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HERAUSGEBER: BALDUR VON SCHIRACH

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Aus dem Inhalt:

Bruno Brehm / Das Eigene

Heinrich Zillich / Anekdoten aus dem Krieg Mırko Jelusich / Der Mann der Geschichte

Neue Gedichte von Dr. Hans Gstettner Martin Raschke 4 / Wintersonnenu Haul A. Weber / Kasperl, Tod und Teufel Eugen Rümelin / Die politischen Friedrichs des Großen Neue Bücher Kunstdruckbeilage

Heft 1/2 Berlin, Januar / Februar 1944 Preis 30 Pf.

INHALT

Bruno Brehm: Das Eigene

Dr. ane Gstettner: Wiedergeburt, Klage, Wind aus dem Osten, Flug über dem Schwarzen Meer (Gedichte)

Heinrich Zillich: Anekdoten aus dem Krieg Martin Raschke A: Wintersonnenwende Mirko Jelusich: Der Mann der Geschichte Fritz Usinger: Wo wir wohnen

_ KLEINE BEITRÄGE

Eugen Rümelin: Die politischen Testamente Friedrichs des Großen

NEUE BÜCHER

Günter Kaufmann: Abschied von „Wille und Macht“

KUNSTDRUCKBEILAGE

H. Schachinger: Schulbub Tilman Riemenschneider: Kopf der Eva Paul Mathias Padua: Stilleben Prof. Fritz Klimsch: Zwei Brunnenfiguren Werner Paul Schmidt: Kühe am Hügel Prof. Thorak: Paracelsus Joseph Raabe: Bildnis des Frhr. von Eichendorff (1809)

Die Bilder aus der GroBen Deutschen Kunstausstellung stellten Verlag Heinrich Hoffmann und Verlag Bruckmann, München, zur Verfügung

Wille. Hach

Führerorgan der natíonalfosíalíti(den Jugend

HERAUSGEBER: BALDUR VON SCHIRACH

Jahrgang 12 Berlin, Januar/Februar Heft 1/2 (> | ) = ğ EN Bruno Brem: AV

Das Eigene AP

Nur in der Fremde erkennst du das Eigene, dort spricht es dich an, als riefe dich unter unbekannten Menschen leise und eindringlich eine Stimme, die dir so vertraut klingt, als hátte dich deine Mutter bei deinem Namen gerufen. Gehst du dem fremden Schönen nach, genießt du das Glück eines anderen Landes unter einem blaueren Himmel, fühlst du dich ledig und frei, meinst du es dir unter der wármeren Sonne auch einmal so gut gehen zu lassen, wie es den Menschen um dich her gut zu gehen scheint, dann erreicht dich dieser Ruf, dem du dich eben- sowenig verschlieBen kannst wie der Stimme des Gewissens.

Kleine gotische Adlerfibel, schlichte Gewandnadel im Museum einer bulga- rischen Schule am Schwarzen Meer, zwischen verblaBten Tanagra-Figürchen, zerbrochenen Ollámpchen, verstaubten Glasperlen und grünspanüberzogenen Münzen aus griechischen Grabern kleine Fibel mit den rotglühenden Almandinaugen, deren reichere, stattlichere Schwestern in Schweden und in Oberitalien, in Bayern und in Siebenbürgen gefunden worden sind, aus deinen Edelsteinaugen strahlt der gleiche Glanz, der auch aus den farbenfrohen Fenstern gotischer Dome leuchtet. Nicht nur die Zeit, auch die Gedanken bleichen die Farben aus, marmorblaB sind die einst bunten Gótter und Fabelwesen der grie- chischen Tempelgiebel geworden, zerschlagen wurden die nie verblassenden Glutfarben der gotischen Fenster und was heute noch übriggeblieben .ist in Rouen, in Chartres, in Erfurt und nicht allzuvielen anderen Kirchen, das ist, so wie du, kleine Fibel, nur ein kleiner Rest einer Schónheit, die in ihrem Glanz von dieser Welt nicht ertragen wurde. Damals in den frühen Morgenstunden, eigenste Kunst, sickerte dieses Leuchten in dich ein, in der Kaiserkrone strahlte es wieder auf, und alles, was heute noch von ihm erhalten ist, gleicht nur einem winzigen Wólkchen im Abendrot, da schon der ganze Himmel erblaßt ist.

Frühzeitig hast du aus Edelsteinaugen schauen gelernt, und daher wird dein Blick immer aus anderen Tiefen hervorbrechen, das menschliche MaB, die kühle Ruhe, der gelassene Blick werden dir fehlen, jede Zeit, die nur an das Dies- seitige glauben kann, wird dich miB verstehen. Denn du bist unter einem anderen

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2 l Brehm / Das Eigene

Gesetz angetreten als die Künste der anderen Völker. Hoch im Norden wurden die kleinen, der spätrömischen Kunst entstammenden und die von den Völker- wanderungsstürmen aus den innerasiatischen Steppen hereingewehten Tier- gestalten zu neuen, oft winzigen Maschinen gleichenden Gestalten umgeformt, deren Wahrheit nicht die eines Spiegelbildes, sondern wie wir heute sagen würden, die einer Konstruktion und die eines Rhythmus ist. Diese Tiere der Gewandnadeln, der Halsringe, der Helme, Spangen, Schwertbänder und der wenigen in Holz erhaltenen Schnitzereien bewegen sich nicht aus sich selbst, sie springen nicht, sie jagen einander nicht nach, sondern sie werden von Kräf- ten durchflutet, zerlegt, zerrissen, zerkerbt und verschlungep. Was diese rätsel- haften Wesen einer Kunst, für die wir kein anderes Wort besitzen als ornamen- tale Kunst, zusammenhält, ist nicht die körperliche Einheit ihres Tierleibes, sondern der strenge Rahmen, dessen hartes Gesetz das Ubermaß an Kraft zu- sammenzuhalten bemüht ist. Drängt sich aber in der Wikingerzeit diese rätsel- hafte Kunst dichter an das Leben heran, dann sucht sie nicht dadurch wirklicher zu werden, daß sie die Gestalten der Natur, Tier, Mensch und Pflanze nachahmt, sondern daß sie, statt dem Zusammenhalt durch Verflechtung oder Rahmung zu vertrauen, mit Händen und Füßen um sich greift und so ihren Halt sucht. Sie stellt also nicht Gestalten, sondern Kräfte dar, gleichgültig ist sie gegen das Bild, aufgeschlossen ist sie für das Tun. Nicht wie der Mensch, wie das Tier, wie die Pflanze aussehen, sondern was sie bewirken, geht sie an. Verborgen unter den Kräften bleiben die Bilder.

Ob nun die Ritterrustung den Edelmann, ob der heizbare Pilotenanzug den Flieger, ob das Unterseeboot die Besatzung ummanteln, ob Schnabelschuhe, Puffenärmel, geschlitzte Wämser, Visier und Harnisch, Perücken, Zöpfe, Reif- röcke und Federhüte die Gestalt des Menschen vermummen und überkleiden, oder ob Krabben, Fialen, Schnecken, Muscheln und Rollwerk die Bauformen überwuchern, wie Wolkenschatten ziehen diese verhüllenden Formen über unsere Geschlechterreihen dahin, hier abdeckend, dort freigebend, von der Kunst auf das Leben, vom Leben auf die Kunst übergreifend und schließlich in die groBe Gegenwelt, in die alles umformende Technik einmündend. Wie einstmals die Edelsteine im Geschlinge der Bandgeflechte aufleuchteten und dem Auge den Weg durch das Dickicht der Formen wiesen, so blinken nun die Signallichter auf, wie einst das Geflecht ineinandergriff, so greifen nun Zahnräder ineinander, wie einst das unerfahrene Auge ratlos vor dem scheinbaren Gewirr der Orna- mente war, so staunen wir heute das verschlungene Leitwerk in der Kanzel eines Flugzeuges an. Klein, wie einst die frommen Beter in den dunklen Domen mit den im Lichte aufglühenden Fenstern, stehen heute von Feuern überflammt in ihren schlichten blauen Kitteln die Monteure zwischen den gewaltigen Hoch- öfen. So wie einst die Beine der Ornamenttiere eingesetzt waren, so sind heute die Kolben der Maschinen eingelagert. Immer wirst du in unserer Welt stehen, auch wenn sie sich scheinbar gewandelt hat, in einer Welt des Grauens, wenn du sie mit dem ruhigen Blick des Griechen siehst, in einer Welt der Unruhe, des Angetriebenseins, in der dich die heute entfesselten Kräfte anbrüllen und dir mit Vernichtung drohen. Denn von allem Anbeginn an drängt diese Kunst, drängt unser Wesen, das sie verkörpert, über das Menschliche hinaus, in das Himm- lische oder in das Höllische. Und weil die seit jeher mit so hohen und so dunk- len Mächten verschwisterte Kunst nicht das Leben und die Schönheit abspiegelt, droht ihr die Gefahr, bei geänderter Zeit, beim Wechsel der Träume zu unent-

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wirrbaren Fratzen zu erstarren. Das Bild des nackten oder des von schön- fließenden Gewandern verhüllten Menschen aber bleibt zu allen Zeiten ver- ständlich, es ist überschaubar wie das steinerne Haus des griechischen Tempels, der nie so schwer und dunkel wie ein nordischer Dom droht, in dessen Gewände Engel und Ungeheuer nisten wie die Vógel im Geást eines Riesenbaumes. Wir sind ungerecht gegen unsere Kunst, wenn wir sie mit dem MaBstab des Südens messen wollen oder wenn wir das, was seit jeher ihr Eigenstes war und was in hundert Verwandlungen immer wiederkehrt, als eine Abirrung ansehen. Tun wir das, dann müssen wir uns eingestehen, daß wir seit jeher auf Irrwegen ge- wandelt sind; denn unser Wesen, wie es sich in unserer Kunst und in ällen. Werken unseres Hirnes, unseres Herzens und unserer Hánde widerspiegelt, ist im Grunde immer das gleiche geblieben.

Es war zu Venedig; ich hatte die groBen Gemalde Tintorettos und Veroneses bestaunt, in denen sich die verklungene GroBe der Stadt unvergánglich rühmt: die Weite des Meeres flutet durch diese Bilder, Diesseitiges und Jenseitiges war innig verwoben, das Rühmen auf den Bildern schien kein Ende nehmen zu wollen. Mein Weg führte mich durch ein kleines Kámmerchen, in dem, gegen die groBen Gemalde der Venezianer gehalten, einige winzige Tafeln des Nieder- lánders Hieronymus Bosch hingen. Es war, als hatte man die Unendlichkeit in kleine Fingerhüte gepreßt. Höllenfeuer flammten auf, Felsenzacken stachen dunkel in den brandroten Himmel, spitzes Geást zackte gegen die gefáhrliche Glut, Fabeltiere und Fabelmaschinen bedrohten die Menschen. Da sanken die weiten Sale und die festlichen Raume der venezianischen Meister in Nichts zu- sammen vor der Tiefe dieser Bildchen. Bei einem Fliegerangriff im Westen muBte ich an die Bilder des Hieronymus Bosch denken, als allenthalben die Leucht- stábe aufflammten, als die Scheinwerfer über den Himmel tasteten und die grellen Lichter der Leuchtschirme sich niedersenkten. Wie gleichen seine Fisch- ungeheuer den fliegenden Festungen, wie áhneln seine vermummten Gestalten unseren für diese großen, luftdünnen Höhen eingehüllten Fliegern!

Als ich ein paar Tage spáter mit jener Wehmut des Abschiednehmens, mit der wir in dieser Zeit so vieles, was uns lieb ist, betrachten, in die abendstille Peters- kirche auf dem Graben in Wien eintrat, da sah ich im matten Licht die vielen schwebenden Engel, die sich wie Schmetterlinge auf den Blumen, auf den Ge- simsen der Altáre niederlieBen, da hórte ich beinahe das Rauschen der Engels- flügel. Mir kam in den Sinn, daB die Genien und die Engel, die Heiligen und die Heroen in Kirchen und in Schlóssern auf den groBen Deckenbildern zur selben Stunde das Fliegen verlernt hatten, da sich der Mensch selbst im ersten Luftballon zu den Wolken erhob. Und da in keiner Kunst als in der des Abend- landes so viel geflogen und geschwebt worden ist, haben die geflügelten Wesen die veránderte Zeit nicht gleich wahrhaben wollen, sie haben es noch ein paar Jahrzehnte versucht, aber sie haben es doch nicht mehr zusammengebracht.

Wie eine ferne Brandung scháumte das goldene überquellende Zierwerk mit seinen Wellenspritzern über die ruhig ausschwingenden Gesimse, das Rauschen der unsichtbaren Wellen setzte sich in den aufflatternden Gewándern fort, und in diese Stille hinein, in die man sich ein tróstendes, leises Spiel der Orgel er- sehnt hätte, knatterte das Motorengeräusch eines Fliegers. So sind die Träume vom Fliegen und so ist die verwandelte Wirklichkeit, so sind die gemalten Brände und so ist das Feuer, das vom Himmel fällt und durch die Nächte dieses Krieges leuchtet.

4 Brehm / Das Eigene

In den Uffizien von Florenz stand ich lange vor dem Rundbild der Madonna des Michelangelo, das die Mutter Gottes als große, über die Schultern nach rück- wärts greifende Riesin darstellt, der Josef den Christusknaben reicht. Hinter dieser so bewegten und doch so geschlossenen Gruppe lungern, durch nichts mit den heiligen Gestalten vorne verbunden, im hellen Lichte eines Frühlingstages, als hielten sie in einem griechischen Gymnasium Rast von Leibesübungen, schöne näckte Jünglinge. Endlich hatte ich ein Werk dieses Großen dicht vor mir, dessen Fresken in der Sixtina unerreichbar wie Wolken über uns schweben; nun sah ich, wie groß und streng er auch im kleinen war, wie kühn er Christ- liches und Griechisches nebeneinander stellte, ohne die innere Ordnung des Bildes zu gefährden. In Michelangelos Nähe verstummen die andern Bilder, selbst die holden Gestalten Botticellis erstarrten, als hielten sie mitten im schwe- benden Schritte inne. Befangen ging ich weiter und sah mich im nächsten Augenblicke einem Gemälde gegenüber, das ich wohl von Nachbildungen her gekannt, von dem ich aber nie geahnt hatte, daß es mich so in seinen Bann ziehen werde. Es war der Portinari-Altar, den der flandrische Meister Hugo van der Goes im Jahre 1467 zu Brügge im Auftrag des Medici-Vertreters gemalt. Sein Mittelstück stellt die Anbetung der Hirten, seine Seitenstücke, je zwei männliche und zwei weibliche Heilige mit der Familie des Stifters dar. Das an und für sich große, zweieinhalb Meter breite, zwei Meter hohe Bild schien mir noch weit größer zu sein. Meine Bezauberung mag von der Farbe ausgegangen sein. Ob es das geheiligte Blau des Gewandes der Gottesmutter war, das sich in so vielen Tönungen durch das ganze Bild zog, ob es die goldene Garbe oder die rührenden Blumen in den Gläsern vorne zwischen den anbetenden Engeln waren, die innige Verzückung der Gesichter, das fromme Beten der knienden Engel, ich weiß es nicht. Der Anruf des Eigenen läßt sich nicht zer- gliedern, er ist Wohllaut und Geheimnis, er läßt das Fremde auf einmal wirklich anders und er läßt das Eigene wie seit je ver- traut erscheinen. Die Körperschönheit, die Kraft, die Kühnheit Michel- angelos waren vergessen, die Zartheit Botticellis schmolz wie Schnee dahin vor diesen starken Farben des flandrischen Meisters, das Unwirkliche der Engel schien mir weit wirklicher als die nackten Jünglinge des Michelangelo, aus allen Gesichtern des Niederländers rief es mich, aus allen Falten rauschte es mir ent- gegen: das sind wir! So innig ist unsere Sprache, so hold träumen wir, wenn wir Ruhe finden, so haben wir von unseren farbigen Fenstern die starken Farben gelernt.

Ich weiß nicht, wie ich dieses tiefe Glück schildern soll. Es ist, als wäre man nach langer Abwesenheit wieder heimgekommen und finde nun alles genau so wieder, wie man immer davon geträumt. Alles, was auf solch einem Bild ge- schieht, jede Bewegung eines Gesichtes, jedes Lächeln, jede Falte, jedes Gras ist einem vertraut, wenn man das Bild auch noch nie gesehen hat. Und wie vor dem Bilde des van der Goes stand ich bald darauf vor dem des Memling: ich hörte den verschwebenden Harfenklang, da die beiden Engel zu Füßen des Thrones der Gottesmutter ihr Spiel unterbrochen hatten, damit der eine dieser himmlischen Musikanten dem Christuskind einen Apfel reichen könne. Vor das Bild von Dürers Vater trat ich, als träte ich vor den eigenen Vater, die Bilder des Rubens verstand ich auf einmal ganz anders, mitten in Italien war ich nun vom Eigensten umgeben, und ich liebte es auf einmal. wie ich es noch nie ge- liebt. Unsere Welt! Unsere Gesichter!

H. Schachinger: Sehulbub

Grobe Deutsche

Kunstausstellung München 1945

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Riemenschneider:

Vilmann

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Brehm / Das Eigene 5 Bin ich vielleicht ungerecht gegen die großen Italiener? Laßt mich doch un- gerecht sein, laßt mich sagen, daß mir die Goes, die Memling, die Eyck mehr bedeuten als die Raphael und die Michelangelo! Es sind so viele gegen unsere Kunst ungerecht, daß es wirklich nichts ausmacht, wenn ich sie mehr liebe als alles. Wir sollen, wir dürfen nicht vergleichen! Vergleichen wir das strenge Innere italienischer Kirchen mit unseren durchseelten Räumen, wir müßten sagen, uns friere bei den Italienern, sie enthielten nichts von dem, was wir in einem Gotteshaus suchen, nicht unseren Jubel, nicht unseren Schmerz und vor allem nicht den ewigen Flügelschlag unserer Sehnsucht.

Die Germanenköpfe der Trajans- und der Markussäulen und all die vielen Germanendarstellungen der vatikanischen Sammlungen sind ja auch nicht schön im klassischen Sinn, eine so junge, so barbarische Heftigkeit spricht aus ihnen, die auch den römischen Bildhauern nicht entgangen war. Nicht anders als einst die Kelten oder die Germanen standen nach der Einnahme Athens unsere Alpen- jäger auf den Stufen der Akropolis und spähten, mit schweren Nagelschuhen die hohen Stufen nehmend, unter gebraunten Händen nach den fernen schnee- bedeckten Höhen, über deren Pässe sie hierhergezogen. Schön wie die Griechen waren unsere Jäger nicht, aber sie hätten ihre Brüder unter den Köpfen der ge- fangenen Germanen in den römischen Sammlungen finden können.

Was zwingt uns denn auch, den Maßstab fremder Schönheit an unsere Kunst zu legen? Dürers Melancholie ist die Schwester jener trauernden gefangenen Germanenfrauen auf den römischen Siegesdenkmälern, ihre Trauer ist die gleiche, die über der Stirn jener ins Unglück geratenen und gefangenen Germa- ninner liegt. Die Zeichnung von Dürers Mutter ist weit entfernt von irgend- welcher Schönheit, sie.ist so häßlich, wie das Alter einen Menschen häßlich machen und ausmergeln kann. Aber es ist die Mutter, der Sohn hat sie gezeich- net, und der große Sohn stößt mit dieser Zeichnung bis auf den Grund des Lebens, bis zum geheimnisvollen Welken und Sterben durch.

Die Bilder des Louvre in Paris waren zu dicht gehängt; wie in einer Vogel- handlung flirrte und trillerte es durcheinander. Lange verweilte ich vor den Gemälden Leonardos, das Geheimnisvolle der Madonna in der Grotte ergriff mich, von der Mona Lisa konnte ich mich lange nicht trennen; ihr Lächeln war mir die entfaltete Blüte, deren Knospen die lächelnden klugen Jungfrauen von den Portalen französischer Kathedralen sind. Das Neue erhält nur deshalb solchen Bestand, weil es alt und durch viele Geschlechter vorbereitet ist. Eigent- lich wollte ich nach diesen beiden Bildern nichts mehr ansehen, gedankenver- loren ging ich weiter, bis mich ein Bild nicht weiterließ: Der barmherzige Sama- riter von Rembrandt. In der Ruhe des Bildes versank alles wie in einem braunen See, Das späte Abendlicht wärmte auch meine Wange, auch ich stellte mich auf die Fußspitzen und blickte mit dem Knaben über den Rücken des Reittieres auf den andern Burschen, der mit dem zweiten Knaben den von den Räubern so übel zugerichteten Wanderer zu der Herbergstreppe trägt, von deren Stufen der barmherzige Samariter nach dem Geretteten blickt. Neben der Hauswand stehen die Pferde, aus einem Fenster sehen drei von dem sinkenden Licht der Sonne überhauchte Köpfe. Auch wir blicken mit abendschweren Augen in dieses Bild, das mit seiner goldglänzenden Stille weit fort ist von der Kunst des Südens, der es sich durch die fast reliefartige Anordnung seiner Gestalten nähert. Es ist so, als löse dieses Bild in einem ganz andern Sinne noch einmal die Frage des

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. Gleichnisses vom barmherzigen Samariter: wer denn der Nächste sei. Die großen Werke, die das Letzte aussagen, sind auf der ganzen Welt einander die nächsten. Auch dieses Bild Rembrandts steht am Ende einer langen Reihe, oft hat sich der Meister mit diesenr Stoff auseinandergesetzt, immer wieder hat er die einzelnen Gestalten verschoben, er hat das Licht des Tages, er hat den ruhelosen Flacker- schein der Fackeln des Nachts versucht, er hat die Gruppen schräg in die Tiefe gestellt und- er war zum Schluß zu einer so einfachen und klaren Anordnung gekommen, wie sie eine italienische Grablegung etwa zeigt. Nun scheint alles so einfach, als könnte es nicht anders sein. Aber das Einfache ruht immer in der Tiefe verborgen, ein ganzes schweres, duldendes Leben gehört dazu, um es zu finden und zu heben. Nun ist es aber so klar und so schlicht geworden, nun beglückt es so, wie wenn man an den Säulen des Parthenon feststellt, daß ihre Hohlstreifen gerade die Schulterbreite eines Mannes haben oder wie wenn man sieht, wie durch das sanfte Geriesel griechischer Gewänder der schöne Mensch durchscheint wie die aufgehende Sonne durch leichtes und flaumiges Sewölk. Und auch du begreifst dieses Gleichnis, wer der Nächste ist, da du nur das ver- stehen kannst, was du liebst.

Nun siehst du auch, wie die Felsen der Madonna in der Grotte des Leonardo jenen gotischen Baldachinen gleichen, unter denen in unseren Domen die Mutter Gottes thront, nun siehst du, wie sich die alten Formen der Kunst in die neuen der Natur verwandelt haben, nun weißt du, daß es unser Licht ist, das die blauen Berge hinter der Mona Lisa durchleuchtet, und alles, was getrennt nach Nord und Süd schien, findet sich auf den großen Werken vereint und voneinander durchdrungen wieder. Habe ich nicht auch, als ich zum ersten Male nach Ober- . italien kam, immer wieder an Shakespeare denken müssen, habe ich bei klugen Madchengesichtern nicht immer wieder an Porzia, bei schönen Jünglingen an Romeo gedacht, habe ich nicht mit seinen Augen das Land geschaut? Nie hat sich, schien es mir, dieses Land selbst so dargestellt, wie es der groBe Dichter aus dem Norden auf die Bühne gebracht hat.

Die Künste gehen nur aneinander vorbei, wenn sie nicht die letzten Hóhen erreichen, sie sind einander feind, wenn Größeres mit Kleinerem der anderen Kunst zusammenstóBt. Ich erfuhr es mit schmerzlicher Deutlichkeit im Rathaus zu Amsterdam, das van Campen im Stile Palladios erbaut hat. Rembrandt hatte für den großen Saal ein Bild zu liefern: Das Gastmahl des Claudius Civilis, bei dem es zum Schwur auf das Schwert der batavischen Verschwórer im Kampf gegen die Römer kommt. Es war, dem Ausmaß nach, ein großes Bild, es hätte in seinen Goldfarben in dem weiBen Saal wie eine Sonne über einem Schneefeld gewirkt, es ist ein Bild von der Heftigkeit und Wucht Hamlets, und deshalb hatten es die allzu kühlen Ratsherren abgelehnt, weil es ihnen wohl zu wild und zu barbarisch schien. Heute hángt das Mittelstück des zerschnittenen Bildes in Stockholm. Ware es uns unverstümmelt erhalten geblieben, wir hatten es getrost neben die Fresken Michelangelos in der Sixtina stellen kónnen. Man bedenke doch: einmal wird auf ein Schwert geschworen, treu zu uns selbst zu stehen, dieser Schwur gegen Rom wird in wildglühenden Farben gemalt, und dieses Bild wird dann von jenen Menschen zerschnitten und verkauft, deren Land selbst so- lange diesen Kampf geführt hat. Es scheint zuviel Glut in unserer Kunst zu sein, die immer wieder in selbstvernichtenden Flammen auflodert. Aber wenn wir dies nicht begreifen, wer soll es denn verstehen? Unsere Kunst wirkt im Süden kalt, unlebendig und starr wie das zerklüftete Marmorgebirge des Mailánder

Brehm / Das Eigene 7

Domes. Wir verstehen es, wenn der Italiener Filarete im fünfzehnten Jahr- hundert ausrief: „Verflucht, wer diese Pfuscherei erfand! Ich glaube, nur Bar- barenvolk konnte sie nach Italien bringen!"

Nur in der Fremde lernst du das Eigene kennen: Auf der Fahrt nach der an der ágyptischen Grenze gelegenen Oase Siwa sahen wir am Rande der grellen gelben Wüste im rótlichen Abendlicht gewaltige Pyramiden aufsteigen. Erst beim Nüherkommen erkannten wir, daf wir hier keine Gebilde von Menschen- hand, sondern gewaltige pyramidenfórmige Felsenformen vor uns hatten, nach deren Vorbild wohl einst die gewaltigen Steinmassen der Königsgrüber am Rande der Nilebene aufgetürmt worden waren. MuB nicht auch, dachte ich mir, einem vom Nil zu uns kommenden Mann das Rippenwerk und die Pfeiler, die Kreuzrosen und die Kapitele unserer Dome wie ein versteinerter Wald er- scheinen? Muß einem solchen Mann nicht der Anblick unserer großen gotischen Flügelaltäre wie das Wachsen von Himmelsbäumen erscheinen, ob dies nun ein Goldbaum ist wie der zu St. Wolfgang oder ein brauner Waldbaum wie der zu Kefermarkt, muß er nicht meinen, diese Bäume, wie der Krakauer, könnten weiterwachsen und das steinerne Gehäuse der Kirchen sprengen? Ist nicht dieses Braun des Holzes, sieht es ein solcher Mann aus der Fremde, an unseren Geigen eines Symphonie-Orchesters, so, als töne aus ihm die Stimme unserer Wälder? Ist nicht dieses Braun unserer Felder vor dem Aufgehen der Saat wie alle Sehn- sucht nach dem Wohlklang der Welt? Die Kirche des Klosters von St.Florian bei Linz ist im italienischen Barock erbaut, ihre Gesimse sind klar, hart und schwer, ihre Farben sind kühl. Wir können das ja oft genug beobachten, wo Italiener bei uns im Barock unsere Kirchen umgebaut haben, ob in Passau, in Würzburg oder in Hildesheim: sie sind dem eigentlichen Wesen unserer Kunst fremd, ja feindlich, sie zerstören durch Vernunft und Klarheit etwas, dem man durch Vernunft und Klarheit eben nicht beikommen kann. Schmerzt den Italiener in seinem Lande unsere Form, so empfinde ich die seine bei uns nicht weniger hart und fremd, seine Girlanden hängen so schwer, seine Pfeiler stoßen so hart in die Höhe. Aber in St. Florian haben die Söhne der oberösterreichischen Bauern, die Vettern der stolzen Bauernäbte, in dieser kühlen Kirche das Chor- gestühl geschnitzt, das geigenbraune, das stolzgeschwungene, das sich wie Segel im Winde bläht, das von einem wärmeren Atem durchhaucht ist, das von Orgeltönen vollgesogen und aufgequollen scheint, und dieses Chorgestühl wärmt den kühlen Raum, es spricht in der gleichen Sprache zu dir wie die so anmutig geschwungene Treppe des Stiegenhauses oder der rötlichbraune festliche Kaiser- saal des Klosters, die von Prandauer, dem großen deutschen Meister, sind.

In der Mitte von Mainz steht sein gewaltiger Dom. Auch nach ihm hatten die Flammen gegriffen, sein Inneres ist fast ganz ausgeräumt, der Weihrauchduft war dem Brandgeruch gewichen. Aber im Chor stand noch das braune gewaltige Gestühl, das schöngeschwungene, reichgezierte, und ich mußte es streicheln, wie ich vor vielen Jahren die kleinen blonden Kinder gestreichelt habe, die wir bei unserem Einmarsch in Italien antrafen und die uns erinnerten, daß hier ein- mal Langobarden geherrscht.

Wir waren durch die kahlen Berge Albaniens gezogen, durch steiniges, von dem büllenden Mantel der guten Erde entblöğtes Land. Wir waren aus Griechen- land gekommen, wir hatten gesehen, wie die Vernichtung des Waldes das Ge- sicht des Landes entstellt. Nur im Innern des Landes, wo weder Türken noch Venezianer das Holz fortführen konnten, weil es zu weit von den Häfen war,

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haben sich helle Laubwälder wie in Thüringen erhalten. Nun saßen wir, müde von Märschen und Bildern, gereinigt vom Staub und gesättigt, in dem fast leeren Zimmer eines mohammedanischen Schneiders nahe dem Boden auf der weiß- überzogenen Polsterbank, tranken schwarzen Kaffee und drehten gedankenlos an dem Rundfunkapparat herum, den unser wohlhabender Quartierwirt erst kurz vor dem Krieg gekauft, und der sich in der Leere dieses islamischen Wohn- raumes ganz seltsam ausnahm. Da rauschte es mit einem Male auf, als ziehe das Brausen und Sausen der so lange nicht mehr geschauten Wälder über uns hin; wir hatten zufällig Beethovens Neunte eingestellt, wir ließen die Hände sinken, wir wagten uns nicht ins Gesicht zu sehen, sonst wären uns die Tränen ge- kommen. Ob Freund oder Feind die Sinfonie sendeten, weiß ich nicht, sie schwebte ja, an keine Sprache gebunden als an die innerste, jenseits dieser irdischen Begriffe. Unser albanischer Gastwirt war leise eingetreten und hatte sich neben uns hingehockt. Er sah uns forschend an, aber ich glaube nicht, daß er sich in unsern Gesichtern besser auskannte als in der Musik. Wir nickten ihm kurz zu, als wollten wir sagen: schon gut, wir sind hier bei dir und doch nicht, und sahen dann durch das niedere Fenster über ein altersbraunes Ziegel- dach, hinter dem, zwischen leicht schwankenden Zypressenwipfeln, ein schlankes weißes Minarett in den dunkelblauen Himmel ragte. Ich mußte an die unerlöste, an die gleichsam körperwarme und ausweglose, immer wieder in sich zurück- fallende Musik des Ostens denken, während diese gewaltigen Kräfte über uns hinbrausten. Ich sollte dem Meister noch einmal begegnen, und er konnte mich trösten, wie mich kein Wort getröstet hätte:

Wir lagerten in der Nähe des Arco de Filine, an der Grenze von Tunis und Tripolis. Die Mondnacht war klar und kühl. Von der schwarzen Asphaltstraße zwischen Küste und Wüste drang Räderrollen herüber, dazwischen klirrten Raupenketten. Das war tröstlich zu hören. Noch immer fuhren also einzelne Panzer der achten englischen Armee entgegen, um unseren Rückzug zu decken. Zwei Wochen vorher waren die Engländer und die Amerikaner in Algier ge- landet. Dunkel und ungewiß wie das niedere Buschwerk in den hellen Dünen lag die nächste Zukunft vor uns. Wir hatten uns bei dem Rückmarsch, ehe in Bengasi die Magazine in Brand gesteckt wurden, mit Wein versorgt. Mit hoch- geschlagenem Mantelkragen traten wir hin und wieder vor das Zelt und lausch- ten nach den feindlichen Fliegern. Nichts! Nur das Meer rauschte. Allmählich verstummte drüben auch der Lärm der Straßen, die Fahrzeuge bogen wohl rechts und links ab und gingen zur Ruhe über. Scharf gegen den Himmel stand der hohe Triumphbogen von Filine. Dort war der Flugplatz unserer Jäger, aber auch dort blieb es still. Gebückt traten wir wieder ins Zelt, tranken weiter und hörten den Abendhericht des Rundfunks. Viel hatten wir dazu nicht zu sagen. Wie es bei uns stand, wußten wir. Wir hörten nur mit halbem Ohr hin. Da dröhnten aus der Ferne die ersten Bombeneinschläge. Die Flak bellte die Antwort. Wir traten vor das Zelt. Der Platz der Jagdflieger beim Arco de Filine lag im grellen Licht der Leuchtschirme, die Leuchtspurmunition flammte gegen den Himmel mit ihren hellen Ketten. Dunkel ragten die Zelte mit ihren Maskierungen aus Strauchwerk zwischen den hellen Dünen auf. Uber dem Meer draußen hörten wir das Rumoren feindlicher, gegen Osten ziehender Flieger. Uns hier schenkte niemand ein paar Bomben, es lag wohl zuviel in den Dünen verstreut, als daß es dem Feind dafürgestanden wäre. Als wir wieder in das Zelt zurücktraten, ertönte uns aus dem Rundfunk das Violinkonzert von Beethoven entgegen. Wie ein dunkler Engel stand dieser Mann mit seinem Bogen mitten unter uns im Zelt, und es war, als quelle aus seiner Dunkelheit ein Licht, das ganz anders blendete als die Leuchtschirme der englischen Flieger.

Brehm / Das Eigene 9

Im Sommer 1919 hatte ich in einem schwedischen Hafen einige amerikanische Torpedoboote gesehen, die Matrosen waren ein häßliches Gemisch aus Gelben und Schwarzen, sie lärmten und waren betrunken, und der wachhabende Offizier mit dem roten Bart, der ihnen mit den Händen in den Hosentaschen untätig ZU- sah, nahm sich nicht anders aus als ein Sklavenhändler aus Onkel Toms Hütte. Ich hatte Fieber an diesem Tag, und bei diesem Anblick wurde mir ganz elend zumute; ich schämte mich, daß sich diese Leute als Sieger über uns fühlen und in dieser ruhigen Stadt betrunken lärmen und schreien durften. Abends ging ich in ein Konzert. Ich hörte nicht viel von Cesar Frank und von Sybelius, das alles ging an mir vorüber. Der Kopf schmerzte mich, ich wollte schon nach Hause gehen, da sah ich, daß zum Schlusse noch Haydns Kaiserquartett gespielt wer- den sollte. Wie oft hatte ich es schon gehört! Ja, ich hatte einmal als Gym- nasiast bei einem Schulfest meinem Feind das Cello eingefettet, damit er nicht spielen könne. Aber es kommt immer auf die Stunde an, in der du erreicht wirst. Wie tief es mich mitten ins Herz traf, vermag ich nicht zu sagen. Ich fühlte, was wir verloren, ich ahnte, was zugrunde gegangen war. Das uns heilige Lied wurde in seiner ganzen Weihe entfaltet, seine verborgenste Schönheit enthüllte sich, tauchte aus den Variationen auf, kehrte gewandelt wieder, die Hand hätte ich ausstrecken und rufen mögen: Ach bleibe, bleibe! Du tróstest mich, du machst mich glücklich, ich weine ja nur, weil ich weiß, wohin ich gehorel Und das wiederkehrende Lied gab zur Antwort: Diese betrunkenen grüngelben Matrosen auf den schmierigen Schiffen in dem Hafen draußen sind ja nicht wirklich, das sind Gespenster. Wirklich bin ich, geblieben bin ich. Die Kaiser sind nicht mehr, die Kronen sind nicht mehr, der Staat ist zerfallen, aber, hörst du mich an, dann weißt du, was ihn einst zusammengehalten hat und was nie untergehen kann, weil ich nicht von dieser Welt bin, und wenn du an mich glaubst, dann wirst du nicht verlassen sein.

Es war im griechischen Feldzug, am Abend vor dem Angriff auf die Thermo- pylen. Unter uns lag die vom Anhauch des frühen griechischen Sommers über- goldete Ebene. Im Osten schimmerte das hier zum erstenmal erblickte Meer auf, das aus dem tälerreichen Gebirgsland das weltoffene Griechenland macht. Aus der: Tiefe des Kessels klirrten die vormarschierenden Panzer herauf. Hoch oben, in der letzten Gasse der den Hang hinankletternden Stadt Lamia saßen wir auf einer Terrasse und sprachen darüber, ob es uns gelingen werde, die zurückgehenden Engländer doch noch zu stellen. Die Dämmerung kam rasch. Drüben, an der neuen über die südliche Wand des weiten Kessels führenden Paßstraße blitzten durch den Schleier der Dämmerung die Sprengungen der Eng- länder auf. Woher der junge Leutnant aus dem Rheinland (er ist zu Beginn des russischen Feldzuges gefallen) auf einmal die beiden Flaschen Johannisberger hatte, weiß ich nicht. Er habe sie für die Feier des Einmarsches in Athen mit- genommen, sagte er, als er den Rheinwein auf den Tisch stellte, aber nun, da wir das Meer zum erstenmal sahen, sei dies Grund genug, schon jetzt den Wein zu trinken.. Die griechischen Weine seien nicht das Richtige für uns, sie werden, um sie vor zu rascher Gärung zu schützen, geharzt, sie schmeckten dann so scharf, wie ja auch das dunkle Haar der Frauen zu scharf rieche. Der Leutnant schenkte behutsam die Gläser voll, wir hoben sie, blickten einander an und

tranken. Es geschah uns da etwas ganz Seltsames. Wir schmeckten nicht nur

den guten Wein auf der Zunge, uns wurde so leicht und so frei, der Wein löste etwas in uns, das uns flaumzart und unaussprechlich heiter und lieblich schien. Wir tranken das Blonde der Frauen und das duftige Gelock über einem zarten Kindernacken, wir tranken das lichte Laub der Buchenwälder und die Wolken-

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TO F a m ——

10 Brehm / Das Eigene

schatten über windbewegten Blumenwiesen, wir schmeckten Apfelblüten und : frische Nüsse, wir atmeten duftendes Heu und blühende Linden, wir tranken das heilige Vaterland selbst und lösten die Lippen von dem Glasrand wie aus einem Kuß.

Wir setzten die Gläser ab und umschlossen sie mit beiden Händen, als hätten wir eine zarte Flamme vor dem kalten Anhauch der Nacht zu schützen,

Jetzt auch kommet ein Wehn und regt die Wipfel des Hains auf, Siehl und das Ebenbild unserer Erde, der Mond,

Kommet nun auch, die Schwärmerische, die Nacht kommt,

Voll mit Sternen und wohl wenig bekümmert um uns

Glänzt die Erstaunende dort, die Fremdlingin unter den Menschen Über Gebirgeshöhn traurig und prächtig herauf.

Dumpf halite von der Südwand des Kelles eine Sprengung herüber. Von der alten Thermopylenstraße zwischen dem dunklen Gebirge und dem mond- schimmernden Meer fingerte bleich ein kleiner Scheinwerfer unsere Vormarsch- straße ab. Fledermäuse schwirrten an uns so vorbei, wie am Tage die Schwalben vorübergeflitzt waren.

Ich mußte des großen, dicht an der mazedonischen Grenze gefallenen Kana- diers gedenken, der vom Staube der zerfahrenen Straße gelblich gepudert, mit schönem Marmorgesicht und weitgeöffneten lichten Augen wie der geschleifte Hektor dagelegen war, während klein, dunkel und flink, gebückt unter den schweren Säcken, ängstlich nach allen Seiten spähend, die plündernden Griechen die Beute aus dem verlassenen englischen Lager geschleppt hatten. Im Vorbei- fahren hatte ich das mit einem Blick übersehen, schmerzlich war mir der Krieg zwischen den feindlichen Brüdern bewußt geworden, ein freundlicher Blick hatte den Toten gegrüßt.

Im Frühling war's, im Garten von Sievering: die Wiesen waren noch fahl, die Knospen standen schon prall, die Trauerweide neben dem Tor war so hell, als träufle das Licht des werdenden Jahres durch ihre hängenden Zweige. Die Veilchen, dufteten, die Himmelsschlüsseln leuchteten auf. Beim Stutzen der Büsche hatte mich ein solcher Eifer gepackt, daß ich in der Pause zwischen zwei Sträuchern genau so mit der Schere klapperte und plapperte, wie ich dies als Kind bei meinem Haarschneider bestaunt hatte. Zog ich abends den Rock aus, dann roch der gute alte von den vielen Feuerchen, an denen ich das alte Laub verbrannt, genau so schön nach Rauch wie die Kleider aus der Bubenzeit, wenn wir verbotenerweise im Vorfrühling das dürre Gras an den Bahndämmen ver- brannt oder, wie wir sagten, wenn wir gezündelt und gebrandelt hatten.

Gegen Abend kam ein langer magerer Obergefreiter zu mir auf Besuch, er traf mich beim Feuerchenschüren neben dem im Winter umgestürzten Garten- zaun. Dem jungen Mann mochte mein Feuerchen zu klein, zu hinterlands- und friedensmäßig vorgekommen sein, er hob einige von den morschen Planken auf und legte sie behutsam über das kleine Feuerchen. Dann raufte er ein wenig dürres Gras aus, hockte sich zu mir und schob den Zunder unter die etwas feuchten Planken. „Zäune verheizen”, meinte er, selbstgefällig lächelnd, „das haben wir in Rußland gelernt.‘ Ich sah den hochaufgeschossenen jungen Mann von der Seite an und nickte: „Ja, das lernt man schnell, wenn es kalt wird. Die Russen verstehen es noch besser, ich glaube, die können fast den Schnee zum Brennen bringen." Der Obergefreite blies vorsichtig in die blüulich züngelnden kleinen Flammen: „Allmählich kommen wir auch dahinter."

Brehm / Das Elgene 11

Nun ist dieser Bub, den ich noch als kleinen Kerl gekannt habe, auch schon Soldat. Mir fielen die jungen Landser ein, die ich beim Quartiersuchen in den kleinen russischen Stadtchen in den dammerigen Zimmerchen mit den arm- seligen Zeitungspapiertapeten angetroffen. Sie waren dort schvveigend bei den verhürmten Frauen der „gewesenen Menschen” gesessen, während ihre Kame- raden mit den drallen Mädchen vor den Haustüren gescherzt hatten. Die blassen Frauen hatten nicht gesprochen und unsere jungen Burschen auch nicht. Die verhärmten Frauen hatten wohl an längst vergangene Zeiten gedacht und unsere Jungen mögen wohl für ein paar Stunden davon geträumt haben, daheim bei ihren Müttern zu sein. Ich hatte leise wieder die Tür geschlossen, wenn mich die Frauen erschrocken und die Landser hilflos angestarrt, beide wohl bangend, ich könnte durch eine Frage den so zart gesponnenen Traum zerreiBen.

Dieser junge Mann, der im Krieg seine Mutter verloren, hätte ganz gut auch bei einer fremden Frau in solch einem armseligen Zimmerchen sitzen können, und hätten ihn die weniger empfindsamen Kameraden gefragt, was er dort getan, dann hätte er gesagt, er habe Eier kaufen oder ein wenig Russisch lernen wollen. Wieder rupfte der lange Obergefreite ein Büschel Gras aus und schob es in die nun schon helleren Flammen. Er war kurz vor dem Falle Stalingrads verwundet und mit einem Flugzeug aus dem feurigen Kessel gebracht worden. Nun blickte er dem steil aufsteigenden weißen Rauch nach, und da er meinen Blick gespürt haben mochte, sagte er leise: „Den vielen toten Russen haben wir nie ins Gesicht geschaut.‘ Mit einem Stöckchen stocherte er in der Glut herum und machte den Flammen Luft. „Und später unseren toten Landsern auch nicht mehr.“

Ich stand auf und brach einen Föhrenzweig ab, dessen Nadeln ich zwischen den Fingern zerrieb. Matten wir im ersten russischen Herbst dicht neben der Rollbahn Smolensk—Moskau in den großen Wäldern gehalten, dann hatten die Fahrer rasch mit ein paar Föhrenzweigen das Auto gegen Fliegersicht getarnt. Ging dann der Vormarsch weiter und wurden die Maskierungen abgeworfen, dann zermalmten die Räder die frischen Zweige, die genau so herb dufteten wie die Nadeln, die ich zwischen meinen Fingern zerrieb. Durch den aufsteigenden Rauch des Feuerchens im Garten zu Sievering sah ich die endlosen Sandwege, die weit in das Land hinauswandernden Staubwolken, die verwahrlosten dichten Wälder, die dunklen moorigen Seen mit den weißen Wasserrosen und das lichte verfallene Schloß jenseits des Wassers, das im Abendlichte so neu erstand, als wäre es nie zerstört worden und seine Menschen und seine Zeit nicht verdorben und versunken.

„Den Arm kann ich schon wieder heben“, meinte der junge Mann, der vom Spital her noch ein wenig blaß und spitz war, „in der nächsten Woche rücke ich wieder zu meinem Bataillon ein.”

„Ja, die Kompanie, das Bataillon! Die Kameraden!‘ sagte ich. „In Afrika bin ich aus der Alamein-Stellung zurückgefahren, da sind an der schwarzen Straße ein langer Leutnant und ein kleiner Feldwebel gestanden, die haben mich ge- beten, sie mitzunehmen. Bis wohin ich sie mitnehmen solle, habe ich gefragt, und woher sie denn kommen? Bis zum nächsten Spital, hat der Leutnant geant- wortet, und sie kommen aus der Stellung. Sie beide hätten, habe ich darauf gesagt, schon längst in ein Spital gehört, denn dieser Leutnant und dieser Feld- webel sahen so heruntergekommen aus, daß sie ihre zu weit gewordenen Hosen, sollten ihnen diese nicht bis zu den Knien rutschen, vorne mit beiden Händen zusammenraffen und hochhalten mußten. Sie waren so blaß und so mager wie Gespenster, sie konnten kaum geradestehen, man sah ihnen die schwere Ruhr auf den ersten Blick an. Im Spital, hat darauf der Leutnant erwidert, seien sie

12 Brehm / Das Elgene

wohl schon gewesen, aber da haben sie von der Offensive Rommels gehört, und da seien sie heimlich ausgerückt, um auch mit dabei sein zu können. Aber nun habe sie ihr Bataillon wieder zurück ins Spital geschickt, und dahin möge ich sie mitnehmen. |

„Aus dieser Offensive ist wohl nichts geworden?" fragte der Obergefreite.

„Nichts geworden, mein Lieber."

„Und wir haben euch schon in Alexandrien gesehen.“

„Wir uns auch. Der Leutnant und der Feldwebel hätten sich in ihren zu weiten Hosen auch mitgeschleppt, denn die wollten auch dabei sein.”

„Und die Italiener?‘ i

„Ithaker sagen unsere Landser zu ihnen. Die Ithaker tun, was sie können.”

„Viel ist das wohl nicht?“

„Sie begreifen das Unerbittliche dieses Krieges nicht. Manche sind sehr tapfer, sie fahren mit ihren schlechten Panzern vor und lassen sich zusammenschieBen. Aber das sind dann Bravour-Arien. Die breite Masse des Volkes und der Sol- daten versteht gar nicht, worum es geht. Das ist kein Krieg auf ihre Art. Bei Homer schreien die Helden auf, klagen sie, jammern sie. Wenn wir oder wenn die Engländer über die zerstörten Städte klagen vvoliten, dann hieBe es auf , beiden Seiten: Was klagt ihr denn? Ihr versteht es wohl nicht, gelassen Schläge hinzunehmen. Das sind zvvei -VVelten, lieber Freund, die einander nie verstehen werden.”

„Die Russen klagen auch nicht”, sagte der Obergefreite.

„Nein, die klagen auch nicht. Die sterben stumm. Sie sind vielleicht noch weiter von der Welt des Mittelmeeres, von den schönen und von den sich so menschlich gebenden Menschen entfernt als wir. VVenn du die russisthen Dich- ter lesen vvirst, dann wirst du sehen, wie fremd ihnen diese Menschen des Südens sind, fast lächerlich kommen sie ihnen vor.”

„Und doch haben die Italiener eine heroische Kunst!”

„Das ist das römische Erbe, das dieser eine Mann erwecken will. Das andere ist große Oper mit Heldentenören. Die Kunst ist der Ausdruck dessen, wonach man sich sehnt. In ihren kühlen Kirchen schauen die lebhaften Italiener herum, fächern und lächeln und lassen sich gehen. Unsere Leute sitzen still und stumm in unseren von Leidenschaft und Unruhe erfüllten Kirchen. Was wir verschwei- gen, was wir nicht durch Gebärden oder durch Worte auszudrücken vermögen, verrät einzig und allein unsere Musik.”

„Du meinst also, daß die Kunst immer das Gegenteil von dem ausdrückt, was ein Volk selbst ist.”

„Nicht gerade das Gegenteil. Aber Kunst und Leben ergeben zusammen erst das, was ein Volk ist. Die langweiligen Engländer haben in ihren Romanen alle Heiterkeit und allen Witz, für die in ihrem Leben selbst kein Raum zu sein scheint.” :

Es war ganz dunkel geworden. Der Rauch hatte sich verzogen. Am Rande des Feuers rollte sich das verbrannte Gras weiß ein. Die Flammen standen steil und hell. Wir hielten unsere Hande über das Feuer, die Finger wurden rot wie glü- hendes Eisen. Ein paar unter das Laub geratene Kastanien krachten in der Glut.

„Sag einmal, mein Lieber, dichtest du vielleicht?‘ fragte ich meinen jungen Gast. Der Obergefreite machte sich wieder mit dem Feuer zu schaffen und schwieg.

Ich konnte nicht erkennen, ob Glut oder Blut seine Wangen róteten. Da er nicht

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Vor Panes s.d

: Brehm / Das Eigene : 13

antworten wollte, versprach ich ihm, niemandem etwas zu verraten, er kónne es mir ruhig eingestehen.

Er sah mich von der Seite an: ,, Hast du gedichtet, wie du so alt warst wie ich?"

„Und wie! Wild drauf los! Ganze dicke Hefte voll. Hymnen, Sonette, Lieder, was du nur willst. Und dazu jeden Tag fast an dic Braut ein Gedicht in einem Brief aus dem Feld."

„Und was waren das für Gedichte?"

„An den Abend, an den Morgen, an die Nacht, an den stillen Mittag, an die Stunde des Pan, an die Geliebte, an die Sterne, an den Mond, an den .See, an das Wasser, an dié Erde, an Gott und an die Welt."

,Gute Gedichte?" *

„Keine guten Gedichte, gutgemeinte vielleicht. Aber, wie gesagt, vor allem viele die Hauptsache aber, sie haben mich glücklich gemacht.“

„Und mich die meinen auch“, gestand der Obergefreite.

„Gute Gedichte?“ wollte ich nun wissen.

„Wenn du erlaubst, ich glaube, sie werden wie die deinen sein.“

„Dann ist alles gut. Das gehört sich so für einen deutschen jungen Mann in ernster Zeit. Aber was dichten heute Obergefreite in Rußland und auf Urlaub in der Heimat?"

Der Obergefreite lächelte: „Ich glaube, da hat sich wenig geändert: Wetter- meldungen, Beleuchtungsangaben, Windstärken, Tageszeitenfeststellungen, bota- nische Exkurse, astronomische Betrachtungen, seelische Standortsrapporte und Urlaubswünsche in gehobener Sprache.”

„Gut, mein Sohn. Aber du siehst daraus, wie recht ich hatte, wenn ich meinte, daß die Kunst aus der Sehnsucht erwächst. Im Kriege dichten wir vom Abend- frieden, und beim Abendfrieden rufen wir uns die Tage des Krieges zurück. Drum nütze jetzt die Zeit zum Lernen. So viel Zeit wie als Soldat im Feld wirst du später nie wieder haben."

„Zeit wohl, aber keine Lehrer.“

„Die Lehrer mußt du dir suchen. Wir hatten während des ersten großen Krieges genug Gelegenheit, etwas zu lernen. Und was man in diesen Tagen lernt, vergißt man nie mehr. Mir hat während der Gefangenschaft in einem russischen Spital ein preußischer Hauptmann die Arien aus den Mozart-Opern vorgepfiffen und ich habe später nie wieder so den Glanz und die Süßigkeit dieser Melodien ge- hört wie damals, als ich sie in mich hineingetrunken habe. Um uns herum ist so viel Kunst und Kultur gehäuft, daß wir das alles ganz selbstverständlich hin- nehmen, wir sind überfüttert. Aber in der Kargheit der Kriegstage sinkt das wenige, was wir in uns aufnehmen, viel tiefer in uns hinein, was wir da auf- nehmen, das bleibt. Dieser Krieg an der Zeitwende zerstört so viel, daß wir alles, was wir uns heute ansehen, so anschauen müssen, als sähen wir es zum aller- letzten Male."

„Ja, es geht viel zugrunde. Wir werden es nie mehr ersetzen können.“ „Wenn wir selbst nicht zugrunde gehen, werden wir Neues schaffen können.” „Aber das verlorene Alte können wir doch nie mehr erreichen."

„Aber wir werden immer ahnen können, wie es einmal gewesen ist. Wie du heute noch an einem erhaltenen Glasfenster eine ganze Kathedrale in ihrer kaum vorstellbaren Schönheit ertraumen kannst, so wird unseren Enkeln einmal unsere Musik helfen, zu ahnen, wie das Zerstörte gewesen ist. Wie einst die eingestürzten Gewölbe, die geborstenen Pfeiler, die verbrannten Altäre und die

14 , Brehm / Das Elgene

zerschmetterten Engel ausgesehen haben? Ach, sie alle hatte der gleiche Atem durchvveht, der Bach, Mozart, Haydn und Beethoven beseelt hat. Sie hat das gleiche Feuer verschlungen, das sich auf den Bildern des Hieronymus Bosch an- gekündigt, die gleichen Maschinen haben sie zerstört, die unsere frühe Kunst vorausgeahnt, die gleichen Dämonen haben sie vernichtet, die im steinernen Wald unsere Dome gefesselt und gebannt waren. Die im Guten so tiefe, milde und holde nordische Welt, die menschenferne, ist im Bösen hart und erbarmungs- los. Aber das, was in allen unseren Bildern an Unbegreiflichem noch da ist, es lebt in der Musik weiter, und dort kann es nicht getroffen und vernichtet wer- den, solange wir selbst noch leben. Und wenn du unsere Soldaten marschieren siehst, dann wirst du wissen, wie viele von diesen Geheimnissen noch in unserem Volke leben. Und da du bald wieder in ihren Reihen stehen wirst, weißt du ja auch, wofür du marschierst.“

Das Feuer war ausgegangen. Wir standen auf. Mein Obergefreiter reichte mir die Hand und ging. Ich sah ihm lange nach, denn ich sah ja nicht nur ihn allein fortgehen, sondern so viele mit ihm, die wir liebhaben und an denen unsere Herzen noch ganz anders hängen als an allen Schätzen unserer Kunst.

Wiedergeburt

Wenn die liebe Welt verfinkt,

well mein Herz am Born der Sehnſucht trinkt, wenn es dunkelt in der Schlucht und raufcht, weil mein Mund die Liebe mit der Tiefe taufcht, wenn ein goldner Funke auf dem Antlitz bebt, das fich träumend aus dem Leid erhebt,

wenn die weißen Blüten an dem Baum

zärtlich ſchwingen über meinem Traum,

wenn die Bienen ſummen und die Welt

felig wieder in mir Einzug hält,

dann, geliebte Mutter, war ich dein.

Froh geh’ ich durch dich ins Leben ein. i

Klage

Immer noch kenne ich nicht des mögenöen Meeres Geheimnis. Weiß nicht, warum es mich lockt, weiß nicht, warum es mir droht. Immer noch kenne ich nicht der Icheldenden Küfte Geheimnis. | Weiß nicht, warum fie mir Troft, trauervoll felber, gewährt. Immer noch kenne Ich nicht der grünenden Erde Geheimnis.

Weiß nicht, warum fie dem Tod, dem fie verfallen, entblüht.

Immer noch ift mir verfiegelt der vlelgeſtaltigen Tiere

ftumme Bedeutung. Es grüßt liebend und ſchaudernd mein Blut. Immer noch kenne Ich nicht der Nacht und der Sterne Geheimnis. Fremd ift mein eigener Blick mir, der ich Kinder gezeugt.

Immer noch kenne ich nicht der Nacht und der Sterne Geheimnis, das mich mit Frieden umgibt mitten in Kampf und Gefahr. | Ringe um mich ftürzt die Welt in taufend Trümmern zufammen. Immer noch kennt fie nicht der, den fie im Sturze begräbt.

15 Wind aus dem Often

FreuOloe wehen die Winde, das Antlitz fchmerzend, von welther.

Graue Ode umfegt hart unfer nacktes Geficht.

It es nicht felber ſchon ſtarr und geduldig und flach wie des großen

Landes Geficht, das den Sturm unwiſſend trägt, unbewegt? Stirnenverwandelnder Wind, du erfüllt uns die Höhlen der Augen,

und Die Träne entftürzt. Grauſamer wird unfer Blick. |

Wind weht durchs Haupt une und Wind durch des Herzens verödete Kammern. Staub find deine Völker, nur Staub. Und es verweht fie der Wind.

Afiens fteinerne Götter, Sie unzugänglichen, melfen,

thronen lächelnd und fremd hoch auf dem Dache der Welt.

Flug über dem Schwarzen Meer

Nichts Feftes mehr da unten und hier oben!

Mein Herz ift nun zum Mittelpunkt erhoben.

Des Meeres Kraft, Des filbern überfonnten,

umwogt es weit mit zarten Horizonten.

Von ihm aus führt ein jeder Weg ine Große.

In meiner Bruft erblüht die helle Rofe

der Winde, die um ihren Urfprung hreifen.

Aus grüner Flut hebt der gedankenleifen,

der weißen Möwen kühner Tanz die Schwingen.

Aus meinem Herzen will die Welt entipringen.

Schon hüllen feſtlich fich in vellchenblaue

Gemänder neue Götter, die Ich fchaue.

Dort, wo fie ſchillernd aus den Waffern fteigen,

ſteht eine Stadt am Meer in tiefem Schweigen.

Noch tft fie dacherlos und ſchwarz von Feuern,

die längft erlofchen. Doch den Dienſt erneuern

am ungefügen Altar fromme Hände.

Wie leuchten jung der Opferfeuer Brände!

Wie meht der Wind fo rein! Die Tropfen glänzen

an jedem Zweig. Gefdimüdit mit Blütenkränzen,

des Volkes Genien heilige Häufer fügen.

Die Frauen ftehn am Quell mit golönen Krügen.

Der Knaben Antlitz, fonnenhlar vollendet,

dem Werk der Weifen if es zugewendet,

da es von Spielen glüht und von Gelängen.

Und alle fpeift der Tifch, zu dem fie Drängen.

Von Brot und Wein gelabt im tiefften Grunde b

wird Dank und Preis Das Wort in ihrem Munde.

Schon hüllen feftlich fich in veilchenblaue

Gewänder neue Götter, die ich fchaue.

Hoch über Land und Meer mill ich fie loben.

Es ftrahlt mein Herz, zum Mittelpunkt erhoben! Gefr, Dr. Hans Gftettner

Heinrich Zillich: |

Anekdoten aus dem Krieg „Habt acht!“

Die Bücher melden, daß der große Krieg im Herbst des Jahres 1918 zu Ende war. In Wirklichkeit glomm er in düsteren Feuern an den zerfetzten Grenzen weiter, schlug auch in Flammen empor ünd fiel erst in Asche, nachdem mancher Mutter Sohn viele Monate später ins Gras gebissen hatte. Die Soldaten Osterreichs, die in die neuen Staaten im Osten heimkehrten, wußten ein Lied davon zu singen, denn der Sterz wollte nicht warm werden in ihrer Faust, und bald rief man sie auf zu den alten Regimentern, die nun neue Nummern trugen und auf neue Kriegsherren vereidigt, noch rasch, ehe es wirklich Frieden wurde, gegen einen .neuen Feind marschieren mußten, der aus lauter Frontkameraden bestand.

So fochten einstige Soldaten des Kaisers wider einander, die in ungarischen Heeren gegen solche in rumänischen, tschechischen und serbischen. Sie alle hatten vordem, gleichgültig wie ihre Muttersprache gewesen sein mochte, auf das deutsche Kommando „Habt acht!" in einem Glied die Absätze zusammengeschlagen; ihre Väter hatten es ebenso getan beim Ruf des alten Befehls, der schon zu jener Zeit erklang, als Prinz Eugen die Standarte des Reichs über dem Osten entfaltete. Nun übten die letzten kaiser- lichen Soldaten die gewohnten Gewehrgriffe auf ungewohnte Kommandos einer neuen Sprache, die ihre Muttersprache war oder auch nicht. Das gelang ihnen zwar, doch ihr Lerneifer blieb gering nach vier Jahren Sieg und Niederlage. Sie wären lieber daheim gesessen, hätten gepflügt, gesät und Kinder gezeugt. Aber man hatte sie nicht gefragt, als es 1914 ins Feld ging und sie jubelnd gehorchten, und man fragte sie auch jetzt nicht nach ihrem Willen. Sie stellten sich ins Glied, ließen sich führen, und manche schlichen in der Nacht davon, bis die Gendarmen sie wieder holten.

Eines Abends zog eine solche Kompanie in zerschlissenen Uniformen, deren Flecken aus den Schützengräben des Isonzo stammten, nach langem Marsch durch den kalten Regen des Jahres 1919 in ein Dörfchen ein, das die ebenso bekleideten Soldaten des Feindes schon verlassen hatten. Man stellte Vorposten aus, begann tüchtig abzukochen, denn Schafe und Schweine zeigten damals die merkwürdige Neigung, den Truppen in Massen nachzulaufen, und nachdem man in den vollen Bauch noch eine Feldflasche Wein gegossen hatte, denn auch Fässer rollten damals zahlreich den Soldaten nach, hängte man die Fußlappen zum Trocknen in die Zimmer einer leeren Schule auf, und dann lagen dıe Männer bald auf dem Ohr. Die drei Offiziere, die miteinander deutsch sprachen, weil sıe es früher getan hatten und weil ihr Mutterlaut nicht der gleiche war, suchten ihr Quartier in einem Bauernhaus, wo sie am Herd zusammenrückten und gähnend und schläfrig Erinnerungen aus dem großen Krieg austauschten.

Einer sagte, die Vorstellungen des Volkes vom kleinen Krieg, den sie nun erlebten, seien manchmal verwunderlich; da habe ihn ein alter Bauer gefragt, gegen wen der Kaiser aufmarschiere, und sei ohne Begreifen dafür gewesen, als er zur Antwort erhielt, seine Volksbrüder hätten ihn, den Bauer, befreit und der Kaiser könne nicht eine Rotte mehr in Bewegung setzen; so so, habe der Bauer erwidert, dergleichen höre man, aber der Herr Leutnant möge ihn ernsthaft belehren, gegen wen der Kaiser Krieg führe.

Zu dieser Erzählung schüttelte der andere Leutnant, der wie der Bauer zum Volk gehörte, in dessen Heer sie alle standen, unwillig den Kopf und meinte: in Osterreich- Ungarn sei das Selbstbewußtsein manches armen Teufels verdorrt, wogegen der erste Leutnant, ein Deutscher, einwandte, und seine erschöpften Züge belebten sich etwas: der Bauer habe im Kaiser wohl noch die alte reichhafte Ordnung gesehen, die alle Völker im Osten vereinige.

Na ia, winkte der Oberleutnant ab, solche Zeiten seien endgültig vorbei.

Sie schwiegen ein Weilchen versonnen, tranken und rauchten, dann sprachen sie vom Vormarsch, der morgen weitergehen werde, allerdings mangele es an geeigneten Wegskizzen. Ach was, tréstete der Oberleutnant, er marschiere halt bis an den Rand seiner Kartel

Mit diesem Witz erhob er sich, streckte die Arme und rief nach dem Bufschen im Vorraum, sich die Stiefel ausziehen zu lassen, doch der kam nicht, auch die Burschen der anderen waren verschwunden. Als der jüngste Leutnant die Haustür öffnete, um ins Freie binauszurufen, prallte er an einen der gesuchten Soldaten, der lallend zwei Stall- eimer voll Wein uber die Schwelle hob, sie abstellte und sich den SchweiB wischte.

Zillich / Anekdoten aus dem Krieg 17

Dabei begann der Kerl albern zu lachen und verriet auf die scharfen Zurecht- weisungen der Offiziere, daß die Kompanie sich samt und sonders auf die Strümpfe gemacht habe, um den Keller eines reichen Handlers zu leeren, und da sollten die Herren Offiziere doch nicht zu kurz kommen.

Verdammt, nach dem saumäßigen Marsch, nach dem fetten Essen sind die Kerle noch zu einer solchen Schandtat bereit! fluchte der Oberleutnant in zornigem Erstaunen und rannte in den Regen hinaus der Schule zu.

Als er mit seinen Kameraden dort eintraf, fand er die Angaben des Burschen be- stätigt, und was er noch nicht wußte, erfuhr er von den grölenden, völlig betrunkenen Soldaten, die bereitwillig erzählten, daß sie alle schon geschlafen hätten, als einer von ihnen, der Bolschewik, wie sie ihn nannten, weil er in Rußland in Gefangenschait gewesen war. heimlich, damit es die Unteroffiziere, deren Quartier im oberen Stock lag, nicht merkten, den einen weckte, dann den nächsten, und ihnen verriet, in der Nähe wohne ein reicher Schaf- und Weinhändler, ein Jude; und einer nach dem anderen zog leise davon, auch der Unteroffizier vom Tag kam mit, und bald kehrten sie zurück voll des Weine und brachten Schafe, die sie abstachen, ohne sie zu braten, denn ihre Bäuche waren vom Abendessen noch dick, ach, es sei eine verdammt feine Sache gewesen.

VVogend und jubelnd umringten sie die Offiziere, boten ihnen Wein an und mühten sich nur wenig. Haltung anzunehmen, als sie, statt Freude zu ernten, in einer Weise angebrüllt wurden, daß ihnen sonst Hören und Sehen vergangen wären.

Aber sie waren außer Rand und Band, hatten schon vorhin die Befehle der Unter- offiziere mißachtet, die den Unfug zu spät entdeckt, und ließen sich jetzt nur mit Mühe in den großen Schulraum bringen, wo der Oberleutnant, bleich vor Empörung, erklärte, er werde dem Rädelsführer fünfundzwanzig aufzählen lassen.

Als hätte dieser darauf gewartet, trat er in die Stube und schrie, im Keller stehe der ausgeflossene Wein so hoch, daß man darin schwimmen könne, doch jählings ver- stummte er verdutzt, von festen Unteroffiziersfäusten gepackt, deren er sich gleich darauf zu erwehren versuchte, wobei er mit verzerrtem Mund die stillgewordene Menge auf- hetzte, den Offizieren den Schädel einzuschlagen. Die Betrunkenen, davon in rasende Wut versetzt, schoben sich tobend heran; es schien, als müßten die Leutnants beim nächsten Atemzug von der Ubermacht vernichtet und zertreten werden.

Einer der Bedrohten riß die Pistole heraus, die hier nichts mehr retten konnte, der zweite taumelte fassungslos an dıe Wand; da aber, während ihm schon hundert Hände nach der Brust faßten, rief der Oberleutnant ein einziges Wort in den Raum, ein Wort, das diese ehrlichen Soldaten, die nur von der endlosen Dauer des Krieges verwirrt waren, immer willig befolgt und jahrelang gehört hatten, nun aber seit Monaten nicht mehr, das deutsche Befehlswort: „Habt acht!“

Und das alte Kommando, so selbstverständlich gerufen wie jemals in den Jahr- hunderten kaıserlicher Ostherrschaft, es bannte die Sinnlosen auf den Fleck. Die Waffen, bereits von der Wand gerissen, sanken, die Unteroffiziere sprangen vor und standen als Schutzwall vor den Leutnants, und schon ertönte der zweite Befehl: „Im Hof ohne Gewehr antreten!”

Rascher als je vergatterte sich die Kompanie draußen. Der Regen fiel. Es war dunkel und kalt. Und alle wußten, was nun folgen mußte nach dem Soldatengesetz.

„Nieder!“ brüllte der Oberleutnant, und die Kompanie warf sich in den aufgeweichten Boden.

„Aufl“ und sie stand.

In harter Eintönigkeit ließ der Offizier, die Beine breit und die Fäuste in die Hüften gestemmt, seine Leute sich hinlegen und aufspringen, bis sie den letzten Rest des Rausches aus den keuchenden Lungen gestoßen hatten.

Erst nach geraumer Zeit merkte er, daß er deutsch kommandierte. Ohne mit der Wimper zu zucken, fiel er in die Befehlssprache des Heeres, dem sie zuletz: zuge- schworen hatten.

Der wegbefohlene Hunger

Im August 1917 brannte im Bisortetal die Drahtseilbahnstation samt den Verpflegs- lagern einer Gebirgsbrigade ab, wodurch bei den hoch auf dem Monte Pasubio liegenden

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Zillich / Anekdoten aus dem Krieg 19

Kompanien Schmalhans für einige Zeit Küchenmeister wurde Nun mögen kampf- erprobte Soldaten, vrie es diese waren, die zu den besten Osterreichs gehörten, in allen Lagen die Stirne gegen den VVind recken, vvenn ihnen aber der Fastenspeichel in die Zühne Iauft und der Magen knurrt, knurren sie mit dem Mund. Doch ehe dies geschieht, wird ihr Offizier Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um die EBschalen zu füllen.

Ein Oberleutnant, der dafür bekannt war, daß er vor Untergebenen und Höheren die Ohren steif hielt, rief von der Gratstellung täglich mehrmals beim Regimentsstab an und erklärte, seine Kompanie fräße schon Fliegen und Läuse und sei imstande, alles kurz und klein zu schlagen, wenn sie nicht die vorgeschriebene Menge an Brot und Fleisch empfinge und was ihr sonst zustehe.

Sein Eifer half ihm wenig, und als er schließlich einsah, daß er noch vier oder fünf Tage lang mit Mahn und Maus weiterhungern müsse, bemühte er sich, den Soldaten, die sich bei ihm über die mangelhafte Verpflegung beschwerten, die Gründe der Not darzulegen. Doch gab es einige, die sich nicht überzeugen lassen wollten und heimlich gegen ihn hetzten. Da entschied er sich, die Unzufriedenheit einfach wegzubefehlen.

Er ließ die Kompanıe hinter dem Grat, auf dem die Schützengräben verliefen, antreten, und zwar in Reih und Glied, Zug hinter Zug wie auf dem Kasernenhof, Gewehr geschultert, als ginge es zum Exerzieren. Aber die hier auf dem steilen Hang warteten, blickten besorgt um sich und glaubten, der Offizier habe den Verstand verloren, denn fiele es jetzt den Italienern ein, eine einzige Wurfmine herüber- zuschicken, was sie täglich taten, und gerade auf diese kahle Lehne, so müsse die ganze Kompanie in die Luft sausen.

Doch das scherte den Oberleutnant nicht. Er prüfte sorgsam die Richtung jedes Zuges, ging langsam von Mann zu Mann, musterte alle, rückte hier an einer Patronen- tasche, dort an einem schlechtgerollten Mantel, nahm ein Gewehr in die Hand und blickte durch den Lauf, ob er sauber sei, schimpfte, weil ein Soldat die Bergstiefel nicht geputzt hatte, und benahm sich wie ein Feldwebel, der vor einer Parade die letzten Stäubchen von den Uniformen wegpustet.

Nach einer halben Stunde erst, während es den meisten eisig ums Herz wurde und alle immer häufiger in die Luft blinzelten, ob dort das scheuBliche Heulen nicht nahte, ließ er stillstehen und verlas den Kompaniebefehl von einem Blatt, genau so, wie es im Hinterland geschah, und der hatte folgenden Wortlaut: „Ich befehle, daß die Kompanie von heute ab keinen Hunger mehr hat”, kommandierte dann ,Abtreten!" und blieb mit den Offizieren ein weiteres halbes Stündchen rauchend und in heiterem Gespräch auf dem gefährlichen Platz.

Fortan beschwerte sich niemand über die dürftige Nahrung und jeder wartete geduldig, bis der Zuschub wieder in Gang kam.

Der Riß im Rock

Während des Alpenkriegs vertrieben sich manche Offiziere die Langeweile in den einsamen Stützpunkten mit den tollsten Späßen und Einfällen. Einer dieser jungen Männer, ein Oberleutnant bei den Jägern, verblüffte die Kameraden häufig durch die Kunst, das preußische Stakkato nachzuahmen, wie er es nannte, also jene abgehackte Redeweise, die von den Witzblattern damals den Offizieren gern angedichtet wurde.

Eines Abends kam er zum Regimentsstab, der gerade beim Essen saß, grüßte den Oberst, setzte sich und erhielt sogleich aufgetischt. Da entdeckte ein Leutnant an seinem Rock einen Riß und deutete darauf.

„Tatsächlich Riß!“ antwortete der Oberleutnant und fuhr fort: „Besichtigte näm- lich, meine Herren, vor einer Stunde Stützpunkt 6. Gehe ans Drahtverhau. Bemerke, Posten gegenüberliegender italienischer Feldwache legt auf mich an. Sehe Mündung seines Gewehrs als Ring. Kopfschuß demnach unvermeidlich. Schicke mich drein. Sache von einer halben Sekunde gewesen. Da, als ich schon die Kugel in der Stirn zu fühlen glaube, plötzlich Blindgänger einer Gebirgshaubitze, auf mich abgefeuert, rast nieder. Blindgänger und Kugel in der Luft zusammengeprallt. Ich folgerichtigerweise unverletzt geblieben. In leichtem Schreck ins Drahtverhau gefallen. Daher RiB!"

Wandte sich um, während alle nach Atem schnappten, zog den Rock aus und rief: „Ordonnanz, náhen!", warf ihn dem Soldaten zu und ruhig weiter.

20 Zillich / Anekdoten aus dem Krieg

Dieser Oberleutnant wurde etliche Tage später mit einem Schuß durch die Brust ohnmächtig vom Stützpunkt 6 herabgebracht. Als die Bahre beim Hilfsplatz des Regi- mentsstabs eıntraf, liefen dessen Offizfere heran, fragten die Träger nach den Um- ständen der Verletzung und bedauerten den Kameraden.

Da öffnete er die Augen, betrachtete sie schweratmend der Reihe nach, und wie er schließlich auf seinem Oberleib ausgebreitet den blutigen Rock entdeckte, darin er verwundet worden war, hob er ihn mühsam in die Höhe, sah die Einschußöffnung und sagte trocken: „Tatsächlich Riß!“

Dann fuhr er fort: „Diesmal fehlte Blindgänger. Brustschuß unvermeidlich‘, warf den Rock zur Seite und róchelte: „Ordonnanz. nähen!"

Während die Kameraden zwischen Lachen und Befremden noch schwankten, flüsterte er: „Schicke mich drein —.” Hierauf schloß er die Augen und verschied.

Die Zielscheibe

Der Fähnrich Heinrich F., der mit seinem Regiment zu Beginn des Weltkrieges ins erste Gefecht kam, merkte dabei, daß die noch unerfahrene Mannschaft unter dem serbischen Feuer ihre Ruhe verlor und zu hastig und ohne zu zielen schoß.

Sofort erhob er sich und stand aufgereckt zwischen den Schützen wie auf dem Exerzierplatz, als übte er dort die Schwarmlinie ein. Wie er es hundertmal im Frieden getan, rief er auch hier die Soldateg mit Namen an, befahl, den Gegner ordentlich aufs Korn zu nehmen, langsam abzudrücken und das Gewehr nicht zu verreißen, und gab ihnen mit solchen altgewohnten Worten Mut und Zuversicht zurück.

Ihr nun treffsicheres Schießen leitete er auch weiterhin aufrecht und schien lange Zeit gefeit zu sein gegen die serbischen Kugeln, bis ihn endlich doch eine niederwarf. Da rief er, im Sturze noch die Kämpfenden aufpeitschend und dem Sieg verschworen: „Seht ihrs, wie lange die da drüben brauchen, um einen Mann zu treffen, der wie eine Ziel- scheibe steht!“

VVinterfonnenmenöe Von Martin Rafdihe - gefallen im Often 1943

Steht / Pferde / fteht! Der Jahrkrets Ift geendet / des Nordlands Völker fenhen tief ihr Haupt voll Hoffnung / daß die Zeit fich endlich wendet / Oie fie der Sonne Blick fo lang beraubt.

Der Alpen Kämme fchon / die holde Ferne / das Band der Flüffe - Pferde / greift nur aus! Nah {ft die Weltenzeit / wo Sommerfterne erhellen froh der Erde grünes Haus.

In Els und Schnee begraben alle Zonen /

gefroren blickt der blaue See heraut. Du / fhdnes Land / in dem dle Deutfchen wohnen / mach wieder deine blauen Augen auf!

Eilt / Sonnenpferde / eilt! Die goldnen Lanzen wert’ Ich mit Macht durchs dunſtende Gezelt. Die Nebelfahnen flattern / doch wir pflanzen des Lichtes Zeichen in die Winterwelt.

Mirko Jelusich :

Der Mann der Geschichte’)

Es gibt wohl kaum eine Zeit, in der sich der Wellenschlag der Geschichte zu so unerahnt riesenhaften Wogen auftürmte wie in der unsern. Wir erleben die sich über die ganze Erde erstreckende Entladung einer Krise, die, wo nicht schon mit der Reformation, so doch gewiß mit der Aufklärung des 18. Jahr- hunderts begann und, während des ganzen 19. Jahrhunderts latent fortgesetzt, sich mit jeder falschen wirtschaftlichen Auswertung jeder neuen Erfindung, mit jeder Verschlechterung der Lebensbedingungen der breiten Masse verschärfte. Denn darüber ist sich wohl niemand, der die Stürme dieser Zeit denkend mit- erlebt, im Zweifel, daß das Grundproblem des gegenwärtig tobenden Kampfes ein soziales ist: unter furchtbaren Geburtswehen ringt sich ein Neues ans Tages- licht, bestimmt, sowohl das schlechte Uberalterte des Kapitalismus wie die trügerische Scheinlösung des Marxismus zu überwinden. Mag es bei den ver- schiedenen Völkern, bei denen es fast gleichzeitig seinen Herrschaftsanspruch siegreich anmeldete, verschiedene Namen und zum Teil selbst verschiedene Formen haben immer ist es auf einen und denselben Kern zurückzuführen: auf die soziale und nationale Revolution, die endlich darangeht, den Wurzeln des unter der Scheinordnung der Zivilisation fortwuchernden Chaos zuleibe zu rücken und es durch eine wahre, durch eine naturgemäße Ordnung zu ersetzen.

Wenn man sagt, die von unserer Generation zu lösende Aufgabe sei ein soziales Problem, so könnte dies den Anschein einer Hinneigung zur mecha- nistischen Geschichtsauffassung erwecken, die alles Weltgeschehen auf mate- rielle Notstände zurückführen und daraus alle wirtschaftliche, politische und schließlich kulturelle Entwicklung ableiten will. Diese Auffassung, würdig der Zeit, in der sie entstand, des mechanisierten Maschinenzeitalters, der Anbetung von Kraft und Stoff ohne den Geist, der beide beherrscht, ist heute überwunden. Die Taten der Geschichte und alles, was die Menschheit weiter und höher führte, gingen nicht von einer amorphen Masse aus, die stets nur zu geneigt war, ih den Sumpf ihrer Trägheit immer tiefer zu versinken, sondern von den einzelnen, in denen sich kristallisierte, was in den Vielen als dumpfe, hilflose Sehnsucht vegetierte. „Männer machen die Geschichte!” Dieses Wort Treitschkes, blitz- artig alle Dunkelheit erhellend, löst alle Zweifel und stellt das Problem in aller Klarheit vor uns hin. Daß sie freilich nicht Rufer in der Wüste bleiben dürfen, daß die Masse ihnen folgen muß, ist selbstverständlich; aber und darauf kommt es an sie sind es, die den Weckruf ausstoßen, ohne ihre Stimme bliebe die Welt stumm, ohne ihren Antrieb die Welt tot.

So werden wir den sichersten Maßstab der Kräfte, die unsere Zeit bewegen, erhalten, wenn wir den Mann der Geschichte, das geschichtliche Genie be- trachten, ihn in seiner Wesenheit erforschen, aus den vielen Einzelschicksalen, die das Weltgeschehen im Lauf von Jahrtausenden uns bietet, das allgemein Gültige ableiten, gleichsam die chemische Formel, auf die seine einzigartige Erscheinung zu bringen ist. Dabei wollen wir uns dessen bewußt bleiben, daß die Abstraktion nicht zu weit gehen darf, daß diese Formel nur für einen Teil seines Wesens bestimmt bleibt: denn jeder Mann der Geschichte unterscheidet sich von allen anderen Artgenossen zutiefst, da gerade er eine besonders aus- geprägte Persönlichkeit darstellt; wir wollen indessen zugleich nicht vergessen, daß ihnen allen, Eroberern und Erneuerern, dennoch etwas gemeinsam ist: eine Urkraft, die geheimnisvoll aus den Tiefen ihres Genius aufsteigt und die Welt aus den Angeln hebt, in denen sie schlecht saß.

Zwei Eigenschaften sind es vor allem, die den Mann der Geschichte in seiner höchsten Steigerung kennzeichnen. Vor allem seine Fähigkeit, ja, sein seelischer

*) Vortrag, gehalten im Rahmen des „Wiener Dichterkreises" im Rathaus zu Wien.

22 Jelusich / Der Mann der Geschichte

Zvvang, sachlich zu sein. Kleinere Naturen, mag das Weltenschicksal sie auf noch so exponierte Posten gestellt haben, vverden die ihnen gestellten Aufgaben persönlich betrachten und daher auch persönlich zu lösen suchen. Daraus ergibt sich notvvendig, daB die von ihnen unternommenen Lösungen, wenn sie über- haupt gelingen, zeitbedingt sind und mit ihrem Erlöschen ebenfalls vergehen. Sachliche Lösungen hingegen gehen, wie schon der Name sagt, von der Sache aus: von der Natur der Dinge. Sie bleiben daher auch natürlich und infolge- dessen dauernd, zumindest solange die Natur der Dinge sich nicht ändert. Denn Sachlichkeit ist Wille zur Ordnung, zu einer artgemäßen, dem zu Ordnenden entsprechenden Einfügung und Verflechtung. So können wir also den Mann der Geschichte als einen Mann der natürlichen Ordnung bezeichnen, als einen im höchsten Sinne des Wortes kosmischen Menschen.

Ebenso wichtig wie diese erste Eigenschaft, das Vermögen einer richtigen Erkenntnis der Weltgesetze, ist auch die zweite: der Wille, ihnen Geltung zu verschaffen. Denn es genügt nicht, das Richtige zu wissen, man muß es auch durchzusetzen verstehen, über alle Widerstände hinweg, die sich ihm entgegen- stellen. Das Beispiel des großen Nationalökonomen List beweist die Richtigkeit dieses Satzes. In seinen Erkenntnissen war List seiner Zeit, ja, seinem Jahr- hundert weit voraus. Aber trotz unablässiger Bemühungen, die schließlich seine Lebenskraft aufzehrten, gelang es ihm nicht, sich durchzusetzen. Bemühungen die Weisheit der Sprache sagt es klar heraus: er mühte sich; aber er war nicht stark genug, diese Mühe fruchtbar zu gestalten. Der Mann der Geschichte aber hat diese Stärke und benutzt sie voll natürlicher Weisheit, bald treibend, bald zurückhaltend, um die platonische Idee seiner Erkenntnis in die Wirklichkeit der Tatsachen umzusetzen.

Damit haben wir die beiden großen Antriebe kennengelernt, die im geschicht- lichen Genie wirksam sind: die Erkenntniskraft, die über bloße Meinung hinaus, bei der nur zu oft der Wunsch der Vater des Gedankens ist, zum Eigentlichen vorstößt, zum Wesen der Dinge und dadurch zu den Möglichkeiten, die in ihnen liegen; und die Willenskraft, diese Möglichkeiten zu gebrauchen und zu Ge- gebenheiten zu gestalten. Der Mann der Geschichte sieht nicht, was zu sehen er wünschte, er sieht, was ist, mag es ihm lieb oder leid sein, und wird daher die Gefahr vermeiden, unter dem Einfluß von Illusionen zu handeln und so not- wendig zu verhängnisvollen Fehlleistungen zu gelangen. Darum wird er auch nie ratlos sein, vielmehr in jedem Augenblick seiner Wirksamkeit, mag seine Umgebung auch vergeblich nach einem Ausweg suchen, wissen, was er zu tun hat. Er wird in sich hineinhorchen und je nach seiner Natur, von der noch zu sprechen sein wird, entweder sich seine Erkenntnisse zu Bewußtsein bringen oder aber unbewußt der ihn leitenden Intuition folgen und wird zwar nicht einen „Ausweg“, aber den einzig richtigen Weg finden, der dann so selbstver- ständlich ist, daß jeder, der nicht weiß, daß höchste Einfachheit eben das Wesen des Genies ist, sich fragt, warum nicht auch er diesen , natürlichen" Weg ge- funden habe.

Zusammenfassend also begreifen wir als kennzeichnend für den Mann der Geschichte die Notwendigkeit einer Verbindung von Erkennen und Wollen. Erst diese Verbindung schafft die Tat, die schópferische Tat. Und so sehen wir denn in dieser das tiefste, ja, das eigentliche und wesentliche Merkmal des groBen Erneuerers, des geschichtlichen Genies. Damit gliedert sich unsere Untersuchung in die Beantwortung zweier Fragen: Wie gelangt der Mann der Geschichte zu seiner Tat? und: Worin besteht sie?

Wie bei allen schópferischen Menschen, z. B. auch bei Künstlern und es ist die Frage, ob der Mann der Geschichte diesen nicht zuzuzáhlen ist werden wir bei ihm zwei umfassende Typen zu unterscheiden haben: das intuitive Genie

Jelusich / Der Mann der Geschichte 23

und das Genie der Methode. Jenes das von Gott begnadete Sonntagskind, Fortunatus, der in die unerschöpflichen Schätze seines Innern greift und immer Neues daraus hervorholt; dieses der rastlose Arbeiter, der tiefschürfende, nie erlahmende Forscher, der die Schätze der Außenwelt sich zu Diensten zwingt und daraus seine riesenhaften Gebäude formt. Auf staatsmännischem Gebiete sehen wir die beiden Typen etwa durch Cäsar und Cromwell verkörpert, auf militärischem durch Napoleon und Moltke, auf philosophischem durch Leibniz und Kant.

Selbstverständlich muß gleich zu Beginn unserer Untersuchung betont werden daß diese beiden Typen keineswegs in sozusagen Reinkultur vorkommen, daß vielmehr das intuitive Genie ein reiches Maß an Methodik, das Genie der Methode ebenso ein reiches Maß an Intuition besitzen muß. Cäsars Genieblitze etwa, wie sie in den Schlachten seines reifen Mannesalters immer wieder auf- leuchten, wären umsonst gewesen ohne die jahrzehntelange zähe Erziehungs- arbeit an seinen Truppen: er mußte sich das Werkzeug erst schaffen, um un- gehemmt wirken zu können; andererseits bekennt sich das größte methodische Genie unter den Feldherren, Moltke, eindeutig zur vorherrschenden Bedeutung der Intuition, wenn er die Strategie ein System der Aushilfen nennt. Es gibt ein altes deutsches Sprichwort, das die Notwendigkeit einer Verbindung beider Arten in köstlich derber Weise ausspricht: „Was nützet ein göldener Kopf ohne ‚einen Hintern von Blei!“ Wobei wir allerdings, den Sinn dieses Wortes um- kehrend. feststellen müssen, daß Fleiß und Methodik ohne Intuition erst recht nutzlos sind.

Wir dürfen hier hinzufügen, daß gerade hier der Punkt ist, der den Mann der Geschichte aufs engste mit seinem Volk verbindet. Denn natürlich wird das intuitive Genie meist unter phantasiereicheren, das methodische unter phantasie- ärmeren Völkern zu finden sein. Hier also werden Abstammung und Blut- mischung eine bedeutsame Rolle spielen, keineswegs aber eine ausschlag- gebende. Denn das geschichtliche, wie das Genie überhaupt hat seine eigenen Gesetze, die sich mit den im allgemeinen gültigen durchaus nicht decken, und deren geheimnisvolles Wesen jeder Forschung zu spotten scheint. Alles, was hier an Forscherarbeit bisher geleistet wurde, gemahnt an die oft weitverzweig- ten Gänge der Borkenkäfer, die sich stets unter der Rinde halten und an keiner Stelle ins Innere des Baumes eindringen. So dürfen wir uns nicht wundern, wenn dem nüchternen Hannover ein vorwiegend intuitives Genie wie Scharn- horst, dem von Phantasie überquellenden Italien ein methodisches wie Cavour entsprang. Selbst innerhalb einer und derselben Familie können wir beide Typen finden, so im preußischen Königshaus, wo dem Methodiker Friedrich Wilhelm I. sein stark intuitive Züge tragender Sohn Friedrich II. gegenübersteht.

Die Tätigkeit des Mannes der Geschichte nun, mag er ein Genie der Intuition oder eines der Methode sein, setzt in dem Augenblick ein, wo er in der be- stehenden Ordnung einen Defekt entdeckt, dessen Behebung ihm lebenswichtig erscheint. Dieser Defekt wird gar nicht allgemein auffallen müssen, ja es ist ein Teil der Genialität des Mannes der Geschichte, ihn früher zu entdecken als andere, an unmerklichen Symptomen das schleichende Leiden zu erkennen, das die Existenz des Patienten Staat oder Nation bedroht, wenn das heilende Messer des Arztes es nicht rechtzeitig entfernt. Die Geschichte lehrt sogar, daß nicht rechtzeitig erkannte derartige Defekte selten den genialen Heiler finden: sie sind zu groß geworden, als daß ein einzelner noch einzugreifen vermöchte. Wir brauchen uns nur der größten sozialen Revolution des Mittelalters, der deutschen Bauernkriege, zu erinnern. Der Notstand war allgemein bekannt; so war es keineswegs nur dumpfes, versklavtes Bauernproletariat, was sich da erhoben hatte, sondern mit ihm bedeutende Städte mit einem kulturell hoch-

24 Jelusich / Der Mann der Geschichte

entvvickelten Bürgerstand und sogar ansehnliche Teile des Landadels. Aber weil zu viele Köpfe sich erhoben, fand sich der Kopf nicht, der über allen gestanden wäre, und so versandete diese gewaltige Revolution und ertrank schließlich in einem Meer von Blut und Tränen, ohne eine Lösung zu finden. Auch die Führer der Französischen Revolution von 1789 vermochten, obgleich es ihnen gelang, das Bestehende umzustürzen, die alte Ordnung durch keine neue, bessere zu ersetzen, zerfleischten sich vielmehr in einem inneren Kampf, der nach und nach ihre bedeutendsten Köpfe forderte. Erst als sie sich totgelaufen hatte, brachte das Auftreten Napoleons eine Neuordnung zustande allerdings eine wesent- lich andere, als jene sich es vorgestellt haben mögen.

Gehört dieses frühe Erkennen eines Schadens mehr der Methodik an ob- gleich auch hier das UnbewuBte eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt —, so ist das Heilmittel durchaus Sache der Intuition. Dem Mann der Geschichte tritt ein Ziel vors Auge, ein Blickpunkt, dem er zustrebt, zwangsläufig, wie im Banne einer überwertigen Idee. Und als solche ist dieses Ziel, wenigstens 80- weit es das Seelenleben dieses Menschen angeht, in gewissem Sinn auch anzu- sprechen. Wenn so ein Mann erst einmal alle Zweifel und Hemmungen über- wunden, alle Einwände, die ibm Gewohnheit, Besorgtheit, nüchterner Verstand, menschliche Schwäche in den Weg legen, beseitigt hat, dann kennt er nichts anderes mehr, unterwirft sein ganzes Sein diesem einen Gedanken. So wie der Schlag des trainierten Faustkämpfers von viel stärkerer Wucht ist als der eines gleichstarken, aber nicht geübten Mannes, so vermag auch der Wille eines solchen Menschen mehr als der jedes andern. Denn er ist auf einen Punkt konzentriert, weicht in nichts ab, erstrebt nichts anderes, als um jeden Preis, auch um den der eigenen Person, Schritt um Schritt seinem Ziele nahezukommen.

Dies erklärt auch den unbeugsamen Mut, der Menschen dieses Schlages be- seelt. Da in ihrer Seele alle anderen Empfindungen und Gedanken erloschen sind, hat auch die Furcht keinen Raum mehr darin. In schwärmerischer Selbst- steigerung mag sich ein solcher Mann als auserwähltes Werkzeug, als Gesandter Gottes fühlen, der berufen wurde, einen ihm gestellten höheren Auftrag auszu- führen, und der nichts mehr scheut, als dieser Berufung nicht zu genügen; der realer Denkende mag in der Lösung seiner Aufgabe die Erfüllung einer selbst- auferlegten, verantwortungsvollen Pflicht gegen eine Klasse, eine Nation, die ・Menschheit erblicken; der dritte endlich mag dem Antrieb einer unklar er- kannten Notwendigkeit folgen, ohne sich Rechenschaft abzulegen darüber, was noch freier Entschluß, was schon innerer Zwang ist. Sie alle aber gleichen ein- ander in einem: in der Unbeugsamkeit allen Versuchen gegenüber, sie von ihrem Ziele abzulenken, in der Verachtung von Drohung und Verfolgung, Not und Gefahr in der unbeirrbaren Zielstrebigkeit. Ob Luther vor dem Reichstag zu Worms sein „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!‘ ausruft oder Cäsar im See- sturm vor Dyrrhachium sein „Nie zurückl”, ob Friedrich II. vor der Schlacht bei Leuthen seinen Generalen zuruft: „Wir müssen den Feind schlagen oder uns alle vor seinen Batterien vergraben lassen!‘ oder Tegetthoff vor Lissa als letztes Signal setzt: „Den Feind anrennen und zum Sinken bringen!" immer ist es derselbe Geist unerschütterlicher Folgerichtigkeit, immer dieselbe verzehrende Flamme, der jener, den sie erfaßte, alles zu opfern bereit ist, nur um sie lodernd zu erhalten auch sich selbst. Sie hat Träumer zu Tatmenschen, Zaghafte zu Helden gemacht, und ihrer aller Wahlspruch bleibt das ewige: „Et quid volo, nisi ut ardeat!" Und was will ich denn, als daß es brenne!

Die restlos sachliche Einstellung des Mannes der Geschichte ist auch der Grund dafür, daB es ihm seelisch und also überhaupt unmöglich ist, sich mit Teillósungen zu begnügen. Er empfindet ein ihm durch die Gewalt der Umstünde aufgenótigtes KompromiB als das árgste Unglück, das ihn treffen kann; er wird

Jelusich / Der Mann der Geschichte 25

einem solchen Kompromiß wofern er es nicht nur als taktisch notwendige Zwischenlösung betrachtet alles andere vorziehen, selbst ein völliges Schei- tern seiner Pläne. Denn er weiß auch, daß keine Idee, die einmal in die Welt gesetzt wurde, jemals anders überwunden werden kann, als durch eine bessere, höhere. So bleibt auch dem Gescheiterten der Trost, daß einmal ein Nachfolger kommen wird, der Rächer, der aus seinen Gebeinen entsteht und der sie zum Siege führt. Das Kompromiß aber Weisheit der Sprache auch im Fremdwort! kompromittiert die Idee, es verwässert und lähmt sie und macht sie unfähig, je wieder in voller Reinheit zu erstehen.

Darum ist Folgerichtigkeit eine seiner bedeutsamsten Eigenschaften. Er hat den Gedanken zu Ende gedacht, nun hat der Wille dem Gedanken zu folgen. Der Zauderer schrickt vor dem letzten Schritt zurück, dem Mann der Geschichte ist keiner der letzte. Er weiß, daß das Ideal in seiner höchsten Vollendung un- erreichbar ist, aber weit entfernt davon, sich durch diese Erkenntnis nieder- drücken zu lassen, empfindet er sie als einen Ansporn, sich diesem Unerreich- baren so weit wie möglich zu nähern. Er strebt nach dem Unmöglichen, kennt aber die Grenzen des Möglichen, so vollendet, daß er bis an sie zu gelangen trachtet, der inneren Stimme gewiß, die ihn warnen wird, sie zu überschreiten.

So ist, wenn er erfolgreich sein soll, das Empfinden des Maßes ungemein wichtig für ihn. Daß er dieses Empfinden, das er ursprünglich in hohem Grade besaß, später verlor, war Napoleons Tragödie, so wie es die des Pompeius war, daß er das Maß zu klein nahm und im entscheidenden Augenblick den letzten, notwendigen Entschluß nicht zu fassen vermochte. Mit nachtwandlerischer Sicherheit geht der Mann der Geschichte seinen Weg, wissend, daß er unüber- windlich ist, solange er sich im Einklang mit der Natur der Dinge befindet.

Damit ist freilich nicht gesagt, daß er blind auf sein Ziel zustürmen müsse, ohne der Hindernisse zu achten, die eine feindliche Umwelt und dem Er- neuerer wird die Umwelt immer feindlich sein um ihn türmen könnte. Er besitzt zwei Fähigkeiten, die denen des erfolgreichen Feldherrn ähneln: die Fähigkeit, Anhänger zu sammeln, zu organisieren und aufs engste mit seiner Idee und dadurch mit ihm, dem Repräsentanten dieser Idee, zu verbinden, und die, drohende Widerstände richtig zu berechnen. Daraus entwickelt sich aber bei aller Einheitlichkeit der einmal eingeschlagenen Linie die Begabung, taktisch zu kämpfen, scheinbare Umwege, ja Winkelzüge einzuschlagen, die berechnet sind, den Gegner zu täuschen oder an seiner schwächsten Stelle zu packen, untätig zu scheinen, bis es Zeit ist, zu handeln, ein Zwischenziel nach dem anderen zu verfolgen entwickelt sich endlich die Begabung, im großen wie im kleinen in der Entwicklung neuer Kräfte, Einfälle und Gedanken zu wachsen. So erklärt sich die seelische Steigerung, die wir bei allen wirklich großen Männern der Geschichte beobachten, so übrigens auch der auffallende Umstand, daß so viele von ihnen, ohne Soldaten von Beruf zu sein, hervorragende Heer- führer wurden. Der politische Kampf ist dem auf der Walstatt näher verwandt, als man gewöhnlich annimmt: auch er kennt Frontal- und Flankenangriff, Durch- bruch und Umfassung, Einkesselung und den Vernichtungssieg.

Aus dieser Geisteshaltung entspringt auch die bei allen geschichtlichen Genies, insbesondere bei allen Erneuerern, vorhandene Neigung, wenn es an der Zeit ist, wenn die Stunde der Entscheidung an sie herantritt, alles zu wagen, alles auf eine Karte zu setzen. Es ist in ihnen etwas, was sie den großen Glücks- spielern verwandt erscheinen läßt, und in der Tat waren einzelne von ihnen, wie Mazarin, Prinz Eugen, Rüdiger Starhemberg, Blücher, Radetzky, leiden- schaftliche Kartenspieler. Aber jene Verwandtschaft ist nur eine scheinbare. In Wahrheit unterscheiden sie sich vom Hasardeur grundlegend: dieser ist Fatalist; er nimmt das Los hin, das ihm beschert wurde, er wagt, fast gleichgültig gegen

26 | Jelusich / Der Mann der Geschichte

Sieg und Untergang, nur um der würgenden Spannung willen, die ihm das Wag- nis beschert. Männer der Geschichte hingegen sind nicht Schicksalsergebene, sie sind Schicksalsgläubige. Das hohe Spiel, das sie wagen, gilt nicht ihrer Person, deren privates Sein sie mehr oder weniger kalt läßt. Und vor allem, sie wagen nicht um irgendeiner Spannung, einer Lust am Kampfe willen, sondern um zu gewinnen, um der Idee, der sie dienen, zum Siege zu verhelfen. Darum werden sie auch und hier haben wir den Punkt, wo Intuition und Methode sich notwendig treffen und vereinigen müssen alles aufs gründlichste vor- bereiten, ehe sie den großen Schlag tun, werden in oft jahrzehntelanger emsiger, dem Auge des nicht eingeweihten Beobachters kaum oder überhaupt nicht erkennbarer Kleinarbeit alle Maßregeln treffen, die ihnen zu Gebote stehen, um des Sieges so sicher wie nur irgend möglich zu sein. Wenn aber jene große Stunde kommt, wenn die äußerste Entscheidung von ihnen gefordert wird, dann werfen sie sich mit voller Kraft in den Strudel, entschlossen, ihn als Ubervrinder zu verlassen oder überhaupt nicht.

So sehen wir im entscheidenden Augenblick meist auch einen Menschen vor uns, der von dem, als der er bisher erschien, ganzlich verschieden ist. In der Vorbereitung verschlossen, schweigsam, ja, wohl gar sich listig verstellend: Brutus der Ältere wälzte seine großen Pläne unter der Maske eines Idioten daher auch der Name , Cäsar hatte in Rom den denkbar schlechtesten Ruf eines skrupellosen Lebemannes und Schuldenmachers, Armin der Cherusker galt allgemein bei seinen Landsleuten als volksvergessener Römerfreund, Wilhelm von Oranien, der mit dem bezeichnenden Beinamen des „großen Schweigers" in die Geschichte eingegangen ist, war ängstlich bemüht, die Verbindung mit den Spaniern aufrechtzuerhalten, der junge Bonaparte kroch und antichambrierte in seiner schlechtsitzenden, schäbigen Uniform bei allen Tagesgrößen, ja, scheute sich nicht, deren abgelegte Mätressen zu übernehmen, nur um endlich das Kommando zu erreichen, in dem er seine Kraft entfalten könnte, Bismarck wandte allen seinen berühmten Charme zur Gewinnung von Freunden oder wenigstens Neutralen auf, um freie Bahn für seine gewaltigen, in diesem Stadium noch völlig verhohlenen Entwürfe zu schaffen; in der Ausführung jedoch offen bis zur Selbstentblößung, seine Ziele in alle Welt hinausschreiend, die eben noch sorgsam gepflegten Beziehungen mit einem Schlage abbrechend oder wenigstens völlig vernachlässigend. Man wird die beiden äußerlich so grundverschiedenen Erscheinungsformen einer und derselben Wesenheit am leichtesten überblicken, wenn man sich das Bild einer Granate vor Augen führt oder richtiger gesagt, die beiden Bilder: das des mattglänzenden, wuchtigen Zylinders, als der sie im Ruhezustand erscheint, und das der platzenden, aufbrüllenden, nach allen Rich- tungen ihre vernichtenden Kräfte schleudernden Feuerkugel.

Mit dieser Schicksalsgläubigkeit hängt auch die unzerstörbare Zähigkeit zu- sammen, die ein typisches Merkmal aller wirklich großen Männer der Geschichte ist. Die meisten von ihnen erlebten Rückschläge, die jeden anderen vernichtet hätten, sie hingegen nur noch stärker, umsichtiger, entschlossener machten. Cäsar, der catilinarischen Verschwörung nahestehend oder wenigstens mit ihr sympathisierend entging nur mit knapper Not der Gefahr, in den Prozeß gegen die Verschworenen verwickelt zu werden; die mohammedanische Zeitrechnung nimmt bekanntlich ihren Anfang von der Flucht des Propheten; das republika- nische Heer der englischen Revolution, in dem Cromwell als Rittmeister diente, erlitt zu Beginn des Krieges Niederlagen, die jeden weiteren Kampf aussichtslos erscheinen ließen. Das Reformwerk Scharnhorsts schien durch die Konvention zwischen Preußen und Frankreich, die das preußische Heer auf den Höchststand von 42000 Mann beschränkte, restlos vernichtet. Napoleon III. büßte seine ersten Versuche eines Staatsstreiches mit Festungshaft. Wir können es also als

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Jelusich / Der Mann der Geschichte 27

ein Hauptkennzeichen des Mannes der Geschichte ansehen, daß ihn Mißerfolge nicht entmutigen, daß er auch in ihnen sein Ziel keinen Augenblick lang aus den Augen verliert, nicht aufhört, ihm immer wieder zuzustreben, so lange, bis er erreicht hat, was nur irgend er erreichen konnte oder endgültig, das heißt sterbend, scheitert. |

Wir haben uns bisher mit den Eigenschaften befaßt, die so ziemlich allen großen Männern der Geschichte eigen sind; denn auch die Unterscheidung in

„intuitive und methodische Genies, von der wir ausgingen, ist nur bis zu einem

gewissen Grade richtig: wir haben selbst gesehen, wie die Grenzen sich immer wieder verwischen, ja, wie man oft nicht entscheiden kann, ob eine geschicht- liche Persönlichkeit dem ersten oder dem zweiten Typus zuzuzählen ist. Eine Unterscheidung aber gibt es, die, vom Körperlichen ausgehend, bedeutsame Rückschlüsse auf das Seelische zuläßt und tatsächlich starke Gegensätze zwischen den Männern der Geschichte zeigt. Es gibt allerdings auch hier Aus- nahmen sie sollen uns später noch beschäftigen —, im allgemeinen jedoch kann man sagen, daß die hier kenntlich werdenden Kontraste schroff ab- gegrenzt sind. |

Es ist vielleicht einigen von Ihnen die scherzhafte Unterscheidung der Männer in Schuster und Schneider ‘bekannt. Der Name spricht für sich. Der Schuster ist ein untersetzter, kräftiger Mensch, wuchtig der richtige, gerade Michel; der Schneider zartgliedrig, schlank, in Listen erfahren, und ihnen nicht abgeneigt. Man könnte auch eine Einteilung in Dragoner und Husaren treffen oder in Säbel- und Florettfechter oder sonst eine ähnliche, die aber stets auf dasselbe hinauslaufen würde. Diese scherzhafte Einteilung nun entspricht ziemlich genau einer gebräuch- lichen wissenschaftlichen, nur daß diese beim Schuster noch eine Unterteilung kennt. Sie unterscheidet nämlich die Menschen in einen athletischen, einen pyk- nischen und einen leptosomen Typus. Was der athletische Typus ist, werden wir gleichfalls ohne weiteres verstehen; ihm entfernt verwandt ist der pyknische Typus. vom griechischen „pyknos“, dicht, dick also jener der dickleibigen, geistig trägen Menschen; den Gegensatz bildet der leptosome Typus griechisch ~ „leptos“, zart und ,,soma”, Leib —, also der zartleibige, schlanke Typus. Es ist nun eine bemerkenswerte Tatsache, daß die Männer der Geschichte dem athletischen und dem leptosomen Typus ungefähr zu gleichen Teilen angehören, während der pyknische, also der dickleibige, aus begreiflichen Gründen nahezu völlig ausfällt. Unter 44 von mir durchgesehenen Bildnissen großer Herrscher, Feldherren, Staatsmänner und sonstiger Menschen, die in der Geschichte eine Rolle spielten, waren 20, also ungefähr die Hälfte, als dem athletischen Typus zugehörig anzu- sprechen, darunter Männer wie Scipio Africanus maior, Konstantin der Große, Karl der Große, Luther, Gustav Adolf, Cromwell, Peter der Große, Napoleon, der Freiherr vom Stein und Bismarck. Leptosome waren unter anderen Demosthenes, Alexander der Große, Cäsar, Calvin, Richelieu, Prinz Eugen, Friedrich IL, Robespierre, Erzherzog Karl, Scharnhorst, Metternich, Moltke und Lincoln.

Beiden Typen ist ein vulkanisches Temperament zu eigen, aber bei jedem von ihnen tut es sich in verschiedener Weise kund. Beim athletischen Typus bewirkt jede Gelegenheit eine Eruption, während beim leptosomen diese Eruptionen ge- hemmt, um nicht zu sagen gelenkt sind. Es ist, als brenne bei diesen die Flamme verhohlener oder werde mit seelischen Subs:anzen gespeist, die beim Athleten nicht anzutreffen sind. Man braucht sich bloß Gegensätze vor Augen zu halten, wie Luther und Calvin, Gustav Adolf und Moltke, Bismarck und Lincoln. Die ersten leicht entflammt, ihren Standpunkt verfechtend, auf ihr Ziel losschreitend, die anderen dauernd in kalter Glut brennend, ihre Lage berechnend, ihr Ziel ver- folgend. Diese Verschiedenheit geht bis tief ins Menschliche hinein. Der athle- tische Mann ist sanguinisch-cholerisch, aufbrausend, dem Leben hingegeben, ein

28 Jelusich / Der Mann der Geschichte

groBer Zürner und Hasser, der leptosome cholerisch-melancholisch, beherrscht, das Leben überlegen genieBend oder aber der Askese zugeneigt, wie denn die großen Asexuellen ausnahmslos diesem Typus angehören; er zürnt und haßt nicht so unverhohlen wie der Athlet, aber er ist unversöhnlich. Ein typisches Beispiel dafür ist Friedrich II., der, nachdem er sein halbes Leben lang gegen Maria Theresia Kriege geführt hatte, bei ihrem Tode das große Wort fand: „Ich bin nie ihr Feind gewesen." Beachten Sie im Gegensatz dazu den glühenden Haß der zweifellos dem athletischen Typus angehöregden Maria Theresia, die ihren großen . Gegner nie anders als „das Monstrum” nannte. Derselbe Friedrich II. aber ver- urteilte Richter, deren Sprüch er für ungerecht hielt, trotz der Billigung ihres Vorgehens. durch alle Senate aus eigener Machtvollkommenheit zu Amtsent- setzung und Gefängnisstrafen, und sie wurden erst nach seinem Tode rehabilitiert.

Der Athlet ist der Mann der Praxis und daher fremden Einsprüchen und fremden Verbesserungen zugänglich, wenn er deren Stichhaltigkeit erkennt; der Lepto- some ordnet die Praxis seiner zuerst festgesetzten Theorie unter und wird diese . Theorie unverändert festhalten; trifft sie auf berechtigte Einwände, so wird er sie lieber vóllig aufgeben, ehe er sie modifizieren lieBe. Dementsprechend wird sich der Athlet zu notwendigen harten MaBnahmen nur unter schweren inneren Kámpfen entschlieBen; er wird sie zwar konsequent, aber seelisch leidend durch- führen. Bezeichnend hierfür ist das Wort Radetzkys über das aufrührerische Mai- land: „Ich werde das Blut beweinen, das vergossen werden muß, aber ich werde es vergieBen." Der Leptosome hingegen kennt diese inneren Kámpfe nicht, oder vielmehr, er hat sie schon durchgemacht, als er seine Theorie aufbaute. Was seinem Ideal fortan im Wege steht oder davon abweicht, wird vernichtet, nicht aus einer angeborenen Bósartigkeit, sondern weil er es nicht durch solche Be- langlosigkeiten wie menschliche Unvollkommenheit beeintrachtigen lassen will.

Betrachten wir nun unter diesem Gesichtspunkt die Weltgeschichte, so bekom- men Zeitepochen und der Ablauf entscheidender Ereignisse ein gànz eigenartiges Aussehen. Welches ware z. B. der Verlauf der Reformation gewesen, wenn Luther nicht athletisch, sondern leptosom gewesen wáre; wie anders hingegen wáre Calvins Wirksamkeit in dem von ihm begründeten Gottesstaat von Genf gewesen, wenn er athletisch und daher nicht so vollendet asketisch gewesen wáre; was wáre das Schicksal RuBlands geworden unter einem leptosomen Peter dem GroBen, was das PreuBens unter einem athletischen Friedrich II.! Hier erst erkennen wir, wie vollendet wahr das zu Beginn dieses Vortrages zitierte Wort von Treitschke ist: Männer, und, setzen wir hinzu, Menschen machen die Geschichte.

Aber noch weiter. Die Wirkung groBer Mánner ist mit ihrem Lebensende nicht abgeschlossen, und dies um so weniger, je gróBer sie waren. Dies erklárt sich aus deren Sachlichkeit. So weit aber geht die Sachlichkeit nicht, daB sie die Persón- lichkeit vóllig auslóschte. Der Mann der Geschichte sieht die Dinge richtig, aber er sieht sie durch das Medium seiner Veranlagung, seines Charakters. Darum wird auch die von ihm hergestellte Ordnung eine sein, die im Wesentlichen seiner Persónlichkeit entspricht. Wenn man, um ein einziges Beispiel anzuführen, Bis- - marck „den Schmied" der deutschen Einheit nennt, so wird schon durch dieses Bild der Typus gekennzeichnet, dem er angehórt. So wie sein Schópfer aber trug auch das Zweite Reich athletische Züge, und so wie sein Schópfer Calvin trug das calvinistische Genf leptosom-asketische Züge, und sie übertrugen sich, da der englische Puritanismus ein Kind des Calvinismus ist, auf England. Nun ist aber das englische Volk in seiner Grundstruktur unzweifelhaft athletisch. Die auf- gezwungene, ihnen nicht artgemáBe Lebensform muBte daher den Charakter der Engländer in verhángnisvoller Weise beeinflussen. Schon in der Zwiespáltigkeit Cromwells sehen wir das innere Ringen zwischen seelischem Trieb und aner- zogenem Zwang. Dieser ProzeB hat sich seitdem fortgesetzt und ist unterbewuBt

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Jelusich / Der Mann der Geschichte 29

geworden. Immer noch ringt das englische Volk, auch in jenen Tellen, die der anglikanischen Hochkirche angehören, mit der ihm eingepflanzten Form des Puritanismus, immer noch wehrt sich die athletische Grundlage gegen den leptosom-asketischen Uberbau. Hier finden vvir die Ursache der Zvveideutigkeit des englischen Charakters, hier den Grund für das fast schizophren anmutende Doppelwesen jedes Englanders, der als Privatmann höchsten Wert auf persön- liche Ehrenhaftigkeit legt, und zugleich als Staatsmann sich nicht scheut, die perfideste Politik zu treiben, hier endlich auch die Ursache jenes englischen Nationallasters, der sonst unbegreiflichen, abstoBenden Heuchelei.

Die vvenigen Ausnahmen liegen sümtlich auf leptosomem Gebiet. Es scheint, daB dieser Typus trotz oder wegen seiner Starrheit dazu neigt, ins Gegenteil um- zuschlagen. Wir finden hier einzelne Männer, die zu ihren leptosomen aus- gesprochene athletische Eigenschaften hinzufügen: sie glühen, sie sind keine kalten Rechner, sie neigen zu Zorn und Haß. Ich nenne Alexander den Großen, Cäsar, den Prinzen Eugen. Ihre Gelöstheit, die auch ein besonders kennzeichnen- des Merkmal des athletischen Menschen aufweist, den Humor, steht die grämliche Gewissenhaftigkeit eines typischen Leptosomen wie L”-coln gegenüber oder das unmenschliche Doktrinärtum eines Robespierre, der aus lauter Tugendhaftigkeit Tausende hinrichten ließ, weil er nur dann sicher war, daß sie nicht mehr sündigen würden.

So ausgerüstet geht der Mann der Geschichte an seine geschichtliche Tat. Er kann sie vollführen, er kann an ihr scheitern. Im letzten Fall geht das Rad über ihn hinweg, er wird in späteren Jahrhunderten bestenfalls eine Fußnote in einem Lehrbuch der Geschichte sein. Gelingt es ihm jedoch, sie zu vollführen, so ergibt sich für ihn der zweite Teil seiner Aufgabe, das Sichern und Verankern des Er- oberten. Auch hier aber sehen wir voll mitfühlender Ergriffenheit so manchen noch im Hafen untergehen. Die meisten der gewaltigen Neuerer werden ihres Werkes nicht froh. Sie sehen das ewig Allzumenschliche und flüchten, wie Cäsar und Friedrich II., in unnahbare Menschenverachtung oder verzichten, wie Scipio Africanus maior und der Freiherr vom Stein, angesichts der ihnen entgegen- schlagenden Feindseligkeit überhaupt auf die Weiterführung. In Wahrheit aber sehen sie überscharf, mißkennen die Kräfte, mit denen zu rechnen sie gewohnt waren, und ebenso die Schwächen, die sie zu benutzen wußten, und geben andern die Schuld wenn überhaupt von einer solchen gesprochen werden kann —, anstatt sie in der eigenen Brust zu suchen. Denn nicht die letzte Tragik des Mannes der Geschichte, eine Tragik, von der nur wenige Auserwählte aus- genommen sind, besteht darin, daß er nur zu oft all seine Kraft auf die Erringung seiner Stellung verwenden mußte und ihm keine mehr übrigbleibt, das Errun- gene auszubauen. Wir wissen heute, daß Cäsar keinen Augenblick zu früh starb. Er hat es selbst ausgesprgchen, als er gelegentlich einer der vielen Warnungen, die ihm während des ganzen Verlaufes der cassianischen Verschwörung zukamen, verächtlich äußerte: „Sie töten einen Toten.” Auch Napoleon war erschöpft, Cromwell, wahrscheinlich auch Bismarck. Spätern erst war es gegeben, das Werk, das jene begannen hatten, weiterzuführen und zu beenden.

Denn das ist das Tröstliche jeder genialen geschichtlichen Tat: Sowenig der Mann der Geschichte geeignet ist, Schule zu machen, sosehr er als einzigartig . anzusehen ist, im Tiefsten seiner Persönlichkeit keinem vor und keinem nach ihm vergleichbar, so ist es doch der Wille des Schicksals oder wie sonst man die geheimnisvolle Macht nennen will, die die Welten lenkt, daß nichts Schöpfe- risches verlorengehen kann. Der Stein, einmal ins Rollen gebracht, bewegt sich weiter, entweder aus dem hier nutzbringenden Gesetz der Trägheit oder weil an die Stelle des Riesen, der ihn walzte, ein Nachfolger tritt, ein Schöpfer er selbst, also ganz verschieden von seinem Vorgänger, und doch ihm wesensverwandt in

30 Jelusich / Der Mann der Geschichte

der Kraft, die ihn beseelt. Vom grauen Altertum bis in die neueste, ja, bis in die allerneueste Zeit können wir diesen Prozeß in einer großartigen Entwicklung verfolgen, und wir finden in dieser alles enthalten, was eine überwundene Geistes- richtung mit dem irreführenden Schlagwort „Fortschritt der Menschheit” zu nennen pflegte. Denn noch einmal sei es wiederholt: Nicht die gesamte Mensch- heit schreitet vorwärts, etwa einer vorrückenden Kolonne vergleichbar, sondern der eınzelne, der mit mehr oder weniger Gelingen bemüht ist, einen Bruchteil dieser Menschheit sich nachzuziehen: Der Mann der Geschichte.

Weil es aber stets nur ein Bruchteil ist, meist nur seine eigene Nation, wird der große Erneuerer gezwungen sein, das von ihm Geschaffene gegen eine ihm und seinem Werk fremde, ja feindliche Umwelt zu verteidigen. Denn jede Er- neuerung hat als Ursache einen fehlerhaften Zustand, den sie behebt. So muß sie notwendig die Mißbilligung aller Mächte finden, die mit diesem Defekt zu rechnen und aus ihm ihren Nutzen zu ziehen gewohnt sind. Darum sehen wir jeden Mann der Geschichte in den entscheidenden Phasen seiner Tätigkeit sich dem Ausbau einer starken, schlagbereiten Kriegsmacht widmen. Es wurde schon darauf hingewiesen, wie eingehend sich Cäsar mit der Ausbildung seiner Truppen befaßte. In ihrer Manövrierfähigkeit, ihren Marschleistungen und nicht zuletzt in ihrer Durchführung großer technischer Aufgaben es sei nur an die berühmte Rheinbrücke erinnert oder an die Belagerungsarbeiten vor Alesia stand sie im Altertum einzigartig da. Ähnliche Reformer waren Kaiser Maximilian I., „der Vater der Landsknechte"', der die plumpen, schwer beweglichen Ritterheere durch die viel beweglichere Infanterie ersetzte, Cromwell und Prinz Eugen, die Schöpfer der modernen Kavallerietaktik, der letztgenannte durch die Verwendung der schweren Reiterei auch Anreger der modernen Panzertaktik, Friedrich II. mit seinem keineswegs geisttötenden, sondern vielmehr geistberuhigenden Drill und seiner einzigartigen Durchbildung der Feuertechnik, Napoleon, mit dessen Kolonnentaktik der Durchbruch seine beherrschende Rolle in der Strategie antrat, Erzherzog Karl und Scharnhorst, die Schöpfer des Volksheeres. Wie sehr sich diese Reformen bis in die Gegenwart fortsetzen, braucht wohl nicht aus- drücklich ausgeführt zu werden.

Neben dieser Schaffung und Ausbildung stehender Heere und der Wehrhaft- machung des ganzen Volkes durch die soldatische Dienstpflicht taucht aber immer wieder noch ein zweiter Gedanke auf, der namentlich dauernd unruhigen Nachbarn gegenüber angewendet wurde: der des Wehrbauern. Wir finden ihn fast bei allen Männern der Geschichte, die für das Bauerntum überhaupt Ver- ständnis hatten, so im Altertum bei Ptolomäus Soter und Cäsar. Diese Männer führten den Gedanken auf die Weise durch, daß sie ausgediente Soldaten mit Land in den eroberten Gebieten belehnten, an die Gabe die Bedingung knüpfend, daß die Lehensmänner dem einbrechenden Feinde als erstes Aufgebot entgegen- treten. Ein ähnlicher Gedanke lag ursprünglich auch dem mittelalterlichen Lehenswesen zugrunde, ja, wurde sogar noch ausgebildet, insofern, als er sich nicht auf die Grenze beschränkte, sondern über das ganze Hoheitsgebiet aus- dehnte: Jeder Lehensträger hatte im Kriegsfalle nicht nur selbst einzurücken, sondern überdies auch eine vorher bestimmte Anzahl von Wehrmannschaft bei- zustellen. Leider verwischte sich dieser Gedanke im Laufe der Jahrhunderte, bis er schließlich zu einer leeren Form erstarrte. Neu aufgegriffen wurde der Gedanke des Wehrbauern vom Prinzen Eugen, der zu Ende des 17. Jahrhunderts zwischen der Türkei und Ungarn die sogenannte Militärgrenze organisierte. Hier aber finden wir zugleich eine Umkehrung dieser Einführung: die Bewohner und Lehensträger der Militärgrenze waren nicht Wehrbauern, sondern Bauernsoldaten, in Regimenter zusammengefaßt, in deren Rahmen sich, auch wenn sie nicht unter Waffen standen, ihr ganzes Leben abspielte, in den Wehrdienst hineingeboren

Jelusich / Der Mann der Geschichte 31

und erst mit ihrem Tode aus ihm ausscheidend. Diese eigenartige Einrichtung, die sich hervorragend bewährte, überdauerte nahezu drei Jahrhunderte und endete erst kurz vor unserer Zeit durch die Einverleibung der letzten Reste ihres Gebietes ins Königreich Kroatien. b

Doch nicht nur nach außen, auch nach innen muß der Mann der Geschichte sein Werk schützen, um den Trägen zur Eingliederung zu zwingen und den Böswilli- gen, der ja nirgends fehlt, an deren Sabotierung zu hindern. Dies trachtet der große Erneuerer ausnahmslos durch eine Vereinheitlichung der Verwaltung herbeizuführen. Die Tragödie des Ersten Reiches der Deutschen besteht nicht zuletzt darin, daß dieses oberste Prinzip vernachlässigt wurde. Je selbständiger die einzelnen Teile ihre innere Struktur entwickelten, desto mehr lockerte sich der Zusammenhang des Ganzen, bis seit dem Unheilsfrieden von Münster und Osnabrück nur noch ein loses Band die völlig autonom gewordenen Fürstentümer zusammenhielt. Den denkbar größten Gegensatz dazu bildet die straffe Zusammen- fassung des französischen Staates, dessen Gebiete erst nach Landschaften, schließ- lich aber sogar nach verhältnismäßig kleinen Arrondissements gegliedert wurden, die ihre Leitung von einer obersten Zentrale empfingen. Freilich aber ist Frank- reich hierin nicht bahnbrechend vorangegangen; vielmehr finden wir diese Auf- teilung schon früher gerade bei den größten Organisatoren, der Weltgeschichte, abermals bei einem Ptolomäus Soter, bei Cäsar, bei Karl dem Großen. Ihr geist- reiches System war ein geniales Auswiegen zentraler Leitung und Selbstverwal- tung der Zellen. So war die einheitliche Leitung gewährleistet, entartete aber nicht zu einer öden und verödenden Gleichmacherei, wußte vielmehr in kluger Erkenntnis des Reichtums der Eigenart diese zu schonen, ja, nützlich zu ge- brauchen. Damit wurde nicht nur eine Ordnung des Alltags herbeigeführt, nicht nur eine fruchtbare Finanz- und überhaupt Wirtschaftsgebarung erzielt, wurden nicht nur Kräfte für nützliche Arbeit freigemacht, die zur Erzielung großartiger Gemeinschaftsleistungen vereinigt werden konnten damit wurde über alle Besonderheiten hinaus jener Gemeingeist erzielt, der aus Stämmen Völker und aus diesen die Nation macht. Sie entsteht in dem Augenblick, wo in den Seelen der einzelnen das Gefühl der Zusammengehörigkeit das der Sonderheit überwiegt, sie wird um so stärker, je unbewußter, selbstverständlicher dieses Gefühl wird, und sinkt dahin, wenn jenes Aufgehen der Teile in einem Größeren seine Kraft verliert, wenn egoistische, zentrifugale Tendenzen den gewaltigen Aufbau atomisieren. i

Wir sprachen von der Ordnung des Alltags: denn ewig kann keine Revolution währen, sie muß abgelöst werden durch ein Gleichmaß der Tage, das allein dauernde Gemeinschaftsleistungen ermöglicht. Dieses Gleichmaß muß aber nicht nur nach innen und außen geschützt, es muß auch gesichert werden, vor allen Dingen da man nun nach dem bekannten Wort erst leben muß, um zu philoso- phieren materiell gesichert werden. So sehen wir die großen Organisatoren, von denen wir eben sprachen, als vornehmliche Förderer eines starken und ent- wicklungsfähigen Bauernstandes überhaupt: Ptolomäus wie Cäsar, Karl den Großen wie Cromwell. Ein einziger unter ihnen Napoleon bildet eine Aus- nahme; er brauchte für die endlosen Kriege, zu denen ihn die Unrast seines Geistes trieb, Soldaten und immer wieder Soldaten, und nahm sie vor allen Dingen vom flachen Land. Diese Entvölkerung gerade der lebenswichtigen Be- zirke aber wurde nicht der letzte Grund seines schließlichen Sturzes. Gewiß ist der Bauer in erster Linie der Verteidiger der heimatlichen Scholle und ‘wurde, ‘wie wir gesehen haben, von den Männern der Geschichte als solcher auch angesehen; aber sein Aufruf, seine notwendige‘ Sammlung unter den Fahnen unterscheidet sich grundlegend von dem Raubbau, den wir eben bei Napoleon

32 Jelusich / Der Mann der Geschichte

finden. Damals begann jener Aderlaß am französischen Volke, der letzten Endes zum tragischen Verfall führte, den wir heute miterleben.

Daß aber auch das geistige Leben seine Sicherung, und noch mehr, seine reichste Anregung findet, ist schon in einem tiefen seelischen Bedürfnis des Mannes der Geschichte begründet. Denn nicht das letzte, wesentliche Merkmal seiner Persönlichkeit ist deren Vielseitigkeit. Die großen Staatenbildner und -lenker verlieren sich nicht im engen Bannkreis ihrer politischen Planung, son- dern suchen darüber hinaus in jedem menschlichen Bereich tätig und anregend zu sein. Der Schriftsteller Cäsar findet begeistertes Lob in den Briefen seines politischen Gegners Cicero; ein Staatsmann wie Perikles führte durch große Staatsaufträge die Kunst des Phidias zur höchsten Blüte; Prinz Eugen war ein Bibliophile edelster Prägung und intimer Freund des letzten großen Universal- gelehrten Leibniz; Friedrich II. war leidenschaftlicher und ausgezeichneter Musiker wie übrigens auch mehrere der älteren Habsburger und Schrift- steller, wenn auch nicht Dichter von Bedeutung; Napoleon, ein Kenner und Schätzer der Meisterwerke der Weltliteratur es sei nur an sein Gespräch mit Goethe erinnert —, hinterließ ein Gesetzwerk, das seine Herrschaft lange über- dauerte. Cromvvells, des großen Ausnahmefalis, Kunstfremdheit wird durch die Engherzigkeit des Puritanismus erklärt, in der er erzogen war und die er nie abzustreifen vermochte; und doch wollen wir uns erinnern, daß er Milton wenig- stens als Staatssekretär und Verfasser geistig hochstehender politischer Streit- schriften verwendete. Das Idealbild der neuen Ordnung, das der Mann der Geschichte in seiner Seele trägt, umfaßt eben alle Lebensgebiete.

Hier endlich stellt sich uns die zwingende Notwendigkeit entgegen, die Frage zu beantworten, was der Mann der Geschichte denn eigentlich will will nicht aus einer verstandesmäßig geschöpften Erkenntnis heraus, sondern noch viel mehr aus den unbewußten Quellen der Intuition, aus dem Auftrag der welt- beherrschenden und weltleitenden Mächte, deren Sendbote und Bevollmächtigter er ist. Eine neue Ordnung, sagten wir. Aber diese müßte, für sich gelassen, letzten Endes doch zur Erstarrung und damit zur Unfruchtbarkeit und einem wenn auch langsamen Absterben führen. Das Glück also der möglichst großen Zahl? Aber auch dieser Lieblingstraum des Rationalismus ist längst als Unmöglichkeit ent- larvt, so wie das Perpetuum mobile eine Unmöglichkeit ist, als dessen Gegensatz jene allgemeine Glückseligkeit ein Perpetuum stabile voraussetzt, einen niemals mehr gestörten Zustand der Ruhe, ohne Leidenschaften, ohne Strebungen, ohne neue Erkenntnisse. Mit Recht sagt Schopenhauer: „Ein glückliches Leben ist unmöglich. Das Höchste, was ein Mensch erlangen kann, ist ein heroischer Lebenslauf."

Und hier haben wir zugleich die Lósung. Wir sprachen von der Flamme, die im Mann der Geschichte verzehrend brennt, und die er um jeden Preis lodernd erhalten will. Sein letztes Ziel, seine hóchste Aufgabe ist es, diese Flamme im Herzen seines Volkes zu entfachen, diesen Heroismus zum Leitgedanken seines Volkes zu machen. Dabei muB „heroisch“ durchaus nicht bloß im Sinne eines Schlachtheldentums verstanden werden, sondern darüber hinaus in dem einer allgemeinen Haltung, in der Láuterung von allem Gemeinen, im Empfinden nicht nur des einzelnen, sondern der Gesamtheit, dağ sie eine geschichtliche Sendung ich wiederhole: durchaus nicht ausschlieBlich kriegerischer oder konquistado- rischer Art zu erfüllen hat, und in dem festen Willen, diese Sendung zu erfüllen.

Ein solches Feuer brennt, ein solcher dadurch hervorgerufener Elan denn auch im Bereich des Psychischen gilt das Gesetz von der Umwandlung der Würme in Kraft —, ein solcher Elan wirkt durch Jahrhunderte. Denn den Mann der Ge- schichte zeichnet das Vermógen aus, über sich hinaus zu denken. So wird er seine Idee der Gemeinschaft einpflanzen wie einen Baum, stark genug, daB das Ge-

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Jelusich / Der Mann der Geschichte 33

wachsene auch Stürmen trotzen kann, und zugleich im höchsten Maße entwick- lungs- und bereicherungsfähig. Es ist ihm nicht darum zu tun, selber zu ernten wenn er es erlebt, so empfindet er es als Gnade —, sondern darum, daß in einer späteren Zukunft die Früchte reifen und einer desto größeren Gemeinschaft zugute kommen, je größer der Gärtner war, der den Keim pflanzte.

Wir haben die ewigen Gesetze kennengelernt, unter denen das Wirken ge- schichtlicher Persönlichkeiten steht, wir haben aber auch gesehen, daß diese Gesetze ohne solche schöpferischen Persönlichkeiten tot bleiben müssen. Wenn wir die Nutzanwendung auf unsere Zeit ziehen, jene Peilung, um derentwillen wir die ausgeführten Gedankengänge entwickelten, so werden wir sie in der Erkenntnis erblicken, daß Kräfte, Gesetze und Männer von welthistorischem Format auch heute wirksam sind, daß sie auch heute mit jener KompromiBlosig- keit, die wir als eines der Wesensmerkmale des Mannes der Geschichte kennen- gelernt haben, an die Lösung, ihrer gewaltigen Aufgaben gehen.

Ihrer ist die Tat; unser ist der Glaube und die Treue.

Wo wir wohnen

, Durch die Himmel, durch die Stuben. Die Vergeßlichkeit Schreit! Die Toten steigen aus den Gruben. Das ist, wo wir wohnen! Sei bereit!

Wissend, daß die Beute nicht erjagbar Trag das Kleine achtsam auf dem Finger! In den Jagden dieser Welt, Niemals weißt du wenn es fällt

Und das Schlichteste nicht sagbar, Ob es Perlen wert ist, ob geringer Wenn uns nicht ein Blitz erhellt. Oder eine Welt.

Glaube mir: Ich weiß zu dienen! Einem großen Schicksal untertan, Das zu Häupten mir erschienen,

Füg ich mich dem unbekannten Plan.

Kleinste Mühe ist die größte. Feuer im Verborgnen glühn.

Daß es didi im Tagwerk tröste, Siehst du fern ihr Funkensprühn.

So beschreiten wir das Wunderbare, Ohne es zu sehn, Und die atemlose Flucht der Jahre

Läßt uns einsam stehn.

Schwer zu lernen solches Wissen: Aller Vater ist das Feuer. Hinter allen Finsternissen Wälzt es ungeheuer!

Denke dran, denke dran:

Heut noch sind die Dinge arm. Doch ein Nichts löst solchen Bann, Und schon tobt Alarm.

Still, ganz still, und hordil DasobreSausen, Manchmal fern, dann wieder nah!

Trink in tiefen Zügen dieses Grausen,

Daß die Welt geschah.

Zittre, daß in himmlischen Geleisen Stürme toben, die du nie ermißt

Und schon fühlst du mächtig an dir reißen, Und dein Leben, das vergangen ist,

Treibt hinab Waldsäume im Verfall. Unsichtbare Hände würgen, zerr’n,

Und das Chaos stürzt mit schwarzem Schwall In das Reich des Herrn.

Fritz Usinger.

Die politisehen Testamente Friedrichs des Großen

Friedrich II. hat zwei politische Testa- mente hinterlassen, von denen das eine aus dem Jahre 1752, das zweite aus dem Jahre 1768 datiert.

Das erste Testament ist also abgefaßt nach den beiden ersten schlesischen Kriegen, das zweite nach dem dritten schlesischen Krieg, den wir gewóhnt sind, den Siebenjührigen Krieg zu nennen. Mit der Abfassung dieser politischen Testa- mente folgt Friedrich einem Brauch im Hause Brandenburg, der seit dem GroBen Kurfürsten befolgt wurde, wo die Herr- scher eine Art Rechenschaftsbericht über den von ihnen geführten und verwalteten Staat zu erstatten pflegen. Die Testamente Friedrichs gehen über den Rahmen eines

solchen Rechenschaftsberichtes noch hin-

aus und geben seinen Nachfolgern Ermah- nungen und Ratschláge für die Zukunft.

In einer Zeit, in der es für Deutschland um Sein oder Nichtsein geht, wendet sich unser Blick mehr noch wie sonst dem groBen preuBischen Kónig zu, den die Ge- schichte nicht nur den „Großen“, sondern vielleicht noch schóner und richtiger den „Einzigen“ genannt hat.

Wir sehen in Friedrich nicht die ver- kitschte Lesebuchfigur, zu der deutsche Schulmeister vergangener Perioden den großen König gestempelt haben. Wir sehen vielmehr in ihm einen ganz Großen, aber auch einen Menschen von Fleisch und Blut, der sich nicht in einen mensch- lichen Normalrahmen einfügen läßt.

Von fanatischer Härte gegen sich selbst und seine Umwelt, menschlichem Glück längst entwöhnt, einsam und ein Men- schenverächter großen Stils, entspricht Friedrich so gar nicht dem Ideal, das eich der Alltagsphilister und Untertan von seinem Fürsten gern zu machen pflegte.

Der „alte Fritz mit dem Krückstock’ , wie er uns in dem berühmten Stich von Chodo- wicki überliefert ist und an den sich die vielen Lesebuchanekdoten knüpfen, wäre letzten Endes fast eine etwas langweilige Figur, während der lebenswahre König in seiner dämonischen Größe und seiner bösen Menschenverachtung manchmal fast etwas Schreckhaftes hat. Überhaupt: Was hätte wohl Friedrich der Große für ein Gesicht gemacht, wenn man ihn Friedrich den Guten genannt hätte?!

Der Fünrer eines Staates und Volkes in siebenjähriger Kriegsbedrängnis, von ganz Europa bekämpft, vom deutschen Reichs-

Kleine Beiträge

tag in Regensburg geächtet, von der so genannten guten Gesellschaft im preußi- schen Hinterland einschließlich des eige-

nen Hofes als politischer Hasardeur längst

aufgegeben, von vielen seiner Generäle und Soldaten nicht verstanden, reißt seinen Staat und sein Volk vom Abgrund zurück, an dem er mehr wie einmal steht und wird als ,,Nur-PreuBe" seit der Schlacht von Roßbach, ihm selbst un- bewußt, zum deutschen Nationalhelden, der die Grundlagen zur späteren deutschen Einheit legt. An ihn, den keine Nieder- lage, nicht Kolin, nicht Hochkirch und selbst nicht Kunersdorf zu Boden drückt, für den es nur die Wahl zwischen der Selbstbehauptung oder dem Giftfläschchen gab, das er immer bei sich führte, an diesen Friedrich denken wir, wenn wir seinen Geist wieder heraufbeschwören, der einem unwürdigen Nachfolger, den er nur zu gut kannte, mit seinen politischen Testamenten einen Wegweiser geben wollte. Daß Friedrich Wilhelm II. mit seinem Bischofswerder und seinen „Rosen- kreuzlern" die Richtlinien des großen Königs nicht verstand und nicht beach- tete, führte geradlinig auf Jena und Auer- stedt zu!

Von König Friedrich stammt ein Satz, den er für die Ausbildung der Armee ge- prägt hat:

„Aimez donc les details ils ne sont pas sans gloire c'est le premier pas

qui mene a la victoirel”

Frei übersetzt:

„Kümmert euch um die kleinsten Einzelheiten,

sie sind nicht ohne Wert,

das ist der erste Schritt,

der zum Siege führt.”

Entsprechend diesem Grundsatz geht der König auch in seinem Testament auf alle Einzelheiten der verschiedenen Zweige der Staatsführung ein. Ein weiteres charakteristisches Moment, sowohl in seinen Testamenten wie in seinen anderen uns überlieferten Schriften ist Friedrichs absolute Sachlichkeit. So benennt er in seinem Testament seinen hochbegabten Bruder Heinrich, der das Leben lang des Königs Kritiker und Antipode war, als den künftigen Oberbefehlshaber des preußi- schen Heeres. Oder: ale begabtesten Kavallerieführer, „der allen voran geht“, bezeichnet er den General von Seydlitz, mit dem er des Öfteren zusammengeraten ist, weil der große Kavallerieführer ihm

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Kleine Beitráge 35

häufig widersprach und das Gegenteil eines sogenannten bequemen Unter- gebenen war.

Doch lassen wir in den folgenden Aus-

. zügen aus den beiden Testamenten den

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König selbst zu Worte kommen.

Aus dem politischen Testament von 1752

Uber die Behörden der Do- mänenverwaltung und ihre Be- setzung

„Zur Besetzung aller dieser Finanzämter sind mehr Ehrenmänner erforderlich, als der Staat gewöhnlich hervorbringt. Zu glauben,’ die Welt sei von Bösewichtern bevölkert, heißt denken wie ein Menschen- feind. Sich einbilden, alle zweibeinigen Wesen obne Federn seien Ehrenmänner, heißt sich wie ein Dummkopf täuschen. Ein Herrscher muB so viel Menschen- kenntnis besitzen, um wenigstens an die Spitze der Provinzen ehrliche Männer zu stellen. Da ihre Zahl klein 1st, so findet man sie leichter. Ich habe alte, aus- gediente Offiziere zu Präsidenten gemacht, und ich bin mit ihnen besser gefahren als mit den in der Beamtenlaufbahn Empor- gekommenen. Die Offiziere verstehen zu gehorchen und sich Gehorsam zu ver- schaffen, und wenn man ihnen irgend etwas zur Prüfung übergibt, führen sie es selber aus und mit größerer Zuverlässig- keit als die anderen.”

Uber die Religion und die Konfessionen

„Für die Politik ist es völlig belanglos, ob ein Herrscher religiös ist oder nicht. Geht man allen Religionen auf den Grund, so beruhen sie auf einem mehr oder minder widersinnigen System von Fabeln. Ein Mensch von gesundem Verstand, der diese Dinge kritisch untersucht, muß un- fehlbar ihre Verkehrtheit erkennen. Allein diese Vorurteile, Irrtümer und Wunder- geschichten sind für die Menschen ge- macht, und man muß auf die groBe Masse so weit Rücksicht nehmen, daß man ihre religiösen Gefühle nicht verletzt, einerlei, welchem Glauben sie angehören.

Die Juden sind von allen dıesen Sekten die gefährlichsten, denn sie schädigen den Handel der Christen und sind für den Staat nicht zu brauchen. Wir haben die Juden zwar wegen des Kleinhandels mit Polen nötig, aber wir müssen verhindern, daß sie sich vermehren. Sie dürfen nicht nur eine gewisse Zahl von Familien, son- dern auch eine gewisse Kopfzahl nicht überschreiten. Wir müssen ihren Handel einschränken, indem wir sie vom GroB-

handel fernhalten und ihnen nur den

Kleinhandel gestatten. '

Uber Strafen und Belohnungen

„Preußens Herrscher haben zum Glück selten Strenge nötig. Nur Hochverrat ver- dient harte Bestrafung. Jedoch läßt sich oft verhüten, daß Menschen sich zu solchen Schandtaten verführen lassen. Im letzten Kriege erfuhr ich, daß der Abt von Grüssau mit einigen Geistlichen und Edel- leuten eine Verschwörung zugunsten des Wiener Hofes anzettelte. Ich ließ sie gefangensetzen oder verbannte sie wäh- rend der Kriegswirren in andere Provinzen. Dadurch wurde ihnen die Möglichkeit ge- nommen, sich schuldig zu machen, und sie entgingen Bestrafungen, die sie unfehlbar getroffen hätten, wenn sie frei ihrer Neigung hätten folgen dürfen. Nach dem Frieden kehrten sie ruhig in ihre Heimat und zu ihren Gefährten zurück, und die Vernünftigen unter ihnen müssen mir Dank dafür wissen, daß ich sie gezwungen habe, ihre Unschuld zu bewahren.“

Uber das Zeremoniell

„Die meisten Könige Europas haben sich selbst eine Art von Ketten geschmie- det, unter deren Last sie oft seufzen. Mein Vater besaß den Mut, die seinen zu brechen, und, seinen Spuren folgend, habe ich das mir überlieferte Maß der Freiheit getreulich bewahrt. Ich habe ihn sogar noch überboten, indem ich mir die frem- den Gesandten, soweit wie nur irgend möglich, vom Leibe halte Es gıbt in Preußen keine Rangstufen, keine Etikette, keine Botschafter. Dadurch sind wir ge- sichert vor allen Streitigkeiten um den Vortritt und vor allen aus dem Stolze der Könige entspringenden Schikanen, die an anderen Höfen ernste Aufmerksamkeit be- anspruchen und eine Zeit verschlingen, die man nützlicher für das Allgemeinwohl anwenden kann.”

Uber das Verhalten gegenüber den Mächten Europas

„Ein erfahrener Staatsmann muß sich stets verschieden benehmen und sein Ver- halten stets den Umständen anpassen, in denen er sich befindet, und den Menschen, mit denen er zu tun hat. In der Politik ist es ein großer Fehler, stets hochmütig aufzutreten und alles mit Gewalt durch-. setzen zu wollen, aber auch stets sich sanftmütıg und nachgiebig zu zeigen. Ein Mensch, dessen Benehmen immer das gleiche ist, wird bald durchschaut, und man darf sich nicht durchschauen lassen.

96 Kleine Beiträge

Bleibt unser Charakter mehr, so sagen unsere Feinde: ‚Wir werden dies und jenes tun, dann wird er so und so handeln.“ Und dabei täuschen sie sich nicht. Wer dagegen in seinem Benehmen wechselt, führt sıe irre, und sie täuschen sich in ihren Annahmen. Ein so kluges Benehmen erfordert aber stete Selbst- beobachtung. Weit entfernt, seinen Leiden- schaften nachzugeben, muß man unbedingt den Entschluß fassen, den das eigene In- teresse vorschreibt. Die große Kunst be- steht darin, seine Absichten zu verbergen. Zu dem Zweck muß man seinen Charakter verschleiern und nur maßvolle, durch Rechtsgefühl gedämpfte Festigkeit durch- blicken lassen.“

An anderer Stelle: „So muß je nach Lage, Zeit und Person unser Verhalten verschieden sein. Ist die Zeit reif zum offenen Bruch, so empfiehlt sich ein festes und stolzes Auftreten. Aber man soll das Gewitter nicht grollen lassen, ohne daß zugleich der Blitz einschlägt. Hat man viele Feinde, so muß man sie trennen, den unversöhnlichsten heraussuchen und sich auf ihn stürzen, mit den anderen aber verhandeln, sie einschläfern und selbst unter Verlusten Sonderfrieden mit ihnen schließen. Ist erst der Hauptfeind nieder- geworfen, dann ist es Zeit, auf die anderen zurückzukommen und über sie herzu- fallen, unter dem Vorwand, daß sie ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen seien."

Uber áuBere Politik

„Machiavelli sagte, eine selbstlose Macht, die zwischen ehrgeizigen Mächten steht, müßte schließlich zugrunde gehen. Ich muß leider zugeben, daß Machiavelli recht hat.“

„Die Politik der kleinen Fürsten ist ein Gewebe von Schurkenstreichen. Die Poli- tik der großen bedingt viel Klugheit, Ver- stellung und Liebe zum Ruhm. Es ist für einen Staatsmann ganz verkehrt, stets schurkisch zu handeln; er wird dann bald durchschaut und verachtet. Scharfsinnige Köpfe ziehen aus gleichartiger Haltung ihre Schlüsse. Daher muß man seın Spiel nach Möglichkeit ändern, sich nicht in die Karten sehen lassen und sich in einen Proteus verwandeln, muß bald lebhaft, bald langsam, bald kriegerisch, bald fried- fertig erscheinen. Auf diese Weise führt Ihr Eure Feinde irre und macht sie in ihren Anschlägen gegen Euch vorsichtig. Es empfiehlt sich aber nicht nur, sein Be- nehmen zu wechseln; man muß es vor allem auch den Ereignissen anpassen, der

kein Geheimnis .

Lage, in der man sich befindet, der Zeit, den Orten und den Personen, mit denen man zu tun hat. Droht .Euren Feinden nie; die Hunde, die bellen, beißen nicht. Beobachtet im Verkehr mit den Mächten verbindliche Formen, mildert stolze oder beleidigende Ausdrücke. Ubertreibt nicht, wenn es sich um kleine Zwistigkeiten handelt. Habt nie Euren eigenen Stolz, sondern stets das Staatswohl im Auge. Seid verschwiegen in Euren Geschäften; verbergt Eure Absichten. Zwingt die Ehre des Staates Euch, den Degen zu ziehen, so falle auf Eure Feinde Donner und Blitz zugleich!"

Zweites politisches Testament von 1768

Aus der Einleitung: „Es ist Pflicht jedes guten Staatsbürgers, seinem Vaterland zu dienen und sich bewußt zu sein, daß er nicht für sich allein auf der Welt ist, son- dern zum Wohle der Gesellschatt beizu- tragen hat, in die ihn die Natur gesetzt hat. Dieser Pflicht habe ich nach Maßgabe meiner schwachen Einsicht und meiner Kräfte zu genügen gesucht, seit der Tod meines Vaters mich zum Träger der höch- sten Staatsgewalt in Preußen machte. Ich bin frei von der törichten Anmaßung, mein Verhalten als Richtschnur für meine Nachfolger anzusehen. Nur zu sehr merke ich, daß ich ein Mensch bin, dh. ein Wesen, das aus Gutem und Schlechtem gemischt und dem Irrtum unterworfen ist, dessen Einsicht schwach und dessen Gaben be- schränkt sind. Immerhin habe ich den Vorteil einer 29jährigen Erfahrung in den Staatsgeschäften, und so würde ich mich der Nachwelt gegenüber als schuldig füh- len, legte ich ihr nicht Rechenschaft über mein Verhalten und über die Maßnahmen in der Rechtspflege, dem Finanz- und Heerwesen und in der Politik, an denen ich zeitlebens gearbeitet habe, teilte ich ihr nicht die Ansichten mit, die ich mir durch langjährige Überlegung zum Besten der öffentlichen Wohlfahrt gebildet habe. Ein Pilot, der die Gewässer kennt, die er lange befahren hat, kann dem jungen Schiffer wertvolle Ratschläge geben, der die Klippen nicht kennt und an ihnen Schiffbruch leiden könnte.“

Aus dem Kapitel über Finanz- wirtschaft

„Unser Volk ist schwerfällig und träge. Mit diesen zwei Fehlern hat die Regierung immerfort zu kämpfen. Durch Euren An- trieb bringt Ihr die Masse in Bewegung, aber sie bleibt sofort stehen, sobald der

Prof. Thorak: Paracelsus

GroBe Deutsche Kunst-

ausstellung München 1943

oseph Raabe. Breslau 1809: Joseph Freiherr v. Eichendorff als „Schwarzer Ritter“

Kleine Beiträge l 37

Antrieb einen Augenblick nachlaBt Nie- mand kennt etwas anderes als den alten Brauch. Man liest wenig, kümmert sich wenig darum, wie es anderswo hergeht und erschrickt daher bei allem Neuen. Ich habe meinem Volke nichts als Gutes erwiesen, und doch glaubt es, ich wollte ihm das Messer an die Kehle setzen, 60- bald es sich um eine zweckmäßige Reform oder eine notwendige Änderung handelt. In solchen Fällen bin ich meinen ehrlichen Absichten, der Stimme meines Gewissens und meiner langen Erfahrung gefolgt und ruhig meinen Weg gegangen."

Uber Juden

„Wir haben zu viel Juden in den Städten. An der polnischen Grenze sind sie nötig; denn der Handel liegt in Polen ganz in den Händen der Juden. Sobald eine Stadt aber von der polnischen Grenze entfernt ist, werden die Juden zu Schäd- lingen durch den Wucher, den sie treiben, den Schmuggel, der durch ihre Hände geht, und tausend Schurkereien, die zum Schaden der Bürger und der christlichen Kaufleute ausschlagen."

Urteile über Offiziere

„Ohne Zweifel kommt als Armeeführer zu allererst mein Bruder Heinrich in Be- tracht. Náchst ihm ist Oberst Anhalt der Mann, der dieser Aufgabe am besten ge- wachsen ist. Er hat andere Fehler, aber über dergleichen muB man hinweggehen, wenn das Staatswohl es fordert. Man muß sich stets der Tüchtigsten bedienen und die fähigen Leute anstellen, sonst nimmt der Krieg eine schlimme Wendung, und man schließt einen schlechten Frieden.“

„Bei der Kavallerie steht General Seyd- litz allen voran. Nach ihm kommen Kruse- marck, Dalwig, der kleine Röder. General Bülow ist meisterhaft, Manstein sehr gut, Hoverbeck gut, der Prinz von Württemberg schneidig, aber kurzsichtig, Reitzenstein sehr verdient, Czettritz gut, aber zu sanft, Zastrow und Alvensleben gut, Manstein sehr tapfer. Der Rest ist mittelmäßig und zur Detachementsführung ungeeignet.

Bei den Husaren haben wir Lossow, einen hervorragenden Reiterführer, sehr befähigt, einen Flügel zu kommandieren oder wozu man ihn sonst verwenden will. Werner ist gut, darf aber keine Infanterie bekommen. Der alte Möhring ist ein guter Offizier, Prittwitz hervorragend und zu allem geeignet, was man ihm aufträgt. Dazu eine Anzahl guter Stabsoffiziere und junge Leute, die sich täglich weiterbilden und zu den schönsten Hoffnungen be-

rechtigen. Es fehlt nicht an Führern für die Kavalleriedetachements. Nur wäre zu wünschen, daß wir für die Infanterie mehr hätten. Hoffentlich werden sich noch welche entwickeln."

Uber Religion

„Ein altes metaphysisches Märchen voller Wundergeschichten, Widersprüche und Widersinn, aus der glühenden Ein- bildungskraft des Orients entsprungen, hat sich über Europa verbreitet. Schwärmer haben es ins Volk getragen, Ehrgeizıge sich zum Schein davon überzeugen lassen, Einfältige es geglaubt, und das Antlitz der Welt ist durch diesen Glauben verändert worden. Die heiligen Quacksalber, die diese Ware feilboten, haben sich zu An- sehen gebracht, sie sind Herrscher ge- worden, ja, es gab eine Zeit, wo sie Europa durch ihr Machtwort regierten In ihrem Hirn entstand jener Priesterhochmut und jene Herrschsucht, “die allen geist- lichen Sekten zu eigen ist, wie auch ihr Name laute Ehedem mischte sich die Geistlichkeit in alle Staatsange:egen- heiten; heute scheint der Brauch außer Mode gekommen zu sein.

Das lutherische und reformierte Bekennt- nis, die bei uns vorherrschen, können dem Staat niemals schaden, vorausgesetzt, daß ihre Geistlichen in den jetzigen Schranken gehalten werden. Sie können unbegrenzt Gutes tun; aber man soll sie zurechtweisen, sobald sie sich in Dinge mischen, die sie nichts angehen. Halb Cleve und ein Drit- tel von Schlesien sind katholisch. Die Regierung soll die Katholiken nicht nur dulden, sondern sie auch vor allen Ver- folgungen und Ungerechtigkeiten schützen, die man ihnen etwa antun will. Denn es geht den Staat nichts an, welche metaphy- sische Anschauung im Menschenhirn wohnt; genug, wenn jedermann sich als guter Staatsbürger und Patriot benimmt.”

Ministerrat

„Ich habe nie einen Ministerrat ab- gehalten; denn recht besehen, gibt es nichts Schädlicheres. Jede Regierung be- darf eines Systems, und es ist aus- geschlossen, daß viele Köpfe so viele ver- schiedene Interessen einheitlich zu- sammenfassen und unverrückbar auf das gleiche Ziel hinstreben können. Anders ein Herrscher, der in seiner Hand alle Zweige der Regierung vereinigt, der sie wie ein Dreigespann Stirn an Stirn lenkt und sie dem vorgesteckten Ziele entgegen- führt. Zudem muß man sich darauf gefaßt machen, daß jede Beratung, bei der viele

. zugegen sind, nie ganz geheim bleibt, daß unter ihren Teilnehmern Männer sind, die sich befeinden oder aus Eigensinn auf ihrer Meinung beharren, und daß somit mehr Nachteil als Vorteil daraus entsteht. Ein Herrscher, der sich auf seine Geschäfte versteht, sie einheitlich zusammenfaßt und richtig rechnet, kömmt allein viel weiter als mit allen Ministerräten. Er handelt mit Nachdruck und Tatkraft und wahrt das Geheimnis, was nie geschehen kann, wenn sechs bis sieben Personen zusammen- kommen müssen, um sich über einen Ent- schluß zu einigen."

Uber Maria Theresia „Die Kaiserin Königin versteht sich auf

die Kunst, geschickte Minister zu finden

und anzustellen. Ihr Ministerrat übertrifft durch kluge und planvolle Leitung der Ge- schäfte diejenigen aller anderen Herrscher. Sie regiert selbst und führt ihren Sohn in die Geschäfte. ein, und dieser folgt ihren Anregungen. Fürst Kaunitz und Hatzfeldt sind ihre besten Minister. Ihre berühm- testen Heerführer sind Lacy und Laudon. Verlöre sie diese, so fiele es ihr schwer, unter der großen Zahl, die ihr bleibt, gleichwertige herausztifinden. Bis jetzt ist indes die österreichische Kavallerie schlecht. Die Infanterie ist besser, beson- ders im Stellungskrieg, und die Artillerie ist vorzüglich.”

Uber äußere Politik

„Der Gipfel der Staatskunst besteht darin,- die Gelegenheit abzuwarten und sie nach Gunst der Umstände zu benutzen.

Der größte Irrtum, in den man verfallen kann, ist der Glaube, irgendwelche Herr- scher oder Minister nähmen Anteil an unserem Schicksal. Diese Leute lieben nur sich selbst; ihr Vorteil ist ihr Gott. Ihre Sprache wird einschmeichelnd und freund- lich, in dem Maße, wıe sie uns brauchen. Sie werden Euch mit verruchter Falsch- heit schwören, Eure Interessen wären ihnen ebenso teuer wie die eigenen, aber glaubt das nicht und verstopft Eure Ohren vor diesen Sirenentónen."

Von fremden Gesandten

,Bei uns werden die fremden Gesandten überwacht. Man beobachtet die Leute, die in ihren Häusern verkehren, ihre Sekretäre und ergreift alle nur denk- baren Maßregeln, um ihnen auf die Finger zu sehen, sowohl um zu verhüten, daß sie Bestechungen vornehmen, wie um die leichtsinnigen Leute, die bei ihnen ver- kehren, vor der Gefahr zu warnen, in die sie sich begeben. Man kann die Aufsicht

ーー

Kleine Beiträge

über diese Gesandten nicht scharf genug üben; denn bei ihrem langjährigen Auf- enthalt in Berlin haben sie gelernt, mit dem männlichen, namentlich aber mit dem weiblichen Geschlecht umzugehen und sich auf diese Weise Kenntnisse zu verschaffen, die sie nicht erlangen dürften. Gibt es doch Dinge, die mit dem dichtesten Schleier bedeckt bleiben müssen, wie die eigenen Entwürfe, die geheimen Bündnisse, die man schließt, die Veränderungen im Heerwesen, die starken und schwachen Seiten des Staates, die Einkünfte und Hilfsquellen der Finanzwirtschaft. Diese Dinge müssen sogar den Verbündeten geheim bleiben; denn wer heute unser Freund ist, kann morgen ein Feind sein. In der Politik gibt es Gelegenheiten, wo. man schwächer scheinen muß, als man ist, um die Bundesgenossen zu größeren An- strengungen zu bewegen, als ihnen lieb

‘ist, aber auch solche, wo man möglichst

furchtgebietend dastehen muß, wenn man dadurch erreichen kann, daß der Feind den Frieden nicht bricht.‘

Schlußwort

„Nachdem ich die Bürde der Regierung mein ganzes Leben lang getragen habe, bin ich nicht so unsinnig, noch nach meinem Tode herrschen zu wollen. Jeder muß seine Last tragen und so weise regie- ren, wie er es vermag, indem er seine Entschlüsse je nach Gelegenheit und Um- ständen faßt. Ich bestehe nur auf den Haupteigenschaften, die ein Herrscher be- sitzen muß. Er muß ein Ehrenmann sein. Die Wohlfahrt seines Volkes muß ihm am Herzen liegen; sie ist unzertrennlich von der seinen. Er muß emsig und wachsam sein, oder die Maschine bleibt stehen; mißtrauisch in den Finanzen, denn die meisten Finanzbeamten sind Schufte Er muß sich vornehmen, selbst zu arbeiten und sein Heer kommandieren; denn das ist das einzige Mittel, eine gute Armee zu haben. Seine Truppen verschaffen ihm dann im Frieden Achtung und lassen ihn im Kriege siegen. Auch kann sich Preußen nur behaupten, wenn ein zahlreiches Heer es gefürchtet macht, sind wir doch von überlegenen Feinden umgeben, mit denen wir von heute auf morgen Krieg bekom- men können. Der Herrscher muß in die Zukunft blicken, um die Dinge, die im Werden sind, vorauszusehen, muß seine Nachbarn beobachten und Bündnisse nur dann eingehen, wenn er die Bedingungen reiflich erwogen hat, und nur mit Herr- schern, die zu dieser Zeit die gleichen İn- teressen haben wie er. Ich rate ihm, seinen

Neue Bücher 39

Ehrgeiz und seine Absichten zu verbergen, in seinen Entschließungen vorsichtig und in ihrer Ausführung energisch zu sein. Endlich muß er in alle Einzelheiten der Regierung eindringen, damit er selbst herrschen kann. Er darf Eigensinn nie mit Festigkeit verwechseln, sondern die guten und stichhaltigen Gründe müssen über Vorurteile und Leidenschaften siegen. Jedem Herrscher, der diese Bedingungen erfüllt, prophezeie ich die größten Er- folge, dauernden Ruhm und persönliche Achtung. Nichts als Unglück aber sehe

ich für die voraus, die ihrer Trägheit nach- geben und den Dingen ihren Lauf lassen, statt einzugreifen, bei denen Bequemlich-

keit und Schlaffheit über ihre Pflicht

siegen, so daß sie die Leitung der Armee und des Staates in andere Hände legen. Ich wünsche, daß dergleichen nie vor-. kommt).“ Eugen melin

°) Die politischen Testamente des großen Königs waren in französischer Sprache abgefaßt. Die hier wiedergegebenen geutschen Auszüge beruhen auf der Übersetzung von Friedrich von Oppeln-Bronikowski. Verlag Heinz Treu, München 1941.

Neue Bücher

„Die Judenfrage in Ungarn”. Jüdische Assi- milation und antisemitische Bewegung im 19. und 20. Jahrhundert. Von Klaus Schickert. Essener Verlagsanstalt 1943, zweite, neubearbeitete Auflage. Der Verfasser hat kürzlich in dieser

Zeitschrift den Kriegsschauplatz Israel im

Zusammenhang mit der politischen Krieg-

führung erörtert. Er wurde kurz darauf

vom Reichsleiter Alfred Rosenberg zum

Leiter des Frankfurter Instituts zur Er-

forschung der Judenfrage bestellt. Die

Neubearbeitung seines grundlegenden

Werkes über die ungarische Juden-

frage legitimiert ihn der wissenschaft-

lichen Welt gegenüber solcher Aufgabe.

Neben einem Werk des Madjaren Julius

Szefkü erfaßte bisher lediglich Schickert

die Bedeutung der Judenfrage für die Ge-

schichte der befreundeten ungarischen

Nation. Zur ersten Auflage schrieb die

Zeitschrift „Magyar Kultura“: „Wahr-

heiten, die wehtun, doch Feststellungen,

bei denen der Verfasser leider recht hat.“

Nach einer breiten Darstellung der Ver-

hältnisse im Mittelalter geht der Autor

auf die Entwicklung im 19. Jahrhundert ein, die heute noch ihrer endgültigen Liqui- dierung harrt. Durch eine ausführliche

Darstellung des Wirkens der Antisemiten

Istöczy und Simonyi erbringt er den Nach-

weis, daß der ungarische Antisemitismus

stets eine bodenständige Bewegung ge- wesen ist und keineswegs eine deutsche

Exportware. Die jüdische Agitation hat

jahrzehntelang den latenten Antisemitis-

mus im Madjarentum durch den Hinweis zu diskreditieren versucht, er sei aus dem

Reich importiert, womit sie auf die in kul-

turellen Dingen leicht wachzurufenden

Empfindlichkeiten spekulierte. Diese Agi-

tation hat zweifellos dazu beigetragen, die

Lösung der Judenfrage zu verzögern, auf-

halten wird sie diese nicht können. In Ver-

bindung hiermit erinnert Dr. Schickert in einem von sachlicher Zurückhaltung ge- tragenen Bericht an den Ritualmord von Tisza-Eszlar, der um 1882 die europäische Welt in Atem hielt. Daß Völker nichts aus der Geschichte lernen diese Wahrheit tritt dem Leser wieder vor Augen, studiert er den Anteil des Judentums am Sturz der Habsburger und ihren führenden An- teil an der Bolschewietenherrschaft des Bela Kun. Mit schamloser Geschäftigkeit sind sie auf der anderen Seite, als das Schreckensregiment der 133 Tage zu Ende geht, um in Kürze die kapitalistischen Schlüsselstellungen eines liberalistischen Systems wieder in Besitz zu nehmen. Schickert gibt vom letzten Weltkrieg die Verhältniszahlen der Toten madjarischen und jüdischen Blutes bekannt, die in

frappanter Weise die Drückebergerei der

Kinder Israels beleuchten. Nicht verwunder- lich, daB sich der Anteil der Juden am Hoch- schulstudium in der gleichen Zeit ver- doppelte. Schickert kommt zum Schluß, daß kein Land und keine Nation mehr Begabung und Fähigkeit zur Assimilation fremden Volkstums gezeigt hätte als die Madjaren. Er beweist das Scheitern der Assimilierungsbestrebungen gegenüber Israel. Wo sonst hätte diese Einschmel- zung gelingen können, fragt er, wenn nicht in Ungarn! Aber das Zeitalter der Assi- milation ist zu Ende. Das Judentum ist eine

‚Rasse, die sich nicht aufsaugen läßt. Die

man im Zuge der Ideen von 1789 als Brüder empfing, wurden zu Herren. Die Dissi- milation, um derenSchwierigkeiten Schickert weiß, ist keine deutsche, sondern eine europäische Forderung, vor deren Erfüllung das Madjarentum heute steht, da die Ent- scheidung für oder gegen den jüdischen Bolschewismus fällt. Schickert zitiert in diesem Zusammenhang ein kluges Wort von Wilhelm Grau, mit dem er auch Un-

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garn eindringlich beschwört: „Hätte Karl Marx im Getto gelebt gäbe es keinen Lenin.“ Viele Madjaren, die ihr Volk und Blut lieben und reinhalten wollen, werden dem deutschen Autor Dank wissen. Kif.

Dichter und Krieger

Für das erst unserer Zeit wieder eigene unmittelbare Verhältnis zwischen Dichter und Volk sind die Reden anläßlich der Dichtertreffen in Weimar lebendige Zeug- nisse. Zwei Veröffentlichungen liegen vor uns. (Die Dichtung im kommenden Europa, Weimarer Reden 1941, Dichter und Krieger, Weimarer Reden 1942, heraus- gegeben von Dr. Rudolf Erckmann, Han- seatische Verlaqsanstalt Hamburg.) Sie

sprechen aus, wie im alles und alle er-.

fassenden Kampf des Reiches und Europas die deutschen Dichter ihre Stellung in der Front beziehen möchten. Von einem glanzvollen Einsatz der geistigen Kräfte für die seelische und politische Kriegfüh- rung wird uns allerdings nichts verraten. Vielleicht wäre das Stoff und Anregung für die Zusammenkunft des fünften Kriegs- jahres. Beteuerunqen sind beqlückend, praktischer geistiqer Krieqsdienst auf brei-

Neue Bücher

Hans Baumann, Bruno Brehm, Moritz Jahn, 1942 Edwin Erich Dwinger, Wil- helm Ehmer, Wilhelm Schäfer, Gerhard Schumann, Georg de Vring und Hermann Burte. Was die Dichtertreffen den Dich- tern bedeuten, klingt auch in diesen Reden durch, das Gefühl, Auge in Auge mit denen zu stehen, die der gleichen Arbeit dienen. Für uns Hörer und Leser aber be- deuten die Reden das persönliche Be- kenntnis neben dem Werk und seine schönste Bestätigung. Von Hans Baumann bis Wilhelm Schäfer, Kraft, Wille und Glaube eint alle im selben Herzschlag, mit dem Dienst im Wort dem Reich und seinem Sieg zu dienen. Gibt es wohl eine leuchtendere Urkunde als die, die Wil- helm Schäfer unserer Bewegung und ihrer Jugend ausstellt, indem er sie mit den im Weltkrieg gefallenen Studenten vergleicht. Jene Briefe seien erschütternd durch ihre Lauterkeit und Treue, ein Gram aber wiche nicht von ihm vor ihrer geistigen und seelischen Hilflosigkeit. „Es stand nicht gut um ein Vaterland, das seine ge- bildeten Söhne so unberaten in die Gärten des Todes schickte. Dies hat sich

nach den Briefen, wie ich sie heute aus der Front erhalte, gewandelt. Ein anderes Vaterland als das von 1914 stand da- hinter. Niemayer.

tester Ebene noch nützlicher. Beide Bände, die jetzt vorliegen, beginnen mit den Be- grüßungen durch Wilhelm Haegert, 1941 sprachen Hanns Johst, Rudolf Erckmann,

Abschied von „Wille und Macht”

Mit der vorliegenden Ausgabe der Zeitschrift des Reichsleiters Baldur von Schirach erfüllen sich zehn Jahre stetiger Führung der Schriftleitung dieses Organs. Das äußere Bild der Arbeit hat sich gewandelt wie der Mensch. Was ich mit zwanzig Jahren über- nahm, lege ich dankbar für das erwiesene Vertrauen mit dreißig Jahren in die Hände des Herausgebers zurück, um den Dienst mit der Feder wieder gegen den Waffendienst einzutauschen. Das Führerorgan der jungen Generation in einem solchen Lebensabschnitt zu leiten, bedeutete höchstes Glück. Uber den verliehenen Titel hinaus galt es un- abläßlich, den inneren Anspruch, ein Sprachrohr der Jugend zu sein, durch eine ver- antworiungsfrohe Führung zu erwerben.

Die Zeitschrift soll das Spiegelbild politischer und geistiger Entwicklungen sein, die jedes Jahr seıt der nationalsozialistischen Revolution hervorgerufen hat. Wir haben uns freudig bemüht, an ihnen teilzuhaben, weil wir die Überzeugung besitzen, daß jede Auseinandersetzung letzth'n fruchtbar ist.

„Wille und Macht" ist Euer treuer Begleiter im Frieden und im Krieg. Die Zeitschrift bringt Euch Jahr für Jahr Baldur von Schirachs Grüße, bittet Euch für eine kurze Weile zum Narhsinnen in schöpferischer Pause. Zwischen seinen Gedanken und den Eueren, Kameraden und Freunde, so lange Zeit ein stiller Mittler gewesen zu sein, erfüllt den Abschied mit Glück und Dank. Und dieser Abschied gilt nicht dem toten Papier, sondern der lebendigen und kämpfenden Gemeinschaft, deren Stimme zu hüten im Chor einer großen Zeit ein froher Dienst war. Günter Kaufmann

: Gebietsführer

Hauptschriftleiter: Günter Kaufmann. Anschrift der Schriftleitung: Wien XIX, Sieveringer Str. 19. Verlag Franz Eher Nachf. G. m. b. H. (Zentralverlag der NSDAP.). Berlin SW 58. PI Nr. 8 vom 1. März 1938. Druck: Buchgewerbehaus M. Müller & Sohn, Berlin SW 68.

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