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HERAUSGEBER: BALDUR VON SCHIRACH

Dn dm ba: Bruno Brehm / Das Eigene Heinrich Zillich / Anekdoten aus dem Krieg Mirko Jelusich | Der Mann der Geschichte

KZ Gedichte von Dr. Hans Gstettner Martin Raschke | | Wintersonnenwende Paul A. Weber | Kasperl, Tod und Teufel Eugen Rümelin | Die politischen Testamente Friedrichs des Großen Neue Bücher Kunstdruckbeilage

Heft 1/2 Berlin, Januar/Februar 1944 Preis 30 Pf.

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Berlin, Januar/Februar 1944 Preis 30 Pf.

INHALT

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Bruno Brehm: Das Eigene

Dr. Hans Gstettner: Wiedergeburt, Klage, Wind aus dem Osten, r | Flug über dem Schwarzen Meer (Gedichte)

Heinrich Zillich: Anekdoten aus dem Krieg Martin Raschke A: Wintersonnenwende Mirko Jelusich: Der Mann der Geschichte

| Fritz Usinger: Wo wir wohnen

KLEINE BEITRAGE Eugen Rümelin: Die politischen Testamente Friedrichs des Großen

NEUE BÜCHER

Günter Kaufmann: Abschied von ,,Wille und Macht

KUNSTDRUCKBEILAGE

H. Schachinger: Schulbub Tilman Riemenschneider: Kopf der Eva Paul Mathias Padua: Stilleben Prof. Fritz Klimsch: Zwei Brunnenfiguren Werner Paul Schmidt: Kühe am Hügel Prof. Thorak: Paracelsus Joseph Raabe: Bildnis des Frhr. von Eichendorff (1809)

Die Bilder aus der GroBen Deutschen Kunstausstellung stellten Verlag Heinrich Hoffmann und Verlag Bruckmann, München, zur Verfügung

Führerorgan der nationalfozialiftifchen Jugend

HERAUSGEBER: BALDUR VON SCHIRACH

Jahrgang 12 Berlin, Jonuar / Februar Hefi f/2 Bruno Brehm:

Das Eigene

Nur in der Fremde erkennst du das Eigene, dort spricht es dich an, als riefe dich unter unbekannten Menschen leise und eindringlich eine Stimme, die dir so vertraut klingt, als hätte dich deine Mutter bei deinem Namen gerufen. Gehst du dem fremden Schönen nach, ‚genießt du das Glück eines anderen Landes unter einem blaueren Himmel, fühlst du dich ledig und frei, meinst du es dir unter der wärmeren Sonne auch einmal so gut gehen zu lassen, wie es den Menschen um dich her gut zu gehen scheint, dann erreicht dich dieser Ruf, dem du dich eben- sowenig verschließen kannst wie der Stimme des Gewissens.

Kleine gotische Adlerfibel, schlichte Gewandnadel im Museum einer bulga- rischen Schule am Schwarzen Meer, zwischen verblaßten Tanagra-Figürchen, zerbrochenen Ollámpchen, verstaubten Glasperlen und grünspanüberzogenen Münzen aus griechischen Gräbern kleine Fibel mit den rotglühenden Almandinaugen, deren reichere, stattlichere Schwestern in Schweden und in Oberitalien, in Bayern und in Siebenbürgen gefunden worden sind, aus deinen Edelsteinaugen strahlt der gleiche Glanz, der auch aus den farbenfrohen Fenstern gotischer Dome leuchtet. Nicht nur die Zeit, auch die Gedanken bleichen die Farben aus, marmorblaß sind die einst bunten Götter und Fabelwesen der grie- chischen Tempelgiebel geworden, zerschlagen wurden die nie verblassenden Glutfarben der gotischen Fenster und was heute noch übriggeblieben ist in Rouen, in Chartres, in Erfurt und nicht allzuvielen anderen Kirchen, das ist, so wie du, kleine Fibel, nur ein kleiner Rest einer Schönheit, die in ihrem Glanz von dieser Welt nicht ertragen wurde. Damals in den frühen Morgenstunden, eigenste Kunst, sickerte dieses Leuchten in dich ein, in der Kaiserkrone strahlte es wieder auf, und alles, was heute noch von ihm erhalten ist, gleicht nur einem winzigen Wölkchen im Abendrot, da schon der ganze Himmel erblaßt ist.

Frühzeitig hast du aus Edelsteinaugen schauen gelernt, und daher wird dein Blick immer aus anderen Tiefen hervorbrechen, das menschliche Maß, die kühle Ruhe, der gelassene Blick werden dir fehlen, jede Zeit, die nur an das Dies- seitige glauben kann, wird dich mißverstehen. Denn du bist unter einem anderen

2 Brehm / Das Eigene

Gesetz angetreten als die Künste der anderen Völker. Hoch im Norden wurden die kleinen, der spätrömischen Kunst entstammenden und die von den Völker- wanderungsstürmen aus den innerasiatischen Steppen hereingewehten Tier- gestalten zu neuen, oft winzigen Maschinen gleichenden Gestalten umgeformt, deren Wahrheit nicht die eines Spiegelbildes, sondern wie wir heute sagen würden, die einer Konstruktion und die eines Rhythmus ist. Diese Tiere der Gewandnadeln, der Halsringe, der Helme, Spangen, Schwertbánder und der wenigen in Holz erhaltenen Schnitzereien bewegen sich nicht aus sich selbst, sie springen nicht, sie jagen einander nicht nach, sondern sie werden von Kráf- ten durchflutet, zerlegt, zerrissen, zerkerbt und verschlungen. Was diese rátsel- haften Wesen einer Kunst, für die wir kein anderes Wort besitzen als ornamen- tale Kunst, zusammenhált, ist nicht die kórperliche Einheit ihres Tierleibes, sondern der strenge Rahmen, dessen hartes Gesetz das UbermaB an Kraft zu- sammenzuhalten bemüht ist. Drängt sich aber in der Wikingerzeit diese rätsel- hafte Kunst dichter an das Leben heran, dann sucht sie nicht dadurch wirklicher zu werden, daß sie die Gestalten der Natur, Tier, Mensch und Pflanze nachahmt, sondern daB sie, statt dem Zusammenhalt durch Verflechtung oder Rahmung zu vertrauen, mit Hánden und FüBen um sich greift und so ihren Halt sucht. Sie stellt also nicht Gestalten, sondern Kráfte dar, gleichgültig ist sie gegen das Bild, aufgeschlossen ist sie für das Tun. Nicht wie der Mensch, wie das Tier, wie die Pflanze aussehen, sondern was sie bewirken, geht sie an. Verborgen unter den Kráften bleiben die Bilder.

Ob nun die Ritterrüstung den Edelmann, ob der heizbare Pilotenanzug den Flieger, ob das Unterseeboot die Besatzung ummanteln, ob Schnabelschuhe, Puffenärmel, geschlitzte Wämser, Visier und Harnisch, Perücken, Zópfe, Reif- rócke und Federhüte die Gestalt des Menschen vermummen und überkleiden, oder ob Krabben, Fialen, Schnecken, Muscheln und Rollwerk die Bauformen überwuchern, wie Wolkenschatten ziehen diese verhüllenden Formen über unsere Geschlechterreihen dahin, hier abdeckend, dort freigebend, von der Kunst auf das Leben, vom Leben auf die Kunst übergreifend und schließlich in die groBe Gegenwelt, in die alles umformende Technik einmündend. Wie einstmals die Edelsteine im Geschlinge der Bandgeflechte aufleuchteten und dem Auge den Weg durch das Dickicht der Formen wiesen, so blinken nun die Signallichter auf, wie einst das Geflecht ineinandergriff, so greifen nun Zahnráder ineinander, wie einst das unerfahrene Auge ratlos vor dem scheinbaren Gewirr der Orna- mente war, so staunen wir heute das verschlungene Leitwerk in der Kanzel eines Flugzeuges an. Klein, wie einst die frommen Beter in den dunklen Domen mit den im Lichte aufglühenden Fenstern, stehen heute von Feuern überflammt in ihren schlichten blauen Kitteln die Monteure zwischen den gewaltigen Hoch- öfen. So wie einst die Beine der Ornamenttiere eingesetzt waren, so sind heute die Kolben der Maschinen eingelagert. Immer wirst du in unserer Welt stehen, auch wenn sie sich scheinbar gewandelt hat, in einer Welt des Grauens, wenn du sie mit dem ruhigen Blick des Griechen siehst, in einer Welt der Unruhe, des Angetriebenseins, in der dich die heute entfesselten Kräfte anbrüllen und dir mit Vernichtung drohen. Denn von allem Anbeginn an drängt diese Kunst, drängt unser Wesen, das sie verkórpert, über das Menschliche hinaus, in das Himm- lische oder in das Hóllische. Und weil die seit jeher mit so hohen und so dunk- len Máchten verschwisterte Kunst nicht das Leben und die Schónheit abspiegelt, droht ihr die Gefahr, bei geänderter Zeit, beim Wechsel der Träume zu unent-

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Brehm / Das Eigene 3

wirrbaren Fratzen zu erstarren. Das Bild des nackten oder des von schön- fließenden Gewändern verhüllten Menschen aber bleibt zu allen Zeiten ver- ständlich, es ist überschaubar wie das steinerne Haus des griechischen Tempels, der nie so schwer und dunkel wie ein nordischer Dom droht, in dessen Gewände Engel und Ungeheuer nisten wie die Vögel im Geäst eines Riesenbaumes. Wir sind ungerecht gegen unsere Kunst, wenn wir sie mit dem Maßstab des Südens messen wollen oder wenn wir das, was seit jeher ihr Eigenstes war und was in hundert Verwandlungen immer wiederkehrt, als eine Abirrung ansehen. Tun wir das, dann müssen wir uns eingestehen, daß wir seit jeher auf Irrwegen ge- wandelt sind; denn unser Wesen, wie es sich in unserer Kunst und in allen Werken unseres Hirnes, unseres Herzens und unserer Hände widerspiegelt, ist im Grunde immer das gleiche geblieben.

Es war zu Venedig; ich hatte die großen Gemälde Tintorettos und Veroneses bestaunt, in denen sich die verklungene Größe der Stadt unvergänglich rühmt: die Weite des Meeres flutet durch diese Bilder, Diesseitiges und Jenseitiges war innig verwoben, das Rühmen auf den Bildern schien kein Ende nehmen zu wollen. Mein Weg führte mich durch ein kleines Kämmerchen, in dem, gegen die großen Gemälde der Venezianer gehalten, einige winzige Tafeln des Nieder- länders Hieronymus Bosch hingen. Es war, als hätte man die Unendlichkeit in kleine Fingerhüte gepreßt. Höllenfeuer flammten auf, Felsenzacken stachen dunkel in den brandroten Himmel, spitzes Geäst zackte gegen die gefährliche Glut, Fabeltiere und Fabelmaschinen bedrohten die Menschen. Da sanken die weiten Säle und die festlichen Räume der venezianischen Meister in Nichts zu- sammen vor der Tiefe dieser Bildchen. Bei einem Fliegerangriff im Westen mußte ich an die Bilder des Hieronymus Bosch denken, als allenthalben die. Leucht- stábe aufflammten, als die Scheinwerfer über den Himmel tasteten und die grellen Lichter der Leuchtschirme sich niedersenkten. Wie gleichen seine Fisch- ungeheuer den fliegenden Festungen, wie ähneln seine vermummten Gestalten unseren für diese großen, luftdünnen Höhen eingehüllten Fliegern!

Als ich ein paar Tage später mit jener Wehmut des Abschiednehmens, mit der wir in dieser Zeit so vieles, was uns lieb ist, betrachten, in die abendstille Peters- kirche auf dem Graben in Wien eintrat, da sah ich im matten Licht die vielen schwebenden Engel, die sich wie Schmetterlinge auf den Blumen, auf den Ge- simsen der Altäre niederließen, da hörte ich beinahe das Rauschen der Engels- flügel. Mir kam in den Sinn, daß die Genien und die Engel, die Heiligen und die Heroen in Kirchen und in Schlössern auf den großen Deckenbildern zur selben Stunde das Fliegen verlernt hatten, da sich der Mensch selbst im ersten Luftballon zu den Wolken erhob. Und da in keiner Kunst als in der des Abend- landes so viel geflogen und geschwebt worden ist, haben die geflügelten Wesen die veránderte Zeit nicht gleich wahrhaben wollen, sie haben es noch ein paar Jahrzehnte versucht, aber sie haben es doch nicht mehr zusammengebracht.

Wie eine ferne Brandung scháumte das goldene überquellende Zierwerk mit seinen Wellenspritzern über die ruhig ausschwingenden Gesimse, das Rauschen der unsichtbaren Wellen setzte sich in den aufflatternden Gewändern fort, und in diese Stille hinein, in die man sich ein tróstendes, leises Spiel der Orgel er- sehnt hátte, knatterte das Motorengeráusch eines Fliegers. So sind die Tráume vom Fliegen und so ist die verwandelte Wirklichkeit, so sind die gemalten Bránde und so ist das Feuer, das vom Himmel fállt und durch die Náchte dieses Krieges leuchtet.

2 Brehm / Das Eigene

Gesetz angetreten als die Künste der anderen Völker. Hoch im Norden wurden die kleinen, der spätrömischen Kunst entstammenden und die von den Völker- wanderungsstürmen aus den innerasiatischen Steppen hereingewehten Tier- gestalten zu neuen, oft winzigen Maschinen gleichenden Gestalten umgeformt, deren Wahrheit nicht die eines Spiegelbildes, sondern wie wir heute sagen würden, die einer Konstruktion und die eines Rhythmus ist. Diese Tiere der Gewandnadeln, der Halsringe, der Helme, Spangen, Schwertbánder und der wenigen in Holz erhaltenen Schnitzereien bewegen sich nicht aus sich selbst, sie springen nicht, sie jagen einander nicht nach, sondern sie werden von Kräf- ten durchflutet, zerlegt, zerrissen, zerkerbt und verschlungen. Was diese rätsel- haften Wesen einer Kunst, für die wir kein anderes Wort besitzen als ornamen- tale Kunst, zusammenhält, ist nicht die körperliche Einheit ihres Tierleibes, sondern der strenge Rahmen, dessen hartes Gesetz das UbermaB an Kraft zu- sammenzuhalten bemüht ist. Drängt sich aber in der Wikingerzeit diese rätsel- hafte Kunst dichter an das Leben heran, dann sucht sie nicht dadurch wirklicher

zu werden, daß sie die Gestalten der Natur, Tier, Mensch und Pflanze nachahmt, sondern daß sie, statt dem Zusammenhalt durch Verflechtung oder Rahmung zu vertrauen, mit Händen und Füßen um sich greift und so ihren Halt sucht. Sie stellt also nicht Gestalten, sondern Kräfte dar, gleichgültig ist sie gegen das Bild aufgeschlossen ist sie für das Tun. Nicht wie der Mensch, wie das Tier, wie d: Pflanze aussehen, sondern was sie bewirken, geht sie an. Verborgen unter c Kráften bleiben die Bilder.

Ob nun die Ritterrüstung den Edelmann, ob der heizbare Pilotenanzuc Flieger, ob das Unterseeboot die Besatzung ummanteln, ob Schnabels Puffenärmel, geschlitzte Wämser, Visier und Harnisch, Perücken, Zöpfe rócke und Federhüte die Gestalt des Menschen vermummen und über oder ob Krabben, Fialen, Schnecken, Muscheln und Rollwerk die B überwuchern, wie Wolkenschatten ziehen diese verhüllenden Fo: unsere Geschlechterreihen dahin, hier abdeckend, dort freigebend, vo auf das Leben, vom Leben auf die Kunst übergreifend und schli- große Gegenwelt, in die alles umformende Technik einmündend. "V die Edelsteine im Geschlinge der Bandgeflechte aufleuchteten und .

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4 Brehm / Das Eigene

In den Uffizien von Florenz stand ich lange vor dem Rundbild der Madonna des Michelangelo, das die Mutter Gottes als große, über die Schultern nach rück- wärts greifende Riesin darstellt, der Josef den Christusknaben reicht. Hinter dieser so bewegten und doch so geschlossenen Gruppe lungern, durch nichts mit den heiligen Gestalten vorne verbunden, im hellen Lichte eines Frühlingstages, als hielten sie in einem griechischen Gymnasium Rast von Leibesübungen, schöne nackte Jünglinge. Endlich hatte ich ein Werk dieses Großen dicht vor mir, dessen Fresken in der Sixtina unerreichbar wie Wolken über uns schweben; nun sah ich, wie groß und streng er auch im kleinen war, wie kühn er Christ- liches und Griechisches nebeneinander stellte, ohne die innere Ordnung des Bildes zu gefährden. In Michelangelos Nähe verstummen die andern Bilder, selost die holden Gestalten Botticellis erstarrten, als hielten sie mitten im schwe- benden Schritte inne. Befangen ging ich weiter und sah mich im nächsten Augenblicke einem Gemälde gegenüber, das ich wohl von Nachbildungen her gekannt, von dem ich aber nie geahnt hatte, daß es mich so in seinen Bann ziehen werde. Es war der Portinari-Altar, den der flandrische Meister Hugo van der Goes im Jahre 1467 zu Brügge im Auftrag des Medici-Vertreters gemalt. Sein Mittelstück stellt die Anbetung der Hirten, seine Seitenstücke, je zwei männliche und zwei weibliche Heilige mit der Familie des Stifters dar. Das an und für sich große, zweieinhalb Meter breite, zwei Meter hohe Bild schien mir noch weit größer zu sein. Meine Bezauberung mag von der Farbe ausgegangen sein. Ob es das geheiligte Blau des Gewandes der Gottesmutter war, das sich in so vielen Tönungen durch das ganze Bild zog, ob es die goldene Garbe oder die rührenden Blumen in den Gläsern vorne zwischen den anbetenden Engeln waren, die innige Verzückung der Gesichter, das fromme Beten der knienden Engel, ich weiß es nicht. Der Anruf des Eigenen läßt sich nicht zer- gliedern, er ist Wohllaut und Geheimnis, er läßt das Fremde auf einmal wirklich anders und er läßt das Eigene wie seit je ver- traut erscheinen. Die Körperschönheit, die Kraft, die Kühnheit Michel- angelos waren vergessen, die Zartheit Botticellis schmolz wie Schnee dahin vor diesen starken Farben des flandrischen Meisters, das Unwirkliche der Engel schien mir weit wirklicher als die nackten Jünglinge des Michelangelo, aus allen Gesichtern des Niederländers rief es mich, aus allen Falten rauschte es mir ent- gegen: das sind wir! So innig ist unsere Sprache, so hold träumen wir, wenn wir Ruhe finden, so haben wir von unseren farbigen Fenstern die starken Farben gelernt.

Ich weiß nicht, wie ich dieses tiefe Glück schildern soll. Es ist, als wäre man nach langer Abwesenheit wieder heimgekommen und finde nun alles genau so wieder, wie man immer davon geträumt.“ Alles, was auf solch einem Bild ge- schieht, jede Bewegung eines Gesichtes, jedes Lácheln, jede Falte, jedes Gras ist einem vertraut, wenn man das Bild auch noch nie gesehen hat. Und wie vor dem Bilde des van der Goes stand ich bald darauf vor dem des Memling: ich hórte den verschwebenden Harfenklang, da die beiden Engel zu FüBen des Thrones der Gottesmutter ihr Spiel unterbrochen hatten, damit der eine dieser himmlischen Musikanten dem Christuskind einen Apfel reichen kónne. Vor das Bild von Dürers Vater trat ich, als tráte ich vor den eigenen Vater, die Bilder des Rubens verstand ich auf einmal ganz anders, mitten in Italien war ich nun vom Eigensten umgeben, und ich liebte es auf einmal. wie ich es noch nie ge- liebt. Unsere Welt! Unsere Gesichter!

H. Schachinger: Schulbub Große Deutsche

Kunstausstellung München 1943

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Tilmann Riemenschneide

Brehm / Das Eigene 5

Bin ich vielleicht ungerecht gegen die großen Italiener? Laßt mich doch un- gerecht sein, laßt mich sagen, daß mir die Goes, die Memling, die Eyck mehr bedeuten als die Raphael und die Michelangelo! Es sind so viele gegen unsere Kunst ungerecht, daß es wirklich nichts ausmacht, wenn ich sie mehr liebe als alles. Wir sollen, wir dürfen nicht vergleichen! Vergleichen wir das strenge Innere italienischer Kirchen mit unseren durchseelten Räumen, wir müßten sagen, uns friere bei den Italienern, sie enthielten nichts von dem, was wir in einem Gotteshaus suchen nicht unseren Jubel, nicht unseren Schmerz und vor allem nicht den ewigen Flügelschlag unserer Sehnsucht.

Die Germanenkópfe der Trajans- und der Markussáulen und all die vielen Germanendarstellungen der vatikanischen Sammlungen sind ja auch nicht schón im klassischen Sinn, eine so junge, so barbarische Heftigkeit spricht aus ihnen, die auch den rómischen Bildhauern nicht entgangen war. Nicht anders als einst die Kelten oder die Germanen standen nach der Einnahme Athens unsere Alpen- jäger auf den Stufen der Akropolis und spähten, mit schweren Nagelschuhen die hohen Stufen nehmend, unter gebráunten Hánden nach den fernen schnee- bedeckten Hóhen, über deren Pásse sie hierhergezogen. Schón wie die Griechen waren unsere Jäger nicht, aber sie hätten ihre Brüder unter den Köpfen der ge- fangenen Germanen in den rómischen Sammlungen finden kónnen.

Was zwingt uns denn auch, den MaBstab fremder Schónheit an unsere Kunst zu legen? Dürers Melancholie ist die Schwester jener trauernden gefangenen Germanenfrauen auf den römischen Siegesdenkmälern, ihre Trauer ist die gleiche, die über der Stirn jener ins Unglück geratenen und gefangenen Germa- ninnen liegt. Die Zeichnung von Dürers Mutter ist weit entfernt von irgend- welcher Schónheit, sie ist so háBlich, wie das Alter einen Menschen háBlich machen und ausmergeln kann. Aber es ist die Mutter, der Sohn hat sie gezeich- net, und der große Sohn stößt mit dieser Zeichnung bis auf den Grund des Lebens, bis zum geheimnisvollen Welken und Sterben durch. |

Die Bilder des Louvre in Paris waren zu dicht gehängt; wie in einer Vogel- handlung flirrte und trillerte es durcheinander. Lange verweilte ich vor den Gemälden Leonardos, das Geheimnisvolle der Madonna in der Grotte ergriff mich, von der Mona Lisa konnte ich mich lange nicht trennen; ihr Lächeln war mir die entfaltete Blüte, deren Knospen die lächelnden klugen Jungfrauen von den Portalen französischer Kathedralen sind. Das Neue erhält nur deshalb solchen Bestand, weil es alt und durch viele Geschlechter vorbereitet ist. Eigent- lich wollte ich nach diesen beiden Bildern nichts mehr ansehen, gedankenver- loren ging ich weiter, bis mich ein Bild nicht weiterließ: Der barmherzige Sama- riter von Rembrandt. In der Ruhe des Bildes versank alles wie in einem braunen See. Das spáte Abendlicht wármte auch meine Wange, auch ich stellte mich auf die Fußspitzen und blickte mit dem Knaben über den Rücken des Reittieres auf den andern Burschen, der mit dem zweiten Knaben den von den Ráubern so übel zugerichteten Wanderer zu der Herbergstreppe trágt, von deren Stufen der barmherzige Samariter nach dem Geretteten blickt. Neben der Hauswand stehen die Pferde, aus einem Fenster sehen drei von dem sinkenden Licht der Sonne überhauchte Kópfe. Auch wir blicken mit abendschweren Augen in dieses Bild, das mit seiner goldglánzenden Stille weit fort ist von der Kunst des Südens, der es sich durch die fast reliefartige Anordnung seiner Gestalten náhert. Es ist so, als lóse dieses Bild in einem ganz andern Sinne noch einmal die Frage des

6 Brehm / Das Eigene

Gleichnisses vom barmherzigen Samariter: wer denn der Nächste sei. Die großen Werke, die das Letzte aussagen, sind auf der ganzen Welt einander die nächsten. Auch dieses Bild Rembrandts steht am Ende einer langen Reihe, oft hat sich der Meister mit diesem Stoff auseinandergesetzt, immer wieder hat er die einzelnen Gestalten verschoben, er hat das Licht des Tages, er hat den ruhelosen Flacker- schein der Fackeln des Nachts versucht, er hat die Gruppen schräg in die Tiefe gestellt und er war zum Schluß zu einer so einfachen und klaren Anordnung gekommen, wie sie eine italienische Grablegung etwa*zeigt. Nun scheint alles so einfach, als könnte es nicht anders sein. Aber das Einfache ruht immer in der Tiefe verborgen, ein ganzes schweres, duldendes Leben gehört dazu, um es zu finden und zu heben. Nun ist es aber so klar und so schlicht geworden, nun beglückt es so, wie wenn man an den Säulen des Parthenon feststellt, daß ihre Hohlstreifen gerade die Schulterbreite eines Mannes haben oder wie wenn man sieht, wie durch das sanfte Geriesel griechischer Gewänder der schöne Mensch durchscheint wie die aufgehende Sonne durch leichtes und flaumiges Gewölk. Und auch du begreifst dieses Gleichnis, wer der Nächste ist, da du nur das ver- stehen kannst, was du liebst.

Nun siehst du auch, wie die Felsen der Madonna in der Grotte des Leonardo jenen gotischen Baldachinen gleichen, unter denen in unseren Domen die Mutter Gottes thront, nun siehst du, wie sich die alten Formen der Kunst in die neuen der Natur verwandelt haben, nun weißt du, daß es unser Licht ist, das die blauen Berge hinter der Mona Lisa durchleuchtet, und alles, was getrennt nach Nord und Süd schien, findet sich auf den großen Werken vereint und voneinander durchdrungen wieder. Habe ich nicht auch, als ich zum ersten Male nach Ober- italien kam, immer wieder an Shakespeare denken müssen, habe ich bei klugen Mädchengesichtern nicht immer wieder an Porzia, bei schönen Jünglingen an Romeo gedacht, habe ich nicht mit seinen Augen das Land geschaut? Nie hat sich, schien es mir, dieses Land selbst so dargestellt, wie es der große Dichter aus dem Norden auf die Bühne gebracht hat.

Die Künste gehen nur aneinander vorbei, wenn sie nicht die letzten Höhen erreichen, sie sind einander feind, wenn Größeres mit Kleinerem der anderen Kunst zusammenstößt. Ich erfuhr es mit schmerzlicher Deutlichkeit im Rathaus zu Amsterdam, das van Campen im Stile Palladios erbaut hat. Rembrandt hatte für den großen Saal ein Bild zu liefern: Das Gastmahl des Claudius Civilis, bei dem es zum Schwur auf das Schwert der batavischen Verschwörer im Kampf gegen die Römer kommt. Es war, dem Ausmaß nach, ein großes Bild, es hätte in seinen Goldfarben in dem weißen Saal wie eine Sonne über einem Schneefeld gewirkt, es ist ein Bild von der Heftigkeit und Wucht Hamlets, und deshalb hatten es die allzu kühlen Ratsherren abgelehnt, weil es ihnen wohl zu wild und zu barbarisch schien. Heute hängt das Mittelstück des zerschnittenen Bildes in Stockholm. Wäre es uns unverstümmelt erhalten geblieben, wir hätten es getrost neben die Fresken Michelangelos in der Sixtina stellen können. Man bedenke doch: einmal wird auf ein Schwert geschworen, treu zu uns selbst zu stehen, dieser Schwur gegen Rom wird in wildglühenden Farben gemalt, und dieses Bild wird dann von jenen Menschen zerschnitten und verkauft, deren Land selbst so- lange diesen Kampf geführt hat. Es scheint zuviel Glut in unserer Kunst zu sein, die immer wieder in selbstvernichtenden Flammen auflodert. Aber wenn wir dies nicht begreifen, wer soll es denn verstehen? Unsere Kunst wirkt im Süden kalt, unlebendig und starr wie das zerklüftete Marmorgebirge des Mailánder

Brehm / Das Eigene 7

Domes. Wir verstehen es, wenn der Italiener Filarete im fünfzehnten Jahr- hundert ausrief: „Verflucht, wer diese Pfuscherei erfand! Ich glaube, nur Bar- barenvolk konnte sie nach Italien bringen!“

Nur in der Fremde lernst du das Eigene kennen: Auf der Fahrt nach der an der ägyptischen Grenze gelegenen Oase Siwa sahen wir am Rande der grellen gelben Wüste im rótlichen Abendlicht gewaltige Pyramiden aufsteigen. Erst beim Näherkommen erkannten wir, daß wir hier keine Gebilde von Menschen- hand, sondern gewaltige pyramidenfórmige Felsenformen vor uns hatten, nach deren Vorbild wohl einst die gewaltigen Steinmassen der Königsgräber am Rande der Nilebene aufgetürmt worden waren. Muß nicht auch, dachte ich mir, einem vom Nil zu uns kommenden Mann das Rippenwerk und die Pfeiler, die Kreuzrosen und die Kapitele unserer Dome wie ein versteinerter Wald er- scheinen? Muß einem solchen Mann nicht der Anblick unserer großen gotischen Flügelaltäre wie das Wachsen von Himmelsbäumen erscheinen, ob dies nun ein Goldbaum ist wie der zu St. Wolfgang oder ein brauner Waldbaum wie der zu Kefermarkt, muß er nicht meinen, diese Bäume, wie der Krakauer, könnten weiterwachsen und das steinerne Gehäuse der Kirchen sprengen? Ist nicht dieses Braun des Holzes, sieht es ein solcher Mann aus der Fremde, an unseren Geigen eines Symphonie-Orchesters, so, als töne aus ihm die Stimme unserer Wälder? Ist nicht dieses Braun unserer Felder vor dem Aüfgehen der Saat wie alle Sehn- sucht nach dem Wohlklang der Welt? Die Kirche des Klosters von St. Florian bei Linz ist im italienischen Barock erbaut, ihre Gesimse sind klar, hart und schwer, ihre Farben sind kühl. Wir können das ja oft genug beobachten, wo Italiener bei uns im Barock unsere Kirchen umgebaut haben, ob in Passau, in Würzburg oder in Hildesheim: sie sind dem eigentlichen Wesen unserer Kunst fremd, ja feindlich, sie zerstören durch Vernunft und Klarheit etwas, dem man durch Vernunft und Klarheit eben nicht beikommen kann. Schmerzt den Italiener in seinem Lande unsere Form, so empfinde ich die seine bei uns nicht weniger hart und fremd, seine Girlanden hängen so schwer, seine Pfeiler stoßen so hart in die Höhe. Aber in St. Florian haben die Söhne der oberösterreichischen Bauern, die Vettern der stolzen Bauernäbte, in dieser kühlen Kirche das Chor- gestühl geschnitzt, das geigenbraune, das stolzgeschwungene, das sich wie Segel im Winde bläht, das von einem wärmeren Atem durchhaucht ist, das von Orgeltönen vollgesogen und aufgequollen scheint, und dieses Chorgestühl wärmt den kühlen Raum, es spricht in der gleichen Sprache zu dir wie die so anmutig geschwungene Treppe des Stiegenhauses oder der rótlichbraune festliche Kaiser- saal des Klosters, die von Prandauer, dem großen deutschen Meister, sind.

In der Mitte von Mainz steht sein gewaltiger Dom. Auch nach ihm hatten die Flammen gegriffen, sein Inneres ist fast ganz ausgeräumt, der Weihrauchduft war dem Brandgeruch gewichen. Aber im Chor stand noch das braune gewaltige Gestühl, das schóngeschwungene, reichgezierte, und ich mußte es streicheln, wie ich vor vielen Jahren die kleinen blonden Kinder gestreichelt habe, die wir bei unserem Einmarsch in Italien antrafen und die uns erinnerten, daß hier ein- mal Langobarden geherrscht.

Wir waren durch die kahlen Berge Albaniens gezogen, durch steiniges, von dem hüllenden Mantel der guten Erde entblößtes Land. Wir waren aus Griechen- land gekommen, wir hatten gesehen, wie die Vernichtung des Waldes das Ge- sicht des Landes entstellt. Nur im Innern des Landes, wo weder Türken noch Venezianer das Holz fortführen konnten, weil es zu weit von den Häfen war,

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haben sich helle Laubwälder wie in Thüringen erhalten. Nun saßen wir, müde von Märschen und Bildern, gereinigt vom Staub und gesättigt, in dem fast leeren Zimmer eines mohammedanischen Schneiders nahe dem Boden auf der weiß- überzogenen Polsterbank, tranken schwarzen Kaffee und drehten gedankenlos an dem Rundfunkapparat herum, den unser wohlhabender Quartierwirt erst kurz vor dem Krieg gekauft, und der sich in der Leere dieses islamischen Wohn- raumes ganz seltsam ausnahm. Da rauschte es mit einem Male auf, als ziehe das Brausen und Sausen der so lange nicht mehr geschauten Wälder über uns hin; wir hatten zufällig Beethovens Neunte eingestellt, wir ließen die Hände sinken, wir wagten uns nicht ins Gesicht zu sehen, sonst wären uns die Tränen ge- kömmen. Ob Freund oder Feind die Sinfonie sendeten, weiß ich nicht, sie schwebte ja, an keine Sprache gebunden als an die innerste, jenseits dieser irdischen Begriffe. Unser albanischer Gastwirt war leise eingetreten und hatte sich neben uns hingehockt. Er sah uns forschend an, aber ich glaube nicht, daß er sich in unsern Gesichtern besser auskannte als in der Musik. Wir nickten ihm kurz zu, als wollten wir sagen: schon gut, wir sind hier bei dir und doch nicht, und sahen dann durch das niedere Fenster über ein altersbraunes Ziegel- dach, hinter dem, zwischen leicht schwankenden Zypressenwipfeln, ein schlankes weißes Minarett in den dunkelblauen Himmel ragte. Ich mußte an die unerlöste, an die gleichsam körperwarme und ausweglose, immer wieder in sich zurück- fallende Musik des Ostens denken, während diese gewaltigen Kräfte über uns hinbrausten. Ich sollte dem Meister noch einmal begegnen, und er konnte mich trösten, wie mich kein Wort getröstet hätte:

Wir lagerten in der Nähe des Arco de Filine, an der Grenze von Tunis und Tripolis. Die Mondnacht war klar und kühl. Von der schwarzen Asphaltstraße zwischen Küste und Wüste drang Räderrollen herüber, dazwischen klirrten Raupenketten. Das war tröstlich zu hören. Noch immer fuhren also einzelne Panzer der achten englischen Armee entgegen, um unseren Rückzug zu decken. Zwei Wochen vorher waren die Engländer und die Amerikaner in Algier ge- landet. Dunkel und ungewiß wie das niedere Buschwerk in den hellen Dünen lag die nächste Zukunft vor uns. Wir hatten uns bei dem Rückmarsch, ehe in Bengasi die Magazine in Brand gesteckt wurden, mit Wein versorgt. Mit hoch- geschlagenem Mantelkragen traten wir hin und wieder vor das Zelt und lausch- ten nach den feindlichen Fliegern. Nichts! Nur das Meer rauschte. Allmählich verstummte drüben auch der Lärm der Straßen, die Fahrzeuge bogen wohl rechts und links ab und gingen zur Ruhe über. Scharf gegen den Himmel stand der hohe Triumphbogen von Filine. Dort war der Flugplatz unserer Jäger, aber auch dort blieb es still. Gebückt traten wir wieder ins Zelt, tranken weiter und hörten den Abendbericht des Rundfunks. Viel hatten wir dazu nicht zu sagen. Wie es bei uns stand, wußten wir. Wir hörten nur mit halbem Ohr hin. Da dröhnten aus der Ferne die ersten Bombeneinschläge. Die Flak bellte die Antwort. Wir traten vor das Zelt. Der Platz der Jagdflieger beim Arco de Filine lag im grellen Licht der Leuchtschirme, die Leuchtspurmunition flammte gegen den Himmel mit ihren hellen Ketten. Dunkel ragten die Zelte mit ihren Maskierungen aus Strauchwerk zwischen den hellen Dünen auf. Uber dem Meer draußen hörten wir das Rumoren feindlicher, gegen Osten ziehender Flieger. Uns hier schenkte niemand ein paar Bomben, es lag wohl zuviel in den Dünen verstreut, als daß es dem Feind dafürgestanden wäre. Als wir wieder in das Zelt zurücktraten, ertönte uns aus dem Rundfunk das Violinkonzert von Beethoven entgegen. Wie ein dunkler Engel stand dieser Mann mit seinem Bogen mitten unter uns im Zelt, und es war, als quelle aus seiner Dunkelheit ein Licht, das ganz anders blendete als die Leuchtschirme der englischen Flieger.

Brehm / Das Eigene 9

Im Sommer 1919 hatte ich in einem schwedischen Hafen einige amerikanische Torpedoboote gesehen, die Matrosen waren ein häßliches Gemisch aus Gelben und Schwarzen, sie lärmten und waren betrunken, und der wachhabende Offizier mit dem roten Bart, der ihnen mit den Händen in den Hosentaschen untätig zu- sah, nahm sich nicht anders aus als ein Sklavenhändler aus Onkel Toms Hütte. Ich hatte Fieber an diesem Tag, und bei diesem Anblick wurde mir ganz elend zumute; ich schämte mich, daß sich diese Leute als Sieger über uns fühlen und in dieser ruhigen Stadt betrunken lärmen und schreien durften. Abends ging ich in ein Konzert. Ich hörte nicht viel von Cesar Frank und von Sybelius, das alles ging an mir vorüber. Der Kopf schmerzte mich, ich wollte schon nach Hause gehen, da sah ich, daß zum Schlusse noch Haydns Kaiserquartett gespielt wer- den sollte. Wie oft hatte ich es schon gehört! Ja, ich hatte einmal als Gym- nasiast bei einem Schulfest meinem Feind das Cello eingefettet, damit er nicht spielen könne. Aber es kommt immer auf die Stunde an, in der du erreicht wirst. Wie tief es mich mitten ins Herz traf, vermag ich nicht zu sagen. Ich fühlte, was wir verloren, ich ahnte, was zugrunde gegangen war. Das uns heilige Lied wurde in seiner ganzen Weihe entfaltet, seine verborgenste Schönheit enthüllte sich, tauchte aus den Variationen auf, kehrte gewandelt wieder, die Hand hätte ich ausstrecken und rufen mögen: Ach bleibe, bleibe! Du tröstest mich, du machst mich glücklich, ich weine ja nur, weil ich weiß, wohin ich gehöre! Und das wiederkehrende Lied gab zur Antwort: Diese betrunkenen grüngelben Matrosen auf den schmierigen Schiffen in dem Hafen draußen sind ja nicht wirklich, das sind Gespenster. Wirklich bin ich, geblieben bin ich. Die Kaiser sind nicht mehr, die Kronen sind nicht mehr, der Staat ist zerfallen, aber, hörst du mich an, dann weißt du, was ihn einst zusammengehalten hat und was nie untergehen kann, weil ich nicht von dieser Welt bin, und wenn du an mich glaubst, dann wirst du nicht verlassen sein.

Es war im griechischen Feldzug, am Abend vor dem Angriff auf die Thermo- pylen. Unter uns lag die vom Anhauch des frühen griechischen Sommers über- goldete Ebene. Im Osten schimmerte das hier zum erstenmal erblickte Meer auf, das aus dem tälerreichen Gebirgsland das weltoffene Griechenland macht. Aus der Tiefe des Kessels klirrten die vormarschierenden Panzer herauf. Hoch oben, in der letzten Gasse der den Hang hinankletternden Stadt Lamia saßen wir auf einer Terrasse und sprachen darüber, ob es uns gelingen werde, die zurückgehenden Engländer doch noch zu stellen. Die Dämmerung kam rasch. Drüben, an der neuen über die südliche Wand des weiten Kessels führenden Paßstraße blitzten durch den Schleier der Dämmerung die Sprengungen der Eng- länder auf. Woher der junge Leutnant aus dem Rheinland (er ist zu Beginn des russischen Feldzuges gefallen) auf einmal die beiden Flaschen Johannisberger hatte, weiß ich nicht. Er habe sie für die Feier des Einmarsches in Athen mit- genommen, sagte er, als er den Rheinwein auf den Tisch stellte, aber nun, da wir das Meer zum erstenmal sahen, sei dies Grund genug, schon jetzt den Wein zu trinken. Die griechischen Weine seien nicht das Richtige für uns, sie werden, um sie vor zu rascher Gárung zu schützen, geharzt, sie schmeckten dann so scharf, wie ja auch das dunkle Haar der Frauen zu scharf rieche. Der Leutnant schenkte behutsam die Gläser voll, wir hoben sie, blickten einander an und tranken. Es geschah uns da etwas ganz Seltsames. Wir schmeckten nicht nur den guten Wein auf der Zunge, uns wurde so leicht und so frei, der Wein löste etwas in uns, das uns flaumzart und unaussprechlich heiter und lieblich schien. Wir tranken das Blonde der Frauen und das duftige Gelock über éinem zarten Kindernacken, wir tranken das lichte Laub der Buchenwálder und die Wolken-

10 e Brehm / Das Eigene

schatten über windbewegten Blumenwiesen, wir schmeckten Apfelblüten und frische Nüsse, wir atmeten duftendes Heu und blühende Linden, wir tranken das heilige Vaterland selbst und lösten die Lippen von dem Glasrand wie aus einem Kuß.

Wir setzten die Gläser ab und umschlossen sie mit beiden Händen, als hätten wir eine zarte Flamme vor dem kalten Anhauch der Nacht zu schützen.

Jetzt auch kommet ein Wehn und regt die Wipfel des Hains auf, Sieh! und das Ebenbild unserer Erde, der Mond,

Kommet nun auch, die Schwärmerische, die Nacht kommt,

Voll mit Sternen und wohl wenig bekümmert um uns

Glänzt die Erstaunende dort, die Fremdlingin unter den Menschen Über Gebirgeshöhn traurig und prächtig herauf. a

Dumpf hallte von der Südwand des Kelles eine Sprengung herüber. Von der alten ThermopylenstraBe zwischen dem dunklen Gebirge und dem mond- schimmernden Meer fingerte bleich ein kleiner Scheinwerfer unsere Vormarsch- straße ab. Fledermäuse schwirrten an uns so vorbei, wie am Tage die Schwalben vorübergeflitzt waren.

Ich mußte des großen, dicht an der mazedonischen Grenze gefallenen Kana- diers gedenken, der vom Staube der zerfahrenen Straße gelblich gepudert, mit schönem Marmorgesicht und weitgeöffneten lichten Augen wie der geschleifte Hektor dagelegen war, während klein, dunkel und flink, gebückt unter den schweren Säcken, ängstlich nach allen Seiten spähend, die plündernden Griechen die Beute aus dem verlassenen englischen Lager geschleppt hatten. Im Vorbei- fahren hatte ich das mit einem Blick übersehen, schmerzlich war mir der Krieg zwischen den feindlichen Brüdern bewußt geworden, ein freundlicher Blick hatte den Toten gegrüßt.

Im Frühling war's, im Garten von Sievering; die Wiesen waren noch fahl, die Knospen standen schon prall, die Trauerweide neben dem Tor war so hell, als tráufle das Licht des werdenden Jahres durch ihre hüngenden Zweige. Die Veilchen dufteten, die Himmelsschlüsseln leuchteten auf. Beim Stutzen der Büsche hatte mich ein solcher Eifer gepackt, daß ich in der Pause zwischen zwei Stráuchern genau so mit der Schere klapperte und plapperte, wie ich dies als Kind bei meinem Haarschneider bestaunt hatte. Zog ich abends den Rock aus, dann roch der gute alte von den vielen Feuerchen, an denen ich das alte Laub verbrannt, genau so schón nach Rauch wie die Kleider aus der Bubenzeit, wenn wir verbotenerweise im Vorfrühling das dürre Gras an den Bahndámmen ver- brannt oder, wie wir sagten, wenn wir gezündelt und gebrandelt hatten.

Gegen Abend kam ein langer magerer Obergefreiter zu mir auf Besuch, er traf mich beim Feuerchenschüren neben dem im Winter umgestürzten Garten- zaun. Dem jungen Mann mochte mein Feuerchen zu klein, zu hinterlands- und friedensmáBig vorgekommen sein, er hob einige von den morschen Planken auf und legte sie behutsam über das kleine Feuerchen. Dann raufte er ein wenig dürres Gras aus, hockte sich zu mir und schob den Zunder unter die etwas feuchten Planken. „Zäune verheizen“, meinte er, selbstgefállig lächelnd, „das haben wir in Rußland gelernt." Ich sah den hochaufgeschossenen jungen Mann von der Seite an und nickte: „Ja, das lernt man schnell, wenn es kalt wird. Die Russen verstehen es noch besser, ich glaube, die kónnen fast den Schnee zum Brennen bringen." Der Obergefreite blies vorsichtig in die bläulich züngelnden kleinen Flammen: „Allmählich kommen wir auch dahinter.“

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Nun ist dieser Bub, den ich noch als kleinen Kerl gekannt habe, auch schon Soldat. Mir fielen die jungen Landser ein, die ich beim Quartiersuchen in den kleinen russischen Städtchen in den dämmerigen Zimmerchen mit den arm- seligen Zeitungspapiertapeten angetroffen. Sie waren dort schweigend bei den verhármten Frauen der „gewesenen Menschen" gesessen, während ihre Kame- raden mit den drallen Mádchen vor den Haustüren gescherzt hatten. Die blassen Frauen hatten nicht gesprochen und unsere jungen Burschen auch nicht. Die verhármten Frauen hatten wohl an lángst vergangene Zeiten gedacht und unsere Jungen mógen wohl für ein paar Stunden davon getráumt haben, daheim bei ihren Müttern zu sein. Ich hatte leise wieder die Tür geschlossen, wenn mich die Frauen erschrocken und die Landser hilflos angestarrt, beide wohl bangend, ich kónnte durch eine Frage den so zart gesponnenen Traum zerreiBen.

Dieser junge Mann, der im Krieg seine Mutter verloren, hátte ganz gut auch bei einer fremden Frau in solch einem armseligen Zimmerchen sitzen kónnen, und hátten ihn die weniger empfindsamen Kameraden gefragt, was er dort getan, dann hátte er gesagt, er habe Eier kaufen oder ein wenig Russisch lernen wollen. Wieder rupfte der lange Obergefreite ein Büschel Gras aus und schob es in die nun schon helleren Flammen. Er war kurz vor dem Falle Stalingrads verwundet und mit einem Flugzeug aus dem feurigen Kessel gebracht worden. Nun blickte er dem steil aufsteigenden weiBen Rauch nach, und da er meinen Blick gespürt haben mochte, sagte er leise: ,,Den vielen toten Russen haben wir nie ins Gesicht geschaut." Mit einem Stóckchen stocherte er in der Glut herum und machte den Flammen Luft. „Und später unseren toten Landsern auch nicht mehr."

Ich stand auf und brach einen Fóhrenzweig ab, dessen Nadeln ich zwischen den Fingern zerrieb. Hatten wir im ersten russischen Herbst dicht neben der Rolibahn Smolensk—Moskau in den großen Wäldern gehalten, dann hatten die Fahrer rasch mit ein paar Fóhrenzweigen das Auto gegen Fliegersicht getarnt. Ging dann der Vormarsch weiter und wurden die Maskierungen abgeworfen, dann zermalmten die Räder die frischen Zweige, die genau so herb dufteten wie die Nadeln, die ich zwischen meinen Fingern zerrieb. Durch den aufsteigenden Rauch des Feuerchens im Garten zu Sievering sah ich die endlosen Sandwege, die weit in das Land hinauswandernden Staubwolken, die verwahrlosten dichten Wälder, die dunklen moorigen Seen mit den weißen Wasserrosen und das lichte verfallene Schloß jenseits des Wassers, das im Abendlichte so neu erstand, als wäre es nie zerstört worden und seine Menschen und seine Zeit nicht verdorben und versunken.

„Den Arm kann ich schon wieder heben", meinte der junge Mann, der vom Spital her noch ein wenig blaß und spitz war, „in der nächsten Woche rücke ich wieder zu meinem Bataillon ein."

„Ja, die Kompanie, das Bataillon! Die Kameraden!" sagte ich. „In Afrika bin ich aus der Alamein-Stellung zurückgefahren, da sind an der schwarzen StraBe ein langer Leutnant und ein kleiner Feldwebel gestanden, die haben mich ge- beten, sie mitzunehmen. Bis wohin ich sie mitnehmen solle, habe ich gefragt, und woher sie denn kommen? Bis zum náchsten Spital, hat der Leutnant geant- wortet, und sie kommen aus der Stellung. Sie beide hätten, habe ich darauf gesagt, schon lángst in ein Spital gehórt, denn dieser Leutnant und dieser Feld- webel sahen so heruntergekommen aus, daB sie ihre zu weit gewordenen Hosen, sollten ihnen diese nicht bis zu den Knien rutschen, vorne mit beiden Händen zusammenraffen und hochhalten mußten. Sie waren so blaß und so mager wie Gespenster, sie konnten kaum geradestehen, man sah ihnen die schwere Ruhr auf den ersten Blick an. Im Spital, hat darauf der Leutnant erwidert, seien sie

12 Brehm / Das Eigene

wohl schon gewesen, aber da haben sie von der Offensive Rommels gehört, und da seien sie heimlich ausgerückt, um auch mit dabei sein zu können. Aber nun habe sie ihr Bataillon wieder zurück ins Spital geschickt, und dahin möge ich sie mitnehmen.

„Aus dieser Offensive ist wohl nichts geworden?“ fragte der Obergefreite.

„Nichts geworden, mein Lieber.“

„Und wir haben euch schon in Alexandrien gesehen."

„Wir uns auch. Der Leutnant und der Feldwebel hätten sich in ihren zu weiten Hosen auch mitgeschleppt, denn die wollten auch dabei sein.'

„Und die Italiener?" -

„Ithaker sagen unsere Landser zu ihnen. Die Ithaker tun, was sie können.“

„Viel ist das wohl nicht?"

„Sie begreifen das Unerbittliche dieses Raees nicht. Manche sind sehr tapfer, sie fahren mit ihren schlechten Panzern vor und lassen sich zusammenschießen. Aber das sind dann Bravour-Arien. Die breite Masse des Volkes und der Sol- daten versteht gar nicht, worum es geht. Das ist kein Krieg auf ihre Art. Bei Homer schreien die Helden auf, klagen sie, jammern sie. Wenn wir oder wenn die Engländer über die zerstörten Städte klagen wollten, dann hieße es auf beiden Seiten: Was klagt ihr denn? Ihr versteht es wohl nicht, gelassen Schläge hinzunehmen. Das sind zwei Welten, lieber Freund, die einander nie verstehen werden."

„Die Russen klagen auch nicht", sagte der Obergefreite.

„Nein, die klagen auch nicht. Die sterben stumm, Sie sind vielleicht noch weiter von der Welt des Mittelmeeres, von den schónen und von den sich so menschlich gebenden Menschen entfernt als wir. Wenn du die russischen Dich- ter lesen wirst, dann wirst du sehen, wie fremd ihnen diese Menschen des Südens sind, fast lácherlich kommen sie ihnen vor.'

„Und doch haben die Italiener eine heroische Kunst!”

„Das ist das römische Erbe, das dieser eine Mann erwecken will. Das andere ist groBe Oper mit Heldentenóren. Die Kunst ist der Ausdruck dessen, wonach man sich sehnt. In ihren kühlen Kirchen schauen die lebhaften Italiener herum, fáchern und lácheln und lassen sich gehen. Unsere Leute sitzen still und stumm in unseren von Leidenschaft und Unruhe erfüllten Kirchen. Was wir verschwei- gen, was wir nicht durch Gebärden oder durch Worte auszudrücken vermögen, verrát einzig und allein unsere Musik."

„Du meinst also, daß die Kunst immer das Gegenteil von dem ausdrückt, was ein Volk selbst ist."

. „Nicht gerade das Gegenteil. Aber Kunst und Leben ergeben zusammen erst das, was ein Volk ist. Die langweiligen Englánder haben in ihren Romanen alle Heiterkeit und allen Witz, für die in ihrem Leben selbst kein Raum zu sein scheint.“

Es war ganz dunkel geworden. Der Rauch hatte sich verzogen. Am Rande des Feuers rollte sich das verbrannte Gras weiß ein. Die Flammen standen steil und hell. Wir hielten unsere Hände über das Feuer, die Finger wurden rot wie glü- hendes Eisen. Ein paar unter das Laub geratene Kastanien krachten in der Glut.

„Sag einmal, mein Lieber, dichtest du vielleicht?“ fragte ich meinen jungen Gast.

Der Obergefreite machte sich wieder mit dem Feuer zu schaffen und schwieg. Ich konnte nicht erkennen, ob Glut oder Blut seine Wangen röteten. Da er nicht

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Brehm / Das Eigene 13

antworten wollte, versprach ich ihm, niemandem etwas zu verraten, er könne es mir ruhig eingestehen.

Er sah mich von der Seite an: „Hast du gedichtet, wie du so alt warst wie ich?“

„Und wiel Wild drauf los! Ganze dicke Hefte voll. Hymnen, Sonette, Lieder, was du nur willst. Und dazu jeden Tag fast an dir Braut ein Gedicht in einem Brief aus dem Feld.“

„Und was waren das für Gedichte?“

„An den Abend, an den Morgen, an die Nacht, an den stillen Mittag, an die Stunde des Pan, an die Geliebte, an die Sterne, an den Mond, an den See, an das Wasser, an die Erde, an Gott und an die Welt.”

„Gute Gedichte?“

„Keine guten Gedichte, gutgemeinte vielleicht. Aber, wie gesagt, vor allem viele die Hauptsache aber, sie haben mich glücklich gemacht."

„Und mich die meinen auch", gestand der Obergefreite. „Gute Gedichte?" wollte ich nun wissen. * „Wenn du erlaubst, ich glaube, sie werden wie die deinen sein."

„Dann ist alles gut. Das gehört sich so für einen deutschen jungen Mann in ernster Zeit. Aber was dichten heute Obergefreite in RuBland und auf Urlaub in der Heimat?"

Der Obergefreite láchelte: ,Ich glaube, da hat sich wenig geándert: Wetter- meldungen, Beleuchtungsangaben, Windstárken, Tageszeitenfeststellungen, bota- nische Exkurse, astronomische Betrachtungen, seelische Standortsrapporte und Urlaubswünsche in gehobener Sprache.“

„Gut, mein Sohn. Aber du siehst daraus, wie recht ich hatte, wenn ich meinte, daß die Kunst aus der Sehnsucht erwächst. Im Kriege dichten wir vom Abend- frieden, und beim Abendfrieden rufen wir uns die Tage des Krieges zurück. Drum nütze jetzt die Zeit zum Lernen. So viel Zeit wie als Soldat im Feld wirst du später nie wieder haben.“

„Zeit wohl, aber keine Lehrer.“ |

„Die Lehrer mußt du dir suchen. Wir hatten während des ersten großen Krieges genug Gelegenheit, etwas zu lernen. Und was man in diesen Tagen lernt, vergißt man nie mehr. Mir hat während der Gefangenschaft in einem russischen Spital ein preußischer Hauptmann die Arien aus den Mozart-Opern vorgepfiffen und ich habe später nie wieder so den Glanz und die Süßigkeit dieser Melodien ge- hört wie damals, als ich sie in mich hineingetrunken habe. Um uns herum ist so viel Kunst und Kultur gehäuft, daß wir das alles ganz selbstverständlich hin- nehmen, wir sind überfüttert. Aber in der Kargheit der Kriegstage sinkt das wenige, was wir in uns aufnehmen, viel tiefer in uns hinein, was wir da auf- nehmen, das bleibt. Dieser Krieg an der Zeitwende zerstört so viel, daß wir alles, was wir uns heute ansehen, so anschauen müssen, als sähen wir es zum aller- letzten Male."

„Ja, es geht viel zugrunde. Wir werden es nie mehr ersetzen können.” „Wenn wir selbst nicht zugrunde gehen, werden wir Neues schaffen können.” „Aber das verlorene Alte können wir doch nie mehr erreichen.”

„Aber wir werden immer ahnen können, wie es einmal gewesen ist. Wie du . heute noch an einem erhaltenen Glasfenster eine ganze Kathedrale in ihrer kaum vorstellbaren Schönheit erträumen kannst, so wird unseren Enkeln einmal unsere Musik helfen, zu ahnen, wie das Zerstörte gewesen ist. Wie einst die eingestürzten Gewölbe, die geborstenen Pfeiler, die verbrannten Altäre und die

14 | Brehm / Das Eigene

zerschmetterten Engel ausgesehen haben? Ach, sie alle hatte der gleiche Atem durchweht, der Bach, Mozart, Haydn und Beethoven beseelt hat. Sie hat das gleiche Feuer verschlungen, das sich auf den Bildern des Hieronymus Bosch an- gekündigt, die gleichen Maschinen haben sie zerstört, die unsere frühe Kunst vorausgeahnt, die gleichen Dämonen haben sie vernichtet, die im steinernen . Wald unsere Dome gefesselt und gebannt waren. Die im Guten so tiefe, milde und holde nordische Welt, die menschenferne, ist im Bösen hart und erbarmungs- los. Aber das, was in allen unseren Bildern an Unbegreiflichem noch da ist, es lebt in der Musik weiter, und dort kann es nicht getroffen und vernichtet wer- den, solange wir selbst noch leben. Und wenn du unsere Soldaten marschieren siehst, dann wirst du wissen, wie viele von diesen Geheimnissen noch in unserem Volke leben. Und da du bald wieder in ihren Reihen stehen wirst, wejBt du ja auch, wofür du marschierst.“

Das Feuer war ausgegangen. Wir standen auf. Mein Obergefreiter reichte mir die Hand und ging. Ich sah ihm lange nach, denn ich sah ja nicht nur ihn allein fortgehen, sondern so viele mit ihm, die wir liebhaben und an denen unsere Herzen noch ganz anders hängen als an allen Schätzen unserer Kunst.

Wiedergeburt d

Wenn Ole liebe Welt verfinkt,

weil mein Herz am Born der Sehnſucht trinkt, wenn es dunkelt In der Schlucht und raufcht, weil mein Mund Ole Liebe mit der Tiefe taufcht, wenn ein goldner Funke auf dem Antlitz bebt, das fich träumend aus dem Leld erhebt,

wenn die weißen Blüten an dem Baum zärtlich ſchwingen über meinem Traum, wenn Die Bienen Summen und die Welt

felig wieder in mir Einzug hält,

dann, gellebte Mutter, mar ich dein.

Froh geh’ ich durch dich Ing Leben ein.

Klage

Immer noch kenne ich nicht des wogenden Meeres Geheimnis. Weiß nicht, warum ee mich lockt, weiß nicht, warum es mir droht. Immer noch kenne Ich nicht der ſcheidenden Küfte Geheimnis. Weiß nicht, warum fie mir Troft, trauervoll felber, gewährt. Immer noch kenne ich nicht der grünenden Erde Geheimnis. Weiß nicht, warum fie dem Tod, dem fie verfallen, entblüht. Immer noch ift mir ver(legelt der vielgeftaltigen Tiere

ſtumme Bedeutung. Es grüßt liebend und ſchaudernd mein Blut. Immer noch kenne ich nicht der Nacht und der Sterne Geheimnis. Fremd ift mein eigener Blick mir, ber Ich Kinder gezeugt.

Immer noch kenne ich nicht der Nacht und der Sterne Geheimnis, das mich mit Frieden umgibt mitten in Kampf und Gefahr.

Ringe um mich ftürzt die Welt in taufend Trümmern zufammen. Immer noch kennt fie nicht der, den fie im Sturze begräbt.

15 Wind aus dem Often

freudlos wehen die Winde, das Antlitz ſchmerzend, von welther.

Graue Ode umfegt hart unfer nacktes Geficht.

Ift es nicht felber khon ftarr und gedulvig und flach wie des großen

Landes Geſicht, das den Sturm unmiflend trägt, unbemegtt Stirnenverwandelnder Wind, du erfüllt uns die Höhlen der Augen,

und die Träne entftürzt. Graufamer wird unfer Blick. - Wind weht Durchs Haupt uns und Wind Durch des Herzens verödete Kammern. Staub find deine Völker, nur Staub. Und es verweht fie der Wind.

Afiene fteinerne Götter, die unzugänglichen, meifen,

thronen lächelnd und fremd hoch auf dem Dache der Welt.

Flug über dem Schwarzen Meer

Nichts Feftes mehr da unten und hier oben!

Mein Herz iſt nun zum Mittelpunkt erhoben.

Des Meeres Kraft, des filbern überlonnten,

umwogt es weit mit zarten Horizonten.

Von ihm aus führt ein ſeder Weg ins Große.

In meiner Bruft erblüht die helle Rofe

der Winde, die um ihren Uríprung hreifen.

Aue grüner Flut hebt der gebanhenleifen,

der weißen Möwen kühner Tanz die Schwingen.

Aus meinem Herzen will die Welt entipringen.

Schon hüllen feſtlich ſich in veilchenblaue

Gemänder neue Götter, die ich ſchaue.

Dort, wo fie ſchillernd aus den Waffern ftelgen,

fteht eine Stadt am Meer in tiefem Schweigen.

Noch ift fie dDächerlos und ſchwarz von feuern,

die längft erloſchen. Doch den Dienft erneuern

am ungefügen Altar fromme Hände.

Wie leuchten jung der Opferfeuer Brände!

Wie weht der Wind fo rein! Die Tropfen glänzen

an jedem Zweig. Geſchmückt mit Blütenkränzen,

des Volkes Genien heilige Häufer fügen.

Die Frauen ſtehn am Quell mit goldnen Krügen.

Der Knaben Antlitz, ſonnenklar vollendet,

dem Werk der Weifen ift ee zugewendet,

da es von Spielen glüht und von Gelängen.

Und alle ſpeiſt der Tifch, zu dem fie Drängen.

Von Brot und Wein gelabt im tiefften Grunde

wird Dank und Preis das Wort in ihrem Munde.

Schon hüllen feſtlich ſich in veilchenblaue

Gewänder neue Götter, die ich ſchaue.

Hoch über Land und Meer will ich ſie loben.

Es ftrahlt mein Herz, zum Mittelpunkt erhoben! Gefr. Dr. Hane Gftettner

Heinrich Zillich: Anekdoten aus dem Krieg

„Habt acht I^

Die Bücher melden, daB der groBe Krieg im Herbst des Jahres 1918 zu Ende war. In Wirklichkeit glomm er in düsteren Feuern an den zerfetzten Grenzen weiter, schlug auch in Flammen empor und fiel erst in Asche, nachdem mancher Mutter Sohn viele Monate später ins Gras gebissen hatte. Die Soldaten Usterreichs, die in die neuen Staaten im Osten heimkehrten, wuBten ein Lied davon zu singen, denn der Sterz wollte nicht warm werden in ihrer Faust, und bald rief man sie auf zu den alten Regimentern, die nun neue Nummern trugen und auf neue Kriegsherren vereidigt, noch rasch, ehe es wirklich Frieden wurde, gegen einen neuen Feind marschieren mußten, der aus lauter Frontkameraden bestand.

So fochten einstige Soldaten des Kaisers wider einander, die in ungarischen Heeren gegen solche in rumánischen, tschechischen und serbischen. Sie alle hatten vordem, gleichgültig wie ihre Muttersprache gewesen sein mochte, auf das deutsche Kommando „Habt acht!" in einem Glied die Absätze zusammengeschlagen; ihre Väter hatten es ebenso getan beim Ruf des alten Befehls, der schon zu jener Zeit erklang, als Prinz Eugen die Standarte des Reichs über dem Osten entfaltete. Nun übten die letzten kaiser- lichen Soldaten die gewohnten Gewehrgriffe auf ungewohnte Kommandos einer neuen Sprache, die ihre Muttereprache war oder auch nicht. Das gelang ihnen zwar, doch ihr Lerneifer blieb gering nach vier Jahren Sieg und Niederlage. Sie wären lieber daheim gesessen, hátten gepflügt, gesát und Kinder gezeugt. Aber man hatte sie nicht gefragt, als es 1914 ins Feld ging und sie jubelnd gehorchten, und man fragte sie auch jetzt nicht nach ihrem Willen. Sie stellten sich ins Glied, lieBen sich führen, und manche schlichen in der Nacht davon, bis die Gendarmen sie wieder holten. .

Eines Abends zog eine solche Kompanie in zerschlissenen Uniformen, deren Flecken aus den Schützengráben des Isonzo stammten, nach langem Marsch durch den kalten Regen des Jahres 1919 in ein Dórfchen ein, das die ebenso bekleideten Soldaten des Feindes schon verlassen hatten. Man stellte Vorposten aus, begann tüchtig abzukochen, denn Schafe und Schweine zeigten damals die merkwürdige Neigung, den Truppen in Massen nachzulaufen, und nachdem man in den vollen Bauch noch eine Feldflasche Wein gegossen hatte, denn auch Fásser rollten damals zahlreich den Soldaten nach, hángte man die FuBlappen zum Trocknen in die Zimmer einer leeren Schule auf, und dann lagen die Männer bald auf dem Ohr. Die drei Offiziere, die miteinander deutsch sprachen, weil sie es früher getan hatten und weil ihr Mutterlaut nicht der gleiche war, suchten ihr Quartier in einem Bauernhaus, wo sie am Herd zusammenrückten und gähnend und schláfrig Erinnerungen aus dem großen Krieg austauschten.

Einer sagte, die Vorstellungen des Volkes vom kleinen Krieg, den sie nun erlebten, seien manchmal verwunderlich; da habe ihn ein alter Bauer gefragt, gegen wen der Kaiser aufmarschiere, und eei ohne Begreifen dafür gewesen, als er zur Antwort erhielt, seine Volksbrüder hätten ihn, den Bauer, befreit und der Kaiser könne nicht eine Rotte mehr in Bewegung setzen; so 80, habe der Bauer erwidert, dergleichen hóre man, aber der Herr Leutnant móge ihn ernsthaft belehren, gegen wen der Kaiser Krieg führe.

Zu dieser Erzáhlung schüttelte der andere Leutnant, der wie der Bauer zum Volk gehórte, in dessen Heer sie alle standen, unwillig den Kopf und meinte: in Osterreich- Ungarn sei das SelbstbewuBtsein manches armen Teufels verdorrt, wogegen der erste Leutnant, ein Deutscher, einwandte, und seine erschópften Züge belebten sich etwas: der Bauer habe im Kaiser wohl noch die alte reichhafte Ordnung gesehen, die alle Vólker im Osten vereinige.

Na ja, winkte der Oberleutnant ab, solche Zeiten seien endgültig vorbei.

Sie schwiegen ein Weilchen versonnen, tranken und rauchten, dann sprachen sie vom Vormarsch, der morgen weitergehen werde, allerdings mangele es an geeigneten Wegskizzen. Ach was, tróstete der Oberleutnant, er marschiere halt bis an den Rand seiner Karte!

Mit diesem Witz erhob er sich, streckte die Arme und rief nach dem Burschen im Vorraum, sich die Stiefel ausziehen zu lassen, doch der kam nicht, auch die Burschen der anderen waren verschwunden. Als der jüngste Leutnant die Haustür óffnete, um ins Freie hinauszurufen, prallte er an einen der gesuchten Soldaten, der lallend zwei Stall- eimer voll Wein über die Schwelle hob, sie abstelite und sich den Schweiß wischte.

Zillich / Anekdoten aus dem Krieg 17

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Dabei beqann der Kerl albern zu lachen und verriet auf die scharfen Zurecht- weisungen der Offiziere, daß die Kompanie sich samt und sonders auf die Strümpfe gemacht habe um den Keller eines reichen Händlers zu leeren, und da sollten die Herren Offiziere doch nicht zu kurz kommen.

Verdammt, nach dem saumäßigen Marsch, nach dem fetten Essen sind die Kerle noch zu einer solchen Schandtat bereit! fluchte der Oberleutnant in zornigem Erstaunen und rannte in den Regen hinaus der Schule zu.

Als er mit seinen Kameraden dort eintraf, fand er die Angaben des Burschen be- stätigt, und was er noch nicht wußte, erfuhr er von den grölenden, völlig betrunkenen Soldaten, die bereitwillig erzählten, daß sie alle schon geschlafen hätten, als einer von ihnen, der Bolschewik, wie sie ihn nannten, weil er in Rußland in Gefangenschaft gewesen war heimlich, damit es die Unteroffiziere, deren Quartier im oberen Stock lag, nicht merkten, den einen weckte, dann den nächsten, und ihnen verriet, in der Nähe wohne ein reicher Schaf- und Weinhändler, ein Jude; und einer nach dem anderen zog leise davon, auch der Unteroffizier vom Tag kam mit, und bald kehrten sie zurück voll des Weins und brachten Schafe, die sie abstachen, ohne sie zu braten, denn ihre. Bäuche waren vom Abendessen noch dick, ach, es sei eine verdammt feine Sache gewesen.

Wogend und jubelnd umringten sie die Offiziere, boten ihnen Wein an und mühten sich nur wenig. Haltung anzunehmen, als sie, statt Freude zu ernten, in einer Weise angebrüllt wurden, daß ihnen sonst Hören und Sehen vergangen wären,

Aber sie waren außer Rand und Band, hatten schon vorhin die Befehle der Unter- offiziere mißachtet, die den Unfug zu spät entdeckt, und ließen sich jetzt nur mit Mühe in den großen Schulraum bringen, wo der Oberleutnant, bleich vor Empörung, erklärte, er werde dem Rädelsführer fünfundzwanzig aufzählen lassen.

Als hätte dieser darauf gewartet, trat er in die Stube und schrie, im Keller stehe der ausgeflossene Wein so hoch, daß man darin schwimmen könne, doch jählings ver- stummte er verdutzt, von festen Unteroffiziersfäusten gepackt, deren er sich gleich darauf zu erwehren versuchte, wobei er mit verzerrtem Mund die stillgewordene Menge auf- hetzte, den Offizieren den Schädel einzuschlagen. Die Betrunkenen, davon in rasende Wut versetzt, schoben sich tobend heran; es schien, als müßten die Leutnants beim nächsten Atemzug von der Ubermacht vernichtet und zertreten werden.

Einer der Bedrohten riß die Pistole heraus, die hier nichts mehr retten konnte, der zweite taumelte fassungslos an dıe Wand; da aber, während ihm schon hundert Hände nach der Brust faßten, rief der Oberleutnant ein einziges Wort in den Raum, ein Wort, das diese ehrlichen Soldaten, die nur von der endlosen Dauer des Krieges verwirrt waren, immer willig befolgt und jahrelang gehört hatten, nun aber‘\seit Monaten nicht mehr, das deutsche Befehlswort: „Habt acht!”

Und das alte Kommando, so selbstverständlich gerufen wie jemals in den Jahr- hunderten kaiserlicher Ostherrschaft, es bannte die Sinnlosen auf den Fleck. Die Waffen, bereits von der Wand gerissen, sanken, die Unteroffiziere sprangen vor und standen als Schutzwall vor den Leutnants, und schon ertönte der zweite Befehl: „Im Hof ohne Gewehr antreten!”

Rascher als je vergatterte sich die Kompanie draußen. Der Regen fiel. Es war dunkel und kalt. Und alle wußten, was nun folgen mußte nach dem Soldatengesetz.

„Nieder!“ brüllte der Oberleutnant, und die Kompanie warf sich in den aufgeweichten , Boden.

„Aufl“ und sie stand.

In harter Eintönigkeit ließ der Offizier, die Beine breit und die Fäuste in die Hüften gestemmt, seine Leute sich hinlegen und aufspringen, bis sie den letzten Rest des Rausches aus den keuchenden Lungen gestoßen hatten.

Erst nach geraumer Zeit merkte er, daß er deutsch kommandierte. Ohne mit der Wimper zu zucken, fiel er in die Befehlssprache des Heeres, dem sie zuletzt zuge- schworen hatten.

Der wegbefohlene Hunger

Im August 1917 brannte im Bisortetal die Drahtseilbahnstation samt den Verpflegs- lagern einer Gebirgsbrigade ab, wodurch bei den hoch auf dem Monte Pasubio liegenden

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Zillich / Anekdoten aus dem Krieg 19

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Kompanien Schmalhans für einige Zeit Küchenmeister wurde. Nun mögen kampf- erprobte Soldaten, wie es diese waren, die zu den besten Österreichs gehörten, in allen Lagen die Stirne gegen den Wind recken, wenn ihnen aber der Fastenspeichel in die Zähne läuft und der Magen knurrt, knurren sie mit dem Mund. Doch ehe dies geschieht, wird ihr Offizier Himmel und Hólle in Bewegung setzen, um die EBschalen zu füllen.

Ein Oberleutnant, der dafür bekannt war, daB er vor Untergebenen und Hóheren die Ohren steif hielt, rief von der Gratstellung táglich mehrmals beim Regimentsstab an und erklärte, seine Kompanie fráBe schon Fliegen und Läuse und sei imstande, alles kurz und klein zu schlagen, wenn sie nicht die vorgeschriebene Menge an Brot und Fleisch empfinge und was ihr sonst zustehe.

Sein Eifer half ihm wenig, und als er schließlich einsah, daß er noch vier oder fünf Tage lang mit Mann und Maus weiterhungern müsse, bemühte er eich, den Soldaten, die sich bei ihm über die mangelhafte Verpflegung beschwerten, die Gründe der Not darzulegen. Doch gab es einige, die sich nicht überzeugen lassen wollten und heimlich gegen ihn hetzten. Da entschied er sich, die Unzufriedenheit einfach wegzubefehlen.

Er ließ die Kompanie hinter dem Grat, auf dem die Schützengräben verliefen, antreten, und. zwar in Reih und Glied, Zug hinter Zug wie auf dem Kasernenhof, Gewehr geschultert, als ginge es zum Exerzieren. Aber die hier auf dem steilen Hang warteten, blickten besorgt um sich und glaubten, der Offizier habe den Verstand verloren, denn fiele es jetzt den [Italienern ein, eine einzige Wurfmine herüber- zuschicken, was sie tüglich taten, und gerade auf diese kahle Lehne, so müsse die ganze Kompanie in die Luft sausen.

Doch das scherte den Oberleutnant nicht. Er prüfte sorgsam die Richtung jedes Zuges, ging langsam von Mann zu Mann, musterte alle, rückte hier an einer Patronen- tasche, dort an einem schlechtgerollten Mantel, nahm ein Gewehr in die Hand und blickte durch den Lauf, ob er sauber sei, schimpfte, weil ein Soldat die Bergstiefel nicht geputzt hatte, und benahm sich wie ein Feldwebel, der vor einer Parade die letzten Stáubchen von den Uniformen wegpustet.

Nach einer halben Stunde erst, wáhrend es den meisten eisig ums Herz wurde und alle immer häufiger in die Luft blinzelten, ob dort das scheuDliche Heulen nicht nahte, ließ er stillstehen und verlas den Kompaniebefehl von einem Blatt, genau so, wie es im Hinterland geschah, und der hatte folgenden Wortlaut: „Ich befehle, daB die Kompanie von heute ab keinen Hunger mehr hat", kommandierte dann „Abtreten!“ und blieb mit den Offizieren ein weiteres halbes Stündchen rauchend und in heiterem Gesprách auf dem gefáhrlichen Platz.

Fortan beschwerte sich niemand über die dürftige Nahrung und jeder wartete geduldig, bis der Zuschub wieder in Gang kam.

Der RiB im Rock

Während des Alpenkriegs vertrieben sich manche Offiziere die Langeweile in den einsamen Stützpunkten mit den tollsten SpáBen und Einfállen. Einer dieser jungen Männer, ein Oberleutnant bei den Jägern, verblüffte die Kameraden häufig durch die Kunst, das preuBische Stakkato nachzuahmen, wie er es nannte, also jene abgehackte Redeweise, die von den Witzbláttern damals den Offizieren gern angedichtet wurde.

Eines Abends kam er'zum Regimentsstab, der gerade beim Essen eaB, grüBte den Oberst, setzte sich und erhielt sogleich aufgetischt. Da entdeckte ein Leutnant an seinem Rock einen Riß und deutete darauf.

„Tatsächlich Riß!“ antwortete der Oberleutnant und fuhr fort: „Besichtigte näm- lich, meine Herren, vor einer Stunde Stützpunkt 6. Gehe ans Drahtverhau. Bemerke, Posten gegenüberliegender italienischer Feldwache legt auf mich an. Sehe Mündung seines Gewehrs als Ring. Kopfschuß demnach unvermeidlich. Schicke mich drein. Sache von einer halben Sekunde gewesen. Da, als ich schon die Kugel in der Stirn zu fühlen glaube, plötzlich Blindgänger einer Gebirgshaubitze, auf mich abgefeuert, rast nieder. Blindgänger und Kugel in der Luft zusammengeprallt. Ich folgerichtigerweise unverletzt geblieben. In leichtem Schreck ins Drahtverhau gefallen. Daher Riß!“

Wandte sich um, während alle nach Atem schnappten, zog den Rock aus und rief: „Ordonnanz, náhen!", warf ihn dem Soldaten zu und ruhig weiter.

20 Zillich / Anekdoten aus dem Krieg

Dieser Oberleutnant wurde etliche Tage später mit einem Schuß durch die Brust ohnmächtig vom Stützpunkt 6 herabgebracht. Als die Bahre beim Hilfsplatz des Regi- mentsstabs eıntraf, liefen dessen Offiziere heran, fragten die Träger nach den Um- ständen der Verletzung und bedauerten den Kameraden.

Da öffnete er die Augen, betrachtete sie schweratmend der Reihe nach, und wie er schließlich auf seinem Oberleib ausgebreitet den blutigen Rock entdeckte, darin er verwundet worden war, hob er ihn mühsam in die Höhe, sah die Einschußöffnung und sagle trocken: „Tatsächlich RiB!"

Dann fuhr er fort: „Diesmal fehlte Blindgänger. Brustschuß unvermeidlich“, warf den Rock zur Seite und röchelte: „Ordonnanz nähen!”

Während die Kameraden zwischen Lachen und Befremden noch schwankten, flüsterte er: „Schicke mich drein —." Hierauf schloß er die Augen und verschied.

Die Zielscheibe

Der Fähnrich Heinrich F., der mit seinem Regiment zu Beginn des Weltkrieges ins erste Gefecht kam, merkte dabei, daß die noch unerfahrene Mannschaft unter dem serbischen Feuer ihre Ruhe verlor und zu hastig und ohne zu zielen schoß.

Sofort erhob er sich und stand aufgereckt zwischen den Schützen wie auf dem Exerzierplatz, als übte er dort die Schwarmlinie ein. Wie er es hundertmal im Frieden getan, rief er auch hier die Soldaten mit Namen an, befahl, den Gegner ordentlich aufs Korn zu nehmen, langsam abzudrücken und das Gewehr nicht zu verreißen, und gab ihnen mit solchen altgewohnten Worten Mut und Zuversicht zurück.

Ihr nun treffsicheres Schießen leitete er auch weiterhin aufrecht und schien lange Zeit gefeit zu sein gegen die serbischen Kugeln, bis ihn endlich doch eine niederwarf. Da rief er, im Sturze noch die Kämpfenden aufpeitschend und dem Sieg verschworen: „Seht ihrs, wie lange die da drüben brauchen, um einen Mann zu treffen, der wie eine Ziel- scheibe steht!‘

Winterſonnenwende Von Martin Rafchke - gefallen im Often 1943

Steht / Pferde / fteht! Der Jahrhrelo tft geendet / des Nordlands Völker fenken tief ihr Haupt

voll Hoffnung / Daß Ote Zeit (ich endlich wendet / die fie Der Sonne Blick fo lang beraubt.

Der Alpen Kämme ſchon / die holde Ferne / das Band der Flüffe Pferde / greift nur aue! Nah tft die Weltenzeit / wo Sommerfterne erhellen froh der Erde grünes Haus.

In Eis und Schnee begraben alle Zonen /

gefroren blickt der blaue See herauf.

Du / ſchõnes Land / in dem die Deutſchen wohnen / mach wieder deine blauen Augen auf!

' Eilt / Sonnenpferoe / eilt! Die goldnen Lanzen meri" th mit Macht durchs dunſtende Gezelt. Die Nebelfahnen flattern / doch wir pflanzen des Lichtes Zeichen in die Winterwelt.

/ P

Mirko Jelusich:

Der Mann der Geschichte“

Es gibt wohl kaum eine Zeit, in der sich der Wellenschlag der Geschichte zu so unerahnt riesenhaften Wogen auftürmte wie in der unsern. Wir erleben die sich über die ganze Erde erstreckende Entladung einer Krise, die, wo nicht schon mit der Reformation, so doch gewiß mit der Aufklärung des 18. Jahr- hunderts begann und, während des ganzen 19. Jahrhunderts latent fortgesetzt, sich mit jeder falschen wirtschaftlichen Auswertung jeder neuen Erfindung, mit jeder Verschlechterung der Lebensbedingungen der breiten Masse verschärfte. Denn darüber ist sich wohl niemand, der die Stürme dieser Zeit denkend- mit- erlebt, im Zweifel, daß das Grundproblem des gegenwärtig tobenden Kampfes ein soziales ist: unter furchtbaren Geburtswehen ringt sich ein Neues ans Tages- licht, bestimmt, sowohl das schlechte Uberalterte des Kapitalismus wie die trügerische Scheinlösung des Marxismus zu überwinden. Mag es bei den ver- schiedenen Völkern, bei denen es fast gleichzeitig seinen Herrschaftsanspruch siegreich anmeldete, verschiedene Namen und zum Teil selbst verschiedene Formen haben immer ist es auf einen und denselben Kern zurückzuführen: auf die soziale und nationale Revolution, die endlich darangeht, den Wurzeln des unter der Scheinordnung der Zivilisation fortwuchernden Chaos zuleibe zu rücken und es durch eine wahre, durch eine naturgemäße Ordnung zu ersetzen.

Wenn man sagt, die von unserer Generation zu lösende Aufgabe sei ein soziales Problem, so könnte dies den Anschein einer Hinneigung zur mecha- nistischen Geschichtsauffassung erwecken, die alles Weltgeschehen auf mate- rielle Notstände zurückführen und daraus alle wirtschaftliche, politische und schließlich kulturelle Entwicklung ableiten will. Diese Auffassung, würdig der Zeit, in der sie entstand, des-mechanisierten Maschinenzeitalters, der Anbetung von Kraft und Stoff ohne den Geist, der beide beherrscht, ist heute überwunden. Die Taten der Geschichte und alles, was die Menschheit weiter und höher führte, gingen nicht von einer amorphen Masse aus, die stets nur zu geneigt war, in den Sumpf ihrer Trägheit immer tiefer zu versinken, sondern von den einzelnen, in deneh sich kristallisierte, was in den Vielen als dumpfe, hilflose Sehnsucht vegetierte. „Männer machen die Geschichte!“ Dieses Wort Treitschkes, blitz- artig alle Dunkelheit erhellend, lóst alle Zweifel und stellt das Problem in aller Klarheit vor uns hin. DaB sie freilich nicht Rufer in der Wüste bleiben dürfen, daB die Masse ihnen folgen muB, ist selbstverstándlich; aber und darauf kommt es an sie sind es, die den Weckruf ausstoBen, ohne ihre Stimme bliebe die Welt stumm, ohne ihren Antrieb die Welt tot.

So werden wir den sichersten Maßstab der Kräfte, die unsere Zeit bewegen, erhalten, wenn wir den Mann der Geschichte, das geschichtliche Genie be- trachten, ihn in seiner Wesenheit erforschen, aus den vielen Einzelschicksalen, die das Weltgeschehen im Lauf von Jahrtausenden uns bietet, das allgemein Gültige ableiten, gleichsam die chemische Formel, auf die seine einzigartige Erscheinung zu bringen ist. Dabei wollen wir uns dessen bewußt bleiben, daß die Abstraktion nicht zu weit gehen darf, daB diese Formel nur für einen Teil seines Wesens bestimmt bleibt: denn jeder Mann der Geschichte unterscheidet sich von allen anderen Artgenossen zutiefst, da gerade er eine besonders aus- geprägte Persönlichkeit darstellt; wir wollen indessen zugleich nicht vergessen, daB ihnen allen, Eroberern und Erneuerern, dennoch etwas gemeinsam ist: eine Urkraft, die geheimnisvoll aus den Tiefen ihres Genius aufsteigt und die Welt aus den Angeln hebt, in denen sie schlecht saB.

Zwei Eigenschaften sind es vor allem, die den Mann der Geschichte in seiner hóchsten Steigerung kennzeichnen. Vor allem seine Fáhigkeit, ja, sein seelischer

°) Vortrag, gehalten im Rahmen des „Wiener Dichterkreises im Rathaus zu Wien.

22 Jelusich / Der Mann der Geschichte

Zwang, sachlich zu sein. Kleinere Naturen, mag das Weltenschicksal sie auf noch so exponierte Posten gestellt haben, werden die ihnen gestellten Aufgaben persönlich betrachten und daher auch persönlich zu lösen suchen. Daraus ergibt sich notwendig, daß die von ihnen unternommenen Lösungen, wenn sie über- haupt gelingen, zeitbedingt sind und mit ihrem Erlöschen ebenfalls vergehen. Sachliche Lösungen hingegen gehen, wie schon der Name sagt, von der Sache aus: von der Natur der Dinge. Sie bleiben daher auch natürlich und infolge- dessen dauernd, zumindest solange die Natur der Dinge sich nicht ändert. Denn Sachlichkeit ist Wille zur Ordnung, zu einer artgemäßen, dem zu Ordnenden entsprechenden Einfügung und Verflechtung. So können wir also den Mann der Geschichte als einen Mann der natürlichen Ordnung bezeichnen, als einen im höchsten Sinne des Wortes kosmischen Menschen.

Ebenso wichtig wie diese erste Eigenschaft, das Vermögen einer richtigen Erkenntnis der Weltgesetze, ist auch die zweite: der Wille, ihnen Geltung zu verschaffen. Denn es genügt nicht, das Richtige zu wissen, man muß es auch durchzusetzen verstehen, über alle Widerstände hinweg, die sich ihm entgegen- stellen. Das Beispiel des großen Nationalökonomen List beweist die Richtigkeit dieses Satzes. In seinen Erkenntnissen war List seiner Zeit, ja, seinem Jahr- hundert weit voraus. Aber trotz unablässiger Bemühungen, die schließlich seine Lebenskraft aufzehrten, gelang es ihm nicht, sich durchzusetzen. Bemühungen die Weisheit der Sprache sagt es klar heraus: er mühte sich; aber er war nicht stark genug, diese Mühe fruchtbar zu gestalten. Der Mann der Geschichte aber hat diese Stärke und benutzt sie voll natürlicher Weisheit, bald treibend, bald zurückhaltend, um die platonische Idee seiner Erkenntnis in die Wirklichkeit der Tatsachen umzusetzen.

Damit haben wir die beiden großen Antriebe kennengelernt, die im geschicht- lichen Genie wirksam sind: die Erkenntniskraft, die über bloße Meinung hinaus, bei der nur zu oft der Wunsch der Vater des Gedankens ist, zum Eigentlichen vorstößt, zum Wesen der Dinge und dadurch zu den Möglichkeiten, die in ihnen liegen, und die Willenskraft, diese Möglichkeiten zu gebrauchen und zu Ge- gebenheiten zu gestalten. Der Mann der Geschichte sieht nicht, was zu sehen er wünschte, er sieht, was ist, mag es ihm lieb oder leid sein, und wird daher die Gefahr vermeiden, unter dem Einfluß von Illusionen zu handeln und so not- wendig zu verhängnisvollen Fehlleistungen zu gelangen. Darum wird er auch nie ratlos sein, vielmehr in jedem Augenblick seiner Wirksamkeit, mag seine Umgebung auch vergeblich nach einem Ausweg suchen, wissen,. was er zu tun hat. Er wird in sich hineinhorchen und je nach seiner Natur, von der noch zu sprechen sein wird, entweder sich seine Erkenntnisse zu Bewußtsein bringen oder aber unbewußt der ihn leitenden Intuition folgen und wird zwar nicht einen „Ausweg“, aber den einzig richtigen Weg finden, der dann so selbstver- ständlich ist, daß jeder; der nicht weiß, daB höchste Einfachheit eben das Wesen des Genies ist, sich fragt, warum nicht auch er diesen „natürlichen“ Weg ge- funden habe.

Zusammenfassend also begreifen wir als kennzeichnend für den Mann der Geschichte die Notwendigkeit einer Verbindung von Erkennen und Wollen. Erst diese Verbindung schafft die Tat, die schöpferische Tat. Und so sehen wir denn in dieser das tiefste, ja, das eigentliche und wesentliche Merkmal des großen Erneuerers, des geschichtlichen Genies. Damit gliedert sich unsere Untersuchung in die Beantwortung zweier Fragen: Wie gelangt der Mann der Geschichte zu seiner Tat? und: Worin besteht sie?

Wie bei allen schöpferischen Menschen, z.B. auch bei Künstlern und es ist die Frage, ob der Mann der Geschichte diesen nicht zuzuzählen ist werden wir bei ihm zwei umfassende Typen zu unterscheiden haben: das intuitive Genie

Jelusich / Der Mann der Geschichte 23

und das Genie der Methode. Jenes das von Gott begnadete Sonntagskind, Fortunatus, der in die unerschöpflichen Schätze seines Innern greift und immer Neues daraus hervorholt; dieses der rastlose Arbeiter, der tiefschürfende, nie erlahmende Forscher, der die Schätze der Außenwelt sich zu Diensten zwingt und daraus seine riesenhaften Gebäude formt. Auf staatsmännischem Gebiete sehen wir die beiden Typen etwa durch Cäsar und Cromwell verkörpert, auf militärischem durch Napoleon und Moltke, auf philosophischem durch Leibniz und Kant.

Selbstverständlich muß gleich zu Beginn unserer Untersuchung betont werden, daß diese beiden Typen keineswegs in sozusagen Reinkultur vorkommen, daß vielmehr das intuitive Genie ein reiches Maß an Methodik, das Genie der Methode ebenso ein reiches Maß an Intuition besitzen muß. Cäsars Genieblitze etwa, wie sie in den Schlachten seines reifen Mannesalters immer wieder auf- leuchten, wären umsonst gewesen ohne die jahrzehntelange zähe Erziehungs- arbeit an seinen Truppen: er mußte sich das Werkzeug erst schaffen, um un- gehemmt wirken zu können; andererseits bekennt sich das größte methodische Genie unter den Feldherren, Moltke, eindeutig zur vorherrschenden Bedeutung der Intuition, wenn er die Strategie ein System der Aushilfen nennt. Es gibt ein altes deutsches Sprichwort, das die Notwendigkeit einer Verbindung beider Arten in kóstlich derber Weise ausspricht: , Was nützet ein góldener Kopf ohne einen Hintern von Bleil' Wobei wir allerdings, den Sinn dieses Wortes um- kehrend. feststellen müssen, daß Fleiß und Methodik ohne Intuition erst recht nutzlos sind. |

Wir dürfen hier hinzufügen, daß gerade hier der Punkt ist, der den Mann der Geschichte aufs engste mit seinem Volk verbindet. Denn natürlich wird das intuitive Genie meist unter phantasiereicheren, das methodische unter phantasie- ärmeren Völkern zu finden sein. Hier also werden Abstammung und Blut- mischung eine bedeutsame Rolle spielen, keineswegs aber eine ausschlag- gebende. Denn das geschichtliche, wie das Genie überhaupt hat seine eigenen Gesetze, die sich mit den im allgemeinen gültigen durchaus nicht decken, und deren geheimnisvolles Wesen jeder Forschung zu spotten scheint. Alles, was hier an Forscherarbeit bisher geleistet wurde, gemahnt an die oft weitverzweig- ten Gänge der Borkenkäfer, die sich stets unter der Rinde halten und an keiner Stelle ins Innere des Baumes eindringen. So dürfen wir uns nicht wundern, wenn dem nüchternen Hannover ein vorwiegend intuitives Genie wie Scharn- horst, dem von Phantasie überquellenden Italien ein methodisches wie Cavour entsprang. Selbst innerhalb einer und derselben Familie können wir beide Typen finden, so im preußischen Königshaus, wo dem Methodiker Friedrich Wilhelm L sein stark intuitive Züge tragender Sohn Friedrich II. gegenübersteht.

Die Tätigkeit des Mannes der Geschichte nun, mag er ein Genie der Intuition oder eines der Methode sein, setzt in dem Augenblick ein, wo er in der be- stehenden Ordnung einen Defekt entdeckt, dessen Behebung ihm lebenswichtig erscheint. Dieser Defekt wird gar nicht allgemein auffallen müssen, ja es ist ein Teil der Genialität des Mannes der Geschichte, ihn früher zu entdecken als andere, an unmerklichen Symptomen das schleichende Leiden zu erkennen, das die Existenz des Patienten Staat oder Nation bedroht, wenn das heilende Messer des Arztes es nicht rechtzeitig entfernt. Die Geschichte lehrt sogar, daß nicht rechtzeitig erkannte derartige Defekte selten den genidlen Heiler finden: sie sind zu groß geworden, als daß ein einzelner noch einzugreifen vermóchte. Wir brauchen uns nur der größten sozialen Revolution des Mittelalters, der deutschen Bauernkriege, zu erinnern. Der Notstand war allgemein bekannt; so war es keineswegs nur dumpfes, versklavtes Bauernproletariat, was sich da erhoben hatte, sondern mit ihm bedeutende Stádte mit einem kulturell hoch-

24 Jelusich / Der Mann der Geschichte

entwickelten Bürgerstand und sogar ansehnliche Teile des Landadels. Aber weil zu viele Köpfe sich erhoben, fand sich der Kopf nicht, der über allen gestanden wäre, und so. versandete diese gewaltige Revolution und ertrank schließlich in einem Meer von Blut und Tränen, ohne eine Lösung zu finden. Auch die Führer der Französischen Revolution von 1789 vermochten, obgleich es ihnen gelang, das Bestehende umzustürzen, die alte Ordnung durch keine neue, bessere zu ersetzen, zerfleischten sich vielmehr in einem inneren Kampf, der nach und nach ihre bedeutendsten Köpfe forderte. Erst als sie sich totgelaufen hatte, brachte das Auftreten Napoleons eine Neuordnung zustande allerdings eine wesent- lich andere, als jene sich es vorgestellt haben mögen.

Gehört dieses frühe Erkennen eines Schadens mehr der Methodik an ob- gleich auch hier das Unbewußte eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt —, ` so ist das Heilmittel durchaus Sache der Intuition. Dem Mann der Geschichte tritt ein Ziel vors Auge, ein Blickpunkt, dem er zustrebt, zwangsläufig, wie im Banne einer überwertigen Idee. Und als solche ist dieses Ziel, wenigstens so- weit es das Seelenleben dieses Menschen angeht, in gewissem Sinn auch anzu- sprechen. Wenn so ein Mann erst einmal alle Zweifel und Hemmungen über- wunden, alle Einwände, die ihm Gewohnheit, Besorgtheit, nüchterner Verstand, menschliche Schwáche in den Weg legen, beseitigt hat, dann kennt er nichts anderes mehr, unterwirft sein ganzes Sein diesem einen Gedanken. So wie der Schlag des trainierten Faustkämpfers von viel stärkerer Wucht ist als der eines gleichstarken, aber nicht geübten Mannes, so vermag auch der Wille eines solchen Menschen mehr als der jedes andern. Denn er ist auf einen Punkt konzentriert, weicht in nichts ab, erstrebt nichts anderes, als um jeden Preis, auch um den der eigenen Person, Schritt um Schritt seinem Ziele nahezukommen.

Dies erklárt auch den unbeugsamen Mut, der Menschen dieses Schlages be- seelt. Da in ihrer Seele alle anderen Empfindungen und Gedanken erloschen sind, hat auch die Furcht keinen Raum mehr darin. In schwármerischer Selbst- steigerung mag sich ein solcher Mann als auserwáhltes Werkzeug, als Gesandter Gottes fühlen, der berufen wurde, einen ihm gestellten hóheren Auftrag auszu- führen, und der nichts mehr scheut, als dieser Berufung nicht zu genügen; der realer Denkende mag in der Lósung seiner Aufgabe die Erfüllung einer selbst- auferlegten, verantwortungsvollen Pflicht gegen eine Klasse, eine Nation, die Menschheit erblicken; der dritte endlich mag dem Antrieb einer unklar er- kannten Notwendigkeit folgen, ohne sich Rechenschaft abzulegen darüber, was noch freier EntschluB, was schon innerer Zwang ist.. Sie alle aber gleichen ein- ander in einem: in der Unbeugsamkeit allen Versuchen gegenüber, sie von ihrem Ziele abzulenken, in der Verachtung von Drohung und Verfolgung, Not und Gefahr in der unbeirrbaren Zielstrebigkeit. Ob Luther vor dem Reichstag zu Worms sein „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!” ausruft oder Cäsar im See- sturm vor Dyrrhachium sein „Nie zurück!", ob Friedrich II. vor der Schlacht bei Leuthen seinen Generalen zuruft: „Wir müssen den Feind schlagen oder uns alle vor seinen Batterien vergraben lassen!" oder Tegetthoff vor Lissa als letztes Signal setzt: „Den Feind anrennen und zum Sinken bringen!" immer ist es derselbe Geist unerschütterlicher Folgerichtigkeit, immer dieselbe verzehrende Flamme, der jener, den sie erfaBte, alles zu opfern bereit ist, nur um sie lodernd zu erhalten auch sich selbst. Sie hat Tráumer zu Tatmenschen, Zaghafte zu Helden gemacht, und ihrer aller Wahlspruch bleibt das ewige: ,Et quid volo, nisi ut ardeat!" Und was will ich denn, als daB es brenne!

Die restlos sachliche Einstellung des Mannes der Geschichte ist auch der Grund dafür, daß es ihm seelisch und also überhaupt unmöglich ist, sich mit Teillösungen zu begnügen. Er empfindet ein ihm durch die Gewalt der Umstände aufgenótigtes Kompromiß als das árgste Unglück, das ihn treffen kann; er wird

Jelusich / Der Mann der Geschichte 25

einem solchen Kompromiß wofern er es nicht nur als taktisch notwendige Zwischenlösung betrachtet alles andere vorziehen, selbst ein völliges Schei- tern seiner Pläne. Denn er weiß auch, daß keine Idee, die einmal in die Welt gesetzt wurde, jemals anders überwunden werden kann, als durch eine bessere, höhere. So bleibt auch dem Gescheiterten der Trost, daß einmal ein Nachfolger kommen wird, der Rächer, der aus seinen Gebeinen entsteht und der sie zum Siege führt. Das Kompromiß aber Weisheit der Sprache auch im Fremdwort! kompromittiert die Idee, es verwässert und lähmt sie und macht sie unfähig, je wieder in voller Reinheit zu erstehen:

Darum ist Folgerichtigkeit eine seiner bedeutsamsten Eigenschaften. Er hat den Gedanken zu Ende gedacht, nun hat der Wille dem Gedanken zu folgen. Der Zauderer schrickt vor dem letzten Schritt zurück, dem Mann der Geschichte ist keiner der letzte. Er weiB, daB das Ideal in seiner hóchsten Vollendung un- erreichbar ist, aber weit entfernt davon, sich durch diese Erkenntnis nieder- drücken zu lassen, empfindet er sie als einen Ansporn, sich diesem Unerreich- baren so weit wie möglich zu nähern. Er strebt nach dem Unmöglichen, kennt aber die Grenzen des Möglichen, so vollendet, daß er bis an sie zu gelangen trachtet, der inneren Stimme gewiß, die ihn warnen wird, sie zu überschreiten.

So ist, wenn er erfolgreich sein soll, das Empfinden des Maßes ungemein wichtig für ihn. Daß er dieses Empfinden, das er ursprünglich in hohem Grade besaß, später verlor, war Napoleons Tragödie, so wie es die des Pompeius war, daß er das Maß zu klein nahm und im entscheidenden Augenblick den letzten, notwendigen Entschluß nicht zu fassen vermochte. Mit nachtwandlerischer Sicherheit geht der Mann der Geschichte seinen Weg, wissend, daß er unüber- windlich ist, solange er sich im Einklang mit der Natur der Dinge befindet.

Damit ist freilich nicht gesagt, daß er blind auf sein Ziel zustürmen müsse, ohne der Hindernisse zu achten, die eine feindliche Umwelt und dem Er- neuerer wird die Umwelt immer' feindlich sein um ihn tütmen kónnte. Er besitzt zwei Fähigkeiten, die denen des erfolgreichen Feldherrn ähneln: die Fáhigkeit, Anhánger zu sammeln, zu organisieren und aufs engste mit seiner Idee und dadurch mit ihm, dem Reprásentanten dieser Idee, zu verbinden, und die, drohende Widerstánde richtig zu berechnen. Daraus entwickelt sich aber bei aller Einheitlichkeit der einmal eingeschlagenen Linie die Begabung, taktisch zu kämpfen, scheinbare Umwege, ja Winkelzüge einzuschlagen, die berechnet sind, den Gegner zu täuschen oder an seiner schwächsten Stelle zu packen, untätig zu scheinen, bis es Zeit ist, zu handeln, ein Zwischenziel nach dem anderen zu verfolgen entwickelt sich endlich die Begabung, im großen wie im kleinen in der Entwicklung neuer Kräfte, Einfälle und Gedanken wachsen. So erklärt sich die seelische Steigerung, die wir bei allen wirklich großen Männern der Geschichte beobachten, so übrigens auch der auffallende Umstand, daß so viele von ihnen, ohne Soldaten von Beruf zu sein, hervorragende Heer- führer wurden. Der*politische Kampf ist dem auf der Walstatt näher verwandt, als man gewöhnlich annimmt: auch er kennt Frontal- und Flankenangriff, Durch- bruch und Umfassung, Einkesselung und den Vernichtungssieg.

Aus dieser Geisteshaltung entspringt auch die bei allen geschichtlichen Genies, insbesondere bei allen Erneuerern, vorhandene Neigung, wenn es an der Zeit ist, wenn .die Stunde der Entscheidung an sie herantritt, alles zu wagen, alles auf eine Karte zu setzen. Es ist in ihnen etwas, was sie den großen Glücks- spielern verwandt erscheinen läßt, und in der Tat waren einzelne von ihnen, wie Mazarin, Prinz Eugen, Rüdiger Starhemberg, Blücher, Radetzky, leiden- schaftliche Kartenspieler. Aber jene Verwandtschaft ist nur eine scheinbare. In Wahrheit unterscheiden sie sich vom Hasardeur grundlegend: dieser ist Fatalist; er nimmt das Los hin, das ihm beschert wurde, er wagt, fast gleichgültig gegen

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Sieg und Untergang, nur um der würgenden Spannung willen, die ihm das Wag- nis beschert. Männer der Geschichte hingegen sind nicht Schicksalsergebene, sie sind Schicksalsgläubige. Das hohe Spiel, das sie wagen, gilt nicht ihrer Person, deren privates Sein sie mehr oder weniger kalt läßt. Und vor allem, sie wagen nicht um irgendeiner Spannung, einer Lust am Kampfe willen, sondern um zu gewinnen, um der Idee, der sie dienen, zum Siege zu verhelfen. Darum werden sie auch und hier haben wir den Punkt, wo Intuition und Methode sich notwendig treffen und vereinigen müssen alles aufs gründlichste vor- bereiten, ehe sie den großen Schlag tun, werden in oft jahrzehntelanger emsiger, dem Auge des nicht eingeweihten Beobachters kaum oder überhaupt nicht erkennbarer Kleinarbeit alle Maßregeln treffen, die ihnen zu Gebote stehen, um des Sieges so sicher wie nur irgend möglich zu sein. Wenn aber jene große Stunde kommt, wenn die äußerste Entscheidung von ihnen gefordert wird, dann werfen sie sich mit voller Kraft in den Strudel, entschlossen, ihn als Uberwinder zu verlassen oder überhaupt nicht.

So sehen wir im entscheidenden Augenblick meist auch einen Menschen vor uns, der von dem, als der er bisher erschien, gänzlich verschieden ist. In der Vorbereitung verschlossen, schweigsam, ja, wohl gar sich listig verstellend: Brutus der Ältere wälzte seine großen Pläne unter der Maske eines Idioten daher auch der Name —, Cäsar hatte in Rom den denkbar schlechtesten Ruf eines skrupellosen Lebemannes und Schuldenmachers, Armin der Cherusker galt allgemein bei seinen Landsleuten als volksvergessener Römerfreund, Wilhelm von Oranien, der mit dem bezeichnenden Beinamen des „großen Schweigers" in die Geschichte eingegangen ist, war ängstlich bemüht, die Verbindung mit den Spaniern aufrechtzuerhalten, der junge Bonaparte kroch und antichambrierte in seiner schlechtsitzenden, schäbigen Uniform bei allen Tagesgrößen, ja, scheute sich nicht, deren abgelegte Mätressen zu übernehmen, nur um endlich das Kommando zu erreichen, in dem er Seine Kraft entfalten könnte, Bismarck wandte allen seinen berühmten Charme zur Gewinnung von Freunden oder wenigstens Neutralen auf, um freie Bahn für seine gewaltigen, in diesem Stadium noch völlig verhohlenen Entwürfe zu schaffen; in der Ausführung jedoch offen bis zur Selbstentblößung, seine Ziele in alle Welt hinausschreiend, die eben noch sorgsam gepflegten Beziehungen mit einem Schlage abbrechend oder wenigstens völlig vernachlässigend. Man wird die beiden äußerlich so grundverschiedenen Erscheinungsformen einer und derselben Wesenheit am leichtesten überblicken, wenn man sich das Bild einer Granate vor Augen führt oder richtiger gesagt, die beiden Bilder: das des mattglänzenden, wuchtigen Zylinders, als der sie im Ruhezustand erscheint, und das der platzenden, aufbrüllenden, nach allen Rich- tungen ihre vernichtenden Kräfte schleudernden Feuerkugel.

Mit dieser Schicksalsgläubigkeit hängt auch die unzerstörbare Zähigkeit zu- sammen, die ein typisches Merkmal aller wirklich großen Männer der Geschichte ist. Die meisten von ihnen erlebten Rückschläge, die jeden anderen vernichtet hätten, sie hingegen nur noch stärker, umsichtiger, entschlossener machten. Cäsar, der catilinarischen Verschwörung nahestehend oder wenigstens mit ihr sympathisierend entging nur mit knapper Not der Gefahr, in den Prozeß. gegen die Verschworenen verwickelt zu werden; die mohammedanische Zeitrechnung nimmt bekanntlich ihren Anfang von der Flucht des Propheten; das republika- nische Heer der englischen Revolution, in dem Cromwell als Rittmeister diente, erlitt zu Beginn des Krieges Niederlagen, die jeden weiteren Kampf aussichtslos erscheinen ließen. Das Reformwerk Scharnhorsts schien durch die Konvention zwischen Preußen und Frankreich, die das preußische Heer auf den Höchststand von 42000 Mann beschränkte, restlos vernichtet. Napoleon III. büßte seine ersten Versuche eines Staatsstreiches mit Festungshaft. Wir können es also als

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ein Hauptkennzeichen des Mannes der Geschichte ansehen, daß ihn Mißerfolge nicht entmutigen, daß er auch in ihnen sein Ziel keinen Augenblick lang aus den Augen verliert, nicht aufhört, ihm immer wieder zuzustreben, so lange, bis er erreicht hat, was nur irgend er erreichen konnte oder endgültig, das heißt sterbend, scheitert.

Wir haben uns bisher mit den Eigenschaften befaßt, die so ziemlich allen großen Männern der Geschichte eigen sind; denn auch die Unterscheidung in intuitive und methodische Genies, von der wir ausgingen, ist nur bis zu einem gewissen Grade richtig: wir haben selbst gesehen, wie die Grenzen sich immer wieder verwischen, ja, wie man oft nicht entscheiden kann, ob eine geschicht- liche Persönlichkeit dem ersten oder dem zweiten Typus zuzuzählen ist. Eine Unterscheidung aber gibt es, die, vom Körperlichen ausgehend, bedeutsame Rückschlüsse auf das Seelische zuläßt und tatsächlich starke Gegensätze zwischen den Männern der Geschichte zeigt. Es gibt allerdings auch hier Aus- nahmen sie sollen uns später noch beschäftigen —, im allgemeinen jedoch kann man sagen, daß die hier kenntlich werdenden Kontraste schroff ab- gegrenzt sind.

Es ist. vielleicht einigen von Ihnen die scherzhafte Unterscheidung der Männer in Schuster und Schneider bekannt. Der Name spricht für sich. Der Schuster ist ein untersetzter, kräftiger Mensch, wuchtig der richtige, gerade Michel; der Schneider zartgliedrig, schlank, in Listen erfahren, und ihnen nicht abgeneigt. Man könnte auch eine Einteilung in Dragoner und Husaren treffen oder in Säbel- und Florettfechter oder sonst eine ähnliche, die aber stets auf dasselbe hinauslaufen würde. Diese scherzhafte Einteilung nun entspricht ziemlich genau einer gebräuch- lichen wissenschaftlichen, nur daß diese beim Schuster noch eine Unterteilung kennt. Sie unterscheidet nämlich die Menschen in einen athletischen, einen pyk- nischen und einen leptosomen Typus. Was der athletische Typus ist, werden wir gleichfalls ohne weiteres verstehen; ihm entfernt verwandt ist der pyknische Typus vom griechischen „pyknos“, dicht, dick also jener der dickleibigen, geistig trägen Menschen; den Gegensatz bildet der leptosome Typus griechisch „leptos“, zart und „soma“, Leib —, also der zartleibige, schlanke Typus. Es ist nun eine bemerkenswerte Tatsache, daß die Männer der Geschichte dem athletischen und dem leptosomen Typus ungefähr zu gleichen Teilen angehören, während der pyknische, also der dickleibige, aus begreiflichen Gründen nahezu völlig ausfällt. Unter 44 von mir durchgesehenen Bildnissen großer Herrscher, Feldherren, Staatsmänner und sonstiger Menschen, die in der Geschichte eine Rolle spielten, waren 20, also ungefähr die Hälfte, als dem athletischen Typus zugehörig anzu- sprechen, darunter Männer wie Scipio Africanus maior, Konstantin der Große, Karl der Große, Luther, Gustav Adolf, Cromwell, Peter der Große, Napoleon, der Freiherr vom Stein und Bismarck. Leptosome waren unter anderen Demosthenes, Alexander der Große, Cäsar, Calvin, Richelieu, Prinz Eugen, Friedrich II., Robespierre, Erzherzog Karl, Scharnhorst, Metternich, Moltke und Lincoln.

Beiden Typen ist ein vulkanisches Temperament zu eigen, aber bei jedem von ihnen tut es sich in verschiedener Weise kund. Beim athletischen Typus bewirkt jede Gelegenheit eine Eruption, während beim leptosomen diese Eruptionen ge- hemmt, um nicht zu sagen gelenkt sind. Es ist, als brenne bei diesen die Flamme verhohlener oder werde mit seelischen Sub: anzen gespeist, die beim Athleten nicht anzutreffen sind. Man braucht sich bloß Gegensätze vor Augen zu halten, wie Luther und Calvin, Gustav Adolf und Moltke, Bismarck und Lincoln. Die ersten leicht entflammt, ihren Standpunkt verfechtend, auf ihr Ziel losschreitend, die anderen dauernd in kalter Glut brennend, ihre Lage berechnend, ihr Ziel ver- folgend. Diese Verschiedenheit geht bis tief ins Menschliche hinein. Der athle- tische Mann ist sanguinisch-cholerisch, aufbrausend, dem Leben hingegeben, ein

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großer Zürner und Hasser, der leptosome cholerisch-melancholisch, beherrscht, das Leben überlegen genießend oder aber der Askese zugeneigt, wie denn die großen Asexuellen ausnahmslos diesem Typus angehören; er zürnt und haßt nicht so unverhohlen wie der Athlet, aber er ist unversöhnlich. Ein typisches Beispiel dafür ist Friedrich II., der, nachdem er sein halbes Leben lang gegen Maria Theresia Kriege geführt hatte, bei ihrem Tode das große Wort fand: „Ich bin nie ihr Feind gewesen." Beachten Sie im Gegensatz dazu den glühenden HaB der zweifellos dem athletischen Typus angehórenden Maria Theresia, die ihren groBen Gegner nie anders als „das Monstrum‘ nannte. Derselbe Friedrich II. aber ver- urteilte Richter, deren Spruch er für ungerecht hielt, trotz der Billigung ihres Vorgehens durch alle Senate aus eigener Machtvollkommenheit zu Amtsent- setzung und Gefángnisstrafen, und sie wurden erst nach seinem Tode rehabilitiert.

Der Athlet ist der Mann der Praxis und daher fremden Einsprüchen und fremden Verbesserungen zugänglich, wenn er deren Stichhaltigkeit erkennt; der Lepto- some ordnet die Praxis seiner zuerst festgesetzten Theorie unter und wird diese Theorie unverándert festhalten; trifft sie auf berechtigte Einwánde, so wird er sie lieber vóllig aufgeben, ehe er sie modifizieren lieBe. Dementsprechend wird sich der Athlet zu notwendigen harten Maßnahmen. nur unter schweren inneren Kämpfen entschließen; er wird sie zwar konsequent, aber seelisch leidend durch- führen. Bezeichnend hierfür ist das Wort Radetzkys über das aufrührerische Mai- land: „Ich werde das Blut beweinen, das vergossen werden muß, aber ich werde es vergieBen." Der Leptosome hingegen kennt diese inneren Kämpfe nicht, oder vielmehr, er hat sie schon durchgemacht, als er seine Theorie aufbaute. Was seinem Ideal fortan im Wege steht oder davon abweicht, wird vernichtet, nicht aus einer angeborenen Bösartigkeit, sondern weil er es nicht durch solche Be- langlosigkeiten wie menschliche Unvollkommenheit beeinträchtigen lassen will.

Betrachten wir nun unter diesem Gesichtspunkt die Weltgeschichte, so bekom- men Zeitepochen und der Ablauf entscheidender Ereignisse ein ganz eigenartiges Aussehen. Welches wäre z. B. der Verlauf der Reformation gewesen, wenn Luther nicht athletisch, sondern leptosom gewesen wäre; wie anders hingegen wäre Calvins Wirksamkeit in dem von ihm begründeten Gottesstaat von Genf gewesen, wenn er athletisch und daher nicht so vollendet asketisch gewesen wäre; was wäre das Schicksal Rußlands geworden unter einem leptosomen Peter dem Großen, was das Preußens unter einem athletischen Friedrich II.! Hier erst erkennen wir, wie vollendet wahr das zu Beginn dieses Vortrages zitierte Wort von Treitschke ist: Männer, und, setzen wir hinzu, Menschen machen die Geschichte.

Aber noch weiter. Die Wirkung großer Männer ist mit ihrem Lebensende nicht abgeschlossen, und dies um so weniger, je größer sie waren. Dies erklärt sich aus deren Sachlichkeit. So weit aber geht die Sachlichkeit nicht, daß sie die Persön- lichkeit völlig auslöschte. Der Mann der Geschichte sieht die Dinge richtig, aber er sieht sie durch das Medium seiner Veranlagung, seines Charakters. Darum wird auch die von ihm hergestellte Ordnung eine sein, die im Wesentlichen seiner Persönlichkeit entspricht. Wenn man, um ein einziges Beispiel anzuführen, Bis- marck „den Schmied" der deutschen Einheit nennt, so wird schon durch dieses Bild der Typus gekennzeichnet, dem er angehört. So wie sein Schöpfer aber trug auch das Zweite Reich athletische Züge, und so wie sein Schöpfer Calvin trug das calvinistische Genf leptosom-asketische Züge, und sie übertrugen sich, da der englische Puritanismus ein Kind des Calvinismus ist, auf England. Nun ist aber das englische Volk in seiner Grundstruktur unzweifelhaft athletisch. Die auf- gezwungene, ihnen nicht artgemäße Lebensform mußte daher den Charakter der Engländer in verhängnisvoller Weise beeinflussen. Schon in der Zwiespältigkeit Cromwells sehen wir das innere Ringen zwischen seelischem Trieb und aner- zogenem Zwang. Dieser Prozeß hat sich seitdem fortgesetzt und ist unterbewußt

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geworden. Immer noch ringt das englische Volk, auch in jenen Teilen, die der anglikanischen Hochkirche angehören, mit der ihm eingepflanzten Form des Puritanismus, immer noch wehrt sich die athletische Grundlage gegen den leptosom-asketischen Überbau. Hier finden wir die Ursache der Zweideutigkeit des englischen Charakters, hier den Grund für das fast schizophren anmutende Doppelwesen jedes Engländers, der als Privatmann höchsten Wert auf persön- . liche Ehrenhaftigkeit legt, und zugleich als Staatsmann sich nicht scheut, die perfideste Politik zu treiben, hier endlich auch die Ursache jenes englischen Nationallasters, der sonst unbegreiflichen, abstoßenden Heuchelei.

Die wenigen Ausnahmen liegen sämtlith auf leptosomem Gebiet. Es scheint, daß dieser Typus trotz oder wegen seiner Starrheit dazu neigt, ins Gegenteil um- zuschlagen. Wir finden hier einzelne Männer, die zu ihren leptosomen aus- gesprochene athletische Eigenschaften hinzufügen: sie glühen, sie sind keine kalten Rechner, sie neigen zu Zorn und Haß. Ich nenne Alexander den Großen, Cäsar, den Prinzen Eugen. Ihre Gelöstheit, die auch ein besonders kennzeichnen- des Merkmal des athletischen Menschen aufweist, den Humor, steht die grämliche Gewissenhaftigkeit eines typischen Leptosomen wie L: -coln gegenüber oder das unmenschliche Doktrinärtum eines Robespierre, der aus lauter Tugendhaftigkeit Tausende hinrichten ließ, weil er nur dann sicher war, daß sie nicht mehr sündigen würden.

So ausgerüstet geht der Mann der Geschichte an seine geschichtliche Tat. Er kann sie vollführen, er kann an ihr scheitern. Im letzten Fall geht das Rad über ihn hinweg, er wird in späteren Jahrhunderten bestenfalls eine Fußnote in einem Lehrbuch der Geschichte sein. Gelingt es ihm jedoch, sie zu vollführen, so ergibt sich für ihn der zweite. Teil seiner Aufgabe, das Sichern und Verankern des Er- oberten. Auch hier aber sehen wir voll mitfühlender Ergriffenheit so manchen noch im Hafen untergehen. Die meisten der gewaltigen Neuerer werden ihres Werkes nicht froh. Sie sehen das ewig Allzumenschliche und flüchten, wie Cäsar und Friedrich II., in unnahbare Menschenverachtung oder verzichten, wie Scipio Africanus maior und der Freiherr vom Stein, angesichts der ihnen entgegen- schlagenden Feindseligkeit überhaupt auf die Weiterführung. In Wahrheit aber sehen sie überscharf, mißkennen die Kräfte, mit denen zu rechnen sie gewohnt waren, und ebenso die Schwächen, die sie zu benutzen wußten, und geben andern die Schuld wenn überhaupt von einer solchen gesprochen werden kann —, anstatt sie in der eigenen Brust zu suchen. Denn nicht die letzte Tragik des Mannes der Geschichte, eine Tragik, von der nur wenige Auserwählte aus- genommen sind, besteht darin, daB er nur zu oft all seine Kraft auf die Erringung seiner Stellung verwenden mufte und ihm keine mehr übrigbleibt, das Errun- gene auszubauen. Wir wissen heute, daB Cásar keinen Augenblick zu früh starb. Er hat es selbst ausgesprochen, als er gelegentlich einer der vielen Warnungen, die ihm während des ganzen Verlaufes der cassianischen Verschwörung zukamen, verächtlich äußerte: „Sie töten einen Toten." Auch Napoleon war erschöpft, Cromwell, wahrscheinlich auch Bismarck. Spätern erst war es gegeben, das Werk, das jene begonnen hatten, weiterzuführen und zu beenden.

Denn das ist das Tröstliche jeder genialen geschichtlichen Tat: Sowenig der Mann der Geschichte geeignet ist, Schule zu machen, sosehr er als einzigartig anzusehen ist, im Tiefsten seiner Persönlichkeit keinem vor und keinem nach ihm vergleichbar, so ist es doch der Wille des Schicksals oder wie sonst man die geheimnisvolle Macht nennen will, die die Welten lenkt, daß nichts Schöpfe- risches verlorengehen kann. Der Stein, einmal ins Rollen gebracht, bewegt sich weiter, entweder aus dem hier nutzbringenden Gesetz der Trägheit oder weil an die Stelle des Riesen, der ihn wälzte, ein Nachfolger tritt, ein Schöpfer er selbst, also ganz verschieden von seinem Vorgänger, und doch ihm wesensverwandt in

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der Kraft, die ihn beseelt. Vom grauen Altertum bis in die neueste, ja, bis in die allerneueste Zeit können wir diesen Prozeß in einer großartigen Entwicklung verfolgen, und wir finden in dieser alles enthalten, was eine überwundene Geistes- richtung mit dem irreführenden Schlagwort „Fortschritt der Menschheit" zu nennen pflegte. Denn noch einmal sei es wiederholt: Nicht die gesamte Mensch- heit schreitet vorwärts, etwa einer vorrückenden Kolonne vergleichbar, sondern der einzelne, der mit mehr oder weniger Gelingen bemüht ist, einen Bruchteil dieser Menschheit sich nachzuziehen: Der Mann der Geschichte.

Weil es aber stets nur ein Bruchteil ist, meist nur seine eigene Nation, wird der große Erneuerer gezwungen sein, das von ihm Geschaffene gegen eine ihm und seinem Werk fremde, ja feindliche Umwelt zu verteidigen. Denn jede Er- neuerung hat als Ursache einen fehlerhaften Zustand, den sie behebt. So muß sie notwendig die Mißbilligung aller Mächte finden, die mit diesem Defekt zu rechnen und aus ihm ihren Nutzen zu ziehen gewohnt sind. Darum sehen wir jeden Mann der Geschichte in den entscheidenden Phasen seiner Tätigkeit sich dem Ausbau einer starken, schlagbereiten Kriegsmacht widmen. Es wurde schon darauf hingewiesen, wie eingehend sich Cäsar mit der Ausbildung seiner Truppen befaßte. In ihrer Manövrierfähigkeit, ihren Marschleistungen und nicht zuletzt in ihrer Durchführung großer technischer Aufgaben es sei nur an die berühmte Rheinbrücke erinnert oder an die Belagerungsarbeiten vor Alesia stand sie im Altertum einzigartig da. Ähnliche Reformer waren Kaiser Maximilian I., „der Vater der Landsknechte", der die plumpen, schwer beweglichen Ritterheere durch die viel beweglichere Infanterie ersetzte, Cromwell und Prinz Eugen, die Schópfer der modernen Kavallerietaktik, der letztgenannte durch die Verwendung der schweren Reiterei auch Anreger der modernen Panzertaktik, Friedrich II. mit seinem keineswegs geisttótenden, sondern vielmehr geistberuhigenden Drill und seiner einzigartigen Durchbildung der Feuertechnik, Napoleon, mit dessen Kolonnentaktik der Durchbruch seine beherrschende Rolle in der Strategie antrat, Erzherzog Karl und Scharnhorst, die Schópfer des Volksheeres. Wie sehr sich diese Reformen bis in die Gegenwart fortsetzen, braucht wohl nicht aus- drücklich ausgeführt zu werden.

Neben dieser Schaffung und Ausbildung stehender Heere und der Wehrhaft- machung des ganzen Volkes durch die soldatische Dienstpflicht taucht aber immer wieder noch ein zweiter Gedanke auf, der namentlich dauernd unruhigen Nachbarn gegenüber angewendet wurde: der des Wehrbauern. Wir finden ihn fast bei allen Mánnern der Geschichte, die für das Bauerntum überhaupt Ver- stándnis hatten, so im Altertum bei Ptolomáus Soter und Cäsar. Diese Männer führten den Gedanken auf die Weise durch, daß sie ausgediente Soldaten mit Land in den eroberten Gebieten belehnten, an die Gabe die Bedingung knüpfend, daB die Lehensmánner dem einbrechenden Feinde als erstes Aufgebot entgegen- treten. Ein áhnlicher Gedanke lag ursprünglich auch dem mittelalterlichen Lehenswesen zugrunde, ja, wurde sogar noch ausgebildet, insofern, als er sich nicht auf die Grenze beschránkte, sondern über das ganze Hoheitsgebiet aus- dehnte: Jeder Lehensträger hatte im Kriegsfalle nicht nur selbst einzurücken, sondern überdies auch eine vorher bestimmte Anzahl von Wehrmannschaft bei- zustellen. Leider verwischte sich dieser Gedanke im Laufe der Jahrhunderte, bis er schlieBlich zu einer leeren Form erstarrte. Neu aufgegriffen wurde der Gedanke des Wehrbauern vom Prinzen Eugen, der zu Ende des 17. Jahrhunderts zwischen der Türkei und Ungarn die sogenannte Militárgrenze organisierte. Hier aber finden wir zugleich eine Umkehrung dieser Einführung: die Bewohner und Lehenstráger der Militárgrenze waren nicht Wehrbauern, sondern Bauernsoldaten, in Regimenter zusammengefaBt, in deren Rahmen sich, auch wenn sie nicht unter Waffen standen, ihr ganzes Leben abspielte, in den Wehrdienst hineingeboren

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und erst mit ihrem Tode aus ihm ausscheidend. Diese eigenartige Einrichtung, die sich hervorragend bewährte, überdauerte nahezu drei Jahrhunderte und endete erst kurz vor unserer Zeit durch die Einverleibung der letzten Reste ihres Gebietes ins Königreich Kroatien.

Doch nicht nur nach außen, auch nach innen muß der Mann der Geschichte sein Werk schützen, um den Trägen zur Eingliederung zu zwingen und den Böswilli- gen, der ja nirgends fehlt, an deren Sabotierung zu hindern. Dies trachtet der große Erneuerer ausnahmslos durch eine Vereinheitlichung der Verwaltung herbeizuführen. Die Tragödie des Ersten Reiches der Deutschen besteht nicht zuletzt darin, daß dieses oberste Prinzip vernachlässigt wurde. Je selbständiger die einzelnen Teile ihre innere Struktur entwickelten, desto mehr lockerte sich der Zusammenhang des Ganzen, bis seit dem Unheilsfrieden von Münster und Osnabrück nur noch ein loses Band die völlig autonom gewordenen Fürstentümer zusammenhielt. Den denkbar größten Gegensatz dazu bildet die straffe Zusammen- fassung des französischen Staates, dessen Gebiete erst nach Landschaften, schlieB- lich aber sogar nach verhältnismäßig kleinen Arrondissements gegliedert wurden, die ihre Leitung von einer obersten Zentrale empfingen. Freilich aber ist Frank- reich hierin nicht bahnbrechend vorangegangen; vielmehr finden wir diese Auf- teilung schon früher gerade bei den größten Organisatoren der Weltgeschichte, abermals bei einem Ptolomäus Soter, bei Cäsar, bei Karl dem Großen. Ihr geist- reiches System war ein geniales Auswiegen zentraler Leitung und Selbstverwal- tung der Zellen. So war die einheitliche Leitung gewährleistet, entartete aber nicht zu einer óden und verödenden Gleichmacherei, wußte vielmehr in kluger Erkenntnis des Reichtums der Eigenart diese zu schonen, ja, nützlich zu ge- brauchen. Damit wurde nicht nur eine Ordnung des Alltags herbeigeführt, nicht nur eine fruchtbare Finanz- und überhaupt Wirtschaftsgebarung erzielt, wurden nicht nur Kräfte für nützliche Arbeit freigemacht, die zur Erzielung großartiger Gemeinschaftsleistungen vereinigt werden konnten damit wurde über alle Besonderheiten hinaus jener Gemeingeist erzielt, der aus Stämmen Völker und aus diesen die Nation macht. Sie entsteht in dem Augenblick, wo in den Seelen der einzelnen das Gefühl der Zusammengehörigkeit das der Sonderheit überwiegt, sie wird um so stärker, je unbewußter, selbstverständlicher dieses Gefühl wird, und sinkt dahin, wenn jenes Aufgehen der Teile in einem Größeren seine Kraft verliert, wenn egoistische, zentrifugale Tendenzen den gewaltigen Aufbau atomisieren.

Wir sprachen von der Ordnung des Alltags: denn ewig kann keine Revolution währen, sie muß abgelöst werden durch ein Gleichmaß der Tage, das allein dauernde Gemeinschaftsleistungen ermöglicht. Dieses Gleichmaß muß aber nicht nur nach innen und außen geschützt, es muß auch gesichert werden, vor allen Dingen da man nun nach dem bekannten Wort erst leben muß, um zu philoso- phieren materiell gesichert werden. So sehen wir die großen Organisatoren, von denen wir eben sprachen, als vornehmliche Förderer eines starken und ent- wicklungsfähigen Bauernstandes überhaupt: Ptolomäus wie Cäsar, Karl den Großen wie Cromwell. Ein einziger unter ihnen Napoleon bildet eine Aus- nahme; er brauchte für die endlosen Kriege, zu denen ihn die Unrast seines Geistes trieb, Soldaten und immer wieder Soldaten, und nahm sie vor allen Dingen vom flachen Land. Diese Entvölkerung gerade der lebenswichtigen Be- zirke aber wurde nicht der letzte Grund seines schließlichen Sturzes. Gewiß ist der Bauer in erster Linie der Verteidiger der heimatlichen Scholle und wurde, wie wir gesehen haben, von den Männern der Geschichte als solcher auch angesehen; aber sein Aufruf, seine notwendige Sammlung unter den Fahnen unterscheidet sich grundlegend von dem Raubbau, den wir eben bei Napoleon

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finden. Damals begann jener Aderlaß am französischen Volke, der letzten Endes zum tragischen Verfall führte, den wir heute miterleben. '

Daß aber auch das geistige Leben seine Sicherung, und noch mehr, seine reichste Anregung findet, ist schon in einem tiefen seelischen Bedürfnis des Mannes der Geschichte begründet. Denn nicht das letzte, wesentliche Merkmal seiner Persönlichkeit ist deren Vielseitigkeit. Die großen Staatenbildner und -lenker verlieren sich nicht im engen Bannkreis ihrer politischen Planung, son- dern suchen darüber hinaus in jedem menschlichen Bereich tätig und anregend zu sein. Der Schriftsteller Cäsar findet begeistertes Lob in den Briefen seines politischen Gegners Cicero; ein Staatsmann wie Perikles führte durch große Staatsaufträge die Kunst des Phidias zur höchsten Blüte; Prinz Eugen war ein Bibliophile edelster Prägung und intimer Freund des letzten großen Universal- gelehrten Leibniz; Friedrich II. war leidenschaftlicher und ausgezeichneter Musiker wie übrigens auch mehrere der älteren Habsburger und Schrift- steller, wenn auch nicht Dichter von Bedeutung; Napoleon, ein Kenner und Schätzer der Meisterwerke der Weltliteratur es sei nur an sein Gespräch mit Goethe erinnert —, hinterließ ein Gesetzwerk, das seine Herrschaft lange über- dauerte. Cromwells, des großen Ausnahmefalls, Kunstfremdheit wird durch die Engherzigkeit des Puritanismus erklärt, in der er erzogen war und die er nie abzustreifen vermochte; und doch wollen wir uns erinnern, daß er Milton wenig- stens als Staatssekretär und Verfasser geistig hochstehender politischer Streit- schriften verwendete. Das Idealbild der neuen Ordnung, das der Mann der Geschichte in seiner Seele trägt, umfaßt eben alle Lebensgebiete.

Hier endlich stellt sich uns die zwingende Notwendigkeit entgegen, die Frage zu beantworten, was der Mann der Geschichte denn eigentlich will will nicht aus einer verstandesmäßig geschöpften Erkenntnis heraus, sondern noch viel mehr aus den unbewußten Quellen der Intuition, aus dem Auftrag der welt- beherrschenden und weltleitenden Mächte, deren Sendbote und Bevollmächtigter er ist. Eine neue Ordnung, sagten wir. Aber diese müßte, für sich gelassen, letzten Endes doch zur Erstarrung und damit zur Unfruchtbarkeit und einem wenn auch langsamen Absterben führen. Das Glück also der möglichst großen Zahl? Aber auch dieser Lieblingstraum des Rationalismus ist längst als Unmöglichkeit ent- larvt, so wie das Perpetuum mobile eine Unmöglichkeit ist, als dessen Gegensatz jene allgemeine Glückseligkeit ein Perpetuum stabile voraussetzt, einen niemals mehr gestörten Zustand der Ruhe, ohne Leidenschaften, ohne Strebungen, ohne

neue Erkenntnisse. Mit Recht sagt Schopenhauer: „Ein glückliches Leben ist unmöglich. Das Höchste, was ein Mensch erlangen kann, ist ein heroischer Lebenslauf."

Und hier haben wir zugleich die Lósung. Wir sprachen von der Flamme, die im Mann der Geschichte verzehrend brennt, und die er um jeden Preis lodernd erhalten will. Sein letztes Ziel, seine hóchste Aufgabe ist es, diese Flamme im Herzen seines Volkes zu entfachen, diesen Heroismus zum Leitgedanken seines Volkes zu machen. Dabei muB ,heroisch" durchaus nicht bloß im Sinne eines Schlachtheldentums verstanden werden, sondern darüber hinaus in dem einer allgemeinen Haltung, in der Láuterung von allem Gemeinen, im Empfinden nicht nur des einzelnen, sondern der Gesamtheit, daB sie eine geschichtliche Sendung ich wiederhole: durchaus nicht ausschließlich kriegerischer oder konquistado- rischer Art zu erfüllen hat, und in dem festen Willen, diese Sendung zu erfüllen.

Ein solches Feuer brennt, ein solcher dadurch hervorgerufener Elan denn auch im Bereich des Psychischen gilt das Gesetz von der Umwandlung der Wárme in Kraft —, ein solcher Elan wirkt durch Jahrhunderte. Denn den Mann der Ge- Schichte zeichnet das Vermógen aus, über sich hinaus zu denken. So wird er seine Idee der Gemeinschaft einpflanzen wie einen Baum, stark genug, daB das Ge-

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wachsene auch Stürmen trotzen kann, und zugleich im höchsten Maße entwick- lungs- und bereicherungsfähig. Es ist ihm nicht darum zu tun, selber zu ernten wenn er es erlebt, so empfindet er es als Gnade —, sondern darum, daß in einer späteren Zukunft die Früchte reifen und einer desto größeren Gemeinschaft zugute kommen, je gróBer der Gártner war, der den Keim pflanzte.

Wir haben die ewigen Gesetze kennengelernt, unter denen das Wirken ge- schichtlicher Persönlichkeiten steht, wir haben aber auch gesehen, daß diese Gesetze ohne solche schöpferischen Persönlichkeiten tot bleiben müssen. Wenn wir die Nutzanwendung auf unsere Zeit ziehen, jene Peilung, um derentwillen wir die ausgeführten Gedankengänge entwickelten, so werden wir sie in der Erkenntnis erblicken, daß Kräfte, Gesetze und Männer von welthistorischem Format auch heute wirksam sind, daß sie auch heute mit jener Kompromißlosig- keit, die wir als eines der Wesensmerkmale des Mannes der Geschichte kennen- gelernt haben, an die Lösung ihrer gewaltigen Aufgaben gehen.

Ihrer ist die Tat; unser ist der Glaube und die Treue.

Wo wir wohnen:

Glaube mir: Ich weiß zu dienen! Durch die Himmel, durch die Stuben. Einem großen Schicksal untertan, Die Vergeßlichkeit

Das zu Háupten mir erschienen, Schreit! Die Toten steigen aus den Gruben. Füg ich mich dem unbekannten Plan. . Das ist, wo wir wohnen! Sei bereit! |

Wissend, daß die Beute nicht erjagbar Trag das Kleine achtsam auf dem Finger!

In den Jagden dieser Welt, Niemals weißt du wenn es fällt

Und das Schlichteste nicht sagbar, Ob es Perlen wert ist, ob geringer Wenn uns nicht ein Blitz erhellt. Oder eine Welt.

Kleinste Mühe ist die grófite. So beschreiten wir das Wunderbare,

Feuer im Verborgnen glühn. Ohne es zu sehn,

Daß es dich im Tagwerk tróste, Und die atemlose Flucht der Jahre

Siehst du fern ihr Funkensprühn. ' Läßt uns einsam stehn.

Schwer zu lernen solches Wissen: Still, ganz still, und horch! Das obre Sausen, Aller Vater ist das Feuer. ` Manchmal fern, dann wieder nah!

Hinter allen Finsternissen Trink in tiefen Zügen dieses Grausen, Wälzt es ungeheuer! | - Daß die Welt geschah. |

Denke dran, denke dran: Zittre, daß in himmlischen Geleisen

Heut noch sind die Dinge arm. Stürme toben, die du nie ermißt

Doch ein Nichts löst solchen Bann, Und schon fühlst du mächtig an dir reißen, Und schon tobt Alarm. Und dein Leben, das vergangen ist,

Treibt hinab Waldsäume im Verfall. | Unsichtbare Hände würgen, zerr’n, l Und das Chaos stürzt mit schwarzem Schwall In das Reich des Herrn. Fritz Usinger.

Kleine Beiträge

Die politischen Testamente Friedrichs des Großen

Friedrich II. hat zwei politische Testa- mente hinterlassen, von denen das eine aus dem Jahre 1752, das zweite aus dem Jahre 1768 datiert.

Das erste Testament ist also abgefaßt nach den beiden ersten schlesischen Kriegen, das zweite nach dem dritten schlesischen Krieg, den wir gewöhnt sind, den Siebenjährigen Krieg zu nennen. Mit der Abfassung dieser politischen Testa- mente folgt Friedrich einem Brauch im Hause Brandenburg, der seit dem Großen Kurfürsten befolgt wurde, wo die Herr- scher eine Art Rechenschaftsbericht über

den von ihnen geführten und verwalteten

Staat zu erstatten pflegen. Die Testamente Friedrichs gehen über den Rahmen eines solchen Rechenschaftsberichtes noch hin- aus und geben seinen Nachfolgern Ermah- nungen und Ratschläge für die Zukunft.

' In einer Zeit, in der es für Deutschland um Sein oder Nichtsein geht, wendet sich unser Blick mehr noch wie sonst dem groBen preuBischen Kónig zu, den die Ge- schichte nicht nur den „Großen“, sondern vielleicht noch schóner und richtiger den „Einzigen“ genannt hat.

Wir sehen in Friedrich nicht die ver- kitschte Lesebuchfigur, zu der deutsche Schulmeister vergangener Perioden den großen König gestempelt haben. Wir sehen vielmehr in ihm einen ganz Großen, aber auch einen Menschen von Fleisch und Blut, der sich nicht in einen mensch- lichen Normalrahmen einfügen láBt.

Von fanatischer Härte gegen sich selbst und seine Umwelt, menschlichem Glück längst entwóhnt, einsam und ein Men- schenverächter großen Stils, entspricht Friedrich so gar nicht dem Ideal, das sich der . Alltagsphilister und Untertan von seinem Fürsten gern zu machen pflegte.

Dex „alte Fritz mit dem Krückstock', wie er uns in dem berühmten Stich von Chodo- wicki überliefert ist und an den sich die vielen Lesebuchanekdoten knüpfen, wäre letzten Endes fast eine etwas langweilige Figur, während der lebenswahre König in seiner dämonischen Größe und seiner bösen Menschenverachtung manchmal fast

etwas Schreckhaftes hat. Überhaupt: Was.

hätte wohl Friedrich der Große für ein Gesicht gemacht, wenn man ihn Friedrich den Guten genannt hätte 7!

Der Fünrer eines Staates und Volkes in siebenjähriger Kriegsbedrängnis, von ganz Europa bekämpft, vom deutschen Reichs-

tag in Regensburg geächtet, von der so genannten guten Gesellschaft im preußi- schen Hinterland einschließlich des eige- nen Hofes als politischer Hasardeur längst aufgegeben, von vıelen seiner Generäle und Soldaten nicht verstanden, reißt seinen Staat und sein Volk vom Abgrund zurück, an dem er mehr wie einmal steht und wird als „Nur-Preuße” seit der Schlacht von Roßbach, ihm selbst un- bewußt, zum deutschen Nationalhelden, der die Grundlagen zur späteren deutschen Einheit legt. An ihn, den keine Nieder- lage, nicht Kolin, nicht Hochkirch und selbst nicht Kunersdorf zu Boden drückt, für den es nur dıe Wahl zwischen der Selbstbehauptung oder dem Giftfläschchen gab, das er immer bei sich führte, an diesen Friedrich denken wir, wenn wir seinen Geist wieder heraufbeschwören, der einem unwürdigen Nachfolger, den er nur zu gut kannte, mit seinen politischen Testamenten einen Wegweiser geben wollte. Daß Friedrich Wilhelm II. mit seinem Bischofswerder und seinen „Rosen- kreuzlern" die Richtlinien des großen Königs nicht verstand und nicht beach- tete, führte geradlinig auf Jena und Auer- stedt zul

Von König Friedrich stammt ein Satz, den er für die Ausbildung der Armee ge- prägt hat:

„Aimez donc les details

ils ne sont pas sans gloire

c'est le premier pas

qui méne à la victoirel" Frei übersetzt:

„Kümmert euch um die kleinsten Einzelheiten,

sie sind nicht ohne Wert,

das ist der erste Schritt,

der zum Siege führt.”

Entsprechend diesem Grundsatz geht der König auch in seinem Testament auf alle Einzelheiten der verschiedenen Zweige der Staatsführung ein. Ein weiteres charakteristisches Moment, sowohl in seinen Testamenten wie in seinen anderen uns überlieferten Schriften ist Friedrichs absolute Sachlichkeit. So benennt er in seinem Testament seinen hochbegabten Bruder Heinrich, der das Leben lang des Königs Kritiker und Antipode war, als den künftigen Oberbefehlshaber des preußi- schen Heeres. Oder: als begabtesten Kavallerieführer, „der allen voran geht“, bezeichnet er den General von Seydlitz, mit dem er des Öfteren zusammengeraten ist, weil der groBe Kavallerieführer ihm

Kleine Beiträge l 35

häufig widersprach und das Gegenteil eines sogenannten bequemen Unter- gebenen war.

Doch lassen wir in den folgenden Aus- zügen aus den beiden Testamenten den König selbst zu Worte kommen.

Aus dem politischen Testament von 1752

Uber die Behörden der Do- mänenverwaltung und ihre Be- setzung

„Zur Besetzung aller dieser Finanzämter sind mehr Ehreumánner erforderlich, als der Staat gewöhnlich hervorbringt. Zu glauben, die Welt sei von Bösewichtern bevölkert, heißt denken wie ein Menschen- feind. Sich einbilden, alle zweibeinigen Wesen ohne Federn seien Ehrenmänner, heißt sich wie ein Dummkopf täuschen. Ein Herrscher muß so viel Menschen- kenntnis besitzen, um wenigstens an die Spitze der Provinzen ehrliche Männer zu stellen. Da ihre Zahl klein ıst, so findet man sie leichter. Ich habe alte, aus- gediente Offiziere zu Präsidenten gemacht, und ich bin mit ihnen besser gefahren als mit den in der Beamtenlaufbahn Empor- gekommenen. Die Offiziere verstehen zu gehorchen und sich Gehorsam zu ver- schaffen, und wenn man ihnen irgend etwas zur Prüfung übergibt, führen sie es selber aus und mit größerer Zuverlässig- keit als die anderen."

Uber die Religion und die Konfessionen

„Für die Politik ist es völlig belanglos, ob ein Herrscher religiös ist oder nicht. Geht man allen Religionen auf den Grund, so beruhen sie auf einem mehr oder minder widersinnigen System von Fabeln. Ein Mensch von gesundem Verstand, der diese Dinge kritisch untersucht, muß un- fehlbar ihre Verkehrtheit erkennen. Allein diese Vorurteile, Irrtümer und Wunder. geschichten sind für die Menschen ge- macht, und man muß auf die große Masse so weit Rücksicht nehmen, daß man ihre religiösen Gefühle nicht verletzt, einerlei, welchem Glauben sie angehören.

Die Juden sind von allen dıesen Sekten die gefährlichsten, denn sie schädigen den Handel der Christen und sind für den Staat nicht zu brauchen. Wir haben die Juden zwar wegen des Kleinhandels mit Polen nötig, aber wir müssen verhindern, daß sie sich vermehren. Sie dürfen nicht nur eine gewisse Zahl von Familien, son- dern auch eine gewisse Kopfzahl nicht überschreiten. Wir müssen ihren Handel einschränken, indem wir sie vom Groß-

handel fernhalten und ihnen nur den Kleinhandel gestatten. '

Uber Strafen und Belohnungen

„Preußens Herrscher haben zum Glück selten Strenge nötig. Nur Hochverrat ver- dient harte Bestrafung. Jedoch läßt sich oft verhüten, daß Menschen eich zu solchen Schandtaten verführen lassen Im letzten Kriege erfuhr ich, daß der Abt von Grüssau mit einigen Geistlichen und Edel- leuten eine Verschwörung zugunsten des Wiener Hofes anzettelte. Ich ließ sie gefangensetzen oder verbannte sie wäh- rend der Kriegswirren in andere Provinzen. Dadurch wurde ibnen die Möglichkeit ge- nommen, sich schuldig zu machen, und sie entgingen Bestrafungen, die sie unfehlbar getroffen hätten, wenn sie frei ihrer Neigung hätten folgen dürfen. Nach dem Frieden kehrten sie ruhig in ihre Heimat und zu ihren Gefährten zurück, und die Vernünftigen unter ihnen müssen mir Dank dafür wissen, daß ich sie gezwungen habe, ihre Unschuld zu bewahren."

Uber das Zeremoniell „Die meisten Könige Europas haben

. Sich selbst eine Art von Ketten geschmie-

det, unter deren Last sie oft seufzen. Mein Vater besaß den Mut, die seinen zu brechen, und, seinen Spuren folgend, habe ich das mir überlieferte Maß der Freiheit getreulich bewahrt. Ich habe ihn sogar noch überboten, indem ich mir die frem- den Gesandten, soweit wie nur irgend möglich, vom Leibe halte. Es gibt in Preußen keine Rangstufen, keine Etikette, keine Botschafter. Dadurch sind wir ge- sichert vor allen Streitigkeiten um den Vortritt und vor allen aus dem Stolze der Kónige entspringenden Schikanen, die an anderen Hófen ernste Aufmerksamkeit be- anspruchen und eine Zeit verschlingen, die man nützlicher für das Allgemeinwohl anwenden kann."

Uber das Verhalten gegenüber den Mächten Europas

„Ein erfahrener Staatsmann muß sich stets verschieden benehmen und sein Ver- halten stets den Umständen anpassen, in denen er sich befindet, und den Menschen, mit denen er zu tun hat. In der Politik ist es ein großer Fehler, stets hochmütig aufzutreten und alles mit Gewait durch- setzen zu wollen, aber auch stets sich sanftmütig und nachgiebig zu zeigen. Ein Mensch, dessen Benehmen immer das gleiche ist, wird bald durchschaut, und man darf eich nicht durchschauen lassen.

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Bleibt unser Charakter kein Geheimnis

mehr, so sagen unsere Feinde: ‚Wir werden dies und jenes tun, dann wird er so und so handeln.‘ Und dabei täuschen sie sich nicht. Wer dagegen in seinem Benehmen wechselt, führt sıe irre, und sie täuschen sich in ihren Annahmen. Ein so kluges Benehmen erfordert aber stete Selbst- beobachtung. Weit entfernt, seinen Leiden- schaften nachzugeben, muß man unbedingt den Entschluß fassen, den das eigene In- teresse vorschreibt. Die große Kunst be- steht darin, seine Absichten zu verbergen. Zu dem Zweck muß man seinen Charakter verschleiern und nur maßvolle, durch Rechtsgefühl gedämpfte Festigkeit durch- blicken lassen." f

An anderer Stelle: „So muß je nach Lage, Zeit und Person unser Verhalten verschieden sein. Ist die Zeit reif zum offenen Bruch, so empfiehlt sich ein festes und stolzes Auftreten. Aber man soll das Gewitter nicht grollen lassen, ohne daß zugleich der Blitz einschlágt. Hat man viele Feinde, so muß man sie trennen, den unversöhnlichsten heraussuchen und sich auf ihn stürzen, mit den anderen aber verhandeln, sie einschläfern und selbst unter Verlusten Sonderfrieden mit ihnen schließen. Ist erst der Hauptfeind nieder- geworfen, dann ist es Zeit, auf die anderen zurückzukommen und über sie herzu- fallen, unter dem Vorwand, daß sie ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen seien."

Über áuBere Politik

„Machiavelli sagte, eine selbstlose Macht, die zwischen ehrgeizigen Máchten steht, müBte schlieBlich zugrunde gehen. Ich muß leider zugeben, daB Machiavelli recht hat."

„Die Politik der kleinen Fürsten ist ein Gewebe von Schurkenstreichen. Die Poli- tik der großen bedingt viel Klugheit, Ver- stellung und Liebe zum Ruhm. Es ist für einen Staatsmann ganz verkehrt, stets schurkisch zu handeln; er wird dann bald durchschaut und verachtet. Scharfsinnige Köpfe ziehen aus gleichartiger Haltung ihre Schlüsse. Daher muß man seın Spiel nach Möglichkeit ändern, sich nicht in die Karten sehen lassen und sich in einen Proteus verwandeln, muß bald lebhaft, bald langsam, bald kriegerisch, bald fried- fertig erscheinen. Auf diese Weise führt Ihr Eure Feinde irre und macht sie in ihren Anschlägen gegen Euch vorsichtig. Es empfiehlt sich aber nicht nur, sein Be- nehmen zu wechseln; man muß es vor allem auch den Ereignissen anpassen, der

bin frei

Lage, in der man sich befindet, der Zeit, den Orten und den Personen, mit denen man zu tun hat. Droht Euren Feinden nie; die Hunde, die bellen, beißen nicht. Beobachtet im Verkehr mit den Mächten verbindliche Formen, mildert stolze oder beleidigende Ausdrücke. Ubertreibt nicht, wenn es sich um kleine Zwistigkeiten handelt. Habt nie Euren eigenen Stolz, sondern stets das Staatswohl im Auge. Seid verschwiegen in Euren Geschäften; verbergt Eure Absichten. Zwingt die Ehre des Staates Euch, den Degen zu ziehen, so falle auf Eure Feinde Donner und Blitz zugleich!"

Zweites politisches Testament von 1768

Aus der Einleitung; ,Es ist Pflicht jedes guten Staatsbürgers, seinem Vaterland zu dienen und sich bewußt zu sein, daB er nicht für sich allein auf der Welt ist, son- dern zum Wohle der Gesellschaft beizu- tragen hat, in die ihn die Natur gesetzt hat. Dieser Pflicht habe ich nach Mafgabe meiner schwachen Einsicht und meiner Kräfte zu genügen gesucht, seit der Tod meines Vaters mich zum Tráger der hóch- sten Staatsgewalt in PreuBen machte. Ich von der törichten AnmaBung, mein Verhalten als Richtschnur für meine Nachfolger anzusehen. Nur zu sehr merke ich, daß ich ein Mensch bin, dh. ein Wesen, das aus Gutem und Schlechtem gemischt und dem Irrtum unterworfen ist, dessen Einsicht schwach und dessen Gaben be- schränkt sind. Immerhin habe ich den Vorteil einer 29jáhrigen Erfahrung in den Staatsgescháften, und so würde ich mich der Nachwelt gegenüber als schuldig füh- len, legte ich ihr nicht Rechenschaft über mein Verhalten und über die Mafinahmen in der Rechtspflege, dem Finanz- und Heerwesen und in der Politik, an denen ich zeitlebens gearbeitet habe, teilte ich ihr nicht die Ansichten mit, die ich mir durch langjährige Überlegung zum Besten der öffentlichen Wohlfahrt gebildet habe. Ein Pilot, der die Gewässer kennt, die er lange befahren hat, kann dem jungen Schiffer wertvolle Ratschläge geben, der die Klippen nicht kennt und an ihnen Schiffbruch leiden könnte.”

Aus dem Kapitel über Finanz- wirtschaft

„Unser Volk ist schwerfällig und träge. Mit diesen zwei Fehlern hat die Regierung immerfort zu kämpfen. Durch Euren An- trieb bringt Ihr die Masse in Bewegung, aber sie bleibt sofort stehen, sobald der

Prof. Thorak: Paracelsus

Große Deutsche Kunst- ausstellung München 1943

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loseph Raabe, Breslau 1809: Joseph Freiherr v. Eichendorff als „Schwarzer Ritter“

Kleine Beiträge 37

Antrieb einen Augenblick nachläßt Nie- mand kennt etwas anderes als den alten Brauch. Man liest wenig, kümmert sich wenig darum, wie es anderswo hergeht und erschrickt daher bei allem Neuen. Ich habe meinem Volke nichts als Gutes erwiesen, und doch glaubt es, ich wollte ihm das Messer an die Kehle setzen, so- bald es sich um eine zweckmäßige Reform oder eine notwendige Änderung handelt. In solchen Fällen bin ich meinen ehrlichen Absichten, der Stimme meines Gewissens und meiner langen Erfahrung gefolgt und ruhig meinen Weg gegangen."

Uber Juden

„Wir haben zu viel Juden in den Stádten. An der polnischen Grenze sind sie nótig; denn der Handel liegt in Polen ganz in den Hánden der Juden. Sobald eine Stadt aber von der polnischen Grenze entfernt ist, werden die Juden zu Schád- lingen durch den Wucher, den sie treiben, den Schmuggel, der durch ihre Hánde geht, und tausend Schurkereien, die zum Schaden der Bürger und der christlichen Kaufleute ausschlagen."

Urteile über Offiziere

„Ohne Zweifel kommt als Armeeführer:

zu allererst mein Bruder Heinrich in Be- tracht. Náchst ihm ist Oberst Anhalt der Mann, der dieser Aufgabe am besten ge- wachsen ist. Er hat andere Fehler, aber über dergleichen muß man hinweggehen, wenn das Staatswohl es fordert. Man muß sich stets der Tüchtigsten bedienen und die fähigen Leute anstellen, sonst nimmt der Krieg eine schlimme Wendung, und man schließt einen schlechten Frieden."

„Bei der Kavallerie steht General Seyd- litz allen voran. Nach ihm kommen Kruse- marck, Dalwig, der kleine Röder. General Bülow ist meisterhaft, Manstein sehr gut, Hoverbeck gut, der Prinz von Württemberg schneidig, aber kurzsichtig, Reitzenstein sehr verdient, Czettritz gut, aber zu sanft, Zastrow und Alvensleben gut, Manstein sehr tapfer. Der Rest ist mittelmäßig und zur Detachementsführung ungeeignet.

Bei den Husaren haben wir Lossow, einen hervorragenden Reiterführer, sehr befähigt, einen Flügel zu kommandieren oder wozu man ihn sonst verwenden will. Werner ist gut, darf aber keine Infanterie bekommen. Der alte Möhring ist ein guter Offizier, Prittwitz hervorragend und zu allem geeignet, was man ihm aufträgt. Dazu eine Anzahl guter Stabsoffiziere und junge Leute, die sich täglich weiterbilden und zu den schönsten Hoffnungen be-

rechtigen. Es fehlt nicht an Führern für die Kavalleriedetachements. Nur wäre zu wünschen, daß wir für die Infanterie mehr

hätten. Hoffentlich werden sich noch welche entwickeln." Uber Religion „Ein altes | metaphysisches Märchen

voller Wundergeschichten, Widersprüche und Widersinn, aus der glühenden Ein- bildungskraft des Orients entsprungen, hat sich über Europa verbreitet. Schwärmer haben es ins Volk getragen, Ehrgeizige sich zum Schein davon überzeugen lassen, Einfáltige es geglaubt, und das Antlitz der Welt ist durch diesen Glauben verándert worden. Die heiligen Quacksalber, die diese Ware feilboten, haben sich zu An- sehen gebracht, sie sind Herrscher ge- worden, ja, es gab eine Zeit, wo sie Europa durch ihr Machtwort regierten In ihrem Hirn entstand jener Priesterhochmut und jene Herrschsucht, die allen geist- lichen Sekten zu egen ist, wie auch ihr Name laute. Ehedem mischte sich die Geistlichkeit in alle Staatsangeiegen- heiten; heute scheint der Brauch außer Mode gekommen zu sein.

Das lutherische und reformierte Bekennt- nis, die bei uns vorherrschen, können dem Staat niemals schaden, vorausgesetzt, daß ihre Geistlichen in den jetzigen Schranken gehalten werden. Sie können unbegrenzt Gutes tun; aber man soll sie zurechtweisen, sobald sie sich in Dinge mischen, die sie nichts angehen. Halb Cleve und ein Drit- tel von Schlesien sind katholisch. Die Regierung soll die Katholiken nicht nur dulden, sondern sie auch vor allen Ver- folgungen und Ungerechtigkeiten schützen, die man ihnen etwa antun will. Denn es geht den Staat nichts an, welche metaphy- sische Anschauung im Menschenhirn wohnt; genug, wenn jedermann sich als guter Staatsbürger und Patriot benimmt."

Ministerrat

„Ich habe nie einen Ministerrat ab- gehalten; denn recht besehen, gibt es nichts Schädlicheres. Jede Regierung be- darf eines Systems, und es ist aus- geschlossen, daß viele Köpfe so viele ver- schiedene Interessen einheitlich zu- sammenfassen und unverrückbar auf das gleiche Ziel hinstreben können. Anders ein Herrscher, der in seiner Hand alle Zweige der Regierung vereinigt, der sie wie ein Dreigespann Stirn an Stirn lenkt und sie dem vorgesteckten Ziele entgegen- führt. Zudem muß man sich darauf gefaßt machen, daß jede Beratung, bei der viele

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zugegen sind, nie ganz geheim bleibt, daß unter ihren Teilnehmern Männer sind, die eich befeinden oder aus Eigensinn auf ihrer Meinung beharren, und daB somit mehr Nachteil als Vorteil daraus entsteht. Ein Herrscher, der sich auf seine Geschäfte versteht, sie einheitlich zusammenfaßt und richtig rechnet, kommt allein viel weiter als mit allen Ministerräten. Er handelt mit Nachdruck und Tatkraft und wahrt das Geheimnis, was nie geschehen kann, wenn sechs bis sieben Personen zusammen- kommen müssen, um sich über einen Ent- schluß zu einigen."

Uber Maria Theresia

„Die Kaiserin Königin versteht sich auf die Kunst, geschickte Minister zu finden und anzustellen. Ihr Ministerrat übertrifft durch kluge und planvolle Leitung der Ge- schäfte diejenigen aller anderen Herrscher. Sie regiert selbst und führt ihren Sohn in die Geschäfte ein, und dieser folgt ihren

Anregungen. Fürst Kaunitz und Hatzfeldt `

sind ihre besten Minister. Ihre berühm- testen Heerführer sind Lacy und Laudon. Verlöre sie diese, so fiele es ihr schwer, unter der großen Zahl, die ihr bleibt, gleichwertige herauszufinden. Bis jetzt ist indes die österreichische Kavallerie schlecht. Die Infanterie ist besser, beson- ders im Stellungskrieg, und die Artillerie ist vorzüglich.“

Uber äußere Politik

„Der Gipfel der Staatskunst besteht darin, die Gelegenheit abzuwarten und sie nach Gunst der Umstände zu benutzen.

Der größte Irrtum, in den man verfallen kann, ist der Glaube, irgendwelche Herr- scher oder Minister nähmen Anteil an unserem Schicksal. Diese Leute lieben nur sich selbst; ihr Vorteil ist ihr Gott. Ihre Sprache wird einschmeichelnd und freund- lich, in dem Maße, wie sie uns brauchen.

Sie werden Euch mit verruchter Falsch-

heit schwören, Eure Interessen wären ihnen ebenso teuer wie die eigenen, aber glaubt das nicht und verstopft Eure Ohren vor diesen Sirenentónen."

e Von fremden Gesandten

„Bei uns werden die fremden Gesandten überwacht. Man beobachtet die Leute, die in ihren Häusern verkehren, ihre Sekretäre und ergreift alle nur denk- baren Maßregeln, um ihnen auf die Finger zu sehen, sowohl um zu verhüten, daß sie Bestechungen vornehmen, wie um die leichtsinnigen Leute, die bei ihnen ver- kehren, vor der Gefahr zu warnen, in die sie sich begeben. Man kann die Aufsicht

über diese Gesandten nicht scharf genug üben; denn bei ihrem langjährigen Auf- enthalt in Berlin haben sie gelernt, mit dem mánnlichen, namentlich aber mit dem weiblichen Geschlecht umzugehen und sich auf diese Weise Kenntnisse zu verschaffen, die sie nicht erlangen dürften. Gibt es doch Dinge, die mit dem dichtesten Schleier bedeckt bleiben müssen, wie die eigenen Entwürfe, die geheimen Bündnisse, die man schlieBt, die Veránderungen im Heerwesen, die starken und schwachen Seiten des Staates, die Einkünfte und Hilfsquellen der Finanzwirtschaft. Diese Dinge müssen sogar den Verbündeten geheim bleiben; denn wer heute unser Freund ist, kann morgen ein Feind sein. In der Politik gibt es Gelegenheiten, wo man schwächer scheinen muß, als man ist, um die Bundesgenossen zu größeren An- strengungen zu bewegen, als ihnen lieb ist, aber auch solche, wo man möglichst furchtgebietend dastehen muß, wenn man dadurch erreichen kann, daß der Feind den Frieden nicht bricht.“

SchluBwort

,Nachdem ích die Bürde der Regierung mein ganzes Leben lang getragen habe, bin ich nicht so unsinnig, noch nach meinem Tode herrschen zu wollen. Jeder muB seine Last tragen und so weise regie- ren, wie er es vermag, indem er seine Entschlüsse je nach Gelegenheit und Um- stánden faßt. Ich bestehe nur auf den Haupteigenschaften, die ein Herrscher be- sitzen muB. Er muB ein Ehrenmann sein. Die Wohlfahrt seines Volkes mu8 ihm am Herzen liegen; sie ist unzertrennlich von der seinen. Er muß emsig und wachsam sein, oder die Maschine bleibt stehen; miBtrauisch in den Finanzen, denn die meisten Finanzbeamten sind Schufte Er muB sich vornehmen, selbst zu arbeiten und sein Heer kommandieren; denn das ist das einzige Mittel, eine gute Armee zu haben. Seine Truppen verschaffen ihm dann im Frieden Achtung und lassen ihn im Kriege siegen. Auch kann sich Preußen nur behaupten, wenn ein zahlreiches Heer es gefürchtet macht, sind wir doch von überlegenen Feinden umgeben, mit denen wir von heute auf morgen Krieg bekom- men kónnen. Der Herrscher muB in die Zukunft blicken, um die Dinge, die im Werden sind, vorauszusehen, muß seine Nachbarn beobachten und Bündnisse nur dann eingehen, wenn er die Bedingungen reiflich erwogen hat, und nur mit Herr- schern, die zu dieser Zeit die gleichen In- teressen haben wie er. Ich rate ihm, seinen

Neue Bücher 39

Ehrgeiz und seine Absichten zu verbergen, in seinen Entschließungen vorsichtig und in ihrer Ausführung energisch zu sein. Endlich muß er in alle Einzelheiten der Regierung eindringen, damit er selbst herrschen kann. Er darf Eigensinn nie mit Festigkeit verwechseln, sondern die guten und stichhaltigen Gründe müssen über Vorurteile und Leidenschaften siegen. Jedem Herrscher, der diese Bedingungen erfüllt, prophezeie ich die größten Er- folge, dauernden Ruhm und persönliche Achtung. Nichts als Unglück aber sehe

ich für die voraus, die ihrer Trägheit nach- geben und den Dingen ihren Lauf lassen, statt einzugreifen, bei denen Bequemlich- keit und Schlaffheit über. ihre Pflicht siegen, so daß sie die Leitung der Armee und des Staates in andere Hände legen. Ich wünsche, daß dergleichen nie vor- kommt*)." Eugen Rümelin

°) Die politischen Testamente des großen Königs waren ín französischer Sprache abgefaBt. Die hier wiedergegebenen deutschen Auszüge beruhen auf der Übersetzung von Friedrich von Oppeln-Bronikowski. Verlag Heinz Treu, München 1941.

Neue Bücher

„Die Judenfrage in Ungarn”. Jüdische Assi- mila, On und antisemitische Bewegung im 19. und 20. Jahrhundert. Von Klaus Schickert. Essener Verlagsanstalt 1943, zweite, neubearbeitete Auflage. Der Verfasser hat kürzlich in dieser

Zeitschrift den Kriegsschauplatz Israel im

Zusammenhang mit der politischen Krieg-

führung erörtert. Er wurde kurz darauf

vom Reichsleiter Alfred Rosenberg zum

Leiter des Frankfurter Instituts zur Er-

forschung der Judenfrage bestellt. Die

Neubearbeitung seines grundlegenden

Werkes über die ungarische Juden-

frage legitimiert ihn der wissenschaft-

lichen Welt gegenüber zu solcher Aufgabe.

Neben einem Werk des Madjaren Julius

Szefkü erfaßte bisher lediglich Schickert

die Bedeutung der Judenfrage für die Ge-

schichte der befreundeten ungarischen

Nation. Zur ersten Auflage schrieb die

Zeitschrift „Magyar Kultura“: „Wahr-

heiten, die wehtun, doch Feststellungen,

bei denen der Verfasser leider recht hat.“

Nach einer breiten Darstellung der Ver-

hältnisse im Mittelalter geht der Autor

auf die Entwicklung im 19. Jahrhundert ein, die heute noch ihrer endgültigen Liqui- dierung harrt. Durch eine ausführliche

Darstellung des Wirkens der Antisemiten

Istöczy und Simonyi erbringt er den Nach-

weis, daß der ungarische Antisemitismus

stets eine bodenständige Bewegung ge- wesen ist und keineswegs eine deutsche

Exportware Die jüdische Agitation hat

jahrzehntelang den latenten Antisemitis-

mus im Madjarentum durch den Hinweis diskreditieren versucht, er sei aus dem

Reich importiert, womit sie auf die in kul-

turellen Dingen leicht wachzurufenden

Empfindlichkeiten spekulierte. Diese Agi-

tation hat zweifellos dazu beigetragen, die

Lösung der Judenfrage zu verzögern, auf-

halten wird sie diese nicht können. In Ver-

bindung hiermit erinnert Dr. Schickert in einem von sachlicher Zurückhaltung ge- tragenen Bericht an den Ritualmord von Tisza-Eszlar, der um 1882 die europäische Welt in Atem hielt. Daß Völker nichts aus der Geschichte lernen diese Wahrheit tritt dem Leser wieder vor Augen, studiert er den Anteil des Judentums am Sturz der Habsburger und ihren führenden An- teil an der Bolschewistenherrschaft des Bela Kun. Mit schamloser Gescháftigkeit sind sie auf der anderen Seite, als das Schreckensregiment der 133 Tage zu Ende geht, um in Kürze die kapitalistischen Schlüsseletellungen eines liberalistischen Systems wieder in Besitz zu nehmen. Schickert gibt vom letzten Weltkrieg die Verhältniszahlen der Toten madjarischen und jüdischen Blutes bekannt, die in frappanter Weise die Drückebergerei der Kinder Israels beleuchten. Nicht verwunder- lich, daß sich der Anteil der Juden am Hoch- schulstudium - in der gleichen Zeit ver- doppelte. Schickert kommt zum Schluß, daß kein Land und keine Nation mehr Begabung und Fähigkeit zur Assimilation fremden Volkstums gezeigt hätte als die Madjaren. Er beweist das Scheitern der Assimilierungsbestrebungen gegenüber Israel. Wo sonst hätte diese Einschmel- zung gelingen können, fragt er, wenn nicht in Ungarn! Aber das Zeitalter der Assi- milation ist zu Ende. Das Judentum ist eine Rasse, die sich nicht aufsaugen läßt. Die man im Zuge der Ideen von 1789 als Brüder empfing, wurden zu Herren. Die Dissi- milation, um derenSchwierigkeiten Schickert weiß, ist keine deutsche, sondern eine europäische Forderung, vor deren Erfüllung das Madjarentum heute steht, da die Ent- scheidung für oder gegen den jüdischen Bolschewismus fällt. Schickert zitiert in diesem Zusammenhang ein kluges Wort von Wilhelm Grau, mit dem er auch Un-

40 Neue Bücher

garn eindringlich beschwört: „Hätte Karl Marx im Getto gelebt gäbe es keinen Lenin." Viele Madjaren, die ihr Volk und Blut lieben und reinhalten wollen, werden dem deutschen Autor Dank wissen. Kif.

Dichter und Krieger

Für das erst unserer Zeit wieder eigene unmittelbare Verhältnis zwischen Dichter und Volk sind die Reden anläßlich der Dichtertreffen in Weimar lebendige Zeug- nisse. Zwei Veröffentlichungen liegen vor uns. (Die Dichtung im kommenden Europa, Weimarer Reden 1941, Dichter und Krieger, Weimarer Reden 1942, heraus- gegeben von Dr. Rudolf Erckmann, Han- seatische Verlagsanstalt Hamburg) Sie sprechen aus, wie im alles und alle er- fassenden Kampf des Reiches und Europas die deutschen Dichter ihre Stellung in der Front beziehen möchten. Von einem glanzvollen Einsatz. der geistigen Kräfte für die seelische und politische Kriegfüh- rung wird uns allerdings nichts verraten. Vielleicht wáre das Stoff und Anrequng tür die Zusammenkunft des fünften Kriegs- jahres. Beteuerungen sind beglückend, praktischer geistiger Kriegsdienst auf brei- tester Ebene noch nützlicher. Beide Bände, die jetzt vorliegen, beginnen mit den Be- grüBungen durch Wilhelm Haegert, 1941 sprachen Hanns Johst, Rudolf Erckmann,

Hans Baumann, Bruno Brehm, Moritz Jahn, 1942 Edwin Erich Dwinger, Wil- helm Ehmer, Wilhelm Scháfer, Gerhard Schumann, Georg de Vrinq und Hermann Burte. Was die Dichtertreffen den Dich- tern bedeuten, klingt auch in diesen Reden durch, das Gefühl, Auge in Auge mit denen zu stehen, die der gleichen Arbeit dienen. Für uns Hórer und Leser aber be- deuten die Reden das persónliche Be- kenntnis neben dem Werk und seine schönste Bestätigung. Von Hans Baumann bis Wilhelm Scháfer, Kraft, Wille und Glaube eint alle im selben Herzschlag, mit dem Dienst im Wort dem Reich und seinem Sieg zu dienen. Gibt es wohl eine leuchtendere Urkunde als die, die Wil- helm Schäfer unserer Bewegung und ihrer Jugend ausstellt, indem er sie mit den im Weltkrieg gefallenen Studenten vergleicht. Jene Briefe seien erschütternd durch ihre Lauterkeit und Treue, ein Gram aber wiche nicht von ihm vor ihrer geistigen und seelischen Hilflosigkeit. „Es stand nicht qut um ein Vaterland, das seine ge- bildeten Söhne so unberaten in die Gärten des Todes schickte. Dies hat sich nach den Briefen, wie ich sie heute aus der Front erhalte, gewandelt. Ein anderes Vaterland als das von 1914 stand da- hinter. Niemayer.

Abschied von „Wille und Macht"

Mit der vorliegenden Ausgabe der Zeitschrift des Reichsleiters Baldur von Schirach erfüllen sich zehn Jahre stetiger Führung der Schriftleitung dieses Organs. Das äußere Bild der Arbeit hat sich gewandelt wie der Mensch. Was ich mit zwanzig Jahren über- nahm, lege ich dankbar für das erwiesene Vertrauen mit dreißig Jahren in die Hände des Herausgebers zurück, um den Dienst mit der Feder wieder gegen den Waffendienst einzutauschen. Das Führerorgan der jungen Generation in einem solchen Lebensabschnitt zu leiten, bedeutete hóchstes Glück. Uber den verliehenen Titel hinaus galt es un- abláBlich, den inneren Anspruch, ein Sprachrohr der Jugend zu sein, durch eine ver- antwortungsfrohe Führung zu erwerben.

Die Zeitschrift soll das Spiegelbild politischer und geistiger Entwicklungen sein, die jedes Jahr seit der nationalsozialistischen Revolution hervorgerufen hat. Wir haben uns freudig bemüht, an ihnen teilzuhaben, weil wir die Überzeugung besitzen, daß jede Auseihandersetzung letzthin fruchtbar ist.

„Wille und Macht" ist Euer treuer Begleiter im Frieden und im Krieg. Die Zeitschrift bringt Euch Jahr für Jahr Baldur von Schirachs Grüße, bittet Euch für eine kurze Weile zum Nachsinnen in schöpferischer Pause. Zwischen seinen Gedanken und den Eueren, Kameraden und Freunde, so lange Zeit ein stiller Mittler gewesen zu sein, erfüllt den Abschied mit Glück und Dank. Und dieser Abschied gilt nicht dem toten Papier, sondern der lebendigen und kämpfenden Gemeinschaft, deren Stimme zu hüten im Chor einer großen Zeit ein froher Dienst war. Günter Kaufmann

Gebietsführer

Hauptschrlitlelter: Günter Kaufmann. Anschrift der Schriftleitung: Wien XIX, Sieveringer Str. 19. Verlag Franz Eher Nachf. G. m. b. H. (Zentralverlag der NSDAP.]. Berlin SW 58. PI Nr. 8 vom 1. März 1938. Druck: Buchgewerbehaus M. Müller & Sohn, Berlin SW 68.

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x

Hille. |

1 de nationallozialiichen Jugend

\ HERAUSGEBER: BALDUR VON SCHIRACH

` Aus dem Inhalt:

j Colin Ross / Um was geht der Kampf? E Richard Biedrzynski | Die Anklage der Ruinen

| Der neue Weg Land und Stadt |

. Walter Staup | Vom Werden des deutschen Bauern in Europa Ländliche Ausbildung:- wege Friedrich Kann | Neuordnungsfrogen des Landes Rudolf Kreutzer | Gedich!: Kunstdruckbeilage Unsterbliche Erinnerung deutscher Kultur

Heft 5/6 Berlin, Sommer 1944 Preis 30 Pf.

| | | | x

INHALT

Colin Ross: Um was geht der Kampf? Hölderlin: Aussprüche E Rudolf Kreutzer: Apollofalter. Pan (Gedichte) Johann Peter Hebel: Betrachtungen über ein Vogelnest Der neue Weg | Land und Stadt Rudolf Kreutzer: Der Falke; Nach dem Gewitter ( Gedichte) Richard Biedrzynski: Die Anklage der Ruinen Rudolf Kreutzer: Der Köhler (Gedicht) Walter Stauß, RKTL., Berlin: Vom Werden des deutschen Bauern in Europa

KLEINE BEITRÄGE Ländliche Ausbildungswege

ERLESENES

Friedrich Kann: Neuordnungsfragen des Landes Friedrich Paulsen: Ländliche Lebensfülle um 1860

KUNSTDRUCKBEILAGE

Adolf Saenger: Der Schäfer Gerhart Kraaz: Norwegische Fjordlandschaft Gerhart Kraaz: Märkische Waldlandschaft Prof. Klaus Richter: Waldkauz Bernt Notke: Selbstbildnis

(Photo: Verlag Ellermann, Hamburg)

Elias Holl: Rathaus in Augsburg

(Photo: Staatl. Bildstelle, Berlin)

Chor von St. Lorenz, Nürnberg (Photo: Staatl. Bildstelle, Berlin)

Hannover, Leibniz-Haus (Photo: Kunstgesch, Seminar Marburg)

Im Text: Adolf Saenger, Karl Rössing

Malle, acht

führerorgan der nationalfozialitichen Jugend

HERAUSGEBER: BALDUR VON SCHIRACH

Jahrgang 12 Berlin, Mai/ Juni Hefi 5/6

can Re: Um was geht der Kampf?

Wesen, Hintergründe und Ziele des Weltkrieges

Seit bald fünf Jahren steht die Menschheit im Kampf. Man kann ruhig sagen die Menschheit; denn die wenigen Völker, die noch nicht direkt von ihm erfaßt sind, werden zumindest indirekt von ihm berührt. Und ginge es nach dem Willen der sogenannten Vereinigten Nationen, wäre auch der letzte Staat längst in das blutige Ringen Rineingezogen. Der Druck, der gerade jetzt von Washington und London auf die wenigen noch übriggebliebenen neutralen Staaten ausgeübt wird, dient ja eingestandenermaßen keinem anderen Zweck.

Größe und Tragik der Technik ist es, daß die einst so unermeßlich weite Welt zu einem kleinen Globus zusammenschrumpfte, den das moderne Flugzeug in 60 Stunden umkreist. Und so liegt wohl ein unentrinnbares Verhängnis darin, daß Differenzen zwischen einzelnen Staaten, wie Differenz von Ideologien, die ehedem nur zu lokal begrenzten Auseinandersetzungen geführt hätten, heute einen weltweiten Konflikt auslösen.

Aber bei aller Zwangsläufigkeit des Geschehens, die vielleicht darin liegt, sollte man doch annehmen, daß sich die Beteiligten an diesem ungeheuerlichsten Ringen, das Weltall und Menschheit je erlebten, darüber klar sind, um was der Kampf geht. In erster Linie sollte man wähnen, daß dies von jenem Land und Volk gilt, das gewissermaßen am Anfang des Weltkonflikts steht, das zum min- desten von der Verantwortlichkeit für seine weltweite Ausbreitung nicht frei- gesprochen werden kann.

Der Krieg begann mit einem Streit um die deutsche Stadt Danzig und den so- genannten Korridor. Man kann nicht sagen: er begann „bekanntlich‘ damit, man muß im Gegenteil heute an den ursprünglichen Anlaß erinnern. So unendlich viel ist inzwischen geschehen, daß dem Gedächtnis der Menschen bereits zu entschwinden anfängt, daß dies alles um der Frage willen begann, ob die deutsche Stadt Danzig wieder zu Deutschland kommen und ob das deutsche Ost- preußen mit Deutschland durch einen Korridor verbunden werden solle.

Es ist heute eine historische Tatsache, daß man weder in London noch in Paris so bereit gewesen wäre, um Danzigs willen einen Krieg auf Leben und Tod mit dem militärisch so starken Großdeutschen Reich zu wagen, hätte man nicht über

2 Ross / Um was geht der Kampf

bindende Zusicherungen aus dem Weißen Hause verfügt, daß auch diesmal wie im vorigen sogenannten ersten Weltkrieg die Vereinigten Staaten mit ihrer ganzen Macht an die Seite Englands und Frankreichs treten würden.

Man hatte um so weniger Grund, an den von Franklin Roosevelt gemachten Zusicherungen zu zweifeln, als die Vereinigten Staaten ja seit dem ersten Amts- antritt des Präsidenten Roosevelt in wachsendem Maße einen Kreuzzug und Vernichtungskrieg gegen das nationalsozialistische Deutschland predigten. Man kann nun zwar über die Berechtigung der Gründe, die ein Land und Volk zu solch gefährlicher, die Auslösung eines Weltkonflikts einschließender Politik veranlaßten, verschiedener Ansicht sein; aber man sollte doch meinen, daß ein Land und Volk, das eine solche Politik treibt, sich zum mindesten der darin liegenden Verantwortung bewußt ist und weiß, warum es diesen gefährlichen Weg einschlägt.

Um so erstaunlicher ist es, wenn man heute, mehr als zwei Jahre nach dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten, mehr als drei Jahre seit dem Anfang des Schießkrieges der USA. gegen Deutschland, mehr als vier Jahre seit dem Beginn des Weltkonflikts, mehr als sechs Jahre nach der berüchtigten Quarantänerede des Präsidenten Roosevelt in Chicago, in der er bereits unverhüllt zur Quaran- täne der von ihm als Aggressoren bezeichneten Staaten, d. h. zum Kriege gegen Deutschland und Japan, aufrief, seit bald zwölf Jahren nach dem Amtsantritt eben dieses Mannes, der als der „Kriegspräsident‘ in die Geschichte eingehen wird, um so erstaunlicher ist es, muß man nochmals sagen, wenn nach so langer Zeit, nach so ungeheuren Opfern, nach solch unvorstellbaren Kriegsanstren- gungen und dem Kriege dienenden Umwálzungen in den Vereinigten Staaten von Amerika diese plötzlich die Frage stellen: Wozu das alles? Um was geht eigentlich der Krieg? Wofür kämpfen wirt? |

Es gehört zum System der Franklin Rooseveltschen Administration, alles, was dem Präsidenten nicht paßt, was ihm im Wege ist oder auch was er selbst ver- bockt hat, als Faschismus oder Nazismus abzutun, als „Fünfte Kolonne” oder Nazipropaganda. Aber es dürfte selbst den gerissensten Propagandisten des Weißen Hauses, des State Department oder dem OWI nicht leicht fallen, diese an der amerikanischen Front wie an der amerikanischen Heimatfront plótzlich auftauchende Frage: Wofür kämpfen wir? als Nazipropaganda abzutun.

Diese Frage stellen nicht nur die amerikanischen Soldaten in dem granaten- zerwühlten Trichtergelánde von Monte Cassino, in den Schlammgráben des Nettuno-Brückenkopfes oder in den Baracken und Bars des „Europäischen Operations-Theaters", wie England in bundesfreundlicher Weise genannt wird, von dieser Frage ist die amerikanische Presse voll, von ihr hallen die Wandel- gänge des Kongresses wider, und sie ist das Tagesgespräch von Main Street.

Es ist erschütternd, daB im fünften Kriegsjahr eine solche Frage gestellt wer- den kann. Augenscheinlich sind die Amerikaner noch nicht genügend im Kriege, augenscheinlich haben sie noch nicht genügend gelitten und geopfert, augen- scheinlich haben sie noch nicht genügend Blut vergossen, um sich dieser Er- schütterung voll bewuBt zu werden. Für einen Europáer, für einen Deutschen insbesondere, ist es ungeheuerlich, daß eine solche Frage überhaupt gestellt werden kann. Ich glaube, man kónnte eine Rundfrage durch ganz Deutschland veranstalten, unter den deutschen Soldaten, unter den deutschen Arbeitern, unter Frauen und Kindern man würde nicht einen einzigen finden, keinen Mann, keine Frau, keinen Greis, kein Kind, der nicht auf die Frage: Wofür k&mpft ihr? sofort die Antwort wüBte: , Wir kámpfen um unser Leben und unser Land, für unsere Freiheit und für unser Recht, und wir kämpfen schließlich auch für eine bessere Zukunft."

Ross / Um was geht der Kampf 8

Wenn auf die Frage: Wofür kämpft ihr? jeder Deutsche sofort die klare, prä- zise Antwort weiß und unter den Amerikanern kaum einer, so ist damit schlag- artig der fundamentale Unterschied zwischen den Gründen des Kriegseintritts auf deutscher und amerikanischer Seite beleuchtet. Deutschland kämpft, weil es . muß, weil ihm der Krieg aufgezwungen wurde, und Amerika, weil ja, warum kämpft Amerika eigentlich? Die Frage können wir doch nicht beantworten, wenn die Amerikaner selbst die Antwort nicht wissen. Und so müssen wir sie an sie richten und sie fragen: Warum kämpft ihr eigentlich? Warum seid ihr eigentlich in diesen Krieg eingetreten? Warum habt ihr ihn ausgelöst durch eure Versprechungen und Garantien an Polen, an England, an Frankreich, aber auch an Jugoslawien, an Griechenland, an lauter Staaten, die euch eigentlich nichts angehen, die nicht nur auf einem anderen Kontinent, die in einer anderen Hemisphäre liegen? Wie kommt gerade ihr dazu, die ihr die Erfinder der Monroe-Doktrin seid, die ihr euch seit mehr als einem Jahrhundert jede Ein- mischung in euren Raum, eure Hemisphäre so eindringlich verbeten habt?

Daß all die Antworten eurer Propaganda, eures Präsidenten, eures Außen- ministers und eures Propagandachefs, mit denen sie die Welt überfüttern, nicht stichhaltig sind, erlebt ihr jetzt ja im eigenen Land. Daß weite Teile eures Volkes nicht für die ,, Menschlichkeit", die Demokratie, das Selbstbestimmungsrecht und die Freiheit der kleinen Nationen zu kämpfen bereit sind, wenigstens nicht einen so furchtbar schweren und blutigen Krieg, wie er jetzt nötig zu werden droht, hat doch einer eurer lautesten Propagandisten der internationalen Mission Ame- rikas, Wendell Willkie, zu seinem Leidwesen bei den Vorwahlen in Wisconsin erfahren. Und warum diese scheinbar plötzliche Wandlung vom Internationalis- mus zum Isolationismus zurück? Doch nicht etwa weil die Amerikaner plötzlich ihren eigenen Idealen untreu geworden sind, nicht mehr bereit, für diese Ideale, wo es nötig ist, selbst das Leben hinzugeben, sondern weil sie erkannt haben, in welcher Weise der amerikanische Idealismus von einigen skrupellosen Poli- tikern für ihre eigenen Zwecke mißbraucht wurde.

Dieser Idealismus ist schwer mißbraucht worden, und der Schock über diesen Mißbrauch hat im amerikanischen Volk jahrzehntelang angehalten. Deshalb war es diesmal ja auch nicht möglich, das amerikanische Volk zu einem neuen Kreuzzug für die Demokratie, für die Freiheit und für alle Menschheitsideale zu entflammen; deshalb mußte diesmal das amerikanische Volk, wie die bekannte Zeitschrift „Fortune“ es ausdrückte, heimlich „hinterrücks an den RockschóBen" in den Krieg hineingezogen werden. Man ist sich heute in den USA. allgemein darüber klar, und man spricht es auch offen aus, daß dieser Krieg Roosevelts Krieg ist, daß keine zwingende Veranlassung dafür vorlag. Eine Zeitlang hat verständlicherweise das erschütternde Ereignis von Pearl Harbour das gesamte amerikanische Volk über die wahren Hintergründe getäuscht. Pearl Harbour machte es dem Präsidenten leicht, darüber hinwegzutäuschen, daß seine auf den Krieg abzielende Politik schließlich zu Pearl Harbour führen mußte. Und schließlich' sind nicht wir es, sondern amerikanische Zeitungen und amerika- nische Politiker, die immer wieder darauf hinweisen, daß Roosevelts Pressions- politik gegenüber dem Reich der aufgehenden Sonne die Explosion von Pearl Harbour auf dem Gewissen hat und daß die Pacht- und Leih-Lieferungen an Eng- land, die Zurverfügungstellung von Kriegsmaterial und Kriegsschiffen an die Feinde Deutschlands, sein Schießbefehl, die offenen Angriffe der unter seinem Befehl stehenden amerikanischen Kriegsflotte auf deutsche Schiffe ja längst vor Pearl Harbour offenen Kriegszustand mit Deutschland bedeuteten. Wie gesagt, das sind heute alte Geschichten und Selbstverständlichkeiten, die jedes Kind weiß. Was aber niemand, weder an der Front noch in der Heimat, weiß, ist: Warum wird dieser Krieg geführt, der nicht der Krieg des amerikanischen Volkes, son-

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bindende Zusicherungen aus dem Weißen Hause verfügt, daß auch diesmal wie im vorigen sogenannten ersten Weltkrieg die Vereinigten Staaten mit ihrer ganzen Macht an die Seite Englands und Frankreichs treten würden.

Man hatte um so weniger Grund, an den von Franklin Roosevelt gemachten Zusicherungen zu zweifeln, als die Vereinigten Staaten ja seit dem ersten Amts- antritt des Präsidenten Roosevelt in wachsendem Maße einen Kreuzzug und Vernichtungskrieg gegen das nationalsozialistische Deutschland predigten. Man kann nun zwar über die Berechtigung der Gründe, die ein Land und Volk zu solch gefährlicher, die Auslösung eines Weltkonflikts einschließender Politik veranlaßten, verschiedener Ansicht sein; aber man sollte doch meinen, daß ein Land und Volk, das eine solche Politik treibt, sich zum mindesten der darin liegenden Verantwortung bewußt ist und weiß, warum es diesen gefährlichen Weg einschlägt.

Um so erstaunlicher ist es, wenn man heute, mehr als zwei Jahre nach dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten, mehr als drei Jahre seit dem Anfang des Schießkrieges der USA. gegen Deutschland, mehr als vier Jahre seit dem Beginn des Weltkonflikts, mehr als sechs Jahre nach der berüchtigten Quarantänerede des Präsidenten Roosevelt in Chicago, in der er bereits unverhüllt zur Quaran- täne der von ihm als Aggressoren bezeichneten Staaten, d. h. zum Kriege gegen Deutschland und Japan, aufrief, seit bald zwölf Jahren nach dem Amtsantritt eben dieses Mannes, der als der „Kriegspräsident” in die Geschichte eingehen wird, um so erstaunlicher ist es, muß man nochmals sagen, wenn nach so langer Zeit, nach so ungeheuren Opfern, nach solch unvorstellbaren Kriegsanstren- gungen und dem Kriege dienenden Umwálzungen in den Vereinigten Staaten von Amerika diese plötzlich die Frage stellen: Wozu das alles? Um was geht eigentlich der Krieg? Wofür kämpfen wir?

Es gehört zum System der Franklin Rooseveltschen Administration, alles, was dem Präsidenten nicht paßt, was ihm im Wege ist oder auch was er selbst ver- bockt hat, als Faschismus oder Nazismus abzutun, als „Fünfte Kolonne” oder Nazipropaganda. Aber es dürfte selbst den gerissensten Propagandisten des Weißen Hauses, des State Department oder dem OWI nicht leicht fallen, diese an der amerikanischen Front wie an der amerikanischen Heimatfront plötzlich auftauchende Frage: Wofür kämpfen wir? als Nazipropaganda abzutun.

Diese Frage stellen nicht nur die amerikanischen Soldaten in dem granaten- zerwühlten Trichtergelände von Monte Cassino, in den Schlammgräben des Nettuno-Brückenkopfes oder in den Baracken und Bars des „Europäischen Operations-Theaters", wie England in bundesfreundlicher Weise genannt wird, von dieser Frage ist die amerikanische Presse voll, von ihr hallen die Wandel- gänge des Kongresses wider, und sie ist das Tagesgespräch von Main Street.

Es ist erschütternd, daß im fünften Kriegsjahr eine solche Frage gestellt wer- den kann. Augenscheinlich sind die Amerikaner noch nicht genügend im Kriege, augenscheinlich haben sie noch nicht genügend gelitten und geopfert, augen- scheinlich haben sie noch nicht genügend Blut vergossen, um sich dieser Er- schütterung voll bewußt zu werden. Für einen Europäer, für einen Deutschen insbesondere, ist es ungeheuerlich, daß eine solche Frage überhaupt gestellt werden kann. Ich glaube, man könnte eine Rundfrage durch ganz Deutschland veranstalten, unter den deutschen Soldaten, unter den deutschen Arbeitern, unter Frauen und Kindern man würde nicht einen einzigen finden, keinen Mann, keine Frau, keinen Greis, kein Kind, der nicht auf die Frage: Wofür kämpft ihr? sofort die Antwort wüßte: „Wir kämpfen um unser Leben und unser Land, für unsere Freiheit und für unser Recht, und wir kämpfen schließlich auch für eine bessere Zukunft.”

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Wenn auf die Frage: Wofür kämpft ihr? jeder Deutsche sofort die klare, prä- zise Antwort weiß und unter den Amerikanern kaum einer, so ist damit schlag- artig der fundamentale Unterschied zwischen den Gründen des Kriegseintritts auf deutscher und amerikanischer Seite beleuchtet. Deutschland kämpft, weil es . muß, weil ihm der Krieg aufgezwungen wurde, und Amerika, weil ja, warum kämpft Amerika eigentlich? Die Frage können wir doch nicht beantworten, wenn die Amerikaner selbst die Antwort nicht wissen. Und so müssen wir sie an sie richten und sie fragen: Warum kämpft ihr eigentlich? Warum seid ihr eigentlich in diesen Krieg eingetreten? Warum habt ihr ihn ausgelöst durch eure Versprechungen und Garantien an Polen, an England, an Frankreich, aber auch an Jugoslawien, an Griechenland, an lauter Staaten, die euch eigentlich nichts angehen, die nicht nur auf einem anderen Kontinent, die in einer anderen Hemisphäre liegen? Wie kommt gerade ihr dazu, die ihr die Erfinder der Monroe-Doktrin seid, die ihr euch seit mehr als einem Jahrhundert jede Ein- mischung in euren Raum, eure Hemisphäre so eindringlich verbeten habt?

Daß all die Antworten eurer Propaganda, eures Präsidenten, eures Außen- ministers und eures Propagandachefs, mit denen sie die Welt überfüttern, nicht stichhaltig sind, erlebt ihr jetzt ja im eigenen Land. Daß weite Teile eures Volkes nicht für die „Menschlichkeit“, die Demokratie, das Selbstbestimmungsrecht und die Freiheit der kleinen Nationen zu kämpfen bereit sind, wenigstens nicht einen so furchtbar schweren und blutigen Krieg, wie er jetzt nötig zu werden droht, hat doch einer eurer lautesten Propagandisten der internationalen Mission Ame- rikas, Wendell Willkie, zu seinem Leidwesen bei den Vorwahlen in Wisconsin erfahren. Und warum diese scheinbar plötzliche Wandlung vom Internationalis- mus zum Isolationismus zurück? Doch nicht etwa weil die Amerikaner plötzlich ihren eigenen Idealen untreu geworden sind, nicht mehr bereit, für diese Ideale, wo es nötig ist, selbst das Leben hinzugeben, sondern weil sie erkannt haben, in welcher Weise der amerikanische Idealismus von einigen skrupellosen Poli- tikern für ihre eigenen Zwecke mißbraucht wurde.

Dieser Idealismus ist schwer mißbraucht worden, und der Schock über diesen Mißbrauch hat im amerikanischen Volk jahrzehntelang angehalten. Deshalb war es diesmal ja auch nicht möglich, das amerikanische Volk zu einem neuen Kreuzzug für die Demokratie, für die Freiheit und für alle Menschheitsideale zu entflammen; deshalb mußte diesmal das amerikanische Volk, wie die bekannte Zeitschrift „Fortune” es ausdrückte, heimlich „hinterrücks an den RockschóBen" in den Krieg hineingezogen werden. Man ist sich heute in den USA. allgemein darüber klar, und man spricht es auch offen aus, daB dieser Krieg Roosevelts Krieg ist, daß keine zwingende Veranlassung dafür vorlag. Eine Zeitlang hat verständlicherweise das erschütternde Ereignis von Pearl Harbour das gesamte amerikanische Volk über die wahren Hintergründe getäuscht. Pearl Harbour machte es dem Präsidenten leicht, darüber hinwegzutäuschen, daß seine auf den Krieg abzielende Politik schließlich zu Pearl Harbour führen mußte. Und schließlich sind nicht wir es, sondern amerikanische Zeitungen und amerika- nische Politiker, die immer wieder darauf hinweisen, daß Roosevelts Pressions- politik gegenüber dem Reich der aufgehenden Sonne die Explosion von Pearl Harbour auf dem Gewissen hat und daß die Pacht- und Leih-Lieferungen an Eng- land, die Zurverfügungstellung von Kriegsmaterial und Kriegsschiffen an die Feinde Deutschlands, sein Schießbefehl, die offenen Angriffe der unter seinem Befehl stehenden amerikanischen Kriegsflotte auf deutsche Schiffe ja längst vor Pearl Harbour offenen Kriegszustand mit Deutschland bedeuteten. Wie gesagt, das sind heute alte Geschichten und Selbstverständlichkeiten, die jedes Kind weiß. Was aber niemand, weder an der Front noch in der Heimat, weiß, ist: Warum wird dieser Krieg geführt, der nicht der Krieg des amerikanischen Volkes, son-

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dern des amerikanischen Präsidenten ist, in den er das amerikanische Volk gegen seinen Willen hineingelockt hat? Wäre es anders, niemals könnte heute diese erschütternde Frage nach dem Warum des Krieges gestellt werden.

Wie gesagt, es ist nicht unsere Sache, diese Frage zu beantworten. Es ist nicht unsere Sache, den amerikanischen Kriegstreibern Argumente für den von ihnen entfesselten Weltkrieg zu liefern. Wenn diese Frage von unserer Seite gestreift wurde, so nur, um auf den fundamentalen Unterschied der Beweggründe auf deutscher und amerikanischer Seite einzugehen.

Es ist natürlich ganz klar, daB Danzig und der Korridor nicht der eigentliche Grund, sondern nur der Anlaß für den Ausbruch eines Krieges waren, der prak- tisch die ganze Welt umfaßt, und daß selbst dieser Weltkrieg nur die Teil- erscheinung eines sehr viel größeren Konflikts ist, den die Völker der Erde gegeneinander wie in ihren eigenen Herzen auskämpfen müssen.

Wir Deutsche haben uns nie angemaßt, Welt- und Menschheitsprobleme lösen zu wollen, fremden Völkern und erst recht nicht fremden Kontinenten unsere Ideen, unsere Einrichtungen, Sitten und Gebräuche, unsere Vorstellungen von Gut und Böse, von Gott und der Welt aufdrängen zu wollen. Man kann uns vor- werfen, was man will das nicht. Wir und erst recht das nationalsozialistische Deutschland haben nie eine andere Politik gemacht als eine deutsche für Deutschland und für Deutsche.

Dárin liegt natürlich auch unsere Schwäche. Unsere Feinde, die Amerikaner nicht anders als die Briten oder die Russen, haben immer behauptet, für die . Menschheit zu kámpfen. Ob es nun das Ideal des ,sowjetischen Arbeiter- paradieses", der Pax Britannica oder des American Way of Living ist, wofür sie kámpfen, immer geschieht es und geschah es im Namen der ganzen Menschheit und für die ganze Menschheit.

Die Amerikaner wie die Englánder haben mit ihren Menschheitsidealen bisher recht gute Geschäfte gemacht. Das Britische Weltreich beruht nicht anders auf ihnen als das amerikanische Imperium. Der amerikanische Unabhángigkeitskrieg hätte vielleicht einen anderen Ausgang genommen, zum mindesten hätten die gegen ihr Mutterland rebellierenden britischen Kolonisten auf dem amerika- nischen Kontinent nicht die begeisterte Unterstützupg Europas, übrigens auch die Deutschlands, gefunden, hätte man nicht in Europa der „Bill of Rights" ge- glaubt, der Verkündigung, daB es um die Menschenrechte, um Leben, Freiheit und Glück aller Menschen ginge, sondern richtig erkannt, daB die eigentliche Ursache die war, daB die britischen Kolonisten auf amerikanischem Boden keine Steuern zahlen wollten. Wir wollen nun keineswegs ins Extrem fallen und den Amerikanern allen Idealismus abstreiten; im Gegenteil, wir haben ihnen diesen ja zuerkannt. Aber gegenüber der geradezu abgründigen Verleumdung alles dessen, was Deutschland überhaupt je geschaffen hat, die heute jenseits des Atlantiks üblich geworden ist, kann vielleicht einmal darauf hingewiesen werden, daB schlieBlich die Verkünder dieser Menschenrechte Sklavenhalter waren und daB sie nicht daran dachten, von diesen so feierlich der Welt verkündeten Menschenrechten den eigenen Sklaven auch nur eine Kleinigkeit abzugeben.

Hat sich bis heute daran so viel geändert? Ist es nötig, auf die Lage der Neger in den Vereinigten Staaten hinzuweisen? In dem gleichen Land, das angeblich den Krieg für die Freiheit aller Menschen führt und den Vernichtungskrieg gegen Deutschland mit Deutschlands Rassenpolitik begründet, sind Rassen- unruhen an der Tagesordnung, sind nicht nur Neger und Negermischlinge von gleichen Rechten ausgeschlossen, sondern Angehórige des mexikanischen Brudervolkes, wenn sie über die Grenze in das benachbarte Texas kommen. Man

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hat sich in den Vereinigten Staaten seinerzeit sehr darüber aufgeregt, daß in deutschen Gaststätten das Schild „Juden unerwünscht“ hängt. Ein ähnliches Schild, nur noch in drastischerer Form, kann man in Texas in Hotels und Restau- rants sehen, das Mexikanern den Zutritt verbietet. Die mexikanische Regierung mußte ernsthafte Vorstellungen in Washington gegen diese Diskriminierung erheben. Der Washingtoner Korrespondent der „Daily Mail" veröffentlichte erst ` dieser Tage einen Bericht, über die Negerfrage. Er schreibt darin, daB selbst in den Nordstaaten, in denen die Neger im Gegensatz zu den Südstaaten an der Ausübung des Wahlrechts nicht gehindert werden, kein Farbiger also nicht nur kein Neger, sondern niemand, der nur einen Tropfen schwarzen Blutes in den Adern hat ein Hotel oder ein Restaurant betreten darf, in dem Weiße verkehren. Er schildert die Neger-Ghettos, in denen die Farbigen eng gedrängt, unter sanitáren Verhältnissen leben müssen, die schlimmer seien als die schlimmsten Slums Europas. Wörtlich schreibt der Washingtoner Korrespondent der „Daily Mail": „Erreicht die Hoffnungslosigkeit in irgendeiner Gemeinschaft einen bestimmten Grad, ist der Ausbruch von Verbrechen unvermeidlich. Soll es in den Vereinigten Staaten Herrschende und Beherrschte geben, dann laBt uns wenigstens ehrlich sein, ändert die Verfassung und gebt offen zu, daß Neger die Vorteile der Weißen nicht teilen können.“

An solcher Offenheit hat es bei den Angelsachsen immer gefehlt, während wir Deutsche nach Ansicht vieler stets allzu offen waren. Aber es sieht jetzt so aus, als ob diese Offenheit, dies ganz klare, eindeutige Sichbekennen zu dem, was man glaubt, was man für richtig hält, wofür man kämpft, einerlei, ob es dem andern gefällt oder nicht, einerlei, ob es in die Weltmeinung paßt oder nicht, letzten Endes zum Siege führen wird.

Die feindliche Lüge ist drauf und dran, sich zu überschlagen, ja sie hat sich bereits überschlagen. Man braucht bloß zu lesen, was vor einem halben Jahr über die Atlantic Charta, über die Moskauer Zusammenkunft, über die Teheraner Beschlüsse in der feindlichen Presse und Offentlichkeit geschrieben und gesagt wurde, und was man heute darüber schreibt und sagt. Ich kann mir ersparen, Beispiele dafür anzuführen. Wer die internationale Propaganda verfolgt, kann sie dutzendweise herzählen.

Als die Atlantic Charta und die Teheraner Beschlüsse verkündet wurden, pries die amerikanische Zeitschrift „Life“ sie ebenso wie alle anderen amerikanischen Zeitschriften als die erlösende Formel, als das Größte und Schönste, was man sich vorstellen kann. Am 20. Dezember vorigen Jahres konnte man in der gleichen Zeitschrift „Life“ über die Teheraner Erklärung den Satz lesen, daB sie alles löse, wenn man ihr Glauben schenken könne. Andernfalls sei sie ein kolossaler Betrug. Und am 3. April dieses Jahres schrieb die gleiche Zeitschrift über die Atlantic Charta, daß die Geschichte der Atlantic Charta die Geschichte ihrer Verletzungen sei, und weist in dem gleichen Aufsatz darauf hin, daß die Lüge bereits bei der Geburt der Atlantic Charta Pate gestanden habe. Die Atlantic Charta soll, wie immer wieder aller Welt verkündet wird, die amerika- nischen Kriegsziele verkörpern. „Wie vereint sich das", fragt die amerikanische Zeitschrift mit Recht, „mit der Tatsache, daB Amerika sich noch keineswegs im Kriege befand, als Präsident Roosevelt sie zusammen mit Churchill verfaßte, der gleiche Roosevelt, der damals es war im August 1941, also vor seiner Wiederwahl immer wieder versicherte, daB eg sein hóchstes Ziel sei, Amerika aus dem Kriege herauszuhalten und Amerikas Jugend nicht auf fremde Schlacht- felder zu schicken?" '

Heute werden Atlantic Charta, Teheraner Beschlüsse und Moskauer Ab- kommen nirgends auf der Erde mehr ernst genommen, und auch mit noch so viel

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„Punkten“ vermag Amerikas Außenminister die Inhaltlosigkeit und praktische Wertlosigkeit dieser allgemein menschlichen Erklárungen nicht zu vertuschen, auch wenn er, wie es in der amerikanischen Presse heiBt, mit seinen 17 Punkten, die kein politisches Programm umreiBen, sondern Gebote sind, Wilson um drei Punkte schlágt und den lieben Gott gar um sieben.

Verschwommener Idealismus und Internationalismus, blinder Glaube an vage Menschheitsideale, ja derart in die Augen springende schóne Lügen wie etwa die von der Gleichheit der Menschen waren móglich, als es noch keine Mensch- heit im heutigen Sinne gab, d. h. als die Erde noch so groB und weit war, daB die Völker getrennt voneinander lebten, als sie nur durch gelegentliche Reisende oder bestenfalls Handels- oder Kriegsexpeditionen miteinander in Berührung traten. Diese Epoche líegt gar nicht so weit zurück. Wir Alteren, wir Fünfzig-, Sechzig- und Siebzigjährigen haben sie in unserer Jugend noch erlebt.

Es ist die Tragik der Menschheit, daB in dem Augenblick, wo durch die Mittel der Technik und durch die Schrumpfung der Erde erstmalig alle Völker mit- einander in Berührung treten und damit die physische Móglichkeit zu einem wirklichen Weltreich, einer universalen Religion und Ideologie gegeben wäre, zugleich die Unmóglichkeit ihrer Verwirklichung in Erscheinung tritt.

Der Nationalismus ist keineswegs eine deutsche Erfindung. Er ist vielmehr eine Welterscheinung, von der der amerikanische Imperialismus trotz aller universalen Tarnung genau so getragen ist wie der sowjetische. Und die Krise des britischen Weltreichs liegt ja eben gerade darin, daB ihm die ráumliche und rassische Basis fehlt, über die die kontinentalen Imperien der USA. wie der USSR. verfügen. Dieser Nationalismus ist in Thailand genau so lebendig wie etwa in Mexiko, und die Indianer Amerikas fangen heute an, genau so rasse- bewußt zu werden wie etwa Tibetaner und Mongolen.

Der Nationalismus nicht im staatlichen, sondern im völkischen Sinne, d.h. das BewuBtwerden der Sonderbedingungen einer bestimmten Rasse innerhalb eines bestimmten Raumes, ist ohne Zweifel eine der Triebkräfte unserer Zeit.

Allein die Strömungen einer Epoche sind nie so einfach, daB sie auf einen Nenner gebracht werden können. Sie sind immer gleichzeitig These und Anti- these, und so gehen diesen regionalen Strómungen universale parallel. Jeder, der sich nicht mit dem materialistischen Aspekt begnügt, weiß, daB dem äußeren Geschehen auf der Erde innere Triebkräfte zugrunde liegen. Er weiß, daß die innere Revolution, die Menschheit und Weltall ergriffen hat, stärker ist als die äußere. Wenn nicht alle Zeichen trügen, befindet sich die Menschheit wieder auf dem Wege zu einer mehr transzendenten Einstellung. Nachdem um die Jahrhundertwende der Rationalismus seinen Hóhepunkt erreichte, nachdem die Leugnung nicht nur Gottes, sondern auch der Seele im Bolschewismus ihre poli- tische Form gefunden, schwingt das Pendel wieder zurück, und für jeden Sehenden ist klar, daß Adolf Hitler nie zur Macht gekommen wäre, daß der Nationalsozialismus niemals das ganze deutsche Volk hätte ergreifen können und daß dieses nationalsozialistische Deutschland nicht einer Welt von Feinden zu trotzen vermóchte, wie es dies zur maßlosen Verblüffung seiner Gegner fertig bringt, wäre es nicht getragen von den transzendenten Strömungen der Zeit, d. h. vom Glauben, der Berge versetzt, mag dieser Glaube sich auch noch nicht in einer klar erkennbaren Form manifestiert haben. Nichts ist wohl wider- sinniger und grotesker, als das nationalsozialistische deutsche Volk der Glau- benslosigkeit, des neuen Heidentums zu zeihen; denn es gibt keinen Glauben, der nicht von Gott kommt.

Es ist noch verfrüht, von all dem zu sprechen. Viele Menschen würden es nicht verstehen, und vor allem wollen sie es im andern Lager nicht verstehen. Der Grund dafür liegt unter anderem darin, daß die Technik gewissermaßen die

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geistigen Disziplinen überholte. Sie hat der Menschheit eine Macht- vollkommenheit über die Natur verliehen, der sie geistig- seelisch nicht gewachsen ist. Man kann auch sagen, die geistig- seelische Konzeption der Weltfragen ist der technisch-natur- wissenschaftlichen Weltbeherrschung noch nicht nachgekommen. Hier liegt ohne Zweifel einer der Gründe für die tragische Weltzerstórung, die wir heute erleben. Dieser entscheidenden Frage kann man beinahe sagen um die Existenz des Erdballs; denn wir sind ja bald so weit, ihn in die Luft sprengen zu kónnen kommt man nicht mit nebelhaften Phrasen, wie Menschlichkeit, Freiheit und Gleichheit, bei, am allerwenigsten wenn sie so wenig ernst gemeint sind wie in Washington, London oder Moskau. |

Es geht heute darum, daß das Gleichgewicht zwischen mate- rialistischen Móglichkeiten und idealistischer Verantwortlich- keit wiederhergestellt wird. Die Menschheit ist in einen Kampf um ihr Dasein und ihre Existenzbedingungen eingetreten, wie ihn in gleicher Erbar- mungslosigkeit nur der Urwald kennt. Und wieder müssen wir sagen, daB nicht wir Deutschen es sind, die diesen Vernichtungskampf und Ausrottungskrieg auf unsere Fahnen geschrieben haben. Waren es denn deutsche oder amerikanische Politiker und Publizisten, welche eiskalt von der Notwendigkeit der Dezimierung und Ausrottung des Volkes schreiben, mit dem man sich im Kriege befindet? Erst dieser Tage liegen aus der amerikanischen Presse Äußerungen amerika- nischer Soldaten von der Normandie-Front vor, die dahin lauten: ,, Amerikanische Soldaten von der Invasionsfront schreiben, wenn sie bisher vielleicht noch Zweifel an der Notwendigkeit der Ausrottung des deutschen Volkes hatten, so hätten sie die Erbitterung wie die Tüchtigkeit, mit der die Deutschen kämpften, eines Besseren belehrt.‘

Dies ist eine Haltung, die nicht nur der deutschen, sondern der europäischen Auffassung vom Krieg zutiefst widerspricht. Mit unseren europäischen Kriegen, so erbittert sie auch geführt werden mochten, war immer der Begriff der Ritter- lichkeit verknüpft. Für einen europäischen Soldaten, einerlei welcher Nation er auch angehören mag, ist die amerikanische Vorstellung geradezu unfaßbar, den Gegner ausrotten zu müssen, weil er ein tapferer Soldat ist. Von deutschen Internierten, die aus den USA. zurückkamen, kommt uns die unfaßbare Kunde, daß amerikanische Verwundete ihre Verwundung Deutschland, dem deutschen Volke und dem deutschen Heere gewissermaßen zum persönlichen Vorwurf machen.

Wenn dieser Krieg jetzt in und um Europa so furchtbar geworden ist, so grauenhaft, wenn er so wider alle Begriffe deutscher und europäischer Hhren- haftigkeit und Ritterlichkelt geführt wird, so, weil raumfremde Mächte ihre uns gänzlich fremden Ideen von Kriegführung nach Europa hineintragen. Das gilt von den eurasiatischen Kriegs- und Kampfmethoden der Sowjets nicht anders als von denen der Amerikaner. Und hierbei kommen wir wieder zu einem sehr ernsten Punkt, der einmal klargestellt werden muß. Jeder, der Amerika wirklich kennt, der dem amerikanischen Volk unvoreingenommen gegenübersteht, kennt seine großen und guten Bigenschaften. Wie sollte es auch anders sein; letzten Endes ist der Amerikaner doch Blut von unserem Blut. Er ist in seiner über- wältigenden Masse ein auf fremden Boden verpflanzter Europäer.

Aber dieses jahrhundertelange Leben in einem fremden Raum hat den „Ahnen- geistern des Bodens" Zugang zu seiner Seele gegeben. Die Ahnengeister dieses Bodens sind indianisch, und alle Indianerromantik darf uns darüber nicht hin- wegtäuschen, daß die indianische Rasse eine der grausamsten und erbarmungs- losesten ist, die es je auf dem Erdenrund gab. Und diese Grausamkeit ist auch in die auf indianischen Boden verpflanzten Weißen eingegangen. Da sie Weiße

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sind, Europáer, konnten die charakteristischen Eigenschaften der roten Rasse natürlich nicht ganz von ihnen Besitz ergreifen; aber sie drangen doch ein, und da sie sich nicht offen manifestieren durften, bémáchtigten sie sich des Unter- bewuBtseins, um von da um so furchtbarer hervorzubrechen.

Oder gibt es eine andere Erklärung dafür, daß Menschen, Männer wie Frauen, die uns Deutschen äußerlich und innerlich ähnlich erscheinen, die angeblich uns an Großherzigkeit und Humanität noch übertreffen, daß diese freundlichen, friedlichen Menschen plötzlich Gefallen daran finden, ihre Mitmenschen in geradezu unvorstellbarer Weise zu quälen, zu martern und unter grauenhaften Foltern zu töten? Der Marterpfahl der Rotháute hat in den Lynchpfählen, an denen man unglückliche Schwarze bei langsamem Feuer verbrennt, seine Wiederauferstehung gefunden, genau so wie sich die Mannbarkeitszeremonien der Indianer in den Initiationsriten amerikanischer College-Verbindungen wiederverkörpern. Wer aus eigener Erfahrung weiß, mit welch geradezu sadi- stischer Grausamkeit junge Leute bei solchen Initiationsriten körperlich und seelisch gefoltert und mißhandelt werden, hat einen erschreckenden Blick in die sonst so großherzige und menschenfreundliche Seele des Amerikaners getan.

Diese versteckte, latente Grausamkeit kommt auch in Gangstern und Gangster- romantik wie in den Methoden der amerikanischen Polizei zum Ausdruck. Schließlich darf man doch nicht vergessen, daß in amerikanischen Polizeigefäng- nissen die Methode des „Third Degree", d.h. der Folterung von Untersuchungs- gefangenen zur Erpressung von Geständnissen, längst üblich war, ehe überhaupt irgend jemand an Nationalsozialismus dachte und man seine eigenen Grausam- keitsinstinkte abreagieren konnte, indem man den Nazis Folterungen unterschob, an deren Ausmalung man seine geheime Lust fand. Es ist ganz klar, daß diese normalerweise in der amerikanischen Seele versteckte und ängstlich gehütete Neigung zur Grausamkeit bei Gelegenheiten, wie Krieg und Revolution sie bieten, wild hervorbrechen. Dazu kommt, wie gesagt, daB die Amerikaner Krieg im europäischen Sinne, d.h. den ehrlich und ritterlich geführten Krieg, gar nicht kennen. Amerika hat vom Anfang seiner Geschichte an nur zwei Arten von Krieg gekannt: den Indianerkrieg und den gegen Schwächere. In dem Krieg gegen die Indianer lernten die amerikanischen Siedler alle Methoden eines hinterhültigen und erbarmungslosen Vernichtungskrieges, und sie waren ge- zwungen, ihn mit den gleichen Methoden zu führen. Es ist nicht genügend bekannt geworden in der Welt, daB die Amerikaner in den Indianerkriegen genau so erbarmungslos gekämpft haben wie die Rothäute selbst; sie haben ebenso skalpiert, ja sie haben sogar Prämien auf Skalpe ausgesetzt und damit ein niedriges, merkantiles Moment in die Kámpfe gebracht, die von den Indianern bei aller Grausamkeit doch immerhin noch mit einem gewissen rein kämpfe- rischen und damit ritterlichen Geiste geführt wurden. Die Geschichte der Indianerkriege ist voll von den gemeinsten Vertragsverletzungen von seiten der WeiBen gegen die Roten. Und schlieBlich war der Krieg gegen die Ureinwohner ein Ausrottungs- und Vernichtungskrieg. Daher kommt den Amerikanern wohl auch jener Gedanke, das Volk, mit dem man kümpft, auszurotten, der uns Euro- páern völlig fremd ist.

Diesen erbarmungslosen Vernichtungswillen haben die Amerikaner ja sogar ihren eigenen Landsleuten gegenüber zum Ausdruck gebracht, am grauenhafte- sten im Sezessionskrieg mit dem berühmten oder, richtiger gesagt, berüchtigten Zug General Shermans durch die Südstaaten, als dessen Ziel und Absicht er äußerte, daß er den Südstaatlern nichts lassen wollte als die Augen zum Weinen. Ist es bei solcher Geistes- und Seelenhaltung Angehórigen des eigenen Volkes gegenüber verwunderlich, daß man einem fremden Volk, also dem deutschen, gegenüber die gleichen Methoden anwenden möchte, ja daß man darüber hinaus-

Ross / Um was geht der Kampf 9

geht, indem man dem Feinde, auch seinen Frauen und Kindern, nicht einmal die Augen zum Weinen lassen will, sondern mit Phosphorkanistern ihnen ruchlos auch das Augenlicht zu nehmen trachtet? |

Das Kapitel des Brand- und Bombenkrieges gegen die deutsche Zivilbevölke- rung ist noch nicht zu Ende geschrieben. Deutschland hat die Archive darüber noch nicht geöffnet, vielleicht aus Stolz, vielleicht aus Scham für den Feind, der so Grauenhaftes begeht, und vielleicht wird die Welt erst dann von dem Umfang des Ungeheuerlichen erfahren, das man deutschen Frauen und Kindern antat, wenn die amerikanischen und britischen T errorflieger aus deutscher Gefangen- schaft zurückkehren und von dem erzählen, was sie empfanden, als sie gewahr wurden, was sie angerichtet haben.

Die Völker sind in eine Phase gegenseitiger Vernichtung eingetreten, die alles übertrifft, was man je für möglich gehalten hätte, und es ist an der Zeit, einmal auf die tieferen Gründe hinzuweisen, die zu der Katastrophe des Grauens und der Grausamkeit führten. Und es ist ebenso nötig, einmal klarzustellen, daß Grauen und Grausamkeit nicht nur vom Osten her nach Europa hineingetragen wurden, sondern auch vom Westen.

Um auf den Ausgangspunkt noch einmal zurückzukommen, auf den Kardinal- punkt, von dem aus allein die Weltkatastrophe zu erkennen und vielleicht zu lösen ist: Es ist ein Kampf nicht so sehr um die Macht als um Lebensraum. Menschen sind biologische Wesen, die Raum brauchen, wie altes, was auf Erden atmet. Alles, was auf der Erde lebt, schafft sich diesen Raum und kämpft, wenn nötig, um ihn, Menschen nicht anders als Tiere oder Pflanzen. Es ist unsinnig, Völker, noch dazu solche von stärkster Vitalität, auf engstem Raum zusammen- drängen zu wollen. Man braucht sich doch nur Karten der Vorkriegszeit anzu- sehen, um zu erkennen, auf wie engen Raum Deutschland und Japan zusammen- gedrängt wären und schier erdrückt wurden von dem britischen Rot und dem russischen Grün, die den Erdball überschwemmten, und den USA., die die ganze eine Erdhälfte als ihr Eigentum erklärten und trotzdem darüber hinaus noch Ansprüche auf die andere Erdhälfte erheben.

Aber statt dies auf der Gegenseite, im Lager der raumbeherrschenden Raub-

machte der See und der Steppe zu erkennen und dem deutschen Volke wenig-

stens seinen bescheidenen Anteil an den Gütern der Welt zu gönnen, deren gleichmäßige Verteilung man scheinheilig in Charten und Deklarationen und soundso viel Punkten proklamiert, suchte man selbst die Vereinigung des deut-

Republik 1918 den Anschluß proklamierte und erklärte, daß dieses Deutsch- Osterreich ein Teil Gesamtdeutschlands sei, die großen Raubmächte selbst diese bescheidene Einigung verboten und verhinderten, bis Adolf Hitler sie erzwang.

‘Allein im gegenwärtigen Weltkonflikt handelt es sich ja nicht nur um Deutschland, nicht nur um Europa, sondern es handelt sich um die Neuordnung

auf einer zu klein und zu eng gewordenen Erde.

Diese Neuordnung, Friede und Ruhe streben wir alle an. Wir Deutschen nicht

' weniger als ihr Amerikaner. Oder glaubt wirklich einer in USA., daB das

deutsche Volk, das so unendlich harte und blutige Kriege führen mußte, das so Entsetzliches erduldete und erduldet, aus reiner Kampfeslust Kriege führt, daB es nicht dringender und tiefer nach Frieden verlangt als die Menschen in USA., denen ein gütiges Geschick bisher. noch das Wissen darum ersparte, was Krieg heutiger Krieg bedeutet.

Diese internationale oder richtiger übernationale Ordnung auf der Erde kann nun nicht am grünen Tisch geschaffen werden, sie läßt sich nicht durch irgend-

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qo Ross / Om was gehl der Kampi

welche Systeme, und seien sie noch so ausgeklügelt, konstruleren, sondern sie kann nur beruhen auf einem Gleichgewicht der Kräfte oder, sagen wir richtiger, auf einer gewissen Ausbalancierung. Diese kann heute nicht eine zwischen Ländern und Völkern sein, sondern sie muß zwischen Rassen und Räumen, zwischen Hemisphären oder, sagen wir richtiger, Sphären geschaffen werden.

Kein Mensch in Deutschland hat die Monroe-Doktrin je bestritten. Wir haben das Wort „Amerika den Amerikanern” immer anerkannt, und wir überlassen es ganz den Amerikanern, wie sie die Verhältnisse innerhalb ihrer Sphäre ordnen wollen. Aber wir müssen ihnen ebenso eindeutig klarmachen, daß wir jede Ein- mischung in unsere Sphäre ablehnen und mit uns alle Europäer.

Ehe nicht klar erkannt ist, daß eine halbwegs stabile Weltordnung ohne Europa als gleichberechtigten Faktor nicht denkbar ist, können die Waffen nicht ruhen. Und Europa kann unter den heutigen Verhältnissen neben den anderen Großraummächten, der so- genannten westlichen Hemisphäre, dem eurasiatischen Steppen- kontinent und der großostasiatischen Wohlstandssphäre, durch kein noch so ausgeklügeltes System zu diesem gleichberechtig- ten Faktor werden ohne Deutschland.

Wenigstens einzelne fangen an zu erkennen, daß Europa für die Stabilität der Weltordnung, auch für die Menschen im Raume der westlichen Hemisphäre, un- erläßlich ist und daß ein solches Europa ohne Deutschland nicht zu existieren vermag. So verblendet ist man schließlich selbst in London und in Washington nicht, nicht zu erkennen, daß eine Sowjetisierung Deutschlands eine Sowjetisie- rung Europas zur Folge hätte und damit eine Macht von ungeheurer Gewalt geschaffen wäre, der das vereinigte britische und amerikanische Imperium hoff- nungslos unterliegen müßte, zumal sich diese Sowjetunion allen Anzeichen nach auch in Asien, und zwar im gesamten asiatischen Raum, verankern würde.

Aber von der Utopie eines demokratischen Deutschlands vermag man sich noch nicht zu lösen. Man ist noch nicht so weit, zu erkennen, daß die Zeit dafür ein für allemal vorbei ist.

Demokratie ist heute ein Wort ohne Sinn geworden oder, sagen wir richtiger, ein Wort, unter dem sich jeder etwas anderes vorstellt. Der ursprüngliche Sinn dieses Wortes, der vom Recht des freien Mannes auf freiem Grund, ist zutiefst in der deutschen Seele verankert. Von ihm ist in dem Zerrbild der plutokratisch- bolschewistischen Demokratie jedoch nichts mehr vorhanden. Auch die Sowjet- union nennt sich schließlich eine Demokratie, und es wird Zeit, eine neue Terminologie zu schaffen, in der sich Begriffe mit den Worten, die sie ausdrücken sollen, decken.

So ist nichts grotesker als das Schlagwort von der Gleichheit der Menschen. Die Menschen sind nicht gleich, nicht einmal die innerhalb eines Volkes, ge- schweige die verschiedener Völker, und es ist ehrlicher und anständiger, dies zuzugeben, als die Fiktion aufrechtzuerhalten und sie gleichzeitig so mit Füßen zu treten, wie es die Amerikaner den Negern gegenüber tun.

Die Erkenntnis von der Ungleichheit der Rassen bedeutet keineswegs eine Herabsetzung der einen gegen die andere. Jedes Volk ist davon überzeugt, einer besonders tüchtigen Rasse anzugehören, wenn nicht der besten. Oder leiden etwa unsere britischen oder amerikanischen Gegner in diesem Punkte an falscher Bescheidenheit? Sind wir es eigentlich oder die Engländer, die sich für das „aus- erwählte Volk" halten? Haben wir unser Land als „Gottes ureigenstes“ bezeich- net, oder waren es die Amerikaner? Ihnen dient das vorgebliche Ideal zur mora- lischen Rechtfertigung der Ausnützung der angeblich „Gleichen“, tatsächlich aber ,Ungleichen". Niemals wurden Menschen so brutal, so gemein, so erbar-

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Ross / Um was geht der Kampf 41

mungslos ausgenutzt als zu Beginn der kapitalistischen Epoche, nachdem die Französische Revolution die Freiheit und Gleichheit aller Menschen proklamiert hatte. Im Gegensatz dazu muß jeder nur halbwegs gerechte Feind anerkennen und hat auch anerkannt, daß Deutschland seine Kolonien einwandfrei verwaltete. Wäre es anders gewesen, hätten dann die deutschen Askaris, auch als alles ver- loren war, bis zuletzt treu auf deutscher Seite ausgehalten? Jeder Deutsche, der nach dem ersten Weltkrieg in ehemalige deutsche Kolonien kam, war gerührt von der Anhänglichkeit der Eingeborenen an Deutschland, in Afrika nicht anders als in der Südsee. Die törichte Kolonialschuldlüge ist längst widerlegt, und es ist Zeit, daß man endlich mit der ähnlich törichten von dem „nazistischen Herrenrassen-Standpunkt” aufräumt.

Allerdings weiß man, daß diese Verleumdung daher rührt, daß Deutschland sich zu Beginn seiner nationalen und sozialen Revolution gegen eine Rasse innerhalb seines eigenen Volkes wenden mußte, die jüdische.

Auch zu diesem deutsch-jüdischen Krieg muß einmal ein klares Wort gesagt werden. Das nationalsozialistische Deutschland hätte de jure den Juden die Gleichberechtigung geben und sie de facto unterdrücken können, wie es die Amerikaner gegenüber den Farbigen machen, ja wie sie es in gesellschaftlicher Hinsicht selbst den Juden gegenüber tun. Das ist ja das Groteske an den USA., daß hier der Jude, der politisch und geschäftlich herrscht, gesellschaftlich ge- ächtet ist. Die Spannungen, die darin liegen, werden sich noch einmal in furcht- barer Weise Luft machen, und vielleicht wird man dann in den USA. erkennen, daß auch in der jüdischen Frage ein klares, offenes Bekennen zu den Tatsachen richtiger ist als die Methode des Vertuschens und der Lüge.

Und man wird dann auch anerkennen, daß die Maßnahmen, die von deutscher Seite nach der Machtergreifung gegen die Juden getroffen wurden, berechtigt und maßvoll waren. Wenn diese Maßnahmen im Laufe der Zeit immer mehr verschärft werden mußten und es schließlich zu einem erbarmungslosen deutsch- jüdischen Krieg kam, in dem das alttestamentarische Wort „Auge um Auge, Zahn um Zahn" zu furchtbarer Wirklichkeit wurde, liegt die Schuld bei jenen, die sich mit der 1933 getroffenen Regelung nicht zufrieden gaben, die aus dem sicheren Port des Exils den Krieg gegen das nationalsozialistische Deutschland entfesselten; erst den des Boykotts und dann den der Waffen.

Heute 1st dieser Krieg weit über den Machtbereich eines Mannes und eines Volkes hinausgewachsen. Und wenn es zu einer Gesamtentscheidung der jüdi- schen Frage auf der Erde kommt, liegt die Schuld bei denen, die von amerika- nischem Boden aus Deutschland zu immer härteren Maßnahmen zwangen. Bei dieser Gelegenheit muß noch auf etwas anderes hingewiesen werden: auf die ungeheure Verantwortung, die jene trifft, die unter der Vorgabe, für die Freiheit des Wortes zu kümpfen, einen geradezu unvorstellbaren Feldzug der Lüge und der Verleumdung führten. Die Lüge ist anerkanntermaßen ein legales Kampf- mittel der anglo-amerikanischen Kriegführung. Englánder wie Amerikaner haben sich nach Beendigung des vorigen Krieges offen der Greuelmärchen gerühmt, die man zur Diskreditierung und Diffamierung des deutschen Volkes erfunden hatte. Die angeblich von den Deutschen belgischen Kindern abgehackten Hände sind die berüchtigtsten dieser Greuelerfindungen. In den Vereinigten Staaten wurden Kinder ohne Hände durch das ganze Land geschleppt und als die an- geblichen Opfer deutscher Grausamkeit gezeigt, um das amerikanische Volk kriegswillig und kriegswütig zu machen. Hätte man von deutscher Seite etwas Derartiges gemacht, so hätte die Gegenseite unzweifelhaft mit der Behauptung geantwortet, die Deutschen hätten den Kindern die Hände abgehackt, um sie als angebliche Opfer britischer bzw. amerikanischer Grausamkeit vorzuführen. Als

12 Ross / Um was geht der Kampf

Deutscher scheut man sich selbst heute noch, eine entsprechende Behauptung in die Welt zu setzen, obgleich man nach all dem, was die Gegenseite fertig- gebracht hat, nicht einmal hundertprozentig sicher ist, ob diese belgischen Kinder, die man in den Jahren 1915 und 1916 den Amerikanern als Opfer deut- scher Grausamkeit vorführte, nicht von der Gegenseite selbst verstümmelt worden sind. Wer die Geschichte des amerikanischen Verbrechens, aber auch der amerikanischen Polizei kennt, kann dergleichen nicht einmal für unmöglich halten, so sehr er auch vor der Vorstellung zurückschaudert und so sehr er sich scheuen mag, auch nur den Verdacht auszusprechen.

Uber all das wird die Zeit hinweggehen, und wenn die Welle des Grauens und der Grausamkeit einen gewissen Sättigungsgrad erreicht hat, wird sie plötzlich in sich zusammenbrechen und ohnmächtig an den Strand rollen. Und über dem geglätteten Meer blutiger Leidenschaften wird eine neue Sonne des Friedens aufgehen.

Diese Friedenssonne wird uns um so eher leuchten, je früher wir uns von allen " lügenhaften Vorstellungen frei machen und das Leben, das wir leben müssen, und die Erde, auf die das Schicksal uns gesetzt hat, so sehen, wie sie sind, nicht etwa, wie wir sie uns in Wunschtráumen vorstellen.

Für jeden, der Augen hat zu sehen, zeichnet sich das zukünftige Bild der Erde ganz klar ab. Es ist eine Erde der GroBráume, auf der in GroBorganismen zu- sammengefaBte Völker ihre Gesellschaftsformen und ihre Lebensbedingungen nach den immanenten Gesetzen ihrer Rasse und ihres Raumes ordnen. Diese Großräume sind: die Westliche Hemisphäre, GroBeuropa, zu dem Afrika gehört, der Eurasiatische Steppenkontinent und die GroBostasiatische Wohlstandssphäre.

Das sind ,die groBen Vier" und nicht etwa Roosevelt, Churchill, Stalin und Tschiangkaischek, die gegenüber diesen Schicksalsgestaltungen doch nur als recht ephemere Erscheinungen zu wirken vermógen.

Da die Neuordnung der Erde aus dem Raum, und zwar aus dem Cioßraum erfolgt, entsteht für ein maritimes Imperium von der Art des britischen eine besonders schwierige Lage. Das fühlt man auch in England. Daher die Unruhe und die Sorge um die Zukunft, die nirgends größer ist als gerade in England. Es ist Großbritanniens Tragik, daß es die Gefühle Deutschlands ihm gegenüber immer verkannte und bisher jedes Wort aus deutschem Munde falsch auslegte. England muß sich entscheiden, welche von den zwei Möglichkeiten es wählt: , ob es den Weg in den europäischen Raum zurückfindet oder vorzieht, ein Helgo- land der westlichen Hemisphäre zu werden.

- Wahrscheinlich liegt freilich diese Entscheidung nicht mehr in seiner Hand. Der Gang der Ereignisse vollzieht sich mit schicksalhafter Zwangsläufigkeit.

Weil wir Deutschen von dieser schicksalhaften Zwangsläufigkeit bis ins Innerste überzeugt sind, gleichzeitig aber auch wissen, daß das Schicksal uns in der kommenden Welt die Verantwortung für den europäischen Raum zu- gedacht hat, die wir übernehmen müssen, ob wir wollen oder nicht, können wir so starken. Herzens eine Lage ertragen, an der vielleicht jedes andere Volk bereits zerbrochen wäre. |

Weil wir wissen, daß es nicht nur um uns geht, sondern daß eine halbwegs leidliche Ordnung der Welt, ein Friede auch nur auf absehbare Zeit ohne unsern Sieg unmöglich ist, harren wir aus. Und deshalb sind wir auch überzeugt davon, daß wir nicht zugrunde gehen, sondern daß wir nach all dem, was wir getragen und ertragen haben, nach dieser furchtbarsten Feuerprobe, durch die je ein Volk gegangen ist, vom Schicksal und vom Herrgott als fähig und bereit gefunden werden, einen entscheidenden Beitrag zum Aufbau der neuen und besseren Welt zu leisten, an die wir aus tiefster Seele glauben,

Aus der „Gregorsmesse“, Lübeck, Marienkirche

Unsterbliche Erinnerungen deutscher Kultur

Selbstbildnis

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Rathaus von Elias Holl, Augsburg

Des Herzens Woge fchäumte nicht fo ſchön y empor, und würde Geiſt, mwenn nicht

der alte tumme Fels, das Schicklal,

ihr entgegenftände.

Wert tft der Schmerz, am Herzen des Menfchen zu liegen und dein Vertrauter zu fein, o Natur, denn er führt von einer Wonne zur andern, und eo Ift kein anderer Gefährte, Denn er.

Hölderlin. | Apollofalter Du lichter Falter, Darin geheimnisvoll gläfern All deiner Brüder Das Geäft der Adern erblüht. Zartefter, Schónfter - Manchmal bewegſt du Erfcheinft du mir wleder, Leife die Schwingen, Holde Erinnerung, Daß fie erzittern, die purpurnen Monde Hergeroeht aus den Sommern der Kindheit, Auf der Fittiche Flaum, Siiber geflügelter, | Und nicht mag’ Ich zu atmen, Den ich lange vergaß? Denn es bangt mir das Herz, Wieder, wie einft als Knabe, Daß du Dich aufhebft, Goldäugiger, Beuge ih mich herab, Zu den Höhen des Lichte Reglos, mit GB erfchrochenem Atem, Und er wieder entſchwebt Und feh fie gebreitet, Auf den filbernen Flägeln, Die zitternd gelpannten, Der felige, holde, Defhe zerbrechlichen Flügel, Der Traum von der Kindheit. Pan

Im hohen Mittag hebt er fein Geficht

Aus einem Buſch voll wilder, roter Rofen, | | Und feiner Faun entichwirrt ein Schwarm von Schmetterlingen, Dann ſiehſt du Ihn bei weißen Lämmern ſtehen.

`

Er ſchreckt am Bach die nackten Schnitterinnen

Und Kinder hör'n ihn lachen hinter Brombeerhecken. Dann lagert breit er zwiſchen Rinderherden, | Bei prallen Eutern und gehörnten Stirnen.

Doch menn Die ftillfte aller Stunden kommt,

Setzt an Die Lippe er die holdene der Flöten,

Und füBen Zauber biäft er in die goldnen) Winde. Dann laufcht die Hirfchkuh hoch auf dunkler Schnetfe,

Die Brunnen raufchen leifer in den Büfchen, Delphine tauchen filbern aus Den Meeren, Die Löwen ftehen ſtill vor Felfenhóhlen Und felbft die Adler hören auf zu kreiſen. Rudolf Kreutzer.

Betrachtungen über ein Vogelnest

Ein Künstler mag mit seinen Instrumenten nach manchem mißlungenen Ver- suche zuletzt etwas herausbringen, das einem Finkenneste gleichsieht, und alle, die es sehen, können es von einem wirklichen Neste, das der Vogel gebaut hat, nicht unterscheiden. Alsdann bildet sich der Künstler etwas ein und meint, jetzt sei er auch ein Fink. Guter Freund, dazu fehlt noch viell Und wenn ein wahrer Fink dazukäme und könnte dein Machwerk durchmustern, wie der Zunftherr ein Meisterstück, so würde er den Kopf ein wenig auf die linke Seite drücken und dich mit dem rechten Auge kurios ansehen, und wenn er menschlich mit dir zu reden vermöchte, würde er sagen: „Lieber Mann, das ist kein Finkennest! Ich mag's betrachten wie ich will, so ist's gar kein Vogelnest. So einfültig und un- geschickt baut kein Vogel. Was gilt's, du Pfuscher hast's selber gemacht!" Das würde der Fink zu dem Künstler sagen.

Ebenso ist's mit einem verachteten Spinnengewebe. Der Mensch kann kein Spinnengewebe machen. Ebenso ist es mit dem Gespinst, in das sich ein Raupen- wurm einwebt, wenn seine Verwandlung anheben soll. Ein Mensch kann kein Raupengespinst machen. . Ein Wort mehr! Alle Finkennester in der Welt sehen einander gleich, vom

ersten im Paradiese bis zum letzten in diesem Frühlinge. Kein Fink hat's vom andern gelernt. Jeder kann's selber. Die Finkenmutter legt ihre Kunst schon mit in das Ei. Ebenso alle Spinnengewebe, ein jeder nach seiner Art. Man weiß es wohl, aber man denkt nicht daran. Noch ein Wort mehr! Das erste Nest eines Finken ist ebenso künstlich wie sein letztes. Er lernt's nie besser. Ja, manches Tierlein braucht sein Gespinst nur einmal in seinem Leben und braucht nicht viel Zeit dazu. Es würe übel daran, wenn es zuerst eine ungeschickte Arbeit machen müßte und denken wollte: „Für dieses Jahr ist’ qut genug, übers Jahr mache ich's besser." Noch ein Wort! Jedes Vogelnest ist ganz vollkommen und ohne Tadel, nicht zu groB und nicht zu klein, nicht zu wenig daran und nicht zu viel, dauerhaft für den Zweck, wozu es da ist. In der ganzen Natur sind lauter Meisterstücke. Aber was der Mensch zur Geschicklichkeit bringen soll, das muß er mit vieler Zeit und Mühe lernen, und bis er's kann, bekommt er manche Ohrfeige vom Meister, der selber kein vollkommener ist. Denn kein menschliches Werk ist voll- kommen. Ist darum ein Mensch weniger als ein Fink? Weit gefehlt!

Denn erstlich nicht der Vogel baut sein Nest, und nicht das Würmlein bettet sein Schlafbett, sondern der ewige Schöpfer tut's durch seine unbegreifliche All- macht und Weisheit, und der Vogel muß nur das Schnäblein und die FüBlein und, sozusagen, den Namen hergeben. Deswegen kann auch der Mensch kein Vogel- nest und kein Spihnengewebe machen. Gottes Werke macht niemand nach.

Zweitens, wie der ewige Schópfer an seinem Orte jedem genannten Geschópf seine Wohnung bereitet, aber nicht jede auf gleiche Art, dem einen so, dem anderen anders, wie es nach seinem Bedürfnisse und Zweck recht ist, also hat er etwas von dem góttlichen Verstande dem Menschen lassen in die Seele tráufeln, daB dieser nun nach seiner eigenen Überlegung für mancherlei Zwecke bauen und hantieren kann, wie er selbst meint, daß es recht sei. Der Mensch kann ein Schilderháuslein verfertigen, ein Waschhaus, eine Scheune, ein Wohnhaus, einen Palast, eine Kirche, jedes nach seiner Weise, so auch eine Kirchenuhr oder eine Orgel usw. Das alles aber macht er nicht wie das Tier, nur von blindem Eifer bewegt, sondern mit wachem, besonnenem Geiste.

Drittens hat der ewige Schópfer dem Menschen die Gnade verliehen, daB er in allen seinen Gescháften von unten anfangen und sie durch eigenes Nachdenken, durch FleiB und Ubung bis nahe an die Vollkommenheit der góttlichen Werke hinbringen kann, wenn schon nie ganz. Das ist seine Ehre und sein Ruhm.

Joh. Peter Hebel.

Pd

Der neue Weg Land und Stadt |

Man muß wissen, wo man herkommt, denn dies bestimmt zwar nicht das urständige Wesen, aber die Bedingungen und Wegstrecken seiner Verwirklichung und seiner Ent- faltung. Und nun: sieht man genau zu, so findet man, daß am Anfang nicht der Bauer und der Stádter stehen, nicht zwei also, sondern der eine heile Mensch. Der steht da als Mann und Frau; als erdepflegender, weltfahrender, gemeinschaftsbetreuender, als dichtend-verdichtender, als priesterlich gottgelenkt-lenkender und heilend-ratender Mensch, und verbindet diese Erlebniswege und Fähigkeiten, die so vielfältig in ihrer Weltspiegelungskraft sind, wie der Menschenleib aus vielfáltigen Organen zusammen- schwingt, und nicht aus Herz oder Leber, Lunge oder GiedmaBen allein leben kónnte. So verbanden die altgermanischen Menschen jeweils mehrere der menschlichen Ausdrucks- formen, und das Spiel der Kráftebindungen wechselte im Ablauf der Sippen, durch Zieh- sóhne immer wieder ins MaB gebracht. Das Bebauen der Erde war nichts abgelóst Be- sonderes, sondern die selbstverstándliche Grundlage des Lebens. Im Thing wurde die Gemeinschaft geregelt; manche der ,Bauern" wuBten am besten Rechtsüberlieferung zu wahren und Recht zu ordnen; manche wieder waren viel unterwegs und sagten Ge- dáchtnis und Zukunftsimpuls der Menschen an allen Orten im groBen Atemsturm des tónenden Stabreim; manche waren berufen, immer wieder die Gemeinschaft in Ver- bindung zum göttlichen Kreis zu schmelzen und den göttlichen Gesamtwillen in den eigenen Willen einfluten zu lassen; manche trieben Handelsfahrt und erkundeten die Welt. Alle waren zugleich „Bauern“.

Später kam die Sonderung. Sie mußte kommen, sollte der Mensch seine Kräfte ganz bis an die Grenze ausschreiten, erkunden, beherrschen und endlich einsetzen lernen. Der werdende Geiger, der Griffe und Tonleitern übt, ist eine Qual und eine Not für alle Be- teiligten: der Meister aber entzückt, befreit, löst neue Kräfte aus in allen Hörern. Schópfung muB durch die Chaotisierung der Stoffe hindurch, durch Experimente und die Verführung zu lockenden Sonderwegen. Das 19. Jahrhundert bedeutete und bedeutet die áuBerste Sonderung, Spaltung, Entgeistung, ein groBer Wirbel, der viele kleinere und in ihrer Art kostbare und kóstliche Wirbel in sich aufgenommen hat; ihm nach kann endlich nur eine neue Ordnung folgen. Lange genug war der Mensch in seine Teile zerlegt. Tráumen wir nicht: es gibt keine uranfángliche Einheit, die wieder herstellbar wäre; nichts wiederholt sich in der Welt, vieles ähnelt sich, da die Konstruktionsprinzipien der Schópfung einige feste sind, aber nichts ist gleich dem anderen. Nicht die alte, aber eine neue Einheit steht als nächtes Ziel vor der Geschichte, d. h. vor den Menschen, deren Tun ja ,Geschichte" wird. Hölderlin formulierte es so: „Der heilige Friede des Paradieses geht unter, daB, was nur Gabe der Natur war, wieder aufblüht als er- rungenes Eigentum der Menschheit." Dies das Prinzip; die Form müssen wir selber schaffen. Es kann heute nicht ein und derselbe Mensch Erde bebauen, Maschinen kon- struieren, Handel treiben, Recht raten, Wissen und Weisheit lehren, Gesundheit geben, Erleuchtung dichten und malen. Zu groß hat sich die Vielfalt der Welt enthüllt. Doch kann man von jeder dieser Seiten her Ballast abwerfen. Stollen treiben zur Mitte hin, zum Menschen hin, zum Herzen hin, und jeder kann das Ganze im Herzen umfassen, zum Ganzen hin seine Sinne, seine Kräfte schulen und befreien und das Teilhafte immer stárker vereinfachen, die Technik immer herrscherlicher in Dienst nehmen, kann in Kindern und Freunden die Grenzen seiner Welt immer weiter und fließender gestalten, über das Teilhafte hinausschauen und Anteil an der Fülle gewinnen.

Wie ist das gemeint? Ja, das kann nur von allen Seiten gleichzeitig und gleichteilig in Angriff genommen werden. Nicht das ist entscheidend, daB der Bauer physikalisch- chemisch-technische Zeitschriften liest, dies bleibt wie ein Anhauch an der Spiegelscheibe, es verweht. Fertiges von auBen heranzutragen, ist sinnlos. Aber jene in jedem Menschen urangelegten Grundfragen, die zu Erfindung und Technik, zu Philosophie und Erkenntnis, zu Dichtung und Malerei und Musik geführt haben, nun in jedem Menschen neu aus dem Schlaf zu wecken, das ist der Weg. Man muB die Fragen wecken, und sie müssen lieb- gewonnen werden. Es muB so lange das verkalkte Fiederwerk der Seele behámmert werden, bis sie fähig wird zu erleben: Sieh daß Erde und Sonne und der Mond und alle Sterne sich im Raum riesenhaft kreisend dem Ohr unhórbar umeinander bewegen, das geht hervor aus dem Spiel der Spannung der beiden Kräfte, Anziehung und Ab- stoBung, Liebe und Haß, Sichinsichselbstversenken und Dem-anderen-entgegen- stürzen. Der Wille zur Gestalt baut mit solchen Prinzipien die Schöpfung. Nur wer des nachts in aller Stille draußen unter dem Himmel das Erlebnis der mit- und gegenein-

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16 Der neue Weg

anderkreisenden Welten in sich wachsen ließ, klingen wie eine Melodie und ziehen wie ein Schmerz, wird später im hellen Tag die Erkundung der Strukturkräfte im einzelne richtig ansetzen und voranbringen können. I

Scheint euch das zuviel verlangt vom Durchschnittsmenschen? Wohl nicht, wenn man es richtig ansetzt, die Wege allerseits erprobt und den Mut hat, an die Aufgabe des Fühlens zu glauben neben dem Denken und dem Wollen, also Seele, Geist und Leib als lebendiges Spielwerk des Menschen ernst nimmt, nachdem die Geschichte wechselnd nur je eine dieser Kräfte in den Vordergrund stellte (und stellen mußte, um sie zu er- fassen): das reiche Mittelalter das Fühlen, die Neuzeit von 1400 ab etwa das Denken, vom 19. Jahrhundert ab das Wollen. Konkret gesehen heißt das: zum Beispiel daß die Wissenschaftler Formen finden müssen, um nicht die Stoffergebnisse, sondern die Fragen und Erlebnisse an die Mitmenschen heranzubringen, daß die Heilkunde nicht als falscher Segen bloß von fertigen Pillen im alphabetischen Schmerzensregister ausge- schüttet wird, sondern vom Erzieher als Grunderlebnis von Leib und Menschenwesen -in Einklang mit der gesamten Schöpfung aus Tages- und Jahresablauf, Mineral, Pflanze und Tier gebracht wird; daß die durch nur erfolgsüchtige Spezialisierung eng und dürr ge- wordene Arbeitswelt erweitert wird durch die Erziehung zur Willensfreiheit der Selbst- verantwortung, zur schöpferischen Anwendung der menschlichen Hand, zur Stille der Seele, zur Ubung des Denkens (so wie einstmals dieser kleine Werdeweg im großen Werdeweg der Geschichte vorgelebt wurde, von Sokrates, der umherging und heftig, un- erbittlich seine Fragen an die Welt stellte und mit den Freunden sprach, die dies wiederum weitergaben, so daß es nun wuchs wie eine Lawine, in deren Mitte der fragende Mensch verborgen_lag, und nun, nachdem die Lawine ihre Bahn durch den ganzen Berghang gezogen hat und am Boden zerspellt ist, wieder frei geschaufelt werden muß, um viele Erfahrungen schmerzhafter, schöner und üppiger Art reicher).

Nun ist es ja jedem Aufmerksamen ganz klar: Dies alles gilt nicht etwa nur für den Bauern, um dessen starr gewordene Welt aufzubrechen und ihn hineinzureiBen wieder in das schópferische Urelement, so daß er Mitträger der Zukunft, Mitgestalter der Schön- keit, Erkenntnis und Kunst werden kann, sondern es ist nur dann richtig angesetzt, wenn es ebenso den Stádter erfaBt. Weder die staubige Dürre und Uberhetztheit der Stadt, noch die karstige Ungeistigkeit des Landes ist für sich allein zu ändern: die Zweiheit, die Spaltung muß überhóht werden von Formen, die der dreifaltigen Einheit des ganzen heilen Menschen Entfaltungsraum geben. Denn beide Welten, Stadt und Land, sind fällig geworden zur Umschmelzung. Der Bauer ist seit Jahrhundeten aus der aktiven Mitgestaltung der Menschenwelt in Gemeinschaftsform, Erkenntnis und Kunst heraus- gefallen, die Stadt hat ihn überwuchert. Seit langem schon ist es undenkbar geworden, was einmal, selbstverständlich wär: daß die kleinen Dorfkirchen bis zum verborgensten Gewólbestein, die Grabkreuze auf dem Friedhof, die Schópfkellen und Tópfe und Stühle im Haus schón waren und jedem namenlosen Meister, jedem selbstwerkenden Bauern ins schöne Maß gerieten, einfach weil seine Menschlichkeit heil, seine Seele im Herzen wach und wohlgenährt von Gottesnáhe war. Dies ist lange vorbei. Kunst und Forschung geschah seitdem im städtischen Raum. Sie schloß den Bauern, und das Ländliche als Ur- schöpferisches überhaupt, immer stärker aus, erstickte es und stauchte diese Menschen tief zurück ins Entwürdigte; Arbeitstier oder Museumsstück.

Das Programm der Zukunftsaufgabe wurde erstmals um 1800 angedeutet. Es gab da zugleich mit der klassisch-romantischen Geistigkeit eine groBe sogenannte agronomische Bewegung, und man versuchte eine rationelle Durchdringung einerseits, ein geistig- seelisches Neuerlebnis andererseits, wodurch das Ländliche ins Gesamtmenschliche ein- bezogen werden sollte. Damals wurden unsere Landstraßen mit Obstbäumen bepflanzt, Hunderttausende von Obstbáumen wurden durch den Willen tätiger Menschen in Süd- deutschland gesetzt, und es entstand die nicht mehr nach Traditionen und überalterten Instinkten. sondern aus BewuBtsein und Nachprüfung geleitete Landwirtschaft.

Das Idea} jener Zeit um 1800, die ja insgesamt ein erster Entwurf zukünftiger Ziele war, ist in Goethe zu einer unverlierbaren Gestalt geworden: das geduldige und streng sachliche Befragen der Natur in langen Forschungsreihen, und das vom Herzen her er- schütterte, liebende Staunen vor der Schöpfung, die nur beide zusammen den Weg finden zu den „Urphänomen“, zu den großen Grundgestalten und Leitideen der Schópfung, die in sich alie Anlagen zu reicher Fülle beschlieBen. Das 19. und beginnende 20 Jahrhundert mußten erst einmal den ersten Entwicklungsakt zum Abschluß bringen, ehe der vor-angedeutete zweite aufsteigen kann. Die Technik zog ihre leuchtende und

Dar avas Wop 17

zerstorende Kometenbahn, die städtische Entwicklung entartete ins Form- und Maßlose. Heil und Ubel wirbelte in denselben Hexenkessel. Die alten Gemeinschaftsordnungen waren zerfallen, die neue Ordnung aus der Bewährung der Persónlichkeiten noch nicht reif; ängstlich RRC der Bürger die Mumifizierung der solcherweise freigelasse- lieb Denken und Wollen dem billigen Materialismus, Zu dem jene eigentliche Erwerbung der Neuzeit, das selbständig wache Befragen der Weltumgebung, in der Popularisierung entartete. Die Verödung des Landes, und die auf Nervenkitzel und wirtschaftliche Ausnutzung der Menschenkraft gebaute Siedehitze der Stadt wuchsen sich zu aktivem und passivem Pol ein und derselben Krankheit aus, und die beiden zu- grundeliegende geist-seelische Heimatlosigkeit des Menschen trieb die Weltgeschichte zur Katastropbe, die von 1914 ab offen das zeigte, was vorher verborgen gegoren hatte.

Wie es der einzelne im Lebensablauf seiner Werdejahre sieht, so zeigt es sich auch im großen: Wohl wird eine Epoche überwunden, und die nächste zieht auf, und andere Werte triumphieren, aber aus jeder Vergangenheit bleibt, nachdem die schönen Schalen zerstört und verfallen sind, der süße oder herbe Kern übrig und wird mitgenommen, und schließlich wird das krisenhafte Wer den insgesamt verwandelt in eine neue Stufe des Wirkens und des Die-Bausteine-Wägen-und-Fügens, ins Erwachsensein. So wäre nun heute der Extrakt der Neuzeit zu gewinnen, die wache Persönlichkeit, die ihre Welt selber prägt und verantwortet: das Ziel, auf das alle abendländische Entwicklung von Anfang an ausgerichtet war. Die Mitte: der Mensch, der der Schöpfungsfülle der Land- schaftsnatur dient. und die Verwandlung der Elemente im Austausch und Kräfte- spiel betreibt passive und aktive Seite des Lebens in gefühlshafter, in flutender Durchdringung. Stadt ber im Maß; Land aber in Bewegtheit und durchpulst von jenem Frage-und-Antwort-Spiel, das die Würde des Menschen ausmacht und alle Kultur trágt und schafft; Fluktuieren der Stánde, das nicht von der Tradition, sondern von der Persönlichkeit her die Ausfüllung der Berufe und Lebensráume bestimmt werden läßt. Man kann das Landproblem nicht lösen, wenn man nicht zugleich das Stadtproblem richtig angreift, weil nur aus dem Austausch beider Bezirke fruchtbare Zukunft entstehen

einen neuen Menschen: Wer sich das bewußt macht, versteht, daß nicht für ein altes „Zurück zum Land" geworben wird, sondern für ein ganz neues Erobern des vollen menschlichen Lebensraumes, für eine auf neue Ebene gehobene und neu gerundete Be-

egnung mit den Schöpfungskräften, das: ebenso fühlend, denkend und dienend oder gestaltend zugleich ist, wie die uralte kultisch-instinkthaft schaffende Epoche der Früh- zeit war nur auf der Ebene des Bewußtseins aufbauend: „als errungenes Eigentum der Menschheit!” |

Man sage nicht, daß das zu hohe Worte für die einfache Arbeit des Einrichtens von Landdienst, Kinderlandverschickung, Dorfbüchereien USW. seien. Die ganze Arbeit würde verpuffen, wenn ihr die Einsicht in den ganzen, tieferen Zusammenhang nicht zu- grunde liegt. Es ist eine Phrase, zu sagen, alles Echte und Rechte sei einfach. Der Werde- prozeB ist immer ungeheuer vielfältig. Das Ergebnis, wenn es gut und schön sein soll, ist einfach, nicht der Weg. In diesem Fall heißt das: Es geht nicht, „einfach“ so- genannte Kultureinrichtungen des bisherigen, also unmäßig städtischen Lebensstils aufs

sehen, wie der ländliche Mensch zu einer Zerrgestalt geworden ist durch die blinde Übernahme der stádtischen Mode, in die er seinen völlig anders entfalteten Leib und Gang nun am Sonntag einpreßt? Jeder kulturellen Beeinflussung muß zugrunde liegen das Bewußtsein, daB Stadt wie Land des 19. Jahrhunderts krank sind, „Großstadt wie „plattes Land" sind Namen für Entartungserscheinungen. GroBstadt: Einige genieBen den bunten Trubel (wobei noch sehr fraglich ist, ob dieser Genuß ein Gewinn ist), die Mehrzahl ist in graue Fahrtrinnen und sonntags in brausende Vorortzüge eingesperrt, und wird nun durch die Entwöhnung von der Stille dazu gebracht, schließlich auch die Stille nicht mehr ertragen Zu wollen oder vielmehr zu können. Plattes Land: Die Stille ist zur Odnis geworden, die durch ihre lieblose Leere dasselbe erreicht wie der Lárm der Stadt, nämlich die Menschen unterliegen und hóren auf, Fragen an Welt und Leben qu stellen, damit ihre Menschlichkeit überhaupt erstickend.

Der Aufbau eines neuen Gemeinschaftslebens auf dem Land kann nicht ohne Einbe- ziehung einer erneuerten, gemáBigten stádtischen Gemeinschaít geschehen, aber für

18 Der neue Weg

beides müssen vom Kern her neue Formen überlegt und erprobt werden. Das bedeutet: Eine kostbare und große Aufgabe steht vor allen denen, die sich dem ländlichen Bereich zuwenden. Alles und jedes muß dort neu begründet werden: die Natur muß wieder gefühlt und befragt werden, denn täuschen wir uns nicht der Bauer hat die nahe Be- ziehung zu ihr längst weitgehend verloren, er wagt es nicht, sein Gefühl für die Natur- schöpfung einzugestehen und zum Erkenntnisorgan zu steigern, und er hat es nicht gelernt, sein Denken und Beobachten zu schulen und fragend einzusetzen; die Ge- meinschaft muß neu gebaut werden, denn teils ist sie längst aufgelöst, teils ist sie ein starres Gefängnis des , man" geworden, einer Gruppenschablone, die der Persönlichkeit das Brandmal des Un-Moralischen aufpreBt; die herrschaftliche und liebende Durchdrin- gung des Lebens, wie jede Form von gestaltender EigenáuBerung bis hinauf zur reinen Kunst und ihrem Erleben sie bedeutet, muB völlig neu eröffnet werden, denn seit einigen Jahrhunderten ist es so (und auch die bedeutende Landliteratur unserer Tage, wie Griese, Oberkofler usw., hat bisher keinen neuen Typ des ländlichen Menschen als Vor- bild ausgeprägt), daB das ländliche Leben abläuft, als gäbe es keine Kunst, als sei sie Schall und Rauch und blauer Dunst, als seien von Homer über Michelangelo und Grüne- wald bis Goethe und Möricke und Bach, Mozart und Beethoven alle diese Künstler un- klare Arabesken einer nur durch Produktions- und Machtverhältnisse in wechselnden Formen sich trudelnden Erde. Daß Kunst die unmittelbare Verbindung und Verständi- gung zwischen dem Menschen und der göttlichen Weltordnung herstellt, ist dem Erlebnis entglitten und vom Bewußtsein noch nicht aufgenommen worden; es muß erkannt und dann erlebt und geübt werden.

Es ist also, wie man sieht, so ziemlich alles zu tun und alles zu erwarten übrig für diese Zukunft, der unter ungeheuren Wehen eben der Weg freigekämpft wird. Aus uns soll sie geboren werden: Statt des matt gewordenen Spiegels eine neue Welt, in der alles Frage, alles Antwort ist dem Glücklichen, der sich ihr tätig verschreibt. O. St.

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Der Falhe

Schön, mit gebreitetem Fittich, der Sonne felig verſchwiſtert, Steht er ftrahlend im Blau, dem Schaum der Wolken entftiegen. Sehet, es raucht fein Gefieder golden im Dampf des Geſtirns, Und keine Schwere mehr rührt der Schwingen reglofe Waage.

Warf ihn ein Gott In die Luft, ben filbernen Winden zum Spiele? Fing er fich, gläfern verftrickt, im Kriftall des unendlichen Athers? Aber fiehe, er regt fich, und langfam beginnt er zu hreifen,

Hell umflutet von Licht und in felerlich⸗ ruhvollem Bogen.

Schneller dann eilt er die Bahn, und verzückt in feligem Spiele

Schließt fich enger Der Kreis, und òa dein geblendeter Blick

Schon taumelnd im Sturz ihn vermeint - ſchwirrt er, ein güldener Pfeil - Zitternd und monneberaufcht der Sonne ins flammende Herz.

Nach dem Gewltter

Die gelben Fackeln des Gewitters find verbrannt.

Ein letzter Donner ſiel mit Poltern noch hinab

Weit hinterm Berg, zerſchellend in dem Jann, und wie Getrapp Von meißen Roffen raufchte Regen in das Land.

Doch fieh: ſchon kommt die erſte Schwalbe angeflogen. im naffen Laub glänzt Sonne ſchon vertraut, Und überm Wald ſteht hinoerlelig und aue Duft gebaut Der holde, fiebenfarbige, Der Regenbogen. Rudolf Kreutzer.

Richard Biedrzynski:

Die 8 der Ruinen

Uber das Unwiederholbare der gemordeten deutschen Kunststädte

„Unersetzliche Kulturdenkmäler wurden vernichtet.”

Bericht des Oberkommandos der Wehrmacht von einem beliebigen Tage.

„Mit einer Roheit, die sie einst sicher, aber sicher auch zu spät bereuen werden, werfen sich unsere angelsächsischen Feinde auf die alten Städte und Stätten unserer Kunst. Mancher herrliche Zusammenhang ist ohne jeden kriegsmäßigen Grund zerstört. In manchen schlimmsten Fällen wird uns so ohne- dies nichts mehr bleiben als das Bild des Gewesenen. Um so treuer und tiefer wollen wir es uns einprägen, das einzelne Verlorene ebenso wie das unver- lierbare Ganze." Wilhelm Pinder.

Der Satz des Wehrmachtberichtes, der sich seit Rostock und Lübeck, seit Münster und Mainz, seit Nürnberg und Köln, seit Frankfurt und München so oft wiederholt hat, zieht die lapidare Anklage der wortreichen Klage vor. Er prä- zisiert ein Verhalten, das einen einzelnen Menschen wie ein ganzes Volk in den Stunden höchsten Verlustes und tiefen Schmerzes zu ergreifen pflegt: Jede billige Ausflucht, jeder falsche Trogt verstummt. Nur die Tatsache selbst, nüch- tern festgestellt und als Rapport gegeben, entspricht dem Ausmaß jener Zer- störungen, die von Engländern und Amerikanern mit einer verbrecherischen Nichtsnutzigkeit angerichtet worden sind und jede Katastrophe der Natur über- bieten.

Was unsere Bilder zeigen, sind zum Teil letzte Erinnerungsblätter einer nun- mehr verschütteten Wirklichkeit, die Jahrhunderte wuchs und bestand und den- noch in einer einzigen Stunde getilgt worden ist. Das Unersetzliche dokumentiert sich nur noch in einem schwachen Abglanz des Gewesenen, in einem Epilog der Kameral

Von vielen dieser Werke höchsten abendländischen Ranges es sind dar- unter die zerstörten Gesamtkunstwerke ganzer Städtel ist nicht einmal so viel geblieben, daß wir Deutschen daran jene unausrottbare und unbesiegliche „Ruinensentimentalität“ entfachen können, die wir etwa dem Heidelberger Schloß mit verdoppelter Liebe und tráumendem Herzen zugewandt haben. Dort erhöht die Passion eines Bauwerkes seine Unvergänglichkeit, wie uns die zerschlissene Uniform eines preußischen Offiziers aus dem Siebenjährigen Kriege noch im Glaskasten des Zeughauses die Ehrfurcht vor der Geschichte lehrt. Aber hier in Lübeck und Köln, in Frankfurt und Nürnberg, in Mainz und München ist das Unersetzliche so hinweggerissen, daß nicht einmal mehr die Phantasie in den Ruinen nisten kann. Die teuflische Konsequenz dieser Verwüstungen läßt keinen Zweifel über den nichtswürdigen Hochmut, der uns zugedacht ist. Der Feind spricht von ,wissenschaftlichen" Bombardierungen und meint damit die Gründlichkeit seiner Absichten.

Was da unersetzlich geworden ist, bezieht sich auf steinalte Formen eines gebauten Lebens, das nicht wiederholbar ist, wie sich in der kórperlosen Sprache der Dichtung eine Szene, eine Ballade, eine Erzáhlung wieder erwecken und ver- vielfältigen läßt; wie sich in der raumlosen Gewalt der Musik ein Lied, eine Symphonie, eine Sonate fortzupflanzen vermag. Denn die Existenz eines Bau- werkes liegt in der unmittelbaren, einmaligen und leibhaftigen Anschauung des- selben. Die Fähigkeit, durch Steinsetzungen einen Raum so zu umbauen, daß er die alarmierende Kraft eines Sinnbildes für den hat, der ihn betritt, ist die

20 Biedrzynski / Die Anklage der Ruinen

Charakterprobe jeder großen Architektur. Kein Bild ersetzt daher jene be- stürzende und befreiende Gewalt, die von solchen steinernen Lebewesen der Architektur ausgeht, da sie durch die Jahrhunderte hindurch gewachsen sind.

Deshalb ist ein großer und ruhmreicher Bau auch stets mehr als die Summe dessen, was Menschenwerk an ihm vollbracht hat. Es offenbart sich da noch etwas Rätselhaftes und Geheimnisvolles, das über den Willen des einzelnen hinausgreift oder ihm vorangeht. Die Erscheinungsformen der deutschen Kunst bewegen sich nicht in einem selbstherrlichen ästhetischen Raum, sie verewigen auch nicht nur den Willen der Geschlechter, die sie hervorgebracht haben, sondern sind Ausdruck einer geschichtlichen Vorsehung in der Sprache der Kunst. Der Mainzer Dom gibt ein Beispiel für das, was unwiederholbar ist:

Was mehr als fünf Jahrhunderte im Wandel der Pläne und Entwürfe, der religiösen und politischen Ideen, der Generationen und Stile, der Notfälle und Katastrophen in sich schließen, ist diesem Dom abzulesen. Die Summe dessen, was Menschenwerk an ihm ist, gehört zu unserem .höchsten Reichsstolz. Aber ` mehr noch als diese Summe großartigen Wollens und Kónnens bewegt uns der Gedanke, der nur von ganz seltenen Denkmälern der Geschichte gilt: Alles, was die Baumeister hier geleistet haben, geschieht nach dem geheimen und. heiligen Willen des Doms. So zwingend, so traumhaft richtig ist sein Wuchs und Werdegang, so einheitlich in seinem geheimen Sinn, daß man von der Macht eines steinernen Lebewesens sprechen muß. Der Wille der Geschichte ist hier unbeirrbarer als der Ehrgeiz und Anspruch des Individuums.

Der Dom durchläuft und vollendet vom Urbau her seine Altersstufen nach einem Gedanken Gottes. Er folgt im Schrittmaß der Zeitalter, die seine eigenen Lebensringe sind, einer geheimnisvollen Notwendigkeit. Er übersteigt alle Maße des feurigsten Eifers, der glühendsten Hingabe, der strengsten Ausdauer, die einem Menschenalter, ja einem ganzen Jahrhundert gesatzt sind. Zu jeder Zeit ist er größer und mächtiger als die Menschen, die ihn gebaut haben. Er nimmt das, was wir sonst als eigenen Geist der Zeit betrachten, als ihren Stil, als ihren besonderen Ausdruck, als ihr unverwechselbares Charakterbild, völlig in seine überzeitliche Gewalt,

Man kann sagen, was früh und spát an ihm ist. Man kann sehen, wie er spar- sam, zuchtvo:!, aus Stein geschmiedet: salisch beginnt, wie er sich festlich, wir- kungsvoll, vielfáltig: staufisch verziert, was die Gotik an ihm vermag, was der Barock an ihm vollendet und selbst noch, was das Rokoko in ihm erfüllt. Aber das Geheimnis, der Zauber seines Lebensweges liegt darin, daB keln Beitrag der Zeit, kein Eigenwille eines Stils ihn überwáltigt, auf Kosten des Ganzen reicher und ármer zugleich macht. Gerade dort, wo er es scheinbar haben will, treten die „Stile“ in sein geschichtliches Leben ein. Nicht nur im richtigen Augenblick, sondern auch mit unfehlbarer Sicherheit im Hinblick auf seine organische Voll- endung am einzig richtigen Platz.

So wird er zu einer Harmonie der deutschen Móglichkeiten. So versóhnt sich Grundverschiedenes in ihm. So flieBen in der lebendigen Anschauung alle Alters- siufen des Werkes zu einer Einheit zusammen, die die Geschichte selbst be- wirkt hat.

Es gibt Beispiele in Deutschland ungezählt, an denen man dieses Geheimnis des Unbewußten, der natürlichen Vorsehung auch in der Architektur sehen kann und muß. Nennt man Namen, so fallen sie mit unwillkürlicher Übereinkunft auf die Stadtkronen der Reichskunst, vor allem auf Nürnberg, Köln und Lübeck, ‘nunmehr auch auf Frankfurt, München und das Wunder im Elsaß das Straß-

Biedrzynski / Die Anklage der Ruinen 21

burger Münster. Wir sind auch anderorten nicht verlegen um die Hülle und Fülle unserer Kunstschöpfungen. Aber hier sehen wir mit der Klarheit des Schmerzes und des Verlustes, was unersetzlich ist:

Gerade diese Stadtlandschaft von Lübeck, die einer politischen Wegweisung im leeren Raum des ungestalteten Ostens folgt und Charaktergeständnis eines neuen Menschenschlages ist. Man muß Lübeck, Wismar, Rostock, Stralsund, Riga und Reval aus der Ferne übersehen, nicht aus dem ragenden Gegenüber allzunaher Eindrücke, um die vollkommene Einheit von Menschenwerk und Landschaft zu empfinden. So sah Caspar David Friedrich seine geliebten Heimat- städte im sicheren Gefühl, wie sehr hier der gestaltende Bauwille dem un- begrenzten Raum des Tieflandes gewachsen ist. Denn alle diese Stadtland- schaften, die auf die exemplarische Schöpfung Heinrichs des Löwen, auf Lübeck zurückgehen, geben der Natur ebenso ihr Gepräge, wie die Elemente der nor- dischen Landschaft in sie restlos eingegangen sind.

Weite Räume sind zu beherrschen. Als Wegzeichen zu Lande, als Seezeichen für die Schiffahrt setzen die kantigen Türme gleichsam ihre Kompaßnadeln in das Meer der unendlichen Weite. Es handelt sich um dünnbesiedeltes Kolonial- land von expansivem Charakter. Die dichtgedrängten altfränkischen und alt- deutschen Städte sperren sich gerne ab, hegen und pflegen ihre Heimlichkeiten: Erker, Giebel, Gasse und Brunnenplatz. Die jungen schnellaufstrebenden Städte des Ostens aber wiederholen einen Typus, bilden Gruppen und geben den Schiffen das Geleit-von Hafen zu Hafen, von Kontor zu Kontor. Gruppen werden selbst innerhalb einer Stadt gegründet. Das kleine Wismar hat drei stalze Stadtkirchen, „hingestellt“, nicht „gewachsen“.

Wie aber dieser Mensch von Lübeck aussieht, dieser Hansebürger, der den prachtvollen Patrizierstolz der nordischen Raumeroberung vertritt, der das Holstentor und in riesenhafter Zusammenschau als hinreißende Selbstdarstellung der Bürgerschaft die Marienkirche und das Rathaus von Lübeck baut, der über- all die lanzengleichen Masten aufrichtet, die auch den Wehrriesen von St. Ma- rien in Danzig umstellen das hat uns Bernt Notke in seiner „Gregorsmesse gesagt. Denn in diesem Bilde, in dieser sonst so „popenhaft starren Versammlung geistlicher Würdenträger“ schaut uns barhäuptig mit offenem Blick ein Selbst- bildnis des Hansemenschen schlechthin an, das zum Seelenspiegel der ganzen Landschaft geworden ist: „Hier ist ein Deutscher am Werke gewesen, ein Nieder- deutscher mit all seiner Kantigkeit, Schroffheit, Scheu und Hintergründigkeit; mit dem sich Schwertun seiner Bewegung, mit seinem Mangel an leichter, verbind- lich láchelnder Eleganz; mit dem sturen Ernst, die ganze Schöpfung immer wieder von neuem, von grundauf beginnen zu sollen; mit seinem Ringen um Gestalt, um den letzten Ausdruck phrasenloser Selbstenthüllung und mutiger Schicksals- bejahung." (Harald Busch.) x

Dem läßt sich nichts Besseres zur Seite setzen. Bernt Notkes Selbstdarstellung ist ein stellvertretendes Beispiel, ein wahres Schlüsselbild für die Stadt, mehr noch für den Raum, den sie bewältigt hat. Jede Auswahl bleibt angesichts der unteilbaren Großartigkeit dieses Gebildes fragmentarisch. Es gibt keinen Zweck, der in dieser völlig durchgeformten Stadt ehemals nicht seinen künstlerischen Sinn erfüllte oft nur nebenbei, scheinbar zwanglos, aber stets von ungesuchtem Daseinsstolz. Das Ganze ist mächtiger als die Erlesenheiten, die es birgt. Neben der Schriftsprache der hohen Kunst wird auch das Plattdeutsche vernehmlich, das Volkstümliche, Fabelhafte und Versteckte neben dem Außergewöhnlichen und Einmäligen die Drolerie neben dem Ernst, die Hafenmasken vom Chor-

22 | Biedrzynski / Die Anklage der Ruinen

gestühl neben der Senatorenwürde der Patrizierkunst. Hier ist eine Stadt zum Gesamtkunstwerk geworden. Eine rätselhafte Sicherheit in allem, was Menschen- händen in seltenen Gnadenfällen wie von Natur aus gelingt, hat die königliche Hauptstadt der Hanse mit einer anzustaunenden, kaum zu sagenden Vollkommen- heit erfüllt.

Dies ist das Unersetzliche. e

Den Ruhm der Stadt, deren größter Ruhm Albrecht Dürer gewesen ist, hat Luther als „Auge und Ohr Deutschlands" gepriesen. Und Adalbert Stifter fand die Worte: „Nürnberg hat auf mich einen ungeheuren Eindruck gemacht. Ich ging nach meiner Ankunft in der Stadt herum, bis es finster wurde, und kam vóllig berauscht nach Hause. Das ganze Ding war mir wie feenhaft, ich war eine Gestalt auf einem Dürerschen Bilde. Nürnberg ist die schónste Stadt, die ich je gesehen habe, sie ist in ihrer Ganzheit ein wahrhaftiges Kunstwerk."

Aber was hier so instinktsicher gewachsen ist, konnte Stifter ebensowenig sehen wie die Romantiker, die Nürnberg aus einer Sehnsucht heraus entdeckten, die im letzten irrte. Sie meinten in schwármerischer HerzensergieBung eine verwunschene Schónheit, ein altfránkisches Idyll, eine Meistersingerkulisse, ein künstliches Mittelalter, dessen Beseitigung eine der denkmalspflegerischen Groß- taten der letzten Jahre gewesen ist. Was nunmehr für unsere Augen hervor- trat, ist ein gewaltiger militärischer Organismus, der größte des Mittelalters überhaupt, den die „Spieß“ bürgerzeit hervorgebracht hat denn das schimpf- liche Wort hat ja einen ursprünglichen, ehrenhaften Sinn: Nach draußen drohende Abwehr, nach innen Zuflucht und Geborgenheit, nach der Feldseite eine in Stein gepanzerte Uneinnehmbarkeit, nach der Stadtseite eine in Jahrhunderten gewachsene Wohngemeinschaft, nun allerdings winklig, gemütlich und ver- schachtelt, so daß gesagt worden ist, in diesem von innen auf die Straße ver- legten Wohnraum gehe die Stadtfamilie gleichsam von einem Zimmer ihrer vertrauten Behausung in das andere.

Früher machten die alten Fachwerkbauten den ländlichen und ackerbürger- “lichen Charakter der Stadt unter der Kaiserburg aus. Um so großartiger und ewigkeitlicher muß der Gegensatz gewesen sein zu den großen Pyramiden der . steinschweren Hallenchöre von St. Sebald und St. Lorenz, die wie Schiefer- gebirge aus dem schattenhaften GrundriB der winkligen Stadt aufragen. Ver- gessen wir nicht, daB Dürer und mit ihm das ganze Geschlecht seiner Zeit: Veit StoB, Adam Kraft und die handwerkliche Dynastie der Vischer in eine fertige Stadt der vollendeten Gotik hineingeboren worden ist. Wer hat hier mehr gegeben oder mehr empfangen die Stadt oder ihre größten Söhne? Man sieht gerade hier eindeutig: Der Genius dieser Stadt ist der Grund und Boden, das Fundament und der Sockel, auf dem sich die hohen Werke der groBen Meister erheben wie die Apostel auf den Schultern der Propheten. Das Ganze ist ein leibhaftiger Organismus, sprießend wie das pflanzenhafte Ornament des Sakramentsháuschens von Adam Kraft, das in seiner höchsten Höhe wie eine biegsame Rebe am Gerüst der Gewólbe hochklettert. Nürnberg ist nichts ohne die großen Namen der Dürerzeit. Aber diese berühmten Nürnberger sind auch nichts ohne das Gebilde dieser Stadt.

Dies ist das Einmalige!

Biedrzynski / Die Anklage der Ruinen 23

Welche Stadt hat sich so magisch geschmückt mit den Herrlichkeiten ihrer Bau- kunst, die im Schoße der Jahrhunderte lagen, wie Köln! Als der Dom noch nicht vollendet war, ragte GroB-St. Martin am Rhein wie ein Roland der Architektur am Strom, hochaufschieBend über die geduckten Háuser, eine nun ausgebrannte Fackel, von der nur die eisernen Klammern und die steinernen Pfosten des Turm- sockels stehengeblieben sind. Welch Weg von der steinschweren Riesenkraft der Frühzeit, von den groBen Schwüngen der dreibláttrigen Chóre Maria im Capitol und Zwölf Aposteln zu dem Wunderbau der glásernen Gotik, die sich im alten Teil des Doms ihr Denkmal setzte, ist hier beschritten worden! In dieser Stadt ist beides aufbewahrt: das Römische und das Deutsche, das Brunnentiefe, das in die uráltesten Schichten der Vergangenheit sagenhaft hinabhorcht, und das Himmel- andenkende, Sich-Abschleudernde von aller Erdkraft, wie es die Gotik ersehnte und zustande brachte. Wieviel ist hier begonnen, wieviel vollendet worden im Ebenmaß doch alles in allem durch die Jahrhunderte, so daB das Gebilde der Stadt ebenfalls eine Einheit in der Vielfalt wurde.

Auch dies Jahrtausend eines gebauten, unersetzlichen Lebens ist nicht mehr!

*

Ein Baumeister im Auftrag des geheimen Stadtgeistes das Beispiel dafür liefert Elias Holl. „Seine“ Stadt ist Augsburg, deren Könige, die Fugger, die Medici des Nordens genannt werden können und deren einer an Karl den Fünften schreibt: „Es ist wissentlich und liegt am Tage, daß Euer kaiserliche Majestät die römische Krone ohne mich nicht hätte erlangen können

Augsburg ist stolz auf sein Alter. Als Elias Holl das Rathaus baut, ist die Stadt sechszehnhundert Jahre alt. Sie reicht in die Römerzeit. Der Weg nach Italien steht ihr jederzeit frei. Die Renaissance ist für sie nicht nur ein gelehrter Zeitstil, sondern eine Frage der Gesinnung, die in einer schöpferischen Stunde und in einer schöpferischen Hand fruchtbar wird und nun echtes römisches Format erreicht das Pathos der Sachlichkeit, den Stolz des Zweckhaften, die geniale Einfachheit.

Fast will es als städtebauliche Fügung erscheinen, daß das Mittelalter Augsburg nicht im Wege steht, als es Renaissance-Stadt wird. Die Hauptkirchen liegen am Rande der Altstadt. Am Nord- und Südende in Tornähe. So kann Elias Holl das alte gotische Rathaus abreißen und in die Stadtmitte seine Stadtkrone setzen das erste Hochhaus der Neuzeit.

Viele Modelle und zahllose Pläne sind erhalten. Sie zeigen, was Elias Holl in Venedig und Vicenza sah. Sansovinos Bibliothek und Palladios Paläste, Bauten mit vorgeblendeten Säulenhallen, sind darunter. Sie zeigen aber auch, was er schließlich aHes unterlassen hat. Er verzichtet zuletzt auf jede Wirkung aus der Fassade, baut einen kubischen Block, dessen innere Anordnung sich dem Äußeren mitteilt: Halle und Saal inmitten des Würfels, Treppenhäuser zu beiden Seiten, die durch Türme heroisiert werden. Die Türme flankieren ihrerseits den Giebel über dem Rathaussaal. |

Was Schinkel zweihundert Jahre spáter als Testament hinterláBt, ist hier vor- weggenommen: Klares Betonen der Konstruktion durch die Gliederung, kein Bau- teil ohne Zweckbestimmung, alles knapp, klar und echt. Elias Holl gewinnt seine höchste Freiheit durch Achtung des Gesetzes. Es lautet: Ruhe und Größe.

Mit diesem Bau erreicht Deutschland Weltrang in der Architektur der Renais- sance, selbständigen Anschluß an die Cancelleria in*Rom und an den Palazzo

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24 Biedrzyaski / Die Anktage der Ruinen

Farnese. Der Geist der alten freien Reichsstadt Augsburg hat in Elias Holl einen völlig sinngemäßen Ausdruck gefunden, ein Bündnis aus dem Willen der Stadt und der Macht ihres größten Dieners.

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Und dennoch soll die Rede sein von unzerstörbaren Werten, von unvergäng- lichen Werken in uns, nachdem dies alles schwer getroffen und zunichte gemacht ist? Nicht in dem Sinne freilich, daß wiedererstehen kann, was unwiederholbar ist. Aber das Geschaffene ist ja zugleich auch ein Schópferisches, gerade wenn man es nicht abhängig sieht von dem Genie eines einzelnen, noch so erlauchten Künstlers, sondern von dem Genie des Volksgeistes, ohne den die einzelnen nicht emporragen würden auf den Schultern der Gemeinschaft.

Es gibt kein Land, das so reich und unberechenbar ist in seinen Verschwen- dungen wie Deutschland. Es gibt kein Volk, das so oft nach den großen Er- schöpfungspausen seiner Geschichte dort begonnen hat, wo es aufhörte, wie das deutsche, Es gibt kein Reich in Europa, das so alt und so jung in einem Atem sein kann wie das unsere.

Wir haben die Reichshauptstädte und die Stile gewechselt und haben dennoch in allen Wandlungen uns selbst erhalten. Wir haben die Hierarchie der Künste durchmessen und in der Musik fortgedacht, was in Stein vollendet war. Wir haben in langen Anmárschen der Geduld durch die Kette der Generationen hindurch, der Prophezeiung gewiß und der Erfüllung sicher, unsere Kraft gesammelt, bis sie sich zum erstenmal in der staufischen Plastik perikleisch vergeudete, so daB Bam- berg zu unserer Akropolis geworden ist. Ein zweites Mal haben Jahrhunderte hindurch die kleinen Meister daraufhin gespart, was die Dürerzeit mit einer un- vorstellbaren Energie in zwei Generationen wie eine Saat der Natur selbst aus- streute. Wir haben aus den Trümmern des Dreißigjährigen Krieges eine Volks- kraft gerettet, für die es kein erklárbares Argument gibt, und zum drittenmal und diesmal sogar mit verteilten Rollen im Süden und Norden des Reiches zugleich die groBe volkstümliche Baukunst des Barock und die groBe Kunst der Fuge ge- schaffen. Wir haben noch einmal in der Malerei von vorne angefangen und dem Abendland das Programm der romantischen Malerei gestellt, als wieder wie durch einen Gnadenakt der Natur die kleistische Generation der Runge und Friedrich auferstand. Und plótzlich zeigte sich: Was der niederdeutsche Meister Bertram im vierzehnten Jahrhundert für Hamburg gab: die Wucht seiner wortkargen, zu- geknópften, aber innerlich phantasiestarken Menschen, die bekenntnishafte Ehr- lichkeit dieser unanfechtbaren, ganz in sich geschlossenen Existenzen, diese reinen und schlichten, scheuen und herzlichen, tátigen und ausdrucksvollen Ge- stalten dies alles wiederholte sich bei Philipp Otto Runge aus derselben un- zerstórbaren Mitgift seines Küstenstammes. Sein Elternbildnis láBt ihn beinahe mehr als Erzplastiker erscheinen, denn als Maler von romantischer Empfindsam- keit. Die metallische, wie aus Eisen gegossene, kubische Form, die diesen Figuren zugedacht ist, vertritt die Eindeutigkeit ihrer Charaktere, und die Standhaftigkeit ibres Willens. In einen Mantel des Schicksals geschmiedet, so stehen diese hart- knochigen Niederdeutschen vor uns, sehr áhnlich dem frommen Geschlecht der Bewáhrung, das Meister Bertram gebildet hat.

So bleibt die rassische Mitgift über die Jahrhunderte hinweg dieselbe und offenbart sich in dieser zeitlosen Gleichung zwischen zwei Künstlern. Es wieder- holt eich die wortkarge und mutige Sprache des Küstenstanimes, die bürgerliche Aufrichtigkeit in einer phrasenlos empfundenen Welt, der sture Ernst und die leise Innigkeit. Es offenbart sich die Ubereinkunft der gleichen Impulse und es vollzieht. sich unbewuBt und unwillkürlich mit naturgesetzlicher Kraft, nie ver- lóschend, sich stets verjüngend, mit sicherer Unbeirrbarkeit die unzerstórbare Kraft des Volksgeistes 4

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Karl Rössing, Berlin: Die Holzflöher (Holzstich)

Der Köhler

Der Köhler ruft des Nachts im fchroarzen Wald. In hohen Wipfeln laut der Axthleb hallt.

Die Stange ſchlägt er in des Mellers Brand. Der Funke ſtiebt um feine braune Hand.

Der Köhler ift ein finſterer Gefell, I Die Brut umfpannt ein rauchgefchmärztes Fell.

Sein Bart weht brandrot um das Rußgeficht

Und in den Augen glimmt ein böfes Licht.

Der Köhler hat nicht Weib und auch nicht Kind.

Er fchläft bei Moos und Pilz in Wald und Wind. Š Die Kröte unht, der Marder fchleicht vorbei.

Zur Mitternacht weckt ihn ein Eulenfchrel.

Dann fchleppt im weißen Mond er Holz zuhauf. Der Wanderburſch fchridst jäh im Traume auf. Und laufcht der Stimme, die im Dunkel fchallt: Der Köhler reft des Nachts im ſchwarzen Wald.

Rudolf Kreutzer.

Walter Stauß:

Vom Werden des deutschen Bauern in Europa

Alles Leben hängt ab von den Kräften und den Regeln der Natur, aus der es wächst. Auch das deutsche Leben wird sich entfalten oder es wird in Gefahr geraten mit dem Boden seiner Heimat, seiner Prdduktivität und Gesundheit. Denn so wie unser deutsches Volk seinem heimatlichen Boden gerecht wird, wie es ihn einschätzt, pflegt und entwickelt, so wird es schließlich auch allen übrigen Faktoren der Umwelt gerecht, den anderen Völkern, der technischen, wirtschaftlichen und politischen Dynamik der Welt, der eigenen Gesundheit. In diesem Sinne ist die Heimat ein Spiegel der Welt, und aus dem geschicht- lichen Werdegang des deutschen Bauern können wir Wesentliches ablesen für die künftigen Daseinsentscheidungen unseres gesamten Volkes.

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Das Klima Europas ist teils humid, das heißt, die Höhe der jährlichen Nieder- schlagsmengen ist größer als die Höhe der jährlichen Verdunstung, teils semi- humid, das heißt, während kürzerer Zeiten im Jahr ist die Verdunstung größer als die Niederschlagshöhe. Die Regenmengen durchsickern also ständig oder mit kurzen Unterbrechungen den Boden Europas, sie führen unmittelbar lösliche und mittelbar im Wasser (als einem Träger von Säuren) lösliche Stoffe in den Untergrund oder fällen sie in den tieferen Bodenschichten aus. Das klimatische Gegenteil ist das aride und das semiaride Klima, in dem die Niederschlags- mengen geringer sind als die Verdunstungshöhe. Hier dringen die Regen- mengen mehr oder weniger tief in den Boden ein und werden in den folgenden Trockenzeiten dank der Struktur des Erdreichs wieder an die Oberfläche ge- zogen und verdunsten. Der Boden der ariden Gebiete wird nicht vom Wasser durchspült, in ihm wandern die Niederschlagsmengen nur auf und ab und gehen wieder in die Luft. Diese Gegensátzlichkeit der beiden Klimaten hat auf die ganze Lebewelt einen bestimmenden EinfluB.

Der Pflanzenbestand der humiden Gebiete ist der Wald, der wilde Urwald. Die riesigen Urwaldgebiete des Amazonas, des Orinoco und ihrer Nebenflüsse im tropischen Südamerika, des Kongo in Zentralafrika sind die ausgesprochen- sten Zeugen humider Klimate. Die Urwálder Europas, wie die von Bialvstok und der Karpaten, zeigen am unberührtesten die Flora der semihumiden Klimaten. Dagegen stellen die Wüste Gobi, die Sahara und die Kalahari die klarsten Beispiele streng arider Klimaten dar, wáhrend die Steppen Nord- und Südamerikas, Nord- und Südafrikas und Australiens Vertreter des semiariden Klimas sind. Die Bóden der humiden und semihumiden Klimaten zeigen Hori- zonte, jeweils bestehend aus einer humusreichen Krumeschicht, dar- unter eine Bleichzone und als Untergrund roten Boden voller säurelöslicher Stoffe. Das ist die Folge der Wanderung des Regenwassers im Boden mit den Abschwemmungserscheinungen lóslicher und säurelöslicher Stoffe. Die Böden der ariden und semiariden Gebiete dagegen sind horizontlos.

Die Natur ist stets bestrebt, einen Gleichgewichtszustand zu erreichen. In den humiden Gebieten ist er erreicht, wenn der Urwald den Boden vor den Schäden der hohen Regenmengen schützt. Wird der Wald gerodet, so tritt eine Ver- heidung ein, wie sie sich in großen Gebieten der Lüneburger Heide und der Lausitz darstellt. Diese Gebiete haben noch im Mittelalter dichte Eichenwälder getragen. Die ariden Steppengebiete dagegen gehan der Verwüstung, einer Wüstenbildung entgegen, wenn das alte Gleichgewicht der Steppe zerstört wird. Wüstenbildung in den Steppengebieten und Heidebildung in den Waldgebieten zeigen, daß der von der Natur erstrebte Gleichgewichts- zustand zerstört worden ist. Wo der Farmer in den Steppengebieten der Prärie

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Adolf Saenger: Pferde im westfälischen Land (Lithographie)

umbricht und Jahr für Jahr Weizen baut, um mit dem geringsten Aufwand den Höchsten Ertrag zu erzielen, da wird das Gleichgewicht zerstört und der Verlust der Bodenfruchtbarkeit ist die zwangsläufige Folge. Große Strecken in den Weizenanbaugebieten der Vereinigten Staaten von Nordamerika zeigen diese Folge einer kapitalistischen Ausnutzung des Bodens. Die Struktur des Bodens wird verschlechtert, der Wind nimmt die feinen Bodenteilchen fort und der Regen schwemmt die Ackerkrume ab, die Wüstenbildung setzt ein. Nur die Schaffung von Windstreifen als Schutz gegen die Sandstürme und beste Pflege des Bodens durch Humusanreicherung und durchdachte Fruchtfolge können die weitere Ausdehnung der Wüstenbildung verhindern. Solange die Steppen Nord- amerikas als Viehweiden genutzt wurden, blieb der alte Gleichgewichtszustand erhalten, erst als Ackerschlepper und Mähdrescher kapitalistisch eingesetzt wurden, setzte die Wüstenbildung ein.

Anders ging die Entwicklung der Landwirtschaft in den semihumiden Gebieten

Europas vor sich. Hier wurden die Wälder gerodet und Brotkorn angebaut,

längst ehe der Kapitalismus das Streben nach Gewinn überspitzt hatte. Hier entwickelte sich der Landbau allmáhlich und hatte Zeit, sich von den Er- fahrungen des vergangenen Jahres, des vergangenen Jahrzehntes und des ver-

28 Stauß / Vom Werden des deutschen Bauern in Europa

gangenen Jahrhunderts lenken und anpassen zu lassen. Die Natur antwortet auf jeden Fehler mit einem Minderertrag, und mehr gefühlsmäßig als verstandes- mäßig schufen die Rodebauern Europas und insbesondere Deutsch- lands eine Form der Bodennutzung, die eine weitgehende Erhaltung der alten Bodenfruchtbarkeit erreichte und sogar zu einer Vermehrung der Bodenfrucht- barkeit führte. Wohl wurden auch in diesen Gebieten aus Unkenntnis Fehler gemacht, die Lüneburger Heide beweist es. Aber diese Fehler sind in engen Grenzen geblieben und haben nicht zu einer Verheidung großer Teile Europas geführt. Allerdings hat die Ziege in den südlichen Gebieten Europas eine ver- hängnisvolle Rolle gespielt, da sie die Schuld an der Verkarstung weiter Ge- birgsstrecken in Spanien, Italien und des Balkans durch die Verhinderung einer neuen Waldbildung trägt. In den eigentlichen Ackerbaugebieten aber ent- wickelte namentlich der deutsche Bauer die alte Dreifelderwirtschaft, die ein Drittel des Ackers mit Wintergetreide bestellte, ein Drittel mit Sommergetreide, und das letzte Drittel als Schwarzbrache pflügte und eggte, ohne es zu bestellen. Durch die Schwarzbrache wurden die klimatischen Schäden des Bodens, die durch den zweijührigen Getreidebau eingetreten waren, wieder aufgehoben. Durch das Pflügen und Eggen in mehrfacher Folge während des Frühjaurs und Sommers wurde die alte Ackergare wieder erzielt, so daB der im Herbst einge- säte Winterroggen oder Winterweizen wieder gute Erträge bringen konnte. Diese alte Fruchtfolge hat sich viele Jahrhunderte lang erhalten und hat es er- móglicht, die Bodenfruchtbarkeit der Bóden zu erhalten und zu steigern. Gleich- zeitig wurde die Schwarzbrache benutzt, um tierischen Dung in den Boden zu bringen und ihn durch wiederholtes Pflügen gut einzumischen und gleichzeitig das Unkraut zu vernichten. So ist die alte Dreifelderwirtschaft mit der Schwarz- brache keine erdachte Betriebsform, sie ist vielmehr aus den ‚Erfahrungen von Jahrhunderten gewachsen.

Erst jetzt ist der Stand unserer Wissenschaft auf dem Gebiete der Bodenkunde und Klimakunde so hoch, daß eine Begründung für die Entwicklung der Drei- felderwirtschaft gegeben werden kann. Die Bauern, die sie entwickelten, hatten noch kein Mikroskop, sie wußten nicht, daß die Erde von unzähligen Kleinlebe- wesen bewohnt wird und daß das Leben und Wirken dieser zum Teil mikrosko- pisch kleinen Pflanzen und Tiere für das Pflanzenwachstum von größter Bedeu- tung ist. Sie wußten nicht, daß es Bakterien gibt, die Stickstoff aus der Luft ziehen und für die Pflanzen aufbereiten, sie wußten nicht, daß zwischen den Lebewesen über dem Boden und den Lebewesen im Boden die engsten Beziehun- gen bestehen und daß sich beide Gruppen gegenseitig fördern und auch schädi- gen können, je nachdem, wie der Boden gepflegt wird. Die alten Bauern wußten nichts von chemo-physikalischen Dingen, sie kannten die Bedeutung der Kolloide der säurelöslichen Senkstoffe nicht; aber trotz aller ihrer Un- kenntnis waren sie in der Lage, durch genaue Beobachtung der Natur die Formen der Bodennutzung zu entwickeln, die eine Erhaltung und Vermehrung der Bodenfmuchtbarkeit sicherte. Sie fanden immer die Mittel, um die Schäden zu verhüten, die durch den Verlust des natürlichen Gleichgewichtszustands, der durch die Rodung der Urwálder bedingt war, hätten auftreten können. Die Summe der alten Erfahrungen aus der guten Beobachtung der natürlichen Vor- gánge hat sich so zu einer tiefen Bauernweisheit verdichtet, die lángst ge- fühlsmáBig das erkannt hatte, was heute erst die Wissenschaft verstandesgemáB zu begründen vermag.

Die alte Dreifelderwirtschaft mit der Schwarzbrache hat sich in Europa viele Jahrhunderte erhalten. Erst zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts beginnt allmählich die ,Besommerung" der Brache mit Hackfrüchten, Kartoffeln und

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Stauß / Vom Werden des deutschen Bauern in Europa 29

Rüben, mit Futterpflanzen, Klee, Wicken, Serradelle, Bohnen und Peluschken. Der Hackfruchtbau gibt die Möglichkeit, den Boden während der Wachstumszeit zwischen den Kartoffel- und Rübenreihen zu hacken und zu häufeln, so daß die Luft für die Kleinlebewesen Zutritt hat und gleichzeitig das Unkraut vernichtet wird. Die „Brachearbeit“, die früher den Verlust einer Ernte bedingt hatte, wird also jetzt so durchgeführt, daß gleichzeitig eine Ernte dabei gewonnen wird. Ja, es hat sich dann herausgestellt, daß von der besommerten Brache die höchsten Nährwerte vom Hektar geerntet werden, in den Kartoffeln und in den Zuckerrüben werden die meisten und lebenswichtigsten Nährwerte für die menschliche Ernährung gewonnen. Daher ist man jetzt bestrebt, den Anteil an Hackfrüchten zu erhöhen, um die Kohlehydrate für die menschliche Ernährung von einer möglichst kleinen Fläche zu gewinnen. Der Feldfutterbau dagegen gibt dem Boden die Schattengare, die er unter dem alten Urwald gehabt hatte. Hackfruchtbau und Feldfutterbau sind daher in der Lage, dem Boden die Struktur wieder zu geben, die er durch den Getreide- bau verliert und die für die Erhaltung seiner Fruchtbarkeit not- wendig ist. Daß dabei durch Stalldunggaben Sorge für die ausgiebige Ernährung der Kleinlebewesen getragen werden muß, sei nur angedeutet.

So hat der früher unbewußte Kampf gegen den Verlust der Bodenfruchtbar- keit, der durch die klimatischen Gegebenheiten bedingt ist, die heutige Form der landwirtschaftlichen Betriebe in Deutschland und Europa geschaffen. Sie setzen sich mit nur sehr wenigen Ausnahmen aus einer großen Zahl von einzel- nen Betriebszweigen zusammen, die sich gegenseitig ergänzen und steigern. Die Besömmerung der Schwarzbrache mit Feldfutter und mit Hackfrüchten gab die Futtergrundlage für die Rinderhaltung und durch den Kartoffelbau auch für die Schweinemast. Der Stalldung der Nutztiere ist die Grundlage für die Brhaltunc der Humusbildung des Bodens. Das Stroh des Ge- treidebaues ist die Grundlage der Stalldungerzeugung und Hinterkorn die der Hühner- und Schweinehaltung. So stellt der báuerliche Betrieb des europäischen Waldgebietes eine organische Ver- bindung vieler einzelner Betriebszweige dar, die sich gegenseitig in bezug auf ihre Ertráge steigern und in bezug auf die Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit er- gänzen. Die vielseitige und vielgestaltige báuerliche Wirtschaft ist nicht das Ergebnis einer erdachten Organisation, sie ist velmehr ein Organismus, der nach jahrhundertelanger Erfahrung gewachsen ist.

Damit ist der landwirtschaftliche Betrieb in seiner Vielseitigkeit und Viel- gestaltigkeit nicht kapitalistisch, wenn man unter Kapitalismus ein Streben nach Reichtum versteht, das nicht an die weitere Zukunft denkt. Das Ziel insbeson- dere der deutschen Landwirtschaft in Europa ist es immer gewesen, den folgen- den Geschlechtern den Boden so zu hinterlassen, daß er seine Aufgaben zu erfüllen vermochte. Unser Landwirt hat immer, ob bewußt oder unbewußt, bei der Nutzung des Bodens auf sehr weite Sicht gedacht und geplant, und so hat er es vermocht, die Fruchtbarkeit der Böden, das kostbarste Gut eines Volkes, zu erhalten und zu vermehren. Hätte das die Landwirtschaft nicht verstanden, dann böte unser Boden nicht mehr die Möglichkeit, den wachsenden Völkern Europas die Sicherheit ihrer Ernährung zu geben. Denn wo die Böden einmal verheidet oder verwüstet sind, da ist es kaum möglich, sie wieder für die Er- nährung der Menschen sinnvoll zu nutzen.

So ist das Erbe verpflichtend, das wir von unseren bäuerlichen Ahnen be- kommen haben. „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen", dieser Goethe-Spruch gilt nirgends mehr als für die deutsche und die gesamte europäische Landwirtschaft.

Kleine Beiträge

Ländliche Ausbildungswege

Den Weg zurück aufs Land zu erschlie- Ben und zu bahnen, und die aktive Entwick- lung des landeigenen Nachwuchses zu ord- nen und voranzuführen, das sind mit die dringendsten Aufgaben heute. Die für den ländlichen Bezirk des sozialen Ganzen sor- genden Stellen (Reichsamt für Landvolk und Reichsjugendführung vor allem) haben diese Arbeit gemeinsam weit vorangetrie- ben. Es ist für die Überleitung aus dem stádtischen in den lándlichen Bereich der „Landdienst“ geschaffen, es sind, damit zu- sammenhängend, Ausbildungsstadien der ländlichen Bezirke überhaupt geprägt und geklärt worden, und es wird sehr Mühe ge- tragen um die kulturelle Arbeit, d. h. eine Belebung der persönlich-geistigen Aktivität.

Die gesamte Arbeit für den ländlichen Bereich ist ja sehr stark angewiesen auf die jetzt zur Verantwortung heranwachsende und die nachfolgende jüngste Generation, da man erst von diesen noch wandlungs- fähigen Menschen erwarten kann, daß sie alles, was an technischer Intensität und seelisch-geistiger Selbständigkeit ange- strebt werden muß, nicht nur äußerlich, sondern auch inwendig einzusetzen und zu entfalten verstehen. Unter diesem Gesichts- punkt ist besonders die Auswirkung der kriegsbedingten „Kinderlandverschickung“

wichtig, weil sie dle Jugend von klein auf und ganz nahe und ungestört in das Er- lebnis des Ländlichen und Naturverbun- denen hineinstellt, so daß man hoffen kann, daß viele Jungens und Mädchen sich für das Land entscheiden und den bösen Bann der Stadtsucht durchbrechen werden.

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Inzwischen ist für díe, die schon bisher diesen Weg gehen wollten, der ,Land- dienst” ausgebaut mit dem Ziel, eine Elite bšuerlichen Nachwuchses zu schaffen, die dann möglichst vorbildlich und akti- vierend, wie die Hefe den Teig so überall die ländliche Gemeinschaft durchsetzen könnte. Von 3500 Landdienstfreiwilligen im Jahr 1935 stieg die Zahl auf 19595 im Jahr 1941/42 und 38522 im Jahr 1943/44. Mit 14 bis 18 Jahren kommen diese Jungen und Mädchen in eine Gemeinschaft, die nun strenge Arbeit und einfache Lebensführung bedeutet, aber in Sauberkeit, Ordnung und sorgfältiger Betreuung. Der Leiter der Schule des Amtes Bauerntum-Landdienst in der Reichsjugendführung äußerte sich dazu: „Es wurde im Landdienst rück- sichtslos mit der verantwortungslosen Ein- stellung gebrochen, daß derjenige für das Land gerade noch gut genug ist, der zu allem anderen nichts taugt. Die Entwick- lung des Landdienstes wurde nicht auf Kosten der Auslese erreicht. Mit der Zahl stieg auch die Qualität der Landdienst- mannschaft." Die Verpflichtung geschieht vorláufig nur für ein Jahr, in dem sich zeigt, ob die Umstellung auf das Leben mit dem Lande móglich und fruchtbar ist. Denn die Landdienstler kommen wie eine Sta- tistik des letzten Jahres zeigte nur zu 8,3 Prozent aus ländlichen Kreisen; 21,8 Pro-

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M WI Wohnraum im Landdienstheim

zent waren Kinder von Facharbeitern und Bergleuten, 13,8 Prozent von Angestellten, 13,5 Prozent von freien Beamten, 12,2 Pro- zent von Hilfs- und ungelernten Arbeitern, usw. Die endgültige Entscheidung für das Land wird vorláufig leider noch immer sehr stark behindert durch den Einspruch der

Kleine Beiträge 31

Eltern, die ihre herkómmliche Vorstellung von Lebensbequemlichkeit und Versiche- rung nicht durchschauen können und lieber abwarten wollen, bis die Kinder spáter Nutz-

nießer der bewältigten Krise des ländlichen Lebens werden können, als daß sie sie jetzt die Schwierigkeiten der Umgestaltung mit- machen lassen wobei allerdings der Ge- winn an menschlicher Arbeitsfreude und freiem Atemraum unter Gottes Himmel für nichts geachtet wird.

Wer sich aber fürs Land entscheidet, geht seinen guten Weg weiter: der Einsatz ge- schieht vorwiegend in Dorflagern, d. h. ein- zelne Arbeit bei ausgewählten Bauern, und gemeinsames Leben und Lernen im Lager, das nach den Erfahrungen der Hitler-Jugend- Heimbauten möglichst sowohl schön wie praktisch und fortschrittlich eingerichtet ist, so daß „die kleinen Alltäglichkeiten von der Spindordnung bis zur gründlichen Kór- perpflege am Morgen und Abend, vom Schuhputzen bis zur Sauberkeit im Tages- raum" eine gute und wichtige Grundlage einer künftigen gestrafften und selbstver- antwortlichen Lebensführung bauen kón- nen. Denn „wir alle wissen, was noch in sozialer, hygienischer und erzieherischer Hinsicht in Tausenden unserer Dórfer zu tun ist", daB also eine richtige und sach- liche Gewóhnung an neue Gedanken und Gefühle, wie das ein solcher gemeinschaft- licher und zugleich erzieherischer Lebens- stil ermóglicht, der beste Weg ist.

Nach zweijährigem Lageraufenthalt schließt die Landarbeits- bzw. Hausarbeits- prüfung ab. Dem folgen zwei Jahre Land- wirtschaftslehre oder Lehre in einem Son-

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derberuf (Winzer, Melker, Schäfer usw.), mit Abschlußprüfung, nachfolgender Praxis, und eventuell Besuch der höheren Landbau- schule mit DiplomabschluB. Ziel ist die Zu-

Schlafraum im Landdienstheim

weisung eines eigenen Hofes resp. die weit- gehend selbständige Ausübung eines weib- lichen Landberufes. Für die Ausbildung der Landdienstführer und -führerinnen sind eine Reihe „Lehrhöfe“ eingerichtet, eigene Betriebe von 60 bis 125 ha GróBe, auf denen in einjáhriger Lehre Jungens und Mádchen gemeinsam ausgebildet werden.

So ist hier eine Bahn eróffnet, die sich einfügt in das gleichzeitig begonnene System von ländlicher Berufsgliederung und -sicherung und das ländliche Gefüge klar und entschieden in die gesamte Sozial- ordnung einbauen hilft. Eng da hineln ge- hórt die kulturelle Arbeit, die, soweit es die Jugend betrifft, in Arbeitsgemeinschaften etwa der Werkarbeit zur Erweckung und Entfaltung der eingeschlafenen eigen- schöpferischen Gestaltungskräfte oder des BDM.-Werkes ‚Glaube und Schönheit” besteht, von eınem gesunden und sinnge- mäßen Kochen über den Bauerngarten der an Gemüse und Kräutern und Blumen reich sein muß und die Gesundheitspflege zur Gestaltung des Wohnens und der Ar- beits- und Festkleidung (für die man den überalterten Ausdruck „Tracht“ besser ver- miede) reichend, und vom Landdienstheim und Arbeitsdienstlager her den Versuch zum Entwickeln wirklicher Gemeinschafts- feste tätig vorantreibt. So ist kräftig klaf- fend von jeder Seite her die Bresche in das alte verhärtete Gebilde lebensabseitiger Ländlichkeit geschlagen und läßt den Wind durchblasen —. St.

Erlesenes

Neuordnungsfragen des Landes

Von 1882 bis 1933 verminderte sich die Zahl der in der Landwirtschaft berufs- tätigen Menschen von rund 16,0 Mil- lionen auf 13,7 Millionen und von 1933 bis 1939 auf 12.3 Millionen. Demgegenüber steht eine Zunahme der städtischen Be- völkerung von 1882 bis 1933 von 24,2 auf 52,3 Millionen. So ergibt die Volks-, Be- rufs- und Betriebszählung 1939, daß die Zahl der land- und forstwirtschaftlichen Berufszugehörigen seit 1933 um rund 1,5 Millionen, also um über 106 v.H. ab- genommen hat...

Die Zahl der in der Land- und Forstwirt- schaft tätigen Bevölkerung ist 1939 mit 12265000 an einem Punkt angelangt, der nicht weiter unterschritten werden darf, falls nicht größte Schädigungen für den Volkskörper eintreten sollen. Der Abzug der Menschen aus der Landwirtschaft hat nicht nur die überzähligen Arbeitskräfte und den Geburtenüberschuß erfaßt, son- dern in den Bestand der landwirtschaft- lichen und bäuerlichen Familien, ins- besondere der Inhaber von Kleinst- und Kleinbetrieben, eingegriffen.

Diese Tatsache ist von seiten der ge- werblichen Wirtschaft inzwischen auch er- kannt worden. MaBgebende Stimmen hahen darauf hingewiesen, daß Industrie und Ge- werbe für die Zukunft nicht mehr mit dem bisherigen Menschenstrom aus dem Land- volk rechnen kónnen. Die zukünftige Aus- weitung der Industrie ist unter anderem durch folgende MaBnahmen zu erreichen:

1. Durch eine weitere Entwicklung des technischen Fortschrittes und Ratio- nalisierung des Arbeitsprozesses;

2. durch eine Arbeitsteilung innerhalb des großeuropäischen Wirtschaftsraumes.

Es zeigt sich, daB mangels geeiqneter Aufstiegsmöglichkeiten im eigenen Berufs- stande eine Zunahme der Klein- und Kleinstbetriebe festzustellen ist. Die Betriebsinhaber wurden durch die aus- geweiteten Möglichkeiten, außerhalb der Landwirtschaft eine lohnende Beschäfti- gung zu finden, veranlaßt, in einer anderen Berufsart eine teilweise oder ganze Ergän- zung ihres Einkommens zu suchen. Die bis- herigen Betriebe wurden auf eine Größe verkleinert, die es ermöglicht, daß die an- fallenden Arbeiten im wesentlichen von der Frau und den Kindern und mit der dem Manne verbleibenden Freizeit bew&l- tigt werden konnten. So entstanden neue

zusätzliche Kleinbetriebe, die keine eigene Lebensgrundlage besit- zen und den Keim der endgültigen Abwanderung in einen anderen Berufin sich schließen.

Es ist einleuchtend, daB erst eine Be- stimmte Größe das erforderliche Einkom- men sichert. Neben der Sättigung von Mensch, Tier und Boden müssen Erzeug- nisse in genügender Menge zum Verkauf bereitgestellt werden können. Diese Tat- sache enthebt nicht der Notwendigkeit, durch eine Angleichung der Preise der land wirtschaftlichen Erzeug- nisse an die Werte der Erzeug- nisse der übrigen Wirtschaft die dringend notwendige Verbesse- rung des Einkommens vorzunehmen.

Das seit Jahrzehnten mangelnde Ein- kommen innerhalb der Landwirtschaft hat auch eine Reihe arbeitswirtschaftlicher Br- schwernisse im Gefolge, die gemeinsam mit den übrigen Gründen die Abkehr aus dem landwirtschaftlichen Beruf gefördert haben.

Die arbeitswirtschaftlichen Schwierigkeiten sind folgendermaßen gekennzeichnet:

1. ein überwiegendes Vorherrschen der Handarbeit in der Masse der landwirt- schaftlichen und bäuerlichen Betriebe erschwert die Arbeit;

2. eine ungeheure Besitzzersplitterung verhindert den Einsatz landwirtschaft- licher Maschinen in vielen Teilen des Reiches und erfordert einen ungeheu- ren Zeitverlust an Wegen von und zur Arbeitsstätte und einen ungeheuren vermeidbaren Transport;

3. eine unzweckmäßige Hofgestaltung er- fordert eine vermeidbare Lastenbewe- gung und verhindert den Einsatz der technischen Hilfsmittel.

Jeder hat die Möglichkeit, im Jahresablauf festzustellen, wie heute genau noch in der gleichen Form wie vor hundert Jahren der Stallmist von Hand gestreut, das Gras und das Getreide von Hand gemäht, die Kar- toffel mit der Hacke gerodet wird. Dies ist festzustellen, obwohl für die verschiede- nen Arbeitsvorgánge entsprechende Ma- schinen entwickelt sind.

Ein Vergleich z.B. zur Industrie zeigt, daß hier bis zur Fließbandarbeit und zum Vollautomaten der Arbeitsgang rationali- siert ist, und daß die alten Arbeitsformen nur noch in Museen studiert werden können. Es bedarf hier keines Hinweises

Erlesenes l 33

dafür, daß innerhalb eines Bauern- hofes eine derartige Mechanisie- rung von Natur aus nicht möglich ist. Sicher ist aber, daß durch einen zweckmäßigen Einsatztech- nischer Hilfsmittelein großer Teil der Handarbeit und der Lasten- bewegung beseitigt werden kann.

Ein weiterer Hinderungsgrund liegt bei der fehlenden bisherigen Fortentwicklung der Jandwirtschaftlichen Gebäude. Eine Feststellung des Alters der Gebäude ergibt, daß die Mehrzahl ein Alter von 50 und mehr Jahren aufweist. Sie sind in einer Zeit aufgebaut, als die Erzeugungs- leistung und Arbeitsform weit hinter der heutigen zurückstanden. Dort, wo damals zwei bis vier Kühe mit 1200 bis 1500 Liter Jahresleistung standen, stehen heute sechs bis zehn mit 2000 bis 4500 Liter Jahres- leistung. Die Acker-, Wiesen- und Weide- erträge sind auf Grund besserer Wirt- schaftsformen, besserer Stallmistpflege und Anwendung künstlicher Düngemittel, der Pflanzenzüchtung und Sortenauswahl um das Doppelte und Dreifache gestiegen. Der gesamte vermehrte Arbeitsaufwand wickelt sich in den gleichen Gebäuden ab. So sind heute in bäuerlichen Familienwirtschaften von rund 20 Hektar jährlich rund 40 000 Zentner im Jahresablauf zu bewegen. Fast zwei Drittel der gesamten Arbeit wickelt sich auf dem Hofe ab. Die Mittel blieben trotz der gewaltigen Leistungssteigerung der Landwirtschaft versagt, die Gebäude der Leistungssteigerung und der Entwick- lung der Technik entsprechend anzupassen.

Der Siegeszug der Elektrizität und Wasserversorgung in den verschie- densten Formen in Industrie, Handel und Gewerbe hat noch längst nicht jedes Dorf und jeden Hof zur Erleichterung und Be- schleunigung der Arbeit erreicht. Heute sind noch rund eine Million landwirtschaft- licher Betriebe über 0,5 Hektar ohne elek- trisches Licht und Kraftanschluß. Außer- dem sind noch rund 65 v. H. der ländlichen Gemeinden ohne eine gemeinschaftliche Wasserleitung. Gepflasterte oder asphaltierte Straßen zur Erleichterung und Beschleunigung des Transportes und Verkehrs fehlen noch in weiten Teilen der ländlichen Bezirke,

Die Umlegung als wichtiges Mittel der Bodenordnung verbessert die Lage der Bauernhöfe nach zwei Richtungen:

gar

a) der Arbeitserleichterung,

b) der Erhöhung der Erträge und damit der Einnahmen.

Die Arbeitserleichterung wird offensicht- lich, wenn z.B. statt einhundert und mehr nach der Umlegung noch drei bis sechs Grundstücke vorhanden sind. Der umfang- reiche Leerlauf von Mensch und Tier wird beseitigt und der Einsatz der vorhandenen technischen Hilfsmitte] erst ermóglicht. Auf Grund der Kleinheit der Grundstücke war bisher der Einsatz vieler Maschinen ein- fach unmóglich. Der freiwerdende Arbeits- aufwand kommt einer erhóhten Intensivie- rung und einer Verringerung der Arbeits- überlastung zugute.

Welche unmóglichen Formen die Zer- splitterung annehmen kann, zeigt folgendes Beispiel: Ein Betrieb von 30,27 Hektar Fläche hat 162 Parzellen. Die Entfernung aller Parzellen vom Hofe beträgt 206 Kilo- meter. Bei der Eigenart der landwirtschaft- lichen, Arbeit, die eine ständige Wieder- holung aller Arbeitsgänge auf allen Par- zellen verlangt, müssen in einem solchen Betrieb im Jahr viele Tausend Kilometer zurückgelegt werden.

Aus einem weiteren Beispiel werden die Folgen. der Besitzzersplitterung klar er- sichtlich. Ein Betrieb in der Gegend von Schwäbisch-Hall hat 35 bewirtschaftete Feldgrundstücke (60 Parzellen und eine Gesamtqröße von 12;6 Hektar). Die Ge- samtentfernung vom Wirtschaftshof zu jedem einzelnen Grundstück und zurück beträgt 121,5 Kilometer. Eine Berechnung bat ergeben, daß, um diese Wege zurück- zulegen, im Laufe des Wirtschaftsjahres 6500 Kilometer Pferdewege und 5500 Kilo- meter Männerwege zurückgelegt werden müssen. Die Zurücklegung dieser Wege erfordert in diesem Betrieb einen Zeitauf- wand von 1300 Pferdestunden und rund 1100 Männerstunden. Das gibt 145 Pferde- tage und 123 Männertage (rund ein Drittel des Wirtschaftsjahres). Die Bewirtschaf- tung von einem Hektar Fläche erfordert demnach durchschnittlich einen Leerlauf von 11,5 Pferdetagen und 9,7 Männertagen. Der Betrieb hat insgesamt einen Arbeits- und Zeitaufwand je Hektar und Jahr von durchschnittlich 21 Pferdetagen und 33 Männertagen, d.h. der Leerlauf beträgt im Verhältnis zum Gesamtaufwand rund 55 Prozent (Pferdetage) bzw. rund 30 Prozent (Männertage).

Die Erfahrungen, die in der zurück-

Neues Dort (Entwurt Wolfram Vogel)

liegenden Zeit gewonnen worden sind, er- geben, daß durch die bisherigen Um- legungsmaßnahmen im Durchschnitt mit einer 20prozentigen Ertragssteigerung auf Grund der vorstehenden Ersparungen an Kraft und Zeit und Verringerung der Grenzen gerechnet werden kann. Es tritt also neben der Arbeitserleichterung eine nicht unwesentliche Ertragssteigerung ein, die eine Verbesserung der bisherigen Le-

bensgrundlage bedeutet.

Hoi - und Gartenplan zu einem Neubauernhof in Hufengröhe. Entwurf Wolfram Vogel

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Die Tatsache, daß innerhalb des Altreiches einschließlich der Alpen- und Donaureichsgaue und dem Sudetengau rund zehn Mil- lionen Hektar landwirtschaft- licher Nutzfläche umlegungs- bedürftig sind, kennzeichnet die Bedeu- tung, die dieser Aufgabe zukommt.

Im Gegensatz zu den Maßnahmen der Umlegung vor 1933, die sich fast aus- schließlich auf eine Zusammenlegung der

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Grundstücke und der Schaffung eines ge- ordneten Wegenetzes beschränkte, sieht die jetzige Reichsumlegungsordnung die Ausdehnung dieser Maßnahmen auch für die Ortslage vor. Sie gibt die Möglich- keit der Aussiedlung von Höfen aus der engen Dorflage auf die Gemar- kung. In vielen Fällen ist damit erst das einzige Mittel für die gesunde, arbeits- wirtschaftlich einwandfreie Gestaltung der verbleibenden Hófe, die Pflege der Bau- kultur und der Schónheit des Dorfes, die Erhöhung der Feuersicherheit, den Bau hygienischer Wohnungen, gesunder Ställe und ordnungsmäßiger Nebenanlagen ge- geben. e

Eine umfassende Neuordnung erfordert eine ungefähre Übersicht darüber, welche Kosten die Durchführung der technischen Aufgaben verursacht. Es liegen hierfür verschiedene Schätzungen des Reichs- minísters für Ernährung und Landwirt- schaft, des Reichsnährstandes, des Reichs- kuratoriums für Technik in der Landwirt- schaft in Verbindung mit dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung vor. Sie sind teilweise auf Grund vorhandener Unterlagen, teilweise auf bestimmten Er- fahrungssätzen je Großvieheinheit ge- staffelt nach BetriebsqróBen oder all- gemeingültigen Erfahrungssätzen auf- gebaut. Es sind hierbei nachfolgende Zahlen zum Ansatz gelangt: 1. Neubildung deutschen Bauerntums

(ohne neue Gebiete im Osten) .. 6,0 Milliarden 2. Neubauernhöfe im Rahmen der

Dorfauflockerung ................ 7.2 m 3. Neubauten und Umbauten von

Höfen im Altreich einschließlich Sudetengau, Alpen- und Donau-

reichsgaue ...................... 22,9 ge 4. Landarbeiterwohnungsbau ........ 3,9 Ge 5. Technislerung einschließlich Ener-

gileversorgung.................... 12,3

52,3 Milliarden

In diesen Beträgen sind nicht die Kosten für den Aufbau der Landwirtschaft und der Neubauernhófe in den neuen Ost- gebieten, in den eingegliederten Gebieten von Kärnten und Steiermark, in Elsaß und in Lothringen enthalten. Es sind weiter- hin die Kosten der Meliorationsmaß- nahmen, der Regelung der Wasserwirt- schaft, der Umlegung der Moorkultivierun- gen, der Schaffung qünstiger Verkehrsver- háltnisse und der allgemeinen Dorfanlagen nicht eingeschlossen.

Es ist darüber hinaus notwendig, ein gesundes Preisgefüge für die landwirt- schaftlichen Erzeugnisse und den landwirt-

schaftlichen Bedarf sicherzustellen, das es auch ermóglicht, ein gerechtes Lohnein- kommen für alle Berufstátigen in der Landwirtschaft zu gewährleisten. Es ist dabei selbstverständlich, daß auch die Frage der Altersversorgung in der Land- wirtschaft eine dem Landvolk gerecht werdende Lösung findet.

In dieser umfassenden Form erfüllt die Aufrüstung des deutschen Dorfes in Ver- bindung mit der Schaffung einer gesunden ländlichen Arbeitsverfassung die Aufgabe, dem deutschen Landvolk die volle Teil- nahme an dem sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben des gesamten deut- schen Volkes sicherzustellen.

Die genaue Erfassung des wirklichen Verhältnisses der einzelnen Familie und des einzelnen Hofes machte es notwendig, neue Darstellungsmethoden zu entwickeln, da die bisher für solche Zwecke vor- handenen statistischen Methoden nicht ausreichten. So wurde der Bestandsplan und das Wunschbild in zeichnerischer, maßstäblicb genauer Darstellung ent- wickelt. Sie gestattet es, die Zusammen- hänge des einzelnen Hofes und innerhalb des Dorfes der einzelnen Familie und des Hofes klar zu erkennen. Sie gibt dem Planer die Möglichkeit, die Verhältnisse einer Landschaft, das soziale Gefüge, die Familienverhältnisse, die vorhandenen Le- bensgrundlagen abzulesen. Sie enthält alle Unterlagen, die zur Planung der Neu- ordnung und der Handhabung der er- forderlichen vorbereitenden Maßnahmen, der Lenkung des Grundstückverkehrs, des Pachtwesens, der Bauvorhaben in Hof und Dorf, für alle klein- und qroßräumigen Neuordnungsmaßnahmen erforderlich sind.

Die einheitliche Anwendung dieser Ar- beit über das gesamte Reich ermöglicht den Vergleich aller Darstellungen unter- einander. Sie erschließt damit erstmalig die Möglichkeit, allen Gegebenheiten ge- recht zu werden und das Leben des Volkes in den tiefsten Wurzeln, den Menschen und den Boden zu erfassen, und in das bestmögliche Verhältnis zueinander zu bringen.

Neben der Verkürzung der Wirtschafts- wege ist natürlich eine Verkürzung der Arbeitswege innerhalb des Hofes selbst und ein weitgehender Er- satz der bisherigen Handarbeiten durch entsprechende Maschinen erforderlich. Es ist so, daß rund zwei Drittel sämtlicher

3 Erlesenes

Arbeit im Hofe anfallen. Vor allem ist eine Verringerung der Lastenbewegung not- wendig, die ohne weiteres z.B. durch Selbsttránken beim Vieh, Gebläse zum Transport von Heu und Stroh, Höhen- . fórderer und Aufzüge, Düngerbahnen, Kar- toffelsilos und zweckmäßige Anlage der Rübenkeller zu erreichen ist. Eine ent- scheidende Entlastung bildet ferner die Melkmaschine, die gerade die schwierigste Arbeit, die meist von der Bäuerin getragen wird, beseitigt. Ohne sie ist der zukünf- tige Bauernhof nicht denkbar. Es gehören ferner hierher die Elektrokleinmotoren für die verschiedenen Arbeitsvorgänge in der Stall- und Hauswirtschaft. Erforderlich ist “eine in jeder Hinsicht arbeitswirtschaftlich einwandfreie Bauweise, die vor allem auf die hauswirtschaftlichen Belange der Bäuerin Rücksicht nimmt.

Das einzelne Dorf steht nun nicht allein. Seine Lebensbeziehungen verbin- den es mit benachbarten Gemeinden. Es steht wie diese mit dem Hauptdorf und dieses mit dem Kreis in lebendiger Ver- bindung. Die Neuordnungsplanung er- streckt sich daher über mehrere in sich durch die verschiedensten Formen ver- zahnte Gemeinden. Dies sind z.B. un- zweckmäßige Gemarkungsgrenzen, Ein- und . Ausmürkerbesitz usw. So entstehen Neu- ordnungsgebiete, die naturgemäß eine um- fassendere und zweckmáBigere Gesamt- lósung als die eines einzelnen Dorfes zu- lassen. Gleichzeitig damit kónnen Fragen der Verwaltungsvereinfachung und -reform usw. gelóst werden.

So führt das Wunschbild des einzelnen Dorfes über die Planung des Neuordnungs- gebietes zur Planung der Hauptdorf- bereiche und zu dem Kreisraumordnungs- plan. Der Kreisraumordnungsplan hat die Aufgabe, die gesamten Lebensfunktionen eines Kreises im Sinne einer neuen Lebens- und Wirtschaftsordnung zu ent- wickeln und aufeinander abzustimmen. Dies gilt sowohl für die Fragen der Land- wirtschaft im weitesten Sinne, als auch für die gewerbliche Wirtschaft, das Wege- und Straßennetz, das Verkehrswesen, den Wasserhaushalt, die Energieversorgung, das kulturelle Leben, die Landschafts- gestaltung und eine zweckmäßige Verwal- tung, die allen Lebensbedürfnissen gerecht wird.

Aus: Friedrich Kann, „Aufbruch des Landvolkes” Verlag Moritz Diesterweg, Frankfurt a. Main

Friedrich Paulsen: um 1860

Wenn ich ein solches Bauernhaus mit den Großstadthäusern vergleiche, in welchen nun ein immer mehr anschwellender Teil unseres Volkes lebt und aufwächst, dann kann ich nicht umhin, die fortschreitende Verarmung der Jugend zu beklagen, Ver- armung an Bildungsmöglichkeiten und Ver- armung an Freuden. Dort war die ganze Welt in lebendiger Wirklichkeit gegenwär- tig: die Natur mit allem Reichtum ihrer Formen und Erzeugnisse war uns zugäng- lich und vertraut, Acker und Felder, Wiesen und Weiden, Heide und Moor, fließende Bäche und stehende Gräben, Wehlen und Teiche, Dünen und Hügel, Deiche und Dämme, Watten und Priele, Flut und Ebbe, wir kannten sie, nicht von einem kürzen Sonntagnachmittagsausflug, sondern aus täglichem intimstem Umgang, in jedem Gra- ben haben wir gewatet und Fische gefan- gen, in jedem Teich und Fluß gebadet, jeden Bach abgedämmt, auf jedem Acker gepflügt, in jeder Fenne gearbeitet, auf jeder Wiese Heu gemacht; über jede Heide sind wir gesprungen und haben Beeren ge- pflückt oder den Eidechsen zugesehen, auch wohl einmal eine Schlange gescheucht, von jeder Düne haben wir uns im Sommer heruntergewälzt oder im Winter auf Schlit- ten herabsausen lassen. So haben wir den Himmel bei Tag und bei Nacht gesehen, am Morgen das Erblassen der Sterne und das Aufleuchten des Frührots erlebt, am Abend der untergehenden Sonne ins Angesicht geschaut und die ersten Sterne wetteifernd gesucht und gezählt, das heraufziehende Wetter beobachtet und die sengenden

. Blitze in fast fühlbarer Nähe niederfahren

sehen, den Regen über uns niederrauschen lassen und in der glühenden Sonne nackt im Sande gelegen. Auf Pferden haben wir uns getummelt, ohne Sattel und Zaum man- chen Ritt getan, bis der Reiter zur Erde glitt oder auch einmal kopfüber in den Graben geschleudert wurde; mit Kälbern und Läm- mern haben wir gespielt, mit Pferden und Kühen auf der Weide gelegen, mit Schafen und Ochsen, die den Weg nicht wollten, den sie sollten, sind wir um die Wette gelau- fen; den Fischen haben wir mit Netzen und Schlingen nachgestellt, den Vögeln ihre Nester abgelauscht, den Kibitzen und Reb- hühnern die Eier genommen, den Gras- mücken und Bachstelzen die Jungen ‚mit Fliegen füttern helfen, ob sie sie schätzten

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Klaus Richter, Berlin-Stahnsdorf: Der Waldkauz

Eriesenes 37

oder nicht. Kurz die ganze Natur lag inner- halb des Bereichs nicht nur unserer Augen, sondern auch unserer Hànde und Füfe, wir lebten mit ihr als ein Teil ihrer selbst.

Und wie die Natur, so lag das ganze menschliche Dasein in unserem Bereich, nahe, faßlich, verständlich. Alle elemen- taren Künste der Kultur hatten im Haushalt ihren Ort; das Großstadtkind sieht nur die fertigen Dinge und ihre Verzehrung, wir

sahen sie alle entstehen, vom ersten Anfang.

bis zur Vollendung, das Brot und das Bier, des Hemd und die Jacke, fast nichts kam in unseren Gesichtskreis, von dessen Her- stellung wir nicht eine anschauliche Er- kenntnis gehabt hátten. Denn auch die Dinge, die das Haus nicht selber herstellte, sahen wir entstehen: der Schneider kam und schnitt auf dem groBen aufgeschlage- nen Klapptisch nach großem Papiermuster den Stoff zum Anzug zurecht, dann setzte er sich, ein Wunder zu sehen, mit, unter- geschlagenen Beinen auf denselben Tisch und nähte die Stücke zusammen. Im Früh- jahr und Herbst kam der Zimmermann auf einige Tage ins Haus, besserte aus und fer- tigte Neues, hobelte und sägte, natürlich wir immer dabei zusehend und wohl auch einmal Hand anlegend. Und was nicht ins Haus kam, das suchten wir auf; bei dem alten Schuhmacher waren wir häufig Gäste: man wartete eine Stunde, um das zum Aus- bessern gebrachte Schuhwerk gleich wieder mitnehmen zu können, und sah ihm inzwi- schen zu, wie er mit Leder und Leisten, mit Ahle und Pechdraht, mit Schusterhammer und Messer hantierte oder am Abend durch eme gefüllte Wasserkugel das Licht des dürftigen Ollámpchens auf einen Punkt sammelte.

Und nicht minder kehrten wir gern beim Schmied ein: es war ein fröhlicher Mann, und er hatte es gern, wenn wir im Winter aus der Schule kommend vorsprachen und zusahen, wie er das weißglühende Eisen mit der Zange aus der Kohlenglut zog und mit dem Hammer bearbeitete, daß die Fun- ken in alle Ecken der dunklen Werkstatt stoben und die Mädchen laut aufschrien.

Wie abstrakt und oberflächlich und dort, tig bleibt hiergegen die Vorstellungswelt des Großstadtkindes. Die Natur sieht es nur auf dem Papier, das Bilderbuch und das Lesebuch geben blasse Vorstellungen von Feld und Wald, von Tieren und Pflanzen, höchstens daß es noch einmal am Sommer- nachmittag die Dinge selbst sieht, aber wieder nur von weitem und ‚ohne an sie heranzukommen: alles ist vor ihm ver-

schlossen und vergittert. Dagegen hat es täglich um sich eine Welt künstlicher Dinge und Vorgänge, in deren Inneres es nicht hineinzusehen vermag: die elektrische Lampe und die Straßenbahn, das Telephon und das Automobil, das Warenhaus mit seinen tausend die Begierde, aber nicht die Erkenntnis herausfordernden Dingen, das Museum mit seinen unverstanden angestarr- ten Kunstwerken oder Resten einer nur dem Gelehrten erreichbaren Vergangenheit. So wächst es auf unter lauter Din- gen, die ihm stumm bleiben, und endlich gewöhnt es sich, nicht mehr zu fragen, sondern mit der Oberfläche und der unverstande- nen Benutzung sich zufrieden zu geben.

Und nicht viel anders steht es mit den menschlichen Verhältnissen, den privaten und den öffentlichen. Die Großstadtmen- ` schen sehen sich nur von weitem und kennen sich von der Oberfläche, sie wissen voneinander Namen und Titel, Stellung und Parteirichtung und derlei AuBerliches, aber die Wurzeln des Daseins des andern, die erreichen sie nicht und darum wissen sie auch von dem Innersten des persónlichen Lebens so wenig. Ich bin oft erstaunt ge- wesen, nach dem Tode eines Mannes, den ich jahrelang gekannt, den ich táglich ge- sehen hatte, aus seiner Biographie zu er- fahren, wie wenig ich im Grunde von ihm gewuBt hatte. Dagegen im Dorf weiB jeder vom andern, nicht bloB von gestern und vorgestern, sondern von Eltern und Groß- eltern her; man sieht die Verháltnisse, unter denen er geworden ist, in denen er lebt, seine Frau und Kinder, seine Heimstätte und seine Arbeit, sein Gedeihen und Miß- lingen. Ë

Und ähnlich mit den öffentlichen Angele- genheiten. Man liest davon in der Zeitung und redet davon am Biertisch und vielleicht in der Volksversammlung. Aber wie am letzten Ende „der Staat" und „die Gesell- schaft‘ aussieht und wirkt, davon gewinnt der Junge, der auf dem Lande aufwächst, viel eher eine lebendige Anschauung. Ich kannte den Landvogt und den Aktuar in Bredstedt, ich wuBte, zu wem man geht, wenn man dies oder jenes Geschäft hat, ich kannte die Gemeindebeamten und die

, Kirchspielversammlung und wußte, wie es

darin hergeht, ich wuBte, was der und jener zu tun hatte, der Vater hatte das Gescháft selbst jahrelang gehabt, und ich hatte ihm Handlanger- und Botendienste dabei ver- richtet. Ich wußte von den Rechtsgeschäf-

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ten, von Hypotheken und Stempelpapieren, von Kaufbriefen und Mietsvertrágen, sie gingen früh durch meine Hände. Ebenso von Steuern und Abgaben, die „Quittungs- bücher" über bezahlte Grundsteuern und Koogssteuern, Kirchen- und Schullasten lagen in der Schatulle des Vaters, und er verwehrte mír nicht sie durchzusehen. So hab ich auch von Einnahmen und Ausgaben des Haushalts früh konkrete Einsicht ge- habt: was die Ochsen und Schafe, der Rog- gen und Hafer, das Heu und Stroh kosteten und also einbrachten, war das tägliche Ge- sprách. Und wie mit den Preisen der Er- zeugnisse die Landpreise stiegen und fielen, wie die Art des Anbaus des Landes mit dem Wechsel der Konjunktur sich ánderte, wie der Kornbau zurückging, als der Fettvieh- export nach England in den 50er Jahren be- gann, wie bei steigenden Wollpreisen die Aufzucht von Schafen sich rasch vermehrte und wieder nachlieB, als der groBe Import von Australien einsetzte, alles dies lag vor den Augen schon des aufmerkenden und aufhorchenden Knaben.

Und nicht bloß die wirtschaftlichen Ver- háltnisse der Gegenwart, auch ihre Einord- nung in den geschichtlichen Zusammen- hang wurde ihm sichtbar. Meine Jugend- jahre fielen in die Zeit mächtig aufstei- genden Gedeihens der Landwirtschaft; sie begann langsam in den 40er Jahren, ging dann stoB weise aufwärts in den 50er Jahren, man führte das Steigen aller Preise, der Pferde, des Hafers, des Fleisches, auf den Krimkrieg zurück, der die Nachfrage für den Militárbedarf rasch in die Hóhe trieb. Dann kamen die 60er Jahre mit der wach- senden Industrie, die Jahre des Aufschnel- lens nach dem Krieg von 1870, in denen das Land unbegrenzten Wert zu erhalten schien. Vorher war aber eine Zeit der Not gegan- gen, die den Eltern noch lebendig vor der Seele stand und oft in den Gesprächen vorkam: in den 20er, 30er Jahren waren die Erzeugnisse der Landwirtschaft fast wertlos und unabsetzbar gewesen; für einen drei- jáhrigen Ochsen wurden 10—12 Taler Ham- burgisch, für eine Tonne Hafer zwei Mark Lübsch, für ein Pfund Butter zwei Schilling (15 Pfg. bezahlt. Kein Wunder, daß die Geldknappheit aufs áuBerste stieg und daB die schónsten Bauernstellen in Masse für nichts im Konkurs verkauft werden mußten; wer Schulden hatte aus früherer besserer Zeit, oder wer ein wenig leichter das Geld ausgab, der kam alsbald von Haus und Hof.

Von allen diesen Dingen hatte ich eine lebendige Anschauung, ehe ich die Namen

von „Staat“ und „Gesellschaft“ gehört haben mochte: in der friesischen Sprache gibt es keine Wörter dafür. Was will gegen solche konkrete Belehrung der Unterricht besagen, den das Stadtkind, so Gott will, in der Schule über die „Verdienste der Hohen- zollern um die Bürger und Bauern" oder über die , Verderblichkeit der sozialdemo- kratischen Lehren" erhált? oder den es sich selber aus Zeitungen oder Gesprächen ge- winnt? Ich hab nachher zeitweilig mit Lei- denschaft Nationalökonomie studiert; es war die Freude, das, was ich aus der An- schauung kannte, nun in der großen Theo- rie wiederzufinden; vor allem hat es mir aus diesem Grund Roschers Natíonalókono- mie des Ackerbaus angetan; ich hab sogar den Vater dahin gebracht, von mir Vor- tráge darüber sich halten zu lessen, natür- lich nicht Kathedervortráge.

Nicht minder lag auch die soziale Struk- tur in einfacher und durchsichtiger Gestalt vor Augen. Das Dorf bildete eine überseh- bare Lebensgemeinschaft. Das tragende Grundgerüst machten die selbständigen Bauernhöfe aus. Daran lehnten sich die Handwerke: alle notwendigen Arbeiten waren vertreten, jeder Handwerker hatte regelmäßig eine Anzahl Bauern als seine Kundschaft, der Müller, der Schmied, der Rademacher usw.; ihre Aufträge waren die Unterlage seiner Lebenshaltung. Dazu kam als eine dritte Gruppe der Pastor, der Schul- lehrer, der Arzt, der Beamte; sie standen einigermaßen außer oder über der Gesell- schaft, sie mit Leistungen versehend, die nicht auf einheimischen, bodenständigen Künsten beruhen. Ebenso trat die soziale Schichtung, die Klassenbildung in privater Form faßlich zutage. Es gab Großbauern, sie waren mehr in den neuen Kögen hei- misch, die nicht selbst mit Hand anlegten bei der Arbeit, dann eine sehr breite Schicht von mittleren Bauern, die regelmäßig mehr oder minder sich selber an der landwirt- schaftlichen Arbeit beteiligten. Dann folgte eine Schicht kleiner Besitzer, die auf dem eigenen Landbesitz nicht mehr ausreichende Arbeit für die Familienmitglieder hatten und daher durch übernommene Dienste ihr Einkommen steigerten, sei es durch Fuhr- dienste oder durch Krámerei, Tagelohn und Handwerk. Endlich kamen die eigentlichen Tagelöhner, die nur ein Haus mit Garten und vielleicht noch Land für eine Kuh oder ein paar Schafe hatten, sonst eg mieteten, sie standen meist in regelmäßigem Arbeits- verhältnis zu einem Bauernhof, ihre Kinder

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Adolf Saenger: Ländliches Gespräch (Zeichnung)

gingen erst als Hütejungen, dann alsDienst- boten in Stellung. Endlich am Rand eine sehr kleine Schicht von Armen, meist durch Krankheit und Unglück heruntergekom- mene oder auch durch eigene Schuld, durch Trunk und Trágheit verkommene Familien: sie lebten von gelegentlicher Arbeit und vom Betteln. Einige Insassen des Armen- hauses, erwerbsunfáhige Alte, unversorgte, meist uneheliche Kinder, Krüppel, Idioten, machten den Beschluß.

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So lag die Gliederung der Gesellschaft nach dem Besitz sichtbar vor Augen, man wußte von jedem Bauern, wieviel Demat Land er besaß, und von jeder Familie, in welchen Verhältnissen sie sich befand, sah auch, wie die Verhältnisse von dem Ver- halten abhängig waren, warum diese Fa- milie im Aufsteigen war, jene nicht auf einen grünen Zweig kommen konnte: alles Dinge, die in der Großstadt unsichtbar oder doch undurchsichtig bleiben. Womit es

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denn doch wohl zusammenhängt, daB aller- lei seltsame,Meinungen hier so leicht sich durchsetzen, z. B. daB das ökonomische Er- gehen des einzelnen von seinem Verhalten überhaupt nicht abhángig sei oder daB seine Verhältnisse nun eben von den Verhält- nissen kommen und áhnliche.

Hinzufügen möchte ich noch dies, daß die soziale Gliederung die Einheit der Lebensgemeinschaftnichtauf- hob. Es gab in dieser Bauerngesellschaft nirgends eine Spaltung, eine Kluft zwischen den Klassen, wie sie im Osten des Landes vorhanden ist, ja wie sie hier eigentlich die Grundiage der ganzen Gesellschaftsordnung bildet: die Spaltung in Rittergutsbesitzer und Tagelóhner, in offiziersfáhige Familien und Gemeine, in Gebildete und Ungebildete, in Hochwohlgeborene und überhaupt Nicht- geborene. Alle Stufen des Besitzes waren durch kontinuierliche Ubergánge verknüpft; zwischen allen bestand, wenn auch mit Ab- stufungen, conubium und commercium; man saß, wie in der Kirche, so in der Schule und im Wirtshaus beisammen. In der Schule hatten die Kinder der reichen Bauern neben denen der Tagelóhner ihren Platz, und selbst die Insassen des Armenhauses saBen durch die Klasse verteilt, je nachdem ihre Fáhigkeiten und ihr FleiB ihnen einen Platz verschafften. Im ganzen hatten natürlich die Wohlhabenden den Vorzug, schon we- gen des regelmäßigeren Schulbesuchs; aber zuletzt gab doch die persónliche Leistungs- fáhigkeit den Ausschlag. Und nicht anders war es beim Spiel: jeder gilt, soviel er kann; eine Ausschaltung kam auch hier nicht vor, wenn einer sich nicht selbst un- móglich machte. Und dieses einheitliche Leben in der Jugend setzte sich fort auch bei den Erwachsenen. Zwar traten die Un- terschiede des Besitzes stárker hervor; doch

Tanzplatzes und der Kegelbahn, der Lieder- tage und des Ringreitens: auch der Knecht und das Dienstmádchen waren nicht ausge- schlossen. Und so kamen denn Zwischen- heiraten nicht so gar selten vor; ein tüch- tiger und bewáhrter Knecht konnte um die Tochter eines Bauern oder die Hand seiner Witwe anhalten, ohne von vornherein der Ablehnung gewiß zu sein, und das Umge- kehrte kam wohl noch háufiger vor, daB Bauernsóhne Tóchter von Handwerkern oder kleinen Leuten, die dienten, heirateten.

Dieser demokratische Charakter der Ge- sellschaft prägte sich auch überall in der Sitte und Sprache aus. Wie man bei der Arbeit und bei Tisch auf dem Fuß der Gleichheit verkehrte, es war selbstverständ- lich, daß die Dienstboten bei uns mit am Tisch aßen, so machte die Sprache in einer bemerkenswerten Weise alle zu Gleichen: alle Gleichaltrigen nannten sich du, da- gegen wurde die ältere Generation ohne Rücksicht auf die gesellschaftliche Stellung mit der Anrede durch den Namen, wie die Eltern durch die Anrede mit Vater oder Mutter, geehrt, während sie die jüngeren mit dem du ansprach. Nur der Altersunter- schied, ein allgemein menschlicher, nicht gesellschaftlicher Unterschied gab eine Vorzugsstellung. Ausgenommen waren nur die Pastoren, Lehrer, Beamte, die natürlich mit ihren Amtsnamen angeredet wurden, meist auch Fremde waren und nicht Frie- sisch redeten. So bin ich, wenn ich als Student oder junger Doktor nach Hause kam, von den älteren Leuten, auch unserem Tagelöhner, mit du angeredet worden, viel- leicht einmal mit einer Art Entschuldigung: eigentlich darf ich ja wohl so nicht mehr sagen; während ich sie mit dem Namen anredete. Es wäre mir einfach gegen den eingeborenen Sprachsinn gegangen, anders

blieb auch hier die Gemeinsamkeit des zu verfahren. Aus: „Aus meinem Leben“

] An unsere Leser!

Der Präsident der Reichspressekammer hat in Durchführung der vom Reichsbevollmächtigten für den totalen Kriegseinsatz erlassenes Richtlinien auf dem Gebiet des Zeitungs- und Zeitschriftenwesens ais Sofortmaßnahme verschiedene Einschränkungen angeordnet.. Aus diesem Grunde stellt auch die Zeitschrift „Wille und Macht" ibr Erscheinen zum 1. Juli bzw. ab Folge 7/8 bis au! weiteres ein.

Im Einvernehmen mit der Reichspressekammer wird der für die nicht mehr erscheinenden Folgen einer Zeitschrift bereits bezahlte Anteil des Abonnementspreises im allgemeinen von den Verlagen dem Deutschen Roten Kreuz überwiesen, da eine Rückzahlung dieser zum großen Teil nur sehr geringen und für die Lebens- haltung des einzelnen Lesers zweifellos unerheblichen Beträge einen Arbeitsaufwand bewirken würde, der mit den allgemeinen Anstrengungen zum totalen Kriegseinsatz und damit zur Erringung des Sieges nicht im

Zentrelverlag der NSDAP. Franz Eher Nachi. GmbH. Zweigniederlassung Berlin.

Hauptschriftleiter: Heinz Frank, z. Z. bei der Wehrmacht. Stellvertreterin: Ortrud Stumpfe. Anschrift

der Schriftleitung: Berlin SW 68, Mauerstr. 88, Fernspr.: 110022. Verlag Franz Eher Nachf. G. m. b. H.

(Zentrelverlag der NSDAP.), Berlin SW 68. Pi. Nr. 8 vom 1. März 1938. Druck: Buchgewerbehaus M. Müller & Sohn, Berlin SW 68.

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