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Zeitschrift

für die

Behandlung Schwachsinniger nnd Eplleptischer.

Organ der Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

herausgegeben von

W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. a —— Direktor der Erziehungsanstalt iaei 5 für geistig Zurückgebliebene für Nervehlyehkisiton in Dresden-N. in Stuttgart :°- ;

PANO

XIV. AVI Jahrgang 1898.

—— —— A OE AA a NES

In Kommission von Warnatz & Lehmann, Königl. Hofbuchhändler in Dresden. Druck von Johannes Pässler in Dresden.

A. Aufsätze.

1. An die geehrten Leser .

2. Aus der Praxis der Vorschule (Nitzsche) . 82. 81.

3. Bemerkungen (Richter).

4. Bericht über die IX. Konferenz (Müller). Re 97.

5. Die Erziehungs- and Pflegeanstalten und Hilfsschulen Schlesiens (Frenzel) Kar %

6. Die Kinder können zu val (Ziegler) . 1. 23.

7. Die Konferenz für das Idioten- wesen . 17. 19. 49.

8. Die pädagogische Behandlung der Dementia praecox (Heller).

Y. Erwiderung auf den Aufruf zur Gründung eines Verbandes derHilfs- schulen Deutschlands (Richter).

10. Rall, Dir. f

11. Uber Dr. Guggenbihl (F. Kölle)

12. Über Schreibvorübungen (Wehle)

13. Über Ermüdungsmessungen (Heller)

14. Übe und pflege die Selbtthätigkei (Weniger) .

15. Wie können wir die losen schwachsinnigen Kinder zum Sprechen bringen? (Piper: . 100.

16. Wie vermittelt die Hilfsschule die Fertigkeit, an der Uhr die Zeit ab- zulesen (Horrix)

17. Zur Entwickelung und Deutung der sogenannten Azteken - Mikroce- phalen .

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Inhaltsverzeichnis.

Seite

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B. Mitteilungen. Seite 1. Berlin (Allgem. Bestimmungen) . 77 2. Bremen (Neue Idiotenanstalt) . . 47 3. Budapest (Idiotenanstalt) . 78. 95 4. Dresden (Jubiläum) . 150 5. Gemündena M. (Schwachsinnigen- Anstalt) 66 6. Hannover (Verband der Hilfs- schulen) à . 15. 73 7. Hessen (Fürsorge für fallsachtge Schulkinder) S 91 8. Kraschnitz (Selbstmord) 16 9. Kriegstetten-Solothurn (An- stalt für schwachsinnige Kinder 92 10. Leschnitz (Personalien) . . 76. 92 ll. Luxemburg (Zur Fürsorge für Idioten) 2 .. . .147 12. Mariaberg (Personalien 30 13. Mauren (Anstalt für schwach- sinnige Kinder) » 62-3 0 4128 14. Nieder-Marsberg (Idioten- anstalt) 91 15 Potsdam (Wilhelmsstift) . 127 16. Posen (Idioten- nnd Epileptiker- Anstalt) Ss . . 92 17. Scheuern (Königl. ——— 127 18. Schlesien (Provinzielle Fürsorge) 150 19. Schreiberhau a und Pflegeanstalt) A 47 20. Schweden (Idiotenfürsorge) 30 21. Schweiz (Dieschwachs. Kinder und die Bundessubvention) . 93 22. Württemberg (Personalien) . . 73 23. Zürich (Anstalt für Epileptische) 31

C. Litteratur.

. Burkhard, Ph., Die Fehler der Kinder. . .

. Coên, R. Dr., Beobachtungen und Erfahrungen auf dem Gebiete der Sprachheilkunde ay ae ae ee . Frenzel, Fr, Lautübungen für sprachlich behinderte Kinder ; . Gutzmann, A., Die Gesundheits- pflege der Sprache eo

Wille und Willens-

. Jäger, J. Dr., störungen . . Közle, J. Fr., Die Pädagogische

Pathologie

Seite `

96

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47

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m. 11.

12.

Seite

. Reineke, W., Die Unterweisung u.

Erziehung schwachsinniger Kinder 31

. Renkauf, Dr., Abnorme Kinder u. ihre Pflege DE ee a Se 51

. Roboz, Dr., Ungarische Heil- pädagogik : 80 Roentgen, P., Zur Heilpädagogik 31 Schiller H.u. Ziehen Th., Samm- lung von Abhandlungen . 152 Tippel, M.Dr., Leidfaden für das Pflegepersonal . . 151

D. Briefkasten.

16. 32. 128. 152.

Nr. 1. | XIV. (IVI) Jahrg.

Leitsehrift K Behandlung Schwachtgen und Fripüscher

Organ der Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen herausgegeben von

W. Schröter, Dr. med. H. A. Wildermuth, Direktor der Erziehungsanstalt Spezialerst far geistig Zurückgebliebene in für Hervenkrankkeiten Dresden - 1. in Statigert. Erscheint jährlich in 6 Summers von Za beziehen durch alle aindestens einem Bogen. Anzeigen für Fehrear and Pestiater, wie auch direkt: von des te- Preis pro Jabr 4 Mart

„Die Kinder können zu vieL“

Ven K. Ziegler, Idstein.

„Ich wundere mich nicht wenig über die gutem Leistungen Ihrer Schüler -`

aber ıch befürchte, man kann Ihnen den einen Vorwurf machen: die Kinder können zu viel“ so sprach einst ein Hear zu mir, der gelegentlich eines

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tischen und Zweckmässigen nicht überschritten werden. Denn je tächtiger die Kenntnisse sind, welche die Kinder aus der Schule mitnehmen, um so leichter wird es ihnen, den Weg durchs Leben zu finden; und über die Last eines allzu- schweren Schulsackes hat noch niemand geklagt. Darum an wissenswerten und und nützlichen Stoffen nur hineingestopft, so viel hineingeht und so viel im Leben verwendet werden kann; was wirklich zu viel ist, dem wird der kindliche Kopf schon von selbst die Aufnahme verweigern! ?

Allein, auch wenn man von der bekannten „Vielwisserei, von jenem wert- losen „Gedächtnisballast“, den man trotz seiner allgemeinen Verpönung in den Schulen nur zu häufig findet, ganz absieht, so bleibt das „Zuviel“ immer noch im Wörterbuch der Pädagogik stehen und, wie wir sehen werden, muss es der Idiotenlehrer noch unterstreichen. Wollen wir nämlich die Leistungen einer Schule von diesem Gesichtspunkt aus beurteilen, so dürfen wir nicht allein den Stoff als solchen in Betracht ziehen, sondern wir müssen auch die Fähigkeit der Zöglinge berücksichtigen. Wir dürfen nicht allein fragen: „Wie viel wissen sie?“, sondern auch: „Wer weiss?“ Zweckmässig ist nicht alles das, was im praktischen Leben verwertet werden kann, sondern nur das, was an nützlichen Kenntnissen bei der schwachen Begabung der Kinder in unseren Schulen als zulässig erscheint. Der geistige Horizont eines Kinderkopfes wird ja immer im Vergleich mit den weiten Gebieten des Wissens ein recht, recht beschränkter _ sein. Und doch sind auch diese bescheidenen Kenntnisse nicht selten zu viel: dem schwachen Rücken ist die kleinste Last zu schwer, dem blöden Kopfe das Einfachste zu hoch.

„Eine billige Weisheit!“ wird dieser oder jener der geehrten Leser denken. Mag sein! Allein, bat auch jeder der Leser die Konsequenzen dieser „billigen Weisheit“ auf das praktische Arbeitsfeld seiner Schule übertragen? Fragt sich jeder bei der Vorbereitung: „Ist es nicht zu viel? Gehe ich nicht zu weit? Könnte ich nicht dieses oder jenes, das, genau betrachtet, höchst nebensächlich und wertlos ist, weglassen oder aus. dem Unterrichte ganz ausmerzen?“ „Un- nötige Fragen!“ wird mir jetzt von anderer Seite erwidert. „Die Kenntnisse unserer Zöglinge sind fast allgemein so mager und notdürftig, dass man sie falls man überhaupt etwas sehen will eher mit dem Vergrösserungsglas der Überschätzung betrachten muss, statt mit kritischen Blicken nach einem über- schüssigen „Zuviel“ zu suchen. Wie kann von einem Überfluss geredet werden, wenn statt der Blüten und Früchte nur Blätter, günstigsten Falls vielleicht auch einige unentwickelte Knösplein zu finden sind?“

Trotzdem wage ich zu behaupten, in Idiotenklassen wird sehr häufig nicht bloss zu viel verlangt, sondern die Kinder können recht oft auch zu viel. Wenn freilich der Lehrer auf einem Bäumchen, das nach jahrelangen Mühen endlich zum Grünen gebracht wurde, Blüten und Früchte sucht, ehe das Blattwerk ordentlich getrieben, wenn er schon im Sommer durch die Aussicht auf einen guten Herbst dazu verlockt ernten will, so muss er es lediglich seiner Ungeduld zuschreiben, wenn er enttäuscht wird. Was würde man aber sagen, wenn er gar, um andere irre zu führen, und um sich selbst an dem „herz-

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erquickenden Anblick“ eines früchtetragenden Baumes erfreuen zu können, Früchte aus seinem eigenen Speicher an dem grünenden Geäst künstlich aufhängen würde? Sie lächeln aber ist es nicht häufig so? Schon oft habe ich auf Bäumen reife Äpfel gefunden, zwischen denen noch halbentwickelte Blattknospen in Menge hervorlugten. Trotz des schwachen Rückens tragen unsere Kinder in der Schule manchmal „Zentnerlasten“ zur Schau; trotz ihrer geringen geistigen Flugkraft verirren sich ihre Antworten nicht selten bis in jene Höhen, welche die konkrete Welt der Anschauung weit überragen, und die uneingeweihten Zu- schauer stehen staunend vor diesen „Wundern“. Allein, jene Lasten sind hohle, leere Papparbeiten, nur zum Scheine verfertigt, und jene „Weisheiten“ jagen mit ihren Besitzern gleich leeren Luftballons in den bodenlosen Gebieten ab- strakten Wissens umher.

Male ich aber nicht zu schwarz, greife ich diese Bilder nicht bloss aus der Luft? Ich wollte, man könnte mir diesen Vorwurf machen, könnte ihn mit Recht machen. Aber noch überzieht mich eine Gänsehaut, wenn ich daran denke, wie einst gelegentlich eines Besuches in einer Anstalt der dortige Lehrer mit seinen Schülern über das Acht-, Zwölf- und Vierundzwanzigflach sprach, und zwar in einer Weise, dass man hätte glauben können, diese Ungeheuer wären den Kindern aus dem täglichen Leben so bekannt und interessant, wie etwa eine Schwarzwurst, „die vom Metzger kommt, zwei Zipfel hat und zum Essen ist“. Natürlich war meine Verwunderung keine geringe, aber weniger über die Leistungen dieser Mathematiker, als vielmehr darüber, dass mir nicht auch noch die schönen Namen: Oktaeder, Rhombendodekaeder, Pentagonaldode- kaeder u. s. w. an den Kopf flogen. Das wäre gewiss der höchste Triumph der Idioten-Erziehung gewesen!

Ein andermal wurde mir ein Mädchen vorgeführt, welchem die Lehrerin nachrühmte, es hätte in kurzer Zeit vollständig Lesen und Schreiben (Abschreiben) gelernt, was sich auch bestätigte Als das Kind aber die Uhr zeigen sollte, schüttelte es verlegen den Kopf, und auf die Frage: „Womit schreibst Du?“ fand es auch keine Antwort. Und das nennt sich Unterricht!

Dass ferner in einer Anstalt die Schüler der Oberklasse, welche im Rechnen über die einfachsten Aufgaben der vier Grundrechnungsarten nicht hinaus- gekommen waren und auch sonst nur über mässige Kenntnisse verfügten, im Formenunterricht mit rechten, schiefen und stumpfen Winkeln, ja sogar mit Graden (!) operierten, das habe ich auch schon erlebt.

In einer andern Idiotenschule soll man sich in demselben Fache einmal (wie ich mir erzählen liess) zum -— man sage und denke pythagoräischen Lehrsatz verstiegen haben! Glücklicher Pythagoras, dessen hohe Weisheit sogar bis in jene Schichten des Menschengeschlechts hinabgesickert, welche unsere Idiotenanstalten bevölkern! Fürwahr, wäre er noch am Leben, er würde gewiss aus Freude über diese Nachricht nochmals 300 Joch Ochsen opfern!

Was liesse sich aber erst aus den Geographiestunden alles erzählen! Wie mancher Junge vermag auf der Karte Dutzende von Städten aufzuzählen und die Grenzen des Regierungsbezirkes nach den verschiedensten Finessen anzugeben;

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aber wie der Bach heisst, der am Orte vorbeifliesst, das hat er schon wieder „vergessen“ (?) und welche Richtung er einschlagen müsste, um in die nächste grössere Stadt zu gelangen, das hat ihm noch niemand gesagt, oder es ist eben auch wieder seinem Gedächtnis entfallen. Freilich mag dies auch in Volksschulen dann und wann vorkommen; allein es ist keine Entschuldigung: ‚Andere machen es auch so“, und was den Gesunden und Starken gegenüber als fehlerhaft und unzulässig erscheint, das muss man bei Kranken und Schwachen mit doppelter Sorgfalt zu verhüten suchen.

Nun, habe ich meinen Pessimismus gerechtfertigt, darf ich angesichts solcher Beispiele behaupten: „Die Kinder können zu viel?“ Trotzdem aber haben die Lehrer in ihren Schulen keine zu hohen Anforderungen gestellt, trotz- dem haben die Schüler nicht zu viel gelernt. Denn es ist ein Leichtes, trüge- rische, die Unkenntnis blendende Papparbeit zu verfertigen; es ist ein Leichtes, das bekanntermassen oft einseitig stark entwickelte mechanische Gedächtnis unserer Kinder zu einem Ballon auszuspannen, mit leichten Gasen und blauen Dünsten zu füllen und dann fliegen zu lassen; es ist ein Leichtes, unter seine Schüler das fertige Papiergeld eigener Bücherweisheit auszuteilen, statt mit ihnen in harter Arbeit auf dem Wege des Denkens nach dem Golde lebendiger Anschauung zu graben. Aber es ist zu viel, wenn man das Gedächtnis mit solchen unverstandenen und zum Teil auch nutzlosen Wissensstoffen beschwert und die Kinder in dieses gleissnerische Flittergold kleidet, von dem sie schliess- lich selbst noch geblendet und getäuscht werden; es ist zu viel von unseren Zöglingen verlangt, wenn man die schwachen Reste ihrer Denkkraft unter dem Haufen eines lumpigen Gedächtniskrames ersticken lässt.

Nicht, als ob alle rein mechanische Gedächtnisarbeit aus unsern Schulen verbannt sein sollte; das ist ganz undenkbar. Aber mit aller Bestimmtheit sei betont: in dieser Hinsicht lieber zu wenig als zu viel. „Besser Herr von wenigem, als Spielball von vielem.“ Jedenfalls müssen wir in unsern Schulen auf die Erziehung zu einem selbständigen Denken weit mehr Nachdruck legen, als dies bei normalen Kindern für gewöhnlich geschieht. Wir dürfen unter keinen Umständen Stoffe darbieten, die nicht in den Anschauungskreis des geistesschwachen Kindes fallen und von dessen Denkvermögen nicht aufgenommen werden können. Was unsere Schüler denkend erfasst, was sie können, ist mehr wert, als was sie bloss wissen. (Schluss in nächster Nr.)

Wie vermittelt die Hilfsschule ihren Schülern

die Fertigkeit, von der Uhr die Zeit abzulesen? Von Hermann Horrix, Hauptlehrer der Hilfsschule zu Düsseldorf.

Zu den wichtigsten Forderungen, welche das Leben an jeden Menschen stellt, gehört die richtige Einteilung der Zeit, denn nur derjenige vermag auf die Dauer gute Erfolge ohne Schaden für seine Gesundheit zuwege zu bringen, der, wie man zu sagen pflegt, nach der Uhr lebt. Wer aber Arbeit und Ruhe nach gewissen Zeitabschnitten einrichten will, muss allerdings an erster Stelle

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einen Zeitmesser besitzen, zugleich aber auch im Ablesen der Stunden und Minuten bewandert sein. Die Zeiträume, welche wir Jahre und Tage nennen, finden wir im Kalender bezeichnet, und jeder des Lesens Kundige wird ohne grosse Mühe dahin gebracht werden, das Datum eines gewissen Tages richtig anzugeben, zumal dann, wenn er häufig gezwungen wird, dasselbe zu sagen oder niederzuschreiben. In den Tag hineinleben dürfen am allerwenigsten geistig be- schränkte Menschen, da ihnen dann die Arbeit gar nicht von der Hand gehen würde. Sie müssen eben immer ein bestimmtes Ziel vor Augen haben, und weil nicht jedes Thun an und für sich abgegrenzt ist, so muss gerade durch die Abgrenzung der Zeit in gleiche Teile der jeweiligen Arbeit solches Ziel ge- steckt werden. Hiernach soll auch der geistig schwache Mensch selbst seinen Handel und Wandel, sein Thun und Treiben einrichten können, auf dass ihm dadurch das Gelingen seines Werkes leicht und die Freude am Gelingen, der beste Lohn für treue Pflichterfüllung, somit erreichbar gemacht werde. Wie viele tragen nicht eine Uhr in der Tasche und wissen doch nicht, was es an der Zeit ist oder was die Uhr geschlagen hat. Wenn nun dieser Satz auch nicht ganz wörtlich zu nehmen ist, so giebt es doch noch manchen, der aus Mangel an geistiger Begabung seine Uhr nicht kennt, und zwar aus dem Grunde nicht, weil er keine Anleitung dazu erbalten hat. Hätte ihn die Schule wie bei so vielen anderen Dingen systematisch in dieses Geheimnis eingeweiht und ihm diese Kunst gelehrt, er würde ganz gewiss gelernt haben, die Zeit von seiner Uhr abzulesen. „Als wenn da etwas zu lehren wäre“, höre ich im Geiste einen Lehrer normal veranlagter Kinder reden. Ja, mein Lieber, du hast gewisser- massen recht, über ein solches Ansinnen zu lächeln, denn ein geistig gesundes Kind nach Art deiner Schüler studiert mit seiner allmählich wachsenden Geistes- kraft so lange für sich an der Uhr, fragt auch wohl hier und da, bis ihm plötzlich ein Licht aufgeht und es strahlend vor Freude zum Vater läuft und sagt: „Lass mich einmal auf deine Uhr sehen, ich weiss auch schon, wie spät es ist“. Anders hingegen das schwachbefähigte Kind! Ganz abgesehen davon, dass es nicht den Trieb in sich fühlt, zu erfahren und noch viel weniger selbst zu suchen, wie viel die Uhr ist, hat es auch, den guten Willen vorausgesetzt, nicht die Fähigkeit, all die Schwierigkeiten, die sich ihm dabei in den Weg stellen, zu überwinden. Ohne eingehende Hilfe der Schule wärde es also schwerlich jemals dazu kommen, seine Zeit zu bestimmen und folglich auch zweckentsprechend einzuteilen, und aus diesem Grunde leiten wir für die Hilfsschule die Pflicht und die Aufgabe ab, ihren Zöglingen die Kenntnis der Uhr zu vermitteln. In folgendem wollen wir versuchen zu zeigen, wie dies auf eine stufenmässige und unsern Schülern zusagende Weise geschehen kann.

1. Übung. Der Lehrer schreibt in ziemlich grossen Zügen die arabischen Ziffern von 1—12 in einer geraden Reihe auf die Holztafel und unter jede von ihnen die entsprechende römische Darstellung, lässt beide Reihen ablesen und einzelne Ziffern auf gegebenes Zeichen nennen. Sind die römischen Ziffern den Schülern schon bekannt, so ist diese Übung eine Wiederholung, wo nicht, so lernen die Kinder sie hiermit kennen.

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2. Übung. An einem grossen Zifferblatte, das von jeder grösseren Uhren- handlung zu angemessenem Preise zu erstehen ist, von welchem aber die Zeiger vorläufig entfernt sind, oder auch an einer geeigneten Zeichnung auf der Schul- tafel wird die Stellung der Ziffern von 1—12 so fest eingeprägt, dass die Schüler, wenn der Lehrer auf eine Ziffer zeigt, sofort angeben können, wie dieselbe heisst.

3. Übung. Der Lehrer nimmt jetzt den kleinen Zeiger, befestigt ihn auf dem Zifferblatte und zeigt mit ihm auf die verschiedenen Ziffern, wobei die Schüler die betreffenden Zahlen nennen. Danu sagt er ihnen, dass dieser Zeiger welcher im Verhältnis zu dem andern (zeigen!) klein ist und darum der kleine Zeiger genannt wird, die Stunden des Tages anzeige. Er stellt denselben genau auf 12 und fragt: „Wie viel Uhr ist es also jetzt? Dasselbe geschieht mit den übrigen Ziffern.

4. Übung. Nachdem die Kinder durch die vorige Übung mit der Stellung der verschiedenen Ziffern auf dem Zifferblatte auch vermittelst des kleinen Zeigers vertraut gemacht worden sind, fährt der Lehrer fort: „Es ist aber nicht genug, dass man bloss weiss, welche Stunde es geschlagen hat, man muss auch sagen können, wie viele Minuten es nach 4, vor 11 u. s. w. ist. Die Minuten giebt uns der grosse Zeiger an; diese sind jedoch nicht wie die Stunden durch Ziffern, sondern nur durch Striche bezeichnet. Der grosse Zeiger heisst auch Minutenzeiger“. Darauf wird der kleine Zeiger vom Zifferblatte entfernt und der grosse wie vordem der kleine auf 12 gesetzt. Alsdann fordert der Lehrer einen Schüler auf, denselben bis zum nächsten Striche weiter zu schieben. Das wieder- holt er, bis der Zeiger auf 1 steht und fragt: „Wie viel mal ist der Zeiger voran ge- rückt worden?“ Wie viele Minuten sind also vorbei, wenn der grosse Zeiger von 12—1 gelaufen ist?“ „Zählt einmal mit mir, wie viele Minuten verflossen sind, wenn der grosse Zeiger von 1—2, 2—3, 3—4 u. s. f. gelaufen ist!“ Auf diese Weise finden die Schüler leicht, dass der grosse Zeiger jedesmal 5 Minuten ge- braucht, um von einer Ziffer zur andern zu gelangen.

5. Übung. Der Lehrer stellt den Minutenzeiger, welcher immer noch allein sich auf dem Zifferblatte befindet, zunächst wieder auf 12, dreht ihn dann langsam bis auf 2 und fragt: „Wie viele Minuten ist der Zeiger vorange- schritten ?“ Sollte ein Kind dies trotz der letzten Übung nicht wissen, so schiebt er die Frage ein: „Wie viele Minuten hat er nötig von 12—1, von 1—2?“ „Wie viele also von 12—2?“ Dasselbe geschieht, indem er ihn auf 3, 4, 5 und 6 stellt.

6. Übung. Haben die Schüler die Fertigkeit sich angeeignet, ohne langes Besinnen je nach dem Stellen des Minutenzeigers zu antworten: 5, 10, 15, 20, 25, 30 Minuten, so teilt der Lehrer durch einen senkrechten Strich von 12—6 das Zifferblatt in zwei gleiche Teile und sagt: „Wenn der lange oder Minuten- zeiger rechts von diesem Striche sich befindet, so müsst ihr stets das Wörtchen „nach“ dazu sagen“. Nun setzt er denselben abermals auf die Ziffern von 12 bis 6 und lässt dabei sprechen: „5 Minuten nach, 10 Minuten nach u. s. w.“

7. Übung. Nach gründlicher Übung des vorigen unterrichtet der Lehrer also weiter: „Steht der lange oder Minutenzeiger links von diesem Striche, so setzen wir nicht mehr das Wörtchen „nach“, sondern „vor“ hinzu“ Indem er

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den Zeiger von 12 auf 11 zurückschiebt, fragt er: „Wie viele Minuten vor ** Ebenso geht es bei dem Stellen desselben auf 10, 9, 8, 7, 6. Ist auch dieses hinreichend geübt, so setzt er ihn nochmals auf 6 und stellt die Fragen: „Wie muss ich sagen?“ „Wie kann ich aber auch sagen?“ „Warum ich beides sagen kann, wird euch später erklärt werden“.

8. Übung. Der Lehrer stellt den langen Zeiger auf 1, 11, 2, 10, 3, 9, 4,8,5, 7,6, und die Schüler sprechen: „5 Minuten nach, 5 Minuten vor u. s. w.“

9. Übung. Der Minutenzeiger wird auf eine beliebige Zahl gesetzt, und die Schüler müssen antworten: „So viele Minuten nach oder vor“.

10. Übung. Die sich darbietenden Schwierigkeiten mit dem kleinen und grossen Zeiger sind, jede für sich, überwunden; es gilt nun, die durch die Ver- bindung beider Zeiger entstehenden zu beseitigen. Nach Befestigung beider Zeiger auf dem Ziflerblatte sagt deshalb der Lehrer: „Ihr wisst, dass der kleine Zeiger die Stunden und der grosse die Minuten angiebt*. Er setzt den kleinen auf 1 und fragt: „Wie viel Uhr ist es?“ Dann fügt er hinzu: „Wenn es genau ] Uhr sein soll, muss nicht bloes der kleine Zeiger auf 1 stehen, sondern auch - der grosse auf 12. Jedesmal also, wenn der grosse auf 12 zeigt, beginnt eine nene Stande“. Darauf schiebt er den kleinen auf 2, lässt sich die Zahl der Stunden nennen und fragt: „Wo muss der grosse Zeiger stehen, wenn es ganz genau 2 Uhr ist?“ „Steht er auf 12% „Setze ihn auf 12!* „Wo steht der kleine Zeger um 3, 4 5, 6, 7. 8, 9, 10, 11, 12 Uhr?“ „Wo allemal der grosse?“ „Setze einmal den kleinen auf 4 Uhr‘ „Stelle den grossen richtig!“ Tüchtige

11. Übung. Der kleine Zeiger wird zuerst auf 12 gesetzt, dann etwas weiter geschoben. Der Lehrer fragt: „Steht der kleine Zeiger genau auf 127“ „Was kommt zuerst auf dem Zifferblatt, die 12 oder der kleine Zeiger Steht der kleine Zeiger nun „vor“ oder „nach“ 12 Uhr?“ Sollten die Begriffe „vor“ und „nach“ dem einen oder anderen Kinde am Zifferblatte fremd sein, so köunen dieselben ihnen auf folgende Weise ins Gedächtais zarückgerufen werden Der Lehrer stelit 12 Kaaben mit gewissem Abstande in Flankenstellung im Kreise zuf, giebt jedem eine Nummer von 1—12 und fragt jetzt, indem er vor Nummer 1 vom Mitielpunkte des Kreises aus die Hand hilt: „Zeige ich „vor“ oder „nach“ dem N N?- „Welche Nummer hat der N N?“ Zeige ich nun „vor“ oder „nach“ Nummer 1?“ Bei einem andern käli er die Hand hinter dessen Rücken und fragt: „We halte ich die Hand?“ Dies wird bei mehreren wiederbolt nad dabei die Frage umpefermi: „Wo zeige ich?” Alsdann wieder zum Zifferblatt ber- gebend. welches za diesem Zwecke erst borizental hiegelegt wird, stellt er die Frage: „Wo stebt der kleine Zeiger?“ Die Kinder werden hier auch bald Be- scheid wissen und sagen können, selbst wenn das Züßerblatt wieder an der Wand hängt, ob der kleine Zeiger „vor“ oder „mach“ «suer Zahl steht.

12 Übung Im Bechenunterrichte haben die Kinder gelernt, dass eine Stunde 60 Minuten hat, andermfalls wird es ibeen bier erklart. Um sie nun auf die schnellere Bewegung des Minuteazeigers hinzeweisen, stellt der Lebrer folgende Fragen: „Wie lange haben wir gestern gezeichnet?” „Eine Stunde ist

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schon eine lange Zeit, wir wollen jetzt einmal sehen, wie lange eine Minute dauert“. Er nimmt seine Uhr, unterrichtet ruhig weiter, damit die Zeit den Schülern möglichst kurz erscheint und sagt Anfang und Ende der Minute an. Auf seine Fragen: „Was dauert nun länger, eine Stunde oder eine Minute ?“ „Was geht schneller um?“ erfolgen ohne Zweifel die richtigen Antworten. Darauf stellt er zwei Knaben an der dem Katheder entgegengesetzten Wand auf und sagt zu ihnen: „Ihr sollt beide zu mir kommen; der N soll aber schneller bei mir sein als der O". Die Knaben führen den Befehl aus und der Lehrer fragt: „Warum war der N schneller bei mir als der O?“ Nach der Antwort: „Er ist schneller gegangen als der O“, sagt der Lehrer, dass auch der grössere Zeiger, da eine Minute ja viel schneller vorbei sei als eine Stunde, sich auch rascher fortbewegen müsse als der Stundenzeiger. Nachdem jetzt der kleine Zeiger ein wenig hinter 12 und der grosse auf 1 gesetzt worden ist, werden die Schüler angeleitet zu sagen: „Der kleine Zeiger steht nach 12, darum ist es nach 12 Uhr.“ Der grosse ist 5 Minuten gelaufen, deshalb ist es 5 Minuten nach 12 Uhr. Allgemach rücken unter gleichzeitigem Antworten der Schüler beide Zeiger bis auf 121/, Uhr vor. Die Kinder sagen: „Es ist 30 Minuten nach 12 Uhr“. Auf Übung 7 zurückgehend, deutet der Lehrer an, dass man auch 30 Minuten „vor“ sagen dürfe „,Vor‘ welcher Zahl steht denn der kleine Zeiger?“ „Wie viele Minuten ist es also vor 1 Uhr?“ So. werden die beiden Zeiger weiter geschoben, bis es 1 Uhr ist. Die Fragen: „Wo steht der kleine, wo der grosse Zeiger?“ treten bei jeder Stellung von neuem auf. Auch die übrigen Stunden müssen in derselben Weise und zwar von 5 zu 5 Minuten fort- schreitend behandelt werden.

13. Übung. Sind die zwölf Stunden nach ihren Minuten durchgearbeitet worden, dann stellt der Lehrer die Zeiger auf eine beliebige Zeit, und die Schüler bestimmen unter Zugrundelegung der zwei genannten Fragen Stunde und Minute. Sobald sie dies auf den ersten Blick können, kennen sie also, um in einem land- läufigen Ausdrucke zu reden, die Uhr. Dass die Fähigkeit dazu erst durch lange und sorgfältige Übung erreicht wird, versteht sich eigentlich ganz von selbst-

14. Übung. Der Lehrer giebt eine bestimmte Zeit an; die Schüler müssen

die Zeiger auf diese Zeit stellen. - 15. Übung. Bei unsern Schülern kann man schon zufrieden sein, wenn sie die Minuten von 5 zu 5 richtig zu bestimmen vermögen. Dennoch soll der Lehrer wenigstens versuchen, sie zur genauen Zeitangabe zu bringen. Dies lässt sich auch wohl in vielen Fällen erreichen, die diesbezügliche unterrichtliche Be- handlung ergiebt sich indes nach dem vorigen von selbst.

16. Übung. Auch die Zeitbenennungen: „Halb eins, ein Viertel vor 4, ein Viertel nach 6 u. a.“ fallen den Schülern nicht schwer, wenn sie nur die Teile einer Stunde kennen gelernt haben. Zur leichtern Orientierung kann der Lehrer durch den auf dem Zifferblatte von 12 nach 6 führenden Strich noch einen von 9 nach 3 ziehen und so die vier sichtbaren gleichen Teile des Kreises, die Viertel, klar veranschaulichen, wodurch das Verständnis dafür bedeutend er- leichtert wird.

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17. Übung. Der Lehrer ziebt öfters am Tage seine Uhr hervor und fordert von den Schülern die Zeitangabe. Zur Belebung und Ergänzung schliessen sich an diese Behandlung zweckmässig noch Unterredungen an über die Zeit, über Jahre, Monate, Wochen und Tage, über den Kalender und das Datum, über Morgen, Mittag, Nachmittag, Abend und Nacht, ferner darüber, welche Bedeutung diese Abschnitte des Tages im Leben der Natur und des einzelnen Menschen einnehmen, wie viel mal der kleine Zeiger im Laufe des Tages die Kreisbahn durchläuft und, falls die Berechnung nicht über das Ziel hinausschiesst, wie viel mal dies der grosse thut. Vielleicht wird auch die Sekunde, das Werk des Augenblicks, von dem nicht selten schon so sehr viel abhängt, zu ihrem ver- dienten Rechte kommen. Alle Belehrungen dieser Art verfolgen nur den einen Zweck, die Schüler von der Wahrheit des englischen Spruches zu überzeugen, dass Zeit „Geld“ ist. Je vielseitiger und interessanter darum obige Übungen sich gestalten, je mehr die Schüler angehalten werden, dem Lehrer oder den Eltern und Geschwistern die Tageszeit zu sagen, desto sicherer wird in ihnen das Bewusstsein geweckt, dass es doch wohl eine äusserst wichtige Bewandtnis. haben muss mit der richtigen Einteilung der Zeit. Und wenn dieses Bewusstsein für sie die Triebfeder zu einer guten Verwendung und vernünftigen Ausnutzung der ihnen vom Schöpfer verliehenen Lebenszeit ist, so hat die immerhin kleine Zeit, welche die Belehrung in dieser Beziehung in Anspruch genommen hat, für das zeitliche Wohl unserer Schmerzenskinder und durch sie für die gegenwärtige Zeit tausendfältige Frucht gezeitigt.

Erwiderung

auf den „Aufruf zur Gründung eines Verbandes der Hilfsschulen

Deutschlands“ und auf die Aufforderung des Herrn Alwin Schenk

in Breslau in der Dezembernummer der Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer.

Unmittelbar vor Weihnachten ging mir der in der Überschrift genannte Aufruf zu, der von Hannover aus an alle deutschen Hilfsschulen erlassen wurde, „sich zu einem Verbande zusammenzuschliessen und im nächsten Jahre einen Verbandstag abzuhalten“. Beigelegt war Nr. 46 der Hannoverschen Schul- zeitung, die einen Bericht über eine am 4. Nov. v. J. in Hannover stattgefundene Versammlung der Leiter und Lehrer an den Hilfsschulen zu Braunschweig, Bremen und Hannover enthielt, auf der nach einem Vortrage des Herrn Kielhorn über die Gründung eines solchen Verbandes der Erlass jenes Aufrufes beschlossen worden ist. Ich weiss nicht, ob es dem einen oder anderen Empfänger des Auf- rufes ergangen ist wie mir: ich bin davon aufs höchste überrascht worden. Wohl ist bei Gelegenheit der Konferenz für das Idiotenwesen in Berlin in einer kurzen Besprechung einiger Vertreter der sogenannten Hilfsschulen von Braunschweig, Altona (oder Bremen ?), Lübeck und Leipzig der engere Zusammenschluss des

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Hilfsschulen zur Verhandlung ihrer besonderen Angelegenheiten zur Sprache ge- kommen, aber doch meinem Vorschlage beigestimmt worden, einen solchen im Anschlusse an die Konferenz für das Idiotenwesen zu versuchen und uns nicht ohne weiteres von ihr zu trennen, da wir trotz mancher Unterschiede doch mit den Idiotenanstalten auf gleichem Boden stehen und viele gemeinsame Interessen haben. Und die Konferenz in Heidelberg hat bewiesen, dass dieser Anschluss nicht missglückt ist. Nicht nur hat der Vorstand der Konferenz die geplante Vorversamminng der Vertreter von Hilfsschulen in sein Programm aufgenommen, sondern es ist auch von der Versammlung dem Antrage, einen Vertreter der Hilfsschulen in den Vorstand zu wählen, stattgegeben worden. Damit wird zu- gleich die von Herrn Kielhorn als Grund für die Schaffung eines besonderen Verbandes aller deutschen Hilfsschulen ausgesprochene Behauptung hinfällig, er habe „einen Anschluss an unter ähnlichen Verhältnissen wirkende Männer... vergeblich unter den Idiotenerziehern gesucht“. Nach den Vorgängen in Heidel- berg hätte man nun doch die weitere Entwickelung des angebahnten Verhältnisses aufder Breslauer Septemberversammlung erst abwarten sollen, statt dessen aber erscheint wie ein Blitz aus heiterem Himmel jener Aufruf, der nichts anderes als eine völlige Trennung von der Konferenz für das Idiotenwesen be- deutet und bereits einen Verbandstag für dieses Jahr nach Herrn Kielhorns allerdings abgelehntem Vorschlage in Braunschweig in Aussicht genommen hat. Das wäre nach meiner Meinung erst dann an der Zeit gewesen, wenn die Vertreter der Hilfsschulen für ihre Angelegenheiten bei den Vertretern der Idiotenanstalten absolut kein Verständnis finden könnten; allein diesen Nachweis kann erst die Zukunft erbringen.

Und was will nun der in Aussicht genommene Verband der Hilfsschulen ? Herr Kielhorn weist ihm folgende Aufgaben zu:

1. Weitere Ausbreitung der Hilfsschulen.

2. Studium der Ursachen der Geistesschwäche der Kinder, um nach vor- beugenden Mitteln suchen zu können.

3. Statistische Aufnahmen.

4. Bestimmung des Erziehungsweges in den Hilfsschulen, Festsetzung des

Unterrichtsstoffes und der Methode.

5. Bereicherung der Erziehungswissenschaft im allgemeinen und ihrer Hilfs- wissenschaften, insonderheit der Psychologie.

6. Darbietung von Stoff für die medizinische Wissenschaft der Psychiatrie und Studium der von dieser zu Tage geförderten Resultate.

7. Sorge dafür, dass die geistig Schwachen in der Rechtswissenschaft ge- bührend berücksichtigt werden.

8. Herbeiführuug des rechten Verständnisses für die Geistesschwäche im

Militärwesen, Staats-, Gemeinde- und wirtschaftlichen Leben.

Wer. diese Sätze unbefangen überblickt, muss sich unzweifelhaft sagen, dass mit Ausnahme des ersten, für den ich freilich keinen recht wirksamen Angriffs- punkt anzugeben wüsste, und zum Teil des vierten alle (trotz der sehr idealis- tisch angehauchten Vorsätze in 5 und 6) die Idiotenanstalten ebensogut

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angehen, die doch alle auch Schulen für bildungsfähige Kinder haben. Ausser- dem sind ja meines Wissens, was Punkt 7 und 8 anbelangt, von seiten der Konferenz auf Anregung des Herrn Kielhorn bereits Schritte geschehen. Wozu da also eine so klipp und klare Absonderung von dieser Konterenz, wie sie die Versammlung vom 4. Nov. in Hannover augenscheinlich bezweckt? Ich dächte wir hätten in der Lehrerwelt schon Trennungen nach kleineren und kleinsten Interessengruppen genug, als dass wir sie in einer Sache noch vermehren sollten, die, wie das Idiotenwesen, nur durch einhelliges Zusammenstehen aller, die damit zu thun haben, auch nach aussen hin gewinnen kann. Deshalb kann ich das einseitige Vorgehen der in Hannover versammelt gewesenen Herren nur beklagen.

Dazu kommt dann noch die Aufforderung des Herrn Alwin Schenk in Breslau in der Dezembernummer der Zeitschrift für die Behandlung Schwach- sinniger etc., dass sich die Lehrer von Hilfsschulen darüber erklären möchten, ob sie ihre Versammlung mit der zu Pfingsten in Breslau tagenden Allgemeinen deutschen Lehrerversammlung oder mit der ebenda im September statt- findenden Konferenz für das Idiotenwesen abhalten wollten. Zwar bemerkt er: „Als Lehrer Breslaus will ich weder für die eine noch für die andere Ver- sammlung in besonderer Weise eintreten, sondern nur den Wunsch aussprechen, die Vertreter der Hilfsschulen möchten sich für eine Versammlung bestimmt erklären und diese einmütig besuchen“, aber der Zusatz: „Nach der Stimmung der Lehrer an Hilfsschulen dürfte wohl die deutsche Lehrerversammlung in erster Linie in Frage kommen“, läuft auf nichts anderes als eine neue Abschwenkung von der Konferenz für das Idiotenwesen hinaus. Auch dieser Kundgebung gegen- über meine ich, alle und nicht bloss die in Heidelberg anwesend gewesenen Vertreter yon Hilfsschulen (wenn auch diese in erster Linie) sollten nach den dortigen Vorgängen die moralische Verpflichtung haben, gegen jede augen- blickliche Absonderung von der Konferenz für das Idiotenwesen einzutreten und sich einmütig für den Besuch der Septemberkonferenz in Breslau zu erklären.

Die Sache hat aber noch eine andere Seite. In Heidelberg haben auch die Vertreter der Hilfsschulen mit für Breslau als nächsten Versammlungsort der Konterenz gestimmt. Infolgedessen hat Herr Kreisschulinspektor Weichert in Leschnitz, der die Einladung nach Breslau überbrachte und dem damit auch die Vorbereitung der Konferenz zufiel, auf eine ähnliche Beteiligung der Hilfs- schulen wie in Heidelberg rechnen müssen. In diesem Sinne sind die ersten einleitenden Schritte, soviel ich erfahren habe, bereits geschehen, die Breslauer Behörden sind in wohlwollender Weise entgegengekommen, Magistrat, Provinzial- verwaltung, königliche Regierung und Universität haben Vertreter in das Lokal- komitee benannt, und alles ist im besten Gange, die Konterenz zu einer wohl- gelungenen zu machen. Wollten nun plötzlich die Hilfsschulen dem Kielhorn- schen oder Schenkschen Lockrufe folgen, so würde die Versammlung zu klein sein, um den angedeuteten Vorkehrungen zu entsprechen. Gehörten doch in Heidelberg (nach Abzug der 12 Besucher aus der Stadt selbst) von 56 fremden Teilnehmern 22 den Hilfsschulen an; was soll es solchen offenkundigen Thatsachen gegenüber besagen, wenn Herr Kielhorn „nachdrücklichst betont“, dass er bei

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seinen Vorschlägen eines eigenen Verbaudes und Verbandstages der Hilfsschulen „nicht im entferntesten daran denke, der Konferenz für das Idiotenwesen irgend- wie Abbruch zu thun?“ Denn es liegt doch auf der Hand, dass die allerwenig- sten Vertreter von Hilfsschulen in der Lage sind oder auch nur die Neigung haben, in demselben Jahre zwei Versammlungen ähnlicher Art zu besuchen, und damit wäre unstreitig der „Abbruch“ für die Konferenz besiegelt. Nun denke man sich in die Lage des Mannes, der die Vorbereitungen für eine grössere Versammlung nach allen Seiten hin in Gang gebracht hat und nun plötzlich vor so unsichere Verhältnisse sich gestellt sieht !

Nach dem allen möchte ich den am 4. November in Hannover versammelt gewesenen Herren es angelegentlichst ans Herz legen, mit Rücksicht auf dasin Heidelberg erzielte Einvernehmen von der weiteren Verfolgung ihres Planes wenigstens bis nach der Septemberkonferenz in Breslau und den da etwa weiterzufassenden gemeinsamen Beschlüssen abzusehen; allen Leitern und Lehrern an deutschen Hilfsschulen aber kann ich nur die dringende Bitte wiederholen: bis auf weiteres den Anschluss an die Konferenz für dasldiotenwesen, sowieden Besuch der Septemberkonferenz in Breslau einmütig festzuhalten. Wohl ist auf früheren Konferenzen manches unlieb- same Wort über die Hilfsschulen, ja selbst über ihre Berechtigung gefallen; was müsste es aber nach aussen hin für einen Eindruck machen, wenn man das Band, das erst in Heidelberg zwischen den Vertretern der Idiotenanstalten und der Hilfsschulen geknüpft worden ist, ohne erst seine Haltbarkeit erprobt zu haben, also ohne jeden ersichtlichen Grund leichtfertig lösen wollte ganz abgesehen von der eigentümlichen Rolle, die man mir, als den (leider!) ge- wählten Vertreter der Hilfsschulen im Vorstande der Konferenz, zu spielen zu- mutete! Man hätte nach den Vereinbarungen in Heidelberg geradezu ein Recht, uns der Hintergehung zu zeihen. Ich für meine Person mag mich daran nicht beteiligen, und was ich in der Antwort auf den Aufruf Herrn Hauptlehrer Grote in Hannover geschrieben habe, wiederhole ich an dieser Stelle: ich und mein aus 14 Lehrern bestehendes Kollegium der Leipziger Schwachsinnigenschule werden nach der dargelegten Lage der Verhältnisse weder für den beabsichtigten Verband, noch für den geplanten Verbandstag unter keinen Umständen zu haben sein, es sei denn, dass sich herausstellte, dass die Hilfsschulen ihre Rechnung in der Konferenz für das Idiotenwesen schlechterdings nicht finden könnten. Dagegen bin ich gern erbötig, alle mir etwa kundgegebenen Wünsche im Vorstande der Konferenz soweit als nur immer möglich zu ver- treten, und bei dem uns zuteil gewordenen Entgegenkommen dürfen wir wohl auch auf weitere Berücksichtigung unserer eigenen Angelegenheiten rechnen.

Leipzig, im Januar 1898.

Karl Richter, Direktor der III, Bürger- und der Schwachsinnigenschule. (Johannisplatz 6/7.)

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Direktor Rall in Mariaberg Y.

Am 3. Januar d. J. versammelten sich in der wéirttembergischen Heilanstalt Mariaberg, von deren 50jährigem Jubiläum wir in der letzten Nummer dieser Zeitschrift berichteten, schon wieder eine nicht geringe Zahl von Freunden und Gästen aus nah und fern. Allein diesmal prangte die Anstalt nicht im bunten Festgewande, auch die Besucher zeigten keine heitere Feststimmung: dumpfes Schweigen herrschte anf dem sonst so belebten Anstaltshofe und in den verschiedenen Räumen, und sowohl die Insassen als auch die kommenden Gäste verrieten durch Kleidung und Mienen, dass es heute galt, einem lieben Toten die letzte Ehre zu erweisen.

Am Neujahrsfeste ist der Leiter der Anstalt, Direktor Rall, im Alter von nicht ganz 71 Jahren einem langen und hartnäckigen Leberleiden erlegen. Lange hegten seine Angehörigen und er die Hoffnung, die heimtückische Krankheit würde sich vielleicht doch noch zum Bessern wenden, allein alle Bemühungen der Ärzte waren umsonst, und dem raschen Verfall der Kräfte konnte nicht mehr Einhalt gethan werden. Am 3. Januar nachmittags 2 Uhr wurde der Entschlafene auf dem Gottes- acker der Anstalt zur letzten Ruhe gebettet. Nicht nur die tieftrauernden Hinter- biebenen die Gattin des Verstorbenen, die 4 Kinder und die nächsten Verwandten umd sämtliche Bewohner, sondern auch eine stattliche Schar teilnehmender und trauernder Freunde aus der ganzen Umgegend hatten sich um die Gruft versammelt, ean Beweis, wie der Entschlafene allgemein beliebt und geehrt war. Der Geistliche des Nachbarortes schilderte im Anschluss an das Schriftwort Jerem. 29,11 die trefi- lichen Bıgsaschaften des Dahingeschiedenen. In kurzen und schlichten, aber zum Herzen dringenden Worten führte er aus, wie derselbe sein ganzes Wirken und Leben 47 Jahre lang in den Dienst der barmherzigen Liebe stellte und es als seine bichste Aufgabe betrachtete. den Armsten unter den Armen ein würdiges Dasein zu schaffen, wie er aber aach in seiner eigenen Familie jederzeit das Vorbild eines treuen, legte unter Dankesbezeugungen als Mitarbeiter ım Namen der Angestellten und der Kinder, ein Mitehed des Ausschusses ebenfalls mit Worten des Dankes im Auftrag des Vorstandes und Verwaltungsrates der Anstalt einen Kraz am Sarge nieder. Nachdem noch der Tochtermann, Direktor Schwenk von Idstein, dem Dakin- geschiedenen al: eifrig thitiges Mitglied des Vereims zar Versorgung schwachsinniger Wort und dankte dem lieben Entachiafenen fir alle Anhingiichkeit. Liebe und Troue, die er dem Seimigea erwiesen, und whnechkie Geties reiche Vergeitang. Mit einem erkebenden Grabgeszag der Anstaltsrigimge schloss die Feier.

Geboren am 13. März 1827 zu Enineen OA. Restimgen und aufgewachsen schiaf-ne dem Lehrerberafe Sein: erste Anstellung erfvigte mm Jahre 1845 zu TIkneen; später kam er nach Waldenbuch. Schou damals richtete er som Augenmerk besmders auf če schwächsten seiner Schäler und erteilte auch einzeinen derselben privaten Unterricht. Dadurch wurde der dertige Arıt Dr. Zimmer auf ihn aufmerksam, und als desm später die Lesung der Anstalt Mariaberg übertragen wurde, berief er Rall am 23. Sept 1850 als ersten Lehrer zu sich. Nit grossem Eifer und tronar

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Gewissenhaftigkeit arbeitete sich derselbe nicht nur in die neuen Schulverhältnisse, sondern auch in die übrigen Gebiete der Anstaltsthätigkeit ein, so dass ihm schon im Jahre 1859 die Kasse und Anstaltsrechnung übertragen uni er zum Oberlehrer befördert werden konnte. Zehn Jahre später (Juli 1869) erwählte ihn der Vorstand zum Direktor; der Anstalt, ein Beweis, wie sehr seine Thätigkeit anerkannt und geschätzt wurde. Als Direktor setzte er seine ganze Kraft für die weitere Ausdehnung und Entwicklung der Anstalt eifrig en. 1875 wurde auf seine Veranlassung die Staatsdomäne Mariaberg in den landwirtschaftlichen Betrieb der Anstalt übernommen, um den älteren, in den Unterricht nicht mehr passenden Zöglingen Gelegenheit zu geben, sich durch Arbeiten im Felde nützlich zu machen. Ferner folgten im Jahre 1875 die Errichtungen einer abgesonderten Bewahranstalt für Nichtbildungs- fahige und 1890 der Bau eines eigenen Knabenhauses. So konnte Direktor Rall bei der im September v. J. abgehaltenen 50 jährigen Jubelfeior der Anstalt auf eine lange und fruchtbare Thätigkeit zurückblicken, die auch vom König durch eine be- sondere Auszeichnung anerkannt wurde. Die Festfreude wurde ihm freilich getrübt durch seine damals schon weit entwickelte Krankheit. Die Anstalt hat an ihm einen tüchtigen, umsichtigen Leiter und die Zöglinge einen fürsorglichen und liebevollen Vater, der für ihre Klagen und Leiden jederzeit ein offenes Ohr und ein fühlendes Herz hatte, verloren.

Aber auch seine Bedeutung fir die Entwicklung des Idiotenwesens überhaupt ist keine geringe, wenngleich seine Bescheidenheit ihm nicht zuliess, Öffentlich be- e sonders hervorzutreten. Schon der Umstand, dass er unter den gegenwärtigen Leitern von Anstalten die höchste Zahl von Dienstjabren aufzuweisen hatte, wies ihm unter diesen eine besondere Stellung als Senior an, und wenn man weiter bedenkt, dass Rail, als er in Mariaberg anfing, zu unterrichten, sich nicht auf die Erfahrungen von Vorgängern stützen konnte und fast nur auf sich selbst und sein eigenes Lehr- geschick angewiesen war, so wird ınan seine Thätigkeit erst recht zu schätzen wissen. Er suchte freilich nicht durch propagandamachende Artikel und anderweitige litterarische öffentliche Thätigkeiten auf weitere Kreise zu wirken, wer aber die älteren Mariaberger Jahresberichte zur Hand nimmt, der wird hier eine Menge wertvoller Mitteilungen über den Unterricht an Schwachsinnigen finden. Ganz besonders aber darf das nicht vergessen werden, dass Manner wie Sengelmann, Barthold u.a. von ihm lernten und seine Erfahrungen zu Rate zogen. Vieles, was wir heute in den meisten Idioten- Anstalten finden namentlich Anschauungsmittel muss in seinem Ursprung auf Mariaberg zurückgeführt werden; so sei beispielsweise nur an die bekannten Farben- und Formenbretter erinnert, die in unsern Vorschulen jetzt fast unentbehrliche Hilfs- mittel sind. Auch an den Konferenzen nahm Rall jederzeit eifrigen und lebhaften Anteil, und noch auf der letzten in Heidelberg bewies der fast Siebzigjährige einen verhältnismässig hohen Grad geistiger Ristigkeit. Wir haben darum allen Grund, in dem Verstorbenen einen Vorgänger und Bahnbrecher auf dem Gebiet der Idioten- erziehung zu ehren und ihm auch noch über das Grab hinaus unsere Dankbarkeit zu beweisen.

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Mitteilungen.

Hannover. (Verband der Hilfsschulen.) Am 4. Novbr. v. J. warde die Hilfs- schule zu Hannover in Erwiderung eines Besuchs im vorigen Jahre vom Schuldirektor Scharschmidt und dem Leiter und Lehrerkollegium der Hilfsschule zu Braunschweig, sowie auf Einladung von seiten des hannoverschen Lehrerskollegs von dem Leiter und Kollegium der Bremer und dem Leiter der in Bremerhaven neuzuerrichtenden Hilfsschule ein Besuch ahgestattet. Der Vormittag von 8— 1 Uhr wurde mit Besichtigung der Ein- richtungen der bannoverschen Hilfsschule, der Handarbeiten der Schüler und Schülerinnen derselben und mit Hospitieren in den einzelnen Klassen und Unterrichteräumen aus- gefüllt. Nach einem kurzen gemeinsamen Spaziergange durch die aehenswertesten Teile der Stadt fand von 5—8 Uhr im Restaurant ,,Viktoria“ ein Konferenz statt, an der ausser den 3 J,ehrerkollegien auch die oberste Leitung des Volksschulwesens in Hannover und Braunschweig, Stadtschulrat Dr. Wehrhahn und Schuldirektor Scharschmidt, teilnahmen. Unter dem Vorsitze des Schulrats Wehrhahn referierte Hauptlebrer Kielhorn-Braunschweig fiber die Grindung eines Verbandes der deutschen Hilfsschulen. Als Aufgaben dieses Verbandes bezeichnet Referent:

1. Weitere Ausbreitung der Hilfsschulen. -- 2. Studiam der Ursachen der Geistesschwäche der Kinder, um nach vorbeugenden Mitteln suchen zu können. 8. Statistische Aufnahmen. 4. Bestimmung des Erziehungsweges in den Hilfs- schulen, Festsetzung des Unierrichtsstoffes nnd der Methode. 5. Bereicherung der Erziehungswissenschaft im allgemeinem und ihrer Hilfswissenschaften, insonderheit der Psychologie. 6. Darbietung von Stoff für die medizinische Wissenschaft der Psychiatrie und Studium der von dieser zu Tage geförderten Resultate. 7. Sorge dafür, dass die geistig Schwachen in der Rechtswissenschaft gebührend berücksichtigt werden. 8. Herbeiführung des rechten Verständnisses für die Geistesschwäche im Militärwesen, Staats-, Gemeinde- und wirtschaftlichem Leben. In der Debatte über die von Kielhorn gegebene Anregung machte Wintermann-Bremen darauf auf- merksam, dass im Herbst nächsten Jahres in Breslau die IX. Konferenz für das ldiotenwesen stattfinde und bat, dafür Sorge zu tragen, dass mit dieser Versammlung die der Lehrer an Hilfsschulen nicht kollidiere. Hierauf beschloss die Ver- sammlung, die sämtlichen dentschen Hilfsschulen aufzufordern, sich zu einem Verbande der Hilfsschulen Deutschlands zusammenzuschliessen und im nächsten Jahre einen Verbandstag abzuhalten. Mit den Vorarbeiten zu dem Verbandstage werden die Hauptlehrer Groll und Kielhorn und die Lehrer Basedow nnd Plumeyer betraut.

Zürich. (Anstalt für Epileptische). Das Anstaltsjahr 1896 kennzeichnet sich für uns durch Ruhe und stillen Fortgang nach aussen wir hatten im Ver- gleich zum Vorjahre weniger Vergrösserungen, weder durch Gütererwerbungen, noch durch Bauten und nach innen durch zwar stille, aber doch bedeutend vermehrte Arbeit: 90 Anmeldungen; 85 Eintritte; 40 Austritte; durchschnittlich täglich an- wesend 152 Pfleglinge, die höchste bis jetzt erreichte Zahl bei allerdings fortwähren- der Überfüllung; 86 Angestellte und dazu den ganzen Betrieb unseres Landes mit 32 Jucharten in Landwirtschaft und Gärtnerei. Es galt unsere bescheidenen Kräfte gehörig zusammenzubalten. Der Gesundheitszustand war im ganzen ein recht be- friedigender. Wir hatten uach 18 Monaten nur einen Todesfall.

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Gemünden a. M. (Schwachsinnigen-Bildungs-Anstalt St. Josefs- haus) Die Anstalt zählte am 1. Juli v.J, 112 7öglinge, 78 Knaben und 34 Mädchen, Die Altersgrenze nach unten ist das 7., nach oben das 54. Lebensjahr. Sämtliche Zöglinge gliedern sich in drei Hauptklassen: die Unterrichts-, die Beschäftigungs- und die Pflegeabteilung. Der Unterrichtsabteilung gehören 54 Kinder an, 40 Knaben und 14 Mädchen. Der Unterricht findet in 8 Klassen statt, so dass eine Klasse durchschnittlich von 18 Schülern begucht wird.

: Kraschnitz. (Selbstmord.) Ein epileptisch Kranker der Heilanstalt Kraschnitz, Kreis Militsch, der sich einen Gelddiebstahl hatte zu Schulden kommen lassen, warf sich am 18. d. Mts. auf def Strecke Oels-Gnesen vor einen Zug und wurde zu einer unförmlichen Masge zermalmt. Kleider, Stiefel etc. fand man zerstreut auf den Schienen. In einem hinterlassenen Briefe giebt der Unglückliche an, er sei vom Teufel zu der That gedrängt worden. (©Oberschl. Anz.)

Litteratur.

Wille und Willensstörungen, eine psychologische Studie von Dr. Joh. Jaeger. Langensalza. Beyer & Söhne. 1897. Preis 0,40.

Der Verfasser bringt zunächt eine kurze Übersicht der Geschichte der Willens- theorien (Sokrates- WWndt), giebt dann seine Ansichten über den Willen kund und spricht zuletzt: von dén mannigfachen Willensstörungen in sehr eingehender und interessanter Weise und yon dem grossen Nutzen einer richtig geleiteten Willens- | entwicklung für die Gesamterzichung und Charakterbildung eines Individuums. Die Arbeit,:. streng wissenschaftlich gehalten, ist in jeder Hinsicht anregend und dürfte hauptsächlich Pädagogen, die es mit der Erziehung abnormer Kinder zu thun haben und ihr Augenmerk vor allem auf eine gesunde Willensbildung richten müssen, besonders zu empfehlen sein.

_

ge. oy Berichtigung. Direktor Horny-Scheuern erhielt den Boten Adlerorden IV. Klasse, nicht aber den

Briefkasten.

Fr. Fr. i. L. Für die Zeitung besten Dank! Die Angelegenheit interessiert uns in mehrfacher Beziehung; für die Zeitschrift kam die Notiz zn spät, vielleicht aber kommen wir in Nr. 2 darauf zurück. R.1.B. Die „Nowack'schen Wandtafeln zur Übung und. Wieder- holung im Schreiblesen“ sind bei Ferdinand Hirt & Sohn in Breslau erschienen und werden von uns gern und mit Erfolg benutzt. Machen Sie doch einen Versuch mit denselben.

ö— ee oe

Inhalt: ,,Die Kinder können zu viel“ (Ziegler). Wie vermittelt die Hilfsschule ihren Schülern die Fertigkeit, von der Uhr die Zeit abzulesen? (H. Horris.) Erwiderung (K. Richter). Direktor Rall in Mariaberg +. Mitteilungen: Hannover, Zürich, Gemünden a. M., Kraschnitz.. Litteratur. Berichtigung. Briefkasten.

Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. In Kommission von Warnatz & Lehmann, Kgl. Hofbuchhindler in Dresden. Druck von Johannes Passler in Dresden.

Nr. 2. XIV. (VI) Jahrg.

Zeitschrift Br

für die

Behandlung: Schwachsinniger und Epieptischet =

Organ der Konferenz ıferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

herausgegeben von

W. Schröter, Dr. med. H. A. Wildermuth, Direktor der Erziehungsanstalt Spezialarzt für geistig Zurückgebliebene in für Nervenkrankheiten Dresden -N. in Stuttgart. Erscheint jährlich in 8 Nummern von | Zu beziehen durch alle Buchhandlungen mindestens einem Bogen. Anzeigen für 1898 und Postämter, wie auch direkt von den die gespaltene Petitzeile 25 Pfg. Litte- rz . Herausgebern. Preis pro Jahr 4 Mark,

rarische Beilagen 6 Mark. einzelne Nummer 50 Pfg.

IX. Konferenz über das Idiotenwesen. September 1898.

Auf nach Breslau! So heisst in diesem Jahre die Parole aller wohl- gesinnten Vertreter, Gönner und Freunde der Idioten- oder Schwachsinnigen- Erziehungssache. Zwar war es noch nicht möglich, das Programm für diese Konferenz zu veröffentlichen, aber die erforderlichen Vorbereitungen sind im besten Gange, und darf ich wohl Einiges hierüber verraten.

Das Lokal-Komitee hat sich bereits gebildet. Es besteht aus den Herren:

1. Graf v. d. Recke-Volmerstein, Königl. Kammerherr und Verwaltungs- Präses der Blödenanstalt in Craschnitz. Medizinalrat Professor Dr. Wernicke, Direktor der Universitäts-Irrenklinik. Landesrat Noack, Vertreter der Provinzial- Verwaltung. Stadtrat Martius, Vertreter.des Magistrats. Stadtschulrat Dr. Pfundtner. . und 7. Die Stadtschulinspektoren Dr. Handloss und Dr. Wetzel. . und 9. Die Lehrer an Hilfsschulen Schenk und Fuhrmann. 10. Seminardirektor Schulrat Zyron, Vertreter der Idioten - Anstalt. 11. Taubstummen-Anstalts-Direktor Bergmann, sämtlich aus Breslau. 12. Dr. med. Buttenberg, Direktor der Prov.-Heil- und Pflege- Anstalt in Freiburg. 13. Glamann, Direktor des Wilhelm- und Augusta-Stifts in Liegnitz. 14. Der Unterzeichnete als Vertreter der Anstalt in Leschnitz, Vorsitzender des Gesamtkomitees.

Der Ortsausschuss setzt sich zusammen aus Herrn Landesrat Noack, Vorsitzender und den unter 4, 6, 7, 8 und 9 genannten Herren,

CO oT gO PO

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Dieser Ausschuss giebt die sicherste Gewähr, dass neben der ernsten Arbeit auch der Erholung und Erfrischung genügend Rechnung getragen werden wird. Breslau als Haupt- und Residenzstadt bietet ausser dem Sehenswerten jeder Grossstadt (Museen, Zoologischer Garten, Denkmäler n. s. w.) recht viele nach allen Regeln der Hygiene eingerichtete und zur Besichtigung einladende Anstalten, historische und altertümliche Gebäude, Kirchen u. s. w. Die sorgfältig gepflegten Promenaden, die freien Spiel- und Tummelplätze, die belaubten Höhen (Liebig- und Holtei-Höhe), die belebten Flüsse wiederum nehmen der Stadt das Gepräge der Grossstadt und machen jedem Fremden den Aufenthalt angenehm, zumal die weltbekannte schlesische Gemütlichkeit und Gastfreundschaft in den Breslauer Bürgern den echten Typus findet.

Das schlesische Gebirge in seiner eigentümlichen Formation ist alljährlich das Ziel Tausender, und wird gewiss jeder Besucher der Konferenz diese Gelegenheit zu einer Gebirgsreise nicht vorübergehen lassen. Der Gebirgsverein will in bereitwilligster Weise helfen und unterstützen. Anfragen dieserhalb sind an Herrn Stadtschulinspektor Dr. Handloss zu richten. Wer eine bestimmte Tour vorgeschrieben haben will, muss die Zeit, welche ihm zur Verfügung steht, und den Weg, woher er das Gebirge erreicht, genau angeben. Wenn es möglich wird, soll auch die Vermittelung zu Reisegesellschaften versucht werden, so dass die Kollegen bereits auf gemütlicher Tour mit einander beraten und plaudern können.

Zu den Sitzungen ist das prächtige Ständehaus zur Verfügung gestellt, wo jüngst der russische Kaiser residierte; zu den gemütlichen Zusammenkünften sind die besten Lokale gewählt. Die Hotels liegen in der Nähe des Bahnhofs, überhaupt ist darauf Rücksicht genommen, dass alles ohne grossen Zeitverlust erreichbar ist. Eine Dampferfahrt nach dem zoologischen Garten, eine Fahrt mit Extrazug nach Craschnitz u. 8. w. u. 8. w. sollen die Konferenz schliessen. Das Nähere bringen die Programme. Somit dürfte alles gethan sein, um diese IX. Konferenz allen vorangegangenen würdig an die Seite setzen zu können.

Doch was nutzen alle Vorbereitungen, wenn die Konferenz nicht zahlreich besucht wird. Daher rufe auch ich allen, besonders den Kollegen an Hilfsschulen zu: Nicht Trennen, sondern Sammeln muss das Leitmotiv aller derjenigen sein, welche an dem Wohle der Unglücklichsten unter den Armen, an der Besserung der Bedauernswerten der menschlichen Gesellschaft arbeiten. Dazu gehören aber nicht bloss die Vorsteher, Ärzte und Lehrer der Idioten- oder Blöden - Anstalten, sondern auch die Vorsteher und Lehrer der Hilfsschulen. Das Bildungsobjekt ist im grossen und ganzen dasselbe. Es mag ja richtig sein, dass die Hilfsschulen aus den Volksschulen gebildet sind und die Lehrer der ersteren zu ihren Kollegen sich mehr hingezogen fühlen, aber unsere Kon- ferenzen dienen der Sache, und in Rücksicht hierauf ist es unbestreitbar: die Hilfsschulen haben nur mit den Idioten-Anstalten die meisten Berührungspunkte. Wir können und müssen gegenseitig von einander lernen. Ein Rückblick auf die Verhandlungen früherer Konferenzen beweist die Möglich- keit gemeinsamer Arbeit man nehme den Vorträgen den Schluss „in Idioten-

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Anstalten“ und setze „bei schwachsinnigen oder schwachbefähigten Kindern“, so passen sie für beide Beteiligten nicht bloss im Inhalt, sondern auch in den Über- schriften, die Beschlüsse der Heidelberger Konferenz bekunden die Be- reitwilligkeit dauernder Zusammengehörigkeit. Halten wir doch an diesem erst vor so kurzer Zeit geschaffenen Übereinkommen fest; es wird sicherlich allen zum Vorteil gereichen.

Der etwa hervortretende Unterschied zwischen Idioten-Anstalten und Hilfs- schulen wäre lediglich die Eigentümlichkeit der Anstalts- Erziehung. Aber es besteht die Absicht, bei der nächsten Konferenz solche Stoffe, welche aus- schliesslich die Idioten- Anstalten, bezw. die Hilfsschulen betreffen, gesondert zu behandeln derart, dass die Beteiligten getrennt tagen. Das Komitee hat bei der Wahl der Versammlungs-Lokale bereits Vorsorge dieserhalb getroffen.

Wie wohlthuend berührte mich die Mahnung des Herrn Schuldirektor Richter zu Leipzig in Nr. 1 dieser Zeitschrift: Teilen wir uns doch nicht nach kleinen und kleinlichen Interessen, sondern beherzigen wir alle das Wort Schiller’s

Im Ganzen, da sitzt die Macht! Daher rufe ich nochmals allen Vorstehern, Ärzten und Lehrern von Idioten- etc. Anstalten und Hilfsschulen herzlich einladend zu: Auf nach Breslau im September d. J. Es fehle kein Mann!

Weichert, Kreisschulinspektor und Anstaltsleiter Leschnitz O/S.

Vorläufige Anzeige.

Die IX. Konferenz für Idiotenpflege in Verbindung mit Vertretern von ,,Hilfsschulen® soll in der ersten Hälfte des September d. J. stattfinden.

Für diese Konferenz sind bis jetzt folgende Themata angemeldet:

1. Wie können wir die sprachlosen schwachsinnigen Kinder zum Sprechen bringen? Piper- Dalldorf.

2. Wie weit wir es gebracht haben, was uns noch fehlt. Frenzel- Leschnitz.

3. Idiotenanstalten und die Schulen für schwachbefähigte Kinder, eine Grenz- regulierung. Bartbold-M.-Gladbach.

4. Uber Tic bei Schwachsinnigen und deren Behandlung durch gymnastische Übungen. Dr. Heller- Wien.

5. Die Folgen der Bestimmungen vom 20. September 1895 für unsere An- stalten. Sch wenk- Idstein.

6. Das Erwachen der Psyche. Kölle-Regensburg (Schweiz).

7. Die Begriffsbestimmung bei Schwachbefähigten und bei Schwachsinnigen. Herberich-Gemiinden a. M.

8. Die Fürsorge für die Geistesschwachen in der Provinz Schlesien. Schenk- Breslau.

9. Das Verhältnis der „Hilfsschule“ zur Volksschule. F u brm ann- Breslau.

10. Die Organisation des Idiotenunterrichts. Barthold-M.-Gladbach.

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Die Feststellung des Programms wird voraussichtlich im Monat April bei der Zusammenkunft des Konferenz-Vorstandes stattfinden, und wird dasselbe als- dann veröffentlicht werden.

Bemerkt sei schon jetzt, dass bei dieser Feststellung auf die Hilfsschulen gebührend Rücksicht genommen werden wird.

In Breslau wird der Konferenz ein grosses und allgemeines Interesse von seiten der Behörden wie der Bevölkerung entgegengebracht. Es ist darum sehr zu wünschen, dass von den Vertretern der Idiotenanstalten wie der Hilfsschulen eine zahlreiche Beteiligung stattfinde. „Unitis viribus“ soll unsere Losung sein.

Hephata, M.-Gladbach. C. Barthold.

. Die pädagogische Behandlung der Dementia praecox. Von Dr. Theodor Heller, Anstaltsleiter in Wien.

Die Prognose der primären chronischen Demenz (Dementia praecox) wird von den meisten Autoren als durchaus ungünstig bezeichnet. Gewöhnlich entwickelt sich bald unter stürmischen Erscheinungen, bald äusserlich ruhig ein Zustand beträchtlichen Schwachsinns, der in krassem Gegensatz zu der früheren Leistungsfähigkeit der Patienten steht. Nur Krafft-Ebing beobachtete in einem Falle entschiedene Besserung, in einem anderen Genesung.

Auf die praktische Bedeutung der Dem. praec. hat namentlich A. Pick hingewiesen.*) Die ersten Symptome dieser Krankheit werden von Laien häufig übersehen oder im Sinne schlechter Charaktereigenschaften gedeutet. So kommt es vor, dass Schüler, die sich im Anfangsstadium der chronischen Verblödung befinden, von ihren Lehrern bestraft oder fortgesetzt zurechtgewiesen werden, bis sich bei ersteren ein Gemütszustand ausbildet, der die rasche Weiterent- wickelung der Krankheit ausserordentlich begünstigt. Schon aus diesem Grunde wäre die Kenntnis dieser Psychose in pädagogischen Kreisen wünschenswert. Weiterhin legt die Thatsache, dass sich die Patienten gewöhnlich in einem Alter befinden, in welchem auch unter normalen Verhältnissen pädagogische Ein- wirkungen von höchster Bedeutung sind, den Gedanken nahe, eine heilpädagogische Behandlung der Dem. praec. zu versuchen, zumal ärztliche Einwirkungen in der Regel wirkungslos bleiben. Selbstverständlich ist diese Behandlung nur inner- halb einer Anstalt möglich, in der ausreichender Platz und genügendes Personal zur Verfügung stehen, um sich mit dem Patienten individualisierend zu beschäftigen.

Der von mir behandelte Fall bietet das typische Bild der Dem. praec.; aus dem bereits erwähnten Grunde glaube ich jedoch über den Beginn der Er- krankung etwas ausführlicher berichten zu sollen.

Es handelt sich um einen 1l5jährigen Knaben, der mit befriedigendem Erfolge das Untergymnasium absolviert hatte. In den Sommerferien 1896 zeigte er ein verändertes Betragen. Der bis dahin willige und lenksame Junge wurde

*) Uber die Litteratur siehe Dr. Walter Wille, Die Psychosen des Pabertatsalters, Wien u. Leipzig, Deuticke 1898,

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störrisch und rechthaberisch, sprach auffallend viel und bediente sich hierbei hochklingender Phrasen und unnötiger Fremdwörter. Da er seine jüngere Schwester nahezu unablässig tyrannisierte, wurde der Knabe in eine andere Stadt zu Verwandten gebracht, bei welchen er eine ziemlich strenge Behandlung erfuhr. Im Gymnasium war er der Gegenständ des Spottes seiner Mitschüler; die Auf- gaben brachte er nie fertig, obzwar er bis in die späte Nacht arbeitete. Ins- besondere die deutschen Aufsätze zeigten jene charakteristische Form, die nach Kraepelin allein schon zur Erkennung der Dem. praec. hinreicht: bizarre Buchstaben, Wechsel der Schriftart, willkürliche Auslassungen und Kürzungen, sinnlose Aneinanderreihung gleichbedeutender Ausdiücke, vor allem aber einen Überfluss an Interpunktionszeichen. Trotz dieser auffallenden Erscheinungen und der immer grösseren Vergesslichkeit (Patient erschien wiederholt ohne Schul- bücher und selbst ohne Kopfbedeckung), besuchte der Knabe durch sechs Monate die Schule, bis er schliesslich derart störend wurde, dass er aus dem Gymnasium entfernt werden musste. Ins Elternhaus zurückgekehrt, gab er sich rücksichts- los masturbatorischen Exzessen hin, war in Handlungen und Ausdrücken roh gegen seine Umgebung, zeigte jedoch gegen Fremde ein auffallend scheues Betragen. Eine Kaltwasserkur erwies sich als wirkungslos; im September 1897 wurde er in die von mir geleitete Anstalt gebracht.

Anamnestisch wurde folgendes ermittelt:

Mütterlicherseits schwer belastet. Eine Schwester der Mutter endete durch Suicidium, eine andere ist bysterisch. Pat. im 8. Schwangerschaftsmonat als Zwillingskind geboren; der Zwillingsbruder kam tot zur Welt. Im 1. Lebens- jahre wiederholt eklamptische Anfälle; Erlernung des Gehens und Sprechens verspätet. Späterhin körperlich erholt, erkrankte im 10. Lebensjahr an Masern ohne Folgeerscheinungen. Schwach begabt, jedoch fleissig und ehrgeizig. Nach Angabe der Mutter im Gymnasium „überarbeitet‘‘, zumal er noch privatim Musikunterricht erhielt. Göunte sich wenig Zeit zur Erholung, nahm niemals an den Spielen seiner Altersgenossen teil.

Status praesens am 28. September 1897:

Hoch aufgeschossener, schwächlicher Knabe mit blassem, gedunsenem Ge- sichte. Schädel dolichocephal. Reflexe normal. Leichter Zungentremor. Bedeckt das Gesicht mit beiden Händen, ist nicht zum Ansehen zu bewegen. Antworten leise, zögernd, wiederholt häufig die Fragen, verwendet auffallend viele Form- wörter. Räumlich und zeitlich gut orientiert. Nach dem Zwecke der Noten- blätter befragt, die er zu Hause mit sinnlosen Zeichen bekritzelt hatte, äussert er verworrene Grössenideen, er sei musikalisch sehr begabt, stamme aus einer musikalischen Familie, werde eine Oper komponieren „oder auch ein Oratorium“, vergleicht sich mit verschiedenen modernen Musikern. Auch hypochondrische Wahnideen treten auf, er habe sich sehr geschadet, sei ganz hin, sein Stuhl sei in grosser Unordnung. Während er mit wahrem Heisshunger alle Speisen ver- zehrt, klagt er darüber, dass er fremde Küche nicht vertrage, dass er zu Hause mehr zu essen bekommen babe etc. Patient weigert sich, spazieren zu gehen, äussert Beachtungswahn, die Leute sehen ihn an, lachen über ihn.

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Seine Reden und massenhaften Aufschreibungen tragen deutlich den Stempel vorgeschrittenen Schwachsinnes. Auch hebephrenische Erscheinungen treten auf; der Knabe versteckt sich hinter Thüren und Kästen und bleibt daselbst in starren Posen stehen.

Die von mir angewendete Methode fasse ich zunächst in der übersicht- lichen Form einer Tabelle zusammen. Die römischen Ziffern bezeichnen die einzelnen Stadien der Behandlung, die allmählich in einander übergehen. Der

jeweilige Befund ist in der letzten Rubrik kurz angegeben. EEE

Gymnastische Manuelle Geistige Übungen Beschäftigung Beschäftigung

Passive Bewegun- , Leichte Garten- Rückbildung d. Wahnidecn; gen, hierauf . arbeit. Masturbation selten. aktiv Zunahme des Körper-

Ä gewichtes.

Aktive Bewegungen | Gartenarbeit. Lektüre ausgewähl- | Keine Wahnideen; bezeich- auf Kommando; | ArbeiteninderHand-, ter Lesesticke; net die frühere Hypo- hieraufgedächtnis-- fertigkeitswerk- | Inhaltsaugaben. chondrie als „krankhaft“.

II.) mässig wiederholt. | stätte. (Zurichten Keine Scheu vor Gesell- von Material.) schaft. Dringt auf Ent-

lassung. DBedauert sein früheres Betragen.

Hantel- und Stab- | Selbständige leichte | Verschiedene schul- Keine Masturbation, keine

turnen. Gartenarbeiten. mässige Aufgaben. Wahnideen. Verkehrt

IH Übungen an Gec- Teilnahme am Hand- gerne und angemessen "| raten. fertigkeitsunter- mit den übrigen Zög- richt. lingen. Zunehmende

körperliche Erholung.

Wie früher; Teil- | Selbständige Gar- | Selbständige Ar- | Gleichmässig ruhiges, bis-

nahme am allge- | tenarbeiten. beiten mit steter; weilen etwas aufdring-

meinen Turnunter- | Handfertigkeits- Angabe der zuläs- | liches Betragen. Spricht

richt. unterricht, sigen Arbeitszeit. | einfach und schlicht über IV. naheliegende Gegen-

stände, entwirft Zukunfts- pläne, vollführt seine Auf- gaben korrekt und in kurzer Zeit,

Die vorstehende Tabelle bedarf einiger Erläuterungen. Die angegebenen Übungen sind nichts als einander gleichwertig zn betrachten. Im Vordergrunde der Behandlung stehen die gymnastischen Übungen, von denen sich die nach dem System von Bourneville durchgeführten passiven Bewegungen und deren aktive Wiederholung als besonders wirksam erwiesen. Die gymnastischen Übungen, welche naturgemäss nur einen kleinen Teil der Tagesarbeit ausmachen können, finden ihre Fortsetzung in den manuellen Beschäftigungen, die der fortschreiten- den Leistungsfähigkeit sorgfältig angepasst wurden. Um den Knaben an Selb- ständigkeit zu gewöhnen, wurden ihm in den beiden letzten Stadien der

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Behandlung Aufgaben übertragen, deren pünktliche Vollendung innerhalb be- stimmter Arbeitsstunden Gegenstand sorgfältiger Kontrolle war, während die betreffenden Arbeiten selbst ohne unmittelbare Aufsicht erfolgten. Die geistige Beschäftigung setzte auf einer späteren Stufe der Behandlung ein und wurde in Bezug auf Anforderung und Arbeitszeit sehr beschränkt. Ich hebe dies be- sonders hervor, weil selbst einfache schriftliche Aufgaben (Briefe an die Eltern) in der ersten Zeit des Anstaltsaufenthaltes den Zustand merklich verschlimmeırten; auch späterhin musste hierbei einige Vorsicht beobachtet werden, da geistige Arbeit weit mehr als körperliche Beschäftigung ermüdend wirkte. Nur im letzten Stadium der Behandlung konnte schulmässigen Arbeiten ein grösseres Ausmass im Beschäftigungsplan eingeräumt werden; die rasche und exakte Aus- führung der Aufgaben bot im Gegensatze zu den früheren Tändeleien und Will- kürlichkeiten einen deutlichen Beweis für die zunehmende geistige Erholung des Knaben.

Bemerkenswert ist der Umstand, dass die Masturbation im selben Masse zurücktrat, als sich der allgemeine Zustand besserte. Besondere auf die Ver- hütung der Onanie gerichtete Massregeln habe ich nicht in Anwendung gebracht; ich halte dieselben in allen jenen Fällen für zwecklos, in denen der Mastur- bation nur symptomatische Bedeutung zukommt. *)

Die konsequente Durchführung der oben angegebenen Methode hat zwar keine restitutio in integrum, wohl aber eine entschiedene Besserung des Zu- standes bewirkt, sodass der Knabe in einem bescheidenen Wirkungskreise immer- hin sein Fortkommen finden wird. Da die Dem. praec. wahrscheinlich auf organische Veränderungen im Gehirn zurückzuführen ist (Kraepelin), wird es wohl in der Regel genügen müssen, die Kranken soweit zu bringen, dass sie in ihren Familien leben und eine für ihr weiteres Fortkommen notwendige Fertig- keit erlernen können. Ob dies in allen Fällen möglich ist, wage ich auf Grund einer günstigen Erfahrung nicht zu entscheiden. Zieht man aber in Betracht, dass die Dem. praec. gewöhnlich einen progressiven Verlauf nimmt und unser Patient bereits auf einer tiefen Stufe des Schwachsinns angelangt war, gegenwärtig jedoch eine nur wenig herabgesetzte Intelligenz erkennen lässt, so werden weitere Versuche in Bezug auf die pädagogische Behandlung der primären chronischen Demenz nicht abzuweisen sein.

„Die Kinder können zu viel.“ Von K. Ziegler, Idstein. (Fortsetzung.) Stellen wir uns auf den Boden eines streng rationalistischen Unterrichts- verfahrens, so ist dadurch eine einseitige Überbürdung des Gedächtnisses, wie sie vorhin angeführt wurde, wohl ausgeschlossen, nicht aber die Möglichkeit

*) Bezüglich der Beziehung der Onanie zu Geistesstörungen vergl-iche die Einleitung des Aufsatzes von Krafft-Ebing: „Über Irrsion durch Onanie bei Männern“. Allg. Zeitschr. für Psychiatrie, XXXI. Band.

24 eines „Zuweitgehens“ überhaupt. Zwar sind hier, wo vorzugsweise die Ver- standesthätigkeit in Anspruch genommen wird, dem Unterricht in inhaltlicher und formaler Hinsicht durch die Begabung der Schüler schärfere Grenzen gezogen als dort, nichtsdestoweniger werden auch hier Uberschreitungen des Zulässigen und Zweckmässigen vorkommen, die schliesslich ebenso verwerflich sind, wie die vorhin erwähnten.

Ich bin überzeugt, dass nicht nur in den Volksschulen, sondern auch in unsern Idiotenanstalten vieles gelehrt und gelernt wird, das die Kinder mit grösserem oder geringerem Verständnis erfassen, also kein unverstandener Mecha- nismus ist, das deswegen aber doch in die Rubrik der wert- und nutzlosen Unterrichtsstoffe gehört. Dass die Kinder jene schwierigen Pensen nur gedächt- nismässig wiedergegeben hätten (wenigstens bei den Winkeln und Winkelgraden u.s.w.) wage ich nicht zu behaupten; sie mögen die Sache durch recht häufige Wiederholung und Übung endlich begriffen haben. Allein, ist damit die Auf- nahme solcher Stoffe in unsern Schulen gerechtfertigt? Sonderbare Logik das, wenn wir allem, was unsere Kinder auf dem Wege des Denkens zu erfassen im stande sind, ohne weiteres die Schulthüren öffnen müssten! Dann dürfte ich mit meinen Schülern bald mit der ebenen Geometrie beginnen, und sie mit den 24 Klassen des Linneschen Pflanzensystems bekannt zu machen, wäre im Vergleich zu den Übungen am Pentagonaldodekaeder auch keine Schwierigkeit. Vielleicht liessen sich dann noch einige wissenschaftliche Namen einpauken: welcher Triumph dann für mich, wenn beim nächsten Besuch meines Freundes einer meiner Schüler diesem das bekannte „Blau-Blümchen“ überreicht und auf die Frage: „Was ist das?“ die selbstbewusste Antwort giebt: „Viola odorata L. V.!“

War es übrigens so ganz leicht, jene Schüler mit den Winkeln, der Grad- einteilung u. s. w. bekannt zu machen? Dass sie es konnten, darin will ich keinen Zweifel legen; wenn wir aber nach dem „Wie“ fragen, wenn wir in das Diarium blicken und die Stunden nachzählen, die auf die Einübung einer solchen Lehrprobe verwendet wurden! Wohl machten die munteren Antworten der kleinen „Geometer“ den Eindruck, als ob ihnen diese Sache eine Bagatelle und das Erlernen solcber Weisheit Vergnügen und Spielerei sei. Aber wir sind misstrauisch. Wir alle wissen aus Erfahrung, dass eine schwierige Lektion bei unsern Kindern durch häufige Wiederholung so weit geübt werden kann, bis sie gut von statten geht und dann den Schülern sichtlich Vergnügen bereitet. Jedoch nur zu häufig ist diese Freude nicht auf ein gemütliches Interesse am behandelten Gegenstand zurückzuführen, als vielmehr auf das Gefühl der Sicher- heit, den genauen Gang der Behandlung im Kopfe zu haben. Würde dagegen der Lehrer die erstmalige Besprechung eines solchen Pensums vorführen, wir würden jedenfalls staunen über die Teilnahmslosigkeit der Schüler und die Trockenheit der Behandlung, staunen aber auch über die spärlichen Ergebnisse, die einer solchen Unterrichtsstunde entspringen. „Entspricht das Resultat auch der geleisteten Arbeit, dem Opfer an Zeit und Kraft?“ Diese Frage darf auch in Idiotenklassen nicht ganz ausser acht gelassen werden.

Ist übrigens der „Formenunterricht“, den wir auf den Stundenplänen der

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meisten Anstalten finden, für unsere schwachsinnigen Kinder eine so durchaus notwendige Unterrichtsdisziplin? Es könnte dies auf Grund nicht unwesent- licher Bedenken bezweifelt werden. Wohl lässt sich nicht leugnen, dass die Mathematik für die Entwicklung und Kräftigung formalen Denkens grosse Be- deutung hat und dass die Beschäftigung mit geometrischen Figuren einer Geistes- gymnastik gleichkommt, und auch darin hat Landenberger, der den Formen- oder geometrischen Anschauungsunterricht wohl zuerst in unsern Anstalten ein- führte, recht, wenn er in seiner kurzen Arbeit über dieses Fach (Zeitschrift, Jahr- gang 82, Heft IV) schreibt: wie bei gewissen körperlichen Gebrechen und Leiden zu deren Besserung sogenannte Heilgymnastik angewendet werde, so müssten auch wir mit unsern „geistig Gebrechlichen“ zur Siärkung der Denk- kraft geistige Heilgymnastik treiben. Falsch ist es aber, damit die Notwendig- keit und Berechtigung des Formenunterrichtes in unsern Schulen beweisen zu wollen, als ob bloss er eine geistige Heilgymnastik wäre. Nicht der geome- trische Anschauungsunterricht allein, sondern der gesamte Schulunterricht über- haupt ist für unsere Kinder die Geistesgymnastik. Und wo er dies noch nicht ist, da muss und kann er es werden, wenn er nicht vollständig seinen „Heil“- zweck verfehlen soll. Jedenfalls wird darin kein Lehrer einen Zweifel setzen, dass auch andere Fächer (ausser den mathematischen) bei richtiger Behandlung reichliche Gelegenheit bieten, das Denkvermögen unserer Kinder in formaler Hinsicht zu üben und zu stärken. Wohl mag, von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, der Formenunterricht als reines Denkfach vor anderen Unterrichts- fächern den Vorzug erhalten; allein, leeres Stroh zu dreschen, um nur „Dreschen“ zu lernen, das hiesse das Prinzip der formalen Kraftbildung in einseitiger Weise übertreiben, und es ist doch jedenfalls zweckmässiger, an praktischen, wissens- werten und Anziehungskraft beweisenden Gegenständen das Anschauen und Denken zu üben, statt an toten und trockenen Formen.

Auf die Ausschreitungen, die im Formenunterricht schon vorgekommen sind und immer wieder vorkommen werden, habe ich durch einige Beispiele bereits hingewiesen. Dieselben lassen sich nach ihren Ursachen zum grössten Teil aus dem Unterrichtsfache selbst erklären und begründen. Niemand wird behaupten wollen, das Gebiet der geometrischen Formen und Figuren biete eine Überfülle von für unsere Zwecke passenden Stoffen. Im Gegenteil, bei näherer Prüfung oder bei praktischer Durcharbeitung zeigt sich gar bald, wie wenig Figuren es sind, die wir in unsern Schulen zulassen können, ohne dabei gegen den Grundsatz der Zweckmässigkeit zu verstossen. Um diesem Mangel an brauchbaren Stoffen nun abzuhelfen, greift der Lehrer entweder zu hoch, oder aber zieht er nur alle möglichen und erdenklichen Formen herein, die wohl noch in den geistigen Gesichtskreis des schwachen Kindes fallen mögen, welche aber dem praktischen Leben völlig fern liegen und schliesslich nur den einen Zweck haben, eine Stunde Unterricht auszufüllen. Es sind mir in dieser Hin- sicht schon Lehrgänge zu Gesicht gekommen, welche durch ihre Beispiele den bekannten Riss in der Schultapete weit hinter sich liessen. Wer freilich den Formenunterricht nur darum erteilt, weil er auf dem Stundenplan steht, und

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nicht aus eigener Überzeugung von der Notwendigkeit (?) dieser „Heilgymnastik“ in unsern Schulen, wer das Überkommene gedankenlos weiter treibt, von dem lässt sich nichts anderes erwarten.

Man spricht ferner in der neueren Pädagogik so viel von Konzentration, von einem notwendigen Beschränken der Unterrichtsstoffe und von einem weisen Ausnützen der Lehrstunden, und fürwahr, auch wir haben allen Grund, uns vor einer leichtsinnigen Stundenplan-Ökonomie zu hüten und unsere Zeit und Kraft nicht durch ein Fach, das die Volksschule sogar (wenigstens die württembergische) für überflüssig hält, unnötig zu zersplittern. Wie eigentümlich berührt es ferner, wenn unsere Kinder im Formenunterricht an den Winkeln Gradmessun- gen vornehmen, einfache Körper und Flächen berechnen, in der nächsten Stunde aber nicht die leichtesten Multiplikationsaufgaben aus dem täglichen Verkehr sicher zu lösen oder einen Brief selbständig zu schreiben im stande sind. Schon dieser rein äusserliche Vergleich muss den Lehrer zum Nachdenken anregen. Natürlich ist das bisher Gesagte nicht so zu verstehen, dass der Idiotenlebrer die geometrischen Formen aus seiner Schule überhaupt fern halten müsse. Selbst- verständlich sollen auch unsere Kinder ein Dreieck von einem Kreis unterscheiden können. In dieser Hinsicht aber die notwendigsten Erklärungen zu geben, bietet der Zeichenunterricht recht günstige Gelegenheit, namentlich da dieses Fach auch bei uns nicht die Bedeutung eines gedankenlosen, mechanischen Abmalens erhalten darf.

Ehe wir von dieser kurzen Abschweifung nach dem Formenunterricht zurückkehren, sei noch auf einen Punkt hingewiesen, den zwar Landenberger auch anführt, den er aber bei der praktischen Einführung des geometrischen Anschauungsunterrichtes in Idiotenschulen unberücksichtigt liess. Er schreibt: „Bei alledem ist noch nicht hinlänglich gewürdigt worden, welchen wesentlichen Anteil unter anderem auch die Formenwelt an der Genesis des menschlichen Bewusstseins, an der Entwickelung der Seele in jener ersten Lebensperiode hat, welche keiner persönlichen Erinnerung mehr zugänglich ist.“ Nehmen wir, von diesem Gedanken ausgehend, die Formen in den untersten Klassen unserer An- stalten auf, so bekommen wir allerdings auch einen „Formenunterricht“, der aber auf anderen Wegen ganz andere Ziele verfolgt, als der „geometrische An- schauungsunterricht“, wie er auf den Mittel- und Oberstufen getrieben wird.

Auch in andern Unterrichtsfächern dürfte es an Überschreitungen in der bezeichneten Richtung nicht fehlen. Es sei beispielsweise nur an die Religion erinnert. Wie manche Erzählung namentlich aus dem alten Testamente wird da dem kindlichen Geiste geboten, die lediglich ein toter, trockener Gedächtnis- kram ist, als Gesinnungsstoff aber nicht die mindeste lebendige, erziehende Kraft in sich bat. Durch blosse Bibelkenntnis ist noch niemand glücklich geworden und jedenfalls auch nicht in den Himmel gekommen, und unser Herr und Vater wird am jüngsten Tag wobl kaum ein Examen in der „Biblischen Geschichte“ anstellen. Das ist ja eben das Köstliche am wahren Christen- tum, dass es seine höchsten und besten Güter nicht in aristokratischer Weise nur wenigen Bevorzugten, den Begabten und Gescheiten, anbietet, sondern als

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echt demokratische Einrichtung alle auch die Dümmsten und Einfältig- sten unter dem Volke damit beglücken kann und will. Ferner sei an dieser Stelle noch das sogenannte ‚„Memorieren“ erwäbnt, das namentlich in Württem- berg eine so grosse und selbständige Rolle spielt. Unseren Kindern sollte man nicht zumuten, Sprüche und Liederverse auswendig zu lernen, deren Sinn zu verstehen normal begabten Kindern viel Mühe macht, geschweige denn, dass sie jenen erschlossen werden könnten.

Oder ist denn schliesslich das die Hauptsache, dass die Schüler den oder jenen religiösen Gedanken in der bestimmten, nicht selten schwer verständlichen und dunklen biblischen Form inne haben? Ich denke, auch hier muss zwischen Form und Inhait unterschieden werden, auch auf diesem Gebiete muss das „Dass“ mehr gelten, als das „Wie“. Man wird mir freilich entgegenhalten: Die Sprüche sind die leichtbehältlichen (?) Schalen, die man den Kindern auf ihren Lebens- weg giebt, und deren jede einen goldenen Kern christlicher Lebensweisheit ver- borgen hält. Das bestreite ich nicht. Aber, mein lieber Leser, was nützen einem Säugling harte Nüsse mit süssen Kernen, wenn er dieselben nicht zu öffnen vermag? Und giebt man sie ihm doch, so wird er wohl versuchen, die Schalen aufzubeissen, aber er wird sich dabei wehe thun und anfangen zu weinen. Und dazu lässt der liebe Gott wohl die Nüsse wachsen? Dazu liess er schöne und gute Worte aufschreiben, damit unmündige oder schwachsinnige Kinder sich daran abquälen, darüber Thränen vergiessen sollten ?

Auch den auswendig gelernten und gedankenlos abgeplapperten Gebeten der Kleinsten unter den Kindern muss der nachdenkende Christ zweifelnd gegen- über stehen, so sehr auch die allgemeine Anschauung geneigt ist, dem unver- ständlichen kindlichen Lallen besondere religiöse Bedeutung zuzuschreiben. Wie kann Gott, als die Urquelle alles Geistes und Lebens, an einem Religions- kultus Wohlgefallen haben, hinter dem nicht die geringste Spur von geistigem Leben steckt? Wir sollen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten und das gilt doch für gross und klein. Oder nicht?

Der Gott, der ewig wirkt und schafft,

Will nicht ein träge frömmelndes Versenken, Kein blödes Kreuzanschaun, nur wache Kraft Und Heldenmut im Handeln und im Denken.

Nur der Umstand, dass die schwachen Kinder eventuell gerne beten, also ihr guter Wille zu etwas, das ihnen als „gut“ bezeichnet wurde, dürfte von religiösem Wert sein, wobei auch die Gewöhnung zum Beten resp. „gerne Beten“ nicht ganz ausser acht gelassen werden darf. Beten ist zudem weniger ein göttliches Gebot, das wir erfüllen müssen und wodurch wir uns den Himmel verdienen können, als vielmehr eine uns von Gott geschenkte Gnade und Frei- heit, vermöge der wir zu ihm kommen und aus seinem liebevollen Vaterherzen Rat, Trost und Hilfe schöpfen dürfen. Nicht: du musst beten, weil es Gott verlangt, sondern: wir wollen beten, weil es uns ein Bedürfnis ist. Darum auch hier sich von einem natürlichen, vernünftigen und gottgewollten Denken leiten lassen, und von den schwachsinnigen Kindern nicht zu viel verlangen!

28 Wir dürfen nicht vergessen, dass auch der Religionsunterricht nicht Selbstzweck ist, und dass er sein Ziel hat in einer vollkommenen, christlichen Erziehung des Menschen. Ist in die dunklen Herzen unserer armen Kinder nur ein schwacher Schimmer von der endlosen Liebe des Vaters gedrungen, und hat dieser Schimmer nur ein kleines Fünkchen Gottes- und Nächstenliebe wachgerufen, dann darf der Lehrer zufrieden sein, auch wenn seine Kinder die Geschichten und Sprüche der heiligen Schrift zum grössten Teil wieder vergessen haben; ja er dürfte sich selbst dann noch glücklich preisen, wenn nicht einmal das Vaterunser sicher im Gedächtnis haften geblieben wäre.

Wie steht es ferner mit den dogmatischen Glaubenswahrheiten ?

Spannt nicht junge Seelen blind In der Glaubenslehren Bann! Aus dem übergläub’gen Kind Wird ein glaubensloser Mann.

Diesen Spruch möchte ich auch den Idiotenlehrern zurufen, wenngleich der zweite Teil desselben, auf unsere Verhältnisse angewandt, seine begründete Kraft teilweise verliert. Wehe denen, die das schwache Fünkchen lebendigen Geistes unter einem kalten, unverstandenen Dogmenkram zu ersticken drohen; wehe denen, die den Buchstaben der Religion höher schätzen als die Freiheit einer lebendigen, von Gott erschaffenen Seele und sich nicht scheuen, ihrer Religion ein junges Kinderglück zu opfern; wehe denen, die aus den jungen Seelen in erster Linie Glieder einer Konfession machen wollen, darüber aber vergessen, dem Vater, der die Liebe selbst ist und der voll Erbarmen sich nach seinen erschaffenen Menschen sehnt, seine Kinder zuzuführen !

(Schluss in nächster Nr.)

Über Vorübungen zum Schreib - Lese - Unterrichte schwachsinniger Kinder. Von Wehle, Katharinenhof- Grosshennersdorf.

Um schwachsinnigen Kindern bei dem Nachahmen der Buchstabenformen zu Hilfe zu kommen, hat man es mit Vorübungen versucht. Die Kinder schreiben zunächst keine Buchstaben, sondern Bilder von Gegenständen ihres Vorstellungs- kreises. -— Auch in dieser Zeitschrift sind im Jahrgange 1892, Seite 3b, Bilder zu diesem Zwecke als dankenswerte Anregung dargeboten worden. Es heisst dort: „Das Kind soll sicher werden im Blicke, sicher in der Führung der Hand; es soll gewöhnt werden, mit dem, was es sieht, thut, einen Begriff zu verbinden“.

Diese Übungen haben einen hohen formalen Bildungswert und bedeuten einen Fortschritt, der sich aber, wie ich glaube, durch andere Auswahl der Bilder noch steigern lässt. Einen materiellen Gewinn bringen sie dem folgenden Schreibunterrichte jedoch nicht, denn sie ermangeln der unmittelbaren Beziehung zu den Buchstabenformen und sind daher mehr Zeichen- als Schreibvorübungen. Ausserdem sind sie, wenn saubere Ausführung verlangt wird, als „Vor“-Übungen für Schwachsinnige sehr schwer. Es sind geradlinige Gebilde, bei denen die

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Kinder den Stift nach jedem Striche absetzen, während die Buchstaben meist eine ununterbrochene Ausführung des Ganzen erfordern. Alle übrigen Strich- arten und Strichverbindungen, welche beim Schreiben auszuführen sind, werden dabei nicht geübt.

Um nun zu Bildern zu gelangen, durch welche die Kinder in ausgiebigerer Weise formell und zugleich auch materiell auf den Schreibunterricht vorbereitet werden, sind von dem Schreiber dieser Zeilen*) die Formen der Schreibbuch- staben analysiert, die verwandten Teile zusammengestellt und gemäss ihrer Verwendung als Bilder senkrecht gerichtet worden; und so sind schliesslich 52 einfache Bildchen von Gegenständen aus dem Vorstellungskreise der Kinder gewonnen worden, bei deren Übung

1. sich das Kind immer einen angeschauten Gegenstand vorstellen kann, wie bei den oben angeführten Bildern,

2. durch welche ebenfalls Auge und Hand zur Ausführung der Buchstaben geschickt gemacht werden und

3. in welchen das Kind ausserdem auch alle in den Buchstaben vorkom- menden Stricharten einzeln übt, so dass die später zu schreibenden Buchstaben fast nur noch Zusammensetzungen bez. Wiederholungen der geübten Bilder sind.

Das Kind übt das Führen des Stiftes nicht nur von oben nach unten, sondern auch umgekehrt, von links nach rechts und umgekehrt, darnach den Bogen nach oben und vorwärts, nach oben und rückwärts, nach unten und vor- wärts, nach unten und rückwärts und wird dadurch wieder vorbereitet zum Malen der weiteren Bildchen, welche die Formen der entsprechenden ganzen Schleifen darstellen;**) ebenso übt das Kind die kleine Schlinge nach vorwärts (r etc.) und nach rückwärts (o etc.). Alle Bildchen werden mit wenigen Ausnahmen in einem Zuge ausgeführt. Besondere Berücksichtigung finden diejenigen Strich- arten, welche „gegen die Hand“ sind und daher dem Kinde Schwierigkeit bereiten.

Schwer fällt dem schwachsinnigen Kinde der plötzliche Übergang von einer Strichart zur anderen ohne Absetzen des Stiftes, so um ein Beispiel herauszugreifen, das ohne Abbildung sofort verständlich ist vom geraden Abstrich zum Bogen bei der Ziffer 5. 5 ist ein abstrakter Begriff; und die Ziffer 5 als solche wird daber, wenn nicht jedesmal ein Zahlenbild unmittel- bar daneben gemalt wird, vom Kinde der Unterstufe gedankenlos nachgeahmt. Ein Interesse bringt das Kind der Ziffer wie auch dem Buchstaben nicht entgegen. Das hier mangelnde Interesse am Zifferbilde kann aber im Kinde erweckt werden, wenn diesem Bilde ein das Kind interessierender gleichförmiger

*)S. „Vorübungen zum Schreib-Lese-Unterrichteschwachsinniger Kinder“ von R. G.Wehle. Buchhandlung der deatschen Lehrerzeitung in Berlin, Nr. 58. Preis 1,80 &.— Diese Arbeit spricht sich ferner noch darüber aus, wie Kinder durch Ordnungs- und Hand- gelenks-Übungen für den Schreibunterricht und durch Lautier-Übungen für den Leseunterricht vorbereitet werden.

**) Die 5 Schleifen, welche in Barthold’s „Erstem vorbereitenden Unterrichte* darge- boten werden, sind für das Kind tote Linien, welche seine Phantasie unbefruchtet lassen, keine Bilder vorstellbarer Gegenstände; sie kommen daher hier nicht in Betracht,

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Gegenstand untergeschoben wird, wenn man ihm also z. B. eine Gras-Sichel und deren Gebrauch eic. anschaulich vorführt, deren Grundform den Hauptteil der Ziffer 5 ergiebt, und dieses Sichelbild üben lässt. Nun kann sich das Kind etwas bei seiner Arbeit denken. Seine Phantasie wird angeregt; sie vermag ihm den Grasplatz im Garten, die Magd, welche es sicheln sah, den Knaben, der das Gras aufraffte und auf den Karren legte, die Kuh, welche das Gras frisst, vorzumalen; es hört im Geiste die Sichel schneiden, sie erklingen, wenn sie an einen Stein stösst oder gewetzt wird. So bescheiden das Bildchen aus- sieht, es hat Leben im Auge des Kindes. Wenn das Kind dann die Ziffer 5 als solche malen soll, hat es die graphische Hauptschwierigkeit schon über- wunden; es kann seine Aufmerksamkeit mehr dem Zahlenbilde und Zahlen- begriffe zuwenden. Ebenso kann das Kind bei dem später folgenden Schreib- lesen nach Unterweisung in diesen Vorübungen seine Aufmerksamkeit auf das Lesen richten. Die Teile des Buchstabenbildes nehmen sein Auge nicht mehr in dem Grade gefangen, als wenn es an den Buchstaben die ersten graphischen Übungen anstellen müsste. Der Unterricht gewinnt so auf der Vorstufe, wie auf der Stufe des ersten Schreib-Lesens an Konzentration. Diese Vorübungen wenden sich nur an die sinnliche Natur des Kindes, schreiten vom Leichten zum Schweren fort und lassen sich bequem als Klassenunterricht vornehmen. Sie sind aus der Praxis hervorgegangen und für die Praxis bestimmt.

Mitteilungen.

Schweden. (Idiotenfürsorge.) In Schweden giebt es zur Zeit 770 Anstalts- plätze für Schwachsiunige; davon sind bestimmt 532 für bildungsfähige Kinder, 146 für bildungsunfähige und 92 für arbeitsfähige Idioten. Der Siaat selbst hat keine Anstalt, unterstützt aber und kontrolliert sowohl die Anstalten, als das Seminar in Stockholm, das für Ausbildung des Lehr- und Pflegepersonals bestimmt ist. Der staatliche Inspektor für sämtliche Anstalten ist Dr. med. Grape. Zur Zeit giebt der Staat ungefähr 125000 Kronen jährlich für die Anstalten aus. Die Bedingungen für die Unterstützung sind folgende: Die Unterrichtsanstalt sull zwei Abteilungen, eine Probe- und eine Schulabteilung enthalten. In derselben Anstalt dürfen nicht gleichzeitig epileptische und nicht epileptische schwachsinnige Kinder sein. Die Auf- nahme der bildungsfahigen Kinder darf nur im Alter von 6—12 Jahren stattfinden. Zeigt sich das Kind nach Aufnahme in die Anstalt bildungsunfahig, so muss es wieder ausgeschieden werden. Der Aufenthalt in der Probeabteilung darf höchstens 2 Jahre, in der Schulabteilung höchstens 6 Jahre dauern. Ausser den bildungsfähigen Kindern wird auch für arbeitsfähige Idioten eine bestimmte jährliche Staatsunterstützung, doch nur 5 Jahr lang, bewilligt. Die bildungsunfähigen Idioten sind von der Staats- unterstützung ganz ausgeschlossen (zu bedauern! Ref). Bei jeder Anstalt soll ein approbierter Arzt angestellt sein, doch nicht als Vorsteher, Chr. K.

Mariaberg. (Personalion.) Als Nachfolger des am 1. Januar d. J. ver- storbenen Direktor K. Rall ist der bisherige erste Lehrer und Hausvater, Herr Rominger, in der Generalversammlung vom 31. Januar d. J. zum Inspektor der

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Anstalt gewählt worden. Herr Inspektor Rominger ist seit Juni 1884 in Maria- berg thatig. Wir wünschen dem lieben Kollegen von Herzen Glück und Gottes Segen zu seiner Arbeit und freuen uns, dass die Verwaltung der Mariaberger Anstalt wiederum die Leitung einem Pädagogen anvertraut hat. Schwenk.

Zürich. (Anstalt für Epileptische.) Der Verein, welchem die Gründung und Erhaltung der Schweizerischen Anstalt für Epileptische zu verdanken ist, hat beschlossen, die Anstalt zu erweitern und ein besonderes Haus für etwa 70 männliche Erwachsene zu errichten. Zur Aufbringung der hierzu erforderlichen Mittel hat man einen Aufruf veröffentlicht, nach welchem u. a. Gaben in Empfang nimmt: Herr Hirzel-Sulzer, Zürich V., Zeltweg 87.

Litteratur.

Beobachtungen und Erfahrungen auf dem Gebiete der Sprach- heilkunde. Anlässlich seines 25jährigen Jubiläums als Spracharzt heraus- gegeben von Dr. Rafael Co&n in Wien. Stuttgart. Verlag von Ferdinand Enke 1897.

Nach einer kurzen Einleitung, in welcher der Verfasser darlegt, wie er zur sprachärztlichen Praxis kam, und einem geschichtlichen Rückblicke behandelt derselbe nach einander in besonderen Abschnitten das Stammeln und Stottern, die Gaumendefekte, Hörstummheit und Aphasie. Da das Schriftchen nur 66 Seiten umfasst, so ist den einzelnen Abschnitten nur ein beschränkter Raum ge- gewidmet, der Verfasser aber hat es verstanden, in aller Kürze sowohl das Wesen der obengenannten Gebrechen in treffender Weise darzulegen, wie auch insbesondere den Weg zu beschreiben, der zur Heilung derselben einzuschlagen ist.

Zur Heilpädagogik. Erziehung und Unterricht der schwachbegabten Kinder der Volksschule. Von Paul Roentgen. Separatabdruck aus der katholischen Zeitschrift für Erziehung und Unterricht. Düsseldorf. L. Schwann. 1897. 38 S. Preis Mk. 0.70.

Nachdem das Schriftchen kurz das Wesen des Schwachsinns besprochen, ver- breitet es sich über den Unterricht Schwachsinniger und behandelt schliesslich die Frage der Verhütung und Bekämpfung des Schwachsinns.. Es ist mit Wärme ge- schrieben und eignet sich recht wohl zur erstmaligen Orientierung auf dem ein- schlagenden Gebiete. S.

Die Unterweisung und Erziehung schwachsinniger (schwachbefähigter) Kinder. Von Wilhelm Reincke Berlin 1897. L. Oehmigkes Verlag (R. Appelins). 95 S. Preis Mk. 2.—

Das Büchelchen ist in der Hauptsache ein Bericht über eine im Auftrage der Diesterweg-Stiftung zu Berlin unternommenen Reise zur Besichtigung von Schulen für schwachsinnige Kinder. Besucht wurden von dem Verfasser in der Zeit vom 14. bis 29. Novbr. 1896 die fraglichen Schulen in Braunschweig, Elberfeld, Düssel- dorf, Köln a. Rh., Frankfurt a. M., Leipzig und Dresden und das Ergebnis dieses Besuchs ist der Inhalt des Werkchens auf Seite 5—56. Jeder Schule ist ein be- sonderer Abschnitt gewidmet und in jedem derselben bespricht der Verfasser auf

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Grund der gemachten Wahrnehmungen und unter Benutzung der ihm überlassenen schriftlichen Unterlagen eingehend und sachgemäss: 1. die geschichtliche Entwickelung der Anstalt, 2. den Schulraum, 3. die Auswahl und Aufnahme der Kinder, 4. den Austritt derselben, 5. die Organisation der Schule, 6. den eigentlichen Unterrichtsbetrieb und den Lehrplan, 7. die Stellung, Ausbildung und Besoldung des Lehrpersonals und 10. die Kosten, welche der Gemeinde durch die Schule erwachsen. Nachdem der Verfasser im Anschluss an die Berichte eine „Übersicht über die Hilfsschulen in Preussen, Deutschland und der Schweiz‘ gegeben, verbreitet er sich auch auf 23 Seiten über die Bestrebungen und Einrichtungen für die Unterweisung schwachsinniger (schwach- befähigter, schwachbegabter) Kinder. Er nennt diesen Teil des Buches einen Versuch und thut recht daran, denn was der Verfasser in demselben sagt, ist weder vollständig noch überall zutreffend. Insbesondere irrt sich der Verfasser, wenn er die Er- ziehungs-Anstalten zu Pflege- Anstalten herabdrücken will, und mindestens be- kundet er damit, dass er die Thätigkeit der Anstalten nicht kennt. S.

Briefkasten.

R. M. i. H. Herr Kielhorn hat mit seiner uns übrigens nur auf Umwegen bekannt gewordene Bemerkung, dass unsere Zeitschrift an der Hilfsschule keinen sonderlichen Gefallen gefunden habe, unrecht, und er behauptet damit etwas, was zu beweisen ihm sehr schwer fallen dürfte. Wenn er sich die Mühe nehmen wollte, die Jahrgänge unserer Zeitschrift durch- zusehen, so würde er bei entsprechender Unbefangenheit sich davon überzeugen, dass es für uns eine „Anstaltsfrage* und eine „Hilfsschulfrage“ in seinem Sinne und nach seiner Auf- fassung nicht giebt. Einem Zwecke dienend halten wir beide zum Wohle unserer Schwach- sinnigen getroffenen Einrichtungen für gleichberechtigt; wir erblicken in ihnen nicht Gegen- sätze, sondern Veranstaltungen, welche sich in trefflicher Weise ergänzen, und begreifen nicht, wie Herr Kielhorn zu der obigen Äusserung kommt. In seiner Fehde mit Herrn Inspektor Piper haben wir unsere Zeitung ihm in gleichem Umfange zur Verfügung gestellt, wie wir dieses Herrn Piper gegenüber thaten, verhielten uns selbst aber neutral. Dieselbe Unpar- teilichkeit bewahrten wir uns auch später und insbesondere einem „Streben“ gegenüber, an dem wir selbstverständlich niemals „sonderlichen Gefallen“ finden konnten. So wollen wir es auch künftig halten. S. I. D. Wenn Sie sich die bisher erschienenen Jahrgänge unserer Zeitschrift näher ansehen, werden Sie finden, dass dieselbe gern und möglichst viel aus dem Anstaltsleben berichtete, ein gewisses Mass aber musste bei den einzelnen Berichten eingehalten werden. Im übrigen kann eine Schriftleitung einem ihm wenig oder garnicht bekannten Autor gegenüber doch nicht eine unbedingte Zusage geben, und wenn wir baten, den Bericht möglichst kurz zu halten, so lag doch kein Grund vor, sich gekränkt zu fühlen. M. W. i. Z. Nr. 3 erscheint noch vor dem Feste. V. R. 1. 6. Die Breslauer Versammlung wird jedenfalls sehr zahlreich besucht werden.

Inhalt: IX. Konferenz. Die pädagogische Behandlung der Dementia praecox (Dr. Th. Heller). „Die Kinder können zu viel“ (Ziegler) (Fortsetzung). Über Vor- übungen zum Schreib - Lese- Unterrichte schwachsinniger Kinder (Wehle). Mitteilungen: Mariaberg, Schweden, Zürich. Litteratur. Briefkasten.

Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. In Kommission von Warnatz & Lehmann, Kgl. Hofbuchhändler in Dresden. Druck von Johannes Pässler in Dresden,

Nr. 3. XIV. (III) Jahrg. /eitsehrift

für die

Behandlung Sehwachsimmger und Epleptscher.

Organ der Konferenz für für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

herausgegeben von

W. Schröter, Dr. med. H. A. Wildermuth, Direktor der Erziehungsanstalt Spezialarzt für geistig Zurüokgebliebene in i für Nervenkrankheiten

Erscheint jährlich in 8 Nummern von Zu beziehen durch alle Buchhandlungen

mindestens einem Bogen. Anzeigen für A il 1898 und Postämter, wle auch direkt von den

die gespaltene Petitzelle 25 Pfg. Litte- pri ° Herausgebern. Preis pro Jahr 4 Mark, rarische Beilagen 6 Mark. | einzelne Nummer 560 Pfg.

Zur Entwickelung

und Deutung der sogenannten Azteken-Mikrocephalen. Von Dr. O. Berkhan.

Messungen an Idioten in verschiedenen Lebensaltern, und zwar an den- selben Individuen, um die Wachstumsverhiltnisse ihrer Köpfe zu ergründen, sind nur selten vorgenommen. Ein gleiches gilt hinsichtlich einer Sondergruppe in der Idiotenwelt, der sogenannten Mikrocephalen. Um so beachtenswerter muss die Abhandlung des Dr. Birkner erscheinen, auf welche hier besonders bin- gewiesen werden soll.*)

Anlass zu derselben gaben die unter dem Namen Azteken bekannten beiden mikrocephalen Idioten, eines männlichen, Namens Maximo, und eines weiblichen, Bartola genannt, die, nach einem mir vorliegenden Schriftchen von 1850, da- mals als zehn und acht Jahr alt angenommen worden sind. Anfangs der fünf- ziger Jahre zum erstenmale, dann in späteren Jahren des öftern in Europa zur Schau gestellt, sind dieselben 1896/97 abermals auf einer Rundreise begriffen, wobei sie fein modisch aufgeputzt erscheinen, wie unsere Abbildung (S. 17) dieses zeigt. Auch ist der mächtige Haarwuchs von früher teilweise der Schere zum Opfer gefallen, damit die Kopfform deutlicher sichtbar erscheint.

Die Köpfe derselben sind zu verschiedenen Zeiten vor einer Reihe Ge- lehrter wiederholt gemessen, zuletzt 1896 von Prof. Ranke, unter Assistenz des Dr. Birkner. Letzterer stellte sich nun die Aufgabe, „soweit es die Ver- schiedenheit der Massmethoden gestattet, drei Masse des Gehirnschädels: Länge, Breite und Horizontalumfang, aus verschiedenen Zeiten miteinander zu ver- `- gleichen, um wenigstens einigermassen erkennen zu können, wie bei den Mikroce- phalen das Wachstum des Hirnschädels in dieser Beziehung vor sich geht“.

Zu diesem Zwecke schuf er sich zunächst zwei Altersabschnitte bei beiden „Azteken“, einen ersten, für welchen er die Messungen von Warren 1851, Owen 1853 und Leubuscher 1856 benutzte und die Werte von den Jahren 1851 bis 1856 als der späteren Kindheit (Infantia secunda), d. h. der Altersgruppe der Kinder vom achten bis siebzehnten Jahre den Azteken zukommend annahm. Eine Stütze fand er für diese Annahme in den Angaben von R. Reid 1854, nach welchen die beiden Azteken ihrer Zahnentwickelung nach der späteren Kindheit angehörten.

Einen zweiten Altersabschnitt setzte sich der Verfasser, indem er die Kopfmessungen der Genannten von Topinard 1875, Virchow 1891, Ranke 1896 zusammenfasste und den Zeitraum von 1875 bis 1896 als von

der späteren Kind- T me Zeiler

heit bis zum er- Zu-

wachsenen Alter ee nahme

angehörig hin- |

stellte. Die dann Bei Maximo: Grösste Kopflänge | 105 | 122 | 17

von ihm berech- Grösste Breite . ; 6 104 8

neten Mittelwerte Horizontalumfang 328 385 57

ergaben nun: Bei Bartola: Grösste Kopflänge 109 | 120 11 Grösste Breite . | 97 101 4 Horizontalumfang 332 | 386 94

*) Dr. Ferd. Birkner: Über die sog. Azteken. Archiv f. Anthropol., Bd. 25, S. 45 (1898).

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Der Verfasser berechnete dann die Mittelwerte aus den Massen von Köpfen und Schädeln von Kindern und Erwachsenen, wie solche von Lucae, Ammon, Schaafhausen, Ranke angegeben sind, nahm dabei die Untersuchungen über Wachstum des Schädels, wie sie Welcker mitgeteilt hat, zu Hilfe, verglich seine gefundenen Werte, soweit dies möglich, mit den bei den Azteken ge- fandenen und kam zu folgenden Ergebnissen :

1. Die Kopflänge entspricht bei den Azteken in der späteren Kindheit ungefähr der mittleren Schädellänge bei den Neugeborenen = 105 bezw. 109 mm und 108 mm. Im erwachsenen Alter haben die Azteken erst die mittlere Schädellänge der Kinder vom 1. Jahre erreicht 120 bezw. 122 mm und 115 mm.

Die Kopflänge der Azteken ist also in den beiden Entwickelungsperioden geringer als bei den normalen Menschen. Die Wachstumsintensität des Schädels von einer Periode zur anderen scheint nach den vorliegenden Messungen etwas stärker als beim normalen Menschen zu sein, jedenfalls ist das Wachstum der Schädellänge bei den Azteken nicht geringer als das normale. Wir können also sagen: Die Azteken zeigen vom Jahre 1851 an, d. h. seit Eintritt des Zahn- wechsels, keine abnorme Entwickelung bezw. Hemmung der Zunahme der Schädellänge. Die Hemmungsperiode muss vor diesem Zeitpunkte liegen.

2. Sowohl während der späteren Kindheit als im erwachsenen Alter ist die Kopfbreite der Azteken geringer ala beim normalen Menschen, aber wie die Tabelle zeigt, ist die Entwickelung der Schädelbreite seit dem Eintritt des Zabnwechsels nicht abnorm gehemmt; die Wachstumsintensität fällt jedenfalls innerhalb der Schwankungsbreite derjenigen bei normalen Menschen. Die Hemmungsperiode muss vor dieser Zeit liegen.

3. Äbnlich wie bei der Kopflänge und Kopfbreite hat auch der Horizontal- umfang der Azteken im erwachsenen Alter noch nicht einmal den mittleren Horizontalumfang bei den Kindern vom zweiten Jahre erreicht, aber die Wachs- tumsintensität von der späteren Kindheit bis zum erwachsenen Alter ist auch hinsichtlich des Horizontalumfanges nicht geringer als das mittlere Wachstum bei dem normalen Menschen. Die Hemmung scheint auch danach vor dieser Zeit zu liegen.

Zum Schluss teilt Dr. Birkner folgende Ergebnisse mit: Die Azteken gleichen hinsichtlich der Hirnschädelmasse (Länge, Breite, Horizontalumfang) un- gefähr den Neugeborenen und den Kindern vom zweiten Jahre, aber hinsichtlich der Hirnschädel-Entwickelung von der Zeit des Zahnwechsels bis zu dem er- wachsenen Alter stehen sie den normalen Menschen nicht nach. Weder die Zunahme der Kopflänge noch der Kopfbreite oder des Horizontalumfangs sinkt unter die mittlere Zunahme beim normalen Menschen. Es muss also die Hemmungsperiode vor dem Zahnwechsel liegen. Es dürfte wohl das Wahr- scheinlichste sein, dass man sie, wie bei vielen Mikrocephalen bereits nach- gewiesen ist, schon vor der Geburt als Störung in der fötalen Entwickelung zu suchen hat. Auch bei der mikrocephalen Margarete Becker (welche von Virchow und Ranke zu verschiedenen Zeiten gemessen wurde) gilt das Gleiche.

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MEMOIR

OF AN

EVENTFUL EXPEDITION

CENTRAL AMERICA;

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RESULTING IN THE DISCOVERY OF THE IDOLATROUS CITY OF

IXIMAYA,

In an unexplored region: and the possession of two

REMARKABLE AZTEC CHILDREN, Descendants and Specimens of the Sacerdotal Caste, (now nearly extinct,) of the Ancient Aztec Founders of the Ruined Temples of that Country.

DESCRIBED BY JOHN L. STEVENS, ESQ., AND OTHER TRAVELLERS.

Translated from the Spanish of

PEDRO VELASQUEZ,

OF SAN SALVADOR.

NEW YORK:

E. F. Applegate, Printer, 111 Nassau Street. 1850.

x

in Stein gehauen entdeckt wurden und wie sie sich bei Stephens, Incidents of travel in Yukatan wiedergegeben finden. Die in diesen Skulpturen ver- gangener Jahrhunderte wiedergegebenen Gestalten werden nun ihrer auftallenden Kopfform wegen mit der Abkunft der beiden Azteken in Beziehung gebracht und letztere als Reste einer „einzigen, nahezu ausgestorbenen“ Rasse bezeichnet. Der Hauptinhalt des nahezu 35 enggedruckte Seiten enthaltenden Schriftchens beschäftigt sich mit der abenteuerlichen Auffindung der Genannten.

CERES) REWER

Sachverständige haben nun längst entschieden, dass jene Skulpturen Kopf- formen wiedergeben, wie sie künstlich durch Binden und Pressen bei einzelnen Völkern erzeugt werden, somit nichts zu thun haben mit pathologischen Kopf- formen, wie sie bei den beiden „Azteken“ vorliegen.

Über die Abstammung derselben ist viel gestritten worden, an verschiedenen Meinungen fehlte es nicht. Die glatten Haare, die adlerartige, vorspringende Nase, die dunkle Hautfarbe erschwerten jede genaueren Anhaltspunkte. Owen lässt sie von Südeuropäern, die nach Amerika einwanderten, abstammen, Leu- buscher spricht sich für Abstammung von Mulatten aus, Broca betrachtet sie als Zambos (Mestizen von Negern und Indianern)*), Virchow spricht sich gegen die Ansicht aus, dass dieselben Mischlinge seien, deren Mutter eine ‚Mulattin, deren Vater eiu Indianer sei, Topinard nennt sie eine Abart der Mischlinge von Indianern und Negern.

Bei einer solchen Unsicherheit bei der Bestimmung oder bei dem Nach- weise der Abstammung möchte ich auf Verhältnisse in der Idiotenwelt hin- weisen, die dem vorliegenden Falle (der Azteken) ähnlich sich verbalten. Es kommen unter den europäischen Idioten, wenn auch nur selten, Fälle vor, die, was Körper-, Kopf- und Gesichtsbildung, Beschaffenheit der Haare, Farbe der Haut betrifft, einen vollständig fremden Typus zeigen.

So berichtet Dr. Langdon Down**) über das Vorkommen eines Mongolen- typus unter den Idioten und Dr. John Fraser***) beschreibt einen Fall von Kalmückenidiotie. Dieser seiner Beschreibung folgen Bemerkungen von Dr. Arthur Mitchell, welcher bei seinen Inspektionsreisen 62 Fälle von Kalmücken- typus zählte.

Irelandf) erwähnt die oben genannten Autoren und fügt hinzu, dass er, ähnlich wie Dr. Down, einen amerikanischen Indianertypus unter den Idioten beobachtet habe.

Solche fremde Typen giebt es auch unter den Idioten in Deutsch- land, aber bei der für wissenschaftliche Forschungen wenig günstigen Gestaltung unserer Idiotenanstalten ist die Aufmerksamkeit auf dieselben bei uns noch nicht gelenkt worden.

Woher kommen nun diese versprengten, erratischen Formen? Sind sie durch Störungen der Wachstumsverhältnisse an Kopf und Körper hervorgerufen oder sind sie etappenweise sich zeigende Rückschlagsformen ?

Es fordern solche Vorkommnisse die Aufmerksamkeit Sachverständiger nicht minder heraus, als die viel umstrittenen sogenannten Azteken.

(Mit Genehmigung des Verfassers und der Verlagshandlung (Friedr. Vieweg & Sohn in Braunschweig) und unter Verwendung der uns freundlichst überlassenen Cliches aus Band LXXII, Nr. 4 des @lobus, Illustr. Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde, entnommen. D. H.)

*) „La disposition de leur chevelure est tout à fait semblable à celle de Cafuzos, peuplade issue du croisement des nègres et des Indiens“, sagt Broca in Bull. d. l. soc. d’Anthropologie 1875, p. 60. Mit Recht hebt dagegen Virchow (Verhandl. Berl Anthropol. Ges. 1891, S. 374) hervor, dass sich im Gesichte, namentlich an der Nase, nicht eine Spur von Negertypus zeige.

**) Observations on an Ethnic Glassification of Idiots, in clinical Lectures and Reports of the London Hospital, Vol. III. 1866, p. 259. ***) Kalmuc ar Report of a case with autopsy. With notes on sixty-two cases by Dr. Arthur Mitchell. Reprinted from Journal of Mental Science, July 1876. y) Idiocy and Imbecility, London 1877, p. 53.

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„Die Kinder können zu viel.“

Von K. Ziegler, Idstein. (Schluss.

Auf Überschreitungen des Zweckmässigen in andern Unterrichtsfächern will ich nicht weiter eingehen. Jeder Lehrer könnte wohl selbst Beispiele an- führen, wo sicb die Schüler an der Überfülle oder Unverdaulichkeit des gebo- tenen Stoffes den Magen verdorben haben.

Aber auch wenn die Unterrichtsstoffe an und für sich der geistigen Auf- fassungskraft unserer Kinder und den Bedürfnissen des praktischen Lebens ent- sprechen, ist doch immer noch die Gefahr vorhanden, in der Behandlung selbst zu hohe Anforderungen an die Kinder zu stellen, und dies wird namentlich bei jenen Lehrern häufig der Fall sein, die ibre Pfleglinge in erster Linie zu einem selbständigen Denken erziehen wollen. Gar zu gerne kommt es hier vor. dass man im Eifer zu schwierige Fragen stellt, sich zu einem zu weitgehenden und zu abstrakten Vertiefen in den Stuff verleiten lässt, dass man den Bogen zu straff spannt. Springen wird derselbe zwar nicht; aber die Sehne erschlafft, die Arbeitslust der Schüler erlahmt. Darum muss der Idiotenlehrer die geistige Kraft seiner Schüler genau kennen, muss genau berechnen, wie viel er dem Einzelnen zutrauen darf, und dadurch das Selbstvertrauen der an und für sich schüchternen und unselbständigen Kinder zu wecken und zu heben suchen. Natürlich an schwierigeren Fragen darf es auch nicht ganz fehlen, denn diese eind es, welche den Eifer der Schüler am meisten anspornen, und an denen sie ihre eigene Urteilskraft erproben können. „Nur am Ünerstiegenen lernt man steigen.“ |

Wie ferner der vorwärtsdrängende Eifer eines fleissigen Lehrers in unsern Schulen schaden kann, darüber bedarf es wohl keiner weiteren Worte. Lang- sames aber gründliches Fortschreiten ist eine der ersten Forderungen unseres Unterrichtes, wenngleich es dem ungeduldigen Vorwärtsstreben oft recht schwer wird, sich an den langsamen Gedankenwagen der Schüler spannen zu lassen. Durch Gewalt lässt sich hier wenig oder nichts erreichen, und wer am Getreide zieht, um es rascher wachsen zu machen, der wird es abreissen. Darum: lang- sam und gründlich aber nicht zu gründlich. Sehr leicht verfällt der Lehrer ins andere Extrem und kommt vor lauter Anschaulichkeit, Gründlichkeit und Breitheit zu keinem Ziele. Ein Pensum bis aufs letzte Körnlein durchdreschen wollen, um „reines Stroh“ zu bekommen, ist ebenso verfehlt, wie wenn der Lebrer trotz der sich häufenden Stundenzahl, trotz des erlahmenden Interesses der Schüler und trotz seines eigenen Überdrusses prinzipiell nicht eher fort- fahren will, als bis der Stoff zum geistigen Eigentum aller Schüler geworden ist.

Dass auch schon in den sogenannten Vorschulen nur in anderer Weise von den Kindern zu viel verlangt werden kann, zeigt folgende Notiz eines Jahresberichtes: „Die Aufgabe der Vorschule besteht darin, die Kinder an das Stillsitzen und Aufmerken zu gewöhnen.“ Das ist, so wie es dasteht, für

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den Pädagogen ein recht bedenklicher Satz, und jedenfalls darf angenommen werden, dass hier dem Verfasser nur ein falschgewählter Ausdruck unterlief. Verkehrt wäre es, die Fähigkeit, aufmerken zu können, als einen Faktor zu be- trachten, der dem elementaren Schulunterricht vorauszusetzen ist und diesen ermöglicht; die Aufmerksamkeit erscheint vielmehr bei uns als die erste Frucht des ersten Unterrichtes. Wir müssen den vorbereitenden Unterricht so erteilen, dass sich die Kinder dabei allmählich an das Stillsitzen und Aufmerken ge- wöhnen; nicht aber: zuerst Ruhigsitzen und Aufmerken, damit unterrichtet ‘werden kann.

Damit babe ich einzelne der Gedanken wiedergegeben, die sich mir bei einer. eingehenderen Betrachtung jenes Vorwurfes: „Die Kinder können zu viel“ aufdrängten. Zwar weiss ich aus eigener Erfahrung, wie schwer es auf dem Gebiete der Idiotenerziehung ist, masszuhalten und in jedem einzelnen Falle die richtige Mitte zu treffen, wie viel methodische Geschicklichkeit und psycho- logisches Verständnis gegenüber der schwachsinnigen Kindesnatur das erfordert, mit wie vielen Versuchungen in dieser Hinsicht namentlich der Idiotenlehrer zu kämpfen hat. Darum bin ich auch weit davon entfernt, über jeden Verstoss in der besprochenen Richtung ein Verdammungsurteil sprechen zu wollen. Schon der Umstand, dass in unsern Anstalten die Unterrichtsergebnisse recht spärliche und dürftige sind, kann leicht zu einer einseitigen Betonung und Überschätzung der Erfolge und zu einem rücksichtslosen Jagen nach denselben verführen. Der Bauer, der seinen vollen Erntewagen heimführen darf, lässt die einzelne Ähre am Wege gleichgiltig liegen, während der Ährenleser hastig nach ihr greift.

Bedenkt man ferner, dass in Idiotenklassen der Eifer und die Tüchtigkeit des Lehrers viel eher aus den Unterrichtserfolgen beurteilt werden darf als in der gewöhnlichen Volksschule, in welcher die gute Begabung der normalen Schüler nicht selten den Nachteil einer minderwertigeu Lehrkraft ausgleichen kann, so leuchtet ein, dass darin eine weitere nicht zu übersehende Gefahr für das Streben des Lehrers bei Schwachsinnigen liegt. Gar zu gern wird dieser erfolgsüchtig und lässt sich dann im Unterricht von einem einseitigen, falschen Ehrgeiz leiten.

Demgegenüber muss daran erinnert werden, dass nicht das, was unsere Kinder wissen und können die Hauptsache ist, sondern das, was sie werden. Der Lehrer darf nicht dem Mammon seines Ehrgeizes das ungetrübte Glück junger Kinderseelen opfern; der Stoff und die sichtbaren Unterrichtserfolge dürfen nicht Selbstzweck, und die Erziehungsschulen auch bei uns nicht zu blossen Lernschulen werden. Dass freilich der Eifer des Lehrers, der das wirk- liche Wohl seiner Schüler im Auge hat, nicht selten das „gemütliche Stillleben‘ derselben stören muss, lässt sich nicht ändern. Wem aber eine glänzende Lehrprobe lieber ist als die Kinder selbst, wer nicht Selbstlosigkeit üben kann, der bleibe fern!

Doch wie schwer ist es gerade bei uns, selbstlos zu sein! Der Landmann sieht jedes Frühjahr die Saat seiner Hände aufgehen und darf in jedem Herbst den Lohn seines Fleisses einernten; jeder Handwerker kann am Abend auf das

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vollendete Tagewerk blicken, und auch dem Lehrer in der Volksschule ist es nicht versagt, nach kürzeren oder längeren Zeiträumen an den deutlich sicht- baren Erfolgen seiner Arbeit sich ermuntern und erfreuen zu dürfen. Und wir? Wochen-, monate-, ja vielleicht jahrelang muss der Idiotenerzieher mit unver- wüstlicher Geduld und nie ermüdendem Eifer pflügen und säen, pflanzen und begiessen, und nur selten ist es ihm vergönnt, ein fröhliches Erntefest zu feiern. Wer möchte ihm da einen Vorwurf machen, wenn er den Augen der Besucher die Trostlosigkeit seines Unterrichtes so viel wie möglich zu verschleiern sucht, wenn er Gegenstände und Lehrproben vorführt, die mit mehr oder weniger Ab- sicht für solche Gelegenheit bereit gehalten werden, um wenigstens etwas zu zeigen, um wenigstens ein Scherflein Anerkennung einernten zu dürfen.

Und doch muss auch das seine Grenzen haben. Besuchern gegenüber, die dem Unterricht wenig Interesse und Verständnis entgegenbringen, und die schliesslich blosse Neugierde und Schaulust hertreibt, mag man solche Parade- vorführungen noch zulassen; denn diesen sind doch in der Regel nur die ins Auge springenden Erfolge das wichtigste, während sie an dem lebendigen Geiste der Liebe, an der Erziehungsarbeit als solcher nicht selten gleichgiltig vorüber- gehen. Übrigens wird es ein tüchtiger Lehrer auch hier verschmähen, mehr zeigen zu wollen, als in Wirklichkeit vorbanden ist. Die Wahrheit in ihrer dürftigsten Gestalt vorzuführen, darf man andererseits dann aber auch nicht von der offenen Aufrichtigkeit verlangen.

Besuchen dagegen Fachleute und Kollegen unsere Schulen, so wollen diese nicht fertige Ausstellungsarbeiten sehen, sondern sie wollen einen Blick thun in die Werkstätte, sie wollen dem „Meister der Schule“ bei seiner Arbeit folgen. Falsch wäre es darum, bei solchen Anlässen jene fertigen Lehrproben hervor- zuziehen. Warum hier einander täuschen, einander Sand in die Augen streuen wollen? Warum hier den Mut nicht haben, das zu sein, was man ist, und nicht das, was man scheinen könnte? Ersteres ware übrigens gegenüber der Erfahrung eines Fachmannes gar nicht möglich, und letzteres müsste als grund- lose Feigheit verurteilt werden. Der zuhörende Lehrer wird Nachsicht haben, wird sie haben müssen und wird auch vorausgesetzt, dass er der Sache In- teresse entgegenbringt dabei mehr gewinnen als bei einem blossen Abfragen, bei welchem die bereitgehaltenen Antworten Schlag auf Schlag natürlich in der bekannten Reihenfolge folgen. Und auch der vorführende Lehrer, der gerne einen günstigen Eindruck machen möchte, kann bei einem freien Gespräch sein eigenes „Können“ weit besser dafür zeigen, als wenn er bloss zusieht, wie das aufgezogene Uhrwerk abschnurrt.

Wenn freilich alle Idiotenlehrer in ihren Schulen so unfrei und unsicher wären wie jener, der es nach seinem eigenen Geständnisse nicht wagte, ein früher behandeltes Unterrichtspensum ohne nochmaliges Durchlesen der betref- fenden schriftlichen Präparation (und zwar im Interesse der Schüler resp. einer guten Vorführung) zu wiederholen, dann dürfte die letzte Forderung nicht auf- gestellt werden. Glücklicherweise sind es nur wenige, die sich und ihre Schüler in dem Zwange eines solchen mechanischen Schablonenunterrichtes

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gefangen halten. Unsere Zöglinge sollen nicht genau abgezirkelte Lehrproben auswendig können, sondern sie sollen Stoffe als freies, geistiges Eigentuin erfassen; sie sollen nicht bloss fähig sein, eine bestimmte Reihenfolge von Fragen zu beantworten, sondern es soll ihnen auch dann nicht an Antworten mangeln, wenn Fragen in anderer Aufeinanderfolge und unter neuen Gesichtspunkten an sie gestellt werden. In diesem Lichte betrachtet, fällt auch auf die schriftliche Ausarbeitung von Lehrproben ein leichter Schatten, insofern darin eine nicht geringe Versuchung zum Mechanismus liegt. Wohl soll sich der Lehrer auf jede Lektion vorbereiten, aber er soll nicht auf dem Gange, den er sich hinter dem Pulte erdacht hat, einseitig beharren; wohl soll er beim Unterrichten die Zügel des Gesprächs fest und sicher in der Hand bebalten und zielbewusst mit seinen Schülern vorwärtsstreben, aber er muss auch auf die Antworten und Ge- dankengänge der letzteren eingehen, muss sich von ibnen auf neue Wege leiten lassen.

Und nun der langen vom Thema manchmal recht weit abschweifen- den Rede kurzer Sinn? Nicht das Auffinden neuer Ideen oder das Aufstellen neuer Grundsätze ist es, was diese Zeilen in Anspruch nehmen können; sie wollen auch keine bestimmten, objektiven Ratschläge und Winke für das prak- tische Unterrichtsverfahren in Idiotenklassen geben; ja wenn sie nicht einmal die Abhilfe eines einzigen der Missstände, die im Verlaufe der Ausführungen berührt wurden, veranlassen würden, hätten sie ihren Zweck doch noch nicht verfehlt. Nur das Selbstnachdenken, das Selbstbeurteilen seitens der Lehrer möchten diese Sätze anregen. Nicht alles Bestehende ist gut, sondern nur das Vernünftige, das Zweckınässige. Mag eine Idee noch so alt sein, ihre unzweifel- hafte Wahrheit und Richtigkeit ist uns dadurch noch lange. nicht verbürgt. Mit manchmal unbegreiflicher Gleichgiltigkeit wird aber nicht selten alles hinge- nommen, was aus früheren Jahren auf dem Gebiet der Idioten-Erziebung besteht, als ob das ohne weiteres gut sein müsste, und mancher lässt sich von den alten, hergebrachten Anschauungen in blindem, autoritativem Vertrauen am Gängel- band führen. Auch wir müssen fortschreiten, auch für uns gilt das Sprichwort vom Stillstand und Rückschritt. Es ist freilich bequemer, sich in die fertige Kutsche zu setzen, die Augen zu schliessen und im alten Geleise weiter zu fahren, statt nach neuen und besseren Pfaden zu suchen. Bequemer, aber eines Lehrers nicht würdig. Darum Selbstnachdenken, Selbsterarbeiten !

„Was du ererbt von deinen Vätern hast, Erwirb es, um es zu besitzen!“

Und wenn du bei diesem selbstthätigen Erwerben finden solltest, dass Jir die Väter in ihrem Erbe Anschauungen und Gebräuche hinterliessen, die sich überlebt haben und in die Geistesströmung unserer Zeit nicht mehr passen» dann nicht in falscher Pietät daran festhalten, sondern mutig das selbsterkannte „Bessere“ ergriffen!

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Bemerkungen zu den eingegangenen Antworten auf meine Erwiderung in Nr. 1 der Zeitschrift für Behandlung Schwachsinniger etc.

Mit erstaunlichem Hochdrucke arbeitet man von Hannover aus für das Zustandekommen des „Verbandstages deutscher Hilfsschulen“. Bald nach Ver- sendung meiner „Erwiderung“ hat ınan (Anfang Februar) eine Einladung an die Magistrate der Städte „mit der ergebensten Bitte“ gesandt, „einen Deputierten zu dem Verbandstage entsenden und falls dortseitig eine Hilfsschule besteht, dem Leiter und den Lehrern derselben eine Beihilfe zu den Reisekosten geneigtest bewilligen zu wollen“, und drei Wochen später (Ende Februar) hat man dieselbe Einladung nur mit Weglassung der oben erwähnten Bitte und Einfügung des Absatzes über etwaige andere Themen auch den Hilfsschulen selbst zugehen lassen, und zwar mit drei Antworten aus Hannover, Braunschweig und Lübeck auf meine Erwiderung, um das von mir bean- standete Vorgehen in Sachen des Verbandstages zu rechtfertigen. Die darin vorgebrachten Gründe und Behauptungen sind so unzutreffend, so gesucht, so sonderbar, dass ich sie nicht unwidersprochen lassen kann.

Gemeinsam ist allen dreien die Beschuldigung, dass in der Konferenz für das Idiotenwesen die heftigsten Gegner der Hilfsschulen seien, dass man bei ihnen kein Verständnis und keine Förderung der eigenen Angelegenheiten finden und keine besonderen Zugeständnisse für sich erwarten könne. Das sind eitel Übertreibungen! Wieviel Gegner sind es denn, die man aufzählen kann? Nur zwei; und vor diesen wollte sich die gegenwärtige „stattliche Zahl“ der Lehrer an Hilfsschulen, auf die die Hannoverschen Kollegen selbst- bewusst hinweisen, fürchten und sich mutig zurückziehen? Das würde wenig Vertrauen in die eigene Sache verraten. Und woher haben denn die Hilfsschulen ir erstes Wissen über die Behandlung schwachsinniger Kinder, wenn nicht von den Idiotenerziehern? Ich brauche nur an die Schritten von Barthold, Stötzner und Sengelmann zu erinnern, und dass man sich in ihren Kon- ferenzen habe Belehrung suchen müssen, gestehen selbst die Hannoverschen Kollegen zu, dass man aber auch das Gesuchte da hat finden können, wenn man ohne Voreingenommenheit hingegangen ist, steht ausser allem Zweifel; man braucht nur die Themen sich anzusehen, die in den letzten 12 Jahren auf vier Konferenzen verhandelt worden sind. Ich greife nur folgende heraus: Über die Aufgabe des Arztes in der Idiotenaustalt; über Klassen für Schwach- befähigte; über die Entwickelung des Formensinnes bei Idioten; über die bisherige Arbeit an den Idioten und ihren Leidensgenossen; der schwachsinnige Mensch im Öffentlichen Leben; welche Kinder gehören in die Hilfsklassen und welche in die Idiotenanstalten; cerebrale Kinderlähmung und Geistesschwäche; über einige bei Idioten vorkommende wenig beachtete Symptome; Gründung eines Vereins für Geistesschwache und- Epileptische; die Sprachgebrechen beı schwachsinnigen resp. idiotischen Kindern und deren eventuelle Heilung; die Schreibstörungen bei Schwachbefähigten in gerichtsärztlicher Beziehung; der

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Zeichenunterricht in Idiotenanstalten; die Entwickelung des Thätigkeitstriebes bei Schwachsinnigen; der Handfertigkeitsunterricht bei Schwachsinnigen; der Sprachunterricht in Idiotenanstalten; die Zuchtmittel in der Idiotenanstalt; der. grundlegende Sprachunterricht bei stammelnden schwachsinnigen Kindern u. a. m

Ich dächte, da wäre die Pädagogik nicht zu kurz gekommen und die Vertreter der Hilfsschulen hätten genug Anregung und Belehrung für sich finden können. Ohne persönlich etwas bedeuten zu wollen, habe ich seit 12 Jahren sämtliche Konferenzen besucht, habe überall freundliches Entgegen- kommen gefunden und bin durch die Vorträge, durch persönlichen Verkehr, durch den Besuch der verschiedenen Anstalten niemals unbelehrt und unbe- friedigt nach Hause zurückgekehrt. Dagegen hat nach den Präsenzlisten keiner der Herren in Hannover jemals eine der Konferenzen besucht, sie sprechen also fremdes Urteil nur nach. Freilich ist hier und da manches unlieb- same Wort über die Hilfsschulen gefallen, aber die Konferenz hat sich auch manches unfreundliche Wort von unserer Seite sagen lassen müssen; ich erinnere nur an die Aussprache des Dr. Bartels über die Wärterlehrer in den Idioten- anstalten. Herr Kielhorn war wohl auch nicht immer ohne Bitterkeit ? Und hat man denn die wohlwollende Gesinnung ganz vergessen, die P. Dr. Sengelmann wiederholt den Hilfsschulen kund gegeben hat? So in Frankfurt a. M., wo er sein lebhaftes Interesse für die Hilfsklassen bezeugte und dem P. Bernhard bestätigte, dass seiten der Konferenz durchaus keine Abneigung gegen die Hilfs- klassen vorhanden sei, im Gegenteil seien alle Teilnehmer überzeugt, dass es eines der wichtigsten Werke wäre, das getrieben werden könne. Und in Braun- schweig, wo er äusserte: „Wir begrüssen die sogenannten Hilfsklassen oder Hilfsschulen, die sich der unterrichtsfähigen Schwachsinnigen annehmen, mit grosser Freude. Denn wir sind der Meinung, dass der geistige Gewinn, der bislang nur von den Idiotenanstalten und ihren Schulen. ausging, nun auch weiteren Kreisen zugängig gemacht werde. Denn wie viele Kinder giebt es, die bisher in den grossen Klassen der Volksschulen fruchtlos sassen, welche nun einen für sie geeigneten Unterricht empfangen können und wie viele Kinder giebt es, bei denen der Unterricht genügt, um sie auf eine Stufe zu bringen, von der aus das Fortkommen in der Welt ermöglicht wird.“ Und hat nicht Kielhorn selbst, wenn ich nicht irre, irgendwo erzählt, dass die Hilfsschule in Frankfurt a. M. eine Frucht der dort tagenden Idiotenversammlung gewesen sei? Bedeutet das alles keine Förderung unserer eigenen Bestrebungen? Es wäre undankbar, das nicht anzuerkennen. Nach Herrn Kielhorns Behauptung hat auch das Konferenzorgan, die Zeitschrift für Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer, „bei verschiedenen Gelegenheiten gezeigt, dass sie an der Hilfs- schule keinen sonderlichen Gefallen hat“. Wann und wie das geschehen sein soll, verschweigt er; ich wüsste den Vorwurf in keiner Weise zu begründen, dagegen weiss ich, dass der Herausgeber wiederholt zur Mitarbeiterschaft aufge- fordert hat, und wenn ihm trotzdem keine Mitteilungen über Hilfsschulen zugehen, so kann er natürlich auch keine bringen.

Nun ist man unzufrieden, dass uns in Heidelberg nur eine Nebenver-

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sammmlung und nur ein Sitz im Vorstande eingeräumt worden ist. Aber das verrät eine vollständige Unkenntnis der Tbatsachen. Nach den Präsenz- listen waren von Vertretern der Hilfsschulen in den Konferenzen anwesend zu Frankfurt a. M. 1886: 3 von 29 Mitgliedern, zu Braunschweig 1889: 7 von 35 Mitgliedern (ausser verschiedenen dortigen, als „Gäste“ anwesenden Lehrern), zu Berlin 1893: 11 von 47 Mitgliedern, hier also noch nicht der vierte Teil, und erst hier wurde in einer Privatbesprechung beschlossen, für die Heidel- berger Konferenz eine Vorversammlung für die Vertreter der Hilfsschulen zu beantragen, mehr nicht! und diese ist uns auch gewährt worden. In den Vorstand ist in Heidelberg allerdings nur ein Vertreter der Hilfsschulen ge- wählt worden, daneben aber auch auf Vorschlag des Herrn Kreisschulinspektors Weichert Herr San.-R. Dr. Berkhan, der nach den Mitteilungen des Kollegen Kielhorn in seiner letzten Schrift doch der Vater der Braunschweiger Hilfsschule ist; zählt der für uns nicht mit? Übrigens sind die Hannover- schen Kollegen auch mit der Mitgliederzählung in Heidelberg falsch beraten, denn von den 22 teilnehmenden Lehrern an Hilfsschulen hatten sich nur 7 als Mitglieder, die übrigen 15 aus Ersparnisrücksichten bloss als Gäste ein- getragen ohne Stimmrecht; das Verhältnis der Mitglieder war demnach 7 : 28, also genau /,, aber nicht */,. Waren das nach Lage der Sache nicht Zugeständnisse genug? Auf der einen Seite gestehen die Hannoveraner zu, dass die Hilfsschule wegen ihrer Schwäche an der Konferenz eine Stütze habe suchen müssen, und auf der anderen Seite will man im Gefühle grösserer Stärke mit einem Schlage alles haben. Das finde ich weder massvoll noch berechtigt. Warum meldete man nicht Vorträge für die Breslauer Versammlung an, nach dem sie ausgeschrieben war, und wartete ab, was da geschehen würde, ob man da nicht die Hauptversammlung gewinnen könne, zumal schon früher in Haupt- versammlungen Vorträge über unsere Angelegenheiten zugelassen worden waren? Und sind etwa die für Hannover in Aussicht genommenen Vorträge so besonderer Art, dass sie nicht auch in die Konferenz für das Idiotenwesen passten? Statt dessen bereitet man nach Erlass der Einladung zur Konferenz in Breslau im stillen eine Zusammenkunft einiger Hilfsschulen in Hannover vor und schreibt da einen Verbandstag der Hilfsschulen für dasselbe Jahr aus, in dem die Konferenz in Breslau stattfinden soll! Herr Kreisschulinspektor Weichert in Leschnitz bezeichnete das in einem Briefe als eine Überrumpelung nach meiner Auffassung ist es weit mehr. Vereinbarungen, wie die in Heidelberg getroffenen, pflegt man im Öffentlichen und gesellschaftlichen Leben so lange zu halten, als sie sich haltbar für jeden Teil erwiesen haben. Das hat man aber im vorliegenden Falle gar nicht abzuwarten für nötig erachtet. Mögen die Herren ihre Abschwenkung mit sich selbst abmachen, ich bin nicht so biegsam, dass ich ihnen folgen könnte.

Noch habe ich auf einige einzelne Bemerkungen etwas zu erwidern. Zu- nächst muss ich die „ganz entschiedene“ Verwahrung der Hannoverschen Kollegen, dass ich ihnen vorgeworfen hätte, eine Spaltung in der deutschen Lehrer- schaft hervorrufen zu wollen, ganz ruhig zurückweisen. Man scheint da

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meine Erwiderung nicht recht gelesen zu haben, denn ich habe nur von „Trennung nach kleineren und kleinsten Interessengruppen“ gesprochen, aber in ganz anderem Zusammenhange, und es ist mir nicht im entferntesten der Ge- danke beigekommen, dass die Herren in die deutsche Lehrerschaft einen Keil treiben könnten. Man sagt, es sei den Hilfsschulen in Heidelberg die Thür gewiesen worden, man finde besseren und den allein richtigen Anschluss bei den deutschen Lehrerversammlungen. Warum ist man denn da in Heidel- berg nicht gleich gegangen und hat sofort Schritte gethan zu einer eigenen Vereinigung? Warum dann erst noch das beharrliche Dringen auf Vertretung im Vorstande, wenn man schon mit einem Fusse ausserhalb der Konferenz stand? Das ist eben das Bezeichnende bei dem ganzen Vorgehen, dass man, nachdem den Hilfsschulen Schritt für Schritt entgegengekommen war, jetzt ur- plötzlich der Konferenz in so verletzender Weise entgegentritt. Die allgemeine deutsche Lehrerversammlung soll den geeignetsten Anschluss bieten! Sonderbar! Hier will man sich mit einer Nebenversammlung begnügen, über die man sich bei der Konferenz nicht genug ereifern kann. Und nun einige Vorwände, die man geradezu komisch finden könnte, wenn die Sache nicht zu ernst wäre: „eine ausgesprochene Zugehörigkeit zu der Konferenz für das Idiotenwesen könnte unseren Schulen in den Augen des grossen Publikums nur schaden‘, schreiben die Hannoveraner wer lässt sich da nicht bange machen vor den Konferenzen? Die Zöglinge der Hilfsschule „sind keine Idioten“, erklärt Herr Kielhorn, dann aber Halbidioten, Schwachsinnige, wie sie die Anstalten in ihren bildungsfähigen Zöglingen ebenfalls besitzen, sodass wir doch mit den Idiotenanstalten an einem Strange ziehen. Denn wenn man mit den Zöglingen der Hilfsschulen höher hinaus will und sich enger an die gewöhnliche Volks- schule anschliessen möchte, so hat man entweder keine wirklich schwachsinnigen Kinder in den Hilfsschulen oder man tritt in die Gleise der Berliner, deren Ansichten man ja in Hannover entschieden verurteilt hat. Noch rühmen die Hannoveraner den Hilfsschulen nach, dass sich „ihre Pädagogik mehr und mehr auf eigene Füsse stellt“. Das klingt allerdings nach etwas! Wenn das Juvenal lesen könnte, schriebe er, fürcht’ ich, sein „Difficile est satiram non scribere“ noch einmal! Aber wenn es wirklich so ist, warum will man denn das Licht dieser Pädagogik nur für sich behalten. warum es nicht auch auf der Konferenz für das Idiotenwesen leuchten lassen und es den Idiotenerziehern aufstecken ? Nein! Sage ich es kurz: Alle drei Antworten auf meine Erwiderung ent- behren für mich und vielleicht auch für manche andere, die ruhiger denken jeder Beweiskraft. Sie sind insbesondere die Hannoversche voll von rednerischen Übertreibungen, unbewiesenen Behauptungen, anspruchsvollen Forde- rungen, hochtönenden Worten und von den gesuchtesten Einwendungen, die man aus allen Ecken zusammengekehrt hat, die aber in ihrer Fadenscheinigkeit das vom Zaune gebrochene Vorgehen in Sachen des Verbandstages nicht einmal zu bemänteln, geschweige denn zu rechtfertigen vermögen; im Gegenteile wird bei Lichte besehen jede Behauptung zu einer Widerlegung, jede Beschuldigung zu einer Anklage der Schreiber. Und darum kann ich nur allen Leitern und

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Lehrern deutscher Hilfsschulen die herzliche Bitte wiederholen, gemäss der in Heidelberg getroffenen Vereinbarung am Besuche der Septemberkonferenz in Breslau festzuhalten, durch Ankündigung von Vorträgen und durch zahlreichen Besuch nicht bloss (wie es ja auch Kollege Kielhorn empfiehlt) die Konferenz zu unterstützen, sondern auch unsere eigene Sache zu fördern, um dann bereichert und gestärkt an Geist und Gemüt zurückzukehren in die Stätten unserer täglichen Arbeit. Also „auf Wiedersehen in Breslau!“

Leipzig, den 8. März 1898. Karl Richter, Direktor der II. Bürger- und der Schwachsinnigenschule. (Johannisplatz 6/7.)

Mitteilungen.

Bremen. (Neue Idiotenanstalt) Im Summer d J., wahrscheinlich am 1. Septbr., hofft man die von dem Verein für die Bremsche Idiotenanstalt | begründete Pflege- und Erziehungsanstalt für idiotische Kinder und Jugendliche in Horn bei Bremen eröffnen zu können. Als Vorsteher derselben wurde der an hiesiger Hilfsschule wirkende Lehrer Friedrich Meyer gewählt.

Schreiberhau. (Erziehungs- und Pflegeanstalt.) Diese Anstalt, welche schon 52 Jahre neben der hiesigen Rettuugsanstalt besteht, hat im verflossenen Jahre eine bedeutende Erweiterung erfahren. Während der Anmeldungen von Zöglingen für die Rettungsanstalt von Jahr zu Jahr weniger werden, mehren sich dasegen die Anfragen betreffs Aufnahme von bildungsfähigen und bildungsunfähigen Schwachen und Idioten für diese Anstalt. Am 1. Januar 1897 befanden sich 31 Zöglinge und Pfleglinge in dieser Anstalt. Anfgenommen wurden im Laufe des Jahres 32 Zöglinge, sodass am 31. Dezember ein Bestand von 59 Zöglingen (27 m. u. 32 w.) verblieb.

Litteratur.

Die Gesundheitspflege der Sprache mit Einschluss der Behandlung von Sprachstörungen in den Schulen. Eine Anleitung für Lehrer und Lehrerinnen von Albert Gutzmann. Mit 13 Abbildungen. 144 Seiten. Breslau, Ferdinand Hirt. Preis Mk. 2,50.

Der bekannte Verfasser überreicht mit dem genannten Werke Lehrern und Lehrerinnen eine Anleitung zur Bekämpfung und Verhütung von Sprachgebrechen im Schulunterrichte. Er beabsichtigt aber denselben nicht nur Belehrungen über die Be- handlung von Sprachstörungen zu bieten, sondern er will ihnen auch sprachphysio- logische Kenntnisse übermitteln; wir finden darum in dem Buche das Wesentlichste und Wissenswerteste aus dem Gesamtgebiete der Sprachphysiologie und ihrer Hilfs- wissenschaften. Sehr wertvoll darin sind ferner die Belehrungen über die Aufgaben, welche der Lese- und Anschauungsunterricht der Unterstufe im Dieuste der Laut- sprachpflege zu erfüllen hat. Die in diesen Abschnitten zum Ausdrucke gebrachten Ansichten und Massnahmen, welche meines Wissens nach hier zum erstenmale als

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durchaus notwendige Forderungen zur Erzielung und Pflege der Orthoepie geltend gemacht werden, dürften in pädagogischen Kreisen die weitgehendsten Beachtungen verdienen. Wenn der Verfasser bei Herausgabe seines Werkes zunächst die Ge- sundheitepflege der Sprache normaler Kinder im Auge hatte, so wird sein Buch auch ‚beim Unterrichte geistesschwacher Kinder, die vielfach mit Sprachstörungen behaftet sind, zur Erfüllung jenes Zweckes mit Nutzen zu gebrauchen sein, indem der Lehrer auch in dieser Hinsicht beachtenswerte Ratschläge und Winke finden dürfte. Am Schlusse des Buches ist ein Jitteratur- Verzeichnis beigegeben, worin eine ganze Menge von Fachschriften namhaft gemacht wird, welche besonders dazu geeignet sind, den Lesern weitere Anregungen und Belehrungen auf dem Gebiete der Sprachhygieine zu bieten. Alles in allem ist dieses Buch von Albert Gutzmann (Vater) eine recht brauchbare Arbeit, welche hiermit der gesamten Lehrerschaft aufs wärmste empfohlen sei. Fr.

Anzeige. Gegenstände zur Besprechung auf der

——— Konferenz in Breslau, —=

auch für Nebenkonferenzen der Vertreter der Hilfsschulen, können noch bis zum 9. Aprii c. bei dem Unterzeichneten eingereicht werden. Allen Interessenten rufe ich zu:

„Auf im September nach Breslau!“ Hephata-MGladbach. C. Barthold.

Einladung.

Im Anschluss an die Einladungen zur

IX. Konferenz für das Idiotenwesen

in voriger Nummer der Zeitschrift bitten die Unterzeichneten ihre Kollegen an den deutschen Hilfsschulen, ungeachtet der zu Ostern dieses Jahres tagenden Gründungsversammlung des Verbandes Deutscher Hilfsschullehrer, sich an der im Herbst d. J.

in Breslau stattfindenden IX. Konferenz

für das Idiotenwesen recht zahlreich beteiligen zu wollen. Breslau, den 21. März 1898.

Alwin Schenk. Fuhrmann. Duczek. Mutke. Baude.

Inhalt: Zur Entwickelung und Deutung der sogenannten Azteken -Mikrocephalen (Dr. Berkhan). „Die Kinder können zu viel“ (Ziegler), Schluss. Bemerkungen (Richter). Mitteilungen: Bremen, Schreiberhau. Litteratur: Die Gesundheitspflege der Sprache. Anzeige. Einladung.

Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. In Kommission von Warnatz & Lehmann, Kgl. Hofbuchhändler in Dresden. Druck von Johannes Pässler in Dresden.

Nr. 4 u. 5. XIV. (IVI) Jahrg.

Zeitsehrift

für die

Behandlung Sehwachsinniger und Epileptischer.

Organ der Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

herausgegeben von

W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, Direktor der Erziehungsanstalt Spezialarst für geistig Zurtiokgebliebene in fir Nervenkrankhelten Dresden -N. In Stuttgart. Erscheint jährlich in 8 Nummern von Zu beziehen durch alle: Buchhandlungen:

mindestens einem Bogen. Anzeigen für J ° 1898 und Postämter, wie audh direkt von den die gespaltene Petitzelle 25 Pfg. Litte- ! uni a Herausgebern. Preis pro Jahr 4 Mark,

rarische Bellagen 6 Mark. einzelne 60 Pfg.

IX. Konferenz für Idiotenpflege und Schulen für schwachbefähigte Kinder am 6. bis 9. September 1898 in Breslau.

Programm.

L Dienstag, den 6. September, abends 8 Uhr Vorversammlung im Restaurant Böttcher, Neue Gasse 15, zweiter Eingang.

Begrüssung durch den Vorsitzenden der VIII. Konferenz, Bericht über das verflossene Triennium, Rechnungslegung und Entlastung des Rechners, Wahl des Präsidiums für die IX. Konferenz.

Bemerkung. Mitgliederkarten für 6 Mk., Teilnehmerkarten für 1 Mk. sind in dem- selben Lokal in Empfang zu nehmen. Letztere berechtigen nicht zur Stimmabgabe.

IL Mittwoch, den 7. September, von 9—1 Uhr

Erste Hauptversammlung im Landeshause (Gartenstrasse). a) Begrüssung durch den Herrn Landeshauptmann namens der Provinz. b) Vorträge. 1. „Wie können wir die sprachlosen schwachsinnigen Kinder zum Sprechen bringen?“ Erziehungs-Inspektor Piper-Dalldorf. 2. „Über Tic bei Schwachsinnigen und dessen Behandlung durch gymnastische Übung.“ Dr. med. Heller-Wien. 3. „Die Idiotenanstalten und die Schulen für schwachbefähigte Kinder, eine Grenzregulierung“ Direktor Barthold-M. Gladbach.

Von 1—2 Uhr Pause. (Frühstück im Landeshause, gegeben von der Provinz)

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Von 2 4 Uhr Nebenversammlungen in demselben Hause a) für die Vertreter der Idiotenanstalten: 4. „Die Folgen der Bestimmungen vom 20. September 1895 für unsere Anstalten.“ Direktor Schwenk-Idstein. Anträge und Fragebeantwortung. b) für die Vertreter der Hilfsschulen: 5. „Das Verhältnis der Hilfsschule zur Volksschule“ Lehrer Fuhr- mann-Breslau. Anträge und Fragebeantwortung. 5 Uhr Festessen. Weinhandlung Wuitek, Schmiedebriicke 51. (Preis 3,00 Mk. ohne Wein.) Abends geselliges Beisammensein oder Besuch des Theaters etc.

III. Donnerstag, den 8. September, von 9—1 Uhr

Zweite Hauptversammlung im Stadtverordneten-Sitzungssaale des Rathauses.

a) Begrüssung durch den Herrn Vertreter des Magistrats namens

der Stadt.

b) Vorträge.

6. „Das Erwachen der Psyche.“ Direktor Koelle-Regensburg (Schweiz).

7. „Die Begriffsbestimmung bei Schwachbefähigten und Schwach- sinnigen.“ Direktor Herberich-Gemüänd.

8. „Die Fürsorge für die Geistesschwachen in der Provinz Schlesien.“ Lehrer Schenk-Breslau.

c) Wahl des Versammlungsortes für die X. Konferenz.

Von 1-2 Uhr Frühstück im Rathause, gegeben von der Stadt. Daran anschliessend: Besichtigung des Rathauses, einer berühmten Sehenswürdigkeit, und Besuch städtischer Anstalten (Irrenanstalt, Idiotenanstalt, Botanischer Garten, Museen etc.)

Der Besuch der Hilfsschulen empfiehlt sich in der Zeit von 71/,—8'/, Uhr früh. Die nächstgelegenen sind: Kirchstrasse 1/2, weisse Ohle 28.

5 Uhr Dampferfahrt nach dem zoologischen Garten, dort Konzert. Abends Scheitnig.

Bemerkung. Da die Besuche von der Zeit und Witterung abhängig sind, so wird das Lokalkomitee jeden Tag dieserhalb Vorsehläge machen und Wünsche entgegennehmen.

IV. Freitag, den 9 September, Fahrt nach Kraschnitz, Besuch der dortigen grossen, vielseitigen Anstalt des Samariterordensstifbes.

Abfahrt Breslau, Oderthorbahnhof, 8 Uhr 33 Minuten vormittags.

Empfohlen wird ferner:

a) der Besuch der Erziehungs-Anstalt zu Leschnitz O/S. für diejenigen

Konferenzteilnehmer, welche über Wien, Prag etc. reisen;

b) der Besuch des Wilhelm - Augusta- Stifts in Liegnitz für diejenigen,

welche über Berlin reisen;

c) der Besuch der Provinzial Heil- u. Pflege-Anstalt in Freiburg i. Schl. für

diejenigen, welche über Berlin oder aus dem schlesischen Gebirge kommen.

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Erwünscht ist aber eine vorherige Anmeldung bei der betreffenden An- staltsdirektion, besonders dann, wenn der Besuch kurz vor der Konferenz statt- finden sollte.

Wer vor oder nach der Konferenz das in seiner Formation eigenartige schlesische Gebirge besuchen will, erhält die erforderliche Auskunft durch Herrn Stadtschulinspektor Dr. Handloss in Breslau.

Wegen Besorgung von Nachtquartier wolle man sich unter Angabe des Preises (soweit es sich bis jetzt übersehen lässt, 1,50—3 Mk. pro Bett) an den Vorsitzenden des Ortsausschusses, Herrn Landesrat Noak-Breslau, Elsasser- strasse Nr. 1, oder an Herrn Lehrer Schenk-Breslau, Sadowastrasse Nr. 75 wenden. Bei der Auswahl der Hôtels ist auf die Entfernung möglichst Rück- sicht genommen.

Alle, welehe sich für das Idioten- und Hilfsschulwesen interessieren, die Herren Ärzte, Geistlichen, Lehrer ete. werden zur Teilnahme am der Konferenz ergebenst eingeladen.

Gleichzeitig wird gebeten, die Teilnahme dem Vorsitzenden des Vorstandes, Herrn Barthold, oder dem Vorsitzenden des Lokalkomitees, Herrn Weichert, vorher mitteilen zu wollen

Der Vorstand der VIIL Konferenz.

Direktor Barthelàå - M. Gladbach, Vorsitzender.

Erziehungs -Inspektor Piper -Dalldorf, stellvertretender Vorsitzender. Pfarrer Geiger - Mosbach.

Sanitātsrat Dr. Berkhan - Braunschweig.

Sehuldirektor Richter- Leipzig.

Das Lokal-Komitee.

Bergmann, Dr. med. Bettenberg, F Taubstummen - Austalts- Austalts- Direktor, Freiburg. Lebrer der Hiläschale Direktor, Breslau. Breskar Dr. Handless, Anstalts Direktor, Stadtschuhaspektor, Stadtrat, Bresian. Lieguttz. Neak, Dr. Pfunätzer, Graf v. 4. Beeke- Landesrat, Breaise. Stadterbalrat, Breaize. Volmersteta,

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Aus der Praxis der Vorschule. Von Oberlehrer G. Nitzsche.

Die Daseinsberechtigung der Vorschule und ibre Aufgabe ist schon mehr- fach gründlich erörtert worden; hier sollen einige Mitteilungen aus der Praxis der Vorschule und zwar zunächst Lehrgänge gegeben werden, wie solche dem Vorschulunterrichte in der Anstalt Grosshennersdorf zu Grunde liegen. Die Vorschule genannter Anstalt ist vierklassig und hat z. Z. einige Parallel- abteilungen; in jeder Klasse werden 10—12 Knaben von möglichst gleichartiger geistiger Befähigung unterrichtet. Der Unterricht wendet sich von vornherein bei voller Berücksichtigung der Individualität des einzelnen Schülers sehr bald an die ganze Klasse; aus dem Einzelunterrichte gestaltet sich der Gesamtunterricht.

Die Unterrichtsdauer für jedes Fach währt 3/, Stunden; in der zwischen 2 Unterrichtsstunden liegenden viertelstündigen Pause werden auf ca. 5 Minuten einige Turn- und Atmungsübungen vorgenommen; wird hierdurch schon ein heil- samer Einfluss auf das Denkorgan und den ganzen Körper ausgeübt, so noch mehr durch den planmässigen Wechsel zwischen Unterrichts- und Handfertig- keitsstunde. |

I. Anschauungsunterricht.

Er soll die Wahrnebmungen, welche die Kinder bisher in ihrem Lebens- kreise gemacht haben, klären, vertiefen und zu Anschauungen zusammenfassen, ihnen neue Anschauungen aus ihrer Umgebung vermitteln, das junge Herz da- durch für die Natur, für die Menschen, die ihm nahetreten, wie für den himm- lischen Vater und Schöpfer aller Dinge mehr und mehr erwärmen dabei den Beobachtungssinn wecken, die Denkkraft hervorlocken, sowie die Sprachkraft entfesseln und bilden.

Unnötig ist es, bier auf den Wert der sprachlichen Bildung besonders hinzuweisen. Die Kinder werden zu möglichst vielem und gutem Sprechen an- gehalten; bei manchem Kinde muss man sich anfangs mit einer verstüämmelten Wortaussprache noch begnügen (z. B. fenter = Fenster, ti = Tisch, eibah = Eisen- bahn u. s. w.); man soll aber deren Verbesserung durch Vorsprechen und Er- innern an die richtige Aussprache nie unterlassen. Sobald es nur angängig ist, werden die Kinder zum Satzsprechen angeleitet; der beliebte Gebrauch der Infinitive (Was thust du? Stuhl holen) darf nicht zu lange geduldet und muss recht bald korrigiert werden. Kinder, die nicht sprechen können, müssen fleissig im Zeigen geübt werden.

I. Stufe, wöchentlich 6 Stunden.

In jeder für den Anschauungsunterricht angesetzten Stunde werden 5—15 Minuten auf die „täglichen“ Übungen, 10—15 Minuten auf be- sondere Sprechübungen und die übrige Zeit auf Übungen im Benennen und Zeigen verwendet.

Die „täglichen“ Übungen, so genannt, weil sie jeden Tag vor- genommen werden, sind in der Hauptsache einfache Thätigkeits- und Ordnungs-

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übungen. An ihre Stelle treten später die „Wiederholungsfragen‘; diese er- strecken sich auf das ganze Sachgebiet, das mit den Schülern behandelt worden ist; ihre Zahl wächst demnach mit jedem Tage; der Lehrer notiert sich diese Fragen in bestimmter Ordnung in ein Buch und richtet in jeder Stunde eine gewisse Anzahl an die Kinder. Ihr Nutzen ist augenfällig. An Tagen, wo der Unterricht ausfällt, bietet dieses Fragebuch auf kurze Zeit Gelegenheit zur Be- schäftigung der Kinder.

Die Lautierübungen*) auf dieser Stufe verfolgen den Zweck, die Laut- entwickelung einzuleiten, schwierige Lautverbindungen zu üben und eine mög- lichst reine Aussprache anzugewöhnen; beim Vorsprechen und Einüben der konkreten Substantiven wird der bezeichnete Gegenstand oder sein Modell und auf späterer Stufe sein Bild, bei Verben die betreffende Thätigkeit zur An- schauung gebracht. Wo sich ein begrifflicher Zusammenhang zwischen Wörtern einer Übungsgruppe herstellen lässt, geschieht es in Kürze z. B. bei Faden und Fahne, Bein und Puppe, Sand, Sieb und Seife; Esse und Besen u. s. w. Falsch ist es, an diese Wörter den Anschauungsunterricht hängen zu wollen, weil die- selben Joch nach der Sprechschwierigkeit und nicht nach einer sachlichen Ordnung ausgewählt sind. Bei der Behandlung der Verben sind die Kinder zur Aus- führung bez. zur Nachahmung der Tbătigkeiten zu veranlassen.

Im Benennen und Zeigen sind zur Weckung des Interesses die unter 1—6 angeführten Übungen tüchtig zu treiben und vor denjenigen unter Nr. 7 und 8, die von Anfang an nebenher behandelt werden, zu bevorzugen. Für einige Übungen ist deren Behandlung angedeutet; es sind Skizzen, keine aus- geführten Lektionen.

Tägliche Übungen.

1. Feste Sitzordnung. Die Knaben sitzen auf ihren Plätzen, die un- ruhigen dem Lehrer am nächsten. Paul, steh’ auf! Otto, stehe auf! So, hübsch gerade! Otto, setze dich! u. s. w. (Hierzu wird seiten des Lehrers eine Hand- bewegung nach oben bez. nach unten gemacht.) Steht alle auf! Setzt euch!

2. Wie heisst du? Das Nennen des Namens genügt für den Anfang, später wird der vollständige Satz: „Ich heisse... .* verlangt. Paul, zeige den Karl, den Ernst u. s. w. Wie beisst dieser Knabe?

3. Antreten zur Reihe und einige Turnūbungen. Paul, komme her! Stell’ dich hierher (an die Wand oder vor eine längere Bank, damit die Reihen- richtung gegeben ist, später hinter einen auf dem Fussboden liegenden, 3 m langen Turnstab, mit welchem Armübungen angestellt werden oder hinter eine dort gezogene Kreidelinie)! Otto, komm’ her! Stell’ dich neben Paul (Hände, fasst an)! Ernst, komme her! Stelle dich neben Otto! Da er zu unbeholfen ist, wird er hingestellt oder wenn er nicht kommt, wird er geholt und in die Reihe gestellt Ei, schön gerade wie die Soldaten! Hände los! Hände

*) Einen allgemein gültigen Lehrgang für die Behandinng aller Spraebgebrechen kann es bei der Versehiedenheit ihrer Ursachen (Gehirndefekt, mangelhafte Bildung der Sprach- orgame, vernachläusigte Erziehung, Trägbeit des Kindes, nicht geben, es wird deshalb noch Einzelasterrieht im Sprechen bei gewissen Kindern erforderlich.

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fasst an! (Einige einfache Armübungen mit dem Turnstabe, später ohne ihn: Armheben und -senken, Armbeugen und -strecken, Armstossen und -schwingen). Paul, setze dich! Otto, setze dich! u. s. w. Wo ist dein Platz? Wo sitzt Karl?

4. Paul und Otto, kommt her! Ernst und Fritz, kommt her! Sie stellen sich zur Reihe auf; später. werden sämtliche Knaben gerufen: Kommt zur Reihe! Paul und Otto, auf den Platz (entsprechende Handbewegung seiten des Lehrers dazu)! u. s. w. Sitzt gerade! Faltet die Hände! Paul, rufe (hole) diese beiden Knaben zur Reihe nun diese beiden! u. s. w. Rufe (hole) alle Knaben zur Reihe!

5. Andere Thätigkeiten. Kommt zur Reihe! Paul, gieb mir eine (die rechte) Hand und sprich: Guten Tag! Verneige dich! Otto, gieb jedem Knaben eine Hand und sprecht: Guten Tag! Verneigt euch dabei! Steht gerade! Kniet nieder! Steht auf! Bückt euch! Steht gerade! Zeigt die Hände vor! Ich will sehen, ob sie schön rein sind. Macht die Hände zu (Faust)! Macht die Hände auf! Reibt die Hände! Hände ab! Mund auf! Steckt die Zunge heraus! Mund zu! Macht den Mund auf und sprecht a! Ich will mir eure Zähne anseben (eine Übung, die von Wert bei ärztlichen Untersuchungen ist). Mund zu! Macht den Mund auf, haltet die Hand so (wird gezeigt) vor den Mund! Auf den Platz! Sitzt gerade! Seht euch um! Seht hierher! Rückt hierher! Rückt weiter hin! Auf den Platz!

Lautierübungen.

Das Üben geschieht zunächst im Chor. Die einzelnen Laute werden auf das vom Lehrer mit der Hand zu gebende Zeichen lang und kurz, laut (nicht Schreiton) und leise gesprochen.

1. 3, u,0,1,e 8,05, ü. 2. Vokalverbindungen: a—u, a3—0, a—i u.s. Ww., u—a, u—o, u—i u. s. w. Ei. 3. m (brummt mit den Lippen!) a. Verbindung mit 1 (ma, mu, mo u. 8. w. und 2 ma—u, ma—o, ma—i) u. 8. w. . Ma— ma, mu—mu, mo—mo u. 8. W. . mam, mum u. 8. w. . Kuh = mu, Schaf = mä, Katze = mian. 4. n (brummt mit den Zähnen!) Übung wie unter 3 abc; Verbindung mit m (nam, num man, mon). Mann, Anna; nehmen. 5. b, p (platzt mit den Lippen!) Übung wie unter 4; Verbindung mit m und n. Biene, Bohne, Baum, Bein, Puppe. 6. d, t (platzt mit der Zunge!) Übung wie unter 5; Verbindung mit sämtlichen geübten Lauten. Daumen, Taube, Bad, Bett, Naht; beten, binden, atmen.

ao 5°’

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

Eu 55 f (macht’s wie der Dampfwagen !) Fahne, Faden, Fett (Brot), Ofen; öffnen.

. w (blast [die Watte fort]!)

Watte, Wein (Flasche), Wanne, Badewanne.

. 8 (zischt!)

Sonne, Suppe (Schüssel mit Löffel), Sofa, Seife, Sand, Sieb; Fass, Fuss,

Füsse, Nuss, Nase, Moos, Esse, Besen, Tasse, Maus; Ast, Nest, Stein,

Stab, Stube, Weste; streuen.

sch

Schuh, Schaf, Scheibe, Schaufel, Schiff, Schwein; Fisch, Tisch, Tasche,

Asche, Mensch, Wisch, Peitsche; waschen, abwischen, schneiden; Span,

Spaten, Spiess.

z (niesst!)

Zahn, Zehe, Zaun, Netz, Sitz; setzen, sitzen.

l

Lampe, Löffel, Linsen, Lappen, Leim, Lehm, Laub, Lamm, Leine, Leib,

Linie; Ball, Mehl, Beil, Sohle, Stuhl, Stiefel, Stall, Tafel, Salz, Pilz,

Semmel, Himmel, Spiegel, Nagel, Schlüssel, Schlitten, Schloss; fallen,

laufen, schlafen.

h

Hut, Hosen, Hemd, Hals, Hand, Haus, Henne, Hahn, Hase, Hund, Heu,

Hobel, Holz; nähen, sehen, stehen, halten, busten. Du hast 2 Hände.

Der Hand bellt. Das Heu ist nass u. s. w.

g, k, ch

Gans, Gabel, Geige, Geld, Wiege, Wagen, Ziege, Igel; Kiste, Kohle,

Kuh, Kette, Kugel, Kegel, Kopf, Kamm, Kanne, Kanone, Kutsche,

Katze, Schneckenhaus, Strick, Sack, Nacken, Nelke, Milch, Buch, Rechen,

Sichel, Eichel; geben, liegen, fliegen, springen, schlagen, zeigen, kratzen,

kauen, ankleiden, flechten, lachen.

r (schnurrt !)

Rad, Reifen, Reiter, Rock, Rabe, Russ, Ring, Reh, Rute, Röhre; Turm,

Uhr, Ohr, Wurst, Korb, Stroh, Strumpf, Bart, Perle, Quirl, Teller,

Messer, Möhre, Schirm, Schere, Schritt, Zigarre, Zucker, Gras, Krug,

Schrank, Trompete, Trommel, Trichter, Brot, Brett, Brief, Frosch, Frau;

brechen, zerbrechen, zerreissen, werfen, drücken, verstecken, tragen,

führen, sprechen, hören, riechen, trinken, berühren, rollen, reiben, graben,

schmieren.

Zur Wiederholung :

m = die Tierstimmen: mu, m4, miau; Mann, Maus, Mehl, Milch, Messer, Möhre, Moos, Mensch.

n = Nuss, Nagel, Nase, Naht, Nest, Nacken, Nelke, Ne z.

b, p == Puppe, Peitsche, Perle, Pilz; Bohne, Bein, Biene, Baum, Bade-

wanne, Bett, Besen, Ball, Beil, Buch, Bart, Brot, Brief.

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d, t = Daumen, Taube, Tasse, Tisch, Tasche, Tafel, Turm, Teller, Trompete, Trommel, Trichter. | f= Fahne, Fett, Faden, Fass, Fuss, Füsse, Fisch, Frosch, Frau. w == Watte, Wanne, Wagen, Weste, Wiege, Wein, Wisch, Wurst. s, sch = Suppe, Sofa, Sieb, Sand, Seife, Sonne, Sitz, Sohle, Semmel, Salz, Sichel, Sack. Stein, Stab, Stube, Stuhl, Stiefel, Stall, Strick, Stroh, Strumpf; Span, Spaten, Spiess, Spiegel. z Zahn, Zehe, Zaun, Ziege, Zucker, Zigarre. 1 = Lampe, Leim, Lehm, Laub, Lappen, Leine, Löffel, Lamm, Leib, Linie, Linse. -h= Himmel, Hut, Hosen, Hemd, Hals, Hand, Haus, Henne, Hahn, Hase, Hund, Heu, Hobel, Holz. | g, k = Gans, Gabel, Geige, Geld, Gras; Kiste, Kohle, Kuh, Kette, Kugel, Kegel, Kopf, Kamm, Kanne, Kanone, Kutsche, Katze, Korb, Krug. Quirl. r = Rechen, Rad, Reifen, Reiter, Robe, Russ, Reh, Ring, Rock, Rute, Röhre.

:Benennen und Zeigen. 1. Die Kugel.

Sieh, was ich hier habe! Das ist eine Kugel. Sprecht: Kugel! (Du— du—du). Die Kugel rollt (wird gezeigt). Komm, Otto, setze dich hier auf den Fussboden! Du, Paul, setze. dich gegenüber! Macht die Beine breit! Otto, rolle die Kugel zum Paul! Ei, das ist schön! Paul, rolle die Kugel zu Otto! Übung mit allen Knaben, die zuletzt auf Kommando: hin, her! die Kugeln sich zurollen. Otto, poche mit der Kugel auf den Fussboden! Pocht so, wie ich auf den Tisch poche (taktmässig)! Die Kinder sprechen dazu: Poch, poch, poch! Poch, poch, poch! Die Kugel geht nicht entzwei; nein, sie zerspringt nicht, die Kugel ist hart. Paul, sage, was das ist! Das ist eine Kugel. Was thut die Kugel jetzt? Die Kugel rollt. Wie ist die Kugel? Die Kugel ist rund. Ich poche mit der Kugel; wie ist die Kugel? Die Kugel ist hart. Die Kugel ist aus Glas.

Zur weiteren Übung: Das Kegelspiel.

2. Die Glocke.

Was habe ich heute mitgebracht? Das ist eine Glocke. Sprecht: Glocke! Was thue ich mit der Glocke? Ich läute. Otto, hier hast du die Glocke, läutel Sprich: Ich läute. Karl, du auch! Sprich: Ernst, gehe hinaus und laute vor der Thiire! Horcht! Ich höre (Hand an das Ohr) die Glocke. Die Glocke klingt. Ich höre mit den Ohren. Jeder .Knabe erhält eine Glocke vor sich hingestellt. Hände auf den Rücken! Fasst die Glocke an! Hebt, hoch! Läutet! Glocke, nieder! Hand auf den Rücken! Marschieren mit der Glocke in der Hand.

Bei schönem Wetter werden im Freien Übungen im Auffinden nach Gehör vorgenommen. Der Lehrer oder Pfleger versteckt sich, die Schüler suchen ihn

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auf den Glockenklang hin, müssen aber auf den entfernten Klang zuvor auf- merksam gemacht werden.

Wiederholung: Was siehst du auf dem Tische? Kugel, Glocke. Was thut die Kugel, die Glocke? Wie ist die Kugel? Zeige, womit du die Glocke hörst! Zeige mir, was klingt was rollt! Ich höre etwas rollen läuten, was ist das? Glocken und Kugeln werden an verschiedene Stellen im Zimmer (Fensterbrett, Tisch, Bank, Schrank, Stuhl u. s. w.) gelegt. Zeige eine Kugel! Hole die Kugel! Sprich: Kugel. Hole du auch eine Kugel! Ich sehe noch eine noch eine u. s. w.

3. Ball.

Das ist ein Ball. Paul, gieb jedem Knaben einen Ball. Pocht mit dem Balle auf den Tisch! Der Ball ist nicht hart. Der Ball ist weich. Drückt den Ball (zu auf, zu auf)! Der Ball ist aus Gummi. Hebt den Ball hoch! Legt den Ball auf den Tisch! Was thut mein Ball? Der Ball rollt. Nehmt euern Ball, setzt euch gegenüber! Rollt! Der Ball ist rund.

Übungen im Ballwerfen und -auffangen.

Wiederholung: Auf dem Tische (später an verschiedenen Stellen im Zimmer) liegen Kugeln, Glocken, Bälle Zeige! Hole! Gieb mir, was rollt, was klingt! Gieb, was hart ist, was weich ist! Gieb, was aus Glas ist, was aus Gummi ist! Was hörst du jetzt? Womit poche ich auf den Tisch? Was kannst du rollen, auffangen, werfen, läuten ?

4. Die Mundharmonika.

Das ist eine Harmonika. Ich blase die Harmonika. Horch! Musik! Hier bast du auch eine Harmonika!. Blase! Die Harmonika hat Löcher. Zeige ein Loch! Die Löcher an den Mund, blase! Ei, die Musik klingt schön! Hier- sind noch mehrere Harmonikas. Fritz, teile sie aus; diese gehört dem Paul, die dem Hans u. 8. w. (die Instrumente müssen mit dem Namen der betreffenden Schüler. versehen sein, damit jeder immer dasselbe bekommt). Nehmt die Harmonika in die rechte Hand! Hebt hoch! Harmonika an den Mund, blast! Halt! . Hand ab! Kommt zur Reihe! Wir marschieren wie die Soldaten; rechts um! Harmonika an den. Mund! Musik! Marsch! Übung im Freien. Übungen im Suchen des Harmonikabläsers.

Wiederholung: Siehe 3. Was hörst du draussen vor der Thür? Die Glocke, die Harmonika. Zeige, was du hörst (auf dem Tische liegen uk Ball u. 8. w.)! Ich höre pochen, one u. 8. W.

ð. Die Pfeife an einem Bande.

Das ist eine Pfeife. Ich pfeife. Horch, den Pfiff! Die Eisenbahn pfeift. Der Schaffner pfeift auch. Die Pfeifen sind nammeriert, jeder Knabe erhält die seinige. Kommt zur Reihe! Fasst das Band so an! Sprecht: Band! Macht bim—baum, hin—her! Fasst das Band mit beiden Händen an! So! Hängt das Band um, kriecht mit dem Kopte durch! Greift die Pfeife mit der

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rechten Hand an! Pfeife an den Mund! Pfeift! Langer und kurzer Pfiff, Pfeifen nach dem Takte. Hängt die Pfeife ab! Haltet die Pfeifen hoch! Paul, nimm die Pfeifen ab, lege sie in den Kasten.

Suchen nach dem Pfiff.

Eisenbahnspiel: Mit der Glocke wird das Zeichen zum Antreten der Schüler gegeben; die ersten in der Flankenreihe ahmen das Geräusch der Lokomotive nach (schschsch); ein Schüler ist der Schaffner und giebt mit der Pfeife das Zeichen zur Abfahrt. Der Lokomotivenpfiff wird durch den Laut ü gebildet; darnach laufen die Kinder in kurzem Schritt mit auf Vordermann auf- gelegten Händen hintereinander.

6. Hammer, Holzklotz, Nagel.

Das ist ein Hammer. Sprecht: Hammer. Wer hat einen Hammer? Was thut er damit? Was thue ich jetzt mit dem Hammer? Iech poche. Worauf? Auf den Tisch Stahl Fussboden Fensterbrett. Wo liegt mein Hammer? Auf dem Tische, auf dem Schranke, in dem Kasten; jetzt ist der Hammer weg.

Was ist das? Das ist ein Klotz. Sprecht! Sprich du! Kommt zur Reihe! Setzt euch auf den Fussboden! Fritz komm her; was ist das? Gieb den Klotz dem Paul diesen dem Frnst u. s. w. Paul, Ernst sprich: Ich danke. Was hast du, Paul? Der Klotz steht vor jedem Knaben, jeder holt sich auf den Ruf hin einen Hammer und bedankt sich dafür. Der Lehrer hat auch einen Klotz. Fasst den Hammer mit der rechten Hand an! Legt den Hammer auf den Klotz! Fasst den Hammer an! Pocht und sprecht: Poch, poch, poch! (Üben.) Hammer auf den Fussboden! Steht auf! Arme hoch! Arme ab! Setzt euch! Fasst den Hammer an! Poeht! (Poch, poch, poch!) -Legt den Hammer hinter euch! Arme verschränkt! Fritz, nimm deinen Hammer und poche! u. s. w. (Den Ungeschickten muss erst die Hand geführt werden.)

Was ist das? Das ist ein Nagel. Sprecht: Nagel: das ist ein Nagel. Wer hat Nägel? Was thut er damit? Worin habe ich die Nägel? In der Schachtel. Sprecht: Schachtel! Das ist eine Schachtel. Seht, den grossen Nagel an! Was hat der Nagel hier? Der Nagel hat eine Spitze, der Nagel ist spitz. Ich steche mich mit dem Nagel; au, das thut weh! Pass auf, ich steche dich! Au, weh. Sprecht: Stechen, der Nagel sticht. Paul, gieb jedem Knaben einen solchen grossen Nagel! Fasst den Nagel so an! Zeigt die Spitze! Sprecht: Das ist die Spitze. Der Nagel ist spitz. Der Nagel hat eine Spitze. Der Nagel hat auch einen Kopf. Hier ist der Kopf. Sprecht: Kopf, das ist der Kopf, der Nagel hat einen Kopf. Zeige deinen Kopf! Zeige den Nagelkopf! Kommt zur Reihe! Setzt euch vor den Klotz! In der oberen wagerechtea Fläche des Klotzes sind mehrere kleine, 1 cm tiefe Löcher. Zeige ein Loch! Sprich: Das ist ein Loch! Stecke den Nagel in das Loch! Der Nagel steckt. Sprecht! Steht auf! Ernst, hole dir eine Schachtel; sprich: Das ist eine Schachtel; ich danke. Fritz, Paul, Otte, holt euch eine Schachtel!

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Sehiebt die Schachtel auf! Was ist in der Schachtel? Nägel. Setzt euch vor eure Klötzer! Steckt die Nägel in die Löcher. Was thust du? Ich stecke. Halt, steht auf! Arme beugt! Hochstossen stosst! Arme ab! Setzt euch, zieht die Nägel heraus! Sprecht: heraus, heraus, heraus! Legt die Nägel in die Schachtel: Nagel hoch! In die Schachtel! u. s. w. Schiebt die Schachtel zu! Steht auf! Schachtel auf den Klotz! Geht auf euren Platz! Fritz, nimm die Schachteln weg!

Jeder Knabe holt sich einen Hammer, bedankt sich dafür und setzt sich vor seinen Klotz. Fritz giebt jedem einen Nagel in die linke Hand. Nagel hoch! Sprecht: Nagel. Hand ab! Hammer hoch! Sprecht: Hammer. Hand ab! Steckt den Nagel in das Loch! Sprecht: in das Loch! Pocht auf den Nagel! Poch, poch, poch! Halt! Hammer auf den Fussboden! Steht auf! Zieht den Nagel heraus! Das geht nicht; der Nagel steckt fest. Sprecht: fest. Jeder Knabe pocht die Nägel, die er in seiner Schachtel hat, ein.

7. Bank, Stuhl, Tisch, Schrank, Uhr, Tafel, Lampe, Fenster, Stubenthire, Schlüssel, Wand, Fussboden, Decke, Ofen, Kohlenkasten, Kohlenschaufel, Kohle, Holz, Holzkorb, Besen, Kehrichtschaufel, Schiefertafel, Schieferstift, Buch. Leuchter, Licht, Bett, Waschbecken, Spiegel, Bild.

Was ist das? Zeige! Setze dich auf die Bank! Sprich -— sprecht —: Bank! Setze dich auf den Stuhl! Sprich sprecht —: Stuhl! Steige auf die Bank, auf den Stuhl! Sprich: Stuhl! Stell dich an den Tisch! Sprich: Tisch! Trage den Stuhl fort! Tragt den Tisch fort! Otto, stelle dich an den Tisch, Paul an den Schrank, Ernst an den Ofen u. s. w. Sage, woran du stehst! Otto, lauf an den Tisch! (sprich: Tisch), an den Ofen, an die Stubenthüre u. s. w, Diese Aufträge werden rasch hintereinander gegeben, so dass vom Kinde rasche Entschlüsse über sein Thun gefasst werden müssen.

Nachdem die Kinder im Aufsuchen und Benennen der Gegenstände ihres Zimmers sicher geworden sind, werden dieselben Übungen in anderen Unterrichts- und Schlafzimmern wiederholt.

8. Kopf, Hals, Arme, Beine, Rücken, Brust, Bauch, Hand, Fuss; Haare, Stirn, Nase, Augen, Ohren, Backen, Mund, Zähne, Zunge, Lippe; Finger. (Kleidungstücke siehe später bei Selbstbedienen !)

Was hast du hier? Zeige deinen Kopf! Was hat Otto hier? Zeige Ernsts Kopf! u. s. w. Schüttle mit dem Kopfe! Schüttelt! Nicke mit dem Kopfe! u. s. w. Sage, was du hast! Ich habe einen Kopf u. s. w. Hast du einen Mund? Ja, ich babe Hast du einen Bart? Nein, ich habe —.

9. Löffel, Gabel, Messer, Wurst, Brot, Semmel, Topf, Schüssel, Teller Kanne, Becher, Trichter, Tasse, Eimer, Glas, Flasche, Korb, Reibeisen, Kaffee- mühle, Wanne von Holz, Wiegemesser, Quirl, Fass, Nudelholz, Sieb, Hackeklotz, Beil, Krug, Büchse, Zwiebel, Kartoffel, Zucker, Essig, Mehl darnach Besuch der Küche.

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Was ist das? Zeige! Hole! Teile die Löffel aus! Teile die Schüsseln aus! Esst! Was habt ihr heute gegessen? Nimm die Löffel ab und lege sie in den Topf!. Stelle den Topf in den Korb u. s. w.

Die Gegenstände werden an verschiedenen Orten im Zimmer niedergelegt z. B. Löffel auf dem Tische, Gabeln auf dem Fensterbrett, Messer auf dem Stuble, Brot auf einer Bank, Topf unter dem Tische u. s. w. Zeigt, sprecht! Hole den Löffel und lege ihn auf die Bank u. s. w. Was siehst du? Ich sehe einen Löffel u. s. w. Der Lehrer spricht: Ich sehe einen Quirl; das Kind: da (dort) ist der Quirl.

10. Modelle von den Gegenständen unter 7 und 9.

Modell und wirklicher Gegenstand werden zusammengestellt und benannt; das Modell wird vorgezeigt, der wirkliche Gegenstand wird gesucht; dieselbe Übung umgekehrt. Hier bietet sich reiche Gelegenheit zur Bethätigung für den Zögling; längeres Verweilen bei dieser Übung thut besonders not.

11. Kugel, Ball, Glocke, Mundharmonika, Pfeife, Hammer, Holzklotz, Nagel, Schachtel im Bilde.

Die Bilder entsprechen in Grösse und Ausführung den wirklichen, von Kinde angeschauten Gegenständen. Gegenstand und Bild werden nebeneinander gehalten, das Kind antwortet auf die Frage: Was ist das? Die Bilder sind aufgestellt, die betreffenden Gegenstände werden vorgezeigt; das Kind zeigt das Bild und benennt es. Das Bild wird gezeigt, das Kind muss den Gegen- stand bringen. Die Bilder werden in raschem Wechsel vorgezeigt, das Kind benennt oder zeigt auf die Gegenstände Die Bilder werden in der Stube verteilt, doch so, dass sämtliche Kinder sie sehen: Wo ist die Kugel? Zeige den Ball! |

Für jedes Kind sind diese Bilder in verkleinertem Massstabe vorhanden. Der Lehrer zeigt den Gegenstand, das Kind sucht das Bild dazu und giebt die Benennung; der Lehrer nennt den Namen des Gegenstandes, und das Kind zeigt das Bild desselben. Die Kinder legen die Bildchen in bestimmte Reihen.

Sobald die Schüler im Ausnähen etwas gefördert sind, werden von ihnen die auf Kartonpapier vorgestochenen Formen der besonders besprochenen Gegen- stände ausgenäht, sie festigen sich dadureh die Begriffe und erarbeiten sich selbst ein Bilderbuch, an dem sie grosse Freude haben.

II. Stufe, wöchentlich 6 Stunden.

Die Einteilung der Unterrichtsstunde bleibt dieselbe wie bei der ‘ersten Stufe; an Stelle der täglichen Übungen treten hier bald die Wiederholungs- tragen. Der mitgeteilte Plan über die Lautierübungen gilt für diese wie für die folgenden Stufen.

Bilderlesen.

Erst die Wirklichkeit, bez. das Modell, dann das Bild! Was das Kind nicht

in der Wirklichkeit gesehen hat, darf ihm auch im Bilde nicht vorgeführt

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werden. Die Dinge, welche sich nicht in das Schulzimmer bringen lassen, werden an ihrem Orte aufgesucht (Besuch des Stalles, der Küche, einiger Hand- werker u. 8. w.)

Nach der Beantwortung der Hauptfrage: Was ist das? (Zeige, bez. hole mir den wirklichen Gegenstand oder das Modell!) wird eine kurze Besprechung des Bildes unter der Leitung der Fragen: Wo ist was hat was thut was kannst du damit thun? vorgenommen und eventuell werden mit dem Dinge, dessen Bild angeschaut wird, einige Thätigkeitsübungen ausgeführt. Aus jeder Bildergruppe werden einige Bilder ausführlicher besprochen, diese werden aar- nach ausgenäht.

Zur Verwendung kommen anfangs Bilder aus M. Hill’s Bildersammlung”) für Taubstumme, Verlag von C. Merseburger in Leipzig, sowie die Bilder aus „Von allem Etwas“, Verlag von G. Weise in Stuttgart. Die Bilder sind auf Holztäfelchen aufgezogen und der besseren Haltbarkeit wegen mit einem Lack- überzuge versehen worden. Jedes Bild ist mehrmals vorrätig; 1 Exemplar wird, nachdem es genau vorgezeigt, benannt und besprochen ist, in einem grossen Holzrahmen, der mit 16 Öffnungen zur Aufnahme von eben so vielen Bildern versehen ist, eingelegt. Der Rahmen hängt an der Wand; an den eingerahmten Bildern erfolgt das Ablesen entweder nach Jder Reihe oder nach Fragen (Zeige und sprich: Wo ist der Topf? Was wird in dem Topfe gekocht? Wo wird das Wasser geholt? Worauf wird der Topf gestellt? Was brennt in dem Ofen? Worin werden die Kaffeebohnen gemahlen ?_ Woraus wird der Kaffee getrunken? Wieviel Tassen stehen auf dem Tische? u. 8. w.); öfteres Umstecken der Bilder in dem Rahmen ist erforderlich. Mit den übrigen gleichen Bildern werden weitere Übungen vorgenommen: Die Bilder werden in der Stube verteilt und von den Schülern benannt, gezeigt, herbeigeholt oder: die Gegenstände werden in derselben Reihenfolge aufgestellt, in welcher die Bilder sichtbar vor allen Kindern liegen oder: Jedes Bild wird vor seinen Gegenstand gelegt u s. W.

Die in Klammern stehenden Zahlen geben die Nummer der Tafel aus der Hillschen Sammlung an, aus welcher das Bild genommen ist.

1. Die Stube (12) oben, unten, hinten, vorn, links, rechts.

Fussboden, Decke, Wand, Stubenthūre, Schlūssel (14), Fenster (19, 21), Bank (13), Stuhl (8), Tisch (2, 3, 20), Schrank (7), Chr (1), Tafel, Streich- holz, Lampe (19), Leuchter, Licht (3, 20); Ofen, Kohlenkasten, Kohlenschautfel, Holz, Kohle, Holzkorb, Besen (12, 21), Kehrichtschaufel (12); Hammer (15),

*) Ist für das Kind schon der Schritt vom wirklichen Gegenstande zum Modell ein grosser und anstrengender, so noch mehr derjenige vom Modell zum Bilde. Da die Fixation eines räumlich beschränkten Bildes dem ungeübten Auge leichter fällt, als das Betrachten eines groesen Bildes, über welches es nur mühsam hinwegtastet und dabei zu keinem rechten Gesamteindrucke gelangt, so empfehlen sich für die Vorschüler zunächst die kleinen Hill’schen Bilder. Wünschenswert wäre nur eine besser ausgeführte und auch sonst der Jetstzeit ent- sprechende Ausgabe derselben.

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Zange (16), Nagel (12), Vogelbauer (21), Schiefertafel, Buch. Bett (8), Waschbecken (22), Spiegel (12), Bild, Sofa (23), Tischler (12). Gebet: Lieber Gott, mach’ mich fromm, dass ich in den Himmel komm’!

2. Unser Körper oben, unten, hinten, vorn, links, rechts.

Kopf (6, 4, 1), Kamm (3), Schere, Hut (2), Mütze (20), Ohr (1), Mund (5), Hand (5), Fingerring (6), Handschuh (22), Arm (5), Bein (2), Fuss (2) Stiefel, Schuh (1), Schuster (12), Stiefelknecht, Hosen (11), Strumpf (9), Hemd (6, 16), Weste (20), Schneider (7), Jacke (3, 17), Bürste (18). Taschenuhr.

3. Was bist du?

Knabe (16, 2, 3, 13, 14, 23), Mädchen (2, 5, 16, 22), Mann (3, 8, 9, 7 5, 10, 12), Frau (7, 2, 5, 9, 10, 14), Schürze (18), Kleid (6).

4. Die Küche (12).

Handkorb (4), Bäcker (17), Semmel (15), Brot (7), Fleischer (10), Wurst (9), Teller (14, 15), Messer, Löffel (14), Gabel, Glas (6), Flasche (15, 24), Essig, Trichter, Tassen (14), Zuckerhut, Kaffeemühle (23); Feuer (21, 13), Hackklotz mit Beil, Topf (6), Töpfer (20), Eimer (13), Brunnen (16), Quirl (7), Sieb (21), Reibeisen (22), Zitrone, Zwiebel, Kartoffel, Wiegemesser.

5. Im Garten. (Erste Besprechung im Garten.)

Thor (1), Baum (2), Sonne (16), Rose (8, 11), Tulpe (17), Giesskanne _ (22), Nelke (18), Veilchen (18), Schmetterling (22), Bohne, Kirsche (18), Rechen (18), Vogel (17, 6), Schnecke (17), Blatt (6), Ast (8), Leiter (13), Pflaume (11), Birne (18), Apfel, Säge (9), Eichel (13), Karren (15), Sperling.

6. Das Haus (1).

Dach (3), Esse (2), Essenkehrer (24), Fenster (19, 21), Treppe (24), Schlüssel (14), Kirche (18, 15), Glocke (17), Schachtel Häuser (20).

7. Unsere Haustiere:

Kuh (1, 4), Pferd (8, 17, 6), Krippe, Pferde an der Kutsche (20), Hund (14, 12, 5, 6, 7), Habn (2). Henne (2), Katze und Maus (1, 20), Schaf (1, 3) Schwein (6), Wurst (9), Gans. Tierstimmen; Wie machts die Kuh, das Pferd u. s. w. Welches Tier macht miau, kikriki u. s. w. Wie brüllt die Kuh? Wie bellt der Hund? u. s. w. Welches Tier krăbt? u. s. w. Hierzu treten die Sortierübungen mit den Tieren von Holz und darnach mit den Tierbildern, die den billigen Neuruppiner Bilderbogen entnommen und auf Papptäfelchen auf- gezogen sind; für jedes Kind je 10 Stück. Nach Vorführung der Hillschen Bildchen werden die grossen Neuruppiner Tierbilder und nach diesen die von Leutemann benutzt.

8. Zu den weiteren Übungen im Bilderlesen dient nun Bohnys neues Bilderbuch, Verlag von Schreiber in Esslingen; die unter diese Bilder gedruckten Fragen finden auf dieser Stufe keine Anwendung, es bleibt bei den eingangs

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erwähnten. Die Bilderreihen des Buches, welche die Kinder nicht sehen sollen, werden mit einer Papptafel überdeckt; das Buch wird auf ein Pult gestellt, damit die Bilder von den Kindern genau angeschaut werden können,

Tägliche Wiederholungsfragen.

Wie heisst du? |

Was rollt, läutet, pfeift, wird abgebürstet, gestrickt? u.8. w.

Womit kannst du rollen, läuten, ballen, Musik machen, pfeifen, Nagel ein- pochen, bauen, flechten? Kannst du sprechen? singen? essen? einen Schrank forttragen? laufen? fliegen? u.s.w. Womit kämmst du dich? bürstest du? wird das Brot geschnitten? u. 8. w.

Was ist rund, gross, klein, eckig, spitz, lang, kurz, hart, weich? Wer ist gross, klein? Welches Tier ist gross, klein?

Wieviel Augen, Hände, Ohren etc. hast du? Wieviel Beine hat die Kuh, das Pferd, die Katze, die Schnecke, der Vogel ete.?

Wer unterrichtet? Wer lernt? Wer macht Tische? Schuhe? Hosen? Wurst? Töpfe? Was maoht der Schneider, der Fleischer etc.? Welches Tier macht muh, mäh, kikeriki; zieht den Wagen, läuft auf dem Dache, fängt Mäuse, bellt, legt Eier, hat 2 Hörner u.s.w. Was hat 4 Beine und 1 Sitz? Was hat 1 Lehne, 1 Kasten, Räder, 1 Henkel etc.? Was setzest du auf den Kopf? Was ziehst du an die Füsse? Was trinkst du? Was trinkt das Pferd ? Was brauchst du beim Eisenbahnspiel? u. s. w.

Wo wachsen die Blumen, die Haare, die Bäume, das Gras? Wo liegen die Dachziegel? Wo steht der Schrank, der Tisch, das Pferd, der Wagen? Wo brennt das Feuer? u. s. w.

III. Stufe, wöchentlich 6 Stunden.

Auch auf dieser Stufe ist der Anschauungsunterricht in der Hauptsache noch ein Benennen, nur mit dem Unterschiede, dass die unmittelbare Anschau- ung des wirklichen Gegenstandes etwas zurücktritt, dass das Kind das bei einem Besuche oder bei einem Spaziergange Gesehene im Bilde wiederfindet. Die erste Besprechung wird an der betreffenden Örtlichkeit (Kirche, Hof, Stall, Scheune etc.) gehalten. Selbstverständlich werden aber Gegenstände (Pflanzen, Früchte, Ge- räte, Käfer etc.), die sich eben in das Zimmer bringen lassen, den Kindern beim Unterrichte vor Betrachtung des Bildes nochmals vorgeführt; es bleibt immerhin noch eine grössere Zahl Objekte, wo dies überhaupt nicht geschehen kann und wo dann an des Kindes Erinnerungsvermögen über das beim Spaziergang Ge- sehene appelliert werden muss.

Wie bei dem Bilderlesen auf der Vorstufe, so finden auch hier einige Gegenstände aus jeder Gruppe eine ausführlichere Besprechung, die dem Schüler darnach Stoff zum Ausnähen (siehe Bemerkung unter I. Stufe, Nr. 11) bieten; die leitenden Fragen sind:

1. Was ist das? 2. Wo ist das? Wo hast du das gesehen?

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3. Wieviel sind da?

4. Was hat das Ding? (Hauptteile).

5. Was thut es?

6. Woraus ist es? Wer hat es gemacht?

7. Wie ist es?

Als Anschauungsmittel dienen ausser einer Reihe ‚Modellen die auf Holz- täfelchen aufgezogenen Bilder aus den bereits genannten Bildersammlungen, ferner Ruppiner Bilderbogen, verschiedene Bilderbücher und Walthers Bilder zum Anschauungsunterrichte 1. Band, Verlag von Schreiber in Esslingen. Die Unterrichtsstunde gliedert sich in die täglichen Übungen, der Lautieräbungen und die Anschauungsübungen.

1. Was sehen wir in der Stube, der Küche, dem Hofe? Siehe Stufe II, Bilderlesen 1, 4. Die Präpositionen: in, an, auf, oben, unten, über, vor, bei, nach, mit, von, zu, aus, für, ohne, um, durch. _ 2. Im Stalle und in der Scheune. Stufe 1I, Bilderlesen 7. Erste Besprechung an Ort und Stelle. | | Fleischer (9, 10), Ziege (3, 10), Gans (6, 3, „Fuchs du bast die . . .“), Taube (9), Kaninchen (24), Schwalbe (17), Laterne (22). 3. Im Obst- und Grasgarten. Stufe II, Bilderlesen 5.

Himmelschlüssel, Löwenzahn (Ketten aus den Blütenstielen), Gänseblüämchen Laube (9), Fliege (10), Vogelnest (1, 3), Star (8), Biene (11), Maikäfer (13). 4. Im Gemüsegarten. Stufe II, Bilderlesen 5.

Die Gartengeräte. Gärtner (14), Raupe (10), Schote, Erdbeere und Stachel- beere (11), Regenbogen (23). 5. Auf dem Felde. | Pflug (8), Bauer pflügt (13), Egge (17), Walze (17), Bauer sat (17), Bauersfrau holt Futter (15), Klee. 6. Im Walde (4, 8). Nadelbaum (16), Zapfen, Eiche, Heidelbeere, Moos. 7. Auf dem Felde. | Korn (4), Ähre (11), Kornblume, Bauer mit Sense (19, 7), Garbe (19), Rabe (9). 8. Im Orte. Strasse, Allee (23). Post: Briefträger (7). Schmiede: Schmied (6, 21). Gefängnis (16), Nachtwächter (24).

Marktplatz (9), Jahrmarkt, Reitschule (24), Zelt (9), Bude (10), Musi- kanten (5, 24).

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9. Im Obst- und Grasgarten.

Die Obstbäume, ihre Früchte und Kerne (18), Nussbaum (2), Linde, Spinne (16), Weintraube (10), Kürbis (21).

10. Auf dem Felde. Schäfer (4), Knabe mit Drachen (14), Kartoffel, Rübe (10), Sonnenrose (23). 11. Im Orte.

Bach: Brücke (17), Fisch, Netz (6), Angel (3, 16). Kirche: Altar (24, 4), Orgel (23), Pastor predigt (19). Kirchhof: Sarg (5), Kranz (9), Sarg und Grab (11), Grab (7), Engel mit Kind (16). Gebet: Du lieber Gott, ich bitte dich, ein gutes Kind lass werden mich. Sollt ich aber das nicht werden, nimm mich lieber von der Erden, nimm mich in dein Himmelreich und mach mich deinen Engeln gleich. Teich: Enten (19), Schwan (6), Storch (8), Frosch (7), Schilf (4), Kahn (2). Das sogenannte Magnetspiel, enthaltend Fische, Enten, Kähne und Magnetstäbe.

12. Im Walde (5).

Eiche, Eicheln (13), Pilz (9), Jäger (13), Hase (10), Reh (1), Dachs (3), Fuchs (3), Schlange (16).

13. Kinderfreuden (12, 13, 21, 24, 17, 11).

Nach Nr. 13 wird wöchentlich 1 Stunde auf Bohnys Bilderbuch ver- wendet; die den Bildern beigefügten Fragen werden möglichst zur Beantwortung gebracht.

14. In der Scheune.

Drescher (22), Sack mit Sieb (1), Sortierübungen mit Erbsen, Bohnen und Linsen, Roggen und Bat Müller (3, 15, Besuch der Windmühle), Bäcker (17, 18), Brot.

15. Die Beschäftigung der Leute im Orte.

Lehrer (12), Pastor (4, 19, 24), Bauer (7, 19, 22, 17, 15), Schuhmacher (12), Schneider (7), Bäcker (17), Gärtner (14), Fleischer (9, 10), Tischler (12), An- streicher (19), Töpfer (20), Zimmermann (13), Schmied (6, 11, 21), Müller (3, 15), Nachtwächter (24), Jäger (10, 13), Schäfer (4), Holzhacker (2, 9), Stell- macher (3, 14), Böttcher (2), Briefträger (7), Kaufmann (23), Maler (13). Hierzu Meggendorfers Bilderbuch: „Was soll ich werden?“

16. Durchlesen der sämtlichen Bildertafeln aus Hill’s Sammlung 1—24.

Sortierübungen mit Tierbildern, die Bilderbogen entnommen und auf Papptäfelchen aufgezogen sind.

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17. Gruppenbilder.

Walther, Bilder zum Anschauungsunterrichte. Die Präpositionen, siehe Nr. 1.

l.

or

I. Band, Nr. 27. Winterfreuden. Nr. 1,2. Die Stube. Nr. 4,5. Die Küche. Nr. 7. Der Keller.

Tägliche Wiederholungsfragen:

Wie heisst du? Woher bist du? Wie alt bist du? Was ist dein Vater (deine Mutter)? Wo wohnst du jetzt?

. Die Wochentage: Sonntag, Montag, . 2) Wo hast du deine Zähne? Wo ist dein Taschentuch? Wo leben

die Fische? Wo steckt das Stroh? Wo wird das Mehl gemacht? Wo predigt Herr Pastor? u. s. w.

b) Wo hast da deine Haare? Wo sitzest du? Wo sitzt der Reiter? Wo sitzt die Taube? Wo wächst das Korn? Wohin treibt der Schäfer seine Herde? u. s. w.

c) Wo hängt die Thr? Wo hängt die Lampe? Wo hast du deine Schuhe? Wo steht die Sonne? u. s. w.

d) Woraus trinkst du? Woraus läuft das Wasser? Woher kommt der Regen? u. s. w.

e) Wo ist die Decke? Wo ist der Fussboden? Wo ist der Keller? Wo ist unsere Stube? Was ist über dir? Was ist unter dir? u. s. w.

. Wieviel hast du Finger? Wieviel Flügel hat die Windmühle? Hast

du nur einen Arm? Hast du 2 Ohren? u. 3. w.

. Welches Tier trägt den Reiter? Welches Tier liegt gern im Schmutze ?

Welches Tier nascht gern Milch? Welches Tier grunzt, meckert, schnattert, gackert, blökt, kräht, bellt, wiehert, beisst, kratzt, kann fliegen, schnell laufen, auf den Baum klettern, schwimmen? u. s. w.

. Was braucht der Gärtner zum Graben, der Bauer zum Pflügen, zum

Eggen, zum Kornhauen, zum Dreschen; der Bäcker zum Backen, der Schmied zum Schmieden? u. s. w., u. s. w. (Schluss in nächster Nr.)

Übe und pflege die Selbstthätigkeit der Schüler.

M. Weniger-Gera, R. j. L.

Arbeitet man mit Ernst und Eifer auf pädagogischem Gebiete und in- sonderheit in dem Zweige, welcher sich der Erziehung und dem Unterrichte geistig zurückgebliebener Kinder widmet, so schält sich aus den mancherlei Unterrichts- und Erziehungsgrundsätzen ein ganz bestimmter heraus, den man sich als Haupt- und Richtschnur für sein ganzes Wirken aufstellt und dem man die anderen alle unterordnet und einreiht.

67 Unterrichte anschaulich Gehe vom Besonderen zum Allgemeinen Unterrichte lückenlos u. s. f. sind Wegweiser auf den Pfaden der Pädagogik. In meiner langjährigen Praxis als Lehrer für geistig abnorme Kinder habe ich mir als Richtstern den Satz ausgewählt: Übe und pflege die Selbstthätig- keit deiner Schüler.

Die Pflege der Selbstthätigkeit richtet sich keineswegs einzig und allein auf die Willenssphäre des Zöglings, sondern sie übt auch ihren heilsamen Ein- fiuss aus auf die Denkkraft und auf das Gemütsleben.

„Sei barmherzig gegen die Tiere“ lernt das Kind in der Schule. Es wird ihm auch eine Geschichte von der „wohlthätigen Minna“ erzählt; es lernt das Verschen: „Keinem Würmchen thu’ ein Leid“. Aber wird es selbst, auf eigene Hand diese Lehre in die That umsetzen? Wohl kaum. Auch das geistig reifste Kind muss erst einmal sehen, wie die Vögel im Winter von barmherzigen Menschen gefüttert werden und wie es selbst diesen Liebesdienst erweisen kann Unsere Schüler, die selbst wenig beobachten können, müssen erst recht hinaus- geführt werden auf den Hof, in den Garten, zu einem Futterplatz; sie müssen das Futter hinstreuen und sehen, wie die Vögel dasselbe aufpicken. „Im Weg das Krümchen Brot tritt nicht mit deinem Fuss leg’s auf den Stein vors Haus, und kannst du, brock’ es klein —“. Zeige mir dein Brot. Mache eine Krume, ein Krümchen. Auf dem Spielplatz: hebe diese Rinde auf. Brocke sie klein. Wohin legen wir die Brocken? Wer soll sie finden? Durch immerwährendes Hinweisen müssen die Kinder soweit gebracht werden, dass sie später aus eigenem Antriebe die im Wege liegenden Brotreste aufheben und als Vogelfatter zubereiten.

Unterrichten wir so, dass wir stets darauf bedacht sind, die Selbstthätig- keit der Schüler zu fördern, so müssen wir unbedingt anschaulich unterrichten. Wir nehmen daher die Anschaulichkeit des Unterrichts nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zum Zweck. Die Lehren, die die Kinder in die That um- werten können, bleiben fest und unverlierbar. Das Wissen muss zum Können werden. Achten wir darauf, so können die Kinder nie zu viel lernen.

Geographie nach dem landläufigen Schema erteilt, hat für unsere Schüler abeolut keinen Wert. Sie brauchen nichts zu wissen von den Erdteilen, wohl aber sei innigste Bekanntschaft mit der engsten Heimat unser Ziel. Das Kind muss seinen Schulweg kennen. Das ganz schwache Kind wird im Anfang von seiner Mutter: zur Schule geführt. Nach und nach bleibt die Mutter immer mehr zurück, beobachtet das Kind von fern, ob es den richtigen Weg ein- schlägt, bis es dann möglicherweise nach langer, langer Zeit, doch den Schulweg selbständig ehne Führung zuricklegt. In der Sehule muss das Kind unter Leitung des Lehrers im Schulhause heimisch werden, es muss seinen Platz selbst finden können, es muss dem Lehrer die Kreide. den Zeigestock bringen, wobei sich der Lehrer stets auf einen anderen Platz begiebt, sodass das Kind auf verschiedenen Wegen zu ihm gelangen muss. Die Mutter unterweisen wir, das Kind zu befähigen den Kaufmanns-, den Bäckerladen zu finden. Armer Leste Kinder sind in dieser Hinsicht besser daran als Kinder wohlhabender

68 Eltern. Not macht den Geist der Mutter erfinderisch und lehrt ihn, die ge- ringste Leistungsfähigkeit des Kindes auszunutzen und dadurch zu kräftigen und zu vergrössern. Aufnahmefähigere Kinder lernen den Heimatsort gründlich kennen; durch mehrfache Spaziergänge werden sie mit den hauptsächlichsten Strassen und Plätzen bekannt gemacht, sie lernen die Post benutzen, die nähere Umgebung der Stadt, Wiese, Feld, Wald wird öfter besucht; der Berg muss erstiegen werden. Der Lehrer geht mit der Klasse spazieren. Die einzelnen Kinder erhalten Aufgaben: Zeige uns den nächsten Weg nach dem Wochen- markte nach der Heinrichstrasse du, führe uns in den Wald du, schöpfe einen Becher Wasser aus der Quelle wir haben uns verlaufen, wir stehen am Ufer eines Flusses. Was müssen wir suchen? die Brücke. Diese und ähnliche Aufgaben erziehen zur Selbstthätigkeit und damit zur Selbständig- keit im Handeln; sollen sie aber ihren Zweck erreichen, so muss der Lehrer so anschaulich als möglich verfahren. Die Anschaulichkeit des Unterrichts er- fordert nicht bloss eine geschickte Fragestellung, sondern sie legt ihren Haupt- wert auf eine andere Lehrthätigkeit: das Vormachen. Soll das Kind selbstthätig etwas thun, so muss es erst gesehen haben, einmal, dass es gemacht werden kann der Lehrer hat es wirklich vorgemacht, zum andern, welche Hand- griffe und Handlungen nach und nach aufeinanderfolgen. Das Vormachen bei einem geistig regsamen Kinde ist nun wesentlich unterschieden von dem bei einem geistig schwachen. Während das erstere mehrere aufeinanderfolgende Thätigkeiten mit einem Male und in der richtigen Folge aufzufassen und nach- zuahmen versteht, müssen bei dem schwachen nur einzelne Thätigkeiten vorge- macht werden; dann werden zwei verbunden, bis das Kind dasselbe selbstthätig ausführt, es kommt die dritte hinzu, die erste, zweite und dritte Thätigkeit werden einzeln wiederholt, alle drei zusammengefasst u. s. w. Immer muss der Lehrer dabei Obacht geben, dass die Augen der Kinder seine Handlungen ver- folgen, darum müssen diese kurz sein und öfter wiederholt werden. In aus- giebigstem Masse kann die Selbstthätigkeit im Handfertigkeitsunterrichte geweckt werden. Ein Beispiel: Aus dem Quadratblatt soll der Tisch, die Windmühle, der Doppelkahn und das Kästchen gefaltet werden. Während die kleinen Schüler das richtig zugeschnittene Blatt in die Hand bekommen, erhalten die älteren ein langes Blatt. Sie merken, dass es nicht die Form desjenigen hat, welches der Lehrer vorzeigt, gut, macht es euch selbst. Das Brechen der Brüche geschieht erst vom Lehrer, Ecke auf Ecke, Kante auf Kante. Die Schüler machen es nach. Das Blatt wird wieder entfaltet. Jetzt müssen die Kinder das Blatt brechen, ohne dass es vorgemacht wird. Die vier Ecken werden nach der Mitte gelegt. Vormachen nachmachen. Selbständig falten. Das Um- legen der vier Ecken wird nach jedesmaligem Herumdrehen des Blattes noch zweimal wiederholt. Die Ecken werden umgeschlagen und es steht der Tisch da. Wiederholung dieser Thätigkeiten ohne Vormachen nach Kommando, Quadratblatt, vier Ecken einlegen, zweimal umlegen, Ecken umschlagen, Tisch fertig. Wieder auseinanderfalten, faltet den Tisch. Durch bestimmtes Legen der Tischbeine entsteht die Windmühle. Auseinanderfalten. Faltet den Tisch;

69 die Windmühle, den Tisch, wieder die Windmühle. Legen wir die vier Tisch- ecken je zwei nebeneinander, so entsteht nach Zusammenklappen der Doppel- kahn. Das Falten bis hierher selbständig wiederholen lassen. Die geschickteren Schüler lernen noch aus dem Doppelkahn das Kästchen falten. In der nächsten Stunde werden die Übungen, welche in der ersten Stunde aus Zeitungspapier gelegt wurden, mit gutem Faltpapier ausgeführt.

Die Anleitung zur Selbstthätigkeit des Kindes muss vom ersten Augen- blick der Erziehung und des Unterrichtes an in Angriff genommen werden. Erfordert doch gerade der erste Unterricht einen ganz bedeutenden Grad von Anschaulichkeit und somit einer Persönlichkeit als Lehrer und Erzieher, die die Ideen Pestalozzis und Fröbels zu befolgen weis. Wird im ersten An- schauungsunterrichte vom Stuhl gesprochen, so muss das Kind selbst vorkommen und die Beine des Stubles zählen, den Sitz, die Lehne zeigen. Thätigkeiten ausführen: Setze dich auf den Stuhl Steh’ auf Trage den Stuhl in die Ecke Stelle ihn unter den Tisch Stelle dich vor den, hinter den, neben den Stuhl. Darstellen des Stuhles durch Stäbchenlegen. | Sitz, Lehne, Beine. Nimm die Lehne weg. Lege die Lehne wieder hin. Hebe den Sitz auf. Wir bauen einen Stuhl ohne Lehne —1== Sessel. Darstellen des Stuhles durch Finger und Hand. Die nach oben steif gehaltene linke Hand bildet das hintere Bein und die Lehne. Die im rechten Winkel gekrümmte rechte Hand stösst mit den Fingerspitzen an die linke Mittelhand, sodass Sitz und vorderes Bein zur Darstellung kommen. Jedes Kind muss diese Thätigkeiten nachmachen. Legt auf diesen Sitz ein Bauklötzchen, die Kreide, den Stift.

Fr. Fröbel hat uns in seinen Gaben und Beschäftigungsspielen, deren Handhabung bei geistig abnormen Kindern stets einer pädagogisch durchge- bildeten Lehrkraft anvertraut sein sollte, reiches Material zu Gebote gestellt, wonach es uns möglich ist, einesteils anschaulich, mit der Pflege der Selbst- thätigkeit als Ziel im Auge, andernteils aber auch äusserst abwechselungsreich zu unterrichten. Als Vorstufe zur Beschäftigung mit dem Baukasten, der dritten Gabe Fröbels, hat man noch nicht unterrichtsfähigen Schülern sogenannte Formenbretter gegeben, die darin bestehen, dass in ausgeschnittene Löcher dazu passende Figuren eingelegt werden müssen. Das Kind ist also gezwungen, eine Figur in eine bestimmte Lage zu bringen, eine Thätigkeit, die ihm mit dem Bauklötzchen allein noch zu schwer ist. Da mir aber die Formenbretter nicht mannigfaltig genug waren, habe ich ein Lehrmittel zusammengestellt, welches aus acht Formenbrettern mit 66 Öffnungen besteht und welches ich in nachfolgenden Zeilen nach seiner Zusammensetzung und seiner Verwen- dung den Kollegen an Anstalten und Hilfsschulen zur geneigten Kenntnisnahme unterbreiten möchte.

In einem dauerhaft gearbeiteten Holzkasten befindet sich in einem Quer- fach ein Brett mit zwei Schiebleisten, welche zwei Falze bilden, einen unteren 18 cm breiten und einen oberen 20 cm breiten. In den unteren Falz wird ein Farbenbrett, in den oberen eines der Formenbretter gelegt. Die Farben- bretter, drei an der Zahl, sind beiderseitig bunt poliert und zwar: schwarz und

10 weiss, rot und blau, gelb und grün. Die Formenbretter, einseitig und natur- poliert zeigen folgende Ausschnitte: F. 1 drei verschieden grosse Kreise. F. 2 vier i » Vierecke in verschiedener Lage. F. 3 Oval, Kreis, Stern, Dreieck, Kreuz, Dreieck. F. 4 Flasche, Herz, Glocke, Zuckerhut, Eichenblatt, Ei, Apfel, Birne. F. 5 Tisch, Stuhl, Haus, Bank, Treppe, Turm, Denkstein, langes Kreuz. F. 6 das grade Stäbchen: senkrecht, wagrecht, schräg, Leuchter, Weg- weiser, Bett, Tisch, Schüssel. F. 7 das gebogene Stäbchen: nach oben, nach unten geöffnet, Anker, Schirm, Schaukel, Schlange, Körbehen, Ornament. F. 8 zehn kleine Quadrate, 10 kleine Kreise.

Die Formenbretter sind 20 ><40 cm gross. Die zum Einlegen nötigen Figuren, im ganzen 166 Stück, sind beiderseitig bunt poliert und liegen verteilt in 3 Kästen mit 6 Fächern. Bretter und Figuren sind aus 1 cm dickem Erlenholz gefertigt. *)

Beim Gebrauch wird in den unteren Falz des Leistenbrettes erst ein Farbenbrett gelegt, auf dieses kommt dann eines der Formenbretter, welche nach der Schwierigkeit und Mannigfaltigkeit ihrer Formen methodisch geordnet sind. Das Kind hat von den bereitgelegten Figuren diejenigen auszuwählen, welche in die passende Öffnung gehören, es muss also vergleichen, sortieren, einreihen. Der Formensinn wird geweckt und geübt, da aber auch die be- treffende Farbe, welche untergelegt ist, getroffen werden soll, wird auch der Farbensinn gepflegt. Hebt man nach fertigem Einlegen der Figuren das Formen- brett auf, so liegen die Figuren auf dem Farbenhrett als plastische Körper obenauf. Die Selbstthätigkeit der befähigteren Kinder kann mit diesem Lehr- mittel dadurch angeregt werden, dass die Figuren nach aufgestelliem Formen- brett als Vorlage auf das Farbenbrett freihändig gelegt werden. Die Figuren können auch zum Nachzeichnen benutzt werden; im Anfang legt das Kind die Figuren auf Papier oder auf die Tafel und umzieht sie mit dem Stift; später werden die Figuren frei nachgezeichnet. Wird der Umriss der aufgelegten Figur auf die Rückseite von buntem Glanzpapier gemalt, so kann man die Figuren aus dem bunten Papier ausschneiden. Für die geschickteren Schüler bieten die Figuren Vorlagen zum Ausschneiden mit der Laubsäge aus dünnem Ahorn oder Cigarrenkistenholz.

Die Übungen mit den Formenbrettern müssen vom Lehrer vom Leichten zum Schweren fortschreitend methodisch geordnet sein, es darf nicht eher zu einer neuen Schwierigkeit geschritten werden, bis nicht die eine Übung vom Kinde selbständig ausgeführt werden kann.

Die Mannigfaltigkeit der Formen erlaubt auch eine Arbeit mit den Figuren ohne Formenbrett, indem durch sie Gegenstände des Anschauungsunterrichtes zur Darstellung gebracht werden können. Aus den graden Stäbchen wird ein

*) Ich verkaufe dieses Lehrmittel auf nur direkte Bestellung für 30 Mark. M. W.

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Turm gebaut, darin wird die Glocke (F. 4) aufgehängt. Tisch, Stuhl und Bank sind teils als solche vertreten (F. 5), teils können sie aus den graden Stäbchen gebildet: werden, -— ebenso Treppe, Kreuz, Haus (F. 5), die Schlange wird aus den runden Stäbchen (Fig. 7) gelegt, das Kirchenfenster aus graden und runden Stäbchen. |

Ausser den Lebensformen können Schönheitsformen in äusserst reicher Auswahl gelegt werden. Aber immer gilt es, das vom Lehrer Vorgemachte vom Schüler erst mit, dann ohne jegliche Hilfe selbstthätig nachmachen zu lassen.

Ein Mittel zur Weckung und Erhaltung des Interesses der Kinder ist die Verwendung Fröbelscher Verschen.*) „Wir bau’n uns hier ein Thor, Stell’

niemand sich davor.“ „Eisenbahn von nah und fern, Dich seh‘n alle Kinder gern, Nimm mich mit.“ „Wir bilden jetzt ein Taubenhaus, Ihr Täubchen, flieget froh hinaus.“ „Kindchen will ein Körbchen machen, Drin zu tragen

schöne Sachen.“ „Seht ein Nestchen, seht ein Ei (F. 4), Vögelchen ist nicht dabei.“ „Ich bin ein kleiner Zimmermann, Ich baue, was ich bauen kann. Ich bau’ ein Treppchen fest und hoch, Und habe kleine Hände noch.“ (F. 5 oder aus den Vierecken von F. 8 oder den graden Stäbchen.) „Stäbchen sich an Stäbchen baun, Seht den schönen Gartenzaun. In dem Garten still und klein, Wachsen schöne Blümelein.“ „Über Baum und Haus Schaut der Turm hinaus.“ „Wer machte denn die Sonne hier Und diese Strahlen dran? Ich weiss es wohl und sag’ es Dir, Mein Händchen hat’s gethan.“

Feroerhin können die Figuren zur Belebung und Veranschaulichung der ~ auf diese Stufe gehörigen kleinen Geschichten und Erzählungen der Fibel Verwendung finden. Der Lehrer erzählt und legt dabei die Figuren hin, das ein- fache grade Stäbchen ist z. B. eine Person. Auf diese Weise wird die Phantasie des schwachen Kindes geweckt und genährt. Einige Beispiele mögen erläutern:

Rotkäppchen = ein grades Stäbchen mit einem runden roten Stäbchen als Käppchen. Wald = durch grade Stäbchen Bäume legen. Da kommt der Wolf = ein langes Viereck. Haus der Grossmutter ein Dreieck von F. 3 als Dach, das Haus mit graden Stäbchen, die Fenster aus den kleinen Vierecken von F.8.

In ähnlicher Weise lässt sich bei der Erzählung von den zwei Ziegen, die sich auf einem Stege begegnen, das Wasser aus runden und der Steg aus graden Stäbchen darstellen. Zu der Darstellung des Baumes in der Geschichte, wo dab Büblein auf den Baum steigt, benutzt man grade Stäbchen, und das Nest wird durch ein gebogenes Stäbchen gebildet.

Die Kinder müssen die Geschichten wiedererzählen und dabei die Hand- Jungen durch Figuren darzustellen suchen, so wie sie es von ihrem Lehrer haben vormachen sehen.

Zum Schluss ein Wort Fr. Fröbels:

Was der Mensch darzustellen strebt, Fängt er an zu verstehen.

*) Die Bewegungsspiele des Kindergartens von August Köhler. Herausgegeben von Dr. A. Weber. 10. Auflage. Weimar. H. Böhlaus Nchf.

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Die Erziehungs- und Pflege-Anstalten und Hilfsschulen Schlesiens.

Mit Rücksicht darauf, dass die IX. Konferenz für das Idiotenwesen zu Breslau stattfindet, geben wir im folgenden eine kurze Übersicht über die Erziehungs- und Pflegeanstalten, sowie über die Hilfsschulen der Provinz Schlesien.

I. Anstalten.

1. Breslau. Idiotenanstalt in der Fürstenstrasse; Besitzerin Fräulein Reiss; Erziehungs- und Pflegeanstalt. Vertreter der Anstalt ist Herr Seminar- direktor Zyron-Breslau.

2. Craschnitz im Kreise Militsch, Bahnstation an der Strecke Oels- Gnesen. Deutsches Samariter-Ordens-Stift. Es besteht aus folgenden Abteilungen: i

]. Abteilung fir Schwach- und Blödsinnige. (Kinder und Er-

wachsene.) II. * » Epileptische. III. a Sieche und Krüppel. IV. si » vollsinnige kleine Kinder. (Krippe.) V. s von auswärts gekommene Kranke.

Die Zahl der Insassen beträgt weit über 600; der Unterricht wird in mehreren Klassen von evangelischen Ordensschwestern unter Anleitung und Aufsicht eines Pastors erteilt. Vertreter des Stifts ist der Königliche Kammer- herr, Herr Graf v. d. Recke-Volmerstein auf Craschnitz.

3. Liegnitz. Idiotenanstalt Wilhelm und Augusta-Stiftang, Erziehungs- anstalt zunächst für den Regierungsbezirk Liegnitz. Der Unterricht wird in mehreren Klassen von geprüften Lehrkräften erteilt. Direktor der Anstalt ist Herr Glamann-Liegnitz.

4. Freiburg i. Sch). Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt haupt- sächlich für erwachsene Geistesschwache. Unterricht wird nur einigen Kindern von weiblichen Lehrkräften erteilt. Direktor der Anstalt ist Herr Dr. med. Buttenberg-Freiburg i. Schl.

5. Kattowitz. Provinzial-Heil- und Pflege- Anstalt. Unterrichts- anstalt für ungefähr 100 Kinder; 3 männliche und 2 weibliche Lehrkräfte wirken an der Anstalt; Leiter derselben und erster Lehrer ist Herr Wicher- Kattowitz.

6. Lublinitz. Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt verbunden mit der Provinzial-Zwangserziehungsanstalt, nur für männliche und weibliche Pfleg- linge bestimmt. In hygienischer Hinsicht ist die Anstalt vorzüglich einge- richtet. Direktor über beide Anstalten ist Herr Kessler-Lublinitz, im übrigen aber untersteht die Pflege-Anstalt einem Oberarzte.

7. Leschnitz O./Schl. Erziehungs- Anstalt für geistesschwache, aber bildungsfähige Kinder zunächst aus dem Regierungsbezirke Oppeln. Sechs

73 Unterrichtsklassen mit gut organisierten Schulverhältnissen; 4 geprüfte männliche und 2 weibliche Lehrkräfte erteilen in 3 Vorschul- und 3 Elementarklassen den Unterricht. Mit der Erziehungsanstalt ist eine kleine Pflege-Anstalt verbunden. Leiter der Anstalten ist der Königliche Kreisschulinspektor Herr Weichert- Leschnitz O./Schl.

8. Schreiberhau im Kreise Hirschberg (Riesengebirge). Älteste Idiotenanstalt Schlesiens, im Jahre 1845 gegründet. Erziehungs- und Pflege- Anstalt. Die Anstalt gehört dem Verein zur Rettung sittlich verwahrloster Kinder im Riesengebirge. Zwei Unterrichtsklassen. Vorstand ist Herr Pastor Hagemann-Schreiberhau.

II. Hilfsschulen.

1. Breslau. 5 Hilfsschulen mit je 2 Lehrkräften (2 Klassen: Ober- und Unterstufe). Die (männlichen) Lehrkräfte der Oberstufe haben die Leitung. Ausserdem ist an jeder der 5 Hilfsschulen ein sogenannter Beschäftigungs-Unterricht eingeführt, der von Kindergärtnerinnen erteilt wird. Die Oberleitung hat Herr Stadtschulrat Dr. Pfundtner-Breslau.

2. Görlitz. Städtische Hilfsschule, eine Klasse; den Unterricht erteilt Herr Lehrer Hanke- Görlitz.

3. Gr.-Glogau. Städtische Hilfsschule mit einer Schulklasse.

Darnach dürfte Schlesien wohl unter allen preussischen Provinzen die- jenige sein, welche die meisten Anstalten für Bildung und Pflege Geistes- schwacher zählt und auch diejenige, wo man sich sehr zeitig, bereits 1845, mit der Idiotenheilpflege befasst hat.

Leschnitz im April 1898. Fr. Frenzel.

Mitteilungen.

Aus Württemberg. (Personalien) Dem Mitherausgeber d. Bl, Herrn Dr. med. H. Wildermuth, wurde vom Könige von Württemberg der Charakter eines „Sanitätsrates® verliehen. Herr Dr. med. J. L. A. Koch, Direktor der Königl. Staatsirrenanstalt Zwiefalten, wurde infolge andauernder Krankheit auf sein Ersuchen in den Ruhestand versetzt. Zu seinem Nachfolger ist Herr Dr. med. Binder, bis- heriger Direktor der Flammschen Anstalten in Pfullingen, ernannt.

Hannover. (Erster Verbandstag der deutschen Hilfsschulen.) Dem eigentlichen Verbandstage ging eine Vorversammlung voraus, die am 12. April abonds im „Haus der Väter“ stattfand und von Stadtschulrat Wehrhahn- Hannover geleitet wurde Mit einigen allgemeinen Redensarten beginnend, bemerkte derselbe, dass bis- her wenig für den Gedankenaustausch der Hilfsschulen geschehen sei. Von der „Konferenz“ schien er nichts zu wissen, noch viel weniger schien er dieselbe besucht zu haben, ebenso wenig schien ihm auch unsere Zeitung mit ihren vielen Artikeln über die Hilfsschule bekannt zu sein. Es bestehe, meinte er, keine Einigkeit hin- sichtlich des Lehr- und Stundenplanes, der Methode, der Organisation und vieler

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anderer wichtigen Fragen. Diese Lücke auszufüllen, sei der Zweck des zu grün- denden Verbandstages. Hierauf verbreitete sich Hilfsschulleiter Kielhorn über die Bedeutung eines Verbandes der deutschen Hilfsschulen. Es werde von verschiedenen Seiten behauptet, dass es nicht angebracht sei, einen Verband zu gründen, und hin- sichtlich der Vertretung der Interessen der Hilfsschulen auf den Anschluss an die Konferenz für das Idiotenwesen und den allgemeinen deutschen Lehrertag hingewiesen. Er sei aber durch den Besuch der Konferenz, wo er Anregung, Belehrung und Teil- nahme für die Hilfsschulen gesucht, zu der Überzeugung gekommen, dass dort die Interessen derselben nicht gewahrt würden. Habe man doch die Daseinsberechtigung der Hilfsschulen bestritten, und die Lehrer an diesen Schulen seien das fünfte Rad am Wagen gewesen. Wenn auch auf der letzten Konferenz in Heidelberg eine mil- dere Stimmung gegen die Hilfsschulen geherrscht habe, so sei der alte Groll doch noch immer vorhanden. Den Beweis hierfür schenkte sich der Redner.*) Der allge- meine deutsche Lehrertag eigne sich auch nicht für die Wahrnehmung der Interessen der Hilfsschulen, da jener sich mit der Pädagogik für normale Kinder befasse. Das Kindlein (die Hilfsschule) liege jetzt nicht mehr in den Windeln, wie vor zehn und mehr Jahren, es könne jetzt auf eigenen Füssen stehen, und darum sei es besser, wenn die Hilfsschulleute sich enger zusammenschlössen zu eigener Aussprache, ohne jedoch der Konferenz feindlich gegenüber zu treten. Das Ziel des Verbandes solle eine weitere Ausbreitung der Hilfsschulen sein, und den Lehrern solle durch den Verband Gelegenheit zum Austausch ihrer Erfahrungen gegeben werden, Das rechte Verständnis für die Hilfsschulen sei noch nicht überall vorhanden, deshalb sei auch eine gewisse Agitation für diese nötig. Auch darauf müsse sich die Aufgabe richten, dass die Schwachbefähigten in der Gesetzgebung durch Rechtspflege Berücksichtigung fänden, nicht in das Heer eingereiht würden und ihnen Schutz im wirtschaftlichen Leben werde. In der Debatte über den gehörten Vortrag sprach sich Schulrat Platen-Magdeburg dahin aus, dass es im Hinblick auf das bisher bestandene Ver- hältnis zu der Konferenz für das Idiotenwesen loyaler gewesen wäre, wenn die Frage der Verbandsgründung erst nach der Konferenz zur Entscheidung gekommen wäre, Man habe doch auf der letzten Konferenz versprochen, auf der nächsten Konferenz in Breslau zu erscheinen und Dir. Karl Richter als Vertreter der Hilfsschulen in den Vorstand gewählt. Dieser sei nun der Konferenz gegenüber in einer peinlichen Lage. Hätte man mit der Gründung des Verbandes gewartet, so wäre es auch wohl möglich gewesen, Dir. Richter, den er sehr ungern vermisse, für den Verband zu gewinnen.

Hauptlehrer Grote-Hannover dagegen meinte, es könnten doch höchstens die sieben eingeschriebenen Mitglieder der Konferenz eine Verpflichtung gegenüber dieser haben; alle die Hunderte**) von Hilfsschullehrern dagegen, die nie an der Konferenz teilgenommen oder doch nur als Gäste, seien frei davon. Stadtschulrat Kessler- Düsseldorf begrüsste die Gründung eines Verbandes mit Freuden. Die Konferenz für das Idiotenwesen sei der Sache der Hilfsschulen nachteilig ***) gewesen. Die Rheinländer

*) Wie immer! **) Wie viele Hunderte von Hilfsschullehrern giebt es denn? ***) Andere behaupten gerade das Gegenteil. Womit will denn der Sprecher seine Behauptung begründen? Hat derselbe denn überhaupt an einer Konferenz teilgenommen? Die Schriftleitung.

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hätten zwar schon einen Provinzialverband; aber ein allgemeiner deutscher Verband sei doch genehm, denn ein solch grosser Verband sei zur Förderung der Sache besser als ein kleiner. Auch Beigeordneter, Schulrat Dr. Boodstein meinte, dass durch den allgemeinen deutschen Verband die Provinzialverbände nicht überflüssig würden. Der Besuch der Konferenz sei ebenfalls zu empfehien; eine Animosität gegen diese liege der Versammlung durchaus fern. Der Antrag, einen Verbanl zu gründen, wurde darauf angenommen, und 67 Teilnehmer zeichneten sich als Mitglieder in die Listen ein. Bei der hierauf folgenden Statutenberatung gab eine Ausserung des Stadt- schulrates Platen-Magdeburg, nach welcher man die allgemeine deutsche Lehrer- versammlung nicht besnehe, um zu lernen, sondern sich zu amisieren, Rektor Scherr- Nordhausen Veranlassung zu einem entschiedenen Protest, sowie dazu, dem Verband den Rücken zu kehren. Dr. Gündel-Leipzig suchte eine innigere Beziehung zwischen Konferenz und Verband dadurch zu erzielen, dass er beantragte, der Verband solle am selben Ort und zur selben Zeit, vielleicht zwei Tage früher, mit der Konferenz tagen, so dass die Teilnehmer am Verbandstage auch die Konferenz besuchen könnten. Wie wenig günstig man aber der Konferenz gesonnen war, ging daraus hervor, dass man diesen Antrag einfach aus dem formellen Grunde ablehnte, dass die Statuten- beratung zu Ende sei. In den Vorstand des Verbandes wählte man Dr. Wehr- habn, Kielhorn, Grote, Henze-Hannover und Bock-Braunschweig.

Mittwoch den 18. April fand im Saale des alten Rathauses die Hanptversamm- lung des Verbandes statt. Dieselbe war von etwa 110 Personen besucht. Der Vor- sitzende, Dr. Wehrhahn, eröffnete die Versammlung und legte ihr die in der Vor- versammlung gefassten Beschlüsse vor, die von ihr gebilligt wurden. Nach Verlesung eines Schreibens des Kultusministers, in dem dieser versichert, das wärmste Interesse für das Hilfeschulwesen zu haben, nahm Herr Geheimer Regierungsrat Wendland das Wort und begrüsste die Versammlung im Namen des Provinzial-Schulkollegiums, Herr Regierungs- und Schulrat Pabst that dies im Namen der Regierung. Herr Stadtsyndikus Eyl hiess die Anwesenden im Namen des Magistrate willkommen und Hauptlehrer Grote im Namen des Ortsausschusses. Hierauf hielt Wintermann- Bremen seinen Vortrag über den gegenwärtigen Stand des Hilfsschulwesens und gab damit ein Bild von dem Hilfsschulwesen in den verschiedenen Städten und einen kurzen Überblick über die Entwickelung desselben. Nach kurzer Debatte nahm Grote-Haunover das Wort zum Vortrage über das Thema: „Welche Kinder ge- hören in die Hilfsschule, und was ist bei Aufnahme derselben zu beachten“. Die Ausführungen des Redners gipfelten in 6 Thesen. Da diese Thesen aber nicht gedruckt vorlagen, fand nur eine Diskussion über den Vortrag statt. Es wurde der Vorschlag des Vorsitzenden angenommen, die Stellungnahme zu den Thesen, die jedem Mitgliede gedruckt zugehen sollten, bis zum nächstjährigen Verbandstage zu ver- schieben. Den dritten und letzten Vortrag hielt Dr. Wulff über die Stellung des Arztes in der Hilfsschule, Er betonte, dass die Hilfsschule Schule bleiben und sich nicht zur Anstalt erweitern dürfe. Der Arzt soll keine selbständige, sondern nur beeinflussende Stellung einnehmen, besonders in Anspruch genommen werden muss er bei der Aufnahme der Kinder, die in die Hilfsschulen gehören. Nach kurzer Debatte wurde beschlossen, die beiden noch auf der Tagesordnung stehenden Vor-

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träge zurückzustellen. Die Wahl des Ortes für den nächsten Verbandstag wurde dem Vorstand überlassen.

Leschnitz O0/Schl. (Personalien.) Am1. Juli d. Js. tritt Herr Erziehungs- Inspektor A. Heisig, erster Lehrer an der hiesigen Erziehungsanstalt für Geistes- schwache, in den Ruhestand. Die Erziehungsanstalt Leschnitz verliert mit seinem Scheiden einen väterlichen Freund, einen treuen Lehrer und einen wohlmeinenden Erzieher. Ein halbes Menschenalter lang, beinahe 27 Jahre, hat A. Heisig im Dienste der Blödenerziehung gestanden und in diesem schweren Berufe unter günstigen und ungünstigen Verhältnissen verdienstvoll gewirkt. Geboren am 15. Dezember 1831 zu Pommerswitz im Kreise Leobschütz, trat A. Heisig mit 17 Jahren in das Schul- Jehrer-Seminar zu Ober-Glogau ein und verwaltete nach wohl bestandener Lehrer- prüfung zunächst eine Lehrerstelle zu Jeschona, Kreis Gr.-Strehlitz. Darauf wurde ihm die Lehrerstelle zu Wyssoka und später die zu Zyrowa desselben Kreises über- tragen. Auf dieser Stelle wirkte er bis zum 1. Oktober des Jahres 1871, zu welchem Zeitpunkte seine Berufung als Lehrer für die zu eröffnende Anstalt für Unterricht und Erziehung schwachsinniger aber bildungsfähiger Kinder zunächst aus dem Regierungsbezirke Oppeln zu Leschnitz O/Schl. erfolgte. Am 9. Oktober 1871 wurde die Anstalt mit 5 Kindern feierlichst eröffnet und A. Heisig mit der Leitung derselben betraut. Mit grossem Eifer und treuer Gewissenhaftigkeit arbeitete er sich nicht nur in die neuen Schulverhältnisse, sondern auch in die übrigen Gebiete der Anstaltsthätigkeit ein. Im Jahre 1891, also nach 20 Jahren seiner Wirksamkeit, während welcher Zeit er fast ausschliesslich allein die gesamte Verwaltung zu be- sorgen haite, erfuhr die Anstalt eine wesentliche Umgestaltung, indem ein neues, geräumiges Gebäude bezogen und die Zahl der Kinder bedeutend vermehrt wurde. Die Leitung ging in die Hände des Königlichen Kreisschulinspektors Herrn Weichert über; A. Heisig wurde zum Hauptlehrer ernaunt. Bei dem Festakte der feierlichen Einweihung des neuen Gebäudes erhielt er für seine Verdienste auf dem Gebiete der Idiotenerziehung von Sr. Majestät dem Könige den Adler der Inhaber des Hohen- zollernschen Hausordens, welchen ihm der Herr Regierungspräsident Dr. von Bitter mit anerkennenden Worten persönlich überreichte. Gelegentlich der Feier des 25jährigen Bestehens der Anstalt am 9. Oktober 1896 dankte ihm die Verwaltung durch Ver- leihung des Titels „Erziehungs-Inspektor“. Da mit der stetigen Erweiterung der Erziehungsanstalt und bei Heisigs verantwortlicher Stellang als Erziehungs- inspektor immer grössere Pflichten an ihn herantraten, und er infolge einer schweren Krankheit, die ihn im vorigen Jahre längere Zeit hindurch auf das Krankenlager warf, sowie infolge eines traurigen Todesfalls in seiner Familie, der ihm sehr zu Herzen ging (ein hoffnungsvoller Sohn, sehr geschickter Arzt, wurde plötzlich in noch sehr jugendlichem Alter durch den Tod dahingerafft), sich nicht mehr so rüstig fühlt, um allen Anforderungen seines schweren Berufes nachkommen zu können, so hat er selbst den Wunsch ausgesprochen, die Verwaltung der Anstalt möchte ihn zum 1. Juli d. Js. seines Amtes entbinden. Trotz des vorgeschrittenen Alters, in welchem A. Heisig steht, und trotz der grossen Arbeitslast ist er bis zur Stunde seinen vielfachen Berufspflichten sich immer gleich bleibend mit unwandelbarer Pflichttreue, emsigem Fleisse und hingebender Liebe nachgekommen. Er hat in seinem Wirken

11 und Schaffen stets das Ziel zu erstreben gesucht, wie das schöne Schriftwort es in den Worten: „Ich will der Schwachen warten und ilırer pflegen, wie es recht ist“, so treffend ausdrückt. Möge ihm nun Frieden und Ruhe, die er so oft im Getriebe des Anstaltslebens nicht zu finden vermochte, nach denen er aber sich manchmal von ganzem Herzen sehnte, voll und ganz zu teil werden! Die Erziehungsanstalt Leschnitz wird sein Andenken stets in Ehren halten.

Berlin. (Allgemeine Bestimmungen über den Nebenunterricht an den Ge- meindeschulen) 8 1. Zweck. Gemeindeschulkinder, welche infolge geistiger oder körperlicher Hemmnisse an dem lehrplanmässigen Unterricht nicht mit Erfolg teilnehmen, können einem Unterricht in den Nebenklassen überwiesen werden. Er soll die Kinder so fördern, dass sie entweder schulfähig werden oder die ihnen er- reichbare Vorbildung für das spätere Leben erlangen. § 2. Auswahl. Bildungs- fähige, aber zeitweise oder dauernd für den regelmässigen Schulunterricht ungeeignete Kinder werden dem Schulinspektor von dem Rektor gemeldet. Die Notwendigkeit der Aufnahme erörtern der Schulinspektor, der zuständige Rektor und der Lehrer unter Zuziehung eines der vom Magistrat bestimmten Ärzte. Der Schulinspektor entscheidet darüber nach Anhörung des Erziehungsverpflichteten, ob das Kind des Nebenunter- richtes bedarf. § 8. Nebenklassen. Die in den Nebenunterricht aufgenommenen Kinder werden zu Gruppen von höchstens 12 Kindern vereinigt, welche von einem Lehrer unterrichtet werden können. Die Gruppierung geschieht auf Zeit und mit Rücksicht auf die Befähigung der Kinder und die Lage der Schulen. Der Unterricht einer Nebenklasse findet in einem Gemeindeschulzimmer statt, dessen Lage von der Schul - Deputation zu bestimmen ist. Die Gruppe gilt als eine Klasse der Gemeindeschule; der Rektor hat über diese Klasse die sonst gültigen Disciplinar- und Aufsichtsbefugnisse, und die Kinder werden als Gemeindeschüler geführt. 8 4. Umfang des Nebenunterrichts. Der Nebenunterricht umfasst in der Regel wöchentlich 12, also durchschnittlich täglich 2 Stunden. Der Unterricht erstreckt sich auf Religion, Deutsch, Schreiben und Rechnen, in geeigueten Fällen auch auf Hand- fertigkeit, insbesondere Handarbeiten für Mädchen. Der „Anschauungsunterricht* ist besonders zu betonen. Der Lehrplan wird von dem Rektor aufgestellt und unterliegt der Genehmigung des Schulinspektors. Die Kinder der Nebenklassen nehmen ausser- dem je nach Vorschlag des Lehrers und nach Anweisung des Schulinspektorse an einzelnen Stunden der Gemeindeschule teil, wie z. B. am Zeichnen, Turnen, Singen. 8 5. Übertritt aus den Nebonklassen in die Gemeindeschule. Am Schlusse jedes Halbjahrs wird über die Kinder ein Bericht des Lehrers an den Schulinspektor erstattet mit der Ausserung darüber, ob die Kinder dem Hauptunterricht zugeführt werden können. Der Schulinspektor, der die Kinder nötigenfalls in der Nebenklasse selbst beobachtet, entscheidet über die Frage, ob das Kind in der Nebenklasse zurück- gehalten werden soll. § 6. Lehrer. Der Lehrer der Nebenklasse wird aus den endgültig angestellten Gemeindelehrern nach dem Vorschlage des Schulinspektors von der Schuldeputation auf Zeit angenommen. Der Lehrer erhält das gesetzliche Dienst- einkommen als Gemeindelehrer und ist verpflichtet, neben den Stunden in der Neben- klasse noch Stunden in anderen Klassen bis zu 24 Stunden im ganzen zu erteilen. Es wird ihm eine nicht pensionsfähige Funktionszulage von 300 Mark jährlich bewilligt.

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Schreiberhau i. Riesengeb. (Erziehungs- und Pflegeanstalt.) Soeben gelangt der Bericht über das 62. Jahr der komb. Schreiberhau-Diesdorfer Rettungsanstalten, sowie der über das 52. Jahr der Erziehungs- und Pfiege- anstalten für Idioten für 1897 zur Ausgabe. Die Rettungsanstalt, bereits 1835 gegründet, zählt zur Zeit 21 Rettungshauszöglinge, 14 Knaben und 7 Madchen. Die Knaben stehen unter einem Pfleger, die Madchen unter einer Pflegerin. Der Vormittag gehört ganz der Schule, der Nachmittag der körperlichen Arbeit. Das Rettungshaus hat in den meisten Fällen segensreich gewirkt, was ihm unter anderm auch von dem Missions-Departement der evangelischen Brüderunität in einem warm gehaltenen Anerkennungsschreiben ausdrücklich bezeugt wird. Die Idiotenanstalt ist eine der ältesten Anstalten Deutschlands und wurde bereits im Jahre 1845 ins Leben gerufen; bis zum vergangenen Jahre (1897) hat sie nur ein bescheidenes Dasein geführt, nunmehr aber bedeutende Erweiterungen erfahren und zählt 59 Zög- linge. Diese sind in drei Abteilungen, in eine Schulabteilung (19), eine Beschäftigungs- abteilung (20) und eine Pflegeabteilung (20) eingeteilt. Die bildungsfähigen Kinder werden in 2 Klassen unterrichtet, vier derselben wurden soweit gefördert, dass sie aus der Idiotenschule in die Schule für Vollsinnige versetzt werden konnten. Die männlichen, arbeitsfähigen Pfleglinge finden Beschäftigung in Haus- und Feldwirtschaft, und die weiblichen werden mit Waschen, Scheuern, Kartoffeischälen, Federschleissen, Stricken u. s. w. beschäftigt. Eine zweckmässig aufgestellte Hausordnung regelt die Beschäftigung und das Leben im Hause. Bei dieser Gelegenheit will ich noch auf einen älteren Bericht der komb. Anstalten verweisen, den Jahresbericht von 1868, und einen Satz hieraus wegen seines allgemeinen Interesses vollständig wiedergeben. Derselbe lautet: „Das geschäftige Leben beim Spiele oder beim Arbeiten wirkt auf die Blödsinnigen, selbst wenn sie daran nicht Teil nehmen, anregend und aufmunternd und ist wohl im stande, in ihnen die Aufmerksamkeit zu wecken, manche Begriffe zu erzeugen und zu einigen Willensäusserungen Anstoss zu geben.“ Dieser Satz rührt von dem Medizinalrate Dr. Herzog her. Die Diesdorfer Erziehuugsanstalt (Buchdruckerei) ist für konfirmierte Knaben bestimmt, welche in der Stille eines christlichen Hauswesens zu tüchtigen Schriftsetzern, Buchdruckern und Buchbindern herangebildet werden sollen. Die Anstalt erbittet Druckaufträge auch von auswärts, Sämtliche Anstalten werden von dem „Verein zur Rettung sittlich-verwahrloster Kinder im Biesengebirge* unterhalten, die Provinz Schlesien leistet auch erhebliche Beihilfen. Der Etat beläuft sich auf 27 866,13 Mk. in Einnahme und auf 27865,41 Mk. in Ausgabe. Vorsteher des Direktoriums der komb. Schreiberhau-Diesdorfer Rettungsanstalten ist Herr Pastor Hagemann in Schreiberhau im Riesengebirge. (Frenzel.)

Budapest. (Idiotenanstalt.) Ungarn hatte, trotzdem es gegen 16000 Idioten zählt, bis 1896 keine einzige staatliche Idiotenanstalt. Es bestand wohl seit 20 Jahren die Frimische Idiotenanstalt, da dieselbe jedoch als Privatanstalt den Bedürf- nissen eines ganzen Landes nicht Rechnung tragen konnte, so wurde auf Antrag des Landesschulinspektors Josef Roboz die Frimische Anstalt vom Staate käuflich er- worben und selbige zur hauptstidtischen Landes-Idiotenanstalt erklärt. Die Anstalt, die am Fusso dos Adler- und Schwabenberges, an einem schönen und äusserst ge- sunden Punkte Ofens liegt, wurde nun ganz neu organisiert und mit der Leitung der-

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solbeu Johann Berinza, Professor der Waitzner Taubstummenanstalt, betraut. Der Lehrkörper des Instituts musste entsprechend erweitert werden, da der Unterricht in 7 aufsteigende Klassen erteilt werden und ein Lehrer nur 10 Schüler unterrichten soll. Aufgenommen wurden in das Institut 50 bildungsfähige Idioten und Imbecillen, die in folgenden Unterrichtsgegenständen unterwiesen werden: Religion, Anschauungsunterricht, Schreiben und Lesen, Sprach- und Aufsatzlehre, Rechnen, Zeichnen, Schönschreiben, Gesang, Turnen. Die Knaben erhalten Anleitung zum Korbflechten, werden aber auch zu den Gartenarbeiten herangezogen; die Mädchen hingegen lernen Handarbeiten und helfen dem Küchenpersonale.

Litteratur.

Die Pädagogische Pathologie in der Erziehungakunde des 19. Jahr- hunderts. Von Joh. Fr. Közle. Gekrönte Preisschrift der Pädagogischen Gesell- schaft zu Leipzig. Gütersloh 1893. Verlag von C. Bertelsmann. Preis Mk. 5.—.

Den Namen „pädagogische Pathologie“ hat Ludwig Strümpell, der greise Lehrer der Philosophie an der Universität zu Leipzig, wohl vor ungsfähr acht Jahren zueret in die Wissenschaft eingeführt. Während der Arzt unter Pathologie die Lehre von den körperlichen Krankheiten versteht, hat Strümpell die pädagogische Pathologie oder die Lehre von den Kinderfehlern ausgedehnt auf ‚alle Zustände und Vorgänge, die erfahrungsgemäss während der Entwicklung des geistigen Lebens im Kindesalter von solcher Beschaffenheit sind, dass sie der Abschätzung und Wert- bestimmung, nach denen der Pädagoge sie im Hinblicke auf die von ihm gedachte und erstrebte Jugendbildung auffasst und beurteilt, entweder als nicht genügend, oder als bedenklich, oder als schädlich, überhaupt als in irgend welcher Hinsicht der Besserung bedürftige Fehler erscheinen“. Im Jahre 1891 erliess die „Pädagogische Gesellschaft* zu Leipzig auf Anregung des Professors Strümpell eine Preisaufgabe, wonach mit Berücksichtigung der von Strümpell veröffentlichten Schrift: Die pädagogische Pathologie, die pädagogische Litteratur seit Anfang unseres Jahr- hunderts durchsucht werden sollte, um festzustellen: 1. welche pädagogischen Kinderfehler von den betreffenden Schriftstellern genannt und beachtet sind, 2. was über die Natur und Eigenart und 3. was über die Veranlassungen und Ur- sachen derselben gesagt wird. Von den eingegangenen Arbeiten erhielt die vor- liegende den ausgesetzten Preis von 300 Mark. Közle giebt uns aus der päda- gogischen Litteratur unseres Jahrhunderts in drei umfangreichen Kapiteln wohlgeordnet einen Überblick über das pathologische Material, die Klassifikation und die Ätiologie der Kinderfehler; die Therapie aber schliesst er geflissentlich aus und bringt sie nur soweit, als sie in Vermischung mit der Symptomatologie auftritt. Bei dem allgemeinen Interesse, welches heutzutage die pädagogische Pathologie in den weitesten Kreisen gefanden hat, dürfte das vorliegende Werk namentlich für Orientierungszwecke auf diesem Gebiete eine willkommene Handreichung bieten. Es sei daher allen unsern Lesern, die sich für Kinderfehler interessieren, besonders aber den Lehrern an Erziehungs- und Unterrichtsanstalten aufs angelegentlichste empfohlen.

Fr. Frenzel.

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Über die Aufgabe des Pflegepersonals bei Epileptischen. Von Dr. Wildermuth, Nervenarzt in Stuttgart. (Sonderabdruck aus „Die Armen- pflege“, 1898, Nr. 11 u. 12. Halle a. S. Verlag von Carl Marhold. 1898.)

Das aus der Praxis der Behandlung Epileptischer stammende Schriftchen behandelt in leichtverständlicher Weise in 18 Abschnitten die Aufgabe des Pflegepersonals. Es bespricht die epileptischen Anfälle überhaupt, die Vorboten des Anfalles, das Vorgefühl (Aura), den eigentlichen Anfall, die gehäuften Anfälle, die epileptischen Anfälle in Form von Geistesstérung, die unvollständigen Anfälle, das Verhalten der Epileptiker in den Zwischenzeiten, den geistigen Verfall der Epileptiker, die Pflege Wohnung, Kleidung und Ernährung der Epileptischen, die Darreichung der Arzneien und die Haut- und Mundpflege. Am Schlusse verbreitet sich das Schriftchen über die eigentliche Behandlung der Epileptischen im Anfall sowie in der Zwischenzeit und zeigt an der Hand von Fragen, auf welche es bei der Beobachtung der bedanernswerten Kranken besonders ankommt. Aus jedem Satze des Schriftchens spricht nicht nur der auf dem Gebiete der Epilepsie erfahrene Arzt, sondern auch der warme Freund der Kranken. Es sollte die tägliche Lektüre der Pfleger und Pflegerinnen sein.

Ungarische Heilpädagogik (Magyar Gyögypaedagogia) von Josef Roboz, Landesschulinspektor der humanitären Anstalten.

Unter diesem Titel ist in der Waitzner Taubstummenanstalt das erste Heft eines heilpädagogischen Fachblattes erschienen, welches sich das Ziel vorgesteckt hat, die Interessen der Taubstummen-, Blinden- und Idiotenlehrer zu fördern und das Wort für die Heilung der Stotterer zu erheben. In der Einleitung wird geschildert, wie das Waitzner Taubstummeninstitut bald sein 100jähriges Jubiläum feiern wird. Im ganzen bestehen in Ungarn 2 grössere und 5 kleinere Taubstummeninstitute, 1 Blinden- und 1 Idiotenanstalt. Mit den Kursen für Stotterer steht Ungarn noch beim Anfange. Unter den Aufsätzen des Blattes heben wir an erster Stelle den von Dr. Alexander von Szabö hervor, der mit äusserst genauer Fach- und Sachkenntnis den Unterricht der Schwachsinnigen und dessen Bedeutung präzisiert. Es folgen dann verschiedene Abhandlungen, dem Gebiete des Taubstummen-, Blinden- und Idioten-Unterrichtes ent- nommen, eine äusserst lehrreiche Dissertation über die menschlichen Sprach- und Redefehler, Mitteilungen von den ungarischen humanitären Anstalten und Verschiedenes aus der allgemeinen Pädagogik. Das etwa 3 Bogen umfassende Heft ist vom Anfange bis zum Ende äusserst interessant und lehrreich, vorzüglich redigiert, und geben wir der Hoffnung Raum, dass dasselbe alle pädagogischen Kreise mit jenem Wohlwollen empfangen werden, welches es im vollsten Masse verdient. J. K.

Inhalt. IX. Konferenz für Idiotenpflege. Aus der Praxis der Vorschule (G. Nitzsche). Übe und pflege die Selbstthätigkeit der Schüler (M. Weniger). Die Erziehungs- und Pflege- Anstalten und Hilfsschulen Schlesiens (Frenzel). Mitteilungen: Württemberg, Hannover, Leschnitz O/Schl., Berlin. Schreiberhau i. R., Budapest. Litteratur.

Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. In Kommission von Warnatz & Lehmann, Kgl. Hofbuchhändler in Dresden. Druck von Johannes Pässler in Dresden.

)

Nr. 6. | XIV. vili) Jahrg.

Zeitschrift

Behandlung Schwachsimecr thd Epileptiseher

Organ der Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Arzten und Padagogen

herausgegeben von

W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, Direktor der Erziehungsanstalt Spezialarat fir geistig Zurtickgebliebene in . für Nervenkrankheiten Dresden -N. in Stuttgart. een genen in 8 nn von Zu durch alle Buchhandlungen mindestens einem Bogen. nzeigen für und Postämter, wie auch direkt von den die gespaltene Petitzeile 25 Pfg. Litte- August 1898. Herausgebern. Preis pro Jahr 4 Mark,

rarische Beilagen 6 Mark. einzelne Nummer 50 Pfg.

Zur IX. Konferenz für Idiotenpflege und Schulen für schwachbefähigte Kinder.

1. Als geeignete Hotels für die auswärtigen Teilnehmer sind zu empfehlen: Evang. Vereinshaus, Holteistr. 6/8 (billig), Gelber Löwe, Oderstr. 23 (Zimmer von 1,50 .# an), Hotel zur Post, Albrechtsstr, Deutsches Haus, Albrechtsstr. (Zimmer von 2,50 „4 an), Weisser Adler, Ohlauerstr. In der Nähe des Bahnhofs: Hotel du Nord, Hotel zum Zentralbahnhof und Kaiserhof. Es erscheint rätlich, Zimmer vorher bei den betr. Hotels zu bestellen.

2. Den Konferenzteilnehmern wird ein Führer durch Breslau am Vorabende der Konferenz gratis übergeben werden. Wer zu etwaiger Orientierung diesen Führer (mit Karte von Breslau) bereits vorher besitzen will, der wende sich mit Beifügung des Portos an Herrn Stadtschulinspektor Dr. Wetzel in Breslau.

3. Anträge für die Konferenz sind rechtzeitig schriftlich dem Vorstande spätestens am Tage vor der 1. Hauptversammlung zu übermitteln.

I. A: Weichert.

Aus der Praxis der Vorschule. Von Oberlehrer G. Nitzsche. (Fortsetzung.)

IV. Stufe, wöchentlich 5 Stunden.

Der Besprechung werden Gruppenbilder zu Grunde gelegt. Die Behandlung berücksichtigt die nachstehenden Fragen, ohne sich aber schablonenmässig an ihre Reihenfolge zu binden; sie benützt zuweilen die Erzählform z. B.

Zu Nr. 2. Ein Vater und eine Mutter wohnten in einer Stube. (Wer? Wo?) Sie hatten einen kleinen Knaben, der war so gross wie Max und auch ein ganz kleines Kind, das lag in der Wiege. Das kleine Kind konnte noch

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nicht reden, auch noch nicht laufen. (Wieviel Kinder? Wie gross?) Der Vater sprach zur Mutter: Ich habe auf dem Felde fleissig gearbeitet und bin nun hungrig. (Wo hatte der Vater gearbeitet? Was war er wohl? Wie war er geworden? Was wollte er thun?) Die Mutter brachte sofort das Essen herbei und stellte die Schüssel auf den Tisch. Vater, Mutter und auch der kleine Knabe beteten; sie beteten: Komm, Herr Jesus, sei —. Darnach fing der Vater an zu essen, der Knabe bekam auch von der Mutter einen Löffel und ass mit. Auf einmal pochte es an die Stubenthüre. Der Vater rief: „Herein!“ Da ging die Thüre auf und ein Mann kam in die Stube herein, er sagte: „Guten Tag!“ Der Mann hatte dem Bauer auf dem Felde arbeiten helfen; er hatte auch Hunger und wollte mit essen. Auf dem Fussboden sass aber noch jemand, der gern mitgegessen hätte, er bekam auch etwas; ihr werdet es mir gleich sagen können, wer das ist seht hier das Bild!

Jeder Lektion geht, wenn irgend möglich, der Besuch der betreffenden Örtlichkeit und eine Unterredung daselbst voraus. Vor der Besprechung des Bildes wird dasselbe gewöhnlich den Kindern einige Minuten zur freien Be- trachtung überlassen. Die zu jedem Gruppenbilde passenden Hillschen Bilder werden zum Aufsuchen und zum Vergleiche der in der Gruppe befindlichen Gegenstände bez. zur Vervollständigung des Bildes hinzugezogen. Die besonders genannten Gegenstände erfahren eine eingehende Besprechung nach folgenden Fragen: . Was ist das? Was siehst du hier?

. Wieviel sind da?

. Wo ist das?

. Welches sind seine Teile? Was hat es?

. Was thut es?

.. Was nützt es? Wozu wird es gebraucht? Wer gebraucht es? . Was ist das? Gattung.)

. Wie sieht es aus? Wie ist es?

Wer hat es gemacht?

Eine Stunde in der Woche wird verwendet auf das Durchlesen der Hillscben Bildertafeln und des Bilderbuches von Bohny. |

1. Das Unterrichtszimmer. (Präpositionen. Stufe IIT, 1.)

Das Zimmer an sich, die Zimmergeräte, die Personen (Körperteile, die

Sinne: ich sehe, ich höre u. s. w., die Kleidungsstücke) im Zimmer. Die Hand.

Memorieren: Hier (r. Hand hoch ab) eine Hand und da (l. Hand hoch ab) eine Hand, die rechte (vor ab) und linke (vor ab) sind sie genannt; 5 Finger (Hand vorheben, Finger spreizen) an jeder, die greifen (thun!) und fassen (thun!), jetzt will ich sie nur noch spielen lassen (Klavier-

spielen auf dem Tische). Doch wenn ich so gross (zeigen: Hand über den

Kopf) bin und was lerne, dann arbeiten (mit den Fäusten auf den Tisch schlagen) sie alle gar gerne. Ausnähen: Die Hand.

O ONS or OD &

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12.

13.

14.

15.

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. Die Wohnstube. Walthers Bilder zum Anschauungsunterrichte J. Band

Nr. 1. 2. 3. Der Tisch. Der Stuhl. Der Ofen. Memorieren: Tischgebet. Ausnähen: Tisch, Stuhl, Ofen.

. Die Küche. Walther I, 4. 5. 6.

Das Messer. Die Gabel. Die Schüssel. Ausnähen: Messer, Gabel. Thonarbeit: Schüssel.

. Das Haus. Modell. Der Bauplatz. Walther I, 20.

Ausnähen : Haus, Fenster.

. Der Obst- und Grasgarten. Die Leiter. Der Star.

Memorieren: „Wer hat die Blumen nur erdacht ?* Ausnäben: Leiter, Starkasten.

. Der Gemüsegarten. Der Garten zur Zeit der Bestellung.

Walther I, 9. 11. Spaten, Rechen. Ausnähen: Spaten, Rechen.

. Das Feid zur Zeit der Bestellung. Walther I, 13. 15.

Sortieren: Hafer, Korn, Weizen, Gerste.

. Der Kirschbaum. Die Kirsche.

Ausnähen: Die Kirsche.

< Die Wiese. Walther I, 23. Der Klee.

Das Schaf. Bild von Lehmann-Leutemann. Ausnähen: Sense, Sichel, Schaf, Kleeblatt. Der Wald. Meinholds Bild für den Anschauungsunterricht Nr. 12 und Walther I, 26. Der Baum. Ausnähen: Baum, Blätter. Das Feld zur Zeit der Getreideernte. ' Meinholds Bild Nr. 2; Walther, I, 15 II, 21. Der Leiterwagen. Memorieren: „Was mich kleidet, was mich nabrt“.— Ausnähen : Der Leiterwagen. Sortieren: Die Getreidekörner. Der Gemiisegarten. Walther II, 16. 17. 23. 20. Thonarbeit: Die Möhre. Der Marktplatz. Walther I, 18. Ausnähen: Die Bude. Der Garten zur Zeit der Ernte. Walther I, 10. Der Apfel. Thonarbeit: Der Apfel. Der Wald und seine Ausnutzung. Walther I, 25. Hierzu ein Holzschlag (grosse Spielwarenschachtel). Ausnähen: Axt, Säge. Erzählung; Rotkäppchen.

16.

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19. 20. 21. 22. 23.

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Die Kartoffelernte. Meinhold 18. Die Kartoffel (das Kochen derselben auf einem Petroleumkocher wird nach der Besprechung gezeigt).

Ausnähen: Die Kartoffelhacke.

Der Fisch. Pfeiffers Bild zu der Heyschen Fabel: „Fischlein, Fischlein“. ~ Leutemanns Bild: Karpfen und Hecht. Der Hering. Der Goldfisch im Fischglase. Das Fischspiel: Fische aus Holz werden geangelt. : Ausnähen: Der Fisch. Zeichnen: Angel.

Der Anstaltshof. Die Anstaltsökonomie. Walther I, 8. Die Kub. Leutemanns Bild. Ausnähen: Die Kuh. Thonarbeit: Die Kuhhörner.

Pferd und Sperling. Pfeiffers Bild.‘ Ausnähen: Pferd. Hufeisen. Thonarbeit: Hufeisen.

Das Weihnachtsfest. Memorieren: „Du lieber, frommer, heiliger Christ.“ Thonarbeit: Das Licht.

Katze und Maus. Leutemanns Bild. Die Kätzchen. Pfeiffers Bild. Lebende Maus. Ausnähen: Die Katze.

Das Schwein. Leutemanns Bild. Ausnähen: Schwein. Thonarbeit : Wurst.

Die Hühner Leutemanns Bild. Ausnähen: Hahn. Thonarbeit: Ei.

Der Rabe. Pfeiffers Bild. Ausnähen: Rabe.

. Die Mühle im Winter. Meinholds Bild Nr. 4.

- Ausnähen: Schlitten.

Der Bäcker und der Fleischer. Meinholds Bild Nr. 20: Das Brot. Thonarbeit: Das Brot. Bilderbuch: Woher kommt’s Brot, Verlag von Steinkamp in Duisburg.

Die Mühle im Frühlinge. Meinholds Bild Nr. 1. Das Rad. Ausnähen: Das Rad.

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Tägliche Wiederholungsfragen:

1. Wie heisst du und woher bist du? Wie alt bist du und wann ist dein Geburtstag? Was ist dein Vater? Lebt dein Vater (deine Mutter) noch? Wo wohnst du jetzt?

2. Die Wochentage: Sonntag, Montag,

Welcher Tag ist heute? gestern gewesen? morgen? Wann stehst du früh auf? Wann beginnt der Unterricht am Vormittage? am Nach- mittage? Wann isst du dein Mittagbrot? dein Vesperbrot? das Abend- brot? An welchem Tage gehen die grossen Leute in die Kirche?

3. Was bist du? Was bin ich? Was ist deine Mutter? Was ist der Tisch? der Stuhl? der Quirl, der Salat, der Apfel, der Spaten? u. s. w.

4. Was wird aus dem Kalbe, der Raupe, dem Küchlein,. dem Ferkel, dem Lamm, dem Ei? Was verarbeitet der Bäcker, der Schneider, der Schuh- macher? Was kauft man beim Bäcker, beim Müller? Welches Ding hat .einen Bart? Welcher Hut schmeckt süss? Welches Werkzeug hat Zähne ? Merche Mühle hat Flügel? u. s. w.

II. Sortieren.

Das Sortieren ist ein bis zur Thätigkeit entwickelter und gesteigerter Anschauungsunterricht, es hat eine Anzahl Begriffe durch die Handtbätigkeit zur Einübung zu bringen. Das Sortieren wird bis zur Geläufigkeit geübt; die Unterstufen werden damit wöchentlich 2, die Oberstufe 1 Stunde beschäftigt. 1. Kugel und Ball.

Jedes Kind erhält ein leeres Kästchen und ein Körbchen mit 8—10 Kugeln und ebensovielen Bällen; Bälle und Kugeln sind von gleicher Grösse und Farbe.

a) Unterscheiden und Benennen: Das ist eine Kugel. Das ist ein Ball.

b) Sortieren nach Kommando. Wir legen die Kugeln in den leeren Kasten:

Zeigt die Kugel! Kugel hoch! Sprecht! Legt die Kugel in den Kasten! Sprecht: Kugel in den Kasten! Nehmt wieder eine Kugel heraus! Kugel hoch! Sprecht! Kugel in den Kasten! u. s. w.

c) Die Kinder arbeiten still für sich: Legt die Kugeln (Bälle) in den Kasten!

Das Sortieren von anderen Gegenständen wird, wie bereits im vorher- gehenden Lehrgange (11. Stufe, Nr. 7, III Stufe, Nr. 14, 16, IV. Stufe, Nr. 11) bemerkt, in der für den Anschauungsunterricht angesetzten Zeit vorgenommen.

2. Die Eigenschaften „gross und klein“. *)

a) 8 grosse Ringe (von Eisen oder Messing, ca. 4 cm Durchmesser) und 8 grosse Kugeln. Die Kinder werden zunächst angeleitet, Ring an Ring in wagerechter bez. senkrechter Richtung auf den Tisch zu legen;

-*) Die Unterscheidung von „lang und kurz lässt man am besten in der Vorschule fallen, alle Übungen mit langen und kurzen Fäden, Stäbchen, Linealen, Schieferstiften, Bau- klötzern, hatten nach vieler Mühe das Ergebnis, dass für lang und kurz‘ stets „gross und klein“ gebraucht wurde. |

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ein Kreidestrich auf dem Tische oder äls Zeichnung an der Wandtafel

geben hierbei für den Anfang die nötige Unterstützung. Nach erlangter

Fertigkeit im Ringelegen werden die Kugeln in dieselben eingelegt.

aa) Nach Kommando: Ring hoch! Sprecht! Legt den Ring auf den Tisch, wagerecht (hierzu die Richtung bezeichnende Handbewegung ! Kugel hoch! Sprecht! Legt die Kugel in den Ring! Sprecht! u. s. w.

bb) Wie bei 1c): Legt die Ringe in die senkrechte (wagerechte) Reihe, legt die Kugeln hinein.

b) 8 grosse und 8 kleine Kugeln. aa) Nach Kommando: Jeder legt die grossen (kleinen) Kugeln in seinen

Kasten. bb) Wie bei 1c): Legt die kleinen (grossen) Kugeln in den Kasten.

c) 8 kleine Ringe und 8 kleine Kugeln. Ubung wie 2a.

d) 8 grosse und 8 kleine Ringe. Anzeichnen an die Wandtafel! aa) Wagerechte bez, senkrechte Reihen aus grossen und kleinen Ringen. bb) Reihe: Grosser Ring, kleiner Ring, grosser Ring, kleiner Ring u. s. w. cc) Wagerechte bez. senkrechte Reihe: Die kleinen Ringe liegen in den

grossen Ringen. dd) Verschiedene Formen: Kreuz aus grossen und kleinen Ringen, Viereck u. s. w. |

e) 8 grosse Ringe und Kugeln, 8 kleine Ringe und Kugeln. Übungen wie unter d).

f) Das Kind hat in seinem Kasten grosse und kleine Häuser und Tiere von Holz, grosse und kleine Bleisoldaten, Würfel, Spielmarken u. s. w. Die Präpositionen: in, an, auf, vor, hinter, neben, rechts, links, finden hier Gelegenheit zur Einübung.

Aufgabe: Stellt die grossen (kleinen) Häuser in einer Reihe! Stellt die grossen Pferde, Kühe, Schafe, Schweine auf! Stellt vor jedes grosse Haus einen kleinen Hund! Stellt neben das kleine Haus auf die linke (rechte) Seite ein grosses Haus! u. s. w. Übungen im Ablesen: Grosses Haus, kleines Haus, grosses Haus u. s. w.

g). Was ist gross, was ist klein? Mann, Knabe; Frau, Mädchen; Kuh, Kalb; Katze, Maus u. s. w.

3. „Rund wid eckig“ (spitz).

a) 8 runde und 8 viereckige Säulen von 5 cm Höhe und 2 cm Breite, Benennen: Das ist eine Säule (Bauklotz). Die Säule ist rund (eckig). aa) Nach Kommando. | bb) Aufstellen nach bestimmter Anordnung, wie unter 2d).

b) Täfelchen von runder, eirunder und viereckiger Form (5 cm). Übung wie bei a).

c) Was ist rund, eckig? Holzklotz, Rad, Tisch, Schiefertafel, Schieferstift, Kasten, Schrank, Ei, Uhr, Kartoffel, Erbse, Linse, Sternnudeln, Nägel u. s. w. Die Gegenstände werden zur Anschauung gebracht: Hole etwas, was rund ist! u. s. w.

u

4. „Diek und dünn (stark und schwach). a) 8 dieke und 8 dünne Bleisoldaten. b) 8 dieke und 8 dünne Papptäfelchen. c) Was ist dick, dünn? Papier, Bücher, Gläser, Kleidungsstücke, Brett- stücke, Schiefer, Bleistifte, Holzklötzer u. s. w. 5. „Rauh und glatt.“ a) 8 mit Sandpapier und 8 mit glattem Papiere überzogene Papptäfelchen von derselben Grösse, Form und Farbe. À b) Was ist glatt, rauh? Lederstückchen, gehobelte und ungehobelte Brettchen, gewöhnliches und mattes Glas, glasierte und unglasierte Töpfe, Blumentöpfe, Reibeisen u. s. w. 6. „Hart und weich.“

a) 8 harte und 8 weiche Gummibälle von gleicher Grösse und Farbe. b) Was ist hart, weich? Kugel, Ball, Stein, Schwamm, Watte, Feuer- haken, Schlüssel, Kleidungsstücke, Bett, Besen, Bürste, Brot, Semmel u. s.w. 7. „Schwer und leicht.“ *) a) 12 Säckchen von verschiedener Grösse mit Heu, Watte, Sand, Steinchen gefüllt. b) Was ist schwer, leicht? Übungen im Schätzen der Schwere: Stuhl

und Tisch, leerer und gefüllter Krug, Eimer Holzkorb, hartes und weiches Holz u. s. w.

8. „Durchsichtig und undurchsichtig“.

a) Scheiben von buntem Glas und von Pappe, welche mit buntem Papier überzogen ist; die Scheiben haben die Grösse eines .Markstückes.

b) Was ist durchsichtig? Gläser und Becher, Flaschen von Glas und Thon, Krüge, Teller u. s. w.

9. Die Unterscheidung der Farben: Schwarz, Weiss, Rot, Grün, Gelb, Blau.

Zur Einübung dienen 30 cm grosse, quadratförmige Farbentafeln, die in der oben angegebenen Reihenfolge im Zimmer aufgehängt werden, sowie eine grosse Anzahl kleiner (5 cm) Täfelchen von derselben Form für die Hand der Kinder. Die Einübung beginnt mit den ersten beiden Farben; sind diese dem Gedächtnis eingeprägt, so wird die nächste Farbe dazu genommen. |

a) Die grossen Tafeln hängen so, dass sie von allen Zöglingen gut gesehen

werden können. Der Lehrer nennt wiederholt den Namen einer Farbe und zeigt sie; die Kinder nennen eben so oft den Namen. Dasselbe geschieht bei der zweiten Farbentafel.

b) Der Lehrer nennt eine Farbe, der Schüler zeigt sie.

c) Jeder Schüler erhält je 12 Täfelchen von jeder Farbe, welche letztere

mit den Farben der grossen Tafel korrespondiert. Der Lehrer zeigt und nennt die Farbe, der Schüler hebt auf Erfordern das entsprechende

*) Eine Übung, die im späteren Rechenunterrichte noch weiter ausgestaltet wird.

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Täfelchen; hierauf beginnen die Sortierübungen, wobei auch farbige Muster gelegt werden. Bei Reihenbildungen (2d) wird das Ablesen fleissig geübt.

d) Zu jeder Farbe werden Dinge gesucht; diese Gegenstände müssen in der Stunde angeschaut werden können.

Schwarz ist der Russ,’ die Kohle, der Hut, der Rabe, die Wichse u. s. w. Weiss ist die Kreide, der Zucker, das Mehl, das Papier, das Hemd u. s. w. Gelb ist das Stroh, der Messingring, die Zitrone, der Kanarienvogel u. s. w. Rot ist das Fleisch, der Dachziegel, das Tuch, die Rose u. s. w. Blau ist die Kornblume, die Schürze, das Tuch, das Papier u. s. w. Grün ist das Gras, das Blatt, der Laubfrosch, das Moos u. s. w.

e) Übung im Erkennen der Farbe eines Dinges aus nach und nach grösser werdender Entfernung. Die Übungen werden erst im Zimmer, später im Garten vorgenommen; hiermit werden Aufgaben im Suchen der im Garten aufgehingten Farbentafeln verbunden.

f) Die Wiederholungstafel führt sämtliche Farben in bunter Reihe zur Unterscheidung vor. Zur Wiederholung wird auch farbige Kreide benutzt, mit welcher kleine Figuren (Kreuze, Ringe u. s. w.) oder Buch- staben an die Wandtafel angeschrieben werden; der Schüler liest das Geschriebene und giebt jedesmal die Farbe des Abgelesenen an. Ferner malen die Schüler kleine Figuren mit farbigen Stiften; die Farbe wird vom Lehrer bestimmt.

g) Das Mosaikspiel. Es besteht aus 25 Würfeln von 2 cm Höhe, deren Flächen sind mit Ölfarbe gestrichen; je eine ist rot, weiss, gelb, blau; die übrigen zwei sind schräg halbiert und weiss und rot bez. gelb und blau ‘bemalt.

10. Erkennen durch das Gefühl.

Die Gegenstände werden in Säckchen gesteckt. Der Schüler sagt an, was sich in einem ihm zugeteilten Säckchen befindet; durch ein an letzterem aussen angebrachtes Zeichen kann sich der Lehrer von der Richtigkeit der Ansage schnell überzeugen. Die übrigen Schüler müssen denselben Gegenstand suchen; ist dies geschehen, so werden die Säckchen geöffnet.

a) Gegenstände: Kugel, Ball, Bauklotz, Ring, Schlüssel, Messer, Nagel, Apfel,

Birne, Watte, Heu, Strob, Wall- und Haselnuss, Bohnen, Erbsen u. s. w.

b) Stoffe: Kugel aus Glas und Holz, Büchse aus Holz und Blech.

c) Formen: Kugel, Würfel, Säule, Walze; Dreiecke, Vierecke, Scheiben.

Das Unterscheiden der Stoffe mittels Sortierens muss wegen des Mangels an geeigneten Objekten unterbleiben und im Anschauungsunterrichte an den be- treffenden Gegenständen geübt werden. Kugeln aus Stein, Glas und Holz, Knöpfe von Blei, Messing und Horn, Scheiben von Blech und Messing gestatten wohl einige, aber nicht ausreichende Übungen. (Fortsetzung folgt.)

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Über Dr. Guggenbühl auf dem Abendberg.

Von F. Kölle- Zürich.

Eine Anfrage aus Kopenhagen nach den Vornamen von Dr. Guggenbühl für eine Arbeit in ein Konversationslexikon veranlasste mich, den Personalien des für die Idiotensache so wichtig gewordenen Mannes etwas nachzuforschen Durch die Freundlichkeit des Herrn Prof. Dr. Otto Hurziber gelang es end- lich, zu erfahren, dass nach dem Civilstands- und Bürgerbuch von Meilen, Kanton Zürich, Hans Jakob Guggenbühl von Meilen stammt. Er ist der Sohn von Hans Jakob Guggenbühl und der Maria geb. Hottinger, geb. in Meilen den 13. Aug. 1816, gestorben den 2. Fbr. 1863 (in Russland? oder Montreux?), also erst 47 J. alt.

Einen kritischen sehr interessanten Bericht über die Anstalt auf dem Abendberg enthalten die Verhandlungen der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft von 1850, der von mir teilweise in einem demnächst im Drucke erscheinenden Vortrag über die Fürsorge von Blöden in der Schweiz benützt wurde. Das Urteil zweier Männer, des Landammanns von St. Gallen, der die Anstalt zum Zweck der Berichterstattung an die Schweiz. Gemeinnützige Gesell- schaft besuchte, weil G. diese um Unterstützung angegangen und den man aus nicht edlen Gründen eine Stunde im Wartezimmer sitzen liess, sowie der Bericht eines Beamten der Bernischen Regierung an diese, sind für die Anstalt und deren Leitung geradezu vernichtend und gewiss mit ein Grund, warum in der Schweiz so lange Zeit für die Sache der Idioten verhältnismässig wenig geschah.

Welche Stimmung damals in der Schweiz Guggenbühl und seiner An- stalt gegenüber herrschte, dürfte am deutlichsten aus nachstehender Schmäh- schrift hervorgehen, die sich ungedruckt unter den Papieren Niederers, eines der Lehrer Pestalozzis, gefunden hat, und die ich gleichfalls Herrn Prof. Dr. Hunziker verdanke. Andererseits wollen wir freilich nicht vergessen, dass Guggenbühls Anstalt auf dem Abendberg die Veranlassung zur Gründung von so mancher Anstalt für Idioten, besonders in Deutschland, geworden ist.

Die Persiflage, die vor etwa 50 Jahren geschrieben sein mag und berni- schen Ursprungs ist, lautet wie folgt:

„Offenes Sendschreiben des Kretinen und gegenwärtigen Gemeinderats Kobi Löhl an Herrn Dr. Guggenbühl auf dem Abendberg.

Verleumdeter Wohlthäter der Menschheit!

Was war vor Ihnen der Kretine? Ein Geschöpf mit einem Kropf, welches man vor den Augen der Menschen verbarg. Nicht einmal zur Würde eines Gemeinde- rats war vor Ihrem Auftreten je ein Kretine gelangt! Ihnen war es vorbehalten, dem Kretinismus jene Geltung in der menschlichen Gesellschaft zu verschaffen, die ihm gebührt. Ihrem auf die Schultern niederwallenden Lockenhaar, der schwärmeri- ‚schen Tiefe Ihres Blickes, der Salbung Ihrer Rede und der Menge Ihrer Broschüren

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ist das grosse Werk gelungen, die Kretinen in Mode zu bringen. Durch Sie wurde der Abendberg zum fashionablen Walifahrtsort der vornehmen Welt. Sie haben die Gräfin Hahn-Hahn zu einem enthusiastischen Apostel des Kretinismus gemacht. Sie sind der Urheber aller jener Kretinenbälle und Kretinenkonzerte, an denen in Ham- burg und Berlin, in Frankfurt am Main und an der Oder so viele fühlende Gemüter zu gunsten unserer interessanten Rasse Triller schlugen und Polka tanzten.

Es war ein glücklicher Griff von Ihnen, edler Doktor, als Sie sich vornahmen, der Erlöser der Kretinen zu werden, dieser interessanten Wesen, die in kindlicher Naivität nichts thun, als essen, verdauen und schlafen. Wie unendlich interessanter erscheinen dieselben, als die gewöhnlichen Menschen, die vom zerfressenden Gifte des Verstandes durchsäuert sind!

Es ist Ihnen gelungen, verleumdeter Wohlthater, das Eis des Vorurteiles zu brechen, welches auf uns lastete. Bereits sitzen von Ihren Schützlingen in den Ge- meinderäten. Nur fortgestrebt, edler Kämpfer! Warum sollte der Kretine nicht auch in Kantonsräten, im Regierungsfauteuil oder an noch höherer Stelle an seinem Platze ‘sein? Wie viele hoch- und höchstgestellte Männer hat es schon gegeben, die kaum anderes thaten, als essen, verdauen und schlafen! Und wie viele sitzen jetzt schon in Ämtern und Würden, denen nichts mangelt, um zu den unsern gezählt zu werden als der Kropf.

Bis jetzt hat noch kein Dichter den Kretin als liebendes oder geliebtes Wesen besungen. Und doch sind auch unsere Herzen sanfter Empfindungen und zarter Regungen fähig. Ich ahne die Tage, da die Poeten der Zukunft Kretinenliebe zum Gegenstand ihrer Dramen und Romane wählen werden. Auch dies wird Ihr Werk sein, Herr Doktor und edler Wohlthäter!

Mögen Sie deshalb fortfahren, Sie von allen Kretinen der zivilisierten Welt gefeierter, grosser Mann, Ihrem Werke der Aufopferung und Uneigennitzigkeit ferner obzuliegen, unbeirrt vom Giftzahn der Verlaumdung hämischer Neider. Was darf es Sie kümmern, wenn Ihre Feinde sagen, Sie hätten unser Missgeschick als Industrie

ausgebeutet; macht sich nicht der ums Vaterland verdient, welcher in diesen bösen Zeiten neue Industriezweige einführt? Ihre Zöglinge seien oft ungewaschen und ungekämmt, und steckten in schmutzigen Lumpen: ist denn der Schauspieler

immer im Kostüm? Braucht er hinter der Scene auf dem Koturn zu schreiten? Genügt es nicht, wenn die Kinder des Abendberges während der Touristen-Saison gekämmt und gewaschen sind, da ja während 8 Monaten des Jahres keine fremde Katze die Anstalt besucht! Sie liessen Ihren P’fleglingen den Kartoffelbrei, der ihre sichtbare irdische Hülle ätherisieren, ihren schlummernden Geist erwecken soll, nicht in genügender Menge reichen: geben Sie nicht selbst das schönste Beispiel der Euthaltsamkeit, auf Ihrem Abendberg und trinken niemals Champagner als einsam in stiller Mitternacht, wonn niemand mehr wacht!

Strafen Sie Ihre Feinde mit Verachtung, Broschüren und Zeitungsartikeln! Harron Sie standhaft aus auf dem Posten, von welchem ein Gezücht „moralischer Kretinen“ Sie verdrängen möchte, und nicht nur der himmlische Lohn wird Ihrer warten, sondern es werden noch fernerhin Ihre Armenbüchsen sich füllen, und die Napoleons- und Friedrichsdor mitleidiger Comtessen und die Guineen gemeinnütziger

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Lords Ihren Abendberg, den Schauplatz Ihres uneigennützigen Wirkens vergolden. Dieses wünscht Ihnen derjenige, der ja auch diese Zeilen ohne Sie nicht hätte schreiben können. Kobi Löhl,

Kretin u. Gemeinderat.“

Mitteilungen.

Hessen. (Fürsorge für fallsüchtige Schulkinder.) Zu der grossen Anzahl humaner Anstalten, durch die sich unser Hessenland auszeichnet, wird dem- nächst eine neue, nicht minder notwendige kommen: eine Heil- und Pflegeanstalt für epileptische Kinder. Etwa 200 Epileptische in dem Alter von 6—14 Jahren hat man im Grossherzogtum gezählt, und zum grössten Teil, sofern sie nicht sehr wohlhabenden Familien angehören, befinden sie sich in einer traurigen Lage; der Aufenthalt im Kreis der Angehörigen schliesst ganz und gar nicht immer eine rechte Verpflegung und noch weniger die sonst etwa mögliche Besserung oder Heilung ein. Es ist deshalb eine Kommission von Herren aus den drei hessischen Provinzen zusammen- getreten, die eine Anstalt für solche fallsüchtige Kinder und Jugendliche gründen will. Grosses Entgegenkommen hat dieser Plan in den verschiedenen Kreisen gefunden, zunächst bei den Ärzten und Schulbehörden, die durch jenes Unternehmen endlich die schwer zu behandelnden Epileptischen zweckmässig untergebracht sehen, zu schweigen von den Angehörigen und Freunden dieser armen Kinder, denen man nur zu gern helfen möchte. Das Protektorat über die Anstalt hat die Grossherzogin über- nommen. In der Gemarkung Nieder-Ramstadt bei Darmstadt sind von der Kommission vier Morgen Ackerland angekauft worden, um dort ein allen sachgemässen Anforderungen entsprechendes Gebäude zu errichten, das zunächst 30-35 Pfleglingen Unterkunft gewähren würde.

Nieder-Mansberg. (Idiotenanstalt) Im Laufe des Jahres 1897 wurden 34 Knaben und 29 Mädchen aufgenommen. Nach Angabe der Angehörigen oder der untersuchenden Ärzte war die Idiotie bei 43 Kindern (21 Kn., 22 M.) ange- boren 68,2%, wogegen sie bei 20 (18 Kn, 7 M) = 31,8%, nach der Geburt erworben sein soll. Die nach der Aufiahme in der Anstalt vorgenommene Untersuchung hatte hinsichtlich der Degenerationszeichen das Ergebnis, dass 35 körperliche Abnormitäten zeigten. Der Gesundheitszustand der Anstalts- insassen war während des verflossenen Jahres ein günstiger. Akute Infektionskrank- heiten traten nur vereinzelt auf und nahmen im Durchschnitt einen milden Verlauf Es prävalieren, wie auch früher, die chronischen Krankheiten: die tuberkulösen und skrophulésen Affektionen. Die Tuberkulose trat in allen möglichen Formen auf, besonders als Knochen-, Lungen- und Darm-Entzündung. Die skrophulösen Kinder, 52 an Zahl (15,7%), litten teils an Drüsen-Schwellung und Eiterung, an Augen- katarrhen der Binde-, Horn- und Regenbogen-Haut, an Katarrhen des Ohres, an Nasen-Affektionen, teils an Zahnkrankheiten, teils an Hautausschlägen. Die grösste Sorgfalt erforderten die skrophulösen Affektionen. Neben der speziellen Behandlung der verschiedenen Formen wurde auch eine allgemeine vorgenommen. Diese bestand in einer Badekur von vierwöchentlicher Dauer in der warmen Jahreszeit: jedem Bade

wurden 1—3 kg Stassfurter Salz zugesetzt. Im Winter trat an Stelle der Bäder eine Leberthrankur. Der Leberthran, mit Saccharin versüsst, wurde gern und ohne Widerwillen genommen. Die Bäder wurden gut vertragen; der Appetit nahm zu und mit ihm das Wohlbefinden der Kinder. Während der Leberthrankur war Gewichts- zunahme zu konstatieren. Von den Epileptikern in der Anstalt werden von ihnen 35 verpflegt (9,9%) gaben nur die Fälle mit Erregungszuständen, und wo Status epilepticus das Leben gefährdete, Anlass zur Behandlung. Sie erhielten Bromkali mit mehr oder weniger Erfolg. Die Krankheiten endeten in 12 Fällen mit dem Tode.

Leschnitz 0.-Schl.. (Personalien.) Herrn Frziehungs-Inspektor A. Heisig wurde anlässlich seines Ausscheidens aus dem Anstaltsdienste von Sr. Majestät dem Könige der Königliche Kronenorden IV. Klasse verliehen. Als Nachfolger des Herrn H. ist Herr J. Kralewski, bisher Lehrer an der Königlichen Erziehungs- anstalt zu Conradshammer in Westpreussen, gewählt worden. Er hat am 1. Juli d. J. sein neues Amt angetreten.

Posen. (Idioten- und Epileptiker-Anstalt) Vom 21. bis 23. Juni d. J. "fand unter dem Vorsitz des königlichen Schlosshauptmanns von Dziembowski auf Schloss Meseritz eine Sitzung des Provinzialausschusses statt, an welcher auch der Oberpräsident teil nahm. In derselben erfolgte die Vorlegung und Festsetzung des Projekts für den Bau einer Idiotenanstalt für jugendliche sowie für bildungs- und beschäftigungsfähige Idioten und Epileptiker.

Kriegstetten-Solothurn. (Anstalt für schwachsinnige Kinder) Die Anstalt zählte im ersten Jahre 8, im zweiten 26, im dritten 41 und im vierten 50 Kinder. Von diesen 50 Kindern gehören an dem Kanton Solothurn 83, Bern 15, Glarus 1 und Luzern 1. Von den Armenerziebungsvereinen werden versorgt 18, von Gemeinden 21, von den Eltern oder Verwandten 11. Für 25 arme Kinder, deren Eltern Kantonsbürger oder im Kanton niedergelassen sind, betrug das Kostgeld bis Ende Dezember 1897 250 Fr., seit Neujahr 1898 200 Fr. Die Armen- erziehungsvereine und Gemeinden anderer Kantone bezahlen für arme Kinder 350 Fr. Für die übrigen Kinder bezieht die Anstalt ein jährliches Kostgeld von 250-500 Fr. Seit der Eröffnung der Anstalt (1. Oktober 1894) sind 11 Kinder ausgetreten; 4 der- . selben mussten in der Anstalt Rosegg untergebracht werden, 1 befindet sich in der Anstalt für Epileptische in Zürich, 1 ist bei einem Landwirt versorgt, 2 wurden wegen Bildungsunfähigkeit entlassen und 3 von ihren Versorgern aus der Anstalt zurück- genommen. Ein Mädchen, eingetreten den 18. März 1896, wurde unterm 27. Okto- ber 1896 wegen Nierenkrankheit in das Bürgerspital Solothurn verbracht, wo es am 29. November 1896 starb. Von den Entlassenen betrug der Aufenthalt in der Anstalt für 3 Kinder 2°/, Jahre, für 2 zwei Jahre, für 1 ein Jahr, für die übrigen Kinder 1 Woche bis 7 Monate. Es kann nicht genug betont werden, dass eine berechtigte Hoffnung auf Heilung und Besserung der Kinder nur dann in Aussicht gestellt werden darf, wenn dieselben längere Zeit den Unterricht und die Pflege unserer Anstalt genossen haben. Da die Besserungsfähigkeit mit dem Alter der Kinder ab- nimmt, so sollte von den Eltern und Lehrern dafür gesorgt werden, dass die Kinder frühzeitig, d. h. wenn möglich vor dem 10. Lebensjahre, der Anstalt übergeben werden.

Schweiz. (Die schwachsinnigen Kinder und die Bundessub- vention für die Volksschule.) Im März 1897 wurde durch das eidgenössische statistische Bureau eine Zählung der schwachsinnigen, körperlich gebrechlichen und sittlich verwahrlosten Kinder vorgenommen. Vor einigen Wochen sind die Haupt- resultate dieser sehr zeitgemässen Untersuchung veröffentlicht worden. Es ist zu wünschen, dass diese gediegene Arbeit von Behörden, Geistlichen, Lehrern und edlen Menschenfreunden gelesen und gewürdigt werde.

Die Zahl der schwachsinnigen Kinder in einem geringern Grade beträgt 5052, der schwachsinnigen in einem höheren Grade 2615, zusammen 7667; der mit körper- lichen Gebrechen bohafteten 1848, der Idioten, Taubstummen und Blinden 2405, der Verwahrlosten 1235. Von den 7667 schwachsinnigen Kindern erhalten gegenwärtig 567 Kinder ihren Unterricht in einer Spezialklasse, 411 sind in Anstalten für Schwachsinnige versorgt, 104 Kinder befinden sich in Waisenanstalten oder ana- logen Instituten. Für 5885 Kinder wird eine Spezialbehandlung in einer entsprechenden Klasse oder in einer Anstalt gewünscht, bei 534 Kindern glaubt man auf eine Spezial- behandlung verzichten zu können, für 466 Kinder sind die Fragen betreffend Ver- sorgung unbeantwortet geblieben. |

Für den Unterricht in einer Spezialklasse werden von 6563 Kindern (mit ge- ringerem und höherem Grade des Schwachsinns, mit und ohne körperliche Gebrechen) empfohlen 3861, für die Versetzung in eine Spezialanstalt 1724; 567 Kinder befinden sich bereits in einer Spezialklasse und 411 in einer Spezialanstalt.

Eine ziemlich grosse Zahl der schwachsinnigen Kinder ist mit körperlichen Gebrechen behaftet; 923 leiden am Gehör, 276 an den Augen, 445 haben Sprach- gebrechen, 122 haben Veitstanz, Epilepsie u. s. w., bei 281 Kindern werden als körperliche Gebrechen genannt: Anämie, Skrophulose, Tuberkulose, Rhachitis u. s. w. - Endlich werden 364 schwachsinnige Kinder als verwahrlost bezeichnet.

Von der Unmöglichkeit, schwachsinnige Kinder in den, gewöhnlichen Schulen vorwärts zu bringen, ist man heute wohl allseitig überzeugt. In Deutschland bestehen in 58 Städten für schwachbagabte Kinder Hilfsklassen und Hilfsschulen; auch in verschiedenen Städten der Schweiz hat man schon solche Hilfsschulen errichtet. Dieselben reichen aber bei weitem nicht aus und die Vermehrung derselben ist eine dringende Notwendigkeit.

Wir begrüssen deshalb das von der schweizerischen Erziehungsdirektorenkonferenz aufgestellte Postulat, dass die Kantone berechtigt seien, aus der Bundessubvention für die Volksschule Spezialklassen für geistig zurückgebliebene Kinder zu errichten und zu unterstützen.

Aber nicht weniger billig, gerecht und notwendig ist die Unterstützung der Anstalten für schwachsinnige Kinder. Die Zahl der Schwachsinnigen im höhern Grade beträgt im ganzen 2615, und für 1724 vun diesen wird die Versetzung an eine Anstalt gewünscht. 411 Kinder sind bereits versorgt. Der Grosszahl dieser Kinder kann nach allen gemachten Erfahrungen einzig und allein in einer Anstalt geholfen werden; sie gehören meist den ärmsten Volksklassen au, wo die Not des Lebens Vater und Mutter zum Broterwerbe zwingt. So entbehren solche Kinder dabeim jeder Aufsicht und vernünftigen Erziehung, jeder geregelten Gewöhnung, jeder

en,

Anleitung zu irgend welcher nützlichen Dienstleistung und Arbeit. Und doch hat die Erfahrung bewiesen, dass die Anleitung zur Arbeit nicht weniger notwendig ist, wie die Unterweisung in den Schulfächern. Die regelmässige Beschäftigung ist es vorzugsweise, welche schwachsinnige Kinder auch nach der Entlassung aus der Anstalt auf der geistigen Höhe zu erhalten vermag, auf die sie durch die Thätigkeit in der Anstalt emporgehoben worden sind. In einer Spezialklasse ist eine geordnete, um- fangreiche Pflege der Handfertigkeit und somit eine bessere Vorbildung der Kinder für das praktische Leben nicht in gleicher Weise möglich wie in einer Anstalt.

Eine nicht geringe Zahl der schwachsinnigen Kinder leidet, wie die Uuter- suchung durch das eidgenössische statistische Bureau ergeben hat, auch an körperlichen Gebrechen. Für diese speziell ist die Versorgung in einer Anstalt, die unter unaus- gesetzter ärztlicher Leitung steht, dringend geboten. In der Frage der Ernährungs- und Lebensweise, Körperpflege, der psychischen Behandlung, der Auffassung und Beurteilung abnormer Erscheinungen muss der Arzt entscheiden.

Das Anstaltsleben mit seiner bestimmten Regelmässigkeit und Ordnung und der mannigfachen Anregung dient dazu, den Stumpfen aus seinem Traumleben zu wecken, den Unstäten zu zügeln und zu beruhigen, und alle an Ordnung, Gehorsam und Reinlichkeit zu gewöhnen. Durch geeignete kräftige Ernährung, sowie durch Waschungen und Bäder, durch vielo Bewegung und Aufenthalt im Freien, Turn- übungen und angemessene Beschäftigung sucht eine gutgeleitete Anstalt die Gesundheit der Kinder zu heben und zu stärken. Für Schwachsinnige im höhern Grade und speziell solche mit körperlichen Gebrechen kann nie und nimmer eine Spezialklasse eine Spezialanstalt ersetzen.

Es ist deshalb nicht einzusehen, warum nicht auch ein Teil der Bundessub- vention fir die Anstalten für schwachsinnige Kinder soll verwendet werden dürfen. Sin diese unglücklichen Kinder, denen einzig und allein in Anstalten geholfen werden kann, nicht auch Kinder unseres Landes und unseres Volkes? Hat der Staat nicht die Pflicht, gerade für diese ärmsten aller Kinder zu sorgen?

Unsere gegenwärtigen Anstalten für schwachsinnige Kinder verdanken ihre Entstehung der wohlthätigen Menschenliebe und sie müssen durch diese Liebe erhalten werden. Der Staat unterstützt die Anstalten iu bereitwilligster Weise durch Beiträge aus dem Alkoholzehntel. Und trotzdem sind die Anstalten nicht im stande, allen Anforderangen zu entsprechen.

Wenn anch das Kostgeld für ganz arme Kinder in den meisten Anstalten ein sehr mässiges ist (in der solothurnischen Anstalt Kriegstetten ist dasselbe seit Neujahr 1898 von 250 auf 200 Fr. herabgesetzt worden für ganz arme Kinder, deren Eltern Kantonsbürger oder im Kanton niedergelassen sind), so giebt es dennoch eine nicht geringe Zahl solcher Kinder, die nicht aufgenommen werden können, weil niemand für sie zahlt. Unsern Armenerziehungsvereinen, die in einigen Bezirken unendlich segensreich wirken, ist es nicht möglich, für alle Kinder zu sorgen, und kleinere und ärmere Ge- meinden sind ohnehin schon stark durch die Armenunterstützung in Anspruch genommen.

Es müssen also die Kantone in die Lücke treten, es soll ihnen gestattet sein, einen Teil der Bundessubvention für die Volksschule zur Unterstützung der Anstalten für schwachsinnige Kinder zu verwenden.

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Die Schweiz ist in dieser Beziehung von verschiedenen Staaten schon längst überholt worden. Inu Norwegen besteht bereits seit 1891 eine gesetzliche Regelung des Unterrichts taubstummer, blinder und schwachsinniger Kinder. Dort haben die Schulkommissionen unter Beihilfe des betreffenden Amtsarztes dafür zu sorgen, dass alle geistig und körperlich anormalen Kinder einen ihrem Zustande entsprechenden Unterricht erhalten, resp. in einer entsprechenden Anstalt versorgt werden. Die Aus- gaben werden der Gemeinde- oder Armenkasse zur Last gelegt. In welcher Weise das kleine Dänemark für die schwachsinvnigen Kinder sorgt, hat schon im Jahre 1896 ein Korrespondent in der „N. Z. Z.“ dargelegt. Während in der Schweiz in zehn Anstalten 411 schwachsinnige Kinder versorgt sind, werden in Dänemark in zwei Anstalten gegen 1200 solcher Kinder auf Staatskosten verpflegt. Auch im Königreich Sachsen, in Braunschweig und Anhalt ist das Idiotenwesen grösstenteils staatlich geregelt. Dort sind die schwachsinnigen Kinder, die bildungsfähig sind, vom voll- endeten siebenten Jahre an acht Jahre hindurch zum Besuche einer geeigneten Er- ziehungs- und Unterrichtsanstalt verpflichtet. Es ist deshalb zu hoffen, dass der Bundesrat und die Bundesversammlung, wenn die Bundessubvention für die Volks- schule angenommen werden sollte, auch der ärmsten und bemitleidenswertesten aller Kinder gedenken und unter den Zweckbestimmungen der Subvention nicht nur die Errichtung von Spezialklassen für geistig zurückgebliebene Kinder, sondern auch die Unterstützung der Anstalten für schwachsinnige Kinder aufnehmen werden.

(Neue Züricher Zeitung.)

Budapest. (Idiotenanstalt.) Am 29. Juni fand in der Budapester Landes- Idiotenanstalt die Jahresprüfung statt. Reges und allgemeines Interesse gab sich für dieselbe kund, da mit derselben das Institut das Resultat des ersten Unterrichts- jahres wie auch den Beweis seiner vortrefflichen Leitung lieferte. Anwesend waren in Vertretung des Unterrichtsministeriums Ministerialsekretär Dr. Alexander von Szabó, in Vertretung des Ministeriums des Innern Ministerialrat Dr. Kornel Chizér, ausserdem waren dio humanitären Anstalten und die Presse ziemlich stark vertreten, wie auch Pädagogen und die Eltern der Zöglinge als Gäste sich eingefunden hatten. Die Prüfung begann mit dem Hymnus und einigen Schulliedern, vorgetragen von dem Sängerchor der Anstalt. Sodann wurden die 5 Klassen, jede Klasse besonders, geprüft. Zum Schlusse wurden im geräumigen Hofe der Anstalt einige Turnübungen mit den männlichen Zöglingen vorgenommen. Die Zuschauer zollten den Leistungen der Zög- linge lebhaften Beifall und Dr. Alexander von Szabo dankte dem Direktor und dem Lehrpersonale für deren eifrige und aufopfernde Mühe. Mit der Prüfung war eine Ausstellung der Handarbeiten der Zöglinge verbunden. In dem Jahresberichte, den der Direktor der Anstalt, Johann Berinza, herausgegeben hat, finden wir an erster Stelle einen gediegenen Aufsatz über den Unterricht und die Erziehung der Idioten. Es folgen dann die Organisations - Statuten, verschiedene auf das Institut und dessen Geschichte bezügliche Daten etc.; aber das meiste Interesse bringen wir unstreitig dem Fachkursus für Idiotenlehrer entgegen, den der Unterrichtsminister Dr. Julius Wlassics auf die Initiative des Landesschulinspektors der humanitären Anstalten, Josef Roboz, für die Lehrkräfte des Instituts ins Leben rief und der ein volles Jahr währte. Unterrichtsgegenstände waren: 1. Anatomie, Physiologie und

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Psychiatrie, vorgetragen von Dr. Carl Decsi und Dr. Emil Moor, Arzten an der staatiichen Irren-Klinik. 2. Psychologie und Erziehungskunde der Idioten und Imbecillen, vorgetragen von Josef Roboz. Hilfsbücher: „Idiotophilus“ - von Pastor Sengelmann und „Der Idiot und Imbecill* von Sollier. 8. Unterrichts- kunde und Geschichte des Idiotenwesens, vorgetragen von Johann Berinza. Die Befähigungsprüfungen fanden unter Vorsitz des Ministerialsekretärs Dr. Alexander von Szabó am 15. und 17. Juni statt und boten ein äusserst günstiges Resultat. Dio Anstalt besuchten insgesamt 50 Zöglinge, welche in 5 Klassen von 5 Lehr- kräften und dem Direktor unterrichtet wurden.

Litteratur.

Die Fehler der Kinder. Eine Einführung in das Studium der sale gogischen Pathologie mit besonderer Berücksichtigung der Lehre von den psychopathischen Minderwertigkeiten von Ph. Burkhard.

Das Interesse für die pädagogische Pathologie nimmt überall stetig zu, und ‘damit wächst natürlich auch die Litteratur derselben. Eines der neuesten Erzeugnisse auf dem einschlagenden Gebiete ist das vorliegende Schriftehen, dessen Zweck die Einführung in das Studium der pädagogischen Pathologie ist. Es zerfällt in 2 Haupt- abschnitte, von denen der 1. die wissenschaftliche und der 2. die praktische Bedeutung der pädagogischen Pathologie behandelt. Obwohl der Verfasser nach ‘unserer Meinung hier und da zu sehr ins Systematisieren und Abgrenzen kommt, halten wir sein Buch für sehr geeignet, in die Lehre von der pädagogischen Pathologie einzuführen und das Interesse an dem Studium derselben zu wecken. Wir empfehlen das Buch angelegentlichst.

Lautübungen für sprachlich behinderte Kinder. Stufengang. Von Fr. Frenzel, . Lehrer an der Erziehungsanstalt für Geistesschwache zu Lesch- nitz (O./Schl.)

Das 9 Seiten umfassende Schriftchen unseres den Lesern der Zeitschrift wohl- bekannten Mitarbeiters ist der Abdruck eines in der „Monatsschrift für die gesamte Sprachheilkunde‘“ erschienenen Artikels. Es bietet einen auf 5 Stufen verteilten natur- gemässen Gang von Übungen, wie sie mit sprachlich behinderten Kindern zu treiben sind und wird denjenigen Lehrern sehr willkommen sein, welche mit Kindern, die in ihrer sprachlichen Entwickelung gehindert sind, zu arbeiten haben. Zu beziehen ist das Schriftchen von dem Verfasser.

Inhalt. Zur IX. Konfvre ‘renz fir Idiotenpflege und Schulen fiir schwachbefähigte Kinder. Aus der Praxis der Vorschule (G. Nitzsche) (Fortsetzung). Über Dr. Guggen- bühl auf dem Abendberg (F. Kölle.) Mitteilungen: Hessen, Nieder-Mansberg, Leschnitz O/Schl., Posen, -Kriegstetten-Solothurn, Schweiz, Budapest. Litteratur: Die Fehler der Rinder Lautübungen für sprachlich behinderte Kinder.

Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. In Kommission von Warnatz & Lehmann, Kgl. Hofbuchhändler in Drenden, Druck von Johannes Pässler in Dresden.

Nr. 7. XIV. avl) Jahrg.

Zeitsehrift oA

für die

Behandlung Schwachsinnioer und:

Organ der Konferenz für Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen herausgegeben von W. Schröter, Sanitäterat Dr. med. H. A. Wildermuth,

für eases Tee i für N e in ervenkrankheites Dresden - N. in Stutigact. Erscheint jährlich in 8 Nummern von Za beziehen durch siie Bechhandiengaen al sdestens

einem Begen. Anzeigen fir Octeber 1898 und Postämtar, wis such direkt von die guspaltene Petitzeile 35 Prg. Line- . Heranegehern. Preis gro Jahr 4 Mark, 6 Mark. cinzeina Xammar GH Pig.

Bericht

über die

IX. Konferenz für Idiotenpflege

und Schulen für schwachbefähigte Kinder am 6. bis 9. September 1596 n Breslau. Von P. Miller. Scheifkfideerr

Die Vorversammliang der IX Konferenz fir Liistenzfege nad Sennion für schwachbefährrte Kinder wırie Dieustaz. den 5 Septemiver. anenda 2 "ar. ia Bötichers Restaurant. Neue Game. abgehacem Se war son 44 Herren mut 2 Damen aus Deutachisai ‘rerreiea-Cigara, Kisiant. Lizemoorg wi tr Schweiz besucht S90. ter Ehrensragiieac, Herr Paster De. H. 3213+. 10211. als zach der Präsent Herr Drreicae © Bareas! i. wiren puter hwii Kemi heit verbimdert. an den Verhantangen wiomeomen Ie Varsunmmnng warde darum wae fem Voestaniemitgiiede. Herma Ermehnagumegercer F j>>. eröfset In semer Besrdemmesrefde 155 sr Seseniiert erms. ar Le wnr- Stebeede Arber p Bekir mit Eisisckeit zuscheien miler. Iuanf 1a er den ven Hera Direitar '_ Ba 711.1 trica Servis iher the verdienen drei Jahre. In iemmwihen war sesseder: recier Tertisnarent.er. roner Writer der Renferesz wriarür fie n uwr Preas me iem Lenen gearnieten waren, nämlich der Herm ruzse 3. -Maraserr imt Paar rec. 27-8 re kndhsf Die Vermummiong sur das Lufenwn fer Srinungegangenen durch Erkebern wm irn uam in tiwns term verchwte Hers Banger - lehrer Kielblı-ı-Bemmschwsig iher fie Tiacower iea Anschnemz mm Schutze der Schwarbsinnigen m Wencirnen men Ir Nhre me- Ka dnd Mind Jahre bes. seitiem kuen ‘ther tie Vidc.geet int Inseriuiemes mm Yehnlya

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der Schwachsinnigen im öffentlichen Leben Bericht erstattet wurde. Seit dieser Zeit hat der Ausschuss nichts Hauptsächliches geleistet, er ist nur im stillen auf der Wacht gewesen. Insonderheit in Braunschweig hat er seine Aufgabe etwas weiter gefasst. Mit einer Eingabe an das Staatsministerium hat er Eıfolg gehabt. Es ist ein Gesetz angenommen worden, welches den Erziehungs- zwang für Taubstumme, Blinde und Schwachsinnige vorschreibt.*) Bezüglich der schwachsinnigen Kinder ist das Gesetz noch nicht in Kraft getreten, weil die Idiotenanstalt Neu-Erkerode noch zu klein ist, um sämtliche Kinder aufnehmen zu können. Nach dem Gesetz verfällt in Braunschweig jedes schwachsinnige Kind dem Anstaltszwang, wenn nicht eine anderweite Erziehung nachgewiesen ist. Von dem Vollzug des Gesetzes wird auch die Hilfsschule profitieren, denn die schwachsinnigen Kinder höheren Grades, welche wir in der Hilfsschule nicht haben können oder wollen, sind dann verpflichtet, bis zum vollendeten 14. Jahre die Anstalt zu besuchen.

Es handelte sich nun darum, ob dieser Ausschuss fortbestehen oder sich auflösen solle. Nach längerer Debatte, in der die Meinungen über die Not- wendigkeit des Ausschusses auseinander gingen, beschloss die Versammlung, denselben fortbestehen zu lassen. Am Schlusse der Vorversammlung erfolgte die Wahl des Vorstandes. Sämtliche Herren wurden wiedergewählt bis auf Herrn Direktor Barthold, der aus Gesundheitsriicksichten eine Wiederwahl entschieden abgelehnt hatte und für welchen die Versammlung Herrn Kreis- schulinspektor Weichert berief. Der Vorstand für die IX. Konferenz besteht demzufolge aus

Herrn Erziehungsinspekter Piper-Dalldorf, Vorsitzenden, Sanitätsrat Dr. Berghan-Braunschweig, Pfarrer Geiger-Mosbach, Schuldirektor K. Richter -Leipzig, . Kreisschulinspektor Weichert-Leschnitz.

Endlich wurde noch gleich Herrn P. D. Sengelmann Herr Direktor

C. Barthold zum Ehrenvorsitzenden ernannt.

Erste Hauptversammlung. Mittwoch, den 7. Septbr., vorm. 9 Uhr im Saale des Landeshauses (Gartenstr.).

Vorsitzender Erziehungsinspektor Piper eröffnet die erste Hauptversammlung mit folgenden Worten:

Verehrte Damen und Herren! Mit dem Wunsche, dass unsere Arbeit in dem Gewande der Friedfertigkeit und Einmütigkeit segensreich verlaufen möge, eröffne ich die erste Hauptversammlung der IX. Konferenz für Idiotenpflege und Schulen für schwachbefähigte Kinder.

Ich bitte Herrn Landeshauptmann das Wort zu nehmen.

Landeshauptmann von Röder:

Verehrte Damen und Herren! Indem ich Sie in Schlesien, in Schlesiens Hauptstadt und speziell in diesem Saale herzlich willkommen heisse, wünsche ich Ihren Beratungen reichen Erfolg und Gottes Segen.

*) Wird in einer der nächsten Nummern zum Abdruck kommen. (D. Schriftltg.)

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Unser Zeitalter hat tiefe Schatten im sozialen und wirtschaftlichen Leben, es hat aber, Gott sei es gedankt, ebensoviele helle Lichtseiten. Zu diesen hellen Lichtseiten rechne ich in erster Linie die christlichen und humanitären Bestre- bungen zur Linderung fremder Not, die in keinem Zeitalter als in dem unsrigen so stark und mächtig geworden sind, sowohl in privater Liebesthätigkeit, als im Wege der Gesetzgebung.

Sie haben sich ein Feld gewählt, welches ich als Landwirt vergleichen möchte mit einem lettigen, lehmigen Acker. Wer von Ihnen mit der Landwirt- schaft zu thun hat, weiss, dass das die grösste und schwierigste Aufgabe für den Landwirt ist, einen solchen Acker zu bearbeiten. Es gehört nicht nur unermüd- licher Fleiss, stetige Ausdauer, sondern auch besondere Aufmerksamkeit und ein besonderes Verständnis für diesen Acker.

Ich möchte die Idiotenpflege mit der Behandlung eines solchen harten und schweren Ackers vergleichen.

Sie wissen, dass seit dem Jahre 1891 die Idiotenpflege in erster Linie den öffentlichen Verbänden, den Provinzial-, den Landarmenverbänden übertragen worden ist, deswegen ist aber die private Thätigkeit in keiner Art zu entbehren. Namentlich werden auch wir, die wir dazu berufen sind, die Beamten der Pro- vinzialverwaltung, der Idiotenpflege näher treten, gern alle Anregungen und Belehrungen, die uns von Ihnen zu teil werden, entgegennehmen.

Wir sind dankbar, dass Sie gerade bei uns erschienen sind, wir wollen von Ihnen lernen. Ich schliesse mit dem Wunsche, dass das Zusammenwirken der öffentlichen und privaten Tbätigkeit, wie in allen deutschen Landen, so auch in unserer Provinz Schlesien für die Zukunft wachsen und gedeihen möge.

Landrat von Schorlemer:

Meine verehrten Damen und Herren! Der Herr Oberpräsident von Drachenberg-Hatzfeldt hat mich beauftragt, sein Bedauern auszudrücken, dass es ihm unmöglich sei, der heutigen Sitzung persönlich beizuwohnen. Ich mache von dieser Ermächtigung gern Gebrauch. Im Namen des Herrn Ober- präsidenten habe ich Ihnen den besten Willkommen im Bereiche der Provinz Schlesien zu entbieten und Ihren Beratungen weiteren gesegneten Fortgang und den Erfolg zu wünschen, den wir alle herbeisehnen.

Erziehungsinspektor Piper:

Hochgeehrte Herren! Ihre wohlwollenden und freundlichen Worte ehren und erfreuen die Mitglieder der IX. Konferenz für das Idiotenwesen. Im Namen der Mitglieder habe ich die Ehre, Ihnen, hochgeehrte Herren, den wärmsten Dank aussprechen zu dürfen.

Unsere Konferenzen sind Wanderkonferenzen. Sie sollen nicht bloss denen, die in der Arbeit stehen, neuen Mut und neue Kraft geben und neue Wege zeigen zur Erreichung unserer Ziele, die dem Wohle unserer schwachsinnigen Kinder gelten, wir möchten auch unsere Konferenzen betrachten als ein Samen- korn, das wir dort ausstreuen wollen, wo wir uns zu gemeinsamer Arbeit ver- einen, wo wir, wie auch hier, so freundlich willkommen geheissen sind.

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Für die Provinz Schlesien brauchen wir nicht zu sorgen; hier ist die Arbeit im besten Gange. Wenn ich recht unterrichtet bin, werden in drei Provinzial- und vier Privatanstalten die Schwachsinnigen gepflegt und erzogen, und es ist uns eine grosse Freude, hier auf denselben Boden treten zu können, den wir zu Hause verlassen haben. Die Not mag ja in Schlesien dazu drängen. Aber wer hilft, wer lindert die Not? Der das offene Auge und ein warmes Herz hat. Wir bitten Sie, hochgeehrte Herren, bewahren Sie unserer bescheidenen aber guten Sache ein offenes Auge und ein warmes Herz.

Wir wünschen Ihnen, dass sie auch in den Bewohnern der Provinz warme Herzen und offene Hände finden, die das Werk der Liebe unterstützen. Wie könnte es hier daran fehlen, wo die schöne Gottesnatur in der Provinz Schlesien das Herz des Menschen emporhebt, es empfänglich macht für humane Bestre- bungen und hinweist durch die Spitzen der Berge hinauf zu dem, der die Liebe ist.

Wir danken Ihnen, hochgeehrter Herr Landeshauptmann, dass Sie uns für die heutige Versammlung diese historischen, herrlichen Räume zur Verfügung gestellt haben.

Der Vorsitzende, Herr Erziehungsinspektor Piper, giebt den Vorsitz an Herrn Pfarrer Geiger ab und nimmt das Wort zu seinen: Vortrage:

Wie können wir die sprachlosen schwachsinnigen Kinder zum Sprechen bringen? Hochgeehrte Versammlung!

„Der grundlegende Sprechunterricht bei stammelnden schwachsinnigen Kindern“, so lautete das Thema, über welches zu referieren mir auf der Heidel- berger Konferenz gestattet war. Die Debatte ergab, dass einige Herren mit dem Begriff, der grundlegende Sprechunterricht, die sprachlosen Kinder im Auge hatten, während das Thema auf ein bei sprechenden schwachsinnigen Kindern weit verbreitetes Sprachgebrechen „das Stammeln“ gerichtet war. Veranlasst durch dieses Missverständnis habe ich heute die Ehre, das gewünschte Thema: Wie können wir die sprachlosen schwachsinnigen Kinder zum Sprechen bringen?“ soweit es bei der kurz bemessenen Zeit möglich ist, zu besprechen.

Bei der Behandlung der in Frage stehenden aphasischen Kinder werden wir zunächst die Ursachen der Stummheit ins Auge fassen müssen. Es gehören hierher:

1. Verletzungen resp. Störungen des Sprachzentrums (angeborene, erworbene),

2. Willensstörungen (es beruhen diese einesteils auf Defekte des Sprach- zentrums, andernteils auf Fehler der Erziehung),

3. organische Veränderungen im Rachenraum (adenoide Vegetation),

4. Missbildungen des Gaumens, der Zähne, der Zunge. Die zu den drei letzten Gruppen gehörenden Kinder werden für den Erfolg des Unter- richtes besondere Hoffnungen bieten, während die durch Verletzungen resp. Störungen des Sprachzentrums belasteten dem Unterricht die meisten Schwierigkeiten bereiten.

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Die Zahl derjenigen aphasischen Kinder, bei denen Missbildungen des Gaumens, der Zähne, der Zunge als ursächlich erscheinen, ist allerdings eine sehr geringe. Operative Eingriffe vom Spezialarzt werden in den betreffenden Fällen dem Pädagogen den Weg bahnen, und die Erfolge sind recht erfreuliche. Ich möchte bei dieser Gelegenheit nicht versäumen, auf die Pflege der Zähne, der Mundhöhle überhaupt es handelt sich hauptsächlich um Reinhaltung, um tägliche Ausspülungen hinzuweisen. Betrachien wir die Fälle, bei denen adenoide Vegetation die Ursache der Aphasie bildet.

Dr. Gutzmann berichtet in seinen Vorlesungen über die Stärungen der Sprache und ihre Heilung: Was die Rachenmandel anbetriffi, so hiegt dieseibe in der Schleimhaut des Rachendaches an jener Stelle, wo sich die hinter dem Gaumensegel in die Höhe steigende Rachenwand nach vom zu den Choanen umschläpt An dieser Sielle ungefähr sitzt ein Stück adencides dh. maadel- äbnliches Gewebe, welches, wie der Name sagt, den Mandeln zwischen den Gaumenbögen ähnlich beschaffen ist und deshalb den Namen dritte Mandel, Rachenmandel oder nach dem Entdecker Luschkasche Maul führt In ähnlicher Weise wie unsre Gaumenmandeln kann auch tiese Rachenmandel anschwellen und wird bei einer gewissen Grüsse der Anschwelluag die hinter Nasenöffsung verlegen, seiass die Nasenatmung teilweise oder gänzlich ver- kindert ist.

Diese Ansehwellungen nennt man Hypertrophic dex Racheamaniecl ster adeneide Vegetation. besemders der effenstehende Mand und eine häzfige Nasenversupfung: os werten diese Kinder des Naches viel schwarchen liige dieser Warheranesn wirt das Gekira ia Wirienlensehaft gemeen, woinesh Schwarhng, 206 sien 790 Stummbeis begleitet. m Erwhemang tern Hierdurch erzehs seh fie dringende Notwendiekeit. nie m verzumen. dese Amir we ae aynasisehen Knuter. Bekzuilune ıı veraniassen- sperative Eingr’fe torch Eavterime ter tesgrackenen Wechermmgen kabes nieis zeiten überraschende trne eng: os ai ler erissert an tie Abegi win Kı’zmann. E-ica. Bressea. *eıiller Wiakier sıszmııı m ı

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erhält der Unterricht bei den hierher gehörenden Kindern durch den Turn-, Gesang-, Anschauungs- und Haudfertigkeitsunterricht. Endlich handelt es sich um Stummheit, verursacht durch Verletzungen resp. Störungen des Sprach- zentrums. Dass wir es hierbei mit den schwersten Fällen zu thun haben, ist wohl erklärlich.

Die angeborene Stummbheit lässt nicht in allen Fällen die Hoffnung zur Besserung; anders verhält es sich bei den Kindern, welche durch Fall, Epilepsie, Meningitis die Sprache verloren haben, bier werden wir durch den Unterricht noch erfreuliche Resultate erzielen.

Wie können wir nun die in Frage stehenden Kinder zum Sprechen bringen?

Wenn jede der einzelnen Unterrichtsdisziplinen bei schwachsinnigen Kindern den Unterrichtenden zur Geduld zwingt, so verlangt der vorliegende Unterricht die weitgehendste Liebe und Nachsicht zu jenen Unglücklichen, wie zur Sache selbst und vor allen Dingen eine unendliche Geduld. Lassen Sie mich nun zunächst einige Einzelfälle aus meiner Praxis herausgreifen.

I. Es handelt sich um einen 6!/, Jahre alten Knaben, der seit seinem 4. Jahre einer beginnenden Rückgratsverkrünmung wegen auf ärztliche An- ordnung Tag und Nacht in einem Streckbett lag.

Das Kind, das somit an eine horizontale Lage gewöhnt war, konnte nicht gehen, da ihm das Bewusstsein, die Füsse zu gebrauchen, fehlte; es musste gefüttert werden, und zwar mit breiigen Speisen, denn es vermochte nicht zu kauen, es war unreinlich. Der Knabe sah und hörte, sprach aber nicht, sondern gab hin und wieder einen unartikulierten Laut von sich. Die Atmung geschah durch die Nase, der Mund war meist fest geschlossen.

Jetzt 10 Jahre alt, ist das Kind gross und kräftig geworden, die Rückgrats- verkrümmung wurde zurückgehalten, der Knabe läuft allein und beobachtet, was in seiner Umgebung geschieht.

Wird an die Thür geklopft, so ruft der Knabe: „Herein“, sagt: „Guten Tag“; er unterscheidet und benennt über hundert verschiedene Gegenstände, die ihm in natura oder in Bildern gezeigt werden; er spricht seit einem halben Jahre in Sätzen, die er ja verständlich, aber auch vielfach stammelnd hervorbringt, so vermag er z. B. das „r“ nicht zu sprechen, er giebt dafür andere Laute, z. B. Raupe == Naupe; Rose = Bose; Reh = Heh etc. Die Ursache der Aphasie beruht im vorliegenden Falle auf einer angeborenen Störung des Sprachzentrums.

Es sei nunmehr beantwortet, wie ist das Gewonnene erreicht worden?

Wie schon erwähnt, lag der Knabe mehrere Jahre in horizontaler Lage, sprach nicht, war meist still und rubig, und nur gelten gab er unartikulierte Laute von sich; von besonderer Beachtung war das alleinige Atmen durch die Nase, nie durch den Mund.

Sie wissen, meine Herren, das Einatmen geschieht beim Sprechen durch den Mund. Es kam mir nun darauf an, das Kind zunächst zur Mundatmung zu bringen. Dies wurde erreicht durch vorsichtiges Schliessen der Nasenlöcher. Jetzt war das Kind gezwungen, die Einatmung durch den Mund zu nehmen; es geschah dies allerdings sehr unregelmässig und mit ganz geringer Mundöffnung.

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Nachdem diese Übungen ungefähr 14 Tage gemacht wurden, kam es jetzt darauf an, eine regelmässige Ein- und Ausatinung durch den Mund zu gewinnen.

Hierbei genügte nicht der blosse Verschluss der Nasenlöcher, sondern es musste auch der Mund geöffnet werden.

In Anbetracht der mangelhaften Zahnbildung und des leicht empfindlichen Zahnfleisches war ein Mittel erwünscht, den Mund mit Leichtigkeit und ohne Nachteile für das Kind Öffnen zu können.

Das Kinn mit dem Finger herunter zu drücken, gelang nicht; das Kind weigerte sich durch festes Zubeissen. Mit einem Spatel zu operieren, schien be- denklich, und so fand ich in einem Geschäft für chirurg. Instrumente (Thamm- Berlin) eine sehr geeignete Mundsperre, die durchaus unbedenklich und leicht zu handhaben ist. Nach und nach kann mit dieser Mundsperre der Unterkiefer behutsam herunter gedrückt werden.

In dieser Stellung, geschlossene Nasenlöcher, offner Mund, blieb das Kind 10, dann 15 und mehr Sekunden, 30 Sekunden wurden nicht überschritten.

Auch diese Übung währte einige Wochen und brachte den erwünschten Erfolg.

Nunmehr sollte der Schritt zur Sprache gemacht werden. Wie war hier alles Mühen zunächst erfolglos!

Das Kind sah die Bewegung meines Unterkiefers, meinen geöffneten Mund, es hörte den Klang a, den ich scharf und laut gab, es verfolgte mich und meine Stimme, wenn meine Stellung wechselte und ich absichtlich rechts, links, vor oder hinter ihm sprach.

Wohl nahm ich an, dass die zentrale Störung in diesem Falle auch den Willen des Kindes hemmte und versuchte ich es daher mit den möglichen gymnastischen Übungen, die zunächst das Kind lag immer noch im Streck- bett in horizontaler Lage darin bestanden, dass ich:

1. beide Arme des Kindes nahm, die Handflachen auf seine Brust legte und die Arme nach oben (bei vertikaler Lage nach vorn) stiess,

2. beide Arme nach oben streckte, die Handflächen nach innen hielt und nun auseinander- und zusammenschlagen liess.

Nach vielem wochenlangen Üben führte der Knabe diese Übungen allein aus.

Ausser diesen Übungen versuchte ich in der Annahme, dass das linke Sprachzentrum gestört sei, auf die rechte Hirnwindung durch Übungen mit der linken Hand einzuwirken. Diese Übungen bestanden in folgenden:

1. Das Kind besass als Spielzeug ein Schaf mit beweglichem Kopf, durch dessen Herunterdrücken ein schreiender Ton verursacht wurde. Das Herabdrücken des Kopfes musste nun der Knabe mit der linken Hand fleissig üben.

2. Einen kleinen Ball resp. eine Kugel musste das Kind in ein ihm vor- gehaltenes Kästchen oder Körbchen mit der linken Hand hineinthun und heraus- nehmen. Nach und nach veränderte ich die Stellung des Kästchens resp. Körbehens und hielt es bald rechts, bald links, oben, unten, nach vorn, nach hinten. Ferner beobachtete ich auch die Entfernung des Körbcehens vom Kinde und hielt den Korb nach und nach entfernter, damit die Beobachtung und der Gedankengang mehr und mehr in Anspruch genommen wurden.

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3. Fröbels Gabe IV benutzte ich in gleicher Weise. Das Kind musste die Klötzchen mit der linken Hand in den Kasten stellen; ging es nicht allein, so führte ich die Hand.

4. Aus einem Kubusspiel baute der Knabe die einzelnen Würfel zur Säule auf.

Vermittelst der gymnastischen, wie der linkshändigen Übungen kam ich zum Erfolg. Das Kind lernte a laut und deutlich sprechen. Anfangs sprach es nur dann das a, wenn ich mit der Mundsperre den Mund öffnete, später folgte das Kind meinem Vormachen, und endlich übte es allein unaufgefordert, besonders morgens, wenn es erwacht war.

Hieran schloss sich nun das u.

Mit beiden Händen strich ich von den Ohren aus über die Backen bis zu den Lippen und gewann so die Mundstellung zum u, die nicht immer gelingen wollte. Vieles Vorsprechen, auch abwechselnd mit a, brachte endlich Erfolg.

Es wurden nun beide Vokale abwechselnd geübt.

Um zunächst die drei Hauptorganstellungen der Vokale zu berücksichtigen, nahm ich jetzt als dritten Laut das i. Auch hier gab ich dem Kinde die Organstellung; ich zog den Mundwinkel mit den Zeigefingern beider Hände zur Seite, und mit beiden Daumen versuchte ich den anfangs zu weit geöffneten Mund durch Heraufdrücken des Unterkiefers resp. Nähern der Zahnreihen in die rechte Stellung zu bringen und gewann bei vielem mühevollen Üben endlich das i, das nun abwechselnd mit a und u fleissig traktiert wurde.

Mein Drängen dem Arzt gegenüber, den Knaben den Tag über oder stundenweise eine vertikale Lage zu geben, blieb nicht ohne Erfolg.

Der Unterricht, der nun nach und nach sich erweiterte, wurde jetzt vor dem Spiegel betrieben; es machte oft recht grosse Freude zu beobachten, wie das Kind einen neuen Laut auffasste, dann die später folgenden Verbindungen wiedergab und endlich auch Gegenstände benennen lernte. Charakteristisch war es bei dem Kinde, dass, wenn ein neuer Laut, ein neues Wort gegeben wurde, erst nach 6 bis 10 Sekunden die Wiedergabe erfolgte.

Kurz will ich noch erwähnen, dass ich nach der Einübung der Vokale a, u, i den Konsonanten b und dessen Verbindungen aufnahm und hierauf Wörter folgen liess. Was das Kind bis heute erreicht hat, habe ich bereits mitgeteilt.

II. Ein Mädchen (mikrocephalus), 8 Jahre alt, sprach nicht, versuchte aber durch Gestikulationen sich soweit als möglich verständlich zu machen, es sah und hörte gut, beobachtete sehr scharf und war reinlich. Durch kleine Hand- reichungen suchte sich das Kind nützlich zu machen. Es war Mundatmer, litt fortwährend an Nasenverstopfung, sah meist blass aus, schnarchte des Nachts viel. Die Eltern, von mir darauf aufmerksam gemacht, dass Wucherungen im Nasenrachenraume die Stummheit verursachen, willigten in eine Operation, deren Erfolg ein recht befriedigender war. Durch den Sprechunterricht förderte ich das Kind soweit, dass es sich sprachlich verständlich machen konnte.

Der methodische Gang, den ich verfolgte, deckt sich so ziemlich mit dem von mir bereits veröffentlichten Lehrgang für stammelnde schwachsinnige Kinder.

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Hochgeehrte Versammlung!

Die soeben illustrierten Fälle beruhen allerdings auf Einzelbehandlung.

In unseren Anstalten haben wir nun nicht die Zeit, alle sprachlosen Kinder in Einzelbehandlung zu nehmen; wir müssen Gruppen bilden und ist erfahrungs- mässig der Erfolg um so günstiger, je weniger Zöglinge den einzelnen Gruppen zugewiesen werden.

Für den Unterrichtenden ist es von grossem Vorteil, Einzelfälle zu behandeln, um mit den hierbei gewonnenen Erfahrungen sicherer und gewandter den Gruppenunterricht in die Hand nehmen zu können. Vor allen Dingen empfehle ich die Gutzmannschen „Lehrkurse über Sprachstörungen“ in Berlin, die ein . sicheres Fundament geben, um mit Erfolg die in der That schwierige, aber auch interessante Arbeit ausführen zu können.

Lassen Sie mich noch erwähnen, dass es sich hier nur um die Sprache handelt; die einzelnen Unterrichtsdisziplinen unserer Anstalten, wie auf der Unterstufe, Unterscheidungsübungen, Thätigkeitsübungen, Übungen für Auge und Hand etc. bleiben getrennt von dem in Frage stehenden Unter- richt. Selbstverständlich finden wir besonders in den genannten Unter- richtsdisziplinen eine grosse Unterstützung.

So haben wir nun eine Gruppe von 5 bis 6 sprachlosen Zöglingen.

Wie ist hier der Gang der Methode?

Wenn die in Frage stehenden Kinder bewusst zum Sprechen gelangen sollen, so müssen wir sie auch bekannt machen mit den Werkzeugen der Sprache, und hier setze ich zunächst ein. Die Kinder werden durch Vorzeigen, durch Beobachten vor dem Spiegel, wenn auch mit vieler Mühe, dahin geführt, den Mund, die Zunge, die Zähne, die Lippen unterscheiden zu lernen. Ein grosser Teil dieser Kinder kommt dahin, die genannten Sprechwerkzeuge zu zeigen. Wir brauchen dies, denn das Kind kann kein b oder m lernen, ohne auf die Lippen achten zu müssen, es kann kein d oder 1 üben, ohne Beachtung der Zunge, es vermag nicht ein f oder w nachzubilden, ohne auf die Unterlippe und die obere Zahnreihe achten zu müssen. Meiner Meinung nach sind die Übungen, zeige die Zunge, die Zähne etc. hier wohl notwendig. Ferner schliessen sich hieran leichte Übungen mit den Sprechwerkzeugen, z. B. Mund öffnen, Lippen vorschieben etc. Natürlich mache ich die einzelnen Übungen vor, ich zeige den Kindern die Übungen vor dem Spiegel und lasse hier einzeln nachbilden. Alle diese Übungen sind zwar mühevoll, erfordern Geduld, werden aber von fast allen Zöglingen erreicht.

Warum lasse ich diese Übungen machen?

1. Wir führen diese Bewegungen beim Sprechen der einzelnen Laute aus.

2. Ein nicht geringer Teil unserer Zöglinge hat unnormale Bildungen am Gaumen, an den Zähnen, der Zunge, ja auch an den Lippen, und darum ist es notwendig, so weit wir es vermögen, die oft ungestalteten, ungeschickten und schwerfälligen Sprechwerkzeuge beweglich zu machen.

Neben der Kenntnis der Sprechwerkzeuge und deren Gebrauch versäume ich es nie, in jeder Übungsstunde diejenigen gymnastischen Übungen vorzunehmen

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welche nicht nur auf die Willensbildung. sondern auch auf die körperliche Eat- wicklung des Brustkastens und der Lungen wirksam sied. Hierker gehören die einfachsten Cbungen, die unsere Zöglinge bei genügender Geduld des Unter- richtenden wohl nachzubilden vermigen uni vca grossem Werte sind.

Endlich komme ich auf die Sprache selbst.

Alle Laute müssen geübt werden, in welcher Reihenfolge hänst hier und da ab von der Individualität einzelner Kinder. Es wird vorkommen, dass wir die geplante Folge nicht immer innehalten können.

Nach den meinerseits gemachten Erfahrungen dürften die Vokale a, u, i zunächst zu üben sein; die von mir veröffentlichten Vokalbilder benutze ich seit Jahren mit gutem Erfolge.

Den genannten Vokalen folgen der Konsonant b und dessen Verbindungen ba, bu, bi, ab, ub, ib, aba, ubu, ibi; hiernach nehme ich passende Wörter, um das Interesse der Kinder anzuregen. Bei der Wahl der Wörter nehme man nur Konkreta, die Gegenstände bezeichnen, welche im Gesichtskreise unserer Kinder liegen. Jeder Gegenstand ist zunächst plastisch, dann bildlich vorzuführen.

Bei der Einübung der einzelnen Laute werden wir auf verschiedene Schwierig- keiten und Hemmnisse stossen, deren Beseitigung von einer eingehenden Be- obachtung des Individuums, sowie vielseitiger Erfahrungen abhängig ist. Lassen Sie mich, hochgeehrte Versammlung, nur bei einem Laut auf die mancherlei Hemmnisse hinweisen.

Nebme ich das a, so werden hier bei der Behandlung folgende Hinder- nisse entgegentreten.

1. Wir finden Zögling, die, wenn sie auch bei der Übung der Sprech- werkzeuge den Mund öffneten, jetzt beim Sprechen nicht im stande sind, die Organstellung zu geben.

In diesem Falle werden wir mit Hilfe der Mundsperre sicheren Erfolg erzielen.

2. Wir werden Kindern begegnen, die wohl die Organstellung zum a geben, aber nicht die Stimme anschlagen.

3. Es werden Fälle vorkommen, dass einzelne Kinder Organstellungen und Stimme bringen, aber den Laut nasal sprechen. In den beiden letzten Fällen ist es dringend notwendig, einige Atmungsübungen (Ein-, Ausatmen) vorzunehmen, die unstreitig erfolgreich sind.

4. Endlich begegnen wir Kindern, bei denen heute der Erfolg ein erfreulicher gewesen, morgen aber bei demselben Laute die gewonnenen Resultate ausfallen. Nicht selten stossen wir bei den Kindern der letzten Gruppe auf Erscheinungen, die ich als Mitbewegungen resp. Vorbewegungen bezeichnen möchte, von deren Eintritt sonderbarer Weise der Erfolg abhängig wird. Derartige Mit- resp- Vorbewegungen sind z. B. Schliessen der Augen, Bewegung eines Fusses, oder auch mit beiden Füssen, Schütteln der Arme, Anfassen einzelner Körperteile, als mit der linken Hand den rechten Arm, mit der linken Hand den Hals etc. Ferner gehören hierher: Zupfen: an den Kleidern, ja es kommt vor, dass wir bei einzelnen Kindern Sprecherfolge durch Berührung mit der Hand erreichen.

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Die Erfolge bei den Kindern der letzten Gruppe werden ganz besonders gesichert durch gymnastische Übungen und unterstützt uns der Turnunterricht wesentlich.

Von grossem Werte halte ich regelmässige Chorübungen erst mit zwei, dann mit drei und mehr Kindern. Die Zöglinge werden dreister, williger und sicherer.

Bei der weiteren Verteilung des Sprachstoffes würde zu empfehlen sein, zunächst die Vokale 0, e, dann die Doppellaute au, ei und deren Verbindungen mit b, sowie darauf angewendete Wörter zu üben. Die Reihenfolge der Kon- sonanten lässt sich nicht genau vorschreiben, wohl aber würde ich empfehlen, soviel als möglich die einzelnen Artikulationsgebiete im Auge zu behalten. Darnach würden die Verschlusslaute der drei Artikulationsgebiete den Vorzug haben und zwar zunächst die Mediä, da diese nicht nur auf das Gefühl und Gesicht, sondern auch auf das Gehör wirken, und hierauf erst die Tenues. Zu empfehlen wäre auch, die Tenues der Verschlusslaute noch nicht zu nehmen, wohl aber erst sämtliche Laute mit Stimme zu üben und kämen hiernach in Betracht:

1. die Reibelaute des zweiten Artikulationsgebietes s, |,

2. der Reibelaut des ersten Artikulationsgebietes w,

3. die Nasallaute m, n,

4. der Reibelaut des dritten Artikulationsgebietes j.

Als selbstverständlich setze ich voraus, dass jeder neu geübte Laut mit seinen Verbindungen und Wörtern praktisch durchgeführt wird. Es bietet hierzu ein Büchlein „Die spezielle Therapie des Stammelns und der verwandten Sprach- störungen“ von Dr. Coön reichen Stoff.

Nunmehr bleiben die Laute zu üben, welche wir ohne Stimmanschlag sprechen:

1. die Tenues der Verschlusslaute aller drei Artikulationsgebiete: p, t, k,

2. die Reibelaute des zweiten Artikulationsgebietes s, ß, sch, z,

3. der Reibelaut des ersten Artikulationsgebietes f,

4. der Reibelaut des dritten Artikulationsgebietes ch,

9. die Zitterlaute r gutturale und r uvulare,

6. die getrübten Vokale ä, ö, ü und der Doppellaut eu.

Im: Interesse der Zöglinge empfiehlt es sich, sobald als möglich ganz leichte dem Verständnis der Kinder angepasste Sätzchen einzuschalten.

Hiermit, hochgeehrte Versammlung, komme ich zum Schluss meines Vor- trages. Lassen Sie mich nur andeutungsweise Ihr Augenmerk noch richten auf einen Hauptpunkt in der Behandlung unserer sprachlosen Kinder.

Eine gesunde geistige Thätigkeit ist abhängig von gesunden Organen des Körpers, und hier ist der Punkt, der uns hilfesuchend zum Arzt weist. Den ärztlichen Rat, die ärztlichen Anweisungen müssen wir haben, wir bedürfen ihrer

In einer interessanten Arbeit über die. diätetische Behandlung bei nervösen Sprachstörungen, erschienen in der Zeitschrift für diätetische und physikalische Therapie, herausgegeben von E. von Leyden und Goldscheider, schreibt. Dr. Gutzmann u, a.:

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„Bei Sprachstörungen der schwachsinnigen imbecillen Kinder ist die diäte- tische Allgemeinbehandlung derartiger Kinder in den Vordergrund der Behand- lung zu schieben. Als Arzt soll man zunächst die mangelnde Sprache immer nur als ein Symptom auffassen, das in zweiter Reihe steht, und sein Hauptaugen- merk auf die diätetische Erziehung dieser Kinder richten. Meistens ist hier von den Eltern vorher viel gesündigt worden. Das Mitleid mit dem hilflosen Geschöpf wird sonst stets soweit getrieben, dass alle Launen des Kindes, die es in Bezug auf Essen und Trinken zeigt, widerspruchslos von den Eltern erfüllt werden, schon um das Kind zur Ruhe zu bringen. Erziehungsfehler werden stets von den Eltern gemacht werden, nirgends aber sind sie in Bezug auf alle Teile der Erziehung, sowohl bezüglich der psychischen, wie der körperlichen Erziehung so schwerwiegend und so ausserordentlich verhängnisvoll, wie bei den in Rede stehenden Kindern. Es kann daher sogar soweit kommen, dass Kinder, die nur eine ganz mässige Imbecillität zeigen, schliesslich den Eindruck von unheilbaren Idioten machen und selbst erfahrene Psychiater täuschen. Was bier für die körperliche Erziehung gesagt ist, ist noch weitaus mehr der Fall bei der diäte- tischen Erziehung. Bei keiner einzigen Art der nervösen Sprachstörungen habe ich derartige diätetische Monstrositäten kennen gelernt, wie bei diesen Kindern, und es erfordert auch die ganze Strenge und Energie, um an Stelle des Chaos der schädlichen Gewohnheiten eine sorgsame geregelte Lebensweise zu setzen etc.“

Es werden, hochgeehrte Versammlung, bei der körperlichen Behandlung der sprachlosen schwachsinnigen Kinder ganz besonders in Frage kommen:

1. nahrhafte Diät,

2. konstante körperliche Bewegung in guter Luft,

3. kalte Waschungen (hydrotherapeutische Massregeln),

4. Massage,

5. Elektrizität.

Warnen möchte ich davor, die angeführte körperliche Behandlung ohne ärztliche Hilfe, ohne ärztliche Anordnung auszuführen.

Ohne Arzt nichts thun, was die Entwicklung des Körpers, was die Erhaltung des Körpers dieser Kinder betrifft, dann wird unsere Arbeit, meine Herrn Kollegen, „des Geistes Entfaltung“ auf gutem Boden stehen. (Fortsetzung folgt.)

Aus der Praxis der Vorschule. Von Oberlehrer G. Nitzsche. (Schluss.) III. Perlenreihen, wöchentlich 2 Stunden.

Das Perlenreihen bildet einen Teil des Rechenunterrichts auf der Unter- stufe. Es fördert die Handgeschicklichkeit und übt ungemein den Zahlen-, Farben- und Formensinn. Als Arbeitsmaterial dient die lange (1,5 cm) Glas- perle und ein ca. 25 cm langer Zwirnsfaden ohne Nadel. Die Perlen sind von

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schwarzer, weisser, roter, grüner, gelber und blauer Farbe. In der für Ketten- reihen angesetzten Stunde werden immer einige Zählübungen vorgenommen. (Wieviel Pferde, Kühe, Häuser stehen auf dem Tische? Hebt 1, 2, 3 Finger hoch! Hole 1 Pferd! Lege 2 Kühe in den Kasten! Wieviel Bäume stehen hier? Wieviel sind umgefallen? Wieviel Soldaten siehst du? Was thun sie? u. s. w.).

1. Die Kette aus gemischten Perlen.

2. Die Perlen sind unsortiert, es werden einfarbige Ketten (schwarz, weiss, rot, grün, gelb, blau) gefertigt; das Kind muss sortieren.

3. Die Zahl Eins.

a) 1 schwarz 1 weiss u. s. w. b) 1 weiss 1 rot u. s. w. lL 5% l rot u. s. w. l 1 grin us. w. l , 1 gran u. 5s. w. 1 , 1 gelb u. s. w. 1 1 gelb 1 1 blau. 1 i 1 blau. c) 1 rot 1 grin d) 1 grün 1 gelb 1 , 1 gelb 1 1 blau 1 1 blau. 1 gelb 1 blau. 4. Die Zahl Zwei. a) 2 schwarz 2 weiss b) 2 schwarz 1 weiss 2 y 2 rot 2 4 1 rot u. 8. W. u. 8. W. 5. Die Zahl Drei. a) 3 schwarz 3 weiss b) 3 schwarz 1 weiss 3 » 3 rot 3 , 2 weiss u. s. W. 3 $ 1 rot 3 2 rot u. 8 W.

c) Die 3farbige Kette: 1 schwarz, 1 weiss, 1 rot u. 8. w. 1 rot, 1 grin, 1 gelb u. 8. w. u. s. W.

6) Wiederholung: Der Faden ist 50 cm lang; die erste Perle hängt in der Mitte, mit beiden Enden des Fadens werden die folgenden Perlen angereiht. Das eine Ende des Fadens geht von links, das andere von rechts durch die Perle. Die Perlen liegen also in der Kette wagrecht, die Löcher derselben nach aussen.

a) 1 schwarz 1 weiss u. s. w.

l , 1 rot 1 y 1 grün u. 8. w.

Siehe 3—5.

NY

7. Die Zahl Vier. a) Kette mit einem Faden.

aa) 4 schwarz 4 weiss u. 8. W. bb) 4 schwarz 1 weiss u. s. w. 4 5 4 rot 4 we 2 a u. 8. W. 4 Pe I 4 = 1 rot u. 8. W.

cc) Die vierfarbige Kette. 1 schwarz, 1 weiss, 1 rot, 1 gelb u. s. w. 1 weiss, 1 rot, 1 gelb, 1 grün u. 8. W.

b) Kette mit 2 Faden. Siehe Nr. 6. a8) wie unter a).

bb) Das einzelne Glied der Kette bildet ein Quadrat. (1. Die ein- farbige Kette. 2. Ein schwarzes Glied wechselt mit einem weissen u. 8. w.). Die Mannigfaltigkeit der Formen wächst durch das Einfügen von 1, 2, 3, 4 gleich- oder verschiedenfarbigen Verbindungsperlen, die wagrecht in der Kette liegen. Das quadratische Glied kann wechseln mit dem liegenden Kreuze; hierbei muss in der Mitte des Kreuzes ein Knoten in die beiden Fäden geknüpft werden.

8. Zur Wiederholung und Entwickelung weiterer Geschicklichkeit werden Ketten gereiht, in denen die Perlen des ersten Gliedes, das aus 1, 2, 3 oder 4 Perlen besteht, eine wagerechte Lage, die des zweiten Gliedes in entsprechender Anzahl eine senkrechte Richtung haben; vor Anfügung und nach Fertigung des zweiten Gliedes ist stets ein Knoten zu knüpfen.

9. Die Zahl Fünf.

a) Ketten mit 1 Faden. b) Kette mit 2 Faden. 5 schwarz 5 weiss u. 8. W. 5 schwarz 1 weiss u. s. w. 5 A 5 rot 5 5 2 5 5 grün 5 3 u. S. W. 5 j 4 y

c) Die fünffarbige Kette. d) Ketten mit doppelter Knotenknüpfung bei jedem Gliede.

IV. Stäbchenlegen, wöchentlich 2 Stunden.

Das Stäbchenlegen ist neben dem Perlenreihen der andere Teil des Rechenunterrichts für die Unterstufen und tritt zuerst in der II. Stufe auf; ausserdem ist diese Beschäftigung eine gute Vorbereitung für das Zeichnen und Schreiben. Das Material besteht anfangs aus starken, 10 cm langen Stäbchen

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später aus gefärbten von Holzdraht von 10, 7 und 5 cm Länge. Für die An- fänger, bei denen vor allem der Zahlen- und Formensinn geübt werden soll, sind ungefärbte Stäbchen am geeignetsten. Die Formen werden frei auf die Tischplatte ohne Benutzung eines Quadratnetzes gelegt. Vor der Darstellung der Lebensformen ist die Anschauung des wirklichen Gegenstandes zu geben es knüpft sich an jeden Gegenstand eine kurze Besprechung (z. B. bei der ersten Übung: Wo sind wir? Im Hofe. Was ist das? Kletterstangen Wer kann hinaufklettern? Nun, klettert hinauf! Die Kletterstange steht fest. Sprecht: Die Kletterstange steht. Was habe ich hier? Turnstab. Der Stab kann nicht stehen. Was ist geschehen. Der Stab ist umgefallen. Der Stab liegt. Sprecht! Ich hebe ihn wieder auf; passt auf, was wird ge- schehen? Der Stab wird umfallen. Der Stab steht schräg. Sprecht! Auf welche Seite fällt er jetzt? Rechte (linke) Seite. Was hatten wir im Hofe gesehen ? Hier habe ich auch eine Stange. Was thut sie? Die Stange steht. Jetzt werde ich die Stange abmalen. Was muss ich dazu haben? Gieb mir die Kreide! Was habe ich gemalt? Was thut die Stange? Sprecht! Wo ist denn unser Turnstab? Dort, er liegt auf dem Fussboden. Den Turnstab male ich auch ab. So was ist das, was ist das? Sage, was die Stange, was der Turnstab thut! Hier gebe ich euch Stäbchen; woraus sind die Stäbchen? Was ist auch aus Holz? Wieviel Stäbchen hast du? 1 Stäbchen. Sprecht: Das ist 1 Stäbchen. Hebt das Stäbchen hoch! Sprecht! Legt das Stäbchen bin! Hände fest! Sage mir noch einmal, wieviel Stäbchen du hast! Gerade so viel als Tische in der Stube sind! Wieviel Tische? Wieviel Schränke, Öfen? Zeige! Hebt einen Arm hoch! Hebt einen Finger hoch! Was hast du nur einmal? Ich habe 1 Kopf, 1 Jacke u. s. w. Legt das Stäbchen so, wie ich die Kletterstange angemalt habe! Sprecht: Das ist eine Kletterstange. Die Kletterstange steht. Legt das Stäbchen so, wie der Turnstab angemalt ist! Sprecht: Das ist ein Turnstab. Der Turnstab liegt. Schiefertafel herauf: 1, 2, 3! Legt mit dem Stäbchen die Kletterstange! Schieferstift fasst an! Malt die Kletterstangel Noch eine! u. s. w.).

Öftere Wiederholung der Formen ist angezeigt: Jeder von euch hat 2 Stäbchen, was wollen wir legen? Wir legen einen Tisch, wieviel Stäbchen brauchen wir? Das Abzählen der Stäbchen wird tüchtig geübt, hierbei wird das Kind veranlasst, die gleiche Anzahl Gegenstände’ aus seiner Umgebung auf- zusuchen bez. herbeizubringen und zu benennen.

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Kletterstange. Der Turnstab liegt. Der Turnstab fällt um nach rechts nach links.

a) 1 Stäbchen.

112

b) 2 Stäbchen.

—+- LI TLA

Kletter- Eisenbahn- Kreuz. Ecke. Bohrer. Leuchter. stangen. schienen.

c) 3 Stäbchen.

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JA e

Kohlenkasten. Schüssel. d) 4 Stäbchen.

M AL AA

Kletterstangen. Bilderrahmen (Viereck). Blumentopf auf einem Teller. grosse Bank.

ILAT AIL

Turmspitze. Schaufel.

18

e) 5 Stäbchen.

U =

Kletterstangen. Fenster. Kommode. Kahn. Dach. Blumentopf. Weingläser. Haus. Bett. Haus.

V. Zählübungen für Ill. und IV. Stufe.

Wie es Aufgabe des Vorschulunterrichts überhaupt ist, die Aufmerksam- keit zu wecken und zu fesseln und jede Unterweisung, jede geistige Förderung möglichst an die Handbeschäftigung anzuknüpfen, so soll auch bei diesen Übungen nicht bloss das anschauende Auge in Anspruch genommen werden, sondern auch hier soll sich ein fortwährender Austausch zwischen Anschauung und Darstellung, eine stete Wechselwirkung zwischen Hand und Geist vollziehen Die Kenntnisse, die durch das Thun erworben werden, sind haltbar, und der Zahlbegriff stammt aus der Erfahrung. Die in der Volksschule gebräuchlichen Rechenmaschinen sind deshalb für unsere Vorschule von sehr geringem Werte. Mannigfaltigkeit der Zählmittel für die Hand der Kinder ist notwendig, denn auch variatio delectat.

Die „Eins“. a) Gegenstände auf dem Tische: Was ist das? Das ist ein „Buch“. Wieviel Bücher sind das? Das ist „ein“ Buch. Was siebst du? Wieviel siehst du? Buch, Schiefertafel, Schieferstift, Feder, Federhalter, Ball, Kugel, Tasse, Kaune, Krug, Topf, Eimer u. s. w. Aus der Spielzeugschachtel: Pferd, Kub, Hund, Ziege, Haus, Soldat, Baum u. s. w. Auf Papptäfelchen

114

aufgezogene Bilder, die Bilderbogen entnommen sind: 1 Reiter, 1 Soldat,

1 Pferd u. s. w.

Sprechübungen: Ich sehe 1 Buch und 1 Schiefertafel. Ich sehe 1 Buch, 1 Schiefertafel, 1 Schieferstift und 1 Schwamm.

b) An der Wandtafel. |

1. Was ist das? Das ist ein „Strich“. Das ist ein „Kreuz“. Das ist ein „Punkt“. Das ist ein „Ring“. Das ist ein „Fenster“. Wieviel Striche (Kreuze, Punkte u.s. w.) sind das? Das ist „ein“ Strich.

2. Ablesen und Zeigen. (Die Figuren stehen in senkrechter Reihe.) Einzeln und im Chor; beim -Chorsprechen zeigt ein Schüler.

Das ist 1 Strich. Das ist 1 Kreuz. Das ist 1 Punkt u. s. w.

3. Wische weg 1 Strich, 1 Kreuz, 1 Punkt u. s. w.

Streiche durch 1 Fenster, 1 Ring, 1 Kreuz u. s. w.

c) Perlenreihen. Siehe die Zahl „Eins“. Die technisch weniger Begabten fertigen Ketten mit einem Faden, die Geschickten die Ketten mit 2 Faden; siehe Plan unter 3 und 6.

d) Stäbchenlegen. Siehe Plan. Was kannst du mit 1 Stäbchen legen? Legt! Was noch? Legt! Zeichnet dies ab!

e) Die Rechentafel.*) Jedes Kind hat zu dieser Rechentafel ein Kästchen mit 10 Würfeln. Einstellen eines Würfels in jede Zeile der Tafel (linke Seite, rechte Seite, Mitie).

f) Hole 1 Buch, 1 Schlüssel, 1 Federkasten, 1 Stein, 1 Nuss, 1 Reiter! u. s. w. Zeige (zeigt) mir 1 Arm, 1 Finger, 1 Ohr, 1 Auge u. s. w.

Nennt 1 Knaben, 1 Lehrer, 1 Pfleger, 1 Schwester, 1 Baum, 1 Blume,

1 Vogel, 1 Haustier!

Nennt Dinge aus der Stube (aus Garten, Hof), die nur einmal da sind!

Was hast du nur einmal an dir? (Körperteile, Kleidungsstücke.)

Wieviel Henkel hat die Tasse? Nenne mir noch 1 Ding, das 1 Henkel hat!

Nenne Dinge die nur 1 Stiel haben! u. s. w.

g) Schriftliche Übung.

1. Wieviel Striche stehen an der Wandtafel? Schreibt 1 Strich! Was hast du geschrieben? Wieviel Striche bast du geschrieben ? Was habe ich an die Wandtafel geschrieben? Wieviel Kreuze stehen an der Wandtafel? Schreibt 1 Kreuz!

2. Nach Diktat. Schreibt 1 Punkt, 1 Fenster, 1 Ring, 1 Kreuz, 1 Punkt, 1 Strich u. s. w.

3. Zablenbild. Schreibt die Eins: C] C] [9 C] u 8. w.

Die Zahlenbilder sollen den nachfolgenden Gebrauch der Ziffern vor- bereiten und die gewonnenen Zahlvorstellungen befestigen.

*) Die Rechentafel besteht aus einer quadratförmigen Holztafel (30 cm), deren Ränder mit !/;, cm hohen Leisten umgeben sind und deren Oberfläche durch 9 gleichhohe und in gleichen Zwischenräumen (2!/, cm) aufgenagelten Leisten in 10 Felder geteilt ist. In die Felder (Zeilen) werden hölzerne, ungefärbte Würfel von 2 cm Höhe eingestellt.

115

h) Übung im Auszäblen.

l. Begriffe:*) eins und viel, mehr und weniger, etwas und nichts. Bringe 1 Bild her! Gieb mir viele Bilder! Hole 1 Spielmarke! Hole viele Spielmarken! Stellt 1 Haus auf! Stellt viele Häuser auf! u. s. w. Die Begriffe „mehr und weniger“, „etwas und nichts“ sind beim Austeilen und Zurücknehmen der Zählmittel ganz beson- ders zu üben; zur weiteren Klärung dieser Begriffe leistet das Füllen von Wassergläsern mit Wasser, Erbsen, Bohnen u. s. w. gute Dienste.

2. Zablen: 1—3.

Zählt: 1 Pferd, 2 Pferde, 3 Pferde das sind 3 Pferde.

Zählt: 1 Pferd, 2 Pferde das sind 2 Pferde.

Zählt: 1 Kuh, 2 Kühe, 3 Kühe das sind 3 Kühe.

Zählt: 1 Kuh das ist 1 Kuh.

Bilderbogen auf Pappe aufgezogen: Zählt: 1 Soldat, 2 Soldaten u. s. w.

Die „Zwei“, a) Gegenstände wie bei „Eins“.

1. Das ist 1 Buch und das ist auch 1 Buch. Zählt: 1 Buch, 2 Bücher! Das sind 2 Bücher. Das ist 1 Stein, und das ist auch 1 Stein. Zählt: 1 Stein, 2 Steine! Das sind 2 Steine u. s.w.

2. Wieviele Dinge siehst du? (sind das?)

Ich sehe 1 Pferd und 2 Kühe.

Ich sehe 2 Pferde und 2 Kühe.

Ich sehe 2 Pferde und 1 Hund.

Ich sehe 2 Bücher, 1 Schiefertafel und 1 Schieferstift u. s. w. b) An der Wandtafel.

1. Wieviel Punkte (Kreuze, Ringe, Striche, Fenster) habe ich ange- schrieben ? 1 Punkt. Wieviel habe ich noch angeschrieben? Noch 1 Punkt. Wieviel stehen jetzt an der Tafel? u. s. w.

2. Ablesen und Zeigen. Siehe „Eins“.

aa) | | bb) | cc) | moO © 0 + © © | | + + O O

O O FH

BE BB

*) Jedes Kind, das die unbestimmten Zahlwörter richtig anwendet, also über den Zahlenbegriff verfügt, ist als unterrichtsfähig zu erachten.

3.

rn.

Wische weg 2 Striche, 2 Punkte, 2 Kreuze u. s. w. Streiche durch 2 Fenster, 2 Ringe, 2 Striche u. s. w. Wische weg 1 Strich und 2 Striche, 1 Fenster und 2 Ringe u. s. w.

c) Perlenreiben. Siehe die „Zwei“. d) Stäbchenlegen. Was kannst du mit 2 Stäbchen legen? u. 8. w. e) Die Rechentafel. Jeder Schüler hat 20 Würfel in seinem. Kästchen.

1: 2.

f) 1.

5.

Einstellen von 2 Würfeln in jede Zeile (linke Seite, rechte Seite, Mitte).

Einstellen von 1 Würfel auf die linke Seite und von 2 Würfeln auf die rechte Seite.

Hole 2 Hunde, 2 Kugeln, 2 Nüsse, 2 Mützen, 2 Schlüssel u. s. w. Nenne 2 Knaben, 2 Lehrer, 2 Blumen, 2 Vögel u. 8. w.

Nenne Dinge aus der Stube (Hof, Stall, Garten), die nur zweimal da sind!

Was hast du an dir zweimal? (Körperteile, Kleidungsstücke.)

. Hole 1 Hund und 2 Pferde! 2 Bücher und 1 Bleistift u. s. w.

Nenne 1 Knaben und 2 Lehrer, 2 Bäume und 2 Blumen. Was hast du an dir einmal und was zweimal? Ich habe 1 Nase und 2 Augen u.s. w.

. Wieviel Beine hast du? Nenne mir 1 Tier, das 2 Beine hat! Wie-

viel Räder hat der Schubkarren? Wieviel Rader hat der Fässer- wagen? Wieviel Spitzen hat die Haarnadel? die Stecknadel? u. s. w.

. Klatscht zweimal in die Händel Zählt dazu!

Verneigt euch zweimal! u. s. w. Zeigt 1 Finger! Haltet zu dem 1 Finger noch einen der anderen Hand! Wieviel Finger sind es jetzt? Rufe 2 Kuaben vor! Stelle alle Knaben zu Zweien an! Abzablverschen: „Ich und du,

Müllers Kulı,

Müllers Esel,

Der bist du! Ohne Anschauung: 1 Apfel und 1 Apfel, 1 Nuss und 1 Nuss, 1 Haus und 1 Haus u.s. w. Die Kinder bilden auch selbst Aufgaben.

g) Schriftliche Übung.

1. 2. 3. 4. 5. Ù

h)

Wieviel Striche steben an der Wandtafel? Schreibt 2 Striche! Wieviel Striche hast du geschrieben? u. s. w.

Nach Diktat: Schreibt 2 Fenster, 2 Punkte u. s. w.

Zahlenbild: Schreibt die Zwei: [:] [:] [:] u.s. w.

Diktat: Schreibt 1 Fenster, 2 Kreuze, 2 Punkte, 1 Strich u. 8. w. Zahlenbilder: Schreibt die Eins und die Zwei: C] C] CJ CJ bung im Auszählen: 1—5. Siehe die Eins.

Wieviel Steinchen (Nüsse, Spielmarken) lasse ich.auf den Tisch fallen? Zäblt laut (leise!) Wieviel Knöpfe hast du an deiner Jacke? Wieviel Glockenschläge hast du gehört? Zählt die Hammerschläge!

17

Die „Drei“.

a) Gegenstände wie bei „Eins“.

1.

Das ist 1 Kugel, das ist auch 1 Kugel, und das ist auch 1 Kugel Zählt: 1 Kugel, 2 Kugeln, 3 Kugeln das sind 3 Kugeln. Sprich. 1 Kugel + 1 Kugel + 1 Kugel sind 3 Kugeln.

. Wieviel Kugeln sind das? 2 Kugeln. Und wieviel sind hier?

l Kugel. Wieviel Kugeln sind es zusammen? Sprich: 2 Kugeln + 1 Kugel sind 3 Kugeln.

. Wieviel Dinge siehst du (sind das)?

Ich sehe 1 Pferd. Ich sehe 2 Pferde. Ich sehe 3 Pferde. Ich sehe 2 Kühe und 3 Pferde. Ich sehe 1 Kuh und 3 Pferde. Ich sehe 3 Kühe und 3 Pferde. Ich sehe 1 Kuh, 2 Pferde und 3 Hunde.

b) An der Wandtafel.

l.

2.

3.

Wieviel Kreuze habe ich angeschrieben? 1. Wieviel jetzt noch? Wieviel Kreuze sind das? 2. Wieviel Kreuze habe ich noch ange- schrieben? Wieviel Kreuze stehen an der Tafel? 3 u.s.w. Ablesen und Zeigen. Siehe „Eins“.

aa) | | | bb) | æ] | a ee) ne III III AH eee OoOo oo0oo0 7F

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Wische weg 3 Striche, 3 Punkte u. s. w. Streiche durch 2 Fenster und 3 Ringe u. s. w. | |

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O O

c) Perlenreihen. Siehe die „Drei“. d) Stäbchenlegen. e) Die Rechentafel mit 20 Würfeln.

1. 2. 3.

f) 1.

Einstellen von je 3 Würfeln in die ersten 6 Zeilen. Einstellen von 2 Würfeln links und 3 Würfeln rechts. Erste Zeile: 1 Würfel; zweite Zeile: 2 Würfel; dritte Zeile: 3 Würfel.

aa) C] bb) I LIU) ee) J dad JOU 0 O IL RE aes OD U ae O

. Baut Türme: 2 Würfel hoch, 3 Würfel hoch! Baut eine Treppe!

Hole 3 Löffel, 3 Messer, 3 Gabeln, 3 Kugeln u. s. w. Nenne 3 Knaben, 3 Handwerker, 3 Haustiere u. 8. w. Nenne Dinge aus der Stube (Haus, Hof), die dreimal da sind!

. Hole 1 Löffel und 3 Messer! 2 Kugeln und 3 Bälle u. s. w.

Nenne 1 Waldtier und 3 Haustiere! 2 Blumen und 3 Bäume u. s. w.

118

3. Klopft dreimal auf den Tisch, zählt dazu! Armheben dreimal! Zeigt 3 Finger in die Höhe! Rufe 3 Knaben vor! Stelle die Knaben zu Dreien an! 3 Schritte vorwärts marsch! u. s. w. 4. Ohne Anschauung: aa) 1 Rose und 1 Rose und 1 Rose. 1 Apfel und 1 Apfel und 1 Apfel.

bb) 2 Häuser und 1 Haus. 2 Fenster und 1 Fenster.

cc) Wieviel Blumen sind 2 Rosen und 1 Nelke? Wieviel Tiere sind 1 Ziege und 1 Schaf? Wieviel Werkzeuge sind 2 Beile und 1 Säge? Wieviel Kinder sind 1 Knabe und 1 Mädchen u.s. w.

5. Der Pfennig. (Jedes Kind erhält 3 einzelne Piennige) Was kostet 1 Pfennig, 2 Pfennige, 3 Pfennige? Wieviel kostet 1 Schiefer, 1 Eckchen Semmel, 1 Dreierbrot? Was willst du kaufen? Kaufe! (Es werden Spielsachen verkauft.)

g) Schriftliche Übung.

Siehe unter „Zwei“. Das Zahlenbild [:}

h) Übung im Auszählen: 1—6. Siehe die Eins und Zwei.

Bohnys Bilderbuch.

Die gemeinsamen Gänge durch Haus, Hof, Stall, Garten bieten eine

Menge Stoff für diese Übung. (Aufgabe für den Spaziergang: Bringt

Kleeblälter mit!)

Die „Vier“.

a) 1. Die Wände des Zimmers. Vordere, hintere, rechte und linke Wand. Sätze: Das ist die vordere Wand u. s. w. Einübung. Zäblt die Wände: Vordere Wand eins! Rechte Wand zwei! u s. w. Die Stube hat 4 Wände. Mit Ordnungszablen: Das ist die erste Wand u. s. w. Wie heisst die 1., 3., 2., 4. Wand?

2. Der Tisch. Der Wagen. Das Pferd. (Besprechung wie bei 1.)

3. Wieviele Dinge siebst du? Ich sehe 1—2-— 3 4 Hunde, Schafe u.s.w. Ich sehe 2 Kübe und 4 Pferde. Ich sehe 1 Kuh und 4 Pferde. Ich sehe 3 Kühe und 4 Pferde.

b) An der Wandtafel. Siehe die „Drei“.

c) Perlenreihen.

d) Stäbchenlegen.

e) Die Rechentafel mit 20 Würfeln. Siehe die „Drei“.

f) 1. Hole 4 Steine, 4 Nüsse, 4 Bälle u. s. w.

Nenne 4 Blumen, 4 Werkzeuge, 4 Küchengeräte! Nenne Dinge, die 4 Beine haben! Nenne Tiere, die 4 Beine haben! 2. Hole 2 Federhalter und 4 Schiefer! 2 Kartoffeln und 4 Nüsse! 3 grosse und 4 kleine Steine! u. s. w.

119

3. Steht viermal auf! Klatscht viermal in die Hände! Zeigt 4 Finger in die Höhe! Stelle die Knaben zu Zweien, Dreien, Vieren an! 2, 3, 4 Schritte vorwärts!

4. Ohne Anschauung:

aa) 2 Äpfel und 2 Äpfel. bb) 3 Häuser und 1 Haus. 2 Birnen und 2 Birnen. 3 Tauben und 1 Taube. cc) 1 Stuhl und 3 Stühle. dd) 2 Mädchen und 2 Knaben. 1 Bank und 3 Bänke. 3 Kühe und 1 Pferd.

5. Der Pfennig. Legt 1 2 3 4 Pfennige auf den Tisch! Legt 1 Pfennig und 3 Pfennige! Legt 1 Zweipfenniger auf den Tisch, noch 1 Pfennig dazu! Wieviel gelten 1 Zweipfenniger und 1 Pfennig? u. s. w. Was kannst du für 4 Pfennige kaufen ?

6. Mehr und weniger. Ernst hat 4 Pferde, Otto hat 1 Pferd wer bat mehr ? Karl hat 3 Pfennige, Emil 4 Pfennige wer hat weniger? u. s. w.

g) Schriftliche Übung. Siehe unter Zwei. Das Zablenbild [k]

h) Übung im Auszählen: 1—10. Siehe Eins bis Drei. Die Wochentage: Sonntag 1, Montag 2 u. s. w. Wie heisst der erste, zweite, siebente Tag?

Die „Fünf“.

a) 1. Die Finger der Hand. Namen: Daumen, Zeigefinger, Mittelfinger, Ringfinger, kleiner Finger. Zählen: Daumen 1, Zeigefinger 2 u. s. w. Einübung. Mit Ordnungszahlen: Das ist der erste, zweite u. s. w. Finger. Wie heisst der 1, 3., 5. 4, 2. Finger? Der wievielste Finger ist der Ringfinger, der Daumen? Zählen bei Berührung der Finger, auf- und abwärts: 1, 2, 3, 4, 5 5, 4, 3, 2, 1.— Sätze mit vor, nach, zwischen: Der Daumen kommt vor dem Zeige- finger, der Zeigefinger kommt vor u. 8. w.

2. Die Zehen. 3. Wieviele Dinge siehst du? Siehe die Drei und Vier.

b) An der Wandtafel. Siehe die Drei. c) Perlenreihen. d) Stäbchenlegen. e) Die Rechentafel mit 20 Würfeln. Siehe die Drei. . g) Siebe die Vier. Pfennig, Zweipfenniger, Fünfpfenniger. Das Zahlenbild Zu g) Ziffernschreiben: 1, 2, 3, 4, 5. e) Übung im Auszählen: 1—20. Siehe Eins bis Vier. Die Stundenschläge an der Uhr. Hierzu 1 Glocke. Das Kegelspiel: Wieviel Kegel sind umgefallen ?

120

Übungen im Messen nach Schritten, Fusslängen und Handspannen: Wieviel Schritte lang ist die Stube? Wieviel Fusslängen breit? Wie-

viel Handspannen ist die Bank lang? u. s. w.

WI. Bauen (Unterstufe).

Die Formen, welche gebaut werden sollen, müssen anfangs (Übung 1—5) den Kindern vorgebaut werden; an dieses Vorbauen wie an das Bauen schliessen sich kleine Besprechungen (z. B. das ist ein Haus. Das Haus hat ein Dach. Hier ist das Dach. Auf dem Dache ist die Esse. Der Essenkehrer kehrt die

Esse.

Der Essenkehrer sieht schwarz aus. Aus der Esse kommt Rauch u. s. w.). L

Übungen im Aufstellen von 5 Häusern, die jedes Kind in einem

Kästchen liegen bat. Übung im Ein- und Auspacken.

a) Aufstellen ohne bestimmte Ortsangabe.

b) Aufstellen in einfachen Reihen (wagerechte, senkrechte, schräge Richtung, in Winkeln, in Bogen). Die Richtung wird zuerst durch Kreidestriche auf den Tisch gegeben, später wird sie, bis das freie Aufbauen gelingt, an die Wandtafel gezeichnet.

. Übungen im Aufstellen der Tiere und Bäume (Pferd, Kuh, Hund, Schaf,

Baum) je 4 Stück. a) Aufstellen ohne bestimmte Ortsangabe. b) Hintereinander, nebeneinander, in Paaren.

. Übungen im Aufstellen von 10 Häusern und 1 Kirche. Anzeichnen

an die Wandtafel. Strasse mit 2 Reihen Häusern; die Strasse macht eine Ecke; die Häuser stehen im Kreise, in dessen Mitte die Kirche, u. s. w.

. Übungen im Aufstellen von 10 Bäumen und 1 Hause.

Sämtliche Bäume stehen in einer Reihe, das Haus daneben; die Bäume bilden eine Allee, das Haus steht davor; die Bäume stehen in Form eines Quadrats, das Haus an einer Quadratseite; die Bäume stehen im Kreise um das Haus u. s. w.

. Übungen im Aufstellen einer Schäferei (Spielschachtel). . Der Baukasten, Fröbels III. Gabe: 8 Würfel *).

Mit geringen Änderungen wird der von A. Köhler, Die Praxis des Kindergartens, Verlag von Böhlau in Weimar ($ 47 Praktische An- wendung der III. Gabe) aufgestellte Gang für die Lebeusformen inne- gehalten; für die von Köhler gegebenen Benennungen werden z. T. einfachere angewendet. Zu beachten ist, dass die im Bauen nachzu- bildenden Gegenstände zuvor in Wirklichkeit angeschaut sein müssen, nur dann ist die Entwickelung der Phantasie möglich.

Wil. Thonarbeiten.

Zur Verwendung kommt gut durchgearbeiteter Töpferthon. Modellierhölzer werden nicht gebraucht. Der Thon wird je nach der Grösse des zu fertigenden

*) Siehe auch Elm: Spiel und Arbeit. Verlag von O. Spamer in Leipzig.

Gegenstandes dem Schüler in Würfelform gegeben. Zur Schonung des Tisches bekommt jeder Schüler ein Brettchen oder ein Stück Wachstuch.

Zu den im zweiten Gange unter d genannten Formen werden zugespitzte Holzstäbchen von bestimmter Länge, die aus Holzdraht von geschickten Zög- lingen hergestellt werden, benutzt. Die Verbindung der Stäbchen geschieht durch kleine Thonkugeln oder durch ungeschälte Erbsen. Die Erbsen werden einen Tag lang vor ihrem Gebrauche in kaltem Wasser geweicht.

Der Gegenstand, welcher geformt werden soll, wird in Wirklichkeit bez. im Bilde vorgeführt; an ihn knüpft sich eine kurze Besprechung oder Erzählung. Wo sich Lebensbilder schaffen lassen, geschieht es, z. B. der Pilz wird in Moos, das Nest auf einen Zweig, der als Baum in ein Brettchen eingelassen, gesetzt; die Kirsche erhält einen wirklichen Kirschenstiel, der Apfel als Blüte eine Gewürznelke.

Die Thonarbeiten treten später in den Dienst der Formenlehre, Heimats- kunde und Naturgeschichte.

I. Gang. a) Thonfaden, Spazierstock, Hörnchen, Wurst, Ring, Kreuz, Vierecke (Bilderrahmen), Leiter, Fenster. b) Grosse und kleine Kugel, Kartoffel, Kirsche, Apfel, Brot, Seminel, Ei, Eichel, Pflaume, Nest mit Eiern, Schüssel, Pilz, Pilzgruppe, Löffel, Korb mit Henkel, Becher, Kaffeetasse, Nuss. II. Gang. a) Grosse und kleine Ringe, Kette aus runden Ringen, langer (ovaler) | Ring, Kette aus langen Ringen, Hufeisen, Rad, Brezel, Schlange, Bienenkorb, Zopf, Messer, Hammer, Beil, Schlüssel. b) Walze, Zigarre, Licht, Gurke, zugebundener Sack, Gewicht, Rübe, Flasche, Kegel. ec) Würfel, Kasten, vierseitige Säule, Kahn, Platten (Vierecke, Drei- ecke), Treppe, Dachziegel, Scheibe, viereckiger und runder Tisch, - Stuhl, Bank, Haus. d) Stock, Hantel, Ecke (Winkel), Vierecke in verschiedener Form und Grösse, Fenster, Tisch, Stuhl, Bank, Dreiecke, Sägebock, Rechen, Würfel, Säulen, Haus.

WITT. Ausnahen.

Das Material für diese Beschäftigungen besteht aus Ausnähblättern, einer starken Sticknadel ohne Spitze und 30 cm langen Wollfäden, die in die Nadel eingeknüpft werden. Das Ausstechen der Ausnähblätter, wozu eine Ausstech- nadel, eine Filztafel und die Vorlage (Netzpapier oder die Zeichnung) gebraucht werden, besorgt anfangs der Lehrer, später ein geschickter Knabe.

1. Ausnähblätter von starker Lederpappe (10:12 cm). Die vorgestochenen Löcher (im Quadratnetze) sind 2 cm von einander entfernt; zur Er- leichterung werden den Anfängern die ersten Muster mit Bleistift vor- gezeichnet.

2. Ausnähblätter von braunem Kartonpapier von derselben Grösse; die Löcher sind ca. 1 cm von einander entfernt.

122

3. Das Ausnähen tritt in den Dienst des Anschauungsunterrichts: Geräte, Tiere, Blumen, Blätter u. s. w. werden ausgenäht; zur Darstellung der Gegenstände in ihrer wirklichen Farbe findet die verschiedenartig ge- färbte Mooswolle Verwendung.

Später wird das Ausnähen in den Dienst der Naturgeschichte und der Heimatkunde gestellt. Die in die Landkarte einzutragenden Ort- schaften werden durch die Köpfe der eingefügten Musterklammern kennt- lich gemacht.

Über den Ausnähgang siehe die Bemerkung unter Papierflechten.

IX. Papierflechten nach Fröbel.

- 1. Flechtblatt von Leder; dasselbe ist 20 cm lang und breit und hat 10 Streifen, die 2 cm breit und ca. 16 cm lang sind. Statt der Papier- streifen werden Holz-(Verschränk-)Späne von 25 cm Länge eingezogen. Die Anfänger fertigen mit diesem Flechtblatte die Muster 1 auf, 1 ab, 2 auf, 2 ab und 3 auf, 3 ab; darnach erhalten sie

2. Flechtblätter von starkem blauen Papier mit starken weissen Papier-

streifen und die hölzerne Flechtnadel.e. Dieses Material wird in einer mit dem Namen des Kindes vergehenen Mappe aufbewahrt.

3. Flechtblätter und Streifen von buntem Papiere.

Bemerkung. Die Mitteilung der Lehrgänge für Papierflechten und Ausnähen muss an dieser Stello unterbleiben, weil deren Wiedergabe für die Zeitschrift zu um- ständlich und kostspielig ist; es sei darum auch hier hingewiesen auf Elm, Spiel und Arbeit, sowie auf Köhler, die Praxis des Kindergartens, wo sich angedeutete Gänge für diese Beschäftigung finden.

X. Zopf- und Deckenflechten.

1. Das Tuchleistenflechten*) ist die Vorstufe für das Schilf- oder Strohzopfflechten.

a) Die den Anfängern zu gebenden Tuchleisten sind 75 cm lang; 3 Stück

sind an einem Ende in einen Knoten zusammengeknüpft. Diese

3 Tuchleisten werden in einen nach innen gebogenen Haken ein-

gehangen, von denen so viele in einer langen Latte eingebohrt sind,

als Kinder in der Abteilung sich befinden. Diese Latte wird an der

Wand oder zum Wiederabnehmen nach der Stunde an den Bänken

befestigt. Sämtliche Kinder einer Klasse werden zur Arbeit heran-

gezogen, die ungeschickten werden zunächst mit dem Aufmachen der

von den übrigen Zöglingen gefertigten Tuchleistenzöpfe beschäftigt.

b) Flechten des dreiteiligen Zopfes bis zu 3 m Länge aus verschieden

langen Tuchleisten (50, 60, 70, 80 cm) unter Übung des Ansetzens.

2. Haben die Zöglinge im Zopfflechten genügende Fertigkeit erlangt, so

wird eine Stunde in der Woche zu Übungen am kleinen Deckenrahmen

*) Eine gute Vorübung für Mädchen zum Erlernen des Haarzopfflechtens.

123

verwendet. Dieser Rabmen ist für jedes Kind vorhanden; er bildet ein Rechteck von 40 cm Länge und 30 cm Breite; die Längsseiten werden aus 2 cm starken Leisten gebildet, in welche je 8 Holznägel von Bleistift- stärke eingelassen sind; die Nägel der beiden Leisten stehen in 4 cm weiten Abständen sich genau gegenüber und sind 5 cm hoch. Die Leisten der Breitseiten sind auf den langen Latten befestigt und haben keine Nägel; wird der Rahmen auf den Tisch gelegt, wo er bei der Benutzung seinen Platz hat, so liegt er auf den Breitseiten auf, die Längsseiten befinden sich dann 2 cm über dem Tische. Zur Anfertigung einer Decke aus Zöpfen werden zwei Anlegestibe gebraucht, die den Breit- seiten der Decke den nötigen Halt gewähren.

a) Einübung der Aufzüge am kleinen Deckenrahmen. Dieselbe erfolgt unter Verwendung eines ungefähr 5 m langen Bindfadens, der an dem einen Ende mit einer Schleife versehen ist, womit er an den oberen linken Nagel angehangen wird.

Vorher wird der Rabmen besprochen; dabei, wie auch bei seiner späteren Benutzung, werden an ihm einige Zählübungen, sowie die Darstellung einiger Formen vorgenommen, z. B. hängt die Schleife an den ersten (oberen linken) Nagel an, zieht nach dem ersten Nagel unten links! Was für eine Linie ist entstanden? Zieht vom 1. Nagel (oben links) nach dem 1. Nagel unten links, dann nach dem 4. Nagel unten rechts, nun nach dem 4. oberen Nagel und zurück nach dem 1. Nagel oben links! Welche Figur haben wir aufgespannt? u. s. w.

b) Durch die Bindfadenaufzūge werden 40 cm lange Binsen oder starker Holzdraht geflochten. Das einfache Flechtgesetz hat das Kind im Papierflechten bereits kennen gelernt; es entsteht eine kleine Decke, die als Unterlage für Gefässe Verwendung findet.

c) Die Decke wird aus langen Tuchleisten oder schwachen geflochtenen Schilfzöpfen unter Gebrauch der Anlegestäbe gefertigt.

3. Anfertigen des starken Zopfes aus Schilf oder Stroh zur Verarbeitung am grossen Deckenrahmen.

4. Abputzen des starken Zopfes mit dem Messer.

ö. Anfertigung der Decke (des Fussabstreichers) am grossen Deckenrahmen.

Da an diesem Rahmen höchstens 2 Zöglinge arbeiten können, flechten

die übrigen Schüler Zöpfe.

XI. Selbstbedienen.

Auf die Übungen im Selbstbedienen werden in der Vorschule wöchentlich wenigstens 3—4 Stunden, in den Schulklassen 1 Stunde verwendet; sie werden von der Abteilungspflegerin bez. von dem Pfleger geleitet.

1. Zeigen und Benennen. Die Gegenstände werden, wie im An-

schauungsunterricht, zuerst in Wirklichkeit, darnach im Bilde gezeigt

124

die leitenden Fragen sind auch hier: Was ist das? Zeige! Wo ist was hat was wird damit gethan ?

a) Jacke, Weste, Hosen, Hemd, Stiefel, Schuhe, Strümpfe, Kragen, Taschentuch, Mütze, Mantel, Handschuhe, Stiefelknecht, die ver- schiedenen Knöpfe, Steck- und Nähnadel, Schere, Fingerhut, Kamm, Bürsten, Flecke von Tuch, Leinewand, Leder. Die Kleidungsstücke liegen anfänglich ausgebreitet auf dem Tische, später in eineın grossen Korbe. (Zeige! Suche! Gieb mir!)

b) Die Körperteile. Waschlappen, Schwamm, Seife, Waschbecken,

Becher, kaltes und warmes Wasser, Zahnbürste. (Was setzest du auf den Kopf? Zeige! Sprich! Was ziehst du an die Füsse ? Was ziehst du abends aus? Was ziehst du früh morgens nach dem Aufstehen zuerst an? Was dann? Zeige, womit die Fingernägel abgeschnitten werden? Was ist von Leder? Was ist von Tuch? Wer hat die Mütze, die Stiefel gemacht? Womit nähe ich Koöpfe an? Womit musst du wichsen, abbürsten, ausklopfen? Was wird genäht, gewaschen, gewichst, gestrickt u. s. w.? Greif in die Tasche! Nimm das Taschentuch heraus! Hast du Stiefel, Hosen, u. 8. w.? Ja, ich habe... Hast du einen Hut? Nein, ich habe keinen Hut. Bitte um ein Paar Schuhe, um ein Taschentuch! u. 8. w.

. An- und Auskleiden, Gewöhnung an Ordnung, Übung im Zusammen-

legen der Kleidungsstücke, im Aufbewahren und Aufhängen. Bei diesen Übungen muss dem Kinde anfangs die Hand geführt werden; durch stete Wiederholung erlangt es die nötige Selbständigkeit. Sobald einzelne Knaben nur einige Handgriffe erlernt haben, werden dieselben auf Kommando ausgeführt, z. B. Mütze auf, Mütze ab! Schuh (Strumpf) aus! Schuh an! Knöpft die Jacke auf! Knöpft die Jacke zu! Auf zu! Zieht die Jacke aus! Faltet die Jacke zusammen! Haltet die Jacke vor! Legt die Jacke auf den Tisch! Fasst die Jacke an! Zieht an! Knöpft zu! u. s. w.

Die Zöglinge werden angehalten, sich beim Ankleiden gegenseitig Hilfe zu leisten, z. B. die Knaben stehen sich gegenüber, die eine Reihe erhält den Auftrag, den gegenüberstehenden Knaben die offene Jacke zuzuknöpfen u. 8. w.

3. Sich waschen und abtrocknen, Reinigen der Zähne, Gurgeln. (Die Zög-

linge gurgeln früh nach dem Waschen, mittags nach dem Essen und abends vor dem Schlafengehen und putzen sich zu diesen Zeiten die Zähne.)

4. Reinigen der Kleidungsstücke und des Schuhwerks, Umgang mit Aus-

5.

klopfer und Bürste.

Ordnen des Zimmers.

a) Tragen der Bänke, Stühle u. s. w. an ihren Platz.

b) Reinigen des Zimmers mit Besen und Kehrichtschaufeln (Papier-

125

schnitzel, die vor dem Eintritte der Kinder in dem Zimmer aus- gestreut worden, sind vom Fussboden zu entfernen).

c) Bettenmachen. |

. Übungen im Zurechtfinden:

a) im Zimmer. Geh’ zur Thüre, zum Schranke! Öffne!

b) im Hause. Aufsuchen der verschiedenen Räume. Paul, führe uns in die Küche, in den Schlafsaal! Trage den Stuhl in den Speisesaal!

c) im Hof und Garten.

d) bei Spaziergängen. (Wir gehen heute wieder zur Windmühle. Otto geht voran und zeigt uns den Weg!)

. Übungen im Annäben von Knöpfen und zwar zunächst auf breite

Tuchleisten. Zusammennähen von 2 Tuchstücken, Einsetzen eines Fleckes.

. Gewöhnung zur Wohlanständigkeit.

a) Grüssen. Grüssen mit der Mütze im Stehen und Gehen; Grüssen beim Eintritt in das Zimmer und beim Verlassen desselben.

b) Ich bitte ich danke.

c) Gebrauch von Messer und Gabel (av. Stufe und Schulklassen). Die ersten Übungen im Zerlegen werden an dem auf einem Teller liegen- den Vesperbrote, darnach an Äpfeln, Birnen, Kartoffeln vorgenommen. Schälen der Kartoffel.

XI. Turnen, Spiel, Spaziergang. Turnübungen.,

. Frei- und Ordnungsübungen.

a) Antreten zur Reihe. Aufstellen in bestimmter Reihenfolge. Grund- stellung. Rühren (Rührt euch!). Auflösen und Bilden der Stirnreihe (Zur Reihe nebeneinander, tretet an! Stillgestanden! Wer steht neben dir? Weggetreten!). Bilden der Flankenreihe (Zur Reihe, hintereinander, tretet an! Stillgestanden! Wer steht vor dir, hinter dir?). Viertel und halbe Drehung (Dreht euch rechts (links) um! Der Lehrer zeigt hierbei mit der Hand die Richtung an. Die halbe Drehung wird auf das Kommando: Kehrt! auf dem linken Fusse ausgeführt). Abstandnehmen mit Händefassen (Zur langen Reihe geht!). Zu Paaren in der Flankenreihe. |

b) Armübungen. Unter Zuhilfenahme der 3 m langen Turnstangen: Armvorheben, Armvorhochheben, Armseitheben; Armbeugen, Arm- strecken; Armbeugen, Vor-, Seit- und Hochstossen. Dieselben Übungen ohne Stangen. Dieselben Übungen im Wechsel links und rechts. -— Handfassen (Hände fasst an!). Handklappen (Hände zum Hand- klappen beugt! Linke Hand unten, rechte Hand oben; klappt!). Hiiftstiitz, Armschwingen, Achselzucken; Armverschränken vor der Brust, auf dem Rücken.

c) Beinübungen. Marschieren mit angefassten Turnstangen in der Stirn- und Flankenreilie: Am Ort Vorwärts (rückwärts) marsch!

DO AO DU U

14.

126

Abteilung halt! Marschieren in der Flankenreihe ohne Stangen. Marschieren in der Stirnreihe bei angefassten Händen. Zehengang. Schlussstellung. Die Vor-, Riick- und Seitschrittstellung. Laufen. Niederknieen, Knieheben. Siampfen. Springen. Taktgang.

d) Übungen des Kopfes. Beugen, Nicken, Schütteln, Drehen.

e) Rumpfübungen. Rumpfbeugen vor- und seitwärts.

. Gerätübungen.

a) Stufentritt und schräge Leiter. Das Auf- und Absteigen. Hang mit gestreckten Armen an den Sprossen und Holmen der Leiter. Was thust du?

b) Das Schwungseil. Laufen und Springen über das ruhig gehaltene Seil; Durchlaufen.

c) Kletterstangen. Streckhang an 2 Stangen. Kletterschluss. Klettern.

d) Reck, Beinthatigkeiten im Streckhang, Schwingen.

Spiel.

. Auf dem Sandhaufen mit Schubkarre, Trage und Schaufel.

. Wettlauf nach einem Ziele, wo Gegenstände zum Abholen niedergelegt sind. . Suchen eines versteckten Gegenstandes.

. Reifentreiben.

. Kegelspiel.

. Ballspiel. Werfen der Balle. Zukollern und Auffangen. Ballkorb.

. *) Ringel-, Ringel-, Rosenkranz

. Häschen in der Grube sass und schlief

. Wenn die Kinder artig sind

10. 11. 12. 13.

Unsre Arme lasst uns regen Das gemeinsame Spielen macht uns alle so froh Kinder, drehet euch im Kreise. Wir fahren in der Kutsch’. Die Kinder stellen sich paarweise hintereinander auf. Die Paare reichen sich kreuzweis die Hände, dann wird marschiert und gesprochen : Wir wollen einmal wandern, Von einem Ort zum andern. Ri, ra, rutsch, Wir fabren in der Kutsch’. . Bei dem Worte „Kutsch“ machen alle Kehrt; die Hände bleiben dabei gefasst, die Kinder drehen sich nach innen; es wird nach der andern Seite marschiert und das Verschen von vorn gesungen oder gesprochen. Auf, ab! Die Kinder stehen im Kreise, die Hände sind nicht gefasst; die Schüler sprechen: Auf, ab! Klipp, klapp! Tipp, tapp! Lauf ab! Auf: „Auf, ab!“ werden die Arme gehoben und gesenkt, auf: „Klipp,

*) Nr. 7—12 siehe Köhler, Bewegungsspiele.

Gegen -7 ur r =

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klapp!“ erfolgt zweimal Händeklappen, auf: „Tipp, tapp!“ Stampftritt links und rechts und auf: „Lauf ab!“ läuft die Schülerschar aus- einander. Dabei sucht ein Schüler, welcher in der Mitte stand, einen andern zu haschen, der ihn dann ablöst.

15. Seilziehen.

Spaziergang.

Die Spaziergänge dienen in. der Vorschule neben anderen Zwecken vor allem dem Anschauungsunterrichte. Das „Spaziergangbuch“ giebt jeder Zöglings- abteilung für die wöchentlichen Spaziergänge Ziel und Aufgabe; beides wird den Zöglingen von ihrem Lehrer bez. Pfleger vor Antritt des Spazierganges bekannt gegeben; er wird dafür sorgen, dass die Kinder denjenigen Objekten, auf die es ankommt, ihre Aufmerksamkeit zuwenden.

Mitteilungen.

Potsdam. (Wilhelmstift.) Am 1. Oktober d. J. schied Herr Inspektor Grossmann, Leiter der Idiotenanstalt Wilhelmstift zu Potsdam, aus seinem Amte. Wer dem in der Arbeit der Idiotenerziehung bewährten Manne nahe gestanden, weiss, was Grossmann in seiner mehr als 25jährigen Thätigkeit als Erzieher schwach- sinniger Kinder dem Wilhelmstift gewesen ist, ein pflichttreuer, gewissenhafter, un- ermüdlicher Pfleger und Erzieher der ihm anvertrauten Zöglinge. Grossmann erfreut sich einer frischen Gesundheit und geistiger Rührigkeit. Neuerungen, die sich mit den Anschauungen des bewährten Mannes nicht vertrugen, drängten ihn, sein ihm liebgewordenes Amt niederzulegen.

Scheuern. (Königliche Auszeichnung.) Herr Direktor Horny erhielt bei seinem Abgange den Kronenorden III. Klasse.

Luxemburg. (Zur Fürsorge für Idioten.) Das Ländchen Luxemburg besitzt zur Zeit noch keine Anstalt für Schwachsinnige, doch ist jüngst eine ausgiebige Anregung hierzu in Fluss gekommen. Dieselbe ging von einem Taubstummenlehrer, Herrn Hemmen, in Luxemburg aus. Herr Hemmen suchte vor allem die mass- gebenden Faktoren für die Idiotensache zu gewinnen, und es ist ihm auch bereits gelungen, die Landesschulbehörde dafür zu interessieren. Im Einvernehmen mit derselben hat Herr Hemmen in den sämtlichen Hauptlehrerkonferenzen des Jahres 1897 einen Vortrag gehalten, ‘der zunächst informatorische Zwecke verfolgte und insbesondere darauf gerichtet war, die Lehrer mit dem Wesen des Idiotismus, seinen Erscheinungs- formen, seinen Ursachen, den Mitteln zu seiner Verhütung u. s. w. bekannt zu machen und sodann die Notwendigkeit eigener Erziehungs- und Pflege-Anstalten nachzuweisen. Dieser Vortrag liegt nun als Separatabdruck aus dem „Luxemburger Schulboten“ vor, ist jedoch im Buchhandel nicht erschienen. Die Ausführungen sind basiert auf dem fleissigen Studium der Fachlitteratur, der Jahresberichte verschiedener Anstalten und unserer „Zeitschrift*, und dürfen als nahezu erschöpfend und für alle Interessenten als ausserordentlich anregend bezeichnet werden. Hoffentlich führen die Bemühungen des Horn Hemmen recht bald zu der Errichtung einer Anstalt für das Gross- herzogtum Luxemburg. H.

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Mauren i. Kant. Thurgau. (Anstalt für schwachsinnige Kinder) Am 1. Januar 1897 befanden sich in der Anstalt 37 Kinder, 17 Knaben und 20 Mädchen. Davon sind während des Berichtsjahres wieder 3 Kinder, 2 Knaben und 1 Mädchen, ausgetreten. An deren Stelle wurden 9 Kinder in die Anstalt aufgenommen, 5 Knaben und 4 Mädchen, sodass der gegenwärtige Schülerbestand der Anstalt von 43 Kindern, der höchste bisher erreichte ist.

Briefkasten.

Dir. Sch. J. J. Besten Dank für Ihre Sendungen! Dieselben finden so schnell wie möglich Verwendung. Die Biographie, welche hoffentlich nicht zu lang ist, bitte ich zu senden. E. G. i. G. Erhalten, besten Dank! F.F. i. L. Ihre Arbeit erscheint so bald als möglich; gegenwärtig steht der „Konferenz-Bericht“ in erster Reihe. Die „Monatsschrift* interessierte sich von Anfang an sehr für unsere Zeitschrift und druckte mehrfach aus derselben ab, sie that dies aber jederzeit mit Angabe der Quelle, und darum hatten wir auch nichts dagegen einzuwenden. Z. i. J. Ihr „Erziehender Unterricht“ erscheint in einer der ersten Nummern des neuen Jahrgangs ; im übrigen sehen wir der Zusendung der von Ihnen erwähnten Arbeiten gern entgegen.

Anzeigen.

Vom Verfasser oder durch die Schriftleitung dieser Zeitschrift gegen Einsendung von Mk. 0.60 zu beziehen

Aus der Praxis der Vorschule. Von Gustav Nitzsche, Oberlehrer a. d. Landesanstalt für schwachsinnige Kinder in Grosshennersdorf (Königr. Sachsen). Separatabdruck aus der „Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer.* Dresden. Druck von Johannes Passler,

Erster Schreib - Lese - Unterricht Lehrer-Gesuch.

für schwachsinnige (schwachbefähigte) Kinder Für unsere Anstalt werden zwei jüngere

von R. G. Wehle, Lehrer. 2.50 Mk. Lehrer zum baldigen Eintritt gesucht. Gehalt Von demselben Verfasser erschien 1897: | bei völlig freier Station Mk. 500, jedes Jahr

Vorübungen z. Schreib-Lese-Unterricht. | um 50 Mk. steigend bis Mk. 750. Aussicht

Mit 1 Tafel und Abbildungen im Texte. | auf dauernde Stellung.

1.80 Mk. Lebenslauf und Zengnisse an die Direktion Buchhandlung der deutschen Lehrer- | der ev. Idiotenanstalt Hephata in M.-Glad-

zeitung, Berlin N. 58. Schönhauser-Allee 141. | bach, Bezirk Düsseldorf.

Inhalt. Bericht über die 1X. Konferenz für Idiotenpflege und Schulen für schwach- befähigte Kinder (P. Müller.) Aus der Praxis der Vorschule (G. Nitzsche) (Schluss.) Mitteilungen: Potsdam, Luxemburg, Mauren. Briefkasten. Anzeigen.

Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. In Kommission von Warnatz & Lehmann, Kgl. Hofbuchhändler in Dresden. Druck von Johannes Pässler in Dresden.

we

Nr. 8. XIV. (Vill) Jahre.

Zeitschrift

fiir die

Behandlung Schwachsinmniger und Enileptischer

Organ der Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

herausgegeben von

W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, Direktor der Erziehungsanstalt Spezialarzt für geistig Zurückgebliebene in für Nervenkrankheiten Dresden -N in Stuttgart. Erscheint jährlich in 8 Nummern von Zu beziehen durch alle Buchhandlungen

mindestens einem Bogen. Anzeigen für und Postämter, wie auch direkt von den die gespaltene Petitzeile 35 Pfg. Litte- Dezember 1898. Heranegebern. Preis pro Jahr 4 Mark, rarische Bellagen 6 Mark. einzelne Nummer 50 Pfg.

An die geehrten Leser!

Abermals neigt ein Jahr sich seinem Ende zu, und wir stehen mit unserer „Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer“ wieder am Schlusse eines Jahrganges: des vierzehuten der neuen Folge und des achtzehnten überhaupt. Wie in jedem vorhergehenden Jahre, so ist es unserer Zeitschrift auch in diesem gelungen, sich die alten Freunde zu erhalten und neue zu erwerben, und wir sind dafür aufrichtig dankbar. Je mehr aber der Leserkreis sich vergrössert hat, desto lauter und dringlicher ist auch der Ruf nach einer abermaligen Erweiterung der Zeitschrift geworden. Wir halten solchen Wunsch allenthalben für begründet und würden demselben auch schon gerecht geworden sein, wenn die Zahl der Mitarbeiter eine noch grössere gewesen ware. Wohl hat naturgemäss sich der Kreis derselben mit der Zahl der Leser vergrössert, aber an gediegenen Beiträgen war noch immer kein Überfluss, und wenn wir es trotzdem wagen, die „Zeitschrift für die Behandlung Schwach- sinniger und Epileptischer‘“ im nächsten Jahre in 12 Nummern, also monatlich erscheinen zu lassen, so thun wir solches in der Erwartung, dass die Erweiterung der Zeitschrift immer weitere Kreise interessieren und anspornen wird, für dieselbe zu arbeiten und damit der von ihr vertretenen Sache zu dienen. Die Vermehrung der Nummern wird es möglich machen, dass die eingehenden Arbeiten schneller als bisher erscheinen, und insbesondere wird die neue Ein- richtung den „Mitteilungen“ zu gute kommen. Wir richten nun an alle be- teiligten Kreise, besonders aber an die Anstalten und Schulen für Schwachsinnige (Hilfsschulen) die freundliche Bitte, uns in unserem Bestreben zu unterstützen und durch Mitteilungen aus dem Schatze ihrer Erfahrungen und Beobachtungen die Zeitschrift auf die erwünschte Höhe bringen zu helfen. Neben wissenschaft- lichen Arbeiten und solchen aus der Praxis der Erziehung und des Unterrichts

130

sind uns besonders auch kurze Referate über den Stand der Fürsorge für Schwachsinnige und Epileptische in den einzelnen Ländern sehr willkommen, und ebenso würden wir es dankbar begrüssen, wenn uns die Anstalten und Hilfsschulen mit Berichten reichlicher als bisher versehen wollten. Jede Anstalt und jede Hilfsschule sollte ausser bei besonderen Vorkommnissen in jedem Jahre wenigstens einmal aus sich heraus für die Zeitschrift berichten. Wenn sich zu diesem Zwecke ständige Korrespondenten uns nennen wollten, würden wir in dankbarster Weise entgegenkommen. Welch eine Fülle des Wissens und der Erfahrung würde auf solche Weise zum Segen des Ganzen zur Erscheinung gelangen! Möchte unser Wunsch und unsere Hoffnung recht bald in Erfüllung gehen!

Die Vermehrung der Nummern von 8 auf 12 hat notwendig eine ent- sprechende Erhöhung des Abonnements zur Folge. Dasselbe müsste auf jährlich 6 Mark festgesetzt werden.

Bestellungen auf den neuen Jahrgang wolle man möglichst bald bewirken.

Dresden- Stuttgart. Die Herausgeber.

Bericht

über die

IX. Konferenz für Idiotenpflege und Schulen für schwachbefähigte Kinder am 6. bis 9. September 1898

in Breslau. Von P. Müller, Schriftführer. (Fortsetzung.) Stellvertretender Vors. Pfarrer Geiger: Indem ich dem Vortragenden, Herrn Erziehungsinspektor Piper herzlich danke, stelle ich seinen interessanten Vortrag

zur Diskussion und bitte die Herren, die das Wort ergreifen wollen, sich bei Herrn Kreisschulinspektor Weichert zu melden.

Debatte. Direktor Schwenk: Ich vermisse in dem Vortrage bei der Aufzäh- Jung der Ursachen der Stummheit eine Gruppe. Ein grosser Teil der geistig zurück- gebliebenen Kinder spricht nicht, etwa deshalb nicht, weil einer von den Gründen vorliegt, welche der Referent angegeben, sondern weil sie geistig so tief stehen, dass sie das Bedürfnis zum Sprechen nicht haben. Das Bedürfnis aber muss zunächst geweckt werden durch die verschiedenen Übungen der Vorbereitungsschule.

si

Referent: Die vom Vorredner erwähnte Gruppe nehme ich unter Punkt 2, Willensstörungen. Bei meinem Vortrage handelt es sich nur um die Übung der Sprachorgane, das Sprachbedirfnis muss ganz besonders im Anschauungsunterricht, wie in allen übrigen Unterrichtsdisziplinen geweckt und gehoben werden.

Oberarzt Dr. Neisser: Ich habe den Eindruck, das Wesentliche des Vortrages ist darauf zurückzuführen, dass der Referent mit grosser Mühe bei einer Anzahl von Kindern, die er physisch und psychisch erregen will, das Sprachbedürfnis steigert und in praktischer Weise das Technische durchgeführt hat. Ich möchte wissen, ob es sich hierbei ausschliesslich um Kinder handelt, bei denen das Sprachverständnis vor- handen war, die also im stande waren, das auszuführen, was ihnen gesagt wurde, oder ob es sich rein um die motorische Seite gehandelt hat.

Referent: Wir werden es mit Kindern zu thun haben, bei welchen das Sprach- verständnis nicht vorhanden ist, aber auch mit solchen, bei welchen das Verständnis schon angebahnt ist.

Oberarzt Dr. Neisser: Wenn bei dem erwähnten 6jährigen Kinde kein Sprach- verständnis vorhanden war, so vermisse ich den Hinweis, wie ein Verständnis zum Reden hat erzeugt werden können.

Referent: Das Sprachverständuis tritt erst dann ein, wenn man es mit Wörtern zu thun hat.

Direktor Kölle: Ich danke dem Referenten, dass er das Mechanische der Sprache so prächtig dargestellt hat; aber leider bin ich grundsätzlicher Gegner von der Art, wie er glaubt, die Schwachsinnigen zur Sprache zu bringen. Das ist mehr der Weg des Taubstummenunterrichtes. Die Sprache ist der Ausdruck der Begriffe. Wie sollen wir aber unsere Kinder zum Sprechen bringen, wenn sie kein Bedürfnis dazu haben? Dieses mechanische Vorgehen, bloss einige Laute einzuüben und diese zu einigen Wörtern zusammenzusetzeu, kann mir nicht einleuchten. Das hat keinen Wert fürs praktische Leben. Wir müssen darum bei unseren Kindern durch den An- schauungsunterricht das Sprachbedürfnis wecken, ihnen erst Begriffe beibringen. Ist einmal das psychische Leben geweckt, dann wird die Sprache von selbst kommen, und dann erst soll man die Pipersche Methode in Anwendung bringen.

Referent: Ich halte den mechanischen Weg doch für notwendig. Wenn das Kind laufen lernt, wird man auch nicht gleich Aufträge damit verbinden; so ist es auch mit der Sprache. Das Kind kommt ja nicht bloss durch diesen Unterricht zum Sprechen, sondern auch durch alle übrigen Unterrichtsdisziplinen. Aber wir müssen ein bestimmtes Ziel ins Auge fassen und darnach arbeiten. Ich weiss, was ich erreicht habe, und glaube das als Erfolg meiner Übungen ansehen zu dürfen.

Lehrer Frenzel: Wir betreiben auch in der Anstalt Sprachheilkurse nach der- selben Methode wie der Referent. Wir beginnen mit einzelnen Lauten wenn auch in anderer Reihenfolge und haben gute Erfolge erzielt. Nur geht es nicht so schnell. Ich habe nie gesehen, dass das Kind selbst übt, es bedarf immer der An- regung. Bezüglich des Spiegels muss ich erwähnen, dass das schwachsinnige Kind oft so schwach ist, dass es sein Bild nicht erkennt, viel weniger die Organstellungen. Ich halte die Mundstellung des Lehrers für besser. Man muss auch darauf halten, dass das Kind sich möglichst aufs Ohr verlässt und nicht bloss vom Munde abliest.

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Ich halte es für angebracht, dass gewisse Lautübnngen nach einer bestimmten Reihen- folge betrieben werden. Ich fange mit einfachen Lautsilben (ma, ba) an, gehe eine Gruppe durch und suche bald Wörter zu erzielen, damit das Kind so bald wie mög- lich einen Begriff damit verbindet. Es zeigt das Kind dann mehr Interesse.

Referent: Was die Selbstübungen anbelangt, so versichere ich, dass dieselben Thatsache sind. Die Übungen vor dem Spiegel sind recht vorteilhaft und die Übungen mit den Sprachbildern ganz besonders zu empfehlen. Die Methode: mache es wie der Bär oder wie die Kuh! kann ich nicht gut heissen. Welches von den Kindern hat denn einen Bär brummen oder eine Kuh brüllen gehört?

Direktor Wicher: Zufolge meiner Erfahrungen schliesse ich mich den Aus- führungen des Herr Dir. Kölle an. Sein Büchlein habe ich mit grossem Interesse gelesen. Ich hätte von dem Referenten gern gehabt, wenn er weiter ausgeführt hätte, wie die ganz Tiefstehenden zur Sprache gebracht werden könnten. Ich glaube, für diese sei die Tipersche Methode nicht geeignet. Erst sorge man, dass Begriffe bei den Kindern gebildet werden. Darum lege ich grosses Gewicht auf die Vorübungen. Ohne Wahrnehmung sind seiner Erfahrung nach solche Kinder für den Sprechunter- richt nicht zu gebrauchen. Ich erkläre mich auch mit dem Vorredner einverstanden und verwerfe ebenfalls den Spiegel. Wie soll ein tiefstehender Idiot ein Sprachbild vor dem Spiegel zeigen?

Referent: Wir werden Fälle haben, wo wir nichts erreichen können. Der An- schauungsunterricht, die Thätigkeitsübungen, Unterscheidungsübungen etc. fördern das Sprachbedirfnis; hier handelt es sich in der Hauptsache darum, dass das Kind sprechen, die Organe gebrauchen lernt. Sind das nicht auch Wahrnehmungen, wenn ich Lippenstellungen vormache und diese vor dem Spiegel nachmachen lasse ? Ich will diese Disziplinen nicht durch einander geworfen haben, ich ziehe es vor zu trennen.

Lehrer Hanke: Als Lehrer einer Hilfsschule und Leiter eines städtischen Stotter- kursus kommen mir nicht so erwähnte schwere Fälle unter die Hände, aber immerhin liegt doch der Erfahrungsschatz auch auf dem Gebiete, welches in dem Piperschen Vortrage berührt wurde. Ich finde den Unterschied zwischen den Ansichten des Referenten und des Herrn Dir. Kölle nicht so gross. Die Pipersche Methode wird als zu mechanisch hingestell. Wenn ein Kind nicht zum Bewusstsein gebracht werden kaun, dass die Sprache eine Bewegung ist, dass es die Lippen schliesst und öffnet, dass es mit der Zunge an die Zähne stösst, so wird es auch nicht zum Sprechen gebracht werden können. Wenn die Sprachbahn nicht in Ordnung ist, kann die Sprache nicht laut werden, selbst wenn die Begriffe da sind. Ich verstehe nicht, wie der Spiegel bei den Sprechübungen verachtet werden kann. Das Kind sieht hier nicht bloss den Mund des Lehrers, sondern auch semen eigenen. Ich bin der Meinung, beim Artikulationsunterrichte, sogar in der Volksschule, sollte der Spiegel in der Hand vieler Kinder sein. In der Hilfsschule in Dresden finden wir nicht bloss einen Hand- spiegel, sondern noch einen grossen Spiegel. Bezüglich der adenoiden Vegetation möchte ich fragen, welche Erfahrungen die Herren mit den Operationen gemacht haben. Meine Beobachtungen sind die, dass die Operationen nicht dauernd Erfolg haben, dass die Wucherungen nach längerer Zeit wieder anfangen. Die Operation

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allein thut es nicht, wenn nicht die spätere diätetische Behandlung darnach eingerichtet “wird. Der Referent sagte auch: „Natürlich lassen wir das Gaumen-r sprechen, nicht das Zungen-r". Ich weiss nicht warum? Mir ist es ganz wichtig, dass das Kind seine eigene Sprache zum Gegenstand der Wahrnehmung macht.

Referent: Die Operation muss ausgeführt werden. Richtig ist ja, dass hier und da sich Wucherungen wiederfinden.

Rektor Kruse: In einem Punkte möchte ich um Aufklärung bitten. Es handelt sich um die Wucherungen. 120 Kinder habe ich von einem Arzte untersuchen lassen, und nur bei 2 Kindern wurden adenoide Wucherungen gefunden. Darnach scheinen sie mir nicht so reich vorhanden zu sein. Später habe ich noch ein drittes Kind gehabt. Bei allen dreien habe ich die Eltern veranlasst, ihre Kinder operieren zu lassen; aber bei keinem hat die Operation einen Einfluss auf die geistige Entwickelung ausgeübt: Welche Erfahrungen haben andere Herren in dieser Hinsicht gemacht?

Die Methode des Referenten halte ich für nicht ganz mechanisch, deswegen nicht, weil fortwährend betont wird, dass alles bewusst geschehe. Redner berichtet über einen Fall aus seiner Praxis und zeigt das Verfahren, welches er einge- schlagen hat: Es handelt sich um einen 8jährigen Knaben. Die Eltern wollten nicht, dass er in eine Anstalt komme. Das Kind hatte bis zu seinem 8. Jahre kein Wort gesprochen, nur unartikulierte Laute gelallt. Es liess sich auf gar nichts ein. Weder Vater noch Mutter konnten es zu einem ma etc. veranlassen. Dieses Kind wurde mir gebracht, um zu versuchen, es zum Sprechen zu bringen. Ich setzte es vor mich an den Tisch, um mit ihm etwas zu beginnen. Das Kind weinte nur. In der nächsten Stunde weinte es ebenso. Nun wandte ich mich an seinen Nachahmungstrieb. Ich stellte einen Kasten mit Soldaten, einen Baukasten hin; das Kind schrie. Ich stellte einen Stein hin, sagte „da“ und that, als wenn ich mich gar nicht um das Kind kümmerte. Nach zahlreichen Fällen endlich sagte es „da“. Auf diese Weise habe ich einige Laute gewonnen. Dann erst, als ich einen kleinen Vorrat hatte, ging ich nach der Gutzmannschen Methode vor. Jetzt nach einem Jahre spricht das Kind alle Wörter, die nicht gehäufte Konsonanten haben. St und fl fängt es jetzt an. Haupt- sache ist es, dass bei solchen Kindern der erste Bann gebrochen ist.

Referent: Für Einzelunterricht kann so verfahren werden, bei dem Gruppen- unterricht aber muss Sprachgefühl, Sprachfertigkeit getrennt werden.

Pastor Bernhard: Wir haben in unseren Anstalten unbedingt die Pflicht, mit allen Mitteln zu versuchen, was zu erreichen ist. Bei uns wird jedes Kind, wenn es ım 6. bis 7. Jahre oder noch später eingeliefert wird, einem Sprechunterrichte überwiesen, und es wird dort der Versuch gemacht 1—2 Jahre, ehe ich es aus der Klasse herauslasse. Es ist das ja eine der mühevollsten Arbeiten, aber eine Pflicht haben wir. Wir können in der Schule nichts anfangen, wenn nicht die Sprache geweckt ist, und das gelingt in der That bei vielen. Ob man einen Spiegel gebrauchen soll oder nicht, darüber kann man verschiedener Meinung sein. Bezüglich der Operationen muss man bei schwachsinnigen Kindern sehr vorsichtig sein, namentlich bei Operationen, wo die Kinder viel liegen müssen. Jedenfalls muss der Arzt unter Umständen ein- greifen. Warnen möchte ich vor der Anwendung der Elektrizität. Diese kann bei unseren Pfleglingen, deren Nerven nicht stark sind, leicht Schaden anrichten.

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Stadtschulrat Dr. Boodstein: Die Debatte hat besonders dadurch etwas an Leb- haftigkeit gewonnen, weil der Referent zu sehr das Isolieren seiner Übungen betont, und dem ist entgegengehalten worden, man müsse dem Kinde Begriffe schaffen. Wir können aber beides nicht entbehren. Wir werden bald von dem einen zum anderen übergehen und so das Nötige erreichen. Wir machen häufig die Erfahrung, dass Kinder, wenn die Persönlichkeit des Lehrers ihnen gegenübertritt, so sind, als würde ihnen mit Gewalt der Mund geschlossen, während sie im Kreise ihrer Altersgenossen im grossen und ganzen, selbst wenn sie sonst an Sprachgebrechen zu leiden scheinen, ganz unbefangen ihre Sprechwerkzeuge gebrauchen. Aus dem Grunde bin ich der Meinung, dass diese Übungen derartig abwechseln müssen, dass da, wo Ursachen erkannt sind, nicht bloss begrifflich einzuwirken ist, sondern man muss auch die Ur- sachen zu beseitigen streben. In der Elberfelder Anstalt haben wir nach dieser Richtung Versuche gemacht. Wir haben auch bei Wolfsrachen etc. zu Operationen gegriffen, aber das hat nur eine verhältnismässig kurze Zeit geholfen; häufig sind wir auch auf Widerspruch seitens der Eltern gestossen. In der Meinung, dass die Mitteilungen des Referenten mit grossem Dank zu begrüssen sind, werden wir auch nicht zugestehen können, dass sie unter allen Umständen in der erwähnten Isolierung empfohlen werden können.

Hauptlehrer Kielhorn: Meine Ansicht geht dahin, das Wecken des Sprach- bedürfnisses ist das Wichtigste, sowohl bei den sprachlusen, als bei den sprachschwachen Kindern. Das, was Referent vorgetragen hat, können wir nicht entbehren. Dir. Kölle und der Referent ergänzen sich. In besonderen Fällen möchte die Pipersche Methode angewendet werden, sie darf aber nicht in den Vordergrund gestellt worden.

Referent: Wir stehen auf demselben Boden. Das Sprachbedürfnis übe ich im Anschauungsunterricht, die Kinder werden immer zum Sprechen angeregt, nur die besonderen Fälle greife ich heraus und ziele auf Sprachfertigkeit.

Oberlehrer Nitzsche: Ich bin dem Referenten dankbar, dass er Mittel und Wege angegeben hat, das Mechanische des guten Sprechens zu beachten. Ich schliesse mich aber sonst den Ausführungen des Herrn Dir. Kölle an. Die ganz tiefstehenden, sprachlosen Kinder müssen erst an eine Thätigkeit gewöhnt werden, ehe man an ein Sprechen denken kann. Die Mundsperre gefällt mir nicht. Durch Zwangsmittel wird der Verteidigungstrieb geweckt. Ebenso kann ich auch dem Spiegel nicht zu- stimmen. Selbst das Mundablesen tritt nicht in allen Fällen ein. Das Kind spricht nach Gehör. Das beweisen sprachlose Kinder, die behandelt worden sind und Fort- schritte gemacht haben. Der Vortrag beweist, dass ein Kind, welches anfangs nicht spricht, nicht gleich als bildungsunfähig abzuweisen ist, sondern dass erst Versuche gemacht werden müssen.

Direktor Trüper: Ich muss mich im allgemeinen den Ausführungen des Herm Dir. Kölle anschliessen. Ich meine, das allererste ist, das Sprachbedürfnis zu wecken. Wenn das Kind das Bedürfnis hat, wird das andere leicht von selber kommen. - Wenn man aber erst durch viele Mühe, vielleicht durch Widerwillen, das Kind dahin gebracht hat, Laute zu gebrauchen, dann hat es damit immer noch nicht das Bedürfnis zum Sprechen. Mir kommt jedesmal sehr viel darauf an, die Ursachen der Sprachlosigkeit zu berücksichtigen. Einen 9jährigen Knaben konnte ich nicht durch Versprechen von

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Süssigkeiten, durch Kitzeln, Kneifen etc. zum Sprechen bringen. Auch Herrn Pipers Methode hätte keinen Laut hervorgebracht. Nach wenigen Monaten sprach er ganz fliessend. Hier lagen aber ganz andere Ursachen vor als solche, welche der Referent im Auge hatte. Wir hatten es hier mit Zwangshemmungen, mit pathologischen Er- scheinungen im Nervensystem zu thun, und es wurden Mittel angewendet, welche in erster Linie die ganze körperliche und geistige Konstitution kräftigten; der Knabe fing zuerst an zu flüstern, als er im Bett lag, das Licht ausgelöscht war und niemand mehr sprechen sollte. Warum da? Der ganze Körper war in Ruhe, alle Sinnes- eindrücke beseitigt; er konnte seine ganze Aufmerksamkeit auf seine Sprache wenden. Ein ander Mal sprach er, als er bei einem Bauspiel sehr lebhaft interessiert war. Durch verschiedene Mittel, namentlich durch Suggestion, ist der Knabe in 2 Monaten zur Sprache gekommen, nachdem er in einer Privatvorschule 21/, Jahr keine Silbe gesprochen hatte. Also nach den Ursachen muss man forschen und dann geeignete Mittel suchen. Es passt nicht alles ffir alle. Die Pipersche Methode wird als korrektivo Methode sehr gute Dienste leisten; aber als selbständige Methode wird sie eine rein mechanische Methode. Sinnlose Lautverbindungen sind mir widersinnig; lieber gar nicht sprechen, als papageienmässiges Sprechen. Die beste Lehrmeisterin mit der feinsten Sprechmethode ist die Mutter. Die naturgemässe Methode ist immer die beste, und ich glaube, ehe wir uns den Spezialisten verschreiben, gehen wir erst in die Schulstube zu der, die uns das Sprechen gelehrt hat, zur Mutter. Sie lässt keine sinnlosen Silben üben; aber sie verbessert bei ihrem Kinde jeden Fehler eines sinnvollen Wortes.

Arzt Dr. Freisel: Als Anstaltsarzt ist mir interessant, die Frage bezüglich der ade- noiden Vegetation erörtert zu finden. Ich glaube, die Sache ist eine sehr wichtige, indem ich in Erfahrung gebracht habe, dass doch wesentliche Fortschritte durch eine derartige Operation von seiten der Schwachen gemacht worden sind. Andererseits ist von Herrn Hanke erwidert worden, eine solche Operation sei nicht dauernd. Es muss zugegeben werden, dass man nicht in allen Fällen etwas Vollkommenes erwarten darf; aber es ist der Mühe wert, eine solche Operation bei Kindern, nicht bloss bei schwachsinnigen, sondern auch bei normalen vornehmen zu lassen, weil die Operation ungefährlich ist. Professor Strübing-Greifswald stellte einen 8jährigen Knaben vor, welcher als intelligent in die Schule gekommen war, durch Auftreten von Wuche- rungen in der Nase geistig vollständig zurücktrat und merkwürdigerweise nach Ent- fornung der Wucherungen wieder ein normaler, geweckter Junge wurde. Ebenso können noch weitere Fälle erwähnt werden. Ganz entschieden sind durch solche Operationen Erfolge erzielt worden, und ich bitte die Anstaltsdirektoren, auf diesen Punkt zu achten und die einzelnen Resultate zu sammeln.

Nervenarzt Dr. Freund: Die wiederholten Repliken haben erklärt, dass ernste Gegensätze in unseren Kreisen nicht vorhanden sind. In dem Punkte, das geistige Leben der schwachsinnigen Kinder anzuregen, dass sie in Beziehung zur Aussenwelt treten können, stimmen wir alle überein. Die Wege, mit Hilfe deren man zu diesem Ziele kommt, sind verschieden. Der Referent hat einen Weg beschrieben und in Einzelheiten erörtert; in anderen Fällen wirkt man dadurch, dass man die Atmung, die durch Wucherungen darniederliegt, anregt. Im Anschluss an den von dem

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Referenten erwähnten Fall, welcher von dem kranken Kinde handelt, das vom 4. Jahre an in die horizontale Strecklage versetzt worden ist, möchte ich mir die Frage er- lauben, ob das Kind vor dem 4. Lebensjahre geistig höher stand, oder ob es durch das Darniederliegen geistig eingeengt worden ist.

Referent: Das erwähnte Kind war von Geburt an geistig sehr tiefstehend. Die Lage im Streckbett war unerlässlich, um eine Rückgratsverkrümmung zu verhüten.

Primärarzt Dr. Brieger: Die Bedeutung der adenoiden Vegetation für die Schä- digung der Intelligenz wird bei weitem überschätzt. Es ist natürlich, dass bei Ver- stopfung der Nase auch eine Störung der Aufmerksamkeit eintritt, aber wirklich er- hebliche Intelligenzstörungen werden durch adenoide Vegetation allein nicht hervor- gerufen. Sprachstörungen natürlich werden dadurch begünstigt. Die Operation der adenoiden Vegetation hat nur eine sekundäre Bedeutung. Ich halte es für absolut unmöglich, dass der Operation bei sprachlosen schwachsinnigen Kindern ein erheblicher Einfluss eingeräumt werden kann und warne vor zu weit gehenden Hoffnungen.

Pfarrer Geiger: Ich bin dafür, dass die Debatte geschlossen wird. Wie zeit- gemäss das Thema gewesen ist, haben wir an der sehr lebhaften Debatte gesehen. Wir danken dem Referenten für seinen lehrreichen Vortrag. Ich gebe jetzt den Vorsitz an Herrn Erziehungsinspektor Piper zurück.

Vorsitzender Erziehungsinspektor Piper: Bevor wir zum zweiten Punkt unserer Tagesordnung übergehen, bringe ich folgende Telegramme zur Kenntnis:

M.-Gladbach, den 7. September 1898.

An der Teilnahme leider verhindert, sendet der Konferenz herzlichen Gruss mit dem Wunsche, dass ihre Beratungen reichen Erfolg haben zum Wohle der Schwach- befähigten und Idioten Barthold.

Rastonburg, den 7. September 1898, Gruss aus Ostpreussen mit Wünschen für gedeihliche Verhandlungen sendet Federmann. Nassau (Lahn), den 7. September 1898. Herzlichste Grüsse und Segenswünsche. Im Geist vereint, Horny-Scheuern.

Wie ich schon in der Vorversammlung mitgeteilt habe, hat Herr Dr. Heller ein anderes Thema aufgestellt. Ich erteile ihm das Wort zu seinem Vortrage:

Uber Ermiidungsmessungen bei schwachsinnigen Kindern.

Wenn wir die Leistungen des modernen Schulwesens gerecht beurteilen wollen, so müssen wir nicht bloss dessen Erfolge in pädagogischer Hinsicht be- rücksichtigen, sondern auch in Betracht ziehen, in welcher Weise dieselben mit den Forderungen der Hygiene übereinstimmen; denn der Schule obliegt nebst der geistigen Entwickelung der Schüler auch ein Teil der Sorge um deren geistiges und körperliches Wohlbefinden. Die Lösung der sich hieraus ergeben- den Aufgabe ist bis in die jüngste Zeit häufig in einseitiger Weise versucht

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worden. Man zog vor allem die äusseren hygienischen Bedingungen in Betracht und glaubte, durch Erbauung von Schulpalästen, Errichtung lichter und luftiger Lehrzimmer allen berechtigten Anforderungen vollauf entsprochen zu haben. Aber bei aller Anerkennung für diese in sanitärer Beziehung äusserst wichtigen Fortschritte wird man doch das Schwergewicht auf jene hygienischen Vorkeh- rungen verlegen müssen, die sich auf den Unterrichtsbetrieb selbst beziehen und dem Grundsatze gerecht werden, dass alle Anforderungen an die Schüler auf das genaueste ihrer geistigen und körperlichen Leistungsfähigkeit ent- sprechen. Seit einer Reihe von Jahren ist aber die Klage nicht verstummt, dass die Vorkehrungen in den Schulen gerade in dieser Hinsicht manches zu wünschen übrig lassen, namentlich in jenen Bildungsstätten, welche der heran- wachsenden Jugend ein grösseres Ausmass an Wissen vermitteln und sie für das akademische Studium vorbereiten sollen. Bei den Erörterungen über diesen Gegenstand ist manche Übertreibung vorgekommen; man hat sogar von einer Gefährdung der Jugend durch den Schulbesuch gesprochen und die Schule für die zunehmende Nervosität unseres Zeitalters verantwortlich gemacht.

Behauptungen dieser Art ergaben aber die dringende Notwendigkeit, die Angelegenheit einer ernsten, objektiven Beurteilung zu unterzieben. Einsichtige Arzte und Schulmänner haben die Überbürdungsfrage zum Gegenstand eingehen- der Untersuchungen gemacht, in denen sie stete von mess- und zählbaren Elementen ausgingen. Auf diese Weise wurde die Überbürdungsfrage dem rein persönlichen Gutdünken entrückt; so wenig man die absolute Zuverlässigkeit dieser Untersuchungen anzweifeln kann, so wenig darf man sich der Erkenntnis verschliessen, dass thatsächlich eine Überbürdung durch die Anforderungen vieler Schulen herbeigeführt wird. Die Ergebnisse der auf die Überbirdung bezäg- behen Versuche zeigen aber, wie wir später seben werden, zugleich den Weg, auf weichem Abhilfe geschaffen werden kann und soll.

Ich möchte das Wort Überbürdung nicht ausgesprochen haben, ole sogicich anzugeben, m weichem Sinne ich dasselbe verwende. Dies dürfte nicht unzweck- missig erscheinen, wenn man bedenkt, dass das Wort Überbürdung längst zu emem Schlagwort gewerden ist, das vielfach okne Rücksicht auf dessen eigent- Eche Bedeutung verwendet wird

Jede Arbeit, sei dieseibe geistige oder körperliche, bat Ermädung zur Folge. kches Azımass von Arbeit gricistet haben müssen, beva wir ame mide fihies. Der Enswand betri aber nur die subjektive Ermidwag, 4 b. jene Gemein Wr fükien ws; nicht bisses müde sarh ametremgrades Arbeit, sondere meh zu Bezma. vn Krankheiten, nach seelischen Aafregangen, kurz im allen Fällen, wiehe user \ /semeinbefinden beeinträchtigen. Von ter sabjcktivren Eratideng m er de objtktive Ermädung zu msterscheides, weiche allgemen eine Haral- setzung der Leistumgsfähirkeit berentet Die Leietuugsfähigkeis, d. h. dan Mama wr Aret. das m willkommen ausgersutem Zusteude geieintes werden kann, m mivel shr sersehieden. Sie hangs mudehes at vow doy Baschatlanhat

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des Individuums, dann aber von der Übungsfähigkeit für Arbeit im allgemeinen, für eine spezielle Arbeit im besonderen. Innerhalb einer gewissen Grenze, welche für jede Person ihre bestimmte Ausdehnung hat, hält sich die Leistungsfähigkeit konstant, jenseits derselben sinkt sie aber mehr oder minder rasch; dieses Sinken der Leistungsfähigkeit ist identisch mit der Grösse der vorhandenen objektiven Ermüdung und lässt sich auf verschiedene Weise direkt nachweisen. Ich möchte bei dieser Gelegenheit bemerken, dass die wesentliche Unterscheidung zwischen geistiger und körperlicher Ermüdung unberechtigt ist. Es ist experimentell nach- gewiesen worden, dass körperliche Ermüdung auf die geistige Leistungsfähigkeit und umgekehrt geistige Ermüdung auf die körperliche Leistungsfähigkeit im selben Sinne verändernd einwirkt. Wäre dies nicht der Fall, so könnten wir, wie Kraepelin treffend bemerkt, durch einen entsprechenden Wechsel von geistiger und körperlicher Thätigkeit in infinitum fortarbeiten, und es wäre wohl nie zu der Bewegung gekommen, die man kurz als Überbürdungsfrage bezeichnet.

Ermüdung ist die notwendige Folge jeder Arbeit, und es ist selbstverständlich, dass auch die Arbeit in der Schule ermüdend wirkt. Soll aber die Ermüdung nicht eine schwere Schädigung des Organismus herbeiführen, so muss sie sich innerhalb gewisser Grenzen bewegen, und diese sind bestimmt durch den kom- pensatorischen Faktor der Erholung. Als Erholung bezeichne ich die Summe jener Einflüsse, welche geeignet sind, die volle Leistungsfähigkeit wieder her- zustellen. Unter diesen Einflüssen kommt geistiger und körperlicher Ruhe die höchste Bedeutung zu, vor allem also dem Schlaf. Die vollständige Aufhebung -der Ermüdung durch die folgende Erholung ist eine notwendige Bedingung für das Wohlbefinden des Individuums. Solange ein solcher Ausgleich stattfindet, ist man nicht berechtigt, von einer schädigenden Wirkung der Ermüdung zu sprechen. Wenn aber die Ermüdung als Folge übermässiger Arbeit nicht durch das normale Ausmass von Erholung beseitigt wird, wenn stets ein gewisser Überschuss von Ermüdung vorhanden ist, so bedeutet dies eine Beeinträchtigung des Allgemeinbefindens, welche sich in Störungen auf nervösem Gebiete in den verschiedensten Formen offenbaren kann. Das Wesen der Über- bürdung besteht demnach in einem Missverhältnis zwischen Ermüdung und Erholung.

Ich habe bereits erwähnt, dass die Ermüdungswirkung einer Arbeit im wesent- lichen von der Beschaffenheit der arbeitenden Persönlichkeit abhängt. Verlangen wir dieselbe Arbeitsleistung von einem kräftigen, nervengesunden und einem schwächlichen, nervösen Menschen, so wird der Arbeitseffekt vielleicht in beiden Fällen der gleiche sein, aber die Ermüdungswirkung der Arbeit ist in letzterem Falle bedeutend grösser als in ersterem. Bei Fortsetzung dieser Arbeit zeigt der schwächliche Mensch schon deutliche Zeichen der Überbürdung, wenn der andere noch frisch und vollkommen arbeitstüchtig ist.

Es ist naheliegend, das eben Gesagte auf die Verhältnisse der Schule an- zuwenden. Ziehen wir die Elementarklassen in Betracht, in denen es sich lediglich um Vermittelung der grundlegenden Kenntnisse und Fertigkeiten handelt, so wird man wohl kaum behaupten können, dass ein normales Kind, selbst ein

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solches von geringerer Begabung durch die daselbst gestellten Anforderungen überbürdet wird. Damit soll keineswegs gesagt sein, dass die Elementarklassen qualitativ oder quantitativ Geringes leisten; bedenkt man. dass es sich um die ersten ordnungsmässigen Leistungen von Schülern überhaupt und um die Grund- legung allen weiteren Wissens und Könnens handelt, so lassen sich die Leistungen des ersten Schulunterrichts nicht hoch genug bewerten. Aber die Methodik des Elementarunterrichtes, die überhaupt eine der wichtigsten Errungenschaften der praktischen Pädagogik bildet, berücksichtigt auf das genaueste die seelischen Eigenschaften der Kinder jener frühen Altersstufe; sie versteht es, das auf das unmittelbar Gegebene, Anschauliche gerichtete Interesse derselben zum Zwecke ihrer geistigen Entwickelung entsprechend zu benutzen und deren Selbstthätigkeit, welche sich bis zum Eintritte in die Schule nur im Spiele bethätigte, allmählich auf ernste Aufgaben zu lenken. So bietet uns der Elementarunterricht ein klassisches Beispiel dafür, wie durch eine psychologisch begründete Methode die Schwierigkeiten der Arbeitsmaterie selbst beseitigt werden können. Unter diesem Gesichtspunkte betrachtet, würde die Überbürdungsfrage manches neue, für die Pädagogik fruchtbare Problem ergeben.

Trotzdem haben Untersuchungen in den Elementarklassen ich nenne hier nur die des Dr. Suschny in Budapest ergeben, dass ein Teil der Schüler bereits deutliche Zeichen der Überbürdung aufweist. Dies betrifft aber fast ausnahmslos Kinder, deren Geisteszustand als nicht normal zu bezeichnen ist Für derartige Schüler bedeutet der Unterricht, welcher der Leistungsfähigkeit normaler Kinder angepasst ist, unter allen Umständen eine ihre Kräfte weit übersteigende Anstrengung. Es wäre sehr ungerecht, der Volksschule hieraus einen Vorwurf zu machen. Von keinem Lehrer kann man verlangen, dass er einen Unterricht erteile, der gleichzeitig den Bedürfnissen der normalen und der abnormen Kinder entspricht. Das gerechte Bestreben des Lehrers ist darauf gerichtet, alle in seiner Klasse befindlichen Schüler dem vorgezeichneten Lehr- ziele zuzuführen und hieraus ergiebt sich selbstverständlich eine Überbürdung der Kinder von pathologisch verminderter Leistungsfähigkeit. |

Ich habe bereits ausgeführt, dass das Wesen der Überbürdung in einem Missverhältnis zwischen Ermüdung und Erholung besteht. Da die Ermüdungs- wirkung des Unterrichtes für geistig Minderwertige eine bedeutend grössere ist als für normale Schulkinder, so müsste auch folgerichtig die den ersteren ein- zuräumende Erholungszeit bei weitem reichlicher bemessen werden. Es lässt sich jedoch nachweisen, dass im Gegensatze zu dieser Forderung die minder- wertigen Schüler in Bezug auf ihre Erholungszeit im Nachteile sind. Ich sehe von der grösseren Inanspruchnahme durch die Hausaufgaben ab; das Zurück- bleiben der abnormen Kinder in der Schule führt in vielen Fällen zu der Er- teilung eines sog. Nachhilfeunterrichtes, der nur in bemittelten Kreisen von einem berufenen Lehrer, sonst aber von den Eltern, den älteren Geschwistern oder anderen Gelegenheitspädagogen erteilt wird. Ein solcher Nachhilfeunterricht muss aber aus hygienischen und pädagogischen Gründen als geradezu verwerflich bezeichnet werden. Die Schule nimmt jene Zeit in Anspruch, in welcher die

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grösste körperliche und geistige Leistungsfähigkeit vorausgesetzt werden kann; für den Nachhilfeunterricht bleiben demnach nur ungünstige Stunden übrig. Ich kenne einen Fall, in welchem der Vater den Nachhilfeunterricht bei seinem schwachsinnigen Knaben besorgte. Da dieser erst um 6 Uhr seine Bureaux- stunden beschloss, so entfiel der Nachhilfeunterricht auf die Abendstunden von 7—9 Uhr. Der Nachhilfeunterricht ist seinem Wesen nach Einzelunterricht. Dieser stellt an Aufmerksamkeit und Ausdauer der Schüler keineswegs geringe Anforderungen. Indem der Lehrer in der Schule auf die verschiedenen Schüler Rücksicht nimmt, gewinnt er dem Lehrstoffe immer neue Seiten ab, es ergeben sich hieraus anregende Wiederholungen, die beim Einzelunterricht gewöhnlich wegfallen. Der Nachhilfeunterricht sucht überdies sein Ziel in möglichst kurzer Zeit za erreichen, und es ist unmittelbar klar, dass diese Zeitersparnis durch grössere Inanspruchnahme der Arbeitskraft kompensiert werden muss. Die Ermüdungswirkung des Einzelunterrichtes ist demnach beträchtlich grösser als die des Schulunterrichtes. Ziehen wir nun in Betracht, dass diese Ermüdungs- wirkung ein bereits ermüdetes, wenig leistungsfähiges Kind trifft, so dürfen wir uns nicht wundern, wenn unter den erwähnten Umständen alsbald alle Symptome schwerer Überbürdung hervortreten und ein derartiges Kind an Leib und Seele Schaden leidet.

Es giebt eine Kategorie von Schülern, bei denen die verminderte Leistungs- fähigkeit nicht unmittelbar zu erkennen ist, da sie den Anforderungen der Schule vollkommen entsprechen und gute Unterrichtserfolge aufweisen. Das Patho- logische ihres Zustandes liegt lediglich in der hohen Ermüdungswirkung jeder geistigen Arbeit, was auf eine verminderte nervöse Widerstandsfähigkeit hinweist. Kemsies erwähnt in seiner letzten Arbeit einen typischen Fall dieser Art, der einen 10jährigen Knaben betrifft, der befriedigende Leistungen aufwies, mit Ausnahme des Rechnens; dieser leidet oft an Kopfschmerz und Unwohlsein, nach dem Schulunterricht ist er so abgespannt, dass er des Schlafes bedarf. Auch für diese Kinder bedeutet trotz ihrer relativ guten Leistungen der Schul- unterricht eine schwere Überbürdung, der sie auf die Dauer nicht gewachsen sind.

Aus dieser der Erfahrung entsprechenden Darstellung dürfte zur Genüge hervorgehen, dass schon der elementare Unterricht für geistig abnorme Kinder nicht geeignet ist und eine Überbürdung oft schweren Grades bedingt. Bedeutet Überbürdung schon für geistig normale Kinder unter Umständen eine gewisse Gefahr, so gilt dies in noch viel höherem Masse für abnorme Schüler. Hier treffen die durch übermässige Ermüdung bedingten Schädlichkeiten ein krankhaft beschaffenes Gehirn, welchem jene leichte Ausgleichsfähigkeit abgeht, welche der Gehirnthätigkeit normaler Kinder zukommt. Die Ermüdungswirkungen sind bei ersteren nicht bloss intensiver, sondern wirken häufig auch auslösend auf pathologische Vorgänge. Als Beispiel hierfür möchte ich einen Knaben anführen, der zur Zeit des Schulbesuches von epileptischen Krämpfen heimgesucht wurde, die allmählich zurückgingen und schliesslich ganz verschwanden, als das Kind auf dem Lande einen massvollen, jede stärkere Ermüdung vermeidenden Unterricht erhielt.

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Demnach dürfte die Forderung als berechtigt anzuerkennen sein, dass der Unterricht der Schwachsinnigen jede Überbürdung zu vermeiden hat. Diese Forderung führt uns aber zu der wichtigen Aufgabe, ein objektives Mass für die durch den Unterricht bedingten Ermüdungserscheinungen zu gewinnen. Wir sind gegenwärtig in der glücklichen Lage, Methoden zu besitzen, welche es uns gestatten, die Grösse der Ermüdung einer Arbeit zahlenmässig aus- zudrücken. Es würde zu weit führen, an dieser Stelle alle diese Methoden zu erwähnen und die Verdienste zu würdigen, welche sich die experimentelle Psychologie durch deren Entwickelung um die Pädagogik erworben hat. Für unsere schwachsinnigen Kindern kommen bei diesen Ermüdungsmessungen zwei Gesichtspunkte zur wesentlichen Beachtung. Erstens müssen wir eine Methode wählen, welche der sehr ungleichen Beanlagung der Schüler entsprechend möglichst unabhängig ist von den einzelnen Lehrgegenständen, zweitens müssen die Versuchsbedingungen möglichst einfache sein, um die Aufmerksamkeit der Kinder nicht in irgend einer Weise abzulenken. Diese beiden Bedingungen erfüllt in hervorragendem Masse die von Professor Griesbach in Basel zuerst angewendete Methode. Diese beruht auf folgender Beobachtung, die jeder an sich selbst anstellen kann. Setzen wir auf eine beliebige Hautstelle die zwei Spitzen eines Zirkels, so empfinden wir bei entsprechender Entfernung derselben deutlich zwei Punkte. Nähern wir die Spitzen einander, so erreichen wir schliesslich eine Grenze, innerhalb welcher die thatsächlich doppelte Berührung nur als ein Punkt empfunden wird. Man bezeichnet die Grenze, innerhalb welcher zwei Berührungen nur als eine Berührung empfunden werden, als Raumschwelle. Die verschiedenen Hautstellen haben verschiedene Raumschwellen, für jede Haut- stelle hat die Raumschwelle unter übrigens gleichen Umständen eine konstante Grösse. Nun ist es eine bekannte Thatsache, dass Ermüdung die Fähigkeit der Aufmerksamkeit beeinträchtigt, feine Unterscheidungen zu treffen. Sind wir er- müdet, so sind grössere Entfernungen der Zirkelspitzen erforderlich, um dieselben getrennt wahrzunehmen als in nicht ermüdetem Zustande, mit anderen Worten: alle Raumschwellen erscheinen vergrössert. Je mehr die Ermüdung zunimmt, desto weiter müssen die Zirkelspitzen entfernt werden, um eben noch die Empfin- dung zweier Punkte zu vermitteln. Diese Beziehung zwischen Ermüdung und Empfindungsvermögen der Haut ist eine stetige und wir können daher die für die Raumschwellen ermittelten Zahlen im Vergleich zu den im ausgeruhten Zustand gefundenen Anfangswerten als Mass für die vorhandene Ermüdung benutzen.

Um den Gang der Ermüdungswirkungen eines Schultages unmittelbar zur Anschauung zu bringen, kann man die ermittelten Ermüdungswerte in Kurven- form darstellen, indem man auf der Abscissenachse in regelmässigen Ent- fernungen die Lehrstunden, auf der Ordinatenachse die den Raumschwellen entsprechenden Distanzen aufträgt. Ein Ansteigen der Linien entspricht zu- nehmender Ermüdung, ein Absinken relativer Erholung.

Griesbach hat seine Methode zuerst im Archiv für Hygiene, Band 24 dargestellt und begründet unter dem Titel: „ÜberBeziehungen zwischen geistiger Ermüdung und Empfindungsvermögen der Haut“ auch separat als „Energetik

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und Hygiene des Nervensystems in der Schule“. Grössere Untersuchungen nach derselben Methode sind von Vannod in Genf und Ludwig Wagner in Darmstadt angestellt worden. Diese beiden Beobachter konnten die absolute Zuverlässigkeit und den hohen Wert der Griesbachschen Methode aus eigener Erfahrung bestätigen.

Das Urteil, welches wir bei unseren Versuchen verlangen, ist das denkbar einfachste: es handelt sich stets darum, ob ein Punkt oder zwei Punkte empfunden werden. Trotzdem wird man gut daran thun, das erwähnte Urteil nicht ohne weiteres bei unseren schwachsinnigen Schülern vorauszusetzen, sondern einige Vorübungen anzustellen, die darin bestehen, dass an einer Haut- stelle von besonderer Empfindlichkeit (z. B. der Handfläche) Berührungen bald mit beiden Zirkelspitzen, bald mit einer Zirkelspitze in unregelmässigem Wechsel stattfinden, worauf die Versuchspersonen nach jeder Berührung das entsprechende Urteil abzugeben haben. Diese Vorversuche finden ebenso wie die Versuche unserer späteren Untersuchung unter Ausschluss des Gesichtssinnes statt. Die Entfernung der Zirkelspitzen wurde bei Doppelberührungen so gewählt, dass sie die Raumschwelle in keinem einzigen Falle erreichte.

In diesen Vorversuchen musste also das Urteil über Einheit oder Zweiheit genau den objektiven Versuchsbedingungen entsprechen, und es ergab sich die Möglichkeit, die Verlässlichkeit der Angaben zu prüfen. Auch dienten diese Vorversuche dazu, die Aufmerksamkeit der Versuchspersonen vorbereitend auf die Empfindungen des Tastsinnes zu lenken, was nicht überflüssig erscheint, da die selbstverständliche Bevorzugung des Gesichtssinnes als des vorwiegenden Raumsinnes der Sehenden dem Tastsinn eine nur untergeordnete Stellung anweist.

Bei der eigentlichen Untersuchung habe ich nach dem Beispiele Ludwig Wagners die Messungen an der hinteren Jochbeingegend angestellt. Die Zirkeldistanz wurde im Anfang möglichst gross genommen und dann stetig verkleinert, bis die Raumschwelle erreicht war. In jedem einzelnen Falle notierte ich die der Raumschwelle entsprechende Distanz der Zirkelspitzen, ging aber in einigen Messungen noch unter dieselbe, um die Zuverlässigkeit der ermittelten Schwellenweite festzustellen.

Versuchspersonen waren sechs Knaben, deren Angaben sich schon in den Vorversuchen als zuverlässig erwiesen hatten. Sie gehören zu den besten Schülern der unter meiner Leitung stehenden Anstalt und wurden in einer Gruppe unterrichtet. In ihrem allgemeinen Verhalten weichen sie aber be- trächtlich von einander ab und könnten gleichsam als Vertreter jener Haupttypen bezeichnet werden, die wir bei schwachsinnigen Kindern zu beobachten Ge- legenheit haben.

Von den zahlreichen Fragen, die sich mir bei Beginn der Untersuchung aufdrängten, habe ich zunächst vier zum (Gegenstand eingehender Prüfung gemacht. Die erste betraf die innerhalb eines Schultages überhaupt zulässige Arbeitszeit mit besonderer Berücksichtigung ihrer Verteilung auf den Vor- und Nachmittag; die zweite die für je einen Gegenstand zu bemessende Unterrichts-

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zeit und die Anbringung von Erholungspausen. Diese beiden ersten Versuchs- reihen sollten einige Anhaltspunkte für den zweckmässigsten Entwurf eines Stundenplanes ergeben. Die dritte Frage entsteht aus der Notwendigkeit, körperliche und geistige Arbeit der Schüler in ein richtiges Verhältnis zu bringen. An einer früheren Stelle habe ich bereits erwähnt, dass man körperliche Arbeit nicht als Erholung nach geistiger Arbeit auffassen dürfe. Man wird demnach im vorhinein die Forderung stellen können, dass die körperliche Arbeit zu einer Zeit stattfinde, in welcher sich die Kinder von der durch geistige Arbeit bedingten Ermüdung vollkommen erholt haben.

Die vierte Versuchsreihe bildet gleichsam einen Kommentar zu den vor- stehenden Untersuchungen. Die letzteren haben gezeigt, dass manche Ermüdungs- kurve einen abnormen Verlauf nimmt, der in einzelnen Fällen nur durch die ungünstige Disposition der Sohüler erklärt werden kann. So wurde ich darauf geführt, die Momente, welche unabhängig vom Unterrichte auf die Verfassung der Schüler ungünstig einwirken, einzeln aufzusuchen, ihnen nach Thunlichkeit abzubelfen und hierdurch die für das Wohlbefinden der Zöglinge erforderlichen hygienischen Bedingungen herzustellen.

Ich bemerke, dass ich bei meinen Untersuchungen so weit als möglich von thatsächlich bestehenden Verhältnissen ausgegangen bin. Der Beantwortung der Frage, wie lange die Schüler an einem Tage unterrichtet werden dürfen, liegt der Stundenplan einer Hilfsklasse für Schwachsinnige zu grunde In dieser wurde drei Stunden vormittags von 8—11 Uhr, dann von 2-4 Uhr nachmittags stundenweise unterrichtet. Nach der gleichen Einteilung erhielten meine Versuchspersonen an drei aufeinanderfolgenden Tagen Unterricht. Die Messungen wurden zu Beginn des Vormittags- und Nachmittagsunterrichtes, dann zum Schlusse jeder Schulstunde angestellt. Ich habe die Ergebnisse der Untersuchungen an zwei Schülern in Kurvenform dargestellt und bemerke, dass dieselben den ersten und dritten Versuchstag betreffen (Tafel I).

Fassen wir die Kurven des Schülers I ins Auge, so sehen wir, dass dieselbe in der ersten Stunde (Rechnen) beträchtlich ansteigt, in der zweiten Stunde (Sprachlehre) kaum wesentlich fällt und am Ende der dritten Stunde (Heimat- kunde) mit einem hochstehenden Punkte absetzt. Der Vormittagsunterricht hat also hochgradige Ermüdung zur Folge. Drei Erholungsstunden (von 11 Uhr vormittags bis 2 Uhr nachmittags) genügten nicht, um diese Ermüdung zu beseitigen. Der Nachmittagsunterricht beginnt mit einer hohen Anfangszahl (22) und schliesst mit einer höheren (27). Unterrichtsgegenstände waren Lesen und Schönschreiben. Ganz ähnliche Ermüdungsverhältnisse bestanden bei diesem Schüler am dritten Versuchstag, dessen Kurve anschliessend ersichtlich ist. Dieser Darstellung, welcher auch die Kurve des zweiten Versuchstages entspricht, ist zu entnehmen, dass sich der Knabe vom ersten Versuchstage an im Zustande der Überbürdung befand, dass also eine tägliche fünfstündige Arbeitszeit das Mass seiner Leistungen bedeutend überschreitet.

Im Gegensatze hierzu zeigt die erste Kurve des Schülers II keine abnorme Beschaffenheit. Die durch den Vormittagsunterricht bedingte Ermüdung ist zu

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Beginn des Nachmittagsunterrichtes gehoben und auch der letztere führt keine besondere Ermüdung herbei. Ganz anders stellt sich die zweite Ermüdungskurve dar. Sie beginnt mit einer höheren Anfangszahl, was auf eine schon bei Beginn des Unterrichtes vorhandene Ermüdung schliessen lässt, erhebt sich bis zum Schlusse der zweiten Unterrichtsstunde und sinkt in der dritten Unterrichts- stunde nur unbedeutend. Denselben Charakter weist die Nachmittagskarve auf.

Wir sehen demnach, dass der durch drei Tage fortgesetzte Fünfstunden- unterricht bei beiden Schülern hochgradige Ermüdung herbeiführte; diese stellte sich jedoch bei Schüler I schon am ersten, bei Schüler II erst am dritten Versuchstage ein. Eine Erklärung hierfür finden wir in deren gegensätzlichem Ver- halten beim Unterricht: Schüler I ist ein nervöser, leicht ermüdbarer Knabe von besonderem Fleisse und regem Ehrgeiz; Schüler II arbeitet langsam, erreicht spät seine volle Leistungsfähigkeit, ist aber viel ausdauernder als Schüler I.

Mit Rücksicht auf das Ergebnis der Messungen an den vier übrigen Versuchspersonen kann ich die Behauptung aufstellen, dass sich der Fünfstunden- unterricht fir schwachsinnige Kinder nicht eignet. Ich habe mich auch davon überzeugt, dass die Einschaltung eines freien Nachmittages an jedem dritten Schultag keine ausreichende Erholung herbeiführt. Zum Beweise hierfür mögen die folgenden Kurven dienen, welche an einem Donnerstag, dem ein freier Nachmittag vorausging, gewonnen wurden (Tafel II).

Stundenplan: 8—9 Uhr Rechnen, 2—3 Uhr Aufsatz, 9—10 ,, Rechtschreiben, 3—4 Schönschreiben.

10—11 , Geometrische Formenlehre,

Die Hälfte der untersuchten Schüler zeigt schon während des Vormittags- unterrichtes beträchtlich vergrösserte Raumschwellen. Deutlich ersichtlich ist insbesondere die stark ermüdende Wirkung des Rechnens. Keine einzige Versuchsperson hatte zu Beginn des Nachmittagsunterrichtes ihre volle Leistungs- fähigkeit wieder gewonnen. Hierdurch ist es auch erklärlich, dass ein Gegen- stand, der im Verhältnis zu den vorangegangenen Aufsatzstanden nur geringe Anforderungen stellt, nämlich Schönschröiben, bei drei Schülern (I, II [manuell sehr unbeholfen], IV) eine Zunahme der bereits vorhandenen Eirmüdung herbeiführte.

Die hohe Ermüdungswirkung des die eigentlichen Schulgegenstände be- treffenden Nachmittagsunterrichtes ist von mir auch in späteren Versuchsreihen, von anderen Autoren überdies an geistig normalen Schulkindern beobachtet worden. Es dürfte demnach die Forderung gerechtfertigt erscheinen, die Nachmittagsstunden so wenig als möglich für die geistige Arbeit der Schüler in Anspruch zu nehmen.

Die Überbürdung, welche der Finfstundenunterricht herbeiführt, erklärt sich nicht bloss aus der übermässig langen täglichen Arbeitszeit, sondern auch aus der Verteilung der Unterrichtsgegenstände auf Lehrstunden. Selbst die befähigsten unserer Schüler vermögen nicht länger als eine halbe Stunde einem Lehrgegenstande mit Aufmerksamkeit zu folgen. Dieser Erfahrung entspricht

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145 der- halbstundenweise Wechsel der Lehrgegenstände. Es ist mir jedoch ein- gewendet worden, dass auf der Oberstufe der konsequenten Durchführung des Halbstundenunterrichtes nicht unbeträchtliche Schwierigkeiten erwachsen: Als Beispiel dienten Rechnen und Zeichnen.

Nirgends machen sich die Unterschiede der Begabung so deutlich als beim Rechenunterricht fühlbar. Hier muss daher weit mehr individualisiert werden als in den übrigen Gegenständen. Soll aber der Lehrer jeden Schüler einzeln berücksichtigen, so reicht selbst bei einer kleinen Schülerzahl eine Halbstunde nicht aus, es muss vielmehr dem Rechenunterricht eine Stunde eingeräumt werden. Dieser Schwierigkeit lässt sich nach meiner Ansicht wenigstens teil- weise durch Anbringung einer längeren Pause nach der ersten halben Stunde begegnen. Die sich hieraus ergebenden zwei Halbstunden lassen sich zweck- mässig auf das mündliche und schriftliche Rechnen verteilen. Schon dieser Wechsel ergiebt für die Schüler einen Arbeitsantrieb, der eine Zunahme der Leistungsfähigkeit zu Beginn der zweiten Halbstunde bedingt.

In ähnlicher Weise könnte die Zeichenstunde geteilt werden, da eine Halbstunde zum Abschluss einer der Oberstufe entsprechenden Aufgabe nicht hinreichen dürfte.

Durch die Anbringung entsprechender Pausen ist uns die Möglichkeit gegeben, im Verlaufe des Unterrichtes den Schülern Erholungszeiten zu gönnen. Die Dauer der Pausen wird im wesentlichen durch die Ermüdungswirkung jedes einzelnen Gegenstandes bestimmt. Abgesehen von dieser ergiebt sich aber ein konstanter Ermüdungszuwachs aus der Kontinuität des Unterrichtes, und es ist deshalb notwendig, für eine längere Unterbrechung desselben Sorge zu tragen.

Durch meine Ermüdungsmessungen bin ich dazu gelangt, die Hauptpause zwischen die dritte und vierte Halbstunde zu verlegen und ihr eine Ausdehnung von einer halben Stunde zu geben. Im allgemeinen zeigt sich hierauf eine deutliche Zunahme der Leistungsfähigkeit, so dass selbst schwierigere Gegen- stände für die vierte Halbstunde angesetzt werden konnten.

Wie .gestaltet sich nun der Stundenplan für die Oberstufe nach diesen Gesichtspunkten? Ich bemerke. dass mich meine Versuche zu ähnlichen Ergeb- nissen geführt haben, wie sie auf dem Wege der Erfahrung von manchen Praktikern ermittelt wurden Die für den Entwurf des Stundenplanes mass- gebenden Grundsätze fasse ich in vier Punkten kurz zusammen:

1. Die Lebrgegenstande sind naeb Thunlichkeit auf Halbstunden zu verteilen.

2. Nebst den bereits allgemein üblichen kurzen Pausen ist eine Unter- brechung des Unterrichtes von einer halben Stunde am besten zwischen der dritten und vierten Halbstunde erforderlich.

3. Die zulässige Dauer des Unterrichtes beträgt für die Oberstufe vier Halbstunden. Nur in dem Falle, dass Nachmittags keine Beschäftigung statt- findet, kann der Unterrieht auf füuf Halbstunden erstreckt werden. Die fünfte Halbstunde ist jedoch nur fir einen Gegenstand von verhiltnismissig geringer Ermüdungswirkung zu bestimmen.

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4. Nachmittagsstunden sind so wenig als möglich für geistige Arbeit: in ‚Anspruch zu nehmen.

Unter der Voraussetzung von sechs Schultagen ergeben sich hieraus mindestens 24 Halbstunden wöchentlich, und auf diese lassen sich sämtliche Gegenstände des Schulunterrichtes ohne Schwierigkeiten verteilen. Die günstigen hygienischen Bedingungen, welche bei einem derart eingeteilten Unterrichte obwalten, lassen übrigens im vorhinein bei weitem bessere Erfolge erwarten, als wenn der Lehrer alsbald ermüdete und daher wenig leistungsfähige Schüler zu berücksichtigen hat. |

Die folgenden Kurven (Tafel III) sind an einem Sonnabend, dem letzten ` Schultage der Woche, gewonnen worden. Die Unterrichtsdauer betrug ausnahms- weise fünf Halbstunden. Nebst dem uns bereits bekannten nervösen Schüler I zeigt nur Schüler V höhere Ermüdungswerte, doch befand er sich infolge eines Tags zuvor erwarteten, aber nicht .eingetroffenen Besuches in einiger Aufregung.

Stundenplan: |

8—!/,9 Uhr Mündliches Rechnen, 1/,10—10 Uhr Pause, 1/,9--9 Schriftliches 10—4/,11 ,„ Heimatkunde, 9—1/,10 Diktat, 1/,11—11 Gesang.

Bei den Schülern III und V hatte die zweite Halbstunde schriftliches Rechnen nach mündlichem Rechnen Erholung, bei Schüler VI keine Zu- nahme der Ermüdung zur Folge. Vergleichen wir die Kurven mit Tafel I des Fünfstundenunterrichtes, so zeigen sich auf den ersten- Blick die günstigen Ergebnisse des den eben entwickelten Gesichtspunkten entsprechenden Stundenplanes.

Über das Verhältnis von geistiger und körperlicher Arbeit habe ich eine spezielle Untersuchung angestellt, über deren Ergebnis ich hier nur in Kürze berichten kann. Zweifellos wirkt körperliche Anstrengung nach geistiger Arbeit ausserordentlich ermüdend. Dies gilt namentlich vom Turnen an Geräten, das in seiner Ermüdungswirkung häufig die des Rechenunterrichtes bedeutend. übertrifft. Ich möchte daher eine gewisse Vorsicht in Bezug auf Übungen dieser Art bei schwächlichen und nervösen Kindern dringend empfehlen.

Haben sich die Schüler von der durch geistige Arbeit bedingten Anstrengung vollkommen erholt, so ergeben Messungen nach dem Handfertigkeitsunterricht und nach Gartenarbeiten keine übermässigen Ermiidungsgrade. Für diese Beschäftigungen könnten daher die Nachmittagsstunden verwendet werden.

Trotz aller individueller Verschiedenheiten weisen die Ermüdungskurven unter gleichen Bedingungen eine gewisse Übereinstimmung auf. Jeder Versuchs- anordnung ist in den allgemeinsten Zügen ein Kurventypus. eigentümlich, was auch aus den beiden mitgeteilten Tafeln entnommen werden kann. Auffallende Abweichungen von diesem Kurventypus können nur auf eine besonders ungünstige Disposition der Versuchspersonen bezogen werden. Ein recht interessantes Beispiel hierfür bot ein Schüler (Tafel IV), der zu Beginn des Vormittags- unterrichtes eine sehr hohe. Anfangszahl aufwies. Im .Verlaufe des Unterrichtes verminderten sich die Zahlen, so dass die Ermüdungskurve einen im weseutlichen

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absteigenden Verlauf nahm. Man könnte also glauben, dass der Unterricht bei diesem Knaben Erholung herbeigeführt habe. Dieses eigentümliche Ver- halten erklärt sich jedoch daraus, dass der Knabe der Onanie ergeben war und nachdem er bei Tage die strengste Überwachung erfuhr seiner üblen Gewohnheit noch einigemale in den frühen Morgenstunden fröhnte. Das Übel ist ‚gegenwärtig vollkommen gehoben, und es ergaben sich auch späterbin keine derartigen abnormen Ermüdungskurven.

Schliesslich möchte ich noch erwähnen, dass bei einem anderen Knaben die hohe Ermüdungswirkung jeder Nachmittagsbeschäftigung durch Gewährung einer kurzen Schlafzeit nach dem Mittagessen zum Teile ausgeglichen werden konnte.

Die vorliegende Untersuchung bezog sich auf eine kleine Zahl von Schülern, die sämtlich leichtere Grade des Schwachsinnes aufweisen. Es lässt sich aber wohl behaupten, dass die hygienischen Forderungen, welche für diese Geltung haben, in noch viel höherem Masse für Schwachsinnige von geringerer Leistungs- fähigkeit erhoben werden müssen. Wenn mir der Nachweis gelungen ist, dass psychologische Versuche an Schülern, die der allgemeinen ‚Pädagogik eine neue . Richtung eröffnet haben, auch für die Heilpädagogik verwertet werden können, so haben meine Ausführungen ihren Zweck voll und ganz erreicht.

Vorsitzender, Erziehungsinspektor Piper: Ihr Beifall zeigt, mit welchem Interesse Sie den Vortrag des Herrn Dr. Heller aufgenommen haben, der uns einen Stoff gegeben hat, welcher uns auf das Gebiet der Schulhygiene führt, aber auch für uns eine ganz besondere Bedeutung hat. Ich bitte die Herren, die sich an der Debatte beteiligen wollen, ihren Namen zu nennen.

Debatte. Direktor Wicher: Ich will mir eine Frage erlauben. Die körper- liche Arbeit dürfe nicht als Erholung auf eine Ermüdung angewendet werden. Da nun auch der Turnunterricht als körperliche Arbeit angesehen wird, will ich den Referenten bitten, zu erklären, wie er sich zum Turnunterricht verhält.

Referent: Ich setze den Turnunterricht auf die Stnfe, welche ich dem Hand- fertigkeitsunterrichte und den Gartenarbeiten zuerteilt habe. Es ist zu empfehlen, den Turnunterricht auf die Nachmittagsstunden zu verlegen, in welchen die Kinder von der geistigen Arbeit erholt sind. |

Hauptlehrer Kielhorn: Die Ermüdung normaler Kinder ist bisher noch nicht genügend gewürdigt worden und diejenige der Schwachen am Geiste am allerwenigsten. T „ist erst der jüngsten Zeit vorbehalten geblieben. Diese Kinder sind von den

wien abzuziehen. Leider ist das noch nicht im vollen Masse gelungen, aber man

uf dem besten Wege dazu. In den deutschen Hilfsschulen arbeiten jetzt über

Lehrer. Wohin das führen kann, wenn ein Kind mit einem schwachen Körper

'chwachen Geist nicht darauf berücksichtigt wird, dass es früh ermüdet, zeigt

des. Beispiel: Ein 13jähriges Mädchen wurde mir als ein Ausbund von Un-

nheiten gemeldet. Das Kind hatte im Laufe der Zeit verschiedene Strafen ıen. Eines Tages hatte das Mädchen ungehörige Reden geführt und sollte werden. Ich verhinderte das und wollte das Kind selbst beobachten Tch

148

machte die Wahrnehmung, dass das Mädchen in der ersten Lektion den anderen fast gleich war, in der zweiten bekam es eigentümliche Erscheinungen an den Händen, Hitze im Kopf, in der dritten ereigneten sich dann Fälle, wo das Kind anfing, Un- gehöriges zu reden. Es hatte einmal gesagt: „Ich stürze mich ins Wasser!“ Wir hatten also ein krankes Kind vor uns, dass durch die Schularbeit verwirrt wurde und Ungezogenheiten vollbrachte. Nachdem das Kind genügend erkannt, wurde durch Ruhe, Hinlegen dieser Krankheitszustand allmählich zum Rückgang gebracht. Viel- leicht giebt es noch andere, die durch Überanstrengung als Verbrecher und schlimme Menschen hingestellt werden. Um dies zu verhüten, dürfen solche Kinder nicht über- anstrengt werden, und es ist nötig, sie zur rechten Zeit von den übrigen auszuscheiden. Damit die Hilfsschule aber ihren Zweck vollständig erfüllen kann, ist es nötig, dass ihr Selbständigkeit gegeben und sie nicht dem Organismus der Volksschule. angegliedert werde. Der Dirigent muss freie Hand haben. Bei unserem Turnunterricht ist es nicht auf Kraftleistungen abgesehen, vielmehr besteht er mehr in eiuem turnerischen Spiel. Ich meine, ein solcher Unterricht kann keine Überbürdung zur Folge haben, sondern muss eher eine Entlastung sein. Dann möchte ich noch bemerken, dass wir uns in unseren Schulen (Anstaltsschulön, Hilfsschulen, Familienpensionaten), überhaupt in allen Schulen, in welchen geistig und körperlich Zurückgebliebene unterrichtet werden, ein möglichst geringes Ziel stecken. Ein Zuviel wird sich stets rächen, Wir müssen zufrieden sein, wenn wir unsere Kinder ein wenig vorwärts bringen. Wenn sie den geringen Stoff, der ihnen geboten wird, beherrschen, ist es genug. Direktor Trüper: Die Frage, die heute angeregt worden ist, ist nicht so einfach, als sie zu sein scheint. Wir müssen uns sehr hüten vor verfrühten Verallgemeine- rungen. Dieser Fehler ist bei vielen Arbeiten auf diesem Gebiete nicht immer ver- mieden worden. Man hat einzelne Beobachtungen gemacht, Resultate gefunden, Ver- allgemeinerungen und Schlüsse daraus gezogen. Bei den Sachen, die uns heute vorgeführt worden sind, werden wir uns fragen: Wenn eine Ermüdung in der Hant- empfindung eintritt, ist das vollständig identisch mit einer allgemeinen Ermüdung des Gehirns? Diese Frage will sehr vorsichtig untersucht sein. Ich glaube, da ist zu früh verallgemeinert worden. Dieselbe Frage lässt sich auch bei anderen Methoden stellen (Kraepelin). Weiter sind Faktoren unberücksichtigt geblieben, die wir, berück- sichtigen müssen. Unser Unterricht verläuft nicht einseitig, er schliesst Arbeit und Erholung in sich. Es kommt im Unterricht vor, dass die Klasse Gelegenheit hat zum Auflachen, und das ist eine Erholuugspause. Es kommt überhaupt sehr viel darauf an, von welchen Gefühlen die Arbeit begleitet wird, welche wir an den Kin tern ausüben, und darum ist es wichtig, dass wir in den Gefühlen, die wir erzeugen, etwas abwechseln. Es ist nicht der Unterricht Zweck, sondern das Mittel, damit Interesse erweckt werde. Wenn wir. das beachten, werden wir viel thun, um Ermüdung zu verhüten. Ohne Frage existiert aber oino Überbürdungsfrage. Es sind vorwiegend die Schwächlichen, welche überbürdet werden; aber nicht bloss die intellektuell Schwachen, sondern auch die psychopathisch Minderwertigen anderer Art Es giebt Schwachsinnige, die wir überhaupt nicht ermüden, weil sie so stumpf sind, dass sie nicht arbeiten. Was nun den Tagesplan betrifft, den der Referent er- wähnt, so glaube ich, er geht zu weit. 24 halbe Stunden Unterricht in der Woche

ist entschieden zu wenig. Wenn wir das Kind vollständig in Freiheit geben, arbeitet es entschieden geistig mehr. Es wird vielleicht 10 Stunden schlafen und die übrige Zeit thätig sein, es schafft sich durch Abwechselung Erholung und bleibt frisch Die Langeweile ermüdet ganz entsetzlich. Sorgen wir für richtige Abwechselung in jeder Beziehung, dann wird die Überbürdungsfrage schon dadurch etwas gelöst. Nicht die körperliche Arbeit als solche dürfen wir als eine Erholung ansehen und dadurch die geistige Arbeit auszugleichen versuchen. Dann ist auch eine längere Pause durch- aus noch nicht immer eine Erholung. Auch noch andere Faktoren spielen mit. Di höchsten Ermüdungskurven in den öffentlichen Schulen sind nicht etwa am Sonnabend, sondern am Montag. Der Alkoholgenuss und andere Vergnügungen am Sonntag ermüden die Kinder oft 3—4 Tage. Alle diese Gesichtspunkte müssen erwogen werden, dann erst könnte das Endresultat gezogen werden.

Stadtschulinspektor Dr. Kriebel: Der Vortrag war mir interessant, indem er praktische Beispiele vorfihrte. Der Herr Vorredner hat es in dankenswerter Weise ausgesprochen, dass weder die Methoden noch die Resultate bis jetzt übereinstimmen und uns auch gewarnt, dass wir irgend wie generelle Schlüsse fassen. Ich bin nicht ganz klar geworden, von welcher Art von Schulen gesprochen worden ist.

Referent: Es handelt sich um Anstalten für schwachsiunige Kinder.

Stadtschulinspektor Dr. Kriebel: Dass geistig abnorme Kinder mehr ermüdet werden als normale, ist nicht wahr, weil. gewöhnlich die geistig Abnormen im Unter- richt nicht so herangezogen werden. Das ist auch der Grund, warum man sie aus der Volksschule herausgenommen und in besondere Schulen zusammengethan hat. Dann ist mir der letztere Knabe (VI) aufgefallen, der durch den Unterricht seine Ermüdung los geworden ist. Ist ferner das Schulspiel geeignet, den Geist zu er- - miiden, ist das Schulbaden während der Schulzeit geeignet, die Ermüduug zu erhöhen? Wir sind der Meinung, dass die Kinder dadurch aufgefrischt und gestärkt werden.

Referent: Ich möchte auf die Einwände des Herrn Dir. Trüper eingehen. Dass die Griesbachsche Methode nicht recht zuverlässig sei, dass sie verschiedene Punkte nicht berücksichtige, ist vielleicht nicht ganz unrichtig, aber dieselben Mängel scheinen mir noch mehr der Kraepelinschen Methode anzuhaften. Wenn die Gries- bachsche Methode angezweifelt wird, so möchte ich wünschen, dass jeder einmal den Zirkel nimmt und selbst Versuche anstellt. Wir haben vielleicht tausend Versuche gemacht, und dieselben stimmen in ihren Resultaten doch ziemlich überein. Dass wir noch nicht fertig sind, geben wir zu, und dass wir uns im Anfange irren, schadet nichts, Dann sind noch viele Anfragen gestellt worden. Was ich gesagt habe, ist nicht meine Meinung, das ist Meinung der Zahl. Ich werde weiter messen und dann publizieren.

Direktor Trüper: Mit meinen Ausführungen habe ich durchaus nicht gegen die vom Referenten erwähnte Griesbachsche Methode, auch nicht gegen Kraepelin gesprochen, sondern nur zur Vorsicht gewarnt. |

Direktor K. Richter: Gestatten Sie mir einige Worte fiber die Frage des Halb- und Ganzstundenunterrichtes. In Leipzig haben wir in der Schwachsinnigenschule den Ganzstundenunterricht, d. h. die ganze Stunde wird nicht von der ersten bis zur letzten Minute ausgeniitzt. Wir haben unsere Pausen. In der ganzen Stunde muss

150

derselbe Gegenstand behandelt werden, aber bei Ermüdung der Kinder kann der Unter- richt durch Liedehen etc. unterbrochen werden, oder es wird darstellender Unterricht eingeschaltet, so dass die Gedanken der Kinder immer bei dem betreffenden Gegen- stande sind. Ich habe Halbstundenunterricht geschen und habe eingesehen, dass es kein Fehler ist, eine ganze Stunde Unterricht zu erteilen. Wieviel bleibt denn von einer halben Stunde für den Unterricht, wenn davon noch die l’ausen abgerechnet werden? Die Kinder haben kaum die Aufmerksamkeit. auf einen Gegenstand gelenkt, so wird def Faden schon wieder abgeschnitten. Wir müssen unsere schwachsinnigen Kinder gewöhnen, etwas länger bei einem Gegenstande auszularren. Halbstiindizer Unterricht ist nach meiner Meinung nur halbo Arbeit.

Vorsitzender, Erziehuugsinspektor Piper: Ich spreche dem Herrn Referenten für seinen Vortrag nochmals den Dank der Versammlung aus.

Die Tagesordnung ist erschöpft. Es tritt eine Frühstückspause ein.

Um 1 Uhr versammelten sich die Teilnehmer in den unteren Räumen des Landeshauses zu einem Frühstücksmahle, welches in freigebigster Weise von der Provinz Schlesien den Konferenzteilneimern gespendet wurde. Ks entwickelte sich bald ein recht fröhliches Leben. Der Vorsitzende der Konferenz, Herr Erziehungsinspektor Piper, brachte in einem schwunghaften Toast ein dreifaches Hoch auf den Herrn Landesbauptmann von Röder aus und verlas folgendes inzwischen eingegangene Telegramm : |

Essen (Ruhr), den 7. September 1898. Gedeihen den Verhandlungen und herzliehste Grüsse.

Pfarrer Bornewasser. ' Direktor Ochs. (Fortsetzung folgt.)

Mitteilungen.

Dresden. (Jubiläum.) W. Schröters Erziehungsanstalt für geistig Zurückgebliebene beging am 2. Dezember das Fest ihres fünfundzwanzigjährigen Bestehens,

Schlesien. (Provinzielle Fürsorge). Die bei der Provinzialverwaltung geführte Liste derjenigen Geisteskranken, Idioten und Epileptiker, deren Anstaltspflege- bedirftigkoit anerkannt werden musste, die aber wegen. Mangel an Raum nicht bald untergebracht werden können, ist seit längerer Zeit in stetem Steigen begriffen und zur Zeit auf fast 300° Personen angewachsen. Die sieben Provinzial -Irrenanstalten und drei Heil- und Pflegeanstalten für Idioten u. 8. w. sind, obwohl die Mehrzahl derselben durch neue bauliche Einrichtungen schon erheblich erweitert worden ist und voch vergrössert wird, fast durchweg gefüllt, zum Teil sogar über die Etatsziffern be- legt. Die iu diesen Anstalten frei werdenden Plätze reichen meist kaum aus, auch nur die „heilbaren“ Kranken, welche vorzugswoiso aufzunehmen sind, unterzubringen. Es muss also, wenigstens durch provisorische Einrichtung auswärliger Pflegestellen,

151

baldigst Abhilfe geschaffen werden. Zu diesem Zwecke beabsichtigt der Landeshaupt- mann von Schlesien Geisteskranke, Idivten und Epileptische, welche sich während ihres Anstaltsaufenthaltes als vollkommen harmlos und ungefährlich erwiesen haben, oder welche wegen vorgeschrittenen körperlichen bezw. geistigen Verfalls oder wegen dauernden Siechtums völlig hülflos sind, im allgemeinen also Kranke, dio ebensogut in einem Kranken- oder Siechenhause oder einer anderen besonderer Sicherheits- vorkehrungen ermangelnden Anstalt untergebracht werden können, aus den Provinzial- lrren- u. s. w. Anstalten zurückzuziehen und in derartige Pflege zu geben, um iu letzteren Anstalten Raum für andere gemeingefährliche Kranke zu schaffen. Zor Vorbereitung dieser Massregel sind die Kreise und Stadtgemeinden in der Provinz um Mitteilung ersucht worden, ob Kranken- oder Siechenhäuser oder andere Anstalten vorhanden sind, in welchen Kranke der vorstehend beschriebenen Kategorien gegen entsprechendes Entgelt in Pflege gegeben werden können, oder ob Kommunen und Korporationen zur Einrichtung derartiger Siechen- bezw. Krankenstationen geneigt sind, oder ob Etablissements, wie Kasernen oder Fabriken verfügbar sind, die ohne kost- spielige Umbauten zur Aufnahme solcher Kranken eingerichtet werden könnten, wobei vorausgesetzt ist, dass alle hygienischen Vorbedingungen vorhanden, insbesondere für die Wasserversorgung, die Abwässerung und Abfuhr hinreichend gesichert sind. Von hierauf bezüglichen Angeboten ist erst eines seitens des Magistrates in Ratibor gemacht worden. Sobald geeignete Offerten in hinreichender Anzahl eingegangen sind, werden die Verhandlungen wegen Übernahme von vorbezeichneten Pfleglingen aus den Provinzial-Anstalten aufgenommen werden. ' Schl. Ztg.

Litteratur.

Leitfaden zum Unterricht in der Behandlung und Pflege der Geisteskranken für das Pflegepersonal von Dr. Max Tippel, dirig. Arzt der Heilanstalt Johannisberg bei Kaiserswerth a./Rh. Berlin. Georg Reimer. Preis Mk. 1.—. |

Ein aus der Praxis entstandenes Büchlein, das vieles enthält, was auch für das Personal an unseren Anstalten für Schwach- und Blödsinnige gilt.

Abnorme Kinder und ihre Pflege von Dr. Renkauf. (Pädagogisches Magazin, Heft 29.) Langensalza. Beyer & Söhne. 1897.

Das Schriftchen giebt in den Abschnitten, welche von den Erscheinungen nervöser und seelischer Abnormitäten, von den Gründen dieser Erscheinungen und von der Bekämpfung nervöser und seelischer Abnormitäten handeln, in gedrängter Kürze die notwendigsten Belehrangen über psychische Abnormitäten und die wichtigsten Ratschläge zu ihrer Behandlung. Wenn auch das Büchlein nicht viel Neues bietet, so findet sich doch manches Interessante darin, das es lesenswert erscheinen lässt. Wer sich jedoch eingehender über das obige Thema informieren will, der wird schon zu einem grösseren Werke greifen müssen, da das Werkchen in seiner Kürze häufig nur skizzenhafte Andeutungen bringt. |

Sammlung von Abhandlungen aus dem Gebiete der pädagogischen Psychologie und Physiologie, herausgegeben von H. Schiller, Geb. Oberschulrat und Professor in Giessen und Th. Ziehen, Professor an der Universität zu Jena. I. Band, 1. Heft: Der Stundenplan, ein Kapitel aus der pädagogischen Psychologie und Physiologie von H. Schiller. Berlin. Reuther & Reichard, 1897.

“„Behufs Ausfüllung der heute noch klaffenden Lücke zwischen der neuern Psychologie und der Anwendung ihrer gesicherten Ergebnisse auf die pädagogische Thatigkeit wollen die an der Spitze des Unternehmens stehenden Gelehrten in Ver- bindung mit einer Anzahl von Fachgenossen die oben benannte Sammlung heraus- geben. Das erste Heft behandelt den Stundenplan; der Verfasser beantwortet iu sehr eingehender Weise die Fragen über den Schulanfang und den Schulschluss, über die dazwischen liegendeu Unterbrechungen der Unterrichtsthätigkeit (Pausen) und über die Verteilung der Unterrichtszeit auf die einzelnen Lehrgegenstände bezw. auf die Unterrichtsthätigkeiten. Seine Ansichten, welche durchaus zu billigen sind, dürften nicht nur bei Aufstellung der Stundenpläne für die Schulen mit normalen Kindern entsprechende Beachtung finden, sondern müssten auch für die Stunden- und Beechäftigungspläne der Hilfs- und Idiotenanstaltsschulen gehörig in Erwägung gezogen werden. Für die Folge sind Arbeiten in Aussicht gestellt, die unter anderem die Fehler des Kindes, die Ermüdung und Erholung in der Schule, das Gedächtnis und die Aufmerksamkeit etc. behandeln sollen. Bei dem allgemeinen Interesse dieser ` Themen können wir daher auch unsern Lesern die Sammlung angelegentlichst empfehlen.

. Briefkasten.

M. H. i. B. Dass der Plan bestehe, die sächsischen Staats -Idiotenanstalten Gross- hennersdorf und Nossen mit der Dresdener Blindenanstalt auch künftig unter eine Direktion zu stellen, ist jedenfalls ein Irrtum. Wenn in der Vergangenheit diese Einrichtung bestand, so war dies lediglich eine durch die s. Z. bestehenden persönlichen Verhältnisse bedingte zum grossen Teile zufällige. Innerlich gehören Blinden- und Idiotenanstalten nicht zusammen, und lediglich Äusserlichkeiten werden die betreffenden Behörden gewiss nicht veranlassen, die zufällig einige Jahre bestandene Einrichtung zu einer ständigen zu machen. An die Spitze beider Anstalten gehören selbstverständlich Fachleute, und wie man die Blinden- anstalt nicht von einem Idiotenlehrer wird leiten lassen wollen, so wird man auch wohl kaum zur Leitung einer Idiotenanstalt einen Blindenlehrer bestellen. Vielleicht kommen wir auf fragliche Angelegenheit nächstens einmal augführlich zurück. 6. M. 1.B. Für Ihr Anerbieten besten Dank! Möchten Sie recht viel Nachfolger finden! F. M. i. St. Nr. 1 erscheint im Januar.

Inhalt. An die geehrten Leser! Bericht über die IX. Konferenz für Idiotenpflege und Schulen für schwachbefähigte Kinder (P. Müller) (Fortsetzung). Mitteilungen: Dresden, Schlesien. Litteratur. Briefkasten.

Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. In Kommission von Warnatz & Lehmann, Kgl. Hofbuchhändler in Dresden. Druck von Johannes Pässler in Dresden.

Zeitschrift

Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer.

Organ der Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

herausgegeben von

W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, Direktor der Erziehungsanstalt | Specialarzt für geistig Zurückgebliebene für Nervenkrankheiten in Dresden- N. in Stuttgart.

INNEN

XV. A) Jahrgang 1899.

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Kommissionsverlag von H. Burdach, K. 8. Hofbuchhandlung in Dresden. Druck von Johannes Pässler in Dresden.

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I

10.

11.

12,

13.

14.

15.

. Das Erwachen der Psyche (F. Kalle) 49 . Das Verhältnis der Hilfsschule zur

. Der. Anschauungsunterricht in der

Inhaltsverzeichnis.

A. Aufsätze. Seite . Aus dem Tagebuche einer Heim- gegangenen . 193

Beitrag zur Kenntnis abnorme Farben- empfindungen bei Epileptischen (Dr.

A. Ulrich) . 217

Volksschule (Fuhrmann) . 83

Hilfsschule (H. Horrix). . 209

. Der Artikulationsunterricht bei geis =

schwachen Kindern (F. Frenzel). 1. 26

. Der Bildungskursus für Lehrer und

Lehrerinnen an Spezialklassen für Schwachbegabte in Zürich (F. Kölle) 178

. Der schädliche Einfluss behinderter

Nasenatmung auf die körperliche und geistige Entwickelung der Kinder

(E. Kannegiesser). . 161 . Die Begriffsentwickelung bei Schwach- befahigten (Herberich) 62

Die Bestimmungen vom 20. September 1895 (Schwenk) . . .....07

Einiges über Schwachsinnige

(A. Grohmann) ar % . 82

Gesetz fiir das Herzogtam Braun- schweig, die Ausbildung nicht voll-

sinniger Kinder betr. . > 5, 36 40

Herr Grohmann— Zirich

(E. Hasenfratz) . : . 201

Kleine Wünsche an den Vorstand der

IX. Konferenz (A. Schwenk). 90

Konferenz für ee

(P. Müller) . 6. 33. 49

16, 17. 18.

19.

21.

co OID

11.

. Zam Rachenunterricht, in er Schule

. Alsterdorf (Personalien) . Berlin (Ausstellung f. Krankenpflege) 99

. Braunschweig (Hilfsschule) . Budapest (Idiotenlehrer-Prüfung)

. Kassel (Zweiter Verbandstag der

Seite Rechtschreibung in der Hilfsschule (H. Horrix) . 166 Pastor Sengelmann + . . 25. 89 Uber den Beruf und die Aufgabe eines Lehrers und Ersiehers bei Schwachsinnigen (A. Fisler) . . 180 Über Dr. Guggenbühl und seine Kretinenheilanstalt auf dem Abend- berge (F. Kölle) . 92. 114

. Zum erziehenden Unterricht bei

Schwachsinnigen (K. Ziegler) . 140 Zur Methodik des Zeichenunterrichts

in Schwachsinnigen - Schulen (K. Puhrer) . . 129 fir Schwachsinnige und apie (Ch. K) j 190

B. Mitteilungen. 99

(Jubiläum). . . . 203 (Theorie f. Kinderpsychologie) 225

. Braunschweig (Fürsorge für

. 100 . 150 . 225 5 (Landes-Idiotenanstalt) . 226 " (Internat. Kinderschutz- Kongress) .

schwachsinnige Kinder)

79

deutschen Hilfsschulen) —F . 102 Dänemark (Dr. Keller’sche Fr-

ziehungsanstalt) . 79

34.

. Dalldorf (Idiotenanstalt) . . Dresden (Ein ehemaliger Fürsten-

. Idstein (Idiotenanstalt) . . Kattowitz (Provinzial- Heil- und

. Kraschnitz (Samariter-Ordensstift) 204 . Leipzig (Schwachsinnigenschule). . Leschwitz (Personalien)

. Scheuern (Idiotenanstalt) . . . . Sch weiz (2. Konferenz für das Idioten-

SS 88 NANE BB

Seite . 104. 208 erzieher) . 151 Ri (Jubiläum) . 20 is (Personalien) . . . . . 4l a (Sächs. Landesanstalten) . 202

. Fürstenwalde (Abnurmenanstalt) . 151 . Gera (Die Hilfsschule)

. 118 (Fünfter städtischer Heilkursus

für sprachleidende Kinder . 122 (Jubiläum) . 152

. Gotha (Finweihung der Herzogin-

21

Marien-Stiftung) . n a 41. 124

Pflegeanstalt) . 48 . 105

(Verein fir Erziehung und Unterricht Geistesschwacher) . 205

. Liegnitz (Wilhelm- u. Augusta-Stift) 171

und . 158 22

M.- Gladbach

(Erziehungs- Pflegeanstalt) . ;

wesen) . 152

; Uchtspringe (Landes- -Heil- und

Pflegeanstalt) . 44

. Zürich (Kursus zur Heranbildung

von Lehrkräften) poy 78 Zürich (Schweizerische Anstalt für

Epileptische) . . 226

. Berkhan, O. Dr.,

. Egidy, M. von,

C. Litteratur.

Über den ange- borenen und früh erworbenen Schwach- sinn . o... > o I4 Gedanken über

2

Erziehung . . . 227 8. Fack, M., Die Behandlung ‘stottern-

der Schiller ; ; ; 24 4. Forchhammer, G, Der imitative

Sprachunterricht : . 227 5. Fuchs, A, Beiträge zur "Pädago-

gischen Pathologie 79 6. Giese, J. Vorlagen für das Flechten

von Papierstreifen . . . 158 7. Grüllich, A., Entwurf für den re

schsuungsanterricht —J .111 8. Gutzmann, A. Dr., Die praktische

Anwendung der Sprachphysiologie

beim ersten Leseunterricht . . 157 9. Liebermann, A. Dr, Vorlesungen

über Sprachstörungen . . 158. 207

10, 11.

12.

24.

Schanz, J., Der Sprachorganismus 23 Scholz, L. Dr., Leitfaden für Irren- pfleger . . .

Wintermann, A, Die Hilfsschulen Deutschlands und der Schweiz

. 208

23

D. Briefkasten. 128. 159. 175. 208. 228.

Nr. 1. XV. (IX) Jahrg.

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für die

Behandlung Sehwachsimiger tnd Fienie =s

Organ der Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

herausgegeben von

W. Schröter, Sanitätarat Dr. med. H. A. Wildermuth, Direktor der Erziehungsanstalt Spezialarzt für geistig Zurückgebliebene in für Nervenkrankheiten Dresden -N , in Stuttgart.

Erscheint jährlich In 12 Nummern von mindestens einem Bogen. Anzeigen für

die gespaltene Petitzelle 25 Pfg. Litte- Januar 1899.

rarische Beilagen 6 Mark.

Zu beziehen durch alle Buchhandlungen

und Postämter, wie auch direkt von den

Herausgebern. Preis pro Jahr 6 Mark, einzelne Nummer 50 Pfg.

Die Original- Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber.

Der Artikulations-Unterricht bei geistesschwachen Kindern. <> À Von Franz Frenzel, Anstaltslehrer. \ D

Motto: „Das belehrendste Spiel ist das Beispiel.“

Fliegende Blätter.

In den Lehrplänen der Anstalten und Schulen für Erziehung und Unterricht Geistesschwacher finden wir nicht selten für die Unterstufen den Artikulations- Unterricht als Unterrichtsgegenstand verzeichnet, und wo dieses nicht der Fall sein sollte, dürfte wenigstens auf den Betrieb von Artikulationsübungen*) hingewiesen sein. Im Taubstummen-Unterrichte nennt man den ersten Sprach- unterricht, welcher die Feststellung der Laute bezweckt und die ersten laut- sprachlichen Kenntnisse vermittelt, Artikulations- Unterricht. Man bezeichnet auch diese Unterrichtsdisziplin, insofern sie sich hauptsächlich mit der äussern, der mechanischen (physiologischen) Seite der Sprache beschäftigt, als „Unterricht im mechanischen Sprechen“. Bei sprachlosen Geistesschwachen wird der erste Sprachunterricht analog dem der Taubstummen zu betreiben sein, allerdings mit entsprechenden Modifikationen bei steter Berücksichtigung der körperlichen und geistigen individuellen Eigentümlichkeiten der jeweilig zu behandelnden Kinder. Die Gesichtspunkte, nach denen der Sprachunterricht bei sprachlosen Geistes- schwachen zu erteilen ist, habe ich in meiner Arbeit: „Der Sprachunterricht Sprachloser Geistesschwachen,* eingehend auseinander gesetzt; ich komme daher hier auf den Artikulations-Unterricht und die Artikulationstibungen

*) Sengelmann, Lehrbuch der Idiotenheilpflege. Norden, 1885. S. 212. Reinke, Die Unterweisung und Erziehung schwachs. Kinder, Berlin 1897, 8, 87—88.

2 im allgemeinen zurück, sowie auf die Aufgabe und Stellung des ersten als Unterrichtsgegenstand der Anstalten und Schulen für Erziehung und Unterricht Geistesschwacher und will im Anschlusse hieran auch einen methodisch- praktischen Stufengang für seine zweckmässige Betreibung folgen lassen.

Der Unterricht geistesschwacher Kinder schliesst besonders in seinen An- fängen Eigentümlichkeiten in sich, die ihn von dem Unterrichte normaler Kinder wesentlich unterscheiden; auch erheischen die mannigfachen körperlichen und geistigen Defekte schwachsinniger Kinder im Unterrichte Massnahmen und Ver- anstaltungen, deren die Volksschule durchaus nicht benötigt ist. Zu diesem eigenartigen unterrichtlichen Massnahmen gehören namentlich die Vorübungen und der Artikulations-Unterricht.

Die Vorübungen*) werden auf allen untern Stufen der Schulen für Geistes- schwache betrieben, zunächst in grösserem Umfange, später in geringerem Masse. Ihr hauptsächlichster Zweck ist die „naturgemässe und konsequente Weckung und Regelung der individuellen Lebens- und Thätigkeitstriebe* der auf sehr niedriger Stufe geistiger Entwicklung stehenden schwachsinnigen Kinder.

Der Artikulations-Unterricht erscheint wegen des geringen mangel- haften und oft geschwächten Sprachvermögens und der häufigen Sprachgebrechen geistesschwacher Kinder durchaus geboten. Bezüglich ihres sprachlichen Ver- haltens dürfte eine Einteilung derselben in apathisch-sprechfaule (torpide) und erethisch-plapperhafte (agile) Individuen am Platze sein. Kinder der ersten Gruppe sind entweder gänzlich sprachlos, oder stehen in ihrer sprach- lichen Entwicklung noch in der Periode des Lallens und Stammelns, oder zeichnen sich durch eine unbeholfene, abgerissene, polternde und unnatürliche Sprechweise aus. Die Artikulation einer ganzen Anzahl von Lauten gelingt ihnen nicht oder nur mangelhaft, noch weniger aber vermögen sie gewisse Laut- verbindungen auszusprechen; statt eines ganzen Wortes werden nur Trümmer desselben gebracht. Auch mangelt solchen Kindern häufig jedes Sprachver- ständnis, oder es ist bei ihnen in einem nur enge begrenzten Umfange und nach einer ganz bestimmten Richtung hin vorhanden; sie verstehen meistens nur einzelne Befehle. Es wird daher bei den apathisch-sprechfaulen Geistesschwachen Aufgabe des Artikulations-Unterrichts je nach der Art des vorhandenen Sprach- vermögens sein, mangelhaft gebildete Laute richtig einzuüben, fehlende zu ent- wickeln und durch systematische Übungen zu befestigen, sowie das Sprechen von Lautverbindungen, insbesondere solcher, die einen sprachlichen Inhalt (Wörter) bezeichnen nach sprachphysiologischen Gesichtspunkten ausgewählt und zusammen- gesetzt, zu kultivieren. Die ‘betreffenden Kinder sollen dadurch zur Herrschaft über ihre Sprachwerkzeuge geführt, zu einem deutlichen, wohl artikulierten Sprechen gebracht und in das Verständnis und den Gebrauch der Sprache, wenn auch zunächst nur in einem ganz bescheidenen Umfange, eingeführt werden.

*) Fr. Frenzel, Uber Einrichtungen und Ziele der Vorschulen unserer Idiotenanstalten. Zeitschrift für pädag. Patheologie und Therapie. Langensalza 1898.

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Die erethisch-plapperhaften (geschwätzigen) Schwachsinnigen sind sehr gesprächig und plaudern alles Mögliche meistens gänzlich plan- und sinnlos her und nicht selten, obne irgend einen Gedankeninhalt mit dem Gesprochenen zu verbinden. Die Artikulation erfolgt in der Regel leicht und gewandt, doch kommen bei ihnen infolge ihrer grossen Zerfahrenheit, nervösen Erregtheit und Unbeständigkeit häufig Mängel in der Laut- und Wortfolge vor; das Sprechen geschieht vielfach im Infinitiv („ich nach Hause laufen!“) in Interjektionen, mit falschen Flexionen und mit falscher Anwendung von Zeitformen und selbst Wörtern. Die Kinder brechen mitten im Satze ab oder fallen aus der Kon- struktion; oft wird Wort an Wort ohne erkennbaren Zusammenhang, bald langsam, bald rasch angereiht. Häufig kehren dieselben Wörter in rascher Folge immer wieder. Namentlich gewisse Phrasen, die den Kindern mechanisch angelernt worden sind, werden von ibnen nach Art der Papageie mehr oder weniger fehlerhaft oft bis an die hundert Male wiederholt. Es werden auch mitunter aus Teilen verschiedener Wörter neue Wörter kombiniert; solche Wort- neubildungen kann man vielfach bei den „ewigen Schwätzern“, wie Dr. Kind die plapperhaften Geistesschwachen treffend nennt, beobachten. In allen diesen Fällen wird es Aufgabe des Artikulationg-Unterrichts sein, ein ruhiges, gemessenes, form- und gedankenrichtiges Sprechen anzuerstreben. Alles in allem soll also der Artikulations-Unterricht die Sprache des Geistesschwachen nicht nur nach ibrer mechanischen (physiologischen), sondern auch nach ihrer denkthätigen Seite hin pflegen und bilden helfen; er wird mithin auch Sprachunterricht sein müssen und den Schülern Sprachkenntnisse in materieller und formeller Hinsicht zu vermitteln und ihre geringen Geisteskräfte zu entwickeln suchen.

Die Entwicklung der geistigen Anlagen vollzieht sich in der Richtung von der Anschauung in die Sprache hinein und setzt sich sodann durch Vermittelung der Sprache mit Unterstützung der Anschauung fort. Diesem Prinzip hat auch der Betrieb des Artikulations-Unterrichts gehörig Rechnung zu tragen. Darum sind bei seiner Pflege gleichmässig nebeneinander nachstehende Zwecke zu ver- folgen: 1. Die Ausbildung der Sprachfertigkeit, 2. die Entwickelung der Geisteskräfte und 3. die Aneignung von Sachkenntnissen. Dem gesamten Sprachunterrichte wird somit in der Schule für Geistesschwache auch ein wesentlich weiteres Arbeitsfeld zugewiesen werden müssen, als dem der Volkschule; ebenso ist ihm eine umfangreichere Zeit zu widmen, als in der Schule Vollsinniger.

Die Artikulationsübungen können auch dem ersten Leseunterrichte von bedeutendem Nutzen sein. Bevor die Leseübungen auftreten, sollen die Schüler befähigt werden, die verschiedensten Laute durch das Gehör richtig aufzufassen und zu unterscheiden und durch die Sprachorgane gehörig wiedergeben zu können. Das wird am besten durch zweckmässige Artikulationsübungen zu erreichen sein. „Die drei Perzeptions- und gleichzeitig auch Krontrollwege, Gehör, Gesicht und Gefühl, müssen durch systematische Übungen so fest, glatt und sicher gefahren werden, dass es späterhin keiner besondern Aufmerksamkeit bedarf, um ihre Funktionen sich ungestört vollziehen zu lassen.“ Diese Forderung bildet eine der

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Hauptbedingungen für den Leseunterricht vom sprachphysiologischen Standpunkte*) aus, welche der Artikulations-Unterricht am besten zu erfüllen imstande ist. Ein richtig geleiteter Artikulations-Unterricht wird somit den ersten Leseunterricht zweckmässig vorbereiten können und denselben auch in seinem weitern Fortgange wirksam zu unterstützen vermögen. In umgekehrter Weise kann wiederum der Leseunterricht dem Artikulations-Unterrichte zu Diensten sein; das geschriebene oder gedruckte Lautzeichen, der Buchstabe, erleichtert dem geistesschwachen Kinde das Auffassen und Festhalten des Lautes nicht unwesentlich. Was anfangs bei den Sprachübungen des ersten Leseunterrichts vorzugsweise nur ein Sinn, das Gehör, zu besorgen hatte, das wird, sobald die Lautzeichen auftreten, durch zwei Sinne, Gehör und Gesicht, vermittelt werden können. So scheinbar unbedeutend derartige Kleinigkeiten auch sonst zu sein pflegen, beim Unterrichte Geistesschwacher jedoch werden sie häufig zu wichtigen Faktoren, deren Be- achtung mitunter für die Erzielung mancher Zwecke gewisse Vorteile zu bieten vermag.

Endlich sind zweckmässig betriebene Artikulationsübungen das wirksamste Mittel zur Verhütung und Bekämpfung von Sprachstörungen. Es ist wohl genügend bekannt und auch bereits wiederholt darauf hingewiesen,**) dass geistes- schwache Kinder an den verschiedensten Sprachgebrechen leiden und mit Sprach- störungen aller Art behaftet sind. Ein verständig geleiteter Artikulations- Unterricht, welcher ja stets die Hygieine der Sprache bezweckt, wird daher schon aus diesem Grunde imstande sein, eine grosse Reihe bereits vorhandener Sprach- gebrechen leichterer Art zu unterdrücken oder zu beseitigen und eine noch grössere Anzahl zu verhüten. Allein schwerere Fälle von Sprachstörungen, welche im Betriebe des Artikulations-Unterrichts nicht beseitigt werden können, sind in besondern Sprachheilkursen zu behandeln. Es kommen derartige Mass- nahmen nunmehr an den verschiedensten Orten und Schulen zur Berücksichtigung, aber trotzdem giebt es auch noch Leute, denen solche Bestrebungen vollständig zweck- und aussichtslos erscheinen. Nach meinen Erfahrungen jedoch sind bei einiger Hingabe, Mühe, Ausdauer und Geduld selbst in den schwereren :Fällen gewisse Erfolge zu erzielen und in den leichtern sogar erfreuliche Resultate zu erreichen. Es kommt auch heute viel weniger darauf an, die Notwendigkeit und Berechtigung ähnlicher Massnahmen und Einrichtungen nachzuweisen, als viel- mehr darauf, sie gehörig ausbauen und fördern zu helfen. Besondere Verdienste auf dem Gebiete der Sprachhygieine geistesschwacher Kinder. hat sich H. Piper erworben, dessen Bestrebungen in jeder Hinsicht volle Anerkennung verdienen und aufs angelegentlichste zur Nachahmung empfohlen werden können.

Soll der Artikulations-Unterricht die vorhin bezeichneten Aufgaben, welche zum Teil ja nur kurz angedeutet werden konnten, nach allen Seiten hin voll und ganz erfüllen, so muss er in den Schulen und Anstalten für Erziehung und

*, Krumbach, Deutsche Sprech-, Lese- une Sprachübungen. Leipzig 1893. Gutz-

mann, Die prakt. Anwendung der Sprachphysiologie für den ersten Leseunterricht. Berlin 1897.

**) Vergl. meine Arbeit: Zwei Fälle von eigentümlichen Sprachhemmungen bei idiotischen Kindern. Monatsschrift für die gesamte Sprachheilkunde. Berlin 1897.

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Unterricht Geistesschwacher auch als selbständiger Unterrichtsgegenstand auftreten und nach eigener Methode betrieben werden. Seine gelegentliche Kultivierung, seine Pflege nach Bedarf, sowie seine Vornahme in Verbindung mit andern Unterrichtsdisziplinen wird selten die Erfolge erzielen können, wie sie sie seine selbständige Betreibung zu erreichen vermag. Die Artikulationsübungen werden daher am besten zunächst in besonderen Stunden, vielleicht täglich eine halbe bis eine ganze Stunde lang, gepflegt; doch dann, sobald durch die- selben die beabsichtigten Zwecke wirksam vorbereitet sind, mögen sie in Ver- bindung mit andern Disziplinen, hauptsächlich mit dem Lese- nnd Anschauungs- unterrichte, betrieben oder gelegentlich und nach Bedarf vorgenommen werden. Und Veranlassung und Gelegenheit dazu werden wir, wie es in der Natur der Sache liegt, oft und genug haben und finden. Die Bildung und Pflege der Sprache, besonders in sprachphysiologischer Hinsicht, wird uns bei einigen unserer Zöglinge wohl die ganze Unterrichtszeit hindurch viel Arbeit und Mühe verur- sachen; allein das darf uns durchaus nicht abhalten, immer wieder von neuem die Verwirklichung eines Zieles anzuerstreben zu suchen, dessen Durchführung für so manches unserer sprachlich gebrechlichen Kinder einen grossen Gewinn bedeuten würde.

Ich komme nun zu den nähern Angaben des Lehrverfahrens im Arti- kulations-Unterrichte. Dieser soll zunächst durch geeignete Vorübungen*) zweck- mässig vorbereitet werden, welchen alsdann die eigentlichen Lautübungen zu folgen haben. Im allgemeinen dürfte folgendes Verfahren zu beobachten sein. Der Lehrer spricht den zu entwickelnden Laut resp. die zu übende Lautverbindung so klar, deutlich und gut ausgeprägt als nur irgend möglich vor und veranlasst die Schüler zum Nachsprechen im Chore. Daran schliessen sich unmittelbar weitere Übungen an, wozu die Kinder entweder einzeln oder gruppenweise heran- gezogen werden; während eine Gruppe Laute bezw. Lautverbindungen übt, wird die andere mit Schreibübungen, Fröbel’schen Kindergarten - Arbeiten u. s. w. beschäftigt. Der Artikulations- Unterricht ist also anfänglich hauptsächlich Einzelunterricht oder Gruppenunterricht, sobald jedoch in seinem ferneren Betriebe mit der allmählichen Steigerung der Sprechfähigkeit der Mühe- und Zeitaufwand des Lehrers ein geringerer zu sein braucht und sich nicht ausschliesslich auf einzelne Kinder erstrecken darf, soll er Klassenunterricht werden und sämtliche Schüler möglichst gleichmässig zu berücksichtigen und zu fördern suchen. In seinem weitern Verlaufe sind besonders drei Stücke gehörig zu beobachten: l. Eine gründliche Entwickelung und Befestigung der Laute, 2. ihre vielseitige Übung und 3. ihre häufige und wiederholte Anwendung beim Sprechen. Nur unfehlbare Sicherheit, die in jeder Hinsicht durchaus anzuerstreben ist, vermag beim Unterrichte Geistesschwacher für gute Fortschritte und günstige Erfolge zu bürgen.

Für die Anordnung und Reihenfolge der Artikulationsübungen ist das

„Prinzip der geringsten Anstrengung in der Lauterzeugung“,' sowie der natürliche

*) Walther. Handbuch der Taubstummenbildung. Berlin 1895. 8. 240 und fl.

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Entwickelungsgang, welchen die Sprachbildung bei jedem Kinde verfolgt, beob- achtet worden. Wie das kleine Kind sein absichtliches Sprechen gleich mit dem Nachahmen und Hervorbringen von Silben mit zwei Lauten beginnt, so sollen die Lautübungen nicht mit einzelnen Lauten, sondern sofort mit ein- fachen Lautverbindungen, Vokal im An- und einfacher Konsonant im Auslaut,*) anfangen. Die Periode des Sprechens einzelner Laute (unabsichtliches Sprechen) wird als bereits absolviert vorausgesetzt; allerdings müssen fehlende Laute und auch diejenigen, welche bis zu einem gewissen Grade den Kindern noch nicht geläufig sind, durch besondere Übungen einzeln entwickelt, befestigt und eingeübt werden. Beachtenswerte Regeln und Fingerzeige dazu finden wir in dem interessanten Buche: „Der kleine Sprachmeister“ von H. Piper. Als spezifisch schwere Laute für Geistesschwache sind namentlich k, r, z, j zu bezeichnen; es giebt aber auch Kinder unter ihnen, die nicht einmal imstande sind, ganz leichte Laute, z. B. m und n voneinander zu unterscheiden. Be- deutende Schwierigkeiten verursacht manchem schwachsinnigen Schüler besonders die Bildung des k und bietet nicht selten sämtlichen Entwickelungsversuchen Trotz. Es scheint weder die Anwendung von mechanischen Hilfsmitteln, noch die Beobachtung des „Prinzips der Analogie in der Lauterzeugung“ etwas nützen zu wollen, da dem betreffenden Kinde, obwohl es die Laute p und t aus der Reihe der Explosivlaute korrekt zu bilden vermag, doch die analoge Bildung des k nicht gelingen will. Die Geistesschwachen erscheinen eben in mancher Hinsicht wie „vernagelt“. In solchen Fällen ist es ratsam, vorläufig von der Erzielung eines richtigen Lautes abzustehen, da derselbe, wenn er sich nicht ganz unerwartet und plötzlich einstellt, selten durch noch weiter ausgedehnte Übungen und Bildungsversuche zu erreichen sein wird, er findet sich dann eben niemals. In der Regel hat auch ein solcher Mangel, wenn er sich nicht gar zu auffällig kennzeichnet, nicht viel auf sich, zumal es eine ganze Menge vollsinniger Menschen giebt, die gleichfalls nicht sämtliche Laute, wie z. B. das Zungenspitzen-r, zu sprechen vermögen. (Schluss folgt.)

IX. Konferenz für Idiotenpflege und Schulen für schwachbefähigte Kinder.

(Fortsetzung.)

Nebenversammlung der Idiotenanstalten.

Der Vorsitzende, Herr Erziehungsinspektor Piper, erdffnete kurz nach 3 Uhr die Versammlung und erteilte Herrn Direktor Schwenk das Wort zu seinem Vortrage:

*) Vergl. dagegen meine Lautübungen für sprachlich behinderte Kinder in der Monats- schrift für die gesamte Sprachheilkunde. Berlin 1898. Daselbst steht der Konsonant vor dem Vokal; für geisteschwache Kinder dagegen erscheint mir die umgekehrte Anordnung zweckmässiger; die daher auch hier beobachtet worden ist.

Die Bestimmungen vom 20. 1895 und ihre Folgen für unsere Anstalten.

Hochgeehrte Versammlung!

Wer mit aufmerksamen Augen die Geschichte des Idiotenwesens der letzten 5 Jahrzehnte in Deutschland überschaut, der wird gewisse Lichtpunkte erblicken, die ihre Strablen weithin erwärmend und belebend verbreiten. Von den kleinen Anfängen des württembergischen Stadtpfarrers Haldewang in Wildberg vom Jahre 1837 an bis auf unsere Zeit ist die Sache des Idiotenwesens kräftig und mächtig vorangeschritten. Zu den Anstalten für Schwachsinnige, deren wir heute mehr als 70 in Deutschland zählen, reihten sich im Laufe der Zeit die Anstalten für Epileptische und in der neueren Zeit die.Schulen für Schwachbefähigte. Gewiss sind dies erfrenliche Resultate. Aber diese Freude wird sehr herabgestimmt, wenn wir die Massnahmen der Kgl. Regierung in Preussen, wie sie in dem Ministerialerlass vom 20. September 1895 für unsere Anstalten eingeführt sind, näher betrachten.

Wohl anerkennen wir es vollauf, dass die staatlichen Behörden sich veranlasst gesehen haben, für die Beaufsichtigung der Irrenanstalten verschärfte Bestim- mungen zu treffen. Wir wissen, dass auch Idiotenanstalten der staatlichen Ober- aufsicht unterstehen und unterstehen müssen. Sollen aber die Bestimmungen vom 20. September 1895 in vollem Umfange auch für die Idioten gelten, so wird dies für unsere Anstalten nicht nur verhängnisvoll, nein, es bedeutet den Ruin der genannten Anstalten.

Meine Herren! Ehe ich jedoch die Folgen der Bestimmungen vom 20. Sep- tember 1895 und der nachträglich erschienenen Ausnahmebestimmungen vom 24. April 1896 näher beleuchte, muss ich zuvor kurz auch auf diese Ver- ordnungen selbst eingehen. Der Wortlaut der Anweisung vom-20. September 1895 „Über die Aufnahme und Entlassung von Geisteskranken, Idioten und Epileptischen in und aus Privat-Irren-Anstalten ($ 30 der Gewerbeordnung), sowie über die Einrichtung, Leitung und Beaufsichtigung solcher Anstalten“ lässt dem Streit Raum, für welche Anstalten überhaupt sie bestimmt sein soll. Die Über- schrift und die ausdrückliche Hinweisung auf $ 30 der Gewerbeordnung, die Bezugnahme auf die Bestimmungen vom 19. Januar 1888, die Aufnahme von Geisteskrauken in Privat-Irren-Anstalten etc. betreffend, zu deren Ersatz die Anweisung lediglich bestimmt ist, führt zu dem Schlusse, dass die Bestimmung offenbar nur solche Anstalten treffen will, die in erster Linie Privat-Anstalten für Geisteskranke sind und zugleich auch Idioten und Epileptische aufnehmen sollen. Dagegen lässt die Fassung der Bestimmung selbst, insbesondere die in den 88 15 und 18 gebrauchte Bezeichnung „Privat-Anstalten für Geisteskranke, Idioten und Epileptische“ die Auslegung zu, dass die Verordnung für alle Privatanstalten gelten soll, die Geisteskranke oder Idioten oder Epileptische, also auch nur Idioten oder nur Epileptische aufzunehmen bestimmt sind. That- sächlich wird diese letztere Auffassung in den Kreisen der Kgl. sowie der Verwaltungsbeamten als die richtige anerkannt.

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Meine Herren! Hier haben wir die erste, schwerwiegendste Folge für unsere Anstalten. Nicht nur der Sammelbegriff „Geisteskranke“ ist unsern Insassen beigelegt, nein, unsere Anstalten selbst sind zu „Irren-Anstalten“ gestempelt worden oder mit diesen wenigstens in eine Linie gestellt. Noch vor 10 Jahren unterstanden unsere Anstalten der Kgl. Regierung, Abteilung für Kirchen und Schulsachen. So z. B. hat genannte Abteilung der Kgl. Regierung in Wiesbaden unserer Idsteiner Anstalt nicht nur die Konzession erteilt, sondern sie prüfte auch noch unsere Hausordnung, genehmigte die Anstellung des pädagogischen Leiters etc. Wie ist es heute? Der Schulrat geht überhaupt nicht mehr in unsere Anstalten und giebt den Bescheid, wenn er hierzu auf- gefordert wird: Es geht mich nichts an (Dr. Ross). Nur allein die Medizinal- behördern revidieren unsere Anstalten. Es sind ja Geisteskranke! Ja, meine Herren, wenn auch rechtlich unsere Idioten den Geisteskranken gleichgestellt werden, so geht daraus noch lange nicht hervor, dass sie mit letzteren gleich behandelt werden müssen und unsere Anstalten als Irrenhäuser zu betrachten sind. Auch der Taubstumme und Blinde steht gesetzlich auf derselben Stufe wie der Schwachsinnige, und doch werden diese beiden Kategorien nicht von der Medizinalbehörde, sondern von der Provinzial-Schulbehörde beaufsichtigt. Ich meine, was dem einen recht ist, sollte dem andern nicht versagt werden.

Ein am Geiste Kranker gehört genau so in die Irrenanstalt, wie die am Auge oder Gehör Leidenden in die Augen- resp. Ohrenklinik gehören. Wie aber der völlig Blinde oder Taube, bei welchem der Arzt absolut nichts mehr erreichen kann, nicht in Kliniken, sondern in Blindenschulen resp. Taubstummen- anstalten geschickt wird, so ist es auch bei Schwachsinnigen das einzige Richtige, dass man sie erfahrenen Pädagogen zur Erziehung anvertraut. Denn wie bei diesen genannten beiden Kategorien (Blindheit und Taubstummbheit) das Fehlen des betreffenden Sinnes von Geburt an vorhanden oder die Folge eines ab- gelaufenen Krankheitsprozesses ist, so ist auch der kindliche Schwachsinn nicht eine chronisch verlaufende Krankheit, sondern die Folge eines entweder angeborenen oder durch andere Ursachen erzeugten und bleibenden Gehirn- defektes, welchen der Arzt weder durch operativen Eingriff noch durch medi- kamentöse Einwirkung zu beseitigen vermag. Doch ist das nicht so zu verstehen, als ob wir uns der Einsicht über die Notwendigkeit der ärztlichen Mithilfe bei unserer Arbeit verschlössen, im Gegenteil, wir erkennen dankbar an, was diese auf unserem Gebiete schon geleistet haben. Aber das müssen wir bestimmt verlangen, dass unsere Anstalten nicht mit den Irrenhäusern gleich behandelt werden, sondern dass man diese genau so wie Taubstummen- und Blindenanstalten und wie die in grösseren Städten vorhandenen Nachhilfschulen für Schwach- befähigte als eine für sich selbständige und abgegrenzte Gruppe von Anstalten betrachtet, dass sie also auch nicht unter die Medizinalbehörde, sondern unter die Provinzialschulbehörden gestellt werden. Und, meine Herren, wem sind unsere schulfähigen Zöglinge nach ihrer psychischen Verfassung mehr verwandt, den in Irrenanstali untergebrachten Geisteskranken oder denjenigen Kindern, welche in grösser ‘tädten die sogenannten Hilfsschulen besuchen? Streng

9 genommen besteht zwischen diesen Hilfsschülern und unsern Anstaltszöglingen kein oder nur ein geringer, gradueller Unterschied, der aber nicht die mindeste Differenzierung in der Behandlungsweise zur Folge haben kann. In Wirklichkeit aber unterstehen jene der Schulbehörde und werden als minderbegabte Volks- schüler behandelt, während diese als „Geisteskranke“ von der Medizinalbehörde beaufsichtigt werden. Der ganze Unterschied zwischen Hilfsschulen und Idioten- anstalten besteht eigentlich nur darin, dass erstere ihre Kinder alle aus einer Stadt bekommen, während die Zöglinge der letzteren sich grösstenteils aus der Bevölkerung von solchen Orten rekrutieren, denen die Einrichtung besonderer Schulen für Schwachsinnige unmöglich ist.

Mit Recht sagt Wildermuth, (Zeitschrift, Jahrg. 86, Seite 11 und ff.), „dass alle bei der Idiotie in Betracht kommenden Erscheinungen praktisch nicht in die Sphäre der Irrenanstalten fallen, dagegen wissenschaftlich in das Gebiet der Psychiatrie zu rechnen seien.“ Ferner schreibt er (Seite 13): „Wohl jeder Irrenarzt stimmt damit überein, dass Idioten nicht in Irrenanstalten gehören, sondern in eigene Institute, in denen eine mit psychiatrischem Verständnis ge- leitete Erziehung die Hauptsache ist.“ Mag man also die Idioten wissen- schaftlich zu den „Geisteskranken“ im weitesten Sinne zählen, so sind und werden unsere Institute trotzdem keine Irrenhäuser, sondern bleiben Schulanstalten wie die Taubstummen- und Blindeninstitute. Oder ist man auf ärztlicher Seite wirklich der Meinung, unsere Anstalten seien Krankenhäuser und nichts weiter? Auch der flüchtigste Blick in die Organisation der meisten unserer Anstalten muss genügen, um zu zeigen, dass in diesen die Schule und der Unterricht die Hauptsache sind. Nur dem Unterricht und der Erziehung kann es gelingen, die schwachen und in der Entwicklung zurückgebliebenen Kräfte des kindlichen Geistes zu wecken und zu fördern. Deshalb nur entschliessen sich auch die Eltern, ihre geistig zurückgebliebenen Kinder in Anstalten zu bringen. Körperliche Pflege vermag das Elternhaus in den meisten Fällen ebenso gut zu geben als die Anstalten, aber den entsprechenden Unterricht kann es nicht bieten. Diesen Unterricht zu erteilen, ist nun in erster Linie Sache des Pädagogen. Zwar wird er bei dieser Aufgabe auf die Mithilfe des Arztes nicht verzichten können. Letzterer kann und muss die wissenschaftlichen Vorarbeiten in physio- logischer und psychiatrischer Hinsicht machen, auf deren Grundlage der Lehrer mit Berücksichtigung seiner eigenen pädagogischen Erfahrungen bestimmte und spezifische Grundsätze aufzusuchen und festzustellen hat, nach denen der Idioten- unterricht zu erteilen und die Idiotenerziehung zu leiten is. Ein solches System idioten-pädagogischer Regeln und Grundsätze aufzustellen, das wird der Mediziner ebenso wenig fertig bringen, wie er andererseits nicht befähigt ist, nach dieser besonderen Methode praktisch in der Schule zu arbeiten. Oder ist die Pädagogik nicht auch eine Wissenschaft, die gelernt sein will? Wenn aber nun der Hauptzweck unserer Anstalten Unterricht und Erziehung ist, wenn die Kinder in erster Linie unterrichtet werden sollen, wenn der Lehrer folgerichtig die erste Stellung einzunehmen hat: wie reimen sich dann dazu jene Verordnungen, die den Pädagogen geradezu zum Handlanger des Arztes herabdrücken, wie ist

es überhaupt möglich, nach diesen Erwägungen unsere Anstalten gesetzlich mit den Irrenhäusern gleich zu stellen?

Meine erste Forderung geht also dahin, bei den massgebenden Behörden mit allen Mitteln vorstellig zu werden, dass unsere Idioten als eine besondere Kategorie der leidenden Menschheit nicht nur bezeichnet, sondern auch gesetzlich behandelt werden, dass also unsere Anstalten besondere, für sie passende Bestimmungen erhalten, und dass sie nicht nur unter die Medizinal- behörden, sondern und das ist das äusserste, wozu wir die Hand reichen können unter die Medizinalbehörde und Provinzial-Schulbehörde gestellt werden; und ich meine, da diese unter einem Ressortminister stehen, sollte dies wohl möglich sein. Dann würde es z. B. auch aufhören, dass unsere Schüler, die teilweise nach der Konfirmation als selbständige Glieder in die menschliche Gesellschaft eintreten, bei der Volkszählung als Geisteskranke gezählt werden. Die nächste Konsequenz wäre die, dass unsere Schulen auch vom Regierungs- und Schulrat revidiert würden. Jedenfalls ist dahin zu streben, dass nicht nur 3 Mediziner mit 1 Verwaltungsbeamien die Anstalten revidieren, sondern dass unsere Institute von 1 Medizinalbeamten, 1 Verwaltungs- beamten und 1 Pädagogen revidiert werden. Warum sollte nicht auch ebenso gut, wie der Direktor einer Öffentlichen Irrenanstalt, auch ein Leiter der Idioten- anstalt zur Besuchskommission zugezogen werden? Denn der erst könnte einen richtigen, aus der Praxis herausgebildeten Massstab an die zu revidierende Anstalt legen.

Meine Herren! Ich komme zum zweiten Punkt. Der nächste Anlass zur Anweisung vom 20. September 1895 waren allerdings die überaus traurigen Zustände, wie sie durch den Mellage-Prozess in dem Alexianerkloster zu Maria- berg zu Tage gefördert wurden. Aber, meine Herren, die tieferliegenden Gründe hierzu müssen wir in den Frankfurter Resolutionen vom Mai 1893 suchen. Dort haben die Irrenärzte gesagt: | © I 3. „Nicht unter ärztlicher Leitung und Verantwortung stehende Anstalten

für Geisteskranke, für Epileptische und für Idioten entsprechen nicht den Anforderungen der Wissenschaft, Erfahrung und Humanität und können deshalb als „zur Bewahrung, Kur und Pflege dieser Kranken“ geeignete Anstalten auch im Sinne des preussischen Gesetzes vom 11. Juli 1891 nicht betrachtet werden.

4. Es ist deshalb Pflicht des Staates, der Provinzial- und Kreisverbände, die hilfsbedürftigen Geisteskranken, Epileptischen und Idioten in eigenen» unter ärztlicher Leitung und Verantwortung stehenden Anstalten zu bewahren, zu behandeln und zu verpflegen.

5. Alle im Besitze von Privaten oder religiösen Genossenschaften befindlichen Anstalten der genannten Art müssen unter verantwortliche ärztliche Leitung und unter besondere Aufsicht der Staatsbehörden gestellt werden.

7. Die fernere Annahme einer Stelle an einer nicht unter ärztlicher Leitung stehenden Anstalt durch einen Arzt widerstreitet dem öffentlichen Interesse und der Würde des ärztlichen Standes.‘

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Leider hat die Hohe Regierung in Preussen diesen einseitig übertriebenen Forderungen der Irrenärzte in diesen Bestimmungen in einen Übermass Rechnung getragen, dass die wörtliche Handhabung der Bestimmungen dem Todesstoss unserer pädagogisch geleiteten Anstalten gleichkäme. Durch die Ausnahme- bestimmungen vom 24. April 1896 sind nun zwar die Lieblingswünsche der Psychiater, nach welchen sie gerne als Leiter in die schon bestehenden Anstalten einziehen möchten, vereitelt worden, und auch ihre Versuche, die pädagogische Leitung als „unfähig und den Wissenschaften nicht entsprechend“ zu verun- glimpfen und schliesslich aus dem Wege zu räumen, sind gescheitert. Wie aber würden die Herrn Psychiater sich anstellen, wenn wir jetzt mit gleichem Masse messen wollten, wenn wir von unserem Standpunkte aus die Leitung unserer Anstalten durch Ärzte beurteilen wollten? Ich kann nicht unterlassen, einen diesbezüglichen Versuch zu machen. Wird sich ein Arzt mit den vielen hundert Kleinigkeiten, deren wir uns tagtäglich anzunehmen haben, abgeben können ? Was kann er sich um das exakte Ineinandergreifen der kleinen und kleinsten Rädchen in der grossen Anstaltsfamilie kümmern? Er steht eben am Steuer und leitet aber auch nur das. Ihm ist die Hauptsache, dass es geht, aber nicht wie es geht. Und können wir ihm dies zu einem Vorwurf machen?

Oder aber und wir wollen annehmen, dass dies das häufigere ist er widmet wirklich seine volle Kraft dem Dienste des Idiotenwesens; dann aber und ich glaube, dass diese Gefahr für ihn sehr nahe liegt ist ihm die Krankheit wichtiger als der Kranke, mit anderen Worten, über dem Interesse, das er der Krankheit und den einzelnen Krankheitserscheinungen entgegenbringt, vergisst er das Wohl des Kranken. So sehr wir ihm nun auch für das ein- gehende Studium der Krankheit dankbar sein müssen, ebenso sehr ist es aber unsere Pflicht, unsere armen Zöglinge selbst nicht zu vernachlässigen. Natürlich, ausnahmslos wird das soeben Gesagte wohl kaum gelten, und es wird auch ganz gewiss unter den Ärzten solche geben, die es verstehen, eine Anstalt nach dem vorhin erwähnten Gesichtspunkt zu leiten.

Setzen wir aber nun wirklich den Fall, jeder ärztliche Anstaltsleiter wäre auch in Wahrheit ein Vater für die ihm Anbefohlenen, so würden jedenfalls die meisten von ihnen in erster Linie das körperliche Wohl ihrer Zöglinge im Auge haben, und „des Körpers Erhaltung“ wäre ihnen wie dies nach ihrem Beruf nicht anders zu erwarten ist das wichtigste, am Ende sogar das einzige. Nun geht aber die Hauptaufgabe unserer Anstalten dahin, die schwachen und in der Entwicklung zurückgebliebenen Kräfte des kindlichen Geistes zu wecken und soweit als möglich zu fördern. Wenn also des „Geistes Entfaltung“ die Hauptaufgabe unserer Anstalten ist, so folgt daraus in Bezug auf die Leitung, dass dieselbe nur einem solchen anzuvertrauen ist, dessen Beruf mit den Haupt- zwecken des Instituts am engsten zusammenfällt, und das ist niemand anders als der Lehrer, als der Pädagog. Dessen Aufgabe ist nun eine zweifache; einmal auf Grund der Physiologie und Psychologie, sowie auf Grund praktischer Erfahrungen in wissenschaftlicher Weise die Erziehung der Idioten vom päda- gogischen Standpunkt theoretisch zu bearbeiten und bestimmte, spezifische

12 Grundsätze zu suchen resp. aufzustellen, nach denen der Idiotenunterricht zu erteilen ist; zum andern nach dieser gefundenen, zum Teil noch zu findenden Methode in der Schule selbst zu arbeiten. Beides vermag der Arzt nicht.

Wohl wird er falls er Nervenarzt ist durch seine Arbeiten auf den Gebieten der Physiologie, Psychologie und Psychiatrie dem Lehrer nicht zu unterschätzendes, ja notwendiges Material zum Aufbau einer Pädagogik für Schwachsinnige liefern, aber das pädagogische System selbst wird er nicht auf- zuführen im stande sein, die Konsequenzen für den Unterricht wird er daraus nicht ziehen können, weil er eben ein Arzt und kein Pädagog ist. Und dass Pädagogik auch eine Wissenschaft ist, die sich nicht von selbst lernt, das werden wohl die Arzte anerkennen müssen.

Weil der Arzt kein Lehrer ist, darum kann er auch keinen Unterricht erteilen, ist überhaupt nicht im stande, alles das in der Praxis ein- und durchzuführen, was eine unterrichtliche Thätigkeit erfordert, sowohl im grossen ganzen als auch im einzelnen. So wird er nie einen entsprechenden Lehrplan (oder einen Stundenplan) aufstellen können, er wird nie Vorschriften und Grund- sätze, wonach in den einzelnen Fächern zu arbeiten ist, machen können, wird überhaupt nie sich anmassen wollen, in einer Schule selbst zn arbeiten.

Das haben wir auch nicht nötig, erwidern uns die Ärzte, dazu stellen wir einen Lehrer an, der die unterrichtliche Seite der Arbeit unserer Anstalt in die Hand nimmt. Ganz abgesehen nun davon, dass dadurch die Versuchung nahe liegt, der Schule statt einer primären eine sekundäre Stellung in der Anstalt zu geben, so ist dabei auch noch in Betracht zu ziehen, wie eben dadurch der Lehrer im allgemeinen und im besonderen immer wieder gebunden und gefesselt ist, so dass eine selbständige, freie Entwicklung der Unterrichtstbätigkeit aus- geschlossen sein muss.

Und weiter, würde ein derartiges Verfahren nicht den finanziellen Ruin so mancher Anstalt bedeuten? Der Arzt beansprucht doch einen recht hohen Gehalt, so dass oft für die Anstellung eines Lehrers beinahe nichts mehr übrig bleiben würde. Und was nützt ein einziger Lehrer an einer grösseren Anstalt? Wie, wenn nun aber neben dem Arzt noch mehrere Lehrer, die doch gewiss nötig sind, angestellt werden müssen: kann eine Anstalt solche Auslagen erschwingen ?

„Doch, was brauchen wir so viele Lehrer!“ so haben schon manche Ärzte gedacht. „Überhaupt ist ein seminaristisch gebildeter Lehrer für unsere Anstalten gar nicht nötig.“ Dass alle Ärzte so denken, wollen wir nun zwar nicht annehmen aber, wenn in einem Jahresbericht von einer Anstalt über 1893/94 beim Aufzählen der Angestellten folgendes zu lesen ist: „2 Ärzte und 2 Kindergärtnerinnen® und im Bericht 1894/95 „3 Ärzte, 2 Kindergärtnerinnen und 1 Lehrerin“ und das in einer Anstalt, die gegen 400 Zöglinge zählt! Was dann?!

Dass faktisch das Lehrerpersonal nur eine sekundäre Rolle spielt in solchen Anstalten, die von Ärzten geleitet werden, zeigen die Berichte der Anstalten mit ärztlicher Leitung. Dort rangiert es meist hinter dem Rechnungsführer,

13 Hausverwalter, Ökonomieverwalter und dergl. Wo ein Arzt der Leiter der Anstalt ist, ist er naturgemäss der erste Beamte, und nach ihm sollten die Lehrer kommen.

Treffend schreibt hierzu Trüper im Handbuch der Pädagogik von Rein, Bd. 5, 8. 186:

„Weitergehender und erfolgreicher sind die Ansprüche der Medizin für heil- pädagogische Anstalten gewesen. Hier berühren, ja durchdringen sich Pädagogik und Medizin und wenn irgendwo, so sind sie hier zur gegenseitigen Handreichung aufeinander angewiesen. Wenn darum Ansprüche auf der einen Seite solche der anderen nachweisbar benachteiligen oder zu nabe treten, so sollten sie um der Sache willen aufgegeben oder modificiert werden. Vorhin haben wir nun zur Genüge nachgewiesen: überall, wo es etwas im gesunden oder kranken Kindes- oder Volksleben zu entwickeln, zu pflegen, zu bilden, zu erziehen giebt, da ist die Pädagogik und nicht die Medizin autonom Und wo Krankhaftes am menschlichen Leibe zu heilen ist, da ist es die Medizin und nicht die Pädagogik. Hier liegen die Grenzen, die gegenseitig respektiert werden müssen, wie Koch es gethan hat. Die Erzieher sind darum ganz entschieden im Recht, wenn sie die Ansprüche vieler Mediziner, von Theologen oder Pädagogen gegründete Schulen und Erziehungsanstalten leiten oder in denselben autonom vorschreiben zu wollen, als Grenzverletzung zurückweisen.

Und die Ärzte sind ebenso im Recht, wenn Theologen und Pädagogen die Leitung von Anstalten beanspruchen, die für Kranke und nicht für Erziehungs- fähige bestimmt sind. Zu diesen Kranken rechne ich selbstverständlich auch die chirurgisch und medikamentös zu behandelnden Geisteskranken und er- wachsenen Epileptiker. Fraglich bleibt die Sache bei idiotischen Pfleglingen, die mehr christliche Teilnahme als Medizin beanspruchen und bei den epileptischen Kindern, bei denen quantitativ und qualitativ doch wohl die pädagogische Arbeit in Pflege, Unterricht und Erziehung die überwiegende ist, mit denen der Erzieher Tag und Nacht zusammenleben muss, während der Arzt sich mit Besuchen und einzelnes genaueren Untersuchungen begnügt. Denn die geltend gemachte Erforschung von Krankheitsursachen kann nicht die eigentliche Aufgabe eines Anstaltsarztes sein; hier hat der Universitätsprofessor seine Hauptaufgabe.

Bisher ist in den medizinischen Fakultäten aber noch ausserordentlich wenig zur Erforschung der pathologischen Ursachen abnormer Seelenzustände bei Kindern geschehen, und die Psychiatrie war bisher bei Medizinern ebensowenig ein beruflicher Prüfungsgegenstand als bei Pädagogen.

Die öffentliche Anstalt hat einen praktischen, die Klinik dagegen einen wissenschaftlichen Zweck. Auch wird einem Anstaltsarzte, der keine leitende Aufgabe hat, das wissenschaftliche Studium an den Zöglingen keineswegs erschwert“ —, im Gegenteil, möchte ich noch hinzufügen, es wird ihm dadurch sogar erleichtert.

Wie reimt sich aber mit dem bisherigen, wie auch mit der gesamten historischen Entwicklung des Idiotenwesens, dass in den Bestimmungen kun- sequent von einem „leitenden Arzt“ die Rede ist, nachdem doch die Kgl.

14 Regierung in den vorhin genannten Ergänzungen vom 24. April 1896 ihre Forderung bezüglich einer ärztlichen Anstaltsleitung zurückgenommen hatte. Wenn man übrigens auch von dieser rein wörtlichen Bezeichnung absieht, so drängt sich doch die Frage auf: Welche Stellung nimmt ein Arzt nach diesen Bestimmungen faktisch in der Anstalt ein? Hat er nicht in Wirklichkeit die ganze Anstaltsleitung in Händen, wenn ihm alle jene bezeichneten Obliegenheiten, die er zudem teilweise gar nicht oder nur oberflächlich ausführen kann, über- tragen werden ?*) Es kann naturgemäss nur einen Leiter geben, und das muss in Idioten-Erziehungsanstalten der Pädagoge sein. Die Leitung von Anstalten mit überwiegend älteren und bildungsunfähigen Idioten wird am besten in der Hand des Pädagogen sein, vorausgesetzt, dass er dirigieren kann. Jeder Anstalts- leiter, sei er Arzt, Pädagoge oder Geistlicher, muss die Befähigung zur Leitung haben; ihm muss in hohem Grade organisatorisches Talent zur Seite stehen; er muss vor allem Liebe zu den armen Schwachsinnigen haben und darf nicht bloss Pädagoge und nicht bloss Arzt sein; er muss als Pädagoge psychiatrische Kenntnisse haben, muss Fähigkeiten für Verwaltungsgeschäfte und Begabung für die Ökonomie besitzen. Ist etwa den Zöglingen unserer Anstalten durch die pädagogische Leitung ein Nachteil erwachsen? Ich glaube nicht. Selbst Pel- mann, der die Frankfurter Resolutionen meines Wissens mit unterschrieben hat, giebt dies im Vorwort zu Sollier zu. Haben etwa die durch Pädagogen geleiteten Anstalten ihre Pflichten versäumt? Ist nicht dort im Alexianerkloster der dirigierende Arzt in erster Linie verantwortlich zu machen für das, was seine Leute gethan? Warum gründen die Ärzte nicht selbst Anstalten für Schwachsinnige? Ich überlasse Ihnen, meine Herren, die Beantwortung dieser Fragen. Wenn, nach den Frankfurter Resolutionen, alle nichtärzt- lichen Anstaltsleiter durch Mediziner ersetzt werden sollen, so finde ich keine andern Motive hierzu, als diejenigen, welche der Wiesbadener Ärzte- tag in diesem Jahr gegen das Studium der Medizin seitens der Frauen vorbrachte, und das waren und hierin befinden wir uns in Übereinstimmung mit einem Leitartikel des „Rheinischen Kuriers* über genannten Ärztetag rein subjektive, die einer objektiven Beurteilung nicht im mindesten Stich hielten und von einem geradezu krassen und unverzeihlichen Siandes- und Berufsegoismus zeugten, dem es nur um das Brotinteresse des eigenen Ichs, nicht aber um das Wohl der allgemeinen Menschheit zu thun ist. Trüper sagt in dem vorhin genannten Artikel im Handbuch von Rein Seite 187: „Wir müssen es im Interesse dieser Unglücklichen bedauern, dass selbst ein Ministerium für geistliche, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten wie das preussische, sein Gehen- und Geschehenlassen von Zuständen wie in Mariaberg und in anderen mittelalterlich eingerichteten Anstalten der wissenschaftfeindlichen Klerikalen dadurch wett- machen wollte, dass es den christlichcharitativen und pädagogischen Momenten in der Anweisung vom 20. September 1895 über die Aufnahme und Entlassung von Geisteskranken, Idioten und Epileptischen in und aus Privat-

*) Ich verweise auf den Artikel: „Wo stehen wir?“ Zeitschrift, Jahrg. 1896, Beite 93.

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Irrenanstalten und in den Verordnungen zur Ausführung derselben seitens einzelner Regierungen ebenfalls so wenig Rechnung trug, anstatt dafür zu sorgen, dass an den Universitäten wie an den Lehrerbildungsanstalten im 4. Jahrhundert nach Comenius die Pädagogik endlich ihre vollgiltige und naturgemässe Pflege auch als Heilpädagogik findet.“

Meine Herren! Die zweite Forderung wird also die sein, die Hohe Kgl. Regierung zu ersuchen, sowohl in den Bestimmungen wie in separaten Zuschriften an einzelne Anstalten den Wortlaut „der leitende Arzt“ durch Hausarzt, Anstaltsarzt etc. zu ersetzen und die dem Anstaltsarzt zufallenden Obliegenheiten zu modifizieren. Ich habe dies zur Genüge in dem Artikel „Wo stehen wir?“ auszuführen versucht und verzichte heute, nochmals darauf einzugehen.

Nun komme ich zu einer dritten Forderung. Sie betrifft nicht die Anstalten oder die Behörden; sondern sie geht uns an. |

Unser Bestreben muss sein, die Unterrichtsarbeit noch mehr als bisher in den Vordergrund zu rücken, und dadurch die Erziehungsthätigkeit der Anstalten in den Augen der Öffentlichkeit und namentlich der Mediziner zu heben. Erst wenn wir soweit sind, dass auch diese die Leistungen und Arbeiten der Pädagogen auf dem Gebiete der Idiotenerziehung anerkennen müssen, erst dann werden wir unsere gerechten Wünsche auch mit Erfolg geltend machen können.

Sorgen wir dafür, dass unsere Lehrer durch ein hingebendes Studium der Psychologie, der Physiologie und besonders auch der Geschichte des Idioten- wesens jene Grundlagen sich aneignen, welche absolutes Erfordernis zum ziel- bewussten Unterrichten und Erziehen sind.

Die Psychologie muss dem Idiotenlehrer noch mehr als jedem andern Lehrer Weg, Mittel und Ziel der Bildung seiner Schüler zeigen. Die Physiologie der Sprachwerkzeuge befähigt denselben, einen rationellen Sprechunterricht bei unsern Anfängern, unter denen sich gar häufig Stammler, Stotterer, ja Taubstumme finden, zu erteilen, und ein gründliches Studium der Geschichte des Idiotenwesens zeigt ihm, wie zu andern Zeiten und an andern Orten diese Aufgabe angefasst und zu lösen versucht wurde.

Solche Studien erweitern den Gesichtskreis, klären das Urteil und erhöhen die aufopfernde Begeisterung für die Arbeit auf unserem Felde.

Das Ideal wäre wohl, unsern Lehrern eine spezielle Vorbildung zu geben. Der ebenso schöne als berechtigte Wunsch, besondere Vorbereitungskurse für unsere Anstaltslehrer einzurichten, wird leider in nächster Zeit nicht in Erfüllung gehen. Ebenso werden besondere Prüfungen für Idiotenlehrer, wie sie die preussischen Taubstummenlehrer haben, noch lange auf sich warten lassen. Aber wir haben beides anzustreben. Gewiss ruft uns Pestalozzi nicht umsonst zu: „Bleibt nicht stehen. Fortschreiten vom Schlechten zum Guten, vom Guten zum Besseren und Vollkommenen das verlangt des Lehrers Beruf.“

Jetzt schon können wir in Konferenzen des Lehrerkollegiums Fragen der Erziehung und des Unterrichts erörtern.

' Wir können in grösseren Anstalten regelmässig wiederkehrende

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Unterrichtsproben, bei welchen das ganze Lehrerkollegium anwesend ist, abhalten und dieselben einer Diskussion unterziehen.

Unsere jüngeren Lehrer haben in bestimmten Zwischenräumen, etwa jährlich einmal, schriftliche Arbeiten über Themen aus unserem Spezialfach bei dem Direktor einzureichen.

Wir müssen aber auch unsern Lehrern Gelegenheit bieten, geeignete Anstalten besuchen zu können, indem wir ihnen neben dem nötigen Urlaub auch einen entsprechenden Beitrag zur Bestreitung der entstehenden Auslagen gewähren. Nicht die Menge der besuchten Anstalten bürgt für einen erspriesslichen Erfolg, sondern ein längeres Verweilen in einer hierzu geeigneten Anstalt, weil sich nur dann der Hospitierende in die Unterrichts- und Erziehungsverhältnisse derselben griindlich einleben kann.

Vor einem grossen Fehler, meine Herren, möchte ich Sie hier noch warnen. Es ist dies die Sucht, grosse Anstalten schaffen zu wollen. Achten wir doch darauf, dass unsere Institute keine zu grosse Ausdehnung nehmen, weil dadurch die pädagogische Aufgabe der Anstalten notwendig in den Hintergrund gedrängt und den Ansprüchen der Ärzte auf die Anstalten in die Hände gearbeitet würde.

Ich fasse zum Schlusse nochmals folgende Punkte zusammen:

1. Wir müssen verlangen, dass die Schwachsinnigen mit den Irren nicht in gleiche Linie gestellt, sondern als eine besondere Klasse der leidenden Menschheit behandelt, und nicht bloss der Medizinalbehörde, sondern der Medizinal- und der Provinzial-Schulbehörde unterstellt werden. Das Idioten- wesen hat sich jetzt soweit entwickelt, dass wir diese Forderung mit Recht geltend machen können.

2. Die Besuchskommission soll nicht bloss aus Medizinal- und Verwaltungs- beamten bestehen, sondern es soll auch ein Pädagoge hinzugezogen werden.

3. Der Leiter einer Anstalt für erziehbare Idioten sei unter allen Umständen ein Pädagoge.

4. Wir handeln gegen unsere Interessen und arbeiten den Ärzten in die Hände, wenn wir

a) unsere Anstalten in zu grossem Umfange ausbauen und deshalb

b) über den Geschäften der Verwaltung die Pflichten und das Interesse

der Schule gegenüber vernachlässigen.

Debatte. Anstaltsdirektor Dr. Buttenberg: Ich möchte an den Referenten die Anfrage richten, welche Anstalt er meint, als er sagte, im Jahresberichte einer Anstalt sei beim Aufzählen der Angestellten zu lesen: „2 Ärzte und 2 Kinder- gärtnerinnen“ und dann „8 Ärzte, 2 Kindergärtnerinnen und 1 Lehrerin‘. Freiburg?

Referent: Allerdings ist Freiburg damit gemeint.

Anstaltsdirektor Dr. Buttenberg: Die Freiburger Anstalt ist keine Idiotenanstalt, sondern eine Heil- und Pflegeanstalt; es werden hauptsächlich Epileptiker, Idioten höheren Alters und nur ein kleiner Teil jüngerer Idioten aufgenommen. Wir bedürfen besonders ärztlicher Pflege, die Pädagogik kommt erst in zweiter Linie. Da genügen

17 nach meiner Meinung 1 Lehrerin und 2 Kindergärtnerinnen. Wenn die Kinder besser, bildungsfähiger werden, kommen sie in andere Anstalten, z. B. nach Leschnitz. Direktor P. Bernhard: Die Beschwerden, welche der Referent vorgebracht hat, sind wohlbegründet. Die Anstalten sind durch die erwähnte Verordnung in jeder Be- ziehung bedrängt, über manche Anstalt ist dadurch eine recht schwere Sorge ge- kommen. Wer ist zur Verwaltung, Leitung einer Anstalt geeignet? Ich habe von jeher betont, die Verwaltung einer soichen Anstalt kann von einem Pädagogen, Geist- lichen, aber auch von einem Arzte geschehen. Es sind Verwaltungsgaben, welche nötig sind, um eine Anstalt wirklich zu leiten und auch in schweren Zeiten finanziell aufrecht zu erhalten. Wer diese Gabe hat, mag ein solches Amt annehmen, wer nicht, der wird dabei zu Grunde gehen, und die Anstalt wird Schaden nehmen. Wir können uns nicht gefallen lassen, dass von seiten der Ärzte unsere Arbeiten als ihre Domäne in Anspruch genommen werden. Durch mannigfache Verordnungen ist eine gewisse Ordnung eingetreten. Wir müssen aber ernstlich darauf bedacht sein, dass man uns nicht noch mehr nimmt als bisher geschehen. Ich habe von Anfang an angenommen dass ein leitender Arzt nur in Bezug auf die Krankenpflege die Leitung haben soll. In Kückenmühle haben wir es so, dass die administrative Funktion, die Schule, die Seelsorge nicht Sache des Arztes sind. Reibungen werden nicht zu vermeiden sein wenn nicht beide Seiten ernstlich bemüht sind, das zu unterlassen, was nach Über griffen aussehen kann. Von den 59 Anstalten in Deutschland sind nur eine kleine Anzahl öffentliche Anstalten, die meisten sind von der christlichen Liebesthätigkeit gegründet und unter grossen Opfern an Geld, Kraft und vielen Mühen über Wasser gehalten worden. Es wäre ein Unding, wollte man diese nun einfach an die Wand drücken. Den christlichen Charakter unserer Anstalten wollen wir auch wahren. Dies ist auch der Grund, dass wir als Geistliche eintreten, dass unsere Anstalten nicht einfach als Erziehungsanstalten angesehen werden. Eine grosse Anzahl von ihnen sind zugleich Pflegeanstalten. Wir wissen, dass viele von unseren Zöglingen weder durch Eingriffe des Arztes, noch durch den Schulunterricht vorwärts gebracht werden können. Bei vielen ist nichts weiter möglich, als ihnen eine Heimstätte zu bereiten, in welcher sie sich wohl fühlen und Frieden finden für ihre Seele. Kreisschulinspektor Weichert: Ich möchte zunächst bekunden, dass zu meiner Freude die Provinzialverwaltung in Schlesien ganz auf dem Boden von 1893 steht. Ich stehe auf dem Standpunkt: Ist die Anstalt eine Pflegeanstalt, so wird ein prak- tischer Mann nötig sein, sei es ein Pädagog, Arzt etc. An die Spitze der Erziehungs- anstalten gehört der Pädagog, wo aber vorzugsweise Epileptische, Kranke sind, soll der Arzt die Leitung haben. Die Herren Ärzte werden es nicht übel nehmen, wenn die Vorredner etwas deutlich geworden sind. Das hat seinen Grund in den all- bekannten Beschlüssen und in den Folgen derselben. Ich bin selbst sehr angegriffen worden, weil ich in Heidelberg gesagt habe: „Unsere Zeit steht im Zeichen über- triebener Humanität*. Ich stehe heute noch auf demselben Standpunkte. Das ist es aber nicht, was mich veranlasste, das Wort zu ergreifen. Die Herren Kollegen werden mir zustimmen, dass die Bestimmungen uns eine grosse Bürde aufgetragen haben durch die vielen Berichte. Wir müssen dahin wirken, dass diese Belastung von uns genommen wird. Dann sollen wir für unsere Kinder einen Luftraum von 27 cbm

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schaffen. Woher bekommen wir denn unser Material? Unsere Kinder haben vielleicht früher in einem Raume gelebt, der kaum gedielt ist und in dem Vater, Mutter, eine grosse Anzahl Kinder, wohl auch noch die Hühner sich aufgehalten haben. Für solche Kinder sind unsere Anstalten, wenn sie auch nicht ganz den vorgeschriebenen Luftraum haben, immer noch Wohlthätigkeitsanstalten und heilwirkend. Ich meine, auch nach dieser Seite müssen wir etwas thun. Die Herren Minister haben schon einen grossen Teil der Bestimmungen zurückgezogen, bald werden wir nicht wissen, was vom Gesetz eigentlich übrig geblieben ist.

Referent: Ich habe die Details absichtlich übergangen, um den Geist der Bestimmungen im grossen ganzen zu charakterisieren.

Arzt Dr. Freisel: Meiner Ansicht nach liegt der Fehler darin, dass nicht genügend definiert worden ist, der Begriff Idioten ist nicht bestimmt abgegrenzt worden. Man möge trennen. Die Verwaltung einer Anstalt muss in den Händen eines prak- tischen Mannes liegen, das braucht kein Pädagoge, Geistlicher oder Arzt zu sein. Die Ärzte in den Erziehungsanstalten, welche pädagogischen Charakter haben, sollen den Namen Anstaltsarzt führen. Sie haben nur über die Krankheiten zu bestimmen, müssen aber ebenfalls den Pädagogen die Hand reichen, wenn etwas Gedeihliches erzielt werden soll. Der Streit zwischen Ärzten und Pädagogen führt zu nichts; er geht auf beiden Seiten zu weit. Fernerhin will ich noch bemerken: wenn der Arzt in Berück- sichtigung der pädagogischen Verhältnisse und aus Liebe zu diesen Wesen sich befleissigt, den geistigen Zustand zu beobachten und ein Kind in pädagogischer Weise zu beschäftigen sucht und besonders, wenn er im Verein mit dem Lehrer vorgeht, kann er sehr viel schaffen.

Direktor Trüper: Ich bin dem Vorredner dankbar und stimme ganz mit ihm überein. Wir haben ein Gebiet, wo nicht einer allein sprechen kann. Hier berührt das Gebiet der Erziehung das der medizinischen Heilpflege. Beide müssen zusammen- wirken, Hand in Hand gehen. Wirken sie nicht zusammen, sondern gegen einander, so schaden sie der Sache. Wenn man aber die Sache aufbauscht zu einer sozialen Frage der Stände, so kommen die traurigen Differenzen der letzten Jahre. Dieser widerwärtige Streit hat noch eine andere Ursache, die etwas weiter geht. Es ist von den Ärzten manchmal mit vollem Recht Klage erhoben worden gegen Missstände in Schulen, Erziehungsanstalten und vor allem in gewissen Heil- und Pflegeanstalten. Der Prozess Mellage hat uns darüber aufgeklärt. Aber folgt nun daraus, weil irgendwo ein Missstand ist, dass nun segensreiche Institutionen über Bord zu werfen sind? In ärztlich geleiteten Anstalten ist erzieherisch und seelsorgerisch, ja auch pflegerisch nicht immer alles in Ordnung. Folgt daraus, dass nun ein anderer Berufs- stand die Krankenhäuser leiten und die Ärzte beaufsichtigen muss? Keineswegs. Das sind nicht die Konsequenzen, sondern man zeige, wo etwas zu bessern ist und helfe dienend bessern. Und dann noch eine tiefere Ursache. Woher kommen die Miss- stände, die man den Pädagogen zuschreibt? An der Universität Breslau sind gewiss 24 Lehrstühle für Medizin. Ich glaube nicht, dass die Universität Breslau einen einzigen Lehrstuhl für Menschenerziehung hat. Hierher kommt auch die Missachtung der pädagogischen Arbeit. Die Mediziner, welche nur die Sache im Auge haben, sollten darum vor allem auf eine bessere Pflege der pädagogischen und damit auch der heil- pädagogischen Wissenschaft an der Universität dringen. Medizin, Pädagogik und Seel-

19 sorge müssen sich innig durchdringen, sonst kommt ein immer tieferer Spalt in unser Volk. Wenn wir zusammenarbeiten, dann werden wir uns auch besser verstehen. Darum bitte ich, Beschlüsse in diesem Sinne zu fassen. Dass in der Aufsichts- kommission fir heilpädagogische Anstalten in erster Linie ein tüchtiger Pädagoge sein muss, ist doch etwas ganz Selbstverständliches.

Direktor P. Bernhard: Ich darf nicht unwidersprochen lassen, was eben gesagt worden ist, nämlich, dass eine gewisse Berechtigung nach den Vorfällen in Mariaberg vorhanden gewesen wäre, einzuschreiten. Ich muss aber sagen, diese Anfeindungen, die unsere christlichen Anstalten erfahren, kommen nicht erst von dieser Zeit her, sondern datieren viele Jahre zurück. Es giebt öffentliche Anstalten, die sehr traurige Vorfälle zu verzeichnen haben. Es ist auch gewiss, dass auch in unseren Anstalten manches veränderungsbedürftig ist. Das wird so bleiben, so lange Anstalten bestehen, und es wird auch nicht besser werden, wenn man die Anstalten plötzlich in andere Hände geben würde. Bei der grossen Revision im Jahre 1895 ist durchaus nichts gefunden worden, was berechtigte zu sagen, die Anstalten müssten anders organisiert werden.

Kreisschulinspektor Weichert: Es liegt uns daran, die harten und unpraktischen Bestimmungen des Gesetzes vom Jahre 1895 zu beseitigen. Ich bitte darum, die all- gemeine Diskussion zu verlassen und zu einem einzelnen Antrag überzugehen. Ich beantrage:

„Es ist erforderlich, dass in den Besuchs- oder Revisionskommissionen . für die Idioten- und Epileptikeranstalten ein Vorsteher dieser Anstalten hinzugezogen wird.*

Begründung: Die Besuchskommissionen bestehen gegenwärtig aus einem Ver- treter der königlichen Regierung, in der Regel einem Oberregierungsrat, einem Me- dizinalrat der betreffenden Regierung und aus einem Arzt der Irrenanstalt. Ich möchte nun bitten, dass die heutige Versammlung beschliesst, an Stelle des Leiters einer Irrenanstalt den Leiter einer Epileptiker- oder Idiotenanstalt aufzunehmen. Die Irrenanstalten verfolgen doch andere Zwecke als wir, auch ihre Einrichtung ist anders als in unseren Anstalten. Der Leiter einer Irrenanstalt kann unsere Verhältnisse nicht in objektiver Weise beurteilen, die Irren sind Kranke und werden demgemäss behandelt. Unsere Kinder aber wollen frei umherlaufen, sie sind oft Rangen der schlimmsten Sorte. Was ein schwachsinniges Kind fertig bringt, bringt ein vollsinniges nicht zu stande. Demnach werden unsere Anstalten nicht in dem glänzenden Lichte er- scheinen als die Irrenanstalten, wo eine solche Freiheit nicht herrscht als bei uns. Ich glaube daher, es ist praktisch, wenn in die Kommissionen ein Leiter einer Idioten- oder Epileptikeranstalt aufgenommen wird. Den Referenten bitte ich, von seinem Antrage, das ganze Gesetz aufzuheben, abzusehen. Wir wollen versuchen, stückweise das aus dem Gesetz herauszubekommen, was uns noch hinderlich ist.

Direktor P. Bernhard: Ich glaube, wir finden vorläufig noch nicht die nötigen Herren, die das Amt eines Kommissars übernehmen können.

Vorsitzender Erziehungsinspektor Piper: Wir können den Antrag zur Abstimmung bringen. Ich möchte noch hinzufügen: pädagogischer Vorsteher.

Pastor v. Gerlach: Die Hauptsache ist, dass der hinzuzuziehende Herr Bescheid

20 weiss mit der Leitung einer Idioten- oder Epileptikeranstalt. Ob der Herr ein Arzt oder ein Pädagog ist, ist gleichgiltig. Vorsitzender Erziehungsinuspektor Piper: Ich bringe den Antrag zur Abstimmung. Angenommen. Sind noch weitere Anträge oder Fragen zu stellen? —- Es geschieht nicht. Ich schliesse die Nebenversammlung. (Fortsetzung folgt.)

Mitteilungen.

Dresden. (Jubiläum.) Wie schon in Nr. 8 vom vorigen Jahrgange kurz angezeigt wurde, beging die Schrötersche Erziehungsanstalt für geistig Zurückgebliebene am 2. Dezember v. J. das Fest ihres 25 jährigen Bestehens. Aus nah und fern liefen zahlreiche Briefe und Telegramme ein, welche alle herzliche Glückwünsche und Zeichen liebevoller Anerkennung enthielten. Nicht nur die Eltern der früheren und jetzigen Zöglinge hatten sich dieses Ehrentages der Anstalt erinnert, sondern auch die städtischen und Schulbehörden, der Kirchenvorstand, Schulen, Vereine und einzelne Freunde der Anstalt brachten durch Deputationen oder persönlich ihre Wünsche dar. Für sämtliche Bewohner der Anstalt gestaltete sich der Tag zu einem Tag hoher Freude. In Fahnenschmuck und in einem besonderen Festkleide prangte die Anstalt an diesem Tage. Der Speisesaal, der Treppenaufgang, die patriotischen Bilder des Andachtssaales waren mit bunten Stoffen und grünen Zweigen auf das Geschmackvollste dekoriert. Der Tag wurde mit einer ernsten Feier eingeleitet. Nach dem Gesange eines Lob- und Dankliedes hielt der Gründer und Leiter der Anstalt, Stadtrat Direktor W. Schröter, eine Ansprache, in welcher er über die Gründung und Entwickelung seiner Anstalt sich verbreitete und die Gefühle zum Ausdruck brachte, welche: ihn, seine Familie und wohl alle Bewohner der Anstalt an diesem Tage beseelten. Ein Knabe trug hierauf in gebundener Rede die Glückwünsche der Zöglinge vor. Im Namen des Lehrerkollegiums, des Pflege- und Hauspersonals sprach der erste Lehrer der Anstalt dem Direktor und seiner Gemahlin für das fernere Gedeihen der Anstalt die herzlichsteu Glückwünsche aus. Mit Dankesworten von seiten des Direktors und dem Gesange eines Schlussverses endete die Feier. Der ganze Tag erhielt bei jeder Gelegenheit ein besonderes fest- liches Gepräge. Das Mittagsmahl war zu einem Festmahl umgestaltet; beim Kaffee fehlte natürlich auch der Festkuchen nicht. Für die Zöglinge war die am Abende veraustaltete fröhliche Festlichkeit gewiss die schönste. Hier zeigten dieselben, dass auch sie regen Anteil an der Festfreude nahmen. Schon seit Wochen waren sie eifrig thätig mit dem Einüben und Einlernen von Gedichten und verschiedenen Dar- stellungen. Wie freudig strahlten ihre Gesichter, wenn sie ihr Verschen hersagen oder ihre mühsam gelernten Reigen und einfachen Tänzchen in bunten Kostümen unter dem lauten Beifall ihrer Kameraden und der übrigen Zuschauer vortragen, ja oft wiederholen durften. Als endlich die Aufführungen sich ihrem Ende näherten, bot der Saal ein recht buntes Bild. Hier lagerte eine Schar Knaben und Mädchen als Zigeuner und Zigeunerinnen verkleidet, dort hüpften kleine Neger umher, in jener Ecke unterhielten sich drei muntere Jäger, welche vergeblich den weissen Hirsch zu

erjagen suchten. Ein Bär und mannigfache andere Kostümierungen vervollständigten das Ganze, Zur allgemeinen Freude verliefen die Vorführungen, die für die Zöglinge gewiss unvergesslich sein werden. Später als sonst, aber noch viel zu früh schlug die Stunde des Zubettegehens. Der folgende Tag war nicht sofort ernster Schularbeit gewidmet, sondern wurde als zweiter Festtag behandelt.

Leschnitz, 0.- Schi. (Personalien.) Anstaltslehrer Fr. Frenzel ist am 1. Januar 1899 als Lehrer an die Königl. Erziehungsanstalt zu Wabern (Bez. Cassel) berufen worden.

Gotha. (Einweihung der Herzogin-Marien-Stiftung.) Am 14. August V. J. wurde hier die neuerbaute Idiotenanstalt Herzogin-Marien-Stiftung* feierlich eingeweiht. Dieses Erziehungs- und Pflegeheim für Schwach- und Blöd- sinnige aus den Herzogtümern Coburg und Gotha steht unter dem Protektorate Ihrer Kaiserl. und Königl. Hoheit der Frau Herzogin von Sachsen - Coburg-Gotha, welche auch die erste Anregung zu diesem Werke echter, edler Menschenliebe gab. Bei einem Besuche der hiesigen Marienpflege hatte die hohe Frau nämlich ein im höchsten Grade blödsinniges Kind beobachtet und ihrem Erstaunen darüber Ausdruck gegeben, dass in den beiden Herzogtümern noch keine Idiotenanstalt vorhanden sei. Sogleich stiftete sie 10000 Mark als Grundkapital zur Errichtung einer solchen Anstalt. Nun wurde flott an der Verwirklichung dieser schönen Idee gearbeitet, Es bildete sich zu diesem Zwecke ein Verein, dessen Mitgliedschaft durch Zahlung eines Jahres- beitrages von zwei Mark zu erwerben war. Aus Mitgliederbeiträgen und Stiftungen wohlthätig gesinnter Gönner erstand eine Einnahme von 20 000 Mark; aus Coburg kamen 5000 Mark, Wohlthätigkeitsvorstellungen im Herzogl. Hoftheater ergaben einen Reinertrag von 15 000 Mark; dazu bewilligte der Landtag ein unverzinsliches Dar- lehen von 56 000 Mark, so dass wir mit einem Kapital von über 100 000 Mark mit dem Bau beginnen konnten, zumal die Stadt Gotha ein 1 Hektar grosses Grundstück unentgeltlich zur Verfügung stellte und für Wegebauten, Zuführung der elektrischen Beleuchtung u. 8. w. zu sorgen versprach. So entstand unsere Anstalt, welche zunächst für 36 Zöglinge berechnet ist. Rings von Hof- und Gartenflächen umgeben, erhebt sich das in Backstein-Rohbau errichtete Hauptgebäude, während weiter rück- wärts ein dem Landwirtschaftsbetrieb dienendes kleines Wirtschaftsgebäude erbaut ist. Das Hauptgebäude bietet im Erdgeschoss Raum für 18 Mädchen und im ersten Stock für 18 Knaben. In jedem Stockwerk sind die Wohn- und Schlafräume der Vollidioten von denen der Halbidioten getrennt. In jedem Stock ist ein Bade- und Ankleidezimmer eingerichtet. Nach Süden zu gelegene geräumige und gegen die Einwirkung des Windes geschützte Veranden ermöglichen den Pfleglingen, welche selbst nicht zu gehen im stande sind, den Aufenthalt im Freien und gestatten auch den übrigen Blöden den Genuss frischer Luft zu Zeiten ungünstiger Witterung. Das Erdgeschoss enthält ausser den Wohn- und Schlafräumen für die Blöden noch ein Speisezimmer und einen Unterrichtssaal, während über diesen Räumen im ersten Stock die Wohnung des Hausvaters ihre Stätte gefunden hat. Das Souterrain enthält die Küche, welche mit dem Speisesaal durch einen Aufzug verbunden ist Vom Küchenherd aus wird eine Warmwasserheizung betrieben, welche die Bäder mit warmen Wasser versorgt. In diesem Geschoss sind ferner die übrigen Wirtschafts-

22 und Kellerräume, sowie der Heizraum für die Niederdruckdampfheizung untergebracht, welche das ganze Gebäude zu heizen bestimmt ist. Besonders erwähnenswert erscheint ein sinnreich eingerichteter Wäschetrockenapparat, welcher bei ungünstiger Witterung die Wäsche möglichst rasch und sicher trocknet. Im Dachgeschoss sind zwei Krankenzimmer, sowie die Wohnräume für das Wärter- und Dienstpersonal und eine Anzahl Vorratsräume eingerichtet. Es bedarf kaum hervorgehoben zu werden, dass das neue Anstaltsgebäude in allen seinen Teilen nach den strengsten Regeln der Hygiene erbaut und mit Zentralheizung, Ventilation und elektrischer Beleuchtung ver- sehen worden ist. Ausgehend von dem Grundsatze, dass der Unterricht der zum Teil noch bildungsfäbigen Idioten in die Hand eines erfahrenen Pädagogen gelegt werden muss, eines Lehrers, der neben einer eingehenden Kenntnis der Methode des Idioten- unterrichtes auch besonders mit der Beseitigung der gerade bei diesen Kindern so häufig vorkommenden Sprechgebrechen völlig vertraut ist, wurde die Unterweisung dem Hilfsschulleiter E. Glaser mit übertragen. Ihm stehen der Hausvater und eine Wärterin als Hilfskräfte zur Seite, welche nach seinen Anordnungen mit unterrichten. (? D. Schrftltg.) Für später ist die Anstellung eines besonderen Lehrers vorgesehen. Die Direktion wurde Herrn Hofprediger Dr. Scholz übertragen. Am Tage der Einweihung betrug die Zahl der aufgenommenen Zöglinge dreizehn. Die Einweihungs- feier selbst gestaltete sich nach Lage der Verhältnisse zu einer ernsten, erhebenden. Nachmittags 2 Uhr versammelten sich die Mitglieder des Komitees zu einer kleinen Vorfeier, in welcher der Vorsitzende des Vereins, Herr Staatsrat Schmidt, allen denen, die bisher ihre Zeit und Kraft in uneigennützigster Weise zur Verfügung gestellt hatten, den wärmsten Dank aussprach und im Auftrag Sr. Königl. Hoheit des Herzogs Herrn Baurat Bergfeld für die umsichtige Leitung während des Baues das Ritterkreuz II. Klasse überreichte. Währenddessen hatten sich die geladenen Gäste mit ihren Damen im Speisesaal versammelt. Um 3 Uhr traf die Frau Herzogin, vom Schlosse Reinhardsbrunnen kommend, ein, um der Einweihungsfeier beizuwohnen. Die Feier selbst wurde eingeleitet durch einen Gesang des Seminarchors und ein Gebet des Hofpredigers Dr. Scholz. Die Festrede hielt Herr Staatsrat Schmidt. Auf die eigentliche Eröffnungsfeier folgte eine eingehende Besichtigung sämtlicher Anstalts- räume, und die Frau Herzogin sprach sich fortgesetzt lobend und anerkennend über das gediegene Äussere sowohl, als auch über die prächtige innere Ausstattung ans. Möge die Anstalt das werden, was sie verspricht, ein wahres Unterkunfts-, Pflege- und Erziehungsheim für unsere armen Idioten.

Scheuern. (Idiotenanstalt) Herr Direktor Horny ist mit dem 1. Oktober v. J. in den Ruhestand versetzt. Montag, den 3. Oktober, fand der Abschied des- selven und zugleich die Einführung des neuen Leiters, Herrn Direktors Bauer aus Hamburg (Rauhes Haus), in Gegenwart des Gesamtvorstandes, der Hausgemeinde und einer grossen Anzahl von Gästen statt. Die Feier wurde durch Herrn Pfarrer Anthes-Nassau mit Gesang, Schriftverlesung (Psalm 100) und Gebet eröffnet. So- dann hielt der Vorsitzende des Vorstandes, Herr Pfarrer Voemel-Ems eine ergreifende Abschieds- und Begrüssungsrede, in welcher er unter Zugrundelegung entsprechender Bibelworte der Verdienste des scheidenden, verdienstvollen Direktors Horny gedachte, demselben für seine liebevolle, aufopfernde 36jährige Thätigkeit als Leiter der Idioten-

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anstalt dankte und der von Sr. Majestät empfangenen Auszeichnungen erwähnend, ihm einen heiteren Lebensabend wünschte. Sodann begrüsste er im zweiten Teile seiner Rede den anziehenden Direktor, Herrn Bauer, indem er denselben willkommen hiess und ihn des entgegengebrachten Vertrauens seitens des Vorstandes versicherte und ihn ermunternd aufforderte, auf Gott vertrauend, das schwere Amt als Leiter der Anstalt, das durch den Vorgänger begründete Werk weislich weiter zu führen. In demselben Sinne verabschiedeten und begrüssten andere Vorstandsmitglieder die beiden Hauselternpaare. Hiernach dankte Herr Horny für all das empfangene Gute, für die viele Liebe und für alles Wohlwollen, das ihm von allen Seiten entgegengebracht worden sei. Darnach bat Herr Bauer den Vorstand, er möge ihn bei der Leitung seines schweren Amtes unterstützen, er komme mit dem besten Willen, unter Gottes gnädigem Beistande sein Werk zu führen. Mit Gebet und Danksagung des Herrn Pfarrers Lehr-Frücht wurde die Feier geschlossen. Herr Horuy nimmt seinen Wohnsitz hier in Nassau und beabsichtigt, seine in der Idiotie gemachten Erfahrungen niederzuschreiben und zu veröffentlichen.

Litteratur.

Die Hilfsschulen Deutschlands und der deutschen Schweiz nebst einem Anhange betr. die Hilfsschulen in Rotterdam, Wien und Christiania am Anfang des Jahres 1898. Ein Beitrag zur Statistik des Hilfsschulwesens, zusammengestellt von A. Wintermann, Leiter der Hilfsschule in Bremen. Langensalza, Herm. Beyer & Söhne. 1898.

Die vorliegende sehr verdienstvolle Zusammenstellung der Hilfsschulen ist ähnlich der in früheren Jahren erschienenen Zusammenstellung der Idioten- anstalten von H. Sengelmann. Wie inbetreff dieser Zusammenstellung aber die tabellarische Form bald verlassen wurde, so empfehlen wir ein gleiches Verfahren auch dem Herausgeber der Zusammenstellung der Hilfsschulen. Die Tabellenform hat zwar manches für sich, ist aber vor allem nicht handlich und erschwert die Benutzung. Verschiedene Stichproben, welche wir mit der Zusammenstellung vornahmen, liessen mancherlei Ungenauigkeiten zu Tage treten, die bei einer 2. Auflage leicht vermieden werden können. Auch möchten wir empfehlen, bei derselben dem Titel gemäss sich nur auf die wirklichen Hilfsschulen zu beschränken. M.

Der Sprechorganisınus, die wichtigsten Sprechfehler (Stottern und Stam- meln) und deren Heilung durch die Schule. Ein Hilfsbuch in der Anthropologie und Lautlehre für Lehrer und Seminaristen von Julius Scharr. Mit 25 Ab- bildungen im Texte. 100 S. Wien und Leipzig 1897. Verlag von A. Pichlers Witwe & Sohn. Preis Mk. 1,50.

Der Verfasser, städtischer Lehrer und Lehrer für Sprachstörungen in Magde- burg, hat seinen beiden Werken: „Die Behandlung Stotternder* und „Prak- tisches Übungsbuch fir Stotternde*, welche sich eines guten Rufes erfreuen, ein neues unter dem obigen Titel folgen lassen. Das Buch bietet das Notwendigste aus der Anatomie und Physiologie der Sprachwerkzeuge und das Wichtigste aus der Sprachheilkunde; zur weitern Vertiefung und für ein eingehendes Studium dieser

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Wissenschaften sind am Schlusse des Werkes in dem Litteraturverzeichnisse ver- schiedene Schriften und Hilfsmittel genannt, die zu den besten Erscheinungen ge- hören. Im grossen und ganzen bezweckt der Autor mit seinem Buche dasselbe, was A. Gutzmann in seiner Arbeit: „Die Gesundheitspflege der Sprache” etc- bietet, die wir in Nr. 3 unserer Zeitschrift 1898 besprochen haben. Obwohl der Verfasser stellenweise nur aphoristische Andeutungen, z. B. über die Aphasie bringt, so dürfte doch seine Schrift wegen der Vielseitigkeit des Dargebotenen und der durchaus praktischen Ratschlage allen, die sich mit sprachgebrechlichen Kindern zu beschäftigen haben, sehr zu empfehlen sein. Die deutlichen Abbildungen erhöhen den Wert des Buches nicht unwesentlich; es wird gewiss gute Dienste leisten und vielen Nutzen schaffen, Frenzel-Wabern.

Die Behandlung stotternder Schüler von M. Fack. (Pädagogisches Magazin, Heft 43.) Langensalza. Beyer & Söhne. 1897.

Der Verfasser giebt in vier Absohnitten Belehrungen über die Symptomatologie, Ätiologie, Therapie und Prognose des Stotterns und beantwortet dann zum Schlusse die Frage: Wie sollen die Stotterer in der Schule behandelt werden? Trotz des geringen Umfanges bietet die Arbeit doch alles Nötige für eine erfolgreiche Behandlung des Stotterübels und macht den Leser auch damit bekannt, was Sachkundige über das Stottern und dessen Heilung denken. Im übrigen ist auch das Schriftchen dazu ge- eignet, weitere Anregung für das Studium der Sprachheilkunde zu erwecken und zu diesem Zwecke die nötigen Vorkenntnisse zu vermitteln. Lehrer an Idiotenanstalts- schulen können das Büchlein für die Behandlung ihrer stotternden Zöglinge ebenfalls mit Vorteil verwerten.

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Imhalt. Der Artikulations-Unterricht bei geistesschwachen Kindern (Fr. Frenze)). Bericht über die IX. Konferenz (Müller.) Mitteilungen. Litteratur. Zur Beachtung. Briefkasten.

Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. Druck von Johannes Pässler in Dresden.

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Nr. 2., | XV. (IL) Jahrg.

"Zeitschrift

für die

Behandlung Schwachsimmger und Epieptischer.

Organ der Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen herausgegeben von i W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth,

Direktor der Erziehungsanstalt Spezialarzt für geistig Zurtickgebliebene in für Nervankrankheiten Dresden -N. in Stuttgart. Erscheint jährlich In 182 Nummern von Zu beziehen durch alle Buchhandlungen

mindestens einem Bogen. Anzeigen für und Postämter, wie auch direkt von den die gespaitene Petitzelle 25 Pfg. Litte- Febr uar 1899. Heransgebern, Preis pro Jahr 6 Mark, rarische Beilagen 6 Mark. einzelne Nummer 50 Pfg.

Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber.

Am 3. Februar d. J. starb an den Folgen eines Schlagaufalles unser allverehrter und allgeliebter

Heinrich Matthias Sengelmann, Dr. theol. et. philos. Direktor der Alsterdorfer Anstalten.

Was der Verstorbene seinen Anstalten als Gründer und Leiter gewesen ist, beweisen die in denselben von ihm geleisteten Arbeiten.

Die segensreiche Thätigkeit des Verewigten findet ihre Grenzen nicht in Alsterdorf, sie geht weit hinaus in alle Welt, sie wird bewundert und vorbildlich geschätzt, wo es gilt für die Schwachsinnigen zu wirken.

Als Gründer und langjähriger Präsident, zuletzt Ehren-Präsident der Konferenzen für das Idiotenwesen, hat der Verstorbene für das- selbe segensreich gewirkt und bei seinem Wissensreichtum und seinen auf genaue Beobachtungen gemachten Erfahrungen in liebenswürdiger Weise belehrend, ratend, helfend gegeben, wo er es nur vermochte. Sein edler Charakter besass vor allem eine Perle, deren Glanz schon in seinem Auge offenbar wurde: es war die „Liebe“ zu seinen Mitmenschen, vor allen Dingen aber zn denen, für die er „uneigennützig“ und unermüdlich arbeitete, zu seinen Zöglingen.

In dem Entschlafenen ist uns ein edler Vorkämpfer, ein treuer Mit- arbeiter, ein liebender Freund genommen.

Möge sein Geist unter uns fortleben und lebendig bleiben!

Das Präsidium der IX. Konferenz für das Idiotenwesen.

Der Artikulations -Unterricht bei geistesschwachen Kindern.

a Von Franz Frenzel, Anstaltslehrer.

Be ea A Motto: „Das belehrendste Spiel ist das Beispiel.‘

Fliegende Blätter. (Schluss.)

Für die Aufstellung des Stufenganges konnten nur allgemein geltende Gesichtspunkte in Betracht kommen, die Angaben berücksichtigen daher haupt- sächlich auch nur folgende Punkte:

1. die Reihenfolge der Artikulationsübungen,

2. ihre Zahl und Ausdehnung und

3. die Zusammenstellung der Laute zu Lautverbindungen zwecks Gewinnung sprachlicher Inhalte. (Wörter.)

Die Lautübungen der folgenden fünf Stufen sollen zunächst nur als Halt und Norm dienen, im übrigen aber können sie, je nach den verschiedenen Verhältnissen und den mannigfachen Bedürfnissen der einzelnen Schulen und Anstalten, entweder erweitert und vermehrt, oder auch gekürzt und verringert werden. Das Ab- und Zumessen der einzelnen Übungen kann zwar von vorn- herein nach bestimmten Gesichtspunkten und in gewissen Umrissen geschehen, bei der Durchnahme und Behandlung aber soll die Eigenart der jeweilig in Betracht kommenden Kinder regulierend darauf wirken.

Stufengang. I. Stufe.

Zweilautige Verbindungen. a) Vokale und Doppellaute in nachstehender Reibenfolge: a, 0, u, au, e, i, ei (ai) im Anlaut, einfache Konsonanz im Auslaut. b) Einfache Konsonanz im Anlaut, Vokale etc. im Auslaut.

1. Lautübungen.

a) am, om, um, aum, em, im, eim. ap, op, up, aup, ep, ip, eip. (ab.) at, ot, ut, aut, et, it, eit. (ad.) af, of, uf, auf, ef, if, eff. a8, 08, us, aus, es, is, eis. asch,osch, usch, ausch, esch, isch, eisch. ach, och, uch, auch, ech, ich, eich. al, ol, ul, aul, œl, il, eil an, on, un, aun, en, in, ein. ak, ok, uk, auk, ek, ik, eik. (ag. ar, Or, ur, aur, er, ir, er.

b) ma, mo, mu, mau, me, mi, mei. pa, po, pu, pau, pe, pi, pei. (ba) ta, to, tu, tau, te -ti,- tei (da) fa, fo, fu, fau, fe, fi, fei. (wa)

sa, 80, su, Sau, se, si, sei. scha, scho, schu, schau, sche, schi, schei. ha, ho, hu, hau he, hi, hei. J a, jo, Ju, jau, Je, ji, jei. la, lo, lu, lau, le li, lei na, no, nu, nau, ne ni, nei. ka, ko, ku, kau, ke ki, kei. (ga) ra, ro, ru, rau, re ri, rei. Anmerkung. Wenn hier bereits Lautübungen mit den schweren Lauten „RK“, „r“ u. a. auftreten, so sind dieselben nur der Vollständigkeit halber auf- geführt; in Wirklichkeit jedoch mögen sie später, und wo es nötig sein sollte, erst nach ihrer besonderen Entwicklung zur Übung gelangen. Die noch fehlenden Doppelkonsonanten z =— ts und x = ks, die Umlaute ä, 5, ü und der Doppellaut eu (äu) sind erst dann zu üben, wenn die Schüler die feinen Ab- stufungen in den verschiedenen Lautklängen genügend zu unterscheiden ver- mögen. In der ersten Zeit der Lautübungen sind unsere geistesschwachen Kinder dazu nicht imstande, indem sie oft nicht einmal f und w, m und n gehörig auseinander halten können. (Siehe III. Stufe) Die Artikulation jeder Lautübung kann in folgender Weise geschehen: 1. lang und stark, 2. kurz und stark, 3. lang und schwach, 4. kurz und schwach.

Für die folgenden Stufen gelten dieselben Bestimmungen und finden sinn- gemässe Anwendung.

2. Wörter.

a) ab! auf! aus, Eis, ich, Aal, ein, Ohr, Ubr, er.

b) Thee, da! du, Schuh, ja! wo? Kuh, Reh.

Anmerkung. Bei den Wörtern sind hier und auf den folgenden Stufen nur einsilbige Begriffswörter angeführt worden, es können aber auch zwei- und mehrsilbige und Form wörter zu den Übungen herangezogen werden, die ihrem lautlichen Aufbaue nach jeweilig den Lautübungen der betreffenden Stufe entsprechend zusammengesetzt sein müssen, hier also z. B. folgende: Ma ma, Boh ne, Ra be, ho— le! lo— se, Ma—schi—ne, Pa— pa— gel, rei ni ge! etc. Es lassen sich solche Wörter in ähnlicher Weise für jede Stufe in ausreichender Anzahl finden und bilden. (Vergleiche noch die Schluss- bemerkung des Stufenganges.) Die Übungen der verschiedenen Stufen des Stufenganges bezwecken, „alle im Bereiche der Wörter unserer Sprache möglichen Sprechschwierigkeiten durch einen planmässig darauf gerichteten, vom Leichtern zum Schwerern fortschreitenden Gang in der Weise zu überwinden, dass von jeder Sprechschwierigkeitsstufe eine ausreichende Anzabl von Anschauungs- wörtern vorgeführt und die Schüler im mechanisch geläufigen Sprechen solange geübt werden, bis sie hierdurch dahin gelangen, im Unterrichte künftig vor- kommende Wörter mit ähnlicher Sprechschwierigkeit obne grossen Zeit- und

28 J Kraftaufwand auffassen und nachsprechen zu können. Obgleich diese Übungen ihre Hauptaufgabe in der Förderung der mechanischen Sprechschwierigkeiten suchen, so werden die Wörter doch erst vorgeführt nach Interesseweckung des Schülers für die Sache und nach Erzeugung eines innern Vorstellungsbildes von

: derselben“. Es handelt sich also hierbei, wie bereits vorhin angedeutet, um

eine methodische Bildung des Sprechens und der Sprache mit gleichmässiger Berücksichtigung der phonetischen, logischen und grammatischen Seite der Sprache. (Vergleiche dazu auch den Abschnitt dieser Arbeit über die Auf- gaben des Artikulations- Unterrichts bei den erethisch-plapperhaften Geistes- schwachen.) |

II. Stufe. Dreilautige Verbindungen. Einfache Konsonanz im An- und Auslaut, Vokale etc. im Inlaut. 1. Lautübungen.

Anlaut. Auslaut.

m h m ch

Pb) j pb) 1

t (d) ] t (d) n

f (w) n f k (g)

8 k (g) 8 r

sch r sch Beispiele:

mam, mom, mum, maum, mem, mim, meim. map, mop, mup, maup, mep, mip, meip. mat, mot, mut, maut, met, mit, meit. u. s. W. pam, pom, pum, paum, pem, pim, peim. (bam.) pap, pop, pup, paup, pep, pip, peip. pat, pot, put, paut, pet, pit, peit. (bat.) u. 8. W. tan, tom, tum, taum, tem, tim, teim. (dam.) tap, top, tup, taup, tep, tip, teip. (tab, dap.) tat, tot, tut, taut, tet, tit, teit. (dat.) u. 8. W. u. 8. wW. u. 8. w.

2. Wörter.

Maus, Mann, Mohn, mein, Paul, Baum, Buch, Ball, Beil, Bein, Bier, taub, tot, tief, Tisch, Tuch, Thor, dumm, Dach, dein, faul, Fass, Fuss, Fisch, weiss, weich, Wein, Sieb, satt, Seil, Sack, Schaf, Schiff, Hut, Hof, Haus, hoch, Hahn, Huhn, Haar, hier! Laus, Lamm, lahm, laut, nass, Nuss, nein! Kahn, ‘Gott, gut, rot, Rad, rasch, rein, Rock, Rohr.

Zn

III. Stufe. Dreilautige Verbindungen.

a) Vokale, Doppellaute und Umlaute im Anlaut, gemeinsame Doppel- konsonanz für In- und Auslaut. b) Doppelkonsonanz im Anlaut, Vokale etc. im Auslaut.

1. Lautübungen.

a) Anlaut. Auslaut.

a 5 mt nt ks (x)

0 ü pt (bt) ns rm

u eu (äu) pf nch rt

au ft nk (ng) rf

e st lt rl

i scht If rn

ei (ai) cht ls (rz)

& chs kt (gt) (rx) Beispiele:

amt, omt, umt, aumt, emt, imt, eimt, Amt, Smt, ümt, eumt. apt, opt, upt, aupt, ept, ipt, eipt, pt, Spt, apt, eupt. apf, opf, upf, aupf, epf, ipf, eipf, Apf, öpf, üpf, eupf.

u. 8. W.

b) Anlaut. Auslaut. pf sp schr a ei (ai) pl(bl) st qu (kw) 0 ä pr (br) schm kl (gl) u 5 tr (dr) schw kn au ii fl schl kr (gr) e eu (än) fr schn (z, x) i

Beispiele.

pfa, pfo, pfu, pfau, pfe, pfi, pfeil, pfä, pfs, pfü, pfeu.

pla, plo, plu, plau, ple, pli, plei, plä, pls, pla, pleu. (bla.)

pra, pro, pru, prau, pre, pri, prei, prä, prö, prū, preu. (bra.) u. 8. W.

Anmerkung. Die Laute z, x, ä, d, ü, eu (äu) sind dieser Stufe ein- gereiht. Bei den Lautübungen wurden nur die gebräuchlichsten und in der Sprache am häufigsten vorkommenden Verbindungen herangezogen, eine regel- rechte systematische Aufstellung aller nur möglichen Kombinationen würde zu weit führen. Dieses ist auch bei den folgenden Stufen berücksichtigt worden.

2. Wörter. a) Ast, acht, alt, eins, Arm, arm, Ochs, Ort. b) Pfau, blau, Blei, Brei, treu, drei, Floh, Frau, froh, früh, schlau, Schnee, Klee, Knie, grau, zu.

80

IV. Stufe. Vierlautige Verbindungen. a) Einfache Konsonanz im Anlaut, Doppelkonsonanz im Auslaut, Vokale etc. im Inlaut. b) Doppelkonsonanz im Anlaut, einfache Konsonanz im Auslaut, Vokale etc.

im Inlaut. 1. Lautübungen.

a) Anlaut. Auslaut.

m h mt cht It rt

p (b) J pt (bt) chs If rf

t (d) ] pf nt Is rl

f (w) n ft n8 kt (gt) m

8 k (g) st nch ks (x) (r2) sch r scht nk (ng) rm (rx)

Beispiele:

mamt, momt, mumt, maumt, memt, mimt, meimt, mäınt, mömt, mümt, meumt. mapt, mopt, mupt, maupt, mept, mipt, meipt, mäpt, möpt, müpt, meupt. mapf, mopf, mupf, maupf, mepf, mipf, meipf, mäpf, möpf, müpt, meupf.

u. 8. wW.

b) Anlaut. Auslaut. pf sp schr m ch pl (bl) st qu (kw) p (b) l pr (br) schm kl (gl) t (d) n tr (dr) schw kn f k (g) fl schl kr (gr) 8 r fr sch (z, x) sch

Beispiele: Ä

pfam, pfom, pfum, pfaum, pfem, pfim, pfeim, pfäm, pföm, pfüm, pfeum.

pfap, pfop, pfup, pfaup, pfep, pfip, pfeip, pfäp, pföp, pfüp, pfeup.

pfat, pfot, pfut, pfaut, pfet, pft, pfeit, pfät, pföt, pfüt, pfeut. u. 8. W.

Anmerkung. Die Zahl der Lautübungen auf dieser Stufe ist bereits eine sehr bedeutende.

2. Wörter.

a) Mond, Mund, Milch, Max, März, Bild, Band, bunt, Bank, Bart, Topf, Turm, Dorf, sechs, Faust, Fuchs, Feld, fort! fix, fünf, Wald, Wand, Wind, warm, Wurm, Hand, Hund, Hals, Holz, hart, Herz, jung, lang, Luft, Licht, Kopf, Kalb, kalt, Kind, Karl, Korb, kurz, gelb, Gans, gern, rund, Ring.

b) Pfahl, Blatt, Blut, Brot, Brief, breit, braun, Fleisch, Frosch, spät, Stall, Stuhl, Stein, Stock, Schwamm, schwach, Schwein, schwer, quer, Kleid, klein, klug, klar, krumm, Glas, Gras, gross, grün, Zahn, Zaun, zehn.

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v. Stufe.

Fünflautige Verbindungen. Doppelkonsonanz im An- und Auslaut, Vokale etc. im Inlaut.

1. Lautübungen.

Anlaut. Auslaut. pf sp schr mt cht lt rt pl (bl) st qu (kw) pt (bt) chs If rf pr (br) schm kl (gl) pf nt ls rl tr (dr) schw kn ft ns kt (gt) m fl schl kr (gr) st nch ks (x) = (rz) fr schn (z, x) scht nk (ng) rm (rx) Beispiele:

pfamt, pfomt, pfumt, pfaumt, pfemt, pfimt, pfeimt, pfämt, pfömt, pfümt, pfeumt. pfapt, pfopt, pfupt, pfaupt, pfept, pfipt, pfeipt, pfäpt, pföpt, pfüpt, pfeupt. pfapf, pfopt, pfupf, pfaupf, pfepf, pfipf, pfeipf, pfäpf, pföpf, pfüpf, pfeupf. u. s wW. u. 8. W. u. 8. W. 2. Wörter.

Pferd, blind, blank, Brust, Franz, Freund, Stift, Storch, Stern, Stirn, schlecht, Schwanz, Schwert, schwarz, Schrank, Quirl, Quark, Klecks, Knopf, krank, Kreuz, Grund (zwölf).

Anmerkung. Mit den fünflautigen Verbindungen mögen die Stufen für die Lautübungen beschlossen sein; es giebt allerdings in der Sprache auch Wörter mit dreifacher Konsonanz im An- und Auslaut, wie z. B. „pflanzt“, auch könnten die Häufungen der Konsonanten bis ins Unendliche fortgesetzi werden; allein für unsere Zwecke dürfte die Anzahl und Ausdehnung der Laut- übungen in der vorhin bei den einzelnen Stufen ausgeführten Weise vollständig genügen. Sollte jedoch vielleicht manchem ihre Anlage und Ausdehnung zu kompliziert erscheinen, nun, der mag eben nur das herausgreifen, was er für geeignet und zweckmässig hält und was für seine Verhältnisse passt. Der vorstehende Stufengang wird mit einigen geringen Modifikationen auch bei der Behandlung von Sprachstörungen und beim Sprachunterrichte sprachloser Geistes- schwachen mit Vorteil benutzt werden können.

Im Anschlusse an die Lautübungen werden nicht nur die jeder Stufe bei- gegebenen Wörter geübt, sondern es können und sollen auch noch weitere Sprachübungen auftreten. Zunächst wird das Sprechen einsilbiger Haupt- wörter mit ihren Artikeln gepflegt, z. B. die Ubr, die Kuh; darauf folgt das Sprechen zwei- und mehrsilbiger Hauptwörter mit ihren Artikeln, z. B. die Mama, die Maschine, die Kaffeebohne, und zuletzt tritt das Satzsprechen auf, z. B. ich bitte um Thee! Der Ball ist rund, das Blut ist rot, ich bin dir gut! Ich kann lesen! Die Mama ist zu Hause etc. etc. |

Artikulationsübungen zur Pflege und Förderung der mechanischen Sprech- thätigkeit müssten wegen ihres grossen Vorteils, welchen sie bei regelmässigem

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Betriebe unsern sprachlich behinderten Geistesschwachen thatsächlich bieten, während der gesamten Unterrichtszeit im Auge behalten und stets, sobald sich sprachliche Mängel in der Artikulation irgendwie bemerkbar machen, gepflegt werden. Wie solches gelegentlich zu geschehen hat, das mag hier an dem Satze: „Ich bin krank!“ noch näher ausgeführt werden. Gewöhnlich wird die Artikulation der Wörter „ich bin“ von allen Kindern leicht, gewandt und ohne erhebliche Mängel ausgeführt werden können; dagegen dürfte die des Wortes „krank“ wegen der Konsonanthäufungen kr und nk dem einen oder dem andern Schüler doch Schwierigkeiten verursachen und deshalb mangelhaft erfolgen. Das Wort „krank“ gebört seiner lautlichen Zusammenstellung nach der V. Stufe an; seine Einübung wird am besten in der Weise erfolgen, dass man zunächst eine saubere Artikulation der Verbindung „an“ zu erzielen sucht; ist dieses er- reicht, so kommt das hintere k hinzu auk, dann das r rank, und zuletzt das vordere k krank; oder es kann sogleich die Verbindung ank geübt werden, in welchem Falle dann auch sofort kr krank hinzugenommen wird.

Die hier angeführte Methode des Artikulations-Unterrichts stellt an Lehrer und Schüler bedeutende Anforderungen und verlangt vor allem grosse Geduld und völlige Hingabe. Dürfte in einigen Fällen auch ein namhafter Erfolg nicht zu erreichen sein, so ist doch auf die durch den Betrieb der Artikulations- übungen bei vielen Kindern fast sicher zu erreichende, mehr oder weniger grosse Besserung des Sprachvermögens entschieden Wert zu legen. Darum sollen uns auch die Erfolge, welche nach dieser Seite hin beobachtet worden sind, ferner- hin anspornen, alles zu versuchen und zu prüfen, das geeiguet wäre, die sprachliche Entwicklung unserer sprachlich behinderten Kinder zu fördern und zu bessern.

Litteratur- Nachweis.

1. M. Weniger, Die Sprachstörungen bei geistig Zurückgebliebenen und ihre methodische Behandlung. Diese Zeitschrift, Jahrgang 1890.

2. H. Piper, Die Sprachgebrechen bei schwachsinnigen resp. idiotischen Kindern und deren eventuelle Heilung. Vortrag auf der VII. Konferenz für das Idiotenwesen 1898.

8. Dr. Treitel, Grundriss der Sprachstörungen. Berlin 1894.

4. M. Weniger, Nicht geistig, sondern nur sprachlich zurückgebliebene Kinder. Gera 189.

5. H. Piper, Der grundlegende Sprachunterricht bei stammelnden schwachsinnigen Kindern. Vortrag auf der VIII. Konferenz für das Idiotenwesen 1895.

6. K. Köllo, Der Sprechunterricht bei geistig zurückgebliebenen Kindern. Zürich 1896.

7. E, Walther, Handbuch der Taubstummenbildung. (Kapitel: Artikulations - Unterricht.) Berlin 189.

8. K, Kölle, Der Sprechunterricht. Diese Zeitschrift 1897.

9. Fr. Frenzel, Der Sprachunterricht sprachloser Geistesschwachen. Diese Zeitschrift, Jahrgang 1897.

10. Medizinisch-pädagogische Monatsschrift für die gesamte Sprachheilkund. Berlin 1890—1897.

11. H. Piper, Wie bringen wir unsere sprachlosen Geistesschwachen zum Sprechen? Vortrag auf der IX. Konferens für das Idiotenwesen 1898.

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IX. Konferenz für Idiotenpflege und Schulen für schwachbefähigte Kinder.

(Fortsetsung.)

Nebenversammlung der Hilfsschulen. Vom Schriftführer Hilfsschullehrer Duczek - Breslau.

Nach dem Vorgange auf der Heidelberger Konferenz wurde auch im Anschluss an die IX. Konferenz zu Breslau eine Nebenversammlung für die Vertreter der Hilfsschulen abgehalten. Dieselbe tagte am 7. September in einem Sitzungszimmer des stattlichen Landeshauses und war von ca. 100 Damen und Herren zum Teil aus weiter Ferne besucht. Den Vorsitz führte Herr Schuldirektor K. Richter-Leipzig, welcher die Versammlung um 31/, Uhr eröffnete, indem er die Erschienenen kurz begrüsste und dem Wunsche Ausdruck gab, dass die Verhandlungen namentlich zur Förderung der Berufsfreudigkeit beitragen möchten. Alsdann erhielt Herr Hilfsschullehrer Th. Fuhrmann- Breslau das Wort zu seinen Ausführungen über das Thema:

„Das Verhältnis der Hilfsschule zur Volksschule“.

In seinem Vortrage äusserte sich Herr Fuhrmanı, wie folgt:

Meine geehrten Damen und Herren! |

Mein Thema lautet nach dem Programm: „Das Verhältnis der Hilfsschule

zur Volksschule“. Es stimmt aber dieser Wortlaut nicht ganz mit dem von mir angemeldeten Thema: „Die Hilfsschule in ihrem Verhältnis zur Volksschule“. Wenn auch vielleicht kein grosser Unterschied zwischen beiden Fassungen sein sollte, so muss ich doch, um nicht dem Vorwurf ausgesetzt zu werden, einen andern Vortrag gehalten zu haben, als das Thema eigentlich besagte, bei meiner Fassung bestehen bleiben, zumal ich wenigstens einen nicht ganz unwesentlicheu Unterschied zwischen beiden Themen finde. Heisst das Thema: „Das Verhältnis der Hilfsschule zur Volksschule‘‘, so müssen beide im Thema genannten Anstalten ganz gleichwertig für die Behandlung im Vortrage erscheinen und demgemäss die Volksschule im Vortrage eine ungleich breitere Darlegung erfahren, als ich sie für meinen Vortrag bezweckte und nötig halte. In der Fassung, die ich dem Thema gab und an der ich also festzuhalten bitte: „Die Hilfsschule in ihrem Verhältnis zur Volksschule“ ist die Hilfsschule, wie es ja auch unserer Versammlung angemessen erscheint, die Hauptsache bei der Behandlung des Vortrages, und die Volksschule wird nur herangezogen, wo es die Beziehungen der Hilfsschule zur Volksschule notwendig machen. Erwarten Sie jedoch in meinem Vortrage nicht neue Probleme für das gegenseitige Verhältnis der Hilfs- und Volksschule, oder radikale Vorschläge zur Uingestaltung derselben zu hören. Mein Eintreten mit einem Vortrage bei unserer Versammlung erfolgte zunächst zar Ausfüllung der vorhandenen Lücke, da für die doch programmmässig mit der Idietenlehrerkonferenz zu verbindende Versammlung für Lehrer an Hilfsschulen kein Vortrag angemeldet wurde Da glaubten wir Breslauer es der Ehre unserer

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Heimatstadt schuldig zu sein, in die Bresche zu treten und einen Vortrag für diese Hilfsschullehrerversammlung anzumelden.

Bei der Frage, welches Thema für die Versammlung zu wählen sei, erschien es mir nicht für unwichtig, einmal aus der nach den verschiedenen Städten verschieden vor sich gegangenen Entwicklung und Einrichtung unserer Hilfs- schule die prinzipiellen Punkte herauszuheben, welche das Verhältnis der Hilfs- schule zu der Volksschule besonders charakterisieren und als erstrebenswert für die Gestaltung desselben bezeichnet werden können. Und diese Untersuchung erschien um so zeitgemässer, als die Entwicklung des Hilfsschulwesens gegen- wärtig wohl einen gewissen Abschluss erreicht hat, insofern jetzt die meisten der grösseren Städte Deutschlands solche Schulen gegründet haben oder im Begriff stehen, es zu thun.

Zur besseren Übersicht über meinen Vortrag erlaube ich mir noch kurz den Gedankengang desselben mitzuteilen, da ich absichtlich keine Thesen auf- gestellt habe. Ich will also folgende Punkte der Beziehungen zwischen Hilfs- und Volksschule hier kurz darlegen:

1. Die Hilfsschule ist nicht ein Anhängsel an eine Volksschule, sondern eine selbständige Anstalt.

2. Die Schüler der Hilfsschule werden der Hilfsschule allein überwiesen und aus dem Verbande der Volksschulen, die sie früber besuchten, losgelöst.

3. Die Hilfsschüler treten in der Regel nach einem mehrjährigen erfolglosen Besuch der Volksschule in die Hilfsschule ein.

4. Es muss die Möglichkeit bestehen, geförderte Kinder in die Volksschule wieder zurückzuversetzen.

5. Die Lebrer und Lehrerinnen der Hilfsschule seien erprobte Lehrer an Volksschulen gewesen.

6. Lehr- und Lernbücher seien nach Möglichkeit gleich zwischen Hilfs- und Volksschulen desselben Ortes.

Aus leicht ersichtlichen Gründen gestaltete sich die Errichtung der fast immer in der ersten Zeit einklassigen Hilfsschulen in den meisten Orten in der Art, dass die Hilfsschule als ein Anhängsel der betreffenden Volksschule erfolgte in deren Bereich sie lag. Diese Verknüpfung mit der Organisation einer be- stimmten Volksschule dürfte in den meisten Fällen von mancherlei Übelständen begleitet sein. Schüler und Lehrer der Hilfsschule erscheinen leicht in solchem Falle als minderwertig und in wenig günstigen Ausnahmeverhältnissen befindlich. Die sowieso vorhandenen Vorurteile mancher Eltern gegen diese Schulart werden dadurch noch gesteigert werden, und es wird um so schwieriger sein, dieselben zu bewegen, ihr Kind gegebenen Falls dieser Hilfsschule anzuvertrauen. Ent- schieden leichter ist es, dieselben für eine besondere selbständige Schulgattung günstig zu stimmen, die als eine eigens für die unglücklichen, schwachbegabten Kinder eingerichtete Veranstaltung erscheint. Schon aus diesen Gründen ist die Errichtung der Hilfsschule als selbständige Anstalt ohne äussere Anlehnung an eine bestimmte Volksschule erwünschter. Noch mehr aber wird hierfür die Erwägung sprechen, dass das Gedeihen und die Erfolge der Hilfs-

nn

schule um vieles günstiger sein werden, wenn sie als selbständige Anstalt errichtet wird. Lehrer und Schüler gehören dann der Hilisschule allein und ganz an. Lektions- und Stundenplan, die einzelnen Unterrichtsfächer, der Unterrichtsbeginn und Schluss, die Pausen werden bei Selbständigkeit der Hilfs- schule nur allein nach den Rücksichten auf das Beste der Hilfsschule festgesetzt, während im anderen Falle die Interessen der Volks- und Hilfsschule oft kolli- dieren werden und alsdann eine oder die andere zu kurz käme. Bei Selb- ständigkeit der Hilfsschule ist der Leiter derselben viel eher in der Lage, seine ganze Kraft für diese einzusetzen und ihre Interessen jederzeit wahrzunehmen. Unterstebt jedoch die Hilfsschule der Leitung eines nicht ihr ausschliesslich angehörenden Schulmanns, so wird ihr Interesse wohl meist an zweiter Stelle stehen, da es ja unbillig wäre, wollte man verlangen, dass zunächst immer an die wenigen Schüler der Hilfsschule gedacht und ihr Interesse wahrgenommen werden sollte, ehe nach den vielen Schülern der Volksschule gefragt würde. Nur kurz sei darauf hingewiesen, dass auch die Selbständigkeit der Hilfsschule viele der sonst notwendigen Umständlichkeiten in dem Verkehr mit den Schul- behörden einerseits und den Eltern der Kinder andererseits beseitigt, indem der Lehrer beiden gegenüber die allein verantwortliche Person ist, während im anderen Falle jede behördliche Anordnung, jede Beurlaubung ete. durch eine Zwischeninstanz geht. Da dem Lehrpersonal der Hilfsschulen bei der Eigen- artigkeit des Schülermaterials und des Unterrichts sowieso eine gewisse grössere Bewegungsfreiheit in dem Rahmen des Lektions- und Stundenplanes zugestanden werden muss, so dürfte der Schritt, der ihnen und den Schulen, an denen sie wirken, die volle Selbständigkeit verleibt, ein nicht zu grosser und nur ein Zeichen besonderen Vertrauens sein, das zu erfüllen sie sich gewiss angelegen sein lassen werden.

Aus der Selbständigkeit der Hilfsschule würden als weitere naturgemässe Postulate hervorgehen, dass diese eigene Lehrzimmer, eigene Lehrpersonen und eigene Unterrichtsmittel besitzt.

Die Selbständigkeit der Hilfsschule brauchte jedoch noch nicht zur Folge zu haben, dass die Schüler aus dem Verbande der Volksschule, die sie bisher besuchten, entlassen werden müssten, sondern dieselben könnten, wie dies zuerst zuch hier in Breslau kurze Zeit der Fall war, in den Listen der Volksschule weitergeführt und gleichsam nur zum Besuch der Hilfsschule beurlaubt sein. Dadurch entsteht aber der Ubelstand, dass das Schülermaterial der Hilfsschule meht als ein einheitliches, sondern als ein mehr zufälliges Konglomerat aus versebiedenen Schulen erscheint, das jeden Augenblick wieder die Hilfsschule verlassen könnte. Auch den Schülern würde es schwer werden, mit der Hilfs- zehoie und ihren Mitschülern den zum Erfolge einmal notwendigen, innigen Kostakt zu finden, wenn sie was ihnen unmöglich verborgen bleiben könnte mer noch in Verbindung mit der alten Schule, dem Rektor und den Lehrern derseiben ständen. Die für die Leitung einer so gestalteten Hilfsschule und aueh für die Eltern der Schüler der Hiltsschule sich ergebenden Weitläufigkeiten ‘es si z B. bei hiesigen Verhältnissen nur an die Aufnahme der Freischüler-

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gesuche, die bei der Schule anzubringen sind, der die Schüler nominell noch angehören, erinnert) seien hier nur kurz gestreift. Solchen Erwägungen gegenüber entschloss sich die hiesige Schulbehörde schon nach kurzer Frist, dieses System zu verlassen und die Schüler aus dem Verbande der Volksschule ganz zu lösen und der Hilfsschule zu überweisen, wodurch die Einrichtung des Hilfsschul wesens in Breslau einen sehr wichtigen Schritt vorwärts that und die Selbständigkeit der Hilfsschulen hierselbst erst eine vollendete wurde.

Wohl in allen Städten, in denen Hilfsschulen bestehen, unterliegt die Auf- nahme von Volksschulkindern in die Hilfsschulen besonderen Bestimmungen. Überall dürfte die Aufnahme zunächst erst nach einer pädagogischen und ärztlichen Prüfung und nachdem durch längeren (in Breslau mindestens zwei- jährigen) erfolglosen Besuch der untersten Klasse der Volksschule festgestellt ist, dass das Kind in dem Rahmen einer normalen Volksschule nicht zu fördern ist. Selbstverständlich können und werden jedoch auch Ausnahmen von jener Aufnahmeregel stattfinden. Warum sollte z. B. nicht ein notorisch geistes- schwaches Kind, das vielleicht nach ärztlichem Zeugnis schon aus diesem Grunde überhaupt erst im 7. oder 8. Lebensjahr der Schule zugeführt wird, alsbald in die Hilfsschule eintreten, wenn anders in derselben Platz vorhanden ist? Die Regel wird jedoch freilich die bleiben müssen, dass ein Kind immer erst ver- suchen muss, in der normalen Schule das Ziel zu erreichen, auch wenn zunächst nicht viel Aussicht auf Erreichung desselben vorhanden soheint. Es darf nicht den Anschein gewinnen, als ob jedes etwas in seiner Aufnahmefähigkeit für den Unterricht unter das geistige Durchschnittsniveau der Volksschule herabsinkende Kind alsbald der Hilfsschule überwiesen werden müsse. Ebenso wie für die Aufnahme in die Volksschule ein Termin, der Östertermin, in Frage kommt, so kann im Interesse des ungestörten Fortgangs des Unterrichts in der Hilfsschule auch hier nur eine einmalige Aufnahme der Schüler in die Hilfsschule erlaubt werden und zwar ebenfalls am Beginn des Schuljahres. Würde die Aufnahme fortwährend im Jahr gestattet, so würde die Arbeit für die Lehrpersonen nicht nur bedeutend erschwert, sondern es würden auch die Erfolge des Unterrichts bei den schon vorhandenen Schülern gestört und geschmälert, was ja ohne weitere Begründungen einleuchtet.

Die Frage, ob Schüler nach längerem Besuch der Hilfsschule wieder in die Volksschule zurückversetzt werden können und sollen, wird in den Kreisen der Hilfsschullehrer sehr verschieden beurteilt und beantwortet. Ich persönlich muss mich nach meiner Erfahrung sowohl wie aus prinzipiellen Gründen für die Möglichkeit der Rückversetzung in die Volksschule erklären. Es erscheint zunächst unbillig und nicht zu rechtfertigen, ein Kind, das in der Hilfsschule nach mehrjährigem Besuch derselben gute Fortschritte gemacht hat und das nach Überzeugung des Lehrers in einer 5. bezw. 4. und 3. Klasse der Volks- schule ganz gut fortkommen könnte, während ihm der Unterricht in der Hilfs- schule der anderen Kinder wegen zumeist nur Wiederholungen und nicht entsprechende Fortschritte mehr bieten kann, zurückzuhalten. Hier in Breslau sind öfters Schüler der Hilfsschule zurückversetzt worden und haben in den

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Klassen der Volksschule zur Zufriedenheit der betreffenden Lehrer Fortschritte gemacht und sich nicht minderwertig gezeigt. Als selbstverständlich darf voraus- gesetzt werden, dass der Lehrer der Volksschulklasse mit den ihm zugewiesenen Schülern aus der Hilfsschule zunächst einige Rücksicht nimmt und ihnen erst allmählich dasselbe zumutet, wie den anderen Schülern. Ich füge ausdrücklich hinzu, dass die zurückversetzten Schüler bei ihrem Eintritt in die Hilfsschule zweifellos in die Hilfsschule gehörten und erst nach mehrjährigem Besuch der Hilfsschule zur Rückveisetzung in die Volksschule geeignet erschienen, darf jedoch nicht unterlassen, zur Vervollstäudigung der Sachlage anzugeben, dass die hiesigeu Hilfsschulen damals nur einklassig waren und nur einen besonderen Mehrunterricht für fortgeschrittene Schüler besassen. In Hilfsschulen mit drei und mehr aufeinanderfolgenden Stufen wird eine Rückversetzung in Volksschulen vielleicht sehr selten oder gar nicht notwendig sein, da schneller fortschreitende Schüler in den entsprechenden oberen Klassen sicher dieselbe oder bessere Förderung finden als in den erwähnten Mittelklassen der Volksschulen, in welche die Zurückversetzung der Hilfsschüler doch allein in Frage kommen kann.

Der prinzipielle Grund, welcher mich für die Möglichkeit einer Rück- versetzung eines Hilfsschülers in die Volksschule eintreten lässt, ist der, dass sonst die Hilfsschule in eine Ausnahmestellung gezwungen würde Es ist doch möglich, ans jeder Schulanstalt in irgend eine andere überzugehen, warum sollte allein die Hilfsschule davon ausgeschlossen werden? Dass eine genaue Prüfung eines solchen Schülers vor dem Wiedereintritt stattfinden muss, ist selbatverständlich, wie es wohl ferner ebenso selbstverständlich ist, dass ein der Volksschule zurückgegebenes Kind nochmals in die Hilfsschule eintritt, wenn der Besuch der Volksschule schliesslich doch für dasselbe keinen Erfoig bieten sollte. Solcher Ein- und Austritte von Schülern kann sich die Hiltsschule meines Erachtens nicht gut weigern, wenn sie den Charakter einer Hilfsanstalt für die Volksschule voll und ganz ausfüllen soll.

Über das Verhältnis der Lehrkräfte an den Hilfsschülen zu denen der Volksschulen brauche ich nur anzuführen, dass die ersteren aus der Thätigkeit in der Volksschule bervorgehen müssen und dass bei ihnen eine längere und erfolgreiche Arbeit in den unteren Klassen der Volksschulen gewünscht werden muss, da der Unterricht in den Hilfsschulklassen gerade besonders die Art und Weise eines guten „Lehrers der Kleinen“ voraussetzt, um gute Erfolge zu zeitigen. Da der Hilfsschulunterricht ganz besondere Stärkegrade in den an jeden Lehrer zu stellenden Hauptforderungen der Geduld, der Liebe zu den Kindern, der Anschaulichkeit, der Unverdrossenheit, der Mässigung in den An- forderungen etc. verlangt, so müssen die Lehrkräfte an den Hilfsschulen freiwillig und womöglich aus besonderer Zuneigung für die armen Schwachbegabten sich für den Hilfsschulunterricht zur Verfügung stellen. Überall wird jedoch wohl, wie hier in Breslau, ein späterer Rücktritt in die Volksschulen freigelassen sein, wie eg auch der Behörde selbst unbenommen sein muss, einen Lehrer aus der Hilfsschule wieder in die Volksschule zu versetzen.

Für wünsehenswert würde ich es erachten, wenn die Lehrer an den Hilfs-

38 schulen diese Stellung nicht als blosse zeitweilige, sondern als Stellung ansehen möchten, der sie recht lange, wenn möglich ihr ganzes Leben treu bleiben wollen. Zur Erleichterung dieses Entschlusses wird es jedenfalls beitragen, wenn das Gehalt und die amtliche Stellung der Lehrer und Leiter von Hilfs- schulen eine solche wird, dass sie nicht hinter denen an den Volksschulen zurückstehen.

So leicht es verhältnismässig den Hilfsschülern wird, in der Lesefertigkeit voranzukommen, so schwer wird jedoch denselben das Verständnis eines Lese- stückes, wie sie in unsern Volksschullesebüchern die Regel sind. Es wäre daher nicht unerwünscht, für die Hilfsschulen ein besonderes Lesebuch zu besitzen. So lange jedoch dies nicht der Fall ist, erscheint es am besten, die in den Volksschulen eines Ortes eingeführten Lehr- und Lernbücher auch in der Hilfsschule des betreffenden Ortes zu gebrauchen, da die Schüler doch in etwas an diese gewöhnt sind und auch «den Eltern nicht unnötige Kosten bei der Anschaffung von Büchern gemacht werden. Hier in Breslau ist dieser Gesichts- punkt bei der Aufstellung des Lehrmittelverzeichnisses für die Hilfsschulen aus- schlaggebend gewesen, und es sind daher bei den auch in Volksschulen ge- brauchten Lehrmitteln immer dieselben Bücher auch für die Hilfsschule vor- geschrieben worden. Bei der Eigenartigkeit des Hilfsschulunterrichts, der besonders grösstmögliche Veranschaulichung des Unterrichts verlangt, wird ja freilich in Bezug auf Anschauungsmaterial die Hilfsschule bedeutend mehr Lehr- mittel besitzen dürfen, als die Volksschule.

Was nun den Lebrplan und die Lehrgegenstände der Hilfsschule anlangt, so sind dieselben zunächst die der Unterklassen bez. bei erweiterten Hilfs- schulsystemen die der Mittelklassen der Volksschulen in der durch die ver- schiedene Wochenstundenzahl jeden Faches beider Schulgattungen entsprechend veränderten Stundenzahl. In Breslau umfasst der Unterrichtsplan folgende Fächer: Religion ®,, Deutsch incl. Anschauungsunterricht 8, Rechnen 4, Heimats- kunde 3, Zeichnen 2, Singen 2, Turnen bez. Handarbeitsunterricht 2 Stunden. Doch können auch ausserhalb des Rahmens der Volksschule stehende Unterrichts- zweige für die Hilfsschule Aufnahme finden, wenn solche erforderlich erscheinen und die Mittel dazu vorhanden sind.

So erhalten seit Dezember v. J. die Schüler unserer Breslauer Hilfsschulen nachmittags an 3 Tagen einen zweistündigen Beschäftigungsunterricht durch besonders fähige Kindergärtnerinnen, an dem sie jedoch nur freiwillig teilnehmen. Die Erfolge sind gute. Ebenso dürften die mit Blumenpflege und Gartenbau mit Erfolg begonnenen Versuche auch weiterhin gute Resultate zeitigen und ihre Einfügung in den Unterricht der Hilfsschulen rechtfertigen, ebenso wie sich das schon bei Gründung der Hilfsschulen in den Lektionsplan aufgenommene Turnen, zu welchem in den Volksschulen die Knaben erst von der 3. Klasse an herangezogen werden, als ganz zweckmässiges Mittel zur Herbeiführung einer grösseren Bewegungssicherheit und Fertigkeit und zur Erzielung einer gewissen Umsicht und Gewandtheit bei den körperlich oft so schwächlichen und schwer-

39 fälligen Kindern unserer Hilfsschulen und zur Übung in gemeinsamer Ordnung sich bewährt.

Hiermit stehe ich am Schlusse meiner Darlegungen. Ich bin natärlich weit entfernt von der Meinung, als bestünden nicht noch andere Beziehungen zwischen Hilfs- und Volksschule, als sie ich Ihnen soeben darzulegen versuchte. Aber ich hoffe doch, die wichtigeren und bedeutungsvollsten unter denselben Ihnen in Kürze vorgeführt und dazu beigetragen zu haben, dass in uns, die wir der Hilfsschule unsere Kraft und unser ganzes Interesse gewidmet haben und für diese segensreichen Schulgattungen, für deren Einrichtung den kommunalen Schulbehörden auch an dieser Stelle Dank und Anerkennung im Namen unserer Schutzbefohlenen ausgesprochen sei, möglichste Förderung anstreben, doch der Gedanke lebendig bleibe, dass die Hilfsschule aus der Volksschule hervorgegangen ist, und beide unbeschadet der Selbständigkeit der Hilfsschule in lebendigen wechselvollen Beziehungen stehen und bleiben sollen.

Nachdem der Vorsitzende dem Referenten den üblichen Dank votiert, richtet er an die Versammlung die Frage, ob dieselbe eine Generaldiskussion wünsche, oder bald in die Besprechung der 6 Sätze, die Referent seinem Vortrage zu Grunde gelegt habe, eintreten wolle. Die Versammlung entscheidet sich für eine Spezialdebatte. In denselben zieht der Referent seine 6. Those zurück, und die übrigen werden in folgender Fassung angenommen.

I. Die Hilfsschule ist als eine selbständige Schule anzuerkennen.

II. Die Schüler der Hilfsschule sind aus dem Verbande der Volksschulen, die sie

früher besuchten, loszulösen und der Hilfsschule allein zu überweisen.

III. Die Hilfsschüler treten in der Regel erst nach einem mehrjährigen erfolglosen

Besuche der Volksschule in die Hilfsschule ein. IV. Es ist die Aufgabe der Hilfsschule, die für sie geeigneten Schüler bis zur Schulentlassung zu behalten.

V. Als Lehrer und Lehrerinnen der Hilfsschulen mögen nur im Volksschuldienste

bewährte Kräfte herangezogen werden.

Sodann bespricht Hauptlehrer Kielhorn die Gründung des Verbandes für deutsche Hilfsschulen. Er motiviert den Zusammenschluss der deutschen Hilfsschullehrer mit der grossen Anzahl von speziellen Wünschen und Bedürfnissen, welche die Vertreter der Hilfsschulen nur in gesonderten Versammlungen so eingehend erörtern können, als dies in ihrem Interesse zu wünschen sei Gleichzeitig giebt Redner die Erklärung ab, dass der Verband der Konferenz durchaus nicht Abbruch thun wolle, ebensowenig, als die Hilfsschulen mit den lIdiotenanstalten irgendwie konkurrieren. Nicht eine Gegnerschaft werde beabsichtigt, sondern lediglich treue Nachbarschaft, und auf dem Verbandstage in Hannover habe auch ein durchaus versöhnlicher Geist geherrscht. Bedner schliesst mit der Aufforderung an alle Hilfsschullehrer, soweit dieselben noch eine abwartende Stellung einnähmen, nunmehr dem Verbande für die Hilfsschulen beizutreten.

Der Vorsitzende schliesst gegen 5 Uhr die Sitzung mit einem Dank für die zahlreiche Beteiligung und mit dem Wunsche, dass die Hilfsschullehrer auch fernerhin

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in Emtracht und Zusammenhang mit der Konferenz arbeiten möchten, da hier ein gemeinsamer Boden vorhanden sei. Unter dem Beifall der Versammlung dankt Hauptlehrer Kielhorn dem Vor- sitzenden für die umsichtige und liebenswürdige Leitung der Verhandlungen. (Fortsetzung folgt.)

Gesetz für das Herzogtum Braunschweig, die Ausbildung nicht vollsinniger, schwach- oder biödsinniger Kinder betreffend, vom 30. März 1894.

8 1. Nicht vollsinnige, (blinde, taubstumme oder hochgradig schwerhörige) schwach- oder blödsinnige Kinder müssen, sobald sie das 7. Lebensjahr vollendet haben und wegen unzulänglicher Bildungsfähigkeit in der Gemeindeschule keine Auf- nahme finden oder wieder aus derselben entlassen werden, für die Dauer des schul- pflichtigen Alters in den zur Ausbildung solcher Kinder bestimmten Anstalten unter- gebracht werden, sofern sie nicht entweder auf andere Weise eine ausreichende Ausbildung erhalten oder mit Rücksicht auf ihren körperlichen oder geistigen Zustand zur Aufnahme in die Anstalt ungeeignet sind. Die am Sitze der Anstalt wohuenden Kinder können von dem Zwange der Aufnahme in dieselbe befreit werden, haben jedoch an den betreffenden Unterrichtsstunden teilzunehmen.

§ 2. Darüber, ob ein n'cht vollsinniges, schwach- oder blödsinniges Kind wegen unzulänglicher Bildungsfähigkeit von der Aufnahme in die Gemeindeschule auszuschliessen oder aus derselben wieder zu entlassen sei, entscheidet auf Antrag des Schuldirigenten oder Lokalschulinspektors erforderlichenfalls nach Einholung sachverständigen Gut- achtens der Schulvorstand. Der Schulvorstand hat dem zur Erziehung des Kindes Verpflichteten die Entscheidung schriftlich zuzufertigen. Dieselbe kann von letzterem binnen 14 Tagen durch Beschwerde bei Herzoglichem Konsistorium angefochten werden, gegen dessen Entscheidung eine weitere Beschwerde nicht stattfindet. Nach erfolgter endgiltiger Entscheidung sind die Verhandlungen seitens des Schulvorstandes der be- treffenden Herzoglichen Kreisdirektion, in der Stadt Braunschweig der Herzoglichen Polizeidirektion einzureichen.

§ 8. Die Herzogliche Kreisdirektion, in der Stadt Braunschweig die Herzogliche Polizeidirektion, hat, falls das Kind zur Aufnahme in die Anstalt geeignet erscheint, den zur Erziehung desselben Verpflichteten zu hören und, falls letzterer Einwendungen nicht erhebt, die Unterbringung des Kindes in der Anstalt zu veranlassen. Wird von dem zur Erziehung Verpflichteten eingewendet, dass auf andere Weise für die er- forderliche Ausbildung des Kindes ausreichend Sorge getragen, oder dass dasselbe zur Aufnahme in die Anstalt ungeeignet sei, so hat die Herzogliche Kreisdirektion bezw. Polizeidirektion den Sachverhalt festzustellen und, wenn nach dem Ergebnis und dem erforderlichenfalls einzuholenden sachverständigen Gutachten die Unterbringung des Kindes in der Anstalt geboten erscheint, solche zu verfüge. Die Verfügung ist dem zur Erziehung Verpflichteten schriftlich zuzuferiigen und kann von demselben binnen 14 Tagen im Instanzenwege angefochten werden. Nach erfolgter endgiltiger Ent- scheidung hat Herzogliche Kreisdirektion bezw. Polizeidirektion erforderlichenfalls die zwangsweise Eimlieforung des Kindes in die Anstalt zu bewirken.

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& 4. Ist von Unterbringung eines Kindes in der Anstalt abgesehen, und fallen während der Dauer des schulpflichtigen Alters desselben die Gründe, welche hierzu geführt haben, fort, so ist das durch $ 8 vorgeschriebene Verfahren wiederholt ein- zuleiten.

8 5. Die durch Unterbringung des Kindes in der Anstalt entstehenden Kosten sind mit Einschluss der Kosten für die Einlieferung von dem zur Erziehung desselben Verpflichteten zu tragen bezw. aus dem Vermögen des Kindes selbst zu erstatten, und werden bei Zahlungssäumnis im Verwaltungswege zwangsweise beigetrieben Insoweit die zunächst Verpflichteten zur Erstattung der Kosten nicht imstande sind, fallen letztere den Ortsarmenverbänden, und wenn ein verpflichteter Ortsarmenverband im Horzogtume nicht vorhanden ist, dem Landarmenverbande zur Last.

8 6. Die zur Ausführung dieses Gesetzes sonst erforderlichen Bestimmungen werden im Verwalturgswege getroffen.

8 7. Dieses Gesetz tritt bezüglich der nicht vollsinnigen Kinder mit dem 1. April 1895 in Kraft. Bezüglich der schwach- oder blödsinnigen Kinder wird der Zeitpunkt des Inkraftiretens durch höchste Verorduung bestimmt.*)

Mitteilungen.

Dresden. (Porsonalien.) Dem Herausgeber dieser Zeitschrift, Stadtrat Direktor W. Schröter, wurde anlässlich des 25jährigen Bestehens seiner Anstalt und, wie das Allerböchste Dekret sagt, „in Anerkennung seiner Verdienste um das Erziebungs- wesen der Schwachsinnigen® das Ritterkreuz I. Klasse des K. 8. Albrechteordens verlieben. Am 8. d. M. starb in Mügeln im Alter von 71 Jahren Obermedizinal- rat Dr. K. A. Köhler, ehemaliger Direktor der K. 3. Landesanstalt Habertusburg und als solcher thátiges Mifglied unserer ersten Konferenzen, besenders derjenigen im Leipzig und Hubertusberg. Unsere Zeitschrift verdankt ihm mehrere treffliche Arbeiten.

Idstem (Erziohuugsanstalt) Am 1. September v. J. feierte die Anstalt ihr zehntes Stiftungsfest: An demselben nahmen diesmal nicht nur die Vor- standsmitgheder und die nächsten Gönner und Freunde der Anstalt teil, sondern os hatten sich noch viele andere Damen und Herrn samentlich aus Fraakfart dazu emgefunden. Die Peier fand aaf dem gerdumigen Turspiatz und uster dem Schatten der altehrwirdigen Linde statt, welch letztere im Mittelpankt des Anstalte- hages ihre gewaltigen Äste ausbreitete. Nachdem der Anstaltschor bestehend ats Pflegen, Pfegerinnen und einigen besseren Zigiingen uster der Leitung emes Lehrers der Anstalt em Lied vergetragen hatte, begrfisste Herr Konsistorialrat D. Ehlers, der Vorsitzende des Ausschusses, de auwessuden Gäste mit herzlichen Worten and gab einen kurzen Räckblick über de Batstehmg, Batwickieng, Thälig- keit und fernere Anfzabe der Anstalt. Mit dankbarem Aufblick zum Vater aller Gite und mit der Bitte an die Festgäste, auch fernerhin der Anstalt ein warmen Andenken bewahren zu wollen, schices der Redner. Der Leiter der Anstalt, Herr Direktor

) Wenn die Idietenaustalt W. Erkerode einen grosses Neuben aufgeführt hat. Gegen wärtäg it dieselbe sicht immstunde, alle Idisten des Landes sufsuuchmen.

Schwenk, machte in seiner Ansprache die Mitteilung, dass sich gegenwärtig 115 Zöglinge in der Anstalt befänden; ca. 80 Schüler werden in 5 Klassen von 3 semi- naristisch gebildeten und geprüften Lehrern und 2 Lehrerinnen unterrichtet. Im ganzen sind während der 10 Jahre 170 Kinder durch die Anstaltspflege gegangen; 14 wurden als vollständig erwerbsfähig entlassen; an Anmeldungen mussten 250 zurückgewiesen werden. Nach dem offiziellen Teil der Feier, welche mit einem Ge- sang der Kinder schloss, trugen Zöglinge aus den einzelnen Unterrichtsklassen noch verschiedene Schulgedichte vor, die teilweise recht beifällig aufgenommen wurden- Auch die Übungen der beiden Knabenturnabteilungen, sowie die Singspiele der Mädchen fanden viele Anerkennung. Mit einem Gang durch den wohlgepflegten Anstaltsgarten und durch die verschiedenen Anstaltsräumlichkeiten (in einem Schulzimmer waren die Arbeiten des Knaben- und Mädchenhandfertigkeitsunterrichtes ausgestellt) schloss die kleine Feier.

Die beiden Gedichte, welche zum Empfang der Gäste von zwei befähigteren Schülern gesprochen wurden und die besonderen Beifall fanden, seien hier noch beigefügt:

I. „Gott grüsse euch in dieser Festesstunde! Willkommen hier, ihr lieben Gäste all!“ So klingt es hell und froh aus jedem Munde Entgegen euch mit lautem Jubelschall.

Euch grüsst das Haus es flattern bunt im Winde Des Festgewandes Fahnen alizumal, Und lächelnd spielt umduftendes Gewinde Des Abends letzter goldner Sonnenstrahl.

Es grüsst der Hag in seinem grünen Kleide Und mit den letzten Kindern seiner Flur geschmückt; Aus seinem prunklos schlichten Herbstgeschmeide Euch grüssend manche Frucht entgegenblickt.

Die Linde auch mit ihrem wogenden Geäste Rauscht euch ein fröhliches Willkommen zu; Noch einmal lauscht sie einem unsrer Feste, Eh sie sich schlafen legt zu Winters Ruh.

Und auch von uns, den schwachen Kindern allen, Die wir gefunden hier ein Vaterhaus, Ertön entgegen euch als Gruss dies Lallen: O fühlt des Herzens stummen Dank heraus!

So möge denn der liebe Vater droben Mit seinem Segen heute bei uns sein, Und unsrer Freude, unsrem Danken, Loben Den wahren Geist, die rechte Kraft verleihn! C. Ziegler.

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H.

Nicht buntes Festgepränge, nicht lauter Glockenschall, Nicht donnernder Kanonen vielstimm’ger Widerhall Begrüsst euch, die ihr heute, auf unsern Ruf bereit,

Zu unsrem Stiftungsfeste hierhergekommen seid.

Nicht gilt es, heut zu feiern mit Glanz und hoher Pracht Den Ruhm von Fürstenthronen und stolzer Herrschermacht! Es klingen keine Lieder von Krieg und Kampfesmut,

Von grossen Heldenthaten, von Eisen und von Blut,

Auch nicht was Menschenweisheit und hohe Kunst erfand Und stolz an kühnen Werken durch Menschenkraft erstand Soll heut gefeiert werden nein, prunklos, schlicht und klein, Soll unsre stille Feier ein Fest der Liebe sein.

Der Liebe, die erbarmend und helfend stets sich zeigt Und auch zum Allerärnsten sich mild herunterneigt, Die, fern von Ruhmesgrösse, verborgne Pfade zieht, Und still in jedem Herzen als Gottesfunke glüht.

Auch hier hat sie gewaltet an diesem schlichten Ort Geduld und Güte übend zehn lange Jahre fort. Aus dem bescheidnen Keime wuchs stark ein Baum heran, Auf dem manch armes Vöglein sich sicher wiegen kann.

Und ihr, die ihr den Samen einst in die Erd’ gelegt, Mit liebevollen Händen das Bäumchen stets gepflegt, Vernehmt zum Dank die Lieder, die wir in frischer Lust Heut in die Lüfle singen aus frohbewegter Brust.

Dir aber, guter Vater, sei Lob und Dank gebracht, Der du bisher so freundlich hast über uns gewacht: O lass den Baum auch ferner froh wachsen und gedeihn,

Schenk stets ihm milden Regen und heitern Sonnenschein! C. Ziegler.

Kattowifz. (Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt.) Aus dem Verwaltungs- berichte der Anstalt fir 1897/98 ist folgendes zu entnehmen: Der etwa 25 ar grosse Anstaltsgarten wurde von den Pfleglingen mit Hilfe der Pfleger bearbeitet und lieferte für die Anstaltsküche sämtliches Gemüse, sowie eine Menge Beerenobst. Eine Erweiterung des Terrains erscheint sehr wünschenswert, um den Kranken die Wohlthat der Beschäftigung im Freien im grösseren Massstabe gewähren zu können. Der Pfleglingsbestand betrug am 31. Marz v. J. 69 männliche und 40 weibliche, zusammen 109 Kranke. Neu aufgenommen wurden im Berichtsjahre 34 Kranke (21 männliche und 13 weibliche), dagegen gingen durch Versetzung in andere Anstalten, durch Unterbringung in Lehr- und Dienstverhältnisse, durch Entlassung nach Hause und durch Tod 16 Kranke (12 männliche, 4 weibliche) ab. Es verblieb

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demnach am 81. März 1898 ein Bestand von 127 Pfleglingen (78 männliche und 49 weibliche), und 114 ortsarme und 18 landarme. 87 Pfleglinge waren über und 40 unter 14 Jahre alt. An schwerer Idiotie litten 8, an Imbecillität 69, an Taub- stummheit und Idiotie 9: an Blindheit und Idiotie 4, an Missbildungen des Körpers, besonders der oberen und unteren Extremitäten und Lähmungen 7 und an Epilepsie ohne Geistesstörung 30 Kranke. Von den Pfleglingen nahmen 95 am Unterricht teil. Die zwei unteren Klassen erhielten vorbereitenden Unterricht. Derselbe hatte den Zweck, die körperliche und geistige Entwickelung der Pfleglinge soweit zu fördern, dass dieselben mit der Zeit befähigt werden, an dem eigentlichen Schulunterricht teilzunehmen. Bei einem Teile der Pfleglinge gelang dies trotz grosser Mühe nicht. Erfreulicher waren die Resultate in den drei höheren Klassen. Hier wurde in den einzelnen Disziplinen der Volksschule unterrichtet. Es wurde nicht darauf gesehen, den Schülern oberflächlich eine Menge von Kenntnissen beizubringen, sondern ihre Geisteskräfte zu fördern, darum wurde auf ein richtiges und verständiges Erfassen und tüchtiges Üben besonderes Gewicht gelegt. Die am Schlusse des Jahres veran- staltete Schulprüfung zeigte, dass der Unterricht an einer grossen Zahl von Pfleglingen, wenn auch mühevoll, so doch nicht vergeblich war. Ein Teil der Pfleglinge wurde zu häuslichen Arbeiten verwendet, und Dienstpersonal wurde deshalb ausser einem Küchenmädchen nicht gehalten. Die weiblichen Pfleglinge wurden täglich 11/, Stunden im Stricken, Nähen und den Anfängen des Stickens unterwiesen; in gleicher Weise wurden männliche Kranke als Handwerker ausgebildet und im Interesse der Anstalt beschäftigt, sodass diese ihren Bedarf zum grössten Teil selbst decken konnte.

Uchtspringe (Landes-Heil- und Pfleganstalt). Aus dem 2. Verwaltungs- berichte, der es wegen seines reichen und interessanten Inhaltes verdiente, im Buch- handel zu erscheinen, entnehmen wir, dass die Zahl der in die Anstalt aufzunehmenden Kranken ständig wächst. Die Schnelligkeit des Aufnahmeverfahrens lässt kaum mehr etwas zu wünschen übrig. Die Erfahrung hat gelehrt, dass das Publikum sich immer mehr und mehr daran gewöhnt, bei frisch ausbrechenden Geisteskrankheiten rechtzeitig in der Anstalt Hilfe zu suchen. Es wird dadurch Unheil verhütet und eine Besserung der Heilchancen für den Kranken bedingt. Thatsächlich wurden aus U. im Berichts- abschnitt als geheilt oder nicht mehr anstaltspflegebedirftig 25°), Geisteskranke entlassen.

Unter den in der Berichtszeit vorgekommenen 97 Todesfällen steht dem, Charakter des Krankenmaterials entsprechend die Zahl der verstorbenen Epileptiker mit 45 im Vordergrund. Die im „epileptischen Status® (serienweise auftretende Krampfanfälle) Verstorbenen haben gegenüber dem 1. Bericht wesentlich abgenommen. (Damals 7:16, diesmal 7:97.) Diese Beobachtung steht im Zusammenhange mit der im 1. Bericht bereits hervorgehobenen Thatsache, dass bei längerer Anstaltsbehandlung (Bettruhe, Regelung der Diät und des Stoffwechsels, methodische Arzneidarreichung) die epileptischen Anfälle an Zahl und Heftigkeit wesentlich abnehmen und dass namentlich die Fälle von schwerem „epileptischen Status“ seltener werde. Auch gelang es in einer grossen Anzahl von Fällen durch therapeutische Massregeln (Dauerbäder, lange Chloroform- narkose, subkutane Einspritzung von Narkoticis, Aderlass mit nachfolgender Kochsalz- infusion) die gehäuften Anfälle sofort zum Stillstand zu bringen und dadurch dem

drohenden Erschöpfungstod vorzubeugen. Eine weitere Zahl von Todesfällen betrifft diejenigen Epileptiker, welche ebenfalls an ihren epileptischen Leiden starben, aber nicht direkt ein Krampfanfall, sondern entweder an den erst später auftretenden Folgeerscheinungen derselben, namentlich Lungenentzändungen, oder welche ohne vorhergehenden Krampfanfall einer plötzlich auftretenden Herzschwäche erlagen. Unter den bei den Sektionen der verstorbenen Epileptiker erhobenen Befunden interessieren vor allem die Verändernngen am Centralnervensystem: angeborene Spalt- und Höhlenbildung, Atrophie einzelner Windungen, Geschwülste, Blasenwurm. Als häufiger Befund ist zu erwähnen eine eigentümliche derbe Beschaffenheit der Rinden- substanz, der mikroskopisch eine Zunahme der Stützsubstanz an Zahl und Grösse der Elemente entsprach. Beim Tod im Anfall fanden sich sehr häufig kleinste Blutungen im verlängerten Mark in der Gegend der lebenswichtigen Centra.

Als unstreitig mit der Epilepsie im Zusammenhange stehende Befunde sind zu erwähnen: starke Biutanschoppung in allen Körperorganen, ausgedehnter fettiger Zerfall des Herzmuskels, des Leber- und Nierengewebes. Die Vermutung liegt nahe, diese Verfettungen zusammen mit den oben erwähnten Blutungen im ver- längerten Mark als Giftwirkung aufzufassen. Diese Befunde bilden demnach eine Stütze für die aus klinischen Gründen wahrscheinlichoe Annahme, dass bei. manchen Epileptikern Bigengifte gebildet werden, die zur Auslösung der Paroxysmen führen.

In gesundheitlicher Beziehung sind der Anstalt schwere Heimsuchungen nicht erspart geblieben. Von den Infektionskrankheiten herrschte vor allen Dingen der Unterleibstyphus; von ihm warden 58 Personen im ganzen befallen, von denen 8 starben. Eine Infektion durch Trinkwasser erscheint ausgeschlossen, die Krankheits- keime sind aller Wahrscheinlichkeit nach durch Bauarbeiter aus dem benachbarten Dorfe Börgitz nach dem Anstaltsterrain eingeschleppt worden. Während dieser Epidemie bewies das Pflegepersonal rühmliche Ausdauer und Unverzagtheit. Unglücksfälle brachte der verflossene Abschnitt 2. Ein während der Nacht ent- wichener Paralytiker starb wuhl infolge der vermehrten Anstrengung noch in derseiben Nacht. Ein 20jähriger, bis dahin vollkommen harmioser Epileptiker. der be- reits viele Monate lang ohne Anfall geblieben und schon zur Entlassung in Aussicht genommen war, stiess einem anderen Kranken das Taschenmesser, das er sich tags vorher zu verschaffen gewusst hatte, in die Herzgegend, so dass derselbe alsbald starb. Ein Beweis, wie vorsichtig man bei derartigen Kranken mit der Überlassung gefährlicher Instramente sein muss. Entweichungen von mehr als zwölfstündiger Dauer sind im ganzen 7 vorgekommen. Behandlungs- ergebnisse: Die Aufgabe der Anstalt besteht nach Ansicht Dr. Alts darin, die heilbaren Kranken möglichst rasch gesund zu machen, die besserungsfähigen soweit zu fördern, dass sie denkbar wenig unter ihrer Krankheit leiden und dem Angehörigen wie ihren Mitbürgern möglichst wenig zur Last fallen, den unheilbares und nicht der Besserung fähigen für die Zeit ihres Lebens und Leidens gute Pflege zu gewähren und ihnen das Leben erträglich zu gestalten. Däs Behandinngs- ergebnis ist trotz besonderer Schwierigkeiten ein überaus erfrealiches und ermotigenden, In der Anstalt wurden 3 Gruppen von Kranken behandelt: 1. Idioten (und Imbecille). 2. Krampfleidende (und zwar meist Epileptiker) mit oder ohne gleich-

46 zeitige Seelenstérung. 3. Geisteskranke ohne Komplikation mit Epilepsie etc. Bei 33°/, der Geisteskranken (mit Ausschluss der Puralytiker) wurde eine Heilung bezw. derartige Besserung erzielt, dass sie in die häuslichen Verhältnisse zurück- kehren konnten.

Von den Epileptikern konnten bereits 386 als geheilt und 44 als nicht mehr austaltsbedirftig entlassen werden. Als „geheilt“ wurden diese angesehen, wenn die Leute sehr lange vielfach ein ganzes Jahr vollkommen frei von Anfällen und anderweitigen Störungen waren und nach ihrer probeweisen Rückversetzung in die häuslichen Verhältnisse gesund blieben. Interessant ist, dass das bis jetzt in U. er-

mittelte Prozentverhältnis der Geheilten etwas über 11 °/) annähernd dem seiner Zeit von Dr. Wildermuth in seinem Gutachten angegebenen Verhältnis entspricht.

Die Behandlung der Epileptiker stellt nach Dr. Alts Ansicht dann, wenn sie eine rationelle und aussichtsvolle sein soll, überaus grosse Anforderungen an die Ärzte, sowohl in Bezug auf Zeitaufwand als auch auf Spezialerfahrung. Die vielfach geäusserte Ansicht, dass in einer Anstalt für Epileptische weniger Ärzte erforderlich seion als in einer Irrenanstalt, muss nach den in U. (und auch anderwärts! der Ref.) gemachten Erfahrungen als durchaus falsch bezeichnet werden, es sei denn, dass man sich mit einer ganz schematischen Behandlung begnügt. Jeder einzelne Epileptiker will be- sonders studiert und dementsprechend behandelt werden, eine weitausschauende Prophylaxe vermag gar häufig allein den Ausbruch der Anfälle zu verhüten und damit die Labilität des Nervensystems herabzusetzen. Eine eigenartige Einrichtung besitzt die Anstalt in ihrer „Familienpflege“. Als sicherstes Mittel, ein sess- haftes tüchtiges Pflegepersonal zu gewinnen, erschien die Möglichkeit, geeignete Familienwohnnngen von seiten der Anstalt zu bieten. Es wurde deshalb die Gründung eines Dörfchens angestrebt. Daneben bestand die Absicht, in dem neu gegründeten Dérfchen jeder Familie eine Anzahl von Kranken in Pflege zu geben und so einen Ausgangspunkt fir die Verbritung der familiären Krankenpflege in der Umgebung der Anstalt zu schaffen. Die Familienpflege soll nach abgeschlossener Behandlung als Übergangsstation zur völligen Entlassung dienen. Hierbei ist zu erwähnen, dass die Epileptiker sich, selbst, wenn monatelang keine Anfälle in der Austalt beobachtet waren, im ganzen als wonig geeignet für die familiäre Pflege erwiesen, Auch unter den Blöden und den zurückgebliebenen Kindern fanden sich einige, bei denen unver- kennbar ein ungünstiger Einfluss der freien Verhältnisse beobachtet wurde. Dr. Alt hofft, dass diese Misserfolge zum Teil mit auf der mangelhaften Erfahrung und Geschicklichkeit im Umgange mit solchen Kranken seitens der Familien beruhen. Im allgemeinen konnte ger.de bei den Kindern, sowohl von ärztlicher Seite als auch von seiten der Schule wahrgenommen werden, dass dieselhen geweckter wurden, sich freier und selbständiger bewegten und merkliche Fortschritte in ihrer geistigen Entwicklung machten. j

Die Sorge für eine zweckmässige Beschäftigung der Kranken war bereits im 1. Verwaltungsbericht als eine Hauptaufgabe der Anstaltsärzte bezeichnet worden. In der Ansführung dieses Grundsatzes ist der Beschäftigung der Kranken auch im

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abgelaufenen Berichtsjahre besondere Aufmerksamkeit gewidmet worden. Das Ge- samtresultat der Arbeıtsleistungen muss als ein überaus erfreuliches bezeichnet werden. Der regelmässig stattfindende Gottesdienst wurde in der Kupelle des Leichenhauses abgehalten. Die Beschränktheit des Raumes machte sich mit dem Wachsen der Anstalt mehr und mehr fühlbar. Um diesem Übelstand wenigstens in etwas abzuheifen, fand Sonntags je ein getrennter evangelischer Gottesdienst für die Männer und Frauen statt Aber auch so reichte der Platz noch immer nicht ganz und es wird mit Rücksicht auf den grossen Umfang der Anstalt and die Anzahl ihrer Insassen, der Kranken wie Gesunden (über 1200), wohl ein eigenes Gotteshaus errichtet werden müsseu. Da trotz vorsichtiger Auswahl der zur Kirche gebenden Kranken es sich doch nicht immer vermeiden liess, da’s ein oder der andere Kranke während des Gottesdienstes von Krämpfen befallen wurde, was bei den sehr engen Raum verbältnissen hauptsächlich für die Familienangehörigen der Beamten und Bediensteten unangenehm, wenn nicht nachteilig werden könnte, so wurde am 1. Sonntag eines jeden Monats überdies noch ein besonderer Beamtengottesdienst abgehalten. Die mancherseits geäus:erte Auffassung, dass die Epileptiker ein besonders gesteigertes religiöses Bedü:fnis bekunden sollen, konnte auf Grund der Uchtspringer Erfahrungen nicht bestätigt werden. - Es fanden auch Gottesdienste für Katholiken statt, während die 3 Israeliten Urlaub im ihre Heimat erbieltes, um zu Hause der Tröstungen ihres Glaubens teilbhaftig zu werden.

In den Schuleinrichtungen ist ein besonderer Fortschritt zu verzeichnen. Das Schulgebäude ist seit Beginn des Berichtsabschnittes in Benutzung (4 Klassen- zimmer mit 2sitzigen Banken nach dem System Hyan-Berlin). Die Kinder der 3 ereten Abteilungen empfangen täglich 3, die der beiden letzten Abteilungen täglich 2 Stunden Unterricht und zwar zum Teil in ' „stündigen Lektionen. Eine grinsere Anzahl der Mädchen der I. Abteilung wurden, da sie infolge dea Schulhesuchs häufiger von Krampfanfällen heimgesncht und dadurch auch in der geistigen Leistanzs- fähigkeit beeinträchtirt wurden, auf der Station im Bett mit gntem Erfo!z nnterrichtet. Neben der Anstaltsschule für kranke Kinder ist seit dem 2. Jannar 1796 eine Privatsehule mit dem Ziele der Volksschule für die Kinder der Anataite- beamten eingerichtet worden .12 Kinder, 8 Knaben, 4 Mädchen, Un'errieht täglich von 8— 11 morgens und 3 mal des Nachmittags). Von den kranken Kindern besuchten die Schule 101 Kinder. In den Unterricht teilten sich 2 geprüfte mäsn- liche, 2 geprüfte weibliche Lebrirafte nnd ein Inakon.

Besondere Sorwfalt hat der Berichterstatter dem Wartepersanal migewentet. Für das warme Interesse, das Direktor Dr. Alt diesem Stande entgegenhringt, spricht schon die Herausgabe „ler Irrenpflege, eines Mnnatabiattes zur Hehnng, Be— lehrung und Unterhaltung des Irrenpflegeperznnala*. anf die hiermit ganz hes nders aufmerksam gemacht werden snil. Dass der Heranagaber aner nicht nur mit Worten, sondern anch im der Thai dem Pflegepermnale sein Ppaaein m erleichtaem heatraht ist, geht ans den Äirerichinneen, die n U. bestehen, zmr (ewige kervar.

Die als Wärter ausgebildeten Handwerker and die im Anasendienat. heaschaftiotan Wärter, denen eine Familienwsonnng üherwiesen werden konnte, traten margena

48 6°/, Uhr ihren Dienst an, gehen über Mittag eine Stunde zum Essen nach Hause und sind des Abends um 7 Uhr wieder bei ihrer Familie.

Wenn wir erst, so schreibt Dr. Alt weiter, in der Lage sind, demim eigentlichen Krankendienst stehenden erprobten Wärtern in gleicher Weise die so notwendige Ansspannung von dem angreifenden Dienst, die Führung eines geordneten Familien- lebens, die Teilnahme am häuslichen Tisch zu gestatten, dann werden wir auch für diesen schweren Beruf die geeigneten Kräfte gewinnen, fest halten und frisch erhalten können. Durch entsprechende Aufbesserung der Löhne etc. wird schon ein gutes Rekrutierungsmaterial gesichert werden.

Die Schaffung eines tüchtigen und berufstreuen Pflegepersouals, die Gewährung der dazu erforderlichen Mittel ist eine heilige Pflicht aller beteiligten und berufenen Organe, denn ohne ein solches Pflegepersonal ist, wie der bekannte Hallesche Irren- arzt Reil vor nunmehr 100 Jahren schon sagte, „der gescheuteste Arzt gelähmt, wie der Handwerker ohne Werkzeug“. Dass von seiten der Anstaltsleitung Alles aufgeboten wurde, um die Härten des Dienstes zu mildern wir erwähnen hier nur z. B. die Einführung eines besonderen Nachtpersonals um dem Persunal in den dienstfreien Zeiten die so nötige Erholung zu verschaffen (durch Einrichtung be- haglicher Unterhaltungszimmer etc.) bedarf keines besonderen Hinweises,

Das sind goldeno Worte und ein erfreulicher Beweis für die Thatsache, dass auch ärztlicherseits sozialpolitischen Fragen Rechnung getragen und tiefes Verständnis entgegengebracht wird. Dass aber diese Verbesserung der Verhältnisse des Pflege- personals indirekt auch der unserer Obhut anvertrauten Kranken zu Gute kommt, ist unschwer zu ersehen. Wird doch hierdurch ein williges und zufriedenes Personal geschaffen, unter dessen Pflege die Kranken sich wohlfühlen müssen, während im entgegengesetzten Falle die fortwährend im Dienste befindlichen und dadurch geistig und- körperlich überanstrengten Leute zum mindesten abgestumpft und nachlässig werden oder womöglich gar direkt ihren Missmut und ihre Verstimmung den armen Pfleglingen entgelten lassen. Wem irgend die Gelegenheit sich bietet, den bier im Auszug und nur ganz brockenweise wiedergegebenen Bericht zu erlangen, der nehme unter allen Umständen von dem Original Einsicht. Es bietet des Interessanten

ausserordentlich vie. Dem unter seinem thatkräftigen und zielbewussten Leiter so herrlich gedeihenden Unternehmen aber wünschen wir eine reichgesegnete Zukunft! Ack,

Zur Beachtung.

Berichte über die IX. Konferenz tür Idiotenwesen am 6. bis 9. September 1898 in Breslau sind à 1 Mark zu haben bei dem Vorsitzenden H. Piper-Dalldorf.

Inhalt. Nachruf, Sengelmann betr. Der Artikulations-Unterricht bei geistesschwachen Kindern (Fr. Frenzel). Bericht über die IX. Konferenz (Müller) Mitteilungen. Zur Beachtung. nn

Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden, Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden.

Druck von Johannes Pissler in Dresden.

Nr. 3. V. (IX)

Zeitsehrift

für die

Behandlung Schwachsinniger nnd Eplleplischer.

Organ der Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

herausgegeben von

W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, Direktor der Ersiehungsanstalt Spezialarzt für geistig Zurlickgebliebene in für Nervenkrankheiten Dresden - in Stuttgart. Erscheint jährlich in 12 Nummern von | Zu beziehen durch alle Buchhandlungen mindestens einem Bogen. Anzeigen für 1899 und Postämter, wie auch direkt von den die gespaltene Petitzelle 35 Pfg. Litte- rz e Herausgebern. Preis pro Jahr 6 Mark, rarische Bellagen 6 Mark. einzelne Nummer 50 Pfg.

Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber.

IX. Konferenz für Idiotenpflege und Schulen für schwachbefähigte Kinder.

(Schluss.)

Vorsitzender Erziehungsinspektor Piper eröffnet die Sitzung und erteilt Herrn Stadtrat Martius das Wort, welcher im Namen des Magistrats herzliche Worte der Begrüssung an die Versammlung richtet. Der Vorsitzende erwidert die Begrüssung und ersucht hierauf Direktor Kölle-Regensberg seinen Vortrag zu halten. |

Das Erwachen der Psyche. Leitende Sätze:

1. Der Idiotenlehrer soll auf der psychischen Kenntnis seiner Schüler einen zweckentsprechenden Lehrplan aufbauen.

2. Die Psychologie Herbarts, die gegenwärtig die ganze deutsche Pädagogik beherrscht, kann nicht genügen.

3. Es ist durchaus nötig, auf die Psychologie von Kant zurückzugehen.

4. Dies geschieht meistens von seiten hervorragender Psychiater.

5. Die Psychiatrie nimmt aber, mit Unrecht, die Hirnanatomie und Physiologie als Basis einer fruchtbaren Psychologie an.

6. Psychologie kann nicht auf Gehirnanatomie und Physiologie basiert werden, sie muss sich durchaus auf die Beobachtung der psychischen Thätigkeit stützen.

7. Psychische Thätigkeit ist die Wechselwirkung von Subjekt und Objekt.

. Subjekt ist dasjenige, um dessen psychische Thätigkeit es sich handelt. 9. Objekt ist dasjenige, auf das sich die Thätigkeit des Subjektes bezieht.

oo

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10. Das Objekt als „Ding an sich“ kann nie erkannt werden, es kann sich nur durch seine Erscheinungen auf das Subjekt beziehen.

11. Diese Erscheinungen können nur durch ihre bestimmten Medien auf die Organe des Subjektes wirken.

12. Das Subjekt bezieht sich durch seine Organe (Sinne, Nerven, Central- organ) auf die Medien.

13. Das Subjekt muss receptiv sein, um den vom Objekt ausgehenden Reiz auf sich wirken lassen zu können; es muss auch spontan sein, um sich auf das Objekt beziehen zu können.

14. Spontaneität kann alg Vermögen der Seele definiert werden, „Eins“ von „Nicht Eins“ zu unterscheiden.

15. Die elementarste Thätigkeit der Seele ist nicht eine synthetische, sondern eine analytische.

16. Das Fortschreiten von „Eins“ zu „Nicht Eins“ hat die Wahrnehmung von Raum und Zeit zur Folge und dadurch ist das Subjekt zum Bewusstsein erwacht.

17. Die praktische Anwendung dieser Theorien ist in der Vorschule schon teilweise angebahnt.

Hochgeehrte Versammlung!

Für die IX. Konferenz für Idiotenpflege erlaubte ich mir ein Thema vor- zuschlagen, das mir für unsere Arbeiten von besonderer Wichtigkeit zu sein scheint. Wenn ich es heute, im Einverständnis mit unserem verehrten Vorstande, übernehme, meine Ansichten Ihnen vorzutragen über das seelische Erwachen, so bitte ich Sie zum Voraus um Nachsicht. Es muss gewagt erscheinen, an eine so schwierige Aufgabe heranzutreten und doppelt gewagt, wenn versucht werden will, !in der so kurzen Zeit, die zur Verfügung steht, eine so schwierige Frage zu beantworten. Es ist auch nur möglich, in ganz weiten Umrissen und Andeutungen die Sache zu behandeln. Mir aber ist es von grossem Werte, dass einmal im Schooss unserer Konferenz an die Frage herangetreten wird. Der Idiotenlehrer, der es tagtäglich in der Schule mit unlösbar scheinenden psychischen Aufgaben zu thun hat, soll nicht bloss immer tasten und probieren, Methoden und pädagogische Ansichten von andern entlehnen, sondern er soll selbst Hand anlegen, seine Schüler kennen lernen und auf der psychologischen Kenntnis seiner Kinder einen bestimmten Lehrplan aufbauen. Vielleicht gelingt es dann doch endlich, für alle Idiotenanstalten einen gemeinschaftlichen Lehrplan und für die einzelnen Disziplinen eine bestimmte Unterrichtsmethode aufzustellen, nach der sich Anfänger richten können, wie dies in Blinden- und Taubstummen- anstalten schon längst der Fall ist.

Wenn ich durch mein Thema Anstoss gegeben habe, dass mehr in dieser Richtung gearbeitet wird, dass endlich die lose umherliegenden Bausteine zu einem festen Gebäude zusammengefügt werden, dann habe ich mein Ziel erreicht.

Nicht am wenigsten trägt zu der Zerfabrenheit, die im grossen ganzen in der Unterrichtsmethode an Idiotenanstalten noch herrscht, der Umstand bei, dass, wenn auch meistens pädagogisch gebildete Lehrer sich am Unterricht und an

der Erziehung von Idioten beteiligen, doch häufig Leute aus allen Berufsklassen zu dieser Arbeit herangezogen werden und jeder nach seinem augenblicklichen Gutdenken die Arbeit in die Hand nimmt.

Wer von der Volksschule aus übertritt zum Werk der Idiotenerziehung, der wandelt fast immer auf den Wegen Herbarts. Die Herbartsche Pädagogik und Psychologie beherrschen gegenwärtig die ganze deutsche Schule. Wir begrüssen die Pädagogik von Herbart und anerkennen ilıre ausserordentlichen Vorzüge. Dagegen können wir uns nicht mit der Herbartschen Psychologie befreunden. Wenn seine Psychologie eine Bearbeitung der Begriffe ist und in seiner Psycho- logie der Mathematik eine ganz hervorragende Stelle angewiesen wird, um das Maas der „Selbsterhaltung gegen drohende Störungen von aussen“ zu bestimmen, so muss sie es sich selbst zuschreiben, wenn ihr der Vorwurf gemacht wird, dass sie arm an fruchtbaren Gesichtspunkten geblieben sei.

Dasselbe darf wohl von der ganzen neueren Philosophie gesagt werden.

Mit Ausnahme von Fechner und Lotze haben wenige Philosophen der Neuzeit Wichtiges geleistet auf dem Gebiet der Psychologie.

Dieses ganze Gebiet scheint mehr und ınehr von den Medizinern an sich gerissen zu werden. Der Psychiater, der sich mit der Kenntnis der seelischen Krank- heiten zu befassen hat, musste notwendig zum Psychologen werden. Kein Beruf verlangt so kategorisch ein eingehendes Studium der Psychologie als der des Irrenarztes. Das Messer ist ihm gleichsam auf die Brust gesetzt, sobald er sich mit Seelenkrankheiten beschäftigt. Er mag wollen oder nicht, er muss das Seelenleben seiner Forschung unterziehen.

Es ist ganz naturgemäss, dass die Mediziner die Arbeit von einer ganz andern Seite in Angriff nehmen als die Philosophen. Wenn Geisteskrankheit als eine durch Krankheit des Centralorganes hervorgerufene Störung der psychischen Thätigkeit bezeichnet werden muss, so ist es selbstverständlich, dass der Arzt sein Hauptaugenmerk auf die Untersuchung des Centralorganes richtet, um zu erfahren, welche Krankheit eine bestimmte Störung hervorgebracht habe.

Der Psychologe freilich kann dieses Vorgehen nicht zum Voraus billigen. Er wird auf seinem Standpunkte beharren, dass die Psyche durch ihre Äusserungen und Funktionen erkannt werden müsse. Und sie hat gewiss den Medizinern gegenüber das Recht zu fragen: Wie weit kamen die Untersuchungen der Physionomie, der Phrenologie Galls, wie weit kamen die neuesten Unter- suchungen des Gehirns selbst? Und was hat dem gegenüber die Psychologie eines Aristoteles und Kant geleistet ?

Welche Veränderungen alle die verschiedenen Krankheiten, seien sie be- dingt durch Heredität, durch Erkrankung des Embryos oder des Fötus, seien es Krankheiten in frühester Kindheit, die alle möglichen Ursachen haben können, welche Veränderungen sie am Gehirne selbst bewirken können, das ist bis jetzt noch wenig aufgeklärt, noch weniger aber konnte bestimmt werden, welche Be- deutung den einzelnen Gehirnteilen für die psychische Funktion zukommt.

Die Gehirn-Anatomie und Physiologie machte in den letzten Zeiten grosse Fortschritte, und es darf angenommen werden, dass sie für die Psychologie eine

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ganz hervorragende Stütze wird... Was sie bis jetzt gefunden hat, ist freilich nicht viel mehr, als dass der Verlauf der Sinnesnerven bis in die graue Sub- stanz des Grosshirns verfolgt werden konnte. Ferner liess sich ınikroskopisch nachweisen, dass grössere Centren des Gehirns sich in ihrer Struktur von den Sinnescentren unterscheiden, dass aber angenommen wird, diese seien Associationscentren, ist rein hypothetisch. Es ist deshalb jedenfalls zuviel be- hauptet, wenn Flechsig neuerdings sagt: „Die Philosophie hat es trotz endloser Bemühungen noch nicht zum Range einer exakten Wissenschaft bringen können, nicht zuletzt deshalb, weil sie gezwungen war, unabhängig von der Gehirnlehre ibre Grundrisse zu bilden. Dank der wahrhaft naiven Voraussetzung, dass man die Funktionslehre eines Organes, wie das Gehirn, entwickeln könne, ohne das Organ selbst zu kennen, ist sie zum Tummelplatz, für allerhand selt- same Einfälle geworden, dagegen ausserordentlich arm geblieben an wirklich fruchtbaren Gesichtspunkten.“

Den „pbilosophischen Psychologen“ spricht Flechsig kurzweg die Fähigkeit ab, in der Psychologie ein Ziel zu erreichen, da dies nur dem Arzte möglich sel, der durch seine Untersuchung des Gehirns allein eine naturgemässe An- schauung über die Seele vermittle.

Könnte aus dem gleichen Grunde nicht auch der ganzen Astronomie die Daseinsberechtigung abgesprochen werden, die sich ganz auf die Mathematik stützt, ohne vorber durch die Geologen den Bau der Weltkörper untersucht zu haben?

Freilich gesteht Flechsig selbst zu: „Unser gesichertes Wissen beschränkt sich im wesentlichen auf die Gestaltungsverbältnisse, die Form der Gewebs- elemente, an welche die geistigen Erscheinungen geknüpft sind, ihre gegenseitige Verbindung, ihre Lokalisation im Gehirn. Ein Zurückführen auf die zu Grunde liegenden Substanzen und Kräfte ist noch nicht möglich: wir wissen nur, dass die im Gehirn vorhandenen chemischen Elemente in Betracht kommen; wir yermuten, dass diese Elemente sich im lebendigen Gehirn zu den kompliziertesten Körpern unsres Planeten verbinden, aber wir kennen vorläufig nur Zersetzungs- produkte der psychischen Substanz; und somit liegen selbst die vorstellbaren Grenzen des Naturerkennens auf diesem Gebiete noch in nebelhafter Form.“

Das ist also alles, was die Gehirnlehre bis jetzt errungen hat. Wenn diese Untersuchungen einmal soweit Erfolg haben, dass genau gesagt werden kann, wie das Gehirn anatomisch aufgebaut sei, wenn der Verlauf der Sinnesnerven und ihre Ausbreitung im Gehirn fixiert ist, wenn angegeben werden kann, wie der Reiz der Sinnesnerven sich auslöst in den Ganglien, wenn gefunden wird, wie die Ganglien unter einander in Verbindung stehen und den Nervenreiz umsetzen und einander mitteilen, wenn angegeben werden kann, bis zu welchem Punkte sich diese Reize fortsetzen, um auf ähnlichem Wege an die motorischen Nerven zu gelangen: dann ist erst in ganz groben Umrissen eine Physiologie des Gehirns angebahnt.

„Ins Innre der Natur dringt kein erschaffner Geist, glückselig, wem sie nur die äussre Hülle weist,“ heisst es dann noch immer. In das Wesen und

Weben der Psyche ist dann noch nicht die geringste Einsicht gewonnen. Und sollte es einmal gelingen, festzustellen, welcher Art die Veränderungen im Gehirne sind, die irgend einem physischen Vorgange entsprechen, ob chemisch, ob mechanisch etc., selbst dann wäre für das Wesen und Wirken der Psyche noch nichts gewonnen.

Wo es sich darum handelt, die einfachste Thätigkeit der gesunden Psyche festzustellen, Empfindung, Nachahmung, Vorstellung, Begriffe, Urteile, dann weiter Wille, Gefühl, Phantasie zu erklären, da wird eine rein naturwissenschaftliche Untersuchung zu keinem Ziele gelangen. Hierzu braucht es keine Gehirnanatomie und hierzu braucht der Sitz der Seele nicht aufgesucht zu werden, denn ein synthetischer Aufbau der Psychologie von jenem Punkte aus ist nicht möglich, er ist aber auch nicht nötig. Die Aufgabe der Psychologie bestand von jeher darin, die Äusserungen der Psyche zu beobachten, zu sichten und einzuteilen. Dies sind durchaus keine metaphysischen Spekulationen transcendentaler Schwärmer, sondern Aufgaben, die auf festem Boden stehen und jederzeit und überall reichliches Material zur Untersuchung finden. Diesen Arbeiten wird der Name einer exakten Wissenschaft nie genommen werden dürfen.

Und wenn auch von Aristoteles bis Kant viel ungereimtes Zeug zu Tag gefördert wurde, so zeigen doch gerade diese beiden Namen, dass die Psychologie es nicht mit nur metaphysischen Anwandlungen zu thun hatte.

Welche Wissenschaft hat ein exakteres Arbeiten aufzuweisen, als die Psychologie in Kants Kritik der reinen Vernunft? Wenn aber die Medizin den alleinigen Erfolg auf dem Gebiete der Psychologie für sich in Anspruch nehmen will, so vergisst sie eben, dass sie in diesen Untersuchungen bis jetzt einzig auf dem Boden der Philosophie steht, von ihr alle Begriffe entlehnt hat und diese von ihrem Standpunkt aus zu erklären sucht.

Wenn anatomisch und physiologisch nachgewiesen werden kann, dass die verschiedenen Sinnesthätigkeiten im Centralorgan auf bestimmte Sphären ange- wiesen sind und dass ausser diesen Sinnescentren noch Associationscentren be- stehen, so bestätigt dies nur die Ansicht der Psychologie, allein den inneren eben den eigentlichen psychischen Zusammenhang nachzuweisen, dazu wird kein Seciermesser und kein Mikroskop ausreichen.

Im übrigen steht aber die Psychiatrie mit ihren Vertretern der Psychologie der Philosophie nicht so entfernt wie es den Anschein haben könnte. Flechsig bemüht sich mit den „Grundlagen von Kants transcendentalen Formen der Anschauung und des Denkens in Berührung zu bleiben“. Und es ist bekannt, welch besonderer Verehrer von Kant Helmholtz war.

Wenn sich also die Medizin eingesteht, dass die Funktionslehre des Gehirns nicht einfach mathematisch und physiologisch festgestellt werden kann, wenn sie vielmehr zugiebt, dass die gesamte psychische Thätigkeit nur durch die ge- naue Beobachtung ihrer Äusserungen fixiert werden kann, dann wird sie die Arbeit der Philosophie nicht mehr verächtlich zurückweisen, sondern ihren hohen Wert voll und ganz anerkennen.

Wenn die Mediziner von der Untersuchung des Centralorganes ausgehen

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Erasmus Darwin in England, Geoffroy St. Hilaire in Frankreich und Goethe in Deutschland fast gleichzeitig (in den Jahren 1794—95) zu gleichen Anschauungen über den Ursprung der Arten gekommen seien. Goethe sagt in seiner Farbenlehre: „Das Auge hat sein Dasein dem Lichte zu danken. Aus gleichgiltigen tierischen Hilfsorganen ruft sich das Licht ein Organ hervor, das seinesgleichen werde; und so bildet sich das Auge am Licht fürs Licht, damit das innere Licht dem äusseren entgegentrete.“

Die Thatsache, dass das Organ des Subjekts nur dann in Funktion treten kann, wenn es so beschaffen ist, dass die Medien des Objektes zu ihm in Be- ziehung treten können, hat zu diesen Schlüssen Veranlassung gegeben. Die Berührung der beiden Pole ist zu Gunsten des Objektes weiter gegen das Subjekt zurückgeschoben worden, ja das Subjekt wurde vom Objekt fast auf- gehoben, es existiert nur noch als Folge des Objektes. Die Beschaffenheit der Sinne und ihrer Organe hier anführen zu wollen, darf nicht versucht werden.

Aber dies sei auch hier wieder betont, dass die genaue Erkenntnis der Funktionen der Sinne einen wesentlichen Einfluss auf die vollständige Erklärung der psychischen Thätigkeit hat.

Die Beziehungen auf die Sinnesorgane hätten aber keinen Wert, wenn diese nicht in gleicher Weise die Beziehungen weiter leiten könnten, in welche das Objekt zu ihnen getreten ist.

Die Sinne bilden also einen Übergangspunkt. Auf der einen Seite sind sie so gestaltet, dass das Objekt durch seine Medien sich auf sie beziehen kann, auf der anderen Seite haben sie eine so zweckmässige Einrichtung, dass sie die auf sie wirkenden Beziehungen auf die Nerven übertragen können zur Weiter- leitung an das Centralorgan.

Ob nun die Sinnesorgane einfache Übergänge, Knotenpunkte, Thüren sind, durch welche die Erscheinungen der Objekte an die Nervenleitung übermittelt werden, oder ob sie Organe sind, welche die Erscheinungen so umbilden, dass sie etwas ganz anderes sind, ist noch nicht klar.

Die gegenwärtige Physiologie nimmt das letztere an. Sie sucht in jedem Sinnesorgane nach einzelnen Apparaten, denen bestimmte Funktionen zukommen. So müssten also schon in den Sinnesorganen die Übertragungen an das Central- organ so umgebildet werden, dass letzteres nur die einzelnen elementaren Be- ziehungen aufzunehmen brauchte. Die Medien würden in diesen elementaren Apparaten zerlegt, und diese Apparate würden sie in ihren speziellen Beziehungen und auch nur sie weiterleiten. Das Centralorgan würde, je nachdem von dem oder jenem Apparate etwas anlangte, in Beziehung zu ihm und nur zu ihm treten.

Dadurch scheint der Pol des Subjektes zu sehr zu Gunsten des Objektes zurückgeschoben zu sein.

Die nächste Folgerung aus dieser Annahme ist natürlich die, dass der leitende Nerv nicht als Ganzes das Ganze übermittelt, sondern dass er, ver- mittelst seiner einzelnen Fasern, nur einzelne Elemente, durch je eine bestimmte Faser übermittelt. Es ist dies das Gesetz der sogenannten spezifischen Energie der Nerven.

Wenn aber angenommen wird, dass nicht diese Übermittelung der Ele- mente der Erscheinungen nötig ist, sondern dass jede Erscheinung sich in einer bestimmten Qualität durch die Sinnesorgane sich auf die Nerven bezieht und diese sie in ähnlicher Weise weiter leiten, so vereinfacht sich diese Sache be- deutend. Lotze verteidigt letztere Ansicht, während Weber, Fechner und namentlich Helmholtz die spezifische Energie der Nerven als durchaus not- wendig und erwiesen ansehen. Die Folge dieser Theorie ist auch die Helmholtz- Joungsche Farbentheorie. Schwerlich wird sie sich aber auf die Dauer halten können. Es sprechen zu viele Gründe für eine einfachere Übermittelung der Medien des Objektes durch die Organe des Subjektes an das Centralorgan.

Auch diese Aufgaben können nicht weiter verfolgt werden, jede einzelne derselben würde fast unerschöpflich sein.

Wir müssen uns damit begnügen anzuführen, dass die Organe des Subjektes die Erscheinungen am Objekt dem Centralorgan übermitteln.

Wir dürfen uns auch nicht darauf einlassen, anzuführen, wie das Central- organ von den sensiblen Nerven affıziert wird und wie die Auslösung der Nerven- reize stattfindet. Diese Untersuchungen gehören in das Gebiet der Physiologie.

Bis jetzt fanden wir, dass das Objekt sich durch seine Medien auf das Sub- jekt beziehen kann. Das Subjekt kann durch seine Organe diese Beziehungen möglich machen. Aber trotzdem ist noch keine psychische Thätigkeit vorhanden. Ja, es ist sogar möglich, dass der ganze Mechanismus der Organe des Subjekts in Funktion tritt, und doch ist noch keine psychische Thätigkeit vorhanden, denn sowohl Reflexe als Instinkthandlungen dürfen nicht als psychische Thätigkeit angesehen werden. Freilich mag hier angeführt werden, dass die ersten Anfänge des psychischen Lebens so tief in Reflex und Instinkthandlungen wurzeln, dass sie selten rein auseinandergehalten werden können.

Die Beziehung des Objektes auf das Subjekt, nämlich die letzte Spitze dieser Beziehung, in dem Punkte, wo das Subjekt die Beziehung aufnimmt, heisst gewöhnlich Reiz. Soll eine psychische Thätigkeit möglich werden, so muss das Subjekt diesen Reiz aufnehmen können. Das Subjekt ist also a priori so beschaffen, dass die Beziehungen des Objektes durch seine Medien auf die Organe des Subjektes und dieses selbst von ihm aufgenommen werden können. Diese Beschaffenheit des Subjektes wird gewöhnlich seine Rezeptivität genannt. Die Rezeptivität der Psyche ermöglicht also die Aufnahme des vom Objekte kommenden Reizes. In dem Momente, in dem der Reiz durch die Rezeptivität der Psyche aufgenommen wird, beisst er Empfindung. Während der Reiz vom Objekte ausgeht, um auf das Subjekt zu wirken, zieht die Empfindung schon das Subjekt in Mitleidenschaft.

Die Ausdrücke in der Psychologie bezeichnen selten das scharf, was be- zeichnet werden soll, und häufig werden sie nur angewendet, weil es so her- kömmlich ist. Scharf genommen müsste auch schon der Ausdruck Reiz soviel bedeuten, dass die Psyche in Mitleidenschaft gezogen wurde. Doch soll er nur soweit gebraucht werden, dass er die Beziehung des Objektes zum —— in der letzten Spitze bezeichnet.

54 wollen, um seine Thätigkeit zu bestimmen, so sucht die Psychologie zunächst zu bestimmen, was eigentlich psychische Thätigkeit sei.

Die gesamte psychische Thätigkeit ist nun aber nichts anderes als die Wechselbeziehung von Subjekt und Objekt.

Subjekt ist dasjenige, um dessen psychische Thätigkeit es sich handelt.

Objekt ist dasjenige, auf das sich die psychische Thätigkeit des Subjektes richtet.

Es kann also alles, zu dem das Subjekt in Beziehung tritt, zum Objekt werden, auch das Subjekt selbst.

Eine Analyse der psychischen Thätigkeit hat sich demnach zunächst mit zwei grossen Bezirken zu beschäftigen.

Der erste Bezirk ist das Objekt der psychischen Thätigkeit.

Der zweite Bezirk ist das Subjekt der psychischen Thätigkeit.

Wenn kein Objekt vorhanden wäre, auf das sich das Subjekt beziehen könnte, so könnte das.Subjekt nie psychisch thätig werden, es bliebe tot. Erst das Vor- handensein des. Objektes erweckt die psychische Thätigkeit, verleiht dem Sub- jekt Leben.

Doch geschieht dies nur unter der Bedingung, dass das Objekt in Beziehung zu dem Subjekt treten kann.

Kant bezeichnet das Objekt: als „Ding an sich“. Das Ding an sich ist das Objekt jeder seelischen Thätigkeit. Ist dieses nicht vorhanden, so kann auch keine Beziehung von Objekt und Subjekt stattfinden, d. h. es giebt keine seelische Tbätigkeit. Das Objekt, als Ding an sich kennen lernen zu wollen, ist nie mög- jich, so lange der Mensch darauf angewiesen ist, sich durch seine Organe auf das Objekt zu beziehen und solange das Objekt durch bestimmte Medien erst in die Erscheinung treten kann, um sich auf das Subjekt zu beziehen. Es lässt sich leicht ausmalen, wie das Ding an sich für das Subjekt in Erscheinung kommt, soweit seine Organe dies gestatten und wie sie es gestatten. Die Psychiatrie zählt genügende Fälle auf, wo Geschmack, Geruch, Gefühl, Gehör, Gesicht sich so verändert haben, dass die Sinne ganz anders funktionieren. Und doch muss in allen diesen Fällen gesagt werden, dass eine Wechselwirkung zwischen Subjekt und Objekt stattfindet und Giltigkeit hat.

Der Rot- und Grünblinde hat kein anderes Objekt vor sich, als der Normal- sehende, allein das Ding an sich tritt für ihn auders in Erscheinung. Ob die absolute Grösse der Dinge an sich für alle Menschen in gleicher Weise in Erscheinung tritt, kann nie festgestellt werden, es giebt gar kein Mittel, dies zu finden, da die Grössenverhältnisse immer gleich bleiben. Ein Mensch kann alle Dinge grösser, ein andrer alle kleiner sehen.

So liessen sich noch viele Beispiele anführen von der Unmöglichkeit, das Ding an sich erkennen zu können.

Das Vorhandensein eines Objektes bedingt aber noch keine Beziehung zum Subjekt. Die Möglichkeit der Beziehung ist nicht vom Ding an sich, sondern von seinen Erscheinungen abhängig. Die Erscheinungen treten aber nur so auf, wie sie durch die Beschaffenheit der Natur ermöglicht werden. Die Beschaffen- heit der Natur aber und die Erscheinungen am Objekt können nur durch die

55 Sinne in Beziehung zum Subjekt gebracht werden. Die Beschaffenheit der Natur muss also nur insoweit untersucht werden, als sie durch die Sinne die Beziehungen der Erscheinungen des Objektes zum Subjekt bedingt. Diese Be- schaffenheit der Natur nennen wir Medien der Objekte.

Es giebt nun z. B. eine Anzahl Erscheinungen an den Objekten, die sich nur durch den Gesichtssinn auf das Subjekt beziehen können. Damit aber diese Erscheinungen an den Gesichtssinn gelangen können, sind Medien nötig, durch die das Objekt an das Subjekt gelangen kann. Diese Medien aufzusuchen, ihre Natur und ihre Funktionen zu bestimmen, ist die Sache der Physik.

Die Physik hat in den letzten Jahren ganz ausserordentliche Fortschritte gemacht. Sie hat über früher ganz unerklärliche Funktionen dieser Medien Licht verbreitet, so dass jetzt vieles klar ist, was früher für ein dunkles Wunder, für eine Phantasie verworrener Köpfe gegolten hat.

Am Ende ihrer Arbeit ist aber die Physik noch nicht angekommen und wenn der strenge Naturwissenschaftler heute noch Vieles als unmöglich, als dem Verlauf der Naturgesetze Widersprechendes ansieht, so muss er sich immer darauf gefasst machen, dass eine Zeit kommen kann, in der eine genaue Kenntnis der Medien jetzt unmöglich Scheinendes möglich macht. Ein ganz treffendes Beispiel hierfür ist die Entdeckung der Röntgen-Strahlen.

Das einzige Medium, durch das die Erscheinung des Objektes an den Gesichtssinn, also an das Auge gelangen kann, ist das Licht.

Wir müssen uns versagen, auch nur anzudeuten, welche Arten von Licht und Lichtquellen in die Erscheinung treten, die Art und Weise, wie es geschieht und wie eine Beziehung auf das Subjekt möglich ist. Die Physik behandelt dies in der Optik.

Ebensowenig können wir uns verbreiten über die Erscheinungen am Objekte, die sich durch den Gehörsinn, den Gefühl-, Geruch- und Geschmacksinn auf das Subjekt beziehen.

Es soll nun im Auge behalten werden, dass die psychische Thätigkeit von diesen Erscheinungen allen mit bedingt ist und dass deshalb schon die Physik einen bedeutenden Anteil an einer richtigen Lösung psychischer Fragen hat.

Es wäre am einfachsten, wenn das Objekt und dann das Subjekt eingehend behandelt werden könnte, um seine Thätigkeit genau zu fixieren. Allein dies ist nie möglich. Beide bleiben dem menschlichen Erkennen verborgen und nur ihre Erscheinungen können einer Untersuchung unterworfen werden.

Wie die Medien des Objektes einer genauen Fixierung bedürfen. so auch die Organe des Subjektes, auf die sich alle Erscheinungen des Objektes Leziehen müssen. Die Organe des Subjektes sind die fünf Sinne, die Nerven, das Centralorgan.

Diese müssen so beschaffen sein, dass die Medien des Objektes auf sie wirken können, ebenso wie die Medien so beschaffen sein müssen, dass die Sinne sich auf sie beziehen können.

Die Evolutionstheorie geht soweit, zu sagen, dass die Medien geradezu erst die Organe des Subjektes bilden.

Darwin spricht sich ganz erfreut darüber aus, dass sein Grossvater Dr.

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Erasmus Darwin in England, Geoffroy St. Hilaire in Frankreich und Goethe in Deutschland fast gleichzeitig (in den Jahren 1794—95) zu gleichen Anschauungen über den Ursprung der Arten gekommen seien. Goethe sagt in seiner Farbenlehre: „Das Auge hat sein Dasein dem Lichte zu danken. Aus gleichgiltigen tierischen Hilfsorganen ruft sich das Licht ein Organ hervor, das seinesgleichen werde; und so bildet sich das Auge am Licht fürs Licht, damit das innere Licht dem äusseren entgegentrete.“

Die Thatsache, dass das Organ des Subjekts nur dann in Funktion treten kann, wenn es so beschaffen ist, dass die Medien des Objektes zu ihm in Be- ziehung treten können, hat zu diesen Schlüssen Veranlassung gegeben. Die Berührung der beiden Pole ist zu Gunsten des Objektes weiter gegen das Subjekt zurückgeschoben worden, ja das Subjekt wurde vom Objekt fast auf- gehoben, es existiert nur noch als Folge des Objektes. Die Beschaffenheit der Sinne und ihrer Organe hier anführen zu wollen, darf nicht versucht werden.

Aber dies sei auch hier wieder betont, dass die genaue Erkenntnis der Funktionen der Sinne einen wesentlichen Einfluss auf die vollständige Erklärung der psychischen Thätigkeit hat.

Die Beziehungen auf die Sinnesorgane hätten aber keinen Wert, wenn diese nicht in gleicher Weise die Beziehungen weiter leiten könnten, in welche das Objekt zu ihnen getreten ist.

Die Sinne bilden also einen Übergangspunkt. Auf der einen Seite sind sie so gestaltet, dass das Objekt durch seine Medien sich auf sie beziehen kann, auf der anderen Seite haben sie eine so zweckmässige Einrichtung, dass sie die auf sie wirkenden Beziehungen auf die Nerven übertragen können zur Weiter- leitung an das Centralorgan.

Ob nun die Sinnesorgane einfache Übergänge, Knotenpunkte, Thüren sind, durch welche die Erscheinungen der Objekte an die Nervenleitung übermittelt werden, oder ob sie Organe sind, welche die Erscheinungen so umbilden, dass sie etwas ganz anderes sind, ist uoch nicht klar.

Die gegenwärtige Physiologie nimmt das letztere an. Sie sucht in jedem Sinnesorgane nach einzelnen Apparaten, denen bestimmte Funktionen zukommen. So müssten also schon in den Sinnesorganen die Übertragungen an das Central- organ so umgebildet werden, dass letzteres nur die einzelnen elementaren Be- ziehungen aufzunehmen brauchte. Die Medien würden in diesen elementaren Apparaten zerlegt, und diese Apparate würden sie in ihren speziellen Beziehungen und auch nur sie weiterleiten. Das Centralorgan würde, je nachdem von dem oder jenem Apparate etwas anlangte, in Beziehung zu ihm und nur zu ihm treten.

Dadurch scheint der Pol des Subjektes zu sehr zu Gunsten des Objektes zurückgeschoben zu sein.

Die nächste Folgerung aus dieser Annahme ist natürlich die, dass der leitende Nerv nicht als Ganzes das Ganze übermittelt, sondern dass er, ver- mittelst seiner einzelnen Fasern, nur einzelne Elemente, durch je eine bestimmte Faser übermittelt. Es ist dies das Gesetz der sogenannten spezifischen Energie der Nerven.

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Wenn aber angenommen wird, dass nicht diese Übermittelung der Ele- mente der Erscheinungen nötig ist, sondern dass jede Erscheinung sich in einer bestimmten Qualität durch die Sinnesorgane sich auf die Nerven bezieht und diese sie in ähnlicher Weise weiter leiten, so vereinfacht sich diese Sache be- deutend. Lotze verteidigt letztere Ansicht, während Weber, Fechner und namentlich Helmholtz die spezifische Energie der Nerven als durchaus not- wendig und erwiesen ansehen. Die Folge dieser Theorie ist auch die Helmholtz- Joungsche Farbentheorie. Schwerlich wird sie sich aber auf die Dauer halten können. Es sprechen zu viele Gründe für eine einfachere Übermittelung der Medien des Objektes durch die Organe des Subjektes an das Centralorgan.

Auch diese Aufgaben können nicht weiter verfolgt werden, jede einzelne derselben würde fast unerschöpflich sein.

Wir müssen uns damit begnügen anzuführen, dass die Organe des Subjektes die Erscheinungen am Objekt dem Centralorgan übermitteln.

Wir dürfen uns auch nicht darauf einlassen, anzuführen, wie das Central- organ von den sensiblen Nerven affiziert wird und wie die Auslösung der Nerven- reize stattfindet. Diese Untersuchungen gehören in das Gebiet der Physiologie.

Bis jetzt fanden wir, dass das Objekt sich durch seine Medien auf das Sub- jekt beziehen kann. Das Subjekt kann durch seine Organe diese Beziehungen möglich machen. Aber trotzdem ist noch keine psychische Thätigkeit vorhanden. Ja, es ist sogar möglich, dass der ganze Mechanismus der Organe des Subjekts in Funktion tritt, und doch ist noch keine psychische Thätigkeit vorhanden, denn sowohl Reflexe als Instinkthandlungen dürfen nicht als psychische Thätigkeit angesehen werden. Freilich mag hier angeführt werden, dass die ersten Anfänge des psychischen Lebens so tief in Reflex und Instinkthandlungen wurzeln, dass sie selten rein auseinandergehalten werden können.

Die Beziehung des Objektes auf das Subjekt, nämlich die letzte Spitze dieser Beziehung, in dem Punkte, wo das Subjekt die Beziehung aufnimmt, heisst gewöhnlich Reiz. Soll eine psychische Thätigkeit möglich werden, so muss das Subjekt diesen Reiz aufnehmen können. Das Subjekt ist also a priori so beschaffen, dass die Beziehungen des Objektes durch seine Medien auf die Organe des Subjektes und dieses selbst von ihm aufgenommen werden können. Diese Beschaffenheit des Subjektes wird gewöhnlich seine Rezeptivität genannt. Die Rezeptivität der Psyche ermöglicht also die Aufnahme des vom Objekte kommenden Reizes. In dem Momente, in dem der Reiz durch die Rezeptivität der Psyche aufgenommen wird, heisst er Empfindung. Während der Reiz vom Objekte ausgeht, um auf das Subjekt zu wirken, zieht die Empfindung schon das Subjekt in Mitleidenschaft.

Die Ausdrücke in der Psychologie bezeichnen selten das scharf, was be- zeichnet werden soll, und häufig werden sie nur angewendet, weil es so her- kömmlich ist. Scharf genommen müsste auch schon der Ausdruck Reiz soviel bedeuten, dass die Psyche in Mitleidenschaft gezogen wurde. Doch soll er nur soweit gebraucht werden, dass er die Beziehung des Objektes zum in der letzten Spitze bezeichnet.

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Empfindung bezeichnet dann die Aufnahme dieses Reizes durch Gefühl.

Dieses Gefühl ist vollständig verschieden von dem Gefühl, das sich durch die Organe des Gefühlsinnes auf das Subjekt bezieht. Es ist vielmehr ein Teil des Empfindens, ein Teil der Rezeptivität, wodurch das Empfinden kein totes bleibt, sondern erst zum Leben erwacht. Wenn also schon die Sinne gewisse Einrichtungen haben müssen, um sie auf das Objekt wirken lassen zu können, so muss auch die Psyche gewisse Eigenschaften haben, um den Reiz vom Objekt aufnehmen zu können sie muss rezeptiv sein.

Bis hierher kann und muss die Physiologie untersuchen. Hier aber ist ihrem Weiterschreiten eine Grenze gesetzt.

Wäre sie im stande, hier noch Untersuchungen anzustellen, so müssten sich diese darauf beziehen, ob in den Sphären des Centralorganes, in welchen alle Sinnesreize sich vereinigen, durch diese Reize gewisse Veränderungen mechanischer und chemischer Art entstehen; wie sich diese Veränderungen zeigen und wie lange sie andauern. Es müsste hauptsächlich nachgewiesen werden, dass diese Veränderungen von einander unterschieden werden können und dass sie wieder gewisse Auslösungen notwendig machen.

Und wenn diese komplizierten Beweise aufgestellt werden könnten, danu stände die Physiologie wieder an jener unübersteiglichen Kluft, die sie eben überbrücken wollte: Wie verhält sich das Subjekt zu diesen physischen Einflüssen?

Die Psychologie ist auf diesem Punkte ein Vorsprung gegen die Physiologie.

Nicht deshalb, weil sie sich erlaubt, Sprünge zu machen, sondern weil sie psychisch untersucht, was nicht physisch untersucht werden kann.

Vermöge ihrer Eigenschaft, die Objekte auf sich wirken zu lassen (Gefühl, Rezeptivität), kann die Seele empfinden. Empfindungen aber bleiben isolieit und deshalb wertlos für das Subjekt, wenn sie nicht wahrgenommen würden.

Diese Wahrnehmung ist die erste Thätigkeit der Seele, durch die sie sich vollständig auf das Objekt bezieht. Damit die Empfindung keine gebundene bleibt, sondern zur Wahrnehmung wird, muss die Seele a priori ein weiteres Vermögen haben, nämlich das der Spontaneität. Die Spontaneität ist aber keine Thätigkeit, die durch Synthese des Mannigfaltigen in der Erscheinung eine Vorstellung bewirkt. Die Spontaneität ist vielmehr eine analytische Thätigkeit, und jede Wahrnehmung ist nur durch Analyse möglich. Durch diese Behauptung entsteht ein Gegensatz zu der Lehre Kants, der die Elemente der Erkenntnis nur durch eine Synthesis des Mannigfaltigen für möglich hält. Durch diese Annahme war Kant auch gezwungen, die Lehre von der transcendentalen Ästhetik aufzustellen, in der er nachzuweisen versucht, dass Raum und Zeit zwei reine Formen sinnlicher Anschauung seien, die als Prinzipien der Erkenntnis a priori notwendig seien.

Richtet sich die Spontaneität der Seele auf das Objekt, um eine Wahr- nehmung zu machen, so zeigt sich die wunderbare Thatsache, dass eine Wahr- nehmung gar nicht zu stande kommen kaun, so lange dem Subjekt nur ein Objekt entgegensteht. Alle Bedingungen zur Wahrnehmung sind wohl vor- handen, aber die Wahrnehmung selbst kann nicht stattfinden. Will man einen

Vergleich wagen, dann kann man sagen, eine Wahrnehmung kann so wenig zu stande kommen, als ein geheizter Dampfwagen in Gang kommen kann, so lange der Dampfhahn geschlossen ist.

Solange nur ein Objekt dem Subjekt entgegensteht, kann keine Wechsel- wirkung entstehen. Das Subjekt kann von dem Objekt so wenig affiziert werden als es von sich selbst aftiziert werden kann.

Als ein Objekt muss aber für die Wahrnehmung jedes Objekt gelten, das durch die Organe des Subjektes nicht analysiert werden kann.

So lange eine Analyse nicht stattfindet, ist das Objekt gleich „Eins“ und für das Subjekt nicht wahrnehmbar. Das Auge, das eine gleichmässige Fläche vor sich hat, würde nie wabrnehmen können, wenn sich in derselben nicht Verschiedenheiten zeigten.

Das Ohr, das stets dem gleichen Ton ausgesetzt wäre, könnte ihn nicht wahrnehmen. Wenn auf den Geruchsinn stets derselbe Geruch wirkte, so würde er nicht zur Wahrnehmung kommen. Sobald aber von diesem „Eins“, das dem Subjekt gegenübersteht, etwas unterschieden werden kann, das nicht mehr zu diesem „Eins“ gehört, sondern ihm als ein „Nicht Eins” gegenübersteht, so ist die erste Wahrnehmung gemacht, und die Thätigkeit des Subjektes d. h. das psychische Leben hat seinen Anfang genommen.

Diese Wahrnehmung von „Eins“ und „Nicht Eins“ ist der wunderbarste Vorgang auf dem Gebiete des psychischen Lebens. Es ist die elementarste Regung der Seele, ohne die überhaupt niemals ein Erwachen der Psyche statt- finden kann.

Es könnte dies im ersten Augenblick überraschen und namentlich deshalb überraschen, weil Kant mit seiner unerreichten Beweisführung der Spontaneität der Seele die Synthesis des Mannigfaltigen in der Anschauung als erste Funktion zugeschrieben hat. Freilich sagt er im gleichen Satze, in dem er die Priorität der Synthesis bei jeder Erkenntnis betont, dass diese anfangs noch rob und ver- worren sei und also der Analysis bedürfe. Er lässt also wenigstens merken, dass bei einem Urteil über den ersten Anfang unserer Erkenntnis die Analysis nicht entbehrlich sei.

Die Spontaneität der Seele kann von uns also nicht mehr als die Synthesis des Mannigfaltigen erklärt werden, als ein Vermögen des Subjektes, das die Er- scheinungen am Objekt sammelt und sie auf Begriffe bringt, denn an dieses Mannigfaltige kann das Subjekt einfach nicht herantreten, weil ihm jedes Ver- mögen dazu fehlt. Die Spontaneität der Seele ist vielmehr das Vermögen, welches „Eins“ von „Nicht Eins“ unterscheidet.

Wenn Kant die Einheit der Synthesis des Mannigfaltigen verlangt, um zur Erkenutnis der Gegenstände zu kommen, so setzt er voraus, dass dies nur in gewissen Formen geschehen kann. Diese „reine Form der Sinnlichkeit“, die er auch „reine Anschauung“, „reine Form der sinnlichen Anschauung“ etc. nennt, sind Zeit und Raum.

Er sagt: „In der transcendentalen Ästhetik also werden wir zuerst die Sinn- lichkeit isolieren, dadurch, dass wir alles absondern, was der Verstand durch

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seine Begriffe dabei denkt, damit nichts als empirische Anschauung übrig bleibe. Zweitens werden wir von diesem noch alles, was zur Empfindung gehört, ab- trennen, damit nichts als reine Anschauung und die blosse Form der Erscheinung übrig bleibe, welches das Einzige ist, das die Sinnlichkeit a priori liefern kann. Bei dieser Untersuchung wird sich finden, dass es zwei reine Formen sinnlicher Anschauung als Prinzipien der Erkenntnis a priori gebe, nämlich Zeit und Raum.“

Wir können aber nach dem bisher Gesagten diese Anschauungsformen a priori nicht anerkennen. Zeit und Raum sind nicht zwei Anschauungsformen, die a priori in der Psyche bereit liegen, um das Mannigfaltige aufnehmen zu können, sie sind vielmehr empirische Begriffe, die mit der ersten Wahrnehmung entstehen.

Ein leerer Raum hat keine Erscheinung und demnach kann er sich durch keine Medien als Objekt auf das Subjekt beziehen. Die Organe des Subjektes können sich ebenfalls nicht auf Erscheinungen des Raumes beziehen, da keine vorhanden sind. Eine Wechselwirkung zwischen Subjekt und Objekt wäre also ganz unmöglich. Ehe diese aber zu stande kommt, ist auch keine psychische Thätigkeit vorhanden, demnach auch keine Vorstellung vom Raum. Da es weiter aber auch dem Subjekte nicht möglich ist, psychische Thätigkeit zu ent- falten, solange es nur von einem Objekte affiziertt wird, muss diesem „Eins* zunächst das „Nicht Eins“ entgegentreten. Dadurch erwacht die Psyche. Mit diesem Auftreten von „Nicht Eins“, durch das die Psyche zum Erwachen ge- kommen ist, hat sie auch die Vorstellung von Raum und Zeit gewonnen.

Raum ist also nichts anderes als die Differenz von „Eins“ und „Nicht Eins“. Diese Differenz kann sowohl unendlich klein als unendlich gross sein. „Eins“ ist nie das kleinste Objekt, von welchem das Subjekt affiziert werden kann, es stellt sich ihm stets noch ein „Nicht Eins“ entgegen, sonst könnte es überhaupt nicht mehr wahrgenommen werden. „Eins“ ist aber auch nie das grösste Objekt, welches das Subjekt affiziert, es ist stets wieder ein „Nicht Eins‘ vorhanden.

Diese eigentümliche Anlage der Psyche, nur durch Wahrnehmung von „Eins“ und „Nicht Eins“ zu einer Vorstellung zu kommen, erklärt auch ihre Unfäbigkeit, sich von endlich und unendlich, von frei und nicht frei etc. eine Vorstellung machen zu können.

Die ganze Thätigkeit der Psyche ist also eine analytische, und mit dem Auffinden des letzten „Nicht Eins“ ist das Welträtsel gelöst.

So hätten wir den Schritt gewagt zu untersuchen, wie die Psyche zum Erwachen kommt. Es zeigt sich uns ein komplizierter Organismus, an dem viele Glieder mitwirken, bis es nur zur elementarsten Wahrnehmung kommt.

Es sei mir erlaubt, nochmals kurz die wichtigsten Punkte anzudeuten.

Durch seine Medien kann sich das Objekt als „Ding an sich‘ auf das Subjekt beziehen. Durch seine Organe ist das Subjekt in stand gesetzt, diese Beziehungen aufzunehmen (Rezeptivität) und sich wiederum auf das Objekt zu beziehen (Spontaneität). Die Rezeptivität und die Spontaneität sind Zustände oder Eigenschaften des Subjekts, die ihm a priori zukommen und zunächst keine Aufklärung zulassen. Die Rezeptivität umfasst eine ganze Gruppe von Eigen- schaften, davon jede a priori vorhanden sein muss, um eine psychische Regung

61 zu ermöglichen. Es sind dies Reize, verbunden mit Gefühl. Beide vereinigt heisse Empfindung.

Empfindung wird erst möglich durch die Unterscheidung von „Eins“ und „Nicht Eins“. Das Fortschreiten von „Eins“ zu „Nicht Eins“ hat die Wahr- nehmung von Raum und Zeit zur Folge und dadurch ist das Subjekt zum Bewusstsein erwacht.

Nur kurz möchte ich noch erwähnen, dass diese Theorie teilweise schon praktische Anwendung gefunden hat in unsern Vorschulen.

Die Formen- und Farbenbretter, soviel mir bekannt ist, eine Erfindung unsers am ]. Januar d. J. verewigten Herrn Direktor Rall in Mariaberg (Württemberg), sind nichts anderes als ein Versuch, die Idioten zu veranlassen, „Eins“ und „Nicht Eins“ von einander zu unterscheiden.

Der erste Rechenunterricht muss sich nach dieser Theorie richten. Es erklärt sich auch die Thatsache, dass wir nur zwei, höchstens drei Einheiten auf einmal auffassen können.

So werden wir bei unserer Idiotenerziehung immer wieder auf diese ein- fachsten psychischen Wahrnehmungen zurückkommen müssen, und sie allein werden uns den richtigen Weg zeigen zum Aufbau einer brauchbaren Methodik für den Unterricht an Idiotenanstalten.

Vorsitzender Erziehungsinspektor Piper: Hochgeehrte Versammlung! Ich stelle die Arbeit des Herrn Direktor Kölle zur Diskussion und bitte die Herren, sich zum Wort zu melden.

Debatte. Lehrer Hanke: Ich möchte eine Bitte aussprechen. Sie entspringt nicht der Lust einer Kritik an dem Vortrage, den wir alle mit grossem Danke ent- gegengenommen haben, aber sie entspringt der Liebe za unserer Versammlung. Ich möchte nicht gern, dass derartige Vorträge in unsern Versammlungen gehalten werden. Solche liest man lieber als dass man sie sich vorlesen lässt und wünsche, dass wir nicht in eine Debatte eintreten, dagegen dass bei den Vorträgen mehr unsere praktische Arbeit berücksichtigt werde.

Taubstummenlehrer Heidsick: Ich möchte nur den Antrag des Herrn Kollegen Hanke unterstützen. Was wir gehört haben, war ein philosophisches und psycho- logisches Glaubensbekenntnis, was ausserordentlich angefochten werden kann. Aristo- teles, Kant und Lotze haben vor seinen Augen Gnade gefunden, alle anderen sollen weniger Beachtung finden. Dann habe ich dasselbe Gefühl gehabt wie der Vorredner. Ich fürchte, dass wir uns auf ein Gebiet begeben, was uns grau ist. Davor schrecke ich zurück, weil ich fürchte, uns eine Blösse zu geben, in Dinge zu dringen, mit denen wir nicht ganz vertraut sind. Mir wäre es lieber gewesen, wenn der Referent mehr die praktische Seite bevorzugt hätte. Ich weise auf einen Vortrag des Direktor Stötzner-Dresden hin, der in vorzüglicher Weise auf dem letzten Kon- gress der Taubstummenlehrer ausgeführt hat, wie der schwache Geist geweckt werde.

Vorsitzender Erziehungsinspektor Piper: Ich spreche dem Herrn Direktor Kölle den Dank der Versammlung aus und bitte Herrn Direktor Herbericlhh uns seinen Vortrag bieten zu wollen.

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Die Begriffsentwickelung bei Schwachbefähigten und Schwachsinnigen. '

Leitsätze:

1. Die schwachbefähigten und schwachsinnigen Kinder sind arm an Be- griffen. Diese müssen ihnen durch entsprechende Veranstaltungen bei- gebracht werden.

2. Als bestes Mittel hierfür muss die unmittelbare, natürliche Anschauung bezeichnet werden. Deshalb sollten die Bildungsanstalten für Schwach- sinnige eine Umgebung haben, welche möglichst viele Anschauungs- objekte bietet.

3. Ausserdem dienen als Ersatz reichhaltige Stoffsammlungen, Sammlungen von ausgestopften Tieren, von Käfern und Schmetterlingen, dann von Modellen.

4. Insbesondere ist zur Überführung ins praktische Leben notwendig, dass die Schüler sich die richtigen Begriffe von dem Werte des Geldes, von Mass und Gewicht aneignen, und es ist ihnen hierfür besondere Gelegen- heit zu geben. |

5. Die Begriffsentwickelung wird weiter unterstützt durch Bilderwerke und Tabellen. Diese sollen teilweise an den Schulwänden zum sofortigen Gebrauche aufgehängt sein.

6. Auch das Zeichnen an der Wandtafel ist zur Vermittelung von Be- griffen wichtig. Darum wird von dem Idiotenlehrer verlangt, dass er diese Kunst verstehe.

7. Wo andere Hilfsmittel versagen, kann auch der Zeichensprache ein Platz eingeräumt werden. Namentlich wird dieselbe bei taubstummen Schwachsinnigen kaum entbehrt werden können.

8. Die Begriffe werden sodann entwickelt durch Umschreibung, Vergleichung und Gegensatz. Hier kommt die didaktische Kunstfertigkeit des Lehrers zur Geltung.

9. Der Begriffsentwickelung ist bei allen Unterrichtsgegenständen ohne Ausnahme die grösste Sorgfalt zuzuwenden.

Hochgeehrte Versammlung!

Betrachten Sie meine Ausführungen als eine Ergänzung des eben gehörten Vortrages. Ich werde versuchen klarzulegen, wie die Begriffe bei unsern schwach- sinnigen Kindern praktisch entwickelt werden können.

Wenn das vollsinnige Kind in das schulpflichtige Alter tritt, so ist es bereits im gesicherten Besitze einer grossen Menge von Begriffen, welche es zu Schlüssen und Urteilen verbindet. Auf diesem gesunden Fundamente kann der Volksschullehrer fortbauen. Durch seinen Unterricht werden dem Schüler obne besondere Mühe und ohne dass er speziell darauf achtet, täglich neue Mengen von Begriffen zugeführt, und dieser Reichtum bildet schliesslich den Inhalt seines gesamten Wissens. Anders beim schwachbefähigten und schwachsinnigen Kinde. Während dem gesunden jugendlichen Geiste durch die weit geöffneten Thore

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normaler Sinne die Begriffe von selbst zuströmen, während dieser Geist durch Auge uod Obr gleichsam herausgreift und die Erscheinungen der Aussenwelt begierig aufnimmt, im Gedächtnisse befestigt und mit ihnen operiert, ziehen bei dem geistesschwachen Kinde jene Erscheinungen wie im Nebel vorüber, dringen entweder gar nicht oder nur schwach oder auch in verzerrter Gestalt ein und bleiben nicht haften. Bei vielen unserer geistig Zurückgebliebenen sind auch einzelne Sinne oder mehrere derselben thatsächlich schwach. Kurzsichtig- keit oder Schwerhörigkeit es kommen sogar nicht selten Fälle vor, in denen beide Mängel vereint =ich finden sind grosse Hindernisse für das deutliche Aufiassen der Aussenwelt und somit für die Gewinnung richtiger Begriffe. Ist das Kind kurzsichtig bei normalem Gehör, so wird es zwar durch den Umgang mit Eltern und Geschwistern Worte gelernt haben, sich aber von den Gegen- ständen. welche sie bezeichnen, keine genaue Vorstellung machen können. Ist

gegen schwerhörig bei gutem Sehvermögen. so wird es viele Gegenstände. Eigenschaften und Tbätigkeiten dem Gesichte nach kennen, aber dieselben ent- weder gar nicht, oder nur höchst unvollkomnmıen sprachlich bezeichnen können. Bei doppeltem Schwachsinn ist es noch viel schlimmer, da schwimmen die ver- worrenen Begriffe regellos ineinander. Und doch ist gerade bei solchen Kindern, welche recht eigentlich schwachsinnig sind (wenn dies das Haupthindernis der geistigen Entwickelung ist) der Erfolg bei guter Methode fast immer ein gesicherter, wie meine Herren Koliegen aus Erfahrung wissen.

Eine eirentümliche Erscheinung finden wir bei manchen Idioten, die gut sehen und bei denen auch das Gehör vermeintlich in Ordnung ist. Sie reagieren sofort, wenn ihr \ame gerufen wird, und zwar darf letzteres ziemlich leise ge- schehen. Sie versteben auch, was man von ihnen verlangt. Dagegen können sie gar nicht oder nur ganz gebrochen reden. Da: än:ssere Gehörsrgan mag vielleicht bei diesen Menschen intakt sein. sicher feblt aber die ricitige Ver- mittelung mit dem Intellekt. mit dem Geiste; denn sie lernen nur mit grusser Mübe und notdürftig sprechen, obwohl sie lesen, gut. ja ortlographisch richüg schreiben, rechnen und zeichnen lernen. Häufig geben He ein vorgesprochenes Wort unvollkommea oder unnebtig wieder. Schreibt man ihnen jeisch dasseibe Wort an die Tafel, 90 lesen sie es ganz richtig ab und verleiben es ihrem Ge- dächtnisse ein Solebe Schüer fassen durch das Auge besser auf ais durch das Gehör, und hierauf ist beim Unternchte besondere Rücksicht zu nehmen.

Aus dem Gesagten dürfie zur Genüge hervörgehen, das: bam Usterrichten Schwachsinniger, sowohl in den Iinienanstalien, als auch in den Hiitssebulea auf fleissige Kotwickeluzg, bezichuogsweie Aueignurg von Begriffen groes Gewicht gelegt werden mass. Was dem vo.ciac:yen Kindern von seibst zufiiesst muss den Geistesschwachen jurch iriak:ische Kuusifertigkeit beigebracht werden. Es entsteht nun die Frage: Welche Hilfsmittel steben uns für die Begriffsentwiekelauag za Gebste?

Das einfachste and swherst¢ Mitul dein Schwacheiuuigen cine möglichst grosse Anzahl von Beprifea beizabricgen. ict die natürliche. unmittelbare und lebendige Anstauımg. Es 14 jahali durchans nieht zieichglüitig. werke

Lage eine Idiotenanstalt hat; vielmehr ist es von grosser Wichtigkeit, wenn anders die Anstalt vorzugsweise erziehliche und unterrichtliche Zwecke verfolgt, dass man von derselben aus eine freie Aussicht geniesst, dass sie nicht vom Offent- lichen Verkehr, von Handel und Wandel abgeschlossen ist. Sie soll womöglich in der Nähe eines Flusses liegen, denn auf und an einer Wasserstrasse ist Leben und Bewegung. Da flutet geschäftiges Treiben, da zieht die menschliche Thätig- keit in tausend wechselnden Gestalten am Auge des Beobachters vorüber. In der Regel eilt auch die Eisenbahn am Ufer entlang, welche auf das Gemüt der Zöglinge eine fast elektrisierende Wirkung ausübt. Dann schliessen sich an den Fluss die Wiesen und die Felder mit ihren mannigfachen Erscheinungen, und vielleicht umsäumt auch der Wald das liebliche Landschaftsbild. Ja, der Wald sollte auch bei keiner Idiotenanstalt fehlen, der Wald mit seinen unzähligen Begriffen aus der Tier- und Pflanzenwelt. Und alles dieses, die ganze Land- schaft sollte von der Anstalt aus zu überschauen sein, sollte vor den Augen der Zögliuge aufgeschlagen liegen, wie ein heiliges Buch Gottes, und der Lehrer hätte dann die dankbare Aufgabe, sie in diesem Buche der Natur lesen zu lehren. Das giebt dann einen Anschauungsunterricht, wie er sein soll; hier gedeiht die Begriffsentwickelung auf dem fruchtbarsten Boden. Da wächst der schwache kindliche Geist, in der rechten Weise, hingelenkt auf die sichtbaren Dinge, auf die wunderbare Schöpfung des Herrn, wie auf die Thätigkeit des Menschen. Wird ja dieses Wachstum gefördert durch die Wärme des Interesses, ja der förmlichen Neugierde, welche bekanntermassen unseren Schwachsinnigen inne- wohnt. Hier kommt ein Schiff den Fluss herauf. Sofort wenden sich aller Augen hin, es unverwandt mit den Blicken verfolgend.. Alle Erscheinungen werden begierig aufgefasst und von den Kindern besprochen: die Pferde, welche es ziehen, der Fuhrmann, die Mannschaft, der Steuermann, das Ruder, der Mast, der Anker, die Ladung etc. Der Lehrer hat da nichts zu thun, als zu erklären, zu berichtigen und Fehlendes zu ergänzen. Die Begriffe, welche bier entwickelt und gewonnen werden, so zahlreich sie auch sein mögen, sie bleiben haften und werden geistiges Eigentum der Schüler. Nicht anders ist es, wenn sie den Arbeiten der Landleute auf dem Felde folgen können. Und erst ein Spaziergang in den schattigen Wald im Hochsommer! Da giebt es tausenderlei zu sehen. Hier huscht der Hase über den Weg oder gar ein zierliches Reh, ein Eich- hörnchen klettert flüchtig an der Tanne empor; da ruft der Specht, dort zieht der Habicht seine Kreise, hier schmettert der Fink seine helle Weise; Käfer schwirren, Bienen, Hummeln und Wespen gaukeln um die rote Erika, Ameisen eilen geschäftig über den Pfad, kurz: wohin des Kindes Auge schaut, eitel Leben, eitel Bewegung. So fluten die Eindrücke förmlich auf Auge und Ohr, und wiederum drängen sich zahllose Fragen über die Lippen der Kleinen; und der Wärter oder die Wärterin haben stets zu erklären und zu ergänzen. Und wenn dies auch nicht sofort geschieht, so erzählen die Kleinen dem Lehrer am nächsten Tage in der Schule, was sie gesehen, und es knüpft sich an das mit so lebhaftem Interesse Gewonnene eine fruchtbare Begriffsentwickelung. Auch der Anstaltsgarten muss den Zöglingen möglichst viele Objekte zur Begrifis-

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entwickelung bieten. Namentlich da, wo der Wald fehlt, sollte er eine eigene botanische Abteilung haben, in welcher den Schülern die in der Umgebung fehlenden Bäume und Sträucher vor Augen geführt werden könnten. Die ver- schiedenen Obstarten, Beeren, Ziersträucher, alle Gemüse und selbstverständlich alle Arten von Blumen müssen vorhanden sein. Wie praktisch ist es, wenn ich eine Pflanze, von welcher eben gelesen wird, auf den Schultisch legen kann! Wie ganz anders ist die Auffassung der Begriffe, als wenn ich lediglich ein Herbarium oder eine Abbildung zeige! Letztere ist dem ersteren sogar noch vorzuziehen, weil die getrocknete und gepresste Pflanze der lebhaften Farbe entbehrt und auch die Form nicht genau erkennen lässt. Sodann sollte der Idiotenschule eine möglichst reiche Sammlung ausgestopfter Tiere zur Seite stehen, sowohl Säugetiere, als Vögel, dazu Käfer- und Schmetterlingssammlungen. Namentlich ist dies an jenen Plätzen angezeigt, welche in ihrer unmittelbaren Umgebung die lebendigen Tiere nicht aufweisen. Wird im Lehrstoff der Name eines Tieres genannt, wie schön ist es da, wenn der Lehrer es zeigen kann.

Ferner ist eine Stoffsammlung vonnöten, welche möglichst reichhaltig aus- gestattet sein sollte. Die verschiedenen Stein- und Erdarten, die Holzarten d.h. Abschnitte von Ästen verschiedener Bäume, welche sowohl die Farbe und Härte des Holzes, wie auch die Beschaffenheit der Rinde erkennen lassen, sodann die Metalle in einzelnen gleichartigen Stückchen, damit auch der Begriff des Ge- wichtsunterschiedes entwickelt werden kann, ferner allerlei Gewebe, Wollenstoffe, Baumwollenzeuge, Leinwand, Seide etc., eine Serie verschiedener Flüssigkeiten in gleichartigen Gläschen, wie Wein, Essig, Öl, Petroleum, desgleichen in Gläsern die Körner der Getreidearten und der Mühlenprodukte und noch hundert andere Sachen und Sächelchen, welche durch den Fleiss des Lehrpersonals stets vermehrt werden und beim Unterrichte jederzeit zu Gebote stehen.

Besonders wichtig aber ist die natürliche und unmittelbare Anschauung bei der Entwickelung und praktischen Aneignung derjenigen Begriffe, welche dem Schüler im späteren Leben notwendig sind und ihn ganz besonders befähigen sollen, sich im Verkehr mit der Geschäftswelt einige Selbständigkeit zu erringen. Ich meine die Kenntnis und Anwendung der Münzen, Masse und Gewichte, wie sie der Rechenunterricht in den vorgeschrittenen Klassen unserer Anstalten wie der Hilfsschulen dem Schüler beizubringen sucht. Hier ist mit der blossen Theorie absolut nicht gedient. Der Schüler wird nie zu klaren Begriffen kommen, noch dieselben später anwenden, wenn er nicht die einzelnen Münzen vor sich sieht und mit ihnen zählen und rechnen lernt, wenn ihm nicht Gelegenheit geboten ist, messen. und wiegen, sowie den Wert des Gemessenen und Ge- wogenen in Geld ausdrücken, d. h. berechnen zu lernen. Was ich eingangs meines Vortrages erwähnt, gilt hier ganz besonders. Das vollsinnige Kind lernt durch den täglichen Verkehr spielend, was dem Schwachsinnigen durch methodische Kunstfertigkeit beigebracht werden muss.

Ausgehend von dieser Erkenntnis habe ich in meiner Anstalt einen Kauf- laden als Lehrmittel aufgestellt, der sich trefflich bewährt. Ich erlaube mir Ihnen hier einige Abbildungen zur gefl. Cirkulation zu überreichen. Dieser

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Kaufladen dient gleichzeitig auch als Stoffsammlung. Was in den dentschen Schulen gewöhnlich nur in mehr oder minder guten Abbildungen vorhanden ist, nämlich die Darstellung der verschiedenen Münzsorten, die Masse und Gewichte, das ist hier in natura vorhanden, das bekommt der Schüler in die Hand, damit muss er operieren. Er wird angeleitet, eine bestimmte Summe Geldes zu zählen, eine ihm vorgeschriebene Anzahl von Gewichtsmengen zusammenzustellen, ver- schiedene Materialien, wie sie in der Haushaltung nötig sind, als Kaffee, Zucker, Salz, Mehl, Reis etc. in Wirklichkeit nach einem vorgesagten Quantum zu wägen, Flüssigkeiten in Litern und Teillitern abzumessen, endlich verschiedene Stoffe: Leinwand, Band, Tuchstreifen in Metern und Centimetern anzugeben. Das, meine Herren, ist die richtige Begriffsentwickelung, woran, wie es hier der Fall ist, mehrere Sinne sich beteiligen und so dem schwachen, kindlichen Geiste die Auffassung erleichtern. Ist dies im einzelnen bis zur Fertigkeit geübt, so be- ginnt das Kaufen und Verkaufen, die Bestimmung des Wertes abgemessener und abgewägter Mengen in Geld, das Geldwechseln und -herausgeben, wie es das tägliche Leben verlangt. Es ist selbstverständlich, dass die Schüler da ein ganz anderes Interesse zeigen als wenn sie mit toten Zahlen im Kopfe oder an der Tafel operieren. Sie freuen sich schon vorher auf die Stunde, in welcher sie zum Kaufladen gehen dürfen. Das eine Kind spielt den Kaufmann, das andere den Käufer. Wie leuchtet ihr Auge, wie fühlen sie sich gehoben in der ihnen zugewiesenen Rolle! Mit dem sicheren Selbstbewusstsein des Könnens wächst gleichsam der schwache Geist, und regen Eifers machen sie sich an die gestellte Aufgabe, glücklich und strahlenden Angesichts, wenn sie dieselbe zur Zufrielen- heit des Lehrers gelöst haben. So wird ihnen die Rechenstunde, sonst für viele Schüler eine Qual, zur belehrenden und für das spätere Leben ausserordentlich nutzbringenden Unterhaltung. Ich kann daher die Anschaffung eines so wich- tigen Lehrmittels, wenn auch die Herstellung und Einrichtung etwas hochkommt, meinen werten Kollegen wärmstens empfehlen.

Die natürliche, unmittelbare Anschauung ist also das einfachste und sicherste Mittel bei der Begriffsentwickelung und muss, so weit immer möglich, beim Unterrichte herangezogen werden. An ihre Stelle treten in zweiter Linie die Modelle, die Nachbildungen von wirklichen Gegenständen in kleinerem Mass- stabe. Hiervon sollte sich jede Anstalt und auch die Hilfsschule eine Samm- lung anlegen, zumal wir sie in der ersteren schon bei den Zöglingen der Vor- schule nötig haben und zwar zu den Unterscheidungs- Übungen nach dem be- kannten Werkchen unseres Altmeisters Barthold. Diese Modelle, beispielsweise von ausländischen Tieren oder von Handwerkszeugen u. dgl, müssen jedoch gut ausgeführt sein, sonst ist ihr Wert ein problematischer und steht demjenigen einer guten Abbildung nach. Bei richtiger Ausführung und Polychromierung sind aber diese Sachen ziemlich teuer. Man erhält sie meistens in den Spiel- warenläden oder auch in Lehrmittelhandlungen. Immerhin sollte ihre allmäh- liche Anschaffung angestrebt werden.

Als Hauptersatzmittel für die natürliche Anschauung zur Vermittelung richtiger Begriffe an die Schwachsinnigen dienen gute Abbildungen. Deshalb

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darf es in der Idiotenschule an solchen in keiner Weise fehlen. Vorab für den Religions- und biblischen Geschichtsunterricht sind sie unentbehrlich, da in diesen Disciplinen abstrakte Begriffe vorherrschen, deren Erklärung durch eine gute Abbildung sehr unterstützt wird. Von den Bilderwerken, welche für diesen Zweck existieren, kann ich in erster Linie die bei Herder in Freiburg erschienene Bilderbibel empfehlen. Sie enthält 40 Darstellungen aus der biblischen Geschichte des alten und neuen Testaments in der Grösse von 40 zu 50 cm, und sowobl Zeichnung als Kolorit ist gut und den Schwachsinnigen in die Augen fallend. Diese Sammlung leistet mir vorzügliche Dienste. Als Ergänzung derselben sind zu nennen „48 Darstellungen aus der biblischen Geschichte des alten und neuen Testamentes“, allerdings nur in Quer-Quart und mit kleineren Figuren, die den Kindern eben ganz nahe gebracht werden müssen, immerhin jedoch recht brauchbar. Auch die bei Meinhold und Söhne in Dresden erschie- nenen „20 Bilder aus der biblischen Geschichte“ in Schwarz- und Tondruck sind zu empfehlen.

Ein sebr gutes Werk versprechen die „Biblischen Anschauungsbilder zum Neuen Testament für die Schule“ zu werden, von welchen bis jetzt zwei Serien erschienen sind. Dieselben sind gezeichnet von Professor Heinrich Hofmann und herausgegeben von Julius Lohmeyer im Verlage von Wiskott hier in Breslau. Wenn auch etwas teuer, erscheinen dieselben doch äusserst würdevoll und machen auf die Schüler grossen Eindruck.

Was die übrigen Bilderwerke anlangt, so sind dieselben ja meinen Herren Kollegen bekannt genug. Leutemanns Tierbilder, Fiedlers anatomische Wand- tafeln, die Bilder zum Fischbuch, die Kehr- und Pfeifferschen Wandbilder, unser Hillsches Bilderwerk, die Wandbilder fir Schule und Haus von Schultz, Wilkes Bildertafeln für den Anschauungsunterricht etc. bieten eine Fülle von Dar- stellungen, an welchen sich die Begriffe entwickeln und zum geistigen Eigentum der Schüler machen lassen.

Ganz besonders zu empfehlen ist es, wie wir es beim Besuche der Anstalt Mosbach nach unserer letzten Konferenz in Heidelberg gefunden haben, eine Anzahl von Bildern an den Schulwänden aufzuhängen. Es hat dies den Vorteil, dass der Lehrer beim Unterrichte, namentlich beim Lese- und Schreibunterrichte, wenn irgend ein Gegenstand erwähnt ist, denselben ohne Weiterung den Schülern zeigen, oder ihn von denselben aufsuchen lassen kann. Es ist oft erstaunlich, wie mangelhaft die geistige Vorstellung bei einzelnen Schülern und gerade bei solchen ist, denen man es am wenigsten zutraut. Da tritt manchmal eine horrende Begriffsarmut, noch mehr aber Begriffsverwechslung zu Tage. Aber eben diese Erscheinung muss uns anspornen, bei allen Unterrichtsstoffen stets und immer wieder auf Klarheit der Begriffe zu wirken und stets zu prüfen, ob die Schüler auch die richtige Vorstellung von dem Inhalte des Lehrstoffes haben.

Recht zu empfehlen als gutes Bilderwerk zum Aufhängen im Schulzimmer in dieser Hinsicht sind die bei Schreiber in Esslingen erschienenen 5 grossen Wandtafeln, welche 300 Abbildungen verschiedener Gegenstände enthalten. Dieselben sollten in keinem Schulzimmer fehlen. Die erste Tabelle stellt dar:

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Schul-, Zimmer-, Küchen-, Wirtschafts- und Gartengeräte; die zweite: Musik- instrumente, Waffen, Münzen, Gebäude und Teile der letzteren; die dritte: Verkehrsmittel, wie Eisenbahn, Pferdewagen, Omnibus, Fahrrad, dann diejenigen zu Wasser, von der Gondel angefangen bis zum Oceandampfer und Kriegsschiff, ferner verschiedene Typen von Menschen. Die letzten beiden Tabellen sind der Naturgeschichte des Tierreiches gewidmet, dessen hauptsăchlichste Repräsentanten sie vorführen. }" Die Zeichnungen sind ausserordentlich naturgetreu, ebenso das Kolorit, und die Zöglinge können, soweit sie das nötige Unterscheidungsvermögen besitzen, im Vergleiche mit den wirklichen Gegenständen kaum fehl gehen.

Als passende Ergänzung zu diesen Tabellen dient der II. Teil von Schreibers Anschauungsbildern, darstellend die Vertreter der heimischen Botanik, nämlich Giftpflanzen, Pilze, Blumen, Garten- und Feldgewächse, Beerensträucher, Obst- und Waldbéume. Bei letzteren sind namentlich die Blüten und die Früchte ausserordentlich naturähnlich und anziehend dargestellt, zum Anbeissen, wie der Volksmund sagt. Dieses Lehrmittel, wie auch die folgenden, welche ich zu empfehlen mir erlaube, besitze ich in Buchform und habe sie im Schulschranke jederzeit bequem zur Hand. Sehr gut ist auch das im selben Verlage erschie- nene Bilderwerk: „Die Werkstätten der Handwerker“ in verschiedener Arbeits- thätigkeit, und zwar unterscheiden wir genau den Meister, den Gesellen und den Lehrling. Jedem dieser Bilder ist sodann eine eigene Tafel beigegeben, welche die Werkzeuge des betreffenden Geschäftsmannes darstellt. So sind diese Bilder in vorzüglicher Weise geeignet, die Entwickelung von Gegenstands-, namentlich aber von Thätigkeitsbegriffen zu unterstützen.

Auch Bohnys Bilderbuch und die Prachtausgabe der Hey-Spekterschen Fabeln leisten vortreffliche Dienste. Ausserdem giebt es ja noch eine ganze Menge von Veranschaulichungsmitteln, so dass der Lehrer in der Auswahl keineswegs beschränkt ist und auch seine individuelle Meinung voll zur Geltung kommen lassen Kann.

Was wir weiter von einem Lehrer an der Hilfsschule oder an der Idioten- anstalt im Interesse einer fruchtbaren Begriffsentwickelung verlangen müssen, ist die Kunst des Zeichnens. Es giebt Fälle, in denen weder die nächste Umgebung, noch die Stoff- und Modellsammlung, noch auch das Bilderbuch den zu erläuternden Begriff aufweisen, wo lediglich die geschickte Hand des Lehrers durch eine geeignete Darstellung an der Wandtafel helfend und unterstützend eingreifen kann. Ich werde dies an einigen Beispielen klar machen. In unserem Lesebuche kommt bei Beschreibung der Ente folgender Satz vor: „Ihr Körper gleicht einem Kahne, ihre Füsse sind die Ruder.“ Um diese wechselseitige Beziehung von vier Begriffen richtig entwickeln und den Kindern klar machen zu können, steht mir gar kein anderes Mittel zu Gebote, als die Darstellung mit der Kreide. Ich zeichne einen einfachen Kahn mit zwei Rudern und lasse daraus eine Ente entstehen, indem ich vorn Hals und Kopf anfüge, die Flügel markiere und die Ruder in Füsse mit Schwimmhäuten umwandle. Dies wird von den Zöglingen sofort und richtig aufgefasst, besser, als durch jede Um- schreibung und Worterklärung. Oder, es heisst vom Marienkäferchen, seine

$ 69 Gestalt sei halbkugelig. Was ist natürlicher, als dass ich einen Halbkreis zeichne, der die Halbkugel veranschaulicht und daraus einen Marienkäfer, wenn auch in primitiver Form, entstehen lasse.

Es ist ferner zu lesen: „Der Laubfrosch wird als Wetterprophet in Gläsern gehalten. In diese stellt man eine kleine Leiter, auf welcher er sich bei schönem Wetter aufhält“. Die wenigsten Schüler werden wohl Gelegenheit haben, das genannte Tier in dieser Situation zu beobachten. Einem nur einigermassen geübten Zeichner wird es nun ein Leichtes sein, die entsprechende Darstellung mit der Kreide zu geben, zur Belustigung und Belehrung der ganzen Klasse.

So ergiebt sich häufig die Notwendigkeit, die sich im Unterrichtstoffe dar- bietenden Begriffe mittelst Zeichnen entwickeln zu müssen, weshalb ich fordere dass der Idiotenlehrer diese Kunst einigermassen verstehe, um seiner Aufgabe voll und ganz genügen zu können. Ausserdem ist auch das geometrische Zeichnen bei dem Formenunterrichte notwendig, der ja, wie bekannt, als formales Bildungs- mittel in unseren Anstallen kaum entbehrt werden kann. Der Lehrer muss die Linien, Winkel und Flächen vor den Augen der Schüler an der Tafel entstehen lassen. Auch diese Art von Begriffsentwickelung ist fiir die Schulung des schwachen kindlichen Geistes von eminenter Bedeutung.

Auch die Zeichensprache kann beim Unterrichten schwachsinniger Kinder, namentlich bei solchen nicht entbehrt werden, welche schwerhörig oder gar taub- stumm sind. Ich meine hier die Zeichengebung nicht als Umgangssprache, sondern als Mittel zur Begriffsbestimmung. Man hat zwar an den Taubstummen- Anstalten vielfach die Zeichensprache vollständig zu verbannen gesucht, um die Schüler zu zwingen, sich ausschliesslich und sogar im Verkehre untereinander der Wortsprache zu bedienen, und ich habe bei Vatter in Frankfurt mit grossem Interesse die geistreichen Bemühungen und die eminente didaktische Kunst beobachtet, mit welcher man den Taubstummen mit Umgehung des Deutens die Begriffe beizubringen sucht. Aber, meine Herren, hier waren es intelligente Taub- stumme, deren heller Geist, deren durchdringender Verstand die Vergleichungen und Umschreibungen auffasste und sich daraus den neuen Begriff bildete. Das ver- mag der schwachsinnige Taubstumme nicht. Er kann diesem Unterrichte ebenso- wenig folgen, wie der hörende Schwachsinnige dem Vortrage des Volksschul- lehrers. Es geht eben über seinen Horizont, über sein Fassungsvermögen hinaus. Bei ihm muss die Zeichensprache, welche er gewöhnlich sehr gut versteht, an- gewendet werden, wenn auch in beschränktem Masse. Namentlich beim Religions- unterrichte, überhaupt bei der Entwickelung abstrakter Begriffe kann man sich häufig nicht anders helfen, als durch ein treffendes Zeichen, eine passende Ge- berde. Oder, wie will man beispielsweise die Begriffe: Demut, Andacht, Reue, Abscheu entwickeln ohne Geberde. Es wird bei schwachsinnigen Taubstummen, vielleicht bei Schwachsinnigen überhaupt kaum gehen.

Ausserdem dient die Geberde, richtig und würdevoll angewendet, auch bei erzählender und vortragender Lehrweise sehr dem Aneignen der Begriffe, wie nicht minder dazu, die Aufmerksamkeit der Schüler rege zu erhalten, ihren

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kindlichen Geist zu fesseln, ihre Freude am Unterrichte und ihr Interesse am Inhalte desselben zu erhöhen.

Und dies führt mich zu dem in letzter Linie zu besprechenden Mittel für die Entwickelung der Begriffe, nämlich der Umschreibung, Vergleichung, und des Gegensatzes. Hier tritt recht eigentlich die Kunst des Lehrers in ihre Rechte ein, hier zeigt sich der verständige Meister. Ich habe vorher die Taubstummenschule von Vatter in Frankfurt erwähnt. Als ich dem Unter- richte des bekannten Methodikers anzuwohnen das Glück hatte, kam in einem Lesestücke, welches den Verlauf des Herbstes schildert, der Begriff zusehends vor. Es hiess nämlich, so weit ich mich erinnere: „Das Laub wird zusehends gelber.“ Aufrichtig gestanden, war ich sehr neugierig zu erfahren, wie Vatter diesen Begriff entwickeln werde. Aber er war offenbar vorbereitet. Denn er nahm ohne Zögern seine Taschenuhr heraus und wies die Schüler auf den Sekundenzeiger, sprechend: „Dieser Zeiger bewegt sich zusehends.“ Dann, als Gegensatz: „Der Stundenzeiger bewegt sich auch, aber nicht zusehends.“ Der Begriff war den Schülern klar, und ich bekam grossen Respekt vor Meister Vatter.

Es würde mich zu weit führen, diese Art Begriffsentwickelung im einzelnen zu schildern. Es ist dies auch mehr oder weniger Sache der persönlichen An- lagen, des natürlichen, ja ich kann behaupten des angeborenen Lehrgeschickes und noch mehr des pädagogischen Eifers, der Hingabe an den Beruf. Hier kommt so recht zur Geltung die goldene Regel, für uns Idiotenlehrer eine zehn- mal dringendere Mahnung, als für jeden anderen Kollegen: herabsteigen vom Kothurne der Wissenschaftlichkeit zum niederen Standpunkte des armen Geistes- schwachen, der mit seinen blöden Augen so vertrauend zu uns aufblickt. Ja, aus diesen blöden Augen schaut trotzdem eine Seele, verschleiert zwar durch krank- hafte Zustände, aber harrend, befreit und gehoben zu werden durch deine Kunst und deine Liebe, o Lehrer, der du dich dem zwar beschwerlichen, aber doch dankbaren Berufe gewidmet hast, die Armen im Geiste zu unterrichten. Und indem du herabsteigest zu ihnen und mit Worten, mit Beispielen und Ver- gleichungen, mit Gegensätzen, auch oft mit spasshafter Ironie ihre schwachen Begriffe befestigest, die dunkeln erleuchtest und durch natürliche Anschauung und alle die erläuterten Hilfsmittel ihnen neue Begriffe ermittelst und so ihren geistigen Besitzstand bereicherst, hebst du sie herauf zu dir, zur menschlichen Gesellschaft und machst hrauchbare Glieder aus ihnen. Hier zeigt der Idioten- lehrer seine didaktische Kunst. Und man sage nicht, es ist so langweilig, mit den geistig Zurückgebliebenen sich zu beschäftigen, und der Volksschullehrer blicke nicht verächtlich herab auf die Hilfsschule und die Schule für Geistes- schwache. Talentvolle Kinder zu unterrichten, bei denen alles spielend zu erreichen ist im Verhältnis zu schwachsinnigen, ist ja auch eine dankbare Auf- gabe, ja vielleicht noch dankbarer, als die unsere. Aber das lassen wir uns nicht abstreiten, dass unsere Beschäftigung vielfach eine schwierigere und ver- dienstlichere ist, auch meist mehr Anerkennung findet und Anhänglichkeit erzeugt.

Wenn der Lehrer so vor den Kindern steht, ihnen irgend einen Begriff klar

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zu machen, wenn er mit rechtem Berufseifer in den schwachen kindlichen Geist einzudringen und denselben zu erhellen sucht, dann ist es nicht anders, als ob dieser schwache Geist an seinem eigenen sich entzünde, als ob ein elektrischer Funke von diesem herüberspränge.. Da erheitern sich die blöden Augen und der Glanz eines höheren Verständnisses verschönt und verklärt sie.

Nachdem ich somit die Hilfsmittel wenigstens in der Hauptsache beschrieben, welche uns bei der Begriffsentwickelung zu Gebote stehen, ergiebt sich die weitere Frage: Wann, bei welchen Unterrichtsgegenständen hat die Erläuterung der Begriffe stattzufinden?

Diese Frage, meine Herren, ist schnell beantwortet. Die Begriffsentwickelung hat bei allen Unterrichtsgegenständen stattzufinden, fortgesetzt, ununterbrochen. Es giebt keinen Lehrgegenstand, bei welchem der Lehrer nicht jederzeit auf Klarheit der Begriffe zu dringen, bei welchem er sich nicht immer und immer wieder zu überzeugen hätte, ob dieses oder jenes Wort richtig aufgefasst und verstanden worden ist. Es mag dies den Unterricht scheinbar verlangsamen, aber der Gewinn ist um so grösser, der Erfolg um so sicherer. Dringt ja unser Altmeister und Präsident Barthold in seinem bekannten Werkchen fest darauf, dass beim Sprechunterrichte jedesmal, sobald die Zusammensetzung der Laute einen Begriff ergeben, dieser Begriff sofort erläutert werde. Und so muss es dann beim Schreiblese-Unterricht weiter gehen. Selbstverständlich bietet der Anschauungsunterricht die meiste Gelegenheit zur Begriffsentwickelung. Aber es wäre weit gefehlt zu glauben, dass es genüge, wenn es bei diesem Unterrichte geschieht, und man brauche bei den übrigen Disciplinen weniger darauf zu sehen. Nein! auch nicht einen Augenblick darf der Lehrer die wichtige Regel ausser acht lassen, dass der Haupteffekt eines guten Unterrichtes in der Vermittlung richtiger Begriffe liegt. Es würde mich zu weit führen und erscheint auch nicht notwendig, unser Thema auf jeden einzelnen Lehrgegenstand anzuwenden. Nachdem wir die Hilfsmittel kennen gelernt haben, ergiebt sich für den Metho- diker die richtige Anwendung von selbst. Nur einige besondere Punkte möchte ich zum Schlusse hervorheben, die mir in meiner Praxis als wichtig und beachtenswert erschienen sind.

Der erste bildet einen Hauptgrundsatz für jeden, nicht bloss für den Idioten- lehrer, dass er nämlich nichts lesen, noch viel weniger memorieren lässt, wenn nicht eine genaue Wort- und Sacherklärung vorausgegangen ist. Ich lasse deshalb jedes Lesestück zuerst von der ganzen Abteilung im Chor lesen und Satz um Satz erklären. Jeder Begriff, sei es nun ein Gegenstands-, Eigenschafts-, Thätigkeits- oder auch ein Umstandsbegriff, wird erläutert. Erst wenn das ganze Lesestück auf diese Weise durchgenommen ist, wird es von den einzelnen Schülern reproduziert. Man darf aber überzeugt sein, dass dies mit viel grösserer Freudigkeit und Geläufigkeit, selbstverständlich auch mit besserem Vortrage geschieht, als wenn lediglich mechanisches Lesen betrieben wird. Ahnlich ist es mit dem Katechismus, biblischem Geschichtsunterricht, Einübung von Ge- dichten und dergleichen.

Sehr zum Verständnis eines Lesestückes trägt es bei, wenn die verschie-

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denen Personen, welche darin etwa sprechend auftreten, von mehreren Kindern dargestellt werden. So lasse ich z. B. die Fabel: „Der Kuckuck sprach zu einem Star“ von zwei Schülern derartig vorlesen, dass der eine als Kuckuck, der andere als Star deklamiert. Diese Wechselreden sind nicht nur der Begriffsentwickelung sehr förderlich, sondern animieren auch die Kinder und machen ihnen den Unterricht schmackhaft. Ebenso ist es zu empfehlen, wenn man die Schüler veranlasst, eine indirekte Rede oder die erzāhlende Andeutung einer solchen in direkter Rede wiederzugeben. So heisst es beispielsweise in dem bekannten Lesestücke „Die kleine Lügnerin“: „Lieschen wurde von ihrer Mutter in den Garten geschickt, um für ihren kranken Bruder einige reife Kirschen zur Er- quickung zu holen. Die Mutter hatte ihr ausdrücklich verboten, davon zu naschen. Als sie die Kirschen brachte, fragte die Mutter deswegen und Lieschen beteuerte, sie habe nichts davon gegessen.“ Hier wird es den Schülern ein leichtes sein, die Fragen mit direkter Rede zu beantworten: „Wie wird die Mutter zu Lieschen gesagt haben, als sie derselben den Auftrag gab? Wie lautete das Verbot? Was wird wohl Lieschen darauf geantwortet haben? Wie log sie? etc.“

Ein vortreffliches Mittel, die Begriffe zu klären, bietet auch die Ableitung der Wörter beim Sprach- und Rechtschreibunterricht, die Bildung neuer Wörter durch Hinzufügung von Vor- und Nachsilben z. B. Wolke, das Gewölk, Wetter, das Gewitter, jung, der Jüngling, und andere, ferner die Aufstellung ganzer Wortfamilien z. B. gehen, der Gang, vorgehen, nachgehen, mitgehen, Abgang, Aufgang etc. Solche Übungen sind sicher fruchtbringend.

Endlich möchte ich noch das Tagebuch empfehlen, welches die fort- geschritteneren Zöglinge von Zeit zu Zeit niederschreiben. Ich benütze dazu nur die besonderen Gelegenheiten, bei denen die Schüler lebendige und fest- haftende Eindrücke schildern, für welche sie auch leicht die richtigen Worte zu finden wissen. Solche Gelegenheiten bieten: das Weihnachtsfest, die Fastnacht, der erste Spaziergang im Walde, der Osterhase, das Maifest, die Kommunion-, oder Konfirmationsfeier, die politischen Tage, wie Sedanfest und dergl. Mit grossem Vergnügen bilden dann die einzelnen Schüler die Sätze und schreiben sie eifrig nieder. Solche Ereignisse, es können auch Tagesbegebenheiten der nächsten Umgebung sein, wie z. B. ein Gewitter, ein Brand, die Heuernte, der Vorbeimarsch von Militär oder eine Einquartierung werden auch sehr vorteilhaft in Briefform gebracht. Das bildet ausserordentlich und unterstützt die geistige Anregung in eminenter Weise.

Meine Herren! Ich bin nun mit meinem Vortrage zu Ende. Wenn ich Ihnen auch nichts Neues gesagt habe, so habe ich doch mit der Erörterung unseres Themas vielleicht den Beweis geliefert, dass unsere Arbeit an den armen Schwachsinnigen keineswegs eine so einfache ist und dass dem pädagogischen Eifer und dem methodischen Geschick in unseren Anstalten, wie nicht minder in den uns verwandten Hilfsschulen ein weites Feld fruchtbarer Wirksamkeit offen steht. Und sollten meine gutgemeinten und von Herzen kommenden Worte in dem einen oder anderen meiner verehrten Zuhörer ein Fünklein Begeisterung

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angezündet haben für unseren Beruf, nun dann sind sie auch nicht in den Wind gesprochen.

Vorsitzender Erziehungsinspektor Piper: Was uns Herr Direktor Kölle in Theorie vorgeführt hat, zeigte uns der Referent in Praxis. Ich stelle den Vortrag zur Diskussion.

Debatte. Kreisschulinspektor Weichert: Wir alle haben dem Vortrage mit grossem Interesse gelauscht und sind dem Referenten äusserst dankbar. Aus dem Gebotenen konnte jede Lehrkraft recht viel lernen. Das waren Worte eines praktischen Schulmannes. Wie oft ist der Begriff des Kindes unklar beim vollsinnigen sowohl, als beim schwachsinnigen. Der Lehrer stellt sich oft auf einen zu hohen Standpunkt, nicht auf den des Kindes. Oft bildet er sich ein, das Kind verstehe ihn und ver- steht ihn doch nicht. Wir müssen darum überall in der Volksschule, in der Hilfs- schule, in den Idiotenanstalten zu den Veranschaulichungsmitteln greifen. Mich hat es ganz besonders gefreut, dass der Referent die natürlichen Anschauungsmittel betont hat. Der Referent scheint mir doch in seinen Ansprüchen etwas weitzugehen, wenn er verlangt, dass die Wärter und Wärterinnen die Kinder unterrichten sollen in allem, was die Kinder gelegentlich sehen; das wird uns nicht in allen Fällen ge- lingen. Vor allem aber freut es mich, dass der Referent die Anschauungsmittel in die Schule selbst gebracht haben will. Wir können unsere Kinder nicht fortwährend in die Natur und za den natärlichen Gegenständen führen. Jederzeit stossen wir auf Begriffe, die augenblicklich erklärt werden müssen. Der Referent hat uns belehrt, dass wir das können, wenn wir die Anschauungsmittel sammeln und stets vorrätig haben. Er hat auch das praktische Leben betont und verlangt, mit dem Gelde zu rechnen. Er hat sogar einen Kaufladen eingerichtet und lässt dort die Schüler kaufen und verkaufen. Gleichzeitig werden sie mit den Verkehrsformen bekannt gemacht. Dankbar bin ich dem Referenten, dass er die kolorierten Bilder für unsere Schulen empfiehlt. Wir müssen ferner dahin kommen, dass die allgemeinen An- schauungsbilder ersetzt werden durch Einzelbilder mit der nötigen Umgebung, dass wir Bilder bekommen, welche den Stoff des Lesebuches enthalten und an welchen wir das Rechnen üben können. Besonders möchte ich auf die Bildertafeln hinweisen, welche ich in Dalldorf gesehen habe, und zugleich anfragen, ob dieselben in Druck gegeben worden sind? (Ist bisher noch nicht geschehen.)

Taubstummenlebrer Karth: Ich möchte auf den Vortrag des Herrn Erziehungs- inspektors Piper noch einmal zurückkommen und die Frage stellen: Ist es möglich, dass ein eolches sprachloses Kind wirklich in die Lage kommt, lautsprachlich mit der Menschheit verkehren zu können, und hat die ganze Summe von Arbeit einen wirk- lichen Zweck? Ich hebe hervor, dass in Taubstummenanstalten blödsinnige Kinder vor- kommen, die eine gewisse Grenze erreichen, bei denen dann aber jeder weitere Unter- richt keinen Zweck hat, da die Kinder auf der erreichten Stufe stehen bleiben.

Direktor P. Bernhard: Meine Absicht ist, Einzelnes zu ergänzen und Jie Er- fahrungen zu bestätigen, welche uns der Referent aus seinem Wirkungskreise vorge- führt hat. Es bietet sich nicht nur in der Schule, sondern überall reichlich Gelegen- heit, mit seinen Zöglingen Anschauungsunterricht zu betreiben. Wenn man nur ein

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offenes Auge hat, wird man viel Gelegenheit finden, die Kinder anzuregen. Eine Hauptforderung ist, nur nicht langweilig zu unterrichten. Dann möchte ich Sie bitten, versäumen Sie nie, in den Räumen der Anstalt wie auch ausserhalb derselben, die Kinder vor öden Anblicken zu bewahren. Es ist ein leichtes, in jedem Zimmer etliche Bilder aufzuhängen. Die Kinder müssen frühzeitig an Schönheit gewöhnt werden.

Auf die Anfrage, die vorhin gestellt wurde, muss ich bemerken, dass es durch- aus nötig ist, die Lautsprache zu üben. Es ist den Kindern selbst eine Freude, wenn sie sprechen, sich am Singen beteiligen können. Was erreicht werden kann müssen wir erreichen.

Direktor Schwenk: Ich erkläre mein Einverständnis mit den Ausführungen des Referenten und mit dem, was Herr Kreisschulinspektor Weichert hinzugefügt hat. Entgegnen muss ich aber, dass wir von unseren Pflegern nicht verlangen können, den Kindern dieses oder jenes beizubringen. Wir müssen darum Schulspaziergänge ein- richten. Der Lehrer muss mit seiner Klasse hinausgehen und draussen unterrichten. Bezüglich der Bilder möchte ich die von Füssler-Zürich empfehlen, welche mannig- fache Anweudungen finden können. Ich gebrauche sie anf der Vorstufe als Sprach- bilder, auf der nächsten Stufe beim Anschauungsunterricht, auf der Mittelstufe zum Niederschreiben, ja auch die Aufsätze lasse ich nach diesen Bildern anfertigen.

Die Anfrage des Herrn Kollegen Karth hätte eigentlich gestern erörtert werden müssen. Ich bemerke dazu folgendes. Wir werden bei den erwähnten Kindern viel Zeit vielleicht unnütz vergeuden. Aber man stelle sich nur einmal in die Lage der Eltern. Wie freudig schlägt ein Vater- oder Mutterherz, wenn das Kind endlich Mama, Papa sagen kann. Ich habe in der untersten Abteilung fünf Kinder, die abso- lat nicht gesprochen haben, als sie in die Anstalt eintraten, heute machen sie ganz schön mit. Das Resultat ist nicht nach der Piperschen Methode, sondern nach der von Direktor Kölle gestern erwähnten erreicht worden, d. h. durch die Verbindung. sämtlicher Fächer.

Inspektor Pfarrer Geiger: Die Anstaltssammlungen soll man nicht zu sehr aus- dehnen. Wir müssen zufrieden sein, wenn das Kind einige Typen kennt, welche in seiner unmittelbaren Nähe sich vorfinden und in Beziehung zu ihm kommen. In Mosbach halten wir es so, dass wir die Kinder ins Freie führen und an Ort und Stelle die betreffenden Erklärungen geben, wenn irgend ein Gegenstand besprochen werden soll, der sich draussen vorfindet. Wir können nie zu viel thun, um unsere Kinder vorwärts zu bringen. Die Eltern sind froh über jeden kleinen Fortschritt, den ihre Kinder machen.

Lehrer Hanke: Bei der Fülle der Anregungen greife ich einige Punkte aus dem Vortrage und der bisherigen Besprechung heraus. Ich meine auch, man soll die Schulzimmer nicht zu kabl halten, sondern mit passenden Bildern schmücken; aber Bilder, welche als Unterrichtsmittel dienen sollen, dauernd hängen zu lassen halte ich nicht für richtig, da sie die Kinder während des Unterrichtes ablenken. Im Korridor sind sie angebracht. Bezüglich der Frage, ob der Aufwand an Kraft und Zeit immer in richtigem Verhältnis zu dem erziölten Erfolge stehe, bin ich der Ansicht, dass wir versuchen müssen, die Kinder vorwärts zu bringen. Man weiss ja

75 gar nicht, wie weit man es bei dem oder jenem Kinde bringen wird. Auf die Aus- bildung der Sprache muss ganz besonderes Gewicht gelegt werden, denn die Sprache ist der unmittelbarste Ausfluss des Geistes. Beim Besuche der Breslauer Hilfsschule hatte ich den Eindruck, als ob in derselben viel Material sei, welches in die Idioten- anstalt gehört; ebenso finden sich aber auch in den Idiotenanstalten sehr viel solche Kinder, welche der Hilfsschule zugeführt werden sollten. Unterrichtliche Schul- spaziergänge können nicht genug betont werden. Wir dürfen aber die Schwierigkeiten nicht ausser acht lassen, die sich uns dabei entgegenstellen. In grossen Städten fallen vielleicht andere Momente schwer in die Wagschale, so dass man von der Ausführung absehen muss. Nur bei einer geringen Frequenz sind erspriessliche Spaziergänge möglich. Die Kinder in Hilfsschulen und Idiotenanstalten sind nicht geeignet, an Karten eine begriffliche Förderung zu erfahren. Die Abstraktion von einem Karten- bilde auf die Natur ist einem schwachsinnigen Kinde niemals möglich, und darum halte ich diesen Unterricht für totgeschlagene Zeit. In einer Klasse der Breslauer Hilfsschule habe ich heute frh das Dogma behandeln hören. Meiner Ansicht nach gehören Besprechungen des Dogmas nicht in die Hilfsschule. -— Auch das Rechnen ist mehrfach erwähnt worden. Die Psychologie des Rechnens ist uns eine vollständige terra incognita. Man glaubt, mit einigen Rechenmitteln schon, wer weiss was, an Anschauung gethan zu haben. Bei der Anschauung im Bechenunterrichte ist der Kontrast die Hanptsache. Je einfacher der Apparat wird, desto weniger Garantie leistet er mir, dass Begriffe erreicht werden. Die russische Rechenmaschine ist für den Lehrer die bequemste, für die Begriffsbildung die schlechteste. Im allgemeinen wollen wir hochhalten, niemals zu hohe Versprechungen zu machen, die wir nicht halten können. Wir schaden damit uns und unserer guten Sache. Fest aber wollen wir halten, dass unsere Arbeit kein pädagogisches Spezialistentum werde, sondern eine echte Pestalozziarbeit sei.

Stadtechulrat Dr. Boodstein: Die Fülle von Anschauungsmaterial halte ich für bedenklich, sonst wird in der Pädagogik immer empfohlen: beschränken und isolieren. Dass das eine Notwendigkeit gerade bei den Beschränkten ist, das ist für mich aus- gemacht. Wir machen bei solchen Kindern, die vom Lande in die grossen Städte eintreten, sehr oft die Erfahrung, dass sie über das Wenige von Anschauungsstoffen, was sie mitbringen, den Stadtkindern gegenüber ausserordentlich im Vorteil sind. Je eingehender wir uns mit wenigen Gegenständen beschäftigen, um so grösser ist der Nutzen. Vor allen Dingen aber ist es nötig, die Kinder in das praktische Leben einzuführen. (Redner erwähnt als vorzüglich die Rechenbilder v. Gust. Lindner, Schulrat in Bielitz.)

Vorsitzender Erziehungsinspektor Piper: Zur Beantwortung der Anfrage will ich noch erwähnen, dass wir Fälle haben, in welchen das anfangs sprachlose Kind sich später im Leben sprachlich richtig ausdrücken kann, in anderen Fällen werden wir das Kind nur bis zu einer gewissen Grenze bringen, endlich kommen auch Fälle vor, wo wir thatsächlich gar nichts erreichen, aber versuchen müssen wir. Die Aus- schmückung der Schulzimmer kann ich nicht verwerfen; ich bin dafür, dass die Bilder regelmässig wechseln. Die Anstaltssammlungen sollen nicht gekauft werden, sondern dieselben müssen in der Anstalt entstehen. An jedes einzelne Präparat knüpft sich

dann eine kleine Geschichte. Die erwähnten Rechenbilder habe ich vor 16 Jahren gefertigt. Sie stellen den Zahlenkreis von 1—10 dar mit Berücksichtigung der Zer- legung der Zahl. Bild 1 (*/, m breit, ®/, m hoch) stellt z. B. dar: 1 Kirche, 1 Turm, 1 Schallloch, 1 Zifferblatt (der Zeiger zeigt auf 1), 1 Grab, 1 Kreuz. In der linken Ecke befindet sich 1 Punkt, in der rechten Ecke die 1. Die Veröffentlichung ist bis jetzt an den hohen Kosten gescheitert. Die Bildertafeln benutzen wir zur Einführung in die Zahl. (Redner fragt an, wo die Wagnerschen Anschauungstafeln zu haben seien, und empfiehlt die Lebensformen, Verlag Dürrfeld, Vogelgesang a. d. Elbe.)

Direktor P. Bernhard: Zur faktischen Berichtigung: Ich habe, als ich vom Zimmerschmuck sprach, nicht die Schulzimmer, sondern die Wohn- und Schlafräume im Sinn gehabt.

Hauptlehrer Kielborn: Die Schulwanderungen habe ich seit 20 Jahren kultiviert. Dieselben lassen sich auch in grossen Städten mit 20—25 Kindern unternehmen. Die direkte Anschauung, sowohl in der Anstalt wie in der Hilfsschule, muss immer vorangehen, sonst dreschen wir leeres Stroh. Ich bin auch gegen das Aufhängen von Bildern in den Klassen, mit Ausnahme von patriotischen. Die übrigen, wie auch alles andere Anschauungsmaterial, dürfen sich nur so lange in den Klassen befinden, als von dem betreffenden Gegenstande gesprochen wird; sonst wird die Aufmerksam- keit abgelenkt. In den Wohnräumen ist Bilderschmuck natürlich angebracht.

Stadtschulinspektor Dr. Kriebel: Bezüglich des Dogmas ist unser Grundsatz in der Hilfsschule derselbe wie in der Volksschule: Alles muss auf der bibl. Geschichte basieren, der rein dogmatische Unterricht liegt vollständig ferne. Alles, was in dem gehörten Vortrage in Form von Leitsätzen entstanden ist, geht auf den Posta- lozzischen Satz zurück: Anschauung ist das Fundament aller Erkenntnis. Wir haben in der Hilfsschule die Fröbelschen Grundsätze hinzugefügt. Neben der Anschaulich- keit in der ausgedehntesten Weise wollen wir die Begriffe der Kinder durch Dar- stellen bilden. Wir haben deshalb nachmittags den Beschäftigungsunterricht ein- geführt, an welchem die Kinder ganz frei teilnehmen und zwar mit gutem Erfolge.

Vorsitzender Erziehungsinspektor Piper: In der Rednerliste stehen noch neun Namen verzeichnet. Ich stelle den Antrag auf Schluss der Debatte. (Wird nicht angenommen.)

Direktor Wicher: Wir wollen Werkstätten einrichten, in welchen die Kinder unterrichtet werden, dann lernen sie nicht bloss die Gegenstände kennen, sondern auch mit ihnen hantieren. Von diesen Werkstätten hat die Anstalt materielle Vorteile, und die Kranken werden von ihrem krankhaften Zustand abgelenkt, ihr Geist sehr gefördert.

Generalsuperintendent D. Erdmann: Ich bedaure, erst heute der Einladung Folge leisten zu können, um so dankbarer bin ich für alles, was ich hier gehört habe. In Bezug auf den religiösen Anschauungsunterricht möchte ich ein Wort des Dankes für die eo eingehende Beschreibung der bibl. Bilder in dem Vortrage aussprechen Aus meinen Erfahrungen kann ich bezeugen, dass auch die blödesten und schwäch- sten Kindesseelen einen tiefverborgenen Zug über alles Irdische hinaus zur Welt der Ewigkeit und der unsichtbaren Dinge haben. Es hat mich tief ergriffen, wie einer der Herren erzählte, als so ein armes Kind „Vater“ gerufen habe. So können auch

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wir aus unserer Erfahrung bezeugen, dass solche arme Mensche! kinder zu dem Höchsten und Heiligsten auf dem hier besprochenen Wege geführt werden können, den himmlischen Vater droben erkennen und bekennen zu können. Damit hängt das Reden des himmlischen Vaters durch Bild und Gleichvis zu seinen Menschenkindern zusammen. Das Schönste, was es auf dem Gebiete des bibl. Anschauungsunterrichtes geben kann, ist auch diesen Kindern zu bieten, vor allem, das Bild aller Bilder, das des Heilandes. Dogmatische Erörterungen sind für solche arme Kinder durchaus nicht am Platze. Wohl aber sind ins Auge zu fassen, die ewigen göttlichen Wahr- heiten und die Thatsache des Heils, die in die-en Bildern zur Anschauung kommen Das Gute ist immer das Schöne, und das Schöne hat seinen Wert durch das Gute

Lehrer Fuhrmann weist den Vorwurf des Herrn Kollegen Hanke, wonach er dogmatischen Religionsunterricht erteilt haben soll, zurück, und letzterer erklärt, dass er einen falschen Eindruck gewonnen habe. Er nehme seine diesbezüglichen Worte zurück und bitte um Entschuldigung.

Pastor v. Gerlach: Die gedruckten Thesen zeigen das Bestreben, bei unsern Kindern alles zu erreichen, was auch als Ziel bei vollsinnigen Kindern aufgestellt wird. Unsere Kinder sind aber sehr verschieden. Wir werden einen Teil soweit bringen, dass sie sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen, ein anderer Teil wird für ein in etwas nützliches Leben in der Anstalt oder in der Familie vorgebildet werden können, andere werden wir nur zu einem möglichst reichen Selbstleben bringen, die letzte Gruppe endlich ist lediglich zu verpflegen. Bei allem aber muss man be- strebt sein, sie für das ewige Leben zu fördern. Die grösste Anzahl unserer Kinder wird ihre Freude an dem historischen Teil, an den Grossthaten Gottes haben, aber es giebt auch Kinder, die dogmatische Begriffe fassen können.

Direktor Bergmann: Ich bin dem Vorredner dankbar, dass er eine Grenz- regulierung angebahnt hat. Meine Ansicht ist immer falsch gewesen, nämlich als ob die Idioten über einen Kamm geschoren würden. Ich kann mich nicht der An- sicht anschliessen, dass das Einzelbild so besonders für den Unterricht wäre. Unsere Zeit fühıt zum Gesamtbild. Der Gegenstand kommt mit seiner Umgebung erst zum Verständnis.

Direktor Herberich: Ich sage der Versammlung meinen herzlichen Dank für die freundliche Aufnahme meines Vortrages und insbesondere für die lebhafte und hoffentlich recht fruchtbare Debatte.

Nachdem der Vorsitzende dem Referenten gedankt hatte, erteilte er dem Lebrer Schenk das Wort zu seinem Vortrage über „die Fürsorge für die Geistesschwachen in Schlesien. Da die Zeitschrift über denselben Gegenstand bereits in Nr. 5 von 1898 berichtet hat, unterlassen wir die Wiedergabe des Schenkschen Vortrages. Wie früher, so schlossen sich auch an die IX. Konferenz die Besuche von Anstalten an und zwar galten dieses Mal die Besuche den Anstalten Kraschnitz und Leschnitz.

78 Mitteilungen,

Zürich. (Kurs zur Heranbildung von Lehrkräften an Spezialklassen für Schwachbegabte). Die Zentralschulpflege der Stadt Zürich veranstaltet in Verbindung mit der schweizerischen gemeinnützigen Gesellschaft im Frühjahr 1899 einen Kurs zur Heranbildung von Lehrern und Lehrerinnen an Spezialklassen. Über die Organisation hat die Behörde festgesetzt: 1. Der Kurs dauert 10 Wochen; er beginnt am Montag, 24. April, und endet am Sonnabend, 1. Juli. 2. In den Kurs werden 10 bis 12 Lehrer und Lehrerinnen aufgenommen, welche beabsichtigen, sich der Unterweisung von schwachbegabten Kindern in Spezialklassen zu widmen. 3. Die Kursteilnehmer müssen sich ausweisen über: a) den Besitz eines kantonalen Primar- lehrerpatentes; b) die Absolvierung einer mindestens zweijährigen Schulpraxis, wo- möglich an einer ungeteilten Primarschule; c, die für die Leitung einer Spezialklasse notwendigen Qualifikationen durch ein Empfehlungsschreiben der Schulbehörde des letzten Wirkungskreises. 4. Der Unterrichtsplan umfasst: A. Theoretischer Teil. Einführung in die Kenntnis der wichtigsten Erscheinungen auf dem Gebiete der Heil- pädagogik und Pathopsychologie. a) Übersicht über die Anatomie des Gehirns im gesunden und kranken Zustande. Physiologie der einzelnen Gehirnterritorien. Sprach- gebrechen (Stottern, Stammeln, Hörstummheit u.s.w.) Degenerationsmerkmale. b) Patho- logische Zustände der Gesichts- und Gehörorgane in ihrem Einfluss auf die geistige Thatigkeit. c) Das Wesentlichste aus der Psychologie und Unterrichts-Hygieine unter Bezugnahme auf die Behandlung Schwachbegabter. d) Die Fürsorge für Schwach- begabte nach ihrer historischen Entwicklung mit besonderer Berücksichtigung der Organisation der Spezialklassen und der verschiedenen Grade des Schwachsinns. (Mit den einzelnen Vorträgen werden Besprechungen verbunden.) B. Praktischer Teil. a) Unterrichtspraxis an der Spezialklasse fir Schwachbegabte; inbegriffen Handarbeit, körperliche Übungen u. s. w. b) Einführung in das Verständnis des Unterrichts in verwandten Anstalten (Blinden- und Taubstummenanstalt, Anstalt für Epileptische, Anstalten für Schwachsinnige) u. 8. w. 5. Der theoretische Unterricht wird auf den Nachmittag, der praktische auf den Vormittag verlegt. Für den letztern werden die Kandidaten gruppenweise zwei Spezialklassen als Hospitanten und zur Erteilung von Probelektionen zugeteilt. 6. Die Teilnehmer erhalten am Schlusse einen Ausweis über den Besuch des Kurses. Die Kursleitung ist nachfolgenden Herren übertragen: Prof. Dr. Huguenin, Privatdozent Dr. Fick, Dr. O. Laubi, Lehrer A. Fisler, Lehrer A. Heimgartner, Direktor Kölle auf der Rüti, Direktor Kölle, Regens- berg; Direktor Kull, Blinden- und Taubstummenanstalt. Von der Erhebung eines Schulgeldes wird mit Rücksicht auf die finanzielle Unterstützung der schwaizerischen gemeinnützigen Gesellschaft und den vom Erziehungsrate des Kantons Zürich zuge- sicherten Beitrag Umgang genommen; dagegen haben die Kursteilnehmer für die Kosten der individuellen Lehrmittel oder Gebrauchsmaterialien aufzukommen. Aumel- dungen sind schriftlich unter Beilage der sub 3 erwähnten Ausweise bis Montag, 20. Februar |. J., an die Kanzlei des Schulwesens der Stadt Zürich, Bahnhofstrasse 22, zu richten, woselbst auch das Arbeitsprogramm bezogen werden kann. Hierbei wird ausdrücklich aufmerksam gemacht, dass Anmeldungen nicht bloss aus dem Kanton Zürich, sondern auch aus andern Kantonen entgegen genommen werden.

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Dänemark. (Die Kellerschen Erziehungsanstalten bei Kopenhagen.) Der letzte Bericht über die Kellerschen Erziehungsanstalten ist nicht so umfangreich wie seine Vorgänger und enthält auch nicht so viele Abbildungen wie diese. Zunächst bringt er eine Übersicht über die Frequenz der Anstalten und über die wichtigsten Vorkommnisse des vergangenen Jahres. Am 81. Marz 1898 befanden sich in den Anstalten 592 Personen. Die stetig sich steigernde Zahl der Anmeldungen machte den Ankauf eines grössern Areals notwendig, um eine grössere Anzahl von Plätzen zu gewinnen. Zwei photographische Aufnahmen, die dem Berichte beigegeben sind, stellen das Erworbene im Bilde dar. Die Insassen verteilen sich auf die Schul-, die Arbeits- und die Asyl- Abteilung. Die Schulabteilung besteht aus der Vor- bereitungsschule (Vorschule) 88, der Arbeitsschule 32 und der Leseschule 108 Schüler. Zu der Arbeitsabteilung gehören Land- und Handarbeiter (Handwerker). Die Asyl- abteilung besteht aus dem Asyl für Blödsinnige, für Epileptische und für sonstige Pfleglinge. Bei der Schulabteilung ist die Einrichtung der Schulen, die Art des Unterrichts, die Unterrichtsgegenstinde und das Unterrichtsziel näher bezeichnet. 18 Schüler, welche das Ziel der Leseschulen erreichten, wurden am 23. Mai 1898 konfirmiert; der Bericht bringt über jeden Schüler kurze Angaben aus seinem Lebens- and Bildungsgange. Im weitern des Berichts wird auf vier langen Seiten das Anstalts- personal, Direktor, Inspektor, Lehrer, Lehrerin, Pfleger, Pflegerin u. s. w. namentlich angegeben. Eigentümer und Direktor der Anstalten ist Herr Prof. Ch. Keller, welcher denselben seit dem Tode seines Vaters (1884), ihres Begründers, vorsteht. Der Etat der Anstalten beläuft sich auf 330 982 Kr. 67 Öre in Einnahme und auf 315 368 Kr. 58 Öre in Ausgabe. Man scheint hier keine Kosten und Mühen zu scheuen, um den Insassen angenehme und zweckmässige Heimstätten bieten zu können.

Frenzel.

Budapest. (Internationaler Kinderschutz-Kongress.) Im September 1899 findet hier laut Beschluss des im Jahre 1896 in Florenz abgehaltenen gleichen Kongresses der „Internationale Kinderschutz-Kongress‘“ statt. Die Vorbereitungen zu diesem Kongresse, auf dem auch die Sache der körperlich und geistig Gebrechlichen, also auch der Schwach- und Blödsinnigen, vertreten sein wird, sind in vollem Gange. Wir kommen auf den Kongress in einer der nächsten Nummern zurück, wer sich aber über denselben schon jetzt näher orientieren will, der wende sich an den Leiter der Kongresskanzlei, Herrn Stefan Scherer (Budapest, VIII. Bez. Sändor- utcza 38).

Litteratur.

Beiträge zur Pädagogischen Pathologie. In Verbindung mit Pädagogen und Ärzten herausgegeben von Arno Fuchs. Gütersloh. Druck und Verlag von C. Bertelsmann.

Unter obigem Titel erscheinen seit ungefähr 2 Jahren in Heftform zu dem Preiso von 1 Mark wissenschaftliche Arbeiten aus dem Gebiete der pädagogischen Pathologie. Dieselben sind in erster Linie für Pädagogen und Mediziner bestimmt, bieten aber gleichzeitig dem gebildeten Elternhause Gelegenheit, sich mit den patho-

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logischen Naturen und der Behandlung derselben bekannt zu machen. Von dem verdienstlichen Unternehmen liegen bis jetzt 4 Hefte vor. In der Einleitung zu Heft 1 verbreitet sich der Herausgeber zunächst über „System und Aufgaben der pädagogischen Pathologie“. Als die Aufgabe der pädagogischen Pathologie bezeichnet er, „die pädagogischen Fehler zu erkennen, ihre Veranlassung und Ursachen aaf- zusuchen und dann Mittel anzugeben zur Heilung oder Linderung.“ Er teilt die pädagogische Pathologie ein in diejenige der psychisch Normalen, der psychisch Minderwertigen und der psychisch Abnormalen. Weiter bespricht der Ver- fasser in der Einleitung die Ursachen der pädagogischen Fehler, ihre Erscheinungs- weise und ihre Bebandlung durch den Pädagogen und Arzt. Selbstverständlich geschieht letzteres an diesen Stellen nur übersichtlich und andeutungsweise. Die Hauptarbeit des ersten Heftes ist eine monographische Bearbeitung der Unruhe Heft 2 enthält zwei Abhandlungen des Herausgebers: 1. Die Analyse patho- logischer Naturen als eine Hauptaufgabe der pädagogischen Pathologie und 2. Die Schwachsinnigen und die Organisation ihrer Erziehung. Der erste Artikel enthält die Analyse bestimmter pathologischer Naturen und unseres Erachtens ist ee dem Verfasser trefflich gelungen, nicht nur das Charakteristische derselben im Rahmen eines Lhebensbildes scharf zu bestimmen, sondern auch den Weg zu ihrer Behandlung anzugeben. In dem Artikel über die Schwachsinnigen und ihre Erziehung redet der Verfasser, nachdem er versucht hat, den Unterschied zwischen „schwachsinnig“ und „schwachbegabt“ festzustellen, den „Tagesanstalten‘“ das Wort und stellt sich damit auf die Seite der „hygienischen Vereinigung“ zu Berlin, welche bekanntlich solche Anstalten gleichfalls empfiehlt und die geschlossenen Anstalten nur für solche Kinder verlangt, bei denen das Elternhaus die Erfolge des Unterrichts und der Erziehung in Frage stellt und der körperlichen Erziehung in ungenügendem Grade Rechnung getragen wird. -— Das 3. Heft enthält folgende Arbeiten: 1. Behinderung der Nasenatmung und die durch sie gestellten pädagogischen Aufgaben von K. Brauck- mann in W.-Jena, 2. Anatomie und Symtomatologie der behinderten Nasen- atmung von Dr. med. J. Bettmann in Crimmitschau und 8. die Kindererziehung auf naturwissenschaftlicher Unterlage von Sanitäterat Dr. K. Küster in Berlin. Heft 4 enthält: Fr. Eduard Boneke als Vorläufer der pädagogischen Pathologie. Ein Gedenkblatt zum 100. Geburtstage des Philosophen von Otto Gramzow-Berlin. Schon aus diesen kurzen Angaben lässt sich die Bedeutung und der Wert der „Beiträge für Pädagogische Pathologie“ ermessen, und wir wünschen denselben die weiteste Verbreitung.

Inhalt. Bericht über die IX. Konferenz (Müller) (Schluss.) Mitteilungen: Zürich, Dänemark, Budapest. Litteratur: Beiträge zur Pädagogischen Pathologie.

Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. Druck von Johannes Pässler in Dresden.

Nr. 4 u. 5. | XV. (IX) Jahrg.

Zeitschrift FE

für die

Behandlung Sehwachsinmiger und Epiel

Organ der Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

herausgegeben von

ox AND

aston, LEN

W. Schröter, - Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, Direktor der Erziehungsanstalt : Spezialarzt für geistig Zurückgebliebene In für Oo eae Dresden -N. n Stuttgart.

Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postämter, wie auch direkt von den Herausgebern. Preis pro Jahr 6 Mark, einzelne Nummer 50 Pfg.

Erscheint jährlich In 12 Nummern von

mindestens einem Bogen. Anzeigen für 3

die gespaltene Petitzeile 25 Pfg. Litte- Mai 1899. rarische Beilagen 6 Mark.

Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber.

Einiges über Schwachsinnige. Von A. Grohmann-Zürich.

Eine Serie: Lebensanschauung könnte uns mit dem Gedanken vertraut machen: der Dumme sei da, damit der Gescheute sich an ihm ergötze. In der That wird dieses vielfach die Lage des Dummen in der Gesellschaft sein. Diese darf sich die Erheiterung der Gescheuten, die ihr Rückgrat und ihre Träger sind, auch etwas kosten lassen. Zieht man aber die Summe aller Einzelposten in Betracht, mit der der Dumme sozusagen in der Buchführung des geistigen Haushalts belastet steht, so geht ein bedeutender Saldo zu seinen Lasten her- vor, und die Gesellschaft hat kein Mittel, dieses einzutreiben. Da heisst es: weniger Credit geben, ihm weniger gestatten, uns mitzunehmen.

Der Ganzdumme der Blödsinnige stellt meistens eine geringere Last für die Gesellschaft dar, als der Halbdumme, der sogen. Schwachsinnige. Ab- gesehen von Einzelfällen, in denen auch er und dann oft sehr bedeutenden Schaden anrichtet, fliesst sein Leben meistens in primitivster Form Essen und Schlafen und wenigen Beziehungen zu anderen dahin. Die meisten dieser Blödsinnigen bringen ihr Leben in derartiger Zurückgezogenheit zu, dass der grösste Teil der Gesellschaft von ihr keine Notiz nimmt.

Anders ist es hierin mit jenen Halbdummen, den Schwachsinnigen, bestellt. Der Grund hierfür liegt in ihrem Gebahren und in der mangelnden Einsicht der Mitmenschen. Individuell zwar sehr verschieden, lässt sich doch sagen, dass bei den meisten Schwachsinnigen eine oder mehrere Fähigkeiten so entwickelt sind, dass sie um dieser willen zur Geltung kommen, und dass ihre Lebens- fübrung, rein äusserlich aufgefasst, von dem normaler Menschen oft nur wenig abweicht. Die Gleichgültigkeit der Mitmenschen analysiert nicht das Tiefer-

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liegende. Bewahrt sie der Zufall vor gar zu argen Streichen, so schlüpfen sie unbeachtet durch. Die erwähnten einseitigen Fähigkeiten, ihr Ehrgeiz u. s. w. lässt manchen dieser Schwachsinnigen oft sogar eine Rolle spielen. Das oft bei ihm vorhandene gute Gedächtnis lässt sie ein umfassendes Bildungsmaterial auf- nehmen, ihr meistens stark entwickeltes Selbstbewusstsein veranlasst sie, sich gut zu benehmen. Ihr Nachahmungstrieb lässt sie dann auch ausgetretene Pfade betreten, und so hat sich dann, wenn das Glück will, ein dummer Schwätzer emporgerungen und nimmt eine Stellung ein, für die mancher Ge- scheute sich hat plagen müssen.

Gelegentlich begeht aber ein solcher Mensch, besonders gegen Ende der Entwickelungsjahre, eine grosse Dummheit oder ein Verbrechen. Dann ist das Er- staunen der Gesellschaft sofort rege. Dann wird gefragt, wie hat er dasthun können, jetzt ist er plötzlich zum Verbrecher oder Verrückten stigmatisiert. Die Gesell- schaft interessiert sich meistens erst dann für den Schwachsinnigen, wenn das fait accompli einer auffallend antisozialen Handlung vorliegt. Für den Ver- brecher und Geisteskranken hat sie Anstalten errichtet, für den Schwachsinnigen | fehlt eine ausreichende Anstaltsfürsorge in den meisten Ländern.

Im Kindesalter ruft der Schwachsinnige Störungen in der Schule hervor. Dies hat in einigen Ländern die Errichtung eigener Klassen für „Schwachbefähigte“ hervorgerufen. Ebenso giebt es Anstalten, in denen schwachsinnige Kinder, ge- trennt von ihren Eltern, Unterkunft und Unterricht geniessen.

Es hat sich bei den erwähnten Klassen für Schwachbefähigte gezeigt, dass, wenn Sachverständige (als solche sind möglichst nur psychiatrisch gebildete Ärzte anzuerkennen) die einzelnen Individuen genauer untersuchen, sie ein bunt zusammengewürfeltes Menschenmaterial erblicken, von denen viele gar nicht in diese Klassen gehören. Manche sind gar nicht schwachsinnig oder wenig be- fähigt, sondern nur zurück und dieses aus den verschiedensten Ursachen. Be- sonders die Gesellschaft grosser Städte liefert Kinder in die Schule, die aus den verschiedensten Ursachen für kürzere oder längere Zeit im Unterricht zurück sind. Sprachliche und Sprech-Schwierigkeiten, Schwerhörigkeit, bestandene oder noch vorhandene Krankheit, mangelhafte Ernährung und sehr vieles andere können da vereinzelt oder in bunter Kombination zusammenwirken.

Wenn dann im Laufe eines mehrmonatlichen Unterrichts der Lehrer den einen oder andern dieser Schüler genau kennen lernt, ihm weiter hilft den einen vielleicht in ärztliche Behandlung, den andern zum Privatunterricht, manchen wieder zurück zum Normalunterricht weist —, so bleibt noch ein grosser Teil übrig. Dieser Rest wird wohl meistens aus wirklichen Schwach- sinnigen bestehen.

Die noch nicht als schwachsinnig Erkannten der normalen Klassen zeigen anscheinend genügende, vielfach sogar den Anschein sehr guter Bildungsfähigkeit, sie sind oft der „Stolz ihrer Eltern“. Viele aber zeigen eben Auffallendes, wenn auch oft Jahre darüber vergehen, bis man sich über ihren Defekt klar wird.

Der Unterricht der Schwachsinnigen ist für den Lehrer das Feld, auf dem er sich „abrackern“ und doch fast nichts erreichen kann.

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Lehrer, welche sich für dieses Spezialfach interessieren, haben vielfach ihr Bestes daran gesetzt, haben viele Erfahrungen gesammelt und sind zur Ansicht gekommen, dass das Wenige, was für einzelne ihrer Zöglinge erreichbar ist, durch besondere Entwickelung des „Anschauungsunterrichts* zu erzielen sei. Der Appell an den Intellekt habe zurückzutreten. Die fünf Sinne und der Nach- abmungstrieb müssen herhalten.

Gelegentlich wird hervorgehoben, „wie viel“ ein Lehrer bei dem oder jenem seiner schwachsinnigen Schüler erreicht habe. Solchen Aussagen gegen- über sei man vorsichtig! Ich will hier gar nicht auf das gelegentlich vor- kommende übertriebene Selbstlob eines solchen Lehrers hinweisen, oder gar auf die plumpe Reklame gewinnsüchtiger Besitzer von Privatanstalten für Schwach- sinnige, sondern nur darauf, dass er, echt menschlich, das „viel“ an seiner Mühe und an dem „gar nichts“ bei den andern Schülern bemisst. Auch ist es sicher, dass es auf allen Gebieten Menschen giebt, die es in der Verfeinerung und Vervollkommnung ihrer Berufsleistungen zur Künstlerschaft bringen. Was solch Einzelner im einzelnen Falle erreicht, ist aber wenig massgebend, ganz besonders, wenn dieses Erreichbare eingestandenermassen „sehr wenig“ ist.

Ich glaube, dass ein Fortschritt in Richtung der Fürsorge für schwachsinnnige Kinder im wesentlichen gar nicht nach dieser Richtung liegt:

Anstatt zu untersuchen und durch langjährige kostspielige Experimente fest- zustellen, was alles etwa und mit Ach und Weh für Lehrer und Schüler in diese Geschöpfe hineingelegt werden könne, möge lieber untersucht werden, was alles besser nicht für sie geschehen solle.

Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich von folgendem Grundsatz aus- gehen.

Der Schwachsinnige nimmt keinen Teil an den Segnungen unserer Geisteskultur oder er missbraucht sie nur als Tummel- platz seiner Dummbheiten zum eigenen oder anderer Schaden.

Der Gesellschaft ist er eine Last und dem Schwachsinnigen ist die Gesellschaft mit ihrem komplizierten Getriebe eine Last.

Es möge möglichst eliminiert werden. Die allerprimitivsten Lebensformen sind für ihm die allergeeignetsten.

Für die meisten wäre es wünschenswert, wenn sie Analphabeten blieben. Um dies zu erreichen, wäre nötig, dass in den jungen Jahren, in denen unser Schul- unterricht beginnt, die Schwachsinnsverdächtigen fachmännisch untersucht, bez. eliminiert würden. Sicherlich würden dabei manche unerkannt durchschlüpfen. Andere könnten analog dem Vorgang beim Militär zurückgestellt werden. Die Entfernung vom Unterricht könnte bei diesen in späteren Jahren erfolgen.

Dass es Mittelstufen giebt, ist sicher, verändert aber nicht meine Über- zeugung, dass die Richtung, nach welcher für die Schwachsinnigen zu sorgen sei, durch jene Sätze richtig bezeichnet sei.

Die vom UnterrichtEliminierten sollten vollständigaufs Land

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versetzt und dort zu landwirtschaftlichen Arbeiten heran- gebildet werden.

Die Erfahrungen, welche mich veranlassen, so zu sprechen, liegen nicht auf dem Gebiete des Unterrichts schwachsinniger Kinder, sondern auf dem der Be- schäftigung und allgemeinen Fürsorge von Schwachsinnigen im angehenden Mannesalter. Bei diesen also nach zurückgelegtem Unterricht, habe ich Gelegenheit gehabt, neben ihrer gesamten Geisteskonstitution die Resultate des Unterrichts genauer kennen zu lernen.

Das hierbei Wahrgenommene veranlasst mich, dem Schwachsinnigen Verstand und Ehre fast ganz abzusprechen.

Jch will dies durch Vorführung einiger charakteristischen Erscheinungen er- klären und bemerke nur noch vorher, dass ich vielfach Gelegenheit hatte, mit Ärzten, Juristen und Lehrern meine Ansichten über einzelne Schwachsinnsfälle, die uns gemeinschaftlich bekannt waren, auszutauschen und bei ihnen keinen Widerspruch fand.

Bei den meisten Schwachsinnigen nahm ich ein gut entwickeltes Ge- dächtnis wahr. Dieses hätte sie zur materiellen Aufnahme eines Wissens- schatzes befähigt, der vielfach in gutem Verhältnis zum genossenen Unterricht zu stehen schien. Die richtige Anwendung desselben, der Aufbau auf ihm, die kritische Sonderung, die originale Konzeption, die Association, das Koordinieren und Subordinieren der Begriffe liess sie aber mehr oder weniger ganz im Stich.

Trotzdem veranlasste sie aber ihre Thätigkeitstrieb und ihre Eitelkeit zum Operieren mit ihrem Wissen. Das Resultat aber war gleich Null oder vielfach ein verkehrtes, so dass sich sagen lässt: vielfach war es totes Wissen, vielfach ein schädliches.

Bei manchen Schwachsinnigen war mir die Aufgabe gestellt, sie an Regel und Ordnung zu gewöhnen. Es zeigte sich durchaus, dass sie mit manchem Anklang an das trainierbare Tier an Regel und Ordnung viel leichter als Normale zu gewöhnen sind. Das Vorwiegen und die Macht der Gewohnheit ist eben auch eine der gewaltigen Handhaben, die wir für ihre Fürsorge haben. Fast nie nahm ich aber wahr, dass sie kritisch-richtig den Fall erkannten, in welchem die Nichtanwendung oder das Abweichen von der Regel am Platze sei. Dabei reiten gerade diese Schwachsinnigen im Gespräche mit besonderer Vor- liebe auf allem herum, was Regel, Vorschrift, Ordnung und Befehl heisst. Der Autoritätsbegriff ist bei ihnen oft stark entwickelt.

Hatte ich sie zur Einhaltung von Vorschriften zu veranlassen, so zeigte sich vielfach, dass ich z. B. 19 mal vergebens mahnte, erklärte und beschwor. Beim 20. Male aber sass die Sache fest in ihrem Gehirn, oft für lange oder immer. Ich darf also bier nicht sagen, „es sei mir gelungen, sie zur Befolgung meiner Vorschrift zu bewegen“. Dieses „Bewegen“ deutet einen anderen Vorgang im Geiste an als was ich bewerkstelligt hatte und wird meistens entweder gar nicht oder schneller erreicht. Korrekt bezeichnet muss ich sagen: „Ich hatte ihr armes Gehirn durch mein Reden so lange gequält, bis es, als der Schwächere, nach- gab“. Der Sinn der Worte, die ich in jenen Unterredungen anwandte, war kein

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„Quälen“, aber ihre taktische Wirkuug war es. Hierüber habe ich nun freilich keine Gegenprobe abgehalten in dem Sinne, dass ich versucht hätte sie z. B. des Experiments willen auch mit wichtigen, verkehrten oder dummen Angaben zu „quälen“; wohl aber haben andere mir dieses Experiment abgenommen. Jeder einfältige Gesunde und jeder Gemüts- und Nervenkranke (die Gesellschaft, in welcher ich vielfach Schwachsinnige beobachtete) unternimmt oft ahnungslos solche Experimente. Ziehe ich aus allen diesen, den sogen. „schlechten Beein- flussungen“, dummen Geschwätz, Bübereien u. s. w., das Facit, so finde ich, dass der Schwachsinnige durch vernünftige Gründe kaum eher als durch unvernünf- tige zu bewegen ist. In diesem Punkte sollte jeder, der mit Schwachsinnigen verkehrt, kritisch bleiben und nur ja nicht voreilig auf die Vorstellung kommen: „meine vernünftigen Auseinandersetzungen haben endlich gewirkt“, denn un- vernünftige bewirken meistens dasselbe. Es sind hunderte von konkreten Bei- spielen aus meiner eigenen Ertahrung, die ich für diesen Satz anführen köunte.

Ferner: Die Schwachsinnigen sind oft impulsiver Natur. Ihr geistiges Defekt gestattet ihnen oft nicht, die Reproduktion guter Vorsätze, Versprechungen u. s. w. rasch genug vorzunehmen, um sich zu schützen: die Hand des Zornigen - ist schnell in verblendeter Leidenschaft und Verkennung der Situation erhoben und der Schlag sitzt. Oder: Unter dem unschuldigen Alltagsaussehen schlummert ein allmählich sich entwickelndes dummes Projekt. Niemand ahnt, was da vorgeht. Der Schwachsinnige selbst, vielleicht gleichgültig in den Tag hinein- lebend, ist sich kaum bewusst, was er Gefährliches ausheckt. Vielleicht schlummert das Projekt ganz ein. Vielleicht giebt ein dummes Geschwätz des Schwach- sinnigen Kunde von dem glimmenden Funken. Er hat sich verplappert, man nimmt Notiz davon und verursacht Gegenmassregeln. Vielleicht aber giebt der dümmste kleine Zufall den Anstoss, die fertig oder unfertig im Gehirn liegende Vorstellung wird zur That, und die staunende Mitwelt erfährt eines Tages von dem Ungeheuer, das seinen Ursprung im Gehirn des Schwachsinnigen fand.

Dann nahm ich bei manchen Schwachsinnigen folgende besonders charak- teristische Erscheinung wahr: Ihre Eitelkeit sucht nach Anerkennung. Diese bildet einen Instinkt in ihnen aus und zwar im Auffinden Dummer, von denen sie sich bewundern lassen. Etwas Buntes giebt den Köder ab. Das mag etwas „Wissenschaftliches“ sein, oder ein schönes Kleid, der Reichtum eines Erbonkels oder irgend ein wirklicher oder vermeintlicher oder erlogener Besitz. Dieser ist der Groschen, mit dem fleissig geklimpert wird. Die Duminen reagieren prompt darauf, und bald hat der Schwachsinnige einen kleinen Hofstaat oder eine an- dächtige Gemeinde dummer Jungen oder auch Erwachsener gebildet. Vielleicht ist er der allerdümmste unter ihnen, er hat aber jenen Groschen voraus oder setzt es ihnen in den Kopf, dass er ihn habe, und ein wahrer Rattenkönig von dümmsten wechselseitigen Beeinflussungen beginnt.

Dann möchte ich noch hervorheben: Kriminalität und Schwachsinn sind zwei Gebiete, die durch mancherlei Brücken verbunden sind. Fast alles Charakteristische am Schwachsinnigen kann zu einer solchen Brücke werden. Eventuell sind schlechte Gewohnheiten und Laster die Zwischenstationen.

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Der Schwachsinnige kann auch in der unschuldigsten Weise zum „Schul- digen“ werden. Und hat der Normale zehn Wege zum Verbrechen, so hat der Schwachsinnige hundert solche, sogar der blosse Nachahmungstrieb, und dieser ganz allein schon lässt ihm zum Verbrecher werden.

Auch das Impulsive, wie schon oben gestreift, kann ihn fallen machen: die Rache für die Vorenthaltung einer Cigarre lässt ihn das Haus seines Be- schützers anzünden.

Sodann: Ihr geringerer innerer Halt und ihre mangelnde Einsicht lässt sie in Angelegenheit des Geschlechtstriebes unvorsichtiger handeln. Was bei gewährter Freiheit, schlechtem Beispiel oder unpassender Belehrung da für Er- scheinungen zuwege kommen, mag derjenige ermessen, der da weiss, zu was für Zuständen es die Nicht-Schwachsinnigen im Kultus der Venus vulgaria ge- bracht haben.

Das Verständnis für den Wert von Zeit und Geld fand ich bei den Schwachsinnigen meistens wenig entwickelt oder einseitig, sonderbar, verschroben. Manchen 20jährigen fand ich hierin auf der Stufe der 10jährigen Knaben.

Bei den Schwachsinnigen zeigt sich auch mehr wie bei anderen Lügen- haftigkeit, diese aber von sehr verschiedenem Charakter. Der eine lügt dumm; er leugnet aus Trotz die Sonne vom Himmel herab, wenn es ihm ge- rade zur Situation zu passen scheint. Und wann ihm das gerade passt, weiss niemand voraus. Beim andern ist Lügen weniger dumm und er lügt vielleicht nur zur Verteidigung, wenn er beschuldigt wird. Beim Dritten ist die Lüge mit Schlauheit und Geriebenheit gepaart. Mancher lügt sogar sehr gut und be- treibt die Lüge als Kunst.

Einer ist ausgeschulter Verleumder und Ränkeschmied, oder neckt und stichelt. Für viele ist Ehre, Renommee, Reputation, Stellung, Rang und Titel die Axe ihres ganzen Geisteslebens, das Alpha und Omega, ihres Spintisierens Redens, Verleumdens, ihres Geschwätzes und Gezänkes. Der Gesunde lacht vielleicht über Idealismus, höhere Motive oder Grossherzigkeit, aber er anerkennt sie; der Schwachsinnige versteht diese Dinge nicht, ignoriert sie vollständig oder nimmt nur ihre äussere Wirkung wahr, und sie sind dann für ihn oft konstanter Ver- suchsanlass zu berechnender Ausnützung.

Die Dummbheiten, die Schwachsinnige begehen können, sind so zahllos, wie der Sand am Meere. Jeden Gedanken, den ein Mensch fassen kann, scheint durch Deplanierung der Begriffe, unrichtige Generalisierung u. s. w. einer Dummheit zu entsprechen, die irgend ein Schwachsinniger auszuführen sofort bereit ist.

Schliesslich möchte ich noch der guten Eigenschaften erwähnen, die ich an Schwachsinnigen wahrnahm. Auch diese sind, wie bei den Normalen, in bunter Musterkarte vorhanden. Ich gebe dies ausdrücklich zu.

In ihrer Wirkung auf das Lebensglück ihrer Inhaber sind aber diese „guten Eigenschaften“ wegen ihrer Disproportioniertheit vielfach so, dass man ihnen wünschen möchte, dass sie sie lieber nicht hätten. So kannte ich einen Schwach- sinnigen, der ein wahrhaft chevalereskes Benehmen hatte; er war bereit zu jeg-

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licher Gefälligkeit und Vorsorglichkeit für andere. Hierdurch geriet er in die mannigfaltigsten Beziehungen zur Umgebung und war der „Hansüberall“. Sein gelegentlich sehr impulsives Benehmen und seine Aufschneidereien liessen ihn aber mit seinen Bekannten in Kollision geraten, und es gab viel Zank, Schimpferei und Streit. Ihm wäre bei einem reservierten Benehmen und Mangel an Ent- gegenkommen viel wohler gewesen. Er rieb sich auf.

Eine reiche Phantasie, beim Normalen Quelle der edelsten Produkte, ist fir den Schwachsinnigen meistens Quelle von unausgesetzten Enttäuschungen. Die Vorspiegelungen seiner Phantasie verleiten ihn zur Überhebung und zur Inangriffnahme von Unternehmungen, die über sein Können gehen und ihn bald in Situation versetzen, denen sein Verstand nicht gewachsen ist.

Der Normale zieht bald und richtig die Lehre aus der selbstverschuldeten Lage; der Schwachsinnige giebt der Welt, der Gesellschaft oder vielleicht dem Monde die Schuld.

Wie mit den guten Eigenschaften, ist es mit dem Reichtum in seiner Wirkung auf den Schwachsinnigen bestellt.

Ich habe immer gefunden, dass der arme Schwachsinnige und besonders der auf dem Lande am besten daran ist. Ihm jst vielfach wohl; d. h. wenn die Verhältnisse der Familie darnach sind. Beim Viehfüttern und Grasmähen geniesst er, was ihm durch seine innere Natur an Genuss beschieden ist.

Der arme Schwachsinnige in der Stadt ist der erste Kandidat für Lumperei und Verbrechen.

Der reiche Schwachsinnige ist in mancher Beziehung am schlechtesten daran. Die Vorurteile der Familie lassen ihn selbst dann, wenn sein Defekt ihr bekannt ist, oft den Lebensweg der Gebildeten einschlagen. Der materielle Luxus verblendet die kleine Portion Verstand, die er etwa haben mag, und die höheren Studien verleiten ibn zur Überhebung und zu jenen falschen Anwen- dungen, die ich schon geschildert habe. Die Prostituierten und die Macherinnen in Heiratspartien operieren mit ihm. Ist er auf diesen falschen Wegen einiger- massen in die Jahre gekommen, so ist ihm gar nicht mehr zu helfen.

Der ihm vorgeschlagene Weg zur Einfachheit in Pflicht und Arbeit dünkt ihm als Hohn auf seine Talente und Fähigkeiten, auf die Familienstellung u. s. w, u. s. w. In der Familie wird er die Ursache zu Streit und Zerwürfnissen. Jede seiner Tanten hat eine andere Meinung über ihn und ein anderes fertiges Pro- jekt zur Besserung der Missstände, die sich allmählich heranentwickelt haben. Jeder will an ihm herumdoktern. Die Familiengeschichte solcher Fälle ist oft ein Hohn auf unsere Kultur.

Und so geht es die Reihe weiter durch alle Gebiete unseres geistigen und materiellen Lebens und dessen Errungenschaften.

Dass sich manches für diese Schwachsinnigen thun lässt, ist sicher. Es liegt aber nach jener negativen Richtung, die in meinen obigen Sätzen bezeichnet ist. In jungen Jahren von der kultivierten Spitze der Gesellschaft isoliert, mehr trainiert als unterrichtet, und bei strammem Gehorsam in Unfreiheit gehalten, kann man sie mit der Zeit dazu bringen, dass sie meist ein geregeltes

88 Leben führen, bei körperlicher Gesundheit bleiben, einen oft bedeutenden Teil ihrer Unterhaltskosten durch mechanisch-einfache Arbeiten aufbringen, ja sich ganz unterhalten, und dass sie die übrige Welt kaum belästigen. Einzelne be- sitzen eine sehr verlängerte Periode der Ersiehungsfähigkeit, oft bis ins 40. Lebens- jahr. Mancher „Gebirgssimpel“ hat es dann zur vollen Erwerbsfähigkeit gebracht.

Die Fürsorge dafür, dass dies alles geschehe, kostet Mühe und Zeit, aber sie sind gut angewandt. Jeder andere Weg führt zu Enttäuschung, verfehlten Existenzen, Verbrechen und zur Fortpflanzung der Schwachsinnigen.

Nun frägt es sich: Wer ist gegen die hier von mir gemachten Vorschläge?

Erstens und vor allem und aufs allerenergischste die Mütter der meisten Schwachsinnigen, viel weniger auch manche Väter. Dass ihr Kind eines von den obenbeschriebenen sei, will die Mutter fast nie einsehen. Sind die Schwierig- keiten da, so ist die Mutter der unglücklichste Teil.

Im allgemeinen für meine Vorschläge werden die Ärzte sein. Viele Juristen werden dagegen sein; sie halten im allgemeinen an der Idee der per- sönlichen Freiheit fest, gegen die sich ein Mensch erst versündigen müsse, be- vor sie ihm genommen werden darf.

Die grossen Massen des Volkes werden kaum sehr für oder gegen meine Vorschläge sein. Sie sind meistens in der Angelegenheit zu indifferent.

Es wird nur wenig sein und lange brauchen, was sich nach der Richtung meiner Vorschläge durch Ausbreitung von Einsicht wird thun lassen. Die Fälle von Schwachsinn sind zwar sehr häufig, aber nicht häufig genug, als dass das Volk sich in der Sache regen würde. Es ist keine „brennende Frage“. Anderes geht da vor.

Mehr erwarte ich von einem andern Faktor: Der Staat wird immer mäch- tiger und immer mehr greift er in unser Privatleben ein. Er nimmt immer mehr und mehr Einsichtige und Tüchtige zu seinen Dienern und Exekutoren auf, und diese werden in absehbaren Zeiten ein Veto einlegen. Es werden Ge- setze erlassen werden für die, wenn nötig auch zwangsweise, Fürsorge um schwachsinnige Kinder und Erwachsene Die Schweiz z. B. wird nicht mehr lange hierauf zu warten haben. Die Fürsorge von Staatswegen um die Erhal- tung und Sicherung materieller Güter ist jahrtausende älter wie jene um die geistigen Güter, aber auch sie hat längst begonnen und sie wird allmählich ausgebaut werden.

Dem Staat wird zunächst nur der arme Schwachsinnige zufallen; von den reichen nur die schwierigsten Fälle. Dann wird dem Schwachsinnigen zu teil, was er bedarf und was wir in Hinsicht auf ihn bedürfen:

Schutz vor Rohheit und Ausnützung, Isolierung von der Kulturspitze der Gesellschaft (graduell dem Einzelfalle angemessen), möglichste Unterdrückung aller ihnen nicht angemessenen Bildungsbestrebungen, einfache Arbeit, einfache Pflichten, einfache Lebensweise.

Unser Herrgott hat für alle und gut gesorgt. Dem Schwachsinnigen Frei- heit und Bildung geben wollen, heisst jenen ins Handwerk pfuschen und den

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Schwachsinnigen das Gehirn benebeln, auf dass er der Fähigkeit beraubt wird, das Lebensglück zu finden, das der Allgütige auch für ihn, aber in seiner Weise, bereit gelegt hat.

Eltern von Schwachsinnigen rate ich über folgende zwei Sätze nachzu- denken:

I. Die Gesetze der Akkomodation an die Erfordernisse und Angriffe des Lebens sind wie bei allen Menschen, so auch bei den Schwachsinnigen ihm individuell-eingeborene. Sie sind nicht durch Schulmeisterei und nach Programm aufzuoktroieren.

II. Es ist keine Schande, dumme und keine Ehre, gescheute Kinder zu haben.

Anm. der Redaktion. Zu einer eingehenden Besprechung des Artikels des Herrn Grohmann ergreift wohl einer unserer verehrten Mitarbeiter das Wort. Hier möge nur darauf aufmerksam gemacht sein, dass das Ziel, das sich die Anstalten praktisch stecken,

von dem, was nach Gr. Erstrebtes ist, wohl nicht so sehr abweicht. Das, was in den An- stalten bisher erreicht worden ist, wird von dem Verfasser wohl unterschätzt.

Pastor H. M. Sengelmann Dr. theol. et phil.

Einen schweren Verlust brachte der 3. Februar d. J. für die Alsterdorfer Anstalten. Im 78. Lebensjahre, nach einer mehr als 50jäbrigen Wirksamkeit im Dienste der Kirche und der christlichen Liebesthätigkeit, durfte der Gründer und bisherige Leiter der Anstalten eingehen zu seines Herrn Ruhe.

Heinrich Matthias Sengelmann wurde am 25. Mai 1821 zu Hamburg geboren. Nachdem er die damalige Gelehrtenschule (Johanneum) seiner Vaterstadt absolviert hatte, bezog er die Universitäten Leipzig und Halle, um zunächst die orientalischen Sprachen zu studieren. Später entschied er sich für die Theologie. Mit der Erwerbung des philosophischen Doktorhutes schloss er 1843seine Universitäts- studien. Während seine Lehrer, besonders der bekannte Professor Tholuck, mit dem er bis zu dessen Tode in engem, freundschaftlichem Verkehr gestanden, ihn für die Gelehrtenlaufbahn zu gewinnen suchten, kehrte er als Kandidat nach Hamburg zurück, um wenige Jahre später seinen Einzug als Pastor in das Moorflether Pfarrhaus zu halten. Hier gründete er 1850 die christliche Arbeitsschule, die später als St. Nikolai-Stift nach Alsterdorf übersiedelte und zunächst eine Bewahranstalt für sittlich gefährdete Kinder sein sollte. Indessen hatte Sengelmann sein ländliches Pfarramt gegen das von St. Michael in der Grossstadt eingetauscht. Bald war der junge Pastor eine angesehene Persönlichkeit geworden, denn nicht nur als gewissenhafter Seelsorger und be- gabter Kanzelredner war er bekannt, sondern auch seine reformatorischen Be- strebungen in seiner vaterländischen Kirche trugen seinen Namen in weitere Kreise; eine glänzende Laufbahn lag vor ihm. Da lernte er bei seinen amtlichen Besuchen unter der armen Bevölkerung Hamburgs einen idiotischen Knaben kennen, dessen Eltern ihn baten, ihr Kind in geeignete Pflege zu bringen. Aber damals war es schwer, einen solchen Platz zu finden. Da entschloss sich

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Sengelmann neben seinem St. Nikolai-Stift ein Asyl für idiotische Kinder zu errichten. Am 19. Oktober 1863 konnte dasselbe eingeweiht werden und einige Tage darauf zogen die 4 ersten Zöglinge ein, unter ihnen jener Knabe, welcher in Sengelmann zuerst den Gedanken, für die armen Idioten eine Zu- fluchtsstätte zu gründen, wach gerufen hatte. Vier Jahre später siedelte auch der Gründer der Anstalten nach Alsterdorf über, um ganz der Arbeit an seinen Kindern zu leben, deren Zahl von Jahr zu Jahr wuchs, da Sengel- mann nicht nur durch Schriften aller Art, sondern auch durch Vorträge auf Reisen in Deutschland und im Auslande die Aufmerksamkeit des grossen Publikums auf diese Elenden lenkte. In unermüdlichem Eifer und selbstverleugnender Liebe, er war nicht Humanist, sonderu Christ, hat er für das Wohl der Ärmsten ge- sorgt und gearbeitet. Der „Konferenz für Idioten - Heil -Pflege“ die Sengelmann 1874 ins Leben rief, hat er bis zu seinem Tode als Präsident, seit 1895 als Ehrenpräsident angehört. Erst im späteren Alter entschloss er sich dazu, seine langjährigen Erfahrungen auf dem Gebiete des Idiotenwesens durch Herausgabe seines 3 Bände umfassenden Idiotophilus zu veröffentlichen. In seltener Rüstig- keit konnte er im Juli 1896 sein 50jähriges Amtsjubiläum als Pastor feiern, bei welcher Gelegenheit ihm unter anderen Ehrungen auch die Würde eines theologischen Doktors von der Universität Halle- Wittenberg in Anerkennung seiner segensreichen Wirksamkeit verliehen wurde. In geistiger Frische hat er bis zu seinem Ende die Direktorialarbeit der Alsterdorfer Anstalten, welche auf einen Bestand von über 700 Personen angewachsen sind, geleitet. Jedem, dem es vergönnt gewesen war, in persönlichen Verkehr mit dem Entschlafenen getreten zu sein, wird sich noch gern der stets liebenswürdigen, Herz gewinnenden Art und des gesunden Humors, den er bis in seine letzten Lebensstunden be- wahrte, erinnern. Seinen armen Kindern ein liebevoller Vater, seinen Mitarbeitern ein freundlicher, nachsichtiger Berater, wird er von ihnen allen schmerzlich ver- misst. Aber auch seine Vaterstadt Hamburg, die in ihm einen ihrer besten Söhne verloren hat, trauert um ihn und mit ihr viele Freunde im deutschen Vaterlande und danken ihm für die Hingabe und den Eifer, mit welchen er Gott allein zur Ehre und zum Segen weiter Volkskreise an seiner Lebensaufgabe gearbeitet hat.

Kleine Wünsche an den Vorstand der IX. Konferenz für Idiotenpflege.*) | Die Breslauer Versammlung liegt über ein halbes Jahr hinter uns. Wie ich aus mancherlei Zuschriften erfahren konnte, dürften bei allen Teilnehmern die Tage unserer hiesigen gemeinsamen Thätigkeit in recht angenehmer Er-

*) Bis zum Jahre 1886 führte die Konforenz den Namen „Konferenz für Idioten- Heilpflege“. Auf der im September 1886 zu Frankfurt a. M. tagenden V. Konferenz wurde beschlossen, den Namen „Konferenz für das Idiotenwosen“, zu wählen. So hat die Konferenz seitdenı geheissen, und so heisst sie unserer Meinung nach, da ein anderweiter Beschluss nicht vorliegt, heute noch. (Die Schriftltg.)

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innerung geblieben sein. Besonders wurde die Eintracht, die alle Glieder der stattlichen Konferenz der grössten, die üher das Wohl der armen Geistes- schwachen bisher beraten hat von Anfang bis Ende verband und die durch nichts getrübt wurde, hervorgehoben. In Anbetracht dieser Thatsache ist es gewagt, einige Wünsche, die eine Änderung der bestehenden Einrichtungen her- beiführen sollen, auszusprechen. Wie ich in der Überschrift bereits gesagt habe, beziehen sich diese aber nur auf geringfügige Dinge.

Allerdings könnte gerade auf Grund der Breslauer Konferenz die Verwirk- lichung einer herrlichen Idee angeregt werden. Wie aus den stat. Mitteilungen zu sehen ist, nahmen an der Versammlung, abgesehen von den Vertretern der Idiotenanstalten und Hilfsschulen, teil: 1. 19 Lehrkräfte der hiesigen Taub- stummenanstalt und 1 Taubstummenlehrer aus Luxemburg, 2. Lehrer des hie- sigen Blindeninstituts, 3. Direktoren und Ärzte der grossen Provinzial - Irren- anstalten und 4. Privatpersonen, die für die leidenden Mitmenschen ein Herz haben. Könnten sich die Vertreter der verschiedenen Wohlthätigkeitsanstalten nicht zusammenfassen lassen in einen grossen Verband, der sich die edle Aut- gabe stellt, leidenden Mitmenschen Hilfe zu gewähren? Alle ein oder zwei Jahre würde eine Konferenz dieser Menschenfreunde stattfinden, die in grossen Haupt- versammlungen ihre gemeinsamen Angelegenheiten erledigen und in zahlreichen, gleichberechtigten Nebemversammlungen ihren speziellen Aufgaben zu dienen suchen. Die Idee kann mich zwar selbst begeistern; aber zu der immerhin recht schwierigen Ausführung bedarf es eines rührigen Mannes, der nicht wie ich der Alltagsarbeit fast mehr als volle Manneskraft bieten muss. Ich will mich darum nur auf untergeordnete Dinge einlassen.

Zu diesen rechne ich die Bestimmungen über die Beitragsleistungen. Bisher war es Sitte, dass die Mitglieder der Konferenz 6 Mk., die Teilnehmer 1 Mk. zahlten. An Vorzügen genossen die Mitglieder vor den Teilnehmern, 1. dass sie allein stimmberechtigt waren, und 2. dass sie den gedruckten Konferenuzbericht zugeschickt erhielten. Was den 1. Punkt anlangt, so kommt die Konferenz selten in die Lage, den Unterschied zwischen Teilnehmern und Mitgliedern festzulegen. In Breslau war dies nicht ein einziges Mal der Fall, in Heidelberg nur, als es sich darum handelte, ob München-Gladbach oder Breslau die 9. Konferenz aufnehmen sollte. Inbetreff des 2. Punktes bin ich der Meinung, wir müssen unsere Versammlungsberichte soweit wie möglich verbreiten. Jedem, der sich für unsere Verhandlungen interessiert, sollten die Berichte auch zugänglich gemacht werden. Je mehr wir das grosse Publikum für unsere Bestrebungen erwärmen, desto mehr Freunde werden wir den armen Geistesschwachen zuführen. Da der Unterschied zwischen Mitgliedern und Teilnehmern der Konferenz so geringfügig ist, so erlaube ich mir vorzuschlagen, denselben in Zukunft ganz fallen zu lassen. Man verlange von allen Teil- nehmern der Verhandlungen wie bei der deutschen Lehrerversammlung einen Beitrag von 3 Mk. Dieser ist für die bisherigen Gäste durchaus nicht zu hoch. Einen Beweis bietet die Breslauer Konferenz. Das Ortskomitee batte, um nur einen gewählteren Kreis von Gästen heranzuziehen, für Breslauer den Teilnehmer-

betrag auf 2 Mk. erhöht. Trotz dieser Massregel ist der Beitrag von 50 Per- sonen bezahlt worden, die auch vor 3 Mk. nicht zurückgeschreckt wären.

Ein zweiter Punkt, den ich erwähnen möchte, ist die Anmeldung zu der Konferenz. Zunächst spreche ich den Wunsch aus, jedes Mitglied, das sich zur Teilnahme entschlossen hat, möchte dies auch anzeigen. Zur Anmeldung für die Breslauer Konferenz nannte das Programm den Vorsitzenden der VIII. Konfe- renz und den Vorsitzenden des Lokalkomitees, der seinen Wohnsitz ausserhalb Breslaus hatte. Der Einfachheit wegen schlage ich vor, nur eine Person hierfür zu bestimmen; als die richtige halte ich das Mitglied des Ortskomitees, das sich bereit erklärt hat, für Unterbringung der auswärtigen Mitglieder Sorge zu tragen.

An die Herren, die Vorträge zu den Versammlungen übernehmen, richte ich die Bitte, soweit es sich mit dem Vortrage vereinigen lässt, doch einige Angaben vorher bekannt zu geben. Wenn die Thesen oder sonstigen Anhalts- punkte vervielfältigt würden, so könnten sie vom Ortskomitee jedem, der sich zur Teilnahme meldet, zum häuslichen Studium vorher zugeschickt werden. Es würden für die Debatten mancherlei Erleichterungen geschaffen werden, wenn die Hauptgesichtspunkte des Vortrages schon vorher Gegenstand der eigenen Erwägungen der Teilnehmer gewesen sind.*)

Ebenso wäre es zweckmässig, wenn die Herren Vortragenden für die Zeitungsreporter einen kurzen Bericht fertig stellten, damit vor allem die wesentlichen Punkte des Vortrages der Öffentlichkeit übergeben würden. Den Berichterstattern der politischen Zeitungen sind unsere Bestrebungen meist nur wenig bekannt; deshalb sind sie für jede Anregung, wie ich aus Erfahrung be- zeugen kann, sehr dankbar.

Durch die Zusammenstellung der genannten Wünsche, die ja noch vermehrt werden könnten ich erwähne z. B. die Stenographenfrage fir die Neben- versammlungen will ich nicht Kritik an dem Bestehenden üben, sondern nur anregen, über die beste Gestaltung unserer Versammlungen nachzudenken. Da- durch werden wir den Konferenzen und unsern Pfleglingen dienen.

Breslau. Alwin Schenk.

Über Dr. Guggenbühl und seine „Kretinenheilanstalt“ auf dem Abendberg. Mitgeteilt von F. Kölle, Direktor der Schweiz. Anstalt für Epileptische. Zürich. Es ist dem Einsender gelungen, teils durch die Stadtbibliothek Zürich, teils auf anderem Wege verschiedene Berichte von Dr. Guggenbühl über seine 1841 gegründete Anstalt, als auch Beleuchtungen seiner Thätigkeit von anderer Seite in die Hände zu bekommen. Beim Durchlesen dieser ziemlich zahlreichen Litte-

*) Denselben Wunsch haben die Herausgeber der Zeitschrift vor vielen Jahren schon und wiederholt ausgesprochen. (Die Schriftltg.)

93 ratur kommt man dazu, drei Perioden der Guggenbühlschen Wirksamkeit zu unterscheiden:

1. der gutgemeinte und viel versprechende Anfang;

2. die glänzende Höhe der Anstalt;

3. der schmähliche Zusammenbruch.

Wir dürfen voraussetzen, dass der Hauptsache nach Guggenbühl und seine Anstalt unsern Lesern bekannt sind und halten uns deshalb nicht verpflichtet, ihnen Bilder aus seinem Wirken und dem Abendberg in eben genannter Reihen- folge vorzuführen. Heute geben wir ein Bild aus der Zeit des unrühmlichen Endes (1858), uns vorbehaltend, gelegentlich Mitteilungen aus der ersten und zweiten Periode zu geben. Wir würden, da wir Dr. Guggenbühls Verdienst um die Sorge der Idioten in keiner Weise schmälern möchten, nach dem Worte verfahren: „das Beste zuletzt“.

Psychologisch haben wir noch nicht volle Klarheit erlangen können, wie Dr. Guggenbühl so enden konnte, obwohl uns manches klar ist, ja wir der Meinung sind, der Abendberg habe von Anfang an den Keim des Verderbens in sich getragen, hauptsächlich dadurch, dass durch die Aufnahme vieler nicht kretinischer Kinder nicht in voller Ehrlichkeit vorgegangen wurde.

Die grossen Lobhudeleien von Berufenen und noch viel mehr von Unberufenen, namentlich aus weiter Ferne, mögen die Fäulnis befördert und den Fall herbei geführt haben. Übrigens wissen wir, es ist ein uraltes Wort: „Im Geist habt ihr angefangen, wollt ihr’s im Fleisch vollenden?“ |

Uberaus bedauerlich ist, dass über die ganze Sache noch ein religiöser Mantel von Dr. Guggenbühl gebreitet wurde. Doch lassen wir die öffentliche Meinung vom Jahre 1858 reden.

Der Abendberg, wie er ist.

Eine aktenmässige Beleuchtung der bisherigen Wirksamkeit des Dr. Guggenbühl. (Aus Nr. 166 bis 169 des „Bund“ besonders abgedruckt.) Bern 1858. A) Raro antecedentem scelestum

Deseruit pede poena claudo. B) „Sed tamen admiror, quo pacto judicium illud fugerit.“ [A) Selten hat einen vorausgehenden Frevler die Strafe mit lahmem Fuss im Stiche gelassen. B) „Aber doch verwundere ich mich, auf welche Weise dem Gerichte jenes entronnen ist.“]

Trotz der momentanen Windstille scheint nan der Zeitpunkt doch endlich gekommen zu sein, wo unsre Sanitätsbehörden der Notwendigkeit kaum mehr ausweichen können, gegen den Vorsteher der sogenannten Kretinenanstalt auf dem Abendberg, Dr. Guggenbühl, diejenigen Schritte einzuleiten, die man zu ihrer eigenen Rechtfertigung, im Interesse der öffentlichen Sicherheit und der kantonalen Ehre längst innig wünschen musste.

Wer erinnert sich nicht lebhaft der allgemeinen Teilnahme und Begeisterung, welche Dr. Guggenbühl vor 18 Jahren durch die Gründung der ersten Kre- tinenkolonie auf dem Abendberg im In- und Ausland erweckte? Es ist wohl

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selten einem Unternehmen eine so gleichmässige und freigebige Unterstützung von allen Seiten zu Teil geworden. Behörden, gemeinnützige Gesellschaften und Privaten wetteilerten mit einander, „den edlen Menschenretter“ durch Wort und That in seinem Werke zu fördern. Die Anstalt, welche den Zweck haben sollte, jene entarteten Menschen ärztlich und pädagogisch zu behandeln und den Be- weis zu liefern, dass der bisher für unheilbar gehaltene Kretinismus dennoch heilbar sei, fand bald so grossmütige Geldunterstützung, dass es dem Leiter möglich war, die Anfangs kleine Hütte zu einem geräumigen Haus zu erweitern, das ein wahrer Wallfahrtsort für Einheimische und Fremde wurde. Es ist hin- länglich bekannt, welche hohe Aufmerksamkeit unsre Ärzte und Gelehrten „dem ersten praktischen Versuche zur Lösung der Kretinenfrage“ schenkten, und wie sie Aufmunterung und Unterstützung in Rat und That seinen Bestrebungen ent- gegenbrachten. Wenn man die damaligen Schriften Guggenbühls, welche sämtlich nur Opferbereitwilligkeit und die reinste, liebevollste Hingabe an das so schwere Werk atmen, mit seinem hohlen und selbstischen Wesen vergleicht, das jetzt offen und unzweideutig vor uns liegt, dann ist man in der Entrüstung leicht versucht, auch in seinem damaligen Auftreten nur absichtliche Lüge und Betrug zu erblicken. Aber so lebendig wir jetzt einsehen, wie tief Dr. Guggen- bühl in Unwahrheit und Täuschung versunken ist, so innig müssen wir an der Überzeugung festhalten, dass er in jener Zeit in der That von reiner und un- eigennütziger Liebe für die Idee der Kretinenheilung und -erziehung beseelt war, und dass er in ihrer praktischen Durchführung seine Lebensaufgabe erblickte. Denn nicht nur schwärmerische Damen, wie die Gräfin Ida, sondern nüchterne, scharf beobachtende Männer wurden durch die Begeisterung Guggenbühls und durch sein liebreiches, hingebendes und aufopferndes Wesen eingenommen. Ohne die Annahme einer ursprünglichen Integrität würde auch die Bewunderung, die er zum Teil noch jetzt im Auslande findet, ein unlösbares Rätsel bleiben. Wer will die tausenderlei Wege ergründen, auf denen der böse Geist sich eines Menschen bemächtigt? Von den ersten Triumphen, von der Verehrung und Be- geisterung, die man allenthalben für sein junges Werk an den Tag legte, be- rauscht, verlor Guggenbühl das moralische Gleichgewicht. „Die Gelegenheit macht Diebe*, sagt ein altes deutsches Sprichwort, und Tausende beten nicht ver- gebens täglich: „Herr, führe uns nicht in Versuchung“.

Schon nach den ersten Jahren liefen unheimliche Gerüchte über die Anstalt und ihrem Gründer durch das Land. Man vernahm, dass nur während der Saison die Anstalt aufgeputzt werde, indes sie in der kalten, langen Winterszeit, wo kein Zeuge zu befürchten sei, sehr verwahrlost angetroffen werde. Von glaubwürdigen Besuchern wurde diese Thatsache nur zu sehr bestätigt. Eine öffentliche Rechenschaft über die für die Anstalt empfangenen Geldsummen, diese erste Pflicht jedes Wohlthätigkeitsinstitutes, welches auf das allgemeine Vertrauen Anspruch zu machen wagt, wurde vergeblich gefordert, was allein schon mit Recht jedem Unbefangenen in hohem Grade auffallen musste. Viele derjenigen, welche Guggenbühl anfänglich aufs wärmste gegen öffentliche Angriffe verteidigt hatten, fingen bald an, sich von ihm abzuwenden.

95 Dem Arzte konnten die Posaunenstösse, durch welche Dr. Guggenbühl fortwährend glänzende Heilungen von Kretinen der Welt verkündigte, natürlich nicht genügen. Er wollte andere Beweise in Händen haben, wenn er an die schon a priori bezweifelte Möglichkeit einer Heilung des Kretinismus glauben sollte. Wir wissen von Herrn Professor Demme, der sich anfangs besonders warm für Dr. Guggenbühl interessierte und denselben in einer öffentlichen Rede über den „endemischen Kretinismus“ (1840) so angelegentlich einer „allseitigen Teilnahme“ empfohlen hatte, wie inständig derselbe wiederholt den Leiter der Anstalt ermahnte, doch in seinem eigenen Interesse und am der guten Sache willen der billigen Anforderung einer wissen- schaftlichen Kontrolle und Garantie zu entsprechen. Vergebens verlangte Professor Demme von Dr. Guggenbühl eine ärztliche un- parteiische Prüfung der kranken Kinder bei ihrer Aufnahme und Entlassung und ein über die Zeit ihrer Anwesenheit gewissen- haft geführtes ärztliches Journal, im Falle er sich noch länger für ihn und seine Anstalt interessieren solle Mit tausend auffallenden Winkelzügen und Ausflüchten suchte sich Dr. Guggenbühl jeder Kontrolle zu entziehen.

Nachdem Professor Demme in den ersten Jahren regelmässig die Anstalt besucht hatte und stets bemüht war, auffallende Mängel, die ihm oft entgegen- traten, im Hinblick auf Guggenbühls „redliches Streben“ mild zu beurteilen, hat er sich seit etwa 10 Jahren gänzlich von Dr. Guggenbühl und seiner Anstalt zurückgezogen. Denn er konnte der schmerzlichen Gewissheit nicht mehr aus dem Wege gehen, dass die sogenannte Kretinenheilanstalt nur auf den Schein berechnet, das Treiben Dr. Guggenbühls aber eine persönliche Geld- und Ehrenspekulation, eine absichtliche Täuschung der heiligsten Eltern- und Menschengefühle sei. Frei und offen hat Professor Demme diese Überzeugung jedem mitgeteilt, der ihn über die Anstalt konsultierte.*) Was ihn ganz besonders empört hatte, war die reli- giöse Komödie, die Dr. Guggenbühl mit der kältesten Berechnung vor dem gerührten Publikum zur Aufführung brachte, weil er nur zu gut wusste, wie er durch solche Künste eine grosse Zahl einflussreicher, schwärmerischer und fanatischer Menschen zu seinen begeisterten Anhängern machte. Folgende Stelle aus Guggenbühls Sendschreiben an Lord Ashley (1851) bildet in dieser Beziehung ein zu interessantes Aktenstück, als dass wir dasselbe hier dem Publikum vorenthalten könnten. Er schreibt S. 9: „Dass die unsterbliche Seele bei jedem vom Menschen gebornen Geschöpf ihrem Wesen nach dieselbe ist, war die leitende Idee aller meiner Bemühungen, und die Erfahrung hat dies durch die merkwürdige Thatsache bestätigt, dass diesen Hülflosen, welchen das Seelenleben wieder aufdämmert, zuerst das Dasein Gottes begreiflich

*) Wie man uns versichert, hat Herr Professor Demme in diesem Jahr ebenfalls in Guggenbühls Abwesenheit dem Abendberg einen Besuch abgestattet. Er soll beabsichtigen, an der diesjährigen Versammlung der naturforschenden Gesellschaft, Mitteilungen über die Anstalt zu machen.

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wird. Ein 12 jähriger Kretin des höchsten Grades, dem fast alle Begriffe abgingen (I), fiel unlängst auf die Knie und streckte die gefalteten Hände gegen den Vollmond empor, als dieser hinter dem Gipfel der Jungfrau empor- tauchte. In vorgerückter Stufe der Entwicklung lernen sie aber den himmlischen Vater erkennen und lieben, der auch an den allerelendesten seine Werke offen- bart.“ Glaubt man sich nicht in die Zeit der Wunder versetzt? Viel liebliches Gold hat Dr. Guggenbühl durch diese Künste gewonnen. Gegenwärtig wird eine eigentliche Kapelle mit gemalten Glasfenstern auf dem Abendberg gebaut, worin derartige Vorstellungen während der Saison gegeben werden sollen, wenn nicht dem Herrn Dr. Guggenbühl vorher sein diesjähriger Markt verdorben wird.

Die immer lauter werdenden Klagen gegen die Guggenbühlsche Anstalt fanden bald auch amtliche Bestätigungen von seiten in- und ausländischer Ex- perten. Wir werden später Gelegenheit haben, auf die Berichte der Herren Stettler, Gonten, Lüthy, Hermann, Hungerbühler u.a. zurückzukommen, und wir erwähnen hier nur, dass auch die ausländischen Experten, besonders die Herren DDr. Müller, Stahl, Rösch, die anfänglich so sehr für die Guggenbühlsche Anstalt eingenommen waren, sich in hohem Grad unbe- friedigt über dieselbe ausgesprochen haben. Unsere Behörden legten die Berichte in die Archive, um zu schweigen.

Das berühmte exspektative Verfahren, das am unrechten Orte an- gewendet, schon so viel Unheil angerichtet hat, war auch bei dieser Angelegen- heit wenig geeignet, unserem ärztlichen Publikum Lorbeeren zu gewinnen. Allerdings hatte die medizinisch-chirurgische Gesellschaft des Kantones Bern längst den Beschluss gefasst, über die Leistungen der Guggenbühlschen An- stalt einmal öffentlich und unumwunden ihre Ansicht auszusprechen. Aber vergebens mahnten die öffentlichen Blätter während Jahren, diesem Beschluss Folge zu geben. Herrn Dr. A. Vogt gebührt das Verdienst, im Jahr 1855 endlich das unbegreifliche Schweigen gebrochen zu haben. Seine treffliche Be- leuchtung der Kretinenheilanstalt in Nr. 77 und 78 des „Bund“ hatte zwar insofern den Zweck erreicht, als dadurch von den Ärzten des Kantons der Makel der Fahrlässigkeit und Teilnahmlosigkeit abgewendet und das Verdammungs- urteil des Dr. Guggenbühl auch unter dem grossen Publikum durch eine Reihe von Thatsachen fester begründet wurde Jedoch wiederum hatte Dr. Guggenbühl Gelegenheit, über die Unentschiedenheit seiner Gegner zu trium- phieren. Obschon die Publizistik bereits damals bestimmte Schritte verlangte, „um wenigstens den Ruf der kantonalen Behörden sicher zu stellen“, so wurde doch auch jetzt von dieser Seite her der Sache keine Folge gegeben.

Dr. Guggenbühl hatte wiederum Zeit gewonnen, um gegenüber den An- griffen seiner Gegner sich um so glänzender zu erheben, an Macht und Ansehen zuzwaehmen. Es ging hier, wie es eben so häufig geschieht: die Thatkraft und Energie war nicht auf Seite derer, welche die reine und heilige Sache zu ver- treten hatten. Den grössten Erfolg hatte Dr. Guggenbühl jedenfalls der Kunst zu verdanken, durch die er die Idee der Kretinenrettung mit seiner Person vollständig zu identifizieren wusste. Die meisten

97 glaubten ihre Begeisterung für die Idee nur durch die Verehrung und Vergötte- rung ihres Apostels an den Tag legen zu können und wähnten, derjenige trete der Sache des Kretinismus entgegen, der mit Dr. Guggenbühls Persönlichkeit nichts zu schaffen haben wollte. Mit gehässigen Künsten wurden unsere Ärzte als Guggenbühls Neider verschrieen. Mit einem besondern Genuss stellte sich dieser wiederholt als Märtyrer für die grosse Menschenrettung neben einen Pestalozzi. Dabei versäumte er eg aber nie, mit grossem Geschick fremde Verdienste und Bestrebunger für seine Interessen auszubeuten. Die Er- folge, welche andere Kretinenanstalten unter treuerer und gewissenhafterer Lei- tung davontrugen, verwertete er für seinen Ruhm. Denn er hatte die Idee dazu gegeben. Seit 18 Jahren ist er unablässig bemüht, mit der gleichen „Naivetät“ in stets neu abgeschriebenen Plagiaten sich selber den Lorbeer um die Stirne zu winden. Trotz aller Taschenspielerkünste, trotz der Variationen in Sprache und Namen der Autoren, bezeichnete die Öffentliche Stimme längst ihn allein als den direkten oder indirekten Verfasser aller der über den Abendberg erschienenen Apotheosen. Mit einer unbegreiflichen Frechheit druckt er die Briefe jener an- gesehenen Männer der Wissenschaft, die anfangs sein Unternehmen warm auf- gemuntert haben, auch in seinen neuesten Schriften mit willkürlichen Auslas- sungen und ohne Datum immer noch ab, um bei den Fernerstehenden den Schein zu erwecken, als erfreue er sicl® noch immer der Protektion jener Ge- lehrten. So teilt er z. B. im Jahr 1857 einen datumlosen Brief von Herrn Professor Valentin mit, der aus dem Jahr 1845 stammt. Und wir wissen von diesem selbst, dass er seit einer Reihe von Jahren durchaus in keiner Verbindung mehr mit Dr. Guggenbühl steht, ja sich längst unumwunden über den falschen Schein der Anstalt gegen diejenigen ausgesprochen hat, die ihn um sein Urteil befragten. Dass aber keiner der Männer, deren Namen fort und fort für die unreinsten Zwecke missbraucht werden, bis jetzt öffentlich Protest eingelegt hat, ist unbegreiflich, wenn wir nicht annehmen, dass die Abendberglitteratur längst von ihnen nicht mehr zur Hand genommen wird. Durch die thatsächlichen Aner- kennungen, welche Dr. Guggenbühl alljährlich im Ausland davontrug, wurden zwar selbst diejenigen häufig geblendet, bei denen längst Misstrauen und Verachtung gegen das Guggenbühlsche Treiben an den Platz der früheren Bewunderung ge- treten waren. Dennoch konnten aber die meisten Besucher des Abendberges einen Ekel nicht unterdrücken, wenn sie Dr. Guggenbühl bei ihrer Ankunft, gleichsam wie durch Zufall in jenen berüchtigten Wartesaal führte, wo er eine Exposition der Diplome, Anerkennungsschreiben und Dekorationen veranstaltet hat, welche ihm von den bedeutendsten ausländischen Höfen und gelehrten Gesellschaften zugestellt wurden. Abgesehen davon, dass die Mehrzahl dieser Ehrenbezeugungen nur der Idee der Kretinenrettung dargebracht sind, waren sie für die eingeweihten einheimischen Besucher längst nur ein bedauerliches Dokument, wie weit es ein Industrieritter mit Zudringlichkeit, Schmeichelei und anderen Künsten im Punkte der öffentlichen Anerkennung zu bringen vermag. Wir selbst konnten Guggenbühls Ruhmeshalle nie betreten, ohne uns dabei zu erinnern, dass jene Trophäen beinahe sämtlich während der 4—6 monatlichen

98 sogenannten „Erholungsreise“ erobert wurden, während welcher Zeit die zurück- gelassenen „lieben kranken Kinder“ dem empörendsten Mangel an Pflege, Nahrung und Erziehung preisgegeben waren.

Als endlich auch jene edlen Gebrüder Blumer, welche zuletzt als Lehrer der Pfleglinge mit der uneigennützigsten Liebe und Hingebung die schönsten Jahre ihres Lebens der Anstalt zum Opfer gebracht hatten, ein längeres Wirken an derselben nicht mehr mit ihrem Gewissen vereinigen konnten und den Abend- berg verliessen, da war auch das letzte reine und sittliche Element aus der Anstalt geschieden. Erst jetzt atmete Dr. Guggenbühl recht auf. Denn nun war er von jedem intelligenten Zeugen, von jeder moralischen Kontrolle glücklich befreit. Dr. Guggenbühl hat in den letzten 8 Jahren keinen Lehrer mehr angestellt.*) Von seinem schlauen, in der Verstellungskunst ebenbürtigen Stiefvater hatte er für sein Spiel nur Schutz und Unterstützung zu erwarten. Ihn wählte er als Ökonom. Eine entferntere Verwandte fungierte als Lehrerin während der Saison (bisweilen von einer oder zwei barmherzigen Schwestern unterstützt). So durfte er sich dem Gefühl der vollkommensten Sicherheit hingeben.

Tiefer als je zuvor hatte man sich die Schlafmütze über die Ohren gezogen, als Herr Gordon, der englische Minister in der Schweiz, am 15. April dieses Jahres der Anstalt einen so bedeutung®@vollen amtlichen Besuch abstattete, dass auch das Gewissen unsrer Sanitätsbehörden wieder aufgeweckt wurde. Einerseits die hohe Gönnerschaft, deren sich Dr. Guggenbühl gerade in England zu erfreuen hat, und anderseits auffallende Beschwerden, welche ihm von seinen Landsleuten zu Ohren gekommen waren, schienen Herrn Gordon eine eigene Untersuchung des Sachverhaltes zur Pflicht zu machen. „Er fand die Kinder in höchst ver- wahrlostem Zustande und die ganze Anstalt, die man ihm anfänglich gar nicht zeigen wollte, in ekelhafter Unordnung. Man verweigerte ihm den Zutritt zu dem Schlafgemach eines englischen Kindes (das sich noch dort befindet) unter dem Vorwande, „„man könne den Schlüssel zum Zimmer nicht finden““. Er fand 18 Kinder wenigen Dienstboten überlassen. Wie in den frühern Jahren, war Dr. Guggenbühl seit dem Monat November 1857 auf einer Erholungs- reise, von der er erst im Monat April 1858 zurückgekehrt ist. Von ärztlicher Hilfe und Erziehung war natürlich während dieser Zeit nicht die Rede“ Herr Gordon gelobte, sogleich seiner Regierung Bericht zu erstatten, war aber eben- falls so frei, sich darüber zu verwundern, weshalb die hiesige Medizinal- und Polizeibehörden noch nicht eingeschritten seien.

Die Berner Regierung ordnete sogleich eine neue Expertise an, bestehend aus den Herren DDr. A. Vogt und Verdat. Obschon der Schrecken von Gordons Besuch, die hereinbrechende Saison und die Nachricht von der be- vorstehenden amtlichen Untersuchung hinlängliche Aufforderung waren, wenigstens

*) Diese auffallende Thatsache suchte er durch die Angabe zu rechtfertigen, dass er- fahrungsgemäss die weibliche Natur sich für diesen Zweig der Erziehung besser eigne. Unerhdrte Thatsachen, welche die verschiedenen Lehrer der Anstalt uns vertrauensvoll mitteilten, werden wir nötigenfalls bei einer anderen Gelegenheit veröffentlichen.

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den ärgsten Schmutz wegzuräumen und die Anstalt so präsentabel als möglich zu machen, so konnten dennoch die Herren DDr. Vogt und Verdat bei ihrem Besuch vom 20. April dieses Jahres die alten Klagen bestätigen.

Wir glauben demjenigen Teil des Publikums, welcher vielleicht bisher der Guggenbühlschen Angelegenheit ferner stand, sowie der Sache selbst einen Dienst zu erweisen, wenn wir die hauptsächlichen Vorwürfe und Anklagen gegen die sogenannte Kretinenanstalt auf dem Abendberg und ihren Leiter hier noch einmal übersichtlich zusammenstellen. Wir werden aber absichtlich alles aus- scheiden, was nicht vollkommen verbürgt ist, und uns vorzugsweise auf die Archive und die amtlichen Berichte der Regierungs- eıperten berufen. Wir überlassen es jedem, nach der hieraus gewonnenen Überzeugung auch andere, noch mehr gravierende Vorwärfe*) zu be- urteilen. (Schluss folgt.)

Mitteilungen,

Alsterdorf. (Personalien.) Der Vorstand der Alsterdorfer Anstalten hat aus seiner Mitte Herrn Pastor Stritter, welcher bisher Geistlicher an der St. Michaelis- Kirche in Hamburg war, als Nachfolger von Herrn Pastor D. Sengelmann zum Direktor der Anstalten gewählt. Herr Pastor Stritter war schon früher einmal und zwar als Oberhelfer in den Anstalten thätig.

Berlin. (Ausstellung für Krankenpflege.) Vom 20. Mai bis 18. Juni d. J. wird in Berlin eine Ausstellung fir Krankenpflege stattfinden, welche einen aus- gesprochen wissenschaftlichen Charakter tragen wird und das gesamte „Instrumentarium der modernen Medizin“, soweit es die Krankenpflege betrifft, zur Vorführung bringen soll. Der Ehrenpräsident der Ansstellang ist der Kultusminister Dr. Bosse, den Vorsitz führt Geheimrat Prof. Dr. v. Leyden gemeinsam mit Ministerialdirektor Dr. Althoff und Geheimrat Trof. Dr. B. Fränkel, während den Vorsitz der Jury der Referent im Kriegsministerium, Generaloberarzt Dr. Schjerning übernommen hat und Privatdozent Dr. Martin Mendelsohn als Schriftführer thätig ist. Ausserdem gehören dem Organisationskomitee der Vortragende Rat im Kultusministerium Geh. Ober-Regierungsrat Naumann, Professor Dr. Lassar und Stabsarzt Dr. Pannwitz an; Kommerzienrat E. Jacob ist Schatzmeister. Die Ausstellung soll nur aus aus- gewahlten Gegenstinden bestehen; schon in der Zulagsung zur Ausstellung wird eine

*) Wir wollen hier nur beispielsweise an einige derselben erinnern. Ein gänzlich unbeaufsichtigtes Pflegekind, welches in Abwesenheit des Dr. Guggenbühl von einer Fels- wand des Abeudbergs hinabstürzte, war über 12 Stunden in der Anstalt nicht vermisst worden. Erst als ein Bauer vom Thale, welcher die Leiche gefunden hatte, Lärm schlug; gewahrten die Stellvertreter des „Kretäinenheilandes“, dass das aufgefundene Kind der Anstalt angehörte. Man weiss, dass Kinder auf dem Abendberg starben, von deren Tod nie eine amtliche Anzeige gemacht worden ist, welche nie auf dem Kirchhof des Thales begraben wurden. Ein Schreiner aus dem Bödeli, welcher jüngst einem in der Anstalt verstorbenen Kinde einen Sarg anzumessen hatte, fand dasselbe bereits in der Verwesung weit fortgeschritten auf dem Fache einer Kam- mer liegen. Als er vorwurfsvoll fragte, weshalb man ihn nicht schon längst bestellt habe, soll ihm die Antwort erteilt worden sein, „man hätte die Sache ganz vergessen“,

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Anerkennung enthalten sein. Dementsprechend wird jeder Aussteller, dessen Objekte zur Ausstellung zugelassen sind, ein Zulassungsdiplom erhalten. Ausser dieser Zu- erkennung der Zulassungsdiplome werden Prämiierungen stattfinden, auch sind Staats- medaillen in sichere Aussicht gestellt worden. Es haben seit einer Reihe von Monaten wiederholte Sitzungen des Organisationskomitees im Kultusministerium stattgefunden; die Vorbereitungen zur Ausstellung sind so weit gediehen, dass in den nächsten Tagen die öffentliche Aufforderung zur Beteiligung an der Ausstellung erfolgen wird.

Braunschweig. (Fürsorge für schwachsinnige Kinder.) Das Gesetz vom 80. Marz 1894, die Ausbildung nicht vollsinniger, schwach- oder blödsinniger Kinder betreffend, konnte nicht in Kraft treten, weil es an einer geeigneten Anstalt dazu fehlte. Um eine solche zu schaffen, musste entweder eine Staats- Anstalt er- richtet oder die vorwiegend als Pflegeanstalt für Idioten dienende Anstalt Neu-Erkerode den gesetzlichen Bestimmungen entsprechend erweitert werden. Neu-Erkerode, unter Leitung des Probst Palmer stehend, ist Privatanstalt, wird jedoch aus Staatsmitteln unterstützt und untersteht staatlicher Aufsicht. Die herzogliche Regierung schloss mit der Leitung von Neu-Erkerode einen Vertrag ab, dahin gehend, dass der Staat die zur Aufnahme der schwachsinnigen Kinder nötigen Baulichkeiten herstellen und die Erziehungskosten für die in die Anstalt unterzubringenden Kinder garantieren wollte, die Anstalt dagegen die nötigen Bauplätze hergeben und für angemessene Erziehung der Kinder sorgen sollte. In demselben werden für ein Knaben- und Mädchenhaus, ausreichend für 120 Kinder, sowie für ein Dienstgebäude 380,000 Mark gefordert. Dieser Vertrag wurde dem Landtage zur Genehmigung vor- gelegt. Die Finanzkommission desselben schlug aber Ablehnung vor, weil das Ergebnis einer vom Seminardirektor Stölting und Superintendenten Länger vorgenommenen Revision der Schule und des Kindergartens der Anstalt zu günstig gewesen und demzufolge anzunehmen sei, dass unter den in der Anstalt untergebrachten Kindern sich eine grössere oder kleinere Anzahl nicht schwach- sinniger, sondern nur schwachbefähigter Kinder befinden. Deshalb schlug sie eine nochmalige Revision vor, ausgeführt von dem Leiter einer andern Idiotenanstalt, einem sachverständigen Arzt und einem in der Erziehung schwachbefähigter Kinder erfahrenen Schulmann. Ausserdem hielt sie die in der Regierungsvorlage angenommene Zahl von 120 Kindern für zu hoch, da aus der Stadt Braunschweig, (welche mehr als '/; der genannten Einwohner des Herzogtums hat), nur 14 Kinder in N.-E. seien. Es sei deshalb anzunehmen, dass im ganzen Lande nur ungefähr 60 Kinder seien, welche nach N.-E. gehörten. Die Kommission empfahl deshalb, die Regierung aufzufordern, die Frage zu prüfen, ob nicht einer Staatsanstalt der Vorzug vor dem vorliegenden Projekte zu geben sei. Aus der über die Regierungsvorlage und Anträge der Finanzkommission sich entspinnenden Debatte seien die wesentlichsten Punkte wiedergegeben. Abgeordneter Schuldirektor Prof. Schaarschmidt, langjähriger Leiter der Bürgerschulen Braun- schweigs, war für die Kommissionsanträge. In N.-E., meinte er, müssten eine ganze Anzahl nur schwachbefähigter Kinder sein. Nach den Revisionsakten seien dort Leistungen erzielt, welche in der Hilfsschule in Braunschweig, trotz sorgfältigster Auswahl der Lehrkräfte, nicht erreicht würden. Er sei gegen die

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Verbindung einer Idioten- (Pflege-) mit einer Erziehungsanstalt für Kinder, da letztere durch den Umgang mit Voilidioten keineswegs gefördert würden, auch Störungen durch die Pfleglinge hervorgerufen werden könnten. Dazu habe der Leiter N.-E.’s so viel zu thun, ausser der gesamten äusseren Leitung liegt ihm die Ausführung der ganzen geistlichen Amtshandlungen ob, dass er sich um die Schule nicht kümmern könne. An die Spitze einer solchen Erziehungs- anstalt gehöre ein tüchtiger Schulmann, der auch zugleich ein guter Ver- waltungsbeamter sei. In Gemeinschaft mit einem sachverstandigen Arzte habe er die Schule zu leiten. Junge Theologen und eben vom Seminar abgegangene Lehrer gehörten nicht in eine Schwachsinnigenschule. In Braunschweig besteht eine Vereinigung, welche Vorsorge treffen will für Er- ziehung epileptischer Kinder. Vielleicht liesse sich mit einer Anstalt für letztere eine für die schwachsinnigen Kinder verbinden. Die für den genannten Zweck gesammelten Gelder würden gern zur Verfügung gestellt werden. Abgeordneter Kreisdirektor Langerfeldt suchte die Ausführungen des Abg. Sch.’s zu entkräften. Es sei sehr schwer, Schwachsinnige von Schwachbefähigten zu unterscheiden. Vom 1. Juli erhalte die Anstalt einen eigenen Arzt. Abg.Sch. wolle die Anstalt nicht nach N.-E. verlegen, weil Probst Palmer dort an der Spitze stehe; derselbe verwalte aber sein Amt eben so gut, wie Abg. Sch. das seinige.e Probst P. wolle gar nicht in die Schule hineinreden, sondern für sie einen tüchtigen Schulmann haben. Da die Erziehungsgebäude von denen der übrigen Anstalt abgesondert hergestellt würden, seien Störungen ausgeschlossen. Von seiten der Regierung wird dem Probst P. das beste Zeugnis ausgestellt und bemerkt, dass eine nochmalige Revision unnütz sei. Es komme darauf an, die Kinder gut und billig unterzubringen. Der Staat behalte sich auch das Bestätigungsrecht für Arzt und Lehrer vor. Abg. Pastor Strube meint, dass es beim Unter- richte Schwachsinniger weniger auf die Klugheit (soll wohl heissen pädagogische Tüchtigkeit und Erfahrung), als auf die Liebe des Lehrers zur gestellten Aufgabe ankumme, die könne aber ein junger Lehrer und Theologe auch haben. -— Auf die gemachten Einwürfe erwidert Prof. Schaarschmidt, dass er nicht im geringsten daran gedacht habe, die Fähigkeit des Leiters von N.-E., Probst Palmer, anzuweifeln. Er habe in N.-E. den Eindruck gewonnen, dass dort in der Schule das Wissen zu sehr in den Vordergrund gestellt werde. Es werde Vieles gelehrt, was über Ver- ständnis und Fassungskraft der Kinder hinausginge und dann ersetzt werden müsse durch sorgfältiges Einüben. Er sei für eine staatliche Anstalt, weil er das Beste haben wolle, was für die Kinder geschaffen werden könne, das sei da, wo nicht nur der gute Wille vorhanden sei, sondern auch die nötigen Mittel zur Verfügung ständen. Er könne auch nicht davon abgehen, dass die bildungsfähigen Kinder herabgedrückt würden, wenn sie mit geistig tiefer stehenden zusammen kämen. Die Liebe des Lehrers, die wohl immer vorausgesetzt werden müsse, genüge nicht allein zum Erziehen der Kinder, es sei vor allem Erfahrung in Umgange mit schwachsinnigen Kindern und Vertrautsein mit der Technik des Elementarunterrichts nötig. Nachdem Kreisdirektor Langerfeldt die Gründe des Abg. Schaarschmidt zu entkräften versucht hatte, wies

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der Staatsminister darauf hin, dass eine Staatsanstalt bedeutend teurer zu stehen kommen werde als das vorliegende Projekt und hob dabei die Tüchtigkeit des Probst Palmer lobend hervor. Die Abstimmung ergab die Annahme der Regierungs- vorlage. Darnach werden die schwachsinnigen Kinder Braunschweigs nach Fertig- stellung der nötigen Gebäude der Anstalt Neu-Erkerode überwiesen werden.

Cassel. (Zweiter Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands.) Der im vorigen Jahre zu Hannover von Leitern und Lehrern an Hilfsschulen für schwachbefähigte (schwachsinnige) Kinder und von Vertretern städtischer Schul- behörden gegründete Verband der Hilfsschulen Deutschlands hielt am 4. und 5. April à. Js. zu Cassel seinen zweiten Verbandstag ab. Aus Raumräcksichten müssen wir auf einen eingehenden Bericht verzichten, dagegen können wir es uns nicht versagen, die in mancher Beziehung nicht uninteressanten und anregenden Verhandlungen mit einigen Bemerkungen zu begleiten. Am 4. April abends 7*/, Uhr fand im Saale des Palais-Restaurants die Vorversammlung statt, welche von ungefähr 90 Personen, Herren und Damen aus den verschiedensten Gegenden Deutschlands, besucht war. Der Vorsitzende des Verbandes, Stadtschulrat Dr. Wehrhahn-Hannover, begrüsste die Anwesenden und erstattete den Bericht über die Wirksamkeit des Vorstandes während des verflossenen Jahres. Die Zahl der Mitglieder beträgt zur Zeit 108; eine Broschüre, die Verhandlungen des ersten Verbandstages enthaltend, wurde an die Kultusministerien fast sämtlicher deutscher Staaten sowie an eine bedeutende Anzahl grösserer Städte gesandt, um in wirksamer Weise Propaganda für die Hilfsschule und ihre Zwecke zu machen. Als Antworten darauf sind dem Vorstande mehrere zustimmende Schreiben zugegangen, unter welchen das des preussischen Kultusministers als von grösster prinzipieller Bedeutung besonders hervorgehoben wurde. Auch materielle Unterstützungen und Beihilfen hat der Verband erhalten in Gestalt von einmaligen Zuwendungen und durch Zahlung freiwilliger Jahresbeiträge; kurz, die Verhältnisse des Verbandes liegen nach dem Berichte des Vorsitzenden so günstig, dass derselbe mit sicherm Vertrauen in die Zukunft blicken kann. Nachdem die Vorversammlung die Tagesordnung für die Hauptversammlung genehmigt hatte, hielt Hauptlehrer Strakerjahu-Libeck seinen Vortrag: Der erste Sprechunterricht in der Hilfsschule. Die Thesen des Vortrages lagen in ausreichender Anzahl g#- druckt vor; eine allgemeine Diskussion über den Vortrag fand nicht statt, sondern es wurde sogleich in die Beratung der Thesen eingetreten, die mit unwesentlichen Änderungen zur Annahme gelangten. Der Vortrag selbst bot im allgemeinen nichts Neues; der erste Sprechunterricht soll eine harmonische Entwicklung des Sprechens und der Sprache unter sorgfältiger Beachtung der Eigenart des schwachbefähigten Kindes anzuerstreben suchen, wobei sowohl der begrifflichen als auch der mechanischen Seite der Sprache gehörig Rechnung zu tragen ist. Auf der Tagesordnung für die Vorversammlung stand noch ein zweiter Vortrag: Die Hauptursache der Schwächen und Entartungen im Leibes- und Seelenleben unserer Kinder von J. Trüper-Jena. Der Referent bat, wegen vorgerückter Tageszeit seinen Vor- trag zurück ziehen zu dürfen, leider aber ging die Versammlung nicht darauf ein und so musste Trüper gut oder übel denselben lesen. Lange Vorträge, dazu noch solche, die im Drucke übersichtlicher erscheinen, hört man zu später Tagesstunde nicht gerne.

103 Es hatte darum auch der Trüper’sche Vortrag, welcher die nachteiligen Wirkungen des Alkohols auf das Leibes- und Seelenleben der Kinder in sehr ausführlicher, dabei aber auch sehr interessanter Weise behandelte, unter der Ungunst geteilter Aufmerksamkeit und geringer Teilnahme viel zu leiden. Jedenfalls wären die interessanten Ausführungen an anderer Stelle und zu einer andern Zeit besser zur Geltung gekommen als hier auf der Vorversammlung des zweiten Verbandstages deutscher Hilfsschulen. Am Schlusse der Vorversammlung machte der Vorsitzende nech darauf aufmerksam, dass die Casseler Hilfsschule eine kleine Ausstellung von Lehr- und Veranschaulichungsmitteln in ihren Räumen veranstaltet habe und empfahl den Besuch derselben. Der grösste Teil der Ausstellung, die wohl haupt- sächlich für die Eltern schwachsinniger Kinder bestimmt war und nicht für den Fach- mann, bestand aus den in der Hilfsschule gefertigten Handarbeiten der Knaben und Mädchen und aus einer bedeutenden Anzahl von Anschauungsbildern. Etwas be- sdnderes bot sie durchaus nicht dar; es fehlte sogar manches, das bereits lange und vielfach als ein notwendiges, unentbehrliches und äusserst zweckentsprechendes Ver- anschaulichungsmittel für die Hilfsschule gilt, z. B. der Formentisch. Dagegen waren verschiedene Sachen zu finden, wie u. a. die Königsche Einmaleinstafel, welche besser für die Hilfsschule gar nicht in Betracht kommen sollten. Grosse Mühe um ‚die Ausstellung gaben sich die Damen von der Casseler Hilfsschule, welchen dafür besonderer Dank gebührt. J Bei der Hauptversammlung am 5. April erhielten zunächst die Vertreter verschiedener Behörden, der Stadt und der Lehrerschaft das Wort zu ihren Be- grüssungen, die sämtlich in den Wunsch ausklangen, dass die Verhandlungen des Verbandes zu einer gedeihlichen Entwicklung seiner Bestrebungen führen möchten. Besonderes Interesse für uns boten die Ausführungen des Regierungs- und Schulrats Dr. Schneider, des Vertreters der Königlichen Regierung zu Cassel, der in seiner Begrüssungsrede hervorhob, dass nicht nur den schwachsinnigen Kindern grösserer Städte, die Hilfsschulen besitzen, sondern auch den geistesschwachen Kindern auf dem Lande eine zwockmässige Erziehung und Unterweisung durch besondere Veranstaltungen ermöglicht werden müsste. Ein Hinweis darauf, dass für die fraglichen Kinder bereits seit einer Reiho von Jahren mit den Idiotenanstaltsschulen, die mit bestem Erfolge derartige Kinder behandeln, zweckentsprechende Veranstaltungen getroffen sind, erfolgte merkwürdigerweise von keiner Seite. Idiotenanstaltsschulen und Hilfsschulen verfolgen doch im grossen und ganzen dieselben Zwecke, erstere dürften mehr für die ländliche und letztere mehr für die städtische Bevölkerung in Betracht kommen. Nach den Begrüssungen folgte der Vortrag des Hauptlehrers Kielhorn-Braunschweig über die Organisation der Hilfsschule. Dem Vortrage lag eine Menge von Thesen zu Grunde (5 Druckseiten lang), auch liess K. zur weitern Illustration und Information 4 verschiedene Schemata verteilen. In der Hauptsache brachte der Vortrag nur nähere Ausführungen über einzelne Thesen; es wurden aber auch verschiedene Neben- gebiete, wie z. B. die Zwangserzieliung, Sozialpädagogik u. s. w. darin berührt, die besser unerwähnt geblieben wären. Der Verbandstag erklärte sich auf Antrag des Stadt- schulrats Platen-Magdeburg mit den grundsätzlichen Ausführungen des Referenten im wesentlichen einverstanden, behielt sich jedoch die eingehende Beratung der ein-

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zelnen Sätze für spätere Verbandstage vor. Ein zweiter Vortrag: Das erzieh- liche Wirken der Hilfsschule von Hauptlehrer Horrix-Düsseldorf, welcher unsern Lesern ja genügend bekannt sein dürfte, führte einen Teil des Kielhornschen Vortrags weiter aus. Leider konnte dieser Änsserst gehaltvolle Vurtrag wegen Zeit- mangels keine eingehende, ausgiebige Beratung erfahren; es erfolgte daher auch nach einigen unwesentlichen Erörterungen die sofortige en bloc Annahme der Thesen. Die Zeit war inzwischen soweit vorgeschritten, dass auf Antrag des Schuldirektors Dr. Bartels-Gera von der Weitererledigung der Tagesordnung gerne Abstand ge- nommen wurde. Als Ort des nächsten Verbandstages Ostern 1901 wurde Augsburg gewählt. Bei den Verhandlungen waren auch Vertreter von Idiotenanstalten za- gegen, Direktor Schwenk-Idstein und Pfarrer Schuchard, Anstaltsleiter der Idiotenanstalt zu Treysa. Wenn auch die Hilfsschulen und Erziehungsanstalten für schwachsinnige Kinder ihre besonderen Interessensphären besitzen, so stehen doch beide auf demselben Boden, haben dasselbe Schülermaterial, und der Unterricht ist bei beiden derselbe. Wie bisher immer, so leuchtete es dem Unbefangenen auch in Cassel ein, dass die Hilfsschulen und die Anstalten zusammen gehören und zusammen zu gehen haben. | F. Dalidorf. (Idiotenanstalt). Während im Jahre 1896/97 durchschnittlich 2330 Zöglinge in der Anstalt waren, schwankte im letzten Jahre die Belegungszahl zwischen 190 bis 208. Die erziehlichen und unterrichtlichen Resultate waren recht erfreuliche. Einzelne an moralischen Defekten, beruhend auf zentrale Störungen, leidende Zöglinge, die uns hinsichtlich ihres Betragens viele Sorgen und Schwierigkeiten bereiteten, sind durch ein dauerndes „Verhüten“, durch Freundlichkeit bei konsequenter Durchführung der an diese Kinder gestellten Forderungen, durch geregelte Thätigkeit sowohl in der Schule wie auch im Handwerk resp. in der Hand- arbeit sichtlich gefördert worden. Der Unterricht wurde in sechs aufsteigenden Stufen resp. zwölf Klassen in nachfolgenden Fächern erteilt: Klasse Via, b, c. Anschauungs-Unterricht: 1. Thätigkeitsübungen 2 St., 2. Unterscheidungsübungen 4 St., 8. Übungen für Auge und Hand 2 St, Gesang 2 St, Turnen 3 St. Klasse Va, b, c. Anschauungs-Unterricht: 1. Thätigkeitsübungen 2 St, Unterscheidungsübungen 4 St., Lesen und Schreiben 6 St., Gesang 2 St., Turnen 3 St., Handarbeit resp. Handwerk: Mädchen 10 St., Knaben 14 St. Klasse IVa, b. Religion 2 St., Anschauungs-Unterricht: 1. Thätigkeitsübungen 2 St., 2. Besprechung von Bildern 2 St., Lesen und Schreiben 6 St., Gesang 2 St., Turnen 3 St., Handarbeit resp. Handwerk: Mädchen 10 St, Knaben 14 St. Klasse III. Religion 4 St., Lesen und Schreiben 4 St., Anschauung 2 St, Rechnen 2 St, Schreiben 2 St., Zeichnen 2 St., Gesang 2 St., Turnen 6 St., Handarbeit resp. Handwerk: Mädchen 10 St, Knaben 12 St. Klasse Ila, b. Religion 4 St., Lesen und Schreiben 4 St., An- schauung 2 St., Rechnen 2 St, Schreiben 2 St., Zeichnen 2 St, Gesang 2 St., Turnen 6 St., Handarbeit resp. Handwerk: Mädchen 10 St., Knaben 12 St. Klasse L Religion 4 St., Lesen und Schreiben 4 St., Rechnen 2 St., Schreiben 2 St., Zeichnen 2 St., Geographie 1 St., Geschichte 1 St., Gesang 2 St., Turnon 6 St, Handarbeit resp. Handwerk: Mädchen 10 St., Knaben 12 St. Den Konfirmanden-Unterricht besuchten 7 Zöglinge, von denen 1 Knabe und 3 Mädchen durch Herrn Pastor

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Pohlmann konfirmiert werden konnten. Es wirkten an der Anstalt ausser dem Erziehungs-Inspektor 4 Lehrer, 3 wissenschaftliche Lehrerinnen, 1 technische Lehrerin, 1 Oberwärter, 7 Wärter, 14 Wärterinnen, 1 Hausdiener, 1 Heizer, 1 Näherin, 1 Arbeitsfrau. Die Thätigkeit in den Werkstätten für Schuhmacherei, Schneiderei, Korbmacherei, Buchbinderei, Tischlerei, in der Gärtnerei, sowie in der Hausarbeit und in dem Handarbeits - Unterricht für die Mädchen war eine rege und erfolgreiche Von den in diesem Jahre entlassenen Zöglingen konnte einer dersalben, der sich schon mehrere Jahre bei einem Landmann und Inhaber einer Sägemühle in Privat- pflege befand, zu seiner und seiner armen Mutter Freude als Hausdiener an der Idioten-Anstalt angestellt werden. 5 Burschen wurden betreffs Erlernung eines Handwerks zu geeigneten Meistern in die Lehre gegeben (Schuhmacher 1, Korb- macher 2, Schneider 1, Uhrmacher 1); 14 Burschen und 8 Mädchen kamen zur Beschäftigung in Haus-, Feld- und Handarbeit in passende Familienpfllege. Mit Rücksicht auf ihre Bildungsunfähigkeit und körperliche Leiden mussten 10 Knaben und 5 Mädchen der hiesigen Irren- Anstalt überwiesen werden. Zu den Eltern wurden entlassen 18 Zöglinge (14 Knaben, 4 Mädchen). Aus dem allgemeinen Bericht über die Inspektionsreise zu den in der Lehre und in Pflege befindlichen ehe- maligen Zöglingen der Idioten - Anstalt im Januar 1898 sei nachstehendes mitgeteilt. Im Juni 1897 belief sich die Zahl der in der Lehre resp. in Pflege befindlichen Zöglinge auf 63 und zwar 40 Burschen und 23 Mädchen. Die einzelnen Pflege- stellen dürfen mit Ausnahme einer als recht geeignet bezeichnet werden. Alle Zög- linge waren gut genährt, auch die Bekleidung war mit Ausnahme in der oben bezeich- neten Pflegestelle in Ordnung. Die meisten der Pflegestellen auf dem Lande bieten ganz besonders hinsichtlich der Schlafräume, auch in der Ernährung im Verhältnis zu Berlin Hervorragendes. Fast allen Burschen ist ein geräumiges, helles Zimmer als Schlafraum zur Verfügung gestellt. Hinsichtlich der Bekleidung mussten einem Pfleger recht ernste Anweisungen gegeben werden, auch war in demselben Falle die Schlafstelle eine ungenügende; da der Pfleger den letzten Punkt kaum ändern kann, ist eine baldige Verlegung des Burschen in eine geeignete Pflegestelle in Aussicht genommen. In vier Fällen erhoben die Pfleger bittere Klagen über das Betragen der Burschen, und diese wurden recht ernstlich ermahnt uud zurechtgewiesen; in weiteren vier Fällen wurden zwei Burschen und zwei Mädchen mit entzündeten Händen resp. Füssen ge- funden und in ärztliche Behandlung gegeben. Eine Herabsetzung des Pflegegeldes, begründet durch die Leistungsfähigkeit der betreffenden Zöglinge, ist vom 1. April cr. ab in sechs Fällen zu empfehlen und zwar in zwei Fällen um monatlich 1 Mk., in vier Fällen um monatlich je 2 Mk. Einer weiteren erziehlichen Beaufsichtigung bedürfen 2 Burschen und 1 Mädchen nicht mehr.

Leipzig. (Schwachsinnigonschule.) Da die Pfingsten 1893 erschienene Schrift: „Die Leipziger Schwachsinnigenschule nach ihrer Geschichte und Entwicklung * vergriffen war, aber häufig in schriftlichen Anfragen und von den vielen Besuchern unserer Schule auch mündlich der Wunsch ausgesprochen wurde, über deren Ein- richtungen etwas Gedrucktes zu haben, wurde im Herbste des vorigen Jahres ein zweiter Bericht auf die Zeit von Ostern 1898—97 herausgegeben, dem jetzt der dritte von Ostern 1897 bis dahin. 98 folgte. Damit wurde zugleich der beabsichtigte gute Zweck

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erreicht, die grosse Not vieler unserer aus den ärmsten Bevölkerungsschichten stam- mender Kinder durch alljährliche Weihnachtsbescherungen etwas zu mildern und ihrer mangelhaften Ernährung durch Verabreichung von Milchfrühstück aufzuhelfen. Folgendes sei aus diesen Berichten hervorgehoben:

Getragen von dem Wohlwollen der Behörden und der Unterstützung vieler edel- denkender Menschenfreunde aus der Bürgerschaft, entwickelt sich die Leipziger Schwach- sinnigenschule in naturgemässer Weise weiter: Die Schüler- und Klassenzahl vermehrte sich stetig, die inneren Einrichtungen wurden ausgebaut und befestigt. die Methode in Erziehung und Unterricht gewann an Sicherheit und Stetigkeit.

Ostern 1893 wurde die Schule von 127 Kindern (77 Knaben und 50 Mädchen) in 8 Klassen besucht. Ostern 94 waren 149 Kinder (92 Knaben und 57 Mädchen) in 9 Klassen vorhanden. Ostern 95 wuchs die Schülerzahl auf 159 (108 Knaben und 56 Mädchen) und die Klassenzabl auf 10. Da Ostern 96 die Schülerzahl auf 194 (128 Knaben und 66 Mädchen) stieg, wurden 2 neue Klassen, die 11. und 12. eingerichtet. Um den durchschnittlichen Schülerbestand auf die als Norm angenommene Zahl von 15 zurückzuführen, mussten Ostern 97, da die Zahl der Kinder sich auf 208 (126 Knaben und 77 Mädchen) belief, abermals 2 neue Klassen, die 13. und 14. gegründet werden. [Daneben bestand 1898 in Leipzig-Gohlis und in Leipzig- Lindenau je 1 Klasse. Ostern 95 kam zu der letzteren eine 2. und 96 eine 3., und diese dreiklassige Abteilung wurde der 24. Bezirksschule in Leipzig - Plagwitz an- gegliedert] Als Konfirmanden wurden Ostern 1894 11 (8 Knaben und 3 Mädchen), Ostern 95 19 (11 Knaben und 8 Mädchen), Ostern 96 16 (10 Knaben und 6 Mäd- chen) und Ostern 97 21 (14 Knaben und 7 Mädchen) Kinder entlassen, ausserdem verzogen einige nach auswärts, eine Anzahl wurde der Taubstummenanstalt, den Landeserziehungsanstalten für Schwachsinnige in Nossen und Grosshennersdorf über- geben oder als bildungsunfähig dem Elternhanse zur Pflege überlassen.

Das Wachstum der Schüler- und Klassenzahl machte auch die Vermehrung der Unterrichtestunden für weibliche Handarbeiten nötig. In den Schuljahren 1898 bis 95 bestanden 4 Abteilungen mit je 4 wöchentlichen Stunden, Ostern 1895, 96, 97 kam je 1 Abteilung dazu. Es erhalten immer die Mädchen zweier benachbarten Klassen gemeinsam ihre Unterweisung im Stricken, Häkeln, Wäschezeichnen, Nähen am Näh- tuche und Frauenhemde, im Flicken, Stopfen und Wäschesticken, während die Knaben in dieser Zeit von ihren Klassenlehrern mit Handfertigkeitsunterricht beschäftigt werden. Die seit Ostern 97 bestehenden 7 Abteilungen mit je 4 Unterrichtsstunden “nehmen also eine Handarbeitslehrerin vollauf in Anspruch. Es arbeiten also jetzt an der Schwachsinnigenschule 14 Lehrer und 1 Lehrerin für weibliche Handarbeiten.

Im Schuljahre 1896/97 betrug die Ausgabe für die Schwachsinnigenschule und -klassen 51 825 Mk., die Einnahme 6 224,40 Mk., der städtische Zuschuss demnach 45 600,60 Mk., so dass jedes der unterrichteten 271 schwachsinnigen Kinder also der Stadt jährlich 168,27 Mk. kostet. Das Schulgeld beträgt jährlich 4,80 Mk., viele Kinder geniessen den Unterricht unentgeltlich und die ärmsten erhalten ausserdem die nötigen Bücher, Hefte u. s. w. umsonst geliefert.

In den letzten Jahren erhielten auch immer zwei Lehrer Urlaub und einen Reise- beitrag zum Besuche der Konferenzeu für das Idiotenwesen und geeigneten Anstalten

107 und Schulen für schwachsinnige Kinder. Diese Reisen erwiesen sich als höchst er- spriesslich für die Einzelnen sowohl wie für die ganze Schule. Sie lehren anders geartete Einrichtungen und Verhältnisse kennen und fordern zu einem Vergleiche mit den heimischen heraus; sie führen zu persönlichem Austausche der Ansichten und Er- fahruugen mit fremden Berufsgenossen und wirken anregend auf die eigene Thätigkeit; sie erweitern den Blick, erhöhen das Interesse und die Freude an der schwierigen alltäglichen Arbeit und bieten endlich für die monatlichen Konferenzen Stoff zur Be- ratung verschiedener Fragen.

Die obersten 4 Klassen unserer Schule sind im ersten Stockwerke des Haupt- gebäudes der dritten Bürgerschule am Johannisplatze untergebracht, die übrigen 10 füllen das östliche Flügelgebäude. Ausserdem befinden sich noch im Erdgeschosse des Hauptgebäudes drei mit Hobelbanken, Arbeitstafeln und den nötigen Werkzeugen ans- gestattete Arbeitszimmer für den Handarbeitsunterricht der Knaben und eins für die Mädchen, und im Ostflügel ein Speisezimmer. Im Turnunterricht werden die beiden Turnsäle mit benutzt. Ein am Ostflügel liegender, völlig abgeschlossener Hof dient den Kindern während der Pause als Erholungs- und bei günstigem Wetter auch als Turn- und Spielplatz.

Die Schule ist fünfstufig gegliedert (im Schuljahre 1897/98 gehörte die 1. Klasse der ersten, die 2. und 3. Klasse der zweiten, die 4. bis 6. Klasse der dritten, die 7. bis 11. Klasse der vierten und die 12. bis 14. Klasse der fünften [Vor-]Stufe an), doch sind die Klassen einer Stufe nicht vollständige Parallelklassen, sondern die höhere enthält immer auch etwas leistungsfähigere Kinder als die nächstniedere. Alle Klassen sind geschlechtlich gemischt, nur im Turn- und Handarbeitsunterrichte werden die Ge- schlechter getrennt unterrichtet. Die Kinder werden bei der Aufnahme und der Neu- ordnung der Klassen zu Ostern diesen nur nach ihrem geistigen Standpunkte und ihrer Leistungsfähigkeit zugeteilt. Durch Legen der Lehrgegenstände der benachbarten Klassen auf die gleichen Stunden wird in jedem Fache ein Austausch der Kinder der verschiedenen Klassen, also die Bildung von Fachklassen ermöglicht, in denen Kinder von möglichst gleichen Leistungsgraden vereinigt sind und die bestmögliche individuelle Behandlung und Förderung erfahren können.

Jede Klasse hat wöchentlich 30 Unterrichtsstunden und zwar täglich von 8 bis 12 Uhr und Dienstag, Donnerstag und Freitag von 2 bis 4 Uhr, nämlich für biblische Geschichte, der sich Katechismus, Spruch und Lied anschliessen, 2, für Deutsch, ein- schliesslich Schreiben 6, für Rechnen 5, für Anschauungsunterricht, bez. Heimat- und Naturkunde 4, für Zeichnen 2, für Turnen 2, für Sprechübungen und Singen 3, für Handarbeiten 4 und für andere Beschäftigungen 2 Stunden. Der Unterricht wird in ganzstündigen Lektionen erteilt. Nach der ersten und dritten Stunde tritt eine Pause von 10, nach der zweiten die Frühstückspause von 20 bis 25 Minuten ein. Der leichten Ermüdbarkeit der Kinder wird dadurch Rechnung getragen, dass sie inner- halb eines Lehrgegenstandes auf die mannigfaltigste Weise zur Teilnahme heran- gezozen werden. Der Wechel in der Art und Weise, wie sie ihre Mitarbeit aus- zuführen haben (Zuhören, Antworten, Zeigen, Nachahmen, Malen u. s. w.) bewahrt sie vor Ermüdung, weckt und erhält ihr Interesse und die Lust am Unterrichte, regt zwar ihre Geistes- und Körperthätigkeit nach den verschiedensten Richtungen hin an,

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hält sie aber zugleich bei der Sache fest und gewöhnt sie so nach und nach an Aus- dauer im Denken und Thun, auch bringen ein in den Unterricht eingostreutes Liedchen, Aufstehen vom Platze, einige Freiübungen u. a. bei eintretender Ermüdung Erfrischung und Aufmanterung, so dass dann erfolgreich fortgefahren werden kann. Aus erzieh- lichen und unterrichtlichen Gründen liegt der gesamte Unterricht jeder Klasse in der Hand eines Lehrers. Jede über die Pflichtstundenzahl (26 bez. 28) erteilte Unter- _ Fichtsstunde wird mit jährlich 75 Mk. vergütet.

Ausser den im Unterrichte selbst nötigen Veranstaltungen dienten häufige Spazier- gänge durch die Strassen der Stadt, den Öffentlichen Gebäuden und Denkmälern, in Wiese, Feld und Wald und die von durch Zuteilung von Freikarten ermöglichte wiederholte Besuche des zoologischen Gartens dazu, die Dinge und Erscheinungen der nächsten Umgebung den Kindern so anschaulich als möglich nahe zu bringen, die unklaren Vorstellungen aufzuhellen, zu berichtigen und zu ergänzen, zu befestigen und zu vermehren.

Zur Erzielung der unbedingt nötigen Einheitlichkeit und Stetigkeit der Erziehung und des Unterrichts ist für jedes Kind ein Personalbogen angelegt, in den am Ende jedes Schuljahres vum Klassenlehrer eine ausführliche Charakteristik und die Fortschritte des betr. Kindes in den verschiedenen Kenntnissen und Fertigkeiten einzutragen ist, Auch ist am Jahresschlusse ein schriftlicher Klassenbericht zu erstatten über die er- zielten Erfolge in den behandelten Unterrichtsstoffen und über die Art und Weise der Beteiligung und Anstellixkeit, die jedes Kind in den einzelnen Fächern zeigt.

Die erzielten Erfolge waren immer recht erfreuliche. Dies bezeugten sowohl das sehr zahlreiche Erscheinen der Eltern zu den für alle Klassen in den Lehrzimmern gleichzeitig abgehaltenen zweıständigen Osterprüfungen und der dabei stattfindenden Ausstellung der schriftlichen Arbeiten, Zeichnungen und Handfertigkeitsarbeiten der Knaben und Mädchen, soudern auch die vielfach geäusserten Anerkennungen der merk- lichen Fortschritte ihrer Kinder gegenüber der früheren Schulzeit. Während früher manche Eltern ihre Kinder nur ungern unserer Schule zuführten, melden jetzt viele aus eignem Antriebe ihre Kinder in die „Schwachsinnigenschule* an. Ein Antrag der Stadtverordneten, den Namen Schwachsinnigenschule fallen zu lassen und dafür Hilfs- schule zu wählen, fand daher beim Rate der Stadt keine Zustimmung.

Die Erfahrung, dass viele unserer Kinder wegen des Mangels einer geordneten Häuslichkeit an den noch freien Nachmittagen dem verderblichen Einflusse des Strassen- lebens ausgesetzt waren, liess es wünschenswert erscheinen, sie noch mehr unter die Obhut der Schule zu stellen, um zie drohender Verlutterung und Verwahrlosung zu entziehen. Und da auch seitens vieler Eltern der Wunsch ausgesprochen wurde, ihre Kinder öfters als bisher in der Schule wohl aufgehoben zu wissen, wurde eine dahin- zielende Umfrage bei sämtlichen Eltern veranstaltet. Diese ergab, dass 58°/, sich für die Beschäftigung an allen, 262/,°/, an noch einem oder an zwei Nachmittagen (Montag und Mittwoch) aussprachen und nur 181/,°/,, die in besseren Verhältnissen leben oder ihre Kinder daheim zu allerhand häuslichen Verrichtungen gebrauchen, rein ablehnten. Die infolgedessen gestellten Anträge der Schule, dass vom Jahre 1898 ab die Kinder unserer Schule auch Montag und Mittwoch nachmittags in der Schule mit Spielen, Handarbeiten und anderen den Körper kräftigenden und die Beweglichkeit

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fördernden Übungen beschäftigt würden, und dass es in den freien Willen der Eltern za stellen sei, ihre Kinder daran teilnehmen zu lassen, wurden ohne jede Einschrän- kung von den städtischen Körperschaften befilligt, obgleich sie auf die Zeit von Ostern bis Ende Dezember einen Kostenaufwand von 7 850,50 Mk. verursachen. So ist diese Erweiterung des Wirkungskreises unserer Schule seit Ostern 1898 in Kraft getreten und ®', sämtlicher Kinder nehmen an diesen Beschäftigungen teil. Ein weiterer Schritt auf dem Wege zum Ziele ihrer Entwickelung ist damit gethan. Hoffentlich erhält sie m nicht zu ferner Zukunft auch ein eigenes Heim, in dem sie eich zu einer An- stalt erweitern kann, die neben ihrer jetzigen Einrichtung noch für verwaiste uder durch die Eltern vernachlässigte oder sittlich gefährdete schwachsinnige Kinder und für scelche mit körperlichen Gebrechen oder gemeingefährlichem Trieb- und Wilens- leben eim besonderes Internat erhält, während alle anderen in geordneten Familien- verhältuissen lebenden schwachsinnigen Kinder sie nur als Tagesschüler besuchen.

Der Gesunmdheitszustand unserer Kinder war in den vergangenen Jahren insofern recht erfreulich, als nur sehr wenig Fälle von akuten oder ansteckenden Krankheiten vorkamen. Dagegen war die Zahl der gebrechlichen und körperlich dürfügen Kinder immer recht bedeutend. Infolge von Blutarmut, Skrofulose, Rhachitis, Nervenschwäche, Ernährungsstörungen u. dgl. mangelt vielen die Frische und Kraft des Körpers, wo- durch zugleich das geistige Leben ungünstig beeinflusst und öÖftere Schulversäumnis veranlasst wird. Mit Freuden war ee daher zu begrüssen, dass alljährlich eine Anzahl Kinder in die Ferienkolonien oder in die von verschiedenen Vereinen während der Sommerferien eingerichteten Milchkolonien aufgenommen wurden.

Dem körperlichen Gedeihen der Teilnehmer förderlich erwies sich auch die an den Tagen mit Nachmittagsunterricht in der Schule stattfindende Speisung mit einem warmen Mittagsbrote, die für diejenigen Kinder eingerichtet wurde, die wegen der grossen Eatferaung ihrer elterlichen Wohnung den weiten Schulweg über Mittag nicht gut zweimal zurücklegen können, aber auch solchen gewährt wurde, die zu Hause nichts ordentliches zu essen vorfänden eder für die Mittagsstunden auf die Strasse angewiesen wären. Die Teilnehmerzahl von 76 Kindern im Schuljahre 1893/94 stieg alljährlich und betrug im Schuljahre 1897/98 116, von denen 42 die Mahlzeit mit 10 Pfennigen bezahiten, die übrigen sie unentgeltlich erhielten. Die Beaufsichtigung der Kinder bei Tische und die Beschäftigung mit Spiel und Unterhaltung im Schul- bofe, ım Turnszale oder im Speiseximmer, je nach der Witterung, besorgten abwech- selnd anfangs je ein, seit Ostern 1895 je zwei und seit 1896 je drei Lehrer.

Im Januzr 1897 konnte auch mit der längst gewünschten Milchspende begonnen gewähltes 154 (?,, aller) Kinder im Speisezimmer je 1/, Liter warme Vollmilch. Kine Anzahl bezahlten die Fiasche ganı mit 7. em anderer guter Teil mit 5 Pieanigen, die meisten aber konnten unentgeltlich trinken, da eine Sammlung unter mildthätigen Armen- usd Kmderf-cunden zum Besten unserer schwachsinmeen Kinder im Herbste 1896 an Jahresbeiträgen oder einmaligen Gaben 1040 Mk. und im November 1897 1917 Mk. ergeben hatte.

Durch diesen earfreulichen Ertrag kounte im dem letztem Jahren zach dio Wohl- tast der seit Weihnachten 1892 von unserer Schule alljährlich stattíndendo eigene

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Christbescherung für diejenigen unserer armen Kinder, denon zu Hause kein Christ- baum leuchtet und die bei keiner öffentlichen Bescherung berücksichtigt wurden, mehr Kinder als bisher erwiesen werden. 1892 konnten 23 Kinder mit den notwendigsten warmen Kleidungsstüäcken zum Schutze gegen die Winterkälte und mit Schulsachen aller Art im Werte von 183 Mk., im Januar 1898 89 Kinder ausser vielen guten gebrauchten Kleidungsstücken neue Sachen im Betrage von 510 Mk. erhalten. Bei der schlichten, im letzten Jahre öffentlichen, im Schulsaale stattfindenden Feier erstrahlte der Christbaum, sangen die Kinder Weihnachtschoräle und -lieder und erzählten die Geschichte von der Geburt des Christkindee, hielt ein Lehrer eine entsprechende An- sprache an die Kinder und richtete der Leiter der Schule mahnende Worte an die Eltern.

Da es das angelegentlichste Streben der Schwachsinnigenschule ist, ihre Kinder erwerbsfäbig zu machen und zu brauchbaren Gliedern der menschlichen Gesellschaft heranzubilden, und der Handarbeitsunterricht sich als vorzüglich geeignet erwiesen hat, die Erwerbsfähigkeit im praktischen Leben schon während der Schulzeit anzubahnen, legt die Schule auf ihn besonderes Gewicht und erstreckt sie ihre Fürsorge auch über das schulpfiichtige Alter ihrer Schüler hinaus, indem sie ihre Konfirmanden in Stellungen zu bringen sucht, die ihren Körper- und Geisteskräften entsprechen und in denen sie von geeigneten Lehrmeistern mit Ruhe, Nachsicht und Geduld zur Erlernung eines Berufes angeleitet werden. Die Beteiligung der Schule an der Mitteldeutschen Hand- fertigkeitsausstellung, die vom 15. Juli bis 10. August 1897 bei Gelegenheit der Sächsisch - Thüringischen - Industrie- und Gewerbeausstellung in Leipzig stattfand, gab Gelegenheit, die Leistungen der Knaben in den verschiedenen Zweigen des Handfortig- keitsunterrichts von der untersten bis zur obersten Stufe und durch ihre planmässige Anordnung den methodischen Gang in seinem Betriebe zu zeigen und trug der Schule manche Anerkennung ein. Auch hatten Nachforschungen der Lehrer bei den Eltern und Lehrherren über die Erwerbsfähigkeit der seit Ostern 1892 entlassenen Kindern recht erfreuliche Resultate, so dass die Schule nach dieser Seite hin wohl zufrieden sein kann. Vier dieser früheren Schüler hatten schon in einem Handwerk ausgelerut und verdienten als Gehilfen ehrlich ihr Auskommen, weshalb drei der Meister auf ihr Nachsuchen die für die Ausbildung solcher Knaben in einem Handwerke vom Königl. sächsischen Ministerium des Innern ausgesetzte Prämie von 150 Mk. ausgezahlt er- hielten; die übrigen stehen noch in der l,ehre oder sind als Laufburschen, Markt- helfer, Fabrikarbeiter, Dienst- und Kindermädchen, Aufwärterinnen u. dgl. thätig. In den Frei- und Feierstunden erwerben sich mehrere der entlassenen Knaben durch Stuhlpflechten, das die Schule sie gelehrt hatte, einen hübschen Nebenverdienst, Gewiss würden noch mehr unserer Knaben dahin zu bringen sein, mit der Zeit in einem Handwerke ihr eigen Brot zu essen, wenn wir noch mehr Lehrherren fänden» die sich diesem Werke der christlichen Nächstenliebe unterziehen wollten. Unsere Bemühungen gehen daher dahin, eine Vereinigung opferbereiter Männer und Frauen, die mitten im praktischen Leben stehen und uns ratend und unterstützend an die Hand gehen können, zur Fürsorge für unsere entlassenen Zöglinge ins Werk zu setzen.

So schliesst sich dem Danke für die nimmer rastende Fürsorge und Opferwillig- keit der städtischen Behörden und der Freunde und Gönner unserer Schule der Wunsch

an, dies Vertrauen und die opferbereiten Herzen und Hände uns auch künftig zu er- halten, damit wir unser schwieriges Werk immer freudig und unbesorgt erfüllen können. Rud. Böttger.

Schweiz. (Konferenz). Am 29. und 80. Mai findet in Aarau die II. Schweizer. Konferenz für das Idiotenwesen statt! Auf der Tagesordnung derselben befinden sich u. a. folgende Vorträge: 1. „Gegenwärtiger Stand der Für- sorge für Schwachsinnige in der Schweiz. 2. Eidgen. Zählung der schwachsinnigen Kinder und deren Ergebnisse als Grundlage des Rettungswerkes für die unglückliche Jugend. 3. Zehnjährige Beobachtungen an schwachsinnigen Kindern mit spezieller Berücksichtigung der Ätiologie und Therapie des Schwachsinns und 4. Bisherige Erfahrungen betr. Organisation der Spezialklassen für schwachbegabte Schüler.“ Für den Nachmittag des 30. Mai ist ein Besuch der Anstalt auf Schloss Biberstein in Aussicht genommen. Vorherige Anmeldungen werden gewünscht und sind zu richten an Herrn Dr. med. Schenker in Aarau.

Litteratur.

Entwürfe für den Anschauungsanterricht im I. and II. Schuljahre von A. Grüllich, Geh. Schulrat. Meissen. H. W. Schlimpert. Preis 4,50 Mk.

Der als praktischer Schalmann und pädagogisch hervorragender Schriftsteller rühmlichst bekannte Verfasser hat in dem vorliegenden Buche über 80 Entwürfe für den Anschauungsunterricht im 1. und 2. Schuljahre der Volksschule zusammengestellt und dazu die Form der unterrichtlichen Darstellung gewählt, um zu zeigen, wie er sich die Unterredung mit den Kindern dieses Alters denkt. Ausgehend von dem Gedanken, dass der Anschauungsunterricht sich nicht an die Normalwörter, noch an die Märchen und Fabeln anschliessen dürfe, hat der Verfasser den gesamten Stoff auf die Jahreszeiten verteilt und in einer warmen, den Kindern verständlichen Sprache bearbeitet. Bezüglich der Behandlungsweise betont der Verfasser, da die zu be- sprechenden Gegenstände sehr oft weder in Wirklichkeit noch in Bild den Kindern in der Schule vor Augen geführt werden können, neben guten Abbildnngen, die unter- richtlichen Spaziergänge, die in rechter Weise durchgeführt, den Besprechungen in der Schule von grossem Nutzen sind. In enge Beziehung zu diesen aus der Praxis hervor- gegangenen Entwürfen stehen die bei Meinhold und Söhne in Dresden erschienenen „Bilder für den Anschauungsunterricht*. Der Verfasser hat sein Buch zunächst für Lehrer an Volksschulen geschrieben, es wird aber bei passender Auswahl und in Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse auch dem Lehrer geistig zurückgebliebener Kinder sehr gute Dienste leisten. Wir empfehlen das Buch angelegentlichst, P. M.

112

Anzeigen.

Verlagsbuchhandlung CARL MARHOLD in Halle a. S.

Psychiatrische Wochenschrift.

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen. Irrenärztliches Correspondenzblatt.

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes | herausgegeben von Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. 6. Anton, Prof. Dr. A. Guttstadt, Prof. Dr. E. Mendel,

In meinem Verlage erscheinen: | | | |

‚Uchtspringe (Altmark). Graz. Geh. Med.-Bath, Berlin. Berlin. ' , Redigiert von $ Oberarzt Dr. J. Bresler,

Freiburg (Schlesien). Jeden Sonnabend erscheint ein Heft. Preis für das Vierteljahr 4 Mark.

Die Irrenpflege. | |

Monatsblatt zur Hebung, Belehrung und Unterhaltung des Irrenpflegepersonals, mit besonderer Berücksichtigung der freien Behandlung, der kolonialen und familiären Krankenpflege. Unter ständiger Mithülfe erfahrener Irrenärzte und Anstaltsbeamten unter Mitredaktion von Dr. L. W. Weber- Uchtspringe herausgegeben von

Dr. Konrad Alt, Direktor und Chefarzt der Landes-Heil- und Pfiegsanstalt Uchtspringe (Altmark).

Preis für das Halbjahr 8 Mk. Probenummern gratis. Halle a. S. KARL MARHOLD.

I

Inhalt. Einiges über Schwachsinnige (A. Grohmann). Pastor H. M. Sengel- mann t. Kleine Wünsche an den Vorstand der IX. Konferenz. Über Dr. Guggenbühl. Mitteilungen: Alsterdorf, Berlin, Braunschweig, Cassel, Dalldorf, Leipzig, Schweiz. Litteratur: Entwürfe für den Anschauungsunterricht im I. und II. Schuljahre. Anzeigen.

eee

Fir die Schriftleitung verantwortlich: W. Schréter in Dresden. Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. Druck von Johannes Pässler in Dresden.

Nr. 6. . XV. (IX) Jahrg.

Zeitschrift

für die

Behandiung Schwachsimmger Und Enleptischer.

Organ der Konferenz ‘eng fir das ir das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

herausgegeben von

W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, Direktor der Erziehungsanstalt Spezialarzt fir geistig Zurtickgebliebene in für Nervenkrankheiten Dresden .N. in Stuttgart. Er I TS sn ZU EEE SB Ser ee er op RO SE I EE TIT TIE RSE NEE DIE ren Ed Erscheint jährlich in 12 Nummern von ' Zu beziehen durch alle Buchhandiungen mindestens einem Bogen. Anzeigen für | J e 1899 und Postämter, wie auch direkt von den die gespaltene Petitzeile 25 Pfg. Litte- uni . Herausgebern. Preis pro Jahr 6 Mark,

rarische Beilagen 6 Mark. | einzeine Nummer 50 Pfg.

Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber.

Ueber Dr. Guggenbühl und seine .„Kretinenheilanstalt« auf dem Abendberg.

Mitgeteilt von F. Kölle, Direktor der Schweiz. Anstalt für Epileptische. Zürich. (Schluss.)

Die wissenschaftliche Beleuchtung der Guggenbühlschen Wirksam- keit, welche nur zu einem Verdammungsurteil führen kann, gehört nicht vor das grosse Publikum, und wir übergehen dieselbe hier um so mehr, da Herr Dr. A. Vogt eine grössere Arbeit in der medizinischen Zeitschrift zu veröffentlichen gedenkt, welche diesen Gegenstand behandelt. Ebenso glauben wir die höchst unerbauliche Kritik der Guggenbühlschen Fiugschriften hier übergehen zu dürfen. Wir können es bei ihrer weiten Verbreitung jedem überlassen, sich eine Blumenlese der auffallendsten Unklarheiten, Widersprüche und faktischen Unwahrbeiten daraus selbst zusammenzustellen.

Wir erlauben uns hier eine Anzahl der amtlich konstatierten That- sachen, welche gegen die Anstalt des Dr. Guggenbühl vorliegen, zusammen- zustellen:

1. Dr. Guggenbühl begeht eine absichtliche, fortwährende Täu- schung gegen das In- und Ausland, wenn er seine Anstalt auf dem Abendberg eine ,Kretinen-Heilanstalt* nennt; denn in derselben wurden seit dem Jabre der Gründung grösstenteils Kinder aufgenommen, welche an anderen Krank- heitsprozessen litten und nur eine sehr geringe Zahl wirklicher Kretinen. Die Herren RR Schneider und Fetscherin sagen in einem Bericht an das Departement des Innern vom Jahr 1844, dass sie keinen einzigen wirklichen Kretinen in der Anstalt gesehen hätten. Ähnlich sprach sich Dr. Roth im Januar 1847 aus. Dr. von Gonten, Experte vom Jahr 1848, fand nur eine

114 sehr geringe Zahl wirklicher Kretinen. Dr. Lüthy, Experte vom Jahr 1849, konnte nur einen Dritteil Kretinen und zwei vollkommen gesunde Kinder”) konstatieren. Ebenso sprach sich Pfarrer Gerber in demselben Jahre aus. Der Experte vom Jahr 1850, Dr. Hermann, Sohn, teilte die 20 anwesenden Kinder in 4 kretinische, 10 skrophulöse und rhachitische, 3 an anderen Krank- heiten leidende und 3 vollkommen gesunde. Herr Landammann Hungerbühler fand ebenfalls nur 3 oder 4 wirkliche Kretinen. Dr. Stahl, der bayerische Experte, erklärte, „die weitaus grösste Zahl der dort befindlichen angeblichen Kretinen seien nur körperlich schwache und kranke Kinder“. Die Herren DDr. Vogt und Verdat fanden am 20. April dieses Jahres „ein buntes Gemisch ge- sunder und mannigfach kranker Kinder von denen höchstens ein Dritteil den eigentlichen Kretinen zugerechnet werden konnte. Vier derselben waren geistig und körperlich gesund und normal entwickelt“. In öffentlichen Blättern und in seinen Schriften wagt es Dr. Guggenbühl von 300 Kretinen zu sprechen, welche bis zum Jahr 1850 in seiner Anstalt behandelt worden seien. Die amt- lichen Berichte weisen aber nach, dass, selbst wenn die Anstalt fortwährend angefüllt gewesen wäre und die nämlichen Kinder nicht mehrere Jahre auf dem Abendberg verblieben wären, dennoch bis zum Jahr 1851 nur 151 Kinder in der Anstalt Aufnahme finden konnten. Wie viele unter diesen wirklich „Kre- tine waren, das möge sich jeder nach den obigen Angaben selbst beantworten.

2. Sämtliche Ärzte und Experten sprechen sich dahin aus, dass ein solches Zusammenleben eigentlicher Kretinen mit bloss skrophulösen und gesunden Kindern höchst nachteilig und verwerflich sei. „Es ist ein Frevel, den Gesunden vom Besuche der Landesschulen abzuhalten; die Geistes- kranken, welche ebenfalls in der Anstalt Aufnahme finden, werden besser in Irrenhäusern untergebracht.“

3. Es ist tbatsächlich anerkannt, dass bis auf diese Stunde noch kein einziger beglaubigter Fall von Kretinismus besteht, der auf dem Abendberg geheilt worden wäre. Es ist eine gewissenlose Unwahrheit, wenn Dr. Guggenbühl in seinem „Sendschreiben an Lord Ashley“ sagt: „Beispiele vollkommener Heilung kretinöser Kinder hat die hiesige Anstalt immer aufzuweisen“.

Eine noch grössere Frechheit ist es, wenn er in seinem „Briefe über den Abendberg“ dem Publikum das Märchen aufbindet: „Mehrere Kretinen seien in ihre Heimat zurückgekehrt, ohne Rückfälle zu erleiden, und ihre Seelenkräfte seien so weit entwickelt, dass sie mit Erfolg die öffentlichen Schulen besuchen.“

4. Obschon Dr. Guggenbühl in seinen ersten Schriften der Welt proklamierte, dass nur die Kinder des zartesten Alters und namentlich die Neu- geborenen und Säuglinge Hoffnung auf Verbesserung des kretinösen Zustandes böten, nahm er dennoch mit dem Versprechen der Heilung gegen grosse Geld- summen fortwährend Individuums auf, welche nach seiner eigenen Überzeugung

*) Bekanntlich werden seit Jahren immer auch einige völlig gesunde Kinder in die Anstalt eingeschmuggelt, welche dem erstaunten Publikum als „geheilte Kretinen‘ während der Saison chemisch-physikalische Vorstellungen u. s. w. geben müssen.

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keine Hoffnung einer Heilung mehr bieten konnten. Nach den Berichten der Experten schwankte das Alter der grossen Mehrzahl der Kinder zwischen dem ð und 19. Jahr und es wurden häufig Individuums von 20—23 Jahren in der Anstalt angetroffen. Zur Rechtfertigung dieses auffallenden Umstandes erfand Dr. Guggenbühl später das Gesetz, „dass sich der Kretinismus noch bis zur Pubertät fortentwickeln könne“.

5. Über die ärztliche Behandlung des Kretinismus auf dem Abendberg herrscht unter den sämtlichen Experten, welche die Anstalt unter- sucht haben, nur eine Stimme des grössten Unwillens. Nicht nur haben sich alle von der krassen Unwissenheit des Dr. Guggenbühl zu überzeugen Gelegen- heit gehabt, sie weisen auch faktisch nach, dass während eines grossen Teils des Jahres wenn Dr. Guggenbühl seine 4—6 monatliche Geschäftsreise macht die Anstalt jeder ärztlichen Aufsicht entbehre. Trotz der gegenteiligen Behauptung von seiner Seite ist es dennoch konstatiert, dass Dr. Guggenbühl während seiner Abwesenheit noch nie einen stellvertretenden Arzt erwählt hat. Die Herren DDr. Vogt und Verdat fanden auch diesmal die Anstalt von jeder ärztlichen Hilfe ver- lassen. „Selbst bei Krankheiten der Zöglinge scheint keine ärztliche Hilfe in Anspruch genommen zu werden“, lautet es in ihrem Berichte, „wenigstens fanden wir einen der Zöglinge im Bette liegend, mit einem bedeutenden Halsdrüsen- abscess, der schon fluktuiert, tief gerötet und schmerzhaft war, ohne dass man ausser dem Anlegen eines Halstuches irgend ein ärztliches Verfahren eingeleitet hätte“ Ähnliche Thatsachen werden von andern Augenzeugen noch in Menge erzählt. Wir heben aus dem Berichte der Herren DDr. Vogt und Verdat nur den Schluss hervor: „Die Anstalt entbehrt wenigstens in ihrem gegenwärtigen Zustand aller Attribute, welche sie als eine Heil- anstalt für Kretine besitzen müsste.“

6. Während die Anstalt im Anfang ihres Bestehens durch treffliche Lehrer wenigstens in psychiatrischer und pädagogischer Beziehung das zu halten an- strebte, was sie den unglücklichen Eltern der Kinder gelobte, hat Dr. Guggen- bübl seit einer Reihe von Jahren keinen Lehrer mehr angestellt. Der Grund davon wird nach dem Vorhergehenden jedem einleuchtend sein. Um dies zu rechtfertigen, schreibt Dr. Guggenbühl an Lord Ashley (S. 13 a. a. O): „Vergleichende Versuche haben erwiesen, dass tüchtige Frauen dem männlichen Personal weit vorzuziehen sind, sowohl zu gewissenhafter Erfüllung der ärzt- lichen Vorschriften und der Pflege, als auch um in den tiefen, dunklen Seelenschacht hinabzusteigen, wozu ein gewisser Takt, Geduld und Ausdauer so wesentliche Bedingungen sind. Die mütterliche Sorgfalt thut mehr als gekünstelte Pädagogik, und die Tugend des weiblichen Herzens weiss auch die grössten Hindernisse zu überwinden.“

Derselbe Mensch, welcher diese Worte öffentlich verkündet, überlässt 18 Kinder zweien Mägden von ganz gewöhnlichem Schlag. (Während des Winters soll sogar nur eine einzige Magd zugegen gewesen sein.) Diese 2 Mägde mussten alle Hausgeschäfte besorgen! Wieviel Zeit ihnen

116 dabei übrig bleiben konnte, um in den tiefen, dunklen Seelenschacht von 18 Kindern hinabzusteigen, mag sich jeder selbst beantworten. Erst als der Beginn der Saison anrückte und der Besuch des Herrn Gordon bedenkliche Zeiten zu prophezeien schien, wurde in grösster Eile eine Verwandte des Dr. Guggenbühl aus Zürich verschrieben, um auch in diesem Jahr als „Lehrerin“ zu debutieren. Vierzehn Tage vor dem Besuch der Herren DDr. Vogt und Verdat war dieselbe glücklich eingtroffen.

7. Die hygienischen Verhältnisse der Anstalt haben längst grosse Missbilligung gefunden. Bereits die frühern Experten (wir erinnern namentlich an Herrn Dr. Hermann und an Herrn Hungerbühler) hatten der Anstalt folgende Vorwürfe gemacht:

a) Es fehle derselben, namentlich während des Winters, an genügenden Heizungsvorrichtungen.

b) Die Kinder seien mangelhaft genährt und namentlich die Milchnahrung in ungenügender Menge vorhanden.

c) In Bezug auf Reinlichkeit bleibe vieles zu wünschen übrig.

d) Die Anstalt entbehre trotz der gegenteiligen Beteuerangen des Herm Dr. Guggenbühl des Wassers und sei genötigt, während des Winters Schnee zu ihrem Bedarf zu schmelzen.

e) Es sei, wenigstens im Winter, nicht genügend für Bekleidung gesorgt*).

Alle diese Übelstände dauern mehr oder weniger auch noch gegenwärtig fort. Die Herren DDr. Vogt und Verdat machen in ihrem Berichte vorzüglich auf die Mängel der Wohnungen aufmerksam: „Alle Zimmer, welche von den Zöglingen bewohnt werden, zumal die beiden unter dem Dache gelegenen niedern Schlafsäle, deren jeder 7 Kinderbetten und ein Bett für die Ab- wartung enthält, sind höchst mangelhaft oder gar nicht ventiliert und die Betten aus Mangel an Raum zu sehr zusammengedrängt. Die letztern liessen, was Reinlichkeit anbelangt, Manches zu wünschen übrig.“ Das Badelokal, das bloss sympolisch angebracht scheint, besitzt, wie wir dies aus eigener Anschauung wissen, „gar nicht den erforderlichen Raum noch die notwendige Einrichtung, um den Zwecken der Anstalt auch nur einigermassen zu genügen“. „Der Turnsaal, welcher während des Winters (wegen Mangels an Heizuug) nicht benutzt werden kann, enthält nur einige und zwar sehr mangelhafte, beschädigte Turngeräte. Ebenso sind die Turngeräte im Freien grösstenteils unbrauchbar.“

8. Dr. Guggenbühl hat bis auf diese Stunde noch nie weder dem In- noch dem Ausland Rechnung über die Verwendung der ungeheuern Geldopfer und Liebesgaben abgelegt, welche er jährlich „für seine Anstalt“ in Empfang nimmt. Es wäre kaum einer andern Anstalt, welche sich von fremden Geldunterstützungen erhält, möglich gewesen, so lange unangefochten zu existieren. Wie offen liegen die finanziellen und ökonomischen Verhältnisse anderer ähnlicher Anstalten vor den Augen des Publikums da! Wir erinnern an die Kretinen- heilanstalt in Marienberg,**) an die Heil- und Pflegeanstalt schwachsinniger

*) Mehr als ein Augenzeuge sah die Kinder während des Winters mit Frostbeulen bedeckt. **) Württemberg.

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Kinder in Winterbach,*) welche mit inniger Danksagung der Öffentlichkeit alljährlich ihre genauen Rechnungen vorlegen. Die Wohlthäter des Abendberges hatten das Recht, das Gleiche auch von Dr. Guggenbühl zu verlangen, selbst wenn derselbe durch Integrität und unbedingte Uneigennützigkeit eine hinreichende Garantie dargeboten hätte. Es musste ihm, wenn er sich der Reinheit seiner Thätigkeit bewusst war, selbst viel daran gelegen sein, jedem in den Betrieb dieser Verhältnisse die klarste Einsicht zu gestatten. Die Scheu, mit der Dr. Guggenbühl einer derartigen Kontrolle bisher auswich, scheint leider gewissen Gerüchten eine hohe Wahrscheinlichkeit zu verleihen. Auch haben viele der öffentlichen Berichterstatter auf den bedeutenden Kontrast bereits aufmerksam gemacht, in welchem die zum Teil ärmlichen und sehr primitiven Verhältnisse der Anstalt zu den grossartigen Liebesspenden und Vergabungen stehen, welche Dr. Guggenbühl fortwährend für dieselbe in Empfang nimmt.

9. Dass bisher eben so wenig von einem gewissenhaften Kranken- Journal in der Anstalt auf dem Abendberg die Rede war, geht aus sämtlichen amtlichen Berichten hervor. Wie es mit Dr. Guggenbühls Beteuerung steht, „er mache am Ende jeder Woche seine pathologischen Aufzeichnungen über den Zustand jedes Kindes“, das mag sich jeder mit dem Faktum einer vier- bis sechsmonatlichen Abwesenheit selbst in Einklang zu bringen suchen. Von Interesse ist es aber, dass Dr. Guggenbühls Faktotum, Stiefvater und Ökonom der Anstalt, den Herren DDr. Vogt und Verdat nicht einmal die Zahl der Kinder, noch viel weniger die Zeit ihres Aufenthaltes u. s. w. anzugeben vermochte.

Für diesmal brechen wir hier ab. Alle diejenigen, welche in das Getriebe der Guggenbühlschen Anstalt näher eingeweiht sind, werden uns das Zeugnis geben, dass wir mit unsrer Schilderung noch weit hinter der vollen Wahr- heit zurückgeblieben sind. Dennoch genügen diese wenigen Thatsachen, um einen Blick in das falsche Spiel des Dr. Guggenbühl zu gestatten und zu beweisen, in welchem schneidenden Kontrast sich dasselbe zu dem Rufe und der Stellung befindet, welche Dr. Guggenbühl auch gegenwärtig noch im Auslande einnimmt. Ob wir mit den weiteren Dokumenten, die wir gegen die Kretinenanstalt auf dem Abendberg in Händen haben, in die Öffentlichkeit treten, das wird von der Art und Weise abhängen, mit welcher unsere Sanitätsbehörden die Guggen- bühlsche Angelegenheit zur Erledigung bringen. Mögen sich dieselben an die Pflicht erinnern, welche ihnen gegenüber dem mildthätigen Publikum von ganz Europa, der öffentlichen Meinung unserer Bevölkerung und gegenüber ihrem eigenen Rute in diesem Augenblicke auferlegt ist. Wir hoffen im Interesse der Sache, dass sich die Gerüchte von halben Vorschlägen und Massregeln, welche die Sanitätskommission beabsichtige, als gänzlich unbegründet erweisen werden. Es würde wie ein Hohn gegenüber der öffentlichen Meinung und dem hohen Ernste der Angelegenheit erscheinen, wenn man sich damit abfinden wollte, „den Herrn Dr. Guggenbühl zu zwingen, seine Anstalt im Winter in das Thal zu verlegen“.

*) Heute Stetten, Württemberg.

118 Mitteilungen,

Gera. (Die Hilfsschule in Gera-Reuss). Gera ist eine der ersten Städte mit in Deutschland, welche besondere Klassen für geistig zurückgebliebene Kinder ins Leben riefen. Am 8. April 1874 beschloss der Schulvorstand bei Beratung über die Aufnahme der angemeldeten Kinder in die III. Bürgerschule auf des Direktors Dr- Bartels Antrag „den taubstummen, blödsinnigen und blinden Kindern, etwa sechs bis sieben, noch besonderen Unterricht in wöchentlich fünf Stunden erteilen zu lassen“, folgendes: „Den städtischen Behörden ist die vorgeschlagene Einrichtung zur Ge- nehmigung zu empfehlen und Bewilligung des erforderlichen Aufwandes zu beantragen.“ Der Stadtrat fasste darauf in seiner Sitzung vom 11. Mai genannten Jahres folgenden Beschluss: „Man ist der Ausicht, dass vollständig taubstumme und blinde Kinder besser in Anstalten, welche speziell für solche Kinder bestehen, untergebracht werden und sind in dieser Beziehung weitere Erörterungen und event. Anträge vorbehalten. Im übrigen hat man zwar darüber, ob und inwieweit der beabsichtigte Aushilfsunter- richt für schwachsinnige und geistig beschränkte Kinder verschiedenen Alters und ver- schiedener Begabung pädagogisch zweckmässig erscheint, ein Urteil nicht, hält aber den betreffenden Vorschlag, nach welchem solchen Kindern wöchentlich fünf Stunden Nachhilfeunterricht durch einen geeigneten Lehrer erteilt werden soll, eines Versuches wert und empfiehlt mit Majorität dem Gemeinderat die Bewilligung der zur Aus- führung erforderlichen Mittel, die sich nach dem Voranschlage auf ungefähr 225 Mk. jährlich berechnen würden.“ Der Gemeinderat erklärte sich in seiner Sitzung vom 5. Juni 1874 mit dem stadträtlichen Beschlusse und Antrage vom 11. Mai desselben Jahres durchgängig einverstanden und bewilligte die oben angegebene Summe. Am 9. Juni 1874 wurde die „Abteilung für schwachsinnige Kinder“ eröffnet. Sieben Kinder, die zwar nicht Idioten waren, aber doch hinter den normalen Kindern be- deutend zurückstanden, vier taube und ein blindes, warteten auf Hilfe, die ihnen durch den Lehrer K. Duderstädt zu teil wurde. Dieser Lehrer, welcher an der II. Bürgerschule angestellt war. unterrichtete nach seiner Schulzeit die 12 Kinder wöchentlich anfangs in fünf, später in sechs „Nachhilfestunden“. Über die Thätig- keit Duderstadts und zugleich über die getroffene Einrichtung liegt folgender Bericht vom 8. Mai 1875 des damaligen Geistlichen im Schulvorstande, Kirchenrat v. Criegern vor: „Ich habe bei wiederholtem Besuche des von Herrn Duderstädt erteilten Nachhilfeunterrichts für schwachsinnige Kinder mich davon überzeugt, dass der genannte Lehrer zur Erteilung dieses Unterrichts sehr befähigt, mit diesem Unter- richte aber, besonders wenn er nur auf fünf Stunden die Woche beschränkt ist, über- haupt sehr wenig und namentlich für ein taubstummes Kind, wie der Kurtzesche Knabe, gar nichts zu erreichen ist. Ich würde mich für Vermehrung des bezeichneten Unterrichts und in Bezug auf den pp. Kurtze für Überweisung in das Taubstummen- Institut zu Schleiz aussprechen.“ Die Folge davon war, dass die taubstummen Kinder und auch das blinde besonderen Anstalten überwiesen und die Unterrichtsstunden um elf vermehrt wurden. Nach Ostern 1881 erhielt der Lehrer Duderstädt zwei Helfer, den Lehrer Weiser und den Vikar Kröhl; der erstere erteilte nun acht und die beiden letzteren je vier Stunden Unterricht in der Abteilung. Der Unterricht erstreckte sich den Verhältnissen entsprechend auf die notwendigsten Gegenstände, nämlich

119 auf zwei Stunden Religion, vier Stunden Anschauungsunterricht, sechs Stunden Deutsch und vier Stunden Rechnen. Dem Schreiben und Singen waren keine besonderen Stunden zugeteilt; ersteres bildete einen Teil des Sprechunterrichts, letzteres 'trat da ein, wo es zur Belebung und Aufmunterung der Kinder notwendig erschien; turnerische

"Übungen aber wurden im Klassenzimmer, sobald sich eine Ermüdung der Kinder geltend

machte, oder in den Pausen auf dem Spielplatze in angemessener Weise als Spiele u.s. w. ausgeführt. Die städtischen Behörden erhöhten in ihren Sitzungen vom 4. bezw. 22. Juli 1881 den Zuschuss für die Abteilung auf 600 Mk. und bewilligten 50 Mk. als einmalige Ausgabe für Anschaffung von Lehrmitteln. Die „Nachbilfestunden‘ wurden mit 1 Mk. bezw. 1,25 Mk. bezahlt. Am 1. Oktober desselben Jahres schied Herr Duder- stadt, da er sich nicht entschliessen konnte, den gesamten Unterricht in der „Ab- teilung für schwachsinnige Kinder“ fir immer zu übernehmen, aus und an seine Stelle trat der Lehrer Weiser, welcher früher in der Taubstummen- und Blödsinnigen- Anstalt zu Schleiz thätig gewesen war.

Mit der Einweihung der Lutherschule im Jahre 1883 trat auch für die Abteilung ein Schritt zur Weiterentwickelung ein. Das Unterrichtslokal wurde in diese Schule verlegt. Dort wurde ihr ein helles, geräumiges Lehrzimmer zur Verfügung gestellt, dort fand sie auch ein gut ausgestattetes Lehrmittelzimmer, eine Turnhalle, einen grossen Spielplatz, welcher dem Kollegen Th. Kalb, der unterdessen Weisers Nach- folger geworden war, hinreichend Gelegenheit gab, dem Turnen und den Jugendspielen eine besondere Aufmerksamkeit widmen zu können. Die Zahl der Unterrichtsstunden wurde von sechzehn auf dreiundzwanzig erhöht. Nachdem der Direktor Dr. Bartels 1885 die Hilfsschule in Braunschweig, die Idiotenanstalt in Dalldorf, die Privatanstalt Schröters und die „Nachhilfeschule“ für geistig Zurückgebliebene in Dresden besucht hatte, war man zu der Überzeugung gekommen, dass bei uns noch manches in der Ausgestaltung der Abteilung fehlte. So wurden z. B. noch vier Stunden für Hand- arbeit in den Unterrichtsplan aufgenommen. Ostern 1886 trat, da die Gesamtzahl der Kinder auf 35 gestiegen und die Höchstzahl einer Klasse von vornherein auf höchstens -20 angenommen worden war, eine Erweiterung der Abteilung ein, indem eine zweite Klasse eingerichtet wurde. Die erste Klasse wurde dem Lehrer Heilmann, welcher vorher einige Jahre im Taubstummenfache gearbeitet hatte, und die zweite Klasse dem Lehrer Th. Kalb, welcher ausserdem noch eine Anzahl Stunden in der II. Bürger- schule zu erteilen hatte, überwiesen. Die Abteilung erhielt von jetzt ab im städtischen Haushaltplane ihren eigenen Etat, welcher im Jahre 1887: 2207 Mk. betrug.

Ostern 1889 trat ein Wechsel im Lehrerpersonal der Abteilung ein; Kollege Kalb schied aus und an seine Stelle trat der Lehrer Weniger von der Schröterschen Erziehungsanstalt für geistig Zurückgebliebene in Dresden. Bei der Revision der hiesigen Bürgerschulen durch die Herren Geh. Rat Kockel und Schulrat Grällich aus Dresden im September 1893 wurde auch die Abteilung einer kurzen Prüfung durch die beiden Revisoren unterzogen. Mit Beginn des Winterhalbjahres 1894/95 siedelte die Abteilung aus der Lutherschule in das ehem Schreibersche Haus über, wo ihr im ersten Stock zwei nebeneinanderliegende, geeignete Räume zugeteilt wurden. Dieses Haus steht für unsere Kinder, welche aus sämtlichen Teilen der Stadt kommen, insofern günstig, als es eine zentrale Lage hat. Das Schulgeld der Kinder wurde

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anfangs nach der Schule bemessen, die sie vorher besuchten, genossen sie früher wegen Armut der Eltern unentgeltlichen Unterricht, so verblieb es dabei auch in der Ab- teilung. Als die Abteilung jedoch im Jahre 1887 einen eigenen Etat erhielt, wurde ein bestimmter Schulgeldsatz für diese Kinder festgesetzt, derselbe betrug für jedes Kind jährlich 9 Mk. Nachdem aber der Gemeinderat in seiner Sitzung vom 8. Dezember 1896 beschlussen hatte, dass vom 1. Januar 1897 ab für Kinder der zweiten Bürgerschule Schulgeld nicht mehr zu erheben sei, trat auch für unsere Kinder, welche aus dieser Schule waren, Schulgeldfreiheit ein; nur die Kinder, welche vorher die erste Bürgerschule besucht haben, zahlen den oben angegebenen Schulgeldsatz weiter. Ebenso partizipieren unsere Kinder an der Milchspende, Ferienkolonie, Blumen- pflege, Weihnachtsbescherung und Konfirmandenbekleidung. Dass unsere Hilfsschule auch auswärts eines gewissen Ansehens sich erfreute, davon zeugen die ausführlichen Berichte, welche die städtischen Schulbehörden in Bremen, Lübeck, Stettin, Gotha, Erfurt, Weimar, Altenburg, Nürnberg, Würzburg, München, Zürich u. a. von hier ver- langten, und die verschiedenen Hospitanten, welche zu ihrer Informierung auf kürzere oder längere Zeit bei uns weilten. Ostern 1898 war die Aufnahme geistig zurück- gebliebener Kinder eine so grosse, dass den zwei bestehenden Klassen noch eine dritte zugefügt werden musste. Die städtischen Behörden genehmigten den von den beiden Lehrern Heilmann und Weniger ausgearbeiteten Organisations- und Lehr- plan und die vorgeschlagene Bezeichnung: Hilfsschule. Die Hilfsschule gliedert sich in drei Stufen: in eine Ober-, Mittel- und Unterstufe. Die Unterstufe erhielt wöchentlich 16 Unterrichtsstunden: 2 Stunden religiöse Unterweisung, 3 Stunden Rechnen, 9 Stunden Anschauung, Lesen, Schreiben und Sprechübungen, 2 Stunden Handarbeit für Knaben und Mädchen.

Der Mittelstufe wurden 20 Stunden zugeteilt: 3 Std. Religion, 4 Std. Rechnen, 5 Std. Lesen und Schreiben, 4 Std. Anschauung, Sprechübung, Singen, 2 Std. Schön- schreiben, 2 Std. Handarbeit für Knaben und Mädchen.

Auf die Oberstufe entfielen 24 Stunden: 3 Std. Religion, 4 Std. Rechnen, 3 Std. "Anschauung und Heimatkunde, 4 Std. Lesen, 2 Std. Rechtschreibung, 1 Std, Schönschreiben, 1 Std, Singen, 1 Std. Zeichnen, 2 Std. Turnen und 4 Std. Hand- arbeitsunterricht.

Die Gesamtzahl der Kinder betrug 51, 27 Knaben und 24 Mädchen, Unter- stufe 15 Kinder, 7 Knaben und 8 Mädchen, Mittelstufe 15 Kinder, 10 Knaben und 5b Mädchen, Oberstufe 21 Kinder, 10 Knaben und 11 Mädchen.

Sämtliche Kinder wurden kurz nach Ostern vorigen Jahres von dem Schularzte Dr. Ahlers genau untersucht und die Ergebnisse in das Hauptbuch eingetragen. Das Hauptbuch der Hilfsschule enthält folgende Rubriken: 1. Name des Kindes. 2. Tag, Jahr, Ort der Geburt. 3. Name und Stand der Eltern. 4. Wann und in welche Stufe aufgenommen? 5. Welche Schule besuchte das Kind vorher? Wie lange? In welcher Klasse sitzen geblieben? Warum? 6. Urteil des bisherigen Lehrers. 7. Ursache des Zurückgebliebenseins nach Mitteilung der Eltern. 8. Gegenwärtiger körperlicher Zustand des Kindes. 9. Gegenwärtiger geistiger Zustand. 10. Ärztliches Gutachten. 11. Wurde das Kind konfirmiert? 12. Wann wurde das Kind entlassen? 13. War das Kind erwerbsfähig? Beruf? 14. Bemerkungen.

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Der Lehrplan der Hilfsschule hat sich in betreff der einzelnen Fächer und auf den drei Stufen a, b und c folgendermassen gestaltet:

1. Religion. a) Einfache Gebete. Der Unterricht selbst geht von der Be- sprechung und Betrachtung der biblischen Bilder von Wangemann aus; daran schliesst sich die ergänzende Erzählung. b) Gebete, leichte Sprüche und Liedstrophen im Anschluss an die behandelten Erzählungen aus dem alten und neuen Testamente, 3., 4. und 7. Gebot. c) Die zehn Gebote, das Glaubensbekenntnis und das Vater- unser ohne Luthers Erklärung, die Einsetzungsworte von der Taufe und dem heiligen Abendmahl. Ausserdem die einfachsten, bibl. Geschichten mit den dazu gehörenden Sprüchen, Liedstrophen und Katechismusstücken.

2, Anschauungsunterricht, a) Pflege des Formen- und Farbensinnes. Thätigkeitsüäbungen durch Vornahme Fröbelscher Beschäftigungen. Einfache Be- sprechungen der Bilder von Fisler, Kehr-Pfeiffer und Hölzl. Daran werden Artikulations- und Singübungen geschlossen. b) Besprechung dər genannten Bilder in eingehender Weise. Angeschlossen werden wieder Sprechübungen, kleine Gedichte memoriert und passende Lieder gesungen. c) Das Leben und Weben in der Natur im Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Der Anschauungsunterricht erweitert sich auf dieser Stufe zur Heimatkunde, welche die Kinder mit der Stadt Gera und ihrer Umgebung, sowie mit dem engeren und weiteren Vaterlande, unserem Fürsten- und Kaiserhause bekannt macht. Auch wird auf die Erwerbung der notwendigsten gemeinnützigen Kenntnisse Wert gelegt.

8. Lesen. a) Vorübungen zum Lesen; kleine und grosse Schreib- und Druck- schrift in Wörtern. Fibel von Osner. b) Lesen von Sätzen und kleinen Lesestücken in deutscher Druckschrift. Lesebuch von Dr. Bartels. I. Teil. c) Grössere Lese- stücke in deutscher und lateinischer Druckschrift. Lesebuch von E. Walther. Mit den Leseübungen gehen beständig Übungen im Lautieren und Schreiben des Gelesenen Hand in Hand.

4. Rechtschreibung. Die Rechtschreibung wird bereits auf der Unterstufe durch fleissiges Lautieren und Niederschreiben der lautierten Wörter und Sätzchen auf die Tafel angebahnt. In ähnlicher Weise werden die Übungen auf der Mittel- und Oberstufe fortgesetzt und erweitert. Auf der Oberstufe schreiben die Kinder Diktate und kleine Niederschriften in ein besonderes Heft. Hier werden auch kleine Aufsätze gefertigt.

5. Schönschreiben. Das Schreiben in das Heft beginnt auf der Mittelstufe; es erfolgt in genetischer Reihenfolge der Buchstaben und erstreckt sich in der Haupt- sache nur auf die deutsche Schrift nach Massgabe der „Geraer Schulschrift“. Auf der Oberstufe wird das bisher erreichte in Wörtern, Sätzen und Sprichwörtern ange- wandt und geübt.

6. Rechnen. a) Zahlenraum L—10; b) Zahlenraum 1—20; c) Zahlenraum 1— 100 bezw. bis 1000. Kenntnis der gebräuchlichsten Münzen, Masse und Gewichte durch allerlei angewandte Aufgaben werden die Kinder beständig in den alltäglichen Verkehr eingeführt und für denselben vorgebildet.

7. Singen. In der Unter- und Mittelstufe wird gelegentlich gesungen, während für die Oberstufe ausserdem noch eine besondere Stunde im Singen angesetzt worden

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ist. In derselben kommen neben besonderen Stimmbildungsübungen hauptsächlich ein- stimmige Chorale und Volkslieder zur Eindbung. Die Lieder sind den Jahres- und 'Festzeiten angepasst. „Geraer Schulliederbuch“, 2. Heft.

8. Turnen. Es werden nur Ordnungs- und Freiübungen der einfachsten Art und leichtere Geräteübungen vorgenommen, besonders werden Turnspiele gepflegt, weil sie die Kinder heiter stimmen und dadurch reger und frischer machen. Knaben und Mädchen der Oberstufe turnen getrennt je 1 Stunde. `

9. Handarbeitsunterricht, Die Handfertigkeitsübungen beginnen mit ein- fachen Beschäftigungen. Als Vorübungen dienen in der Unterstufe die Fröbelschen Arbeiten; ausser der Hand werden auch die Sinne geübt durch das Anschauen von Farben, Formen und Zahlen. Die Übungen der Unter- und Mittelstufe bestehen im Bauen, Stäbchen- und Täfelchenlegen, Papierflechten, -falten und -schneiden. Die Oberstufe fertigt leichte Holzarbeiten aus Natur-, Spalt- und Laubsägeholz, sowie die leichteren Karton- und Papparbeiten. Die Mädchen werden in weiblichen Hand- arbeiten und zwar mit Nähen, Flicken, Stricken und Stopfen beschäftigt.

In den zurückgelegten 25 Jahren haben 194 Kinder, 86 Knaben und 108 Mädchen, die Hilfsschule besucht. Von den Kindern wurden seit Ostern 1886 bis jetzt mit Konfirmation entlassen 36, 8 ohne dieselbe, zurtickversetzt in eine hiesige Bürgerschule 34, entlassen in die Taubstummenanstalt zu Schleiz 2, in das Rettungs- haus zu Hohenleuben 1, in das Bezirkshaus zu Tinz 3, in die Anstalt „Bethesda“ zu Niederlössnitz ?. S. 1, mit den Eltern verzogen 12, gestorben 5 (an Epilepsie mit Lungenentzündung, au Diphtherie, Herzschwäche). Von den 36 konfirmierten Kindern waren erwerbsfähig 27, von denen 15 in hiesige Fabriken, 5 in ländlichen Dienst gingen, 3 lernten das Schneidern, 4 übernahmen Aufwartungen, 6 wurden im Eltern- hause beschäftigt, 3 waren wegen zu grosser körperlicher und geistiger Gebrechen erwerbsunfähig. Der Aufwand, den die Stadt für Jie Hilfsschule bestreitet, war anfangs so gut wie gar nicht in Ansatz zu bringen; er betrug, wie schon erwähnt, 225 Mk.; 1881 wurde derselbe auf 600 Mk. erhöht. Als die Hilfsschule im städtischen Haushaltplane ihren eigenen Etat erhielt, betrug derselbe 1887: 2207 Mk, 1888: 2660 Mk, 1889: 2797 Mk. 1890: 8215 Mk, 1894: 4422 Mk., 1899: 6659 Mk. n—“.

Gera (Reuss j. L.). (Fünfter städtischer Heilkursus für sprachleidendo Kinder). Laut Beschluss des Schulvorstandes soll aller 2 Jahre ein Heilkursus für die in den städtischen Bürgerschulen befindlichen stotternden und stammelnden Kinder abgehalten werden. An die in den Winterhalbjahren 1890/91, 92/93, 94/95 und 96/97 stattgehabten Kurse reihte sich im vergangenen Wintersemester der 5. Heil- kursus an. Derselbe wurde am 25. Oktober 1898 im Beisein des Schularztes Herrn Dr. Ahlers, des Herrn Rektor Schrader, einiger Lehrer und Eltern durch eine An- sprache des Herrn Direktor Dr. Bartels eröffnet. Aus den Bürgerschulen waren im ganzen 25 Kinder, nämlich 19 Knaben und 8 Mädchen vereinigt; 4 Kinder waren aus der I. Bürgerschule, 8 aus der Enzian-, 8 aus der Luther-, 10 aus der Berg- schule. Später trat noch ein Schüler des Realgymnasiums als Kursist ein. Der Kursus wurde in zwei Abteilungen unter Leitung der Hilfsschullehrer Heilmann nnd Weniger durchgeführt und am 16. März 1899 beendigt. Leider traten während

123 des Kursus 4 Mädchen aus, 2 Mädchen wurden durch ihre Eltern vom Besuche zurückgehalten, 2 andere wollten sich ihren Verdienst, den ihnen eine Aufwartung einbrachte, nicht entgehen lassen. In diesem fünften Heilkursus wurden die Kinder zum ersten Male von unserem Schularzte Herrn Dr. Ahlers eingehend untersucht. Die Mehrzahl der Kursisten zeigte Rhachitis und Scrophulose, nur die wenigsten waren kräftig gebaut; weiterhin fanden sich Blutarmut und adenoide Wucherungen in der Nasenhöhle. Als Ursachen der Sprechübel wurden seitens der Eltern und der Schüler selbst angegeben: Masern, Scharlach, Diphtheritis, Erblichkeit. Das Stottern zeigte sich als Vokal- und Konsonantenstottern. Besonders stark waren bei einigen Kindern die Mitbewegungen beim Sprechen als: Stampfen mit dem Fusse, Schlagen der Hand gegen den Oberschenkel, Herausstrecken der Zunge, Hin- und Herwiegen des Ober- körpers u. s.w. Die Erfolge des Unterrichts sind zufriedenstellend.. Mit Ausnahme von zwei Kindern, welche wesentlich gebessert wurden die Ursache ihres Übels war behinderte Nasenatmung sind sämtliche Kinder als geheilt anzusehen. Aller- dings müssen diese stets der Regeln, welche ihnen im Jaufe des Kursus eingeprigt wurden, eingedenk sein. Um den Kindern für später eine Anleitung zu geben, wie sie sich bei etwaigen Rückfällen zu verhalten haben, wurde ihnen ein vom Lehrer Weniger herausgegebener Heilplan in die Hand gegeben... Dieser Heilplan und die Sprachregeln sind auf eine Doppelpostkarte*) gedruckt und haben folgenden Wortlaut: Sprech-Regein und Heilplan fiir Stotterer nach Wenigers Vokal-Tafel.

1. Uberlege, was Du sprechen willst. ,,Erst besinnen, dann beginnen.“

2. Hole vor Beginn des Redens tief Atem.

3. Treibe Atemübungen am offenen Fenster, auf Deinen Spaziergängen. Atme tief ein nnd lang aus.

Gewöhne Dich an eine gerade Körperhaltung: Kopf hoch, Brust heraus! Ver- schränke die Arme öfter auf den Rücken.

4. Die Vokale sind die Träger der Sprache. Bildest Du die Vokale mustergiltig, so wird Deine Sprache klangvoll sein. Jeder Vokal zeigt eine ihm eigen- tümliche Mundstellung, welche auf Wenigers Vokal-Tafel bildlich dar- gestellt ist.

Von der grossen Schulwandtafel hier eine Verkleinerung.

Mundstellungen für die Vokale

i (eu, äu)

5. Lasse nach einem tiefen Einatemzug beim Ausatmen einen Vokal hören. Beachte dabei den Keilstrich auf der Tafel. So wie der Keilstrich schwach anfängt und allmählich breiter und stärker wird, so soll Deine Stimme ganz leise beginnen und nach und nach anschwellen zum starken Ton. Kurz: @ehe stets leise in die Vokale ein und lasse den Ton an Stärke zunehmen.

6. Übe die Vokale nach der Tafel einzeln durch. Jede Vokalstellung ist anfangs vor dem Spiegel zu üben und die Lippenstellung genau mit den Figuren der Tafel zu

ai (ei)

10O

au oi

Pre

)

124

vergleichen und in Ubereinstimmung zu bringen. In der ersten Zeit der Ubung müssen die Mundstellungen eher etwas übertrieben (die a-Stellung so weit, die ü-Stellung so rund und spitz, die i-Stellung so breit als möglich) gebildet werden. 7. Übe zwei und mehr Vokale auf eine Ausatmung in verschiedenster Reihenfolge. Z. B. a<e<, I<U<0<, 8. Übe das leise Eingehen in die Vokalstellung nach vorgesetzten einfachen Konsonanten:

bpwmf ze B. ba< s sch gi< g k h ch do< dtnolr

9. Ube die Vokale nach zusammengesetzten Konsonanten: z sp st scht fi sl schì fr schr schm schn schw zw pl bl gl kl tr br dr gr kr kn qu pf ps. Z. B. kla<u, gro<i, pfa<i. (Klaus) (Greussen) (Pfeil) 10. Bilde einsilbige, zwei- und dann mehrsilbige Wörter mit Anfängen nach Punkt 7, 8 und 9.

11. Bilde kleine Sätze. an un rag ag a a F í exakt zu en, die erste im Satze leise 12, Ube Dich im freien Sprechen, f 29 beginnen, und im Ton anschwellend

im Lesen, Deklamieren, Erzählen. ) etwas zu dehnen. 13. Betonte Silben werden auch etwas gedehnt und leise begonnen. Z. B. Le<rche, wie fri<h schon fliegest du, ja<cuchzend der Mo<rgensonne zu?

14. Kommst Du mitten im Satze ins Stocken, so hast Du nicht an den wie Du Dir einbildest Dir Schwierigkeit bereitenden Konsonanten, sondern an die folgende Vokal- stellung zu denken, diese genau nach der Tafel mit den Lippen zu bilden, leise in den Vokal hineinzugehen, mit stärker werdendem Tone etwas zu dehnen so wird die Rede glatt von statten gehen. :

Also nicht: Bé<se Beispiele verd d d Ä sondern: Bö<se Beispiele verde<rben gute Sitten. 15. Je grösser Deine Willenskraft, Deine Selbstbeobachtung ist, desto früher wirst Du geheilt sein. Nur durch tägliche Übung kannst Du Dir die mangelhafte Sprechweise ab- und eine fehlerfreie Sprache angewöhnen.

Von grossem Nutzen war der Kursus auch für stammelnde Kinder. Zwei dieser Stammler, Kinder des ersten Schuljahres, waren in der Lautbildung und im sprach- lichen Ausdruck soweit zurück, dass ihre Sprache gar nicht zu verstehen war. Jetzt können sie sich klar und verständlich ausdrücken. Die Schlussprüfung fand am 16. März d. Jahres statt. Derselben wohnten bei die Herren Rektor Schrader, Oberlehrer Fischer und Dr. Ahlers. Mit Ermahnungen an die Kinder, der er- haltenen Lehren stets eingedenk zu sein, und mit Worten des Dankes an die städ- tischen Behörden, die beiden Unterrichtsleiter und den Schularzt schloss Herr Direktor Dr. Bartels hierauf den Kursus. „—“.

Idstein. (Idiotenanstalt.) In den ersten 10 Jahren ihres Bestehens hat die Anstalt 175 Zöglinge aufgenommen; der gegenwärtige Bestand beträgt 114. Von diesen erhalten im ganzen 84 Schüler regelmässigen Unterricht und zwar in 5 Klassen: 3 eigentlichen Schul- und 2 Vorschulklassen. Ausserdem besteht noch eine Fort- bildungsschule und eine Nachhilfeabteilung. Der Unterricht wird erteilt durch dem

*) Zu beziehen vom Herausgeber. Stück 4 Pfennig. Versand nicht unter 10 Stück.

pädagogisch gebildeten Direktor der Anstalt, durch 3 ebenso gebildete und geprüfte Lehrer, sowie durch 2 Kindergärtnerinnen. Die Vorbereitungsschule besuchen 27, die eigentliche Schule 44, die Fortbildungsschule 9 und die Nachhilfeabteilung 4 Zég- linge, während 30 Zöglinge vom Unterrichte befreit sind. In den beiden Vor- bereitungsschulen werden mit sämtlichen neueingetretenen und bildungsfähigen Zöglingen, soweit dieselben nicht schon anderweitig die Schule mit mehr oder weniger Erfolg besucht haben, die ersten unterrichtlichen Versuche ausgeführt, wodurch ihre schlummernden intellektuellen Kräfte wachgerufen und sie für den elementaren Schul- unterricht vorbereitet werden sollen. Die Ziele beider Vorschulen im einzelnen sind: 1. Der bewusste und willkürliche Gebrauch der Glieder Thätigkeitsübungen. 2. Schärfung der Sinne Farben und Formenunterricht. 3. Weckung von Anschauungen und Vorstellungen, sowie Begrifisbildang Anschauungsunterricht. 4. Einführung in die biblische Geschichte biblischer Anschauungsunterricht. 5. Erhöhung und Ausbildung der technischen Sprechfertigkeit Sprechunterricht. 6. Bildung der einfachsten Zahlvorstelluongen Zählübungen. 7. Weckung und Belebung der Willenskraft, insbesondere Gewöhnung an Ordnung und Reinlichkeit, an Gehorsam u.s. w. Turnen. 8. Pflege des Gemütslebens und Frohsinns Spiele. Die wöchentliche Unterrichtszeit beträgt in der 1. Vorschule 14 Stunden, während die 2. Vorschule in 20 Stunden unterrichtet wird.

Nach Absolvierung der beiden Vorschulen sind die Kinder befähigt, am eigent- lichen Schulunterricht teilzunehmen. Dieser wird in 8 Stufen erteilt: 1. Stufe. Unterklasse: Die methodische Form des Unterrichts auf dieser Stufe nähert sich im allgemeinen der elementaren Unterrichtsweise in der gewöhnlichen Volksschule, nur dass der Lehrer in der Entwicklung der vorkommenden Begriffe anschaulicher und namentlich auch langsamer vorgehen und durch einen besonderen, fortlaufenden Sprechanterricht den etwa vorhandenen Sprachgebrechen Rechnung tragen muss. Hauptsache ist der Anschanungsunterricht, der sich nicht mehr bloss auf den Namen und die auffallendsten Merkmale der bekanntesten Gegenstände beschränkt, sondern jetzt auch auf die weiteren Merkmale derselben, soweit sie sinnlich wahrgenommen werden können, eingeht. Ein besonderer Zweig des Anschauungsunterrichts ist die Heimatkunde, die sich mit den örtlichen Verhältnissen der Anstalt und der Orts- kunde von Idstein beschäftigt. Nächst dem Anschauungsunterricht muss auf die Entwicklung von Zahlvorstellungen besondere Sorgfalt verwendet werden. Vorge- schrieben sind für diese Stufe die beiden ersten Grundrechnungsarten im Zahlenraum von 1—20. In der bibl. Geschichte werden den Kindern ca. 24 einfache, kindliche Erzählungen geboten, durch welche ihr religiöses Interesse geweckt und sie auf das Walten und Wirken eines persönlichen Gottes aufmerksam gemacht werden sollen. Der Schreibleseunterricht schliesst sich an die nassauische Fibel an, kann aber auch vom Lehrer in freier Weise erteilt werden. Die Kinder sollen beim Austritt aus dieser Klasse die Kenntnis der ganzen dentschen Schreib- und Druckschrift, sowie einige Fertigkeit in den ersten Heftschreibeübungen besitzen. 2. Stufe. Mittel- klasse: Der Anschauungsunterricht gestaltet sich auf dieser Stufe allmählich zu einem einfachen naturgeschichtlichen Unterricht, insofern jetzt ausser den bisherigen Stoffen auch solche Naturgegenstände zur Besprechung kommen, die nicht aus der

126 mittelbaren und täglichen Umgebung des Kindes stammen. Die Behandlung selbst unterscheidet sich von der bisherigen nur wenig; das Ziel ist dasselbe: Erweiterung des kindlichen Vorstellungskreises und Erhöhung des Anschauungs- und Urteils- vermégens. Nur worden jetzt die Schüler auch allmählich auf solche Momente hin- gewiesen, die nicht unmittelbar in das Bereich der sinnlichen Wahrnehmungen fallen und zum Teil auch nicht veranschaulicht werden können. Aber der Grundsatz der Veranschaulichung gilt auch jetzt noch in vollster Ausdehnung. Die 24 bibl. Ge- schichten der Unterklassen werdon wiederholt resp. erweitert und ausserdem noch 24 neue Erzählungen besprochen. In der deutschen Sprache treten neu auf: metho- dische Rechtschreibübungen, Heftschreiben, die ersten Aufsatzübungen, Lesen der lateinischen Druckschrift und noch einiges Wenige aus der deutschen Grammatik. Der Fortschritt im Rechnen besteht in der Ausdehnung des Zahlenraumes bis 100 (Addieren und Subtrahieren und das Einmaleins bis zum Fünfer) und namentlich im Einführen in die praktischen Rechenfälle des alltäglichen Lebens (Kenntnis des Geldes, der gebräuchlichsten Gewichte, des Metermasses und der Zeit). Die Heimatkunde schreitet von der heimatlichen Ortskunde zur Beschreibung der nächsten Umgebung von Idstein und des Taunusgebirges fort. Aufgabe der 3. Stufe: (Oberklasse) ist, die Kenntnisse und Fertigkeiten der Schüler zu erweitern und sie zu einem gewissen Abschluss zu führen, der teilweise durch die Forderung des praktischen Lebens be- stimmt wird. Im allgemeinen decken sich die Ziele mit denjenigen des zweit- und drittletzten Schuljahres einer einklassigen Volksschule. Die Zöglinge können selb- ständig einfache (natürlich aber keine Muster-) Briefe schreiben; sie rechnen im Zahlenraum von 1— 1000 mit ziemlicher Sicherheit (Bruchrechnen u. s. w. nicht!) und sind mit den Hauptsachen der Heilsgeschichte und den wichtigsten Glaubens- sätzen unserer christlichen Religion vertraut. In Geschichte und Geographie kann unsern Kindern natürlich bloss das Elementarste geboten werden, wie auch im Formen- und Zeichenunterricht die Leistungen über die einfachsten Darstellungen nicht hinaus- gehen. Bezüglich des Singens und Turnens ist zu bemerken, dass für den Unterricht in diesen Fächern die Schüler aus sämtlichen 5 Klassen nach ihrer Befähigung in dieson Fertigkeiten zu je 2 besonderen Sing- resp. Turnabteilungen zusammengestellt sind, wobei im Turnen selbstverständlich wieder eine Trennung zwischen Knaben und Mädchen stattfindet. Das Singen (namentlich in der oberen Singabteilung) dürfte vielleicht als das lohnendste Unterrichtsfach in unserer Anstaltsschule bezeichnet werden, da die Kinder demselben im allgemeinen grosse Lust und Liebe entgegen- bringen und dementsprechend auch verhältnismässig Gutes leisten. Von den ein- fachsten und leichtesten Kinderliedchen können wir bis zu Chorälen und zweistimmigen Arien aufsteigen, wobei natürlich methodische Singübungen fortwährend nebenher laufen. In der unteren Singabteilung sind die Leistungen naturgemäss noch recht unvollkommen. Doch zeigt sich auch hier schon, dass die schwachsinnigen Kinder im grossen Ganzen für das Singen besser beanlagt sind als für die übrigen (mehr geistigen) Unterrichtsdisziplinen. Besonderer Wert wird in unserer Anstalt auf die Pflege körperlicher Übungen gelegt, und sowohl die Knaben wie die Mädchen haben im Turnen schöne Erfolge zu verzeichnen. Jeden Tag wird nach Beschluss der Vor- mittagsschule ?/, Stunde geturnt, bei günstiger Witterung auf dem Turmplatz, Winters

al

und bei Regenwetter auf den Hausfluren der beiden Häuser, da eine eigentliche Turnhalle fehlt. Es ist eine alte Erfahrung, dass die meisten Schwachsinnigen körperlich recht ungewandt sind und beim Ausführen leiblicher Übungen wenig Energie und Mut besitzen. Diesem Übelstande abzuhelfen, soll der Hauptzweck des Knabenturnens sein. Mit Frei- und Stabübungen wechseln Übungen an den Geräten (Kletterstangen, Schwebebalken, Leiter u. s. w.) regelmässig ab, und auch das Spiel wird in ausgedehnter Weise gepflegt. Das Turnen bei den Mädchen beschränkt sich auf die einfachsten Freiübungen. Dagegen treten hier Singspiele und Reigen, wie sie bei dem Mädchenturnen üblich sind, in den Vordergrund.

Diejenigen, welche nach ihrer Entlassung aus der eigentlichen Schule noch in der Anstalt verbleiben, um ein Handwerk (Gärtnerei, Korbmacherei, Bürstenbinderei, Schneiderei) zu erlernen oder sich in den häuslichen Arbeiten (Mädchen) weiterzubilden, besuchen noch an 2 Wochentagen die Fortbildungsschule (je 1!/, Stunde). Zweck derselben ist, die gelernten Kenntnisse und Fertigkeiten immer wieder aufzufrischen und sie vor einem allzuraschen Verfall zu bewahren. Vor allen Dingen beschränkt sich die Fortbildungsschule auf diejenigen Fächer, welche für den Eintritt in die menschliche Gesellschaft besondere Bedeutung haben, wie Lesen, Schreiben und Rechnen; und auch hier wieder werden nur solche Stoffe gewählt, wie sie das prak- tische Leben täglich unmittelbar bietet (Schreiben der verschiedenartigsten Briefe, An- leitung zum Lesen in Zeitungen u.s. w.) Ein bestimmt vorgeschriebener Lehrplan wird dabei nicht eingehalten.

Nächst dem Schulunterricht ist der Handarbeits- Unterricht das wichtigste Erziehungsmittel, das in der Anstalt gehandhabt wird. Ohne demselben wäre eine erfolgreiche Erziehung in unseren Verhältnissen, wo für eine angemessene Unterhaltung und Beschäftigung der Kinder auch ausserhalb der Schulzeit gesorgt werden muss, gar nicht möglich. Es würde uns jedoch zu weit führen, die besondere Bedeutung dieses Faches für die Erziehung der Schwachsinnigen darzuthun, wir wollen uns daher nur auf die Angabe der einzelnen Zweige des Handiertigkeitsunterrichtes in unserer Anstalt beschränken. Die Zeit, in welcher derselbe betrieben wird, sind Mittwoch- und Samstagnachmittag, sowie die Abendstunden der anderen Wochentage von 1,5—6 Uhr. Bei den Mädchen erstreckt sich der eigentliche Handarbeitsunterricht zunächst auf Stricken, Flicken und Nähen; die Befähigteren lernen auch Sticken. Ausserdem werden sämtliche Mädchen, soweit es ihre körperlichen und geistigen Kräfte ermöglichen, zu den gewöhnlichen Haushaltungsgeschäften, wie Putzen, Waschen, Bügeln u. s. w. angeleitet.

Die Beschäftigung der Knaben erstreckt sich in der wärmeren Jahreszeit zu- nächst auf Arbeiten in Feld und Garten. Entweder haben sie dem Gärtner Hilfe zu leisten, oder sie bepflanzen ihre eigenen Beete, die seit einigen Jahren den befähigteren Zöglingen zur selbständigen Bearbeitung anvertraut sind. An Regentagen und im Winter treten die eigentlichen Handfertigkeits- und Industriearbeiten in ihr Recht. Bei diesen Arbeiten, sowie bei der Gärtnerei handelt es sich zum Teil schon um Ein- führung in einen bestimmten Beruf, und wir finden darum hier auch fast durchgängig nur solche Zöglinge, die aus der Schule bereits entlassen sind.

128 Briefkasten.

K. W. i. R. Ihr Schreiben überraschte uns zwar, bestätigte aber nur dasjenige, wovon wir schon hatten munkeln hören. Uns war der Herr schon seit längerer Zeit ein unsicherer Kunde, und als wir von seinem Unternehmen hörten, schüttelten wir den Kopf. An Dreistig- keit feblte es ihm freilich nicht, und die Art und Weise, wie er nach Zöglingen „strebte*, war „unlauterer Wettbewerb“ krassester Art. lm übrigen steht der Herr mit seinem Geschäftsverfahren nicht vereinzelt da. Später mehr über diesen Punkt.

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Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. Druck von Johannes Pässler in Dresden.

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“Nr. 7 A. 8. | XV. (IX) Jahrg Lissa a

Zeitschrift

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Organ der Konferenz für das Idiotenwesen.

4

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W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, Direktor der Erziehungsanstalt Spezialarzt ‘fiir gelstig Zurtickgebliebene in für Nervenkrankheiten Dresden -N. in Stuttgart. Erscheint jährlich in 12 Nummern von | Zu beziehen durch alle Buchhandlungen

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Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber. EEE

Zur Methodik

des Zeichenunterrichtes in Schwachsinnigenschulen. Von Karl Puhrer, Lehrer in Wien.

Sehr häufig tritt die Erscheinung zu Tage, dass schwachsinnige Kinder Zeichnungen nach Diktat zufriedenstellend anfertigen, aber nicht im stande sind, dieselben nach Vorlagen auszuführen. Es ist für den ersten Augenblick be- fremdlich, dass Schüler, die im Diktatzeichnen Befriedigerdes leisten, voll- kommen hilflos sind, wenn man ihnen Vorlagen zur getreuen Nachbildung vor- legt. Bei näherem Zusehen ist jedoch die grössere Schwierigkeit des Vorlagen- zeichnens leicht begreiflich.. Während wir beim Diktatzeichnen entwickelnd, analytisch -synthetisch vorgehen, beruht das Vorlagenzeichnen auf einer Ab- straktion; die Methode wird synthetisch -analytisch, und es genügt wohl, auf die verschiedenen Lesemethoden hinzuweisen, um die Unbeholfenheit zu erklären, welche sich bei unseren schwachsinnigen Schülern gelegentlich der Nachbildung von Vorlagen zeigt. Worin liegt nun der Grund, dass das Zeichnen nach Vorlagen den schwachsinnigen Kindern anfänglich so grosse Schwierigkeiten bereitet? Zunächst darin, dass die Schüler keinen Gesamteindruck des Zeichen- bildes empfangen. Bei den einfachsten Vorlagen bemerken die Schüler nicht die regelmässige Wiederkehr der Linien und ihre Beziehungen untereinander, so dass die Schüler selbst einfache Bandmuster, wie das folgende :: =x:=:x:=:Z:, das vom Lehrer angefangen oder vom Schüler nach Diktat teilweise gezeichnet wurde, nicht fortzusetzen im stande sind, sondern ein wirres Durcheinander von Linien anfertigen, das keine Regel erkennen lässt. Die Einsicht in die Un- fähigkeit, die gestellte Aufgabe auszuführen, erzeugt .bei vielen Schwachsinnigen ein Gefühl der Unsicherheit und eine nicht geringe Aufregung, die sich störend auch in den folgenden Unterrichtsstunden bemerkbar: macht. -

130

Aus dem eben geschilderten Fehler ist leicht zu ersehen, dass es den Schülern an der Fähigkeit fehlt, sich innerhalb des auf dem Zeichenblatte vorgedruckten Punktsystems zu orientieren. Ein Versuch, Orientierungsübungen sogleich auf dem Zeichenblatte vorzunehmen, hat in der Regel nicht den gewünschten Erfolg, weil selbst beim Verdecken der zu einer bestimmten Orientierung nicht not- wendigen Punktreihen das frische Erinnerungsbild des mit Punkten bedeckten Zeichenblattes störend hervortritt.

Die fehlerhafte Orientierung am horizontalen Zeichenblatte ist nicht zum mindesten auf den Umstand zurückzuführen, dass die Schüler die Ortsbestimmung im dreidimensionalen Raume und vorzugsweise in der vertikalen Ebene eingeübt haben. „Oben“ ist bei den schwachsinnigen Kindern gewöhnlich ein Punkt über dem Kopte, „unten“ ein Punkt in der Fussebene, „links“ ein Punkt, auf welchen das Kind mit ausgestrecktem linken Arm, „rechts“ ein Punkt, auf welchen das Kind mit ausgestrecktem rechten Arm hinweist. Dies gilt übrigens für den immerhin günstigen Fall, dass die Schüler überhaupt Ortsbestimmungen vorzunehmen im stande sind. Häufig herrscht bei den schwachsinnigen Kindern, selbst den durchaus unterrichtsfähigen Imbecillen, eine heillose Verwirrung in Bezug auf Ortsbestimmungen, so dass schon ein veränderter Standpunkt des Schülers im Schulzimmer genügt, um insbesondere die Begriffe von rechts und links zu beeinträchtigen. Sind aber die Ortsbestimmungen in der Vertikalebene bereits erfasst, so bereitet den Schülern die Übertragung dieser Begriffe in die Horizontalebene noch immer bedeutende Schwierigkeiten, und es bedarf daher besonderer Übungen, um diese Übertragung zu allererst zu ermöglichen. Der- selbe Übelstand zeigt sich bei den Vorübungen zum Kartenlesen, wo wieder die Projektion der Himmelsgegenden auf die Landkarte unseren Schülern nicht ohne weiteres klar ist.

Die beiden geschilderten Hauptfehler beim Zeichnen der Schüler nach Vorlagen, die in inniger Beziehung zu einander stehen, möchte ich auf eine gemeinsame Ursache zurückzuführen, nämlich auf die Unfähigkeit, die Aufmerk- samkeit in eine bestimmte Richtung zu lenken und in derselben eine Zeit hindurch festzuhalten. Die Unstetigkeit der Aufmerksamkeit, welche besonders den Imbecillen charakterisiert, drückt sich in der Unstetigkeit des Blickes aus, und so kommt immer nur ein flüchtiges Nebeneinander von Eindrücken zu stande, welches weder die Auffassung eines Gesamteindruckes, noch eine elementare Orientierung bewirken kann.

Von besonderem Interesse erscheint mir die Darlegung eines Fehlers, der eine gewisse Neigung der Schüler zur symmetrischen Nachbildung der Linien innerhalb des Zeichenfeldes verrät. Derselbe ist aus nachfolgender Skizze zu entnehmen:

Vorlage: Zeichenheft des Schüler: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 1 2 3 4 5 6 7 8 9

4 oN

131

oder i Schultafel: Zeichenbeft des Schülers:

Ve x oe mt on

Ob es sich hier neben der mangelhaften Orientierung nicht um eine ähnliche Erscheinung, wie bei dem bisweilen vorkommenden, linkshändigen Schreiben von Spiegelschrift handelt, wage ich nicht zu entscheiden; doch dürften vergleichende Versuche in dieser Hinsicht angezeigt sein.

Der Lehrgang im Zeichenunterrichte bei Schwachsinnigen, insbesondere mit Bezug auf die Nachbildung von Vorlagen, und weiterhin in Bezug auf die Auf- fassung von Gesamtbildern im allgemeinen, woraus sich wieder die Verwertung bildlicher Darstellungen und die Gewinnung ästhetischer Eindrücke ergeben, hat von zwei Gesichtspunkten auszugehen :

1. von der Fähigkeit, die Details der Vorlage zu einem Gesamtbilde zu vereinigen, :

2. von der Fähigkeit, sich im Zeichenfelde klar und sicher zu orientieren. Diesen Gesichtspunkten entsprechend, halte ich folgenden Lehrgang ein. 1. Entwickelung einer wagrechten Punktreihe a) mit, b) ohne Bezifferung mit anschliessenden Orientierungs- und Zeichenübungen innerhalb derselben. 2. Orientierungs- und Zeichenfibungen a) innerhalb zweier nebeneinander liegenden Punktreihen, b) innerhalb zweier parallellaufenden Punktreihen, c) innerhalb zweier Paare parallellaufender Punktreihen. 3. Derselbe Stufengang in Bezug auf die lotrechte Punktreihe. 4. Verbindung der wagrechten mit der lotrechten Punktreihe mit aufsteigender Anzahl der Reiben. 5. Zeichnen nach Vorlagen. 6. Zeichnen innerhalb des Zeichennetzes. 7. Zeichnen nach dem Gedächtnisse und nach der Natur.

Anlehnend an diese Punkte sei es mir nun gestattet, die von mir beim Zeichenunterrichte eingeschlagene Methode näher zu erörtern.

A. Orientierungsübungen innerhalb einer wagrechten Punktreihe,

Der Begriff wagrecht bedarf der anschaulichen Erklärung. Hierüber näheres mitzuteilen, halte ich nicht für notwendig. Die wagrechte Punktreihe entsteht durch Einzeichnung von Punkten in gleich weiten Abständen in die wagrechte Linie. Die Entfernung der Punkte ist derartig zu wählen, dass sie dem später- hin beizubehaltenden Punktsystem entspricht. Die Punkte werden hierauf gezählt, wobei die Ordnungszahlen zur Anwendung gelangen. Erst nach den Zählübungen erfolgt die Bezifferung von seiten des Schülers.

Die Wichtigkeit der Bezifferung ergiebt sich vor allem daraus, dass nunmehr

132 die Punkte einander nicht mehr vollständig gleichartig sind, sondern jeder durch die beigesetzte Ziffer einen selbständigen Charakter bekommt. Hierdurch ist für jeden kunki dem Schüler eine besondere Gedächtnisstütz gegeben. Die Orientierungsübungen jaiii ich in vor: . a) Der Schüler liest die Punkte der Reihenfolge nach ab. b) Der Lehrer zeigt in beliebiger Reihenfolge auf die Punkte und lässt sie vom Schüler benennen. c) Nach der Punktzahl wird ein Punkt der Reihe aufgesucht und vom Schüler gezeigt. d) Die Auffindung der Punkte geschieht durch die Angaben „rechts von ...... à oder ,links von... .“ e) Die Auffindung des Punktes geschieht durch die Fragen: 1. Zwischen welchen Punkten liegt der Punkt x? 2. Wieviele Punkte sind „links“, beziehungsweise „rechts* vom Punkt x? 3. Der wievielte Punkt ist x von links (rechts) gezählt.

B. Das Verstärken der Punkte.

Anschliessend an die Orientierungsübungen erfolgt das Verstärken der Punkte. Behufs rascherer Auffindung der zu verstärkenden Punkte, sowie besserer Orientierung gewöhne ich die Schüler an zwei Arten des Ablesens.

Es liege folgende verstärkte Punktreihe vor:

12 3 4 56 6 7 8 9 10 ll 12

a) Der Schüler verstärkt den ersten Punkt, zählt bis zum vierten, verstärkt diesen, ebenso den fünften, zählt bis zum siebenten u. 8. w.

b) Ich leite den Schüler an, nachdem die erste Art entwickelt wurde, zu beobachten, welche und wieviele Punkte nicht verstärkt wurden, wieviele nicht verstärkte Punkte auf den ersten verstärkten Punkt folgen und lasse nun die Verstärkung nach dieser Vorübung vornehmen. Im Falle die zeichnerische Übung allein nicht genügt, veranschauliche ich die Verstärkung an einem auf weissen Papier aufgeklebten und mit kreisförmigen Ausschnitten versehenen schwarzen Kartonstreifen. An Stelle der Verstärkung tritt die Deckung der Ausschnitte mittels roter Scheibehen, deren Grösse so zu wählen ist, dass nach der Deckung ein weisser Kreisring ersichtlich bleibt. Die gedeckten Kreisflächen heben sich dann scharf von den ungedeckten ab. Die Deckung erfolgt anfangs nach Diktat, später nach einem in vorstehender Weise angefertigten Muster- streifen.

C. Ziehen von Linien innerhalb einer wagrechten Punktreihe.

Sind die Orientierungsibungen innerhalb einer Punktreihe von dem ge- wünschten Erfolg begleitet, so erfolgt das Ziehen von Linien durch Verbindung zweier oder mehrerer nebeneinander befindlicher Punkte, wobei sich durch Auslassung zwischenliegender Punkte mannigfache Kombinationen herstellen lassen.

133

D. Orientierungs- und Zeichenübungen

a) innerbalb zweier nebeneinander liegenden wagrechten Punktreihen Reihe I. Reihe II.

b) innerhalb zweier untereinander liegenden wagrechten Punktreihen

Reihe I Reihe II . ee

c) innerhalb zweier Paare parallellaufenden wagrechten Punktreihen Reihe 1. Reihe II,

Diese Stufe entspricht bereits dem Zeichnen nach der Vorlage, indem Reihe I die Vorlage, Reihe II das Zeichenblatt des Schülers darstellt.

Der einzuhaltende Stufengang ist folgender: 1. Bestimmung der Punkte in Reihe I und in Reihe II.

2. Der Lehrer zeigt die Punkte a) der Reihe nach, b) ausser der Reihe in Reihe I, der Schüler sucht die analogen Punkte iu Reibe II.

3. Verstärkung und Verbindung der Punkte in Reihe I nach dem Diktat, in Reihe II analog der Reihe I.

4. Verstärkung und Verbindung der Punkte in analoger Weise wie in B und C mit der Erweiterung, dass der Schüler das in Reihe I nach Diktat gezeichnete Motiv in Reihe II selbständig nachbildet.. Die in B angegebene Art II des Ablesens wird hier besonders geübt.

5. Übungen im Verbinden der Punkte innerhalb der parallellaufenden Punkt- reihen durch senkrechte und wagrechte Linien.

E. Die lotrechte Punktreihe.

Nach Vermittlung des Begriffes „lotrecht* erfolgen innerhalb der lot- rechten Punktreihe analoge Übungen, wie selbe an der wagrechten Punktreihe geübt wurden. Die Orientierungsübungen erfolgen sowohl an der senkrecht stehenden, als auch an der wagrecht liegenden Schultafel. Der Zweck letzterer Übung ist einleuchtend.. Die Durcharbeitung der einzelnen Stufen wird hier rascher vor sich gehen, nachdem die Orientierung weniger Schwierigkeit bereiten wird.

F. Lage der Punkte zu einander.

Dem Ziehen von schrägen oder schiefen Linien schicke ich eine Besprechung der Punktlagen zu einander voraus. Besondere Schwierigkeit bereitet den Kindern die Bestimmung der Lagen „rechts (links) oben“ „rechts (links) unten“. Mehrere, der Individualität des Zöglings angepasste Versuche, führen jedoch in den meisten Fällen zu dem gewünschten Resultate. Zwei der ge- eignetsten Versuche seien hier angegeben.

__

_ Versuch I. An nachstehenden Zeichnungen erfolgt die pelea der Begriffe: „oben, unten“ „links, rechts“. @ oben | links ej o @ unten rechts

Nun erfolgt eine Kombination beider Zeichnungen in folgender Weise:

<q>

links rechte

oben ©.

0 oben

links ©

unten

Eine farbige Ausführung dieser Skizze ist sehr zweckdienlich. Der ein- zuhaltende Gang ergiebt sich aus der Zeichnung. Genügt die Zeichnung allein nicht zum klaren Verständnis, stelle ich die Skizze mit Hilfe von Karton- stäbchen und kreisförmigen Scheibchen dar. Mittels Heftnägeln befestige ich sowohl die Stäbchen, als auch die kleinen Scheiben konform der Zeichnung an der Schultafel.

Versuch II. Zwei starke Kartonstreifen werden in ihren Mittelpunkten an einer Tischkante befestigt, wovon einer der Streifen beweglich und an den Enden mit verschiedenfarbigen Scheibchen versehen is. An den senkrecht gestellten Stäben erfolgt die Bestimmung der Lage der Scheibchen in Bezug auf „Oben“ und „unten“. Nach erfolgter Neigung des beweglichen Stabes, sowohl nach rechts, als auch links, werden die Lagen „rechts und links“ vom fest- stehenden Stab erläutert; worauf die Kombination „links (rechts) unien links (rechts) oben“ erfolgt. Zu diesem Behufe wird noch ein dritter, gleich- falls mit Scheibchen versehener Kartonstreifen angebracht. Diese Art von Darstellung hat noch den besonderen Vorteil, dass nicht nur die Lage der Punkte zu einander, sondern auch die Lage der verbindenden Linien an dem Kartonstreifen ersichtlich ist.

Anschliessend daran erfolgt die Bestimmung der Punktlage zuerst an je | zwei schräg untereinander stehenden Punkten ; später an 2 Punktreihen.

G. Verbindung der lotrechten mit der wagrechten Punktreihe.

Haben sich die Schüler genügende Sicherheit im Erkennen der Punktlagen zu einander erworben, erfolgt die Kombination der lotrechten mit der wag- rechten Punktreihe in der Weise, dass eine der Reihen im Anfangs-, End- oder Mittelpunkt der anderen Reihe ansetzt, wodurch sich eine Menge von Kom-

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binationen ergeben. Das Ziehen von Linien ergiebt sich aus der jeweiligen Verbindung der Punktreihen von selbst. Durch stufenweise Hinzufügung je einer Reibe erscheint zunächst die Quadratfläche, späterhin die Rechteckfläche mit Punkten besetzt. An die Durcharbeitung dieser Übungen reiht sich das Zeichnen im Hefte des Schülers an.

H. Vorübungen für das Zeichnen nach Vorlagen.

Alle bis jetzt angeführten Übungen bezweckten zum grössten Teile klare und sichere Orientierung im Zeichenfelde, Auf dieser Stufe will ich nun ver- suchen, den einzuhaltenden Gang behufs Auffassung des Gesamtbildes einer Vorlage anzugeben.

Vorher machte ich folgende Versuche: Aus Karton werden Flächen und Zeichenbilder ausgeschnitten, welche auf Grund des im Schülerhefte angegebenen Punktsystems gezeichnet wurden. Sowohl das Ausfallstück, als auch der ent- standene Ausschnitt finden nun Verwendung. Die Formen werden mit den Schülern gründlich besprochen. Hierauf lege ich sowohl Ausschnittfläche, als auch Ausschnitt den Punkten entsprechend auf das Zeichenblatt des Schülers und lasse nun vom Schüler den Umriss längs der Kante nachziehen. Aus der Zusammengehörigkeit von Ausschnitt, Ausschnittfläche und Zeichnung ergeben sich mannigfache Beziehungen, indem sich durch Aufsuchen der gleichartigen Flächenformen zahlreiche Kombinationen gewinnen lassen. Bei Darstellung der Körper, z. B. eines Hammers, mache ich gleichfalls einen entsprechenden Aus- schnitt, in den der Hammer genau hineinpasst. Vor den Augen der Schüler wird nun der Hammer in den Ausschnitt hineingelegt. Ich leite die Schüler zur Beobachtung an, dass die Grenzlinien des Ausschnittes dem Umriss des Hammers entsprechen. Zeichnen und Vergleichen erfolgt in der früher an- gegebenen Weise. Bei diesen Versuchen ergiebt sich, dass Lebensformen die geeignetsten Vorlagen sind, daher beim ersten Zeichnen nach Vorlagen aus- giebiger zur Anwendung gelangen sollen.

1. Das Zeichnen nach Vorlagen.

An Normalschulen wird das Zeichnen nach Vorlagen in der Regel in drei Stufen vorgenommen:

1. Das Zeichenbild wird vor den Augen der Schüler, bei gleichzeitigem Mitarbeiten derselben in den Heften an der Schultafel entwickelt.

2. Das nachzubildende Zeichenbild wird als abgeschlossenes Ganzes gegeben.

3. Die Vorlage ist nur zum Teile ausgeführt, so dass der Schüler durch analoge und symmetrische Nachbildung das Zeichenmotiv zu vollenden hat.

Dem eigentlichen Zeichnen nach Vorlagen entspricht somit nur die hier angeführte 2. Stufe, während Stufe 1 eine mindere, Stufe 3 eine höhere, zeich- nerische Fertigkeit voraussetzt.

Diese Art von Vorlagenzeichnen setzt aber bei allen Schülern einer Schul- abteilung eine annähernd gleichwertige, zeichnerische Fähigkeit voraus, welche Voraussetzung an Schwachsinnigenschulen hinfällig wird.

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Aus diesem Grunde, sowie aus dem Umstande, dass die Normalschule als Hauptziel zeichnerischer Fertigkeit behufs praktischer Verwertung im Berufs- leben anstrebt, während der Zeichenunterricht an Schwachsinnigenschulen Hebung der Intelligenz bezweckt, kann dieser Lehrgang für uns nicht mass- gebend sein.

Gegen die Gleichartigkeit der Vorlage für alle Schüler einer Schul- abteilung spricht ferner die immer wiederkehrende Forderung nach Individuali- sierung unserer Zöglinge. Demnach kann das Vorlagenzeichnen an Schwach- sinnigenschulen nur in der Weise geübt werden, dass jeder Zögling nach einer seiner zeichnerischen Fähigkeit angepassten Vorlage arbeitet. Andernfalls würden gut befähigte Zeichner infolge ihres rascheren Arbeitens einen grossen Teil der Stunde müssig sitzen, während schwach befähigte durch das Nicht- können in nicht geringe Aufregung geraten würden.

K. Kritische Bemerkungen zu unseren gebräuchlichen Vorlagen.

Soll die Vorlage ihren Zweck erfüllen, so muss der Schüler einen Gesamt- eindruck empfangen, ohne welchen eine richtige Nachbildung bei nur einiger- massen komplizierten Zeichnungen auch für das normale Kind ein Ding der Unmöglichkeit ist. In zweiter Linie muss das Zeichenmotiv derartig gehalten sein, dass es sich nicht isoliert vom Gesamtunterrichte darstellt, sondern mit anderen Unterrichtsdisziplinen in innige Beziehungen tritt, so dass sich einer- seits leicht Anknüpfungspunkte an andere Unterrichtsmaterien finden lassen, anderseits Verwertung im Gresamtunterrichte ermöglicht wird. Die bis jetzt gebräuchlichen Vorlagen erfüllen diese Bedingungen nur in beschränkter Weise.

L. Reformvorschläge bezüglich der Vorlagen.

Wie bereits erwähnt, erhalten unsere Zöglinge durch die in Verwendung genommenen Vorlagen keinen: Gesamteindruck des Zeichenbildes. Diesem Übel- stande glaube ich in folgender Weise abhelfen zu können: Ich grundiere den Hintergrund mit Farbe, rändere die Grenzlinien des Zeichenmotives und bringe auch die Punktierung zur Geltung.

Diese Art von Vorlagen leisten vorzügliche Dienste; das Motiv tritt stark hervor, die Grenzlinien sind scharf markiert, das Interesse der Kinder wird geweckt und der Übergang zum Zeichnen nach den einfacher ausgestatteten Vorlagen vermittelt, falls ein stetes Vergleichen beider Arten geübt wurde.

M. Zeichnen innerhalb des Zeichennetzes.

Jenen Zeichnungen, die sich vorteilhafter nach einem Zeichennetz, z. B. Blattformen, anfertigen lassen, gehen Orientierungsiibungen im Zeichennetze voraus.

Ich gehe folgendermassen vor: DE ar S Es sei nebenstehendes Netz zu entwickeln: a u 1. Entwurf einer wagrechten Quadratreihe. te

2. Entwurf zweier und mehrerer wagrechten Quadratreihen. a 3. Ableitung der lotrechten aus der wagrechten Quadratreihe.

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4. Bestimmung der Form der Teilfelder.

5. Feststellung der Gesamtfläche.

6. Zeigen und Benennen der einzelnen Quadrate, sowohl in den wagrechten, als auch lotrechten Reihen.

7. Zeigen der Eckpunkte bestimmter Quadrate.

8. Zeigen der gemeinschaftlichen Eckpunkte und Linien zweier neben- einander liegender Quadrate.

9. Von welchen und von wievielen Quadraten wird das Quadrat x ein- geschlossen ?

10. Zeigen des Eckpunktes, welchen x mit 2, 3, 4 (4, 5, 6 u. s. f.) gemein- schaftlich hat.

11. Welche Linien hat das Quadrat x mit 2, 4, 6, 8 gemeinschaftlich ?

12. Welche Quadrate haben mit x wohl einen gemeinschaftlichen Eckpunkt, aber keine gemeinschaftliche Linie?

13. Hinweis auf die Übereinstimmung der Durchschnittspunkte der Linien mit den Punkten des Punktsystems.

14. Ziehung von Diagonalen, sowohl in den Teilfeldern, als auch im Gesamtnetze. u. 8. w.

Sind diese Übungen durchgeführt, erfolgt die Anfertigung von Zeichnungen nach Diktat durch Verstärkung der einzelnen Quadratseiten der Teilfelder. Die so erhaltenen Zeichenbilder werden hierauf nochmals an einem zweiten Zeichen- blatte nachgebildet. Die auf diesem Wege erzielten Erfolge waren recht befriedigende.

N. Zeichnen nach dem Gedächtnisse und nach der Natur.

Es mag für den ersten Augenblick befremdlich erscheinen, Kinder, die kaum im stande sind, einfache, in ein Punkt- oder Netzsystem gebrachte Motive nachzubilden, Zeichnungen nach dem Gedächtnisse oder gar nach der Natur anfertigen zu lassen. Doch erscheint dies sofort einleuchtend, wenn wir diesen Unterricht nicht als streng genommenen Zeichenunterricht auffassen, sondern in dem Sinne, dass sich die unterrichtliche Einwirkung bei Schwachsinnigen nicht auf die abgemessene Unterrichtszeit allein beschränkt, sondern sowohl beim Spiel, als auch bei anderweiliger Beschäftigung immer wieder zur Geltung kommen muss. Freilich lassen sich auf dieser Stufe keine Regeln aufstellen, weil gerade hier die Individualität des Zöglings am allermeisten zur Geltung kommt. Es kommt vor, dass der Eine im Zeichnen nach Vorlagen ein grosser Stümper ist und bleibt, jedoch ganz gute Zeichnungen nach dem Gedächtnisse oder nach der Natur zu liefern im stande ist. Ich hatte Gelegenheit, einen 19 jährigen Schwachsinnigen in seinen Arbeiten zu beobachten. Das Zeichnen nach Vorlagen ging herzlich schlecht; aber mit erstaunlichem Geschick entwarf er in kurzer Zeit mit einigen Zügen das Charakteristische des darzustellenden Gegenstandes, etwa eines Offiziers, einer ihm gut bekannten Persönlichkeit oder eines beliebigen Haustieres. Höchst originell waren die Darstellungen eines Generals, eines Schauspielers, sowie einer lauernden Katze. Bei der Darstellung

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eines Österreichischen Generals ward nichts vergessen; der wallende Federbusch, die Orden, ja selbst das verstärkte Ende der Säbelscheide wurden zur Geltung gebracht.

Und welches Kind würde nicht das in einer Zeichnung wiederzugeben ver- suchen, was ihm in seiner kindlichen Phantasie vorzuschweben pflegt ?

Greifen wir also auch hier helfend und ratend ein, leiten wir das Kind zur Beobachtung der es umgebenden Dinge an, und wir haben das erreicht, was im Zeichnen nach dem Gedächtnisse und nach der Natur von unseren Zöglingen gefordert werden kann.

O. Eine Anregung bezüglich des Punktsystems.

Ich hatte einen Zögling, der nicht im stande war, innerhalb des Zeichen- bildes die Anzahl der von einem Punkte aus gezogenen Linien anzugeben. Alle Besprechungen und Erklärungen verliefen resultatlos. Nun versuchte ich an Stelle des Punktes ein kleines Quadrat zu setzen, und sofort konnte der Zögling die Anzahl der von den Ecken des Quadrates aug gezogenen Linien angeben. Wie wäre es, wenn man anfangs durchwegs kleine Quadrate an Stelle der Punkte setzen würde?

Dafür sprechen insbesondere zwei Momente. Wird auf Grund des Punkt- systems gezeichnet, so verschwinden die mit Linien überzogenen Punkte oder werden zu mindest undeutlich, wodurch wieder die Orientierung erschwert wird. Werden die Punkte entsprechend gross gemacht, so dass sie auch von den stärksten Linien nicht vollständig gedeckt werden, ergiebt sich sehr leicht der aus nebenstehender Zeichnung ersichtliche Fehler: *—_e___e °

Beiden Übelständen ist dadurch zu begegnen, dass man an die Stelle der Punkte kleine über Eck gestellte Quadrate setzt. Anfangs- und Endpunkte der zu zeichnenden Linien werden dadurch scharf markiert und durch das Sichtbar- bleiben der Quadrate die Orientierung wesentlich erleichtert. Durch die Ver- bindung der (Quadratecken würde man nur Zeichnungen mit lot- und wagrechten Linien zeichnen können. Um dasselbe System auch bei Zeichnungen mit schrägen Linien beizubehalten, versehe ich die Quadrate mit den Mittelpunkten» die infolge ihrer Kleinheit durchaus nicht die Regelmässigkeit der gezogenen Linien stören oder die Orientierung beeinträchtigen.

P. Freimachung der Fingergelenke.

Der Anfänger setzt beim Ziehen einer Linien in der Regel kräftig an und führt den Stift in einem Zuge krampfhaft zum Endpunkte, wobei nicht nur die Hand, sondern in vielen Fällen sogar der Arm die Bewegung mitmacht. Alle Versuche, die Fingergelenke frei zu machen, erleiden in den meisten Fällen Schiffbruch. Folgendes Verfahren führte mich fast immer und oft schon nach kurzer Zeit zum Ziele. Der Schüler stützt den Arm im Ellenbogengelenk auf die Bank und hebt den Unterarm so hoch, dass die den Stift haltende Hand etwas unter der Augenhöhe zu liegen kommt. Das ungespitzte Ende ist hierbei dem Auge zugewandt. Ohne jedwede weitere Erklärung lasse ich das ungespitzte Ende fixieren, worauf die Aufforderung erfolgt, dieses Ende vom Auge weg zu be-

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wegen. Dieses kleine Kunststück gelingt entweder sofort, oder schon nach wenigen Versuchen. Will es gar nicht gehen, halte ich das Handgelenk fest, so dass die Finger in Aktion treten müssen. In der Regel führen die Kinder die entsprechende Fingerbewegung, wie sie dann beim Zeichnen zur Geltung gelangen muss, ganz unbewusst aus. Nun erfolgt die Rückbewegung des Stiftendes wiederum zum Auge. Dieser Vorgang wird bis zur spielenden, mechanischen Fingerbewegung geübt. Daran schliessen sich dieselben Übungen bei veränderter Armlage, bis schliesslich die Hand in Zeichenlage gebracht wird, wobei der Stift noch immer in der Luft geführt wird. Fallen diese Bewegungen zufriedenstellend aus, hebe ich ein mit starkem Karton unterlegtes Blatt Papier bis zur Höhe der sich be- wegenden Spitze, so dass bereits Striche entstehen, ohne dass der Schüler das Zeichenblatt zu berücksichtigen hat. Infolge der entstehenden Reibung des Stiftes an der Papierfläche fallen die Bewegungen weniger gelenkig aus, heben sich jedoch sehr rasch wieder auf die frühere Stufe. Soweit gekommen, leite ich nun den Schüler an, die Fingerbewegung zu beobachten und greife durch erläuternde Worte helfend ein. Führt der Schüler endlich die Bewegungen auch bei Beobachtung der Bleistiftspitze annähernd gut aus, erfolgt die Ziehung von Linien innerhalb zweier Punkte.

Schlussbemerkungen.

Die Unterrichtspraxis mit Schwachsinnigen hat uns gelehrt, dass wir nur dann das vorgezeichnete oder anzustrebende Lehrziel zu erreichen im stande siud, wenn wir bei jedweder Unterrichtsdisziplin, sowie Unterrichtsmaterie von dem Grundsatze ausgehen, dass wir bei unseren Kindern absolut nichts als bekannt oder verstanden voraussetzen dürfen, somit dem eigentlichen Unterrichte stets eine gründliche Vorbereitung. vorausschicken müssen. Dies erklärt, dass in vor- liegendem Lehrgange den vorbereitenden Übungen ein weites Feld eingeräumt wurde.

Gleichzeitig war ich bemüht, dem Wunsche Kehrs nach Konzentration im Unterrichte nach Möglichkeit Rechnung zu tragen, indem ich Stoffe des Anschauungsunterrichtes in den Lehrgang des Zeichenunterrichtes zweck- entsprechend einzuflechten versuchte.

Unsere schwachsinnigen Kinder erfreuen sich wohl des goldnen Sonnen- _ lichtes, und dennoch können die Armen nicht sehen. Sie sehen in den meisten Fällen den Wald vor lauter Bäumen nicht; sie können nicht beobachtend sehen, und ein Sehen ohne Beobachtung ist eben kein Sehen. Soll bei dem Kinde dieser kostbare Schatz das gesunde Auge nicht brach liegen, so muss es beobachtend sehen lernen, und dies glaube ich insbesondere durch die in „H“ angegebenen Übungen wenigstens teilweise erreicht zu haben.

Wie bereits erwähnt, kann es sich bei unseren Kindern nicht um Ver- mittlung von derartig mechanischen, zeichnerischen Fähigkeiten handeln, dass selbe nutzbringend im praktischen Leben verwertet werden könnten. Vielmehr müssen wir den Zeichenunterricht einem für unsere Kinder viel höheren Ziele dienstbar machen und das ist: „Umwandlung der mechanischen Fertigkeiten in Intelligenz-

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leistungen“. Diesem Gesichtspunkte entsprechen zum grossen Teile sämtliche auf die Vorbereitung folgenden Übungen; insbesondere die Zeichenübungen nach Vorlagen.

Ein weiterer Bildungsfaktor liegt in der Stärkung des Gedächtnisses. Wie sehr gerade unsere Kiuder dieser Stärkung bedürfen, lehrt uns jedwede Unter- richtsstunde. Auch diesem wichtigen Momente suchte ich, wo es nur immer thunlich war, möglichst Rechnung zu tragen.

Wir betreiben also den Zeichenunterricht nicht um seiner selbst willen; er ist für uns „Mittel zu höheren Zwecken“.

Zum erziehenden Unterricht bei Schwachsinnigen. Von K. Ziegler, Idstein.

In keiner Schule ist die Gefahr so gross, das Prinzip des erziehenden Unter- richtes zu vernachlässigen und einseitig das nur kopfmässige Lernen und Wissen zu betonen, als in der Idiotenschule. Wie der Arzt bei der Behandlung seiner Patienten die Aufmerksamkeit vorherrschend auf die erkrankten Organe richtet, sich dabei aber um die psychischen Verhältnisse des Kranken weniger kimmert, so legt der Idiotenlehrer bei seiner Unterrichtstbätigkeit allzu gerne den Haupt- nachdruck auf die bloss intellektuelle Ausbildung seiner Zöglinge, während er die erziehlichen Momente mehr oder weniger unberücksichtigt lässt. Dazu kommt noch, dass diejenigen, die sich besonders für die Erfolge unserer Unter- richtsthätigkeit interessieren, das sind die Eltern der Kinder, gelegentliche Be- sucher, oft aber auch die sogenannten Prüfungskommissionen, gewöhnlich nur nach den Fortschritten im Lesen, Schreiben, Rechnen u. 3. w. fragen, für den sittlichen Stand der Kinder, für die Erziehung im engern Sinn aber wenig oder gar kein Verständnis an den Tag legen.*) Mag jedoch die erwähnte Einseitig- keit des Idiotenunterrichtes darum auch einigermassen entschuldbar erscheinen, rechtfertigen lässt sie sich doch nicht, weder durch die geistige Schwäche der Schüler, noch durch die Schwierigkeit ihrer erzieherischen Behandlung. Dass auch unsere schwachsinnigen Zöglinge erzogen werden müssen, wird niemand bestreiten wollen, wie andererseits die Erfahrung lehrt, dass sie auch erzogen , werden können: müssen, weil sie nichts weniger als tugendreine Engel sind, und weil auch von ihnen das Leben festen Charakter und tüchtige Gesinnung fordert; können, weil ihnen Erkenntnis und freies Wollen nicht ganz feblen, und weil sie für sittliche Belehrungen, Gebote und Verbote, Erinahnungen und Verweise, Belohnung und Strafe mehr oder weniger empfänglich sind. Wo sich aber moralisches Bewusstsein, Vernunft und selbständiges Wollen zeigt, und sei

*) Wie weit die elternliche Kurzsichtigkeit in dieser Hinsicht gehen kann, das zeigt in besonders drastischer Weise jener Ausspruch einer Mutter, die zum Lehror ihres Söhnchens sagte: „Den Trotz und die Bosheit müssen Sie meinem Jean eben nachsehen, das hängt mit seiner Krankheit zusammen. Er befindet sich ja zudem nur deswegen in der Anstalt, um etwas zu lernen.“

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es auch nur in der Form leiser und zarter Regungen, da ist es unsere Pflicht, weckend und fördernd auf dieselben einzuwirken.

Freilich ist nicht zu verkennen, dass die Erziehung durch Unterricht in unsern Schulen mit besonderen Schwierigkeiten verbunden ist. Gehorsam er- zwingen, der Faulheit steuern, zum Fleisse anspornen, das Gute belohnen, das Böse bestrafen, und wie die Mittel der Regierung und äussern Zucht alle heissen, das ist schon bei normalen Kindern im Vergleich mit der Erziehaufgabe im und durch den Unterricht etwas Leichtes. Bei unsern Zöglingen aber statt eines „Gehorchen-Müssens“ ein „Gehorchen-Wollen“, statt eines erzwungenen Nach- gebens ein freiwilliges Mitthun zu erzielen und darin liegt doch die höhere Aufgabe alles erziehenden Unterrichtes das heisst mit einer schweren Last auf. dem Rücken und in schlechtem Schuhwerk einen hohen Berg ersteigen. Wenn wir uns nunmehr nach diesen kurzen, mehr theoretischen Vorbemerkungen der praktischen Seite des Themas zuwenden, so sei von vornherein betont, dass wir vom erziehenden Unterricht nach seiner inhaltlichen und stofflichen Seite ganz absehen und uns nur auf die Frage beschränken: Inwiefern und inwie- weit kann und soll der Unterricht in unsern Klassen rein formell auf die Er- ziehung der Schwachsinnigen wirken? und auch hier können und wollen wir nicht erschöpfen, sondern nur einzelne naheliegende Punkte herausgreifen, resp. sie in unserer Erinneruug auffrischen.

Zunächst das Vorbild, das Geheimnis aller Erziehung! Wie nahe liegt hier für den Idiotenlehrer die Versuchung, sich in Gleichgiltigkeit und Nachlässigkeit einwiegen zu lassen durch den Gedanken: Meine Kinder sind zu schwach, um das Mangelhafte zu erkennen, zu stumpfsinnig, um diese oder jene Unkorrektheit zu beachten. Allein sie merkens doch! Und wenn du genau acht giebst, wirst du bald alle deine auffallenden Manieren in der Bewegung deiner schwachsinnigen Kinder wieder erkennnen, wirst du bald finden, dass die Geweckteren ihre gegen- seitigen Titulaturen bei Raufereien und dergleichen deinem eigenen Lexikon von „Kose- und Schmeichelnamen“ entnehmen, ohne sich dabei über den litterarischen Diebstahl Gewissensbisse zu machen, wirst du bald diese oder jene deiner be- kanntesten Phrasen als vielstimmiges Echo aus dem Munde’ deiner Schüler wiederklingen hören; ist dir doch gewiss nicht ganz unbekannt, dass gerade unsere Schwachsinuigen im allgemeinen einen verhältnismässig starken Nach- ahmungstrieb zeigen. Du senkst das Haupt? Ja, schlage nur an deine Brust, und suche dich auch nicht zu entschuldigen mit dem gewöhnlichen Einwand, dass dies alles nur papageimässige Nachschwätzereien, unschädliche Wucherungen auf der Aussenfläche seien, die mit der Zeit entstehen und wieder vergehen. Denn wenn sie verschwinden, so machen sie in der Regel nur anderen Platz, und der Boden, der solche Schmarotzer trägt, wird für die Ansiedelung derselben immer empfänglicher. Diese Schmarotzer können sich aber auch leicht über die ganze Oberfläche ausbreiten, können ihre Wurzeln hineinsenken bis auf den innersten Kern unı dort das beste Mark heraussaugen, können den Strahlen der Sonne den Weg versperren, so dass der Träger elendiglich ersticken und um- kommen muss und das alles bloss wegen äusserlicher Wucherungen! Gegen

142 den ungesunden Nachahmungstrieb unserer Kinder lässt sich wenig ausrichten, aber hüten können wir uns, ihm schlechte Nahrung zuzuführen, und um so mehr müssen wir uns davor hüten, als die Schwachsinnigen häufig unfähig sind, das Gute vom Bösen, das Richtige vom Falschen zu unterscheiden.

Der Grundsatz der Individualisierung steht oben an in der Heilpädagogik. Aber das Bestreben, dieses Prinzip konsequent durchzuführen, kann recht häufig eine geradezu entgegengesetzte Erziehungsweise einzelner Schüler zur Folge haben. Wir erinnern an den hinterlistigen, verschlagenen, boshaften und auf- geregten Imbecillen, der sich gegen jede Schranke der Ordnung und gegen jeden höheren Willen auflehnt, sowie an den Typus jener scheuen, sanften, selbst- bewusstseinslosen Idioten, die zu Bosheiten und Unarten beinahe unfähig sind und durch blosse Blicke und Mienen geleitet werden können. Hier sitzt ein Knabe der nach seiner Befähigung zu den Besseren unter seinen Kameraden zählt; aber seine fast unüberwindliche Trägheit und seine fortwährende Zerstreutheit lassen ihn zu keinem befriedigenden Fortschritt kommen: da darf der Lehrer kein Vater Eli sein und darf es auch nicht mit dem König David halten, der seinem Feldherrn nachrief: „Fahre mir fein säuberlich mit dem Knaben Absalom“! Aber dort jenes schüchterne, schwächliche Mädchen, wie es in nervöser Hast und Erregung an den Fingern rechnet, bald auf den Lehrer, bald auf die Mit- schüler scheue Blicke werfend: nicht die leiseste Miene des Unwillens darf der Lehrer zeigen, wenn es falsch geantwortet; aufs freundlichste und liebevollste muss er ihm zusprechen, wenn er nicht im nächsten Augenblick eine verwirrte „Konfusionsrätin* vor sich haben will, und was das Schlimmste wäre, das Selbstvertrauen dieses Mädchens hätte einen neuen Stoss erhalten, dessen nach- teilige Folgen sich nicht nur im Rechenunterricht, sondern auch in den andern Unterrichtsstunden zeigen, nicht bloss für diesen Moment, sondern auf immer sich geltend machen würden. Aber was wird jetzt jener Knabe denken, wenn hier der Lehrer kein böses Wort zu sprechen wagt, während ihın (dem Knaben) noch der Rücken juckt von der Strafe, die ihm seine fortgesetzte Unaufmerk- samkeit eingetragen? Män erwidert: Er wird nicht darüber nachdenken, was kümmern ihn die andern, und was sollte ihn zur Anstellung eines solchen Ver- gleiches treiben? Mag sein! Allein wiederholt noch einmal jenes Experiment und der Knabe wird instinktiv fühlen, dass hier Ungleichheit herrscht, dass er vom Lehrer anders behandelt wird als seine Kameraden, und er wird dies um so empfindlicher fühlen, je weniger ihm seine Erkenntnis Aufklärung darüber geben kann.

Auf keinen Fall werden in dem Herzen eines solchen Schülers die Gefühle dankbarer Liebe und Verehrung gegen den Lehrer tiefe, bleibende Wurzeln fassen, und auch die Entwicklung jener sittlichen Eigeuschaft, die wir Gerechtig- keitsgefühl oder Billigkeitsempfinden oder anders heissen können, muss darunter notleiden. Welche Stellung aber diese zarten Gefühle unter den menschlichen Tugenden einnehmen, und wie sebr ein geordneter und harmonischer Verkehr der Menschen untereinander gerade von der Stärke dieser Eigenschaften bei den Einzelnen abhängt, das braucht hier nicht näher ausgeführt zu werden.

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Wie aber soll nun der Lehrer an dieser Charybdis vorbeischiffen? Wir ge- stehen zu, dass die Beantwortung dieser Frage keine leichte ist, namentlich da hier der „goldene Mittelweg“ nicht emptohlen werden kann; denn von dem Prinzip der Individualisierung dürfen wir in unsern Schulen ebenso wenig lassen, wie der Arzt von seinen spezifisch diätetischen Vorschriften. Bei solchen Kin- dern, welche diesbezüglichen Belehrungen zugänglich sind, dürfte es zwar nicht schwierig sein, ihnen den Grund der verschiedenen Behandlung deutlich erkennbar oder doch wenigstens dunkel fühlbar zu machen. Hier kann man dem Schüler sagen, dass die häufige Wiederkehr eines bestimmten Fehlers den Lehrer zwingt, diesen Fehler bei ihm viel strenger zu beobachten und zu rügen als bei anderen, dass man von ihm, als dem Vernünftigeren, Besseres erwartet und verlangt als von einem weniger Begabteu, dass, was bei jenem Madchen die Folge von Ängstlichkeit und Schüchternheit ist, bei ihm der Trägheit und Faulheit zugeschrieben werden muss u. s. w. Nicht so einfach ist dies dagegen bei den Schwächsten unserer Kinder, denen Vernunftgriinde in dieser oder ähnlicher Weise nicht gegeben werden können. Da muss es dem „pädagogischen Gefühl‘ jedes einzelnen Lehrers überlassen bleiben, wie er unter gewissenhafter Berück- sichtigung der momentan bestehenden Schülerverhältnisse in seiner Klasse sich aus diesem Dilemma heraushilft. Wenn er sich zum voraus schon die Anhäng- lichkeit und Liebe seiner schwachen Kinder gewonnen hat; wenn sie alle in jeder Angelegenheit zu ihm als ihrem Beschützer und Helfer kommen; wenn sie jederzeit bei ihm ein Herz finden, dass sich in liebevoller Teilnahme auch um ihre kleinen, kindlichen Bedürfnisse kümmert und das keines auch das Schwächste und Unartigste nicht rauh von sich stösst; wenn sie namentlich füblen und empfinden (und wäre es auch in fast unbewusster Weise), wie sie durch ihre Vergehen dem Lehrer wehe thun und wie er nur ungern zur Strafe greift: wenn das die Grundstimmung ist von dem Verhältnis zwischen Schülern und Lehrer, dann kann es auch hier dem Erzieher nicht besonders schwer fallen, nach jener Seite das Richtige zu treffen.

Überhaupt, wo Liebe die Segel schwillt und Vernunft das Steuer führt, da läuft die Erzieharbeit im rechten Kurse, und wenn irgendwo, so muss der Erzieher zu unsern Kindern ein Herz voll Liebe und ein klares Verständnis der Kindesnatur mitbringen. Nicht die Liebe meinen wir, die in sentimentaler Ge- fühlsduselei und zärtlicher Fürsorge diese bedauernuswerten Kinder auf weichen Armen trägt (augenblickliche Milde ist nicht immer wahre Wohlthat) oder ein- zelne derselben zum bevorzugten Spielball eigener Launen und Sympathien macht (eine Versuchung, die bei unsern Zöglingen besonders stark ist nach der bekannten Regel der Mutterliebe: das schwächste Kind, das liebste Kind); aber die Liebe meinen wir, die sich nicht von der körperlichen Gestalt, von dem äusseren angenehmen oder unangenehmen Eindruck. von dem sympathischen oder unsympathischen Wesen leiten und beeinflussen lässt, sondern die hinter jeder Schale den Kern sieht, in jeder Erscheinung menschlichen Lebens die Spuren geistigen Waltens und Wirkens erkennt, und die darum im Menschen nieht nur das Irdische, sondern auch das Himmlische, nieht bloss das Menschliche, sondern auch das Göttliche liebt und

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achtet. Auch nicht jede Vernunft eignet sich zur Erziehung unserer schwach- sinnigen Kinder. Wohl darf eine klare, verständige Um- und Einsicht bei keiner Erziehung fehlen, und doppelt nötig ist sie in unsern Schulen. Verwerfen müssen wir aber die Vernunft, die nur nach den festen Grundsätzen der Päda- gogik die Erziehung leitet, welcher das tote Gesetz mehr gilt als der lebendige Geist der Schüler, die sich nicht den gegebenen Verhältnissen anpassen, sich nicht der Individualität der Einzelnen anschmiegen kann, die nur vorwärts streben will, nicht aber auch ein weises Nachgeben kennt, die nur denkt, aber nicht fühlt. Der ist immer und in allen Fälleu der beste Erzieher, der es ver- steht, mit dem Herzen zu denken.

Mehr als der Volksschullehrer muss der Idiotenlehrer darauf bedacht sein, dass die heitere Stimmung und der jugendliche Frohsinn seiner geistig schwachen Schüler durch die Arbeit der Schule nicht getrübt werde, und dass er da, wo statt des gesunden Frohsinns krankhafter Trübsinn, ängstliche Scheu oder mürrische,. urzufriedene Verstörtheit wohnt, letztere zu verbannen und erstere zu wecken suche. „Tiere können geniessen, aber nur Menschen können heiter sein.“ Lachen müssen unsere Kinder, reine Freude muss aus ihren Augen blicken; nur im Sonnenscheine springen die Knospen, und die Kranken sehnen sich im Winter nach dem heiteren Frühling. „Heiterkeit ist der Himmel, unter dem alles gedeiht, Gift ausgenommen.“ Wenn es dir aber nicht gelingt, die düsteren Wolken auf den Gesichtern deiner Kinder zu zerstreuen, wie willst du dann die licht- und wärmebringenden Strahlen durch dieses Gewölke hindurch auf den Grund der Kinderseelen hinabsenden? Wahrlich, ein heiterer und warmer Sonnenblick auf den gefrorenen Saatboden vermag oft mehr als die Pflugschar des fleissigen Landmanns. Wie eng aber mit der allgemeinen Gemüts- stimmung des Kindes sein moralisches Verhalten zusammenbängt, weiss jeder Erzieher aus eigener Erfahrung; man darf ihn nur daran erinnern, wie ver- schieden sich die freundlich-heiteren resp. verschlossen- mürrischen Kinder den sittlichen Ge- und Verboten gegrnüberstellen. Dieselbe Erfahrung liegt auch dem bekannten Sprichwort von den bösen Menschen, die keine Lieder haben, zu Grunde. Die sittlichen Eigenschaften und Tugenden gedeihen in der milden Luft des Frohsinns weit besser als in dem unfreundlichen Klima psychischer Verstimmung. Bei einzelnen unserer schwachsinnigen Kinder, deren gedrückte Stimmung oft die Folge physischen oder psychischen Unbehagens ist, darf zu- dem die Heiterkeit nicht bloss als ein günstiges Mittel zur Erreichung höherer Zwecke angesehen werden, sondern in manchen Fällen auch als Selbstzweck, als Symptom der Genesung.

Was kann und soll nun der Lehrer in unsern Schulen thun, um dieser Forderung gerecht zu werden® Dass die Heiterkeit, die wir im Auge haben, keine Wäre ist, die darch die Befriedigung der kindlichen Wünsche und Be- sierden erkauft oder durch Genüsse erzeugt werden kann, bedarf wobl kaum der Erwähnung. „Der. Genuss ist ein stechender Brennpunkt, aber keine umfliessende Wärme.“ Nur aus der Arbeit erblüht den Erwachsenen bleibendes und reines Glück, und Tbätigkeit nur vermag auch den Kindern andauernde Heiterkeit zu

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bringen, sei es leichtes Spiel oder ernste Beschäftigung. Und zu einer solchen Beschäftigung, welche den Kindern Freude und Vergnügen verursacht, sollte auch der Unterricht sich gestalten. Freilich lässt sich dieses „Ideal“ weder in den höheren Schulen, noch in den Volksschulen, am wenigsten aber in unsern Klassen verwirklichen. Wenn aber auch dieses Ziel für uns unerreichbar ist, so können wir ihm doch zustreben, oder wollen wenigstens dafür sorgen, dass die Schule keine trübenden Schatten in die Jugendzeit unserer Kinder werfe. Von

dem Vielen und Mannigfaltigen, dass hier der Lehrer und vor allem der Idiotenlebrer zu beachten hat, seien nur einige wenige Punkte heraus- gegriffen.

Der häufigste Fehler, in den wir verfallen können, und zugleich einer der folgenschwersten und unverzeihlichsten ist, dass wir ungeduldig werden, dass wir uns im Unterrichte ärgern. Wir wollen nicht davon reden, welch schlimmen Eindruck der sichtbare Zorn des Lehrers, seine dröhnende Stimme, seine Blitze schiessenden Augen, seine gerunzelte Stirne auf unsere psychisch und oft auch physisch schwachen Kinder ausübt; wir wollen nicht aufzählen, wie der Lehrer selbst am meisten unter seiner Leidenschaft leidet, wie er um mit einem Sprichwort zu reden dadurch die Dummheit anderer an seinem eigenen Körper büsst; wollen auch nicht die Gründe darthun, die das Ärgern im lächerlichsten Lichte erscheinen lassen: Das alles wollen wir nicht, weil wir wohl wissen, dass alle diese Betrachtungen im entscheidenden Momente doch völlig wirkungslos sind und gleich Spreu von dem rasenden Sturm in die Lüfte zerstreut werden. Nein, wir gestehen jedem das Recht zu, ungeduldig zu werden, wir bezeugen aus eigener Erfahrung, dass wir in unsern Schulen recht oft Grund und Ver- amassung haben, uns zu ärgern; wir gehen sogar soweit und behaupten, dass es auf unserem Arbeitsfelde überhaupt unmöglich ist, diese gefährliche Versuchung jedesmal zurückzuweisen. Aber eben darum wollen wir auch allen, die ihre innere Erregung nicht immer beherrschen können, den oft erprobten Rat geben, sofort, wenn sich der Feind von ferne zeigt, sich vor ihm zurückzuziehen und zu fliehen, sei es an das Schulfenster, von wo aus das Auge über liebliche Land- schaftsbilder schweifen kann, sei es vor die Thüre, wo die Affekte sich rasch wieder beruhigen. Erst wenn der Sturm ausgetobt, wenn die Stirne wieder glatt geworden, wenn heiterer Sonnenschein wieder auf dem Angesichte lächelt, dann erst zeige dich wieder deinen Schülern. „Ich habe immer“ erzählte ein ergrauter Anstaltslehrer, „sobald mir ein heftiges Wort herauswollte, zuvor auf 10 gezählt, und diese einfache Regel hat mir und meinen Kindern viel genützt.“

Ferner wird der Lehrer, dem es daran gelegen ist, seinen Kindern die Lust am Unterricht zu erhalten, auch von diesem Gesichtspunkt aus mit besonderer Sorgfalt auf seine Fragestellung achten. Dabei denken wir weniger an die methodisch korrekte Form und logische Aufeinanderfolge der Fragen, als viel- mehr an den Grad ihrer Schwierigkeit und an ihre Verteilung unter die Schüler. Namentlich in unsern Schulen ist es ein Fehler, wenn der Lehrer zur Be- antwortung seiner Fragen die Schüler ganz nach zufälligem Belieben aufruft, wie man etwa die Lose aus der Urne zieht. Die Fragen müssen nicht nur den

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Geisteskräften unserer schwachen Kinder angepasst werden, so dass sie beantwortet werden können, sondern der Lehrer hat durch eine geschickte und entsprechende Verteilung derselben auch dafür Sorge zu tragen, dass die Fragen beantwortet werden. Je grösser in unsern Klassen die Zahl der falschen Antworten, desto geringer die pädagogische Ein- und Umsicht des Lehrers. (Selbstverständlich kann sich das in erster Linie nur auf die sogenannten Entwickelungsfragen, nicht aber auf die Prüfungs- und Wiederholungsfragen beziehen. Doch darf das Gesagte auch bei den letzteren nicht ganz ignoriert werden).

Wo bier das erziehende Moment steckt, dürfte nicht schwer herauszufinden sein. Eine Seite unserer Unterrichts- und Erziehaufgabe ist bekanntlich die, in unsern ängstlichen und scheuen Kindern das verlorengegangene oder noch nie dagewesene Selbstvertrauen zu wecken und zu heben. Hat man dies einmal erreicht, dann ist vieles gewonnen. Welchen niederschlagenden Eindruck übt es aber auf unsere Schüler aus, wenn der Lehrer ihre Antworten immer zurück- weisen muss? Schliesslich glauben sie selbst an ihre Unfähigkeit (man denke nur an die recht häufige Antwort der Schwachsinnigen: „Ich kann nicht“) und sie verlieren vollends ganz den Mut, aus eigener Kraft selbständige Schritte zu machen, sie lassen sich schieben von dem Lehrer und ihren begabteren Mit- schülern. Welche gedrückte, mutlose Stimmung spiegelt sich auf den Ge- sichtern der Kinder wieder, wenn sie auf die erste, zweite, ja vielleicht dritte Frage am Anfange einer Unterrichtsstunde keine andere Antwort finden, als jenes peinliche, „gewitterschwüle* Schweigen, das Schüler und Lehrer gleich un- angenehm berührt? Dann darf der Lehrer alle Hoffnung auf einen befriedigenden Fortgang der Lektion schwinden lassen, und anstatt das Schulwägelchen munter und fröhlich auf der geraden und festen Strasse fortrollen zu lassen, muss er es aus einem chaotischen Sumpf von Verwirrungen und Unklarheiten herausarbeiten. Ein paar leichte Fragen zur Einleitung und die Kinder würden mit Last an ihre Arbeit gegangen sein; immer höher wäre ihr Selbstvertrauen und ihr Schaffeusdrang gestiegen, und im eifrigen Vorwärtslaufen hätten sie selbst solche Hindernisse übersprungen, vor denen sie sonst bedächtig Halt machen oder in Verwirrung geraten. Und eine solche Unterrichtsstunde sollte auch den psychischen Zustand unserer Schüler keine wohlthuende, erziehende Wirkung haben ?

Das Gesagte gilt jedoch nicht bloss für die Fragen, sondern auch für die andern Aufgaben, Aufträge und Befehle, die der Lehrer zu stellen hat. Auch hier muss er und besonders wieder der Lehrer für Schwachsinnige sich bewusst sein, was er und wie viel er verlangt, und ob er es verlangen kann. Die Befehle sollen präzis sein; der Lehrer muss bisweilen kontrollieren, ob sie auch richtig verstanden wurden. Ebenso sei der Umfang der gestellten Auf- gaben eng begrenzt, da namentlich bei den schwachbefähigten Schülern die Arbeitslust gern erlahmt, wenn sie am Anfang nicht auch schon das Ende sehen. Kleine, bestimmt abgegrenzte Aufgaben, die leicht überblickt und be- wältigt werden können, eignen sich aber trefflich, in den schwachsinnigen Zög- lingen das mangelnde Selbstvertrauen zu wecken, sie zu fortwährender Thätigkeit

147 anzuspornen und ihnen namentlich die Lust und Heiterkeit in der Schule zu erhalten.

Im engsten Zusammenhang mit dem vorigen steht die Forderung, in den Kindern lebendiges Interesse für die Unterrichtsgegenstände und die Schularbeit überhaupt zu erwecken. Freilich ist das bei unsern schwachsinnigen, teilnahms- losen und gleichgiltigen Zöglingen eine recht schwierige Aufgabe, denn eben die unwillkürliche Aufmerksamkeit oder das natürliche Interesse ist es, was den meisten unserer Kinder fehlt und was sie zu Schwachsinnigen stempelt. Allein wir dürfen nicht vergessen, dass lebendige Regsamkeit des Geistes, vielseitige Anteilnahme an geistigen Dingen die wertvollste Frucht ist, die dem Unterricht erwachsen kann, das erfolgreichste und sicherste Mittel zu jeder Art von Er- ziehung. Je mehr unsere Kinder selbständige, geistige Thätigkeit zeigen, je reger ihr unmittelbares Interesse am Unterricht ist, um so höher dürfen die Ergebnisse unserer Erziehungsthätigkeit geschätzt werden, und um so günstiger sind die Aussichten auf weitere Erfolge. Welche Regeln hat speziell der Idiotenlehrer bei diesem Punkte zu beachten?

Zunächst: Schmiede das Eisen, solange es warm ist! Wurde das Interesse deiner Kinder durch irgend ein zufälliges Ereignis wachgerufen und auf diesen oder jenen Gegenstand gelenkt, so ignoriere es nicht, handle ihm nicht zuwider, indem du nun deinen Schülern etwas bietest, das zwar auf dem Stundenplan oder im Lehrgang steht, mit der augenblicklichen Gedankenrichtung deiner Kinder aber einen unüberbrückbaren Kontrast bildet, sondern nütze den günstigen Wind, der jetzt voll in die Segel weht, aus bis zum letzten Augenblick; wer weiss, ob sich später nochmals eine ähnliche Gelegenheit findet? In unsern Schulen wenigstens auf den Unter- und teilweise auch auf den Mittelstufen darf der Stoffplan mit seinen festen Vorschriften nicht der einzige, ausschliess- lich massgebende Regulator für die Unterrichtsthätigkeit sein, sondern ebensosehr müssen auch die wechselnden geistigen Bedürfnisse der Kinder, ihr be- schränkter Gedankenkreis, ihr oft flüchtig und nur vorübergehend auftauchendes Interesse, ihre augenblickliche Neugierde u. s. w. berücksichtigt werden. Bei uns sorge man zunächst dafür, dass sich das Schifflein überhaupt bewegt, einerlei, in welchem Fahrwasser und nach welcher Richtung, und erst später, wenn die treibende, lebendige Kraft genug erstarkt ist, wenn man von dem schwachen Kinde eine willkürliche Konzentration auf einen bestimmten Gegenstand erwarten und verlangen kann, greife man zum Steuer. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass jene ersten ziellosen Fahrversuche zwecklose, tändelnde Spielereien sein sollen. Man fasse das Interesse, wo man es finde. Und wenn im kalten Winter während der Lesestunde ein hungerndes, frierendes Vögelein ans Schul- fenster pocht, wer wollte uns einen Vorwurf machen, wenn wir die Neugierde und Schaulust der Kinder ausbeutend ein Gespräch über diesen seltsamen Gast anfangen? Dasselbe gilt auch beispielsweise von den ersten Schneeflocken: Wie leuchten die Blicke der Kinder und wie wenden sich ihre Köpfe, wenn es draussen immer dichter und dichter heranterwirbelt! Und dieses herz- und sinnerfrischende Schauspiel, das selbst wir Alten und Gesunden jedes Jahr mit demselben Wohlgefallen betrachten, sollten wir unsere Kleinen nicht geniessen

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lassen, weil nur weil auf dem Stundenplan „Rechnen“ steht? Sei kein Tyrann und lass sie ruhig gewähren! Durch diese Schneeflocken spricht ein Höherer als du zum Gemüte deiner Kinder. Doch, wie bereits erwähnt, später muss auch das „Steuern“ zu seinem Rechte kommen.

Will der Idiotenlehrer von vornherein sich des Interesses seiner Zöglinge versichern, so wird er besondere Sorgfalt auf die Stoffauswahl in den betreffenden Fächern verwenden und dies um so mehr, je geringer die unwillkürliche Auf- merksamkeit seiner Schüler ist. Dinge, deren Besprechung geistig gesunde Schüler vielleicht langweilen würde, nehmen oft die ganze geistige Kraft unserer erfahrungsarmen Zöglinge in Anspruch, und aus den Wissensgebieten, die der Volksschullehrer bei seinen Anfängern voraussetzt, muss der Idiotenlehrer die Gegenstände für seinen ersten Anschauungsunterricht holen. Geeignet sind hierzu namentlich diejenigen Pensen, welche die täglichen Erlebnisse der Kinder und die Vorgänge und Ereignisse aus ihrer unmittelbarsten Umgebung bieten. Es dürfte sich darum empfehlen, auf den Unterstufen sogenannte „Gelegenheits- besprechungen“ am Anfange des Unterrichtes einzuführen. Was normale Kinder bei ihren Unterhaltungen auf der Gasse mit einander verhandeln, was sie im Umgang und Verkehr mit erwachsenen Personen erfahren, was sie vermöge der kindlichen Neugierde und des Untersuchungstriebes finden, das alles muss bei uns durch die Schule ersetzt und vom Lehrer besprochen werden. Aber auch diese zwanglosen Unterhaltungen über Gelegenheitsstoffe dürfen das Gepräge des Lehrens und Lernens nicht. verlieren, und der Lehrer muss sie durch persön- liches Zuthun so weit als möglich interessant gestalten.

Denn auch das anziehendste Unterrichts-Thema kann durch eine steife und unbeholfene Besprechung, der ein tieferer Leitgedanke fehlt, und die sich nur auf ein paar in die Augen springende Äusserlichkeiten beschränkt, seine das Denkvermögen anregende Kraft verlieren, während umgekehrt ein methodisch gewandter Lehrer, welcher die geistigen Bedürfnisse seiner Schüler genau kennt, und der es versteht, einen Gegenstand bestimmt anzufassen und geschickt in die denkbar günstigste Beleuchtung zu rücken, auch einem an sich trockenen Pensum fesselnde Lebendigkeit zu geben vermag. Vor allem darf dem Lehrer selbst die richtige Teilnahme an der Unterrichtsarbeit nicht fehlen; letztere soll für ihn nicht bloss ein Geschäft sein, das mit dem Kopf und der Zunge „be- sorgt und erledigt“ wird, sondern eine innere persönliche Angelegenheit, bei der auch das Herz mitspricht. Wenn der Geist des Lehrers keine lebendigen Funken sprüht, wenn nicht aus jedem Satze, den er spricht, Licht und Wärme strahlt, wie können dann die Köpfe seiner Kinder hell und ihre Herzen warm werden? Die einfachsten Übungen unserer Schwächsten müssen mit demselben Ernste behandelt werden, wie ein fesselndes Geschichtsthema auf der Oberstufe. Erste Aufgabe des Idiotenlehrers ist, dass er lerne, sich in den beschränkten Gedanken- kreis seiner Schüler hineinzuversetzen: er spreche mit ihnen, als ob er ihres- gleichen wäre; was ihre Neugierde erregt, muss auch ihn interessieren; wenn sie erstaunen, darf er nicht gleichgültig bleiben; worüber sie lachen, das muss auch er lustig finden.

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Dass die Anschaulichkeit des Unterrichtes wesentlich zur Weckung und Hebung des Interesses beiträgt, sei nur flüchtig erwähnt. Wir in den Schulen der Schwachsinnigen dürfen das Prinzip der Veranschaulichung sogar auf die Spitze treiben. Was hindert uns zum Beispiel daran, eine biblische Geschichte ihres orientalischen Beiwerks völlig zu entkleiden und sie in unsere deutsche Heimat, in die Gegenwart zu versetzen? Und wer will uns einen Vorwurf machen, wenn wir einzelne Gegenstände oder Vorgänge aus der Natur, diese oder jene Handlung und Thitigkeit des Menschen in ihrer anschaulichsten Breite vor- führen oder in natura vorınachen, dadurch vielleicht eine ganze Unterrichts- stunde ausfüllend? Nicht bei einem breiten und trivialen Frage- und Antwort- spiel lernen die Kinder am meisten, sondern wenn sie aufmerksam und mit sichtlichem Interesse einen Gegenstand bewundern oder einer erklärenden Vor- führung folgen. Ein helles und verständnisvolles Aufleuchten, das bisweilen über das Antlitz unserer Schüler huscht, ist mehr wert als zehn eingeübte Antworten.

Die Thatsache, dass wir in unsern Schulen genötigt sind, oft wochenlang einen und denselben Stoff zu besprechen resp. zu üben, muss freilich auf das Interesse unserer Kinder lähmend wirken und ihre Lust am Unterricht trüben. Doch auch da stehen dem Lehrer Mittel und Wege zu Gebot, die dies verhäten können. Wir sagen ausdrücklich „verhüten können“. Denn wenn die unwill- kürliche Aufmerksamkeit bereits mangelt, dann ist es zu spät, und durch nichts mehr lässt sich das Verlorene zurückholen, weder durch Lockmittel, noch und das am wenigsten durch Strenge. Darum von vornherein durch ein leben- diges, fröhliches Anfassen des Unterrichtes, durch die nötige Abwechslung, durch Einstreuen kurzer Ermunterungen und kleiner Belobungen dafür gesorgt, dass das Interesse wach bleibt! Mag eine Lehrprobe inhaltlich noch so interessant und formell, noch so logisch auf dem Papiere ausgearbeitet, sein, das eigentlich Fesselnde, die belebende Farbe, das, wodurch namentlich die Aufmerksamkeit unserer Kinder angelockt und festgehalten wird, müssen das persönliche Auftreten des Lehrers, seine Sprache, seine Blicke, sein Gebärdenspiel und andere „Er- munterungsmittelchen“, welche die Lebendigkeit des Unterrichts künstlich erhöhen, dazu thun. Gleichgiltig dürfte bei diesen künstlichen „Mitteln“ sein, ob sie in einem inneren Zusammenhang mit dem Inhalte des Unterrichts stehen oder ob sie sich nur auf Ausserlichkeiten beziehen; wenn sie nur nicht zerstreuend und störend wirken und den gewünschten Zweck erreichen. Vor einem über- triebenen Mienenspiel ist jedoch zu warnen, da bei lebhaft gestikulierenden Lehrern es nicht selten vorkommt, dass die Kinder, statt über den Inhalt der gestellten Fragen nachzudenken, sich nur auf ein Erraten der Gebärden verlegen.

Nicht abgerichtet, sondern unterrichtet sollen unsere Zöglinge werden; wir wollen sie nicht zu gelehrigen Schülern, sondern zu tüchtigen, gesunden und brauchbaren Menschen erziehen. Nur eines sollen sie bei uns gelernt haben: Denken und Wollen. Darin liegt für uns die Summe der ganzen Erziehung. Klares, gesundes Denken und auf Grund des gewonnenen Urteils ein willens- starkes, zielbewusstes Handeln, das ist die Grundlage aller ethischen Erziehung

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und Vervollkoınmnung. Lehrt die Kinder denken, selbständig und vernünftig urteilen, und ihr habt für ihre Erziehung mehr gethan, als tagtägliche Vor- lesungen über die Artigkeit und Wohlerzogenheit erreichen können. Was ist Tugend anderes als ein vernünftiges Leben! Haben ja unsere Philosophen nicht Anstand genommen, den Satz aufzustellen, dass Denken Liebe, Tugend sei. Der Unwissende und Unverständige muss, der Vernünftige und Denkende will Dieses Ziel der Erziehung lässt sich aber nicht durch Verwarnen, Ermahnen und Strafen erreichen, sondern einzig und allein durch einen die Erkenntnis fördern- den und den Willen stärkenden Unterricht. Für unsere Schulverhältnisse mag dieses Ziel allerdings zu hoch stehen, und mancher Leser wird die aufgestellte Forderung an dieser Stelle etwas unbegreiflich finden. Allein auch wenn wir mit unsern Zöglingen dasselbe niemals erreichen können, so soll es uns doch als Leitstern bei unserer Arbeit voranleuchten; unsere Erziehungsthätigkeit muss in allen ihren einzelnen Momenten von jenem ernsten, sittlichen Geiste durchdrungen sein, den die idealen Vorbilder in unserer Brust ausstrahlen.

Dieselbe geistige Kraft, die in uns wirkt und waltet, lebt auch in unsern schwachen Zöglingen, nur unfreier und gebundener. Sie aus ihren Fesseln zu befreien, das ist unsere heilpädagogische Aufgabe. Aber wir können nur die Bande von aussen lockern, können der gehemmten geistigen Kraft nur hilf- reiche Hand zur Befreiung reichen, das Losmachen selbst aber, das allmähliche Erwachen und Wachsen müssen wir ihr überlassen. Wie wir die Fesseln lockern können, und was unsere hilfreiche Hand zu bieten hat, wissen wir alle: nicht ein totes Wissen, das in den Gehirnkammern aufgespeichert wird und dort als unbrauchbare Ware vermodert und verschimmelt; nicht mechanisch eingedrillte Fertigkeiten, denen die lebendige, geistige Triebfeder, ein ziel- und zweck- bewusstes Verständniss fehlt; nicht interesse- und wertlose Besprechungen, die am Stoffe hängen bleiben und das geistige Leben und Werden der Schüler dar- über vergessen, denen die Nahrung und ihre Zubereitung höher steht als das Wohl des Säuglings; sondern einen lebensfrischen, anschaulichen, klaren und durchsichtigen Unterricht, der sich an die jeweiligen geistigen Verhältnisse und Bedürfnisse der schwachsinnigen Zöglinge genau anschliesst und nicht blindlings dem toten Wegweiser des Stoffplanes folgt, der die Aufmerksamkeit wachruft, die Denkkraft fördert, zum selbständigen Wollen und Handeln anregt und auch das Gemüt nicht leer ausgehen lässt das ist es, was wir in erster Linie unseren Kindern bieten müssen, um sie zu erziehen.

Mitteilungen.

Braunschweig. (Hilfsschule.) Zu Ostern wurde in der hiesigen Hilfs- schule eine neue Klasse eingerichtet, sodass wir jetzt 7 Klassen mit b Stufen haben. Parallelklassen bestehen zur 3. und 5. Klasse. Wegen Platzmangels musste die 3. Klasse b nach der nahe gelegenen 8. unteren Bürgerschule verlegt werden. Die Schule hat jetzt einen Bestand von 193 Kindern, und zwar 115 Knaben und

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78 Mädchen. Wegen Überfüllung der 2. und 4. Klasse sind zu Ostern 1900 noch 2 neue Klassen beantragt. Seit Ostern wird in der neu errichteten 5. Klasse b, in welcher vor allem die mit Sprachgebrechen behafteten Kinder Aufnahme finden, während 23 Stunden wöchentlich Sprachheilunterricht erteilt. An dem Unterricht nehmen auch die Sprachkranken der anderen Klassen teil.

Dresden. (Ein ehemaliger „Fürstenerzieher*e im Zuchthause.) Unter dieser Spitzmarke ging durch die Tagesblätter vor einigen Wochen die Nach- richt von der Verurteilnng des angehenden Anstaltsleiters H. Metz zu 2 Jahren Zuchthans und 3 Jahren Ehrverlust wegen „wiederholter, an einem geistig „urück- gebliebenen 13jährigen Mädchen verübter Sittlichkeitsverbrechen‘. Auf denselben Herrn bezog sich die Briefkastennotiz in Nr. 6 d. Bl. Die Zeitungen betonten, dass das Leben des Verurteilten ein sehr bewegtes gewesen sei, uns erschien dasselbe aber schon seit längerer Zeit anuch recht bedenklich. In Langenhagen (Hannover) schon soil Herr Oberlehrer Metz eine besondere Vorliebe für das weibliche Geschlecht gezeigt haben, dasselbe soll in Greiz der Fall gewesen sein, und in Nordhausen wurde ıhm gekündigt, weil der Verdacht auf ihm rahte, „dass er in sittlicher Beziehung nicht gamz einwandsfrei sei“. Angesichts dieser Umstände wunderte man sich s. Z., nicht wenig, dass Herr Metz die Genehmigung erhielt, ın Berlin-Friedenao eme „Unternchts und Ernehurgsanstalt fir geistig zurückgebliebene Kinder® zu erlnen. Wir können es uns aber vorstellen, wie Oberiehrer Metz das Publikum sowohl, wie auch die Bebirden staatliche und kommunliche durch sein selbstbewusstes Anf- treten und zaaf seimem Prinzemerzieher sich stützend, zu täoschen verstand. In einem Bekiameartikel des Berliner Lokalanzeigers hiess es u.a.: „Der leiter der Anstalt, Herr Oberlehrer Metz, ix seit 16 Jahren mit den vorzüglicheten Erfolgen in dem heilpädagugischen Berufe tkätie gewesen, war 3 Jahre an einer Staatsanctalt und hierauf rufakze seiner hervorragenden Leistungen 6 Jzhre alı [Lehrer and Firzieher an eınem deuiachen Pirsteshofe * Um Allen gerecht za werden, betonte Metz in semen Anstalicpecepenie die Wichtigkeit der reliziisen Erziehung end sagte n. a folgenden: „Dass bei dem Unterriehte und bei der Erziehung m meiner Anstalt anek fie Religion die thr gebührenie Stelling einnimmt md jede tnlegenheit zur Werkang nnd Förderang eines piditiven hristentume besatt wiri, bedar! kamm emer bersnaderen Betowmng. mt es bwh om den nach ehristiich - rri.ziieen Orandsitam erisgenen nad in dew chvistichen Lebensanachagnnges zefentigtea J inglingen nad Jangfranen möglich, sch m den widleriet Anferomngen ind Wirrniasen des [Lebenr mrechtanfinuden.® - - Wie verschieden amt iwi mwalim (le Hamürsees san ten Warten sinse Monachen.

Furslewwaide. = iboirmenasstaity VTaanataema ond bind oder bind und epsepiäch vier aubstumm md epileptisch bezw. arhwachsinnig sind manche Kınder uxi «innen nur wiwer mieren, mui n irgend smer Handfartigkait oter emem Handwerk ansgebiiiet werden. [ee Tansee der Binden- ndier Minter Anstalten oder Sustain ffir Egiegenche men in fer Rayol hm tor Anaiiidang ihrer Z4eiines nur mt ein hesünmmtes Lauben wier einen nentimmten Mange taranihen Röcksiche nehmen uni sw aber meist mirit u ter kaga, Kurier, welche mit mehreren Leiden beiafbxr amt zussuiniien [m ist ss iam wahr arireniich. tas, sarhtem on Aminede ı BE n tmerim, Buranf Praskeinh und Ichweeten aut in abtzainen

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Fällen auch in Deutschland, man sich solcher Kinder angenommen hat und zwar mitunter mit grossem Erfolg, nunmehr auch in Deutschland eine eigene Anstalt für derartige, besonders abnorme Kinder seit Mai 1897 ins Leben gerufen ist. Es ist dieses die sog. Abnormenanstalt des Evang. luth. Lazarushauses in Fürstenwalde a. Spree, in welcher gegenwärtig in 6 Klassen 30 besonders abnorme Kinder unterrichtet werden. Ein Prospekt der genannten Anstalt wird Freunden dieser bemitleidenswertesten Kinder gern übersandt.

Gera, R. j. L. (Jubiläum.) Die Hilfsschule beging am 8. Juni das Jubelfest ihres 25 jährigen Bestehens. Vormittags 10 Uhr faud in Anwesenheit mehrerer Gäste und vieler Eltern der Schüler in der Aula der Nikolaischule eine erhebende Feier statt. Herr Direktor Dr. Bartels, der Leiter der Hilfsschule, begrüsste die Anwesenden und führte aus, dass Gera die erste Stadt in Thüringen, die dritte in Deutschland überhaupt war, welche für geistig nicht normal beanlagte Kinder Fürsorge getroffen habe. Der Festredner, Herr Hilfsschullehrer Heilmann, ging auf die Begründung des Hilfsschulwesens im allgemeinen und auf die Entwick- lung der hiesigen Hilfsschule im besonderen ein. Vor 25 Jahren mit 12 Kindern eröffnet, weist die Hilfsschule jetzt 56 Kinder auf, die auf 3 Klassen mit je 20, 16 und 20 Kindern verteilt sind.. Wir verweisen auf unseren in der vorigen Nummer veröffentlichten Osterbericht. Die Feier wurde durch Gesänge des Knaben- und Mädchenchors der ersten Bürgerschule verschönt. Unter den Deklamationen der Hilfsschüler fand ein von unserem heimischen Dichter, Lehrer Heinrich Hermann, verfasstes Gedicht: „Ausdauer“ wegen seines sinnigen Inhaltes ganz besonderen Anklang. Es lautet:

I, Il. Ein kleiner, muntrer, junger Fink Ein Ameislein zog einen Span Sang drin'n im Baum sein pink, pink, pink. Ein kleines Hügelchen hinan; Es machte ibm viel Müh’ und Plag’, Oft purzelte es mit der Last Eh’ ihm gelang der Finkenschlag. Den ganzen Weg zurücke fast. Doch nimmer liess er nach im Fleiss Gab es die Arbeit auf? O nein! Und endlich wurde ihm der Preis; Es setzte alle Kräfte ein. Sein Finkenlied, er schmettert’s fein Und früher noch, als man gedacht, Jetzt in die schöne Welt hinein. ' Hat es den Span ans Ziel gebracht,

HI.

Das Lernen macht uns zwar viel Müh’, Doch lernt mit Lust man spät und früh, So wird der Lohn uns bald beschert Und eh’ man’s denkt, ist man gelehrt.

Wir lernten für den Jubeltag

Ein Liedlein, unsern Finkenschlag ; Wir lernten bray, ich mein wir drei, Denn ohne Anstoss ging’s vorbei.

Die von Lehrer Weniger zur Ausstellung gebrachten Arbeiten der Schüler im Handfertigkeitsunterrichte, bestehend aus Holz-, Papier- und Kartonarbeiten, wurden von den Festteilnehmern mit Interesse besichtigt. Nachmittags ging die Hilfsschule nach dem Waldhaus spazieren. Hier wurden die Kinder mit Kaffee und Kuchen und

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sehr reichlich bemessenem Abendbrot bewirtet. Die Kosten wurden durch Beitrag des Schulvorstandes und durch freiwillige Spenden mehrerer Wohlthäter gedeckt. Besondere Erwähnung verdient eine hochherzige Stiftung des Herrn Kommissionsrats Nitzsche, Vorsitzenden des Gemeinderates (Stadtverordnetenkollegiums), welcher hundert Mark auf der Gewerbebank niedergelegt hat, von deren Zinsen alljährlich am 8. Juni auf einem Spaziergange bedürftige Kinder der Hilfsschule unterstützt und erfreut werden sollen. Von einem früheren Hospitanten der Hilfsschule, Herrn Haupt- lehrer Löper-Barmen, ging ein längeres Glückwunschtelegramm ein. „—“ M.- Gladbach. (Erziehungs- und Pfleganstalt) Am 1. Januar 1898 betrug die Zahl der Pfleglinge 181, neu aufgenommen wurden 26, die Gesamtzahl der Verpflegten betrug demnach im Berichtsjahr 207, ausgetreten sind 19, es blieben also am Schluss des Jahres 188 in Pflege. Der höchste Bestand war am 3. Oktober mit 192, der niedrigste am 3. Januar und am 16. Juni mit 180 Pfleglingen. Dem Bekenntnisstande nach waren 203 evangelisch, 3 katholisch und 1 israelitisch. Die meisten, 198, waren aus der Rheinprovinz, 2 aus der Provinz Hannover, je 1 aus Westfalen, Brandenburg, „Hessen - Nassau, Hessen-Darmstadt, dem Fürstentum Birken- feld, dem Königreich der Niederlande und der französischen Schweiz. Wie schon mitgeteilt, schieden im Berichtsjahr 19 Pfleglinge aus, 17 Knaben und 2 Erwachsene. Von den letzteren wurde einer in die Irrenanstalt Tanuenhof versetzt, der andere, friher hier konfirmiert, kehrte nach Hause zurück. Unter den 17 entlassenen Knaben waren 6 konfirmierte und 4 bedeutend gebesserte Schüler; als nicht bildungsfähig kehrten 3 nach Hause zurück, 1 wurde nach kurzer Zeit von den Eltern wieder- geholt; 3 starben in der Anstalt, einer derselben kurze Zeit vor seiner bevorstehenden Konfirmation. Von den als gebessert Entlassenen starben 2 nach kurzer Zeit im Elternhause. Von den neu eingetretenen Zöglingen kamen 25 in das Haupthaus und 1 ins Asyl. Das Alter derselben schwankte zwischen 5 und 23 Jahren. 15 der aufgenommenen Kinder: sind der Sprache vollkommen fähig, 6 sprechen mangelhaft und 4 können nicht sprechen. 7 davon leiden an Schwachsinn und 19 teils an ınittlerem, teils an hochgradigem Blödsinn; ein Knabe ist mit einem ziemlich starken Wasserkopf behaftet. Bei 15 besteht der Zustand von Geburt an, bei 11 ist er erst später entstanden, und zwar im 1. Lebensjahre durch Krämpfe bei 1, durch Fall auf den Kopf bei 1; im 2. Lebensjahre durch Gehirnentzündung bei 1, durch Krämpfe bei 1; im 3. Lebensjahre durch Skrofulose bezw. durch Masern bei 2; im 4. Lebensjahre durch Gehirnentzündung bei 2, durch Fall auf den Kopf bei 1; im 5. Lebensjahre durch Gehirnerkrankung infolge einer herabgestürzten Zimmerdecke bei 1; im 7. Lebensjahre angeblich infolge einer durch einen Steinwurf verursachten Gehirnerkrankung bei 1; es sei übrigens bemerkt, dass letzterer der Sohn eines früheren Zöglings der Anstalt ist, was zu der Annahme berechtigt, dass in diesem Falle eine erbliche Belastung vorliegt und der Zustand angeboren ist. Weitere Belastungen sind bei 10 Kindern vorhanden: 2 sind unehelich geboren, davon 1 von einer blödsinnigen und 1 von einer kretinenhaft gestalteten Mutter; von 5 sind die Väter Trinker; von 1 war die Grossmutter mütterlicherseits geisteskrank ; von 1 der Grossvater väterlicherseits vom 18. Jahre an taub und von 1 eine Tante mütterlicherseits taubstumm. Von den 25 aufgenommenen Kindern hatten vor

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ihrem Eintritt in die Anstalt 8 noch keine Schule besucht; 10 waren ohne jeglichen Erfolg, 3 mit kaum nennenswertem und 4 mit einigem Erfolg kürzere oder längere Zeit zur Schule gegangen. Der Unterricht wurde im vergangenen Jahre erteilt von dem Direktor, der zugleich den gesamten Unterricht leitet, dem Inspektor, 3 seminarisch gebildeten Lehrern und 4 Wärtern, von letzteren besonders in der Vorschule. Die Grundsätze und die Methode, nach denen unterrichtet wurde, sind dieselben geblieben, wie sie in frühern Berichten dargestellt wurden. Sie wurden auch im Berichtsjahre durch die erzielten Erfolge gerechtfertigt. Der Unterricht erstreckte sich auf alle Fächer einer Elementarschule; es nahmen an demselben 85 Kinder der Erziehungs- Abteilung sowie verschiedene Kinder der Pflege-Abteilung teil; letztere besonders in der Vorschule, am biblischen Geschichtsunterricht und am Singen.

Schweiz. (Zweite Konferenz fir das Idiotenwesen.) Seit der ersten Konferenz in Zürich sind zehn Jahre verflossen , eine lange Zeit, aber keine unfruchtbare. Die Anregungen, welche von jener ersten Versammlung ausgingen, haben teils direkt, teils indirekt eine Reihe von Veranstaltungen zur Fürsorge für

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Schwachbegabte in unserem Lande wachgerufen, die Frage der Errichtung von Anstalten

für Schwachsinnige in Flüss gebracht und in Lehrerkreisen das Interesse für die Sache überhaupt gesteigert. Diesem Interesse und den sich anschliessenden Bemühungen haben wir die eidgenössische Zählung der schwachsinnigen Kinder vom Jahre 1897 zu verdanken. Um nun ein zusammenfassendes Bild dessen, was auf diesem Gebiete im verflossenen Dezennium geschehen ist, zu erhalten und durch weitere Belehrung und Anregung der Sache einen neuen Anstoss zu geben, beschloss das bisherige Komitee, eine zweite Konferenz für das Idiotenwesen zu veranstalten. Dieselbe fand im Grossratssaale in Aarau statt und wurde Montag, den 29. Mai, nachmittags um 3'/, Uhr eröffnet. Den Vorsitz führte Pfarrer Ritter von Zürich. Dr. Schenker, Präsident des Lokalkomitees, begrüsste die Versammlung. Pfarrer Ritter spricht in seinem Einleitungsvortrage über den gegenwärtigen Stand der Fürsorge für Schwachsinnige in der Schweiz. Nach zehnjähriger Unterbrechung kann endlich wieder eine Konferenz stattiinden. Aber es war dem permanenten Komitee nicht möglich, früher eine Konferenz einzuberufen. Viel Segen ist von der ersten Konferenz ausgegangen; J,ehrervereine, gemeinnützige Gesellschaften, kommunale, kantonale und eidgenössische Behörden bekunden einen regen Eifer zur Hebung des Notstandes der Schwachsinnigen und Idioten. Freilich haben uns verschiedene Staaten in der Für- sorge der unglücklichen Jugend bereits überholt, z. B. Dänemark und Schweden u s. w. Für 7667 schwachsinnige Kinder haben wir heute in der Schweiz 41 Hilfsklassen. Im ganzen besitzen wir zehn Anstalten. Vor allem fehlen uns noch Anstalten für ganz Blõdsinnige. Das Bedürfnis hierfür ist geradezu ein schreiendes. Sodann wäre eine gute Vorbildung für das Warte- und Pflegepersonal der Idioten eine dringende Notwendigkeit. Sekundarlehrer Auer-Schwanden spricht über die eidgenössische Zählung der schwachsinnigen Kinder und deren Ergebnisse als Grundlage des Rettungswerkes fir die unglickliche Jugend. Dem Andenken an den grossen Vater Pestalozzi gebührt das Verdienst, dass der schweizerische Lehrerverband 1896 beschloss, eine Petition an den Bundesrat zu richten, dass eine Statistik, die schwach-

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sinnigen Kinder betreffend, gemacht werde. Der Bundesrat begrüsste die Petition, wofür ihm Dank gebührt, vorab den Herren Lachenal und Ruffy, aber auch Dr. Guillaume, dem ein grosser Teil des Zustandekummens einer zuverlässigen Statistik zu verdanken ist. Diese Statistik ergab, dass auf diesem Felde noch ein grosses Arbeitsgebiet vorhanden ist und dass die Gesetzgebung in der Weise ausgedehnt werden sollte, dass der Schulzwang auch für Schwachsinnige, Epileptische u. s. w. in der ganzen Schweiz eingeführt werden sollte und dass alle Kinder, die die Volksschule nicht besuchen können, in Spezialklassen oder in Anstalten untergebracht werden sollten. Notwendig ist die Heranbildung tüchtiger Lehrer, die über eine umfangreiche Bildung verfügen und sich zum Unterricht für Schwachsinnige eignen. Redner begrüsst es, dass in Zürich ein Bildungskurs erteilt wird. Es erfordert für den Lehrer unendliche Geduld und Liebe, solchen Kindern Unterricht zu erteilen, deshalb sollte ihre Besoldung nicht kleiner sein, als die der Volksschullehrer, obgleich ja ein Lehrer nicht nur des Geldes halber, sondern auch aus Liebe und Mitleid gerne schwachsinnigen Kindern Unterricht erteilen wird. Das Volksinteresse an dieser Sache wird lebhaft geweckt werden, wenn abermals eine Statistik veranstaltet wird. Dies zu thun hat der schweiz. Lehrerverein bereits beschlossen. Es wird beantragt, eine „schweizerische Gesellschaft für Erziehung schwachsinniger Kinder“ zu gründen. Ferner soll Dr. Kölle in Regensberg an einer nächsten Konferenz ein Lebensbild von Dr. Joh. Jakob Guggenbühl entwerfen, der viel Gutes erstrebt und bewirkt habe für unglückliche Kinder. Auch dieses Referat, wie die Rede des Präsidenten findet grossen Beifall. Direktor Guillaume-Bern macht Mitteilung über die Ergebnisse der 1897er Statistik über Kinder, die infolge geistiger oder physischer Gebrechen von der Öffentlichen Schule ausgeschlossen sind. Die Zahl dieser Kinder betrug 2405, davon waren eheliche 2320, uneheliche 85, in einer Anstalt versorgt 669. Hochgradig schwachsinnig waren 38,2 °/,, mit Kretinismus behaftet 6,5 °,, an Schwerhörigkeit, Stummheit oder Taubstummheit leidend 37 |, mit halber oder vollständiger Blindheit behaftet 4,5 °/,, an Fallsucht leidend 5,4 °/,, mit anderen Gebrechen belastet 8,4 °%,, mit einem Gebrechen 75 °%,, mit zwei Gebrechen 21,4 °/,, mit drei Gebrechen 2,9 °/,, mit vier Gebrechen 0,7 °/,. Am Dienstag morgens 8 Uhr findet die zweite Versammlung statt. Sekundarlehrer Auer hat den Antrag eingebracht: „einen Pestalozziverein für schwachsinnige Kinder zu gründen“. Das Komitee schlägt vor, eine Kommission von neun Mitgliedern zu wählen und dieser den Auftrag zu erteilen, in nächster Konferenz einen Antrag zu stellen, in welcher Weise zukünftig die Konferenzen weitergeführt werden sollen. Der Antrag wird einstimmig angenommen. Alsdann hält Herr Dr. Schenker, Direktions- präsident der Anstalt auf Schloss Biberstein, einen hochinteressanten Vortrag über das Thema: Zehnjährige Beobachtungen an schwachsinnigen Kindern mit spezieller Berücksichtigung der Ätiologie und Therapie des Schwach- sinns. Mannigfach sind die Ursachen des Schwachsinns, auch der Alkoholismus spielt dabei keine untergeordnete Rolle. Von 182 Zöglingen der Anstalt ist bei 41 konstatiert und nicht konstatierte Fälle giebt es nach Redners Ansicht gewiss auch eine Anzahl —, dass die Trunksucht des Vaters die direkte Ursache ihres Schwachsinnes ist. Trunkenbolde erzeugen wieder Trunkenbolde. Ja, sogar Abstinenten,

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die früher zu viel tranken, können schwachsinnige Kinder erzeugen, weil sie zu spät Abstinenten wurden. Der Staat thut heutzutage viel zur Hebung der Viehzucht, aber es sollte auch mehr gescheben zur physischen, moralischen und geistigen Hebung des Menschengeschlechtes. Allzufrüh sind heutzutage die Kinder reif, schon im 16. bis 20. Jahre im Lebensmaien sehen wir lebensüberdrüssige Kinder nervöser, oft hysterischer Natur. Sollen diese einst gesunde Kinder erzeugen können? Allzufrüh giebt man den Kindern die Tagespresse in die Hand, nimmt sie mit ins Theater, zum Tingeltangel, ins Wirtshaus u.s. w. Nicht nur die Schule, die man so gerne zum Sündenbock für alle Fehler macht, welche die Kinder ins reifere Alter mitnehmen, auch die elterliche Erziehung ist schuld an der Misere, die wir beklagen. Freilich könnten auch in der Schule bessere erzieherische Resultate geleistet werden. Der Unterricht ist viel zu sehr schablonisiert. Ein halbtägiger Unterricht dürfte sogar genigen. Im Tempel der freien Gottesnatur sollten die Kinder mehr Unterricht geniessen und auch die Erwachsenen sich mehr belehren lassen. Ein grosser Fehler wird gemacht, dass man der Gesundheitspflege in keiner einzigen Schule, ja nicht einmal an den Lehrerseminarien, eine Lehrgelegenheit einräumt. Es kann sich doch für den Staat nicht allein darum handeln, schöne Schulpaläste za bauen, er muss auch versichert sein, dass die Kinder ausser der Schule eine gesunde und genügende Nahrung bekommen und in gesunden Wohnungen sind; der Staat, gemeinnützige Gesellschaften, edle Männer und Frauen, humanitäre Vereine u. s. w. dürften immer noch mehr den Alkoholismus bekämpfen und den Temperenz- und Abstinentenvereinen grössere Sympathie entgegenbringen. Wenn dies bis dahin teilweise nicht genügend geschehen ist, so mag es daher rühren, weil diese Vereine einesteils ein allzu religiöses Mäntelchen tragen, andernteils oft fast fanatisch Propaganda für ihre Sache machen. Was soll nun für das Gros der Schwachbegabten und Idioten geschehen ? Die Schwachsinnigen sind in Spezialklassen zu organisieren und bei hochgradigem Schwachsinn in Anstalten unterzubringen. Schwachsinnige Kinder müssen leider oft dazu dienen, dass man mit ihnen den „dummen Jungen“ spielt. Das macht sie oft traurig, oft bösartig. Es giebt Eltern, die eine wahre Affenliebe zu den schwach- sinnigen Kindern haben; dadurch werden die Kinder gereizter, oft sogar hysterisch Die Versorgung von schwachsinnigen Kindern in Anstalten ist für dieselben eine grosse Wohlthat. Jedoch sollte in Anstalten für Schwachsinnige stets ein viertel-, ja balbjährliche Probezeit stattfinden, ob sie besserungsfähig sind. Es ist verfehlt, schwachsinnige Kinder vor dem 18. Lebensjahre den Anstalten zu entreissen. Mit den schwachsinnigen Kindern soll täglich geturnt werden. Beschäftigung mit Hand- arbeit, Korbflechterei, Seilerei, Schusterei, hauptsächlich Landarbeit u. s. w. haben oft sehr guten Erfolg. Als Knecht oder Magd, Schuster, Korbflechter u. s. w. kann manches schwachsinnige Kind doch später sein Brot bescheiden verdienen. Gegen Krankheit und Arbeitsunfähigkeit sollten Lehrer und Lehrerinnen an Anstalten für schwachsinnige Kinder versichert sein. Sie sollten auch jährlich 1—3 Wochen Ferien haben, ist doch ihr Dienst ein aufreibender und ein edler Dienst. Der Referent fasst seinen interessanten, mit grossem Beifall aufgenommenen Vortrag in folgende Thesen: „Die zweite schweizerische Konferenz für das Idiotenwesen erklärt es als wünschens- wert, dass durch den Staat, gemeinnützige Vereine, einflussreiche Männer und Frauen.

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die Bekämpfung der Ausbreitung des Idiotismus in der Schweiz energisch an die Hand genommen wird. Dieses kann geschehen: a) durch Schaffung von eidgenössischen Gesetzen, welche das Heiraten von Geisteskranken, psychopathisch Minderwertigen, Epileptikern, Schwach- und Blödsinnigen, chronischen Alkoholikern und hochgradigen Tuberkulösen verbietet; b) durch Vorsorge für eine rationellere Erziehung, Pflege, Ernährung und Schulung unserer Jugend; c) durch intensive Belehrung des Volkes in Wort und Schrift über die Ursachen des Idiotismus und Mittel zu deren Verhütung; d) durch Unterricht und Erziehung der Schwachbegabten und Schwachsinnigen in den hierfür zu schaffenden Spezialklassen und Anstalten für schwachsinnige Kinder; e) durch Versorgung der bildungsunfähigen, schwachsinnigen Kinder in geeigneten Asylen“. Über die Thesen kann der vorgerückten Zeit halber nicht mehr eingehend diskutiert werden. Im Schlussvortrage spricht Lehrer Fisler-Zürich über die bisherigen Erfahrungen betreffend Organisation der Spezialklassen für schwachbegabte Schüler. Die Kräfte eines Lehrers an Spezialklassen werden nicht nur aufs äusserste angespannt, sondern auch abgespannt. Ohne eine hohe, ideale Lebens- auffassung ist ein gedeihliches Wirken des Lehrers an Spezialklassen undenkbar. Einem Lehrer an solchen Klassen ist es nicht zu verdenken, wenn er fühlt, dass seine Kräfte nicht mehr ausreichen, alsdann wieder bei Vollsinnigen Unterricht erteilen will. Verschiedene Länder haben grössere Erfolge mit dem Unterricht in Spezialklassen erzielt, wie wir, und es ist der Unterricht, der niemals schablonenhaft erteilt werden kann, daselbst ein sehr gut organisierter. Weider verbietet uns der Raum noch näher auf den interessanten Vortrag, der ebenfalls mit grossem Beifall aufgenommen wurde, einzutreten. Nachdem Schulinspektor Fischer den Vorsitzenden Pfarrer Ritter für seine Mühewaltung gedankt hat, wird die Konferenz geschlossen. Am Nachmittage statteten verschiedene Teilnehmer der Konferenz der Anstalt von Biberstein einen Besuch ab. -—

Litteratur.

Die praktische Anwendung der Sprachphysiologie beim ersten Leseunterricht. Von Dr. Hermann Gutzmann. Mit einer Tafel. Berlin 1897. Verlag von Reuther & Reichard. Preis Mk. 1,50.

Im ersten Abschnitte, welcher einen kurzen geschichtlichen Abriss über die Methoden des ersten Leseunterrichts bietet, zeigt der Verfasser, dass die Idee, sprach- physiologische Übungen mit dem Lesenlernen zu verbinden, nicht neu ist. Ausser Graser, dem Begründer der Schreiblesemethode, haben noch Olivier und Krug den Versuch gemacht, eine praktische Verwendung der Sprachphysiologie beim ersten T,ese- unterricht anzubahnen. Oliviers Verfahren ist viel zu weitläufig und für den kind- lichen Verstand zu huch; Krugs Methode dagegen enthält viele praktische Einzel- heiten, die nach Gutzmanns Meinung auch heute noch sehr gut zu verwerten sind, namentlich die Forderung, dass die Kinder jeden Sprachlaut mit klarem Be- wusstsein von der Lage der Sprachorgane bilden müssen und diese Fertigkeit vor dem eigentlichen Leseunterricht erlangen sollen. Diese

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Forderung, welche Gutzmann auch als die seinige anerkennt, bildet eine der Haupt- bedingungen für den sprachphysiologischen Leseunterricht, dessen Durchführbarkeit der Verfasser im zweiten Abschnitte seiner Abhandlung nachweist. Neben dem prak- tischen Werte der Sprachphysiologie, welcher sich aus den Erfolgen bei Anwendung derselben bei taubstummen, sprachgebrechlichen und idiotischen Kindern ergiebt, ist der gesundheitliche Wert derselben von grosser Bedeutung. „Ein sprachphysio- logisch richtig erteilter Leseunterricht in der untersten Volksschul- klasse ist im stande, eine grosse Reihe von schon vorhandenen Sprach- gebrechen zu unterdrücken oder zu beseitigen und noch eine grössere Zahl zu verhüten.* An einzelnen Beispielen zeigt der Verfasser dann, wie sprachphysiologische Übungen (verschiedene Artikulationssysteme) praktisch durch- gearbeitet werden sollen. Was den Lehrgang im allgemeinen anbetrifft, so weicht Gutzmann von dem bisher üblichen Gange des Leseunterrichtes im wesentlichen nicht ab, er schlägt nur vor, die Fibel nach der Idee seines Vaters mit Abbildungen des Gesichts mit der für die Vokale und einige hauptsächliche Konsonanten charakteristi- schen Mundstellung auszustatten und liefert in der der Arbeit beigefügten Tafel Bei- spiele für diese Abbildungen. Diese Abhandlung, welche das 2. Heft des ersten Bandes der „Sammlung von Abhandlungen aus dem Gebiete der päda- gogischen Psychologie und Physiologie“, herausgegeben von H. Schiller und Th. Ziehen, bildet, ist sehr interessant und bietet viel Stoff zum Nachdenken und zum Prüfen und sei daher unsern Lesern aufs angelegentlichste empfohlen. Frenzel.

Vorlagen für das Flechten von Papierstreifen. In 4 Heften, heraus- gegeben von J. Giese, Hauptlehrer der Hilfsschule in Magdeburg. Preis 40 Pfennige.

Die in schwarz und gelb gedruckten Flechtimuster sind in den 4 Heften metho- disch geordnet und verdienen Eingang in jede Hilfsschule und Anstalt für geistig zurückgebliebene Kinder. Verfasser verkauft laut Prospekt, der germ versandt wird, die zu den einzelnen Mustern gehörigen Flechtblätter und -streifen zu billigem Preise.

Vorlesungen über Sprachstörungen. 1. und 2. Heft. Die Pathologie und Therapie des Stotterns und Stammelns. Von Dr. med. Albert Liebmann. Berlin W. 35. Verlag von Oscar Coblentz. 1898. 104 Seiten. Preis Mk. 2,40.

Dr. Liebmann, Arzt für Sprachstörungen zu Berlin, bekannt durch seine „Neue Therapie des Stotterns 1896*, welche seiner Zeit berechtigtes Aufsehen erregte, veröffentlicht nach dem Beispiele Dr. Gutzmanns Vorlesungen über Sprach- störungen, wovon uns die beiden ersten Hefte vorliegen, denen in Kürze noch ein drittes folgen soll. Das erste Heft behandelt die Pathologie und Therapie des Stotterns. Es existiert bereits eine reichhaltige Litteratur über das Stottern; nach des Verfassers Meinung aber sind die Ansichten über dieses in praktischer Beziehung ausserordentlich wichtige Übel noch so wenig geklärt und stehen sich vielfach so schroff gegenüber, dass es ihm wichtig erscheint, auch seinerseits an der Hand eines grossen Materials die vorgetragenen Meinungen der Autoren nachzuprüfen und eventl.

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zu ergänzen. Die Schrift enthält deshalb in der Hauptsache eine mit grosser Sach- kenntnis und scharfer Kritik verfasste Darstellung über die Ätiologie des Stotterus, seine Symptome, die Theorien verschiedener Autoren, die Theorie Liebmanns, die Diagnose, Prognose, Prophylaxe und Therapie des Stotterns. Eigenartig und zum Teil neu sind des Verfassers Ideen über die Behandlung Stotternder. Nach seiner Ansicht sind alle Übungen der Atmung, Stimme und Artikulation völlig entbehrlich und teilweise sogar für die Sprache schädlich, weil sie dieselbe leicht dauernd mit unnatürlichen Elementen belasten. Liebmann lässt seine Patienten sofort in der ersten Sitzung, ohne dass irgend welche Übungen vorrangehen, Sätze mit gedehnten reinen Vokalen ohne Rhythmus sprechen. Eine eingehende Be- schreibung seiner Methode aber bietet die Schrift nicht, sondern sie giebt nur kurze Andeutungen und Auseinandersetzungen über das Verfahren. Liebmann glaubt nach seiner Methode selbst geistig zurückgebliebene Kinder verhältnissmässig leicht behandeln zu können. Das zweite Heft verbreitet sich über die Pathologie und Therapie des Stammelns. Die Arbeit ist bei weitem gehaltvoller als die erste und gehört unstreitig zu den hervorragendsten Erscheinungen auf dem Gebiete der Litteratur fir Sprachhygieine. Der Verfasser nimmt an vielen Stellen auch auf geistig zu- rückgebliebene Kinder Bezug und kennzeichnet die Artikulationsmängel derselben sehr treffend. Im ganzen bringen die Ausführungen Liebmanns in diesem Teil viel Interessantes und bieten durchaus praktische Ratschläge zur Behandlung des häufig verbreiteten und in mannigfachen Formen auftretenden Sprachübels.. Der Leser wird in beiden Schriften viel Anregung und Stoff zum Denken und zur weitern Er- wägung finden und nicht ohne Gewinn und Nutzen die Liebmannschen Arbeiten studieren.

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Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. Druck von Johannes Pässler in Dresden.

Nr. 9. XV. (IX) Jahrg.

Zeitschrift

für die

Behandiung Sehwachsinniger und Fpleptischer,

Organ der Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

herausgegeben von

W. Schröter, Sanitäterat Dr. med. H. A. Wildermuth, Direktor der Erziehungsanstalt Spezialarst für geistig Zurückgebliebene in fir Nervenkrankhelten Dresden - in Stuttgart. precuent on In 12 un von ce durch alle Buchhandlungen mindestens einem Bogen. nzeigen für und Postämter, wie auch direkt von den dis gespaitene Petitzelle 25 Pfg. Litte- September 1899. Herausgebern. Preis pro Jahr 6 Mark, rarische Bellagen 6 Mark. elnzeine Nummer 50 Pfg.

Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber.

Der schädliche Einfluss behinderter Nasenatmung auf die körperliche und geistige Entwickelung der Kinder.

Vortrag von E. Kannegiesser, Lehrer an der Hilfsschule zu Erfurt.

Es möchte wohl hier oder da die Frage aufgetaucht sein, ob dieser Gegen- stand sich zur Erörterung in einer pädagogischen Versammlung schicke. Ich meine aber, eine Zeit, in der das Studium der pädagogischen Pathologie, der Kinderfehler, die weitesten Kreise der Pädagogen, Ärzte, selbst der Juristen und Theologen mit steigendem Interesse erfüllt, darf diesem Thema, als einem Teile jenes Gebietes, die Berechtigung nicht versagen, in unsrer Mitte behandelt zu werden. Die behinderte Nasenatmung ist ein Leiden, welches gerade wir in der Schule am besten sich entwickeln sehen, dessen Folgen wir am ehesten im Unterricht empfinden, und zu dessen Heilung wir am meisten dadurch bei- tragen können, dass wir den Arzt rufen.

Nun werden der Hilfsschule jährlich stets eine Anzabl von Kindern zur Aufnahme angeboten, welche ohne schwachsinnig zu sein, doch durch körper- liche Leiden geistig so tief gesunken sind, dass sie schwachsinnig erscheinen. Zu denen gehören auch die Kinder mit beliinderter Nasenatmung. Sollten wir sie von uns weisen? Die Liebe zu den geistig Schwachen verbietet uns, sie von der Aufnahme auszuschliessen, da die Hilfsschule ihnen die letzte Möglich- keit bietet, geistig empor zu kommen trotz des Leidens. Wenn es aber nun schon möglich wäre, diese Kinder in den „Normalschulen“ als Leidende zu er- kennen, sie ihren geistigen Anlagen entsprechend zu entwickeln, ihnen Heilung zu bringen und sie, ich möchte sagen, vor der Hilfsschule zu behüten, so wäre ihnen, dem Haus und der Schule der grösste Dienst erwiesen. Sollte mein Vertrag ein klein wenig dazu beitragen, so wäre die gehabte Mühe reichlich belohnt.

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Dass die Nase zum Riechen vorhanden ist, weiss das jüngste Schulkind; ihre Bedeutung als Atmungsorgän aber wissen die wenigsten Erwachsenen, sogar manche Ärzte noch nicht zu würdigen. Letztere Thatsache hat ihren Grund mit darin, dass ihnen auf den deutschen Universitäten die Gelegenheit mangelt, sich in dem Spezialfache der Nasenheilkunde zu unterrichten; auch ist dieser Beruf der Nase etwa erst seit 50 Jahren in den Bereich der ärztlichen Wissenschaft gezogen worden. Der franz. Arzt Piorry wies 1844 darauf hin, dass oft Katarrhe der tieferen Luftwege und Lungen auf einen krankhaften Zustand der Nase zurückzuführen seien. Seitdem haben sich fast nur Spezialärzte mit diesem Gegenstande befasst und nur langsam dringt die gewonnene Erkenntnis weiter.

Wie begrändet sich nun die Behauptung, dass die Nasenatmung die natür- liche Atmung sei? Das kleinste Kind kennt nur die Nasenatmung, weil es so geboren ist. Dass es die Mundatmung erst mühsam erlernen muss, wird jeder aufmerksame Vater bestätigen können. Sodann ist auch die Nase für den spe- ziellen Beruf der Atmung gebaut. Sie ist durch die Nasenscheidewand in zwei Hälften geteilt, deren jede drei grosse, hintereinanderliegende muschelförmige Gebilde, die Nasenmuscheln, enthält. Sie, wie das gesamte Naseninnere werden von einer mit Blutgefässen reich gefüllten Schleimhaut bekleidet. In derselben breitet. sich zum Teil der Riechnerv aus. Der ganze übrige Raum ist mit dem Flimmerepithel besetzt. Die Luft wird nun auf dem Wege durch die Nase zur Aufnahme in die Lungen geeignet gemacht, nämlich erwärmt, gefeuchtet uud gereinigt. Dass die mit Blut gesättigte Schleimhaut erwärmt und gefeuchtet wird, leuchtet ein. Der Reinigung dient das oben genannte Flimmerepithel, an welchem sich alle Unreinlichkeiten der Luft festsetzen und vermöge der nach aussen ge- richteten Bewegung der Flimmerhärchen aus der Nase entfernt werden, wovon man sich nach einem längeren Aufenthalte in einem rauchigen oder staubigen Lokale überzeugen kann.

Diese, der Nase von der Natur zugewiesene Funktion kann der Mund nicht übernehmen. Darum’ treten bei dauernder Mundatmung auch Rachen-, Kehlkopf- und Bronchialkatarrhe auf, welche nach beseitigter Ursache wieder verschwinden, wie vielfache Beobachtungen bezeugen. Also behinderte Nasenatmung war das Grundübel.

Welche nachteiligen Folgen stellen sich nun bei behinderter Nasenatmung sowohl für die körperliche als auch für die geistige Entwicklung der Kinder ein?

Bei den nachfolgenden Untersuchungen ist es von Vorteil, sich stets zweier Gesichtspunkte zu vergegenwärtigen: 1. Die Nase ist m den Atmungsapparat organisch eingefügt. Wird der innige Zusammenhang behindert oder aufgehoben, so müssen sich nachteilige Folgen ergeben. 2. Funktionsveränderung zieht stets eine Strukturveränderung nach sich.

Die schädlichen Folgen behinderter Nasenatmung entwickeln sich nur lang- sam; sie sind um so schwerer, je tiefer die Ursache des Leidens war und je länger und ungestörter die Entwickelung dauerte. Gewöhnlich treten sie bei dem schulpflichtigen Kinde erst auffällig hervor. Es starrt mit offenem Munde

N

und müdem Gesichtsausdrucke vor sich hin, ist träge und teilnahmlos; die funktionslose Nase zeigt einen breiten, flachen Rücken, oft starken Fluss; die Nasenlöcher sind klein und ihre Flügel bewegungslos. Kurz, wir haben ein Kind vor uns, welches dem Unterricht die grössten Schwierigkeiten bereitet. Erkundiguug bei den Eltern ergiebt kaum mehr als die angegebenen Thatsachen. Nur meinen sie etwa noch, das Kind sei früber lebhafter gewesen. Den Schnupfen sei es allerdings selten einmal los geworden; auch gegen nasskaltes Wetter sei es sehr empfindlich. |

Dieses Krankheitsbild ist nun bei geistig minderwertigen Kindern nichts Auffälliges. Und thatsächlich findet sich das Leiden bei ihnen recht oft. Ver- folgen wir aber den unheilvollen Einfluss der behinderten Nasenatmung weiter, so wird es klar werden, dass dadurch auch geistig normale Kinder schwer ge- schädigt werden können.

Wir betrachten im folgenden zuerst die schädlichen Wirkungen auf den Atmungsvorgang und -Apparat. Die Nasenatmung bedingt ein tiefes Atmen, welches die Lungen bis in die oberen Teile die wichtigen Lungenspitzen füllt, und ist dadurch gegen die Mundatmung bedeutend im Vorteil, da diese nur kurz, hastig und oberflächlich den Atmungsvorgang ausführt. Der Unterschied kann freilich durch den Willen aufgehoben werden. Im Leben achtet aber niemand auf das Wie der Atmung und lässt den Apparat natürlich oder in krankhafter Weise funktionieren. Diese Thatsache erklärt sich daraus, dass das Atmen auf einer zweckmässigen automatischen Bewegung eines ganzen Muskel- systems und des den erforderlichen Antrieb und die Regulierung gebenden Nervensystems beruht. Durch natürliche, also Nasenatmung, wird die Brust in ihren oberen Teilen gut gewölbt; Mundatmung erzeugt flache Brust. Infolge mangelhafter Atmung ist sowohl die Erneuerung des Blutes, als auch der Stoff- wechsel wenig kräftig. Darum findet man derartige Kinder oft blutarm, gekenn- zeichnet durch auffallende Blässe des Gesichts. Gesellt sich zu alledem noch mangelhafte Ernährung, so lässt sich leicht ermessen, dass diese Kinder das beste Material für Lungentuberkulose abgeben.

Geringer ist der schädliche Einfluss der behinderten Nasenatmung auf Stimme und Sprechwerkzeuge. Zwar unerheblich, aber bekannt ist, dass durch Schwellungen der Schleimhäute des Stimmapparates der Stimme ein ungewöhn- licher Klang gegeben wird. Öfter wird aber auch schnelle Ermüdung derselben herbeigeführt. Wir lassen nämlich beim Sprechen unbewusst einen Teil der Luft durch die Nase entweichen. Bei verschlossenem Nasenluftwege wird darum die Luft während des Sprechens in den Kehlkopf zurückgeschleudert und so durch übermässige Anspannung der Stimmbänder die Stimme ermüdet, ja in seltenen Fällen gelähmt. Auch die Bildung von Sprachfehlern begünstigt das Leiden. Noch auf einen Punkt will ich Ihre Aufmerksamkeit lenken. Durch Nicht- benutzung der Nasenhöhle zum Atmen kann der Fall eintreten, dass sie sich nicht zu normaler Grösse erweitert und infolgedessen auch die Gesichtsknochen klein bleiben. So tritt der Unterkiefer gegen den Oberkiefer vor. Die Zahn- fortsätze des letzteren haben keinen Platz zum Ausdehnen und treten deshalb

164 weit nach unten aus, den hohen Gaumen bildend. Wie gesagt, sind über alle die Fälle seltener.

Schwerwiegender sind die schädlichen Wirkungen auf das Gehör. Die Eu- stachische Röhre verbindet die Paukenhöhle mit dem Nasenrachenraum und führt ersterer frische Luft zu. Durch Schwellungen im Nasenrachenraume kann der Eingang der Röhre verengt oder, sobald sich die Entzündung weiter fortsetzt, sie ganz verschlossen werden. Dann tritt Schwerhörigkeit ein. Überträgt sich die Entzündung aber bis in das innere Ohr, so entstehen Ohrenschnierzen. Diese Symptome lassen sich bei unsern Kindern recht häufig beobachten, sobald nass- kaltes Wetter eintritt.

Untersuchen wir nun zuletzt noch den schädlichen Einfluss auf die geistige Entwickelung der Kinder. Wollen wir uns denselben recht anschaulich, fasslich machen, so müssen wir uns den körperlichen und geistigen Zustand vergegen- wärtigen, in welchem wir uns z. Z. unserer letzten heftigen Erkältung befanden. Dieser Zustand, der für uns glücklicherweise vorübergehend war, ist für das an behinderter Nasenatmung leidende Kind dauernd. Behinderte Biutzirkulation und Entzündung der Schleimhäute erzeugen einen dumpfen Kopfschmerz; bei Über- tragung der Entzündung auf die Augen entstehen Augenschmerzen und -flimmern, ja selbst heftige Ohrenschmerzen können eintreten. Denken wir ferner daran, dass der verstopfte Nasenluftweg einen ruhigen erquickenden Schlaf nicht mög- lich macht, so ist eg augenfällig, dass die Folgen des Leidens den kindlichen Geist, der sich doch erst in der Entfaltung befindet, schädigende sein müssen. Es ist schon hervorgehoben, dass sich das Leiden zu seiner Höhe erst nach und nach entwickelt und dann auch nur zur Zeit ungünetiger Witterungsverhältnisse in ganzer Stärke auftritt. Denken wir uns nun ein solches Kind bei der Lern- arbeit in der Schule. Die klare, deutliche Aufnahme einer Vorstellung ist nur dann möglich, wenn die Seele von jeglichem innern Reize frei ist. Dass dieser Zustand vorhanden sei, wird kaum jemand behaupten wollen. Wir appellieren an die Aufmerksamkeit, das Interesse! Das ist doch nur dann von wirksamem Erfolg begleitet, wenn ein kräftiges Wollen den Vorstellungskreis zu bewegen im stande ist. Dasselbe aber mangelt fast jedem dieser Kinder, da sie leidend sind. So ergeben sich dann die weiteren Folgerungen leicht. Eine Association der Vorstellungen, mag sie sich nennen, wie sie will, ist nur schwer und mit spärlicbem Erfolge durchführbar. So bleibt das Gedächtnis schwach; der Lehrer klagt mit Recht über grosse Zerstreutheit des Kindes. Die Reproduktion ist auch durch Mängel des Atmungs- und Sprechapparates sehr erschwert. Kommt es noch müde und teilnahmlos zur Schule, nimmt sein Äusseres dem Lehrer die beste Hoffnung auf gute Entwickelung, so ist ein Fortschritt in der Lern- arbeit fast ausgeschlossen; es bleibt hinter seinen Mitschülern zurück. Erkennen Eltern und Lehrer die Ursache des Leidens nicht, so kann man sich den Effekt denken, den ihre Behandlung auf sein Gemüt machen wird. Es wird von einer Stufe zur andern hinabgedrückt, bis es endlich zu seinem Glücke etwa in einer Hilfsschule ankommt. Das sind geistig normale Kinder. Können sie durch bebinderte Nasenatmung schon solchen Schaden an Leib und Seele erleiden, dass

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sie fast schwachsinnig erscheinen, so müssen geistig minderwertige Kinder dieser Gefahr noch mehr ausgesetzt sein. Das ist auch thatsächlich der Fall, wie stattgefundene Untersuchungen zeigen.

Das Übel und seine Folgen sind nun genugsam geschildert worden. Was ist zur Heilung desselben zu sagen? Ein guter Schritt dazu ist schon gethan, sobald die Ursachen der behinderten Nasenatmung erkannt sind. Diese auf- zusuchen ist Sache des Arztes und nicht so leicht, als dass man die Hilfe eines erfahrenen Spezialarztes verschmähen sollte. Die Ursachen können in der Nase selbst liegen und besteheu in Verwachsung der hinteren Nasenausgänge, Ver- biegung des Knochengerüstes, Anschwellung der Schleimhäute, Verstopfung durch Schleim oder Fremdkörper u. s. w.

Wohl in den meisten Fällen aber liegt die Ursache in Geschwulsten des Nasenrachenraumes, welcher mit einer zu Wucherungen neigenden Schleimhaut überzogen ist. Fast stets nehmen sie ihren Ausgang von der Rachenmandel, weshalb man diese auch als den eigentlichen Urheber der Wucherungen ansieht. Sobald sie nämlich anschwillt, verdeckt sie den Naseneingang vollständig. Das lässt sich nun zwar besonders bei kleinen Kindern schwer fesstellen; sobald aber die Gaumenmandeln angeschwollen sind, kann man mit Sicherheit auf eine Entzündung der .ersteren schliessen. Schwellungen im Mundrachenraume sind meist nur Folgen obiger Entzündungen.

Wie weit verbreitet die Nasenkrankheiten unter den Schulkindern sind, erhellt aus der Statistik des Schularztes von Offenbach a. M., nach welcher von etwa 3600 Kinder über 800 nasenkrank waren. Freilich ist nicht daraus ersichtlich, wieviel an dem hier in Frage kommenden Übel litten, aber andere Statistiken haben ergeben, dass 10%, aller untersuchten Kinder mit dem Leiden behaftet waren. Von den 86 Kindern der Hilfsschule habe ich 17 zur Untersuchung vorgeschlagen. Es stellte sich heraus, dass an starker Vergrösserung der Man- deln 11, an Schleimhautschwellung 4 und an Polypen im Nasenrachenraume 2 Kinder litten. Das sind nur die Fälle, die ich erkannte; sicher würde ein Spezialarzt noch mehr unter unsern geistig minderwertigen Kindern finden.

Ich komme zum Schluss auf den praktischen Teil des Themas zu sprechen, zu der Frage: wie stellen wir uns zu den mit behinderter Nasenatmung behafteten Kindern? Meine Gedanken und Vorschläge werden sich nicht in längeren Aus- führungen über das oft behandelte Thema der Berücksichtigung der Individualität der Schüler bewegen, sondern ich will sie dahin zusammenfassen: Suchen Sie sich an der Hand einer einschlägigen Schrift über den Gegenstand und durch genaue Beobachtung Ihrer Schüler noch besser zu informieren und Sie werden die Individualität derselben sicher ohne weiteres berücksichtigen. Machen Sie aber vor allem die Eltern bei Zeiten auf das Übel und seine möglichen Folgen aufmerksam. Freilich möchte ich Ihnen dafür mehr Erfolg wünschen, als wir gehabt haben. Fordern aber müssen wir alle die Anstellung von tüchtigen, erfahrenen Ärzten zu Schulärzten, welche die Schuljugend auf ihre Fehler zu untersuchen und zu beobachten haben. Thun beide, Lebrer und Arzt, ihr Bestes, so wird der Segen für die Schule, auch für die Hilfsschule, nicht ausbleiben.

166 Rechtschreibeübungen in der Hilfsschule.

Von Hermann Horrix, Hanptlehrer der Hilfsschule zu Düsseldorf. Lehrplan.

Ill. Klasse. Vorübungen des Schénschreibens. Das kleine und grosse deutsche Alphabet nach Anschauung und Diktat. Der Lesestoff wird abgeschrieben; leichte Verbindungen nach dem phonetischen Prinzip werden nach Diktat ge- schrieben. Grossschreibung der Hauptwörter; Silbentrennung leichter Wörter.

II. Klasse. Abschreiben des Lesestoffes, Aufschreiben kleiner Sätze, Sprüche und Gedichte aus dem Gedächtnis. Die verschiedenen An- und Aus- laute; Schärfung und Dehnung. Zweimal wöchentlich werden gut vorbereitete Diktate gemacht.

l. Klasse. Abschreiben des Gelesenen, Aufschreiben auswendig gelernter Gedichte und Lesestücke, Buchstabierübungen. Schwierigere Fälle der Silben- trennung, der Schärfung und der Dehnung. Schwierige An- und Auslaute. Wöchentlich werden zwei vorbereitete Diktate nackter und erweiterter einfacher Sätze ins Heft geschrieben; die auftretenden Fehler dienen als Grundlage besonderer Rechtschreibeübungen.

Zu den Fächern, welche zu erlernen jedem schwachbegabten Kinde ungeheure Mühe kostet, gehört unstreitig das Rechtschreiben. Schon das richtige Dar- stellen der verschiedenen Buchstaben nach dem Diktate des Lehrers will anfangs schwer gelingen, geschweige denn die Rechtschreibung von diktierten Wörtern. Was wird aber auch hierbei nicht alles dem schwachen Geiste aufgebürdet? Das Kind muss, bis es das ganze Wort geschrieben hat, die Reihenfolge der gehörten Laute in seinem Gedächtnisse so festhalten, das es bei jedem Buch- staben, den es schreiben will, dieselbe reproduzieren kann, und ferner soll es sich auch noch alle die Abweichungen von der phonetischen Schreibung ein- geprägt haben, damit es dieselben, wo es nötig ist, anwenden kann, von der Gross- schreibung und der verschiedenen Schreibweise einzelner Wörter je nach ihrem Auftreten noch gar nicht zu reden. Können wir es darum unsern Kindern ver- argen, wenn sie, ungeachtet ihres Fleisses, nur sehr langsame Fortschritte im Rechtschreiben machen, oder wenn ‘die Schwächsten überbaupt nur annähernd richtig schreiben lernen?

Das einfachste und sicherste Mittel, schwachbegabte Schüler zur Recht- schreibung zu führen, besteht in der innigen Verbindung dieses Faches mit dem Leseunterrichte. In demselben macht das Kind zuerst die Bekanntschaft mit den einfachsten Bestandteilen des gesprochenen Wortes, den Lauten, und wie es obne genaue Kenntnis der Laute nie zum guten Lesen gelangen wird, so kann es ohne eingehende Übung der Zeichen für die Laute der Buchstaben im Rechtschreiben nichts leisten. Die sorgfältige Nachbildung der Buchstaben nach angeschauten Vorbildern ist also die erste Bedingung zum richtigen Schreiben. Weil der Schüler aber nicht bloss abschreiben, sondern auch aus dem Gedächtnis oder nach dem Gehör richtige Wortbilder darstellen lernen soll, so übe der Lehrer beim Abschreiben die Vorstellungskraft und das Gehör, indem er vor dem jedesmaligen Niederschreiben eines angeschauten Buchstabens den betreffenden

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Laut von den Schülern sprechen lässt. Wie lange dieses Aussprechen des zu schreibenden Lautes mit vernehmbarer Stimme geschehen muss, das hängt von der Willensstärke des Schülers ab. Sobald derselbe befähigt ist, den Laut, bevor er ibn schreibt, still für sich zu sprechen, bedarf es einer Aufforderung zum lauten Aussprechen desselben nicht mehr. Das Sprechen in Verbindung mit dem Anschauen soll die Vorstellungen von Laut und Zeichen so zusammen- kitten, dass eine Trennung ausgeschlossen sein muss. Durch die gleichzeitige Übung von Auge und Ohr wird der Schüler also dahin kommen, dass er diktierte Buchstaben auch ohne Vorbild richtig niederzuschreiben vermag. Damit aber die Vorstellungen verschiedener Laute sich nicht verschmelzen und dadurch die sofortige Reproduktion der Form des diktierten Buchstabens beeinträchtigt werde, ist es anzuraten, beim Einüben eines neuen Buchstabens denselben räumlich von den schon eingeprägten, die zusammen auf einer Holztafel stehen, zu trennen und ihn auf eine abseitsstehende Tafel so lange allein zu schreiben, bis er von den Schülern gründlich erfasst ist.

Im Leseunterricht lernt das Kind ausser den verschiedenen Lauten auch Lautverbindungen zusammensetzen, sie schreiten vom Leichten zum Schweren, von zwei- za drei- und mehrlautigen fort; deshalb können sie dem Rechtschreibe- unterricht zweckmässig zu Grunde gelegt werden. Alles, was das Kind auf der untersten Stufe liest, muss geschrieben und alles Geschriebene wieder gelesen werden.

Die Hauptübung des Rechtschreibens bleibt in unsern Hilfs- schulen das Abschreiben. Je mehr richtige Wortbilder das Kind nämlich zu Gesicht bekommt, und je häufiger es dieselben regelrecht abschreibt, desto weniger Verstösse gegen die Rechtschreibung wird es machen. Es ist wirklich schade, dass das gute Abschreiben, wie es unten gezeigt werden soll, nicht allgemein viel mehr betrieben wird, sondern, Gott weiss, welchem Regel- werk und allerlei zwecklosen systematischen Beschschreibeübungen seinen ihm gebührenden Platz einzuräumen gezwungen ist. Abschreiben jedoeh und ver- ständiges Abschreiben ist zweierlei, das zu beobachten, hat jeder Lehrer Gelegen- beit und der Lebrer schwachbegabter Zöglinge erst recht. Viele geistig be- schränkte Schüler wenden beim Abschreiben ein eigentümliches, durchaus ver- werfliches Verfahren an. Sie besehen sich den ersten Buchstaben eines Wortes, halten womöglich, um sich nicht zu irren, noch den Zeigefinger der linken Hand an denselben, wenn sie aus dem Buche abschreiben, und schreiben dann diesen Buchstaben nieder. Gerade so geht's mit den fibrigen Buchstaben, die demnach jeder für sich angeschaut und abgeschrieben werden. Eine solebe Art und Weise hat, kurz gesagt, gar keinen Zweck, dena die Schüler prägen sieh dadurch kein einziges Wortbild ein Und doch liegt die Schuld für dieses falsche Abschreiben nicht auf seiten der Schüler. Ein wortweises Abschreiben lernt

sich nicht von selbst, vielmehr müssen sorgfältig abgestufte Chungen das Kind dazu im den Stand setzen Das kann auf folgende Weise geschehen. 1. Übung. Der Lehrer schreibt die Buchstaben eines Wortes in einer beliebigen Reiben-

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folge und von einander getrennt auf die Holztafel und lässt sie von den Schülern nennen, um sich die Gewissheit zu verschaffen, dass sie dieselben alle kennen. Diese Übung ist überflüssig, wenn die Kenntnis aller Laute und Buchstaben gründlich vermittelt ist.

2. Übung.

Es wird ein Wort aus einer Leseübung auf die Holztafel geschrieben. Die Schüler besehen sich dasselbe, zerlegen es in seine Bestandteile und lesen es dann, wobei sie auf das Zeichen des Lehrers vom ersten Laute an die andern, wenn auch langsam, so doch ohne die kleinste Unterbrechung hinüberziehen. Nachdem sie es sich nun nochmals besehen haben, verdeckt der Lehrer das Wort und lässt es langsam und deutlich von einzelnen Schülern und im Chor sprechen. Darauf fragt er: Welchen Laut hört ihr zuerst? Welchen dann u. s. w.? Welchen Laut müsst ihr also auch zuerst schreiben? Welchen dann u. 8. w.? Schreibt das Wort!

Sollte vielleicht ein Schüler dennoch beim Schreiben stocken, so mag der Lehrer das Wort nochmals zerlegen lassen. Nachdem die Schüler dasselbe geschrieben haben, wird das Wort an der Holztafel wieder aufgedeckt, und jetzt fordert der Lehrer zum Vergleichen auf durch die Fragen: Welchen Buchstaben habe ich zuerst geschrieben? Seht auf eurer Tafel nach, ob ihr ihn auch zu- erst geschrieben habt! Welcher Buchstabe steht auf der Holztafel an dem ersten? Seht nach u. 3. w.! Wischt das Wort aus!

3. Übung.

Nunmehr müssen die Kinder sich das Wort auf der Holztafel, ohne dass etwas dabei gesagt wird, nochmals genau. besehen, leise für sich lesen, dann dasselbe zum zweitenmale schreiben und auch ohne Anleitung des Lehrers mit dem auf der Holztafel stehenden vergleichen.

Dasselbe geschieht mit mehreren andern Wörtern, welche zuvor auch nach

Übung 2 behandelt worden sind. 4. Übung.

Der Lehrer schreibt mehrere Wörter zugleich auf die Tafel; die Schüler lernen sie nach den Übungen 2 und 3 abschreiben und wischen dieselben dann aus. Jetzt fordert der Lehrer von ihnen, dass sie die Worte einzeln sich besehen und abschreiben. Für den Anfang verdeckt er aber immer noch nach dem An- schauen eines Wortes dasselbe und deckt es zum Vergleichen wieder auf.

5. Übung.

Abschreiben einzelner Wörter ohne Anleitung. Um sich zu überzeugen, ob auch gemäss der Vorschrift verfahren wird, fragt der Lehrer öfters: Welches Wörtchen schreibst du jetzt? Nachdem er dasselbe schnell auf der Holztafel verdeckt hat, fragt er weiter: Welchen Laut schreibst du zuerst? Welchen dann? u. s. w. Verdeckt er das Wort nicht, so muss der Schüler die Augen auf ibn richten, damit er sich das Wort auf der Tafel nicht vorher noch

inmal ansieht. N * 6. Übung.

Wenn die Schüler sich die Fertigkeit erworben haben, einzelne Wörter

169 richtig abzuschreiben und diese erlangen sie erst nach tausendfacher Übung so lässt der Lehrer zwei Wörter anschauen, lesen, lautieren, nochmals besehen, auswendig aufschreiben und das Geschriebene Laut für Laut, später Wort für Wort mit den auf der Tafel stehenden Wörtern vergleichen. Die folgenden zwei Wörter werden vom Lehrer unter die vorhergehenden geschrieben. Das Verfahren für die Schüler ist dasselbe. 7. Übung. Abschreiben je zweier Wörter ohne Anleitung, wohl aber unter ständiger Kontrolle seitens des Lehrers. 8. Übung. Sätzchen mit drei Wörtern werden ebenso behandelt. 9. Übung.

Sätzchen mit vier Wörtern.

Mehr darf man für die Unter- und Mittelstufe nicht verlangen. Der Lehrer hat aber schon viel erreicht, wenn die Schüler sich daran gewöbnt haben, jedes Wort vorher gründlich zu besehen, denn es kommt zunächst und zwar auch hauptsächlich auf ein wortweises Abschreiben an, das erst später dem satzweisen Platz macht. Und in der Gewöhnung daran liegt der Kern der ganzen Sache. Darum sehe der Lehrer immer darauf, dass es in der angegebenen Weise geschieht, auch dann noch, wenn dem Kinde schon längst die Feder in die Hand gegeben worden ist. Beim Abschreiben aus der Fibel müssen die Schüler gleichfalls sich jedes Wort zuerst besehen, lesen und dann selbst das Wort durch die Hand oder der Reinlichkeit halber durch ein Stück Papier verdecken, es dann niederschreiben und vergleichen. Von Zeit zu Zeit frage er einen Schüler während des stillen Abschreibens, damit sich keiner sicher fühle: Welches Wort schreibst du jetzt?“ Wie wird es geschrieben? Der Schüler giebt die Laute an.

In den zwei ersten Jahren werden die Buchstabennamen nicht genannt; wir laufen sonst Gefahr, die mühsam errungenen Resultate im Lesen zu verderben. Erst wenn das mechanische Lesen bis zur Sicherheit geübt ist, darf das Buchstabieren an die Reihe kommen. Auf der Oberstufe stärkt das auswendige Buchstabieren ausserordentlich das Gedächtnis unserer Schüler für Reihen und Wortbilder.

Mit dem Abschreiben allein ist es aber nicht genug; der Lehrer muss stets auch dass Abgeschriebene nachsehen und etwaige Fehler korrigieren. Da empfiehlt es sich nun, dass der Lehrer die Schüler nicht ins Blaue oder Unendliche hin- ein abschreiben lässt, das Nachsehen dürfte dann in vielen Fällen oberflächlich geschehen. Er sage deshalb den Schülern: Schreibt die erste Zeile des Lese- stückes ab! oder schreibt bis zum ersten Punkte ab! Wer damit fertig ist, der lege den Griffel auf die Tafel! Dadurch wird der Lehrer schon von selbst zum Nachsehen gezwungen; den Schülern aber ist Gelegenheit gegeben, sich schon im voraus auf das Ende bezw. Gelingen ihrer Arbeit freuen zu können, und das spornt nicht nur talentvolle Menschen, sondern auch schwachbegabte Kinder zu freudigem Schaffen an.

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Durch die Anleitung zu einem verständigen Abschreiben erhält das Kind zugleich die Befähigung zum auswendigen Niederschreiben von Wörtern. Diese Übung soll sich soweit ausdehnen, dass ganz kleine memorierte Lesestiicke, die öfters abgeschrieben worden sind, nun auch aus dem Kopfe aufgeschrieben werden. Will man den Schülern die Sache noch in etwas erleichtern, so kann der Lehrer sie anfangs auch diktieren, deun nicht aller Gedächtnis ist so dienstbereit, dass es ohne Hilfe des Lehrers ein solches Stück zu reproduzieren vermag.

Was die Diktate betrifft, so sind wir der Meinung, in der Unter- und Mittelstufe müssten nur gut vorbereitete Diktate gegeben werden, womöglich kann der Diktierstoff vorher noch einmal abgeschrieben werden, um das Schreiben falscher Wortbilder zu verhüten. Den Schülern erwächst aus den Diktaten, zu welchen Lesestücke verwandt wurden, noch ein grosser Nutzen dadurch, dass sie ihre Arbeit selbst mit dem Lesestücke vergleichen können und auf diese Weise zum nochmaligen, wenn auch stillen Durchgehen des Ganzen genötigt sind. Es können aber auch einzelne Sätze ohne Zusammenhang als Diktatstoff benutzt werden. Der Lehrer nehme dann aber solche, deren Inhalt zu dem andern Unterrichte in naher Beziehung steht bezw. aus demselben bekannt ist. Bei der Behandlung der Gruppe mit „dt“ würden demnach folgende Sätze schick- lich angewandt werden können: „Moses war nicht beredt. Wir wohnen in der Stadt Düsseldorf. Der Engel ward zu einer Jungfrau von Gott gesandt; deshalb war er ein Gesandter Gottes. Onkel und Tante sind uns verwandt; sie sind unsere Verwandten.“

Ausser dem Ab- und Niederschreiben des Gelesenen und Diktierten haben aber auch die gesonderten Rechtschreibeübungen in der Hilfsschule volle Berech- tigung. Während der ganzen Dauer des Schulbesuchs muss der gesamte Stoff des Rechtschreibens zur Behandlung kommen, allerdings mit Ausnahme der schwierigen Übungen, als da sind die Fremdwörter, die schwereren Fälle des grossen und kleinen Anfangsbuchstabens, die Unterscheidung zwischen Komma und Strichpunkt und noch manche andere. Dafür unterwerfe man lieber die notwendigsten Punkte einer intensiveren Übung; vor allem gehört hierzu die Trennung der Wörter nach Silben.

Die vielen Fehler, welche von Schwachbegabten gegen die Regeln der Trennung gemacht werden, sind zunächst darauf zurückzuführen, dass unsere Schüler trotz immerwährenden Korrigierens geneigt sind, sich mehr die Buch- staben als die Wortbilder einzuprägen und abzuschreiben. Auch der Mangel an Verständnis des Wortbegriffes hat vielfach eine falsche Trennung der Wörter zur Folge. Das richtige Abschreiben verhütet also ganz gewiss solche Fehler; noch besser aber zur Vermeidung derselben ist das silbenweise Lesen sowohl, als auch das silbenweise Sprechen mit längern Pausen im Artikulationsunterrichte. Kommen die Kinder in die Lage, ein Wort trennen zu müssen, so sollen sie dasselbe, bevor sie es schreiben, für sich silbenweise sprechen und dann trennen. Die direkte Übung, welche dem Trennen dient, besteht darin, dass der Lehrer Wörter nennt, von welchen die Kinder die Silben oder die Stelle augeben, wo sie getrennt werden können. Ferner schreibt der Lehrer Wörter auf die Holz-

tafel, von denen die Schüler den Ort der Trennung angeben müssen. Ab und zu schreiben die Schüler ihre Lektion mit Trennung der Wörter ab.

Viele Regeln verwirren die Schüler, deswegen gehe der Lehrer sparsam mit ihnen um; ist eine Regel notwendig, so gebe er sie den Schülern in einer knappen Form, die so gefasst ist, dass sie für jeden Verstoss' spezialisiert erscheint. Würde z. B. ein Kind das Wort „Hand“ mit „t“ schreiben, so müsste, nach- dem auf den Fehler aufmerksam gemacht worden ist, die Regel folgendermassen ausgedrückt werden: „Wenn ich das Wort „Hand“ verlängere, dann höre ich ein „d“, darum muss ich am Ende ein ,d“ schreiben.“ Hätte aber einer „läuten“ mit eu geschrieben, so lautete die Regel: „„läuten“ kommt her von „laut“, darum schreibt man es mit äu.“

Die am häufigsten auftretenden Fehler dienen hier wiederum besonderen Rechtschreibeübungen zur Grundlage.

Dass die Kinder auch ihren Vor- und Zunamen richtig schreiben lernen müssen, ist klar. Dieserhalb werden schon frühzeitig Übungen angestellt und bei dieser Gelegenheit mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen durch folgende Sätzchen, welche die Schüler von Zeit zu Zeit auf ihre Tafel schreiben:

Ich heisse N. N. Ich bin geboren am —. Ich bin jetzt Jahre alt. Ich wohne in —, an der Strasse. Mein Vater heisst —, er ist —. Meine Mutter heisst Mein Lehrer heisst —. Heute haben wir den (Datum). Wie

kleinlich diese Dinge auch scheinen mögen, so haben sie dennoch grossen Wert, denn der Schüler, welcher obige Fragen sofort und fliessend beantworten kann, der wird von dem, der sie stellt, wie man dies häufig beobachten kann, nicht für dumm angesehen. Warum sollten wir uus daher der kleinen Mühe, die diese Übung erfordert, nicht bereitwillig unterziehen ?

Mitteilungen.

Liegnitz. (Wilhelm- und Augusta-Stift ,Idioten-Anstalt*.) Nach dem Berichte des Anstaltsdirektors Glamann über das Etatsjahr 1898/99 hatte die Austalt am Jahresschlusse 254 Pfleglinge, und zwar befanden sich im Erziehungs- hause 68 Knaben und 43 Mädchen, im Männerhause 75 und im Frauenhauso 68 In- sassen. 205 waren vom Landarmenverbande überwiesene Pfleglinge, 12 Inhaber von Provinzialfreistellen, 3 Kreisfreistelleninhaber. 25 befanden sich in Vereins- und 9 in Pensionärstellen. Nach ihrem Religions- bezw. Konfessionsverhältnis waren 197 evan- gelisch, 52 katholisch und 5 jüdisch. Der jüngste Pflegling war 7, der älteste 80 Jahre al. Am Unterricht liessen sich 53 Zöglinge beteiligen, die in zwei Unterrichts- und einer Vorbeieitungsklasse von zwei seminaristisch gebildeten Lehrern und einer Kindergartnerin unterrichtet wnrden. Aus der Oberklasse konnten 3 Schüler aus der Anstalt entlassen werden; einer von ihnen erlernt die Tuchmacherei, die andern beiden verrichten zu Haus landwirtschaftliche Arbeiten. Für 15 ältere männ- liche und 11 weibliche Insassen war Fortbildungsunterricht eingerichtet. In den Werkstätten und der Gärtnerei konnten 28 Pfleglinge mit Erfolg beschäftigt werden. Weibliche Handarbeiten wurden von 25 Geübteren und 15 Anfängern

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gefertigt. Bei der Hausbereinigung, sowie durch Arbeit in der Koch- und Wasch- küche machten sich 34 weibliche Insassen in beträchtlichem Masse nützlich. 43 ältere männliche Pfleglinge waren nur befähigt, leichte hauswirtschaftliche Arbeiten zu ver- richten. Bebaut wurden ca. 3 ha Garten- und Gemiseland. Der Gesamtwert der Ernte betrug 3383,85 Mk. Von der städtischen Wasserleitung wurden auf den Pflegling für den Tag 160 Liter Wasser verbraucht; ausserdem lieferten zwei Anstalts- brunnen eine grosse Quantität Wasser zu Wirtschaftszwecken. Durch Hinzukauf von 7 Morgen ist das Anstaltegrundstück abgerundet und verhindert worden, dass durch Neuanlage von Strassen die Anstalt eingeengt werden kann, auch ist dadurch die Anstalt im stande, ihren Bedarf an Kartoffeln und Gemüse durch Eigenbau zu decken. Der Kaufpreis betrug 3300 Mk. für den Morgen, weil das Land wegen der Nähe der Stadt schon Spekulationswert hat.

Gestorben sind im Verlaufe des Jahres 9 Pfleglinge, 7 an Tuberkulose und 2 im epileptischen Anfall. Die Gesamtzahl der epileptischen Anfälle betrug bei 38 Epileptikern 4698; die höchste Zahl bei einzelnen Pfleglingen im Jahre 958, an einem Tage 12. Isolierungen kamen 7 bei 5 Pfleglingen vor, sie dauerten 1—7 Stunden. Der körperliche Gesundheitszustand ist im ganzen günstig gewesen, es sind an 7652 Krankheitstagen 225 Krankheitsfälle behandelt worden. Der Anstaltsarzt Dr. Cueddeckens berichtet im besonderen: „Die Vermehrung der Krankheitstage um ca. 1000 gegen die des Vorjahres erklärt sich aus der vollständig veränderten Behandlungsmethode der Epileptiker. Während früher reichlich von Medikamenten Gebrauch gemacht worden war, wurden seit Anfang des Berichtsjahres solche nur in ganz besonderen Fällen und unter sorgfältiger Kontrolle verabreicht. Dagegen wurde nach Möglichkeit während der epileptischen Krisen Bettruhe innegehalten, durch eine geeignete Wasserbehandlung u. s.w. für Regelung der Verdauung und Schlaf gesorgt und z. B. 33 Epileptiker zur Beobachtung zeitweise in die Krankenabteilungen über- nommen. Die Folge dieser Methode war, dass sich bei ganz minimalem Verbrauch von Brom und Opium der Ernährungszustand unserer Epileptiker bedeutend gehoben und damit ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber ihrem Leiden sich gesteigert hat, so dass im Gegensatz zu 6149 epileptischen Anfällen im Vorjahre bei annähernd dem- selben Bestande im Berichtsjahre nur 4698, also ca. 1500 weniger zu verzeichnen waren. Ausserdem wurden dadurch auch die manchmal wenig belegten Kranken- räume mehr als früher zur Entlastung der übrigen Stationen und des dort ohnehin in Anspruch genommenen Personals nutzbar gemacht. Ein besonderes Augenmerk wurde im Berichtsjahre auf die Zahn- und Mundpflege gerichtet, nachdem sich heraus- gestellt hatte, das hartnäckige Magenkatarrhe, sich wiederholende Zahngeschwüre und Schwellungen des Gesichts keine andere Ursache haben konnten als eine Ver- nachlässigung des Mundes. Es wurden infolgedessen, sobald eine Behandlung von Zahnerkrankungen u s. w. Gelegenheit dazu bot, nach Möglichkeit der betreffende Mund von cariösen Zähnen und Wurzeln z. T. in Narkose befreit; es wurden 48 Zähne und 118 Wurzeln gezogen. Ausserdem wurde auf den Abteilungen durch mehr- maliges Zähneputzen am Tage für Reinlichkeit des Mundes gesorgt. Diese Mass- regeln haben sich ganz vortrefflich bewährt; nicht nur, dass sich der Ernährungs- zustand bedeutend gebessert hat und Krankheiten des Mundes und Magens seltener

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geworden sind, auch die Luft bleibt in den Aufenthaltsräumen um vieles besser, als wenn sie fortwährend mit üblem Atemgeruch angefüllt wird.“

Angestellt waren 1 Direktor, 1 Anstaltsarzt nebenamtlich und zu 2 Visiten am Tage verpflichtet, 3 Lehrpersonen, 3 Kontroll- und Verwaltungsbeamte, 24 Pilege- kräfte und 8 Hausbedienstete. Tageweise Beschäftigung fanden 2 Hilfsjflegepersonen, 3 Waschfrauen, 4 Nähstuben- und 2 Feldarbeiterinnen. Die Hilfslehrer Bruker und Busch gaben am 31. Juli bezw. 31. Dezember ihre Stellungen auf; an Stelle des ersteren, der in seine schwäbische Heimat zurückkehrte, trat am 15. September der Hilfslehrer Strohmenger aus Obersinn in Bayern, für letzteren, welcher Kommunallehrer in Magdeburg wurde, konnte im Laufe des Jahres ein Nachfolger nicht eingestellt werden. Die tief bedauerliche Thatsache, dass den Lehrern die an der Anstalt verbrachte Dienstzeit beim Übergang in den öffentlichen Schuldienst nicht mehr angerechnet wird, ist in erster Linie die Ursache, dass die Ausschreibungen der Hilfslehrerstellen so wenig Erfolg haben, und wird es grunddessen künftig überhaupt schwer halten, ordnungsgemäss ausgebildete Lehrkräfte für die Anstalt zu gewinnen. Mit Beginn des Jahres wurde die Kindergärtnerinstelle mit der technischen Lehrerin Elisabeth Müller aus Quedlinburg neu besetzt. In der Oberpflegerin- und in der Küchenvorsteherinstelle ist im Verlaufe des Jahres ein einmaliger Wechsel, bei 24 Pflegepersonen ein 14 maliger und bei 8 Haushaltungsbediensteten ein 2 maliger Wechsel eingetreten. Infolge der allgemein günstigen Lohnverhältnisse hat nament- lich das Angebot bei Pflegerstellenvakanzen nachgelassen; für Stellen, deren Inhaber Handwerker sein müssen, war es mit den grössten Schwierigkeiten verbunden, geeigneten Ersatz zu beschaffen, und wird daher eine Gehaltsaufbesserung dieser Stellen nicht zu umgehen sein. Der Gesundheitszustand der 40 Angestellten ist im vergangenen Jahre gut gewesen; dieselben haben insgesamt nur 44 Krankheitstage gehabt.

Die konfessionelle Seelsorge wurde für die Evangelischen von dem Pastor prim. Ziegler, für die Katholiken vom Oberkaplan Dr. Steinmann ausgeübt. Am 27. März konnten 4 evangelische Zöglinge im Beisein ihrer Angehörigen im Betsaale der Anstalt konfirmiert werden uud das heilige Abendmahl empfangen, welche Feier einen erhebenden Verlauf nahm und einen nachhaltigen Eindruck auf alle Teilnehmer hinterliess. Wie in den Vorjahren ist die Anstalt darauf bedacht gewesen, den Insassen das Leben in ihr durch bescheidene Festfreuden annehmlich zu gestalten. Der Glanzpunkt des festlichen Lebens war die Bescherungsfeier, fir welche edel- gesinnte Wohlthäter 155 Mk. gespendet hatten. Grosse Freude und mancherlei An- regung bot dabei den Pfleglingen der Aufbau eines Krippels mit vielen mechanisch beweglichen Figuren und Gruppen, für deren Vervollkommnung und Vermehrung all- jährlich ein angemessener Betrag aufgewendet wird. Im September wurde die Anstalt von verschiedenen Teilnehmern au der Breslauer Konferenz für das Idiotenwesen besucht und mit scharfen fachmännischen Blicken besichtigt. Das Gesamturteil der lieben Gäste lautete anerkennend, und ist dadurch die noch junge Anstalt in weiteren massgebenden Kreisen vorteilhaft bekannt geworden. Die Kassenverhältnisse des Berichtsjahres waren ungünstig, indem mit einem Defizit von 12000 Mk., welches durch ausserordentliche Aufwendungen für Grundstückserweiterung und bauliche Ver- änderungen bedingt wurde, abgeschlossen werden musste.

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Kosten, Prov. Posen. (Neue Idiotenanstalt.) Der Neubau der Provinzial- Idiotenanstalt in hiesiger Stadt ist soweit vorgeschritten, dass mehrere Gebäude schon fast fertig gestellt sind und zum 1. Oktober d. J. von 160 Kindern der Kraschnitzer Anstalt bezogen werden. Zu diesem Zwecke werden bereits 10 Pfleger und 10 Pflege- rinnen von der Verwaltung genannter Anstalt gesucht. (Schl. Ztg.)

Litteratur.

Über den angeborenen und früh erworbenen Schwachsinn. Für Ärzte und Lehrer dargestellt von Sanitätsrat Dr. 0. Berkhan. Braunschweig 1899. Preis 1,60 Mk.

Die Arbeit Berkhan s ist eine Sammlung von Artikeln, in denen einzelne besonders wichtige Themata aus der Pathologie und Therapie der Idioten besprochen werden.

In dem Kapitel über die Ursachen des Schwachsinns erwähnt Berk- han als Wesentlichstes die verhängnisvolle Bedeutung elender sozialer Zustände, der Luös, Trunksucht und Nervosität der Vorfahren, der Schädigungen während der Geburt und des übeln Einflusses mancher akuter Infektionskrankheiten.

Über „Die ersten Lebensjahre der mit angeborenem Schwachsinn behafteten Kinder“ ist noch nicht viel bekannt. Berkhan giebt einen Beitrag zu ihrer Kenntnis in den Krankengeschichten von 2 typischen Fällen: eines leichter und eines hochgradig schwachsinnigen Idioten.

In einem besonderen Kapitel werden die klinischen Erscheinungen und die Folgezustände der „Cerebralen Kinderlähmung oder der Hirnlähmung der Kinder“ besprochen. Die gewöhnlichen Folgezustände sind: Lähmung oder lähmungsartige Schwäche mit halbseitigem, seltener paraplegischem Charakter, Sprachstörungen, Störungen in Form von völliger Aphasie oder des verlangsamten Sprechens, von Stammeln, Lispeln, Stottern. Als besonders häufige und verhängnisvolle Folgen ist die Epilepsie anzuführen. Man kann dem Verfasser nur beistimmen, wenn er darauf hinweist, wie oft man in der Vorgeschichte von Epileptischen auf Erscheinungen stösst, die auf encephalitische Erkrankung in der früheren Kindheit schliessen lassen. Freilich muss man nach diesen Dingen eingehend fragen.

Bei der Behandlung der Kinderlähmung uud ihrer Folgen bespricht Berkhan zunächst die Behandlung des ersten Anfalls; bei gehäuften Anfällen empfiehlt er Anwendung von Chloroform. Referent muss bemerken, dass er trotz vieler Versuche ausser in einem einzigen Fall, nie einen Erfolg von Chloroform gesehen hat. Den Clysmen mit Chloral, die Berkhan ausserdem vorschlägt, sind Einführung von Amylen- hydrat oder dessen subcutane Einverleibung als sicherer und ungefährlicher vor- zuziehen.

Bei der Behandlung der später auftretenden Epilepsie spricht sich Berkhan warm für die Durchführung einer strengen Milchdiät aus. Von den Arzneimitteln wendet er Kal. bromat. zusammen mit Extr. Bellad. an. Berkhan hält es für notwendig, für epileptische Kinder einen besonderen Unterricht. nach Art der Hilfs- schulen einzurichten.

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Für die Behandlung der zurückbleibenden Lähmungen empfiehlt Berk- han die Operation der Sehnenüberpflanzung.

Der V. Abschnitt enthält „über das Stammeln schwachsinniger Kinder im Sprechen, Schreiben und Lesen“. Man wird den Ausführungen des Verfassers über die Sprach- und Schreibstörungen der Schwachsinnigen, deren wissenschaftliche Darstellang wir ihm in erster Linie verdanken, mit besonderem Interesse folgen.

Angefügt ist eine interessante Wahrnehmung bei einem Mädchen der Hilfsschule, die beim Stricken eine dem Spiegelschreiben entsprechende fehlerhafte Hantierung zeigte.

In den weiteren Kapiteln werden dann noch die adenoiden Vegetationen im Nasenrachenraum und ihre übeln Folgen für die geistige Entwickelung und die Apnoscoei besprochen: die Unfähigkeit, infolge von nasalen Störungen seine Auf- merksamkeit auf einen bestimmten Gegenstand zu lenken.

Mit Interesse wird man die Geschichte der Entstehung der Hilfs- schulen in Braunschweig lesen, da ja von dort die erfolgreiche Bewegung für die Hilfsschulen ausgegangen ist.

Im IX. Kapitel werden in gedrängter und klarer Weise die Grundsätze klar gelegt, nach denen die Hilfsschulen einzurichten sind.

In einem weiteren Abschnitt bespricht Berkhan „Versuche einer Verhütung des Schwach- und Blédsinns*. Die Vorschläge des Verfassers kommen im wesentlichen darauf hinaus, die Mütter, die Aborte, Frühgeburten durchgemacht, oder elenden Kindern das Leben gegeben haben, bei Wiederholung der Schwangerschaft planmässig gut zu ernähren.

Das ist gewiss zu empfehlen. In den meisten dieser Fälle liegt allerdings nach der Erfahrung des Referenten alte Luös oder Alkoholismus des Vaters vor, gegen die wir ohnmächtig sind.

Sehr dankenswert ist der letzte Abschnitt: „Gerichtliches*, indem unter Hinweis auf die einschlägigen Gesetzesbestimmungen und unter Anführung von Bei- spielen die Grundsätze erörtert werden, nach denen Schwachsinnige zu begutachten sind.

Der kurze Überblick, der hier gegeben ist, mag zeigen, wie reichhaltig die Berkhan’sche Schrift ist, wie viel des Interessanten sie dem Arzt und Er- zieher bietet. |

Die neueste Arbeit unseres um die wissenschaftliche Erkenntnis der Idioten und die thatige Firsorge fir Schwachsinnige gleich verdienten Kollegen sei deshalb aufs wärmste empfohlen. W.

Briefkasten.

Dr. B. i. B., M. W. i. G., E. H. i. W. u. W. i. L. Nochmals besten Dank! Aus welcher Quelle das Blatt „‚Die Irrenpflege“ seine Weisheit geschöpft, wissen wir nicht, vielleicht aber ist die Meinung des Blattes dadurch hervorgerufen worden, dass wir einem Angestellten der Anstalt Uchtspringe unsere Zeitung nicht weiter zusendeten, weilderselbe seinen Abonnements- verpflichtungen nicht nachkam.

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Monatsblatt zur Hebung, Belehrung und Untarhaltung des reine] mit besonderer Berücksichtigung der freien Behandinng, der kelenialen and familiären Krankenpflege. Unter ständiger Mithülfe erfahrener Irrenärzte und Anstaltsbeamten unter Mitredaktion von Dr. L. W. Weber- Uchtspringe

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Inhalt: Der schädliche Einfluss behinderter Nasenatmung auf die körperlicbe und geistige Entwickelang der Kinder (K. Kannegiesser). Rechtschrcibeŭbungen in der Hilfeschule (H. Horrix). Mitteilungen: Liegnitz, Kosten. Litteratur: Über den ange- borenen und früh erworbenen Schwachsinn. Briefkasten. Anzeigen.

Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. Druck von Johannes Pässler in Dresden.

Nr. 10 u. 11. V. dt) Jahrg. Ban

Zeitschrift, kin

für die

Hoang Shwachsiniger wi Eylpte ~

Organ der Konfereng fir das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

herausgegeben von

W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, Direktor der Erziehungsanstalt Spezialarzt für geistig Zurückgebliebene in für Nervenkrankheiten resden -N. in Stuttgart.

Erscheint jährlich in 12 Nummern von

mindestens einem Bogen. Anzeigen für

die gespaltene Petitzelle 26 Pfg. Litte- rarische Beilagen 6 Mark.

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Ä November 1899.

Die Original- Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber.

Der Bildungskurs für Lehrer und Lehrerinnen an Spezialklassen für Schwachbegabte in Zürich.

Vom 24. April bis 1. Juli 189. Von F. Kölle, Zürich.

Es ist gewiss keine Übertreibung, wenn wir sagen: die Schweiz, die in der Fürsorge für Schwachsinnige und Epileptische noch vor etwa einem Jahrzehnt im Vergleich zu Deutschland ziemlich im Rückstand war sehr wahrschein- lich infolge des verunglückten Abendberges ist nun mit einem Schlage in die erste Reihe vorgerückt.

Als Beweis für diese Behauptung können wir nicht nur die schnelle Ver- mehrung der betreffenden Anstalten, sondern auch die in kurzer Zeit entstandenen 48 Hilfsklassen anführen. Ebenso ist hier hervorzuheben die Eidgenössische Zählung der schwachsinnigen Kinder im schulpflichtigen Alter im März 1897 und die nun jedes Jahr zu wiederholende Zählung der ins schulpflichtige Alter gelangten Kinder, wozu das Eidgenössische Departement des Innern eine be- sondre Anleitung für das Lehrpersonal herausgegeben hat. Den neuesten Be- weis für unsere Behauptung liefert. der vom April bis Juli abgehaltene Bildungskurs in Zürich. Die Schweizer sind eben ein durch und durch praktisches Volk, rein akademischen Erörterungen abhold, und so darf es nicht wandern, wenn die im Jahr 1887 abgehaltene I. Schweizerische Konferenz für das Idiotenwesen von reichen praktischen Folgen begleitet war.

Auf einen von der Zentralschulpflege Zürich erlassenen Aufruf wurden 27 Teilnehmer 11 Damen, 16 Herren in den Kurs aufgenommen, von denen 12 den Kurs ganz, d. h. theoretisch und praktisch, 15, meist Lehrer von

178 Spezialklassen, nur den theoretischen Teil, d. h. nur die Vorträge, profilierten, wozu dann allerdings noch einige Hospitanten kamen.

Bemerkt sei, dass der Unterricht für die Teilnehmer kostenfrei war und diese nur für ihre eigene Verpflegung aufzukommen hatten. Zu den Kosten gab die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft, sowie die Erziehungs-Direktionen der Heimatstaaten den Teilnehmern Beiträge, sodass auch die Lehrer des Kurses für ihre Leistungen honoriert werden konnten.

Er wurde folgender aufgestellt.

Die Vorträge und Besprechungen finden jeweilen am Nachmittag statt, während die Vormittage grösstenteils für die Unterrichtspraxis bestimmt sind.. Zu diesem Zwecke wird die eine Hälfte der Kursteilnehmer der Spezialklasse Brunnenturm, Zürich I (Lehrer A. Fisler) zugeteilt, die andere Hälfte der Spezialklasse Gotthelfstrasse, Zürich III (Lehrer A. Heimgartner). Am 29. Mai wird die Abteilung, welche bis dahin im Kreise I praktizierte, nach Kreis III versetzt und umgekehrt. Die Einführung in die Schulhandfertig- keitsübungen übernimmt für beide Abteilungen A. Fisler, Lehrer an der Spezialklasse I. Die Samstag -Nachmittage sind frei.

Samstag, 22. April, abends 5 Uhr, im Grossmünsterschalhaus.

Offizielle Begrüssung der Kursteilnehmer und nähere Mitteilungen über das Arbeitsprogramm,

Montag, 24. April bis und mit Samstag, 29. April.

Vormittags je von 8—11 Uhr: Besuch der Blinden- und Taub- stummenanstalt (Einführung in das Verständnis des Blinden- und Taub- stummen-Unterrichtes durch Direktor Kull. Nachmittags je von 2—4 Uhr: Vorträge verbunden mit Besprechungen über: Das Gehirn im gesunden und kranken Zustande; Physiologie der einzelnen Gehirnterritorien; Sprachgebrechen; Degenerationszeichen durch Prof. Dr. Huguenin. Die speziellen Belehrungen über Stottern und Stammeln nach Übereinkunft mit Prof. Dr. Huguenin: Lehrer Heimgartner, Zürich II.

Montag, 1. Mai bis Samstag, 20. Mai.

Vormittags je 8—12 Uhr: Lehrproben und Übungen in den Spezialklassen I und IJI (siehe einleitende Bemerkungen); nachmittags je von 2—4 Uhr: Fortsetzung der Vorträge des Prof. Dr. Huguenin.

Dienstag, 23. Mai bis Samstag, 27. Mai.

Vormittags: Schulunterricht, nachmittags 4—6 resp. 4—6!/, Uhr nach noch zu vereinbarender Stundenordnung:

a) Die Gehörorgane und Sprachorgane als solche und in ihrem

Einfluss auf die geistige Thätigkeit: Dr. Laubi. (12 Standen.) b) Das Auge im gesunden und kranken Zustande unter besonderer Berück- sichtigung der bezügl. Aufgabe der Schule: Privatdozent Dr. Fick. (12 Stunden.) c) Psychologisches und Unterrichtshygieinisches in Anwendung auf die Praxis der. Spezialklasse: Lehrer A. Fisler. (16 Stunden.)

Arbeitsplan

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Montag und Dienstag, 29. und 30. Mai.

Teilnahme an der Il. schweiz. Konferenz für das Idiotenwesen in Aarau; in Verbindung damit: Besuch der Anstalten Bremgarten und Biberstein.

Mittwoch, 31. Mai bis und mit Dienstag, 20. Juni.

Nachmittags von 4— 6 bezw. 6'/, Uhr: Fortsetzung der unter a, b und c angeführten Vorträge und Besprechungen.

Mittwoch, 21. Juni.

Nachmittags 4—6 Uhr: Über Dr. Guggenbühl und seine An- stalt: Dir. F. Kölle, Zürich V.

Donnerstag, 22. und Freitag, 23. Juni.

Nachmittags 4—6 Uhr: Das Wesentlichste über Geschichte und Organisation der Spezialklassen: Lehrer A. Fisler.

Montag, 26. Juni bis und mit Mittwoch, 28. Juni.

Besuch der Anstalt Regensberg. (Mitteilungen über: Erfahrungen

an Schwachsinnigen durch Dir. Kölle, Regensberg.) Donnerstag, 29. Juni.

Besuch der Kellerschen Anstalt Hottingen; der Anstalt für

Epileptische, Rüti-Zürich; der Pflegeanstalt Mariahalden. Freitag, 30. Juni.

Vormittags 10. Uhr: Zusammenfassender Rückblick über „Be- ruf und Aufgabe eines richtigen Lehrers und Erziehers der Schwachen“. Abgabe der Ausweise über den Besuch des Kurses. Ge- meinsames Mittagessen. Kurze offizielle Ansprache und Schluss des Kurses.

Man sieht, der praktische Teil fiel auf den Vormittag; der theoretische mit seinen Vorträgen auf den Nachmittag. Der Raum erlaubt uns nicht, in Einzel- schilderungen einzugehen. Wir verweisen dafür auf den am Schlusse dieses Berichts mitgeteilten Vortrag und bemerken nur noch, dass das Programm genau eingehalten werden konnte. Die Teilnehmer folgten den Vorträgen mit grösstem Interesse, wie sich auch nicht leugnen lässt, dass sich gegen das Ende hin eine gewisse Abspannung geltend machte, was bei der Fülle des Stoffes, der täglich geboten wurde, begreiflich erscheint. Eine angenehme und sehr lehrreiche Ab- wechslung boten die Besuche der verschiedenen Anstalten, sowie der I. Schweize- rischen Konferenz in Aarau.

Jeder Kursteilnehmer erhielt von der bestellten Kommission der Zentral- schulpflege Zürich einen schriftlichen Ausweis über sein 10 wöchentliches Studium mit dem Wunsche, „dass die gewonnenen vielseitigen Anregungen die besten Früchte zeitigen mögen, zu Nutz und Frommen der hilfsbedürftigen Jugend unsers Landes“.

Seinen Abschluss fand der Kursus in einer Versammlung am Vormittage des 30. Juni im Grossmiinsterschulhause und in einem sich anschliessenden Mittagsessen.

Es besteht die. Absicht, den Kursus in dafür geeignet erscheinenden grösseren Schweizerstädten zu wiederholen.

er.

Zusammenfassender Rückblick über Beruf und Aufgabe eines richtigen Lehrers und Erziehers der Schwachen.

Von A. Fisler. Verehrte Anwesende!

Wir stehen am Schlusse unseres Kurses die Gleichen, die wir ihn vor 10 Wochen erwartungsvoll begonnen, und doch wieder nicht als die Nämlichen. Mit andern Augen als damals sehen wir uns heute gegenseitig an, mit andern Augen vielleicht auch die Sache, um derer willen wir aus verschiedenen Teilen unseres lieben Vaterlandes uns hier zusammengefunden.

Dass beim Rückblick auf die verflossenen Arbeitswochen, beim Überblick über das durchschrittene Arbeitsfeld, die erfüllte Arbeitsleistung und den er- zielten Arbeitsgewinu die Empfindungen der einzelnen verschieden sein werden, verschieden sein müssen, liegt nicht nur begründet in dem objektiven Werte dessen, was der Kurs geboten, sondern auch in der Verschiedenheit der indivi- duellen Vorbedingungen, in dem Masse des persönlichen Wissens und Strebens, das der einzelne von Hause mitbrachte,

Ist dieser Kurs im allgemeinen für uns zu dem geworden, als was er eich ankündigte, zu einem wirklichen Bildungskurs? Sicherlich mag nicht jeder in allen Stücken das gefunden haben, was er erwartet, aber so viel glaube ich sagen zu dürfen, ohne von Ihnen Lügen gestraft zu werden: Ohne irgend welchen Gewinn, ganz unbefriedigt wird kaum einer hinweggehn; ist doch im Laufe dieser Wochen des Wissens- und Thunswerten so vieles und vielartiges geboten worden, dass notwendig der eine oder andere Grundton zum Anklingen gebracht werden musste, auf den sich ein befriedigender Akkord wird aufbauen lassen.

Und abgesehen von allem andern: Es hat uns Magistern nicht an der Seele geschadet, dass wir zur Abwechslung wieder einmal selbst uns in die Schulbänke setzen und von andern dasselbe erdulden mussten, was wir Tag für Tag, jahraus, jahrein unsern Schülern anthun. Wäre uns hiebei, namentlich bei der praktischen Schularbeit, wo des eigentlichen Neuen verhältnismässig wenig an uns’ herantrat, ich sage, wären uns da die Stunden mit ihren 60 gleichlangen Minuten zuweilen etwas lang geworden, wie oft schon mögen unsere Schüler sich in der nämlichen unangenehmen Lage befunden haben. Sind wir verständig, so konnten und können wir auch aus Erfahrungen mehr negativer Art irgend einen Gewinn ziehen für unsere künftige Berufsarbeit. An Anschauungsbildern verschiedener Art hat es uns nicht gefehlt; ja vielleicht waren es ihrer zur gründlichen Aneignung und Assimilierung nur zu viele.

Noch manchmal in stillen Stunden werden sie sich melden, die Kinder- gestalten im saubern heimeligen Anstaltshause droben am Zürichberg; jene Stummen, die wir sprechen gehört, jene Blinden, die mit den Fingern sehen verstehen und lesen, deren Herzensfreude über ein gelungenes Gebilde eigener Hand wie Sonnenschein auf ihrem Gesicht sich ausprägte, deren Gesänge wie Klänge aus einer verborgenen Welt an unser Ohr dringen.

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Wir werden sie nicht vergessen, einzelne jener Elendsgestalten, die wir schauten drunten im Thal der Reuss; noch wird sich leicht verwischen das fest- tägliche Bild der singenden und turnenden Anstaltskinder dort an der herrlichen Sonnenhalde bei Biberstein.

Und erst die Tage, die wir zugebracht in dem einstigen Wohnsitz der Edeln von Regensberg, wo den Schwachen und Schwächsten, die jene hundert- mal hätten verkommen lassen, von deren Nachkommen ein so freundlich, so sauber, so wohl gepflegtes Heim bereitet ist.

Mussten sie nicht zu unsern Herzen sprechen diese Hilfsbedürftigen alle, ganz besonders jene, die nichts weiter vermochten, als uns Fremdlinge mit ihren Augen anzusehen, unsere Bewegungen nachzumachen, die aber nicht im stande waren, uns kundzuthun, ob sie nach Menschenweise denken, noch was und wie sie denken und fühlen, bei deren Anblick wir uns der wehmütigen Stelle in Dantes göttlicher Komödie erinnern, wo es heisst:

„So, wie die Schäflein aus der Hürde kommen, zu zweien oder dreien, in- des die andern furchtsam so Aug’ als Schnauze niederstrecken und was das erste thut, das thun die andern.“

Einfach und still und das warum nicht wissend, stehen sie ihm angedrängt, sobald es stehen bleibt. Wohl diesen verlassenen Schäflein, dass auch sie noch einen Hirten gefunden haben, der aus dem erstickenden Staub- und Räderwerk der grossen Völkerstrasse sie beiseite führte an ein gesichert grünes Plätzchen.

Und jene 13 im Zeichen Pestalozzis als Verwahrloste untergebrachten Knaben, haben sie nicht unsere Herzen bezwungen, wie sie von freudig geübter Arbeit kommend, so heiter und innerlich glücklich uns ihre Lieder sangen als wollten sie sagen: Seht! Ihr, die Ihr Euch berufen fühlt, das Testament des unvergesslichen von Neuhof und von Stanz zu vollstrecken, seht! Wo irgend der wahre Geist Gottes weht, der Geist prunklos im stillen geübter Menschenliebe, da wird heute noch Ruhe, Friede und Freude auch im wild bewegten ,. verloren geglaubten Menschenherzen.

Und könnten wir der einzig schön gelegenen so mustergiltig für ihren Zweck eingerichteten Heimstätte für Epileptische auf der Rüti gedenken, die uns gestern als willkommene Gästen so freundlich ihre hohen weiten Räume geöffnet, ohne im stillen uns herzlich für diese armen Kinder zu freuen, die für ihr Leiden solches Verständnis, solche liebevolle Pflege finden, denen ihre Jugend, die wenigen Jahre, die ihnen vielleicht vergönnt, so schön gemacht werden.

Gönnen wir endlich nicht auch jenen 20 Mitleidsgestalten im idyllisch ge- legenen Herrschaftshause in Mariahalden von ganzem Herzen die in seltener Weise schöne, in ibrer vornehmen Ruhe so wohlthätig auf das erregte Menschen- gemt wirkende Wohn- und Heimstätte; ihnen, die dafür nach anderer Seite so viel von dem entbehren müssen, was zum Lebensglück gehört ?

Gewiss, es war ein Anschauungsunterricht seltener Art, der uns an all’ diesen Orten geboten worden. Wir werden die uns erwiesene Freundlichkeit, ja Herzlichkeit nicht vergessen, sie hat uns wohlgethan, uns geboben, uns mit Mut

und Freude erfüllt, unserseits in unsern Kreisen auch glücklich und froh zu machen diejenigen, die daselbst in unsere Obhut treten.

Geehrte Kursgenossen und Genossinnen! Unter all’ den Szenen aus dem Leben und Treiben der anormalen Kinder, die Sie zum Teil im Sonntagskleid und bei eigener entsprechender Stimmung gesehen, werden wohl auch die Schüler derjenigen Spezialklassen, in denen Sie hundert und mehr Stunden zugebracht, und die sich im werktäglichen Arbeitsgewande gezeigt, einen Platz in Ihrer Erinnerung einnehmen.

Wer als Fremdling, zumal am Sonntag nur für kurze Zeit in einem Hause einkehrt, der kann sich leicht über den wahren Charakter der Hausgenossen täuschen; nicht aber der erfahrene Aufenthalter, der wochenlang Gelegenheit hat, jene bei ihrer Alltagsarbeit zu beobachten.

Der Gesamteindruck über das Wesen und den Wert unserer Schulen setzte sich für Sie zusammen aus vielen Augenblicksaufnahmen, die Sie gemacht, wie dies der Photograph der Neuzeit zu thun pflegt oft gegen Wissen und Willen der abkonterfeiten Akteurs.

Unsere Mängel und Schwächen können Ihnen nicht verborgen geblieben sein, auch wenn Sie dies nicht laut werden liessen, und es mag sich bei Ihnen ab und zu der Eindruck geltend gemacht haben, wie wenig mitunter die Aus- führung der theoretischen Einführung entsprach.

Wo wir uns gegen unser Wissen in der Methode, in der Wahl der Unter- richtsmittel verfehlt haben, da werden Sie sich Ihrerseits bemühen, mit bessern Mitteln bessere Erfolge zu erreichen; aber eines thäte uns leid, eines müsste uns richten, wenn Sie von uns gingen mit dem Gefühl: die stehen nicht mit dem Herzen in ihrer Schule, sie vermögen diese Kinder nicht zu fassen, sie sind Mietlinge und keine Hüter. Wir alle haben unsere Mängel, unsere mehr oder weniger verschuldeten Schwächen, aber an gutem Willen, an Hingabe für das Amt, wofür er bestellt, sollte am wenigsten der Lehrer der Hilfsklasse es fehlen lassen.

Was uns in diesen Wochen zur Erweiterung unseres Erkenntnis- und Vor- stellungskreises durch Männer der Wissenschaft geboten worden, hat unsern geistigen Horizont erweitert und wird nicht verfehlen, auf unser Thun und Streben für die Zukunft einen anregenden und heilsamen Einfluss zu üben.

Muss es für jeden denkenden Menschen von besonderem Interesse sein, über die Einrichtung und Beschaffenheit seines eigenen Körpers Aufschluss zu erbalten, wie wertvoll ist erst für den Lehrer Geistes- und Sprachschwacher eine mehr als bloss oberflächliche Kenntnis derjenigen Organe, welche die geistige Erkenntnis ermöglichen und die innern Regungen der menschlichen Seele zum Ausdruck bringen. Wenn wir fortan lesen oder hören von Neuronen und Gehirnganglien, von Hirnstamm und Hirnstiel, von Haube, Fuss und ovalem Schnitt, von der Insel Reils und der Brocaschen Windung, von Talamus, Kniehöcker, vom Zentrum des Gesichts oder Gehörs, dem sensiblen und motorischen Sprech- und Schreibfeld, von Aphasie, von Alexie und Agraphie, so werden solche und ähnliche Aus- drücke nicht bloss unser Trommelfell berühren, wie etwa die Klänge des Volapük

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die Hörwerkzeuge eines Zulukaffers, sondern wir werden einen zum mindesten halbwegs verständigen Sinn damit verbinden; wir werden fortan nicht unbesehen und urteilslos jeden Unsinn verschlucken, der unter hochtönendem Namen uns imponieren möchte.

Wenn Schwerhörige, Schwach- und Kurzsichtige, Stotternde, Stammelnde, Begriffs- und Spracharme in Zukunft unsere Hilfe suchen, werden wir ihre Leiden nicht mit etwas andern Augen ansehen, nachdem wir die Ursachen besser zu erkennen, die kausale Verkettung der Umstände, die das Übel herbeigeführt, besser zu verfolgen imstande sind? Werden wir nicht die Fehler und Eigen- heiten dieser häufig ungerecht behandelten Kinder milder beurteilen, denn vieles erkennen, heisst vieles verzeihen, wird nicht die bessere Einsicht auch das Mit- gefühl mit diesen so wenig Verstandenen, überall Zurückgesetzten vermehren ? Wird nicht mit der zunehmenden Erkenntnis der Quellen der verschiedenen Übel und Gebrechen auch unser Eifer wachsen, das Pflichtgefähl, die innere Freude, zu helfen, zu retten, was noch zu retten ist? Wäre dem nicht so, wie könnten wir fortan uns selber achten?

Wir sind in diesen 21/, Monaten keine Gelehrte geworden; aber wir haben über unser Wissen und Können richtiger und hoffentlich bescheidener urteilen gelernt. Wir haben eingesehen, wie vieles uns fehlt, um auch nur in die Elemente der Menschenerkenntnis eingeweiht zu sein, wir haben aber gleichzeitig erkannt, wie notwendig, wie unerlässlich eine Erweiterung, eine Vertiefung der Einsicht in die Werkstätte ist, in welcher der Menschengeist sein von andern wahrnehmbares und fassbares Gepräge erhält. Standen wir wie Schulkinder vor diesen einfachen Exempeln, die ein Höherer schon vor Jahrtausenden bis in die Millionstel genau gerechnet. ... Wie klein, wie verschwindend klein erscheint unsere Weisheit erst gegenüber jenen Gleichungen höchsten Grades, in denen die Vorgänge des eigentlichen Geisteslebens ihren Ausdruck finden. Je auf- merksamer wir die Hülle betrachten, in welcher und durch welche der Geist sich bethätigt und zur Wahrnehmung drängt, desto mehr reiht sich Wunder an Wunder vor unseren Augen. Wir wollen und sollen Ärzte sein für Funktionen des Geistes, in dessen Werk und Wirkungsstätte wir so wenig noch bewandert sind. Jean Paul sagt in seinem „Wuz“, es gebe zweierlei Spiele der Jugend, indem dieselben entweder die hinaufwärtsliegenden Beschäftigungen der er- wachsenen Menschen oder die abwärtsliegende tierische Welt nachahmen. Nach- dem er dann weiter von seinem Helden erzählt, wie er bei den Spielen nie etwas anderes dargestellt als einen Hasen, einen Bären, eine Turteltaube, ein Pferd oder den Wagen daran, fügt er hinzu:

„Glaubt nur, ein Engel des Lichts findet auch in unsern Hörsälen nur Spiele, und wenn es hoch kommt, jene zweierlei Spiele.“

Es drängt sich mir eine Stelle in Shakespeares Hamlet immer wieder zum Vergleich mit der beruflichen Aufgabe eines Heilpädagogen unserer Borte auf.

Hamlet fragt einen seiner Höflinge: „Könnt Ihr auf dieser Flöte spielen ?“ und fügt auf dessen verneinende Antwort hinzu: „Seht Ihr, was für ein arm- seliges Geschöpf Ihr aus mir machen wollt! Ihr wollt auf mir spielen, Ihr

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wollt thun, als kenntet Ihr meine Griffe. Es ist soviel Musik, soviel herrlicher Gesang in diesem kleinen schwachen Instrument und dennoch könnt Ihr nichts aus ihm herausbringen. Zum Henker! Glaubt Ihr denn, ein Mensch sei leichter zu spielen als eine Pfeife. Nennt mich welches Instrument Ihr wollt! Wenn Ihr schon auf mir herumpfuschen könnt, so könnt Ihr doch nicht auf mir spielen.“

Die Instrumente, an denen wir unsere Künste üben sollten, sie besitzen zwar häufig nicht mehr alle Saiten; aber ein Paganini wusste auch noch der einzigen wunderbare Töne zu entlocken. Setzen wir alle unsere Krafl ein, solche Künstler zu werden auf dem weit kostbarern Instrumente, das uns an- vertraut ist.

Was nützte dem die Kenntnis der Sonnenatmosphäre, der nie in ihren Strahlen steht, was würde uns die Kenntnis sämtlicher Gehirnterritorien nützen, wenn wir kein Verständnis hätten für jene unsichtbaren Nervenbahnen, die allein gewissen dominierenden Gehirnzentren Leben und Thätigkeit bringen, die Bahnen der Menschenliebe, des Erbarmens, auf die auch wir einst angewiesen waren und auf die wir wieder angewiesen sein werden, wenn die Tage kommen, die uns nicht gefallen.

Was eine Uhr ohne Feder, das wäre ein Lehrer der Schwachen ohne diesen innern Zug, der ihn mit den leidenden Kindern verbindet so, dass eines ohne das andere nicht sein mag.

Wir haben genügende Einsicht in das Wesen gewisser physischer Mängel und Gebrechen gewonnen, um zu wissen, wie sehr viel folgenschwerer sie ihre Träger belasten, wenn letztere noch keine Zeit gefunden haben, Erfahrungen zu sammeln, sich ein Lebenskapital zu erwerben.

Ein in der Jugend verkümmertes Gemüt, findet der Verfasser der „Brosamen“, wird zu blindem Glase; selbst der liohteste Strahl findet später keinen Reflex mehr.

Mit 80 Jahren erst den Fuss zu brechen, macht nicht lange lahm. Als Kind den kleinen Finger nur verlieren, das ist ein 80 Jahre lang Gebrechen. So steht auf Dumm- und Schlechtsein eine schwere Strafe: die Lebensstrafe; d.h. ein dummes, schlechtes Leben nur zu führen, nicht als ein Mensch gelebt zu haben.

Geben wir uns immer wieder Mübe, uns lebhaft in die Lage unserer Zög- linge zu versetzen, die Leiden, die ohne rechtzeitig vorbeugende Massregeln so- zusagen mit Sicherheit auf sie warten würden, uns lebhaft zu vergegenwärtigen, jeden einzelnen der uns Anvertrauten tagtäglich uns vorzustellen, uns dabei unserer eigenen Jugend zu erinnern, und es wird diejenige Stimmung über uns kommen, die man Mitgefühl und Mitleid nennt.

Es liegt viel, es liegt alles daran, dass wir hoch von unserer Aufgabe denken, woher sollte uns sonst der Mut, die Schaffensfreudigkeit kommen; es wird genug dessen an uns herantreten, was die Schwingen niederzieht; ver- säumen wir nicht, bevor wir die Fahrt über den Strom beginnen, das Ziel weit genug nach aufwärts zu verlegen; die Schwerkraft wird schon dafür sorgen, dass unsere Landung nicht zu weit oben stattfindet; wer gern etwas Ordentliches leisten möchte, muss etwas Ausserordentliches zu leisten suchen, und könnten

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wir auch unser Ideal nicht verwirklichen, so vermögen wir doch die Wirklich- keit zu idealisieren, indem wir versuchen, sie so vollkommen als möglich zu gestalten.

Denken wir nicht gering von unsrer Arbeit, weil es meist Kinder der Armen, ihrem Gesamtwerte nach scheinbar Zurückstehende, ja Vernachlässigte ‚sind, mit denen wir es zu thun haben, weil man von manchem derselben sagen konnte, seine Eltern sind gestorben, hauptsächlich aber der Vater.

Wer die Menschheit nicht in ihren niedersten Sphären mit Liebe erkannt hat, sagt Bogumil Golz im „Buch der Kindheit‘, der begreift sie nimmer in ihren Höhen. Was denn in der Welt ist gross, was ist klein? Man sagt, die alten römischen Mauern hätten nur deshalb die Jahrhunderte überdauert, weil sie mit unsäglicher Geduld aus kleinen Steinen aufgebaut waren. Waren ein Bonaparte, ein Julius Cäsar, ein Alexander der Grosse mit der höchsten Gunst des Glückes zufrieden? Sie strebten immer wieder nach noch Höherem, das dann für sie leerer Glanz war.

Je ärmer unsere Kinder sind, desto mehr müssen sie entbehren, erdulden.

Sie sehen die andern an den vollen Tischen sitzen und bekommen als die Hündlein kaum die Brosamen. Sie finden in sich keine Quelle der Freude. Jeder wendet sich selbstsüchtig ab von denen, die nichts bedeuten und nichts geben können, und diejenigen, die sich ihrer allenfalls noch annehmen, Vater und Mutter, sie haben nicht das nötige Verständnis für ihren Zustand; oft genug auch nicht die nötigen Mittel, um helfen zu können. Auf wen sollen diese Armen warten, wenn auch wir, die wir ihre Not kennen, die wir auch wissen, wo und wie ihnen noch zu helfen wäre, wenn auch wir gleichgültig und müssig zuschauen und in das allgemeine wegwerfende: „Was liegt daran?“ einstimmen wollten?

Je kränker einer ist, desto mehr bedarf er des Arztes. | Unsere Spezialklassen, unsere Anstalten für geistig Schwache sind für letztere das, was die Levana, die Göttin der Römer, für die nach damaliger Sitte auf die Erde gelegten neugebornen Kinder war. Wer sie aufhob, übernahm damit die Pflicht ihrer Erziehung.

Ich weiss es schon, nicht alle denken gleich in dieser Sache..

In einem Blatt für Idiotenpflege meinte jüngst ein Einsender: Anstatt zu untersuchen und durch langjährige kostspielige Experimente festzustellen, was alles etwa mit Acb und Weh für Lehrer und Schüler in diese Geschöpfe hinein- gelegt werden könnte, möge lieber untersucht werden, was alles für sie nicht geschehen sollte.

Ja, kostspielige Experimente! Wenn man von Staatswegen keine Opfer scheut, um durch rationelle Pferde-, Kihe- und Schweinezucht die Rasse zu heben, so wird es doch gestattet sein, auch für seine menschlichen Mitgeschöpfe sich etwelche einlässlichere Versuche nicht reuen zu lassen. Der Herr Einsender des zitierten Satzes denkt sich das Verfahren mit diesen Unterwertigen höchst einfach. Er schlägt vor, in jungen Jahren, wo der Unterricht beginnt, die

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Schwachsinnsverdächtigen zu untersuchen und diejenigen, welche bei der Prüfung schlecht bestehen, zu eliminieren. Gewiss ein Verfahren, das an Einfachheit nichts zu wünschen übrig lässt; als ob diese Diagnose so sicher und leicht wäre, als ob nicht hiebei die allergrössten Irrtümer und Ungerechtigkeiten mit- unterlaufen müssten. Eine solche Prüfung muss sich doch durch Jahre hindurch erstrecken, ehe ein Mensch nur so mir nichts dir nichts aufgegeben wird. Hunderte, die heute mit Ehren ihren Platz in der menschlichen Gesellschaft ausfüllen und sich wie der Herr Einsender ihres Lebens freuen, was wäre aus ihnen geworden, wenn man seinerzeit so schneidig mit ihnen verfahren wäre?

Wir haben Beispiele kennen gelernt, wo an Kindern, die alle Welt aufge- geben, durch Hingabe und Ausdauer Wunder verrichtet wurden. Noch gestern trafen wir in der Anstalt an der Hofstrasse ein Kind, mit dem Jahre lang wegen seiner Aufgeregtheit nichts anzufangen war. Wir alle hätten es wohl aufgegeben. Wie ruhig, wie verhältnismässig verständig sahen wir es gestern bei seiner Strickarbeit, ein Wunder, auch vor den Augen der Vorsteherin. Nicht umsonst sagt der Morgenländer: Zeit und Geduld verwandeln das Maulbeerblatt in Seide. Und sollte mit dem Massstab der Intelligenz gemessen durch viele Mühe mitunter an diesen Kindern nur verhältnismässig Unscheinbares geleistet werden, ist das, was uns als gering erscheint, auch so nichtssagend, so nichts- wertig für den Unglücklichen selber ?

Wir haben bei Betrachtung der menschlichen Sinnesorgane gehört, von welch’ unberechenbarer Wichtigkeit für einen schwerhörigen jungen Menschen es sei, wenn seine Hörschärfe auch nur um 1 cm zunehme; wie dadurch ge- wissermassen eine neue Welt von Tönen sich für ihn eröffnet, wie durch diese eine, geringfügig genug erscheinende Verbesserung seiner Lage die ganze Charakter- entwicklung sich günstiger gestalten kann. Sollte es denn so gleichgültig sein, ob, um das gleiche Bild zu brauchen, der Schwachsinnige um 1 cm in seinem geistigen Leben gefördert wird oder nicht. Wir sagen nicht: „an Geld gefördert wird“, sondern in seinem geistigen Leben, dem Höchsten, was er als Mensch besitzt.

Wir werden uns hoffentlich mehr als einmal besinnen, ehe wir über einen Menschen den Stab brechen und ihn’ mit dem Stempel der Bildungsunfähigkeit versehen, mit einem Haufen anderer Auswürflinge hinter jene Thür verbringen, auf welcher wie in Dantes Hölle geschrieben steht: „Lasst alle Hoffnung fahren, ihr, die ihr hier eintretet!“

Wenn man Sätze, wie den weiter oben zitierten, als Postulate aufstellen wollte, so müsste man bei jedem, der ins Wasser gefallen, der in Gefahr steht, im brennenden Hause zu ersticken oder vom Rad des Unglückswagens erdrückt zu werden, bevor man an Rettung denkt, sich zuerst fragen: Ist’s ein Schwach- sinniger und ein Schwachsinniger welchen Grades? und weiter: Lohnt es sich der Mühe, mit Einsatz des eigenen Lebens Rettungsversuche an ihm zu machen ? Was wäre aus der Schar der Blinden, Tauben, Irren geworden, wenn es nicht Männer und Frauen gegeben hätte, die ihre Zeit, ihre Kraft, ihr Geld, ihren Ruf hingegeben hätten, um unter Überwindung ganzer Berge von Vorurteilen den gebundenen Geisteskräften der Drei- und Viersinnigen einen Weg zu bahnen?

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Wissen wir, was aus demjenigen noch werden kann, der uns heute als schwach- sinnig erscheint ?

Ist etwa noch nie ein Kind von seinen Erziehern verkannt worden; hat noch nie ein vermeinter Dummkopf später die Welt erleuchtet? Warum sollten wirs so eilig haben, diese Menschen aufzugeben, ist’s nicht immer noch früh genug? Mit diesem Argument hielt ich einst einen vom Selbstmord zurück. Als er sich ins Wasser zu werfen im Begriffe war, rief ich ihm zu, auf > Minuten früher oder später werde es hier nicht ankommen: und ich habe ihm vorher noch etwas über seinen Sohn, der mein Zögling war, zu sagen.

Als es sich seiner Zeit um Abschaffung der Todesstrafe handelte, wurde als Devise aufgestellt: Ist es nicht besser, dass 100 Schuldige dem Richtbeile entgehen, als dass ein Unschuldiger dem Henker verfSlit, und wenn unsere Ver- suche an Hunderten unnütz wären, was ich nie glaube, wenn einer dadurch ge- rettet wird, waren jene nicht gerechtfertigt ?

Nach einer alten Geschichte glaubte ein Mensch schliesslich selbst an seinen Tod, weil ihm alle Welt als Gestorbenen behandelte und bei seinem Auftreten erschrocken fh. Was Wunder, wenn aus einem nichts werden kann, den man zum voraus für dumm und unbrauchbar hält.

Lassen wir uns durch geringschätrige Urteile nicht entmutigen und in unserer Thätigkeit iahmiegen; es liegt eine unwiderstehliche Beredsamkeit im Thun, und was Mühe und Ausdauer dem Hindernissen abringen, hat immer den höchsten Wert. nicht bloss olne Strümpfe und Schuhe, sondern in bohem Grade zeriumpt und zeırısen Dazu sah er sehr wild und roh aus Der Lehrer hatte ibn auf den ersten Pilatz gesetzt und antwortete auf die Frage, warum er dies getban: „Das ist ein seltener Gast, dem muss man besonders ehren; ich werde ihn schon herumbriagea, deaa ich spüre tiefes Mitleid mit im“, und als ev, der spitere Zégling emer schweizerischen Retiungsamstalt, die Nachricht erhielt vom His- schied seines einstigen Lehrer, schaute er den Trauerboten lange sprachlos an und sagte dann mit zitiernder Stanıme:

„Er ist ea gaste Ma gsi, er hat ein e mo schön a’gineget.“

Verehrte Kursgenossen und Gemossinen! Sie treten ein jedes demsächst wieder an seine Arbeit, man wird auf Sie sehen, man wird ven Ihzaen erwarten, dass Sse nicht als blosse Schulkalter zuräckkeliren, sondern geizagen vom einer gewissen Wärme, ven einer innern Begeisterung, obne die eine gute Sache nie Baknbrecher far de Speralklassen; stehen wir ein für mie mit dem Bestem, was wir im uns tragen Ihr Wohl sei das unarige, tare Eure die unsere. Setzen wir unsere gamre Person ein für unser Werk, sonst kan» dasselbe nimmer gedeiken. Was sulke diesen Kindern dje Spreu, wenn andere das Korn bekommen, das allein nähren und beieben kann, und dieses Korm ist die Liebe ra einer Sache. Wohl ist æ kese leichte Arbeit, die unser wartet, aber wir habem in unserm biskerigen Leben es erfakren, wie gerade die allermühsamste beschwerlichste

188 Arbeit, in rechtem Sinne getban, uns nachher selbst zur grössten Freude, zum grössten Gewinn wurde.

Einer der berühmtesten Ärzte, den Arme und Reiche, Kinder wie Er- wachsene, Soldaten und Arbeiter jubelnd begrüssten, wenn er sich auf der Strasse zeigte, Dr. Heim in Berlin, sagte von sich selbst: Allen Vergnügungen meines Lebens musste ich entsagen, um nur meine Patienten abwarten zu können; da aber in diesem Geschäft meine Seele die grösste Ruhe findet, so liegt auch keiue Aufopferung darin.

Und wie viel leichter haben wir's als Tausende vor neben uns. Be- wiesen uns nicht die Tage von Aarau, beweist uns nicht der heutige Tag, wie- viel Sympathie und Unterstützung unser Werk in massgebenden Kreisen geniesst. Und sollten wir ja hin und wieder für die Sache, der wir dienen, ein bisschen leiden müssen, was liegt daran? Nur für Opfer zahlt das Leben.

Wir werden mit den Resultaten unserer Arbeit nie nach aussen glänzen können, im Gegenteil, man wird unsere aufgewendete Mühe vielfach unter- schätzen. Sollte uns dies abschrecken, uns lässig machen? Als Phidias, der berühmte Bildhauer der Griechen, so wird erzählt, die Statue der Athene auf der Akropolis aufgestellt hatte, meisselte er, um den Haarwuchs und den Locken- wurf der Statue fehlerlos zur Darstellung zu bringen, an dem der Wand zuge- kehrten Hinterkopf. Warum thust du das? wurde er gefragt, das alles sieht ja doch kein Mensch. „Es sehen’s aber die Götter“, sprach Phidias. und schaffte weiter. Ehrt solche bis ins Einzelnste und Ungesehene geübte Treue in unsern Augen den grossen Heiden nicht mehr als alles.andere, das wir von ihm wissen ?

Unsere Schulstuben können wieder Familienstuben im wahren Sinne des Wortes werden. Eine gewisse Freiheit der Bewegung, die wir geniessen, wird uns doppelt anspornen, unsere Kinder, ihr Wesen, ihre Bedürfnisse, ihre Indivi- dualität zu ergründen und nach den besten Mitteln und Wegen zu suchen, um ihnen beizukommen. Wir können so der Forscher-, der Entdeckerfreude ge- niessen auf dem obersten und schönsten Gebiete menschlichen Forschens, auf dem Gebiete der Kinderpsychologie, des Menschenstudiums.

So können, so werden unsere Schulstuben anregend, hebend wirken auch auf das Unterrichtsverfahren an normalen Kindern.

` Unser Bildungskurs war aber auch, abgesehen von seiner speziell beruflichen

Anregung in weiterem Sinne von Bedeutung für uns, hat er doch Lehrer und Lehrerinnen, von denen einzelne schon 30 Jahre und darüber am Pfluge ge- standen, ohne Unterschied des Alters, der Bekenntnisse, der Kantonsangehödrigkeit unter der Flagge des roten Kreuzes vereinigt zu gemeinsamer ernster Arbeit. Und ‚dass gearbeitet worden, wird kaum von einer Seite bestritten werden. Auch unsere Lehrer mögen schon manchmal ihre Vorträge vor einem Auditorium ge- halten haben, das nicht mit dieser Regelmässigkeit und Vollzähligkeit Tag für Tag in gespannter Aufmerksamkeit denselben beiwohnte.

. Kein ernstlicher Misston hat unser Beisammensein getrübt; es haben sich Bande der Achtung und Freundschaft auf Lehenszeit geschlossen. Wir werden uns in Zukunft nicht allein fühlen; wir werden yns gegenseitig anfeuern, jeder

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seinen Eifer an dem des andern beleben, jeder in dein andern einen verständnis- vollen Berater finden, jeder sich am Erfolg des andern freuen.

Wir betrachten es als eine grosse Ehrung der Sache, der wir dienen, dass die obersten Behörden dieser Stadt und unseres Landes sich nicht zu hoch und uns nicht zu gering gehalten baben, der Arbeit an den Schwachen und Hintan- gesetzten offen ihre Sympathie zu beweisen. Es gab andere Zeiten. Sie kennen die geschichtliche Anekdote, nach welcher Pestalozai einst in einer Kunstaus- stellung aufmerksam gemacht wurde, wie sein Bild unmittelbar neben dem eines Hundes im Profil aufgehängt. worden.

Das passt sich ja gar nicht übel, soll Pestalozzi schlagfertig erwidert haben, „der Hund ist die Stadt Zürich, sie bellt mich an.“ Wenn er sehen könnte, wie das heutige Zürich seinem Bilde Ehre erweist, wie sie nicht nur durch Denkmäler aus Gips und Stein, sondern durch werktbätige Pestalozzi- anstalten aller Art sein Andenken ehrt, er würde besser denken von seiner ge- liebten Vaterstadt. Zwar hatte er es ja mit prophetischem Blick bereits voraus- gesehen, was nun eingetroffen:

Mein Geschlecht, das ich liebe, wird mein Thun vollenden, und ich habe den Glauben, es wird es mit Liebe und Dankbarkeit gegen mein Andenken vollenden. Er hat wahr gesprochen: „Zürichs vornehmstes Visitenzimmer ist sein Pestalozzistübchen geworden.“

Und es erscheint mir als eine gute Vorbedeutung für die Bestrebungen zur Hebung der Minderbegabten, dass es die Geburtsstadt Pestalozais war, die den ersten Bildungskurs für Lehrer an Spezialklassen durchgeführt und damit einen Anstoss gegeben hat, der von weitiragenden, hoffentlich segensreichen Folgen sein wird bis hinaus in ferne Tage.

Verehrte Freunde! Lassen Sie mich schliessen. Es ist in diesen Wochen so viel zu uns gesprochen worden, dass leicht auch hierin des Guten zu viel werden könnte. Lassen Sie mieh schliessen mit folgenden warm und tief em- pfundenen Worten eines dahmgeschiedenen Lehrers und Freundes der Kleinen und Schwachen.

Und sollt ich denn mein Glück nicht schätzen ? Ich gleiche ja dem Wandersmann,

Der heimgekehrt mit reichen Schätzen,

Sich in der Heimat freuen kann.

Die Kinderwelt, sie ist der Garten, Auf den wir anere Hoffnung bau'n. Da giebt’s zu pflegen und zu warten, Mit Kraft und Mut und Gottvertrau’n Die Kindersesle zu erheben

Aus ihrer Dunkelheit zum Licht,

Zu einem reichern Geistesleben,

Das, Freunde, das sei unsre Pflicht.

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Und in der Kunst, das Kind zu leiten, Es zu behandeln, zu verstehn,

Wie bieten sich so viele Seiten,

Die wir oft gänzlich übersehn.

Ach warum sollte ich’s nicht sagen?

Wie gross ist unsre Mühe oft,

Wenn nimmer das will Wurzel schlagen, Wovon wir reife Frucht gehofft.

Wie unfruchtbar ist manche Stelle,

Die uns zum Anbau anvertraut!

Wie spärlich fliesst so manche Quelle,

An der wir Jahre lang gebaut.

So liegt viel Schmerz und mancher Kummer Tief in des Lehrers Brust versenkt,

Ihn fliehet oft der gute Schlummer,

Wenn er an seine Pflichten denkt.

Doch gäb ich alle meine Sorgen

Um alles in der Welt nicht hin,

Sie gelten ja dem goldnen Morgen,

Der einst auf Erden muss erblühn.

Nur eine Sorge muss ich nennen:

Wie traurig wär mein Leben dann,

Müsst’ ich von meinem Amt mich trennen, Lang eh’ ich selig sterben kann.

Zum Rechenunterricht in der Schule für Schwachsinnige

und Epileptische. Von Chr. K., Lehrer an den Bielefelder Anstalten.

Das Rechnen ist der Unterrichtsgegenstand, in welchem der Abstand zwischen unsern Kindern und den Kindern der Volksschule am augenfälligsten ist; das Rechnen ist in unsrer Schule stets der kritische Fall. Einzelne schwachsinnige und epileptische Kinder, welche fliessend und sinngemäss lesen können und uns in andern Gegenständen mit ihrem Verständnis und mit treffenden Antworten überraschen und erfreuen, versagen im Rechenunterrichte, sind selbst im Addieren ganzer Zahlen schwerfällig und unsicher und sind trotz aller Bemühung und Übung in diesem Gegenstande kaum vorwärts zu bringen. Sie haben eben kein Verständnis für die Zahl und die Zahlen; die Zahlen bleiben ihnen böhmische Wälder. Solche Kinder sind jedoch gewissermassen Ausnahmen. Meistens werden die Kinder, welche in andern Unterrichtsgegenständen verhältnismässig gute Fortschritte machen, auch im Rechnen vorwärts zu bringen sein. Aller- dings aber schreiten besonders im Rechnen unsre Kinder viel, viel langsamer vorwärts als die Kinder der Volksschule und bleiben mit seltenen Ausnahmen

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hinter ihren dortigen Altersgenossen um ein beträchtliches zurück. Dessenungeachtet

sollen auch wir unsre Kinder im Rechnen am Schlusse ihrer Schulzeit ich denke hier selbstverständlich an diejenigen, welche überhaupt soweit fähig sind und im Rechnen der Oberstufe angehören zu einem befriedigenden Ziel ge- führt haben.

Würden wir nun in unsrer Schule ein Volksschulrechenbuch so, wie es in der Volksschule geschieht und gescheben darf, gebrauchen, so würden wir fast niemals ein solches hefriedigendes Ziel erreichen. Gesetzt auch, es wäre der erste Rechenunterricht so erteilt, wie er unsern Kindern erteilt werden muss, und wir würden danach ein gutes Volkschulrechenbuch, Heft T x, so, wie es ist, verwenden, so würden unsre Kinder der Oberstufe am Schlusse ihrer Schul- zeit wohl bis zu diesem oder jenem Heft des Rechenwerks fortgeschritten sein, aber zu einem befriedigenden Ziel wären sie durch unsern Rechenunterricht nicht gelangt. Sie würden vielleicht ziemlich gewandt und sicher die vier Spezies im unbegrenzteu Zahlenraume und mit gewöhnlichen und Dezimalbrüchen rechnen können, wären aber in der einfachen Regeldetri mit direktem und in- direktem Verhältnis, in der Zeitrechnung, Zinsrechnung, Gewinn- und Verlust- rechnung, Mischungsrechnung, Flächen- und Körperrechnung wenig oder gar nicht zu Hause. Wir müssen doch auch in unserm Rechenunterricht darauf Rücksicht nehmen, dass manche unsrer Kinder nach vollendeter Schulzeit hinaus ins Leben treten und ein Handwerk oder eine andre Berufsart erlernen, wozu sie also auch im Rechuen von der Schule die nötige Mitgift erhalten müssen.

Deshalb müssen wir uns für unsern Rechenunterricht ein wohl erwogenes, berechtigtes Ziel stecken und dieses dann auch auf der Oberstufe zu erreichen suchen. Zur Erreichung dieses Zweckes ist ein Volksschulrechenbuch nicht in seinem ganzen Umfange zu gebrauchen; denn es geht in seinem Ziel für unsre Verhältnisse zu weit, die einzelnen Abschnitte entbalten zu viel Stoff und manche Aufgaben sind wegen der ihnen verliehenen Form zu schwer und müssen erst geändert und unsern Kindern mundgerechter gemacht werden. Manche Aufgaben welche nur den Zweck der Ausbildung zu grösserer Rechenfertigkeit haben und in der Volksschule ganz angebracht sind, verlieren bei uns ihre Bedeutung, machen unsern Kindern Schwierigkeiten und halten uns zu lange auf.

Klarheit und Sicherheit in der Ausführung der Aufgaben, die wir rechnen lassen, nicht grosse Rechenfertigkeit oder gar Rechenkünsteleien haben wir zu erstreben, und bewusste Klarheit und Sicherheit erreicht man nicht durch blosses vieles Üben, sondern vor allem durch die Art der Behandlung des Gegenstandes.

Wenn nun, wie ich annehme, noch kein besonderes Rechenbuch für die Schwachsinnigen und Epileptischen vorhanden ist, so bleibt uns nur übrig, aus einem guten Volksschulrechenbuch das auszuwählen, was wir zur Erreichung des obigen Zieles im Rechnen für unsre Kinder bedürfen.

Hierzu möchte ich nun einige Winke erteilen.

1. Nachdem der erste, der grundlegende Rechenunterricht in der für unsre Kinder notwendigen anschaulichen und gründlichen Weise erteilt worden, folgt

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das mündliche und schriftliche Rechnen im Kreise 1— 100. Dieser Abschnitt kann nach einem guten Volksschulrechenbuch unverkürzt erteilt werden, wobei aber zu fordern ist, dass das mündliche Rechnen stets dem schriftlichen voran- geht, die Hauptsache bleibt und etwa zwei Drittel der für Rechnen ee Zeit zugeteilt erhält.

2. Das Rechnen im unbegrenzten Zahlenraum kann schon etwas beschränkt werden, nämlich durch Verminderung der Übungen mit grossen Zahlen. Be- wusste Klarheit hinsichtlich der Zahlordnungen ist bei diesen Übungen eine Hauptsache.

3. Das Rechnen mit benannten Zahlen kann beschränkt werden, indem man bei Resolvierungen und Reduzierungen, sowie auch bei den 4 Spezies mit be- nannten Zahlen solche Aufgaben, welche den Kindern grosse Schwierigkeiten bereiten und mit denen sie voraussichtlich später nicht oder höchst ausnahms- weise zu rechnen haben, beschränkt oder vermeidet, z. B.

? ha sind 29 qkm 20 ha? | ?gr 6t 40 kg 825 gr?

? qm 6 qkm 50 ha 10 a 60 qm? ? l 83 cbm 6 bl 15 1?

? qkm 879 ha?

? qm u. gem sind 100 214 qcm?

? qcm u. qmm 8637 qmm?

? cbm u. | 10964 1?

? cbm, hl u. 1 14061 1?

? t, kg u. gr 5617504 gr?

4. Das Rechnen mit gewöhnlichen Brüchen kann bedeutend vereinfacht und beschränkt werden. Unsre Kinder brauchen in diesem Stück nicht so ausser- ordentlich vielseitig und gewandt zu sein. Die zahlreichen Übungen mit kolossalen Nennern müssen auf ein Minimum beschränkt werden; bewusste Klarheit und Sicherheit in den 4 Spezies mit im gewöhnlichen Leben gebräuch- lichen Brüchen muss hier unser Ziel sein. Dasselbe gilt von der Behandlung der Dezimalbrüche.

5. In der einfachen Regeldetri bilden die Aufgaben mit direktem Verhältnis einen bedeutungsvollen Abschnitt; denn hierin liegen die Aufgaben, welche Tag für Tag im praktischen Leben zu lösen sind. Dieser Abschnitt muss darum ganz besonders und zwar hauptsächlich mündlich von uns mit unsern Kindern verarbeitet werden. Das schriftliche Rechnen der Aufgaben dieses Abschnitts ist gleichsam nur Formsache und beschränkt sich auf solche Aufgaben, welche durch ihre Zahlenangaben für das sogen. Kopfrechnen zu schwierig sind. Auch hier vermeide man solche Aufgaben, welche ausschliesslich der Rechenfertigkeit dienen und für später keinen oder geringen praktischen Wert haben.

Aus den Aufgaben mit indirektem Verhältnis sind nur die einfachsten auszuwählen; längere, verwickelte, spitzfindige Sachen können wir entbehren; wir behalten genug Rechenstofi, unsre Kinder im Denken zu üben.

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6. Aus den Abschnitten „Zeitrechnung, Zinsrechnung, Tara- Rechnung, Ge- winn- und Verlustrechnung, Teilungsrechnung, Rabattrechnung, Mischungsrech- nungen, zusamınengesetzte Regeldetri“ müssen wir vorsichtig und planmässig auswählen; ja, wir müssen aus diesen Abschnitten für unsre Kinder einen be- sonderen, leichten Kursus zusammenstellen, sonst kommen wir nicht mit ihnen im Rechnen zu dem oben geforderten befriedigenden Ziel.

7. Vollständig unberücksichtigt können und müssen wir folgende Abschnitte lassen: Diskontrechnung, Terminrechnung, Kettensatz, Wechsel- urd Kurs- rechnung, Zinseszinsrechnung, Ausziehung der Quadrat- und Kubikwurzel nach Formeln, physikalische Aufgaben.

8. In der Flächen- und Körperrechnung ist es durchaus geboten, für unsre Schule einen besonderen, leichten Kursus festzustellen. Es lassen sich durch zweckmässig gewählte Zahlenangaben die Hanptschwierigkeiten umgehen, ohne dadurch das klare Verständnis zu beeinträchtigen.

Ich kann z. B. von den Kindern finden lassen, wie lang die Seite eines Quadrats ist, wenn dasselbe 16, 100, 144, 225 u.s. w.qcm enthält; ich kann den Umfang des Kreises aus dem Durchmesser berechnen lassen, indem ich den letzteren gleich 28 (31/, >< 28) oder gleich 20 (20x 3,14) setze; ich kann unter ähnlichen Bedingungen den Inhalt des Kreises, die Oberfläche der Walze, den Kubikinhalt der Kugel feststellen lassen.

Man kann mit solchen Kindern, wie wir sie namentlich in der Schule für Epileptische auf der Oberstufe des öfteren haben, vielleicht folgende Stücke aus der Flächen- und Körperrechnung behandeln: Flächeninhalt des Quadrats, des Rechtecks, des Dreiecks, des Trapezes, des unregelmässigen Vier- ecks, des regelmässigen Fünfecks, Sechsecks und Achtecks (wenn zu letzteren Seitenlänge und Dreieckshöhe gegeben sind); Umfang und Inhalt des Kreises; Oberfläche und Inhalt des Würfels, des Prismas, der Walze; Inhalt der Pyramide und des Kegels; Oberfläche und Inhalt der Kugel.

Die Schule für Schwachsinnige und Epileptische ist im Vergleich zur Volksschule sehr im Nachteil; sie ist arm und muss doch grössere Ansprüche machen als jene. Sie ist gewissermassen noch nicht ganz aus den Windeln heraus und darum in ihren Ansprüchen an besondere Gaben sehr bescheiden; vielleicht ist sie darum (?) noch arm an geeigneten Unterrichtsmitteln. Wäre es unbescheiden, wenn ich wünschte, dass obige Gedanken über den „Rechen- unterricht in unsrer Schule“ die Hand dazu bieten könnten, dass über Jahr und Tag unsern Kindern ein geeignetes Rechenbuch beschert würde?

Aus dem Tagebuche eines Heimgegangenen.

Unter vorstehender Aufschrift erschien vor einiger Zeit in der „Sächs, Schulzeitung“ ein Artikel aus der Feder von W. Riemer, Oberlehrer an der Dresdner Königl. Blindenanstalt über Karl Gottfried Gläsche. Nur wenige der Leser unsrer Zeitschrift werden den Träger dieses Namens persönlich gekannt haben, einige aber werden sich seiner als dem einstigen Leiter der K. S. Er- ziehungsanstslt für blödsinnige Kinder zu Hubertusburg wohl noch erinnern.

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Direkt vom Seminar weg, und zwar Michaelis 1846 folgte er einem Rufe des Ministeriums des Innern, die Leitung der eben in Hubertusburg begründeten Anstalt zu übernehmen. „Am 31. Oktober,“ so schrieb Gläsche selbst, „siedelte ich nach Schloss Hubertusburg über. Das Einkommen meiner neuen Stellung, 200 Thlr. nebst freier Wohnung, Heizung und Beleuchtung, war für jene Zeit, da es noch sehr viele ständige Stellen mit 120 Thirn. gab, glänzend. Die Hoffnung jedoch, auf die ich baute, dass ich durch sachverständige Männer in die Geheimnisse meiner neuen Thätigkeit eingeweiht werden würde, erfüllte sich nicht. Einige Tage nach meinem Antritte erschien der Geheime-Rat Reiche- Eisenstuck und wies mich mit den Worten ein: „Da haben Sie ihr kleines Reich, in dem sind Sie König. Nun machen Sie Ihre Versuche“. So war ich denn auf mich selbst angewiesen, zumal es an einschlagender Litteratur fast gänzlich fehlte. Doch ging ich mutig ans Werk.“

Ja mit Mut und Eifer ging Gläsche an das Werk. Auf dem Grunde der Psychologie und Physiologie baute er sich nach und nach ein System auf, das in der medizinischen Presse eine Fachzeitung für das Idiotenwesen bestand noch nicht als grundlegend und bahnbrechend bezeichnet wurde und welches für alle Zeiten Geltung behalten wird. An die Öffentlichkeit trat Gläsche mit seinem „beim Unterricht und der Erziehung blödsinniger Kinder eingeschlagenen Verfahren“ in seinem ersten Anstaltsberichte vom Jahre 1854. Hören wir, wie er selbst sein Verfahren beschreibt:

„Der Blödsinnige leidet nicht an völligem Mangel, sondern nur an Schwäche seiner geistigen Vermögen. Diese können durch zweckmässige Übung ebenso gestärkt werden, wie Muskeln und Bänder durch die Gymnastik. Es ist nur die Frage, wie die Geistesgymnastik mit blödsinnigen (geistesschwachen) Kindern zu betreiben ist.

Äussert sich der Blödsinn darin, dass die Energie des Vorstellungsvermögens geringer als im Normalzustande, dass die Reflexion in den Willen eine höchst träge ist und dass der Kranke einen hohen Grad von Unempfindlichkeit zeigt, sind ferner mit dem Blödsinn körperliche Mängel (Skropheln, Wasserkopf, Lähmungen u. s. w.) fast immer verbunden, dürfen diese sogar als Ursachen desselben öfter angesehen werden: so leuchtet ein, dass bei Erziehung und Bildung Blödsinniger das psychische und das somatische Verfahren von gleich hoher Wichtigkeit sind.

Zum psychischen Verfahren rechnen wir alles, was durch Unterricht, durch Gewöhnung, durch täglichen Umgang mit den Kindern u. s. w. bei ihnen bewirkt werden kann. Indem wir in folgendem das Verfahren beim Unterrichte kurz darlegen, werden wir Gelegenheit finden, auch das übrige mit zu berühren. Der Unterricht hat es zunächt mit der Entwickelung des Vorstellungsvermögens zu thun. Dem Mangel an Vorstellungen kann aber nur durch fleissiges An- schauen begegnet werden. Es ist demnach der Anschauungsunterricht Haupt- bestandteil unseres gesamten Unterrichts.

Die Vermittler die Anschauens sind die Sinne. Diese findet man bei Blödsinnigen häufig so ungeübt, dass man in Wahrheit sagen kann: Sie haben

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Augen und sehen nicht, Ohren und hören nicht. Desgleichen ist die Willens- kraft bei ibnen so erschlafft, dass sie, sofern nicht eine energische Anregung von aussen erfolgt, wohl stundenlang völlig unthätig für sich hinbrüten.

Es ist klar, dass der Erzieher in solchem Falle ganz von unten beginnen und versuchen muss: |

1. die Sinne des Kindes zu üben, damit es anschauen lerne, und gleichzeitig den Thätigkeitstrieb, der hier fast durchgängig als Nachahmungstrieb auftritt, einigermassen anzuregen.

Bei dem in hohem Grade blödsinnigen Kinde findet man nichts weiter vor als ein dunkles Innewerden der Eindrücke, die auf dasselbe ausgeübt werden, das „Gemeingefühl“ der Neugebornen. Auf seine Belebung kann nicht sowohl durch Unterricht, als vielmehr durch eine geordnete körperliche Pflege, Bäder, fleissiges Bewegen in freier Luft und dergl. eingewirkt werden.

Aus diesem dunkeln Gemeingefühl treten der Tast- und der Gesichtssinn zuerst heraus, wie man auch an dem normalen Kinde in den ersten Stadien der Entwickelung sehr leicht beobachten kann. Diese Sinne müssen daher zuerst geübt werden.

Ohne auf diese Übungen selbst hier näher einzugehen, sei nur bemerkt, dass bei ihnen von vornherein die Anregung zur Selbstthätigkeit als willen- bildendes Moment stark in den Vordergrund tritt. (Einfache Körperbewegungen, Aufstehen, Niedersetzen, Gehen, Steigen u. 8. w.)

Das Gehör der auf der untersten Stufe stehenden Zöglinge wird teils durch die laut tönende Stimme des Lehrers, teils durch Musik und Gesang geübt.

Hat das blöde Kind durch solche und ähnliche Übungen sehen, hören und sich rühren gelernt, so ist ihr Zweck erreicht. Die fernere Thätigkeit des Lehrers hat sich nun darauf zu richten,

2. dass das Kind durch wiederholtes Anschauen der Dinge zu Vor- stellungen von denselben gelangt.

Teilweise geschah dies schon auf voriger Stufe; jetzt ist es Hauptzweck. Ungemein arm an Vorstellungen kommen die meisten blöden Kinder in die Anstalt; oft kennen sie nicht einmal Vater und Mutter, können nicht Tisch und Stuhl, Fenster und Ofen u. s. w. voneinander unterscheiden. Wollen wir solchem Mangel an Vorstellungen abhelfen, so fangen wir damit an, dass sie zwei Gegenstände, deren unterscheidende Merkmale recht auffallend sind, so lange anschauen, d. h. ansehen, betasten, anriechen beziehentlich auch anlecken lassen, bis das Kind sich des Unterschiedes bewusst ist und auf Verlangen die angeschauten Gegenstände richtig zeigt, herbeibringt oder fortträgt. Gelingt ihm dies mit voller Sicherheit, so fügt man einen dritten, vierten Gegenstand hinzu und fährt damit fort, bis dasselbe deren 10-20 kennen gelernt hat.

Die oben geforderte Übung der Sinne wird auf allen Stufen weiter fort- gesetzt, denn „nur durch der Sinne Pforten zieht die Welt in die Seele ein“.

Sind eine Anzahl Vorstellungen Eigentum des Kindes geworden, so ist danach zu streben,

3. dass es die gewonnenen Vorstellungen kombinieren lerne und dadurch zu Begriffen gelange.

Man zeigt ihm zu diesem Behufe nicht immer denselben Ball, Tisch und dergl., sondern lässt es diese Gegenstände auch in anderer Form, Grösse und Farbe anschauen, damit es die wesentlichen Merkmale derselben von den zu- fälligen unterscheiden lerne und zu Begriffen gelange. Erteilt man ihm hierauf einfache Aufträge, als: „Trag’ den Ball auf das Fenster“ u. s. w., so bekommt es die ersten Begriffe von dem Verhältnisse der Dinge zueinander.

Werden diese einfachen Aufträge von ihm pünktlich ausgeführt, so kann man ihm zweifache erteilen, als: „Trag’ den Ball hin und bring’ den Würfel her!“ oder: ,,Leg’ das Buch auf den Tisch und die Tafel auf die Bank!“ u. s. w.

Vermag das Kind diese doppelten Aufträge zu fassen und zu vollziehen, so ist sein Auffassungsvermögen um das doppelte stärker geworden, als es zuvor, da ihm nur einfache Aufträge gegeben werden konnten, war. Fährt man in dieser Weise fort und lässt von dem Kinde nach und nach drei, vier gleichzeitig erteilte Aufträge ausführen, so wird natürlich die Energie der Aufmerksamkeit, des Auffassungsvermögens und des Gedächtnisses immer mehr gesteigert. Die unter 1 bezeichneten Bewegungen gehen auf dieser Stufe in leichte Turn- übungen über.

Ist nun aber das Kind befähigt, die angedeuteten ein- und mehrfachen Aufträge zu fassen, so unterliegt es keinem Zweifel, dass es nun auch im stande ist, das Geheiss des Lehrers: „Setz’ dich auf die Bank!“ oder: „Stell’ dich an die Thür!“ zu vollziehen. Wir haben somit einen bedeutenden Schritt vorwärts gethan, denn wir sind angelangt an dem Marksteine des Erwachens zum Selbstbewusstsein. Dieser Fortschritt in der Entwickelung des Kindes ist so bedeutungsvoll, dass in der ganzen Dauer des Lebens wohl nur der sich ihm vergleichen kann, ihn aber freilich auch weit überbietet, wo es sich einmal entscheiden wird, ob sein Weg himmelwärts gehen, oder ob es fort und fort engherzig in der Hafl seines Egoismus im Staube kriechen soll. Von jetzt an hat das Kind sich selbst gefunden und ist somit auf eine dem Tiere uner- reichbare Stufe in der Leiter der Wesen getreten. Es kann nun dahin ge- arbeitet werden,

4. dass das Kind abstrahieren lerne.

Das Eigentümliche dieser Stufe ist, dass man dem Kinde nicht immer konkrete Gegenstände zum Anschauen bietet, sondern es anleitet, Abbildungen zu unterscheiden. Diese Übungen erfordern eine weit grössere Aufmerksamkeit als die frühern, da das Bild durch nur einen Sinn wahrgenommen werden kann; sie dürfen mit Recht als der Übergang zum Abstrahieren bezeichnet, werden. Hierzu sind gute Abbildungen erforderlich.

Dadurch, dass das Kind Abbildungen unterscheiden lernt, wird der Unter- richt im Zeichnen, Schreiben und Lesen vorbereitet. Hat es nämlich Bilder vielfach angeschaut, so fängt es gar bald au, einen Reifen, eine Schlange und dergl. nachzumalen. Dies ist ein Fingerzeig, dass die Vorübungen zum Zeichnen und Schreiben beginnen können.

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ren ug ist besenders schwierige: dean deraruge Kinder leiden nicht nur ebenfalls Mangel an Vor- steıungen, es liegt zmch der geringe Vorrat, dem sie haben, noch verworren durcheinander, und somit kai man es hier nicht pur mx dem Blõdsiaa alleia, sepderm auch mit einem gewissen Irrsinn zu then. kadhich sand unter dem blöden Kiniera nicht wenige. weiche stammels. emige zuch. weiche stotters. Sse bedürfen noch eimer besonderen, auf Heilung

Viei. sbr viel si gewonnen, wenn das blöde Kind zum Sprechen gebracht werden rt! Die Sprache ist es, die dem Eirzieber das Seelenleben des ra bildenden inderyimnms erst vollkemmen erschliesst: ikre Räckwirkung ist es, wedurch die Klarheit des zuvor dunkeln Gedankens vollendet, und die Stätiskeit nen aaf- geneenmener Versizilungen gesichert wird Darum rechnete der Verfasser das mehrfache Gelingen der Versuche. den schweigsamen, scheinbar stummen Mend a er semes exgentimiichen Lehreriebens.

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Sollte das blöde Kind, nachdem es die bis jetzt gezeichneten Stufen nach- einander überschritten hat, sofort der Volksschule zu weiterer Ausbildung über- geben werden, so würde sich doch noch ein merklicher Abstand zwischen ihm und einem vollsinnigen Kinde herausstellen. Es müssen sich desbalb den früheren noch Übungen anreihen, welche bezwecken, die gesamten geistigen Kräfte desselben vollends soweit zu bilden,

6. dass es befähigt werde, an dem Elementarunterrichte der Volks- schule mit Nutzen teilzunehmen.

Lernte es früher die Dinge voneinander unterscheiden und ihre Namen kennen, so wird es nun angeleitet, sie zu beschreiben und sich in einfachen Sätzen über Ort, Stoff, Teile, Gebrauch, Farbe u. s. w. derselben auszusprechen. Zur Vorbereitung auf den Unterricht in Geographie und Naturgeschichte werden vorzugsweise Naturgegenstände als Anschauungsmittel benutzt und einer mehr- seitigen Betrachtung und Besprechung unterzogen; alle Sinne werden weiter geübt. Wie erweitert sich da der ganze Gesichtskreis des Kindes!

Beiläufig sei erwähnt, dass das Unterscheiden der Farben diesen Kindern in der Regel erstaunlich schwer fällt, einzelnen sogar unmöglich zu sein scheint. (Farbenblind !) `

Nicht minder schwer wird ihnen mit wenig Ausnahmen das Auf- fassen von Zahlengrössen, weshalb der Unterricht im Rechnen, der hier, nachdem er auf verschiedene Weise schon vorbereitet wurde, beginnt, sich stets auf Anschauung gründen muss. Wollte man sich dabei mit einer gewissen Fertigkeit im Zählen begnügen, so würde man sich eines der vorzüglichsten Mittel zur Verschärfung des Denkvermögens begeben.

Die Übungen im Lesen, Schreiben und Zeichnen werden auf dieser Stufe weiter fortgesetzt; es wird dabei weniger auf baldige Erlangung mechanischer Fertigkeiten, als vielmehr auf Anregung der Aufmerksamkeit und Denkkraft, und auf Weckung des Sinnes für das Schöne und Regelmässige abgesehen. Das, was das Kind liest: oder schreibt, wird ihm darum möglichst veranschaulicht, wobei die Bilder von M. Hill gute Dienste leisten.

Besondere Gedächtnisübungen, die darin bestehen, dass dem Kinde einfache Geschichten erzählt und leichte Verse und Liederchen eingeprägt werden, sind auf dieser Stufe ebenfalls notwendig.

Die eingeübten Liederchen bilden die Texte zu den Gesangsübungen. Es ist eine grosse Wohlthat, dass Gott den meisten unserer armen Zöglinge die Gabe des Gesanges verliehen hat; denn dieser verbreitet über das düstere Wesen der ganzen Anstalt einen wohlthuenden, belebenden Hauch. Ohne den Gesang wäre es wahrlich doppelt schwer, als Lehrer unter solchen Kindern zu wirken. Einige derselben haben ein so sicheres rhythmisches Gefühl und ein so gutes musikalisches Gehör, dass sie vorgesungene Melodieen, obgleich sie noch keinen Text aussprechen können, sofort auffassen und nachlallen. Diese Gabe bleibt nicht unbeachtet, sondern wird als willkommener Anknüpfungspunkt zu weiterer Erweckung der schlummernden Geisteskräfte benutzt. Vor allem sind es die Fröbelschen Singspiele, welche nicht nur das Herz der Kinder hoch erfreuen,

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sondern auch da bei ihnen Melodie, Rhythmus und Text mit dem, was das Kind thut, in vollem Einklange stehen auf eine harmonische Entwickelung aller Kräfte mächtig wirken.

Die Bewegungen, welche bei den Singspielen ausgeführt werden, streifen unmittelbar an die Turnübungen. Der zu hiesiger Anstalt gehörige, mit Barren, Reck, Schwebebaum, Springel, Kletterstange, Schaukel und dergleichen versehene Turngarten ist während des Sommers täglicber Tummelplatz unserer Zöglinge. Im Turngarten werden ihnen die Begriffe von rechts und links, von auf und ab, von gerad und krumm u. 8. w. beigebracht. Somit erstreckt sich der Einfluss des Turnens auch auf andere Zweige des Schulunterrichts, z. B. auf das Schreiben und Zeichnen; denn offenbar kann das Kind nicht eher gerade Striche auf der Tafel ziehen, als bis es im Turngarten in gerader Linie hinter oder neben seinen Kameraden marschieren gelernt hat. Keineswegs wird beim Turnen auf Erlernung augenfälliger Kunststücke, wohl aber auf Stärkung der Körperkraft, auf Verschärfung der Aufmerksamkeit, auf Belebung der Willens- kraft, des Mutes und Selbstvertrauens, und auf Bildung zum Anstande und zur Geschicklichkeit hingezielt.

Die beiden zuletzt erwähnten Unterrichtsgegenstände, der Gesang und das Turnen, sind in der Regel da, wo alle Versuche zu scheitern drohen, die einzigen Mittel, durch welche Leben in die toten Geister gebracht werden kann.

Die oben erwähnte Bildung zur Geschicklichkeit wird ferner durch Beschäftigung der Kinder mit mechanischen Arbeiten angestrebt. Wie wenig gewandt manche von ihnen im Gebrauche ihrer Hände, deren Zweck und Fähig- keiten sie kaum zu ahnen scheinen, sind, davon zeugen die Thatsachen, dass sie nicht den Löffel zum Munde führen, noch viel weniger beim An- und Aus- kleiden sich behelfen können. Dieser Unbeholfenheit wird dadurch begegnet, dass sie zu allerhand leichten Verrichtungen im Hause (Reinigen der Kleider, Decken des Tisches, Herzutragen des Holzes und Wassers u. s. w.) verwendet, auch im Garten mit angestellt werden und Anleitung zum Stricken, Flechten und zu Papparbeiten erhalten. Die Hauptaufgabe der Wärterinnen besteht darum nicht darin, dass sie die Kinder bedienen, sondern dass sie dieselben anleiten, alles, was sie nach ihren schwachen Kräften vermögen, selbst zu verrichten.

Mit diesen Beschäftigungen wechseln bildende Spiele ab. Wie für den Beobachter gar hoher Sinn oft im kindischen Spiele liegt, so kann durch dieses, wenn es sinnig geleitet wird, auch das Kind an sinnige, geistbildende Thätigkeit gewöhnt werden. Bildung zur Erwerbsfähigkeit ist hierbei das Ziel.

Freilich wird dasselbe nicht an allen Blödsinnigen erreicht; namentlich tritt grosse körperliche Schwächlichkeit bei manchen hindernd entgegen. Ist aber deshalb die aufgewendete Zeit und Mühe an ihnen verloren? Keineswegs; denn als Endzweck gilt doch immer die Bildung des sittlichen Gefühls. Gelingt es, dieses zu wecken, so ist, wenn auch nicht für die bürgerliche Gesellschaft, doch für das Geistesleben des Kindes viel gewonnen.

Von der Zeit an, da das blödsinnige Kind einigermassen aus dem Staube gezogen und zum Bewusstsein erweckt worden ist, wird deshalb nach Kräften

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dahin gewirkt, dass es sein Gemüt zu Gott erheben, ihn finden und lieben lerne. Schon von Natur sind die meisten dieser armen Kinder sehr gutmütig; es bieten aber auch die Spaziergänge, das Zusammenleben der Kinder miteinander, mit den Erziehern und Pflegern, sowie der Unterricht vielfache Gelegenheit, Freude an der Natur, Ehrfurcht vor dem Schöpfer derselben, Dankbarkeit und Liebe gegen die Menschen, überhaupt Gefühl für Recht und Unrecht in den kindlichen Seelen zu erwecken.

Hat das Kind an der Hand des Lehrers auch die zuletzt gezeichnete Stufe erreicht, so ist an ihm die Aufgabe der Erziehungsanstalt für Blödsinnige erfüllt; denn in die Kategorie dieser gehört es nun sicherlich nicht mehr, sondern es ist befähigt, an dem Elementarunterrichte der Volksschule mit Nutzen teilzunehmen.

Der Religionsunterricht gründet sich auf Naturanschauung und biblische Geschichte, und wird so oft als möglich an Ereignisse in der Anstalt und deren nächster Umgebung angeknüpft. Wo, wie hier, die Erzieher und Pfleger mit den Zöglingen gleichsam eine grosse Familie bilden; wo jedes Leid, das den einzelnen trifft, und jede Freude von allen geteilt wird; wo alle in Gemeinschaft essen und trinken, lernen und spielen, aufstehen, schlafen gehen und beten: da - kann es an geeigneten Anknüpfungspunkten nicht fehlen. Ein Religions- unterricht aber, der sich sei er auch noch so einfach auf die Erscheinungen des alltäglichen Lebens gründet, der gleichsam aus dem Leben herauswächst, muss auch wiederum in den Kindern lebendig werden und sicherlich mehr in das Leben eingreifen, als ein zu abstrakt gehaltener oder mit Begrifiserklärungen sich heramwerfender. Je grösser die Schwäche des Denkvermögens bei dem Blödsinnigen ist, desto mehr muss man durch den Religionsunterricht auf das Gemüt desselben zu wirken suchen, damit dieses ersetze, was ihm dort gebricht.“

Der hier dargelegte Lehrplan enthielt selbstverständlich nur die Grundzüge des Verfahrens Gläsches beim Unterrichte, selbstverständlich bedurfte er hier und da je nach der Individualität der Zöglinge der Modifikation. Nach Gläsches Meinung war die Wirksamkeit der Lehrer bei schwachsinnigen Kindern am allerwenigsten in bestimmte Formen zu zwängen. Er selbst verstand das Individualisieren meisterbaft, wie er denn überhaupt unter seinen geistesschwachen Schülern ein Lehrer und Erzieher von Gottes Gnaden war. Er verstand die Kunst, sich zu diesen Armen am Geiste herabzulassen, um sie empor zu zieben, meisterlich wie selten einer. „Er lebte und wirkte unter ihnen mit einer Liebe und Freudigkeit, die mich immer an sein grosses Vorbild, Pestalozzi, erinnert haben. Ihn in seiner Schulabteilung katechisieren zu hören, ihn zu sehen, wie er durch Mienenspiel und Handbewegung das Reden zu unterstützen, zu ver- anschaulichen wusste, die Meisterschaft zu bewundern, wie er das Wenige, was in den Seelen dieser Kinder schlummerte, hervorzulocken und zu Anknüpfungs- punkten für neue Darbietungen zu benutzen verstand, zu schauen, wie er mit seinen gütigen, seelenvollen, wunderbar schönen Augen, mit seiner vollen, wohl- thuenden Stimme die kleine Schar beherrschte und in den Bann der unbedingten Aufmerksamkeit zwang, das alles war in der That ein Genuss seltener Art. Da stand vor uns ein Meister, von dem man nur lernen konnte.“

201

Herrn A. Grohmann, Zürich.

Thr Artikel in der Mai-Nummer der , Zeitschrift far die Behandlung Schwach- sinniger und Epileptischer“ hat sonderbarerweise bis jetzt noch keine Beant- wortung gefunden, und doch bin ich überzeugt, dass wohl fast ohne Ausnahme alle diejenigen, die in das Wesen des Schwachsinns etwas eingedrungen sind, an manchen Ihrer Sätze Anstoss genommen haben. Ich habe mir vorgenommen, Ihnen einige Ihrer Sätze und Behauptungen in Erinnerung zu rufen, mit denen ich nicht einverstanden sein kann.

1. Stellen Sie sich vor, Sie selbst hätten ein schwachsinniges Kind: würden Sie dann wohl wünschen, dass dieses lieber ganz dumm oder blödsinnig wäre, weil ein solches in Ihren Augen eine geringere Last bildete?!

2. Der Schwachsinnige habe meistens ein stark entwickeltes Selbstbewusst- sein, das ihn veranlasse, sich gut zu benehmen. Ja, wenn er nur so viel Selbst- bewusstsein hätte! Selbsterhaltungstrieb hat er mehr als genug, aber nicht Selbstbewusstsein.

3. Sprachlich Zurückgebliebene seien nicht schwachsinnig. Das ist oft wahr, aber noch öfter nicht wahr. Mangelhaftes Sprachgefühl ist gerade eines der ersten Erkennungszeichen des Schwachsinns in gar vielen Fällen. Wenn ein 4— 6jähriges Kind sprachlich zurück ist bei normalem Gehör so ist das in der Regel ein böses Zeichen !

4. Sie sprechen von übertriebenem Selbstlob und der plumpen Reklame gewinnsüchtiger Besitzer von Privatanstalten für Schwachsinnige! Aber, Herr Grohmann, wer wollte auch den Leuten so etwas zutrauen! Wer eine Privat- anstalt für Schwachsinnige aus Gewinnsucht führt, der ist ein elendes Geschöpf und steht nicht über dem Sklavenhändler. Für Selbsterhaltung wird man sorgen dürfen. Ich z. B. gründete meine Anstalt, nicht um reich zu werden, sondern aus Liebe zur Sache. Und was die plumpe Reklame betrifft, so kann es vorkommen, dass ein übereifriger Freund einen mit einem überschwänglichen Loblied in einer Zeitung überrascht, das man lieber geschenkt hätte; dafür ist aber der Einsender verantwortlich und nicht die „besungene“ Person, die keine Ahnung von der Einsendung hatte.

Uber das Selbstlob in den Leistungen kann ich kurz folgendes anführen. „Sie sprechen sich sehr vorsichtig aus* hat schon mancher Vater zu mir gesagt und geschrieben „nach Ihren Briefen erwartete ich nicht so viel, und waren wir alle angenehm überrascht, als das Kind wieder bei uns war und wir es beobachten konnten“. Selbstlob mag da und dort vorkommen, aber bei ernst- gesinnten Leuten nicht oder nur so viel, als zur Verteidigung nötig ist wie z. B. einem Herrn Grohmann gegenüber.

5. Sieschreiben: „Anstatt zu untersuchen und durch langjährige kostspielige Experimente festzustellen, was alles etwa und mit Ach und Weh für Lehrer und Schüler in diese Geschöpfe hineingelegt werden könne, möge lieber untersucht werden, was alles besser nicht für sie geschehen solle.“ Was trauen Sie denn eigentlich einem „Lehrer für Schwachsinnige“ zu?! Wenn Sie einen richtigen

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Einblick in das Leben einer Anstalt für Schwachsinnige hätten, so würden Sie andere Sätze aufstellen und von dem Ach und Weh vorsichtiger reden.

6. Ferner ist zu lesen: „Der Schwachsinnige nimmt keinen Teil an den Segnungen unserer Geisteskultur oder er missbraucht sie nur (!) als Tummel- platz seiner Dummheiten zum eigenen oder anderer Schaden.“ Das sind ge- wagte Behauptungen, und der Verfasser derselben muss wohl interessante und eigenartige Erfahrungen an Schwachsinnigen gemacht haben. Aus einzelnen Fällen soll man denn doch nicht auf das Ganze schliessen.

7. Wären Sie Vater eines schwachsinnigen Kindes, so würde die Liebe zu demselben die Last überwiegen.

8. Ihre Erfahrungen mit erwachsenen Schwachsinnigen veranlassen Sie, dem Schwachsinnigen Verstand und Ehre fast ganz abzusprechen. Wenn Sie schreiben würden „wenig Verstand“, so hätten Sie recht. Und die Ehre?! Wissen Sie nicht, dass manche Schwachsinnige sogar ein sehr empfindliches Ehrgefühl haben ?!

9. Sie trauen den Anstalten ferner zu, dass sie den Kindern ein totes Wissen eintrichtern. Da und dort mag hierin gefehlt werden, doch sonst geht man darauf aus, die Denkkraft der Kinder und die Geschicklichkeit ihrer Hände zu fördern. Das sogenannte tote Wissen ist gewiss meistenorts sehr nebensächlich.

10. Wie übertrieben ist wieder der Satz: „Die Dummheiten, die Schwach- sinnige begehen können, sind so zahllos, wie der Sand am Meere.“

11. Ich bin dankbar für jede gute Eigenschaft, die ich an einem Schwach- sinnigen entdecke, und Sie schreiben: „In ihrer Wirkung auf das Lebensglück ihrer Inhaber sind die „guten Eigenschaften“ wegen ihrer Disproportioniertheit vielfach so, dass man ihnen wünschen möchte, dass sie sie lieber nicht hätten.“

12. Ich gebe zu, dass ein Schwachsinniger schon oft die Ursache zu fami- liärem Streit und Zerwürfnissen wurde. Mir sind aber Gott sei Dank noch mehr Fälle bekannt, wo ein Schwachsinniger der Familie zum Segen wurde, ja zu grösserem Segen als dieser und jener Ausbund oder manches Wunderkind. Rührende Liebe zu einem geistig armen Familiengliede kaun manches Familien- leben zu einem eigentlich idealen machen.

Dies sind in Kürze einige Punkte, die ich aus Ihrer Arbeit herausgegrifen habe. Sie haben auch manches erwähnt, womit ich vollständig einverstanden bin‘, aber das soll hier ja nicht erwähnt werden. Schlugen Sie doch auf den Busch mit der indirekten Aufforderung: „Sagt es mir, wenn ich nicht recht habe!*

Es scheint, dass Sie gerade mit solchen Schwachsinnigen zu thun bekamen, die man sonst nirgends brauchen konnte, und das würde Ihren Standpunkt be- greiflich machen. Nichts für ungut. E. Hasenfratz in Weinfelden.

Mitteilungen.

Dresden. (Sachs. Landesanstalten.) Am Schlusse des 3, Vierteljahrs betrug der Bestand an Zöglingen in Grosshennersdorf und Nossen 428 und zwar 244 Knaben und 179 Mädchen.

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Berlin. (Jubiläum.) Herr Geheimer Hofrat Herrlich zu Berlin beging am 11. Oktober d. J. sein 60jähriges Dienstjubiläum. Dem hochverdienten Jubilar zu diesem seltenen Feste die Glückwünsche der Mitglieder der Konferenz für das Idiotenwesen zu überbringen, hatten die Vorstandsmitglieder, Erziehungsinspektor Piper und Schuldirektor Richter-Leipzig, übernommen. leider wurde den Gratu- lanten an der Thür des Jubilars die Mitteilung, dass der hochbetagte Herr Geheimrat Herrlich verreist sei. Mit welchem Wohlwollen der Hochverehrte der Konferenz für das Idiotenwesen durch Rat und That nahe steht, ist uns reichlich bekannt. Gott schenke dem Allverehrten einen heiteren Lebensabend!

Dalldorf. (Idiotenanstalt.) Als durchschnittlicher Bestand der Idiotenanstalt für das Jahr 1898/99 waren 220 Zöglinge (140 Knaben, 80 Mädchen) angenommen es wurde diese Höhe während des Etatsjahres nicht ganz erreicht und schwankte der Durchschnitt zwischen 188 bis 204. Auch in diesem Jahre können die erziehlichen wie unterrichtlichen Resultate als recht erfreuliche bezeichnet werden. Durch die Aufnahme nur bildungsfähiger Zöglinge ist die Frequenz in den einzelnen Klassen wesentlich gestiegen. Um die 3. Klasse mit einem Bestande von 35 Schülern teilen zu können, mussten die beiden 2. Klassen mit zusammen 30 Schülern zu einer Klasse kombiniert werden. Ein motivierter Antrag betreffs Anstellung einer zehnten Lehrkraft wird für den Etat des nächsten Jahres gestellt werden. Auch der Lehrplan hat in diesem Jahre wesentliche Veränderungen erfahren und ist ausser den Kursen für an Sprachgebrechen (Stottern, Stammeln) leidende Zöglinge in den 5 Klassen besonders Wert gelegt auf die sprachliche Ausbildung der Zöglinge Der Gesamtunterricht wurde in sechs aufsteigenden Stufen resp. zwölf Klassen erteilt. Konfirmanden-Unterricht erhielten von dem Geistlichen 17 Zöglinge (14 Knaben, 3 Mädchen), von denen 12 Zöglinge (9 Knaben, 3 Mädchen) im März d. J. in Anwesenheit ihrer Angehörigen, ihrer Lehrer und Lehreriuonen und des Wartepersonals im Betsaale der Irrenanstalt konfirmiert werden konnten. Das Leben und Treiben in den Werkstätten war ein reges und munteres. Die Wahl der Beschäftigung für die einzelnen Zöglinge wurde von dem Erziehungsinspektor getroffen. Mit wenigen Ausnahmen sind die Erfolge recht erfreuliche gewesen. Die Buchbinderwerkstatt erhielt die Hauptbeschäftigung durch reichliche Be- stellungen von Schreibheften seitens der städtischen Schuldeputation. Durch diese regelmässige Arbeit konnten die verschiedenen Zöglinge verschiedenartig beschäftigt und gefördert werden. Während fortgeschrittenere Burschen das Papier zu den Schreibheften falzen, heften, die Deckel beziehen und etiquettieren, wurden schwächere Knaben mit dem Einlegen von Löschblättern, dem Abzählen von je 10 Büchern zu einem Packet u. s. w. in Thätigkeit gebracht. Neben dieser Arbeit konnte das Binden von Büchern (Fibeln), Fertigen von Bilderrahmen, kleinen Notizbüchern u. s. w. geübt werden. Es sind schon mehrere der Zöglinge in der Buchbinderwerkstatt vorwärts ge- kommen und später bei einem Meister zur Selbständigkeit gebracht worden. Die Schneiderwerkstatt bietet in ihren Leistungen allerdings nur Bescheidenes, aber doch immerhin Erfreuliches. Wurden die Anfänger zunächst mit dem Trennen von Nähten, dem Besäumen von Scheuerlappen u. s. w. beschäftigt, so gelangte doch ein grösserer Teil der Zöglinge dahin, mit Sicherheit Knöpfe anzunähen, auch wohl eine

ea.

Flicke einzusetzen. Die Schuhmacherwerkstatt bot den Zöglingen reichliche Beschäftigung; die Schuhe sind es ja, welche unter den Bekleidungsgegenständen von den Knaben wie Mädchen am meisten verbraucht werden. Mit den einfachsten Arbeiten, Leder klopfen u. s. w. bis zum Besohlen, waren die Zöglinge hier beschäftigt; die schwächsten der Knaben hatten die fertiggestellten Schuhe zu putzen und fehlte os auch hierbei nicht an Anregung und Freudigkeit. Der Tischlerwerkstatt, welche neben der Buchbinderei die kräftigsten und geistig fähigsten Knaben beschäf- tigt, fehlte es ebenfalls nie an der nötigen Arbeit; letztere drängte oft derartig, dass recht tapfer gearbeitet werden musste. Die Zöglinge lernten die einzelnen Werkzeuge gebrauchen, fertigten als Anfänger Fensterklötze, Stuhlbeine, Zeigestöcke u. 8. w., sodass Säge, Hobel und Hammer nach und nach sicher geführt wurden. Mit der Tischlerei war auch die Glaserei verbunden und konnten zu unserer Freude zwei Dutzend Mist- beetfonster für unsere Gärtnerei fertiggestellt werden. Die Korbmacherei gruppierte sich wie bisher in die Rohrstuhlfiechterei und die eigentliche Korbmacherei. Zunächst begannen die Zöglinge an kleinen Übungsrahmen das Flechten von Rohr- stühlen und kamen dann zum Fertigen von Kartoffelkiepen, Handkörben und Reise- körben. Die Gärtnerei beschäftigt ausser den eigentlichen Gärtnerlehrlingen alle Zöglinge mit dem Ziehen von Blumen (Lanud- wie Topfgewächse, Epheu, Rosen u. s. w.). Graben, Harken, Pflanzen, Jäten, Giessen u. s. w. sind die Beschäftigungen, welche auf die verschiedenen Leistungsfähigkeiten verteilt werden konnten. Von besonderem er- ziehlichen Werte waren ausser dem eigentlichen Anstaltsgarten die einzelnen kleinen Beete, welche den Zöglingen der Oberstufe zur eigenen Bearbeitung übergeben wurden. Das Bewusstsein des Eigentums, das Wachsen und Gedeihen der selbstgewählten und beschafften Pflanzen resp. Sämereien, bot den Kindern viel Interessantes und Anregendes. Die höchste Freude gewährten diese Beete, wenn an den Besuchstagen die Besitzer ihre Eltern durch selbstgezogene Blumen und Früchte (Schoten, Mohrrüben) erfreuen konnten. Unter den in diesem Jahre entlassenen Zöglingen kamen 11 Knaben zur Beschäftigung in Haus- resp. Landarbeit zu Landleuten, 3 Knaben zur Erlernung eines Handwerks (2 Tischler, 1 Schuhmacher) zu geeigneten Meistern, sowie 9 Mädchen teils zu den Eltern, teils anderweitig in Familienpflege, 10 Zöglinge (5 Knaben, 5 Mädchen) wurden ihrer Bildungsunfähigkeit wegen in die Kinderabteilung der Irren- anstalt verlegt; bei 4 Knaben traten wiederholt epileptische Anfälle auf und erfolgte deshalb die Überführung dieser Kinder in die Austalt Wuhlgarten. Zu den Eltern wurden entlassen 7 Knaben und 5 Mädchen. Die Zahl der in der Lehre und in Pflege befindlichen Zöglinge belief sich im Januar 1898 auf 69 (43 Knaben, 26 Mädchen). Das Resultat der Revision darf als ein befriedigendes bezeichnet werden. Kraschnitz. (Samariter-Ordensstift.) Am Mittag des 23. August wurde das Deutsche Samariter-Ordensstift Kraschnitz von einer Feuersbrunst heimgesucht. Das einer Abteilung erwachsener, blöder Pfleglinge dienende, alleinstehende Haus stand in Flammen. Der Brüder-Feuerwehr gelang es wohl, fast alles Inventar zu retten, das Gebäude selbst aber brannte vollständig nieder, denn es war nur wenig Wasser zu erlangen. Menschenleben sind nicht in Gefahr gekommen, da sämtliche Bewohner sich zur Zeit des Brandes im Freien aufhielten. Das Gebäude war nur gering ver- sichert. (Dr. Anz.)

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Leschnitz 0.-S. (Verein für Erziehung und Unterricht Geiates- schwacher.) Aus dem letzten Berichte des Vereins ist zu entnehmen, dass der Bestand von Zöglingen in der Erziehungsanstalt, nachdem im T,anfe des letaten Jahres 29 Kinder ausschieden und ebensoviel eintraten, derselbe geblieben ist, Er betrug am Schlusse des Jahres 164 Zöglinge und zwar 101 Knaben und 63 Mädchen, von denen 135 katholisch, 27 evangelisch und 2 jüdiach sind. In der Pflegeanstalt befinden sich 44 Pfleglinge. Über die Aufgabe der Erziehungsanstalt enthält der Bericht eine längere Aussprache, aus der wir folgenden mitteilen: „Roll aber die Erziehungsanstalt ihrem Zwecke, schwachsinnige Kinder körperlich zu kräftigen, geistig zu wecken und technisch zur Erwerbsfähigkeit heranzubilden, gerecht werden, soll sie vor allen Dingen ihre Zöglinge der Familie, dem öffentlichen Leben wiedergeben, so muss unbedingt gefordert werden, dass alle ihre Kinrichtungen dem gewöhnlichen Leben entsprechen, dass Kost und Bekleidung, Wohnung nnd Lebensweise einer bescheidenen Familie, einem einfachen Haushalte gleichen. Ein geordnetes Familien- leben ist auch das beste Vorbild für eine Erziehungeanstalt. Der strenge, uber allezeit für das Wohl der Kinder besorgte Vater ist der Direktor, die liebevolle und zärtliche Mutter das Pflegepersonal. Vater und Mutter müssen einig sein in der Erziehung ihrer Kinder; Direktor und Wärterpersonal müssen Hund m Hand arbeiten an der Erziehung der Anstaltszöglinge. Gleichwie der Erziehungsefolg in der Familie beeinträchtigt wird, wenn eine dritte Person sich zwischen Vater und Mutter stellt, 90 muss auch der Erziekungserfolg einer Anstalt unsicher werden, wenn das Band zwischen Direktor und Wärterpersonal gelockert, wenn der Wille des Direktors allein sicht mehr massgebeud bleibt für das Gesautleben der Anstalt Nur wens ale, die zur Erziehung der schwachaianigen Kiuder berufen sind, unter der emberilichen Leitang des Direktors unbeeiuflusst und unbehindert treu ihre Pfücht erfüllen, nur wenn alle dem eiman Ziele zustreben, die Kinder für das Leben zu ersehen und heranzubilden nur damu kann die Anstalt ihren Zweck erfüllen, mur dann kann sie werden, was ale sein will, eine Wohlthätigkeitsenstalt m des Wortes bestem Smne.

Welches ist aber die grösste Wohlthat, die man einem unglücklichen Schwach- gimnigen zuweisen kann? Es ist dies nicht der Aufenthalt in der Anstalt, und wäre er noch so gut und bequem; es ist dies nicht das Anstaltsleben, und wäre es noch so schön umd angenehm; es ist dies nicht die Pfiege, und wäre sie die allerbeste und aufmerksamsie nem, es ist die Erziehung zur Erwerbsfäbigkeit, die Bückgabe in das öffentliche Leben.

Erweist nm unsere Anstalt ihren Zöglingen diese Wohlthat? Bisher war ihr Hanpthestreben hierauf gerichtet, und anch in Zukunft möchte sie əs so halten. Zwar fällt manche Arbeit auf unfruchtbaren Boden, zwar vermag in vielen Fallen selbst der beste Wille, die stärkste Kraft einen Erfolg nicht zu erreichen, aber sollte deshalb unsere Anstalt ihr Ziel verlassen? Sollte sie sich darum nur auf die Pflege beschränken, weil eme Unsumme von Liebe und Geduld, von Mühe und Ausdauer nutzlos bleibt? Sollie sie in Rücksicht auf die Bilduugsunfähigen die Bildungsfähigen prasgeken? Wie der guie Hirt im Kwangelium mehr Freude empfindet über das wisdergefundene hnauderiste Schäflein, als über die 99 anderen, so bereitet uns der

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Erfolg bei auch nur einem schwachsinnigen Kinde mehr Freude und Lohn, als das beste Ergebnis bei einer ganzen Schulklasse volleinniger Kinder. Und wir haben bis jetzt diese Freude nicht nur an einzelnen Kindern erfahren; der Prozentsatz der Gebesserten und Erwerbsfähigen ist ein wesentlich höherer.

In Verfolg ihres Zweckes hat die Anstalt in ihrer Gesamteinrichtung das Familien- haus sich zum Muster genommen. Da die meisten Kinder ärmeren Familien ange- hören, so ist sie zunächst einfach in Kost und Bekleidung. Die Kost regelt ein nach diätetischen Vorschriften unter genauer Berücksichtigung der dem Körper not- wendigen und zuträglichen Stoffe, unter angemessener Verteilung von Fleisch- und Pflanzenkost aufgestellter Speisezettel. Sie ist nicht üppig, aber nahrhaft, sie enthält keins den Gaumen und auch den Magen reizende, wohl aber schmackhafte Speisen, genug, sie ist die richtige „Hausmannskost*. Die Kinder fühlen sich wohl dabei und wachsen kräftig heran. Dabei ist die Gewähr gegeben, dass, sobald die Zöglinge in das Leben zurückkehren, dieselben nicht verwöhnt sind, sondern in dem neuen (oder alten) Kreise das wieder finden, was sie in der Anstalt verlassen.

Die Bekleidung besteht im Winter aus Tuch-, im Sommer aus Leinenstoffen. Die Mädchen gehen in bescheidenen Kleidchen. Wir entblöden uns nicht, es Öffentlich auszusprechen, dass an warmen Sommertagen unsere Kinder im Hofe sich barfuss tummeln, wie sie dies vor dem Eintritt in die Anstalt gewöhnt waren und wie sie es treiben werden, wenn sie in das Elternhaus zurücktreten.

Ferner ist obigen Verhältnissen angepasst Wohnung und Lebensweise. Keine elegant ausgestatteten Räume, keine federnden und gefederten Betten stehen uns zur Verfügung, wohl aber ist darauf gehalten, dass Luft und Licht die wohlthätige Wirkung auf Körper und Geist ausüben, dass Ordnung und Sauberkeit erziehlich wirken. Ein frisches, fröhliches Leben ist das vorteilhafteste Bild einer Familie: ein frisches und fröhliches Leben ist auch der beste Empfehlungsbrief für eine Erziehungsanstalt. Blicke in die Kinderstube, und Du erhältst Aufschluss über das innere Wesen der Familie; beobachte das Leben und Treiben in einer Anstalt, und Du wirst beurteilen können, welcher Geist in derselben herrscht.

Der Säugling in der Wıege ist nur unthätig während des Schlafes; ist er erwacht, so muss er Unterhaltung (ein Spielzeug, ein Beschäftigungsmittel) haben. Und ist das Kind sich gar erst des Gebrauchs der Füsse bewusst wie vielseitig und mannigfach sind alsdann die Unternehmungen während eines Tages! Der er- wachende Geist will Beschäftigung, er will Anregung haben und Thätigkeit entfalten. Diesen Naturtrieb des Kindes unterdrücken, hiesse den Geist zurückdrängen oder ihn gar töten. „Bewegung ist Leben", und Leben erzeugt Leben. Die freie Be- wegung, das selbständige und selbstthätige Handeln eines Kindes ist dringend erforderlich zur Weckung und Erstarkung des kindlichen Geistes.

Bei schwachsinnigen Kindern ist der Geist weniger lebendig, ja er schlummert oft ganz und ist zu keiner Äusserung fähig. Wollte man nun diese Armen ins Zimmer einzwängen, sie unter dauernder Aufsicht an einen Ort bannen, durch fort- währendes Meistern jede Geistesregung unterdrücken, so wäre ein Erwachen der Psyche niemals zu erwarten.

el,

Es darf daher einer Idioten-Erziehungsanstalt die freie Bewegung nicht ge- nommen werden; sie ist für dieselbe das wirksamste Erziehungsmittel. Denn durch diese, durch das Zusammenleben und Zusammenwirken mit anderen, regsameren Kindern, durch Spiel und Beschäftigung erhält das schwache Seelenleben des Kindes die rechte Anregung und wirksamste Nahrung. Wann sollte auch das Kind zur Selbständigkeit, zu jenem bewussten Verhalten, wie es für das Leben durchaus not wendig ist, gelangen, wenn e8 auf Schritt und Tritt begleitet und bevormundet wird von dem Erzieher oder der ständig musternden Wärterin? Unsere Anstalt hat bisher, ohne die erforderliche Aufsicht ausser acht zu lassen, den Zöglingen die weitgehendste Freiheit gewährt und sie hat diese Massnahme trotz mancher Unannehmlichkeiten nicht bereut.

Ist der Geist erwacht und lebendig geworden, so wird derselbe durch die Er- ziehung gelenkt und durch die Gymnastik des Geistes, den Unterricht gestärkt und gestählt. Unterricht und Erziehung sind von jeher die besten Bildungsmittel für die Erziehungsanstalt gewesen; sie müssen auch fernerhin im Vordergrunde stehen, da nur sie allein die Aussicht bieten, den schwachen Geist soweit zu kräftigen, dass er den Lebensanforderungen entsprechen, dass er den „Kampf ums Dasein“ aufnehmen kann. Als weitere Folge tritt sodann hinzu die Vorbildung für den späteren Beruf, die Beschäftigung in Werkstätten, in der Landwirtschaft, in Haus und Küche.

Wie aber in einer Kinderstube nicht jederzeit alles in der bestgepflegten Ordnung sich befindet, wenn nicht pedantische Strenge die freie Bewegung des Kindes hindert, so kann auch in einer Erziehuugsanstalt, welche die Familie sich zum Muster ge- nommen, trotz der allergrössten Sorgfalt und Aufsicht nicht jene Ordnung und Sauberkeit herrschen, welche für Krankenhäuser als unbedingt notwendig gefordert werden müssen. Unsere Zöglinge sind keineswegs unschuldige Lämmlein, oder willenlose Geschöpfe, die etwa automatisch der Leitung sich unterordnen und gefügig die Anforderungen der Anstalt erfüllen, sondern wir haben eine erhebliche Anzahl unruhiger Geister, die in List und Verschlagenheit, im Ersinnen und Erfinden von Unarten Unglaubliches leisten. Also nicht das Krankenhaus, nicht die dem Krankenhause verwandte Irrenanstalt sei das Muster einer Erziehungs- anstalt, sondern das Haus einer schlichten, ordnungsliebenden Familie.“

Litteratur.

Vorlesungen über Sprachstörungen. 3. Heft. Hörstummheit. Von Dr. med. Liebmann. Berlin W. 35. Verlag von Oscar Coblentz. 1898. 58 Seiten. Preis Mk. 1,20.

Von Dr. Liebmanns Vorlesungen über Sprachstörungen hat das vorliegende dritte Heft für uns den grössten Wert, indem es die Hörstummheit, Stummheit ohne Taubheit, psychische Taubheit oder die Aphasie, also Sprachstörungen, die bei geistes- schwachen Kindern gar nicht so selten vorkommen, eingehend erörtert und für die Behandlung derselben rationelle Ratschläge bietet. Der Verfasser verbreitet sich zu- nächst über die normale Sprachentwicklung der Kinder, spricht hierauf von den Ursachen und den klinischen Symptomen der Hörstummheit und giebt zum Schlusse

208. Belehrungen über die Behandlung der eigenartigen Sprachhemmung. Interessant sind Liebmanns Auseinandersetzungen über eine „detaillierte Prüfung sämtlicher Sinnesthätigkeiten"; wir finden hierin manche wichtigen Winke für die erste Unter- weisung unserer schwachsinnigen Kinder. Die Behandlung soll damit beginnen, dass der Lehrer zunächst nicht direkt auf das Ziel losgeht, sondern durch ein mög- lichst lebendiges dramatisches Verfahren das Interesse des Kindes für die Demon- strationsobjekte und die betreffenden Worte erweckt; später werden Laute geübt, Vokale, dann Verschlusselaute, hierauf Lautverbindungen erst mit anlautendem Kon- sonanten, dann mit anlautendem Vokale u. 8. w. Die Ratschläge zur forneren Behandlung sind durchaus praktisch; leider aber hat der Verfasser oft anstatt ausführlicher Aus- einandersetzungen nur kurze Andeutungen gebracht und sich im weitern auf seine Schrift: Untersuchung und Behandlung geistig zurückgebliebener Kinder, bezogen. Trotzdem aber behält dieses Heft der Lieb mannschen Vorlesungen über Sprach- störungen seinen hohen Wert für uns und sei hiermit allen Lehrern der Schwach- sinnigen angelegentlichst empfohlen. Fr. Frenzel

Leitfaden fiir Irrenpfleger. Von Dr. Ludwig Scholz, dirig. Arzt der Heil- und Pflegeanstalt in Waldbröl. Vom Verein der Deutschen Irrenärzte gekrönte Preisschrift. Verlag von Carl Marhold-Halle a. S. Preis Mk. 1,50.

Nach Ansicht des Verfassers hat der Irrenpfleger nicht nur die Besonderheiten der Irrenpflege zu erlernen, sondern muss auf dem gesamten Gebiete der Kranken- pflege und allem, was dazu gehört, vertraut sein und zu diesem eine allgemeine Kenntnis von dem Aufbau und den Verriehtungen des menschlichen Körpers besitzen. Dementsprechend behandelt das Schriftchen in 3 Abschnitten: 1. Die Lehre vom Bau und den Verrichtungen des menschlichen Körpers (Anatomie und Physiologie); 2. die Krankenpflege und dazu als Anhang die Lehre von der ersten Hilfeleistung bei plötz- lichen Unglücksfällen und 3. die Irrenpflege. Da von dem Idioteupfleger im allge- meinen dasselbe wie vom Irrenpfleger zu fordern ist, so empfehlen wir das Schriftchen unseren Anstalten angelegentlichst. 8.

oe Briefkasten.

W. B. i. M. Sie baben recht; auch in dem letzten Berichte der Langenhagener Anstalt steht das Lehrpersonal wieder hinter dem Rendanten und dem Hausverwalter. Wie lange werden die Kollegen daselbst dieser Einrangierung ruhig zusehen? Im übrigen wundert es ans unter solchen Umständen nicht, wepn „der Wechsel im Lehrpersonal besonders gross war, und der Ersatz sich mehrfach lange hinzögerte“.

Imhalt: Der Bildungskurs für Lehrer und Lelirerinnen an Spezialklassen für Schwach- begabte in Zürich (F. Kölle). Zum Rechenunterricht in der Schule für Schwachsinnige und Epileptische (Chr. K.). Aus dem Tagebuche eines Heimgegangenen. Herm A. Grohmann, Zürich (E. Hasenfratz). Mitteilungen: Dresden, Berlin, Dalldorf, Krasch- nitz, Leschnitz O.-8. Litteratur: Vorlesungen über Sprachstörungen. Leitfaden für Irrenpfleger. Briefkasten. |

—— SS Ov 8 0 ee i

Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. Kommissions-Verlag von H., Burdach, K. 8. Hofbuchhandlung in Dresden. . Druck vom Johannes Pässler in Dresden.

Nr. 12. | XV. (ll) Jahrg.

Zeitschrift

fiir die

Behandlung Scwachsinniger und Epilpti

Organ der Konferenz "Konferenz für das Idiotenwesen.

THE NEW york Are LIBRARY

1 ARTIA LENOX AND OUNDATIONS.

»

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

herausgegeben von

W. Schröter, | Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, Direktor der Erzièhungsanstalt Spezialarzt für geistig Zurückgebliebene in für Nervenkrankhelten - in Stuttgart. Erscheint jährlich in 12 Nummern von Zu beziehen durch alle Buchhandlungen

mindestens einem Bogen. Anzeigen für ung Postämter, wie auch direkt von den die gespaltene Petitzeile 25 Pfg. Litte- Dezember 1899. Hefausgebern. Preis pro Jahr 6 Mark,

rarische Beilagen 6 Mark. einzelne Nummer 50 Pfg.

Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber.

Der Anschauungsunterricht in der Hilfsschule. von Hermann Horrix, Hauptlehrer der Hilfsschule in Diisseldorf. Lehrziel. Vorbereitungsklasse:

Übungen im ruhigen Aufmerken, besonders Übung des Auges im richtigen Anschauen gezeigter Gegenstände.

Unterscheiden von Gegenständen und Formen. Benennen der bekanntesten Dinge in der Natur und auf dem Bilde. Aufzählen vön Thätigkeiten und Eigenschaften dieser Gegenstände. Leichte Sprechübungen über vorgeführte Gegenstände nach der Natur oder nach dem Bilde. (Hillsche und Schreibersche Bildertafeln) Kleine Sprüche und Liederverse werden im Anschluss an den Anschauungsunterricht auswendig gelernt.

Ill, Klasse. `

Sprechübungen über. vorgeführte Gegenstände, Beschäftigungen und dergl. nach den Jähreszeiten geordnet, wobei die Bilder von Hölzel oder anderen unterstützend und. belebend eingreifen. Kleine Gedichte und Lieder als Zugaben werden mit möglichst: seharfer Artikulution memoriert.

Aus folgehden Themen kann nach Bedarf ausgewählt werden.

Frühling: Lerche, Kuckuck, Garten, Kirschbaum, Hahn und Hühner, Henne und Küchlein, Osterei, Feld, ‚der Landmann bebaut das Feld, wie der Star sein Nest baut, Blumen auf der Wiese, der Storch füttert seine Jungen, Gänseblümchen, die Kinder winden einen Kranz, Raupe, die Raupennester werden abgeschnitten, Schmetterling, Maikäfer.

Sommer: Rose, die Bienen suchen Honig, Tageszeiten, Tageslauf des Kindes, Wochentage, Jahrmarkt, Dorf, Bauernhof, Haustiere, der Landmann fährt Milch und Gemüse zur Stadt, ‚wie man ein Haus baut, ein Zweig reifer Kirschen,

210 Apfelbaum, Heumachen, Arbeit und Spiel, Buch und Tafel, Feldblumen, Taube und Raubvogel, Getreide, Ernte, Mühle und Müller, der Bäcker bäckt Brot, Himmel, Gewitter, Wald, was aus Holz gemacht wird, Spaziergang in den Wald, Eiche und Buche, Tiere und Pflanzen des Waldes, Eichhörnchen, Bach und Fluss, Fische im Wasser, der Fischer fängt Fische, Hirt und Herde, Lämmchen auf der Weide.

Herbst: Herbstblumen, Obsternte, die Kartoffeln werden ausgegraben, Kartoffel, die Mutter deckt den Tisch, Mittag- und Abendglocke, Uhr, der Jäger geht auf die Jagd, Hase, Fuchs, die Knaben lassen den Drachen steigen, Zug- vögel, Weinlese, das Korn wird gedroschen, der Kirchhof, die Gräber werden geschmückt, Berg und Thal, Martinsfest, die Mutter bäckt Kuchen, Regen und Wolken, Teich, Enten und Gänse, Dampfschiffe auf dem Flusse, ein Schiff fährt durch die Schiffsbrücke, Elster, Ziege.

Winter: Sperling, Rabe, Vögel im Winter, Nikolausfest, Hasen und Kaninchen im Winter, Ofen,; Schornsteinfeger, Feuer und Licht, die Feuerwehr rückt aus, Bäume im Winter, Tanne, Christbaum, Weihnachtstest, was Christ- kindchen gebracht hat, Eis, Eiszapfen und Eisblumen, Schnee, Winterfreuden, die Kinder machen einen Schneemann, Eisenbahn und Pferdebahn, Reise, Fuhr- mann, der Schmied beschlägt ein Pferd, Stadt, Vergleich zwischen Stadt und Dorf, Gebäude der Stadt, Schule, das Bild des Kaisers (Kaisers Geburtstag), Kirche, Wochenmarkt, Verkaufen und Kaufen, Nahrungsmittel, Kaufleute, Fabriken, Soldaten, Ross und Reiter, Kleidung, Handwerker, Sonne, Mond und Sterne, Jahr und Jahreszeiten, die Monate, der Mensch, Sinne und deren Ge- brauch, Winters Abschied, Schneeglöckchen.

II. Klasse.

Die Anschauungsübungen gehen hier von einem Bilderwerk (Wangemann) aus, welches die Jahreszeiten in einzelnen Bildern darstellt und bereiten das Verständnis der Lesestücke der II. Fibel vor. Auf den Lesestoff bezügliche Einzelbilder, z. B. die von Hey-Speckter werden zwischendurch behandelt, wo der Lesestoff es gerade erfordert. 6 Gedichte werden memoriert.

I. Klasse.

Der: Lesestoff bietet den Ausgangspunkt für die Erweiterung des Anschauungs- kreises, der vornehmlich auch die Heimatkunde umfassen soll. Zur Besprechung dienen darauf bezügliche Bilder aller Art aus Märchenbüchern, illustrierten Werken und Zeitschriften. Der Anschauungsunterricht geht dem Lesen des Stückes vorher und die gewonnenen Resultate werden bei der Vermittelung des Verständnisses verwertet. 12 Gedichte werden wörtlich und mit schöner Be- tonung auswendig gelernt.

Methodische Bemerkungen.

Der Anschauungsunterricht, das Alpha und Omega alles Unterrichts in der Hilfsschule, geht zunächst darauf aus, die Kinder, welche bekanntlich teils auf- geregt teils sehr schwerfällig an Körper und Geist sind, auf Wort und Zeichen aufmerken zu lehren, damit sie lernen, Auge und Ohr auf das zu richten, was

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der Lehrer ihnen zeigt und sagt. Dies ist aber so leicht nicht, denn oft folgen sie trotz aller Kniffe und Belohnungen dem Winke oder Befelile des Lehrers nicht, weil sie den ersteren nicht gesehen, den letzteren nicht gehört haben. Es dauert manchmal recht lange, bis das Auge einen bezeichneten Gegenstand so fixieren kann, dass man von einem wirklichen Anschauen reden darf. Viel- fach liegt der Grund an dem unstäten, nervösen Hin- und Herbewegen des Augapfels, häufig auch an dem Geistesschlafe, der das Auge eines solchen Kindes matt und den Blick verschwommen erscheinen lässt. Ob das Kind die Fertig- keit gewonnen hat, gezeigte und im weiteren Verlaufe auch genannte Gegen- stände thatsächlich auch zu besehen, das lässt sich leicht feststellen dadurch, dass der Lehrer sich dieselben von dem Schüler zeigen lässt. Wie oft wird er da nicht die Erfabrung machen, dass mancher nicht mit dem Finger über einen an die Tatel gezogenen Strich fahren oder einen genannten Gegenstand zeigen kann. Sind diese Übungen des Gesichts uud Gehörs fürs erste auch vornehmlich für den Schüler stumme Übungen, d. b. solche, bei denen er nicht zu sprechen braucht, so sei damit doch nicht gesagt, dass er nicht auch mitunter einmal einen Gegenstand, auf den er hinsehen soll, benennen oder eine Aufforderung, auf welche er hören muss, nachsprechen soll. Der eigentliche Anschauungs- unterricht beginnt allerdings nach diesen Sinnesübungen mit dem schlichten Benennen der Gegenstände und Formen, welche dem Formunterscheiden zu Grunde gelegt sind. Nach Überwindung der allergrössten Hindernisse tritt neben dem Anschauen und Benennen wirklicher Gegenstände, Thätigkeiten und Bigem- schaften das Bild in seine Rechte. Weil aber häufig der geringen Sprech- fertigkeit der Schüler Rechnung getragen werden muss, so verbindet sich der Anschauungsunterricht enge mit den Artikulationsübungen und nimmt daher die Hillschen und Schreiberschen Tafeln za Hilfe. Mit der Erstarkung der Geisteskräfte beginnt meistens, wenn nicht ein Sprechfehler vorliegt, auch der Bann, der die Zunge so mancher schwachbegabten Kinder gefangen hält, za weichen. Man hüte sich jedoch, solche Kinder mit denen zu verwechseln, welche bloss in ihrer Sprach- oder Sprechentwickelung zurückgeblieben sind and des- halb von den oberflächlich Urteilenden nur zu leicht auch ala geistig minder- wertig bezeichnet werden, obwohl dies keineswegs der Fall ist. Eine Besserung des Sprechens durch einen guten Artikulationsunterricht hat in der Regel bei diesen letzteren ein gänzliches Freiwerden aller Geisteakräfte zur Folge.

Je lebendiger und ungezwungener der Anschauungsunterricht betrieben wird, desto mehr entfalten sich die schwachen Kräfte. Darum sollten Lehrer von Schwachbegabten unter allen Umständen ein Museum, das die verschieden- artigsten Dinge uud Bilder birgt, besitzen. Ob die ersteren im natara oder im Modell vorbanden sind, das ist einerlei. Was in natura zu viel Raum einnimmt, das wird eben durch ein Modell ersetzt. Eine derartige Sammlung kana ent- halten: Stoffe, Metalle und Steine (roh und verarbeitet), Frfichte aller Art, Handwerkszeuge, ausgestoptte, getrocknete oder sonst kongervierte Tiere, Getreide- und Holzarten, Entwickelungsphasen von Natar- und Kunstgegenständen, grosse und kleine Bilder aller Art.

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Schulen für schwachbegabte Kinder können, wie schon öfters dargethan wurde, nur in grössern Städten eingerichtet werden. Wenn nun schon normale Schüler der Grossstadt so wenig die schöne Gottesnatur kennen und bewundern lernen, dann ist es wohl begreiflich, dass unsere Zöglinge noch weniger bekannt sind in Feld und Au, in Flur und Hain. Um wie viel mehr also müssen wir Hilfsschullehrer auf unsern Spaziergängen im Freien suchen und sammeln, damit wir durch das Vorzeigen und Besprechen einer Blume, eines Zweigleins oder eines Tieres und Steines den Anschauungskreis des Schülers erweitern und seinen Vorrat an Begriffen vergrössern. Wie grosse Anregung und Ermunterung ruft nicht auch ein gemeinsamer Ausflug wach! Werden sich die Kinder da nicht ergötzen unter tüchtiger Leitung an all den Herrlichkeiten, die dabei sich vor ihren Augen ausbreiten ? Zwar stehen solchen Ausflügen der,Hilisschüler immer einige Bedenken entgegen. Ein Erzieher jedoch, der mit einem für das Wohl- ergeben seiner geistig schwachen Schüler begeisterten Herzen ausgerüstet ist, lässt sich durch die grosse Verantwortung und auch dadurch nicht abschrecken, dass vielleicht einige Kinder den Vorübergehenden durch ihre körperlichen Ge- brechen auffallen. Die helle Freude seiner Zöglinge und der grosse Nutzen eines Ausfluges für Geist, Gemüt und Willen wird stets für ihn durchschlagend sein. Möge er aber obendrein auch seine Schüler anleiten zur Pflege von Topf- pflanzen, an welchen sie die Entwickelung einer Pflanze beobachten können; möge er ihnen in einem kleinen Aquarium eine Anschauung vom Leben im Wasser geben, möge er ferner Raupen sich verwandeln lassen in Puppen und bunte Schmetterlinge, und wie es solcher Dinge unzählige giebt.

Einzel- und Gruppenbilder treten beim Anschauungsunterrichte überall er- gänzend, belebend und erläuternd ein. Bilder wie die Hey-Speckterschen kann die Hiltsschule für die erste Zeit des Anschauungsunterrichtes entbehren, denn obgleich künstlerisch ausgeführt, ist ihr Wert für unsere Anfänger doch nicht so bedeutend, als es auf den ersten Anschein hin wohl zu glauben wäre. Es sind eben schön ausgeführte Gemälde, die eine Scene für sich ohne einen Zusammenhang mit etwas dem Kinde Bekannten vorstellen. Der Lehrer ist daher gezwungen, soll das Kind sich in etwa eine richtige Vorstellung von dem Vorgange, den das Bild darstellt, machen, es in die Situation hineinzuversetzen, wie es Kehr in der dazu gehörigen Anleitung allerdings sehr schön zu Papier gebracht hat. Das ist bei normal veranlagten Schülern und auch bei den unsern schon fertig zu bringen, wenn sie länger in der Hilfsschule unterrichtet worden sind, aber für die neu aufgenommenen phantasiearmen Geschöpfe würde dieses Verfahren seinen Zweck ganz und gar verfehlen. Diese Bilder müssen an der richtigen Stelle und im geeigneten Zeitpunkte eingeschoben werden d. h. da, wo sie eine Scene aus einem Gruppenbilde, das sie im allgemeinen kennen, deutlicher veranschaulichen. Den grössten Dienst leisten sie unzweifelhaft bei der Erklärung einer Heyschen Fabel im Leseunterrichte. Jede Sprechübung erfordert, falls sie auf den Geist unserer Schüler anregend und bildend eìn- wirken soll, eine gründliche Vorbereitung von seiten des Hilfsschullehrers. Eine schnell hingeworfene Disposition genügt nicht; sämtliche Fragen müssen, wenn

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auch nicht dem Wortlaute so doch dem Inhalte nach, zurecht gelegt werden. Die Schüler sorgen schon dafür, dass der Lehrer nicht an dem Wortlante der Fragen seiner Präparation festzuhalten vermag, vorausgesetzt, dass der An- schauungsunterricht in der Hilfsschule das ist, was er sein soll, nämlich ein Gespräch zwischen Lehrer und Schüler, das der geschickte Lehrer dem Zwecke entsprechend wohl zu leiten wissen wird. Sollte irgend ein Schüler aus eigenem Antriebe ein Scherflein beisteuern, was allerdings anfangs wohl selten vorkommen dürfte, so ist das bereitwilligst anzunehmen und zu belobigen, denn ein selbst- thätiees Schaffen ist und bleibt der Endzweck alles Unterrichtes in der Hilfs- schnle. Zum Schlusse jeder Sprechübung lernen die Schüler das Ergebnis derselben in kleinen Sätzen durch Vor- und Nachsprechen, wobei Einzel- und Chorsprechen mit einander abwechseln und auch die Korrektur falsch oder un- deutlich gesprochener Laute und Wörter vorgenommen wird.

Als Zugaben zum Anschauungsunterrichte wähle der Lehrer bald eine leichte Erzählung oder Fabel, bald ein Lied, ein Rätsel oder einen Spruch. Eine ober- flichliche Behandlung dieser Zugaben schadet jedoch mehr, als sie nützt. Was dem Kinde geboten wird, das muss es sich zum geistigen Eigentum machen. Wir können zwar nicht verlangen, dass die Schüler unserer Unterstufe eine Er- zählunz nacherzählen, wohl aber, dass sie diese auf diesbezügliche Fragen wiedergeben und dass sie kleine Sprüche und Lieder, welche sie unter der An- leitung des Lehrers, nachdem dieselben zum Verständnis gebracht worden sind, auswendig eelernt haben, auswendig hersagen.

Schliesslich seien uns noch einige Bemerkungen über das Antworten in ganzen Sätzen durch unsere Schwachbegabten gestattet. Wie vorzüglich das- selbe ist, so müssen wir uns doch lange Zeit hindurch begnügen mit dem ein- fachen Worte, das wir dazu noch den Schülern durch eine wohlüberlegte Frage fast in den Mund legen werden. Doch wird der Hilfsschullehrer immer dahin streben und bei gewachsener Geisteskraft darauf dringen, dass die Schüler in vollständigen Sätzen sprechen. Um dieses zu erreichen, muss er sie anfänglich stets durch eine ermunternde Unterstützung anfeuern. Wer nicht auf das Ant- worten in ganzen Sätzen bedacht ist, der vernachlässigt: ein bedeutendes Zucht- mittel des Geistes, ja, der leistet der Trägheit und der bekannten Denkfaulheit schwachbegabter Schüler gewaltigen Vorschub, der wird sie niemals zur freien Wiedergabe ihrer Gedanken bringen.

Bei einem gut erteilten Anschauungsunterrichte gehen die Schüler schon nach verhältnismässig kurzer Zeit aus sich heraus und gewähren dadurch dem beobachtenden Lehrer einen tiefen Einblick in ihre eigenartige Anschauungs- und Denkweise und setzen ihn dadurch in den Stand, ihren schwachen Geist kennen zu lernen und ihn unterrichts- und lernfähig zu machen.

Während der ganzen Schulzeit bleibt deshalb in der Hilfsschule der stufen- mässige, gesonderte Anschauungsunterricht ein Hauptfach, das den Schülern planmässig Anschauungen und Begriffe vermittelt. Andere Schüler lernen vieles aus sich selbst, was den Schwachbefähigten vom Lehrer in sorgfältig zubereiteter Weise dargereicht werden muss. Darin besteht ja eben die Hauptarbeit der

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Hilfsschule, dass sie ihre Zöglinge anleitet, die neuen Vorstellungen sorgfältig in ihren Geist einzureihen und mit den vorhandenen zu verknüpfen, wozu die meisten Hilfsschüler absolut nicht fähig sind. Vernachlässigt die Hilfsschule auch nur auf einer Stufe den beschreibenden oder erzählenden Anschauungs- unterricht, so zeigen sich später nicht nur Lücken in dem Anschauungskreise der Kinder, sondern auch, und das ist noch schlimmer, notwendigerweise grosse Mängel in dem Bilden von Begriffen, Urteilen und Schlüssen, also im richtigen Denken, soweit davon bei einem Hilfsschiler die Rede sein kann. Behandlung eines Anschauungsobjekts in der Hilfsschule. Der Jäger. A. Unterstufe.

Das Bild ist ein Gruppenbild, welches die Kinder noch nicht gesehen haben; deshalb besshen sie dasselbe vor dem Unterrichte eine längere Zeit, damit ihre Neu- gierde befriedigt werde. Vielleicht ist manches auf dem Bilde ihnen schon bekannt, und sie sagen das dem Lehrer auf dessen Fragen. Alle Angaben werden dankbar angenommen, denn die Selbstthätigkeit, die aua dem Interesse und dem Vertrauen zu sich selbst hervorgeht, muss in der Hilfsschule vorzugsweise gepflegt werden, dam't der Mut und das Selbstgefühl stetig wachse und gedeihe. Nach hinlänglicher Be- trachtung benennen die Schüler. so gut es geht, sämtliche Gegenstände auf dem Bilde, auch wohl einige Farben, Thätigkeiten u. s. w. Dann zeigt der Lehrer auf den Jäger, der mit seinem Hunde von der Jagd heimkehrt, und fragt: Wer ist das? Ein Mann! Die Antwort „Jäger wird wohl nicht gleich gegeben werden; erfolgt sie dennoch, so ist das um so besser, da dann der Begriff „Jäger“ nicht vorerst gegeben zu werden braucht.

Auf den Kopf zeigend: Was ist das? Wie viele Augen sind an dem Kopfe? Wie viele Ohren? Wie viele Nasen? Hat der Jäger auch einen Mund? Zeige ihn! Was hat der Jäger in dem Munde? Eine Pfeife. Womit hält der Jäger die Pfeife fest? Wie viele Hände hat er? Zeige sie! Zeige deine Hände! Ist die Pfeife kurz oder lang? Zeige einen langen, einen kurzen Griffel! Auf den Hut zeigend: Was ist das? Wie sieht der Hut aus? Woraus ist er gemacht? Was ist an dem Hute? Eine Feder. Wo steht die Feder an dem Hute? Welche Tiere haben Federn? Setze deinen Hut auf! Wo ist jetzt vorne an dem Hute? wo hinten? Zeige die rechte Seite deines Hutes! Was ist an der linken Seite deines Hutes? Auf den Rock zeigend: Was ist das? Wie sieht der Rock aus? Woraus ist er gemacht? Der Lehrer legt verschiedene Stoffe vor und sagt: Nimm die Wolle, das Leinen, die Seide! Wie viele Knöpfe sind an dem Rocke? Zähle sie! Zeige die Hose des Jägers! Wie sieht sie aus? Wie viele Stiefel hat der Jäger an? Woraus sind die Stiefel gemacht? Wie weit gehen die Stiefel? Könnt ihr meine Stiefel auch ganz sehen? Warum nicht? Wie hat der Jäger die Stiefel angezogen? Auf die Flinte zeigend: Was ist das? Woraus ist die Flinte gemacht? Der Lehrer zeigt den Schülern verschiedene Metalle und sagt dann: Nimm das Gold, das Silber, den Stahl! Die Flinte ist nicht ganz aus Stahl gemacht, es ist auch Holz daran, das heisst „Schaft“. Sprich das Wort! Sprecht es alle! Zeige den Schaft! Das, was aus Stahl gemacht ist, sind die „Läufe“. Sprich das Wort! Wie viele Läufe

215 hat die Flinte? Wie sind die Läufe inwendig? Nenne Dinge, die hohl sind! Der Jäger trägt die Flinte an einem Riemen. Zeige den Riemen! Woran ist auch ein Riemen? Woraus ist der Riemen gemacht? Was ist auch aus Leder gemacht? Wo hängt die Flinte? Zeige deine rechte, linke Schulter! Was hat der Jäger sich noch mehr umgehängt? Woran hängt die Jagdtasche auch? Was hängt an der Jagdtasche? Ein Vogel. Der Vogel heisst Feldhubn. Sprich das Wort! Wie heisst also der Vogel? Warum mag os wohl Feldhubn heissen? Wie viel Beine hat das Feldhuhn? Das Feldbuhn kann auch fliegen. . Womit fliegt es? Wie viele Flügel hat das Feldhuhn? Nenne andere Tiere, die auch fliegen können! Das sind auch Vögel. Hat das Feldhuhn einen Mund wie wir? Was hat es denn? Zeige den Schnabel! Was thut es mit dem Schnabel? Was pickt es denn auf? Dieses Feldhuhn kann nicht mehr picken. Warum nicht? Was kann es noch mehr nicht thun? Warum nicht? Wer hat es totgeschossen? Womit? Du kannst laufen, springen und singen, du bist nicht tot. Wie bist du denn? Aus der Jagdtasche kommt auch ein Kopf heraus. Zeige ibn! Was kommt noch mehr heraus? Wie viele Beine sind es? Kennt ihr das Tier, dem der Kopf und die Beine gehören? Wie heisst es denn? Wie viele Beine bat der Hase? Wie heisst dieses Tier? (Auf den Hund zeigend.) Wem gehört der Hund? Wo geht der Hund, neben oder vor dem Jäger? Wer sitzt neben, vor, hinter dir? Wie sieht der Hund aus? Wie viel Beine hat er? Auf den Schwanz zeigend: Was ist das? Zeige die Ohren! Wie sind sie? Welche Tiere haben auch lange Ohren? Kann der Hund sprechen? Was kann er aber wohl? Wie bellt der Hund? Der Hund ist mit dem Jäger auf die Jagd gegangen, darum heisst er Jagdhund. Wie heisst er?

Ergebnis: Der Jäger hat eine kurze Pfeife im Munde. Auf dem Kopfe trägt er einen grauen Hut. Hinten an dem Hute ist eine Feder. Der Jäger trägt einen grünen Rock und lange Stiefel. Er hat sich eine Flinte und eine Jagdtasche um- gehängt. An der Jagdtasche hängt ein totes Feldhuhn. In der Jagdtasche ist ein toter Hase. Der Jäger hat diese Tiere mit seiner Flinte totgeschossen. Neben dem Jäger geht sein brauner Jagdhund.

B. Mittelstufe.

Auf dieser Stufe kann nach einer kurzen Wiederholung des auf der Unterstufe Gelernten der Stoff auf nachstehende Weise verarbeitet werden: Wo ist der Jäger gewesen? Auf dem Felde, im Walde. Was hat er da gethan? Was schiesst er noch mehr? Womit schiesst er die Hasen? Was thut er in die Flinte? Sage einmal: Der Jäger ladet die Flinte mit Pulver. Womit ladet er sie noch mehr? Was muss er vorher thun, ehe er die Hasen schiessen kann? Weiss der Jäger, wo die Hasen sind? Wer sucht sie denn? Warum kann der Hund die Hasen so gut finden? Der Hund spürt die Hasen mit seiner Nase auf. Sprich den Satz! Was spürt der Hund noch mehr auf? Hasen, Rehe, Füchse und Feldhühner sind wilde Tiere, weil sie nicht beim Menschen wohnen. Darum heissen sie Wild oder Wild- bret. Wie heissen sie also? ‘Was spürt nun der Hund auf? Was thut der Hund, wenn der Jäger das Wild geschossen hat? Wohin steckt der Jäger das geschossene Wild? Dann hat der Jäger das Wild erjagt. Wo war er also? Wann geht der Jäger auf die Jagd? Warum kann er nicht im Sommer auf die Jagd gehen?

216 Wohin bringt er das erjagte Wild?. Was geschieht damit? Wie schmeckt das gebratene Wild?

Ergebnis: Im Herbste geht der Jäger auf die Jagd. Er schiesst die Hasen und Feldhühner, die Rehe und Füchse mit einer Flinte. Die Flinte ladet er mit Pulver und Schrot. Sein Jagdhund spürt das Wild auf und bringt das geschossene Wild dem Jäger. Der Jäger steckt os in die Jagdtasche und trägt es nach Hause. Dort wird es gebraten und dann gegessen. Es schmeckt gut.

Zugaben: 1. Das Gedicht: Gestern abend ging ich aus.

2. Das Spiel: Häslein in der Grube. 8. Das Lesestück: Die Fuchsjagd von Curtmann. C. Oberstufe.

Die Anschauungsübung soll das Verständnis des Lesestückes: „Im Wald und auf der Heide, da such’ ich meine Freude“, vorbereiten. Vor den Schülern hängt ein Bild, auf welchem eine Jagd, sei es nun eine Hasen-, Reh- oder Fuchsjagd, dargestellt ist.

Was than diese Leute? Wie nennt man sie deshalb? Wie heissen sie auch noch? Wo jagen sie hier? Wo können sie auch jagen? Wo noch mehr? Auf der Heide. Die Heide ist unfruchtbares Land. Da wachsen nur kleine Tannen, Birken und Heidekréuter. Was ist das Jagen für den Jägersmann? Was schiessen die Jäger denn? Was noch mehr? Was noch mehr? Wer kann mir alles, was die Jäger schiessen, mit einem Worte sagen? Läuft ihnen das Wildbret entgegen? Was müssen sie daher thun? Dieser Jäger giebt das Zeichen, dass das Suchen beginnt. Womit giebt er das Zeichen? Wie heisst das Horn? Warum? Wenn die Jagd beginnt, rufen die Jäger wohl: „Halli, hallo!“ Dieser Ruf heisst: „Hallali“. Wer hilft ihnen suchen? Das Suchen des Wildes nennt der Jäger die Birsche. Was erlegen sie denn auf der Birsche? Was thun die Feldhühner, wenn der Jäger kommt? Wie fliegen sie? Der Jäger muss sie also im schnellen Floge schiessen. Der Jäger erlegt auch Sauen; das sind wilde Mutterschweine. Weshalb erlegt er denn die Füchse? Was kann man vom Fuchse nur gebrauchen? Der Pelz ist das Kleid des Fuchses.. Was giebt also der Fuchs dem Jäger? Nicht immer sucht der Jäger das Wild; oft bleibt er auch an einem Orte stehen und wartet, bis ein Wild kommt. Dann ist er auf dem Anstand. Die Schnepfen, Rehe und Hirsche werden auch auf dem Anstand geschossen? Wer kennt eine Schnepfe? Diese ist sehr schwer zu schiessen, weil sie immer sehr schnell im Zickzack fliegt. Zeichne eine Zickzacklinie an die Tafel! Was fährt auch im Zickzack vom Himmel herunter? Ein guter Jäger schiesst nicht fehl, er trifft die Schnepfe mit Sicherheit. Die Jäger haben aber nicht bloss das Wildbret zu erlegen; sie müssen auch dafür sorgen, dass im Walde zur rechten Zeit die alten Bäume gefällt und neue an deren Stelle gesetzt werden; auch sehen sie darauf, dass keine Wilddiebe das Wild wegschiessen. Sie müssen den Wald hegen. Der Wald wird auch Forst genannt. Wie mag nun wohl der Jäger heissen der auch den Wald hegt? Was hat also der Förster zu thun? Er thut es gern, weil es ihm gefällt, weil er Freude daran hat. Darum geht er auch schon frühmorgens in den Wald. Der Wald ist manchmal sehr gross, deshalb kann der Förster nicht zum Mittagessen zu Hause sein. Wo ist er denn? Was

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(m

wird wohl sem Tisch sein? Liegt auf seinem Tisch auch ein Tischtuch? Womit hat die freundliche Natur, der liebe Gott, ihn gedeckt? Wa muss er sich auch das Essen bereiten? Das thun die meisten Jäger? Wer sieht ihnen dabei zu? Der Hund begleitet den Jäger stets überall hin und folgt sonst kemem Menschen, auch wenn man ihn ruft; er ist dem Jäger treu. Wen hat alse der Jäger zur Seite, auch wenn er sich das Mahl bereitet? Wann ist erst das Tagewerk des Jägers und Försters gethan? Woran sieht er, dass es Abend wird? Was liegt im Herbste des Abends über den Wiesen? Wann steigt also der Nebel auf? Wie macht der Nebel die Kleider? Wie ist also der Nebel? Wann ist das Tagewerk des Försters gethan? Wohin zieht er dann? Wo liegt seine Wohnung? Wie heisst sie? Wen findet er zu Hause? Er fragt die Mutter, ob die Kinder brav gewesen sind und lässt sich die häuslichen Schularbeiten zeigen. Was bereitet ihm das gute Betragen und der Fleiss seiner Kinder? Das ist für ihn eine häuslich stille Freude. Warum ist sie denn wohl eine häusliche Freude? Warum eine stile Freude? Wie ist also der Jägersmann, wenn er zu Hause ist?

Ergebnis: Der Jäger hat grosse Freude am Jagen. Wenm er dae Wild im Wald und auf der Heide sucht, so geht er auf die Birsche. Steht er aber an einem bestimmten Orte, um auf das Wild zu lauern, so ist er auf dem Anstand. Der treue Hand ist dabei immer an seiner Seite, auch wenn der Jäger im Walde sein einfaches Mahl bereitet and verzehrt. Da ist die Erde sein Tisch; der liebe Gott hat ihn mit Moos gedeckt. Ein guter Jäger schiesst nicht fehl. Er trifft mit Sicherheit das Feldhuhn im schnellen Fluge und selbst die Schnepfe, welche wie der Blitz im Zickzaek durch die Luft zieht. Aach der schlaue Fuchs wird von ihm erlegt und muss ihm seinen Pela geben. Es gefällt dem Jäger aber nicht bloss, das Wild zu schiessen. Er hegt auch den Forst, indem er alte Bäume abholzt und neue an deren Stelle pflanzt. Ein Jäger, der das auch thut, heisst Förster. Der Förster ist von frühmorgens bis zum Sonnenuntergang im Walde thätig. Sein Tagewerk ist erst gethan, wenn der feuchte Nebel über Wald und Wiesen emporsteigt. Dann zieht er heim in sein stilles Försterhaus, wo seine Frau und seine Kinder sich auf die Rück- kohr des Vaters freuen. Er ist aber auch froh, nach des Tages Arbeit den Abend im häuslichen Kreise seiner Lieben verbringen zu können. Der Fleiss und das gute Betragen seiner Kinder bereiten ihm eine häuslich stille Freude.

Beitrag zur Kenntnis abnormer Farkenempfindungen bei Epileptisehen.*)

Von Dr. med. A. Ulrich.

Der Mangel an Farbensinn, die sog. Farbenblindheit, scheint im allgemeinen bei Epileptischen, in der anfallsfreien Zeit, nicht häufiger vorzukommen als bei Gesunden. Bei 405 untersuchten Kranken fand sich keiner mit der wirklichen Unfähigkeit, bestimmte Farbenqualitäten wahrzunehmen, während Fehler in der Benennung der Farben, wie bei Gesunden, häufig sind. (Die Prüfung wurde

*) Aus dem 13. Bericht der Schweiserischen Anstalt für Epileptische in Zürich,

218 vorgenommen mit farbigen Wollbündeln und mit den pseudo-isochromatischen Tafeln nach Prof. Stilling.)

Die folgenden Fälle beweisen, wie sehr die Farbenempfindungen durch die Anfälle verändert werden können.

Abnorme postparoxysmatische Farbenempfindung und Farbentrugwahrnehmung.

G., Emilie, 33 Jahre alt. Der Vater der Kranken ist ein Psychopath und Potator, der von seiner Frau getrennt lebt. Der Grossvater väterlicherseits war eben- fulls ein Trinker. Ein Bruder der Kranken soll seit einiger Zeit an Krampfanfällen mit Bewusstlosigkeit leiden (Epilepsie?). Die Mutter scheint Neuropathin zu sein. Als Schulkind habe dieselbe öfters an Anfällen von Kopfschmerzen gelitten, die mit Erbrechen endigten,. Während der Anfälle habe sie abwechselnd blaue, grüne, rote und gelbe Wolken vor den Augen gesehen, die sich von unten nach oben bewegten (Migraine ophthalmique?). Diese Erscheinungen seien nach dem zehnten Jahre nicht wieder aufgetreten. Anfälle von partieller oder allgemeiner Epilepsie wurden bei der Mutter nie beobachtet.

Die Geburt der Kranken selbst verlief schwer. Vier Monate alt erkrankte das Mädchen und blieb viele Wochen leidend. Schon damals habe Pat. heftige Krämpfe gezeigt Von dieser Erkrankung an blieb sie schwächlich. Auch geistig war sie von jeher schwach. Sie brachte es in der Primarschule bis in die vierte oder fünfte Klasse. Schon als Schulkind habe sie öfters über Schmerzen auf der ganzen rechten Seite geklagt; beim Gehen habe sie den rechten Fuss etwas nachgeschleppt.

Die ersten schweren, nervösen Erscheinungen zeigten sich im Alter von ca 1% Jahren. Pat. wurde plötzlich blass im Gesicht, sio verlor das Bewusstsein und sank zu Boden. Zuckungen traten zunächst nicht auf. Nach diesen Anfällen, die sich wöchentlich mehrmals wiederholten, schlief sie ca. 1 Stunde. Nach dem Schlafe Klagen über Kopfschmerzen und Fehlen der Erinnerung an die Zeit der Vorgänge um Anfall. Mit 20 Jahren wurde Pat. menstruiert Ca. 22 Jahre alt sollen zum ersten Male schwere Anfälle aufgetreten sein. Pat stirste mit einem Schrei zu Boden. verlor das Bewusstsein und hatte Krämpfe im Gesicht, in Armen und Beinen. Die Anfälle wiederhelten sich anfänglich alle 14 Tage, später wurden sie jedoch häufiger, namentlich zur Zeit der Menstruation oder kurz ver eder nach derselben. Im letaten Jahre hatte die Kranke nach S— 14-tärigen Pızzen 2-4 Anfalle kun nacheinander bei Tag und bei Nacht.

&. lebte zu Hause in sehr ärmlichen Verhältsissen Am 1. Dessmber 1598 wurde xe i unsere Anstalt aufgenommen.

Aus dem states pracceas moüeren wir folzemie:: Schlaffer Facals Imker Ver- kürsume wad Atrophie der rechten unteren Extremitit Spesticch-paretscher Gaag mit leichter Ryuinsvaresstellung des rechten Fusses und leichüm Nachschleppen der Zehen Brhöhter Patellarreler rechts Spesmen im der rechten unteren Biıtremitit Keme Senubihtäissöirungen Keine Farbenblindheti

Inteliekteall iss de t recht schwach Se kann sucht emmal ihren Namen feblecfrei schreiben. Sie ‘test sehr schlecht Leichte Adtitiume ct se im stunde aessefibren. Wie viel 4 >< 4 nt. wees ce mht. Auch kunt se den Namen dst

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Flusses nicht, der durch Zürich fliesst, obwohl sie hier die Schule besuchte.

Auszug aus der Krankengeschichte.

G. hat seit ihrem hiesigen Eintritte monatlich 9—15 leichtere und auch schwere epileptische Anfälle. Bisweilen treten kurz vor den Anfällen Angstparoxysmen auf, die wenige Minuten dauern. Pat. giebt an, sie habe das Gefühl, man wolle ihr den Hals einschnären.

In der Nacht vom 24. III. 99 hatte die Kranke einen schweren Anfall mit Konvulsionen am ganzen Körper. Am 25. III]. bei der Morgenvisite klagt Pat- spontau, sie sehe alle fünf Minuten blaues „Zeug* vor den Augen, das nach einiger Zeit wieder verschwinde und zum Himmel hinauf fliege. Oft sehe sie auch eine lange blaue Schnur, die von oben nach unten gehe und sich bewege. Dann und wann sehe sie auch grün wie grünes „Futter“ (Kleiderstoff) vor den Augen. Die grüne Farbe bewege sich bis ans Gesicht. Während der Zeit der Erscheinung (ca. 1 Minute) macht Pat. ein ängstliches Gesicht, auch jammert sie und sagt, sie fürchte sich.

In der Nacht vom 11./12. IV. 99 schwerer Anfall. Bei der Morgen- visite klagt G. über Brennen der Zunge. Spontan äussert die Kranke, sie sehe blaue und weisse Fäden gegen ihr Gesicht kommen. Die blauen Fäden seien rechts, die weissen links. Bisweilen wechsle es, dann sei weiss rechts und blau links. Oft sei auch alles blau in der Luft. G. fürchte sich vor den Farben.

Am 12. IV. bei der Morgenvisite hat G. einen leichten Anfall: Bewusst- losigkeit, Cyanose des Gesichts, clonische Zuckungen in der Muskulatur der linken Gesichtshälfte Weite, reaktionslose Pupillen. Dauer ca. 1 Minute. Unmittelbar nach dem Anfalle ruft Pat. „Papa“ und lacht dazu. Beim Lachen bleibt die linke Gesichtshälfte vollständig schlaf. Nach kurzer Zeit wird Pat. klar und sagt, sie sehe alles weiss. */, Stunde nachher sieht sie ein blaues Tuch vor den Augen, und der dunkelbraune Zimmerboden erscheint ihr weiss.

Das Hauptsächliche der vorliegenden Krankengeschichte lässt sich dahin zusammenfassen: Pat. stammt aus einer sehr belasteten Familie. Vier Monate alt erkrankte das Mädchen mit heftigen Krämpfen, nach denen höchstwahrschein- lich eine Lähmung der rechten Seite zurückblieb. Die bestehende Atrophie, Verkürzung und Parese des rechten Beines sind als die Residuen der Kinder- lähmung aufzufassen. Die Epilepsie begann im 15. Jahre mit leichten und im 22. Jahre mit schweren Anfällen.

Eigentümlich sind die Folgeerscheinungen der Anfälle. Im allgemeinen darf es nicht überraschen, wenn eine solch stürmische, gewaltsame Unterbrechung aller geistigen Funktionen, wie dies im epileptischen Anfall stattfindet, zer- störenden Einfluss auf die Hirnthätigkeit hat. Erschöpfungserscheinungen, wie Schlaf, Müdigkeit, Abschwächung der Geisteskräfte, sind auch das Gewöhnliche. In unserem Falle ist nach jeder Attaque eine deutliche Lähmung der linken Gesichtshälfte erkennbar. Als Erschöpfungssymptom sind auch die Farben- erscheinungen aufzufassen. Die Kranke sieht fast nach jedem Anfalle Farben im Raume, wo gar keine sind, sie sieht blaues „Zeug“, blaue Schnüre, grünes „Futter“, blaue und weisse Fäden. Es sind dies eigentliche Trugwahrnehmungen

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(Hallucinationen).*) Wenn G. den braunen Boden weiss sieht, so beweist dies, dass der Farbensinn während dieser Zeit und für diese Farbe aufgehoben ist.

Der ängstliche Affekt, der den Anfällen gewöhnlich folgt, wird durch die abnormen Farbenerscheinungen genügend erklärt.

Excessive Steigerung der Empfindlichkeit für die rote Farbe.

B., Patientin, 33 Jahre alt. Die Mutter derselben litt an einer Psychose und endete durch Suicidium. Im zweiten Monat der Gravidität sei die Mutter durch eine Feuersbrunst in starken Schrecken geraten; im fünften Monat sei sie vom Pferd gestürzt. Die Geburt selbst verlief normal. Das Kind war schwächlich, stets apathisch. Es lernte sehr langsam und mangelhaft. Über schwere Erkrankungen im Kindesalter ist uns nichts bekannt. Die körperliche wie die geistige Entwicklung war recht langsam.

Der erste epileptische Anfall wurde im Jahre 1876 beobachtet. (Ohnmacht beim Frübstück) Der zweite Anfall, 1'/, Monate nach dem ersten, wurde mit einem Schrei eingeleitet. Erinnerung an den epileptischen Insult fehlte. Im Jahr 1877 nabm die Zahl der Anfälle zu, und eine weitere Exacerbation zeigte sich mit dem Eintritt der Menstruation im Jahre 1878 und damit auch progressive Abnahme des Gedichtnisses. Nach den Anfällen traten dann und wann Delirien auf. In den folgenden Jahren hatte Pat. durchschnittlich 10—15 Anfälle im Monat. (Grand mal und petit mal.) Pat. wurde in verschiedenen Anstalten verpflegt und trat hier ein am 2. Juli 1892. Bis Ende 1898 hatte die Kranke 1190 schwere und 181 leichtere Aufälle.

Seitdem ich Pat. zu beobachten Gelegenheit habe, treten monatlich 4—27 schwere Anfälle auf. Dann und wann, namentlich zur Zeit der Menstruation unvoll- ständige Anfälle (Erbleichen des Gesichts) in grösserer Zahl. Einige Male konnte ich auch Zitterzustande (crises de tremblement) konstatieren.

Im Februar 1899 hatte Pat. nur 4 Anfälle (am 21., 22. und 25.)

Auszug aus der Krankengeschichte.

9. II. Pat. sieht vor den Augen einen roten Mond. Sobald sie diese Hallucination hat, geht sie im Kreis herum und sagt, sie müsse tanzen des Mondes wegen.

10. II. Pat. sieht wiederum den Mond, kugelrund, rotgolden und glänzend. Während der Hallucination, die stundenlang dauert, zeichnet Pat. wiederholt mit dem Finger Kreise in die Luft. Auch stellt sie die Stühle im Zimmer im Kreise auf und geht beständig um dieselben herum. Sie kehrt die Bilder im Zimmer um, weil dieselben zuviel glänzen.

13. H. Pat. sieht eine rote, runde Kugel links seitwärts vom Kopfe. Zeit- weise behauptet Pat., die rote Farbe beständig vor sich zu baben. |

*, Ein anderer Kranker, N. J., 19 J. alt. Vater Potator. Mit 3 Monaten Gichter. Im 8. Jahre Trauma capitis. Beginn der Aufälle 1894 ohne nachweisbare Ursache. Eintritt 27. IX. 94. Anfälle 1894: 4; 1895: 44; 1896: 43; 1897: 56; 1898: 154. Epileptische Demenz bedeutenden Grades. Am 28. III. 99 nach einem schweren Anfalle sah Pat. überall, wohin er nur blickte, 3 rote Schnüre, die nach oben in einem Punkt zu-

sammenliefen. Er sah die roten Schnüre sowohl auf den nahen als den ent- fernten Gegenständen.

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Von Interesse ist nun aber folgende Thatsache: Sobald die Kranke eine rote Farbe sieht, z. B. eine Mitkranke oder Angestellte mit einem roten Kleide, so springt sie augenblicklich davon. Sie rennt, ‘wie die Wärterin schildert, „wütend“ treppab und durch die Gänge mit geschlossenen Augen, alles beiseite rennend. In ihrem Zimmer wirft sie sich aufs Sofa oder auf einen Stuhl und rnft: das Feuerrot war zu stark für meine Augen, binde. bitte, meine Augen zu.

Auch diese Kranke leidet, wie aus der vorstehenden Schilderung erhellt, zeitweise an Hallucinationen, sie sieht einen roten, glänzenden Mond u. del. Ihr ganzes Benehmen steht dann unter dem direkten Einfluss der Sinnes- täuschungen, sie geht im Kreise herum und macht Zeichnungen in die Luft. Auch die Lichtempfindlichkeit ist erhöht: die Kranke kann keine glänzenden Bilder sehen.

Ganz auffallend ist aber die seit Jahren bestehende Überempfindlichkeit für die rote Farbe, namentlich für feuerrot. Der Anblick der Farhen allein vermag

. die Kranke in solche Aufregung zu bringen, dass sie blindlings davonspringt. Mit Rücksicht auf dieses Verhalten der Kranken werden die Kleider derselben

meist in blauer Farbe gewählt, ebenso wird in Möbeln und Dekorationen des Zimmers das „giftige“ Rot möglichst vermieden.

Ein Epileptiker mit „Farbengehör* und ähnlichen Erscheinungen, kompliziert mit zeitweiser Geistesstörung.

N. 21 Jahre alt. In der Familie väterlicher- wie mütterlicherseits Psycho- und Neuropathen. Patient selbst kam als kräftiger Knabe nach normaler Gravidität zur Welt. Mit ca. 8 Jahren machte er Masern durch, die angeblich nicht gleich erkannt wurden. Bald nach Ablauf dieser Krankheit zeigten sich die ersten Spuren nervöser Störung in Konvulsionen im Gesichte. Schon nach kurzer Zeit traten schwere epileptische Anfälle auf. Pat. war gut veranlagt. Mit fünf Jahren machte er im

_ Kopfe grosse Additionen mit unglaublicher Sicherheit. (Grossvater mütterlicherseits

war ein ausgezeichneter Mathematiker.) Die psychischen Funktionen blieben angeblich normal bis zum neunten Jahre, obwohl schon damals grosse Serien von Anfällen auftraten. Etwa im neunten Jahre machte Pat. eine schwere Erkrankung durch. Ca. sechs Wochen sei er besinnungslos im Bette gelegen und habe täglich bis 100 schwere Anfälle gehabt. Im Anschluss an diese Exacerbation traten Sprach- und Gehstörungen auf. Auch änderte sich Pat. im Charakter. Er wurde reizbar, empfind- lich, zum Widerspruch geneigt. Das Gedächtnis habe snccessive abgenommen.

Etwa im 15. Altersjahre trat abermals eine heftige Krankheit auf, die zwei Monate dauerte. Pat. konnte nicht mehr gehen und nicht mehr sprechen, er litt an Incontinentia urinae et alvi. Er musste meist künstlich ernährt werden. Zu jener Zeit hatte er sehr schwere Anfälle mit Schrei, Zungenbiss und starken Konvulsionen am ganzen Körper. Seit ca. sechs Jahren traten die Anfälle meistens nur nachts auf.

Der Kranke wurde während zehn Jahren von 24 Ärzten mit ebensovielen Mitteln (Bromsalze in den verschiedensten Mischungen) behandelt und zwar ohne sichtlichen Erfolg. Auch eine Kneppkur vom Januar 1892 bis Oktober 1892 blieb resultatlos. Vom Oktober 1892 an erhielt Pat. Antiépileptique Uten. Nach der Ansicht der

222 Eltern, die den Knaben sehr genau beobachteten und äusserst besorgt pflegten, ist. dies das einzige Mittel, das dem Kranken einige Besserung brachte.

Am 5. XI. 1896 trat der Kranke in die hiesige Anstalt ein. Im Jahre 1896 sind zwei Anfälle notiert, 1897: 45, 1898: 148 Anfälle, meist nur des Nachts.

Aus dem gegenwärtigen Status notieren wir: Grosser, kräftig gebauter, junger Mann. Der Gang deutlich ataktisch. Patellarreflexe erböht. Passive Stellungsver- änderungen der Zehen werden gut erkannt. Passive Bewegungsveranderungen der gestreckten Beine werden präzise angegeben. Kniehackenversuch gut. Fusskitzel- reflexe vorhanden. Kein Fussclonus. Ataxie der oberen Extremitäten in geringem Grade. Stereognostischer Sinn vorhanden. Ausser leichter Analgesie keine Sensibili- tätsetörungen. Die Pupillen reagieren auf Lichteinfall prompt, ebenso bei der Akko- modation. Die Sprache ist stark gestört, langsam, monoton; namentlich die Aussprache der Konsonanten macht dem Kranken Mühe. N. ist meist ruhig, klar, zugänglich. Oft aber, namentlich nach Anfällen, ist er sehr reizbar, eigensinnig, er gerät leicht in zornigen Affekt. Die Intelligenz hat jedenfalls abgenommen. Nach Aussage der Mutter des Kranken soll derselbe vor dem neunten Jahre besser geschrieben haben als jetzt, auch sei er in seiner Bildung weiter voran gewesen. N. spricht deutsch und französ'sch.

Die Prüfung des Farbeusinns mit den Stillingschen pseudo-isochromatischen Tafeln, sowie mit Wollbüudeln ergiebt, dass N. sehr farbenempfindlich ist. Er hat auch die Farbennomenklatur gelernt, er weiss die feinsten Nuancierungen genau zu benennen.

Besonderes Interesse verdienen die folgenden Heobscubangen, die ich zu machen Gelegenheit hatte.

N. kann keinen Ton hören, ohne nicht mit Notwendigkeit auch eine bestimmte Farbe zu empfinden. Hört er z. B. auf dem Klavier das Contra-c, so empfindet or zugleich mit dem Ton zwangsmässig eine Lilafarbe, wie er sich ausdrückt rot, nicht sehr gemischt mit lila. Der Ton C erscheint ihm ebenfalls lila, jedoch röter als Contra-c. c ist rosa. cc? ebenfalls rosa, doch mehr gelb als rot. c* rosa sehr gemischt mit Karmin. c? rot, doch sehr gelblich. c ganz rot.

Komplizierter sind die Farbenempfindungen des N. beim Anhören von Vokalen, überhaupt beim Hören der menschlichen Sprache, die er folgendermassen schildert: Von meiner frühesten Jugend an waren mir die Stimmen farbig. Immer, wenn ich etwas höre, habe ich auch ein bestimmtes Farbengefühl. Ich höre wohl die Stimmen, es ist mir aber immer, als wenn ein durchsichtiges Papier vor mir wäre. Doch ist dies nicht ganz richtig ausgedrückt; die Farben sind viel durchsichtiger, als die Farben auf einem Papier. Ich sehe die Farben auch nicht vor den Augen, ich kann es aber nur schwer erklären; es sind Farben, die ich höre und sehe zugleich. Es sind gar nicht Farben, die man gewöhnlich sieht, man bört sie und man hört sie nicht, wie man eine Stimme hört, man fühlt sie. Ich sehe und höre sie zugleich, ich könnte eher sagen, ich habe ein durchsichtiges Gefühl, ich spüre sie. Der Ver- gleich mit dem durchsichtigen Papier ist also nicht richtig. Das Farbengefühl ist immer vorhanden, oft stärker, oft schwächer. Oft ist es mir sehr unangenehm, es scheint mir oft wie Zaubereien zu sein, als ob wirklich lebendige Hexen um mich

223

wären. Dies macht mich oft unzufrieden. Die Zauberei möchte ich gerne erklären, aber ich kann nicht, weil man auf der Welt keine Worte hat dafür.

Wenn ich den Vokal a höre, so erscheint mir immer eine hellgrüne Farbe, und zugleich mit der Farbe empfinde ich einen faden Geschmack, wie Milch, und dazu habe ich noch das Gefühl von Kälte.

Im folgenden geben wir eine Zusammenstellung der übrigen Vokale mit den entsprechenden Zwangsempfindungen, wie sie uns N. wörtlich angab.

e: gelb, fade wie Brot, lJauwarm.

e (z. B. in de, französisch): hellblau, süss wie Zucker, lauwarm. Die hellblaue Farbe sieht N. in Form eines Ovals mit einem Schwanz.

i: schwarz (die Farbe in Form eines vertikalen, schmalen Striches), fade wie Wasser, eher warm.

o: rot, gelblich-rot, die Form wie ein O, süss, mehr sauersüss wie eine Frucht, warm, wärmer als e (franz.).

u (französisch, z. B. 6cu): preussisch-blau mit ein wenig grün, keine bestimmte Form, schmeckt halb bitter, halb sauer, sehr warm, ungefähr wie wenn man die Hand in Wasser taucht, das noch dampft. Es ist dies die wärmste von allen Farben.

y (z. B. Vichy): weiss wie Schnee, keine bestimmte Form, fade wie Milch, Temperatur auch wie Schnee.

é (z. B. santé, capacité, curé): hellgelblichbraun, Form nicht bestimmt, Geschmack eher salzig, wie Bouillon, Temperatur so wie ein Brett von Tannenholz, also eher warm.

&: hellgelbbraun, aber etwas gelber als 6, Form ein undeutliches Viereck, Ge- schmack ein wenig fade, wie Butter, Temperatur lauwarm, kälter als &.

6: hellgelb, ein wenig grünlich, Form dreieckig, Geschmack wie saure Milch, Temperatur eher kalt.

ä: Farbe wie Rahm (cröme), sehr hellgelb, ein wenig grünlich, Form unbestimmt, Geschmack we Rahm, Temperatur kalt, aber nicht sehr kalt, auch wie Rahm.

u: eehr dunkelblau, halb blau, halb grün, aber sehr dunkel.

u (franz. ou): dunkel violett, keine bestimmte Form. Es hat viel Geschmack, doch ist derselbe nicht gut zu definieren. Temperatur eher warm, doch ists eine trockene Temperatur, ungefähr wie wenn man die Hand in einen Haufen Baumwolle halten würde.

au (franz.): karminrot, auch trocken.

un (franz.) kommt ihm sehr feucht vor.

Die Konsonanten b, p, d, t, c haben alle die nämliche hellbraune, durchsichtige Farbe. Keine Form. Sie schmecken alle gleich, ein wenig fade wie Bouillon. Alle haben die nämliche Temperatur, wie Holz, das nicht gehobelt ist, aber altes Holz. Die Temperatur ist weder kalt noch warm.

Ferner macht N. folgende Angaben:

Wenn ich einen Apfel esse, empfinde ich eine Orangefarbe, beim Essen von Süssem karminrosa; bei Saurem orange; bei Bitterem ein „hässliches, kein schönes Gelb*- Wenn ich etwas Salziges esse, empfinde ich ein schönes Gelb. Wenn ich mir die sauren, süssen, bitteren u. s. w. Sachen vorstelle, dann erscheinen mir dio Farben noch stärker als beim Essen, oft sogar so stark, dass sie mich quälen.

224

Wird N. eine rote Kugel demonstriert, so sagt er, er empfinde sie süss, eine olivgrüne Kugel sauer wie Eingemachtes. Ist eine Kugel frisch karmin angestrichen, so erscheint sie ihm sehr süss.

Wenn sich N. eine Kugel vorstellt, dann erscheint ihm dieselbe immer karmin- rot zu sein.

Beim Läuten der Glocken empfindet N. eine durchsichtige, violette Farbe.

Die abnormen Empfindungen des N. können wir folgendermassen zu- sammenstellen:

1. Wahrnehmungen, die durch das Ohr zugeleitet werden, sind zwangs- mässig begleitet: von Farben-(Form-), Geschmacks- und Temperatur- empfindungen.

2. Geschmackswahrnehmungen rufen Farbenempfindungen hervor.

3. Farbenwahrnebmungen erzeugen Geschmacksempfindungen.

4. Die Vorstellungen gewisser Formen sind immer mit Farbenempfindungen verbunden.

An der Zuverlässigkeit der Angaben des N. ist nicht zu zweifeln. Ich habe denselben zu den verschiedensten Zeiten geprüft und mit kleinen Abweichungen immer die nämlichen, bestimmten Resultate erhalten. Sodann sind die Er- scheinungen so zahlreich, dass sie N. unmöglich mit solcher Konstanz und Gleiebmässiekeit erfinden könnte.

Der vorliegende Fall ist ein Beispiel dessen, was die französischen Psvcho- logen audition coloree (Farbengehör) nennen, jedoch kompliziert mit induzierten (im Sinne der BElektrizitätslekre) Empfindungen auch der anderen Sinne.

Die Erscheinungen der Mitempfindungen (der sogenannten „Sekundär- empfindungen*) sind schon länger bekannt. Es wurde auch konstatiert, dass die Anlage zu Sekundärempfindungen erblich ist. Ich hatte Gelegenheit, den Bruder des N., einen sehr intelligenten jungen Mann, zu untersuchen. Auch er empfindet heim Anhören von Vokalen notwendig Farben (a rot; e grau: i weiss; o schwarz; ü grünblau; u grün mit schwarz; y wie i; é grau; è creme: un schmutzie grün mit braun; on schwarz mit braun und grau; an und en pferdebraun; ð schmutzig lila; in gelb). Herr N. erinnert sich genau, dass er die Farbenempfindung schon im fünften Lebensjahre beobachtet babe. Schon damals habe er ein Wort geschrieben mit Farben an Stelle der entsprechenden Vokale. Wahrscheinlich hat auch der Vater Sekundärempfindungen, wenn auch in geringerem Grade.

Fine Vergleichung der Farbenempfindungen der beiden Brüder ergiebt, dass mit Ausnahme des Vokales ü keine Übereinstimmung besteht. Vor allem ist auch zu erwähnen, dass die Mitempfindungen des gesunden Bruders in viel ge- ringerer Zahl vorhanden sind als beim kranken, und dass sie demselben völlig gleichgültig sind.

Unser Fall unterscheidet sich von den in der Litteratur beschriebenen (soweit, sie mir zugänglich war) prinzipiell in folgenden Punkten:

1. in der Verbindung der Geschmacks- und Temperaturempfindungen mit

der Farbeneinpfindung bei Wahrnehmungen durch das Ohr;

ze

2. in der Erzeugung von Geschmacksempfindungen durch Farbenwahr-

nehmungen;

3. durch den Einfluss der Sekundärempfindungen auf den

Geisteszustand des N.

Den meisten Menschen mit Sekundärempfindungen sind dieselben höchst gleichgültig. Ganz anders unser Kranker. Namentlich weun er infelge vieler Anfälle erschöpft ist, wird er von den Farben gequält; er hat das Gefühl, als ob sie ihn anlügen, als ob sie ihm dumme Sachen erzählten, ja, als ob sie ihn verhexten. Zeitweise werden somit die Sekundärempfindungen dominierend und der Kranke gerät dadurch in einen Zustand geistiger Alteration, der ins Gebiet der Geisteskrankheiten zu rechnen ist. Dass ein Mensch, der unter dem Zwange der erwähnten krankhaften Empfindungen steht, sich nicht stets beherrschen kann, darf uns nicht überraschen. Weun wir auch ausser stande sind, den Kranken von seinen abnormen Erscheinungen zu befreien, so ist es doch für ıhn eine Wohlthat, wenn er sich aussprechen kann, und wenn wir seinen Äusserungen und seinem Verhalten mit Verständnis entgegenkommen,

Ich behalte mir vor, über diesen höchst merkwürdigen Kranken in einer Fachzeitschritt eingehender zu berichten.

Mitteilungen.

Berlin. (Verein für Kinderpsycholugie.) Unter vorstehendem Namen hat sich in Berlin ein Verein gebildet. Er bezweckt nach den Statuten, die in der kon- stituierenden Versammlung festgelegt wurden, die Erforschung der geistigen Entwickelung der Kinder, unter Berücksichtigung aller körperlichen Zustäude und Veränderungen, die zu den geistigen in naher Beziehung stehen. Insbesondere gehört zum Bereiche seiner Untersuchungen die Entwickelung der Sinneswahrnehmungen, des Vorstellungs- lebens, des Sprechens und Denkens, des Fühlens und Wollens, der willkürlichen und unwillkürlichen Bewegungen, ferner die Verschiedenheit der Anlagen in intellektueller, ethischer, ästhetischer, technischer Beziehung, die Vererbung und die Erwerbung von Fähigkeiten, die Ermüdungs- und Gewöhnungs-Erscheinungen, endlich das Seelenleben der blinden, taubstummen und der intellektuell oder moralisch zurückgebliebenen oder erkrankten Kinder. Mitglieder des Vereins können ausser den Psychologen, Medizineri und Pädagogen von Fach alle den gebildeten Ständen angehörigen I’ersonen beiderlei Geschlechtes werden, die sich mit Fragen der genannten Art eingehender beschäftigen wollen. In den Vorstand wurden gewählt Professer Dr. Stumpf, Direktor des psychologischen Seminars der Universität, als erster, Geheimer Medizinalrat Professor Dr. Heubner, Direktor der Universitäts-Kinderklinik, als stellvertretender Vorsitzender, Dr. Flatau als Schatzmeister, Oberlehrer Dr. Kemsies, der Herausgeber der Zeit- schrift für pädagogische Psychologie und Dr. Hirschlaff als Schriftführer. Die Arbeiten des Vereins werden im Januar beginnen.

Budapest. (Idiotenlehrerprüfung) Am 15. und 17. Juni d. J. fand in der hiesigen Idiotenanstalt eine Idiotenlehrerprüfung statt. Die schriftlichen Thesen waren: 1. Der Hörer ziehe eine Paralele zwischen der Idioten- und Imbecillenanstalt

226 und der Schule für schwachbefähigte Kinder. 2. Die Fähigkeiten dor Idioteu- und Imbecillen zum Sprechen, Lesen, Schreiben und Zeichnen. 3. Die Thätigkeit der Sinneswerkzeuge in physiologischer, psychologischer und pädagogischer Beziehung bei den Idioten und Imbecillen. Die Prüfung fiel äusserst günstig aus, indem von den 5 Hörern drei mit „ausgezeichnet“, einer mit „vorzüglich“ und einer mit „gut“ bestand.

Budapest. (Landes-Idiotenanstalt.) Mit Schluss des diesjährigen Schul- Jahres hat der Direktor genannter Anstalt Johann Berinza einen Jahresbericht und zwar den zweiten dieser Anstalt veröffentlicht. Wie wir aus demselben ersehen, geht das Institut einer gedeihlichen Entwickelung entgegen, indem dasselbe in diesem Jahre 71 Zöglinge zählte, während im vergangenen Jahre die Zahl der Schüler bloss 55 betrug. Die Schülerzunahme hatte auch die Vermehrung des Lehrkörpers zur Folge, und so wurden am Anfange des Schuljahres zwei neue Lehrkräfte demselben eingereiht, so dass nun der Lehrkörper der Anstalt ausser dem Direktor aus 7 Lehr- kräften besteht. Auch wurde heuer in der Anstalt eine Klasse für schwach be- fähigte Kinder eröffnet, deren Zöglinge als Externe freien Mittagstisch, besonderen Unterricht .und Erziehung genossen haben. Die Schlussprüfung fand am 8. Juni unter Vorsitz des Ministerial-Sekretärs Dr. Alexander von Szabo und im Beisein zahlreicher Pädagogen und illustrer Gäste statt, und es wurden bei derselben vom Vorsitzenden sowohl das aufopfernde Wirken des Direktors und Lebrkérpers, wie auch die sicht- baren Fortschritte der Zöglinge verdientermassen gewürdigt. Nach der Prüfung veranstaltete Ellenbach Mathias mit den Zöglingen gelungene Turnspiele. Be- sondern Anklang fanden auch die von den Institutslehrern Käplän Gyula und Török Gyula angestellten Industriearbeiten der Zöglinge, deren weitaus grösster Teil von den anwesenden Gä:.ten käuflich erworben wurde.

Zürich. (Schweizerische Anstalt für Epileptische) Am Schlusse des Jahres 1897 befanden sich in der Anstalt 149 Kranke. Im Jahre 1898 schieden aus als genesen 6, sehr gebessert 3, gebessert 7, ungebessert 14, durch den Tod 6. Von den 6 als genesen Entlassenen zeigten 2 Kranke während der ganzen Dauer ihres hiesigen Aufenthaltes keine typischen Anfälle und auch keine Äquivalente; nach der Anamnese litten sie jedoch an Epilepsie und hatten Anfälle bis zur Aufnahme in die Anstalt. Sie standen im Alter von 22 bezw. 34 Jahren und verbrachten in der Anstalt 21 bezw. 6 Monate. Ein 8jähriges Mädchen, das die Anstalt nach 8 Monaten geheilt verliess, but, wie ich aus den Schilderungen entnehme, die Symp- tome des Pavor nocturnus, d. h. des nächtlichen Aufschreckens und Schreiens. Das Mädchen blieb, so viel uns bekannt, bis jetzt auch zu Hause von Anfällen verschont. Eine Kranke, 21 Jahre alt, war vom Juni 1897 bis September 1898 anfallafrei. Eine 18jährige Patientin, die vom Mai 1895 bis März 1898 iu der Anstalt verpflegt wurde, hatte nur einen einzigen leichten Anfall. Ein 15jähriges, hysterisches Mädchen blieb während 4 Monaten frei von seinen krankhaften Erscheinungen. Unter den 3 als sehr gebessert notierten Kranken ist einer ein Psychopath, der an periodisch wiederkehrenden, melanchvlisch - hypochondrischen Zuständen litt, die nun seit August 1898 nicht mehr auftreten. Der 14 jährige Knabe A. W. hatte während 6 Monaten keine Anfälle. Die Gebesserten litten an genuiner Epilepsie. Sie standen im Alter von 14, 16, 19, 21, 28, 25 und 54 Jahren und verlebten in der Anstalt 1, 3, ,

227

kai

1, 4, und 2 Jahre. Eine Kranke machte bei uns einen Ferienaufenthalt von 1’;, Monaten.

Von den 14 Ungebesserten mussten 6 wegen Geistesstörung in Irrenanstalten verbracht werden. Sie waren im Alter von 19, 21, 25, 19, 32 und 40 Jahren und wurden in der Anstalt verpflegt 12 Jahre, 1 Monat, 2, 7 und 8 Jahre. 2 Kranke entwichen aus der Anstalt. Eine 28jährige Patientin, an schwerer Phthisie pulmonum leidend, wurde ins Spital Basel transferiert. Die übrigen Kranken kehrten‘ in häus- liche Pflege zurück. Im Berichtsjahre wurden 36 an Epilepsie leidende Patienten aufgenommen, 17 männliche und 19 weibliche. 3 weibliche Kranko waren früher schon in der Anstalt. In Bezug auf die Heredität und die prädisponierenden Um- stände können wir die im Laufe des Jahres Eingetretenen folgendermassen einteilen: Trunksucht in der Familie des Vaters bei 11, Trunksucht in der Familie der Mutter bei keinem, Trunksucht in der Familie beider Eltern bei 2, Nervenkranke bei 2, Geisteskranke bei 1, Epilepsie bei 4, Phthise bei 3, keine Heredilät nachweisbar bei 13. Aus diesen Zahlen erhellt, dass sich bei ungefahr 64°, aller Aufgenom- menen die Krankheit auf dem Boden erblicher Belastung entwickelte. In 36°, liess sich Trunksucht in der Ascendenz nachweisen. Ungefähr 41°, der Aufgenommenen litten in der Kinderzeit an Krämpfen. Bemerkenswert ist, dass 73°; dieser Krauken, welche in der Jugend Gichter zeigten, Nachkommen von Neuropathen oder Psycho- pathen sind.

ŘŘŮ

Litteratur.

Gedanken über Erziehung. Von M. von Egidy, Oberstlieutenant a. D. in Potsdam. Bonn, F. Soenneckens Verlag. 21 Seiten. Einzelpreis 50 Pf.

Die vorliegende Arbeit des inzwischen verstorbenen Verfassers bildet das 6. Heft des X. Bandes der „Sammlung pädagogischer Vorträge“, herausgegeben von W. Meyer-Markan. Der ganze Jahrgang enthält 12 Hefte und kostet Mk 3,60. Dıe Ideen von Egidys sind allgemein bekannt, als dass wir sie hier noch weiter zu entwickeln brauchen. Wir wollen nur hervorheben, dass der vorliegende Vortrag stellenweise recht zu Herzen spricht, in der Hauptsache aber ein Stück von Egidy- scher Polemik ist. Übertrieben sind seine Forderungen hinsichtlich der Einheitsschule, der Volkserziehung und des Rechtslebens. Seine Bestrebungen erscheinen ja zum Teil recht edel und schön, leider aber ermangelt ihnen meistens die Möglichkeit der Durchführung. Immerhin jedoch verdient der Vortrag eine gewisse Beachtung und sei hiermit auch unsern Lesern empfohlen.

Der imitative Sprachunterricht in der Taubstummenschule auf der Basis der Schrift (Lautschrift, Lautrechtschreibung), gestützt auf Erfahrungen in der Königl. Taubstummenschule zu Nyborg. Von G. Forchhammer. Aus dem Dänischen übersetzt von E. Gopfert. Leipzig 1899. Kommissions- verlag von Friedrich Schneider. 142 Seiten. Preis Mk. 2.

Die vorliegende Schrift, der Deutschen Taubstummenlehrer -Versammlung in Hamburg zu Pfingsten 1900 gewidmet, ist ein Beitrag zu dem Methodenstreite des Taubstummenunterrichts, der infolge der Schriften des Breslauer Taubstummenlehrers J. Heidsiek auf dem Gebiete des Taubstummenbildungswesens hervorgerufen wurde.

228 _

Bekanntlich spricht man von einer deutschen und einer französischen Methnde des Taubstummenunterrichts; nach der erstern erfolgt die Ausbildung des Taut- stummen in der Lautsprache, nach der letztern in der Gebärden- und Schrift- sprache. Heidsiek erstrebt eine zweckmässige Vereinigung der deutschen und französischen Methode an, um der Natur des taubstummen Kindes genügend Rechnung tragen zu können. Die Wogen des Streites gehen zur Zeit noch sehr hoch, und der Kampf um die wahre Methode ist noch lange nicht ausgefochten. Vom allgemeinen pädagogisch-psychologischen Standpunkte aus müssen wir vielen prinzipiellen Forde- rungen Heidsieks teilweise zustimmen, aber eine Partei für irgend jemand können wir nicht ergreifen. Uns bietet die Forchhammersche Schrift viel Interessantes dar, besonders da sie uns zeigt, wie die Sprachaneignung auf dem Wege der Nach- ahmung, daher imitativer Sprachunterricht, erfolgen kann. Es werden uns auch viele wertvolle Beispiele zur Betreibung eines rationellen Sprach- und Anschauungsunter- richts in ihr gegeben und noch mancherlei andere Anregungen in prinzipieller und disziplineller Hinsicht geboten. Das alles macht die Arbeit lesenswert; sie sei deshalb zu diesem Zwecke bestens empfohlen. Frenzel.

Briefkasten.

Allen geehrten Mitarbeitern, Freunden und Lesern der Zeitschrift winscht beim Eintritt in das neue Jahrhundert das Beste die Schriftleitung W. K. i. M. Wir wussten von der Eingabe nur so viel, dass sie beschlossen war, kannten sie aber im übrigen nicht. Es ying uns gerade so, wie einigen der Herren, die von unserer Zeitschrift keine Ahnung zu haben scheinen. Sobald. Raum vorhanden ist, werden wir sowohl die Eingabe, wie auch den ministeriellen Bescheid auf dieselbe zum Abdruck bringen. H. H. i. D. Besten Dank; Antwort folgt nächstens.

Zur Beachtung.

Mit vorliegender Nummer schliesst die

eilschnit £. d, Behandlung Schwachsinniger mnd Eplleptscher

ihren XV. Jahrgang. Form, Umfang und Preis der Zeitschrift bleiben im neuen Jalırgange unverändert. Bestellungen wolle man gefälligst bald bewirken.

Die Herausgeber.

Imhalt: Der Anschauungsunterricht in der Hilfsschule (H. Horriz). Beitrag zur Konntnis abnormer Farbenempfindungen bei Epileptischen (Dr. A. Ulrich). Mitteilungen: Berlin, Budapest, Zürich. Litteratur: Gedanken über Erziehung. Der imitative Sprach- unterricht. Briefkasten. Zur Beachtung.

Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden, Druck von Johannes Pässler in Dresden.

Zeitschrift

für die

Behandlung nehwachsinniger und Kplepüscher

Organ der Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen herausgegeben von

Stadtrat Dir. W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth,

Dresden Strehlen. Specialarzt für Nervenkrankheiten in Stuttgart.

——

Kommissionsverlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. Druck von Johannes Pässler in Dresden.

THe NIW YOR K PUULIC ba nny 6 Me 292788 ASTOR, LEN). + 'D TILDEN aa R 1903 L.

11. 12.

13.

14.

. An unsere Leser und Mitarbeiter i . Bericht über die Abteilung der Epi-. .

. Bericht über die Schule zu Wahlgarten

. Ein Lesebuch für Schwachsinnige . . Lehrplan für d. naturkundlichen Unter-

Inhaltsverzeichnis.

A. Aufsätze. Seite

leptischen der Heil- und Pflegeanstalt-- - Stetten i. R. . 163

(Schroeder). . . 21

. Das Gefühlsleben der Geisteaschwathen

(Fr. Frenzel) . 145

. Der Knaben-Handarbeitaunterricht ‘bei

geistesschwachen Kindern (F.Frenzel) 129

. Die Entstehung des Gedankens, be-

sondere Schulen für schwachsinnige Schüler zu errichten, und die Art, wie dieser Gedanke in der Nachhilfeschule zu Dresden-Altstadt Verwirklichung ge- funden hat (P. Tätzner) . 65. 81

. Die Meinhold-Kempterschen Bilder und

ihre Verkörperung durch Modelle im Dienste des Anschauungsunterrichts der Schwachsinnigen-Schule (M.Dost) 1

. Die wichtigsten charakteristischen

Grundsätze des Unterrichts bei schwach- sinnigen Kindern (K. Ziegler) . 33. 49 . 139

richt in einer Anstalt für Schwach- sinnige . . . . . . 182. 200 Ministerialerlass ' vom 20. Sept. 1895 13 Über Alkoholwirkungen bei Epilep- tischen und en er Th. Kölle) . . 177 Über den. Lobanstweck ‘der Biod. sinnigen (K Ziegler) ; Über ungewöhnliche Formen von epi- leptischen Anfällen und über einige seltenere Bewusstseinsstörungen bei Epileptischen (Dr. A. Ulrich). . 194

. 193°] -

pæd

q DO

or e co po

. Dalldorf (Idiotenanstalt) . Dessau (Erziehungshaus für schwach-

. Dresden (Nachhilfeschule links der . Erfurt (Die Entwicklung der Hilfs- . Frankfurt a. M. (Aufnahme i in die

. Gera (Personalien). . Idstein (Ausstellung)

. Leipzig (Sprechuuterricht) . . Leschwitz (Erweiterungsbau in der

Seite

. Versicherungspflicht der Lehrer und

Erzieher an unseren Anstalten

(Schwenk) .122

B. Mitteilungen.

. Braunschweig (Die Fürsorge für

geistig Minderwertige) 171 F (Spiegelstricken) 45

. Bremen (Bremische Idiotenanstalt) . 122 . Budapest (Organisationsreglement) 175

(Elementarunterricht fiir Schwachbefähigte) ; . 205 . 141 sinnige Kinder) . 25

Elbe) . s E (W.Schröters Erziehungs- anstalt) .

25 . 122

schule) . . 185 Hilfsschule) . . . . 186

F (Ministerielles Schreiben) 184 . 46 . 123 27 46

» (Neues Vereinsgesetz) » (Erziehungsanstalt)

. Kriegstetten (Anstalt für schwach-

sinnige Kinder) . . 125

. Langenhagen (Provinzial- Heil- u

Pflegeanstalt) . . 172 (Schule und Kirche . 186

in der Anstalt) .

Erziehungsanstalt) . 25

22. 23. 24.

25. . Niederösterreich (Staatliche Für-

27. 28.

29.

81. 32.

36.

87.

38. 39.

. Stetten i.R. (Heil- und Pflegeanstalt) 173 . Stolp i.P. (Neue Hilfsschule) . 35.

` genuss .

. Bödiker, Dr., Blätter für Gesundheits-

. Böhmert, Dr., . Braukmann, Karl, Die im kindlichen

. Ebbinghaus, Prof., Übereine Methode

Leschwitz, (Verein für Erziehung und Unterricht Geistesschwacher). . 142 Liverpool (Krüppel- und Schwach- sinnigen-Schule) . ee

Mauren (Anstalt für schwächainnige Kinder). . . Neu-Eckeroda ‘(Idiotenanstalt) .

. 205

. 175 . 205

sorge) . . . 142 Rasteabure (Idiotenanstalt) . 46. 173 Regensberg (Anstalt für Erziehung schwachsinniger Kinder) . . . 125 Schweiz (Eine Pflegstitte f. Bildungs- unfähige). . . . 182 F (Fürsorge für achwach: begabte Taubstumme) . = (Stand der Anstalten) . Stephansfeld- Hörde (Epilepsie und Verbrechen) .

28 47

47 Württemberg (Heil- und Pflege- anstalten fiir Epileptische) . .

Wuhlgarten (Anstalt für Epilep- tische) i . 178 Zürich (Schweizerische Anstalt für Epileptische) . e... 10

47

Ueber Alkoholismus in der Schule

. 29 Beschützet die Kinder vor Alkohol-

. 80 C. Litteratur.

. 192 . 128

pflege a a Der Alkoholismus Alter auftretende Schwerhörigkeit.

zur Prüfung geistiger Fähigkeiten

9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16.

17.

18.

19. 20.

21.

22. 23..

24.

Briefkasten .

Seite

. Frenzel, Fr., Der erste Leseunterricht 176 . Fuchs, A., Schwachsinnige Kinder . Glarus und Kölle, Verhandlungen

. 206

80

der 2. schweizerischen Konferenz .

. Hagen, H., Die Wolken am Himmel

des Lebens. . . . . . 189 Hembrich, K., Die Kinderpsychologie 206 Koch, J. LA, Dr., Laienpsychiatrie 127 Diebmann; A.Dr., Vorlesungen über Sprechstörungen 2 . . 80. 190 Löwenfeld, L., Dr. , Grensfragen des Nerven- und Seelenlebens s Lueddeckens, F., Dr., Rechts- und Linkshändigkeit . ; . 187 Möbius, P.J., Dr., Über die Behand- lung von Nervenkranken 127 i Über den physiologi- schen Schwachsinn des Weibe. . . 188 Pfister, H., Dr., Die Abstinenz der Geisteskranken a . 1% Piper, W., Die wissenschaftliche und praktische ‘Bedeutung der pädagogi- schen Pathologie. . . . 79 Rzesnitzek, Dr., Zur Frage der psychischen Entwicklung der Kinder- sprache . Dt er ae er Sl Schelenz, H., Frauen im Reiche Askulaps T Spitzer, A., Dr. Peloge Stö- rungen . . . 191 Stelling, H., ‘Die Fürsorge für schwachbegabto Kinder der Volke- schulen und der Taubstummenanstalten 148 Strümpell, L, Die pädagogische Pathologie . . 14 Tracy, Fr, "Psychologie an Kindheit 30 Wigge, H,, Der erate je Sprochunter richt . . 189

. 207

. 189

Dr.,

. 82. 128. 176. 208

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Zeitschrift

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Organ der Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

herausgegeben von

W. Schröter, Sanitäterat Dr. med. H. A. Wildermuth, Direktor der Erziehungsanstalt Spezialarzt für geistig Zurückgebliebene in für Nervenkrankheiten Dresden -N. in Stuttgart.

Erscheint jährlich in 13 Nummern von | Zu beziehen durch alle Buchhandlungen

mindestens einem Bogen. Anzeigen für und Postämter, wie auch direkt von den die gespaltene Petitzelle 35 Pfg. Litte- F ebr uar 1900. Herausgebern. Preis pro Jahr 6 Mark, rarische Beilagen 6 Mark. | einzelne Nummer 50 Pfg.

Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber.

Die Meinhold-Kempterschen Bilder und ihre Verkörperung durch Modelle im Dienste des Anschauungsunterrichts der Schwachsinnigen -Schule.

Wabrend in den pädagogischen Kreisen seit langem die Meinungen darüber, ob in der Volksschule der Anschauungsunterricht als selbständiger Unterrichtsgegenstand aufzutreten habe, geteilt sind, herrscht über diese Frage in betreff der Schule für Schwachbefäliigte, Zurückgebliebene, Geistes. schwache allenthalben vollständige Einigkeit. Ein solches Einverständnis besteht aber nicht allein bezüglich der Berechtigung des Anschauungsunterrichts als einer selbständigen Disziplin, sondern auch darin stimmen die Ansichten aller Beteiligten überein, dass genanntem Unterrichte einer der ersten Plätze in der Bildung Schwachbefähigter anzuweisen ist. Und das geschieht mit vollem Rechte; denn wenn Männer wie Amos Comenius und Pestalozzi, Diester- weg und Dittes für die Volksschule, also für normal begabte Kinder den An- schauungsunterricht fordern, so muss solcher bei den von Natur schwachbegabten Kindern von ganz besonderer Wichtigkeit sein, ja unerlässlich erscheinen. Wenn Diesterweg von dem sechsjährigen Kinde, das zum ersten Male den Boden der Schule betritt, sagt, dass es in der Regel für den Unterricht erst reif ge- macht werden müsse, so gilt solches in weit höherem Grade von dem schwach-

‚sinnigen Kinde, das einer Erziehungsanstalt oder einer sogenannten „Nachhilfe-

schule“ oder Hilfsschule zugeführt wird. Während aber be: den meisten der- jenigen Kinder, welcbe in die Schule eintreten, immerhin .shon eine reiche psychische Entwickelung vorliegt, befindet sich dieselbe bei’unseren Zöglingen mehr oder weniger noch in den ersten Anfängen. Zwar ist auch an ihre Sinne die Aussenwelt mit ihren Formen und Farben, Bildungen und Erscheinungen täglich herangelreten, aber es hat dieselbe wenige oder gar keine Eindrücke

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hinterlassen. Die Sinnes- und Gemütsempfindungen, welche das schwachsinnige Kind von seiner Umgebung, von dem Leben in der Familie, von der Ordnung und Sitte des Hauses bei seinem Eintritte in die Anstalt besitzt, sind sehr ge- ring und sein Vorstellungsmaterial ein überaus kleines. Wenn daher die Schule mit ihrem ersten Unterrichte an die im Kinde bereits vorhandenen Vorstellungen und Empfindungen anzuknüpfen vermag, so müssen wir solche unseren Pflege- befohlenen erst zuführen. Als wichtigster Faktor wirkt hierbei neben dem Um- gange und dem Verkehre in der Anstalt, den Spaziergängen, Spielen und Be- schäftigungen der Unterricht überhaupt und in diesem wieder insbesondere der Anschauungsunterricht.

Welcher Mittel bedienen wir uns aber bei der Erteilung dieses Unterrichts?

Zunächst wird man immer versuchen, die zur Besprechung gelangenden Gegenstände den Kindern in natura vorzuführen. Sagt doch Franke nicht um- sonst: „Nur auf dem Wege der Natur werdet ihr Eingang in die noch un- erschlossene Kindesseele finden.“ Nicht immer aber vermag der Anschauungs- unterricht die Gegenstände, Thätigkeiten u. s. w., welche er zu behandeln hat, den Schülern in Wirklichkeit vorzuführen; nicht alle Stoffe, welche sehr lehrreich sind und deshalb nicht vom Unterrichte ausgeschlossen werden dürfen, können den Kindern körperlich vor die Augen gebracht werden. Hier hat man als Ersatz für den Körper das Bild desselben in den Anschauungsunter- richt gebracht. Auf der einen Seite hat man mit der Verwendung solcher Bilder einen ziemlichen Missbrauch getrieben, indem man durch ihre Benützung die Betrachtung der Wirklichkeit in den Hintergrund gedrängt und so den An- schauungsunterricht zu einem verwerflichen Bilderdienst herabgewürdigt hat; auf der andern Seite aber ist auch der Wert, den ein rechter Gebrauch der Bilder im Anschauungsunterrichte besitzt, häufig wieder unterschätzt worden. Wird es uns doch durch Bilder allein nur möglich, den Kindern z. B. das früher von ihnen beobachtete Treiben der Menschen und das Leben der Tiere vorzu- führen. Zugleich lernen sie mit Hilfe der Anschauungsbilder verstehen, in welchen Beziehungen die Gegenstände zu einander stehen und werden so be- fähigt, die Dinge auch in ihrem Zusammenhange aufzufassen. Vorausgesetzt muss natärlich werden, dass diese Bilder mit Verständnis für den Zweck, dem sie dienen sollen, entworfen und ausgeführt sind. Über den Wert der Bilder im Anschauungsunterrichte sei nur noch das Urteil eines der bekanntesten süd- deutschen Methodiker, Georg Luz, angeführt, welches er in seinem gehaltvollen Lehrbuch „Der praktische Methodiker“ niedergelegt hat. Er sagt dort: „Gute und hübsche Abbildungen erleichtern das Verständnis von mündlichen und schriftlichen Darstellungen im höchsten Grad, verschaffen uns richtige Vor- stellungen von Gegenständen, die wir so häufig in natürlichen Exemplaren nicht zur Stelle haben und gewähren in gefälliger Ausführung ästhetisches Wohl- gefallen. Durch Bilder empfängt der Anschauungsunterricht einen freundlichen Schmelz, einen eigentümlichen Reiz für das Kind. Ein Anschauungsunterricht ohne Anwendung von Bildern ist eine Schelle ohne Klang, ein Leib ohne Kopf, ein Messer obne Klinge.“

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In Anbetracht dieser Vorzüge, die eine sinnige Verwendung der Bilder im Anschauungsunterrichte gewährt, ist es nur natürlich, wenn jede Schule wenigstens über eine gute Bildersammlung verfügt. In noch weit höherem Masse gilt dies selbstverständlich von einer Anstalt für geistig Zurückgebliebene, Schwachsinnige. In Rücksicht hierauf besitzt darum z. B. die Schrötersche Anstalt eine ganze Anzahl von Bilderwerken fair den Anschauungsunterricht. Fir eine der besten Bildersammlungen halten wir die Meinhold-Kempterschen Bilder. Dieselben sind nicht nur künstlerisch schön ausgeführt, sondern sie nebmen ins- besondere auch Rücksicht auf die Erfordernisse der Schule und sind perspektiv. richtig gezeichnet. Dazu tritt bei den Meinholdschen Bildern eine seltene Naturtreue in den charakteristischen lebensvollen Darstellungen. Hinsichtlich der Zahl der auf einem Bilde dargestellten Gegenstände hat sich der Künstler von einer wohlbegründeten Sparsamkeit leiten lassen, die uns auch bei der später beschriebenen Modellierung dieser Bilder sehr zu statten gekommen ist. Er hat nur das in jedes einzelne Bild aufgenommen, was zur Erklärung und somit zum rechten Verständnis desselben unbedingt nötig ist, dagegen alles Unwesentliche und Überflüssige vermieden.

Das Leben bringt jedem Kinde, das „frisch umherspäht mit gesunden Sinnen“, viele Anschauungen. Betritt nun ein solches Kind die Schule, so hat es schon viel gesehen, beobachtet, erfahren und dadurch so mancherlei Vor- stellungen und Begriffe gewonnen. Diese sind nur etwas oberflächlich und un- geordnet, und der erste Unterricht hat hier auf nichts Bedacht zu nehmen, als sie zu vervollkommnen, zu ordnen, und, wo sich Lücken zeigen, zu ergänzen. Unter Anwendung der so trefflich ausgestatteten Meinhold-Kempterschen Bilder dürfte dies den Elementarlehrern an Schulen für vollsinnige Kinder nicht schwer werden. Anders verhält es sich bei unseren Kindern. Oft ohne irgend welches Geschick zu den gewöhnlichsten, allgemeinsten Verrichtungen werden sie uns zugeführt. „Mit sehenden Augen sehen sie nicht und mit hörenden Ohren hören sie nicht.“ Dazu sind sie selten im stande, die einfachsten Gedanken auch nur leidlich auszudrücken. Hier muss der Elementarlehrer andere Wege einschlagen, um seinen Kindern das Verständnis ihrer näheren und weiteren Umgebung zu erschliessen; denn die Begriffe und Vorstellungen, die das vollsinnige Kind bei seinem Eintritt in die Schule bereits gewonnen- hat, muss sich das schwach- sinnige zum grössten Teil erst erwerben. Dies ist aber mit grossen Schwierig- keiten verknüpft. Das blosse Vorführen und Erklären von Anschauungsbildern genügt hier nicht, ihnen das richtige Verständnis für die verschiedenen Seiten des Lebens zu erschliessen. Störend wirkt da zunächst die in jedem Bilde an- gewandte Perspektive. Dieselbe verwirrt unsere Kinder und lässt in ihnen hinsichtlich der Ausdehnung der dargestellten Gegenstände manche irrige Meinung erstehen. Die im Hintergrund emporragende Dorfkirche stellen sie sich genau so gross vor wie das Gartenhaus im Vordergrund des Bildes; die fast im Nebel verschwimmenden Bäume einer entfernt dargestellten Landstrasse halten sie, für nicht grösser als einige in den Vordergrund gestellte Rosenbäumchen, wenn diese Gegenstände infolge der angewandten perspektivischen Verjüngung dieselben

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Grössenverhältnisse aufweisen. Ein anderer Nachteil, der bei der blossen An- wendung von Anschauungsbildern unseren Kleinen erwächst, ist, dass es ihnen trotz der vom Künstler beobachteten weisen Sparsamkeit bei der Auswahl der Jarzustellenden Gegenstände doch immer noch sehr schwer wird, sich von einer allgemeinen Anschauung des ganzen Bildes loszumachen und ihre Aufmerksamkeit einzig und allein auf einen bestimmten Punkt zu lenken.

Um nun diese soeben gekennzeichneten Nachteile, die sich für unsere Kinder aus der blossen Betrachtung der Bilder ergeben, aufzuheben und unmöglich zu machen, sind wir auf den Gedanken gekommen, das den Kindern nur schwer verständliche perspektivische Bild verständlich zu machen durch eine Verkörperung desselben, bei der zunächst die im Bilde unvermeidliche Perspektive wegfällt, durch die es dann aber auch möglich wird, unsern Kindern die einzelnen Gegenstände losgelöst vom Ganzen vorzuführen.

Wir haben diese Verkörperung des Bildes Modell genannt, weil dadurch das betreffende Bild tbatsächlich modelliert wird. Manche werden vielleicht ungläubig die Köpfe schütteln, weil nach ihrer Meinung Leute, die der bohen Kunst des Modellierens doch vollständig fern stehen, unmöglich im stande sein können, Bilder zu modellieren. Jedoch mit ein wenig Geschick, das Schnitzmesser zu handhaben, mit ein wenig Geduld, wenn der erste Versuch nicht gleich gelingt, mit etwas Lust und Liebe zum Beruf und etwas Schaffens- freudigkeit lassen sich alle Hindernisse, die meist nur scheinbar vorhanden sind, überwinden, was der Erfolg bald lehrt. Dass wir bei der Herstellung unserer Lehrmittel mit gewissen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, liegt eben darin be- gründet, dass wir nicht Fachleute, sondern nur Dilettanten sind, die kaum mit dem Schnitzmesser umzugehen wissen und sich dabei unterfangen, zu modellieren. Freilich darf man sich unter diesem Modellieren nicht jene Arbeit gleichen Namens vorstellen, die nur an Kunststätten von berufenen Künstlern gepflegt wird. Wir arbeiten nicht mit dem Griffel in Thon und Wachs, sondern mit dem Schnitzmesser und den mit diesem zu bearbeitenden Rohmaterialien.

Es sei uns an dieser Stelle gestattet, unsere verehrl. Leser mit der Her- stellung unserer Modelle etwas näher bekannt zu machen, damit diesem oder jenem der Herren Kollegen, welcher sich darunter befindet und sich vielleicht für unsere Arbeit interessiert, die Möglichkeit gegeben wird, an eigenen Ver- suchen die eigene Fertigkeit selbst prüfen und die aus unserer Methode sich er- gebenden Vorteile selbst erfahren zu können.

Die zur Herstellung unserer Modelle nötigen Materialien entnehmen wir unserer nächsten Umgebung. Eine Tafel Pappe ungefähr in der Grösse des Bildes als Fundament des Ganzen ist leicht zu beschaffen. Wohnhäuser, Scheunen, Ställe und andere städtische und ländliche Bauten liefern uns die Spielschachteln unserer Kinder, oder wenn das nicht der Fall ist, der Buch- binder, allerdings dann nur in Form von Modellierbogen, die sich aber mit Auf- wendung einiger Mühe leicht zu Körpern umgestalten lassen. Wiesen und Felder werden dargestellt durch grün und braun gefärbte Sägespäne. Die hindurch-

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führenden Wege wie in natura durch Sand. Es sind dies, wie man uns zu- gestehen wird, alles Materialien, die wohl jedem, der sich in der Herstellung derartiger Modelle versuchen möchte, zugängig sein dürften.

Als Basis des Ganzen benutzt man am besten ein Brett von der Grösse des Bildes oder in Ermangelung eines solehen wie schon einmal erwähnt ein starkes Stück Pappe von derselben Grösse. Auf dieses zeichnet man sich zunächst den Plan des ganzen Auschauungsbildes auf. Häuser, Bäume, Menschen- und Tierfiguren und andere auf dem Bilde ersichtliche Gegenstände wird man sich immer vor Aufzeichnung des Planes zu beschaffen suchen, damit man bier- bei ihre Grösse zu berücksichtigen und so das richtige Verbältnis für Wege, Grasplätze u. 8. w. anzuwenden vermag. Glaubt man mit der Aufzeichnung des Planes fertig zu sein, geht man sofort an das eigentliche Nachbilden der Gegenstände.

Um nicht gar zu allgemein und dadurch doch etwas unbestimmt sein zu müssen, werden wir uns im folgenden immer an ein bestimmtes Bild und zwar an „Das Dorf“ aus der 1. Serie: „Der Frühling“ halten. Wir sehen auf diesem Bilde zunächst einen Teich, den sogenannten Dorfteich. Wollten wir denselben möglichst getreu nachahmen, müssten wir Wasser auf die für ihn be- stimmte Stelle der Pappe bringen. Da sich dies aber nicht lange darauf halten dürfte und wir unsere Modelle doch für die Dauer herstellen wollen, müssen wir uns schon nach einem anderen Hilfsmittel umsehen. Das einfachste und dabei doch der Natur sehr nahe kommende ist ein Spiegel, vielleicht ein Stück eines alten, zerbrochenen Wandspiegels, dem man mit Hilfe eines Diamanter, welcher sich ja nicht gerade in Goldfassung befinden muss, die auf dem Bilde ersicht- liche Form verleibt. Dieses Spiegelstück kleben wir nun in geeigneter Weise, die ein Wiederloslösen unmöglich macht, auf die betreffende Stelle des Planes, und der Dorfteich ist fertig. Fast ebensowenig Schwierigkeiten bereitet uns die Herstellung der ihn umstehenden Bäume und Sträucher Wir nehmen einfach einige Sträuchlein der gewöhnlichen Besenheide (Calluna vulgaris), die ja wohl ziemlich überall vorhanden sein dürfte, binden die Stämmchen zusammen und umwickeln dieselben mit dunklem Garn oder Zwirn, bis sich das Ganze dem Aussehen eines einheitlichen Bäumchens nähert. Die Krone dieses Bäumchens tauchen wir in dünnflüssigen Leim, überstreuen sie hierauf mit grün gefärbten Sägespänen, und ein Bäumchen, wie wir es schöner in einem Spielwarenladen nicht bekommen können, ist auf diese Weise entstanden. So wie dieses eine fertigt man auch die übrigen an, immer eines schöner als das andere. Wie in allen Fertigkeiten so zeigt sich anch hier die Wahrheit des Wortes: „Übung macht den Meister“. Man wird manchmal geradezu überrascht sein über die eigene Kunsttertigkeit. Wenn auch die ersten Versuche nicht gleich zur vollen Zufriedenheit ausfallen; durch eigenes Nachdenken und etwas Übung hat man sich gar bald das Richtige zu eigen gemacht. Sollte man jedoch diese Arbeit zu umständlich und zeitraubend finden, kann man sich seinen Bedarf an Bäum- chen und ähnlichen Gegenständen auch in der ersten besten Spielwarenhandlung decken. Freilich werden die dort käuflichen der Wirklichkeit lange nicht so

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nahe kommen als die unserigen! Glaubt man nun genug solcher Bäumchen zur Verfügung zu haben, geht man an die Darstellung der vorher aufgezeichneten Grasplätze. Man überstreicht einfach die dazu bestimmten Stellen des Planes mit Leim und siebt dann grasgrüngefärbte Sägespäne darauf. Diejenigen Späne, welche von dem Leime nicht gehalten werden, werden durch einfaches Abklopfen entfernt. Die zwischen den einzelnen Grasplätzen sich hinziehenden Wege werden auf dieselbe Weise kenntlich gemacht, nur wird man auf die dazu be- stimmten Stellen nicht Sägespäne, sondern gewöhnlichen weissen Sand streuen. Dabei muss man aber bedacht sein, dass man den Sand nicht auch auf die Gras- plätze bringt, weil er sich von dort nur schwer wieder entfernen lässt. Die für die Gebäude bestimmten Flächen werden nicht mit Sägespänen oder Sand über- streut, weil sie sich dadurch scharf von dem übrigen abheben und die Pappe nach Wegnahme der darauf befindlichen Gegenstände wie Häuser, Bäume u. a. dann auch als Orientierungsplan des Ganzen gebraucht werden kann. Die Kinder sehen dort ganz genau, wie gross die Grundfläche jedes einzelnen Hauses ist, welche Gestalt sie besitzt und in welchem Verhältnis sie zu den umliegenden Gärten und Wegen steht, was das Verständnis des Bildes nur fördern wird. Da jetzt die Pappe vollständig fertig gestellt ist, dürfte es sich empfehlen, nun an die Herstellung derjenigen Dinge zu gehen, die zur Abgrenzung der einzelnen Gruppen nötig sind, wie Gartenzäune, Leitstangen u.a. Dieselben sehen am natürlichsten und schönsten aus, wenn man sie aus geschälten Weiden an- fertigt. Die weissen Zaunstäbchen und Leitstangen heben sich dann von den grünen Grasplätzen sehr vorteilhaft ab und werden auch von unsera Kindern infolge dieses Farbenunterschiedes sofort wahrgenommen. Turngeräte, wie Leitern, Barren u. s. w., ferner Rechen, Heugabeln und sonstige Geräte werden am besten und leichtesten aus demselben Material hergestellt. Nunmehr hätte man weiter nichts als den an der Dorfstrasse befindlichen Wassertrog (Brunnen) nachzubilden. Man nimmt hierzu ein einfaches Klötzchen von ent- sprechender Grösse und derselben Gestalt, höhlt dieses mit dem Stemineisen etwas aus, leimt hierauf ein genau hineinpassendes Stückchen Spiegelglas in die Vertiefung, damit auch das Wasser nicht fehlt und bringt endlich als Austfluss- rohr noch das Mundstück einer schon längst vergessenen Zigarrenspitze an. Unser Wassertrog gleicht jetzt dem auf unserem Bilde dargestellten wie ein Ei dem andern. Hat man so alle auf dem Bilde ersichtlichen Gegenstände fertig- gestellt, geht man nun an die Zusammenstellung des ganzen Modells. Bäume und Sträucher werden dadurch befestigt, dass man mittels eines Loch- eisens die Pappe an den Stellen, an welche die Bäumchen zu stehen kommen sollen, durchschlägt und die Bäumchen nun in diese Löcher steckt. Auf diese Weise brauchen sie nicht angeleimt oder sonstwie befestigt werden. Man kann sie so jederzeit wieder herausnehmen, wo sie dann bei anderen Modellen wieder Verwendung finden können. Nachdem man noch die auf dem Bilde dargestellten Gebäude aufgestellt hat, fehlt uns in unserm Modell nur noch die Vertretung des lebenden Elements, wie Personen (Bauern, Bäuerinnen, Knaben und Mädchen) und Tiere (Ziegen, Hunde, Gänse und Enten) letztere teils auf dem

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Lande, teils im Wasser. Befinden sich Enten im Wasser, so ist nur der obere Teil des Körpers sichtbar; man wird sich deshalb genötigt sehen, ihre hölzernen Stellvertreterinnen im Modell so zu präparieren, dass sie von unseren Kindern sofort als schwimmende Enten erkannt werden. Zu diesem Zwecke schneidet man ihnen einfach die Beine ab und setzt sie so auf das Wasser, d. h. auf den Spiegel. Man darf überzeugt sein, der Natur durch diese Art der Darstellung überraschend nahe gekommen zu sein. Eine Gans hat der Künstler auf unserem Bilde tauchend dargestellt, sodass nur noch der Schwanz des Tieres sichtbar ist. Weil wir unser Modell möglichst getreu herstellen wollen, müssen wir auch diesen Moment nachahmen, was sich sehr leicht bewerkstelligen lässt, wenn wir einfach einer Gans, d. h. einer solchen aus Holz den Schwanz abschneiden und diesen, weil er auf dem Bilde nur sichtbar ist, als tauchendes Schnabeltier auf den Spiegel setzen. Jeder, der ihn so sieht, wird sich sofort über seine Be- stimmung klar sein. In derselben Weise wie dieses Modell werden im wesent- lichen auch die übrigen ausgeführt. Da wir unser Modell zum Gebrauche voll- ständig fertig gemacht haben, können wir nun an die Erteilung des eigent- lichen Unterrichtes gehen.

Wie aber hat sich derselbe zu gestalten?

Ausgerüstet mit unserem selbstgeschaffenen Lehrmittel betreten wir das Schulzimmer. Ein allgemeiner Ausruf des Erstaunens empfängt uns. Von allen Seiten werden wir mit Fragen und Bitten bestirmt. Hier verlangt ein Knabe zu wissen, was die Ziegen dort auf der Wiese fressen. Ein kleiner Knirps, dem das Sprechen noch sehr viel Mühe verursacht, bittet uns mit stammelnden Worten um jenen kleinen zierlichen Spitz, der an der Thür jenes Hauses Posto gefasst hat. Hier tastet ein kleines Mädchen nach einigen zwischen den grünen Bäumen bervorlugenden Häuschen, um sich zu überzeugen, dass all’ diese Herrlichkeiten auch wirklich vorhanden sind. Dort sucht ein anderes jenen Ziegenbock, der neben dem Hirtenmädchen herläuft, aus unmittelbarer Anschauung etwas näher kennen zu lernen. Wir haben gerade genug zu thun, um all’ diese kleinen Plagegeister auf ihre Plätze zurückzubringen, wo sie nun mit leuchtenden Augen und gespanntester Aufmerksamkeit der Dinge harren, die da kommen sollen. Das vor ibnen aufgehangene Anschauungsbild ist gar nicht mehr für sie vorhanden. Sie haben nur Augen und Ohren für das Modell. Man muss dieses Leuchten der sonst so matten Augen unserer Kleinen mit angesehen haben, um die Freude verstehen zu können, die sie an derartigen Lehrmitteln und ihrer Anwendung im Unterrichte empfinden. Bevor jedoch der Lehrer dieses neue Lehrmittel in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt, muss er zunächst das Anschauungsbild einer kurzen Besprechung unterziehen. Der Betrachtung des Ganzen folgt die Zergliederung in Gruppen, bei denen er sich aber nicht zu lange aufhalten darf. Einzelgegenstände werden auf dem Bilde selten hervor- gehoben, da eine gründliche Betrachtung derselben nicht an dem Bilde, sondern im Modell stattfinden soll.

Nachdem wir so mit unseren Kindern dag ganze Bild in seinen Hauptafigen kurz betrachtet haben, lenken wir ihre Aufmerksamkeit auf das Modell. Die

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Kinder dürfen dasselbe zunächst eine Weile still betrachten, damit ihnen der Totaleindruck von dem Ganzen nicht verloren geht. Wir prüfen nun, in- wieweit die auf uuserm Modell dargestellten Gegenstände den Kindern bereits bekannt sind, indeni wir sie auffordern, anzugeben, was sie alles sehen. Schon hierbei werden die Kinder angehalten, in vollständigen Sätzen zu antworten; denn da unsere Kinder nicht allein wissens- und denk-, sondern auch sprach- arm uns zugeführt werden, macht es sich nötig, dass unser Unterricht nicht allein Anschauungs-, sondern auch Sprachunterricht ist. Dies kann er aber nur sein, wenn er sowohl die Sprech- wie Sprachfertigkeit der Kleinen fördert und sie dadurch zum weiteren Unterrichte fort und fort geschickter macht; denn die Sprache ist ja nicht allein das Mittel, sondern auch die spezielle Grundlage alles weiteren Unterrichts. Jeder Gegenstaud, der von den Kinderu als im Modell vorhanden bezeichnet wird, muss zugleich von ihnen gezeigt werden, damit wir auch sicher sind, dass sie die rechten Gegenstände mit den rechten Namen zu verknüpfen wissen. Sind so die eiuzelnen Gegenstände, gleich- giltig in welcher Reihenfolge, angeführt worden, gehen wir nun zu einer ein- gehenden Besprechung derselben über. Dabei müssen wir uns aber hüten, allzulange beim Einzelnen stehen zu bleiben. Wir beschränken uns darauf, die von den Kindern nicht erkannten Merkmale und Eigentämlichkeit kurz hervor- zubeben; da nicht das, was der Lebrer sagt, sondern was das Kind sehen soll, die Hauptsache bildet. Alles, was die Kinder wahrnehmen, sprechen sie laut, lautrein, sprachrichtig und in ganzen Sätzen aus. Jede Nachlässigkeit im Aus- druck wird von vornherein unmöglich gemacht. Wohl fällt unseren Kleinen im Aniang ein vollständiges, gutes Sprechen schwer, weil sie selten gewöhnt sind, ihre Sprache so zu gebrauchen, wie es ein gedeihlicher Foitgang des Unter- richts erfordert. Jedoch mit Freundlichkeit und Geduld werden sie gar bald zu einem besseren Sprechen gebracht. Inbalt und Form der Sätze muss fast immer von uus gegeben werden. Diese werden im Laufe des Unterrichts durch stetes Wiederholen test und sicher eingeprägt. Die gewonnenen Sätze lassen wir 80- wohl von einzelnen Kindern, als auch von der Gesamtheit im Chore wiedergeben. Obwohl wir uns nicht allzulange beim Einzelnen aufhalten, hüten wir uns doch auch, etwa zu schnell über das Einzelne hinwegzugehen und dadurch wie man zu sagen pflegt „immer auf der Flucht vor den Dingen zu sein“. Gerade uns, den Lehrern für Schwachsinnige, gilt ja das Wort: „Eile“, aber „mit Weile“. Wir lenken die Aufmerksamkeit unserer Kinder nicht früher auf einen neuen Gegenstand, als bis der alte von allen klar und deutlich aufgefasst worden ist, d. h. bis sie im stande sind, sich auszusprechen über seinen Namen, seine Gestalt, über Farbe und Grösse (natürlich nicht in cm und m), über Stoff und Zweck, seine Thätigkeiten und Eigenschaften. So wie die Besprechung des einen gestaltet sich im wesentlichen auch die der übrigen Gegenstände, die mit den bereits bekannten in möglichst enge Beziehung gebracht werden, ohne jedoch dabei schematisch zu verfahren, denn alles Schematische erstickt das im Anschauungsunterrichte pulsierende Leben und stumpft das Iuteresse der Kinder ab.

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Während wir bisher mit unseren Kindern die einzelnen Gegenstände all- seilig besprochen haben, werden nun viele nach einem Gesichtspunkte betrachtet, woraus sich verschiedene Gruppen ergeben. So lassen wir die im Modell er- sichtlichen Einzeldinge zuerst immer betrachten nach ihren Eigenschaften, und da wieder vielleicht zunächst nach denjenigen der Form, als da sind rund, eckig, spitz, lang, breit u. s w., hierauf nach denjenigen der Farbe wie weiss, schwarz, blau, grün, gelb, grau, dann nach den Eigenschaften der Richtung, ob wagerecht, senkrecht oder schräg (schief), und endlich nach Eigenschaften, die uns durch das Gefühl bewusst werden, als rauh, glatt, hart, weich u. s. w. So, wie wir hier die Gegenstände nach ihren Eigenschaften in gegenseitige Beziehung gesetzt haben, können wir sie auch betrachten hinsichtlich ihrer Thätigkeiten, ihres Nutzens oder Schadens, soweit dies im einzelnen möglich ist. Den Schluss bildet eine nochmalige Zusammenfassung zu einem Gesamtbilde mit einem nochmaligen kurzen Überblick über das Ganze, weil sich dadurch die gewonnenen Vorstellungen und Begriffe nur um so sicherer dem schwachen Geiste unserer Kinder einprägen. Gegenstände, die wir in natura zur Verfügung haben, werden natärlich dann auch in natura vor unsere Kinder gebracht. Wie die Behandlung des einen Bildes gestaltet sich nun auch die der folgenden, deren Modelle wir unterdessen fertig stellen.

Da unsere Bilder Gruppenbilder sind, entnommen dem Garten, dem Feld, der Wiese und dem Wald im Frühling, Sommer Herbst und Winter, da sie den Gang der Natur darstellen in ihrem Knospen und Blühen, Werden und Vergehen, se müssen wir uns bei der Behandlung der einzelnen Bilder und ihrer Modelle so einrichten, dass wir mit der Natur draussen immer gleichen Schritt halten, dass wir nicht im tiefsten Winter die „Heuernte“ oder den „Garten im Sommer“ betrachten. Unserm Anschauungsunterricht ist der An- knüpfungspunkt jederzeit gegeben. Er schliesst sich dem Leben in den ver- schiedenen Jahreszeiten an. Wenn im Frühling Gras und Blumen aus der Erde hervorspriessen, im Sommer die Lerche aus dem wogenden Kornfeld sich unter lautem Sang in die Lüfte hebt, wenn im Herbste die reifen Früchte geborgen werden und im Winter der rauhe Nord die Schneeflocken im wilden Tanze über die im Frost erstarrte Erde dahinjagt, dann sollen auch unsere Kinder im An- schauungsunterrichte davon hören und sprechen.

Zum Schluss möchten wir uns gestatten, unseren verehrl. Lesern eine be- reits gehaltene Lektion über das unseren Ausführungen bisher immer zu Grunde gelegene Bild „Das Dorf“ aus der Abteilung: „Der Frühling“ in kurzen Zügen wiederzugeben. Wie schon an anderer Stelle erwähnt, geht der Betrachtung des Modells die des Bildes voraus.

Heute habe ich euch ein recht schönes Bild mitgebracht. (Der Lehrer zeigt den Kindern dasselbe und hängt es nicht zu hoch vor ihnen auf.) Ihr seht da ein Dorf. Was habe ich bier gemalt? Ein Dorf. (Der Platz- ersparnis wegen, führen wir als Antwort der Kinder nur das Frageobjekt oder den Fragepunkt an. Die Kinder fassen ihre Antworten natürlich in vollständige Sätze.) Was seht ihr in dem Dorfe? Bäume. Die Bäume sehen grün aus.

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(Jedes Kind zeigt «inen Baum.) Wieviel Bäume stehen in dem Dorfe? Viele Bäume. Aber ihr seht nicht allein Bäume. Was seht ihr noch? Sträucher. Wie sehen auch die Sträucher aus? Grün. (Der Lehrer wird in seinen Fragen möglichst oft das Wort „sehen“ anwenden, damit die Kinder durch die Fragen des Lehrers immer wieder daran erinnert werden, dass sie „sehen“ sollen.) Zeigt mir einen Strauch! Zeigt einen Baum! Was seht ihr zwischen den Bäumen und Sträuchern ? Häuser. In dem Dorfe stehen Häuser. Wieviel Häuser stehen in dem Dorfe? Viele Häuser. (Im Chore.) Vergleicht einmal die Häuser unter einander! Welches ist das grösste Haus? (Das Kind zeigt auf die Dorfkirche.) Das ist eine Kirche. (Im Chore.) Zeigt mir die Kirche! Wovon ist die Kirche eingeschlossen? Von einer Mauer. Zeigt die Mauer! Hinter dieser Mauer be- findet sich ein Hof. Wie wird dieser Hof wohl heissen, da er zur Kirche ge- hört? Kirchhof. Und wie werden die Leute, die in dem Dorfe wohnen, die Mauer genannt haben, da sie den Kirchhof einschliesst? Kirchhofsmauer. Welcher Weg führt in den Kirchhof? Dieser Weg. Auf diesem Wege gehen die Leute zur Kirche. Wie wird er deswegen heissen? Kirchweg. (Im Chore.) Wer geht hier auf dem Kirchweg? Eine Frau. Wer kommt denselben Weg gegangen? Ein Mädchen. Welches Tier geht neben dem Mädchen her? Eine Ziege. Woher ist diese Ziege wohl gekommen? Hierher. (Ein Kind zeigt die ‘übrigen auf der Weide befindlichen Tiere.) Was thun diese Ziegen? Sie fressen. Was fressen hier diese Ziegen? Gras. Wo wächst das Gras? Auf der Wiese. (Im Chore.) Zeigt: mir die Wiese, die Ziegen! An dieser Wiese gebt eine Strasse vorbei. Wie wird diese Strasse wohl beissen, da sie mitten durch das Dorf führt? Dorfstrasse. (Im Chore.) Was seht ihr hier neben der Strasse? Einen Teich. Wer sitzt an diesem Teiche? Ein Knabe. Welche Tiere hütet der Knabe? Gänse. Zeigt die Gänse! Diese Gänse haben sich in dem Teiche gebadet. Wie werden die Leute den Teich genannt baben, da er in ihrem Dorfe liegt? Dorfteich. (Im Chore.) Zeigt mir den Dorfteich. Welche Tiere schwimmen auf dem Dorfteiche? Enten. Zeigt dieselben. Was steht hier neben dem Teiche? Ein Wassertrog (Brunnen). Zeige den anderen Kindern den Wassertrog! Zu welchem Haus gehört derselbe? Zu diesem Haus. Was für ein Haus ist das, weil ein Bauer darin wohnt? Bauernhaus. (Im Chore.) Was für Häuser giebt es also in einem Dorfe? Bauernhäuser, Kirche, Schulhaus. (Einzeln und im Chore.)

Nachdem die Kinder so einen Überblick über das Ganze erhalten haben, schreitet der Lehrer in der nächsten Stunde zur Betrachtung des Modells.

Wie schon an anderer Stelle hervorgehoben wurde, lässt er dasselbe von den Kindern zunächst eine Weile still betrachten, damit sie vor allem einen Totaleindruck von dem Ganzen erhalten und beginnt nun:

Heute habe ich euch dasselbe Dorf, welches ihr hier auf dem Bilde seht, in Wirklichkeit mitgebracht, nur viel kleiner als sonst ein Dorf ist. Was ist das also hier? Ein Dorf. (Im Chore.) Nun seht euch einmal dieses kleine Dorf an. Da seht ihr ganz genau dieselben Häuser, die Kirche, das Schulhaus, die- selben Bäume und Sträucher, den Dorfteich, überhaupt alles, was ich euch schon

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in der vorigen Stunde auf diesem Bilde gezeigt habe. Jetzt wollen wir einmal dieses Dorf besprechen! Woraus besteht das Dorf? Aus vielen Häusern. Zeigt mir dieselben! Welches Haus gefällt dir am besten? Das Schulhaus. Zeige den Kindern das Schulhaus! Nimm das Schulbaus in deine Hand! Halte es hoch! Gieb das Schulhaus dem Adolf, der Priska, der Amélie. Was habt ihr in der Hand gehabt? Das Schulhaus. Aber das ist nur ein ganz kleines Schulhaus. Ein solches Schulhaus, wie dasjenige, in dem wir uns jetzt befinden, können wir nicht auf der Hand tragen. Das ist viel zu schwer. Wie ist dagegen dasjenige Schulhaus, welches die Paula in der Hand hält? Leicht. Setze das Schulhaus wieder an seinen Ort! (Der Lehrer nimmt hierauf das Schulhaus und zeigt es den Kindern von allen Seiten.) Ich will jetzt das Schulhaus auch einmal in die Hand nehmen. Dieser Teil des Schulhauses, den ich mit meiner Hand zu- decke, heisst eine Wand. Wieviel solcher Wände besitzt das Schulhaus? 4 Wände. Sagt das zusammen! Zeigt mir die vier Wände! Diese Wände sind aber sehr verschieden. Zwei sind breit und zwei sind schmal. Zeigt mir die breiten Wände! Welches sind die schmalen? Diese Wand befindet sich vorn, deswegen heisst sie Vorderwand. Wie heisst diese Wand? Vorderwand. Wo befindet sie sich? Vorn. Wohin ist dagegen diese Wand gestellt worden? Hinten. Wie wird sie woll auch deswegen heissen? Hinterwand. Welche Wände haben wir bis jetzt kennen gelernt? Vorderwand, Hinterwand. Welche Wände haben noch keinen Namen erhalten? An welcher Seite befindet sich diese Wand? An der linken Seite. Wie können wir sie deswegen nennen ? Linke Wand. Wie werden wir nun die andere Wand heissen, weil sie auf der rechten Seite steht? Rechte Wand. Wie heissen die vier Wände des Schulhauses? (Einzeln und im Chore.) Womit sind diese Wände überdeckt? Mit einem Dach. Zeigt das Dach, die Wände! Die Schule wird von Kindern besucht. Wie heissen diese Kinder? Schulkinder. Die Kinder sind aber nicht allein in der Schule. Wer ist bei ihnen? Ein Lehrer. Wie heisst dieser Lehrer? Schullehrer. Die Kinder sind seine Schüler. Was sind die Kinder? Schüler. Schüler und Lehrer gehen durch eine Thür in das Schulhaus. Das ist die Schulhausthär. Zeige mir dieselbe! In dem Schulhaus befinden sich viele Stuben. Wie heissen diese Stuben ? Schulstuben. In diesen Schulstuben sitzen die Schulkinder, Knaben und Mädchen. Wenn die Kinder in die Stube treten wollen, müssen sie auch durch eine Thür gehen. Wie heisst diese Thür? Stubenthfir. (Ein Kind zeigt dieselbe.) Die Thüren können wir auf- und zumachen. Öffne die Thür! Schliesse sie! Was für Thüren kennt ibr bis jetzt? Hausthür, Stubenthür. Die Kinder gehen in die Schule. Dort sollen sie lernen. Der Lehrer unterrichtet die Kinder. Wenn die Schule aus ist, gehen die Kinder wieder nach Hause. Hier geht ein Schul- knabe nach Hause. Zeige mir den Schulknaben! (Die vorbergehenden Sätze können auch erfragt werden) Was trägt dieser Schulknabe unter dem Arm? Seine Schulsachen. (Tafel, Buch, Schieferkasten.) Ihr seid auch Schulkinder. (Das über die „Schulkinder“ Gehörte müssen die Kinder nun auf sich anwenden): Wir sind auch Schulkinder. Wir befinden ung in der Schule. Der Herr D. ist unser Lehrer. Wir lernen in der Schule. Der Herr D. unterrichtet uns. Wenn

die Schule aus ist, wird geklingelt und wir gehen wieder nach Hause. Wir tragen auch unsere Schulsachen. (Ein Kind tritt aus der Bank und trägt seine Schulsachen wie der Knabe auf dem Bilde.) Der Knabe kommt aus dem Schul- hause. Worüber muss er gehen, wenn er von der Stube hier oben hinunter an die Hausthür will? Über eine Treppe. Was befindet sich also in dem Schul- haus? Eine Treppe. Wir sehen auch Fenster im Schulhause. Was scheint durch die Fenster in die Schule hinein? Die Sonne. Wie wird es da in der Schule, wenn es vorher dunkel war? Hell. Wieviel Fenster sind in dieser Schule? 9 Fenster. Wir wollen sie zählen! Durch diese Fenster kommt Licht in die Schulstuben. Worauf sitzen die Schulkinder, wenn sie sich in der Schul- stube aufhalten? Auf Bänken. Wie heissen diese Bänke, weil sie in der Schule stehen? Schulbänke. Wieviel Bänke stehen in unserer Schulstube? Vier Banke (Werden gezeigt und dabei gezählt) Das sind aber nicht die einzigen Gegen- stände, die in der Schulstube stehen. Welche Gegenstände seht ihr hier noch? Tisch. Wieviel Beine hat der Tisch? Vier Beine. (Gezählt.) Die Platte, welche auf diese vier Beine genagelt ist, heisst Tischplatte. Woraus besteht also der Tisch? Aus vier Beinen und einer Tischplatte. Wie heisst dieser Gegenstand hier in der Ecke? Schulschrank. Was befindet sich bier an dem Schulschrank ? Eine Thür. Wie wird diese Thür wohl heissen? Schrankthür. Was für Thüren haben wir bis jetzt kennen gelernt? Hausthür, Stubenthür, Schrankthür. Und so giebt es noch viele andere Thüren, die ich euch alle noch zeigen werde. (Ebenso kurz wie diese werden die übrigen im Schulzimmer befindlichen Gegenstände besprochen: Stuhl, Wandtafel, Lesemaschine, Rechenmaschine.) Woraus sind alle diese Gegenstände gemacht? Aus Holz. Wer hat sie verfertigt? Der Tischler. Wozu befinden sie sich in der Schulstube? (Auf jeden einzelnen Gegenstand angewendet.) Diese Gegenstände befinden sich in allen Schulstuben. Diese Schulstuben sind Teile des ganzen Schulhauses. Auf dieses ist ein grosses, breites Dach gedeckt worden, damit es nicht in das Schulhaus hineinregnen oder hineinschneien kann. Wie sieht das Dach dieser Schule aus? Rot. Dieses Dach ist aus Ziegeln gemacht. Wie sehen also auch die Ziegel aus? Rot. Wie wird wohl ein Dach heissen, das aus Ziegeln hergestellt ist? Ziegeldach. Wie werden die Leute jeden einzelnen Ziegel nennen, der auf dem Dache liegt? Dachziegel. Hier habe ich euch einen solchen mitgebracht. (Der Lehrer zeigt den Kindern einen Dachziegel und giebt ihn den Kindern in die Hand. Aus der Besprechung desselben werden folgende Sätze gewonnen: Der Dachziegel sieht rot aus. Er ist rauh, hart und schwer.) Viele, viele solcher Ziegel liegen auf dem Dache. Was ragt hier aus dem Dache heraus? Ein Schornstein. Zeigt mir denselben! Was kommt aus diesem Schornstein heraus, wenn in den Öfen des Schulhauses Feuer angezündet wird? Rauch.

Das Schulhaus steht in einem Garten. Wie heisst dieser Garten, weil er zur Schule gehört? Schulgarten. (Im Chore: Das ist ein Schulgarten.) Wovon wird der Schulgarten eingeschlossen ? Von einem Zaun. Woraus ist dieser Zaun gemacht? Aus Holz. Zeigt mir den Zaun! Dieser Zaun umschliesst den Schul- garten. Zeigt mir denselben! Was wächst in dem Schulgarten? Gras. Wie

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sieht das Gras aus? Grün. Sagt zusammen: Das Gras sieht grün aus! Wo steht das Gras? In dem Schulgarten. Aber in dem Schulgarten steht nicht allein Gras. Was seht ihr noch in demselben? Turngeräte. Zeigt mir die Turn- geräte! Sagt zusammen: Das sind Turngerätel Wer turnt wohl an diesen Geräten? Die Schulkinder. Woraus sind auch diese Turngeräte hergestellt ? Aus Holz. i

ln ähnlicher Weise wie das Schulhaus und die Umgebung werden nun auch die übrigen Gebäude behandelt: Kirche, Wohnhaus (Bauernhaus), Scheune, Stall, Schuppen, wobei man sich allerdings viel kürzer fassen kann, da die Besprechung derselben infolge der vielen verwandten Punkte meist nichts anderes ist, al eine blosse Wiederholung des schon einmal behandelten Stoffes.

Zuletzt geht man an die Betrachtung des Tier- und Pflanzenlebens. Hierbei benutzt man als Anschauungsobjekte nicht allein die im Modell sich findenden Figuren, sondern soweit dies möglich ist, die Dinge in natura, tot oder lebendig, weil die im Modell vorkommenden Objekte doch nur Hilfsmittel sind, die trotz ihrer Naturtreue den Fehler haben, dass sie ansuahmslos zu klein sind, um einzelne Merkmale deutlich erkennen zu lassen.

Da es uns doch etwas zu weit führen würde, wollten wir auch die Be- handlung dieser Gegenstände in ihren Einzelheiten hier wiedergeben, so wollen wir uns nur noch gestatten zu bemerken, dass der Betrachtung des Einzelnen, dann die Zusammenfassung in Gruppen, geordnet nach ihren Eigenschaften, Thätigkeiten, Nutzen oder Schaden folgen würde. Den Schluss bildet wie bei der Betrachtung des Bildes ein nochmaliger Überblick über das ganze Modell, wobei die Hauptsachen mit Beziehung auf das Bild noch. einmal kurz hervorgehoben und so dem kindlichen Geiste dauernd eingeprägt werden. M. Dost,

vorm. Lebrer a. d. Schröterschen Anstalt in Dresden.

Ministerialerlass vom 20. Septbr. 1895.

Wiederholt schon ist der Ministerialerlass vom 20. Septbr. 1895 in dieser Zeitschrift behandelt worden. Obgleich derselbe nur den preussischen Anstalten galt, so war doch nicht ausgeschlossen, dass die anderen deutschen Staaten Preussen nachfolgten. In Ricksicht hierauf gewinnt die nachfolgende Eingabe des Vorstandıs der Vereinigung für das Idiotenwesen an die drei Ministerien der geistlichen Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten, der Justiz und des Innern und der darauf erfolgte ministerielle Bescheid einigermasseu an Interesse.

Eingabe. Nach dem uns bekannt gewordenen Erlass vom 4. Februar 1899 (M. d. g. A. M. No. 5099, Just. M. I No. 580, M. d. J. II No. 1409) besteht die Absicht, die Anweisung über die Aufnahme und Entlassung von Geisteskranken, Idioten und Epileptischen, in und aus Privatirrenanstalten ($ 30 der Gewerbeordnung), sowie über die Einrichtung, Leitung und Beaufsichtigung solcher Anstalten vom 20. Septbr. 1895, einer Revision zu unterziehen.

14 Wir beehren uns duher ganz ergebenst zu bitten, die Idioten-Erziehuvgsanstalten von der Anweisung zu befreien und für dieselben eventuell besondere den Verhältnissen entsprechende Bestimmungen hochgeneigtest erlassen za wollen.

Wir erachten es als unsere Pflicht, nochmals auf die Gefahren hinzuweisen, welche bei strenger Durchführung der fraglichen Bestimmungen unseren Anstalten erwachsen. Fast ausschliesslich sind dieselben auf dem Boden der !inneren Mission oder der öffentlicheu Wohlthätigkeit gegründet worden. Ihr Zweck besteht nach den Allerhöchst bestätigten Statuten darin, die unglücklichen Schwachsinnigen geistig und körperlich zu kräftigen und durch geeignete Erziehung und Anleitung nach einer jahrzehntelang erprobten und bewährten Methode sie für den Eintritt ins Öffentliche Leben vorzubereiten. Nur in der Hoffnung auf Erfüllung dieses Zweckes fliessen den Anstalten die Unterhaltungsmittel zu; nur weil sie auf dem Boden christlicher Liebe erstanden und in diesem Geiste geleitet werden, trägt und unterhält sie die christliche Nächstenliebe. Nur der Umstand, dass die Idiotenanstalt Erziehungsanstalt sein will und soll, veranlasst die Eltern, ihre unglücklichen Kinder der Anstalt anzu- vertrauen.

Werden nun unsere Anstalten als Irrenanstalten bezeichnet oder auch nur den- selben gleichgestellt, so besteht die Gefahr, dass die Öffentliche Wohlthätigkeit versiegt, dass die Männer, welche ihr ganzes Leben diesem Liebeswerke gewidıinet, sich zurück- ziehen, dass aber auch die Eltern vielfach ihre Kinder zurückhalten werden und somit ein erheblicher Prozentsatz dieser Unglücklichen der Wohlthat der Anstaltserziehung verlustig gehen würde.

Zwar sind durch das Gesetz vom 11. Juli 1891 die Ortsarmenverbände ver- pflichtet, für die idiotischen Kinder Sorge zu tragen. Doch können die Ortsarmen- verbände dieser Verpflichtung nach der seıther gemachten Erfahrung teilweise nur in beschräuktem Masse entsprechen, da vielfach kleinere und ärmere Gemeinden sich ausserstand erklären, die auf sie nach dem Gesetz entfallenden Unterhaltungskosten aufzubringen. Sollten überdies noch die Landarınenverbände genötigt werden, alle in den vielen Anstalten bisher durch milde Gaben verpflegten Idioten auf ihre Fonds zu übernehmen, so würden die Etats der Provinzialverwaltungen eine unerschwingliche Höhe erreichen, welche die Steuerkraft der Bewohner wesentlich beeinträchtigen müsste, Schon jetzt wachsen die Kosten für die Unterhaltung der provinziellen Anstalten be- denklich heran; schon jetzt seufzen die Kreise unter der Last der Provinzialabgaben. Die Anstalten müssen also schon bei vielen solchen Schwachsinnigen, für die nach dem strengen Wortlaut des Gesetzes die Landarmenverbände zu sorgen haben, aus eigenen Mitteln Hilfe gewähren und somit in hohem Masse auf die Gaben der Liebe anderer rechnen. Und wer nimmt sich schliesslich aller jener Kinder an, deren Eltern die Öffentliche Armenpflege nicht in Anspruch nelımen können, die aber auch nicht die Mittel besitzen, selbst für den Unterhalt ihrer unglücklichen Kinder zu sorgen? Die öffentliche Wohlthätigkeit bleibt also auch nach Inkrafttreten dieses Gesetzes dringendes Bedürfnis.

ee nennen. WOUEN daher sowohl im Interesse unserer Anstalten, die sich durch mehr als fünfzigjährige Thätigkeit bewährt haben, als auch im

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Interesse der Unglücklichen und deren Eltern unsere ohige Bitte in wohlwollende Erwägung ziehen.

Die Bestimmungen des Erlasses für unsere Idioten-Erziehungsanstalten erscheinen uus zudem auch gar nicht durchführbar wie denn auch die dreijährige Praxis be- stätigt hat —, ohne dass der bisherige Charakter der Anstalten verloren zu gehen droht.

I. Die Bestimmungen über Aufnahme und Entlassung von Geisteskranken, Idioten und Epileptischen (88 1—17 der Anweisung) sind für unsere Anstalten nur teilweise anwendbar und zwar nur insoweit, als dieselben auch für Anstalten zur Erziehung vollsinniger Kinder angewandt werden können. Zwar erfolgt jede Aufnahme auf Grund eines ärztlichen Zeugnisses, aber letzteres ist nur in den seltensten Fallen von einem Kreisphysikus ausgestellt. Die idiotischen Kinder werden von manchen Eltern nicht gerne der Anstalt übergeben. Entweder häugt das Mutterherz zu sehr an seinem Liebling, oder die Eltern sind über das, was die Anstalten wollen und zum Segen der Schwachsinnigen thun und erreichen können, nicht genügend oder überhaupt nicht unterrichtet, so dass sie einen Anstalts- Aufenthalt für ihr Kind als zwecklos und wertlos ansehen. Vielfach ist es die Schule, welche zur eigenen Entlastung die An- staltserziehung des idiotischen Kindes anstrebt, oder die Geistlichen suchen im Interesse des schwachsinnigen Kindes eine Anstaltsbehandlung herbeizuführen. Erschwert man nun den Eltern die Aufnahme, indem sie ihr Kind erst zu dem oft stundenweit ent- fernt wohnenden Kreisphysikus zur Untersuchung die überdies oft recht kustspielig ist brıngen müssen, so bleiben die Bemühungen der Geistlichen und Lehrer er- folglos, die Kinder wachsen heran, verblöden immer mehr und müssen schliesslich ihrer Gemeinde dauernd zur Last fallen, wenn die Angehörigen nicht mehr für sie sorgen können, während eine Anstaltserziehung sie vielleicht erwerbsfähig hätte machen können. Andere Eltern wiederum -— es sind dies die aus den besseren Kreisen wollen ihr Familienunglück einem fremden Arzt nicht anvertrauen; nur der Hausarzt soll die erforderliche Auskunft geben. Bestehen wir auf einem Kreisphysikats-Attest, 80 tritt oft der Fall ein, dass die Aufnahme sich jahrelang hinzieht, bis die äusserste Notwendigkeit die Eltern zur Erfüllung unserer Forderung dräugt! Übrigens sind wir auch der Ansicht, dass für unsere Kinder das Zeugnis eines approbierten Arztes genügt. Und ist dieser zugleich Hausarzt, also in der Lage, das Kind längere Zeit zu beobachten, so legen wir einem solchen Zeugnis viel mehr Bedeutung bei, als dem Zeugnis eines beamteten Arztes, welchem das Kind zum erstenmal zugeführt wird, Nach unserer Erfahrung sind die Zeugnisse der beamteten Ärzte, die ein solches Kind zum ersten Mal sehen, lediglich auf Grund der Aussagen der Angehörigen gemacht, während der Hausarzt für die Erziehung und Behandlung des Kindes wichtige Notizen aus dessen seitherigem Leben auf Grund eigener Beobachtungen machen kann. Es besteht nun zwar die Bestimmung, dass das Zeugnis eines approbierten Arztes vor- läufg ausreichend sei, duch schliesst sich hieran die Forderung, innerhalb 48 Stunden ein solches Kind dem Kreisphysikus vorzustellen. Nur recht wenige Anstalten haben den Kreisphysikus am Orte; die meisten Anstalten liegen bei kleineren Ortschaften, und für diese ist es mit erheblichen Kosten verbunden, der Forderung nachzukommen.

Auch ist es in vielen Fällen nicht durchführbar, die Aufnahme 3 Monate nach Ausstellung des amtsärztlichen Attestes zu bewirken. Bei dem vom Landarmenverband

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überwiesenen Zöglingen dauern die Vorverhandlungen oftmals wesentlich länger; die Aufnahme kommt erst nach Monaten zur Erledigung. Ferner haben viele Anstalten, besonders jene, welche vornehmlich Unterrichtsanstalten sind, nur eine zweimalige Aufnahme, damit der ruhige Unterrichtsfortschritt nicht gestört wird. Die Anmel- dungen müssen also bis zum Aufnahmetermin liegen bleiben; ja bei Beschranktheit der Anstalten muss häufig ein Termin übersprungen werden. In diesem Falle neue Zeug- nisse von den Eltern zu verlangen, ist in Anbetracht der Kosten nicht möglich.

Unnötig erscheint uns ferner die Forderung betreffs polizeilicher Anzeige. Die Polizeibehörde hat an unsern Kindern kein Interesse, wenigstens nicht mehr, als an dem Zugang anderer Personen. Sowohl die besondere Anzeige an die Polizeibehörde des Ortes bei der Aufnahme, Beurlaubung und Entlassung, sowie an die Polizei- behörde jenes Ortes, wohin der Zögling beurlaubt und entlassen wird, desgleichen die Anzeige an die Staatsanwaltschaft und den Kreisphysikus sind für die Anstalt eine mit Kosten verbundene drückende Last, die uns einem Bedürfnis in keiner Hin- sicht zu entsprechen scheint. Die Aufnahme unserer Zöglinge erfolgt durchweg in einem Alter, in welchem das Entmündigungsverfahren nicht eingeleitet werden kann. Weil es sich un jugendliche Zöglinge handelt, die von ihren Angehörigen frei- willig der Anstalt übergeben werden, darum kann auch niemals von einer Inter- nierung in die Anstalt wider den Willen des Betreffenden die Rede sein. Es dürfte genügen, wenn der Anstalt die Pflicht auferlegt würde, mit Eintritt des 21. Lebens- jJahrea der Staatsanwaltschaft von der geistigen Fähigkeit des behufs Em- leitung des Entmündigungsverfahrens Anzeige zu erstatten.

Die Entlassung wird von allen Anstalten gerne gewährt, wenn die Eltern es wünschen; sie wird veranlasst, wenu uer Zweck der Anstalt erreicht ist und das Kind für das öffentliche Leben befähigt, also erwerbafähiy ist. Eine Mitwirkung der Polizeibehörde ist aber hierbei nicht erforderlich, da unsere Zöglinge, wenu sie in das öffentliche Leben zurücktreten, einer besonderen Polizeiaufsicht nicht bedürfen. Ein Interesse an der Entlassung haben nur die Eltern und jene Verbände, welche die Unterbaltungskosten aufbringen.

Bei der Beurlaubung muss den Anstalten vollständig freie Hand gelassen werden. Der Zeitraum von 14 Tagen erwies sich von vornherein als nicht aus- reichend; aber auch die durch Erlass vom 24. April 1896 gewährte Urlaubszeit von 3 Monaten kann von den Anstalten nicht immer innegehalten werden. Unsere aus- gebildeten Zöglinge müssen in das Leben zurück. Sie gehen entweder zu einem Handwerksmeister in die Lehre, oder in ein Dienstverhältnis. Überall werden sie uns nur gegen eine Probezeit von längerer oder kürzerer Dauer abgenommen. Diese Probezeit müssen wir bewilligen, um beobachten zu können, wie die veränderten Ver- hältnisse auf die Zöglinge einwirken. Oftmals erhalten wir die Zöglinge vor oder nach Ablauf der Probezeit zurück; ja es ist nicht ausgeschlossen, dass auch nach end- giltiger Annalıme der Lehrling der Anstalt zurückgegeben werden muss. Diese Rück- gabe in die Anstalt kann einer Neuaufnahme nicht geichbehandelt werden. Abgesehen davon, dass die Zöglinge während des Urlaubs oder der Probezeit in der Aufsicht der Anstalt verbleiben, dürfte die Beibringung der Aufnahmeschriftstücke u. s. w. viele Schwierig- keiten verursachen. In den meisten Fällen müsste die Anstalt selbst den Aufnahme-

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antrag stellen; denn viele Eltern kümmern sich um ihre Kinder nach der Aufnahme in die Anstalt nicht mehr, oder sie sind mittlerweile gestorben und ein Vormund ist nicht ernannt, oder die Zöglinge besitzen überhaupt weder Eltern, noch Angehörige, noch andere gesetzliche Vertreter.

Freiwillige Pensionäre befinden sich in Idiotenanstalten unseres Wissens nicht. Unsere Kinder stehen unter der Gewalt ihrer Eltern oder Vormünder; ältere ldieten würden entmündigt sein, also gesetzliche Vertreter haben. Somit findet auch diese Bestimmung auf unsere Anstalten keine Anwendung.

1L Einrichtung, Leitung und Beaufsichtigung. Wie wir bereits m der Eingabe an den Herrn Minister der geistlichen- pp. Angelegenheiten vom 14. Januar 1896 hervorgehoben, kónnen Idioten nach unseren und nach ärztlichen Erfahrungen nicht zu deu Geisteskranken im engeren Sinne gerechnet werden. Es handelt sich bei den Zoglingen unserer Anstalten um abgelaufene Krankheiten, deren Ursprung teiiweis im Fötalleben, teils ın dem ersten Kindesaıter zu suchen ist. Wir mochten den geistigen Zustand eines Idioten vergleichen mit dem körperlich schwächlichen Zustand oder mit dem durch verkrüppeiie Gliedmassen verursachten Zustanie einee normalen Menschen. So wie man einen körperuch schwächlichen oder verkrüppelten Menschen nicht als krank im wirklichen Sinne bezeichnen kann, sv kann auch der Geistesschwache nicht geisteskrank gemannt werden. Er ist nicht mehr gehirniesdend, wie an Geisteskranker, man könnte ihn wel es sich om einen abgeschiwsenen Pruzens handelt als einen Gehirmkrüppel bezeichnen. Daher babeu auch von jeher alle Gründer vom Idiotenanstauten, seien es Arzte oder Nichtartte, den geistigen Zustand, ähnlich wie den scawachen körperlichen Zustand durch gymuastische [bungen zu kräftigen ver- sucht und m ailen Idwtemanstalten die Gymnasuk des Geistes, den Unterricht, in den Vordergrund gesteli Es entbehrt keine Idwieserueaungsamsialt des Unterrichts. Und wean Eruckens und Un:erricht als die einzigen Bildun;smitiel der idiren an, geschen werden, m ist os zu malürlich, dans der Lester emer ssichen Anstalt die Unterrichtswesse kennen, aloo Padayige (bexw. Geist: Der mit pádagsziscaer Virtii sng, sem mess. Ber fast allem deutschen Anztalien und den uns bekammien ansserdeuischen Atain mt bisarr dieser Forderung Recunuag getragen weruen Die wenicen dewischen |ıwtenzusta.1en (e5 ziad unseres V isens Taa rund 70) Assiaiien 3, weiche ärıtiche Lesteng sur Zeit beai.ıen, standen urspüngira es unter peiarsgiicoer Lesung, und m der Wernzsel zır deu Umsan:e mremareten. “ace der dama.ze padag+srsche Lister ara dem Siziım der Mecum mantic Dr. Kem a Misere, Dr. Ama m Langensasın_ bemerirmsert cite ma, dam mint ts Notrmal- kulsymem m Dialeswig benukirarie, Ger cures Amma dem irnicae Lesse ma mean zus demamsen (cra enen Paiazwen mx atom Drewen sateen Gt Anstıien ra Manaseres emi Sietien wo Wiruemoerz, Wac riia water iwn-

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Wie es nun bei diesen Anstalten auf Grund ihrer Statuten nicht durchführbar ist, dass die Direktion einem Arzt übertragen werden kann, so ist es auch nicht durch- führbar, dem in der Regel nebenamtlich beschäftigten Arzt die leitende Stellung einzuräumen, weil eine doppelte Leitung nur in den seltensten Fällen eine einheit- liche, das Wesen der Sache fördernde sein kann. Zwar wird jede Direktion dem Arzte ein weitgehendes Feld seiner Thätigkeit einräumen, doch wird sie immer beanspruchen müssen, dass ihr die Oberaufsicht gehört. Auch das müssen wir betonen, dass der Direktor bezw. Lehrer der Kinder, welcher dauernd die Zöglinge beobachtet, besser in der Lage ist, ein sicheres Urteil über die geistige Befähigung der Zöglinge abzugeben, als der Arzt. Ebenso vermögen auch nur der Direktor und Lehrer über die Bildung von Abteilungen, die in unsern Erziehungsanstalten, in Unterrichtsklassen und Be- schäftigungsabteilungen bestehen und die Versetzung im diese Abteilungen ein ent- scheidendes Urteil abgeben. Bei der Unterrichtsabteilung entscheidet dər Bildungs- grad und bei der Beschäftigungsabteilung Neigung und Geschick. Demnach ist auch $ 19 für unsere Anstalten nicht auwendbar. Denn die nach diesem $ dem Arzt unbedenklich zustehenden Befugnisse über Isolierung oder mechanische Beschränkungen triftt in unseren Anstalten nicht zu. Selbstverständlich ist es, dass mit dem Arzt der Entwurf des allgemeinen Beköstigungsplanes vereinbart und ihm das unbeschränkte Recht eingeräumt wird, dio etwa notwendig werdende besondere Krankenkost zu be- stimmen. Dagegen kann die Direktion zur Aufrechterhaltung der Disziplin es nicht gestatten, dass der Arzt ohne Wissen der Direktion über das Pflegepersonal verfügt. In vielen Anstalten besteht übeıdies das Pflegepersonal aus ordensangehörigeu Schwestern und Brüdern (Diakonissen, Diakonen, barmherzigen Schwestern u. 8. w.), welche die Arbeit an den Schwachsinnigen aus christlicher Nächstenliebe thun. Diese würden sich notwendigerweise von dem Werk zürückziehen müssen, da sie in dem Leiter der Anstalt gleichzeitig ihren Ordensoberen bezw. geistlichen Berater suchen.

Bedenklich erscheint uns ferner die Zusammensetzung der Besuchskommission. Sie besteht in der Regel aus dem zuständigen Kreisphysikus, dem ärztlichen Mitglied der betreffenden Regierung, einem Verwaltungsbeamten und dem Direktor einer Irren- anstalt. Diesen Herren ist das Wesen einer Idiotenerziehungsanstalt in der Regel mehr oder weniger unbekannt. Daher kommen oft die verschiedenartigsten Ansichten zum Ausdruck, welche häufig nur zu geeignet sind, dem Leiter der Anstalt die Freude und Liebe za dem schweren Berufe, welchen sich derselbe aus wahrer Nächstenliebe zu diesen unglücklichen Geschöpfen gewählt hat, zu nehmen und ihm Schwierigkeiten zu bereiten, welche wie der Herr Minister in dem angezogenen Reskript richtig sagt, durch sinngemässe Auslegung, sowie durch genaue und richtige Anwendung der Be- stimmungen je nach Art und Zweck der Anstalt hätten vermieden werden können.

Fast ausschliesslich legt die Besuchskommissivon der Revision unserer Anstalten die Forderung für Krankenhäuser zu Grunde. Unsere Anstalten können aber als solche nicht angesehen werden. Ihre Einrichtungen verfolgen einen wesentlich anderen Zweck, nämlich den Zweck der Erziehung und des Unterrichts als Vorbildung für das öffentliche Leben. Dieser Zweck verlangt aber, dass einer Erziehungsanstalt innerlich und äusserlich der Charakter eines Familienhauses aufgeprägt wird. Wie jede Familie ihre Mitglieder unter entsprechender Pflege und Aufsicht sich frei entwickeln lässt,

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so muss auch in_ unsern Anstalten ein freies, fröhliches Leben herrschen. Leben bringt Leben! Und nur dieser freien Bewegung verdanken unsere Anstalten zum grossen Teil die erfreulichen Resultate. Sie entspricht auch dem Wesen des Kindes. So wie vernünftige Eltern ihre Kinder frei sich entwickeln lassen und nicht durch pedantische Strenge den Geist des Kindes n.ederdrücken oder gar ertöten, so darf auch keine Erziehungsanstalt das freie Leben der Kinder hemmen. Ja sic muss den olit schlummernden schwachen Geist zu freier Bewegung und zu freier Entfaltung an- regen. Es ist unmöglich, unsere Zöglinge auf einen bestimmten Raum stundenlang zu beschränken, sie in diesem Baum auf einen festen Platz zu baunen und ihnen Jede selbständige Handlung zu nehmen, Und herrscht in einer Anstalt das richtige Familienleben, die vernüufuge Freiheit der Insassen, so kaun daselbst auch nicht jene bei Krankenhäusern unbedingt zu forderude peinlichste Ordnung und Sauberkeit jederzeit vorzufinden sein, sondern jene Ordnung und Reinlichkeit, wie sie ein geord- netes Familienleben bietet uud bei welcher die Mitglieder sich wohl füllen. Ferner müssen wir auch hier nochmals betonen, dass bei unsern Anstalten der Unterricht im Vordergrund steht, dass derselbe die Hauptsache ist und dieser deshalb auch Gegen- stand der Revision sein muss. Demnach dürfte die Kommission so zusammen zu setzen sein, dass sie sowohl die eigenartigen Verhältnisse einer Idiotenerziehungs- anstalt als auch den Unterricht derselben richtig zu beurteilen in der Lage ist. Dazu gehört, dass in dieselbe der Leiter einer Idiotenanstalt und der Dezernent für das Schulwesen aufgenommen wird. Endlich erachten wir einen Luftraum vun 15 bis 27 cbm für die Schlafräume unserer Anstalten nicht als erforderlich. Die Kinder bewegen sich, wie schon mehrfach erwähnt, frei im Hause oder auf dem Spielplatze, oder sie machen weitere Spaziergänge, oder sie befinden sich in den ihnen zum Tages- aufenthalt angewiesenen Schul-, Spiel- und Arbeitssälen, im Speisesaal oder in der Turnhalle. Sollte man nun ausser diesen in einer Erziehungsanstalt unbedingt not- wendigen Tagesräumen noch Schlafsäle mit den geforderten Dimensionen einrichten, so würden die Anstalten einen Umfang annehmen und Bausummen verlangen, welche nur in den seltensten Fallen erreichbar wären. Es müsste aledann zum Nachteil 8o vieler unglücklicher Kinder die Zuhl der Anstaltsinsassen wesentlich vermindert und die Unterhaltungskosten für den einzelnen Zögling bedeutend erhöht werden. Auch glauben wir, dass der wohl in allen Anstalten bestehende Luftraum (12—15 cbm pro Kopf) für unsere Kinder ausreichend ist. Denn ıs muss in Betracht gezogen werden, dass der allergrösste Teil unserer Zöglinge, den niederen Ständen angehört, dass Kinder aus Familien zu uns kommen, deren Verhältnisse auch nicht annähernd selbst unsern bescheidensten Anstalten gleichen. Und wenn das Kind bis dahin in einem Hause sich aufhalten musste, wo in einer Stube gekocht, geschlafen und gearbeitet wurde, wo oft 8 und mehr Familienglieder in einem Raum von 40—60 cbm zusammen- leben, 80 sind unsere Anstalten bei der gegenwärtigen Beschaffenheit wohl in der Lage, die wohlthätige Einwirkung von Licht und Luft auf die körperliche und geistige Be- schaffenheit der Kinder hinlänglich zu bieten.

Wir gestatten uns daher, Euer ................n nn nochmals unterthänigst zu bitten, zur Beruhigung unserer Gönner und Freunde, zur Beruhigung der Eltern unserer Zöglinge und nicht minder zu unserer eigenen Beruhigung gütigst

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veranlassen zu wollen, dass die Idiotenerziehungsanstalten nicht zur Kategorie der Irrenanstalten gezählt werden, dass für sie die Bestimmungen vom 20. September 1895 keine Anwendung finden und für dieselben neue Bestimmungen mit Berück- sichtigung unserer oben ausgeführten Verhältnisse getroffen werden. Es sei ferne von uns, der Aufsicht der hohen Staatsbehörde uns entziehen zu wollen. Eine Revision mit Berücksichtigung unserer Zwecke würden wir dankbarst begrüssen, weil dieselbe geeignet wäre, den Anstalten zur Verfolgung ihrer Ziele zum Wohle der unglücklichen Menschheit behilflich zu sein.

H. Piper, Dalldorf. W. Geiger, Mosbach. Weichert, Leschnitz. Richter, Leipzig. Schwenk, Idstein, Schuchard, Treysa.

Bescheid. Berlin, den 16. August 1899.

Auf die Eingabe des Vorstandes der Vereinigung für das Idiotenwesen vom 22, April dieses Jahres erwidern wir folgendes:

Der unter 1 angeführte Wunsch betreffend das ärztliche Zeugnis bei der Auf- nahme beruht auf irriger Auffassung der Bestimmungen. Nach Nr. 3 dos Erlasses vom 24. April 1896 M. 3789 ist ein ärztliches Zeugnis überhaupt nicht erforderlich. Vorgeschrieben ist vielmehr nur eine ärztliche Bescheinigung der Zweckmässigkeit der Aufnahme ($ 16 der Anweisung).

Während das amtsärztliche Zeugnis für die Aufnahme eines Geisteskranken in eine Privatanstalt nur fir 14 Taye giltig ist, können Idioten und jugendliche Epi- leptische innerhalb einer Frist von drei Monaten nach Ausstellung der ärztlichen Be- scheinigung eintreten.

Diese Dauer ist, obwohl wegen des Vorkommens von Infektionskrankheiten nicht ganz unbedenklich, gewählt worden, um auch bei längerer Verzögerung der Aufnahme durch die Verhandlung mit den Behörden eins wiederholte Heranziehung des Arztes und doppelte Kosten auszuschliessen.

Damit erledigen sich die Ausführungen der Eingabe auch betreffs der angob- lichen Notwondigkeit, den Aufgenommenen später dem Kreisphysikus vorzustellen u. s. w. Ebensowenig kann eine etwa ausnahmsweise erforderlich werdende Bestätigung einer solchen ärztlichen Bescheinigung nach Ablauf von drei Monaten zu wesentlichen Schwierigkeiten Anlass geben.

Die polizeiliche Anzeige allgemein in Wegfall zu bringen, ist nicht angängig. Da die Zahl der Aufnahmen und der Wechsel des Bestandes in den meisten Anstalten relativ gering ist, kann die Belastung keine schwerwiegende sein. Wir werden jedoch in Erwägung ziehen, ob die Zahl der Stellen, deren Anzeige zu erstatten ist, ver- mindert werden kann.

Ebenso wird die Ausdehnung der Beurlaubung über drei Monate hinaus in Frage kommen können.

Die Thätigkeit des Arztes der Anstalt, dessen Vorbildung u.s.w. sind derart ge- ordnet, dass bei richtiger Ausführung der Bestimmungen Bedenken nicht hervortreten. Insbesondere erscheint in der Darstellung der Eingabe der Zusatz Nr. 4 des $ 18 „in Bezug auf die Krankenpflege“ nicht genügend berücksichtigt. Die zur Beauf-

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sichtigung in hygienischer und medizinischer Hinsicht berufenen staatlichen Organe, sind zum grossen Nutzen der Anstalten thätig gewesen. Sollten in einzelnen Fällen nach Auffassung einer Anstalt zu weit gehende Forderungen in dieser Richtung gestellt werden, so wird eine Prüfung der Sachlage zu erfolgen haben.

Mit besonderem Nachdruck ist nun von dem Vorstande der Wunsch ausgesprochen, die Besuchskommisson so zu gestalten, dass sie anch die Leistungen im Unterricht zu beurteilen in der Lage ist. Zur Lösung dieser Aufgabe erscheint jedoch die vor- geschlagene Aufnahme des Leiters einer Idiotenanstalt und des Dezernenten für das Schulwesen in diese Kommisson nicht zweckmässig. Dagegen behalte ich, der Minister der geistlichen u. s. w. Angelegenheiten mir vor, eine Aufsicht der Idiotenanstalten be- züglich der Leistungen des Unterrichts und der Erziehung ausserbalb der jetzigen, die gesundheitlichen u. s. w. Verhältnisse betreffenden Anordnungen, in Erwägung zu ziehen.

Da die Idiotenanstalten zur Kategorie der Anstalten für Geisteskranke schlechtweg gerechnet werden, vielmehr in sehr nnwesentlichen Bestimmungen, ihrer Natur ent- sprechend, eine andere Behandlung erfahren haben, wollen wir in Anssicht nehmen, bei der zu erwartenden Nachprüfung der Anweisung vom 20. September 1895 diese Abweichungen nochmals zu erwägen und besonders hervorzuheben.

Dem Vorstand stellen wir anheim, den preussischen Unterzeichnern der Eingabe vom 22. April dieses Jahres von Vorstehendem Mitteilung zu machen.

Der Minister der geistlichen Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten. In Vertretung: Hartsch.

Der Justiz-Minister. In Vertretung: Nebe-Pflugstaedt. Der Minister des Innern. Im Auftrage: von Bitter.

Bericht über die Schule zu Wuhlgarten. Von Erziehungrinspektor Schroeder.

Die jährlichen, von der Daputation für die städtische Irrenpflege über die Anstalt für Epileptische der Stadt Berlin ausgegebenen Berichte dürften nur wenigen Lesern dieser Zeitschrift zugänglich sein. Darum glaube ich, einmal für einen grossen Deser- kreis über einen Teil der Anstalt, die mir besonders anvertrauten Kinder. wolche in einem besonderen Hause zusammen wohnen, verpflegt und erzogen werden, berichten zu sollen. Sind doch seit ihrem Bestehen sechs Jahre verflossen und die hiesigen Verhältnisse nunmehr als stetige anzusehen.

Nachdem die Anstalt für Epileptische zu Wuhlgarten bei Biesdorf a. d. Ostbahn am 15. November 1893 mit der Aufnahme von 54 krampfkranken Männern aus der Irrenanstalt zu Dalldorf eröffnet worden war, wurden dem Kinderhause am 28. November desselben Jahres 28 Knaben und 21 Mädchen aus der Dalldorfer Idiotenanstalt zu- geführt. Im ganzen haben bisher 152 Knaben und 98 Mädchen, in Summa 250 Kinder hierselbst Pflege bezw. Pflege und Unterricht empfangen.

Die Mehrzahl dieser Kinder wurde uns durch die Armendirektion resp. das Elternhaus überwiesen; e'n anderer Teil kam aus den städtischen Anstalten zu Dalldorf und Herzberge, aus den Waisenhäusern zu Rummelsburg und

Potsdam, der Königlichen Charite, den städtischen Krankenhäusen zu Moabit, am Urban und am Frie 'richshain, den Erziehungshäusern zu Lichtenberg und Zehlendorf, dem Johannisstift zu Plötzensee und dem städtischen Obdach.

Die Leitung der Anstalt für Epileptische liegt seit ihrer Eröffnung in den Händen des Direktors Dr. Hebold. Ausser einem Oberarzt sind unter ihm noch sechs psychiatrisch gebildete Assistenzärzte in derselben thätig, deren erster, gegen- wärtig Dr. Falkenberg, mit der Fürsorge für die epileptischen Kinder betraut ist. Hand in Hand mit der ärztlichen geht die erzieherische Wirksamkeit, welche von einem für diesen Zweck berufenen Lehrpersonal ausgeübt wird. Dasselbe setzt sich zusammen aus dem Erziehungsinspektor, zwei Lehrern, einer wissensthaft- lichen und einer technischen Lehrerin. Das körperliche Befinden der Kinder überwachen ausserdem 6 Wärter und 7 Wärterinnen. Unsere Schule ist sech- klassig. Der dem Unterricht zu Grunde liegende Lehrplan lehnt sich an den für die Berliner Gemeindeschulen geltenden an, trägt aber naturgemäss den durch die Eigenart der Schüler und Schülerinnen bedingten Verhältnisse in weitesten Masse Rechnung.

Die Vorstufe (6 Klassen) umfasst schwachsinnige Kinder höheren Grades bezw. die gewöhnungsfähigen Rlödsinnigen. In durchschnittlich zwei täglichen Unterrichts- stunden sollen diese geistig am tiefsten stehenden Kinder schulfähig gemacht werden, dnrch Unterscheidungsübungen, Übungen für Auge und Hand, Thätigkeitsübungen, Turnen resp. Bewegungsspiele und Singen. Der Arbeitsplan ist derartig geregelt, dass je eine Lehrperson die Klasse als solche beschäftigt, während die ihr beigegebene zweite Tiehrkraft Einzelunterricht erteilt. Nur jahrelange Ausdauer, sorgfältigste Answahl der Anschauungsmittel u. s. w. vermögen auf dieser Stufe Erfolge zu zeitigen. Besonders ist hier der Ort, spracharmen und aplıasischen Kindern zu helfen, und für Lehrende wie Lernende ist jeder noch so kleine Schritt vorwärts ein frohes Ereignis. |

Unterstufe unserer Schule ist die Doppelklasse IV—V. Die Kinder derselben werden im Deutschen und Rechnen in je zwei wöchentlichen Stunden getrennt unter- richtet, gemeinsam erhalten sie ausserdem je 2 Stunden Religion, Schreiben, Gesang: Thätigkeitsübung, 3 Stunden Turnen und je eine Stunde Anschauungsunterricht, Sprechübung. Zeichnen und Modellieren, im ganzen 19 Stunden. Vorwiegend bilden die Schwachsinnigen der verschiedenen Grade das Unterrichtsmaterial für diese Stufe, zu denen natürlich die Analphabeten unter den schwachbefähigten resp. normalen Kindern kommen. In der Religion lernen die Kinder der Unterstufe einige biblische Geschichten des alten und neuen Testaments kennen, einige Gebote, das Vaterunser, leichte Sprüche und L,iederstrophen bilden den religiösen Memorierstoff. Die Elemente des Lesens und der Zahlenkreis von 1—20 werden absolviert. In einer besonderen Stunde ist Gelegenheit, durch systematisch betriebene Artikulationsübungen an die Kinder mit Sprachgebrechen, die Stammler und Stotterer, heranzukommen. Die hand- liche Geschicklichkeit aber wird besonders durch das Modellieren in Plastellina und Thon in vorzüglicher Weise entwickelt. Eine emsige Thätigkeit herrscht in dieser eigenartigen Bildhanerwerkstatt, nnd vielfach erregen die fertigen Erzeugnisse der kleinen Meister unsere Bewunderung.

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Mittelstufe ist die Doppelklasse II—III. Auch hier sind die Klassen fir die 4 deutschen und die beiden Rechenstunden getrennt, in den übrigen Fächern sind sie vereinigt. Unter Wegfall der besonderen Sprech- und Thätigkeitsübungen erhalten sie je 1 Stunde Heimatskunde und Formenlehre, ferner je 2 Stunden Religion, Anschau- ungsunterricht und Singen, je 1!/, Stunden Schreiben und Zeichnen. 4 Stunden Turnen und 1 Stunde Modellieren, so dass sich im ganzen 22 Stunden pro Woche ergeben.

Die erste Klasse bildet die Oberstufe. Die Zahl der Stunden beträgt hier 24 wöchentlich. Unter Wegfall des Anschauungsunterrichtes im engeren Sinne treten zu den Fächern der Mittelstufe noch je 1 Stunde Geschichte, Geographie, Naturkunde und je 1'/, Stunden Physik und Geometrie. Wir suchen das l,ehrgebiet der zweiten Gemeindeschulklasse zu bewältigen, bessere Zöglinge aber auch darüber hinaus zu fördern und haben in den realistischen Fächern besonders dankbare Schüler und Schüleriunen. Die physikalischen Apparate, die Naturaliensammlung, die kulturgeschichtlichen und geographischen Bilder n. s. w. sind ihnen liebe Freunde, besonders anregend aber sind die Abende, an denen der gestirnte Himmel bewundert und erklärt oder im Festsaale nnter Benützung des Nebelbilderapparates die Unterrichtsargebnisse gleichsam spielend befestigt werden. Das Modellieren wird auch auf dieser Stufe in einer Stunde wöchentlich erteilt. Ausserdem erhalten die Mädchen aller drei Stufen vor- und nachmittags je eine Handarbeitsstunde Die Beschäftigung der Knaben mit einem Handwerk wird in der Buchbinderei und Kerbschnitzerei geübt, wozu im Sommer noch (für Knaben und Mädchen) Gartenarbeiten treten. Unser Ziel muss es natürlich sein, die Kinder, soweit es die Verhältnisse gestatten, für das praktische Leben vorzubereiten. und haben wir die Genugthuung, einige Knaben, deren Leiden eine merkliche Besserung durch die hiesige Anstaltspflege erfahren hat, in der Familienpflege bei geeigneten Lehrmeistern zu wissen. Um die Erfolge einer planmässigen Finwirkung vom Unterricht und der Erziehung auf unsere so verschieden gearteten Kinder zu sichern, führen wir über jedes derselben ein Individualitätenbuch.

Diese Erziehungsgeschichten enthalten:

A) Die wichtigsten durch Erfragen gewonnenen und aktenmässig festgestellten Daten über das Vorleben des Kindes, sein Leiden u.s.w.

B) einen Überblick über sein Vorstellungsleben, welcher durch eine mit jedem Kinde vorgenommene Analyse des Gedankenkreises nach dem Vorschlag von Hartmann- Annaberg gewonnen wird. Auf diesar Grundlage des „Allgemeinen Teils“ ruht nun die „Besondere Erziehungsgeschichte*, welche durch fortlaufende und viertel- jährlich abzuschliessende Eintragungen sich verbreitet über des Kindes jeweilige körper- liche Beschaffenheit, seine Fortschritte in den einzelnen Fächern und seine besonderen Gefühls- und Willensäusserung in- und ausserhalb der Schule. Ein schätzenswertes Material wird auf diese Weise gewonnen und geben solche Charakteristiken ein fertiges Bild der einzelnen Pfleglinge. Auch wird bei der Ausfertigung der am -Jahresschluss auszustellenden Schulzeugnisse die Arbeit durch eine solche Einrichtung wesentlich erleichtert.

Der Unterricht wird im allgemeinen in halbstündigen Zeitabschnitten erteilt und beginnt mit einer Andacht im Speisesaal, an der das Lehrerkollegium und alle Schüler teilnehmen. Durch die häufige Abwechslung, die kurze Anspannung

24 die regelmässige Wiederkehr der Übungen, die vermehrten Ruhepausen ist ea ermög- licht, Lehrern und Schülern die für ein erspriessliches Arbeiten erforderliche Frische und Spannkraft zu erhalten.

In einem besonderen Unterricht werden die evangelischen Kinder von dem Anstaltsgeistlichen, z. Zt. Herrn Pastor Werckshagen, für die Konfirmation vor- bereitet. Es wnrden bisher im ganzen 18 Knaben und 21 Mädchen konfirmiert.

Im Anschluss an die Konfirmation findet eine Prüfung der Schüler und Schülerinnen aller Stufen vor ihren Angehörigen und geladenen Gästen im Kinder- hause statt.

Von katholischen Kindern empfingen im Juni 1897 1 Mädchen und im September 1899 2 Knaben und 1 Mädchen nach vorausgegangener Vorbereitung durch den Geistlichen die erste heilige Kommunien.

Die Aufsicht über unsere Schule ist im Herbst des Jahres 1898 der Kgl. Regierung zu Potsdam übertragen worden. Dieselbe entsandte am 29. September v. Js. den Geheimen Regierungs- und Schulrat Böckler aus Potsdam zu einer mehrstündigen Revision, welche im Beisein des Kgl. Kreisschulinspektors Hosemann und des Anstaltsdirektors erfolgte und sich auf alle Stufen und Fächer erstreckte.

In Bezug auf die bauliche Anlage des Kinderhauses sei erwähnt, dass sich dasselbe in den Mittelbau und die beiden Seitenflügel gliedert, von denen der süd- liche als Knaben-, der nördliche als Mädchenseite gedacht ist. Beide sind an der Westseite durch den Turnhallenbau miteinander verbunden. Das in gewaltigen Dimensionen aufgeführte Haus enthält in seinem Erdgeschoss die Klassenzimmer, das Amtszimmer, das reich ausgestattete Lehrmittelzimmer, ein Pförtnerzimmer und Wohn- räume für das Lehrpersonal. Die Dienstwohnung des Erziehungsinspektors liegt im Mittelbau, hat unmittelbare Verbindung mit der Knaben- und Mädchenseite und erstreckt sich unter dem darüber befindlichen grussen Speisesaal, der auch zu den täglichen Andachten, bei Prüfungen und zu geselligen Unterhaltungen Verwendung findet. Ausser diesem Speisesaal liegen im ersten Stock noch die Wohn- und Schlaf- säle der Kinder, die Abspülküche, die Lazaretträume, ein ärztliches Verordnungs- zimmer, zwei Badestuben, zwei Waschsäle und abermals Wohn- und Schlafräume für die Lehrer und Lehrerinnen. Der zweite Stock enthält einen zweiten Knabenschlaf- saal mit dem nötigen Zubehör an Wasch- und Baderäumen, sowie zwei Zimmer für einzeln zu behandelnde Kranke. Im Kellergeschoss finden wir die Werkstätten. Das Schnlhaus hat eine besondere Warmwasserheizanlage; alle Räume desselben können elektrisch beleuchtet werden. Durch ein Telephon ist der Verkehr mit den übrigen Teilen der Anstalt erleichtert. Hinter dem Hause liegt an der Westseite desselben der Spielplatz nebst dem Schulgarten und, durch Ackerflichen von ibnen getrennt, die herrliche Parkanlage, von welcher zwei Seiten des Anstaltsterrains umgeben sind. Die Doppelinschrift an der Ostseite des Hauses

„Des Körpers Erhaltung

Des Geistes Entfaltung“ bezeichnet die Grundlinien unserer Thätigkeit. Freilich kann die letztere, wie in der Normalschule, als eine abschliessende nicht bezeichnet werden, da ja durch das Leiden der Kinder die Erreichung des gesteckten Zieles oft weit } hinausgeschoben wird.

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Nicht selten stellt ein schwerer Anfall das Ergebniss einer ganzen Stunde in Frage, und häufig verliert ein Epileptiker auf Wochen und Monate einen grossen Teil seines geistigen Besitzes durch eine Reihe von Anfällen. Er erscheint dann, um mit Kölle zu reden, als ein Schiffbrüchiger, dessen ganzer Vorrat durch die brandenden Wogen über Bord gespült wurde. Jedoch haben sich die durch sechs Jahre erprobten Einrichtungen des hiesigen Internates von wohlthätigstem Einflusse für unsere Be- strebungen gezeigt. Geselliges Beisammensein, gemeinsame Festfeier, regelmässiger täglicher Spaziergang, im Spätsommer sogar alljährlich eine Fahrt in den Berliner zoologischen Garten, planmässiger Wechsel zwischen Arbeit und Spiel, Beteiligung der Kinder an kleinen häuslichen Verrichtungen sind erziehliche Faktoren von hoher Bedeutung. Massvolle Beschränkung des Unterrichtsstoffes, zweckmässige Verteilung der Lehrstunden, halbstündige Lektionen, gute Anschauungsmittel, zu deren Ergänzung von der Behörde eine reichliche Summe im jährlichen Etat ausgeworfen ist, unter Umständen Erledigung leichter Schulaufgaben iu der freien Zeit durch die vor- geschritteneren Schüler, überhaupt nach Möglichkeit Selbstbethätigung der Kinder und Berücksichtigung ihrer besonderen Neigungen sichern den Erfolg der Lehrarbeit in der Schule. Auch den Monatskonferenzen des Lehrerkollegiums ist Gelegenheit gegeben zur Erörterung einschlägiger Fragen, die vielfach auch im Beisein des Arztes erfolgt. Belehrende Einwirkungen der dazu Berufenen auf das Wartepersonal sind geeignet, dasselbe mit I,iebe zu seinem schweren Berufe zu erfüllen, die in sorgsamer Pflege der ihm Anvertrauten zur Bethätigung kommt. Möchten auch fernerhin alle im Dienste der guten Sache Stehenden zum Wohle der Schule und im Sinne ihrer edlen Stifter weiterwirken.

Mitteilungen,

Dresden. (Nachhilfeschule 1. d. E.) Indem Vereine für Gesundheitspflege sprach Lehrer Finke von der Nachhilfeschule Dresden 1. d. E. über Nachhilfeschulen. Der Vortragende berührte hierbei die Gründe, welche die Errichtung von Nachhilfeklassen herbeiführten, die Arten des Schwachsinns, die Degenerationszeichen, die Charakter- eigentimlichkeiten des apathischen und erethischen Schwachsinnigen, verglich die Nach- hilfeschulen von Dresden l. d. E. und Leipzig, besprach hierbei von den Lehrfächern ausführlich den Handfertigkeitsunterricht und fügte für Dresden folgende Wünsche hinzu: erstrebenswert ist die Angliederung eines Kinderhortes beziehentlich die Entwickelung zur Tagesanstalt, sowie ferner die Gründung einer Fort- bildungsklasse für Schwachsinnige Am Schlusse kam der Vortragende auf die Vorteile wie Nachteile der geschlossenen Anstalten zu sprechen und fügte hieran den Wunsch: die Stadt Dresden, welche das Rittergut Klingenberg angekauft hat, um verschiedene Anstalten dahin zu verlegen, möchte bei Ausführung dieses Planes auch derjenigen schwachsinnigen Kinder gedenken, welche wegen mangelnder häuslicher Pflege oder wegen sittl. Gefährdung einer Anstaltserziehung bedürftig sind.

Dessau. (Erziehungshaus für schwachsinnige Kinder.) Das hiesige Erziehungshaus für schwachsinnige Kinder beider Geschlechter besteht seit beinahe 12 Jahren und hatte in dieser Zeit 140 Zöglinge in Unterricht und Pflege. Gegen-

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wärtig zählt es 31 Knaben und 23 Mädchen. Die Durchschnittszahl seiner Zöglinge betrug 50 im Jahre. Von den entlassenen Zöglingen konnten 32 konfirmiert und der menschlichen Gesellschaft als nützliche Glieder zurückgegeben werden. Die übrigen Entlassenen waren doch mindestens gebessert. Es ist nicht die Aufgabe des Hauses, für seine Entlassenen weiter zu sorgen. Etwa ®/, der jetzigen Zöglinge sind bildungs- fähig. Das andere Drittel ist teils in beschränktem Masse beschäftigungsfähig, teils nur pflegebedürftig. Ostern d. J. steht für 3 Zöglinge die Konfirmation in Aussicht, von denen der Knabe das Zimmerhandwerk erlernen wird, die beiden Mädchen aber tüchtige Hausmädchen abgeben werden. Das frische, fröhliche Wesen gewinnen die Zöglinge mit Gottes Hilfe durch streng geregelte Abwechslung von Unterricht, Spiel und Arbeit. Gelegentlich wird auch ein Festtag eingeschoben, der nicht im Kalender angegeben ist. Gut geleitete, allgemeine Hausfestlichkeiten, bei denen auch die ein- zelnen Zöglinge durch Deklamation oder sonstwie ihr Selbstgefühl zeigen und stärken können, bei denen auch Zunge und Magen ausgiebig berücksichtigt werden, bereiten ausserordentlich grosse Freude, die sich wieder auf den Schulunterricht und auf das ganze häusliche Leben überträgt. Unterricht haben die Kinder durchschnittlich in der Woche 28 Stunden, d. h. im Sommer etwas weniger als im Winter. Arbeit haben wir täglich 2 Stunden im Durchschnitt für die Schulkinder, d. h. im Winter etwas weniger, im Sommer etwas mehr. Die übrige Zeit gehört dem Spiel und der freien Beschäftigung der Zöglinge,. sowie den 5 Mahlzeiten des Tages und der Besorgung der Hausreinigung an. Namentlich pflegen wir die geselligen Spiele aus nahe liegenden Gründen; alles aber geschieht unter steter Leitung und Aufsicht. Bei der Arbeit wird entschieden der praktische Wert derselben ins Auge gefasst. So müssen die Zöglinge ihre Wohn-, Schlaf- und Arbeitsräume, sowie Wege und Spielplätze reinigen, auch werden sie zu Gartenarbeiten und bei der Hauswirtschaft möglichst heran- gezogen. Das Haus beschäftigt sich daher mit solchen Arbeiten, die das heran- wachsende Kind zu leisten im stande ist und die es zugleich in die Praxis des Lebens einführt. Der Tageslauf beginnt für die Zöglinge im Sommer morgens 6 Uhr, im Winter ?/,7 Uhr und reicht bis 8, bez. 1,8 Uhr. Das Personal muss 1 Stunde früher aus dem Bett. Dass wir ausser den vorn angeführten Hausfestlichkeiten auch die kirchlichen und patriotischen Festtage nicht versäumen, ist wohl selbst- verständlich. Je mehr Festtage sich mit ernster Arbeit verbinden, desto nutzbringender wird dio Gesamtarbeit. Es sei mir vergönnt, nachfolgend zu skizzieren, wie wir den letzten Kaisergeburtstag in der Anstalt feierten. Schon mit Tagesanbruch weheten die Flaggen aus dem Bodenfenster. Bei der gemeinsamen Morgenandacht wurde durch Gesang, Schriftabschnitt und Gebet auf die Bedeutung des Tages hingewiesen und eine Stunde später eine Art Schulaktus abgehalten. Hierbei wechselten Gesang, Deklamation seitens der Schüler und Festansprache miteinander ab. Die Feier währte noch nicht 40 Minuten. Bis ’/,4 Uhr vergnügten sich die einzelnen Abteilungen untereinander nach Möglichkeit durch Soldatenspiel, Gesang u. s. w. Dann ging es im Sonntagsstaat in den festlich geschmückten Speisesaal, wo durch Chocolade bez. Kaffee und Kuchen dem Magen Genüge geschah. Ansprachen, Trinksprüche, Deklamationen und (Gesänge würzten das einfache Festmahl. Nach dem Essen kam das Spiel zu seinem Rechte, 2 Knaben und 2 Mädchen führten ein kleines Festspiel auf, mittels Laterna magica

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wurden Schattenbilder vorgeführt, die von den Zöglingen mit passenden Liedchen oder Deklamationen lebhaft begrüsst wurden. Ein prächtiger Lampionzug durch die mit- einander verbundenen Räumlichkeiten der Anstalt, begleitet von einer grossen Zieh- harmonika, die ein Zögling des Hauses präzis spielt, und manchem patriotischen Lied, beendete diese Lustbarkeiten. Ein Mahnwort zum Dank gegen den gütigen Vater im Himmel, der auch solche Festtage beschert, verbunden mit kurzem Rückblick auf den verlebten Tag, schloss die gange Feier. Dieser Dank kam zum Ausdruck in der Liedstrophe: „Lob, Ehr’ und Preis sei Gott, dem Vater und dem Sohne*. Mit einem glücklichen „Gute Nacht!“ gingen die Zöglinge gegen 9 Ubr zu Bett. Schneemelcher. Idstein. (Neues Vereinsgesetz.) Das Bürgerliche Gesetzbuch bringt für sämtliche sogenannte Vereinsanstalten eine wesentliche Neuerung. Wir müssen mit dem 1. Januar 1900 nach $ 21 des Bürgerlichen Gesetzbuchs unseren Verein, wenn er auch fernerhin Rechtsfähigkeit haben will, in das Vereinsregister beim zuständigen Amtsgericht eintragen lassen. Nach $ 55 hat die Eintragung bei dem Amtsgericht, in dessen Bezirk der Verein seinen Sitz hat, in das Vereinsregister zu geschehen. Nach 8 57 müssen 2 Satzungen beigefügt werden, in Urschrift und Abschrift, auch muss dies nach $ 59 durch den Vorstand geschehen, und soll eine Abschrift der Urkunde über die Bestellung des Vorstandes beigefügt sein. Der Vorstand weist sich als solcher durch ein Attest des Polizei-Präsidiums aus; letzterem sind zu diesem Behufe die jedesmaligen Wahlverhandlungen mitzuteilen. Die Sitzungen müssen durch mindestens 7 Mitglieder unterzeichnet sein; auch muss der Tag der Errichtung an- gegeben werden. Tag der Errichtung unserer Anstalt ist der 7. Oktober 1888 und Tag der Errichtung der alten Satzungen der 1. Mai 1888, der der neuen der 22 März 18389. Nach $ 64 ist ferner Name und Sitz des Vereins, der Tag der Er- richtung der Satzungen, sowie die Mitglieder des Vorstandes im Vereinsregister an- zugeben. Mit der Eintragung des Vereins in das Vereinsregister erhält der Verein nach § 65 den Zusatz „eingetragener Verein“. Die Urschrift der Satzungen ist mit der Bescheinigung der Eintragung vom Amtsgericht zu versehen und zurückzugeben. Nach $ 67 ist für die Zukunft jede Änderung des Vorstandes, sowie die erneute Be- stellang eines Vorstandsmitgliedes von dem Vorstande zur Eintragung anzumelden. Schwenk. Leschnitz 0.-S. (Erweiterungsbau in der Erziehungsanstalt.) Die hiesige Erziehungsanstalt für schwachsinnige Kinder arbeitet zur Zeit an der Vollendung eines grossen Knabenhauses, das zum 1. April d. J. eröffnet werden soll. Das imposante Gebäude dürfte in bygienischer und ästhetischer Beziehung allen An- forderungen entsprechen, ist es doch mit allen technischen Hilfsmitteln der Neuzeit (Dampfniederdrackheizung, elektrischem Licht, Wasserleitung, Kanalisation, Dampf- wäscherei, Wannen- und Brausebädern u. s. w.) ausgestattet. Das Haus ist zur Aufnahme von rund 130 Zöglingen bestimmt und enthält ausser den Werkstätten und anderen Nebenräumen 53 hohe, lichte und geräumige Wohn- und Aufenthaltszimmer, 3 grosse Korridore und 2 Veranden. Ferner ist eine Hauskapelle vorgesehen, in welcher ein besonderer Gottesdienst allwöchentlich abgehalten werden wird. Die Umgebung des neuen Gebäudes ist einerseits freies Feld, welches zu Spielplätzen und Gärten um-

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gewandelt wird, andererseits die bisherige Erziebungsanstalt mit ihrem 8 Morgen grossen Garten und weiten Fusswegen. Die Anstalt besteht uunmehr aus |) dem alten Hause, jetzt Pflegeanstalt, 2) dem Mädchenhause (bisherige Erziehungsanstalt), 3) dem Krankenhause, 4) der Turnhalle mit Wohnhaus für die Lehrlinge und 5) dem neu erbauten Knaben- und Wasch- bezw. Maschinenhause. Den bisherigen 6 Lehr- kräften sollen vorläufig 2 weitere zugesellt werden, sodass der Unterricht fortan in 8 Klassen erteilt werden wird. Durch diese Erweiterung hat der Verwaltungsrat der Erziehupgsanstalt von neuem bekundet, wie er weder Opfer noch Mühe scheut, wenn es gilt, seinen Schutzbefohlenen nicht allein einen angenehmen Aufenthalt zu bieten, sondern auch durch eingehenden Unterricht die Geisteskräfte zu heben, die Zöglinge körperlich zu kräftigen und technisch zur Erwerbsfähigkeit heranzubilden. Dieser Neubau bietet endlich neben der so lange erstrevten Trennung der Geschlechter die Möglichkeit, vom 1. April d. J. ab auch solche Zöglinge beiderlei Geschlechts gegen entsprechende Entschädigung aufzunehmen, welche weitergehende Ansprüche an Wohnung and Kost erheben. Zu diesem Zweck ist ein besonderes Pensionat geschaffen. Möge der Verwaltungsrat seine aufopfernde Thätigkeit im Dienste der Nächstenliebe dadurch beiohnt finden, dass dies neue Haus den Unglücklichen, für welche es bestimmt ist, zum Segen gereiche!

Schweiz. (Fürsorge fir schwachbegabte Taubstumme.) Auf Anregung der „Schweizerischen gemeinnützigen Gesellschaft“ wurden in einem Programm die Grundsätze zur Errichtung von Erziehungsanstalten für schwachbegabte, aber noch bildungsfähige taubstumme Kinder von einer Spezialkommission, bestehend aus den Direktoren der Taubstummen-Anstalten zu Zürich und St. Gallen, zwei Direk- toren von Anstalten für Schwachsinnige und drei weiteren Herren, aufgestellt, wovon einiges mitzuteilen von Interesse sein dürfte.

1. Für schwachbegabte staubstumme Kinder sind ganz gesonderte Erziehungs- und Bildungsanstalten eine Notwendigkeit a) im Interesse der normalbegabten, behufs bestmöglicher Förderung und Ausbildung derselben, b) im Interesse der schwach- begabten, behufs individueller Behandlung, eines Öftern Einzelunterrichts und be- ständiger Einzelnachhilfe.

2. Zu den schwachbegabten Taubstummen sind auch alle diejenigen schwach- begabten Schwerhörigen zu zählen, deren mangelhafte Gehörreste zur Erlernung der Sprache auf dem gewöhnlichen Wege durchs Gehör nicht genügen.

Punkt 3 hebt die wesentlichen Unterschiede zwischen den Anstalten mit schwach- begabten taubstummen Kindern und den Anstalten mit hörenden schwachbegabten Kindern hervor; hierbei ist unter anderem gesagt, die noch bildungsfähigen taub- stummen Schüler stehen noch etwas höher, als die, durchs Gehör auszubildenden, hörenden schwachsinnigen Kinder, aber die ersteren stehen bälder an der Grenze ihrer Bildungsfähigkeit als die letzteren, da das gehörte Wort bei einem schwachbegabten Kinde immer noch geistig anregender wirkt als das von den Lippen nur abgesehene. Die Maximalzahl der Schüler einer Klasse von schwachbegabten Taubstummen ist 8, jede Klasse soll ihre eigene Lehrkraft besitzen. Betreffs der Zahl des not- wendigen Aufsichtspersonals bei Einrichtung des „Familiensystems*“ ist bemerkt, dass bei der Aufsicht, der erziehenden Beschäftigung, der gemeinsamen Pflege mehr schwach-

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begabte taubstumme Kinder zusammen überwacht und besorgt werden können als hörende schwachbegabte; von den letzteren 3—10, von den ersteren 12—15.

4. Die Fürsorge für derartige Kinder hat sich auf alle 3 Hauptsprachgebiete der Schweiz zu erstrecken, zunächst wird jedoch für das Gebiet der dentschen Schweiz, als des überwiegend grösseren Landesteiles, gesorgt werden müssen. Die Berück- sichtigung der konfessionellen Unterschiede fällt nicht in den Bereich der Thätigkeit der Schweiz. gemeinnützigen Gesellschaft.

5. Entschieden schwachbefähigte taubstumme Kinder sind von Anfang an einer Anstalt für Schwachbegabte zuzuweisen. In zweifelhaften Fällen sollen Versetzungen ermöglicht werden.

6. 8. Die Methode des Unterrichts ist im wesentlichen die eines guten Taub- stummen- Unterrichts behufs Aneignung und Gebrauch der Laut- und Schriftsprache in Berücksichtigung der schwächeren Begabung der Schüler. Der Unterricht selbst hat sich niedere, wirklich erreichbare Ziele und die praktische Anwendung des Er- lernten ganz besonders ins Auge zu setzen. Für die unterrichtsfreie Zeit ist möglichst das Familiensystem mit je 12—15 Schülern für eine Familie und einem genürenden Wärterpersonal einzuführen. Neben dem Unterricht iet Gelegenheit zu allerlei nütz- lichen Hantierungen (Handfertigkeiten) zu bieten

9. Die Anstalt sollte in der Nähe eines grösseren Orts plaziert werden.

10. 11. 12. Eine Anstalt für schwachbegabte Taubstumme werde für 50—60 Zöglinge eingerichtet (sollte aber mit 20—25 begonnen werden); als Personal wären notwendig: ein Hauselternpaar, sechs Lehrkräfte, 4 Wärterinnen, eine Arbeitslehrerin für Mädchen, ein Handwerkslehrer, eine Köchin, Magd, Knecht. An Räumlichkeiten sind erforderlich: eine Wohnung für die Hauseltern, ein Büreau, ein Speisesaal, Wohn- und Schlafräume für Lehrer und Lehrerinnen, Schlafzimmer und ebensoviele Aufent- haltszimmer für Zoglinge, 2 Krankenzimmer. ein Radelokal, Nähzimmer, Garderobe- räume, Turnlokal, Gastzimmer, Dienstbotenzimmer. Waschhaus, Holzschopf u. s. w.

18. Die Schweizerische gemeinnützige Gesellschaft stellt die Hilfe für die bildungsfähigen schwachbegabten Taubstummen und schwerhörenden Schwachsinnigen in den Vordergrund gegenüber einer blossen Pfleganstalt für Blödsinnige und daher Bildungsunfähige.

14. Die Verbindung einer Bildungsanstalt mit einer blossen Pfleganstalt bleibt grundsätzlich ausgeschlossen.

15. Die Fürsorge für völlig Blödsinnige in einer reinen Pfieganstalt bleibt eine weitere Aufgabe der gemeinnützigen Gesellschaft (Organ d. Taubst.-Anst.)

„—" Über den Alkoholismus in der Schule finden wir in Agramer Blättern: Auf die in einer Klasse einer Knaben-Volksschule gestellte Frage, welche von den Schülern regelmässig, das heisst täglich alkoholische Getränke zu sich nehmen, meldeten sich von 56 Schülern 18. Von diesen trinken täglich 4 Schüler Wein, 2 Bier und 7 Schnaps oder Rum und nebenbei Wein und Bier. Auf die Frage, welche von den Schülern noch niemals Schnaps getrunken haben, meldeten sich bloss 16, und auf die weitere Frage, welche von ihnen niemals -— betrunken waren, erhoben sich nur; 24, also weniger als die Hälfte. Diese ungünstigen Resultate wurden auch in den anderen Klassen vorgefunden. Schon in der ersten Klasse meldeten sich 3 Schüler von 64,

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welche täglich morgens Schnaps erhalten. In sämtlichen vier Klassen waren am be- treffenden Tage 218 Schüler anwesend. Von diesen trinken 26 oder nabezu 12 v.H. regelmässig täglich Schnaps, während nur 97 oder 44 v. H. dieses Getränk nicht kennen. Von 200 Schülerinnen einer Mädchenschule bekannten 15, dass sie täglich Schnaps trinken und 60, dass sie noch niemals Schnaps gekostet haben. In beiden Schulen giebt es nicht ein einziges Kind, dass überhaupt kein alkoholisches Getränk kennen würde. Von 218 Knaben waren 118 und von 200 Madchen 68 schon zu- mindest einmal betrunken.

„—" (Beschützet die Kinder vor Alkoholgenuss.) Hofrat Nothnagel- Wien, hat in einer Vorlesung sehr bemerkenswerte Äusserungen über die grossen Gefahren von Schnaps, Wein, Bier u. s. w. für Kinder gethan. Sie haben gesehen, meine Herren sagte er bei Besprechung eines Falles von chronischer Alkoholvergiftung dass wir es mit einem Falle von chron. Alkobolvergiftung zu thun haben, und dass bei unserem Patienten alle Organe, Leber, Milz, Herz, Lunge u. s. w. angegriffen sind, und nicht nur das Nervensystem, wie es bei übermässigem Kaffee- und Tabakgenusse vorkommt. Unserem Patienten geht es jetzt besser, aber wenn an seinen Organismus eine Mehrforderung gestellt würde, z. B. wenn er eine Krankheit, eine Lungen- entzündung bekäme, müsste er unterliegen. Alkoholismus macht den menschlichen Organismus gegen alle Krankheiten äusserst widerstandsunfähig. Ich, m. H., stehe nicht auf dem Standpunkt der Abstinenzler vder Temperenzler, welche übrigens auch Alkohol in einer besonderen Form geniessen sollen denn der findige Steuerfiskus in England soll erst unlängst darauf gekommen sein, dass die unschuldige Mandel- milch, welche die Temperenzler geniessen, 2, 3, ja 4 Prozent Alkohol enthält, aber folgendes muss ich Ihnen doch noch ans Herz legen: Es ist eine schwere Sünde- wenn man Kindern Schnaps, Bier oder Wein zu trinken giebt. Bis zum 14 Lebensjahre sollte kein Kind Wein, Bier, Thoe oder Kaffee zu trinken bekommen. All dies sind Erregungsmittel, die für das Kind gänzlich entbehrlich sind. Es ist ein Verbrechen, zu behaupten, der Wein nähre, und geradezu kindisch ist es, wenn man sagt, der rote Wein stärke mehr als der weisse. Ich hoffe, meine Herren, dass Sie mit diesen kindischen Dingen aufräumen werden, und ich wiederhole: Kinder bedürfen nicht dieser Erregungsmittel, sie sind für diese un- gemein schädlich, und ich bitte, darauf in Ihrer ärztlichen Praxis besonders zu sehen, Kindern keine geistigen Getränke zu geben; denn die geradeza furchtbare Nervosität unserer Zeit beruht ja gerade auf diesem frihzeitigen Alkoholgenuss. Was den Alkohol- genuss beim Erwachsenen betrifft, so ist nichts dagegen einzuwenden, wenn dieses in geringer Qualität geschieht, doch das Mass des Erlaubten schwankt in weiten Grenzen. Mass und Besonnenheit sind hier vor allem am Platze, und ich bitte Sie, meine Herren, nicht zu vergessen, dass die Beispiele, wo manche Leute viel Alkohol ohne sichtbaren Schaden vertragen, seltene Ausnahmen sind.

Litteratur.

Psychologie der Kindheit. Eine Gesamtdarstellung der Kinderpsychologie für Seminaristen, Studierende und Lehrer von Prof. Dr. Frederick Tracy zu

əl

Toronto in Canada. Aus dem Englischen übertragen von Dr. J. Stimpfl' zu Bamberg. Mit 23 Abbildungen im Text. Leipzig 1899. Verlag von Ernst Wunderlich. 158 Seiten. Preis Mk. 2.—

In Nordamerika hat das Studium der Kinderpsychologie einen bedeutenden Auf- schwung genommen, sodass die Litteratur dieses Gegenstandes dort ein bereits sehr umfangreiches Gebiet beleuchtet. Universitäten, Lehrerseminare und Lehrervereine wenden sich mit immer grösserem Interesse der Kinderforschung zu und tragen wesent- lich dazu bei, der Kinderpsychologie allgemein die ihr gebührende Wertschätzung zu erringen. Das Tracysche Werk, welches jenseits des Oceans eine sehr günstige Aufnahme und weite Verbreitung gefunden hat, will demselben Zwecke dienen und dürfte eich hauptsächlich zur Einführung in die Kinderpsychologie und als psycholo- gisches Lesebuch eignen. In 6 Kapiteln werden die Sinne, der Verstand, die Ge- fühle, der Wille, die Sprache und die ästhetischen, moralischen und religiösen Vor- stellungen behandelt. Der Verfasser bezieht sich in seinen Ausführungen vielfach auf Forscher wie Preyer, Kussmaul, Sigismund, Pérez, Binet, Taine, Wallace u.s.w., beleuchtet und kritisiert deren Errungenschaften und bringt seine Er- gebnisse in Beziehung zu denselben. Die Darlegungen sind durchweg interessant und bieten eine Fülle anregender und orientierender Gedanken; der Lehrer der Schwach- sinnigen wird manche Belehrungen in der Schrift finden. Die Übersetzung liest sich durchweg gut; wir begrüssen das Werk freudig und empfehlen es Lehrern und Eltern, die an dem Seelenleben der Kinder ein tieferes Interesse bekunden. Frenzel.

Zur Frage der psychischen Entwicklung der Kindersprache. Von Dr. phil. Rzesnitzek, ord. Lehrer an der Taubstummenanstalt zu Breslau, Verlag von G. P. Aderholz, Buchhandlung in Breslau. 1899. 36 Seiten. Preis 90 Pfg.

Der Aufschwung, den das Studium der Kinderspychologie und Kindersprache in den letzten Jahrzehnten genommen hat, war für den Verfasser die Veranlassung, auch seinerseits unter Berücksichtigung der neuesten Forschungen auf diesem Gebiete der Frage der peychischen Entwicklung der Kindersprache näher zu treten. Er hat in seiner Abhandlung das ihm in deutscher, französischer, englischer, italienischer und polnischer Sprache zugänglich gewosene Material, das nach seiner Ansicht zum Teil noch der rechten Anordnung entbehrt oder der richtigen Deutung ermangelt (?), ge- sichtet, unter einheitliche Gesichtspunkte gestellt und mit den Errungenschaften von Forschern wie Lazarus, Steinthal, Max Müller, W. Humboldt, Heyse» H. Paul, Whitney, Romanes u. a. in Beziehung gebracht. Daher besteht die Arbeit auch in der Hauptsache aus einer gut ausgewählten Zussmmenstellung von Schriftsatzen der verschiedensten Autoren, die über Psychogenesis geschrieben haben, verflochten mit des Verfassers eigenen Gedanken und seinen kritischen Be- merkungen. Die wertvolle Schrift von Bernard Pérez, ,Die Anfänge des kind- lichen Seelenlebens“, ist leider ganz ignoriert, das thut aber dem Buche sonst keinen Abbruch. Bei der grossen Bedeutung, welche das Studium der Kindersprache für den Lehrer der Schwachsinnigen hat, sei die vorliegende Schrift unsern Lesern angelegentlichst empfoblen. Man findet hierin Belehrungen über die elementarsten Begungen des psychischen Lebens und erhält auch Aufschluss über die Elemente der

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Sprachbildung bis in ihre letzten Anfänge. Nebenbei sei noch bemerkt, dass der Verfasser, Lehrer an der Taubstammenanstalt zu Breslau, sich mit dieser Abhand- lung das Prädikat Dr. phil. von der Züricher Fakultät erworben hat. Frenzel.

Die im kindlichen Alter auftretende Schwerhörigkeit und ihre pädagogische Würdigung. Anhang: Das ertaubte Kind. Von Karl Brauckmann, Vorsteher der Erziehungsanstalt für Schwerhörige und Ertaubte zu W-Jena. Leipzig 1896. Verlag von Hermann Haacke. 103 Seiten Preis Mk. 2.

Die vorliegende Schrift bewegt sich auf dem Gebiete der Heilpädagogik. Es giebt unter der Schuljugend eine ganz bedeutende Anzahl von Kindern, die an Schwerhörigkeit in höherm oder geringerm Grade leiden. Hinsichtlich ihrer unter- richtlichen Versorgung befinden sich diese häufig in einer ungünstigen Lage, unter deren tiefgreifenden Folgen sie nicht selten schwer zu leiden haben. Angesichts dieser Sachlage schien es dem Verfasser wünschenswert und notwendig, die tief- greifenden Folgen der Schwerhörigkeit ebenso wie die Mittel, welche geeignet sind, jenen Folgen zu begegnen, zum Gegenstand einer besonderen pädagogischen Betrach- tung zu machen, um einmal eine gerechtere Beurteilung der schwerhörigen Kinder anbahnen zu helfen und zum andern den Versuch zu machen, (ie beteiligten Kreise für eine sachgemässe Ausbildung jener Kinder zu interessieren. Dem Verfasser steht eine 8jährige praktische Thätigkeit in der Taubstummenschule und eine mehrjährige Beschäftigung mit der Unterweisung schwerhöriger Kinder zu Seite. Die Arbeit behandelt den Gegenstand mit sachgemässer Ausführlichkeit und Gründlichkeit; man merkt es dem Verfasser an, dass er mit Ernst und Gewissenhaftigkeit an die Lösung seiner Aufgabe herangegangen ist und dass ihm die schwerhörigen Kinder sehr um Herzen liegen. Die Massnahmen und Verschläge für die Behandlung der Schwerhörig- keit sind durchweg rationell und müssen durchaus gebilligt werden. Wir haben es des öftern auch mit schwerhörigen Kindern zu thun, für diese Fälle finden wir manchen guten Rat in dem Buche und empfehlen es unsern Lesern angelegentlichıst.

Frenzel.

Briefkasten.

W. R. I. L. Unsere Zeitschrift können Sie auch durch die Post beziehen. In der Post- Zeitungspreisliste für 1900 ist dieselbe unter Nr. 8580 aufgeführt,

Inhalt: Die Meinhold-Kempterschen Bilder und ihre Verkörperung durch Modelle u. s. w. (M. Dost) Ministerialerlass vom 20. Septbr. 1895. Bericht über die Schule zu Wuhlgarten (Schroeder.) Mitteilungen: Dresden, Dessau, Idstein, Leschnitz O.-8., Schweiz, Litteratur: Psychologie der Kindheit. Zur Frage der psychischen Entwicklung der Kindersprache. Die im kindlichen Alter auftretende Schwerhörigkeit und ihre pädagogische Würdigung. Briefkasten.

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Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden, Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. 8. Hofbuchhandlung in Dresden. Druck von Johannes Pässler in Dresden.

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Nr. 3. XY. dl) Jahre,

Zeitschrift È

für die

Behandlung sehwacisinniger und Epileptscher.

Organ der Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

herausgegeben von

W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, Direktor der Erziehungsanstalt Spezialarzt für geistig Zurückgebliebene in für Nervenkrankhelten resden-N, In Stuttgart.

Erscheint jährlich in 12 Nummern von

mindestens einem Bogen. Anzeigen für

die gespaltene Petitzelle 25 Pfg. Litte- März 1900. rarische Beilagen 6 Mark.

Zu beziehen durch alle Buchhandlungen

und Postämter, wie auch direkt von den

Herausgebern, Preis pro Jahr 6 Mark, einzelne Nummer 50 Pfg.

Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber.

Die wichtigsten charakteristischen Grundsätze des Unterrichtes bei schwachsinnigen Kindern.*) K. Ziegler, Idstein. «

Bestehen zwischen dem Unterrichte in der gewöhnlichen Volksschule und demjenigen bei schwachbefähigten und schwachsinnigen Kindern durchgreifende genau bestimmbare Unterschiede? Nein und ja! Nein denn die psychologischen Gesetze, unter denen das verkümmerte oder gehemmte Geistesleben des schwach- sinnigen Kindes sich entwickelt, sind inhaltlich genau dieselben, die man auch auf dem Boden des sesunden Seelenlebens beobachten kann, nur dass sie aus irgend einem Grunde nicht zu ihrer vollen, natürlichen Wirksamkeit gelangen. Darum kann auch der Unterricht, der sich auf jene Gesetze gründet und von ihnen bestimmt und reguliert wird, in seinen Elementen bei geistig gesunden und geistig kranken Kindern nicht wesentlich verschieden sein. Hier wie dort ist er ein Ausgehen von der Anschauung, ein Fortschreiten zu den Vorstellungen und ein Überleiten zu den Begriffen.

Dessenungeachtet lässt sich ein Unterschied zwischen den beiden aber doch nicht verkennen. Wenn auch dem geistigen Leben des schwachsinnigen Kindes dieselben allgemeinen Kräfte des seelischen Werdeprozesses zu Grunde liegen

*) Bei der Ausarbeitung dieses Aufsatzes, der zunächst nicht für die Veröffentlichung bestimmt war. sondern als sogenannter Prüfungsaufsatz zur lI. (preussischen) Dienstprifung eingereicht wurde, fanden im einzelnen folgende Bücher Benutzung: Kehr, Praxis der Volks- schule; Lindner und Fröhlich, Empirische Psychologie; Ufer, Vorschule der Pädagogik Herbarts. Ausserdem wurden bei den Grundsätzen 6 und 7 zwei Abhandlungen aus dem „Organ der Taubstummen-Anstalten Deutschlands": „Organisch, nicht mechanisch“, Jahrgang 1897, und „Die Taubstummenschule in ibrem Charakter als Mutter- sprachschule", Jahrgang 1899 benutzt.

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und sein Vorstellen, Denken, Fühlen und Wollen nach derselben psychologischen Gesetzmässigkeit verläuft, wie beim normalen Kinde, so werden diese Grund- kräfte der Seele durch physische Abnormitäten des Centralnervensystems in ihrer Entwicklung doch derart gehemmt, dass sie entweder höchst einseitig oder ver- kümmert oder gar nicht zu ihrer gesetzmässigen Entfaltung kommen. Dieser Unregelmässigkeit und Mangelhaftigkeit der Entwicklung des kindlichen Seelen- lebens muss nun im Unterrichte entsprechend Rechnung getragen werden. Dabei ist aber nicht an die Einführung völlig neuer Unterrichtsprinzipien zu denken, . sondern die bereits bestehenden und auf dem Boden der Volksschule hinlänglich erprobten Grundsätze müssen nur dem langsamen, abnormen geistigen Bildungs- gange des schwachsinnigen Kindes angepasst werden. Also keine absolute Umwandlungs-, sondern nur eine zweckentsprechende Anpassungsmethode. Das Charakteristische des Idiotenunterrichtes besteht lediglich in der spezifischen Betonung der einzelnen schon vorhandenen Unterrichtsgrundsätze, in der Art und Weise, wie dieselben miteinander in Verbindung gebracht, und in dem Geschick, mit welchem sie auch auf die geistig Schwächsten ausgedehnt werden, in der hingebenden Liebe und der nie versiegenden Geduld, womit der Lehrer die ganze Unterrichtsthätigkeit durchdringt, in dem immer hoffenden Eifer und der unerschütterlichen Beharrlichkeit, die sich auch ‚bei den dürftigsten Erfolgen nicht zurückschrecken und entmutigen lassen.

Verlangt der Elementarunterricht bei normalen Kindern Anschaulichkeit als erstes Unterrichtsprinzip, so müssen wir bei unsern schwachsinnigen Kindern zehnmal anschaulich unterrichten; wird dort die Forderung der formalen Kraft- bildung neben diejenigen der materialen Wissensbildung gestellt, so haben wir bei unsern begriffs- und denkarmen Schülern den Hauptnachdruck unzweifel- haft auf die erstere zu legen; spricht man in der Volksschule von dem Prinzip des Individualisierens als von einem Grundsatze zweiten oder dritten Ranges, so steht er bei uns oben an unter den Regeln der Didaktik.

Aus diesen einleitenden Bemerkungen wird einleuchten, in welchem Sinne die folgenden „charakteristischen“ Grundsätze aufgefasst sein wollen. Wesent- lich Neues können sie auf keinen Fall bieten, auch nicht dem Lehrer aus der Volksschule Allerdings fehlt es der Unterrichtsmethode bei Schwachsinnigen auch nicht an solchen Momenten, die über den Rahmen der gewöhnlichen Unter- richtsthätigkeit hinausfallen; es sei nur auf die verschiedenen Sprachgebrechen hingewiesen, die recht häufig in Verbindung mit Schwachsinn auftreten und deren Hebung eine ganz bestimmte Methode erfordert, sowie auf unsere soge- nannten Vorschulen, in denen die Unterrichtsarbeit ebenfalls ein ganz spezifisches methodisches Gepräge zeigt, das weder an die Aufgabe der Kindergärten noch an diejenige der Elementarklassen in der Volksschule erinnert. Aber diese Punkte können in den folgenden Ausführungen nicht näher berücksichtigt werden.

1. Vergiss nie, dass du geistig abnorme Kinder vor dir hast.

Auf den ersten Anblick scheint dieser Grundsatz, falls man ihn überhaupt als einen solchen anerkennen will, überflüssig zu sein: als ob man vor diesen

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Kindern, die zum Teil schon durch ihr blödes Aussehen und durch ihre teil- nahmlosen, stieren Blicke, noch mehr aber durch ibr gleichgiltiges und unthätiges Verhalten dem Unterrichte gegenüber fortwährend an ihre geistige Minderwertig- keit erinnern, vergessen könnte, dass man in einer Idiotenschule steht! Und doch man sehe nur einmal genauer zu —, dem erfahrensten und tüchtigsten Lehrer passiert es nicht selten, dass er an seine schwachen Schüler in erzieh- licher oder unterrichtlicher Hinsicht unbewussterweise denselben Massstab anlegt, der nur bei normalen Kindern berechtigt ist.

Du hast in deiner Schule viele unaufmerksame, aufgeregte, schwatzhafte und bösartige Schüler, die dir stündlich zu schaffen machen, und stets behandelst du sie, als ob ihr ordnungswidriges Verhalten der Ausfluss eines widerspenstigen Willens sei, und bringst sie am Ende sogar noch wegen Trotz, Eigensinn u. s. w. zur Bestrafung. Aber du thust ihnen unrecht! Ja, wenn du gesunde Schüler vor dir hättest, so aber —. Hast du nie in einem deiner Fachbücher gelesen, dass Apathie und Erethismus und all’ die damit zusammenhängenden sittlichen Mängel beim schwachsinnigen Kinde nichts anderes sind als die Folgen krank- hafter Nervenanlagen? Und deshalb willst du ihm zürnen? Darum sei nach- sichtig in der sittlichen Beurteilung deiner Schüler, vergiss nie, dass es geistig abnorme Kinder sind und dass die Sittlichkeit aufs engste mit der intellektuellen Gesundheit zusammenhängt. Du denkst daran und stellst das nächste Mal deinen Pfleglingen ihre Fehler mit väterlicher Milde, aber doch mit ernster Bestimmt- heit vor die Augen, legst ihnen auch die Gründe dar, warum sie in ihren eigenen Interesse sowie aus Rücksicht auf ihre Mitschüler nicht so handeln dürfen, appellierst also an ihre Vernunft. Aber du hast dabei wieder vergessen, dass es ja eben die Vernunft ist, zu der du deine Kleinen erziehen sollst, und nun willst du sogar an ihre vernünftige Einsicht anknüpfen. Das heisst nach Rousseau „beim Ende anfangen und aus dem Werke selbst das Werkzeug machen.“ Thatsächlich verlangst du von deinen Kindern nichts weniger, als dass sie sich (ähnlich wie der Herr von Münchhausen) am eigenen Schopfe aus ihrer Unmündigkeit auf eine höhere Stufe der Moralität emporziehen sollen.

Aber auch bei der unterrichtlichen Thatigkeit fallen wir trotz der Borgfalt, mit der wir hier im allgemeinen zu Werke gehen, nur zu leicht aus unserer Rolle als Schwachsinnigenlehrer. Die Rücksichtnahme, die ung auf Schritt und Tritt an den niederen und langsamen Gedankengang unserer Kinder ketten soll, schwindet alle Augenblicke aus unserem Bewusstsein, und ehe wirs uns verseben, haben wir wieder einmal gethan, als hätten wir normale Kinder vor uns. Du hast deinen Unterrichtsstoff nach allen Regeln der methodischen Kunst vorbereitet, hast in anschaulichster Zergliederung der Vorstellungen ihn bis in die kleinsten Einzelheiten „vorverdaut* und trittst nun des sicheren Erfolgen gewiss in deine Klasse, denn diese „Milch elementarster Denkungsart“ muss auch von dem schwächsten Magen verdaut werden können! Aber wie du ent- täuscht wirst! Die Kinder stieren dich mit grossen Augen an, und die Art und Weise, wie sie den Stoff aufnehmen, gleicht viel eher einem erzwungenen, müh- samen Hinunterwürgen unverdaulicher Brocken als dem gierigen Einsaugen der

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nährenden Muttermilch. Wo liegt der Fehler? An den Kindern nicht, aber vielleicht an dir. Du hast eben vergessen, dass du nicht den Heisshunger ge- sunder Kinder, sondern den schlechten Appetit Schwachsinniger vor dir hast Du wirst über deine Schüler ungeduldig, ärgerlich darf man an einem Krankenbette die Geduld verlieren? Du lässt in gleichgiltiger Resignation „fünfe gerad sein“ darf der Arzt mutlos werden und die Hoffnung vorzeitig aufgeben ? Das muss ein schlechter Arzt sein, der nicht mit der Launenhaftig- keit seiner Patienten Einsicht hat, und der immer wieder vergisst, dass Kranke heilen etwas anderes ist als Gesunde pflegen.

Die Ursachen dieser Vergesslichkeit liegen recht nahe. Wir Idiotenlehrer schauen immer wieder instinktiv nach der Volksschule zurück; die Lehrmethode, die wir uns dort angeeignet haben und in der wir grossgewachsen sind, sowie das Ziel, dem man dort entgegenstrebt, sitzen uns noch zu sehr in den Glieder, als dass wir uns ganz davon losmachen könnten. Schliesslich hat das Hinüber- blicken nach der Volksschule ja eine gewisse Berechtigung, denn sie ist eben doch unsere Mutter, von der wir gelernt haben, und auch wir sollen benützen, was die Volksschule durch jahrzebntelanges heisses Ringen als das Beste für die Bildung des kindlichen Geistes erprobt hat. Wenn nur darin nicht gerade ein gefährlicher Fallstrick für uns läge! Auf die formale Seite unserer Unterrichts- thätigkeit, also auf die Methode, wird das Liebäugeln mit der Volksschulpraris zwar keinen allzugrossen nachteiligen Einfluss ausüben, um so mehr aber muss es uns immer wieder zu Missgriffen hinsichtlich der Stoffauswahl verführen. Fast immer, wenn unser Herz von dem mageren Boden unseres Arbeitsfeldes hinüber- wandelt nach den fruchtbaren Gefilden der Volksschule, kehrt es mit irgend einem Blimlein oder einem anderen Pflänzlein zurück, das so flüstert uns wenigstens unsere schulmeisterliche Eitelkeit zu „eigentlich auch noch“ in unsern öden Garten verpflanzt werden könnte. Man frage nur einmal nach, wie schwer es dem Lehrer an Schwachsinnigenschulen gewöhnlich fällt und wie es „in den Fingern juckt“, wenn es beim Aufstellen des Lehrplanes gilt, dicht vor einem verlockend einladenden Stoffgebiet die Grenze zu ziehen. Aber vergiss nicht! Auch uns gilt das Sprichwort: „Schuster, bleib bei deinem Leisten!“ Bleiben wir darum in dem engen Kreise, über den unsere Kinder doch nie hinauswachsen werden, lassen wir uns aber auch nicht blenden und irreführen durch die oft phrasenhaften Worte, mit denen die moderne Pädagogik mitunter von der hohen Bedeutung ihrer Arbeit und der Erhabenheit ihrer Ziele redet. Auch hier ist nicht alles Gold, was glänzt. Nicht wenige Begriffe unserer heutigen pädago- gischen Terminologie büssen ihren Wert fast ganz ein, sobald man sie vom Ge- sichtspunkt der nüchternen Praxis aus betrachtet, und die Resultate und Erfolge, welche in der Volksschule thatsächlich erzielt werden können, machen im Ver- gleich mit dem, was man nach der Theorie erwarten könnte, gewöhnlich einen recht bescheidenen Eindruck. Häten wir uns also mit doppelter Vorsicht vor allen Illusionen, die auf unserem Arbeitsfelie nur schädlich sein können; stecken wir unsere Ziele so niedrig als möglich: in die unterste Sphäre rein praktischer Lebenstiichtigkeit. Stallknechte, Handlanger, einfache Hausmädchen u. s w.

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wollen wir etwa höher hinaus? Wenn sie nur ihre Sinne gebrauchen können, ehrlich sind und mit den Leuten zu verkehren wissen, dann haben wir genug erreicht. Nüchterner Sinn und praktischer Blick, das sei unser Idealismus.

Ein anderer Grund, warum wir bei unserer Schularbeit die geistige Schwäche unserer Kinder so leicht vergessen, hängt mit der menschlichen Natur überhaupt zusammen. Es ist bekanntlich sehr schwer, ja psychologisch ganz unmöglich, sich vollständig in den Geistes- und Gemütszustand eines andern Menschen hineinzuversetzen. Immer wird man nur annähernd eine Vorstellung von den seelischen Vorgängen im Nächsten sich machen können, gewöhnlich wird dabei das Denken und Fühlen desselben mit dem eigenen, subjektiven Seeleninhalt vermischt und umkleidet. Nun beruht aber jede erspriessliche Unterrichtsarbeit zum grössten Teil eben auf diesem „Sich-hineindenken“ in den kindlichen Ge- sichtskreis seitens des Lehrers. Jeder Lehrer schliesst unwillkürlich von den psychologischen Vorgängen in seinem eigenen Innern auf diejenigen in seinen Kindern. Da ist es aber nur zu natürlich, dass er sich den Vorstellungsverlauf bei denselben nie so engbegrenzt, so dunkel, so unklar und so verworren vor- stellen kann, wie er in Wirklichkeit vor sich geht. Und nun gar bei unseren geistesarmen Kindern! Wie leicht übersieht da der Lehrer, dass sich in diesen Köpfen die „Welt so ganz anders malt“ als bei gesunden Kindern, und dass seine Worte, welche sozusagen die Matrize der Vorsteilungsbilder in seiner eigenen Seele sind, in dem Geiste der Kinder gewöhnlich so verschwommene und undeutliche Kopien hervorrufen, dass sie mit dem Original fast gar keine Ähn- lichkeit haben. Wohl weiss der Lehrer, dass er sich in der Schule bücken muss, aber trotzdem verlässt er alle Augenblicke diese unbequeme Stellung und richtet sich kerzengerade vor seinen Schülern anf. Was Wunder, wenn da sein Unterricht über die Köpfe derselben hinweggeht!

Eigentlich sollten wir mit unsern Kindern vorübergehend geistig schwach werden können; denn diejenigen Krankheiten kuriert der Arzt immer am sicher- sten, die er schon am eigenen Leibe gefühlt hat. Das ist nun freilich unmöglich. Aber das können wir: uns täglich und stündlich daran erinnern, dass wir geistig schwache Kinder vor uns haben. Wenn der Idiotenlehrer sich dessen in allen Lagen und Verhältnissen des Schullebens bewusst bleibt und sein Thun und Handeln jederzeit in strammer Selbstzucht danach einzurichten bestrebt ist, dann kann es ihm nie ganz an Erfolgen fehlen. Denn dieses wachsame Bewusstsein

ist der primäre Quellpu aus dem die richtige Behandlung des schwachsinnigen Kindes fliesst; es ist dis in der all’ die übrigen Regeln und Grund- sätze wurzeln. ee

2. Behandle deine | Xe Ist es bei normalen Ky _ wal Viduellen Eigentümlichkeiten in der Sx Reb, 80 ist das bei geistig schwachen K.- ie her, dass das Schwächliche und Kranke an \. eg Össeren Masses —— Auf-

merksamkeit und Fürsorge beusrf, sine ern es liegt auch im Wesen der Ab-

normität, dass mit dem Abweichen von der überall sich gleichbleibenden Norm die Thatsache einer unbegrenzten individuellen Differenzierung der Geisteszustände bei den einzelnen Individuen gegeben ist. Damit ist die Möglichkeit, geistig abnorme Kinder hinsichtlich ihrer erziehlichen und unterrichtlichen Behandlung unter einen Hut zu bringen, von vornherein ausgeschlossen. Man wird in der Volksschule 100 Fälle finden, dass zwei Schüler in Bezug auf ihre geistige und sittliche Veranlagung wenn nicht gerade gleich so doch einander ähnlich sind, ehe die Schwachsinnigenschule nur ein einziges solches Beispiel aufzuweisen hat.

Mit in die Augen springender Schärfe und Bestimmtheit heben sich in unseren Klassen die intellektuellen und ethischen Charakterbilder der einzelnen Schüler von einander ab; wohl nirgends stehen die mannigfaltigsten Extreme auf so engem Raume einander gegenüber: apathische Trägheit und erethische Aufgeregtheit, gleichgiltig hinbrütender Stumpfsinn und unbezähmbare Neugierde: ängstlich nervöse Schüchternheit und dummdreiste Ungeniertheit, gefühlskalte Verschlossenheit und abstossende Aufdringlichkeit, mürrische Verdriesslichkeit und katzenartige Freundlichkeit und das alles meist in ausgeprägtester, krank- haft verzerrtester Form. Denkt man sich hierzu noch die grosse Verschieden- heit in der Abstufung der einzelnen Seelenkräfte, die starken Gegensätze hin- sichtlich des Lerneifers, der Aufmerksamkeit u. s. w., sowie die mancherlei Arten der Sprachgebrechen, die recht häufig in Komplikation mit dem Schwachsinn auftreten, so erhält man ungefähr eine Vorstellung von den bunten Musterkarten, welche unsere Klassen an individuellen Schülerbildern bieten, man wird aber auch die Notwendigkeit einer systematisch durchgeführten Individualisierung bei der Erziehung begreifen. Dies ist auch der Grund, warum in Idiotenklassen die Zahl der Schüler nur eine geringe sein darf und warum der Unterricht sich nicht nur zum individualisierenden, sondern recht oft auch zum Einzelunterricht verengen muss.

Welchen Anforderungen hat nun hierbei der Idiotenlehrer im einzelnen Rechnung zu tragen? Zunächst muss er mit den individuellen Eigentümlich- keiten seiner Schüler in jeder Hinsicht vertraut sein. Solange er nicht in den dunklen Schacht des verkümmerten kindlichen Seelenlebens eingedrungen ist, solange seine Kinder als ungelöste psychologischen Rätsel vor ihm sitzen, solange wird er immer dem Manne gleichen, der in der Finsternis seinen Samen auf unbekanntes Ackerland ausstreut. Um seine Zöglinge genau kennen zu lernen, ist zweierlei erforderlich: das theoretische Studium der normalen und anormalen Seelenfunktionen und die praktische Beobachtung der zu erziehenden Kinder. Jenes giebt dem Lehrer die Fähigkeit an die Hand, sich in dem verworrenen Seelenlabyrinth zurechtzufinden, hier muss er seinen psychologischen Scharfblick durch die That beweisen.

Bezüglich des ersteren können wir uns kurz fassen. Die Bedentung, welche die Psychologie sowohl im allgemeinen als Grundlage für die gesamte päda- gogische Wissenschaft, als auch im speziellen für die Unterrichtsarbeit jedes einzelnen Lehrers besitzt, ist von so allgemeiner Anerkennung, dass man darüber kaum noch ein Wort zu verlieren braucht. Ebenso versteht es sich für den

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Erzieher idiotischer Kinder von selbst, dass er sich mit den wesentlichsten Formen des Schwachsinns und dessen hauptsächlichsten Ursachen bekannt machen muss. Aber man glaube ja nicht, damit die Hauptarbeit gethan zu haben. Wer den Plan einer Stadt und den gedruckten Führer durch dieselbe fleissig studiert hat, besitzt noch lange nicht ein wirkliches, anschauliches Bild von derselben, und alle theoretischen, anthropologischen, pathologischen und ınedizi- nischen Kenntnisse machen allein keinen tüchtigen Arzt.

Und wenn der Lehrer sich durch die ganze Kantsche und Herbartsche Psychologie und Philosophie hindurchgearbeitet und sich auch noch in die dunklen Tiefen irgend eines psychiatrischen Werkes versenkt hätte, wenn er seine Büchergelehrsamkeit nicht in die Praxis umsetzen und nicht in der leben- digen Kindesseele lesen kann, dann taugt er nicht zum Erzieher, am wenigsten zum Erzieher schwachsinniger Kinder. Mehr denn jeder andere Lehrer muss es der Idiotenlehrer verstehen, mit aufmerksamen, prüfenden Blicken die charakte- ristischen Eigentümlichkeiten seiner schwachen Schüler zu erforschen und ihre intellektuellen und moralischen Anlagen nach ihren Licht- und Schattenseiten kennen zu lernen, um dementsprechend in seinem Unterrichte fördernd oder hemmend, anregend oder beruhigend auf die Neigungen, Gewohnheiten u. 8. w. derselben einwirken zu können. Im einzelnen lassen sich für die Beobachtung und Beurteilung der Zöglinge folgende Regeln empfehlen.

a) Trage zunächst dafür Sorge, dass sich das innere Wesen deiner Kinder vor deinen Augen frei und ungehemmt entfaltet. Wenn die Schüler sich vor dem Lebrer fürchten, wenn sie sich scheu vor ihm zurückzieben und in der Schule nicht anders als in jener schüchternen Befangenheit auftreten, durch die alle frische, jugendliche Natürlichkeit abgestreift wird, ist eine sichere und er- folgreiche Beobachtung derselben von vornherein ausgeschlossen. Nur demjenigen Lehrer, der die Liebe und das Vertrauen seiner Kinder besitzt, werden sich die kleinen Herzen in ihrer natürlichen Wahrheit erschliessen.

b) Beobachte deine Zöglinge überall, nicht nur in der Schule, auch auf dem Spielplatz, bei ihrer Arbeit, vor allen Dingen beim Verkehr mit ihresgleichen. Hier offenbart sich die kindliche Individualität am ungebundensten, und mancher Zug, der sonst verborgen in der Kindesseele schlummert, wird durch die An- regung von Kameraden ans Tageslicht gelockt.

c) Beobachte viel, fleissig, sorgfältig und mit psychologischem Verständnis. Aus einer einzigen Erfahrung darf noch kein allgemeiner Schluss gezogen werden; eine Unart ist noch kein Charakterfehler. Unterscheide das Vorübergehende vom Bleibenden. Die Einzelbeobachtungen müssen zu einander in Beziehung gesetzt werden, sie müssen einander gegenseitig erklären, beleuchten, ergänzen, so dass sie sich zu einem einheitlichen Bilde zusammenschliessen.

d) Im Unterrichte achte mit besonderer Sorgfalt auf die (inhaltlich) falschen Antworten. Der Lehrer, der diese ganz unberücksichtigt lässt, weist damit ein wertvolles Material von sich, das ihm am sichersten Aufschluss geben kann über die Art und Weise der individuellen Seelenthätigkeit beim einzelnen Kinde. Stets sollte der Lehrer sich bemühen, durch Zwischenfragen u. s. w. dem falschen

40 kindlichen Vorstellungsverlaufe auf die Spur zu kommen, um so nicht nur den geeignetsten Angriffspunkt für die Verbesserung und Richtigstellung des Ver- kehrten zu finden, sondern auch um ein klares Bild von dem individuellen Vor- stellungsleben im einzelnen Kinde zu erlangen.

Ist der Lehrer in dieser Weise mit den individuellen Eigentümlichkeiten seiner Schüler vertraut geworden, so kann ihm die individualisierende Behand- lung derselben keine besonderen Schwierigkeiten mehr verursachen. Er wird sowohl in der Erziehung als auch im Unterrichte immer genau an das im Zög- ling Vorhandene anknüpfen und namentlich den am meisten verkümmerten Seelen- kräften die grösste Sorgfalt widmen. In dem Schüler absolut Neues schaffen zu wollen, dürfte jederzeit ein vergebliches Bemühen sein. „So wenig durch Kunst ein kleingliedriger Mensch zum grossgliedrigen gemacht werden kann, so wenig wird die geistige uud gemütliche Anlage aus ihrer natärlichen Grenze heraus- geboben werden können.“ Damit aber bei unsern Kindern die vorhandenen spärlichen Geisteskräfte gründlich angeregt und auf den höchsten Grad ihrer Entwicklungsfähigkeit erhoben werden, bedarf es eben eines im ausgedehntesten Masse individualisierenden Unterrichtes.

Dabei darf der Lehrer sich nicht in ein allgemeines „In-die-Klasse-hinein- Dozieren® verlieren, sondern er muss bei jeder Frage und bei jedem Schritte vorwärts jeden einzelnen seiner Schüler besonders im Auge haben; muss bald hier, bald dort anpochen, ob auch alles verstanden ist, ob die Worte auch wirk- lich eingedrungen sind, oder ob sie nur als tote Samenkörner auf der Oberfläche liegen; muss bald diesem bald jenem hilfreiche Hand reichen, den Trägen wach- rütteln, den Aufgeregten beruhigen, den Gedächtnisschwachen das Gesagte oft wiederholen, den Denkarmen bäufig urteilen lassen, den vorlauten, gedankenlosen Schwätzer an Ruhe und ernste Besonnenheit gewöhnen, den Mutlosen mit freand- lichen Worten aufmuntern; das eine Mal mit männlicher Bestimmtbeit, das andere Mal wit väterlicher Liebe und Nachsicht vorgehen; beim einen den Willen, beim andern die Urteilskraft, beim dritten die gemütliche Seite besonders anregen; immer mit offenen Augen, klarem Verständnis und hilfebereiten Händen sich der Individualität seiner Kinder anschliessen so muss der Idiotenlehrer in seine Schule treten, wenn er seiner Aufgabe gerecht werdeu will. Es ist nichts Leichtes und erfordert viel Umsicht, aber ohne Individualisieren kein wirklich bildender und erziehender Unterricht!

3. Unterrichte elementar. >

Das ist wohl der selbstverständlichste der hier angeführten Grundsätze und zugleich auch derjenige, in welchem sich die Unterrichtsthätigkeiten der Volks- schule und der Idiotenschule am meisten berühren. Wir können uns darum kurz fassen.

„Das Geheimnis aller Elementarmethode beruht in der Anschaulich- keit.“ Es giebt kein zweites Unterrichtsprinzip, das so allgemein anerkannt und von so weittragender Bedeutung geworden wäre, wie dieses. Ein Elementar- unterricht ohne Anschaulichkeit ist nach unseren heutigen pädagogischen Be-

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griffen gar nicht denkbar, und jeder Elementarlehrer weiss, dass die Erfolge seines Unterrichtes fast ganz von dem Grade der Anschaulichkeit desselben abhängen. Und doch, sebald wir in unsere Schwachsinnigenschulen treten, wie unbeholfen stehen wir hier mit unserer volksschulmässigen Anschaulichkeit gewöhnlich vor den Kindern! Da merkt der Lehrer erst, wie himmelhoch auch sein konkretester Unterricht noch über dem kindlichen Fassungsverinögen steht, und hier erst lernt er das Hinabsteigen in den kindlichen Anschauungskreis, das Sich-hinabneigen zu den Bedürfnissen der Schüler in vollstem Masse.

Denn eben durch die Schwäche ihrer Sinne, durch ihre Unfähigkeit, die konkrete Welt richtig anzuschauen und infolgedessen durch ihre Armut an bleibenden Vorstellungsbildern werden unsere Kinder zu dem gestempelt, was sie sind, nämlich zu „Schwachsinnigen“. Darum hat sich auch unser Unter- richt in erster Linie an die Sinnesthätigkeit der Zöglinge zu wenden. Durch alle uns zu Gebote stehenden Hilfsmittel sinnlicher Anschauung muss dieselbe angeregt und durch unermüdliche Wiederholung und Übung soweit als möglich gekräftigt werden. In den ersten Jahren dürfen wir unseren Schülern nur solche Stoffe vorführen, die ganz unmittelbar in das Bereich der sinnlichen Wahrneh- mung fallen oder in konkretester Handgreiflichkeit veranschaulicht werden können. Nur was starke Sinnesreize hervorruft, findet in den Seelen dieser Kinder ein deutliches Echo, alles andere gleitet spurlos an ihnen hinunter. Aber auch der spätere Unterricht muss seiner breitesten Basis nach sich auf das Prinzip der Anschaulichkeit stellen, wenn er nicht haltlos in der Luft schweben soll. Auch hier keinen Begriff, der nicht aus dem Boden der Anschauung herausgewachsen ist oder der nicht durch konkrete Beispiele erklärt werden könnte! Bilder, Modelle, Faustzeichnungen des Lehrers, vor allem die Wirklichkeit seibst müssen auf jeder Stufe durch ihre sinnliche Vollkraft das Wort des Lehrers unterstützen: aus der unmittelbaren Umgebung des Kindes, aus seinen alltäglichen Erfahrungen und Erlebnissen muss das anschauliche Gewand gewoben werden, in das der ge- samte Unterricht einzukleiden ist.

Mit der Anschaulichkeit hängt aufs engste die Deutlichkeit und Klar- heit des Unterrichtes zusammen. Anschauungsbilder, die im Kinde nicht zu voller Klarheit gelangen, sind wertlos. Besonders bei schwachen, unselbständigen Köpfen ist Klarheit und Ordnung der Vorstellungen doppelt nötig. Darum achte mit Sorgfalt darauf, dass sich in deinen idioten Kindern nicht nur Anschauungen und Vorstellungen erzeugen, sondern dass sie sich auch klar, deutlich und bestimmt bilden.

Um dies zu erreichen, muss der Unterricht einfach sein, einfach hinsicht- lich des Inhalts, einfach auch in der Form. Keine unverdaulichen Brocken oder güssliche Leckereien, sondern einfache Hausmannskost! Ebenso versteige man sich nicht in methodische Künsteleien. Je einfacher, kindlicher und natürlicher die Darbietung, desto klarer das Verständnis und desto sicherer die Erfolge. Nur das Einfachste ist für unsere Kinder das Beste.

Die Klarheit des Unterrichtes setzt ferner allseitige Gründlichkeit voraus. Gründlich nicht in Bezug auf die Quantität des Lernstoffes, wohl aber hinsicht-

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lich der Qualität des Wissens und Könnens. Auch das kleinste Gebäude bedarf eines soliden Fundamentes, und oberflächliche Arbeit rächt sich nirgends mehr als auf dem mageren Boden eines steinichten Ackerfeldes. In der Volksschule mag den schädlichen Folgen einer seichten Methode durch die geistige Frische und Selbständigkeit der Kinder bis zu einem gewissen Grade ein wirksames Gegengewicht geboten werden, bei uns aber, wo dies gänzlich fehlt, tritt jede Halbheit und Lauheit in ihrer verderblichen Wirkung sofort offenkundig zu Tage. Das beste und sicherste Mittel, jederzeit anschaulich, klar, einfach und gränd- lich zu unterrichten, giebt uns der folgende Grundsatz an die Hand.

4. Setze im Unterrichte bei deinen Kindern nichts voraus.

Wie bereits erwähnt wurde, besteht das Wesen des Schwachsinns haupt- sächlich in dem psychischen Unvermögen, scharfe Anschauungsbilder aufzunehmen und sie zu klaren Vorstellungen und Begriffen weiterzuverarbeiten. Die Seele des nichtunterrichteten schwachsinnigen Kindes gleicht fast immer einer tabula rasa, oder, wenn je etwas darauf geschrieben steht. so sind es meist nur undeut- liche, verschwommene Züge, verworrene, unklare Vorstellungsbilder, die in regel- loser Zerstreutheit und ohne inneren Zusammenhang den engbegrenzten geistigen Gesichtskreis des Kindes ausfüllen. Dass auf solch unsicherer Grundlage und aus solch mangelhaften Bausteinen das Unterrichtsgebäude nicht ohne weiteres erbaut werden kann, liegt auf der Hand. Denn kaum dass die ersten Mauern über den Boden emporragten, würden sie auch schon zu wackeln aufangen, der Baumeister müsste bald hier, bald dort die verbessernde Hand anlegen, hier einen Stein einschieben, dort eine Lücke ausmauern, schliesslich würde er vor lauter Ausbesserungen gar nicht mehr zum Weiterbauen kommen oder am Ende doch nur eine minderwertige, verpfuschte Flickarbeit liefern. Darum ist es vor allen Dingen nötig, dass ein solider Untergrund gegraben und für brauchbares Bau- material gesorgt wird. In den bereits vorhandenen Inhalt der kindlichen Seele muss bestimmte Ordnung und Klarheit gebracht werden; die falschen Vor- stellungen sind zu korrigieren, die unklaren deutlich zu machen, die fehlenden zu ergänzen. In welcher Weise soll das geschehen ?

In der Volksschule, wo die Kinder in der Regel einen gewissen wenn auch nicht umfangreichen, so doch relativ sicheren Vorrat an Vorstellungen mit zum Unterrichte bringen, mag man immerhin auf denselben Bezug nehmen und im engsten Anschluss an ihn aus dem Alten das Neue, aus dem Unklaren das Klare, aus dem Falschen das Richtige herausentwickeln und herausbilden. Wenigstens wäre es nicht pädagogisch gehandelt, wollte man hier die zwar rohen und naturwüchsigen aber doch gesunden Vorstellungen des normalen kindlichen Seelenlebens ganz ignorieren. Anders jedoch bei unsern geistesschwachen Kindern! Bei ibnen ist meist auch das Einfachste, das Gewöhnlichste, das Selbstverständ- lichste nicht vorhanden, und ist es doch da, so lässt es an Klarheit und Festig- keit vieles, wenn nicht alles zu wünschen übrig. Nichts ist darum in Schwach- sinnigenschulen unverzeihlicher, als wenn der Lehrer sei es in bequemer Gedankenlosigkeit oder aus pädagogischer Kurzsichtigkeit sich mit dem be-

43 kannten „das versteht sich von selbst“ über zweifelhafte Situationen des Unter- richtes hinwegzutäuschen sucht. Nein, bei diesen Kindern versteht sich nichts, gar nichts von selbst, und auch beim kleinsten Schrittichen muss der Lehrer sich jedesmal überzeugen, ob seine Schüler wirklich festen Boden unter den Füssen haben,

Aus diesem Grunde dürfte es am sichersten sein, wenn wir unsern gesamten Unterricht auf den elementarsten Ausgangspunkt aller geistigen Entwicklung stellen und da anfangen, wo die Mutter anfängt, wenn wir so thun, als hätten unsere Schüler thatsächlich noch keine Erfahrungen gemacht und keine Anschau- ungen gesammelt. Mögen wir dann auch einmal zu tief heruntersteigen sobald der Unterrichtswagen unsern Kindern zu leicht erscheint oder zu langsam fort- schreitet, werden sie schon von selbst nach vorn streben. Aber seien wir ausser Sorgel Man hat noch nie gehört, dass einem Kinde (und vollends einem schwach- sinnigen!) elwas zu kindlich gewesen wäre, wohl aber, dass die Lebrer im Ynter- richte manchmal zn gelehrt seien. Lassen wir uns darum in unsern Schulen getrost auf den denkbar niedersten Standpunkt herab, den einzunehmen wir überhaupt noch fähig sind, so werden wir uns dadurch nicht nur viel Ärger uud Verdruss ersparen, die nie ausbleiben, wenn man auf etwas baut, das nachher in sich zusammenbricht, sondern wir’ werden auch stets dasjenige Mass anschau- licher Klarheit und elementarer Einfachheit treffen, das bei unsern Schülern allein dauerhafte Unterrichtsresultate verbürgt. Also verschwende die Zeit nicht mit widerwärtigen und unfruchtbaren Korrekturarbeiten auf der kindlichen Seelen- tafel, die du immer dann vornehmen musst, wenn du bei den Kindern etwas als bekannt voraussetzen willst, sondern schreibe selbst in einfachen und bestimmten Zügen alles das hinein, was du als gegeben vorfinden möchtest; dann wird auch das Alte und Unklare von selbst deutlich werden. Schaffe du selbst mit deiner, Kindern solides Baumaterial herbei, indem du mit ihnen hinausziehst in die Steinbrüche der konkreten Anschauungskreise, und verlass dich nicht auf die rohen Felsstücke, welche deine Schüler mit zur Schule bringen.

Frage dich bei jedem Satze und bei jedem Worte, ob du nicht etwas voraus- setzest, das überhaupt noch nicht im Bewusstsein deiner Schüler ist. Wie vieles, das unsere Kinder nun einmal nicht aus sich selbst wissen können, schmuggelt sich auch bei der grössten Sorgfalt unter der Maske der Selbstverständlichkeit in unsern Elementarunterricht ein. So wird beispielsweise bei den ersten Schreib- und Leseübungen gewöhnlich obne alles Weitere von Linien, Reihen, Ab- schnitten, von unten und oben, hinten und vorn, rechts und links u. 8. w. gesprochen, die Schüler sollen dicke und dünne, gerade, aber keine krummen Striche, nicht unter und nicht über die Linien schreiben; sie sollen die einzelnen Buchstabenformen rund oder eckig, kurz oder lang, schmal oder breit machen; Schleifen und Ringelchen, Haken und Bogen, Punkte und Eirunde u. 8. w. nachbilden und all’ diese Begriffe werden nicht selten ohne jede Erklärung eingeführt, als ob sie sich von selbst verstünden. Bei geistig gesunden Kindern vielleicht, bei Schwachsinnigen aber auf keinen Fall. Ähnlich steht es auch in anderen Unterrichtsfächern;

44 auch hier passiert es dem Lehrer nur zu leicht, dass er Fäden in das Gedanken- gewebe seiner Kinder einweben will, die noch gar nicht gesponnen sind. Ge- wissenhaftes, gründliches Durcharbeiten des Lehrstoffes vor dem Unterrichte und stramme Selbstüberwachung während desselben sind darum für den Idioten. lehrer doppelt unerlässliche Bedingungen.

Aber auch später, wenn der Unterricht sich bereits mit dem Auf- resp. Ausbau der einzelnen Stockwerke befasst, darf der Lehrer sich nicht in blinder Vertrauensseligkeit auf das früher errichtete Fundament verlassen. Selbst die elementarste Gründlichkeit vermag dem Wissen unserer Zöglinge nicht den Grad absoluter Sicherheit zu geben, der eigentlich bei jedem Weiterschreiten voraus- zusetzen wäre und der in der Volksschule bei treuem Fleisse sich bis zu einem gewissen Masse auch erreichen lässt. Dutzendemal machen wir in unsern Klassen die wenig erfreuliche Erfahrung, dass uns, nachdem wir durch stundenlanges Besprechen und Üben einen Unterrichtsstoff den Kindern bis zur grösstmöglichsten Sicherheit beigebracht zu haben glauben, in der nächsten Stunde eine einzige Antwort in einen neuen Abgrund „gähnender“ Unwissenheit blicken lässt. Darum setze das frühere Gelernte und Geübte nie als unbedingt sicher voraus. Es giebt kaum etwas Unzuverlässigeres als das Wissen und Können geistesschwacher Kinder, nnd das Misstrauen des Lehrers ist nirgends so sehr am Platze wie hier. Nichts kann seinem Unterrichte mehr schaden als ein gedankenloses Weiterbauen das sich nur um das Gegenwärtige kümmert, das Frühere aber ganz aus dem Auge lässt. Wie der Feldherr in Feindesland nicht nur auf die Erreichung des Zieles, sondern auch auf die Sicherheit der Rückzugslinie bedacht sein muss, so soll auch der Idiotenlehrer nicht nur nach vorn, sondern auch stets nach hinten schauen, mit einer Hand weiterbauen und mit der andern für Erhaltung des Alten sorgen. Das beste Vorbild mag ihm dabei der Baum in seinem organischen Wachstum sein. Obwohl dieser im Frühjahr seine Hauptsaftströme in die Krone zur Bildung neuer Zweige und Äste führt, versäumt er dabei doch nicht, zur Kräftigung des Stammes auch hier jedesmal neue Ringe anzusetzen.

Namentlich durch die fragend entwickelnde Lehrform lassen wir uns oft zu einer einseitigen Überschätzung des Wissens und Könnens unserer Kinder ver- leiten, und den bekannten Pestalozzischen Satz: „Manche Katecheten gleichen den Raubvögeln, welche Eier aus Nestern holen wollen, in welche noch keine gelegt sind“ müssen wir besonders beherzigen. Wie bei einem schwächlichen Organismus eine stärkende, rationelle Ernährung zunächst die Hauptsache ist, zu der erst in zweiter Linie eine kräftigende Körpergymnastik hinzutreten kann, so muss auch der Schwachsinnigenlehrer vor allen Dingen dahin streben, dass in der Seele des Kindes durch eine anschauliche und klare Darbietungsmethode ein Vorrat unverlierbarer Anschauungen und Vorstellungen erzeugt wird. Kehr schreibt in seiner Praxis der Volksschule: „Die kindliche Seele wird zumeist und am meisten dadurch gekräftigt und im Denken gefördert, dass sie geist- bildende Stoffe in sich aufnimmt. Mit diesen Denkstoffen operiert sie, und die stille Beschäftigung mit denselben mehrt ihre Kraft. Tausende von Lehrern würden bei weniger Mühe und Verdruss viel schönere Früchte gesehen haben,

wenn sie der geistbildenden Macht des Stoffes mehr zugetraut hätten, als ihren didaktischen Künsten.“ Auch bei unsern Kindern, so sind, darf diese geistbildende Macht nicht verachtet werden. Wenn bei uns die Unterrichts- kunst auch noch so sehr im Vordergrund steht und jedenfalls ‘eine wichtigere Rolle spielt als in andern Schulen, so dürfen wir andererseits doch nicht ver- gessen, dass die psychische Triebkraft im Innern des Kindes, auch wenn sie noch so gering ist, eben doch den primären und wichtigsten Faktor aller geistigen Entwicklung bildet, dass diese geheimsten Seelenvorgänge sich aber auch jeder direkten Beeinflussung völlig entziehen. Wir können uns nur auf eine ent- sprechende Anregung von aussen, auf eine zweckmässige Ernährung beschränken, aber selbst eingreifen in die Funktionen des Seelenmechanismus können wir nicht. Und auch dieses, d. h. die Art und Weise, wie wir von aussen auf das geistige Wachstum des Kindes fördernd einwirken, müssen wir der Natur ab- lauschen; unsere ganze Unterrichtskunst besteht in nichts anderem als darin, in der Auswahl, Anordnung und Darbietung des Stoffes sich aufs engste an den Lauf und die Ordnung der natürlichen Geistesentwicklung anzuschliessen.

Am meisten können wir in dieser Hinsicht von dem Vorbild aller Erziehung, von der Mutter lernen. Sie weiss nichts von unseren didaktischen Grundsätzen und unserer methodischen Fragebildung, aber sie versteht es, dem Kinde immer das zu bieten, wonach es im Augenblicke gerade hungert, und sie besitzt Geduld genug, um auf die Frage des Kindes hundertmal dasselbe zu antworten und ilm hundertmal die alten Geschichten zu erzählen. Die innere Befriedigung, die der Lehrer nach dem flotten Verlauf einer fragenden Entwicklung empfinden mag, ist oft nichts anderes als die Freude über ein gelungenes Experiment, eine eitle Selbstgefälligkeit über das eigene Können, und hat dann nicht das mindeste gemein mit der seligen Wonne, welche das Mutterherz empfindet, wenn der Lieb- ling in seiner Entwicklung wacker fortschreitet. So kann die fragende Methode thatsächlich zu einer Unmethode werden, zu einem ,hineintrichternden Heraus- pumpen“, bei dem alle Lernlust der Kinder flöten geht und das oft nicht einmal den einen Trost lässt, die Phantasie der Kinder angeregt zu haben. Seien wir Idiotenlehrer uns darum der Mahnung immer bewusst: „— nicht zu thun, als

hätte der Knabe schon eine Erfahrung, sondern zu sorgen, dass er eine bekomme!“ (Schluss in nächster Nr.)

Mitteilungen.

Braunschweig. (Spiegelstricken.) In meinem kleinen Werke über den an- geborenen und früh erworbenen Schwachsinn habe ich Seite 38 einen Fall von Spiegelstricken erwähnt und dabei den Wunsch ausgesprochen, dass auch in anderen Hilfsschulen sowie in Idiotenanstalten das Vorkommen solcher Eigentümlichkeit beachtet werde. Im Interesse für die Sache möchte ich die Art des Strickens hier etwas deutlicher angeben, als ich es dies in dem Werkchen gethan:

Bertha St., eine 12 Jahre alte Schülerin unserer Hilfsschule, welche linkshändig ist, in der Schule rechtshändig richtig Schreiben und Stricken gelernt hat, verfällt

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zeitweilig darauf, mit der linken Hand zu stricken. Sie strickt dann anstatt von dem Mittelpunkte nach links, von dem Mittelpunkte aus nach rechts gehend. Dabei nimmt sie die Maschen von rechts nach links herüber (statt wie üblich von links nach rechts). Eine besondere Abweichung besteht noch darin, dass sie den Faden mit der Stricknadel nicht von unten nach oben, sondern von oben nach unten umgreift. Dr. Berkhan- Braunschweig.

Gera, Reuss. (Personalien.) Dem hiesigen Lehrer der Schule für Schwach- sinnige Moritz Weniger, den I,esern dieses Blattes durch seine trefflichen Arbeiten bekannt, ist für den 1. April d. J. die Leitung der neu errichteten Hilfsschule in Schwelm (Westfalen) übertragen worden.

Idstein. (Erziehungsanstalt.) Lehrer Adam aus Braunschweig, welcher seit 1896 mit gutem Erfolg an unserer Anstalt thätig war, ist mit dem 15. Nov. v. J. an die nenerrichtete Hilfsschule nach Meiningen berufen worden. An seine Stelle trat mit dem 30. Dez. 1899 Lehrer Schnaidt aus Stuttgart, welcher schon 5 Jahre an der Volksschule thätig war. Zwei Stellen der hiesigen Anstalt sind vom Vorstande der Idsteiner Anstalt zu definitiven gemacht worden und sind dadurch die Lehrer Stärkle und Ziegler der Anstalt erhalten geblievden. Während das Gehalt bei nicht definitiven Lehrern je nach dem Dienstalter sich zwischen 600 und 1000 Mk, nebst vollständig freier Station bewegt, fangen die definitiven Lehrer mit 1200 Mk. an und steigen je von 3 zu 3 Jahren um 150 bez. 200 Mk. bis zum Höchstgehalt von 1850 Mk. nebst freier Station für sich und ihre Familie, welche für die etwaige Pensionierung zu 1200 Mk. veranschlagt wird. Da das preussische Lehrerbesoldungs- gesetz vom 8. März 1897 nach 8 11 die Dienstzeit unserer Lehrer und Lehrerin bei etwaigem Zurücktritt in den Dienst der Öffentlichen Schule für die Alterszulage und Pensionierung nur bis zu 10 Jahren in dem Falle anrechnet, dass an die Alters- zulagekassen jährlich für Lehrer 270 Mk. und für Lehrerinnen 120 Mk. bezahlt bezw. nachbezahlt werden, schloss sich die Idsteiner Anstalt an die kommunalständische Witwen- und Waisenkasse, sowie die Ruhegehaltskasse des Reg.- Bez. Wiesbaden an. Für die erstere Kasse werden pro Jahr 3°/, des ganzen Gehaltes, also far den Anfang, wo der Gesamtgehalt (mit Einschluss der zu 1200 Mk. veranschlagten freien Station) sich auf 2400 Mk. beläuft, 72 Mk. und für die Ruhegehaltskasse bis 3 °/,, also eben- falls 72 Mk. bezahlt, macht zusammen nur 144 Mk. Selbst beim Höchstgehalt 3050 Mk. müssen nur 188 Mk. in diese Kassen bezahlt werden. Die Beiträge sind also sehr mässige und mit denen an die preussischen Alterszulagekassen zu ent- richtenden nicht zu vergleichen, umsomehr als auch die Pensionierungsverhältnisse sehr gute sind; sie sind genau so geregelt, wie die der unmittelbaren preussischen Staatsbeamten. Schwenk.

Rastenburg. (Idiotenanstalt.) Die Anzahl derjenigen Kinder, welche am 1. April 1899 die Schule besuchten, belief sich auf 82 (46 Knaben, 36 Mädchen), während die Höchstzahl der Pfleglinge bis auf 314 stieg. Die 82 Schüler wurden in 4 aufsteigenden Klassen unterrichtet, von denen die unterste eine Parallelklasse hatte. Die Schulpflichtigkeit reicht gewöhnlich bis zum 18. Lebensjahre. Unter den 82 Schülern befanden sich 6 Taubstumme, 4 Stetterer, 34 Stammler und 7 Lispler, zu- sammen also 51, welche an Sprachgebrechen litten.

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Stolp i. Pommern. (Neue Hilfsschule.) Die Stadt Stolp in Pommern be- absichtigt demnächst eine Hilfsschule zu eröffnen; als Leiter derselben ist der König- liche Anstaltslehrer Fr. Frenzel aus Wabern, Bez. Cassel, berufen worden.

Württemberg. (Heil- und Pfleganstalten für Epileptische und Schwach- sinnige.) In Stetten wurden im Jahre 1897 497 Kranke verpflegt, und zwar 249 Epileptische, 248 Schwachsinnige, am 31. Dezember 1897 betrug der Kranken- stand 443; Abgang im Berichtsjahr 54, Zuwachs 72; angestelltes Personal in toto: 145, Gesamtzahl der Kranken und des Personals 618. Grössere bauliche Ver- änderungen wurden ausgeführt: 1. ein Anbau an das Männerhaus zu dessen Ver- grösserung, 2. ein Eiskeller, 3. eine Turnhalle mit Gesamtaufwand von 32000 Mk. Die überwiegende Mehrzahl der Kranken stammt aus Württemberg, wenige aus dem übrigen Deutschland und sehr wenige vom Auslande. Hereditäre Belastung ist sicher nachgewiesen bei 18°, der Epileptiker der Anstalt. Eine Änderung in der Behandlung der Epilepsie fand im Berichtsjahre nicht statt: täglich wurden durchschnittlich 666 Gramm Bromsalze verbraucht. Die Versuche durch Alkalierung des Blutes mittels Reichung grösserer Gaben von Natron in verschiedenen Formen auf die Anfälle einzuwirken, hatten nur zweifelhaften Erfolg und wurden daher auf- gegeben. In ambulatorischer Behandlung standen 39 Epileptische, die zum Teil anfallfrei blieben, solange sie Bromide einnahmen, zum Teil wenigstens etwas gebessert wurden, nur bei einem Einzigen versagte die Brombehandlung ganz. An 26 von den ambulatorisch Behandelten wurden die Mittel unentgeltlich abgegeben mit einem Jahresaufwand von 248 Mk. oder etwas über 9 Mk. für die Person. Staatsbeitrag für die Anstalt wie bisher. Die allgemeinen Gesundheitsverhältnisse der Anstalt waren günstige, Visitationen derselben fanden im Berichtsjahre 4 statt, woranter 2 von Mitgliedern des Medizinalkollegiums. Die Pfleg- und Bewahranstalt für männliche Epileptische auf der Pfingstweide bei Tettnang hat im Jahre 1897 einen Staatsbeitrag erhalten zum Zwecke der Ausführung von Neubauten zur Erweiterung der Anstalt und von baulichen Verbesserrungen in deren altem Teile, der Neubau wurde im Oktober bezogen. Die Zahl der Kranken dieser Anstalt betrug 45, fast lauter I,andesangehörige, von ihnen waren mehr als die Hälfte (24) Staats- pfleglinge.

Schweiz. (Stand der Anstalten.) Die Zahl der Zöglinge in den Schweize- rischen Anstalten betrug am 31. Dezember 1898 insgesamt 634. Diese 634 ver- teilten sich auf folgende Anstalten: 1. Kellersche Anstalt in Hottingen (Zürich) 17. 2. Erziehungsanstalt in Begensberg (Zürich) 75. 3. Anstalt Bühl bei Wädensweil (Zürich) 538. 4. Martinstiftung Mariahalden in Erlenbach (Zürich) 20. 5. Anstalt Weissenheim in Bern 32. 6. Privatanstalt zur Hoffnung in Bern 6. 7. Anstalt in Kriegstetten (Solothurn) 58. 8. Anstalt zur Hoffnung in Basel 24. 9. Anstalt auf Schloss Biberstein bei Aarau 54. 10. Anstalt St. Joseph in Bremgarten (Aargau) 187. 11. Anstalt in Mauren (Thurgau) 43. 12. Privatanstalt Friedheim in Weinfelden 21. 13. Asile de l’Esperance & Etoy (Vaud) 44. Hierzu trat im letztvergangenen Jahr die am 8. Januar 1899 eröffnete Anstalt in Kienberg bei Gelterkindern mit gegen- wärtig 12 Zöglingen.

Litteratur.

Die Fürsorge für die schwachbegabten Kinder der Volksschule und der Taubstummenanstalten. Ein Beitrag zur Durchführung der „Trennung nach Fähigkeiten“ von Heinrich Steliing, Taubstummenlehrer in Emden. Verlag von W. Haynel, Emden und Borkum.

In vorliegendem Schriftchen beleuchtet der Verfassser den gegenwärtigen Stand der Fürsorge für die schwachbegabten Kinder der Volksschule und der Taubstummen- anstalten. Er kommt durch eine ziemlich eingehende Vergleichung za dem Sclılusse, dass die Volksschule inbetreff der von ihm befürworteten „Trennung nach Fähigkeiten*, also bezüglich der Absonderung der Schwachbefähigten von den normal veranlagten Schülern die Taubstummenanstalten längst überholt haben, wenn er auch gerne das nach dieser Richtung 'für die Taubstummen Geschehene anerkennt und die Schwierig- keiten, die der Trennung bei den letztern entgegenstehen, gebührend berücksichtigt. Zugleich lässt ər den frohen Ausblick thun, Jass wenigstens in einzelnen Ländern mohr und mehr durch einen besondern Unterricht für die schwachbegabten Taub- stummen gesorgt werden soll. Seine Vorschläge über die Art und Weise dieser Fürsorge beschäftigen sich zunächst mit der Einrichtung der in Betracht kommenden Anstalten (Parallelklassen oder Sonderanstalten, Internat oder Externat), mit dem Prozentsatz der Auszuscheidenden, mit der Zeit der Ausscheidung, mit dem Lehrplan der Anstalten für schwachbegabte Taulstumme, vornehmlich mit den Vorübuugen, dem Realunterricht und der praktischen Beschäftigung. Dass Verfasser hierfür wie auch für die andern Disziplinen die in den Hilfsschulen gemachten Erfahrungen anzieht und diese, soweit es die Umstände zulassen, für die schwachbegabten Taubstummen verwertet wissen will, zeugt von einem praktischen Blicke, wie denn auch die Er- örterungen über die Lehrkräfte solcher Anstalten äusserst beherzigenswert sind. Die Schrift verdankt überhaupt einem für schwachbegabte Hörende sowohl als Taub- stumme warm schlagenden Herzen ihre Entstehung und wird an ihrem Teile ganz gewiss dazu beitragen, das allseitige Interesse für die Bildung solcher Aschenbrödel noch mehr zu wecken als bisher und die thatsächlich verständigen Vorschläge des Ver- fassers zu verwirklichen. Wir geben ihr daher den Wunsch mit auf den Weg, dass sie von allen, denen die Förderung des Volkswohles am Herzen liegt, besonders aber von den Behörden und Fachleuten gelesen werden möge. H. Horrix.

Inhalt: Die wichtigsten charakteristischen Grundsätze des Unterrichtes bei schwach- sinnigen Kindern (K. Ziegler), Mitteilungen: Braunschweig, Gers, Idstein, Rastenburg, Stolp, Württemberg, Schweiz. Litteratur: Die Fürsorge für die schwachbegabten Kinder der Volksschule und der Taubstummen-Anstalten.

a DE i N ee S TE Bar A ne a a ak a a N re ee eS

Für die Schriftleitang verantwortlich: W. Schröter in Dresden. Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dreslen. Druck von Johannes Pässler in Dresden.

Nr. 41.5. XVI. (I1)

Zeitschrift

für die

Behandiung sehwachsinniger und Epilep

Organ der Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

herausgegeben von

W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, Direktor der Erziehungsanstalt Spezialarst für geistig Zurtiokgebliebene in für Denk tan Eheiten Dresden -N. n Stuttgart.

EZErscheint jährlich In 12 Nummern von | Zu beziehen durch alle Buchhandlun k mindestens einem Bogen. Anzeigen für M e 1900 und Postämter, wie auch direkt von die gespaltene Petitzeile 35 Pfg. Litte- al Herausgebern. Preis pro Jahr 6 Mark, ° rarische Beilagen 6 Mark. elnzelne Nummer 50 Pfg.

Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber. EEE

Die wichtigsten charakteristischen Grundsätze des

Unterrichtes bei schwachsinnigen Kindern. (Schluss.) | K. Ziegler, Idstein. 5. Weeke Selbstvertrauen und Lernfreudigkeit.

„Ich kann es nicht, ich weiss es nicht!“ durch nichts charakterisiert sich das geringe Selbstvertrauen der schwachsinnigen Kinder besser als durch diese stereotypen Redensarten, die wir recht häufig aus dem Munde unserer Schüler zu hören bekommen, oft sogar dann, wenn sie weder Grund noch Ver- anlassung dazu hätten. Wie ein hypnotischer Bann liegt diese Mutlosigkeit auf den Gemütern der geistesarmen Kinder, ihre schwache Willenskraft vollends ganz lähmend und alles fröhliche Streben erstickend. Dass unter diesen Umständen unsere Klassen einen ziemlich öden und düsteren Eindruck machen und nichts weniger als einem heiteren Jugendgarten voll frischen Spriessens und fröhlichen Wachsens gleichen, lässt sich kaum anders erwarten.

Lebendiges Selbstbewusstsein, starkes Selbstvertrauen und rege Schaffens- freudigkeit sind aber Eigenschaften, die nicht nur für die Schule, sondern auch für das Leben wichtige Bedeutung haben, die nicht nur Mittel zum Zweck, sondern in gewissem Sinn auch Selbstzweck sind. Welch klägliche Rolle spielt ein Mensch, der nicht genug Mut und Vertrauen besitzt, um mit sicheren, selbständigen Schritten auf den Schauplatz des wogenden Lebens hinauszutreten! Wie dürftig und kraftlos nehmen sich aber auch die Unterrichtsarbeit und die Unterrichtserfolge in der Schule aus, wenn das eifrige Vorwärtsdrängen des Lehrers auf Schritt und Tritt durch die Mutlosigkeit und Arbeitsunlust der Kinder gehemmt wird! Selbstvertrauen und Lernfreudigkeit der Schüler gehören zu den wichtigsten Faktoren eines segenbringenden Unterrichtes, sie gleiche dem

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Winde, der voll in die Segel bläst und das Schifflein spielend dahin treibt. Aus doppeltem Grunde haben wir also auf die Weckung eines fröhlichen Selbst- vertrauens bei unsern Kindern hinzuwirken.

Wenn ein unglücklicher Krüppel, der an seiner Krücke mühsam den Weg dahin schleicht und jeden Augenblick sich seufzend am Rande desselben nieder- lässt, allen Mut und alle Lust zum Gehen verliert, braucht man sich darüber zu wundern? Und ist es nicht ganz selbstverständlich, dass er in seiner Ver- driesslichkeit nicht einmal das leistet, was er bei frohem Mute zu leisten im stande wäre? Genau ebenso steht es mit unseren Krüppeln am Geiste. Das Bewusstsein ihres intellektuellen Unvermögens ist in erster Linie die Ursache ihres schwachen Selbstvertrauens, und dieses hinwiederum wirkt lähmend und hindernd auf die Leistungsfähigkeit. So zeigt sich hier eine unheilvolle Wechsel- beziehung von Ursache und Wirkung, die, falls man ihr nicht entgegenarbeitet, recht schlimme Folgen nach sich ziehen kann.

Was liesse sich thun, um den langsamen Gang jenes Krückenmannes zu beschleunigen? Vor allen Dingen, lasse dich freundlich und liebevoll zu ihm herab, eile nicht teilnahmlos an ihm vorüber, hemme deine Schritte, um ihm zur Seite bleiben zu können, erkundige dich freundlich nach seinen Lebensver- hältnissen, ermuntere ihn, und du wirst bald mit Freuden gewahren, dass auch ein Stelzenmann sich tummeln kann, sobald zuversichtlicher Mut und froher Sinn sein Herz erfüllen. Und sollten wir in ähnlicher Weise nicht auch das Selbst- vertrauen unserer schwachsinnigen Kinder erhöhen, ihren Eifer und ihre Lern- freudigkeit beleben können? Auf den Geist und die Gesinnung, welche die Persönlichkeit des Lehrers ausmachen, auf seine Herzensstellung zu den Schülern kommt in dieser Beziehung fast alles an. Wie ein väterlicher Freund musst du unter diese armen Kinder treten, mit einem Blick voll Milde und Güte, mit Worten kindlicher Teilnahme, mit einem Herzen voll erbarmender Liebe. Nur den wärmenden Strahlen der alles überwindenden Liebe öffnen sich diese verzagt schüchternen Gemüter. Des Lehrers persönliches Wohlwollen ist der Stab, an dem sich das schwache Selbstvertrauen emporrankt, Frohsinn und Heiterkeit bilden die Atmosphäre, in der es am besten gedeiht. Eine Schwachsinnigen- schule, der es an Liebe und Frohsinn mangelt, gleicht einer Krankenstube ohne Licht und Wärme. Lieblose Hartherzigkeit, unnachsichtige Strenge, wie man sie gewöhnlich bei dem selbstsüchtig ehrgeizigen Strebertum findet, wirken wie Gift auf die seelische Verfassung schwachsinniger Kinder.

Aber die Heiterkeit der Schüler soll nicht in kindische Ausgelassenheit, die Liebe des Lehrers nicht in sentimentale Schwäche und weichliche Zärtlichkeit ausarten. Auch in unseren Schulen darf es dem Erzieher trotz der notwendigen Nachsicht mit den kindlichen Schwächen nicht an festem Rückgrat konsequenter Gerechtigkeit fehlen. Ist Liebe die Wärme, durch welche das Selbstvertrauen hervorgelockt wird, so gleicht die Gerechtigkeit dem Lichte, das dem Halme innere Festigkeit verleiht. Erst das Bewusstsein, auch der unparteiischen Ge- rechtigkeit gegenüber bestehen zu können, macht das Wesen des sicheren und starken Selbstverirauens aus.

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Im Unterrichte vermeide der Lehrer alles, was den Kindern ihre geistige Schwäche und Unfähigkeit zu schroff zum Bewusstsein bringen könnte. Der optimistische Glaube, etwas zu können, ist bei Kindern immer ein wirksamerer Antrieb zur Arbeit als die beschämende und entmutigende Erkenntnis des eigenen Unvermögens. Darum sind Aufgaben, welche den Kindern nicht schwer fallen, das geeignetste Mittel, ihre Mutlosigkeit zu verscheuchen und ihnen Selbstver- trauen und Lernfreudigkeit einzuflössen. Überhaupt suche man den Schwach- sinnigen das Lernen so leicht wie möglich zu machen. Je leichter und sicherer sich beim Apperzeptionsprozess die neuen Vorstellungen mit den alten verbinden, um so stärker ist das Lustgefühl, das dadurch im Kinde erzeugt wird, und um so grösser auch das daraus entspringende Selbstvertrauen. Also auch aus diesem Grunde ist für die Idiotenschule eine klare, anschauliche und gründliche Unter- richtsweise geboten, welche die Köpfe der Kinder helle macht und zu einer selbstbefriedigenden Sicherheit des Wissens führt. Nur in der Klarheit des Tages bewegen wir uns sicher, während die Dämmerung des Abends und die Dunkelheit der Nacht uns unsicher machen.

Ist der Schüler in den sicheren Besitz eines bestimmten Wissens und Könnens gelangt, so gebe man ihm auch recht oft Gelegenheit, denselben zu zeigen, damit das dabei sich erzeugende Kraftgefühl mehr und mehr Wurzel fasse und dem wachsenden Selbstvertrauen immer neue Nahrung zuführe. Gebt es dagegen beim Schüler nur langsam voran, so beunruhige ihn nicht durch ein ungeduldiges Vorwärtsdrängen; droht sein Mut zu sinken, so lass es nicht an ermunterndem Zuspruch fehlen, strauchelt sein Gang, so reiche ihm durch eine weise Nachhilfe die Hand; antwortet er Falsches, so weise es nicht schroff zurück, sondern nimm es auf und leite es unbemerkt zum Richtigen. Immer gleiche der Lehrer jenem Vater, „der seinem Sohne zum erstenmal die Zügel übergiebt und ihn fahren heisst, der aber in der That selbst durch Zuruf, Blick und rich- tiges Eingreifen der Lenker ist“.

6. Der Unterricht sei praktisch.

Wenn wir bier von einem praktischen Unterrichte reden, so baben wir zu- nächst nur eine praktische Auswahl des Unterrichtsstofles im Auge. Es liegt in der Natur der Sache, dass gerade in diesem Punkte also beim Unterrichts- ziele der Unterschied zwischen der Schwachsinnigenschule und der Volks- schule am deutlichsten bervortritt und dass sich darum auch hier der praktische Blick, das richtige pädagogische Verständnis des Lehrers in besonderer Weise zu zeigen hat. Und doch wird in dieser Richtung von den Idiotenlehrern viel- leicht am meisten gesändigt. Es ist eine alte Klage, dass in unsern Schulen trotz aller Beschneidung des Lehrstoffes in den meisten Fällen noch zu viel und zu vielerlei getrieben wird. Alles mögliche findet manchmal Berücksichtigung: der von der Volksschule traditionell herübergenommene Stoffplan, der Inhalt der eingeführten Lern- und Lesebéicher, die speziellen Lieblingsneigungen des Lehrers, seine Bücherweisheiten u. s w., nur nieht das, was einzig und allein massgebend

52 sein soll: die geringen geistigen Bedürfnisse des schwachsinnigen Kindes und die praktischen Anforderungen des Lebens.

Aber auch diese beiden Gesichtspunkte dürfen nicht ohne weiteres unsern Lehrplan bestimmen. Auch hier noch ist eine weise, praktische Auswahl nötig, welche das Wesentliche vom Unwesentlichen unterscheidet und den goldenen Mittelweg hält zwischen dem Prinzip der praktischen Nützlichkeit und dem- jenigen der formalen Geistes- und Gemütsbildung. Wer da glaubt, dem engen Fassungsvermögen der schwachsinnigen Kinder könne in der Weise Rechnung

getragen werden, dass man den Lehrplan der Volksschule ganz mechanisch un

so und soviele Kapitel, um so und soviele Nummern reduziert, dürfte sich sehr im Irrtum befinden. Oder kann man den Anzug eines Erwachsenen etwa dadurch einem Schuljungen anpassen, dass man die Hosen, die Ärmel der Jacke u. s. w. einfach um eine gewisse Anzahl Centimeter verkürzt? Ebenso unrichtig wäre es, wenn wir aus lauter Utilitarismus allen sogenannten gemeinnützigen Kenntnissen anstandslos Schulthüren und Schulfenster öffnen wollten; denn erst- lich ist vieles, was der gesunde Mensch für praktisch hält, für unsere Kinder eben unpraktisch, und zweitens haben auch diese Kinder ein Anrecht auf solche Bildungselemente, die nicht gerade direkt zum späteren Broterwerb notwendig

sind. So kommt es, dass die Stoffauswahl in Idiotenschulen oft eine recht |

einseitige und unpraktische ist. Da ist auch das Wenige in vielen Fällen noch zu viel, das Viele nicht selten aber auch zu wenig. Wir stopfen unsere Kinder mit allerlei Wissensmaterial voll, das sie nicht verdauen können, und die er- nährende Milch versagen wir ihnen. Wir rüsten sie mit Dingen aus, die sie entweder nicht tragen oder nicht gebrauchen können; aber wir versäumen, ilınen die notwendige Wegezehrung mitzugeben. Auf der einen Seite thun wir, als hätten die Kinder einen Heisshunger nach unseren Speisen, und auf der andern Seite lassen wir sie verdursten. Was nützt es, einem Lahmen ein Fahrrad 20 schenken, wenn ihm der notwendige Krückstock fehlt! Welchen Wert hat es einen Blindgeborenen in der Theorie der Farbenmischung zu unterrichten, der in seinem Leben doch nie zum Maler wird! Jeder Lehrer prüfe nur einmal von diesem Standpunkt aus seine Unterrichtsarbeit, und er wird bei einiger Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit finden, dass auch er mitunter „Fahrräder“ unter seine „Geister lahmen“ verteilt und seine „Geistesblinden“ in der „Farbentheorie* unterweist.

Ein Beispiel möge dies klarer zeigen. Man setze einmal in unsere Ober- klassen den nächsten besten Zigeunerjungen, der nie in seinem Leben eine Schule gesehen hat. Vieles werden unsere Kinder infolge unserer Treibhauskultur wissen, wovon jener Wildling keine Ahnung hat; aber die Sache hat auch ihre Kehr- seite der letztere kann jenen ebensoviel oder noch viel mehr erzählen, ws; ihnen trotz ihres jahrelangen Unterrichtes noch fremd ist. Wer ist (von den religiösen Momenten abgesehen) nun besser daran? Non scholae, sed vitae est discendum. Unser Unterricht schipfe aus dem Leben und für das Leben. Keine gedrechselte Schulweisheit, aber einfache Lebenskenntnisse! Nicht schwach- sinnige Gelehrte wollen wir heranbilden, wohl aber gelehrte, d. h. verständige brauchbare Schwachsinnige. „Was nicht der gewöhnliche Mann weiss, was

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der Lehrer nicht sozusagen aus dem Ärmel zu schütteln vermag, gehört nicht in den Unterricht der Schwachsinnigen.“ Das Einfachste, das Allergewöhnlichste, was man auf der Gasse findet, ist für unsere Schüler das Beste.

Wo die Ursachen der vorhin erwähnten Einseitigkeit, an der wir fast alle mehr oder weniger kranken, zu suchen sind, haben wir schon früher angedeutet. Einmal kann der Idiotenlehrer nur schwer sich von dem Banne befreien, den seine Mutter, die Volksschule, fortwährend auf ibn ausübt. In seinem Kopfe spukt immer und immer wieder das Bildungsziel der Volksschule, und seine Schulmeisterseele kann sich nur schwer von den Schmuck- und Dekorations- stücken derselben trennen. Zum andern steht uns unsere eigene Gelehrsamkeit hindernd im Wege, wenn es gilt, mit vollen Händen aus der Unterrichtspraxis des Lebens zu schöpfen. Der Fesselballon unserer Bücherweisheit zieht uns nach oben, wenn wir in den engen Kreis der kindlichen Anschauung hinabsteigen sollen. Durch unsere Schulmeisterbrillen hindurch sehen wir immer nur das Entfernte, während wir das Nahe und Nächste liegen lassen. Und doch ist „das Gute immer so nah“. Darum nochmals: „Greif nur hinein |“

7. Berücksichtige das jeweilige Interesse deiner Kinder.

Dieser Grundsatz hängt mit dem vorigen aufs engste zusammen. Handelte es sich dort zunächst um die Auswahl des Stoffes, so kommt hier in erster Linie Zeit und Reihenfolge der Darbietung in Betracht. Wann, in welcher Anordnung sollen wir unseren Kindern das ihren geistigen Verhältnissen angemessene Wissen nahebringen ?

Auch hier wird das Natürlichste so leicht übersehen. Unser erster Blick geht wieder hinüber zur Volksschule, während wir an unsere Kinder erst in zweiter Linie denken. Ein halbes Dutzend Antworten werden wir auf die obige Frage erhalten, ehe diejenige kommt, welche am nächsten liegt, nämlich die: „Dann, wenn es die Schüler am ıneisten danach hungert!“ Oder mit anderen Worten: Wir sollen uns bei der Darbietung unserer Stoffe soweit als möglich von dem augenblicklichen Interesse des Kindes leiten lassen. Mancher Schul- mann, dem ein kunstvoll gegliedertes, idealglattes Lehrplansystem über alles geht, wird hierbei bedenklich den Kopf schütteln, und auch unter den Lehrern an Schwachsinnigenschulen dürften nicht wenige sein, die es zu extravagant finden, dass das überaus kümmerliche geistige Interesse unserer Kinder, das die erste Ursache der geringen Unterrichtsresultate ist, nun gar zum Regulator der Unter- richtsarbeit erhoben werden soll.

Dass in diesem Einwand wirklich ein Körnlein Wahrheit liegt, lässt sich nicht leugnen. Andererseits bedenke man aber auch folgendes: Wenn ein Kind an Verdauungsbeschwerden leidet und sein Appetit Tag für Tag abnimmt, sucht _ dann die Mutter etwa dadurch zu helfen, dass sie demselben bei jeder haus- ordnungsmässig wiederkehrenden Mahlzeit sämtliche aufgetragene Gerichte in den gewöhnlichen Portionen aufdrängt und es damit vollstopft, einerlei, ob das Kind Hunger hat oder nicht, ob es die Speisen mit Ekel und Widerwillen oder mit Behagen hinunterschluckt? Nein, so verständnislos ist die Mutter nicht.

54 In gesunden Tagen mag sich das Kind in die einmal festgesetzte Speiseordnung fügen, in kranken Zeiten aber steben seine schwankenden leiblichen Bediirfnisse höher als der äusserliche Mechanismus der Hausgesetze. Die Mutter wird darum sowohl in der Auswahl der Speisen als auch bezüglich der Zeit, ihrer Dar- reichung sich ganz nach den Wünschen des Kindes richten und alles andere fernhalten, was den Appetit nur verschlechtern und die Genesung verzögern könnte

Steht es aber mit der geistigen Ernährungsmethode unserer schwachsinnigen Zöglinge etwa anders? Eben weil es diesen so sehr an geistigem Appetite fehlt, müssen wir bei der Darbietung der Stoffe besondere Vorsicht und Sorgfalt be- achten. In der Volksschule mag es als etwas Selbstverständliobes gelten, dass der gesunde Lerntrieb der Kinder durch einen bestimmt festgesetzten Stoffplan geregelt wird, bei uns aber gebieten es die Verhältnisse, den Unterricht so weit als möglich dem schwachen Interesse der Schüler anzubequemen. Denn so nur besteht die Aussicht, dass wir diese geistige Grossmacht, von der nach Herbart jedes Wachstum der Seele abhängig ist, auch bei unsern Kindern nach und nach auf die Stufe grösserer Wirksamkeit erheben können. Wir müssen in erster Linie dafür sorgen, dass das Schifflein sich überhaupt bewegt, in welchem Fahrwasser und nach welchem Ziele ist zunächst gleichgiltig; später erst kann es sich darum handeln, durch das Steuer der Fahrt eine bestimmte Richtung zu geben.

Wie nimmt sich diese Forderung in der Praxis aus? Sobald wir den psychischen Zustand unserer Kinder nicht nur nach ihrem Verhalten in der Schule beurteilen, sondern auch auf die Ausserungen ihres Seelenlebens ausser- halb derselben unser Augenmerk richten, können wir ihnen eine gewisse natär- liche Neugierde, welche sich immer da zeigen wird, wo Sinnesreize am unmittel- barsten und darum am kräftigsten auf die kindliche Seele einwirken, nicht ganı ‚absprechen. Bald ist es irgend ein neuer, in die Augen springender Gegenstand, bald ein auffallender Vorgang aus der nächsten Umgebung des Kindes, bald ein wichtiges Ereignis in seinem persönlichen Leben, was die Aufmerksamkeit ‘und geistige Teilnahme in besonderer Weise auf sich lenkt. Nun giebt es aber keinen Seeleninhalt, über den das Kind leichter verfügen würde und der ihm fassbarer und naheliegender wäre, als eben derjenige, welcher im Brennpunkte -des augenblicklichen Interesses steht. Wir werden darum auch, falls wir dem instinktiven Bildungstriebe nicht geradezu entgegenarbeiten wollen, diesem Winke der Natur in ausgedehntestem Masse Folge leisten. Oder wollen wir, wenn der Schüler uns sozusagen selbst bei der Hand nimmt und zu einem Gegenstande hinführt, ihn zurückweisen und ihn gewaltsam auf unsere Wege schleppen, weil nur weil in unserer Schule ein Stundenplan und ein Lehrplan hängen, die für diesen Augenblick etwas anderes vorschreiben ? Freue dich doch, das: deine kranken Kinder einmal einen wirklichen Hunger haben und nicht nur einen solchen, den man ihnen angedichtet oder anbefohlen hat. Nicht der Lehrer mit seinem Stoffplan, sondern die jeweiligen Bedürfnisse des Kindes sind in unserem Unterricht die ersten massgebenden Faktoren. Wie der Arzt bei einem Kranken zunächst nur die Genesung, das Wiedereintreten der leiblichen

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Kräfte ins Auge fasst, an die spätere Arbeitsfähigkeit des Patienten aber erst in zweiter Linie denkt, so kommt es auch bei unseren Schülern anfangs weniger auf die Erreichung irgend eines bestimmten Wissens und Könnens an, als viel- mehr darauf, dass ihre geistigen Kräfte überhaupt aus ihrem latenten Zustande herausgehoben und auf den Anfangspunkt einer stetig fortschreitenden Ent- wicklung gebracht werden. Wenn wir einen schwachen Funken zur Flamme anfachen wollen, so wissen wir recht gut, dass wir ihm anfangs nur soviel Nahrung zuführen dürfen, als seine augenblickliche Brennkraft mit Leichtigkeit verzehren kann, während ein übermässiges Anhäufen von Brennstoffen das gerade Gegenteil erzielen und die Glut vollends ganz ersticken würde. Je mehr wir uns in unserem Unterrichte von diesem natürlichen Prinzipe leiten lassen, desto mehr werden wir uns dem Ideal aller Darbietung nähern: den geeignetsten Stoff zur geeignetsten Zeit!

Aber kommen unsere Schüler ohne einen systematischen Lehrgang nicht zu kurz? Eitle Sorge ängstlicher Schulmeistergemüter! Als ob die Kinder, wenn sie nach eigenem Belieben aus der frischen, klaren Quelle des alltäglichen Lebens trinken, verdursten müssten! Manches freilich und vielleicht gerade dasjenige, was die „Glanznummern“ in unsern Lehrplänen ausmacht, werden sie unbeachtet liegen lassen, dafür werden sie umgekehrt aber auch solches zusammentragen, über das unsere Gelehrsamkeit gewöhnlich hinüberstolpert. Auch das ist kaum zu leugnen, dass speziell unsere Zöglinge infolge ibrer allgemeinen geistigen Interesselosigkeit nach verbältnismässig Wenigem verlangen, am liebsten vielleicht gar nichts wissen möchten; jedoch es fragt sich nur, was den Unterricht frucht- bringender macht, das Wenige, das die Schüler wollen, oder das Viele, das ihnen der Lehrer aufdrängt. Zudem ist es Aufgabe des letzteren, die Kinder, sobald sie einiges Interesse zeigen, so zu führen, dass ihr geistiges Auge für die Gegen- stände und Vorgänge aus ihrer nächsten Umgebung immer mehr geöffnet werde und dass ihr Wissenstrieb und ibre Neugierde sich auf immer grössere Kreise ausdehne Auch mit der gefürchteten Unordnung, die bei einem derartigen Verfahren in stofflicher Hinsicht vielleicht entstehen könnte, sieht es nicht so schlimm aus. Eine bunte Ordnung mag es am Ende geben, aber damit ist nicht gesagt, dass es auch eine regel- und ziellose Unordnung sein muss. Bei einigem Lehrgeschick kann es dem Lehrer nicht schwer fallen, auch das schein- bar Regellose unter einen einheitlichen Gesichtspunkt zu bringen und das Aus- einanderliegende enger miteinander zu verknüpfen.

Nun darf man das Bisherige aber nicht missverstehen. Sämtliche Unter- richtsfächer dem besprochenen Prinzipe unterzuordnen, ist ein Ding der Un- möglichkeit. Nur der allgemeine Anschauungs- (Sprach-) Unterricht kann hier in Betracht kommen, und auch dieser nur auf den unteren Stufen, solange den Kindern willkürliche Konzentration der Gedanken auf einen bestimmten Gegen- stand noch nicht in ausgedehntem Masse zugemutet werden kann. Allerdings bildet dieser allgemeine Unterricht in unsern Schulen den Grundstock der ge- samten unterrichtlichen Unterweisung während der 3—4 ersten Schuljahre, und es ist darum durchaus nicht unwichtig, in welcher Weise derselbe betrieben

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wird. Dass in diesem Sinne ein enges Anschliessen des Unterrichtes an die momentane Gedankenrichtung der Kinder, eine engste organische Verbindung der Schule mit den Begebenheiten und Gegenständen des alltäglichen Lebens nur von segensreicher Wirkung sein kann, dürfte ausser allem Zweifel sein.

Nirgends kann diese Verknüpfung auch leichter vollzogen werden als in unseren Anstaltsschulen. Während in der Volksschule die persönlichen Interessen- sphären der einzelnen Kinder meist recht weit auseinanderliegen, fallen sie bei den Zöglingen einer Anstalt gewöhnlich zusammen, weil hier die Kinder alle zu einer Familie gehören, in einem Hause wohnen, an einem Tische speisen, auf einem Spielplatze sich iummeln. Da ausserdem der Lehrer fast immer um die Kinder weilt, so ist auch er hinsichtlich der täglichen Ereignisse, Be- gebenheiten u. s. w., welche das allgemeine „Anstaltsinteresse“ auf sich lenken oder speziell die Kinder besonders bewegen, stets auf dem Laufenden, und nichts ist darum leichter, als dass im Unterrichte die jeweilige Gedankenrichtung der Schüler entsprechende Berücksichtigung finde. Wie viele Anknüpfungspunkte zu belehrenden Unterredungen bietet allein schon das Zusammenleben an sich, die gemeinsamen Haus-, Garten- und Feldarbeiten, die regelmässigen Spazier- gänge und Ausflüge, die gemeinschaftlichen Feiern häuslicher und anderer Feste u.8. w.! Dazu kommen noch die vielen anderen, aussergewöhnlichen Ereignisse; die in grösseren Anstalten fast an keinem Tage fehlen: ein Schüler wurde krank, der Doktor besucht ihn, man schickt in die Apotheke; der Briefbote bringt einen Brief, ein Telegramm freudige oder traurige Nachricht? Handwerker kommen ins Haus, eg wird gebaut, gemauert, gezimmert, getüncht, tapeziert u. 8. w.; eine Kutsche fährt vor, die Kinder recken die Köpfe, ein Knabe mit seiner Mutter entsteigt derselben, die Pferde stampfen und wiehern; auf dem Spaziergang lief ein Hase über den Weg, ein Hund verfolgte ihn, der Jäger schoss; in der Nacht zog ein Ungewitter über die Stadt, die Kinder sind aufgewacht, der Blitz hat einen Baum zerschmettert; winters fahren die Kinder Schlitten, formen Schnee- männer, der Schnee schmilzt jedesmal wird das kindliche Interesse angezogen, die Kinder unterhalten sich darüber, und das alles wolltest du totschweigen, wolltest mit deinen Schülern in eine öde, dürre Wüste ziehen, während nicht weit davon die unversiegliche Quelle des Lebens in voller Frische sprudelt? Während die Köpfe und Herzen deiner Kinder überfliessen von der Freude auf das nahende Weihnachtsfest, willst du dieser mächtigen Gedankenströmung dich entgegenstemmend von allem Möglichen dozieren, nur nicht von dem immergrünen Tannenbaum, von dem gedeckten Weihnachtstisch u. s. w., willst nicht die Weihnachtsgeschichte besprechen und keine Weihnachtsgeschichten erzählen? Benütze die günstige Gelegenheit, ehe sie entrinnt, und streue den Samen aus, solange der Boden locker ist!

Doch um es nochmals zu erwähnen später ist auch darauf Bedacht zu nehmen, dass die natürliche Neugierde des Kindes allmählich zur willkür- lichen Aufmerksamkeit geführt, überhaupt das Interesse in ruhigere, geordnete Bahnen gelenkt werde. Das ist aber nicht so zu verstehen, als ob dann der gesamte Unterricht in die engen Schablonen eines festen Lehrplanes eingezwängt

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werden müsste. Wenn jetzt auch der systematisch fortschreitende Unterricht in den Vordergrund tritt, so darf darum das jeweilige Interesse der Schüler doch nicht ganz ignoriert werden. Nach wie vor hat die Schule mit dem Leben enge Fühlung zu halten, und jedes wichtigere Ereignis muss in den einzelnen Klassen je nach dem Stande der. Schüler ein stärkeres oder schwächeres Echo finden.

8. Lege in deinem Unterrichte den Schwerpunkt in die formale Denkthätigkeit.

Für keinen Lehrer ist die Gefahr grösser, in den Fehler eines einseitigen Unterrichtsmechanismus zu verfallen, als für den Idiotenlebrer. nirgends ist es aber auch schwerer, den Unterricht auf das Prinzip formaler Verstandesbildung zu stellen, als in Schwachsinnigenschulen. Denn freie, selbständige Denkthätig- keit, o das ist bei unseren Kindern eine sehr seltene Ware, während umgekehrt ein rein mechanisches Gedächtnisvermögen bei ihnen oft im Übermasse vor- handen ist. Letzteres mag dem Fernerstebenden vielleicht unbegreiflich klingen, aber tbatsächlich leisten einzelne unserer Kinder im mechanischen Wort- behalten oft bedeutend mehr als ihre gesunden Altersgenossen, obgleich ihre übrigen geistigen Kräfte weit hinter dem normalen Masse zurückbleiben. Jeden- falls ist das es eine anerkannte Thatsache, dass das Gedächtnis im allgemeinen von der geistigen Demenz weniger betroffen wird als das Erkenntnis- und Urteilsvermögen. Daraus lässt sich auch erklären, warum der Idiotenlehrer immer wieder dazu verleitet wird, in seinem Unterrichte sich einseitig an das mechanische Behaltungsvermögen seiner Schüler zu wenden; denn bier lassen sich bei verhältnismässig geringer Mühe recht bald schöne Erfolge erreichen, während eine rationelle Verstandeskultur trotz der dabei notwendigen intensivsten Arbeitsleistung meist nur dürftige Resultate erzielt, die den vorigen wenigstens dem äusseren Anscheine nach fast immer weit nachstehen.

Und doch ist die Vernunft, ein freies, selbständiges Urteilsvermögen, das erste und höchste Ziel, dem aller —- auch unser Unterricht zuzustreben hat. Was nützt all der bunte Wissenskram, der in den Köpfen unserer Kinder auf- gespeichert wird, wenn es an der Herrscherin über diese Masse, an der frei schaltenden. Denkkraft fehlt? Welchen Wert hat das leichte Papiergeld billiger Bücherweisheit, wenn es an der Fähigkeit mangelt, dasselbe in die gangbare Münze praktischer Lebenstüchtigkeit auszuwechseln ? Im Gegenteil, es schadet nur! Denn muss unter dem toten Haufen tauber Wortgelehrsamkeit nicht vollends der letzte Funke des schwachen Geisteslebens ersticken? Wird durch eine unverständige Überbürdung des Gedächtnisses dem Verstande nicht auch noch die letzte spärliche Nahrung entzogen? Nur keine vielwissenden Hohl- köpfe, keine tanzenden Krückenmänner!: Besser ein Kern ohne Schale, als eine glänzende Schale ohne den brauchbaren Kern. Freilich „mechanischer Drill besticht und lobt den Exerziermeister“. Es ist viel leichter und bringt mehr Anerkennung, seine Kinder mit glänzendem Flitter und bunten Lappen zu um- hängen, statt ihnen ein einfaches, wärmendes Hemd auf den Leib zu schaffen; es ist leichter, ihre hohlen Köpfe von aussen mit phrasenhafter Vielwisserei zu

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füllen, statt durch sorgsame Pflege das Wachstum der geistigen Kräfte von innen heraus zu fördern leichter, aber eines gewissenhaften Erziehers nicht wirdig!

Bei der praktischen Anwendung des aufgestellten Grundsatzes muss eine negative und eine positive Seite unterschieden werden. Negativ: Vermeide alles, was nur auf mechanischen Drill, auf geistlosen Verbalismus hinausläuft oder der natürlichen Neigung der Kinder zur Denkträgheit Vorschub leisten könnte. Positiv: Stelle in jedem Unterrichtsfach die erkenntnismässigen Momente in den Vordergrund, dringe mit eiserner Konsequenz auf die logische Erfassung derselben und gehe nicht eher weiter, als bis die Kinder alles verstanden haben.

Eine weise, massvolle Gedächtnispflege, die sich sowenig als möglich und nur in den notwendigsten Fällen auf rein mechanisches Wiederholen und Ein- pauken stützt, ist dabei das erste. Nur das Allernotwendigste sollte man den Schwachsinnigen zur wörtlichen Aneignung aufgeben, Bibelsprüche und Lieder- verse, aber in sehr beschränkter Zahl und selbstverständlich nie, ohne ihren In- halt dem kindlichen Verständnis zuvor nach allen Seiten erschlossen zu haben. Was über die Fassungskraft der Schüler geht, was ihnen nur mit Mühe und Not erklärt werden kann, sollte man überhaupt nicht memorieren lassen. Besser garnichts als Unverstandenes! Die Kinder werden dadurch nur „in dem schäd- licben Irrtum bestärkt, dass etwas mit Worten hersagen können und etwas ver- stehen einerlei sei“. Jeder Satz, ohne Verständnis auswendig gelernt, bedeutet einen Stein, der auf den Ackerboden geworfen wird, aus dem die selbständige Denkkraft emporkeimen soll. Namentlich hüte man sich, dass beim ersten Leseunterricht im Schüler nicht der Grund zu einer gedankenlosen Geschwätzig- keit gelegt werde. Solange das Kind im Hause der Eltern weilte und mit seinen Spielkameraden verkehrte, ist wohl kaum ein Wort über seine Lippen gekommen, dessen begrifflicher Inhalt ihm fremd gewesen wäre, und nun, da es in die Schule geht, soll es lernen, sich gegen dieses natürliche Gesetz des Geistes zu versindigen? Ganz abgesehen davon, dass ein auswendiges Hersagen des zu lesenden Stoffes der Erzielung einer sicheren Lesefertigkeit hindernd im Wege steht, muss dieses die Kinder auch an mechanische Mundarbeit gewöhnen, bei der jede bewusste Geistesthätigkeit fehlt. Aus diesem Grunde sind auch sinnlose Buchstabenzusammensetzungen (von den allerersten, unumgehlichen ab- gesehen) als Leseübungen zu verwerfen. Was dabei auf der einen Seite an mechanischer Lesefertigkeit gewonnen werden mag, geht auf der andern Seite an psychologischer Wirksamkeit für die Entwicklung der formalen Denkkraft verloren. Vom ersten Augenblick des Unterrichtes an muss in die Kinder das instinktive Bewusstsein hineingepflanzt werden, dass man bei jedem Worte, das man spricht, „sich auch etwas denken“ müsse.

Mit nicht geringerem Nachdruck ist auch in positiver Weise auf die formale Verstandesbildung hinzuarbeiten. Gerade weil es den schwachsinnigen Kindern so sehr an der Fähigkeit des freien, selbständigen Urteilens mangelt, muss der Lehrer mit doppelter Sorgfalt bestrebt sein, auf Schritt und Tritt ihre Er- kenntnisthätigkeit wachzurütteln und sie zum Urteilen, Überlegen und Denken

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anzuhalten. Eine Unterrichtsstunde, in der nicht die Denkkraft der Schüler an- geregt, nicht Geistesgymnastik getrieben wurde, hat ihren Zweck zur Hälfte, wenn nicht ganz verfehlt.

Dabei beruhige man sich ja nicht mit der namentlich in unseren Schulen so häufig gehörten Phrase von der „gemütlichen Anregung“, die gewöhnlich da herhalten muss, wo es mit den wirklichen Unterrichtserfolgen nicht besonders glänzend steht. Ein Lehrer, der bei der Bewertung seines Unterrichtes zu der gemütanregenden Wirkung seine Zuflucht nehmen muss, gleicht fast auf ein Haar jenem Jungen, der bei der Ausarbeitung seiner häuslichen Schulaufgaben sanft eingenickt war und, als ihn sein Vater fragte, was er treibe, zur Antwort gab: „Stille Denkübungen !“ Wer wollte ihm das bestreiten? Mag man sonst noch 80 sehr von dem erzieherischen Werte einer wirksamen Gemütspflege über- zeugt sein und bei normalen Kindern am Ende auch eine unmittelbare An- regung des Gemütes für möglich halten, bei unseren Kindern kann auf keinen Fall von einer gemütbildenden Wirkung des Unterrichtes die Rede sein, solange es ihnen an dem sachlichen Verständnis des dargebotenen Stoffes fehlt. Und wenn man uns hundertmal entgegenhält, dass auf die Gefühle unserer schwach- sinnigen Zöglinge im Unterricht auch ohne Vermittlung der Erkenntnisthätig- keit eingewirkt werden könne, so erwidern wir hundertmal, dass das blosse Ein- bildung, sentimentale Gefühlsduselei sei. Was die Kinder nicht verstehen, das läuft entweder an ihnen hinunter wie der Regen an dem fettigen Gefieder unserer Wasservögel, oder es liegt ihnen wie Kieselsteine im Magen. Allerdings ver- sinken unsere Schüler, sobald man sie mit Fragen nicht weiter „belästigt“ und auch im übrigen ibr „Stillleben“ nicht ernstlich stört, meist in einen gewissen Zustand „gemütlicher“ Ruhe, den ein kurzsichtiger Erzieher da die Kinder dabei den äusseren Anschein der Aufmerksamkeit nicht verlieren leicht als Zeichen innerer „Ergriffenheit“ betrachten könnte. Aber der Himmiel bewahre unsere Schulen vor dieser Art Gemütsanregung, die dem behaglichen Nichtsthun, der träumerischen Stille eines süssen Schlaraffenlebens zum Verwechseln ähnlich sieht. So wenig die Wurzelfasern der Pflanzen Nahrungsstoffe in fester Form aufsaugen können, so wenig ist das Herz im stande, die in einer Erzählung oder Besprechung u. s. w. enthaltenen gemütlichen Momente aufzunehmen, wenn nicht durch den Verstand oder die Erkenntnistbätigkeit der sachliche Inhalt des Ge- botenen in seine begrifflichen Elemente aufgelöst wird. Also auch von diesem Gesichtspunkte aus müssen wir vom Unterrichte bei Schwachsinnigen verlangen, dass er sich in erster Linie an das Urteilsvermögen der Kinder wende und stets darauf Bedacht nehme, die schwache Denkthätigkeit derselben anzuregen und zu fördern.

Selbstverständlich wollen wir aber mit unsern Schülern nicht das Fliegen probieren, ehe sie gehen können. Auch für die selbständige Denkthätigkeit ist und bleibt die konkrete Anschauung die Grundlage, aus der alle weitere Geistes- kräfte sich entwickeln. Doch schon hier also auf der Stufe des sinnlichen Wahrnehmens und Erkennens kann und muss der Boden für das Wachstum eines abstrakten und selbstthätigen Denkvermögens vorbereitet und gelockert

werden, indem man mit peinlicher Sorgfalt und Genauigkeit auf eine treue, be- stimmte Auffassung der konkreten Gegenstände und Thatsachen hält, dem Schüler in dieser Weise klare und deutliche Vorstellungsbilder verschafft und ihn all- mählich auf dem Wege des Vergleichens und Abstrahierens zu abstrakten Be- griffen führt. Überhaupt sind „klare, anschauliche Darstellung, scharfe, gründ- liche Gliederung der Gedanken und streng lückenloser Fortschritt“ die Haupt- momente jedes geistbildenden Unterrichts. Dabei darf es auch nicht an der strammen Schulzucht und der persönlichen Energie des Lehrers fehlen. Bei aller Nachsicht und Geduld, die man diesen geistesarmen Kindern einerseits entgegen- bringen muss, ist es andererseits doch auch wieder nötig, dass sie energisch an- gefasst und ab und zu kräftig wachgerüttelt werden. Wie viel der Lehrer in dieser Hinsicht allein schon durch sein persönliches Auftreten, durch die Frische und Beweglichkeit, mit der er den Unterricht leitet, ausrichten kann, ist eine binlänglich bekannte Sache. Aber damit soll es auch genügen. Wer nicht soviel autoritative Macht über seine schwachsinnigen Schüler besitzt, um sie allen- falls noch mit Strafworten u. s. w. leiten und anspornen zu können, der dürfte auch mit dem Stock, der in den Händen des Idiotenlehrers immer etwas Bedenkliches ist, kaum mehr erreichen.

Nun aber noch eins. Wer it geringen Kräften etwas Gutes leisten will, darf diese nicht auf einen weiten Kreis zerstreuen. Hüten wir darum unseren Unterricht vor jener seichten Verflachung des Wissens und Könnens, die der Tod jeder freien, geistigen Regsamkeit ist, sammeln wir vielmehr die schwachen Kräfte unserer Kinder im engsten Raume. Nur wenn wir am Einfachen in die Tiefe und Höhe bauen und uns nicht in die Weite und Breite verlieren, werden wir unsere Schüler zur Selbständigkeit im Denken führen. Allerdings ist das Graben in die Tiefe und das Bauen in die Höhe eine mühevollere Arbeit als das Schwärmen und Schwadronieren auf ebener Erde. Dürfen wir uns aber des- halb zurückschrecken lassen? Wer die Mühe des Grabens scheut, der bleibe unseren Schulen ferne!

9. Rege zur Selbstthätigkeit an.

Selbstthätigkeit und Denken sind Blüten an einem Zweige. Ohne geistige Selbstthätigkeit kein Denken, ohne Denken keine geistige Selbstthätigkeit. Eins wächst und reift durchs andere, wo das eine fehlt, kann das andere nicht ge- deihen. Wollen wir also unsere schwachbegabten Schüler zu dem Ziele führen, das uns nach dem vorigen Abschnitt als das erstrebenswerteste erschien, so dürfen wir die Erziehung zur Selbstthätigkeit nicht vernachlässigen, andernfalls würden wir dem Techniker gleichen, der eine Maschine baut, dabei aber vergisst, für die Triebkraft derselben, den Dampf zu sorgen.

Wenn wir vor unseren Klassen stehen und jenen geistigen Rapport zwischen uns und den Schülern herzustellen uns bemühen, aus dem allein die natürliche Frische und lebensvolle Kraft jedes Unterrichtes entspringt, da fühlen wir ge- wöhnlich erst recht deutlich, wie leer und erstorben es in unsern Kindern aus- sieht. Da ist nicht jenes fröhliche Vorwärtsdrängen, jenes jugendfrische Streben,

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das unsere Herzen in normalen Schulen oft so wohlthuend berührt, eher könnte man glauben, das bekannte „Totenfeld‘“ des Hesekiel vor sich zu haben, und man wünscht unwillkürlich, dass auch hier ein „lebendiger“ Wind über die „Toten- gebeine‘“ wehte und sie zu neuem Leben erweckte. Und ist es ganz unmöglich, dass ein solcher lebendiger Geistesodem in die Kinderherzen hineinblase? Durch- aus nicht! Zum Fenster herein wird er allerdings nicht kommen, er muss aus der Persönlichkeit des Lehrers, aus seinen Worten, seinen Blicken, seinem ganzen Auftreten herauswehen. So schwach sind unsere Kinder doch nicht, um nicht durch ein packendes Vorbild angeregt und angefeuert werden zu können. Ihnen gegenüber ist ein reiches Mass lebendiger Beweglichkeit eher am Platze, als jene stoisch phlegmatische Gemütsruhe, die sich durch nichts erschüttern lässt. Sprudeln und rauschen muss es aus dem Herzen des Lehrers wie aus einem Born, der das dürre Land ringsum bewässert, und gewiss wird es dann auch bald zu sprossen anfangen.

Doch wenn auch auf die Auregung der Kinder durch die Persönlichkeit des Lehrers in diesem Falle sehr viel ankommt, so kann sie allein doch nicht genügen, es muss noch eine besondere direkte Pflege des schwachen kindlichen Thätigkeits- triebes hinzutreten. Nur zu leicht lassen wir uns durch die Unbeholfenheit und Unselbständigkeit unserer Schüler dazu verleiten, ihnen ihre geistige Nahrung picht nur mundgerecht vörzubereiten und darzubieten, sondern sie auch noch förm- lich vorzukuuen und als flüssigen Brei in die halbgeöffneten Schnäbel hinunter- zustopfen. Dass durch ein derartiges Verfahren die Unselbständigkeit der Kinder nur noch mehr grossgezogen wird, liegt auf der Hand. In einzelnen Fällen mag man sich mit einem derartigen Ammendienste behelfen, im allgemeinen gilt aber auch bei den Schwachbefähigten der Grundsatz, dass das Wesen jedes frucht- bringenden Unterrichtes nicht in einem passiven Hinnehmen des Unterrichtsstoffes seitens der Kinder liegt, sondern in einem geistigen Verarbeiten und Erarbeiten desselben. Nicht was die Schüler wissen, nur was sie können, hat für sie wirklichen Wert. Darum: Selbstbeobachten, Selbstmessen, Selbstfinden, Selbst- denken, Selbstsagen, Selbstthun!

Gerade bei schwachbefähigten Kindern gilt das wieder in ganz besonderem Masse. Es ist eine bekannte Thatsache, dass die geistigen Kräfte und Anlagen, je geringer sie sind, desto mehr unter den Folgen eines Brachliegens notleiden, und schon manches geistesschwache Kind, das bei entsprechender Behandlung noch zu retten gewesen wäre, ist nur darum vollends in den Zustand tierischen Blödsinns versunken, weil man es zu Hause aus träger Bequemlichkeit oder aus gedankenloser Gleichgiltigkeit jahrelang sich selbst überliess. Aber auch in der Schule zeigt sich recht häufig, dass Schüler, die sich nicht selbstthätig am Unter- richte beteiligen und vom Lehrer nicht genügend angeregt werden, in ihren geistigen Fähigkeiten bald rapide zurückgehen. Wenn unsere Kinder in der Schule völlig beschäftigungslos dasitzen, so bringt der Unterricht ihnen nicht nur keinen Segen, sondern er ist für sie sogar ein Fluch. Ja, wenn sie dabei wenigstens mit den Händen etwas treiben oder mit den Gedanken spazieren gehen würden, so wäre das doch eine Beschäftigung, die den Geist wach hält; aber jenes stiere, dumpfe Hinbriiten wie ein schleichendes Gift muss es auf ihren

geistigen Zustand wirken. Und doch, wie leicht und wie oft fehlt der Idioten- lehrer auch in dieser Richtung, indem er sei es aus Gedankenlosigkeit oder in Rücksicht auf ein rascheres Vorwärtskommen die Schwächsten seiner Schwachen neben den „Besseren“ vernachlässigt. Es ist eben nur zu menschlich, dass man die schwergehenden Pumpbrunnen stehen lässt, wenn man das Wasser unmittelbar aus einer fliessenden Quelle schöpfen kann. Aber man vergesse nicht, dass das Bild noch weiter angewendet nicht das der Zweck des Unter- richtes ist, dass der Lehrer Wasser bekommt, sondern dass die Brünn- lein und Bächlein Wasser geben.

„Statt dass der Lehrer viel redet, muss er die Kinder soviel als möglich reden lassen, statt dass er alles thut, muss er die Kinder zur Mitthätigkeit beranziehen, das nachmachen lassen, was er vormacht, sie angreifen und zeigen lassen, worauf es bei einer Sache gerade ankommt, sie darstellen lassen, was sie gesehen haben oder was besprochen worden ist, soweit sie das vermögen, sei es durch Stäbchenlegen oder Zeichnen oder Flechten u. 8. w., sie müssen beim Rechnen die veranschaulichenden Operationen selbst vornehmen, sei es mit der Rechenmaschine oder dem Rechenbrett oder mit Strichen, mit Stäbchen, mit Fingern und dergl“.*) Überhaupt müssen wir uns immer bewusst bleiben, dass unsere ganze Erziehungsthätigkeit nur ein Pflegen und Begiessen von aussen ist und erst in zweiter Linie kommt, während die im Kinde schlummernden Kräfte, die sich unter dem Einfluss unserer Unterrichtskunst zur freien Selbst- thätigkeit entfalten sollen, die primäre Stellung einnehmen. Der Lehrer soll sich also nicht selbst an den Unterrichtswagen spannen, indem er für seine Schüler beobachtet, urteilt, denkt u. s. w., sondern er soll ihn bloss lenken und leiten und den Kindern Anleitung geben, wie sie am besten vorwärts kommen. Nicht darauf kommt es an, wie weit der Lehrer es mit seinen Schülern bringt, sondern darauf, wie weit die Schüler unter Führung des Lehrers kommen. Dabei wird allerdings der Lehrer bei Schwachsinnigen seinem eifrigen Vorwärts- streben oft Zügel anlegen und sich mit einem langsameren Fortgang des Unter- richtes begnügen müssen, allein was dadurch für das glänzende Blätterwerk des Wissens vielleicht verloren gehen mag, das wird in reicherem Masse durch die wer<vollste Frucht des Unterrichts Selbständigkeit im Denken und Thun ersetzt.

Schluss.

Wenn wir zum Schlusse den zurückgelegten Weg überblicken und uns die angeführten Grundsätze in ihrem Zusammenhange nochmals vor die Augen stellen, so drängt sich uns unwillkürlich zweierlei auf: einmal die Erkenntnis, dass der "Unterricht bei Schwachsinnigen ungleich höhere Anforderungen an die Tüchtig- keit und Arbeitskraft des Lehrers stellt, als derjenige in der gewöhnlichen Volks- schule, zum andern aber auch ein gewisses Gefühl des Unvermögens, diesen An- forderungen in der erwünschten Weise und nach jeder Richtung nicht volle Genüge leisten zu können. In der That ist es nichts Leichtes, einem mageren Erdreich die spärlichen Früchte abzugewinnen, ja sie ihm geradezu abzutrotzen;

*) Aus „Über den Unterricht schwachsinniger Kinder“ (Zeitschrift, Jahrgang 1898).

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das erfordert viel Fleiss und Arbeit und einen hohen Grad von Verständnis und Geschicklichkeit. Aber nicht bloss das! Wer es unternimmt, in unwirtlicher Gegend ertragfähiges Ackerland anzulegen, der darf nicht nur mit starken Armen und reichen Erfahrungen dahin ziehen, sundern der muss auch Schätze unver- wüstlicher Arbeitsfreudigkeit und ein ordentliches Stück Idealismus bei sich im Herzen tragen, durch die er in Zeiten der Verzagtheit und des Wankelmutes über die beschwerlichen Sorgen seiner Arbeit emporgehoben wird. Mit anderen Worten: Nicht als mechanische Arbeitsmaschinen, als bezahlte Taglöhner dürfen wir in unsere Schulen hineintreten, sondern als Männer, die trotz der äusser- lichen Unscheinbarkeit ihrer Arbeit dennoch ihre Persönlichkeit voll und ganz in den Dienst derselben stellen. Der Lehrer mag noch so gehr mit pädagogischer Weisheit beladen sein und noch so viel Geschicklichkeit in der praktischen Aus- übung der methodischen Grundsätze besitzen wenn sein Unterricht nicht von der still wirkenden Macht seiner voll und ganz sich hingebenden Persönlichkeit getragen wird, wenn sich nicht sein Ich in all’ seinem Thun und Handeln aus- strahlt, dann wird seine Unterrichtsthätigkeit kaum über die niedere Stufe einer mechanisch sich abwickelnden Zungenarbeit hinausgehen. Dies die Persön- lichkeit des Lehrers ist auch der Brennpunkt, in dem sich sämtliche Er- ziehungs- und Unterrichtsgrundsätze vereinigen. Wer es in dieser Hinsicht an nichts mangeln lässt, der hat wahrlich genug gethan; denn „mehr als sich selbst kann niemand geben“. Mag uns darum auch einerseits bei dem Gedanken an unsere pädagogische Unvollkommenbeit bange Mutlosigkeit beschleichen, so kann uns doch andererseits das Bewusstsein einer aufrichtigen persönlichen Hingabe an die Kinder mit beruhigendem Trost erfüllen.

Worin besteht aber diese persönliche Hingabe? In nichts anderem als in reiner, herzlicher Liebe. Sie ist der strahlende Diamant unter den Lehrertugenden, die wärmende und leuchtende Sonne, von der in unseren Schulen alles Leben ausgeht. Wenn der Lehrer nicht von jener erbarmenden Liebe getrieben wird, die in inniger Gottesliebe ihren Ursprung hat und in allen Menschen auch in den Schwächsten und Geringsten das göttliche Ebenbild, den ewigen Geistesfunken liebt und achtet, die jedem in milder Güte entgegenleuchtet, keines von sich stösst und auch an den kleinsten kindlichen Freuden und Leiden warmen Anteil nimmt; wenn sein Herz nicht von dieser göttlichen Liebe durch- glüht ist: wie kann dann zwischen ihm und seinen geistesschwachen Kindern jenes herzliche Verbältnis entstehen, von dem bei uns fast alle erspriessliche Unterrichtsarbeit abhängt? woher sollte er die unverwüstliche Geduld und zähe Ausdauer nehmen, ohne die bei schwachbefähigten Schülern nun einmal nichts auszurichten ist? was sollte ihn mit immer neuer Arbeitsfreudigkeit erfüllen, wenn in trüben Stunden des Misserfolges Unmut und Verzagtheit an seinem Herzen nagen und ihm sein ganzes Thun als etwas völlig Zweckloses erscheinen will? was könnte ihm schliesslich jenen selbstlosen Sinn geben, der bei allem Mangel an glänzenden Erfolgen doch die Berufsbefriedigung nicht verliert und unbekfimmert um die Anerkennung oder Nichtanerkennung der Welt treu und still auf dem bescheidenen Arbeitsfelde weiterwirkt?

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Ja, Liebe ist das erste und letzte Geheimnis der Idiotenerziehung; sie ist ‘nicht nur der belebende Sonnenschein, in dem unsere schwachen Pflänzlein allein gedeihen, sie ist auch die Quelle, aus der wir Lehrer täglich Arbeitsmut und Berufsfreudigkeit schöpfen müssen. Nur aus ihr kann uns jener unverbleichliche Idealismus, jene edle Begeisterung fliessen, in denen wir trotz aller Mühselig- keiten und trotz der vielen Misserfolge ausrufen: Und es ist doch etwas Schönes, diesen Ärmsten am Geiste, diesen Geringsten unter dem Volke, zu dienen!

Die Entstehung des Gedankens, besondere Schulen für

schwachsinnige Schüler zu errichten, und die Art, wie

dieser Gedanke in der Nachhilfeschule zu Dresden- Altstadt Verwirklichung gefunden hat.

Von Paul Tätzner.

In der grossen, reich gegliederten Kette der Erziehungs- und Unterrichts- austalten steben die Hilfsschulen, sofern man an die Zeit ihrer Gründung denkt, in letzter Linie; denn sie sind Kinder der jüngstvergangenen Zeit. Ihre Entstehung ist zurückzuführen auf Einflüsse, die in dem Bestreben sich gipfelten, jeder Mensch müsse dasjenige Mass von Ausbildung erhalten, zu dem er nach seiner gesamten Beanlagung befähigt sei.

Man hätte meinen sollen, dass bei Einführung des allgemeinen Schulzwanges auch die Frage mit aufgeworfen worden wäre: Wie sorgen wir für die Ausbildung jener nicht normal befähigten Kinder, die in der Volksschule und naturgemäss noch viel weniger in der höheren Schule eine Förderung in intellektueller und sittlicher. Beziehung nicht finden können? Man war sich aber von vornherein klar darüber gewesen, welche Unmasse von Schwierigkeiten bei Durchführung des Schulzwanges entstehen müsste; darum erörterte man nur das Allernotwendigste. Bei dem in früberer Zeit geforderten niedrigen Masse allgemeiner Bildung und bei der übergrossen Nachsicht, mit welcher man das Wissen und Können des ‚einzelnen Menschen beurteilte, trat überhaupt die geringe Beanlagung des einen oder des andern weniger hervor, und im übrigen vertrat man zumeist die Ansicht: Der Schwachkopf nützt dem Staate und der Gemeinde nichts; darum brauchen wir uns auch um seine Erziehung nicht zu kümmern. Dabei tröstete man sich mit dem scheinbar ans biblischen Reflexionen gewonnenen Satze: Jeder Mensch ist ein Geschöpf Gottes, mithin auch der Dummkopf. Hätte Gott gewollt, dass auch der Dumme grössere geistige Fortschritte mache, so hätte er ihn anders ‚geschaffen.

Man schickte die geistig Armen in die Volksschule, nicht fragend, ob sie dort etwas lernen konnten oder nicht, auch nicht erwägend, wie hemmend diese Unglücklichen trotz der damals vorherrschenden mechanischen Unterrichtserteilung auf das Getriebe in der Schule einwirken mussten. Dass sie, geistlosen Blickes hinstierend und durch ihr ganzes Gebaren die Lach- und Necklust der Mitschüler fortwährend reizend, durch das Zusammensein mit anderen Schülern noch mehr

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verschüchtert warden, oder dass sie sich in impulsiver Art für all das whdet?‘“ νννα wärtige, das sie zu leiden hatten, zu rächen suchten und dadurch schliesslic

den Weg zum Bösen geführt wurden, beachtete man nicht.

Noch schlimmer waren diejenigen daran, die so das Gepräge des Idiotismus an sich trugen, dass ihnen die Volksschule den Eintritt verwehrte. Diese wuchsen vollständig ohne Unterricht und Zucht auf; sie gingen, sofern sie nicht durch körperliche Gebrechen daran gehindert wurden, bettelnd von Thür zu Thür. Man behandelte sie vielfach wie Tiere; im Sommer waren die Früchte des Feldes ihre Nahrung, und der Wald bot ihnen Unterschlupf; im Winter aber nıussten sie sich - von Küchenabfällen nähren, und die Streu des Stalles war ihr Lager.

Das Schicksal dieser Tiefunglücklichen sollte am ehesten eine Wendung zum Besseren finden. Unser Sachsenland war der erste Staat, der Hilfe brachte. Dr. Ettmüller, Bezirksarzt zu Freiberg, gedachte 1843 in einer Sitzung des Vereines für Staatsarzneikunde dieser bedauernswerten Menschen. *) Er führte in einem auf der Basis klarer Sachkenntnis sich erhebenden und von dem Gefühle wahrer Menschenliebe durchdrungenen Vortrage aus, dass unser Sachsenland, klein an Umfang, doch viel grössere und volkreichere Staaten durch die Zahl und durch die Einrichtung solcher Anstalten übertreffe, welche dem Gemeinwohle, der Pflege und Versorgung Hilisbedärftiger und der Herstellung geistig und moralisch Kranker gewidmet seien; leider aber bleibe eine Menge dem traurigsten Lose Anheimgefallener übrig, auf deren Ausbildung die Fürsorge des Staates sich noch nicht erstrecke. Es seien dies die blödsinnig geborenen Kinder..

Infolge dieses warmen Appells an die werkthätige Menschenliebe brachte am 20. Februar 1846 die II. Kammer unseres Landes an die hohe Staats- regierung einen Antrag ein, in welchem der letzteren zur Erwägung anheim- gegeben wurde, „ob und auf welche Weise der Staat für Heilung, Verpflegung und Beaufsichtigung der Blödsinnigen im Lande Hilfe gewähren könne.“ **)

Da namentlich Se. Excellenz der Herr Staatsminister von Falkenstein sehr warm für diese Angelegenheit eintrat und grösstmögliche Förderung zusagte, konnte schon am 3. August des Jahres 1846 eine Erziehungsanstalt für blödsinnige Kinder eröffnet werden. Diese Anstalt wurde in dem ehe- maligen Jagdschlosse zu Hubertusburg eingerichtet und den bereits dort bestehenden Landesanstalten eingegliedert. War unser Sachsen der erste Staat gewesen, der ein Irrenhaus eingerichtet hatte, so gebührt ihm auch der Ruhm, der erste Staat gewesen zu sein, der Hand anlegte, dass den blödsinnigen Kindern Hilfe gebracht wurde. Es bestanden zwar schon damals einige Bildungsanstalten für blödsinnige Kinder, so z. B. die von Goggenmoos in Salzburg, die von Dr. Guggenbühl auf dem Abendberge bei Interlaken und die von Dr. Kern zu Gohlis bei Leipzig; aber das grosse Verdienst, das dem sächsischen Staate durch die Gründung der Hubertusburger Anstalt zukommt, wird dadurch nicht ge-

*) C. Gläsche, Erster Bericht über die Erziehungsanstalt für blödsinnige Kinder zu Hubertusburg. 1854. Leipzig, Reclam sen. **) Landtagsmitteilungen vom 6. März 1846 (cfr. Gläsche, vorgenannten Bericht).

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schmälert; denn durch die staatliche Fürsorge wurde die Anteilnahme eine allgemeinere und in vielen Fällen auch eine opferfreudigere.. Namentlich kam die gedachte Gründung allen den Blödsinnigen zu gute, deren Versorger nicht im Besitze ausreichender Geldmittel waren.

Hatte man bei Einrichtung der Hubertusburger Anstalt ausdrücklich erklärt, es handle sich nur um Anstellung eines Versuches der Erziehung und Empfänglichmachung für den ordentlichen Schulunterricht, so lehrten die ge- wonnenen Resultate bald, dass die Anstalt einem langgefühlten Bedürfnisse in

- bester Weise entgegenkam und dass durch sie die gehegten Hoffnungen überreich

erfüllt wurden; darum wurde durch eine am 14. Januar 1852 erlassene Ver- ordnung des Ministeriums des Innern verfügt, die versuchsweise errichtete Anstalt zur Ausbildung blödsinniger Kinder solle definitiv als öffentliche Anstalt gelten. Die Anstalt hätte trotz aller gewährten Subventionen nicht so schnell und so intensiv hervorragend Gutes leisten können, wenn es nicht der hohen Staatsregierung gelungen wäre, in der Person des Oberlehrers Karl Gläsche einen pädagogischen Leiter zu gewinnen, der nach allen Richtungen bin sich als der rechte Mann für das schwierige Werk erwies.*) Die von diesem echten Jünger Pestalozzis in den Jahren 1854 und 1858 erschienenen öffentlichen Berichte über die von ihm geleitete Erziehungsanstalt bringen eine Fülle des besten ein- schlagenden Materials und zeugen von einer scharfen Beobachtungsgabe, durch welche es möglich wurde, zum Ziele führende Wege einzuschlagen auf einem Gebiete, das den Pädagogen bis dahin ferngelegen hatte. Ganz besonders gaben die von Gläsche dargelegten Entwickelungsgeschichten über die zur Aufnahme in die Anstalt gelangten Zöglinge treffliche Fingerzeige für Behandlung blöd- sinniger Kinder.

Schon damals stellte es sich aber heraus, dass für die Erziehungsanstalt zu Hubertusburg Kinder angemeldet wurden, die nicht Aufnahme finden konnten, weil sie, obwohl an geistiger Schwäche leidend, geistig zu hoch standen, um als Idioten bezeichnet werden zu müssen. Hätte die Staatsanstalt auch solche Kinder erziehen wollen, so würden trotz mehrfacher Vergrösserung, die die Anstalt im Laufe der Jahre erfahren hatte, die Räume nicht im entferntesten ausgereicht haben, und auch der Erziebungsplan hätte einen Wechsel erfahren müssen.

Die meisten der Abgewiesenen wanderten in die Volksschule zurück. Wie können aber in der Volksschule mit ihren gefüllten Klassen diejenigen Förderung finden, die allzu langsam im Denken und Urteilen sind, die nur schwer dazu gewonnen werden, das nächstliegende Sinnliche zu percipieren, und die bei dem überaus notwendigen Abstrahieren ein Unvermögen entwickeln, das einem fort- schreitenden Unterrichten fast unüberwindbare Hindernisse entgegensetzt, die im Vergessen des mühsanı Gelernten eine Virtuosität von sehr zweifelhafter Güte entfalten, und die dann, wenn durch vielseitiges Verknüpfen und durch öfteres Wiederholen ein Begriff zur Klarheit gebracht und eine Regel zum Verständnisse übermittelt worden ist, nicht imstande sind, bezüglich der Anwendung des Ge-

*) Gläsche wurde 1865 Waisenhaus- und später Schuldirektor in Dresden. Er + 1896,

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lernten die einfachsten Konsequenzen zu ziehen! Bedenkt man ferner, wie mangelhaft oft die Schwachsinnigen sprechen und wie schwer es ihnen fällt, das, was sie fühlen und wollen, in Worte zu kleiden, und wie unbeholfen sie sind, das im Unterrichte Gelernte in einfacher, aber verständlicher Weise auszudrücken ; erwägt man auch, wie sie selbst im Gebrauche ihrer Glieder eine Ungeschicklichkeit sondersgleichen zeigen, so ermisst man, wie die Volksschule nicht eine Quelle des Segens für sie sein kann. Die Volksschule ist für diese an geistiger Armut Leidenden eine Stätte der Langweile, der Verspottung und unter Umständen der Verführung. Die Schwachsinnigen sitzen meist unter Schülern, die jünger an Jahren sind. Da sie den Unterricht nicht fassen können, so sitzen sie unauf- merksamen Blickes und gelangweilt da; sie werden, zur Trägheit an und für sich Neigung besitzend, immer weniger regsam; schliesslich sinken sie, da sie niemand aus dem Zustande des geistigen Gebundenseins befreit, in Gleichgiltigkeit und Stumpfsinn. Sie sprechen nicht in der Schule, und sagen sie etwas, so ist es gewiss etwas Ungereimtes, Unpassendes. Die jüngeren Klassengenossen benutzen diese geistige Unbeholfenheit und freuen sich, dass sie eine Zielscheibe für ihren Hohn besitzen; die ungezogensten von ihnen sind auch boshaft genug, sogenannte Max- und Moritzstreiche an den schwachsinnigen Kameraden zu verüben, und regt sich in diesen Stiefkindern der Natur schliesslich der Unwille über die viel- fachen Quälereien, bäumen sie ich mit ihrer ungelenken physischen Kraft dagegen auf, so verteidigen sie sich mit blinder Wut; sie handeln wie der Kyklop Poly- phemos, der Felsstücke nach den Spöttern schleuderte. Sie erwägen nicht, welchen Schaden sie durch ihr Thun anrichten und erscheinen schliesslich als tückische, boshafte, zu jeder Unthat fähige Personen. Auch noch in anderer Beziehung werden geistig Tiefstehende leicht sittlich gefährdet, insofern sich nämlich die Schlauen ihrer als Mittel zur Ausführung von Schlechtigkeiten be- dienen. Erstere durchschauen nicht die Künste der Verführer, halten deren süsse Redensarten für den Ausdruck wahrer Freundschaft und erblicken es wohl gar als ein Vertrauensvotum, ausführen zu dürfen, was andere anregten. Zeigen sich dann die Folgen der unternommenen Streiche und Schlechtigkeiten, so wissen die normal Beanlagten allerlei Ausreden und Spitzfindigkeiten, und die geistig Schwachen, die Verführten, haben vielleicht die Strafe zu tragen. Belehrungen und Warnungen, ausgesprochen durch den die Verhältnisse durchschauenden Lehrer, schaffen hierin nur selten Wandel; mit magischer Gewalt wirkt das Böse fortgesetzt auf die, deren Erkenntnisvermögen ein geringes ist.

Mit fast elementarer Wucht brach sich in pädagogischen Kreisen die Ansicht durch, man müsse die Volksschule von den schwachsinnigen Schülern entlasten und zur Förderung dieser besondere Veranstaltungen er- greifen. Besonders betonte man noch, dass diese Schwachsinnigen für die Volks- schule Hemmschuhe seien und mit Zentnerlast die Fortschritte der normal be- anlagten Kinder hinderten.

Es war namentlich in den Jahren 1860—1870, in welchen die angeregte Frage im Brennpunkte des pädagogischen und humanitären Interesses stand. In der Sächsischen Schulzeitung erschien in Nr. 39 des Jahrganges von 1863 der

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beherzigenswerte Aufsatz von Gläsche: „Was hat der Lehrer in der Volks- schule zu tbun, wenn ihm Geistesschwache zugeführt werden?“ Und 1865 in Nr. 35 derselben Zeitung stellte Dr. Zimmermann in dem Artikel: „Ein Wort über die Einrichtung von Schulen für schwachsinnige Kinder“ die Errichtung solcher Schulen als eine notwendige Ergänzung des Schulunterrichtes hin. Grössere Lehrervereine nahmen sich mit besonderer Wärme dieser Angelegenheit an und suchten das Publikum und die Behörden für die gute Idee zu gewinnen.

Ein mächtiger Faktor wurde durch die zu Pfingsten des Jahres 1865 zu Leipzig tagende Deutsche Lehrerversammlung gewonnen; denn dort bildete sich eine aus Ärzten und Lehrern bestehende Gesellschaft zur Förderung der Schwach- und Blödsinnigen-Bildung. Im wohlverstandenen Eifer für die gute Sache be- schloss man, schon im September desselben Jahres eine Hauptversammlung dieser Gesellschaft in Hannover abzuhalten. Diese Versammlung wurde dank der Aus- führungen des damaligen Taubstummenlehrers, jetzigen Hofrates und Direktors der Königl. Taubstummenanstalt zu Dresden, H. Stötzner, von grundlegender Bedeutung für die Errichtung und weitere Ausgestaltung der Schulen für Schwach- sinnige. Stötzner behandelte das Thema: „Über Schulen für schwachbefähigte Kinder“.*) Er gab in Hannover durch seine Ausführungen Direktiven, die noch jetzt die massgebenden auf diesem Gebiete sind. Wenn er z. B. ausführte, die betreffenden Kinder seien in vier Gruppen zu brinfen; mit den Kindern der ersten Gruppe müssten wirkliche Dinge betrachtet, und an diesen Dingen müssten "Übungen zur Bildung der Sinne der Kinder angestellt werden, dann erst könne man zum Anschauungsunterrichte, ausgehend von Modellen, übergehen, und wenn Stötzner von den Kindern der zweiten Gruppe sagt: Es darf mit diesen Kindern Anschauungsunterricht nach guten, deutlichen Bildern getrieben werden, kleine Geschichten und Märchen kommen zur Darbietung, und der vereinigte Lese-» Schreib-, Rechen- und Zeichenunterricht nimmt seinen Anfang, so begegnen wir Forderungen, die in der Praxis noch jetzt hochgehalten werden. Ebenso richtig verlangt er für die Kinder der dritten Stufe Behandlung biblischer Geschichten, Rechnen mit Ziffern und gründliche Betrachtung heimatkundlicher Objekte. Auf der vierten Stufe soll der Religionsunterricht auftreten, Orthographie und schrift- licher Ausdruck sollen gepflegt werden. Bezüglich der zu lehrenden gemein- nützigen Kenntnisse vertritt er die gewiss richtige Ansicht, dass das Lehren dieser Kenntnisse im engen Anschlusse an das Lesebuch erfolgen müsse.

Als Grundlage für die Lehrweise stellte er drei Forderungen auf: a) unter- richte im höchsten Masse anschaulich, werde förmlich handgreiflich; b) gehe nicht nur Schritt für Schritt, sondern Schrittchen für Schrittchen vorwärts; c) langweile die Kinder nicht, wechsele fleissig mit den Unterrichtsfächern.

Damit die Kinder nützliche Glieder im Berufsleben würden, empfahl er Heranziehen der Knaben zu praktischen Arbeiten: Beschäftigung im Garten,

”) Stötzner war berufen, über dieses Thema zu sprechen, hatte er doch durch seine fünf- jährige Tbätigkeit als zweiter Lehrer an der Erziehungsanstalt für blödsinnige Kinder zu Hubertusburg verschiedene Erfahrungen gesammelt.

_ 69 š Korbmacher- und Papparbeiten. Die Mädchen sollten in weiblichen Handarbeiten geschickt gemacht werden. Turnen und Spielen sollten auch gepflegt werden, damit die körperliche Gesundheit der Zöglinge eine stetig steigende Kräftigung erfahre. |

So rollte Stötzner ein ganzes Programm heilsamer Massregeln auf, und jetzt, nach Verlauf von 34 Jahren, hält man in der Hauptsache immer noch an diesen Grundsätzen fest.

Nach Stötzners Erfahrungen gehörten 85 Prozent der schwachsinnigen Schüler der unbemittelten Klasse der Bevölkerung an; auch hatte er. beobachtet, dass sich viel schwachsinnige Kinder in den grossen Städten befanden; darum trat er euergisch für Gründung von Hilfsschulen für Unbemittelte ein; besondere Aufgabe der grossen Städte sei es, mit Gründung solcher Schulen den Anfang zu machen. So streute Stötzuer mit Unerschrockenheit und erfreulichster Aus- dauer eine Saat, die trotz aller Hemmnisse und Missverständnisse hundertfältige Frucht bringen sollte. Am Schlussworte einer im Jahre 1864 erschienenen Broschüre*) rief er sehnsuchtsvoll aus: „Gott wolle helfen, dass bald ein Anfang gemacht werde!“

Einen solchen Anfang wollte Stötzner in Leipzig, der Stadt seiner beruflichen Thätigkeit, machen. ¿Freudig nahmen die Bürgerschaft und die städtischen Kollegien die gegebenen Anregungen auf, in allen Kreisen erkannte man die Gründung einer solehen Bildungsstätte als ein drivgendes Bedürfnis an; man legte auch die Hände nicht müssig in den Schoss; man wurde aber hinsichtlich der entstehenden Geldkosten ängstlich und bedächtig; denn Stötzner forderte als begeisterter Pädagog das Beste, was sich erreichen liess, nämlich eine ge- schlossene Anstalt.

Gewiss ist, dass in einer geschlossenen Anstalt am besten, namentlich: in erziehlicher Beziehung, auf die in Frage stehenden Kinder eingewirkt werden kann und dass sie dort am besten allen Gefahren des Lebens entrückt sind, Aber diese Kinder müssen doch später in das Gewühl des Lebens! Es ist besser, wenn sich nicht ein Abschliessungsprozess vollzieht, sondern wenn man es treuen Lehrern und Erziehern überlässt, den rechten Schutz zu finden und die Ver- bindung mit dem Leben so zeitig als möglich zu pflegen. Ueberdies ist bei der Erziehung des hilfsbedürftigen, schwachsinnigen Kindes so viel auf Kleinigkeiten zu achten und so viel nach der pfleglichen Seite hin zu thun, dass es von grossem Nachteile wäre, wenn. man die Eltern, die natürlichsten und in der Mehrzahl auch treuesten Pfleger, von der. nötigen Samariterthätigkeit vollständig aus- schliessen wollte. Und wie schwer würde es manchem Mutterherzen und manchem ernst denkenden und redlich handelnden Vater werden, sich ohne Not von dem Wesen zu trennen, mit dem er durch eine unglückliche Verkettung von mancherlei Umständen innig verbunden ist! Sind nicht Sorgenkinder den Eltern besonders an das Herz gewachsen ?

*) Stötzner, Schulen für schwachbefähigte Kinder, Leipzig.

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Alle diese Erwägungen traten in Leipzig immer wieder auf die Bildfläche der Öffentlichen Betrachtung. Ausserdem konnte man sich nicht verschweigen, dass mit Einrichtung einer geschlossenen Anstalt Kosten bedeutender Art ent- stehen müssten So kam man in Leipzig trotz aller Sympathien zu keinem Anfange; das Stadium der Erwägungen war auf Jahre hinaus ein permanentes. Man liess nach vielem Für und Wider den Gedanken der Gründung einer ge- schlossenen Anstalt fallen und errichtete schliesslich das war aber erst im Jahre 1881 eine Bildungsstätte für Schwachsinnige, die den Charakter einer Schule trug.*)

Schneller als in Leipzig kanı man in Dresden zu einem glückverheissenden Anfange.

In einer am 16. Oktober 1865 **) unter Vorsitz des Direktors E. Kretzschmar abgehaltenen Konferenz des Lehrerkollegiums der 5. Bezirksschule erwähnte der Vorsitzende, er habe einen 11 jährigen schwachsinnigen Knaben aufzunehmen gehabt; dieser sei trotz seines Alters einer Elementarschule zugewiesen worden. An diese Mitteilung schloss sich eine längere Debatte, deren Ergebnis in folgender im Protokolle niedergelegten Erwägung sich gipfelte: Es wäre für die Dresdner Schulen eine grosse Wohlthat, wenn für schwachsinnige Kinder, die keine Auf- nahme in eine Anstalt für Blödsinnige fänden, eine besondere Schule errichtet würde.

Der damalige Dezernent des Dresdner Schulwesens, Stadtrat Gehe, resolvierte hierauf am 2. November 1865, es solle in der nächsten Sitzung der Schul- deputation +) Mitteilung über diese Angelegenheit ergehen.

Am 7. November 1867 gab der an der 4. Bürgerschule angestellte Lehrer W. Steuerff), welcher an der im September 1865 in Hannover zur Förderung der Schwach- und Blödsinnigen -Bildung abgehaltenen Versammlung von Ärzten und Lehrern teilgenommen hatte, in der Konferenz seiner Schule einen ausführ- lichen Bericht über den Stötznerschen Vortrag. Stadtrat Gehe liess am 15. November von diesem Referate eine Abschrift nehmen.

Am 1. Dezember desselben Jahres fasste die Schuldeputation folgenden hocherfreulichen Beschluss: „Man glaubt, sich für die Errichtung von je 1 Klasse mit 2 Abteilungen in je einer der vorhandenen Schulen in Alt- und Neustadt aussprechen zu können, will aber zunächst noch das Gutachten der Direktoren- konferenz hierüber hören.“ Die Direktorenkonferenz sprach in der Sitzung vom 12. Dezember ihre Freude darüber aus, dass die Behörde gewillt sei, jenen be-

*) Die Leipziger Nachhilfeschule entwickelte sich in der Folgezeit ungemein günstig; sie steht, was die Zahl der Klassen und die Zahl der an ihr wirkenden Lehrer betrifft, unter allen ähnlichen Schulen Deutschlands obenan und besitzt auch nach der Seite der erziehlichen Pflege Einrichtungen musterhafter Art. Vergl. Richter, Bericht über die Schwachsinnigen- schule zu Leipzig 1893, 1897, 1898 und 1899, Leipzig, Hesse & Becker.

**) Diese und die folgenden Angaben sind geschöpft worden aus den beim Rat zu Dresden ergangenen Akten: Sekt. 1, Kapitel 1, Nr. 80, Bd. 1, 2, 3 und 5.

t) Im Jahre 1874 erhielt die Schuldeputation die Bezeichnung Schulausschuss.

Tt) W. Steuer hatte von 1857—1859 als Lehrer an der Erziehungsanstalt für blödsinnige . Kinder zu Hubertusburg gewirkt.

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dauernswerten Geschöpfen, die der Erreichung des Unterrichtszweckes in den Volksschulen nur hinderlich seien, eine bessere Ausbildung zu verschaffen. Man erklärte, dass in die zu errichtenden Klassen nicht solche Kinder kommen sollten, die infolge verschiedener Ursachen in der einen oder anderen Disziplin zurückgeblieben seien; nur wirklich Schwachsinnige, deren Zahl nach einer vorläufigen Zählung auf etliche 30 festgesetzt wurde, sollten Aufnahme finden. Die Konferenz schlug vor, nicht bloss 2, sondern 4 solcher Klassen zu gründen, und zwar in jedem Stadtteile je 1, da bei Gründung von nur 2 Klassen der Schulweg für einige dieser Kinder ein zu weiter sein werde. Man meinte endlich, es sei notwendig, für jede Klasse ein besonderes Lokal zu be- schaffen und für diese 4 Klassen 2 Lehrer anzustellen; die zu erwählenden Lehrer müssten Befähigung zu diesem Unterrichtszweige besitzen und sich der Erziehung dieser Kinder mit grosser Liebe annehmen.

Diese von der Direktorenkonferenz gemachten Vorschläge fanden nicht den Beifall der Schuldeputation; man befürchtete, es würden dadurch zu hohe Kosten finanzieller Art erwachsen. Da aber andererseits die Notwendigkeit eines Nachhilfeunterrichts für schwachsinnige Kinder anerkannt wurde, beschloss die Schuldeputation unter Zustimmung des Rates, für derartige Kinder durch städtische Lehrer Privatunterricht auf Kosten der Schul- kasse erteilen zu lassen. Nur von Fall zu Fall sollte auf Grund eines Gut- achtens des Stadtbezirksarztes von der Direktorenkonferenz beschlossen werden, ob ein solcher Privatunterricht einzutreten habe oder nicht. Es wurde eine Geldsumme von 50 Thalern zur Bestreitung des auflaufenden Unterrichts- honorars bewilligt. _

Als von verschiedenen Direktoren festgestellt wurde, dass die Zahl der schwachsinnigen Kinder eine ziemlich bedeutende sei, kam die Schuldeputation, deren Vorstand inzwischen Stadtrat Peschel geworden war, auf Gründung einer besonderen Klasse zurück. Nach einem Beschlusses vom 8. Mai 1867 wurden die Direktoren Dress, welcher die Angelegenheit wieder in Fluss ge- bracht hatte, Gläsche und Gebauer ersucht, die Modalität der gemeinsamen Unterrichtung der angemeldeten schwachsinnigen Kinder anderweit in Erwägung zu ziehen und über das Ergebnis gutachtliche Anzeige zu erstatten.

Am 11. Juni 1867 berichtete Direktor Dress, in der erfolgten Besprechung sei von Direktor Gebauer allerdings ausgesprochen worden, nur in einer ge- schlossenen Anstalt, die die Kinder in steter Aufsicht halte, könne volle Hilfe schwachsinnigen Kindern gebracht werden, die Kommission habe sich aber an- gesichts der Zeitverhältnisse, die der Gründung einer solchen Anstalt nicht günstig seien, dahin geeinigt, vorzuschlagen, es könnten von 2—3 Schulen die schwachsinnigen Kinder zu einer Abteilung vereinigt werden, und ein zur Unterrichtserteilung an solche Kinder sich eignender Hilfslehrer möge neben 12—14 Stunden Unterricht an vollsinnige Kinder in wöchentlich 12 Stunden und zwar jeden Tag 2 Stunden die schwachsirnigen Kinder unterrichten. Angesichts der dem betreffenden Hilfsiehrer zufallenden schwierigen Aufgabe dürfe dessen wöchentliche Stundenzahl nicht mehr als 24—26 betragen; dem-

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selben seien auch die unentbehrlichen . Veranschaulichungsmittel zur Verfügung zu stellen. Ä |

In einer am 8. August 1867 abgehaltenen Sitzung der Schuldeputation gab man sein Einverständnis mit diesen Vorschlägen kund, und am 14. August wurden in einer Besprechung des Stadtrates Peschel mit den Direktoren Heger, Carl und Dress, in deren Schulen schwachsinnige Kinder vorhanden waren, folgende Ausführungsmassregeln für sachentsprechend erachtet:

1. Als Unterrichtslokal wird die vakant gewordene Konferenzstube in der 2. Bezirkschule zu verwenden sein, welche etwa 20 Kinder fasst und deshalb mit den erforderlichen Subsellien zu versehen ist.

2. Da der Vikar der 6. Bezirksschule, Hilfslehrer Pruggmeyer, nur 21 Stunden erteilt und auch in den Vormittagsstunden frei ist, so würden ihm am geeignetsten die 12 wöchentlichen Unterrichtsstunden zu übertragen sein. Direktor Dress von der 6. Bezirksschule wird zugleich veranlasst, dem Hilfs- lehrer Pruggmeyer noch einen Teil der 21 Stunden abzunehmen und einem oder zweien der Lehrer, die die regulativmässige Stundenzahl nicht erteilen, zu übertragen.

3. Der Unterricht wird am füglichsten mit dem Monat September beginnen können, jedoch, da derselbe mehr als Nachhilfsschulunterricht zu betrachten ist, vielleicht zunächst nur bis Jahresschluss anzudauern brauchen.

4. Die Beaufsichtigung der zu eröffnenden Aushilfsklasse wird dem Direktor der 2. Bezirksschule, M. Carl, übertragen.

Am 16. September wurde die Nachhiltsklasse in Altstadt- Dresden mit 16 Kindern eröffnet. Dieser Tag, der geräuschlos verlief, ist für die Entwickelung des Hilfsschnlwesens als ein hochwichtiger zu bezeichnen; ist er doch der Tag, an dem in Deutschland die erste selbständige Klasse für schwachsinnige Kinder entstand. Es war ein kleiner Anfang, der gemacht wurde; aber dieser Anfang erhob sich aus dem Boden des praktischen Bedürfnisses und fand den vollen Beifall der Lehrer. Die Stadt Dresden legte damals unter Heranziehung be- scheidener Mittel den Grund zu einem Liebeswerke, das im Laufe der Jahre eine Fülle des erquickendsten Segens spenden sollte. Was vielfach erstrebt worden war, hatte nun eine glückliche Lösung gefunden: Den Armen am Geiste war eine Bildungstätte entstanden zum Nutzen dieser Stiefkinder der Natur und zum Wohle der menschlichen Gesellschaft. Die Stadt Dresdeu hatte sich bei Gründung dieser Klasse nur von dem Wohlwollen für die geistesschwachen Kinder leiten lassen; um so mehr dient es ihr zur Ehre, dass sie unter allen deutschen Städten die erste war, die die gesunde Idee in das Fahrwasser der erlösenden That. brachte. Sie sammelte auf dem Gebiete der Praxis die ersten Erfahrungen und diente damit der Gesamtheit; Einrichtungen und Methoden, die hier das Feuer der Praxis bestanden, sind vielfach auch in anderen Schulen des engeren und weiteren Vaterlandes zur Anwendung gekommen.

Nachdem die Bahn freigemacht worden war, ging man mit frohem Wage- mute auch in anderen Städten an die Gründung solcher Schulen, resp. Klassen. Im Jahre 1898 zählte man nach einer von-Wintermann, Leiter der Hilfsschule

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in Bremen, aufgenommenen Statistik 56 solcher Schulen mit 202 Klassen, an denen 225 Lehrkräfte 2400 Knaben und 1881 Mädchen, in Summa 4281 Kinder unterrichteten.*) Auch in Ländern ausserhalb Deutschlands ist der Gedanke der Gründung von Nachhilfeschulen auf fruchtbaren Boden gefallen, bestehen doch zum Teil in verschiedenen Orten der Schweiz, in Wien, Rotterdam und Christiania solche Schulen. Die Schule zu Christiania hat 24 Klassen, in welchen von 21 Lehrern 304 Kinder unterrichtet werden.**)

Die 16 am 16. September 1867 in Dresden zur Aufnahme gekommenen schwachsinnigen Kinder sind die ersten Gewächse gewesen in einem Pflanzgarten, der vermöge seiner gesamten Einrichtungen und der sorgfältigen Arbeit der Gärtner Tausenden ein erfreuliches Wachstum gebracht hat.

Trotz des Umstandes, dass die Zahl der aufgenommenen Kinder nur 16 be- trug, zeigte sich doch bei ihnen eine grosse Verschiedenheit im Denken und Auffassen; viele Nuancen, die sich zwischen geistiger Nullität und geringer geistiger Befähigung ergeben, traten hervor; schliesslich gelang es, die Schar in zwei Häuflein unterzubringen und einen Gruppenunterricht einzuführen.

Man presste den Lehrer, der erst Erfahrungen sammeln musste, nicht in den Rahmen eines festen Lehrplanes und legte ihm nicht einen scharf ge- gliederten Stundenplan vor; man verlangte nur, es solle tüchtig Anschauungs- unterricht getrieben werden, damit die Kinder im Denken und Sprechen ge- übt würden. Man legte auch Gewicht auf das Erklären und auf das Lernen gemütvoller Verschen und auf das Singen ansprechender Liedchen. Lesen, Schreiben und Rechnen sollten nicht selbständig auftreten, sondern in möglichste Verbindung mit den besprochenen Stoffen des Anschauungsunterrichtes ge- bracht werden.

Der Stundenplan wurde schliesslich in folgender Weise festgesetzt:

ae Montag | Dienstag | Mittwoch Donnerstag | Freitag | Sonnabend | i

Anschauung | Anschauung | Anschauung | Anschauung | Anschauung | Anschauung Lesen Lesen Lesen Lesen Lesen Lesen Rechnen Schreiben | Rechnen Schreiben Rechnen | Schreiben

Um auch den schwachsinnigen Kindern, die sich in den zu Neustadt- Dresden gehörenden Bezirks- und Gemeindeschulen befanden, einen geeigneten Unterricht zu verschaffen, beschloss am 26. September 1867 die Schuldeputation, rechts der Elbe ebenfalls eine Klasse für Schwachsinnige zu errichten. Diese Klasse wurde am 2. Januar 1868 in der 7. Bezirksschule eröffnet. 14 Kinder

*) Wintermann, die Hilfsschulen Deutschlands, Langensalza 1898.

Nach einer im Jahre 1894 von Kielhorn-Bremen veranstalteten Statistik wurden in Deutschland in 80 Hilfsschulen mit 110 Klassen von 115 Lehrern 1280 Knaben und 1010 Mädchen 2290 Kinder unterrichtet. Es sind demnach in den Jahren 1894 1898 ungemein viel Nachhilfeklassen gegründet worden.

**) Diese Schule besitzt allerdings mehr den Charakter einer Vorschule für die Volks- schule. Vergl. Rein, Encyklopädisches Handbuch, 3. Band, Seite 696.

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6 Knaben und 8 Mädchen bildeten den Anfangsbestand. Als Lehrer wurde der damalige Hilfslehrer der 5. Bezirksschule, Wilhelm Schröter, ge- wählt; mit der unmittelbaren Beaufsichtigung dieser Klasse beauftragte man den Direktor der 7. Bezirksschule, Fischer. Da der Lehrer W. Schröter mit 14 Stunden an der 5. Bezirksschule beschäftigt blieb und sich nur an drei Vor- mittagen und drei Nachmittagen seinen schwachsinnigen Kindern widmen konnte, so wurde nach folgendem Plane unterrichtet:

Mittwoch Freitag

Anschauung | Anschauung | Anschauung Anschauung| Anschauung | Anschauung

Dienstag | Donnerstag | Sonnabend

|

Schreiben | Schreiben | Schreiben Schreiben | Schreiben | Schreiben Lesen Lesen Lesen Lesen Lesen Lesen | Rechnen Rechnen | Rechnen Rechnen Rechnen | Rechnen

Dieser Plan wich auch bezüglich der Verleilung der Fächer nicht un- wesentlich von dem in Altstadt-Dresden aufgestellten ab; die Behörde genehmigte aber denselben, weil sie, wie bereits gesagt, den Lehrern eine möglichst grosse Bewegungsfreiheit gewähren wollte.

Um der Begriffsarmut der Kinder zu steuern, den Unterricht zu förderu und allen Verbalismus fernzuhalten, gewährte die Schuldeputation mit grosser Liberalität die Mittel zur Anschaffung der nötigen Anschauungsmittel. Es wurden in richtiger Erkenntnis, dass das Verständnis für Bilder schon eine höhere Stufe geistiger Kraft voraussetzt, viel wirkliche Gegenstände und viel Modelle angekauft; auch Produkte, z. B. Erbsen, Linsen, Bohnen, Reis, Gräupchen u. s. W., ferner Gewichte, Mase und Münzen reihte man als Anschauungsobjekte in die Zahl der Lehrmittel ein.

Der durch Einrichtung besonderer Klassen für Schwachsinnige naturgemäss erwachsende Nutzen kam bald in erfreulicher Weise zum Durchbruch. Die Kinder zeigten, wie die Berichte der betreffenden Direktoren besagen, recht bald eine grössere Aufmerksamkeit und eine wachsende geistige Regsamkeit; die Sprache wurde deutlicher, und das ganze Benehmen der Kinder erwies sich als ein weniger schüchternes und ungelenkes. Die Kinder erlangten Mut und Selbstvertrauen und waren, soweit nicht zu grosse geistige Stumpfheit vorlag, von dem Willen beseelt, Fortschritte im Wissen und Können zu machen. Die relativ besten Resultate ergab der Anschauungsunterricht; mit geringereg Er- gebnissen musste man im Schreiben, Lesen und Rechnen zufrieden sein, weil man in diesen Fächern die Kinder in verschiedene Abteilungen zu bringen hatte und weil dadurch die Kraft des Lehrers eine Zersplitterung erfuhr.

Auf eine unter dem 4. Dezember 1897 von dem Rate zu Leipzig Kenne Anfrage, wie man in Dresden für schwachsinnige Kinder sorge und welche Er- fahrungen sich bezüglich der getroffenen Einrichtungen ergeben hätten, schrieb der Rat zu Dresden u. a.: „Schon seit Jahren haben wir ein besonderes Augen- merk auf solche unglückliche Kinder gerichtet, welche infolge ihrer beschränkten

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geistigen Begabung hinsichtlich der Auffassung und des Lernens mit ihren übrigen Mitschülern nicht gleichen Schritt halten können. Da diese Kinder zum grössten Teile der ärmeren Klasse angehören, so haben wir früher einigen derselben so- genannten Privatunterricht von einem unserer Lehrer in der Behausung desselben auf kommunliche Kosten erteilen lassen. Diese Unterrichtserteilung führte zwar zu befriedigenden Resultaten, allein dieselbe musste immerhin in Mangel der nötigen und zweckmässigen Unterrichtsmittel und der dabei in Betracht kommenden sonstigen örtlichen Verhältnisse als erschwerend und unzureichend erkannt werden. Infolgedessen und da die Zahl solcher geistesschwachen Kinder von Jahr zu Jahr sich mehrte, sahen wir uns veranlasst, eine zweckmässigere Einrichtung der Unterrichtserteilung zu treffen und auf Errichtung besonderer Klassen für schwach- sinnige Kinder Bedacht zu nehmen. Die in den auf dem linken Elbufer be- stehenden Elementarschulen zerstreut zu finden gewesenen geistesschwachen Kinder haben wir unter Leitung eines besonderen Lehrers in dem Gebäude der 2. Be- zirksschule zu einer besonderen Nachhilfeklasse vereinigt. Als Maximalschüler- zahl für eine solche Aushilfsklasse haben wir 20 normiert. Obwohl diese Ein- richtung erst einige Monate besteht, so halten wir uns jedoch von der Zweck- mässigkeit und den günstigen Erfolgen des gesonderten und der geistigen Befähigung der betreffenden Schüler angepassten Unterrichts jetzt schon dergestalt überzeugt, dass wir Veranstaltung getroffen haben, vom 2. Januar k. J. an auch den z. Z. 14 geistesschwachen Schülern der Neu- und Antonstadt in dem Gebäude der 7. Bezirksschule einen ähnlichen Unterricht von einem ebenfalls besonders dazu bestimmten Lehrer zu teil werden zu lassen. Da die verwendeten Lehrer der Klasse der als Vikare angestellten Hilfslehrer angehören, so erwächst durch die Einrichtung besonderer Aufwand nur in den Gratifikationen, welche wir diesen Lehrern je nach Erfolg ihrer Wirksamkeit in Aussicht gestellt haben. Die Schulgelder werden nach den Sätzen der Schulkategorien erhoben, welchen die in die Aushilfsklassen versetzten Kinder angehören.“

Die in dem vorstehenden Schreiben des Rates angekündigten Gratifikationen gelangten, da man mit den Erfolgen der betreffenden Lehrer fortgesetzt zufrieden sein konnte, alljährlich zur Auszahlung. Dieselben zeigten in den ersten Jahren eine verschiedene Höhe; denn man bestimmte sie aus dem noch disponiblen Teil der für das betreffende Schuljahr postulierten und zur Verfügung gestellten Dispositionssumme für die Unterrichtserteilung an schwach- und blödsinnige Kinder. Dies geschah stets am Schlusse des jemaligen Schuljahres. Vom Jahre 1873 an wurde für jeden Lehrer die feste Summe von 150 M. als Remuneration in den Haushaltplan eingestellt; man führte aber und das geschieht noch jetzt eine besondere Beschlussfassung darüber herbei, ob in jedem einzelnen Falle die ausgeworfene Summe zur Auszahlung gelangen sollte.

Da sich der Rat von der Nützlichkeit der gedachten Klassen überzeugt hatte, dachte man nicht im entferntesten an ihre Wiedereinziehung; man war vielmehr ernstlich darauf bedacht, dieselben so zu organisieren, dass noch grössere Ströme des Segens von ihnen ausgehen konnten. Zunächst machte sich eine Vermehrung der Stunden notwendig.

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Am 7. Januar 1870 baten die beiden an den Nachhilfeklassen wirkenden Lehrer den Rat zu Dresden, derselbe möge verfügen, dass die Unterrichtszeit in den Nachhilfeklassen auf täglich 3—4 resp. 41/, Stunden verlängert werde. Sie begründeten ihre Bitte mit folgendem Hinweis: „Die mangelhafte Befähigung schwachsinniger Kinder verlangt bei fortwährender Einwirkung auf die Sinne nicht nur ein äusserst langsames Fortschreiten, sondern auch eine stetige Wieder- holung im Unterrichte und eine spezielle Beschäftigung mit dem einzelnen Schüler. Die Erfüllung dieser Forderung ist um so notwendiger, als die Er- fahrung gelehrt hat, dass die Nachhilfeklasse auf die Unterstützung des Eltern- hauses viel weniger rechnen kann, als die Schule für vollsinnige Kinder. In den meisten Fällen wissen die Angehörigen Schwachsinniger nicht, was sie mit den Kindern beginnen sollen, und so bleiben diese sich während des grössten Teiles des Tages selbst überlassen, vergessen in dieser Zeit das mühsam Erlernte und verfallen in mancherlei Unarten.*

Die Vermehrung der Stunden auf 26 für jede Klasse wurde von den Direktoren Carl und Fischer warm befürwortet, und bereits am 17. Februar 1870 beschloss die Schuldeputation, mit Ostern 1870 eine Erhöhung der Stunden auf 26 für jede Klasse eintreten zu lassen. Der Unterricht erfahr durch diese er- freuliche Vermehrung insofern eine Erweiterung, als Katechismus, Biblische Geschichte, Heimatskunde und Naturgeschichte mit auf den Stundenplan kamen und auch besondere Übungen im Rechtschreiben und im schriftlichen Gedanken- ausdrucke mit angesetzt wurden.

Die Teilung der Kinder einer Klasse in zwei Abteilungen blieb; sämtliche Kinder einer Klasse hatten täglich zwei Stunden gemeinschaftlich Unterricht; dann wurden die schwächeren entlassen, und die geförderteren erhielten den erweiterten Unterricht.

Infolge des Umstandes, dass jeder der beiden Lehrer wöchentlich 26 Stunden in der Nachhilfeklasse zu erteilen hatte, hörte die Unterrichtserteilung dieser Lehrer in den Volksschulen, an denen sie bisher angestellt gewesen waren, auf beide Lehrer fanden nun ausschliesslich für die Zwecke der Unterrichtserteilung an Schwachsinnige Verwendung.

Auch die Lokalfrage fand eine günstige Lösung. Der Neustädter Klasse für Schwachsinnige war bereits durch einen am 25. November 1869 gefassten Beschluss der Schuldeputation ein geräumiges Zimmer im Gebäude der 7. Bezirks- schule zur alleinigen Benutzung überwiesen worden. Die Altstädter Klasse konnte am 16. Mai 1870 ein günstiges Lokal in dem freigewordenen alten Annenschulgebäude beziehen.

Die Altstädter Klasse geriet jedoch bald in eine arge Bedrängnis. Infolge der Kriegsereignisse wurde im November das alte Annenschulgebäude zu einem Massenquartier für das Militär eingerichtet. Nun wanderten Lehrer und Kinder; innerhalb eines Jahres mussten sie, der Not gehorchend, fünfmal das Lokal wechseln, und erst am 6. November 1871 konnten sie die alte Heimstätte, das frühere Annenschulgebäude, wieder benutzen. Hier blieb die Klasse fast zwei Jahre. Am 4. Oktober 1873 bezog sie einen Raum im Gebäude der 2. Bezirks-

17 schule; so war sie nach manchem Wechsel wieder in dem Hause angelangt, wo ihre Gründung sich vollzogen hatte. Während sie aber anfangs im Besitze eines einfenstrigen, engen Raumes gewesen war, erfreute sie sich jetzt eines grösseren und lichtreicheren Zimmers. i

Durch die erfolgte Vermehrung der Stunden ergab sich die Möglichkeit, die Kinder bis zu ihrer Konfirmation in einer Nachbilfeklasse zu belassen und sie mit einer vereinfachten, aber abgeschlossenen, auf praktische Ziele gerichteten Ausbildung auszurüsten. Zugleich fand auch die Frage eine Lösung: Wer soll den Konfirmanden-Vorbereitungsunterricht übernehmen? Die Geist- lichen hatten mehrfach darüber geklagt, dass die schwachsinnigen Kinder in den Präparationsstunden nicht gleichen Schritt mit den anderen Konfirmanden zu halten vermöchten, und darauf hingewiesen, dass bei der Menge der den Vor- bereitungsunterricht besuchenden Kinder eine besondere Rücksichtnahme auf dieselben mit grossen Schwierigkeiten verbunden sei. Um den Geistlichen eine Erleichterung und den schwachsinnigen Kindern den gewünschten geistigen Gewinn zu verschaffen, wurden Neujahr 1872 besondere Konfirmandenstunden, erteilt von den für die Nachhilfeklassen angestellten Lehrern, eingerichtet. Nach Beendigung dieser Vorbereitungsstunden führte man die betreffenden Kinder ihrem Beichtvater zu; dieser prüfte sie und sprach sich dann darüber aus, ob sie zur Konfirmation zugelassen werden sollten oder nicht. Die Geistlichen lobten in der Regel die erzielten Erfolge, und so sind diese Vorbereitungsstunden eine segensvolle Einrichtung geblieben bis zur gegenwärtigen Zeit.

Die Behörde belohnte die unter Aufwendung von Zeit und Kraft vollzogene Vorbereitung durch Gewährung von Gratifikationen an die Lehrer der Nach- hilfeklassen. In den ersten Jahren betrugen diese Gratifikationen 30 Mark; 1876 aber trat eine Erhöhung auf 45 Mark ein, gerechtfertigt durch den Umstand, dass der Unterricht nicht mehr mit Neujahr, sondern bereits kurz nach Michaelis begann und also ziemlich ein halbes Jahr umfasste. Am 30. April 1884 wurde beschlossen, die Gratifikation in der angegebenen Höhe ohne Berücksichtigung der Anzahl der Schüler zu verabreichen, also auch dann nichts abzumindern, wenn in dem einen oder in dem anderen Jahre, wie dies vorgekommen war, nur ein Kind den Vorbereitungsunterricht besucht hatte.

Trotz der Fürsorge, welche die schwachsinnigen Kinder in den für sie be- stimmten Klassen fanden, machte sich doch im Laufe der Jahre Erteilung von Hausunterricht an Schwachsinnige notwenig. Es kam, wenn auch nur ver- einzelt, vor, dass geistig tiefstehende Kinder an hochgradiger Epilepsie litten oder dass Schwachsinnige wegen verkrüppelter oder gelähmter Beine den Weg zu den Schulgebäuden nicht zurücklegen konnten; in solchen Fällen trat Haus- unterricht ein, der mit 1,25 Mark für jede Stunde bezahlt und von Lehrern, die für solchen Unterricht Lust und Befähigung zeigten, erteilt wurde. Die Wieder- genehmigung zu solchem Unterrichte erfolgte durch Schuldeputationsbeschluss vom 21. Mai 1874; somit wurde eine Einrichtung wieder aufgenommen, von der man geglaubt hatte, sie werde sich mit der getroffenen Einrichtung von Nach- hilfeklassen vertiberflissigen. __ (Fortsetzung in nächster Nummer.)

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Bericht über die Augenuntersuchung der Zöglinge der Anstalt fir schwachsinnige Kinder auf Schloss Biberstein, 1899.°) Von Dr. Th. Lang, Augenarzt in Aarau.

Zur augenärztlichen Untersuchung fanden sich ein:

24 Knaben und 31 Mädchen, zusammen 55 Schüler. (Zwei Mädchen und ein Knabe, die sich ebenfalls einfanden, konnten wegen ungeschickten Benehmens, schlechten Angaben und Angst etc. nicht untersucht werden.)

Die Untersuchung erstreckte sich hauptsächlich auf Refraktion und Accommo- dation der Augen, da für den Schulbesuch in erster Linie Fehler auf diesem Gebiete korrigiert werden müssen, um den Schülern ein möglichst gutes Sehen sowohl für die Ferne als für die Nähe zu ermöglichen. Untersucht wurde, wie ich es bei den Schülern der städtischen Bezirksschulen durchführte, auf fünf Meter Distanz mit den Seh- tafeln von de Wecker und Masselon (subjektive Methode) und mit dem Augenspiegel (objektive Methode) eventuell unter Hornatropineinträufelung und zwar jedes Auge für sich.

Von diesen 55 Zöglingen hatten normalen Refraktionszustand (Emme- tropie) oder eine leichte Hypermetropie (bis höchstens 1 Dioptrie) ohne asthenopische Beschwerden und normale Sehschärfe 1 und höher:

42°,, Mädchen (18) 37,5°/, Knaben (9) Übersichtigkeit (Hypermetropie) mit Sehschärfe 1 oder weniger fand sich bei: 32,350/, Mädchen (10) 12,5°/, Knaben (8) Kurzsichtig mit Sehschärfe 1 oder weniger waren: 0°/, Madchen (0) 12,5°/, Knaben (8) davon ein Knabe mit hochgradiger Myopie. Astigmatismus hatten: 3,20/, Mädchen (1) 4,2°/, Knaben (1).

(Auf Astigmatismus wurde, da mir kein Javalscher Apparat zur Verfügung stand, mit korrigierenden Cylindergläsern und dem Weckerschen Keratoskop geprüft, deshalb nur dieser geringe Prozentsatz. Ohne Zweifel würde mit dem Javalschen Apparat eine grössere Zahl astigmatischer Augen gefunden worden sein, doch brauchte dieser höhere Prozentsatz nicht durch Gläser korrigiert zu werden, da gute Sehschärfe und keine astenopischen Beschwerden vorhanden waren, also diese Fälle praktisch nicht in Frage kommen.)

Ausserdem fanden sich in 7 Fällen Fiecken in der Hornhaut (Maculae corneae) als bleibende Reste früherer Entzündungen (eczematöser Keratitis), ferner Schielen (Strabismus conongens und diongens), in 4 Fällen (38 conongens und 1 diongens).

Bemerkenswert sind auch 3 Fälle von Nystagmus Augenzittern.

Im Übrigen kamen noch vereinzelte Fälle von (meistens eczematösen) Lidrand- und Konjunktival-Entzündungen zur Beobachtung, die unter entsprechender Behand- lung ausheilten.

9) Aus dem 6. Berichte der Anstalt.

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Obschon ich, einesteils wegen der geringen Zahl der Untersuchten, andernteils da mir keine augenärztlichen Untersuchungen ähnlicher Anstalten, die ich mit meinen Untersuchungen vergleichen könnte, zur Verfügung stehen, keine besonderen Schlüsse ziehen will, so lasse ich doch eine vorläufige Zusammenstellung der auf gleiche Weise von mir untersuchten normalen Schüler der Aarauer Bezirksschulen (Anzahl: 151 Mädchen und 184 Knaben) folgen.

Es fand sich: Emmetropie: 48,3°/, Mädchen

: 68,6°/, Knaben Hypermetropie: 10°/, Madchen

10°/, Knaben Myopie: 18,2°/, Madchen

s 11,4°/, Knaben Astigmat.: 8°/, Madchen 5 5°, Knaben.

Dabei fällt am meisten auf der höhere Prozentsatz der Hypermetropie besonders bei den Mädchen der Schüler von Biberstein, wogegen die Myopie bei den Mädchen von Biberstein fehlt.

Da weitaus die Mehrzahl der Augen der Neugebornen einen hypermetropischen Brechzustand zeigt (event. astigmat.) und diese Hypermetropie mit dem Wachstum der Kinder allmählich abnimmt oder ganz in normalen, emmetropischen Zustand, oder drittens ins Gegenteil, in Myopie, übergeht, so darf man annehmen, dsss bei den schwachsichtigen Kindern von Biberstein die körperliche Entwicklung zum Teil mangel- haft gewesen ist, resp. die Augen dieser Hypermetropie auf dem ursprünglichen Brech- zustand geblieben sind. Der allgemeine Eindruck, den mir diese Untersuchung machte, ist ja wohl der, dass es sich bei den Refraktionsanomalien der Kinder von Biberstein ähnlich wie bei der übrigen Geistes- und Körperentwicklung um zum Teil mangel- hafte körperliche Ausbildung handelt, wofür ja auch schon das so häufige Vorkommen von skrophulösen Erscheinungen spricht.

Litteratur.

Die wissenschaftliche und praktische Bedeutung der pädagogischen Pathologie. Von Wilhelm Piper, Mittelschullehrer in Preetz. Bonn. Verlag von F. Sonnecken. 32 Seiten. Einzelpreis 50 Pfg.

Aus der „Sammlung pädagogischer Vorträge“, herausgegeben von W. Meyer-Markan, ist die vorliegende Schrift das 1. Heft des XI. Bandes. —- Die pädagogische Pathologie bildet eine notwendige Ergänzung und Vertiefung der Päda- gogik, indem sie die individuelle Bildsamkeit und Fehlerhaftigkeit der Kindesnatur klarlegt. Ihre wissenschaftlichen Grundlagen sind die Psychologie und Psychiatrie; einen praktischen Wert hat sie für verschiedene Zweige des Schul- und Erziehungs- wesens. Das sind im grossen und ganzen die Gedanken, welche dem Vortrage zu Grunde liegen. Die Ausführung der Gedanken erscheint durchweg klar und treffend; die Arbeit bekundet überhaupt ein tiefes Verständnis der Sache. Wir empfehlen die Schrift für unsern Leserkreis zur gefälligen Kenntnisnahme. Frenzel.

80

Vorlesungen über Sprachstörungen. Heft 4. Poltern (Paraphrasia praeceps). Von Dr. med. Albert Liebmann. Berlin W. 35. Verlag von Oscar Coblentz. 1900. 56 Seiten. Preis Mk. 1,20.

In rascher Folge ist von Dr. Liebmanns Vorlesungen über Sprachstörungen das 4. Heft erschienen, welches das Poltern (Paraphrasia praeceps) behandelt. Das Poltern, auch Bruddeln, Tachyphrasie, Paraphrasia praeceps, Battarismus, Tumultus sermonis genannt, soll nach des Verfassers Ansicht gar nicht so selten vorkommen, namentlich zeigt es sich bei allen hastigen, sich überstürzenden Naturen. Der Polterer spricht zu hastig, deshalb leidet die exakte Bildung der einzelnen Laute, und seine Sprache erscheint stossweise, unartikuliert und verschwommen. Bine s0 geartete Sprechweise besitzt eine Anzahl unserer erethisch-plapperhaften schwach- sinnigen Kinder. Die Ausführungen sind äusserst interessant und belehrend und beleuchten ein ziemlich umfangreiches Material; meines Wissens dürfte die vorliegende Abhandinng die erste grössere Arbeit über diesen Gegenstand sein. Die Darstellungs- weise erscheint durchweg klar und treffend und wohl gegliedert. Wenn auch die vorliegende Arbeit weniger unser Interesse berührt, als die drei ersten Abhandlungen es thaten, so empfehlen wir doch dieselbe unsern Lesern zum Studium, da sie uns sicher manche beachtenswerten Fingerzeige für die Behandlung unserer sprachleidenden Kinder bieten und auch sonstigen Nutzen gewähren wird. Frenzel.

Verhandlung der II. schweiz. Konferenz für das Idiotenwesen in Aarau am 29. und 30. Mai 1899. Herausgegeben von K. Auer, Sekundarlehrer in Schwanden, Cant. Glarus, und F. Kölle, Direktor der schweiz. Anstalt für Epileptische in Zürich. Aarau. Verlag von H.R. Sauerlander & Cie. Preis 1 Mk.

Das 11 Bogen starke Büchlein enthält folgende Vorträge: Über den gegenwärtigen Stand des Idiotenwens in der Schweiz. Von Kirchenrat Pfarrer Ritter, Präsidenten ‚der Konferenz. Die eidgenössische Zählung der schwachsinnigen Kinder und deren Hauptergebnisse als Grundlage des schweiz. Rettungswerkes für die unglückliche Jugend. 'I. Referent: Sekundarlehrer Auer in Schwanden. II. Referent: Herr Dr. Guillaume, Direktor des eidgen. statistischen Bureau in Bern. Beobachtungen an schwachsinnigen Kindern mit spezieller Berücksichtigung der Ätiologie und Therapie des Schwachsinns. Von Dr. med. Schenker in Aarau. Über bisherige Erfah- rungen betreffend Organisation der Spezialklassen für Schwachbegabte. Von Alb. Fisler, Lehrer der Spezialklassen für Schwachbegabte in Zürich und Leiter des ersten Bildungskurses in Zürich für Lehrer an Spezialklassen. Vor- und Schlusswort (Besuch der Anstalt Biberstein bei Aarau) von F. Kölle in Zürich. —. Das Büchlein wird jedem Freunde des Idiotenwosens mannigfache Belehrung und Anregung bringen, besonders aber auch Aufschluss geben über den neuesten Stand der Frage in der Schweiz. Der Preis von 1 Mk. konnte deshalb so niedrig gestellt werden, weil der schweiz. Bundesrat zu den Herstellungskosten einen namhaften Beitrag verwilligte. F.K.

Inhalt: Die wichtigsten charakteristischen Grundsätze des Unterrichtes bei schwach- sinnigen Kindern (Schluss) (K. Ziegler). Die Entstehung des Gedankens, besondere Schulen für schwachsinnige Schüler zu errichten, und die Art, wie dieser Gedanke in der. Nachhilfeschule . zu Dresden-Altstadt Verwirklichung hat (P. Tätzner). Bericht über die Augen-

untersuchung der Zöglinge der Anstalt für schwachsinnige Kinder auf Schloss Biberstein, 18% En Lang). Litteratur: Die wissenschaftliche und praktische Bedeu der pädagogischen : Pathologie. Vorlesungen über Sprachstörungen. Verhandlung der Il. schweiz. Kouferenz

für das Idiotenwesen in Aarau. |

. , Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. _ Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. Druck von Johannes Pässler in Dresden.

Nr. 6 u.7. ) Ja

Zeitschrift

für die

Behandlung Sehwachsimiger wd Epiepiseher

Organ der Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

herausgegeben von

Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, Spezialarzt Dresden - Strohlen, für Nervenkrankheiten Residenzstrasse 27. in Stuttgart. Erscheint jährlich in 12 Nummern von Zu beziehen durch alle Buchhandlungen mindestens einem Bogen. Anzeigen für J li 1900 : und Postämter, wie auch direkt von der die gespaltene Petitzeile 25 Pfg. Litte- ul ° Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark,

rarische Beilagen 6 Mark. einzelne Nummer 50 Pfg.

Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber. ————— ——— ———————

Die Entstehung des Gedankens, besondere Schulen für schwachsinnige Schüler zu errichten, und die Art, wie dieser Gedanke in der Nachhilfeschule zu Dresden-Altstadt Verwirklichung gefunden hat. (Schluss.) Von Paul Tätzner.

Eine ziemliche Reihe von Jahren zeigten die beiden Nachhilfeklassen dieselbe Gestaltung; die den Unterricht erteilenden Lehrer blieben dieselben; die Zahl der Lehrfächer und die Zahl der Stunden, die den einzelnen Fächern zugewiesen worden waren, deckten sich in beiden Klassen. In der Folgezeit trat aber die Altstädter Klasse mehr in den Vordergrund. Die Neustädter Klasse verlor Ende Juli 1876 ihren zielbewussten Führer, den Lehrer W. Schröter, welcher mit grosser Sachkenntnis und warmer Begeisterung vielfach in Wort und Schrift für die Sache der Schwachsinnigen eingetreten war, wiederholt auf die Bedeutung des Spieles, des Turnens und der Spaziergänge hingewiesen und überhaupt die Berücksichtigung der Körperpflege kräftigst empfohlen hatte. Lehrer Schröter schied freiwillig aus dem städtischen Schuldienste und gründete eine Erziehungs- und Unterrichtsanstalt für Schwachsinnige.*) An seine Stelle trat der Lehrer J. Pilz, der indes nach kurzer Wirksamkeit wieder in die Arbeit der Volks- schule zurücktrat. Dessen Nachfolger, der Lehrer P. Weber, stand auch nur kurze Zeit der Klasse vor, da er bereits 1880 starb; hierauf wurde die Klasse dem Lehrer F. Weber übertragen. Ausser diesem mehrfachen Personenwechsel litt die Neustädter Klasse noch daran, dass sie in einem Schulgebäude sich befand,

*) Institutsdirektor Schröter wurde später als Stadtverordneter und dann als Stadtrat Mitglied des Schulausschusses; er hat sich stets als ein hilfsbereiter Freund der städtischen Nachhilfeschule erwiesen.

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Mädchen nach ihren Leistungen an dem Nadelarbeitsunterrichte der vollsinnigen Mädchen teilgenommen; das hatte zu mancherlei Erschwernissen bezüglich der Entwerfung des Stundenplanes und zu mancherlei Härten hinsichtlich der Ver- teilung der Mädchen geführt; jetzt wurde auch hierin ein erfreulicher Wandel geschaffen. Die entstehenden Mehrkosten trug die Schulgemeinde im Hinblicke auf den gewonnenen Nutzen gern.

Ostern 1888 kam zu den 2 Altstädter Klassen noch eine 3. Zum Lehrer derselben erwählte die Behörde Herrn E. Reich.*) Da sämtliche 3 Klassen ein Ganzes bilden sollten, im Gebäude der 2. Bezirksschule aus Gründen räum- licher Art ein Unterbringen der gesamten Abteilung sich aber nicht ermög- lichen liess; verlegte man dieselbe in das ehemalige Waisenhaus am Georgs- platze. Dirigierender Lehrer wurde Oberlehrer Pruggmeyer, welcher sich als Lehrer der Schwachsinnigen bewährt hatte.

Es entstand die Frage, ob die Altstädter Abteilung tür Schwachsinnige als eine selbständige Schule behandeli werden sollte. In den Sitzungen des Schulausschusses vom 11. April und 9. Mai 1883 verneinte man dies jedoch. Die Abteilung für Schwachsinnige wurde dem Verbande der 9. Bezirksschule zugeteilt, deren Schulstempel sie auch im Bedarfsfalle unter Beifügung des schriftlichen Zusatzes „Abteilung für Schwachsinnige* benutzen sollte. Bei Aufstellung des Haushaltplanes wollte man jedoch sowohl die Altstädter Ab- teilung, als auch die Neustädter Schwachsinnigenklasse mit allen Einnahmen und Ausgaben als selbständige Körper ansehen und in den Spezialübersichten gesondert hinter den Volksschulen aufführen.

Das Gliedern der ‚Klassen in je 2 Abteilungen hatte vielfach zu einer grossen Zersplitterung der Kraft des Lehrers geführt; darum unterliess man dies jetzt, soweit als möglich, für die Klassen I und Il, welche mit je 26 Lehr- stunden bedacht werden konnten. Nur für die III. Klasse behielt man, weil die dieser Klasse zugewiesenen Kinder geistig am tiefsten standen, die Teilung in 2 Abteilungen bei; auf die erste Abteilung entfielen 18 und auf die zweite 15 Stunden, und zwar so, dass beide Abteilungen 7 Stunden gemeinschaftlich hatten, in den übrigen Stunden aber getrennt von einander unterrichtet wurden.

Mit besonderer Freude begrüsste man es, dass bei Einrichtung einer I. Klasse aucb Zeit gefunden worden war, die Fröbelschen Beschäfti- gungen ausgiebig zu berücksichtigen; auf die I. und II. Klasse kamen je 17/, und auf die beiden Abteilungen der III. Klasse je 1 Stunde für diese Übungen.

So bildend die Fröbelschen Beschäftiguugen für Auge und Hand waren und so sehr durch dieselben veredelnd auf den Geschmack und anregend auf die Phantasie und den Thätigkeitstrieb gewirkt werden konnte, so sehr war man aber auch andererseits bemüht, für das gefundene Gute noch Besseres einzu- stellen; namentlich sehnte man sich darnach, noch mehr als bisher den prak- tischen Bedürfnissen des Lebens zu dienen. Die Schüler der Schwachsinnigen- abteilung würden, so sagte man sich in richtiger Erkenntnis der Thatsachen,

*) Reich ¢ im Jahre 1898. An seine Stelle trat am 1. Januar 1899 der Lehrer Paulus Zschiesche.

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später einen Beruf ergreifen, zu dessen erfolgreicher Betreibung neben Geschick- lichkeit der Glieder auch Ausdauer und Energie gehöre; daher dürfe man kein Mittel unversucht lassen, die körperlich schwerfälligen, ungeschickten und viel- fach recht willensschwachen Kinder so zu erziehen, dass sie neben einem guten Wissen auch mit einem tächtigen Können ausgerüstet und so in die Lage ver- setzt würden, später ihr eigenes Brot zu verdienen. Als zweckentsprechenden Unterricht erachtete man den in Papparbeiten, für die schwächsten und un- beholfensten älteren Schüler wollte man das Flechten von Fussabstreichern und das Beziehen von Rohrstühlen einführen.

In einer Eingabe vom 24. November 1888 schlug Oberlehrer Pruggmeyer bezüglich des einzuführenden Pappunterrichtes vor: = a) Für den Unterricht in Papparbeiten werden zwei Abteilungen ein- gerichtet; die eine umfasst die Knaben von 10—12 Jahren und die andere die von 12—14 Jahren.

b) Jede Abtheilung für Papparbeiten hat einen 2stündigen Unterricht; auch für die Flechtarbeiten ist ein 2stündiger Unterricht einzurichten.

c) Die Beteiligung an diesem Unterrichte ist den Kindern freizustellen; anzustreben ist aber die Heranziehung der sämtlichen dazu fähigen Knaben.

d) Die Teilnehmer an den Kursen für Papparbeiten zahlen monatlich 20 Pf. als Beitrag für das Arbeitsmaterial; die gefertigten Gegenstände werden ihren Verfertigern als Eigentum überlassen. Die Teilnehmer an den Flecht- arbeiten haben keinen monatlichen Beitrag zu zahlen; die fertigen Arbeiten werden zu einem mässigen Preise verkauft und der Erlös dient zur Beschaffung des Materials. Ein etwaiger Überschuss wird den betreffenden Kindern über- lassen und jedesmal zu Weihnachten ausgezahlt.

e) Notorisch arme Kinder bleiben, sofern sie am Pappunterrichte teilnehmen, von Zahlung der unter d) gedachten 20 Pf. befreit; der entstehende Ausfall wird von der Schulkasse gedeckt.

f) Alles Arbeitsmaterial, das Werkzeug und die nötigen Arbeitsgeräte werden von der Schulkasse beschafft.

In der Sitzung des Schulausschusses vom 5. Dezember 1888 fanden die Anträge freudige Unterstützung und man beschloss, von Neujahr 1889 ab den Handfertigkeitsunterricht in der Abteilung für Schwachsinnige einzuführen und zwar auf das erste Vierteljahr unter Freistellung der Teilnehmer, von Ostern 1889 ab aber als obligatorischen Unterrichtszweig. Zur Bestreitung der entstehenden Kosten stellte man auf Vorschlag des Stadtrats Dr. Nake noch nachträglich 500 Mk. in den nächstjährigen Hausbaltplan ein.

Den Pappunterricht erteilte ein Lehrer der Schule; für 4 Stunden wöchent- lich erhielt er eine jährliche Gratifikation von 288 Mk., pro Stunde 1,50 Mk. Für die Erteilung des Unterrichts im Flechten gewann man einen Handwerks- meister, der für jede Stunde 80 Pf. Entschädigung erhielt. Im Jahre 1892 erhöhte man diesem Meister das Honorar auf 1,25 Mk. für die Stunde. Da glücklicherweise im ehemaligen Waisenhause ein Raum noch frei war, konnte ofort eine Werkstatt eingerichtet werden.

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Die Einführung des Handarbeitsunterrichtes wurde nicht bloss von den Lehrern, sondern auch von den Eltern und Schülern aufs freudigste begrüsst. Obwohl im ersten Vierteljabre die Beteiligung eine freiwillige war, so schloss sich doch von 16 in Frage stehenden Knaben nur einer aus; die zu zahlenden wöchentlichen Beiträge gingen pünktlich ein. An dem Stuhlbeziehen und Matten- flechten beteiligten sich sämtliche Schüler, denen man das Erlernen dieser Be- schäftigungen empfohlen hatte. Es gab aber dennoch viel Schwierigkeiten zu überwinden. Die Knaben fassten die Instrumente trotz alles Zeigens und aller vorbereitenden Übungen ungeschickt an von den 15 am Pappunterrichte teil- nehmenden Knaben waren 8 linkshändig —; sie verdarben durch ungeschickte oder unvorsichtige Manipulationen oft das Material und liessen bei dessen Be- arbeitung den Sinn für Symmetrie und die nötige Akkuratesse vermissen. Selbst das Einfachste musste ihnen gezeigt werden, wollte man vermeiden, dass hilf- loses Hin- und Hertappen eintrat oder dass ganz Verkehrtes produziert wurde, und sass nach vielfältigster Übung der Griff, so begannen neue Schwierigkeiten, wenn es sich darum handelte, das Gelernte zu verwerten. Es zeigte sich auch recht, wie arm die Kinder an Phantasie waren; nur das Kleinste selbständig auszuführen oder die geringfügigste Ergänzung vorzunehmen, bereitete ihnen Schwierigkeiten hoher Art. Man erkannte bald, dass mit wöchentlich 2 Stunden nicht viel zu erreichen war; darum erfuhren bereits Ostern 1890 die für Hand- fertigkeit angesetzten Stunden eine Verdoppelung; die Zahl stieg von 6 auf 12, so dass jede Abteilung, die für Mattenflechten und Stuhlbeziehen mit ein- gerechnet, zwei Stunden mehr erhielt.

Die Kinder, die in den Papparbeiten gute Fortschritte gemacht hatten und körperlich kräftig waren, wurden hierauf, das war ein weiterer Fortschritt, auch in leichten Holzarbeiten geübt. Einrichtung einer zweiten Werkstatt und zwar einer solchen für Holzarbeiten machte sich notwendig. Unter Auswerfung der nötigen Geldmittel hierfür wurde die Genehmigung ausgesprochen.

Da sämtliche Knaben der 1. und 2. Klasse zum Handfertigkeitsunter- richte mit 4 Stunden wöchentlich herangezogen wurden, konnten die für diese Klassen angesetzten Fröbelschen Beschäftigungsarbeiten in Wegfall gebracht werden. Die 1. Knabenklasse erhielt dafür 1 Stunde Formenunterricht, welcher Unterrichtszweig bisher im Lehrplane noch gefehlt hatte und der 2. Klasse wurde die Zahl der Stunden für Deutsch um 1 vermehrt.

Mit Ostern 1892 erreichte die Organisation der Anstalt ein Gefüge, das für Jahre hinaus dasselbe bleiben sollte. Es wurde in diesem Jahre, nachdem bereits Ostern 1891 2 neue Klassen gegründet worden waren, noch 1 Klasse angefügt. Die Abteilung zählte demnach 6 aufsteigende Klassen; bei dieser Zahl von Klassen ist es bis jetzt geblieben. Dem Lehrerkollegium wies die Behörde die Bezirksschullehrer Franz Finke und Johannes Kind zu; zugleich wurde die Schule nach einem Beschlusse des Schulausschusses vom 23. März mit Genehmigung des Königl. Bezirksschulinspektors Eichenberg organisch mit der 9. Bezirksschule in Verbindung gebracht, wie dies bis Ostern 1888 mit der 2. Bezirksschule gewesen war. Der Direktor der 9. Bezirksschule wurde

86 Ortsschulinspektor, während im übrigen unter seiner Oberaufsicht und nach Massgabe der von ihm zu treffenden besonderen Anordnungen die (innere) Leitung dem Oberlehrer verblieb.

An dem Handfertigkeitsunterrichte beteiligten sich seit Ostern 1892 die Knaben der 3 oberen Klassen. Diese werden alljährlich in 4 Gruppen gebracht und zwar in 2 Gruppen, eine obere und eine untere, für Papparbeiten, eine, die stärkeren und fortgeschrittensten Knaben umfassend, für Hobelbankarbeiten und eine fir Stublbeziehen und Mattenflechten.

Die Kinder brachten im Laufe der Jahre den Handfertigkeitsarbeiten ein steigendes Interesse entgegen, und zwar um so mehr, als die Schule grossen Wert darauf legte, in erster Linie solche Gegenstände zu fertigen, deren Nutzen für einen einfachen Haushalt in die Augen springt. Die Lehrmeister, zu denen die schulentlassenen Nachhilfeschüler kamen, haben schon mehrfach ihre Zu- friedenheit über den Grad der Anstelligkeit und über die gezeigte Arbeitswillig- keit ausgesprochen. Dieses günstige Urteil ist ganz gewiss mit bedingt worden durch die Schulung, welche ein guter Handfertigkeitsunterricht, der im Gesamt- lehrplane in rechter Verbindung mit den anderen Fächern steht, hervorzubringen vermag. Bei der Bildung der Schwachsinnigen, die immer wieder vom Sinnen- fälligen auszugehen hat und bei der auch das Geistige in sinnenfällige Bahnen zu bringen ist, darf der Handfertigkeitsunterricht nicht als ein Anhängsel zum Lehrplane gelten; er muss, für die unteren Klassenstufen gilt dies auch von den Fröbelschen Beschäftigungen, die anderen Fächer befruchten und von diesen wiederum befruchtet werden.

Was für die Knaben der Handfertigkeitsunterricht ist, ist den Mädchen deı Nadelarbeitsunterricht. An diesem Unterrichtsfache nehmen seit Ostern 1892 die Mädchen der Klassen 1—4 teil; diese werden in 3 Gruppen gebracht, von denen jede wöchentlich 4 Stunden erhält.

Von Jahr zu Jahr kamen viele mit Sprachübeln behaftete Schüler zur Aufnahme. Diese Erscheinung ist keine auffallende; kann man auch nicht so weit gehen, die Sprachstörungen als unbedingte Merkmale des Schwachsinns zu bezeichnen *), so gilt doch auch die Thatsache, dass viele Schwachsinnige an solchen Übeln leiden. Den Lisplern und Stammlern kann, sobald im Unter- richte überhaupt auf gut artikuliertes Sprechen und Lesen gehalten wird, Hilfe gebracht werden, ohne dass besondere Heilkurse eingerichtet werden müssten; anders ist es bei den Stotterern ; die nötige Atmungsgymnastik und die schwie- rigen Übungen im Stimmenansatz erfordern viel Zeit. Ostern 1892 zählte die Schule 10 stotternde Kinder; daher wurde der Antrag auf Einrichtung einer Stunde eingebracht, in welcher systematische Übungen zur Behebung dieses Übels angestellt werden sollten.

Ebenso notwendig machte sich insonderheit für die oberen Klassen die Ein- stellung von besonderen Nachhilfestunden. Es gab eine Anzahl Schwerhörige und hochgradig Kurzsichtige, die einer ganz besonderen Hiugabe seitens des

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*) Dr. H. Sollier, Der Idiote und der Imbecille, Hamburg und Leipzig 1891, weist nach, dass Intelligenz und Sprachdefekt nicht immer parallel laufen.

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Lehrers bedurften; andrerseits stellte es sich auch heraus, dass das mechanische Lesen einiger Schüler nicht zu einem fliessenden sich herausbilden wollte, und da erfahrungsgemäss schlechte Leser auch schlechte Leistungen in der Ortho- graphie aufweisen, so wollte man mit Anwendung aller Energie solche Leser vorwärts bringen; durch ein Ansetzen von Nachhilfestunden hoffte man, das Gewünschte zu erreichen. Um bei dem sehr gesteigerten Etat die entstehenden Mehrkosten auf ein möglichst geringes Mass zu beschräuken, schlug man vor, die Knaben und Mädchen der Klassen 1—3 im Turnen nichi in 3, sondern in 2 Gruppen zu vereinigen; jede Gruppe solle in wöchentlich 2 Stunden unter- richtet werden; dadurch erspare man 2 Stunden und diese könne man zu Nach- hilfestunden verwenden. Die Behörde gab ihre Einwilligung zu den ihr ge- wordenen Vorschlägen.

Die Ostern 1893 festgesetzte Belegung der einzelnen Klassen mit den ver- schiedenen Lehrfächern und die für jedes Fach festgestellte Zahl von Stunden

gilt heute noch. Wöchentliche Unterrichtsstunden.

Klasse ı/ılıılıv|v | VI| Bemerkungen. | e} ye z

Religion >... 144 43 Ze en Deutsch . . . . . . . «4 4, 4/ 3| 2 Lesen . . ..... . .| 2} 2: 8! 4 | In der VI. Klasse werden Schreiben . . .....[1n1)2'2 | : | S || im Anschauungsunterr. keehnen. «| 5] 5) 4) 8) 3) Bn

i | spielen vieleVorübungen Heimatskunde . . . nap AA a = | = im Rechnen (Zählen)vor- Anschauung . . oe def) —) 4. 5) OF genommen. Zeichnen . . 2 . . . © 2 | 2] 2 eae Formenlehre 1! 1 = Gesang H 1.1. Ks | | Kl.]u.llsingen gemeinsch. Turnen EA HH 2' 92 | 2 | ı— ,— | In 2 Gruppen. Handfertigkeit . . . . . . 4 | 4 | 4 ae In 4 Gruppen. Fröbelsche Beschaftigung . .|—,—'— 2, 2 | 2 | In KI.IV bloss d. Knaben. Nadelarbeitsunterricht . . . | 4| 4 | 4 4 :— | In 3 Gruppen.

Gesamtzahl d. Standen: Knaben |30| 30 ' 28 | 21/18 | 15 Madchen u 30 ' 28 | 23 | 18 15 Hierzu kommen noch für einzelne Kinder: Übungen, Heilung von Sprach- | | oOo j

gebrechen. . . . ....I1-| 1 aal aal Nachhilfestunden . . . . . 11 bis

Ausser den Handfertigkeitsstunden sind die Kinder mit besonderer Liebe den Gesangsstunden zugethan; besitzt doch die Mehrzahl der Schüler ein scharfes musikalisches Gehör und ein gutes musikalisches Empfinden, ein Beweis dafür, dass bei den Schwachsinnigen oft nur partielle Störungen des Gehirns

ei

88 vorhanden sind. Fiele das Auswendiglernen des Textes nicht schwer, so würden die Gesangsstunden nur Stunden der Lust und Freude sein. Um der Neigung der Kinder zum Gesange gerecht zu werden und um Abwechslung in den Unter- richt zu bringen, wird auch bei passenden Stellen im Unterricht und in den Pausen ein Lied gesungen.

Obwohl bei sechs aufsteigenden Klassen Gelegenheit genug geboten ist, die schwachsinnigen Kinder nach ihren Leistungen zu plazieren, hat man doch, da die Befähigung für die verschiedenen Fächer nicht allenthalben eine gleiche ist, die bereits erwähnte Einrichtung, darin bestehend, dass die Hauptfächer in den verschiedenen Klassen auf gleiche Zeit gelegt werden, beibehalten. Es kommt vor, dass ein Kind, das namentlich im Deutschen recht Gutes leistet, im Rechnen so schwach ist, dass es, der ersten Klasse angehörend, in diesem Fache in die dritte Klasse gewiesen werden muss. Wiederum weisen manchmal gute Rechner ganz ungenügende Leistungen in der Orthographie und im schrift- lichen Gedankenausdrucke auf.

Weil viele Kinder einen weiten Schulweg haben, ist der Unterricht in der Hauptsache auf den Vormittag verlegt worden. Die Klassen 4—6 sind nach- mittags an allen Tagen schulfrei, die Klassen 1—3 haben jedoch ausser dem täglichen Vormittagsunterrichte an zwei Tagen auch Nachmittagsunterricht; es wird nachmittags jedoch nur Handfertigkeits- und Nadelarbeitsunterricht oder Stotterheilunterricht erteilt.

Der Unterricht beginnt, mit Ausnahme der Monate Juni, Juli und August, für die Klassen 1—5 früh um 8 Uhr, in den genannten Monaten aber bereits früh um 7 Uhr; Klasse 6, zu welcher die schwächsten Kinder gehören, fängt, damit diese Kinder im Morgenschlafe nicht gestört werden, früh um 10 Uhr, im Juni, Juli und August jedoch um 9 Uhr an.

Die Lektionen sind in der Hauptsache solche zu °/, Stunden; ganzstündige Lektionen werden, abgesehen von den Übungen in der Handfertigkeit, nur im Deutschen abgehalten, weil in diesem Fache die vielfältigste Übung notwendig ist. Zum Ansetzen von halbstündigen Lektionen konnte man sich nicht ent- scheiden, weil dann, da das Wiederholen ungemein viel Zeit erfordert und die Darbietung des Neuen auch nur langsam sich vollziehen kann, keine Zeit zum Verknüpfen des alten mit dem neuen Stoffe übrig bliebe und auch auf die insonderheit für Schwachsinnige unbedingt notwendige Anwendung zu wenig Zeit verwendet werden könnte.

Der oft mit apodiktischer Sicherheit ausgesprochene Satz: „Der Unterricht strengt die Schwachsinnigen mehr an als die Vollsinnigeu“ lässt sich in dieser Allgemeinheit nicht aufrecht erhalten. Bleiben die Schwachsinnigen in den Klassen der Vollsinnigen, so strengen sie sich, nachdem sie vielleicht einen Anlauf zum Lernen gemacht haben, gar nicht an; stumpf und gleichgiltig sitzen sie da; sie gleichen dem Tiere, das eine zu schwere Last ziehen soll; es rührt sich nach dem ersten vergeblichen Anziehen trotz aller Mühen und Anstrengungen seines Führers nicht von der Stelle.

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Anders liegt die Sache in den Schulen für Schwachsinnige. Hier sind die Ziele einfacher und die stofflichen Einheiten kleiner; es wird weniger voraus- gesetzt, und die Methode ist eine so subtile, dass Hilfen gegeben werden, wo das normale Kind sich selbst helfen kann. Den Weg der Deduktion zu be- schreiten und aus dem Allgemeinen das Besondere abzuleiten, wagt der Lehrer der Schwachsinnigen nur ausnahmsweise und in ganz konkreten Fällen. Das Mittel der Induktion wendet er zwar häufiger an; aber die Erkenntnis der Eigen- schaften des Einzelnen muss auf dem Wege der Anschauung gewonnen worden sein, und die Eigenschaften müssen so plastisch hervortreten, dass die Schluss- folgerung in ungezwungener Weise sich ergiebt. Unter solchen Voraussetzungen wirkt der Unterricht an und für sich gewiss nicht anstrengender auf die Schwach- sinnigen, als dies der höhere Ziele verfolgende Unterricht der Volksschule be- züglich der vollsinnigen Kinder thut.

Zu berücksichtigen ist freilich, dass bei den Schwachsinnigen die Hemmungs- zentren im Gehirn sehr wenig entwickelt sind. Daher gelingt es ihnen vielfach nicht, die durch Reize der Aussenwelt leicht entstehenden Reflexbewegungen zu unterdrücken. Es bemächtigt sich ihrer dann eine Unruhe, die um so mehr wächst, je mehr der Lehrer sich müht, dieselbe zu unterdrücken. Die Aufmerk- samkeit längere Zeit auf denselben Punkt als den Brennpunkt des Interesses zu richten, ist ihnen ein schweres Stück Arbeit. Diesem Umstande Rechnung tragend, ist es Grundsatz geworden, Abwechslung in den Unterricht zu bringen und ausser den kleineren Pausen, die insonderheit durch das erotematische Lehrverfahren entstehen, auch grössere Pausen den Kindern zu gönnen. Fühlt der Lehrer der Nachhilfeschule, dass seine Kinder matt oder unruhig werden, so geht er von der fragenden zu der darstellenden Form über; hilft das nicht, so lässt er im Chore antworten, oder er wendet Kommandierübungen an, oder aber und das ist das Beste er flicht eine spasshafte Bemerkung ein; denn „Heiter- keit ist der Himmel“, unter dem auch das schwache Pflänzchen der Aufmerksamkeit unserer die Nachhilfeschule besuchenden Kinder gedeiht. Das Rossmässlersche Wort: „Freude soll die Seele unserer Weltanschauung sein. Schaffet den Menschen Freude!“ giebt dem Nachhilfeschullehrer eine Direktive beachtenswertester Art.

Zu gründlicherer Erholung der Schüler sind in der Nachhilfeschule links der Elbe längere Pausen eingeführt worden. Zwischen der zweiten und dritten und zwischen der vierten und fünften Stunde bestehen Pausen von je 20 Minuten. Zwischen der ersten und zweiten und zwischen der dritten und vierten Stunde dauern die Pausen in den Klassen 1—4 je 5 und in den Klassen 5 und 6 je 10 Minuten; in der 6. Klasse kommt aber ein Unterricht, der mehr als drei Stunden umfasst, nicht vor. Während der grossen Pausen halten sich die Kinder bei schönem Wetter auf dem geräumigen Turnplatze der 9. Bezirks- schule auf; hier haben sie Raum in Fülle, sich zu bewegen. Es wird sehr gern gesehen, wenn die Lehrer in der Zeit der grossen Pausen Bewegungsspiele vor- nehmen lassen; die Kinder zeigen aber wenig Neigung zu diesen Spielen, und es muss seitens der Lehrer immer wieder hierzu Aufforderung ergehen und An- leitung gegeben werden.

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Ein grosser Wert ist in den Nachhilfeschulen auf das Fortführen der Klassen zu legen. Liebe erzeugt Gegenliebe, und Vertrauen erweckt wieder Vertrauen; beides lässt sich aber bei den Schwachsinnigen, die den Knospen gleichen, welche sich schwer erschliessen, nicht leicht gewinnen. Haben aber die Schwachsinnigen einmal ihren Lehrer in ihr Herz geschlossen, dann be- wahren sie ihm eine Treue, die dem Felsen gleicht. Da andrerseits der Lehrer der Nachhilfeschule fortgesetzt individualisieren muss und die Schwachsinnigen trotz ihrer Stumpfheit ein ganzes Heer besonderer Neigungen entwickeln, ist es dringend geboten, den Lehrer in dem engeren Kreise seiner kleinen Freunde zu lassen. Hätte die Nachhilfeschule bei ihren sechs Klassen auch sechs Lebrer, so würde, ein normales Aufrücken der Schüler vorausgesetzt, jeder Lehrer seine Schüler durch alle Klassenstufen führen können; bei fünf Lehrern lässt sich dies nicht durchführen. Bis jetzt hat sich die folgende Einrichtung bewährt: Die unterste Klasse, die meisten erziehlichen und unterrichtlichen Schwierigkeiten bietend, ruht in einer und derselben Hand; die 5. Klasse bekommt Unterricht von dem Lehrer der 6. und dem jeweiligen Lehrer der 4. Klasse, und von der 4. Klasse an bleiben die Kinder bei demselben Lehrer. So entsteht eine innige Gemeinschaft zwischen Lehrer und Schüler; der Lehrer ist der Vertraute seiner Schüler; diese sehen in ihm ihren geistigen Vater und erheischen seinen Rat und seine Hilfe auch in Angelegenheiten, die ausserhalb der schulischen Sphäre liegen. Durch die Schulentlassung wird dieses schöne Band der Interessen- gemeinschaft wohl gestört, aber nicht vernichtet; die Besuche und die Briefe abgegangener Zöglinge zeugen davon.

Zur Beförderung eines innigen Verhältnisses zwischen Lehrer und Schüler tragen die Spaziergänge bei, welche jeder Lehrer mit seiner Klasse unternimmt. Alljährlich einmal wird der Zoologische Garten besucht; der Besuch des Gartens ist für die Kinder unentgeltlich, da die Stadtverwaltung eine Subventionssumme zahlt.

Während des Sommers finden in jeder Klasse allmonatlich einmal Spazier- gänge durch die Stadt und nach der nächsten Umgebung statt. Diese Spazier- gänge stehen allerdings im Dienste des Unterrichts. Den Kindern werden her- vorragende Gebäude, die Denkmäler der Stadt, wichtige, in den Anlagen zu findende Gewächse, und ganz besonders die giftigen, gezeigt; man führt sie in Geschäfte, in denen beachtenswerte einheimische oder ausländische Produkte zu sehen sind; man betrachtet mit ihnen Jie Handelsobjekte, die an der Elbe oder auf dem Packhofe ein- oder ausgeladen werden; an einer aufgerissenen Stelle des Strassenkörpers erläutert man, welche Leitungen unter demselben zu finden sind und welchen Zweck dieselben haben. Erstreckt sich die Wanderung nach Orten, die ausserhalb der Stadt liegen, so ist man bemüht, das Leben auf dem Felde, der Wiese und in dem Walde zu zeigen; man geht auch mehrfach nach demselben Orte, um Veränderungen, die sich ergeben, von den Kindern finden zu lassen und so das Beobachtüngs- und Unterscheidungsvermögen zu schärfen. Mit Vorliebe erhalten die Kinder Anleitung, die menschlichen Thätigkeiten, die sich im Bauernhause, in einer Schmiede-, Stellmacher- oder Töpferwerkstatt, bei dem Baue eines Hauses und in dem einfachen Betriebe einer Ziegelei abspielen,

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zu beobachten. Unterwegs wird auch viel gezählt, gemessen oder geschätzt. Hat man eine Anzahl von Gegenständen nach ihrer Menge geschätzt, so zeigt man dann, ob dabei Irrtümer vorgekommen sind oder nicht. Gelegentlich giebt man den Kindern Verhaltungsmassregeln über das Rechtsgehen, das Ausweichen und das Verhalten beim Passieren von Schnittpunkten der Strassen. Beim Eintritte in eine Werkstatt etc. müssen die Kinder in schicklicher Weise grüssen. Sollen aber diese Schulspaziergänge einen nach verschiedenen Seiten hin sich erstrecken- den Nutzen bringen, so müssen sie nach einem festen Programm unternommen werden; es ist ferner notwendig, im Unterrichte entsprechende Vorbereitungen zu treffen und das durch die gedachten Spaziergänge gewonnene Anschauungs- material durch den nachfolgenden Unterricht zu sichten und zu festen Begriffen zu verarbeiten. Es ist daher Vorsorge getroffen worden, dass alles Nötige ge- schieht. Sehr gern verwenden die Lehrer der beiden oberen Klassen den durch Beobachtung gewonnenen Stoff zu stilistischen Arbeiten und namentlich zu Briefen Für Briefe fehlt es oft, sollen dieselben nicht den Charakter des Ge- schraubten und Unkindlichen tragen, am nötigen Stoffe; hier fliesst derselbe un- gesucht und in reicher, greifbarer Masse zu.

Als ergiebige Fundquelle für Anschauungen erweist sich die Benutzung des Schulgartens. Die Nachhilfeschule besitzt zwar keinen eigenen, aber sie darf den der 9. Bezirksschule zu jeder Zeit benutzen. Die Kinder können hier alle die Gewächse, die für das Leben des Menschen von hervorstechender Bedeutung sind, jeden Tag sehen und deren fortschreitende Entwickelung betrachten. Das Biologische reizt ihre Aufmerksamkeit und das Nachdenken viel mehr als eine rein morphologische Betrachtung. Die Pflanze, welche dem Erdboden entrissen und aus ihrer Umgebung entfernt wurde, erscheint den Kindern wie ein Lebe- wesen bar aller Lebensäusserungen; es interessiert sie nicht, und nach seinem Nutzen fragen sie nicht. Haben sie aber die Pflanze in den verschiedenen Phasen der Entwickelung gesehen, dann ist sie ihnen kein Fremdling, sondern ein Genosse, ihnen vertraut und ihnen lieb und wert geworden; dann ist Ihnen der rechte seelische Untergrund zu einer fruchtbringenden Besprechung vorhanden; dann entsteht hoffentlich auch der Entschluss, solchen und ähnlichen Pflanzen eine pflegliche Behandlung zu teil werden zu lassen oder doch an ihnen keine Roheiten zu verüben. Gern würden die Lehrer es sehen, wenn sie die Kinder zu gärtnerischen Arbeiten mit heranziehen könnten; nach Lage der Umstände lässt sich aber für jetzt diese Idee nicht verwirklichen. Um einen annähernden Ausgleich zu schaffen, wird den Kindern Anleitung zur Pflege der Stuben- gewächse gegeben. Wie schön und anheimelnd kann ein Schwachsinniger, der trotz aller aufgenommenen Bildungselemente meist nicht gern in rege Ver- bindung mit seinen Mitmenschen tritt, sein Heim, und sei dies noch so einfach, gestalten, wenn er Sinn und Geschick zur Blumenpflege entfaltet! Hier ent- stehen ihm Genüsse, die ihn in eine Welt des Behagens und köstlichen Friedens versetzen.

Da nicht alle Körper in natura gezeigt werden können, sind plastische Gegenstände, Modelle, Wandbilder und -karten zwecks einer möglichst anschau-

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lichen Betrachtung in völlig ausreichender Menge angeschafft worden; dies wurde ermöglicht, da der Schulausschuss immer für die nötigen Geldmittel sorgte. In den vier letztvergangenen Jahren wurden zur Anschaffung von Anschauungs- mitteln je 180 Mk. ausgeworfen, und auch in den früheren Jahren kannte man ein Kargen nicht. Die Nachhilfeschule besitzt infolgedessen nicht bloss viel, sondern, was die Hauptsache ist, viel gute, wirklich brauchbare, instruktiv wirkende Anschauungsmittel. Diese Sammlung ist ihre Freude und auch mit Recht ihr Stolz.

Der jetzt Geltung besitzende Lehrplan ist vom Kollegium nach vielen Mühen und unter Berücksichtigung aller einschlagenden Momente entworten worden. Man ging bei Feststellung der Themen von dem Satze aus: „Bildung bedeutet nicht Ausstattung, sondern Ausgestaltung der Seele“ Nicht darauf kommt es an, wieviel der Mensch weiss, sondern darauf, dass er etwas Rechtes weiss und kann; nicht die Grösse seines Wissens, sondern die Tiefe und die Beweglichkeit desselben sind entscheidend. Da Kinder zu unterrichten sind, deren Seelenvermögen infolge einer Entwickelungshemmung des Gehirns in einem permanenten Schwächezustande sich befinden, ist das Losungswort bei der Aus- wabl der Stoffe: Scheide aus und scheide immer wieder aus, bis ein Extrakt übrig bleibt, dessen Nährwert unbestritten, aber auch unentbehrlich ist, ein Lehrplan in nuce. Bloss die Stoffe, die zur Weckung und Bildung der geistigen Kräfte unbedingt gebraucht werden, und die das Kind kennen muss, wenn e8 ein Gemeinschaftsleben mit Gott und seinen Mitmenschen führen will, sind zu üben, nicht bloss zu betrachten, sondern wirklich zu üben.

Jean Paul sagt in seiner Levana: „Es giebt für das Kind einen geistigen Talisman, nämlich den Reiz des Gegenstandes.“ Die Stoffe müssen das Interesse des Kindes reizen; solcher Stoffe aber giebt es für den Schwachsinnigen über- haupt wenig, und für die Geistesarmen, die den unteren Klassen zugewiesen werden müssen, ist die Zahl dieser Stoffe ganz gering.

Klar im Ausdrucke, kurz in der Form, warm im Gefühlstone muss der Stoff dem Kinde überreicht werden; sonst entsteht kein Affizieren des stumpfen Sinnesorgans, und der Reiz pflanzt sich daun nicht in Form von Bewegung durch die schwachen Nerven fort; die Bewegung des Nervs muss aber eine kräftige sein, weil es sonst nicht zur Erregung einer der Ganglienzellen des Grosshirns käme; geschähe dies nicht, so würde die Empfindung, das erste seelische Produkt, ausbleiben, und die Vorbedingung zur Perzeption des be- treffenden Gegenstandes würde fehlen. Man denke: Ein schwaches Sinnesorgan, ein wenig kräftiger Nerv und eine nicht die rechte Beschaffenheit zeigende Ganglienzelle! Welche Summe ungünstiger Umstände! Welch ein Eklektiker muss der Lehrer sein, damit der Schwachsinnige perzipiert! Aber wie flüchtig sind die Empfindungen! Der Schwachsinnige vergisst mit einer Leichtigkeit, die hinsichtlich ihrer Grösse der Schwierigkeit entspricht, mit der er lernt. Zwei Minusgrössen auf einmal! Die Schwierigkeiten wachsen insofern noch, als die zur Erregung gebrachte, aber schnell in ihren alten latenten Zustand übergehende

Ganglienzelle*) mehrfach erregt werden muss, damit die Empfindungen stärker werden und schliesslich eine starke Fixierung erfahren. Ist dies gelungen, so sind sich die Kinder aber erst über ein Merkmal des betreffenden Gegenstandes klar; damit sie die anderen charakteristischen Merkmale kennen lernen, müssen andere Ganglienzellen durch andere kraftvolle Reize aktuell gemacht werden. Schliesslich erheischt die Notwendigkeit, die Merkmale zu einer Gesamtanschauung zu vereinigen; dies geschieht, wenn die zwischen den Ganglienzellen, den Tragern der einzelnen Empfindungen, liegenden Associationsfasern in Aktivität gebracht werden. In einem in seiner Entwickelung gehemmten Gehirn sind diese Leitungs- bahnen meist auch sehr schwach. So wie der Elektrotechniker bei schwachem Strom und bei mangelhafter Leitung nur durch fortgesetzte Aufmerksamkeit und fortgesetzte Rekonstruierungen ein Licht schaffen kann, das mässigen Ansprüchen genügt, so ähnlich ist die Arbeit des Lehrers der Schwachsinnigen. Der Elektro- techniker hat den Vorteil, dass. er schliesslich, wenn auch unter Beschwerden, feststellen kann, an welcher Stelle der Kontakt gestört worden ist; auf geistigem Gebiete kann aber nur eine hypothetische Erklärung angenommen werden.

Die gegebene Theorie von dem Wesen des Schwachsinnes mag in einzelnen Punkten ihre Schwächen haben; aber sie giebt dem Lehrer deutliche Fingerzeige. Der Lehrer muss oft auf denselben Gegenstand zu sprechen kommen, diesen wiederholt vielseitig beleuchten und durch Vergleichungen verschiedenster Art die nötigen Associationen herstellen. Damit dies der Lehrer thun kann, sind in der Nachhilfeschule links der Elbe verwandte Fächer miteinander vereinigt und die einzelnen Themen so gewählt worden, dass fortwährend ungezwungen Gelegenheit sich ergiebt, immanente Wiederholungen anzustellen. Der Kate- chismusunterricht tritt nicht als besonderes Fach auf; die einzelnen Katechismus- partien werden in unmittelbarem Anschluss an passende biblische Geschichten betrachtet; eine Zusammenfassung erfolgt am Schlusse des Schuljahres, ganz besonders aber in dem Vorbereitungsunterricht für Konfirmanden. Geographie-, Naturgeschichts- und Geschichtsunterricht sind auch, soweit es sich um heimat- liche Verhältnisse handelt, vereinigt worden; das Verbindende wird durch die Heimatskunde geschaffen. Rechnen, Formenlehre, Zeichnen und Handfertigkeits- unterricht bilden eine andere Gruppe; Schreiben, Lesen, Rechtschreibung und Stil stehen ebenfalls in inniger Verbindung. In den unteren Klassen ist der Anschauungsunterricht die Zentralsonne.**) Wenig, aber guten Stoff zu geben, diesen lebensvoll zu beleuchten, viel innere Beziehungen zu schaffen und fort- gesetzt diese Beziehungen aufzufrischen und zu ergänzen, ist die unterrichtliche Aufgabe, der in der Nachhilfeschule nachgestrebt wird.

Nicht minder schwer ist die erziehliche Aufgabe Trägheit, Flatter- haftigkeit, Lügenhaftigkeit und Unverträglichkeit sind üble Eigenschaften, die bei vielen Schwachsinnigen in starker Weise hervortreten. Da diese Kinder die

*) Ufer, Das Wesen des Schwachsinns, Langensalza 1892. **) Es wird davon abgesehen, hier den Lehrplan der Nachhilfeschule niederzulegen, da mit Genehmigung des Schulausschusses die Drucklegung dieses Planes im Jahre 1900 erfolgt.

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Güte der vorgebrachten Gründe nur schwer einsehen, ist das belehrende Wort nicht von der Bedeutung, die dasselbe bei der Erziehung der Vollsinnigen ge- niesst. Auch das ermahnende Wort steht nicht auf hoher Warte, weil dasselbe leicht vergessen wird; auch Strafen fallen diesem Schicksale anheim. Die Haupt- sache ist, dass der Zögling einer sittlich gefestigten, mit einem festen Willen ausgerüsteten Persönlichkeit gegenübersteht, deren Ruf: „Du musst das thun!“ unwiderstehlich einwirkt und deren Beispiel unbewusst, aber alle Sinne und alle Triebe lenkend und antreibend, einwirkt.

Die Schule hat mit Sorgfalt Verhaltungsmassregeln für das Verhalten in der Schule und ausserhalb derselben ausgearbeitet; diese werden abschnitt- weise mehrfach im Laufe des Jahres vorgelesen. Bei häufig eintretenden Ver- gehungen kommt man sehr oft auf die betreffenden Bestimmungen mit Ernst zu sprechen; dies würde aber alles nichts nützen, wenn nicht der vom Lehrer aus- gehende Geist der rechte und wenn nicht das Auge des Lehrers ein wachendes wäre, das nach allem siebt und zu jeder Zeit beobachtet und kontrolliert. Das Schulleben bietet, obwohl es nur einige Stunden des Tages umfasst und obwohl es sich meist in einem abgeschlossenen Raume vollzieht, doch und zwar meist infolge des Verkehrs der Schüler untereinander, in reicher Fülle Gelegenheit zum Thun des Guten. Der Erzieher, der diese Gelegenheiten erkennt und zu benutzen versteht und über das Geschick verfügt, ohne dass lange Reflexionen angestellt oder Zwangsmassregeln angewendet werden, die Schüler so zu beein- flussen, dass sich das Thun des Guten als notwendige Folge ergiebt und dass schliesslich aus dem oft wiederholten Thun eine Gewohnheit, treibende Kräfte in sich bergend, erwächst, ist ein Erzieher, wie ihn die Schule für Schwach- sinnige braucht. Es strömt von manchem Lehrer in Wirklichkeit eine Suggestions- kraft aus, die den Schüler unwillkürlich zwingt, das Gebotene zu thun.

Vielfach ist darüber gestritten worden, ob der Schwachsinnige bei seiner Beanlagung zu einem raffinierten Verbrecher heranwachsen könne. Manche sind der Meinung, er thue das Böse nur aus übler Neigung oder aus Un- kenntnis. Das mag vielfach der Fall sein. Die Erfahrung lehrt aber auch, dass Schwachsinnige mit Überlegung und mit Schlauheit beim Thun des Bösen vorgegangen sind. Wie ist das zu erklären? Es darf nicht ausser acht ge- lassen werden, dass nicht alle Ganglienzellen und Associationsbahnen von ge- ringem Werte sein müssen; manche Gehirnpartien können gesund geblieben sein. Aber auch dann, wenn diese Voraussetzung nicht zuträfe, wäre ein rafli- niertes Handeln der Schwachsinnigen nicht ausgeschlossen. Alle Nichtnormalen sind mehr oder weniger egozeutrisch; das liebe Ich mit seinen Bedürfnissen leiblicher Art regt sich oft in einer Stärke, die alles andere überwuchert. Durch das fortgesetzte Erregen derjenigen Ganglienzellen und Associationsbahnen, die den Sitz des Egoismus bilden, erstarken diese, und so entsteht schliesslich auf diesem Gebiete eine dem normalen Menschen ziemlich gleiche Intelligenz und ein zielbewusster Wille.

In der Nachhilfeschule wurden mehrfach Fälle zur Anzeige gebracht, aus denen hervorging, dass die betreffenden Schüler mit Überlegung und mit Schlau-

t

95 heit Böses gethan hatten. Mehr als einmal ist es z. B. vorgekommen, dass Schüler bei Begehung von Diebstählen die passendste Zeit abgewartet und dass sie, um sicher vorgehen zu können, Posten zur Beobachtung und zum Signali- sieren der etwa entstehenden Gefahr ausgestellt hatten. Um Geld für Näsche- reien zu erhalten, wurden mehrfach Betrügereien und Schwindeleien vorgenommen, die einem geriebenen Gauner nicht zur Unehre gereicht hätten.

Solche Ausbildungen einzelner Gehirnkomplexe sind um so gefährlicher, da andere Gedankenkreise, namentlich dann, wenn die Schwachsinnigen nicht mehr im Alter der Kindheit stehen, kaum noch zur Ausbildung zu bringen sind; dann kann aber den Neigungen kein Gegengewicht entgegengestellt werden und daher tritt aus den Annalen der Besserungs- und Arbeitsanstalten die betrübende Thatsache hervor, dass stets unter den Rückfälligen auffallend viel Unnormale zu finden sind. Wenn auf dem Gebiete der Erziehung das Verhüten wichtiger ist als das Bestrafen, so wird dies zu einem förmlich ehernen Gesetze für u Erziehung der Schwachsinnigen.

Um zu zeigen, wie oft die Schwachsinnigen mit den Bestimmungen des Gesetzes in Konflikt geraten, sei es gestattet, den Inhalt der im Jahre 1892: eingegangenen polizeilichen Anzeigen anzugeben.

K., Schülerin der I. Klasse, treibt sich liederlich umher, stiehlt und hat un- sittlichen Umgang mit Männern.

S., Schüler der I. Klasse, erhielt wegen Diebstahls einen Verweis vor dem Königl. Schöffengericht. (1893 erhielt derselbe Knabe eine auf vier Monate sich erstreckende Gefängnisstrafe, weil er wiederholt ge- stohlen hatte.)

H., Schüler der Il. Klasse, treibt Bettelei.

P., Schülerin der III. Klasse, steht dringend im Verdachte, einem sechs- jährigen Mädchen goldene Ohrringe im Werte von 12 Mk. aus- gehängt und genommen zu haben.

St., Schüler der IV. Klasse, hat eine Katze weggefangen.

W. und Sp., Schülerinnen der IV. Klasse, bieten auf der Strasse in aufdring- licher Weise Streichhölzchen zum Kaufe an.

Solche und ähnliche Anzeigen gehen in jedem Jahre ein, in dem einen mehr und in dem andern weniger; der zuerst gedachte Fall ist allerdings glücklicherweise vereinzelt geblieben. Vielfach kommt es nicht zur Anzeige bei der Königl. Polizeidirektion; man wendet sich an die Direktion der Schule und überlässt dieser alles Weitere. Bei Erörterung der Frage: „Wie kommt es, dass der Schwachsinnige so oft strauchelt ?“ stösst ınan auf verschiedene Ursachen ; die betrübendste unter diesen ist folgende: Es giebt einige Eltern, die sich gar nicht darum kümmern, ‚wie ihre Kinder die schulfreie Zeit verbringen; man lässt die Knaben oder Mädchen auf der Strasse herumlungern und fragt nicht, was sie dort thun. Man weiss, dass sich die Kinder durch allerlei Dienste leichter Art einige Pfennige verdienen, will aber angeblich keine Zeit dazu haben, ernstlich zu fragen, was mit dem Gelde vorgenommen wird. Man findet auch keine Gelegenheit, einmal die Taschen zu visitieren und sich davon zu

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überzeugen, welche Näschereien und welchen durch Kauf oder durch Kaupeleien erhaltenen Plunder dieselben bergen.

Hätten die Schwachsinnigen immer die nötige Aufsicht oder wäre ihnen die durch die Eltern vorzunehmende Kontrolle nicht eine unbekannte Angelegen- heit, so würde die Zahl der Gesetzesverletzungen eine kleine werden. Aus diesen Erwägungen heraus stellte das Kollegium der Nachhilfeschule am 16. Oktober 1893 den Antrag, die Behörde wolle der Frage, Gründung eines Kinderhortes fir die Nachhilfeschule betreffend, näher treten. Der Schulausschuss stellte sich zu dieser Angelegenheit sympathisch, lehnte es aber zur Zeit ab, zur Gründung eines Kinderhortes vorzuschreiten, weil die Räumlichkeiten der Nachhilfeschule keinen Platz böten. Man stellte aber in Aussicht, dann, wenn sich durch einen Neubau der 9. Bezirksschule oder durch eine Verlegung der Nachhilfeschule in ein anderes Gebäude die räumlichen Verhältnisse günstiger gestalten würden, auf die in Frage stehende Angelegenheit zurückzukommen. Gegenwärtig sind unter Überwindung bedeutender Hindernisse verschiedene Schulbauten für das Innere der Stadt geplant worden, nach deren Fertigstellung jedenfalls eine ‘günstige Lösung der schwebenden Frage eintreten. wird.

Das Kollegium hat immer das Bestreben gezeigt, mit dem Elternhause in möglichst enger Fühlung zu bleiben; denn nur bei thatkräftiger Unter- stützung durch die Familie können Früchte erfreulicher Art reifen. Hat die Schule in der einen oder anderen Beziehung zu klagen, so erfolgen schriftliche Mittheilungen an das Elternhaus, fruchten diese nichts, so werden die Eltern zu einer Besprechung mit dem Lehrer oder mit dem Direktor geladen, hilft auch dieses Mittel nichts, dann wird Beschwerde bei der Behörde eingereicht.

Den Lehrern ist es durch Beschluss des Schulausschusses zur Pflicht ge- macht worden, die Eltern der Schüler alljährlich einmal zu besuchen. Diese Besuche haben sich als sehr zweckdienlich erwiesen; wird doch dadurch dem Lehrer Gelegenheit geboten, die häuslichen Verhältnisse der Kinder aus eigner Anschauung kennen .zu lernen und den Eltern manchen beachtenswerten Wink für die Erziehung zu geben. In den Schulkonferenzen berichten die Lehrer über ihre dabei gewonnenen Erfahrungen; dabei entsteht das Gute, dass alle Lehrer der Schule die. Beziehungen eines jeden Kindes kennen lernen und dass eine einheitliche Beurteilung erziehlicher Einflüsse und eine einheitliche Behandlung der Kinder Platz greift. Die Eltern freuen sich dieser Besuche, da die Lehrer in taktvoller Weise auftreten und sich als teilnehmende Freunde erweisen und befolgen in der Regel gern die gegebenen Ratschläge. Manchmal sind sie er- staunt, aber auch sehr dankbar, wenn sie auf Übelstände aufmerksam gemacht werden, die sie als solche nicht erkannt hatten. Es fand z. B. ein Lehrer bei seinen Besuchen, dass ein Knabe, Schüler der obersten Klasse, mit der 14jäh- rigen Schwester und dass in einer anderen Familie ein Mädchen, auch der obersten Klasse angehörend, mit dem 9jährigen Bruder ein und dasselbe Bett benutzte. Obwohl in beiden Familien die Wohnungsverhältnisse beschränkte waren, wurden doch Vorkehrungen getroffen, durch welche Abhilfe dieses und schicklichen Zusammenschlafens eintrat.

97 Die folgende Tabelle zeigt, wieviel Kinder des jetzigen Cötus in einem Bette allein, wieviel mit einem Geschwister und wieviel mit Vater oder Mutter zusammenschlafen.

Klasse in einem | mit einem

b A mit Vater ee | Geschwister

oder Mutter

I 8 2 11 8 10 3 III 8 12 1

IV 5 8 2

V 13 4 2

VI 7 8 5

49 | 48 | 15

Sieht man von den vorgekommenen gröberen Verstössen gegen die gute Sitte und gegen die Ordnung ab und bedenkt man, dass die Zahl der Kinder, welche sich solche Verstösse zu schulden kommen liessen, im Verhältnis zum Gesamtcötus eine geringe ist, so kann man, dank dem Eingreifen aller be- teiligten Faktoren, mit dem sittlichen Betragen der Kinder recht wohl zu- frieden sein. In der im März 1899 abgehaltenen Zensurenkonferenz konnten für die abgehenden 19 Konfirmanden folgende Betragenszensuren festgestellt werden:

6 Knaben und 10 Mädchen = 1, 3 5 == b:

Ostern 1899 zählte die Nachhilfeschule (incl. der Konfirmanden) 108 Schüler,

von diesen erhielten am Schlusse des Schuljahres

36 Schüler und 38 Schülerinnen die I und 14 4 11 die Ib im Betragen;

nur fünf Knaben und vier Mädchen bekamen tieferstehende Betragenszensuren.

Auf die Pflege des körperlichen Wohls der Schüler wird grosse Sorgfalt verwendet. Die fünf zur Verfügung stehenden Klassen- und die vier Arbeits- zimmer sind geräumig und hell. Dieselben werden wöchentlich dreimal ganz gründlich gekehrt und an jedem Tage sind sämtliche Schulgeräte, Fensterbretter und Wandverkleidungen vom Staube zu säubern.

Um die während der Unterrichtszeit entstandene schlechte Luft zu ent- fernen, tritt in den üblichen allgemeinen Pausen ein vom Lehrer zu besorgendes oder doch zu überwachendes Lüften ein, welches 2—5 Minuten anzuhalten hat. Die Kinder sind für diese Zeit auf den Spielplatz oder auf die Korridore zu führen; ist dies aber nicht angängig, so muss Vorsorge getroffen werden, dass sich diejenigen Schüler, welche Gegenzug nicht vertragen, an einer zugfreien Stelle des Klassenzimmers aufhalten. Diesen in allen Dresdner Schulen geltenden

Bestimmungen ist es zu verdanken, dass von der das Atmen und das Denken erschwerenden sogenannten Schulluft wenig in den Klassen zu merken ist.

Die Subsellien sind günstig konstruiert; aber trotzdem ist es eine schwierige Aufgabe, die Kinder an ein den Gesetzen der Hygiene entsprechendes Sitzen zu gewöhnen, namentlich ist der Schreibsitz vft ein gesundheitlich widriger, das- selbe gilt auch von der Federhaltung. Hier zeigt es sich, wie wenig Energie die Kinder besitzen. Will der Lehrer hierin etwas erreichen, so muss er nach den Worten Goethes handeln: Jeder, der etwas Gutes erreichen will, muss ein Quälgeist sein!

Badeeinrichtungen besitzt die Schule nicht, wohl aber werden fleissig Frei- billets zur Benutzung von Wannenbädern ausgeteilt.

In den Turnstunden nehmen die Jugendspiele einen breiten Raum ein; selten aber gelingt es, die Kinder zur Beteiligung an den vom Dresdner Gemein- nützigen Verein eingerichteten und geleiteten Jugendspielen, die im Sommer- halbjahr wöchentlich zweimal auf günstig gelegenen Plätzen abgehalten werden, heranzuziehen. Den Kindern wird im Verkehr mit normalen Kindern das körperliche und geistige Unvermögen klar, vielleicht erfahren sie auch bisweilen eine Neckerei und dann ist ihnen das Spiel nicht eine Quelle der Freude und jugendlicher Lust.

Gern beteiligen sich die kräftigeren und geschickteren Kinder am Eislauf munter tummeln sie sich auf den von der Stadt ermieteten und der Schuljugend zur freien Benutzung überlassenen Eisbahnen.

Der blutarmen und schlechtgenährten Kinder nimmt sich seit einer Reihe von Jahren der Verein gegen Armennot und Bettelei an; er zahlte in jedem Jahre 60—70 Mk. zur Verabreichung kräftiger Suppen. Von diesem Gelde erhielten in der Zeit der Wintermonate 15 (in diesem Jahre 17) Kinder regelmässig mittags in einem Raume der Schule eine reichliche Portion Suppe, in welcher auch etwas Fleisch zu finden ist. Die Kinder sind für diese unter Aufsicht eines Lehrers stehende Speisung sehr dankbar. Die Schule nimmt hierbei Gelegenheit, die Kinder an das Sprechen des Tischgebetes und an den beim Essen zu beobachtenden Anstand zu gewöhnen. Zur grossen Freude der Lehrer hat in diesem Jahre auch der unter dem Protektorate Ihrer Kgl. Hoheit der Prinzessin Johann Georg stehende Verein für Suppenspeisung bedürftiger Kinder sein werkthätiges Interesse der Schule zugewandt. Er warf zur Speisung bedürftiger Kinder der Nachhilfeschule 120 Mk. aus, im nächsten Jahre soll diese Summe auf 240 Mk. erhöht werden. Diejenigen Kinder, deren Speisung der letztgenannte Verein in die Hand nimmt, erhalten während der Monate November bis März ein vorzüglich zubereitetes Mittagsessen und nehmen das- selbe in einem in der Nähe der Schule liegenden Restaurant ein. Vorstands- damen, den besten Kreisen angehörend, führen den Aufsichtsdienst und sorgen mütterlich für die der körperlichen Kräftigung sehr bedürftigen Kinder. Die Auswahl der zu speisenden Schüler und Schülerinnen überlassen beide Vereine der Schule und diese bemüht sich, ihren warmherzigen Dank für die den Kindern

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gewordene Hilfe und das den Lehrern gezollte Vertrauen durch eine Auswahl zu treffen, die den Intentionen der edlen Spender entspricht.

Für schwächliche, einer Sommerfrische bedürftige Kinder sorgen das städtische Armenamt, der Gemeinnützige Verein und der Stadtverein für Innere Mission. Im Jahre 1898 fanden 4 Kinder Aufnahme im Bethlehemstift, 1 des- gleichen in der Sommerpflege zu Moritzburg und 2 Kinder in den Ferienkolonien des Gemeinnützigen Vereins. Mehrfach sind im Laufe der Jahre Kinder, die an Skrofulose erkrankt waren, in das Seebad Norderney zu einem längeren Auf- enthalte geschickt worden. Die in die Ferienkolonien des Gemeinnützigen Vereins gesandten Kinder erhalten auch im Winter Pflege, sie werden reichlich mit Milchmarken bedacht.

So gilt auch hier das Wort: „Die Liebe hört nimmer auf“. Wenn aber Jesus den beseligenden Hinweis giebt: „Was ihr gethan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir gethan“ (Matth. 25, 40) und wir in trener Liebe zu Jesu solche Brüder suchen, so finden wir unter den Schwach- sinnigen viele. Niemand ist so der Liebe bedürftig, wie die Armen am Geiste, daram findet sich hier ein weites, bis jetzt immerhin noch nicht genug an- gepflanztes Feld zur Bethätigung christlicher Opferwilligkeit. Wie gern würde das Kollegium solchen Schülern, die unter besonders ungünstigen Verhältnissen stehen und doch ein gutes sittliches Betragen zeigen, als Anerkennung eine Prämie vielleicht in Form eines mit einer kleinen Einzahlung versehenen Sparbuches überreichen! Wie gern würde die Schule ähnlich solchen gegen- über handeln, die trotz Schwächlichkeit des Körpers und äusserst geringer Be- anlagung den steten Willen haben, durch regen Fleiss zu erfreuen! Die Schule kann diesen nur Worte des Lobes spenden und im Zensurbuch durch gute Zen- suren den guten Willen der Schüler anerkennen. Oft bedauert die Schule den Umstand, dass sie dann, wenn Spaziergänge veranstaltet werden oder wenn eine gemeinsame Christfeier stattfindet, mit leeren Händen dasteht und doch sind die geistig Armen meist auch leiblich arm. Gelingt es in solchen Fällen der Schule nicht, einen Mann mit einem warmen Herzen und einer offenen Hand zu finden oder ist es dem Lehrer nicht möglich, einen Griff in den eigenen Geldbeutel zu thun, so kommt es dann bei Schülern und Lehrern nicht zu jener gehobenen Stimmung, welche die Quelle ungetrübter Freude ist. Es kann der Stadt- gemeinde nicht angesonnen werden, in diesen Fällen helfend oder unterstützend einzugreifen, hier muss die freie Liebesthätigkeit ihre erwärmenden Strahlen erglänzen lassen !

Die Schule sorgt an ihrem Teile ferner für die zur Entlassung kommenden Schüler und Schülerinnen. Den Eltern stehen die Lehrer gern mit Rat und That bei, wenn die Frage der Berufswahl zu lösen ist, man hilft bei der Wahl der Meister und Herrschaften, ist auch bereit, letzteren Aufschluss über das Verhalten der Kinder und über Jie zu beobachtende Behandlungsweise zu erteilen.

Die Klagen der Landwirte, es fehle ihnen an Arbeitskräften und die Er- wägung, das Leben auf dem Lande sei für die körperliche Entwickelung und

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das körperliche Wohlbefinden manches schwachsinnigen Kindes von Vorteil, ver- anlassten die Schule, durch Vermittlung des Schulamtes und des Armenamtes Schritte zu einer entsprechenden Unterbringung solcher Kinder zu unternehmen- Das Armenamt wandte sich an die Vorsteher der Landkolonien*) und ersuchte diese, geeignete Persönlichkeiten zu nennen. Es konnten auch schliesslich sämt- liche Kinder, deren Eltern mit einer solchen Unterbringung einverstanden ge- wesen waren, in der gewünschten Weise versorgt werden. Leider kehrten aber die Sendlinge bald zurück, sie, die das Stadtleben lieb gewonnen hatten, konnten sich auf dem Lande nicht einrichten, andererseits waren von den Wirtschafts- oder Gutsbesitzern zu hohe Ansprüche an die Leistungsfähigkeit gestellt worden. Nach weiteren von der Schule gethanen Schritten steht in sicherer Aussicht, dass in Zukunft das Armenamt eine pekuniäre Unterstützung den Landleuten gewährt, die schulentlassene schwachsinnige Kinder behufs der Erlernung land- wirtschaftlicher Arbeiten aufnehmen. Diese Unterstützung soll hinsichtlich ihrer Höhe nach der Grösse der Leistungsfähigkeit der Kinder bemessen werden. Hiernach dürfte bald in dieser Angelegenheit eine günstige Wendung eintreten.

Betreffs der Befreiung Schwachsinniger vom Militärdienste wird den ab- gehenden Schülern eingeschärft, dass sie bei der Anmeldung zur Stammrolle und am Tage der Musterung ihr Schulentlassungszeugnis vorzeigen. Bis jetzt ist, soweit dies befolgt wurde, immer Befreiung eingetreten **)

Thatkräftig wird die Schule in der Sorge für das körperliche Wohl der Schüler durch den Schularzt unterstützt. Diesem fällt die Aufgabe zu, den Gesundheitszustand der Kinder zu überwachen und Ratschläge über die pfleg- liche Behandlung derselben zu geben. Er hat u. a. festzustellen, ob Kinder von einzelnen Unterrichtsfächern zu dispensieren sind und ob Ausschluss von der Schule auf Zeit wegen Ausbruchs von ansteckenden oder ekelerregenden Krank- heiten erfolgen soll. Entsteheu Zweifel darüber, ob Schulversäumnisse wegen Krankheit gerechtfertigt sind, so hat er diese Kinder zu untersuchen und nötigen- falls in deren Wohnung zu gehen.

Der gegenwärtige Schularzt, Dr. med. Werner, verdient insbesondere des- halb auch herzlichen Dank, weil er bemüht ist, die körperlichen Symptome, die unter Umständen auf Schwachsinn schliessen lassen, festzustellen. Ein einzelnes dieser Symptome giebt keinen sicheren Anhalt zur Beantwortung der Frage, ob dessen Träger an Schwachsinn leidet; es ist aber ein Fragezeichen, das zu weiterer Prüfung Veranlassung bietet, und mehren sich diese Degenerations- zeichen bei ein und derselben Person, dann werden die Hinweise stärker und zwingender. Dr. Werner nahm im Oktober 1899 daraufhin eine eingehende Untersuchung der Schüler, gegenwärtig 112, vor. Er fand folgendes:

*) Der grösste Teil der Waisenkinder Dresdens wird in Landkolonien, unter der Auf- sicht des Ortsgeistlichen oder -lehrers stehend, untergebracht.

**) Ende November 1899 wurde der Schule bekannt, dass ein früherer Schüler, dessen Schulzeugnis verloren gegangen war, als Rekrut eingezogen worden sei und sich als solcher äusserst unglücklich fühle. Die Schule hat die nötigen Schritte eingeleitet, hoffentlich werden dieselben von Erfolg gekrönt,

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Es zeigten: 1. Abnorme Schédelbildung . . . . . . =. . 73 Kinder = 65 %, 2. Verkrimmung der Extremititen . . . . . . 59 , = 59 h 3. Kropfbildung . . . be an ae ea a 666 4. Anomalien des äusseren Ohres E: E E a) angewachsene Ohrläppchen . . . . . . S58 , =52 % b) missgestaltete Ohrmuscheln . . . . ..23 —=20 % 5. Verdichtung der unteren Lippe . . . . . . 8 = Mofa 6. Kielförmigen Gaumen ......... 7 = 62%] % 7. Abnorme Bildung der Zihne . . . . . . . Bl == 28 YI E a) unvollstindiges Gebiss. . . . . . . . 10 = 89% | 8 b) unregelmässiges Gebiss . . . . . . . 21) 4 == 187%| & 8. Paralytische Erscheinungen: = a) Augenmuskellähmungen . . 1 = %%I1” b) Lähmungen der Extremitäten, der Blase and z des Mastdarmes . foe a a owe O. y R D c) Lähmungen der Sprachorgane L w S 9. Krampfartige Zustände . . . Dm af er, 10. Chronische Erkrankungen der Augenbindehaut i. = 269%. ll. Erkrankungen des Ohres ee) a A ee Bei, 12. Skrofulose . . . : . ee de oN 13. Nasenwucherungen .......... 8 «4, = 72% 14. Hochgradige Blutarmut . . . TE 2. we AS 16°75

Infolge der Kränklichkeit fela die Nachhilfeschule re Kinder kommen bier mehr Versäumnisse als in der Volksschule vor. Es wurden versäumt im Schuljahre 1898/99 durch eigene Krankheit

18 mal = !/, Tag 1 mal = 10 Tage

204 , = 1 F 18 46 2 Tage oo ==14 y 3,3 , 1, —6 , 1, =4 % 1, =18 , 2 a Se Lc =19 , 13 = 6 5 lL | =20° « 3,=7 , 1, = 20%, 3,8 , 2,=21 , oy SSO og | E23 5

Summa: 80119/, Tage von 108 Kindern.

Die Zahl der auf 1 Tag sich erstreckenden Versäumnisse ist in jedem Jahre eine hohe gewesen; es lässt sich seitens der Schule auch schwer dagegen an- kämpfen. Durch Vorstellungen und Ermahnungen, nieht beim Auftreten eines kleinen Übels (Kopf- oder Zahnschmerz) zu fehlen, wird bei ernster denkenden Familien Vermeidung manches Versäumnisses erreicht; es giebt aber sehr viele ängstliche Eltern, die sofort das Ärgste befürchten, wenn das Kind einmal klagt. Die Zalıl der !/, Tag umfassenden Versäumnisse ist wesentlich zurückgegangen.

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Durch ansteckende Krankheiten der Geschwister wurden versäumt 2mal je 4, 1 mal 6 und 2 mal je 11 Tage.

| Die häuslichen Verhältnisse gaben zu folgenden Versäumnissen Veranlassung; 3mal je !/,, 16mal je 1, 8mal je 2 und 1 mal je 3 Tage; hierzu hatten die Kinder meist vorher Urlaub eingeholt, der ihnen auf Empfehlung des Klassen- lehrers vom Direktor gern erteilt wurde, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen thatsächlich vorlagen. Häufig wurden die Kinder zur Pflege der erkrankten Mutter sehr notwendig gebraucht.

Beurlaubungen zum Aufenthalte in einer Sommerfrische erhielten 2 Kinder auf je 17, 1 auf 19, 1 auf 22, 1 auf 28 und 1 auf 44 Tage; durch vorher er- folgte ärztliche Untersuchung war die Dringlichkeit einer längeren Beurlaubung festgestellt worden.

Schulschwänzerei kam auch vor: 1 Kind schwänzte Y/,, 1 Kind 1 Tag und 2 Kinder schwänzten je 2 Tage.

4 mal traten Versäumnisse von je 1 Tage wegen heftigen Sturmes und überaus regnerischen Wetters ein.

Zählt man alle im Schuljahre 1898/99 erfolgten Schulversäumnisse zusammen, so erhält man die Summe von 1027?1/, Tag; es kommen im Durchschnitt (108 Kinder) auf ein Kind 9,5 Tage.

In der Hauptsache hatte man Ursache, die Versäumnisse als berechtigte anzusehen; nur in 11 Fällen kam es zur Anzeige an die Behörde; 23 mal nahm der Direktor Gelegenheit, belehrend oder ermahnend auf das Elternhaus einzu- wirken. 4 Kinder bekamen Schulstrafen.

Gegen früher ist jedenfalls der Schulbesuch regelmässiger, pünktlicher und williger geworden. In einem am 6. Januar 1867 zur Absendung gekommenen Schreiben an die Schuldeputation klagt Direktor Fischer, der mit der Beaufsich- tigung der in Neustadt-Dresden sich befindenden Schwachsinnigenklasse beauf- tragt war: „Es ist betrübend, zu bemerken, dass der Schulbesuch der betreffen- den Kinder im Verhältnisse zu dem der vollsinnigen zum Teil ein unregel- mässiger war. Es sind im ganzen von allen 17 hier aufgenommenen Kindern 483 Tage gefehlt worden, durchschnittlich also von jedem Kinde ca. 28 Tage. Dabei ist jedoch nicht zu vergessen, dass die meisten Kinder wegen Krankheit und Schwächlichkeit, oft auch wegen schlechten Wetters und weiten Weges aus- blieben. Letzteres (schlechtes Wetter und weiter Weg) war auch die Ursache öfteren Zuspätkommens. Es kann aber nicht verschwiegen werden, dass an ge- nannten Übelständen zum Teil auch die Eltern schuld sind, die, statt für Ein- richtung einer Nachhilfeklasse durch treue Pflichterfüllung zu danken, durch widerspenstiges Betragen ihren Mangel an dem Verständnisse der Sache be- kundeten.“ `

Bei der Aufnahme der Kinder in die Schule wurde von Gründung der Schule an bis in die jetzige Zeit streng verfahren; man sah stets darauf, dass nicht schwachbefähigte, sondern wirklich schwachsinnige Kinder zur Aufnahme kamen. Schwachbefähigte Kinder müssen in der Volksschule bleiben; nicht allein, dass im andern Falle die Zahl der Klassen der Nachhilfeschule und

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die entstehenden Kosten gewaltig in die Höhe schnellen würden, es könnte auch nicht ausbleiben, dass bedeutende Nachteile für die normalen und für die schwach- befahigten Kinder entstiinden. Die schwachbefahigten Kinder können den Unter- richtsstoff erfassen; derselbe muss aber von den verschiedensten Seiten beleuchtet werden. Dies führt zu einer hocherfreulichen Intensität des Unterrichtes, die befruchtend auch auf die befähigten Schüler wirkt. Auch die vielen Wieder- holungen, die der schwachbefähigten Schüler wegen angestellt werden, verrichten gute Dienste den andern Schülern gegenüber. Die Stoffipläne der Volksschule würden noch mehr an Volumen zunehmen, und die manchmal zu findende ner- vöse Hast beim Durchsprechen der Stoffe müsste eine Steigerung erfahren, wenn die schwachbefähigten Schüler wegfielen. Jetzt sind die Schüler mit mittlerer Begabung das vermittelnde Element, das Zünglein an der Wage des unterricht- lichen Verfahrens; fallen die Schwachbefähigten weg, dann gelten erstere als die minderguten, und die Befäbigten bestimmen die Schnelligkeit des Unterrichts- metronoms, aus dem Andante wird ein Allegro. Nichts ist aber für den unter- richtlichen Fortgang gefährlicher als ein zu schnelles Tempo. Wie würden dann die Nerven der Lehrer und Schüler affıziert, und welch oberflächliches Wissen müsste entstehen! Fahriges und eitles Wesen, Unzuverlässigkeit und Hochmut wären unerfreuliche Begleiterscheinungen. Die schwachbefähigten Schüler sind die Ventile, durch welche das Vorwärtsstürmen im Unterrichte eine zweckdien- liche Ableitung erfährt. Man sage nicht: Der Befähigte langweilt sich, wenn wegen der Schwachbefähigten ein längeres Verweilen von nöten ist. Er muss angehalten werden, passende Beispiele zur Verdeutlichung des Gewonnenen zu bringen; gelingt ihm dies, so ist er hoch erfreut, und andrerseits wird dem Schwachbefähigten mit Darbietung eines guten Beispieles, geschöpft aus dem kindlichen Ideenkreise, oft mehr gedient, als mit dem Geben verschiedener be- weiskräftiger Sätze. Unter Leitung des Lehrers müssen die befähigten Schüler mit zur Weiterbildung der schwachbefähigten helfen. Und wenn auch für den befähigten Schüler manchmal während des Unterrichtes eine Ruhepause eintreten sollte, so wird nach derselben der Schüler umsomehr Gelegenheit haben, Proben der wiedererstarkten geistigen Kraft abzulegen. Wellenberg und Wellenthal sind die charakteristischen Merkmale der Bewegung des Wassers; so wechseln auch innerhalb einer Unterrichtsstunde Arbeit und Ruhe miteinander ab. Welcher Schüler vermöchte es, fortgesetzt eine volle Stunde mit Anspannung aller Kräfte aufzumerken? Damit dieser für die Gesundheit der Schüler so notwendige Aus- gleich erfolgt, ist eine Mischung der Schüler nach ihrer Befähigung unerlässlich.

Wollte man aber die schwachbefähigten Schüler mit den schwachsinnigen Schülern in dieselbe Klasse bringen, so würden die ersteren bald erlahmen und von der Lethargie der letzteren erfasst werden, weil das anregende, belebende Beispiel der normal beanlagten Schüler fehlte; überdies könnte sich der schwach- befähigten die Meinung bemächtigen, sie seien, da bei ihnen die Fassungskraft trotz aller Mängel eine bessere ist als die der schwachsinnigen Schüler, befähigt; dann könnte ein Stolz entstehen, der den Namen Dummstolz in vollem Masse verdiente. Die schwachbefähigten Schüler haben soviel geistige Kräfte, dass sie

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das Ziel der Volksschule zu erreichen vermögen; sie brauchen aber mehr Zeit dazu als die anderen. Natürlich kann ein schwachbefähigtes Kind dann, wenn es mehrfach in der Klasse sitzenbleiben musste, innerhalb der achtjährigen Schul- zeit nicht bis zur 1. Klasse aufrücken; käme es aber nur wir denken an eine achtklassige Schule bis zur 5. Klasse, hätte es demnach zum Durchlaufen jeder Klasse 2 Jahre gebraucht, so würde ihm durch das Verbleiben in der Schule der Normalen ein grösserer Nutzen erwachsen als durch den Besuch einer Schule für Schwachsinnige, weil ihm vor allen Dingen die geistige Spannkraft, der kräftigste Hebel für ein Weiterstreben, erhalten bliebe. Es müsste geradezu als eine Versündigung bezeichnet werden, wenn ein Kind, das wegen seiner ge- ringen Veranlagung mehrfach nicht aufzurücken vermochte, im 2. Jahre aber stets das Ziel der betreffenden Klasse erreichte, mit Schwachsinnigen unterricht- lich vereinigt werden sollte. Wenn allerdings ein Kind nach 2 Jahren das Klassenziel nicht erreicht hat und im übrigen nicht besonders ungünstige Ver- hältnisse, z. B. Kränklichkeit, schlechte, ungenügende Ernährung, vielfacher Schul- wechsel, vorliegen, dann kann schon eher eine auf Schwachsinn lautende Diag- nose gestellt werden.

Zwischen Schwachsinn und schwacher Befähigung eine genaue Grenzregu- lierung zu bilden, ist ungemein schwer. Hüben wie drüben finden wir Armut an Begriffen, Schwerfälligkeit im Bilden neuer Begriffe und vor allem in der Assoziation des Gewonnenen, Unsicherheit im Denken und Urteilen. Die Unter- schiede liegen nicht in der Art, sondern im Grade des vorhandenen Defektes. Auf der grossen, abwärts steigenden Linie vom Schwachbefähigtsein zum Schwach- sinn in leichterer Form, gewöhnlich Debilität genannt, bis zum schweren Schwach- sinn, gewöhnlich die Bezeichnung Imbecillität im engeren Sinne führend, sind nur graduelle Unterschiede zu firden. Auch der Blödsinnige, sofern derselbe noch Nachahmungstrieb besitzt und gewöhnungsfähig ist, steht in der Kette der an einem Schwächezustande seelischer Kräfte leidenden Geschöpfe nicht vereinzelt da; er nähert sich einerseits den Schwachsinnigen höheren Grades und anderer- seits den Blödsinnigen tiefster Art, welch letztere nur von tierischen Trieben beherrscht werden. Wir finden auf dieser Linie keine festen Knotenpunkte, die als Grenzstellen betrachtet werden könnten; überall herrscht Übergang und zwar meist ein unmerklicher, difficiler. Klarheit, welche Form der geistigen Depression vorliegt, kann nur durch Studium der Lehre von der pädagogischen Pathologie und durch ein scharfes, fortgesetztes Beobachten des betreffenden Kindes ge- wonnen werden. Hiernach beantwortet sich auch die Frage: Soll der Pädagog oder der Mediziner über die Aufnahme eines Kindes in die Schule für Schwach- sinnige entscheiden ? Der Pädagog braucht den Rat des Mediziners, der Arzt aber kann noch weniger den des Schulmannes entbehren.

In der Dres@her Nachhilfeschule ist bei der Anmeldung zur Aufnahme folgendes Verfahren beobachtet worden: Der Direktor, der für einen Schüler Aufnahme wünscht, schickt einen motivierten Antrag an das Schulamt. Dieses ‚fordert den Leiter der Schule auf, das Kind zu prüfen und das gewonnene Er- gebnis schriftlich niederzulegen. Ist dieses schriftliche Gutachten ein empfehlen-

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des und tritt nicht eine Weigerung des Elternhauses ein, so erfolgt unmittelbar die Aufnahme des Kindes. Widersprechen sich jedoch die Urteile der Pädagogen, oder bereitet das Haus der Aufnahme Schwierigkeiten, so ergeht Auftrag an den Stadtbezirksarzt, die vorliegenden Verhältnisse zu untersuchen. Das Urteil dieses Arztes ist dann massgebend. In Zweifelsfällen wird bisweilen eine einstweilige Aufnahme des Kindes verfügt; man will in richtiger Erkenntnis der zu be- herrschenden Schwierigkeiten sehen, wie sich das Kind unter anderen schwach- sinnigen Kindern zeigt und ob durch ein längeres Beobachten Licht auf solche Erscheinungen fällt, die nicht das menschliche Auge, sondern nur die mensch- liche Urteilskraft zu ergründen vermag.

Bei Beobachtung dieses Verfahrens ist ein Abschieben solcher Kinder, die in irgend einer Beziehung dem Lehrer lästig geworden sind, vollständig unmöglich.

Blinde und Taube gelangen nicht zur Aufnahme; der Schwerhörigen nimmt man sich nur dann an, wenn nachgewiesenermassen ein Intelligenzdefekt vorliegt. Bezüglich der Aufnahme epileptischer Kinder lässt man die grösste Vorsicht walten, weil dann, wenn in der Klasse ein Krampfanfall eines Kindes erfolgt, eine hochgradige Aufregung entsteht, und weil bei den vielen nerven- schwachen Kindern, die sich in einer solchen Klasse befinden, leicht psychische Ansteckungen erfolgen können. Eine sich auf längere Zeit erstreckende Dispen- sation vom gesamten Unterrichte, oder, wenn Besserung nicht eintritt, eine Über- weisung in eine Anstalt für Epileptische ist solchen Kindern gegenüber das beste.

Um Kinder fernzuhalten, die durch längere Kränklichkeit nur vorüber- gehend an geistiger Schwäche leiden, ist die Bestimmung getroffen worden, dass ein Kind nur dann angemeldet werden kann, wenn es dieselbe Klasse zwei Jahre ohne Erfolg besucht hat. Aus dieser Bestimmung erklärt sich auch die geringe Zahl solcher die Nachhilfeschule zur Zeit besucbenden Kinder, die im 1. oder 2. Schuljahre stehen. Nur dann, wenn ein Kind von 6 oder 7 Jahren in untrüglichster Weise als ein schwachsinniges sich zeigt, kommt es, ohne dass es erst einige Jahre in der Volksschule hätte zubringen müssen, gleich mit Eintritt seiner Schulpflicht in die Nachhilfeschule; meist aber wird es zunächst auf ein Jahr vom Schulbesuche zurückgestellt. Die folgende Tabelle zeigt, im wievielten Schul- jahre die Schüler der einzelnen Klassen stehen. (Jetziger Schülerbestand: 112.)

k- T 2 3. 4. 5. tO . 9. Schuljahr M. ||Kn | M. ||Kn.| M. ||Kn.| M. | Kn.| M. | Kn.| M.

or

Klasse Kn.| M. | in.

II A u el ze ei [f mus | me II) ı 7 ; IIII-— - 2 6 433

BV fa | ee]

VI }2;1)4 3

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Kinder, welche nur an schwacher Befähigung, nicht aber an Schwachsinn litten, sind in den ersten Jahren des Bestehens der Schule bisweilen aufge- nommen, bald aber ihrer früheren Schule wieder zugewiesen worden. Häufiger trat der entgegengesetzte Fall ein: Man gewährte Imbecillen tiefstehender Art Aufnahme. Dies geschah, weil man nicht von vornherein die Sachlage in ihrer Hoffnungslosigkeit erkannt hatte, sondern der Meinung gewesen war, etwas könne doch erreicht werden. Manche dieser Kinder litten an einer Unruhe, durch welche die Aufmerksamkeit der Klasse fortwährend gefährdet wurde, andere wiederum schlugen und kratzten sich und ihre Mitschüler trotz aller Aufmerksamkeit, die der Lehrer zollte; endlich gab es auch Kinder, deren Deca- dence nicht eine Milderung, sondern eine fortschreitende Verschlimmerung erfuhr. Solche Kinder mussten vorzeitig aus der Schule entlassen werden: Es betraf dies

1891: 3 Kinder nach 2, 51/, und 7jährigem

1895: 2 » 7 und 6 4

1897: 3 , 2,6 T. 5 Besuche der Schule.

1898: 1 Kind h 6 |

1899: 2 Kinder 7 und Ui 4

Mehrfach zu beobachten war, dass ein starkes Zurückgehen der geistigen Fähigkeiten und eine Veränderung des ganzen Wesens mit Eintritt der Pubertät erfolgte; je zeitiger diese sich einstellte, umso ungünstiger waren meist die Wirkungen auf das Zentralorgan.

Die Schule hat mit dem Jahre 1891 ihren Namen gewechselt. Die Be- zeichnung „Schule für Schwachsinnige* hatte vielfach bei den Eltern heftigen Widerwillen erregt; diese sagten, der Name Schule für Schwachsinnige enthalte für sie und ihre Kinder einen Schimpf und gebe fortwährend zu allerlei Spott- reden und üblen Bemerkungen Veranlassung. Obgleich der gedachte Name voll- ständig dem Wesen der Schule entsprach, stellte sich die Behörde und das Kollegium auf den Standpunkt, es sei besser, wenn man einen Namen wähle, der in möglichst milder Form die Art der Schule bezeichne Man schwankte zwischen den Namen Hilfsschule und Nachhilfeschule; letztere Bezeichnung trug schliesslich im Kampfe der Meinungen den Sieg davon.*)

Nach der erfolgten Namensänderung machte sich ein beträchtlicher Andrang nach der Schule bemerkbar; man hielt aber fest an dem Grundsatze: „Nur

*) Nach Wintermann: „Die Hilfsschulen Deutschlands und der deutschen Schweiz", 1898, ist von 56 deutschen Städten für dieselbe Sache 41 mal der Name Hilfsschule oder Hilfsklasse, re » Schwachsinnigen-Schule (Leipzig, Stettin, Brandenburg),

Cig 3% Nachhilfeschule oder -klassen (Dresden, Chemnitz),

E" Schule für Minderbegabte (Plauen i. V., Zittau),

Come se Schule für Schwachbefähigte (Frankfurt a. M., Gera), je Imal, Hilfsschule fir nicht ganz vollsinnige Kinder (Cassel) und Schule für

Schwachbegabte (Elberfeld) gewählt worden.

3 Städte (Lübeck, Mühlhausen, Nürnberg) wenden Namen an, die nicht auf die Eigen- art der Schule schliessen lassen.

107 wirklich Schwachsinnige werden aufgenommen.“ Daher erfuhr der Schüler- bestand keine auffallende Erhöhung. Die Schnle zählte 1881 1882 1893 1894 1895 1896 1897 1888 1899 102 103 111 108 104 97 103 108 112 Kinder.

Bei der Zunahme der Bevölkerung müssten sich eigentlich höhere Bestands- ziffern ergeben; es darf aber nicht ausser Berücksichtigung bleiben, dass sich im letztverflossenen Jahrzehnt viele mit Kindern reich gesegnete Familien der herrschenden Wohnungsnot wegen nach den Vororten gewendet haben; dies fällt umsomehr ins Gewicht, als die Kinder, welche die Nachhilfeschule besuchen, grösstenteils aus niederen Kreisen stammen.

Nicht ohne Einfluss auf die Frequenz der Schule ist der weitere Umstand geblieben, dass der Schulvorstand für die katholischen Schulen Dresdens be- sondere Veranstaltungen für die Erziehung schwachsinniger Kinder getroffen hat; daher besuchen seit einigen Jahren katholische Schüler die Nachhilfeschule nicht mehr.

Früher betrachtete man die Nachhilfeschule als eine Schule, die ihre Pforten zu jeder Zeit im Schuljahre denen, welche Einlass begehrten, öffnen müsse. Die Schule hat aber wie jede andere ihre festbegrenzten Klassenziele und bemüht sich, diese möglichst vollkommen zu erreichen; dies wird erschwert, ja zur Un- möglichkeit gemacht, wenn fortwährend Neulinge kommen. Aus diesem Grunde ist die Einrichtung getroffen worden, dass alle im Laufe des Schuljahres aus Dresdner Schulen zur Anmeldung gekommenen schwachsinnigen Kinder zwar vorgemerkt werden, aber erst am Anfange des neuen Schuljahres Aufnahme finden; nur den von auswärts Kommenden wird zu jeder Zeit Aufnahme gewährt.

Über die zur Rezeption gekommenen Schüler werden genaue Fragebogen geführt, welche nicht nur die gewöhnlichen Personalien enthalten, sondern auch Aufschluss über folgende Punkte geben:

1. Wodurch ist der Antrag auf Zuweisung des Kindes in die Nachhilfe- schule begründet worden? 2. Im wievielten Schuljahre steht das Kind? 3. Welche Klasse besuchte es zuletzt? 4®. Grösse. 4. Welche körperlichen Regelwidrig- keiten liegen vor? 4°. Gesicht? Gehör? 5. Welche Form der geistigen Schwäche liegt vor? 6. Ist das Kind ein Stotterer, Stammler oder Lispler? 7. Wann lernte es. das Gehen? das Sprechen? 8. Leiden Eltern oder Verwandte an Regel- widrigkeiten? 9. Liegen ungünstige häusliche Verhältnisse vor? 10. Hat das Kind besondere Charaktereigentümlichkeiten an sich? 11. Sind grobe Verstösse gegen die Sittlichkeit zu verzeichnen? 12°. Aus der wievielten Klasse und mit welchen Zensuren wird das Kind entlassen? 12b. Welchen Beruf will es ergreifen ? |

Alle Veränderungen, die sich ergeben, werden genau nachgetragen, so dass es jederzeit möglich ist, ein getreues Bild von den Kindern zu entrollen.

Was diese Individualitätsbogen ergaben und was durch Besuche bei den

Eltern festgestellt wurde, sei im folgenden statistisch zusammengefasst, soweit der Stoff dies zulässt.

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Es leiden von den jetzigen Schülern

a) an ererbter geistiger Schwäche b) an erworbenem Schwachsinn Knaben Madchen Knaben Madchen KI. I. 3 3 5 5 = H. 9 3 7 2 1. 6 6 3 6 = IV: 7 3 2 3 e N 1 4 2 10 n V 7 _8 1 4 Sa. 33 27 20 30

Professor Ziehen in Jena ist der Ansicht, dass der Schwachsinn dann, wenn sich derselbe in den ersten Lebensjahren entwickele, zu dem angeborenen (Imbecillität im weiteren Sinne) zu rechnen sei. Er sagt:*) „Man rechnet die- jenigen Fälle, in welchen eine Gehirnkrankheit schon erworbene Vorstellungen und Vorstellungsverknüpfungen eines kindlichen Gehirns zerstört, trotzdem zum angeborenen Schwachsinn, weil eine solche Gebirnkrankheit im Kindesalter in der Regel, da sie das Gehirn vor Abschluss seiner Entwickelung trifft, auch eine Unfähigkeit zur normalen Weiterentwickelung und daher einen Intelligenz- defekt im Sinne des angeborenen Schwachsinns bedingt“. In der Theorie mag diese Auffassung berechtigt sein, in der Praxis stösst man aber insofern auf Schwierigkeiten, als sich nicht der Zeitpunkt genau bestimmen lässt, an welchem die Gehirnentwickelung ihren Abschluss erreichte. In den obenstehenden An- gaben sind unter erworbenem Schwachsinn (Dementia) alle die Fälle verstanden worden, bei welchen sich nachweisen oder vermuten lässt, dass die Entwicke- luugshemmungen im Gehirn durch den Geburtsakt oder durch besondere Er- scheinungen, die sich nach der Geburt ergaben, eingetreten sind. Die be- treffenden Anomalien entstanden also mit oder nach der Geburt.

Worauf lässt sich der erworbene Schwachsinn zurückführen ? **)

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= *) Rein, Encyklopädisches Handbuch der Pädagogik, Band VI, Seite 555. **) Auch Krämpfe sind mit zu den Ursachen gerechnet worden, wiewohl sie nicht Ur sachen, sondern nur Begleiterscheinungen von Gehirnerkrankungen sind.

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Beängstigend sind die vielen Fälle von Rhachitis: 18 Kinder, d. s. 16,3 %/, des gesamten Cötus haben daran gelitten! Bedenkt man, dass Rhachitis grössten- teils durch schlechte Ernährung und mangelhafte Pflege entsteht, so sieht man, wie oft menschlicher Leichtsinn und grosser Unverstand das Übel des Schwach- sinnes direkt oder indirekt verursacht haben. Zeigt der Pädagog solchen Eltern, wie schädlich ihre Behandlungsweise eingewirkt hat oder einwirken kann, so tönt ihm die förmlich stereotypische Redensart entgegen: „Wir haben keine Zeit, uns um die Kinder zu kümmern, wir müssen arbeiten. Unser Kind mag nur in der Zeit, während welcher wir ausserhalb des Hauses beschäftigt sind, ruhig liegen bleiben. Wenn wir zurückkommen, versorgen wir es.“ Wie werden aber die Kinder versorgt? Damit die armen Wesen ruhig bleiben, füttert man sie überreich, man giebt ihnen wohl auch ein sogenanntes Beruhigungsmittel, das in irgend einer Verbindung Alkohol enthält. Dann überlässt man sie ihrem Schicksal. Recht wenig gut sind nach Erfahrungen, die die Schule zu sammeln Gelegenheit hatte, die Kinder aufgehohen, die als Ziehkinder gegen Zahlung eines meist geringen Entgeldes in Pflege genommen werden. Um so mehr ist die Schule den staatlichen Organen und den Gemeindeverwaltungen zu Dank verpflichtet, die mit Umsicht das Ziehkinderwesen überwachen. Ebenso begrüsst sie mit Freuden alle jene Veranstaltungen, durch welche Aufklärung über ge- sundheitliche Verhältnisse gegeben wird,

Die Schule erkennt aber auch, dass ihr erhöhte Pflichten erwachsen, sie muss mit Nachdruck alles das lehren, wodurch eine naturgemässe Lebensweise befördert wird, und ganz besonders hat sie Ursache, das Verderbliche manches häuslichen Brauches zu zeigen.

Bedenkt man die oben flüchtig skizzierten Erziehungsmethoden unvernünf- tiger Eltern, so darf man sich nicht darüber wundern, dass unter den Formen des Schwachsinnes ganz besonders der apathische auftritt. Wie die folgende Tabelle zeigt, besitzt die Schule 54 Kinder (ca. 50 %,), die dieser Art des Schwachsinnes verfallen sind. Damit soll aber nicht gesagt werden, dass überall da, wo apathischer Schwachsinn vorliegt, auf eine strafwürdige Erziehungsart zu schliessen ist.

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Die Schwachsinnigen leiden in der Mehrzahl auch an Schwäche der Sinnes- organe, der Nerven und der Muskeln.

Wieviel sind Sprachgebrechen:

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Ganz besonders verursachen die Schwerhörigen der Schule Mühe, weil: diesen vieles vom Unterrichte verloren geht. Mehrfach hat die Schule Kinder, die sehr schwerhörig waren und bei denen die Schwerhörigkeit sich ver- schlimmerte, so dass Steigerung zur Taubheit zu befürchten war, in der Königl. Taubstummenanstalt untergebracht. Dorthin passen sie aber nicht recht, weil sie als geistig Geschwächte unter geistig Normale kommen und weil sie dort auch dann, wenn sie bereits einer oberen Klasse der Nachhilfeschule angehörten, in die untere Klasse der Taubstummenanstalt gewiesen werden müssen, woselbst der zu treibenden Artikulations- und Mundableseübungen wegen wenig Zeit zur Fortbildung in dem bleibt, was sie in der Nachhilfeschule gelernt haben.

Interessant ist es, zu erfabren, in welchem Alter die Schwachsinnigen das Gehen und Sprechen erlernten. Manche erlernten beide Thätigkeiten in einem Alter, in dem normale Kinder sich dieselben aneignen, bei anderen aber trat namentlich im Sprechen eine ganz bedeutende Verzögerung ein. Das apathische Wesen mancher Kinder zeigte sich nach Aussagen der Eltern häufig darin, dass solche Kinder trotz alles Vermahnens und trotz aller gegebenen Hilfen keine Lust entfalten, sich vom Platze zu bewegen oder ein leichtes Wort nachzu- sprechen, obwohl sie die Kraft dazu hatten, auch das Locken mit Süssigkeiten nützte nichts.

In vielen Fällen lässt sich die geistige Schwäche auf eine geistige Schwäche der Eltern zurückführen; bei 17 Kindern liegen die prädis- ponierenden Ursachen im Vater und bei 12 in der Mutter. Manche Kinder haben gesunde Eltern, aber in der weiteren Ascendenz ist der Grund von der erblichen Belastung zu suchen, dies lässt sich aber nicht ziffernmässig aus- drücken, weil manche Eltern hierüber keine bestimmten Aufschlüsse zu geben

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vermögen. Auffallend zahlreich sind die Fälle, in welchen ein in der Zeit der Gravidität eingetretener Schreck oder ein in diese Zeit fallender grosser Kummer als Gründe für den Schwachsinn des Kindes angegeben werden; solche Störungen im fötalen Leben mögen viel häufiger vorkommen, als dies gewöhn- lich ausgesprochen wird.

Wann lernten die Kinder das Gehen?

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das Sprechen?

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Vielfach nimmt man an, dass die Ehe zwischen Blutsverwandten hindernd anf die geistige Entwickelung des Kindes einwirkt. Bei den Eltern, die ihre Kinder in die Dresdner Nachhilfeschule schicken, sind blutsverwandt- schaftliche Verhältnisse nicht zu finden.

Mehrfach tritt der Schwachsinn bei solchen Kindern auf, die als Letzt- linge geboren wurden oder doch ziemlich in letzter Linie einer mit Kindern gesegneten Mutter entstammten: sechs Kinder sind das sechste, zwei das siebente, eins das achte, eins das neunte, zwei das zehnte, eins das elfte, eins das drei- zehnte, zwei das vierzehnte und eins das sechzehnte Kind derselben Mutter, andererseits sind aber 30 Erst-, 23 Zweit-, 24 Dritt- und 14 Viertgeborene derselben Mutter. Es lassen sich auf dem Gebiete der Ätiologie des Schwach- sinnes allgemeine Schlüsse nur in beschränktester Art ziehen,. denn fast jeder Einzelfall zeigt eine Komplikation verschiedener Ursachen, eine Häufung von Dissonanzen, von welchen allerdings einzelne wuchtiger wirken können als andere.

Da die Behandlung Schwachsinniger aus mehr als einem Grunde eine Arbeit ist, die nicht bloss Liebe zur Sache und ein hohes Mass von Selbst- überwindung, sondern auch gute Fachkenntnisse voraussetzt, ist der Schul-

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ausschuss zu Dresden unablässig bemüht gewesen, den Lehrern die Arbeit zu erleichtern und sie für dieselbe immer befähigter zu machen. Die der Schule gegebene Organisation, durch welche das notwendige Individualisieren erleichtert wird, das freundliche Eingehen auf Wünsche, die sich auf die Ausstattung der Schule mit Lehr- und Anschauungsmitteln bezogen, die Herabsetzung der Pflicht- stunden auf wöchentlich 26, die alljährlich zur Auszahlung gelangenden Grati- fikationen in der Höhe von 150 Mk. für jeden Lehrer u. a. m. sind Beweise des Wohlwollens, dazu angethan, die Berufsfreudigkeit zu erhöhen. Dem Drange der Lehrer nach beruflicher Fortbildung ist namentlich dadurch Rechnung ge- tragen worden, dass die Behörde alljährlich verhältnismässig hohe Summen zam Anschaffen fachwissenschaftlicher Werke in den Haushaltplan einstellte. Es dürfen nach den jetzigen Bestimmungen zu diesem Zwecke alljährlich 66 Mk. ausgegeben werden, daher besitzt das Kollegium eine wertvolle Bibliothek, die für jeden einzelnen eine Fundquelle reichster Anregung ist. Um den Lehrern Gelegenheit zu geben, das Gute kennen zu lernen, das verwandte Anstalten, seien dieselben staatlichen oder nichtstaatlichen Charakters, besitzen und um ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, die in Zwischenräumen von zwei oder drei Jahren tagenden Konferenzen für das Idiotenwesen, welche Konferenzen den Nachhilfeschulen ein unerschöpflicher Brunnen reichsten Segens geworden sind, zu besuchen, hat die Behörde mehrfach einem oder zwei Mitgliedern des Kolle- giums Urlaub erteilt und Geldsummen zur Bestreitung der Reisekosten gewährt.*)

Mit welcher Opferwilligkeit die Stadt Dresden für die Ausbildung schwachsinniger Kinder sorgt, lehrt folgende Übersicht über die entstandenen Ausgaben:

1889: 11 508,69 Mk. 1893: 22 340,32 Mk. 1896: 22 425,60 Mk. 1890: 13 434,97 1894: 22 742,72 1897: 22 793,89 1891: 15 659,09 1895: 22 857,58 1898: 23 937,63 ,, *)

1892: 19 473,9

Sieht man die Grösse des entstandenen Aufwandes, so fragt man sich un- willkürlich, ob der Erfolg ein entsprechender ist. Es bedarf wohl keiner Be- teuerung, dass sich das Lehrerkollegium ernstlich bemüht, der ihm gewordenen Aufgabe so zu entsprechen, wie man dies von Männern erwarten kann, die von der Wichtigkeit und Verantwortlichkeit ihres Berufes überzeugt sind. In den Konferenzen berichtet der Vorsitzende über die bei dem Hospitieren und den

*) Im Jahre 1898 hat sich ein besonderer Verband der Hilfsschulen gebildet; ob der Dresdner Schulausschuss auch zu den Verhandlungen dieser Vereinigung Vertreter aus dem Kollegium entsenden wird, bleibt noch abzuwarten.

**) In diesen Summen sind das Gehalt für den Lehrer an der Neustädter Abteilung und die Ausgaben für den Hausunterricht an schwächliche Kinder und für den Unterricht an solche Kinder, die im Siechenhause untergebracht wurden, mit inbegriffen. Die betreffenden Kosten betrugen 1897: 2800 Mk., 1101,35 Mk., 331,50 Mk. und 1898: 3000 Mk., 1046,25 Mk. und 348 Mk. Der Aufwand für jedes die Nachhilfeschule zu Dresden - Altstadt besuchende Kind betrug im Jahre 1898 ca. 180 Mk. Dieser Aufwand würde noch eine Erhöhung er- fahren, wenn die Mietpreise für die benutzten Schulräume mit in Rechnung gestellt worden wären.

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Revisionen gewonnenen Erfahrungen, das Gute anerkennend und das Verbesse- rungsbedirftige hervorhebend. Die gemachten Vorschläge werden zur Debatte gestellt, so dass sich jedes Glied des Kollegiums aussprechen kann. Uber Fragen didaktischer oder methodischer Art giebt man Referate und jede Gabe, durch welche Anregung und Förderung erfolgt, ist willkommen. Besprechungen fachwissenschaftlicher Werke der Neuzeit bringen viel Stoff zum Nachdenken und fordern zur Prüfung darüber auf, ob das Alte entwickelungsfähig ist. Des öfteren bespricht man die Verhältnisse schwer erziehbarer Kinder und einigt sich, welche Massregeln anzuwenden sind.

Gern besuchten die Mitglieder des Kollegiums Kurse zur Ausbildung in der Handfertigkeit oder sie hospitierten in Anstalten, in denen gewisse Zweige der Handfertigkeit besonders gut gepflegt werden. Ferner machten sie sich tüchtig in der Behandlung der an Sprachgebrechen leidenden Kinder, sie stu- dierten die einschlagende Litteratur und hospitierten in den Heilkursen für Stotterer.

Durch dieses Tüchtigmachen in allen Fächern ist es möglich geworden, dass der gesamte Unterricht von Lehrern der Schule erteilt wird, Hilfskräfte sind nicht mehr notwendig. Als sich z. B. die Notwendigkeit ergab, einen Wechsel bezüglich der Lehrperson, welche Unterricht im Flechten zu erteilen hat, eintreten zu lassen, brauchte man nicht wieder einen Korbmachermeister zu gewinnen, sondern es fand sich ein Lehrer der Schule, welcher sich in der Blindenanstalt die erforderliche praktische Fertigkeit und den nötigen Überblick erworben hatte, und als durch Beschluss des Schulamtes vom 30. Oktober 1899 gestattet worden war, die Berliner leichten Holzarbeiten als Vorstufe für die Hobelbankarbeiten einzuführen, konnte man gleich den Versuch unternehmen, denn die betreffenden Lehrer besassen bereits das erforderliche Mass technischen Könnens. Ist es schon in der Volksschule von grossem Segen, wenn der Klassen- lehrer in den einzelnen Fächern als sattelfest sich erweist, so gilt dies für die Nachhilfeschule als eine unabweisbare Forderung.

Doch zurück zur Frage: Welcher Erfolg ist zu verzeichnen? Je länger der Lehrer in der Nachhilfeschule unterrichtet hat, desto bescheidener urteilt er über die gewonnenen Ergebnisse. Von Jahr zu Jahr beschneidet er den Unterrichtsstoff immer mehr, nicht nach Extension, sondern nach Intension strebt er. Immer vielgestaltiger werden die Übungen, die er an die Behandlung eines Gegenstandes anknüpft, denn er weiss, dass der Schwachsinnige die mit vieler Mühe gewonnenen Begriffe sklavisch so festhält, wie sie geboten wurden. Dem schwachsinnigen Schüler gilt beispielsweise nur diejenige Figur als Dreieck, die ihm behufs der Betrachtung an die Wandtafel gezeichnet wurde. Erblickt er ein grösseres Dreieck oder stehen die Seiten in einem anderen Verhältnisse zu einander, dann sieht er etwas für ihn ganz Heterogenes. Den Begriffen eine grössere Allgemeinheit zu geben und zwecks des Vergleiches viel Beziehungs- begriffe zu bilden, strebt der Lehrer in jeder Stunde an. Viel positives Wissen wird freilich durch ein solches Verfahren nicht gewonnen. Dabei muss der

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Lehrer noch froh sein, wenn die Ideenassociation nicht durch solche Antworten gestört wird, denen interkurrende Empfindungen zu Grunde liegen, denn dann ist ein Kampf zu bestehen, der Ähnlichkeit hat mit dem, den Herkules gegen die Lernäische Schlange führte.

Um einigermassen zu zeigen, was die Schule leistet, sei es gestattet, einen Abschnitt aus dem Konferenzprotokolle vom 13. März 1899 hier mitzuteilen. Unter Punkt 7 heisst es u. a.: „Der Direktor richtete hierauf die Aufmerksam- keit des Kollegiums auf die Frage: Welche Reife haben unsere Konfirmanden erlangt? Es wurde mit Befriedigung konstatiert, dass grobe Verstösse gegen die Sittlichkeit im letzten Schuljahre nicht vorgekommen sind. In religiöser Beziehung zeigten sich die Konfirmanden, wie auch verschiedene Geistliche ver- sichert haben, in den grundlegenden Lehren bewandert. Mit Ausnahme nur eines Knaben ist das Lesen befriedigend, ebenso die Schrift und das schrift- liche Rechnen. Die Schüler und die Schülerinnen der 1. Klasse rechneten die den 5. Klassen (4. Schuljahr) der 9. Bezirksschule zur Prüfung vorgelegten Avf- gaben in recht befriedigender Weise (Knaben 90 °/,, Mädchen 78 °/, richtig). Weniger befriedigend sind die Ergebnisse im Deutsch. In einem Diktate au: dem Stoffe der 6. Klassen (3. Schuljahr) der 9. Bezirksschule ergaben sich 8 Fehler bei den Knaben und 6 Fehler bei den Mädchen (gegenüber 5 Fehlen in der Bezirksschule).“

Vorstehende Zahlen können nicht ein absolut richtiger Wertmesser für die Leistungen im Deutsch und Rechnen sein, denn es werden nicht die Flüchtig- keits- von den Unwissenheitsfehlern, nicht die Ausführungs- von den Operations fehlern geschieden und all die Umstände, durch welche Fehler der einen oder andern Art entstehen, kommen nicht zum Ausdruck. Beim Schwachsinnigs tritt noch dazu, dass er dann, wenn er schnell denken soll oder wenn ihn Furchtgefühle erfüllen, in eine bedenklich werdende Perforation im Denken und Urteilen verfällt. Besonders gefährlich wird ihm «das Diktandoschreiben, weil er, trotz vorhergegangener Sacherklärung, namentlich bei vorkommenden ähnlich klingenden Wörtern nicht Object- sondern Verbalassociationen vollzieht, er denkt nicht an die Bedeutung des Wortes, die diesem sinngemäss zufallen muss, sondern er schreibt flugs ein Wort, das früher schon einmal ein ähnliches Klangbild in ihm erzeugt hat. Trotz dieser Bedenken ist doch eine ziffernmässige Fixierung erfolgt, weil alle anderen Angaben als subjektiv gefärbt erscheinen könnten.

Der bis zur 1. Klasse gekommene Schüler besitzt quantitativ nicht die Hälfte des für normale Kinder vorgeschriebenen Wissensstoffes; es ist ihm aber alles das übermittelt worden, was er zum Fortkommen im Leben unbedingt braucht. Er kann sich mündlich und schriftlich ausdrücken, und seine schrift lichen Ergüsse vermag jeder, obwohl in diesen Elaborationen meist eine Ortho- graphie herrscht, die der amtlich eingeführten in vielen Punkten nicht entspricht, zu verstehen. Im Rechnen kann er Aufgaben im Zahlenkreise von 1—1000, &%- fern die Verhältnisse nicht verwickelter und zusammengesetzter Art sind, lösen; namentlich ist er geschickt gemacht worden, Aufgaben, den Forderungen de: täglichen Lebens Rechnung tragend, auszurechnen. Er ist auch gewöhnt worden, |

115 die schriftliche Ausrechnung in sauberer, übersichtlicher Form zu bieten. Rech- nungen und Quittungen, Brief- und Paketadressen etc. schreibt er so, wie der Gebrauch oder wie die gesetzlichen Bestimmungen dies erheischen. Seine Heimat kennt er; namentlich ist er mit den Verkehrsverhältnissen gut betraut; über die Gewinnung heimatlicher Produkte und über deren Nutzen im Haushalte der Natur und im Menschenleben kann er urteilen. Er ist auch kein Ignorant in der Geschichte seines Volkes. Die Verdienste solcher Männer, die in besonderer Weise dem Vaterlande oder der gesamten Menschheit Nutzen gebracht haben, weiss er zu würdigen. Zu seinem Gott ist er durch das Schulgebet, in dem je nach Lage der Verhältnisse auch der Beziehungen des einzelnen Schülers gedacht wird, und durch zahllose lichtvolle Hinweise auf Gottes Treue geführt worden; er weiss, warum er den Namen Christ führt und welche Hoffnung der Christ im gläubigen Herzen trägt. Kann er auch nicht viel Sprüche und Liederverse auswendig, die Gebote, das Glaubensbekenntnis, das Vaterunser, verschiedene Lebenssprüche und einige Kernlieder, atmend den Geist des Vertrauens zu Gott und zu dessen väterlichem Walten, sind ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Als Wahlspruch seines Lebens ist ihm das Wort Tob. 4, 7 gegeben worden. Immer und immer wieder ist Ermahnung zum Gehorsam gegen Gott, den König und die staatlichen Ordnungen ergangen, und zum Gehorchen ist er gewöhnt worden. Ä

Erwägt man ferner, wie sehr die schwachsinnigen Schüler in praktischen Arbeiten geübt worden sind, und hat man Gelegenheit gehabt, zu beobachten, wie bei öffentlichen Ausstellungen der gefertigten Arbeiten Worte der Aner- kennung gezollt wurden, so kann wohl die Schule der frohen Hoffnung leben, dass ihr Thun an den Schwachsinnigen nicht ein verlorenes ist, sondern dass sie durch ihr Mühen ihren Pflegebefohlenen und damit der menschlichen Gesellschaft und dem Staate nützt. Diese Hoffnung lässt sie sich nicht rauben; denn eine Arbeit ohne Hoffnung sinkt zu einem mechanischen, sklavischen Thun herab, auf welchem der Segen Gottes nicht ruhen kann.

Neuerdings sind Stimmen aufgetaucht, die sich skeptisch zu den Erfolgen auf dem Gebiete des Schwachsinnigen- Unterrichts stellen. Grohmann-Zürich sagt*): „Anstatt zu untersuchen ‘und durch langjährige kostspielige Experimente festzustellen, was alles etwa und mit Ach und Weh für Lehrer und Schüler in diese Geschöpfe hineingelegt werden könne, möge lieber untersucht werden, was alles besser nicht für sie geschehen solle.“ Er behauptet: „Der Schwachsinnige nimmt keinen Teil an den Segnungen unserer Geisteskultur, oder er missbraucht sie nur als Tummelplatz seiner Dummheiten zum eigenen oder anderer Schaden. Der Gesellschaft ist er eine Last, und dem Schwachsinnigen ist die Gesellschaft mit ihrem komplizierten Getriebe eine Last.“ Er wünscht, dass die Schwach- sinnigen Analphabeten blieben und schlägt vor, dass die vom Unterricht Elimi- nierten vollständig aufs Land kämen und dort zu landwirtschaftlichen Arbeiten herangebildet würden. Er spricht den Schwachsinnigen Verstand und Ehre fast

*) Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer, Heft 4 u. 5, Jahr- gang 1899.

116 ganz ab und ist der Meinung, dass auch deren gute Eigenschaften wegen ihrer Disproportionalität vielfach so seien, dass es besser wäre, wenn dieselben fehlten. Grohmann hat seine üblen Erfahrungen an Schwachsinnigen gesammelt, die im angehenden Mannesalter standen, und es lässt sich aus seinen Darbietungen nicht ersehen, wie deren Erziehung beschaffen gewesen ist. Wenn diese vernachlässigt wird, ist allerdings alles Charakteristische am Schwachsinnigen ein verzweigter Kanal, dessen Arme zum grössten Teile Neigung haben, sich hinüber auf das Gebiet der Gesetzesübertretungen zu erstrecken. Grohmann hat bei den meisten Schwachsinnigen ein gut entwickeltes Gedächtnis gefunden; er behauptet aber, trotz des Wissensschatzes habe die richtige Anwendung desselben, die kritische Sonderung, die originale Konzeption etc. gefehlt; daher sei das Wissen ein totes, ja vielfach ein schädliches gewesen. Das trifft zu für alle die Fälle, in denen das Wissen ein untergeordnetes, ein angeflogenes ist, und dies wird überall vor- kommen, wo der schwachsinnige Schüler etwas lernen muss, was er nicht versteht.

Mehrfach sind schwachsinnige Schüler bis in die mittleren und oberen Klassen der Volksschule mit aufgerückt. Welche Unsumme unverarbeiteten Wissens haben sie da aufnehmen müssen!

Und wie mag es bei den Schwachsinnigen sein, deren Eltern den besser situierten Gesellschaftskreisen angehören? Privatstunden werden erteilt von un- erfahrenen Schülern höherer Schulanstalten; man engagiert schliesslich auch einen Hauslehrer und glaubt, das Beste gethan zu haben, wenn es gelungen ist, das Gedächtnis des Schwachsinnigen mit allerlei Wissensstoff anzufüllen. Ein solches Wissen birgt keine bildenden Momente in sich; es ist ein zweischneidiges Schwert. Da aber der Missbrauch nie den rechten Gebrauch aufhebt. und da der Schwachsinnige bildungsfähig ist, muss es als eine hochwichtige Aufgabe bezeichnet werden, diejenigen Stoffe auszuwählen und diejenige Unterrichtsweise zu finden, durch welche fördernd eingewirkt werden kaun. Wenn Pestalozzi in seiner Schrift: „Die Abendstunde eines Einsiedlers* sagt: „Allgemeine Empor- bildung der inneren Kräfte der Menschennatur zu reiner Menschenweisheit ist allgemeiner Zweck der Bildung auch der niedersten Menschen“, so gilt dies als Prinzip auch für die Schwachsinnigen. Alle Menschenweisheit beruht nach Pestalozzis Ansicht auf der Kraft eines guten» der Wahrheit folgsamen Herzens; daher muss auch der Schwachsinnige die Wahrheit erkennen lernen; das kann aber nur durch einen entsprechenden Unterricht geschehen.

Grohmann erblickt den wahren Beruf des Schwachsinnigen darin, auf dem Lande zu leben; beim Viehhüten und Grasmähen empfange dieser, was ihm durch seine innere Natur an Genuss beschieden sei. Sind aber die heutigen Verhältnisse auf dem Lande so idyllisch, dass der Schwachsinnige, der als Analphabet dort lebt, jedweden Friktionen fernbleibt? Kann den Schwachsinnigen nicht, da sie einen starken Geschlechtstrieb besitzen, die grösste Gefahr auf dem Lande erwachsen, wenn nicht alles gethan wird, was menschenmdglich ist? Stellt man sich auf den Grobmannschen Standpunkt, dann muss man, die nötigen Konsequenzen ziehend, noch einen Schritt weiter gehen und, wie Dr. Forell dies vorschlägt, auf eine Erschwerung und Bekämpfung der Kindererzeugung bei

117 Idioten und geistigen und körperlich erblichen Krüppeln aller Arten zukommen.*) Das ist nur möglich, wenn Schwachsinnige bis zum Ende ihres Lebens in ge- schlossenen Anstalten leben. In der Nachhilfeschule zu Dresden-Altstadt sind bis jetzt 518 und in der Neustädter Abteilung 196 Schüler und Schülerinnen (inkl. des jetzigen Bestandes) unterrichtet worden. Wie gross müssten die An- stalten sein und welche Höhe der Kosteu würde entstehen, wenn man auf das System der Abschliessung zukommen wollte! Nach Aussprache der Lehrherren und der Eltern haben sich die meisten der schulentlassenen schwachsinnigen Zöglinge in dem erwählten Berufe eingerichtet; sie füllen die Stelle aus, an welche sie gestellt wurden und beachten die Gesetze der menschlichen Ordnung.

Ein System der Abschliessung ist nicht notwendig; wohl aber empfiehlt es sich, da die Schwachsinnigen Schwächlinge bleiben, sich ihrer anzunehmen, so- lange dies irgend möglich ist. Für grössere Städte lässt es sich gewiss durch- führen, für diese Schüler eine besondere Fortbildungsschulklasse zu er- richten. Unterricht für fortbildungsschulpflichtige Schwachsinnige ist namentlich auch aus erziehlichen Gründen zu empfehlen. Der schwache Intellekt muss unterstützt werden durch ein kräftiges Rückgrat der Gewöhnung; ein solches Rückgrat aber braucht zu seiner Bildung auch die Jahre, die nach dem 14. Lebensjahre liegen. Erteilt ein Nachhilfeschullehrer den Unterricht in der Fortbildungsklasse für Schwachsinnige, so entsteht der weitere Vorteil, dass die Schüler in inniger Verbindung mit dem Lehrer, den sie lieb gewonnen haben, bleiben. Dies ist für ihre sittliche Lebensführung von unschätzbarem Vorteil; denn das Motiv ihres Handelns ist weniger die Liebe zum Guten, als vielmehr die Liebe zu dem, der ihnen den Weg zum Guten immer aufs neue illustriert. Dass ein besonderer Fortbildungsschulunterricht auch für die Mädchen ein dringendes Bedürfnis ist, bedarf keines Nachweises.

Bis zum Jahre 1890 blieben die konfirmierten Schwachsinnigen ausnahms- los vom Besuche der Fortbildungsschule befreit; da aber durch eine verbesserte Organisation der Nachhilfeschule die Leistungsfähigkeit der Schwachsinnigen er- höht worden war, und da man andererseits in den Dresdner Fortbildungsschulen Klassen für solche Schüler eingerichtet hatte, die im Wissen sehr zurückgeblieben waren, gab die Behörde am 2. Mai 1890 die Anordnung, dass die fähigeren schwachsinnigen Schüler der Fortbildungsschule zu überweisen, die unfäbigsten aber vom Besuche derselben zu entbinden seien. Auf Grund dieser Anordnung berät das Kollegium alljährlich in der Konferenz vor Ostern darüber, welche Schüler zur Dispensation zu empfehlen sind. In diesem Jahre wurden von 9 Knaben 5 zur Befreiung vom Besuche der Fortbildungsschule vorgeschlagen. Es geschah dies unter folgender Begründung:

K., Schüler der I. Klasse, ist gebrechlich und sehr schwach beanlagt. Er leidet laut eingegangenen schulärztlichen Berichtes an hochgradiger Rückgrats- verknickung und -verbiegung. Der Knabe würde von den Fortbildungsschülern verspottet werden.

*) Die Zukunft. 7, Jahrgang, Nr. 59, 1899. Über Ethik.

L., Schüler der I. Klasse, geht in seinen geistigen Fähigkeiten sehr zurück. Nach Aussagen des Arztes wird das Übel noch weitere Fortschritte machen. Unter Fortbildungsschülern würde er, da er einen Wasserkopf besitzt, eine Ziel- scheibe fortgesetzten Spottes sein.

L., Schüler der I. Klasse, ist sehr gebrechlich; er hat so kontrakte Füsse, dass ihm das Gehen schwer fällt. Er ist hochgradig nervös und stottert bei der geringsten seelischen Aufregung.

M., Schüler der I. Klasse, geht in seiner geistigen Entwickelung zurück, wird kindisch. Mit Ostern d. J. vollendet er das 16. Lebensjahr.

Sch., Schüler der II. Klasse, besitzt eine sehr geringe geistige Beanlagung, klagt oft über Kopfschmerz, leidet an Nasenwucherungen, ist ungemein leicht erregbar.

Der Schularzt befürwortete bei sämtlichen 5 Knaben die Befreiung. Die Behörde: genehmigte dieselbe.

In diesem Jahre war die Zahl der gewährten Dispensationen eine ausser- ordentlich hohe; in den früheren Jahren ergaben sich günstigere Verhältnisse, und auch das Jahr 1900*) wird in dieser Beziehung keine Ähnlichkeit aufweisen. Befreit wurden

1891 1892 1883 1894 1895 1896 1807 1898 1898

2 1 5 1 3 5 Konfirmanden.

Nimmt die geistige Schwäche zu, dann kann auch die am besten eingerich- tete Fortbildungsschule nicht helfen; solche Unglückliche verfallen in der Regel einem körperlichen und geistigen Siechtume; sie sind verloren für die Mensch- heit, und als Insassen von Versorg- und Pflegeanstalten fristen sie ihr Leben hin, bis Erlösung durch den Tod eintritt.

Werden die geistig höher stehenden Schwachsinnigen nach Erfüllung ihrer Fortbildungsschulpflicht entlassen, so bedürfen sie auch dann noch der Stütze und der Anregung. Vielfach erfreuen sich dieselben der Fürsorge treuer Eltern und Verwandten; dann wandern sie meist ohne Fährlichkeit auf ihrer Lebensbahn dahin; aber oft fehlen teilnehmende Freunde. Hier müsste die Vereinsthätigkeit einsetzen. Wir haben Vereine zum Schutze entlassener Sträflinge, andere Vereine nehmen sich der Blinden und Taubstummen an, und wieder andere suchen der leiblichen Not zu steuern; aber der Schwachsinnigen, die Rat und That fort- gesetzt brauchen, gedenkt man nicht. Die schulentlassenen Schwachsinnigen müssten eine Art Gemeinde bilden und zu gewissen Zeiten zusammenkommen; sie müssten wissen, dass sie ausser freundlichen, aufmunternden Worten im Falle der Not auch auf eine rettende That rechnen könnten. Mancher würde dann vor Sünden und vor Schande bewahrt bleiben. Die Lehrer fühlen, dass nach dieser Seite hin eine klaffende Lücke vorliegt.

So tauchen, wie überall im Menschenleben, immer neue Wünsche auf; da- durch aber zeigen sich neue Zielpunkte, und neue Richtungslinien bilden sich.

*) Ostern 1900 wird voraussichtlich nur 1 Knabe zur Dispensation empfohlen werden.

119 Man hat sich vielfach bemüht, festzustellen, wieviel schw achsinnige Personen auf 1000 Einwohner kommen; es ist aber bis jetzt noch nicht ge- lungen, beweiskräftige Resultate zu gewinnen. Dies ist erklärlich; denn der Be- griff Schwachsinn kann nicht so genau gegeben werden, dass auch nach einer schnellen Prüfung alle Zweifel darüber, ob ein Mensch zu der Kategorie der Schwachsinnigen gehört oder nicht, fallen müssten; übrigens tritt der Schwach- sinn bisweilen endemisch auf, und dann ergeben sich in den allgemeinen Ver- hältniszahlen neue Schwankungen. Wollte man die Prozentzahlen nach der Zahl der in Nachhilfeschulen untergebrachten Kinder bestimmen, so würde man ab- solut richtige Angaben ebenfalls nicht bekommen; sicherlich würden dann die Orte, wo solche Schulen bestehen, höher belastet erscheinen als die, welche Schulen dieser Art nicht esitzen. Man gewinnt nicht einmal sichere Anhalts- punkte für die diesbezüglichen Verhältnisse eines und desselben Ortes. Es lässt sich kaum sagen: In Dresden kommen auf 400,000 Einwohner 130 schwach- sinnige Schüler (112 der Altstädter Nachhilfeschule und 18 in der Neustädter Abteilung); denn diese Schüler rekrutieren sich in der Hauptsache nur aus dem Arbeiter- und aus dem unbemittelten Bürgerstande; aus dem mittleren Bürger- stande sind nur wenig da, und die besseren Stände, in denen erfahrungsgemäss schwachsinnige Kinder auch vorkommen, sind überhaupt nicht vertreten.

Im allgemeinen nimmt man an, dass in Dörfern und in kleinen und mitt- leren Städten weniger Schwachsinnige vorkommen, als in den Grossstädten und namentlich in den Industriezentren. Unter den 284 Schülern, welche in den Jahren 1889 bis 1899 in der Nachhilfeschule links der Elbe aufgenommen wurden, befanden sich 60 auf dem Lande oder in kleinen Städten Geborene, d. s. 21,1 Prozent, und von den 112 Schülern des gegenwärtigen Bestandes haben 13 vor ihrem Eintritte in die Nachhilfeschule bereits Landschulen besucht. Diese Zahlen sprechen deutlich dafür, dass es auf dem Lande viel schwachsinnige Kinder giebt. Wie wird dort für diese Kinder gesorgt? Besondere Nachhilfe- klassen oder -abteilungen können selbstverständlich in einer kleinen Schulgemeinde nicht errichtet werden, und Hausunterricht lässt sich, da der Ortslehrer in der Regel auch in der Fortbildungsschule thätig sein muss und daher wenig Zeit für andere Zwecke übrig behält, nur in beschränkter Weise einrichten. Erwägt man diese Verhältnisse, so drängt sich der Gedanke auf: Ist es nicht möglich, dass die Gemeinden einer Amtshauptmannschaft oder eines kleineren Bezirkes eine Hilfsschule gründen, die alle schwachsinnigen Kinder des Bezirks auf- nimmt?

Doch unterdrücken wir alle weiteren Wünsche, und freuen wir uns dessen, was bis jetzt für die Bildung der Schwachsinnigen geschehen ist. Herzlicher Dank sei den Gemeinden gesagt, die opferwillig die nötigen Mittel bereitstellten und in ihrer Sorge für diese Kinder nicht ermüdeten. Wenn der Dresdner Lehrer hierbei an die Gemeinde besonders denkt, in deren Diensten er steht, so hat er dazu volle Veranlassung, und zwar umsomehr, als in Aussicht steht, dass auch der Neustädter Abteilung eine zweckentsprechendere Organisation ge- geben wird.

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Dank verdient das Königl. Ministerium des Kultus und öffentlichen Unter- richts, welches bei Gründung von Nachhilfeschulen oder -klassen ratend zur Seite stand, es im übrigen aber jeder Gemeinde überliess, diese Klassen oder Schulen nach den örtlichen Verhältnissen einzurichten.

Möchte es diesen Schulen immer mehr gelingen, auch in ihrer Weise dem $ 1 des Volksschulgesetzes vom 26. April 1873 zu entsprechen und den Schwach- sinnigen ,durch Unterricht, Ubung und Erziehung die Grundlagen sittlich-religidser Bildung und die für das bürgerliche Leben (unbedingt) nötigen allgemeinen Kenntnisse und Fertigkeiten zu gewähren!“

(Vorstebender Aufsatz ist entnommen aus dem auf Seite 126 dieser Nr. besprochenen Buche: „Franz Wilhelm Kockel“.

Versicherungspflicht der Lehrer und Erzieher

an unseren Anstalten.

Das Invalidenversicherungsgesetz vom 18. Juli 1899 (R. G. B. S. 463) bringt unseren Anstalten, soweit sie nicht „öffentliche“ sind im Sinne des Gesetzes (öffentliche Idioten-Anstalten städtische, kommunal- oder provinzialständische in Preussen sind nur Dalldorf, Langenhagen, Lübben, Potsdam und Kattowitz) eine wesentliche Neuerung.

Wir müssen nämlich für unser Lehrpersonal (ich meine seminaristisch gebildete Lehrer und Lehrerinnen), insofern sie eine Jabreseinnahme von unter 2000 Mk beziehen, in Zukunft „Marken kleben“. Für unsere Lehrer in Idstein müssen wir beispielsweise nach $ 34 des genannten Gesetzes bei einem Jahreseinkommen bis zu 1150 Mk. 30 Pf. als Wochenbeitrag entrichten, mit einem Jahreseinkommen von mehr als 1150 Mk. bis 2000 Mk. pro Woche 36 Pf.

Lehrer und Erzieher an „öffentlichen“ Schulen oder Anstalten unterliegen der Versicherungspflicht nicht, so lange sie lediglich zur Ausbildung für ihren zukünftigen Beruf beschäftigt werden, oder sofern ihnen eine Anwartschaft auf Pension im Betrage der geringsten Invalidenrente (mindestens 116 Mk.) jährlich gewährleistet ist,

Haben Lehrer und Erzieher das 40. Lebensjahr nicht überschritten und beziehen sie ein Jahreseinkommen von mehr als 2000 Mk., aber nicht über 3000 Mk., so sind sie befugt, freiwillig in die Versicherung einzutreten (Selbstversicherung).

Die Anleitung betreffend den Preis der nach dem Invalidenversicherungsgesetz vom 13. Juli 1899 versicherten Personen vom 19. Dezember 1899 sagt über die Versicherungspflicht von Lehrern und Erziehern folgendes:

„Nach der Entstehungsgeschichte soll hiermit nicht jede irgendwie geartete Lehr- thätigkeit in die Versicherung einbezogen werden, sondern in erster Linie nur die Erteilung eines der geistigen Entwickelung auf dem Gebiet der Wissenschaften und schönen Künste dienenden Unterrichts, sowie die auf Bildung des Charakters und Gemüts gerichtete Erzieherthätigket.e Zu der letzteren muss jedoch in gewissem Umfange aueh die Unterweisung in mancherlei körperlichen Übungen und Fertigkeiten Turnen, Schwimmen, Reiten, Zeichnen, Handarbeiten, Kochen u. s. w.) gerechnet

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werden, soweit sie dem Erziehungszweck untergeordnet wird. Dies ist namentlich da anzunehmen, wo dergleichen Unterrichtsgegenstände in den Lehrplan einer Erziehungs- anstalt aufgenommen worden sind.

Dagegen gehört der von dem Erziehungszweck losgelöste und überwiegend nach gewerblichen Gesichtspunkten betriebene Unterricht in allerhand körperlichen und mechanischen Fertigkeiten nicht hierher. Einen gesetzlichen Anhalt für diese freilich im einzelnen schwierige Unterscheidung bietet die Gewerbeordnung, indem sie im § 6 die Erziehung von Kindern gegen Entgelt und das Unterrichtswesen dem Geltungsbereich des Gewerberechts entzieht, dagegen im § 85 ,,die Erteilung von Tanz-, Turn- und Schwimmunterricht als Gewerbe“ regelt. Zu den in das rein gewerbliche Gebiet fallenden Unterrichtszweigen werden ebenso z. B. der als Gewerbe betriebene Reit-, Fecht-, Fahrunterricht und Ähnliches gerechnet werden müssen, forner aber auch der von einer Schneiderin oder von einem Traiteur erteilte Schneider- oder Kochunterricht und dergl. mehr.

Hiernach unterliegt eine an einer Schule oder Lehranstalt mit der Erteilung des Turn- oder Schwimm- oder Tanz- u. s. w. Unterrichts beschäftigte Person als Lehrer oder Erzieher der Versicherungspflicht, während ein selbstundiger Tanzlehrer überhaupt nicht, der Schwimmlehrer einer Badeanstalt, der Stallmeister einer Reitschule nur als Gehilfe, vielleicht u. a. als „Angestellter“ versicherungspflichtig sein würden.

Im übrigen tritt die Versicherungspflicht für Lehrer und Erzieher in gleicher Weise ein, ob sie Unerwachsene oder Erwachsene unterrichten, ob sie Lehrgegen- stände der allgemeinen Bildung oder der Fachbildung behandeln (Lehrer an einer Handelsschule, Baugewerkschule, Ackerbauschule, an einem Militärpädagogium, Tech- nikum u. 8. w.), sowie ohne Unterschied hinsichtlich des Umfanges ihrer wissenschaftlichen und sonstigen Vorbildung und Befähigung. Endlich ergreift der Versicherungszwang nicht nur angestellte Lehrer an Öffentlichen oder privaten Schulen u. s. w. oder Hauslehrer, sondern (nach der im Lauf der Verhandlungen ohne Widerspruch gebliebenen Be- gründung des Gesetzentwurfs Drucksachen des Reichstags, 10. Legislatur-Periode, I. Session 1898/99 Nr. 98 S. 242) auch solche Personen, die aus dem Stundengeben bei wechselnden Auftraggebern ein Gewerbe machen (selbständige Musiklehrer, Sprach- ehrer u. s, w.) und zwar nicht nur dann, wenn sie in die Häuser gehen, sondern auch, soweit sie den Unterricht in der eigenen Wohnung erteilen. Das Gesetz will in diesen Fällen das sogenannte Honorar als Lohn, denjenigen, der die Leistungen des Lehrers in Anspruch nimmt, als den Arbeitgeber behandelt wissen, wenn auch theoretiseh ein solcher Lehrer als selbständig erwerbsthätig zu erachten sein mag.

Dagegen schliesst die in § 1 Z. 2 des Gesetzes enthaltene Beschränkung „soweit sie Lohn oder Gehalt beziehen“, solche Lehrer und Erzieher, welche Inhaber einer Lehranstalt sind (Privatschulvorsteher) bezüglich des an ihrer eigenen Anstalt erteilten Unterrichts vom Versicherungszwange aus. Der für sie von dem erhobenen Schulgelde nach Abzug aller Unkosten verbleibende Betrag lässt sich nicht als Lohn oder Gehalt bezeichnen. Ob Personen, die noch nicht schulpflichtigen oder geistig zurückgeblienen Kindern Unterweisung in mehr äusserlicher Weise zu Teil werden lassen, als Lehrer oder Erzieher im Sinne der Z. 2 oder als Angestellte oder lediglich als Gehilfen im Sinne der Z. 1 (die Unterscheidung kann für die Bestimmung der Lohnklasse wichtig

werden, § 34 des Gesetzes Abs. 2a E.) zu gelten haben, ist nur nach Lage der jeweiligen Umstände zu entscheiden; jedenfalls wird ein Teil derjenigen Personen, welche schon bisher, weil es sich nicht um einen eigentlichen planmässigen Unterricht handelte, als Gehilfen für versicherungspflichtig erachtet wurden, künftig den Lehrern und Erziehern zugerechnet werden müssen (zu vergl. Rev. E. 106, 478 A. N. I. und A. V. 1892 8. 22, 1895 S. 286 Hausvater eines Rettungshauses, Lehrer an einer Anstalt für fallsüchtige Kinder).

Durch die Sondervorschriften des $ 5 Abs. 1 und 3 sind von der Versicherung ausgenommen Personen, welche an Öffentlichen Schulen oder Anstalten lediglich zur Ausbildung für ihren zukünftigen Beruf als Lehrer oder Erzieher beschäftigt werden, oder welche während der wissenschaftlichen Ausbildung für ihren künftigen Lebens- beruf Unterricht erteilen, also insbesondere Studierende aller Fächer, nicht nur des Lehrfachs.“ Schwenk.

Mitteilungen.

Dresden. (W. Schröters Erziehungsanstalt.) Direktor W. Schröter hat am 1. Juli d. J. die Leitung der von ihm vor 26 Jahren begründeten Erziehungs- anstalt für geistig Zurückgebliebene niedergelegt und wohnt seitdem „Dresdeu-Strehlen, Residenzstr. 27°. Er wird sich nunmehr vornehmlich seiner Zeitschrift widmen. Sein Nachfolger in der Leitung der Anstalt ist der bisherige erste Lehrer derselben P. Müller.

Bremen. (Bremische Idiotenanstalt.) Aus dem 2. Berichte des Vereins für die Bremische Idiotenanstalt ist zu entnehmen, dass die Zahl der Zöglinge der jungen Anstalt in den zwei Jahren ihres Bestehens bis auf 39 gestiegen ist. Davon befinden sich 4 Kinder im Alter von 4—6 Jahren, 19 im Alter von 6—10, 11 im Alter von 10—-14 und 4 im Alter von 14—18 Jahren und ausserdem ein Mädchen in höherem Lebensalter. Von den 39 Zöglingen sind etwa 27 bildungsfähig, während die übrigen nur verpflegt werden. Der Unterricht liegt in den Händen des Vorstehers der Anstalt und einer Lehrerin.

Idstein i. T. (Ausstellung). Na, das ist mal wieder eine Idee! Eine Idioten- anstalt auf einer Öffentlichen Ausstellung für Krankenpflege —?! Die Rechen- maschinen, Formenbretter, Schülerhefte, Waschseile, Korbwaren, Strümpfe und Socken müssen sich neben den chirurgischen Apparaten, den Krankenzimmereinrichtungen, diätischen Nahrungsmitteln gewiss recht „wirkungsvoll“ ausnehmen! Doch was schadets? Unsere Anstalten sind ja schon lange vom Reklamezeitgeist erfasst, warum sollen sie sich von demselben nicht auch auf eine Öffentliche Ausstellung treiben lassen ? Und auf ein bisschen mehr oder weniger Sinn oder Unsinn kommt es in unserem fortschrittlichen Zeitalter auch nicht an.

Ein Glück nur, dass ich mit den Vorbereitungen nichts zu thun hatte! Meine beiden Anstaltskollegen, auf denen fast die ganze Hauptlast derselben ruhte, haben mich in den letzten 14 Tagen vor der Ausstellung ordentlich gedauert! Denn es war gewiss keine Kleinigkeit! Unser Direktor in solchen Fällen immer ein rühriger Mann --: erfasste die Sache gleich im grossen Stil. Als er an einem Morgen uns seinen „Ausstellungsplan“ entwickelte, da flüchtete ich mich mit gruselnden Gefühlen

in mein Schulzimmer —. Aber meine Kollegen gaben sich alle redliche Mühe mit Etikettenschreiben, Malen von Bildern, Zeichnen von Plakaten, Auslesen und Zu- rüsten der charakteristischen Lehrmittel, Zusammenstellen der Handarbeiten u. s. w., u. s. w., 80 dass am bestimmten Termin über !/, Dutzend schwerer Kisten zur Aus- stellung nach Fraukfurt abgehen konnten. Andern Tags folgten auch die „Arrangeure“ nach ich „durfte“ zu Hause bleiben, amüsierte mich aber im stillen darüber, wie wohl der Kunstsinn der „Aussteller“ die Waschlappen, Buchbinderarbeiten, Probe- schriften u. s. w. zu einem harmonisch wirkenden Gebilde zusammenordnen würde. Na, wir werden sehen! Gehobenen Mutes und von ihrer Ausstellerthätigkeit nicht ganz unbefriedigt kehrten die Herren am Abend zurück, sogar der unausgesprochene Gedanke von einer eventuellen Auszeichnung schlich sich ganz leise in metaphysischer Verdünnung in ihre bescheidenen Träume ein.

Beim Eröffnungstag soll es sehr nobel zugegangen sein und was das Wichtigste war unsere Ausstellung blieb nicht ganz unbeachtet. Sogar in dem darauf er- scheinenden Zeitungsberichte waren wir nicht vergessen; es stand zwar bloss der Name drin, aber immerhin, es war doch ein Erfolg!

_ Unglicklicherweise kam unser Direktor noch auf eine neue „Idee“. Da die Aus- steller fast alle Vertreter geschickt hatten, die entsprechende Reklame für ihre Artikel machen sollten, so war es natärlich angezeigt, dass auch unsere Firma auf der Aus- stellung in persona vertreten war. Es wurde darum angeordnet, dass wir Lehrer an den einzelnen Tagen abwechslungsweise nach Frankfurt reisen sollten, um die Besucher an Hand unserer Ausstellungsartikel in die Geheimnisse des Idiotenunterrichtes ein- zuweisen. Jetzt konnte ich mich nicht mehr „drücken*; d. h. etwas Neugierde war jetzt auch bei mir erwacht, nur das mit dem Erklären wollte ich nicht gar zu ernst nehmen der Gedanke, dass sich jemand ernstlich für unsere Siebensachen interessieren könnte, war mir zu ungeheuerlich.

Die Ausstellung machte in ihrem Hauptteil einen recht imposanten Eindruck. In hübschen, geschmackvollen Gruppierungen boten sich Artikel der mannigfaltigsten Art dem Auge des Besuchers dar, die sämtliche der Verpflegung Kranker dienten. Mein Pessimismus hinsichtlich der Wirkung unserer Ausstellungsobjekte stieg noch um einige Grade. Flüchtig drängte ich mich durch die schmalen Gänge; ich war ja nicht Besucher, sondern Vertreter, musste also auf meinen „Posten“. Oben auf der Galerie hatte ich denselben zu suchen. Dort war das Gedränge weniger stark. Nur am Anfang eilte ich an einer dicht gedrängten Gruppe von Damen vorbei, sonst war e8 ziemlich leer. Ich konnte also unsere Tische leicht finden; aber ich fand sie nicht. Ich kam wieder auf den Anfangspunkt meines Rundganges -— richtig, hier links winkten mir die Apparate, Anschauungsmittel u. s. w. mit ihren bekannten Gesichtern entgegen, gerade da, wo vorhin die Damen gestanden hatten. Also doch Interesse!

Die Sachen waren aber auch wirklich geschmackvoll aufgebaut, und beschämt leistete ich im stillen meinen Kollegen aufrichtige Abbitte für die spöttischen Witzeleien, mit denen ich in den letzten Wochen ihre Ausstellungsarbeiten begleitet hatte. Auf und um einen Hufeisentisch angeordnet, wirkten die Gegenstände gerade nicht hervor- stechend, aber in ihrer einfachen, anspruchslosen Art zogen sie doch die Blicke der Besucher auf sich.

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In der Mitte auf einem Gestell thronte unter einem Glaskasten das von unserem Anstaltsmodellier Lehrer Stärkle verfertigte Modell der Anstalt. An dasselbe reihten sich rechts und links in systematischer Aufeinanderfolge die verschiedenen Lehr- mittel: Formen-, Farben- und Rechenbretter; Rechenmaschinen; Knopf- und Schnür- apparate u. s. w. Vorn in der Mitte lagen in sauberen Einbänden die Probeschriften der einzelnen Klassen, während die Zeichnungen die Wand im Hintergrund bedeckten Die Handarbeiten der Knaben (Waschseile, Endschuhe, Teppiche, Papparbeiten, Korb- waren u. s. W.) hatten rechts, die Handarbeiten der Mädchen links Platz gefunden (die letzteren von den ersten rohen Strickversuchen, Flickplätzen u. s. w. bis zu den feineren Häkelarbeiten). Alles in allem, im Rahmen der obligaten Ausstellungsdekoration eine ich musste es selbst gestehen nicht uninteressante Gruppe.

Noch mehr stieg meine Verwunderung, als ich bemerkte, wie die meisten Besucher bei „uns“ anhielten, um die Gegenstände eingehender zu besehen, und es dauerte nicht lange, so war ich total aus meiner beabsichtigten „stummen Rolle“ gefallen. Namentlich die rätselhaften und doch so gewöhnlich aussehenden Farben- und Formen- bretter erweckten die Neugierde der Beschauer, und ehe eine Stunde verflossen war, hatte ich mein Sprüchlein über den Gebrauch derselben einige Dutzendmal hergesagt, Je mehr ich aber redete, desto grösser wurde mein Publikum, aber auch desto frage- seliger, und so kam ich bald vom Hundertsten ins Tausendste.e „Denken Sie, ich wäre ein ganzer Idiot, und Sie müssten mich an dieser Rechenmaschine rechnen lernen —“ redete mich ein jovialer Herr an, und die Sache ging vom Stapel. Hatte aber dieser geheimnisvolle Kasten (Mariaberger Rechenmaschine) einmal seine Schieber geöffnet und die Eingeweide gezeigt, so war des Erklärens kein Ende, und immer und immer wieder wollten die Damen und Herren das „Einsundeins® und „Einmaleins“ sehen. „Da ist er ja*, jubelten zwei muntere Jungen ihrem Papa zu und zogen ihn herbei auch sie wollten die „komische“ Rechenmaschine sehen, von der ihnen ihr Bruder bereits erzählt hatte. Der Vater war Arzt und in seinen Fragen so wissbegierig, dass ich bald wie eine ausgepresste Zitrone vor ihm stand. Auch Erkundigungen über den Betrieb der Anstalt, namentlich aber über das Leben der „armen Kinder“ waren nichts seltenes, und durch diese Fragen schimmerte mitunter so aufrichtige Teilnahme, dass ich den Lärm der „geschäftlichen Reklame-Ausstellung* um mich herum oft ganz vergass. Ich griff hinein in den Schatz meiner Erfahrungen, erzählte von dem Treiben, Spielen der Kinder, von ihren Eigentämlichkeiten und auf- fallenden Eigenarten, von der Arbeit in der Schule, zeigte Schriften, Zeichnungen, Handarbeiten Einzelner, namentlich solcher, die sich durch einseitig mechanische Finger- fertigkeit hervorhoben, machte an Karten (perspektivischer Zeichnung des Schulzimmers, Grundriss des Schulzimmers, Grundriss der ganzen Schuletage, Grundriss der 3 Anstalts- gebäude, Situationsplan des ganzen Anstaltsterrains, der Stadt Idstein, von Idstein und Umgebung) den anschaulichen Gang des Heimatkundeunterrichts klar und immer hatte ich ein zahlreiches, aufmerksames, dankbares Publikum um mich. „Wollen Sie so freundlich sein, bittel —* und ehe ich mich’s versah, war ich von einem Generalarzt auf die Seite geschoben, der in militärischer Weise seinen „Herrn General“ auf diese „sehr interessante“ Gruppe aufmerksam machte und ihm den methodischen Gang unserer Knabenhandarbeiten im Anschluss an die aufliegenden Werkzeuge selbst

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so anschaulich vorführte, dass sich meine schulmeisterliche Wenigkeit dessen nicht hätte zu schämen brauchen. Die Damen musterten besonders eingehend die Strick-, Näh-, Häkel-, und Stickarbeiten der Mädchen; die auf den Etiketten den Namen bei- gefügten Altersangaben bildeten willkommene Anhaltspunkte zu einer richtigen Be- urteilung der einzelnen Leistungen.

Als ich abends auf der Heimfahrt müde in der Coup6secke lehnte und über die Eindrücke des Tages nachdachte, da hatte sich bereits eine starke Wandlung meiner Anschauungen über den Wert unserer Ausstellung vollzogen. Zunächst erfüllte mich das Bewusstsein, dass die Masse der Besucher einen so hohen Grad regen Interesses an unserer Arbeit zeigte, mit eigentümlich erhebenden Gefühlen. Wie wollte ich morgen mit neuem Eifer in meine Schule treten! Diese Fülle ungekünstelter, herzlicher Teilnahme an dem Schicksal dieser „Armen“, dieses rein menschliche Wohl- wollen, das ich aus so manchem Auge lesen und mit dem Herzen fühlen durfte, es soll meinen Kindern aus meiner Person entgegenstrahlen, und mir selbst soll es in Stunden des Missmutes und der Verzagtheit nene Lust und Freudigkeit einflössen. Aber welchen praktischen Wert brachte die Ausstellung? Klingende Münzen ja nicht. Aber einerseits wurde die Anstalt dadurch in weiteren Kreisen bekannt, und das ist bei Instituten, die zu einem grossen Teil auf der öffentlichen Wohlthätigkeit beruhen, von nicht geringer Bedeutung. Zum anderen war es denjenigen, welche bisher schon unsere Anstalt durch Spenden unterstützten (und Idstein wurde fast aus- schliesslich von Frankfurt aus gegründet) eine willkommene Gelegenheit, einen näheren Einblick in die Thätigkeit derselben zu bekommen. Und drittens das ist aber das Wichtigste von allem unsere Ausstellung wurde sogar mit einem Ehren- diplom prämiert.

„Und das haben mit ihrem Winken Die Socken und Strümpfe gethan.“

Doch ich will nicht mehr spotten und nehme mein Wort am Anfang wieder zurück. È. Z.

Kriegstetter - Solothurn. (Anstalt für schwachsinnige Kinder.) Die An- stalt ist wie alle Anstalten in stetem Wachsen begriffen. Dieselbe besteht seit 1894 und zählte am Schlusse des Jahres 1890 schon 60 Kinder (36 Knaben und 24 Mädchen), von denen dem Kanton Solothurn 44, dem Kanton Bern 15 und dem Kanton Glarus 1 angehörten. Ausgetreten sind seit dem Bestehen der Anstalt 30 Kinder. Die Kinder werden in 5 Abteilungen unterrichtet.

Regensberg b. Zürich. (Anstalt für Erziehung schwachsinniger Kinder.) Am Schlusse des Jahres 1899 zählte die Anstalt 74 Zöglinge, 51 Knaben und 23 Mädchen. Von den 19 im Laufe des Jahres aufgenommenen Zöglingen kamen 9 in die Vorschule. Über die Vorschule und ihre Zöglinge schreibt der Leiter der Anstalt, Herr Dir. Kölle, u. a. folgendes:

Von den 9 Zöglingen, welche in die Vorschule aufgenommen wurden, waren 7 Hörstumme. Ein Mädchen konnte etwas sprechen und 1 erethischer (aufgeregt, reizbar) Knabe mit epileptischen Krämpfen, vom Vater aus belastet, war ein Plauderer mit Echolalie (fortwährende Wiederholung desselben Ausdrucks). Unter den Hör- stummen (bei Gehör sprachlos) befindet sich ein ausgezeichneter Stammler und ein

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Knabe, bei dem ausgesprochene Wort- oder Seelentaubheit vorliegt. Der Fall ist besonders merkwürdig, weil der Knabe äusserst lebhaft und aufmerksam ist. Sein Mienenspiel ist so ausgeprägt und die Auffassung der Bewegungen so rasch, dass selbst seine Eltern und der Hausarzt nicht wussten, dass der Knabe Worte nicht verstehe. Der Vater musste dies erst bei einem späteren Besuch in der Anstalt ein- sehen. Beim Entwickeln der Begriffe blieb jeder artikulierte J.autcomplex für ihn unverstäudlich, bis er endlich nach vier Monaten eine Trommel mit der Nachahmung des Trommelns und begleitet von dem Ausruf: „Rum, bidibum, Rum bidibum* bezeichnen konnte. Das war das erste Zeichen, dass er einen Gegenstand bogrifflich durch eine articulierte Lautverbindung bezeichnete, und somit war der erste Schritt zur Wortsprache des Menschen geschehen.

Die sechs übrigen hörstummen Kinder machten ganz befriedigende Fortschritte, In den ersten vier Monaten konnten nur wenige Begriffe, bei einigen nach und nach drei Begriffe, Tisch, Tafel, Ofen mit Sicherheit gewonnen werden. Nachdem aber dies einmal geschehen war, zeigten sich ganz überraschend schnelle Fortschritte, sodass die Kinder am Schlusse des Jahres neue Begriffe sofort auffassten und sämtliche Laute mit den Buchstaben gelernt hatten.

Diese bestimmte stufenmässige Entwickelung der Kinder in unserer Vorschule und zwar solcher Kinder, die auf der tiefsten Stufe des Schwachsinns standen, bestärkte uns aufs neue in unserer Ansicht, dass die Methode unseres Unterrichts, wie sie in den letzten Jahresberichten ausführlich beschrieben wurde, richtig sei. Es ist für uns eine besondere Freude, konstatieren zu dürfen, dass wir endlich nach jahrelanger, mühevoller Arbeit eine einfache, klare Methode des Unterrichts für Schwach- sinnige gewonnen haben, nach welcher jeder Lehrer diesen schwierigen Unterricht an die Hand nehmen kann. Nur wer selbst jahrzehntelang den ersten Unterricht bei Schwachsinnigen erteilte und deshalb weiss, welche Unklarheit auf diesem Gebiete noch herrschte, wie wenig befriedigend die bisherigen Methoden waren, und welche tägliche Qual der Idiotenlehrer durchzukosten hatte, nur der kann mitfühlen, was es bedeutet, wenn wir es aussprechen, dass wir nun nach einer klaren bestimmten Methode unterrichten können, bei der der Erfolg genau bestimmt werden kann.*

Litteratur.

Franz Wilhelm Kockel. Aus dem Leben eines sächsischen Schul- mannes. Nebst Festgabe früherer Lehrer. Dresden, Verlag von Alwin Huhle (Karl Adlers Buchhandlung) 1900.

Vorstehende Festschrift verdankt ihr Entstehen dem 70. Geburtstage des Ge- heimen Rates Franz Wilhelm Kockel, Dezernenten für das Volksschulwesen im Königl. Sächs. Ministerium des Kultus und öffentlichen Unterrichts. Die vielen, zum grossen Teile im Amte schon ergrauten Schüler des genannten Herrn aus der Zeit seiner Thätigkeit als Seminar-Lehrer und -Direktor durften diesen Tag nicht vorüber- gehen lassen, ohne ihn zu feiern und besonders auszuzeichnen. So schrieben sie u. a. das Buch und widmeten es in Ehrerbietung und Dankbarkeit ihrem Lehrer und

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Meister. Das Buch zerfallt in zwei Teile, von denen der erste das Leben des Ge- feierten von dessen Jugendzeit bis zur Gegenwart behandelt, wahrend der zweite Teil sich zusammensetzt aus folgenden Arbeiten ehemaliger Schüler: Über das Wesen und die Bedeutung der Methode im Unterrichte (Dr. Heinrich Stoerl, Leipzig); die Er- ziehung der Jugend zum selbständigen Denken und Handeln (Ernst Hahn, Dresden); Religion und Religionsunterricht (Direktor P. Schneider, Nossen); Ansprache an die Konfirmanden Ostern 1895 (Direktor E. A. Stötzer, Dresden); Ansprache an die Kinder bei der Weihnachtsbescheerung in der Mädchen - Beschäftigungsanstalt am 24. Dezember 1894 (Derselbe); Eine Gehaltszulage vor 200 Jahren (Direktor Paul Schulze, Dresden); Zur Neubegründung der Dresdner Volksschule im Beginne des 18. Jahrhunderts (Derselbe); Die Entstehung des Gedankens, besondere Schulen für schwachsinnige Schüler zu errichten, und die Art, wie dieser Gedauke in der Nach- hilfeschule zu Dresden-Altstadt Verwirklichung gefunden hat (Direktor Paul Tätzner, Dresden). Von diesen trefflichen Arbeiten interessieren uns, die wir in dem Dienste der Erziehung Minderbefähigter stehen, insbesondere die zuletzt genannte, und wir glauben, den Lesern dieses Blattes einen Dienst dadurch erwiesen zu haben, dass wir dieselbe in den Nummern 4—7 zum Abdruck brachten. Gleichzeitig wünschen wir aber auch dem ganzen Buche die weiteste Verbreitung. Sein Preis ist ein sehr niedriger, es kostet 2 Mark.

Laienpsychiatrie. Ein Beitrag zu den psychiatrischen Zeit- und Streit- fragen. Von Dr. J. L. A. Koch, Direktor der K. W. Staats-Irrenanstalt Zwie- falten. Ravensburg 1893. Verlag von Otto Maier. 11 Seiten. Preis Mk. 1.

Im Septemberhefte der Allgemeinen Konservativen Monatsschrift des Jahres 1893 erschien von F. von Oertzen-Woltow ein Aufsatz: „Zur Reform des Irren- Rechtes“, in welchem der Verfasser energisch die Mitwirkung von Laien bei der Entmündigung geisteskranker Personen verlangt. „Die Entscheidung über die Ent- mündigung soll in die Hand einer Kommission unabhängiger Mäuner gelegt werden, welche das Vertrauen ihrer. Mitbürger geniessen, nicht nach Fachkenntnissen urteilen, auch nicht durch medizinische Gutachten beeinflusst sind, sondern auf den Augenschein sehen.“ Dieser Forderung tritt Dr. Koch in der vorliegenden Schrift ebenso energisch gegenüber. Wir stehen der Sache ziemlich ferne, es fehlt uns deshalb auch der nötige, vorurteilsfreie Überblick, um für irgend eine Partei Stellung nehmen za können. Hoffentlich hat der Streit nunmehr durch die neue Gesetzgebung einen erspriesslichen Ausgang gefunden. Fr.

Über die Behandlung von Nervenkranken und die Einrichtung von Nervenheilstätten. Von Dr. P. J. Möbius in Leipzig. Berlin 1896. Verlag von S. Karger.

Der Verfasser führt in seiner Schrift folgendes aus: 1. Die Hauptsache bei der Behandlung der Nervenkranken ist die Regelung der Thätigkeit: Ausschaltung falscher, schädlicher oder nutzloser Thätigkeit, Anleitung zu guter Arbeit, die in rechter Weise mit Ruhe wechselt. 2. Vielfach ist es zeitweise nötig, den Kranken aus seinen ge- wöhnlichen Verhältnissen zu entfernen. In solchen Fällen ist der Eintritt in eine Nervenheilaustalt das Richtige. In der Anstalt sollen zwar alle vertrauenswerten Heilmittel angewendet werden, aber auch hier muss die Lebensführung, d. h. die

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Anleitung zu rechter Arbeit und rechter Ruhe, den Kern der Behandlung bilden. Jede Nervenheilanstalt sollte in diesem Sinne verwaltet werden und sollte den Kranken die Möglichkeit nützlicher Arbeit bieten. 8. Der Eintritt in die Heilanstalt muss auch Minderbemittelten möglich gemacht werden. Dies und die genügend lange Dauer des Aufenthalts kann man erreichen, wenn Anstalten mit niedrigen Preisen und mit Frei- stellen entstehen. Solche Anstalten aber können entweder durch Genossenschaften oder auf Grund Öffentlicher Sammlungen, bezw. der Zeichnung von Anteilscheinen gegründet werden.

Wir können uns nur den Ausführungen des Verfassers anschliessen und wollen wünschen, dass diesen Gesichtspunkten auch bei der Errichtung von Anstalten für Geistesschwache genügend Rechnung getragen werden möge. Fr.

Der Alkoholismus. Eine Vierteljahrsschrift zur wissenschaftlichen Er- örterung der Alkoholfrage. Herausgegeben unter Mitwirkung hervorragender Fachmänner von Dr. A. Baer, Geh. Sanitätsrat in Berlin, Prof. Dr. Böhmert, Geh. Regierungsrat in Dresden, Dr. jur. von Strauss und Torney, Ober- verwaltungsgerichtsrat in Berlin und Dr. med. Waldschmidt, Charlottenburg- Westend. Dresden 1900. Verlag von O. V. Böhmert. Jährlich 4 Hefte. Preis Mk. 8.

Diese Vierteljahrsschrift will uns einen Schritt vorwärts bringen in dem Kampfe mit dem Alkoholismus. Die Wissenschaft, welche sich bisher nur selten und verstreut mit der Alkoholfrage beschäftigt hat, soll herangezogen werden, um die durch den Alkohol verursachten Schäden in klarer und überzeugender Weise zu erörtern und zu deren Abhilfe geeignete Mittel zu ergründen. „Untersuchung aller die Alkohol- frage betreffenden Thatsachen durch die Wissenschaft*, das ist das Motto der neuen Zeitschrift. Zu ihren Mitarbeitern zählt sie die Koryphäen deutscher Wissenschaft. Des guten Zweckes wegen begrüssen wir das neue Unternehmen mit Freuden und empfehlen die Zeitschrift allen beteiligten Kreisen, insbesondere den Anstaltsvorständen, damit auch sie nach Kräften die Bestrebungen auf diesem Gebiete fördern helfen. Fr.

Briefkasten.

Dr. K. I. Z. Durch die Übergabe der Anstalt und den Umzug ist die Beantwortung vieler Briefe verzögert worden. Wir müssen deshalb um Entschuldigung bitten.

Inhalt: Die Entstehung des Gedankens, besondere Schulen für schwachsinnige Schüler zu errichten, und die Art, wie dieser Gedanke in der Nachhilfeschule zu Dresden -Altstadt Verwirklichung gefunden hat (Schluss) (P. Tätzner). Versicherungspflicht der Lehrer und Erzieher an unseren Anstalten (Schwenk). Mitteilungen: Dresden, Bremen, Idstein, Krieg- stetter, Regensberg. Litteratur: Franz Wilhelm Kockel. Laienpsychiatrie. Uber die Behandlung von Nervenkranken und die Einrichtung von Nervenheilstätten. Der Alkoho- lismus, Briefkasten.

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Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden, Druck von Johannes Pässler in Dresden.

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we Nr XVI. (1) e e PUBLIC oe Zeitschrift fev wen | far die my AMIN DAT HONS Organ der Konferenz für das Idiotenwesen. Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen herausgegeben von | Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, Dresden -Strehien, für Berea ren EET Residenzstrasse 27. n Stuttgart. Erscheint jährlich in 132 Nummern von Zu beziehen durch alle Buchhandlungen

mindestens einem Bogen. Anzeigen für A t 1900 und Postämter, wie auch direkt von der die gespaltene Petitzelle 25 Pfg. Litte- ugus . chriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, _ Parische Bellagen 6 Mark. einzelne Nummer 50 Pfg.

Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber.

Der Knaben-Handarbeitsunterricht bei geistesschwachen Kindern.

Von Franz Frenzel.

Mit dem Eintritte unserer Kinder in die Anstalt sind dieselben den Ein- wirkungen und Anregungen des Elternhauses entzogen. Die Anstalt muss es sich. daher zur Pflicht machen, ihren Zöglingen die Familie zu ersetzen, ihnen also auch das zu bieten, was das Elternhaus täglich gewährt, nämlich Anregung und Anleitung zur praktischen Bethätigung. Es soll dadurch zunächst der Thätigkeitstrieb, welcher auch in den schwachsinnigen Kindern steckt, geweckt und gefördert werden; die Zöglinge aber erhalten durch ihr Thätigsein auch eine angemessene Beschäftigung, dem Thätigkeitstriebe wird dabei das rechte Ziel gesteckt. Spiele und Spaziergänge, welche in erster Linie die freie Zeit aus- füllen sollen, lassen noch immerhin viel Zeit übrig, besonders im Winter, in welcher unsere Kinder nichts Rechtes anzufangen wissen. Da bietet die Hand- arbeit eine ausgezeichnete und auch gerne geübte Abwechselung. Sie bewahrt die Zöglinge vor Müssiggang und Langweile und den daraus folgenden Aus- schreitungen, erweckt in ihnen Lust zur Arbeit und Beschäftigung und erleich- tert den Aufsicht führenden Personen ihr Amt wesentlich. Der Handfertigkeits- unterricht ist also geeignet, dem Thätigkeitstriebe unserer Zöglinge das rechte Ziel zu geben und letztere in ihrer freien Zeit angemessen zu beschäftigen.

Unsere schwachsinnigen Kinder sind häufig infolge von Krankheiten und ungenügender Ernährung im Elternhause auch in ihrer körperlichen Entwicklung zurückgeblieben. Da bietet der Arbeitsunterricht gleich wie Spiel und Turnen ein vorzügliches Mittel zur Kräftigung und Entfaltung des Körpers. Der Hand-

130 fertigkeitsunterricht trägt also auch zum bessern Gedeihen der körperlichen Entwicklung unserer Zöglinge bei.

Die geistesschwachen Zöglinge sollen nach ihrer Entlassung aus der Anstalt, wenn es irgendwie angängig ist, Beschäftigung in einer praktischen Thätigkeit oder in einer geeigneten Handwerkstätte finden, resp. ein Handwerk, wenn auch nicht vollständig, so doch wenigstens teilweise erlernen. Zu diesem Zwecke ist es nötig, ihnen schon frühzeitig eine angemessene und notwendige Vorbereitung durch den Handarbeitsunterricht zu bieten, wobei ihre Hand geübt, in der Führung der gebräuchlichsten Werkzeuge gewandt gemacht und gekräftigt wird. Der Handarbeitsunterricht ist somit geeignet, die Bildung der Hand zu fördern und unsere Zöglinge dadurch für die allgemeine Berufsbildung vorzubereiten.

Der Handarbeitsunterricht wirkt aber auch in ganz bedeutendem Masse vor- teilhaft auf den gesamten Schulunterricht ein und unterstützt namentlich die sprachliche Ausbildung unserer Zöglinge ganz wesentlich. Es erscheint ein- leuchtend, dass dieser Unterricht in innigster Beziehung zum praktischen Leben steht, daher muss auch seine Sprache notwendigerweise die Sprache des prak- tischen Lebens sein, welche die Anstaltserziehung zu pflegen nicht selten gänz- lich unterlässt. Die Anfertigung jeder Arbeit zwingt zur Anwendung verschiedener sprachlicher Ausdrücke, auch wird der Schüler mehr als sonst irgendwo veranlasst, Fragen zu stellen und kurze Antworten zu geben. Fragen, Bitten, Antworten, Beschreibungen, Belehrungen u. s. w. kehren fast stündlich wieder und bieten damit die beste Gelegenheit zur Pflege der Sprache des praktischen Lebens und der Umgangssprache. Der Handarbeitsunterricht ist demnach geeignet, die sprachliche Entwicklung unserer Zöglinge zu fördern.

Betreffs der Vorteile, welche der Handarbeitsunterricht den übrigen Zweigen des Schulunterrichis gewährt, sollen hier nur einige kurze Andeutungen folgen. Die Schüler sind im Arbeitsunterrichte genötigt, um ihre Arbeiten richtig aus- führen zu können, sicher zu beobachten und anzuschauen, also eine gespannte Aufmerksamkeit zu entwickeln. Diese gesteigerte Thätigkeit des Auffassungs- vermögens kommt jedem Unterrichtszweige zu gute. Von grossem Nutzen kann der Handarbeitsunterricht besonders dem Anschauungsunterrichte, dem Zeichnen, Rechnen und naturkundlichen Unterrichte sein. Indem unsere Schüler dasjenige, was sie in den vorhin genannten Unterrichtsgegenständen gelernt haben, im Handarbeitsunterrichte praktisch verwenden, kommt ihnen manches, das früher nur oberflächlich von ihnen aufgefasst worden war, erst mit der praktischen Ver- wendung zum klaren Bewusstsein und rechten Verständnis. Der Handarbeits- unterricht ist also sehr gut dazu geeignet, die verschiedensten Unterrichts- disziplinen zu unterstützen und dadurch zugleich die gesamte geistige Ausbildung unserer Zöglinge zu fördern.

Der Handarbeitsunterricht ist ein Unterrichtsgegenstand, dem sich unsere Knaben, wenn sie nur die richtige Anregung dazu empfangen, fast ausnahmslos, 80 gut sie es vermögen, gerne widmen. Sie werden inne, namentlich wenn ihnen eine Leistung auf diesem Gebiete gelungen ist, dass sie auch etwas zu schaffen

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vermögen und empfinden darüber Freude. Die Freude an der Arbeit und über das Gearbeitete ist aber wohl geeignet, vorteilhaft auf die Gemütsbildung unserer Zöglinge einzuwirken.

Die schwachsinnigen Kinder nehmen gewöhnlich alles als selbstverständliches Geschenk hin und wissen oft gar nicht, wie schwer und mühevoll die Anfertigung selbst eines geringen Dinges ist, im Handarbeitsunterrichte aber können sie das leicht erfahren. Diese Erfahrung bewirkt dann gewöhnlich, dass sie sorgsamer mit ibren Sachen und mit den ihrer Mitschüler umgehen lernen. Häufig ist viel Geduld und Ausdauer nötig, bis eine Arbeit zu Ende geführt wird. Die Beobachtung von Geduld und Ausdauer aber stärkt die Willenskraft und hilft den Charakter bilden; der Handarbeitsunterricht trägt demnach zur Unterstützung der Charakterbildung wesentlich mit bei.

Soll der Knaben-Handarbeitsunterricht die vorhin bezeichneten Aufgaben lösen, so ist es notwendig, dass er auch als selbständiger Unterrichtsgegenstand nach eigener Methode betrieben wird. Er soll, soweit es irgend möglich ist, im Dienste des gesamten Schulunterrichts stehen, nur darf seinem methodischen Gange dadurch kein Eintrag geschehen. Er muss ferner nach den allgemeinen Grundsätzen aufgebaut sein: „Vom Leichten zum Schweren, vom Einfachen zum Zusammengesetzten“ u. s. w. Soll der Arbeitsunterricht im Dienste der gesamten Erziehung stehen, so ist es auch notwendig, dass die Zöglinge möglichst wäh- rend ihrer ganzen Schulzeit daran teilnehmen.

Für den Handarbeitsunterricht gelten im allgemeinen dieselben Grundsätze, welche für den übrigen Unterrichtsbetrieb des Schwachsinnigenunterrichts mass- gebend sind. Zunächst ist es wünschenswert, dass für diesen Unterricht ein be- sonderes Zimmer hergegeben wird. Dasselbe ist mit den nötigen Tischen, Sitzen und den erforderlichen Werkzeugen auszustatten. Die Werkzeuge sind am besten in einem verschliessbaren Schranke aufzubewahren, worin jedem Stücke ein be- stimmter Platz angewiesen wird, an welchen ein jedes Werkzeug nach beendeter Arbeit von demjenigen Knaben, welcher es benutzte, zurückzubringen ist. Ebenso erhalten die erforderlichen Arbeitsmaterialien ihren bestimmten Platz. Ohne Wissen des Lehrers, der den betreffenden Unterricht erteilt, darf niemand in dem Zimmer arbeiten oder gar von den Werkzeugen und Materialien Gebrauch machen. Diese Forderungen sind durchaus berechtigt und müssen gehörig beachtet werden, da sonst der Unterrichtsbetrieb leicht schädigende Störungen erfahren könnte und dem Unterricht erteilenden Lehrer manche Ärgernisse erwachsen würden.

Die Unterrichtszeit muss lokale Verhältnisse berücksichtigen, ebenso die Unterrichtsdauer; im allgemeinen dürften für den Handarbeitsunterricht wöchent- lich 5 Stunden, für die Unterstufe 1 Stunde und für die Mittel- und Oberstufe je 2 Stunden vollauf genügen. Der Unterricht wird Sommer und Winter zu derselben Zeit, am besten jeden Schultag eine Stunde nach Schluss des Nach- mittagsunterrichts, erteilt; zu andern Beschäftigungen bleibt noch Zeit genug übrig, ebenso zum Spiele und Spaziergange. Der Handarbeitsunterricht selbst ist Gruppen- resp. Klassenunterricht, jedoch darf die Zahl der Schüler nicht über 10 betragen, da es unmöglich ist, mehr als 10 Knaben fruchtbringend

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zu unterweisen. Alle Zöglinge sind thunlichst gleichmässig zu fördern; die be- fähigtern bezw. die schneller arbeitenden können die Zeit bis zum Beginne einer neuen Arbeit durch reichere Ausgestaltung der vorher gefertigten Arbeiten oder durch Zwischenarbeiten ausfüllen. Ein schuelles Arbeiten aber ist durchaus zu vermeiden, vielmehr jede Arbeit mit der grössten Ruhe und Gelassenheit und der gehörigen Sorgfalt auszuführen. Im Interesse eines lückenlosen Fortschritts und einer übersichtlichen Handhabung des Unterrichtsbetriebes erscheint es er- wünscht, dass der gesamte Unterricht in Knabenhandarbeiten von einem und demselben Lehrer auf allen Stufen erteilt werde.

Der Gang des Unterrichts kann etwa folgender sein: Der Lehrer macht die betreffende Übung vor, resp. zeigt den zu fertigenden Gegenstand; lässt erstere genau vor den Augen der Schüler entstehen, resp. letztern genau be- trachten und schliesst daran eine kurze Besprechung. Diese hat sich jedoch nur auf die wichtigsten Momente und auf die für die Zöglinge wertvollsten Merkmale zu erstrecken; es wird dabei besonders Name, Farbe, Form, Stoff, Verwendung etc. zu berücksichtigen sein. In ähnlicher Weise sind jedesmal die zu gebrauchenden Werkzeuge und Materialien vor ihrer Benutzung einer kurzen Besprechung zu unterziehen. Wo es notwendig erscheint, werden von dem Lehrer auch die er- forderlichen Zeichnungen an einer Wandtafel entworfen. Der Lehrer giebt stets die nötigen Anweisungen zur Ausführung der Übung oder der Arbeit, und sofort geht es an die Ausführung resp. Anfertigung derselben. Dabei kontrolliert der Lehrer, verbessert, steht den Schwachen hilfreich zu Diensten, macht auf die Fehler aufmerksam und ist bei Abstellung derselben behilflich. Fehler, die mehrere Schüler gemacht haben, werden gemeinschaftlich besprochen. Es kommt vor allen Dingen auf ein sorgfältiges, sauberes Arbeiten an. Gar zu leicht begnügen sich unsere Knaben mit flüchtigen und mangelhaften Leistungen, wobei noch häufig die schlauern erklären: „Ich kann es nicht besser machen!“ Dem hat der Lehrer energisch entgegen zu treten; denn die Erziehung zu genauem und sorgfältigem Arbeiten, zur Ausdauer und Beharrlichkeit bei Überwindung von Schwierigkeiten ist die vornehmste Aufgabe des Handarbeitsunterrichts. Aus diesem Grunde ist auch weniger auf materielle Erfolge im Arbeitsunterrichte zu sehen als auf eine gründliche formale Durchbildung der Zöglinge.

Für die Körperhaltung der Schüler bei der Arbeit gelten dieselben Grundsätze, die bezüglich der Körperhaltung für die andern Fächer massgebend sind. Besonders ist zu beachten, dass die Knaben gerade stehen bezw. sitzen und die Augen in gehöriger Entfernung von der Arbeit halten. Die Werkzeuge sind stets mit der nötigen Schonung zu behandeln. Hat die Mehrzahl der Knaben das behandelte Stück der Arbeit beendet, so wird das nächste Stück in Angriff genommen, bis die Übung oder der Gegenstand vollendet ist; die not- wendigen Erläuterungen sind stets beim Beginne der Arbeit zu geben. Nach Schluss der Unterrichtsstunde hat jeder Schüler die Pflicht, seinen Platz gehörig zu säubern, die benutzten Werkzeuge wieder an ihren Ort zu bringen und die Arbeit an die dazu bestimmte Aufbewahrungsstelle zu legen. Einige Knaben räumen sodann die Werkstatt auf, damit dieselbe in sauberem Zustande ver-

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lassen wird. Es macht sonst nichts einen so unangenehmen Eindruck als Un- sauberkeit im Anstaltsbetriebe.

Der Arbeitsunterricht will die Schüler nicht auf ein bestimmtes Handwerk vorbereiten, er will sie vielmehr in die Elemente der Arbeit einführen, darum ist es notwendig, dass ihnen Gelegenheit zur Arbeit in verschiedenem Material und mit den dazu nötigen verschiedenen Werkzeugen ge- boten wird. Um dabei eine Zersplitterung der Arbeitskraft des Lehrers und der Schüler zu vermeiden, erscheint es vorteilhaft, die einzelnen Fächer des Hand- arbeitsunterrichts nicht nebeneinander, sondern nacheinander zu betreiben. Es ist aber für unsere Knaben keineswegs zweckentsprechend, möglichst viele Fächer in den Unterrichtsplan aufzunehmen, sondern nur wenige, wovon aber ein jedes Fach gründlich betrieben werden muss. Die Auswahl der Fächer für den Hand- arbeitsunterricht wird sich hauptsächlich naclı der sonstigen Beschäftigung der Zöglinge richten müssen. Diejenigen Arbeiten, worin die Knaben etwa von den verschiedenen Handwerksmeistern unterwiesen werden, wie vielleicht Gartenarbeit, Bürstenmacherei, Schneiderei und Schuhmacherei, sind nicht in den Betrieb des Handarbeitsunterrichts aufzunehmen.

Entsprechend der körperlichen und geistigen Entwicklung unserer Zöglinge müssen wir auch im Arbeitsunterrichte Unter-, Mittel- und Oberstufe unterscheiden. Das Abmessen des Stoffes für die einzelnen Stufen kann nur in Umrissen geschehen, bei der Durcharbeitung desselben wirkt die Eigenart der Zöglinge regulierend darauf.

I. Unterstufe. (Wöchentlich 1 Stunde.)

Auf dieser Stufe ist der Handarbeitsunterricht mit dem Spiele zu verbinden. Ein Teil der Fröbelschen Kindergartenbeschäftigungen findet Verwendung. Für den Anfang eignet sich das Stäbchenlegen und das Bauen und Legen von Gegen- ständen und Figuren mit Würfeln oder farbigen Legehölzern. Daran schliesst sich das Formenlegen mit Fröbels Spielgaben und mit Halb- oder Ganzringen an. Auch ganz einfache Kork- und Erbsenarbeiten treten auf. Die Kinder sind auch dazu anzuhalten, dass sie selbständig Kombinationen erfinden.

II. Mittelstufe. (Wöchentlich 2 Stunden.)

Einfache und leichte Papierarbeiten (Falten, Flechten, Ausnähen von Mustern mit farbiger Wolle auf Karton und Anfertigung von kleinen Nützlichkeitsgegen- ständen aus Karton mit eingenähten Mustern) werden gefertigt. Einfacher Weihnachtsbaumschmuck aus Buntpapier (Ketten, Sterne) wird hergestellt. Der Gebrauch der groben Nadel und der Schere tritt auf. Auch das Figurenbilden aus Thon (Thonformen) und leichte Holzarbeiten kommen auf dieser Stufe zur Behandlung. Die Knaben lernen den Gebrauch des gewöhnlichen Messers. Angefertigt werden ganz einfache Blumenstäbe und allerlei kleine Gegenstände aus dem Anschauungsunterrichte, z. B. eine kleine Schaufel, ein Messermodell, ein Holzkreuzchen u. s. w. Das Stricken von Wäscheleinen aus Bindfaden kann auf dieser Stufe auch begonnen werden.

134 III. Oberstufe. (Wöchentlich 2 Stunden.)

1. Es werden weitere Holzarbeiten mit dem gewöhnlichen Messer und mit dem Schnittmesser ausgeführt, z. B. Pflanzhölzer, Baum- und Gemüse- Etiketten, kleine Spielsachen, Bänkchen, Tischchen, kleine Dreschflegel u. s. w. 2. Papparbeiten, z. B. Kästchenkleben, Mappenanfertigen u. s. w. Schere, Lineal mit Centimetermass und Bleifeder nebst Zirkel kommen zur Anwendung. 3. Laubsägearbeiten, z. B. Gegenstände mit wenig durchbrochenen Flächen. Schlüsselschilder, Aufschnittbrettchen, Zwirnwickler u. s. w. werden gefertigt. 4. Leichte Tischlerarbeiten, z. B. Zersägen eines Brettes, Glatthobeln und Zusammenfügen einzelner Brettchen zu einer Kiste. 5. Leichte Arbeiten aus spanischem Rohr, z. B. das Gestell zu einer Wandmappe, Bürstentasche u. s. w. wird daraus zusammengestellt. Auch ist es gut, wenn den Schülern dieser Stufe ganz einfache und leichte Reparaturen an Haus-, Spiel- und Schulgeräten, allerdings unter Aufsicht des Lehrers oder eines erfahrenen Wärters, übertragen werden, aber erst dann, wenn die dabei zu überwindenden Schwierigkeiten bereits im eigent- lichen Lehrgange geübt worden sind. Die Zöglinge machen sich dadurch nütz- lich, und ihr Interesse an der Arbeit nimmt gewöhnlich bei solchen Anlässen wesentlich zu und erfährt eine bedeutende Förderung.

Zu diesen Unterrichtsfächern kommen noch einige Arbeiten, die zwar nicht als selbständige Fächer längere Zeit betrieben werden sollen, die aber bei ihrem Erlernen durchaus den an die Knabenhandarbeit gestellten Forderungen ent- sprechen und wegen ihrer praktischen Bedeutung hier nicht übergangen werden dürfen, z. B. das Knüpfen von Netzen, das Flechten von Rohrstuhlsitzen, Körben und Matten, das Besenbinden u. a. Diese Arbeiten sind einigen befähigteren Schülern zu zeigen und mit ihnen zu üben, sollen aber dann, weil sie bald mechanisch gefertigt werden können, nur neben dem eigentlichen Arbeitsunter- richte unter der besonderen Aufsicht von Leuten, die derartige Sachen anzufertigen verstehen, hergehen.

Der Handfertigkeitsunterricht für Knaben wird, wie man es aus den Be- richten verschiedener Anstalten für Erziehung und Unterweisung schwachsinniger Kinder und aus den Lehrplänen der Hilfsschulen ersieht, häufig als selbständige Unterrichtsdisziplin betrieben, doch scheinen seine Erfolge infolge der sehr geringen Handgeschicklichkeit und der oft einseitigen Veranlagung unserer geistesschwachen Kinder viel zu wünschen übrig zu lassen und auch sonst nicht zu befriedigen. Allerdings Kunstprodukte werden die Handarbeiten unserer Zög- linge niemals werden, sondern mehr oder minder den Stempel der Unvollkommen- heit und des Stückwerks an sich tragen. Das darf uns aber nicht abhalten, weitere Versuche mit der Erteilung des Handarbeitsunterrichte bei unsern Kindern anzustellen, um so geeignetere Massnahmen und Veranstaltungen zwecks einer besseren Ausbildung der Schwachsinnigenunterrichtsmethode auch nach dieser Seite hin treffen zu können.

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Der gegenwärtige Stand der Lombrososchen Lehre von anthropologischen Typus des geborenen Verbrechers.*) Von Oswald Berkhan.

Im Jahre 1877 schrieb Cesare Lombroso, zuerst Irrenarzt in Pavia, dann Professor der gerichtlichen Medizin in Turin, ein Werk, betitelt L'Uomo delin- quente. Anlass zu diesem Werke hatte ihm die Beobachtung gegeben, dass ein Teil der Verbrecher, welche er als Gefangenarzt oder als gerichtlicher Sachver- ständiger zu behandeln hatte, körperliche und geistige Abweichungen zeigte, die ihnen, normalen Menschen und Geisteskranken gegenüber, eigentümlich waren.

Diese Beobachtungen, unterstützt durch Untersuchungen an Schädeln und Gehirnen von Verbrechern, veranlassten Lombroso, einen anthropologischen Typus des geborenen Verbrechers anzunehmen und diesen Typus als eine Entartungs- (Degenerations-) Form des normalen Typus zu erklären.

Nach ihm ist nun die Grundlage des angeborenen Verbrechertums in einem Rückschlage (Atavismus) auf die ersten Menschen gegeben, die Kannibalen waren; es nähert sich demnach der Verbrecher dem Wilden, der als ein Äquivalent des modernen Verbrechers zu betrachten ist. Dass die moralischen Defekte, die dem Verbrechen zu Grunde liegen, häufig angeboren sind, begründet er damit, dass Andeutungen zur Verbrechernatur oft schon bei Kindern zu be- obachten sind.

Der Verbrechertypus aber wird von Lombroso gekennzeichnet in: fliehender Stirn, einer geringen Entwickelung des Gehirns, starker Entwickelung der Augen- brauenbogen, einem massigen Unterkiefer, Reichtum des Kopfhaares, dabei spär- lichem Bartwuchs, missgestalteter Nase, Henkelohren, Harte des Blickes, Ab- weichungen in der Anordnung der Hirnwindungen und Furchen und anderen Eigentümlichkeiten, die insgesamt mehr oder weniger als Entartungszeichen aut- gefasst werden.

Beim typischen Verbrecher zeigt sich ein Vorwiegen der rechten Hirnhälfte über die linke, womit von Lombroso das häufige Vorkommen der Linkshändigkeit beim Verbrecher in Verbindung gebracht wird. Als charakteristisch stellt er ferner für den Verbrecher eine geringe Empfindlichkeit gegen Schmerzen hin, ausserdem Vorliebe zu Tättowierungen, Kritzeleien an den Wänden und Zeichnen obscöner Darstellungen. Der geborene Verbrecher wird dem Geisteskranken als nahestehend bezeichnet, aber nicht für irrsinnig erklärt, er bildet einen besonderen anthropologischen Typus.

Es besteht bei diesem Typus hinsichtlich des geistigen Verhaltens eine Beziehung zu dem moralischen Irrsein, diesem Defekte aller moralischen Urteile und ethischer Gefühle, das sich in den meisten Fällen beim geborenen Verbrecher findet; ferner zur Epilepsie, denn beim Verbrecher wie beim Epileptiker finden sich „Vagabundieren, Obscönitäten, Faulheit, Sprachneubildung, Tättowierungen,

*) Aus Band 78, Nr.6 des „Globus“. Illustrierte Zeitschrift für Länder- und Völker- kunde. Herausgeber Dr. Richard Andree, Verlag von Friedr. Vieweg & Sohn in Braun- schweig. :

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schnell ausbrechende Heftigkeit“. In einem Aufsatze (Identität der Epilepsie mit dem Gemütswahnsinn und der angeborenen Delinquenz, 1885) sagt Lombroso: „EB ist nunmehr bekannt, dass es eine Epilepsie ohne Krämpfe geben kann, während andere Epilepsien nur in den Kinderjahren mit Krämpfen einhergehen und noch andere lediglich in übertriebenen krankhaften oder verbrecherischen Trieben bestehen. Es giebt viele Epileptiker, deren Krankheit in klinischer Hinsicht nur in angeborenen unsittlichen Trieben besteht.“

So sind, wie Lombroso in seinem Hauptwerke schreibt, unzweifelhaft das angeborene Verbrechertum und das moralische Irrsein nichts weiter als Varianten der Epilepsie. Eine weitere Angabe von ihm ist die, dass Rassenunterschiede und ethnologische Merkmale innerhalb der Verbrecherwelt fast vollständig schwinden.

Diese Lehre von dem geborenen typischen Verbrecher erwarb sich bald Anhänger, besonders in Italien, weniger in anderen Ländern, wo sie lebhaft bekämpft wurde. Es veranlasste dies Lombroso, auf Grund weiterer Beobachtungen und Forschungen, die von ihm und Anderen, meist Italienern, angestellt waren, ein neues Werk herauszugeben (L’Anthropologie oriminelle et ses recents progrès, 1891), in welchem er den Tipo criminale weiter verficht.

Aber der Streit für und wider setzte sich in einer Menge Schriften und Zeitschriften fort, ein Streit, der bis jetzt andauert und sobald nicht enden wird. Besonders Lombrosog Auffassung von dem Rückschlag und den Entartungszeichen wird noch immer lebhaft bekämpft.

Es wird Lombroso entgegengehalten, dass die meisten von ihm geltend gemachten Kennzeichen des Verbrechers auf pathologischem Ursprunge beruhten, somit nicht auf Rückschlag oder Atavismus zurückgeführt werden könnten. Ferner, dass man beim Verbrecher zwar häufiger als beim normalen Menschen Entartungs- oder Degenerationszeichen finde, dies aber nicht als spezifisch anzunehmen sei und Grund zur Aufstellung einer besondern Verbrechergruppe abgeben könne”), zumal man oft bei Anstaltsinsassen keinen Verbrechertypus finden könne**). Ausserdem sei man auf Grund anatomischer Untersuchungen hinsichtlich der Gestaltung der Schädel, der Windungen und Furchen des Gehirns nicht berechtigt, von einem Verbrechertypus zu reden***).

Lombroso nimmt für seinen Verbrecher das moralische Irrsein in Anspruch. Das meist angeborene moralische Irrsein besteht nun bekanntlich in moralischer Gefühlsstumpfheit, in krankhafter Reizbarkeit des Gemütes, ist gekennzeichnet durch das Triebartige der oft mit instinktiver Schlaubeit ausgeführten Hand- lungen, wie Stehlen, Lügen, Gewaltthaten und ist in den meisten Fällen mit

*) Luigi Batistelli, Studio sulla biologia et sui segni degenerativi esterni dei criminali. Atti della Soc. Rom di anthropol. 1898. Bd. 5, Heft 3. **) De Boeck, Enquête sur l'Etat anthropol., phys. et psych. des pensionaires de la maison de travail de Bruxelles. Extr. du bullet. de la Soc. d’anthropol. de Bruxelles, Tome XIV, 1895/96. ***) J. Dallemagne, Stigmates anatomiques de la criminalité. Encyclop. scientif. des aide-memoire. Paris 1895. J. Dallemagne, Theorie de la criminalité. Paris 1896, A. Debierre, La cråne des criminels. Biblioth. de criminalogie, Nr. 18. Lyon 1896.

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Schwachsinn verbunden. Es führt nicht selten zu wirklicher Geistesstörung besonders in der Gefangenschaft. Solches moralisches Irrsein kann aber auch, in der Pupertätszeit auftreten und, was weniger bekannt ist, mit Genesung enden.

Dies alles ist bezeichnend für das moralische Irrsein, welches, wiewohl ein vielumstrittenes Gebiet, der Psychiatrie angehört und nicht dem nach Lombroso geistesgesunden, typischen Verbrecher zukommt, der nur moralische Schwächen zeigt.

Und ebenso verhält es sich mit der von Lombroso für seine Lehre in An- spruch genommenen Krankheitsgruppe der Epilepsie. Wer Jahrzehnte lang Epileptische zu behandeln Gelegenheit hatte, wird reichlich erfahren haben, wie die barmlosesten, geistesgesunden Kinder, nachdem sie von der Epilepsie befallen, erst nach längerem Bestehen der Krankheit durch ihre Anfälle, besonders wenn sie reichlich auftreten, die sogenannte epileptische Veränderung bekommen, d. h- Neigung zu moralischen Vergeben und auch Gewaltthaten. Er wird erfahren haben, dass diese Neigungen nach dem Aufhören der Anfälle, wie solches nach ärztlicher Behandlung aber auch ohne solche vorkommt, sich mindern, ja ganz verlieren können. Auch fehlt bei einer Menge von Epileptikern jedes Entartungs- zeichen. Die Gruppe der Epilepsie, mag sie offen oder versteckt (larviert) sich zeigen, kann demnach nicht, wie Lombroso dies thut, in das Gebiet der Anthro- pologie einbezogen werden, sondern gehört der Pathologie an.

Dass es keinen Verbrechertypus giebt, keine internationale Ähn- lichkeit, ausser bei den degeneriertesten, keine charakteristischen Tättowierungen giebt, haben die verschiedensten Forscher nachge- wiesen*)

Wie es sich mit der Beurteilung von Verbrecherphysiognomien verhält, darüber giebt Samuel Smith, Doktor der Rechte, in einem unlängst erschienenen Aufsatze**) eine Mitteilung, die ich hier hinzufügen möchte. Smith, mit einer Gefangenenanstalt seit Jahren in Verbindung stehend, liess sich durch den Auf- seher der Gefangenen, einem anerkannt tüchtigen Manne in seinem Fache, 10 bis 12 Photographieen von solchen unter den 500 Gefangenen einsenden, die nach dessen Meinung den Verbrechertypus böten, ohne ihm über die Verwendung dieser Photographieen etwas zu sagen.

Es trafen nun die vorstehenden Abbildungen ein, begleitet von erläuternden Bemerkungen und nach Bertillon genommenen Massen.

Dr. Smith überreichte nun diese Abbildungen einer Anzahl von Herren, aber stets nur einem, damit sie ihre Meinung über die Fälle äusserten. Diese Herren bestanden aus einem Rechtsgelehrten, einem Arzt, einem Eisenbahn- präsidenten, einem Richter und einem Professor an einer Hochschule. Jeder von ihnen war hervorragend in seinem Fache. Sie wurden in ihrer Meinung offenbar durch den geschorenen Kopf und die Gefangenenkleidung benachteiligt. Als sie aufgefordert wurden, die Art des Verbrechens anzugeben und sie nach

*) z. B. Baer, Kirn, Näcke, Féré, Koch. Vgl. Centralbl. f: Anthropol.. Ethnol.

u. Urgeschichte von Buschan, Jahrg. 1896, 8. 121. **) Typical Criminels in Appletons Science Monthly, Vol. 56, März 1900.

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ihrem Verbrecheraussehen zu gruppieren, war die Meinung eines jeden verschieden von dem andern, und alle waren weit entfernt von der Wirklichkeit. Der schlaue Rechtsgelehrte meinte, der Gelegenheitsverbrecher „möchte irgend etwas verübt haben“. Zuletzt erwartete man von dem Professor eine besondere Meinung, er gab über zwei der schlimmsten Fälle sein Urteil mit der Bemerkung: „Diese Menschen sind Entartete.“

Während nun die Versammelten mit den Photographieen sich beschăftigten, beobachtete Dr. Smith die Gesellschaft selbst und fand mehr Anomalien an den Köpfen der hochgestellten Herren, als bei den Verbrechern vorhanden waren.

So weit Dr. Smith.

Was wird aus der Lehre Lombrosos werden? Für jeden denkenden, mit der Psychiatrie und dem Gefangenenwesen Vertrauten muss die von Lombroso mit Fleiss und Scharfsinn geschaffene Lehre etwas Anziehendes haben. Sie “macht den Eindruck, dass, selbst wenn man von ihrem Urheber auf krankhaftes Gebiet Gestütztes abzieht, ein Kern der Wirklichkeit bleibt. Und dieser Kern betrifft den unverbesserlichen Gewohnheitsverbrecher, der frei von psychischer Störung ist. Aufgabe der Psychiatrie wird es auch ferner sein, hier zu sichten.

Lombroso dehnt seine Lehre oft zu weitgehend auf Geisteskrankheit, moralisches Irrsein und Epilepsie aus. Es kann nun nicht ausbleiben, dass mehr und mehr psychiatrisch gebildete Ärzte an Gefangenenanstalten, an Zwangs- erziehungsanstalten und Anstalten für Epileptische, sowie als Schulärzte an den Hilfsschulen (Schulen für Schwachsinnige geringeren Grades) wirken werden. Der Schulen für epileptische Kinder giebt es noch nicht viele, aber es sollte schon jetzt über jeden epileptischen Schüler Buch geführt werden in Bezug auf sein eigenartiges Verhalten und seine geistigen Fortschritte Ein gleiches gilt von den in Zwangserziebungsanstalten*) und in Hilfsschulen befindlichen Kindern, welch letztere in Deutschland allein zur Zeit gegen 5000 betragen.

Ein solches Führungsbuch, von sachverständiger Seite gewissenhaft gehalten, wird ein Schatz für die Wissenschaft sein und zur genaueren Kenntnis des weit verbreiteten, das Volkswobl tief berührenden Schwachsinns führen, es wird ein Schutz für die Schwachsinnigen sein, sobald es sich um richtige Beurteilung bei Berährung mit den Gerichten handelt.

Was endlich noch von Wert erscheint, es wird die Zahl der geborenen anthropologischen Verbrecher bedeutend eingeengt werden, und zwar auf eine Zahl, die, nachweislich frei von psychischer Störung, moralisch Verderbte oder sonstwie zu benennen sein wird **).

*) Mönkemöller, Psychiatrisches aus der Zwangserziehungsanstalt zu Herzberge. Allgem. Zeitschr. f. Psychiat., Bd. 56, S. 14, 1899. „Von 200 Knaben der Anstalt im Alter von 8 bis 21 Jahren litten 114 an angeborenem Schwachsinn, epileptischer Störung, traumatischen Psychosen, paranoischen Zuständen, nur 73 zäblten zu den sogenannten geistig Normalen.*

**) Vergl. Näcke. Über Kriminalpsychologie. Zeitschr. f. d. gesamte Strafrechtswissen- schaft, 1897, Bd. 17, Heft 1.

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Ein Lesebuch für Schwachsinnige.

Nach einem Lesebuch für unsere Anstalten und Hilfsschulen ist schon lange und wiederholt verlangt worden. Besonders eindringlich wurde dieses Verlangen auf der Heidelberger Konferenz im Jahre 1895 ausgesprochen. Aber auch schon früher wurde ein eigenes Lesebuch für schwachsinnige Kinder gewünscht, und man kann getrost behaupten, dass das Bedürfnis nach einem solchen besteht, so lange es Anstalten giebt. Selbstverständlich wurde dieses Beilürfnis in dem Grade grösser, in welchem sich die Anstalten vermehrten und die Hilfsschulen an Zahl zunabmen. Kine , Fibel* und zwar die Barthold’sche gab es schon lange, und neue dergleichen sind in Arbeit oder liegen gar schon fertig vor, aber ein wirkliches Lesebuch für unsere Kinder gab es noch nicht. Es war darum ein verdienstliches Unternehmen, dass das Lehrer- kollegium der Leipziger Hilfsschule die Bearbeitung eines solchen in die Hand nahm. Seit kurzem liegt nun das „Lesebuch für Hilfsschulen‘ vor uns. Es besteht aus 2 Teilen, ist erschienen im Verlage der Dürr’schen Buchhandlung in Leipzig, und jeder Teil kostet gebunden 1 Mark. Über die Gründe, welche die Verfasser des Lesebuches veranlassten, dasselbe in 2 Teilen erscheinen zu lassen, sprechen sie selbst sich folgendermassen aus:

„Dass wir uns nicht zur Abfassung eines ein bändigen Lesebuches entschliessen konnten, hatte einen äusseren und einen inneren Grund. Zunächst einen äusseren, Ein einbändiges Lesebuch würde sich in den Händen unserer Kinder etwa vier bis sechs Jahre befinden. Ganz abgesehen von der Unhandlichkeit eines solchen, nament- lich für die unbeholfenen Kinder der unteren Stufen, würde dasselbe schon in den unteren Stufen so abgenutzt werden und wie rasch geschieht das oft schon bei wenig umfangreichen Büchern! —, dass es kaum bis in die oberen Stufen sein Dasein fristen und den Eltern vermehrte Kosten wiederholter Neuanschaffungen auferlegen würde. Diejenigen Kinder aber, die wegen ihrer grösseren Unfähigkeit nie in eine der oberen Stufen gelangen, würden in den für diese Stufen berechneten Lesestücken nur einen unnützen Ballast mit sich herumtragen, wovon sie keinen Nutzen hätten. Wiederum gewährt es jedem Kinde, das in die oberen Stufen aufrückt, die innere Genugthuung, in dem neuen Lesebuche, das es da empfängt, auch ein Äusseres Zeichen seines Fortschrities erblicken zu können. Der innere Grund für die Zweiteilung nnseres Lesebuches lag in unserem Lehrplane.. Während für die unteren Stufen der Anschauungsunterricht den Mitte- und Anknüpfungspuukt für alle übrigen Unterrichtsgegenstände, seien sie nun religiöser und sittlicher oder realistischer Art, bildet, treten dieselben auf den oberen Stufen mehr selbständig neben einander und bedingen dadurch auch eine andere Gruppierung der Lesestücke, die zu ihnen in Be- ziehung stehen. Bei einem einbändigen Lesebuche würde das die übersichtliche An- ordnung der stofflich wie sprachlich so verschiedenen Lesestücke erheblich erschweren oder geradezu zu einer Scheidung derselben in zwei Abteilungen nötigen, die einer vorteilhafteren zweiteiligen Herausgabe des Lesebuches gleichkäme. Wollte man aber für ein einbändiges Lesebuch den auch von uns anerkannten Grundsatz ins Feld führen, dass es wünschenswert sei, ein Kind durch mehrjährigen Gebrauch desselben Lese- buches in ihm recht heimisch werden zu lassen, so trifft das bei uns auch mit dem zweibändigen zu, da die Kinder jeden Teil mindestens drei Jahre im Gebrauche haben.“

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Da wie überall auch das Lesebuch in der Schule für Schwachsinnige, in erster Linie die Förderung der mechanischen Lesefertigkeitins Auge zu fassen, sodann aber den Unterricht zu unterstützen hat, so galt es, für das „Lose: buch für Hilfsschulen“ Lesestücke auszuwählen, welche einerseits eine unseren Kindern leichtverständliche Sprache reden, und andererseits geeignet sind, den dargebotenen Unterricht zu befestigen und zu vertiefen. Die Stoffgebiete aber, auf welche bei der Auswahl hanptsächlich Rücksicht genommen werden musste, war das sittlich- religiöse und das realistische „Bei der bedauerlichen Schwäche an sittlicher _ Einsicht und religiösem Empfinden schwachsinniger Kinder,“ so sagen die Heraus- geber, „erschien es notwendig, eine genügende Zahl von Lesestücken aufzunehmen, die ihnen gute Sitte und löbliches Verhalten gegen jedermann, Sinn für Recht und Wahr- heit, Teilnahme an Wohl und Wehe der Mitmenschen und allen lebenden Wesen, eine gesunde christliche Moral und eiue reine, würdige Gottesverehrung vor Augen stellen und dadurch einen fördernden Einfluss auf ihr Denken und Urteilen, ihre Gesinnungs- und Handlungsweise auszuüben versprechen. Und da unsere Kinder infolge ihrer geistigen Schwäche für feinere Gemütsregungen und tiefer liegende Be- weggründe menschlichen Handelns wenig Verständnis besitzen, auch in verwickelten Verhältnissen sich schwer zurecht zu finden wissen, so galt es, solche Stücke auszu- wählen, die zu ihrem Verständnisse eine weniger tiefe Erfahrung verlangen und ihren Inhalt den nächstliegenden Verhältnissen des menschlichen Lebens entnehmen. Die geeigneten Stoffe hierzu suchten wir in dem reichen Schatze der Erzählungen, die das menschliche Leben in seinen verschiedenen Beziehungen zum Ausdrucke bringen, in Fabeln, die solche Beziehungen in versinnlichendem Bilde vorführen, in Gedichten, die sich unmittelbar an Gemüt and Phantasie wenden, und nicht weniger in gebräuchlichen Sprichwörtern, die auch unseren Kindern zu Ohren kommen und nebst „guten Sprüchen, weisen Lehren“ ihnen für das spätere Leben als Regel und Richtschnur für Handel und Wandel dienen können.

Bei den realistischen Stoffen handelte es sich um Lesestticke, die sich in den unteren Stufen unserer Schule an den Anschauungsanterricht, die Heimat- und Natar- kunde, in den oberen Stufen (ausser der Naturkunde) an Geographie und Geschichte anschliessen, wobei selbstverständlich nicht alle im einzelnen behandelten Stoffe, sondern nur die wichtigeren berücksichtigt werden konnten. Dass dies auf den unteren Stufen in kleinen Beschreibungen und Schilderungen geschah, die in schlichten Sätzen das Behandelte zusammenfassten oder in andere Beleuchtung rückten, um den Kindern durch das Lesen des Gehörten den gewonnenen Eindruck zu verstärken und fester einzuprägen, wird niemand für verwerflich halten, der die Geistesverfassung solcher Kinder aus Erfahrung kennt. Weiterhin aber kam es darauf an, die erarbeiteten Vorstellungen durch eine ansprechende Form der Darstellung auch auf Phantasie und Gemüt der Kinder wirksam zu machen, sowie die Verwendbarkeit in sprachlicher Hin- sicht mit in Rechnung zu ziehen. Wir suchten solche Lesestücke zu finden, die Sinn und Herz unserer Kinder für die Schönheiten der sie umgebenden Natur, ihrer Erzeug- nisse und Erscheinungen öffnen und zu liebevoller Naturbetrachtung anleiten, die ihre Aufmerksamkeit auf charakteristische vaterländische Gegenden und ihre Bewohner lenken und die Liebe zum heimatlichen Boden und zum Vaterlande stärken, die sie

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in vergangene Zeiten unseres sächsischen und deutschen Landes zurückführen, für ruhmvolle Thaten begeistern und mit Hochachtung vor hervorragenden geschichtlichen Personen erfüllen. Diesem Zwecke dienen nicht bloss Lesestücke in Prosa, sondern auch Gedichte, in denen ein reiner Sinn für Natur, Menschenleben und Vaterland zu edlem Ausdrucke kommt. Auch eine Anzahl von Volksliedern, die anderen Ge- dichten an Charakter und Wert kaum nachstehen, sind mit aufgenommen worden, wenngleich sie in allen Liederbüchern stehen, und ebensowenig ist einer Anzahl Märchen der Eintritt verwehrt worden, die, gleich den Volksliedern, das deutsche Gemütsleben unverfälscht widerspiegeln und durch Anregung der Phantasie auf die Kinder wie ein Zuckerbrot wirken.“

Erklärlicherweise mussten manche vorhandene Stücke neubearbeitet werden. Ebenso waren an einigen Gedichten Veränderungen vorzunehmen, doch wurde bei allen Ande- rungen, um Wesen und Wert eines Stückes nicht zu beeinträchtigen, möglichst schonend verfahren.

Die Ordnung der Lesestücke im ersten Teile richtet sich nach dem Lehrplane der Leipziger Hilfsschule, nach welchem der Anschauungsunterricht im Mittel- punkte des Sachunterrichts steht und dem Jahreslaufe nachgeht. Auf solche Weise entstanden die Abschnitte I. im Frühling, II. im Sommer, III. im Herbste, IV. im Winter.

„In den beiden oberen Stufen gehen die einzelnen Lehrfächer mehr selbständig neben einander her, und wie hier der Mensch in seinen Beziehungen zu anderen und zu Gott, zu Natur, Heimat und Vaterland mehr in den Mittelpunkt des Unterrichtes tritt, so sind auch in dem für jene Stufen bestimmten zweiten Teile des Lesebuches die ausgewählten Stücke in vier Gruppen gegliedert worden: I. Erzählungen aus dem Leben der Menschen; II. Bilder aus der Natur; III. Bilder aus dem Vaterlande und IV. Erzählungen aus der vaterländischen Geschichte. Die erste Gruppe fand ihre Ordnung nach den verschiedenen Beziehungen des Menschen, die zweite nach den Jahreszeiten, die dritte nach dem Fortschritte vom Nahen zum Fernen und die letzte nach der Zeitfolge, wobei die Erzählungen aus der sächsischen Geschichte denen der deutschen eingereiht wurden.‘

Da das ,Lesebnch für Hilfsschulen* in Leipzig entstanden und zunächst für Leipzig bestimmt ist, so darf man sich nicht wundern, dass in seinem 2. Teile einige Stücke auf rein örtliche und sächsische Verhältnisse sich beziehen. So natürlich solches erscheinen muss, so leicht lässt sich das Buch durch einen Anhang für andere Länder in gleicher Weise einführbar herstellen. Und dass das „Lesebuch für Hilfs- schulen“ in allen Hilfsschulen des Deutschen Reiches eingeführt werden möchte, ist aus verschiedenen Gründen in hohem Grade wünschenswert.

Mitteilungen.

Dalidorf. (Idiotenanstalt.) Als durchschnittlicher Bestand für das Jahr 1898/99 waren 220 Zöglinge (140 Knaben, 80 Mädchen) angenommen, es wurde jedoch diese Höhe nicht ganz erreicht; der Durchschnitt schwankte zwischen 198 bis 204. Dem- ungeachtet und zwar darum, weil nur bildungsfähige Zöglinge Aufnahme fanden, stieg

142 die Frequenz in den einzelnen Klassen derart, dass eine Vermehrung des Lehrpersonals nötig wird. Um die 3. Klasse mit einem Bestande von 35 Schülern teilen zu können, mussten die beiden zweiten Klassen mit zusammen $0 Schülern zu einer Klasse kombiniert werden. Auch der Lehrplan hat in diesem Jahre wesentliche Veränderungen erfahren. Ausser den Kursen für an Sprachgebrechen (Stotiern, Stammeln) leidende Zöglinge in den 5. Klassen ist besonderer Wert auf die sprach- liche Ausvildung der Zöglinge gelegt worden. Der Gesamtunterricht wurde in sechs aufsteigenden Stufen oder zwölf Klassen in denselben Fächern wie bisher erteilt. Konfirmandenunterricht erhielten von Pastor Werkshagen 17 Zöglinge (14 Knaben, 3 Mädchen), von denen 12 Zöglinge (9 Knaben, 3 Mädchen) im März 1899 konfirmiert werden konnten. An der Anstalt wirkten ausser dem Erziehungs- inspektor 4 Lehrer, 3 wissenschaftliche Lehrerinnen, 1 technische Lehrerin. Das Warte- und Dienstpersonal bestand aus 1 Oberwarter, 7 Wärtern, 14 Wärterinnen, 1 Hausdiener, 1 Heizer, 1 Näherin und 1 Arbeitsfrau. Das Leben und Treiben in den Werkstätten war rege und munter; wie in der Schule, so herrschte auch hier Ordnung und Fleiss und der Verkehr zwischen Lehrenden und Lernenden war freundlich und liebevoll. Die Wahl der Beschäftigung für die einzelnen Zöglinge wurde von dem Krziehungsinspektor getroffen und die Erfolge sind mit wenigen Aus- nahmen recht erfreulich gewesen.

Leschnitz, O.-Schl. (Verein für Erziehung u. Unterricht Geistesschwacher.) Nach dem Berichte für das Vereinsjabr 1899/00 befanden sich am Schlusse des Jahres in der Erziehungsanstalt 172 Zöglinge (110 Knaben und 62 Mädchen) und iu der Pflege- anstalt 45 Pfleglinge und zwar 27 Männer und 18 Frauen. Der Lehrkörper besteht aus 6 Personen, unterrichtet werden 137 Kinder. Das wichtigste Ereignis des letzten Jahres war der Bau eines eigenen Knabenhauses. Den Plan zu demselben bearbeitete der Königliche Baurat Blümner in Breslau. Entgegen den anderen Gebäuden ist das neue Haus zweistickig. Es besteht aus zwei Flügeln, einem Mittelgebäude und zwei Treppenhäusern. Die Treppen sind so angelegt, dass jedes Stockwerk für sich ein Ganzes bildet und die Zöglinge des einen Stockwerkes mit denen der andern Stock- werke nicht zusammen kommen können. Von der Anlegung grosser Schlafräume ist wegen der mit solchen verbundenen Unbequemlichkeiten und Gefahren Abstaud ge- nommen worden, dagegen hat eine Trennung der Wohn- und Unterrichtsräume nicht durchgeführt werden können. Der Gesundheitszustand war im verflossenen Jahıe im allgemeinen ein günstiger. An Tuberkulose starben 7 Zöglinge. Die mit Epilepsie behafteten Zöglinge wurden wie früher mit Bromkali behandelt.

Niederösterreich. (Staatliche Fürsorge.) Aus dem Berichte des niederöster- reichischen Landesausschusses über seine Wirksamkeit vom 1. Juli 1898 bis 30. Juni 1899 ist zu entnehmen, dass die Zahl der vom Lande Niederösterreich verpflegten schwachsinnigen Kinder am 30. Juni 1899 auf 371 gestiegen war. Davon befanden sich 179 Kinder (74 Knaben und 105 Mädchen) in der Landesanstalt zu Kierling- Gugging, 91 (60 Knaben und 31 Mädchen) im Pius-Institut zu Bruck a, d. Mur, 32 (25 Knaben und 7 Mädchen) in der Stephanie-Stiftung zu Biedermannsdorf und 69 Knaben in der Idiotenabteilung im allgem. Öffentl. Krankenhause der Stadt Mödling.

In der Berichtsperiode hat eine Vermehrung der zur Unterbringung schwach-

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sinniger Kinder verfügbaren Plätze durch Erhöhung der Zahl der Landeszöglinge im Pius-Institute zu Bruck a. d. Mur von 82 auf 90, durch Vermehrung der Landes- freiplätze im Asyle der Stephanie-Stiftung in Biedermannsdorf von 17 auf 30 und durch Errichtung der Idiotenabteilung im allgemeinen Öffentlichen Krankenhause in Mödling mit 70 Plätzen stattgefunden, wogegen die in der niederösterreichischen Landes-Irrenanstalt Kierling-Gugging provisorisch eingerichtete Idiotenabteilung mit 50 Plätzen zur Auflassung gelangte, so dass im ganzen in der Berichtsperiode 41 neue Plätze zur Unterbringung schwachsinniger Kinder geschaffen wurden. Leider sind die verfügbaren Einrichtungen zur Pflege und Erziehung schwachsinniger Kinder auch jetzt noch vollständig unzureichend, und häuft sich die Zahl der Bewerbungen um Aufnahme, welchen wegen Platzmangels keine Berücksichtigung geschenkt werden kann. Durch Heranziehung mehrerer Parteien zu höheren Verpflegskosten - Teil- zahlungen ist es möglich geworden, ohne weitergehende Inanspruchnahme der Landes- mittel vorübergehend im Pius-Institute Bruck a. d. Mur und im Asyle der Stephanie- Stiftung in Biedermannsdorf drei Kinder überzählig unterzubringen, doch erweist sich die Notwendigkeit nach Schaffung neuer ausreichender Anstalten für schwachsinnige Kinder immer dringender.

Die Einteilung der verfügbaren Plätze ist in der Weise erfolgt, dass in der niederösterreichischen Landespflege- und Beschäftigungsanstalt für schwachsinnige Kinder in Kierling-Gugging alle neu eintretenden schwachsinnigen Kinder zum Zwecke der ersten Erziehung und der Erprobung ihrer Bildungsfähigkeit untergebracht werden. Bildungsfähige Kinder gelangen als Landeszöglinge in das Pius- Institut Bruck a. d. Mur, im erhöhten Masse bildungsfähige in das Asyl der Stephanie-Stiftung Biedermannsdorf, während die Idiotenabteilung des allgemeinen Öffentlichen Krankenhauses in Mödling lediglich zur Verpflegung voll- ständig bildungsunfähiger älterer Idiotenknaben dient,

Die Zersplittterung der Mittel des Landes auf Berichtigung der Verpflegskosten an private Anstalten und das stetige Wachsen des Bedarfes nach Plätzen für schwach- sinnige Kinder haben den niederösterreichischen I,andesausschuss bereits veranlasst, sich mit der Frage der eventuellen Errichtung einer grösseren Landesanstalt, welche sowohl für den Unterricht als auch für die Pflege einzurichten sein wird, zu befassen und behält sich der niederösterreichische Landesausschuss bezügliche Anträge bis zum Abschlusses der im Zuge befindlichen Vorstudien vor. Die wirtschaftliche Bedeutung einer geregelten und rechtzeitig einsetzenden Idiotenpflege ist nicht zu unterschätzen. Schwachsinnige Kinder, welche schon in den ersten Jugendjahren eine fachgemässe Erziehung und Heranbildung erfahren, können für die Folge zu nutz- bringender Beschäftigung herangezogen werden.

Da erfahrungsgemäss bei der überwiegenden Mehrzahl der schwachsinnigen Kinder die Erlangung der vollständigen Erwerbsfähigkeit als ausgeschlossen betrachtet werden muss, ist das Ziel, welches sich die Idiotenerziehung zu stellen hat, die Erreichung der Verwendbarkeit herangewachsener Idioten zu nutzbringender Beschäftigung in den Anstalten für Geistessieche, beziehungsweise in den an die Irrenanstalten anzugliedern- den Kolonien und in der Familienpfloege..e Während ein nicht erzogener Idiot in späteren Lebensjahren ohne zu irgend einer Leistung befähigt zu sein, aus öffentlichen

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Mitteln verpflegt werden muss, vermag eine geregelte Idiotenerziehung brauchbare Hilfskräfte für den landwirtschaftlichen Betrieb der Irren- und Siechenanstalten heran- zuziehen, wodurch zweifellus eine Entlastung der öffentlichen Mittel herbeigeführt wird

Die Erfolge, welche in dieser Richtung schon in der Zeit des kurzen Bestandes der niederösterreichischen Landespflege- und Beschäftigungsanstalt für schwachsinnige Kinder in Kierling-Gugging erzielt wurden, sind vielversprechend, und beherbergt die neugegrindete Landeskolonie Haschhof schon einige, zum landwirtschaftlichen Betriebe recht verwendbare, aus der vorerwähnten Kinderanstalt hervorgegangene Kräfte des Pfleglingsstandes.

Litteratur.

Die Pädagogische Pathologie oder die Lehre von den Fehlern der Kinder. Versuch einer Grundlegung für gebildete Eltern, Studierende der Pädagogik, Tiebrer, sowie für Schulbehörden und Kinderärzte von Ludwig Strümpell, Professor an der Universität zu Leipzig. 3. Auflage. Herausgegeben von Dr. Alfred Spitzner. Leipzig, 1899. E. Ungleich. Preis: brosch. 8 Mk., geb. 9,25 Mk.

Das bahnbrechende Buch des vor kurzem verstorberen Verfassers erschien 1890 in erster und 1892 in zweiter Auflage, und heute liegt es in 8. Auflage vor ums. Diese ist bearbeitet von Dr. A. Spitzner, einem Schüler Strüämpells, und diesem Umstande ist es zuzuschreiben, dass die theoretischen und praktischen Grundsätze des Buches wohl dieselben geblieben sind, der Text aber eine neue Verteilung und Anord- nung gefunden hat. Der gesamte Stoff ist in drei Teilen gruppiert, von denen der 1. Teil alle grundlegende Kapitel, der 2. Teil das Material der pädagogischen Psychiatrie und der 8. Teil die praktischen, d. h. die methodelogischen, insbesondere die diagnostischen Fragen behandelt. Verschiedene Kapitel des Werkes haben in.der neuen Bearbeitung eine wesentliche Erweiterung erfahren, so z. B. das- jenige über die Sprachstörungen, welchem Dr. Spitzner eine interessante Untersuchung des Versprechens, Verlesens und Verschreibens den Kindern angefügt hat Vollständig neue sind die Kapitel über die erworbenen Psyohopathien (12), über die psychogenen Störungen (14) und die Schlussbemerkungen, in denen über den Stand der einschlagenden Bestrebungen berichtet wird. Wie die früheren Aus- gaben, so empfehlen wir nunmehr die vorliegende Bearbeitung des verdienstvollen -Werkes aufs angalegentlichste. 8.

Inhalt: Der Knaben-Handunterricht bei geistesschwachen Kindern. (F. Frenzel). ‘Der gegenwärtige Stand der Lombrososchen Lehre vom anthropologischen Typus des geberenen Verbrechers (0. Berkhan). Ein Lehrbuch für Schwachsinnige. Mitteilungen: Dalldorf, Leschnitz, Niederösterreich. Litteratur: Die Pädagogische Pathologie.

Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden, Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hufbuchhandlung in Dresden, | Druck von Johannes Pässler in Dreeden.

4 44485 AT ar FT LH.

PUBLIC LIBR: Nr. 9. u. 10. XVI. (II) Jahre.

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fir die

Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer

Organ der Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Arzten und Pädagogen heransgegeben von Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth,

Spezialarzt Dresden - Strehlen, für Nervenkrankheiten Residenzstrasse 27 Stuttgart. Erscheint jäbrlich in 12 Nummern von | Zu beziehen durch alle Buchhandlungen mindestens einem Bogen. Anzeigen für | Oktober 1900. and Postäniter, wie auch direkt von der

die gespaltene Petitzelle 25 Pfg. Litte- chriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, rarische Bellagen 6 Mark. einzelne Nummer 50 Pfg.

Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber.

Das Gefühlsleben der Geistesschwachen. (Ein Beitrag zur pädagogischen Pathopsychologie.) Von Fr. Frenzel, Leiter der städtischen Hilfsschule zu Stolp i Pommern

Ein für alle Formen der Geistesschwäche giltiger Begriff ist noch nicht gefasst. Die Abstufungen oder Grade der Geistesschwäche sind so unendlich viele, dass auch sämtliche Klassifizierungsversuche einen Anspruch auf Voll- giltigkeit bisher nicht erheben können Der oft citierte Ausspruch: „Es giebt keine Idiotie, sondern nur Idioten“, besitzt noch immer seine volle Berechtigung. Demnach wäre es das Richtige, das Gefühlsleben jedes einzelnen Individuums gesondert zu betrachten. Der menschliche Geist ist aber nicht im stande, eine grössere Anzahl von Einzelvorstellungen gleichzeitig fixieren zu können. Wir vergegenwärtigen uns im folgenden keinen bestimmten Typus von Geistes- sehwachen, sondern fassen den Geistesschwachen, ohne an einen besonderen Fall zu denken, im allgemeinen ins Auge.

Es erscheint einleuchtend, dass die angeborene Geistesschwäche sich nicht schon in den ersten Lebenstagen äussern kann; ihre Anzeichen werden erst dann hervortreten, wenn die Sinnenwelt dem Kinde eine Zeit lang gegen- über gestanden haben wird. Ein Kind, dessen Blick immer nach oben gerichtet ist, dem ein unheimliches Zucken in den Gesichtsmuskeln spielt, das viel un- unterbrochen und unmotiviert schreit, die Flasche nicht wieder an den Mund zu führen vermag oder die Brust nicht zu finden weiss, ist des angebornen Schwachsinns verdächtig. Ein solches Kind bleibt gewöhnlich lange unreinlich, weit über die übliche Zeit hinaus stumm und lernt spät stehen und geben. Die Scherze der Mutter, welche beim Kinde das erste Lächeln hervorrufen, lassen den kleinen Geistesschwachen in der Regel unberührt, auch Lieb-

er,

kosungen werden von ihm nur selten erwidert. Das fällt durch seine sonder- bare Fremdartigkeit dem Beobachter sofort auf.

Beim gesunden Kinde entwickelt sich alles in normaler Weise, beim geistesschwachen dagegen erfolgt die Gesamtentwicklung mehr oder weniger von der Norm abweichend, obwohl die Fundamentalprinzipien im grossen und ganzen in beiden Naturen doch dieselben sind. Der Seeleninhalt des Geistesschwachen besteht auch aus drei verschiedenen Arten von Geisteszuständen, aus Vor- stellungen, Gefühlen und Strebungen Ihre Zahl allerdings wird bei ihm stets gering, ihre Form meistens unbestimmt und ihr Inhalt oft nicht richtig sein.

Die Grundlage aller seelischen Erregung ist das Gefühl. Zunächst äussern sich die sinnlichen Gefühle der Lust und der Unlust. Diese sind teils mit den Sinnesorganen, teils mit den organischen Verrichtungen verknüpft und in verschiedenen Teilen des Körpers lokalisiert. Sie entsprechen eben so vielen Zu- und Abneigungen, eben so vielem Verlangen und Abscheuen; Lust- und Unlustempfindungen sind nur bewusste Erscheinungen, welche angeborene Neigungen und Bedürfnisse offenbaren. Sie bilden das, was man die Elemente des Gemütslebens nennen könnte, wie die besonderen, vereinzelt aufeinander folgenden Wahrnehmungen die Elemente des intellektuellen Lebens sind.

Die Lustgefühle sind in den ersten Wochen des kindlichen Lebens ent- schieden die selteneren, sie entstehen weit häufiger durch die Entfernung von Unlustzuständen, als durch die Herbeiführung von Lustzuständen. Lustzustände (Gefühle des Behagens) können anfänglich durch Sättigung, durch Trocken- legung, durch ein laues Bad und später durch Aufnehmen aus der Wiege, durch Herumtragen, durch Hinaustragen ins Freie, durch Herumfahren, durch Vorführen beweglicher, bunter Gegenstände, durch Singen, durch freundlichen Zuspruch etc. herbeigeführt werden Die Lustgefühle sind an den offenen und glänzenden Augen, dem zufriedenen Gesichtsausdrucke, den hohen Krählauten und den lebhaften Bewegungen der Arme und Beine zu erkennen; sie werden in der Regel vom zweiten Halbjahre ab von einem deutlichen Lachen begleitet.

Bei einem von Geburt an mit Geistesschwäche behafteten Kinde rufen die - vorhin bezeichneten Umstände wohl auch Gefühle des Behagens hervor, aber dieselben werden bei ihm meist unbestimmt und unvollkommen zur Äusserung kommen. Der Gehirndefekt beeinflusst seine Gesamtentwicklung nachteilig; alle physiologischen und psychologischen Prozesse können nur langsam und träge von statten gehen. Die Seele erfährt oft nicht die gehörige Anregung und vermag deshalb nicht klar zu empfinden. Es entsteht mithin ein Mangel an einzelnen Erinnerungsbildern und associativen Verknüpfungen. Darin zeigt sich hauptsächlich die Geistesschwäche.

Dem gesamten Organismus des Geistesschwachen geht viel an Sensibilität ab. Infolge dieses Mangels funktionieren auch die somatischen Organe der Perzeption mangelhaft; daher machen sich Schwäche, Verspätung oder Ausfall der Reaktion auf viele, ja auf fast alle Sinnesreize bemerkbar. Es kann mithin bei ihm eine Empfindung körperlichen Wohl- oder Missbehagens nur unvollkommen zu stande kommen. Der Geistesschwache wird also bereits in der frühen Kind-

heit dem vollsinnigen Kinde gegenüber gewissermassen gefühllos erscheinen. Dieses beweist auch der Umstand, dass sich viele Geistesschwachen, allerdings auch noch in einem späteren Alter, zerkratzen, verletzen oder verstümmeln, ohne die geringste Schmerzempfindung zu zeigen. Im allgemeinen aber sind ihnen einige schwache Organgefühle durchaus nicht abzusprechen.

Nach der Art des klinischen Verhaltens unterscheidet man eine aktive (lebhafte) und eine passive (träge) Form der Geistesschwäche. Die Grundzüge des aktiven Typus sind Unruhe und Unbeständigkeit in Haltung und Bewegung, springender und abschweifender Gedankenlauf, leichter Wechsel der Gefühle, ganz geringe Widerstandskraft gegen neue Eindrücke und vollständiger Mangel eines konsequenten sittlichen Wollens. Die passive Form zeichnet sich aus durch Unempfänglichkeit, Trägheit und Unbeweglichkeit der Vorstellungsmassen, des Körpers und der Gebärden, Gefühlsstumpfheit, Unempfindlichkeit gegen äussere Eindrücke, einseitiges, energieloses und schwerfälliges Handeln. (Dr. Gündel.)

Je nach der Natur des Geistesschwachen werden sich die sinnlichen Ge- fühle mehr oder minder deutlich äussern. Bei dem trägen Typus schlagen sinnliche Eindrücke in die entsprechenden notorischen Impulse oft nicht einmal nach dem Modus der Reflexaktion um. Erst bei vorgeschrittenem Alter stellt sich allmählich ein gewisser Grad von Empfindlichkeit ein, die Organgefühle werden langsam auch stärker, so dass das Individuum nach und nach Gefühle des Wohl- und Missbehagens zu unterscheiden und zu empfinden vermag, jedoch niemals in der gewöhnlichen Stärke und Deutlichkeit des vollsinnigen Kindes.

Der agile Geistesschwache zeichnet sich im Gegensatze zu dem torpiden durch grosse Empfindlichkeit und durch häufigen Wechsel der Stimmungen schon im Kindesalter aus. Bei ihm scheinen zuweilen Gemütsbewegungen durch nichts motiviert, infolge unerklärlicher Änderungen in den Zuständen des Gehirn- oder Nervensystems, unmittelbar zu entstehen. Er fängt manchmal an plötzlich zu lachen oder zu weinen, häufiger noch Schreilaute auszustossen, während sein Gesicht ein kongestioniertes Aussehen bekommt. Ohne dass man irgend welche Ursachen wahrzunehmen vermag, vergeht diese Stimmung wieder von selbst eben so schnell, wie sie kam; das Kind versinkt danach wieder in seinen vorigen Zustand. So eigenartig und sonderbar die Physiognomie dabei wechselt, ist doch eine Schilderung derselben unmöglich, der Wechsel vollzieht sich zu unbestimmt und rätselhaft.

Häufiger Wechsel der Stinnmungen ist bei lebhaften Geistesschwachen dauernd zu finden, ebenso grosse Empfindlichkeit, besonders gegen schmerzhafte Einwirkungen. Manche Individuen scheinen den Schmerz lebhafter zu empfinden, als seine Wirkung sich gewöhnlich zu äussern pflegt. (Hyperalgesie.) Viele vermögen sehr gut zu behalten, welcher Umstand oder welche Person ihnen wehe gethan hat So lief ein Kind, dem der Arzt einen Zahn gezogen hatte, wenn es ihn nur sah, in Erinnerung seines gehabten Schmerzes schleunigst davon. Dieses that es auch dann, wenn es irgend einen Herrn sah, der nach seiner Meinung ein Arzt sein könnte. Schon das blosse Wort „Doktor“ ver- mochte ihm einen gewaltigen Schreck einzujagen. Ein anderes Kind hatte

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einen Bienenstich erlitten Nach dem Vorfall fürchtete und mied es jedes Insekt, das fliegen konnte. Es war jahrelang nicht zu bewegen, eine Fliege oder einen unschädlichen Käfer auch nur zu berühren, geschweige denn in die Hand zu nehmen. - Die Furcht, welche in beiden Fällen deutlich sich zeigt, hängt sicherlich mit den empfundenen Eindrücken der Unlust (des Schmerzes) zusammen. Wer die Erfahrung des Übels gemacht hat, der fürchtet sich vor seiner Annäherung und seiner Wiederkehr. Ein gebranntes Kind scheut das Feuer!

Man hat beobachtet, dass manche Geistesschwachen in gewissen Fällen der Gefahr, selbst wo diese ganz oberflächlich lag, sich nicht einmal rührten und bei Drohungen ein ruhig lächelndes Gesicht zeigten. Bei diesen scheint die Erinnerung an früher empfundenes Übel bald entschwunden zu sein. Auch besitzen viele Individuen nicht einmal die natürliche, spontane Furcht, welche auf dem Einflusse der Erblichkeit und dem Gefühl der Schwäche beruht.

Den Lustgefühlen steht eine noch grössere Zahl von Unlustgefühlen gegenüber; ihre Ursachen haben sie in Hunger, Kälte, Nassliegen, zu festem Einbinden, in verschiedenen mechanischen Einwirkungen (Stoss, Schlag, Druck) und in zu unvermittelt und zu heftig auftretenden Sinnesreizen. Die wichtigste Äusserungsform dieser Gefühle ist das Weinen und Schreien. Als weitere regelmässige Zeichen der Unlust gelten: Das Zukneifen der Augen, das Ab. ‘wenden des Kopfes, das plötzliche Zusammenfahren und Zittern des Körpers das Herabziehen der Mundwinkel und das Runzeln der Stirn.

Der Geistesschwache wird in den Zustand des Missbehagens durch die gleichen Umstände versetzt, allein ihre Wirkungen werden bei ihm häufig undeutlich und unbestimmt, oft auch von keinem Erfolg sein. Die beiden Typen der Geistesschwachen verhalten sich hierbei auch verschiedentlich Während bei dem trägen Schwachsinnigen oft nicht einmal die Reflexwirkung zur Gel- tung kommt, er selten weder weint noch schreit, zeigt sich der lebhafte mehr empfindsam. Je nach der Art der einwirkenden Ursachen erscheint sein Aus- sehen ängstlich oder widerstrebend; seine Bewegungen äussern sich lebhaft, oft bizarr, und seine Stimme klingt unartikuliert und wild Oft aber zeigt er auch solche Äusserungen, ohne dass man einen Grund dafür zu finden wüsste. Wahr- scheinlich sind diese Erscheinungen nicht mit Sinnesreizen in Verbindung zu bringen, sondern gehen mit den Störungen der Zirkulation im Gehirn einher.

Die sinnlichen Gefühle sind bei dem Geistesschwachen schon vielfach ein- föormig und abnorm, dieser Umstand kann deshalb eine günstige Entwicklung seines Gefühlslebens überhaupt nicht gestatten.

Aus den sinnlichen Gefühlen der Lust und der Unlust entwiokeln sich nach und nach die höheren Gefühle, ästhetische, sittliche, religiöse, intellek- tuelle und sympathische. Man darf den Geistesschwachen trotz des obwalten- den Missverhältnisses und der Beschränktheit der sinnlichen Gefühle, die in erster Linie zur Befruchtung des Gemüts notwendig erscheinen, doch nicht als aller höheren Gefühle bar bezeichnen, es wird sich bei ihm meist nur um einen Mangel an „Intensität und Extensität“ des Gefühlslebens handeln.

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Die Quellen des geistigen Lebens sind dem Schwachsinnigen zu einem grossen Teile verstopft. Wa diese aber fehlen oder nach Form und Inhalt mangelhaft sich erweisen, können auch die höheren Gefühle, welche in inniger Wechselbeziehung zum Denken und Wollen stehen, von diesen abhängig sind, durch sie geläutert werden, sie aber auch wiederum anregen, sich nicht in dem gewöhnlichen Masse einstellen. Mit der mangelhaften Denkentwicklung des geistesschwachen Kindes muss also eine mangelhafte Gefühlsentwicklung als naturgemässe Folge unbedingt eintreten

Die Dinge der Aussenwelt berühren das vollsinnige Kind angenehm und unangenehm, in ähnlicher Weise wirken sie auch auf das geistesschwache ein und erzeugen hier wie dort Empfindungen und Gefühle. Ihre Zahl, ihre Form und ihr Inhalt aber werden bei dem letzteren beschränkter als bei dem ersteren sein-

Der Geistesschwache ist im allgemeinen für Schönheit, Glanz und äusseren Schmuck sehr eingenommen und freut sich dessen, was ihm prächtig erscheint. Wie eigenartig erstrahlt z. B. sein Auge unter dem Zauber des schön geschmückten, brennenden Weibnachtsbaumes, und wie freudig bewegt wird er davon! Er schmückt sich selbst gerne und verwendet dazu auch unansehnliche ganz wertlose Dinge, wenn sie nur recht bunt sind und gehörig in die Augen fallen. Das Schöne wirkt auf ihn unmittelbar und unwillkürlich; er gelangt also auch ohne Belehrung zu ästhetischen Gefühlen. Das ästhetische Gefühl aber wird im Umgange durch gelegentliche Urteile über Schönes und Häss- liches, durch die Belehrung über Reinlichkeit, Ordnung, Anstand und gute Sitte und durch die Ermahnung, das Schöne im Hause und draussen zu schonen, wesentlich gefördert Dem Geistesschwachen ist damit im allgemeinen wenig beizukommen, daher wird seine Fähigkeit, ästhetisch zu fühlen und zu urteilen verhältnismässig beschränkt und gering bleiben.

Was dem Geistesschwachen als schön erscheint, bezeichnet er sehr oft auch als gut; schön und gut fasst er häufig als identisch auf und gebraucht auch beide Wörter in diesem Sinne.

Wie bei dem Geistesschwachen die Grundidee des Schönen und Hässlichen vorhanden ist, so regt sich in ihm auch ein leises Gefühl für gut und böse, für recht und unrecht, obwohl ihm manches, was damit innig zusammen- hängt, wie z. B. ein takt- und rücksichtsvolles Benehmen vielfach vollständig abgeht. Er zeigt sich in hohem Grade egoistisch, fröhnt seinen Trieben und Begierden rücksichtslos und bekundet häufig gar kein Schamgefühl. Er ist eben der Einsicht, dass dieses gut und recht, jenes dagegen böse und unrecht ist, nicht oder nur wenig fähig Das ihm zugefügte Unrecht empört ihn, die ihm erwiesene Wohlthat erfreut ihn zwar, aber zu einer Billigung oder Miss- billigung der Handlung kommt er selten Es erwacht ın ihm gewöhnlich nur Zuneigung oder Abneigung gegen die Person, welche ihm das Angenehme oder Üble zugefügt hat. Daher richten sich seine Liebesbezeugungen oft nach der Menge der für ihn bestimmten Gaben oder Näschereien; erhält er viel, so zeigt er sich sehr liebevoll und zärtlich, fällt aber die Gabe gering aus, so ist er sehr zurückhaltend und sagt mitunter dem Geber allerlei Grobheiten an den

150 Kopf. Er bringt auch nur so lange lebhafte Gefühle für die Wohlthäter zum Ausdrucke, als sie diese hören und sehen. Häufig kann man beobachten, dass die Ausserungen der Liebe zu den Eltern einer stumpfen Gleichgiltigkeit Platz machen, sobald er der Nähe seiner Angehörigen entrückt ist. Die höheren Gefühle, z. B. Liebe, Vertrauen, Dankbarkeit, quellen nicht ursprünglich hervor und fehlen oft gänzlich.

Im allgemeinen scheint der Geistesschwache ein feines Gefühl dafür zu besitzen, ob jemand ihm zugethan und freundlich gesinnt ist oder die ent- gegengesetzte Gesinnung ihm gegenüber hegt; manchen Personen bringt er förmlich Hass entgegen, ohne einen Grund dafür angeben zu können. Es scheint hierbei nach Art und Weise mancher Tiere ein eigentümlicher Instinkt mitzuwirken. Er hasst und liebt also ohne irgend einen Grund.

Wie das Schöne und das Hässliche die Seele des Geistesschwachen un- mittelbar und unwillkürlich, wenn auch nur minimal zu erregen vermag, ebenso müsste das Gute und das Böse dieses auch vermögen Allein, um beides als solches erkennen zu können, ist Einsicht und Urteil erforderlich, welche Eigen- schaften leider dem Geistesschwachen fast gänzlich mangeln. Auch fehlt ihm nicht selten die richtige Einsicht in viele Lebensverhältnisse und in manche Handlungen, daher findet sein sittliches Gefühl weit geringere Anregung, noch weniger Gelegenheit zur aber Bethätigung, als das des Vollsinnigen.

Eine zweckmässige moralische Erziehung ist von grossem Einflusse auf die sittliche Entwicklung des Kindes, aber gerade die häusliche Erziehung des Geistesschwachen lässt gewöhnlich vieles zu wünschen übrig. Der wohlthätige Einfluss des Elternhauses erweist sich bei ihm wegen seiner abnormen geistigen Verfassung wenig erfolgreich. Oft ein Gegenstand der Verachtung und des Spottes anderer verläuft sein Leben trostlos, wobei die meisten edeln Triebe und Gefühle verkümmern. Von dem Spiele seiner vollsinnigen Mitbrüder wird er häufig ausgeschlossen, es mag ihn niemand wegen seiner Beschränktheit so recht leiden. Später sucht er aus inhaltsloser Angst selbst keinen gesellschaft- ichen Anschluss; er erscheint gleichsam als ein Isolierter in der menschlichen Gesellschaft.

Das sittliche Gefühl entwickelt sich bei dem vollsinnigen Kinde haupt- sächlich auf Grund des Vorbildes seiner nächsten Umgebung. Das Beispiel der Umgebung, das gute wie das böse, kann dem Geistesschwachen für sein sittliches Verhalten nur geringe Anhaltspunkte bieten, denn er versteht gewöhn- lich das Verhalten der Personen nicht, noch vermag er eine Handlung bezüglich ihres moralischen Wertes kaum richtig zu beurteilen. Dass aber sein geringes sittliches Gefühl durch schlechte Vorbilder bedeutend abgestumpft werden kann, liegt auf der Hand.

Was vollsinnige Kinder phantasiemässig an sittlichen Verhältnissen anschauen, entgeht dem Geistesschwachen vollständig. Seine Phantasie ist wohl auch thätig, bei manchem sogar in hohem Grade, aber schöpferische Kraft besitzt er fast gar nicht. Er ist oft nicht einmal fähig, eine einfache Geschichte zu erzählen, eine selbst grobe Zeichnung zu entwerfen.

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Der Geistesschwache wird nach alledem nur unvollkommen zu sittlichen Gefühlen gelangen und um ein bedeutendes dem Vollsinnigen in sittlicher Be- ziehung nachstehen.

Mit dem sittlichen Gefühle ist das religiöse nahe verwandt. Es ıst be- hauptet worden, dass der Geistesschwache keiner religiösen Erhebung fähig sei. Sollte dieses zutreffen, so wäre es um ihn sehr traurig bestellt! Der kleine Geistesschwache eignet sich allmählich die äusseren religiösen Gebräuche, das Händefalten, das Niederknieen, das Richten des Blickes gen Himmel und womöglich auch einige Textworte des Gebets von seinen Eltern oder Geschwistern an und verfährt bei der Ausübung in so inniger Weise, dass man glauben könnte, er ahme nicht nur äusserlich nach, sondern er thue das alles aus innerster Seele heraus und mit vollem Verständnis. So habe ich wiederholt beobachtet, wie schwachsinnige Kinder in einer Anstalt mit den Pflegeschwestern die Rosenkranzgebete scheinbar aus innigster Seele und mit grosser Andacht gerne beteten, ohne jedoch irgend etwas von der Sache zu verstehen. Einige Kinder vermochten die Gebete bald herzusagen, die Reproduktion erfolgte rein mechanisch nach der Regel der Reihenfolge und des Rhythmus. Die Kinder erhielten oft keine zweckmässige Beschäftigung, daher beteiligten sie sich, ihrem Thätigkeitstriebe folgend, an der Gebetsübung. Zunächst ist diese Übung weiter nichts, als nur ein Nachahmen, jedoch nach und nach wird auch in solchen Kindern eine höhere Idee aufdämmern und eine schwache Ahnung da- von entstehen, dass wir und alles, was um uns ist, einem Machtigeren das Leben verdanken und von ihm abhängig sind

Jedenfalls sind die Bedingungen, unter denen religiöse Gefühle entstehen, und die Umstände und Einzelfälle, aus denen sie hervorkeimen, auch für die Geistesschwachen vorhanden. Wir dürfen deshalb auch bei ihnen auf die An- fänge der verschiedenen religiösen Gefühle schliessen. Im Vergleich zu den Vollsinnigen jedoch entgeht ihnen vieles, was zur Belebung derselben beizutragen geeignet ist. Es wird manches bei ihnen doch weiter nichts als nur ein Nach- ahmen bleiben, ohne dass sie es jemals verstehen werden; ich will hierbei nur an die Feier des heiligen Anendmahles erinnern. Wir vermögen die Mysterien der heiligen Handlung kaum voll und ganz zu erfassen, wie sollten die Geistes- schwachen es thun können?! Religiöse Gefühle aber werden trotzdem in ihnen geweckt. Ihre Bedeutung jedoch, welche sie für die Sittlichkeit der Kinder im allgemeinen besitzen, sinkt hier tief hinab Die Geistesschwachen entbehren bei der Dürftigkeit der religiösen Gefühle eines richtigen Massstabes, um ihr Thun und Treiben den Forderungen der Religion und Moral entsprechend einrichten zu können.

Jede unsern Geist bereichernde Erkenntnis ist mit einem geistigen Behagen verbunden, dem intellektuellen Gefühle Wie die ästhetischen Gefühle unser Wahrnehmen beeinflussen, so begleiten die intellektuellen unser Erkennen. Ohne sie würde uns ein mächtiger Antrieb zum Suchen und Denken nach dem Richtigen und Wahren fehlen.

Die geringe Denkentwickelung des Geistesschwachen hat ohne Zweifel auch

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ein schwaches intellektuelles Gefühl zur Folge. Das empirische Interesse ist bei ihm gering entwickelt, das spekulative kann deshalb auch nicht besonders ausgebildet sein. Der kausale Zusammenhang der Dinge erscheint ihm fast durch- weg gleichgiltig. Er begnūgt sich mit ihrem Dasein und fragt nicht nach dem Warum. Allein auch unter den Geistesschwachen giebt es „ewige Frager“, die bei jedem Dinge etwas wissen wollen; sie überstürzen sich förmlich mit Fragen, lassen aber die Antworten interesselos an sich vorübergehen. Das Fragen er- scheint in solchen Fällen als Selbstzweck und ist als ein Zeichen eines vor- handenen pathologischen Zustandes zu betrachten.

Die Gesetze des psychischen Mechanismus sind bei dem Geistesschwachen nur rudimentär wirksam; das Gesetz der Reihenbildung erweist sich noch am thätigsten. Deshalb besteht bei ihm ein grosser Mangel an intellektuellen Gefühlen, das Ehrgefühl und das Wahrheitsgefühl fehlen z. B. fast gänzlich Er bekundet mitunter ein reines Talent im Lügen.

Die Mitgefühle bestehen in der Erregung der Seele bei der Wahrneh- mung fremden Leides oder fremder Freude; sie haben ihren Ursprung in den eigenen Wohl- und Wehegefühlen. Nehmen wir die Äusserungen, wovon letz- tere begleitet werden, an anderen Personen wahr, so erwacht die Erinnerung an die eigenen Zustände in uns und versetzt die Seele in Mitleid oder Mitfreude.

Manche Geistesschwachen besitzen überhaupt kein Mitgefühl mit jemandem, der leidet, weil sie es nicht zu begreifen vermögen. Andere dagegen sind ver- wundert, betrachten die Gebärden des Leidenden und ahmen sie instinktmässig nach. Noch andere scheinen sich sogar zu freuen, wenn sie einen Genossen leiden sehen. Dieses verschiedene Vorhalten hängt mit der ungenügenden Überlegung zusammen, welche ihnen zu eigen ist; es können daher in ihrer Seele nicht analoge Gefühle entstehen wie bei dem Leidenden. Sie bleiben gleichriltig, kalt und höchst teilnahmlos, wo unser Herz Teilnahme entgegen- zubringen sich gezwungen fühlt. Selbst wenn sie in ihrer geistigen Entwick- lung auch schon etwas vorwärts gekommen sind, bleiben sie doch nach dieser Seite hin häufig „schreckliche Menschen“. Man findet bei ihnen nicht selten Schadenfreude, Grausamkeit, Tierquälerei etc als Charaktereigentümlich- keit. Aber gefühllos ‚wie Steine“ darf man sie keineswegs ansehen, sie erweisen sogar eine gewisse Anhänglichkeit und Zuneigung ihrem Spielzeuge und den Tieren. Manche weibliche Individuen sind sogar einer gewissen Zuneigung und Fürsorge in hohem Grade fähig.

Das Mitgefühl der Kinder erstreckt sich auch auf Personen in Erzählungen, Märchen etc. Tief ergriffen werden sie z. B. von Jesu Leiden und Sterben, wenn man ihnen beides ziemlich lebhaft schildert. Bei den meisten Geistes- schwachen pflegen sich anlässlich solcher Schilderungen auch Spuren von Mitleid und Rührung zu zeigen, allein ihre Erregungen sind einseitig, fremd- artig und mehr oberflächlich. -- So fragte mich ein Mädchen gelegentlich der Behandlung obiger Geschichte, nachdem besonders die Schmerzen Jesu gehöng beleuchtet worden waren: „Thun die grossen Nägel dem Herrn Jesus weh?“

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Wenn wir bedenken, dass das Gedächtnis schwachsinniger Kinder schwach und arm an Erfahrungen ist, so werden wir uns über solche Naivetät durchaus nicht wundern.

Neben den sinnlichen Gefühlen gehören zu den frühsten Regungen der Kindesseele die egoistischen Gemütsbewegungen oder die Selbstgefühle. Von der Wiege bis zum Grabe begleiten dieselben unser Dichten, Thun und Trachten. Alles, was den Wert unserer Person zu heben oder herabzusetzen vermag, erweckt Selbstgefühle: Anerkennung, Lob, Ehre, glücklicher Erfolg Tadel, Spott, Verachtung, Misserfolg.

Das Selbstgefühl erwacht sehr frühe im Kinde und beherrscht fasst aus- schliesslich sein ganzes Verhalten. Seine meisten Unarten sind Auswüchse des Selbstgefühls: Eigensinn, Trotz, Zorn, Wutausbruch etc. Sobald sich jedoch die altruistischen Gefühle entwickeln, treten die egoistischen mehr zurück und nehmen unter dem Einflusse von Erfahrung, Überlegung, Belehrung und Zucht ein richtiges Verhältnis zu den übrigen Gefühlen ein.

Bei dem Geistesschwachen schreitet die geistige Entwickelung in keinem günstigen Verhältnis zu der leiblichen fort, er bleibt arm an Erfahrungen, be- sitzt fast gar keine Überlegung, ist nur in geringem Grade der Einsicht fähig und setzt Belehrung und Zucht merklichen Widerstand entgegen. Daher müssen angesichts seiner vorgeschrittenen Körperentwickelung die sinnlichen und egoi- stischen Gefühle mehr als beim Vollsinnigen sein Denken, Wollen und Handeln überwiegen. Sie werden bei ihm auch eine grössere Stärke erlangen und die auf ihnen beruhenden Unarten, Fehler und Mängel auffälliger horvortreten lassen. Es zeigen manche Geistesschwachen in der That grenzenlosen Eigen- sinn, Ungehorsam und Zorn. Es ist mir noch lebhaft erinnerlich, wie einst ein schwachsinniges Mädchen bei einem Fluchtversuche, als sie eingeholt wurde, sich lang auf die Erde warf und durch keine Mittel zur Rückkehr zu bewegen war; sie musste zur Anstalt gefahren werden.

Manche Geistesschwachen werfen sich, wenn ihren egoistischen Bestrebungen Widerstand entgegengesetzt wird, auf den Boden, schlagen mit dem Kopfe auf, beissen sich in die Hände oder zerreissen ihre Kleidung. Auch selbst sonst gutmütige Individuen gebärden sich in ähnlicher Weise, namentlich wenn sie gekränkt oder von andern geneckt werden.

Eigenartig sind gewisse grillenhafte Gemütsreaktionen einzelner Geistesschwachen; beim Anblicke von buntem Papier geben sie Zeichen der freudigsten Aufregung oder zeigen plötzlich die zärtlichste Zuneigung zu einer Person, von der sie sonst keine Notiz zu nehmen pflegten. Eben so sonderbar zeigt sich bei manchen die Neigung, allerlei Kleinigkeiten, Lumpen, Papiere, Knöpfe, Steinchen, Holzstückchen, zu sammeln, welches an den Sammeltrieb gewisser Tiere, Elster, Rabe, erinnert. Wenn man ihnen das Gesammelte fort- nimmt, so geraten sie in grosse Aufregung, weinen, schreien, toben oder wüten sogar.

Den meisten Geistesschwachen fehlt der Massstab zur Selbstschätzung gänzlich, daher tritt bei ihnen sehr leicht eine Erschütterung des Gemüts ein.

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Wir dürfen also mit Recht annehmen, dass bei ihnen Affekte häufiger als bei Vollsinnigen vorkommen werden. Dieser Umstand ist für ihre gesamte Gemüts- entwickelung von schädigendem Einflusse.

Die allgemeinen Gefühle oder Stimmungen, so genannt, weil sie all- gemein auf Vorstellungen jeglichen Inhalts beruhen, bestehen in einer Erregung der Seele bei unsicherem Gedankenablaufe. Sie setzen nicht nur Vorstellungen, sondern auch Vorstellungsreihen, mithin ein fortgeschrittenes Denken voraus. Wo dieses aber fehlt, können die allgemeinen Gefühle nur in beschränktem Masse auftreten. Den Stumpfsinn quält selten die Langeweile oder das Be- dürfnis nach Geselligkeit, ihn erhebt und spannt aber auch die Erwartung und Hoffnung nicht. Der Geistesschwache bleibt gleichgiltig. wo wir lebhaft hoffen, fürchten oder zweifeln; seine Seele ist zu arm an Gedanken, als dass sie aus ihrem Traum- oder Schlummerzustande aufgerüttelt werden könnte.

Unser Hoffen, Zweifeln, Erwarten, Fürchten erstreckt sich nur so weit, wie unser Gedankenkreis reicht. Die geringe geistige Entwickelung des Geistes- schwachen lässt mit Recht auf geringe und mangelhaft entwickelte allgemeine Gefühle schliessen Vor manchen leeren Hoffnungen, unberechtigten Zweifeln, unnötigen Sorgen und thörichten Befürchtungen bleibt er bewahrt.

Ein richtiges Mass von allgemeinen Gefühlen macht uns einerseits vor- sichtig und besonnen, andererseits geduldig und beharrlich. Wen hat die Hoffnung und Erwartung nicht schon gestärkt und die Furcht und das Zweifeln nicht zurückgehalten! Am Benehmen des Geistesschwachen merkt man nur zu oft, dass ihm die meisten allgemeinen Gefühle, sowie die rechte Mischung der- selben fast gänzlich fehlen, er erscheint uns nach dieser Seite hin fremdartig, ja abnorm und unheimlich. Wo es im Gemüte nicht quillt, treibt es auch den Menschen nicht fort zu immer neuen und schönen Willensvorgängen und Hand- lungen.

„Die Mannigfaltigkeit der Gemütszustände des Kindes kann nicht besser festgestellt werden, als durch das Studium des Gesichtsausdrucks. Ver- zagtheit oder Mut, Gefühl der Schwäche oder der Kraft, Überraschung, Erstaunen und Verwunderung malen sich in lebhaften Zügen auf seinem Gesichte oder offenbaren sich in seiner Haltung. Was giebt es Ausdrucksvolleres als das „Maulen“, das Vorstrecken der Lippen, jenes Zeichen der übeln Laune? Ein ganzes Buch vermöchte man über diesen Gegenstand zu schreiben und auch eine ganze Galerie von Photographien aufzunehmen und zu sammeln, in denen festgehalten werden könnte, was so flüchtig ist, was durch seine unausgesetzte Beweglichkeit der schnellsten Beobachtung und der nachhaltigsten Aufmerksam- keit spottet, was endlich gerade dadurch Zeugnis von einer der hauptsächlichsten Eigentümlichkeiten des kindlichen Gemütslebens ablegt, von der fortwähren- den launenhaften Unbeständigkeit“

„In den Gesichtszügen und der Haltung der meisten geistesschwachen Kinder liegt, abgesehen von dem früher erwähnten Physiognomiewechsel und einigen eigenartigen Gesichtsausdrücken bei krankhaften Affektivzuständen, ge- wöhnlich vollständige Nullität mit unmotiviertem Wechseln oberflächlicher

155 Gemütszustände, die wie eine leichte, kurze Wellenbewegung über eine träge daliegende Fläche hinzittern.“ |

Zweckmässige Erziehungsmassnahmen und ein die somatische und psychische Individualität der Geistesschwachen berücksichtigender Unter- richt werden auch sie in ihrem Gefühlsleben zu fördern vermögen. Psychia- trisch-pädagogische Behandlung allen psychopathisch Minder- wertigen! Diese Forderung wollen wir als Losung auf unser Schulprogramm zum neuen Jahrhundert setzen und danach handeln.

Uber den Lebenszweck der Blödsinnigen. Von K Ziegler, Idstein (Reg.-Bez. Wiesbaden).

Wer kam beim Anblick jener Armsten unter den Schwachsinnigen, die von Geburt an in tiefster geistiger Umnachtung, ohne alles Bewusstsein und ohne jede Spur seelischen Lebens dahinvegetieren, nicht schon in Versuchung, Be- denken in die göttliche Weisheit, Liebe und Gerechtigkeit zu setzen und zweifelnd zu fragen: „Wozu sind diese Unglücklichen überhaupt auf der Welt?“ Zu jeder geistigen und körperlichen Arbeit unfähig, ihren Eltern oder Pflegern durch ihre Hilflosigkeit und ihre oft ekligen Gewohnheiten nur zur beschwerlichen Last fallend, sehen wir diese Armen vor uns, und nicht einmal die niedersten Gefühle und Regungen, wie Anhänglichkeit, Liebe, Freude u. s. w., auf Grund deren man etwa von einer wenn auch ganz minimalen Vorentwicklung für ein noch zu erwartendes jenseitiges Leben reden könnte, weisen auf etwas Menschliches in diesen dunklen Körperhüllen hin. Können solche Wesen überhaupt in die Klasse der „Erdengeister" eingerechnet werden? Und welches ist der Zweck ihres Daseins?

Viele der Leser, die auch schon in Stunden stillen Nachdenkens sich vor diese Fragen gestellt sahen, sind vielleicht geneigt, dieselben, da eine befriedigende Antwort doch nicht zu erwarten ist, als eitle und müssige Grübeleien von sich zu weisen, und wir können ihnen dabei nicht ganz unrecht geben. Denn sicher ist, dass sich durch derartige rein theoretische Betrachtungen an den be- stehenden Thatsachen doch nicht das mindeste ändern lässt; ebensowenig können daraus neue Gesichtspunkte oder Fingerzeige für die praktische Verpflegungs- und Erziehungsthätigkeit entspringen. Wenn wir aber auch vom praktischen Standpunkt aus betrachtet die Zwecklosigkeit solcher Erörterungen teilweise einsehen, so ist unser gemütliches Interesse an diesen Fragen doch zu gross, als dass wir ohne jedes Nachdenken und ernste Besinnen an ihnen vorübergehen könnten.

Am leichtesten wird es unseren modernen Naturphilosophen, dieses Rätsel zu lösen. Denn da sich diese in ihrer materialistischen Weltanschauung ledig- lich nur auf den Diesseitigkeitsstandpunkt stellen und von einein Jenseits und einem über die sinnliche Welt hinausragenden Geistigen nichts wissen wollen, so kann ihre Antwort nur die sein, dass das Leben unserer Blödsinnigen ein

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völlig zweckloses sei. Es sei das ein Misston, wie ihn die blindschaffende Naturgewalt millionenfach hervorbringe, der ebenso zwecklos und widersinnig ausklingen werde, wie er auch angefangen habe. Man müsse das mit derselben Resigniertheit und dem gleichen Fatalismus hinnehmen, mıiit denen man eine taube Nuss, in der man sich getäuscht habe, zum Fenster hinauswerfe.

Nach diesen Anschauungen wäre es allerdings das vernünftigste und zweck- mässigste, man würde unsere Blödsinnigen auf irgend eine anständige Weise aus der Welt schaffen, statt sie jahrelang in ihrem unglückseligen Dasein zu pflegen, und thatsächlich haben auch einzelne Vertreter der genannten Richtung (namentlich Nietzsche) nicht Anstand genommen, diesen Gedanken offenkundig auszusprechen. Doch darf uns das nicht allzusehr wundern. Wenn man bedenkt, dass der moderne Materialismus im Menschen überhaupt nichts anderes erblickt als eine aus organischen und chemisch zersetzten Stoffen aufgebaute Maschine, getrieben von der mechanisch wirkenden Kraft blinder Naturgesetze, vergänglich wie jede Pflanze, nur das geistreichste Tier, so muss man die letzten Schluss- folgerungen begreiflich finden. Schliesslich sind diese Ideen praktisch auch noch nicht zur Reife gelangt und werden es auch wohl nie werden, solange die all- gemeine Humanität und das positive Christentum im Dienste für die Unglück- lichen der leidenden Menschheit miteinander wetteifern. Gerade der Umstand, dass das unmittelbare menschliche Empfinden den letzten Konsequenzen jener Theorien stracks zuwiderläuft, dass die Naturwissenschaftler trotz ihres festen Glaubens an ihr logisch ausgeklügeltes Natursystem sich selbst doch nicht in entscheidenden Lebensfällen den drängenden Forderungen und Bedürfnissen ihres eigenen Herzens entziehen können, will uns ein Beweis für die Unhaltbarkeit ibrer Theorie sein. Denn der Mensch hat nicht nur einen SB er bat auch ein Herz; und beide gehören zusammen.

Darum können wir uns den Glauben an eine übernatfrliche Weltordnung nicht rauben lassen und halten auch im Hinblick auf unsere geistesarmen Kinder an der Idee einer höheren als bloss irdischen Bestimmung des Menschen fest, die über die Grenzen des diesseitigen Lebens hinausreicht und nicht mit dem Massstab des irdischen Nützlichkeits- und Zweckmässigkeitsprinzipes gemessen werden kann. Mag das Leben der Blödsinnigen im Lichte einer bloss irdisch- praktischen Beurteilung noch so zwecklos erscheinen, so stellt doch unser Glaube den negierenden menschlichen Wahrscheinlichkeitsberechnungen sein ewig giltiges Gottes-Ja entgegen und erhebt sich zu der bestimmten Überzeugung, dass auch dem Leben dieser ärmsten Geschöpfe ein transcendentaler Zweck zu Grunde liegt. Und auch bei dieser Anschauung könnten wir uns wenn wir be- sonderen Wert darauf legten auf sogenannte Wissenschaftler berufen, nämlich auf eine neuere philosophische Richtung, die allem, auch dem sogenannten Un- organischen „Beseeltheit‘ zuschreibt und hinter jedem Naturkörper „Geist ahnen“ und bei jeder Bewegung auf einen „Gedanken raten“ will.

Wenn wir uns damit aber auch entschieden auf den Standpunkt der christ- lichen Religion und der spiritualistischen Weltanschauung stellen, so sind wir da- durch der Lösung unseres Rätsels noch keinen Schritt näher gerückt, im Gegenteil

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die Schwierigkeiten sind noch um ein Bedeutendes gewachsen. Denn nach der biblischen Lehre müsste auch das Leben unserer Blödsinnigen als eine Vor- bereitungszeit für das Jenseits aufgefasst werden, in der sie sich in sittlicher und religiöser Hinsicht für die ewige Seligkeit vorbilden sollen. Da aber bei diesen Unglücklichen von einer derartigen bewussten Vorbildung absolut nicht die Rede sein kann, was ist dann der Zweck ihres Daseins?

In vorzugsweise positiv christlichen Kreisen hilft man sich auf diese Frage gewöhnlich in der Weise, dass man annimmt, unsere Kinder hätten durch ihr Dulden und Leiden in mehr passiver oder indirekter Weise höhere Bestimmungen zu erfüllen, indem sie entweder dazu bestimmt seien, die Sünden der Väter zu büssen oder in der Hand des Herrn als Zuchtrute für ibre Angehörigen zu dienen.

Da dieser Gedanke jedenfalls aus einer streng gläubigen Lebensauffassung herausgewachsen ist, dürfen wir ihn gewiss nicht verwerfen; aber mit ihm be- freunden können wir uns auch nicht. Wohl ist es wahr, dass ein grosser Teil unserer Kinder hereditär belastet ist und dass die Ursache des Blödsinns recht oft auf die Eltern zurückweist. Aber es fehlt auch nicht an solchen Beispielen, wo sich bestimmte Ursachen überhaupt nicht angeben lassen und wo der Blöd- sinn obne jeden kausalen Zusammenhang erscheint. Und auch da, wo hereditäre Ursachen handgreiflich vorliegen, kann kaum einmal von einer sittlichen Schuld und einer moralischen Verantwortlichkeit der Eltern geredet werden. Wäre das aber doch einmal der Fall, oder sollte der übrige Lebenswandel der Eltern der- art sein, dass sie „solche Kinder verdient hätten“, so dürfen wir trotzdem dar- aus nicht folgern, dass es nun ausschliessliche Lebensaufgabe dieser Kinder sei, Strafen zu büssen und Sünden zu sühnen. Wenn die Natur die an ihr begangenen Versündigungen erbarmungslos rächt, so darf das nicht ohne weiteres als „Strafe“ auf das Gebiet des Geistigen hinüber genommen werden. Auch widerspricht es zu sehr den christlichen Anschauungen, dass andere Menschen unsere Schulden büssen sollen. Die Kinder mögen vielleicht unter dem Fluche ihrer Eltern zu leiden haben, aber dass sie für dieselben ein gewisses Strafquantum tilgen müssten, das klingt doch zu unchristlich. Als „Sträflinge“ und „Sünden- böcke“ man entschuldige diese Ausdrücke können und wollen wir unsere Kinder nicht betrachten; darum können wir auch darin nicht einen Teil ihres Daseinszweckes erblicken.

Ebensowenig vermögen wir an dem Gedanken festzuhalten, dass die Blöd- sinnigen nur deswegen da seien (oder um uns anders auszudrücken dass manche Kinder nur darum in jenen trostlosen Zustand hineingeboren werden müssen), um indirekt an der Höherentwicklung und geistlichen Hinauferziehung ihrer Angehörigen und anderer mitzuhelfen. Dass sie in dieser rein passiven Weise schon manches Gute gewirkt haben mögen, ist sicher anzunehmen. Schon mancher Vater und manche Mutter, die ihre stolzen Hoffnungen auf den Erst- geborenen schmählich zusammensinken sahen, mögen dadurch in eine ernstere Gedaukenrichtung hineingedrängt worden sein. Aber deswegen darf doch darin nicht der vom Schöpfer beabsichtigte Lebenszweck dieser Idioten gesucht werden. Abgesehen davon, dass eine solche Bedeutung schliesslich jedem Unglück und jedem

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Unglücklichen unterschoben werden kann, so hätte man namentlich ein Recht, zu fragen: Warum muss ein ganzes Lebensglück, die Blüte und Frucht eines geistigen Daseins, geopfert werden, um diese oder jene Person in ihrer inneren Entwicklung einige Schritte vorwärts zu bringen? Was würden wir von einer Mutter sagen, die, um 2 oder 3 ihrer Kinder richtig zu erziehen, ein viertes geistig und körperlich zu Grunde richtete? Freilich ist das nur menschlich geredet, und wir gestehen dabei demütig ein, dass, die göttliche Weisheit in den oft dunklen Verkettungen und Verwicklungen menschlicher Schicksale immer zu erkennen, unsere beschränkte irdische Erkenntnis nicht ausreicht.

Wenn wir den eben besprochenen Anschauungen zweifelnd gegenüber stehen, so geschah das namentlich deshalb, weil wir den Lebenszweck unserer Blödsinnigen nicht in einer zufälligen und nebensächlichen Bedeutung, die diese in ganz unbeabsichtigter Weise vielleicht für andere erlangen könnten, suchen wollen, sondern weil wir geneigt sind, dem Leben der Blödsinnigen einen ganz bestimmten Selbstzweck zuzuschreiben und zu behaupten, dass auch ihr irdisches Dasein für den innersten Wesenskern ihrer Persönlichkeit eine unleugbare tran- scendentale Bedeutung besitzt, trotzdem es ihnen am bewussten sittlichen Denken, Wollen und Handeln mangelt. Oder sollte in ihrem Körper nicht auch jenes rätselhafte, unfassbare Wesen wohnen, das weder auf den Seziertisch und unter die Lupe des Anatomen, noch in die Retorte des Chemikers gebracht werden kann ? Sollten wir unsere Pfleglinge ausschliessen müssen, wenn man mit Göthe die Erde als eine Pflanzschule für eine Welt von höheren Geistern betrachtet?

Es mag uns allerdings schwer werden, in diesen Unglücksgestalten, auf denen unser Auge nur mit heimlichem Schauder ruht, und an denen wir nicht die leiseste Spur eines geistigen Lebens entdecken können, unser, ja das gött- liche Ebenbild wiederzufinden und dahinter eine übersinnliche Seele zu ver- muten. Aber es wird doch wohl so sein. Wenn diese Geschöpfe auch in die tiefste Nacht geistiger Bewusstseinslosigkeit gehüllt sind, so weist doch schon der Umstand, dass sie überhaupt leben, dass ihr äusserer Körperbau mit dem unserigen im allgemeinen übereinstimmt und dass auch ihre Triebe mitunter noch „menschliche“ Züge an sich haben, darauf bin, dass ein Atom geistigen Lebens in ihnen sein muss und dass es nicht völlig tot in ihnen aussehen kann. Letzteres erscheint nur so, weil die Vermittlungswege und Werkzeuge, welche die Seele nötig hat, um sich der Aussenwelt bemerkbar zu machen und in sie einzudringen, mehr oder weniger gestört und verkrüppelt sind, so dass die Seele die ihr vom Schöpfer verliebenen Kräfte nur mangelhaft oder gar nicht ent- falten kann. Ob die Seele aber selbst abnorm ist, lässt sich nach dem heutigen Stande unseres Wissens nicht entscheiden. Vom nur psychologischen Gesichts- punkt aus betrachtet, ist eine Erkrankung der Seele durch sich selbst jedenfalls ausgeschlossen, und alle sogenannten Seelenkrankheiten beruhen danach lediglich in der Abnormität der Seelenwerkzeuge. Doch wird in diese Frage kaum ein- mal entscheidende Klarheit kommen, weil dazu die Beobachtung und das Studium der Seele ausserhalb ihrer irdischen Verbundenheit mit dem Leibe notwendig wäre, und das ist, solange wir Menschen sind, unmöglich.

Auf der andern Seite müssen wir uns aber auch daran erinnern, dass wir ja über uns selbst die geistig Gesunden in psychologischer Hinsicht noch nicht einmal im klaren sind und dass noch niemand eine ergründende Antwort auf die Frage gefunden hat, was der Mensch seinem innersten Wesenskerne nach eigentlich sei. Oder wer kann sich Rechenschaft darüber geben, was alles in ihm ist? (1. Kor. 2, 11.) Sind durch den Hypnotismus, den Somnambulismus, die Suggestion u. s. w. nicht Kräfte im Menschen bekannt geworden, die voll- ständig über die Grenzen des sogenannten „Natürlichen“ hinausragen, ja nicht einmal in den Kreis des Selbstbewusstseins fallen? Wenn demnach unser irdisches Bewusstsein bei weitem nicht den vollen Umfang unseres thatsächlichen „Ichs“ umspannt, erscheint es dann nicht ganz thöricht, wenn man sich bei der Er- forschung des menschlichen Wesens mit einer blossen Bewusstseins-Analyse be- gnügt, als ob damit unser ganzes geistiges Selbst erschöpft wäre? Was binderte uns ferner, anzunehmen, dass unser irdisches Bewusstsein überhaupt nur ein nebensächliches, vorübergehendes ist, hinter dem ein unendlich wichtigeres transcendentales schlummert, das sich während unserer irdischen Laufbahn unter der Last einer groben Materie bis zu einem ganz unbestimmten Ahnen von etwas „Höberem“ verfinstert, nach dem Tode aber wieder in volle Aktion tritt? |

Man hat das Leben schon öfters einen Traum genannt; vielleicht liegt ein Körnlein Wahrheit darin. Im Traume verschwiudet ein höheres Bewusstsein, und ein niederes, engeres tritt an dessen Stelle. Wollte man das dem Träumen- den aber im Augenblick seines Träumens klar machen, so würde er das höchst lächerlich finden. Im Traume ist ihm eben nur der Traum Thatsache, und ein anderes, wirkliches Dasein giebt es da für ihn nicht. Nach dem Erwachen sieht er seinen Irrtum von selbst ein. Nun sind wir, die wir einen gesunden Ver- stand und helles Bewusstsein besitzen, auch nur solche Träumende und in dem- selben Wahne befangen: unser (Traum-) Bewusstsein beleuchte sämtliche Seiten unseres Wesens, darüber hinaus liege nichts mehr, und wer nicht träumt, d. h. wer kein solches Bewusstsein habe, wie wir es jetzt an uns wahrnehmen, der sei eben geistig tot. Und nun, hier stehen unsere Blödsinnigen. Sie besitzen thatsächlich nichts von einem solchen irdischen (Traum-)Bewusstsein; und dar- um wollen wir ihnen die Anlagen und Fähigkeiten zu einem höheren, das auch bei uns vielleicht unter der schweren Hülle der Materie verborgen liegt ganz absprechen? Doch es schwindelt uns selbst auf den jähen Höhen solch gewagter Spekulationen. Brechen wir darum ab! Nur das eine: wir glauben nicht nur, wir vermögen zu ahnen, dass auch in diesen Armen jenes Samen- korn schlummert, das ausgestreut wird verweslich, aber auferstehen wird un- verweslich.

Aber was dann? Wie wird es diesen Unglücklichen, die weder Böses noch Gutes gethan haben, im Gericht ergehen? -— Wieder eine heikle, fast wahn- witzige Frage! Doch es ist ja nicht frivoler Leichtsinn, es ist nur ernstes Nachsinnen.

Die meisten werden hier ohne Zaudern mit dem „Himmel“ antworten, und

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wir haben weder Grund noch Recht, dem zu widersprechen. Jedenfalls wollen und dürfen wir den betrübten Eltern nicht den schönen Trost rauben, der für sie in der Hoffnung liegt, ihre bedauernswerten Kinder einmal gesund und glücklich am Ort der Seligkeit sehen zu dürfen. Jedoch, wenn man die Sache sich näher betrachtet, so kann man sich einiger Bedenken nicht erwehren. Von dem, wie sich die Menschen überhaupt den Himmel vorzustellen und zu wünschen pflegen und worin sie den Brennpunkt der jenseitigen Seligkeit zu finden hoffen, hier ganz abgesehen, würde uns zunächst die Frage in einige Ver- legenheit bringen: Wodurch hätten sich die Blödsinnigen ihre Seligkeit erworben? Nach evangelischer Auffassung werden wir allein aus Gnaden selig durch den Glauben, der aber kein toter, sondern ein lebendiger, auch im Leben und Handeln sich beweisender Glaube sein soll. Wo aber finden wir bei unsern Kindern diesen seligmachenden, bewussten, überzeugungstreuen Glauben? wo ein Thun und Handeln, getrieben von den Motiven wahrer Gottes- und Nächsten- liebe? Wenn sie aber trotzdem dasselbe Ziel erreichten wie unsere Frommen, Glaubenshelden und Märtyrer, wäre es dann nicht das wünschenswerteste, als Idiot geboren zu werden, um dann ohne das heisse Ringen und Kämpfen, ohne die vielen qualvollen Stunden der Reue und des inneren Zweifels inmitten einer Welt von Versuchungen das Ziel der ewigen Seligkeit unzweifelhaft zu erlangen? Und hätten diejenigen, die einmal an den „Ort der Qual’ kommen, nicht Grund und Recht zu fragen: Warum nahmst du uns nicht auch das irdische Bewusstsein, wodurch es uns unmöglich geworden wäre, unser himm- lisches Erbe zu verscherzen? Natürlich ist auch das wieder nur menschlich geredet und nichts liegt uns ferner, als auf jene „scheel® sehen oder gar mit der göttlichen Weisheit „rechten® zu wollen.

Man erwidert vielleicht, es sei ein Akt göttlicher Gerechtigkeit, dass solchen, denen das Leben nur ein Entbehren war (wie unseren Kindern), als Ersatz da- für die ewige Seligkeit geboten werde nach dem bekannten Schriftwort: Du hast dein Gutes empfangen in deinem Leben, Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun aber wird er getröstet, und du wirst gepeinigt.

Jedoch auch das können wir nieht ohne einige Bedenken hinnehmen. Ab- gesehen davon, dass unsere Blödsinnigen ihren Zustand überhaupt kaum als ein Unglück und als ein hartes Entbehren empfinden, so liegt es gewiss nicht im Sinne jener Schriftstelle und entspricht auch nicht der evangelischen Auffassung, wenn man glaubt, durch blosses Leiden schon auch wenn dieses keinen ver- edelnden Einfluss auf den Menschen ausübe, bez. ausüben kann gewinne man eine Aussicht auf die ewige Seligkeit. Jedenfalls wäre auch der bitterste Kelch irdischen Leidens durch den kleinsten Augenblick himmlischer Freuden zu hoch belohnt. Überhaupt ist es ganz irrig zu meinen, die Ewigkeit sei nur deswegen da, um die Ungleichheiten und Unvollkommenheiten, unter denen die Bewohner eines verschwindend kleinen Planeten während einer kurzen Pilger- schaft ein paar Jährlein leiden, wieder gut zu machen und auszugleichen. Dazu ist das irdische Dasein viel zu unbedeutend, die Ewigkeit aber zu erhaben. Wir dürfen das Jenseits nicht als eine von allen Druckfeblern verbesserte Auflage

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des Diesseits betrachten, sondern umgekehrt, das Diesseits als ein durch die Materie getrübtes und beschwertes Jenseits. Also, um wieder auf den Aus- gangspunkt zurückzukehren, die Leiden dieser Zeit sind nicht so wichtig, dass sie allein durch sich schon himmlische Belohnungen nach sich ziehen könnten, und es ist darum auch kaum anzunehmen, dass unsere Kinder einzig und allein nur deshalb, weil es ihnen hier „schlecht“ geht, ein „besseres“ Jenseits er- warten dürften.

Nehmen wir aber nun doch einmal an, die Pforten des Himmels würden diesen Ärmsten der Armen gleich nach ihrem Abscheiden von der Erde auf- gethan könnte dann das eine wirkliche Seligkeit für sie sein, in die sie ohne ibr Bewusstsein und ohne ihr Verlangen danach geführt wurden? Man reisse das sträubende Kind von seinem Sandhaufen weg und bringe es in ein herr- liches Schloss: wird es sich glücklich fühlen? Man versetze einen denkenden Menschen von seiner Arbeitsstätte hinweg in eine paradiesische Gegend, doch so, dass ihm das Warum und Wozu und Wie verborgen bleibt, wird dieses quälende Geheimnis, dessen Lösung er nicht finden kann, nicht schliesslich seinen Himmel in eine Hölle verwandeln? Und worin besteht am Ende das innerste Wesen der zu erwartenden ewigen Seligkeit? In einem süssen Ausruhen von den Mühsalen und Beschwerden des irdischen Daseins? In einem beschaulichen Geniessen allerhand himmlischer Freuden? Dazu wären vielleicht auch die Tiere fähig! Nein, in der seligen Befriedigung einer sehr bewussten und sehr persönlichen heissen und innigen Liebessehnsucht nach dem ewigen Vater- herzen.

Arme Kinder, die ihr nicht fähig seid, in euren verdunkelten Seelen ein solch bewusstes und klares Verlangen nach eurem Vater zu hegen, dann seid ibr ohne Vaterhaus und ohne Himmel? Es darf wohl angenommen werden, dass nach dem Tode das ewige Entwickelungsgesetz, dem alles materielle und geistige Leben auf dieser Erde unterworfen ist, nicht aufhört und dass auch im Jenseits kein starres Stillstehen, sondern eine stete Weiterentwickelung zum Höheren und immer Vollkommeneren stattfinden wird, nur natürlich nicht im materiellen, sondern im geistigen Sinne. Und so dürfte vielleicht auch der Geist unserer Kinder, nachdem er seine schweren, irdischen Fesseln abgeworfen, im Jenseits um so ungehemmter und rascher sich entfalten, gleich einer Knospe, die bisher im Dunkeln gestanden, jetzt aber der Wirkung des hellen Sonnen- lichtes ausgesetzt wird.

Dass dieser geistige Funken, so lange er in das irdische Dunkel gehüllt war, nicht zum vollständigen Erlöschen kam, haben wir bereits oben zu zeigen gesucht, und es ist das jedenfalls so sicher, als auch die Keimkraft eines Samen- kornes nicht zu Grunde geht, selbst wenn dieses jahrelang zwischen harten Steinen begraben liegt. Aber warum muss es so sein? Warum werden jene Seelen in ein so lichtloses Haus verpflanzt, und welches ist der Zweck eines solch dunklen Daseins?

Die Naturbetrachtung zeigt uns, dass nicht nur das Licht, sondern dass auch die Dunkelheit notwendig ist, um die Naturkörper in ihrem Wachstum

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und in ihrer Entwickelung zu fördern. Wohl ist die Sonne die Spenderin und Urquelle alles irdischen Lebens, und ohne sie würde kaum ein Organismus auf unserem Planeten bestehen. Aber auch die Nacht bedeutet einen wichtigen Bildungsfaktor, und mancher Naturprozess spielt sich eben nur im Schutze der Dunkelheit ab. Giebt es nicht chemische Vorgänge, denen das Licht hinderlich ist? Erwacht das Samenkorn nicht im Schosse der dunklen Erde? Und lässt sich der Gärtner nicht von bestimmten Absichten leiten, wenn er die eine Blume den vollen Strahlen der Sonne, die andere grösserer oder geringerer Dunkelheit aussetzt? Freilich sind das nur schwache, unvollkommene Vergleiche; aber wer möchte angesichts derselben entscheiden, ob diesen Bildern des materiellen Seins nicht entsprechende Vorgänge im Reiche des Geistigen zur Seite stehen? Wäre es denn ganz ausgeschlossen, dass der innerste Wesenskern unserer Blöd- sinnigen unter der Hülle ihres bewusstseinlosen Erdenlebens irgend einen Prozess durchläuft, der vielleicht nur im Dunkeln vor sich gehen kann, der aber als Vorbedingung und Grundlage für eine Weiterentwickelung durchaus notwendig ist und darum für das übersinnliche Sein der Blödsinnigen zum mindesten eine (relativ) eben so grosse Bedeutung besitzt, wie unsere bewusste irdische Laufbahn für unser ewiges Sein. So viel ist jedenfalls anzunehmen, dass die Seelen unserer Blödsinnigen ihre irdische Behausung kaum wieder in genau demselben Zustande verlassen werden, in welchem sie ursprünglich in dieselbe eiutraten.

Warum wir von dieser etwaigen Innenveränderung der Blödsinnigen äusser- lich nichts wahrnehmen können, geht aus unserem früheren Bilde von Traume hervor. Dort haben wir gesehen, dass noch manches im Menschen liegen mag, das nicht in den Belichtungskreis unseres irdischen (Fünfsinnen-) Bewusstseins fällt, und dass darum auch unser irdisches Leben für jenes transcendentale Ich vielleicht einen Niederschlag zurücklässt, von dem wir keine Ahnung haben und der sich der Kontrolle unserer an dem Massstabe nur irdischer Erscheinungen gebildeten Vernunft vollständig entzieht. Und hier in diesen von unserem irdischen Erkenntnisvermögen unerreichten Tiefen des menschlichen Wesens dürften sich vielleicht auch jene unbewussten geistigen Lebensprozesse abspielen, welche den vom Schöpfer jedenfalls nicht unbeabsichtigten irdischen Daseins- zweck dieser blödsinnigen Menschenkinder ausmachen.

Ob es uns damit gelungen ist, das Lebensrätsel der Blödsinnigen in einer unser Wissen befriedigenden Weise zu lösen? Fast will uns das, was uns die Vernunft hier sagen konnte, nur als ein nichtiges Spiel der Gedanken er- scheinen, über das himmelhoch hinweg die Wege des Herrn führen. Jedenfalls hat uns dieser Versuch aufs neue wieder gezeigt, dass es unmöglich ist, die Glaubenswahrheiten in die enge Begrifiswelt des menschlichen Verstandes ein- zuzwängen. Und wir haben das auch nicht nötig. „Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen.“ Wenn auch unser Verstand zu schwach und unsere Phantasie zu arm ist, um in solch dunkle Probleme des Menscheulebens ein- zudringen, so hält doch unser Glaube an der bestimmten Überzeugung fest, dass auch das Dasein unserer ärmsten Pfleglinge kein zweckloses ist, dass auch sie von der ewigen Vaterliebe, wenn auch auf dunklen Pfaden, einem lichten Ziele

163 entgegengeführt werden, dass auch ihr irdisches Leben für sie eine ewige Be- deutung hat. Dieser Glaube ist für uns eine Quelle, aus der wir immer wieder Mut und Freudigkeit für unseren mühevollen Beruf schöpfen, die uns aber auch Befriedigung und Trost spendet, wenn wir mitunter über der scheinbaren Nich- tigkeit und Zwecklosigkeit unserer Verpflegungs- und Erziehungsarbeit ver- zagen wollen.

Bericht über die Abteilung der Epileptischen der Heil- und Pflegeanstalt in Stetten i. R*) Von Dr. Habermas.

Die Epilepsie ist eine der ältesten Krankheiten des Menschengeschlechts, schon in den Urkunden altersgrauer Völker finden wir Angaben über die Häufigkeit dieses Leidens; 300 Jahre vor Christus spricht der Begründer der wissenschaftlichen Medizin, Hippokrates, von der grossen Anzahl der Epileptischen und schildert mit überraschender Naturwahrheit die Krankheit in einer be- sonderen Schrift; seine Bemerkungen über den Einfluss der Erblichkeit, die Beschreibung der sogenannten aura epileptica und des Anfalls selbst können heute noch als mustergültig angesehen werden; neben arzneilichen Mitteln hat er schon der Änderung des Klimas, der Lebensweise und der Gewohnheiten grosse Wichtigkeit beigelegt. In den Schriften des Neuen Testaments er- scheint die Krankheit gleichfalls als ein längst bekanntes Übel.

Unter allen Krankheiten, die in dem Nervensystem ihren Sitz haben, ist die Epilepsie die verbreitetste, sie kommt, soweit unsere Kenntnis reicht, in allen Zonen und bei allen Rassen vor. Ob sie in Zunahme oder Abnahme begriffen ist, darüber giebt uns die Statistik keinen Aufschluss; man wird über- haupt verzichten müssen, eine sichere Zahl zu erhalten; der Zählung bieten sich grosse Schwierigkeiten dar, die leichteren Fälle werden häufig verkannt, die schwereren gerne verschwiegen An Versuchen hat es nicht gefehlt; in Württemberg hat Moll anfangs der Ö0er Jahre in 5 Oberämtern gezählt und aus seinen Zahlen den Schluss gezogen, dass auf 1000 Einwohner 1 Epileptischer kommt. Eine umfangreichere, sich über ganz Württemberg erstreckende Zählung wurde im Jahre 1878 durch Direktor Dr Koch in Zwiefalten veranstaltet und ergab 1,08 Epileptische auf 1000 Einwohner. Auf Grund verschiedener anderer Zählungen nimmt man an, dass in Deutschland auf 1000 Einwohner 1,5 Epileptische kommen, das ergiebt für Württemberg rund 3000.

Trotz dieser ungeheuren Verbreitung hat man sich erst recht spät mit der Fürsorge für diese Kranken befasst; in Deutschland wurde im Jahre 1773 in Würzburg für Epileptische das erste Asyl eröffnet und in Württemberg im Jahr 1862 die erste Anstalt —- Pfingstweide. Im Jahre 1865 zählte man in Deutschland erst 7 Epileptiker-Anstalten; jetzt werden, abgesehen von den

*) Aus der „Denkschrift zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens der Heil- uud Pflege- anstalt für Schwachsinnige und Epileptische in Stetten i. R.“

164 Irrenanstalten, in 41 solche Kranke verpflegt, meist zusammen mit Idieten Anstalten, die nur Epileptische aufnehmen, giebt es in Deutschland zur Zeit 12.

Den Anstoss zur Eröffnung unserer hiesigen Abteilung hat Oberamisarıt Dr. Moll in Tettnang gegeben, er schilderte bei der südwestdeutschen Konferenz für Innere Mission im Jahre 1865 in herzergreifender Wese die Not der Epileptischen :

„Für den Epileptiker verschliessen sich alle An-talten, ex ist veriassener - als der Geisteskranke, als der Blinde, der Taubstumme, der Kretine, demn nirgends hat er ein Asyl zu finden, dass eine menschliche Idee ihm geschafen und geöffnet hätte. Er muss an den Palasten, welche die Humanitat fur die Geisteskranken geschaffen hat, vorübergehen, er darf nicht über die Schwellen von Häusern schreiten, wie sie für Blinde und Taubstemme gedfinet sind: er kat nicht das Recht, Aufnahme unter einem Dache ru suchem, wo er, der Ver- lassenste von allen, gleich dem gewöhnlichsten Verwahrieten aufgenummen würde. Die einzigen Stellen, die ihm offen bleiben, sind che ewtiegensten Winkel eines Armen- oder Tollhauss, in welchem er derch de Hartkerzirkeit der Menschen alles dagenige entbehrt, worauf ein Kranker zus natürlichen Gründen Anspruch machen darf.“

Dieser Notechrei fand mächtigen Widerkall in unserem engeren \zierland: schen nach wenigen Monaten wurde vos einer Anzahl bechkerziper Männer die Errichtung einer Abteilung für Epileptische beschlossen umd insfür Setien ans- usehen Im Norember 136 fand die Eröffnung stati: ma ersten Jahr warden 32 Kranke aufgenommen, nach 6 Jahren betrag er hrankenstand schwa Sher 1.) ued gegenwärtig können >30 Epileptische baer verpiier: werden Im ranee sind bas ram Ende des Jahres IRQ im der Abtenbeme Zur Epaleptnche 1.0 Krzaki+ zufprnommen wurden

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Es möge nun gestattet sein, ein Bild der Krankheit zu geben nach den in der hiesigen Anstalt gemachten Beobachtungen, die sich, die Ambulanz ein- geschlossen, auf über 1200 Epileptische erstrecken.

Die Epilepsie wurzelt in ganz hervorragender Weise in einer neuropathischen Disposition, und zwar ist sie nicht nur direkt erblich, sondern sie entwickelt sich auch mit einer Häufigkeit, wie keine andere Nervenkrankheit, bei den Naclı- kommen von Individuen, die an irgend einem andern chronischen Nervenleiden erkrankt sind oder auf die sonstige Schädlichkeiten, wie der Alkohol, die Tuber- kulose, eingewirkt haben. Von unsern Epileptischen sind 46°/, erblich belastet; der Schluss, dass nun 54°/, frei von erblicher Belastung sind, ist nicht zu- lässig, da es immer sehr schwer hält, zuverlässige Angaben über hereditäre Ver- hältnisse zu erhalten und da bei einer grossen Anzahl unserer Kranken Auf- schluss gebende Notizen fehlen. Die Trunksucht der Eltern ist mit 8°/, ver- treten. Diese Zahl steht weit hinter anderen Beobachtungen zurück; Neumann giebt 23,7°/, an, Wildermuth stellt die Trunksucht der Eltern in gleiche Reihe mit den Geisteskrankheiten der Eltern, Martin nimmt an, dass von den überlebenden Kindern trunksüchtiger Eltern nicht weniger als ‘;, an Epilepsie erkranken.*)

Neben der hereditären Belastung ist den Konvulsionen des Säuglingsalters, den sogenannten ausbrechenden Gichtern grössere Bedeutung beizumessen; 20 /, unserer Kranken waren davon befallen. Die Gehirnentzündung, polioen- cephalitis acuta, die durch plötzlich eintretendes Fieber mit mehrstündigen bis mehrtägigen Konvulsionen meist mit nachfolgender Lähmung einer Körperhälfte charakterisiert ist, ist bei 15°/, als Ursache der Epilepsie anzusehen, während Hirnhautentzündung nur bei 1,7°/, Epilepsie im Gefolge hatte. Von weiteren Infektionskrankheiten bereiteten in erster Linie Scharlach, Typhus, Diphtheritis den Boden vor für die spåtere Epilepsie Die Impfung, der man ja mit Vor- liebe alles Böse in die Schuhe schiebt, wird oft als Ursache genannt; genauerer Forschung hielten im ganzen nur 5 Fälle stand, und auch bei diesen konnte nur nachgewiesen werden, dass einige Tage nach der Impfung Fieber und Konvulsionen auftraten. Gehirnerschütterung, meist hervorgerufen durch Fall auf den Kopf, einigemale auch durch kräftige Ohrfeigen, wird bei 5°/, angegeben, in nahezu der Hälfte der Fälle traf die Gewalteinwirkung Kinder, die schon vorher zu Epilepsie disponiert waren. Ähnlich liegen die Verhältnisse bei der Einwirkung eines heftigen Schreckens Dem Alkohol als direktem Erreger der Epilepsie ist nach den hiesigen Erfahrungen nicht die Bedeutung beizulegen, die demselben von anderer Seite beigelegt wird, Kräpelin sagt z. B. „die bei weitem wichtigste äussere Ursache der Epilepsie ist ohne Zweifel der Alkohol-

*) Ein Beispiel, das den schädlichen Einflues des Alkohols recht drastisch beleuchtet, findet sich in unsern Anstaltsakten: Ein Bauer von der Rauhen Alb hatte ganz normale Kinder, es wurde ihm das Amt eines Fleckenschützen übertragen, und er hatte hiebei reich- lich Gelegenheit, dem Alkoholgenuss zu fröhnen , während dieser Zeit wurden ihm 3 mikro- cephale, blödsinnige, epileptische Kinder geboren; nach einigen Jahren legte er sein Amt wieder nieder und kehrte zur Mässigkeit zurück; das nächste Kind zeigte normales Verhalten,

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missbrauch“; nur bei 1°/, unser Kranken konnte Alkoholmissbrauch vor dem Eintritt der Epilepsie nachgewiesen werden, auch hier handelte es sich haupt- sächlieh um belastete Kinder.*) Ohne weiteres ist dazegen zuzugeben, dass eine bestehende Epilepsie durch Alkohol immer verschlimmert wird.**) Bewirkt nun aueh der Alkohol nur in seltenen Fällen Epilepsie, so übt er doch auf den kindlichen Organismus solch unheilvolle anderweitige Schädlichkeiten aus, dass nicht dringend genug davor gewarnt werden kann, Kindern Spirituosen zu verabreichen.

Frei von hereditärer Belastung und frei von Schädlichkeiten, die nach der Geburt eine Disposition zu Epilepsie schaffen, sind nur 10°/, unserer Kranken.

Der Beginn der Erkrankung fällt in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle in das Kindes- und Jugendalter; von den hiesigen Kranken wurden 88%, vor Ablauf des 15. Lebensjahres von Epilepsie befallen, die höchste Zahl weist das 10. Lebensjahr mit 7,4°/, auf.

Die Anstaltshilfe wurde verhältnismässig spät in Anspruch genommen, nur 3°, kamen im ersten Jahr der Erkrankung und 40°, vor Ablauf der ersten 5 Jahre in die Anstalt. Der Anstaltsaufenthalt selbst hatte bei 23°/, kürzer als ein Jahr gedauert, länger als 5 Jahre blieben nur 18°/,.

Die Epilepsie ist eine chronische Krankheit, welche sich in ihrer typischen Form in Anfällen von Bewusstlosigkeit mit oder ohne Muskelkrämpfe äussert, ihre Erscheinungen treten unter wechselnden Bildern auf: der grosse Anfall mit länger oder kürzer dauernder Bewusstlosigkeit und allgemeinen Muskel- krämpfen; der kleine Anfall mit rasch vorübergehender Bewusstseinsaufhebung ohne motorische Erscheinungen; die psychische Epilepsie, bei welcher statt des Anfalls ein Tage bis Wochen dauernder Zustand von Geistesstörung auftritt, der sich erstreckt von traumhafter Bewusstseinstrübung bis zum ausgesprochenen Stumpfsinn. In sehr vielen Fällen gehen diese drei Formen neben einander her. Die epileptischen Anfälle sind an keine Tageszeiten gebunden, sie stellen sich bei Tag und bei Nacht ein, ihre Häufigkeit ist äusserst wechselnd, manche Kranke bleiben Monate und Jahre verschont, andere haben nur freie Zwischen- räume von Stunden und Tagen.***) Besonders gefürchtet sind die gehäuften Anfälle, der sog. status epilepticus: begleitet von hohem Fieber treten die Anfälle mit Pausen von wenigen Minuten auf, wiederholt wurden hier innerhalb weniger Tage über 1000 Anfälle bei einem Kranken beobachtet.

Schwere Erregungszustände mit vollständiger Verkennung der Umgebung

*) Ein Fall ist besonders bemerkenswert; das Kind hochgradig dem Trunk ergebener Eltern erkrankte unmittelbar nach einem schweren Schnapsrausch an Konvulsionen und blieb von da ab epileptisch.

**) Erst in den letzten Tagen erhielt ich hiefür wieder eine Bestätigung. Ein 36 Jahre alter Epileptiker, der früher recht häufig von Anfällen heimgesucht und unter der von hier aus eingeleiteten Behandlung bci absoluter Abstinenz über !/, Jahr anfallsfrei geblieben war. liess sich anlässlich eines Familienfestes zu Biergenuss verleiten und gleich darauf stellte sich wieder ein Anfall ein.

***) Ein 9 Jahre altes Mädchen hatte während ihres 16 Monate dauernden Anstalts- aufenthaltes 16832 Anfiille.

167 und hochgradiger Gemeingefährlichkeit sind ein häufiges Vorkommnis bei er- wachsenen Epileptischen meist nach längerem Aussetzen der Anfälle; da nach Einsetzen der Anfälle in der Regel rasche Beruhigung eintritt, liegt: der Gedanke nahe, dass durch die Anhäufung irgend eines Giftstoffes das Centralnervensystem alteriert wird und der epileptische Anfall dann gleichsam als Entladungs- und Reinigungsprozess anzusehen ist. Ähnlich wird wohl die in unsrer Anstalt so häufig beobachtete Erregung ohne Bewusstseinsstörung die zornige Ver- stimmung und das aufdringliche Querulieren zu deuten sein, auch hier tritt mit dem Einsetzen der Anfälle sofort ein Stimmungswechsel ein.

Derartige Erregungszustände und hauptsächlich auch die psychische Epilepsie bringen den Epileptischen häufig mit den Strafgesetzen in Konflikt; wir haben einmal einen Epileptischen mit 34 Vorstrafen hier aufgenommen, und manchen unserer früheren Anstaltspfleglinge mussten wir im Zuchthaus wiederfinden.

Bei längerem Bestehen der Epilepsie macht sich eine dauernde Beeinträch- tigung des Geisteslebens bemerkbar, die bedingt ist durch eine Erkrankung der Hirnrinde; 39°), unserer Kranken blieben von einer solchen Schädigung frei, Wildermuth nimmt 22°/, an, Kölle 28°/,, Pelmann dagegen 50,8%/,.

Verhältnismässig am wenigsten schädigt die Epilepsie die Verstandesthätig- keit, es giebt einzelne Epileptiker, die dauernd sogar ganz hervorragende geistige Leistungen aufzuweisen haben. Bei über 60°/, der Epileptischen, die in die Anstalt eintreten, findet sich ein mehr oder weniger ausgeprägter, eigenartiger Schwachsinn. In leichteren Fällen bleibt die Orientierung, die Besonnenheit und der Zusammenhang des Gedankengangs fast vollständig erhalten, aber die geistige Regsamkeit geht allmählich verloren, das ganze geistige Leben spielt sich langsam und schwerfällig ab. Der Kranke vermag keine wesentlich neuen Erfahrungen mehr in sich aufzunehmen und zu verarbeiten, sondern bewegt sich mit Vorliebe in gewohnten Bahnen; es fehlt ihm jener Überblick über die Lebens- erfahrungen, welcher uns befähigt, das Wichtige von dem Nebensächlichen zu trennen und, einen Gedankengang geradewegs einem bestimmten Ziele zuzuführen (Kräpelin). Es wird dadurch die Umständlichkeit der Epileptischen bedingt die der Umgebung so manche Geduldsprobe auferlegt. Nahezu in allen unsern Fällen hat das Gedächtnis in mehr oder weniger hohem Grad notgelitten, es geht allmählich eine grosse Zahl von Erfahrungen des früheren Lebens verloren und nur diejenigen Vorstellungskreise bleiben erhalten, die sich durch immer- währende Wiederholung unverrückbar befestigt haben; schliesslich verfügt der, Kranke nur noch über einen kleinen Vorrat von Ideen, doch kann er sich im Gegensatz zu den Idioten innerhalb dieses kleinen Kreises von Vorstellungen noch klar und zusammenhängend bewegen. Innerhalb der Anstalt mit ihrem gleichmässigen Lebensgang erscheinen derartige Kranke noch verhältnismässig leistungsfähig, in den Stürmen des Lebens leiden sie gar bald Schiffbruch.

Die stärksten und frühesten Umwälzungen pflegt die Epilepsie auf gemüt- lichem Gebiet hervorzurufen, auch da wo eine Beeinträchtigung der Verstandes- thätigkeit nicht erkennbar ist. Es entwickelt sich eine Steigerung der gemüt- lichen Reizbarkeit, die Kranken werden empfindlich, launenhaft, rechthaberisch,

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geraten bei geringfügigen Anlässen in heftige Zornausbrüche mit rücksichtsloser Gewaltthätigkeit, es bildet sich ein starker Egoismus aus, der jeden Eingriff in die eigenen Rechte ungemein lebhaft empfinden lässt; eine gewisse Unbeständig- keit pflegt sich ihrer zu bemächtigen, ganz gute Arbeiter in der Anstalt, ver- sagen sie draussen in den meisten Fällen, sie halten nur kurze Zeit an einem Platze aus, verlassen gute Stellungen ohne erkennbaren Grund, ziehen planlos in der Welt umher und liefern auf diese Weise einen sehr starken Beitrag zu den Insassen der Arbeitshäuser und Gefängnisse.

Nicht so ganz selten geht diese Änderung des Charakters dem eigentlichen Beginn der Epilepsie voraus.

Wir unterscheiden 2 grosse Gruppen von Epilepsie:

1. Die echte Epilepsie, über deren direkte Veranlassung noch nichts Sicheres bekannt ist; in neuester Zeit wurden interessante Versuche veröffentlicht, die es als wahrscheinlich erscheinen lassen, dass es sich bei der echten Epilepsie um eine Stoffwechselkrankheit handelt; von unseren bis zum Ende des Jahres 1898 entlassenen 757 Kranken haben. 614 an echter Epilepsie gelitten.

2. Die Rindenepilepsie, die eine Folge von Herderkrankungen im Gehirn ist; charakteristisch für diese Art von Erkrankung ist, dass in den ersten Jahren des Bestehens die Krämpfe meist auf eine Körperhälfte beschränkt sind, und dass das Bewusstsein dabei erhalten bleibt; bei längerem Bestehen verwischen sich die Unterschiede zwischen echter und Rindenepilepsie immer mehr. Dass die Rinden- epilepsie einen unheilvolleren Einfluss auf das Geistesleben ausüben solle, kann ich nach meinen Erfahrungen nicht bestätigen. Von unseren Kranken haben 142 an Rindenepilepsie gelitten.

Die Reflexepilepsie, die von der krankhaften Reizung eines peripheren Nerven ausgeht, wurde hier nur einmal beobachtet.

In der Abteilung für Epileptische hatten seit der Eröffnung auch noch 79 Kranke Aufnahme gefunden, die an Hysterie und jugendlichem Irrsinn litten, 60°/, derselben verliessen die Anstalt als genesen.

Die Vorhersage Prognose -— der Epilepsie ist eine recht ernste; die Lebensdauer wird verkürzt durch die Epilepsie, in unserer Anstalt starben 73°/, vor Beginn des 30. Lebensjahres; ausserhalb der Anstalt ist die Sterblichkeit noch höher, da dort die Unglücksfälle eine grössere Rolle spielen. Bei unseren Todesfällen hat in 62°), die Epilepsie selbst zum Tode geführt, meist durch gehäufte Anfälle; je 8°, erlagen der Tuberkulose und akuten Lungenentzündungen.

Die Heilung ist nicht so selten, wie man gewöhnlich annimmt, unsere Anstalt hat 16°/, als geheilt verlassen. Diese Zahl ist für Dauerheilungen zu hoch; seit Wildermuth den Satz aufgestellt hat: „als geheilt ist nur der zu betrachten, der über 1 Jahr frei von Anfällen und über !/, Jahr kein Anti- epileptikum mehr erhalten hat“, haben wir in hiesiger Anstalt 9°/, Heilungen. Als wesentlich gebessert verliessen unsere Anstalt 31°/,, hierunter sind auch solche, die Jahre lang frei von Anfällen sind, aber sobald sie keine Arznei mehr

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nehmen, wieder Anfälle bekommen. Ungebessert traten 30°, aus und gestorben sind 22%,.

Die Prognose bei echter Epilepsie ist um so günstiger, je frühzeitiger die Kranken in geeignete Behandlung kommen. Von den Geheilten wurden 61°/, in die Anstalt aufgenommen, ehe die Krankheitsdauer 5 Jahre überschritten hatte, von den Gebesserten 40.°/, und von den Ungebesserten nur 27°/,.

Es ist vielfach die Ansicht verbreitet, dass die Fälle mit hereditärer Be- lastung eine ungünstigere Prognose geben. Ich kann das auf Grund des hiesigen Materials nicht bestätigen; unsere Geheilten weisen 57°/, Belastung auf, die Gebesserten 43°, und die Ungebesserten und Gestorbenen je 40°/,.

Bei meinen Untersuchungen habe ich besonders darauf geachtet, ob es möglich ist, aus einer genauen Krankheitsgeschichte eine bestimmte Prognose zu stellen; ich bin zu dem Schlusse gekommen, dass dies nur in seltenen Fällen zutrifft. Nur einige Anhaltspunkte habe ich gefunden; am günstigsten verlaufen die Fälle, bei denen keine direkte Ursache nachweisbar ist, bei denen keine Konvulsionen des Säuglingsalters aufgetreten sind, die keine krankhafte Ver- änderung des Gehirns erkennen lassen, und die geistig gar nicht oder nur wenig gelitten haben, und die Prognose trübt sich immer mehr, je mehr derartiges nachzuweisen ist. Der Zeitpunkt des Beginns der Epilepsie und die Art des ersten Auftretens sind für die Stellung der Prognose nicht zu verwerten.

Die Rindenepilepsie bietet eine viel ungünstigere Prognose, als die echte Epilepsie; wir haben nur 3°/, Heilungen und 38°/, Todesfälle; der Prozentsatz der Gebesserten und Ungebesserten zeigt keinen wesentlichen Unterschied gegen- über der echten Epilepsie.

Die Behandlung der Epilepsie hat möglichst frühzeitig zu beginnen, sie muss sich auf Regelung der gesamten Lebensführung erstrecken und darf: sich nicht auf die Verordnung von Arzneimitteln beschränken. Es sollte eigentlich selbstverständlich sein, dass die Anordnung und Leitung der Behandlung aus- schliesslich Sache des Arztes ist, und doch hat bei keiner Krankheit die Un- wissenschaftlichkeit sich breiter gemacht, das Kurpfuschertum sich wohler gefühlt, und nirgends sind die klugen Frauen, die Schäfer, die Besprecher durch Zauberformeln anmassender, als bei der Epilepsie. Es giebt kein Mittel auch die ekelerregendsten Dinge werden nicht verschmäht -- das nicht schon gegen Epilepsie gebraucht wurde, und täglich kann man in den Tageszeitungen neue Empfehlungen lesen, die nur auf den Unverstand und den Geldbeutel des Pub- likums berechnet sind. Soweit es sich um wirkliche Arzneimittel handelt, habe ich mit einer ganzen Reihe solcher Mittel Versuche angestellt und mich z T. von ihrer Wertlosigkeit überzeugt, z. T. habe ich gefunden, dass der Preis der- selben im Verhältnis zur Wirkung viel zu hoch ist. In der Mehrzahl der Fälle enthalten diese Gebeimmittel irgend ein Bromsalz und zur Verschleierung noch einige mehr oder weniger harmlose Beimischungen, die recht teuer bezahlt werden müssen. Nach forcierten Wasserkuren nach Kneipp’scher Methode habe ich noch immer Verschlimmerung eintreten sehen; die Homöopathie kann bei der Epilepsie keine Erfolge erzielen. Nicht so ganz selten sind die Fälle, bei

170 denen durch einfache Versetzung in die Anstalt der Epilepsie Einhalt gethan wird, meist handelt es sich um eine Epilepsie, die ohne äussere Veranlassung plötzlich und heftig mit grossen Anfällen eingesetzt hat.

Die Bromsalze sind bis heute von keinem anderen Mittel übertroffen worden, nur bei nächtlicher Epilepsie und bei der Häufung von Anfällen ist das von Wildermuth eingeführte Amylenhydrat vorzuziehen.

Das Publikum hegt immer noch eine grosse Scheu vor den Bromsalzen, die ganze Symptomengruppe der epileptischen Degeneration wird dem Brom zur Last gelegt. Es ist ja richtig, dass Brom in hohen Gaben und bei besonders empfindlichen Individuen schwere Vergiftungserscheinungen hervorrufen kann*), eine dauernde Schädigung des geistigen Lebens durch solche Vergiftungen habe ich nie gesehen. In der Jetztzeit wird es wohl kaum Kranke mit mehrjähriger Epilepsie geben, die nicht schon kürzer oder länger Bromsalze erhalten haben, aber wir dürfen nur die Resultate aus der Zeit vor der Einführung des Broms ansehen, um uns zu überzeugen, dass die Epilepsie früher viel häufiger und rascher zum Schwachsinn geführt hat. Häberle weist in den Jabresberichten unserer Anstalt wiederholt ausdrücklich auf die ganz erhebliche geistige Besse- rung hin, die nach Brombehandlung eingetreten ist. Wildermuth äussert sich: „Bricht man mit dem Brom ab und lässt der Krankheit freien Lauf, so wird man sich bald davon überzeugen, dass durch die Anfälle das geistige Leben weit schwerer beeinträchtigt wird, als durch Brom“. Auch mir steht eine ganze Anzabl von Fällen zu Gebote, durch die ich nachweisen kann, dass mit dem Einsetzen der Brombehandlung und dem dadurch bedingten Aufhören der Anfälle das geistige Leben sich ganz wesentlich hob**,. Es wird kaum ausdrücklich betont werden müssen, dass nicht das Brom, sondern das durch das Brom be- dingte Aussetzen und Seltenerwerden der Anfälle die geistige Besserung bewirkt.

Die Anstaltsbehandiung hat abgesehen von den Fällen, die gleich beim Beginn der Erkrankung erhebliche geistige Störung aufweisen erst dann ein- zusetzen, wenn die Behandlung in der Familie zu keinem Ziel geführt hat oder sich dort überhaupt nicht durchführen lässt. Wie lange sie zu dauern hat, lässt sich nicht im voraus bestimmen, als unterste Grenze ist ein Jahr anzunehmen. Langer dauernder Anstaltsaufenthalt ist bei jugendlichen Epileptischen zu empfehlen, die ausserhalb der Anstalt infolge ihrer Krankheit keinen Schul- unterricht geniessen können, und bei Erwachsenen, die draussen keine Arbeit finden. Lebenslänglicher Anstaltsaufenthalt ist notwendig fūr unheilbare Kranke, die weder unterrichts- noch arbeitsfähig sind, und für Epileptiker, die an perio- discher Geistesstörung mit Gemeingefährlichkeit leiden.

*) Ich erinnere mich eines 8jährigen Knaben, der täglich 15 g Bromlalze erhalten hatte und unserer Anstalt in ganz verblödetem Zustand übergeben wurde; nach Weglassung dieser unsinnigen Gabe erholte sich der Knabe rasch und verliess später die Anstalt geistig und körperlich vollständig frisch.

**) Besonders lebhaft ist mir ein Fall erinnerlich, bei dem ich gegen den Willen der Angehörigen die Brombehandlung durchführte, und wo sich der vorber dem Blödsion ver- fallene Patient in kurzer Zeit geistig recht gut erholte,

Auf die Organisation der Epileptikeranstalten einzugehen, würde heute zu weit führen. Ich möchte nur aussprechen, dass die Leitung einer Anstalt für jugendliche Epileptische zweckmässig in den Händen eines Pädagogen und eines Arztes liegt, um den beiden Hauptforderungen, der Erziebung und der Heilung, gerecht zu werden.

Mitteilungen.

Braunschweig. (Die Fürsorge für die geistig Minderwertigen im Herzogtum Braunschweig.) Über dieses Thema referierte auf dem Verbandstage des „Braunschw. Landeslehrervereins* in Wolfenbüttel Herr Kielhorn- Braunschweig. Sein Vortrag gipfelte in folgenden Ausführungen: Die geistig Minderwertigen zerfallen in 8 Gruppen: Blödsinnige, Schwachsinnige und Schwachbefähigte. Die blödsinnigen Kinder sind vom Besuche der Gemeinde- bezw. Bürgerschulen auszuschliessen und der entsprechenden Anstalt zu überweisen. (8 1 d. Ges. v. 30. März 1894, Fürsorge für die geistig Minderwertigen im Herzogtum Braunschweig.) Die schwachsinnigen Kinder sind zunächst in die Gemeinde- bezw. Bürgerschulen aufzunehmen und, nachdem der Schwachsinn genügend festgestellt ist, mit dem 7. Lebensjahre der betreffenden Anstalt zu überweisen. (8 1 desselben Ges.) Die schwachbefahigten Kinder sind zunächst in die Gemeinde- bezw. Bürgerschulen aufzunehmen und, nachdem während eines etwa zweijährigen Schulbesuches die schwache Befähigung festgestellt ist, der Hilfsschule zu überweisen. Wo diese nicht vorhanden ist, müssen die Kinder in den Gemeinde- bezw. Bürgerschulen geduldet werden. Es ist zu erstreben, dass die Städte des Herzogtums Hilfsschulen errichten, und dass verschiedene Ortschaften bei günstiger Lage -— zusammen eine Hilfsklasse unterhalten. So lange die schwach- sinnigen und schwachbefähigten Kinder die Gemeinde- bezw. Bürgerschule besuchen, hat sie der Lehrer unter seine besondere Obhut zu nehmen. Sie sind an Gehorsam, Fleiss, Ordnung und gute Sitte zu gewöhnen, im Unterrichte vor Überbürdung zu bewahren; insonderheit dürfen sie nicht bestraft werden, wenn sie in ihren Leistungen hinter den Anforderungen der Schule zurückbleiben. Lehrer, Seelsorger und Arzt haben die Pflicht, den Eltern geistig minderwertiger Kinder Aufschluss über die zu treffonden erziehlichen Massnahmen zu geben. Die Erziehung geistig minderwertiger Kinder hat nach den bewährten pädagogischen Grundsätzen zu geschehen. An Hilfs- wissenschaften sind zu Rate zu ziehen: Pathologie, Hygiene, Psychologie, Psycho- pathologie und Psychiatrie. Die Hauptaufgabe der Hilfsschule und Anstalt ist: aus den Kindern religiöse, sittlich gute Menschen zu bilden, soweit als möglich ihre Schwächen zu mildern und ihre Erwerbsfähigkeit vorzubereiten. Der Unterricht in Hilfsschule und Anstalt trage überall erziehlichen Charakter, passe sich auf allen Stufen gewissenhaft dem geistigen Vermögen der Kinder an, vermeide Vielwisserei, erzeuge innere Durchbildung und sichere Aneignung des Stoffes und lehre auf die mannigfachste Weise die Verwertung des Gelernten im späteren Leben. Die Lehrer der geistig Minderwertigen müssen neben gründlicher pädagogischer Vorbildung päda- gogische Erfahrung besitzen, mit den erwähnten Hilfswissenschaften und dem Wesen

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der Minderwertigkeit vertraut sein und einen ruhigen, freundlich ernsten Charakter haben Es ist erforderlich, dass für die schwachsinnigen und schwachbefähigten Kinder im nachschulpflichtigen Alter erziehliche Massnahmen getroffen werden. Diese bestehen in Fortbildungsschulen, welche mit der Hilfsschule bezw. Anstalt zu verbinden sind; Werkstätten verschiedener Art, in denen die Knaben etwa bis zum vollendeten 16. Jahre zu unterweisen und von denen aus sie zur weiteren Aus- bildung Handwerksmeistern zu übergeben sind; Unterweisungen in der Garten- und Feldarbeit für Knaben und Mädchen; Unterweisangen der Mädchen in häuslichen Arbeiten und in weiblichen Handarbeiten; Gewährung von Prämien seitens des Staates an Handwerksmeister für gute Ausbildung der Lehrlinge; Beaufsichtigung der entlassenen Kinder, besonders dann, wenn keine Kltern vorhanden oder diese unfähig sind, die Kinder genügend zu beaufsichtigen.

In betreff der Fürsorge für die geistig Minderwertigen in volkswirtschaftlicher Hinsicht führt der Referent folgendes aus: Die Blödsinnigen sind unfähig, am öffentlichen Leben teilzunehmen; sie sind der Pflege bedürfiig und müssen beim Eintritt der Volljährigkeit entmündigt werden. (8 6,1 d. B. G.-B.) Die Schwach- sinnigen werden unter günstigen Voraussetzungen in beschränktem Masse erwerbs- fähig, bleiben aber unselbständig und müssen beim Eintritt in die Volljährigkeit ent- mündigt werden. 6,1 d. B. G.-B.) Die Schwachbefähigten reifen durch eine planmässige Erziehung zu einer gewissen Selbständigkeit heran. Die meisten bleiben jedoch urteilsschwach, und diesen müssen beim Eintritt der Volljährigkeit Pfleger bestellt werden. (8 19,10 d. B. G.-B.) Die geistig Minderwertigen bedürfen in der Rechtspflege besonderer Berücksichtigung. Wenn sie Rechtsgeschäfte zu erledigen haben, ist es erforderlich, dem betreffenden Gerichte Auskunft fiber’ den Grad ihrer Zurechnungsfähigkeit zu geben. Für sie ist insonderheit der Nacheid geboten. Die schwach- und blödsinnigen, sowie die allermeisten schwachbefähigten jungen Leute sind unfähig im Heere und in der Marine zu dienen. Ihre Ausmusterung muss bei der Ersatzbehörde spätestens am Musterungstage beantragt werden unter Vorlegung von Zeugnissen und Gutachten, welche von den früheren Erziehern und von Ärzten auszufertigen sind. (8 9, Anlage 4 der Heeresordnung und 8 68, 7 der Wehrordnung.)

Langenhagen. (Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt für Geistesschwacha,.) Am Schlusse des letzten Berichtsjahres (31. März 1899) betrug die Zahl der Kranken 691 (417 m. und 274 w.). Davon standen im Kindesalter 283 Zöglinge. Die Schule besuchten 191 Kinder in 18 Klassen. Ausserdem waren noch vorhanden 2 Fort- bildungsklassen für Mädchen, 4 Singklassen und 6 Turnklassen. Die kleiusten und schwächsten Kinder wurden noch in 8 Kindergärten beschäftigt. Die älteren Zögliuge und Pfleglinge werden in verschiedenen Werkstätten, sowie in der Land- und Garten- wirtschaft beschäftigt. Der Reinertrag der Land- und Gartenwirtschaft bezifferte sich im Berichtsjahre mit 11186 Mark. Die Verpflegung eines Kranken kostete durch. schnittlich Mark 400,11. Der Personalwechsel war im allgemeinen ein starker, besonders gross aber war derselbe bei dem Wartepersonal. Bei einem Bestande von 17 Wärtern zum Beginn und 19 zum Schlusse des Jahres traten 32 ein und 81 aus, Von dem Bestande am Begiune des Jahres blieben nur 8 über den Schluss hinaus. Bei den Wärterinnen kamen 29 in Zugang und 86 in Abgang.

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Rastenburg, 0. P. (Idiotenanstalt.) Zum Direktor unserer Anstalt ist der Lehrer an der Leipziger Schule für Schwachsinnige, Herr Dr. A. Gündel, berufen. Derselbe tritt sein neues Amt im Dezember an.

Stetten i. R. (Heil- nnd Pflegeanstalt.) In der Abteilung für Epileptische befanden sich im September 1898 zusammen 222. Zöglinge, 122 m. und 100 w. Als geheilt bezw. gebessert konnten 15 Zöglinge entlassen werden, während 17 Zöglinge ungebessert die Anstalt verliessen und 5 starben. Bei 15 aufgenommenen Epileptischen konnte erbliche Anlage nachgewiesen werden. In der Epileptikerambulanz wurden in dem vorangegangenen Jahre 35 Kranke behandelt. Die Kosten der unentgeltlich abgegebenen Medikamente betrugen 248 Mark. Die Abteilung für Schwach- sinnige zählte Ende September 1898 im ganzen 229 Zöglinge, 156 m. und 78 w. Bei den 37 aufgenommenen Zöglingen konnte als Ursache der Erkrankung nach- gewiesen werden: Erbliche Anlage beruhend auf Vorkommen schwerer Nerven- und Gehirnkrankheiten bei 11 Kranken; Trunksucht des Vaters bei 4 Kranken; uneheliche Geburt bei 5 Kranken; Bilutsverwandtschaft der Eltern bei 1 Kranken. Frei von hereditärer Belastung sind 16 (43°/,).. Angeboren ist der Schwachsinn in 29 Fällen, 4 mal schloss er sich an Rhachitis an, 2 mal an Gehirnerschütterung und je 1 mal an Hirnhautentzändung und Scharlachfieber.

Wuhlgarten. (Anstalt für Epileptische.) Der Bestand an Kranken hat sich im letzten Jahre 1898/99 wiederum erhöht und zwar von 904 bis auf 962 Personen. Hiervon entfielen auf die Abteilung für Erwachsene 875 Personen, während im Kinder- hause sich 87 Zöglinge befanden. Von diesen besuchten durchschnittlich 63 die Schule Die Unterweisung der Knaben in einem Handwerk bestand vornehmlich in der Anleitung zur Anfertigung leichter Buchbinderarbeiten; die Mädchen erhielten täglich vor-- und nachmittags je eine Stunde Unterricht in weiblichen Hand- arbeiten. Im Sommer wurden die Kinder abteilungsweise zar Thätigkeit im Schulgarten herangezogen; endlich erhielt eine Gruppe von Knaben, und vorüber- gehend auch eine solche von Mädchen, Unterricht in der Anfertigung von Kerb- schnitzarbeiten. Wie im Vorjahre wurde auch fernerhin der Unterricht in halb- stindigem Wechsel der Lehrgegenstände erteili. Den Konfirmandenunterricht besuchten im Berichtsjahre 7 Knaben und 4 Mädchen.

Bei der Behandlung der Kranken kamen versuchsweise 2 neue Mittel in Ver-

wendung. Der Verwaltungsbericht teilt darüber folgendes mit: „Die chemische Fabrik vormals Friedrich Beyer & Co. in Elberfeld stellte

uns auf Grund günstiger Angaben eines englischen Arztes Trional zur Verfügung, um es an unseren Kranken zu prüfen. Wir konnten nach unseren Erfahrungen die gehegte Erwartung nicht bestätigen, mussten vielmehr bekennen, dass das Mittel kaum geeignet ist, allgemeiner bei der Epilepsie empfohlen zu werden. Wir haben das Mittel bei Epileptischen, die vornehmlich an kleinen Anfällen litten, ohne allen Erfolg bleiben sehen. Bei solchen Epileptischen, die an den voll entwickelten Anfällen litten, konnte man an einzelnen einen günstigen Einfluss auf die Zahl der Anfälle erkennen, bei anderen traten aber unter der Behandlungsweise schwere Verwirrungs- zustände auf, die nach Entziehung des Mittels erst langsam schwanden. Bei einer Kranken offenbarte sich die Wirkung darin, dass die Zahl der Anfälle nicht herab-

in

gemindert, doch die Zeit ihres Anftretens verschoben wurde. Das Trional könnte nach diesen Beobachtungen daher immerhin nur versucht werden, wenn andere Mittel, besonders das Bromkalium, versagen oder nicht vortragen werden. Das zweite Mittel, das uns durch Vermittelung von Dr. B. Laquer in Wiesbaden von dem pharmazeutischen Institut von L. W. Gans in Frankfurt a. M. zukam, hatte die Vorempfehlung, dass es ein Brommittel war. Das Bromalbacid ist eine Halogen- verbindung des Eiweisses. Nach der Empfehlung, die der Hersteller ihm mitgiebt, sollen die Halogeneiweissderivate vor allen gebräuchlichen Halogenpräparaten zwei besondere Vorzüge besitzen: das ist die in ihrer Eiweissnatur begründete Unschädlich- keit für jeden Organismus und die volle Ausnutzung ihres Halogengehaltes seitens des Körpers, die dadurch bedingt ist, dass die Nieren die Halogeneiweisskörper eben- sowenig durchlassen, wie die anderen Eiweisspräparate. Das Bromalbacid besitzt einen Gehalt von 6°, Brom, mithin sind in 1 g 0,06 Brom enthalten, während der Brom- gehalt von 1,0 Bromkalium 0,66 beträgt. Die Tabletten (zu 0,5 g) hatten einen eigentümlichen Bromgeruch, wurden indessen von den Kranken ohne weiteres gut genommen. Wir gaben 6 Tabletten den Tag. Das Ergebnis der Versuche mit dem Bromalbacid war nicht günstig, so dass wir es nur bei wenigen bewenden liessen. Zusammenfassend liess sich fesstellen, dass in allen vier Versuchsfällen (von genuiner Epilepsie), die zum Teil vorher Bromkalium bekommen hatten, ein Einfluss auf die Zahl und Art der Anfälle nicht zu erkennen war, und dass in drei Fällen unangenehme Nebenerscheinungen auftraten, die Zeichen von Bromismus: Dyspepsie, geistige Ab- stumpfung, starke Benommenbheit, gedrückte Stimmung, körperliche Schwäche, taumeln- der Gang, Beschwerden, die nach Aussetzen des Mittels langsam schwanden. In einem Falle traten keine üblen Erscheinungen auf, aber auch kein sonstiger Einfluss in die Erscheinung. Bei dem einen Kranken besserte sich die unter der Bromkalibehandlaung beständig vorhandene Acne auffallend. Unsere Versuche beweisen so viel, dass dem Alkali bei der Bromverabreichung an die Epileptiker ein nicht unwichtiger Einfluss zuzugestehen ist, da ja bekanntlich das Bromkalium am besten zu wirken pflegt jedenfalls trifft die Behauptung des Verfertigers, dass das Bromalbacid alle Heil- wirkungen der bekannten Brompräparate entfaltet, ohne deren schädliche Neben- wirkungen zu teilen, nicht zu.

Ebenso wenig günstig wie die Versuche mit gegen die Epilepsie gerichteten Mitteln waren Versuche mit Lactophenin, das uns von der Firma Boehringer und Sohn zur Verfügung gestellt wurde. Wir konnten die schlafmachende Wirkung, die ihm von anderer Seite (Dr. Andrea Christiani in Lucca) zugeschrieben wurde, nicht bestätigen.“

Zürich. (Schweizerische Anstalt für Epileptische). Die Anstalt zählte am Schlusse des letzten Jahres 147 Pfleglinge, 47 männliche und 100 weibliche. Ausgetreten waren im Laufe des Jahres 26, von deren 4 als genesen und 7 als ge- bessert zu bezeichnen waren Unter den im Jahre 1899 in der Anstalt anwesenden 173 Pfleglingen waren die meisten 127 mehr oder weniger schwachsinnig, wirklich blöde 26 und normal nur 20. Mit Recht beklagt die Anstalteleitung sich darüber, dass ihr die Zöglinge meist erst im vorgeschrittenen Alter zugeführt werden, wodurch nicht nur der Unterricht und die Erziehung, sondern auch die Heilung Nach-

teile erleidet. Wie wichtig es ist, Epileptische möglich jung der Anstaltsbehandlung zuzuführen, ist des weiteren in einer dem 14. Jahresberichte beigegegebenen Arbeit des Anstaltsarztes Dr. Ulrich ausgeführt, die wir darum auch in unserem Blatte zum Abdruck bringen werden.

Mauren. (Anstalt für schwachsinnige Kinder) Aus dem letzten Be- richte ist zu entnehmen, dass sich am 1, Januar 1899 in der Anstalt 20 Knaben und 23 Mädchen, zusammen also 43 Kinder befanden, von denen 41 evangelisch und 2 katholisch waren. Im Laufe des Jahres traten 9 Kinder sus, welche durch 9 Neu- eintretende ersetzt wurden, so dass zu Ende des Jahres die Zahl der Kinder wiederum 43 betrug. Eine grössere Zahl dieser Kinder war von den Gemeinden, einige vom Armenerziehungsverein in der Anstalt untergebracht. Für solche Kinder wird in der Regel das Minimum des reglementarisch vorgeschriebenen Kostgeldes, also 250 Fr. verlangt.

Budapest. (Organisationsreglement des Landesfachrates der heilpäda- gogischen Anstalten Ungarns.) Vor etwa 2 Jahren hat das gesamte heilpäda- gogische Unterrichtswesen Ungarns eine gesetzliche Regelung erfahren. Aus dem betreffenden Erlass teilen wir folgendes mit.

Der Präses des Fachrates ist immer der Leiter der kompetenten Sektion des Kultusministeriums. Mitglieder des Fachrates sind der Direktor der Landestaubstummen- anstalt zu Waitzen, der Direktor der Taubstummenschule zu Budapest, der Direktor der Budapester Landes-Blindenanstalt, der Direktor der Landesanstalt für Schwach- sinnige und Idioten, ferner solche Fachmäuner, die aus der Reihe der heilpäda- gogischen Lehrkörper vom Minister dazu ernannt werden.

Der Fachrat hält seine Sitzungen nach Bedarf, erörtert die in seinem Wirkungs- kreise gehörigen Angelegenheiten und unterbreitet seine Vorschläge dem Kultusminister, Der Kultusminister kann in solchen Fällen, in welchen es sich als notwendig zeigt, auch solche Fachmänner zur Verhandlung einladen, die dem Fachrate nicht zugehören. Diese einberufenen Fachmänner nehmen teil an der Abstimmung in der Angelegenheit der besonderen Fragen, und ihre etwaigen Sondermeinungen werden zu Protokoll ge- nommen oder eventuell dem Protokolle beigefügt.

Ein Mitglied des Fachrates wird vom Minister von Jahr zu Jahr mit der Funktion eines Referenten betraut. Der Referent führt das Exhibitenprotokoll,: das Expeditions- und Postbuch und bewahrt das Archiv des Fachrates. Der Präses und die ordent- lichen Mitglieder des Fachrates erhalten bei jeder Beiwohnung der Sitzung ein ihrem Gehalt entsprechendes Diurnum; die Reisespesen werden den Mitgliedern zurück- erstattet. Das Honorar des Referenten wird der geleisteten Arbeit entsprechend vom Kultusminister festgesetzt. Der Fachrat ist unmittelbar dem Kultusminister unter- geordnet und erhält deshalb die Ministerialverordnungen und Instruktionen direkt vom Minister und adressiert selne Berichterstattung immer unmittelbar an den Minister.

Die Aufgaben des Landesfachrates der heilpädagogischen Anstalten sind ins- besondere folgende: 1. Der Fachrat dussert betreffs der vom Minister zu ihm hinge- wiesenen Angelegenheiten seine Meinungen. 2, Er betraut ein Mitglied oder einen anderen Fachmann eines Institutes mit der Inspizierung der Anstalten und unterbreitet nebst Beifügung seiner Meinung«den Bericht des Ausgesandten dem Minister. 3. Um

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die Sache der heilpädagogischen Anstalten zu fördern, reicht der Fachrat aus eigener Initiative dem Minister entsprechende Vorschläge ein, verfolgt mit lebhafter Aufmerk- samkeit die auf diesom Gebiete auftauchenden gesellschafllichen Bewegungen, informiert den Minister, dass dieser diesen Bewegungen Unterstätzung und Richtung gebe. 4. Die wichtigste Aufgabe des Fachrates ist die Inspizierung des Unterrichts- und Bildongs- wesens der sämtlichen heilpädagogischen Anstalten, weshalb es auch erforderlich ist, dass der Fachrat das Wirken der Anstalten um so eindringlicher kenne.

Litteratur. Der erste Leseunterricht auf phonetischer Grundlage. Ein Beitrag zur Hygiene der Sprache. Von Fr. Frenzel, Leiter der städt. Hilfsschule zu Stolp i. Pommern. Preis 40 Pf.

Vorliegendes Schriftchen ist der Sonderabdruck einer in der Medizinisch -päda- gogischen Monatsschrift für die gesamte Sprachheilkunde erschienenen Arbeit des den Lesern d. Bl. bekannten Verfassers. Ks behandelt auf 18 Seiten den ersten Lese- unterricht auf phonetischer Grundlage, durch welchen teilweise wieder zurückgekehrt wird auf die Methode, nach welcher der Leseunterricht erteilt wurde, ehe die Schreib- lese- und Normalwörter-Methode aufkam. Für die l,eser unseres Blattes ist die Arbeit von Interesse, ob dieselben aber unserm geehrten Mitarbeiter in der gleichzeitigen Be- haudlung von 2 Alphabeten folgen werden, erscheint uns fraglich. Dass der Lese- und Schreibunterricht bei schwachsinnigen Kindern nicht immer Schritt zu halten vermag, lehrt die Erfahrung. S.

Die X. Konferenz für das Idiotenwesen und Schulen für schwachsinnige Kinder

findet in September 1901 in Elberfeld statt. Im Interesse der guten Sache bittet der Unterzeichnete etwaige auf die Konferenz bezügliche Wünsche schon jetzt an ihn gelangen zu lassen und Vorschläge für die Beratung möglichst bald, spätestens aber bis Ende März 1901 einzusenden.

Daildorf, im Septr. 1900. H. Piper, Vorsitsender der IX, Konferenz.

—r —— ——

Briefkasten.

F. Fr. i. St. Besten Dank für freundliche Zusendung des Heftes, das Sie inzwischen wieder zurückerhielten. H. M. i. L. Für Ihre freundliche Zusags verbindlichsten Dank! Die beigelegte Mitteilung erscheint in nächster Nr. W. H. 1. 2. Nr. 11 ist bereits in Vorbereitung und erscheint noch vor Ende November.

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Inhalt: Das Gefühlsleben der Geistesschwachen. E Frenzel). Über den Lebens- zweck der Blödsinnigen. (K. Ziegler). Bericht über die Abteilung der Epileptischen der Heil- und Pflegeanstalt in Stetten i. R. (Dr. Habermas). Mitteilungen: Braunschweig, Langenhagen, Stetten i. R., Wuhlgarten, Zürich, Mauren, Budapest. Litteratur: Der erste Leseunterricht auf phonetischer Grundlage. Die X. Konferenz für das Idiotenwesen und Schulen für schwachsinnige Kinder. Briefkasten. i

Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. ruck von Johannes Păssler in Dresden.

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` Zeitschrift

Behandlung Schwachsimmger mi Fpileptischer.

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Organ der Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

`- herausgegeben von

Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, Spezialarzt Dresden - Strehlen, fir Nervenkrankheiten Residenzstrasse 27. i ttgart. Erscheint jährlich in 12 Nummern von Zu beziehen durch alle Buchhandlungen mindestens einem Bogen. Anzeigen i ane Chriftleitung. wie auch direkt von der

die gespaltene Petitzeile 25 Pfg. Litte- | November (900. EE tung. Preis pro Jahr 6 Mark,

rarische Beilagen 6 Mark. Nummer 50 Pfy.

Die Original- Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber.

Über Alkoholwirkungen bei Epileptischen und Schwachsinnigen.

Von Dr. Th. Kölle, dirig. Arzt der Privatheilanstalt Schloss Pfullingen (Württemb.)

Die Wirkungen, welche chemische und pharmokologische Substanzen auf einen Organismus ausüben, hängen von der Natur und Dosis derselben einerseits, von der individuellen, dauernden oder zeitlichen Disposition des afficierten Organismus andererseits ab.

Neben den typischen Wirkungen, die ein Mittel zu entfalten pflegt, be- obachten wir häufig eine Reihe von „Nebenwirkungen“, welche bei dem einen Menschen mehr, bei dem andern weniger hervortreten. Die Ursache dieser ver- schiedenen Reaktionsweise ist eben in der zeitlichen oder dauernden individuellen Disposition des betreffenden Organismus begründet, und diese hinwiederum ist der Ausdruck der verschiedenartigen molecularen und chemischen Organisation der einzelnen Gewebe und Gewebssäfte. Welche Organe hier speziell in Betracht kommen, hängt sehr viel von der Natur der wirkenden Substanz ab. Sehr häufig trägt das Centralnervensystem selbst (infolge einer Uberempfindlichkeit gegen gewisse Reize) die Schuld dieser eigenartigen Ausdrucksweise in sich. So ist es z. B. bekannt, dass der Genuss von Erdbeeren, Krebsen, Morcheln u. s. w., welche den meisten Menschen angenehn: sind, bei gewissen Individuen leichtere oder schwerere krankhafte Erscheinungen, wie Hautausschläge, Erbrechen, Ohn- machten und andere nervöse Zufälle hervorrufen einen Zustand, den man auch mit dem Namen „Idiosyncrasie“ bezeichnet hat.

Zu den Substanzen, auf welche die einzelnen Menschen in so verschiedener Weise reagieren, gehört auch der Alkohol. Es ist eine allgemein bekannte. Thatsache, dass der eine nach Genuss alkoholartiger Getränke sehr heiter, aus-

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gelassen und redselig wird, ein anderer. wird trübsinnig, schwermütig, schweigsam, sieht alles schwarz an, bricht in Thränen aus (trunkenes.-Elend), ein dritter wird sehr übelnehmerisch, rechthaberisch, leicht ‘beleidigt, gewaltthätig, aggressiv gegen seine Umgebung u. s. w., kurz je nach dem Temperament und der Charakteranlage des einzelnen tritt nach Alkoholgenuss diese oder jene Erscheinung in den ‘Vordergrund.

Bei der Mehrzahl der geistig gesunden Menschen halten sich die durch Alkoholgenuss hervorgerufenen psychischen Gleichgewichtsstörungen in gewissen Grenzen und entsprechen je nach der Grösse der genossenen Dosis den ver- schiedenen Stadien der Berauschung oder Trunkenheit, die nach einiger Zeit mit psychischer und notorischer Lähmung, Schlaf u. s. w. endigt.

Nun zeigt aber die Erfahrung, dass es gewisse Menschen giebt, die auf Alkohol in einer Weise reagieren, welche dem gewöhnlichen durch denselben hervorgerufenen Bilde psychischer Gleichgewichtsstörung keineswegs mehr ent- spricht, dass hier vielmehr Erscheinungen auftreten, welche als transitorische psychotische Zustände zu betrachten sind. Die Beobachtung hat ergehen, dass es.sich bei solchen dem Alkohol gegenüber „intoleranten“ Meuschen meist um Individuen mit psychopathischer Disposition handelt, mag diese letztere auf an-- geborener Grundlage (hereditäre. Belastung, angeborene. psychopathische: -Kon- stitution oder Degeneration, Imbecillität, Idiotie u. dergl.) oder abef auf einer erst im Laufe des späteren lebens erworbenen Schädigung des Centralnerven- systems beruhen (nach Träumen, bei beginnender geistiger Störung, Epilepsie, nach schweren körperlichen Erkrankungen etc). Hier kann dia Reaktionsweise auf Alkohol ganz grundverschieden von der allgemein beobachteten sein, so dass man sie nicht mehr mit dem* landläufigen Ausdruck eines gewöhnlichen Rausches bezeichnen kann, sondern dass man sie als plötzlich einsetzende, transiterische geistige. Störung in des Wortes wahrster Bedeutung ansehen muss.

Man hat dieses abnorme Verhalten mit dem Namen der „pathologischen Ranschzustände‘‘ belegt, einer Bezeichnung, die nicht ganz korrekt ist. Denn an sich ist jeder Rausch etwas Pathologisches, d. b. eine akute, durch Alkohol hervorgerufene (Intoxikations) Psychose.

Nicht alle Psychopatben reagieren in dieser abnormen Weise auf geistige : Getränke, aber eg giebt eine Reihe unter ihnen, welche. sich durch eine: ausser- - ordentliche Intoleranz und Resistenzunfähigkeit dem Alkohol gegenüber aus- ~ zeichnet; schon geringe Dosen können genügen, um einen eminent schweren Ausschlag des psychischen Gleichgewichts, der in keinem Verhältnis zu. dem genossenen Quantum steht, herbeizuführen. Gerade dieses Missverhältnis hat etwas so charakteristisches an sich. Begünstigt wird das Eintreten der. patho- - logischen Rauschzustände durch Affekte, die an sich schon eine. Erschütterung der psychischen Gleichgewichtslage mit sich bringen.

In der Hauptsache spielen sich die pathologischen Rauschzustinde- in zwei verschiedenen Typen ab, je nachdem die Lähmungs- oder Reizerscheinungen vorherrschen. Entweder tritt schon nach geringen Dosen Alkohols eine tief- ausgesprochene Lähmung der psychischen und motorischen Funktionen ein: die

betreffenden Individuen verliefen sofort alle Herrschaft über sich selbst und ihre Bewegungen, können kein Glied mehr rühren, und verfallen bald in den tiefsten Schlaf; oder aber es treten heftige psychomotorische Reizerscheinungen auf: schwere maniakalische Erregungen, Tobsuchtsanfälle, Wutausbrücke, Halluzi- nationen, Verfolgungsideen, bochgradige gemütliche Reizbarkeit, impulsive Akte, Gewaltthätigkeiten, Neigung zu verbrecherischen Handlungen oder andererseits schwere melancholische Verstimmungen mit grosser Angst, schreckhaften Halluzi- nationen, Selbstmordversuchen (raptus melancholicus) u. 8. w., mit tiefen Störungen des Bewusstseins und nachfolgender mehr oder weniger ausgesprochener Erinnerungs- losigkeit. Zum Untersehied vom gewöhnlichen Rausch erleiden die Bewegungen in diesen Fällen meist keine Einbusse, sondern sind im Gegenteil sehr heftig und sicher.

Es ist Erfahrungsthatsache, dass namentlich die Epileptiker gegen Alkohol intolerant und zu solchen pathologischen Rauschzuständen disponiert sind und schon nach mässigem Alkoholgenuss die schwersten psychischen Störungen dar- bieten können (Wiederauftreten von Anfällen status epilepticus, schwere Dämmer- zustände mit Aufregungen u. dergl.). Verursacht doch übermässiger Genuss von Alkohol in vielen Fällen schon an sieh das erste Auftreten von epileptischen Anfällen (sogenannte Alkoholepilepsie). Bei ihrem meist brutalen und reizbaren Charakter können die Epileptischen in diesen Zuständen zu den schwersten Gewaltakten neigen: zu der epileptischen Disposition summiert sich eben die Alkoholwirkung: beiden gemeinsam sind die Störungen und Tribuagen des Bewusstseins. Dass diese Zustände eine hervorragende forensische Bedeutung haben, liegt auf der Hand. In der Literatur sind hinlänglich Beispiele davon gegeben. Aus der Züricher Klinik erinnere ich mich einiger diesbezüglicher Fälle:

Ein Epileptiker, der nach Genuss von Bier im Wirtshaus einschlief und von einem Kameraden mit den Worten: „nicht schlafen, lustig sein“, an der Nase gezupft wurde, zog ohne weiteres sein Messer aus der Tasche und erstach seinen Kameraden. Nachher fehlte ihm jede Erinnerung an die That. (Hier spielte ausser der epileptischen Disposition und der Alkoholwirkung die Schlafr trunkenheit eine gewisse Rolle.)

Ein anderer Epileptiker bekam im Wirtshaus nach Genuss von Wein mit seinen Begleitern Streit, geriet in Affekt und als der Wirt Ruhe stiften wollte, zog er seinen Revolver und schoss auf diesen, ohne jedoch zu treffen. Nachher vollkommener Erinnerungsdefekt.

Ein dritter Epileptiker war der Brandstiftung angeklagt: in der Trunkenheit und im Zorn über die Abwesenheit seiner Frau, schüttete er Petroleum auf den Boden seines Zimmers, zündete es an, ging auf das Gemeindehaus und meldete, dass es bei ihm zu Hause brenne. Der Brand konnte noch rechtzeitig gelöscht werden. Nachher wusste der Angeklagte weder von dem Brandfall, noch von seiner Anzeige im Gemeindehaus etwas. Er wurde abstinent, fing aber später wieder an zu trinken und bekam, so oft er betrunken war, seine epileptischen Anfälle Wegen eines deliriumartigen Zustandes wurde er in die Anstalt wieder aufgenommen und hatte in derselben (abstinent) keine Anfälle mehr. Später trat er ins blaue Kreuz ein.

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Die Beispiele liessen sich vervielfältigen.

Als Beispiel pathologischer Alkoholreaktion bei Idioten möchte ich die Geschichte eines Schwachsinnigen mitteilen, den ich hier in Behandlung hatte, und der sich durch eine ganz hervorragende Neigung zu Intoleranz gegen Alkohol auszeichnete.

Ph. K., 20 Jahre alt, ledig, katholisch, stammt von einem sehr leicht reiz- baren und aufbrausenden Vater ab, der kein Trinker gewesen sein soll. Sein Grossvater väterlicherseits sei ebenfalls ein sehr aufgeregter Mann gewesen. Eine Schwester seines Vaters hatte einen schwachsinnigen Sohn, der durch Selbst- mord endete. Patient war von Jugend auf schwach begabt, lernte schwer in der Schule und war immer einer der Letzten, war sehr eigensinnig, schwer lenksam und zu Händeln leicht geneigt. Körperliche Strafen hätten auf ihn keinen Eindruck gemacht. Schon als Kind zeigte er ein sonderbares Wesen. Wenn ihn etwas erregte oder ihm etwas nicht gefiel, so lief er weg und legte den Kopf in eine Ecke. In der Schule wurde er viel geschlagen, weil er mit dem Lernen nicht vorwärts kam. Lesen, Schreiben und Rechnen hat er not- dürftig gelernt. Nach der Schule erlernte er das Schusterhandwerk. Später ging er in die Fremde, blieb aber nirgends lange, da er gleich Streit bekam mit seinen Meistern, von denen er sich nichts sagen lassen wollte. Überall, wo er war, hat er im Arrest gesessen (50—60 mal). Sein Vater sah die Unmög- lichkeit ein, ihn in der Fremde zu lassen, und liess ihn deshalb nach Hause kommen. Die Woche über arbeitete der Kranke zuweilen, war aber stets sehr launisch und legte sich oft tagelang ins Bett. Die Sonntage waren immer die schlimmsten Tage: er zog von einem Wirtshaus zum andern, betrank sich, fing überall Streit an, wobei er oft so geschlagen wurde, dass er nachher bettlägerig war. Patient kam immer mehr ins Trinken hinein, und wurde je länger, um so gefährlicher. Er brach den Keller bisweilen auf und trank Bier und Schnaps, was er gerade fand. Sein Vater musste ihm oft nachgeben, da er sonst seines Lebens nicht sicher war. Wollte er ihm kein Geld oder nichts zu trinken geben, so war er schon in Gefahr, von seinem Sohne totgeschlagen zu werden. In der letzten Zeit vor seiner Aufnahme in Pfullingen wurde der Kranke immer auf- geregter, gewaltthätiger und rücksichtsloser. Er habe wiederholt seinen Vater mit Hammer, Messer und sogar mit seiner Axt bedroht, so dass dieser, um sein Leben zu retten, die Flucht ergreifen musste. Bei Nacht musste der Vater seine Thüre verrammeln, damit der Sohn nicht zu ihm eindringen konnte. Letzterer habe wiederholt die Thüre eingeschlagen und der Vater habe ihn um Schonung seines Lebens bitten müssen.

Hauptsächlich nach Genuss von geistigen Getränken traten bei dem Kranken diese Zustände auf. Auch gegen andere Personen seiner Umgebung war K. schon aggressiv, stach einmal mit einem Messer einen Kameraden in die Hand, ging auf den Schultheissen seines Ortes los u. s. w. Infolge des vielen Alkohol- genusses verschlimmerte sich seine Bösartigkeit ganz bedeutend. War er be- trunken, so war er nicht mehr seiner Herr. Da er immer gefährlicher wurde, so wurde seine Aufnahme in die hiesige Anstalt nachgesucht.

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Patient trat am 1. November 1898 hier ein. Die Beobachtung ergab, dass derselbe an intellektuellem und moralischem Schwachsinn litt und dass seine Aufregungszustände direkt durch den Alkoholgenuss verursacht waren. Er bekam vom Tage seines Eintritts an keinen Tropfen Alkohol mehr. In den ersten Tagen seines hiesigen Aufenthalts war er mürrisch, trotzig und brutal, wollte sich nicht in die Anstaltsordnung fügen, verlangte barsch seine Entlassung, schimpfte und drohte. Nach einiger Zeit beruhigte er sich, schickte sich in die neuen Verhältnisse und bat um Arbeit. Zuerst wurde er in der Abteilung selbst, später in der Anstaltsschuhmacherei beschäftigt. Und welche Wandlung zum Bessern vollzog sich allmählich in ihm! Er wurde anstellig, arbeitete fleissig, verhielt sich monatelang ordentlich und gab zu keiner Klage Anlass.

Später wurde er einmal anlässlich einer Bemerkung bei der Arbeit wieder aufgeregt, schimpfte über die Behandlung, beruhigte sich jedoch bald wieder. Solche Aufregungszustände traten noch bisweilen bei seiner Überempfindlichkeit aus Anlass von angeblichen Zurücksetzungen bei ihm auf. Nachher bereute er sein Benehmen und versprach wieder alles Gute.

Patient durfte häufig an den Spaziergängen mit den anderen Kranken in die Umgebung der Anstalt teilnehmen, hielt sich dabei stets abstinent, bis er ein Jahr nach seinem Eintritt in die Anstalt wieder rückfällig wurde. Trotz strengster Mahnung, keine geistigen Getränke zu sich zu nehmen, hielt Patient bei Gelegenheit eines Spazierganges der Versuchung nicht stand, sondern trank einige Glas Bier. (Wieviel, konnte nicht festgestellt werden.)

Gleich nach Genuss derselben stellten sich die schlimmen Folgen bei ihm ein: Patient wurde widerspenstig, wollte die Wirtschaft nicht mehr verlassen, wurde laut, aufgeregt, brutal, unflätig, schrie, fing an zu toben, und konnte nur mit Hilfe einiger Wärter wieder nach Hause gebracht werden. Mit einer wahren Berserkerwut schlug er um sich, schrie, biss, war aggressiv gegen jedermann, greberdete sich wie ein wildes Tier und tobte fürchterlich, so dass nichts anderes übrig blieb, als ihn zu isolieren. Nach einiger Zeit stellte sich das trunkene Elend bei ihm ein, er fing an zu weinen, später schlief er ein. Am andern Tage war er sehr gedrückter Stimmung, an das Vorgefallene hat er noch summarische Erinnerung.

Später wurde er wieder auf seine Bitten zur Arbeit in die Schuhmacherei gelassen, verhielt sich monatelang ganz ruhig und artig. Er sagte selbst, er sehe es wohl ein, dass sein Zustand vom Trinken herkomme, und versprach wieder alles Gute für die Zukunft. Später wurde er von seinem Vater abgeholt und als „gebessert‘“ nach Hause entlassen.

Für solche Kranke kennt die Therapie nur ein Mittel: Die Totalabstinenz von allen alkoholischen Getränken. So einfach dies in Worten klingt, so schwierig ist es oft in der Praxis durchzuführen, sei es, dass es solchen Leuten an der nötigen Widerstandskraft, Energie und Selbstbeherrschung meist fehlt, sei es, dass unsere heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse und Trinksitten zu viel Gelegenheit zur Versuchung bieten. Die Anstaltsbehandlung erleichtert natürlich die Durchführung der Abstinenz bei diesen Kranken ganz bedeutend.

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Löhrplän für den hatürkundlichei Unterricht in einer

| Anstalt für Schwachsinnige.

Die Anstalt zählt 6 Klassen: 1 Vorbereitungs-, 4 Schul- und 1 Fort- bildungsklasse. In der Vorbereitungsklasse und den beiden untersten Klassen wird selbstverständlich naturkundlicher Unterricht nicht erteilt, es beginnt derselbe vielmehr erst in Klasse III. In dieser Klasse, wie auch in der folgenden II. Klasse, ist der Kursus ein zweijähriger, in der obersten Klasse dagegen ein dreijähriger.

Klasse III, (2 Stunden).

1. Jahr. Vorbereitung auf die einzelnen Lebensgemeinschaften.

Dieser Kursus bildet den Übergang von dem in Klasse IV. erteilten An- schauungsunterrichte zum Naturgeschichtsunterrichte. Demgemäss ist er als naturgeschichtlicher Anschauungsunterricht anzugehen. Derselbe bezweckt die Aneignung äusserlicher Kenntnis der die Kinder umgebenden Pflanzen- und Tierwelt. Ausserdem soll aber dieser Kursus, der sich die regelmässigen Spazier- gänge zu nutze macht und sich an dieselben zum Teil anschliesst, die Auf- merksamkeit der Kiuder auf das Zusammenleben gewisser Gruppen von Lebe- wesen lenken und dieselben dadurch auf die Beobachtung der Natur nach Lebensgemeinschaften vorbereiten.

Aus den Lebensgemeinschaften werden Blätter, Bläten u. s. w. gesammelt und die zusammengehörigen in Gruppen aufgeklebt, um bei Wiederholungen benutzt zu werden. In organischer Verbindung mit dem Unterrichte sollen anch Fröbelsche Beschäftigungen betrieben werden, z. B. das Ausnähen. April. In den Garten!

Besprechung: Frühling im Garten, Grünwerden des Grases u. s. w., Krokus, Stachelbeeren, Johannisbeeren, Obstbäume. Gesammelt: Blätter und Błüten des Gartens, die vom Lehrer strauss- artig gruppiert aufgeklebt werden. Mai: In den Garten! Besprechung: Butterblume, Löwenzahn. Auf das Feld! Besprechung: Getreide, Unkräuter. Das Legen der Kartoffeln. Gesammelt: Unkräuter des Feldes. Juni: In den Wald! Unterscheidet Waldbäume und Sträucher! Besprechung: Eiche, Birke, Buche, Tanne, Fichte, Kiefer. Gesammelt: Blätter von Bäumen und Sträuchern des Waldes. Juli: Nochmals in den Wald! Welche Kräuter sind im Walde zu finden? Welche Sänger hören wir? Besprechung: Taubnessel, Heidekraut, Kukuk, Rotkehlchen. Gesammelt: Kräuter des Waldes. August: Auf das Feld! Besprechung: Kornblume, Winde, Mohn, Biene, Pfauenauge, Hase. Gesammelt: Unkräuter des Feldes.

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September: Nochmals in den Garten! Besprechung: Nelke, Aster, Sonnenblume, Birne, Pflaume, Apfel, Bohne. Gesammelt: Sommerblumen des Gartens.

Oktober: Nochmals in den Wald! Welche Früchte finden wir? Welche ` Vögel sind fort? Besprechung: Früchte des Waldes; Wiederholung über die Waldbäume; ‚Specht, Krähe, Eichhorn. ' Gesammelt: - Früchte des Waldes.

November: 1. Rückblick an der Hand der behandelten Gruppen. 2. Teile einer Pflanze: Wurzel (Zweck, Formen), Stengel (Stamm, “Festigkeit, Zerteilung), Erdstamm (Wurzelstock, Zwiebel, Knolle), Blatt (Teile, Formen, Farbe), Blüte (Teile, Formen, Farbe, Zeit), Frucht (Formen, Zweck, Nutzen ‘für die Menschen). 3. Lebensgeschichte einer Pflanze. Dezember: ‘Wir bleiben im Zimmer! _ 1. Einige Zimmerpflanzen werden während dieses Monats besprochen, (Auswahl nach dem vorhandenen Bestande.) 2: Die Lebensbedingungen einer Pflanze.

Januar bis März: 1. Einige Tiere: Kuh, Pferd, Esel, Ziegenböck, Schaf, owein Rabe, Sperling, Amsel u. s. w. 2. Die Arbeiten des Gartners.

2. Jahr: Garten, Haus und Hof.

Der 2. Kursus dieser Klasse greift nun aus der Menge der Lebensgemein- schaften die heraus, die dem Anschauungskreise der Kinder am nächsten liegt. - Die Beantwortung der Beobachtungsfragen, deren selbständige Lösung von den Kindern nicht zu erwarten ist, erfolgt in den zu diesem Zwecke im Garten etc. abzuhaltenden Unterrichtsstunden. Die Beantwortung giebt zugleich das Thema _ für:die Besprechungen eines Monats.

April: Welches sind die ersten Blüten im Garten? Welches sind die ersten Arbeiten des Gärtners? Besprechung: Schneeglöckchen, Tulpe, Krokus, Küchenzwiebel. Kohl- weissling (Entwickelung).

- Mai: Welche Ziersträucher blühen? Welche Vögel erscheinen im Garten?

- Besprechung: Der Kirschbaum und seine Bewohner (Staar, Maikäfer). Schneeball, Flieder, Goldregen.

Juni: Welehe Unkräuter finden sich im Garten? Wann werden die ersten ‘Kirschen abgenommen?

Besprechung: Distel, Schachtelhalm, Brennessel, Vogelmiere, Ginse- blümchen, Wucherblume.

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Juli: Welche Blumen blühen jetzt im Garten ? Besprechung: Rose (Zucht, Veredelung), Sonnenblume. Vergleich: Es giebt einjährige und ausdauernde Pflanzen. August: Welches Obst reift, welches noch nicht? Besprechung: Birnbaum, Apfelbaum, Pflaumenbaum. September: Welche Gemüse sind noch im Garten? Besprechung: Gurke, Möhre, Kürbis, Kohlrabi. Rückblick auf die Pflanzen. Einteilung: Bäume, Sträucher, Biumen. Oktober: Welche Arbeiten werden im Garten verrichtet? Besprechung: 1. Der Nussbaum (die letzte Ernte). 2. Ausgraben von Pflanzenresten. (Wohin kommen sie, was wird daraus?) 3. Schutz ausdauernder Pflanzen gegen Winterkälte. (Bäume, Rosen, fremde Pflanzen.) 4. Vorbereitungen auf den Frühling.

November: Beobachte die Nahrung suchenden Tiere, besonders Hahn und Hühner! Besprechung: Das Hühnervolk, das Ei, die Haustaube.

Dezember: Achtet auf die Hunde, die ihr seht! (Grösse, Arten, Zweck, Nahrung, Wohnung, Benehmen beim Erblicken anderer Tiere, be sonders Katzen.)

Besprechung: Hund, Katze. Januar: Welche kleineren Tiere werden dann und wann im Hause gehalten? Besprechung: Kanarienvogel, Papagei, Laubfrosch, Goldfisch.

Februar: Welche Tiere halten sich ohne unseren Willen im Hause etc. auf? Besprechung: Maus, Ratte, Spinne, Floh.

März: Rückblick auf die besprochenen Tiere. Einteilungen: 1. Säugetiere, Vögel, Fische, Insekten. 2. Nützliche und schädliche Tiere. (Viele nützlich und schädlich.)

3. Fleischfresser, Pflanzenfresser. (Schluss folgt.)

Mitteilungen.

Frankfurt a. M. (Ministerielles Schreiben.) Dem Vorstande des Vereins für die Idiotenanstalt zu Idstein i. T. ging folgendes Schreiben des Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal- Angelegenheiten zu: „Ew. Hochwohlgeboren teile ich auf die an den Herrn Ministerial-Direkter Dr. Althoff gerichtete und von diesem mir vorgelegte gefällige Anfrage vom 23. September dieses Jahres ergebenst mit, dass die Angelegenheiten der Anstalten für jugendliche Idioten in der in Vor- bereitung befindlichen „Erweiterten Anweisung über die Aufnahme und Entlassung in und aus Privatanstalten für Geisteskranke, Epileptische und Idioten, sowie über

ER

die Einrichtung, Leitung und Beaufsichtigung solcher Anstalten“ in einem besonderen Abschnitte behandelt und dass dabei die Wünsche der beteiligten Kreise, soweit es im medizinalpolizeilichen Interesse angängig erscheint, thunlichste Berücksichtigung erfahren werden. gez. Studt.“

Erfurt. (Die Entwickelung der Hilfsschule) Ostern 1900 konnte die Hilfsschule unserer Stadt auf die ersten 10 Jahre ihres Bestehens zurückblicken. Als Ostern 1890 eine sogenannte Remanentenklasse mit 22 Kindern, 12 Knaben und 10 Mädchen, eingerichtet wurde, ahnte wohl selbst ihr Begründer nicht, dass sie sich in dieser kurzen Zeit zu einer wohlorganisierten, selbständigen Schuleinrichtung entfalten könnte. Den Segen, den sie Kindern, Familie, Schule und Staat bereitet hat und künftig in noch höherem Masse bereiten kann, wird der recht einzuschätzen verstehen, welcher mit der Erziehung geistig schwacher Kinder vertraut ist.

Aus dem Entwickelungsgange der Schule seien hier folgende interessante Daten mitgeteilt. . Wie schon zu Anfang dieses Berichtes erwähnt, wurde Ostern 1890 eine sogenannte Remanentenklasse mit 22 Schülern eingerichtet. 1. Oktober 1891 erhielt sie den Namen Schwachsinnigen-Klasse. Ostern 1892 erfolgte die Bildung einer 2. Klasse mit 16 Schülern, Ostern 1893 die einer 8. Klasse mit 13 Schülern. Eine 4. Klasse wurde Ostern 1894, die 5. Ostern 1895 eingerichtet. Mit der Trennung der I. Klasse in 2 Abteilungen, welche Ostern 1896 erfolgte, war die Organisation der Schule vollendet. Seit Juni 1896 wurde sie von der Königl. Regierung als selbständige Schule anerkannt und ihr Name in Hilfsschule umgeändert. Seit Ostern 1893 besitzt die Schule ihren Schularzt, welcher die Kinder vor der Aufnahme untersucht und sich durch fortgesetzte Beobachtung derselben über ihren Zustand unterrichtet Für die evang. Konfirmanden ist seit Michaelis 1894 besonderer Konfirmandenunterricht eingeführt worden. Die kath. Kinder nehmen am Religions- unterricht der Schulen ihrer Konfession teil. Die [Leitung der Schule, welche bisher in den Händen des Stadtschulrates lag, wurde am 1. Oktober 1899 dem Unter- zeichneten übertragen. Zur Zeit hat die Hilfsschule 5 aufsteigende Klassen mit 6 Stufen und wird von 81 Kindern, 49 Knaben und 32 Mädchen besucht. Es unter- richten 3 Lehrer und 1 Handarbeitslehrerin.

Das Ziel ist im allgemeinen das der Mittelstufe der Volksschule. Die Tıehrfächer sind die gleichen, doch treten dazu noch Artikulations- und die verschiedenen Zweige des Handfertigkeitsunterrichtes. Stricken lernen Mädchen und Knaben, und manche Eltern, die mit Widerstreben dieser Handfertigkeit ihrer Knaben zusahen, waren doch zuletzt hocherfreut, wenn dieselben Staubtücher, Topflappen, Bohnenbeutel, Socken, Strümpfe, überstrickte Bälle oder wohl gar eine Waschleine vorlegte.

174 Kinder wurden seit 1898 ärztlich untersucht. Es liess sich erbliche Belastung 56 mal, körperliche 97 mal feststellen. In 46 Fällen blieb die Untersuchung ergebnislos. Als Ursachen des Schwachsinnes sind in den meisten Fällen zu nennen: Trunksucht und geistige Minderwertigkeit der Eltern, seitens der Kinder Gehirn- entzündung, Krämpfe, Fall oder Schlag auf den Kopf, Kopfverletzungen während der Geburt, Wasserkopf, das Heer der Kinderkrankheiten u. s. w. 66 mal konnte angeborner Schwachsinn konstatiert werden.

Die Hilfsschule hat in den vergangenen 10 Jahren 78 Kinder entlassen;

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‚32 dayon konnten ihren früheren. Schulen: wieder: anguführb werden. Von den übrigen :Entlassenen . sind 14 als erwerbsunfähig anzusehen; ‚3 davon. sind Pflegeanstalten überwiesen worden. Teilweise erwerbsfäbig. waren :9 Kinder; völlige Erwerkefühigkeit besassen 43 Kinder. Die 10jährige Erfahrung lehrt, das schwachsinnige:. Knaben meistenteils zu Handwarkern untanglich. sind, dagegen. als :Handarbeiter .in.den ver- schiedensten Berufszweigen, als Laufbnrschen, die .M&dchen als Kinder-, :Haus-. und ‚Dienstmädehen ihr bescheidenes Fortkommen finden. können. Überhaupt empflahlt -es sich, die schwachsinnigen Kinder pach der Schulentlassung in. solche Stellungen. zu bringen, und sie werden dann auch gut ausgefüllt, die. wenig Selbständigkeit. und Verantwortung fordern. «Kannegiesser, Hanptlehrer. .Leipaig. (Sprechunterricht.) : Bei Beginn des laufenden Winterbalbjahrs. wunden an hiesiger Hilfsschule besondere Sprechstunden. für die mit: Sprachfeklern. 'behaflsten Kinder eingerichtet. . Den -Sprechunterricht erteilen zwei Kollegen, die sich:im verflossenen Sommer. an. einem vierwdchigen; Kursus fir Sprachheilkuade .bei Prof.. Dr. Gutzmaan in: Berlin beteiligt haben. Die Sprachleidenden blieben: ja auch schon bisher nicht un- berücksichtigt. : Es versuchte; jeder Lehrer innerhalb. seiner.Klasse. und zwar vor allem in den angesetzten Sprechstunden den Sprachgebrechen -beizukommen, so gut:er:.es auf Grund seiner - praktischen Erfahrungen und nach Anweisung: einschlagender Werke ‚vermochte; aber es war hierbei :doch nicht ::möglich,. den hesonderen - Sprachfehlern einzelner Schüler in der. Weise planmässig zu Leibe zu gehen, wie: dies: nun geschieht. :Es bestehen gegenwärtig zwei Abteilungen, deren eine die Stetiterer: und deren: andere ‚die .Stammler unserer vierzehn Klassen nmachliesst.e Die drei- Sprechstunden: der ‘Woche, die für jede Abteilung . eingerichtet sind, finden Montags,. Mittwochs: and -Froitags von '3 bis 4 Uhr statt. 1 AM. .Frankfurt a..M. (Aufnahme in die Hilfsschule) Der Schularst ‚an. der hiesigen Hilfsschule, Dr. Laguerau, entwarf anf der Waaderversammiang der. sid- - westdeutschen Neurologen: und Irrenarate ein Bild der hier bestehenden einschlägigen 'Verbåältnisse. Aufgenommen werden nnr solche Kinder, die ohne an :den Sinnesorganen .zu leiden, nach zweijăbrigem -Schulbesuch das’ Ziel der untersten: Klasse nicht. erreicht haben. Die Zahl der für die Hilfsschule angemeldeten beträgt !/,: Prozent: aller Schulkinder, ungefähr die Hälfte derselben -wird aufgenommen. , Vielo: Kinder. zeigen körperliche : Komplikationen. Ganz :idiotische. Kinder kommen in die Idietemanstalt; schwierig ist die Unterbringung der Moraliseh-Schwachainnigen. : Grosse. und-.mittlere ‘Stédte. sollten Hilfeschulen mit Tagesinternat errichten. Für das Weiterkemmen. ent- lsssener Hilfsschul-Zöglinge sind besondere Einrichtungen zu treffen, etwa. Prämien.an Handwerksmeister, bei denen Schwachbefähigte mit Erfolg zur Lehre .waren. (Zeitschrift für Schulgesundheitspflege.) :Stepbansfeld ; Hörde. (Epilpsie und Verbrechen.) Unter .:den :i16 vem 1. April 1899 bis: ebendahin 1900 in die Anstalt aufgenemmenen Epileptikern liess sich Alkoholismus in 2 Fällen bei den Eltern, in.2: Fällen bei den. Kranken -undin 2 Fällen bei den Eltern und. Kranken nachweisen. Von den: 6 -Kranken, welche seiten des Gerichts der Anstalt sur Begutachtung überwiesen wurden, waren-4 Epileptiker und 1 Idiot. Letzterer hatte einen Notzuechtewersuch: gemacht. Der. eine- Epileptiker . hatte in seinen epileptischen Dämmerzuständen wiederholt seine Umgebung unter

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Drohungen angebettelt, wiewohl es ihm dabei an Geld nicht zu fehlen pflegte. So hatte er schon mit 100 Mark in der Tasche gebettell. Im Anschluss an einen schweren epileptischen Anfall, in dem ihm sein Geld gestohlen war, bettelte er wieder und drohte den Leuten, die ihm bei seinem anständigen Aussehen nichts geben wollten, er wolle sie ins Wasser werfen, schlug auch mit seinem Schirm auf sie los. Die Erinnerung an die That war nur eine ganz verschwommene. Der 2. Epileptiker hatte nach einem vorher gefassten Plane in einem Wirtshause einen Einbruchdiebstahl ausgeführt. Am folgenden Morgen suchte er den Ort der That gleich wieder auf, wurde dabei erkannt und festgenommen. Auf dem Transport entwich er, ‚stellte sich aber nach 14 Tagen freiwillig den Behörden und legte zweimal ein umfassendes Ge- ständnis mit allen Einzelheiten ab. Später wollte er plötzlich an die That keine Erinnerung mehr haben, suchte es auch wahrscheinlich zu machen, dass seine 2 Ge- ständnisse, an die er sich sehr wohl erinnerte, eigentlich nicht von ihm stammten, sondern ihm von den Richtern suggeriert seien. Eine genaue Untersuchung ergab das Haltlose dieser Behauptung. Der letzte Fall betraf einen Epileptiker, der in einem BRauschzustande einem fremden Herrn, den er vorher mit aufdringlicher Ver- traulichkeit belästigt hatte, in plötzlichem Stimmungswechsel einige, wenn auch unge- fährliche Messerstiche beibrachte.

Schweiz. (Eine Pflegeanstalt fir bildungsunfahige, schwachsinnige Kinder.) Die 1897 in der ganzen Schweiz aufgenommene Statistik der schwach- sinnigen Kinder zeigt unter den vielen Tausenden die erschreckend hohe Zahl von über 1600, die gänzlich bildungsunfähig, in den heute bestehenden Anstalten keine Unterkunft finden und so beständig einen Gegenstand der Sorge für ihre Eltern bilden. Um diesem Übelstande abzuhelfen, hat sich seit einiger Zeit eine Anstalt aufgethan, die als erste dieser Art in der Schweiz bezweckt, bildungsunfähigen, schwachsinnigen Kindern ein Heim zu bieten, in dem sie körperliche Pflege und liebevolle Aufsicht finden. Diese Anstalt befindet sich in gesunder, prächtiger Lage in dem durch seine liebliche Aussicht berühmten Walzenhausen (Appenzell Ausser Rhoden). Sie liegt in einem grossen, eingefriedigten Garten, der den Kindern ungehinderte Bewegung gestattet und steht unter erfahrener Leitung sowie unter ständiger ärztlicher Aufsieht.

(Zeitschrift fir Schulgesundheitspflege.)

Litteratur.

Bechts- und Linkshändigkeit. Von Dr. Fritz Lueddeckens, prakt. Arzt in Liegnitz, Anstaltsarzt an der Taubstummen- und der Idioten- Anstalt daselbst. Mit 11 Figuren im Text. Leipzig 1900. Verlag von Wilhelm Engelmann. 82 Seiten. Preis Mk. 2.

Als Rechts- und Linkshändigkeit bezeichnet man die bekannte Erscheinung, dass eine Hälfte des menschlichen Körpers eine kräftigere Entwicklung als die andere zeigt. Ursprünglich soll eine vollständige Symmetrie in der Organisation bestehen, dadurch aber, dass Wachstumsveränderungen eintreten, die anatomisch und funktionell das Gleichgewicht auf beiden Körperhälften in Frage stellen, entsteht der Zustand der Rechts-, bezw. Linkshändigkeit. .Am meisten ist unter der Menschheit Rechtshändigkeit

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vertreten, Linkshänder giebt es verhältnismässig nur wenige. Die Prävalenz der linke Gebirnhemisphäre gilt ala natürliche Ursache der Rechtshändigkeit. Wenn aber einmal die rechte Hälfte des Gehirns, der sonst die geringere Tendenz zu vollkommener Ausbildung innewohnt, den höhern Blutdruck erhält, so entsteht der eigenartig: Zustand der Linkshändigkeit.. Dieser beruht also nicht auf Angewöhnung, wie man es häufig irrtümlich annimmt, sondern hat seinen Grund iu eigenartigen Kongestionen, die in der rechten Gehirnhemisphäre stattfinden.

Unter den Linkshändern führen viele lebhafte Klagen darüber, dass ihnen ihr Eigentümlichkeit in der Jugend viele unverdiente Züchtigung eingetragen hak Manchen sei die linke Hand zeitweise am Körper, ja sogar auf dem Rücken fet- gebunden worden, andern habe man einen Strumpf darüber gezogen; kurz, die al- sonderlichsten Massnahmen seien angewandt worden, um ihren vorwiegenden Gebrauch zu verhindern meist ohne Erfolg. Später im praktischen Leben haben sie as recht erkannt, wie unberechtigt, nicht nur überflüssig, die Strenge ihrer Erzieher war, denn da ist ihnen gerade im Beruf die Fähigkeit der linken Hand oft genug m gik gekommen. Sie sind häufig von andern um die Geschicktheit der linken Hand & neidet worden. Bei vielen Linkshändern hat die Beobachtung jedoch erwiesen, das ihre gesamte Entwicklung weniger günstig als bei Rechtshändern fortschritt, und dss bei ihnen eine gewisse Schwerfälligkeit und Unbeholfenheit zeitlebens bestand. D: Forschungen auf diesem Gebiete bewegen sich im grossen und ganzen noù it Anfangsstadium.

Unter den Schwuchsinnigen befinden sich auch Linkshänder, Ne hänfg zen: unsere Aufmorksamkeit erregen. Wir machen deshalb Lehrer, Erzider und Arie an Erziehungs- and Unterrichtsanstalten fir Geistesschwache auf vorlicvade ke: interessante Schrift aufmerksam mit der Bitte, die Forschungen des Verfes im Material freundlichst unterstützen zu wollen. Zu diesem Zwecke sind u Bede einige Fragebogen zur Ausfüllung beigegeben. ft

Uber den physiologischen Schwachsinn des Weibes. Von P. J (Sammlung zwangsloser Abhandlungen aus dem Gebiete der Nerven- um krankheiten. Herausgegeben von Dr. med. Konrad Alt. IIl. Band, H Halle a. S. 1900. Verlag von Carl Marhold. 26 Seiten. Abonnemen für einen Band == 8 Hefte, Mk. 8. Einzelpreis des Heftes Mk. 1.

„Lange Haare, kurzer Verstand!“ Die moderne Welt will jedoch davon wissen, ihr steht der weibliche Geist zum mindesten dem männlichen gleicl gunzes Meer von Tinte ist in dieser Sache bereits verschrieben und doch noc Übereinstimmung und Klarheit erreicht worden. Zur nähern Erörterung der Ä frage orgreift auch der Verfasser das Wort in der vorliegenden Abhandlu orbringt im grossen und ganzen den Beweis der Inferiorität des Weibes in kör] und geistirer Beziehung. Die Ausführungen sind äusserst sachgemäss ç scheinbar etwas horb, so dass das Weib, wenn man die interessanten Darl vorfolgt, viel von ihrem Nimbus verliert. Die Frauenwelt wird dem Verfass sicherlich wenig Dank wissen und dies um so mehr, als er besonders die £ soiten des Woibes recht farbenprächtig schildert. Wir haben die Schrift mit Interesse gelesen und wünschen ihr die weiteste Verbreitung.

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Die Wolken am Himmel des Lebens. Schmink- und schmucklose Erinnerungen aus dem Leben. Für alle Ehemanner und Familienvater, ins- besondere aber auch für Richter, Geschworene, Schöffen und Polizeibeamte. Nach hinterlassenen Papieren meines verstorbenen väterlichen Freundes, herausgegeben von H. Hagen jun. Leipzig 1898. Verlag von Ernst Günther. 32 Seiten. Preis 60 Pfg.

Die Schrift enthält gemeinverständliche Aufzeichnungen von Beobachtungen und Erfahrungen über die Einwirkungen der Hysterie, jenes Leidens, dessen „kakodämonischer Hauch die gesamte (?) Frauenweit durchweht und die freundlichen Blüten dieser Welt vergiftet“. (?) Der Verfasser bietet in seinen interessanten Ausführungen Fingerzeige für die Behandlung, resp. Beseitigung des Übels und giebt am Schlusse der Arbeit auch einige Rezepte zur Bereitung von Heilmitteln an, die geeignet erscheinen, der tückischen Krankheit den Boden abzugewinnen. Trotz des sonderbaren Titels der Schrift, welcher sehr ominös klingt und an Mittelalterliches erinnert, liest sie sich doch anregend und gewährt manche interessante Beispiele zur Erkenntnis psychopathischer Zustände. Sie sei deshalb unsern Lesern angelegentlich empfohlen. Fr.

Frauen im Reiche Äskulaps. Ein Versuch zur Geschichte der Frau in der Medizin und Pharmazie unter Bezugnahme auf die Zukunft der modernen Ärztinnen und Apothekerinnen von Hermann Schelenz. Leipzig 1900. Verlag von Ernst Günther. 76 Seiten. Preis Mk. 1,50.

Der Verfasser giebt in vorliegender Schrift eine gedrängte historische Übersicht über die gelegentliche und gewohnheitsmässige Ausübung der Heil- und Arzneikunde durch die Frauen seit den ältesten Zeiten bis in unsere Tage hinein. Seine interessanten Ausführungen beleuchten ein ziemlich umfangreiches Material. Aus den Darlegungen gelit deutlich hervor, dass die Frauen keineswegs eine Heldenrolle auf diesem Gebiete spielten, sondern nur sehr bescheidene Nebenrollen vertraten. Ein objektives Urteil über die Jüngerinnen Äskulaps unserer Zeit lässt sich noch nicht gewinnen, denn „von der Parteien Gunst und Hass verwirrt, schwankt ihr Charakterbild in der Ge- schichte“. Nach den geschichtlichen Erfahrungen aber, die uns zur Lehre dienen müssen, wird die Frau, wenn sie mit gleichen Pflichten mit dem Manne in den Kampf ums Dasein tritt, unbedingt eine Niederlage erleiden. Deshalb spricht der Verfasser den Wunsch aus: „Möchte die Frau aus der Geschichte lernen, sich die erneute herbe Erfahrung, die Folge der Emanzipation, zu ersparen; möchte sie sich daran erinnern, dass der alten Germanen, dass aller Männer höchstes Glück ohne die sie ergänzende Frau nicht zu denken ist, dass Glück spenden: höchsten Glückes teilhaftig werden heisst, und dass deu Weg zu diesem Glück, das Heilmittel für die nicht abzuleugnende Frauenfrage das Wort ihres Lieblingsdichters kündet:

„Dem Mann zur liebenden Gefährtin ist Das Weib geboren; wenn sie der Natur Gehorcht, dient sie am würdigsten dem Himmel!“

Wegen der vielen anregenden Gedanken empfohlen wir besonders Anstaltsärzten die Schrift zur prüfenden Erwägung. Fr.

Der erste Sprachunterricht nach dem Prinzip der Selbstthätigkeit. (Preisaufgabe des Evangel. Diakonievereins.) Von H. Wigge, Rektor in Roden-

kirchen. in Oldenburg. Dessau 1900. Verlag der Anhaltischen Verlagsanstalt Oesterwitz & Voigtländer. 35 Seiten. Preis 90 Pfg. (Pädagogische Bausteine, Heft 10.)

Im Sommer 1898 erliess der Evangel. Diakonieverein ein Preisausschreiben über die Frage: Wie lässt der erste Sprachunterricht (einschliesslich des Auschauungs-, Schreib- und Lese-Unterrichts) durch das Verfahren des Selbstfindenlassens sich weiter bilden? Von den 12 eingereichten Preisschriften wurden 5 mit Preisen bedacht, darunter auch Wigge’s Schrift. Der Evangel. Diakonieverein ruht auf dem Grund- satze der genossenschaftlichen Erziehung, das ist eine Erziehung zur Selbständigkeit und zum Gemeinsinn. Für beides jedoch fehlt zum Teil noch die Theorie, besonders aber die Praxis. Es gilt darum, diese Ideen auszubauen und zu verbreiten.

Die Kinder sollen schon früh zur Selbständigkeit erzogen werden, diese aber wird nur durch Selbstthätigkeit gewonnen. „Nicht das gedächtnismässige Aufnehmen eines überlieferten Stoffes, sondern das Selbstsuchen und Selbstfinden ist das Lebenweckende in jedem Lernen.“ Dieses sind im wesentlichen die Gesichtspunkte, welche in der Schrift näher erörtert werden. Der dargelegte Plan zum Sprachunterricht hat manches für sich und erscheint eines Versuches wert. Auch sonst bietet die Schrift manche anregende Gedanken, die gerade von dem Lehrer der Schwachsinnigen gehörig erwogen werden müssten. Möchte die Arbeit recht grosse Verbreitung finden. Fr.

Die Abstinenz der Geisteskranken und ihre Behandlung. Für Anstalt und Praxis dargestellt von Dr. med. Hermann Pfister, Assistenzarzt der psyehiatrischen Klinik zu Freiburg i.B. Stuttgart 1899. Verlag von Fer- dinand Enke. 88 Seiten. Preis Mk. 2.

Das Buch verbreitet sich in allgemeinverständlicher, wissenschaftlicher Dar- stellungsweise unter Berücksichtigung der vorhandenen Litteratur über die Ursachen und Formen der bei Geisteskranken vorkommenden Weigerung von Nahrungsaufnahme und giebt im Anschluss daran Ratschläge für eine rationelle Behandlung abstinierender Geisteskranken. Es bietet allen, die mit Geisteskranken irgend einer Art zu thun haben, eine willkommene Handhabe zur Bekämpfung des Übels. Mir ist aus meiner Erfahrung auch ein Fall von Abstinenz bekannt, in welchem ein schwach- sinniger Knabe längere Zeit hindurch mit grosser Hartnäckigkeit fast jede Nahrung von sich wies und infolgedessen auch körperlich herunterkam. Auf einmal nahm er, ohne eine mir bekannt gewordene Veranlassung, wieder Nahrung zu sich und erbolte sich auch körperlich ziemlich schnell. Während seiner Abstinenz schlich der Junge wie ein Iırer umher und hörte nicht auf unsere Finflästerungen, Vorstellungen und Bitten, er blieb uns ein vollständiges Rätsel. Bei der allgemeinen Aufmerksamkeit, die man heute der Pflege Geisteskranker, Schwachsinniger und Epileptischer widmet, ist die vorliegende Schrift namentlich Anstaltsärzten zu empfehlen, sie dürfte deshalb in keiner Anstaltsbibliothek fehlen. Fr.

Vorlesungen über Sprachstörungen. Von Dr. med. Albert Liebmann, Arzt für Sprachstörnngen zu Berlin. 5. Heft. Übungstafeln für Stammler, sowie für hörstumme und geistig zurückgebliebene Kinder. Berlin W. 35. 1900. Verlag von Oscar Coblentz. 48 Seiten. Preis Mk. 1,20.

In Fortsetzung der Dr. Liebmann’schen Vorlesungen über Sprachstörungen ist

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bereitst'das 5; Heft: erschienen, das verschiedene Übungstafeln bringt. Diesen ist -als Eiskitung ein’: Text: für--ihre Anwendangsweise beigegeben, aber auch. im weitern’: finden :sich häufig - Bemerkungen, welche .:den Gebrauch derselben erläutern und or- leichtern soHen. Die :Übungstafeln bieten ein umfangreiches Material, die: Anordiung‘- und BReikenfolge derselben scheint nach Sprechschwierigkeiten erfolgt zu sein: Der: Anhang des’Baches erithält Belehrungen fiber ‘Lese-,; Rechen- - und Schreib- Übungen. mit -geistig : zurückgebliebenen Kindern, worin dem Lehrer der: Schwachen manch’ wichtiger Fingerzeig: geboten wird; er kann aus der kurzen ' Anleitung vieles ‚lernen,

was gerade ihm frommt und not thut. Fr;

Psychogene Störungen der Schulkinder. Ein Kapitel der pädagogischen Pattiologie. Von Dr. Alfred Spitzner. Leipzig-1899. Verlag- von: E. Un- gleich. 45 Seiten.

Psychogene: Störungen sind: psychisch bedingte. körperliche Störungen, bei denen stattfindende Vöränderungen:'des Bewusstseins das bedingende primäre Moment bilden, während die damit im Zusammenhange stehenden sie begleitenden körperlichen: Störungen, namentlich diö krankhaften Veränderungen innerhalb der Sphäre des Nervensystems, das davon abhängige, sekundäre Moment: darstellen. Die psychogenen Stéraugen . gehören eigentlich in das Gebiet der ärztlichen Wissenschaft, sie fordern aber wegen ihrer grossen Bedeutung für die geistige Entwicklung der betreffenden Kinder auch did gewissenhaftöste Beobachtung seitens des Pädagogen. Psychogene Störungen treten besonders häufig bei’ schwachsinnigen Kindern auf und zwar in den verschiedenstön' Erscheinüngsweisen. Es ist‘ "deshalb für den Erzieher ‘solcher Kinder wichtig, dass er’ sich darüber diö nötigen Kenntuisse verschaffe, und diesem Zwecke will däs mit grossem Verstätdnis und sorgfältiger Umsicht geschriebene Buch dienen. Es bietet eine ein- gehende Beschreibung der psychogenen Störungen und knüpft hieran Ratschäge für die “Therapie und Prophylaxis ‘derselben.’ Ärzten wie Pädagogen wird’ es sicher vielen’ Nützen "gewähren. Fr.

Übör eine’ neue’ Méthode zur Prüfung geistiger Fähigkeiten und: ihre Anwendung bei: Schulkindern. Von Prof. Ebbinghaus. Sonder- abdruck” aus: "Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane. Hamburg ‘und’ Leipzig 1897. Verlag’von Leopold Voss. 62'Seiten. Preis Mk. 2.

Auf der Bieslaner Konferenz ‘wurde infolge eities Vortrages des Dr. Heller- Wien die Frage über Ermüdungsmessungen bei schwachsinnigen Kindern eingehend erörtert. - Die Messungen nahm Dr. Heller nach der Griesbach’schen Methode vor, die ihm für: diese Fälle am geeignetsten erschien. . Andere Methoden zur Prüfung der geistigen Ermüdung (Fähigkeit) sind die Rechenmethode von Burgerstein, die Gedächniemethode (amerikanisch) und die von -dem Verfasser‘ vorliegender Schrift‘ darin näher bezeichnete Kombinationsmethode, die eine recht sinnreiche Erfindung. bedeutet.: Nach: dieser Methede werden :den Schülern ihrer Fassungskraft angemessene Prosatexte vorgelegt, die in der mannigfachsten Weise durch kleine Aus- lassungen unvollständig gemacht sind. Bald fehlen einzelne Silben, und zwar sowohl am Anfang wie am Ende, wie auch in der Mitte eines Wortes, bald Teile von Silben, bald auch ganze Worte. Jede ausgelassene Silbe, ebenso jedes ausgelassene

Silbenfragment, ist durch einen Strich angedeutet, und dem Schüler wird nun die Aufgabe gestellt, die Lücken eines solchen Textes möglichst schnell, sinnvoll und mit Berücksichtigung der verlangten Silbenzahl auszufüllen. Er hat dabei stets eine kleine Mehrheit von Dingen gleichzeitig im Auge zu behalten: Die dastehenden Buchstaben, die Anpassung an die vorgeschriebene Silbenzahl, vor Ålem den Sinn seiner Aus- füllung sowohl im engern, wie im weitern Zusammenhang des Textes, nicht nar mit Rücksicht auf das Vorangegangene, sondern bisweilen auch mit Rücksicht auf das Folgende. Die Arbeitszeit an einer einzelnen Textprobe wird auf genau 5 Minuten bemessen und hinterher wird dann jedesmal festgestellt, wie viele Silben richtig aus- gefüllt, wie viele etwa übersprungen und wie viele sinnlos ausgefüllt sind.

Solche Prüfungen und ihre experimentellen Ergebnisse wollen wir zwar beachten, um dadurch unsern psychologischen Blick zu schärfen, allein voreilige Folgerungen aus ihnen zu ziehen, das würde uns auf Abwege führen und dem Ziele entfernen. Bei uns muss der psychologisch-pädagogisch geschulte Takt des Lehrers als das Wichtigste für die Anwendung auf die Schnlarbeit gelten. In diesem Sinne empfehlen wir die vorliegende Schrift, die sonst eine bedeutende Erscheinung auf pädagogischem Gebiete bedeutet, unsern Lesern zur prüfenden Erwägung. Fr.

Soeben ist im Verlage von RB. Oldenbourg die erste Nummer der „Blätter für Volksgesundheitspflege“, herausgegeben von den Herren: Wirkl. Geh. Oberregierungsrat, Präsident Dr. Bödiker, Dr. Graf Douglas, Geh. Med.-Rat Prof. Dr. von Leyden, Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Rubner, redigiert von Dr. K. Boerwald, Reg.-Rat Dr. Kautz und Dr. Spitta, erschienen. Diese Blätter sollen durch die Schrift eine Ergänzung der Bestrebungen des Deutschen Vereins für „Volks-Hygiene* bringen und entspricht das vorliegende Heft solchem Zweck vollkommen. Die Ausführungen des bekannten Hygienikers Prof. Dr. Biedert-Hagenau sowie die Anregungen von Prof. Raydt- Leipzig, dem treuen Kampfgefährten des Herm von Schenkendorff, verdienen die weiteste Beachtung, und die hygienischen Kleinigkeiten repräsentieren eine Rubrik, welche gewiss jeder Hausfrau von grossem Werte sein wird. Dass das Blatt auch Kochrezepte für die einfache Küche bringt, sowie amtliche Bekanntmachungen, Erlasse und Warnungen aus dem Gebiete des Medizinalwesens, welche allgemeines Interesse haben, wird gewiss dazu dienen, ihm in weitesten Kreisen Beachtung zu sichern.

Inhalt. Über Alkoholwirkungen bei Epileptischen und Idioten (Dr. Th. Kölle). Lehrplan für den naturkundlichen Unterricht in einer Anstalt für Schwachsinnige. Mit- teilangen: Frankfurt a. M., Erfurt, Leipzig, Frankfurt a. M., Stephansfeld-Hörde, Schweiz. Litteratur: Rechts- und Linkshändigkeit. Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes. Die Wolken am Himmel des Lebens. Frauen im Reiche Askulaps. Der erste Sprach- unterricht nach dem Prinzip der Selbstthätigkeit. —- Die Abstinenz der Weisteskranken und ibre Behandlung. Vorlesungen über Sprachstörungen. Psychogene Störungen der Schul- kinder. Über eine neue Methode zur Prüfung geistiger Fähigkeiten und ihre Anwendung bei Schulkindern. Blätter für Volksgesundheitspflege.

Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden, Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. Druck von Johannes Pässler in Dresden.

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Nr. 12, | XVI. (I1) Jahr ooo | vB XL

Zeitschrift

è für die

Behandlung Achwachsimmger wd Epileposeber.

Organ der Konferenz für ür das für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

herausgegeben von

AE Lea Am. TLDXM Sc MOAT wo

Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, Spbzlalarzt Dresden - Strehlen, für Nervenkrankheiten ' Residenzstrasse 27. in Stuttgart.

——— jährlich in 18 Nummern von ang Postimi durch alle Buchhandlungen mindestens einem Bogen. Anzeigen für und Postämter, wie auch direkt von der die gespaltene Petitzelle 25 Pfg. Litte- Dezember 1900. | chriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark,

rarische Beilagen 6 Mark. 5 einzelne Nummer 60 Pfg.

Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber.

An die geehrten Leser und Mitarbeiter.

Mit der vorliegenden Nummer vollendet unsere

Zeitschrift für die Behandlung SO peAa EER: und Epileptischer

ihren 16., und wenn wir die vorausgegangenen 4 Jahrgänge ihrer Vorgängerin, der „Zeitschrift für das Idiotenwesen“, hinzurechnen, ihren 20. Jahrgang. Wenn in den meisten Fällen 20 Jahre auch nur eine kurze Spanne Zeit genannt werden müssen und eine besondere Beachtung nicht beanspruchen können, so ist derselbe Zeitraum für das Bestehen einer Zeitschrift wie die unserige doch von Bedeutung. Aus den kleinsten Anfängen entstanden, aber stetig an Ver- breitung zunehmend, hat unsere Zeitschrift die Idioten- und Epileptiker- Fürsorge wesentlich gefördert und ist allen denen, welche sich für die in Frage kommenden Unglücklichen interessierten und sich mit ihnen zu beschäftigen hatten, ein treuer Berater und Führer gewesen. Dass sie dieses sein konnte, verdankt sie allen denen, welche sich in ihren Dienst stellten, insbesondere aber ihren Mit- arbeitern und sonstigen Freunden. Diesen aufrichtig zu danken, drängt es uns vor allem. Unserem Danke fügen wir aber die Bitte hinzu, unserer Zeitschrift die alte Freundschaft und Treue noch recht lange bewahren zu wollen. Wir werden derselben in Zukunft alle unsere Kraft widmen. In dem Umfange und dem Bezugspreise der Zeitschrift treten Veränderungen nicht ein.

Die Herausgeber.

IE

Uber ungewöhnliche Formen von epileptischen Anfällen und über einige seltenere Bewusstseinsstörungen bei Epileptischen.*)

Von Dr. A. Ulrich.

In der einen Form der heftigen, schaudererregenden Krampfanfälle ist die Krankheit der sog. Epilepsie allbekannt. Mitten im scheinbaren Wohlbefinden stürzt ein Mensch, wo immer er auch sei, zusammen, er verliert das Bewusstsein und zeigt krampfhafte Zuckungen im Gesichte, dem Rumpfe und den Gliedern. Nach kürzerer oder längerer Zeit erwacht derselbe wie aus einem tiefen Schlafe, Allerlei Erschöpfungsbeschwerden, Schläfrigkeit, Mattigkeit, Schmerzen im Kopf und den Gliedern u. drgl. erinnern den Kranken daran, dass mit ihm etwas vorgefallen; von den Vorgängen während des Anfalles weiss er jedoch gar nichts. Attacken ähnlicher Art wiederholen sich nach freien Intervallen von wechseln- der Dauer.

So einfach, man ist versucht zu sagen schematisch, verläuft nun die Epi- lepsie durchaus nicht immer. Schon die alten Ärzte wussten, dass es keine andere Krankheit giebt, die in so vielen verschiedenen Formen auftreten kann, wie die Epilepsie. **)

Wenn wir zunächst über den Begriff der Epilepsie klar werden wollen, s dürfen wir nie vergessen, dass der epileptische Anfall nicht die Krankheit selbst ist, sondern das äussere Anzeichen einer krankhaften Veränderung und zwar einer Störung im zentralen Nervensystem. Es muss daher zum

eindringlichsten Bewusstsein gebracht werden, dass die Epileptischen unter die

Nervenkranken zu rechnen sind und als solche behandelt und erzogen werden müssen, auch wenn die Anfälle nur selten oder in ungewöhnlicher Form auf- treten, denn der Anfall ist nur die auffälligste Episode in der chronischen Krank- heit. Wird die Krankheit rechtzeitig erkannt, so kann durch Regulierung der ganzen Lebensweise, durch Jie richtige Erziehung und durch zweckmässige Be- handlung erfolgreich entgegengewirkt werden.

Was das Krankheitsbild so mannigfaltig gestaltet, sind in erster Linie die ganz verschiedenen Formen der sog. Anfälle Aus der grossen Zahl der- selben können wir hier nur eine kleine Gruppe etwas näher beleuchten. Wir müssen verzichten auf die Beschreibung der anfallsweise auftretenden, krampf- artigen, abnormen Bewegungsstörungen und möchten hier das Interesse auf eigentümliche Bewusstseinszustände hinlenken, die nach unserer Erfahrung oft die Krankheit einleiten. Es sind dies Anfälle von kürzer oder länger dauernden temporären Geistesstörungen, die sich als traumhafte Zustände, als Lücken oder Pausen im Bewusstsein äussern und meist ohne sichtbare Krampfform verlaufen. Da diese Anfälle vom gewöhnlichen Bilde der Epilepsie sehr ab- weichen, werden sie öfters verkannt, namentlich wenn sie im Beginn de

*) Aus dem 14. Berichte der Schweizerischen Anstalt für Epileptische in Zürich. *) Tam multiplex et tam varius in diversis, ut nullus alius morbus sit tam poly-

morphus. (Boerhaave.)

195

Krankheit auftreten. Dadurch geht für die Behandlung des Kranken die kost- barste Zeit verloren. Diese eigenartigen Störungen, die ebenso sehr den Intellekt beeinträchtigen wie die Krampf-Anfälle, werden bisweilen sogar als Un- rat, üble Gewohnheit oder „Verstellung“ angesehen und womöglich noch bestraft.

Somit beanspruchen die ungewöhnlichen Formen der Anfälle das grösste Interesse und wir geben zum besseren Verständnis im folgenden einige Beispiele.

Schwere Epilepsie bei einem 18jährigen Jüngling. Beginn der Krankheit mit aussergewöhnlichen Anfällen (Absencen mit nach- herigem Farbensehen). Verkennung der Krankheit während 1!/, Jahren.

Der Vater des Kranken starb an Lungenschwindsucht. Patient kam als normaler, kräftiger Knabe zur Welt. Im Aiter von !/, Jahren litt er während 4 Wochen an Gichtern, sodann an einer Hirnentzünduug und im Gefolge der- selben an einer Lähmung der rechten Seite, die nur teilweise sich wieder besserte. Mit 2 Jahren lernte der Knabe gehen und sprechen. Von jeher war er brav und gutmütig. Er besuchte die Alltagsschule und zwei Klassen der Sekundar- schule als fleissiger Schüler mit gutem Erfolge.

Im Alter von 11—12 Jahren beobachteten die Eltern bei dem Knaben folgende Veränderung:

Mitten im Wohlbefinden sagte der Knabe plötzlich, jetzt wird es mir schwindelig und er verlor sogleich für einige Minuten das Bewusstsein. (Er fiel jedoch nie zu Boden und hatte auch keine Krämpfe) Nachher sah Patient alle Farben vor den Augen, wie einen Regenbogen. Oft rief er dazu: „O das ist schön!“ Diese Anfälle, die oft fünf bis sechsmal täglich auftraten, belustigten sogar den Knaben. Die Eltern dachten keineswegs an eine ernste Störung und konsultierten auch keinen Arzt. Erst nach 1!/, Jahren traten schwere Krampfanfälle auf, die auch von den Eltern als epileptisch erkannt wurden. Neben den starken Attacken hat Patient gegenwärtig noch dann und wann wirkliche Schwindelanfälle.*) Während des Gehens wird es ibm plötzlich feuerrot vor den Augen und er sieht alles „verkehrt“, Er verliert das Bewusstsein nicht vollkommen und fällt nicht.

Epilepsie mit zeitweiser psychischer Depression bei einer 21jäh- rigen Tochter. Beginn der Krankheit mit Absencen, die in der ersten Zeit nicht erkannt wurden.

Der Vater der Kranken starb an Lungenschwindsucht. Er war ein Potator. Als Kind war die Kranke schwächlich. Sie machte Scharlachfieber und Diph- therie durch und hatte mit 2 Jahren starke Gichter. Das Mädchen besuchte

*) Die echten Schwindel, d. h. Empfindungen von Scheinbewegung des eigenen Körpers oder der Gegenstände der Aussenwelt bei Erhaltensein des Bewusstseins sind nach unserer Erfahrung bei Epileptischen selten. Sie werden dann und wann beobachtet als Ein- leitung von heftigen Anfällen oder als Folge von solchen. Was in der Litteratur der Epi lepeie als Schwindel bezeichnet wird, sind meist Absencen der verschiedensten Art, also Störungen mit Bewusstseinsverlust. Wenn ein Mensch das Bewusstsein verliert, kann er in dieser Zeit unmöglich Schwindelempfindung haben.

196 mit gutem Erfolg die Schulen. Mit ca. 13 Jahren traten bei demselben Bewusst- seinsstörungen auf, die von den Angehörigen nicht als krankhaft betrachtet wurden. Während des Sprechens schwieg Patientin oft mitten im Satze und sah mit stierem, verwirrtem Blicke umher. Was man zu ihr sagte, beachtete sie nicht und nachher wusste sie nicht, was während der Zeit des Anfalles, der ca. !/, Minute dauerte, vorge- gangen war. Erst nach ungefähr einem Jahre wurde mit dem Eintritt der schweren Anfälle die Krankheit erkannt.

Gegenwärtig leidet die Patientin an heftigen Anfällen, die relativ selten auftreten. Wiederholt schon zeigten sich bei der Kranken tiefe melancholische Verstimmungen, die oft mehrere Tage andauern.

15jähriges Mädchen mit schweren Anfällen und Attacken mit Bewusstlosigkeit und zwangsmässigem Plaudern.

Das Mädchen war von Jugend auf schwächlich und hatte in den ersten Lebensjahren oft Gichter. Mit 10 Jahren fiel es zum erstenmale von einem Stuhle, es habe die Augen verdreht, Schaum vor dem Munde gehabt und in Armen und Beinen Zuckungen gezeigt. Später wurde beobachtet, dass das Mädchen während des Gehens oder Stehens ohne hinzufallen plötzlich die Augen verdrehte und wie geistesabwesend einige Schritte machte und dabei Worte in unverständlichem Zusammen- hange vor sich hin murmelte. Solche Anfälle wiederholten sich oft bis zehnmal im Tag.

Auch jetzt zeigt Patientin noch öfters, neben seltenen schweren Anfällen, Bewusstseinsverluste von ca. !/, Minute Dauer mit zwangsinässigem, mechanischen Plaudern. Dabei fällt Patientin weder zu Boden, noch hat sie Krämpfe. Nach- her erinnert sich Patientin nicht mehr an das Gesprochene.

Epilepsie bei einem 19jährigen jungen Manne. Beginn der Krankheit mit Anfällen von zwangsmässigem Schlaf.

Der Vater des Patienten starb an Lungenschwindsucht. Die Mutter soll in der Jugend einen epileptischen Anfall gehabt haben. Im Alter von ca. 4 Jahren machte der Knabe infolge Genusses von Tollkirschen eine schwere Vergiftung durch und er habe während derselben Konvulsionen im Gesichte gezeigt. Der Kranke erholte sich und blieb angeblich gesund bis zum 14. Jahre, In der Schule lernte er gut. Während der Sekundarschulzeit traten die ersten krankhaften Veränderungen anf, die sich in folgender Art äusserten: In der Schule, während des Unterrichtes und mitten im Wohlbefinden, wurde Patient plötzlich blass und er schlief sogleich ein. Nach einigen Minuten wachte er auf und ging wie schlaftrunken umher und setzte sich zuweilen in eine andere Bank. Von allem, was während der Zeit dieses Zwangsschlafes vorgegangen, wusste er nachher durchaus nichts. Solche Anfälle traten alle 8—14 Tage auf und es wurde von der Zeit an eine bedeutende Abnahme des Gedächtnisses beobachtet.

Später: änderte sich der Charakter der Anfälle und diese äussern sich gegen- wärtig wie folgt: Patient wird plötzlich blass, er verliert das Bewusstsein, steht

auf, reibt die Hände, sodann fasst er, was gerade in der Nähe ist, und hält die Gegenstände krampfhaft fest.

Hinstärzen und Konvulsionen wurden nie beobachtet.

Dieses bunte Bild merkwürdiger geistiger Störungen, die sich nicht in der Form von Krampfanfällen äussern, könnte leicht vermehit werden. Wir begnügen uns mit den vorstehenden Skizzen und möchten nur noch erwähnen, dass nicht zu selten die Epilepsie bei Kindern auch mit periodisch wiederkehrenden Angst- anfällen anfängt. Die Kinder schreien plötzlich auf, laufen ängstlich davon, flüchten sich zu Personen, die gerade in der Nähe sind, und halten dieselben einige Minuten krampfhaft fest. Nachher wissen sie nichts von ihrem eigen- tümlichen Benehmen. Nach Jahren können solchen Störungen schwere An- fälle folgen.

Das vorstehende möchten wir in Kürze dahin zusammenfassen :

Die Krankheit der Epilepsie äussert sich in sehr verschiedenen Formen und zwar sehr oft, namentlich im Beginne, ohne Hinstärzen und ohne Krämpfe.

Wenn bei einem Kinde oder Erwachsenen periodisch wiederkehrende traum- hafte Veränderungen, Lücken oder Pausen im Bewusstsein auftreten, mit plötz- lichem, auffälligem Benehmen und Handlungen, so muss an eine epileptische Veränderung gedacht werden.

In folgendem geben wir noch einige Beispiele von seltenen und länger dauernden Störungen des Bewusstseins bei Epileptischen.

Tagelang dauernder Dämmerzustand mit lebhaft gesteigerten Erinnerungen bei einer 30jährigen Epileptischen.

Die Kranke ist unseres Wissens nicht hereditär belastet. Die Krampf- anfälle begannen im 14. Jahre ohne nachweisbare äussere Ursache. Dieselben traten anfänglich selten auf und es folgte sogar eine freie Pause von vier Jahren. Seit dem Jahre 1892 traten die Krisen regelmässiger auf. Die Durch- schnittszahl der Anfälle betrug ca. 30 im Jahre.

Den Attacken voraus geht oft ein mit Unterbrechungen stundenlang dauern- der Krampf im rechten Arme bei völlig erhaltenem, klaren Bewusstsein. Nähere Beachtung verdienen die psychischen Störungen, die nicht selten den Anfällen folgen. Dieselben beginnen mit Klagen über Müdigkeit und heftigen Schmerzen im Kopf und in der Magengegend. Die Kranke bleibt einige Tage ruhig liegen. Vom 3. Tage an wird sie unklar, sie lacht oft plötzlich und unmotiviert und giebt auf Fragen keinen oder unkorrekten Bescheid, oder sie ist sehr gereizt. Der Zustand der Unklarheit dauert 8—10 Tage. Während dieser Zeit ist die Patientin ganz verschlossen, sie macht den Eindruck einer Hallucinantin. Bis- weilen gesteht sie allerlei Sachen zu sehen und zu hören, doch ist mit ihr ein zusammenhängendes Gespräch nicht zu führen, weil sie immer wieder zu lachen beginnt oder sich gereizt abwendet. Allmählich wird die Patientin ruhiger und ihr klares Bewusstsein kehrt zurück. In der Hauptsache erinnert sie sich noch an das Vorgefallene Ich veranlasste die Kranke, ihre Erlebnisse während der Zeit der Störungen zu schildern. Sie schrieb u. a. folgendes: „Ich durchlebte wieder meine Jugendjahre, ich besuchte die Schule und war mit meinen Eltern

198

und allen meinen ehemaligen Gespielinnen zusammen. Dann war ich viel in Pf. in den Jahren, wo ich die Sekundarschule besuchte und sah und hörte daselbst wieder den einstigen Lehrer, Herrn St., und war vergnügt und fröhlich mit meinen einstigen Schulfreundinnen. Auch bei meinen Verwandten und Grosseltern war ich viel und sah da alles, wie es in Wirklichkeit gewesen ist und zum Teil noch ist. Auch Herrn Pfarrer J., zu dem ich in den Unterricht ging, sah ich da wieder. Dann war ich in Q. und sah und hörte wieder alles, was ich in früheren Jahren geseben und gehört u. s. f.“

Über einen ähnlichen Zustand schrieb die Krauke im Juni 1899:

„Ich war zurückversetzt in jene Vergangenheit, wo ich die Sekundarschule besuchte und sah meine ehemaligen Lehrer und Schulgenossen und alle Häuser, an denen ich früher vorbei nıusste, ganz deutlich vor mir. Auch war ich ofl bei meiner Schulfreundin L. und war sehr freundlich aufgenommen. In B. war ich bei meiner verheirateten Schwester, die aber schon viele Jahre gestorben ist und sah nan auch ihren Mann, das Haus und die ganze Umgebung ganz klar vor mir. Dann war ich wieder daheim bei meinen Eltern und hörte von allen Ortschaften her das -Läuten der Kirchenglocken u. s. w.“

Im Anschlusse an Anfälle treten bei dieser Patientin eigenartige, 8—10 Tage dauernde traumähnliche Zustände auf. In dem krankbaft veränderten Bewusstsein durchlebt sie meist ihre Jugendzeit, seltener die Jüngstvergangen- heit. Ihre Erinnerungsbilder werden in dieser Zeit auch im Wachzustande s0 deutlich, dass sie alles wieder wie früher sieht und hört. Was die psychische Alteration betrifft, so gleicht dieselbe den wenigen in der Litteratur beschriebenen Fällen von Verdoppelung der Persönlichkeit, von sogenanntem „Doppel-Ich“.

Epileptischer Dämmerzustand mit automatischem Wandertrieb bei einem 38 Jahre alten Manne.

Der Kranke litt als Kind viel an Verdauungsstörungen, die von Konvulsionen begleitet waren. Mit 6 Jahren machte er Masern, mit 10 Jahren Scharlach durch. Während des Scharlachfiebers trat angeblich der erste epileptische An- fall auf. Seit dem 17. Altersjahre wechselten mit freien Pausen von 1 bis 2 Monaten bis einem Jahr heftige und weniger heftige Anfälle. Mehrmals litt Patient auch an länger dauernden Geistesstörungen, die im Gefolge von Anfällen auftraten.

Der Kranke erinnert sich, dass er mit ca. 19 Jahren merkwürdige Störungen hatte. Während Spaziergängen, die er damals häufig allein machte, seien oft 2—3 Stunden verflossen, ohne dass er gewusst habe, was in dieser Zeit passiert sei. Bisweilen habe er sich plötzlich in einer Ortschaft befunden, wohin er zu gehen beabsichtigte; wie und auf welchen Wegen er jedoch hingekommen, habe er nicht gewusst. Wir hatten nun Gelegenheit, einen ähnlichen Zustand zu beobachten.

Früh morgens am 2. Juni 1899 ging Patient aus dem Hause er war nur wenige Minuten ohne Aufsicht und verschwand spurlos*). Alle unsere

*) Wir sind leider für männliche Erwachsene immer noch provisorisch eingerichtet. Das Haus, das wir notgedrungen benützen müssen, ist vollständig offen und nicht eingefriedigt.

199

Nachforschungen blieben erfolglos. Am 3. Juni morgens kam Patient wieder zurück mit staubigen Kleidern, die einen grossen Marsch verrieten. Er war sehr müde und klagte über Schmerzen in den Gliedern. Der Kranke wurde zu Bett gebracht und schlief den ganzen Tag und die folgende Nacht. Auch am 4. Juni war er noch recht schläfrig. Am 5. Juni erst fühlte er sich ganz wohl und erzählte folgendes: Er erinnere sich noch gut, in der Nacht vom 1.—2. Juni unruhig geschlafen zu haben; deshalb sei er auch schon 4 Uhr morgens aufge- standen. Er wisse auch noch, dass er auf der Strasse neben dem Hause spazierend bis zu einer Stelle gelangte, die er genau bezeichnen kann. Von hier an ist aber das Gedächtnis vollkommen unterbrochen und der Kranke entsinnt sich an absolut nichts, was in den folgenden 23 Stunden geschah. Wie er zu sich kam, sass er auf einer Mauer an der Strasse in Altstetten und war erstaunt, in einer ihm fremden Gegend zu sein. Er erkundigte sich bei vorübergehenden Leuten, wo er sich befinde, und alsbald wurde es ihm klar, dass er in einem ,,Anfalle‘ von Hause weggegangen. Der Kranke beeilte sich, sogleich zurückzukehren.

Der Anfall äusserte sich hier in einer ganz merkwürdigen Weise. Während des Gehens verlor der Patient plötzlich das Bewusstsein, er stürzte jedoch nicht zu Boden und hatte auch keine Krämpfe Wie ein Schlafender mit offenen Augen wanderte er zwangsmässig, plan- und ziellos, automatisch weiter. Nach 23 Stunden erst kehrte bei ihm das Wachbewusstsein zurück. Der Kranke bemerkte zu seinem grössten Erstaunen, dass er sich in einer ihm ganz fremden Gegend befand. Da ihm schon früher ähnliches begegnet, erkannte er seinen Zustand sofort richtig und kam so rasch als möglich in die Anstalt zurück. Aus den staubigen Kleidern konnte man mit Sicherheit schliessen, dass der Patient einen grossen Marsch gemacht hatte, von dem ihm aber nicht die Spur einer Erinnerung*) verblieb. Trotzdem er während seiner unfreiwilligen Reise in einem vollständigen Traumbewusstsein sich befand, muss er Joch in seinem Aussehen und Benehmen wenig Auffälliges gezeigt haben, sonst wäre er jeden- falls angehalten worden. | |

Die Ähnlichkeit dieses Zustandes mit demjenigen der sogen. Nachtwandler ist so gross, dass sie wohl der Erwähnung verdient, zumal von Somnambülen viel Geheimnisvolles gesprochen wird, wenige Menschen aber über eigene Erfah- rungen verfügen können.

Zum Schlusse möchten wir noch andeuten, dass bei schwer Epileptischen heftige psychische Störungen von verschiedenster Dauer und Intensität an Stelle der Anfälle auftreten können (starke psychische Erregungen, Tobsucht, Verwirrt- heit u. dergl.). In solchen Zuständen werden nicht zu selten impulsive ver- brecherische Handlungen begangen.

Der Umstand, dass die Krankheit in so verschiedenen Formen sich äussert, mag darauf hindeuten, dass das Wesen der Epilepsie in einer Störung der Ge- samtfunktion des Nervensystems begründet ist.

y Neinem Freunde, Herrn Dr. von Muralt, ist es gelungen, in einem ähnlichen Zustande

bei einem Epileptischen die Erinnerung durch Hypnose zurückzurufen. Bei unserem Kranken wurde die Hypnose nicht versucht,

o 200 Die erfolgreiche Behandlung des Leidens bedarf der aufmerksamsten Be- achtung des Gesamtorganismus, des geistigen wie des körperlichen und stellt die grössten Anforderungen namentlich an die Geduld der Kranken sowohl wie der Behandelnden.

Lehrplan für den naturkundlichen Unterricht in einer

Anstalt für Schwachsinnige. Ä (Schluss.)

Klasse II.

1. Jahr: Feld und Dorf.

Zu den Beobachtungsaufgaben tritt nun die Einrichtung der Pflege und Beobachtung von Versuchsäschen hinzn.. Auch müssen die auf der Unterstufe gestellten Monatsaufgaben wieder aufgegeben werden, sodass die Kinder ver- anlasst werden, die früber unter Anleitung gefundenen Resultate nun selbst zu finden. Die Naturgesetze der Entwickelung und der Erhaltungsmässigkeit sind zu entwickeln, in einfachster Form einzuprägen und immer wieder anzuwenden bezw. nachzuweisen.

April: Welche Arbeiten sind auf dem Felde zu beobachten ?

Besprechung: 1. Angekeimte Hülsenfrüchte. (3 Versuchsäsche werden eingerichtet, einer mit Lehm, einer mit Sand, einer mit Gartenerde gefüllt. In jeden Asch werden 2 Erbsen gesteckt. Je eine Erbse wird 1 cm tief, eine 4 cm tief gesteckt und die Stellen mit entsprechenden Marken versehen. Den Ordnern wird das regelmässige Giessen übertragen.)

2. Die Feldlerche. Mai: Welche Pflanzen wachsen auf dem Feldrain? Was ist aus unsern Ver- suchsäschen geworden?

Besprechung: Feldkümmel, Schachtelhalm, Wiesenschaumkraut, Stern-

kraut. Juni: Welche Tiere bemerken wir auf dem Felde? Beobachte den Stand und die Blüte des Getreides. Unsere Erbsen!

Besprechung: Honigbiene, Hummel, Feldgrille, Zitronenfalter.

Juli: Beobachte das reifende Korn! Welche Feldpflanzen sehen wir noch? Unsere Erbsen ! Besprechung: Erbse. (In welchem Boden am besten entwickelt? Aus welcher Tiefe am schnellsten?) Rübsen, Flachs. August: Beobachte die Arbeiten bei der Ernte! Besprechung: Der Roggen (Getreidearten, Ernte). Die Kornblume. September: Welche Feldpflanzen stehen noch draussen ? Besprechung: Kartoffel, roter Klee. (Rückblick auf die Feldpflanzen.) Der Storch.

201

Oktober: Was geht jetzt auf den Feldern vor? (Arbeiten, Jagd.) Welche Tiere beleben das Feld? Besprechung: Hase (Jagd), Rebhuhn, Hamster, Feldmaus, Maulwurf. November bis Februar: Beziehungen zwischen Ackerbau und Viehzucht (Arbeit der Tiere, Dünger). Wichtigkeit des guten Bodens (Erbsendsche). Gegenleistung des Menschen (Futter, Schutz, Pflege). Andere Vorteile der Viehzucht (Mjlch, Eier, Fleisch u. s. w.). Besprechung: Pferd, Rind, Ziege, Schaf, Schwein, Hund, Katze, Igel, Kaninchen, Ente und Gans, Haushuhn, Truthahn, Pfauhahn. März: Rückblick auf die Tiere. Einteilungen wie in Klasse III. (Säugetiere, Vögel u. s. w., Pflanzen- fresser und Fleischfresser, nützliche und schädliche Tiere). Neu hinzu kommt die Einteilung der Säugetiere nach den Hufen.

2. Jahr: Wiese und Wald.

April: Welche Frühlingsboten erscheinen in Wald und Wiese? Welche Sänger?

Besprechung: Weidenröschen, Hahnenfuss, Haselnussstrauch, Birke.

Mai: Welche Bäume blühen im Walde?

Besprechung: Blüten der Bäume (Eiche, Buche, Eberesche, Rosskastanie), Maiblume.

Juni: Unterscheide die Vogelstimmen! Wann ist die Heuernte ?

Besprechung: Meise, Buchfink, Stieglitz, Nachtigall, einige Gräser.

Juli: Welche Insekten leben in Wiese und Wald? Besprechung: Pfauenauge und andere Schmetterlinge, Ameise und Wespe, Vergleiche mit Biene, einige Käfer. August: Welche Beeren wachsen im Walde? Besprechung: Brombeere, Himbeere, Heidel- und Preisselbeere. September: Sammelt Zapfen und Früchte im Walde! Zählt die Jahres- ringe an den Baumstümpfen! Welche Blumen sind noch auf der Wiese?

Besprechung: Kiefer, Fichte, Eiche, Herbstzeitlose, Nachtkerze, Pilz (Steinpilz). Rückblick auf die Pflanzen des Waldes und der Wiese.

Oktober: Welche Tiere leben im Wald und auf der Wiese? Besprechung: Eidechse und Blindschleiche. Die Schlangen der Heimat. November bis Januar.

Besprechung: Eichhörnchen, Wiesel, Fuchs, Hirsch, Reh, Rebhuhn (Jagd), Habicht, Eichelhäher, Schleiereule. Rückblick auf die Tiere. Einteilungen wie früher, dazu Raubtiere.

Februar: Betrachte die Schneeflocken auf deiner Kleidung!

Besprechung: Schnee, Steinkohle, Braunkohle, Eisen.

März: Beobachte die zurückkehrenden Vögel! ‚Besprechung: Frühling, Lerche, Schwalbe, Schneeglöckchen.

202

Klasse I. 1. Jahr: Teich, Fluss, Meer.

Der Vorstellungskreis der Schüler wird (von der Heimat ausgehend) er- weitert. Soweit als irgend möglich hat auch auf dieser Stufe die Beobachtung und Anschauung der Heimat Grundlage der Besprechung zu sein. Wieder- holungsweise müssen aber sämtliche Vorgänge in der heimatlichen Natur beob- achtet und in das hierzu anzulegende Klassenheft notiert werden. Als Anhalt dienen die Aufgaben des Lehrplans für die III. und II. Klasse, so, dass der in diesen Klassen gebotene Stoff immerfort in der I. Klasse wiederholt wird. Die Besprechungen haben ausser den 2 Gesetzen der Entwickelung und Erbaltungs- mässigkeit noch die Gesetze der gegenseitigen Abhängigkeit und der Anpassung zu berücksichtigen. Im dritten Jahre ist besonders der Mensch als Glied des Ganzen mit der Erde und deren Bewohnern in Beziehung zu setzen.

April: Welche Bäume wachsen am Wasser? Wer sieht die erste Weidenblüte ? Besprechung: Weide, Haselnuss, Pappel, Erle. Mai: Welche Tiere leben im Wasser? Wie bewegen sie sich fort? (Frosch- laich einsetzen und beobachten!) Besprechung: Hecht, Karpfen, Forelle, Krebs, Froschlaich, Schildkröte. Juni: Sucht Bilder von Meertieren in euren Büchern auf! Besprechung: Badeschwamm, Koralle, Seestern, Hering, Delphin, Hai- fisch, Seehund, Walross, Walfisch. Juli: Welche Vögel halten sich in der Nähe des Wassers auf? Wo sind die Nester der Schwalbe? (Füttern der Jungen.) Welche Pflanzen wachsen im Wasser? Was ist aus dem Frosch- laich geworden ? Besprechung: Wilde Ente, Schwalbe, Schilf, Schwertlilie. August: Auch in und unter dem Wasser befinden sich Pflanzen. Welche Ver- änderungen an den Kaulquappen? Besprechung: Wasserlinse, Seerose, untergetauchte Pflanzen (Wasser- faden, Algen des Meeres). September: Wer findet Muscheln im oder am Wasser? Unsere Kaulquappen! Besprechung: Schnecke, Teichmuschel, Armpolyp, Infusorien, Lebensbild des Frosches, Rückblick auf das Leben im Teiche. Oktober: Rückblick auf Teich, Fluss, Meer. Wirkungen des Wassers, Eigen- schaften des Wassers (aus den Wirkungen zu schliessen). Kräfte im Wasser. November, Dezember, Januar: Naturlehre. I. Eine Kraft im Wasser ist die Schwere. Quelle dieser Kraft, Wirkungen (das Wasser fliesst immer nur nach unten). Die Miihle, die Rolle, das Wellrad, der Hebel (die Wage). Wie wirkt die Schwerkraft in festen Körpern? Fall, Lot, Setzwage, schiefe Ebene, (Vergleiche mit Wasser, spez.

203 Gewicht), Wie wirkt die Schwerkraft in der Luft? Luftdruck, verbundene Gefässe, Barometer, Pumpen, Wasser- leitung.

. DI. Eine weitere Kraft im Wasser ist die Wärme. Quelle derselben, Verdunstung, Wolkenbildung, Niederschläge, Verdampfung, Dampfmaschine. Wie wirkt die Wärme in festen Körpern ? Ausdehnung, Glühen und Schmelzen, Wärmeleitung. Wie wirkt die Wärme in der Luft? Heizung, Jahreszeiten, Zonen, Wind. Mangel an Wärme, Agregatzustände, Messen der Wärme, Thermometer.

Februar und März: Mineralogie. Halbmetalle, Schwefel (Schiesspulver, Streichhölzchen). Erden und Steine: Quarz (Edelsteine), Sandstein, Thon (Porzellanerde), Kalk, Marmor, Granit.

2. Jahr: Der Wald (Urwald).

April: Welche fremdartigen Bäume seht ihr in unserem Garten? Betrachtet Affen und Raubtiere im zoologischen Garten! Besprechung: Der Wald der Mittelmeerzone, Lorbeer, Oleander, Myrte, Ölbaum, Mandelbaum; Affe, Chamäleon (Eidechse).

Mai, Juni, Juli: Beobachte die Farnkräuter des Waldes! (Sporen). Wo sind Urwälder? (Schilderung derselben). Besprechung: 1. Bäume: Palme, Balsambaum, Farbhölzer. 2. Schlingpflanzen: Kettenlianen, Baumwirger. 3. Schmarotzer: Vanille (Epheu), Annanas. 4. Tiere: Jaguar, Leopard, Faultier, Fledermäuse, Papagei, Kolibri, Schmetterlinge, Alligator, Brillenschlange, Klapperschlange. 5. Rückblick auf den Urwald. August: Grundzüge des Tiersystems. September: Grundzüge des natürlichen Pflanzensystems. Oktober und November: Beobachte bezw. suche im Walde Farn, Schachtel- halm, Pilze, Moose u. s. w. Besprechung: Niedere Pflanzen des Waldes: Farnkraut, Moose und Flechten, Schachtelhalm, essbare Schwämme, Bärlapp, Fliegenpilz, Schimmelpilz, Hefenpilz, Mutterkorn, mensch- liche Krankheiten. Dezember: Metalle. Gold, Silber, Kupfer, Eisen, Blei, Nickel, Quecksilber. Januar und Februar: Vorweltliche Walder. Torf, Braunkohle, Steinkohle (Gasbereitung), Grapbit (Bleistifte), Diamant. März: Kochsalz; Kiesel, Quarz (Glas); Feldspat (Thon, Lehm, Porzellan); die heimatliche Gesteinsart (Sandstein).

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3. Jahr: Die Erde und ihre Bewohner.

April: Welche Ernährungspflanzen werden jetzt gesät? Welche sind durch Frühbeetzucht bereits zu haben? Besprechung: Die im Frühbeet gezogenen Ernährungspflanzen, die Obst- bäume im Garten, die Südfrüchte. Mai: Wie dienen die Tiere dem Menschen ? (Produkte, Arbeit, Tod.) Besprechung: In der Heimat: Pferd, Rind, Schaf. Im Süden: Elefant, Kameel. Im Norden: Renntier, Adler (Seeadler), Gans(Kidergans). Juni: Giftpflanzen! Wie dienen sie uns? Beobachte das Gewitter! (Vorgang, Wirkung). Besprechung: Kartoffel, Hanf (Baumwollstaude), Tabak, Kaffeebaum. Juli und August: Welche Ernährungspflanzen blühen ? Besprechung: Hülsenfrüchte, Getreidearten, sädliche Getreidearten. September: Steppe und Wüste. Besprechung: Dattelpalme, Kakteen, Löwe, Giraffe, Strauss. Rück- blick: Der Mensch der Herr der Erde. Oktober bis Dezember: Die Lehre vom menschlichen Körper. Im Anschluss an das Ohr: Lehre vom Schall (Quellen, Arten, Wirkung, Nachhall, Echo, Sprachrohr, Hörrohr). Im Anschluss an das Auge: Lehre vom Licht (Quellen, Wirkungen, Spiegel, Linsen, Photographie, Prisma, Regen- bogen). Januar bis März: Rückblick auf die im Vorjahre behandelte Entstehung der Niederschläge, das Gewitter. Lehre von der Elektrizität: Erzeugung (Gummi- und Glasstab), Elektrisiermaschine, Elektrophor, Verstärkungs- flasche, galvanische Elemente, der Telegraph, die elek- trische Beleuchtung, elektrische Motoren, Bahnen u. s. w. Lehre vom Magnetismus: Magnete (künstliche und natürliche), Magnetnadel, Kompass, magnetische Spiel- zeuge, Magnetismus und Elektrizität.

Mitteilungen.

Langenhagen. (Schule und Kirche in der Anstalt.) Der Gottesdienst wurde auch in dem letztvergangenen Jahre in der bisherigen Weise von dem Orts- geistlichen in dem geräumigen Anstaltssaale alle 14 Tage und an den Festtagen abgehalten. Konfirmiert wurden Ostern 1900 von unseren Zöglingen 9 Kinder, 7 Knaben und 2 Mädchen. Der Geistliche übernimmt !/, Jahr vorher den Kon- firmandenunterricht, den bis dahin unsere Lehrer erteilt haben. In der Schule wurde wie in den Vorjahren von 8 Lehrkräften in 13 Klassen unterrichtet. Neben den Schulklassen waren noch vorhanden 2 Fortbildungsklassen, 4 Singklassen, 6 Turn-

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klassen. Der Schulprüfung vom 2,—5. April folgten Konferenzen, in denen Zensuren erteilt, die Versetzungen besprochen und der Unterrichtsplan für den folgenden Sommer festgestellt wurden. Die Konfirmierten sowie eine Anzahl anderer älterer Zöglinge, die nichts mehr zulernten und bis zur Konfirmation nicht kommen konnten, wurden aus der Schule entlassen, ebenso auch eine Anzahl jüngerer Kinder, die nach mehr- jährigem Schulbesuch keine Fortschritte mehr machten und sich als bildungsunfähig erwiesen. Die Schule wurde dadurch von einem grossen Ballast befreit; die Zahl der Schüler ging auf 165 zurück. Auf Verwendung des hiesigen Geistlichen wurde 3 idiotischen Kindern aus der Dorfschule der Besuch unserer Anstaltsschule gestattet. Von diesen Kindern machen 2 ganz leidliche Fortschritte. So dient die Anstalt ge- wissermassen auch als Hilfsschule für die Gemeinde. Unzuträglichkeiten sind hierbei nicht vorgekommen. Das verflossene Jahr war für unsere Schule von besonderer Wichtigkeit durch die Neuregelung der Gehaltsverhältnisse und Anstellungs- bedingungen für das Lehrpersonal, die im engen Anschluss an die für die Volksschule geltenden Bestimmungeu festgesetzt wurden. So kommen auch unseren Lehrkräften das Grundgebalt und die Alterszulagen, die beide in der nächsten Nähe Hannovers besonders hoch bemessen sind, zu gute. —- Von noch grösserer Bedeutung war die organisatorische Veränderung. Der erste Lehrer führte bisher die Bezeichnung Haaptlehrer nur als Titel, jetzt sind ihm auf unsern Vorschlag auch die Rechte und Pflichten eines solchen zuerteilt. Er ist der Vorgesetzte sämtlicher Lehrkräfte, beaufsichtigt die Schule und sorgt für die Einheitlichkeit und den metho- dischen Aufbau des Unterrichts. Eine straffere Organisation der Schule war dringend notwendig, da bei dem häufigen Wechsel der jüngeren Lehrkräfte die Einheitlichkeit des Unterrichts verloren zu gehen drohte.

Neu-Eckeroda. (Idiotenanstalt) Am Ende des Jahres 1899 betrug die Zahl der Zöglinge 277, 146 männliche und 131 weibliche Die Zahl der Angestellten beläuft sich gegenwärtig auf 44 und die ganze Seelenzahl der Anstaltsgemeinde mit den Angehörigen der Angestellten auf 338. Von den 277 Zöglingen gehören 270 dem Herzogtum Braunschweig au. Unter den Zöglingen befinden sich 66 Epileptiker. Die Anstalt erfuhr in der letzten Zeit eine bedeutende Erweiterung, und ebenso erhielt dieselbe in den ersten Tagen des Jahres 1900 in der Person des Herrn Dr. M. Handmann einen eigenen, in der Anstalt wohnenden Anstaltsarzt Die Schule besuchen 47 Kinder, 25 Knaben und 22 Mädchen.

Budapest. (Elementarunterricht für Schwachbefähigte) Für solche Kinder, die mit andern normal voranlagten Kindern nicht Schritt zu halten vermögen, werden in der Alkotäsgasse in Ofen und in der Rock Szilärdgasse in Budapest be- sondere Elementarschulen, und zwar zunächst nur mit der ersten Klasse, errichtet.

Liverpool. (Krüppel- und Schwachsinnigen-Schule) Für 61 Krüppel und 120 schwachsinnige Kinder ist in Liverpool eine Tagesschule von der Schulbehörde eingerichtet worden. Das Lehr- und Aufsichtspersonal besteht aus einer Hauptlehrerin sieben Lehrerinnen und einer Pflegerin. Die Kinder werden in einem Omnibus zur Schule geholt und nach Hause gebracht. Sie erhalten Mittagessen in der Schule, Für die Krüppel sind geeignete Stühle und Lagerstätten vorhanden. Auf alle hygie- nischen Erfordernisse, besonders auf Reinlichkeit, wird grosses Gewicht gelegt; Bäder

N.

verschiedener Art sind vorhanden, auch Räume für dee Kinder, die besonderer Fürserge bedürfen. Es wäre, wie „The Lancet“, der wir diese Angaben emtnehmen, ausführt, wünschenswert, dass diese Einrichtunzen und die dort gewonnenen Erfahrungen dem Stadium zugänglich gemacht würden, so dass auch Studenten der Universität sich auf diesem wichtigen Gebiet ausbilden könnten. (Ztschft f. Schulgesundbeitspflege.)

Litteratur.

Die Kinderpsyehelogie und ihre Bedeutung für Unterricht und Erziehung. Von K. Hemprich, Rektor der Bürgerschule in Freiburg a. U. Dessau 1900. Verlag der Anhaltischen Verlagsanstalt Oesterwitz & Voigt- länder. 42 Seiten. Preis 80 Pig.

Der Verfasser will durch seine Schrift das Studinm der Kinderpsychologie anregen und besonders nachweisen, welche praktischen Imperative uns daraus für die Kinder- und Schulstube erwachsen. In zwei Abschnitten wird die Entwicklung der Hand- werkzeuge (Thore) der Seele und die geistige Entwicklung des Kindes auf Grand interessanter Beobachtungen und Beispiele recht anschaulich und gemeinverständlich bebandelt. Die Darlegungen bekunden fast durchweg ein tiefes Verständnis der Sache und sind sehr fein detailliert. Sehr gut eignet sich die Schrift zur Einführung in die Kinderpeychologie, sowie zur Vorbereitung auf das Studium der zahlreichen grössern Werke aus- und inländischer Litteratur dieses Gebietes, die zu Anfange der Arbeit näher bezeichnet sind. Wir vermissen darunter eine hervorragende Erscheinung, welche fast sämtliche Publikationen dieses Gegenstandes weit übertziflt; es ist dieses die vortreffliche Abhandlung des Franzosen Compayré, die Entwicklung der Kindes- seele, von Chr. Ufer ins Deutsche übersetzt. Für uns hat das Studium der Kinder- psychologie wohl noch eine weitgehender6e Bedeutung als für die Pädagogen im all- gemeinen Ohne das Studium der Seelenentwicklung des kleinen Kindes würden wir oft im Finstern tappen und nicht selten unverzeihliche Fehler begehen. Aus der allgemeinen Kinderpsychologie müssen wir schöpfen, um geeignete Initiative und Massnahmen für die Erziehung und Unterweisung unserer Zöglinge ergreifen zu können. Deshalb empfehlen wir die vorliegende Abhandlung, die einen Baustein auf dem Gebiete der Kinderforschung bedeutet, allen Lehrern der Geistesschwachen zur Beachtung. Die Schrift ist das 8. Heft der Pädagogischen Bausteine. Fr.

Schwachsinnige Kinder, ihre sittliche und intellektuelle Rettung. Eine Analyse und Charakteristik, nebst theoretischer und praktischer Anleitung zum Unterricht und zur Erziehung schwachsiuniger Naturen. Für Lehrer und ge- bildete Eltern von Arno Fuchs. Gütersloh. Druck und Verlag von C. Bertels- mann 189.

Die 245 Seiten umfassende Schrift zerfällt in 8 Abschnitte Im ersten At- schnitte „Analyse sehwachsinniger Naturon“ giebt der Verfasser die „Bilder von 12 schwachsinnigen Kindern. Die betreffenden Mitteilungen beziehen sich auf Ascendenz, Entwickelung im ersten Lebensalter, Erkrankungen, körperliches Befinden

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zur Beobachtungszeit, Sprech- und Schreibstörungen, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Leistungen in verschiedenen Uuterrichtsfächern, Disposition, Affekte, ethisches Ver halten. Bei dem einen Kinde sind die Mitteilungen ausführlich, bei dem andern sind sie kürzer gehalten, je nach der Individualität desselben. Bei einigen Kindern handelt es sich um erworbenen Schwachsinn, den andern Individuem ist derselbe angeboren. Die Schlüsse, welche der Verfasser aus dem an den 12 Kindern gewonnenen Materiale zieht, sind im ganzen zutreffend, aber umfassend können die- selben schon in Rücksicht auf die geringe Zahl der Individuen selbstverständlich nicht sein. Den 12 Analysen sind Zeichnungen und Schriftproben von Schwachsinnigen beigegeben. Im zweiten Abschnitte verbreitet sich Fuchs des längern über das Wesen des Schwachsinns, als dessen Hauptmerkmale ihm verlangsamte körperliche und geistige Entwicklung, erhöhte Sensibilität, starker Wechsel der Disposition und jeg- licher Mangel von abstraktem Denken gelten. Die folgenden Abschnitte behandeln die Ziele und die innere und äussere Organisation der Erziehung, die Persönlichkeit des Erziehers, den Unterricht und die Methode desselben, die Regierung und Zucht und die Pflege der Kinder. Charakterbildung und Selbständigkeit der Person gelten dem Verfasser als letztes Ziel auch für Schwachsinnigen-Erziehung. Besondern Wert ist bei Schwachsinnigen der praktischen Ausbildung beizumessen. Wenn irgendmöglich soll das Kind praktisch soweit ausgebildet werden, dass es einen ein- fachen Beruf ergreifen oder durch Helferdienste sich im Leben erwerbsfähig bethätigen kann. Nach der Ansicht des Verfassers lassen sich diese Ziele am ehesten in der Anstalt, nicht aber in der Familie und in den Hilfsschulen erreichen. Er will das schwachsinnige Kind aber nicht völlig der Familie entziehen und fordert demzufolge die Tagesanstalt, deren Vorteile er in helles Licht zu setzen sucht, während er ihre Schattenseiten unerwähnt lässt. Der Unterricht muss jederzeit auf die körper- liche und geistige Disposition der Zöglinge Rücksicht nehmen, er muss an der Konkrete sich anschliessen und selbst noch auf den höheren Stufen anschaulich sein, langsam vorwärts schreiten und auf Übung und Anwendung grossen Wert legen. Bei der Regierung der Schwachsinnigen verlangt der Verfasser mit Recht die grösste Vorsicht, unermüdliches Entgegenkommen, Zubilligung mildernder Umstände und vielseitige, gute Gewöhnung. —- Wir haben das mit vieler Hingabe und Wärme geschriebene Werk mit grossem Interesse gelesen und wünschen demselben die grösste Verbreitung. Was sein Titel verspricht, hält es. Möchten recht viele zu dem trefflichen Buche greifen.

Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. Einzeldarstellungen für Gebildete aller Stände. Im Verein mit hervorragenden Fachmännern des In- und Auslandes herausgegeben von Dr. med. L. Loewenfeld in München und Dr. med. H. Kurkelle in Breslau. Wiesbaden. Verlag von J. F. Berg- mann. 1900.

Unter obiger Bezeichnung erscheinen seit kurzem in zwangloser Reihe Abhand- lungen, in welchen Fragen von allgemeinem Interesse aus dem Bereiche der Nerven- und Seelenheilkunde und deren wissenschaftlichen Grenzgebieten, insbesondere der Psychologie, Pädagogik, Hygiene, Ethnologie, Anthropologie, Socialogie und gericht- lichen Medizin behandelt werden. Ungeachtet ihres wissenschaftlichen Charakters sind

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die Abhandlungen so geschrieben, dass dus. Verständnis des Gebotenen keine spezielle Fachkenntnis voraussetzt, Erschienen sind bis. jetzt 8 Hefte. Das erste enthält eine Abhandlung über Somnambulismus und Spiritismus aus der . Feder des Herausgebers Dr. Loewenfeld, während im 2. Hefte Prof. Dr. H. Obérateiner über „Funktionelle und organische Nervenkrankheiten“ spiicht.. Das zuletzt erschienene: 8. Heft enthält eine interessante Arbeit von Dr.. P. J. Möbius „Über Entartung“. |

Suche für mein Institut für geistig geschwichte Kinder som.-1. April eine geprtifte Lehrerin. Marg. Imhoff, Bremen, Utbremerstrasse 85.

| Die X. Konferenz für das Idiotenwesen

und Schulen für schwachsinnige Kinder

findet im September 1901 in Elberfeld statt. Im Interesse der guten Sache bittet der Unterzeichnete etwaige auf die Konferenz bezügliche Wünsche schon jetzt an ihn gelangen zu lassen und Vorschläge für die Beratung möglichst bald, spätestens aber bis Ende März 1901 einzusenden. |

Dalidorf, im Septr. 1900. H. Piper, Vorsitsender der IX. Konferenz.

Briefkasten.

L. R. i B. Von der „Pestalozzi-Fibel“ ist uns ein Kezensionsexemplar nicht zugegangen. F. Fr. I. St. Für Zusendung des Abdruckes besten Dank! Dr. @. i. R. Zu lhrer Übersiedelung die besten Glückwünsche. Hoffentlich gestattet Ihnen Ihr Amt dann und wann doch noch, der Zeitschrift zu gedenken. Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie recht oft etwas von sich hören lassen wollten. Auch über K. wäre uns ein Bericht sehr willkommen.

Inbalt: An die geehrten Leser und Mitarbeiter. Über ungewöhnliche Formen von epileptischen Anfällen und einige seltenere Bewusstseinsstörungen bei Epileptischen. (Dr. A. Ulrich.) Lehrplan für den naturkundlichen Unterricht in einer Anstalt für Schwach- sinnige (Schluss). Mitteilungen: Langenhagen, Neu-Eckeroda, Budapest, Liverpool. Litteratur: Die Kinderpsychologie. Schwachsinnige Kinder. -- Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. Anzeigen. Briefkasten. |

Hierzu eine Beilage von Georg Wilkers Buchhandlung in Nordhausen,

Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchbandlung in Dreeden, Druck von Johannes Pässler in Dresden,

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