigt; Centrosphäre in zwei getheilt, Strahlen aussendend, die sie verbinden. — C Kernspindel (ksß) gewachsen, Strahlung stärker, Kernmembran (km) in Auflösung, Chromatinband in acht gleiche Stücke ge- theilt [chrs) • die Strahlen ergreifen die Chromosomen. — D Vollendete Kernspindel mit den beiden Centrosphären an den Polen [csph] und den acht Chromosomen [chrs] im Äquator der Spindel, alle bereits längsgespalten. — E Tochter-Chromosomen aus- einander gerückt, doch noch durch Fäden verbunden, Centrosomen (es) bereits ver- doppelt für die nächste Theilung. — F Tochter-Chromosomen vollständig auseinander gerückt beginnen bereits Fortsätze zu treiben; Zellkörper in Theilung eingetreten. — G Ende des Theilungsvorgangs: zwei Tochterzellen tz mit ähnlichem Kernnetz tk und Centrosphäre, wie in A. Vorgang der Kerntheilung. 3 I 7 Protoplasma-Strahlen von der in Theilung begriffenen Sphäre ausgehen, die ähnlich einer Sonne frei in den Zellkörper ausstrahlen, und nur an den einander zugewandten Flächen der sich theilenden Sphären- Hälften eine Verbindung zwischen sich erhalten, so also, dass man auch sagen könnte, es zögen sich zwischen den auseinander weichen- den Hälften feine Fäden aus, die immer länger würden, je weiter die Hälften auseinander weichen. Auf diese Weise entsteht die viel- genannte »Spindelfigur«, die zuerst in den Untersuchungen A. Schneider's, Auerbach's und BüTSCHLl's aus den 70er Jahren be- schrieben wurde, deren Bedeutung und Herkunft aber die Arbeit zahlreicher späterer Beobachter bis zum heutigen Tag in Anspruch nahm. Die nun folgenden Vorgänge verlaufen nicht überall genau in derselben Weise, das Wesentliche aber bleibt überall bestehen und liegt darin, dass die beiden Enden oder »Pole« der Spindel noch weiter auseinander rücken und den Kern zwischen sich nehmen, dessen Membran nun schwindet [C, km), während die Spindelfasern seinen Binnenraum durchsetzen. Zuweilen bleibt auch die Membran erhalten, und die Spindelfasern durchdringen trotzdem den Binnen- raum des Kerns. Immer aber ordnen sich nun die Chromosomen in der »Aquatorialebene« der Spindel (D: aeq) ganz regelmässig an, ein Vorgang, dessen präcis arbeitende Mechanik noch keineswegs ganz aufgeklärt ist, wie denn überhaupt das Spiel der Kräfte in dem ganzen Prozess der Kerntheilung unserer Einsicht nur unvollkommen noch erschlossen ist. So haben wir denn jetzt eine blasse und auch nur schwach färb- bare spindelförmige Figur vor uns mit den Sonnen (es) an ihren »Polen« (p) und in der Äquatorialebene derselben die schleifen-, Stäbchen- oder kugelförmigen Chromosomen (cJirs). Das Ganze be- zeichnet man als die » karyokinetische« , die »mitotische« oder die »Kerntheilungs«-Figur. Sinn und Bedeutung dieser Anfangs räthselhaften Figur werden durch das nun Folgende sofort klar. Wenn nicht schon lange vor- her, so bemerkt man nämlich jetzt, dass jedes der Stäbchen oder Schleifen sich der ganzen Länge nach, etwa wie ein Scheit Holz, gespalten hat, und dass diese Spalthälften anfangen, langsam und unmerklich auseinander zu rücken, eine Hälfte gegen diesen, die andere gegen den anderen Pol der Spindel hin (Fig. D u. E). Un- mittelbar vor dem Centrosoma machen sie Halt, und nun ist das Material für die beiden Tochterkerne an Ort und Stelle (F, chrs), ö I 8 Vorgang der Kemtheilung. und diese selbst bilden sich dann rasch aus, indem eine jede der Chromosomen-Gruppen sich mit einer Kernmembran umgibt (Fig. G), innerhalb deren die Chromosomen sich nach und nach wieder in ein Kernnetz umwandeln, in welchem die eigentliche Chromatinsubstanz nur in vielfacher Zertheilung enthalten ist, in kleinen rundlichen oder eckigen Stückchen, die hauptsächlich an den Kreuzungspunkten des Kernnetzes liegen. Es mag hier gleich gesagt sein, was später erst in seiner vollen Bedeutung gewürdigt werden kann, dass wir mit Wahrscheinlichkeit annehmen dürfen, diese Auflösung der Chromo- somen sei eben nur eine scheinbare, in Wirklichkeit aber beständen diese Stäbchen oder Kugeln auch im Kernnetz noch fort, nur in anderer Form, gewissermassen ausgebreitet, wie ein Wurzelfüsser etwa, der nach allen Seiten hin feine Fortsätze ausstreckt, die sich verästeln und anastomisiren und den vorher massigen Körper als ein feines Netzwerk erscheinen lassen. In der That beobachtet man direkt, wie die Chromosomen nach Vollendung der Kemtheilung im Tochter- kern spitze Fortsätze aussenden (F u. G), die allmälig länger werden und sich verzweigen, während die Hauptmasse der Chromosomen sich immer mehr verkleinert. Es ist also wahrscheinlich, dass aus dem Kernnetz eines solchen Tochterkerns, wenn er später von Neuem zur Theilung schreitet, durch Zusammenziehungen gewissermassen der Pseudopodien der Chromosomen wieder dieselben Stäbchen oder Kugeln hervorgehen, aus welchen das Kernnetz früher entstanden war. Sie werden später noch bestimmtere Gründe für diese Auf- fassung kennen lernen. Jedenfalls bestehen die Chromosomen auch im kompakten stäbchenförmigen Zustand aus zweierlei Substanz, dem eigentlichen stark färbbaren Chromatin, und dem schwer färbbaren Linin, welch' Letzteres bei der Auflösung den blassen Theil des Kernnetzes bildet. So begreift man, dass die Zahl der Chromosomen durch alle Zellgenerationen der Entwicklung hindurch immer dieselbe bleiben kann, wie sie denn auch bei allen Indi- viduen einer Art dieselbe ist. Man kennt diese Ziffer bereits für viele Arten; bei manchen Würmern finden sich nur 2 oder auch 4 Chromosomen, bei anderen verwandten WTürmern deren 8, bei Heuschrecken 12, bei einem Meereswurm, Sagitta, 18, bei der Maus, dem Salamander, der Forelle und der Lilie 24, bei manchen Schnecken 32, bei den Haien 36 und bei Artemia, einem kleinen Salzwasser- Krebs 168 Chromosomen; beim Menschen sind die Chromosomen so klein, dass ihre Normalziffer nicht ganz sicher steht; man hat 16 gezählt. Vorgang der Kerntheilung. 3^9 Alle diese Zählungen kann man nur während der Kerntheilung machen, da nachher die Chromosomen im Kernnetz ununterscheidbar zusammen oder besser auseinander fliessen, um aber sofort wieder in der alten Zahl und Gestalt zu erscheinen, sobald der Kern wieder in Theilung eintritt. Es bleibt noch nachzuholen, was aus der Centrosphäre wird bei der Zelltheilung. Sobald die Bildung der Tochterkerne eingeleitet ist durch Auseinanderrücken der Schleifen-Spalthälften, bildet sich die Spindelfigur zurück, ihre Fasern verblassen und verschwinden allmälig, wie überhaupt der ganze Strahlenhof der Centrosphäre (Fig. F u. G). Der Zellkörper hat sich nun auch getheilt und zwar in der Aquato- rialebene der Kernspindel, und das Centrosoma bleibt als ein meist sehr unscheinbares, blasses Körperchen dicht am Kern im Zellkörper liegen, um zu neuer Thätigkeit erst zu erwachen, wenn von Neuem Zelltheilung eintreten soll (G, csph). Das sind in kurzer Zusammendrängung die merkwürdigen Vor- gänge der Kerntheilung. Ihre Wirkung ist klar, die chromatische Substanz wird durch sie in der denkbar genauesten Weise auf die beiden Tochterkerne vertheilt. Nicht so einfach ist es, die Mechanik dieser Vertheilung zu be- greifen, und verschiedene Theorien stehen sich hier gegenüber. Nach der älteren Ansicht E. VAN BENEDEN's wirken die Spindelfasern wie Muskeln und ziehen durch Verkürzung die ihnen anhaftenden Hälften der Chromosomen gegen die Pole hin, während die übrigen von den Polkörpern ausstrahlenden Fasern als Stemm- und Stützelemente wirken. Diese Ansicht hat auch heute noch, wenn auch in mancher- lei Modifikationen ihre Vertreter, und M. Heidenhain besonders hat sie in bemerkenswerther Weise zu begründen und ins Einzelne aus- zuarbeiten versucht. Ihr gegenüber steht die Ansicht Derer, welche wie O. Hertwig, BüTSCHLl, Hacker und Andere die Strahlen über- haupt nicht für etwas in der Zelle schon Vorgebildetes halten, son- dern für den Ausdruck von Orientirungen gewisser Protoplasma- theilchen, die durch Kräfte hervorgerufen werden, welche in den Centralkörpern ihren Sitz haben und nach Art von magnetischen oder elektrischen Kräften wirken. Dass die Centralkörper Anziehungs- Mittelpunkte sind, scheint auch mir kaum zweifelhaft, und ebenso wenig, dass es sich bei der so regelmässigen Anordnung der Chro- mosomen in der Äquatorialebene der Spindel nicht blos um ein ein- faches Klebenbleiben an kontraktilen Fasern handeln kann, sondern dass dabei chemotaktische oder sonstige, uns noch unbekannte Kräfte "?20 Vorgang der Kerntheilung. wirksam sein müssen. Wir werden später noch die Erscheinung des im Ei wandernden Spermakerns kennen lernen, welchen sein Central- körper sammt Strahlensonne begleitet, und mit Recht scheint mir HACKER daraus allein schon auf die momentane Entstehung der Strahlen durch die in dem Centralkörper gelegenen Kräfte zu schliessen. Doch ist ohne Zweifel auch diese »dynamische« Erklärung der Karyokinese noch im Stadium der Ahnungen und Analogieschlüsse, und noch weit entfernt von bestimmter Erkenntniss der wirkenden Kräfte. Für die Fragen, welche uns hier vor Allem angehen, die Ver- erbungsfragen, genügt es zu wissen, dass die Zellen der Vielzelligen einen äusserst komplizirten Theilungsapparat besitzen, dessen Haupt- bedeutung darin liegt, dass durch ihn die chromatischen Einheiten des Kernes in genau zwei gleiche Hälften getheilt, und so voneinander ge- sondert werden können, dass je eine Spalthälfte den einen, die andere den anderen Tochterkern bildet. Es wird dabei nicht nur eine genaue Massentheilung des gesammten Chromatins bewirkt, wie sie ja auch auf viel einfachere Weise hätte bewirkt werden können, sondern eine gesetzmässige Vertheilung der verschiedenen Qualitäten des Chromatins, wie später gezeigt werden soll. Hier sei nur noch betont, dass diese Spaltung der Chromosomen nicht etwa auf äusseren Kräften beruht, sondern auf inneren, in dem Bau und den während des Wachsthums eintretenden gesetz- mässigen Anziehungen und Abstossungen seiner Theilchen. Die Chromosomen spalten sich nicht wie ein Stamm, der durch einen Keil gesprengt wird, sondern eher wie ein Baum, den der Frost aus- einander reisst, d. h. das in ihm selbst enthaltene gefrierende Wasser. Ich halte diese Erkenntniss für eine bedeutsame, wenn wir auch die Kräfte noch nicht kennen, welche hier walten, und zwar deshalb, weil sie uns zu dem Schluss einer sehr komplizirten Struktur der Chromosomen leiten, zu dem Schluss, dass die Chromo- somen gewissermassen eine Welt für sich sind, dass sie einen unendlich feinen und verwickelten, wenn auch un- sichtbaren Bau haben, in welchem eigene chemisch-physi- kalische Kräfte die gesetzmässigen Veränderungen hervor- rufen, die wir an ihnen beobachten. Sie werden später sehen, dass wir noch von ganz anderer Seite, nämlich von den Vererbungser- scheinungen aus auf denselben Schluss hingewiesen werden. Wir werden dann erkennen, dass die stab- oder schleifenförmigen Chro- mosomen nicht einfache Elemente sein können, sondern zusammen- gesetzt sind, aus einer linear angeordneten Reihe von 10, 20 Der Befruchtungsvorgang. ß 2 I oder mehr kugelförmigen Einzel- Chromosomen, deren jedes eine besondere Art des Chromatins, d. h. der Vererbungssubstanz darstellt. Erwägt man dies, so ist es klar, dass sich kaum ein Modus der Kerntheilung ausdenken Hesse, der den Zweck, jede dieser vielen verschiedenen Chromatin- Arten in gleicher Menge jedem der beiden Tochterkerne zukommen zu lassen, so exakt und sicher ausführte, als der thatsächlich von der Natur geschaffene Theilungsmechanismus. Die Längsspaltung der Stäbchen halbirt jedes der Chromosomen, und der Spindelapparat sichert die richtige Vertheilung der Spalthälften auf die beiden Tochterkerne. Soviel ist jedenfalls gewiss, dass der höchst komplizirte Mecha- nismus für die »mitotische« Kerntheilung nicht entstanden wäre, wenn es sich hier nicht um die sehr genaue Theilung einer Substanz von hervorragender Bedeutung handelte, und in diesem Schluss liegt der erste Hinweis auf die Deutung der chromatischen Substanz als Träger der Vererbungs-Tendenzen. Wir kennen jetzt den Zellkern und seinen Theilungsapparat und sind damit hinreichend vorbereitet, um die Erscheinungen der »Be- fruchtung« in Angriff zu nehmen, Vorgänge, die sich wesentlich um das Verhalten von Zellkernen drehen, denn schon die ersten von O. Hertwig gemachten Beobachtungen über das Verhalten des ins Ei eingedrungenen Zoosperms Hessen vermuthen, dass es sich hier im Wesentlichen um die Vereinigung zweier Kerne handle, und die zahl- reichen späteren, immer tiefer eindringenden Forschungen haben es bis zur Evidenz bewiesen, dass die sog. »Befruchtung« im Wesentlichen eine Kern-Verschmelzung ist. Beginnen wir mit den Beobachtungen O. Hertwig's am Ei des Seeigels. Man kann bei diesen Thieren die aus den Eierstöcken eines Weibchens frei gemachten Eier leicht künstlich befruchten, in- dem man sie mit dem von männlichen Thieren entnommenen, mit Seewasser verdünnten Samen übergiesst. Während nun vorher in den Eiern nur ein Kern zu bemerken ist. zeigen sich kurz nachher zwei kernartige Gebilde von ungleicher Grösse im Innern des Eies, deren kleinerer von einem Strahlenkranz umgeben erscheint. Mit Recht deutete Hertwig diesen kleineren Kern als den umgewandelten Rest des eingedrungenen Samenfadens, der sich dann langsam dem Kern des Eies nähert, um sich schliesslich dicht an ihn anzulegen und mit ihm zum »Furchungskern« zu verschmelzen. Von diesem geht nun der sog. »Furchungsprozess« des Eies aus, d. h. die fort- gesetzte Zweitheilung der Eizelle, welche schliesslich zur Bildung ^22 Der Befruchtungsvorgang. eines geordneten Haufens von Zellen führt, der sich dann unter fort- gesetzter Zellvermehrung weiter zum Embryo aufbaut. So einfach nun auch dieser Vorgang der Kernkopulation zu sein scheint, so war er doch keineswegs so leicht zu erkennen, und mehrere Forscher, vor Allem AUERBACH, SCHNEIDER und BÜTSCHLI hatten Stadien dieses Vorgangs schon früher an anderen Eiern (Ne- matoden) gesehen, ohne doch schon die richtige Auslegung der Er- scheinungen finden zu können. Das rührte hauptsächlich daher, dass neben den eigentlichen Befruchtungs-Erscheinungen, wie wir sie eben kurz skizzirt haben, noch andere Kern- Veränderungen am reifenden Ei vor sich gehen, die nicht so leicht von jenen zu trennen waren: die Erscheinungen der sog. »Eireifung«. Wenn die Eizelle auch bereits ihre volle Grösse im Ovarium erlangt hat, so ist sie doch noch nicht befruchtungsfähig, sondern sie muss noch eine zweimalige Theilung durchmachen, zu deren richtigem Verständniss gerade die HERTWlG'schen Untersuchungen, wie auch etwas spätere von Fol Vieles beigetragen haben. Schon seit langer Zeit hatte man kleine, glänzende Körperchen besonders bei den Eiern von Muscheln und Schnecken beobachtet, welche an dem einen Pol aus dem Ei hervortreten, kurz ehe die Embryonal-Entwicklung beginnt. Man nannte sie »Richtungskörper- chen«, weil man glaubte, sie bezeichneten die Stelle, an welcher später die erste Theilungsebene durchschneidet; man wusste damals nur, dass sie aus dem Ei ausgetreten sein müssen, ohne aber im entfern- testen ihre wirkliche Natur auch nur zu ahnen. Wir wissen heute, dass es Zellen sind, und dass ihre Bildung auf einer zweimaligen Theilung der Eizelle beruht, freilich auf einer sehr ungleichen, indem diese »Richtungszellen« immer viel kleiner sind, als die Eizelle, ja meistens so klein, dass es sehr begreiflich erscheint, wie man ihre Zellnatur solange verkennen konnte. Dennoch haben sie immer einen Zellkörper, und bei manchen Eiern, z. B. solchen von gewissen Nacktschnecken des Meeres, ist dieser sogar ganz an- sehnlich, und ebenso haben sie immer einen Kern, ja dieser Kern ist trotz der Kleinheit des Zellkörpers doch in allen Fällen genau ebenso gross als der Schwesterkern, der bei der Theilung im Ei zurückbleibt, eine Thatsache, die schon darauf hindeutet, dass es sich hier wesentlich um Umgestaltungen und Veränderungen am Kern des Eies handelt. Schon lange, ehe man die »Richtungstheilungen« als Thei- lungen der Eizelle erkannte, wusste man, dass der Kern des Eies Die Eireifung. 32 3 verschwindet, sobald dasselbe seine volle Grösse im Eierstock erreicht hat. Man wusste auch, dass dieser Kern, das grosse im Mittelpunkt des Eies gelegene sog. »Keimbläschen« (Fig. 6g, k) dann seine centrale Lage aufgibt und an die Oberfläche des Eies emporsteigt, um dort blasser und blasser zu werden und schliesslich ganz dem Auge des Beschauers zu verschwinden. Manche glaubten, es löse sich auf, und der später doch vorhandene »Furchungskern« sei eine Neubildung — die Wahrheit ist, dass das Keimbläschen sich zur Zeit seines Verschwindens in eine ohne künstliche Färbung unsichtbare Theilungsfigur umwandelt. Die Kernmembran löst sich auf, das Centro- soma der Eizelle, welches, wenn auch kaum erkennbar, vorher schon neben dem Keimbläschen gelegen hatte, theilt sich in zwei Centrosomen und deren Centrosphären, und diese bilden nun, indem sie auseinander rücken und ihre Protoplasma-Strahlen aussenden, die »mitotische Figur«. Diese Kernspindel stellt sich bald senkrecht zur Ei-Oberfläche, die sich zugleich hügelartig vorwölbt, und bald kommt es zur Bildung zweier Tochterkerne, von denen der eine in jenem sich vorwölbenden Hügel liegt (Fig. 75, A, Rkl) und sich bald völlig abschnürt vom Ei, umgeben von einer geringen Menge von Zellsubstanz. Der andere Tochterkern bleibt im Ei liegen, beide Tochterkerne aber gelangen nun nicht gleich zur Ruhe, sondern beide wandeln sich sofort wieder zu einer Spindel um und theilen sich nochmals; die kleine erste »Richtungszelle« schnürt sich in zwei halb so grosse »sekundäre Richtungskörperchen« ab (i>, Rkl), während die im Ei liegende Kern- spindel eine zweite Theilung der Eizelle einleitet (B, Rk2), deren un- gleiche Produkte die zweite Richtungszelle und das definitive, d. h. befruchtungsfähige Ei sind. Damit ist dann dieser Vorgang abgeschlossen, die Eizelle, die nur sehr wenig Material an die »Rich- tungskörper« verloren hat, und nicht sichtbarlich kleiner geworden ist, hat nun einen Kern bekommen (ß, Eik), der durch die rasch hintereinander sich folgenden beiden Theilungen erheblich verkleinert und, wie wir später sehen werden, auch innerlich verändert worden ist; in seinem jetzigen Zustand ist er »reif«, d. h. er vermag nun die Verbindung mit dem Kern einer männlichen Keimzelle einzugehen, welche wir als das Wesentliche des Befruchtungs-Prozesses erkannt haben. Diese Vorgänge der »Eireifung« kommen allen thierischen Eiern zu, welche befruchtungsbedürftig sind, und verlaufen überall fast genau in derselben Weise, nur dass in vielen Fällen die nachträgliche Thei- lung des ersten Richtungskörpers unterbleibt, so dass dann also im 324 Der Befruchtungsvorgang. Ganzen nur zwei Richtungskörper gebildet werden. Diese ganzen Vor- o-änee haben direkt mit der Befruchtung Nichts zu thun, aber erst durch sie wird das Ei befruchtungsfähig. Dies hindert indessen nicht, cspkf äj: •■;.■'■■■■ i mm Rki RkZ csph. •\4^ttp.^4.J-spk Fig- 75- Befruchtungsvorgang bei Ascaris megalocephal a, dem Pferde- Spulwurm, frei nach Boveri und van Beneden. A Ei in der ersten Richtungstheilung begriffen; Rki erster Richtungskörper; sp Samenzelle mit zwei Chromosomen im Kern; auf dem Ei festhaftend und im Begriff, in dasselbe einzudringen; eine hügelige Er- hebung des Eiprotoplasmas kommt ihr entgegen. — B Die zweite Richtungstheilung ist vollendet; Rk2 das zweite Richtungskörperchen, Eik der Eikern. Das erste Rich- tungskörperchen [Rki) in zwei Tochterzellen getheilt; spk der von der Samenzelle allein noch sichtbare Kern nebst seiner Centrosphäre [csph). — C Spermakern (<$k) und Eikern (Qk) gewachsen, je zwei schleifenförmige Chromosomen in jedem; nur der männliche Kern besitzt eine Centrosphäre, die sich bereits in zwei getheilt hat [csph). — D Die beiden Kerne liegen aneinander zwischen den Polen der Kernspindel. E Die vier Chromosomen der Länge nach gespalten, die Spindel zur ersten Theilung des Eies (Furchungsspindel, fsp) ist gebildet. — F Auseinanderrücken der Tochter- Chromosomen; Theilung der Zellen in die zwei ersten Furchungs-(Embryonal-)Zellen. Der Befruchtungsvorgang. 3 2 S dass nicht das Zoosperm schon vorher in das Ei eindringt, vielmehr ist das sogar meistens der Fall (Fig. 75, A, sp), und dann wartet das- selbe ruhig, bis auch die zweite Richtungstheilung des Eies ihren Ablauf genommen hat und benutzt diese Zeit, um sich in der für die Kern-Copulation nöthigen Weise umzuwandeln. Nur bei wenigen Arten, z. B. bei den Seeigeln kommt es vor, dass das Ei schon im Ovarium, also bevor es noch mit Samen in Berührung kommt, die Richtungstheilungen vollständig durchläuft. Um Sie nun tiefer in die Vorgänge der Befruchtung einzuführen, scheint mir immer noch das durch Ed. VAN Beneden's klassische Untersuchungen berühmt gewordene Ei des Pferde-Spulwurms, Ascaris megalocephala, das beste Beispiel zu sein. Viele günstige Umstände vereinigen sich hier, um das Wesentliche des Vorgangs deutlich erkennen zu lassen. Die Befruchtung findet hier im Innern des weiblichen Körpers statt und zwar in einem erweiterten Abschnitt des Eileiters, in welchem sich bei einem reifen W'eibchen stets eine Anzahl der sonderbaren kleinen Samenzellen befindet; es sind keine fadenförmigen, sondern eher sphäroide Zellen, die aber einen Aufsatz tragen, ähnlich einem spitzen Hörn (Fig. 75, A, sp). Kommt eine solche Samenzelle mit der Oberfläche eines Eies in Berührung, so bildet sich an der berührten Stelle ein Wulst, an den sich die Samen- zelle fest anhängt und durch den sie in das Ei hineingezogen wird. Ohne Zweifel wirken hierbei amöboide Bewegungen der Samenzelle selbst mit, wie man dies bei den oben besprochenen grossen Samen- zellen mancher Daphniden auf das Deutlichste sehen kann. Beim Ei des Spulwurms erblickt man bald die ganze Samenzelle sammt Kern im Innern des Eikörpers, und nun verändert sie sich rasch. Ihr ganzer Körper wird blass und blässer und verschwindet zuletzt, während der Kern bläschenförmig wird und bald zu bedeutender Grösse heranwächst (Fig. 75, Z>, spk). Inzwischen hat sich auch der Rest des Keimbläschens, der nach der zweiten Richtungstheilung im Ei zurückgeblieben war (B, Eik), zu einem grossen bläschenförmigen Kern (C, Q k) umgestaltet, der beim Ascaris-Ei, wie auch der Sperma- kern zuerst noch ein Kernnetz mit unregelmässigen Chromatinstücken enthält. Später bildet sich dann daraus in der bekannten Weise ein knäuelartig gewundenes Band, das sich zuletzt in zwei grosse und relativ dicke winkelig gebogene Schleifen theilt (Fig. 75, C 'u. D1 ehr). Zugleich hat sich auch ein Kerntheilungs -Apparat in dem Raum zwischen den beiden Kernen, dem sog. weiblichen und männ- lichen »Vor kern« (tfk, Qfc) entwickelt, zwei Centrosphären werden Ö 26 Der Befruchtungsvorgang. sichtbar [cspli], die zuerst nahe beisammen liegen, dann aber weiter auseinander rücken (D), um die Pole einer Kernspindel zu bilden, in deren Äquatorialebene nun die zwei Mal zwei Chromosomen des männ- lichen und weiblichen Vorkerns eintreten (E). Die Kernmembranen schwinden, und beide Kerne verschmelzen zusammen zu einem Kern: dem Furchungskern (D). Es bildet sich nun eine Theilungsspindel, die die erste embryonale Zelltheilung einleitet (E) und damit zugleich den Beginn der »Furchung« des Eies; jede der vier Kernschleifen spaltet sich der Länge nach, und je eine der Spalthälften wandert nach dem einen, die andere nach dem anderen Tochterkern (E). Da sich nun diese selbe Art der Vertheilung der Chromatinsubstanz bei jeder folgenden Zelltheilung der Embryogenese, überhaupt der ganzen Ontogenese, wiederholt, so ergibt sich daraus, dass die Befruchtung den Erfolg hat, dass in dem neuen, aus dem Ei sich entwickelnden Thier in allen Zellen seines Körpers gleich viel Chromatin väterlichen wie mütterlichen Ursprungs enthalten ist. Wenn wir mit Recht die Chromatinsubstanz als Vererbungssubstanz be- trachten, so leuchtet sofort ein, von welcher Tragweite diese gleich- massige Vertheilung ist, denn sie sagt uns, dass der sog. Befruch- tungsvorgang, die Verbindung des gleichen Quantums väterlicher und mütterlicher Vererbungssubstanz ist. Wir kennen heute den Befruchtungs- Vorgang in allen seinen Einzel- heiten bei einer grossen Zahl von Thieren aus den verschiedensten systematischen Gruppen; er ist im Wesentlichen überall derselbe; überall ist es nur eine Samenzelle, welche normalerweise die Ver- bindung mit dem Eikern eingeht, überall bildet sich aus dem Kern der Samenzelle, mag er anfänglich noch so winzig sein, ein nahezu oder genau dem Eikern gleichgrosser Kern, und überall enthält der- selbe die gleiche Zahl von Chromosomen, wie der Eikern. Von ganz besonderem Interesse aber ist der Umstand, dass diese Zahl immer die Hälfte von der Chromosomen-Zahl ist, welche die Kör- perzellen des betreffenden Thieres aufweisen, und dass die Herabsetzung der Chromosomen-Ziffer auf die Hälfte bei männlichen wie weiblichen Keimzellen durch die letzten Theilungen bewirkt wird, welche dem Reifezustand dieser Zellen vorhergehen. Bei dem Ei sind dies die Richtungstheilungen, die wir deshalb noch einmal ins Auge fassen müssen und zwar speziell in Bezug auf die Zahl der Chromosomen. Wir sahen, dass im ausgewachsenen Ei des Ovariums das Keim- bläschen an die Oberfläche steigt und sich dort in die erste Rieh- Reifetheilungen der Eizelle. O2/ tungsspindel umwandelt. Diese nun zeigt in ihrer Äquatorialebene die doppelte der für die betreffende Art normalen Zahl der Chromosomen. Diese Verdoppelung- ist nicht etwa gerade jetzt unmittelbar vor der Kerntheilung erfolgt, sondern viel früher in der noch jungen Eimutterzelle, und nur in dieser zeitlichen Verschiebung des Spaltungsprozesses der Chromosomen liegt etwas Ungewöhnliches. Red.E Fig. 76. Schema der Reifetheilungen der Eizelle. A Urkeimzelle. B Ei-Mutter- zelle, durch Wachsthum und Verdoppelung ihrer Chromosomen entstanden. C Erste Reifeth eilung. D unmittelbar nachher, Rkl erste Richtungszelle. E Die zweite Reife- spindel gebildet, die erste Richtungszelle in zwei getheilt (2 u. 3), die vier im Ei zurückgebliebenen Chromosomen liegen in der zweiten Richtungsspindel. F Unmittel- bar nach der zweiten Reifetheilung: / die fertige Eizelle, 2, 3 u. 4 die drei Richtungs- zellen, jede der vier Zellen je zwei Chromosomen enthaltend. Die erste Reifungstheilung selbst erfolgt trotzdem nach dem gewöhn- lichen Schema der Kerntheilung, sie ist, wie ich mich ausdrückte, eine » Aquationstheilung« , d. h. die Tochterkerne bekommen wieder dieselbe Zahl von Chromosomen, welche auch die Mutterzelle ursprünglich gehabt hat, nämlich die Normalziffer der Art. Wenn also die junge Mutter-Eizelle vier Chromosomen hatte (Fig. 76, Ä), so verdoppelt sich zwar deren Zahl schon früh auf acht (B), aber die •^ 2 8 Der Befruchtungsvorgang. erste Reifungstheilung führt jedem der beiden Tochterkerne wieder vier zu [C \x. D). Bei der zweiten Reifungstheilung verhält sich dies anders, indem hier eine Spaltung und Verdopplung der Chromo- somenzahl überhaupt nicht eintritt, sondern die vorhandene Zahl der Chromosomen durch Vertheilung auf die beiden Tochter- kerne in jedem derselben auf die Hälfte reducirt wird Ew. F. Aus diesem Grund habe ich sie eine »Reduktionstheilung« ge- nannt; in unserem Beispiel würde also das Ei sowohl, als die zweite Richtungszelle nur noch zwei Chromosomen enthalten (Fig. 76, F). Auf die Einzelheiten des Vorgangs kann ich hier nicht eingehen, wo nur das Wesentliche, nicht das Einzelne, gewissermassen Zufällige besprochen werden soll, wohl aber muss ich hervorheben, dass der- selbe Vorgang der Reduktion der Chromosomenzahl in dieser oder doch in ähnlicher Weise bei dem Ei aller Thiere vorkommt und auch für die meisten Hauptgruppen des Pflanzenreichs nach- gewiesen werden konnte. Mag es auch sein, was von manchen Seiten behauptet wird, dass die Reduktion nicht immer erst durch die »Reifungstheilungen« erfolgt, sondern in manchen Fällen schon früher, in der Ureizelle1, so ist doch soviel sicher, dass die zur »Befruch- tung« zusammentreffenden Kerne nur die Hälfte der Normalziffer der Chromosomen enthalten, und zwar nicht nur der Eikern, son- dern auch der Spermakern. Fussend auf allgemeinen Erwägungen, vor Allem auf der An- schauung, welche in den Chromosomen die Vererbungssubstanz sieht, hatte ich schon vor vollkommner Erkenntniss der Reifungserscheinungen des Eies, den Schluss gezogen, dass hier eine Herabsetzung der Chromosomenzahl auf die Hälfte stattfinden müsse und eine ähnliche »Reduktionstheilung« auch für die Samenzelle, ferner wie für die Thiere, so auch für die Pflanzen, ja überhaupt für alle geschlechtlich sich fortpflanzenden Lebensformen postulirt. Für die Samenzelle wurden dann die beiden der Richtungskörper-Bildung entsprechenden Theilungen nebst ihrer Reduktion der Chromosomen durch OSCAR HERTWIG nachgewiesen, und zwar an dem für die ganze Befruch- tungslehre so bedeutungsvollen Pferde-Spulwurm, Ascaris megalo- cephala. Allerdings tritt gerade hier der Gang der Reduktions- erscheinungen weniger unzweideutig hervor, als bei anderen, später untersuchten Formen, z. B. bei der Maulwurfsgrylle und den Wanzen. Hier Hess sich aber jedenfalls eine völlig entsprechende Reduktions- Siehe die Besprechung dieses Punktes in Vortrag XXII. Reifetheilungen der Samenzelle. 3^9 theilung nachweisen, wie bei der Eizelle, und dieser Nachweis wurde dadurch noch besonders werthvoll, dass die Entwicklung der Samen- zelle, wie Sie gleich sehen werden, ein ganz neues Licht auf diejenige der Eizelle wirft, vor Allem auf die phyletische Bedeutung der Rich- tungskörper. Wir begannen die Betrachtung der Reduktionsvorgänge mit der ausgewachsenen Eizelle, gehen wir aber jetzt zurück bis auf die erste Anlage des Eierstocks im Embryo, so besteht derselbe aus einer Ureizelle, aus der alle späteren Eizellen durch Theilung hervorgehen. Ebenso wird die erste Anlage des Spermariums durch eine Ursamen- zelle gebildet, die sich von der Ureizelle sichtbarlich nicht unterscheidet. Beide nun vermehren sich durch Theilung eine geraume Zeit hin- durch, worauf dann beim Ovarium die Periode des Wachsthums folgt, während welcher die Vermehrung aufhört, aber jede der Eizellen bedeutend grösser wird und Dotter in sich ablagert. So erreicht jede von ihnen schliesslich den Zustand, von dem wir vorhin aus- gingen, den der herangewachsenen Ei-Mutterzelle. Wenn nun auch die Ursamenzellen ein so gewaltiges Wachsthum, wie die Eizellen nicht durchmachen, so besitzen doch auch sie eine Wachsthumsperiode, während deren eine weitere Vermehrung durch Theilung aufhört, und die Zellen nur an Grösse zunehmen (Fig. 77, Ä). Wenn sie dann ihr Maximum an Grösse erreicht haben, zeigt sich auch die Zahl der Chromosomen durch Längsspaltung aufs Doppelte vermehrt, so in dem Schema Fig. 77, B von vier auf acht. Von diesen »Samen-Mutterzellen« nun entspringen durch zwei rasch aufeinander folgende Theilungen [C — F) vier Samenzellen, und es vollzieht sich dabei dieselbe Reduktion der Chromosomenzahl auf die Hälfte, wie bei den Richtungstheilungen der Eizelle; bei der ersten Theilung gelangen vier Chromosomen in jede Tochterzelle (D), bei der zweiten deren zwei (F). Der einzige wesentliche Unterschied zwischen den entsprechenden Vorgängen beim Ei und der Samen- zelle liegt nur darin, dass die Theilungen der sog. Spermatocyten oder Samen-Mutterzellen gleiche sind, so dass also vier gleich grosse Enkelzellen daraus hervorgehen, während bei den Ei-Mutterzellen oder »Ovocyten« die Theilungen sehr ungleich sind; bei Ersteren besteht das Resultat der Theilungen in vier befruchtungsfähigen Samenzellen, bei den Letzteren in einer befruchtungsfähigen Eizelle und drei winzigen »Richtungszellen«, welche unfähig sind, sich mit einer Samenzelle zu verbinden und ein neues Individuum hervorzubringen. Es leidet also keinen Zweifel, dass die Richtungszellen, wie es 33° Der Befrachtungsvorgang. MARK und BÜTSCHLI schon längst vermuthet hatten, abortive Ei- zellen sind, d. h. dass in weit zurückliegender Zeit der Entwicklung des Thierstamms jede der vier Nachkommen einer Mutter-Eizelle zur entwicklungsfähigen Keimzelle wurde. Es ist auch unschwer zu er- rathen, dass die ungleiche Theilung, welche heute zu einer ganz ungenügenden Kleinheit dreier dieser Abkömmlinge führt, Hand in Hand mit der immer mehr gesteigerten Grösse der reifen Eizelle sich HedE Fig. 77. Schema der Reife theilungen der Samenzelle. A Ursamenzelle. B Muttersamenzelle. C Erste Reifetheilung. D 1 11. 2 Die beiden Tochterzellen. E Die zweite Reifetheilung, durch welche die vier Zellen von F entstehen, jede mit der halben Zahl der Chromosomen, nämlich zwei. Frei nach 0. Hertwig. ausbildete und ihren Grund darin hatte, dass es vor Allem darauf ankam, möglichst viel Protoplasma und Dotter im Ei aufzuhäufen. Wir haben ja früher gesehen, dass dazu in vielen Fällen sogar die Auflösung eines Theils der Schwesterzellen des Eies in Anspruch genommen wird, dass das Ei von nährenden Follikelzellen eingehüllt wird, kurz dass demselben auf jede denkbare Weise Nahrung in grösstmöglicher Menge zugeleitet und es dadurch zu einer Grösse emporgeführt wird, wie sie eine einzelne Zelle bei der gewöhnlichen Ernährung vom Blut aus nicht erreichen könnte. Wir begreifen also, dass die Natur — ■ um mich bildlich auszudrücken - - womöglich ihr Werk nicht wieder zerstören wollte, indem sie das auf allerhand Reifetheilungen. 'i T. I Schleichwegen in der Mutter-Eizelle glücklich angehäufte Nährmaterial zuletzt dann doch noch auf vier Eier vertheilte. Sie werden mir aber die Frage entgegenhalten: Warum denn diese ganz überflüssigen Zelltheilungen bis heute noch beibehalten, warum sie nicht längst aufgegeben worden sind, wenn sie doch nur zur Bildung dreier dem Untergang bestimmter Abortiveier führen konnten oder sollten? Oder sind sie nur noch »Rudimente«, Vor- gänge, die bedeutungslos an und für sich, gewissermassen nur noch nach dem Prinzip der Trägheit sich erhalten? Gewiss besitzt dieses Prinzip auch in der lebenden Natur in gewissem Sinn und Umfang seine Gültigkeit; ein Vorgang, der sich durch lange Reihen von Generationen hindurch regelmässig wiederholt hat, hört nicht sofort auf, sich abzuspielen, wenn er für den betreffenden Organismus keinen Nutzen mehr hat; das Auge der Thiere, die in lichtlose Tiefen aus- gewandert sind, schwindet nicht sofort und spurlos, sondern es bildet sich nur sehr allmälig, erst im Laufe langer Generationsfolgen zurück, und so konnte man wohl die Ansicht vertheidigen, dass diese »Rich- tungs-oder Reifetheilungen des Eies« reine phyletische Reminis- cenzen ohne aktuelle Bedeutung seien. Ich kann aber dieser Meinung nicht beitreten. Wäre es wirklich so, dann müssten wir erwarten, dass die Bildung der Richtungszellen nicht überall in nahezu der gleichen Weise heute noch erfolgte, denn alle rudimentären Theile und Vorgänge variiren stark; wir müssten erwarten, dass bei manchen Thiergruppen Richtungstheilungen nicht mehr, oder vielleicht nur in halber Zahl vorkämen. Dem ist aber nicht so; bei allen Vielzelligen, von den niedersten bis zu den höch- sten treten zwei Reifetheilungen auf und immer in nahezu derselben Weise mit Ausnahme einer einzigen Categorie von Eiern, auf die ich sogleich zu sprechen komme. Wir werden später sehen, dass sogar bei den Einzelligen analoge Vorgänge beobachtet wurden. Es lässt sich aber auch verstehen, dass diese zweimalige Theilung der Ei-Mutterzelle nothwendig ist, falls nämlich nur durch sie die Herabsetzung der Chromosomenzahl auf die Hälfte möglich war, denn diese Herabsetzung ist unerlässlich. Enthielte jede der beiden kopulirenden Keimzellen die volle Normalzahl der Chromo- somen, so würde im Furchungskern die doppelte Zahl enthalten sein, und ginge das so fort, so müsste die Zahl der Chromosomen von Generation zu Generation in arithmetischer Proportion zunehmen und bald ganz ins Ungeheure wachsen. Wären wir auch sonst nicht sicher darüber, dass diese Chromosomen Einheiten bleibender Natur Weismann, Descendenztheorie. 21 i 2 2 Der Befrachtungsvorgang. sind, die nur scheinbar im Kernnetz des ruhenden Kerns sich auf- lösen, in Wahrheit aber bestehen bleiben, so müsste uns die That- sache der Reduktion darauf hinweisen. Denn wären sie keine blei- benden und voneinander verschiedene Bildungen, und hinge ihre Zahl nur von der Gesammtmenge des Chromatins ab, welches ein Kern enthält, so brauchte diese ja beim Heranwachsen der Ei- und Samen- zellen nur langsamer zu wachsen, als der Zellkörper und die übrigen Theile der Zelle, damit die Zahl der Chromosomen herabgesetzt würde. Daraus aber, dass dies nicht in so einfacher Weise erfolgt, sondern bei den Samen- und befruchtungsbedürftigen Eizellen aller Thiere durch Zelltheilung und einen besonderen spezifischen Modus der Kerntheilung, dürfen wir schliessen, dass es nicht anders geschehen kann, dass Chromosomen nicht blosse Anhäu- fungen von Chromatinsubstanz sind, sondern Organe, deren Zahl nur dadurch verringert werden kann, dass ein Theil von ihnen aus der Zelle hinausgeschafft wird. Nun gibt es freilich Eier, bei welchen der Vorgang der Reduk- tionstheilung nicht in der eben beschriebenen Weise verläuft, aber gerade diese Ausnahmen bestätigen unsere Ansicht von der redu- cirenden Bedeutung der Richtungstheilungen und der Beibehaltung derselben behufs dieser nothwendigen Reducirung. Schon seit der Mitte des XIX. Jahrhunderts wissen wir, dass bei manchen Thieren die Eier sich auch ohne Befruchtung entwickeln. Diese Fortpflanzung mittelst »Parthenogenese« wurde zuerst mit Sicherheit von dem deutschen Bienenwirth DziERZON 1845 festgestellt und dann durch RUDOLPH LEUCKART und C. Th. VON SlEBOLD wissenschaftlich bestätigt. Zuerst blos bei wenigen Gruppen des Thierreichs beobachtet, bei Bienen und einigen Nachtfaltern (Psychiden und Tineiden), stellte es sich im Laufe der Jahre immer mehr heraus, dass diese »Jungfernzeugung« (Parthenogenese) eine durchaus nicht seltene Form der Fortpflanzung ist, und dass sie regelmässig und normalerweise besonders in dem grossen Thierkreis der Glieder- thiere in den verschiedensten Gruppen vorkommt. So findet sie sich unter den Insekten bei gewissen Blattwespen, Gallwespen, Schlupf- wespen, bei den Honigbienen und den gewöhnlichen Wespen vor, und ist besonders verbreitet bei den Blattläusen und Rindenläusen (Phylloxera, Reblaus), deren enorme Vermehrung in kürzester Zeit eben mit darauf beruht, dass alle Generationen des Jahres mit Aus- nahme einer einzigen nur aus Weibchen mit parthenogenetischer Fortpflanzungsweise bestehen. Reifetheilungen. 333 Unter niederen Krustern (Crustaceen) spielt die Parthenogenese ebenfalls eine grosse Rolle und tritt bei einigen Arten sogar als die einzige Art der Fortpflanzung auf, meist aber — wie das auch bei den Insekten am häufigsten der Fall ist — abwechselnd mit zwei- geschlechtlicher Fortpflanzung. Denn Parthenogenese darf nicht als eine u n geschlechtliche Fortpflanzung aufgefasst werden, sondern als eine eingeschlechtliche, d. h. als eine solche, die zwar von ge- schlechtlich differenzirten Individuen (Weibchen) und von Keimzellen (wirklichen Eiern) ausgeht, aber nur von den Individuen des einen Ge- schlechtes vermittelt wird, von den Weibchen. Diese Eier emanzipiren sich gewissermassen von dem früher für ausnahmslos gehaltenen Ge- setz dass ein Ei stets der Befruchtung bedürfe, um sich zu entwickeln. Das ist keineswegs der Fall, und bei der kleinen Ordnung der Wasserflöhe (Daphniden) gibt es sogar zweierlei Eier, die schon früher angeführten Sommer- und Wintereier, die von den gleichen Weibchen hervorgebracht werden, und von welchen die Ersteren immer ohne Befruchtung sich entwickeln, während die Letzteren der Befruchtung bedürfen, um sich entwickeln zu können. Es war nun offenbar von Bedeutung, zu erfahren, wie es sich bei parthenogenetischen Eiern mit den Reifetheilungen verhalte, ob auch hier drei, beziehungsweise zwei * Richtungskörper« gebildet werden, und ob durch die zweite Richtungstheilung auch hier die Zahl der Chromosomen auf die Hälfte herabgesetzt wird. War die vorher entwickelte Ansicht von der Bedeutung des Chromatins und besonders von der reduzirenden Wirkung der zweiten Reifetheilung richtig, so musste bei Eiern, die auf Parthenogenese eingerichtet sind, die zweite Theilung ausgefallen sein, anderenfalls würde die Zahl der Chromo- somen sich in jeder Generation um die Hälfte vermindern, sehr bald also ganz schwinden, oder auf Eins herabsinken müssen. Es gelang mir denn auch, zuerst an einer Daphnide, Polyphemus, festzustellen, dass hier die zweite Richtungstheilung unterbleibt, und dass nur ein Richtungskörper gebildet wird. Dasselbe fand Blochmann bei den parthenogenetischen Eiern der Blattläuse oder Aphiden, deren befruchtungsbedürftige Eier, ganz wie auch die Wintereier der Daphniden zwei Richtungstheilungen aufwiesen. Damit war denn festgestellt, dass wenigstens diese, ganz auf Parthenogenese eingerichteten Eier der Blattläuse und Daphniden die volle Zahl der Chromosomen ihrer Art beibehalten, so wie das Schema Fig. 78 es darstellt. Die Richtungstheilungen sind bei der Einführung der Parthenogenese auf eine einzige beschränkt worden, und dass dies 21* 334 Der Befruchtungsvorgang. geschehen konnte, berechtigt uns zu dem Rückschluss, dass es auch bei den befruchtungsbedürftigen Eiern hätte geschehen können, wenn es nothwendig oder auch nur zulässig gewesen wäre; die Rich- tunestheilungen sind also keine blossen »rudimentären« Vor- o-än^e, sondern sie haben eine Bedeutung und zwar die der Reduzirung der Chromosomenzahl. Doch muss ich hier eine Einschränkung machen: nicht bei allen parthenogenetischen Eiern verläuft die Reifung ohne zweite Richtungs- theilung. Zuerst wurde dies an dem Salzwasser -Krebschen, der Artemia salina bemerkt. Wohl wird auch hier nur ein Richtungs- körper gebildet, und die Zahl der Chromosomen bleibt die normale, Fig. 78. Schema der Reifung eines für Parthenogenese bestimmten Eies (es sind nur vier Chromosomen als Normalzahl der Art angenommen. Uei Ureizelle, MEiz Mutter- eizelle (mit doppelter Chromosomenzahl), Eiz Eizelle nach Abtrennung des ersten und einzigen Richtungskörpers. wie ich an einem spärlichen Material von Eiern zeigen konnte, allein nach den an reichlicherem Material angestellten Untersuchungen von BRAUER unterbleibt zwar allerdings in der Mehrzahl der Eier die zweite Richtungstheilung, es wird auch niemals ein äusserlich her- vortretender zweiter Richtungskörper gebildet, aber in einzelnen Eiern erfolgt nichtsdestoweniger die zweite Richtungstheilung. Die beiden dadurch entstehenden Tochterkerne vereinigen sich jedoch unmittelbar nach ihrer Trennung wieder zu einem Kern, der nun als Furchungs- kern funktionirt. Natürlich enthält er wieder die volle Zahl der Chromosomen, nämlich zweimal 84 = 168. Bei Artemia hat sich also die Einrichtung der Eier für partheno- genetische Entwicklung noch nicht vollkommen festgesetzt, und die gänzliche Beseitigung der zweiten Richtungstheilung scheint phyletisch derart angestrebt zu werden, dass zuerst die Theilung zwar noch vollzogen, aber gleich darauf wieder rückgängig gemacht wird. Parthenogenese der Bienen. -2 ^ C Noch anders verhält es sich bei den Bienen. Hier besitzt das Weibchen, die sog. Bienenkönigin, eine geräumige Samentasche, in welcher der bei der Begattung aufgenommene Same Jahre lang lebendig bleibt, und die Befruchtung eines Eies geschieht wie ge- wöhnlich bei den Insekten von dieser Tasche aus, während das Ei vom Eierstock kommend durch den Eileiter hindurchgleitet. Das Thier hat es nun in seiner Macht, einige Samenfäden aus seiner Samentasche austreten zu lassen, oder nicht, und dementsprechend also das Ei zu befruchten, oder aber nicht. Seit den denkwürdigen Beobachtungen DziERZON's und den darauf folgenden Untersuchungen V. SlEBOLD's und LEUCKART's nimmt man an, dass nur diejenigen Eier befruchtet werden, welche in die für Aufzucht von Weibchen (Arbeiterinnen oder Königinnen) bestimmten Zellen des Bienenstocks abgelegt werden, dass aber die Eier, aus welchen »Drohnen«, d. h. Männchen kommen sollen, regelmässig unbefruchtet bleiben. Erst in dem letzten Jahrzehnt des abgelaufenen Jahrhunderts hat man von Seiten der Bienenzüchter angefangen, an dieser sog. »DziERZON'schen Theorie« zu zweifeln: verschiedene heftige und hartnäckige Angriffe auf dieselbe sind sich gefolgt, gestützt von neuen und scheinbar beweisenden Experimenten. Besonders Lehrer DiCKEL in Darmstadt versuchte, die alte Lehre zu stürzen, indem er vor Allem auch darauf hinwies, dass die alten Untersuchungen V. SlEBOLD's an Bienen-Eiern keine beweisende Kraft hätten. V. SlEBOLD hatte die Eier frisch aus dem Bienenstock kommend untersucht und war nie im Stande ge- wesen, in »Drohneneiern« (d. h. Eiern, die in Drohnenzellen abgelegt worden waren, aus denen also Männchen kommen sollten) Samen- fäden zu finden, während er in Arbeiterinnen-Eiern häufig einen bis vier Samenfäden nachweisen konnte. Er hatte aber nur Drohnen-Eier untersucht, die schon zwölf Stunden alt waren, und in diesen hätte er, wie wir heute wissen, in keinem Falle Samenfäden finden können, auch wenn sie befruchtet gewesen wären, weil in so alten Eiern die Bildung des Embryo bereits in vollem Gange, und von Samenfäden Nichts mehr vorhanden ist. Wandelt sich doch bei der Biene, nach von Buttel-Reepen der befruchtende Samenfaden schon zwanzig Minuten nach seinem Eindringen ins Ei in den selbst auf Schnitten fast unsichtbar kleinen »Spermakern« um, von dem nach der alten Untersuchungs-Methode mittelst Quetschung des frischen Eies allerdings Nichts gesehen werden konnte. Man musste deshalb zugeben, dass die DziERZON'sche Lehre in der That auf unsicherem Boden ruhte, und ich veranlasste deshalb 336 Der Befruchtungsvorgang. meine damaligen Schüler Dr. PäULCKE und Dr. PETRUNKEWITSCH die Bieneneier von Neuem, und mit den inzwischen so ausserordent- lich verbesserten Methoden auf die betreffenden Punkte zu unter- suchen, und diese Untersuchungen, die in den letzten drei Jahren auf dem Freiburger Institut ausgeführt wurden, haben die volle Richtig- keit der DziERZON'schen Lehre ergeben: die Drohneneier bleiben wirklich unbefruchtet, während die Eier, aus welchen weibliche Thiere sich entwickeln sollen, alle ohne Ausnahme befruchtet sind. Hier sind es also dieselben Eier, welche befruchtet werden können oder auch nicht, und wel- -Ki che im letzteren Falle sich durch Parthenogenese ent- wickeln, und hier wäre es natürlich von ganz beson- derem Interesse, zu wissen, wie es mit den Richtungs- theilungen und der Reduk- tion der Chromosomen steht. Die Untersuchungen Herrn Dr. PETRUNKE- WITSCH's haben nun er- geben , dass in beiden Fällen , beim Eindringen eines Spermafadens, wie beim Ausbleiben desselben eine zweimalige Theilung des Kernmaterials im Ei stattfindet, dass auch die beiden Tochterkerne, welche aus der zweiten Theilung hervorgehen, nicht etwa, wie es nach BRAUER bei Artemia zuweilen geschehen soll, nachträglich sich wieder ver- einigen, sondern dass sie getrennt bleiben, und dass die Zahl der Chromosomen — es sind ihrer sechszehn — dadurch im Fur- chun^skern auf die Hälfte reduzirt wird. Allein dabei bleibt es nicht, sondern bevor noch die Embryonalbildung begonnen hat, bemerkt man im Furchungskern wieder die Normalzahl; die Chromosomen müssen sich also durch Theilung innerhalb des Kerns verdoppelt haben. Ähnlich möchte es sich wohl auch in den Fällen ausnahms- Fig- 79- Die zwei Reifetheilungen des männlichen (unbefruchteten) Bieneneies nach PETRUNKEWITSCH. Rsp i erste Richtungsspindel, Kl und K~2 die zwei Tochterkerne derselben, Rsp 2 zweite Richtungs- spindel, Ä'j lind K 4 die zwei Tochterkerne der- selben. Im folgenden Stadium verbinden sich K~2 und K zum Ur-Geschlechtskern. Vergrosserung. Starke Ausnahmsweise Parthenogenese. 337 weiser Parthenogenese verhalten, wie sie schon seit lange bekannt aber auf diese Punkte noch nicht hinreichend untersucht sind. Ich darf sie trotzdem nicht übergehen, weil sie nach einer anderen Seite hin lehrreich sind. Bei manchen Spinnern und Sphingiden, vor Allem beim Seidenspinner, Bombyx mori, bei Liparis dispar und gar manchen anderen Arten von Schmetterlingen kommt es zuweilen vor, dass aus einer grossen Zahl unbefruchtet gebliebener Eier einzelne sich ent- wickeln und Räupchen ausschlüpfen lassen. Ist das schon interessant genug, so gewinnt es durch neuere Untersuchungen des russischen Forschers Tichomiroff erhöhte Bedeutung dadurch, dass es diesem gelang, durch starkes Reiben der Eier mit einer Bürste, oder auch durch kurzes Eintauchen derselben in konzentrirte Schwefelsäure die Zahl der sich entwickelnden unbefruchteten Eier bedeutend zu ver- mehren. Man kann also Eier, die unter gewöhnlichen Umständen sich nicht ohne Befruchtung entwickelt haben würden, durch mecha- nische oder chemische Reize zur parthenogenetischen Entwicklung fähig machen. Das klingt fast unglaublich, ist aber nicht zu be- zweifeln und wird dadurch noch bestätigt, dass es J. LoEB geglückt ist, auch die Eier eines Seeigels durch chemische Reize zu partheno- genetischer Entwicklung zu bringen. Setzte er dem Seewasser, in welches diese Eier gelegt waren, eine bestimmte Menge Chlor- Magnesium zu, so entwickelten sich dieselben und durchliefen nicht nur die Furchung, sondern bildeten sich bis zu den sonderbaren staffeleiförmigen Pluteus-Larven weiter aus. In allerneuester Zeit hat dann Hans Winkler noch die interessante Beobachtung gemacht, dass sich aus dem durch Hitze getödteten Sperma des Seeigels ein Stoff mittelst Wasser ausziehen lässt, der im Stande ist, unbefruchtete Seeigeleier zur Entwicklung anzuregen, wenn auch nur bis zum Sechszehn-Zellenstadium. Aus allen diesen Ergebnissen lässt sich jedenfalls soviel schliessen, dass es chemische Umsetzungen und Einwirkungen sind, welche das reife Ei zum Eintritt in die Embryonalentwicklung bestimmen, und dass diese Einwirkungen recht verschiedener Natur sein können. Ich werde später noch einmal auf diese bedeutungsvollen Thatsachen zurückkommen. Überblicken wir jetzt die bisher vorgeführten Thatsachen in Bezug auf die Reduktion der Chromosomenzahl, so geht aus ihnen hervor, dass die Natur danach strebt, diese Zahl bei jeder Art festzuhalten, dass sie dieselbe in Keimzellen, die zur Amphimixis bestimmt sind -> ^8 Der Befruchtungsvorgang. auf die Hälfte herabsetzt, dass sie aber diese Halbirung der Zahl unterdrückt, wo die Befruchtung regelmässig in Wegfall kommt, oder doch, dass sie die Herabsetzung auf die Hälfte' auf verschiedene Weise wieder gut macht, sei es durch nachträgliche Verschmelzung der beiden Tochterkerne, die aus der Reduktionstheilung hervorgehen, oder durch selbstständige Verdoppelung der Chromosomen des Fur- chungskerns. Man könnte aus alledem vielleicht zu schliessen geneigt sein, dass von dem Vorhandensein der normalen Zahl von Chromosomen das Eintreten der Entwicklung abhinge; ich selbst habe dies früher für möglich gehalten. Seitdem aber sind Thatsachen hervorgetreten, welche diese Auffassung ausschliessen. Vor Allem wissen wir jetzt, dass jede Kerntheilung bedingt wird durch die Anwesenheit eines Theilungsapparates, einer Centrosphäre, dass aber dieses Organ in den Eiern der meisten Thiere rückgebildet wird und gänzlich verloren geht nach Vollendung der zweiten Richtungstheilung. Das reife Ei ist dann also allein für sich unfähig, in Embryonalentwicklung zu treten, ganz einerlei, wieviele Chromosomen sein Kern enthält: es wird erst dadurch zu weiteren Theilungen fähig, dass die befruchtende Samenzelle ihren Theilungsapparat , die Centrosphäre mitbringt. Bei fadenförmigen Samenzellen liegt diese Letztere im Mittelstück (Fig. 68 C), und nach Auflösung des Schwanzstücks, welche kurze Zeit nach dem Eindringen ins Ei erfolgt, erkennt man das anfänglich noch kleine Central- körperchen vor dem Spermakern, das sich dann bald zur Strahlen- sonne umgestaltet und sich in zwei theilt. Dann rücken die beiden Sonnen auseinander (Fig. 75 D, p. 224) und bilden durch Zusammen- stossen ihrer Strahlen die Kernspindel [E,fsp) zwischen sich. Von dieser geht dann die Theilung der Eizelle in die beiden ersten Embryonalzellen aus (F). Die beiden Vorkerne im Ei, der männliche und der weibliche, sind also sowohl in Bezug auf ihre Chromosomenzahl, als — häufig wenigstens — auch in Grösse und Aussehen völlig gleich (Fig. 75 C), aber sie unterscheiden sich durch den Besitz oder den Mangel eines Theilungsapparates, und in der grossen Mehrzahl der Fälle ist es der männliche Kern, der das für die Embryonal -Entwicklung unentbehrliche Central- körperchen mit sich führt (£, cspf). Bis jetzt wenigstens sind davon nur zwei Ausnahmen bekannt geworden. WHEELER sah bei dem auf Seelilien schmarotzenden Ringelwurm Myzostoma das Ei auch nach den Reifungstheilungen noch sein Centralkörperchen beibehalten, Gleichheit von Samen- und Eizelle. o 1 r\ oö9 während die ins Ei eingedrungene Samenzelle desselben entbehrte. In jüngster Zeit machte dann Conklin noch die interessante Ent- deckung, dass in dem Ei einer Seeschnecke (Crepidula) sowohl der Eikern als der Samenkern ihre Centrosphäre behalten und gemein- schaftlich die Furchungsspindel bilden, die eine Sphäre diesen, die andere den entgegengesetzten Pol derselben. Alle diese Beobachtungen bestätigen die Ansicht von der prin- zipiellen Gleichheit von Samen- und Eizellen auch nach >5«"i;?:*-«^°^ W^^wk IAO >-°a^°n n*La « ^ ' ".' •A,<7.bl*oi:*i|,iT"'>"» ^ Fig. 8o. Befruchtung des Eies einer Schnecke Physa) nach Kostanecki und Wier- zejski. A Das ganze Spermatozoon liegt im Ei; bei sp seine bereits getheilte Centro- sphäre. Rk i erster Richtungskörper, Rsp2 zweite Richtungsspindel. B spk Sperma- kern, die zweite Richtungsspindel besitzt noch ihre Centrosphäre, die später schwindet. Erster Richtungskörper in zwei getheilt. Starke Vergrösserung. dieser Richtung hin. Jede von beiden kann unter Umständen den zur Entwicklung unentbehrlichen Theilungsapparat mit sich führen, wenn auch für gewöhnlich nur die Spermazelle es thut. Ich würde allerdings auch dann keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Samen- und Eizellen annehmen, wenn es keine Ausnahme von dieser Regel gäbe, wenn also in allen Eiern, welche befruchtet wyerden, das Centralkörperchen des Eies zu Grunde ginge. Denn dies ist ja offenbar eine sekundäre Einrichtung, eine Anpassung an die Be- fruchtung; das Ei soll ohne Befruchtung entwicklungsunfähig "3/10 Der Befruchtungsvorgang. sein, und das wird es durch Zugrundegehen des Centralkorperchens. In allen anderen Zellen erhält sich, soviel bekannt, das Centralkörperchen nach der Theilung, so dass sich also dieses merkwürdige Zellorgan gerade wie der Kern selbst von Zelle zu Zelle weiter forterbt, wie dieser aber niemals neu entsteht. Nur in der Eizelle schwindet es, wenn auch oft erst spät, so dass es als strahlende Sonne noch vor- handen sein kann, während die Samenzelle bereits ins Ei eingedrungen ist und ihr eigenes Centralkörperchen zur Entfaltung, ja sogar schon zur Zweitheilung gebracht hat (Fig. 80 A u. B). Es schwindet dann aber doch, sobald die zweite Richtungstheilung vollendet ist. Dass dieses Schwinden wirklich eine sekundäre Einrichtung ist, die auch weiter rückgängig gemacht werden kann, beweisen die Eier, welche die Fähigkeit besitzen, sich parthenogenetisch zu entwickeln, denn bei ihnen schwindet das Centralkörperchen nicht, wie BRAUER für Artemia nachweisen konnte, bleibt vielmehr nach der ersten Richtungstheilung im Ei bestehen und verhält sich nun ganz so, wie die Sphäre des Spermakernes beim befruchteten Ei, d. h. es verdoppelt sich und bildet die Furchungsspindel. Das Eintreten des Eies in Embryonalentwicklung hängt also nicht an einer bestimmten Zahl von Chromosomen, sondern an der Anwesenheit eines Theilungsapparates. Wovon es dann weiter abhängt, dass dieser gerade jetzt in Thätigkeit tritt, das freilich lässt sich zunächst nicht genauer angeben; wir können nur darauf hindeuten, dass alle Theile der Zelle in Wechsel- beziehung zu einander stehen, dass also auch der Theilungsapparat in Abhängigkeit stehen wird vom augenblicklichen Zustand der übrigen Zelltheile und den Stoffen, die sie enthalten oder hervorbringen. Nach den Erfahrungen über künstliche Parthenogenesis liegt der Ge- danke nicht fern, dass irgend welche chemische Stoffe dazu gehören, um das Centralkörperchen zur Thätigkeit auszulösen. Jedenfalls hängt die ganze Ernährung des Centralkorperchens von der Zelle ab, in der es liegt, was schon durch den Spermakern bestätigt wird, dessen Centralkörperchen vor seinem Eindringen ins Ei inaktiv und kaum erkennbar war, nach dem Eindringen aber sich rasch vergrössert und eine mächtige Strahlenzone um sich bildet, also in hohem Grade aktiv wird (Fig. 80). Insofern die Chromosomen jedenfalls eine bedeu- tende Rolle im Leben der Zelle spielen, und die Zustände derselben wesentlich mit bestimmen, kann nicht in Abrede gestellt werden, dass auch sie mitbetheiligt sind an dem Aktivwerden des Central- korperchens, jedenfalls aber nur indirekt, nicht in der Weise, dass Befruchtung bei Thieren. 341 die blosse Zahl derselben über sein Aktivwerden oder Inaktivbleiben entschiede. Letzteres ist schon deshalb nicht anzunehmen, weil wir in den Reifungstheilungen den Beweis haben, dass Theilung bei doppelter, wie bei einfacher Zahl der Chromosomen vor sich gehen kann, und in den Ei- und Samen-Mutterzellen den Beweis, dass auch die doppelte Zahl von Chromosomen nicht ohne Weiteres schon zur Theilung zwingt. Die oben besprochene exceptionelle und die künstlich hervor- gerufene Parthenogenese wird danach wohl so zu verstehen sein, dass durch geringe Abweichungen der Eikonstitution oder durch gewisse mechanische oder chemische Reize die Stoffwechsel -Vorgänge im Ei derart verändert werden, dass das Centralkörperchen des Eies, anstatt sich aufzulösen, vielmehr zum Wachsthum angeregt wird und so den aktiven Theilungsapparat liefert, der sonst erst durch das Sperma ins Ei hineingebracht wird. Das wäre dann eine etwas genauere Präzisirung der Deutung, welche ich früher schon (1891) für die damals allein bekannte »zufällige« Parthenogenese der Seiden- spinner-Eier gab, indem ich sagte: »das Kernplasma einzelner Eier« müsse »das Vermögen des Wachsthums in grösserem Masse als die Majorität derselben besitzen«. Weiter zu gehen und die betreffenden Stoffwechsel-Vorgänge genauer zu bezeichnen und zu verfolgen, vermögen wir freilich auch jetzt noch nicht. ~ZA2 Befruchtung bei Pflanzen und Einzelligen. O XVI. Vortrag. Der Befruchtungsvorgang bei Pflanzen und Einzelligen, nächste Bedeutung desselben. Befruchtung bei einem Algenpilz, Basidiobolus p. 343, bei Phanerogamen p. 344, auch hier Reduktion der Chromosomen auf die halbe Zahl p. 345, »Richtungszellen« bei niederen und höheren Pflanzen p. 346, Conjngation der Einzelligen p. 347, Noctiluca p. 348, Getrenntbleiben der väterlichen und mütterlichen Chromosomen p. 349, Actino- phrys p. 350, Infusorien p. 351, Geschlechtliche Differenzirung der beiden conjugirenden Thiere bei Yorticella p. 354, Bedeutung des Vorgangs der Amphimixis p. 356, sie ist kein »lebenerweckender« Vorgang p. 357, kann unabhängig von Vermehrung auf- treten p. 357, die Verjüngungs-Hypothese p. 357, Reine Parthenogenese p. 358, Der Cyklus- Gedanke p. 359, Verhindert Amphimixis den natürlichen Tod? p. 359, Maupas' Versuche an Infusorien p. 360, Bütschli's Auffassung p. 362, Potentielle Un- sterblichkeit der Einzelligen p. 361, Die Unsterblichkeit der Einzelligen und der Keim- zellen beruht auf der zeitlich unbegrenzten Vermehrung kleinster Lebenstheilchen p. 362, Parthenogenese ist nicht Selbstbefruchtung. Beobachtungen Petrunkewitsch's am Bienenei p. 369, Ist das Chromatin wirklich die »Vererbungssubstanz«? p. 371, Nägeli's Schluss aus dem Grössenunterschied zwischen Ei- und Samenzelle p. 371, Künstliche Theilung von Infusorien p. 373, Boveri s Versuche mit der Befruchtung kernloser Eistücke p. 374, Die Befruchtung gibt zugleich den Anstoss zur Entwicklung p. 375, Merogonie p. 376, Die weibliche und männliche Kernsubstanz ist wesensgleich p. 376, Zusammenfassung p. 377. Meine Herren! Ich wende mich zur Betrachtung des Befruch- tungsvorganges bei den Pflanzen und den Einzelligen. In Bezug auf die Pflanzen kann heute mit Bestimmtheit gesagt werden, dass auch bei ihnen die Befruchtung im Wesentlichen eine Kern-Copulation ist und auf der Vereinigung der Kerne der beiden »Geschlechtszellen« beruht. Diese Letzteren sind bei den niederen Pflanzen bis herauf zu den Phanerogamen meist sehr klein, besonders die Zoosperm-förmigen männlichen Keimzellen, meistens aber auch die Eizelle, welche selten nur mit reichlichem Dotter belastet ist. Trotz der vielfachen Schwierigkeiten, welche sich schon wegen dieser geringen Grösse der Beobachtung entgegenstellen, ist es der uner- müdlichen Anstrengung einer Reihe vortrefflicher Beobachter doch gelungen, den Befruchtungsprozess bei Pflanzen aus allen grösseren Befruchtung bei Algenpilzen. 4; 3H-0 Gruppen zu beobachten, so bei Algen, Pilzen, Moosen, Farnen, bei den Schachtelhalmen unter den Kryptogamen und bei Phanero- gamen. lehn gebe zuerst ein Beispiel von den niederen Pflanzen (Fig. 81). Bei Basidiobolus ranarum, einem »Algenpilz« treiben zwei benachbarte Zellen des Pilzfadens je einen schnabelförmigen Fortsatz und zwar dicht nebeneinander (Fig. 81, A). Der Kern einer jeden rückt dabei in den Fortsatz hinein, wandelt sich dort zu einer Kern- spindel um (Z>, ksp) und theilt sich so; dass der eine Tochterkern in ■i,;-^;....rv-.-*r ■.-.- $ )»m s. Fig. 81. Bildung von Richtungskörpern bei einem Algenpilz, Basidiobolus ra- narum. A Die beiden kopulirenden Zellen mit den schnabelförmigen Auswüchsen, in welchen ihre Kerne liegen. B Diese in Theilung, ksp Kernspindeln. C Nach der Theilung in je einen Richtungskörper rk, und einen Geschlechtskern [<$&, Qk/. D Nach erfolgter Verschmelzung der Kerne zum Copulationskern [copk) , das »be- fruchtete« Ei von Hüllen umgeben und zur Dauerspore umgewandelt. Nach Fairchild. die Spitze des Schnabels zu liegen kommt, der andere an die Basis. Auch der Zellkörper macht die Theilung mit, wenn auch eine sehr ungleiche, und das Endresultat des Vorganges sind je zwei Zellen, von denen die eine klein ist und die Spitze des Schnabels einnimmt (C), die andere gross und den ganzen übrigen Zellraum erfüllt. Erstere spielen keine weitere Rolle mehr, sie lösen sich auf, Letztere sind die Geschlechtszellen, deren Zellkörper jetzt durch eine Lücke der tren- nenden Zellscheidewand zusammenfliessen, während ihre beiden Kerne sich aneinander lagern und verschmelzen (C: q? u. Qk). Aus ihrer Vereinigung entsteht das befruchtete Dauerei, die sog. »Zygote« (D). 344 Befruchtung bei Blüthenpflanzen. Die zwei kleinen Abortivzellen ähneln so sehr in ihrer Entstehung den Richtungszellen der thierischen Eier, dass die Vermuthung kaum abzuweisen ist, es erfolge durch sie eine Reduktion der Chromosomen. Doch ist bisher die Zahl der Letzteren weder in ihnen noch in den Geschlechtskernen festgestellt worden. Bei den Phanerogamen kennen wir besonders durch Strasburger, GuiGNARD und neuerdings durch den Japaner HlRASE die Befruch- tungsvorgänge. Die Übereinstimmung mit dem thierischen Vorgang ist überraschend gross trotz der bedeutenden Unterschiede in den äusseren Verhältnissen der Befruchtung. A B pschl Fig. 82. Befruchtungsvorgang bei der Lilie, Lilium Martagon nach Guignakd. A Der Embryosack vor der Befruchtung, sy Synergiden, eiz Eizelle, op und zip oberer und unterer Polkern, ap Antipoden. B Das obere Stück des Embryosacks, in den der Pollenschlauch [pschl) eingedrungen mit dem männlichen Geschlechtskern {r$k) und seiner Centrosphäre, darunter die Eizelle mit ihrer (ebenfalls doppelten) Centro- sphäre [csph). C Rest des Pollenschlauchs pschl); die beiden Geschlechtskerne an- einander liegend. Starke Vergrösserung. Bekanntlich sind die männlichen Keimzellen bei den höchsten Blüthenpflanzen keine Zoospermien mehr, sondern rundliche Zellen, welche zusammen mit einer Schwesterzelle, der sog. »vegetativen« Zelle in eine dicke Cellulose- Kapsel eingeschlossen das Pollenkorn darstellen. Die Pollenkörner gelangen als »Blüthenstaub« auf die Narbe, unter welcher, tief verborgen im Innern des »Fruchtknotens«, die weibliche Geschlechtszelle ruht, eingeschlossen in einem länglichen, sackförmigen Gebilde, dem »Embryosack« (Fig. 82, A). Ausser ihr selbst [eiz) liegen dort noch mehrere, gewöhnlich noch sieben andere Zellen, von welchen zwei, die sog. »Synergiden« [sy) am einen Ende Befruchtung bei Blüthenpflanzen. 34 S des Embryosacks ihren Platz haben, gerade vor der Eizelle [eis). Wahrscheinlich haben sie ein Sekret auszuscheiden, welches auf den männlichen Befruchtungskörper, den »Pollenschlauch« eine anziehende (chemotaktische) Wirkung ausübt und ihm auf diese Weise gewisser- massen den Weg zur Eizelle zeigt. Wenn nun ein Pollenkorn auf die Narbe gelangt ist, so treibt es meist schon nach wenigen Stunden einen Schlauch hervor, der sich in das weiche Gewebe des Griffels eindrängt und bis tief in das Innere des Fruchtknotens hineinwächst, um schliesslich durch eine besondere kleine Öffnung in der Hülle des Fruchtknotens die sog. »Mikropyle« bis zu dem Embryosack selbst vorzudringen (Fig. 82 i>, pschl). An diesen schmiegt sich sein stumpfes Ende innig an, so dass nun der eigentliche Spermakern (i?, cf£), umgeben von etwas Protoplasma aus dem Pollenschlauch austreten und zwischen die Zellen des Embryosackes einwandern kann. Wir werden bei einer späteren Gelegenheit sehen, dass zwei generative Kerne aus dem Pollenschlauch einwandern, wenden wir aber für jetzt unsere Aufmerksamkeit nur dem einen von ihnen zu, dem Befruchtungskern, so bewegt sich dieser sofort auf den Eikern los, legt sich dicht an ihn an, und nun erfolgt die Verschmelzung, die Copulation der beiden, in Grösse und Aus- sehen ganz ähnlichen Kerne, ganz wie bei der Befruchtung thierischer Eier (C, <^k u. Qfc). Ob auch hier nur der Spermakern ein Central- körperchen mitbringt, oder ob, wie GuiGNARD zu beobachten glaubte, auch der Eikern sein Centralkörperchen beibehält (C: csp/i), oder schliesslich ob etwa Beides vorkommt, ist noch nicht sicher entschieden. Die Erfahrung, dass sich in der Regel nur dann keimfähige Samen in einem Fruchtknoten bilden, wenn Bestäubung der Narbe vorher- gegangen war, lässt vermuthen, dass der Eizelle auch hier, wie bei den Thieren Etwas fehlt zur Einleitung der Embryonal-Entwicklung, was nur sehr ausnahmsweise, nämlich bei Einrichtung von Partheno- genese, ihr erhalten werden kann, und dieses Etwas dürfte wohl auch hier der Theilungsapparat der Zelle, das Centrosoma mit der Centro- sphäre sein. Mag aber diese Vermuthung sich als begründet er- weisen oder nicht, in jedem Falle bildet sich zugleich mit der Ver- einigung der beiden Geschlechtskerne zum Furchungskern eine Kernspindel, welche den Ausgangspunkt der jungen Pflanze darstellt und somit genau der ersten Furchungsspindel thierischer Eier entspricht. Sie stimmt mit ihr auch in der wichtigen Beziehung überein, als sie wieder die volle Zahl der Chromosomen enthält, bei der Lilie 24, während die beiden Geschlechtskerne nur je die Hälfte davon (12) T^A 6 Befruchtung bei Pflanzen u. s. w. aufweisen. Eine Reduktion der Chromosomen auf die Hälfte findet also auch bei den Pflanzen statt, aber allerdings ist es bis heute noch nicht entschieden, ob sie auch in derselben Weise, d. h. durch eine Reduktionstheilung erfolgt, wie bei den Thieren. Ohne auf diese noch schwebende und noch recht verwickelte Frage näher einzutreten, möchte ich doch aussprechen, dass ich dies für sehr wahrscheinlich halte, ja mit V. HACKER1 der Ansicht bin, dass die Reduktions- theilungen der Pflanzen nur schwieriger als solche zu erkennen und überdies nicht selten dadurch maskirt sind, dass sie neben oder zwischen nicht reducirenden Theilungen vorkommen. Wäre es möglich, die Zahl der Chromosomen in einer Zelle auf die Hälfte herabzusetzen ohne Verbindung mit einer Zelltheilung, einfach dadurch, dass sich aus dem Chromatin des Kernnetzes nur die halbe Zahl derselben wieder sammelte, dann müsste dies ebensogut bei thierischen Zellen möglich sein, denn dann hätte das einzelne Chromosom nicht vfie Bedeutung einer Individualität, dann würde auch keine besondere Art der Kerntheilung eingeführt worden sein, um ihre Zahl herab- zusetzen. Dass sie dort eingeführt wurde, scheint mir zu beweisen, dass sie nothwendig war, und wenn sie dies dort war, dann wird sie auch bei den Pflanzen nicht entbehrt werden können. Dazu kommt noch, dass gerade bei den Pflanzen überall Zell- theilungen in Verbindung mit der Entstehung der Geschlechtszellen vorkommen, die man ihrem Auftreten und ihrem Erfolg nach den Reifungstheilungen der thierischen Keimzellen vergleichen kann. Bei dem Algenpilz Basidiobolus begegneten wir schon einer abortiven Zelle, die sich von der Geschlechtszelle abschnürt, ehe diese be- fruchtungsfähig ist (Fig. 81 C). Ähnliche Zelltheilungen kommen in vielen, wenn nicht in allen Pflanzenabtheilungen vor; bei den Meeres- Algen der Gattung Fucus ist sogar nachgewiesenermassen die Theilung der ersten Anlagenzelle des Ovariums in die sog. »Stielzelle« und die Ureizelle eine Reduktionstheilung und setzt die Zahl der Chromosomen von 32 auf 16 herab. Bei den Gefässpflanzen tritt die Reduktion nicht erst bei der Bildung der Geschlechtszellen, sondern schon bei der Sporenbildung ein, wie CALKINS an Farnen nachwies ; bei den Nadel- hölzern und verwandten Gymnospermen führen erst mehrere Theilungen, sog. »vorbereitende« zur Bildung der sexuellen Keimzelle, und hier 1 Vergl. V. Hacker: »Praxis und Theorie der Zellen- und Befruchtungslehre«, Jena 1899, p. 144 und 145. Conjugation der Einzelligen. 347 wissen wir durch Vergleichung- mit dem Generationswechsel der Ge- fässpflanzen, dass dieselben auf dem allmäligen Rudimentärwerden der eigentlichen Geschlechtsgeneration beruht. Wie die »Richtungs-« oder »Reifungszellen« thierischer Eier rudimentäre Eizellen sind, so sind die in den Pollenkörnern von der eigentlichen Geschlechtszelle sich durch Theilung sondernden Zellen rudimentäre Prothallium-Zellen, die wie jene keine weitere physiologische Rolle mehr spielen, sondern zu Grunde gehen. Ich will durchaus nicht behaupten, dass gerade in diesen Theilungen die Reduktionstheilung stecken müsse, die Analogie mit der Sporenbildung der Farne lässt vielmehr vermuthen, dass diese noch etwas weiter zurückliegen werde, jedenfalls aber fehlte es in der Ontogenese der phanerogamen Pflanze nicht an Gelegenheit zur Einschaltung einer Reduktionstheilung, und solange nicht erwiesen ist, dass eine Reduktion der Chromosomen auf die Hälfte auch direkt, d. h. ohne Hülfe einer Kerntheilung geschehen kann, wird man die Entdeckung der Reduktionstheilung der Phanerogamen von der Zukunft sicher erwarten dürfen. Sind doch auch bei den Einzelligen Vor- gänge ähnlicher Art bekannt geworden, und auch dort sind dieselben an Kerntheilungen gebunden. Wenn ich jetzt zu der sog. »geschlechtlichen Fortpflanzung« derEinzelligen übergehe, möchte ich gleich von vornherein darauf aufmerksam machen, wie wenig der Ausdruck einer »Fortpflanzung« hier passt, denn der Vorgang, um den es sich hier handelt, bewirkt nicht eine Vermehrung der Individuen, wie eine Fortpflanzung doch thun sollte, sondern in vielen Fällen sogar eine Verminderung, indem zwei Individuen zu einem einzigen verschmelzen. Wenn uns also auch aus den bisher besprochenen Erscheinungen sexueller »Fortpflanzung« bei höheren Organismen noch nicht klar geworden sein sollte, dass hierzweiVorgänge verbunden sind, die ganz verschiedener Natur sind, so würde uns die Conjugation derEinzelligen zu dieser Einsicht hinleiten. Schon lange weiss man, dass einzellige Pflanzen und Thiere zeitweise sich zu Zweien aneinander legen, um miteinander zu verschmelzen, und man hat schon früh in diesem Vor- gang der »Conjugation« ein Analogon der »Befruchtung« vermuthet, wenn es auch erst den Arbeiten der letzten Jahrzehnte gelungen ist, den sichern Nachweis für diese Vermuthung zu erbringen. Wir wissen jetzt, dass hier ein ganz analoger Prozess seinen Ablauf nimmt, wie wir ihn in der Befruchtung kennen gelernt haben, nur dass derselbe hier nicht mit der Fortpflanzung und Vermehrung nothwendig und unmittelbar verknüpft ist, sondern unabhängig davon auftritt, und Weismann, Descendenztheorie. 22 343 Conjugation der Einzelligen. gerade in seiner ursprünglichsten Form statt einer Vermehrung der Individuenzahl vielmehr — wenigstens für kurze Zeit — eine Ver- minderung derselben zur Folge hat. Gerade dies von der Fortpflanzung unabhängige Auftreten des Vorganges scheint mir für uns von un- schätzbarem theoretischem Werth, weil es uns von alten eingewurzelten Vorurtheilen in der Auffassung der Befruchtung vollends losreisst. Zuerst sei der Vorgang selbst in seinen Haupt-Erscheinungsformen in aller Kürze geschildert. Die ursprünglichste Form der Conjugation ist ohne Zweifel die völlige Ver- schmelzung zweier einzelligen Wesen der gleichen Art, wie wir sie bei einzelligen Pflan- zen, aber auch bei den niederen einzelligen Thieren heute noch vor- finden, bei den Geissel- Infusorien, Gregarinen, Wurzelfüssern, unter den Letzteren z. B. bei den Noctilucen, jenen mit einer Geissei versehenen einzelligen Wesen, wel- che das gleich massige, über weite Flächen des Wassers Meerleuchten hervor- (Fig. 83). An Kig. 83. Conjugation von Noctiluca nach ISCHI- kawa. A Zwei Noctilucen im Beginn der Verschmel- zimg, pr Protoplasma in Fortsätze ausgezogen, die den Gallertkörper (G) durchsetzen, K die Kerne. B Zell- vmd Gallertkörper verschmolzen, Kerne, in welchen Chromosomen sichtbar, dicht aneinander gelagert. CK Centrosphären. C Die beiden Kerne zu einer Kernspindel vereinigt, Beginn der Theilung. D Voll- endung der Theilung. Starke Vergrösserang. ausgedehnte bringen ihnen hat Prof. IsCHl- KAWA in Tokio den ganzen Verlauf der Conjugation verfolgen können. Er beginnt damit, dass zwei Noctilucen sich aneinander- legen (Fig. 83) und an der Berührungsfläche verschmelzen, sowohl die kugelige Gallerthülle (A, G), als die Zellkörper selbst {pr\ welche sich amöbenartig in der Gallerte verzweigen. Die Verschmelzung wird nach und nach eine vollständige, und die Thiere bilden dann nur eine einzige Kugel (B) mit nur einem Zellkörper. Aber auch die beiden Kerne (K) legen sich dicht aneinander (B), und wenn sie auch nicht förmlich verschmelzen, so bilden sie doch zusammen unter der Leitung zweier Centrosphären [C] eine einzige Kerntheilungs- Conjugation der Einzelligen. 349 Figur, welche der Furchungsspindel des befruchteten Eies offenbar analog ist. Es folgt nun eine Th eilung, bei welcher die Chromatin- substanz der Kerne beider Thiere auf die beiden Tochterkerne ver- theilt wird, und nachdem dies erfolgt , theilt sich das verschmolzene Einheitsvvesen selbst wieder in zwei selbstständige Noctilucen (D). Wenn ich hier , d. h. bei Protozoen , von Chromosomen spreche, so muss ich gleich hinzufügen , dass diese bei Noctiluca selbst nicht mit voller Klarheit gesehen worden sind; man erkennt nur dunkel gefärbte Verdickungen der Spindelfasern, die vom Äquator der Kern- spindel gegen die Pole hinrücken. Da wir indessen bei anderen Ein- zelligen, z. B. bei dem schönen Süsswasser-Rhizopoden, der Euglypha alveolata, diese Verdickungen der Kernspindelfasern mit voller Deut- lichkeit als Chromosomen erkennen, so wäre ein Zweifel nicht gerecht- fertigt. Aber auch die Annahme, dass jeder der beiden Tochterkerne die Hälfte der Chromosomen beider Copulationskerne erhalte , ruht auf sicherem Grund, nicht nur, weil der ganze Vorgang sonst keinen Sinn hätte, sondern weil die Stellung der mitotischen Figur dies be- dingt. Auch das Getrenntbleiben der beiden dicht aneinander ge- schmiegten Copulationskerne während der Kerntheilung ist nicht etwas sonst Unerhörtes; HACKER und RÜCKERT beobachteten es auch bei der Furchungsspindel viel höherer Thiere, der Copepoden, und es hat dort keinen verändernden Einfluss auf den Vorgang der Theilung, sondern beweist uns nur, dass die vom Vater und die von der Mutter herrührenden Chromosomen im Copulationskern selbstständig bleiben, eine Thatsache, auf deren Bedeutung ich später zurückkomme. Ahnlich wie bei Noctiluca verläuft der Vorgang der Conjugation bei einem Wurzelfüsser des süssen Wassers, dem altberühmten Sonne nthierchen, Actinophrys sol (Fig. 84), nur dass hier eine völlige Verschmelzung der Kerne stattfindet (Fig. 84, V), ehe sich die Theilungsspindel (VI, Tsp) bildet, aus welcher dann unter gleich- zeitiger Theilung des Zellkörpers zwei neue Individuen hervorgehen. Besonders interessant wird der Vorgang hier noch dadurch, dass es SCHAUDINN gelungen ist, auch eine Reifeth eilung zu beobachten (III, Rsp Richtungsspindel), sowie den Richtungskörper (IV, Rk) nach- zuweisen, so dass die Analogie mit dem Befruchtungs- Vorgang der Metazoen und Metaphyten eine fast vollständige wird. Dass es sich aber bei der Conjugation der Einzelligen, wie bei der Befruchtung der Vielzelligen wesentlich um eine Kern-Copulation handelt, das lehren uns deutlicher noch die Wimper-Infusorien, die höchstorganisirten unter den Einzelligen. 22* 350 Conjugation der Einzelligen. Hier erfolgt gewöhnlich überhaupt keine volle Verschmelzung der Zellkörper der beiden Thiere, sondern nur eine Verlöthung derselben an der Stelle, wo sie sich aneinanderlegen. Bei dem relativ grossen Paramaecium caudatum und vielen anderen Arten kennen wir den Vorgang der Conjugation durch Maupas' und R. HERTYViG's schöne Untersuchungen sehr genau, und dort verläuft er so, dass zuerst zwei Thiere sich mit ihren Mundflächen aneinander legen und dort eine kurze Strecke weit miteinander verschmelzen, um dann in diesem conjugirten Zustand miteinander herum zu schwimmen. Während ' •■■w ?;•>;$ '- -- = k:-&m4'mm;A ■ ' \ -? 'Mi \ / .RsF m m m ■ - RK~ £ i H< ■****% '-. Fig. 84. Copulation und Richtungskörperbildung bei dem Sonnen- thierchen, Actinophrys sol nach Schaudinn. / Zwei freischwimmende kon- jugirte Individuen, die sich bei // mit einer wasserklaren Gallert-Cyste umgeben haben. III Bildung der Richtungsspindeln [Rsp). IV Die Richtungskörper gebildet {RK) ; K die beiden Geschlechtskerne. V Dieselben verschmolzen zum Copvdationskern [K). VI Der Copulationskern zur Theilungsspindel [Tsp, umgewandelt; die Richtungs- körper [RK) haben die innere Cystenhülle durchwandert und werden jetzt rückgebildet. Nach Schaudinn. dieser Zeit gehen höchst merkwürdige Veränderungen an ihren Ker- nen vor sich. Bekanntlich haben diese Infusorien einen zweifachen Kern, einen grossen, den Makronucleus (Fig. 85, ma), und einen für gewöhnlich sehr kleinen, den Mikronucleus [mi). Man wird dem ersteren die Leitung und Regulirung der aktuellen Lebensvorgänge zuschreiben dürfen, also kurz gesagt, des Stoffwechsels und der Integrität des ganzen Thieres. Den kleinen Kern hat man oft als »Fortpflanzungs- kern« bezeichnet, da er aber bei der Fortpflanzung keine andere Conjugation der Einzelligen. 351 - u 4) a d & pq "O c ■» d u bß cj '5; .. 1-H J-> 1) 1- ^ d o T3 d c/) CJ IM cj -d o cd 4> bß V bß 0 d 4> 1) o .d H N < S <: c d % .2 .s ~ — « •- -d >-. o d - CS OJ d o bß bß d H .*0 P a V o d d T3 ■_ d C S= OJ 4) -d ,d -fr-H l bß d tn g d * o 8 T1 '~ rd m d i^ .■£ 41 0) T3 T3 -d ü Ca d b/) d ^ O d d^N d 0 K u d -ö 'x ^ S 0 d's bß n pa d d hO d :d ^3 «; SM "^ § d f w ., t—n d 4J u CS s 1) J3 o y) d .2 "3 bß d o '5 S '5 •53 .a V> 1) Q bß: :d^ ■x Z. -r-, •- d -5 D 'S Ö ^ (U -0 ^ 4» S Mg 2 -^ 's ^ " C o U Mi.- d W :d cS *-• T3 d d t~) P-, o SU « . in 41 CJ r— 1 bß H S-SS d d ^: 41 ,0 .5 O d 4) ■o."5 CJ d jo ■> ö 66 Bedeutung der Amphimixis. auch für heute noch bei Weitem nicht im Stande sind, zu sagen, wie dies geschieht. Die oben erwähnten Versuche von TiCHOMlROFF, LOEB und WlNKLER geben uns jedenfalls einen Anhalt dafür, wie wir uns vor- zustellen haben, dass Parthenogenese entsteht, nämlich dadurch, dass die behufs Erzwingung der Amphimixis eingeführte Auf- lösung des Theilungsapparates im Ei rückgängig gemacht wird. Ahnliche minutiöse Veränderungen im Chemismus des Eies, wie sie bei den Seeigel-Eiern künstlich durch das Eindringen kleinster Mengen von Chlor-Magnesium gesetzt werden (Loeb), beim Seidenspinner-Ei durch Reiben oder durch Schwefelsäure (TiCHO- MlROFF), beim Seeigel-Ei durch Extraktivstoffe des Seeigel-Spermas (H. WlNKLER), werden bei der Einführung normaler Parthenogenese diese Umwandlung bewirken. Für das Ei also ist Amphimixis sicherlich kein Lebenserneuerungs- oder Verjüngungsprinzip, sondern sie erscheint nur als ein solches, weil der Vorgang von der Natur nur dadurch erzwungen werden konnte, dass sie die beiden zu vereinigenden Zellen, jede für sich allein entwicklungsunfähig machte. Wie wir gesehen haben, gilt das auch für die Samenzelle, denn obwohl sie eine Centrosphäre enthält, also insoweit zu Theilungsprozessen fähig wäre, so besteht sie doch bei fast allen Thieren und Pflanzen aus einer allzu minimalen Menge lebender Substanz, um allein für sich einen neuen vielzelligen Orga- nismus zu bilden. Nur bei einer Alge (Ectocarpus siliculosus) hat man beobachtet, dass nicht nur die weiblichen Keimzellen unter Umständen sich parthenogenetisch entwickeln, sondern auch die männlichen. In diesem Falle ist aber auch der Grössenunterschied zwischen den beiderlei Zellen kein bedeutender, und das männliche Pflänzchen fällt, entsprechend der geringeren Grösse des Zoosperms, ziemlich kümmerlich aus. Wenn wir nun in Bezug auf die vielzelligen Organismen zu dem Schlüsse gedrängt werden, dass nicht Amphimixis die Entwicklungs- kraft dem Ei erst verleiht, sondern dass umgekehrt dem Ei die Entwicklungskraft entzogen wird, so dass nun Amphimixis gewissermassen erzwungen werden kann, müssen wir da nicht Ahnliches auch für die Einzelligen annehmen? Sollte nicht auch hier Amphimixis dadurch erzwungen worden sein, dass die Infusorien als Vorbereitung für die Conjugation Veränderungen durchlaufen müssen, welche ihr unbegrenztes Weiterleben nur unter der Bedingung er- lauben, dass sie sich conjugiren? Mir erscheint die Arbeitstheilung Bedeutung der Amphimixis. 3Ö7 des Kerns, der sich in Gross- und Kleinkern differenzirt, und die Hinfälligkeit des ersteren schon im Lichte einer solchen Einrichtung. Jedenfalls ist es auffallend, dass ein Organ, welches sonst bei den Einzelligen unbegrenzte Dauer hat, der Kern, hier nach Art des Körpers der Vielzelligen einen natürlichen Tod be- sitzt, sich auflöst und neu gebildet werden muss aus dem hier allein mit potentieller Unsterblichkeit ausgerüstetem Kleinkern. Ich möchte darin eine Einrichtung zur Erzwingung der Conjugation sehen, da nur nach der Conjugation der Kleinkern einen neuen Grosskern bildet, dieser Letztere aber zum Leben unerlässlich ist, wie wir aus den Theilungsexperimenten an Infusorien wissen. Gesetzt, wir hätten die Lebewelt erst noch zu erschaffen, und es würde uns gesagt, Amphimixis müsse womöglich bei allen Arten, Einzelligen und Vielzelligen in periodischer Wiederkehr gesichert werden, was könnten wir Besseres thun, als Einrichtungen zu treffen, die solche Individuen, welche durch Zufall oder Anlage zur Amphi- mixis nicht gelangen können, vom Weiterleben ausschlössen? Wäre aber damit Amphimixis der Grund des Weiterlebens? ein Verjün- gungs-Prinzip ? Ich sehe nicht, dass ein anderer Grund für eine solche Annahme vorläge, als das zähe und wohl meist unbewusste Festhalten an der überkommenen und eingewurzelten Vorstellung von der rein dyna- mischen Bedeutung der »Befruchtung« wohl nicht mehr in ihrer ursprünglichen Gestalt vom Samen, der als zündender Funken das Leben im todten Ei neu erweckt, aber in der gemilderten Form einer »verjüngenden« Kraft der Amphimixis. Man hat in jüngster Zeit versucht, den Gedanken einer »ver- jüngenden« Wirkung der Amphimixis so umzuwandeln, dass er nur noch einen Vortheil, nicht eine Bedingung des Weiterlebens bedeutet; besonders Hartog gibt wenigstens soviel zu, dass das Vorkommen rein asexueller und rein parthenogenetischer Fortpflanzung es nicht gestatten, den Vorgang als Bedingung der Lebenserhaltung aufzufassen. Dann sollte man aber auch aufhören, das »Altern« und Absterben an der Conjugation verhinderter Infusorien als Ausfluss der primären Constitution der lebendigen Substanz aufzufassen, und sollte den durchaus irreleitenden Ausdruck der »Verjüngung« ganz aufgeben. Wenn wir aber die zahllosen Zellenarten der höheren Organismen und die ganzen vielzelligen Organismen selbst ins Auge fassen, welche ja alle einem Absterben, einem natürlichen Tode, also einem von 23* 368 Bedeutung der Amphimixis. Innen heraus erfolgenden Stillstand der Lebensbewegung verfallen sind, so wird schwerlich Jemand ihre Vergänglichkeit darauf beziehen wollen, dass sie nicht in Amphimixis treten. Wir finden es ganz »begreiflich«, dass die Zellen unseres Körpers sich durch ihre Funk- tion früher oder später abnützen, wenn wir auch weit entfernt sind, diese Thatsache als eine Nothwendigkeit nachzuweisen und also wirklich zu »begreifen«. Nur vom Nützlichkeits-Standpunkt aus verstehen wir die Einrich- tung des natürlichen Todes, wir sehen ein, dass die Keimzellen potentia unsterblich sein müssen, wie die Einzelligen, dass aber die Zellen, welche die Gewebe des Körpers zusammensetzen, vergänglich sein können und es im Interesse ihrer oft hohen und einseitigen Differenzirung, die eben ihre Leistungen für den Körper bedingen, wohl auch sein müssen. Sie durften so differenzirt werden, dass sie nicht immer weiter leben können, und sie wurden so differenzirt, weil dies allein eine immer höhere Leistungsfähigkeit des ganzen Organismus ermöglichte, aber sie sterben nicht, weil ihnen die »Ver- jüngung durch Amphimixis versagt ist, sondern weil sie nun einmal die physische Constitution haben, die sie haben«. Und ganz ebenso werden wir uns den Tod der ganzen vielzelligen Individuen zurecht- legen dürfen. Als wir früher schon die unbegrenzte Fortdauer, die potentielle Unsterblichkeit der Einzelligen zu begründen suchten, sagte ich Ihnen, dass ein ewiges Fortleben des Körpers der Vielzelligen jedenfalls keine Nothwendigkeit war, da die Fortdauer dieser Lebens- formen durch ihre Keimzellen gesichert ist; ein solches kann aber auch von keinem Gesichtspunkt aus als nützlich erscheinen. Was aber nicht nützlich ist für eine Lebensform, das entsteht auch nicht als dauernde Einrichtung, womit natürlich nicht gesagt sein soll, dass eine Unsterblichkeit der Vielzelligen, so wie diese nun einmal geworden sind, überhaupt möglich gewesen wäre. Sollten diese Organismen eine so hohe Stufe der Leistungsfähigkeit und Complikation des Baues erreichen, so konnten sie offenbar nicht zugleich auf unbegrenztes Weiterleben eingerichtet sein. Das stimmt vollkommen mit unserer ganzen Auffassung von den treibenden Kräften bei der Entwicklung der Organismenwelt: die immer höher sich steigernde Leistungsfähigkeit des Baues ging her- vor aus der Überlegenheit, welche dieselbe im Kampf um die Existenz gewährte, der gegenüber der scheinbare Vortheil ewiger Dauer des Individuums gar nicht in Betracht kam. Ich will diese Gedanken hier nicht weiter verfolgen, ich habe sie Parthenogenese keine Selbstbefruchtung. 369 berührt, um Ihnen klar zu machen, dass der Tod der Individuen bei allen Vielzelligen kein Grund für uns sein kann, das unbegrenzte Weiterleben der Fortpflanzungszellen von einem besonderen Kunst- griff der Natur abhängig zu denken, wie man ihn in der Amphimixis sehen möchte. Erinnern wir uns stets, dass es eine Parthenogenesis gibt und einzellige Keime (Sporen), die nie befruchtet werden, und dass die Fortpflanzung mancher Arten von Thieren und Pflanzen nur auf diesem Wege erfolgt ohne dass jemals Amphimixis da- zwischen tritt. Allerdings hat man neuerdings versucht, die Parthenogenesis als eine Art von Selbstbefruchtung des Eies zu betrachten, indem man sich auf die Beobachtungen BLOCHMANN's und Brauer's berief, welche gefunden haben, dass bei der Biene und /K1 dem Salzwasserkrebschen Artemia salina die redu- zirende zweite Reifungs- theilung des Eikerns nicht unterbleibt, sondern sich regulär vollzieht, dass aber nachträglich die beiden aus dieser Theilung hervor- gehenden Tochterkerne wieder miteinander ver- schmelzen. Ich habe Ihnen schon früher gesagt, dass diese Angaben für das Bienenei wenigstens nicht zutreffen. Dort findet in den unbefruchteten Eiern die zweite Reifungstheilung statt ohne nachträgliche Verschmelzung der beiden Tochterkerne. Nach den Untersuchungen von Dr. PETR UNKEWITSCH, deren ich oben schon gedachte, und für deren Genauigkeit ich einstehen kann, ist die zweite Reifungsspindel hier ungewöhnlich lang, so dass die beiden Tochterkerne weit auseinander geschoben werden (Fig. 79, Rsp'3) und nur der innere der beiden Kerne (Ä'4) wird zum Furchungs- Fi&- 79 wiederholt). Die zwei Reifetheilungen des männlichen (unbefruchteten) Bieneneies nach Petrunkewitsch. Rsp i erste Richtungsspindel, Kl und K2 die zwei Tochterkerne derselben, Rsp 2 zweite Richtungsspindel, Ä'j und K4 die zwei Tochterkerne derselben. Im folgenden Sta- dium verbinden sich K2 und Ä'j zum Ur-Ge- schlechtskern. Starke Vergrösserung. ;o Bedeutung der Amphimixis. kern , einigt unterliegt merkwürdigen Schicksalen: er v er- der äussere sich mit dem inneren Kern der ersten Richtungs- -n spindel {K2), und aus dieser Verschmelzung scheint die Urgenital- zelle des Thieres hervorzugehen, eine Beobachtung, deren eventuelle theoretische Bedeutung erst später ganz gewürdigt werden kann. Einstweilen werden wir aus ihr nur ein gewisses Misstrauen gegen die bisherige Deutung der Reifungsvorgänge bei Artemia ableiten müssen; die Vermuthung liegt wenigstens nahe, dass die Copulation zweier Ker- ne, wie sie BRAUER bei Artemia beobachtet hat, auch dort nicht zur Bil- dung des Furchungskerns führt, sondern eine andere Bedeutung hat. Lassen wir aber auch diesen Punkt ganz bei Seite, so bleiben doch noch alle Fälle von regel- mässiger Parthenogene- se, in denen also diese Fortpflanzungsart rein vorkommt, ohne Wech- sel mit geschlechtlicher. Dort wird nur eine •~.\vV-"'V':- yPrvsXNO ■*.■■-.' ■■ v 1-; Fig. 6g (wiederholt). Eizelle vom Seeigel, Toxo- pneustes lividus nach Wilson, zk Zellkörper, k Kern (sog. Keimbläschen), n Kernkörperchen (sog. Keim- fleck), darunter: ein Spermatozoon (sp) desselben Thiers bei derselben Vergrösserung (750). Reifungstheilung gangen, einge- nur e i n Rich- tungskörper gebildet, und des Eies nicht die dort kann somit von einer Selbstbefruchtung Rede sein. Möglicherweise lernen wir auch bei den Einzelligen noch Arten kennen, die sich ohne Amphimixis unbegrenzt weiter vermehren. R. Hertwig hat bereits an Infusorien Erscheinungen beobachtet, welche er auf ein Ausfallen der früher gewohnten Conjugation, also auf eine Art von Parthenogenese zu beziehen srenei^t war. Sollte sich aber auch herausstellen, dass in den Lebensgang aller Einzelligen regelmässig und ausnahmslos Amphimixis eingreift, so beseitigt das nicht die Thatsachen bei den Vielzelligen, und schliesslich ist doch Das Chromatin die Vererbungssubstanz. 371 auch der Prozess der Amphimixis ein solcher, der nicht den geringsten Anhalt gibt, als Lebenswecker oder -Erhalter gedeutet zu werden, und damit komme ich auf den wesentlichsten Theil der ganzen Frasre, auf die Bedeutung der Chromatingebilde, deren Combinirung das unzweifelhafte Resultat der Amphimixis ist. Sind sie wirklich, wie wir vorläufig annahmen, Vererbungssubstanz, und was ver- stehen wir unter einer solchen? Soweit ich die Litteratur und die Entwicklung der biologischen Vorstellungen kenne, ist es zuerst der Botaniker Nägeli gewesen, der aus dem erheblichen Grössen- unterschied, der meist zwischen Ei- und Samen- zelle herrscht, den Schluss zog, dass die Materie, an der die Vererbungstendenzen hängen, eine minimale Substanzmenge sein müsse. Der Unter- schied ist besonders bei Thieren ein sehr be- deutender, selbst bei solchen Arten, deren Eier klein genannt werden, wie z. B. die des Seeigels oder die der Säugethiere; auch bei diesen be- trägt die Masse des Zoosperms kaum den Tau- sendsten, oft kaum den Hunderttausendsten Theil der Masse des Eies. Und dennoch ist die Erb- schaft vom Vater und von der Mutter erleich ax gross. Da wir nun Kräfte nur an Materie ee- eine so gering- bunden kennen, so muss also fügige Menge von Substanz, wie sie das Zoo- sperm z. B. des Menschen enthält, sämmtliche Vererbungstendenzen des Vaters in sich gebunden enthalten, und der Schluss ist unabweislich, dass in der Eizelle nur eine ebenso minimale Substanzmenge Träger der Vererbungs- Fig. 68 (wiederholt. Schema eines Samen- fadens nach Wilson ; sp Spitze, >i Kern, c Cen- trosphäre , m Mittel- stück, ax Achsenfaden, e Endfaden. kräfte sein könne, denn wäre eine grössere Menge von Vererbungssubstanz im Ei, so müsste auch die Ver- erbungskraft desselben eine grössere sein1. Wenn wir nun überlegen, welcher Theil des Zoosperms diese Vererbungssubstanz sein könne, so werden wir sowohl den kontraktilen 1 Die unwahrscheinliche Annahme, dass die Vererbungssubstanz des Vaters in ihrer Qualität total verschieden von der der Mutter sein, also auch bei gleicher Vererbungskraft dennoch viel weniger Raum einnehmen könne, lasse ich ganz bei Seite. 37 2 Bedeutung der Amphimixis. Schwanzfaden als das Mittelstück (Fig. 68) ausschliessen können, Ersteren, weil er offenbar einer ganz spezialisirten physiologischen Leistung, der Ortsbewegung dient und dieser histologisch angepasst ist, Letzterer, weil wir durch Beobachtung an dem ins Ei ein- gedrungenen Zoosperm wissen, dass es das Centrosoma enthält, den Theilungsapparat des Kerns. Es bleibt also nur der Kopf des Zoo- sperms als Sitz der Vererbungssubstanz übrig, und dieser schliesst den Kern der Zelle in sich ein. Wir werden also schon auf diesem Weg^ dazu geleitet, im Kern die Vererbungssubstanz zu suchen. Nun kann aber die Vererbungssubstanz keine vergäng- liche Substanz sein, die sich nach Bedürfniss auflöst (im wirklichen Sinn des Wortes) und wieder neu bildet; wir können sie demnach nicht in der Kernmembran suchen; ebensowenig in dem »Kern- saft«, der die Maschen des Kerngerüstes erfüllt, da die Materie, an welcher die Vererbung hängt, nothwendig fest sein muss. Schon NäGELI hat erwiesen, dass sie eine beständige, d. h. feste Molekular- Architektur voraussetzt. So bleibt also nur das Kernnetz mit seinen Chromatinkörnchen übrig, und wenn wir uns erinnern, was wir über das Verhalten dieser chromatischen Substanz bei der Theilung und bei der Amphimixis erfahren haben, so können wir nicht zweifelhaft sein, dass in der Substanz der Chromosomen der gesuchte Träger der Vererbung enthalten ist. Die grosse Sorgfalt, mit welcher durch den komplizirten Theilungs- apparat die Chromosomen halbirt werden, Hess uns schon früher in ihnen eine Substanz von verwickelter, mehrfacher Qualität und hoher physiologischer Bedeutung vermuthen, die konstante Zahl derselben bei ein und derselben Art und ihre Herabsetzung auf die halbe Zahl durch die Reifungstheilungen berechtigt uns zu dem Schlüsse, dass sie bleibende Gebilde, physiologische und morphologische Einheiten sind, die nur scheinbar sich im Ruhezustand des Kerns regellos zer- streuen. Entscheidend aber ist schliesslich die gleiche Zahl, in welcher diese Vererbungsträger in den beiden sich verbindenden Keimzellen enthalten sind, und die immer bei Pflanzen wie bei Thieren die Hälfte der Normalzahl ist. Präciser könnten wir ja die logische Forderung, dass die Vererbungssubstanz von beiden Eltern her in gleicher Menge auf das Kind übertragen werden müsse, nicht erfüllt finden, als sie uns in der gleichen halben Zahl der Chromo- somen in den beiden Geschlechtskernen im Ei entgegentritt. Für mich ist es daher seit lange schon nicht mehr zweifelhaft, dass das Chro- matin des Kerns die Vererbungssubstanz ist, und ich habe diese Das Chromatin die Vererbungssubstanz. 373 Überzeugung nahezu gleichzeitig1 mit STRASBURGER und O. Hertwig ausgesprochen. Es gibt aber auch einen physiologischen Beweis für die Be- deutung der Kernsubstanz. Wiederum gleichzeitig haben zwei For- scher M. NUSSBAUM und A. GRUBER, der Letztere im hiesigen Institut und auf meine Veranlassung Regenerations-Versuche an Einzelligen gemacht und gefunden, dass Infusorien, die in zwei, drei oder vier Stücke künstlich zerschnitten worden waren, aus jedem ihrer Theil- stücke wieder ein volles Thier zu bilden vermögen, vorausgesetzt, dass das Stück einen Theil des Kerns (Macronucleus) enthalte. Das grosse blaue Trompetenthierchen, Stentor coeruleus, eignet sich sehr gut zu solchen Versuchen, nicht nur wegen seiner Grösse, sondern auch deshalb, weil es einen sehr langen, rosenkranzförmigen Kern besitzt, der vom Schnitt leicht zwei oder gar drei Mal getroffen werden kann. Sobald in einem Theilstück des Thieres kein Kern- stück enthalten ist, lebt es zwar noch einige Tage, schwimmt umher und kontrahirt sich, aber es ist nicht fähig, die verlorenen Theile neu zu bilden und so aus dem Stück Zellkörper wieder ein ganzes Thier zu gestalten, es geht zu Grunde. Im Kern also ist die Substanz zu suchen, die der Materie des Zellkörpers eine bestimmte Gestalt und Organisation aufprägt, nämlich die Gestalt und Organisation der Vor- fahren. Das aber gerade ist der Begriff einer Vererbungs Substanz, oder des Idioplasmas (NAGELl). Manche unter den Neueren be- streiten jede Vererbungssubstanz und meinen, das Ganze der Keim- zelle bewirke die Vererbung, Zellkörper und Kern zusammen. Aber wenn es auch unbestreitbar ist, dass der Kern ohne Zellkörper keine Vererbung hervorrufen kann, sowenig als der Zellkörper ohne Kern, so fällt das doch damit zusammen, dass der Kern ohne Zellkörper nicht leben kann; aus der Zelle genommen und etwa in Wasser ge- legt, platzt er und zerfliesst. Der Zellkörper aber ohne Kern lebt weiter, nur eine Anzahl von Stunden oder Tagen freilich, aber er lebt, und sein Stoffwechsel hört erst auf, wenn der Mangel an Ersatz des verbrannten Stoffes durch Nahrungsaufnahme Stillstand gebietet. Mit demselben Recht, mit dem man eine Vererbungssubstanz leugnet, könnte man auch eine Denksubstanz beim Menschen leugnen und 1 Genauer: einige Monate später, als die genannten Forscher (1885); ich denke jedoch, Wer meine Schriften der unmittelbar vorhergehenden Jahre kennt, wie sie in den »Aufsätzen über Vererbung und verwandte biologische Fragen« (Jena 1892) ge- sammelt vorliegen, wird mir die Selbstständigkeit des Gedankens nicht bestreiten wollen, und ich lege Werth darauf, da alle meine späteren Arbeiten auf diesem Ge- danken weiterbauen. 374 Bedeutung der Amphimixis. behaupten, der Mensch dächte mit dem ganzen Körper, da ja das Gehirn allein ohne den Körper auch nicht denken kann. Es ist nach meiner Überzeugung ganz ebenso irrig, zu meinen, jeder Theil eines Organismus müsse in gleicher Weise die Vererbungs- tendenzen enthalten, bei den Einzelligen also der Zellkörper ebensogut als der Kern (CONKLIN). Wenn Ihnen in dieser Hinsicht jemals Zweifel aufsteigen sollten, so erinnern Sie Sich nur des NÄGELl'schen Schlusses aus der Kleinheit des Zoosperms auf die minimale Menge der Vererbungssubstanz. Es liegt aber auch theoretisch nicht der geringste Grund vor zu der Annahme, dass der Zellkörper ebensogut die Vererbungstendenzen enthalte, als der Kern, insofern wir doch allgemein die Funktionen an bestimmte Substanzen und Theile des ganzen Lebewesens vertheilt finden, auf welcher Arbeitstheilung ja eben die ganze Differenzirung des Körpers beruht. Weshalb sollte nun dieses Prinzip gerade hier bei der wichtigsten aller Funktionen nicht zur Anwendung gekommen sein? Weshalb sollte alle lebende Substanz Vererbungssubstanz sein? Wenn auch NÄGELI sein »Idio- plasma« anders dachte, als wir uns heute die Vererbungssubstanz denken, wenn er sie auch noch in die Zellsubstanz verlegte in Ge- stalt von Strängen die dieselbe in parallelem Laufe durchziehen, ein zusammenhängendes Netz durch den ganzen Körper bildend, soviel hat er doch völlig richtig erkannt, dass es zwei grosse Categorien lebender Substanz gibt: Vererbungssubstanz oder Idioplasma und »Ernährungssubstanz« oder Trophoplasma, und dass das Erstere der Masse nach ungemein viel geringer ist. Wir fügen heute hinzu, dass das Idioplasma im Zellkern und zwar in den Chromatin- körnern des Kernnetzes und der Chromosomen gesehen werden muss. Der unwiderlegliche Beweis dafür, dass die Kernsubstanz allein die Vererbungssubstanz ist, würde dann erbracht sein, wenn es ge- länge, in das kernlose Stück eines reifen Eies einer Art den Kern einer anderen verwandten Art einzuführen, und dann aus diesem Eifragment die zweite Art sich entwickeln zu sehen. BOVERI hat einen solchen Versuch mit dem Ei und Samen zweier Seeigel- Arten angestellt und glaubt in der That aus den kernlosen Eistücken der ersten Art durch Befruchtung mit dem Samen der zweiten, Larven dieser zweiten Art erzielt zu haben, leider aber zeigten spätere Controlver- suche mehrerer Forscher, besonders diejenigen vonSEELIGER, dass dieses Resultat nicht als ganz sicher und beweisend angesehen werden darf. Natürlich, — ich wiederhole dies — fällt es mir nicht ein, das Zellprotoplasma des Eies für eine gleichgültige Substanz zu halten. Bedeutung der Amphimixis. 375 Gewiss ist dasselbe nicht nur wichtig", sondern unentbehrlich für die Entwicklung eines Embryos, auch hat es sicherlich bei jeder Art sein spezifisches Gepräge, so gut wie jede andere Zellenart. Es ist ge- wissermassen der Mutter- und Nährboden, in welchem allein die Vererbungssubstanz ihre wundersamen Kräfte entfalten kann; es hat sich historisch entwickelt, wie jede Zellenart. aber es enthält nichts Anderes, als die Erbeigenschaften dieser einen Art von Zellprotoplasma, nichts von denjenigen der übrigen Zellen des Körpers. Wenn nun aber auch das Wesen der Befruchtung in der Ver- einigung der Vererbungssubstanz zweier Individuen liegt und nicht in einer »Belebung« des Eies, so kann man doch in einem anderen Sinn ganz wohl von einer Belebung durch die Befruchtung reden, wenn damit nur der Impuls zur Embryonalentwicklung gemeint ist, denn dieser wird in der That durch das Eindringen des Sperma- kerns mit seiner Sphäre ins Ei gegeben. Allein auch dieser Impuls kann unter Umständen auf andere Weise hervorgerufen werden, und jedenfalls ist seine Hervorrufung nicht das Ziel der Befruchtung, sondern nur die Bedingung, ohne welche dieses Ziel die Ver- einieuns' von zweierlei Kernsubstanzen nicht erreicht werden konnte. Es fehlt jeder Hinweis darauf, dass diese »Belebung« des Eies aus irgend einem anderen Grund nöthig geworden wäre, als weil das- selbe vorher entwicklungsunfähig gemacht worden war. Es gäbe keine »Befruchtung«, wäre nicht die Vermischung der Vererbungs- substanzen von fundamentaler Bedeutung für die Organismenwelt. Übrigens vermag ein Ei oder Eistück sich auch allein durch einen der beiden Geschlechtskerne zu entwickeln, und die Vereinigung der Vererbungssubstanzen zweier Zellen ist also für das blosse Zu- standekommen eines neuen Individuums nicht erforderlich. Nach dieser Richtung ist besonders interessant, was man an T heil- stücken von Eiern beobachtet hat. Ernst Ziegler gelang es zuerst, ein eben befruchtetes Seeigel-Ei so in zwei Hälften durchzu- schnüren, dass die eine Hälfte den weiblichen, die andere den männ- lichen Vorkern enthielt. Letztere allein enthielt eine Centrosphäre und gab auch allein eine Blastula-Larve. Deläge führte diese Ver- suche weiter, indem er das unbefruchtete aber reife Seeigel-Ei in Stücke schnitt und dann kernlose Stücke mit Samenfäden »befruchtete«. Auch diese Stücke entwickelten sich und gaben junge Larven der betreffenden Art, so dass man deutlich sieht: jedes Stück reifes Ei- Protoplasma geht, die Embryonalentwicklung ein, sobald auch nur ■2 7 6 Bedeutung der Amphimixis. ein mit Theilungsapparat versehener Kern in dasselbe eindringt. Leider wird es technisch unmöglich sein, ein solches kernlos gewesenes und dann befruchtetes Eifragment so zu zerschneiden, dass in die eine Theilhälfte der männliche Kern, in die andere seine Centrosphäre zu liegen käme. Aber man wird auch ohne dieses Experimentum crucis sagen dürfen, dass das erstere Stück sich nicht durch Theilung ver- mehren würde, wahrscheinlich jedoch das Letztere, dass aber das Letztere nicht den regelmässigen Gang des Furchungsprozesses durch- führen würde, weil ihm die dazu unumgänglich nöthige Vererbungs- substanz fehlt. Aber noch etwas beweisen diese und ähnliche Versuche , dass nämlich die Kerne der Samen- und der Eizelle nicht, wie man zuerst glaubte, in einem primären prinzipiellen Gegensatz stehen und als männlicher und weiblicher Kern bezeichnet werden dürfen, sondern dass sie beide ihrem tieferen Wesen nach gleich sind und sich gegenseitig vertreten können. Nur insoweit unterscheiden sie sich als die Zellen selbst, denen sie angehören, soweit nämlich, dass sie sich gegenseitig anziehen, sich finden und vereinigen können und dann die Entwicklung einleiten müssen, während sie es vorher jeder für sich nicht können. So verschieden auch Samen- und Eizelle nach Grösse, Beschaffenheit und Verhalten sind, in Bezug auf die Hauptsache sind sie gleich, sie verhalten sich — wie ich schon vor zwei Jahr- zehnten es ausdrückte — wie i : i, d. h. sie enthalten beide die gleiche Menge von einer, ihrem Wesen nach gleichen Ver- erbungssubstanz, und die Qualität dieser Substanz ist nur indi- viduell verschieden. Man sollte deshalb nicht von einem »männlichen« und »weiblichen« Kern sprechen, sondern nur von einem »väter- lichen« und »mütterlichen«. Alle neueren Versuche über »Merogonie«, d. h. über Entwicklung von Theilstücken des Eies bestätigen diese Ansicht. So beobachtete schon BOVERI , dass auch kleine Stücke von Seeigel-Eiern , welche nicht den Kern des Eies enthielten, sich nach dem Eindringen eines Spermatozoons zu einer kleinen, aber sonst normalen Larve der Art entwickelten, und neuerdings bewies HANS WlNKLER dasselbe für die Eizellen von Pflanzen, indem er die Eier einer Meeresalge (Cystosira) in zwei Stücke theilte, dieselben dann mit Sperma-haltigem Wasser befruchtete und nun aus beiden Stücken, dem kernhaltigen und dem kernlosen einen normal aussehenden Keimling erhielt. In dem & Letzteren also konnte nur ein »väterlicher« Kern die Entwicklung geleitet haben. Bedeutung der Amphimixis. 377 Fassen wir zusammen, so hat unsere Untersuchung" über die Be- deutung der Amphimixis uns zu der Erkenntniss geleitet, dass die- selbe in der Vereinigung gleicher Theile Vererbungssub- stanz von zwei verschiedenen Individuen zu ein und dem- selben Kern besteht, und dass die einzige nächste Folge derselben die Verbindung der Vererbungstendenzen zweier Individuen in einem einzigen ist. Bei den Vielzelligen ist dieses eine Individuum immer ein neues, da Amphimixis unauflöslich verbunden ist mit Fort- pflanzung , und auch bei den Einzelligen kann man kaum darüber streiten, dass die beiden Infusorien, welche sich aus der Conjugation wieder lösen, nicht mehr dieselben sind, die sie vorher waren. Sie müssen nach der Amphimixis eine andere Combination von Ver- erbungssubstanz enthalten als vorher und diese muss die Theile des Thieres in etwas modifizirter Form neu hervorrufen. Das kann theo- retisch nicht zweifelhaft sein , wenn es sich auch durch Beobachtung kaum feststellen lassen wird. So wissen wir denn also jetzt, was » Befruchtung « ist. Durch die Arbeit der letzten Jahrzehnte ist der Schleier von einem Mysterium der Natur hinweggezogen worden, welches Jahrtausende hindurch der Menschheit als unnahbar gegenüber stand, ein Räthsel ist gelöst, das man zu lösen noch vor wenigen Jahrzehnten nicht zu hoffen wagte. Nicht wenige Forscher haben an dieser Arbeit Theil genommen: Einige habe ich genannt, Alle könnte ich hier unmöglich nennen, die mit Beobachtung und Denkarbeit daran Theil gehabt haben. Wer immer aber dabei auch nur einen Schritt vorwärts geholfen hat, der wird sich sagen dürfen, dass er an einem wesentlichen Fortschritt unserer Erkenntniss mit thätig gewesen ist. Aber in der Wissenschaft von der Natur bedeutet jede neue Lösung auch das Emportauchen eines neuen Räthsels, und so stossen wir auch hierbei sofort auf die weitere Frage, weshalb denn nun aber die Natur diesen Vorgang der Mischung verschiedener Ver- erbungssubstanzen beinahe überall in der ganzen Orga- nismenwelt in den Gang der Entwicklung eingeschaltet hat. Das ist indessen eine Frage, deren Beantwortung wir erst dann in Angriff nehmen können, wenn wir uns zuvor mit den Erscheinungen der Vererbung näher bekannt gemacht, und den Versuch gewagt haben, aus ihnen rückwärts auf die Natur der Vererbungssubstanz zu schliessen, d. h. uns eine Theorie der Vererbung auszudenken. 78 Die Keimplasmatheorie. XVII. Vortrag. Die Keimplasmatheorie. Begriff der »Ide« abgeleitet aus dem Vorgang der Befruchtung p. 378, Vererbungs- substanz »Idioplasma« und Keimplasma p. 382, »Idanten« p. 383, Evolution oder Epi- genese? p.384, Gleichartige Keimsubstanz von Herbert Spencer p.389, Determinanten p. 389, Begründung; Lycaena Agestis p. 390. die Blattschmetterlinge p. 392, Insekten- Metamorphose, Gliedmassen der segmentirten Thiere p. 398, Heterotopien p. 402, Die letzten Lebenseinheiten oder »Biophoren« p. 404, Zahl der Determinanten p. 404, Schrillader der Heuschrecken p. 407. Meine Herren! Wenn ich nun dazu schreite, Ihnen eine Ver- erbungstheorie zu entwickeln, so wie sie sich mir im Laufe meiner eigenen wissenschaftlichen Entwicklung gestaltet hat, so möchte ich damit beginnen, Ihnen zu zeigen, dass in der Vererbungssubstanz der Keimzelle eines Thiers oder einer Pflanze nicht bloss die Anlagen von einem einzigen Individuum dieser Art enthalten sein könne, sondern vielmehr solche von mehreren, ja oft von vielen. Dass dem so sei, lässt sich auf mehrfache Weise erschliessen. Ich gehe aus von dem, wie ich glaube, erwiesenen Satz, dass die chromatische Substanz des Kerns die Vererbungssubstanz ist. Wir haben gesehen, dass dieselbe den Keimzellen jeder Art in Form einer bestimmten Zahl von Chromosomen zukommt, und dass diese Zahl bei den zur Befruchtung bestimmten Keimzellen, also bei den Geschlechts- zellen vorher auf die Hälfte herabgesetzt wird , und zwar , wie nun- mehr für eine ganze Reihe von Thieren erwiesen ist, durch die beiden letzten Zelltheilungen, die sog. Reifetheilungen. Wir wissen, dass die volle Zahl erst durch den Prozess der Amphi- mixis wieder hergestellt wird, indem die halbe Chromosomen-Zahl der männlichen und der weiblichen Keimzelle sich in einer Zelle, dem »be- fruchteten Ei« vereinigen und in einem Kern, dem sog. Furchungs- kern. Es bildet also die Vererbungssubstanz des Kindes sich halb aus väterlicher, halb aus mütterlicher Vererbungssubstanz, und wir haben gesehen, dass dies so bleibt während der ganzen Entwicklung Die Keimplasmatheorie. i7Q des Kindes, da bei jeder weiteren Zelltheilung jede der väterlichen und jede der mütterlichen Chromosomen sich durch Theilung ver- doppelt und die Spalthälften auf die beiden Tochterkerne vertheilt. Wenn nun die volle Vererbungssubstanz einer Keimzelle vor der Reduktionstheilung die sämmtlichen Anlagen des Körpers potentia enthält, was selbstverständlich ist, so muss nach der Reduktion jede Keimzelle entweder nur die Hälfte der Anlagen der Eltern enthalten — - oder aber es müssen auch in der halben Zahl der Chromo- somen schon sämmtliche Anlagen enthalten sein. Das Letztere scheint mir nun das allein Annehmbare zu sein, wie ich Ihnen sosjeich entwickeln werde, und damit ist gesagt, dass zum mindesten die Anlagen zu zwei vollständigen Individuen in den Chromosomen des Furchungskernes enthalten sein müssen. Dass dieser Schluss zutrifft, geht schon daraus hervor, dass ein ganzes, d. h. ein vollständiges Individuum mit allen seinen Theilen sich aus dem Ei entwickelt, nicht aber ein defektes. Denn gesetzt, es enthielte jede reife Keimzelle nur die Hälfte der Körperanlagen, so wäre es unmöglich, dass diese Hälften, wie sie der Zufall der Theilung gerade in den beiden in der Befruchtung sich vereinigenden Zellen zusammenführt, sich immer genau ergänzten, es müsste vielmehr viel häufiger vorkommen, dass sie nicht sich ergänzten, und dass aus ihrer Vereinigung ein Individuum hervorginge, dem gewisse Theile fehlten. Wenn z. B. in der Samenzelle nur die Vorderhälfte des Körpers potentia vertreten wäre, und diese vereinigte sich mit einer Eizelle, in welcher ebenfalls nur die Vorderhälfte als Anlagen ent- halten wäre, so müsste an dem aus einer solchen Befruchtung hervor- gehenden Embryo die Hinterhälfte des Körpers fehlen u. s. w. Natürlich kann an eine so grobe Vertheilung der Anlagen nicht ge- dacht werden, denke man sich aber auch die Halbirung der Anlagen- Masse so fein wie man will, es würde doch stets jede Garantie dafür fehlen, dass die beiden in Amphimixis verschmelzenden Zellen sich wieder zur Gesammt-Masse der Anlagen ergänzten; ja die Aussicht, dass die zwei sich vollständig ergänzenden Hälften der Anlagen-Masse zusammenträfen, würde sogar um so geringer, je feiner und mannig- faltiger man sich die Halbirung bei der Reduktionstheilung vorstellen wollte. Es würde aus der Combination der beiden Geschlechtskerne kaum jemals ein voller Embryo mit allen Theilen werden können, sondern bald diese, bald jene Gruppe von Theilen müsste fehlen, während eine andere doppelt sich bildete, oder doch in doppelter Anlage vorhanden wäre. 1 So Die Keimplasmatheorie. Nun lehren uns aber überdies die Thatsachen der Vererbung, dass die Ähnlichkeit mit Mutter und Vater sich gleichzeitig in allen oder doch eben in denselben Theilen des Kindes zeigen kann, wie ganz besonders klar aus den Pflanzen-Bastarden hervorgeht, und so ist denn die Folgerung unvermeidlich, dass auch in der halben Zahl der Chromosomen schon alle Anlagen des ganzen Körpers gegeben sind. Gehen wir nun eine Generation weiter. Die Art besitze vier Chromosomen, das Kind habe also in seinen Zellen zwei mütterliche Chromosomen A und zwei väterliche Chromosomen B; wie wird sich dies Verhältniss in den von ihm nun hervorgebrachten Keimzellen gestalten ? Die Reifungstheilung kann die Reduktion auf zwei Chromo- somen in verschiedener Weise ausführen, es können z. B. zwei väter- liche Chromosomen B in die eine, zwei mütterliche A in die andere Tochterzelle gelangen, es könnte aber auch ein väterliches B und ein mütterliches Chromosom A in die eine, und eine ebensolche Com- bination in die andere Zelle geführt werden. Verfolgen wir den letzteren Fall weiter, so würde eine Samenzelle, welche die Com- bination A und B enthielten, mit einer fremden Eizelle in Amphi- mixis zusammentreffen können, welche eine ähnliche Combination von Chromosomen enthielte, also ein Chromosom C von der Mutter und ein Chromosomen D vom Vater. So erhielten wir dann also im Furchungs- kern des befruchteten Eies vier verschiedene Chromosomen, deren jedes die Vererbungssubstanz eines Grosselters enthielte; wir hätten die vier Chromosomen: A, B, C, B>, als die Vererbungssubstanz des Enkels. Da nun aber — wie wir gesehen haben — die halbirten Ver- erbungssubstanzen immer noch die volle Anlagenmasse enthalten, so muss also jede dieser vier Chromosomen sämmtliche An- lagen zu dem ganzen Körper des betreffenden Grosselters enthalten1. Die Vererbungssubstanz im befruchteten Ei 1 Wenn ich sage: »sämmtliche« Anlagen zu dem ganzen Körper des Gross- elters, so isr das insofern nicht ganz genau ausgedrückt, als wie wir später noch sehen werden, jedes Individuum aus dem Zusammenwirken verschiedener Chromosomen ver- schiedener Abkunft entstehen muss, nicht aber nur aus einem einzigen der in seinem Keimplasma enthaltenen Chromosomen. Der Körper jedes Grosselters in dem obigen Beispiel kann also auch nicht blos aus dem einen Chromosom hervoreeeanp'en sein, L O & fc> ' welches sich in die Keimzelle des Enkels übertrug, sondern aus dem Zusammenwirken dieses Chromosoma mit drei anderen, die sich auf andere genealogische Pfade ver- theilt haben. Das hat aber weiter keinen Einfluss auf obige Beweisführung, denn es handelt sich hier nicht darum, ob alle Anlagen des Grosselters im Enkel vorhanden sind — das kann nie der Fall sein — , sondern ob die von ihm herstammenden An- lagen den ganzen Leib eines Individuums repräsentiren. Die Keimplasmatheorie. 38l besteht also aus mehreren Komplexen von Anlagen (Chro- mosomen), deren jede alle Anlagen zu einem vollständigen Individuum in sich begreift. Es lässt sich aber noch auf eine andere Weise anschaulich machen, dass durch die geschlechtliche Fortpflanzung das Keimplasma jeder Art aus mehreren und zwar individuell verschiedenen Iden sich zusammensetzen muss. Nehmen wir an, es gäbe noch keine Amphi- Fig. 87. Schema zur Veranschaulichung der Wirkung der Amphimixis auf die Zu- sammensetzung des Keimplasmas aus verschiedenartigen Ahnenplasmen oder Iden. A — D Die Ide des Keimplasraas von vier sich folgende^ Generationen, A aus nur zwei Arten von Iden bestehend, B aus vier, C aus acht, D aus 16 Arten; pJ und mJ väterliche und mütterliche Ide, p2J grossväterliche, /3jurgrossväterliche, /4<7ururgross- väterliche Ide. Die Zeichen in den Iden deuten ihre individuell verschiedene Natur an. mixis und wir könnten ihre Einführung in die Organismenwelt mit- erleben, die Vererbungssubstanz der bisher lebenden und durch Theilung sich fortpflanzenden Wesen bestände aus mehr oder minder zahlreichen, aber untereinander gleichen Chromosomen, so dass z. B. in jedem Einzelnen 16 identische Ide enthalten seien. Wenn nun zum ersten Mal Amphimixis stattfände, und zwar so wie heute, d. h. nach Reduktion der Ide-Zahl auf die Hälfte, so würden sich also in der ersten Amphimixis acht väterliche mit acht mütterlichen Iden zum Keimplasma des neuen Wesens vereinigen, wie dies in Fig. &"] A durch Weismann, Descendenztheorie. 24 ö 8 2 Die Keimplasmatheorie. einen Kreis von Kügelchen angedeutet ist, von denen als Zeichen ihrer Verschiedenheit zehn weiss und zehn schwarz angegeben sind. Man mag sich unter der Figur etwa die »Aequatorialplatte« einer Kernspindel mit ihren in einem Kranz angeordneten Iden vorstellen. Wenn nun zwei Wesen dieser Generation mit zwei Idarten sich wieder in Amphi- mixis verbinden nach vorhergegangener Reduktion der Ide, so er- halten wir die Fig. B, in welcher links vom Strich die väterlichen Ide (//), rechts davon die mütterlichen sich befinden (1/1J), während jeder Halbkreis wieder von zweierlei Iden, den grosselterlichen zu- sammengesetzt ist [p'J und mzJ, p'J' und uf-T). Die Figuren C und D veranschaulichen die zwei folgenden Generationen, in welchen die Zahl der identischen Ide jedesmal um die Hälfte abnimmt, weil wieder acht fremde Ide beigemischt werden; in C sind nur je zwei Ide noch identisch, in D aber sind alle Ide individuell verschieden, weil sie von verschiedenen Ahnen derselben Art abstammen. Natürlich wird dies nur der Fall sein bei Ausschluss von Inzucht, da durch diese die Ide desselben Vorfahren von zwei oder mehr Seiten her in dem- selben Keimplasma zusammentreffen können; fortgesetzte Inzucht ist aber in der freien Natur, wie wir später noch sehen werden, eine seltene Ausnahme. Ich nenne nun die Vererbungssubstanz einer Zelle ihr »Idioplasma« nach dem Vorgang von NäGELI, der dasselbe zwar im Zellkörper suchte, nicht im Zellkern, auch theoretisch es sich anders wirkend dachte, der aber den Begriff desselben, als einer den ganzen Bau des Organismus bestimmenden »Anlagensubstanz« im Gegensatz zu dem gewöhnlichen Protoplasma, wie wir sahen, zuerst fasste und begründete. Jede Zelle enthält Idioplasma, da jede in ihrem Kern Chromatin ent- hält, das Idioplasma der Keimzelle aber bezeichne ich als Keimplasma oder als Anlagensubstanz für den gesammten Organismus, die soeben als vorhanden nachgewiesenen Complexe der zu einem ganzen In- dividuum erforderlichen Anlagen aber als »Ide«. In vielen Fällen dürften diese Ide mit den »Chromosomen« zusammenfallen, wenigstens in allen denjenigen, in welchen diese Chromosomen einfach, d. h. nicht aus mehreren gleichgeformten Gebilden zusammengesetzt sind. So wird man bei dem Salzkrebschen, Artemia salina, welches 168 kleine körnerförmige Chromosomen besitzt, jedes dieser Chromosomen als Id zu betrachten haben, denn jedes derselben kann unter Umständen bei der Reduktionstheilung aus dem Ei entfernt, und bei der Be- fruchtung mit den verschiedensten Combinationen von anderen Chro- mosomen zusammengeführt werden. Jedes derselben muss also voll- Die Keimplasmatheorie. 3Ö0 ständiges Keimplasma in dem Sinn sein, dass alle Theile eines Indi- viduums virtuell in ihm enthalten sind: jedes ist eine biologische Einheit, ein Id. Wenn wir aber bei manchen Thieren grössere schleifen- oder auch stäbchenförmige »Chromosomen« beobachten, und wenn diese, wie z. B. bei der vielgenannten Ascaris megalocephala aus einer Reihe von Körnern zusammengesetzt sind, so wird ein jedes dieser Körner als Id zu betrachten sein. In der That finden wir denn auch statt der zwei oder vier grossen stäbchenförmigen Chromosomen der Ascaris megalocephala bei anderen Ascaris-Arten eine grössere Zahl kleiner kugeliger Chromosomen. Zusammengesetzte, aus mehreren Iden bestehende Chromosomen, wie es wohl alle Stäbchen- oder schleifenförmigen Elemente der Kern- substanz sind, bezeichne ich als »Idanten«. Ihre Zusammensetzung Fig. 88. Samen-Mutterzellen Spermatocyten des Salamanders). A Querschnitt der Zelle im Aster-Stadium; die Chromosomen [ehr) oder »Idanten« lassen ihre Zusammen- setzung aus Iden nicht erkennen, welche dagegen in B deutlich hervortritt, wo sich die Chromosomen (Idanten) bereits längsgespalten zeigen, c Centrosphären; nach Hermann und Drüner. aus mehreren Einzel -Iden tritt wegen der Kleinheit des Objektes nicht immer deutlich hervor, und selbst bei den grösseren unter ihnen nur in gewissen Stadien. Fig. 88, A und B zeigen beide eine »Sperma« -Mutterzelle des Salamanders, A in einem früheren Stadium, in dem die einzelnen lde nicht sichtbar sind, B in einem späteren Stadium, in welchem die Schleifen sich gespalten haben und zugleich die rosenkranzförmige Zusammensetzung hervortritt. Man kann also nicht jedem Chromosoma sofort ansehen, ob es einem oder mehreren Iden entspricht. Bei genauerem Eindringen in die Vorgänge der Reduktionstheilung hat sich gezeigt, dass es »mehrwerthige,« d. h. aus mehreren Iden zusammengesetzte Chromosomen gibt, deren Plurivalenz man nicht direkt erkennen, sondern nur aus ihrer weiteren Entwicklung erschliessen kann; es gibt doppelwerthige und vierwerthige Chromosomen, die wir uns aus zwei oder aus vier Iden zusammen- gesetzt zu denken haben. Es würde uns zu weit führen, wollte ich 24* 384 Die Keimplasmatheorie. darauf genauer eingehen , auch bedürfen wir nach Plan und Absicht dieser Vorträge eines Eingehens auf diese intimsten und heute noch umstrittenen Verhältnisse nicht. So setzt sich also das Keimplasma einer jeden Thier- und Pflanzen- art aus einer grösseren oder geringeren Zahl von Iden oder Personen- Anlagen zusammen, und erst durch ihr Zusammenwirken wird das aus dem Ei sich entwickelnde Individuum bestimmt. Es fragt sich nun weiter, welche Vorstellung wir uns von der Be- schaffenheit und Wirkungsweise eines Ids bilden können. Ich habe bereits von »Anlagen« gesprochen, aus welchen die Keim- substanz bestehe, aber welches Recht haben wir, uns die Theile eines Thieres in irgend einer Form schon im Keim enthalten zu denken, und ist es nicht ebenso gut möglich, dass derselbe aus Theilchen be- steht, von welchen keines schon im Voraus in bestimmter Beziehung zu den Theilen des fertigen Thieres steht, könnte nicht die Keimzelle sammt ihrem Kern nur Umwandlungen erleiden, und gesetzmässige Veränderungen eingehen, die successive immer wieder Neues, nämlich die verschiedenen Entwicklungsstufen schaffen, bis schliesslich das fertige Thier erreicht ist? Wir stehen hier vor einem alten Problem, vor alten Gegensätzen der Auffassung, vor den Theorien der Evolution und der Epigenese, die schon vor langer Zeit zum ersten Mal gegeneinander ins Feld geführt, bis zum heutigen Tage sich bekämpfen, wenn auch in neuem Gewand. Die Evolutionslehre ist vor Allem an den Namen BoNNETs geknüpft, der sie im achtzehnten Jahrhundert am eingehendsten aus- gearbeitet hat. Sie behauptet, dass die Entwicklung des Eies zum fertigen Thier eigentlich keine Neuschaffung sei, sondern nur eine Entfaltung schon im Ei anwesender, unsichtbar kleiner Theile. Sie nimmt an, dass die Theile des fertigen Organismus vorgebildet seien im Ei, daher sie auch Präformationstheorie genannt wird. BONNET spricht öfters geradezu von der Präformation des fertigen Thieres im Keim als eines »Miniaturbildes«, w7enn er sich die Entwicklung auch nicht so roh dachte, als ihm öfters untergeschoben wird. Er betonte sogar ausdrücklich, dass dieses Miniaturbild nicht völlig gleich sei dem fertigen Organismus, sondern aus den »Elementartheilen allein- be- stehe, die er sich als ein Netz dachte, dessen Maschen während der Entwicklung durch Ernährung mit unendlich vielen andern Theilen ausgefüllt werden. Immerhin waren seine Vorstellungen, wie über- haupt diejenigen seiner Zeit noch weit ab von unserem heutigen Die Keimplasmatheorie. 3^5 biologischen Denken, wie Sie vielleicht am kürzesten daraus ersehen können, wenn ich Ihnen sage, dass er den Tod und die Verwesung als eine Involution , gewissermassen als eine Zurückfaltung auffasste, durch welche jene durch Ernährung gewonnenen Theilchen wieder entfernt werden, so dass das Netz des Miniaturbilds nun wieder zu- sammenschrumpft zu der unsichtbaren Kleinheit, die es im Ei hatte; so bleibt es, bis es dereinst zur Auferstehung im Sinne der Religion erweckt wird! Später Hess er diese Phantasie wieder fallen, weil ihm eingeworfen worden war, dass ja dann Menschen, die ein Bein oder einen Arm während ihres Lebens verloren hätten, auch bei der Auf- erstehung verstümmelt erscheinen müssten ! Man kannte damals die Entwicklungs-Erscheinungen selbst noch gar nicht, nicht einmal die Entwicklungsstadien des Hühnchens im Ei waren beobachtet worden. Als dies später geschah, musste auch die damalige Theorie der Evolution fallen, denn man sah nun mit eignen Augen, dass nicht etwa ein Miniaturbild des Hühnchens sich allmälig zur Sichtbarkeit und schliesslich zum jungen Küchlein vergrösserte, sondern, dass zuerst Theile im Ei sich zeigten, die mit dem Hühnchen gar keine Ähnlichkeit hatten, dass dann diese ersten Anlagen sich veränderten, und dass so durch fortwährende Neu- und Umbildungen schliesslich das Hühnchen zu Stande kommt. Darauf nun baute K. v. WOLFF seine Theorie der Epigenese auf, der Entwicklung durch Neu- und Umbildung. Er schloss: die Lehre von der Evolution ist falsch; es ist kein Miniaturbild unsichtbar im Ei enthalten, sondern aus der einfachen Eisubstanz entsteht durch die in ihm liegenden Bildungskräfte eine lange Reihe von Entwicklungsstadien, von denen das folgende immer verwickelter gebaut ist, als das vorhergehende, bis schliesslich das fertige Thier erreicht ist. Einen bedeutenden Fortschritt bezeichnete das immerhin, war doch damit der Anfang gemacht zu einer Wissenschaft der Embryologie, cl. h. zur Lehre von der Formentwicklung des Thieres und der Pflanze aus dem Ei. In theoretischer Beziehung aber war der Erfolg minder gross, denn damit, dass man weiss, das junge Thier durchlaufe eine lange Reihe verschiedenartiger Formen, hatte man noch nicht erfahren, auf welche Weise, durch welche Mittel denn die Natur das Wunder hervorbringt, aus der scheinbar so einfachen Substanz des Eies allmälig ein so verwickelt gebautes Thier hervorgehen zu lassen. Man half sich einfach, indem man dem Ei eine Gestaltungskraft beilegte, von BLUMENBACH später als Nisus formativus bezeichnet, welche eben die Fähigkeit besitzt, aus dem einfachen »Schleim« — wir würden ß86 Die Keimplasmatheorie. heute sagen, dem einfachen Protoplasma — ein complicirtes Thier auszugestalten. Halten wir das eigentlich Theoretische in beiden Anschauungen gegeneinander, so nahm BONNET das Ei als etwas nur scheinbar Einfaches, in Wahrheit aber fast ebenso Komplizirtes, als das aus ihm entwickelte Thier, und er Hess das Letztere demgemäss sich nicht neu bilden, sondern nur ent— wickeln, das heisst die vorhandene Anlage in die Erscheinung treten, sichtbar werden. WoLFF dagegen nahm das Ei als das, was es zu sein schien, für ein wirklich Ein- faches, aus welchem erst der Nisus formativus ein Wesen der be- treffenden Art unter Durchlaufung zahlreicher Um- und Neubildungen machen kann. Wolff's Epigenesis hat die Theorie Bonxet's so völlig aus dem Feld geschlagen, dass bis in die neueste Zeit hinein Epigenesis allein als wissenschaftlich berechtigte Theorie betrachtet wurde, und eine Rückkehr zur Evolution als Rückschritt gegolten haben würde, als Umkehr zu einer glücklich überwundenen Periode der Phantasterei. Ist mir doch in Bezug auf meine eigene evolutionistische Theorie zu- gerufen worden, die Richtigkeit der Epigenese sei unerschütterlich begründet, sie sei eine Thatsache, man sähe sie ja vor sich gehen! Aber was ist denn hier Thatsache? Doch wohl nur das Auf- einanderfolgen zahlreicher verschiedener Entwicklungsstufen, wie wir sie jetzt in der That von einer grossen Zahl von Thieren recht genau kennen, dann das Nichtvorhandensein des von BüNNET vermutheten Miniaturbildes im Ei. Über Beides kann allerdings heute kein Zweifel mehr sein. Damit ist aber noch keine Entwicklungstheorie gegeben, denn Theorie ist nicht die Beobachtung einer Erscheinung oder Erscheinungsreihe, sondern die Erklärung derselben. Die Epigenesis, wie sie schon ARISTOTELES, später wieder HARVEY, Wolff und BLUMENBACH aufstellten, sollte zwar sicherlich eine Er- klärung der Entwicklung sein, aber nicht dadurch, dass man sich einfach nur auf das Beobachtete bezogen hätte, sondern indem man weit darüber hinausging, und einerseits den Schein einer homo- genen Keimsubstanz für Wirklichkeit nahm, andererseits eine be- sondere Kraft voraussetzte, welche aus dem homogenen Keim den heterogenen Organismus hervorgehen lassen sollte. Wir werden uns nun heute mit keiner dieser beiden Annahmen befreunden können, denn wir wissen, dass die Keimsubstanz nicht homogen, überhaupt nicht blos eine Substanz, sondern eine lebende Die Keimplasmatheorie. iS/ Zelle von komplizirtem Bau ist, und wir glauben nicht mehr an eine besondere Lebenskraft, also auch nicht an eine besondere Entwick- lungskraft, die ja nur eine Modifikation jener sein könnte. Wir stehen also der alten Epigenese eben so fremd gegenüber, als der alten Evolution und müssen eine Entwicklungs- und Vererbungstheorie auf neuer Basis aufrichten. Welches diese Basis sein wird, kann im Allgemeinen nicht zweifelhaft sein. Wenn das Bestreben der ganzen neueren Biologie dahin geht, das Leben aus dem Aufeinanderwirken der an die Materie gebundenen physikalischen und chemischen Kräfte mehr und mehr begreifen zu lernen, dann fällt auch die Entwicklung unter dieses Bestreben, denn Entwicklung ist ein Theil des Lebens. Wir suchen die Mechanik des Lebens zu verstehen und als einen Theil davon die Mechanik der Entwicklung und der damit eng verknüpften Vererbung. Wollten wir das Problem der Vererbung an der Wurzel anpacken, so müssten wir zuerst versuchen, den Lebensvorgang selbst als ein physikalisch-chemisches Geschehen zu begreifen. Das wird nun viel- leicht der Zukunft bis zu einem gewissen Punkte gelingen, wollten wir aber darauf warten, so würden wir eine theoretische Zurechtlegung der Entwicklungs- und Vererbungserscheinungen einstweilen ganz zurückstellen, vielleicht sogar ad calendas graecas vertagen müssen. Es würde das etwa so sein, als wenn man in der praktischen und theoretischen Medizin mit dem Untersuchen und Denken über Krank- heiten solange hätte warten wollen, bis die normalen, nicht krank- haften Vorgänge des Lebens vollständig klar gelegt gewesen wären. Dann wüssten wir heute noch Nichts von Bakterien-Krankheiten und Hunderterlei anderen Errungenschaften der Pathologie, und auch die Physiologie befände sich noch weit zurück hinter ihrer heutigen Höhe, wenn ihr der befruchtende Einfluss der Erfahrungen am kranken Men- schen und die aus ihnen geschöpften wahren und falschen Vorstellungen und Theorien gefehlt hätten. So brauchen wir auch eine Theorie der Entwicklung und Vererbung, wenn wir tiefer in diese Er- scheinungen eindringen wollen, auch wenn wir noch weit von einer vollen kausalen Erkenntniss der Lebensvorgänge ent- fernt sind. Denn die rohe, gewissermassen zufällige Beobachtung bringt uns allein nicht weiter, sie muss von dem Gedanken ge- leitet, und damit auf ein Ziel gerichtet sein. Es ist aber auch sehr wohl möglich, von einer Erklärung des Lebens selbst einstweilen ganz abzusehen, die Lebens-Elemente als gegeben anzunehmen, und auf dieser Grundlage eine Theorie der 3 88 Die Keimplasmatheorie. Vererbung aufzubauen. Wir haben dazu bereits einen Anlauf ge- nommen, haben festgestellt, dass nicht die ganze Substanz des be- fruchteten Eies in gleicher Weise bei der Vererbung betheiligt ist, dass vielmehr nur ein sehr kleiner Theil derselben, das Chromatin des Kerns als Träger der Vererbungstendenzen anzusehen ist, und haben weiter erschlossen, dass dieses Chromatin aus einer verschie- denen Zahl kleiner, aber doch noch sichtbarer Einheiten besteht, den Iden, von welchen jedes virtuell den ganzen Organismus repräsentirt, oder, wie ich es ausdrückte, von denen jedes alle Theile zu einem fertigen Thier als Anlagen in sich enthält. An diese »Anlagen« hatten wir dann die Abschweifung über BONNET's Evolutionstheorie und WOLFF's Epigenese angeschlossen. Wenn wir uns nun fragen, von welcher Beschaffenheit ein solches Chromatinkügelchen, ein Id sein müsse, damit es, eingeschlossen im Kern einer lebenden Fortpflanzungszelle die Bildung eines neuen Organismus leite, welches seinem Elter ähnlich ist, so bieten sich uns zwei Grund-Annahmen dar, die auch ganz unabhängig von der Annahme von Iden sich an jedes »Keimplasma« anknüpfen lassen. Entweder nämlich denken wir uns das Id aus gleichen oder auch aus verschiedenartigen Theilchen derart zusammengesetzt, dass keines derselben eine feste Beziehung zu Theilen des fertigen Thieres hat, oder wir denken es uns zusammengesetzt aus einer Menge ver- schiedenartiger Theilchen, von welchen jedes in Beziehung zu bestimmten Theilen des fertigen Thieres steht, also ge- wissermassen die »Anlage« desselben vorstellt, ohne dass aber irgend eine Ähnlichkeit zwischen diesen »Anlagen« und den fertigen Theilen da zu sein braucht. Die Annahme einer Keimsubstanz aus gleich- artigen Theilchen, wie sie z. B. von HERBERT Spe?\CER gemacht worden ist, lässt sich als modern umgestaltete Epigenesis bezeichnen, die letztere Annahme aber als modern umgestaltete Evolutions- Theorie. Da es der Ersteren nicht mehr gestattet ist, einen »Bildungs- trieb« als Deus ex machina zu Hülfe zu rufen, so vermag sie die Ent- wicklung nur dadurch zu erklären, dass sie dieselbe aus der Einwirkung äusserer Einflüsse, Temperatur, Luft, Wasser, Schwere, Lagebeziehungen der Theile — auf die überall gleich gemischten chemischen Bestand- theile der Keimsubstanz herleitet, und es macht dabei keinen Unter- schied, wenn man sich auch diese gleichmässige Keimsubstanz aus vielen verschiedenartigen Theilchen zusammengesetzt denkt, sobald diese Theilchen die ganze Keimsubstanz in gleichmässiger Mischung* ausmachen, und keine Beziehung zu bestimmten Theilen des werden- Die Keimplasmatheorie. 3&9 den Thieres haben. OSCAR HERTWIG hat vor Kurzem eine solche Theorie entworfen. Wenn ich Ihnen dieselbe auch hier nicht vor- führen kann, so muss ich doch so viel wenigstens über sie und alle Entwicklungstheorien, die auf gleicher Basis errichtet werden könnten, sagen, dass man sie auch dann nicht annehmen dürfte, wenn sie im Stande wären, eine brauchbare Erklärung für die Ent- wicklung des Individuums zu geben, und zwar deshalb, weil die Onto- genese nicht eine isolirte Erscheinung ist, die man für sich ohne Rück- sicht auf die Gesammtentwicklung der Lebewelt erklären darf, denn sie hängt aufs innigste mit dieser zusammen, sie ist geradezu ein Stück von ihr, ist, wie wir noch sehen werden, aus ihr entstanden, und bereitet ihrerseits den weiteren Verlauf derselben wiederum vor; die Ontogenese muss in Übereinstimmung mit der Phylo- genese, und durch dieselben Prinzipien erklärt werden. Damit ist aber die Annahme einer anlagenlosen, oder gar, wie Herbert Spencer will, völlig homogenen Keimsubstanz unvereinbar, denn sie widerspricht — wie sich zeigen wird — - gewissen Thatsachen der Vererbung und der Variation, und deshalb müssen alle Theorien, die sich darauf aufbauen, unannehmbar bleiben. Es gibt noch eine andere, und wie ich glaube schwerwiegende Überlegung, welche uns verbietet, eine anlagenlose Keimsubstanz an- zunehmen. Ich werde später darauf zurückkommen, möchte aber jetzt zunächst meine »Keimplasmatheorie« noch vollends ausbauen. Ich nehme nun an, das Keimplasma bestehe aus einer grossen Menge differenter lebender Theilchen, von welchen jedes in bestimmter Beziehung zu bestimmten Zellen oder Zellenarten des zu bildenden Organismus steht, d. h. aus »Anlagen« in dem Sinn, dass ihre Mit- wirkung beim Zustandekommen eines bestimmten Theils des Orga- nismus nicht entbehrlich ist, so dass also dieser Theil durch jenes Theilchen des Keimplasmas in seiner Existenz wie in seiner Natur bestimmt wird. Ich nenne diese Letzteren deshalb: Determinanten, Bestimmungsstücke, und die durch sie bestimmten Theile des fertigen Organismus: Determinaten oder Vererbungsstücke. Worauf diese Annahme sich gründet, ist leicht deutlich zu machen; die Erscheinungen der Vererbung, zusammengehalten mit denjenigen der Variation zwingen dazu, wie mir scheint. Wir wissen, dass alle Theile des Organismus variabel sind, bei dem einen Indivi- duum ist derselbe Theil grösser, bei dem anderen kleiner. Nicht alle Variationen sind erblich, aber viele und darunter sehr minutiöse sind__ es. So kommt z. B. in manchen menschlichen Familien vor dem 'libRARY1 uJ i-'""- !2 ßQO Die Keimplasmatheorie. Ohr ein kleines, kaum stecknadelkopfgrosses Grübchen in der Haut vor, dessen Vererbung von der Grossmutter auf den Sohn, und mehrere Enkel ich beobachtet habe. Hier muss also im Keimplasma irgend ein kleines Etwas enthalten gewesen sein, welches bei anderen Menschen fehlt, und welches es mit sich brachte, dass im Laufe der Entwicklung an dieser kleinen Hautstelle die Abnormität entstand. Es gibt menschliche Familien, in welchen wiederholt und in mehreren Generationen Individuen vorkommen, die an einer Stelle des sonst dunkel behaarten Kopfes ein weisses Haarbüschel tragen. Auf äussere Einflüsse kann dasselbe nicht bezogen werden, es muss auf einer Verschiedenheit des Keimes beruhen, und zwar auf einer solchen, welche nicht den ganzen Körper beeinflusst, nicht einmal alle Haare des Kopfes, sondern nur die Haare einer bestimmten kleinen Stelle der Kopffläche. Es ist dabei gleichgültig, ob die weisse Farbe des Haarbüschels von einer abnormen Beschaffenheit der Matrix-Zellen der Haare , oder anderer histologischer Elemente der Haut, etwa der Gefässe oder der Nerven hervorgerufen wird — sie kann in letzter Instanz immer nur auf einer abweichenden Be- schaffenheit des Keimplasmas beruhen, welche nur an dieser einen Stelle der Haut sich geltend macht, nur diese verändert, wenn sie selbst anders ist als gewöhnlich, und welche ich deshalb die Deter- minante der betreffenden Hautstelle und Haargruppe nenne. Beim Menschen verlieren sich solche kleine ganz lokale Varia- tionen meist wieder nach einer Anzahl von Generationen; allein bei den Thieren gibt es unzählige Erscheinungen, welche uns beweisen, dass vereinzelte kleine Abweichungen dauernd werden können. So lebt in ganz Mittel-Europa ein brauner »Bläuling«, Lycaena Agestis, welcher auf der Mitte seiner Flügel einen kleinen schwarzen Fleck hat. Dieselbe Art kommt auch in Schottland vor, hat aber dort statt des schwarzen Flecks einen milchweissen, wie denn auch die sog. »Augenflecke« auf der Unterseite des Flügels ihre schwarzen Kerne verloren haben. Die Art hat sich also hier erblich verändert, aber nur in Bezug auf diese bestimmten Stellen des Flügels. Es muss also eine kleine Veränderung im Keimplasma eingetreten sein, welche sich nur an diesen wenigen Stellen des Körpers geltend macht, oder anders ausgedrückt: die beiden Keimplasmen der Stamm- art und der Abart können sich nur durch eine Verschiedenheit unter- scheiden, welche lediglich diese Stellen in ihrer Schuppenfarbe be- stimmt — nach meiner Ausdrucksweise: welche die Determinante jener Flügelschuppen ist. Determinanten. 39^ Nun wissen wir aber schon durch die künstliche Züchtung", die der Mensch mit seinen Hausthieren und Nutzpflanzen vorgenommen hat und noch immer vornimmt, dass beliebige Stellen und Theile des Körpers erblich verändert werden können, wenn man die sich darbietenden gewünschten Variationen des Theils stets wieder zur Nachzucht auswählt, und es brauchen dadurch nicht nothwendig auch andere Theile des Körpers verändert zu werden. Wenn z. B., wie DARWIN einmal anführt, der liegende Kamm eines spanischen Hahns entsprechend der gestellten Preisaufgabe aufrecht gemacht wird, oder gewisse Hühnerrassen mit »Barten versehen« werden, so erfolgt eine Veränderung dieser Rassen nur an diesen Theilen, und ebenso, wenn die Schwanzfedern des japanischen Hahns bis zu 3 Fuss verlängert werden, ändert sich das übrige Gefieder des Thieres nicht, geschweige denn irgend welche anderen äusseren oder inneren Theile. Wohl gibt es zahlreiche »korrelative« Veränderungen, und in gar manchen Fällen verändert der Züchter neben dem beab- sichtigten Charakter noch einen zweiten oder dritten, den er nicht ins Auge gefasst hatte, aber nothwendig und überall unvermeidlich sind solche begleitende Veränderungen nicht, ja wir brauchen sie keineswegs überall auf wahre Correlation der Theile zu beziehen, sondern dürfen vermuthen, dass sie nicht selten auf unserer mangel- haften Beobachtungsgabe beruhen, die eben nicht im Stande ist. gleichzeitig mehrere Theile des Körpers genau zu kontrolliren und minimale Veränderungen an Theilen zu bemerken, die wir nicht be- sonders ins Auge gefasst haben. Soviel jedenfalls ist sicher, dass in allen diesen Fällen künstlicher Abänderung einzelner Charaktere das Keimplasma irgendwie verändert wird, aber immer derart, dass es sich von dem der Stammform nur durch solche Veränderungen unterscheidet, welche bewirken, dass nur die abgeänderten Theile dadurch beeinflusst werden, nicht aber der ganze Organismus, und das heisst wieder nichts Anderes, als dass nur die Determinanten jener Theile abgeändert haben. Nun können wir aber an tausenderlei Fällen sehen, dass im Natur- zustand genau Dasselbe geschieht, dass auch dort ein Theil nach dem anderen abändert, bis die möglichst grosse Anpassung an die Ver- hältnisse erreicht ist. Bei den Blattnachahmungen der Schmet- terlingre tritt das vielleicht am schärfsten hervor, denn hier kennen wir das Vorbild, das Blatt, und sehen nun, wie sich die eine Art demselben nur ungefähr in der Totalfärbung nähert, wie bei einer 392 Die Keimplasmatheorie. anderen schon ein brauner Streifen über den Hinterflügel schräg hin- zieht, der bis zu einem gewissen Grad die Mittelrippe eines Blattes vortäuscht, wie dieser bei einer dritten Art sich ein Stückchen weit auf den Vorderflügel hinüber fortsetzt, bei einer vierten noch etwas weiter auf demselben hinläuft, bis er schliesslich bei einer fünften bis zur Spitze der Vorderflügel -9 L1 rh-B Fig. 13 (wiederholt). Kailima parallecta aus Indien, rechte Unterseite des sitzenden Schmet- terlings. K Kopf, Lt Lippentaster, B Beine, V Vorder-, II Hinterflügel ; St Schwänzchen des Letzteren, den Stiel des Blattes darstellend; gl1 u. gl2 Glasflecke, Aufl Reste von Augenflecken. sich fortsetzt. So verhält es sich z. B. bei der artenreichen Gattung Anaea. Aber auch dann ist noch eine Steigerung der Ähnlichkeit möglich, denn, wie ja wohlbekannt, kommen nicht selten noch Nachahmungen von den Seitenrippen eines Blat- tes hinzu, oder dunkle Flecken, welche die Schimmelflecke auf einem feuchten faulenden Blatt getreu wiedergeben, oder farb- lose, glashelle Stellen, welche wohl Thautropfen vortäuschen u. s. w. Alles dies sind Ab- änderungen, die sich auf ein- zelne, distinkte Gruppen von Flügelschuppen beziehen , die somit einzeln erblich verändert worden sind, d. h. deren jede von einer Veränderung des Keimplasmas hervorgerufen wurde, welche keine andere Stelle des Körpers veränderte, als eben diese. Nehmen wir einmal den un- möglichen Fall, wir könnten die Entwicklung eines solchen Blattschmetterlings miterleben, so würde der Anfang der Blattnachahmung darin seinen Grund haben können, dass eine Kallima-Stammform, die bisher auf Wiesen lebte, in einem Theil ihrer Nachkommen in den Wald übersiedelte, sich also der Lebens- weise nach in zwei Gruppen sonderte, eine Wiesen- und eine Wald- form. Die Letztere passte sich nun dem Sitzen zwischen Blättern an, und bildete die Mittelrippe eines Blattes auf ihren Flügeln aus. Begründung der Determinanten. 39 t In einem Anlagen-losen Keimplasma könnte diese Veränderung nur auf gleichmässiger Veränderung aller Theilchen desselben beruhen, denn diese Theilchen sind ja entweder untereinander gleich oder doch von demselben Werth für jeden Theil des fertigen Organismus. Das Keimplasma der neuen Rasse muss aber doch irgendwie sich unterscheiden von dem der Stammart, sonst könnte es nicht eine Abänderung, sondern müsste die Stammart hervorbringen. Wie soll nun aber aus einem in allen seinen Theilchen veränderten Keimplasma ein Thier hervorgehen, das nur an einer kleinen Stelle von seinen Vorfahren abweicht? und wie sollen sich solche kleine Abänderung^- schritte vielfach im Laufe der Phylogenese wiederholen können, ohne dass die korrespondirenden Veränderungen des Keimplasmas so stark würden, dass nicht nur jene Flügelzeichnung, sondern geradezu Alles, was an dem Thier ist, zugleich mit verändert würde? Und doch sind solche Blattbilder nicht plötzlich entstanden, sondern in vielen kleinen Schritten, es müsste also das Keimplasma in toto Hundertmal suc- cessiv verändert worden sein, falls es keine Anlagen gäbe. Bei der indischen Art Kallima parallecta lassen sich nicht weniger als fünf wohl charakterisirbare Varietäten nachweisen, deren Unter- schiede lediglich auf der Art beruhen, in welcher das Blattbild auf ihrem Flügel ausgeführt ist, die Oberseite der Flügel ist bei Allen gleich. Schon bei flüchtiger Betrachtung einer Auswahl dieses Schmetterlings sieht man sofort, dass nach Zahl, Deutlichkeit und Länge die Seitenrippen des Blattbildes ganz verschieden sind bei verschiedenen Individuen. Auf der rechten Blatthälfte können ihrer bis sechs angedeutet sein (Fig. 13), und dann bemerkt man, dass die drei mittleren davon am längsten, schärfsten und dunkelsten sind, während die gegen die Spitze und die Basis des Blattbildes hin ge- legenen kürzer und oft auch schattenhafter werden. Auf der linken Seite lässt besonders die zweite Nebenrippe noch deutlich die Ein- buchtungen bemerken, welche die von den Vorfahren ererbte Binde aufwies, die die heute noch sichtbaren Augenfiecke [Aitfl) umsäumte; die dritte Nebenrippe ist ganz unbestimmt und schattenhaft, läuft aber trotzdem schon genau parallel den beiden ersten und erhöht dadurch die täuschende Wirkung des Bildes. Man unterscheidet also ältere und jüngere Zeichnungselemente; ein Beweis für die. langsame und successive Entstehung des Bildes. Das ist mit der Vorstellung einer Anlagen-losen, wenn auch noch so komplizirt gemischten Keimsubstanz nicht vereinbar. Eine Sub- stanz, die Tausende und Abertausende von gesetzmässig und in 394 *-^e Keimplasmatbeorie. strengster Reihenfolge auseinander hervorgehende Veränderungen duchlaufen müsste, damit aus ihr der bestimmte, in allen seinen Tausenden von Theilen bis ins Einzelste vorgeschriebene Organismus werde, kann nicht in ihrer Gesammt-Constitution ungezählte Male ab- ändern, ohne dass sich die Folgen in zahlreichen, ja in allen Theilen des Körpers zeigten. Derartige Abänderungen des Keimplasmas wären etwa vergleichbar vielen successiven Abänderungen in der Cursrich- tung eines Schiffes, die, wenn auch jede einzelne nur um ein Mini- males von der richtigen Fahrt abweicht, doch das Schiff nach langer Reise an eine ganz andere Küste führen müssen, als die beabsichtigte. Wenn jede Einzel- Anpassung der Art auf Abänderung des Gesammt- Keimplasmas beruhte, dann könnte die Wald-Kallima bald gar keine Ähnlichkeit mehr mit ihrer Stammform der Wiesen-Kallima haben, und doch kennen wir Kailima- Arten, die noch nicht die speciellen Ähnlichkeiten mit einem Blatt zeigen, die z. B. noch die voll ausge- bildeten Augenflecken der Stammform aufweisen u. s. w. ; die Ent- stehung des Blattbildes hat also den Gesammtcharakter der Arten nicht stark beeinflusst, wie ja schon das Gleichbleiben der Oberseite der Flügel bei den Varietäten beweist. Da nun aber doch die Blattähnlichkeit nicht entstanden sein kann, ohne dass sich am Keimplasma etwas änderte, da das Keimplasma der Wiesen- und der Wald-Kallima in irgend Etwas verschieden sein muss, und so wenig gleich sein kann, als das Keimplasma einer Pfauen- und einer Botentaube, so muss es auch Anlagen im Keimplasma geben, d. h. lebende Einheiten, deren Abänderung lediglich die Abänderung einzelner Theile des Organismus nach sich zieht. Auf solchen Erwägungen beruht meine Annahme von der Zu- sammensetzung des Keimplasmas aus Determinanten. Es müssen derer so viele darin enthalten sein, als es selbstständig und erb- lich variable Bezirke am fertigen Organismus gibt, seine sämmtlichen Entwicklungsstadien mit eingeschlossen. Jede Stelle z. B. des Schmetterlingsflügels, welche selbstständig und erblich variiren kann, muss — so schliesse ich — durch ein ebenfalls vari- ables Element, die Determinante, im Keimplasma vertreten sein ; aber auch jede selbstständig und erblich variable Stelle der Raupe, aus welcher jener Schmetterling sich entwickelte. Sie wissen, wie sehr die Raupen in Färbung und Gestalt ihrer Umgebung angepasst sind. Nehmen wir also einmal an, die Raupe jenes Schmetterlings, dessen Flügelzeichnung wir soeben als Beispiel wählten, hätte die Sitte, nur Begründung der Determinanten. «95 Nachts zu fressen, bei Tage aber am Stamm des Baumes zu sitzen und zwar in den Rissen der Borke. Sie würde dann etwa wie die Raupen der sog. Ordensbänder (Catocala) oder Spanner (Geometriden), aussehen und die Farbe der Rinde des betreffenden Baumes besitzen; die Determinanten der Haut würden also entsprechend dieser Lebens- weise der Raupe so abgeändert haben, dass die Haut grau oder braun erscheinen muss. Es kann aber nicht blos eine Determinante der Fig. 17 (wiederholt). Raupe von Selenia Tetralunaria auf einem Birkenzweig sitzend. K Kopf, F Risse, in Höcker, die schlafende Knospen darstellen; natürliche Grösse. Raupenhaut im Keimplasma enthalten sein, denn die Rindenfärbung z. B. einer Spannerraupe ist nicht eine gleichmässig graue, sondern an gewissen Stellen stehen dunklere Flecken, an anderen hellere, weissliche, wie sie auch auf der Rinde des Zweiges zu sehen sind, an dem die Raupe sitzt, oder braunrothe Flecken, wie sie an den Deckschuppen der Knospen stehen, oder kleine Körnchen und Höcker- chen, welche ähnlichen Rauhigkeiten des Zweiges, Rissen der Borke u. s. w. genau entsprechen. Alle diese Merkmale sind konstant und finden sich bei jeder Raupe der Art an derselben Stelle. Es muss ßQ 6 Die Keimplasmatheorie. also eine grosse Anzahl von Bezirken der Raupenhaut vom Keim- plasma aus selbstständig bestimmt werden können, das Keimplasma muss Theilchen enthalten, deren Veränderung lediglich die Ver- änderung eines selbstständig variabeln Bezirks der Raupen- haut nach sich zieht. Mit anderen Worten: im Keimplasma des Schmetterling-Eies müssen nicht nur Determinanten für viele Bezirke des Schmetterlingsflügels, sondern auch solche für viele Bezirke der Raupenhaut enthalten sein. Dieselbe Argumentation gilt aber natürlich für alle Körpertheile und Organe des Schmetterlings, wie der Raupe, wie überhaupt aller Entwicklungsstadien der Art, soweit diese Theile sich derart verändern können, dass die Veränderung auch in der folgenden Generation wiedererscheint, d.h. soweit sie »erblich variabel« ist. Erblich variabel aber müssen alle Theile sein, die sich selbstständig von den Vorfahren her verändert haben. Wenn z. B. die Eier eines Schmetterlings (der Vanessa Levana), in Farbe und Gestalt, sowie in ihrer Aufreihung zu kleinen Säulchen den Blüthenknospen der Brennnessel-Pflanze täuschend ähnlich sehen, an welchen die Raupe lebt, so dürfen wir schliessen, dass diese Eier von jenen Vorfahren her, welche noch nicht an der Brennnessel lebten, in diesen drei Beziehungen selbstständig, d. h. unbecinflusst von etwaigen anderen Abänderungen, die die Art eingegangen ist, erblich variirt haben, dass folglich auch Determinanten der Eischale, Eifarbe u. s. w. im Keimplasma enthalten sein müssen. Die Art der Ablage jener Eier in Säulchen aber hängt von einer Abänderung des Eiablage- Instinkts ab, welche ihrerseits in Abänderungen gewisser Nerven- centren ihren Grund haben muss, so dass wir daraus erfahren, dass es im Keimplasma auch Determinanten für einzelne Centren des Ner- vensystems gibt. Sie könnten vielleicht glauben, die Sache Hesse sich auch einfacher begreifen, man brauche ja nur anzunehmen, dass Determinanten für alle Theile der Raupe im Ei anwesend wären, und dass diejenigen für den Schmetterling sich erst in der Raupe bildeten. So sieht es ja bei oberflächlicher Betrachtung auch aus: »die Flügel entstehen erst während des Raupenlebens«, so liest man in jedem Handbuch der Entomologie, und in gewissem Sinn ist es auch richtig, denn zum ausgebildeten Flügel entwickelt sich die erste An- lage desselben wirklich erst in der Raupe. Aber wenn auch diese erste Anlage sich erst in der Raupe bildete, woraus könnte sie sich denn bilden? Doch nur aus materiellen Bestandtheilen der Raupe, Begründung der Determinanten. 397 d. h. aus irgend welchen lebendigen Zellen oder Zellengruppen der- selben. Die Flügel würden also in ihrer Beschaffenheit abhängig sein von derjenigen der Raupenzellen, aus denen sie hervorgehen; wenn also diese sich erblich veränderten durch Veränderung ihrer im Keim enthaltenen Determinanten, so würden dadurch auch die sich in ihnen erst bildenden Determinanten des Schmetterlings verändert; jede erbliche Veränderung der Raupe müsste eine solche des Schmetterlings nach sich ziehen, was doch nicht der Fall ist. Wollte aber Jemand gar die Annahme machen, die Determinanten des Schmetterlings bildeten sich zwar erst in der Raupe, aber gänzlich unabhängig von der Beschaffenheit derselben, so würde er entweder einen Widersinn gesagt haben, nämlich den, dass die Charaktere des Schmetterlings überhaupt nicht erblich wären, oder aber er würde unbewusst zugegeben haben, dass die Determi- nanten des Schmetterlings in den Theilen der Raupe bereits ent- halten sind und direkt vom Keimplasma herkommen. Dass aber die Charaktere des Schmetterlings sich unabhängig von denen der Raupe verändern, habe ich schon vor langen Jahren nach- gewiesen, als wir vom Begriff des Keimplasmas oder der Determi- nanten noch weit entfernt waren. Ich wies damals nach, dass schon die Konstanz der Merkmale einer Art bei den zwei Hauptstadien ganz verschieden, dass die Raupe sehr variabel, und zugleich der Schmetter- ling derselben in allen seinen Merkmalen sehr konstant sein kann, oder umgekehrt; ich erinnerte an die dimorphen Raupen, welche grün oder braun sind und dennoch denselben Schmetterling geben (z. B. Deilephila Elpenor, Sphinx Convolvuli); ich führte den Wolfsmilch- schwärmer an (Deilephila Euphorbiae), dessen dunkle, aber zugleich bunte Raupen an der Riviera bei Nizza als Lokalvarietät Nicaea auftreten und dort ein völlig anderes Kleid tragen, hell lehmgelb mit einer Doppelreihe grosser, auffallender schwarzgelber Augenflecke, während der Falter sich von den unsrigen durch kein einziges bestimmtes Merk- mal unterscheidet, höchstens durch bedeutendere Körpergrösse; ich stellte damals auch Versuche an mit den Raupen des »Landkärtchens« (Vanessa Levana), die zum grösseren Theil schwarz sind mit schwarzen Dornen, zum kleineren gelbbraun mit gelben Dornen; sie gaben ge- trennt aufgezogen beide denselben Schmetterling, obwohl hier am ersten noch an einen inneren Zusammenhang der Farbe bei Raupe und Schmetterling hätte gedacht werden können, da der Schmetter- ling in doppelter Färbung auftritt. Es zeigte sich aber, dass der Dimorphismus des Schmetterlings Nichts mit dem der Raupe zu thun Weismann, Descendenztheorie. 2J ^q8 Die Keimplasmatheorie. hat, er steht bekanntlich in Abhängigkeit von der Jahreszeit und ist »Saison-Dimorphismus«, während die beiden Raupenformen zu jeder Jahreszeit nebeneinander auftreten. Ich habe später einen ähnlichen Versuch mit den dimorphen Raupen des Feuerfalters, Polyommatus Phlaeas, gemacht und mit demselben Resultat. Die rein grünen Raupen gaben genau denselben Schmetterling, wie die mit breiten rothen Längsstreifen gezeichneten, und in diesem Fall können wir bestimmt beide Färbungen als protektive bezeichnen, die grüne Form ist an die grüne Unterseite der Blätter angepasst, die roth gestreifte an die grünen rothkantigen Stengel des kleinen Ampfers (Rumex acetosella). Es bedürfte eigentlich gar keiner besonderen Beweise, dass Raupe und Schmetterling in hohem Grade unabhängig voneinander erblich abändern, da die Thatsache der Metamorphose allein schon hinreicht, um dies zu beweisen. Wie wäre es denn sonst möglich gewesen, dass dieselben zum Beissen eingerichteten Kiefer, welche bei den Ur-Insekten und den ihnen heute noch am nächsten stehenden Heuschrecken während des ganzen Lebens Beisswerkzeuge bleiben, sich bei den Raupen zur Zeit ihrer Verpuppung in den Saugrüssel des Schmetterlings umwandeln? Es müssen also die Theile des Insekts sich in seinen verschiedenen Lebensstadien unabhängig voneinander und erblich verändern können. Und die Kiefer der blätterfressenden Raupe sind nicht nur unverändert geblieben, während sie sich im geschlechtsreifen Thier allmälig zu einem immer längeren und komplizirteren Saugapparat umgestalteten, sondern wenn in viel späterer Zeit dieser Rüssel bei einer Art überflüssig wurde, weil der Schmetterling aus irgend welchen Ursachen sich die Nahrungsaufnahme abgewöhnen musste, so hat auch diese Rückbildung umgekehrt keinen Einfluss auf die Kiefer der Raupe ausgeübt, wie wir an gar manchen Schwärmern, Spinnern und Geometriden es beobachten. Wie konnte nun hier die Rückbildung des Saugrüssels erblich werden, wenn doch die Raupenkiefer, aus denen dieser sich bildet, dieselben bleiben? Wir sind also durchaus gezwungen, in diesem Letzteren Etwas anzu- nehmen, das sich vom Keim her verändern kann, ohne dass der Raupenkiefer selbst sich zu verändern braucht. Dieses »Etwas« ist es, was ich als »Determinanten« bezeichne, Lebenstheilchen, die — stelle man sie sich wie immer vor — zwar in Zellen des Raupen- kiefers enthalten sind, aber zunächst inaktiv also ohne den Bau der- selben zu beeinflussen, von deren Beschaffenheit aber Gestalt und Bau des Saugrüssels des Schmetterlings bis in alle seine Einzelheiten Begründung der Determinanten. 399 hinein bestimmt wird. Sie allein können es sein, die den Schmetter- lingsrüssel sich ausbilden und die ihn später in manchen Fällen sich wieder zurückbilden Hessen, ohne dass die entsprechenden Theile der Raupe sich mitveränderten. Mir scheint dieses Beispiel nach einer Richtung hin demjenigen des Flügels der Insekten noch vorzuziehen, weil kein Raupenorgan mit spezifischer Funktion dem Flügel des Schmetterlings entspricht. Dennoch ist es in beiden Fällen genau dasselbe, und es würde nur Täuschung sein, wenn man sagen wollte, die erste Anlage des Flügels in der Raupe sei gar kein Theil der Raupe. Freilich ist sie zuerst nur eine Zellengruppe der Haut, die an bestimmter Stelle am Rücken des zweiten und dritten Segmentes der Raupe liegt und von einer einzelnen Zelle des Embryos, der allerdings noch nicht nachgewiesenen »Ur- flügelzelle« abstammen muss. Aber sie ist eben doch ein integrirender Theil der Raupe, der nicht auch fehlen, nicht grösser oder kleiner sein dürfte u. s. w., kurz, der auch nij tu 3 Fig. 89. Vordertheil der Larve einer Mücke, Corethra plumicornis. K Kopf, 77/ Thorax, «/untere, oi obere Imaginal- scheiben, uil, 2 u. 3 die Anlagen der Beine, 01211.3 Anlagen der Flügel und Schwinger, g Gehirn, bg Bauchganglien- kette mit Nerven, die an die Imaginal- scheiben herantreten, trb Tracheenblase; etwa 15 Mal vergrössert. für die Raupe Etwas bedeutet, wenn auch nicht mehr, als andere Haut- zellen auch. Für den Schmetterling aber bedeutet diese Hautstelle die Anlage des Flügels; denn aus ihr allein kann durch Vermehrung zu einem Zellenhaufen, durch Aus- wachsen desselben zu einem hohlen Zapfen, der sich mehr und mehr zu einer Scheibe vergrössert, zur Imaginalscheibe, die der betreffenden Art eigene Flügelform hervorgehen. Schon früh steht diese Imaginal- scheibe mit Nerven und Tracheen in Verbindung, wie besonders bei Zweiflügler-Larven sehr schön zu erkennen ist (Fig. 8g, in 1 — 3), und diese wachsen später zu den Nerven und Tracheen des Flügels aus, während Tausende von eigenthümlichen schuppen-förmigen Haaren sich auf der Fläche des Flügels entwickeln — kurz die Anlage wird zum fertigen Organ mit seiner spezifischen Aderung und seiner bei Schmetterlingen oft so verwickelten Zeichnung und Färbung. Fast jedes kleine Fleckchen und Strichelchen der Letzteren wird aber mit zähester Vererbungskraft von Generation auf Generation übertragen, und jedes kann zugleich erblich verändert werden; ganz ebenso das 25* AOO Die Keimplasmatheorie. systematisch so wichtige, weil eben streng erbliche, aber trotzdem auch wieder erblich veränderbare Adersystem, desgleichen die Haftborsten, Duftvorrichtungen, kurz das ganze verwickelte Gebilde des Flügels mit allen seinen spezifischen Anpassungen an Flug- und Lebensweise, an die Farbe der Umgebung u. s. w. Und wodurch wird es möglich, dass dies alles aus der einen Hautzelle sich entwickelt? ist es der Einfluss der Lage, der dies bewirkt, könnte eine beliebige andere Zelle der Raupenhaut dasselbe leisten, wenn sie an dieselbe Stelle rückte? Könnte etwa eine der Nachbarinnen der Ur-Flügelzelle sie ersetzen, wenn sie zerstört würde? Schwerlich wohl, und ich glaube, dafür sogar den Beweis erbringen zu können. Allerdings ist der Versuch, eine solche Zelle am lebenden Thier zu tödten, noch nicht gemacht worden; sollte er gelingen, so darf man vorher sagen, dass keine der benachbarten Hautzellen im Stande sein wird, das Gleiche zu leisten und einen Flügel aus sich zu entwickeln; der betreffende Flügel wird dann überhaupt nicht gebildet werden. Mir ist im Sommer 1897 ein Trauermantel (Vanessa Antiopa) aus der Puppe geschlüpft, der sonst völlig normal und schön entwickelt war, dem aber der rechte Hinterflügel durchaus fehlte; keine Spur davon war zu erkennen. Hier muss durch eine nicht mehr zu ergründende Ursache eben jene erste Bildungszelle des Flügels in der Hypodermis oder ihre Nachkommen zerstört worden sein, und ein Ersatz derselben trat, wie der Defekt zeigt, nicht ein. Die junge Wissenschaft der Entwicklungsmechanik räumt den Ein- flüssen der Lage einer Zelle inmitten einer Gruppe von Zellen einen für ihre weiteren Schicksale bestimmenden Werth ein, und für die Zellen des in Furchung begriffenen Eies scheint dies auch in bestimmten Fällen richtig zu sein, aber allgemeine Gültigkeit besitzt diese An- nahme gewiss nur in ganz untergeordnetem Sinn. Die Bildungszelle des Flügels wird nicht durch ihre relative Lage im Organismus zu dem, was sie ist. Wäre es so, dann könnte es nicht vorkommen, dass ein Flügel an Stelle eines Beines sich bildet, wie es bei einer Zygaena beobachtet wurde, dann könnte es überhaupt jene früher schon erwähnten Missbildungen nicht geben, die man Hetero- topien nennt, und die darin bestehen, dass Organe von bestimmter, normaler, oder doch der normalen ähnlicher Bildung an einer ganz anderen Stelle entstehen, als gewöhnlich, ein Fühler auf dem Hüftstück eines Beins, ein Bein an Stelle eines Fühlers (bei Sirex) oder Flügels u. s. w. Es ist also nicht irgend etwas von Aussen hinzukommendes, was jene Hautzelle der Raupe zur Flügelanlage Begründung der Determinanten. 40 I macht, sondern der Grund davon liegt in ihr selbst, in ihrer eigenen Beschaffenheit. Wie in der Ei- und Samenzelle die ganze Masse aller Determinanten für den ganzen Körper und für alle Stadien seiner ganzen Entwicklungsbahn enthalten sein muss, so sind in der Urzelle des Schmetterlingsflügels alle Determinanten für den Aufbau dieses komplizirten Theils enthalten, und wenn dieselbe im Laufe der Entwicklung durch irgend eine Störung an eine falsche Stelle geräth, so kann auch dort — falls die Bedingungen nicht gar zu abweichende sind — ein Flügel sich aus ihr entwickeln. Gerade die Hetero- topien sind ein weiterer Beweis für die Existenz von Determinanten, weil dieselben ohne die Annahme von »Anlagen« überhaupt nicht zu begreifen sind. Die Annahme von Determinanten des Keimplasmas ist eine so fundamentale für meine Entwicklungstheorie, dass ich zu ihrer Be- gründung und Rechtfertigung Ihnen noch ein weiteres Beispiel vor- führen möchte. Die Gliedmassen der Gliederthiere entsprangen ursprünglich zu einem Paar an jedem Körperring und waren unter einander ihrer Funktion und auch ihrer Gestalt nach gleich, oder doch sehr ähnlich. Die Tausendfüsser, und noch mehr die ihnen äusserlich ähnlichen Arten der interessanten Gattung Peripatus, sowie die schwim- menden und kriechenden Borstenwürmer des Meeres geben uns davon einen Begriff. Wir könnten uns nun ganz wohl vorstellen, dass die ganze Serie dieser Gliedmassen im Keimplasma nur durch eine Determinante oder Determinantengruppe vertreten wäre, die sich bei der Entwicklung nur zu vervielfachen brauchte. Ohne darüber zu streiten, ob dies bei den Ur-Gliederfüssern wirklich so gewesen ist, oder nicht, so ist doch sicher, dass es in dem Keimplasma der heutigen Gliederthiere nicht mehr so sein kann, sondern dass bei ihnen jedes Gliedmassenpaar durch eine besondere Determinante ver- treten ist. Wir müssen das daraus schliessen, dass die einzelnen Paare dieser Gliedmassen unabhängig voneinander erblich variirt haben, die einen sind Kiefer, wieder andere Schwimmfüsse, oder auch blosse Kiementräger, noch andere Eierträger geworden, oder Lauffüsse, Grabfüsse, Springbeine; bei den Krebsen trägt häufig das vorderste der sonst ähnlich gebauten eigentlichen Beinpaare, oder auch das zweite, oder das dritte eine Scheere, oder keines trägt eine Scheere u. s. w. ; kurz wir sehen, dass jedes einzelne Gliedmassenpaar sich den Bedürf- nissen der Lebensweise der Art selbstständig angepasst hat. Das war nur möglich, wenn jedes im Keimplasma durch ein Element ver- treten war, dessen Veränderungen nur an dieser einen Glied- 4-02 Die Keimplasmatheorie. eine Abänderung nach s 1 ich zog, an keiner masse anderen. Sie möchten mir aber vielleicht einwerfen, dass ja die Verschieden- heit der Gliedmassen ganz wohl erst im Laufe der Entwicklung des Thieres hervortreten könnte, während die erste Anlage aller dieselbe sei, dass also im Keimplasma doch eine einzige Determinante genüge. Das wäre aber nur dann richtig, wenn die Verschiedenheit nicht auf inneren, sondern auf äusseren Ursachen beruhte, wenn also die gleichen Anlagen dadurch verschieden gestaltete Gliedmassen lieferten, dass sie während ihrer Entwicklung von verschiedenen abändernden Einflüssen getroffen würden. Dem ist aber nicht so, wenigstens Fig. 90. Ein Taschenkrebs, Carcinus maenas, von unten gesehen ; an Stelle des After- fusses steht links am fünften Abdominalsegment ein Brustfuss und zwar ein solcher der rechten Seite [6); psi — 4 die Afterfüsse der rechten Seite; nach Bethe. nicht in dem Grade, in dem es der Fall sein müsste. Oder sollte es Jemand einfallen, z. B. die Springfüsse des Flohkrebses als nothwendige Folge der etwas abweichenden Gestalt der Segmente zu betrachten, an denen sie hervorwachsen? Der strikte Gegenbeweis liegt auch hier wieder in den Heterotopien; an derselben Stelle, an der normalerweise bei der Krabbe ein zum Halten der Eier bestimmter Afterfuss steht, kann unter Umständen ein gewöhnlicher Lauffuss hervorwachsen (Fig. 90, Bethc), an Stelle eines exstirpirten Auges eine einer Antenne ähnelnde Gliedmasse (HERBST). Wäre aber wirk- lich nur eine Determinante im Keim für sämmtliche Gliedmassen, so müssten dieselben alle gleich sein, von den kleineren oder grösseren Begründung der Determinanten. 4^3 Verschiedenheiten abgesehen, welche ihnen etwa durch ihr Hervor- wachsen auf verschieden grossen, verschieden ernährten Segmenten aufgeprägt werden könnten. Solche Verschiedenheiten genügen aber entfernt nicht zur Erklärung so grosser Abweichungen, wie sie zwischen den Gliedmassen der meisten Krebsarten vorkommen, ge- schweige denn, dass sie ihre Anpassung an ganz verschiedene Funk- tionen erklärten. Man glaube nicht, dass man mein Argument dadurch entkräften könne, dass man sagt, die eine Gliedmassen-Determinante des Keims spalte sich im Laufe der Entwicklung in eine Serie differenter Glied- massen-Determinanten. Es fragt sich eben, wodurch sie dazu befähigt wird, und da kann denn die Antwort keine andere sein, als die, dass diese eine erste Determinante in sich mehrere verschiedenartige Elemente eingeschlossen haben müsste, welche später auseinandergelegt die einzelnen Gliedmassen verschieden bestimmen. Das heisst aber nichts Anderes, als dass diese eine Determinante in Wahrheit mehrere verschiedene Determinanten einschliesst. Denn Determinante ist uns nichts Anderes, als ein Element der Keimsubstanz, von dessen Anwesenheit im Keim das Auftreten und die spezifische Ausbildung eines bestimmten Theiles des Körpers bedingt wird. Könnten wir die Determinante einer Gliedmasse aus dem Keimplasma entfernen, so würde diese Glied- masse sich nicht bilden; könnten wir sie verändern, so würde auch die Gliedmasse anders ausfallen. In diesem allgemeinen Sinn sind Determinanten des Keims nichts Hypothetisches, sondern etwas Thatsächliches, eben- so sicher, als ob wir sie mit unseren Augen gesehen und ihre Ent- wicklung verfolgt hätten. Die Hypothesen fangen erst an, wenn es sich darum handelt, dieselben aus blossen Symbolen zu Wesen von Fleisch und Blut zu machen, und zu sagen, wie sie beschaffen sind. Aber auch hierbei lässt sich doch Einiges mit Sicherheit behaupten; z. B. dass sie keine Miniaturbilder, im Sinne Bonnet's, der Theile seien, die sie bestimmen ; dann, dass sie nicht leblose Materie, blosse Stoffe sind, sondern lebende Theilchen, Lebenseinheiten. Wären sie das nicht, so könnten sie sich nicht als das erhalten im Laufe der Entwicklung, was sie sind, sie würden vom Stoffwechsel zersetzt und zerstört, anstatt, wie nur lebende Materie es vermag, den Stoff- wechsel zu beherrschen, gleichzeitig zu verbrennen, aber auch fremde Materie zu assimiliren und dadurch [zu wachsen. Leblose Deter- minanten kann es nicht geben, dieselben müssen Lebens- A.OA. Die Keimplasmatheorie. einheiten sein, fähig, sich zu ernähren, zu wachsen und durch Theilung zu vermehren. Und nun sind wir zu dem Punkt gelangt, an welchem sich am besten eine Besprechung einschalten lässt über die Organisation der lebenden Substanz im Allgemeinen. Der Wiener Physiologe Ernst Brücke hat schon vor vierzig Jahren die Ansicht begründet, die lebende Substanz könne nicht blos ein Gemenge von chemischen Molekülen irgend welcher Art. sie müsse » organisirt«, das heisst, aus kleinen unsichtbaren Lebens- einheiten zusammengesetzt sein. Wenn — wie wir doch annehmen müssen — die mechanische Theorie des Lebens richtig ist, wenn es keine Lebenskraft im Sinne der Naturphilosophen gibt, so ist der BRÜCKE'sche Satz unbezweifelbar, denn ein zufälliges Gemisch von Molekülen kann die Lebenserscheinungen nicht hervorbringen, so wenig als irgend ein einzelnes Molekül, weil eben Moleküle erfahrungsgemäss nicht leben, weder assimiliren noch wachsen, noch sich fortpflanzen. Leben kann also nur durch eine bestimmte Ver- bindung verschiedenartiger Moleküle entstehen, und aus solchen be- stimmten Molekülgruppen muss alle lebendige Substanz bestehen. Herbert Spencer hat kurz nach Brücke ebenfalls solche Lebens- Einheiten »Units« angenommen und in neuester Zeit DE VRIES, WiESNER und ich selbst. Über die Zusammensetzung dieser Lebens- träger oder Biop hören, wie ich sie nenne, können wir einstweilen Genaueres nicht aussagen, als dass Eiweiss-Moleküle, Wasser, Salze und einige andere Stoffe die Hauptrolle bei ihrer Zusammensetzung spielen. Das geht aus der chemischen Analyse des todten Proto- plasmas hervor; in welcher Form aber diese Stoffe im Biophor ent- halten sind, und wie sie aufeinander wirken, um die Erscheinungen des Lebens hervorzurufen, indem sie einen steten Cirkel von der Zersetzung zur Wiederherstellung durchlaufen, das ist uns noch gänzlich verborgen. Wir haben es auch hier nicht damit zu thun; wir begnügen uns damit, den Biophoren die Eigenschaft des Lebens zuzuerkennen und uns also vorzustellen, alle lebende Substanz, Zell- und Kernsubstanzen, Muskel-, Nerven- und Drüsensubstanz in allen ihren Varianten bestünde aus Biophoren, natürlich aus solchen der verschiedensten Zusammen- setzung. Es muss unzählige Biophoren-Arten in all den ver- schiedenen Theilen der Millionen von Lebensformen geben, die heute auf der Erde leben", alle müssen aber nach einem gewissen Grund- schema gebaut sein, welches eben ihre wunderbare Fähigkeit bedingt, Die Determinantenlehre. 405 zu leben; alle besitzen die Grundeigenschaften des Lebens, dissimiliren, assimiliren, wachsen, vermehren sich durch Theilung. Auch Bewegung und Empfindung werden wir ihnen in irgend einem Grad und Sinn zusprechen müssen. Über ihre Grösse lässt sich nur sagen, dass sie weit unter der Grenze der Sichtbarkeit liegen und dass alle kleinsten Körnchen des Protoplasmas, welche wir mit unseren stärksten Systemen noch gerade wahrnehmen können, keine einzelnen Biophoren sein können, sondern Massen von ihnen. Andererseits müssen sie aber grösser sein, als irgend ein chemisches Molekül, weil sie selbst aus einer Gruppe von Molekülen bestehen, unter welchen sich solche von komplizirter Zu- sammensetzung und demgemäss auch relativ bedeutender Grösse befinden. Es fragte sich nun zunächst, ob nicht etwa die oben erschlossenen Determinanten identisch sind mit diesen »Biophoren« oder kleinsten Lebenstheilchen ; dem ist aber jedenfalls nicht allgemein so. Wir bezeichneten als Determinanten diejenigen Theilchen der Keimsub- stanz, welche ein »Vererbungsstück« des Körpers bestimmen, d. h. von deren Anwesenheit im Keim es abhängt, dass ein bestimmter Theil des Körpers, bestehe er aus einer Zellengruppe, einer einzelnen Zelle oder einem Zelltheil, sich bildet und zwar in spezifischer Weise, von deren Variiren ferner nur diese bestimmten Theile ebenfalls zum Variiren veranlasst werden. Es fragt sich nun, wie gross solche Vererbungsstücke und wie zahlreich sie sind, ob jeder Zellentheil, ob jede Zelle des Körpers, oder ob nur grössere Zellengruppen ein solches darstellen. Offenbar nun sind diese vom Keim her einzeln bestimmbaren Bezirke ganz verschieden gross, je nachdem wir es mit kleinen oder grossen, ein- fachen oder komplizirten Organismen zu thun haben. Die Einzelligen z. B. die Infusorien müssen wohl für eine Menge von Zellorganen und -Theilen besondere Determinanten besitzen, wenn wir auch das selbstständige und erbliche Variiren ihrer Organe nicht direkt fest- stellen können; niedere Vielzellige, wie etwa die Kalkschwämme werden nur einer relativ geringen Zahl von Determinanten bedürfen, bei höheren Vielzelligen aber, z. B. schon bei den meisten Glieder- thieren muss ihre Zahl bereits eine sehr hohe sein und viele Tausende, ja Hunderttausende betragen; denn hier ist bereits Alles am Körper spezialisirt und muss durch selbstständige Variation vom Keim her verändert worden sein. So stehen bei vielen Krebsen die Riechstäbchen einzeln an bestimmten Gliedern der Fühler und die Zahl der mit /j.o6 Die Keimplasmatheorie. einem Riechstäbchen ausgerüsteten Glieder ist verschieden bei ver- schiedenen Arten; auch die Grösse der Riechstäbchen selbst ist sehr verschieden, ist z. B. bei unserer gemeinen Wasserassel viel ge- ringer, als bei der blinden Wasserassel aus den Tiefen unserer Seeen, bei welcher der Ausfall des Gesichtes durch Verschärfung des Geruchs ersetzt wird. Hier können also die Riechstäbchen für sich erblich variiren , aber auch jedes Glied des Fühlers vermag ein solches selbstständig durch Variation hervorzubringen. Wir müssen demnach in diesem Falle für die Riechstäbchen und für die Fühlerglieder besondere Determinanten voraussetzen. Aber nicht immer und überall werden wir gleiche oder ganz ähnliche Organe, wenn sie in der Vielzahl vorkommen auf ebensoviele Determinanten beziehen müssen. So variiren gewiss die Haare der Säuger oder die Schuppen auf den Flügeln der Schmetterlinge nicht alle einzeln selbstständig, sondern Haare und Schuppen eines gewissen Bezirks variiren mit- einander, und wären somit nur durch eine Determinante im Keim- plasma vertreten. Doch scheinen diese Bezirke oft sehr klein zu sein, wie am besten aus den zahlreichen feinen Linien, Flecken und Bändern hervorgeht, die die Zeichnung der Schmetterlingsflügel zu- sammensetzen, und noch mehr aus den Duftschuppen der Schmetter- linge, wie sie z. B. bei den Bläulingen (Lycaena) vorkommen. Diese kleinen lautenförmigen Schuppen finden sich nicht bei allen Arten, und auch bei solchen, die sie besitzen, in sehr ungleicher Menge; es gibt einzelne Arten, die ihrer nur ein Dutzend und diese alle nur auf einer kleinen Stelle des Flügels aufweisen. Da nun diese Duftschuppen durch Umwandlung gewöhnlicher haarförmiger Schuppen entstanden sein müssen, wie einer meiner Schüler, Dr. F. KÖHLER auf ver- gleichend-anatomischem Weg nachwies, so haben also solche gewöhn- liche haarförmige Schuppen bestimmter Stellen erblich variirt, d. h. ihre Determinanten haben abgeändert, während diejenigen der um- liegenden Schuppen nicht abänderten. Ahnlich verhält es sich mit den Stimmapparaten vieler Insekten. Viele Heuschrecken geigen mit dem Schenkel der Hinterbeine auf dem Flügel, andere mit den einen Vorderflügel auf dem anderen und zwar immer nur mit einer bestimmten Flügfelader auf einer anderen bestimmten Flügelader. Die eine von beiden dient als Bogen, die andere als Saite der Geige, und die Bogen-Ader ist mit Zähnchen versehen (Fig. 9 1 ), welche in einer langen Reihe nebeneinander stehen und die dieselbe Aufgabe haben, wie das Colophonium beim Violin- bogen, nämlich die Saite abwechselnd zu fassen und wieder loszulassen Die Determinantenlehre. 407 und sie so in tönende Schwingungen zu versetzen. Meine Schüler, die Herren Dr. Petrunkewitsch und Dr. Georg von GUAITA haben kürzlich den Nachweis erbracht, dass diese Zähnchen durch Umwand- lung von Haaren entstanden sind, die überall auf dem Flügel und dem Bein zerstreut stehen. Aber nur an dieser einen Stelle, auf der sogenannten » Sc hril lad er« sind sie zu Schrill-Zähnchen {sehr) um- gewandelt. Also muss diese Ader allein für sich erblich veränderbar sein, d. h. es müssen im Keimplasma Theilchen enthalten sein, deren Veränderung lediglich eine Veränderung dieser einen Flügelader und ihrer Haare nach sich zieht, möglicherweise sogar nur die Veränderung der ein- zelnen Haare dieser Ader. Andererseits aber gibt es auch grosse Bezirke, ganze Zellen-Massen des Körpers, welche aller Wahr- scheinlichkeit nach nur en bloc erb- lich variiren, z. B. die Milliarden von Blutzellen des Menschen, die Hunderttausende oder Millionen von Zellen der Leber und anderer drü- siger Organe, die Tausende von Fasern eines Muskels, der Sehnen und Fascien, die Zellen eines Knor- pels, Knochens u. s. w. In allen diesen Fällen wird eine einziee oder wenige Determinanten im Keim- Fig. 91. Hinterbein einer Heuschrecke, Stenobothrus proforma, nach Gräber. fe Oberschenkel, ti Unterschenkel, ta Fuss- glieder; sehr die Schrillleiste. plasma genügen. Man wird aber in zahlreichen Fällen nicht genau angeben können, wie gross der Bezirk ist, der von einer Determinante bestimmt wird, was natürlich für die Theorie ohne Belang ist. Bei den Einzelligen werden die Determinanten Zellen theile bestimmen, bei den Vielzelligen oft ganze Zellen und Zellengruppen. Vielleicht lässt sich daraus mit einiger Wahrscheinlichkeit ein Schluss auf die Natur der Determinanten ziehen, insofern blosse Zellen t heile einfachere Determinanten anzunehmen gestatten, als ganze Zellen und Zellengruppen. Die Determinanten in den Chromo- somen der Einzelligen mögen deshalb häufig aus einzelnen Biophoren bestehen, so dass also in diesem Falle der Begriff des Biophors mit dem der Determinante zusammenfiele. Bei den Vielzelligen da- gegen möchte ich mir die Determinante im Allgemeinen als eine zJ.o8 Die Keimplasmatheorie. Biophoren-Grupp e vorstellen, die durch innere Kräfte aneinander gebunden zusammen eine höhere Lebenseinheit bilden. Diese Determinante muss als Ganzes leben, d. h. assimiliren, wachsen und sich durch Theilung vermehren können, wie jede Lebenseinheit, auch müssen ihre Biophoren einzeln variiren können, so dass also auch die einzelnen durch sie bestimmten Theile einer Zelle erblich variabel erscheinen. Dass sie das aber sind, lehrt jede feiner differenzirte Zelle eines höheren Thieres; schon die Riechstäbchen der Krebse zeigen einen Stiel, einen Endkolben, einen Faden im Innern und gar manche Muskel-, Nerven- und Drüsenzellen sind noch weit komplizirter gebaut. Die Keimplasmatheorie. 4-09 XVIIL Vortrag. Die Keimplasma-Theorie, Fortsetzung. Bau des Keimplasmas p. 409, Vitale Affinitäten p. 410, Erbgleiche und erbungleiche Theilung p. 410, Prinzipielle Bedenken O. Hertwig's dagegen p. 412, Männliche und weibliche Eier bei der Reblaus beweisen die erbungleiche Theilung p. 414, Zerlegung des Keimplasmas während der Ontogenese p. 415, Aktiver und passiver Zustand der Determinanten p. 416, Bestimmung der Zelle p. 418, Es gibt keine Eigenschafts- Determinanten p. 418, Auslösung der Determinanten p. 418, Nebenidioplasma p. 420, Herbst's Litbionlarven p. 420, Pflanzengallen p. 422, Zellen mit mehreren fakultativ thätigen Determinanten p. 423, Bindegewebe der Wirbelthiere p. 423, Mesodermzellen der Echinodermen p. 424, Sexueller Dimorphismus p. 425, Weibliche und männliche Ide p. 426, Polymorphismus, Pap. Merope, Ameisen p. 427. Meine Herren! Ich habe mich bestrebt, Ihnen nachzuweisen, dass die Keimsubstanz in dem Chromatin des Kerns der Keimzelle ge- sehen werden muss, und zwar in jenen Iden oder Chromosomen, in deren jedem wir die Anlagen für einen ganzen Organismus enthalten denken. Solche Ide in geringerer oder grösserer Zahl machen dann erst das ganze Keimplasma einer Keimzelle aus, und ein jedes Id besteht wieder aus Anlagen oder Determinanten, aus Lebenseinheiten, deren jede einen bestimmten Theil des Organismus in seinem Auf- treten und seiner Ausbildung bestimmt. Es fragt sich zunächst, wie wir uns vorstellen sollen, dass diese Determinanten jene Zellen oder Zellengruppen bestimmen, denen sie entsprechen. Hier sind wir nun auf blosse Vermuthungen angewiesen, und wenn ich Ihnen irgend eine Vorstellung davon zu geben unternehme, so möchte ich aus- drücklich betonen, dass ich damit nur eine der Möglichkeiten ausführe, die sich unserer Einbildungskraft darbieten. Dennoch ist es wohl nicht ohne Nutzen, sich irgend eine Vorstellung davon zu bilden, denn nur die möglichst eingehende Durchführung einer Theorie gestattet ihre Anwendung auf den konkreten Fall, regt zum Aufsuchen neuer stützender oder widerlegender Thatsachen an, und leitet so allmälig zur Erkenntniss ihrer Lücken oder Fehler. i I O Die Keimplasmatheorie. Das Erste, was nothwendig erfüllt sein muss, damit eine De- terminante eine Zelle oder Zellengruppe bestimmen kann, ist, dass sie in dieselbe gelange; sie muss durch die zahlreichen Zelltheilungen der Ontogenese hindurch so geleitet werden, dass sie schliesslich in die Zellen zu liegen kommt, welche sie bestimmen soll. Dies setzt voraus, dass jede schon von Anfang an ihren bestimmten Platz im Verhältniss zu den anderen habe, dass also das Keimplasma nicht ein loser Haufen von Determinanten sei, sondern einen Bau, eine Architektur besitze, in welcher den einzelnen Determinanten bestimmte Stellen angewiesen sind. Die Stellung der Determinanten zu einander kann nicht auf Zufall beruhen, sondern theils auf ihrer historischen Entwicklung aus älteren Vorfahren-Determinanten, theils aber auf inneren Kräften, wie wir sie flüchtig schon für den inneren Zusammenhalt der Determinanten selbst angenommen haben. Wir werden diese hypothetischen Kräfte am besten als »Affinitäten« bezeichnen und zum Unterschied von den rein chemischen Affinitäten als vitale. Es müssen Kräfte zwischen den verschiedenen De- terminanten walten, die sie zu einem lebendigen Ganzen verbinden, dem Id, welches assimiliren, wachsen und sich durch Theilung ver- mehren kann, wie wir es für die kleineren Einheiten, das Biophor und die einzelne Determinante ebenfalls annehmen mussten. Bei den Iden beobachten wir ja auch die Wirkungen dieser Kräfte ganz unmittelbar, indem bei jeder Kerntheilung das einzelne Chromosom sich in zwei gleich grosse Hälften spaltet, und nicht etwa durch äussere Zugkräfte, wie man solche in den Fäden der Kernspindel vermuthen könnte, sondern durch rein innere Kräfte, oft schon lange, bevor die Kern- spindel sich gebildet hat. Wenn nun aber die Determinanten im Laufe der Entwicklung sich voneinander trennen und schliesslich einzeln in die Zellen gelangen sollen, die sie zu bestimmen haben, dann muss das Id nicht nur die Fähigkeit haben, sich in Tochter-Ide gleicher Zusammensetzung zu theilen, sonderndes muss auch die Fähigkeit besitzen, unter bestimmten Einflüssen sich ungleich zu theilen, so dass seine beiden Tochter- hälften verschiedene Determinanten-Complexe enthalten. Die erste Theilungsart des Ids und damit des Kerns und der Zelle nenne ich erbgleiche oder integrelle, die zweite erbungleiche oder diffe- rentielle Theilung. Die erste Vermehrungsform ist die gewöhnliche, die wir überall beobachten, wo einzellige Wesen sich durch Zwei- theilung in zwei gleiche Tochterwesen trennen, oder wo Zellen viel- zelliger Bionten ihres Gleichen durch Zweitheilung hervorbringen. Erbungleiche Kerntheilung. 411 Die zweite ist nicht direkt beobachtbar, weil eine Ungleichheit der Tochterzellen, solange sie nur im Idioplasma liegt, sich nicht direkt sehen lässt; sie ist nur erschliessbar aus der verschiedenen Rolle, welche die betreffenden beiden Tochterzellen bei dem weiteren Auf- bau des Thieres spielen. Wenn z. B. von zwei Schwesterzellen des Embryo die eine die Zellen des Darmkanals liefert, die andere die der Haut und des Nervensystems, so schliesse ich daraus, dass die Mutterzelle ihre Kernsubstanz ungleich unter die beiden Töchter ge- theilt hat, und zwar so, dass die eine die Determinanten des Entoderms, die andere die des Ektoderms erhielt, oder wenn auf einem Schmetter- lingsfiügel dicht nebeneinander und unter den gleichen Verhältnissen ein rother und ein schwarzer Fleck stehen, so schliesse ich, dass die Stamm- zellen dieser beiden Flecke sich erbungleich getheilt haben, und zwar so, dass die eine die »rothen«, die andere die »schwarzen« Determinanten erhalten hat. Mit dem Auge lässt sich ein Unterschied der Kern- substanz in beiden Zellen nicht erkennen, aber das gelingt auch nicht bei den Chromosomen des väterlichen und mütterlichen Kerns im befruchteten Ei, wo wir doch sicher wissen, dass sie verschiedene Vererbungstendenzen enthalten. Jedenfalls kann man aus der schein- baren Gleichheit der Chromosomen-Hälften bei der Kerntheilung nicht schliessen, dass es eine erbungleiche Theilung überhaupt nicht gäbe. Die theoretische Möglichkeit einer solchen kann nicht bestritten werden, ja ich möchte fast sagen, sie sei leichter verstellbar, als die Sonderung des Ids in zwei völlig erbgleiche Hälften. Beides ist eben nur denk- bar unter der Voraussetzung von Kräften, welche die gegenseitige Lagerung der Determinanten im Id bestimmen, also von »Affini- täten«. Ich will nicht versuchen, dies weiter auszuführen, dass aber überhaupt im Inneren des Ids Kräfte wirken, welche uns noch gänz- lich unbekannt sind, beweist eben schon jede Kerntheilung durch die spontane Spaltung der Chromosomen. Man hat mir entgegengehalten, dass ein so komplizirtes Ganze, wie das Id, sich überhaupt nicht durch Theilung vermehren könne, da es an einem Apparat fehle, der die durch das Wachsthum ge- störte Architektur bei der Theilung wieder in den beiden Tochter- hälften in gleicher Weise herstelle. Dies ist aber nur dann richtig, wenn wir keine bindenden Kräfte, »vitale Affinitäten« innerhalb des Ids zulassen wollten, und ganz dasselbe gilt für die kleineren Lebens- einheiten. Ein gewöhnliches chemisches Molekül kann sich nicht durch Theilung vermehren; wird es gewaltsam gespalten, so zerfällt es in ganz andere Moleküle; erst das lebendige Molekül, d. h. das A I 2 Die Keimplasmatheorie. Biophor besitzt die wunderbare Eigenschaft des Wachsthums und der Spaltung in zwei unter sich und dem Stammmolekül gleiche Hälften, und wir ersehen daraus, dass hier ebenfalls bindende und abstossende Kräfte, Affinitäten, wirken müssen1. Ich wüsste auch nicht, wes- halb wir solche Kräfte nicht annehmen dürften, machen wir doch auch die Annahme, dass die Hunderte von Atomen, welche nach heutiger Vorstellung ein Eiweiss- Molekül zusammensetzen und in seinem Wesen bestimmen, durch die Affinitäten ihrer Atome in dieser bestimmten und so überaus komplizirten Anordnung festgehalten werden. Oder sollen wir uns zwischen dem Atomen-Complex des Moleküls und den des nächst höheren Atomen-Complexen des Bio- phors, der Determinante und des Ids eine absolute Scheidewand ein- geschoben denken, und ganz andere Kräfte in ihnen annehmen, als wir sie in jenen wirksam denken? Schliesslich ist doch das Biophor nur ein Gruppe von Molekülen, die Determinante eine Gruppe von Biophoren und das Id eine Gruppe von Determinanten, und alle drei erschlossene Stufen von Lebenseinheiten werden nur dadurch zu wahr- haften Einheiten, dass Kräfte in ihnen wirken, die sie zum Ganzen zusammenbinden. Was zwingt denn die Chromatinkörnchen des ruhenden Kerns zur Zeit der Kerntheilung sich einander zu nähern, sich zu einem langen bandartigen Faden zu verbinden, und was ver- anlasst später diesen Faden sich in eine ganz bestimmte Zahl von Stücken zu zerlegen? Offenbar doch auch innere Kräfte, über die wir weiter Nichts wissen, als dass sie wirken. Wir werden später sehen, dass man die Annahme vitaler Affini- täten noch weiter aufwärts fortführen muss, nicht nur bis zu den Zellen, sondern auch bis zu den Personen, deren Theile auch in einem inneren Verband stehen und in ihrem Aufbau durch Kräfte geordnet werden, deren eigentliche Kenntniss uns noch vollständig fehlt, die wir aber einstweilen mit diesem Namen belegen können. Es sind aber auch prinzipielle Bedenken gegen die Annahme einer erbungleichen Kerntheilung geäussert worden. O. HERTWIG hält die erbungleiche Theilung für prinzipiell unannehmbar, weil sie in Widerspruch stehe mit »einer der ersten Grund lehren der Zeugung«, denn »eine physiologische Grundeigenschaft jedes Lebewesens sei das Vermögen, seine Art zu erhalten«. 1 Schon in meinem Buch »Das Keimplasma« habe ich »Anziehungskräfte« Determinanten und Biophoren, wie in den Zellen angenommen, freilich noch ohne genauere Ausführung, wenn auch damals schon mit ähnlicher Begründung '»Keim- plasma« p. 92). Meine Kritiker haben das übersehen. Erbungleiche Kemtheilung. 41 t Das scheint ja so, aber bei genauerem Zusehen ist diese »Grund- lehre«, obwohl in einem sehr allgemeinen Sinn genommen, richtig, doch nicht zutreffend und deshalb nicht fähig, den daraus abgeleiteten Schluss zu stützen. Wäre der Satz genau wahr, so könnte es keine Entwicklung der ersten Organismen zu höheren gegeben haben, so müsste jedes Lebewesen immer nur genaue Copien seiner selbst als Nachkommen geliefert haben. Mögen die Artumwandlungen plötz- lich, oder allmälig, in grösseren oder in kleinsten Schritten erfolgt sein, immer können sie nur mittelst Durchbrechung obiger »Grund- lehre« zu Stande gekommen sein. Man kann geradezu ihr Gegen- theil als richtig behaupten und sagen, »kein Lebewesen vermag, genaue Copien seiner selbst zu liefern«, und zwar gilt dies nicht nur für geschlechtliche, sondern auch für ungeschlechtliche Fortpflanzung. In der Ontogenese sehen wir ganz das Gleiche. Es gibt keine zwei Tochterzellen einer Mutterzelle, die untereinander ganz gleich wären, die Verschiedenheiten aber, welche zwischen ihnen bestehen, können sich, wenn sie in derselben Richtung zunehmen, in späteren Nachkommen bis zu gänzlicher Verschiedenheit des Baues steigern, und auf einer solchen, von Innen kommenden und gesetzmässig im Voraus festgestellten Steigerung der Differenzen der Tochterzellen beruht die ganze Ontogenese. Auch hier also bewährt sich der Satz nicht vom »Grundvermögen« jedes Lebewesens, seine Art zu erhalten. Fasst man nur zwei unmittelbar aufeinander folgende Zellgenerationen ins Auge, so ist der Unterschied zwischen ihnen freilich meist nicht zu bemerken, gerade wie bei den Generationen der Species, hält man aber die Enden langer Zellreihen mit ihrem Anfang zusammen, dann fällt der Unterschied auf, und wir erkennen, dass es sich hier um schrittweise Summirung kleiner, unsichtbarer Abweichungen gehandelt hat. Diese Differenz-Schritte können nach meiner Ansicht unmöglich blos auf direkten äusseren Einwirkungen beruhen, sie gehen vielmehr aus der den Zellen vom Ei her mitgegebenen Vererbungssubstanz hervor, die also, um zu so vielfacher und weitgehender Differenzirung zu gelangen, nothwendig einer vielfach wiederholten Spaltung ihrer Qualitäten unterworfen sein muss. Dass wirklich diese Spaltung nicht blos eine Abänderung ist, der die gesammte Vererbungssubstanz der Tochterzellen gleichmässig unterworfen ist, je nach den Einflüssen, welche ihre Lagerung auf oder zwischen anderen Zellen des Embryo bedingt, werden Sie an dem Beispiel der Rippenquallen im nächsten Vortrag erkennen. Ein kaum minder schlagendes Beispiel ist das Weismann, Descendenztheorie. 26 A I A Die Keimplasmatheorie. derjenigen Thiere, bei welchen die Eier nur die Anlagen für das eine Geschlecht enthalten, bei welchen es also männliche und weibliche Eier gibt. Das ist der Fall z. B. bei Räderthieren, aber auch bei Blattläusen, wie die Reblaus (Phylloxera). Hier sind die Eier, aus welchen die Männchen hervorgehen kleiner, als diejenigen, aus welchen die Weibchen kommen, die Anlagen zu Mann oder Weib sind nicht, wie bei den meisten Thieren in einem Ei beisammen, um dann durch uns unbekannte Einflüsse einseitig ausgelöst zu werden, sondern in jedem Ei ist nur die eine der beiden Anlagen vorhanden, und eine Zwitterbildung wie sie bei anderen Thieren nicht selten vor- kommt, wäre hier unmöglich. Nun sind aber diese Eier alle aus einer ersten Urgenitalzelle hervorgegangen, folglich muss bei einer der die Vermehrung dieser ersten Zelle bewirkenden Theilungen eine Trennung der weiblichen von den männlichen Anlagen statt- gefunden haben, d. h. eine erbungleiche Theilung, für die kein äusserer, auch kein intracellularer Einfiuss verantwortlich gemacht werden kann. Wenn es nun also eine erbungleiche Theilung des Ids und damit des gesammten Idioplasmas gibt, so wird das Keimplasma der be- fruchteten Eizelle im Laufe der Ontogenese in immer kleinere De- terminanten-Gruppen zerlegt werden müssen. Ich denke mir dies etwa in folgender Weise. Bei manchen Thieren theilt sich das befruchtete Ei durch die erste Furchung in zwei Zellen, von denen die eine vorwiegend dem inneren, die andere dem äusseren Keimblatt den Ursprung gibt, so z. B. bei den Muscheln. Nehmen wir einmal an, dies sei ganz rein der Fall, so also, dass die eine der beiden ersten Blastomeren dem ganzen Ektoderm, die andere dem ganzen Entoderm den Ursprung gäbe, so hätten wir hier eine erbungleiche Theilung, denn die » Werde-ßedeutung« (= »prospektive« Driesch) der Urzelle des Entoderms ist eine andere, als die der Urzelle des Ektoderms, aus der ersteren geht die Haut und das Nervensystem mit den Sinnes- organen hervor, aus der zweiten der Darm mit der Leber u. s. w. Durch diesen Theilungsschritt müssen also — so schliesse ich — die Determinanten sämmtlicher Ektodermzellen geschieden werden von denjenigen sämmtlicher Entodermzellen; das Determinanten-Gebäude des Ids muss bei solchen Arten derart konstruirt sein, dass es sich bei dieser ersten Theilung in die ekto- und in die entodermale De- terminanten-Gruppe zerlegen kann. Solche erbungleiche Theilungen werden sich in der Embryogenese jedesmal dann einstellen, wenn es Die Keimplasmatheorie. 4 I S sich um die Spaltung einer Zelle in zwei Tochterzellen von ungleicher Werde-Bedeutung handelt, folglich so oft, bis das Determinanten- Gebäude des Ids vollständig in seine einzelnen Bestandtheile, d. h. in die einzelnen Determinanten-Arten zerlegt ist, so dass jede Zelle nun- mehr blos noch eine Art von Determinanten enthält, diejenige, durch welche ihr eigener Charakter bestimmt wird. Derselbe besteht natür- lich nicht blos in ihrem morphologischen Bau und chemischen Ge- halt, sondern auch in ihrer gesammten physiologischen Leistungsfähig- keit, also auch ihrer Theilungskraft und Lebensdauer. Die Embryogenese läuft aber nicht blos durch erbungleiche Thei- lungen ab, sondern erbgleiche schieben sich häufig zwischen sie ein, überall da z. B., wo bei einem bilateralen Thier eine Embryonalzelle durch Theilung in zwei das entsprechende Organ für die rechte und die linke Körperhälfte zu liefern hat; z. B. bei der Theilung der Ur- Genitalzelle in die Anlage der rechten und linken Genitaldrüse, oder die Theilung der Ur-Mesodermzelle in eine rechte und linke Stamm- Mesodermzelle, aber auch im späteren Verlauf der Embryogenese, wenn z. B. die rechte oder die linke Urgenitalzelle sich zu einer grossen Zahl von Urkeimzellen vermehrt oder bei der Vermehrung der Blutzellen, der Epithelzellen einer gewissen Gegend, kurz überall da, wo Mutter- und Tochterzellen die gleiche Werde-Bedeutung haben, wo eben Nichts weiter mehr aus ihnen wird, als sie schon sind. In allen solchen Fällen wird durch die Kerntheilung die gleiche Gruppe von Determinanten, oder auch dieselbe eine Determinanten-Art in beide Tochterkerne gelangen müssen. Auf diese Weise also denke ich mir, dass die Determinanten in die Zellen gelangen, die sie zu bestimmen haben, durch gesetzmässige Spaltungen des Ids in immer kleinere Determinanten-Gruppen, durch eine allmälige Zerlegung des Keimplasmas in die Idioplasmen der verschiedenen ontogenetischen Stadien. Als ich zuerst diese Vor- stellung entwickelte, nahm ich an, dass die Spaltung überall zur gleichen Zeit einsetze, d. h. schon bei der ersten Theilung des Eies. Es sind aber seither in dem Kampf um die Theorie zahlreiche Thatsachen bekannt geworden, welche beweisen, dass sich die Eier verschiedener Thiergruppen verschieden verhalten, und dass die Spal- tung der Anlagenmasse auch später erst beginnen kann, worauf ich noch zurückkommen werde. Nehmen wir die Spaltungshypothese an, wie sie in ähnlichem Sinn auch WILHELM R.OUX als »Mosaiktheorie« aufgestellt hat, so muss es auffallen, dass die Chromatin-Masse der Kerne im Laufe der Onto- 26* A I 6 Die Keimplasmatheorie. genese nicht ganz erheblich kleiner wird, ja schliesslich bis zur Unsichtbafkeit herabsinkt, denn Determinanten liegen weit unter der Grenze der Sichtbarkeit, und wenn wirklich nur je eine Determinante jede Zelle bestimmte, so könnte von Chromatin in einer solchen Nichts mehr gesehen werden. Man hat mir in der That diesen Ein- wurf gemacht, obschon ich von vornherein die Annahme ausgesprochen hatte, dass die Determinanten während der gesammten Ontogenese in fortwährender Vermehrung begriffen sind, so dass also in dem Mass als die in einer Zelle beisammen liegenden Determinanten- Arten an Zahl sich verringern, die Zahl der Einzel-Determinanten jeder Art zunimmt. Wenn zuletzt nur noch eine Determinanten-Art vorhanden ist, so besteht also diese aus einem ganzen Heer von ein- zelnen Determinanten. Aus dieser Vorstellung von der allmäligen Zerlegung des Ids im Laufe der Entwicklung folgt aber weiter, dass wir den Determinanten zweierlei Zustände zusprechen müssen, wenigstens in Bezug auf ihre Wirkung auf die Zelle, in der sie liegen: einen aktiven, in welchem sie die Zelle bestimmen und einen passiven, in welchem sie keine Wirkung auf die Zelle ausüben, obwohl sie sich vermehren. Vom Ei an wird also durch die Zelltheilungen der Embryogenese eine Masse von Determinanten weitergegeben, welche erst später aktiv zu werden haben. Das Aktivwerden denke ich mir in ähnlicher Weise, wie dies DE Vries seinerzeit für seine »Pangene« angenommen hat, kleinste Theilchen, welche eine ähnliche bestimmende Wirkung in seiner »Pangen-Theorie« zu spielen haben, wie in der Keimplasma- Theorie die Determinanten; ich denke mir, dass die Determinanten sich zuletzt in die sie zusammensetzenden kleinsten Lebens- theilchen, die Biophoren, auflösen, und dass diese nun durch die Kernmembran hindurch in den Zellkörper aus- wandern. Dort aber wird dann ein Kampf um Nahrung und Raum zwischen den schon vorhandenen Elementen des Protoplasmas und den neu eindringenden eintreten müssen, aus welchem eine schwächere oder stärkere Umgestaltung des Zellenbaues hervorgehen wird. Man könnte vermuthen, dass diese Biophoren von vornherein schon gewissen Bestandtheilen der Zelle entsprechend gebaut wären, dass es z. B. Muskel-Biophoren wären, welche die Muskelzelle zu dem machen, was sie werden soll, oder dass die Pflanzenzelle ihre Chloro- phyll-erzeugenden Organe durch Chlorophyll-Biophoren erhielte. Diese Bestimmung der Zelle. 417 Ansicht ist auch in der That von DE Vries in seiner »Pannen &> Theorie« ausgesprochen worden, und ich gestehe, dass sie mir damals Viel für sich zu haben schien, aber ich zweifle heute doch, ob ihr allgemeine Gültigkeit zugestanden werden darf. Zunächst scheint es mir theoretisch nicht nothwendig, anzunehmen, dass die in den Zell- körper einwandernden Theilchen schon selbst Chlorophyll- oder Muskelpartikelchen seien; sie können sehr wohl auch nur Bildner von solchen sein, d. h. Theilchen, welche in ihrer Zusammenwirkung mit den schon gegebenen Elementen des Zellkörpers Chlorophyll oder Muskelsubstanz hervorrufen. Da wir indessen die Kräfte, welche diese kleinsten Lebenstheilchen beherrschen, nicht kennen, ebenso- wenig als die Vorgänge, welche zur histologischen Differenzirung des Zellkörpers führen, so ist es fürs Erste nutzlos, darüber weiteren Ver- muthungen nachzuhängen. Jedenfalls aber müssen die Biophoren, welche den allgemeinen Charakter der indifferenten Embryonalzelle in den spezifischen einer bestimmten Gewebezelle verwandeln, selbst eine ganz spezifische, von anderen Biophoren verschiedene Struktur besitzen, denn sie müssen die Continuität der einmal von den Vorfahren errungenen Bildungen, des Chlorophylls, der Muskel- substanz vermitteln, da wir nicht annehmen können, dass derartige eigentümliche und in ihrem chemischen und physikalischen Bau ver- wickelte Bildungen sich in jedem neuen Wesen ganz von Neuem, gewissermassen durch Urzeugung bildeten, wie DE VRIES sehr richtig betont hat. Ein spezifisches Biophor z. B. der Muskelsubstanz wird also diese Substanz hervorbringen, sobald es in den dazu erforder- lichen Zellkörper gelangt, auch wenn es selbst nicht schon ein kon- traktiles Element sein sollte. Dazu kommt, dass der Aufbau des Körpers und die Merkmale einer Lebensform nicht blos auf der histologischen Differenzirung der Zellen beruhen, sondern ebenso sehr auf ihrer Zahl und Anord- nung, auf Grösse und Häufigkeit der Wiederholung gewisser Theile. Diese Merkmale sind eben so konstant und streng erblich, sie können ebenso gut erblich variiren, als die auf spezifischer Zell- Differenzirung beruhenden, sie müssen also ebenfalls durch bestimmte Theilchen des Keimplasmas bestimmbar sein; aber sie können nicht das Wesen der bekannten spezifischen, histologischen Elementar- theilchen besitzen, sie können weder Nerven-, Muskel- noch Drüsen- Biophoren sein, sondern vielmehr Lebenseinheiten von solcher Art, dass sie der Zelle und den Zellfolgen, in deren Körper sie vom Kern aus einwandern, eine bestimmte Lebenskraft ertheilen, d. h. A I 8 Die Keimplasmatheorie. eine Beschaffenheit, die ihre Grösse, Gestalt, Zahl ihrer Theilungen u. s. w., kurz ihre ganze Werde-Bedeutung normirt — immer in Ge- meinschaft mit dem Zellkörper, in den sie eingedrungen sind. Über- haupt wird man sich vor der Vorstellung hüten müssen, als würden »Eigenschaften« vererbt. Wohl spricht man gewöhnlich so und muss es thun, weil wir eben nur » Eigenschaften « der Körper er- kennen, nicht das Wesen derselben, auf welchem eben ihre »Eigen- schaften« beruhen, aber die Determinanten sind nicht Samenkörner einzelner Eigenschaften, sondern Mitbestimmer des Wesens der Theile, welche sie beeinflussen. Es gibt keine besonderen . De- terminanten der Grösse einer Zelle, andere der spezifischen histo- logischen Differenzirung, wieder andere der Lebensdauer, Vermehrungs- kraft u. s. w., sondern nur Determinanten der gesammten physischen Natur einer Zelle, aus welcher alle diese und noch viele andere »Eigenschaften« hervorgehen. Schon aus diesem Grund widerstrebt mir die Annahme, die Determinanten des Keims seien fertige histo- logische Substanzen. Sie werden dies wohl so wenig sein, als ihre Gruppen im Keimplasma »Miniaturbilder« der fertigen Theile des Körpers sind. Den Vorgang der Zellbestimmung nun denke ich mir etwa so, dass bei jedem Zellenschritt der Ontogenese Determinanten zur Reife gelangen, sich auflösen und ihre Biophoren in den Zellkörper über- treten lassen, so dass also dadurch fortwährend die Qualität jeder Zelle unter Controle gehalten, schwächer oder stärker verändert wird, oder auch dieselbe bleibt. Unter »Reife« einer Determinante stelle ich mir den Zustand vor, in welchem dieselbe ihre Zahl durch fort- gesetzte Theilung bis auf den Punkt vermehrt hat, auf welchem ihre Auflösung und Auswanderung in den Zellkörper eintreten kann. Noch einen Punkt muss ich hier berühren, die Frage nach der »Auslösung« der Determinanten. Die Thätigkeit eines Organs be- ruht niemals blos auf ihm selbst, die Zuckung des Muskels wird von einem Nervenreiz ausgelöst, oder vom elektrischen Strom, die Thätig- keit der Nervenzellen des Gehirns bedarf des fortwährenden Reizes des Blutstroms und kann ohne ihn nicht fortbestehen, die spezifischen Sinnesnerven und Sinneszellen des Auges, des Ohrs, des Geruches u. s. w. werden durch die ihnen adäquaten Reize zur Thätigkeit aus- gelöst. So müssen auch die Determinanten zu ihrer Auflösung und Auswanderung in den Zellkörper ausgelöst werden, und es fragt sich, wodurch das geschieht, möglicherweise nur durch ihre eigenen internen Zustände, die dann freilich wieder von den Ernährungsverhältnissen Zerlegung des Keimplasmas. 4 I Q der Zelle abhängen, in der sie liegen, möglicherweise aber auch von einem spezifischen Reiz, der zu ihrer »Reife« noch hinzukommen muss, wie ja auch der Muskel stets »reif« zur Zuckung ist, aber doch erst wirklich zuckt, wenn ein spezifischer Reiz auf ihn einwirkt. Ich habe mir deshalb von Anfang an überlegt, ob man nicht etwa besser thäte, die Determinantentheorie derart auszubauen, dass man keine Zerlegung des Ids im Laufe der Ontogenese annähme, sondern sich jedes Aktivwerden einer Determinante abhängig dächte von einem spezifischen Reiz, der in vielen Fällen nur von einer be- stimmten Zelle ausgeübt werden könne, also von internen Einflüssen, in anderen von äusseren. Das Erste hat eigentlich schon DARWIN angenommen in seiner später noch zu skizzirenden Theorie der Pangenesis. Dort ertheilt er seinen »Keimchen« die Fähigkeit, bestimmte Zellen hervorzubringen, was sie aber nur dann vollbringen können, wenn sie in diejenige Zelle gelangen, welche in der Entwicklung derjenigen vorausgeht, welche sie hervorbringen sollen. In die Sprache unserer Theorie übersetzt würde das heissen: in jeder Zelle ist der gesammte De- terminanten-Komplex enthalten, wie er schon in der Keimzelle ent- halten ist, aber auf jedem Stadium der Ontogenese, d. h. in jeder ihrer Zellen wird immer nur diejenige Determinante zur Thätigkeit ausgelöst, welche die folgenden Zellen zu bestimmen hat, und zwar durch den Reiz, welchen die spezifische Natur dieser Zelle auf diese Determinante ausübt. Es müsste also dann bei jeder Thierart so viele spezifische Reize für Determinanten geben, als es verschiedene Determinanten bei ihr gibt. Mir erschien dies unwahrscheinlich, und ich verwarf die Hypothese, schon wegen der ungeheuren Masse spezifischer Reize, die sie er- fordert, aber auch noch aus anderen Gründen, die im Verlauf dieser Vorträge noch berührt werden. Wenn ich nun aber auch die Annahme einer gesetzmässigen Zer- legung des Determinanten-Komplexes derlde im Verlaufe der Ontogenese für geboten halte, so verwerfe ich doch damit keineswegs das Ein- greifen von Auslösungen, ich halte vielmehr ihre Mitwirkung für unentbehrlich. Wir werden später noch Fälle besprechen, in denen bestimmt nachweisbar ist, dass zweierlei homologe Determinanten in einer Zelle vorhanden sind, von denen aber jedesmal nur die eine aktiv wird, und wir können uns diese Thatsache nur so zurecht- legen, dass eben nur die eine von dem für sie spezifischen Aus- lösuno-sreiz getroffen wurde. Die Erscheinungen der Regeneration, A.20 Die Keimplasmatheorie. des Polymorphismus, der Keimzellenbildung und andere zwingen die Theorie zu der Annahme, dass in zahlreichen Zellen auch nach Vollendung des Körperaufbaues noch zweierlei oder mehrerlei Deter- minanten gewissermassen als inaktives »Nebenidioplasma« enthalten sind, von denen jede allein diese Zelle bestimmen könnte, sie aber in Wirklichkeit nur dann bestimmt, wenn sie von dem richtigen aus- lösenden Reiz getroffen wird. Ich habe dies schon vor Jahren dar- sreleet1, als ich die Rolle genauer zu bestimmen suchte, welche »äussere Einflüsse als Entwicklungsreize« bei den Organismen spielen. Ich unterschätze also wohl nicht die Bedeutung äusserer Einwirkungen auf den Organismus, ich glaube nur, dass ein noch grösserer Theil der Bestimmung darüber, was an einem bestimmten Punkt desselben werden soll, von den Anlagen abhängt, und dass diese nicht überall im Körper die gleichen sind. Alles lebendige Geschehen, also auch Wachsen und Gestalten beruht stets auf dem Zusammenwirken äusserer und innerer Faktoren, der Bedingungen und der lebendigen Substanz, und so wird noth- vvendig auch die Resultante aus Beiden, der Bau des Körpers und seiner Theile anders ausfallen müssen, nicht nur wenn die Keim- substanz eine andere ist, sondern auch, wenn wesentliche Entwicklungs- bedinp"uno'en sich verändern. Dass aber die Konstitution des Keims bei Weitem der mächtigere Faktor ist, von dem in weit höherem Grade die Beschaffenheit des Entwicklungsresultats abhängt, als von den Bedingungen , wissen wir seit lange. Die Bedingungen , z. B. die Wärme, kann zwischen gewissen Grenzen schwanken, und das Froschei entwickelt sich doch zum Frosch, aber daraus folgt nicht, dass nicht durch gewisse Änderungen der Bedingungen auch das Entwicklungs- resultat geändert werden könnte. Die interessanten Versuche von HERBST mit den Eiern von Seeigeln haben gelehrt, dass in einem künstlich hergestellten Seewasser, in welchem das Natron durch Lithion ersetzt ist, diese Eier sich zu Larven entwickeln, die nur entfernt an den normalen Bau erinnern und sowohl in der äusseren Gestalt als in der Form des Skelettes bedeutend davon abweichen. Solche Larven sind nicht lebensfähig, sondern gehen bald zu Grunde, aber sie sind für die Theorie von grossem Interesse, denn sie zeigen uns, dass Determinanten nicht unter allen Umständen immer nur ein und dasselbe Gebilde hervorbringen, sondern dass sie — wie ich oben schon sagte — lebendige Einheiten spezifischer Zu- » Äussere Einflüsse als Entwicklungsreize«, Jena, 1894. Herbst's Lithion-Larven. 4 2 I sammensetzung sind, die in den Gang der Entwicklung eingreifen, und die bei normalen äusseren Einflüssen den normalen Theil entstehen lassen, bei ungewöhnlichen Einflüssen aber, falls diese nicht jede Ent- wicklung ausschliessen , einen abnorm gestalteten Theil. Man darf dabei nicht vergessen, dass die meisten zusammengesetzten, ja eigentlich alle Theile eines Thiers nicht etwa blos von einer Determinante bestimmt werden, sondern von allen den vielen, successiv den Charakter der Zellen bestimmenden, welche die Entwicklungsbahn des be- treffenden Theils ausmachen. Es gibt eben keine Determinanten von »Eigenschaften«, sondern nur von Theilen, das Keimplasma ent- hält so wenig die Determinante einer »krummen Nase«, als die eines Schmetterlingsflügels mit allen seinen Theilen und Theilchen, aber es enthält eine Anzahl von Determinanten, welche die ganze Zellengruppe, die zur Bildung der Nase führt, in allen ihren Entwicklungsstufen successive derart bestimmt, dass schliesslich die krumme Nase dabei herauskommen muss , gerade wie der Schmetterlingsflügel mit allen seinen Adern, Membranen, Nerven, Tracheen, Drüsenzellen, Schuppen- formen, Pigmentablagerungen durch das successive Eingreifen zahl- reicher Determinanten in den Gang der Zellvermehrung entsteht. Voraussetzung bei beiden Vorgängen aber sind: die normalen Entwicklungsbedingungen. Vom Schmetterling wissen wir, dass abnorme Bedingungen, z. B. Kälte während der Puppenperiode die Färbung und Zeichnung des Flügels bedeutend verändern kann, und bei der Nase wäre wohl kaum zu zweifeln, dass z. B. anhaltender Druck auf die Nasengegend eine erhebliche Abweichung der ererbten Nasenform zur Folge haben könnte. Ahnlich wird es mit den Lithion-Larven sein. Hier werden schon die ersten Furchungszellen in ihrem Chemismus durch das Lithion ver- ändert, und die in sie und die folgenden Zellgenerationen vom Kern aus eintretenden Determinanten finden einen abweichenden Boden für ihre Thätigkeit vor, der immer weiter vom Normalen abweicht, um je spätere Zellfolgen es sich handelt. So wird das ganze Thier abnorm gestaltet. Der Vorgang ist vielleicht vergleichbar einer Pflanze, die negativ geotropisch und positiv heliotropisch ist, d. h. deren Stamm die Neigung hat senkrecht empor zu wachsen, während alle ihre grünen Theile dem Lichte zuwachsen. Beleuchtet man eine solche Pflanze nur von einer Seite her, so wächst ihr Stamm mit den Blättern schräg gegen diese hin. Dreht man dann die Pflanze um, so dass • sie das Licht von der anderen Seite erhält, so wendet sich der Stamm beim VVeitervvachsen schräg nach der entgegengesetzten Seite, und so 422 Die Keimplasmatheorie. könnte man — theoretisch wenigstens — durch fortwährenden Wechsel der Stellung zum Licht eine Pflanze mit zickzackförmigem Stamm erziehen. Das wäre aber kein Beweis gegen die Anwesenheit von Determinanten; es gibt eben keine »Senkrecht-Determinanten«, so wenig als es »Zickzack-Determinanten«, oder »Krumme-Nasen-Deter- minanten« gibt, aber es gibt Determinanten, welche das Wesen der Zellen bestimmen, aus denen unter normalen Entwicklungsbedingungen der gerade Stamm hervorgeht, unter abnormen der zickzackförmige, oder die Plattnase statt der krummen. So sind denn auch die Pflanzen gallen nicht entfernt ein Stein des Anstosses für die Determinantenlehre wie man gemeint hat. Wohl kann es keine »Gallen-Determinanten« geben, denn die Gallen sind keine erbliche Einrichtung der Pflanzen, an denen sie vorkommen, sondern entstehen nur und allein durch die Larve der Gallwespe, welche ihr Ei in das Pflanzengewebe hineingelegt hat. Aber die spezifische, durch ihre Determinanten bestimmte Natur der verschiedenen Arten von Pflanzenzellen ist eine derartige, dass sie durch die abnormen Einflüsse, welche die Larve auf sie ausübt, zu einer ganz besondern Reaktion gezwungen wird, aus welcher eben die Gallenbildung hervor- geht. Es ist wunderbar genug, dass diese abnormen Reize so genau abgestuft und geordnet werden konnten, dass eine so spezifisch ge- staltete Bildung zu Stande kommen musste, und in diesem Falle ist es offenbar umgekehrt, wie bei den meisten übrigen Bildungsvorgängen, bei welchen das Bestimmende mehr auf Seiten des Idioplasmas, also der Determinanten liegt, als auf Seite der äusseren Einwirkungen; hier beruht die spezifische Bildung der Galle vorwiegend auf der Qualität. Verschiedenheit und successiven Einwirkung, der äusseren Einflüsse oder Reize. Ich werde bei Besprechung der Mediums- Einflüsse noch einmal auf die Gallen zurückkommen. Man hat meine Determinanten meist im Sinne von Samenkörnern aufgefasst, aus denen entweder Nichts hervorgeht — bei ungünstigen Bedingungen — oder eben nur die bestimmte Pflanze, von der der Samen herstammt. Das Bild ist aber doch sehr cum grano salis zu verstehen. Das ganze Ei ist freilich dem Samenkorn vergleichbar, aber einzelne De- terminanten oder Determinanten-Gruppen werden immer fähig sein, den verschiedenen Einflüssen nachzugeben und bei schwach abnormen Bedingungen trotzdem thätig zu sein, aber dann etwas abweichende Bildungen liefern. Das ist schon wegen der unaufhörlichen gegen- seitigen Anpassungen der wachsenden Theile des Organismus uner- Einwürfe gegen die Determinantenlehre. 42^ lässlich. Nicht nur die gleichzeitig nebeneinander lebenden Zellen beeinflussen sich gegenseitig, sondern auch die genealogischen Zellen- folgen. Keine Zelle noch Zellengruppe bildet sich unabhängig von allen übrigen des Körpers, hat vielmehr ihre Vorfahrenreihe von Zellen, von deren Determinanten sie insoweit abhängig ist, als diese ihr eigenes Wesen mitbestimmen, gewissermassen den Boden abgeben, in den zuletzt noch ihre eigene Determinante vom Kern aus gesäet wird, und der die Einwirkung dieser Letzteren modificirt je nach seiner Qualität. Man könnte deshalb auch sagen, dass ein jeder Theil von sämmtlichen Determinanten seiner Zellen- Ahnen bestimmt würde. Wenn gegen die Determinanten -Lehre eben gerade die Ab- hängigkeit der individuellen Entwicklung von äusseren Bedin- gungen ins Feld geführt wurde, die Fähigkeit des Organismus, sich der Funktion anzupassen, vor Allem das Vermögen man- cher seiner Theile, auf verschiedene Reize sich verschieden auszugestalten, so sehe ich nicht ein, weshalb nicht gewisse Zellen und Zellenmassen von vornherein darauf eingerichtet sein könnten, auf verschiedene Reize verschieden zu antworten. Ich sehe deshalb keinen Widerspruch mit der Determinanten-Lehre, wenn z. B. bei den höheren Wirbelthieren die Zellen der Binde- substanzen eine grosse Vielgestaltigkeit aufweisen, wenn sie hier lockeres, ausfüllendes Bindegewebe bilden, dort straffes Fascien-, Bänder- und Sehnengewebe, je nachdem sie schwachem allseitigen Druck oder stärkerem und einseitigen Druck ausgesetzt sind, dass sie Knochengewebe bilden mit genauester Anpassung seiner mikrosko- pischen Struktur an die Zug- und Druckverhältnisse, die auf die be- treffende Stelle wirken, aber auch Knorpelgewebe, wenn die Zellen von einem wechselnden gleitenden Druck getroffen werden, ja dass sie auch Blutgefässe hervorrufen, wenn das Nachdrängen des cirku- lirenden Blutes und die sie umgebende Gewebespannung den dafür erforderlichen Einfluss ausüben. Es ist leicht einzusehen, wie wichtig, ja nothwendig eine solche Vielseitigkeit dieser Zellen für den Orga- nismus ist, auch wenn man nicht an gewaltsame Eingriffe in den- selben, an Knochenbrüche, schiefe Zusammenheilung von gebrochenen Knochenenden, neue Gelenkbildungen u. s. w. denkt, sondern nur an die normalen Erscheinungen des Wachsthums. Während der Knochen wächst, löst er sich fortwährend im Innern auf und bildet sich an der Oberfläche neu, und das geschieht durch die Fähigkeit der Bindesubstanzzellen auf verschiedene Einflüsse (Reize) hin, ganz verschiedene Gewebe zu bilden. 424 Die Keimplasmatheorie. So werden wir in den Bindesubstanzzellen der höheren Wirbel- thiere also nebeneinander Determinanten des Knochens, des Knorpels, des Bindegewebes und der Gefässe anzunehmen haben, von denen je nach dem sie treffenden Reiz die eine oder die andere Art zur Thätig- keit ausgelöst wird. Auch in der Entwicklung niederer Thiere kommen Erscheinungen vor, die uns zu der gleichen Annahme ver- anlassen müssen. Hierher gehört das merkwürdige Verhalten der ersten Mesoderm- zellen in der jungen Larve (Gastrula) der Stachelhäuter (Fig. 92). Fig. 92. Echinodermen-Larve, A Blastula-Stadium, die Mesodermzellen [M) bilden sich von der späteren Einstülpungsstelle des Entoderms [Ent] aus. Ekt Ektoderm. B Gastrula-Stadium; der Urdarm [CD) hat sich eingestülpt 'Ent) und zwischen ihm und dem Ektoderm [Ekt) wandern die Zellen des Mesoderms [Ms) in der Gallertschicht umher, welche diesen Raum ausfüllt, um sich theils an das Ektoderm, theils an das Entoderm anzulagern. Nach Selenka. An der Stelle nämlich, an welcher die Einstülpung des Urdarms in das Innere der vorher noch einschichtigen Zellenblase stattfindet (Fig. 92, A), lösen sich einige Zellen los (Jll) und kriechen selbst- ständig und unter steter Vermehrung in die helle Gallerte [G) hinein, welche die Höhle der Larve ausfüllt, um sich dann hier oder dort festzusetzen, einige an die äussere Zellenlage des Ektoderms, andere an die verschiedenen Regionen und Auswüchse des Urdarms [B , Ms . Je nachdem nun diese Zellen sich hier oder dort angelagert haben, werden sie zu Bindegewebe-, zu Muskel- oder zu Skelett-bildenden Zellen der Unterhaut, oder zu der Muskelschicht des Darms und der Wassergefässe, oder schliesslich zu den Skelett-bildenden Zellen des Kalkringes, der bei den Seewalzen den Schlund umgibt. Dabei Doppel-Determinanten. 4-2S spricht Nichts für eine einseitige Determinirung dieser Zellen, sondern es hat durchaus den Anschein, als hinge das Schicksal der einzelnen Zellen vom Zufall ab, der sie hier oder dorthin führen kann. In diesen ihrem Aussehen nach ganz gleichen Zellen sind also drei Entwicklungs-Möglichkeiten enthalten, drei Reaktions-Arten, und man wird sich ihren Antheil am Aufbau des so regelmässig gebauten Thieres nur so denken können, dass von diesen dreien immer nur eine ausgelöst wird, und zwar durch den spezifischen Reiz, welchen die unmittelbare Umgebung auf die Zelle ausübt, so dass dieselbe, je nach der zufälligen Lagerung, welche sie nach ihrer Wanderung einnimmt, entweder zur Haut- oder zur Muskelzelle oder zur Skelett- zelle wird. Der Fall lässt sich etwa vergleichen mit der dauernden Farben- anpassung jener Raupen, von welchen PoULTON nachwies, dass sie auf schwarzbrauner Rinde erzogen fast schwarz werden, auf hell- brauner hellbraun, zwischen Blättern gehalten aber grün und zwar bleibend. Auch hier werden die betreffenden Farbzellen der Haut in dreierlei Weise sich ausbilden, je nachdem diese oder jene Qualität des Lichtes diese oder jene Determinante zur Thätigkeit auslöst. In vielen Fällen aber kennen wir die Qualität des auslösenden Reizes nicht und müssen uns damit begnügen, sie vorauszusetzen; so bei dem Dimorphismus der Geschlechter. Dass bei den männlichen Thieren einer Art die Keimzellen ganz anders sich ge- stalten, als bei den weiblichen, dass in ihnen andere bestimmende Elemente zur Aktivität gelangen als in jenen, ist klar, und da im Ei und in der Samenzelle der meisten Thiere die Anlagen zu beiden Geschlechtern enthalten sein müssen, so sind in beiden sowohl »ovo- gene« als »spermogene« Determinanten anzunehmen, von denen aber meist nur die eine Art in demselben Individuum aktiv wird. Doch gibt es ja auch Zwitter in beiden Naturreichen, bei welchen beiderlei Geschlechtsprodukte gleichzeitig oder nacheinander gebildet werden. Aber nicht nur die primären, sondern auch sämmtliche sekun- dären Geschlechtscharaktere machen die Annahme von Doppel-Deter- minanten im Keimplasma nothwendig. Wir wissen ja von uns selbst her sehr gut, dass »die schöne Sopranstimme der Mutter sich durch den Sohn hindurch auf die Enkelin vererben kann, ebenso der schwarze Bart des Vaters durch die Tochter auf den Enkel«. Es müssen also in jedem geschlechtlich differenzirten Wesen beiderlei Geschlechtscharaktere vorhanden sein, die einen sichtbar, die anderen latent. Bei Thieren werden die Determinanten zj.2 0 Die Keimplasmatheorie. des einen Geschlechts zuweilen durch mehrere Generationen hindurch von Keimplasma zu Keimplasma in latentem Zustand weitergegeben, um erst in einer späteren Generation wieder hervorzutreten. So bei Wasserflöhen (Daphniden) und bei Blattläusen (Aphiden), bei welchen mehrere rein weibliche Generationen aufeinander folgen, und erst die letzte von ihnen neben Weibchen auch wieder Männchen hervor- bringt. Es müssen also in dem Keimplasma der zur Entwicklung reifen Eizelle nicht nur die Determinanten zu den spezifischen Eiern und Samenelementen der Art enthalten sein, sondern auch diejenigen zu allen jenen weiblichen und männlichen Sexualcharakteren, welche wir früher in dem Abschnitt über sexuelle Zuchtwahl ausführlich besprechen haben. Ich zeigte Ihnen dort, dass diese sekundären Sexualcharaktere in sehr verschiedener Ausdehnung und Stärke entwickelt sind, dass sie bei niederen Thieren meist ganz fehlen, dass aber auch bei höheren, wie z. B. bei Krebsen, Insekten und Vögeln, ihre Entfaltung auf sehr verschiedener Stufe steht, oft sogar bei nahen Verwandten. So sind die Paradiesvögel in den meisten Arten nur im männlichen Geschlecht brillant gefärbt und mit Schmuckfedern geziert, im weiblichen einfach schwarzgrau, aber es gibt eine einzelne Art, deren Männchen fast ebenso schlicht gefärbt sind, wie die Weibchen, und umgekehrt finden sich bei den Papageien die Geschlechter meist gleich gefärbt, aber einzelne Arten zeigen in Weib und Mann eine total verschiedene Färbung. Ebenso können sich die sekundären Geschlechtsunterschiede auf wenige Theile des Thieres beziehen, oder auf viele, ja in einzelnen Arten sind die Geschlechter so different gebildet, dass geradezu Alles an ihnen verschieden genannt werden muss. Beispiele dafür sind die Zwerg-Männchen der meisten Räderthiere (Rotatorien) und die im Verhältniss zu den Weibchen noch viel winzigeren Männchen eines Meereswurms, der früher schon besprochenen Bonellia viridis (p. 249). Es fragt sich nun, wie wir uns theoretisch diese Thatsachen nach der Keimplasmatheorie zurechtlegen können; dass doppelte Determi- nanten, weibliche und männliche für die verschieden gestalteten Theile der beiden Geschlechter im Keimplasma anzunehmen sind, wurde schon gesagt, und man wird sich vorzustellen haben, dass derselbe, in den meisten Fällen uns unbekannte Reiz, durch welchen die Deter- minanten der primären Geschlechtscharaktere zur Thätigkeit ausgelöst werden, auch diejenigen der sekundären zur Aktivität bestimmt. Wir dürfen aber wohl noch einen Schritt weiter gehen und schliessen, dass es weibliche und männliche Ide gibt, d. h. dass die männlichen Doppel-Determinanten. 42 7 Determinanten anderen Iden angehören als die weiblichen. Ich folgere dies daraus, dass bei einzelnen Gruppen, z. B. den Räderthieren und gewissen Blattläusen die Eier schon bei ihrer Bildung geschlechtlich differenzirt sind. Männchen und Weibchen dieser Thiere entstehen aus verschiedenen, äusserlich schon erkennbaren Eiern. Beide ent- wickeln sich parthenogenetisch. so dass also auch das Moment der Befruchtung nicht mit hineinspielt, sie müssen also von vornherein Ide enthalten, welche lediglich aus den Determinanten blos des einen Geschlechts bestehen. Ist dieser Schluss richtig, dann muss aber die geschlechtliche Um- prägung von Determinanten sekundärer Geschlechtscharaktere von vorn- herein in der Phylogenese in jedem Id nur nach einer Seite hin stattgefunden haben, und wir hätten also weibliche und männ- liche Ide anzunehmen, schon vor Beginn der Trennung der Ge- schlechter in Weibchen und Männchen, und derselbe Schluss wird auch auf die primären Geschlechtsunterschiede ausgedehnt werden müssen. Nur so lässt sich die im Laufe der Phylogenese eingetretene Steigerung anfänglicher kleiner Differenzen zwischen den Geschlechtern bis zu der gänzlichen Verschiedenheit des Baues verstehen, wie sie uns in den genannten Formen, Bonellia, Räderthieren und einigen parasitischen Würmern heute entgegentritt. Nun gibt es aber nicht blos geschlechtlichen Dimorphismus, sondern auch Zweigestaltigkeit der Larven, grüne und braune Raupen bei gewissen Schwärmer-Arten, und es gibt nicht nur Zwei-, sondern auch Drei- und Vielgestaltig keit einer Art, und in allen diesen Fällen müssen die Determinanten der differentiellen Theile doppelt, drei- oder vielfach in jedem Keimplasma, in jedem befruch- teten Ei der Art enthalten sein, wenigstens doch in allen den Fällen, in welchen die verschiedenen Formen der vielgestaltigen Art alle zu- sammen auf demselben Verbreitungsgebiet leben. Bei Gelegenheit der Mimicry haben wir von Schmetterlingsarten gesprochen, die im männlichen Geschlecht überall gleich oder nahezu gleich, im weib- lichen aber nicht nur ganz verschieden vom Männchen, sondern auch mehrfach verschieden unter sich sind. Von Papilio Merope kommen drei verschiedene Formen von Weibchen auf demselben Wohngebiet des Caplandes vor, jede einem geschützten Vorbild gleichend. Aus den Eiern eines Weibchens wurden alle drei Formen erhalten. Hier müssen also die weiblichen Ide des Keimplasmas in drei verschiedene Arten zerfallen, von denen die eine, wenn sie in Majorität in das be- fruchtete Ei gelangt, die Danais-Form, die zweite die Niavius-Form, A 2 8 Die Keimplasmatheorie. die dritte die Echeria-Form der Art hervorruft. Phylogenetisch ent- standen ist wahrscheinlich jede dieser drei Id-Arten allein für sich, auf einem beschränkteren Wohngebiet, auf welchem das geschützte Vorbild in Menge lebte, allein bei weiterer Ausbreitung mischten sich die verschiedenen Weibchen-Ide miteinander, wurden durch die Männchen in je einem Keimplasma vereinigt und bringen nun auf demselben Wohngebiet gelegentlich alle drei Formen zur Erscheinung. Ganz ähnlich wird man sich den Polymorphismus der Staaten- bildenden Insekten im Keimplasma begründet zu denken haben. Wenn es bei den Bienen ausser Weibchen und Männchen noch sog. Arbeiterinnen gibt, so wird das nur auf einer besonderen Art von Iden beruhen können, die ursprünglich echt weibliche waren, dann aber für den Bestand der Art vortheilhafte Abänderungen vieler ihrer Determinanten eino-ingren und nun zu »Arbeiterin-Iden« sich umgestalteten. Ich spare es für später auf, zu erwägen, wovon es hier abhängt, dass diese Ide zur Leitung der Ontogenese gelangen, jedenfalls auf eine ganz andere Weise als durch blosse Majorisirung der übrigen Ide, wie ich es eben für die Schmetterlinge mit poly- morphen Weibchen andeutete. Bei manchen Ameisen aber geht die Arbeitstheilung noch weiter, es gibt zweierlei Arbeiterinnen im Stock, gewöhnliche Arbeiterinnen und sog. »Soldaten«, und in diesem Falle wird sich das Arbeiter-Id im Laufe der Phylogenese nach zwei verschiedenen Richtungen weiter- entwickelt und sich in zwei Id-Arten getrennt haben, so dass das Keimplasma solcher Arten vier Id-Arten enthält. Ich könnte noch viele Fälle anführen, in welchen die Annahme doppelter oder mehrfacher Determinanten geboten erscheint, aber ich glaube, dass das Gesagte genügt, um auch in anderen Fällen sich zurecht zu finden. Die Keimplasmatheorie. 42Q XIX. Vortrag. Die Keimplasmatheorie, Portsetzung. Zusammenwirken der Determinanten zum Organ, Insektengliedmassen p. 429, Aderung des Insektenflügels p. 431, Missbildungen beim Menschen p. 431, Kuppe des Fliegen- be'ms p. 432, Beweise für die Existenz von Determinanten p. 434, Krallen und Haft- lappen p. 434, Unterschied zwischen einer Theorie der Ontogenese und einer solchen der Vererbung p. 435, Metamorphose des Insektendarms p- 435, Delage's Theorie p. 438, Reinke's Theoreme von der Organismus -Maschine p. 440, Fechner's An- sichten p. 442, Scheinbarer Widerspruch entwicklungsmechanischer Thatsachen p. 444, Bildung der Keimzellen p. 448, Verschiebung der Keimstätte bei Medusen-Polypen, ein Beweis für die Existenz von Keimbahnen p. 451. Meine Herren! Vergeblich würden wir versuchen, die Anordnung der Determinanten im Keimplasma zu errathen, aber so viel lässt sich doch wohl aussagen, dass die Determinanten nicht etwa so bei ein- ander liegen, wie ihre Determinaten im fertigen Organismus; das ergibt sich schon aus den verwickelten Gestaltungsprozessen der Em- bryogenese, bei welchen ja vielfach Zellengruppen miteinander in Verbindung treten, und ein Organ gemeinsam bilden, welche ihrer ersten Entstehung nach weit getrennt waren. Also weder muss die Anordnung der Determinanten, im Keimplasma dem späteren Neben- einander im fertigen Thier entsprechen, noch sind wohl überhaupt Anlagen ganzer vollständiger Organe im Keimplasma enthalten; gewiss ist das Organ im Keim prädestinirt, aber nicht als solches präformirt. Auch in dieser Beziehung gibt uns die Entwicklungsgeschichte einigermassen einen Anhalt. Betrachten wir z. B. die Entstehung der Glied massen bei solchen Insekten, welche im Larvenzustand noch keine Beine und Flügel besitzen, und denen dieselben während der Larvenzeit, verborgen unter dem Hautskelett allmälig hervorwachsen. Hier sind es — wie oben schon für. den Flügel gezeigt wurde — bestimmte kleine Zellgruppen der Haut, von denen die Bildung der Gliedmasse ausgeht, und die man daher als den gestaltgebenden und insofern wichtigsten und unentbehrlichsten Theil dieser Anlage Weis mann, Descendenztheorie. 27 430 Die Keimplasmatheorie. betrachtet und nach meinem Vorschlag-1 als Imaginalscheibe bezeichnet (Fig. 8g, m u. oi). Aber diese Zellenscheiben enthalten doch noch nicht das ganze Bein, sondern nur die Hautschicht desselben, die »Hypodermis«, die aber freilich das Gestalt-bestimmende in diesem Falle ist. Die inneren Theile des Beins aber, vor Allem Nerven, Tracheen und wahrschein- lich auch Muskeln bilden sich aus anderen Zellengruppen, und wachsen von aussen in die Imaginalscheibe hinein. Ahnlich wird es bei allen zusammengesetzteren Organen sein, sie werden von mehreren An- lage-Punkten aus, so zu sagen, zusammenschiessen, und Deter- minanten werden dabei zusammenwirken, deren Gestalt- und Funktion- bestimmender Werth für das Organ sehr verschieden sein kann. Denn es ist gewiss ein grosser Unterschied, ob eine Zelle die Elemente in sich trägt, die sie zwingen, bei weiterem Wachsthum ein Organ, z. B. ein Bein von ganz bestimmter Grösse, Skulptur, OL 9 Th\i' Ulj U12 LU 3 Fig. 89 (wiederholt). Vordertheil der Larve einer Mücke, Corethra plumicornis. K Kopf, TJi Thorax, ui vmtere, oi obere Imaginalscheiben, uil, 2 u. 3 die Anlagen der Beine, oi 2 u. 3 Anlagen der Flügel und Schwinger, g Gehirn, bg Bauchganglien- kette mit Nerven, die an die Imaginal- scheiben herantreten, trb Tracheenblase; etwa 15 Mal vergrössert. Gliederung u. s. w zu bilden, oder ob eine Zelle nur die ziemlich vage Bestimmung in sich trägt, Bindegewebe oder Fettgewebe zu bilden. Im ersteren Fall bestimmt sie die ganze Gestaltung des Theils, im zweiten füllt sie nur Lücken aus, oder lagert fettige oder andere Stoffe in sich ab, falls solche sich ihr darbieten. Zwischen diesen beiden Extremen der Determinirung liegen aber zahlreiche Zwischen- stufen. Zellen, welche Determinanten zu Blutgefässen, Tracheen, Nerven enthalten, brauchen keineswegs immer so bestimmt determi- nirt zu sein, dass sie stets genau das gleiche Gefäss, die gleiche Tra- cheen-Verästelung, oder Nerven-Vergablung bilden, sie können sehr wohl nur die allgemeine Tendenz zur Bildung solcher Theile ent- halten, während die spezielle Form, welche diese Nerven, Tracheen oder Blutgefässe in jedem einzelnen Falle annehmen, wesentlich durch ihre Umgebung bestimmt wird. So" bilden sich in krankhaften Ge- schwülsten des Menschen Nerven und besonders Blutgefässe von oft »Die Entwicklung der Dipteren«, Leipzig 1864. Insekten-Metamorphose. 4o I ganz charakteristischem Verlauf, der gewiss nicht im Voraus deter- minirt war, sondern der durch den Reiz, Druck und sonstige Einflüsse der zelligen Geschwulstgrundlage hervorgerufen wurde, während die Zellen nur insoweit determinirt waren, als sie die Tendenz enthielten, unter bestimmten Beeinflussungen Gefässe zu bilden. Man würde aber fehl gehen, wollte man sich alle Anlagen von Zellensträngen so unbestimmt denken. Man erinnere sich nur z. B. der Aderung des Insekten flu gel s. Bekanntlich ist dieselbe nicht nur bei den Käfern, Wanzen und Zweiflüglern eine andere, als bei den Hymenopteren, bei diesen wieder anders als bei den Schmetter- lingen, sondern sie ist auch eine völlig charakteristische bei jeder einzelnen Schmetterlings-Familie, ja bei jeder Gattung. Es kann kein Gedanke daran sein, dass diese absolute Sicherheit in der Ausbildung so charakteristischer und konstanter Verzweigungen irgendwo anders ihren Grund hätte, als in den Determinanten des Keimplasmas, welche gewissen Zellenfolgen innewohnend, schliesslich bestimmte Zellenreihen der Flu gel- Anlage veranlassen, zu den Flügeladern zu werden. Wäre es nicht so, wie wollte man es verstehen, dass jede kleinste Ab- weichuno- im Verlauf dieser Adern bei allen Individuen einer Gattuno" genau ebenso wiederkehrt, während sie bei allen Individuen einer be- nachbarten Gattung ebenso konstant ein Wenig anders ausfällt? Ganz gewiss aber sind alle Determinirungen in irgend einem Grade beeinflussbar und — wenn auch eben in sehr verschiedenem Grade — veränderbar. Viele Missbildungen einzelner Theile beim Menschen und den höheren Thieren dürfen auf mangelhafte oder gehinderte Ernährung des betreffenden Theils während der Embryonal-Entwicklung bezogen werden; die Determinanten allein können den Theil nicht machen, es muss ihnen auch das Material dazu, die Baustoffe gegeben sein, und je nachdem dieses Material reichlicher oder spärlicher fliesst, wird der Theil grösser oder kleiner ausfallen. Ebenso müssen in vielen Fällen die Druckverhältnisse der umgebenden Theile fördernd, hem- mend oder auch Gestalt-bestimmend einwirken. Es ist aber auch sehr möglich, ja wahrscheinlich, dass auch noch andere, ganz spezifische Einflüsse von den Zellen oder Zellenmassen der Umgebung auf ein in Bildung begriffenes Organ ausgeübt werden können, etwa so, wie die Stange, an der eine Kletterpflanze hinaufwächst, dieselbe zum Winden veranlasst. Fehlt die Stange, so kann auch das in der Pflanze determinirte Winden nicht oder nur unvollkommen zum Aus- druck gelangen. Das spiralige Umspinnen der Gefässe durch Muskel- 27* 432 Die Keimplasmatheoric. zellen, wie es bei Würmern, Stachelhäutern und Wirbelthieren so viel- fach vorkommt, beruht wohl auf ganz ähnlichen Vorgängen, d. h. einerseits auf einer spezifischen Reaktionsweise dieser Zellen, die eben vom Keim her determinirt ist, andererseits auf der äusseren Einwir- kuno- der Umsrebunsr, ohne welche die Determination der Zelle nicht ausgelöst, nicht zur Thätigkeit bestimmt wird. Wenn nun aber auch jede Determinante eines Reizes bedarf, der sie auslöst, bestehe dieser Reiz im Zuströmen gewisser Nahrungssäfte, in Figf- 93- ^ie Entwicklung eines Beins in einer Fliegenpuppe [Sarcophaga carnaria . A Spitze des Beins ans einer vier Tage alten Puppe; die Gliederung angedeutet. hy Hypodermis, ps Puppenscheide,/// Phagocyten, ir Tracheenstämmchen. B Die- selbe am fünften Tag, Lumen des Beins ganz mit Phagocyten erfüllt hy, das letzte Tarsus-Glied [t£] beginnt sich in zwei Spitzen auszuziehen. C Dieselbe am siebenten Tag, die Krallen [Kr) und Haftlappen [hl\ sind gebildet. der Berührung mit anderen Zellen, oder umgekehrt im Nachlassen eines vorher von der Umgebung auf die Zelle ausgeübten Druckes — immer wird die materielle Ursache einer Bildung nicht in diesen Bedingungen ihres Hervortretens, sondern in der Anlage zu suchen sein, welche die betreffende Zelle oder Zellengruppe vom Keim her überkommen hat, also in ihren Determinanten. Was sollte z. B. die stumpf abgerundete Kuppe des nur roh und plump gegliederten Zellenschlauchs, der zu Beginn der Yerpuppung das Insektenbein Weitere Beweise für die Determinantenlehre. J "2 7. darstellt (Fig. 93, A), bestimmen, sich zu verdicken, au der Wurzel einzuschnüren (Fig. B) und eine Gelenkfläche zu bilden, am Ende aber breiter zu werden und zwei scharfgeschnittene Spitzen hervorwachsen zu lassen (Fig. C), die sich krümmen und zu Klauen (kr) werden, während unter ihnen ein breiter, platter Lappen (///) hervorwächst, dessen regelmässig gestellte Zellen nach und nach den so eigenthümlich gebauten Haftlappen der Fliege darstellen — wenn nicht besondere Triebkräfte, in jenen Zellen enthalten wären, die sie bestimmen, nicht nur in ihrer Gestalt und sonstigen Beschaffenheit, sondern vor Allem auch in ihrer Verrnehrungskraft *? Kein irgendwie besonderer äusserer Reiz wirkt auf die noch unfertige Kuppe dieser Gliedmasse, als etwa der Nachlass jeden Druckes: dieser wirkt aber gleichmässig und kann nicht der Grund dafür sein, dass an bestimmten Stellen nun Klauen und Haftlappen sammt ihren charakteristisch gestellten Härchen her- vorwachsen, wenn nicht in jeder der die primäre Kuppe zusammen- setzenden Zellen die Bestimmung läge, unter den jetzt eingetretenen Ernährungs- und Druckverhältnissen in vorgeschriebener Weise und Energie zu wachsen und sich zu vermehren, und wenn dies nicht bei jeder der Tochter- und Enkelzellen u. s. w. wieder der Fall wäre. Nur auf genauester Normirung der Vermehrungskraft jeder dieser Zellen kann es beruhen, dass jedesmal wieder dieselben zwei Klauen und Haftlappen, dieselbe Form des Tarsalglieds, derselbe regelmässige Haarbesatz u. s. w. zu Stande kommt. Und diese genaue Determi- nirung der Zellen kann offenbar nur durch materielle lebende Theil- chen erfolgen, und diese sind es, welche ich Determinanten nenne. Ich habe Ihnen bereits so viel über die von uns angenommenen Determinanten« des Keimplasmas gesprochen, dass Sie wohl meinen könnten, wir hätten nun dieses Thema erschöpft; allein die Annahme solcher »Anlagen« ist eine so fundamentale, nicht nur für meine Keimplasmatheorie von Heute und Morgen, sondern — wenn ich nicht irre — für jede Entwicklungs- und Vererbungstheorie der Zu- kunft, und sie ist andererseits so wenig noch in das Bewusstsein der Biologen eingedrungen, dass ich mich nicht auf das bereits Vor- gebrachte beschränken, sondern diese Annahme noch weiterhin prüfen und stützen möchte. Soviel mir bekannt, hat nur ein einziger namhafter Zoologe, CARL EMERY in Bologna der Annahme von Determinanten ausdrücklich und unbedingt zugestimmt: dagegen haben einige Biologen dieselbe als willkürlich und unannehmbar verworfen, andere sie als nutzlose Ge- dankenspiele bei Seite geschoben, ich möchte glauben, ohne die 434 ^e Keimplasmatheorie. Idee recht durchgedacht zu haben. Hat man mir doch eingeworfen, es könne keine Determinanten geben, weil man Nichts von ihnen sähe, sie seien also reine Phantasie-Gebilde, ersonnen, um Thatsachen zu erklären, die sich viel einfacher und leichter auf anderem Wege erklären Hessen. Ich hatte aber von vornherein betont, dass man sie weder jetzt noch jemals sehen wird, weil sie weit unter der Grenze der Sichtbarkeit liegen müssen und also höchstens in grossen Massen beisammen als ein Chromatinkörnchen sichtbar werden könnten. Ich habe auch Nichts dagegen einzuwenden, wenn man alle Einzelheiten ihrer Thätigkeit als blosse Vermuthungen bezeichnet, so z. B. ihre Vertheilung während der Ontogenese, ihre »Reifung«, ihr Austreten aus dem Kern, und die Art und Weise, in der sie die Zelle bestimmen sollen. Das Alles ist in der That ein von der Phantasie geschaffenes Bild, das vielleicht bis zu einem gewissen Grad richtig, das aber auch falsch sein kann; ein förmlicher Beweis jedenfalls ist heute für alles das nicht zu erbringen, und ich bin zufrieden, wenn man nur diese Annahme als möglich zugibt. Die Existenz aber von Deter- minanten in dem angegebenen Sinn scheint mir unzweifelhaft und beweisbar. Kehren wir noch einen Augenblick zu den Klauen und Haft- lappen zurück, welche am Fuss der Fliegen zur Ausbildung kommen. Man könnte vielleicht glauben, der Determinanten für diese Theile entbehren zu können, indem man annähme, dass zwar in der That hier nicht die im gewöhnlichen Sinn »äusseren« Einflüsse gewisse Zellen der Beinkuppe bestimmten, zu Klauen, andere zu Haftlappen auszuwachsen, wohl aber die Verschiedenheiten des inter- cellularen Druckes innerhalb dieser Kuppe; dieser sei an einer Stelle stärker, an einer anderen schwächer, und dadurch würden die Zellen bestimmt, hier zu Klauen, dort zu Haftlappen hervorzuwachsen. Wenn es sich nun bei der Constitution des Keimplasmas lediglich um die Erklärung der Ontogenese handelte, also um das Zustande- kommen dieser Theile in dem einen bestimmten Individuum, so wäre vielleicht prinzipiell nicht Viel dagegen einzuwenden, wenn es auch kaum möglich sein würde, die angenommene Verschiedenheit des Druckes aus einer anderen Quelle herzuleiten, als aus einem ver- schieden starken Wachsthum der Zellen in den verschiedenen Regionen der Beinkuppe, was dann doch wieder nur auf Ver- schiedenheiten der Keimesanlage zu beziehen wäre. Sobald man aber erwägt, dass diese Theile erblich und allein für sich variiren können, und erst durch dies Vermögen entstanden, und bei jeder Beweise für die Determinantenlehre. 4-tS Gattung und Art spezifisch ausgestaltet worden sind, so sieht man ein, dass sie schon im Keimplasma durch besondere lebendige Theilchen vertreten sein müssen, welche die Wurzel ihres erblichen Variirens sind, d. h. welche vorher schon entsprechend variirt haben müssen, wenn die betreffenden Theile selbst variiren sollen; ohne vorangehende Veränderung der Determinanten des Keimes ist eine erbliche Abweichung der Klauen oder Haftlappen des Thieres allein für sich nicht denkbar. Alle Gegner . meiner Theorie haben diesen Punkt übersehen; so- wohl Oscar Hertwig als Kassowitz vergessen, dass eine Theorie der Ontogenese, d. h. des Aufbaues des einzelnen Körpers aus dem Ei noch keine Theorie der Vererbung ist; ihnen schwebt als Ziel nur die erste vor, und sie bestreiten deshalb den logischen Zwang einer Annahme von Determinanten. Da diese die Grundlage der Theorie bilden, so sei noch Folgendes zu ihren Gunsten gesagt. Bei den Insekten mit Metamorphose werden nicht nur die äusseren, sondern auch die inneren Theile der Raupe oder Larve einer mehr oder weniger vollständigen Umgestaltung unterzogen. Bei den Fliegen (Museiden) wird z. B. das gesammte Darm röhr der Larve in der Puppe umgebaut, und muss deshalb gänzlich zerfallen zu einer zwar noch zusammenhängenden, aber ganz lockeren, flockigen, abgestorbenen Gewebsmasse. Im Innern derselben entsteht dann ein neuer Darm, wie ich in einer Jugend-Arbeit gezeigt habe (1864), während KOWALEWSKY und VAN R.EES später die interessante Art und Weise dieses Aufbaues näher kennen gelehrt haben, indem sie zeigten, dass das neue Darmrohr von bestimmten Zellen des alten Darmes aus gebildet wird, die in gewissen, ziemlich grossen Abständen von- einander schon im Larvendarm vorhanden sind, die aber bei dem all- gemeinen Zerfall nicht mit zerfallen, sondern lebendig bleiben, wachsen und sich vermehren, und auf solche Weise Zelleninseln in der Zerfallmasse bilden, welche stetig sich ausdehnend, schliesslich zusammenstossen um nun von Neuem ein geschlossenes Darmrohr darzustellen, dessen Gestalt, Eintheilung und Abschnitte ganz verschieden sind von denen des Larvendarms. Hier müssen also in diesen Bildungszellen des Imago-Darmes die Elemente gelegen sein, welche die Abkömmlinge derselben nach Zahl, Ver- mehrungskraft. Anordnung und histologischer Differenzirung bestimmen; in jeder dieser Zellen müssen mit anderen Worten die Determinanten für einen bestimmten, begrenzten Abschnitt des Imago-Darms Ä^6 Die Keimplasmatheorie. enthalten sein. Die anderen Zellen des Darmepithels können nicht dasselbe leisten, obwohl sie unter genau denselben Bedingungen, in demselben geschlossenen Zellverband sich befanden und unter den- selben Ernährungsverhältnissen. Sie lösen sich auf, während jene ihre aktive Thätigkeit erst anfangen, denn sie waren bis dahin un- thätig geblieben, hatten sich nicht vermehrt, obwohl sie zwischen den anderen in regelmässiger Weise vertheilt lagen. Wo soll nun hier die gänzliche Verschiedenheit in dem Verhalten dieser beiden Zellenarten herkommen, wenn sie nicht in dem Wesen der Zellen selbst liesft, und woher soll dieses verschiedene Wesen sich aus- gebildet haben während der phyletischen Entstehung der Insekten- Metamorphose, wenn nicht vom Keimplasma her Determinanten in diese Zellen gelangt sind, welche es bedingten, dass die einen sich zu Zellen des Imago-Darms, die anderen zu solchen des Larvendarms erblich umwandelten? Ganz ähnliche Vorgänge sind in neuester Zeit auch für die Umbildung des Larvendarms bei anderen Insekten- gruppen nachgewiesen worden, so von DEEGENER für den Wasser- käfer Hydrophilus piceus; man sieht also deutlich, dass alle diese Umgestaltungen von bestimmten Zellen ausgehen, die während der Larvenzeit indifferent zwischen den thätigen Zellen liegend mit den Anlagen zur Bildung eines Darmabschnittes ausgerüstet sind, welche aber erst in Thätigkeit gerathen, wenn ihre bisher lebendigen Nach- barn absterben und sich auflösen. Nun verhält es sich aber ganz ähnlich mit der Neubildung der gesammten äusseren Gestalt der Fliege. Nicht nur die Glied- massen, der Kopf, die Stigmen, sondern auch die Haut selbst wird von Imaginalscheiben aus neu gebildet. In jedem Abdominalsegment bilden sich drei Paar kleine Zelleninseln während des Larvenlebens, welche erst nach der Verpuppung in formative Thätigkeit treten, sich stark vermehren und zum Segment zusammenwachsen, dessen Grösse, Gestalt und äussere Beschaffenheit von ihnen bestimmt wird. Bekanntlich unterscheiden sich nun aber die Abdominalsegmente der Fliege von denen der Larve ganz bedeutend und in jeder Hinsicht, es müssen also in jenen Zelleninseln ganz andere Determinanten enthalten sein, als in den Hautzellen der entsprechenden Larvensegmente. Letztere zerfallen im Beginn der Puppenperiode, während jene zu wuchern und sich auszubreiten beginnen. Das Merkwürdigste und, wie mir scheint, Bedeutungsvollste aber ist wohl, dass diese Imaginalscheiben häufig erst während des Larvenlebens entstehen, wie ich schon für eine Mücke, Corethra plumicornis, in Bezug auf die Scheiben des Weitere Beweise für die Determinantenlehre. 4o 7 Thorax gefunden hatte, wie es neuerdings aber BRUNO Wahl1 auch für die abdominalen Zelleninseln nachweist. Da nun also in der jungen Larve an der Stelle der späteren Imaginalscheibe Zellen liegen, die sich in Nichts von anderen Hautzellen unterscheiden und zugleich genau unter denselben inneren und äusseren Einflüssen stehen, so kann die Abgliederung der Imaginalzellen von ihnen nur auf erb- ungleicher Zelltheilung beruhen; die Stammzelle jeder Imaginal- scheibe muss sich zu Beginn der Scheibenbildung in eine larvale und eine imaginale Hautzelle geschieden haben. Bei den Insekten mit weit verschiedenen Larven und Ima^ines also ist das fertige Insekt in allen seinen Haupttheilen schon in der Larve vorgebildet und zwar in bestimmten Zellen, welche zwischen denen der betreffenden Larventheile liegen und sich sichtbarlich nicht von ihnen unterscheiden, aber mit ganz anderen Determinanten aus- gerüstet sind und in Folge dessen viel später erst in Bildungs- thätigkeit treten, sowie ganz andere Bildungen hervorrufen. Wie im Ei die Determinanten des ganzen Thiers mit allen seinen Thei- len enthalten sind, so in diesen Zellen die Theile seiner Imaginal- Periode. Dazu kommt aber dann noch als unwiderleglicher Beweis für die Determinanten-Lehre das selbstständige phyletische Abändern der einzelnen Entwicklungsstadien, auf welchem doch eben die ganze, eben betrachtete Erscheinung der »Metamorphose« beruht. Wie soll denn das Larvenstadium soweit verschieden geworden sein von dem Imago-Stadium, wenn das eine nicht schon vom Keim her verändert werden konnte, ohne dass sich das andere mit ver- änderte? Wäre diese völlige Unabhängigkeit des erblichen Variirens der einzelnen Stadien nicht eine unerlässliche Annahme für die Er- klärung der Metamorphose und anderer Entwicklungs-Erscheinungen, dann würde auch ich den Versuch einer Theorie der Ontogenese ohne Determinanten für berechtigt halten. So aber muss ich allein schon in dieser einen Thatsache die Widerlegung aller epigenetischen Entwicklungstheorien erblicken, d. h. aller Theorien, welche eine Anlagen-lose Keimsubstanz annehmen, die den komplizirten Körper dadurch hervorbringen soll, dass sie sich lediglich unter dem Ein- fluss der äusseren (extra- und intrasomatischen) Einwirkungen Schritt 1 Bruno Wahl: »Über die Entwicklung der hypodermalen Imaginalscheiben im Thorax und Abdomen der Larve von Eristalis Latr.«, Zeitschr. f. wiss. Zool. 70. Bd., 1901. 43 & ^ie Keimplasmatheorie. für Schritt verändert. Wohl kann man sich ein Ei vorstellen, dessen lebendige Substanz so geartet ist, dass sie sich unter der Wirkung von Wärme, Luft, Druck u. s. w. gesetzmässig verändern muss, dass sie sich theilen muss in gleiche, später auch in ungleiche Stücke, die nun wieder aufeinander ungleich einwirken und weitere Veränderungen hervorrufen, die wieder Theilungen und Veränderungen zur Folge haben, bis denn schliesslich die ganze verwickelte Maschine des Organismus fertig und bis ins Einzelste ausgearbeitet vorliegt. Näheres freilich könnte kein Sterblicher über die Beschaffenheit einer solchen Substanz aussagen, aber nehmen wir sie einmal als möglich an, wo bleibt dann die erbliche Variation der einzelnen Theile und Entwicklungsstadien, auf der doch die ganze phylogenetische Entwicklung beruht? Wie die Ontogenese des Schmetterlings die drei Hauptstadien von Raupe, Puppe und Imago aufweist, von denen jedes selbstständig erblich variabel ist, und deshalb ein Etwas im Keim voraussetzt, dessen Änderung nur dieses Stadium verändert, so setzt sich die Ontogenese jedes höheren Thieres aus zahlreichen Stadien zusammen, welche alle erblich selbstständig variiren können. Woher käme es denn sonst dass wir Menschen im embryonalen Zustand zwar wohl noch die Kiemenbogen unserer fischartigen Vorfahren besitzen , aber sehr ver- ändert und ohne Kiemen? Wahrlich, Wer läugnen wollte, dass die Stadien der Ontogenese selbstständig" und erblich variiren können, der müsste Wenig von Entwicklungsgeschichte wissen. Wenn dem aber so ist, wie Hesse sich diese Thatsache mit der Vorstellung einer epigenetischen Entwicklungssubstanz vereinigen? Jede Veränderung dieser Substanz müsste nicht nur die ganze Kette von Stadien treffen, sondern zugleich auch den ganzen Organismus in allen seinen Theilen. Wir werden also auch auf diesem Weg- zu dem Schluss gedrängt: es muss im Keimplasma Etwas vorhanden sein, dessen Veränderung nur einen bestimmten Theil eines be- stimmten Stadiums verändert. Dieses Etwas sind die »Anlagen«, die Determinanten. Dieselben sind weder als Miniaturbilder zu denken, noch geradezu als Samenkörner eines Theils; sie allein können den Theil nicht hervorbringen, den sie bestimmen, aber sie wirken verändernd auf die Zelle, in der sie aktiv werden, und so ver- ändernd, dass daraus die Bildung des verlangten Theils resultirt. Auch ich stelle mir die Entwicklung kontinuirlich vor, aber derart, dass von Innen heraus, von der Kernsubstanz aus immer neue, ab- lenkende, »bestimmende« Einflüsse ausgehen. Einwürfe gegen sie. 4o9 Ich kann mir kaum einen besseren Beweis für die Nothwendigkeit dieser Annahme denken, als ihn einer der scharfsinnigsten Biologen Frankreichs in seinem umfassenden Buch »sur l'Heredite« o-eliefert hat, indem er sich bestrebte, an die Stelle der Determinanten-Theorie etwas Einfacheres zu setzen. DELAGE verwirft alle »Anlagen« im Keim, alle »particules repräsentatives« als viel zu komplizirte Annahme und meint, mit einer Keimsubstanz auszukommen, die etwa so einfach ist, wie die Körpersubstanz eines Rhizopoden, das soll heissen, wie ein Protoplasma von bestimmter chemisch-physikalischer Constitution und Mischung. Abgesehen nun davon, dass das Protoplasma einer Amöbe schwerlich eine so überaus einfache Beschaffenheit besitzt, sondern wohl sicher schon aus zahlreichen, verschieden differenzirten und be- stimmt angeordneten Biophoren sich zusammensetzt — wie soll nun aus einer solchen überaus einfachen (»eminemment simple«) Constitution des Eies, wie sie hier angenommen wird, ein so komplizirter Orga- nismus hervorgehen, bei welchem einzelne Theile erblich variiren können ? Das soll nach DELAGE dadurch bewirkt werden, dass dem Ei zwar nicht »alle Faktoren seiner endlichen Bestimmung« mit- gegeben werden, aber doch »un certain nombre des facteurs neces- saires ä la determination de chaque partie et de chaque caractere de l'organisme futur«! Also doch Determinanten, so wird man sagen; aber weit gefehlt! Nicht Anlagen enthält der Keim nach DELAGE, sondern chemische Substanzen, z. B. Muskelsubstanz, wahrschein- lich »les substances caracteristiques des principales categories de cellules, cest ä dire celles, qui, dans ces cellules, sont la condition principale de leur fonetionnement«. Diese sollen alle schon im Ei enthalten sein. Wie sie dann gerade an die richtige Stelle im Orga- nismus gelangen, wie die »charakteristische chemische Substanz« eines Muttermals gerade hinter das rechte oder linke Ohr des fertigen Menschen geräth , wird nicht gesagt. Aber abgesehen davon liegt noch ein viel tieferer Irrthum in dieser Annahme spezifischer chemi- scher Substanzen im Ei als Erklärung für die Erscheinungen der lokalen erblichen Variation, den ich früher schon einmal berührt habe: chemische Substanzen sind keine lebenden Einheiten, die sich ernähren und fortpflanzen, die assimiliren, und die gegen die Assimilationskraft des umgebenden Protoplasmas gefeit sind. Sie würden verändert und zersetzt werden müssen im Laufe der Ontogenese, und würden deshalb ■ — ■ einerlei an welcher Stelle sie anfänglich deponirt worden wären — nicht im Stande sein, die Leistungen auszuführen, welche ihnen Delage zumuthet. Ent- 1 t O Die Keimplasmatheorie. weder enthält der Keim »lebende« Anlagen, oder er ist, wie DELAGE will, nur chemisch-physikalisch determinirt; dann aber ver- mag- er auch nicht, für die erbliche lokale Variation aufzukommen. DELAGE wird also entweder darauf verzichten müssen, eine Erklärung zu geben, oder er wird seine substances chimiques in ächte und wirkliche lebendige Determinanten verwandeln müssen. So werden wir von allen Seiten her darauf hingewiesen, dass die Keimsubstanz ihre wunderbare Entwicklungskraft nicht blos ihrer chemisch-physikalischen Beschaffenheit im Ganzen ver- dankt, sei sie nun ungemein einfach oder fabelhaft komplizirt, sondern dem Umstand, dass sie aus zahlreichen und verschieden- artigen »Anlagen« besteht, d. h. aus Gruppen lebendiger Einheiten, mit den Kräften des Lebens ausgerüstet, fähig aktiv und in spezifischer Weise einzugreifen, aber auch fähig in passivem Zu- stand latent zu verharren, bis der auslösende Reiz sie trifft, und eben dadurch im Stande, successiv in die Entwicklung einzugreifen. Die Keimzelle kann nicht blos ein einfacher Organismus sein, sie muss ein Bau von sehr verschiedenen Organismen oder Einheiten sein, ein Mikrokosmus. Zu dieser Auffassung leitet uns noch ein ganz anderer Gedanken- gang hin, der in der ausserordentlichen Komplizirtheit der Maschine wurzelt, welche wir Organismus nennen. Der Botaniker Reinke hat kürzlich einmal wieder darauf hin- gewiesen, dass Maschinen sich nicht direkt aus primären physikalisch- chemischen Kräften oder Energien zusammensetzen lassen, dass vielmehr dazu, wie LOTZE sagte, »Kräfte zweiter Hand« unentbehrlich sind, welche die chemisch-physikalischen Grundkräfte so disponiren, dass sie derart wirken müssen, wie es der Zweck der Maschine ver- langt. Damit eine Uhr entstehe, genügt es nicht, Messing, Stahl, Gold und Steine zusammenzubringen, damit ein Klavier entstehe, nicht, dass man Holz, Eisen, Leder, Elfenbein, Stahl u. s. w. neben- einanderlege, sondern diese Stoffe müssen in bestimmter Form und Verbindung zusammenkommen, ähnlich wie auch Kohle und Wasser noch kein Kohlenhydrat, z. B. Zucker oder Leuchtgas geben ; beiderlei Elemente geben das Verlangte nur, wenn sie in eine Zwangslage versetzt werden, in der sie so aufeinander und miteinander wirken müssen, dass dabei ein Klavier oder Zucker herauskommt. Bei der Uhr und dem Klavier wird dieser Zwang durch menschliche Intelligenz gesetzt, durch den Arbeiter, der die verschiedenen Stoffe in der richtigen Weise formt und zusammenfügt. Hier bildet also mensch- Der Organismus als Maschine. 44^ liehe Intelligenz die »Oberkraft«, wie Reinke sagt, welche die Energien zwingt, in bestimmter Weise zusammenzuwirken. Nun sind aber auch die Organismen Maschinen, welche eine bestimmte, zweckmässige Arbeit leisten, und auch diese werden nur dadurch dazu befähigt, dass die Energien, welche die Arbeit leisten, durch Oberkräfte in bestimmte Bahnen gezwungen werden; diese Oberkräfte sind die »Steuerleute der Energien«. Gewiss steckt in dieser Darlegung ein richtiger Kern, und an diesen werde ich sogleich weiter anknüpfen; REINKE allerdings benutzt sie in einer Weise, der ich nicht folgen kann, nämlich zur Erschliessung einer »kosmischen Intelligenz«, welche jene »Oberkräfte < in die Organismen hineinlegt, und dadurch diese Maschinen zu zweckmässiger Arbeit bestimmt, wie der Uhrmacher durch Rädchen, Walzen, Hebel u. s. w. die »Ober- kräfte« in die Uhr hineinlegt. Im einen Fall bestimmt menschliche Intelligenz die »Oberkräfte«, im anderen »kosmische« Intelligenz. Ich halte diesen Analogieschluss schon deshalb nicht für zwingend, weil jene »Oberkräfte« in Wahrheit gar keine »Kräfte« sind. Sie sind Constellationen von Energien, Zusammen- ordnungen von Stoffen und den ihnen immanenten Energien unter komplizirten und genau bestimmten Bedingungen, und es ist dabei ganz einerlei, ob der Zufall, oder mensehliche Absicht dieselben herbeigeführt hat. Nehmen wir REINKE's eigenes Beispiel von den Kohlenwasserstoffen, so ist es gewiss, dass unser Leuchtgas durch die Intelligenz des Menschen entsteht, welche Kohle und Wasser so zusammenbringt, dass Leuchtgas sich bilden muss. Die »Oberkraft« würde hier etwa in den Einrichtungen der Coaksöfen u. s. w. zu sehen sein und in zweiter Linie in der Intelligenz des Menschen. Aber wenn nun faulende Pflanzen im Sumpf einen anderen Kohlenwasserstoff. das Sumpfgas, geben, wo liegen da die leitenden »Oberkräfte«? Doch wohl einfach in dem zufälligen Zusammentreffen der dazu nöthigen Stoffe und Bedingungen. Oder sollte »kosmische« Intelli- genz dieses Sumpf- Laboratorium errichtet haben? Wenn aber nicht, was zwingt uns, die Bildung von Dextrin oder Stärke in den Zellen grüner Blätter auf »Oberkräfte« zu beziehen, die von der »kosmischen Intelligenz« in sie hineingelegt wurden? Es liegt mir fern, die grosse und tiefe Frage, welche hier berührt ist, damit so nebenbei abgemacht zu glauben, aber mit solchen Wortspielen von Energien und Ober- kräften lässt sie sich nicht lösen. Kehren wir zurück zu dem guten Kern der REINKE'schen Er- wägungen, so liegt er darin, dass die Wirkungen einer Maschine zwar 44- Die Keimplasmatheorie. lediglich auf den Kräften oder Energien beruhen, welche an die Stoffe gebunden sind, aus welchen sie besteht, aber zugleich auch auf einer bestimmten Combination dieser Stoffe und Kräfte, einer bestimmten » Constellation« derselben, wie FECHNER sich ausdrückte. Solche Constellationen sind bei der Uhr die Feder, die Räder u. s. w. und ihre gegenseitige Lagerung, beim Organismus aber seine Organe bis herab zu den Zellen und Zelltheilen, denn auch die Zelle schon ist eine Maschine, und zwar schon eine recht verwickelte, wie ihre Leistungen uns lehren. Tausenderlei »Constellationen« der Ele- mentarstoffe und Kräfte sind es also, welche die Thätigkeit der Lebensmaschine bedingen, und nur, wenn alle diese Constellationen in richtiger Weise vorhanden, und richtig miteinander in Beziehung gesetzt sind, muss auch die Funktionirung des Organismus richtig ihren Ablauf nehmen. Nun unterscheidet sich aber die Lebensmaschine von anderen Maschinen wesentlich dadurch, dass sie sich selbst aufbaut: sie ent- steht durch Entwicklung aus einer Zelle mittelst Durchlaufung zahl- reicher »Entwicklungsstadien«. Jedes dieser Stadien ist aber nicht ein todtes Ding, sondern selbst schon ein lebender Organismus, dessen Hauptfunktion die Hervorbringung des folgenden Stadiums ist. Man wird deshalb jedes Stadium der Entwicklung einer Maschine ver- gleichen dürfen, deren Leistung in der Hervorbringung einer ähn- lichen, aber komplizirteren Maschine besteht. Jedes Stadium also setzt sich, ganz wie der fertige Organismus aus einer Anzahl solcher »Con- stellationen« der Elementarstoffe und -Kräfte zusammen, deren Anzahl nur im Anfang noch relativ gering ist, dann aber mit jedem neuen Stadium rapid zunimmt. Woher kommen nun diese »Constellationen« oder um im Bilde zu sprechen diese neuen Hebel, Räder, Kurbeln jeder folgenden Stadiums-Maschine*? Die epigenetische Theorie des anlagenlosen Keimplasmas antwortet darauf mit dem Hinweis auf die äusseren und inneren Einflüsse, welche die anfangs gleichmässige Keimsubstanz nach und nach immer stärker differenziren und in die mannichfachsten »Constellationen« bringen; wie sollen aber durch solche Einflüsse neue Federn, Hebel und Räder ganz spezifischer Art eingesetzt werden, wie es doch sein muss, wenn aus den scheinbar gleichen Keimsubstanzen einer Haus- und einer Krick-Ente zwei so verschiedene Thiere werden sollen? Die Ursache muss in den unsichtbaren Ver- schiedenheiten des Keimplasmas liegen, werden die Gegner antworten, und wir mit ihnen. Aus unserer bisherigen Betrachtuno- o-eht aber Der Organismus als Maschine. 44^ hervor, dass diese Unterschiede nicht blosse Elementar- Unterschiede sein können, nicht blosse Unterschiede physikalisch- chemischer Natur, nicht blos solche der rohen Stoff- und Energien- Zusammensetzung, sondern solche der geordneten Stoff- und Energien-Zusammensetzung, mit anderen Worten solche der Zu- sammensetzung aus »Constellationen«. Also: das Keim- plasma muss sich aus bestimmten und sehr verschiedenen Combinationen lebender Einheiten zusammensetzen, welche selbst wieder zu einer höheren » Constellation « derart verbunden sind, dass sie als Lebensmaschine des ersten Entwicklungsstadiums wirken, und die bereits vorhandenen »Constellationen« des zweiten Stadiums zur Thätiekeit aus- lösen. Die zweite der successive auseinander hervorgehenden Lebens- maschinen löst dann die schlafenden »Constellationen« zur dritten aus, und so fort. Diese »Constellationen« von Stoff und Energie sind die Biophoren und Determinanten, und die »Gruppen von Determinanten«, deren wir uns viele übereinander geordnet denken dürfen. Dass sie nicht alle gleichzeitig in Thätigkeit treten, sondern successive in die Ent- wicklung eingreifen, scheint mir eine nothwendige Folge ihrer suc- cessiven Entstehung in der Phylogenese, und die Ontogenese geht, wie wir später noch genauer besprechen werden, durch Zusammen- ziehung und Veränderung aus der Phylogenese hervor. Da nun jede neu in der Phylogenese entstehende Determinante nur durch Thei- lung und nachträgliche Abänderung aus der an derselben Stelle des Organismus vorher thätigen Determinante sich bilden kann, so ver- steht man, dass sie später, wenn die Phylogenese zur Ontogenese zusammengezogen wird, nicht gleichzeitig mit dieser, sondern nach ihr in Thätigkeit tritt. Die Vorstellung der von einem anlagenlosen Keimplasma ausgehenden Biologen (O. Hertwig), dass alle Theile des Keimplasmas gleichzeitig in Thätigkeit treten, scheint mir un- annehmbar. Wie sollen überhaupt die Räder, Hebel und Federn der fertigen Lebensmaschine, die so langsam nur in der Phylogenese ent- standen sind, heute in der Ontogenese so rasch nacheinander neu entstehen können, wenn sie nicht eben schon im Keimplasma vor- handen wären, und nur in Thätigkeit gesetzt, d. h. vom vorhergehen- den Stadium ausgelöst zu werden brauchten? Auch FECHNER hul- digte noch dieser Anschauung, indem er meinte, dass die Wechsel- wirkung und gegenseitige Beeinflussung der Theile im Organismus, d. h. also die »Constellation« aus sich heraus das folgende Stadium, 444 ^'e Ke'mplasmatheorie. d. h. die dem folgenden Stadium eigenen neuen Constellationen her- vorbrächte. Reinke macht mit Recht dagegen geltend, das sei ähn- lich, als wenn man erwartete, die Fensterrahmen eines im Bau be- griffenen Hauses würden die Glasscheiben hervorbringen. Die Scheiben des Organismus bilden sich nur dann in dem Fensterrahmen, wenn ihre Determinanten von Anfang an im Keimplasma enthalten waren, und durch die Entstehung der Rahmen nur ausgelöst werden, ähnlich wie die Thätigkeit des Glasers durch den Anblick der vol- lendeten Fensterrahmen auso-elöst wird. Scheiben wie Determinanten o können nicht in Geschwindigkeit neu erzeugt werden, die Ersteren müssen in der Glashütte fabrizirt sein, die Letzteren in der Entwick- lungswerkstätte des betreffenden Lebewesens, welche wir seine Phylogenese nennen. So wenig aber für jedes neue Haus, das erbaut wird, eine besondere neue Glashütte errichtet wird, so wenig wird die Entwicklung jedes Individuums an die Neuerrichtung zahl- loser Lebensfabriken — jener Constellationen — gebunden, welche die Räder, Federn, Walzen u. s. w. der Entwicklungsmaschine jeden Stadiums neu zu liefern haben, dieselben sind vielmehr alle schon im Keimplasma vorgesehen — nur deshalb können sie auch erb- lich abändern! Es wurde früher schon auf entwicklungsgeschichtliche Thatsachen hingewiesen, welche in Widerspruch zu stehen schienen, wenn auch nicht mit der Keimplasmatheorie selbst, so doch mit der von ihr an- genommenen Zerlegung des Keimplasmas in der Ontogenese, und auch darüber muss ncch Einiges gesagt werden. Ich meine die zahlreichen Thatsachen, welche die von Wilhelm ROUX begründete Entwicklungsmechanik zu Tage gefördert hat, in erster Linie die Untersuchungen über die Werde -Bede u tu ng der Furch ungsze 11 en des thierischen Eies. Dahin gehören die Compressionsversuche mit gewissen Eiern Seeigel) in den ersten Stadien der Furchung. Durch künstlichen Druck wurden die Blastomeren gehindert, sich in normaler Weise zu gruppiren, sie wurden gezwungen, sich in einer Ebene nebeneinander auszubreiten. Hebt man dann den Druck auf, so gruppiren sie sich um, und geben einen normalen Embryo. Ich will hier nicht darüber streiten, ob diese Erfahrungen wirklich nur so gedeutet werden können, dass jede der Furchungszellen die gleiche Werde-Bedeutung hat, dass also nur die relative Lage darüber entscheidet, welche Theile des Embryo sich aus ihr bilden werden; ohne in die Einzel- heiten einzugehen, wäre das nicht durchführbar; ich nehme es deshalb Entwicklungsmechanische Thatsachen. 44 S einmal als richtig an und beschränke mich in meiner Betrachtung auf die zweite Gruppe von Experimenten, auf die Erfahrungen an iso- lirten Furchungszellen. Es hat sich gezeigt, dass bei den Eiern verschiedenster Thiere, so wieder bei denen des Seeigels, eine jede der beiden ersten Blasto- meren wenn sie von der anderen künstlich getrennt wird, sich zu einer ganzen Larve entwickeln kann, ja — bei den Eiern von Seeigeln und anderen Thieren besitzt sogar noch jede der vier, der acht ersten, sogar jede der Furchungszellen (Blastomeren) noch späterer Gene- rationen das Vermögen, sich wie ein ganzes Ei zu entwickeln, wenig- stens doch bis zu einem gewissen Stadium, jedenfalls bis zu dem der sog. »Blastula« -Larve. Das scheint einer Theorie zu widersprechen, welche die Anlagen sich trennen lässt bei den successiven Schritten der Ontogenese. Allein einmal verhalten sich nicht die Blastomeren aller Thiere dermassen, und dann kann man diesen Thatsachen sehr wohl gerecht werden, ohne auf die Zerlegung des Determinanten- Complexes ganz zu verzichten. Man braucht nur anzunehmen, dass die Furchungszellen, soweit sie in isolirtem Zustand wie ganze Eier sich entwickeln, alle noch das volle Keimplasma enthalten, dass also die Zerlegung desselben in erbungleiche Determinantengruppen erst später einsetzt. Allerdings würde dies der Theorie weitere Kom- plikationen auferlegen, auf die ich hier um so weniger eingehe, als der Kampf um die Thatsachen, welche dabei in Betracht kämen, noch keineswegs abgeschlossen ist. Jedenfalls aber lassen die angeführten entwicklungsmechanischen Thatsachen, wie wir sie zahlreichen trefflichen Beobachtern des letzten Jahrzehnts verdanken — ich nenne nur W. ROUX, O. HERTWIG, Chun, Driesch, Barfurth, Morgan, Conklin, Wilson, Crampton und FlSCHEL, nicht nur das Wesen der Keimplasmatheorie unberührt, sondern sie sind selbst den mehr untergeordneten Punkten derselben, wie eben der Annahme einer Zerlegung des Keimplasmas in der Ontogenese eher eine Stütze als eine Gefahr. Was die Grundlagen der Theorie betrifft, so habe ich eben schon gezeigt, dass sie unverändert bleiben, auch wenn man eine Zerlegung des Keimplasmas nicht annehmen, und alle Zellen der Ontogenese mit dem vollen Keimplasma ausgerüstet denken wollte. Die De- terminanten müssten eben dann lediglich durch spezifische Reize zur Thätigkeit ausgelöst werden. Was aber die Annahme der Zerlegung betrifft, so gelten die eben vom Seeigel angeführten Thatsachen keineswegs für die Eier aller Thiere. Weis mann Descendenztheorie. 28 Jl 6 Die Keimplasmatheorie. Die beiden ersten Furchungszellen verschiedener Thiergruppen liefern, wenn sie voneinander getrennt werden, nur einen halben Embryo, die vier ersten nur einen Viertel-Embryo. Allerdings vermag dieser »Theilembryo« in einigen Fällen sich später dennoch zum ganzen Embryo zu vervollständigen (zu »postgeneriren« W. Roux . In der isolirten Blastomere ist also zunächst nur die Anlage zu einer Hälfte des Thiers in Thätigkeit, wie dies zuerst W. Roux für das Froschei beobachtete und vielen Angriffen gegenüber siegreich auf- recht hielt, bis es zuletzt durch die ausführlichen Nachuntersuchungen von ENDRES über jeden Zweifel festgestellt wurde. Die sekundäre Vervollständigung des Embryo, die freilich noch bestritten wird, würde man als eine Regeneration auffassen, und für sie eine Beimischung vollen, aber zunächst noch inaktiven Keimplasmas zu beiden Fur- chungszellen anzunehmen haben. Es würde mich zu weit führen, wollte ich auch nur auf die wich- tigsten der zahlreichen Thatsachen, welche das letzte Jahrzehnt zu Tage gefördert hat, genauer eingehen; ich beschränke mich auf das Nothwendigste. Die Fähigkeit, aus isolirten Furchungszellen ganze, nur ent- sprechend kleinere Embryonen hervorgehen zu lassen, ist bei Thieren verschiedener Gruppen nachgewiesen worden, und scheint nicht bei allen gleich weit zu reichen. Bei Medusen entwickelt sich nicht nur jede der zwei ersten Furchungszellen, wenn sie isolirt wird zu einer ganzen Larve, sondern auch jede der vier, acht, ja der sechszehn ersten Furchungszellen (ZojA); beim Seeigel wenigstens noch jede der acht ersten Zellen, und DRlESCH's Versuche mit Zerschneiden der jüngsten Larven des Blastula-Stadiums (einer einschichtigen Zellen- kugel) lassen annehmen, dass jede dieser Zellen noch volles Keim- plasma enthält. Weiter aber trennen sich offenbar die Anlagen in die des Ektoderms und des Entoderms, denn das folgende zwei- schichtige Stadium des Seeigels, die Gastrula-Larve, ergänzt sich nicht mehr, wenn sie künstlich in Stücke zertheilt wird, welche nur aus Zellen der äusseren oder der inneren Lage bestehen. Entsprechend diesem, von BARFURTH ausgeführten Versuch, konnte SAMASSA am Froschei zeigen, dass schon nach der dritten Theilung des Eies die Furchungszellen so verschieden in ihren Anlagen sind, dass sie sich nicht gegenseitig zu ersetzen vermögen; tödtete dieser Forscher durch Induktionsschläge die Ektodermzellen allein, oder die Entoderm- zellen allein, so konnte die getödtete Hälfte nicht von der lebendig ge- bliebenen aus wieder ersetzt werden, und das ganze Ei ging zu Grunde. Entwicklungsmechanische Thatsachen. 447 Sprechen schon diese Thatsachen für eine früher oder später ein- tretende Trennung der Anlagen, so ist das noch mehr der Fall bei Rippenquallen, Schnecken, Muscheln und Ringelwürmern, wie denn zuerst WILSON für letztere Gruppe wahrscheinlich machte, dass die Entwicklung hier wirklich eine »Mosaik-Arbeit« sei, wie ROUX und ich es ano-enommen hatten. Darauf deuteten schon die älteren Be- obachtungen von CHUN an Rippenquallen, und die neueren Experi- mente von FisCHEL an denselben Thieren (Ctenophoren) beweisen es geradezu für diese Gruppe. Hier lassen sich vollständige Larven leicht von unvollständigen blossen »Theilbildungen« an der Zahl der charakteristischen Flimmerrippen erkennen, welche in meridionaler Richtung über die Larve hinlaufen. Bei der vollständigen Larve sind ihrer acht, bei Larven, die aus einer der isolirten ersten zav ei Blasto- meren hervorgingen, finden sich nur vier, bei solchen, welche aus einer der vier ersten Blastomeren entstanden, nur zwei Flimmer- rippen. Gelingt es, ein Ei, das sich auf dem Achtzellen-Stadium be- findet, in einzelne Blastomeren zu theilen, so bildet sich aus einer derselben eine Achtel-Larve mit nur einer Flimmerrippe. Selbst im darauffolgenden sechszehnzelligen Stadium Hess sich noch nach- weisen, dass die Substanz, auf welcher die Rippenbildung beruht, nur an bestimmten Stellen liegt, und im Ganzen immer nur zu acht Rippen ausreicht. Das Stadium von sechszehn Zellen besteht aus acht grossen Zellen und acht kleinen, den »Makromeren« und »Mikro- meren« ; zerschneidet man nun ein Ei dieses Stadiums derart, dass das eine Stück fünf Makro- und fünf Mikromeren enthält, so bildet dasselbe auch fünf Flimmerrippen auf seiner Theillarve aus, während das andere Stück mit drei Makro- und drei Mikromeren nur drei Rippen hervorbringt. Man kann aber die Lokalisirung der Rippen- Determinanten noch weiter verfolgen, denn bei Larven, bei welchen einzelne Mikromeren aus ihrer normalen Lage gebracht worden waren, trat auch eine Verschiebung der betreffenden Rippe und eine Zer- streuung ihrer Flimmerplättchen ein. Die Rippen-Determinanten liegen also in den Mikromeren, woraus doch wohl geschlossen werden muss, dass sie bei der vorhergehenden Theilung nur der einen Tochter- zelle zugetheilt wurden, während die andere, die Makromere diese Art der Determinanten nicht erhielt. Da hätten wir denn also ein Beispiel erbungleicher Theilung. Die Gegner derselben werden es zwar schwerlich anerkennen, vielmehr geltend machen, dass »äussere Einflüsse«, etwa solche der Lage es seien, welche hier die Entscheidung darüber geben, welche Zellen Flimmerrippen bilden, 28* A.A.S Die Keimplasmatheorie. und welche nicht. Doch entwerthet die Zerstreuung der Flimmer- plättchen nach künstlichen Ortsverschiebungen der Mikromeren auch diese Ausflucht, und widerlegt zugleich die weitere Deutung, als würden etwa die Zellen, die in bestimmten Meridianen liegen, durch diese ihre Lage zur Hervorbringung von Flimmerplättchen bestimmt. Offenbar ist die Sache gerade umgekehrt: diejenigen Zellen, welche die Rippen-Determinanten enthalten, kommen im regelrechten Ver- lauf der Entwicklung in jene acht Meridiane zu liegen, die dazwischen liegenden Zellen derselben Abkunft (von Mikromeren) enthalten keine solche Determinanten, und bilden deshalb auch keine Rippen. Werden aber diese mit Rippen-Determinanten ausgerüsteten Zellen künstlich verlagert, dann bringen sie auch an anderen Stellen als auf den Meri- dianen Flimmerplättchen hervor. Ebenso beweisend für eine Zerlegung der Anlagen-Masse während der Ontogenese sind die Versuche, welche CRAMPTON mit den Eiern einer Meeresschnecke, Ilyanassa, anstellte. Wurden hier die zwei oder vier ersten Furchungszellen künstlich voneinander getrennt, so ent- wickelten sie sich ganz so, als gehörten sie noch dem ganzen Ei an, d. h. jede Furchungszelle gab einen halben, resp. einen Viertel- Embryo, und diese »Theil -Embryonen« sind hier auch nicht im Stande, nachträglich noch das Fehlende zum Ganzen hervorzubringen. Es stehen sich also zwei Gruppen von Thieren gegenüber, bei deren einer eine Zerlegung der Anlagenmasse augenscheinlich von Anfang an stattfindet, während sie bei der anderen wenigstens in den ersten Stadien der Entwicklung nicht stattfindet, später aber auch ein- zutreten scheint. Man könnte sie mit Heider als solche mit »Regu- lations-Eiern« und mit »Mosaik- Eiern« unterscheiden. Ich sehe des- halb keinen Grund, weshalb wir die Vorstellung von einer successiven Zerlegung des Keimplasmas in seine Determinanten aufgeben müssten, wenn ich sie auch — wie oben schon o-esaa-t wurde — in soweit o o modificiren möchte, als ich mir denke, dass sie nicht bei allen Gruppen und Arten von Thieren zu derselben Zeit einzutreten braucht, sondern bei den einen früher, bei den anderen später. Nachdem ich Ihnen nun gezeigt habe, wie die Keimplasmatheorie sich in Einklang setzen lässt mit den Erscheinungen der Ontogenese, schreite ich dazu, Ihnen die Leistungsfähigkeit der Theorie in Be- zug auf unser Verständniss der Fortpflanzungs- und Vererbungs- erscheinungen darzulegen. Ich werde Sie dabei zugleich in einige der wichtigsten derselben einführen können. Zunächst einige Worte über die Bildung der Fortpflanzungs- Bildung der Keimzellen. 449 zellen. Wir sehen einstweilen davon ab, ob dieselben geschlechtlich differenzirt sind, oder nicht; es handelt sich für jetzt nur um die Hauptfrage: wie ist es möglich, dass der Organismus Keim- zellen hervorbringt, d. h. Zellen, die das volle Keimplasma mit allen seinen Determinanten enthalten, während doch nach unserer Voraussetzung der Aufbau des Körpers in der Ontogenese mit einer Zerlegung des Determinanten-Gebäudes in immer kleinere Gruppen verbunden ist? Spezifische Determinanten können unmöglich neu wieder entstehen, so wenig als ein Thier anders denn aus einem Keim, eine Zelle anders als aus einer Zelle, ein Kern anders als aus einem schon vorhandenen Kern entstehen kann. Wenn überhaupt Lebenseinheiten jemals neu entstehen, so wäre dies doch nur bei den einfachsten Biophoren denkbar, wie wir später bei Gelegenheit der » Urzeugung« besprechen werden, spezifische Biophoren und die aus ihnen zusammengesetzten Determinanten aber haben eine Phylo- genese hinter sich, eine Geschichte, die es bedingt, dass sie nur aus ihres Gleichen enstehen können. Keimzellen werden somit nur da sich bilden können, wo sämmt- liche Determinanten der betreffenden Art zu Iden geordnet schon vor- handen sind. Dürften wir annehmen, dass das in Entwicklung tretende Ei sich zunächst in zwei Zellen theile, von welchen die eine den ge- sammten Körper (Soma) hervorbrächte, die andere nur die in diesem Körper gelegenen Keimzellen, so läge die Sache theoretisch einfach; wir würden sagen: das Keimplasma der Eizelle wächst zuerst aufs Doppelte heran, wie es die Kernsubstanz bei jeder Kerntheilung thut, und theilt sich dann in zwei gleiche Hälften, von denen die in der Ur-Körperzelle gelegene sofort aktiv wird und sich entsprechend dem Aufbau des Körpers in immer kleinere Determinanten-Gruppen zerlegt, während in der anderen das Keimplasma in gewissermassen »gebundenem« Zustand beharrt, und nur in soweit aktiv wird, als es die Zellen, welche aus der Urkeimzelle hervorgehen, nach und nach zu Keimzellen stempelt. Es ist indessen bisher nur eine Gruppe von Thieren bekannt ge- worden, bei welcher es sich nachweislich so verhält, die Zwei- flügler unter den Insekten; bei allen anderen bekannten Thieren, tritt diejenige Zelle, aus welcher lediglich die Keimzellen hervorgehen, die »Urkeimzelle«, erst später in der Entwicklung auf, meist schon während der Embryogenese und oft schon recht früh in derselben, nach den paar ersten Theilungen des Eies, manchmal aber auch erst lange nach vollendeter Embrvogenese, ja dann nicht einmal in dem 1-CO Die Keimplasmatheorie. aus dem Ei sich entwickelnden Individuum, sondern erst in einem seiner Nachkommen, welche durch Knospung- aus jenem entstehen. Der letztere Fall kommt vor Allem bei den stockbildenden, durch Knospung- sich vermehrenden Hydroidpolypen vor. Hier ist also die Urkeimzelle durch eine lange Reihe von Zellgenerationen vom Ei getrennt, und die einzige Möglichkeit, die Anwesenheit von Keim- plasma in dieser Urzelle zu verstehen, bietet sich in der Annahme, dass bei den Theilungen der Eizelle nicht das gesammte, ursprünglich in ihr enthaltene Keimplasma in Determinanten-Gruppen zerlegt wurde, sondern nur ein Theil, vielleicht der grössere Theil, während ein anderer Theil in gebundenem Zustand von Zelle zu Zelle weiter gegeben wurde, bis er früher oder später in eine Zelle gelangt, die er zur Urkeimzelle stempelt. Es macht theoretisch dabei keinen Unterschied, ob diese »Keimbahnen«, d.h. die Zellenfolgen, die von der Eizelle zur Urkeimzelle hinführen, kurz oder sehr lang sind, ob sie aus 3, 6 oder 16 Zellen, oder aus Hunderten und Tausenden von Zellen bestehen. Dass nicht alle Zellen der Keimbahn den Charakter von Keimzellen annehmen, wird man entsprechend unseren Vorstellungen über das »Reifen« der Determinanten, auf innere Zu- stände der Zellen und des Keimplasmas beziehen müssen, theilweise vielleicht auch auf eine Beigabe somatischen Idioplasmas, das erst im Laufe der Zelltheilungen entfernt wird. Diese Spaltung der Keimsubstanz des Eies in eine somatische Hälfte, die die Entwicklung des Individuums leitet und eine pro- pagative, welche in die Keimzellen gelangt und dort inaktiv ver- harrt, um später der folgenden Generation den Ursprung zu geben, macht die Lehre von der Continuität des Keimplasmas aus, wie ich sie zuerst in einer im Jahre 1885 erschienenen Schrift dar- gelegt habe. Der Grundgedanke derselben ist schon viel früher (1872) von FRANCIS GALTON ausgesprochen worden, ohne aber da- mals zur Geltung zu gelangen und Einfluss auf den Gang der Wissen- schaft zu gewinnen, und ebenso ist es mit späteren Äusserungen von G. JAGER, Rauber und M. NUSSBAUM gegangen, welche Alle, unab- hängig voneinander denselben Gedanken erfasst, und mehr oder weniger auszugestalten gesucht hatten. Stützen lässt sich die Hypothese nicht blos durch ihre theoretische Notwendigkeit; es gibt vielmehr eine ganze Reihe von Thatsachen, die stark zu ihren Gunsten sprechen. So schon der Umstand, dass das Herausschneiden der Keim- drüsen bei allen Thieren, die solche besitzen, Sterilität erzeugt, Bildung der Keimzellen. 451 dass also keine anderen Zellen des Körpers im Stande sind, Keim- zellen zu bilden — Keimplasma kann eben nicht neu erzeugt werden. Einen förmlichen Beweis für dieselbe scheinen mir aber die Verhält- GH FigT- 94- Schema zu der phyletischen Verschiebung der Keimstätte bei Medusen und Polypen, Durchschnittsbild. A Ast eines Polypenstöckchens, P Polypenköpfchen mit Mund (m) und Tentakeln, 5/ Stiel des Polypen, M Medusenknospe mit der Glocke (Gl), T Randtentakel, w Mund, Mst Magenstiel derselben; GphK eine Gonophoren-Knospe, GII Gastralhöhle, ckt Ektoderm. ent Entoderm, st Stützlamelle. Die Keimzellen (kz) entstehen in der Meduse im Ektoderm des Magenstiels — erstes phyletisches Stadium — , woselbst sie auch die Reife erlangen; in der Gonophoren-Knospe (GphK) entstehen sie im Ektoderm, oder weiter unten im Stiel des Polypen bei kz" — drittes phyletisches Stadium — oder im Ektoderm des Astes, von dem der Polyp hervorgewachsen ist (bei kz"') — viertes phyletisches Stadium der Keimstätten- Verschiebung; in den beiden letzten Fällen wandern die Keimzellen bis an ihre ursprüngliche Keimstätte in der Meduse oder der ihr entsprechenden Schicht des medusoiden Gonophors hin, wie noch deutlicher zu sehen ist in Fig. 95. Nach meinem Entwurf von Herrn Dr. Petrunke- witsch gezeichnet. nisse der Keimzellen-Bildung bei Medusen und Hydroid- polypen darzustellen, denn hier lässt sich zeigen, dass die Keimstätte, d. h. der Ort, an welchem die Keimzellen im Thier sich bilden, im Laufe der phyletischen Entwicklung sich verschoben hat, und zwar 45 2 D'e Keimplasmatheorie. rückwärts, also näher gegen den Ausgangspunkt der Entwicklung hin. Diese Verschiebung erfolgte nun genau auf den »Keimbahnen« wie wir sehen werden, obgleich es in manchen Fällen vortheilhafter ge- wesen wäre, wenn die Keimstätte ausserhalb derselben hätte gelegt werden können. Offenbar also sind eben nur die einmal vorhandenen Zellenfolgen der Keimbahn im Stande gewesen, Keimzellen zu bilden, oder mit anderen Worten: nur sie enthielten das dazu unum- gängliche Keimplasma. Mit Hülfe von Fig. 94 u. 95 glaube ich Ihnen die Sache in aller Kürze klar machen zu können. Bei den Hydroidpolypen und ihren Medusen entstehen die Keimzellen stets im Ektoderm, bei Arten, welche durch Knospung Medusen als Geschlechtsthiere hervorbringen, entstehen sie im Ektoderm des Magenstiels dieser Meduse (Fig. 94, M, kz). Nun sind aber bei vielen Arten diese Geschlechtsthiere zu sog. Gonophoren rückgebildet worden im Laufe der Phylogenese, d. h. zu Medusen, welche zwar noch mehr oder minder vollständige Glocken besitzen, aber weder Mund (m) noch Randtentakel ( T), und welche sich auch nicht mehr vom Stock loslösen, von dem sie durch Knospung entstanden sind, um frei umherzuschwimmen, sich selbstständig zu ernähren und Ge- schlechtszellen hervor- und zur Reife zu bringen. Solche rückgebildete Medusen bleiben vielmehr am Stock sitzen, um, von ihm ernährt, die Keimzellen in sich reifen zu lassen. Oft geht die Rückbildung bei derartigen »Gonophoren« noch weiter: bei vielen ist die Medusen- glocke nur noch durch drei dünne Zellenlagen vertreten, und bei einigen fehlt selbst dieses Zeugniss ihrer Abstammung von Medusen, und sie stellen nur noch einen einschichtigen geschlossenen Brutsack dar (Fig. 91, gm). Nun ist aber durch das Sitzenbleiben der Geschlechtsthiere am Stock die Möglichkeit einer rascheren Reifung der Keimzellen gegeben. und die Natur hat von dieser Möglichkeit in allen mir bekannten Fällen derart Gebrauch gemacht, dass sie die Keimzellen nun nicht erst in dem Magenstiel der reifen rückgebildeten Meduse, also des Gonophors entstehen lässt, sondern schon früher, d. h. ehe noch die Knospe, welche zum Gonophor werden wird, einen Magenstiel besitzt; sie verschiebt also die Keimstätte aus dem Magen- stiel der Meduse in die junge Gonophorenknospe (Fig. 94, Gph, kz'). Derartiges findet sich schon bei Arten, bei denen die Medusen sich zwar loslösen, aber nur kurz leben, z. B. bei der Gattung Podocoryne, obgleich bei dieser noch vollkommene Medusen gebildet werden, aber solche, die bei ihrer Loslösung vom Stock schon ihre Bildung der Keimzellen. 453 Keimzellen ausgebildet in sich tragen. Bei Arten aber, deren Medusen sich wirklich rückgebildet haben und sich nicht mehr loslösen, rückt dann die Keimstätte noch weiter zurück, und zwar zunächst in den Stiel (St kz") des Polypen, von weichem das Gonophor hervorknospt. So verhält es sich z. B. bei der Gattung Hydractinia. Bei noch weiterem Fortgang- des Prozesses rückt die Keimstätte sogar bis in den Ast zurück, von welchem dieser Polyp hervorgewachsen ist (Fig. 94, A, kz'"), und zuletzt, bei gänzlichem Herabsinken der Meduse zum blossen Brutsack (Fig. 95, GpJi) sogar schon in die nächstältere Polypengeneration, also in das Polypenstämmchen, von welchem der Ast entspringt, welcher den den Brutsack hervorbringenden Polypen durch Knospung aus sich entstehen Hess (Fig. 95, kz"")\ Dann finden wir die Keimstätte noch weiter zurückgeschoben (Fig. 95, kz""), die Ei- und Samenzellen entstehen schon im Stamm des Hauptpolypen (Hauptastes des Stöckchens). Der Vo.rtheil dieser Einrichtung ist leicht einzusehen, denn der Hauptpolyp ist früher vorhanden, als sein Nebenastpolyp, und dieser früher, als der die Geschlechtsknospen liefernde Polyp, schliesslich dieser wiederum früher, als die von ihm erst durch Knospung sich bildende Geschlechtsknospe selbst. Also bedeutet diese Verschiebung der Keimstätte eine immer frühere Anlage der Keimzellen, folglich auch eine frühere Reifung derselben. Nun reifen aber alle diese Keimzellen niemals an ihrer mehr oder weniger weit zurückgeschobenen Keimstätte, sondern sie wandern selbstständig von dieser nach dem Ort hin, an welchem sie ursprünglich entstanden, nämlich in den Magenstiel der Meduse, der ja auch bei starker Rückbildung derselben noch vorhanden zu sein pflegt, oder aber — in den extremsten Fällen von Rückbildung — in das Ektoderm des Brutsacks. So verhält es sich bei der Gattung Eudendrium, von welcher Fig. 95 ein schematisches Bild gibt. Das Interessante bei diesen Wanderungen der Keimzellen liegt nun darin, dass die Zellen zwar regelmässig im Ektoderm entstehen [kz""), aber bald durch die Stützlamelle (st) hindurch in das Entoderm sich eindrängen (kz'"), um dann in diesem bis zu ihrer Reifungsstätte hinzukriechen. Dort angelangt , brechen sie wieder in die äussere Zellenschicht, das Ektoderm durch (kz) und reifen heran (Ei). Der Grund, der sie veranlasst, den ganzen Weg dorthin im Entoderm zurückzulegen, liegt wohl darin, dass sie dort in unmittelbarer Nähe des Nahrungsstromes sich befinden, der den Stock durchfliesst (GH= Gastralhöhle) , dass sie also dort viel besser ernährt werden , als im 454 Die Keimplasmatheorie. Ektoderm. Trotzdem sich dies aber so verhält, entstehen sie doch niemals im Entoderm; die Keimstätte findet sich in keinem einzigen Fall im Entoderm, vielmehr immer im Ektoderm, Fi&- 95- Schema für die Wanderung der Keimzellen von ihrer weit zurückverlegten Keimstätte an ihre ursprüngliche Keimstätte im üonophor, in welchem sie zur Reife gelangen. Die Verhältnisse bei Eudendrium sind zu Grunde gelegt. II P Haupt- Polyp, Sta Stamm desselben, A Ast des Polypenstöckchens, SP Seiten-Polyp, Gph völlig zum blossen Gonophor rückgebildete Meduse ; Gh Gastralhöhle, st Stützlamelle. Die Keimstätte liegt im Stamm des Hauptpolypen bei 'kz'"' ', von wo die Keimzellen zu- nächst in das Entoderm des Astes [A) wandern {kz'"), in welchem fortkriechend sie in den Seiten-Polypen (Blastostyl) gelangen [kz"), um zuletzt in das Gonophor einzu- treten und nun wieder ins Ektoderm überzutreten. Nach meinem Entwurf von Herrn Dr. Petrunkewitsch gezeichnet. mag- sie noch so weit zurückgeschoben sein. Selbst wenn die Keim- zellen unmittelbar nach ihrem ersten gerade erkennbaren Auftreten schon ins Entoderm übersiedeln, entstehen sie doch immer im Ektoderm, wie z. B. bei Podocoryne und Hydractinia. Es verhält sich also ganz Die Keimzellen. 455 so, wie es sich verhalten müsste, wenn unsere Voraussetzung richtig wäre, dass nur bestimmte Zellfolgen, hier also die Ektodermzellen volles Keimplasma in inaktivem Zustand enthalten. Wäre auch in den Entodermzellen volles Keimplasma enthalten, so liesse sich nicht ver- stehen, warum niemals die Keimzellen aus ihnen hervorgehen, die doch durch ihre Lage viel bessere Bedingungen für die Weiterentwicklung bieten, als die Ektodermzellen, und warum der umständliche Weg der Einwanderung der jungen Keimzellen ins Entoderm gewählt wurde. Es muss den Entodermzellen Etwas fehlen, was nothwendie ist, um eine Zelle zur Keimzelle zu machen: Keimplasma. Nehmen wir die Lehre von der Continuität des Keimplasmas als in der Hauptsache richtig an, so erscheint uns das höhere Thier oder die Pflanze aus zweierlei Bausteinen gebildet, aus den Körperzellen und den Keimzellen; beide verdanken ihr Wesen dem Keimplasma der Eizelle, aber die Ersteren enthalten dasselbe nicht voll, sondern nur in einzelnen Determinanten1, und können deshalb nie wieder Keimzellen aus sich hervorgehen lassen, die anderen enthalten das gebundene Keimplasma, können nicht nur ihres Gleichen eine gewisse Zeit lang durch Theilung bilden, sondern sind auch befähigt, wenn ihre Reife eingetreten, und die sonstigen dazu nöthigen Bedingungen erfüllt sind, aus sich heraus wieder ein vollständiges neues Individuum der betreffenden Art zu bilden; die Ersteren haben nur eine begrenzte Dauer, sie sterben und müssen sterben, wenn die Lebenszeit des Individuums, dem sie angehören, abgelaufen ist, die Letzteren sind der Möglichkeit nach unsterblich, wie die Einzelligen, d. h. sie können, falls ihnen die Umstände günstig sind, wieder die Keimzellen eines neuen Individuums aus sich hervorgehen lassen, und so fort in alle Zukunft, soweit wir sehen. Das Keimplasma einer Art wird also nie neu erzeugt, sondern es wächst und vermehrt sich nur unaufhörlich, es zieht sich fort von einer Generation zur anderen, wie eine lange in der Erde fortkriechende Wurzel, von der in regelmässigen Abständen Sprosse emportreiben und zu Pflänzchen werden, zu den Individuen der aufeinander folgenden Generationen. Sieht man die Verhältnisse nur von Seite der Fortpflanzung an, so erscheinen die Keimzellen als das Wichtigste an dem Individuum, denn sie allein erhalten die Art. und der Körper sinkt fast zu einer blossen Pflegestätte der Keimzellen 1 Es wird sich später zeigen, dass es davon Ausnahmen giebt, indem unter Um- ständen auch Körperzellen Keimplasma in inaktivem Zustand vom Ei beigegeben sein kann. 4^6 Die Keimplasmatheorie. herab, einem Ort, an dem sie sich bilden, unter günstigen Bedingungen ernähren, vermehren und zur Reife gelangen. Aber man kann die Sache auch umgekehrt auffassen, und die unendliche Wurzel des Keim- plasmas mit seinen immer wieder aufs Neue zu Individuen werdenden Keimzellen als das Mittel betrachten, durch welches allein der Natur die Aufgabe gelingen konnte, vielzellige Organismen zu schaffen, Individuen von hoher und höchster Dififerenzirung und Leistungs- fähigkeit, und geeignet zur Anpassung an alle möglichen Lebens- bedingungen, also zur Ausnutzung aller sich darbietenden Lebens- Möglichkeiten. Druck von Breitkopf & Härtel in Leipzig. V*^ ITOSm**-. -^^ , WH - S hV>C^ tas Wfpf Mira Htm r*- PJL SP; - >m^a mmm± Ira^Lv