UNIVERSITY OF ILLINOIS LIBRARY

Class Book

FILIS AK

Ja 09-20M

Zeitschrift für Kinderforschung

mit besonderer Berücksichtigung 530

der pädagogischen Pathologie %7% (Die Kinderfehler)

Im Verein mit

Dr. J. L. A. Koch und Dr. E. Martinak

Medizinalrat, Irrenanstaltsdirektor a. D. o. ö. Professor der Philosophie u. Pädagogik in Zwiefalten an der k. k. Universität Graz

herausgegeben von

J. Trüper wd Chr. Ufer Direktor des Erziehungsheims und Kinder- Rektor der Südstädtischen Mittelschule sanatoriums auf der Sophienhöhe bei Jena für Mädchen in Elberfeld

Dreizehnter Jahrgang

Langensalza Hermann Beyer und Söhne (Beyer & Mann) Herzogl. Sächs. Hofbuchhändler 1908

Alle Rechte vorbehalten.

1.04-

Inhalt.

A. Abhandlungen :

BarprRIaN, Gedanken über Beobachtungen, wie sich Kinder bei der Sprach- erwerbung Fremdwörtern gegenüber verhalten . . .

Damrow, Poa REN als Vorstufe der nach Fähigkeitsklassen geglioderten Sch 113.

Drrzgs, Der Tic im Kindesalter und seine erziehliche Behandlung . A

Dix, Notwendige Aufklärung der Mädchen in der Schule über Kinderptlege und Kindererziehung .

Hermann, »Gefühlsbetonte Komplexe« im Seelenleben des Kindes, im Alige seelenleben und im Wahnsinn . Tr

Kuıemann, Zur Begriffsbestimmung der Jugendlichen Tr

Küssen, Zur Statistik über Selbstmorde u. Selbstmordversuche von "Schülern und Hochschülern in Rußland

Nörr. Fingertätigkeit und Fingerrechnen als Faktor der Entwicklung der In- telligenz und der Rechenkunst bei Schwachbegabten . . . . 33. 65.

Sauter, Die anthropomorphistische ee ona : ER a D

ScuuLTz, Das Heufieber . . ;

Trürer, Die Kunst als Grausamkeit im Leben ‘der Kinder .

Trürer, Zur Wertung der BEIIETENODER. und der Pädagogik in der Straf- rechtsreform . . é > S 173

Trürer, Johann Hinrich Wichern . . er

Trürer, Für oder gegen die Prügelstrafe in der Erzieh

Trürrr, Zum Gedächtnis unserer Verstorbenen. 1. Friedrech Mann. 2. Julius Ludwig August Koch . . é z ‘3 821.

Wrırasex, Psychologisches zur ethischen Erziehung . hr Er

ZAPPERT, Schularzt und Nervenkrankheiten . -

B. Mitteilungen:

Über Robert Sommers s Paali iaon und k Vpnsahungplehtas a A

Psychogenesis und Pädagogik . . a Aa 00

Instinkthandlung . ee Bares

Über die Entwicklung des Farbeusinns bei Kinden . . ... .

Sexuelle Belehrungen in der Schule . . Eee er

Kindererziehung auf dem Lande . .

Kind und Alkohol . .

Ein bemerkenswerter Fall von visuellem Gedächtnis

Die Verbrechen eines 14jährigen Kindermädchens .

XII. Blindenlehrerkongreß in Hamburg . .

Umschau auf dem Gebiete des Hilfsschulwesens® a an a

Österreichische Gesellschaft Er a ten ke

Zur Psychologie der A Kar ar tar > BER" EN a an

Leipziger Hoffnungen und Ontwürfe

Mondschein und Bettnässen . .

Ein Verein für Kinderforschung in Ungarn

Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses (29. Jan. 1908) über das Strafverfahren gegen Jugendliche .

Inwieweit ist Rhachitis der Kinder durch Trunksucht ihrer Eltern begründet?

Direktor Horny in Scheuern t. :

Ferienkurse über Schulhygiene .

Anstalt für Epileptische

Erklärung . . ...

IV Inhalt.

Zur Frage des sogenannten 6. Sinnes der Blinden .

Ein Urteil über meine Klasse im Zeitraume von vier Monaten nach Aufnahme der Kinder er

III. österreichische Konferenz der Schwachsinnigenfürsorge nee FRA

Kurse in moderner Pädagogik auf Grund Fröbelscher Ideen .

Phantasie und dichterische i TRERBURG eines Kindes .

Otto Danger f -

Die Eierscheu . ;

Die Fernwahrnehmungen (sogen. 6. Sinn) der Blinden und Taubblinden

Über die sexuelle Aufklärung der Kinder . .

Fortbildungskurse für Heilpädagogik und Schulhygiene”

Personalnachricht .

Drei Vorkämpfer der Kinderforschung vor fünfzig Jahren

Die Fürsorge-Erziehung im braunschweigischen Landtage

Aus den Verhandlungen des 7. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für

orthopädische Chirurgie zu Berlin . Zwei Mitteilungen, die Gerichtspflege Jugendlicher betr. Weshalb finden die Kinder an den Märchen Gefallen ? Noch einmal der sog. 6. Sinn der Blinden und Taubblinden Außereheliche Schulkinder und ihre Bewertung . . Ein Schweizerischer Informationskursus in Jugendfürsorge Weshalb finden die Kinder an den Märchen Gefallen? . . Noch einmal der sog. 6. Sinn der Blinden und Taubblinden . Außereheliche Schulkinder und ihre Bewertung . . Ein Schweizerischer Informationskursus in Jugendfürsorge Berücksichtigung der psychopath. NER im Stenographieunterricht Behandlung schwachsinniger Kinder Das Plauener Rachitismerkblatt .

C. Literatur:

AmEnT, Die Seele des Kindes

Arzt und Schulbetrieb . N

BAERNREITHER, Jugendfürsorge und Strafrecht in den Vereinigten Staaten ` von Nord-Amerika DT ee a ae

Barr, Dr. Barnardo. . i

BLEULER, Affektivität, Suggestibilität und Paranoia . Te KR

Führer durch die Literatur des Hilfsschulwesens . . 28.

Fünftes Programm und Festschrift zur Feier des Sojährigen Bestehens der

Provinzial-Taubstummenanstalt in Stade . .

Harrmann, Die Strafrechtspflege in Amerika . uA

Herr, Das moderne amerikanische Besserungssystem .

HırscarELD, Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen unter besonderer Berück- sichtigung der Homosexualität. . ;

Kanger, Unsere Lieblinge in Schule und Haus

KöLLE, FRIEDRICH. . à

Kvxz, Geschichte der Blindenanstalt zu Tllzach- Mühlhausen i. E.

v. Lipmem, Saluti juventutis :

Meumasn, Vorlesungen über experim. "Pädagogik ı u. ihre psycholog. Grundlagen

Neu eingegangene Bücher und Zeitschriften . . ko ae Mi ; 192,

Scurm, Bubi’s erste Kindheit

SIEFERT, Über die Geistesstörungen der Strafhaft

Statistik über das Taubstummenwesen in Preußen am 1. Januar 1907

Srers, Die Kindersprache . ee Ne a

ToBI JONCKHEERE .

TruscheL, Der sechste Sinn der Blinden

Viertes Programm der Provinzial-Taubstummenanstalt zu Hildesheim

Wırmanns, Gefängnispsychosen . . Fr IS 00

Zur Literatur über Jugendfürsorge und Jugendrettung . ` | 187. 217. 258.

A. Abhandlungen.

.-—

Psychologisches zur ethischen Erziehung.

Vortrag, gehalten in der XII. Versammlung der österr. Gesellschaft für Kinder- forschung in Wien, am 13. Mai 1907.

Von Prof. Dr. Stephan Witasek. (Mit 1 Tafel.) »Psychologisches zur ethischen Erziehunge mancher unter

Ihnen wird dabei denken, das ist entweder ein Nachzügler oder es kommt verfrüht. Und er mag in gewissem Sinne recht haben. Sie wissen ja, wie oft die Psychologie, nahe liegender theoretischer Er- wägungen sich entsinnend, daran gegangen ist, der Pädagogik die erwünschte theoretische Unterlage zu verschaffen. Sie wissen aber auch, wie dieses Unternehmen bisher noch jedesmal in seinen Er- folgen hinter dem Ziel zurückgeblieben ist und wie die pädagogische Praxis, ganz auf eigene Füße gestellt, alle solchen Bestrebungen weit überholt hat, so daß es der Menschheit, hätte sie auf die psycho- logische Theorie der Erziehung warten wollen, damit auch nicht besser ergangen wäre, wie wenn sie nicht früher zu atmen und zu verdauen gewagt hätte, ehe nicht die Physiologie der Atmung und Verdauung gefunden war. So mag es denn wirklich ein überwundener Stand- punkt scheinen, neuerdings in Erziehungsangelegenheiten zu theo- retisieren, zumal heute, da von allen Seiten die praktischen Reform- gedanken herandrängen und sich die fruchtbarsten, bedeutungsvollsten Anregungen gerade aus dem Leben der Praxis heraus ergeben. Ich erinnere an den Ruf nach Fürsorge-Erziehung, nach Schulen für Schwachbefähigte, Landerziehungsheimen, Schularzt und an manches andere. Zeitschrift tür Kinderforschung. XIII. Jahrgang. 1

—N a Ze

DI

A. Abhandlungen.

Aber, merkwürdigerweise, auch verfrüht mag das Unternehmen wiederum erscheinen. Und dies aus folgendem Grund. Wir leben gerade wieder in einer Zeit, in der die Psychologie von neuem sich der Aufgabe unterzieht, der Pädagogik an die Hand zu gehen. Und wir können sagen, dieses Mal mit weit mehr Aussicht auf Erfolg. Denn heute ist es eine andere Psychologie als damals, es ist die Psychologie, die endlich und wohl endgültig ihre Methode gefunden hat, die Methode, durch die sie zum sicheren Erfolg geführt wird und dank welcher sie sich auch bereits in der praktisch-pädagogischen Anwendung bewährt hat. Ich erinnere Sie an das dicke, viel gelobte und viel geschmähte Buch von W. Lay, »Experimentelle Didaktik«, nicht gerade weil es ein besonders gutes Buch wäre, sondern weil es bei seinem beträchtlichen Umfange immerhin deutlich zeigt, wie vielfältig bereits die neue Psychologie der Unterrichtslehre nutzbar gemacht werden kann. Aber das ist die Unterrichts-, nicht die Er- ziehungslehre! Und um soviel als die Psychologie des Geisteslebens die des Gemütslebens in ihren Fortschritten und Errungenschaften überholt hat, um soviel geringer sind die Aussichten, jetzt schon mit Nutzen Ergebnisse der wissenschaftlichen Psychologie auf die Erziehung anzuwenden. Es muß das wohl zugegeben werden, und deshalb kann es sich auch im folgenden um nichts weiter handeln, als darum, zur Beachtung eines wichtigen Faktors, der in der ethischen Erziehung mitspielt, eine vorläufige Anregung zu geben.

Zur sicheren Würdigung dessen, was ich vorzubringen gedenke, müssen Sie mir allerdings gestatten, daß ich Ihnen die Hauptzüge der allgemeinen Theorie der Erziehung in Erinnerung rufe.

“Die ethische Erziehung ist eine Betätigung, die darauf gerichtet ist, dem zu Erziehenden einen ethisch wertvollen Charakter beizu- bringen. Der ethisch wertvolle Charakter läßt sich freilich in ver- schiedener Weise bestimmen; am einfachsten und sichersten aber wohl dadurch, daß man auf seinen Schwerpunkt, auf sein Zentrum hinweist, auf das Gewissen. Und auch was das Gewissen ist, bestimmen wir heute leicht an der Hand psychologischer Einsichten. Es hat freilich eine Zeit gegeben, die das Gewissen als etwas Über- natürliches betrachtete, gleichsam als eine Mitgift, die das Neugeborene aus dem Jenseits mit auf den Weg erhält, und auch Kant hat noch gelehrt, das Gewissen sei etwas, das jeder Mensch ursprünglich in sich hat, das ihm unmittelbar Achtung vor dem Sittengesetz auf- zwingt. Ich glaube, die neuere Psychologie hat solchen Anschauungen endgültig den Boden entzogen. Wir wissen jetzt, daß das Gewissen nichts anderes ist, als ein Komplex von Gefühlsdispositionen, von

Wrrasek: Psychologisches zur ethischen Erziehung. 3

Dispositionen, auf ethisch Relevantes in ethisch entsprechender Weise gefühlsmäßig zu reagieren. Es ist geradeso ein Komplex von Gefühls- dispositionen, wie dies auch von dem ästhetischen Geschmack zum Beispiel gilt. Er ist geradeso wie dieser nach ganz allgemein natür- lichen Gesetzen ins psychische Gesamtgeschehen des Individuums eingefügt, es ist ein Komplex, dessen einzelne Komponenten nicht ausschließlich ihm allein, sondern je nach Umständen dem ästhetischen Geschmack oder auch noch anderen Dispositionskomplexen ange- hören, der sich also mit anderen psychischen Dispositionskomplexen teilweise deckt, der aber stets nur nach den allgemein natürlichen Gesetzen des psychischen Geschehens zu verstehen ist. Durch diese Einsicht ist die Erforschung des Gewissens und damit die Entwicklung des sittlichen Charakters überhaupt der wissenschaftlichen Behandlung zugänglich gemacht.

Nun ist aber damit freilich auch eine ganze Reihe der schwierig- sten Probleme aufgetan. Daß der Mensch ein fertiges Gewissen nicht mit auf die Welt bringt, mag zunächst leichtlich behauptet werden. Wie es sich dann aber in ihm allmählich entwickelt, das ist vorerst eine ziemlich rätselhafte Sache. Das Neugeborene bringt Gefühlsdispositionen mit; es sind an ihm ganz zweifellos Gefühls- reaktionen zu beobachten. Alle seine Gefühlsreaktionen sind aber für den Anfang nur rein somatisch bedingt, sie sind, wie etwa die Unlust des Hungers, der Kälte, der Nässe, die Lust der Sättigung, rein sinnlichen Ursprungs, in der Organisation des körperlichen Indi- viduums begründet und, als in gewissem Sinne egoistische Gefühle, von außer- oder gar antiethischer Tendenz. Wie werden daraus die ethischen Gefühlsdispositionen ?

Die gleiche Frage taucht aber noch ein zweites Mal auf, nämlich dort, wo wir nicht die sittliche Entwicklung des Individuums, sondern die des menschlichen Geschlechtes betrachten. Völker-Psychologie und Ethnologie zeigen uns deutlich genug, daß wir, sofern wir nur genügend weit zurückgehen in der Entwicklung des Menschen- geschlechtes, gewiß auch auf ein Stadium kommen, in dem sich die Gefühlsäußerungen ähnlich verhalten wie heute die des kindlichen, des unentwickelten Individuums, in dem die Gefühlsbetätigung somatisch, egozentrisch bestimmt war und es keinen ihr entgegenstehenden Sittenkodex gab.

Unser heutiger Sittenkodex ist das Ergebnis einer Entwicklung von vielen hunderten oder tausenden von Generationen. Wie sich diese Entwicklung gemacht hat, das läßt sich für das Allgemeine am raschesten in einem Bilde sagen. Durch das Zusammenleben der

1%

4 A. Abhandlungen.

Menschen kamen die einzelnen individuell und vorerst rein egozen- trisch bestimmten Gefühls-Reaktions-Systeme der einzelnen Individuen miteinander in Berührung, in Kollision, die Ecken stießen sich an- einander ab, die Flächen wurden zu Reibungsflächen, die sich aber nicht nur gegenseitig glätteten, sondern auch ineinander verhakten, so daß sich Zusammenhänge, größere Zusammenhänge um allgemeinere Zentren gruppierten, während die egoistischen Zentren zurücktraten. Die Erfahrung der Jahrhunderte hat das sozial Wertvolle und Förder- liche gegen das Sozialwidrige abkrystallisiert und aus dem allgemeinen Verlangen nach dem sozial Wertvollen ist das Sollen geworden.

So ergab sich endlich unser Moralkodex, der nun so natürlich und selbstverständlich erscheint, daß unsere größten Denker den ethischen Forderungen gleiche Apriorität, Notwendigkeit und allgemeine Gültigkeit zuschreiben konnten, wie den Axiomen der Erkenntnis.

Was die unwillkürliche Entwicklung am Menschengeschlechte in Jahrtausenden geschaffen hat, das soll die Erziehung am einzelnen Individuum in den wenigen Jahren seines Werdeganges fertig bringen. Denn das Neugeborene steht in ethischer Beziehung gleich- sam auf dem Standpunkte des Urmenschen. Die Vorschriften des Moralkodex sind ihm geradeso fremd, und fremder, wie wenn ihm plötzlich naß und kalt angenehm, warm und trocken unangenehm sein sollten.

Das Individuum soll nun auf den Standpunkt des ethischen Be- wußtseins kommen. Wie macht sich das? Die natürliche tausend- jährige Entwicklung des Menschengeschlechtes zu durchlaufen, ist ihm verwehrt, das Individuum kann nicht am eigenen Leib die Erfahrungen machen, auf Grund deren die Menschheit ihren Moral- kodex gewonnen hat.

Aber das biogenetische Grundgesetz hat, wenn irgendwo, so hier seine gewisse lehrreiche Geltung. Die Erziehung ist die ontogenetische Wiederholung der phylogenetischen Entwicklung. Es kommen natür- lich auch hier die Wegabkürzungen, Auslassungen von Mittelgliedern, die Bedingungs- und Ursachen-Konzentrationen vor, die sich bei Über- tragung auf die Ontogenese überall finden, die Gleichartigkeit im Allgemeinen ist aber bewahrt: der Mechanismus ist hier wie dort in der Hauptsache Gefühlsübertragung.

Das Wesen der Gefühlsübertragung ist durch wenige Beispiele rasch erläutert. Wer in einer sonst ganz mäßig schönen Gegend glückliche Tage verlebt hat, dem kommt leicht die Gegend selbst weit schöner vor, als sie es an sich verdiente, die Lust, die er an seinen glücklichen Erlebnissen empfand, überträgt sich auf die Umgebung,

Wrrasek: Psychologisches zur ethischen Erziehung. 5

die mit den Erlebnissen verknüpft ist; auch der Gedanke an die Landschaft, der Anblick der Gegend erweckt ihm Lust, sie gefällt ihm. Fechner bringt unter anderen folgendes Beispiel: Einer Frau gefällt der Name ihres Mannes über die Maßen; der Name ist nicht besonders schön, aber sie liebt ihren Mann sehr, so scheint ihr auch der Name schön. Es braucht nur an einige solche Fälle erinnert zu werden, sofort kommen tausende andere analoge Fälle in den Sinn und man ist sich der ungeheuren Bedeutung des Prinzips der Gefühls- übertragung bewußt, das übrigens für die Ethik und Ästhetik ja auch längst anerkannt ist.

Auch im Mechanismus der Erziehung spielt sie die erste Rolle, Ihr ist es im wesentlichen zu verdanken, daß sich der ursprüngliche Vorrat an emotionalen Regungen, den das Individuum mit in das Leben bringt, allmählich von den rein sinnlichen Anlässen ausdehnt und herüberschiebt über verschiedene Mittelglieder, bis er schließlich bei den so ganz abstrakten antiegoistischen Gegenständen des ethischen Gebietes anlangt und sich auch mit ihnen zu verknüpfen beginnt.

Ursprünglich ist das Lustgefühl mit den sanften Eindrücken der Wärme, der Trockenheit, dem behaglichen Zustande der Sättigung und ähnlichem verbunden. Mit diesen Eindrücken kommt aber nach und nach die Wahrnehmung der Mutter in enge, innere Verbindung und die Association zwischen jenen und dieser Vorstellung ist gleichsam die Brücke, auf der sich auch das Gefühl von der einen zur andern, auf die Vorstellung der Mutter herüberschiebt. Denselben Weg geht die Ausbreitung des Gefühls weiter, etwa auf die Wahrnehmung der jZufriedenheit der Eltern, auf das von den Eltern Gebotene, schließlich auf das Moralische überhaupt. Das letzte Stadium der Entwicklung besteht dann darin, daß das Moralische auch außer Zusammenhang mit den Gegenstandsgebieten, von denen her es An- fangs seine gefühlserregende Kraft bekommen hat, also auch wenn die assoziativen Brücken abgebrochen sind, seine emotionelle Wirkung behält und bewahrt.

Das ist der allgemeine Gang der Entwicklung. Im einzelnen enthält er freilich vielerlei Probleme. Allgemeine Fingerzeige für die Erziehungspraxis sind aber auch schon daraus zu entnehmen.

Die Gefühlsübertragung ist aber doch nicht das einzige Agens der Erziehung. Was sie leistet (Verknüpfung von Gefühlserregungen mit Gegenständen oder Anlässen, die nach ursprünglicher Organisation des Individuums entweder gar nicht oder gar in entgegengesetztem Sinne gefühlserregend wirksam sind), das leistet zum mindesten auch noch ein anderer Faktor, nämlich die Gefühlsuggestion, und damit

6 A. Abhandlungen.

nl u

komme ich auf den eigentlichen Gegenstand meiner heutigen Aus- führungen.

Die psychischen Tatsachen sind im normalen Leben durch spezielle, teilweise im Individuum liegende Ursachen bestimmt. Wenn sich im Individuum eine Überzeugung einstellt, so hat sie sich aus Gründen entwickelt, die dem sonstigen geistigen Besitz des Individuums angehören; faßt das Individuum einen Entschluß, so entsteht er nach notwendigen allgemeinen, kausalen Gesetzlichkeiten aus den Motiven und Charakterdispositionen, die dem Individuum eigen sind. Jede neue psychische Betätigung wächst normalerweise nach allgemein gültigen Naturnotwendigkeiten aus dem psychischen Bestande des übrigen Individuums heraus.

Die Suggestion macht das psychische Geschehen von solchen, sozusagen adäquaten Ursachen unabhängig. Einige Beispiele mögen das zeigen.

Man lasse jemand das eine Ende eines Metalldrahtes in die Hand nehmen, schicke sich an, das andere in eine Flamme zu halten und gebe der Versuchsperson den Auftrag, es zu äußern, sobald sie das erste Anzeichen davon verspürt, daß sich die Wärme bis zu ihrer Hand fortgepflanzt hätte. Die Versuchsperson wird in den meisten Fällen früher oder später angeben, die Wärme nunmehr zu verspüren, auch wenn das andere Ende des Drahtes gar nicht in die Flamme gehalten worden ist und sie nur der Meinung war, daß es geschehen sei. Normalerweise braucht es zum Zustandekommen einer Wärmewahrnehmung eines Wärmereizes und einer Wärme- empfindung; hier hat der Glaube, es werde eine Wärmewahrnehmung eintreten, schon dazu (natürlich nur zu einer vermeintlichen) genügt. Daß Suggestiv-Fragen vielfach zur Gedächtnisfälschung führen können, ist neuerlich eingehend untersucht worden. Es kann vorkommen, daß der Vernommene je nach der Fragestellung Entgegengesetztes glaubt, sich in ganz entgegengesetztem Sinne zu erinnern meint, nur weil ihm diese oder jene Überzeugung in der Frage gegenüber- zutreten scheint. »Hat er nicht einen blonden Schnurrbart gehabt, der Mann, der dort und dort gesehen worden ist?« Antwort: Ja, einen blonden Schnurrbart. Wäre gefragt worden, ob er nicht einen schwarzen Bart gehabt habe, so wäre leicht auch Zustimmung erfolgt. »Warum wirst du denn so rot«,.fragt man jemand, und er wird nun erst wirklich rot, und schämt sich sogar, ganz ohne normalen Anlaß. Das psychische Morphium der Ärzte, besonders der Nervenärzte ist bekannt. Der Patient beklagt sich, daß er Unruhe und Schmerzen habe und fürchtet, daß ihm eine schlechte Nacht bevorstehe. Der Arzt

WiırsseX: Psychologisches zur ethischen Erziehung. 7

beschwichtigt ihn und tut so, als gäbe er ihm eine Morphium-Injektion; indessen ist nichts weiter als vielleicht physiologische Kochsalzlösung in der Spritze. Die Wirkung tritt nichtsdestoweniger ein, der Patient schläft vorzüglich, während er sonst aus der Unruhe nicht heraus- gekommen wäre. Darwin erzählt, daß er einigen jungen Männern, die des Tabakschnupfens ungewohnt gewesen wären, eine Prise ge- reicht habe mit der bestimmten Versicherung, sie würden nicht nießen. Und obwobl gerade bei ihnen heftige Schleimhautreizung zu erwarten gewesen wäre, sei es doch wirklich nicht zum Nießen gekommen. (Schmidkunz.)

Beschränken wir uns auf die Suggestion von psychischen Tat- sachen, so können wir sagen, sie besteht darin, daß die psychischen Tatsachen nicht aus ihren normalen adäquaten Ursachen heraus sich entwickeln, sondern lediglich deshalb zu stande kommen, weil sie dem Subjekte in seiner Phantasie (Vorstellung) entweder aus Eigenem (Autosuggestion) oder von einer anderen Persönlichkeit her (Fremd- suggestion) mit großer Kraft entgegentreten.

Die Suggestibilität eines Individuums ist um so größer, je geringer seine psychische Eigenkraft ist. Dies zeigt sich besonders deutlich in der Hypnose sowie bei gewissen Geisteskrankheiten.

Aus eben diesem Grunde ist auch die Suggestibilität des kind- lichen Alters auffallend groß. An anderer Stelle gedenke ich nämlich zu zeigen, daß sich die wesentlichsten Charakteristika des kindlichen Seelenlebens am ungezwungensten aus dem einen Prinzip erklären und verstehen lassen, daß dem kindlichen Individuum nur ein geringes Maß an psychischer Eigenkraft zur Verfügung steht. Die allmähliche Entwicklung des kindlichen Seelenlebens fügt sich deutlich dem Gesichtspunkte der Zunahme psychischer Eigenkraft ein, so daß damit ein einheitliches Grundprinzip der Psychologie des Kindes gewonnen ist. Freilich ist dazu noch eine nähere Präzisierung des Begriffes der psychischen Kraft erforderlich, eine Präzisierung, der übrigens die Psychologie auch sonst bedarf. Für den vorliegenden Zweck ist sie indessen entbehrlich.

Es kommt mir nun an dieser Stelle nicht auf Suggestibilität des kindlichen Alters überhaupt an, sondern speziell auf Gefühlssuggestion. Man hat bis jetzt der Gefühlssuggestion keine besondere Beachtung zugewendet, ja vielfach gemeint, daß der Suggestion vornehmlich nur das Glauben und Meinen, das Überzeugtsein, und auf der emotionalen Seite des Seelenlebens die Begehrungen, Entschlüsse zugänglich seien.

Ich habe natürliche Äußerungen des kindlichen Seelenlebens zu beobachten gehabt, die sich am ungezwungensten als Fälle von Ge-

8 A. Abhandlungen.

fühlssuggestion verstehen lassen. Da es meist Vorkommnisse sind, die sich so ziemlich an jedem Kinde zeigen, so will ich nur einiges beispielshalber anführen. Fast alle Kinder äußern schon lange vor dem Ende des ersten Lebensjahres deutlich Lust am eigenen Spiegel- bilde. Worin hat diese Lust ihren Ursprung? Daß das Kind die Situation verstünde und sich in dem Spiegelbilde erkennte, und etwa Freude daran hätte, die eigene Person im Spiegelbilde zu sehen, davon kann um diese Zeit noch lange nicht die Rede sein. Der Sinn für Komik und Humor kommt noch viel später, als die Bekanntschaft mit dem eigenem Aussehen und der eigenen Persönlichkeit, zutage. Nicht einmal das kann angenommen werden, daß das Kind die gleiche Art der eigenen Bewegungen mit denen des im Spiegel sichtbaren Kindes auffaßte und daran etwa Vergnügen hätte. Die Sachlage ist vielmehr die, daß wir alle gewohnt sind, wenn wir, das Kind auf dem Arm, vor den Spiegel treten, mit dem Spiegelbilde freundlich zu schäkern und lachend allerlei fröhliche Äußerungen zu tun. Das Kind macht unwillkürlich diese Äußerungen mit, gewöhnt sich vor dem Spiegelbilde an sie, das Spiegelbild wird ihm ein Gegenstand lustvoller Unterhaltung. Ganz ähnlich mag in der Regel die Freude kleiner Kinder beim Anblick anderer kleiner Kinder zu erklären sein. Das Drollige oder gar das Zarte, Liebliche, Kindliche, aufzufassen, und daran eine Herzensfreude zu haben, wie wir Erwachsene, dazu ist das Kleine ja längst noch nicht im stande. Aber eben von den Er- wachsenen wird es unter Ausdrücken der Freundlichkeit und Freude auf das andere Kind hingewiesen, und so geht die Gefühlsreaktion suggestiv anf das Kleine über. Mit der Freude an Hunden, Pferden usw. ist es gewiß nicht viel anders bewandt.

Solche gelegentliche Beobachtungen haben mich dazu angeregt, auch absichtlich Fälle von Gefühlssuggestion beim Kinde hervorzu- rufen, um der Sache experimentell ein wenig näher zu treten. Daß die ganze Veranstaltung vorläufig nur primitivsten Charakters war, möchte ich gleich von vorneherein bemerken, und auch zugeben, daß es nicht nur weil es sich um einen allerersten Anfang handelt, so hat sein müssen. Auch daß ich dabei von Dingen zu berichten habe, die sich keineswegs im psychologischen Laboratorium sondern örtlich sowohl wie ihrem sonstigen Charakter nach in camera familiaritatis abgespielt haben, wird man mir dabei zu gute halten müssen. Die Ver- suche sind, wie ja kaum anders möglich, in meiner Familie an meinem eigenen Töchterchen angestellt, das damals in der ersten Hälfte des dritten Lebensjahres stand.

Zunächst hatte ich es auf die Suggestion sinnlicher Gefühle abge-

WıraseX: Psychologisches zur ethischen Erziehung. 9

sehen. Zu dem Zweck ließ ich zum Beispiel das Kind wie von un- gefähr sogenannte Pfeffermünz-Bonbons finden und hatte dazu solche gewählt, die möglichst ausgesprochenen Zucker- und nur zarten Menthol- geschmack haben, und auf der Zunge leicht zerfließen. Dem Kinde waren sie noch ganz neu und unbekannt. Ich ließ es gewähren, es führte eins zum Munde und nun sagte ich ihm »Das schmeckt gut, nicht wahr?« und allerlei Ähnliches, unter deutlichen Ausdrücken des Behagens. Gleich darauf steckte es ein zweites in den Mund und nun sattelte ich um, während ich gleichfalls eines zu mir nahm; mit gedehntem »Pfui«! steckte ich recht drastisch die Miene des Abscheues, Ekels und Widerwillens auf und der Erfolg: Das Kind begann das Gesichtchen enttäuscht und unbehaglich zu verziehen, steckte geekelt die Zunge vor, spuckte heftig aus und geriet schließlich sogar ins Weinen, alles das augenscheinlich über den Geschmack, der ihm kurz zuvor so vergnüglich gemundet hatte. Oder ein anderes Beispiel. Als überzeugter wenn auch nicht unbedingter Anhänger Lahmann- scher Ernährungsweise hätte ich meinem Töchterchen gerne schon frühzeitig grüne Nahrung, also etwa frischen, mit Citronen gesäuerten Salat gereicht, aber wie zu erwarten stand, es wies ihn mit Zeichen des Widerwillens beharrlich zurück, bis ich zum suggestiven Mittel griff, und einmal eben solchen Salat mit möglichst kräftig zur Schau getragenem Geschmacksvergnügen in seiner Gegenwart verspeiste. Und als ich ihm davon anbot (selbst verlangte es nicht darnach) und dabei in meinen Beteuerungen, wie gut das sei, essend fortfuhr, da nahm es ihn an, und seither schmeckt er ihm. Noch ein anderes Beispiel. Ich verschaffte mir das schärfste Glaspapier, das ich auftreiben konnte, ein Glaspapier mit dem man sich die Haut leicht blutig riffeln könnte. Mit diesem ließ ich meine Frau in Anwesenheit des Kindes ganz wie von ungefähr und unter Äußerungen wohliger Annehmlichkeit sich Hand und Gesicht streicheln. Bald verlangte auch das Kind danach, und indem es gleichfalls anfing, sich die Haut damit zu streicheln, war es zwar anfangs etwas verdutzt und unschlüssig, wie es das auf- nehmen solle, ließ sich aber doch sehr leicht dazu verleiten, es gut und angenehm zu finden, worauf es sich dann eifrig mit dem Glas- papier auf den Händen und im Gesicht herumfuhr, so daß man ihm wehren mußte, wenn es sich nicht verletzen sollte. Auch mit anderen als sinnlichen Gefühlen habe ich ähnliches versucht. Mein Töchterchen unterhält sich geradezu begeistert gerne mit Bildchen- anschauen und äußert an den dargestellten Gegenständen, wo sie dar- nach beschaffen sind, lebhaftes Vergnügen. Aber auch dabei gelang es, ganz unabhängig von der Beschaffenheit des Bildes und des dar-

10 A. Abhandlungen.

gestellten Gegenstandes, die Gefühlsreaktion des Kindes suggestiv beliebig zu bestimmen. Bei ganz harmlosen Kinderbildchen gewöhn- lichster freundlichster Sorte, die ihm sonst nur Äußerungen des Ent- zückens entlockten, konnte man es, wenn man nur selbst genügend deutlich Mißfallen über das Bildchen äußerte, zu intensivster Unlust und zu Widerwillen gegen dasselbe bringen. Das ging so weit, daß es noch längere Zeit (1/, Stunde) nach dem Versuch, wenn man das Bildchen unvermerkt unter andere gemengt hatte und es die ganze Sammlung irgend jemanden vorzeigen ließ, mitten im Lob der anderen Bildchen auf eben dieses eine noch ebenso kräftig mit Widerwillen reagierte, es, ohne ein Wort zu sagen, mit finsterer Miene zu Boden in die Ecke warf, mit dem Fuß darauf trat und erst auf Befragen äußerte, das Bildchen sei so garstig. Ebenso leicht war der entgegen- gesetzte Effekt zu erzielen. Ein Bildchen, das die aufregende Scene darstellte, wie ein Dackel einem spielenden Mädchen die Puppe raubt und das Mädchen bitterlich weinend zusehen muß, hat zunächst seine natürliche Wirkung auf das Kind nicht verfehlt, so daß es dabei Un- willen und Mißbilligung äußerte. Diese Gefühlsreaktion schlug aber fast plötzlich in die gegenteilige, in deutliches Vergnügen um, als es gewahr wurde, wie die Mutter lebhaft Wohlgefallen und Freude an dem Bildchen äußerte und es lobte. Ja sogar gegenüber ganz gleich- gültigen, nichtssagenden Darstellungen (ich wählte dazu zum Beispiel ein Stückchen Schnittmusterbogen aus einem Damenmode-Journal) konnten dem Kinde ausgiebig lustvolle oder unlustvolle Gefühlsreaktionen auf- suggeriert werden.

Es ist mir gelungen, in einer Reihe von Fällen ohne Wissen des Kindes gelegentlich der Versuche Momentaufnahmen zu machen, so daß wenigstens der physische Ausdruck des psychischen Eiffektes fixiert erscheint. Ich lasse beispielshalber eine kleine Auswahl der Aufnahmen hier folgen. (Fig. 1, 2,3.) Der Gesichtsausdruck ist nicht mißzuverstehen. Und daß der Gesichtsausdruck auch das Vorhanden- sein der entsprechenden Gefühlshaltung verbürgt, ist bei der innigen, noch ganz unmittelbaren Verbindung, die in diesem frühen kindlichen Alter zwischen Ausdrucksbewegung und ausgedrücktem psychischen Tatbestand vorliegt, außer Zweifel.

Trotz des nur vorbereitenden, ganz primitiven Charakters meiner Versuche erweisen sie doch zuverlässig eine ganz außerordentlich große Suggestibilität des Kindes, und zwar, was hier das Wesentliche ist, eine Suggestibilität in betreff des Gefühlslebens.. Es geht diese Suggestibilität bis zu völliger Emanzipation des Gefühlsverhaltens von seinen adäquaten Ursachen. Auch eine wie große Rolle die unbeab-

Zeitschrift für Kinderforschung. 1907/08. Heft 1.

Abb. 1. Abb. 2. Normales, unbeeinflußtes Verhalten des Kindes Aufsuggeriertes Mißfallen an einem übrigens einem freundlichen Bildchen gegenüber. durchaus hübschen Bildchen freundlichen Inhalts.

Abb. 3.

Aufsuggeriertes Wohlgefallen an einer inhaltslosen Zeichnung (Stück Schnittmusterbogen).

Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.

Wirrasek: Psychologisches zur ethischen Erziehung. 11

sichtigte Suggestion des täglichen Lebens in der Entwicklung des Charakters und der sittlichen Persönlichkeit des Einzelnen spielen mag, lässt sich aus diesen Versuchen ermessen. Denn solche unbe- absichtigte Einflüsse müssen ja noch viel kräftiger wirken, da sie einerseits auf natürlichem, nicht gekünsteltem, daher in der Regel offenbar sicherer wirkendem Wege zu stande kommen, andrerseits das Individuum konsequent, dauernd und von allen Seiten umgeben. Die Schwierigkeiten, mit denen die Ausführung von Gefühls- suggestionsversuchen am Kind zu kämpfen hat, werden es entschuldigen, daß ich in die Sachlage nicht weiter experimentell eingedrungen bin. Zu häufige Wiederholung der Versuche mit einem und demselben Kinde verbietet sich aus naheliegenden Gründen. Da aber auch Ver- trautheit mit dem Kind unbedingt erforderlich ist und das Kind an den Suggerierenden gewöhnt sein muß, so ist es hinwieder nicht leicht, eine große Anzahl von Kindern für solche Versuche aufzu- bringen. Das Suggerieren ist ferner in den meisten Fällen eine Art schauspielerischer Veranstaltung und auch das ist nicht jedermanns Sache. Schließlich empfindet man auch noch ein begreifliches Wider- streben, das in gesunder Entwicklung begriffene Gemüt des Kindes in seiner natürlichen Betätigungsweise zu stören und mit groben Mitteln der Täuschung einzugreifen in ein zartes Seelenleben, das unseren Einflüssen so voll rührenden, unmittelbaren Vertrauens entgegenkommt. Trotzdem glaube ich, daß es sich lohnt, ja daß es notwendig sein wird, dem Tatbestand der Gefühlssuggestion in seinen einzelnen Momenten weitere experimentelle Untersuchung zuzuwenden. Welche Arten von Gefühlen sind ihr zugänglich? Welche Grade der Gefühls- intensität sind erzielbar? Welche Grade natürlicher, normaler, durch adäquate Ursachen hervorgerufener Gefühlsintensität sind durch Gegen- suggestion zu überwinden? Welche sind die wirksamsten Suggestions- mittel? Und die wichtigste Frage: Wirkt Suggestion auch dispositions- begründend oder nur für jeweilig aktuelle Erregung? Erste An- deutungen zu einigen dieser Fragen sind ja auch schon aus meinen vorläufigen Versuchen zu entnehmen, und auch die Erfahrung des täglichen Lebens stellt, z. B. für die wichtige Dispositionsfrage, manches zur Verfügung. Aber zur sicheren, genauen Kenntnis genügt das alles nicht, und es werden schon im theoretischen Interesse Mittel und Wege zur Behandlung dieser Frage gefunden werden müssen. Damit hat es vorläufig allerdings noch gute Weile Für die Er- ziehungspraxis ist aber einstweilen auch das, was wir bisher von Gefühlssuggestion erkannt haben, nicht ohne Wert. Und wenn sie sich erinnern, daß man ernsthaft dem Gedanken näher getreten ist,

12 A. Abhandlungen.

in den Zuchthäusern hypnotische Kabinette einzurichten, um die Kriminellen für die Zeit nach der Entlassung aus der Strafhaft durch hypnotische Suggestion auf dem Wege der Rechtlichkeit festzuhalten, so wird ihnen die Idee, die Gefühlssuggestion mit Absicht in der Er- ziehung zur Anwendung zu bringen, auch nicht mehr so absonder- lich vorzukommen brauchen. Freilich in der Heimerziehung oder auch der Internatserziehung des normalen Kindes bedarf es solcher künstlicher Mittel nicht. Ob sie aber nicht unter besonderen Um- ständen in der Behandlung von moralisch Schwachsinnigen eine gute Stelle finden könnten, scheint mir doch der Erwägung wert.

Eine apriorische Entscheidung in solchen Dingen hat freilich immer ihr Mißliches, sie kann höchstens zum Probieren anregen, und muß sich stets die Korrektur von seiten der Erfahrung gefallen lassen. Dies besonders in einer Sache, von der selbst die allgemeine theo- retische Erkenntnis erst noch so schwankend begründet ist, wie dies für Diagnose und Pathologie des moralischen Schwachsinnes gilt. Vielleicht könnten unsere Einsichten in die Rolle der Gefühlssuggestion sogar dazu dienlich sein, einen Beitrag zur Ätiologie dieser Krank- heitsform zu liefern. Abnorm herabgesetzte Suggestibilität des Indi- viduums bei normaler Umgebung oder normale Suggestibilität des Individuums bei moralisch minderwertiger Umgebung müßten ja eigentlich zusammen mit anderem als Faktoren bei dem Entstehen jener Krankheitsformen zur Geltung kommen, die unter dem Sammel- namen des moralischen Schwachsinnes begriffen werden.

Unter diesen mannigfaltigen Formen ist aber eine, deren Wesen wir doch mit einigermaßen genügender Klarheit zu kennen glauben dürfen, und zu deren Behandlung sich die Anwendung absichtlicher Gefühlssuggestion besonders zu empfehlen scheint. Es sind das jene Fälle, die meines Erachtens allgemein, kurz und treffend als Fälle abnormen, dauernden Beharrens des Kindheitszustandes bezeichnet werden können, und die durch krankhaftes Zurückbleiben der Ent- wicklung der psychischen Kraft des Individuums bedingt sind. Als moralischer Schwachsinn sind sie charakterisiert durch abnormen Egoismus, einen Egoismus übrigens, der im Kindesalter durchaus normal wäre, durch abnorm raschen Stimmungswechsel, wie ihn ja auch das frühe Kindesalter zeigt, durch völligen Abgang der Einsicht in das Verwerfliche der Handlungsweise und völliges Fehlen aller ethischen Begriffe, während übrigens auch sonst die Intelligenz in solchen Fällen deutlich herabgesetzt erscheint. Es kann nun sehr wohl sein, daß eine möglichst kräftig gehandhabte Gefühlssuggestion hier einige Erfolge zu erzielen vermöchte. Die normale Methode der

Wrraser: Psychologisches zur ethischen Erziehung. 13

Erziehung, die sich hauptsächlich des Mittels der Gefühlsübertragung bedient, und die durch Lohn und Strafe zu wirken sucht, ver- sagt aus einem leicht erkennbaren Grunde. Die Intelligenz des Patienten reicht nicht aus, um der Gefühlsübertragung die erforder- liche gedankliche Brücke von dem lustbetonten Ereignis der Be- lohnung oder von dem unlustbetonten Ereignis der Strafe zur Vor- stellung des ethisch relevanten Gegenstandes, um deswillen Lohn oder Strafe erfolgt, zu schlagen, zumal, besonders im Falle der Strafe, schon diese Prozedur für sich allein die ohnedies geringfügige psychische Kraft des Individuums völlig für sich in Anspruch nimmt. Durch Gefühlssuggestion dagegen wird die Vorstellung der ethisch relevanten Betätigung direkt mit der zugehörigen Gefühlsreaktion in Verbindung und Zusammenhang gebracht und der Umweg, dessen der Patient wegen seiner zu geringen Geisteskraft nicht fähig ist, vermieden. So könnte in solchen Fällen durch die Anwendung der Gefühlssuggestion vielleicht eine aussichtsreichere Behandlung des moralischen Schwach- sinnes in die Wege geleitet werden.

Andere Formen des moralischen Schwachsinnes werden freilich auch diesem Mittel unzugänglich bleiben. So vor allem solche, die im wesentlichen durch abnorme Herabsetzung der allgemeinen Ge- fühlsdisposition begründet sind und ferner solche, in denen vermöge krankhafter Veranlagung des Individuums das Anerziehen und Ent- stehen einigermaßen dauernder Dispositionen überhaupt aus- geschlossen ist.

Damit bin ich zu Ende. Ich bin mir, wie ich nochmals zu be- merken mir erlaube, sehr wohl bewußt, daß ich nichts weniger als Ab- geschlossenes, sondern nur einen Anfang und eine Anregung gebracht habe. Indessen bin ich auch überzeugt, daß die Sache wert ist, näher verfolgt zu werden, und überzeugt, daß auch hier, auf dem Gebiete der Erziehung, gelingen muß, was schon auf so vielen Ge- bieten der praktischen Betätigung des Menschen, und überall dort, wo er praktische Fortschritte erzielt hat, gelungen ist, nämlich, die notwendigen und gleichsam blind wirkenden Naturgesetze zu erkennen und unserem Willen dienstbar zu machen. Und gelingt dies der Wissenschaft wieder einmal auf dem Gebiete der Erziehung, so kann sie einen ihrer schönsten Triumphe feiern; denn nichts muß uns so sehr am Herzen liegen, wie die sittliche Heranbildung der kommen- den Generation.

14 B. Mitteilungen.

B. Mitteilungen.

1. Über Robert Sommers »Familienforschung und Vererbungslehre.«. Von Dr. med. M. Fuhrmann in Hiddesen bei Detmold.

Wer wissensdurstig an die Erforschung der menschlichen Seele heran- geht, um die Möglichkeit einer Erkenntnis des Einzelindividuums zu gewinnen, wer daraufhin die exakte »wissenschaftliche« Psychologie durchaus studiert hat mit heißem Bemühen, der wird ihr bald voller Resignation den Rücken kehren und an einer wissenschaftlichen, praktisch verwertbaren Diagnostik des Homo sapiens verzweifeln.

Die experimentelle Psychologie hat manches geleistet, um uns über die allen Menschen gemeinsamen psychischen Vorgänge aufzuklären. Die sogenannte »Individual- Psychologie« hat zwar mit dem Wesenskern der Individuen nicht viel zu tun, sondern ist nur ein Teilgebiet der allgemeinen Psychologie, das sich allerdings damit befaßt, uns über die Abänderungen der allgemeinen psychischen Vorgänge im Einzel-Individuum zu unter- richten und das auch hier und da einen fruchtbaren Gedanken ge- boren hat.

Aber treiben wir Menschen denn nur aus rein theoretischem In- teresse Psychologie, nur, um uns über Dinge zu unterrichten, über die einem jeden das innere Erleben genügenden Aufschluß gibt? Was hilft uns die Analyse dieses abstrakten Menschen, dieses gasförmigen Gespenstes, das da in den Lehrbüchern der Psychologie seziert wird, und das nur durch Affekte, Vorstellungen oder nach einigen Psychologen sogar ledig- lich durch die Macht seiner Assoziationen rein passiv wie eine Glieder- puppe nur durch einen Kunstgriff bewegt und in Szene gesetzt wird!

Wir alle, die wir täglich und unbewußt praktische Psychologie treiben, und einer am andern stets neues psychologisches Interesse finden, Arzte, Pädagogen, Künstler, Juristen, Offiziere und wer wir sonst sein mögen, wir sind doch nicht nur diese abstrahierten Objekte der wissen- schaftlichen Psychologie, sondern sind leibhaftige, natürliche Wesen, deren jedes ein Sonderwesen für sich ohne Gleichen darstellt und deren Variation in Charakter und Strebungen unendlich ist.

Gerade in unserer Zeit, in der der Kultus der Persönlichkeit wieder aufblüht, interessieren uns an der Psychologie nicht so sehr die all- gemeinen psychischen Vorgänge, die, auch den niedersten Lebewesen in elementaren Formen zueigen, das gesamte Tierreich in gleicher Weise be- herrschen und mit der fortschreitenden Entwicklung des Gehirns zu immer reicherer Entwicklung gelangen.

Uns intessiert vor allem das Individuum. Die sogenannte exakte Psychologie hat bisher so gut wie nichts geleistet, um dies frucht- bare Gebiet zu erschließen. Nach einer über tausendjährigen Geschichte der Psychologie gibt es heute noch keine wissenschaftlich begründete Charakterkunde.

1. Über Robert Sommers »Familienforschung und Vererbungslehre«.. 15

Die Anfänge einer solchen Wissenschaft hatte vor etwa 100 Jahren ein Mann gemacht, dessen Name unter denen der allergrößten Entdecker genannt zu werden verdiente, der zuerst wirklich verwertbare Charakter- analysen aufstellte und soviele originelle und bedeutende Ideen zur Charakterkunde vorbrachte, daß die Grundlagen der Wissenschaft gegeben schienen.

Die Charakterkunde ist eine deutsche Entdeckung, eigentümlich dem grüblerischen Genius des deutschen Volkes, entsprungen dem Gehirn eines Deutschen aus der Zeit des goetheschen Klassizismus.

Dieser hervorragende Deutsche war Franz Joseph Gall. Es ist ihm ergangen wie so vielen unter den Allergrößten: die offizielle Gelehrten- welt schmückte sich mit seinen Lorbeeren, verhöhnte erst und ignorierte später die Anregungen, die sein großer Genius geboren hatte, und noch heute gibt es Gelehrte, die in unverzeihlichem Gelehrtenhochmut auf den »Charlatan« und »Schwindler« herabsehen zu können glauben.

Wir erleben heute in vielen Richtungen eine Wiedergeburt eines deutschen Klassizismus. Überall regt sich die eigene deutsche Art, und besonders in Kunstgewerbe, Malerei und Architektur sehen wir wieder herrliches deutsches Geistesleben emporsprossen. Und so kommt natur- notwendig seit dem Wiedererstarken des nationalen Bewußtseins und mit dem Wiedererwachen des deutschen künstlerischen Lebens und des Per- sönlichkeitskultus auch die Charakterkunde wieder zu Ehren, der Name Franz Joseph Gall wird aus dem Staube wieder hervorgezogen, und end- lich wird sein Werk in dem Glanze erstrahlen, der ihm gebührt und der andauern wird, wenn seine zahllosen Feinde und Widersacher längst aus den Blättern der Geschichte verschwunden sind.

Franz Joseph Gall ist für uns Jüngeren wieder lebendig geworden, die von ihm begründete Charakterkunde ist die neue Psychologie, die Psychologie der Zukunft.

Schopenhauer und Nietzsche, die jüngeren deutschen Dramatiker und Novellisten wie besonders die Brüder Hauptmann und Frenssen, die Ver- vollkommnung der naturwissenschaftlichen insbesondere anthropologischen Forschung, die Entwicklung der Psychiatrie, die Fortschritte der Graphologie und in vielen Beziehungen auch die moderne realistische Kunst haben alle zusammen eine Verfeinerung, Vollendung und Exaktheit in der Analyse und Beschreibung des Individuums herbeigeführt, daß nunmehr der Boden vor- bereitet war für das Wiedererstehen einer wirklichen individuellen Psy- chologie, die naturnotwendig auf die von Gall erschlossenen Bahnen geraten mußte.

So muß heute jedes Werk, das sich mit der Erforschung einzelner Individuen oder ganzer Geschlechter in historischer, biographischer oder psychologischer Hinsicht beschäftigt, wesentlich mit unter dem Gesichts- punkt der Charakterkunde als des Hauptinhalts jeder Individual-Psychologie- geprüft werden.

Das letzte Werk von Robert Sommer, Professor der Psychiatrie an der Universität Gießen, über »Familienforschung und Vererbungs- Jehre«, das in diesem Jahre bei J. A. Barth, Leipzig, erschienen ist, und

16 B. Mitteilungen.

welches nach unserer Meinung das bedeutendste Werk ist, das in neuerer Zeit über psychologische Fragen verfaßt worden ist, liegt uns hier zum Referat vor.

Sommer entfaltet in diesem Werke einen erstaunlichen Reichtum an Forschungsmethoden, der alles weit zurückläßt, was bisher auf einem Spezial- gebiete geschaffen worden ist. Wir sehen hier einem ganz modernen Forscher in die Werkstätte, die Schilderung folgt dem Gange der Untersuchung, den der Autor selbst gegangen ist, an seiner Hand wandern wir durch die Jahrhunderte, kriechen mit ihm durch alte Kapellen, durchstöbern Archive, durch- blättern vergilbte Manuskripte, untersuchen Wappen und Inschriften, und winden uns durch die schwierigsten Fragen unter Sommers sicherer Füh- rung elegant hindurch, indem wir mit verblüffender Virtuosität die Rollen wechseln und bald im Gewande des Philologen, bald in dem des Kultur- historikers, oder in dem des Geographen, des Soziologen, des Psychologen oder Psychiaters erscheinen, bald uns liebevoll und gewissenhaft in die Untersuchung lokaler oder allenfalls territorialer Historien vertiefen, bald uns zur Höhe weltgeschichtlicher Betrachtungen erheben. In der Tat. Das Werk ist im höchsten Maße fesselnd, und Sommer erweist sich darin als ein universeller Geist, als der neue Typus eines Gelehrten, der nach einer kühnen und erfolgreichen Analyse zur überzeugenden Synthese fort- schreitet. Dabei erhebt sich der sonst kühle und logisch nüchterne Stil Sommers zeitweise bis zur künstlerischen Höhe der Darstellung.

Durch einen wunderbaren Zufall stieß Sommer auf die Familien- geschichte der Soldane, von welcher zwei Stammbäume existieren: einer, der bis an den Anfang des 17. Jahrhunderts zurückführt, und ein anderer, der bis auf den Begründer der Familie, bis ins 14. Jahrhundert zurück- reicht und der im »Hessischen Gelehrtenlexikon« veröffentlicht worden ist. Dieser ältere erscheint bei oberflächlicher Betrachtung als eine ganz roman- hafte Geschichtsklitterung, aus Phantasie und Wahrheit gemischt. Fast sagenhaft hebt die Chronik also an:

»Es hat der Graf von Lechmotir einen türkischen Offzier, Sadok Seli Soltan ge- fangen bekommen, welchen er nach kurzer Zeit wegen seiner Tapferkeit und be- sonderen Größe zu einem seiner Obersten ernennet. Diesen hat er nachgehends 1305 nicht allein christlich taufen und ihm den Namen: Johann Soldan geben lassen, sondern ihm auch aus sonderbarer Liebe das türkische Wappen beigelegt. Gedachter Johann Soldan heiratete 1304 Rebecka Dohlerin; mit dieser erzeugte er mit Ver- wunderung drei große Söhne, welche man große Soldanen genennet. Die Namen sind: Eberhardus, Christianus und Melchior. Diese 3 Soldani magni haben zu Bracana eine Kapelle an der Pfarrkirch erbaut, so man noch heutigen Tages der Soldanen Kapelle nennt ..... , und vom obigen Johann Soldan rühret die Solda- nische Familie her.«

Wir können hier nicht im einzelnen den Gang der Forschung wieder- geben, wollen uns aber nicht versagen, besonders auf die Entdeckung der alten Grabkapelle der Soldane in Brackenheim im heutigen Württemberg (= dem Brackana der Chronik) und auf die glückliche Lösung des Grafen von Lechmotir als eines Burgherrn zu Elmothara im heiligen Lande hin- zuweisen, weil hier die Schilderung einen gewissen Höhepunkt erreicht

1. Über Robert Sommers »Familienforschung und Vererbungslehree. 17

und hier der Leser die Entdeckerfreuden des Forschers am hellsten mit- empfindet.

Die Ergebnisse der Forschung sind zunächst, daß beide Stammbäume der Soldane in der Tat im wesentlichen auf Wahrheit beruhen.

Der Stammvater der Soldane war ein Türke, der 1273 von einem Deutschritter im Kampf um das heilige Land gefangen genommen wurde und später im deutschen Vaterlande eine Familie gründete. Er trat zum Christentum über, zeichnete sich aus als Offizier und war wie der Stamm- baum besagt, ein guter Lateiner und Chirurg.

Von ihm stammt die Familie der Soldane, eine weitverzweigte, mar- kante Familie mit zahlreichen begabten, sozial hochwertigen Individuen.

Fast alle näher bekannten Soldane besitzen eine ausgesprochene In- dividualitä. Wir finden bei ihnen folgende Talente mehr oder weniger stark ausgeprägt:

1. Literarisches Talent (poetisch-rhetorisches T) 2. Talent für Malerei und Bildhauerei.

3. Talent für Mathematik.

4. Talent für Mechanik.

Das Musiktalent ist selten und bestimmt nur bei vereinzelten Indi- viduen den Beruf. Die allgemeine intellektuelle Veranlagung ist durch- weg bei den Soldanen eine über den Durchschnitt hinausgehende.

Bei einigen Soldanen treten die Talente in besonders bedeutender Stärke auf oder in so glücklicher Verbindung mit einander und anderen Talenten, daß daraus hervorragende Individuen, ja vereinzelte Genies resul- tieren. So ist der berühmte hessische Bildhauer Philipp Soldan, ganz sicher ein Abkömmling des Johann Soldan, als das größte künstlerische Genie der Familie zu bezeichnen, bei dem das Talent für Bildhauerei offenbar besonders stark entwickelt war; am interessantesten von allen in psychologischer Hinsicht ist Georg Karl Wilhelm Soldan, da an ihm alles, was an Talenten in der Familie nachweisbar ist, sich offenbart, nämlich :

1. Literarisches Talent,

2. Malerisches Talent,

3. Mathematisches Talent und 4. Mechanischer Talent.

Auch an ihm offenbart sich die schwache Seite der Soldane: er hat kein musikalisches Talent.

Wir wissen heute bestimmt, und die Familiengeschichte der Soldane zeigt es wieder in evidenter Weise, daß die Talente sich nicht erarbeiten oder sonstwie erwerben lassen.

Alle Talente sind angeboren.

Die dem Menschengeiste eigenen Talente sind ganz be- stimmte, mehr oder weniger scharf umrissene Sonderfähig- keiten, die in der phylogenetischen Entwicklung allmählich herangezüchtet wurden. Ihre Zahl scheint begrenzt und be- reits in dem heutigen Menschengeschlecht definitiv fixiert zu sein, in ihrer Analyse bestand Galls große Entdeckung, in der Fort-

Zeitschrift für Kinderforschung. XII. Jahrgang. 2

18 B. Mitteilungen.

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bildung der Gallschen Psychologie, in der weiteren Lokalisierung der ein- zelnen »Organe« im hochkomplizierten menschlichen Gehirne, in der mög- lichst vollkommenen Beschreibung des Individuums und in der Anfdeckung der Beziehungen zwischen körperlichen und geistigen Menschen oder zwischen Gehirn (alias Seele) und Körper wird die Aufgabe der zu- künftigen Psychologie bestehen.

Der Stammvater der Soldane muß alle die hervorragenden Talente seiner Deszendenten potentia besessen haben; er muß selber ein hoch- begabter, künstlerisch veranlagter Mensch gewesen sein. Das Sprach- talent, das mechanische, das mathematische und das malerische Talent müssen in ihm in starkem Maße entwickelt gewesen sein. Das deutet auch der lapidare Satz der Stammtafel an: »Sadoch Selim ist geboren in Lechmotir in Asia major, trat als Kriegsgefangener zum Christentum über. Chirurg und guter Lateiner«. Das Musiktalent ist offenbar nur gering entwickelt gewesen oder hat ganz gefehlt.

Es ist zu bedauern, daß in den uns überlieferten Stammbäumen der Soldane nichts über die anthropologischen Verhältnisse enthalten ist. Was würde diese genealogische Reihe für einen Wert haben, wenn überall Angaben über Körpergröße, Schädelumfang, Pupillen-, Haar- und Hautfarbe, physiognomische Verhältnisse und andere für den Rasse- Psychologen wichtige Dinge vorhanden wären! Man könnte anthropologisch verfolgen, wie das Türken- mit dem Germanenblut sich gemischt, wieweit es darin untergegangen ist, oder wieweit es sich als ein besonderer Rassen- teil darin erhalten hat. Auch die Frage bleibt bei dem vorhandenen Material ungelöst, ob und inwiefern die türkische Rasse in dem geistigen Habitus der Soldane zum Ausdruck kommt. Es erscheint nicht un- möglich, daß die durch lange Generationen hindurch gesicherte, an- haltende Erzeugung hervorragender, markanter Individuen darauf zurück- zuführen ist, daß ein gutes, edles türkisches Reis und zugleich das Reis einer ausgeprägten, fremdartigen Rasse auf germanisches gepfropft wurde, und sich so, trotz beständiger Blutmischung Jahrhunderte hindurch relativ rein und unverfälscht erhalten konnte. Vielleicht aber müssen wir die vielen germanischen Mütter, die die klugen Soldane geboren haben, doch höher in Anschlag bringen und, da wir wissen, daß die künstlerischen Fähigkeiten durchweg Manneseigenschaften sind, die intellektuelle Ver- anlagung der Familienmitglieder als germanischen Einschlag betrachten. Einige der Soldane muten wenigstens in ihrem ganzen Wesenskerne so urgermanisch an, daß von Türkenblut kaum etwas zu spüren ist. Indessen kann man hier nur mit Vermutungen operieren.

Wir knüpfen nun wieder an das an, was wir in der Einleitung ge- sagt haben. Sommer vermeidet es, die Gallschen Lehren zu erwähnen und seine Ergebnisse mit dessen Forschungen zu vergleichen. Um so glänzender findet jeder Anhänger des viel bekämpften und verschmähten Mannes dessen längst überwunden geglaubten Anschauungen bestätigt, was um so mehr befriedigen muß, als Sommer ein Schüler des Mannes ist, der wie kein anderer in neuerer Zeit den Namen Gall verunglimpft hat, ohne auch im Entferntesten in seinen Leistungen sich mit denen eines

1. Über Robert Sommers »Familienforschung und Vererbungslehree.. 19

solchen bewundernswerten Genies wie Galls sich messen zu können. Darin beruht für uns die große Bedeutung der Sommerschen Arbeit, daß sie von einem Manne der exakten Psychologie ausgehend Bahn bricht für die kommende neue Psychologie, die nichts anderes als eine Wiedergeburt der Gallschen Psychologie, der Charakterkunde sein kann. Mag die Gallsche Phrenologie wahr sein oder nicht, seine Psychologie ist über jeden Zweifel erhaben und jetzt ist durch die Familiengeschiche der Soldane, in denen Sommer klar bezeigt, wie er das Zeug dazu hat, der Erneuerer Galls zu werden ein neuer, kräftiger Beweis zu den bisherigen hinzugefügt.

Der Typ der Soldane ist ein scharf umrissener. Die künstlerischen Talente als ausgesprochene Manneseigenschaften vererben sich durch lange Generationen hindurch in ganz präziser Weise, wie die Unterlippe der Habsburger oder die Nase der Cäsaren. Nur, wenn wir uns auf den Boden der Gallschen Psychologie stellen, wird uns verständlich, daß die im Ahnen vorhandenen Talente bald hier, bald da, bald in dieser, bald in jener Kombination, vereinzelt oder alle zusammen in einer Person auf- tauchen. Die Charakterbestimmung des Individuums ist eine Art Mosaikarbeit des Genius Generator, und die Geschichte der Soldane zeigt uns in überaus fesselnder Weise, wie das Material der verfügbaren Talente sich wie Bausteine in allen möglichen Kombinationen in den einzelnen Individuen zusammenfügt. Auch hier finden wir die alte Er- fahrungstatsache bestätigt, daß das Musiktalent meist für sich allein vor- kommt, während die übrigen künstlerischen Talente häufiger miteinander in demselben Individuum sich vergesellschaften.

Es erübrigt nur noch, auf den der eigentlichen Stammesgeschichte der Soldane vorausgehenden allgemeinen Teil hinzuweisen, der eine Art Programm für die fernere Entwicklung der Psychologie enthält. Wir möchten diesem Teil des Werkes nach den darin gewiesenen Zielen dieselbe Bedeutung beimessen wie dem besonderen Teil nach seinen Er- gebnissen. Wenn diese Ideen erst mal Gemeingut unserer Psychologen geworden sein werden, ist die kümmerliche, spielerische Assoziations- psychologie, die allenfalls für die kindliche Geistestätigkeit ausreichen mag, aber nicht im stande ist, einen einzigen genialen Einfall zu erklären, im Nu verschwunden, und wir werden uns einer wirklich brauchbaren Psycho- logie nähern, die niemals etwas anderes als Charakterkunde in dem weiten Gallschen Sinne sein kann. Wie ungeheuer das Arbeitsgebiet ist, erhellt aus Sommers Programm, das sich leicht noch durch sehr viele und wesentliche Punkte vermehren ließ, und in dem z. B. die Graphologie nicht in dem Maße hervorgehoben worden ist, wie sie es von Rechtswegen verdient,

Die Diagnostik des Individuums, die heute als Kunst nur von wenigen Graphologen, von den letzten zerstreuten Anhängern der Gallschen Lehre, von vereinzelten Liebhabern aus intuitiver Anlage geübt wird, mufs das Ziel der wissenschaftlichen Psychologie werden.

Der Maler, dessen Porträt mehr wert sein kann für die Charakter- kunde als dickleibige Bände der exakten Psychologie, wird in Kenntnis

2%

20 B. Mitteilungen.

der Bedeutung der Schädelform, der physiognomischen Verhältnisse, der Körperformen und ihrer Proportionen seiner künstlerischen Phantasie nicht soweit die Zügel schießen lassen, daß er bei der Darstellung eines Menschen wesentliche Teile falsch darstellt oder vernachlässigt. Alle Berufe, die auf praktische Menschenkunde angewiesen sind, Offiziere, Arzte, Kaufleute u. a., werden Vorteil schöpfen aus dem, was die Charakterkunde ihnen einst darbieten wird. Unabschätzbar aber wird die Bedeutung der Charakter- kunde für diejenige Kunst sein, deren Interessen diese Zeitschrift dient und die wie keine andere Kunst von der allgemeinen Entwicklung der Psychologie abhängig ist nämlich die Pädagogik. Hier ist es nun interessant zu sehen, wie in neuerer Zeit ohne bewußten Zusammenhang mit den Lehren Galls, ja wie es scheint ganz unbeeinflußt davon, die richtigen Bestrebungen einsetzen. Man sieht endlich nicht nur ein, daß die Talente ganz verschieden auf die einzelnen Individuen verteilt sind, daß die Erziehung vorhandene Talente wohl fördern, aber sie nicht aus dem Nichts erwecken kann, daß eine harmonische und allseitige Bildung des Individuums in litteris et bonis artibus nur selten zu erzielen ist, sondern man zieht auch die praktischen Konsequenzen, die Schüler nach ihren be- sonderen Talenten verteilt in besonderen Abteilungen zu unterrichten.

Das ist eine merkwürdige Analogie in der Entwicklung der Psycho- logie und der Pädagogik, die nicht nur als ein zufälliges Zusammentreffen gewertet werden kann. Die Pädagogik wird wieder eine mögliche Kunst, denn sie jagt nicht mehr der Verwirklichung unklarer Theorien oder idealer, der Wirklichkeit widersprechender Vorstellungen nach, sondern bekommt klare und praktische Ziele.

Keine Wissenschaft ist wie die Pädagogik interessiert an der end- lichen Gestaltung einer wissenschaftlichen Charakterkunde, einer charaktero- logischen Diagnostik des Individuums.

Aus allen diesen vorgetragenen Gedankengängen ergibt sich, daß dieses neueste Werk des großen Anregers Sommer auch für die Pädagogen von größtem Interesse sein muß. Der Erwerb des Buches ist daher, be- sonders für die Bibliothek, auf das Dringendste anzuraten.

2. Psychogenesis und Pädagogik. Von Chr. Ufer.

Daß sich die pädagogische Tätigkeit unter anderm auf die Psychologie zu gründen habe, ist eine alte Forderung, deren Erfüllung freilich bis auf dem heutigen Tag noch viel zu wünschen übrig läßt, wenn man unter Psychologie die Ergebnisse der Forschung und nicht den Nieder- schlag versteht, der sich im Laufe der Zeit aus der gelegentlichen, zu- fälligen und im ganzen unwissenschaftlichen Beobachtung der Kindesnatur und des menschlichen Seelenlebens überhaupt gebildet hat.

Es würde zwar ganz verkehrt sein, die Ergebnisse dieser Beobachtung für durchaus wertlos zu halten, aber der Pädagog darf sich mit ihrer Anwendung ebenso wenig begnügen wie beispielsweise der Arzt mit der

2. Psychogenesis und Pädagogik. 21

Anwendung dessen, was ihm die volkstümliche Heilkunde an angeblich oder wirklich erprobten Lehren an die Hand geben mag. In weiten Kreisen der pädagogischen Welt tut man das denn auch nicht mehr. Es ist namentlich das Verdienst Herbarts, hier etwas Wandel geschaffen zu haben. William James meint zwar in seinen viel gerühmten, aber nach meiner Ansicht ziemlich belanglosen Vorträgen über die Bedeutung der Psychologie für den Lehrer, auch bei Herbart habe die Pädagogik mit der Psychologie wenig zu tun, was er zwar nicht nachweist, aber wahrscheinlich daraus schließt, daß die Allgemeine Pädagogik Herbarts früher an die Öffentlichkeit gekommen ist als sein psychologisches System. Dieser Umstand beweist an und für sich natürlich wenig; es würde einer sehr genauen Untersuchung bedürfen, um James Ansicht gründlich zu verteidigen oder zu widerlegen.

Eine andere Frage wäre aber die, ob die Pädagogen unter den An- hängern Herbarts sich mit Erfolg um die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik in ihrer praktischen Ausgestaltung bemüht haben. Von Ziller wird man dies ohne weiteres behaupten dürfen, wie namentlich seine » Allgemeine Pädagogik« und seine »Grundlegung zur Lehre vom erziehenden Unterricht« beweisen. Was aber die meisten seiner Schüler anlangt, so haben sie, namentlich sofern sie im praktischen Schulleben standen, die Forderungen Zillers allzusehr als bloße Imperative aufgefaßt, ohne auf die psychologischen Grundlagen zurückzugehen. Damit hängt es denn auch zusammen, daß sie sich um die Arbeit der Psychologen nach den Tagen Herbarts und Zillers entschieden weniger gekümmert haben, als es wünschenswert gewesen wäre. Besonders gilt das von der Psychologie des Kindes, obwohl Benno Erdmann in seinem Schriftchen »Die Psychologie des Kindes und die Schule« entschieden zu weit geht, wenn er sagt: »Die Schule Herbarts, längst in der Tiefe erstarrt, hat sich bis auf wenige Ausnahmen diesen Bestrebungen gegenüber teils gleichgültig, teils ablehnend verhalten.« 1)

Zum Teil haben dies allerdings auch die Psychologen verschuldet, die ihr Augenmerk bis vor kurzem allzusehr auf die Förderung der reinen (theoretischen) Kinderpsychologie richteten und so der Pädagogik der Herbartschen Schule wenig bieten konnten. Es wäre sehr verkehrt, an- zunehmen, alles was für die theoretische Psychologie von Bedeutung sein mag, müsse es in gleichem Maße oder überhaupt auch für die praktische (angewandte), z. B. für die pädagogische sein. Diese hat unter Umständen auch Untersuchungen anzustellen, deren Ergebnisse für die theoretische Psychologie völlig belangslos sind. So mögen beispielsweise die Bemühungen Hartmanns, Stanley Halls und anderer, den Vorstellungsbestand der Kinder beim Eintritt in die Schule statistisch festzustellen, von Münster- berg unter dem rein psychologischen Gesichtspunkte immerhin verspottet werden, denn es macht für die theoretische Psychologie in der Tat nicht das mindeste aus, wieviele Kinder einer Grundklasse diesen oder jenen

!) Siehe hierzu meinen Artikel »Psychologie des Kindes« in der 2. Aufl. von Reins Encyklopädischem Handbuch der Pädagogik.

22 B. Mitteilungen.

Gegenstand schon gesehen haben; vom Standpunkte des Pädagogen aber wäre der Spott wenig angebracht, denn für den Lehrer ist es keineswegs unnütz zu wissen, mit welchen apperzipierenden Vorstellungen er bei der Klasse bereits einigermaßen rechnen darf und mit welchen nicht.

Es ist daher mit Dank zu begrüßen, daß die Gesellschaft für experimentelle Psychologie neuerdings ein Institut für angewandte Psycho- logie ins Leben gerufen hat, das von dem verdienstvollen Breslauer Privat- dozenten William Stern geleitet wird und soeben das erste Doppel- heft einer »Zeitschrift für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung« (Leipzig, bei Johann Ambrosius Barth) an die Öffent- lichkeit bringt, die sich namentlich auch der pädagogischen Psychologie annehmen soll, und zwar, wie sich vermuten läßt, der experimentellen pädagogischen Psychologie.

Obwohl ich diesem Zweige der pädagogischen Psychologie durchaus freundlich gegenüberstehe, so kann ich doch nicht sagen, daß er bis jetzt besondern Nutzen gestiftet hätte. Vielleicht liegt dies in der Natur der Sache. Der Experimentalpsycholog muß sorgfältig darauf bedacht sein, die »Fehlerquellen« auszuschließen und entfernt sich damit gar zu leicht von derjenigen Wirklichkeit, mit der es der Pädagog in erster Linie zu tun hat; die experimentelle Forschung kommt dann wohl zu Ergebnissen, die vielleicht vor allen Regeln der psychologischer Wissenschaft bestehen können und dennoch für die Pädagogik nichts oder sehr wenig abwerfen, wie es beispielsweise bei einem großen Teile der Untersuchungen über die geistige Ermüdung und über das Gedächtnis leider der Fall gewesen ist. Eine schwierige Aufgabe des Instituts und seiner Zeit- schrift wird es sein, diese Klippe zu umschiffen.

Das erste Heft der neuen Zeitschrift eröffnet W. Stern mit einer wertvollen Arbeit über »Tatsachen und Ursachen der seelischen Entwick- lung«, die sich als eine Erweiterung des Vortrages darstellt, den der Verfasser unter dem Titel »Grundfragen der Psychogenesis« auf dem I. Kongreß für Kinderforschung gehalten hat.

Die Beziehungen der Psychogenesis zur praktischen Pädagogik werden leider nur gelegentlich berührt, obwohl der Verfasser sagt, daß sie sehr tiefgreifend seien: für eine ideale Pädagogik gelte die Forderung, daß sie entwicklungstreu sei, d. h. sich in ihren Unterrichts- und Erziehungs- maßnahmen dem jeweilig erreichten Reifestadium des Zöglings anpasse. Heute sei allerdings hiervon noch wenig zu spüren; nicht die psychischen Entwicklungsepochen, sondern stoffliche und logische Gesichtspunkte seien meist für die Auswahl, Verteilung und Darbietung des Lernmaterials maßgebend (S. 3).

Stern wird damit nicht sagen wollen, daß logische und stoffliche Gesichtspunkte hier gar nicht in Betracht zu ziehen seien. Wenn Erziehung unter andern auch ein Hineinwachsen in die Kultur der Gegenwart be- deutet, so haben die Stoffe zweifellos ein Mitbestimmungsrecht, und was die Logik anlangt, so darf nur eine neuere Richtung, die sie völlig an die Stelle der Psychologie setzen möchte, ohne weiteres abgewiesen werden. Das ist besonders hervorzuheben, weil die Psychologie in unsern Tagen,

2. Psychogenesis und Pädagogik. 23

wie Münsterberg sagt, etwas gefräßig geworden ist und manches in sich aufnehmen möchte, was ihr nicht zukommt.

Aber auch unter dieser einschränkenden Voraussetzung scheint mir Stern in seiner Beurteilung der neueren Pädagogik mit der Mißbilligung etwas zu weit zu gehen.

Was zunächst die Darbietung des Lernmaterials betrifft, so darf wenigstens die Herbart-Zillersche Schule bei ihrem langjährigen Kampfe gegen den didaktischen Materialismus den Anspruch erheben, daß man die von ihr vertretene Pädagogik als eine entschieden psychologisch gerichtete gelten lasse. Gerade diesem Umstande und nicht, wie Stern (S. 28) meint, der (angeblichen) Auffassung, als ob die Erziehung alles zu leisten vermöge, verdankt es das pädagogische System Herbarts, daß es »jahrzehntelang den stärksten Rückhalt in den Kreisen der praktischen Pädagogen gefunden hat«; denn schon längst wurde die Tyrannei des Stoffes drückend empfunden, und hier bot sich, man darf sagen zum ersten- mal eine unmittelbar zur Praxis hinüberführende Theorie des Lehrverfahrens, die sich in umfassender und vielversprechender Weise gegen die Herrschaft des Stoffes zur Wehr setzte und sich tatsächlich auch nicht ohne einigen Erfolg zur Wehr gesetzt hat. Auch der Versuch Zillers, bei der Ver- teilung des Unterrichtstoffes durch die »Kulturstufen« der fortschreitenden Entwicklung des Kindes Rechnung zu tragen, wird gleichviel wie man im übrigen darüber denken mag —- als eine ernsthafte psychologisch- pädagogische Bemühung anzusprechen sein. Münsterberg hat einmal gesagt, ein zweiter Herbart tue uns not; wir dagegen möchten lieber sagen, ein zweiter Ziller tue uns not, d. h. ein Mann, der, wie der erste in seiner »Allgemeinen Pädagogik« und in seiner »Grundlegung«, es verstände, aus den einzelnen Wissenschaften, auch aus der neueren Psycho- logie alles für die Pädagogik Wertvolle aufzunehmen, gedanklich zu ver- arbeiten und für die Erziehungs- und Unterrichtstätigkeit bereitzustellen.

Soviel ich an der Hand des in seiner Art vorzüglichen Aufsatzes von Stern zu sehen vermag, kann der gegenwärtige Stand der Lehre von der Psychogenesis der Pädagogik noch nicht sonderlich viel bieten. Daß die seelische Entwicklung des Kindes im allgemeinen quantitatives Wachstum bedeutet, ist durchweg bekannt und wird bereits in der Pädagogik berücksichtigt. Allerdings hat man neuerdings mit einigem Erfolge versucht, dieses quantitative Wachstum zu messen (Gedächtnis, Widerstandsfähigkeit gegen Suggestion); aber wenn diese Untersuchungen in pädagogischer Hinsicht auch Hoffnungen erwecken konnten, so ist diesen bis jetzt doch irgendwelche wesentliche Erfüllung nicht gefolgt.

Bedeutsamer erscheint das, was Stern (S. 6ff.) über das Tempo des Entwicklungsfortschrittes als sicher hinstellt. Man war bisher zu der Annahme geneigt, daß die quantitative Entwicklung gleichmäßig fortschreite, wenn nicht etwa Krankheit oder andere zufällige Umstände im Wege seien. Stern dagegen weist darauf hin, daß es zwar auch bei der seelischen Entwicklung keine eigentlichen Sprünge geben, daß sie aber dennoch rhyth- misiert sei, d. h. in einem stetigen Wechsel zwischen Schnell und Langsam vor sich gehe, und zwar zeige sich dieser Rhythmus sowohl in der Ent-

24 B. Mitteilungen.

wicklung des Ganzen wie der Teilgebiette.e »Möglich ist freilich diese Rhythmisation nur dadurch, daß die scheinbaren Stockungen keinen wirk- lichen Stillstand bedeuten, sondern der Ansammlung, Aufspeicherung und innern Verarbeitung von Kräften und Eindrücken dienen; schließlich wird dann der hierdurch geschaffene Spannungszustand so groß, daß er sich in expansive Betätigung umsetzt.« Vielleicht findet hierin unter die regelmäßig zu beobachtende Tatsache ihre Erklärung, daß die Kinder des ersten Schuljahres nach dem ersten Vierteljahr recht geringe Fortschritte machen, bis etwa gegen Weihnachten, wie man zu sagen pflegt, »der Knoten reißte.

Leider wissen wir über diese Rhythmisierung einstweilen noch zu wenig, als daß die Pädagogik daraus einen größeren Nutzen zu ziehen vermöchte. Das gilt sowohl von der Entwicklung einzelner Verrichtungen, wie auch von der Gesamtentwicklung. Mit Bezug auf die letztere bemerkt Stern: »Vermutlich gliedert sich die gesamte Jugendzeit (bis zum 21. Jahre) in drei Wellen oder besser Stufen, deren jede etwa 6—7 Jahre umfaßt. (Genauere Abgrenzungen sind wegen der starken Entwicklungsvariationen nicht möglich.) Jede Stufe besteht aus einer ersten Halbstufe mit stärkerem und einer zweiten Halbstufe mit geringerem Entwicklungstfortschritt« (S. 9). Natürlich sind, wie schon das oben erwähnte Beispiel aus dem ersten Schuljahr andeutet, auch die einzelnen Halbstufen in sich wieder Schwankungen unterworfen, ein Umstand, der dem Pädagogen seine Arbeit nicht gerade erleichtert, zumal sich auch noch die individuellen Verschieden- heiten der Kindesnaturen geltend machen und Berücksichtigung verlangen. Um hier klar sehen und dem entsprechend richtig handeln zu können, bedarf es wohl noch auf lange hinaus der vereinten Beobachtung, und zwar durch die Psychologen von Fach sowohl wie durch die Pädagogen. Die Ergebnisse beider müssen sich gegenseitig zur Kontrolle dienen, wenn eine zuverlässige und praktisch wertvolle Erkenntnis der wirklichen Ver- hältnisse gewonnen werden soll.

Auch hinsichtlich dessen, was Stern als »Länge« und »Weite« der Entwicklung bezeichnet, ist eine gemeinsame Beobachtung notwendig. Unter Länge der Entwicklung versteht er den zeitlichen Abstand zwischen der Geburt und dem Erwachsensein, unter der Weite dagegen den inhaltlichen Abstand zwischen dem Neugeborenen und dem erwachsenen Menschen.

Es ist bekannt, daß das Tier nicht nur in körperlicher, sondern auch in geistiger Hinsicht in viel kürzerer Zeit den Höhepunkt seiner Entwick- lung erreicht als der Mensch, daß aber andererseits die Weite der Ent- wicklung, der inhaltliche Abstand beim Tier sehr gering, beim Menschen sehr groß is. Das Tier hat eine sehr kurze Jugendzeit, der Mensch aber im Verhältnis dazu eine sehr lange. Aber auch innerhalb der Menschheit gibt es in dieser Beziehung Unterschiede. Wie unter andern Karl Weule hervorgehoben hat, sind die Kinder der Negerrasse in ihrer Entwicklung den Kindern der europäischen Kulturvölker zunächst voraus; dem steht aber der Umstand gegenüber, daß die geistige Entwick- lung der Negerkinder auf einer viel niedrigeren Stufe abschließt, daß also bei ihnen die Entwicklungsmöglichkeit eine viel geringere ist. Auch unter

2. Psychogenesis und Pädagogik. 25

den Kindern der Kulturvölker läßt sich etwas Ähnliches beobachten, so zunächst bei den sogenannten Wunderkindern. In der Regel eilen sie ihren Altersgenossen zunächst weit voran, bleiben aber in ihrem geistigen Wachstum dann mit einem Male stehen und werden schließlich von den Nachzüglern bedeutend überholt. Die Fälle, in denen aus Wunderkindern später etwas tüchtiges wurde (Gauß), sind überall selten. Es läßt sich zwar kaum in Abrede stellen, daß hierbei auch äußere Umstände (öffent- liche Schaustellungen und dergl.) mitwirken können, aber den Kern der Sache bildet doch die Veranlagung. Auch zwischen den Geschlechtern besteht offenbar eine solche Verschiedenheit der Anlage. Mädchen ent- wickeln sich durchweg schneller als Knaben, aber die Entwicklung der Knaben führt in der Regel weiter als die der Mädchen. Im einzelnen hebt Stern hervor, daß die Sprachentwicklung bei Mädchen wahrscheinlich durchweg mehrere Monate früher liege als bei Knaben und bemerkt dann im allgemeinen: »Mit 15 Jahren ist das männliche Individuum oft noch ein großer Junge, das weibliche meist ein ziemlich fertiges Fräulein. Ein ziemlich fertiges und damit kommen wir zur Kehrseite; die weibliche Entwicklung gelangt im Durchschnitt auch eher zum Stillstand als die männliche« (S. 12). Wenn sich die Sache so verhält, so bedeutet das entschieden eine Warnung vor der heutzutage von vielen Seiten befür- worteten Koedukation, und die Warnung wird um so dringlicher, wenn man bedenkt, daß durch die Verschiedenheit des Entwicklungsumfanges auch eine Verschiedenheit der Entwicklungsrhythmik bei den Geschlechtern bedingt wird. Stern meint, am Anfang und am Ende der Schulpflicht mit 6—7 und mit 14— 15 Jahren ständen sich beide Geschlechter ziemlich nahe, vielleicht (?) mit einem gewissen Vorsprunge des weiblichen. Da- zwischen aber klafte eine große Differenz zu Ungunsten der Mädchen, die in der Mitte des schulpflichtigen Alters mit 10—12 Jahrem am größten sei (S. 13). Hiernach wäre das Wort Dörpfelds, die Trennung der Geschlechter in der Volksschule sei ein pädagogischer Gedanke, wie das Unkraut ein Kraut sei, ganz ernstlich auf seine Berechtigung zu prüfen. In der spätern Zeit tritt, wie statistische und experimentelle Untersuchungen darzutun scheinen, ein neuer Vorsprung der Knaben ein, und für dieses Alter wäre (in den höheren Schulen) der Koedukation noch entschiedener zu widerraten. Ein großer Teil der Frauenrechtlerinnen scheint das auch zu empfinden und will daher nicht eine der Knabenbildung gleich- artige, sondern nur »gleichwertige« Ausbildung der Mädchen. Allein wenn man dabei an die tatsächlichen Leistungen denkt, wie sie z. B. für die höheren Berufe vielleicht verlangt werden müssen, wird man diese Unterscheidung wohl aufzugeben haben. Als Persönlichkeit genommen kann die Frau dem Manne gleichwertig sein und ihn sogar bedeutend überragen, aber für die Leistungsfähigkeit in Berufen, die etwa in besonderm Maße der Mathematik oder der Naturwissenschaften oder ganz allgemein der Verstandestätigkeit bedürfen, hat das keine Bedeutung. Hier gäbe es

nur eine Gleichwertigkeit innerhalb der Gleichartigkeit. (Schluß folgt.)

26 B. Mitteilungen.

3. Instinkthandlung.

Vor einiger Zeit habe ich bei meinem jüngsten Sohn einen Fall von Instinkthandlung beobachtet, der vielleicht auch die Leser der »Zeitschrift für Kinderforschung« interessiert.

Im Juni d. J. warf die Katze des Hauswirtes Junge, natürlich für Kinder, besonders für den Jüngsten, ein außerordentlich interessantes Er- eignis. Sehr oft war er bei den Katzen und wußte stets allerlei zu er- zählen, was er beobachtet hatte. Eines Tages kam er an und sagte: »Vater, jetzt bin ich deine kleine Katze, und du bist die alte Katze. Dabei setzte er sich auf meinen Schoß und tat, als ob er saugen wollte. Dabei suchte er sich fast genau die Stelle der rechten Brustwarze aus. Mit den Händen drückte er auch auf der Brusttasche herum, un- bekümmert um die Papiere, die in ihr steckten. Zur Bewertung der Tat- sache sei noch angeführt, daß der Knabe im April n. J. 6 Jahr alt wird. Als kleines Kind hat er nur in den ersten 3 Lebenstagen die Brust be- kommen, hernach wurde er mit der Flasche aufgezogen. Eine Erinnerung daran, wie er die Brust bekam ist also ausgeschlossen. Auch weiß weder meine Frau noch ich eine Gelegenheit, daß er jemals ge- sehen hätte, wie ein Kind gestillt wurde.

Ein vorsichtiges Nachforschen, ob irgendwie solche Vorstellungen vor- handen wären, hatte ein negatives Resultat.

Dessau. Bo&s.

4. Über die Entwicklung des Farbensinns bei Kindern.

W. Monroe, Professor der Psychologie an der State Normal School in Westfield, Massachusetts, U. S. A. hat, wie »The Paidologist«, Organ der British Child-Study-Association, mitteilt, mit Hilfe seiner Schüler inter- essante Untersuchungen über den Farbensinn bei Kindern angestellt. Zu diesem Zwecke wurden Setztafeln verwendet, in denen die Spektralfarben in drei Streifen in einigem Abstande voneinander eingefügt sind, zwischen welchen sich zwei Streifen Mischfarben, d. i. schwarz, grau und weiß, befinden. Diese Farbentafel wird den Kleinen vorgelegt und die Kinder werden angehalten, diese Tafel eine Zeitlang ins Auge zu fassen. Sodann entnimmt einer der Schüler des Professors Monroe aus einer Farben- skala ein Täfelchen, zeigt es den Kindern und fordert sie auf, dieselbe Farbe aus einer andern Skala herauszusuchen. Nachdem dasselbe Ver- fahren mit allen Farben durchgeführt worden ist, werden den Kleinen auf gleichem Wege die Namen der Farben beigebracht. Der dritte Versuch besteht darin, daß die Kinder angehalten werden, die Farbe, die ihnen am besten zusagt, auszuwählen. Später wiid dieser Versuch dahin ergänzt, daß die Kleinen zu der bevorzugten Farbe eine passende suchen. Es er- geben sich hierbei die verschiedensten Resultate, die Professor Monroe durch Tabellen ersichtlich macht. Der Gelehrte hat die Untersuchungen bei Knaben und Mädchen von 2—6 Jahren entnommen und die Ergebnisse

4. Über die Entwicklung des Farbensions bei Kindern. 97

derselben nach Alter und Geschlecht eingeteilt. Kinder, die weniger als sechs Monate über ein bestimmtes Jahr alt sind, werden von Professor Monroe der jüngern Gruppe beigezählt und umgekehrt. Kinder, die genau sechs Monate über ein bestimmtes Jahr alt sind, werden abwechselnd in niedere und höhere Gruppen eingereiht. Die folgende Tabelle gibt uns eine Übersicht über Zahl, Alter und Geschlecht der untersuchten Kinder.

Alter der Kinder

zahl Ji- Geschlecht der Kinder D g D © B| 5

Zahl der untersuchten Kinder . | 39 | 33 36 | 39 | 200 | 200

Die folgende Tabelle beschäftigt sich mit der Benennung der Farben; in dieser und in den folgenden Tabellen sind die Ergebnisse der Unter- suchungen in Prozenten dargestellt.

Durch-

3 h l]

3 Jahre | 4 Jahre | 5 Jahre | 6 Jahre! söhnitiuschl ee rE u | ’g; z Ze Te Vega Ve e E

ar KiEls|E n| Ejs] | 5

| 2l2|2l2|2|2|8]|E& |

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Die dritte Tabelle gibt uns eine Übersicht über die von den Kindern am meisten bevorzugten Farben.

Durch-

3 Jahre | 4 Jahre | 5 Jahre | 6 Jahre TERN, EErEE (SIE VSR IS] E | $ S |\sIe|2|3 | els|ı2| 2 a =j - | ee! _ > zn > | D me. - 38 | 48156 | 60 | 40 | 48 I 33 43 44 51 Orange a ee: 5/10|l 5| 4 Gelb . Eee | 5 6 7 Bei o , 5 | 2 7 6 5 5 s MA RES > 5 6 Br, . . 18 118 115 | 12 121 | 21126 | 20 20 17 0. ee AT 20: 1.191 18. 130.183 15 120 | 13 20 14

È

Bei den bereits erwähnten Untersuchungen bezüglich der Farben- verbindungen hat Prof. Monroe bei 182 Kindern folgende Resultate erzielt:

38 B. Mitteilungen.

Farbenverbindungen Knaben Mädchen Rot mit anderen Farben . . 36 36 Orange mit „, z 1 a p 4 Gelb TERY + EE T) 13 Grün 3 w k n paa 11 Blau PETE A ar (8 28 Violett 5 AES 9 6

Den Beobachtungen zufolge ist Rot und Blau die am meisten, Blau und Weiß die am wenigsten bevorzugte Farbenverbindung.

Aus den erwähnten Untersuchungen ergeben sich folgende interessante Resultate :

Im allgemeinen sind die Mädchen im richtigen Benennen und Unter- scheiden der Farben den Knaben voraus; diese geistige Überlegenheit dər Mädchen prägt sich mehr im Alter von 5—6 Jahren als im Alter von 3 und 4 Jahren aus.

Rot wird in allen Altersstufen von beiden Geschlechtern am häufigsten richtig benannt und unterschieden; in zweiter Linie folgt Blau. Orange und Violett werden am seltensten richtig erkannt.

Interessant ist die Tatsache, daß Grün namentlich von Kindern irländischer Abstammung bevorzugt und richtig benannt wurde. Kleine Kinder unterscheiden die Farben richtiger als sie dieselben benennen. Auch Baldwin, Binet und Preyer stimmen hierin überein. Professor Monroe und seine Schüler haben weiter beobachtet, daß einzelne Kinder schwarz und weiß früher erkeunen als die Spektralfarben. Die Ergebnisse dieser Beobachtungen lassen ohne Zweifel auf große kindliche Individual-Unterschiede schließen. Wie aus den Beobachtungen Professor Monroes hervorgeht, konnte unter den untersuchten 400 Kindern ein Knabe von zwei Jahren acht Monaten alle Spektralfarben richtig benennen und unterscheiden. Hingegen kannte ein Mädchen von fünf Jahren und zehn Monaten bloß zwei Farben genau, und ein sechsjähriger Knabe konnte von allen Farben bloß drei unterscheiden und eine richtig benennen.

Diese so hoch interessanten Beobachtungen von Professor Monroe werden sicher nicht verfehlen, der Kinderforschung anderer Länder An- regung zu weiteren Untersuchungen zu bieten.

Wien. Helene Goldbaum.

5. Sexuelle Belehrungen in der Schule?

Der preußische Unterrichtsminister hat an die königlichen Regierungen folgende Verfügung erlassen: »Es ist mir von Interesse, Kenntnis zu gewinnen von Umfang und Art der zurzeit an den Schulen erteilten sexuellen Belehrungen. Die königl. Regierung wolle be- richten, an welchen Schulen des dortseitigen Geschäftsbereiches solche Be- lehrungen stattfinden, und zwar ist zu unterscheiden zwischen Aufklärungen, welche bei dem Abgang von der Schule den Schülern und Schülerinnen gegeben von Lehrern, Lehrerinnen oder Ärzten, und zwischen Belehrungen, welche einen Teil des Unterrichts bilden. In letzterer Beziehung ist

C. Literatur. 29

weiterhin zu unterscheiden zwischen 1. sexuellen Belehrungen mit rein ethischer Grundlage und Absicht, z. B. bei der unterrichtlichen Be- handlung des sechsten Gebotes, und 2. physiologischen Belehrungen a) über

das gesunde Geschlechtsleben (Fortpflanzung des Menschen), b) über ge- schlechtliche Krankheiten. «

~

C. Literatur.

Führer durch die Literatur des Hilfsschulwesens. Bearbeitet von Mittelschulrektor Dr. B. Maennel, Halle a/S. (Fortsetzung.)

20. Vom Hilfsschulhause und seinen Einrichtungen.

Die Anlage des Hilfsschulhauses und seiner Einrichtungen ist noch nicht Gegenstand einer monographischen Bearbeitung geworden. Die meisten Hilfsschulklassen sind zur Zeit in Räumen zu finden, die früher anderen Zwecken dienten. Eine ganze Anzahl von Hilfsschulen ist in alten oder neueren Volksschulgebäuden untergebracht worden. Es kann also vorläufig nur auf Arbeiten verwiesen werden, die da Idealforderungen aufstellen für Schulbauten im allgemeinen vergl. W. Siegert, »Bau des Schulhauses.« Reins Encykl. Handb. d. Päd. A. Gärtner, »Boden und Bauplatz.« Reins Encykl. Handb. d. Päd. L. Burgerstein, »Der Schulhof.< Reins Encykl. Handb. d. Päd. E. Reichelt, »Die Anlage und innere Einrichtung der Schulgebäude in Rücksicht auf Gesundheits- pflege.« Z. f. d. Beh. Schw. u. Ep. 1881. A. Bennstein, »Die Reinigung der Schulzimmer.«e Deutsch- Wilmersdorf - Berlin, Selbstverlag, 1902. W. Siegert, »Beleuchtung der Schulzimmer.«e Encykl. Handb. d. Päd.

In jüngster Zeit beginnt man, bestimmte Forderungen aufzustellen, die die Hygiene der Hilfsschulbank betreffen. Von den einschlägigen Außerungen sind zu erwähnen: J. Moses, »Die Schulbank in den Hilfs- klassen für Schwachbefähigte.« Z. f. Schulges. 1904, 12 u. 1905, 11 u. 1906, 4. Vergl. über denselben Gegenstand: O. Schmidt, F. Weigl, und K. Basedow, Z. f. Schulges. 1905. Den ersten Versuch einer systematischen Darstellung der Hilfsschulhygiene unternimmt J. Moses, »Die hygienische Ausgestaltung der Hilfsschule.« Leipzig, Engelmann, 1906.

21. Besteht ein Schulzwang für den Besuch der Hilfsschule?

Es ist ja empfehlenswert, auf friedlichem Wege die Einwilligung der Eltern zu erhalten zur Einschulung ihrer schwachbegabten Kinder in die Hilfsschule. Wenn aber Eitelkeit und falsche Scham oder Böswilligkeit und mangelhafte Einsicht die Eltern zu hartnäckigen Gegnern dieser Ein- richtung machen, dann ist das Vorhandensein von gesetzlichen Bestim- mungen sehr erwünscht, die eine zwangsweise Überweisung zur Hilfs- schule ermöglichen. Auf Grund der Besprechung des Vortrages von Grote, »Können die Kinder zwangsweise der Hilfsschule zugeführt werden % Ber. üb. d. IV. Verb. d. H. D. 1903 u. Z. f. d. Beh. Schw. u. Ep. 1903,

30 C. Literatur.

Juni wurde der Vorstand des D. Hilfsschulverbands beauftragt, ge-

eignete Schritte zu tun zur Herbeiführung solcher behördlicher Bestim-

mungen. Der Erfolg dieser Bemühungen ist niedergelegt im Ber. üb. d.

V. Verb. d. H. D. 1905 uud in der Hilfsschule, N5. In letzterer Ver-

öffentlichung ist ein Urteil des Preußisch. Kammergerichts vom 25. Januar

1906 wiedergegeben, nach welchem die zwangsweise Überführung von

Kindern in die Hilfsschule sich ermöglicht. Ein im Jahresbericht 1906/07

der Mannheimer Volksschulen veröffentlichter Erlaß des Badischen Ober-

schulrats vom Jahre 1897 will die Zuweisung der Kinder in eine Sonder- klasse gar nicht von dem Einverständnisse der Eltern abhängig gemacht wissen, sondern lediglich von der Entscheidung der Schulbehörde.

Vergl. auch Kinderfehler, 1906, März.

22. Fürsorge für die aus der Hilfsschule entlassenen Schüler.

Es ist eine wichtige Aufgabe der Hilfsschule, ihre Schüler so zu er- ziehen, daß sie allmählich jeder Gängelei und Unselbständigkeit entwöhnt und somit möglichst erwerbsfähig werden. Dieser zwar nicht leicht zu erfüllenden Aufgabe geht die Hilfsschule aber schon um des künftigen Wohlergehens der Schüler gern nach; sie erfüllt damit zugleich eine humanitäre, christliche Pflicht, die später Gemeinde und Staat zu über- nehmen haben. Und zwar sind es dann volkswirtschaftliche Notwendig- keiten, die zu einer fürsorgenden Tätigkeit führen. Man sagt sich: Was für Erhaltung von wirtschaftlich schwachen und solche sind wohl in allen Fällen die aus der Schule entlassenen Hilfsschüler ausgegeben wird in Gemeinde und Staat, das bedeutet im Grunde eine Versicherung gegen größere Verluste der Gesamtheit. Der Hilfsschüler wird immer nur ein solches Glied der Erwerbsgesellschaft werden, das steter Rücksicht- nahme bedarf, wenn es nicht wirtschaftlich und moralisch zu Grunde gehen soll zum Schaden der Gemeinschaft, in der es lebt. Diese Einsicht muß zu einer allgemeinen werden, insbesondere herrschend in den Kreisen, die als Lehr- oder Dienstherren früheren Hilfsschülern näher treten; sie hat auch einzudringen in die Verwaltungspraxis von allerlei Behörden, denen nicht allein das Regiment, sondern auch das Wohlergehen einer gewissen Gesamtheit anvertraut ist. In den Dienst einer einigermaßen gesicherten Zukunft des Hilfsschülers und seiner Stellung in Gemeinde und Staat haben sich durch schriftstellerische Arbeiten gestellt.

A. Allgemeine Anregungen:

Fr. Naumann, »Der Wert der Schwachen für die Gesundheit.« Berlin- Schöneberg, 1902, Hilfe,

A. Damaschke, »Aufgaben der Gemeindepolitik.«e Jena, G. Fischer, 1901.

K. Singer, »Soziale Fürsorge.« München u. Berlin, Oldenburg.

Moses, »Die sozialen Tendenzen der Hilfsschulen für Schwachbefähigte.« Soziale Medizin u. Hygiene. Hamburg, 1906.

L. Laquer, »Die Bedeutung der Fürsorgeerziehung für die Behandlung und Versorgung von Schwachsinnigen.« Klinik für psychische und nervöse Krankheiten, II, 2 auch Allg. Z. f. Psychiatrie, LX, 1903.

M. Fiebig, »Über Vorsorge und Fürsorge für die intellektuell schwache und sittlich gefährdete Jugend. Kinderfehler, 1906, 8.

C. Literatur. S1

Felisch, »Die Fürsorge für die schulentlassene Jugend.« Bericht über den Kongreß für Kinderforschung und Jugendfürsorge. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1907. (Schluß folgt.)

Baernreither, Dr. I. M., Jugendfürsorge und Strafrecht in den Ver- einigten Staaten von Nord-Amerika. Ein Beitrag zur Erziehungspolitik unserer Zeit. Leipzig, Duncker & Humblot, 1905.

Hartmann, Adolf, Die Strafrechtspflege in Amerika. Mit Ausführungen zur Deutschen Strafprozeßreform. Berlin, Franz Vahlen, 1906.

Herr, Dr. Paul, Das moderne amerikanische Besserungssystem. Eine Darstellung des Systems zur Besserung jugendlicher Verbrecher in Strafrecht, Strafprozeß und Strafvollzug in den Vereinigten Staaten von Amerika. Berlin, Stuttgart u. Leipzig, W. Kohlhammer, 1907.

Neue und eigenartige Wege hat der Jugendschutz in den Vereinigten Staaten von Nordamerika eingeschlagen; ihre Kenntnis ist für denjenigen nötig, welcher Fortschritte in irgend einem Kulturstaate auf diesem Gebiete erstrebt. Die ameri- kanischen Reformen sind, soweit sie nicht lediglich privater Initiative ihren Ursprung verdanken, kriminalpolitischen Ursprungs. Es bedarf mithin einer Kenntnis der eigentümlichen Entwicklung amerikanischen Strafrechts und amerikanischer Straf- justiz, um sie ganz zu verstehen. Diese Kenntnis im allgemeinen zu vermitteln, ist das Werk von Hartmann wohl geeignet. Für Hartmann ist der Ausgangspunkt nicht die Jugendfürsorge, sondern wie schon der Titel sagt, die Strafrechtspflege. Innerhalb des großen Rahmens behandelt er aber eingehend auch das Verfahren gegen Jugendliche in den Kindergerichtshöfen, die unbestimmte Verurteilung, das Bewährungs- und Besserungssystem.

Die beiden andern eben genannten Werke nehmen ihren Ausgangspunkt von der Jugendfürsorge und zwar Baernreither, indem er sein ganzes Interesse nur dieser zuwendet und nur gelegentlich über sie hinausgreifend zeigt, wie die bei der kriminalpolitischen Behandlung jugendlicher Personen gewonnenen Erfahrungen auch für ältere nutzbar gemacht werden können. Herr geht von der entscheidenden Tatsache aus, daß die Vergeltungsstrafe nicht eine hervorragende Herrschaft im amerikanischen Strafensystem innehat, daß vielmehr das Streben nach Besserung des Verbrechers das Verlangen nach Vergeltung überwiegt. Er schildert das ameri- kanische Besserungssystem in systematischer und wohldurchdachter Darstellung, wie es zur Anwendung gebracht wird und erfreuliche Resultate erzielt in der Haupt- sache bei jugendlichen Personen, darüber hinausgehend aber auch bei noch nicht völlig Verdorbenen bis zum dreißigsten Lebensjahre.

Alle drei Werke haben einen hervorragenden wissenschaftlichen Wert schon deshalb, weil sie die Kenntnis einer von uns grundverschiedenen Entwicklung ver- mitteln und somit unsere Einsicht in völkerpsychologische Probleme vermehren. Will man die Übertragbarkeit fremder Einrichtungen auf Deutschland prüfen, so wird man freilich sorgfältig ihre nationalen Elemente von ihren allgemein mensch- lichen scheiden müssen. An nationalen Eigentümlichkeiten fehlt es in der ameri- kanischen Entwicklung nicht. Es gehören dazu die psychologischen Momente des Unabhängigkeitssinns und der Scheu vor obrigkeitlicher Bevormundung. Es gehört ferner dazu die technische Unvollkommenheit und Verkümmerung des Vormund- schaftswesens in den Vereinigten Staaten. Indessen hat die amerikanische Ent- wicklung doch auch allgemeine Wahrheiten zutage gefördert und ihren Einrichtungen zu Grunde gelegt. Dazu gehört, um mit Baernreither zu sprechen, die Tatsache,

32 C. Literatur.

daß überall die verlassene, mißhandelte, physisch und geistig defekte, verwahrloste, straffällige Jugend als eine einzige soziale Erscheinung aufgefaßt wird, die uns in verschiedenen Entwicklungsstadien gegenübertritt.e. Und weiter gehört dazu die Folgerung, daß Jugendfürsorge und Jugendstrafrecht kein isoliertes Problem der Gesetzgebung oder Verwaltung sind, sondern Kulturaufgaben, Aufgaben der Er- ziehungspolitik, der Entwicklung der Volksmoral und der Volksgesundheit.

Berlin W. Amtsgerichtsrat Dr. Köhne.

Ament, W., Die Seele des Kindes. Eine vergleichende Lebensgeschichte. Stuttgart, Kosmos (Franckhsche Verlagshandlung), o. J. (1906). 8°. 968. 1 M. Der Verfasser, dem wir schon manche Gabe von wissenschaftlichem Werte verdanken, bietet hier auf dem eng begrenzten Raume der Kosmosbücher eine für weitere Kreise bestimmte vergleichende Darstellung der Lebensgeschichte des Kindes, die übrigens auch für den Sachkenner des Interesses nicht entbehrt.

In erster Linie widmet der Verfasser sein Büchlein »den Müttern und allen, die es werden wollene. Es ist in »anspruchsloser Form« gehalten, d. h. sein Ur- heber hat sich bemüht, möglichst einfach zu schreiben, und es ist ihm dies so weit gelungen, als es bei der notwendigen Gedrängtheit möglich war. Ich möchte aller- dings glauben, daß eine, sagen wir mehr feuilletonistische Form, der ein guter Inhalt ja keineswegs zu fehlen braucht, für den zunächst ins Auge gefaßten Zweck noch wirkungsvoller wäre; allein man darf dem Verfasser auch für das Büchlein, wie es ist und wie es bei dem von dem Verleger vorherbestimmten Umfange nicht gut anders werden konnte, recht dankbar sein.

Den Sachkenner kann es nicht überraschen, daß die drei Perioden, die der Verfasser unterscheidet, dem Umfange nach sehr ungleich behandelt sind. Die »Kindheit«, d. i. die Zeit bis zum 6. Lebensjahre, nimmt fast 80 Seiten in Anspruch, während der Jugendzeit (vom 6. bis zum 12. Jahre) 8 und den «jungen Leuten« nur 5 Seiten gewidmet werden.

Die dem Texte eingefügten Abbildungen gereichen dem Büchlein nicht nur zur Zierde, sondern sie sind auch in hohem Grade belehrend. Das gilt nicht bloß von den Photographien, sondern auch von der Wiedergabe einiger künstlerischer Darstellungen aus dem Kinderleben (Oskar Pletsch, Ludwig Richter, Hermann Kaul- bach). Dichter, insbesondere Shakespeare, hat man oft große Seelenkündiger ge- nannt und ihre Werke bei psychologischen Studien verwertet (Nahlowsky). Die Malerei ist bisher nur wenig in Anspruch genommen worden, und auch dann nur mit Bezug auf gewisse Grenzgebiete (Lombroso). Freilich, im eigentlichen Sinne lernen kann man aus den wiedergegebenen Bildchen nicht viel, aber wenn man z. B. mit der Groos’schen Theorie über das Spiel vertraut ist, so kann man aus den Spielbildchen anschauend manches wiedererkenneu, was ein psychologisch un- geschultes Auge vielleicht übersieht.

Zum Schluß möchte ich mit einem Wunsche nicht zurückhalten. Der Ver- fasser hat das mehr oder weniger Pathologische fast völlig beiseite gelassen, obwohl es namentlich in den Abschnitt über die Kindheit mit Leichtigkeit in einem be- scheidenen Umfange hätte hineingearbeitet werden können. Die Sache liegt leider nicht so, als brauchten nur ganz vereinzelte Müttter davon etwas zu wissen. Sollte der Verfasser dieser Anregung, die ich aus meinen häufigen und oft schmerz- lichen Erfahrungen gebe, bei der Bearbeitung einer neuen Auflage entsprechen, so würde das Büchlein noch um einen großen Vorzug reicher werden. Ufer.

Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensaıza,

A. Abhandlungen.

1. Fingertätigkeit und Fingerrechnen als Faktor der Entwicklung der Intelligenz und der Rechenkunst bei Schwachbegabten. !)

Von

Heinrich Nöll, Wiesbaden.

Nach der allgemeinen vulgär-psychologischen Anschauung sind Gesichts- und Gehörssinn die wichtigsten Eingangspforten, durch welche der Strom des Geistigen sich am breitesten und mächtigsten in die Seele ergießt. Jedoch die neuere Psychologie, die, von physio- logischen Tatsachen ausgehend, uns die Genesis des geistigen Lebens von neuen Standpunkten aus beobachten gelehrt hat, zeigt, daß der Muskel- und Tastsinn der gesamten Körperoberfläche Empfindungen, Anschauungen und Vorstellungen vermittelt, die als die Basis des geistigen Gebäudes aufzufassen sind. Speziell das Tast- und Greif- organ, die menschliche Hand, ist als Sinnesorgan erst in der Neuzeit seiner eminenten Bedeutung entsprechend genügend gewürdigt worden. Zwar hat schon FrößEL seine Wichtigkeit erkannt, jedoch war die Psychologie zu seiner Zeit nicht geeignet, sich ihm zur Begründung seiner Anschauungen und praktischen Maßnahmen anzubieten. Erst die physiologische Psychologie und speziell auch das wissenschaftlich bearbeitete Material von Tatsachen der Psychopathologie der Neuzeit konnte nach dieser Richtung hin als ausreichende theoretische Unter- lage dienen. Es ist nun eine merkwürdige und auf den ersten

1) Diese Abhandlung erscheint hier gekürzt, in den »Beiträgen zur Kinder- forschung und Heilerziehung« dagegen in größerem Umfange.

Zeitschrift für Kinderforschung. XIII. Jahrgang. 3

34 A. Abhandlungen.

Blick unverständliche Tatsache, daß man im Gegensatz zu der neu- zeitlichen Erkenntnis von der Wichtigkeit des Greiforgans für die Entwicklung des geistigen Lebens die Bedeutung der Fingertätigkeit heute in einem Lehrfache verneinen will, in welchem von altersher gerade der Fingergebrauch die allerwichtigste Rolle spielte: Gewisse Rechenmethodiker wollen das Fingerrechnen aus dem grundlegenden Rechenunterricht verbannen. Es dürfte darum angebracht sein, eine Ehrenrettung desselben zu versuchen, indem wir auf Grund der Ge- schichte, der physiologischen Psychologie, der pädagogischen Patho- logie und der Kritik!) gegensätzlicher rechenmethodischen Ansichten die spezifischen Vorzüge des Fingerrechnens in hellere Beleuchtung rücken. Ein Interesse des Leserkreises der »Zeitschrift für Kinder- forschung« für ein solches Thema glauben wir insofern schon als geweckt voraussetzen zu dürfen, als Herr Dir. Trürer wiederholt den Wunsch nach einer Abhandlung, welche die natürliche Entwicklung der Zahlbegriffe bei normalen und bei schwachbegabten Schülern klarzulegen sucht, ausgesprochen hat. (Siehe Zeitschr. f. Kinder- forschung VII. Jahrg. S. 171; IMI. Jahrg. S. 128; VIL Jahrg. S. 256!) Die vorliegende Abhandlung will nur als ein zweiter Beitrag zur Erfüllung dieses Wunsches angesehen sein; denn nach einer ge- wissen Richtung hin ist diesem Wunsche inzwischen schon ent- sprochen worden und zwar durch eine sehr interessante Arbeit von Dr. E. Wırk im Jahrbuch des Vereins für wissenschaftliche Pädagogik, 35. und 37. Jahrgang: »Das Werden der Zahlen und des Rechnens im Menschen und in der Menschheit auf Grund von Psychologie und Geschichte.«

Von einer Fülle geschichtlichem und sprachwissenschaftlichem Tatsachenmaterials, das eine psychologische Deutung und Wertung erfährt, ausgehend, weist Dr. Wik überzeugend folgendes nach:

a) In Bezug auf die Entwicklung der einfachen Zahlvorstellungen, die durch simultane Auffassung einer Mehrheitsdarstellung entstehen, haben mancherlei Gegenstände, die in der Interessensphäre des Menschen lagen, als »Gruppenzahlbilder« mitgewirkt. Es sind dies die Zahlen 1—4.

b) Die höheren Zahlen von 5 ab wurden auf Grund der Gruppierung als einheitliche aufgefaßt, da sie einer simultanen Perzeption nicht mehr zugänglich waren. Für ihre Ausbildung im Bewußtsein solcher

') Wegen Mangel an zur Verfügung stehenden Raum fällt das in den »Bei- trägen zur Kinderforschung und Heilerziehung« dieser Kritik gewidmete besondere Kapitel hier aus,

NörL: Fingertätigkeit und Fingerrechnen usw. 35

Individuen, die sich selbst überlassen blieben, war nur eine Vorlage maßgebend die 5 Finger, bezw. 10 Finger, der menschlichen Hände. c) Auch die Einordnung der Zahlen in eine systematische Reihe, die Zählreihe, vollzog sich mit Hilfe der Finger. Dokumente für die Richtigkeit dieser Behauptung sind das Fünfer- und das Zehnersystem. d) Das Zehnersystem entwickelte sich aus der durch Finger- gebrauch entstandenen Fünfergruppierung. Auch der höhere Aufbau des Zehnersystems (Hunderter, Tausender, Zehntausender) geschah mit Hilfe der Finger und zwar derjenigen eines 2., 3., 4. Mannes. Wenn wir Dr. E. Wiks Ausführungen und Schlüsse recht ver- standen haben, so bestehen die spezifischen Vorzüge des Finger- rechnens, die wir auf Grund von Tatsachen der Geschichte und Etymologie erkennen, darin, daß zugleich mit den Zahlvorstellungen als solchen auch die ursprünglichen Elemente des Zehnersystems zugleich und auf naturgemäße Weise emporwachsen. Infolge der-den Fingerbildern eigentümlichen Gruppierung der Mehrheitsdarstellungen sind »System und Reihe von dem Wesen der Zahlen gar nicht zu trennen.« Durch die Aufdeckung dieser Tatsache bahnt Dr. Wırk geradezu »eine neue Rechenmethode an, die sich auf das System stützt.« Da nun aus den Wiırkschen Zusammenstellungen von ge- schichtlichen Tatsachen sich ergibt, daß »die Darstellung der Zahlen durch die Finger eine über die ganze Welt verbreitete Gepflogenheit ist alle Naturvölker üben sie, alle Kulturvölker haben sie in ihrer Jugend geübte so ist auch Wırks Behauptung, »daß die Finger das allerwichtigste Anschauungsmittel im Rechenunterrichte sein müssen,« weil sie das natürlichste sind, eine solche, der sich eigent- lich jeder ohne weiteres aus voller Überzeugung anschließen müßte. Jedoch sind wir der Meinung, daß die Position eines seitherigen Gegners des Fingerrechnens (der sich hinter gewissen psychologischen Gründen verschanzt) durch die der Geschichte entnommenen Gründe nicht genügend erschüttert wird. Zwar hat Dr. Wirk auch eine ganze Reihe von psychologischen Gründen für das Fingerrechnen geltend gemacht, und seine Begründung ist eben deshalb, weil sie im großen und ganzen sich an diese geschichtlichen und sprachwissenschaftlichen Tatsachen anlehnt, in ihnen gleichsam wurzelt, aus ihnen hervor- wächst, überzeugend; aber dieser Umstand bringt es naturgemäß mit sich, daß gewisse andere psychologische Erwägungen, die für das Fingerrechnen sprechen, in der umfassenden, tiefgründigen Arbeit gar nicht oder nur andeutungsweise zur Darstellung gelangen konnten. Aus diesem Grunde dürfte eine ausführliche psychologische Recht- fertigung unseres Rechenlehrverfahrens und speziell der Nachweis, 3*

36 A. Abhandlungen.

daß das Fingerrechnen mehr wie jedes andere Veranschaulichungs- verfahren geeignet ist, gerade den Bedürfnissen sehr schwachbegabter Schüler zu genügen, eine notwendige und willkommene Ergänzung der Wırkschen Verteidigung desselben sein. Dem Zwecke dieses Nachweises diene zunächst folgende vorbereitende Darstellung ge- wisser anatomischer, physiologisch-psychologischer Anschauungen und pädagogisch -pathologischer Tatsachen.

I. 1. Anatomische und physiologisch -psychologische Anschauungen.

Nach den anatomischen Untersuchungen von Frecusıs sind die verschiedenen geistigen Tätigkeiten, die Vorgänge des sinnlichen Empfindens und Vorstellens, sowie diejenigen des Assoziierens und Wollens an verschiedene Felder der Großhirnrinde gebunden. Frecusıs unterscheidet:

1. Sinneszentren und zwar

a) das Sehzentrum, gelegen im Hinterhauptslappen des (sroßhirns,

b) das Gehörzentrum in der Rinde des Schläfenlappens,

c) das Riechschmeckzentrum in der Gegend der Insel,

d) das Tastzentrum, auch genannt die Körperfühlsphäre, in der Gegend der Zentralwindungen an der Scheitel- fläche.

2. Assoziationszentren und zwar

a) ein hinteres, großes, genannt das »parleto -occipito- temporale«; in der Gegend der Scheitellappen, also zwischen Seh-, Gehörs- und Tastzentrum;

b) ein vorderes (frontales) in der Gegend der Stirnlappen im engsten Anschlusse an das Sinneszentrum der Körper- fühlsphäre;

c) ein unteres in der Gegend der Insel.

Zu jeder Sinnessphäre gehen von der Körperoberfläche und den inneren Organen aus sensitive Nerven, zentripetal leitende Bahnen, und in umgekehrter Richtung geht von jedem Zentrum aus eine ge- wisse Zahl zentrifugal leitender Nerven, welche Bewegungsfunktionen auslösen motorische Fasern. Jedes Sinneszentrum ist also zugleich Empfindungs- und Bewegungszentrum. Jedoch ist die Zahl der Be- wegungsnerven, welche von dem Seh-, Gehör- und Riechschmeck- zentrum ausgehen, so verschwindend gering im Vergleich zu der Anzahl von motorischen Fasern, welche in der Körperfühlsphäre

Nöt: Fingertätigkeit und Fingerrechnen usw. 37

entspringen, daß die letztere lange Zeit einzig und allein als Bewegungs- zentrum galt. Die Körperfühlsphäre ist aber nicht lediglich Be- wegungszentrum, sie ist zugleich auch Organ der Empfindung, welches sensitive Eindrücke vermittelt. Schon in Bezug auf ihre räumliche Ausdehnung ist die Tastsphäre das bedeutendste Sinneszentrum. Laufen doch nach ihm hin die zahllosen sensiblen Fasern von der gesamten Hautoberfläche, die riesige Zahl von Empfindungsnerven, welche von den Muskeln, Gelenken, Bändern, von den schmerz- empfindenden inneren und äußeren Teilen des Körpers ausgehen. Und in umgekehrter Richtung geht eine entsprechende große Zahl motorischer Bahnen nach den genannten Stellen zurück.

Dieses System der Körperfühlsphäre mit seinen Emp- findungs- und Bewegungsnerven ist nun nicht etwa nur für das leibliche, sondern auch für das geistige Leben weitaus die wichtigste aller Sinnessphären. Fuecasie be- zeichnet die Körperfühlsphäre geradezu als das Zentralorgan der Seele (»Lokalisation der Sinnesempfindungen«). Die Empfindungen und Vorstellungen, welche auf Grund der sensiblen und motorischen Tätigkeit dieses Zentrums entstehen (also Muskel-, Gelenk-, Haut-, Schmerzempfindungen und -vorstellungen usw.) sind die Grund- empfindungen unseres geistigen Lebens, die Fundamentbausteine des gesamten geistigen Bauwerks. Noch ehe beim Embryo und Säugling ein Sinneszentrum funktionsfähig entwickelt ist, ist dieses Zentrum tätig. Es schreitet in seiner Entwicklung nicht nur allen anderen Zentren voraus, sondern es behält auch durch das ganze Leben hin- durch gleichsam die leitende Stellung, die Oberherrschaft. Vorzugs- weise aus den Empfindungen, die an die Tätigkeit der Körperfühl- sphäre gebunden sind, bauen sich die Ichvorstellung, die Vorstellung der Außenwelt, die Raumanschauung,!) nach Wuxpr auch die Zeit- vorstellungen, die Vorstellungen von Dauer, Bewegung und Ruhe, also die wichtigsten Bestandteile unseres geistigen Seins auf. Die Körperfühlsphäre ist aber auch ferner das Zentralorgan der Spiegelung affektiver Körperzustände (Zorn, Ärger, Freude usw.) und somit am Zustandekommen der Gefühle wesentlich beteiligt. Das genannte Zentrum (im Verein mit dem vorderen Assoziationszentrum, mit dem es in engster Verbindung steht) ist endlich auch von Bedeutung für das aufmerksame Denken, Wollen und Handeln. Beide Zentren sind insofern die Organe der Aufmerksamkeit und des Willens, als die

1) Dr. E. Srorcs, »Muskelfunktion und Bewußtsein. Wiesbaden, Bergmann. Barrnoromäı Anfang des Tastens, Sehens und Hörens. Jahrb. d. V. f. w. Päd,

38 A. Abhandlungen.

Bewegungsempfindungen und Bewegungsvorstellungen, die vor jeder Willenshandlung aufleben müssen, in ihnen lokalisiert sind.!) Als Zentralorgan des Seelenlebens ist das Tastzentrum, vom anatomischen Standpunkt aus betrachtet, deutlich dadurch gekennzeichnet, daß es durch eine überaus große Zahl von Assoziationsfasern mit den Asso- ziationszentren (besonders mit dem hinteren großen) verknüpft und durch diese Fasern indirekt in Verbindung mit dem Seh-, Gehör- und Riechzentrum steht. Wenn wir die Mannigfaltigkeit, den Reich- tum, sowie die Priorität der Empfindungen und Vorstellungen, welche durch die Tätigkeit der Körperfühlsphäre vermittelt werden, in Betracht ziehen, so finden wir, daß die Empfindungen, welche durch Seh-, Gehör- und Riechzentrum veranlaßt werden, ihnen gegenüber an Bedeutung weit zurückstehen, so weit, daß sie nach dem Urteile von Frecasıs gleichsam nur als ein Anhängsel zu betrachten sind. Durch die bekannten und hochinteressanten Beispiele einer eigenartigen geistigen Entwicklung, welche eine sehr hohe Stufe erreichte, wir meinen die Beispiele von Herren KELLER und Laura BrRIDGEMANN ist deutlich die Wichtigkeit der Körperfühlsphäre für das intellektuelle Leben illustriert. Blind und taub zugleich, erlangten sie doch nur auf Grund der Tast- und Bewegungsempfindungen einen Grad der Bildung, der uns in Verwunderung setzt. Diese Beispiele beweisen aufs deutlichste, daß die Körperfühlsphäre die einzige für die geistige Entwicklung unentbehrliche Sinnessphäre ist. Ein anormaler Zu- stand derselben bedingt zugleich auch eine höchst unvollkommene Entwicklung der Assoziationszentren und damit einen Mangel an Assoziationsprodukten. »Selbst die höheren Sinne liegen nicht außer- halb des Bereiches der Tastnervenzirkulation. Wir können deshalb auch keinen Eindruck des Auges oder Ohres erlangen, ohne daß nicht Tastnerveneindrücke hineinflössen.< (Free, »Der Tastsinn und seine Bedeutunge in »Aus der Schule für die Schule« S. 3.) Eine Funktionsschwäche der Körperfühlsphäre bedingt mithin eine sehr tiefgehende Schädigung der Intelligenz, des Gefühls- und Willenslebens.

2. Tatsachen der Pathologie.

Bei vielen schwachbegabten, anormalen Kindern ist eine solche Funktionsschwäche der Körperfühlsphäre auf Grund von gewissen charakteristischen äußeren Erscheinungen direkt nachweisbar. Jeder

t) Die Ausdrucksweise »Empfindungen im Gehirn lokalisiert« ist selbst- verständlich hier als eine abgekürzte aufzufassen da die Empfindungen als geistige Elemente nicht eigentlich materiell lokalisiert sein können.

Nörr: Fingertätigkeit und Fingerrechnen usw. 39

Lehrer möge daraufhin seine sogenannten »Dummen« ansehen. In überaus zahlreichen Fällen wird er, wenn er die Bewegungsfähig- keit derselben beim Spiel, bei turnerischen Leistungen, besonders aber bei gewissen Beschäftigungen der Hand beobachtet, manche der nachfolgend aufgeführten Symptome wahrnehmen können, die je nach dem Grade der größeren oder geringeren Schädigung der Intelligenz mehr oder weniger deutlich, mannigfaltig und zahlreich hervortreten:

a) In Bezug auf den Gang: Er läßt Lähmungen und Steif- heit der Beine erkennen; denn er ist schleppend, schwerfällig und unsicher im Gleichgewicht. Die gesamte Bewegung zeigt etwas Ungelenkes, Täppisches und Ungeschicktes. Prof. Dr. med. F. A. Scaumipr in Bonn, langjähriger Schularzt der Hilfsschule daselbst, ein also durchaus kompetenter Beobachter, sagt in Bezug auf solche Hilfs- schüler: »Die Schritte sind klein, trippelnd oder schleppend, von ungleicher Länge, je nachdem das rechte oder linke Bein ausschreitet. Sehr oft beobachtet man, daß der eine oder andere Fuß beim Gehen einwärts gesetzt wird. Vollständig unsicher und schwankend wird das Stehen und Gehen bei geschlossenen Augen: ein Anzeichen, wie schlecht das Muskelgefühl entwickelt ist.« (Ztschr. »Körper und Geist.«)

b) In Bezug auf die Tätigkeiten der Arme, Hände und Finger: Auch bei den oberen Gliedmaßen zeigt sich Ungelenkigkeit und Ungeschicklichkeit. Man beobachte solche Kinder bei gewissen Arbeiten, welche feinere Finger- und Greifbewegungen nötig machen! Verrichtungen, welche das normale Kind mit Leichtigkeit ausführt, scheitern beim anormalen an jener Ungelenkigkeit (z. B. Zuknöpfen der Klejder, Schnüren und Binden der Schuhe, Ein- und Auspacken des Ranzens, Zu- und Aufschnallen desselben, Gebrauch der Strick- nadeln und Nähnadeln usw.).

c) In Bezug auf die Hemmung von nicht beabsichtigten Bewegungen der verschiedenartigsten Muskelpartien: Die Körperfühlsphäre hat auch den Zweck, die automatischen Bewegungen, die durch die Tätigkeit niederer Zentren (z. B. des Rückenmarkes) ausgelöst werden, zu hemmen, zu regulieren und zu koordinieren. Meyer führt über den Unterschied normaler und anormaler Menschen bezüglich dieser Hemmungs- und Koordinierungsfähigkeit aus, daß bei normalen Schülern gewisse Bewegungen, wie sie Turnunterricht, Spiel, Zeichen-, Schreib- und Sprechunterricht erfordern, deshalb schnell erlernt werden, weil sie fähig sind, in kürzester Zeit alle überflüssigen, unzweckmäßigen Mitbewegungen und Muskelzusammen- ziehungen zu vermeiden, welche die beabsichtigten Muskelbewegungen

40 A. Abhandlungen.

nicht nur nicht fördern, sondern sogar stören oder hindern. Be- obachtet man dagegen anormale Schüler, so findet man, daß sie bei solchen Bewegungen im Unterrichte eine Menge unzweckmäßiger, überflüssiger Bewegungen nebenher auslösen, welche zum Teil sogar wieder Gegenbewegungen notwendig machen, damit das Ziel der be- absichtigten Bewegung überhaupt erreicht wird. Man beobachtet an ihnen besonders starke Spannungen in den Gesichtsmuskeln, Grimmassenschneiden, Stirnrunzeln, Hochziehen der Haut der Nase, krampfhaftes Zusammenbeißen der Zähne usw. (Siehe Meyer, Übung und Gedächtnis, S. 38 in »Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens«.) Nach Demoor haben oft Anormale automatische Fingerbewegungen. Es ist ihnen nicht möglich, durch den Willen ihre kleinen Gelenke zu beherrschen. Nach meinen eigenen Erfahrungen in der Hilfs- schule pendeln Anormale beim Sprechen unwillkürlich mit den Armen, ja, sie laufen, wenn sie in ein Gespräch verwickelt werden, hin und her. All diese Beobachtungen beweisen, daß das Hemmungs- und Koordinationsvermögen der Körperfühlsphäre vermindert ist.

d) In Bezug auf die Tätigkeit der Sprachorgane: Das Sprechbewegungszentrum ist als ein Teilzentrum der Körperfühlsphäre aufzufassen. Die fundamentale Verbindung zwischen Tast- und Sprachzentrum zeigt sich gerade bei anormalen Kindern dadurch äußerlich an, daß bei ihnen Sprachgebrechen (wie Stammeln, Lispeln, Stottern usw.) ungemein häufig vorkommen. Nach Prof. Scumpr ist die mangelhafte Entwicklung des Koordinationsvermögens, welche der unvollkommenen Entwicklungsstufe des Nervensystems und speziell der Körperfühlsphäre entspricht, »der Urgrund der vorhandenen Sprachfehler«.

e) In Bezug auf die Schreibtätigkeit: Nach meinen eignen jahrelangen Beobachtungen zeigen geistig minderwertige Kinder in der Regel auch eine schlechte, ästhetisch nicht befriedigende Hand- schrift. Prof. Meumasx führt in einer Abhandlung über Intelligenz- prüfungen (Ztschr. »Experimentelle Pädagog.«) auf Grund von statisti- schen Feststellungen in Schulen aus, daß eine Begleiterscheinung der Intelligenzmängel in der Regel auch eine schlechte Handschrift sei. Die Erklärung liegt auch in diesem Falle in der mangelhaften Funktion eines Teilzentrums der Körperfühlsphäre, des motorischen Schrift- zentrums. »Die Impulse für die einzelnen Schreibbewegungen werden nicht so zweckmäßig abgestuft, daß stets das Ziel der Schreibbewegung einen das ästhetische Empfinden befriedigenden Buchstaben ent- stehen zu lassen auf dem nächsten und kürzesten Wege erreicht wird.« (MEYER, Übung und Gedächtnis S. 39.)

NörLr: Fingertätigkeit und Fingerrechnen usw. 41

Die unter a—e aufgeführten zahlreichen Bewegungsmängel sind selbstverständlich nicht in ihrer Gesamtheit bei jedem anormalen Schüler zu finden; sie sind eben nur nach dem Grade der Anor- malität mehr oder weniger gehäuft vorhanden. Auch darf man sie nicht etwa als zufällige Begleiterscheinungen des Mangels an In- telligenz auffassen. Da alles geistige Leben sich nur in Form von Bewegungen äußerlich kund tun kann man denke nur an die Bewegungstätigkeit der Sprachorgane —, so ist ohne weiteres klar, daß Intelligenzdefekte sich auch in Form von Bewegungsmängeln offenbaren müssen; andrerseits wirken auch äußere Ungeschicklich- keit und Sprachdefekte insofern hemmend auf die Entwicklung der Intelligenz ein, als solche ungeschickten Kinder im Verkehr mit Spielgenossen beiseite geschoben werden und somit auch der viel- fachen Anregungen zu geistiger Tätigkeit entbehren müssen, die bei andern die Entwicklung der Intelligenz begünstigen. Die verminderte Hemmungsfähigkeit der Großhirnrinde, namentlich der Körperfühl- sphäre, bedingt ferner auch Zerstreutheit und Unaufmerksamkeit. Auf- merksamkeit und innere Sammlung aber ist Vorbedingung der Unter- richtsfähigkeit. Nach MünsterBERG heißt »wollen« »hemmen«. Verminderte Hemmungsfähigkeit ist mithin gleichbedeutend mit Willensschwäche und Energielosigkeit, die sich ja in Form von Un- aufmerksamkeit schon äußert. Ja, sogar Defekte des Gemütslebens und moralische können sich auf Grund dieser Funktionsschwäche der Körperfühlsphäre entwickeln. Prof. Schumr führt in dieser Beziehung treffend aus: »Kein Wunder, daß solche Zurückgesetzten und Un- beholfenen mißtrauisch, ungesellig, verschüchtert werden, in einem Grade, der manchmal für ihr ganzes ferneres Dasein folgenschwer wird. Denn der geistig Minderwertige, von dem Vollsinnigen ver- spottet und zurückgestoßen, nährt in sich einen Haß gegen alle Be- vorzugten und Gesunde, die vom vollen Tisch der Lebensfreude ge- nießen können. Diese Verbitterung im Verein mit der geringen Widerstandskraft gegen schlimme Neigungen und unlautere Triebe läßt gerade aus diesen Kindern unverhältnismäßig- viele Verbrecher- naturen hervorgehen.«

Aus ail diesen Darlegungen schließen wir:

Die Bedürfnisse solcher anormalen Kinder, deren geistige und moralische Minderwertigkeit in der Funktions- schwäche der Körperfühlsphäre ihren Grund hat, fordern hinsichtlich des Unterrichts und der Erziehung, daß Mittel ausfindig gemacht werden, durch welche die Funktions- schwäche des Tast- und Bewegungszentrums behoben oder

42 A. Abhandlungen.

vermindert, die geringe Energie gesteigert wird. In jedem Lehrfache muß, soweit sich dort nur irgend welche Ge- legenheit findet, dieses Ziel in den Vordergrund gerückt werden. Es ist also die Frage von Bedeutung: Welche Mittel stehen uns zu Gebote, um sowohl die Mängel der Bewegungs-, Hemmungs- und Koordinationsfähigkeit als auch die hiermit zu- sammenhängenden Mängel der Intelligenz zu beseitigen oder zu mildern ? Im folgenden Kapitel soll nun auf die speziellere Frage ein- gegangen werden, inwiefern auch der grundlegende Rechenunterricht ein solches Mittel zur Verfügung stellt, wenn er als »Fingerrechnen« betrieben wird. (Forts. folgt.)

2. Die Kunst als Grausamkeit im Leben der Kinder. Von J. Trüper.

Über die Kunst im Leben des Kindes ist im letzten Jahrzehnt viel geschrieben, geschwärmt und experimentiert worden. Über die Schatten- seite dieser z. T. verdienstvollen Bestrebungen hat Ufer ein Büchlein ge- schrieben, das wir auch an dieser Stelle unseren Lesern der erneuten Be- achtung empfehlen möchten.!) Im Nachstehenden möchte ich nun einen Vor- fall aus der Kunst im Leben mancher Kinder zur Sprache bringen, der, weil er zwar nicht in der empörenden Brutalität aber doch immer noch grausam genug in zahlreichen Fällen wiederkehrt, einen ernsten Gegen- stand der Kinderforschung und Jugendfürsorge bilden sollte.

In musikalischen Kreisen wird gewöhnlich der gemütveredelnde und beruhigende Einfluß der Musik gepriesen. Schon von dem jüdischen Könige Saul berichtet das Buch des Samuel, ein böser Geist machte ihn sehr unruhig und zu schlechten Handlungen fähig, wenn aber David seine Harfe spielte, so wich der böse Geist sofort von ihm.

Und jetzt, wo uns der Tod den Geigenkönig Joachim entrissen, wer möchte da die Reinheit, Hoheit und Würde der Musik wie auch ihren veredelnden und erhebenden Einfluß auf das Gemüt der Menschen auch nur irgendwie in Frage stellen?

Aber die Musik hat wie jede andere Kunst auch ihre Kehrseite, an sich wie in ihren Wirkungen.

Ein Luther hat Hervorragendes durch die Pflege des Gesanges für die evangelische Kirche wie für die ganze moderne Kultur geleistet. Aber Luther wird der Reim, der tausend moralischen Verkommenheiten als Deck- mantel dient, in den Mund gelegt: »Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesang, der bleibt ein Narr sein Lebenlange. Die ebenso richtige oder noch richtigere Behauptung wagt heute mit Ausnahme der Alkoholgegner niemand laut auszusprechen: Durch Wein, Weib und Gesang werden täg-

!) Ergebnisse und Anregungen des Kunsterziehungstages in Weimar. Alten- burg, O. Bonde.

Trürer: Die Kunst als Grausamkeit im Leben der Kinder. 43

lich Tausende nicht bloß Narren, sondern auch an Leib und Seele Kranke ihr Letenlang.

Wie das öffentlich so laut gepriesene musikalische Künstlertum dazu verleiten kann, ein väterliches Gemüt geradezu erbarmungslos zu ver- rohen und zu einer Mißhandlung der eigenen leibhaftigen Kinder führen und diese ethisch wie intellektuell schwer beeinträchtigen kann, das lehrt der Fall Steindel. Die Vorkommnisse sind psychopathologisch wie auch in psychogenetischer Hinsicht für uns so lehrreich, daß wir das Markanteste aus den Verhandlungen vor der Strafkammer des Land- gerichts in Stuttgart am 19. August d. J. nach den Berichten der Tages- zeitungen auch hier mitteilen wollen, um alsdann einige Nutzanwendungen für Kinderforschung und Jugendfürsorge daraus zu gewinnen.

Eine ungemein zahlreiche Menschenmenge drängte nach den Zeitungsberichten sich zu den Verhandlungen dieses Sensationsprozesses ersten Ranges. Ob es Neugier war? oder ob es. was wir annehmen, der natürlichste aller menschlichen Instinkte, die Kinderliebe und das Mitleid gegen mißhandelte Kinder war? Der in weiten Kreisen bekannte Musikdirektor Albin Robert Steindel saß auf der Anklagebank unter der Beschuldigung, seine Gattin und seine drei Söhne mittels gefährlichen . Werkzeugs in einer das Leben gefährdenden Weise fortgesetzt vorsätzlich mißhandelt und sie mit dem Verbrechen des Totschlags bedroht zu haben.

Der Angeklagte, ein mittelgroßer, schlanker Mann mit dunklem, vollem Kopf- haar und wohlgepflegtem dunklen Schnurrbart ist 1859 zu Zwickau in Sachsen ge- boren, evangelischer Konfession und wohnt seit mehreren Jahren in Stuttgart. Er ist Königl. Württembergischer Musikdirektor, Inhaber des »Ordens für Kunst und Wissenschaft« in Lippe-Detmold und seit 1889 verheiratet. Sein Vater war auch Musikdirektor. Schon mit dem 7. Lebensjahre ist er nach seinen Angaben in großen Konzerten aufgetreten, er habe ein Jahr lang in der Kapelle von Eduard Strauß mitgewirkt und große Konzertreisen durch Deutschland, Holland, Belgien und die Schweiz unternommen. Er wollte Militärkapellmeister werden, sei deshalb beim badischen Grenadierregiment in Mannheim eingetreten, habe aber nur zwei Jahre lang seiner Militärpflicht genügt. Er hat 5 Kinder, 4 Knaben und 1 Mädchen. Seine ältesten drei Söhne sind nach seiner Behauptung sehr aufgeweckt; er habe sie frühzeitig zu Musikern ausgebildet. Der älteste, Bruno, sei Klaviervirtuose, Max Cellist und Albin Violinist. Er selbst spiele Viola sowie mehrere andere Instrumente.

Steindel wurde unter dem Verdacht, seine drei kunstgeübten, mit ihm zum Steindel-Quartett vereinten Söhne schwer mißhandelt zu haben, verhaftet. Die Söhne Bruno, Max und Albin stehen jetzt im Alter von 14—18 Jahren. Sie be- gleiteten ihren Vater auf seinen Kunstreisen als geübte Geiger und Cellospieler. Aber eine harte, unsäglich traurige Jugend haben die armen Kinder hinter sich. Durch Einschreiten eines Stadtmissionars aus Stuttgart, dem der jüngste Sohn Albin sein Leid klagte, wurden Grausamkeiten bekannt, die an den bekannten Fall des sogenannten Hauslehrers Dippold erinnern. Das gegen den Vater Steindel ein- geleitete staatsanwaltschaftliche Verfahren führte zunächst zur Entziehung der Söhne aus dem väterlichen Hause und dann zur Verhaftung des grausamen Mannes. Furchtbar sind die Schilderungen, die die Knaben über die Mißhandlungen des entmenschten Vaters zu Protokoll gaben. Wenn bei den Proben das Zusammen- spiel nicht beim ersten Male tadellos klappte, kam es zu fürchterlichen Szenen. Nach jedem Tonsatze hagelte es Hiebe. Mit Klavierzangen zwickte der alte Steindel

44 A. Abhandlungen.

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seine Kinder in Arme und Beine. Das Stärkste leistete sich Steindel, als er den entkleideten jüngsten Sohn auf einen glühenden Ofen setzte. Da ihm bei einer Wiederholung dieser abscheulichen-Prozedur der Ofen nicht mehr heiß genug er- schien, so schlug er den armen Jungen mit einem Besen derart, daß das Blut herabrann. Die eingehenden ärztlichen Untersuchungen konstatierten hei den drei Söhnen schwere, körperliche Mißhandlungen und völlig ungenügende Ernährung.

Steindel gibt vor Gericht zu, gegen seine Kinder streng gewesen zu sein, aber sein väterliches Züchtigungsrecht habe er nicht überschritten, seine Kinder hätten sich auch niemals beklagt. So weit gehen also die Ansichten über die berechtigten Grenzen des väterlichen Züchtigungsrechtes! Wenn seine eigenen Kinder, ins- besondere der Albin, auf dem Polizeiamt erschienen seien und Anzeige erstattet hätten, so sei das nur auf Veranlassung von Hausbewohnern geschehen. Daß er den Kindern nicht einmal den gesetzlichen Schulunterricht habe zu teil werden lassen, bestreitet er, er gebe aber zu, daß die Allgemeinbildung bei seinen Söhnen etwas vernachlässigt worden ist; die musikalische Ausbildung nehme naturgemäß soviel Zeit in Anspruch, daß die Allgemeinbildung notwendigerweise leiden müsse. Daß sich sein ganz besonderer Zorn gegen Albin gerichtet habe, daß er denselben mit einem dicken eisernen Spazierstock auf den nackten (Gesäßteil furchtbar ge- schlagen, dem Knaben 25—30, auch 40 Hiebe hintereinander gegeben habe, daß sein Sohn, Bruno auf dem Klavier den Takt dazu spielen mußte, um das Schreien des mißhandelten Knaben zu übertönen, daß er den Albin mit den Fingernägeln sowie mit einer Klavierzange in Arm und Bauch heftig gezwickt, ihn sogar einmal mit einer Stecknadel in den Arm gestochen habe, daß er den Albin mit entblößtem Körper vor einen brennenden Ofen gestellt, so daß der Knabe in Gefahr war, zu verbrennen, daß er dann, obwohl der Körper des Albin mit Brandwunden bedeckt war, ihn noch mit einem dicken Rohr in ganz furchtbarer Weise geschlagen, daß er gedroht, ihn am folgenden Tage verbrennen zu lassen, daß er ähnliche Miß- handlungen gegen seine beiden anderen Söhne Bruno und Max verübt, dem Bruno einmal gedroht, ihn zu erdrosseln, und Max an seinem Konfirmationstag mit einem eisernen Lineal schwer auf den Kopf geschlagen, so daß die Kinder schließlich aus dem väterlichen Hause geflüchtet sind, weil sie es angeblich nicht mehr aushalten konnten, bezeichnete Angeklagter alles als »haltlosen Klatsch«, »leere Phantasie« u. dergl. m. Er habe zwar den Bruno mit einem Rohrstock geschlagen, aber der sei nicht »so arg dick« gewesen. Geflüchtet seien die Knaben nur, weil sie auf- gehetzt waren von Leuten, denen daran lag, sein Quartett zu zerstören. Auch seine Frau habe er nicht mißhandelt. Sie sei sehr gut, sie habe aber auch ihre Absonderlichkeiten. Wenn er sie einmal geschlagen habe, so sei es nur aus Liebe geschehen! Daß er seine Söhne auch einmal aufgefordert habe, ihrer Mutter ins Gesicht zu spucken, sei eine vollständige Erfindung. Der Angeklagte gıbt auf weiteres Befragen des Vorsitzenden nur zu, daß, als er im Jahre 1902 eine Komposition von Paganini mit Albin einübte, er den Knaben geschlagen habe.

Die Zeugenvernehmung bestätigte die Behauptungen der Anklage im wesent- lichen, wenn auch bei Gattin und Kinder Gatten- und Kinderliebe oder die Furcht vor dem Familientyrannen die Roheiten zu verschweigen und zu beschönigen suchten. Die Gattin des Angeklagten, nach den Zeitungsberichten eine nicht unschöne, dunkel- blonde, gedrückt und verschüchtert aussehende Frau, bemerkte, ihr Mann habe die Kinder bisweilen geschlagen, Mißhandlungen habe sie aber nicht wahrgenommen. Es sei zwischen ihr und ihrem Gatten bisweilen zu Differenzen gekommen; Mißhand- lungen habe sie aber von ihrem Mann nicht erduldet. Die Knaben seien sehr lebhaft

Trüper: Die Kunst als Grausamkeit im Leben der Kinder. 45

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gewesen, haben auch bisweilen tolle Streiche vollführt; im allgemeinen seien sie gutartig gewesen.

Während die Söhne des Angeklagten als Zeugen vernommen werden, wurde auf Antrag des Staatsanwalts der Angeklagte aus dem Saal geführt. Der 1891 geborene Max Steindel erklärt auf Befragen des Vorsitzenden, daß er sein Zeugnis verweigere. Der 1893 geborene Albin sah nach den Berichten sehr verkümmert aus. Er be- merkte auf Befragen des Vorsitzenden: »Ich sage gegen meinen Vater kein Wort.« Der älteste Sohn, Bruno, 1890 geboren, erklärte, er wolle Zeugnis ablegen. Auf Befragen des Vorsitzenden gab er zu, sein Vater sei sehr streng gewesen, sie seien aber auch sehr ungezogen gewesen und hätten viele dumme Streiche gemacht. Der Vater habe oftmals zugeschlagen, übermäßig mißhandelt habe er nicht. Ein Mann namens Deimling sei schuld gewesen, daß sie dem Vater entlaufen seien. Er habe seinen Vater bei dem Untersuchungsrichter nur in Erregung stark belastet. Er muß aber zugeben, daß er mit allerlei Gegenständen geschlagen worden ist, so daß ihm die Hände anschwollen. Albin sei allerdings zuviel geschlagen worden. Auf den Vorhalt des Vorsitzenden: Sie haben dem Untersuchungsrichter mitgeteilt, Ihr Vater habe einmal zu Albin gesagt: »Wenn du nur schon krepiert wärst«, antwortet der durch die Kunst veredelte Bursche: »Das kommt doch schließlich in den feinsten Familien vore. Auf weiteres Befragen bemerkt er: Die Schläge, die er von seinem Vater bekommen, habe er verdient. Sein Bruder Max habe nur wenig Schläge er- halten. Sein Bruder Albin habe allerdings viele Schläge erhalten, eigentliche Miß- handlungen seien es aber nicht gewesen. Vors.: Sie haben mitgeteilt, daß Ihr Bruder Albin sich entblößen mußte und daß Ihr Vater dem Albin alsdann 25, 30 bis 40 Hiebe mit einem dicken Stock versetzt hat. Sie mußten während dieser Zeit am Klavier den Takt dazu spielen? Zeuge: So arg waren die Mißhandlungen nicht; es ist richtig, daß ich während dieser Zeit Klavier spielen mußte, damit das Klatschen nicht gehört wurde. Auf weiteres Befragen bemerkt der Zeuge: Auf die Szene am Ofen könne er sich nicht mehr genau erinnern. Er sei nicht dabei gewesen. Er habe nur das Kommando: »Hosen herunter!« und Schläge gehört. Im übrigen sei er bei seinen früheren Angaben zu weit gegangen, er habe stark übertrieben, er habe es getan, um Gelegenheit zu haben, vom Vater fortzugehen, fort wollte er, weil er frei sein wollte. Vors.: Geben Sie zu, daß Ihr Vater Ihre Mutter arg mißhandelt hat? Zeuge: Nein. Vater hat meiner Mutter bisweilen ein paar Ohrfeigen gegeben, sie auch bisweilen mit einem Stock geschlagen, miß- handelt hat er sie aber nicht! Vors.: Sie haben beim Untersuchungsrichter an- gegeben, daß Ihr Vater Ihre Mutter täglich geschlagen hat. Zeuge: Das war auch Übertreibung. Vors.: Ihr Vater soll Ihre Mutter einmal drei Tage lang auf dem Boden eingesperrt haben. Zeuge: Das ist richtig, ich weiß aber nicht, wes- halb das geschehen ist. Der Zeuge gibt schließlich auf Befragen zu, daß er sich bisweilen noch in später Nacht in Wirtschaften umhergetrieben habe. Er habe auch einmal ein polizeiliches Strafmandat erhalten, weil er in einem Lokal in später Nachtstunde Klavier gespielt habe.

Der Schutzmann Hummel bekundet: Die Anzeige des Knaben habe er durch den körperlichen Befund des letzteren vollauf bestätigt gefunden. Die Knaben, insbesondere Albin, seien mit blutunterlaufenen Wunden am ganzen Körper bedeckt gewesen.

Dr. med. Obermayer gab ein ärztliches Gutachten dahin ab: Er habe die drei Söhne des Angeklagten untersucht, aber nur Albin sei mit dicken, rotunter- laufenen Striemen und auch Brandwunden bedeckt gewesen. Die Wunden seien zweifellos von heftigen Schlägen mit Stöcken hervorgerufen worden. Kaum ein

46 A. Abhandlungen.

Körperteil des Albin sei ohne Narbe oder Wunde gewesen. Einzelne Wunden seien 7—8 cm lang gewesen. Dr. med. Schwarzkopff begutachtet ebenfalls: Er habe den Angeklagten untersucht. Die Tätigkeit des Angeklagten lasse es erklärlich er- scheinen, daß er sehr nervös sei: er habe aber nicht wahrgenommen, daß seine Geistestätigkeit irgendwie getrübt sei oder daß er sich in einem Zustande befinde, wodurch seine freie Willenstätigkeit im Sinne des $ 51 des Strafgesetzbuches aus- geschlossen sei. Er halte es auch für ausgeschlossen. daß der Angeklagte in sexu- eller Erregung, das man Sadismus nenne, gehandelt habe.

Der 23jährige Kaufmann Deimling bezeugt: Er sei vom Angeklagten öfters zu den Proben, die er mit seinen Söhnen abhielt, eingeladen worden. Nach Be- endigung der Proben habe der Angeklagte seine Söhne, insbesondere den Albin, heftig mit Stöcken, Lineal, dem Rahmen einer Schiefertafel usw. geschlagen. Steindel habe die Kinder oft geschlagen. Er habe zugeschlagen, ohne hinzusehen. Die Kinder wurden oft übermäßig geprügelt. Er habe einmal gesagt, die Polizei könne ihm nichts machen, wenn er nicht gerade seinen Kindern einen Arm oder ein Bein abschlüge. Der Vorsitzende verlas darauf einen Brief Bruno Steindels an den Zeugen: »Mein Vater steht unter einer furchtbaren Anklage; er würde sehr schwer bestraft werden, wenn wir unsere Aussagen nicht abschwächen. Sage Max und Albin, daß sie nichts aussagen. Sage es auch meiner Mutter.« Vorsitzender hielt ihm vor, daß er mit diesem Brief einen Zeugen bestimmen wollte, die Unwahrheit zu sagen.

Musikdirektor Fischer bezeugt: Er habe auch bei einer Probe wahrgenommen, daß der Angeklagte seinen Sohn Albin heftig in die Seite gestoßen habe.

Pfarrer Sander: Albin sei ihm am 28. Mai d. J. in Pflege gegeben worden. Der Knabe sei nicht an Gehorsam gewöhnt, aber sonst sehr gutmütig, zutraulich und keineswegs lügenhaft. Er habe ihm erzählt, er sei von seinem Vater täglich mit Stöcken usw. ganz furchtbar geschlagen worden. Der Vater habe ihn gezwickt, mit Nadeln gestochen, ans Klavier gestoßen, ihn einmal mit entblößtem Körper an einen brennenden eisernen Ofen gestellt und alsdann, nachdem er heftige Brand- wunden davongetragen, mit einem dicken Besen auf den entblößten Körper ge- schlagen. Der Vater habe ihm auch einmal gedroht, ihn tot zu schlagen. Auf Befragen des Verteidigers bemerkt der Zeuge: Er hatte nicht den Eindruck, dal Albin übertrieben habe. Albin habe ihm auch gesagt, daß er nicht satt zu essen bekommen habe.

Pianist Schmohl hat oft den Mißhandlungen des Angeklagten beigewohnt; er habe aber auch wahrgenommen, daß die Knaben sehr unartig waren.

Lehrer Klöpffer hat dieselben Wahrnehmungen wie der Vorzeuge gemacht. Er wollte einige Male dem Angeklagten in die Arme fallen. Der Angeklagte sei aber in solch furchtbarer Erregung gewesen, daß er sich nicht abhalten ließ. Der ganze hintere Körperteil des Albin sei wie zerhackt gewesen. Das Hemd sei über und über mit Blut besudelt gewesen und klebte am Körper. Er habe dem An- geklagten daraufhin eine Vorlesung über die Grenze väterlichen Züchtigungsrechtes gehalten. Die Knaben seien allerdings sehr ungehorsam gewesen. Er habe ihnen 1903/04 wöchentlich 1'/, Stunde Unterricht gegeben, durch Konzertreisen vielfach unterbrochen. Aber ein normaler Volksschüler wisse mehr als sie. Als Albin zehn Jahre alt gewesen, habe er seinen Vater ein Stück Sch.... genannt, den er am liebsten totschlagen möchte. Wenn ich erst erwachsen bin, dann zerschlage ich alle Geigen, äußerte einmal der Knabe. Diese unerhörten Äußerungen ließen darauf schließen, daß in dem Kraben ein furchtbarer Haß müsse angesammelt gewesen sein, äbnlich wie die Hitze in einem Vulkan. Frau Steindel wurde von ihrem

Trürer: Die Kunst als Grausamkeit im Leben der Kinder. 47

Mann fast täglich geschlagen und geradezu wie eine Sklavin behandelt. In ent- sprechender Weise wurde die Mutter auch oft von den Kindern behandelt. Die Knaben sagten oftmals zur Mutter: Halts Maul!

Eine Anzahl weiterer Zeugen macht ähnliche Bekundungen. Oft habe Steindel den Albin geohrfeigt mit den Worten: »Da hast Du Deine Medaille für Kunst und Wissenschaft

Lehrer Wilde: Albin habe ihm erzählt, daß sein Vater ihn einmal mit ent- blößtem Körper an einen brennenden eisernen Ofen gestellt habe. Die Knaben seien sehr ausgelassen gewesen und haben kein gedrücktes Wesen zur Schau ge- tragen. Er habe oftmals den Proben des Angeklagten beigewohnt, er habe aber nicht wahrgenommen, daß der Angeklagte seine Söhne auch nur angerührt habe.

Lehrer Wengert-Stuttgart hat in den Jahren 1897/98 den Steindelschen Kindern Privatunterricht erteilt. Die Knaben waren damals solid, anständig und sehr naiv. Auch die Lehrer der nächsten Jahre wissen nichts Schlimmes von den Kindern zu berichten. Erst die der letzten Jahre geben an, daß die Kinder für die Arbeit kein Interesse mehr hatten und ganz verdorben zu sein schienen.

Max Steindel hat an den Staatsanwalt ein Schreiben gerichtet, in dem er alle seine früheren Angaben widerruft, Dazu bemerkt der Angeklagte: Ich stellte Max zur Rede, wie er solche Unwahrheiten sagen könne, wie er sie dem Staatsanwalt erzählt habe. Darauf schrieb Max den Brief. Er bestreitet ganz entschieden diesen Brief diktiert zu haben, er habe den Brief nur stilisiert.

Durch einen Gerichtsbeschluß wurde bereits dem Angeklagten das Erziehungs- recht über seine drei Söhne entzogen und ihnen ein Vormund bestellt. Letzterer hat gegen den Angeklagten wegen vorsätzlicher Körperverletzung seiner drei Söhne den Strafantrag gestellt.

Aus der Rede des Vertreters der Anklage, Assessor Bauer, sei noch folgendes hervorgehoben: Albin und Max Steindel haben aus Mitleid mit dem Vater ihr Zeugnis verweigert. Bruno Steindel hat aber heute anders ausgesagt als früher. Er hat einmal ganz kolossal gelogen, wahrscheinlich heute. Ja, er hat sogar ver- sucht, einen anderen Zeugen zu beeinflussen. Sein Zeugnis ist also ganz ohne Wert. Die Beweisaufnahme hat aber alle Punkte der Anklage bestätigt, Seit 1903 ist Albin mißhandelt worden. Albin ist absichtlich an den heißen Ofen gehalten werden, ferner ist er so auf den Fuß geschlagen worden, daß er keine Schuhe an- ziehen konnte. Albin ist mit Fingernägeln, Nadeln und Klavierzangen bearbeitet worden. Auch Bruno Steindel ist geschlagen worden, selbst die Ehefrau Steindel, obgleich sie keine Schmerzen gehabt haben will. Auch die Bedrohungen, die der Angeklagte gebraucht hat, sind festgestellt. Sie sind aber wohl nicht ernst gemeint, sondern nur ein Ausbruch einer brutalen Natur. Alle die Mißhandlungen sind über das zulässige Maß hinausgegangen. Die Knaben waren, mit Ausnahme von Max, zwar haarsträubend vernachlässigt, aber der Angeklagte war schuld an der Verwahrlosung der Kinder. Der Angeklagte gibt an, er habe aus seinen Kindern tüchtige Musiker machen wollen. Daher sei er manchmal zu weit gegangen. Das mag richtig sein. Er wollte seine Söhne zu Werkzeugen schnöder Geldgier machen, denn er wollte mit dem Quartett nicht nur brillieren, sondern auch Geld verdienen. Er beantragte, den Angeklagten wegen drei Vergehen der teils gefährlichen und teils einfachen Körperverletzung zu bestrafen. Was das Strafmaß anlangt, so handle es sich um scheußliche Vergehen. Steindel soll seine Söhne zu Künstlern gemacht haben, Mit diesern Künstlertum ist es nicht weit her. Die Knaben sind wohl gute Techniker, aber es fehlt ihnen zum Künstler das musikalische Empfinden. Die Technik macht

48 A. Abhandlungen.

den Künstler nicht allein. Die Knaben sind ganz verwahrlost. Es wird schwer sein, brauchbare Menschen aus ihnen zu machen. Daran ist der Vater schuld! Er hat sich auch gegen die gesetzlichen Bestimmungen bezüglich des Schulunterrichts vergangen. Moralisch ist das Verhalten des Angeklagten schwer zu verdammen. Er hat den Kindern keine Herzensbildung in der Familie gegeben. Daher ist zu fürchten, daß sie keine gute Zukunft haben werden. Das ist beim Strafmaß zu berücksichtigen. Er beantrage den Angeklagten mit einem Jahr Gefängnis zu bestrafen.

Der Verteidiger, Rechtsanwalt Dr. Laiblin, bemüht sich zwar nachzuweisen, daß die Presse die Sache sehr aufgebauscht und den Angeklagten auf eine Stufe mit dem bekannten Dippold gestellt habe. Die Angaben der Söhne des Angeklagten seien auch nicht als durchweg glaubwürdig zu erachten, zumal die Knaben sich in einem Alter befinden, in dem die Phantasie stark ausgebildet sei. Der Verteidiger verliest Kritiken über das Quartett Steindel im »Figaro« usw., wonach das Quartett in Paris rauschenden Beifall gefunden und die Söhne von der Großfürstin Wladimir von Rußland geküßt worden seien. Der Angeklagte hatte im Auge, immer größere Erfolge zu erzielen. Diesen Maßstab müsse man bei der Strafzumessung in Betracht ziehen. Der Angeklagte bemerkt noch: Er habe nur immer das Wohl seiner Kinder im Auge gehabt und bitte um seine Freisprechung.

Das Urteil lautete: Der Angeklagte Steindel wird wegen fortgesetzter ge- fährlicher Körperverletzung seines Sohnes Albin und wegen gefährlicher Körper- verletzung seines Sohnes Bruno zu einer Gesamtgefängnisstrafe von 7 Monaten drei Tagen und den Kosten des Verfahrens verurteilt.

In der Begründung wurde hervorgehoben: Die Knaben sind beim Unter- richt mißhandelt worden unter Überschreitung des väterlichen Züchtigungsrechtes. Der Fall mit dem Ofen ist nicht verjährt. Es handelt sich dabei um eine vorsätzliche Körperverletzung. Ebenso wurde in Anrechnung gezogen der Schlag gegen Albins Fuß und der Stoß gegen das Klavier. Auch das Klavier sei ein gefährliches Werk- zeug. Ebenso wird in Anrechnung gezogen das Schlagen Brunos und Albins mit einem Spazierstocke um Weihnachten 1906. Der Angeklagte hat das väterliche Züchtigungsrecht weit überschritten. Der Angeklagte war wegen eines fortgesetzten Vergehens der Körperverletzung gegen Albin und eines Vergehens gegen Bruno zu bestrafen. Bei der Strafbemessung wurde die leichte Erregbarkeit des An- geklagten mildernd in Betracht gezogen. Erschwerend war, daß er seinen Söhnen jede Erziehung fehlen ließ. Ein Grund seines Handelns war auch der, seine Kinder auszunützen, allerdings auch, um sie hochzubringen.

So viel über die tatsächlichen Geschehnisse. Sie weisen den Ver- treter der Kinderforschung und Jugendfürsorge auf ein noch psychologisch ziemlich brachliegendes Gebiet des Studiums und der Fürsorge. Ein paar Fragen seien hier angedeutet.

1. Das Bayreuther Schwurgericht verurteilte den Sadisten Dippold wegen monatelanger unmenschlicher Mißhandlung zweier Knaben, deren Erzieher dieser unerzogene Student sein sollte, zu acht Jahren Zuchthaus. Er war be- zahlter Knabenführer, die Eltern konnten ihn jederzeit entlassen und da- mit die Knaben von der grausamen Mißhandlung befreien. Das Elend, welches die Grausamkeit eines Vaters verursacht, kann erst durch einen Akt des Vormundschafts- oder des Strafgerichts beendet werden. Mußte die Mißhandlung denn aber so viele lange Jahre sich hinschleppen, ehe eine

Trüper: Die Kunst als Grausamkeit im Leben der Kinder. 49

rettende Stimme sich erhob? Zu den Verhandlungen drängte das Publikum sich in dichten Massen. Warum regte sich vorher keine aktive Teil- nahme?

2. Dippold war ein durch Alkohol und vielleicht auch durch Dirnen ver- rohter und pathologisch gewordener Student. Die Mißhandlungen waren eher begreiflich. Steindel ist leibhaftiger Vater und königlicher Musik- direktor in Amt und Würden, sogar mit Orden dekoriert. Er trieb die Brutalität gegen seine leibhaftigen Kinder unter Klavierbegleitung nach dem Takte und in einer Rcheit, welche die der Dippoldschen fast überragte. Bei verkommenen Alkoholisten findet man nicht selten solche Gefühlsroheit. Ich entsinne mich aus meiner Jugend eines Vorkommnisses, wo Mutter und Kinder die Flucht ergriffen, wenn ein sonst wohlbegüterter Bauer nachts betrunken heimkehrte. Im andern Falle konnte jene erwarten, daß sie als Gattin vor ihm nach der Peitsche tanzen mußte, wie das Pferd im Cirkus und daß die Kinder sich der Mißhandlung mit jedem beliebigen Gegenstande aussetzen mußten. Erst der Katerzustand ließ väterliche Ge- fühle wieder wach werden, die den Unmenschen dann trieben, die Familie wieder zurückzuholen. Das Gericht hat die Frage nach dem Alkohol- genuß des königlichen Musikdirektors nicht anfgeworfen. Vielleicht lag der Fall hier ähnlich, daß der Alkohol die Liebe zum Kinde, die wir väterlichen Lebewesen nach Möbius ja ohnehin schon in ganz erheblich geringerem Grade als die Mütter vermöge unserer Gehirngestaltung be- sitzen sollen, vollends lahm legte oder ins Gegenteil verkehrte. Diese Frage zu beantworten, hätte ein weitgehendes sozialpsychologisches Interesse.

3. Nicht um ein begreifliches, vorübergehendes Aufbrausen und Drein- fahren eines nervösen Menschen handelt es sich, sondern um eine jahre- lang ausgeübte Roheit, die Steindel hinterdrein damit begründete, daß er »>hohe Anforderungen« an das musikalische Können seiner Kinder stellte. Das übrige Können seiner Söhne war dem Vater gleichgültig. Die Schulbildung ließ er sie verabsäumen. In der Gesinnung ließ er sie eben- falls ungestraft verrohen und verwildern. Gelderwerb und Befriedigung des künstlerischen Ehrgeizes waren die moralischen, bewußten Triebfedern seines Handelns. Und das Frgebnis dieser Sklaverei wird mit Orden belohnt. Eine Großfürstin umarmt und küßt diese erprügelten musi- kalischen Wunderkinder. War denn keiner da, der einmal nach dem Elend solcher zur Schau gestellten Kinder fragte und forschte?

4. Durch die Bestrebungen des anfangs viel angefeindeten Agahd ist es gelungen, reichsgesetzlich die Kinder der Armen vor gewerblicher Aus- beutung durch Arbeitgeber wie durch die eigenen Eltern zu schützen, selbst wenn die bitterste Not der letzteren die Kinder zur Erwerbsarbeit drängt. Müssen denn solche Kinder nicht auch geschützt werden? Oder dürfen sie ausgebeutet werden, weil sie dem Genusse der oft Nurgenießenden unserer Gesellschaft dienen? Gilt ein solcher Genuß mehr als die Milderung bitterer Nahrungssorgen, welche arme Kinder zu Überanstrengungen und gewerblicher Arbeit treibt? Auch das Gericht hat die Frage der gewerb- lichen Ausbeutung hier nur gestreift.

Zeitschrift für Kinderforschung. XIII. Jahrgang. 4

50 A. Abhandlungen.

Man sage nicht, der Fall Steindel gehört zu den Seltenheiten. Ich will nur erinnern an das Heer von Kindern, welches der niedern Kunst der sogenannten Artisten wie den Bühnenkünsten aller Art ihr Kinderglück und ihren Kindersinn opfern müssen, um dafür Mißhandlungen ein- zutauschen. Es wäre dem Stuttgarter Vorkommnis manches Beispiel an die Seite zu setzen, das keine Strafkammer enthüllt. Auch das, was dem Klavier den Namen »Marterwerkzeug« verschafft hat, gehört hierher.

Als Vertreter der Kinderforschung und Jugendfürsorge sind wir verpflichtet, einmal nachdrücklich unsere Freunde auf dieses Forschungs- wie Fürsorgegebiet hinzuweisen. Diese Fragen gehören vor allem mit in das von Professor Stern unlängst als brachliegend bezeichnete Gebiet der Erforschung übernormal begabter Kinder.

5. Diese Mißhandlungen wurden begünstigt durch die Überwertung der musikalischen Kunst, insbesondere seitens der sozial höchstgestellten Schichten, eine Überwertung »Künstlerischen«, die seit einiger Zeit auch in der Pädagogik sich Geltung zu verschaffen sucht, indem man an Stelle des ethischen und ıeligiösen Maßstabes den künstlerisch-ästhetischen für die Beurteilung der Bildungsstoffe fordert, und indem man damit zugleich den Glauben an eine absolute Wertschätzung preisgibt und in der Er- ziehung jedem Subjektivismus Tür und Tor öffnet.

Auch Steindels Brust ziert Orden, und die Großfürstin eines Landes, in dem Millionen schmachten und innerlich wie äußerlich ver- kommen, küßt diese Knaben und ahnt nicht, durch welche Grausamkeit ihr der Genuß verschafft wurde. Moralisch verkommene Schauspieler, Schauspielerinnen und Tänzerinnen erfahren nicht selten gleiche Ehre und Verehrung. Wie wird dagegen wahre sittliche Hoheit und Leistung von manchen Herren der Welt seit je gewertet!

6. Es bedarf schließlich wohl keiner weiteren Darlegung, inwieweit die Vorgänge in Familien, wo die Dippolds Erzieher sein können, wie in der Familie Steindel, wie sie uns die Gerichtsverhandlung enthüllte, in einem kausalen Zusammenhange stehen mit der Wertschätzung der Pädagogik als Wissenschaft nach Theorie und Praxis an den deutschen Universitäten und damit in den Parlamenten und ım gesamten öffent- lichen Leben der Gebildeten und Machthabenden. Es treten uns hier manchmal Ansichten über Erziehung der Jugend entgegen, die jeden Nationalgesinnten mit ernster Sorge erfüllen müssen. Und in der Öffent- lichkeit können manchmal unter lautem Beifall Männer und namentlich auch Frauen den Ton in Schul- und Erziehungsfragen angeben, die keine Ahnung davon haben, daß ein ernstzunehmendes Urteil auf diesem Gebiete, genau wie auf theologischen, juristischem und medizinischem, ein viel- seitiges wissenschaftliches Studium voraussetzt, die nach der praktischen Seite hin weder selbst Kinder legitim gezeugt oder geboren und mit Erfolg erzogen haben noch jemals in der Erziehung und Schulung fremder sich erfolgreich versuchten. Ja, mancher besitzt dann noch obendrein den Mut, der Berufspädagogik Erfahrung, Wissenschaft und Humanität ab-

1. Kindererziehung auf dem Lande. 51

zusprechen, während man auf dem eigenen Berufsgebiete jede Mitbetätigung Fremder als Laientum und Kurpfuschertum schroff abweist.

Diese Zustände haben im tiefsten Grunde ihre Ursache in der Ver- nachlässigung der Pädagogik und ihrer Hilfswissenschaften an den Uni- versitäten. Das muß immer wieder hervorgehoben werden.

Nachtrag. Ais das Vorstehende bereits gesetzt war, wurde vor einer Berliner Strafkammer ein dem Fall Steindel an Grausamkeit gleich- stehendes Vorkommnis in einer ärztlichen Familie verhandelt, das in der Öffentlichkeit und insbesondere in der Tagespresse fast noch mehr Sensation erregte. Wir bedauern, diesen Fall unsern Lesern hier nicht mehr mitteilen zu können. Er würde uns sonst zu denselben Fragen von einer andern Seite führen.

B. Mitteilungen.

1. Kinderziehung auf dem Lande. Von W. J. Ruttmann.

Es ist an dieser Stelle unnötig, erst darauf hinzuweisen, welch sieg- haften und gesicherten Weg die moderne Kinderforschung zu beschreiten begriffen ist. Wohl hat es eines Jahrhuuderts bedurft, bis schließlich die Einsicht sich Bahn gebrochen, daß wir Erwachsenen die Erziehung nicht zu machen, sondern bloß zu leiten haben. Die moderne Welt ist auch bei der bloßen Einsicht nicht stehen geblieben; Tausende von praktischen Versuchen und Maßnahmen dienten dazu, entweder die vulgär gewonnenen Ergebnisse zu prüfen oder sie dann ins Leben über- zuführen. Die zahlreichen Arbeiter auf dem Felde der Kinderforschung, ihre Begründer und ihre Mithelfer, sie dürfen sich rühmen, die schönen und idealen Erfolge ermöglicht zu haben, die allenthalben auf dem so reichen Gebiete der Erziehung erzielt werden. Und es kann ja der Erfolg nicht ausbleiben! Die Bearbeitung ist eine derart vielseitige und durch- dringende, daß es nahezu unmöglich scheint, einen bedeutenden Punkt zu übersehen. Die Erfolge sind heute schon in dem Maß gesichert, daß sich die allgemeine Pädagogik ihrer bemächtigt: unsere Hilfsschulorganisationen sind ein augenscheinlicher Beweis dafür.

Obwohl nun die Kinderforschung ihre Arme nach allen Seiten aus- gebreitet hat und alles in ihr segensreiches Bereich zu ziehen versucht, so hat sie doch auch ein recht stiefmütterlich behandeltes Pflegevertrautes: das ist das Landkind. Alle Probleme, alle Experimente, die ich je ver- folgen konnte, drehen sich um das Kind der städtischen Bevölkerung. Die Sache hat einen natürlichen Hintergrund. Wer in der Stadt die Be- obachtungen und Forschungen anstellt, das wissen wir; aber wer be- schäftigt sich auf dem Lande mit derartigen Studien? Die Fälle sind sehr

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52 B. Mitteilungen.

vereinzelt und schon deshalb selten, weil, wie es mir scheint, kaum je- mand daran denkt. daß wir es hier mit denselben Menschenkindern zu tun haben. Oder sollte jemand glauben, daß es diese Kinder nicht bedürften oder das keine Aussicht auf Erfolg bestände? Der geneigte Leser wolle sich diese Frage am Schlusse selbst beantworten; denn diese Zeilen sollen auf das Elend des Landkindes aufmerksam machen. Es kann wohl sein, daß hier und da eine ländliche Bevölkerung anzutreffen ist, der die Vorwürfe nicht gelten mögen, die der Verfasser zu machen gedenkt, allein dieser Fall wäre ja nur zu wünschen. Soweit es im Gesichtskreise des Verfassers liegt, kann an eine derartige Möglichkeit für den Durchschnitt nicht gedacht werden. Seine Erinnerungen aus der Kindheit, die er auf dem Lande verbracht, wie auch seine Studien, die er in ländlicher Um- gebung gemacht hat, ermöglichen es ihm, auf die Umstände der Kinder- erziehung auf dem Lande hinzuweisen. Möge der geduldige Leser nicht davor zurückschrecken, wenn ihm auch manchmal mit etwas ländlicher Plastik begegnet wird; man muß die Dinge in ihrer Wahrheit sehen, sonst kann man sie nicht beurteilen.

1. Engelmacherei.

Das ist eine der vornehmsten Errungenschaften unserer modernen Pädagogik, daß sie sich daran gewöhnt hat, die Übel an der Wurzel zu packen und ohne jede Prüderie die mißlichen Zustände aufzudecken. Vieles verschwindet durch solche Methode schon aus dem Kreise des Daseins, sobald es das grelle und bakterientötende Sonnenlicht erblickt. Auch ich möchte zunächst in meiner Betrachtung zurückgehen auf Gräberfelder, wenn man so sagen will, und Winkel beleuchten, die ein unheimliches und unmenschliches Dasein beschützen.

Daß auf dem Lande jenen bedeutungsvollen Vorgängen -und Zeiten der Zeugung und Schwangerschaft nicht mit Verständnis und Rücksicht begegnet wird, ist selbstverständlich. Einsichtige Ärzte haben gezeigt, daß ein großer Teil des Degenerationspostens auf Sitten und Gebräuche zurückzuführen ist, die naturwidrig sind, zwar früher auch existierten, aber von einem kräftigeren und mit Arbeit weniger belasteten Menschen- geschlechte bis zu einem gewissen Grade unschädlich gemacht werden konnten. Nicht zur Zeit seiner besten Kraftäußerung im Sommer, sondern zur Zeit körperlicher Schlaffheit und Geistesträge, im Winter, zeugt der Bauer seine Kinder. Dem kann entgegnet werden, daß dies wohl mit der Arbeitslast zusammenhänge. Es ist aber an normalen Fällen das Ergebnis zu beobachten, daß gerade Kinder, die zur Sommerzeit gezeugt wurden, eine außerordentlich gedeihliche Entwicklung genommen haben. Der Lebensimpuls war beim Manne ein stärkerer und auch die Bedingungen der Schwangerschaft stellten sich günstiger, weil diese in eine arbeits- ruhige Zeit fällt. Denn während die außereheliche Mutter auf dem Lande, von der Umgebung verachtet und allenthalben noch ausgeschlossen, Muße hat, sich zu pflegen, verlangt der Bauer von seinem Weibe bis in die letzten Tage der bedeutungsvollen Zeit hinein, daß es arbeitet wie er und

l. Kindererziehung auf dem Lande. 53

auf seinen Zustand keine Rücksicht nimmt. Trotz dieser Hindernisse ist durchschnittlich der Verlauf der Geburt ein normaler, was auf die Ab- härtung der Landbewohner zurückzuführen ist; ja der Fall ist nicht selten, wo die Frau einen Tag darnach schon wieder der Sorge um ihren Haus- halt obliegt.

Aber hier erst beginnt der Frevel an den Kindern der Landbewohner, der einer weiteren Öffentlichkeit unbekannt sein dürfte. Wie überall, so kommen auch auf dem Lande Kinder zur Welt, die nicht mit jener Lebens- fähigkeit ausgerüstet sind, die nötig ist, um die Härte des ländlichen Da- seins zu überstehen. Nun gibt es Gegenden, in denen die äußerst unver- nünftige Sitte herrscht, die Kinder nicht zu stillen, sondern ihnen statt der natürlichen Nahrung allerhand Plunder zu verabreichen. Viel davon wird auf Rechnung der ländlichen Bequemlichkeit zu setzen sein, den Hauptgrund bildet aber wieder die Verhinderung an der Arbeit, die natür- lich eine Folge geregelter Mutterpflicht sein muß. Der Verfasser konnte erst vor einigen Wochen wieder einen derartigen Fall beobachten, die Mutter entbindet unter den leichtesten Umständen ein schwächliches Kind. Sie selbst ist nach etlichen Tagen wieder arbeitsfähig, versagt nun dem Kinde auch die natürliche Nahrung (Erntezeit!. Es wird ihm immer eine Art von Brei gereicht, der in einer Weise zubereitet ist, die nicht zu den schmackhaftesten und gesündesten gehört, wobei auch jegliche hygienische Sorgfalt außer acht gelassen wird. Die Folge davon ist natürlich ein heftiger Brechdurchfall. Das arme Wesen kommt schließlich so weit, daß es nichts mehr zu sich nehmen kann, und magert in 4—5 Tagen zum Skelett ab, verhungert, um deutsch zu schreiben. Nach dem Tode eines solchen Kindes äußern sich dann die Eltern, daß es halt der Wille unseres Herrgottes gewesen sei usw., und ihr Kummer dauert eigentlich nicht lange. Es hat eben nach ihrer Meinung so sein sollen. Aber das ist Engelmacherei in des Wortes schlimmster Bedeutung.

Bestätigt werden diese Zustände durch aufmerksame Gebildete, die auf dem Lande leben: Man ist in ihren Kreisen allgemein der Ansicht, daß jene Kinder, welche die drei, vier ersten Jahre des Lebens überstehen, wirklich zäh sind und den Bedingungen der ländlichen Kultur entsprechen. Aber dem Mißstande könnte schon in irgend einer Weise abgeholfen werden. Ich verweise auf das Vorgehen der Rheinischen Gummi- und Celluloid- Fabrik (Bensinger, Mannheim-Neckarau), welche für ihre verheirateten Arbeiterinnen folgende Bestimmungen getroffen hat:

»Es herrscht vielfach noch Unklarheit darüber, welche Rechte unsere Arbeiterinnen und die Frauen unserer Arbeiter gegenüber der Kranken- kasse und der Fabrik haben. Es ist ungemein wichtig, daß die Wöchne- rinnen auf ihre eigene Pflege und Ernährung, und auf die Pflege und Er- nährung der Säuglinge den größten Wert legen. Was in den ersten Wochen oder Monaten verfehlt wurde, kann oft im ganzen Leben nicht mehr gutgemacht werden. Das Allerwichtigste aber ist, daß die Mutter, wenn es irgend geht, ihre Kinder selbst stillt, und zwar so lange es nur irgend geht. Dies ist Naturgesetz und die heiligste Pflicht jeder Mutter,

54 B. Mitteilungen.

und sie soll nichts unversucht lassen, dieser Pflicht nachzukommen. Im Selbststillen liegt die Gesundheit für Mutter und Kind. Wir selbst wollen es an außerordentlichen Leistungen nicht fehlen lassen, um unsere Arbeiterinnen bei dieser schweren, aber dankbaren Pflicht zu unterstützen. Zur Information unserer Arbeiterinnen wollen wir hier kurz zusammenfassen, welche Hilfe den Arbeiterinnen zur Verfügung steht:

1. Vor der Entbindung. Die Krankenkasse leistet drei Wochen lang vor der Entbindung Unterstützung in der Höhe des vollen Kranken- geldes unter folgenden Bedingungen: 1. die betreffende Arbeiterin muß sich darum durch Antrag bei der Krankenkasse bewerben; 2. die betreffende Arbeiterin muß mindestens neun Monate der Krankenkasse angehört haben. Damit die Frauen in allen Fällen, in denen es nötig ist, von dieser Ein- richtung reichlich Gebrauch machen können, gewähren wir so viel als Zulage zu diesem Krankengeld, daß während der ganzen Zeit der volle Lohn bezahlt wird.

2. Kosten der Entbindung. Die Hebamme wird nicht bezahlt, wenn aber ein Arzt zugezogen werden muß Entbindung oder zur ferneren Behandlung, daun kommt die Krankenkasse für die Kosten auf. Außer- dem steht für außerordentliche Kosten und in besonderen Notfällen die Stiftung zur Verfügung, welche mit reichlichen Mitteln ausgestattet ist und vom Arbeiterausschuß verwaltet wird. In diesem Arbeiterausschuß sind auch zwei Frauen, und diese werden es sich gewiß angelegen sein lassen, für eine besondere Unterstützung aus der Stiftung zu sorgen, da wo es not tut.

3. Die ersten sechs Wochen nach der Entbindung. Die Wöchnerinnen haben Anspruch auf das volle Krankengeld, welches be- kanntlich beträgt: bei Tagesverdienst bis M 1,50 tägliches Krankengeld M 0,75; bis M 2,— M 1—; über M 2,— M 1,25. Dieses Kranken- geld wird auf die Dauer von sechs Wochen gewährt. Damit die Frauen sich aber selbst besser pflegen und ihre Kinder pflegen können, besonders damit die Frauen während dieser sechs Wochen selbst stillen, legen wir zu diesem Krankengeld als freiwillige Gabe so viel zu, daß der ganze Lohn verdient ist, daß also die Frauen während dieser ganzen Zeit keinen Verlust erleiden. Außerdem stehen den Frauen zwei Pflegeschwestern zur Verfügung, welche jederzeit auf mündliche oder schriftliche Bestellung zu haben sind. Diese Schwestern sind in Wochenbettpflege und in Hauspflege ausgebildet und geprüft; sie besorgen nicht nur die Wöchnerinnen und den Säugling, sondern sie besorgen insbesondere auch die anderen Kinder, besorgen die Küche, mit einem Wort, den ganzen Haushalt so lange, bis die Wöchnerin sich wieder um ihren Haushalt selbst bekümmern kann. Die Schwestern haben eine kleine Handkasse, aus welcher besondere dringende kleine Ausgaben bestritten werden können.

4. Die ersten vier Monate nach der Entbindung. Wenn sich die Wöchnerin nach sechs Wochen noch nicht arbeitsfähig fühlt, dann sollte sie sich nicht zur Arbeit melden, sondern zum Kassenarzt

1. Kindererziehung auf dem Lande. 55

gehen; auf ärztliche Bescheinigung hin wird sie von der Krankenkasse weiter ausgesteuert, so lange bis sie wieder arbeitsfähig ist. Aber auch wenn die Arbeiterin nach Ablauf der sechs Wochen wieder zur Arbeit geht, soll sie in dem Bestreben, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, nicht vergessen, daß es ihre heiligste Pflicht ist, ihren Säugling selbst zu stillen. Um dieses zu unterstützen, gewähren wir den Arbeiterinnen, welche selbst stillen, bis zum vollendeten vierten Monat eine Verlängerung der Pausen, welche zum Stillen genügt, unter Zahlung des vollen Arbeitsverdienstes. Zu diesem Zweck werden verlängert: die 9 Uhr-Pause auf 1 Stunde, die Mittagspause auf 2 Stunden, die 4 Uhr-Pause auf 1 Stunde. Unsere Arbeiterinnen ersehen hieraus, daß wir unser möglichstes getan haben, um zu ihrem und der Kinder Wohl beizutragen; die Arbeiterinnen werden nun ihrerseits besser in der Lage sein, zum Wohl ihres Kindes und da- mit zum Wohl der Allgemeinheit das Ihrige zu tıun.«

Die Erfolge dieser Anordnungen sind verblüffende. Seit der Ein- führung ist kaum ein halbes Jahr verflossen. Trotzdem wurde unter den 200 verheirateten Arbeiterinnen der Fabrik die Wöchnerinnenzulage immer, 32 mal, erbeten und gewährt. Alle Säuglinge wurden selbst gestillt und blieben dem Leben erhalten. Auch für die Mütter selbst hat sich die Maßnahme als äußerst hygienisch erwiesen.

Wohl sind auf dem Lande organisatorische Vorkehrungen in diesem Maßstabe ausgeschlossen; allein es muß schon als Ziel gekennzeichnet werden, den gesetzgebenden Korporationen allmählich die Einsicht für die Notwendigkeit ordnender Bestimmungen zu vermitteln, soll die Degene- ration auf dem Lande nicht auch jenen Umfang annehmen, den sie in manchen Großstädten erreicht hat. Die Ausbildung der Hebammen, mit der ja allenthalben begonnen wird, darf wohl als erster Schritt zu jenem Ziele angesehen werden.

2. Milchwirtschaft und Kinderernährung.

Nun komme ich in meiner Betrachtung zum Erbfeinde eines gesunden Menschengeschlechts, zum Alkohol.

Rousseau hat vor etwas mehr als einem Jahrhundert in der Beant- wortung der bekannten akademischen Preisfrage die Kultur und ihren Fortschritt als menschenvernichtend bezeichnet. Trifft dies harte Wort den allgemeinen Weg der Kultur doch wohl nicht, so findet es seine Richtig- keit doch teilweise in einer Kulturbewegung unserer Zeit, in der so- genannten Milchwirtschaft. Verzeihe mir der geneigte Leser, wenn ich ihm scheinbar eine »ökonomische« Epistel aufdränge! Zur Zeit meiner Kindheit wurde von der Landbevölkerung die Viehzucht mit ganz vulgären Betriebsmitteln ausgenutzt. Milch wurde im eigenen Haus auf die ver- schiedenste Weise zubereitet, und die ländliche Familie baute ihren ge- samten Haushalt und die Mittel der Ernährung auf die natürliche Milch- wirtschaft auf. Wohl gab es da für die Hausfrau viel Arbeit, und wohl war Umsicht und Reinlichkeit nötig. Dafür gab es aber auch für die Kinder frische und gesunde Nahrung in Hülle und Fülle, und uns Rangen

56 B. Mitteilungen.

sah man damals keine Not an; mit festen und frischen Wangen sprangen wir umher.

Nun hat sich in den letzten Jahrzehnten in den Bezirken, wo Vieh- zucht im großen Maßstabe getrieben wird, das Molkereiwesen reichlich ver- breitet, und in meinem Heimatsorte mit knapp 400 Einwohnern wird monatlich für etwa 1300 M Milch an die Molkerei abgegeben. Die Leute bekommen auf die Weise ohne Mühe Bargeld in die Hände und das Phlegma des Viehbauern zieht immer derartige Gütererwerbung einer ge- sünderen vor. Die Bauern erhalten aber auch noch etwas anderes, und das ist der Restbestand bei der Milchverwertung auf maschinellem Wege, die Magermilch. Sie enthält nachgewiesenermaßen gar keine Nährstoffe, nicht einmal den Schweinen ist eine derartige Nahrung zuträglich. Trotz- dem wird sie nun vom Landmann zur Ernährung seiner Familie verwendet. Welche Folgen diese Vorgänge haben, bedarf keiner Erläuterung. Dazu kommt aber eine neue Gefahr, welche mit der Milchkultur herauf- beschworen wurde. Statt der gesunden Milch, die den Kindern früher zu den Mahlzeiten gereicht wurde, bekommen die Kinder Bier. Ja, alt und jung, gewöhnt sich an den regelmäßigen Genuß des Bieres. Bestätigt wird diese Tatsache durch den Bierverbrauch der ländlichen Wirtschaften. Während dieser früher auf eine verhältnismäßig kleine Ziffer pro Kopf der Bevölkerung sich erstreckte, erreicht er jetzt in mancher Gemeinde eine erschreckende Höhe. Vielleicht ist es mir möglich, gelegentlich ein- mal mit genauen Zahlenangaben dienen zu können.

3. Das Landkind in der Schule.

Die Ackerbau treibende Bevölkerung ist vom hohen Wert einer guten Schulbildung größtenteils noch nicht überzeugt. Man hielt die Schule auf dem Lande vielfach für einen staatlichen Zwang, der besser nicht vor- handen wäre. Besonders unter Landbewohnern ist freilich die Erinnerung an die »alte Zeit« der Schule noch vorhanden. Allein der Bearbeiter der Erde ist schon deshalb nicht auf eine gute Schulbildung aus, weil ihm die finanzielle Konkurrenz fehlt und die Schule ihm scheinbar Arbeits- kräfte entziehen will. Wohl trifft dieser Zustand nicht alle Gegenden ; namentlich die deutschen Mittellande sind z. B. den schwäbischen und ostpreußischen Gebieten um ein halbes Jahrhundert voraus. Auch stehen sich hier oft protestantische und katholische Volksstämme gegenüber. In einem Punkte ist nun freilich bei einem Teile, dem wohlhabenden, der katholischen Bevölkerung eine zweckmäßige Fürsorge getroffen, und das ist das Kindergartenwesen katholischer Erziehungsorden. In Orten, welche mit derartigen Einrichtungen gesegnet sind, ist auch die Verwahrlosung der Kinder keine so große und soweit in das erste Alter zurückreichende. Dies kann am leichtesten festgestellt werden, wenn man den Zustand der Kinder beim Eintritt in die Schule prüft. Wohl sind auch auf dem Lande schon vereinzelt diese Versuche angestellt worden; aber es sind ihrer zu wenig, als daß irgend ein Schluß daraus gezogen werden könnte. Folgende Fragen müßten in erster Linie Berücksichtigung finden:

1. Kindererziehung auf dem Lande. 57

Die körperliche Beschaffenheit der Kinder (Größe, Kopfumfang, Brust- weite, Sehvermögen Cohnsche Messung —, Gehör, körperliche Abnor- mitäten, Krankheiten);

Der Gedankenkreis der Kinder (Prüfungen analog den Experimenten Hartmanns);

Die Sprache der Kinder (typische Lautuntersuchungen, dialektische Formen der Kindersprache);

Die Gewohnheiten der Kinder (Reinlichkeit, Kleidung, Verhalten gegenüber den natürlichen Ausleerungen)

Der sittliche Stand der Kinder (Lüge, Eigensinn, Stehllust, Verleum- dungssucht, moral insanity, Aufklärung über das Geschlechtsleben);

Feststellung der Schwachsinnigen und nähere Beurteilung ihres Schwachsiuns mit Rücksicht auf die anderen Schüler usw.

Die Ergebnisse solcher Untersuchungen, zusammen mit den ersten Fortschritten in der Schule werden uns ein deutliches Bild von den Fähigkeiten unserer Landäkinder geben. Der Fortschritt der Kinder wird allerdings auf dem Lande wieder durch verschiedene soziale Mißstände gehemmt. Ich habe oben schon auf den Genuß des Bieres verwiesen. Die Landbevölkerung ist bei weitem von der Gefahr gar nicht überzeugt, ja sie ist ihr unbekannt, so daß die Meinung herrscht, das Bier sei ein recht gesundes Getränk für die Kinder. Dazu kommt noch ein bedeutender sozialer Faktor: Der Mißbrauch der kindlichen Arbeitskraft in der Land- wirtschaft. Wir haben wohl ein Kinderschutzgesetz, allein dasselbe greift nicht energisch genug in das Familienleben ein. So ist es gewissenlosen Eltern möglich, ihre Kinder im eigenen Berufe in einer Weise aus- zunützen, die unbedingt verworfen werden muß. Wie sich das Kind in der Schule weiter entwickelt, hängt meines Erachtens von noch einem bedeutenden Umstande ab, von der sittlichen Seite des Landlebens. Auch darüber müssen Erhebungen gemacht werden, wenn wir genaue Einsicht erhalten wollen. Zuletzt kommen noch alle die Punkte in Betracht, die an normalen Menschen Anlaß zu pädapsychologischen Untersuchungen geben und die in solcher großer Anzahl vorhanden sind, daß nicht auf sie hingewiesen werden muß,

Meine Betrachtung war problematisch. Das Landkind bietet ein ganz außerordentlich reiches Material zur Kinderforschung und Ärzte, Pädagogen, Juristen mögen sich an der Bearbeitung beteiligen. Dann kann auch das Landkind den Segen der beiden Ziele unserer Kinderforschung, genießen: Zunächst ist eine genaue Prognose des Zustandes zu ermitteln, nach der dann die ländliche Pädagogik ihre Aufgaben und Methoden entsprechend zu gestalten hat.

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58 C. Literatur.

C. Literatur.

Führer durch die Literatur des Hilfsschulwesens. Bearbeitet von Mittelschulrektor Dr. B. Maennel, Halle a/S. (Schluß.)

Hanke, »Bedeutung der Hilfsschulen in pädagogischer und volkswirt- schaftlicher Hinsicht.« Ber. üb. d. III. Verb. d. H. D. u. Z. f. d. Beh. Schw. u. Ep. 1901, 6.

H. Kielhorn, »Der schwachsinnige Mensch im öffentlichen Leben.« Ber. ü. d. VI. Konf. f. Idiotenwesen u. Z. f. d. Beh. Schw. u. Ep. 1889, 9/10.

H. Kielhorn, »Zum Schutze körperlicher und geistig belasteter Kinder.« Z. f. d. Beh. Schw. u. Ep. 1893, 8.

Kalischer, »Über die Fürsorge für schwachbegabte Kinder.« Allgem. Zeitschr. f. Psych. 1901, 743.

A. Schenk, »Über den gegenwärtigen Stand der Fürsorge für die aus den Hilfsschulen entlassenen Kinder in unterrichtlicher und prak- tischer Beziehung.« Ber. üb. d. V. Verb. d. H. D. u. Z. f. d. Beh. Schw. u. Ep. 1905, 6 u. Die Hilfsschule No. III.

J. Petersen, »Die öffentliche Fürsorge für die hilfsbedürftige Jugend.« Leipzig, Teubner, 1907.

H. Gutzmann, »Die soziale Fürsorge für sprachgestörte Kinder.« Ber. üb. d. Kongreß f. Kinderforschung u. Jugendfürsorge.«e Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1907.

A. Gündel, »Zur Organisation der Geistesschwachenfürsorge.« Halle, Marhold, 1906.

B. Der Hilfsschüler in der Fortbildungsschule.

W. Busch, »Fortbildungsschulklassen für die aus Hilfsschulen entlassenen Knaben.« Die Hilfsschule No. IV.

A. Heilmann, »Die Fortbildungsschule für Schwachbegabte.« Z. f. d. Beh. Schw. u. Ep. 1907.

A. Fuchs, »Die Fortbildungsschule für Schwachbeanlagte« Ber. üb. d. VI. Verbandstag d. H. D.

C. Der ehemalige Hilfsschüler in der Arbeitslehrstätte.

W. Kölle, »Wie sind Erziehung und Unterricht in den Hilfsklassen für Schwachbegabte und in den Spezialklassen für Schwachsinnige zu ge- stalten, gamit die Kinder für den Broterwerb befähigt werden?« Für welche Berufsarten eignen sie sich am besten? Z. f. d. Beh. Schw. u.

Ep. 1901. »Arbeitslehrkolonie für schulentlassene schwachbefähigte Knaben, insbesondere für ehemalige Hilfsschulzöglinge« Z. f. Schulges. 1904, 2/3. L. Laquer, »Die ärztliche und erziehliche Behandlung

von Schwachsinnigen in Schulen und Anstalten und ihre weitere Ver- sorgung.«< Sommers Klinik für psychische und nervöse Krankheiten, Bd. I. (Arbeitslehrkolonie v. Ingenieur Grohmann-Zürich, Arbeitslehrkolonie Bres- laus u. Frankfurts.)

C. Literatur. 59

D. Der Militärdienst der aus der Hilfsschule Entlassenen.

F. L. A. Koch, »Die Bedeutung der psychopathischen Minderwertig- keiten für den Militärdienst.<c Ravensburg, O. Maier. »Schwachsinn und Militärpflicht.«e Kinderfehler 1904. A. Müller, »Die Befreiung der Zöglinge der Hilfsschule vom Militärdienst« Z. f. d. Beh. Schw. u. Ep. 1903, Oktober. L. Ahl, »Welche Erfolge hatten bisher unsere Versuche zur Befreiung ehemaliger Hilfsschüler vom Militärdienst?« Z. f. d. Beh. Schw. u. Ep. 1905. Nov? »Bezüglich des Militärdienstes der früheren Hilfsschulzöglinge.« Die Hilfsschule, No. IV. H. Kielhorn, »Mitteilungen über den Militärdienst der ehemaligen Schüler der Braun- schweiger Hilfsschule.« Die Hilfsschule, No. V. L. Laquer, »Die ärztl. u. erziehl. Beh. v. Schw. ia Sch. u. Anst. n. i. w. Vers. Sommers Klinik. Bd. I. (Die Einstellung von Schwachsinnigen im Heere.) E. Stier, »Der Militärdienst der geistig Mingerwdrtigen und die Hilfsschulen.« Beitr. z. Kinderf. u. Heilerz. XLII. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne {Beyer & Mann).

E. Die Hilfsschule und das Gericht.

H. Emminghaus, »Die gerichtliche Psycho-Pathologie.«e Tübingen, H. Laupp. Cramer, »Über jugendliche Verbrecher.« Allg. Zeitschr. f. Psych. LVI, 1899, S. 878. J. Demoor, »Les enfants anormaux et la criminologie.e Brüssel 1900. Wollenberg, »Die Grenzen der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit bei psychischen Krankheitszuständen.« Allg. Zeitschr. f. Psychiat. 1903, 615. Wildermuth, »Die epilep- tische Geistesstörung in Bezug auf die Strafrechtspflege.« Allg. Zeitschr. f. Psychiat. LII, 1895, 1087. Nolte, »Die Berücksichtigung der Schwachsinnigen im Strafrecht des Deutschen Reichs.« Ber. üb. d. IV. u. V. Verb. d. H. D., Z. f. d. Beh. Schw. u. Ep. 1905 u. Kinderfehler, 1903 u. 1905. Th. Heller, »Pädagogik, Psychiatrie u. Kriminalogie.« Dittes Pädagog. XVII, 1. 0. Berkhan, »Die Schreibstörungen bei ‚Schwachbefähigten in gerichtsärztlicher Beziehung.« Ber. d. VII. Konf. f. d. Idiotenwesen u. Z. f. d. Beh. Schw. u. Ep. 1893, Nov. A. Hegar, »Der Stotterer vor dem Strafrichter.« Allg. Zeitschr. f. Psychiat. LXI, 1904, 461. Mönkemöller, »Geistesstörung und Verbrechen.« Berlin, Reuther & Reichardt, 1903. W. Polligkeit, »Strafrechtsreform und Jugendfürsorge.< Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1905. J. Trüper, »Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache von Gesetzesverletzungen Jugendlicher.«e Ebenda 1904. H. Kielhorn, »Die geistige Minderwertigkeit vor Gericht.«e Monatsschrift für Kriminal- psychologie und Strafrechtsreform. Heidelberg, ©. Winter, 1907.

F. Vereinigungen zum Zwecke einer Fürsorge für Hilfsschüler.

Ausschuß zum Rechtsschutze für die geistig Minderwertigen. Die Hilfsschule, No. III.

Jahresberichte des Erziehungs- u. Fürsorgevereins für geistig zurück- gebliebene Kinder. Berlin.

G. Wie die deutschen Behörden sich der Hilfsschule bisher an- genommen haben.

Berlin, 27. 10. 1892, Erlaß des Ministers: »Die in Städten mit

60 C. Literatur.

großen Volksschulsystemen beliebte Einrichtung von sogenannten Ab- schlußklassen für solche Kinder, die die Ziele der Volksschule nicht erreichen können aus allerlei Gründen, wird als ungeeignet bezeichnet.« Zentralblatt f. d. ges. Unterrichtsverwaltung in Preußen 1892, S. 862 ff.

Berlin, 14. 11. 1892, Erlaß des Ministers: »Es wird den Städten aufgegeben, eine Übersicht solcher Klassen einzureichen, die für nicht normal begabte Kinder schulpflichtigen Alters in preußi- schen Landesteilen bereits errichtet sind.« Zentralblatt f. d. Unterr. in Preußen 1893, S. 248 ff.

Berlin, 16. 6. 1894, Erlaß des Ministers: »Die vorbezeichnete Übersicht wird veröffentlicht. In kurzen Sätzen werden diejenigen Ge- sichtspunkte festgelegt, die den späteren Entwicklungsgang der Hilfsschulen kennzeichnen. So will der Minister »häuslich ver- nachlässigte Kinder« von »schwachbegabten Kindern« unter- schieden wissen. Nur letztere, die »während eines ein- bis zweijährigen Besuches der Volksschule gezeigt haben, daß sie zwar unterrichtsfähig, aber zur erfolgreichen Mitarbeit mit den normal beanlagten Kindern nicht genügend begabt sind, werden auf besondere Schuleinrichtungen besonders angewiesen sein. Von wesentlicher Bedeutung für die Überweisung der in diese Veranstaltungen gehörenden Kinder ist die Beteiligung des Arztes, da körperliche Gebrechen oder überstandene Krankheiten mit der zurückgebliebenen geistigen Entwicklung im Zusammenhange zu stehen pflegen. Besonders wichtig sind auch die schon jetzt mehrfach mit an- erkennenswerter Sorgfalt geführten Entwicklungsgeschichten der einzelnen Kinder. Des weiteren wird darauf hingewiesen, daß in manchen größeren Städten die Mittel bereit gestellt werden, damit die Klassenfrequenz nicht über 25 Schulkinder zu steigen braucht, und damit außerdem durch angemessene Besoldungen neben dem etatsmäßigen Gehalte besonders tüchtige Volksschullehrer und -lehre- rinnen für die Arbeit in den Hilfsklassen herangezogen werden können. Die letztere Bezeichnung: Hilfsklassen für schwachbegabte Kinder »scheint als die mit Rücksicht auf die betreffenden Eltern geeignetste av- gesehen und am meisten gebraucht zu werden«. Schließlich heißt der Minister gut, daß der Unterricht in diesen Klassen halbstündig er- teilt, daß das Lehrziel für alle einzelnen Klassen erheblich niedriger gesteckt wird als hei den entsprechenden Volksschulklassen, ja, daß es bei der obersten Hilfsklasse nicht über das für die Mittelstufe einer normalen Volksschule vorgeschriebere Maß hinausgeht unter besonderer Berücksiclftigung von solchen Fächern, die auf eine Ent- wicklung körperlicher Geschicklichkeit und praktischer Befähigung hinzielen.« Zentralbl. f. d. ges. Unterr. in Preußen 1894, S. 568 ff.

Berlin, 16. 6. 1896, Erlaß des Ministers: »Es wird die Gewährung der gesetzlichen Staatsbeiträge für die Lehrerstellen an den besonderen Schulanstalten für nicht vollbefähigte Kinder gewährleistet.« Zentralbl. f. d. ges. Unterr. i. Preußen 1896, S. 591.

Berlin, 6. 4. 1901, Erlaß des Ministers: »Es wird wiederum eine eingehende Übersicht der vorhandenen Schuleinrichtungen für nicht

C. Literatur. 61

normal begabte Kinder schulpflichtigen Alters veröffentlicht. Hinsichtlich der Hilfsschularztfrage wird sodann erklärt: Die regelmäßige Be- teiligung des Arztes in diesen Klassen ist unentbehrlich. Ich kann daher nur lebhaft wünschen, daß bei der nächsten Zusammenstellung sich keine Hilfsschule mehr finde, bei der nicht die regelmäßige Zuziehung eines Arztes vorgesehen ist.«e In Betreff des Rückversetzens einzelner Kinder aus der Hilfsklasse in die Volksschule bestimmt der Minister in demselben Erlasse: »An einzelnen Orten werden anscheinend auch ältere Kinder in untere Volksschulklassen zurückversetzt. Dies ist zu vermeiden. Denn nicht nur verursacht der Altersunterschied zwischen den zurück- versetzten Kindern und den jüngeren Klassengenossen Schwierigkeiten, denen gerade die Hilfsklassen mit vorbeugen sollen, sondern es erhalten auch die zurückversetzten und dann alsbald aus einer unteren Klasse in das Leben zu entlassenden Kinder eine Schulbildung, durch welche sie für ihre Erwerbsfähigkeit nicht genug gewinnen.« Zentralbl. f. d. ges. Unterr. i. Preußen 1901, S. 412 ff.

Berlin, 2. 1. 1905, Erlaß des Ministers: »Auf Grund der den je- weiligen Stand des Hilfsschulwesen charakterisierenden Berichte werden folgende an den verschiedenen Hilfsschulen im Königreich Preußen gemachten Erfahrungen mitgeteilt: Welche Kinder gehören in die Hilfsschule? Welche Aufgabe hat die Hilfsschule nach der erziehlichen und unterrichtlichen Seite zu erfüllen? Wie ist die Klassen- und Lehrstoffgliederung zu gestalten? Die grund- sätzliche Trennung von Knaben und Mädchen ist nicht nötig. Bei der Anzahl der wöchentlichen Unterrichtsstunden ist dem Wechsel von Arbeit und Erholung Rechnung zu tragen. Es kommt darauf an, daß alle Kinder, die in der Hilfsschule besser aufgehoben sind als in der allgemeinen Volksschule, in der ersteren untergebracht werden.« Zentralbl. f. d. ges. Unterr. i. Preußen 1905, S. 226 ff.

Berlin, 28. 8. 1896, Erlaß des Ministers: »Den Bezirksregierungen wird unter Hinweis auf eine beigefügte Übersicht über den gegenwärtigen Stand des Unterrichts schwachbegabter Kinder in besonderen Schulen nahe- gelegt, diesen segensreichen Veranstaltungen auch ferner ihre besondere Teilnahme zuzuwenden und die opferwilligen Bestrebungen der Städte nach Möglichkeit zu fördern.« Zentralbl. f. d. Unterr. i. Preußen 1896, S. 665 ff.

Berlin, 20. 9. 1904, Rechtsgrundsätze des Königlichen Überverwaltungsgerichtes: »Für die Hilfsschule treffen alle Vor- bedingungen zu, von denen dem besteher.den Rechte gemäß die Eigen- schaft einer Schule als öffentlicher Volksschule abhängt.« Zentralbl. f. d. ges. Unterr. i. Preußen, 1905, S. 285 ff.

Aus dem Urteile des Könglichen Kammergerichtes vom 25. Januar 1906 (vergl. Die Hilfsschule No. V): »Die Hilfsschule zu E. steht nicht allein, wie die Strafkammer angenommen hat, der öffentlichen Volksschule gleich, sondern sie ist ein Teil der öffentlichen Volksschule.«

Der preußische Kultusminister und der preußische Minister des Innern haben in einem Erlaß vom 15. V. 1906 die Bezirksregierungen an-

62 C. Literatur.

gewiesen, daß den Zivilvorsitzenden der zuständigen Ersatz- kommission vertrauliche Mitteilung davon zu machen ist, wenn eine Person, über deren Eintritt in das Heer noch nicht entschieden ist, aus einer Anstalt für Geisteskranke, Idioten oder Schwachsinnige entlassen worden ist.

Einreichung von Verzeichnissen über schulentlassene Hilfsschulzöglinge an die Zivilvorsitzenden der Ersatzkom- missionen. (U. III. A. N. 3665.)

Berlin, 7. Nov. 1906.

Im Einvernehmen mit dem Herrn Kriegsminister und dem Herrn Minister des Innern veranlasse ich die Königl. Regierung, die Leiter der Hilfsschulen anzuweisen, daß sie jährlich ein Verzeichnis der aus ihren Schulen nach beendeter Schulpflicht entlasseuen Schüler unter Beifügung von Abgangszeugnissen, sowie von sonst ihnen geeignet erscheinenden Be- urteilungen (ärztl. Zeugnissen usw.) an die Gemeindevorsteher, die zu der Anlegung der Rekrutierungsstammrollen verpflichtet sind, zwecks Über- mittelung an den Zivilvorsitzenden der Ersatzkommission einsenden.

I. A.: gez. von Bremen.

Ministerialblatt für Kirchen- und Schulangelegenheiten im König- reich Bayern No. 10, 1906: »Die Schulpflicht besteht an und für sich auch für die geistig oder körperlich nicht genügend entwickelten, bildungs- unfähigen oder bildungsbeschränkten Kinder. Diese Kinder sind viel- mehr, wenn in der Gemeinde eine Hilfsschule oder besondere Hilfsklassen ihrer Konfession eingerichtet sind, in der Regel in diese zu verweisen.« Die Hilfsschule V.

Erlaß des Großherzogl. Badischen Oberschulrats v. 16. Februar 1897: »Die Zuweisung der Kinder in eine Sonderklasse sollte nicht von dem Einverständnisse der Eltern abhängig gemacht werden, weil sonst nach den bisherigen Erfahrungen die ganze an sich zweck- mäßige Einrichtung in Frage gestellt werden könne. Dieses Einverständnis ist auch gesetzlich gar nicht nötig. Denn die Eltern können zwar ver- langen, daß ihren Kindern die allen übrigen zugewendete Schulzeit eben- falls zu gute kommt, die Frage hingegen, welcher Klasse die einzelnen Schüler zuzuteilen seien und ob im Unterricht selber etwas weiter oder weniger weit zu gehen sei, ist eine rein schultechnische, bezüglich deren die Entscheidung lediglich der Schulbehörde zusteht. <e

Erlaß des Großherzogl. Badischen OÖberschulrats v. 20. Januar 1907: »Von den nach Beendigung der Schulpflicht aus den dortigen Hilfs- klassen abgehenden Schülern sind jeweils auf Schluß des Schuljahres dem Großherzogl. Bezirksamt als Ersatzbehörde I. Instanz Verzeichnisse unter Angabe des von den einzelnen Schülern nachgewiesenen Bildungs- grades und der zur Beurteilung ihrer geistigen Entwicklung bedeutsamen Tatsachen mitzuteilen.«

Badische Ministerialverordnung vom 18. August 1906, be- treffend den Unterrichtsplan der Volksschulen:

C. Literatur. 63

$ 8. In großen Schulen ist es angezeigt, die nicht versetzten Schüler in besonderen Förderklassen mit kleinen Schülerzahlen zu vereinigen und durch möglichst individuelle Behandlung derart vorwärts zu bringen, daß sie nach einiger Zeit wieder in eine Normalklasse übertreten können.

$ 9. In großen Schulen empfiehlt es sich ferner, für solche Schüler, die infolge äußerst geringer Begabung nach Ansicht des Klassenlehrers und des Schularztes voraussichtlich während der ganzen Dauer ihrer Schul- pflicht nicht über das zweite oder dritte Schuljahr hinaus vorrücken können, besondere Hilfsklassen zu bilden.

$ 10, Welche Schüler einer Klasse oder Abteilung nicht versetzt werden sollen, wird auf Antrag des Klassenlehrers in den Städten der Städteordnung durch den Rektor, in allen übrigen Schulen auf Antrag der Lehrer durch die Ortsschulbehörde bestimmt. Die Überweisung der Schüler in die Hilfsklassen erfolgt durch Beschluß der Orts- schulbehörde.

Für den Bereich des Königreichs Sachsen sind besondere Erlasse über das Hilfsschulwesen nicht erlassen, da das Gesetz, das Volksschul- wesen betreffend, vom 26. April 1873 (G. V. Bl. 1873, S. 350 ff.) in $ 4, Abs. 5 bestimmt: »Verwahrloste, nicht vollsinnige, schwach- und blödsinnige Kinder sind in hierzu bestimmten Öffentlichen oder Privat- anstalten unterzubringen, sofern nicht durch die dazu Verpflichteten ander- weit für ihre Erziehung hinreichend (vergl. $ 3, Abs. 2) gesorgt ist.« $ 3, Abs. 2 besagt: »Der Unterricht in den mit Waisenhäusern, mit Bewahranstalten für Verwahrloste und mit Erziehungsanstalten für Nicht- vollsinnige, für Schwach- und Blödsinnige verbundenen Schulen ist mit den durch die Verhältnisse bedingten Einschränkungen nach den für die einfache Volksschule geltenden Bestimmungen zu erteilen.«

23. Statistisches über Hilfsschulen.

Bereits einige ministerielle Erlasse haben Zusammenstellungen über den gegenwärtigen Stand des preußischen Hilfsschulwesens gefordert und gebracht. Von privater Seite ist auch wiederholt eine mehr oder weniger umfassende Statistik der Hilfsschule unternommen und veröffentlicht worden. Es kann hingewiesen werden auf: A. Wintermann, »Die Hilfsschulen Deutschlands und der deutschen Schweiz.« Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1898 und Ber. üb. d. I. u. III. Verb. d. A. D. 1898, 1901. Zusammenstellung der Hilfsschulen Deutschlands nach den Jahren ihrer Gründung. Die Hilfsschule No. 1; vergl. auch Die Hilfs- schule No. II u. No. III. H. Graf, »Die schweizerische Zählung der schwachsinnigen Kinder im schulpflichtigen Alter.« Kinderfehler 1900. F. Frenzel, »Statistik der Hilfsschulen Deutschlands.« Kalender für Lehrer. Leipzig, Scheffer, 1906.

24. Zeitschriften und Sammelwerke, die dem Hilfsschullehrer zur Weiterbildung dienen können. l. Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch -gerichtliche Medizin. Berlin, G. Reimer. 2. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege v. Erismann. Hamburg, Voß.

64 C. Literatur.

gm 0

3. Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer von Schröter und Wildermuth. Dresden.

4, Zeitschrift für Kinderforschung. Die Kinderfehler von Koch, Martinak, Trüper und Ufer. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

5. Schiller und Ziehen. Sammlung von Abhandlungen aus dem Gebiete der pädagogischen Psychologie und Physiologie. Berlin, Reuther & Reichard.

6. Zeitschrift für pädagogische Psychologie und Pathologie von Kemsies u. Hirschlaff. Berlin, N. Walther.

7. Medizinisch - pädagogische Monatsschrift für die gesamte Sprachheil- kunde von A. u. H. Gutzmann. Berlin, Fischer.

8. Gesundheitswarte der Schule von A. Baur. Leipzig, Nenmnich.

9. Eos. Vierteljahrsschrift für die Erkenntnis und Behandlung jugend- licher Abnormer. Wien u. Leipzig, Pichlers W.

10. Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung vou Koch, Martinak, Trüper und Ufer. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

11. Die experimentelle Pädagogik. Organ der Arbeitsgemeinschaft für experimentelle Pädagogik mit besonderer Berücksichtigung der experi- mentellen Didaktik und der Erziehung schwachbegabter und abnormer Kinder von Lay und Meumann. Leipzig, Nemnich.

12. Die Hilfsschule. Mitteilungen an die Mitglieder des Verbandes der Hilfsschulen Deutschlands. Hannover.

13. Zeitschrift für die Erforschung und Behandlung des jugendlichen Schwachsinnes auf wissenschaftlicher Grundlage. Zentralorgan für die gesamte wissenschaftliche Forschung, Anatomie, Klinik und Pathologie des jugendlichen Schwachsinns und seiner Grenzgebiete, für die Fragen der Fürsorge und Behandlung der Schwachsinnigen, für die Fürsorge- erziehung. für die Organisation der Hilfsschulen und Anstalten, für die einschlägigen Gebiete der Kriminalistik und forensischen Psychiatrie und der Psychologie mit besonderer Berücksichtigung der normalen und pathologischen Geistesentwicklung im Kindesalter. Herausgegeben von N. Vogt u. W. Weygandt. Jena, G. Fischer, 1906.

Der Taubstummenlehrer W. Weise in Berlin hat auf Grund amtlichen Materials eine Statistik über das Taubstummenwesen in Preußen am 1. Januar 1907 aufgestellt und in der »Zeitschfift des Königlich Preußischen Statistischen Landesamts« (Jahrgang 1907) veröffentlicht. Die Arbeit gliedert sich in 3 Abschnitte: I. Die Anstalten und Schulen als solche nach Zahl, Lage, Gründung, Eigentum, Einrichtung und Größe. II. Die Schüler nach Zahl, Geschlecht, Kategorie, »Beschulung« (!) und Abgang. II. Die Lehrkräfte, das Aufsichts- und Ökonomie- personal. Sonderdrucke der sehr lehrreichen Arbeit sind zum Selbstkostenpreise von 40 Pf. durch die »Buchhandlung des Statistischen Landesamts«, Berlin SW 68, Lindenstr. 28 zu beziehen. U.

Druck von Hermann Beyer & Sühne (Beyer & Mann) in Langensaiza.

A. Abhandlungen.

Fingertätigkeit und Fingerrechnen als Faktor der Entwicklung der Intelligenz und der Rechenkunst bei Schwachbegabten.

Von Heinrich Nöll, Wiesbaden.

(Fortsetzung.)

II. Das Fingerrechnen, ein Faktor der Entwicklung der Intelligenz im allgemeinen bei Schwachbegabten.

Im vorstehenden Kapitel wurde gezeigt, daß die Intelligenz in hervorragender Weise von dem Zustande der Körperfühlsphäre ab- hängig ist. Zu der Behebung der Funktionsschwäche dieses Zentrums kann auch der Betrieb des ersten Rechenunterrichtes beitragen, wenn die Finger in geeigneter Weise als Anschauungsmittel verwendet werden. Wir betrachten den Fingergebrauch im grundlegenden Rechenunterrichte nicht etwa als das einzige Mittel, der Funktions- schwäche jenes Zentrums entgegen zu wirken, ja, noch nicht einmal als das Hauptmittel, sondern nur als ein Mittel neben gewissen anderen. In gut geleiteten Hilfsschulen Englands, Amerikas, Belgiens werden besonders folgende jenem Zwecke dienstbar gemacht: Eurhythmisches Turnen, Tanz, Handarbeit, Fröbelsche Spiele und Beschäftigungen, Gartenbau und Blumenpflege. Diesen Mitteln möchte ich hiermit ein ihnen gleichwertiges, weil auf demselben Prinzipe beruhendes, hinzufügen das Fingerrechnen. Eine Vorfrage ist also hier zu erledigen, ehe wir den Wert und die Bedeutung, sowie die Methodik

Zeitschrift für Kinderforschung. XII. Jahrgang. 5

66 A. Abhandlungen.

des Fingerrechnens!) zur Sprache bringen können die Frage nach dem gemeinsamen Prinzipe.

Zur Anwendung jener Mittel kam man auf Grund der Erkenntnis, daß die Funktionsschwäche und Unentwickeltheit eines Organs nur dadurch beseitigt werden kann, daß dieses Organ einer direkten intensiven Übung unterworfen wird. Durch Vererbung gelangt jedes Organ nur in einen gewissen unvollkommenen Entwicklungszustand. Einen höheren Grad der Entwicklung und Funktionstüchtigkeit erlangt es nur unter dem Einflusse der Übung oder des funktionellen Reizes. (Armmuskulatur des Athleten, Wadenmuskel des Bergsteigers!) Der funktionelle Reiz veranlaßt eine energische Blutzufuhr und damit zugleich eine bessere Ernährung der zur Tätigkeit veranlaßten Teile. Die bessere Ernährung ist aber zugleich Bedingung und Anreiz der vollkommeneren Entwicklung. Diese erklärt sich nach der Auffassung von MEYER (»Übung und Gedächtnis; Wiesbaden, Bergmann) daraus, daß bei reichlicher Tätigkeit jedesmal mehr Stoff des Gewebes durch Blut- und Nahrungszufuhr ergänzt wird, als verbraucht wurde, so daß sich also ein Stoffansatz einstellt. Mangel an Tätigkeit dagegen bedingt in umgekehrter Weise Rückbildung. (Arm, der in der Binde getragen wird, magert ab.) Genau dasselbe Gesetz, das bezüglich der Muskulatur ein längst bekanntes ist, gilt auch für das Nerven- system. Bei der Geburt hat das Gehirn durch die Vererbung einen gewissen Grad der Entwicklung erlangt. Die weitere Entwicklung des Großhirns geschieht nur unter dem Einflusse des funktionellen Reizes. Frecusıs und H. Bercer haben durch sehr interessante Ver- suche an Hunden den Beweis dieser Behauptung bezüglich der Seh- sphäre erbracht. Was hier bezüglich des Sehzentrums und bezüglich der Tiere festgestellt worden ist, gilt auch hinsichtlich der übrigen Sinnessphären und hinsichtlich des Menschen eine Behauptung, die durch die Ergebnisse der Embryologie bewiesen ist. (FiEcusie.)

Auf welche Weise können wir bei anormalen Kindern sowohl Nervenzellen als auch Nervenfasern des Systems der Körperfühl- sphäre einer intensiven Übung unterwerfen, um ihre zurückgebliebene Entwicklung zu beschleunigen? Drmoor (»Anormale Kinder«) belehrt uns hier, indem er auf das wichtige physiologische Prinzip hinweist: »Muskelübung ist zugleich Nerven- und Gehirnübung«. Auf Muskelübung und damit zugleich Nervenübung aber ist es beim

1) In Bezug auf das Kapitel »Methodik des Fingerrechnens«, das in der hier vorliegenden gekürzten Ausgabe der Abhandlung wegfallen mußte, sei auf die vollständige in den »Beiträgen zur Kinderforschung und Heilerziehungs verwiesen.

Nö: Fingertätigkeit und Fingerrechnen usw. 67 Turnen, bei Handarbeit, Fröbelschen Spielen und Beschäftigungen, Gartenbau usw. abgesehen. Mithin dienen diese Unterrichtsdisziplinen nicht etwa nur der Ausbildung der Muskulatur als solcher, sondern auch der Entwicklung der wichtigsten Sinnessphäre, der Körper- fühlsphäre.

Auf Grund dieser Erkenntnis sind wir nnn in der Lage, die Bedeutung der Fingertätigkeit überhaupt und des Fingergebrauchs im grundlegenden Rechenunterrichte für die allgemeine geistige Ent- wicklung nachzuweisen. Speziell Greifübungen der Hand und Finger- übungen sind von sehr nachhaltigem Einflusse auf die Entwicklung gewisser hochwichtiger Teilzentren der Körperfühlsphäre und damit auch auf die Entfaltung der Intelligenz. Viele Gründe, die für die Notwendigkeit der Einführung des Handarbeits- und Handfertigkeits- unterrichts in der Hilfs- und Volkschule sprechen, dienen zugleich dem Nachweise der Bedeutung des Fingergebrauchs im grundlegenden Rechenunterrichte. Es würde uns zu weit führen, wollten wir diese Gründe im einzelnen hier anführen. Wir wollen nur darauf hin- weisen, daß der natürliche Werdegang der Menschheit lehrt, daß die Aneignung der Geschicklichkeit der Hand, wie Professor ScHMipr darlegt, der Entwicklung der Intelligenz der Menschheit grundlegend vorausgeht.

Nun können wir aber bei vielen Hilfsschülern die Er- fahrung machen, daß der Handfertigkeitsunterricht oft an die schwache Fähigkeit derselben schon zu große An- forderungen stellt. Manche können aus Mangel an genügendem Muskelgefühl und Aufmerksamkeit selbst die einfachen Arbeiten, wie sie die Fröbelschen Beschäftigungen darstellen, nicht mit Erfolg aus- führen. Ihren Fingern fehlt vor allen Dingen die hierzu nötige Be- weglichkeit, ihrem Willen die nötige Energie: die Intelligenz reicht nicht aus, die Aufgabe zu begreifen. Hier treten besondere Fingerübungenals vorbereitende helfend ein. In der Schwach- sinnigenschule zu Leipzig läßt man dem Handfertigkeitsunterrichte »vorbereitende Arbeiten« vorausgehen und zwar als allererste und einfachste sogenannte »Tätigkeitsübungen«. Als solche werden in einem Berichte über den »Handarbeitsunterricht in der Leipziger Schwach- sinnigenschule« (Ztschr. »Aus der Schule —- für die Schule«<, 9. Jahrg. S. 166) unter anderen folgende aufgeführt: .... »Hände falten, klatschen, ballen, Finger beugen, strecken, spreizen usw.«e Es soll an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, daß die Bedeutung der Fingerbewegungsübungen schon früher erkannt wurde. »Friedrich Fröbel gibt uns in seinen Mutter- und Koseliedern und zwar in den

H*

68 A. Abhandlungen.

Fingerspielen: Das Taubenhaus, das Vogelnest, die fünf Reiter, das Häschen usw. die erste Anleitung zu einer Hand- und Fingergymnastik, Ferner hielt ein Engländer namens Jackson im Jahre 1864 Vorträge über Hand- und Fingergymnastik, die in Wien, Berlin, Dresden, Paris, London und anderen Städten großen Beifall fanden, namentlich von den ersten Autoritäten, Ärzten, Künstlern und Turnlehrern günstig beurteilt wurden.« Dr. AnaLBert KUPFERSCHMID, dirigierender Arzt eines Sanatoriums in Mährisch-Schönberg-Österreich, empfiehlt in einer Abhandlung »Über den Wert einer systematischen Handgym- nastik,« (Hygiea 11. Jahrg. 3. Heft) und in einer zweiten »Übungen des Muskelgefühls bei Schwachsinnigen« (Ztschr. »Die Kinderfehler« 10. Jahrg. Nr. 4 u. 5) systematische Übungen der Greiforgane zum Zweck der Hebung der Intelligenz und der im täglichen Leben nötigen Geschicklichkeit. Er betrachtet die Bewegungstherapie auch als Gegenmittel gegen gewisse antisoziale Triebe, in dem die Schwachsinnigen durch jene Übungen zur Arbeit befähigt werden Er will ihnen neue Arbeitsgebiete, z. B. Maschinenschreiben, Tele- graphieren, Ciselieren, Gravieren, Malen, Zeichnen, Bildhauerei usw. erschließen, indem er durch Handgymnastik ihnen eine gewisse Summe von Bewegungsvorstellungen aneignet. TurrEsE FocKixe ver- faßte eine kleine Anleitung zur Handgymnastik und zu Fingerspielen (Verl. v. Oehmigke, Berlin 1895) und hat solche praktisch, wie sie behauptet, mit Erfolg betrieben, der sich auf dem Gebiet der Hand- arbeit und des Musikunterrichts zeigte. Féreg hat einen beachtens- werten Erfolg lediglich von einfachen Fingerbewegungsübungen auch in Bezug auf die Hebung der Intelligenz gesehen. Er »hät be- obachtet, daß nicht nur die Tätigkeit des Gefühlssinnes, sondern auch die des Gehörs- und Gesichtssinnes sich bei einem jungen Manne, den er mehrere Wochen lang täglich Beuge- und Streckübungen mit den Fingern machen ließ, bedeutend entwickelte. Die Perzeptions- fähigkeit, d. h. die Fähigkeit, aus Sinneseindrücken Vorstellungen zu bilden, wurde verstärkt und machte sich eine erhöhte Schnelligkeit des Einsetzens ihrer Tätigkeit bemerkbar.« (Demoor, »Anormale Kinder.«e) Der Erfolg der Fingerübungen erstreckt sich also nach drei Richtungen hin. Durch sie wird gefördert

a) die Entwicklung der Körperfühlsphäre, die beim anormalen Schüler auf der Entwicklungsstufe des kleinen vorschul- pflichtigen Kındes gleichsam stehen geblieben ist. Die Differenzierung derselben ist nicht genügend vorgeschritten, oder wie Demoor sich ausdrückt: »Die Lokalisation ist unbestimmt und summarisch ge- blieben.< Bis zu einem gewissen Alter wird durch die Erregung

Nörr: Fingertätigkeit und Fingerrechnen usw. 69

dieses Zentrums an gewissen Stellen etwa der ganze Arm in Be- wegung gesetzt. Durch fortgesetzten Gebrauch des Armes vervoll- kommnet sich das dem Arm in der Körperfühlsphäre entsprechende Nervenzellengebiet derartig, daß jeder einzelne Handmuskel im Ge- hirnrindenfelde ein Gebiet hat, mit welchem er speziell in Verbindung steht. Bei anormalen Kindern, welche eine gewisse Ungeschicklich- keit zu feineren Verrichtungen der Hand erkennen lassen, ist es zu einer solchen bestimmten, deutlichen Lokalisation und Spezialisierung noch nicht gekommen. Sie sind nur fähig, summarische Arm- und Handbewegungen auszuführen. Es fehlen ihnen darum auch die feineren spezielleren Bewegungsvorstellungen, die aufleben müsseft, wenn sie gewisse Schreibbewegungen, Bewegungen beim Zeichnen, beim Stricken, Nähen, Häkeln ausführen sollen. Energische willkür- liche, nach bestimmten Regeln ausgeübte Fingerbewegungsübungen sind bei anormalen Kindern für derartige komplizierte Tätigkeiten notwendige Vorübungen, weil sie auf Grund des Gesetzes des funktio- nellen Reizes die Differenzierung des Tastbewegungszentrums zur Folge haben. Durch Fingerbewegungsübungen wird aber auch

b) die Entwicklung der Assoziationszentren gefördert. Die auszuführenden Fingerbewegungen, die durch den Gesichtssinn aufgefaßt werden, oder auf Kommando hin erfolgen, erfordern, daß auch Eindrücke der verschiedenen Sinne assoziiert werden, so daß sich also Gesichts-, Gehörs- und Tastempfindungen (bezw. Muskel- empfindungen gegenseitig wachrufen. Es werden, wie dies MEYER in der Abhandlung »Übung und Gedächtnis« darlegt, gewisse Zellen »Gedächtniszellen« nennt er sie von verschiedener Seite her mit Energie geladen, die in denselben als latente Energie, als ein Span- nungszustand, existiert, der nachher bei Reizung von nur einer Seite her eine Bewegung auslöst, die den Effekt darstellt, als käme der Reiz gleichzeitig von verschiedenen Sinneszentren. Solche »Gedächt- niszellen«, welche mit Energie von verschiedener Seite her geladen werden, dürfen wir uns mit Fı.eensıs in denjenigen Hirnrinden-Gebieten in größerer Zahl vereinigt denken, die er Assoziationszentren nennt. Nun hatten wir oben hervorgehoben, daß gerade die Körperfühlsphäre eine große Zahl von Assoziationsfasern besonders nach dem hinteren großen Assoziationszentrume sendet. Diese Assoziationsfasern reifen (d. h. erhalten Markscheiden) aber erst unter dem Einflusse der Tätig- keit des Sinneszentrums. Solange die Lokalisation in der Körper- fühlsphäre noch unbestimmt und summarisch ist, wird auch nur die- jenige Assoziationsfaser sich entwickeln und reifen, welche dazu bestimmt ist, die Fortschwingung der Erregung der summarischen

70 A. Abhandlungen.

Bewegung (z. B. der Arm- oder Handbewegung) nach dem Assoziations- zentrum zu leiten. Wenn nun die Differenzierung und Spezialisierung des Armgebietes im Gehirnrindengebiete der Körperfühlsphäre unter dem Einflusse willkürlicher Fipgerbewegungsübungen fortschreitet, so reifen neue Assoziationsfasern. Es werden auf diese Weise neue myopsychische, sensitive Eindrücke erzeugt, die als Er- innerungsbilder aufbewahrt werden, die ferner mit ge- wissen Gesichts- und Gehörsempfindungen verknüpft sind und darum später in den Dienst anderer Tätigkeiten treten können. * Es besteht eine innige Verbindung zwischen Tast- und Muskel- oder Bewegungssinn. Diese Tatsache und die andere, daß sich aus dem Tastsinn die übrigen Sinne durch Differenzierung erst entwickelt haben, läßt uns F£xres Beobachtung verstehen, daß durch Finger- übungen auch

c) die Entwicklung des Gehörs- und Sehzentrums günstig beeinflußt wird. Die Erklärung liegt eben darin, daß durch das Assoziationszentrum die Sinneszentren untereinander, (besonders aber mit’der Körperfühlsphäre,) mittelbar verknüpft sind. Die Erhöhung der Funktionstüchtigkeit der Assoziationszentren, welche nach der Lehre Flechsigs am nachhaltigsten von der Sinnessphäre des Tast- bewegungszentrums aus bewirkt werden kann, kommt insofern dem Gehörs- und Sehzentrum zu statten, als dann schon schwächere Sinnesreize dieser Zentren ausreichen, die in den »Gedächtniszellen« der Assoziationszentren angesammelte latente Energie zur Entladung zu bringen. Schon ein schwacher Eindruck des Gesichts oder Gehörs wird unter diesen Umständen mit einer entsprechenden Reaktion be- antwortet. Auch können ja nach gewissen Gesichtspunkten und Regeln ‚ausgeführte Fingerbeuge- und -streckübungen beim Voll- sinnigen nicht ausgeführt werden, ohne daß Gesichtssinn und Gehörs- sinn dabei zur Mitarbeit herangezogen werden. Gerade die verlangte motorische Reaktion der Fingerbewegung nach bestimmten Vor- schriften nötigt den unaufmerksamen, energielosen Schwachbetähigten zu einem aktiven Sehen und Hören, zu einem Grad von Aufmerk- samkeit, der seiner Fähigkeit angepaßt ist. Dr. A. KUPFERSCHMID, dirig. Arzt des Sanatoriums in Mährisch-Schöneberg, sagt: »Die Muskelempfindungen begleiten also unsere Sınnesempfindungen (be- sonders Tast-, Gesichts- und Gehörsempfindungen) und durch Aus- bildung derselben lernt der Mensch seine Sinneswerkzeuge in höherer Richtung dann gebrauchen, so daß aus dem Sehen ein Schauen, aus dem Hören ein Horchen, aus dem Tasten ein Betasten wird.e

Nörr: Fingertätigkeit und Fingerrechnen usw. 71

Im vorstehenden Kapitel kam es uns lediglich darauf an, die Fingerbewegungsübungen als Faktor der geistigen Entwicklung im allgemeinen nachzuweisen. Ihr Wert in dieser Hinsicht dürfte ge- nügend angedeutet sein. Sollen wir nun etwa für Schwach- befähigte Stunden ansetzen, in welchen lediglich solche Fingerbewegungsübungen vorgenommen werden, wie es Féreg und andere getan haben? Man beachte wohl: Muskel- übungen an und für sich sind selbst für normale Kinder, erst recht aber für anormale für die Dauer etwas sehr Langweiliges. Wenn sie aber wirksam werden sollen, so müssen sie längere Zeit und mit Willensenergie und Aufmerksamkeit ausgeführt werden, nicht etwa automatisch. Nicht die isolierten Muskelempfindungen, sondern die mit anderen Sinnesempfindungen assoziierten dienen ganz besonders der Entwicklung der Intelligenz. In englischen und belgischen Hilfs- schulen hat man darum z. B. den Turnunterricht in einen eurhyth- mischen Turnunterricht umgewandelt; d. h. die einzelnen Übungen werden nach dem Takte einer stark rhythmischen Musik ausgeführt. Dadurch verschwindet die Langweile. Energie und Aufmerksamkeit erhöhen sich. Wir sehen also hier, daß die Verknüpfung der Be- wegungsempfindungen mit den rhythmischen Tonreihen und Intervall- empfindungen den Ablauf der ersten regelt und zugleich ein Interesse an ihnen erzeugt. Das Interesse haftet an der Assoziation der beiden Empfindungsreihen. In ähnlicher Weise können wir Fingerbewegungs- empfindungen mit einer Reihe von anderen Empfindungen assoziieren. Es könnte dies z. B. im Gesangunterrichte nach dem Takte eines Liedes oder im Sinne Fröbels nach dem Rhythmus eines Gedichtes geschehen. Aber käme nicht jedem eine solche Verknüpfung als eine künstliche Mache vor? Haben wir nicht ein Lehrfach, in welchem schon von alters her die Assoziation von Fingerbewegungsempfindungen mit gewissen anderen Empfindungsreihen üblich war? Ich meine den grundlegenden Rechenunterricht in der Form des »Fingerrechnens«, das aber leider durch die Zahlbilder- veranschaulichungsmethode in der Neuzeit in den Hinter- grund gedrängt worden ist. Es dürfte an der Zeit sein, es aus der pädagogischen »Rumpelkammer«, in welche man es wenigstens in der Theorie, wenn auch nicht in der Praxis geworfen hat, hervor- zuholen und es als einen Faktor der Entwicklung der Intelligenz im allgemeinen und der Rechenkunst im besonderen zu erkennen. Wir fordern die Verknüpfung von Fingerbewegungsempfindungen mit den die Zahlvorstellungen konstituierenden Emp- findungselementen und mit den Zahloperationen also nicht

72 A. Abhandlungen.

lediglich um des Rechnens willen, sondern ebenso sehr zum Awecke einer nach bestimmten Gesichtspunkten geregelten Fingermuskelübung, bei welcher es auf eine differenzierende Entwicklung eines wichtigen Teilzentrums derjenigen Sinnessphäre abgesehen ist, von der die Intelligenz in erster Linie abhängig ist. Diese Muskelübung, die eben ihren Wert schon in sich selber trägt, gewinnt durch die Verknüpfung mit Zahlvorstellungen nicht nur einen erhöhten Reiz, sie wird auch von seıten der Schüler mit einer ihnen begreiflich zu machenden Zweck vorstellung assoziiert. Erscheint sie ihnen doch nun nicht mehr als eine leere, nicht ernst zu nehmende Spielerei ohne Sinn und Nutzen! Gleichzeitig hat diese Verknüpfung den Vorteil, daß der Ablauf der Fingerbewegungsübungen eine be- stimmte, ja, gleichsam taktmäßige Regelung erfahren kann.!)

In unseren Ausführungen bis hierher sind die Vorzüge und die Bedeutung des Fingergebrauchs im ersten Rechenunterricht erst ein- seitig zur Darstellung gekommen, einseitig insofern, als aus ihnen hervorzugehen scheint, wir wollten das Fingerrechnen gleichsam nur als einen Kursus von Vorübungen für gewisse andere Fächer, in welchen Hand und Finger tätig sind, aufgefaßt wissen, z. B. für die Lehrfächer des Handfertigkeitsunterrichts, der weiblichen Handarbeiten, des Schreibens, Zeichnens u. s. f. Es könnte den Anschein haben, als setzten wir den Zweck des Fingerrechnens, den Schüler in die Kunst des Rechnens einzuführen, als einen nebensächlichen ganz hintenan. Zu einer vollständigen Ehrenrettung des Finger- rechnens dürfte der Nachweis, daß der Fingergebrauch auch ein wichtiger Faktor der Entwicklung der Rechen- kunst beischwachbegabten und normalbeanlagten Schülern ist, notwendig sein. (Schluß folgt.)

t) Die praktische Ausführung solcher taktmäßigen Übungen ist nicht hier,

sondern in der vollständigen, ungekürzten Ausgabe dieser Abhandlung in den »Bei- trügen für Kinderforschung und Heilerziehung« beschrieben.

1. Psychogenesis und Pädagogik. 13

B. Mitteilungen.

1. Psychogenesis und Pädagogik. Von Chr. Ufer. (Schluß aus dem Öktoberheft.)

Neben der qnantitativen Seite hat die Entwicklung des Kindes natürlich auch eine qualitative. Obwohl sich diese wahrscheinlich un- unterbrochen durch die ganze Jugendzeit hindurch geltend macht, so läßt sie sich doch (von der Pubertätszeit abgesehen) am besten in dem Zeit- raume von der Geburt bis etwa zum sechsten Lebensjahre nachweisen, daß man hier wenigstens einigermaßen von Entwicklung im Sinne von Neubildung reden kann. Hier wird auch am deutlichsten offenbar, daß man sich die qualitative Entwicklung nicht als ein gleichmäßiges Fort- schreiten in der ganzen Breite, sondern als ein ungleichmäßiges Vorrücken der einzelnen seelischen Fähigkeiten zu denken hat, dergestalt, daß, wie Stern sagt, gewisse Einzel-Elemente oder -Funktionen, die bisher in dem Ganzen nur ihre enge, vielleicht kaum angedeutete Rolle gespielt haben, plötzlich eine Hypertrophie zeigen« (S. 15), bis sie nachher wieder in die Reihe zurücktreten und die Vorherrschaft an eine neue Funktion abgeben.

Was die pädagogische Verwertung dieser Tatsache anlangt, so läßt sie sich natürlich von sachkundiger Hand am besten in dem vor- schulpflichtigen Alter bewerkstelligen, einmal, weil die Ungleichmäßigkeit eben in diesem Zeitraume am deutlichsten hervortritt, und sodann, weil das Kind in dieser Periode mehr nach seiner Individualität behandelt werden kann, da es im Hause wenigstens noch keiner Gesamtheit angehört, wie in einer Schulklasse. Was die spätere Zeit betrifft, so sagt auch Stern, daß wir über die Entwicklungsmetamorphosen noch sehr wenig wissen. Aber selbst wenn wir mehr darüber wüßten, müßte es mit der pädagogischen Verwertung noch seine Schwierigkeiten haben. Man kann zwar Stern ohne weiteres zugeben, daß die unleugbar vorhan- denen individuellen Verschiedenheiten die Aufstellung von Allgemeingültig- keiten nicht unmöglich machen, aber doch kann es leicht der Fall sein, daß die Ungleichheit ein großes Hemmnis wird, wenn man es mit Schulklassen zu tun hat. Man braucht nur an die Schwierigkeiten zu denken, die der ungleichzeitige Eintritt der Pubertätsentwickelung in einer Schulklasse mit sich bringt, und doch sind die Abweichungen von der Regel hier vielleicht weniger zahlreich als in anderer Beziehung. Stern, der betreffs der Sprachentwicklung des Kindes entschieden eine Autorität ist, behanptet beispielsweise, daß der Termin 3/, Jahr für den Anfang des Sprechenlernens schon, der Termin 1?/, Jahr noch innerhalb der Normali- tätsbreite liege. Hier haben wir also selbst auf dem Gebiete der Normalität einen Spielraum von nicht weniger als einem Jahre, und dazu kommen dann doch auch noch Abweichungen, die über die Normalitätsbreite hinaus- gehen. Es liegt kein Grund vor anzunehmen, daß die Unterschiede auf

74 B. Mitteilungen.

anderen Gebieten im späteren Alter geringer seien, und daraus würde sich innerhalb einer Schulklasse eine Differenzierung ergeben, die die volle Entwicklungstreue von Unterricht und Erziehung sehr in Frage stellen könnte. Es ließe sich zwar geltend machen, dem müsse durch Gruppen- einteilung (etwa im Sinne Sickingers) begegnet werden, wenn da nicht wieder Schwierigkeiten vorlägen, die nicht gerade leicht zu umgehen sind. Die Einteilungsgründe für eine etwaige Gruppengliederung sind sehr zahl- reich, und wenn man dem einen Einteilungsgrunde folgt, so können andere, die vielleicht ebenso wichtig sind, nicht berücksichtigt werden, es sei denn, daß man eine so verwickelte und unstäte Gliederung anstrebte, daß sie sich schon in Rücksicht auf die äußere Möglichkeit überhaupt verböte.

Auf andere Punkte der Sternschen Abhandlung wird gelegentlich noch zurückzukommen sein.

2. Kind und Alkohol.

Der V. Deutsche Abstinententag und die 18. Jahresversamm- lung von Deutschlands Großloge II (I. O. G. T.) tagten vom 24.—30. Juli 1907 in Flensburg.

Nicht überall würde man eine solche Versammlung freudig begrüßen wie Flensburg es getan, wo man die Straßen mit Ehrenpforten und Gir- landen geschmückt hatte und die meisten Bürger flaggten. Die städtischen Kollegien bewilligten einmütig einen Kostenzuschuß von M 1500 und M 8000 für das schöne Logenhaus in der Schloßstraße usw.

Für uns ist beachtenswert die Ausstellung gegen den Alkoholis- mus. Diese große Wanderausstellung des »Allgemeinen deutschen Zentral- verbandes zur Bekämpfung des »Alkoholismus, e V.« die demnächst nach Städten des Elsaß geht, umfaßt folgende Gruppen: Die Antialkoholliteratur der Gegenwart in ihren wichtigsten Erscheinungen, alphabetisch geordnet; die Antialkoholliteratur nach Wissensgebieter. geordnet; Antialkoholbiblio- theken ; alkoholgegnerische Zeitschriften; die Gesetze zur Bekämpfung des Alkoholismus in den deutschen Bundesstaaten; das Tabellenwerk von Dr. med. Holitscher; die Anteilnahme deutscher Witzblätter in der Bekämp- fung der Trinkanschauungen; die Bekämpfung des Alkolismus durch die Schule; die Bekämpfung des Alkoholismus durch die dem »Allgemeinen deutschen Zentralverbande zur Bekämpfung des Alkoholismus, e. V,« angeschlossenen Vereine; die Bekämpfung des Alkoholismus durch die Presse, und das große, hervorragende Tabellenwerk von Seminarlehrer Stump und Verlagsbuchhändler Wiıllenegger. Die Erforschung der ab- normen Erscheinungen im Kindesleben hat allen Grund, dies Anschauungs- material für die Alkoholfrage die größte Aufmerksamkeit zu widmen.

Mit einer großen Versammlung für das Jugendwerk des Guttempler- ordens begannen die Verhandlungen des Abstinententages. Lehrer Lund- Flensburg hielt eine voıtreffliche Lehrprobe über Uhlands Gedicht »Sieg- frieds Schwert«, Miß Jessy Forsyth brachte die Grüße Amerikas, Lehrer J. Koopmann-Sylt sprach über »Die Jugendlogen des Guttempler-

2. Kind und Alkohol. 75

ordens«, Dr. med. Holitscher-Pirkenhammer »Über den Einfluß geistiger Getränke auf den kindlichen Organismus«, nachweisend, daß es keinen Vorwand in der ärztlichen Welt mehr gibt, Kindern geistige Getränke zu reichen, und Lehrer W. Vosgerau-Altona hielt einen warm empfundenen Vortrag »Kind, Kunst und Natur lebensfreudige Erziehung«, in dem er ausführte, daß Grund- und Jugendlogen fähig sind, zu wertvollen volkserzieherischen Organen heranzuwachsen, indem sie einerseits das Mit- arbeiten vieler Eltern an pädagogischen Fragen unserer Zeit wecken und andrerseits zu praktischer Erzieherarbeit Gelegenheit bieten können.

In dem »Verein abstinenter Ärzte des deutschen Sprachgebiets« hielt unser Mitarbeiter Dr. med. Fiebig-Jena einen Vortrag über »Alkohol und Rachitis«.

In der 1. Hauptversammlung des V. Deutschen Abstinententages hielt Herr Landversicherungsrat Hansen-Kiel die Festansprache über »Arbeiter- versicherung und Alkohol« Er führte in seinem warınherzigen Vor- trage u. a. aus, daß mehr als 500 Millionen Mark erforderlich sind, um die Folgen von Erkrankung, von Verunglückung, von dauerndem Siech- tum zu lindern. Viel menschliches Verschulden spielt dabei mit und als Hauptursache der unheilvolle Alkoholverbrauch in unsern arbeitenden Klassen. Die Meidung des Alkohols ist die Voraussetzung jedes wirk- lichen Fortschrittes in unserm Volksleben, vor allem der Hebung unserer arbeitenden, der minder bemittelten Klassen, und die Meidung des Alko- hols bildet die unentbehrliche Grundlage einer wahrhaft wirksamen Arbeiter- Versicherung und -Fürsorge, die nachhaltigste vorbeugende Maßnahme, die kräftigste Krankheits-, Unfall- und Invaliditäts- Verhütung. »Wir wollen den Alkohol bekämpfen, weil wir wissen, daß in einem solchen Kampfe die beste Arbeiter-Versicherung und -Fürsorge, unentbehrlich für jede andere, steckt«. Wir fügen hinzu: weil wir damit einen ungeheuren Haufen von Kinderelend aus der Welt schaffen und fernhalten. |

Den Hauptvortrag hielt hier auf Wunsch des Präsidenten der deut- schen Kolonialgesellschaft, Herzogs Johann Albrecht zu Mecklenburg, Regenten von Braunschweig, unser Freund Dr. med. Fiebig-Jena, der früher Oberstleutnant des Sanitätsdienstes der Niederl.-Ost-Ind. Armee war, über »Die Bedeutung der Alkoholfrage für unsere Kolonien« Er machte in seinem tiefgründigen, hervorragenden, 2!/, Stunden dauern- den Vortrage u. a. die folgenden auch wiederum auf die Entwicklung des kindlichen Individuums leicht anwendbaren Ausführungen auf Grund viel- jähriger Erfahrung in den Tropen und unter Berücksichtigung der ein- schlägigen Literatur:

Die Anpassung des Europäers an das Tropenklima beruht auf einer Neuregulierung des Blutumlaufs durch das vasamotorische Nervensystem. Die Hautgefäße werden im Anfang durch die Wärme erweitert, danach verengert. Es ist dies eine Schutzmaßregel des Organismus. Dabei wird das Blut von der Haut nach den inneren Organen abgelenkt, die Blut- verteilung wird neu geregelt. Nach 1—2 Jahren ist dieser Prozeß bei hygienisch normaler Lebensweise bei gesunden Personen vollendet; der

76 B. Mitteilungen.

Europäer ist dann körperlich und geistig vollkommen leistungsfähig. Krankheiten können den Akklimatisationsprozeß aufhalten oder definitiv stören. Der Alkohol ist nun ein außerordentlich großes, bei vielen ein dauerndes Hindernis für die Anpassung des Blutgefäßsystems an das Tropenklima, weil er durch seine gefäßlähmende Wirkung das, was die Natur anstrebt, verhindert. Personen, die sich alkoholi- sieren, ist daher die Akklimatisation ebenso erschwert, oder unmöglich, wie Neurasthenikern und Menschen, die mit Gefäß- oder Herzschwäche in die Tropen kommen. Außerdem werden sie besonders empfänglich für allerlei Krankheiten und haben deshalb eine viel größere Sterblich- keit als Nicht- Alkoholisierte. Die vielfach behauptete große Sterblichkeit der Kinder infolge des Tropenklimas be- ruht in der Hauptsache auf ererbter Schwäche und An- fälligkeit für Krankheiten infolge von Alkoholisation des Vaters. Wo normale Zustände herrschen, ist auch in tropischen Malaria- gegenden die Sterblichkeit der Kinder besonders gering. Der hollän- dische Professor der Mathematik Dr. v. Geer stellte, auf Veranlassung der Regierung, zur Sanierung der Witwen- und Waisenkasse der Nieder- ländisch-Indischen Offiziere, ausgedehnte Berechnungen an, als deren Grundlage eine über viele Zehntausende von Fällen sich erstreckende Statistik diente. Er fand, daß für Frauen, Kinder und alte Leute euro- päischer Rasse in gesundheitlicher Beziehung die Tropen ein wahres Dorado sind. Dagegen ist die Sterblichkeit der Männer bis zu 40 Jahren sehr groß. Sie entspricht einem um 10 und 15 Jahre höheren Alter in Europa. Daß diese hohe Sterblichkeit hauptsächlich dem Alkohol zu verdanken ist, der aus den angeführten Gründen in den Tropen besonders deletär wirkt, beweist der Vortragende an der Hand eines Materials, das rund 230 Tausend Krankheitsfälle bei Nicht-Abstinenten und 220 Tausend bei Abstinenten umfaßt. Die ersteren leiden an Infektionskrankheiten aller Art um 37°/,, an Affektionen des Nervensystems um 48°/,, des Gefäß- systems um 59°/,, des Verdauungsapparates um 66 °/, mehr als die Ab- stinenten.

Die Eingeborenen in unseren Kolonien werden durch unsern Schnaps in außerordentlichster Weise geschädigt. Wir töten damit die Henne, die uns die Eier legen soll. Der Redner beschreibt die ursprünglichen Trink- sitten der Eingeborenen in unseren Kolonien und zeigt, daß dabei von einem Alkoholismus als Volkskranrkheit keine Rede sein kann. Diese Er- scheinung ist erst durch die Einführung der europäischen Getränke, vor allem des Schnapses, zu stande gekommen. Auch unsere Kolonialtruppen werden in außerordentlichem Grade durch den Alkohol »geschädig$ und können dadurch ihrer Aufgabe nur mit großen Opfern an Gesundheit und Menschenleben genügen. Außerdem macht der Alkohol die Schutztruppen sehr teuer. Die Alkoholeinfuhr betrug in Südwestafrika im Aufstandsjahre 1904 achthundertundachtzig Tausend Mark. An »Liebesgaben« bekamen die dort kämpfenden Truppen 6815 Kisten alkoholischer Getränke und die Sammlung dieser »Liebesgaben« wird jetzt noch von den Alkoholkapita- listen eifrig fortgesetzt. Unsere Enttäuschungen und Mühen auf kolo-

2. Kind und Alkohol. (I

nialem Gebiete verdanken wir in erster Linie dem Alkohol, was der Vor- tragende ausführlich klarstellt.

Die Alkoholisierung der Europäer und Eingeborenen erschwert die wirtschaftliche Erschließung der Kolonien und gereicht damit uns und unseren Kolonialvölkern zum größten Schaden. Der Redner schlägt zum Schlusse 11 Maßregeln zur Abwehr des Mißstandes vor, deren eingreifendste ist: Verbot der Schnapseinfuhr in die Kolonien und hohe mit dem Al- koholgehalt steigende Besteuerung aller anderen berauschenden Getränke. Diese Kolonialfrage ist nicht bloß wichtig für den Lehrstoff, der der Jugend in der Geographiestunde dargeboten wird, sondern sie geht auch die Jugend direkt an, da doch ein großer Teil dereinst dauernd oder vorübergehend in die Kolonien gehen wird, das Gesagte außerdem aber auch auf die einheimischen Verhältnisse anzuwenden ist.

Ein nicht geringer Teil der Arbeit des » Allgemeinen deutschen Zentral- Verbandes zur Bekämpfung des Alkoholismus« erstreckt sich auf selb- ständige agitatorische Unternehmungen, Eingaben an Parlamente, Bekämp- fung öffentlicher Mißstäude, Massenverbreitung von Flugschriften usw. Von besonderem Interesse dürfte es sein, daß sich der Verband im Laufe des letzten halben Jahres u. a. bemüht hat, der in den letzten Jahren außerordentlich zunehmenden Verbreitung von Cognacbohnen und ähnlichen mit Alkohol präparierten Konfektstücken, die für die Jugend eine bedenk- liche Gefahr bilden, entgegenzuwirken. Es ist seinen Bemühungen ge- lungen, zunächst wenigstens eine Zusicherung des Schokoladenfabrikanten- verbandes zu erlangen, daß der Herstellung von Bonbons mit alkoholfreier Füllung mehr Aufmerksamkeit als bisher gewidmet werde. Übrigens stehen weitere Maßnahmen der Geschäftsstelle des Zentralverbandes in dieser Angelegenheit noch bevor. Wir müssen hier im Interesse der Jugend nachdrücklich betonen, daß die automatischen Naschkasten an öffentlichen Plätzen manches Kind anf bedenkliche Abwege führt. Ein Schutz der Kinder tut hier entschieden not.

Für uns sind außerdem folgende zum Beschluß erhobene Anträge von Bedeutung: Der Allgemeine deutsche Zentralverband zur Bekämpfung des Alkoholismus wolle in allen Bundesstaaten bei den in Frage kommenden Behörden darauf hinwirken, daß in den Koch- und Haushaltungsschulen, den Mädchen-Gewerbeschulen und ähnlichen Anstalten aus dem Lehrplan die Anleitung zur Herstellung von Likören und sogenannten feinen Schnäpsen, sowie ferner die Herstellung von Hausstandsbieren, Obst- und Beerenweinen gestrichen wird und daß fernerhin nicht geduldet wird, aus der Obst- verwertungslehre eine Obstentwertungslehre zu machen. Dagegen ist eine geeignete Unterweisung über die Schädlichkeit des Alkoholgenusses in diesen Schulen ganz besonders zu fordern. Der Allgemeine deutsche Zentralverband zur Bekämpfung des Alkoholismus wolle durch seine Ge- schäftsführung mit Unterstützung der ihm angeschlossenen Vereine veran- lassen, daß eine sogenannte weiße Liste derjenigen Gasthäuser in Deutsch- land angelegt werde, die einen Trinkzwang nach keiner Richtung hin mehr ausüben. Der Allgemeine deutsche Zentralverband zur Bekämp- fung des Alkoholismus wolle bei der Zentralstelle für Volkswohlfahrt be-

78 B. Mitteilungen,

wirken, daß diese eine Untersuchung über das Vorkommen der Rachitis in den verschiedenen Gegenden Deutschlands und im Verhältnis zum Alkoholverbrauch anstelle. Das Anerbieten des »Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke e. V.«, gemeinsam gegen Prof. Cluß- Wien, der im Dienste der Alkoholindustrie bedauerliche und das Ansehen der Wissenschaft herabwürdigende Schriften zum Massenvertriebe in den trinkenden Kreisen herausgab, vorzugehen, ist anzunehmen. Ferner wurden die von Dr. med. Fiebig-Jena zur Bekämpfung des Kolonial- alkoholismus der Reichsregierung vorzuschlagenden Maßnahmen gut- geheißen. Er

3. Ein bemerkenswerter Fall von visuellem Gedächtnis.

In den Genfer »Archives de Psychologie« Bd. VII, No. 25 (Juli 1907) macht unser Mitarbeiter Tobie Jonckheere in Brüssel folgende Mitteilung:

Paul V. ist ein normaler Knabe im Alter von 5 Jahren, das einzige Kind eines Schneiders und einer Wirtschafterin. Er besucht seit drei Jahren einen Brüsseler Kindergarten und gehört gegenwärtig zur mittleren Abteilung, deren Zöglinge durchweg im Alter von 4—5 Jahren stehen. Die Lehrerin bezeichnet ihn als ein sehr nettes und aufmerksames Kind, als einen »guten Schüler«, den man sehr sanft behandeln muß, da er von zarter Gesundheit ist. Die Eltern sagen, er habe ein Herzleiden.

Er besitzt eine Sammlung farbiger Bilder, die ein Handelshaus ver- öffentlicht hat und die Briefträger folgender Gegenden darstellen: Abes- sinien, Alaska, England, Annam, Arizona, Australien, Bolivien, Brasilien, Kaschmir, China, Korea, Korsika, Dänemark, Dekkan, Ecuador, Spanien, Griechenland, Französisch-Guyana, Haiti, Balearen, Niederländisch-Indien, Irland, Japan, Java, Klondike, Luxemburg, Monaca, Rocky Mountains, Montenegro, Mysore, Natal, Norwegen, Neuguinea, Peru, Argentinien, Sal- vador, Serbien, Siam, Tonkin, Trinidad, Venezuela. Jedes Bild stellt einen Briefträger in einer mehr oder weniger gut wiedergegebenen Land- schaft aus den betreffenden Gegenden dar. Links unten in der Ecke ist eine Briefmarke des betreffenden Landes abgebildet, während sich in der rechten oberen Ecke des Rechtecks eine Flagge mit den Landesfarben be- findet. Die Größe des Bildes beträgt 7 X 4,5 cm.

Vor dem Eintritt in die Schule, also vor dem Alter von drei Jahren, lernte das Kind, ohne die geringste Schwierigkeit angeben, welchen Gegen- den die betreffenden Briefträger angehörten. Es interessierte sich sehr für die Bilder; die Mutter zeigte sie ihm oft und sprach ihm von Zeit zu Zeit die Namen der Länder vor, ohne jedoch die wunderlichen Worte dem Gedächtnisse einprägen zu wollen.

Die Vorsteherin des Kindergartens veranlaßte die Mutter, den Kleinen nicht mehr mit seinen Briefträgern spielen zu lassen, um nicht seinen Geist zu ermüden. Paul hat seine Sammlung seit November 1905 nicht mehr gesehen.

4. Die Verbrechen eines l4jährigen Kindermädchens. 79

Ich habe Gelegenheit gehabt, ihn im vergangenen Februar zu prüfen. Unter der Gesamtzahl von 41 Briefträgern hat er 13 wiedererkannt. Um diese 13 Briefträger zu nennen, brauchte er nur 15 Sekunden.

Ich habe der Reihe nach bei jedem der 13 Bilder die untere Hälfte, die obere Hälfte, die rechte und die linke Hälfte, sowie den Namen des Landes verdeckt, und jedesmal hat das Kind den Namen richtig ange- geben. Zeigte ich dem Kinde nur den Namen des Landes, der in Druck- buchstaben unter dem Bilde stand, so erhielt ich keine Antwort, ebenso, wenn ich ihm nur die Briefmarke zeigte.

Auf die Frage, woran erkennst Du diesen Briefträger? antwortete Paul: »An der Fahne«, oder »an der Marke«, oder »an seiner Mütze«, oder »an dem Briefe, den er in der Hand hat«, oder »an seinem Stock«. Das war aber jedesmal ein Irrtum, denn das Kind erkannte den Briefträger, wenn es das bezeichnete Attribut nicht sehen konnte, In Wirklichkeit muß man annehmen, daß bei Paul eine innige Assoziation bestand zwischen der Gesichtsvorstellung, die durch den allgemeinen Eindruck des Bildes hervorgerufen wurde, und der Gehörsvorstellung, die die von der Mutter gesprochenen Wörter erzeugt hatten.

Ich wollte seher, ob das Kind im stande sei, auch schnell die 28 Bilder wiederzuerkennen, die es nicht mehr benennen konnte. Zu diesem Zweke zeigte ich ihm jedes Bild, indem ich den Namen der Gegend aussprach. Unmittelbar danach veranlaßte ich das Kind, die Briefträger wörtlich zu bezeichnen. Ich mußte diese Übung macheu:

l mal, bis das Kind 4 Bilder erkannte,

Du. et » 8 weitere Bilder erkannte, 3 » » » > 6 » » » 4 > » » » 3 » 9 » 5 » » » 3 » » » 6 > a » 2 » » » » » die 2 letzten » >

zusammen 28 Bilder,

4. Die Verbrechen eines l14jährigen Kindermädchens.

Ein 14 Jahre altes Kindermädchen, Ida Schnell aus Schleißheim in Bayern, hat eingestandenermaßen 8 Kinder, meist durch Haarnadelstiche ins Gehirn, getötet, weil ihr das Schreien und laute Atmen der Kinder lästig war. Das »Berliner Tageblatt« (No. 534) berichtet hierzu folgendes:

Die Kindesmörderin von Schleißheim scheint, das geht auch aus dem Zeugnis ihrer Lehrer hervor, ein sehr minderwertiges Mädchen zu sein. Im Unterrichte zeigte sie sich stets sehr apathisch und indolent und machte sehr wenig Fortschritte. In der Schule verhielt sie sich sehr ruhig, das Mädchen wird aber von vielen ihrer Schulfreundinnen als heim- tückisch geschildert. Die Mörderin ist die außereheliche Tochter eines Tagelöhners, der in Lustheim wohnt und in ärmlichen Verhält-

80 | B. Mitteilungen.

nissen lebt. Krankhafte Veranlagung und ungesunde häusliche Verhältnisse scheinen aus dem hageren, schmächtigen Mädchen eine Kindermörderin ge- macht zu haben. Wenn ihre Dienstherren anwesend waren, war sie die liebe- vollste Pflegerin der kleinen Kinder, aber sobald die Erwachsenen aus dem Hause waren, ließ sie die Kleinen unbeaufsichtigt und ging vor das Haus, um sich auf Wagendeichseln zu schaukeln oder sich ähnlichen kindlichen Zerstreuungen hinzugeben. Wenn sie beaufsichtigt wurde, war sie auch sehr fleißig, und im allgemeinen waren ihre Dienstherren sehr zufrieden mit ihr.

Nach der Entlassung aus der Werktagsschule blieb das Mädchen zu- nächst bei den Eltern; im Frühjahr trat sie zum ersten Male als Kinder- mädchen in Dienst. Lange hielt sie es in keiner Stellung aus, vierzehn Tage, drei Wochen; ein einziges Mal blieb sie sechs Wochen. In Schleiß- heim fiel es zwar auf, daß das Mädchen so oft den Dienst wechselte, aber man glaubte, ihre geistige Minderwertigkeit sei schuld an diesem häufigen Wechsel. Schließlich, als man erfuhr, daß die Kinder, die sie pflegte, stets nach kurzer Zeit starben, wurde vor dem Mädchen gewarnt. Meist war die Schnell bei Leuten bedienstet, die früh morgens aufs Feld gingen und spät abends heim kamen, sich also wenig um ihre Kinder kümmern konnten. Zuerst war sie bei dem Tagelöhner Kirrmeier in Mittenheim bei Oberschleißheim tätig. Das Kind, das sie zu pflegen hatte, und das sonst gesund war, starb nach kurzer Zeit. Dann kam kam sie zu dem Ökonomen Bichler in Ampermoching; auch dessen Kind, das schon 8/, Jahr alt war, starb kurz nach dem Dienstantritt des Mädchens. Auch in Mün- chen war die Schnell in zwei Stellungen als Kindermädchen; ob sie auch hier die ihr anvertrauten Kinder getötet hat, ist noch nicht festgestellt. Zuletzt kam sie zu den Tagelöhnerseheleuten Oppenheimer auf dem Löwen- brauereigut Einöde Ober-Grashof zwischen Dachau und Oberschleißheim in “Dienst. Am Dienstag, den 18. September bemerkte Frau Oppenheimer, daß ihr Kind sehr unruhig war, doch konnte man den Grund der Krank- heit nicht erkennen. Als am Mittwoch Mittag Frau Oppenheimer vom Felde zurückkehrte, fand sie die Schnell mit dem Hunde spielend vor dem Hause. »Warum bist du nicht beim Kinde?« fragte sie, und ohne eine Spur irgendwelcher Aufregung antwortete das Kindermädchen: »Ich glaub’, das Kind stirbt. Vielleicht ist es gar schon tot.« Das Kind lebte aber noch und schien, nachdem ihm die Mutter die Brust gegeben hatte, sich wieder zu erholen. Sie ging deshalb am Nachmittag wieder aufs Feld, wurde aber bald zurückgeholt und fand ihr Kind sterbend, in heftigen Zuckungen vor. Die Leichenschan ergab, daß das Kind am Halse zwei blaue Flecken hatte. Am 21. September wurde das Kind beerdigt. An dem Begräbnis nahm auch die Schnell teil und ging dann mit ihrem Vater wieder nach Lustheim.

Den Anstoß zur Exhumierung des Söhnchens des Ökonomen Bichler in Ampermoching gab laut »Münchener Neuesten Nachrichten« der praktische Arzt Dr. Fischl in Röhrmoos, dem aufgefallen war, daß alle Kinder, die der Obhut der Schnell anvertraut waren, starben. Er wandte sich zu- nächst an das Bezirksamt, und dieses machte der Staatsanwaltschaft Mit- teilung davon. Daraufhin wurde die Exhumierung in Ampermoching an-

4. Die Verbrechen eines 14jährigen Kindermädchens. 81

geordnet, die die Vermutung bestätigte. Die Schnell gestand nach an- fänglichem Leugnen. |

Der Gerichtsarzt Geh. Med.-Rat Dr. Straßburger in Berlin hat sich einem Mitarbeiter der genannten Zeitung über den Fall folgendermaßen geäußert:

»Eine Tat wie die hier vorliegende setzt natürlich stets einen schweren seelischen Defekt voraus. Dieser Defekt ist so schwer, daß man wohl eine Handlung krankhafter Natur vermuten kann. Wahrscheinlich kommt degenerativer Schwachsinn in Betracht. Natürlich läßt sich mit Sicherheit darüber immer nur dann urteilen, wenn man den Fall aus eigener Anschauung kennt und den Täter lange und gründlich beobachten kann. Ganz allgemein sollte in derartigen Fällen immer vor allem daran gedacht werden, daß die heutige gerichtsärztliche Praxis ein hohes morali- sches Irresein ohne begleitende psychische oder physische Krankheits- erscheinungen nicht kennt. Es ist kaum ein einziger Fall vorhanden, wo bei sonst völlig normalem Verhalten nur der ethische Defekt aufge- treten wäre. Deshalb wird man auch nie auf die pathologische Natur einer Handlung schließen dürfen, wenn dieser Schluß nicht auch sonst in einer Anzahl rein klinischer Kriterien begründet ist. Diese klinische:: Kriterien können seelischer oder körperlicher Art sein. In psychischer Hinsicht zeigt sich geistige Schwäche, Schwachsinn, das Fehlen der Mög- lichkeit, höhere geistige Arbeit zu leisten, das Fehlen der allgemeinen sitt- lichen Begriffe von frühester Kindheit an, unharmonische Ausbildung der Seelenkräfte und vieles andere mehr. Begleitet sind diese seelischen Störungen meist noch von krankhaften Erscheinungen in der Körpersphäre. Allgemeine Entartungszeichen wie Asymmetrie des Kopfes und körperliche Deformitäten aller Art treten auf. Natürlich sind auch sie noch nicht allein ausschlaggebend. Bei den ungeheuer vielen Kreuzungsmöglichkeiten zwischen einem geistig und körperlich Gesunden und einem in irgend einer Beziehung Defekten kann ein Mensch sehr wohl zum Beispiel körperlich durch Vererbung defekt, dagegen seelisch vollkommen normal sein. Deswegen wird zur Feststellung der krankhaften Natur einer Tat auch weitergeforscht nach der allgemeinen Veranlagung, nach früheren schweren Krankheiten und nach etwa gleichzeitig vorhandenen nervö- sen Störungen (Hysterie oder Epilepsie). Nur wenn der Befund in diesem Sinne positive Ergebnisse zeitigt, kann von Krankheit als von der letzten Ursache der Tat gesprochen werden.

Analoge Fälle sind verhältnismäßig wenig vorhanden. Man könnte etwa die Giftmischerinnen und Engelmacherinnen anführen. Zu den strafmildernden Momenten gesellt sich ja in diesem Falle sowieso das kindliche Alter der Verbrecherin. Es versteht sich von selbst, daß Jugendliche Personen sich der Tragweite ihrer Handlungen nicht in dem Maße bewußt sind wie Erwachsene. Der körperliche und geistige Status von Jugendlichen und Erwachsenen ist in keinem Falle gleichmäßig zu beurteilen. Somit ist zu vermuten, daß trotz der Ungeheuerlichkeit der Tat das pathologische Moment und das Moment des jugendlichen Alters der Verbrecherin strafrechtlich wesentlich zu ihren Gunsten sprechen werden.«

Zeitschrift für Kinderforschusg. XII. Jahrgang. 6

82 B. Mitteilungen.

5. XII. Blindenlehrerkongress in Hamburg vom 23.—27. September 1907 im Logenhause Welckerstraße 8.

Von G. Fischer- Braunschweig.

In der Vorversammlung am Montag abends 6 Uhr wurde nach der Begrüßung der Kongreßteilnehmer seitens des vorbereitenden Ausschusses zunächst das Kongreßpräsidium gewählt und zwar znm Präsidenten der Direktor der Hamburger Blindenanstalten Merle, zum Ehrenpräsidenten Senator Kähler, zu Beisitzern Direktor Mey-Halle und Direktor Lembcke- Neukloster, zu Schriftführern die Lehrer Peyer und Grasemann. Das der Versammlung vorgelegte Programm wurde angenommen. Einige An- träge betr. Abänderung der Kongreßordnung vom Jahre 1882, welche vom Kongreß in Frankfurt a. M. festgestellt worden war, fanden die Zustim- mung der Versammlung. Von den zahlreich erschienenen Blinden, welche als Gäste oder außerordentliche Mitglieder an den Verhandlungen teil- nehmen können, aber nicht stimmberechtigt sind, wurde das Stimmrecht beantragt; die Versammlung lehnte jedoch diesen Antrag ab. Statt der seitherigen drei Sektionen wurde ein »ständiger Kongreßausschuß« gewählt, welcher künftig die Vorbereitung der Kongresse besorgen wird; derselbe besteht aus folgenden Mitgliedern: Kunz-Ilzach, Brandstaetter-Königs- berg, Zech-Danzig, Lembcke-Neukloster, Matthies-Steglitz, Fischer- Braunschweig und dem jedesmaligen Kongreßpräsidenten.

Am Dienstag, den 24. Sept. vormittags 10 Uhr fand die Eröffnungs- sitzung Statt. Die Zahl der Teilnehmer betrug annähernd 300. Die deutschen und zahlreiche ausländische Blindenanustalten waren durch ihre Leiter und Lehrer bezw. Behörden vertreten. Aus Frankreich, Holland, Schweden, Österreich- Ungarn, England, Rußland, Rumänien, Kapland und Japan waren Teilnehmer zugegen. Von dem Direktor Merle als Präsi- denten, dem Professor Dr. Ahlborn als Vertreter des Senats und der Oberschulbehörde in Hamburg, dem Geh. Regierungsrat Heuschen- Berlin als Vertreter des preußischen Unterrichtsministers Dr. Holle, Mgr. Vaughan als Vertreter des Präsidenten der französischen Republik, Herrn Hattori als Vertreter des japanischen Unterrichtswesens, dem Ministerialsekretär im Unterrichtsministerium Florian-Wien, dem Wirkl. Staatsrat Nadler- Petersburg, Direktor Lundberg-Stockholm, Direktor Monske-Bukarest u. a. begrüßt, hielt zuerst Direktor Matthies einen Vortrag über »Die Humanität im Dienste der Blinden«. Seine Ausführungen enthielten einen geschichtlichen Überblick über die Humanität gegenüber den Blinden in der Vergangenheit und in der Gegenwart sowie einen Ausblick in die Aufgaben der Zukunft. In frühesten Zeiten sind die Blinden und Schwachen nicht, wie einige sagen, verehrt, sondern eher verachtet, höchstens geduldet worden. Schon besser als bei den meisten Völkern des Orients war das Los der Blinden hei den Israeliten, obwohl sie bis zu Christi Zeiten als mit einem Kainszeichen behaftet angesehen wurden. Erst Christus hat den Fluch und den Bann von den Blinden genommen. Später betrachtete man sie als Krenzträger, die überall ihr Almosen empfangen durften. Noch zu Christi Zeiten mußten sie betteln gehen, dann setzte die christ-

5. XI. Blindenlehrerkongreß in Hamburg. 83

liche Humanität ein. An die Stelle der Gleichgültigkeit trat die Mild- tätigkeit. Unter Ludwig IX. von Frankreich wurde das älteste Blinden- hospiz in Paris begründet. Es war aber ein Bettel- und Gnadenbrot, das die Blinden dort genossen. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts endlich ging für die Blinden der Stern der Humanität völlig auf; es entstanden die Blindenunterrichtsanstalten, und die Humanität gegen die Blinden wurde in die richtigen Bahnen gelenkt. Als eine besonders wirkungsvolle Form der Humanität müssen die 1873 ins Leben gerufenen Blindenlehrer- kongresse angesehen werden. 1892 sah der Zedlitzsche Schulgesetz- entwurf für Preußen schon die Anstaltspflicht für schulpflichtige Blinde vor, doch ist dieselbe heute noch ein ungelöster Wechsel, während in an- deren Staaten, z. B. Sachsen, Braunschweig u. a. die gesetzliche Anstalts- pflicht für blinde Kinder bereits längere Zeit besteht. Die Humanität des 20. Jahrhunderts geschieht besonders nach drei Richtungen: 1. Ausbildung den Bildungsfähigen, 2. Erwerb den Erwerbsfähigen und 3. Versorgung den Arbeitsunfähigen. Die Humanität gegen die Blinden ist besonders in jüngster Zeit im Wachsen. Der deutsche Kaiser, der Kaiser von Öster- reich und andere Monarchen bekundeten wiederholt ihr lebhaftes Interesse an der Blindenfürsorge durch Werke der Humanität an den Blinden. Redneı schloß mit den Worten, welche der Kaiser in Hannover ge- sprochen: »Gottvertrauen gibt Selbstvertrauen, Selbstvertrauen gibt Ent- schlossenheit, die Ziele zu erreichen, die man sich gesetzt hat.«

Dann sprach Oberarzt Dr. Nonne-Hamburg »Über die durch orga- nische Erkrankungen des Nervensystems bedingten Erblindungen«e. Nach einer physiologischen Erklärung des Sehvorganges und der Sehorgane vom Auge bis zum Sehzentrum im Gehirn behandelte er die verschiedenen Ur- sachen der Erblindung, Verletzungen, Geschwülste, Gehirnhautentzündung, Tuberkulose, Syphilis und Vergiftungen (z. B. durch Atoxil und Alkohol- mißbrauch) usw. Als weitere häufig vorkommende Ursachen der Erblin- dung nennt er die Blutung und die Erweichung tief im Gehirn, die Rückenmarksentzündung allein oder in Verbindung mit der Gehirnhaut- entzündung. Blutung tritt ein, wenn ein Gefäß berstet, ein im Alter häufig vorkommender Fall, wenn die Gefäßwände nicht mehr elastisch genug sind, um dem Blutdruck standhalten zu können. Diese Erkrankung ist unheilbar. Gehirnerweichung tritt ein bei Ernährungsstörung im Gehirn. Auch die Rückenmarkserweichung kann zur Erblindung führen, glücklicher- weise bleibt aber bei dieser Krankheit häufig ein Teil der Sehkraft erhalten. Redner illustrierte seinen Vortrag durch eine Reihe vortrefflicher Licht- bilder und Abbildungen und fand mit seinen lehrreichen Darlegungen reichen Beifall.

Darauf hielt Inspektor Fischer, Vorsteher der Blindenanstalt in Braunschweig, seinen Vortrag über »Die Raumvorstellungen der Blinden«. Er führte etwa folgendes aus:

Die Außenwelt und die Innenwelt der menschlichen Seele stehen in beständigem Wechselverkehr durch die Sinnesorgane; die verkehrsreichste Bahn ist das Auge, welches etwa °/iọ aller Sinneswahrnehmurgen ver- mittel. Durch Ausschalturg dieses wichtigen Verkehrsweges, welche bei

6*

54 B. Mitteilungen.

Blinden stattfindet, würde der Verkehr mit der Außenwelt zum größten Teile aufgehoben werden, wenn nicht ein anderes Organ für die Zuleitung der Eindrücke der Außenwelt herangezogen werden könnte. Dieses Organ, das jedoch zum Auge in dem Verhältnis einer Kleinbahn zu einer Haupt- bahn steht, ist der Tastsinn, der auch bei feinster Ausbildung das Seh- organ nie völlig ersetzen kann. Die geringere Leistungsfähigkeit des Tastsinnes gegenüber der des Gesichtssinnes ist anatomisch und physio- logisch begründet, wie Redner des näheren erörterte. Da aber der Tast- sinn der Seele Inhalte zuführt, welche sowohl an Quantität wie an (Qualität von denen der Sehenden verschieden sind, und da außerdem alle Empfin- dungen der Sinne, auch die des Tastsinnes, in das Raum- oder Zeitschema eingeordnet werden, so tritt dieser Unterschied auch in den Raumvor- stellungen der Blinden in Bezug auf Entstehung, Art und Umfang zutage. Unter den Faktoren, welche das Seelenleben des Blinden eigenartig ge- stalten, stehen daher die Raumvorstellungen des Blinden mit an erster Stelle.

Die Eigenart im Seelenleben entwickelt sich am ausgeprägtesten bei Blindgeborenen oder Früherblindeten, denn Späterhlindete haben in der Regel keine reinen Tastvorstellungen, sie reproduzieren vielmehr mit den Tastempfindungen Gesichtseindrücke aus ihrer früheren Zeit, leben also eigentlich nicht im reinen Tast- oder haptischen, sondern im visuellen oder optischen Raume. Die Verschiedenheiten zwischen den Bewußtseins- inhalten des Sehenden und Blinden lassen sich sehr schwer genau be- stimmen, da der Blinde sich als Ausdrucksmittel seines Innenlebens der Sprache der Sehenden, welche sich unter dem dominierenden Einfluß des Sehorganes herausgebildet hat, bedient, welche er auf seine eigenartige Vorstellungswelt überträgt.

Bei jeder Empfindung unserer Sinnesnerven unterscheiden wir die Qualität (Farbe, Ton, Berührungsempfindung), die Intensität (Grad oder Stärke der Empfindung), die Ausdehnung (räumliche Anordnung) und die Dauer oder Zeit. Diese vier Momente finden wir vereinigt bei allen Ge- sichts- und Tastempfindungen; den Gehörsempfindungen fehlt das räum- liche Moment insofern, als sie uns über die Form oder Gestalt der Schall- quelle keinen Aufschluß geben, sondern nur über die Richtung und Ent- fernung derselben, welche wir indirekt mit Hilfe der Assoziation abschätzen. Die räumliche Form der Gegenstände erkennen wir nur durch das Gesicht oder Getast. Bei Blinden (Blindgeborenen oder Früherblindeten) kann die Raumvorstellung nur auf dem Wege des Tastens direkt erworben werden. Der Tastsinn hat seinen Sitz in der unseren ganzen Körper umgebenden Haut; er wird in der räumlichen Auffassung unterstützt durch gewisse Empfindungen, welche in den Muskeln, Sehnen und Gelenken stattfinden und als Bewegungsempfindungen bezeichnet werden. Bezüglich der ana- tomischen Beschaffenheit der Tastapparate und der physiologischen Unter- suchungen und Ergebnisse über -die Reiz- und Unterschiedsschwelle, z. B. das Webersche Gesetz, verweist er auf die bekannten fachwissenschaft- lichen Werke, erörtert aber eingehender das Lokalisationsvermögen der Haut, den ÖOrtssinn, die Fähigkeit, den Ort eines Hautreizes oder einer Berührung zu bezeichnen, welche durch die sogenannte Raumschnelle d. h.

5. XII. Blindenlehrerkongreß in Hamburg. 85

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den kleinsten Abstand zweier Punkte der Hautoberfläche, deren gleichzeitige Reizung noch durch zwei getrennte Ortsempfindungen bemerkt wird, ge- messen werden kann. Die Feststellung der Raumschwelle, welche an den verschiedenen Hautstellen sehr verschieden ist, ist von großer Wichtigkeit, weil sie die Fähigkeit des Tastsinnes zur Auffassung räumlicher Verhält- nisse genau bestimmt.

Durch Experimente ist die Raumschwelle an den verschiedenen Haut- partien genau festgestellt worden; auch die Schwellenwerte der Bewegungs- empfindungen in Bezug auf Größe und Geschwindigkeit sind experimentell untersucht. Die betreffenden physiologischen Werke enthalten die Tabellen, auf welche Redner verweist.

Der Raumsinn der Haut und die Bewegungsempfindungen vermitteln die Raumvorstellungen. Das sinnliche Material zum Aufbau räumlicher Vorstellungen entnimmt also der Blinde den Qualitäts- und Intensivitäts- empfindungen seines einzigen Raumsinnes, des Tastsinnes, welche er in den Tast- oder haptischen Raum einordnet.

Nach dieseı Erörterung des sinnlichen Materials und des physiolo- gischen Vorganges bei den Tastempfindungen ging Redner auf die psycho- logische Frage nach dem Ursprung und der Entwicklung der Raumvor- stellungen ein. An den Raumtheorien verschiedener Philosophen, z. B. Kant, Schopenhauer, Herbart, Weber, Lotze, Wundt und Stumpf, welche die Raumvorstellung teils aus der Erfahrung (empirische Theorien) ableiten, teils als vor der Erfahrung gegeben oder als Teilinhalt oder als Eigen- schaft der Empfindung oder als immanente Eigenschaft der Seele be- trachten (nativistische Theorien) brachte er den Nachweis, daß diese Theo- rien für den Tastraum die gleiche Bedeutung haben wie für den Sehraum. Die Frage, ob die Empfindungsinhalte, welche wir Raum nennen, beim Gesichts- und Tastsinn gleich oder ungleich, homogen oder heterogen sind, beantwortet er dahin, daß Tast- und Sehraum trotz der Unterschiede in der Ausdehnung in formeller Beziehung übereinstimmen, Auf Grund eigener Versuche und Erfahrungen bei Blinden ist er zu der Ansicht ge- kommen, daß der Blinde innerhalb der Grenzen des Tastraumes eine Menge klarer, deutlicher Raumvorstellungen sich anzueignen vermöge, und daß tastgeübte Blinde wirklich zahlreiche klare Raumvorstellungen besitzen, wie auch jeder Blindenlehrer aus Erfahrung wisse. Bei Blinden tritt das räumliche Moment gegenüber den (ualitätsempfindungen auffallend hervor, so daß ihre Vorstellungen unseren rein geometrischen Vorstellungen von Linien, Winkeln, Flächen und Körpern ähnlich sind. Bei der Funktions- weise des Tastsinnes bedarf der Blinde mehr als der Sehende zur Gewin- nung der Raumvorstellungen der leitenden Hand des Lehrers. Klare Raumvorstellungen sind zu einer harmonischen Entwicklung der Blinden unentbehrlich. Der gesamte Blindenunterricht, nicht nur die Fächer, welche besonders für Raumvorstellungen in Frage kommen, hat nach Möglichkeit durch Übung und Betätigung der Tastorgane für klare Raum- vorstellungen Sorge zu tragen. Nach einem Hinweise auf größere Berück- sichtigung des ästhetischen Momentes bei der Aufnahme von Raumvor- stellungen, welches bisher weniger beachtet wurde, schließt er mit dem

8&6 B. Mitteilungen.

Worte Lessings: »Die größte Deutlichheit war mir immer die größte Schönheit. «

Ein dem Raumsinn der Haut nahestehendes Gebiet behandelte hieranf Professor Kunz-Illzach in seinem Vortrage »Das Orientierungsvermögen und das sogenannte Ferngefühl der Blinden und Taubblinden«, welches er an Experimenten mit Blinden aus der Hamburger Blindenanstalt er- läuterte.

Der Blinde bemerkt bekanntlich aus einer gewissen Entfernung Hinder- nisse, welche ihm beim Gehen und Fortbewegen entgegentreten. Er weicht solchen Hindernissen, Bäumen, Mauern, Straßenlaternen usw., welche ihm im Wege stehen, beizeiten aus. Ein Druckgefühl in der Stirn-, Schläfen- oder Ohrgegend oder auch im Trommelfeil, von zurückgeworfenen Luft- wellen herrührend, wie auch gewisse Gehörsempfindungen lassen ihn das Vorhandensein solcher Gegenstände schon vor der unmittelbaren Berührung erkennen und schützen ihn vor Verletzungen (s. auch M. Kunz, »Das Örientierungsvermögen und das sogenannte Ferngefühl der Blinden und Taubblinden« bei Engelmann, Leipzig 1907).

Herr Truschel führt dieses Ferngefühl auf reflektierte Schallwellen zurück; da aber auch Taubblinde dasselbe zeigen, so dürfte Truschels Schallwellentheorie nicht zutreffen. Nachdem die Tagesordnung des 1. Tages hiermit erschöpft war, fand nachmittags eine gemeinsame Besichtigung der mit dem Kongreß verbundenen Aussteliung von Lehrmitteln für den Blindenunterricht statt, welche sehr reichhaltig mit Büchern, Karten, Schreibapparaten (Schreibmaschinen) und Arbeiten von Blinden, Plänen, Skizzen von Anstalten und Veranschaulichungsmitteln für die verschie- denen Lehrfächer des Blindenunterrichts besetzt war.

Ein Verzeichnis der Ausstellungsgegenstände erleichierte den Be- suchern die Besichtigung.

Abends 8 Uhr fand ein Festessen im Uhlenhorster Fährhause statt.

Auf die vom Kongreß an den deutschen Kaiser, den Kaiser Franz Joseph und die Königin von Rumänien gerichteten Telegramme gingen herzliche telegraphische Danksagungen ein.

Der zweite Verhandlungstag begann mit dem Vortrage des Direktors der neuen königlich sächsischen Bliudenanstalten in Chemnitz »Über den Bau und die Organisation einer Blindenanstalt«.

Aus dem ausführlichen Vortrage, der im allgemeinen die Verhältnisse der der Leitung des Redners unterstehenden Blindenanstalt in Chemnitz schildert, ist folgendes zu bemerken:

Als ein geeigneter Ort für die Errichtung einer Blindenanstalt ist eine möglichst in der Mitte des Landes oder der Provinz gelegene größere Stadt mit günstigen Verkehrs- und Erwerbsverhältnissen zu betrachten. Am zwekmäßigsten wird man sie an die Peripherie der Stadt verlegen, so daß für ihre Insassen die Vorzüge der größeren Stadt mit denen eines gesunden Aufenthaltes ın freier Gegend verbunden sind. Er fordert im Gegensatz zu dem bisher angewandten sogenannten Korridorsystem die dezentralisierte Bauweise oder das Pavillonsystem, das allerdings kost- spieliger, dafür aber aus hygienischen, pädagogischen und praktischen

5. XII. Blindenlehrerkongreß in Hamburg. 87

Gründen vorzuziehen sei. Seine weiteren Ausführungen betreffen die Ein- richtung und Ausstattung der Wohn- und Schlafräume, der Schul- und Verwaltungsräume, der Werkstättengebäude und der übrigen Anstaltsräume, sowie dıe Organisation einer Blindenanstalt in Bezug auf die Beamten, deren Funktionen und das Dienstpersoral, die Unterbringungsbestimmungen für die Blınden, den Unterricht, die Erziehung und Verpflegung der Zög- linge und die Fürsorge für die entlassenen Zöglinge. Er zeichnet eine Ideal-Blindenanstalt, wie wir sie tatsächlich in Chemnitz finden. Zahlreiche Photographien von den einzelnen Gebäuden der Chemnitzer Anstalt und ihren inneren Einrichtungen erläuterten den eingehenden interessanten Vortrag.

An zweiter Stelle sprach Direktor Zech-Königsthal bei Danzig über die Forderungen der neueren Pädagogik mit Bezug auf den Blindenunter- richte. Den Darlegungen liegen folgende Leitsätze zu Grunde:

1. Der Blindenunterricht schließt sich in Stoff und Methode vielfach zu eng an den Unterricht für vollsinnige Schüler an. Er muß mehr als bisher aus der Natur und dem Bedürfnis des blinden Kindes herauswachsen.

2. Der Blindenunterricht muß dem Schüler die Möglichkeit bieten, auf dem Wege persönlicher Beobachtung und weitgehendster Selbst- tätigkeit ein Verständnis der realen Welt zu erlangen.

3. Die Ausbildung der produktiven Kräfte des Schülers ist eine Haupt- aufgabe des Blindenunterrichts.

4. Der Blindenunterricht soll soweit als ınöglich heimatliches Gepräge haben.

5.- Der Blindenunterricht soll bei aller Geschlossenheit doch auch der freien Betätigung persönlicher Kraft des Schülers den nötigen Spielraum lassen.

Nachmittags fanden Besichtigungen der Blindenanstalt von 1830, des Blindenasyles (Beschäftigungsanstalt) in der Alexanderstraße und des Blinden-Altenheims für erwerbsunfähige alte Blinde statt. Der Leiter der Hamburger Blindenanstalten, Direktor Merle, hat es verstanden, die ge- samte Blindenfürsorge (Unterricht und Erziehung, Beschäftigung und Ver- sorgung) aus kleinen Anfängen zu einer Höhe zu entwickeln, welche von den Kongreßteilnehmern allgemein anerkannt wurde.

Auch die Zentralbibliothek für Blinde verdankt ihr Entstehen den Bemühungen des Direktors Merle; sie befindet sich im Altenheim.

Abends veranstaltete Herr W. Vogel-Hamburg ım großen Saale des Conventgartens ein Konzert blinder Künstler zu gunsten der Zentralbiblio- thek für Blinde in Hamburg, welche die Blinden Deutschlands unentgeltlich mit Lektüre versorgt, und des »Vereins der deutschredenden Blinden«. Das gut besuchte Konzert zeigte, daß es im Gegensatz zu den minder- wertigen blinden Musikern, welche häufig Konzerte aufführen, auch wirklich tüchtige blinde Künstler gibt. Hervorragend waren u. a. die Leistungen des blinden Pianisten A. Menn aus Köln, sowie die des blinden Violi- nisten Günzburg aus Berlin und der blinden Hamburger Organisten Gohde und Nathan.

88 B. Mitteilungen,

Am Donnerstag den 26. September hielt zuerst Dr. Levisohn, Privatdozent an der Universität in Berlin einen Vortrag über das Thema: Gehören Schwachsichtige in die Blindenanstalt? Er verlangt Hilfsklassen für Schwachsichtige, die zweckmäßigerweise teils den Blindenanstalten, teils den Normalschulen angegliedert werden sollen. Die Unterbringung von Schwachsichtigen in Blindenanstalten uud Normalschulen sei in- opportun und wenig pädagogisch; inopportun, weil diese Anstalten mit einem Material belastet würden, das vermöge seiner körperlichen Über- legenheit störend auf den Unterricht einwirke oder infole seines körper- lichen Defektes dem Unterricht gar nicht zu folgen in der Lage sei; wenig pädagogisch, weil in beiden Fällen die Ausbildung der Schwach- sichtigen unzureichend bleibe. Die Entlastung der in Frage kommenden Anstalten würde eine größere Anzahl von Kräften freimachen, die nutz- bringend in den Dienst der Hilfsklassen eingestellt werden könnten, so daß die Einrichtung der letzteren keine wesentlichen Opfer erfordere.

Über die »Hauptergebnisse der amtlichen Blindenzählungen im Jahre 1900 sprach sodann Blindenlehrer Schaidler-München, der dabei graphische Darstellungen vorführte. In Deutschland wurden ungefähr 34000 Blinde gezählt, etwa 6 auf 10000 Einwohner. Der Nordosten Deutschlands zeigt relativ die meisten Erblindungen. Die Blindheit hat seit 1871 um 30,5%, abgenommen, die Zahl der Blinden absolut um 2623. Die geringste Er- blindungsgefahr besteht zur Schulzeit, die höchste zwischen dem 70. und 80. Lebensjahre. Die relative Zahl der Erblindungen verdoppelt sich in dem höheren Lebensalter von Jahrfünft zu Jahrfünft.

Direktor Wagner-Prag berichtete sodann über »Statistische Blinden- erhebung und gegenwärtiger Stand der Blindenstatistik in Europa’ samt Änderungsvorschlägen«. Redner empfahl, der Kongreß wolle den Beschluß fassen, eine allgemeine Einheitlichkeit a) der Blindenerhebung, b) der statistischen Bearbeitung, c) der amtlichen Verlautbarung dieser Bearbeitung für alle europäischen Staaten im Wege der beteiligten Staatsämter anzu- bahnen und mit letzteren eine ständige Fühlungnahme anzustreben. Ferner empfahi der Redner die Annahme folgenden Beschlusses:

In Ansehung des großen Umfanges einer zu verbessernden Blinden- statistik und der Sonderheit dieses Fachgebietes, sowie seiner notwendigen Pflege in allen europäischen Staaten wird eine eigene aus Mitgliedern möglichst vieler Staaten bestehende, sich frei ergänzende Kommission ein- gesetzt, die sich die Hebung der Blindenstatistik zur Aufgabe macht.

Der Beschluß wurde angenommen. In die Kommission wurden ge- wählt: Direktor Wagner für Österreich, Dr. Paly für die Schweiz, Blindenlehrer Schaidler für Bayern, Direktor Monsky-Rumänien u.a. Die Kommission soll sich noch ergänzen.

Blindenlehrer Schlüter-Neuwied legte ein Mathematik-System für Blinde (mathematische Bezeichnungen in Braillescher Punktschrift), welche sich dem Studium der Mathematik auf höheren Schulen widmen, vor, welches vom Kongreß angenommen wurde.

Auch die Grundlinie eines Lehrplanes für Blindenschulen, von Direktor Zech infolge der von Fischer-Braunschweig durch seinen Vortrag auf

5. XII. Blindenlehrerkongreß in Hamburg. 89

den Kongressen in Berlin und Breslau »Normallehrplan für Blindenschulen « gegebenen Anregung entworfen, fanden die Annahme der Versammlung.

Auch der Antrag: »Der Kongreß wolle beschließen, eine Kommission einzusetzen, die auf Grund eines vom Blindenlehrer Bauer-Breslau auf- gestellten Lehrplanentwurfes die Klärung und Förderung der Blinden- Fortbildungsschulfrage zum Gegenstande ihrer Behandlung macht, mit dem Ziele, dem nächsten Kongresse die Grundlinien resp. den Entwurf zu einem Blinden -Fortbildungsschul-Lehrplane zu unterbreiten«, wurde angenommen.

In der nun folgenden Generalversammlung des » Vereins zur Förde- rung der Blindenbildunge wurde nach Erledigung geschäftlicher An- gelegenheiten über den Druck neuer Blindenschriften beraten.

Nachmittags wurde eine Hafenrundfahrt unternommen und ein Aus- wandererdampfer, »Meteor«, der Hamburg-Amerika-Linie besichtigt, auf welchem die Besucher bewirtet wurden.

Am Freitag, den 27. September begannen die Verhandlungen mit dem Vortrage des Direktors Heller- Wien über »Die Qualifikationsnach- weisungen an den Bildungsmitteln der Blindenschule«. Der Elementar- unterricht der Blinden ist nicht allein die Darbietung der einfachsten und notwendigsten Bildungsmittel, sondern anch als die Einübung jener Ele- mentarfunktionen aufzufassen, die die Umwandlung äußerer Erwerbungen in innere bewirken. Dazu sind die Qualifikationsnachweisungen an den Bildungsmitteln der Bindenschule eine Notwendigkeit. Diese Nach- weisungen dürfen sich nicht auf die Anwendbarkeit allein beschränken, sıe müssen bis zum psychischen Mittelpunkt pädagogischer Tätigkeit vor- dringen, und da für letztere der Lebenserfolg der eigentliche Wertmesser ist, müssen die Bildungsstoffe aus dem Leben, daher aus der Erfahrung, der Untersuchung, der Beobachtung, nicht bloß aus rasch wechselnden Anschauungen allein gewonnen werden. Diese Erwerbungen bilden, da sie hauptsächlich aus der Natur und der dieser nachstrebenden Kunst und Tehnik hervorgehen, die Gestaltwirkung, zu höchst die ästhetische Gestalt- wirkung aus, deren Nachweisungen für die Leistugsfähigkeit des Tastsinnes von großer Wichtigkeit sind. Eine fernere Nachweisung ist die der Assi- milation der Bildungsstoffe, wodurch das höchste Ziel der Blindenbildung, die der Einheit, erreicht wird, sowie die Nachweisung der den Denkprozeß begleitenden Gefühle der Übereinstimmung und des Widerspruchs, aus denen sich die der Wahrheit und der Unwahrheit erheben, zwischen welche die Unentschiedenheit den Zweifel stellt.

Die Ausführungen faßte er in folgenden Leitsätzen zusammen:

1. In der Blindenschule ist für die Auswahl und die Behandlung der Bildungsmittel nicht nur die durch den Zustand der Blindheit ge- botene Beschränkung und Umwertung, sondern auch die Wechsel- wirkung zwischen dem Zweck der Bildungsmittel und den durch dieselben erzeugten psychischen Vorgängen maßgebend,

2. Die Wirkung der Bildungsmittel soll nicht vornehmlich an der Summe der Erwerbungen schlechthin, an ihrer Anwendbarkeit und an den gewandten Referaten des Schülers, sondern an der Hebung geistiger Selbständigkeit und Produktivität abgemessen werden.

90 B. Mitteilungen.

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3. Eine wesentliche (Jualität dieser Bildungsmittel ist auch darin zu erblicken, daß die durch sie herbeigeführten Neuerwerbungen sich mit dem bisherigen Besitzstande auf allen Gebieten organisch zu einem festgefügten Ganzen vereinigen lassen.

4. Eine periodisch wiederkehrende Revision der Bildungsmittel ist notwendig; sie soll bei sachlich begründeter Rücksichtnahme auf die Tradition im Hinblick auf den jeweiligen Stand der Blinden- pädagogik geschehen und die von der Zweckmäßigkeit bedingte Originalität anstreben.

Blindenlehrer Schorcht-Chemnitz sprach über das Thema »Empfiehlt sich in Blindenanstalten das Fachlehrer- oder das Klassenlehrersystem Nach eingehender Begründung empfiehlt er eine Verschmelzung beider Systeme derart, daß er dem Klassenlehrer- Unterricht die Fächer Religion, Deutsch und Rechnen, ev. auch Geographie, Geometrie und Zeichnen, da- gegen dem Fachlerer-Unterricht die Fächer Modellieren, Holzarbeiten, Natur- lehre und Naturgeschichte in den oberen Klassen der Blindenschule zu- weist, während er für die unteren und mittleren Klassen den Klassen- lehrerunterricht ohne weiteres fordert.

Direktor Lenderink-Amsterdam gab alsdann einen Bericht über die Fürsorge der Blinden in den holländischen Kolonien.

Ein Antrag des Herrn W. Vogel betr. Stenerung des Unwesens und der schädlichen Begleiterscheinungen von sogenannten Blindenkonzerten wurde von der Versammlung der ständigen Kommission zur weiteren Maßnahme überwiesen.

Als nächster Kongreßort im Jahre 1910 wurde zufolge herzlicher Einladung Wien bestimmt.

Nach einem Schlußwort des Präsidenten wurde der Kongreß, welcher ein reiches, nur der Sache der Blinden dienendes Arbeitsprogramm bewältigt hatte, geschlossen.

Direktor Wagner-Prag dankte dem Präsidenten Merle-Hamburg im Namen der Teilnehmer für die vortreffliche Leitung der Verhandlungen.

Eine große Zahl der Mitglieder beteiligte sich an den beiden folgenden Tagen an einer Fahrt nach Helgoland.

6. Umschau auf dem Gebiete des Hilfsschulwesens.

Die Verhandlungen auf dem Charlottenburger Verbandstage klingen in der Tagespresse in Mitteilungen über die den militärischen Ersatz- kommissionen einzureichenden Schulgutachten und über die Fortbildungs- schule für Schwachheanlagte aus.

Es werden auch verschiedene Formulare für die Gutachten empfohlen eingehende, die nur für schulentlassene Hilfsschüler bestimmt sind, und einfachere, die auch zur Charakterisierung solcher Schwachbeanlagter verwendet werden sollen, welche die allgemeine Volksschule besucht haben. Man setzt in den Hilfsschulen eine sachkundigere und sorgfältigere Beob- achtung geistiger Schwäche und ihrer Ursachen voraus.

6. Umschau auf dem Gebiete des Hilfsschulwesens. 91

Das Kielhornsche Formular ist durch seine Verteilung in Charlotten- burg hinreichend bekannt geworden.

Das Königl. Sächsische Ministerium verlangt im Gutachten die Vor- anstellung des vollständigen Entlassungszeugnisses und läßt über etwaige Hinzufügungen freie Hand. Kollege Hoffman n- Meißen !) will die gut- achtlichen Erläuterungen unter folgende Gesichtspunkte eingeordnet haben:

Auffassungsfähigkeit

Urteilsfähigkeit .

Merkfähigkeit

Mitteilungsfähigkeit u a LA

Verdacht auf moral. Schwachsinn?. . . Begründung.

Anstelligkeit . r a E O E A E E S

Besonderes

Ursache der Geistesschwäche 5; å

Gesundheitszustand während der Schulzeit und bei der Ent- lassung mit besonderer a der Sinnes- werkzeuge .

Die Form ist handlich; durch Hinsäffiging weniger Worte ist ein vollständiges Bild entworfen. Und gerade größeren Hilfsschulen mit ihren zahlreichen Konfirmanden dürfte eine Erleichterung der neuen Arbeit will- kommen sein. Ich persönlich gebe einem stilisierten Gutachten, das der Bedeutung einzelner Momente und ihren Beziehungen untereinander gerecht werden kann, entschieden den Vorzug. In diesem Sinne regt das Plauener Formular?) nur durch einige Fragen am Kopfe des Blattes die Erwägung des einzelnen Falles an. Das Gutachten folgt dann im Zusammenhange; es beantwortet nur diejenigen der gestellten Fragen, auf welche eine be- deutsame Antwort zu geben ist. Die Fragen lauten:

1. Welche Umstände haben den Knaben wesentlich geistig gehemmt? Mangelnde Begabung oder Erziehung, Krankheit.

2. Wie ist jetzt seine Auftassung nach Sinnesempfänglichkeit, Auf- merksamkeit und Verständnis, sein Gedächtnis, sein Charakter nach sitt- lichem Gefühl und sittlicher Einsicht,. nach Willensstärke und Willens- richtung?

3. Wie zeigt er sich bei Turnübungen und Handarbeiten nach Kraft und Geschick?

4. Wie weit ist er in Lesen, Schreiben und Rechnen fortgeschritten ?

5. Ist seine Sprache normal?

Die Ersatzkommission möchte ja eigentlich etwas anderes wissen nämlich, ob des Knaben Verstand, Gedächtnis, Geschick usw. für den Militärdienst ausreiche, ob sein Charakter gute Führung im Heere gewähr- leiste. Allein zwischen der Entlassung aus der Schule und dem Eıntritte ins Heer liegen 6 für die Entwicklung des Körpers und Geistes höchst be- deutsame Jahre. Wir Lehrer wollen vage Prophezeiungen vermeiden.

!) Verlag des Formulars: Sächsische Schulbuchhandlung, Meißen. ?) Druck und Verlag von Wilhelm Blechschmidt, Plauen.

92 B. Mitteilungen.

Unter diesen Umständen wäre ein Gutachten am Schlusse der Fort- bildungsschulzeit empfehlenswert, wenn man nicht zugeben müßte, daß die Beobachtungsgelegenheit in der Volksschule doch eine bei weitem reichere sei. Doch werden Hilfsschullehrer, die sich ihrer entlassenen Zöglinge ın dauernder Fürsorge annehmen, in vielen Fällen der inneren Verpflichtung nachkommen, dem Gutachten über den Vierzehnjährigen später ein Er- gänzungsgutachten über den Zwanzigjährigen hinzuzufügen.

Die Gutachten sollten sich allenthalben auf den Inhalt von »Personal- bogen« stützen können. Jeder schwachbegabte Zögling, auch wenn er eine allgemeine Volksschule besucht, müßte in einem solchen Bogen cha- rakterisiertt werden. Doch darf es nicht wundernehmen, wenn bei der noch heıschenden Unklarkeit über den zweckentsprechenden Inhalt der Einträge in die Bogen sich dieselben bis heute nur in wenigen Hilfsschulen eingebürgert haben. Die vorhandenen Vordrucke enthalten ein überreiches Fragematerial zur Beantwortung bei der Aufnahme eines Debilen in die Hilfsschule, oder in eine Anstalt. Die Fragen sind dem Arzte, dem Psy- chiater abgelauscht und vom Lehrer ergänzt worden. Wer wollte es tadeln, daß wir uns die schon erprobten psychiatrischen Aufnahmejournale zunutze gemacht haben! Allerdings wird durch die Häufung der Frage- punkte die Übersichtlichkeit eingeschränkt. Dabei werden leicht unwesent- liche, oder doch minderbedeutsame Momente aufgenommen und beirren nun in ihrer Einordnung zwischen die wesentlichen Tatsachen später den Leser. in den Aufnahmebogen besteht ja die tabellarische Anordnung zu recht; hier garantiert sie eine gewisse Gleichartigkeit und Vollständigkeit der diagnostischen Erörterungen. Dann aber sollten doch die Ergebnisse und ihre Beziehungen zueinander baldigst nochmals gewertet und in wohlge- ordnetem Zusammenhange genetisch dargestellt werden. Diese Genese dürfte im Anschluß an die nötigsten Personalangaben, die Ein- träge in den Personalbogen beginnen. Im übrigen sollte dieser in zwei nebeneinander herlaufenden Spalten nur wesent- liche Aufzeichnungen über die körperliche und geistige Ent- wicklung des Kindes mit ihren Hemmungen und heilpädago- gischen Förderungen enthalten, wie auch Horrix in Charlottenburg schließlich richtig betonte. Jeder vollendete Bogen müßte den Beweis er- bringen, daß es dem Erzieher gelungen sei, wirklich in das Geistesleben seines Zöglings einzudriugen und ihn immer weiser zu fördern.

Bei tieferem Einblicke, den ernste Versuche, Personalbogen in zweck- mäßiger Weise zu führen, jedem gewähren, macht sich freilich der Mangel einer gründlichen Diagnostik über kindlichen Schwachsinn, einer Methodik seiner pädagogischen Untersuchung sehr empfindlich geltend; es fehlt ein Buch, das ähnlich der Diagnostik der Geisteskrankheiten von Sommer die diagnostischen Gedankengänge vorträgt, die wir Lehrer in praxi gehen sollten. Allein wir dürfen nicht untätig auf sein Erscheinen warten, sondern müssen selbst die Hand ans Werk legen und selbst Erfahrungen sammeln helfen,

Wenn wir nur unsere Umschau fortsetzen, so begegnen wir in der Tagespresse wiederholten Erwähnungen der von Fuchs auf dem Char-

6. Umschau auf dem Gebiete des Hilfsschulwesens. 93

lottenburger Verbandstage charakterisierten Berliner Fortbildungsschule für schwachbeanlagte Knaben und Mädchen, einer Schule, »die sich während ihres kurzen Bestehens als eine außerordentliche segensvolle Einrichtung erwiesen hat«. Sie ist nicht die einzige ihrer Art in Deutschland. Auch Leipzig besitzt eine selbständige Fortbildungsschule für Debile im An- schlusse an die dortige Hilfsschule. Für Zwickau ward die gleiche Ein- richtung behördlich beschlossen. In Mühlhausen soll sie 1908 oder 9 ins Leben treten. Dasselbe beabsichtigt München. In Charlottenburg, Dresden, Dortmund, Düsseldorf, Elberfeld, Lübeck, Mainz, Nürnberg, Plauen u. a. Städten!) sind den obligatorischen Fortbildungsschulen für Knaben (in Plauen auch der obligatorischen Fortbildungsschule für Mädchen) Hilfs- klassen für Debile angegliedert. Meist: wird dann zwischen Hilfsschule und Fortbildungsschul-Hilfsklassen dadurch eine Verbindung hergestellt, daß Hilfsschullehrer auch den betr. Fortbildungsschulunterricht erteilen. Das ist unterrichtlich wie erziehlich von größerer Bedeutung. Es erfährt so das heilpädagogische Werk der Hilfsschule eine wünschenswerte Fort- setzung, und der Hilfsschullehrer hat Gelegenheit, die Resultate seiner Wirksamkeit zu prüfen und den Hilfsschullehrplan mit Rücksicht auf das Erwerbsleben der Schulentlassenen zu verbessern. Es liegt auf der Hand, daß Unterstellung dieser Hilfsklassen der Fortbildungsschule unter die Leitung der Hilfsschule die Verbindung noch inniger gestaltet. Wohl hat die Angliederung von Hilfsklassen an die allgemeine Fortbildungsschule den Vorzug, daß den intelligenteren ehemaligen Hilfsschülern der Weg aus den Hilfsklassen in die Berufsklassen, die Kurse für Handwerker usw., er- leichtert wird. Dagegen dehnt die Anfügung einer Fortbildungsschule für Debile an die Hilfsschule deren fürsorgende Bevormundung in natürlicher und rechtlich geordneter Weise auf Schulentlassene aus, soweit ihre Fort- bildungsschulzeit reicht. Die Hilfsschule gewinnt an Einfluß auf das sitt- liche und erwerbliche Leben ihrer ehemaligen Zöglinge. So fragen wir uns auch in Plauen, ob wir nicht Anfügung der betreffenden Hilfsklassen an unsere Schule beantragen sollten.

Aus den Mitteilungen der in den gekennzeichneten Fortbildungsschul- klassen eingeführten Lehrfächer läßt sich zwar nicht ersehen, inwieweit neuer Lehrstoff geboten, schon behandelter wiederholt werden soll. Doch will ich die erhaltenen Angaben nicht verschweigen.

I. Fortbildungsschulen für Schwachbegabte.,

Berlin -— 6 Stunden Deutsch, Rechnen, Handarbeit.

Leipzig 4 Stunden Heimats- und Berufskunde, Deutsch, Rechnen. Erst im Entstehen begriffen:

Zwickau 4 Stunden Deutsch, Rechnen, Zeichnen.

Mühlhausen 3 Stunden Lesen, Schreiben, Rechnen.

München ? Stunden ?

1) Ich fragte nur bei Städten mit 6stufigen Hilfsschulen an, mehrfach er- folglos, bei zwei Antworten fehlte Ortsangabe und Namensunterschrift des Bescheid- gebenden,. Indem ich für alle Auskünfte danke, bitte ich um Ergänzung.

94 C. Literatur.

II. Hilfsklassen von Fortbildungsschulen.

Berlin 6 Stunden Deutsch. Rechnen, Handarbeit.

Charlottenburg 6 Stunden Deutsch, Rechnen, Zeichnen.

Dresden 4 Stunden Deutsch, Rechnen, Zeichnen, Heimatkunde.

Dortmund 6 Stunden Deutsch, Rechnen, Zeichnen (Handfertigkeits- unterricht beabsichtigt).

Düsseldorf 6 Stunden Bürgerkunde, Rechnen.

Elberfeld 4 Stunden Deutsch, Rechnen.

Quebeck 10—12 Stunden Deutsch, Rechnen, gewerbliche Fächer. im Sommer 2 Std.| Deutsch, Rechnen, basierend auf Heimat-

Mainz ge Winter 4 unterricht und Verfassungskunde.

Nürnberg 6 Stunden Dentsch, Rechnen, Zeichnen,

Plauen 6 Stunden Deutsch, Rechnen, Naturlehre, Bürgerkunde.

Magdeburg will Hilfsklassen einrichten.

Plauen i. V. Delitsch.

II SI NINII NINI NION,

C. Literatur.

Truschel, Ludwig, Der sechste Sinn der Blinden. Lay-Meumann, Experi- mentelle Pädagogik, 1906/07, III, 3/4 und IV, 1/2.

In einem vielbesuchten Badeorte fiel mir in diesem Jahre ein allgemein als ganz blind bezeichneter Mann auf, der mit ziemlicher Sicherheit sich auf den Straßen bewegte und zurecht fand. Diese rätselhafte Tatsache regte in mir die Frage an: Wie mag der Blinde zu dieser erstaunlichen Fähigkeit wohl gekommen sein? Eine befriedigende, sehr beachtenswerte Antwort finde ich in L. Truschels Arbeit. In ihr wird durch Versuche, die an Zöglingen und Arbeitern der Blinden - Anstalt zu Ilzach-Mülhausen i. E. unternommen sind, die Frage beantwortet: Ob die Blinden wirklich gewisse Sinnesreize von den Objekten, deren Anstoß sie rechtzeitig zu vermeiden wissen, empfangen. In der Literatur der Blinden-Psychologie sind bereits allerlei Vermutungen zu lesen über dies interessante Problem. Truschels Ver- suche und ihre Ergebnisse bringen nun Klarheit, indem sie die alten Vermutungen auf ihre Haltbarkeit prüfen. Sind es z. B. wirklich Hautreize, die entweder als Luftstiömungen, oder als Wärmeunterschiede, oder als Strahlungen, oder als direkte Schallwirkungen den Blinden rechtzeitig vor dem Anstoßen warnen? Um eine nicht irreführende Antwort zu erhalten, machte sich Verfasser bekannt mit den individuellen Eigenschaften der Versuchspersonen, beachtete die Luftströmungen und die Wärmeverhältnisse: Kurz alle Momente, die äußere Reize auf die Versuchs- personen ausüben konnten. Er kam zu dem Schlusse, daß der Gesamtheit der Hautreize keinesfalls die Bedeutung zukommen kann, die gemeinhin bisher an- genommen wird. Durch eine Kopfbinde schaltete er sodann in geeigneter Weise den direkten Hautreiz und mit ihm auch jeden direkten Lichtreiz aus. Alle diese Reize beeinflußten das »Ferngefühl« oder die X-Walhrnehmungen der Blinden nicht. Wenn nun weder taktile, noch kalorische, noch visuelle Einflüsse maßgebend waren, dann konnten nur noch Gehörreize in Betracht kommen. Der Nachweis ihrer Wirkung gestaltete sich freilich infolge ihrer Mannigfaltigkeit sehr schwer, War doch vor allem auf das Trittgeräusch, dann aber auch auf die Gangart, die Gang- ıichtung, auf die Größe der Versuchsperson, sowie auf die Größe und Richtung des

C. Literatur. 95

Objektes zu achten, um endlich feststellen zu können, daß reflektierte Schallwellen der hauptsächlichste Reizfaktor der X-Empfindungen sind. Sie sind es, die die Gehörorgane erregen und den sogenannten sechsten Sinn der Blinden bilden. Es wird durch diese Feststellung an eine alte bekannte Versuchsreihe aus dem 18. Jahrhundert erinnert, die mit Fledermäusen vorgenommen wurde, um zu be- weisen, daß das Gehörorgan beim Verlust des Sehvermögens dazu dienen kann, die Nähe von Gegenständen, ohne sie zu berühren, wahrzunehmen.

Was für Geräusche vermitteln nun die X-Reize durch reflektierte Schallwellen dem Blinden? Sie sind veränderlich in Schallstärke und Klangfarbe, aber immer korrespondieren sie hinsichtlich ihrer Tonhöhe dem Abstande zwischen dem Be- obachter, der in der Regel zugleich Schallquelle ist, und dem Reflektor, der eben mit Hilfe des X-Sinnes wahrgenommen wird. Die Veränderungen in der Tonhöhe sind also das Haupt-Kriterium für die X-Empfindungen; sie sind der Maßstab für die Abschätzung des Abstandes zwischen Ohr und Reflektor. Bestimmte Töne werden dabei natürlich nicht unterschieden; aber die Übung bringt es mit sich, daß wenigstens die stärkeren X-Reihen bewußt als Schallqualitäten empfunden werden. Der innere Vorgang bei der Übung ist nun so zu denken: Wenn das Gehörorgan und die damit in Verbindung stehenden Gehirnzentren während des Gehens in einem gewissen Erregungs- und Spannungszustande bleiben, dann wird vor allem das Tritt- geräusch allmählich unwillkürliche und unbewußte (automatische) Empfindungen auslösen, die schließlich die Herrschaft über sämtliche Raumvorstellungen gewinnen und auf diese Wiese zu einem spezifischen Raumsinne sich entwickeln. Diese Annäherungsempfindung, dieser Warnsinn oder akustische ÖOrientierungssinn ist von großem Werte für die Blinden und muß daher planmäßig bei ihnen ausgebildet werden. Die Heilpädagogik hat mit allen nur erdenklichen Mitteln die Raum- phantasie zu pflegen und mit Hilfe des X-Sinnes Räumlichkeitsempfindungen zu vermitteln, da gerade die Wirkung dieses Sinnes der Rückgabe eines Teils des Seh-

vermögens gleichkommt. Mögen zunächst L, Truschels Versuche nachgeprüft werden! Halle a. S. B. Maennel.

Hirschfeld, M., Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen unter besonderer Berücksichtigung der Homosexualität. Herausgegeben vnter Mitwirkung namhafter Autoren im Namen des wissenschaftlich-humanitären Komitees. Achter Jahrgang. Leipzig, M. Spohr, 1906. 940 S.

Eine ganze Reihe von Mitarbeitern, Männer und Frauen aus Ärzte- und Schriftstellerkreisen, haben sich mit dem Herausgeber vereinigt, um nicht allein sich um die Abschaffung des bekannten § 175 des preußischen Strafgesetzes zu be- mühen, sondern auch in lıteraturkundlichen, statistischen und psychogenetischen Arbeiten das »Naturgegebene« der Homosexualität nachzuweisen. Ob nun die "Folgerungen, die z. B. aus den in reicher Anzahl gegebenen »Beichten: der Ur- ninge gezogen sind, auch von dem Heilpädagogen geteilt werden können? Ob nicht vielmehr eine Heilerziehung auch bei den Fällen aussichtsreich wäre, die Herausgeber bereits im VIII. Jahrgang dieser Zeitschrift beschrieben hat. und die nach den Schilderungen im Jahrbuche weil unbeeinflußt sich nun in perverser Weise ausleben mußten? Der Skandalprozeß Moltke-Harden hat bis zum Ekel dargetan, wie notwendig der $ 175 ist und wie man gewisse Homosexuelle doch anders als mit Glac&handschuhen anfassen sollte. (Vergl. J. L. A. Koch, Kinder- fehler 1897, Geschlechtliche Anomalıen.)

Halle a. S. B. Maennel.

96 C. Literatur.

Kankeleit, A, Unsere Lieblinge in Schule und Haus. Ein Handbuch für Eltern, die ihren Kindern bei den Schularbeiten helfen wollen. Gumbinnen, Gebr. Reimer, 1907. 172 S. Preis 1 M.

Ein neues Buch einzig in seiner Art das ist ein Ereignis auf dem Büchermarkte. Der Verfasser nennt die schwachen Kinder, für deren liebreiche und verständnisvolle Behandlung er eintritt, nicht Sorgenkinder, sondern mit treuen Müttern: Unsere Lieblinge.

Wann dürfen wir unser Kind aufgeben

Eltern, so könnt ihr euer schwaches Kind stützen

Mutter, so kannst du dein Kind sehen, beobachten und sprechen lehren Kann jedes Kind ein sicherer Rechner werden

Nachhilfestunden oder nicht

Gib deinem Kinde eine Heimat —,

diese und noch 20 ähnliche Themen werden in herzergreifender und praktischer

Weise behandelt. Man sollte das Büchlein jedem Vater in die Hand drücken, der

seinen wenig begabten Sohn zum Studium bestimmt und zwingen will. Man sollte

es jeder um ihren kleinen Liebling besorgten Mutter auf den Weihnachtstisch legen.

Keinen Lehrer, keinen Kinderarzt und keinen Kinderfreund wird die Lektüre des

Buches unbefriedigt lassen. Es atmet den Geist von Jul. Hammers Mahnung:

Stör’ nicht den Traum der Kinder, Wenn eine Lust sie herzt;

Ihr Weh schmerzt sie nicht minder, Als dich das deine schmerzt.

Es trägt wohl mancher Alte,

Dess’ Aug’ längst nicht mehr flammt, Im Antlitz eine Falte,

Die aus der Kindheit stammt. Plauen i. V. Delitsch.

Meumann, Vorlesungen über experimentelle Pädagogik und ihre psychologischen Grundlagen. I. Band. Leipzig, W. Engelmann, 1907. 555 8. Preis 7 M.

Nach dem Buche Lays, das eigentlich gar kein Buch ist, erscheint der erste Band eines groß angelegten und wohl durchgearbeiteten Werkes von Meumann über experimentelle Pädagogik. Wer hier aber ein pädagogisches System auf experimenteller Grundlage erwartet, wird sich getäuscht sehen. Eine solche Arbeit hat der Verfasser auch gar nicht liefern wollen; er hält einen Versuch in dieser Richtung noch für verfrüht. Allerdings hätte unter diesen Umständen der Ver- fasser besser getan, wena er mancherlei absprechende Bemerkungen über die Pädagogik der Gegenwart weggelassen hätte. Das hindert uns aber nicht, anzu- erkennen, daß wir hier eine sehr dankenswerte Gabe vor uns haben, und wir machen deshalb unsere Leser schon jetzt gern darauf aufmerksam. Bei diesem kurzen Hinweise darf es natürlich nicht sein Bewenden haben. Sobald das Werk ganz vorliegt, soll es eingehend besprochen werden. U.

P

Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensaıza,

C

A. Abhandlungen.

Fingertätigkeit und Fingerrechnen als Faktor der Entwicklung der Intelligenz und der Rechenkunst bei Schwachbegabten.

Von Heinrich Nöll, Wiesbaden.

(Schluß.)

III. Ä Der Fingergebrauch im grundlegenden Rechenunterricht als Faktor der Entwicklung der Kunst des Rechnens im besonderen.

Die spezifischen Vorzüge der Veranschaulichung der Grundzahlen und Zahloperationen durch die Finger werden wohl am deutlichsten durch einen Vergleich des Fingerrechnens mit der »Zahlbilder«- oder Punktgruppenbilderveranschaulichungsmethode erkannt werden können. Eine ganze Reihe hervorragender Rechenmethodiker haben viel Mühe, Wissen und Nachdenken verwendet, die spezielle Methodik dieser Zahlbilderveranschaulichungsmethode auszubauen, sie psychologisch zu begründen und als am meisten Erfolg verheißend anzupreisen. Manche dieser Methodiker haben es für nötig gefunden, auf die Mängel der Veranschaulichungsweise durch die Finger aufmerksam zu machen; aber bei der Frage, ob nicht das Fingerrechnen doch auch besondere, ihm allein eigentümliche Vorzüge habe, hat man sich nicht auf- gehalten. So kam es, daß sich die spezielle Methodik des Finger- rechnens nicht weiter entwickelte. In der Praxis allerdings lebte das Fingerrechnen trotzdem immer fort. Hätten sich aber die Gegner desselben nicht sagen müssen, daß das Fingerrechnen, das nach den Erfahrungen GÖBELBECKERS »immer wieder angepriesen« wird (siehe

Zeitschrift tür Kinderforschung. XIII. Jahrgang. 7

98 A. Abhandlungen.

m ee ee he Be nn nn Ge ne nn a en

Unterrichtspraxis S. 68), jedenfalls doch bestimmte, spezifische Vor- züge von Bedeutung haben muß, weil es trotz aller gegen es ge- richteten theoretischen Einwendungen in methodischen Schriften nicht totzumachen ist, wie gewisse andere psychologisch falsche Lehr- verfahren (z. B. die Buchstabiermethode) ? Um sie festzustellen, ver- gleiche man beide Veranschaulichungsverfahren nach folgenden Ge- sichtspunkten:

Der Rechenunterricht, der nach der Zahlbilderverschaulichungs- weise verfährt, arbeitet in der üblichen Praxis tatsächlich nur mit folgenden fünf assoziierbaren Vorstellungen:

1. mit dem optischen Punkt- oder Kugelbilde,

2. mit dem Klangbilde des Zahlnamens,

3. mit der Sprechbewegungsvorstellung desselben,

4. mit dem Gesichtsbilde der Ziffer,

5. mit der Schreibbewegungsvorstellung derselben.

Lay, der in seinem »Rechenführer« die Bedeutung des Tast- sinnes für die Entwicklung des begrifflichen Elementes der Zahl- vorstellung so sehr betont, auch in seiner neueren Arbeit über den ersten Rechenunterricht in Band I, Heft 3/4 der Zeitschrift »Die Experimentelle Pädagogik« auf die besondere Wichtigkeit der Zu- hilfenahme des Tastsinnes im Unterrichte der Hilfsschule hinweist, !) wird uns hier entgegengehalten, daß in obiger Aufzählung der Vor- stellungselemente die Tastempfindung vergessen sei. Gewiß, in der Theorie zieht die Zahlbilderveranschaulichungsmethode auch die Tastempfindungen heran, aber sehr spärlich in der Praxis. Denn sogar nach der Vorschrift Lays soll der Tastsinn nur kurze Zeit, nur im Anfang des ersten Rechenunterrichts zu Hilfe genommen werden. Schreibt er doch S. 116 im Rechenführer: »Nur im Anfang, wo das ‚und‘ und ‚weniger‘ noch verwechselt wird, ist es nötig, am Rechenkästchen das Setzen und das Wegnehmen der Knöpfe immer wieder auszuführen; es genügt bald, .... bei Rechenkästchen den rechten Teil des Zahlbildes durch die rechte und andernfalls den linken Teil durch die linke Hand zuzudecken, ersteres bei 4+3 (rechts) = 7 und letzteres bei 3-+4 (links) 7.« Trotzdem also hier die Hände des Schülers noch eine allerdings sehr summarische

1) Er schreibt: »In Übereinstimmung mit den Ausführungen des Führers sagt ZIEHEN neuerdings, den leicht schwachsinnigen Kindern (Debilen) falle das ‚optisch- motorische Zählen‘ mit Hilfe von Deutbewegungen viel leichter als das ‚rein optische Zählen‘. ... Insbesondere sind die Lehrer an Hilfsschulen und an Schulen für ab- norme Kinder immer wieder auf die große pädagogische Bedeutung und Verwertung der Bewegungs- und Tastempfindungen und -vorstellungen aufmerksam zu machen.«

NörL: Fingertätigkeit und Fingerrechnen usw. 99

——— —— nn ŘŮ D

Bewegungstätigkeit ausüben, findet tatsächlich doch nur eine optische

Auffassung der Knöpfe statt. Denn wenn an dem Rechenkästchen © è

das Zahlbild n | : 5 dargestellt ist und der Schüler soll nun daran die Operation 4 + 3 ausführen, so berührt er mit seiner Hand

gerade dann, wenn sich die Aufmerksamkeit den y Knöpfen zu-

wenden soll, nicht diese vier Zähldinge, sondern die andern 3 jet um deren Auffassung es sich in diesem Momente ja gar nicht handelt.

Und umgekehrt, wenn der Schüler die 2 x Knöpfe sinnlich wahr- nehmen soll, berührt er nach Lays Vorschrift mit der Hand die “i Das Lehrverfahren, wie Lay es hier beschreibt,

e könnte 7. B. bei einem Blinden, der lediglich auf den Tast- sinn angewiesen ist, in dieser Weise nicht angewendet werden. Soll die 4 im Bewußtsein auf Grund von Tastempfindungen aufleben, so müssen in dem Augenblicke auch die 4 Knöpfe tat- sächiich von der tastenden Hand berührt werden, nicht aber eine andere Anzahl. Wir sehen also, daß Lay in seinen für die Praxis bestimmten Vorschriften den Tastsinn tatsächlich bald ausschaltet und nur mit der optischen Vorstellung arbeiten läßt. Soweit meine Er- fahrung reicht, geht man in der Volksschulpraxis in der Ausschaltung des Tastsinnes noch weiter; denn in größeren Volksschulklassen wird das Laysche Rechenkästchen oder ein ähnlicher Apparat in der Regel gar nicht verwendet. Man beschränkt sich darauf, die quadratischen Zahlbilder entweder durch Kreide an der Tafel oder durch Kugeln an der Rechenmaschine darzustellen und auf optischem Wege wahr- nehmen zu lassen. Ein für die quadratischen Zahlbilder begeisterter Rechenmethodiker der Unterstufe, der eine vortreffliche Arbeit über den ersten Rechenunterricht veröffentlicht hat, mißi den Tastempfin- dungen keine besondere Bedeutung fürs Rechnen bei, weil er nicht glauben kann, »daß der Sitz des mathematischen Talents im zwanzigsten Jahrhundert gerade in den Fingerspitzen zu suchen sei«. (In den Fingerspitzen gewiß nicht, aber so unglaublich ist es doch wohl nicht, daß es am kortikalen Ende der Fingerspitzennerven im Großrindenfelde der Körperfühlsphäre gefunden werden kann, wenn auch nicht ausschließlich dort beim Vollsinnigen; beim Blinden ist es zweifellos nur dort zu suchen.) Auf Grund dieser Tatsachen dürfen wir also behaupten: In der Praxis arbeitet die Methode, die sich der Zahlbilder bedient, nur mit den oben ge-

genannten fünf Vorstellungen. 7*

100 A. Abhandlungen.

Bei der Veranschaulichungsmethode des Fingerrechnens gehen sechs Vorstellungen (beziehungsweise Vorstellungskomplexe) eine Verknüpfung ein:

1. Das optische Fingerbild,

2. das motorisch -taktile Fingerbild (d. h. die Fingerbewegungs- empfindung im Verein mit Druck-, Haut- und Wärmeempfindungen),

3. das Klangbild des Zahlnamens,

4. die Sprechbewegungsvorstellung des Zahlnamens,

5. das Gesichtsbild der Ziffer,

6. die Schreibbewegungsvorstellung der Ziffer.

Unter diesen ist das motorisch-taktile Fingerbild als ein der optischen Vorstellung mindestens ebenbürtiges Element, aus welchem sich der inhaltliche oder begriffliche Vorstellungskomplex der Zahl- vorstellung aufbaut, anzusehen. Speziell die Fingerbewegungsvorstellung ist von besonderer Wichtigkeit. Ihre Bedeutung für den Akt der Zahlauffassung dürfte auf Grund der folgenden Überlegung erkannt werden: Die Zahlvorstellung entsteht durch zwei geistige Tätigkeiten:

a) durch ein klares, bestimmtes, aufmerksames geistiges Erfasssn deutlich unterscheidbarerer (am besten ähnlicher) Empfindungen Akt der Analyse,

b) durch ein Zusammenfassen der Mehrheit dieser Empfindungen zu einer Einheit Akt der Synthese. Die schwierigste dieser beiden geistigen Tätigkeiten, die dem Kinde nicht ohne weiteres gelingt, ist der Akt der Synthese. Die analytische Tätigkeit wird in der Weise ausgeübt, daß sich die Aufmerksamkeit succesiv von einer Einheit (oder einer| beschränkten Gruppe von Einheiten) zu einer anderen Einheit oder einer andern beschränkten Gruppe wendet, die synthe- tische dadurch, daß die deutlich unterscheidbaren Empfindungen gleich- zeitig im Bewußtsein auftauchen und als zusammengehörig erkannt werden. Keine andere Mehrheit von unter sich ähnlichen Emp- findungen läßt sich nun auf so einfache, für das Kind leicht be- greifliche Weise in einen einheitlichen Komplex zusammenfassen, als eine Mehrheit von Fingerbewegungsempfindungen; denn wenn ich z. B. 5 Finger gleichzeitig öffne und schließe, so entstehen 5 unter- scheidbare Fingerbewegungsempfindungen, die aber derartig zusammen- fließen, daß die komplizierte Bewegung als ein einheitlicher Akt auf- gefaßt wird. Jederzeit aber kann diese summarische Fingerbewegungs- empfindung, welche den Akt der Synthese versinnlicht, in fünf spezielle Fingerbewegungsempfindungen zerlegt, also analysiert werden, indem die 5 Finger nacheinander (z. B. in zählender Weise) geöffnet und geschlossen werden. Beugt und streckt gleichzeitig 5 Finger!

Nö: Fingertätigkeit und Fingerrechnen usw. 101

und: Zählt, beugt und streckt nacheinander fünf Finger! sind also zwei sich ergänzende Befehle, von welchen der Lehrer im Finger- rechnen Gebrauch machen muß, zum Zweck der Entwicklung ideut- licher Zahlvorstellungen. Daß die summarische Fingerbewegungs- empfindung zugleich auch eine Auffassung einer Mehrheit von Fingern als eines kollektiven Ganzen auf optischem Wege zur Folge, bezw. zur Voraussetzung haben muß, dürfte ohne weiteres eingesehen werden.

Beim Setzen und Wegnehmen der Knöpfe am Layschen Rechen- kästchen entstehen zwar auch Finger- und Handbewegungsempfindungen. Diese sind jedoch nur Mittel zum Zwecke der Erzeugung von Druck-, Gewichts-, Wärme-, Gefühls- und Gesichtsempfindungen, nicht aber Selbstzweck. Sie sollen nicht adäquate Äquivalente, nicht sinnliche Abbilder der herzustellenden Vielheiten sein. Es entstehen z. B. beim Setzen und Wegnehmen von 5 Knöpfen nicht auch 5 Finger- bewegungsempfindungen, sondern stets eine größere Anzahl. Müssen doch, um nur einen Knopf zu setzen, mehrere Finger in Tätigkeit treten. Außerdem können diese Bewegungsempfindungen, selbst wenn ihre Anzahl der darzustellenden Vielheit von Knöpfen ent- spräche, nicht gleichzeitig im Bewußtsein aufleben und darum nicht synthetisch zusammengefaßt werden oder etwas zu einer Zusammen- fassung der Vielheit von Knöpfen zu einem kollektiven Ganzen auf optischem Wege beitragen. Das muß auch Lay selbst gefühlt haben, denn er gibt die Vorschrift, daß die gesetzten Knöpfe zum Zweck der synthetischen Auffassung mit dem Finger umfahren werden. Auch die Gewichtsempfindungen sind nicht geeignete sinnliche Äquivalente der Zahlvorstellungen. GÖöBELBECKER weist mit Recht darauf hin, daß auf Grund des Weber-Fechnerschen Gesetzes ein Knopf, der zu 5 oder 6 Knöpfen auf die Hand gelegt wird, auf dem Wege der Gewichts- empfindung gar nicht wahrgenommen werden kann, da der Reiz- zuwachs mindestens !/, der bestehenden Reizintensität betragen muß, wenn sich eine Empfindungsänderung bemerkbar machen soll. Die Druck-, Wärme- und Gefühlsempfindungen, die beim Betasten der Knöpfe des Rechenkästchens entstehen, bieten ihren Dienst ebenfalls in erster Linie zur Auffassung und Unterscheidung der Einheiten an. Eine Zusammenfassung der Mehrheit von Einzeldingen zu einer Einheit ist auf Grund derselben, wie uns Blinde beweisen, zwar mög- lich; aber sicher ist, daß die synthetische Auffassung größerer Punkt- gruppen deshalb schwierig ist, weil ein gleichzeitiges oder ein rasch überfliegendes successives Betasten sämtlicher Knöpfe nicht leicht möglich ist. Der Lehrer hat niemals auf Grund von objektiv wahr-

102 A. Abhandlungen.

nehmbaren Äußerungen des Schülers die volle Garantie, daß es zu einem Vorstellen einer Vielheit als eines kollektiven Ganzen auch tatsächlich gekommen ist. Die Aufmerksamkeit kann vielmehr stets von einem Knopf zum andern wandern. Wir sehen also: der Tast- sinn, wie er nach der Layschen Zahlbilderveranschaulichungsweise in Aktion tritt, ist für das Gelingen des so überaus wichtigen geistigen Aktes der Synthese sehr unzuverlässig. Ganz anders beim Finger- rechnen! Wenn der Schüler beim Fingerrechnen auf Befehle und Vormachen hin abwechselnd 5, 8, 10, 4 Finger plötzlich beugt und streckt, so bleibt ihm gar nicht Zeit, seine Aufmerksamkeit successiv von einer Einheit zur andern wandern zu lassen, wenigstens nicht von einer bestimmt lokalisierten Fingerbewegungsempfindung zu einer andern. Er muß tatsächlich die wechselnden Vielheiten als kollektive Ganze vorgestellt und kann aber auch andrerseits den Muskel- empfindungskomplex, der durch eine summarisch ausgeführte Be- wegung einer Mehrheit von Fingern ausgelöst wurde, nicht als eine zahlenmäßige »Eins« aufgefaßt haben, weil ja gleichzeitig die Finger auch auf optischem Wege als eine Vielheit zur Wahrnehmung ge- langten.

Der so wichtige Akt der Synthese, bei welchem die Vielheit als ein einheitliches, kollektives Ganze vorgestellt wird, ist beim Finger- rechnen auch noch durch ein weiteres Moment begünstigt, auf welches Dr. E. Wırk aufmerksam macht, indem er folgendes ausführt: »Die Auffassung der Zahl als einer Einheit, als eines einzigen Ganzen, ist eine Wirkung des gleichzeitigen Vorstellens der Dinge, eine Tat unseres Innern. Aber diese kann unter Umständen wesentliche Förderung erhalten von außen her durch die Sache selbst, nämlich dadurch, daß die Gegenstände selbst eine sachliche Zusammengehörig- keit, ein äußeres Ganzes bilden, wie die Finger der Hand, die Zehen des Fußes, auch wohl noch die Augen, die Beine, die Arme des Menschen, wobei allerdings zu bedenken ist, daß diese Zusammen- gehörigkeit auch erst eine innere, durch Gleichzeitigkeit der Ein- drücke und verstandesmäßiges Verfolgen der Beziehungen der Dinge gezeitigte Wirkung ist. Die Erzeugung dieser sachlichen Einheit hat aber mit derjenigen der Zahleinheit nichts zu tun, sie ist schon fertig, ehe diese einsetzt. Wie sehr diese sachliche Einheit manchmal mit- gewirkt hat, die Zahl als ein Ganzes auffassen zu lernen, beweist die Bedeutung der angeführten Zahlwörter. Die 5 führt in diesen nicht etwa den Namen ‚Finger‘, sondern ‚Hand‘, die 20 nicht den Namen ‚Finger und Zehen‘, sondern ‚ganzer Mensch‘.« In Anlehnung an Wundt betont Dr. Wırk dann ferner allerdings, »daß die sachliche

Nötr: Fingertätigkeit und Fingerrechnen usw. 103

Einheit nicht nur unbedingte Voraussetzung für die Entstehung der Zahleinheit ist, sondern höchstens eine erwünschte Hilfe. Die Haupt- sache muß immer das einheitliche Vorstellen der Dinge tun.«

Wir fassen zusammen: Das Veranschaulichungsverfahren durch Finger hat den Vorzug, daß die summarische Be- wegungsempfindung den Akt der Synthese geradezu ver- sinnlicht und die sachliche Einheit eine äußere Hilfe für ihr leichteres Einsetzen ist. Hätte das Fingerrechnen keinen anderen Vorzug als diesen, so verdiente es schon um desselben willen als eine der besten Veranschaulichungsweisen anerkannt zu werden. Denn wenn der Schüler einmal eine Anzahl von Vielheiten von Dingen, die als kollektive Ganze vorgestellt werden, mit den entsprechenden Zahlnamen verknüpft hat, so ist damit das wichtigste Fundament gewonnen, auf dem sich das Gebäude der Rechenkunst aufbaut.

Die rein rechnerische Tätigkeit hat von der hier empfohlenen Verknüpfung von Zahlvorstellungen und Fingerbewegungsempfindungen noch einen zweiten Vorteil. Die Eigenart der Fingerbewegungs- empfindung bedingt, daß sie gerade für den Schwachbefähigten eine vorzügliche Apperzeptions- und treue Reproduktionshilfe ist, die für die Erfassung, Aufbewahrung und Erinnerungsfähigkeit des optischen Elementes der inhaltlichen Zahlvorstellung von besonderer Bedeutung ist. Der energielose, willensschwache Schüler ist im höchsten Grade unfähig, die sensitiven Reize, welche bei der Dar- bietung des optischen Finger- oder Zahlbildes an seiner Seele an- klopfen, mit Bewußtsein und Aufmerksamkeit aufzufassen und fest- zuhalten. Es gelingt ihm dies dann leichter, wenn man den sensitiven Reiz sofort durch eine motorische Reaktion beantworten läßt. Nach der Lehre des Psychologen Müxstergers bleibt ein sensitiver Eindruck, der nicht eine motorische Reaktion auslöst, überhaupt bei jedem Menschen ein unbewußter, unbemerkter. Die Aufmerksamkeit ist geradezu an die Muskelfunktion geknüpft. » Wer unfähig ist, seine Muskel zu beherrschen, wie dies stets bei Schwach- sinnigen der Fall ist, ist auch unfähig, aufmerksam zu sein«, sagt Maupstey. Sensitive Lichteindrücke müssen z. B. durch eine Augen- muskelbewegung beantwortet werden, wenn sie sich im Bewußtsein Geltung verschaffen sollen. Dr. Stricker behauptet in seinen »Studien über die Sprachvorstellungen<e: »Wenn in unserer Gegenwart zwei Personen zu gleicher Zeit laut lesen, so wenden wir unsere Auf- merksamkeit derjenigen zu, mit der wir mitartikulieren.« Für den Schwachbefähigten ist nun am Anfang nicht jede beliebige

104 A. Abhandlungen.

motorische Reaktion geeignet. In der Praxis der Zahlbilder- veranschaulichungsweise wählt man, soweit ich mich davon über- zeugen konnte, als solche motorische Reaktion das Aussprechen des Zahlnamens. Gerade diese macht dem Schwachbefähigten an- fangs große Schwierigkeiten; denn es kommt fortwährend zu falschen Antworten und Verwechselungen. Der Grund liegt darin, daß die optische Vorstellung des Punktbilde mit der Sprechbewegungs- vorstellung gar keine Ähnlichkeit und keine Beziehung zu ihr hat: es sind disparate Vorstellungen, die sich nur nach dem Ge- setze der Gleichzeitigkeit auf dem Wege einer häufigen Wiederholung verknüpfen. Die falschen Antworten erzeugen aber ebenfalls falsche Assoziationen, die sich längere Zeit als ein Hindernis für die richtigen erweisen. Auch setzt die Verknüpfung disparater Vorstellungen eine gewisse Gedächtnisstärke voraus, die bekanntlich beim Anormalen in der Regel gering ist. Das stete Mißlingen, bedingt durch die ungenügende Gedächtsnistreue, und die mechanische Tätigkeit lassen eine rechte Lernfreude nicht aufkommen; darum kann die Aufmerk- samkeit nur durch strengere Disziplin mühsam aufrecht erhalten werden. Bei der Veranschaulichungsweise durch Fingergebrauch aber sind wir am Anfange nicht schon gleich genötigt, die motorische Reaktion des Aussprechens des Zahlnamens dem Schwachbegabten zu- zumuten. Es steht uns hier eine motorische Reaktion zur Verfügung, die leichter ausführbar ist, nämlich die Herstellung des Fingerbildes an der Hand des Schülers nach dem Vorbilde des Fingerbildes an der Hand des Lehrers, eine Reaktion also, welche sich einfach als eine nachahmende Wiederholung einer »Vorlage« darstellt. »Vor- lage« und ihre Reproduktion sind aber nicht disparate, sondern im höchsten Grade ähnliche Vorstellungen. Ihre Verknüpfung führt darum nicht zu häufigem Mißlingen, nicht zu Lernmüdigkeit, Unlust und Unaufmerksamkeit. Ja, zwischen dem optischen Finger- bilde von der Schülerhand und der entsprechenden Fingerbewegungs- vorstellung, welche aufleben muß, wenn jenes entstehen soil, muß auf Grund des seitherigen Hand- und Fingergebrauchs schon eine gewisse Beziehung bestehen, wenn auch keine bewußtseinsklare. Die Herstellung des optischen Fingerbildes an der Schülerhand durch die entsprechende Fingerbewegung muß also gelingen, wenn bei dem Schüler überhaupt Bildungsfähigkeit vorhanden ist. Längere Zeit wird nur diese leicht ausführbare motorische Reaktion verlangt, das "Aussprechen des Zahlnamens aber noch nicht. Das schließt aber nicht aus, daß der Lehrer den Zahlnamen selber ausspricht. Auf diese Weise gelangt der Schwachbegabte, ohne daß er seine volle

Nörr: Fingertätigkeit und Fingerrechnen usw. 105

Aufmerksamkeit von der Hauptsache, dem begrifflichen Elemente der Zahlvorstellung, ablenken mußte, unvermutet und ohne Mühe in den Besitz des Klangbildes des Zahlnamens. Ist der Schüler genügend geübt, die sensitiven Reize, die vom vorgezeigten Fingerbilde aus- gehen, mit der genannten motorischen Reaktion zu beantworten, hat sich auch seine Willensenergie gekräftigt und seine Aufmerksamkeit entwickelt, und ist auch anzunehmen, daß sich das Klangbild des Zahlnamens mit der optischen und motorischen Fingerbildvorstellung einigermaßen fest verknüpft hat, so muten wir ihm zu, nun auch die Sprechbewegungsvorstellung und zuletzt auch die sensorische Ziffern- vorstellung mit dem Fingerbilde zu assoziieren.. Dies muß aber nun aus zwei Gründen leichter und ohne zahlreiche Verwechselungen gelingen: 1. Das häufig wahrgenommene Klangbild samt seiner Be- ziehung zum motorischen und optischen Fingerbilde wirkt als »V or- lage«, 2. die Fähigkeit zur Aufmerksamkeit ist infolge der ersten Übung gestärkt, bezw. entwickelt worden.

Die Fingerbewegungsvorstellung ist aber nicht nur eine vorzüg- liche Apperzeptionshilfe, sondern auch eine treue Reproduktions- hilfe. Eine spezielle Bewegungstätigkeit, die einmal geläufig ge- worden war, ist selbst nach jahrelanger Untätigkeit in dieser be- stimmten Richtung, wie Lay richtig bemerkt, nicht aus dem Gedächt- nisse ausgelöscht. (Fingerbewegungsvorstellungen beim Klavierspiel, Schreibbewegungsvorstellungen, Rumpf- und Beinbewegungsvorstel- lungen beim Schlittschuhlaufen!) Diese treue Reproduktionshilfe ver- leiht nun auch der optischen Vorstellung infolge der Verknüpfung mit ihr einen höheren Grad der Erinnerungsfähigkeit, ein Dienst, der bei den Gedächtnisschwachen unter den Schwachbegabten doppelt hoch angeschlagen werden muß. Man könnte uns entgegenhalten: Der Lehrer, der nach der Zahlbilderveranschaulichungsweise im Unter- richte Schwachbefähigter verfährt, müsse sich ja nicht notwendig auf die optischen Eindrücke beschränken, er könne ja, um solche vor- zügliche Apperzeptions- und treue Reproduktionshilfen in Form von Fingermuskelempfindungen zu gewinnen, entgegen der Layschen Vorschrift und der üblichen Praxis, die Finger der Schüler tatsäch- lich lange Zeit mit Hilfe von Knöpfen und Steinchen beschäftigen. Hierauf wäre zu erwidern, daß diese Tastempfindungen außer dem oben von uns angegebenen Mangel, daß sie nicht adäquate Äqui- valente der begrifflichen Zahlvorstellungen sind, noch einen anderen Mangel haben, auf den Dr. Wuk aufmerksam macht. Denn was dieser über die Bewegungen beim Zusammenlegen von Steinchen urteilt, gilt auch für die Beschäftigung des Setzens von Knöpfen

106 A. Abhandlungen.

(etwa am Layschen Rechenkästchen oder am Nürnberger Rechenbrett). Er sagt: »Diese Bewegungsempfindungen haben doch einen Nachteil, sie müssen nämlich nacheinander ausgeführt werden. Ist das erste Steinchen hingelegt und fügt man nun das 2. hinzu, so ist die erste Bewegung schon keine Empfindung mehr, wenn die 2. in Ausführung begriffen ist. Die erste ist in diesem Augenblick nur noch ein Empfindungsrest, eine Vorstellung, und als solche schwächer und abgeblaßter. Und so auch die zweite, wenn die dritte in Aktion ist usw. Die Zahlauffassung wird hier nicht auf die frischen Empfin- dungen selbst, sondern auf ihre schwächeren Reste gegründet. Dieser Nachteil wird um so größer, je mehr Steinchen gelegt werden und je langsamer die einzelnen Bewegungen vor sich gehen. Ganz anders bei den Fingern. Hier empfinde ich genau, ob ich 2, 3 oder 4 Finger ausgestreckt halte; ich weiß im Moment, welche Finger es sind und an welcher Hand, ohne daß dabei das Gesicht zu helfen braucht.« Diesem Urteile Dr. Wırks haben wir hier nur noch hinzuzufügen, daß der gekennzeichnete Nachteil der beim Setzen von Knöpfen successiv erzeugten Tastempfindungen und der Vorteil der Finger- bewegungsempfindungen beim Fingerrechnen gerade im Unterricht schwachbefähigter Schüler ganz besonders in die Wag- schale fallen, weil bei solchen die Empfindungen ganz besonders rasch abklingen und speziell bei den Gedächt- nisschwachen die Erinnerungsbilder an die Reize kaum länger haften wollen, als die sinnlichen Reize andauern, weil ferner bei ihnen der Aufmerksamkeitsumfang, wie durch experimentelle Untersuchungen (von WINTELER, Zürich) festgestellt wurde, ein beschränkterer ist, als bei besser begabten Schülern, so daß bei ihnen sinnlich frische Empfindungen doppelt notwendig sind.

Von höchster Wichtigkeit ist, daß dem Schüler im grundlegenden Rechenunterrichte Anschauungsmittel zur Verfügung stehen, mit denen er 1. jederzeit und 2. flink operieren kann. Es genügt z. B. nicht, daß ein Schüler an der Rechenmaschine selbsttätig operiert, während die andern Schüler sich passiv verhalten müssen, indem sie nur zuschauen. Ganz besonders nötig ist die Selbsttätigkeit des Schülers, wenn dieser angeleitet werden soll, die Vorstellungen der Beziehungen des »und« und »weniger« auf dem Wege sinnlicher Anschauung zu erwerben. Ein Lehrverfahren, das an einem ruhenden Punktgruppenbilde, das etwa mit Kreide an die Tafel gemalt wurde, die Vorgänge des Zulegens und Wegnehmens zur Anschauung bringen wollte, wäre psychologisch ganz falsch. An einem solchen Punkt-

Nö: Fingertätigkeit und Fingerrechnen usw. 107

gruppenbilde kann man wohl die Merkmale des Zahlbegriffs ver-

anschaulichen, indem man die verschiedenen Zerlegungsfälle durch

eingefügte Striche oder einen Stab versinnlicht (z r: A ®

oder o ©

wo eG oder ; ; Ag) aber man kann daran nicht die Operation

a des Zulegens und Wegnehmens veranschaulichen, da die Operation

ein Vorgang in der Zeit ist, ein Nacheinander in derselben, eine Tätig- keit. Beim Addieren zweier Zahlgrößen muß erst der eine Summand allein vorhanden sein und der andere später hinzugebracht werden, wenn die Beziehung des »und« als einer Additionsbeziehung in der Seele des Schülers entstehen sol. Da nun, wie RiITTHALER- München, ausführt, die Vorgänge der Addition und Sub- traktion Anwendungsfälle der gewonnenen Zahlbegriffe sind undes schon im Charakter der Anwendungsstufe liegt, daß hier der Schüler selbsttätig wird, so kommt auf der- selben der große Vorteil des Fingerrechnens, daß man die Schüler und zwar alle Schüler fortwährend in Tätig- keit halten kann, indem man sie eben die genannten Operationen an den Fingern ausführen läßt, zur Geltung. Wenn der Vertreter der Zahlbilderveranschaulichungsmethode konse- quent bleiben will, so muß er auf der Stufe der operativen An- wendung der Zahlbegriffe, welche die Schülerselbsttätigkeit erforder- lich macht, eben zu jenem Setzen von Knöpfen, Bohnen u. dergl. greifen. Aber der Lehrer möge doch einmal im Massenunterrichte in solcher Weise arbeiten lassen! Während in diesem Falle eine Auf- gabe wie 2 +7 zur Darstellung kommt, lösen die Schüler mit Hilfe der Finger sicher 4—5 Aufgaben. Die größere Übungsmöglichkeit beim Fingerrechnen macht etwaige Vorzüge der Zahlbilderveranschau- lichungsweise mehr als wett.

Die Tatsache, daß der Fingerrechner seine Anschauungsmittel »stets zur Hand« hat, ist aber auch aus dem weiteren Grunde wichtig, weil man in diesem Falle besser, als bei jeder anderen Veranschau- lichungsweise verhüten kann, daß der Schüler mechanisch Rechen- sätzchen auswendig lernt. Es gibt akustisch und sprechmotorisch ver- anlagte Schüler, bei denen die Wortklänge der Zahlnamen der Rechensätzchen, besonders die Gleichklänge 1 + 1 = 2, 2 + 2 = 4, 3 + 3 = ĵ, 4 + 4 = 8, 5 + 5 = 10, aber auch die übrigen, sich lediglich auf Grund der Gehörswahrnehmung und Sprechtätigkeit so schnell und fest verknüpfen, daß dieselben eher im Gedächtnisse haften, als die optischen Punktgruppenbilder. Da nun die sprech- motorische Tätigkeit in der Regel die einzige motorische Tätigkeit ist,

108 A. Abhandlungen.

—— - a nn Tr ESS ESS

zu der der Schüler beim Zahlbilderrechnen veranlaßt wird, so kommt es häufig vor, daß Schüler Rechensätzchen auswendig wissen, ohne die Zahlbegriffe mit denselben zu verknüpfen. Beim Fingerrechnen können wir das aber dadurch verhüten, daß wir lange Zeit vom Schüler fordern, daß er jede Zahl der Aufgabe an den Fingern zur Darstellung bringt. In diesem Falle muß dann die Begriffsvorstellung stets mit der sprechmotorischen und der akustischen Sprachvorstellung zugleich im Bewußtsein aufleben. Bei optisch veranlagten Schülern findet in denjenigen Fällen, in welchen der Schüler schon bald auch mit der Ziffer bekannt gemacht wird, ein mechanisches Auswendig- lernen schriftlich fixierter Rechensätzchen statt. Gewisse Rechen- methodiker, auch Vertreter der Zahlbilderveranschaulichungsmethode, verlangen deshalb, daß die Bekanntmachung des Schülers mit der Ziffer möglichst lange hinausgeschoben werden soll. Beim Finger- rechnen ist solche Vorsicht überflüssig. Im Klassenunterricht über- wachen wir ihn, daß er bei der schriftlichen Fixierung der Rechen- sätzchen die Operation stets an den Fingern zur Darstellung bringt, Mit der formalen Ziffervorstellung muß auch in diesem Falle zugleich die inhaltliche Zahlvorstellung (bezw. -anschauung) stets aufleben und sich innig mit ihr verknüpfen. Gerade die beim Fingerrechnen ge- botene Möglichkeit, die sensorische und motorische Ziffervorstellung, die akustische und motorische Sprachvorstellung des Zahlnamens, die optische und motorische Fingerbildvorstellung gar bald zusammen im Bewußtsein des Schülers aufleben lassen zu können, ohne befürchten zu müssen, daß die Entwicklung der begrifflichen Elemente der Zahl- vorstellung in diesem Falle notleidet, ist im Unterrichte der Schwach- begabten ein gar nicht hoch genug zu veranschlagender Vorzug unserer Veranschaulichungsmethode. Denn die aufgezählten formalen und be- grifflichen Elemente sind an verschiedene Sinneszentren gebunden. Ihre Verknüpfung setzt eine Tätigkeit des Assoziationszentrunis voraus, das bekanntlich beim Schwachbegabten mangelhaft entwickelt ist.!) Die Tätigkeit des Assoziationszentrums und seine durch den funktio- nellen Reiz bedingte Entwicklung kann aber nur durch gleichzeitige Funktion der Sinneszentren veranlaßt werden. Im Unterrichte Schwach- begabter kann man gar nicht wissen, von welcher Seite her die Be-

1) Wir sind uns der Tatsache bewußt, daß es bedenklich ist, von der mangel- haften Entwicklung eines nur hypothetisch angenommenen »Assoziationszentrums« zu reden, und tun dies eigentlich nur in dem Sinne, um damit zu sagen, daß ge- wisse hirnphysiologische Verhältnisse bestehen müssen, welche es erklärlich machen, daß gerade bei Schwachbegabten die Verknüpfung disparater Vorstellungen schwierig ist und nicht andauern will.

Nö: Fingertätigkeit und Fingerrechnen usw. 109

einflussung am leichtesten und nachhaltigsten möglich ist. Es gibt Schüler, bei denen z. B. die Verknüpfung des akustischen und inhalt- lichen Elementes der Zahlvorstellung nicht standhält, weil eine ge- wisse Gedächtnsschwäche für akustische Reize (Lossy) besteht, während bei ihnen die Verknüpfung der optischen und motorischen Ziffervorstellung mit dem inhaltlichen Elemente der Zahlvorstellung dauerhafter ist. Umgekehrte Fälle können ebenfalls beobachtet werden. Aber auch noch ein allgemein psychologischer Grund spricht hier mit. Die Vorstellungen des Gesichtsbildes der Ziffer, des Wortklangbildes des Zahlnamens und die optischen und taktilen Elemente, welche die inhaltliche Zahlvorstellung konstituieren, sind disparate Vor- stellungen, die sich nicht nach dem Gesetze der Ähnlichkeit, sondern nach dem der Berührung oder Gleichzeitigkeit assoziieren. Ver- knüpfungen nach diesem Assoziationsgesetze erfolgen aber nur durch Wiederholung, Wiederholung und abermals Wiederholung des Aktes, in welchem sie gleichzeitig im Bewußtsein aufleben. Da nun gerade unter Schwachbegabten Schülern, wie durch experimentelle Unter- suchungen (WINTELER, Loss) festgestellt ist und wie jeder Lehrer an Hilfsschulen beobachten kann, ein bedeutender Prozentsatz Ge- dächtnisschwacher sich vorfindet, bei welchen die Verknüpfung dis- parater Vorstellungen eine ungemein häufige Wiederholung erforderlich macht, so ist einzusehen, daß man mit der Heranziehung der for- malen Vorstellungen nicht zu lange warten darf. Es kommt sonst nicht zu der nötigen Zahl von Wiederholungen und darum nicht zu einer genügend festen Verknüpfung, die aber um zu stellender häus- lichen Arbeiten und stiller schriftlicher Beschäftigungen in der Schule willen notwendig is. Aus all diesen Darlegungen ergibt sich, wie bedeutsam der oben angegebene spezifische Vorzug des Fingerrechnens ist.

Es dürfte sich zum Schlusse des theoretischen Teiles unserer Abhandlungen empfehlen, noch folgenden allgemeinen Gesichtspunkt hervorzuheben: Gewisse Vertreter der Zahlbilderveranschaulichungs- methode, insbesondere Lay, sind der Meinung, das verwickelte Pro- blem, welche Veranschaulichungsweise im grundlegenden Rechen- unterrichte die beste ist, sei durch didaktische Versuche endgültig entschieden. Selbst auf die Gefahr hin, von gewisser Seite zu den- jenigen gezählt zu werden, »die ein Jahrhundert zurück sind« und »die nicht den guten Willen haben, sich durch den didaktischen Versuch als lediglich spezifische Form der psychologischen Beob- achtung das Auge öffnen« zu lassen, behaupten wir auf Grund der in unserer Abhandlung angestellten Erwägungen: Durch didaktische

110 A. Abhandlungen.

Versuche kann eine so umfassende und verwickelte Frage, bei welcher es sich nicht nur um die Konstatierung momentan wahrnehmbarer Erfolge nach einer bestimmten Richtung hin handelt, sondern um solche allgemeinerer Art und um solche, die erst allmählich nach längerer Übung zur Entfaltung kommen, nicht widerspruchslos gelöst werden. Wir stimmen hierin mit Trürer, der sich in ähn- lichem Sinne ausgesprochen hat, vollständig überein, indem wir zugleich betonen, daß wir trotzdem die Bedeutung des didaktischen und psychologischen Experimentes für die Entscheidung spezieller Einzelfragen wohl zu würdigen wissen. Um unsere Behauptung auch nur andeutungsweise zu begründen, möge hier noch die Einseitigkeit der Anschauung derjenigen gekennzeichnet werden, die der Meinung sind, durch die Experimente, wie sie Lay und die Nachprüfer jener Versuche angestellt haben, sei das Fingerrechnen als eine minder- wertige Veranschaulichungsweise deutlich erwiesen. Lay beschreibt auf Seite 63 seines Rechenführers den »Fingerversuch« in folgender Weise: »Bei den Versuchen mit den Fingern verdeckt ein Schüler seine Augen mit der Hand oder mit einem Hefte, während sein Nachbar die von mir vorgezeigte Fingerzahl vor jenen auf die Bank legte. Nachdem ich 1, 2! im Takte des Metronoms vorgezählt hatte, wurde die Zahl der Finger angeschaut, und beim nächsten Taktschlage zog der Nachbar seine Finger zurück.« Auf zweierlei möge hier die Aufmerksamkeit des Lesers gelenkt sein:

a) Lay ließ, als er die Erinnerungsbilder des Schülers prüfen wollte, als Anschauungsmittel nicht die eignen Finger desselben, son- dern diejenigen des Nachbars gebrauchen;

b) die Finger wurden angeschaut, d.h. in obigem Zusammen- hange: die Fingerbildvorstellung wurde nur auf dem Wege der optischen Wahrnehmung gewonnen. Auf eine Erzeugung von Fingerbewegungsvorstellungen war es bei diesen Versuchen mithin gar nicht abgesehen. All die spezifischen Vorzüge des Finger- rechnens, die gerade auf der Assoziation der Fingerbewegungsempfindung mit den optischen Fingerbildvorstellungen beruhen und von denen wir eine ganze Reihe aufgezählt haben, konnten bei jenen Versuchen mithin gar nicht hervortreten und mitgeprüft werden. Selbst wenn es zu solchen Fingerbewegungsvorstellungen auch bei jenen Versuchen gekommen wäre, hätten die Experimente doch nicht den Wert oder Unwert der Fingerveranschaulichung dartun können, weil die auf die Fingerbewegung sich gründenden Erfolge des Fingergebrauchs in ihrer Bedeutung für die geistige Entwicklung im allgemeinen und für die Rechenkunst im besonderen sich erst nach längerer Übung

NöLL: Fingertätigkeit und Fingerrechnen usw. 11]

allmählich entfalten können. Obwohl Laz in seiner »Experimentellen Didaktik« darauf hinweist, daß ein bedeutender Prozentsatz von Schülern dem motorischen Anschauungstypus angehört, stellte er seine Versuche doch so an, als ob alle Schüler nur dem optischen zuzurechnen seien. Durch diese Experimente ist also nicht ein geringerer Erfolg des Fingerrechnens bewiesen; sie tun nur dar: Zahlbilder können auf dem Wege der Gesichtswahrnehmung leichter und deulicher aufgefaßt werden als Fingerbilder. +)

Jedoch es läßt sich gegen jene einseitige Anschaung noch ein zweites wichtiges Argument geltend machen. Die natürliche Ent- wicklung der Zahlvorstellungen, die bei allen Völkern zwar mit Hilfe der Finger vor sich gegangen ist, hat trotzdem nicht ursprünglich in einem Interesse an den Fingern selbst ihre Wurzel. In jedem Unterricht soll, wie Pestalozzi schon betonte, die zahlenmäßige Auf- fassung der Dinge eine Richtungslinie der die Anschauung des Schülers leitenden Unterrichtstätigkeit sein; d. h. wenn wir z. B. unsere Schüler im Interesse des Anschauungsunterrichts auf den Bauernhof führen und ihm dort die Pferde, Kühe, Schweine, Hühner usw. zeigen, so sollen diese Objekte auch zahlenmäßig zur Auffassung gelangen, indem nicht nur die Zahl der vorhandenen Tiere, sondern auch die Zahl der Beine des Huhnes, des Pferdes, der Blättchen des Kleeblattes u. dergl. mit aufgefaßt werden. Denn die natürliche Entwicklung des Zahlbegriffes als eines Beziehungs- begriffes wurzelt, wie Dir. Trüper, Oberlehrer Lanpmann (Vereinigung zur Erforschung der Eigenart im Seelenleben der Kinder, Jena 1899, Zeitschr. Kinderfehler IV, Jahrg. S. 196—197) und Anuenxt (»die Ent- wicklung des Denkens und Sprechens«) mit Recht hervorheben, in der zahlenmäßigen Auffassung von Sachobjekten und in egoistischen Interessen. Direktor Trürsr bemerkte darum Lay gegenüber sehr richtig, daß die Frage nach der zweckmäßigsten Symbolisierung der Zahl, ob in Form einer Reihe oder Gruppe erst eine sekundäre ist. Jene müsse geklärt sein, ehe man an diese herantrete Wir fügen aber hinzu: Gleichwohl ist diese sekundäre Frage doch eine sehr wichtige; denn neben den in der Form von Sachobjekten dargestellten stets wechselnden realen Zahlversinn- lichungen, wie sie das Leben und der Sachunterricht zur Anschauung

1) In Bezug auf die Auffassungsmöglichkeit der Fingerbilder durch den Ge- sichtssinn siehe das Kapitel »Kritische Beleuchtung gegnerischer Anschauungen« in der ungekürzten Ausgabe dieser Abhandlung in den »beiträgen zur Kinderforschung und Heilerziehung«. (Langensalza, Hermann Beyer & Söhne [Beyer & Mann].)

112 A. Abhandlungen.

bieten, muß doch immer eine bestimmte typische Zahlversinnlichung dem Schüler gegenwärtig sein, auf welche jene wechselnden Zahl- versinnlichungen bezogen werden, sonst dauert die Akstraktion des Zahlbegriffs zu lange. Aus diesem Grunde ist es sehr wichtig, daß wir auch bei solchen Gelegenheiten, wie sie Lehrspaziergänge, Sach- unterrichtslehrstunden, Handfertigkeits-, Zeichenunterricht usw. dar- stellen, stets unsere typischen Zahlversinnlichungen zur Hand haben. Können wir nun etwa Laysche Rechenkästchen, Nürnberger Rechen- bretter, Russische Rechenmaschinen usw. in solchen Fällen stets überallhin mitschleppen? Es ist unmöglich und wäre abgeschmackt, das zu tun. Aber unser natürlichster Rechenapparat, die 10 Finger, der ist stets gegenwärtig.!) Zählt einmal die Beine des Pferdes! Zeigt soviel Finger! Seht wieviel Beine das Huhn hat! Zählt die Zehen am Hühnerfuß! Zeigt mir soviel Finger, wie das Huhn Beine, wie es Zehen am Fuße hat! Auf diese Weise hergestellte Beziehungen zwischen Sachobjekten und einer typischen Zahlversinnlichung be- schleunigen die Abstraktion der Zahlbegriffe sehr. Konnte nun bei den didaktischen Versuchen Lays und den Nachprüfungen seiner Experimente dieser vom psychologischen Standpunkte aus wichtige spezifische Vorzug des »Fingerrechenapparatese, daß er stets »zur Handke ist, auch zur Geltung kommen? Wir sehen also, wie sehr die begeisterten Anhänger der quadratischen Vierergruppen irrten, als sie meinten, auf Grund der didaktischen Versuche sei das Problem, welche typische Zahlversinnlichung die beste sei, entgültig und wider- spruchslos gelöst. Zur Lösung verwickelter Probleme können didak- tische Versuche wohl beitragen, aber allgemeine psychologische Überlegungen und Erfahrungen wollen auch beachtet sein. Hiermit wären wir am Schlusse unserer Ausführungen angelangt. An dieser Stelle soll hervorgehoben werden, daß die vorliegende Ab- handlung nicht den Nebenzweck haben sollte, der Rechentypen- veranschaulichungsmethode im Unterrichte der Schule jegliche Be- rechtigung zu bestreiten. Es kam hier vielmehr darauf an, zu zeigen, daß gewisse Vorzüge der Rechentypenmethode bei einem anfangs auf das Zählen verzichtenden Fingerrechnen ebenfalls vorhanden sind, daß aber außerdem unser Verfahren auch spezifische, d. h. ihm allein eigentümliche Vorzüge hat, die wichtig genug sind, daß sie mehr

1) Gerade deshalb, weil die Finger stets gegenwärtig sind, wurde bei den Naturvölkern die Zahlversinnlichung im Anschluß an die Fingerreihe zu einer typischen, mit deren Hilfe sich die Zahlbegriff und sogar die Zahlnamen ent- wickelten.

Damrow: Der Kindergarten usw. 113

gewürdigt werden. Insbesondere sollte die Bedeutung des Finger- gebrauchs für die Entwicklung der Intelligenz im allgemeinen und der Rechenkunst bei Schwachbegabten in helles Licht gerückt werden. Daß diese Vorzüge des Fingerrechnens bei zweckmäßigem Betriebe auch im Unterrichte normal beanlagter Schüler offenbar werden, braucht wohl nicht betont zu werden. Hoffen wir, daß uns die Ehrenrettung des Fingerrechnens, dieses »alten Freundes«, der un- verdient in Mißachtung gekommen ist, nicht ganz mißlungen ist!

Nachwort: Veranlaßt durch die vorstehende Abhandlung, hatte Herr Pastor O. FLüerL die Freundlichkeit, darauf aufmerksam zu machen, daß die »Fingersprache« in ähnlicher Weise (wie »Finger- tätigkeit und Fingerrechnen«) von Bedeutung für die geistige Ent- wicklung der Taubstummen sein müsse, für die es eine Qual sei, die ihnen natürliche Zeichensprache zu unterdrücken, Alle die- jenigen Lehrer, deren Interesse in der genannten Richtung sich er- streckt, besonders Taubstummenlehrer, seien darum aufmerksam ge- macht auf die Ausführungen eines Taubstummen über diesen Punkt in der von O. FLüceL herausgegebenen »Zeitschrift für exakte Philo- sophie« XIX, S. 119 (Verlag von Hermann Beyer & Söhne [Beyer & Mann], Langensalza), sowie auf die Schrift des Taubstummen- lehrers J. Heipsıek, auf welche jener Taubstumme Bezug nimmt: »Der Taubstumme und seine Sprache. Erneute Untersuchungen über das methodologische Fundamentalprinzip der Taubstummenbildung.« (Breslau, Woywod.)

2. Der Kindergarten als Vorstufe der nach Fähigkeits- klassen gegliederten Schule.

Vortrag, gehalten in einer gemeinsamen Versammlung der Charlottenburger Lehrerinnenvereine. Von Marie Damrow.

Es gibt eine junge Wissenschaft, die allmählich ihren Siegeszug durch die gesamte Pädagogik hält, die Kunde von der Kinderseele. Die heutige Zeit, die sich mehr als je mit den Problemen der Erziehung beschäftigt, hat in der Psychologie das Fundament erkannt, auf dem alle Erziehung ruhen soll. Die Versuche des Psychologen unterstützen die jahrelangen Beobachtungen des Lehrers, und beiden stellt sich der Schularzt an die Seite. Das Zusammenwirken dieser drei Faktoren, der Psychologie, der Pädagogik und der Medizin, ermöglicht heute ein genaues Studium des Kindes und seiner Anlagen, der ererbten sowohl wie der erworbenen. Ich sage der ererbten Anlagen, denn auf verschiedenen Wegen sind alle

Zeitschrift für Kinderforschung. XII. Jahrgang. 8

114 A. Abhandlungen.

diese Wissenschaften zu demselben Ergebnis gekommen, nämlich daß das Kind bei seiner Geburt keine tabula rasa sei. Es ist das Kind seiner Eltern, seiner Vorfahren, seiner Umgebung. Daher sind alle Psychologen soweit sonst die Meinungen noch auseinander gehen darin sich einig, daß die Erziehung des Kindes bei der Geburt beginnen muß. Denn das Gehirn des Neugeborenen nimmt täglich um Bohnengröße zu; das erste Drittel des menschlichen Gehirns ist mit dem neunten Monat, das zweite mit dem dritten Jahre vollendet. Die vollständige Gehirnentwicklung zieht sich etwa bis zum 20. Jahre hin. Man ist schon lange bemüht, diese letzte Kindheitsstufe immer mehr auszunutzen und möglichst zu verlängern, wie die Einrichtung der Pflichtfortbildungsschulen für Knaben zeigt; die für Mädchen ist wohl nur eine Frage der Zeit. Die modernen Forschungen haben nun aber die Blicke auch auf die erste und zweite Kindheitsstufe gelenkt, denn wie sollen Erziehung und Unterricht auf der einen Stufe von wahrem Erfolge sein, wenn die vorhergehende nicht genügend aus- gebaut war? Nur auf gute Fundamente gestützt, kann der Erziehungsbau sich erheben. Die erste und natürlichste Erzieherin des Kindes ist und bleibt selbstverständlich die Mutter. Ist aber die Mutter durch die sozialen Verhältnisse nicht im stande, diese Aufgabe zu erfüllen, muß sie wie das meist bei den Müttern unserer Volksschüler der Großstadt der Fall ist Geld verdienen, so tritt helfend und ergänzend der Kindergarten ein. Nicht erst seit heute, denn was jetzt die Psychologie als Leitmotiv auf ihre Fahnen geschrieben hat, nämlich planmäßige Erziehung des Menschen von der Geburt an, das hat lange vorher weitschauenden Auges ein pädagogisches Genie erkannt, Friedrich Fröbel.

Sein ganzes Leben hat dieser Pädagoge seiner ldee gewidmet und sie ins Praktische umgesetzt, indem er den ersten Kindergarten gründete. Fröbel dachte hoch von den Frauen; er schrieb ihnen eine menschheit- pflegende Bestimmung zu. Sie sollten bei der Erziehung ihrer Kinder nicht blind handeln wie das Tier, sondern nachdenkend im vollen Bewußt- sein ihrer hohen sittlichen Verantwortung. Darum schuf er in dem Kinder- garten zugleich eine Bildungsanstalt für künftige Mütter und Kinder- gärtnerinnen. Den Kindern aber schenkte er eine Stätte, wo Körper und Seele sich naturgemäß entfalten konnten. DBegeisterte Anhänger, unter ihnen Diesterweg und Frau von Mahrenholtz-Bülow, trugen seine Ideen hinaus und suchten ihnen Geltung zu verschaffen. Doch der Prophet gilt nichts in seinem Vaterlande, und so sehen wir Kindergärten entstehen in Österreich, in Ungarn, in Frankreich, in England, wo sie staatlich konzessioniert und mit der Schule zu einem organischen Gemeinwesen verbunden wurden. Ganz besonders blühten sie in Amerika empor. Hier in Deutschland fristeten die Kindergärten ein kümmerliches Dasein Fröbel ist nie aus der materiellen Not herausgekommen schließlich wurden sie durch ministeriellen Erlaß verboten; aus welchen Gründen, ist heute noch nicht recht klar. Mit vieler Mühe gelang es, die Aufhebung des Verbotes zu erreichen, die Kindergärten wurden wenigstens geduldet. Heute nun, nach langen Jahrzehnten, nachdem mancher Ruf ungehört ver- klungen, greift die moderne Pädagogik auf die Grundlehren der Fröbel-

Damrow: Der Kindergarten usw. 115

schen Erziehungsweise zurück und begünstigt und fordert die Einrichtung von Kindergärten. Der erste Kindergarten in Deutschland, der mit einer Volksschule verbunden wurde, ist in Charlottenburg gegründet worden und besteht nun fast ein Jahr. Was will dieser Schulgarten, welche Ziele verfolgt er und welche Vorteile verspricht er sich für die Schule?

Die Kinder, die den Schulgarten besuchen, haben das 6. Jahr vollendet, sind also eigentlich schulpflichtig. Durch den Lehrer und den Schularzt sind sie für schulunreif erklärt und auf ein halbes oder ganzes Jahr zurückgestellt worden. Von diesen Kindern es sind in jedem Semester eine große Menge sind vorläufig 24 herausgesucht worden, die sich für den Schulgarten eigneten. Denn nicht jedes Kind würde ohne weiteres für ihn passen. Aus mancherlei Gründen. Ein völlig idiotenhaftes Kind mit krankem oder abnormem Gehirn würde die Entwicklung und Förderung der andern hemmen und muß der Hilfsschule oder in schlimmeren Fällen gar dem Privatunterricht überlassen bleiben. Ebenso bilden die epilepti- schen Kinder und die mit offener Skrophulose behafteten eine Gefahr für ihre Mitschüler, besonders für solche, die durch ihre schwache Gesundheit oder erbliche Disposition zu Infektionen geneigt sind. Da sind noch mancherlei Leiden, die ein zurückgestelltes Kind für den Schulgarten untauglich machen. So lernte ich bei meinen Besuchen ein Kind kennen, das durch völlige Verdickung der Halsdrüsen nicht im stande war, irgend einen Gaumenlaut hervorzubringen; die Zunge war so dick, daß auch dadurch die Sprache noch behindert wurde. Hier kann keine Erziehung helfen, sondern allein die ärztliche Behandlung. Ein anderes Kind, das neunzehnte Kind seiner Eltern, war so schwach, daß es dauernd weder stehen noch sitzen konnte und bei der geringsten Berührung in Gefahr schwebte umzufallen. Ein drittes litt an so heftiger Atemnot, daß häufig Ohnmachtsfälle eintraten. Derartige Krankheiten schließen also vom Be- such des Kindergartens aus. Ist aber ein Kind durch schlechte Ernährung oder durch die Englische Krankheit körperlich zurück, so daß man meint, ein vierjähriges vor sich zu haben; ist es so schwächlich und blutarm, daß auch ein Laie leicht erkennen kann, dieses Kind ist nicht fähig, den Anforderungen der Schule zu genügen; zeigt der Gesichtsausdruck und noch vielmehr die Sprache, auf welch niedriger Stufe seiner geistigen Ent- wicklung das Kind steht, so ist der Schulgarten die geeignetste Bildungsstätte für dasselbe. Das Geschlecht gilt uns natürlich gleich, denn wir wollen ja nicht Knaben und Mädchen, sondern kleine Menschen erziehen. Um bei jedem dieser ausgewählten Kinder eine individuelle Behandlung zu ermög- lichen, tritt der Schulgarten in Beziehung zum Elternhause, denn will man ein Übel beseitigen, muß man die Wurzel kennen. Das ist leicht zu erreichen, denn ich habe die Mütter immer vertrauend und mitteilsam gefunden. Das wertvollste ergibt natürlich die ärztliche Untersuchung, wobei die Mütter ebenfalls zugegen sind. Da erklärt sich dann vieles. Da ist ein schwächlicher Knabe, dessen Vater beinahe 70 Jahre alt ist; ein anderer war bis zum 4. Jahre gelähmt, einem dritten fehlt zum Teil die Schilddrüse, wodurch seine geringe geistige Entwicklung ihre Erklärung gefunden hat. Ein kleines Mädchen wog bei der Geburt nur 11/, Pfund,

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116 A. Abhandungen.

ein anderes stammt miütterlicherseits aus lungenkranker Familie. Bei jedem Kinde wird festgestellt, das wievielte Kind seiner Mutter es ist, auf welche Weise es ernährt wurde, welche Krankheiten es bereits durch- gemacht, und alles im Gesundheitsschein des Kindes vermerkt. Die Kinder werden gemessen, gewogen, Gesicht und Gehör besonders ge- prüft.

Aus dem eben Gesagten ergeben sich die Ziele des Schulgartens von selbst. Er hat die Aufgabe, die Kinder geistig bis zur Schulreife zu heben und körperlich zu kräftigen, damit sie den hohen Anforderungen, die die Schule mit dem ersten Tage an sie stellt, genügen können. Wie erreichen wir das im Schulgarten?

Die Mittel zur geistigen und körperlichen Erziehung des Kindes im Schulgarten gibt uns zum größten Teil Friedrich Fröbel. Er hat die feinsten Beobachtungen an den Kindern gemacht und bietet ihnen die geeigneten Stoffe, an denen der kindliche Geist sich emporranken kann. Es ist wunderbar, wie man auf Schritt und Tritt in Fröbels Schriften den modernsten Anschauungen begegnet; es ist wunderbar, wie weit seine Erkenntnis der Kinderseele ging, eine Erkenntnis, die heute durch die Lehren der Entwicklungstheorie und die Experimente der Psychologen bestätigt wird. »Der einzelne entwickelt sich wie die Gesamtheit«, sagt Fröbel schon. Die junge Menschheit war gezwungen, sich zum Kampf ums Dasein ihre Werkzeuge selbst zu schaffen. Durch die Arbeit schärften sich die Sinne, stählte sich der Körper, durch die Arbeit kamen die Menschen zu neuen Erfindungen, an der Arbeit schwang sich der Menschen- geist empor. Darum soll das Kind arbeiten, damit seine Körper-, seine Sinnes- und Geisteskräfte sich üben und entwickeln. »Der Mensch ist ein schaffendes Wesen«, sagt Fröbel schon. Darum soll das Kind mit den Händen etwas hervorbringen, etwas schaffen, um durch Schauen und Tun zum Denken und Sprechen zu gelangen.

Wir stellen einen Gegenstand aus dem Interessentenkreise des Kindes in den Mittelpunkt des gesamten Unterrichts, Wir wählen ihn aus der Natur: Blumen, Blätter, Früchte, Bäume, Tiere, betrachten auch eine ganze Jahreszeit, oder wir behandeln Themen aus der Kultur: unser Schulzimmer, Schulhaus, die Mühle, ein Hufeisen, den Ball, die Uhr usw. Wie betrachten und befühlen alle Gegenstände; wir behorchen die Uhr, riechen an der Blume, schmecken den Apfel. Es sollen eben alle Sinne des Kindes geübt, keiner vernachlässigt werden. Der Lehrer kann und muß doch zum mindesten verlangen, daß der Schüler mit offenen Sinnen zu ihm kommt. Denn sind diese Eingangspforten der Seele verschlossen oder versteht das Kind nicht, sie richtig zu gebrauchen, so bleibt alle Weisheit leerer Schall. Mit Hilfe der Sinne haben wir die Eigenschaften unseres Gegenstandes festgestellt, wir plaudern nun über ihn, hören eine Geschichte, singen ein Liedchen, kurz es ist eine Anschauungsstunde im wahrsten Sinne des Wortes. Diese Anschauungslektion bietet auch Gelegenheit, dem künftigen Lehrer einige äußere Mühen abzunehmen: die Kinder werden an Ruhe gewöhnt, sie verstehen sich zu melden, sie antworten im ganzen Satz. Es sind dies aber die einzigen Zugeständnisse, die wir

1. Österreichische Gesellschaft für Kinderforschung. 117

der Schuldisziplin machen; im übrigen dürfen sich die Kinder frei bewegen. Je weniger Verbote, desto weniger Übertretungen, und je freier die Er- ziehung, desto mehr Wahrhaftigkeit. Wirkliche Ungezogenheiten habe ich im Kindergarten nicht erlebt, dazu haben die Kinder einfach keine Zeit. Denn jetzt wird dem Tätigkeitsdrang der Kinder, diesem wunderbaren Helfer bei aller Erziehung, der breiteste Spielraum gelassen, sich nach allen Seiten zu entfalten. Geistestätigkeit und Handarbeit greifen nun ineinander, um alle Anlagen des Kindes zu entwickeln, es allseitig zu bilden.

Der in der Anschauungslektion gefundene Stoff wird nämlich nicht wie in der Schule durch häufige Wiederholung und Übung den Kindern fest eingeprägt, die gewonnenen Vorstellungen werden vielmehr auf eine andere Weise befestigt und vertieft: wir bilden den Stoff mit unsern Händen nach. Wir beginnen mit dem Leichten und schreiten fort zum Schweren. Das leichteste ist die körperliche Nachahmung; wir modellieren, wir bauen mit dem Baukasten, wir falten aus Papier. Zunächst einige Worte über das Modellieren. (Schluß folgt.)

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B. Mitteilungen.

1. Österreichische Gesellschaft für Kinderforschung. Von Dr. Theodor Heller, Wien -Grinzing.

i

Im abgelaufenen Vereinsjahr haben noch vier Sitzungen (am 12. und 22. März, 27. April und 23. Mai) stattgefunden, über welche in Kürze be- richtet werden soll.

Dem Vortrag des Herrn Dr. Holitscher über Jugendlektüre wurde von allen Seiten mit großem Interesse entgegengesehen. Ein zahlreiches Publikum hatte sich eingefunden und der große Saal reichte kaum hin, die Erschienenen zu fassen. Der Vortragende fesselte im Anfang durch interessante Ausführungen über Zweck und Bedeutung der Jugendlektüre. Späterhin kam er fast ausschließlich auf die Jugendbücherei des Akademi- schen Verlages zu sprechen, dem Dr. Holitscher als Präsident vorsteht und forderte durch manche, wohl lediglich im Eifer des Vortrages ge- machte Äußerung zum Widerspruch heraus. In ruhiger und äußerst sach- licher Weise entgegnete ihm der Vorsitzende Professor Dr. F. Jodl. Viel schärfer trat ihm der Universitätsprofessor Dr. Reich entgegen, der sich ganz besonders gegen die einseitige Tätigkeit einiger Jugendschriften- komitees und gegen die Bearbeitung von für die Zwecke der Jugendlektüre ungeeigneten Werken aussprach. Während nun ein Teil der Anwesenden den Ausführungen Reichs in-temperamentvoller Weise zustimmte, nahm ein anderer Teil für Dr. Holitscher Partei. Dr. Holitscher ergriff noch- mals das Wort und wendete sich in großer Erregung gegen Professor

118 B. Mitteilungen.

Reich. Da die Zeit sehr vorgeschritten war, wurde die Sitzung geschlossen und die Diskussion vertagt.

Leider brachte ein Teil der Wiener Tageszeitungen tendenziöse, der Wahrheit nicht entsprechende Berichte, welche Prof. Jodl und Prof. Reich den tatsächlichen Verhältnissen entsprechend berichtigten.

In der unter dem Vorsitz des Universitätsprofessors Jodl statt- gefundenen Diskussion am 22. März äußerte sich zunächst Bürgerschul- lehrer Dr. Kraus über die Lesebuchfrage. Dozent Dr. Ullmann stellte einige hygienische Forderungen auf, denen die Jugendschriften entsprechen sollten. Blindeninstitutsdirektor Heller meinte, es komme nicht bloß darauf an, was, sondern auch wie gelesen werde, wies auf die Schädlich- keit jenes Lesens hin, das lediglich die »interessanten« Stellen heraus- greife und alle anderen Darstellungen übergehe. Dieses kursorische Lesen sei auch in erziehlicher Hinsicht bedenklich. Direktor Fischer teilte eine große Zahl von Büchertiteln mit, die ein Bürgerschullehrer in einer an der Peripherie der Großstadt gelegenen Schule nach jenen Büchern zu- sammengestellt hatte, welche seine Schüler daheim lasen. Aus den Titeln konnte entnommen werden, daß es sich hier um höchst schädliche, zum Teil direkt unsittliche Bücher handelte. Dr. Th. Heller stellte den Zu- sammenhang zwischen Zeitungs- und aufregender Jugendlektüre mit ner- vösen Erscheinungen und selbst Kinderselbstmorden fest. Frau Freund- Marcus forderte nebst den Lesebüchern Anthologien, aus denen in der Schule vorgelesen werden solle. Dr. Sittenberger bemerkte, daß die Lesebücher für Mittelschulen auch bescheidenen Ansprüchen nicht genügen können und machte auf manche Übelstände in den Schülerbibliotheken aufmerksam. Dr. Frankfurter, Kustos der Universitätsbibliothek, faßte schließlich die verschiedenen Meinungen zusammen und wies darauf hin, daß wichtige Anregungen hinsichtlich der Wahl der Jugendbücher, ihrer entsprechenden Verteilung auf die verschiedenen Altersstufen von der Schule ausgehen könnten. Er empfiehlt die Einführung von Elternabenden auch für die inneren Stadtbezirke und meint, daß gerade bei gebildeten und in günstigeren Verhältnissen lebenden Eltern die Anregungen dieser Konfe- renzen auf besonders fruchtbaren Boden fallen würden.

Vorsitzender Professor Jodl dankte allen Diskussionsrednern und gab der Hoffnung Ausdruck, daß die Frage der Jugendlektüre auch weiterhin die Beachtung aller jener, die sich für Kinderforschung und Jugendfürsorge interessieren, finden werde.

Am 27. April fand unter dem Vorsitz des Schriftführers der Gesell- schaft Dr. Theodor Heller die Generalversammlung statt. Der bisherige Präsident Dr. Heinrich Reicher hatte an den Vorstand einen Brief ge- richtet, in dem er mitteilte, daß er aus Gesundheitsrücksichten sein Amt zurücklegen müsse, aber auch weiterhin die Ziele und Zwecke der Gesell- schaft nach Kräften fördern wolle. Auf Antrag des Direktors Zwilling wurde Dr. Heinrich Reicher einstimmig zum Ehrenmitglied der Gesell- schaft gewählt. Die nunmehr vorgenommene Wahl des Vorstandes brachte folgendes Ergebnis: Universitätsprofessor Dr. Friedrich Jodl wurde zum

1. Österreichische Gesellschaft für Kinderforschung. 119

Präsidenten, Hofrat Professor Dr. Theodor Escherich zum Vizepräsi- denten, Dr. Theodor Heller und Dr. Klemens Freiherr von Pirquet zu Schriftführern gewählt. Hierauf hielt Direktor Alexander Hecht einen ausgezeichneten Vortrag über Waisenpflege, der voraussiehtlich in den Spalten dieser Zeitschrift erscheinen wird, weshalb die Notwendigkeit entfällt, ihn auszugsweise wiederzugeben.

Den Schluß des Vereinsjahres bildete ein sehr anregender Vortrag des Universitätsprofessors Dr. Stefan Witasek: »Psychologisches zur ethischen Erziehung«, der bereits in dieser Zeitschrift (Heft 1 des 13. Jahr- ganges) in extenso erschienen ist. Die außerordentliche Bedeutung der Suggestion im frühen Kindesalter wurde hier in höchst anziehender, leb- hafter Darstellung gewürdigt. Der Vortrag, den Prof. Witasek mit zahlreichen Lichtbildern illustrierte, fand bei den Anwesenden lebhaften "Beifall. Professor Jodl, der Vorsitzende des Abends, dankte dem Vor- tragenden für seine Ausführungen und schloß gleichzeitig die Vortrags- saison 1906/1907.

II.

Das neue Vereinsjahr begann mit einem vortrefflichen Vortrag des Lizealdirektors Dr. Rudolf Ortmann. Der Vorsitzende Professor Jodl begrüßte die sehr zahlreiche Versammlung und hielt dem verstorbenen Mitglied und Mitbegründer der Gesellschaft Hofrat Professor Dr. Jordan in Krakau einen Nachruf, in dem er auf die großen Verdienste Jordans um die Jugendfürsorge, besonders aber auf seine Bestrebungen hinwies, durch die Schaffung geeigneter Spielplätze die Jugend der armen Be- völkerung den Gefahren der Straße zu entziehen.

Hierauf ergriff Direktor Dr. Ortmann, sehr beifällig begrüßt, das Wort zu einem Vortrag über Mädchenerziehung.!)

Der Vortragende begrenzt sein Thema in der Weise, daß er drei Fragen aufstellt, auf die der Vortrag die Antwort geben soll:

1. Welche besonderen Voraussetzungen ergeben sich für die Mädchenerziehung aus der natürlichen Eigenart der weiblichen Organisation, und welche Forderungen aus der Stellung der Frauen im Leben der Gesamtheit?

2. Wie entspricht die gebräuchliche Erziehung der Mädchen in unsern bürgerlichen Kreisen diesen Voraussetzungen und Forderungen?

3. Wie müßte die Mädchenerziehung beschaffen sein, um das wirklich zu leisten, was sie heute nur unvollkommen tut oder ganz versäumt?

Es werden nun zunächst die für die Erziehung wichtigsten »sekun- dären Geschlechtseigenschaften« kurz vorgeführt; dabei auf dem Gebiet des Physischen auf die größere Schonungsbedürftigkeit im Entwicklungs- alter, auf dem Gebiet des Psychophysischen auf die stärkere Irritabilität

11222

1) Nach einem Autoreferat des Vortragenden.

120 B. Mitteilungen.

der Mädchen hingewiesen. Auf geistigem Gebiet bespricht der Verfasser die größere Empfänglichkeit und Fähigkeit des Nachbildens sowie ander- seits die geringere Bereitschaft zu selbständiger Verarbeitung des Auf- genommenen; die starke Hinneigung zu allem Anschaulichen, besonders Persönlichem, mit der eine geringere Anteilnahme an allem rein Sach- lichen, oder gar Abstrakten verbunden sei; endlich die größere Passivität und Suggestibilität der Mädchen im Vergleich ınit den Knaben.

Drei Wege, so führt er weiter aus, kann die Erziehung hier ein- schlagen: entweder alle diese Abweichungen vom Knabencharakter pflegen (oder mindestens nicht bekämpfen), oder sie möglichst unterdrücken, oder sie bald verstärkend, bald abschwächend verarbeiten. Der zweite Weg wird als irrtümlich und überdies aussichtslos kurz abgewiesen, der erste mit kurzer Begründung abgelehnt: er führe von anderm ab- gesehen dazu, die Frauen von der selbständigen Mitarbeit an dem Leben der Gesamtheit auszuschließen, was eine unverantwortliche Ver- schwendung von Volkskraft bedeute. Der dritte Weg sei der richtige; an einem Beispiel (Neigung der Mädchen zu persönlicher Auffassung) wird gezeigt, wie die Erziehung hier die gegebene Anlage durch Ausbildung und Einschränkung verwerten kann.

Als »natürlichen Beruf« der Frauen erkennt der Vortragende nur den Mutterberuf an, betont aber, daß zu diesem Beruf auch die Erziehung gehöre.

Nun wendet er sich zur zweiten Frage, wie die gegenwärtige Mädchenerziehung diesen Voraussetzungen und Forderungen gerecht werde. Es ergibt sich eine kurze Kritik der gebräuchlichen Mädchenerziehung, an der der Vortragende vor allem tadelt, daß sie von klein auf das Mädchen nicht nach seinen wahren Eigenschaften und Bedürfnissen ausbildet, son- dern nach traditionell-konventionellen Schablonen, die zur Steigerung aller spezifisch weiblichen Schwächen, und zur Verkümmerung mancher weib- lichen Vorzüge führen.

Besonders beklagt er die übergroße Einschränkung der Bewegungs- freiheit der kleinen Mädchen durch das falsche Artigkeits- und Sittsam- keitsideal; dann mit stärkstem Nachdruck die schädigenden Einflüsse im Entwicklungsalter: Überbürdung mit Schul- und Hausunterricht (Klavier!), zum Teil auch mit Geselligkeitspflichten, Mangel an wirklichem Ausruhen und Bewegung im Freien, gesundheitswidrige Kleidung.

Auch in der geistigen Erziehung der Mädchen findet der Vortragende viel Nachgiebigkeit gegen weibliche Schwächen, viel Einseitigkeit nach der ästhetisierenden Seite hin: Sprachen, Literatur und Kunst seien unberech- tigterweise immer noch der Kern landläufigen Mädchenunterrichtes. Doch sei man hier schon auf dem Wege zum Besseren,

Ganz unzureichend findet der Vortragende aber wiederum die Er- ziehung zum Mutterberuf, den die Frauen denn auch, trotz aller gegen- teiligen Schönrederei, recht mäßig versähen (große Säuglingssterblichkeit, Erziehungsfehler).

2. Zur Psychologie der Aussage. 121

Die Beantwortung der dritten Frage wie denn die gute Mädchen- erziehung beschaffen sein solle? ist nun zum Teil nur eine anders gewendete Wiederholung der Kritik:

Auf körperlichem Gebiet wird wohl mehr Bewegungsfreiheit, zweck- mäßigere Kleidung, und für die Entwicklungsjahre viel mehr Ruhe und Schonung verlangt;

auf geistigem Gebiet energische Abkehr von dem einseitig ästhe- tischen Bildungsideal zugunsten wirklicher Weltkenntnis; Pflege des sach- lichen und des Allgemein-Interesses; im Schulunterricht möglichste Erziehung und Aneiferung zur geistigen Selbständigkeit. Hinweis auf die Lektüre der Mädchen, mit scharfer Wendung gegen die »Backfischliteratur«.

Auf sittlichem Gebiet müssen an Stelle der negativen Moral der Verbote und des Gehorsams positive ethische Ideale treten; die Mädchen müssen lernen, ihr Handeln nicht nach den sittlichen Grundsätzen anderer, nach Regeln, einzurichten, sondern nach der Stimme ihres eigenen Ge- wissens.

Hinsichtlich der Erziehung zum Mutterberufe darf sich die Mädchenerziehung nicht nur das Ziel setzen, gesunde und kräftige Mütter zu schaffen; schon die rein physischen Aufgaben des Mutterberufes werde eine unterrichtete und gebildete Frau viel besser erfüllen als eine un- wissende; und ebenso natürlich die erzieherischen. Der »mütterliche Instinkte sei großenteils eine Illusion und in hundert Fällen hilflos; hygienische, psychologische Kenntnisse seien für jede Mutter notwendig; nicht »gesund und dumm« sei das anzustrebende Ideal, sondern »gesund und kundige«e.

Mit einem kurzen Ausblick auf die Schule der Zukunft, die den Grundsatz der Koedukation mit der wirklichen Rücksichtnahme auf weibliche Eigenart und weibliche Lebensaufgaben verbinden werde, schließt der Vortragende seine Ausführungen. (Lebhafter Beifall.)

2. Zur Psychologie der Aussage.

Auf Wunsch veröffentlichen wir gern folgenden Fragebogen:

Institut für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung. (Institut der Gesellschaft für experimentelle Psychologie.) Wilmersdorf I bei Berlin, Aschaffenburgerstr. 27. Name des Einsenders ? Beruf Adresse.

Sammlung charakteristischer Aussagephänomene. No.... I. Wirklicher Sachverhalt, auf den die Aussage sich bezieht. Bezüglich der Aussage selbst sind folgende Angaben erwünscht: II. a) War das Erlebnis, das der Aussage zu Grunde liegt, für den Aus- sagenden in höherem Grade gefühlsbetont, und ev. welche Affekte kamen dabei in Frage?

122

IV.

B. Mitteilungen.

b) Wurde der Sachverhalt mit Aufmerksamkeit (Interesse) beobachtet, oder war die Aufmerksamkeit abgelenkt und wodurch?

c) Sonstige Möglichkeiten für eine Wahrnehmungsfälschung (z. B. Kenntnis von gewissen Gewohnheiten des Reagierens, Handelns usw., welche der von der Aussage betroffenen Person eigentüm- lich sind).

d) War beim Beobachten ein besonders darauf gerichteter Wille vor- handen, das Erlebnis gut zu behalten, etwa weil die betr. Person wußte, sie würde später darüber (als Zeuge) auszusagen haben?

. Wurde die Erinnerung an das Erlebnis beeinflußt und wodurch?

a) durch Gespräche mit anderen Augenzeugen oder durch Zeitungs- berichte (solche sind möglichst mitzuteilen!)?

b) durch Gespräche mit Eltern, Lehrern oder sonstigen autoritativen Personen, deren Fragen einen Zwang zur Rekonstruktion auszuüben vermochten ?

c) durch frühere Vernehmungen?

Wer war der Vernehmende? (Womöglich Mitteilung der Protokolle dieser Vernehmungen!)

d) durch Erleben ähnlicher Episoden? Waren diese in höherem Grade als das Aussage-Erlebnis selbst gefühls-(Affekt-) betont? (Mitteilung des Sachverhaltes dieser Erlebnisse!)

c) War die Zeit zwischen Wahrnehmung und Aussage überhaupt eine sehr bewegte?

f) Sonstige Möglichkeiten für eine Erinnerungsfälschung.

g) Länge der Zwischenzeit zwischen Wahrnehmung und Aussage.

Unter welchen Bedingungen stand die Aussage selbst?

a) In welcher Form erfolgte sie?

In zusammenhängender Erzählung (wie war die Aufforderung hierzu formuliert?) oder auf einzelne Fragen hin (Formulierung der letzteren ?)?

(Überhaupt möglichst wortgetreue Wiedergabe der Aussage und der Zwischenfragen.)

b) Spielte bei der Aussage selbst ein Affekt, und welcher eine Rolle

(z. B. Neid, Rachsucht, Kameradschaftlichkeit)?

In welchem Verhältnis stand der Aussagende zu den durch die Aussage betroffenen Personen (z. B. Feindschaft, Liebe, Freund- schaft, Verwandtschaftsverhältnis, Verhältnis des Vorgesetzten zum Untergebenen, Lehrers, Schülers u. dergl.)?

c) Wem gegenüber erfolgte die Aussage?

In welchem Verhältnis stand diese Person zu dem Aussagenden ’?

Kannte diese Person andere Aussagen über dasselbe Erlebnis (Vor- akten), und wie verwandte sie diese Kenntnis?

d) Versuch einer Analyse der Aussage-Fehler in

1. absiehtliche, und weiterhin nach Motiven A. Begünstigung einer Person,

B. Rache,

C. Literatur. 123

C. Wichtigtuerei, D. (Irreführen der Behörden u. dergl.)

2. unabsichtliche A. Fehler der Wahrnehmung,

B. Fehler der Erinnerung, C. Fehler der Aussage (falscher Ausdruck u. dergl.). V. Wer machte die Aussage? a) männlich oder weiblich ? b) Alter? è c) Beruf und Grad der Bildung? d) Nationalität? e) geistige Gesundheit und Gesundheit der Sinnesorgane?

(Bei Masseerscheinungen, z. B. Furchthalluzinationen einer Schul- klasse, Aussagefälschungen infolge von Parteifanatismus usw. ist natürlich eine spezielle Charakteristik jeder einzelnen Person nicht möglich und nötig.

VI. Wichen Aussagen verschiedener Personen über dasselbe Erlebnis in einer gewissen Richtung von der Wirklichkeit ab? (Kam man in- folgedessen auf Grund mehrerer teilweise auch in falschen Beziehungen übereinstimmender Aussagen zu einer fehlerhaften »Totalrekonstruk- tion« des Sachverhaltes, und ev. dadurch auch zu einem falschen Urteil? Wiederaufnahmeverfahren.)

VI. In Ausnahmefällen können auch solche Phänomene psychologisches Interesse haben, bei denen der wahre Sachverhalt nicht bekannt ist, z. B. Steigerungsphänomene in den aufeinanderfolgenden Aussagen derselben Person über dasselbe Erlebnis, Steigerungsphänomene beim Weitergeben einer Erzählung (Gerücht), Suggestionswirkungen, die zwischen einer 1. und einer 2. Aussage liegen usw.

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C. Literatur.

v. Lindheim, Alfred, Saluti juventutis. Eine sozial-statistische Untersuchung. Mit Abbildungen, Tabellen und graphischen Darstellungen. Wien, Franz Deuticke, 1907. 564 S. Preis 12 K.

In Österreich ist seit wenigen Jahren ein mächtiges Interesse für pädagogische Forschungen erwacht. Als ein bedeutsames Ereignis in diesem Sinne war der Kinder- schutzkongreß zu begrüßen, dessen Verhandlungen kürzlich, in einem (3.) Band vereinigt, im Buchhandel erschienen sind. Alfred von Lindheim, Abgeordneter des niederösterreichischen Landtages, ein für Fortschritt und Aufklärung begeisterter Mann, hat nunmehr ein Werk herausgegeben, das den Vertretern der Kinder- forschung ‚als eine treffliche Materialiensammlung nicht warm genug empfohlen werden kann. Lindheim hat sich mit einer Reihe trefflicher Mitarbeiter ver- bündet. Der Wiener Privatdozent Dr. Heinrich Joseph bespricht in vorzüglich klarer Weise die Vererbungsfrage. Lindheim fügt diesem Kapitel einige Tat- sachen bei; die Folgerungen, zu welchen er gelangt, sind für die öffentliche Wohl-

124 C. Literatur.

fahrt von außerordentlicher Wichtigkeit. Über Syphilis im Kindesalter liegt ein Gutachten des Dozenten Dr. Hochsinger vor, der weit über die Grenzen Österreichs hinaus als Forscher auf dem Gebiete der Kindersyphilis bekannt ist. Über das Schicksal der mit Erbsyphilis behafteten Kinder hat Hochsinger Dauer- beobachtungen angestellt. Von 106 erbsyphilitischen Individuen, die alle in den ersten Lebenswochen einer Behandlung unterzogen worden waren, sind nur 20 kräftige und gesunde Menschen geworden, während die übrigen 86 bleibende Störungen der Gesundheit darboten. Auch in heilpädagogischer Hinsicht ist aus dem Aufsatz von Hochsinger viel zu lernen. Hier sei nur folgende Stelle zitiert: »Eine erhebliche Zahl von Kindern vormals syphilitischer Väter erscheint bei ober- flächlicher Betrachtung gesund, ist auch zeitlebens frei von nachweisbaren offen- kundigen syphilitischen Erscheinungen geblieben. Aber schon frühzeitig, nament- lich häufig gelegentlich der Einschulung zeigen sich Defekte des Nerven- systems. Wo solche Affektionen der Nervensphäre bei mehreren Mitgliedern ein und derselben Familie frühzeitig auftreten, ohne daß ansonsten nervöse Belastung nachzuweisen wäre, ist die Wahrscheinlichkeit, daß die Nervosität der Kinder mit Syphilis der Vorfahren zusammenhänge, eine sehr große.«

Eine Abhandlung, in welcher die Bedeutung und die Unersetzlichkeit der Brusternährung bis zur Evidenz nachgewiesen wird, stammt aus der Feder des Leipziger Privatdozenten Dr. Max Seiffert. Die Kindersterblichkeit wird nach Umfang und Ursachen beleuchtet. Wir erfahren, daß Sachsen und Ungarn den höchsten Prozentsatz (28°/,) der Kindersterblichkeit aufzuweisen haben und hierin selbst Rußland (27°/,) übertreffen. 70—80°/, aller Todesfälle im ersten Lebensjahr sind auf die Mißerfolge und Fährlichkeiten der sogenannten künstlichen Ernährung zu setzen. Die widernatürliche Säuglingsernährung hat aber außerdem bei einer Unzahl überlebender Kinder eine Konstitutionsverschlechterung zur Folge, die der Anämie, Rachitis und skrofulösen Diathese die Grundlage bietet. Eine Auslese findet durch die Säuglingssterblichkeit nicht statt, wohl aber eine Ver- schlechterung der Generation, die sich dem Kampf ums Dasein nicht gewachsen zeigt. Sehr interessant sind die von Lindheim mitgeteilten Tabellen über die Be- ziehungen zwischen der Stillungsdauer und der geistigen Spannkraft der Kinder, welche dartun, daß auch hinsichtlich des geistigen Gedeihens die an der Brust ge- stillten den künstlich ernährten Kindern weitaus überlegen sind.

In einem zweiten Gutachten spricht sich Dozent Dr. Hochsinger über Syphilis und Säuglingsernährung aus. Hier wird die Ammenfrage gründlich erörtert. Die Aufnahme einer Mietamme zu einem offenkundig erbsyphilitischen Kinde ist strengstens zu untersagen und mit Strafe zu belegen. Andrerseits wird genaueste Überwachung der Ammenbureaus verlangt. Auch die größte Vorsicht schließt die Syphilisübertragung bei der Ammenwahl nicht gänzlich aus. Das einzige Mittel, um die Syphilisgefahr aus der Säuglingsernährung auszumerzen, besteht in der Stillung durch die eigene Mutter oder in der künstlichen Ernährung, die, wie aus dem Gutachten Seifferts hervorgeht, nur in Fällen dringender Not- wendigkeit geraten ist und auch ihrerseits nicht gering zu veranschlagende Ge- fahren für das betreffende Kind herbeiführen kann.

Im folgenden sei auf die hochinteressanten Tabellen (nach Klenke und Spaun) über das Verhältnis der Ehelichen zu den Unehelichen in Bezug auf Sterblichkeit, Entwicklung, Militärtauglichkeit und Kriminalität hingewiesen.

Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit dem neutralen Kindesalter bis zum Beginn der Schule. Ein vortreffliches Gutachten des bekannten Kinderarztes

C. Literatur. 125

Doz. Dr. Julius Zappert verdient eingehende Beachtung. Was Zappert über die geistige Entwicklung des Kindes sagt, zeugt von eingehenden eigenen Studien und von einer genauen Kenntnis der einschlägigen psychologischen und pädagogischen Literatur. Besonders der Abschnitt über Charakterbildung kann allen Pädagogen zur Beachtung wärmstens empfohlen werden. Ein trauriges Bild ergibt die Be- trachtung der Morbidität und Mortalität im neutralen Kindesalter. Auch hier be- gegnen wir der Tatsache, daß die an der Mutterbrust ernährten Kinder sich ge- sunder erweisen als solche nach künstlicher Ernährung. Zum Schlusse gelangt Zappert zu wichtigen hygienischen Forderungen, die sämtlich hier im Wortlaut wiedergegeben werden sollten, was leider in Rücksicht auf den zur Verfügung stehenden Platz nicht möglich ist.

Im vierten Kapitel gelangen der Orthopäde Dr. von Hovorka, der Augen- arzt Dozent Dr. C. Hamburger und der Ohrenarzt Dozent Dr. Ferdinand Alt zum Wort.

Hinsichtlich der Krüppelkinder führt Hovorka aus, daß in den Ländern, welche entsprechende Zählungen veranlaßt haben, die Zahl der Krüppelhaften zwischen 3,2 und 8,6°/, der Bevölkerung schwankt. 93 bis 96%/, der Krüppel könnten ihr Brot erwerben, wenn sie alle einen regelrechten Unterricht nebst ent- sprechender ärztlicher Behandlung genießen würden. Tatsächlich empfangen in den angeführten Ländern 14 bis 19°/, der Krüppelkinder keinen Unterricht und fallen der öffentlichen Armenpflege zur Last.

Hamburger verzeichnet die erfreuliche Tatsache, daß in allen Kulturländern die Erblindungen im Rückgang begriffen sind. Vermeidbare Ursachen der Er- blindung sind 1. die Pocken; 2. die Augeneiterung der neugeborenen Kinder (Blenorrhoea neonatorum); 3. der größte Teil der Verletzungen, welche das Auge betreffen; 4. die sogenannten sympathischen Entzündungen; 5. die ägyptische Augenentzündung. Die Mittel und Wege zur Verhütung der vermeidbaren Er- blindungsursachen werden ausführlich besprochen. Auch dem Standpunkt der Schul- hygiene wird der Verfasser gerecht. Für Blinde sollte der Anstaltszwang gesetzlich geregelt werden. Auch hochgradig Schwachsichtige gehören in die Blindenanstalt. Die Ausbildung des Tastsinnes bedeutet für dieselben keine Degradierung, sondern einen Segen.

Ferdinand Alt erbringt in seinem Gutachten eine Fülle interessanter Tat- sachen, die nicht bloß für den Taubstummenlehrer von Wichtigkeit sind. Viele Kinder gelten als taubstumm, die in Wirklichkeit einen wesentlich anderen Befund aufweisen. So erwähnt Alt einen Fall, in dem ejin Kind taubstummer Eltern bis zum 6. Lebensjahr als taubstumm aufwuchs und nach Entfernung aus dem Haus der taubstummen Eltern schon nach drei Monaten gut hörte und sprach. Dieser Fall ist für den Psychologen von außerordentlichem Interesse, weil er beweist, wie bedeutsam Beispiel und Anleitung für die Sprachentwicklung eines Kindes sind. Alt ist ein Anhänger der Hörübungen bei jenen Kindern, die Hörreste aufweisen. Er pflichtet der Forderung von Hassenstein bei, daß kein Kind einer Taubstummen- anstalt übergeben werden sollte, ehe von einem Sachverständigen seine Unheilbarkeit festgestellt worden ist. Vielen Anstalten fehlt der beratende Ohrenarzt. Unter diesen Umständen kann es nicht wundernehmen, daß in den Taubstummenanstalten Idioten, dann Hörstumme oder psychisch Taube angetroffen werden, die sicherlich nicht hierher gehören.

Gegen die in neuerer Zeit vielfach verfochtene Ansicht, daß die schädlichen Folgen der Verwandtenehe übertrieben dargestellt werden, läßt sich die von Alt

126 . C. Literatur.

neuerdings mit Sicherheit erwiesenen Tatsache anführen, daß aus blutsverwandten Ehen viel mehr Taubstumme stammen als aus gekreuzten Ehen. Alt fordert schließlich die Errichtung gewerblicher Fortbildungsklassen für taubstumme Lehr- linge und verweist auf die Erfolge dieser Institution am k. k. Taubstummeninstitut in Wien.

Ein Fachmann von Weltruf, Regierungsrat Prof. Dr. Leo Burgerstein, be- reichert den Inhalt des Werkes durch ein Gutachten über den Zusammenhang körperlicher und geistiger Entwicklung im Schulalter. Alle wichtigen Fragen der Schulhygiene werden in gedrängter, dabei übersichtlicher Form behandelt und es hält schwer, die kurzen und bündigen Ausführungen Burgersteins aus- zugsweise wiederzugeben. Wir empfangen Belehrungen über die verschiedenen Faktoren, welche die körperliche und geistige Entwicklung in ungünstigem Sinne beeinflussen; trefflich gelungen ist dem Verfasser die wissenschaftliche Ver- tiefung des bekannten Satzes mens sana in corpore sano. Die Wohlfahrtseinrich- tungen für jene Kinder, welche für die normale Schulung ungeignet sind, werden mit besonderer Berücksichtigung der Hilfsschule besprochen. Bei den Mittelschülern interessiert u. a. der Nachweis, daß die Schlafzeit derselben im Durchschnitt unter dem Erforderlichen bleibt. Auch im übrigen entspricht der Unterrichtsbetrieb in den Mittelschulen durchaus nicht den berechtigten hygienischen Forderungen. Die Koedukation, welche heute vielfach ganz und gar kritiklos als pädagogisches Postulat hingestellt wird, kann nach Burgerstein in den höheren allgemeinen Bildungsanstalten nicht ohne weiteres empfohlen werden. Hier wäre ein ab- schließendes Wort erst möglich, wenn Genaueres über den Gesundheitszustand in den bereits bestehenden Koedukationsschulen mit Lehrplänen des Gymnasiums, des Realgymnasiums und der Realschule bekannt würde. Nachdrücklich weist Burger- stein auf die ungünstige bürgerliche und schulische Tageseinteilung hin. Über die Schularztfrage, die Frage der sexuellen Aufklärung u. a. unterrichtet das Gutachten von Burgerstein besser als manche wortreiche Abhandlung.

Lindheim behandelt im sechsten Kapitel die Zeit der Reife. Mit jenem tiefen sittlichen Ernst, der alle seine Ausführungen charakterisiert, weist der Verfasser darauf hin, daß die Gefahren der Geschlechtskrankheiten in der Masse der Bevölkerung beträchtlich unterschätzt werden. Die Verbreitung venerischer Krankheiten ist nach den angeführten Zahlen eine erschreckend große. Die Be- ziehungen der Syphilis zur Paralyse werden überzeugend dargetan. Nicht viel anders wie das der Paralyse stellt sich das Verhältnis der Tabes zur Syphilis. Jene auf das Geschlechtsleben bezüglichen Faktoren, welche die Verwahrlosung vieler Jugendlichen bedingen, werden freimütig aufgezeigt. Lindheim ist selbstverständlich ein unbedingter Anhänger vorbeugender Belehrung über die Geschlechtsfunktionen und die Gefahren geschlechtlicher Ausschweifung.

Aus der Fülle eigener Beobachtungen schöpft der Verfasser des Gutachtens über psychische Störungen des Kindesalters und das der Entwicklungs- höhe vorangehenden Alters, Primararzt Dr. Josef Berze. Unter den Ur- sachen des Irreseins im Kindes- und Entwicklungsalter führt Berze an: 1. Heredi- täre Belastung; 2. Keimschädigung; 3. Schädliche Einflüsse während der Geburt; 4. Mängel der Erziehung; 5. Mängel der Ernährung; 6. Körperliche Krankheiten; 7. Geschlechtsleben des Individuums; 8. Alkoholismus (soweit er das Kindesalter direkt betrifft); 9. Syphilis und 10. Psychische Ursachen.

Der Abschnitt 4 (Mängel der Erziehung) ist für den Pädagogen von besonderer Wichtigkeit. Eine Stelle dieses Abschnittes sei hier im Wortlaut wiedergegeben:

C. Literatur. 127

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»Als oberstes Gesetz sollte dem Erzieher eines Kindes immer die strengste In- dividualisierung vor Augen stehen; denn nichts rächt sich mehr, als die schablonen- hafte Behandlung von Kindern, die Anzeichen psychopathischer Minderwertigkeit zeigen, sei es im Sinne einer gesteigerten Suggestibilität, die sich unter anderem namentlich oft in einem gesteigerten Trieb zur Nachahmung des Bösen ebenso wie des Guten ausdrückt, sei es im Sinne einer ungenügenden Ausbildung der morali- schen Hemmungen, eines abnorm gesteigerten Egoismus, einer abnorm gesteigerten Reizbarkeit, einer auffälligen Labilität der Stimmung, einer auffälligen Ablenkbarkeit, bezw. Unfähigkeit zur geistigen Konzentration, einer beträchtlichen Gedächtnis- störung, einer bedenklichen Neigung zu phantastischen Ideenverbindungen, zum Lügen usw. Ein bedenkliches Zeichen dafür, wie sehr man die Berücksichtigungs- würdigkeit dieser Anzeichen einer abnormen psychischen Konstitution eines Kindes zu unterschätzen pflegt, ist es, daß sich die Eltern so selten durch die Entdeckung derartiger Anomalien veranlaßt sehen, fachmännischen Rat einzuholen dieselben Eltern, die etwa wegen eines ganz harmlosen Magenübels, an dem das Kind er- krankt ist, oder wegen einer noch so geringfügigen Verletzung, die das Kind er- litten hat, alle möglichen Spezialisten in Anspruch nehmen.«

Nach einer Aufzählung der häufigsten Formen des Irreseins im Kindes- und Entwicklungsalter gelangt Berze zur Besprechung der verbreitetsten Formen der geistigen Minderwertigkeit. Zahlreiche Beispiele belegen den vierten Abschnitt über Geistesstörung und Verbrechen. Verschiedene Vorschläge hinsichtlich der Ver- hütung der Geistesstörungen des Kindes- und. Entwicklungsalter werden von Berze kritisch beleuchtet. Er selbst hält sich an das Mögliche, praktisch Durchführbare. Hier ist vor allem die allgemeine Verbreitung der Kenntnis von den keimschädigenden Momenten erforderlich. Was die Beseitigung der Erziehungsmängel anbelangt, so ist zunächst zu betonen, daß Kinder verschrobener, hysterischer oder gar geistes- kranker Eltern nicht im Elternhause erzogen werden sollten. Die psychiatrische Ausbildung der Hausärzte ist eine unerläßliche Vorbedingung, soweit es sich darum handelt, die geistige Entwicklung gefährdeter Kinder zu überwachen. Die Unter- ernährung der Kinder, welche unter den physischen Ursachen der infantilen Geistes- entartung eine große Rolle spielt, betrifft nicht bloß die Kreise der Mittellosen. Auch in den Häusern der Wohlhabenden begegnet man in dieser Hinsicht oft schweren Fehlgriffen, und hier wäre Belehrung der Eltern und Erzieher über die wichtigsten Prinzipien der Kinderernährung am Platze. Berze fordert wegen der großen Gefahren, die den führerlosen Kindern mittelloser Familien nach Absolvierung der Schulzeit drohen, die Einführung obligatorischer Fortbildungsschulen. Die Über- wachung des Geschlechtslebens der Jugendiichen erscheint als eine der wichtigsten prophylaktischen Maßregeln. Der Kampf gegen den Alhoholmißbrauch erstrecke sich auch auf das Kindesalter. Die Verleitung Jugendiicher zum Übergenuß al- koholischer Getränke sollte bestraft werden. Die rechtzeitige Abgabe der Jugend- lieben, die in Gefahr sind, dem Alkoholismus zu verfallen, an Trinkerheilanstalten würde die Rettung vieler Existenzen bewirkt, die, sich selbst überlassen, von Stufe zu Stufe bis zur tiefsten Verkommenheit sinken. Dringendst erforderlich wären wirksame Vorkehrungen zur Verhütung der Verbreitung der Syphilis. Hier ist allerdings schwer Rat zu schaffen. Berze regt an, die in Gründung begriffene, über einen Millionenfond verfügende Volksheilstätte für Nervenkranke auch für die Aufnahme neuropathischer Kinder und Jugendlicher geeignet zu machen und mit entsprechenden Einrichtungen zu versehen. Eine Reform der Besserungsanstalten in Rücksicht auf die verschiedenen Arten der besserungsbedürftigen, moralisch-

128 C. Literatur.

defekten Jugendlichen tut dringend not. Berze weist im Zusammenhang damit auf die Rückständigkeit unserer Strafrechtspflege hin, auf den Mangel gesetzlicher Bestimmungen, welche die Basis für eine differenzierte Behandlung der bedrohten oder straffällig gewordenen Jugendlichen bieten.

Der Staatsanwaltssubstitut Dr. Ludwig Altmann spricht über die Reform der Jugendfürsorge. Wenig kann von dem Überkommenen, heute noch Giltigen stehen bleiben. Von den Resultaten, zu denen der Verfasser auf Grund einer ein- gehenden Untersuchung gelangt, seien hier die folgenden hervorgehoben:

I. Das Hauptaugenmerk der Jugendfürsorge muß auf die Prophylaxe ge- richtet sein.

II. Im allgemeinen muß dafür gesorgt werden, daß kein Kind ohne Rücksicht auf Alter, Geschlecht und Abstammung in einer lasterhaften oder seine Verwahr- losung begünstigenden Umgebung belassen werde.

III. Das System der Einzelvormundschaft ist zu verlassen. Vaterlose Kinder stehen regelmäßig unter der elterlichen Gewalt ihrer Mutter, gleichgültig ob diese verehelicht war oder nicht.

Die Waisenräte sind die Vormünder aller schutzbedürftigen Kinder, soweit nicht öffentliche Anstalten dieses Amt versehen.

IV. Das Amt eines Waisenrates soll namentlich für die Kinder im zarten Lebensalter und für Mädchen auch Frauen, anvertraut werden.

Jedem Waisenratskollegium soll mindestens ein Arzt angehören.

Weiterhin spricht sich Altmann für die Einführung besonderer Jugend- gerichte mit Ausschluß der Jury, Ausschluß der Öffentlichkeit des Verfahrens, grundsätzliche Vereinigung der Strafjustiz über Jugendliche mit den Agenden der Pflegschaftsbehörde, Beseitigung des diffamierenden Charakters der Strafe gegen Jugendliche aus.

Dem Gutachten Altmanns ist die Programmrede des österreichischen Justiz- ministers Dr. Klein anläßlich des Kinderschutzkongresses angefügt, über welche bereits an früherer Stelle berichtet wurde.

Im neunten Kapitel spricht Lindheim über das normal entwickelte Kind. Er verweist auf die mannigfachen Übelstände, die bei der Berufswahl entstehen. Auf dem ungeheueren Arbeitsfelde kann jeder, der in seinem Beruf Tüchtiges leistet, zur vollen Entfaltung gelangen. Dem Untergang verfallen sind hingegen jene Existenzen, die bei der Berufswahl sich falsch entschieden haben. Über die Frauenfrage macht Lindheim treffende Bemerkungen, die den lebenserfahrenen, weitblickenden, sozialwissenschaftlich geschulten Beobachter erkennen lassen.

Dem Referenten ist im zehnten Kapitel die Aufgabe geworden, einen Rück- blick auf die Ergebnisse der Lindheimschen Untersuchung zu werfen und die Ver- bindung zwischen den einzelnen Gebieten herzustellen. Gerne hat er sich dieser mühevollen Aufgabe unterzogen und an dem Buche mitgearbeitet, das seiner Anlage und Durchführung nach beanspruchen kann, als ein Standard work der Kinder- forschung bezeichnet zu werden.

Wien-Grinzing. Dr. Theodor Heller.

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Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensaıza,

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A. Abhandlungen.

1. »Gefühlsbetonte Komplexe: im Seelenleben des Kindes, im Alltagsseelenleben und im Wahnsinn. Von Dr. med. Hermann, Arzt der Provinzial-Irrenanstalt Galkhausen (Rheinland).

Tief in der irrenärztlichen Literatur der neusten Zeit liegen psychologische Forschungen vergraben, die das höchste Interesse der denkenden Kreise, der Erzieher und: praktischen Psychologen ver- dienen und in ihrer Hand vielleicht zu einem wertvollen Forschungs- mittel und zu einem Schlüssel für manche rätselhafte Frage werden können, denn ihre Wege führen auch in dunkle Gebiete der Kinder- psychologie. Es handelt sich um die Ausarbeitungen der geistvollen Hypothese des Wiener Irrenarztes Freun, die, gegenüber vielen An- fechtungen, von Züricher Irrenärzten (BiruLer, RıkLın, insbesondere June, dem ich mich vorwiegend anschließe) ausgebaut und durch Assoziationsstudien (June) auf experimental-psychologischen Boden gestellt wurde. Ich will versuchen, das für die Allgemeinheit Wissens- werteste in verständlicher Form wiederzugeben.

Über das Problem der Willensfreiheit haben bereits die mittel- alterlichen Gelehrten disputiert und noch heute sind die Anschauungen ungeklärt. Richter, Ärzte, Lehrer, Theologen, Laien jeder hat seine eigne Auffassung davon. »Der Mensch ist das Produkt seiner Umgebung.«< »Die Gedanken beherrschen uns, nicht wir die Ge- danken.« »Die freie Willensbestimmung wird nur durch Geistes- krankheit oder Bewußtlosigkeit aufgehoben (Sinn des Strafgesetzbuchs $ 5l).«e »Jeder Mensch ist vor Gott für seine Sünden voll ver- antwortlich; Geisteskrankheiten sind Folge der Sünde,« das sind so

Zeitschrift für Kinderforschung. XII. Jahrgang. 9

130 A. Abhandlungen.

einige landläufige, sich widersprechende Anschauungen. Wie so häufig führt der wahre Weg in diesem Labyrinth durch die Mitte. Ihn aufzufinden, werden auch die folgenden Ausführungen zum Teil lehren.

Die Erziehung erreicht es durch ein Heer von Mitteln, dem Kinde Hemmungen für die Durchbrüche seines rücksichtslosen Egois- mus zu schaffen. Das Kind muß die Maske der Umgebung annehmen und zum mindesten sein Begehren und Handeln, meist auch sein Denken der stärkeren Umgebung unterordnen. Im Entwicklungs- alter (Pubertätszeit) und vorher erwachen die sexuellen Triebe. Der wachsende Mensch wird gezwungen, sie gewaltsam zurück- zudrängen, nach außen hin zu ignorieren. Das ganze Leben hin- durch gibt es große und kleine Zusammenstöße mit der Umgebung, sorgen- und tränenreiche Tage, Enttäuschungen und Leiden, die überwunden werden müssen. Gesetz und Sitte verbieten uns, un- angenehme oder eigenwillige Äußerungen des Seelenlebens, unerlaubte Affekte nach außen hin zu zeigen; der Beruf, die Pflicht, die Familie, die Gesellschaft erfordern unsre ganze Kraft, unsre unbeladene Geistes- frische: Was bleibt uns übrig, als die störenden Gedanken, Triebe und Affekte zu verdrängen, zu »vergessen«, wie wir optimistisch sagen. Aber was wird aus allen den von kleinauf verdrängten seeli- schen Elementen? Werden sie ausgelöscht, wie von einer Tafel? Nein! Sie ruhen nur unbewußt in der tiefsten Tiefe der Seele, im »Unterbewußtsein«, wie gefesselte Sklaven im Kerker. Man nennt sie »verdrängte Komplexes, da man als »Komplex« eine »Zusammen- fassung« von einzelnen seelischen Bestandteilen zu einheitlichen Gruppen bezeichnet. Komplexe sind sehr umfassend; so gruppiert sich z. B. allein um eine einzige Person unsres Bekanntenkreises eine Fülle von Gedankenverknüpfungen (Assoziationen), Erinnerungen, Gefühlen, Affekten, die beim Anblick der Person das entsprechende Bild in Begleitung eines Gefühlstons in unsrer Seele erwecken. Die Sexualkomplexe umfassen die gesamten gröberen und feineren ge- schlechtlichen Begierden und Gedanken einer einzelnen Person, der Selbsterhaltungskomplex umfaßt alle auf das Wohl unsrer Person ge- richteten Vorstellungen, Empfindungen u. s. f., der Mutterliebekomplex sämtliche Denk-, Willens- und Gefühlsvorgänge, die sich in der Seele der Mutter auf Wohl und Besorgung des Kindes erstrecken, der Ver- liebtheitskomplex ist ein Sexualkomplex und umfaßt sämtliche psychi- schen Vorgänge, die sich auf den Gegenstand der Liebe beziehen. Alle diese verschiedenen Komplexe sind von Gefühlstönen begleitet, z. B. der Trauerkomplex nach dem Tode der Gattin von nagendem Schmerz,

Hermann: »Gefühlsbetonte Komplexe« im Seelenleben des Kindes. 131

der ‚Verliebtheitskomplex von Lust oder Wehmut, man spricht daher von »gefühlsbetonten Komplexen«. Demgegenüber dürfen wir einen Komplex nicht vergessen, der mit dem Moment beim Kinde ausgebildet ist, wo es das Wort »Ich« sinngemäß gebraucht. Der »Ich- komplex« (oder »das Komplexich« »das Ich«) stellt die Summe der- jenigen meist nicht auffällig gefühlsbetonten Vorstellungen dar, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt gerade in der Helligkeit des Bewußtseins befinden, zum Teil auch aus Empfindungen der Körper- lichkeit herstammen, sehr wechselnd und kompliziert zusammengesetzt sind und uns die einheitliche Vorstellung des eignen Ich gewähren. Der Ichkomplex ist derjenige, der die herrschende Stelle im Seelen- leben einnimmt, er repräsentiert das Bewußtsein, das ordnende Denken und Überlegen, er regelt die »Selbst«beherrschung durch willkürliche Heranziehung beliebiger Vorstellungen aus dem Schatz der Erinnerung, durch Unterdrückung sich aufdrängender Gedankenverknüpfungen, durch Ablenkung, Anspannung der Aufmerksamkeit, der Willenskraft, der Energie. Der Ichkomplex verdrängt störende Komplexe und wirft Ruhestörer nieder. In diesem Kampfe kann er aber erliegen. Endweder sind die rebellischen oder fremd eindringenden Komplexe so sehr gefühlsbetont, so überwertig, übermächtig (z. B. bei Tod und Unglücksfällen), daß der bedrängte Ichkomplex ohnmächtig zusammen- bricht und von dem nunmehr herrschenden Komplex geknechtet, ge- peinigt oder gar zerstört wird (ein »gebrochener« Mann!): Die »Selbst- beherrschung« ist verloren. Oder das Bewußtsein ist getrübt, der Ichkomplex erkrankt, geschwächt, nie gewohnt gewesen (Erziehung!) zu ordnen und durchzugreifen, der Wille kraftlos: Die Komplexe haben es leicht, sich freies Feld zu schaffen und tummeln sich aus, wie im Delirium, in der Raserei des Bewußtlosen, des Geistes- kranken. Je stärker der Ichkomplex (Stoiker!), um so leichter werden aufrührerische Komplexe bezwungen. Eine gute Erziehung stärkt den Ichkomplex, indem sie ihm wirksame Vorstellungen und einen festen, geübten Willen zur Verfügung stell. (Kampf der Willenskraft gegen Leidenschaften.)

Wir haben im Vorhergehenden zwei Arten von Komplexen unterscheiden lernen: verdrängte Komplexe und herrschende Komplexe. Beide Arten sind gefühlsbetont. Beide rufen nun im umgebenden Seelenleben interessante Veränderungen und Störungen hervor. Das Interessante liegt nicht darin, daß man bekannte psychische Geschehnisse mit fremdartigen Namen bezeichnet, andere Ausdrücke für sie erfindet, als darin, daß eine Menge der rätselhaftesten psychi- schen Phänomene, wie Traum, Hypnotismus, Spiritismus, Hysterie,

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132 A. Abhandlungen.

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der Zweiseelenkampf in der Menschenbrust, die Doppelnaturen, un- erklärliche Affekte und Handlungen, Wesen und Ursache der wich- tigsten Geisteskrankheiten und vieles andere nur in der »Komplex- theorie« ihre Erklärung finden. Ja man kann umgekehrt sagen: Es gibt keine psychologische Tatsache, die sich nicht befriedigend in diese Theorie einfügen ließe.

Zunächst: Wie beeinflussen die verdrängten Komplexe unser übriges Seelenleben?

In mannigfacher Art senden sie, uns selbst oft unbewußt, ihre Reize in unser denkendes und fühlendes Ich. »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, daß ich so traurig bin.« Ein unbewußtes Sehnen ergreift die Brust, ein banges Weh will das Herz zersprengen, ohne daß wir wissen warum, eine unheimliche Ahnung läßt keine fröhliche Laune aufkommen, ein ungewisser, dumpfer Druck macht uns ein- silbig und empfindlich, es ist »als fehle mir was, aber ich weiß nicht was,« »törichte Gedanken drängen sich uns auf und lassen uns nicht los, und doch, der Mensch in seinem »dunklen Drange« ist sich des rechten Weges wohl bewußt.

Rätselhafte Ahnungen, Träume und Prophezeiungen, die in Er- füllung gehen, sind oft der Ausdruck eines unterbewußten Denkens in den für sich arbeitenden Komplexen. Denn die Komplexe arbeiten zum Teil mit Vorstellungen, die unserm wachen Bewußtsein und Gedächtnis nicht zugänglich sind, so daß ihre Schlüsse uns als fremde Eingebungen, Erleuchtung imponieren können. Wie genau und ge- waltig untergeordnete Komplexe wohl arbeiten müssen, ohne daß ihre Arbeit selbst uns zum Bewußtsein kommt, sehen wir u. a. daran, wie z. B. ein Komplex, der sich an Berufspflichten, außergewöhnliche Vergnügungen und ähnliches anschließt, es übernimmt, das schlafende Ich zu einer bestimmten Zeit, mitten in der Nacht, aufzuwecken, oft auf die Minute genau. Dasselbe sehen wir am sogenannten »post- hypnotischen Befehle. In der Hypnose war einem Komplex ein Be- fehl erteilt worden, der genau zu befohlenen Zeit, Tage, Wochen später, ohne vorher zum Bewußtsein gekommen zu sein und ohne auch zur Zeit der Ausführung seine Herstammung ahnen zu lassen, das völlig überraschte, ratlose wache Ich mit unwiderstehlicher Ge- walt zur Ausführung zwingt, und sei es der lächerlichste Unsinn oder gar ein Verbrechen.

Während die Arbeit der verdrängten Komplexe in der ge- schilderten Weise dem denkenden Ich oft ganz unzugänglich ist, ge- lingt es meist dem fremden Experimentator, auf dem Wege der Psychoanalyse, z. B. durch Prüfung der Gedankenanknüpfungen an

Hermann: »Gefühlsbetonte Komplexe« im Seelenleben des Kindes. 133

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vorgesprochene Reizwörter (sogenannte Assoziationsprüfung) an die Komplexe heran zu gelangen. (Über die Ideenassoziation des Kindes orientiert die Arbeit Ziehens in der Sammlung von Abhandlungen aus der pädagog. Psychol. u. Pathol. Ziegler-Ziehen. Wer sich ein- gehender orientieren will, dem seien die diagnostischen Assoziations- studien von Juns-Zürich empfohlen.) Rätselhaft bleibt es immerhin, daß uns Vorstellungen, die in unsrer eignen Seele wirksam arbeiten, uns selbst unzugänglich sind, während ein Fremder uns zu ihnen hinführen kann. Es gehört zu dem wunderbaren Selbstschutz der Natur, daß um verdrängte Komplexe herum zuguterletzt noch alle Verbindungsbrücken zum übrigen Seelenleben abgebrochen werden. Es tritt um den Komplex herum eine Sperrung der Gedankenverbin- dungen ein, es wollen sich keine Worte finden, es fällt einem nichts ein, es entstehen Gedankenpausen, ja eine volle Denkleere. Letztere kann sich durch dumpfes Vorsichhinstarren, durch ein scheinbar albernes oder scheinbar erlogenes »Ich weiß nicht«, aber auch durch Verschleierung zu erkennen geben, d.h. es fällt einem z. B. etwas unendlich fernliegendes und gleichgültiges ein, man fängt an ein Lied zu singen, vor sich hin zu pfeifen u. s. f. Alles dies sind Selbst- hilfen der Natur, um störende Komplexe, die verdrängt sind, aus dem Seelenleben auszuschalten. Auf diesem Wege kommt es dann auch zu wirklich heilsamem Vergessen, der ewigen Arznei alles Unglücks. Manche Fälle von Lügen und Leugnen vor Gericht erhalten durch die Kenntnis von der Gedankensperrung und ihrer Verschleierung, wie ich sie oben schilderte, ein anderes Gesicht, und es ist anzu- nehmen, daß auch unsre Anschauungen über Lügen und Leugnen der Kinder in diesem Sinne einer Untersuchung und Ergänzung be- dürfen.

In den geschilderten Mechanismen findet auch die bekannte Er- fahrung ihre Erklärung, daß man alles Schlimme so schnell vergißt und am Guten und Schönen so lange zehrt, daß die unangenehmen Anteile einer Lebensepoche, z. B. Militärzeit, so nachhaltig verblassen, während die schönen Seiten ewig frisch bleiben. Sind die verdrängten Komplexe dem wachen Ich unerreichbar entrückt, so ist unsre Leistungsfähigkeit frisch, unsre Eindrucksfähigkeit enorm, unsre Stimmungslage heiter. Aber wenn unser denkendes Ich schläft, dann rütteln die gefesselten Sklaven an ihren Ketten, sie führen ein märchenhaftes Tummelleben, erlauben sich, groteske Scherze, alle- gorische Erlebnisse uns vorzuführen und spielen sich als Herren der schlafenden Person auf, bis dieselbe in jähem Schreck oder in einem Himmel voll Glück erwacht: Man hat »nur« geträumt. Die

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Sexualkomplexe leben sich oft in direkter, unverhüllter Gestalt im Traume aus, aber auch andere Wunschträume zeigen den Komplex selbst. Das arme Kind sitzt an einer herrlichen Tafel mit Früchten und findet sein Bett voll Goldstücke; der Mann träumt, seine jüngst verstorbene Frau sei wieder wach geworden und verzeiht ihm, ein hoher Orden wird ihm zu teil u. s. f£. Meist treten aber die Komplexe im Traum in allegorischer, oft ganz grotesker Verschleierung auf, so daß es eine sachkundige Traumdeutung erfordert, um den Komplex zu erkennen. (Freup, Über Traumdeutung. In der Sammlung: Grenz- fragen des Nerven- und Seelenlebens.) Besonders erschwert wird die Traumdeutung dadurch, daß der Komplex sich oft nicht einmal durch ihm eigne Bestandteile (wie es z. B. für den Sexualkomplex der Kuß wäre) zu erkennen gibt, sondern durch sogenannte »Symboles, daher »Komplexsymbole« genannt. Das sind Verlegungen, Andeutungen, Ähnlichkeiten, die nicht immer so deutlich sind wie etwa zwei ge- faltete Hände als Symbol der Ehe, ein Herz als Symbol der Liebe. Wie der einzelne in seinen Träumen, so treibt ja auch das Volk in seinen Märchen eine weitgehende Komplexsymbolik, man denke nur an die Wünschelrute, an Bechsteins Märchen »Oda und die Schlange«. Ich will letzteres als Beispiel nehmen. Die dritte Tochter des Kauf- manns hatte nicht Goldschmuck, wie die Schwestern, sondern das vom Vater gewünscht, was ihm auf der Heimreise unter dem Wagen herlaufe. Es war eine Schlange, die brachte ihr der Vater mit. Das mitleidige Mädchen nahm auf das drängende Bitten der Schlange dieselbe schließlich zu sich ins Bettchen, da verwandelte sich die Schlange in einen schönen Prinzen, der Oda zur Frau nahm. Die Schlange stellt hier wie in Träumen ein häufiges Komplexsymbol dar mit ziemlich groben sexuellen Beziehungen. Dieses klare Beispiel möge genügen. Träume und Märchen (Rıkrın) sind reich daran.

Im Traum stellen das Alpdrücken, galoppierende Pferde, tanzende Mädchen, ins Wasser fallen, lebendig begraben werden, viele Ver- legenheitsträume, besonders aus der Schul- und Militärzeit, oder von einem eindrucksvollen Ereignis der neusten Zeit hergenommen, häufige allegorische Umschreibungen für die alltäglichen Erlebnisse, Lebens- laufbahn, Sehnen, Ziele und Enttäuschungen des Menschenlebens dar oder zeigen sich als sonst längst entschwundene Erinnerungen au frühere Schrecken.

In planmäßiger Weise kann das ordnende, denkende Ich durch einen fremden Schlafbefehl und Willen ausgeschaltet werden in der Hypnose: Die Selbstschutzvorrichtungen der Komplexe versagen, der Weg führt direkt an die Komplexe heran, man braucht nicht

Hermann: »Gefühlsbetonte Komplexe« im Seelenleben des Kindes. 135

erst durch das wache aufmerksame Ich zu gehen, um an den Sperrungen doch Halt machen zu müssen. Der fremde Wille dringt gradeswegs in die Komplexe ein und kann sie zu herrschenden machen. Dann erlebt der leugnende Verbrecher sein Verbrechen wieder durch, längst entschwundene Erinnerungen werden in allen Einzelheiten erzählt, Reden werden gehalten, die der wachen Person völlig fremd sind. Viele Erscheinungen des Spiritismus und Okkultismus finden darin ihre Erklärung. (Juxe.)

Komplexe, deren Verdrängung weniger befestigt ist, die immer neue Reize aus dem Triebleben empfangen oder nur nach außen hin verborgen werden, wie der Sexualkomplex, leben sich dafür um so mehr nach innen hin aus. Daher sind sie es, die im Traumleben dessen, der sie verdrängen muß, am häufigsten hervortreten, die aber auch im wachen Leben leicht zu vorübergehendem Sichausleben in Phantasiegebilden zugelassen werden können (Wachträumen, phan- thastische Lügesucht der Kinder, psychische Onanie). Bekannt ist vom Wachträumen der Kinder, daß es im allgemeinen das übrige Tagesleben unbeeinflußt läßt. Sobald aber der Traumkomplex (Königin, Indianerleben, Räuberfreiheit) das Handeln des wachen Alltagslebens beeinflußt, wird das Wachträumen pathologisch, d. h. der Komplex beginnt das Ich zu beherrschen. (Hierüber siehe: Pick, Einige be- deutsame Psychoneurosen des Kindesalters, Samml. zwangloser Ab- handl. aus dem Gebiet d. Psychiatrie.)

Eine weitere aus verdrängten Komplexen zu erklärende Er- scheinung sind die »Melodienautomatismen«e.. Wir werden zuweilen eine Melodie nicht los, die uns »ohne Grund« plötzlich aufgetaucht ist, oder wir ertappen uns beim Pfeifen einer Melodie, ohne zu wissen, was und warum wir pfeifen. Die Psychoanalyse würde häufig eine deutliche Beziehung zum unterbewußten Denken fest- stellen, z. B. singt eine Dame leise vor sich, ganz mit anderer Arbeit beschäftigt: Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn. Sie hat sich eine Italienreise versagen müssen, sich aber längst darüber ge- tröstet, denkt gar nicht mehr daran, obwohl ihr der verdrängte Komplex noch die Anregung zur Melodie in das wache Bewußtsein schickt.

Wir haben weiterhin als Äußerungen verdrängter Komplexe die »Komplexempfindlichkeit« und die sogenannten »inadäquaten Affekte« zu betrachten.

Wenn wir einen Bekannten nach vielen Jahren wiedersehen und wir ihm Grüße an seine Frau auftragen, ihm daraufhin die Tränen in die Augen stürzen und er kaum ein Wort hervorbringt, so er-

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kennen wir, daß wir einen wunden Punkt berührt haben und werden die ausgiebige Erklärung des Affektes finden, der Affekt ist dem Reiz angepaßt, adäquat.

In einer Unterredung fällt ein alltägliches, harmloses Wort, ein Herr faßt es auf, wird ausfallend, verläßt die Gesellschaft in hellem Zorn: Es war ein empfindlicher Komplex getroffen, der heftige Affekt auf ein gleichgültiges Wort hin ist daher nur scheinbar unangepaßt, inadäquat.

Eine junge Dame ist fröhlich in ausgelassener Gesellschaft, es

wird auch von Blumen geredet roten Nelken rot rote Kravatten trägt der Herr, den sie seit Monaten ohne Gegenliebe liebte sie hatte sich damit ganz gut abgefunden rot ein einziges

scheinbar so gleichgültiges Wort und die Laune ist hin, die Freude der andern tut weh, sie geht hinaus, eine Freundin folgt ihr: »Was hast Du denn?« »Ich weiß es nicht ich kann ja nicht mehr laß mich satt weinen!« Kopfschüttelnd geht die Freundin davon, niemand versteht den »inadäquaten Affekt«. Man kann sich leicht denken, wie wertvoll die Kenntnis von der Komplexempfindlichkeit für das Verständnis der scheinbar so unergründlichen, sinnlosen Äußerungen des Wahnsinns bereits geworden ist.

Nun kann aber ein Komplex, der bereits von jener Schutzmauer der Gedankenleere umgeben ist, der dem wachen Ich entrückt, ver- gessen ist, trotzdem noch ein »empfindlicher« Komplex sein. Dann ist ein aus ihm resultierender Affekt noch unbegreiflicher, eine Stimmungsänderung der betreffenden Person selbst ganz fremdartig, unbegreiflich. Bei dieser Art Komplexreiz treten besonders auch die Sperrungen, die Gedankenleere, die geistige Öde, das Gefühl geistiger Unfähigkeit (Insufficienzgefühl), Unfähigkeit, Hilflosigkeit auf. Man sieht hierin die kräftigen Anstrengungen der Natur, durch Sperrung der Gedankenverknüpfungen den verdrängten Komplex zu verteidigen, unangreifbar zu machen. Man wird oft einsilbig, fühlt sich zu wenig unterhaltend, unhöflich, aber man steht unter einer Sperrung, die unbegreiflich, schlechterdings unüberwindlich ist. Würde ein psychologischer Experimentator diesen Seelenzustand analysieren, so träfe er im Assoziationsversuch sicherlich auf ein Glied eines empfindlichen Komplexes, der durch irgend einen Gedanken. ein Wort der Unterredung getroffen war. Manchmal merkt die Versuchs- person, durch den Psychologen geführt, plötzlich selbst den wahren Ausgangspunkt und verfällt dann in den entsprechenden Affekt: Die Schutzwehr der Natur ist vom Experimentator durchbrochen.

So blieb ein Herr beim Deklamieren des Heineschen Gedichts

Hermann: »Gefühlsbetonte Komplexe« im Seelenleben des Kindes. 137

»Ein Fichtenbaum steht einsam« immer an der Stelle: »mit weißer Decke« stecken und fand kein Wort mehr weiter, konnte überhaupt keine Gedanken fassen, es trat ausstrahlend nach allen Seiten völlige Gedankenleere ein. Man stand vor einem Rätsel, besonders der Herr selbst. Die Analyse deckte folgenden Gedankengang auf: »Weiße Decke von Schnee wie ein Leichentuch vor einigen Monaten war ein entfernter Verwandter gestorben es war dem dekla- mierenden Herrn gar nicht nahe gegangen an Fettleibigkeit war er gestorben der deklamierende war auch sehr fettleibig —« (Jung). Man sieht, wie wertvoll es ist und wie dankbar wir der Natur sein müssen, daß sie solche Gedankengänge so wirksam und fest aus- schaltet, sonst könnten wir niemals froh werden. An der Gedanken- öde läßt Natur sich oft nicht einmal genügen, sie kann sogar, um den Komplexschutz noch wirksamer zu gestalten, den zum Komplex gehörigen Affekt in sein Gegenteil verlegen. Der »Galgenhumore, das »schöne gelle Lachen« Heines stellen solche Umkehrungen, Ver- legungen des Affekts dar, ebenso viele Fälle, wo sich Leute an Gräbern auffallend albern benehmen, lachen, Witze reißen, wo es ihnen bitter ernst zu Mute sein sollte. Ein schönes Beispiel bildet auch die Stimmung Werthers in Goethes Roman. Als Albert, der Bräutigam Lottens, da ist, überfällt den zu Tode betrübten Werther eine tolle Laune, er fängt soviel Possen und verwirrtes Zeug an, daß ihn Lotte bittet: »Um Gottes willen, keine Szene wie die von gestern abend. Sie sind fürchterlich, wenn Sie so lustig sind.« Werthers Leiden sind überhaupt reich an feinen Schilderungen der Verdrängungs- erscheinungen und der allmählichen Alleinherrschaft des Liebekomplexes.

Auch beim Kinde sind derartige Mechanismen, Affektverlegungen wirksam. Mir erzählte kürzlich, ganz aus sich, eine fein beobachtende Mutter, sie habe ihrem 7 jährigen Töchterchen Vorhaltungen über ein schlechtes Zeugnis gemacht. Das sonst folgsame, empfindende Kind sei singend davongegangen. Das Singen habe aber gar nicht munter oder überhaupt wie gewöhnliches Singen geklungen, sondern so fremdartig, wie die Mutter es noch nie gehört habe. Ich erkläre den Vorgang, mit Beziehung auf die Erzienung und sonstigen Eigenschaften des Kindes, nicht als Ungezogenheit, sondern für den kläglich versagenden Versuch der Seele, den schwer lastenden Kom- plex durch Verlegung des Affekts zu verdrängen.

Soviel von der Komplexempfindlichkeit und den inadäquaten Affekten. Infolge eigenartiger Absperrungsvorgänge kann die Ver- drängung eines Komplexes auch in der Form erfolgen, daß er seine Beziehungen zur Gefühlsbetonung verliert, also u. a. ruhig durch die

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empfindlichsten und deutlichsten Reize getroffen werden kann, ohne daß der dazu gehörige heftige Affekt auftritt. Wir begegnen dann im Gegenteil einer auffallenden, lächelnden Gleichgültigkeit (belle in- différence der Franzosen) und können den Eindruck einer »Verödung des Gemüts« erhalten, Mechanismen, die wir anscheinend mehr bei der Hysterie und dem Jugendirresein antreffen als im normalen Seelenleben.

Weiter noch einiges über Symptomhandlungen. »Symptom« soll besagen, daß nicht die Handlung selbst ausgeführt, sondern etwas sie verratendes, auf sie hinweisendes, entfernt an sie Erinnerndes, sie bis zu einem gewissen Grade Ersetzendes. Der Komplex ist ver- drängt, aber aus seinem Versteck heraus konstelliert er mir be- wußt oder unbewußt das Handeln und Denken meines wachen, bewußten Lebens. Wenn ich ein Mädchen heimlich liebe und in- folgedessen seine Mutter mit Liebenswürdigkeiten überhäufe, so be- gehe ich eine Symptomhandlung, d. h. die Handlung ist der Aus- druck des Komplexes, wie das Fieber ein Symptom, ein Ausdruck (neben vielen andern) des Typhus ist. Auch die Symptomhandlungen sind wohltätige Tröstungen der Natur für wunde, sehnende Seelen. Ich erinnere nur an einige der häufigsten Symptomhandlungen: Die alte Jungfer liebt abgöttisch ihren Mops, ihre Katzen, sorgt für sie »wie für Kinder«, das einsame Kind gießt die Fülle seiner Liebe auf eine Wollpuppe oder einen Holzklotz aus, klagt ihm seine Leiden und findet bei ihm Trost und Gegenliebe, wie sie Menschen nicht geben können, das sitzengebliebene Mädchen findet Genugtuung in einem abenteuerlichen Beruf, in aufopfernder Krankenpflege. Der Jüngling, der sein Liebessehnen nicht verwirklichen kann, wirft sich begeistert auf die Wissenschaft, entflammt für die Kunst, besucht moderne, aufregende Schauspiele, gönnt sich keine Rast und Ruhe, stürzt sich in Gefahren, geht nach den Kolonien. Das Mädchen, das in einen Schauspieler, einen Arzt unglücklich verliebt war, findet einen Ersatz darin, sich dilletantisch in dem Beruf des Geliebten zu beschäftigen. Die gescheiterte Existenz arbeitet an einer Erfindung (die »Lüge des Lebens« in Ibsens Wildente). In allen diesen und vielen andern Dingen wirkt und waltet, uns selbst oft ganz unbewußt, manchmal ein ganzes Leben hindurch, ein mehr oder minder ver- drängter Komplex; man könnte von einem »verlegten«e Komplex reden. Überaus interessant ist nun, daß eine einfache Steigerung der bisher geschilderten Komplexstörungen genügt, um in das Gebiet des Krankhaften hinüberzuführen, zur Hysterie, zur Verrücktheit und zur Frühverblödung (Jugendirresein, Dementia praecox). Auf dieses

Hermann: »Gefühlsbetonte Komplexe« im Seelenleben des Kindes. 139

Ihnen fernerliegende Gebiet versage ich mir, einzugehen. Es er- scheinen aber dadurch wenigstens viele Geisteskrankheiten nicht mehr in dem trüben Licht schwerster Strafen und grausamster Härte der Natur, sondern vielfach schenkt die Geisteskrankheit dem Kranken das, wonach er sich ein ganzes Lebenlang gesehnt hat. Durch zahl- lose, unerhörte Leiden und Verfolgungen erwirbt sich der Verrückte einen Platz unter den Heiligen, den Märtyrern, er ist der wieder- gekehrte Christus, ein Welt- und Himmelskönig. Der arme Straßen- kehrer wird Millionär, seine kinderreiche Familie ein Fürstenhaus. Verstorbene Angehörige reden liebevoll zum Verrückten, er geht im Himmel ein und aus, lebt ewig. »Man denke sich einen Träumenden umherwandeln und reden, er wird das Bild des Verrückten bieten« (Jun). Noch mehr stellt das hysterische Delirium oft eine Wunsch- erfüllung für den Kranken dar: Hier wird das Mädchen geküßt, von einem schönen Bräutigam umfangen, die Jungfrau durchlebt ein Liebesabenteuer, ein Attentat, der Bettler wird beschenkt und geehrt. Man sieht, wie sich auch hier Komplexe, verdrängte Begierden und Gedanken in übertriebener, traumähnlicher Form einmal gründlich ausleben, von der Person Besitz ergreifen und sie glücklich machen. Nicht immer machen sie glücklich. Leider gibt es auch Geistes- krankheiten eigentümlicher Art, die grausamerweise nur die Leiden und Verfolgungen des Lebens, die Zurücksetzung, soziale Nöte und Entbehrungen, in grotesker Weise verzerrt und übertrieben in den Vordergrund des Bewußtseins drängen: Verfolgungswahnsinn, Angst- melancholie. Die Kindesmörderin hört die Stimmen des Gerichts, sieht das Fegfeuer lodern, das arme Nähmädchen wird verworfen, macht alle Leute krank, muß sich umbringen. In den Äußerungen der Geisteskrankheiten waltet ebenfalls eine reiche Komplexsymbolik. Viele Handlungen sind Symptomhandlungen und somit gelingt es, auch viele Rätsel des Wahnsinns befriedigend zu lösen, so daß wir vom »Sinn im Wahnsinn« reden können und erkennen, das der Ver- rückte aus seinem Komplex heraus oft ganz logisch denkt und handelt.

Im vorstehenden sehen wir, wie und warum die ver- drängten Komplexe durch die Hilfsmittel der Natur in Fesseln gehalten werden, wie Natur der Seele zum Trost einigen Ersatz dafür schenkt, ja wenn es nicht anders ist, den Komplexen erlaubt, sich vorübergehend oder dauernd zu befreien und sich einmal regelrecht auszuleben, sei es auch im Wahnsinn.

Hiermit treten wir in das Gebiet über, wo die Komplexe ihre Fesseln abgeworfen haben und die ganze Persönlichkeit in Besitz

140 A. Abhandlungen.

nehmen, dieselbe ist also wörtlich vom Komplex »besessen<: Komplex- besessenheit. Ein überlegendes, vernünftigem Zuspruch zugäng- liches Komplexich ist kaum mehr da, aus dem geliebten Körper der Gattin redet ein grausamer Dämon, aus dem sorgenden Vater der Kinder ein Tyrann, ein Teufel. Man kann die Besessenheitsanschauung des Altertums und Mittelalters wohl verstehen. Ich rede hier zu- nächst von Geisteskranken. Aber Sie kennen alle die Komplex- besessenheit in ihren milderen, physiologischen Graden und haben oft als Erzieher vor diesem Rätsel des Menschengeistes ge- standen. Was ist es, wenn ein braves, folgsames Mädchen plötzlich anfängt, die Eltern lieblos 'zu behandeln, gegen Liebe und Strenge nur Roheit und Verstocktheit zu zeigen und dafür eine todesfreudige Liebe, die Ehre, Glück und Wohlstand opfert, alles, was seither teuer war, »in einem Augenblick des Wahnsinns« einem abenteuerlichen Liebhaber weiht, monatelang nichts anderes denkt, sieht und hört als ihn allein? Was ist es, wenn ein Junge plötzlich den Rat der Eltern nicht mehr achtet, sich tagelang umhertreibt, um zu den Indianern zu reisen oder ein Räuberleben im Wald zu führen? Warum gibt es Fragen, in denen sich die gehorsamsten, edelsten Kinder unerwartet und rätselhaft gegen jeden Einfluß von außen ab- schließen, wo Liebe und Strenge den »Eigensinn« nicht brechen oder gar der freiwillige Tod als Ausweg gesucht wird, wo der Erzieher das Gefühl hat, »wie wenn er Wasser auf ein umgestülptes Glas gösse: Alles, alles läuft an der Wand herab und kein Tropfen kommt hinein« (Torstor)? »Was ist in dich gefahren?« fragt sehr richtig der ratlose Erzieher. Wie an einer Mauer prallt alles ab, der frei- gewordene Komplex ist auf dem Wege des früheren Ichs nicht mehr oder nur noch für einen wahren Meister der edelsten Erziehungskunst erreichbar. Das frühere feste Ich ist ja geknechtet und stöhnt ohn- mächtig unter dem Wüten des herrschenden Komplexes. Oft ist die freie Willensbestimmung aufgehoben. Jedenfalls, vom kindlichen Willen allein zu verlangen, daß er den Ichkomplex wieder aufrichtet und den Ruhestörer niederwirft, scheint mir solange nicht angängig, als der Erzieher die bei solchen Gelegenheiten übliche feindselige Haltung einnimmt, die sonst bei Unarten aller Art vielleicht so prompt wirkt. Wenn aber der Erzieher in den schwersten Stunden das ringende Kind am wenigsten verläßt, wie der große Helfer da droben, der dann am nächsten ist, wenn die Not am größten, dann dürfte der Kampf gegen wuchernde Komplexe, insbesondere des Sexualgebietes, wenigstens nicht im heutigen erschreckenden Maße die Statistik der Selbstmorde im jugendlichen Alter vermehren, vor allem

Hermann: »Gefühlsbetonte Komplexe« im Seelenleben des Kindes. 141

dürfte vielleicht auch seelenärztliche Hilfe in Fällen in Anspruch genommen werden, die man allgemein der Gesundheitsbreite bei- messen darf, zumal sich bei Neurasthenikern, Hysterikern, Entarteten und Minderwertigen das Komplexich leicht überrumpeln läßt und dann sachverständiger Hilfe bedarf, und dann ist von einer stärkeren Komplexbesessenheit zum Wahnsinn, insbesondere zum Jugendirre- sein, oft kein weiter Weg mehr.

Nicht immer toben die herrschenden Komplexe in so stürmischer Weise. Oft erfüllen sie nach und nach das Seelenleben, ziehen ein Gebiet nach dem andern an sich heran. Naturgemäß bleibt, je weiter der Komplex wächst, je mehr Fasern zu ihm hinlaufen, für das übrige Geistesleben immer weniger Spielraum. Alles erscheint allmählich im Lichte des zur Herrschaft gelangenden Komplexes, er konstelliert das ganze Leben. Was ihm paßt, wird angenommen, was ihm fern- liegt, wird verworfen oder im besten Fall gewaltsam angepaßt. Beruf, Erholung, Ernährung, Schlaf, Lektüre, Lebensfreude: alles wird be- stimmt und konstelliertt vom überwertigen Komplex, z. B. deutlich beim älteren Onanisten, beim Alkoholiker, beim Verliebten, beim Geiz- hals. Hier findet manches Beispiel von Interesselosigkeit, Lebensunlust, schwermütigen Verstimmungen, Mangel an Sinn für die edelsten Freuden, sonderbaren Neigungen und Schwärmereien, Zu- und Ab- neigungen gegen Personen und Handlungen, geistigem Insuffizienz- gefühl und vielen andern unerklärlichen Zuständen seine Deutung. Man denke nur einmal an den »rasend Verliebten«e. Ein Haar, ein Bändchen, das an den Komplex erinnert, wird geküßt, wie ein Heilig- tum verehrt, eine Person, die entfernt mit der Geliebten in Beziehung steht, aus ihrer Heimatstadt ist, sie einmal gesehen hat, erscheint wie ein Engel, wer der Geliebten das Geringste zu leide getan, wie ein Teufel. Eltern, Geschwister werden gleichgültig, ja roh behandelt, müssen jederzeit Ausbrüche heftiger Reizbarkeit befürchten, wichtige Lebensfragen werden mit Gleichgültigkeit abgetan, ja das Leben selbst wird um eine Kleinigkeit weggeworfen. Entlegene, gleichgültige Gegenstände erinnern an den Komplex. Verlesungen, Versprechungen, Verschreibungen, Gesichtstäuschungen weisen auf den Komplex (z. B. jeder Hut, der dem der Geliebten nur entfernt ähnelt, läßt zunächst die Gestalt der Geliebten vor den Augen erscheinen, man erkennt erst nachher, daß sie es doch nicht war). Alles weist auf den Komplex, alles hat nur Wert in Beziehung auf den Komplex, die ganze Welt erscheint »sub specie amoris«, d.h. unter dem Gesichts- punkt der Liebe: »Wo ich dich nicht hab, ist mir die Welt das Grabe.

Ganz ähnlich geht es mit andern herrschenden Komplexen,

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z. B. der Ruhmsucht, der Habgier, dem Drang, im Konkurrenzkampf hochzukommen, ein Examen zu bestehen. Was kann ein derartiger Komplex aus dem Menschen, den er beherrscht, machen! Wie tritt er Gesundheit, ethisches Empfinden, Rücksicht auf des Menschen nächste Interessen, auf seine nächsten Angehörigen nieder! Er zwingt den armen Besessenen zu Verbrechen, zu tollkühnen Schritten, er jagt den Hazardspieler bis zum Tod und nachher steht der Un- glückliche, wieder »zu sich gekommen«, wieder »er Selbst« vor einem Rätsel, schlägt sich verweifelt an die Stirn und fragt sich: »Wie war das möglich? Ein Augenblick des Wahnsinns muß es gewesen sein.« »Ein anderes Antlitz, eh’ sie geschehn, ein anderes zeigt die be- gangene Tat« (SCHILLER).

Herrschende Komplexe können aber auch einen Grad und eine Form annehmen, daß sie das ordnende Ich doch nicht allzusehr be- einträchtigen, daß sie neben ihm sich ausleben. So lebt sich z. B. im Gehirn eines Gelehrten häufig ein wissenschaftlicher Komplex in seiner Weise aus, der Komplex, irgend ein Problem, hat sich des größten Teils der Seele bemächtigt, er erfüllt ganz das Bewußtsein. Die übrige Denktätigkeit, die gewöhnlichen Handlungen des Lebens geschehen nur reflexartig, automatisch, oft fehlerhaft, ohne Interesse und ohne Gefühlsbetonung. Es ergibt sich das Bild, das man so un- gerecht »Zerstreutheit« nennt, das im Gegenteil die Ausfüllung der ganzen Seele durch eine Einheit, also höchste geistige Konzentration bedeutet. Der Ichkomplex des Alltags ist dabei allerdings »zerstreute, liederlich, gleichgültig, ja geradezu lächerlich und blöde. Anreden, Fragen, Erklärungen faßt daher der »zerstreute Gelehrte«, ebenso der von einem Komplex erfüllte Geisteskranke oder Gesunde, oft falsch oder gar nicht auf (Perzeption) noch weniger verarbeitet und ver- knüpft er sie mit anderen Erfahrungen und Gedanken innerhalb des Gehirns (Apperzeption), so daß man diese an sich durchaus ähnlichen, verwandten Zustände als apperzeptive Schwäche bis zu apperzeptiver Verblödung bezeichnen kann. Ein Teil der Frühverblödung im Jugendirresein soll auf diese Weise entstehen. (Juxe.)

Je mehr ein herrschender Komplex wieder zurücktritt (z. B. Alko- holismus, Onanie), um so überraschender und mannigfacher treten neue Interessen, selbständige Freuden, feineres Taktgefühl, Verständnis für Natur- und Kunstschönheiten in die Erscheinung, »eine neue Welt geht auf, deren Schönheiten man nie geahnt,« das denkende, klare Komplexich konstelliert wieder das Leben und fühlt wieder, die vom Komplex gesperrten oder besetzten Bahnen und Hirnteile sind wieder frei. »Die Erde hat mich wieder«, ruft Faust beglückt, als

Trürer: Zur Wertung der Kinderpsychologie und der Pädagogik usw. 143 er die Herrschaft über den Komplex, der ihn zum Selbstmord trieb, mit Hilfe des Engelgesanges wieder gewann.

Ich will die Ausführungen damit abschließen, damit sie nichts. als eine allgemeinverständliche Einführung in die heutige Lehre von den Komplexwirkungen bleiben. Daß sie fast in jedem Satz die Kritik herausfordern, ist kein schlechtes Zeichen. Man bedenke, daß es sich hier um schwer begreifliche und schwer in Worte zu fassende Probleme handelt, sowie um zum Teil hypo- thetische Vermutungen, die allerdings die Anfänge wichtiger Er- kenntnisse zu sein scheinen. Ich bitte also, besonders was die Wahl des Ausdrucks anbelangt, um Nachsicht, würde es aber gerne sehen, wenn der Sinn der obigen Zeilen Anregung gäbe, weiter zu forschen zum Nutzen der Kinder. Praktische Ausblicke, welchen Einfluß diese so interessante Lehre auf die Kinderpsychologie und vielleicht auf die praktische Erziehung in schweren Tagen und Stunden gewinnen könnte, überlasse ich einstweilen dem Nachdenken und der Er- fahrung meiner geehrten Leser. Jedenfalls zeigt sich auch hier, daß die individualisierende Psychologie ein guter Weg ist, auf dem die Pädagogik sich hoffentlich zu hoher Blüte entwickeln wird. Wir er- hoffen, daß dann die Tränen ‚und die Selbstmorde unsrer Kinder seltener werden und ein kommendes Jahrhundert vielen Tausenden das gibt, was heute noch so viele entbehren müssen und was doch. so glücklich macht: Den goldenen Himmel der Kindheit.

2. Zur Wertung der Kinderpsychologie und der Päda- gogik in der Strafrechtsreform.

»Einen Appell an das öffentliche Gewissen«, veröffentlicht Dr. Curt Abel-Musgrave in dem Morgenblatt der Frankfurter Zeitung vom 19. Januar unter der Hauptüberschrift:

»Zwei Verstoßene.«

Der Artikel bietet so viele kinderpsychologisch bedeutsame Tatsachen und beleuchtet die auch an diesem Orte seit einem Dutzend Jahren wieder- holten Reformwünsche, daß es sich verlohnt, ihn unverkürzt hier an dieser Stelle zu wiederholen, um dann einige Nachbemerkungen folgen zu lassen.

»Wahrscheinlich vor etwa 14 Jahren wanderte der jüdisch-polnische Handels- mann Benjamin Goldstein mit seiner Frau und seinem damals zweijährigen Sohne Moritz aus der Umgegend von Warschau nach England. Die Familie siedelte sich im jüdischen Teile des Londoner Eastend an und betrieb einen Handel, der leidlichen Gewinn abwarf. Aber der Vater war ein geborener Gauner; Stehlerei und Schurkerei schienen ihm leichtere Wege zum Erwerbe als ehrliche Arbeit. Er begann Geschäft und Familie zu vernachlässigen und ein unstetes Leben zu führen,

144 A. Abhandlungen.

anscheinend in fortwährendem Kampfe mit Polizei und Gericht. Wahrscheinlich nicht lange nach ihrer Ankunft in London gebar die Frau Goldstein daselbst einen zweiten Sohn, der den Namen Max erhielt. Die Kinder wuchsen im Kreise ihrer Altersgenossen auf, besuchten die öffentlichen Volksschulen und entwickelten eine ganz hervorragende Intelligenz. Der Vater erkannte bald die günstige Gelegenheit, seine Kinder auszubeuten. Ganz wie der große englische Novellist Dickens es schildert, unternahm Benjamin Goldstein, seine kleinen Söhne systematisch zum Taschendiebstahle abzurichten. Unter Mißhandlungen und Drohungen wurde den Kindern gelehrt, im Straßengedränge sich heranzuschleichen und Diebereien auszuführen. Den intelligent aussehenden hübsch gekleideten Buben mißtraute man ja auch weit weniger, als etwa einer erwachsenen Person. Aber die Knaben fanden keinen Gefallen an der aufgezwungenen und gefährlichen Tätigkeit, welche ihnen nur ganz geringen Anteil am Raube, aber oft brutale Mißhandlungen einbrachte. Schon frühzeitig sehnten sich die Kinder danach, aus der Gewalt des Menschen zu gelangen, der sich ihren Vater nannte. Der ältere Knabe versuchte freiwillig in einer Zwangserziehungsanstalt (Reformatory) unterzukommen. Er verblieb daselbst einige Monate, bis sein Vater durch eine schlau verfaßte Eingabe an den Home-Secretary verstand, sich wieder in die Gewalt seines Sohnes zu setzen, indem er versprach, mit der Familie nach Rußland zurückkehren zu wollen. Auf diese Weise erneuerte sich die kaum unterbrochene Diebestätigkeit mit ihrem unsteten Leben, stetem Umherziehen und brutalen Mißhandlungen. Auch der kleinere Sohn Max mußte das Schicksal seines Bruders teilen. Eines schönen Tages war die Mutter spurlos verschwunden. Der Vater erzählte den Kindern so ganz en passant, als sie aus der Schule kamen, daß er sich habe scheiden lassen. Wahrscheinlich war die Frau mit dem Leben, welches ihre stündliche Furcht und Gefahr vor Polizei und Gefängnis brachte, nicht einverstanden, denn die Knaben hörten oft, wie die Eltern sich aus diesem Grunde heftig miteinander stritten. Aber Herr Benjamin Goldstein wußte sie zu trösten. Nach kurzer Zeit hatte er eine andere Frau gefunden, die mit ihm in hohem Grade geistes- und seelenverwandt war und deren Gaunertalent anscheinend das ihres Ehegatten übertraf. Von nun an wurden längere Kunstreisen unternommen, die sich sogar bis auf den Kontinent ausdehnten und die Familie nach Brüssel, Manchester, Warschau, Glasgow, Mannheim, Frankfurt usw. führten. Endlich brach das Schicksal über sie herein. Zwar gelang es der Frau, rechtzeitig zu entfliehen, aber der Vater wurde mit seinen zwei Söhnen gepackt und in Frank- furt verurteilt. Er erhielt eine Strafe von sechs Jahren Zuchthaus, die er augenblicklich in Bruchsal verbüßt. Der ältere Sohn Moritz, nach Auskunft der Akten geboren am 3. Dezember 1893, also erst 14 Jahre alt, erhielt eine Strafe von 3 Jahren Gefängnis. Der jüngere Sohn Max, nach Auskunft der Akten über 12 Jahre alt, wurde mit 18 Monaten Gefängnis bedacht.

Der Fall erregte einiges Aufsehen. Die Zeitungen brachten kurze Verhand- lungsberichte. Man las sie, schüttelte den Kopf über die Verderbtheit der Menschen und die Verrohung der Jugend, dann stürzte man sich leichten Herzens in den Weihnachtstrubel, um die Verurteilten ihrem Schicksale zu überlassen.

Aber mich führte mein Beruf mit den Knaben zusammen. Im Auftrage einer englischen Universität studiere ich augenblicklich die Methoden, welche deutsches Gesetz und deutsche Behörde bei der Behandlung jugendlicher Verbrecher in Anwendung bringt. Im Verlaufe meiner Nachforschungen traf ich die Knaben in den Isolierzellen des Gefängnisses zu Preungesheim.

Ich habe nicht den Wunsch, sentimental zu werden oder meine Beredsam-

Trürer: Zur Wertung der Kinderpsychologie und der Pädagogik usw. 145

keit aufzuwenden, um den Leser weich zu stimmen. Er möge sich mit der ganzen Härte rüsten, die das Menschenherz unbarmherzig macht. Er möge vergessen, daß zu der Stunde, in der ich jene einsamen, kalten Zellen zum ersten Male betrat, die Kirchenglocken in die Welt hineinriefen, der Erlöser sei geboren. Der Weihnachts- zauber drang nicht in jene Zellen mit seinem beglückenden Märchen. Aber der Glockenruf. Er klang wie eine gräßliche Lüge.

Die Schlüssel rasselten, und die Türe tat sich auf. Vor mir eine Zelle mit hoch angebrachtem Fenster und steinernen Wänden. In der einen Ecke eine auf- geschlagene eiserne Bettstelle mit notdürftigen Decken; in der anderen ein Klosett, An der Wand ein Tisch mit Schneiderei-Gerätschaften. Und mitten in der Zelle in geflickter blauer Gefängnistracht ein aufgeschossener bleicher Knabe, der in mili- tärıscher Haltung meldet: »Strafgefangener Moritz Goldstein, 14 Jahre alt. 3 Jahre Gefängnis wegen Diebstahl.«e Und während er die Worte ausspricht, bebt die blut- lose dicke Unterlippe. Die großen braunen Augen öffnen sich weit. »Was will der Fremde fragen sie. »Kommt er, um vielleicht einen bisher unerforschten Dieb- stahl auszuforschen? Ist es ihm nicht genug mit den drei Jahren, die mir der Richter von meinem Leben abgestrichen hat?«

Ich trat an den Gefangenen heran und sah, wie ein Zucken durch seinen Körper ging. »Du brauchst keine Furcht zu haben. Ich habe mit Polizei und Ge- richt nichts zu tun. Ich bin nicht gekommen, um Dir Böses zuzufügen, möchte aber hören, wie es Dir ergangen ist, und aus welchen Gründen Du gestohlen hast.«

Der Knabe antwortet mit kurzen, abgerissenen Worten: »Hab’ nicht gewollt stehlen. Aber Vater hat mich gemacht stehlen. Und hat mich geschlagen, bis ich hab’ gestohlen.< Er sieht mich mißtrauisch an. Offenbar kann er nicht verstehen, daß jemand ihm menschliches Interesse entgegenbringt. Als ich englisch mit ihm spreche, wird er lebhafter. Aber dann kommt wieder die ängstliche Frage in die großen Augen: »Bist du mein Feind?« Und von hier gehe ich zur benachbarten Zelle des Bruders. Wieder dasselbe trostlose Bild der steinernen kahlen Wände mit dem vergitterten Fenster, durch welches der erzene Ruf erklingt, daß der Er- löser nahe sei. Doch diesmal ist der »Gefangene« ein kleines, schmächtiges Büb- chen, dem man seine Meldung wohl glauben möchte, daß er erst 12 Jahre sei. Der kleine Kerl steht in !straffer militärischer Haltung. Er will es offenbar recht gut machen und drückt die Knie durch. Aber seine dunklen Augen blicken ruhelos aus dem bleichen aufgedunsenen Antlitz, dem die Gefängnisatmosphäre ihren vernichten- den Stempel aufgedrückt hat. »Wie lange bist Du denn schon hier?« frage ich. Er bemüht sich die Tränen zu unterdrücken. Aber trotzdem er mutig die Augen zukneift, stehlen sich lange Tropfen hervor. Erst schweigt er. Dann sagt er mit plötzlicher Anstrengung: »Schon 8 Monate; 5 davon in Untersuchungshaft. Jetzt hab ich noch 15 Monat.« »Und warum hast Du denn gestohlen?« Er gibt dieselbe Antwort wie der Bruder. Er ist gezwungen worden durch Schläge und Mißhand- lungen, trotz allen Widerstrebens.

Ich hätte ja jetzt fortgehen und auch fortbleiben können, denn mein beruf- licher Auftrag war im wesentlichen erledigt. Aber drei Dinge trieben mich in den letzten Tagen wiederholt zu den Knaben. Erstens die Feststellung, daß trotz gegen- telliger Annahme der jüngere Knabe in England geboren worden und somit noch heute englischer Untertan ist. Zweitens die Überzeugung, daß wir beide, hochverehr- ter Leser, ich selbst und auch Sie genau in derselben Weise Verbrecher geworden wären, hätte ein gräßliches Geschick uns in der Lage dieser beiden Unglücklichen

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aufwachsen lassen. Drittens trieb mich nach Preungesheim die Hoffnung, den Kin- dern nützen zu können.

Ich schreibe diese Zeilen nicht, um Sie zu unterhalten, verehrter Leser und verehrte Leserin. Mir liegt nicht daran, Ihnen, die Sie sich satt gegessen und ge- trunken haben, eine Stunde vorzuschwatzen. Vielleicht hat der Weihnachtszauber Sie mit beglückender Hand berührt. Vielleicht haben Sie bei Choralgesang sich vor- genommen, im allgemeinen den Menschen zu helfen. Vielleicht aber sind Sie welt- klug und berechnend und haben nur Ihren eigenen Vorteil im Auge. Aber in beiden Fällen beanspruche ich das Recht, an Ihr Herz oder zum mindesten an Ihre Klugheit zu appellieren.

Als Pädagoge besuchte ich das Gefängnis, und jetzt spreche ich zunächst als Pädagoge und behaupte: Die beiden Kinder sind unschuldig. Jeder von uns, der mit normaler Veranlagung geboren worden, hätte in der Lage der Unglücklichen gleiche Verbrechen begangen. Man hat also Unschuldige bestraft. Ich weiß es wohl: das in Deutschland herrschende Gesetz ließ keine andere Möglichkeit zu, als Bestrafung mit Gefängnis, wenn auch die Höhe der Strafe mir unverständlich er- scheint. Aber das heutige deutsche Gesetz entspricht nicht mehr dem Kultur- empfinden des deutschen Volkes und sicher nicht dem Gewissen der Zeit. Mit dankbarer Freude begrüße ich die Bemühungen einiger human gesinnter Frank- furter Männer, die innerhalb des Rahmens des schlechten Gesetzes versuchen, den Kindern gegenüber Menschlichkeit zu bewahren. Aber warum will man denn die Segnungen des erwachten Gewissens, welches hier in Frankfurt einen Jugend- gerichtshof geschaffen hat, erst vom 15. Januar ab walten lassen? Warum ver- sucht man nicht auch diesen beiden unglücklichen Kindern gegenüber, deren Ge- schichte ich erzählt habe, zu beweisen, daß ein neuer Geist durch Deutschland weht? Ich habe mit einer beträchtlichen Anzahl von hohen Gerichts- und Ver- waltungsbeamten Rücksprache genommen und überall das übereinstimmende Urteil vernommen: Diese Kinder gehören nicht in die Isolierzelle eines Gefängnisses. Aus diesen Gründen betrachte ich es als eine Pflicht der Menschlichkeit, die bedingte Begnadigung der beiden Knaben mit Überweisung in eine Zwangserziehungs- anstalt in Vorschlag zu bringen. Da der vielleicht erst 12 Jahre alte, vielleicht auch um zwei Jahre ältere Max zweifellos englischer Untertan ist, würde es mir ein Leichtes sein, das Interesse der Öffentlichkeit in England für ihn wachzurufen. Aber einen solchen Schritt würde ich nur im äußersten Notfall unternehmen, denn ich hoffe, daß mein Apell an das öffentliche deutsche Gewissen auf fruchtbaren Boden fallen wird. Meiner Ansicht nach, die sich auf das Urteil berufener Per- sonen stützt, würde ein Begnadigungsgesuch an den Kaiser, wenn man nur die Hilfe hervorragender Personen sichern könnte, gute Aussicht auf Erfolg haben. Der Fall an und für sich fordert tiefstes menschliches Erbarmen heraus, und der Um- stand, daß etwaige Kosten durch wohlwollende Stiftungen gedeckt werden könnten, ließe die Befürchtung nicht aufkommen, daß eine Begnadigung pekuniäre Verluste für deutsche Behörden oder Gemeinden im Gefolge haben könnte. Meine lang- jährige erzieherische Erfahrung mit Kindern verschiedener Nationen berechtigt mich, wie ich glaube, zu der Versicherung, daß diese beiden unglücklichen vom Schicksal verfolgten Knaben im Grunde ihres Herzens gute Menschen sind und einer Für- sorge-Erziehung durchaus zugänglich wären. Sie zeigen bittere Reue über das Geschehene und kennen nur eine; große Furcht und einen großen Wunsch. Sie haben ihren Geistlichen und mich unter Tränen gebeten, dafür zu sorgen, daß sie niemals wieder ihren Eltern ausgeliefert werden, und die Möglichkeit, in eine

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Zwangserziehungsanstalt zu kommen, in welcher sie einem ehrlichen bürger- lichen Leben entgegengebildet werden, scheint ihnen als ihr schönster Traum. Beide Knaben besitzen ganz ungewöhnliche Intelligenz. Sie sprechen englisch mit einer Reinheit, wie man sie sehr selten in diesen Kreisen vorfindet. Der Ältere spricht außerdem etwas französisch und behauptet, seine Kenntnisse durch eigenes Studium erworben zu haben. Wenn die Kinder während der ersten Zeit ihres Aufenthaltes im Gefängnisse Aussagen machten, die sich als unwahr erwiesen haben, so hat nie- mand ein Recht, sie deswegen anzuklagen. Verlassen und allein, von Kerkermauern umgeben, monatelang in einer Isolierzelle ohne andere Menschen zu sehen als Poli- zisten und Beamten in Uniform mit langen Säbeln, umgeben von Leuten, die Leben und Tod, Gefängnis und Freiheit aus den Ärmeln schütteln können, da haben diese armen eingeschüchterten jüdischen Kinder selbstverständlich gelogen, wo sie glaubten, einen kleinen Nutzen für ihr armseliges Dasein ziehen zu können. Galt es doch, eine schreckliche Vergangenheit zu verdunkeln. Aber später, als sie etwas Zutrauen gewonnen und verstanden hatten, daß man als Freund und Mensch zu ihnen sprach, zeigten sie sich in ihrer wahren vertrauensseligen Kindernatur. Auf Grund meiner Erfahrung auch mit entgleisten Kindern kann ich die Versicherung geben, daß beide Knaben im Grunde ihres Herzens nicht schlecht sind und daß sie sich sehr wahrscheinlich zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft erziehen lassen,

Und wenn man sie im Stiche läßt? Dann hocken sie Tag für Tag und Nacht für Nacht zwischen diesen öden Grabesmauern, bis sich die Tage zu Wochen und Monaten und Jahren zusammenballen. Der Wunsch, ein guter Mensch zu werden, schwindet allmählich, denn die Lebenskraft, die trotz aller Not und Entbehrungen noch in ihnen steckt, wehrt sich gegen die drohende geistige und körperliche Ver- nichtung und zwingt ihre jugendliche Seele, sich zu verkapseln. Sie werden stumpf. Sie müssen stumpf werden, um ihr schreckliches Schicksal ertragen zu können. Es wäre grausam, sie vor dieser Verstumpfung retten zu wollen. Aber während all dieser Zeit seelischer Ermüdung arbeitet das Unterbewußtsein ihres hochentwickelten Gehirnes und dort bildet sich eine später nicht mehr zu verlöschende Erkenntnis, die das Fundament ihres ganzen späteren Daseins sein würde: »Der Gott, der dich geschaffen hat, hat es nicht gut mit dir gemeint. Die Welt, die dich in zartester Kindheit gleich einem Aussätzigen verstieß, war überaus grausam. Wenn du das Gefängnis verläßt, werden Gott und Welt wiederum grausam sein. Also trachte da- nach, dich möglichst nachdrücklich zu rächen

Das ist der Einfluß jener steinernen Grabeswände, gegen welchen die jugend- lichen Seelen nicht ankämpfen können. Unschuldig betraten sie diese Zellen. Als entschlossene Verbrecher würden sie herauskommen. Die hervorragende Kraft ihres Gehirns, die weit über den Durchschnitt hinausgehende Intelligenz wird ihnen zum besonderen Fluche, denn sie bietet ihnen mit Leichtigkeit die Mittel für die ersehnte Rache. Und wer will sie tadeln? Wer von meinen Lesern ist so tugendhaft oder so schlecht, sie tadeln zu können?

Vielleicht aber steht den Kindern ein bisher unerwähntes, furchtbares Schick- sal bevor. Da sie jüdisch-russischer Abstammung sind und der eine von ihnen in Warschau geboren wurde, wird man wohl den Versuch machen, sie bei normalem Verlaufe der Dinge an die russische Grenze abzuschieben. Wenn dann endlich der längst ersehnte Tag der Befreiung naht, lauert der russische Gendarm, die kleinen Judenkinder zu empfangen. Wahrhaftig! Man wäre barmherziger, wollie man den Kindern einen Stein um den Hals binden, um sie im Maine zu ertränken. Aber das wäre allerdings gegen die Moral des Gesetzes.

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Tr e

Ich habe keine Novelle schreiben und Ihr Herz nicht rühren wollen, aber vielleicht fühlen Sie sich durch den Anblick dieses jammervollen Bildes der Not verstoßener Kinder bewogen, den Versuch zu machen, ein Gnadengesuch durch Ihre Unterschrift zu unterstützen. Dann schreiben Sie mir Ihre Adresse. Die Redaktion wird den Brief gerne an mich befördern.«

Wir haben seit vielen Jahren immer wieder an diesem Orte, in unseren »Beiträgen« und anderswo unsere Stimmen für eine andere Behand- lung der kriminellen und doch gar zu oft nicht schlechten Jugend er- hoben, als sie ihnen von unsern vielfach noch römisch denkenden und handelnden Gesetzgebern und Richtern zu teil wird. Wir verlangten Ver- ständnis der Kindesnatur, verlangten zur Besserung statt Strafe oder neben Strafe Erziehung, aber wirkliche Erziehung, verlangten Umwandlung unserer Strafhäuser für Jugendliche in wirkliche Zucht- d. h. Erziehungs- häuser, verlangten Jugendgerichte, die jetzt geforderten sogenannten »Kindergerichtshöfe«, worin auch Lehrer, Geistliche und Ärzte Sitz und Stimme haben u. a. m.

Scheintar waren unsere Stimmen vergeblich. Mir sind wenigstens keine Urteile zu Gesicht gekommen. Nur Justizrat Paul Albers-Breslau hat, fast möchte man sagen den juristischen Mut, im »Berliner Tageblatt« vom 16. Jan. in einem Artikel über »Jugendgerichte und Erziehung jugend- licher Missetäter« zu bekennen: »J. Trüper hat in seiner Broschüre ‚Zur Frage der Behandlung unserer jugendlichen Missetäter‘ einwandfreie Betrachtungen angestellt. Er findet die Ursache der jetzt fast wirkungs- losen Behandlung des Problems darin, daß es im Öffentlichen maßgebendea Leben eigentlich keine Erziehungswissenschaft gäbe.« Den Grund dieser Nichtbeachtung der Forderungen seitens der Pädagogik habe ich früher angegeben, Er liegt in der Stellung der Pädagogik inmitten der Wissen- schaften wie im Öffentlichen Leben. Es ist mindestens unfair, zu be- kennen, daß die »Schulmeister« und die »extraordinäre« oder gar nur autodidaktische Pädagogik und die genetische (pädagogische oder Kinder-) Psychologie wie die Ethik in diesen Fragen zu hören, vielleicht gar in erster Linie zu hören sind. Der Kastengeist der sogenannten Wissen- schaften ist eben heute übermächtiger denn je, möchte es wenigstens sein.

Wir selbst haben es ja erlebt, mit welchen Mitteln die jüngste der »Wissenschaften« und gerade durch ihre jüngsten Vertreter unserer nicht pädagogenreinen Zeitschrift für Psychopathologie des Kinder- und Jugend- alters, als sie ein Stück Eigenleben bekundete, den Todesstoß zu versetzen versuchte. Das ist zwar gründlich mißlungen und selbst der indirekte Weg dürfte kaum zum Ziele führen. Aber es läßt sich gar leicht an zahlreichen Schriften und Zeitschriften nachweisen, wie die ganze päda- gogische Literatur, auch wo sie bahnbrechend war, von den Anhängern der »reinen« Fachwissenschaft totgeschwiegen oder geringschätzig über die Achsel angesehen wird, so sehr man auch daraus schöpfte und für sich davon überzeugt ist, daß diese »Handlanger«- oder »Masseur« - Dienste nicht zu entbehren sind, ja man schließlich sogar anerkennen muß, daß der Weg zu den bedeutsamsten Reformen nur durch die Pädagogik und ihre Hilfswissenschaften führt. Dafür ein paar Beispiele.

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Einen Agahd hat man wegen seiner Kinderstudien sogar disziplina- risch verfolgt und wenn auch nur mit einem Verweise bestraft, und doch sind die Gesetzgebungen für Kinderschutz im Deutschen Reiche wie in anderen Kulturländern Europas zum guten Teile auf seine An- regungen, Bestrebungen und praktischen wie theoretischen Arbeiten zu- rückzuführen.

Naserümpfend hat mancher Nationalökonom sich über den kur- pfuschenden Volksschullehrer Adolf Damaschke und seine Unwissen- schaftlichkeit geäußert, und schließlich hat wohl kaum ein Professor der Nationalökonomie so bedeutsame Reformen zustande gebracht als dieser mit seiner Sozialpädagogik »Bodenreform« und »Gemeindepolitik«. Sogar die musterhafte Verwaltung von Kiautschau bleibt sein Verdienst. Unab- hängige und Weitblickende wie Adolf Wagner haben diese Verdienste zwar von vornherein erkannt und freudig anerkannt; doch sie gehören zu den rühmlichen Ausnahmen.

Nicht viel anders ist es dem Dorfschullehrer Heinrich Sohnrey er- gangen mit seiner bereits von Pestalozzi angeregten Agrar- oder Dorfpädagogik. Schließlich muß doch wieder ein Universitätsprofessor, Richard Ehren- berg, im »Tag« No. 38 d. J. in einem Artikel »Ländliche Wohlfahrts- und Heimatspflege« das Bekenntnis ablegen: »Schon im Anfang der sieb- ziger Jahre forderten weitblickende Sachkenner kräftige ländliche Wohl- fahrtspflege. Hätte man ihr Verlangen erfüllt, so wäre manches jetzt schon besser; doch Jahrzehnte vergingen, ehe systematisch vorgegangen wurde, und dann waren es nicht praktische Landwirte, welche sich an die Spitze setzten, sondern Beamte, Schriftsteller, Geistliche, Lehrer. Nur im kleinsten Kreise betrieben Landwirte Wohlfahrtspflege, und mancher hat es bald wieder aufgegeben, weil die Erfolge sich nicht gleich ein- stellten. Erst mit dem Erscheinen von Sohnreys Buch: »Die Wohl- fahrtspflege auf dem Lande« und mit Begründung des » Ausschusses für Wohlfahrtspflege auf dem Lande« durch den Ministerialdirektor Dr. Thiel, also erst seit den Jahren 1885/96 kann man von einer Bewegung im Sinne jener Forderungen sprechen. Dann hat es noch weitere zehn Jahre gedauert, bis Sohnreys trefflicher » Wegweiser für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege« sowie die von ihm herausgegebene Zeitschrift »Das Land«, das Organ des jetzigen »Deutschen Vereins für ländliche Wohl- fahrts-- und Heimatpflege«, weite Verbreitung fand. Noch jetzt sucht man vergebens nach ausreichender Würdigung dieses so überaus wichtigen Gebiets in den Hand- und Wörterbüchern der Volkswirtschaftslehre, in den Lehrplänen unserer Universitäten und landwirtschaftlichen Hochschulen, ganz zu schweigen von den Seminaren zur Ausbildung von Geistlichen und Lehrern.« |

Was man im geselligen Leben beobachten kann, das läßt sich auch im wissenschaftlichen Verkehr, unter den Wissenschaften selbst wie unter ihren Vertretern, wahrnehmen: um sich und seine Sache in seinen eigenen Kreisen nicht herabzuwürdigen, muß man es hier vermeiden, zu bekennen, daß die Bekanntschaft und der Gedankenaustausch auch in andere für minderwertig gehaltene Kreise hineinreicht. So erklärt es sich sozial-

150 B. Mitteilungen.

psychologisch, warum die bedeutsamsten Bestrebungen auf pädagogischem Gebiete vor dem Bekanntwerden in andern Wissenschaftskreisen sorgfältig bewahrt bleiben.

Auch dafür ein für die vorliegende Frage bedeutsames Beispiel:

Unser Mitarbeiter und Gesinnungsgenosse in Jugendfürsorge, Amts- gerichtsrat Dr. Köhne veröffentlicht im 1. Heft des I. Bandes der von den Juristen Dr. Franz Adickes, Dr. P. F. Aschrott, Dr. Karl v. Lilienthal und Dr. Fr. v. Liszt neu herausgegebenen »Beiträge zur Reform des Strafprozesses« einen »Entwurf zu einem Reichsg esetz, betreffend die Ahndung und Verfolgung strafbarer Hand- lungen, welche von jugendlichen Personen begangen werden, nebst Begründung«e. (Berlin, J. Guttentag G. m. b. H. 1908.)

Dieser Entwurf bedeutet einen wesentlichen Fortschritt in der Rich- tung, die wir seit 12 Jahren hier vertreten haben. Unter andern verlangt er Jugendgerichte, worin auch Arzt und Lehrer Sitz und Stimme haben, die nicht, wie auch Köhne noch einmal angibt, zuerst in Amerika, sondern im deutschen Vaterlande von deutschen Schulmännern gefordert wurden. Wir werden im einzelnen noch auf die bedeutsame Schrift zurückkommen. Was uns hier interessiert, das ist die Tatsache, daß Köhne, der das weit- gehendste Interesse und Verständnis für Jugendpsychologie und Jugend- fürsorge hat und das gemeinsame Zusammenwirken von Juristen, Ärzten, Geistlichen und Lehrern mit uns erstrebt, aus der pädagogischen Literatur nur die »Pädagogische Zeitung« erwähnt, wo Prof. v. Liszt die von uns und Köhne geforderten Jugendgerichte bekämpft. Ohne Frage hätte Köhne bei dem ihm selbst fernliegenden wissenschaftlichen Kastengeist seiner wertvollen Arbeit in den »maßgebenden« Kreisen nur Hemmnisse bereitet, wenn er sich ausdrücklich zur Geistesgemeinschaft mit Theologen und Pädagogen bekannt hätte.

Daß aber die Kinderforschung und die Pädagogik nicht bloß dringend Einlaß in die Strafrechtspflege begehrt, sondern daß der Einlaß aus humanem wie rechtspflegerischem Interesse eine dringende Notwendigkeit ist, dafür hat Dr. Abel- Musgrave ein Beispiel von Tausenden dem öffent- lichen Gewissen vorgehalten. Möge sein Appell den Erfolg haben, auf den die hervorragendsten deutschen Pädagogen seit einem Jahrhundert vergeblich hofften! Das Ziel einer besseren Jugendfürsorge läßt sich aber nur erreichen, wenn Jurisprudenz, Medizin, Pädagogik und Theologie die Reformarbeit gemeinsam in Angriff nehmen. dr.

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B. Mitteilungen.

1. Leipziger Hoffnungen und Entwürfe.

»Was man sich in der Jugend wünscht, deß hat man im Alter die Fülle«e. So hörte ich einmal im Leipziger Lehrervereinshause den greisen Professor Biedermann mit Bezug auf sich selber sagen, und an dieses Dichterwort werde ich in neuester Zeit sehr oft erinnert, wenn ich an

1. Leipziger Hoffnungen und Entwürfe. 151

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meine eigenen Wünsche und Hoffnungen hinsichtlich der pädagogischen Psychologie denke. Ja es will mir fast scheinen, als ob des Guten nach- gerade allzuviel komme, wenn auch nicht an Ergebnissen, so doch in dem Eifer, mit dem gewisse Veranstaltungen getroffen und vor allem gepriesen werden. Das scheint auch noch andern so zu gehen, die zu dem Leser- kreise unserer Zeitschrift gehören und einem besonnenen Vorwärtsstreben nichts weniger als abgeneigt sind.

In den letzten Wochen sind mir von verschiedenen Seiten Zeitungs- ausschnitte zugegangen mit der Anfrage, ob ich mich zu dem Inhalte nicht äußern wolle. Es handelt sich um einen Vortrag, den der Privat- dozent Dr. Max Brahn vor einiger Zeit im Leipziger Lehrerverein ge- halten hat über »Die Aufgaben der experimentellen Pädagogik und Psychologie und deren Bearbeitung im Institut des Leipziger Lehrervereins«.

Daß ich gegen die Bemühungen des Leipziger Lehrervereins grund- sätzlich nichts einzuwenden habe, versteht sich ganz von selbst; ich will noch ausdrücklich bemerken, daß ich in der früheren Vereinigung für exakte Pädagogik, aus der das Institut wohl erwachsen ist, anregende Stunden verbracht habe, deren ich mich dankbar erinnere. Gegen den Vortrag des Herrn Dr. Brahn möchte ich jedoch einige Einwände erheben, da sich unter den 350 Zuhörern auffallenderweise niemand gefunden hat, der eine abweichende Ansicht kund gegeben hätte. Ich halte mich dabei an den Bericht in der Leipziger Lehrerzeitung, der ja wohl als zuverlässig anzusehen ist.

Dr. Brahn ist, so viel ich.weiß, ursprünglich Arzt, Nervenarzt, hat sich aber schon seit einer Reihe von Jahren der Pädagogik zugewandt. Es wird vielleicht nicht an Leuten fehlen, die da sagen: »Was soll uns dieser nelfen!« aber so denke ich keineswegs. Ziller kam von der Juris- prudenz zur Pädagogik und hat uns doch soviel geholfen, obwohl er jeden- falls einen weitern Weg zurückzulegen hatte als Brahn. Ein Nervenarzt bringt auf Grund seiner Studien mancherlei mit, was dem Lehrer, der das Seminar durchlaufen oder auch Universitätsstudien getrieben hat, zum großen Teil fehlt und was er, wenn überhaupt, nur mühsam durch Weiter- bildung erwerben kann. Insofern finde ich es durchaus nicht befremdlich, daß der Leipziger Lehrerverein Dr. Brahn die Leitung des Instituts für experimentelle Pädagogik und Psychologie anvertraut hat. Andrerseits darf allerdings nicht vergessen werden, daß, wie der alte Schütze sagte, »Schule halten die Aufgabe des Lehrers ist«, und daß, wer hier refor- mierend eingreifen will, auch mit den tatsächlichen Verhältnissen des Schulehaltens vertraut sein muß, und zwar nicht nur vom Zusehen, sondern auch durch die Tat.

Reformieren will nun allerdings Dr. Brahn, und zwar nicht wenig. Auf dem Berliner Kongreß für Kinderforschung äußerte er sich in Bausch und Bogen sehr geringschätzig, über die pädagogische Literatur, beträcht- lich geringschätziger als es aus dem Bericht zu ersehen ist. Es hatte den Anschein, als wenn nach seiner Meinung alles Bestehende vergehen, alles neu werden müsse. Auch in seinem Leipziger Vortrage klingt so etwas durch, stellenweise sogar sehr stark.

152 B. Mitteilungen.

Zunächst wendet sich Brahn gegen die Seminare. »An den Semi- naren«, heißt es in dem Bericht der Leipziger Lehrerzeitung, »wird heute noch fast durchgehends die Herbartsche Psychologie oder eine von deren Abarten gelehrt. Ganz abgesehen davon, daß diese von der Psychologie völlig abweicht, die heute in der Wissenschaft allein herrschend ist, bildet sie das denkbar schlechteste Fundament für die Pädagogik des Lehrers. So wird einerseits der Lehrer von der Berührung mit der modernen Wissenschaft ferngehalten, und das in einem Fache, das für seine Berufs- bildung eines der wichtigsten ist; auf der andern Seite kann diese reine Vorstellungs- und Lernpsychologie ihm keine Grundlage für moderne pädagogische Anschauungen geben, die doch alle von der Lernschule zur Arbeitsschule hindrängen.« Daß die Herbartsche Psychologie gegenwärtig nicht mehr herrscht, kann nicht bestritten werden; aber welche Psycho- logie herrscht denn heutzutage? Etwa die Wundts? Hat sie nicht auch zahlreiche und angesehene Gegner? Darf man im Gegensatz zu Herbart von »der« Psychologie sprechen, die heute »allein« gelte? Vielleicht denkt Brahn an die experimentelle Psychologie, aber die ist doch nur eine Methode und sagt über den Inhalt nichts, und außerdem trifft es nicht zu, wenn Brahn an einer andern Stelle sagt, »auf den Universitäten sei heute alle Psychologie experimentelle; man darf höchstens sagen, die experimentelle Methode und ihre Ergebnisse hätten sich allenthalben Achtung und Wertschätzung erzwungen. Ob an den Seminaren heutzutage »noch fast durchweg die Herbartsche Psychologie oder eine ihrer Abarten gelehrt wird«, weiß ich nicht, und ob auf diese Weise der angehende Lehrer von der Berührung mit der modernen psychologischen Wissenschaft ferngehalten wird, ist mir gleichfalls nicht bekannt. Eins aber weiß ich, und Herr Dr. Brahn könnte es auch wissen, nämlich, daß die Herbartsche Psychologie denn doch nicht so armselıg ist, daß sie beim Seminarunterricht den Zugang zur Psychologie oder vielmehr zu den Psychologien der Gegenwart not- wendig verschließen müßte. Wer daran zweifeln sollte, der braucht sich nur die zahlreichen kritischen Arbeiten Otto Flügels anzusehen, um eines Bessern belehrt zu werden. Ich selbst würde es sehr bedauern, wenn die Sache an den Seminaren wirklich so stehen sollte, wie es Brahn sich vorstellt, denn ich weiß sehr gut, daß es auch außerhalb der Herbartschen Schule in psychologischer Beziehung recht viel zu lernen gibt, und be- mühe mich noch jeden Tag, zu lernen. Ich kann aber bis jetzt nicht, wie Brahn, zu der Überzeugung gelangen, daß die Psychologie Herbarts »das denkbar schlechteste Fundament der Pädagogik bilde«. Sie sei eine »reine Vorstellungs- und Lernpsychologie« sagt Dr. Brahn. Selbst wenn dem so wäre, verdiente sie in ihrem pädagogischen Werte nicht dermaßen herabgesetzt zu werden, wie es durch Dr. Brahn geschieht, denn es ist doch so und wird auch wohl so bleiben, daß die Hauptaufgabe der Schule im richtig verstandenen Lehren und Lernen besteht, und eine Psychologie die in dieser Beziehung sich so tragfähig erwiesen hat, wie eben die Herbartsche, bedeutet doch schon etwas. Es kann doch wohl nicht bestritten werden, daß wir trotz aller Psychologien heutzutage noch keine einiger- maßen ausgebildete Didaktik besitzen außer der der Herbartschen Schule.

1. Leipziger Hoffnungen und Entwürfe. 153

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Dieser Tatsache gegenüber hat der Vorwurf, das Fundament sei »das denkbar schlechteste«, wirklich wenig Gewicht. Brahn meint zwar, die Herbartsche Psychologie könne dem Lehrer keine Grundlage für moderne pädagogische Anschauungen geben, die doch alle von der Lernschule zur Arbeitsschule hindrängten, aber dadurch zeigt er, wie wenig er mit der Sache vertraut ist, über die er aburteilt. Unsere Schulen, die in Leipzig nicht ausgenommen, könnten sehr froh sein, wenn sie in dem Maße »Arbeitschulen« wären, wie es schon Ziller wollte, und sie werden voraussichtlich noch lange warten müssen, bis sie es sind.

Daß die Pädagogik der Herbartschen Schule in ihrer gegenwärtigen Gestalt nicht das Ziel und Ende aller Pädagogik ist, versteht sich für mich von selbst, und wenn ich nicht der Überzeugung wäre, daß sie durch die Kinderforschung in deren verschiedenen Formen eine Förderung erfahren könnte, so würde ich nicht lange Jahre versucht haben, dieser Vorschub zu leisten. Es erscheint mir sogar nicht unmöglich, wenn auch nicht gerade wahrscheinlich, daß wir auf dem Wege der Kinderforschung mit der Zeit zu einem ganz neuen Aufbau der Pädagogik kommen werden. Geschieht das, dann werde ich gern das Alte fahren lassen und das Neue mit Freuden anerkennen; einstweilen aber muß dringend davor gewarnt werden, das alte Besitztum wegzuwerfen und nur von der Hoffnung zu leben.

Im übrigen sei aus der Rede des Herrn Dr. Brahn folgendes bloß mitgeteilt:

»Für den Bildungsgang des Lehrers wird die experimentelle Päda- gogik von der größten Bedeutung werden, insofern zukünftig nach ihrer Einführung im Seminar der Lehrer exaktes Denken nicht mehr bloß in der Naturwissenschaft, sondern vor allem an ihr lernen wird. Freilich fehlt es bisher an Lehrern für diese Wissenschaft. Letztere weiter aus- zubilden und unter den Lehrern zu verbreiten dient das 1906 vom Leipziger Lehrerverein gegründete Institut für experimentelle Päda- gogik und Psychologie (Kramerstraße 4 Lehrer - Vereinshaus, II Treppen). Es ist das erste seiner Art in Deutschland. Es sind aber Anzeigen vorhanden, daß man auch in andern großen Lehrervereinen an die Gründung von derartigen Instituten denkt. Wie benützen wir nun unser Institut, die neuen Ideen unter die Lehrerschaft zu bringen? Durch die Ferienkurse, den Einführungskurs und die Nebenkurse. Der in den Michaeliswochen 1907 abgehaltene Ferienkurs zählte 84 Teilnehmer. Gegen 20 Anmeldungen konnten wegen der beschränkten Räume des Instituts leider nicht berücksichtigt werden. Unter den Kursisten waren mehrere Schuldirektoren und Seminardirektoren, auch ein Kreisschul- inspektor. Es wurden 2 Abteilungen gebildet, von denen eine Herr Lehrer Rudolf Schulze, der Vorsitzende des Instituts, übernahm.

Der Einführungskurs hatte im vorigen Jahre 42, heuer 75 Mit- glieder. Darunter befinden sich ein Kollege aus Zwenkau, 1 aus Alten- bach bei Wurzen, 1 aus Döben bei Grimma, 1 Serbe, 1 Finne, 1 Schwede, 1 Chilene (die genannten Ausländer studieren in Leipzig Pädagogik). Auch arbeitet seit einiger Zeit im Institut ein aus Freiburg i. B. ge-

154 B. Mitteilungen.

kommener Arzt. Der Mitgliedsbeitrag ist 10 M pro Jahr, für Nicht- mitglieder des Leipziger Lehrervereins 20 M pro Semester. Im Ein- führungskurs (jeden Montag abends von 1/,8—9 bis Ende Februar 1908, Beginn 11. November) werden die wesentlichen Apparate und Instrumente der modernen Psychologie vorgeführt, ausführlich theoretisch und in ihrer praktischen Handhabung besprochen und so die Grundlage zur experi- mentellen Psychologie gelegt. Später tritt an die Stelle des Einführungs- kurs ein monatlicher Diskussionsabend, an dem eine pädagogisch - psycho- logische Frage ausführlich diskutiert wird. (Bis jetzt Begabungsunter- schiede, Ermüdung, Kinderzeichnungen.) Wer sich nun in diesen Monaten für eine besondere Arbeit interessiert hat, meldet sich bei dem betreffenden Versuchsleiter als Versuchsperson an, um exakte Selbstbeobachtung zu üben. Dazu genügen 1 bis 2 Wochenstunden; selbständig Arbeitende brauchen natürlich mehr Zeit.

Im ersten Nebenkurs wird eine englische Kinderpsychologie über- setzt, im zweiten die große, dreibändige Wundtsche Psychologie durch- gearbeitet, in dem dritten werden den Mitgliedern von einem Mathematik studierenden Lehrer die nötigen höheren mathematischen Kenntnisse über- mittel. Zur Teilnahme an diesen Nebenkursen sind die Institutsmitglieder nicht verpflichtet. Die Bibliothek ist für Mitglieder täglich, außer Sonntag und Montag, von 4—1/,8 Uhr geöffnet. Von Freitag bis Dienstag können Bücher entliehen werden. Zu den Geschäftsstunden des Instituts ist täglich ein Aufsicht führender Kollege anwesend. Sprechzeit für den Leiter und den Vorsitzenden Donnerstag 4—6. Bearbeitet werden im Iustitut zur Zeit die Themen: Einfluß der Frage auf die Antwort (Bader), über Aussagesicherheit (Franken), ein Gedächtnisproblem (Schulze), über den Einfluß von Empfindungen und Gefühlen auf Puls und Atmung bei Gesunden und Pathologischen (Dr. med. Lasker), über die Wahrnehmung einfacher Raumformen (Wetzel), über den Einfluß der Ermüdung auf die körperliche Arbeit (Block), über die Auffassung der Zahlen (Deuchler), Entwicklung des Farbensinns bei Kindern (Tengström), Psychologie der Kinderzeichnungen (Riedel und Rößger). Die wissenschaftlichen Resultate werden im Laufe der nächsten Jahre eine ausführliche Veröffentlichung des Instituts ermöglichen. Dank der Fürsorge des Leipziger Lehrer- vereins hat das Institut eigentlich nur Sorge wegen der Räume. Seine drei Zimmer erweisen sich unter den bestehenden Verhältnissen als völlig unzureichend.« Ufer.

2. Mondschein und Bettnässen.'!) (Zeitschr. f. Kiaderforschung XII, No. 10.)

Von Pastor R. Kirstein in Templin.

Eine in den Jahren 1902 und 1903 angestellte Untersuchung, ob der Mondschein auf das Vorkommen des Bettnässens einen Einfluß geübt habe, hat (wie Herr W. J. Ruttmann-Marktsteft a. M. in der Juli-Nummer

1) Unlieb verspätet. Die Schriftleitung.

2. Mondschein und Bettnässen. 155

dieser Zeitschrift mitteilt) das Ergebnis geliefert, daß in den hellen Nächten 1902 94 Fälle, 1903 80 Fälle, in den dunklen 1902 78, 1903 62 Fälle vorgekommen seien. Es wird eine Erklärung dieser Tatsache versucht, wobei natürlich »die Anziehungskraft des Mondes« als Aber- glauben abgewiesen wird, wobei ferner die in hellen Nächten größere Lebhaftigkeit der Traumvorstellungen angeführt wird. Dagegen wird aber auch bemerkt, daß doch in dunklen Nächten die Schlaftrunkenheit viel größer sei und damit die Gefahr des Bettnässens viel näher liege. Schließlich aber meint der Verfasser selbst, daß eine andare Erklärung noch vielleicht gesucht werden müsse, da die vorhandene doch wohl nicht genüge. Über diese Frage einige Bemerkungen und Bedenken zu äußern, dürfte nicht unangemessen sein.

Es ist zunächst wohl kaum richtig, nach den Erfahrungen von 2 Jahren einen solchen Schluß zu ziehen, wo Zahlen zufälliger Art ein bedeutendes Gewicht erlangen. Wenn z. B. Mitte Juli 1902 15 Bett- nässer in den hellen Nächten auftreten, dagegen Mitte Juni und Mitte August nur je 3, so wird man schließen dürfen, daß hier wohl eine zu- fällige Ursache z. B. Kränklichkeit, Festlichkeiten, oder irgend etwas ähn- liches vorliege. Ebenso auffallend ist im Jahre 1902 Ende November das Auftreten von 17 Fällen in dunklen Nächten, während Ende Oktober nur 4 vorhanden waren. Wenn die Zahlen in Monaten, welche gleich auf- einanderfolgen, so verschieden sind, dann verlieren sie viel von ihrer Beweiskraft.e. Wir würden also bitten müssen, daß eine solche Unter- suchung eine viel längere Zeit hindurch fortgesetzt werde.

Außerdem muß noch folgendes Bedenken ausgesprochen werden: Die hellen Nächte sind durchaus nicht durch ein solch überwiegendes Licht von den dunkeln zu unterscheiden. Wenn z. B. die Zeit vom 17. bis 31. Januar 1902 als hell bezeichnet wird, weil am 24. Vollmond eintrat, so ist zu bedenken, daß zu Anfang die zweite Hälfte der Nacht dunkel war, zu Ende dieses Zeitraumes aber die erste Hälfte der Nacht, dagegen hat die folgende Periode vom 1.—15. Februar zuerst in der zweiten Hälfte der Nacht Mondschein und dann ebenso in der ersten Hälfte der Nacht. Demnach dürften nur etwa 6 bis 7 Nächte um den Vollmond herum einen wirklichen Unterschied des Lichts bedeuten. Während der Sommerzeit aber, wo die nächtliche Dämmerung herrscht, kann überhaupt bei dem tiefen Stande des Mondes eine so große Verschiedenheit des Lichtes nicht anerkannt werden. Und so bringt auch die helle Zeit vom 16.—28. Juni 1902, also in der Vollmondszeit, 3 Fälle, die folgende dunkle Zeit 4 Fälle, so daß hier der Mondschein gar keinen Ein- fluß übt.

Im folgenden Jahre ist es zwar anders, wo 9 Fälle in der hellen Juni-Zeit, 2 Fällen in der dunkeln gegenüberstehen. Daraus eben ergibt sich, daß das Zahlenmaterial jetzt noch nicht ausreicht und daß der Unterschied zwischen der hellen und dunkeln Zeit überhaupt nicht ent- scheidend genug ist, da immer 14 Tage mit anderen 14 Tagen, die darauf folgen, verglichen werden. Wollte man wirklich den Mond als Ursache erkennen, so müßte man die 3 bis 5 Vollmondnächte mit den ent-

156 B. Mitteilungen.

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sprechenden 3 bis 5, dunkeln in Vergleichung ziehen. Bisher galt eigent- lich tiefer, fester Schlaf besonders als Mitursache des Bettnässens.

Pathologische Fälle aber zeigen sich das ganze Jahr hindurch ziemlich gleichmäßig, wobei allerdings Kälte und Nässe im übeln Sinne fördernd einwirkt. Somit dürften wir bis auf weitere Untersuchungen zu dieser Erklärung ein Fragezeichen machen und möchten vorläufig jedem Haus- vater raten, um Störungen durch Schlafwandeln möglichst zu vermeiden, daß besonders in den Vollmondnächten dichte Vorhänge angewendet werden.

3. Ein Verein für Kinderforschung in Ungarn.

In Ungarn entstand die Idee der Gründung eines Vereins für Kinder- forschung im Jahre 1901, als auf Anregung des Lehrerseminardirektors Ladislaus Nagy diesbezüglich eine Versammlung abgehalten wurde. Der erste Schritt zur Gründung eines Vereins erfolgte jedoch erst im März 1903 unter dem Titel: Comité für Kinderforschung; dessen Präsident: Graf Alexander Teleki, Abgeordneter; leitender Vicepräsident Ladislaus Nagy, Lehrerseminardirektor. Das Comité wurde im Jahre 1905 in einem Verein umgestaltet, unter folgendem Titel: »Ungarische Gesellschaft für Kinderforschung«e. Der Vorstand des Vereins blieb derselbe.

Der Verein erfreut sich der allgemeinen Unterstützung, insbesondere aber seitens der Ärzte und der Pädagogen.

Die Gesellschaft führte zur Orientierung des Publikums die öffent- lichen Sitzungen für Kinderforschung ein, wo über verschiedene Fragen der Kinderforschung Vorträge gehalten und die Wünsche, Fragen, Interpellationen des Publikums erörtert werden. Bisher wurden denn im Jahre 1903—1904 folgende Vorträge abgehalten:

Lehrerseminardirektor Nagy: »Über Methoden und Aufgaben der Kinderforschung;« Dr. Paul Ranschburg: »Definition der geistigen Fähigkeiten des Kindes;« Professor Sigmund Väradi: »Entwicklung des Sprechens beim Kinde;« Lehrerseminardirektor Michael Läng: »Instinkts- mäßige Handarbeiten der Kinder;« Professor Anton Streitmann: »Die Zeichnungen der Kinder;« Arzt Dr. Julius Grosz: »Über die physische Entwicklung der Kinder;« Professor Béla Lazár: »Über die Phantasie des Kindes. «

Und im Jahre 1905—1908: Dr. med. Decsi: Die Wirkung der Krankheiten auf die psychischen Vorgänge der Kinder; Prof. Dr. med. A. Sarbö: Die Ursachen der Sprachfehler der Kinder; Dr. phil. M. Schmidt: Die Wirkung der Strafe auf die Kinder; Dr. med. H. Susny: Der Grund der Nervosität der Kinder; Dr. phil. J. Balassa: Über die Entwicklung der Sprache bei einigen Taubstummen-Blinden-Kindern; Dir. Dr, phil. G. Körösy: Die Entwicklung des Selbstbewußtseins der Kinder; Volksschul- Dir. J. Eperjessy: Die Vorstellungswelt der in die Volksschule tretenden Kindern; J. Szücs: Der Ausdruck des Raumes in den Kinderzeichnungen; Dr. phil. S. Szemere: Über die genetische und pädagogische Bedeutung

3. Ein Verein für Kinderforschung in Ungarn. 157

der Kinderspiele; Dir. M. Eltes: Moral-Insanity der Kinder; Dir. L. Donner: Die ästhetischen Gefühle des Kindes; Prof. Dr. med. Hofrat O. Svartzer de Babarcz: Über die psychische Entwicklung des Kindes; S. Döri: Die sittliche Entwicklung des Kindes; Dir. Dr. med. P. Ransch- burg: Das Gedächtnis der Kinder; Derselbe: Die psychopathische Minder- wertigkeiten der Kinder: Prof. Dr. med. M. Mör: Das Auge des Kindes; Dir. L. Klis: Physiologie und Psychologie der Sprache der Taubstummen. Dr. med. E. Deutsch: Selbstmord der Kinder.

Die Gesellschaft für Kinderforschung veranstaltete im Jahre 1904 unter Leitung des vorzüglichen Kinderpsychologen und Arztes Dr. Ranschburg, einen Kurs für Kinderforschung. Am Kurse nahmen 12 Lehrer aus Budapest teil. Derselbe bestand aus einem zweimonatlichem theoretischen und einem zweiwöchentlichen praktischen Kurse. Ersterer erörterte alle bisher angewendeten Methoden der Ex- perimental-Psychologie, während am praktischen Kurse die Teilnehmer Untersuchungen teils an normalen, teils an abnormen (debilen) Kindern vornahmen und einübten. Auch nahmen die Mitglieder des Kurses an den klinischen Ordinationen Dr. Ranschburg teil. Der Kurs wurde vom Municipium in Budapest unterstützt. Die Teilnehmer des Kurses bilden jetzt unter Leitung des Dr. Ranschburg die Experimental-Abteilung des Vereins. Sekretär dieser Abteilung ist der Lehrer Géza Jablonkay. Die Abteilung bewerkstelligt ihre Untersuchungen nach festgesetztem Programme, der gesammelte Stoff wird gemeinschaftlich aufgearbeitet. Dieselbe beschäftigt sich zur Zeit mit Untersuchungen betreffs der Auf- fassungsgabe, des Vorstellungsinhaltes und des Wortschatzes, der Rechnungs-Fähigkeit, des Gedächtnisses der Kinder.

Der Verein organisierte unter dem Vorstande Dr. phil. K. Pekär eine andere Sektion, welche die Forschungen mit den Methoden der Be- obachtung und dem statistischen Datensammeln durchführt. Name der Sektion: Datensammelnde Abteilung. Diese Abteilung befaßt sich gegenwärtig mit der Frage des Interesses der Kinder. Zehn Fragen wurden festgesetzt und die diesbezüglichen Daten werden bei den 8 bis 18jährigen Knaben und Mädchen, in den Elementar- und Mittelschulen, bei schwachsinnigen (debilen) Kindern, bei Taubstummen und Blinden ge- sammelt. Dieses Datensammeln leitet Seminardirektor Nagy.

Seit des Jahres 1907 wird vom Vereine eine Zeitschrift unter dem Titel: A Gyermek (Das Kind) herausgegeben. Diese Zeitschrift wird von der ungarischen Liga für Kinderfürsorge materiell unterstützt; sie erscheint auch als Beiblatt des Organs der Liga: Gyermekvedelmi (Blatt für Kinder- fürsorge).

Die Gesellschaft beschäftigte sich zwei Jahre hindurch eingehend mit dem Plane einer Ausstellung für Kinderkunst. Die Idee der Ausstellung erweiterte sich aber in der letzten Zeit mıt denen der Kinderfürsorge und Kinderpflege und wurde die Verwirklichung der Ausstellung verschoben.

Adresse: »Ung. Gesellschaft für Kinderforschung.« Ladislaus Nagy, leitender Vicepräsident, Budapest, VII. Ullöv ùt 16/B.

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158 C. Literatur.

C. Literatur.

Arzt und Schulbetrieb. Gutachten deutscher Ärzte, gesammelt vom Elternbunde für Schulreform in Bremen. Leipzig, Teutonia-Verlag, 1907. Preis 1 M.

Diese von Pastor Fr. Steudel herausgegebene Gutachtensammlung verdient allgemeines Interesse. Schon die Gründung eines Elternbundes für Schulreform ist ein erfreuliches Zeichen reger Anteilnahme des Elternhauses am Schulleben. Wenn auch der Zusammenschluß von Bremer Eltern zunächst als Antwort auf schulamtliche Mißgriffe aufgefaßt werden konnte, so verrät doch das Fortbestehen des Bundes nach Beilegung des Bremer Schulkonfliktes und das Betreten neuer Arbeitsgebiete eine breitere Basis des Vereinsprogrammes. Das Statut sagt: Der Elternbund für Schulreform bezweckt ein geschlossenes Vorgehen aller, welche eine Umgestaltung des heutigen Schulwesens im Sinne naturgemäßer Jugendbildung und die Vertretung berechtigter Interessen des Elternhauses an Unterricht und Erziehung der Kinder für eine unabweisbare Kulturaufgabe unsrer Zeit halten .... Der Bund sucht durch Stellungnahme zu den dringlichen Fragen des Schullebens das Interesse der Öffentlichkeit für alle Schulfragen zu gewinnen und Eltern und Lehrern Anregung für ihre pädagogische Tätigkeit zu geben.“

Und die Arbeit des Bundes? Die vorliegende Gutachtensammlung stellt die Frage nach Überbürdung der Schüler erneut zur Debatte. Man schenkt diesem Problem wieder mehr Beachtung. Zu dem früher viele bestechenden Schlagworte: Schüler lassen sich nicht überbürden, sie begegnen dem Übermaße der Unterrichts- anforderungen wirksam durch ihre Unaufmerksamkeit mag sich der Einsichtige nicht mehr uneingeschränkt bekennen. Der Schulpraktiker hatte für diese Meinung von Anbeginn nur ein vielsagendes Lächeln. Er wußte aus Erfahrung, daß sich der Schüler dem Unterrichte allermeist aus anders gerichtetem Interesse oder Begabungs- mangel entzieht, und daß der Strebsame sich trotz seiner Erschöpfung zur Auf- merksamkeit zu zwingen sucht. Er bedachte ferner, daß Lehrmethode und Schul- zucht bis zu einem gewissen Grade im stande sind, selbst die Erschöpfung des kränklichen Schülers zu überwinden, und er kannte das Examenfieber überarbeiteter Examinauten. Und dann wäre es anderseits zu billigen, wenn die Schule mit übertriebenen Anforderungen zur Unaufmerksamkeit, zur Blasiertheit erzöge? Ärztlich gebilligte Unaufmerksamkeit in der Schule welche Zeitverschwendung in den Blütejahren der geistigen Entwicklung, welche Zeitentziehung für erwünschte Körperstählung, für berechtigte Jugendlust! So einfach läßt sich das Problem von der Vermeidung einer Überbürdung unsrer Schuljugend wahrlich nicht lösen.

Der Bremer Elternbund fragte nun 800 deutsche Ärzte

über das durchschnittliche Lebensalter, in welchem dem Kinde der Eintritt in die Schule zugemutet werden darf,

über die rechte Stunde des täglichen Schulbeginns,

über die Berechtigung des Nachmittagsunterrichtes,

über die Maximalstundenzahl für einen Vormittag,

über die Dauer der Mittagspause,

über die Berechtigung von Hausaufgaben bei Vor- und Nachmittagsschule,

über die Länge der Pausen zwischen den Unterrichtstunden,

über Unterricht im Freien,

über das Mindestmaß der Ferien.

C. Literatur. 159

Die Verfasser der Fragen waren offenbar bemüht, nur den Ursachen einer Überbürdung der Schuljugend nachzuspuren, welche in erster Linie der Arzt be- urteilen könne. Sie wollten es sich gewiß nicht verhehlen, daß eine solche Über- bürdung ebensosehr von der Arbeitskraft und -Last, als von der Arbeitszeit und dem Arbeitsorte abhängig sei. Wer hätte nicht schon die Ausdauer und Hingabe von Kindern beim Spiele bewundert. Welche unerschöpfliche geistige Leistungsfähigkeit, welche Unermüdlichkeit der Bewegung. Wenn der Unterricht solche gesunde und begabte Kinder erschöpft, so macht man mit Recht Stoffwahl, Methode und Lehrerpersönlichkeit dafür verantwortlich. Wir denken dabei auch an die Bedeutung einer Überbürdung der Lehrer, an den Wert einer günstigen Unterrichts- stimmung u. a. m. Trotz oder infolge? dieser wohlgemeinten stofflichen Be- schränkung erlebten die Verfasser eine große Enttäuschung. Auf 800 Anfragen liefen nur 49 Antworten ein. Der Herausgeber macht eine Überschwemmung der Ärzte mit Umfragen dafür verantwortlich. Aber die Wichtigkeit des Gegenstandes würde diese Enquete wohl zu einer dringlichen erhoben haben, wenn sich die Ärzte zur Beantwortung sämtlicher Fragen für völlig kompetent gehalten hätten,

gewiß verleiht die hygienische und psychiatrische Vorbildung und Praxis ihrem Urteile ganz besonderes Gewicht, doch fehlt ihnen die pädagogische Er- fahrung; diese läßt sich weder durch Einzelbeobachtung an eigenen Kindern und jugendlichen Patienten, noch durch Erinnerungen an die eigne Jugend ersetzen und wenn nicht die gestellten Fragen. das Urteil über die Ursachen der Über- bürdung eingeengt hätten. Deshalb hielten es auch 14 von 49 Ärzten für nötig, ihren Antworten noch eine Ergänzung hinzuzufügen, während sie sich der Be- antwortung einzelner Fragen enthielten. Durch diese Zusätze wurde der Wert der Broschüre außerordentlich erhöht. Es ist kein Mangel, daß sich die gesammelten Gutachten wir begegnen sehr bekannten Autoren wie Cramer, Hoffa, Gries- bach, Grotjahn, Monti, Rindfleisch, Soltmann u. a. vielfach wider- sprechen; eine noch sehr unklare Sache wird auf diese Weise von verschiedenen Seiten beleuchtet, der Leser wird zur Erwägung des Für und Wider angeregt. Möchte das Buch von recht vielen Lehrern, Eltern und Ärzten gelesen werden, möchte es auch den Weg zu Schulbehörden finden! Plauen i. V. Delitsch.

Uffenheimer A., und Stählin O., Warum kommen die Kinder in der Schule nicht vorwärts? Zwei Vorträge vor der Schulkommission des Ärzt- lichen Vereins in München. München, O. Gmelin, Verlag der Ärztlichen Rund- schau, 1907. 56 S. 1,40 M.

Beide Vorträge wollen den Ursachen des sogenannten Sitzenbleibens und des zuweilen recht plötzlichen Nachlassens der Arbeitsfrische unter den Schülern höherer Lehranstalten nachgehen. Der Arzt und Privatdozent für Kinderheilkunde erklärt als erster Berichterstatter in aller Bestimmtheit: ‚Die meisten Kinder kommen deshalb nicht vorwärts, weil sie nicht völlig normal sind.“ Und dann stellt er dem Leser in kurzer, knapper Weise möglichst alle Auffälligkeiten und Abweichungen von einer normalen Kinderentwicklung und deren Ursachen vor die Augen. Besonders willkommen erscheint übrigens dem Schulmanne im Verlaufe der Dar- legungen folgender Vorsatz: „Wir Ärzte sollten uns nicht denen anschließen, die- die Schulpensa immer mehr verkleinern, die die Hausaufgaben abschaffen, die in allzu einseitiger Weise der körperlichen Ausbildung der Schüler und dem Sport ein

160 C. Literatur.

Loblied singen.“ Der den zweiten Vortrag bietende Gymnasialprofessor erklärt zwar: Es ist selbstverständlich, daß wir Lehrer die physische und psychische Konstitution unserer Schüler stets im Auge behalten müssen! Aber auf offenbare oder schwer zu erkennende pathologische Verhältnisse im Schüler geht der Vor- tragende nicht ein. Vielleicht geschieht es u. a. aus dem Grunde, weil die höhere Schule mit pathologisch belasteten Schülern nicht rechnet. Vielmehr empfiehlt er, bei Hemmungen im Unterrichtsfortschritte immer und immer wieder zu versuchen, ob nicht ein ernster Wille und das Pflichtgefühl den Schüler wieder in das rechte Gleis bringen kann. Wenn nun aber bei diesem unausgesetzten Versuche der Wille gefoltert, und der Schüler in seiner unverstandenen Schwachheit schul- und lebens- müde wird? Stählin hat sicherlich Recht, wenn er nachweist: Manche Schüler kommen in der Schule nicht vorwärts, weil es ihnen an Begabung fehlt, und weil sie es tatsächlich an Fleiß und Aufmerksamkeit fehlen lassen; auch begleiten gar zu selten die Eltern die Schülerzeit ihrer Kinder mit dem nötigen Verständnis. Ferner werden ungünstige Unterrichtsergebnisse wohl zu begründen sein durch mangelhafte Einrichtungen der Schule, durch ihre Unterrichtsstoffe und Lehrziele. Nicht minder kann schließlich die Persönlichkeit und Berufsfreudigkeit des Lehrers, seine Lehrweise und sein Umgang mit den Schülern, die Ursache mangelhafter Förderung in der Schule sein. Das wird von Schülern, Schulen und Lehrern aller Gattungen zu sagen und zu klagen sein. Und es ist mit dem Vortragenden nur zu wünschen, daß seine Untersuchungen über die Ursachen des nicht Vorwärts- kommens der Schüler Eltern, Lehrer und Schulbehörden anregen, die zuweilen recht vernehmlich herrschende Spannung zwischen Schule und Haus zu mildern, A. Kankeleit, Unsere Lieblinge in Schule und Haus, und O. Ernst, Des Kindes Freiheit und Freude (vergl. diese Zeitschrift, 1907) baben bereits diese Aufgabe zu lösen versucht. Halle a. S. B. Maennel.

Tobie Jonckheere, Rapport présenté à Mr. le Ministre de l’interieur et de lin- struction publique au sujet du cours de vacances donné à Giessen (Allemagne) du 2 au 7 avril 1906 sur les troubles de l'esprit chez l'enfant (causes, description et diagnostie, prophylaxie et traitement). Bruxelles, Imprimerie médicale et scientifique, 1908. 26 S.

Verfasser, den Lesern dieser Zeitschrift als Mitarbeiter bekannt, war im Aug.

1904 Teilnehmer an den Jenenser Ferienkursen. Er gibt seiner Behörde, die ihn

diesmal nach Gießen schickte, um den von Prof. Sommer veranlaßten und ge-

leiteten Kursen beizuwohnen, eingehenden Bericht. Uns interessiert aus ihm ins- besondere die Nachricht, daß 2 Kommissionen zu Gießen ins Leben gerufen worden sind, von denen die eine einen Fragebogen aufzustellen hat, der als Muster dienen kann bei der psychologischen Prüfung der Anormalen; die andere soll einen Frage-

bogen anfertigen psycho -pädagogischer Art, der bei der Prüfung der Kinder im

Sonderunterricht Verwendung zu finden hat.

Hallea.S. B. Maennel,

Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensaiza,

A. Abhandlungen.

l.. -N otwendige Aufklärung der Mädchen in der Schule über Kinderpflege und Kindererziehung. Ein Versuch, der mit den Mädchen aus der I. Klasse der höheren Bürgerschule zu Meifsen gelang. Von

Kurt Walther Dix in Meißen.

h

»Wenn durch irgend einen seltsamen Zufall keine Spur von uns bis auf die ferne Zukunft erhalten bliebe, außer einem Haufen unserer Schulbücher oder einigen Prüfungsheften der Schule, so können wir uns ausmalen, in welche Verlegenheit ein Altertumsforscher jener Periode versetzt sein würde, in ihnen kein Zeichen zu finden, daß die Schüler möglicherweise jemals Eltern werden würden. Wir können uns vorstellen, wie er folgendermaßen schlösse: »Dies muß der Schul- plan für ihre ehelosen Stände gewesen sein. Ich gewahre hier eine fleißige Vorbereitung auf mancherlei Dinge, im besonderen auf die Lektüre von Büchern vergangener und gleichzeitiger Nationen (woraus in der Tat ersichtlich ist, daß diese Leute auf Lektüre in der eigenen Sprache sehr wenig Wert legten); aber ich finde nicht die geringste Berücksichtigung der Kindererziehung. Sie konnten nicht so töricht sein, für diese schwerste aller Verantwortlichkeiten jeglichen Unter- richt zu unterlassen. Offenbar also war dies der Schulkursus eines ihrer Klosterorden.« !)

1) SPENcER, Die Erziehung. S. 41.

Zeitschrift für Kinderforschung. XII. Jahrgang. 11

162 A. Abhandlungen.

ln 0 U nn —— o e

So der englische Philosoph HerserT SPENcER in seinem Buche über Erziehung.

Doch ohne Spaß!

Es ist eine betrübende Tatsache, daß die Mädchen, die einst Mütter werden wollen, in deren Händen also das Glück und die Ge- sundheit unserer Nachkommen liegen, in der Pflege und geistigen Erziehung ihrer Kinder nie Unterricht erhalten.

Die jungen Mädchen übernehmen doch mit der Eheschließung die Verpflichtung, als Mütter Kinder zu erziehen. Wohl vorbereitet fürs Kochen und alle häuslichen Arbeiten (?) als perfekte (?) Hausfrauen treten sie in die Ehe. Aber sie unterließen es ganz, sich über die einfachsten Lebensvorgänge und ihre physiologischen Gesetze im Körper neugeborener Kinder zu unterrichten. Eine gründliche Kenntnis vom Aufwachsen der Neugeborenen fehlt ihnen. Höchst selten haben sie eine deutliche Vorstellung, wie sich das neue Leben im Mutterschoße entwickelt. Sie erfuhren nicht, daß die Erziehung des sehnsüchtig erwarteten Kindes schon vor der Geburt beginnt. Darum wissen sie auch nicht, daß sie doppelte Verpflichtungen haben, ihr geistiges und leibliches Leben besonders zu regeln.

Henrı Marıonx !) schreibt dazu: »Die Tatsache, daß alle Erregungen, denen die Mutter unterworfen ist, auf den Embryo übergehen, ver- dient von den Eltern besonders beachtet zu werden. Jede Frau sollte sich ihres Einflusses auf die intellektuellen und moralischen Prädispositionen ihres keimenden Kindes bewußt sein und von dem Tage an, wo sie hofft, Mutter zu werden, ihre moralische Wachsam- keit verdoppeln, als ob die Frucht, die sie trägt, ihre Verdienste be- lohnen werde oder im Gegenteil den Stempel des von ihr begangenen Unrechts tragen und die Strafe dafür erleiden müsse. Selbst wenn dieser heilsame Glaube auch ein falscher wäre, so würde er doch wenigstens zur Vervollkommnung der Mutter beitragen, indem er sie geistiger und eindringlicher den Ernst ihrer Lage fühlen ließe.«e

Wieviel zerstörte Freuden und unerfüllte Hoffnungen sind auf diese Unkenntnis der jungen Mütter zurückzuführen!

Ebenso unwissend steht später die junge Mutter am Lager ihres Neugeborenen, um ihren heiligsten und schönsten Pflichten nach- zukommen. Mit gutem Willen, aber hilflos!

In ihren Mädchenjahren hatte sie nie Gelegenheit, das Aufziehen kleiner Kinder zu beobachten. Und wenn sie nun wirklich an jüngeren Geschwistern die Kinderpflege gesehen hätte, so genügte das nicht.

') Hexrı Manion, Urer: Perez, Anfänge des kindl. Seelenlebens. S. 8.

Dix: Notwendige Aufklärung der Mädchen in der Schule über Kinderpflege. 163

Dazu gehören tiefer gehende Aufklärungen und besondere Anleitungen, die aber die eigene Mutter nie gab.

»Das wird sich schon finden. Im Notfall bin ich ja da.« So die Großmutter. Sie ist es nun auch, die hilft. Doch nicht alle Neugeborenen haben noch die Großmutter!

Selbstverständlich will ich nicht die liebevolle Pflege der guten Großmutter aus der Kinderstube verdrängen. Wer sie kennt, weiß auch, daß ihr erfahrener, praktischer Rat der jungen Mutter ganz unentbehrlich ist. Aber ebenso wahr ist es, daß oft die Großmutter es ist, die im guten Glauben und in bester Absicht eine naturgemäße, vernünftige Erziehung hindert. Es gibt doch in der Kinderpflege eine Entwicklung, einen Fortschritt! Was früher recht und gut war, ist heute nach den Erkenntnissen der modernen Wissenschaften nicht mehr zu empfehlen. Großmutter aber wehrt sich. Sie hat sechs Kinder groß gezogen; da wird auch das eine nicht verderben und es bleibt beim alten.

Wo aber die liebende Großmutter fehlt, ist es kein Wunder, daß der jungen, unerfahrenen Mutter in großen und kleinen Nöten mancher Rat von »weisen« Nachbarinnen aufgedrängt wird, daß eine »erfahrene Tante«e mit ihren vielleicht durchaus unbegründeten, falschen Er- fahrungen dem jungen Weibe abrät, zum Arzte zu schicken. Erst solle sie lieber das erprobte Hausmittel versuchen. Darüber schreibt als erfahrener Kinderarzt Geheimrat Professor Dr. Birperr:!) »Leider geht in unserer sonst so aufgeklärten Zeit der Geist irgend einer alten Frau in der Kinderstube zu oft um, zum Schaden des Babys und zum meist zu spät erkannten Leid der bedauernswerten Eltern, denen bei richtiger Pflege und richtiger Erkenntnis der teure Liebling leicht hätte gedeihen und in Krankheiten erhalten werden können. «

Es ist also Tatsache, daß bis jetzt zum größten Teile das Schicksal des neuen Geschlechts überlassen wird der Laune des Augenblicks, den gebräuchlichsten, oft ganz unvernünftigen Gewohnheiten, den An- ordnungen unwissender Ammen oder »erfahrener« Kinderwärterinnen, dem alten Schlendrian weiser Tanten und mancher vorurteilsvollen Großmutter.

Viel schlimmer aber als auf dem Gebiete der körperlichen Auf- ziehung sieht es aus auf dem der geistigen Erziehung der Kinder. Vor wenigen Jahren noch saßen die jungen Mütter auf der Schul- bank, wo sie über die Erziehung der Kinder nichts genaues erfuhren.

1) Bıepert, Das Kind. S. 8. Stuttgart, Enke. 113

164 A. Abhandlungen.

Die kommenden Jahre waren gewidmet der Musik, der Putzarbeit, dem Tanz und Romanlesen, allen möglichen Hausarbeiten usw. Aber über Erziehung der Kinder las das junge Mädchen, die zukünftige Frau und Mutter, nichts.

Eine Kenntnis der Gesetze der geistigen Erscheinungen fehlt den jungen Müttern ganz. Sie wissen nichts über die Natur der Gefühle und den Verlauf der Gemütsbewegungen. Etliche Gefühls- erscheinungen gelten ihnen schlechthin als »verwerfliche«, andere wieder werden als nur »gute« angesehen. Keins von beiden stimmt.

Die Wirkungen des Leibes auf die Seele des Kindes sind der Mutter unbekannt. Es ist traurig, die Art zu sehen, wie manches Kind von der frühesten Jugend an zum »schlechten, ungezogenen« gestempelt wird. Die Mutter klagt über den lästigen, ungezogenen Schreier. Armes Kind! Jede aufgeklärte Erzieherin wüßte, daß die Kleinen stets solange »folgsam« sind, als sie sich wohl fühlen, daß ihr Schreiweinen aber seinen letzten Grund in einem körperlichen Unbehagen oder in einer Verwöhnung hat, woran dann doch die Mutter oder Pflegerin schuld ist.

Fehlt überhaupt die elementarste YWorbareiking auf das schwere Werk der Erziehung, so ist es mit der moralischen Erziehung der heranwachsenden Kinder ganz kläglich bestellt.

Die Eltern hier kommt auch die höchste Instanz des häus- lichen Gerichtsverfahrens, der Vater, in Betracht denken über die Erziehungsmaßregeln viel zu wenig nach. Ihre Behandlung der Kinder entspringt gewöhnlich der Regung des Augenblickes. Es liegt da keine durch Überlegen gewonnene Überzeugung zu Grunde: es ist für mein Kind jetzt zu seinem Besten, daß ich ihm den Willen tue, oder es ist zu seinem Wohle, daß ich seine Wünsche nicht erfülle.

Wenn wirklich von einer Methode die Rede sein kann, so ist sie aus einer Erinnerung an die Kindbeit entnommen. Nicht die Aufklärung, sondern die Unwissenheit vergangener Zeiten hat diese Erziehungsmethode geschaffen. »Wie die Alten sungen, zwitschern die Jungen.«

Sehen wir etlichen Müttern bei ihrer Kindererziehung zu, und lassen wir die Tatsachen sprechen.

Großer Besuch ist da. Hans muß alles zeigen was er kann, Er treibt es bunt. Aber alles lacht und ist entzückt. Beglückt durch seine Erfolge, beginnt er am nächsten Tag dasselbe Spiel. Doch Schläge oder strenger Verweis ist heute der Erfolg!

Dix: Notwendige Aufklärung der Mädchen in der Schule über Kinderpflege.. 165

Welcher überlegende Mensch sieht nicht die Gefahr zu einer moralischen Verirrung, wenn in Gegenwart der Kinder über ihre Klugheit, Witzigkeit mit großen Lobeserhebungen oder über ihre Fehler mit Verachtung und daran geknüpften schrecklichen Prophe- zeihungen gesprochen wird?

Diese oder jene Tätigkeit des Kindes, die sich ganz gesetz- mäßig auslöst, wird unterdrückt, weil sie die Ruhe der Mutter stört oder ihr als »böse, ungezogen« erscheint.

Natürliche Freude am Spiele und große Lust dazu werden sehr oft auch durch der Mutter »Reinlichkeitsfanatismus« zerstört. Spielen soll das Kind niemals aber die Schürze beschmutzen. Wer hätte noch nicht die Kinder bedauert, die still neben den spielenden Ge- nossen stehen, sich nicht wagen, mitzutun, aus Furcht vor einem Schmutzfleck und der folgenden Strafe?

Fast immer führt diese Erziehung zu sittlichen Schäden. Lüge, Betrug, Heimlichkeiten, die der Anfang aller Streitigkeiten und Uneinigkeiten sind, wo Teilnahme und rechtes Verständnis am Platze wären, stellen sich ein.

Der ganze Erziehungsbegriff vieler Eltern drängt sich zusammen in die »Prügel«. Man hört es, wenn ein Kind mißraten ist. »Ich begreife nicht, wie es soweit kommen konnte; ich habe doch tüchtig gehauen und ihm nichts geschenkt« ! Das ist ihre Erziehung.

Man schreibt, daß Erziehung eine Kunst sei. Darum vielleicht auch die vielen Stümper! Von Kunst sollte man nicht soviel sprechen. Es wird zu oft von Lässigen als Entschuldigung gebraucht. Erziehung ist zunächst eine genaue Kenntnis der Ziele und der Wege, die man dahin zu gehen hat. Wo dann das rechte Band der Liebe Eltern und Kinder verbindet, genügt ein geringes Wissen, die Eltern davor zu bewahren, daß sie ihren Kindern durch Unwissenheit geistig und körperlich schaden.

Wo aber sollen sich die Eltern diese notwendigen Kenntnisse aneignen?

Der anfangs erwähnte englische Gelehrte und mit ihm viele Pädagogen der Gegenwart fordern, daß sie in der Schule den Mädchen und auch Knaben zu übermitteln seien. (Schluß folgt.)

166 A. Abhandlungen.

2. Der Kindergarten als Vorstufe der nach Fähigkeits- klassen gegliederten Schule.

Vortrag, gehalten in einer gemeinsamen Versammlung der Charlottenburger Lehrerinnenvereine.

Von Marie Damrow. (Schluß.)

Jedermann weiß, wie gern die Kinder im Sande spielen, sich Figuren formen, die ganz Kleinen wenigstens einen Kuchen backen. Am Strande kann man sogar die kunstvollsten Bauten bewundern. Mit welcher Freude die Jugend im Schnee wühlt, nicht allein Schneebälle formt, sondern auch Schneemänner und Schneeburgen baut, das konnte man in diesem Winter reichlich beobachten. Diese Lust des Kindes zu formen, benutzt der Schulgarten. Das Kind bekommt Ton oder Plastilina in der Hand, und nun kann es nach Herzenslust kneten und die schönsten Dinge unter Anleitung des Erziehers hervorzaubern. Haben wir z. B. einen Vogel besprochen, ein Vogelliedchen gesungen oder das Märchen von Aschen- brödel gehört, so modellieren wir uns ein Nest, vergessen auch nicht die Eier darin, ein besonders geschicktes Kind darf anch ein Vögelchen auf den Rand des Nestes setzen, und selig ziehen die Kinder mit ihren Kunst- schätzen nach Hause. Besprachen wir den Maikäfer, so wird er getont, die Flügeldecken mit dem Modellierhölzchen eingezeichnet, die Fühler und Beine durch feine Tannenzweige hergestellt, das Ganze braun angetuscht, und ein naturgetreuer Maikäfer ist fertig. Ich glaube, man könnte sechs- jährige Kinder tausendmal sagen lassen, der Maikäfer hat zwei Fühler und sechs Beine, sie würden es doch wieder vergessen. Haben sie es aber einmal selbst getan, mit ihren eigenen Händen dargestellt, so sind sie in lebendige Beziehung zu dem Anschauungsobjekt getreten, sie haben eine Erfahrung gemacht, an die sie sich erinnern werden. Ich brauche auch keine häusliche Aufgabe zn stellen. Die Schüler zeigen ihr Kunst- werk den Eltern, erklären die einzelnen Teile den Geschwistern, ihren kleinen Freunden auf der Straße und setzen so die schönste Wiederholung selbst in Szene. Ein anderes Beispiel: Die Kinder hatten auf der Wand- tafel ein Kreidebild gesehen. Ein Bächlein floß da vom Hügel in ein grünes Wiesental. Das Bild wurde während des Entstehens besprochen, auch ein Verschen gelernt. Nun zogen wir alle hinaus auf unsern Spiel- platz. Wir schichteten Sandberge auf. Von einem floß das Bächlein in Gestalt eines Silberpapierstreifens ins Tal hinab. Vou den Seiten strömten andere Bächlein hinzu, so daß schließlich ein breiter Fluß entstand, der in einen See mündete. Weiter hatte eigentlich nichts in meiner Absicht gelegen. Nun aber regte sich die Fantasie der Kinder und spornte sie an zu schöpferischem Tun. Ein tiefer See, der ist doch gefährlich: es wurden Steinchen gesammelt und ein Wall aufgeschichtet. Das genügte aber noch nicht, ein Zaun mußte auch noch herum, damit ja kein Kind hinein- fiele. Einige Tage vorher hatten wir Tiere ausgeschnitten, die wurden geholt und an das Bächlein gestellt, damit sie trinken könnten. Die

Damrow: Der Kindergarten usw. 167

Kinder hatten gelernt Schiffchen zu falten; ganz von selbst baten sie um Faltblätter, und bald zogen Schifferkähne, stolze Segelschiffe und Dampfer auf dem Flusse entlang. Es war eine Lust und eine Freude, und spielend wurden den Kindern die geographischen Grundbegriffe klar.

Eine andere Art der körperlichen Darstellung ist das Bauen. Wir benutzen wie in den Kindergärten die Fröbelschen Baukasten, die in ihrer Einfachheit das Vollendetste auf diesem Gebiet darstellen. Sie sind systematisch geordnet und der fortschreitenden Entwicklung des Kindes angepaßt. Das Kind bekommt zuerst acht gleichgeformte Würfel in die Hand, mit denen es bald vertraut ist. Danach folgt eine neue Form, das Längentäfelchen. Die dritte und vierte Baugabe erfordern schon eine größere Geschicklichkeit der Hand und einen beweglicheren Geist. Wir bauen Häuser mit Fenstern, schrägen Dächern und Schornsteinen, wir errichten Tore, Brücken, Denkmäler, Kirchen, ganze Dörfer. Nicht nur erweitert sich bei dieser Beschäftigung der kindliche Gesichtskreis, es bietet sich auch die schönste Gelegenheit, den Kindern die ersten Zahl- begriffe beizubringen. Welche unendliche, zeitraubende Mühe wird dadurch dem Elementarlehrer abgenommen, wieviele bittere Kindertränen werden gespart! Und das alles, ohne in die Rechte der Schule einzugreifen, ohne etwas vorauszunehmen, was Aufgabe der Schule ist. Wir spielen ja nur. Aber dabei müssen wir teilen, zusammensetzen, wieder fortnehmen, zählen, zwei Halbe oder vier Viertel zu Ganzen machen usw. Spielend eignet sich das Kind die richtigen Zahlenvorstellungen an; es merkt keine Absicht und wird auch nicht verstimmt. Im Gegenteil, das Bauen ist eine Be- schäftigung, die die Kinder alle Tage verlangen.

Das Papierfalten erwähnte ich schon. Es ist ebenfalls eine Art der körperlichen Darstellung nach drei Dimensionen hin. Wir falten aus weißem oder buntem Pepier die Krone, die der König im Märchen trägt, die Wiege, in der Dornröschen bei der Taufe schlief, die rote Kappe, nach der Rotkäppchen seinen Namen bekommen hatte, Helme, Puppenkleider und noch viele andere schöne Sachen. Wieder nehmen die Kinder freude- strahlend ihre Schätze mit heim und falten sie zu Hanse in Zeitungs- papier nach.

Nach der körperlichen Darstellung folgt die nach zwei Dimensionen, die flächenartige. Das ist schor eine kompliziertere Geistestätigkeit, da das Kind den Stoff erst verwandeln muß. Fröbel gibt dem Kinde die Legetäfelchen, und auf dem Tisch entstehen die Fronten von Burgen und Schlössern, Tische, Stühle, Handwerkszeuge, alles von einer Seite gesehen. Die Legetäfelchen sind verschiedenfarbig, damit gleichzeitig der Farbensinn der Kinder geübt werde. Dem Kinde sind die Farben nur eine neue Quelle der Freude, denn ein weißes Haus mit einem roten Dach sieht doch noch viel schöner aus als das einfarbige aus Holz. Auch in der Form sind die Legetäfelchen verschieden: es gibt Vierecke und alle Arten von Dreiecken. Spielend lernt das Kind diese geometrischen Formen kennen, und so treibt der Kindergarten die Anfänge einer Wissenschaft, die die Schule erst auf der Oberstufe bringt. Wieder darf sich auch die Fantasie der Kinder betätigen, sie legen bunte Sterne nach eigener Er-

168 A. Abhandlungen.

findung. Flächenartig erscheint ein Gegenstand auch durch Ausschneiden und Ausmalen. Man könnte alle Gegenstände, die im Laufe der Zeit im Schulgarten ausgeschnitten werden, aufkleben. Die Kinder würden dann schließlich im Besitz eines selbstgearbeiteten Bilderbuches sein.

Eine Beschäftigung mit ebenfalls flächenartigem Material ist das Flechten. Es ist eine Nachahmung des Webens; an Stelle des Fadens nimmt Fröbel einen Papierstreifen, anstatt des Schiffchens eine Flechtnadel. Während beim Bauen die Form die Hauptsache ist, die Zahl im Hinter- grunde steht, dient das Flechten in erster Linie der Entwickelung des Zahlbegriffe. Zuerst wird die Zahl 1 angeschaut und geübt: die Kinder flechten eins auf, eins nieder. Dann zwei auf, zwei nieder. Größere Auf- merksamkeit erfordert es schon, wenn zwei auf, eins nieder geflochten wird. So geht es weiter, bis schwierigere Muster entstehen. Die Zahl ist immer die Hauptsache, auf die das Kind zu achten hat. Um die Freude an der Arbeit zu erhöhen, wird farbiges Papier verwendet, und das Kind darf die Farben selbst wählen, auch eigene Ideen verarbeiten. So ist hier wieder die Möglichkeit gegeben zu schaffen, zu denken, zu erfinden. Man kann in der Schule noch auf der Mittelstufe die Erfahrung machen, daß Kinder oft schlecht zuhören können. Welche merkwürdigen Wörter findet man da im Diktat wieder, ja ganze Sätze sind geändert und verdreht, obgleich man deutlich gesprochen und mehrfach wiederholt hat. Im Schulgarten werden Flechtmuster diktiert, um eine ganze Klasse an gemeinsame Auf- merksamkeit zu gewöhnen. Die Verwendung dieser Flechtblätter ist eine mannigfache. Wir haben Christbaumschmuck daraus geklebt, Düten und Täschchen davon gemacht, ein Lesezeichen als Geschenk für die Eltern geflochten. Meist haben wir uns mit der Arbeit begüngt, die das Kind durch das Flechten geleistet hat; das übrige besorgten die Heinzelmännchen über Nacht.

Soll der Schüler eine klare Vorstellung von der Form eines Gegen- standes haben, muß er dessen Umrisse genau kennen. Dies zu erreichen, übt die Schule das Zeichnen. Es ist bekannt, welche Bedeutung neuerdings dem Zeichenunterricht beigelegt wird. Zeichnen ist nicht mehr das technische Fach, indem es auf die Begabung des einzelnen ankommt, es hat sich zu einer Stütze des gesamten Unterrichts aufgeschwungen. Die tiefsten psychologischen Studien werden auf Grund von Kinderzeichnungen gemacht, bedeutende literarische Werke sind über das Zeichnen des Kindes im verschiedenen Lebensalter geschrieben worden. Auch das Schreiben ist nur eine besondere Art des Zeichnens, und da der Schulgarten für die Schule vorbereiten, die Kinder schulreif machen soll, so geben auch wir unsern Schülern Griffel, Bleistift, Buntstift, ja auch den Pinsel in die Hand. Wir wollen keine Künstler aus ihnen machen, sondern die Hand, das Auge, den Verstand üben. Jedem Kinde wird das in der Schule zu gute kommen, jedem Arbeiter, jedem Handwerker, jedem Menschen im Leben. Ehe das Kind aber zeichnet, soll es die gerade, die schräge, die gebogene Linie angeschaut haben. Da gibt ihm Fröbel das linienartige Material, Material von der denkbarsten Einfachheit: Holzstäbchen von verschiedener Länge, Drahtringe und Fäden. Ein Tisch voll Stäbchen-

Daumrow: Der Kindergarten usw. 169

figuren sieht wunderhübsch aus. Da entstehen Wasser- und Windmühlen, Hühnerställe, ein Teich mit schwimmenden Fischlein, Häuser, Kirchen, Scheunen, allerhand Geräte. Interessant ist es, wie die Kinder sich mit diesen selbstgeschaffenen Dingen unterhalten, sie verändern, sie erweitern, je nach Verstand und Fantasie. Gegner des Kindergartens erklären das für zwecklose Spielerei, doch das Spiel ist ja des Kindes Arbeit, und die Arbeit ist das Hauptbildungsmittel, der pädagogische Grundgedanke des Schulgartens.

Von der Beschäftigung bei Stäbchen, Ringen und Fäden ist es zum Zeichnen nur ein Schritt. Was das Kind damit gearbeitet hat, wird es ohne Schwierigkeiten auf der Tafel oder einem Blatt Papier nachzeichnen. Schwerer ist es, ein Tier oder den Menschen zu zeichnen. Da wenden wir das sogenannte Typenzeichnen an, d. h. die charakteristischen Merk- male des Tieres werden herausgesucht und durch möglichst einfache Linien dargestellt. Der Schulgarten verlangt da schon eine bedeutende geistige Arbeit von dem Kinde: es muß das Unwesentliche vom Wesentlichen ab- strahieren. Dabei ist dieses Typenzeichnen doch dem kindlichen Vermögen angepaßt, denn das Kind zeichnet nicht nach der Natur, sondern nach dem inneren Bilde, das es gewonnen hat. Wieder bleibt der breiteste Spielraum sich persönlich zu betätigen. Während das eine Kind seine ganze Tafel mit dem verlangten Küchlein bedeckt, zeichnet das andere das Ei, aus dem es entschlüpft ist, dazu die Henne, den Hahn, den Hühnerstall, die Hühnerleiter, macht einen Zaun herum, und der ganze Hühnerhof ist fertig. Oder die Klasse zeichnet eine Mühle Bald sind da auch gewaltige Mehlsäcke zu sehen und Pferd und Wagen, die sie fortschaffen; selbst der Müller und der Kutscher fehlen nicht. Ganze Märchen werden illustriert. Leicht läßt sich hier die Lebendigkeit der inneren Anschauung kontrollieren, denn das Kind verwendet und vergeistigt in diesen Zeichnungen seine Beobachtungen und Erfahrungen.

Ein Bildungsmittel für Verstand und Gemüt ist die Erzählung. Fröbel nennt die Erzählung ein geistiges Bad, in dem der Mensch sich stärkt und über das Alltägliche erhebt. Das goldene Tor der Märchenwelt tut sich den Kindern auf, und tausend Gelegenheiten bieten sich dem Erzieher, auch ohne Religionsstunden moralisch auf seine Schüler einzuwirken. Das Kind lernt kennen, was gut und böse ist, sein Urteil wird gefordert. Es lebt mit den Gestalten der Erzählung, es teilt Leid und Freud mit ihnen. Zuerst wird den Kleinen allerdings das Zuhören schwer, das bessert sich aber bald. Um die Vorstellungen zu klären, ziehen wir wieder die Be- schäftigungsmittel heran. Wir bauen den Tisch, die sieben Stühlchen und die sieben Bettchen der Zwerge, wir malen eine Rosenhecke, wir modellieren ein Körbehen mit Kuchen und Wein. Die Wände unseres Klassenzimmers sind mit künstlerischen Märchenbildern geschmückt, die werden aufs genaueste besehen. Schließlich folgt die Darstellung. Die böse Fee tritt persönlich auf und spricht den Fluch über Dornröschen aus. Der böse Wunsch geht in Erfüllung; Dornröschen sticht sich an der Spindel und sinkt in Schlaf. Die Dornenhecke, durch Kinder gebildet, wächst empor, bis der Prinz kommt, sie durchbricht und Dornröschen erlöst. Auch ein

170 A. Abhandlungen.

großer Hochzeitszug durchs Spielzimmer wird veranstaltet. Die Kinder haben die Geschichte nicht nur gehört, sie haben sie erlebt. Wie durch solche Erzählung der Ideenkreis sich erweitert, wie sehr die Sprache durch Wiedererzäblen und Darstellen geübt und bereichert wird, brauche ich wohl kaum zu erwähnen.

Alle diese Bildungs- und Beschäftigungsmittel des Schulgartens erweisen sich als ein unerschöpflicher Born, Kinder zu erfreuen und zu erziehen. Immer wieder bietet sich Gelegenheit, neues zu erfinden, immer wieder gehen von den Kindern selbst neue Anregungen aus. Das ist im Kindergarten dasselbe wie in der Kinderstube So vielseitig und ver- schiedenartig aber alle diese Bildungsmittel sind, sie alle dienen demselben Zweck, haben dasselbe Ziel: die gesamten Sinnen- und Seelenkräfte des Kindes zu stärken, dem Schaffensdrang, der im Kinde liegt, die rechte Bahn zu weisen. Übrigens hat die Idee der Erziehung und Bildung durch Arbeit unter Verwerfung des rein intellektuellen Unterrichts schon weite Verbreitung gefunden. In München ist man dabei, eine Reform- schule einzurichten, die das Prinzip der Selbsttätigkeit durch alle Klassen verfolgt, viele Schulen Deutschlands wenden in ihrer Elementarklasse die Fröbelmethode an, und in Zehlendorf besteht eine Erziehungsanstalt für verwahrloste Kinder, wohl die großartigste der ganzen Welt, wo man durch Arbeit diese im tiefsten Schmutz aufgelesenen Kinder zu brauchbaren Menschen zu erziehen hofft, wo die Selbsttätigkeit soweit geht, daß bei Vergehungen der Schüler nicht der Lehrer straft, sondern ein Gericht von Mitschülern sich bildet und dem Schuldigen die Strafe diktiert.

Was tut nun der Schulgarten zur körperlichen Kräftigung seiner Schüler?

Wie ich schon sagte, sind die Kinder, die den Schulgarten besuchen, schwächlich und kränklich.. Gewinnt man einen tieferen Blick in die häuslichen Verhältnisse, so erklärt sich das in vielen Fällen. In dem Ver- zeichnis, das mir Namen und Wohnung der zurückgestellten Kinder über- mittelt, findet sich als Wohnungsangabe immer nur Straße und Haus- nummer. Da gibt es aber noch Gartenhäuser, erstes, zweites, drittes Quer- gebäude, linker und rechter Seitenflügel, jedes Gebäude mit mehreren Eingängen. Die Mietertafel im Flur weist viele Lücken auf, denn es lohnt nicht, die Namen der kleinen Mieter einzutragen, da sie oft schon nach einem Monat wieder ausziehen. An einer Wohnung, dritter Hof linker Seitenflügel Erdgeschoß, klingelte ich vergeblich, obgleich man hören konnte, daß jemand da war. Ich ging auf den Hof zurück und sah am Fenster drei Kinderköpfchen, die Nasen an der Fensterscheibe platt gedrückt. Auf vieles Zureden wurde das Fenster geöffnet. Die Mutter hatte jeden Vormittag eine Aufwartung und schloß die Kinder während vieler Stunden einfach ein. Das älteste sechsjährige Mädchen mußte auf die Kleinen acht geben. Dieses Kind kam in den Schulgarten und ist in den paar Monaten sichtlich aufgeblüht. Eine Familie von acht Köpfen hauste in einer einzigen Stube und Küche. Das Fenster war so eingebaut, daß der Raum fast dunkel erschien. Die Luft feucht und moderig. Hier hielt sich das zurückgestellte Kind meist den ganzen Tag auf, denn die Mutter

Damrow: Der Kindergarten usw. 171

erlaubte nicht, daß die Kinder auf der Straße spielten, da sie die Kleider zerrissen und allerhand Ungezogenheiten mit heim brachten. Aus dem schüchternen Kinde, das lange zu keinem Wort zu bewegen war, ist ein munteres Geschöpf geworden, das frisch und fröhlich in die Welt blickt. Ich meine, allein der täglich dreistündige Aufenthalt in unserm geräumigen und luftigen Schulgarten muß wohltuend auf solche Kinder wirken. Wir haben zwei große Räume zur Verfügung, ein Unterrichts- und ein Spiel- zimmer. Jedes hat sechs große Fenster und neun Luftklappen. Ich sagte vorhin, daß die Schwächlichkeit der Kinder oft auf schlechte oder falsche Ernährung zurückzuführen sei. Als ich bei der Eröffnung des Schulgartens den Kindern erlaubte, etwas zu trinken mitzubringen, womit kamen sie an? Mit Kaffee. Nun ist es ja das Entzückende am Unterricht bei den Kleinen, daß man in jedem Falle unbedingte Autorität ist, und so war in meiner Kiasse bald kein Kaffee mehr zu finden. Jetzt erhalten die meisten Kinder von der Stadt ans warmes Frühstück: Milch und Brötchen. Dann und wann ladet auch die Haushaltungsküche einige Kinder zum Mittagessen ein.

Zur weiteren körperlichen Kräftigung wird marschiert, geturnt, gespielt, im Sommer draußen, im Winter im Spielzimmer. Das Turnen besteht in leichten Freiübungen und Atmungsübungen. Es soll einmal die schlaffe Muskeltätigkeit dieser zurückgebliebenen Kinder beleben, zum andern hat es einen erzieherischen Wert. Die Schüler sind gezwungen, genau auf das Kommando zu hören, ihre Glieder zu beherrschen, was bekanntlich Schwachbegabten schwer fällt. Schon nach kurzer Zeit lassen sich da Erfolge erkennen. Die Kinder steigen mit größerer Sicherheit die Treppen, trauen sich beim Spiel mehr zu. Die Haltung wird besser, der Körper streckt sich. Von größter Bedeutung und erzieherischer Wirkung ist das Bewegungsspiel. So alt die Menschheit ist, so lange hat sie gespielt, und wenn der einzelne sich entwickelt wie die Gesamtheit, so ist die psychologische Begründung der Kinderspiele gegeben. Die Nachahmung nach dem Beispiel beginnt beim Kinde schon im zweiten Halbjahr. Den verstärkten Nachahmungstrieb der Sechsjährigen macht sich der Schulgarten zu nutze. Wir ahmen in unsern Spielen den Handwerker, den Landmann nach und führen so das Kind in die soziale Welt ein. Wir lehren unsere Schüler als Kinder der Natur die Natur lieben und lassen sie Vögel und Fische, das Fließen des Wassers, das Rollen der Steine spielend darstellen. Die Kindheit ist die genialste Zeit des Lebens, und mit Hilfe seiner Fantasie vermag das Kind sich vollständig in andere Geschöpfe hineinzu- versetzen. In den ersten Lebensjahren ist das Spiel das wichtigste, denn im Spiel erobert sich das Kind seine Welt, und kein Erzieher sollte sich das Spiel als Erziehungsfaktor entgehen lassen. Die Kinder lernen mit ihren Kameraden umgehen, sich den Spielregeln fügen, sich dem Ganzen unterordnen. So wird im Schulgarten auch hierbei das im kleinen getrieben, was die soziale Gemeinschaft im Leben vom Erwachsenen fordert: die Zurückstellung des einzelnen Willens gegen das Wohl der Gemeinschaft.

Wir sind in einem Kindergarten, und in einem Garten wird gepflanzt. Im vorigen Sommer, als der Schulgarten Ende Mai eröffnet wurde, mußten

172 A. Abhandlungen.

wir uns damit begnügen, die Anpflanzungen des Schulhofs zu begießen. Ich hoffe, in diesem Jahre wird jedes Schulgartenkind sein eigenes Beet haben, wo es nach Herzenslust wird pflanzen, pflegen und beobachten können. Unser Garten wird uns dann auch eine Fülle von Anschauungs- stoff für den Unterricht liefern. Vielleicht lassen sich auch regelmäßige Ausflüge ermöglichen.

Die körperliche und geistige Erziehung gehen also im Schulgarten Hand in Hand, hier ist die eine ohne die andere nicht zu denken. Die Methode muß also eine andere sein als die Schulmethode. Sie ist kein Dozieren, kein unmittelbares Geben des Lehrers, sondern ein Experimentieren, ein Finden der Kinder. Es wird ihnen wenig gesagt, sie erleben alles und sollen ihre Erfahrungen unter der Leitung des Erziehers vergeistigen. Nicht eine Summe von Kenntnissen sollen die Kinder in die Schule mit- bringen, sondern offene Sinne, einen denkfähigen Geist und Arbeitsfreudig- keit. Durch geregelte Übungen ihrer Körper- und Seelenkräfte sollen sie auf die Schule vorbereitet werden. Dabei halten wir uns fern von jeder Schulweisheit: wir lesen nicht, wir schreiben nicht, wir rechnen nicht im Sinne der Schule. Der Schulgarten unterrichtet weniger, als daß er die Keime wahrer Bildung in die Kinderherzen legt und sie erzieht zum Wahren, Guten und Schönen. Müßiggang ist aller Laster Anfang, darum läßt der Schulgarten die Kinder tätig sein. Jedes Kind verlangt geistige Nahrung, je begabter es ist, desto mehr. Auf dieser Erkenntnis beruht ja auch die Gliederung der Schule nach Fähigkeitsklassen, jedes Kind wird da zu seinem Rechte kommen. Wir im Schulgarten brauchen eine Teilung nach Fähigkeiten nicht; wir haben die Mittel, jedes Kind nach seiner Begabung und Geschicklichkeit zu beschäftigen. Die Persönlichkeit wird nicht unterdrückt, sie soll sich frei entfalten; der Wille wird nicht ge- brochen, er soll sich stärken. Es kann also keine schönere Ergänzung des Mannheimer Schulsystems geben als den Kindergarten; er bereitet für alle Begabungsstufen vor. Darum wäre es mit Freuden zu begrüßen, wenn von allen Kindern, nicht nur den schwachen, der Besuch des Kinder- gartens gefordert würde. Die Schule könnte dann ganz anders einsetzen, das Pensum der Unterklasse würde in kürzerer Zeit erreicht werden. Denn nicht nur sind die Kinder ein halbes Jahr älter, sie können das Sturzbad der vielen Schulfächer auch besser ertragen, wenn sie durch den Schulgarten vorbereitet sind. Daß es gerade in Lehrerkreisen noch so viele Gegner des Kindergartens gibt, das liegt eben an der großen Ver- schiedenheit der Schüler und ihrer Vorbildung, die auszugleichen wäre, wenn ein obligatorischer Schulgarten der Schule vorausginge.

Und die höhere Mädchenschule, braucht auch sie den Kindergarten? Sie hat es mit Kindern zu tun, die sechs Jahre lang von einer gebildeten Mutter erzogen sind und im Familienkreise reiche Anregung gefunden haben. Das ist etwas ganz anderes als in den vielen Arbeiterfamilien, wo die Mutter Geld verdienen muß. Hier und da, besonders in neuerer Zeit, hat wohl auch die Mutter in den gebildeten Ständen einen Beruf, dann könnten in diesem Falle die vielen Privatkindergärten eintreten. Der höheren Mädchenschule aber müßte ein Volkskindergarten angegliedert

Trürer: Zur Wertung der Kinderforschung und Pädagogik usw. 173

werden, der hier nicht nur die Aufgabe der Vorbereitung zur Volksschule zu erfüllen hätte. Junge Mädchen der ersten Klasse könnten hier der Lehrerin helfend zur Seite stehen. Sie würden einen praktischen Einblick in die Erziehungslehre gewinnen, von der bis jetzt nichts auf dem Lehr- plan der höheren Mädchenschule steht. Den künftigen Müttern wäre hier eine Gelegenheit gegeben zur Erfassung der höchsten Kulturaufgabe, die in den Händen der Frauen liegt: der Veredelung des Menschengeschlechts. In Berlin finden in jedem Winter Fröbelkurse für Mütter statt, die sich eines immer regeren Besuchs erfreuen. Die Mütter, die es ernst mit der Er- ziehung ihrer Kinder nehmen, wollen sich heute nicht mehr auf ihr Gefühl allein verlassen; sie wollen sich mit den Forschungen der modernen Er- ziehungslehre vertraut machen, sie wollen etwas nachholen, was ihnen die Schule nicht mit ins Leben gab. Ist ein Volkskindergarten der höheren Mädchenschule angegliedert, so würde er den heranwachsenden Mädchen auch manchen Einblick in das soziale Elend gewähren. In manchen jungen Herzen würde der Wunsch sich regen zu helfen, zu bessern; soziale Hilfsarbeiterinnen wären gewonnen.

Ich habe, seitdem ich die Einrichtung und Leitung des Schulgartens übernahm, oft hören müssen: Wie kann man sich als wissenschaftliche Lehrerin dazu hergeben? Ist es nicht furchtbar langweilig, drei Stunden lang alle Tage mit kleinen Kindern zu spielen? Ich hoffe, ich habe meine Zuhörer ein wenig überzeugen können, daß wir im Schulgarten nicht nur ein bißchen spielen, um die Zeit totzuschlagen, sondern daß eine Erziehung angestrebt wird auf psychologischer und naturwissenschaft- licher Grundlage, daß wir die Kindesseele pflegen und entwickeln wollen auf Grund ihrer natürlichen Anlagen. Nicht graue Theorie treiben wir mit diesen schwachen kleinen Kindern, von des Lebens goldnem Baum pflücken wir die ersten Früchte des Wissens und stellen die kleinen Geschöpfe auf den Anfang des Weges, der zu einem guten und nützlichen Leben führen soll. Gewiß, der Schulgarten ist nur ein kleines Glied in der Kette der Kindererziehang und Schulbildung, doch wie wichtig gerade der Anfang ist, wird kein Pädagoge bestreiten. So wollen wir denn im Schulgarten die Erziehung beginnen, dem Lehrer zur Erleichterung seiner schweren Aufgabe, dem Kinde zum Segen und Glück für dei Schulzeit und das Leben.!)

3. Zur Wertung der Kinderforschung und Pädagogik in der Strafrechtsrefom und der Jugendfürsorge.

II. Herr Amtsgerichtsrat Dr. Köhne schreibt mir:

»Soeben lese ich Ihren Aufsatz über die » Wertung der Kinderpsychologie und Pädagogik in der Strafrechtsreform« in Heft 5 Ihrer Zeitschrift. So sehr ich Ihnen

!) Augenblicklich bestehen schon zwei städtische Kindergärten, von denen der eine vormittags, der andere nachmittags arbeitet; in dem zweiten ist unter Aufsicht der Leiterin eine geprüfte Kindergärtnerin beschäftigt. Eine weitere Ausdehnung auf andere Stadtteile ist geplant.

174 A. Abhandlungen.

für die freundliche Erwähnung meiner Person dankbar bin, so energisch muß ich Ihrer Annahme widersprechen, daß ich in meiner neuesten Schrift die pädagogische Literatur aus Furcht, dadurch in maßgebenden Kreisen anzustoßen, unerwähnt ge- lassen habe. Ich mache darauf aufmerksam, daß meine Schrift keine wissenschaft- liche Abhandlung, sondern ein formulierter Gesetzesvorschlag ist, daß es nicht Sitte ist, in den Motiven zu Gesetzentwürfen sehr zahlreiche Zitate zu geben, daß ich auch die juristische Literatur bei weitem nicht vollständig zitiert habe, daß es mir aber bei den wenigen Zitaten, die ich gab, natürlich nahelag, sie meiner eigenen Wissenschaft zu entnehmen. Mit Recht erwähnen Sie, daß ich stets für ein Zu- sammenwirken von Pädagogen, Medizinern, Verwaltungsbeamten und Juristen ein- getreten bin; ich habe mir das geradezu zur Lebensaufgabe gemacht und damit noch nie in maßgebenden Kreisen Anstoß erregt, vielmehr nur die Weisungen be- folgt, welche mein oberster Chef, der preußische Justizminister allen Vermundschafts- richtern in der Allgem. Verfügung vom 25. Januar 1906 (Preuß. Justizministerial- blatt 1906 S. 29) erteilt hat.

Sie würden mich zu Dank verpflichten, wenn sie diese Zeilen in der nächsten Nummer Ihrer Zeitschrift veröffentlichen wollten.«

Wir nehmen selbstverständlich mit Freuden eine solche Erklärung entgegen, und ich kann nur noch einmal betonen und dankbar anerkennen, daß Köhne zu denjenigen Juristen zählt, die mit besonderem Verständnis und Interesse an den wissenschaftlichen und praktischen Bestrebungen der Kinderforschung und der Jugenderziehung teilnehmen. Andrerseits wird Köhne wohl kaum bestreiten wollen, daß man der Pädagogik als eben- bürtige Wissenschaft der Jurisprudenz, der Medizin und der Theologie in deutschen Landen überall mit Geringschätzung ja zum Teil mit Mißachtung begegnet. Der frühere juristisch gebildete Kultusminister von Putt- kamer verhöhnte sie Öffentlich in seiner berüchtigten Aschermittwochs- rede im Preußischen Landtage als »Eleusinische Geheimnisse«, ohne Wider- spruch zu finden, worüber man das Nähere nachlesen wolle in Dörpfeld, »Beitrag zur Leidensgeschichte der Volksschule«e. Und wir kämpfen um diese Stellung nicht um Standesinteressen willen, auch nicht in erster Linie um der Wissenschaft willen, sondern und ich glaube, daß man schwerlich aus allen meinen Ausführungen in der Sache einen anderen Nachweis wird erbringen können aus Interesse um die Hebung von Wohlfahrt, Bildung und Gesittung in unserem Volksleben, also aus nationalem und sozialem Interesse.!) Wie die nachfolgenden Ausführungen im preußischen Abgeordnetenhause bekundet, lernt man er- freulicherweise ja plötzlich in allen Parteien das Verabsäumte einsehen, auf das wir seit je immer wieder hingewiesen haben.

Wir verlangen auch nur aus jenen Gründen eine entsprechende amt- lich anerkannte Stellung der Erziehungswissenschaft und der Erzieher in der ganzen Öffentlichen Fürsorge für die heranwachsende Jugend. Das erheischt das Wohl unseres Volkes. Zu dieser Einsicht ist freilich im Abgeordnetenhause noch niemand gekommen. Die Jugendnöten und ihre

1) Vergl. meinen Artikel in No. 48 d. J. der Unterhaltungsbeilage der »Täg- lichen Rundschau«: Die Pädagogik an unseren Universitäten.

1. Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses. 175

Gefahren für Staat und Gesellschaft werden mit der Zeit aber auch diese Einsicht schaffen. Hoffentlich nicht zu spät!

Weil es uns in diesem Hefte an Raum fehlt, so wollen wir in dem nächsten an der Hand von Köhnes Ausführungen in seinem Gesetzentwurf wie in seinem ebenfalls sehr beachtenswerten Artikel in No. 4 d. J. der »Deutschen Juristenzeitunge«e: »Ist eine Änderung des preuß. Fürsorgegesetzeserforderlich?« wie an einigen weiteren Erscheinungen in der Literatur das näher erläutern. Unsere von Dr. Köhne in einer Hinsicht mißverstandene Bemerkung wird dann auch deutlicher werden.

Trüper.

WARE DE WB WALL HE BE

B. Mitteilungen.

1. Verhandlungen des preussischen Abgeordneten- hauses (29. Jan. 1908) über das Strafverfahren gegen Jugendliche.

(Nach der Kölnischen Zeitung 1908, No. 103.)

Es handelt sich hier um die Besprechung des Antrags Schiffer (nationallib.), die Regierung zu ersuchen, im Bundesrat für die schleunige Einbringung eines Gesetzentwurfes über das Strafrecht, das Strafverfahren und den Strafvollzug in Bezug auf jugendliche Personen einzutreten, und bis zum Erlaß eines solchen Gesetzes die bereits angestellten Versuche auf dem Boden des bestehenden Rechts im Wege der Verwaltung und der Ge- schäftsverteilung das Strafverfahren gegen jugendliche Personen in einer ihrer Eigenart entsprechenden Weise zu gestalten, nach Möglichkeit zu fördern und zu verallgemeinern.

Schiffer (nl.): Die Zahlen der Kriminalstatistik über die Verurteilung jugend- licher Angeklagter führen eine Sprache yon erschütternder Beredsamkeit. Im Jahre 1882 sind 30698 Angeklagte jugendlichen Alters lediglich wegen Verbrechens und Vergehens gegen die Reichsstrafgesetze unter Ausschluß der Verstöße gegen die Landesgesetze verurteilt worden. Diese Zahl ist im Jahre 1904 auf 50028 männ- liche Personen angewachsen, unter den letztern befanden sich 16,90 °/, im Rück- fall. In den beiden Jahrzehnten von 1882 bis 1901 stieg die Kriminalität über- haupt, also ohne Rücksicht auf das Lebensalter, um 15°/,, bei jugendlichen Personen um 24°/,. Dieses Steigen der Kriminalität steht außer Verhältnis zur Vermehrung der Bevölkerung. Das Ergebnis dieser Statistik steht in Übereinstimmung mit den Erfahrungen, die wir täglich machen. Unsere heranwachsende Jugend befindet sich nicht in einem sittlichen Aufsteigen, sondern in einem Zustand sittlicher Ver- wahrlosung. Sie macht in der Tat einen bedauerlichen Eindruck in der Haltung, die sie in den höchsten und tiefsten Fragen des Lebens einnimmt. Wir haben nicht nur einen Mangel an Kraft und Idealismus zu klagen, sondern auch an der Fähigkeit überhaupt, zu glauben und ideal zu sein. Wir sehen Zügellosigkeit und Zuchtlosigkeit weit über das Maß jugendlicher Freiheit hinauswachsen und sich äußern in einem Freiheitsdrang, der zügellos in Hohn und Frechheit übergeht. Diese Erscheinungen zeigen uns, daß die Kriminalität weder allein die Ursache für

176 B. Mitteilungen.

das, was sie angibt, darstellen kann, noch allein die Hilfs- und Heilmittel bieten kann, um sie zu bekämpfen. Es ist, wie bei der Medizin, so überall höchste Weis- heit, nicht Schäden zu heilen, sondern Schäden vorzubeugen (sehr richtig!) und an die Wurzeln zu gehen, auf denen die Schäden entstehen. Wir werden uns in erster Linie an Schule und Haus wenden und das Verhältnis von Schule und Kirche zur heranwachsenden Jugend prüfen müssen und verlangen müssen, daß mebr als bisher eine Wendung zum Bessern eintritt. Wir werden vor allen Dingen auch die freiwillige Liebestätigkeit, auch die freiwillige Organisation zu unterstützen haben (sehr richtig!) und werden auch den Verein für Volksbildung auf jede Weise stützen und heben müssen. (Lebhafter Beifall bei den Nationalliberalen.) Sie werden auch dafür zu sorgen haben, daß die Pflege des Sports einen breiten Raum in der Tätigkeit unserer Jugend einnimmt, damit sie abgelenkt wird von dem, was jetzt in verführerischer Gestalt an sie herantritt und sie vergessen läßt, was ihr früher ein- geprägt war. (Sehr richtig! bei den Nationalliberalen.) Mögen aber Schule und Kirche und alle Organisationen tun, was sie wollen, die Grundlage ist doch immer das Elternhaus. Hier sind die besten Kräfte unseres Volkes, und hier müssen wir einsetzen, wenn wir die künftige Generation zu dem bringen wollen, was sie sein soll. Wir müssen die Erzieher selbst erziehen, damit sie wohltuend auf die Kinder einwirken. Wir müssen auch dafür sorgen, daß die Kinder dem Hause ge- hören und daß das Haus den Kindern gehört. Die Kinderarbeit muß unterdrückt werden, damit das Kind im Elternhaus verbleiben kann und nicht den Verführungen der Straße ausgesetzt und gewerblich ausgenutzt wird. Auch die Frauen- arbeiten müßten Einschränkungen erfahren, damit die Frau den Kindern erhalten bleibt und die Mutter vollständig ihrem Beruf gehören kann. Wir dürfen uns nicht damit begnügen, formelle Beschränkungen der Erwerbs- und Arbeitstätigkeit der Frauen aufzurichten, sondern wir werden einstimmig darauf hinwirken müssen, daß sie nicht durch das Leben außerhalb des Hauses und die Sucht nach Vergnügen ihrem Beruf entzogen werden. Wir werden die materiellen Unterlagen für die Tätigkeit der Eltern schaffen und erhaiten müssen. Das Wohnungswesen spielt ebenfalls eine große Rolle. Das Schlafstellenwesen müßte bekämpft und unterdrückt werden, damit die Eindrücke, die die Kinder aus dem Hause empfangen, nicht für alle Zeit vergiftet werden. Es ist damit nicht gesagt, daß wir die Frage vernach- lässigen dürfen, ob nicht die Repressivmaßregeln des Staates mangels der gehörigen Wirksamkeit schuld daran tragen, daß nicht wenigstens nachträglich ein Gegen- gewicht gegen die zerstörenden Elemente in unserm Volk in Bezug auf unsere Jugend geltend gemacht wird. Wir werden deshalb die Normen zu prüfen haben, die in der Justiz hinsichtlich der Jugendlichen gegenwärtig in Kraft stehen. Das Wesentliche ist, daß Angeklagte, die das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, im Verfahren vor dem Landgericht und dem Schwurgericht, nicht vor dem Schöffengericht stehen jund einen eigenen Verteidiger erhalten müssen. Im übrigen wird die Jugend im Strafsystem berücksichtigt, gewöhnlich werden schwere Strafen, wie Todesstrafen, Zuchthausstrafen, nicht verhängt oder sie werden gemildert. Wesentlich ist, daß für Vergehen und Übertretungen der Beweis zulässig ist. Die Gefängnisstrafe wird bei den Jugendlichen durch die bedingte Gnade und sonstige Maßnahmen teilweise niedergeschlagen, die Strafvollstreckung auf Freiheitsstrafen wird in besonders dazu hergerichteten Anstalten bewirkt. Allerdings steht diese Be- stimmung nur auf dem Papier; denn bei der ungeheuren Anzahl von kurzen Frei- heitsstrafen für Jugendliche ist es nicht möglich, eigene Anstalten herzurichten für die Tausende von Personen, die zu einigen Tagen oder Wochen verurteilt sind.

1. Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses. 177

Ebenso steht auf dem Papier die Vorschrift bezüglich der Unterscheidung zwischen den mit der nötigen Einsicht begabten Jugendlichen und denen, die diese Einsicht nicht haben. Diese Unterscheidung, die jetzt das Strafgesetzbuch aufstellt, führt dahin, daß in weitem Umfange der Staat die ihm zu Gebote stehenden Machtmittel ohne jeden Nutzen und vielfach gerade zum Nachteil verwendet, so daß in vielen Fällen der Staat in seiner Strafhoheit entweder grausam oder lächerlich wird, daß er nicht nützlich, sondern schädlich wirkt. Es ist eine Grausamkeit, wenn ein Kind, das das 12. Lebensjahr überschritten und sich einer Strafe schuldig gemacht hat, auf die Anblagebank gebracht wird. Es ist eine Grausamkeit gegen das Kind und gegen seine Angehörigen, wenn das Kind, das nicht verworfen, sondern nur leichtfertig gewesen ist, die Qual einer öffentlichen Verhandlung über sich ergehen lassen muß (sehr richtig!) und vielleicht auf zwei Jahre ins Gefängnis gesetzt wird und im zartesten Alter, wo die geringsten Eindrücke so stark wirken, durch das Zusammensein mit andern Gefangenen verdorben wird. Es ist auch etwas Lächer- liches, wenn ein Knirps auf der Anklagebank sitzt und nach den Grundsätzen der Strafprozeßordnung als Prozeßpartei behandelt wird, und nicht minder lächerlich wirkt es, wenn bei der Gefängnisrevision die Tür sich öffnet und es steht mit durch- gedrückten Knien ein Junge da, der sich meldet: Friedrich Müller, vier Tage wegen Diebstahls. Diese Dinge sind nicht verträglich mit der Würde unserer Justiz. Es ist schädlich, wenn jemand, statt den gewöhnlichen Erziehungsmitteln unterworfen zu werden, der Held eines Öffentlichen Dramas wird.

Wir haben zu prüfen, ob wir nicht mit großer Anstrengung Luft machen müssen, ob wir die jetzigen Maßregeln nicht durch wirksamere Maßnahmen ersetzen können, Wir müssen von der Frage ausgehen, wo hat die Kriminalgewalt einzu- setzen und wo sind andere Maßregeln geboten. Bei jungen Leuten, die sich schon dem 18. Lebensjahre nähern und dann verdorben sind, da wird viel zu viel ge- leistet in vergeblichen Versuchen, mit Erziehungsmitteln zu helfen. Hier sollte die Jugend ein strafschärfender Grund sein, weil in diesem Alter die Strafe noch als heilsames Abschreckungsmittel wirken kann. Die jugendlichen Messerstecher, Baumfrevler, Prostituierte und ihre Helfer müssen scharf bestraft werden, weil sie nicht mehr im Wege der Erziehung gebessert werden können. Wir werden zum Ausgangspunkt die Frage wählen müssen: Haben wir es mit einem Kinde zu tun, das nicht fertig ist, oder mit einem Wesen, das vielleicht trotz geringer Jahre nicht mehr als Kind anzusprechen ist. Wir werden keine absolute Grenzen brauchen. Die Altersgrenze, in der die Staatsgewalt im Wege der kriminellen Be- strafung eingreifen soll, ist vielleicht vom 12. auf das 14. Jahr heraufzurücken. Die Tatsache, daß das Kind in die Schule geht, wird fast ausnahmslos den Weg weisen, daß die Schule und die befehlende Gewalt berufen sind, die Fehltritte, die das Kind begangen hat, zu bestrafen. Die Strafgerichte für jugendliche Un- wissenden müssen dafür zu sorgen haben, daß hier Männer mitwirken, die die Fragen nach dem Charakter der Angeklagten besser beantworten können als andere Männer, die mit der Einwirkung auf die Jugend zu tun haben, daß Vormundschafts- richter grundsätzlich zu Vorsitzenden des Gerichts gemacht werden, und daß ihnen, soweit es sich um Schöffengerichte handelt, Lehrer, Geistliche und Ärzte an die Seite gestellt werden. Ich glaube, daß, wenn es sich um weibliche Angeklagte handelt, hier auch ein berechtigter Anspruch der Frauen wäre, mitzuwirken. (Sehr richtig! links.) Ob man sich anlehnen soll an Vorbilder von amerikanischer, eng- lischer, schottischer, norwegischer Art, sind Einzelfragen, auf die ich nicht eingehen

Zeitschrift für Kinderforschung. XII. Jahrgang. 12

178 B. Mitteilungen.

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will. Es ist im allgemeinen bedenklich, Einrichtungen des Auslandes, die sich dort bewährt haben, bei uns einzuführen, da die Voraussetzungen bei urs andere sind.

Wir wünschen vor allen Dingen eine baldige reichsgesetzliche Regelung der Angelegenheit, denn es handelt sich nicht um einzelne Angeklagte, sondern im letzten Ende um eine Generation. Jede Reform der reichsgesetzlichen Kriminal- justiz wirkt zurück auf die Erziehungsmaßregeln, die an die Stelle dieser kriminellen Einwirkung zu treten haben. Sobald die Kriminaljustiz Gebiete oder Personen frei läßt, so muß das Landesgesetz diesen Raum wieder ausfüllen. In erster Linie kommt das Fürsorgeerziehungsgesetz in Frage. Dieses hat nicht den tief- greifenden Eindruck geübt, den man in weiten Kreisen des Volkes erhofft hat. Das Hin- und Herschieben der verwahrlosten Kinder zwischen Fürsorgeerziehung und Armenpflege ist zum Unheil geworden für das ganze Gebiet der Fürsorgeerziehung, weil es die Einheitlichkeit der Handhabung des Gesetzes geschwächt hat. Ferner hat die Methode, die in einer ganzen Reihe von Fürsorgeerziehungsanstalten ange- wandt wird, ihre Zwecke nicht erfüllt. Es steht und fällt die ganze Fürsorge fur die Jugend, soweit Erziehungsmaßnahmen in Frage kommen, mit der Person des Vormundschaftsrichters, und wenn es nicht gelingt, dort die richtigen Personen fest- zuhalten, dann wird das Ziel niemals erreicht, daß nämlich eine konzentrierte Tätig- keit stattfindet, die der Jugend gewidmet ist. Es fragt sich nun, ob die Justizverwal- tung in der Lage ist, schon jetzt auf dem Boden des bestehenden Rechts das anzu- bahnen, was wir auf dem Boden des Reichsrechts ausführen wollen. Zu meiner Freude können wir feststellen, daß in der Tat die Landesjustizverwaltung unsern Justizbehörden bereits vorangegangen ist. Wenn die Zeitungsnachrichten ‚zutreffend sind, so ist bereits versucht worden, im Rahmen des geltenden Rechts das Ver- fahren in einer Weise zu beeinflussen, wie es der Eigenart der Jugend entspricht. Ein anderer Weg, den die Justizbehörden beschritten haben, konzentriert sich in der Personalunion zwischen Vormundschaftsrichtern und Schöffenrichtern in den Fällen. wo eine jungendliche Person angeklagt ist. In Köln, Düsseldorf, Frank- furt a. M., Breslau sind bereits derartige Versuche gemacht worden, in Charlotten- burg sollen derartige Einrichtungen in Vorbereitung sein, und es wäre wünschens- wert, zu wissen, wie weit die Justizverwaltung gehen will, diese Einrichtung zu fördern. Im Augenblick ist der Justizminister kaum in der Lage, direkt einzu- greifen, aber $ 23 des Einführungsgesetzes vom Gerichtsverfassungsgesetz gibt ihm die Handhabe, gewisse Grundlinien für die Geschäftsverteilung festzulegen. Bei der großen Menge von Gerichten ist dieser Weg gangbar. Jedenfalls ist es erwünscht, auf dem Boden des bestehenden Rechts die angestellten Versuche zu erweitern und zu fördern. Vor wenigen Jahren ist ein Buch von einer sehr berühmten Schriftstellerin erschienen: Das Jahrhundert des Kindes. Dieser Buchtitel ist sehr rasch zu einem Schlagwort geworden, aber es ist diesem Schlagwort gegangen wie mit soviel andern: es enthält Wahres und Falsches zugleich. Es enthält Wahres insofern, als das neue Jahrhundert bestrebt sein will, sich anzunehmen der schwachen, verwahrlosten, ausgestoßenen Kinder. Aber es ist etwas Falsches, wenn durch dies Schlagwort angedeutet werden soll, daß der moderne Zug einer einseitigen Behand- lung der Kinder im Sinne einer Verhimmelung und Verzärtelung maßgebend sein soll. Diese Tendenz liegt uns bei unserm Antrage selbstverständlich fern. Wir werden bestrebt sein, auf allen Gebieten, besonders auf dem der Kriminaljustiz, den Kindern gerecht zu werden, aber wir werden nie vergessen, daß in dem Kinde der künftige Mensch steckt. Wir werden in Liebe und Güte, wo es möglich ist, aber auch mit Strenge und Schärfe das tun, was nach unserer innersten Über-

1. Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses. 179

zeugung geboten ist, damit aus dem Kinde ein tüchtiger Mensch und ein brauchbares Mitglied unseres Volkes werde. (Lebhafter Beifall.)

Boehmer (kons.): Wir stehen der Tendenz des Antrages durchaus sympa- thisch gegenüber. Alle Parteien werden die Mittel bewilligen, um die Mißratenen auf den rechten Weg bringen zu können. Der Vorredner hat seine Klage aber zu sehr verallgemeinert. Es gibt noch Landesteile, wo die Jugend nicht in dem Maße verdorben ist wie z. B. hier in Berlin. Im allgemeinen stimmen wir den Ausführungen des Vorredners zu. Wir sind auch darin einverstanden, daß das Fürsorgeerziehungsgesetz die Erwartungen nicht vollkommen erfüllt hat. Vielleicht liegt das daran, daß die Zöglinge mehr in den Anstalten als in Familien untergebracht worden sind. Wir können aber für den Antrag selbst zunächst nicht stimmen. Im Reiche ist Reform in Aussicht gestellt, und wir sehen nicht ein, weshalb wir diese Frage jetzt hier erledigen sollen. Absolut ablehnen müssen wir die Heraufsetzung des strafmündigen Alters. Damit würde der gegenwärtige Zustand nur verschlechteıt. In Dänemark hat der Richter das Recht, sich Jugend- liche vorführen zu lassen und eventuell einfach eine Prügelstrafe zu verhängen. Das besteht dort nicht erst seit Wiedereinführung der Prügelstrafe, sondern schon von langer Zeit her. Es fragt sich, ob man für besondere Jugendgerichtshöfe auch geeignete Schöffen bekommt. Wir stehen also dem Antrage an sich sympa- thisch gegenüber, beantragen aber, ihn der Justizkommission zu überweisen. (Beifall rechts.)

Ein Antrag Kirsch (Ztr.) ist inzwischen eingegangen und will im Antrag Schiffer die Worte »für die schleunige Einbringung eines Gesetzentwurfs« ersetzen durch die Worte: »für eine Reform der Vorschriften«.

Peltasohn (Frs. Vgg.) unterstützt den Antrag Schiffer und erläutert im An- schluß an die Rede des Antragstellers die Einzelfragen. Hier müsse etwas geschehen zum Besten des ganzen Volkes. (Beifall links.)

Viereck (freikons.) möchte, daß vor allen Dingen den Eltern das Ge- wissen geschärft wird. Die Erziehung wird heutzutage vielfach vernachlässigt. Eine Milde gegenüber jugendlichen Verbrechern sei nicht angebracht. Die Schuldfrage aber müsse eingehend geprüft werden und die Strafvorschriften müssen auf den Erziehungszweck Rücksicht nehmen. Die Anordnung von Erziehungsmitteln können wir aber dem Strafrichter nur überlassen, wenn er mit der Fürsorgeerziehung ver- traut ist. Deshalb können wir der Tendenz des Antrages zustimmen, natürlich im Rahmen unserer ganzen Strafprozeßordnung, aber es müssen Schöffen ausgewählt werden, welche pädagogische Fähigkeiten haben. Es kann auch von dem System der vorläufigen Entlassung bei Jugendlichen weiterer Gebrauch gemacht werden. Wir können demnach dem ersten Teil des Antrages zustimmen. Und diese Frage muß sogar so schnell wie möglich gelöst werden. Die Justizverwaltung hat anerkennenswerterweise schon bisher der Fürsorge der jugendlichen Verbrecher sich angenommen. Die Strafaussetzung mit Aussicht auf Begnadigung, wie sie von der Justizverwaltung geübt wird und von zahlreichen Sachverständigen befür- wortet wird, hat bereits sehr erfreuliche Erfolge gezeitigt. Recht muß Recht bleiben, aber bei Jugendlichen ist die Erziehung einer Strafe vorzuziehen, die nicht ge- rechtfertigt ist. Wir stimmen dem Antrag der Konservativen auf Überweisung an die Justizkommission zu. (Beifall rechts.)

Dr. Voltz (nl.): Ich habe mich über die Einbringung des Antrages Schiffer lebhaft gefreut. Sowohl als Mann, der sich in frühern Jahren mit diesen Dingen

fachwissenschaftlich beschäftigt hat auf dem Gebiete der Pädagogik, wie als Mann 12*

180 B. Mitteilungen.

des praktischen Lebens habe ich seit langem die Überzeugung, dal kaum ein anderes Gebiet so reformbedürftig ist wie dieses. Es ist gut, wenn nicht nur Fach- juristen darüber verhandeln. Daß wir noch nicht weiter gekommen sind, liegt daran, daß sich bisher nur die Juristen damit befaßt haben. Gegen den Antrag auf Kommissionsberatung bin ich deswegen, weil die einzelnen Punkte nicht spruch- reif für eine Kommissionsverhandlung sind. Der Antrag Schiffer will nur prinzipiell die Reformbedürftigkeit dieser Frage betonen und kann daher ohne weiteres ange- nommen werden. Die Fassung des Antrages Schiffer auf Einbringung eines Gesetz- entwurfs ist viel präziser als der Antrag Kirsch. Wir können nicht warten, bis sich die Juristen einig sind, sondern probieren wır lieber einzelne Mittel und sammeln wir Erfahrungen. In dem Musterland Nordamerika sind verschiedene Wege ein- geschlagen worden. Hier ist ein Gebiet, wo es nicht auf Theorie ankommt, sondern nur die Praxis entscheiden kann. Ich bin überzeugt, daß wir mit den Jugend- gerichten, wie es nach amerikanischem Muster Frankfurt a. M. eingerichtet hat, gute Erfahrungen machen werden, (Beifall links.)

Kirsch (Ztr.): Die Juristen stehen der Frage mit demselben Verständnis gegenüber wie der Vorredner. Meine Freunde stehen dem Antrag Schiffer sympa- thisch gegenüber. Ein besonderes Strafvollzugsgesetz für die Jugendlichen ist da» Wichtigste. Der Redner begründet seinen Antrag und bespricht weitere Einzelheiten.

Cassel (Frs. Vp.): Der Abg. Schiffer hat so warm für den Antrag gesprochen, daß ich an seinen Ausführungen eine reine Freude hatte; ich stimme mit ihm im wesentlichen überein und begnüge mich, kurz zu sagen, daß auch meine Freunde der Ansicht sind, daß im materiellen Strafrecht die Kindesseele mehr berück- sichtigt werden muß wie gegenwärtig, zum Wohle der Kinder selbst und auch zum Wohle der Allgemeinheit. Es ist notwendig, ein Gericht zu konstruieren, das die Entwicklung des Kindes zu beurteilen weiß. Es wird sich empfehlen, den V or- mundschaftsrichtern den Vorsitz in diesen Gerichten zu übertragen. Es wird weiter notwendig sein, die Kompetenzen der Schöffengerichte dahin zu er- weitern, daß ihnen bei jugendlichen Personen auch Sachen überwiesen werden, die sonst vor das Landgericht gehören. Weiter erscheint erforderlich, daß die bestraften Kinder die Strafe in eigenen Anstalten verbüßen. Mancher Gerichtsdiener und Gefängniswärter zeigte mir sauber gekleidete Kinder mit den Worten: Was glauben Sie wohl, wie der Junge aussehen wird, wenn er aus dem Gefängnis herauskommt! Also auch in diesen Kreisen bricht sich die Erkenntnis Bahn, daß der Aufenthalt im Gefängnis nur dazu dient, die Kinder dauernd ins Verderben zu bringen. Daß im allgemeinen die Berliner Kinder durch höhere Anteilnahme am Verbrechen sich auszeichnen, muß ich bestreiten; die Statistik ist hier nicht maßgebend, weil erst festgestellt werden müßte, ob man es mit in Berlin Geborenen oder eben erst Zugezogenen zu tun hat. Was von der Stadt Berlin geschehen kann, das geschieht, um die Kinder im Geiste der Ordnung, der Sittlichkeit und ihrer Religion zu er- ziehen. (lebhafte Zustimmung links.) Dem Antrag auf Kommissionsberatung möchten wir widersprechen, da es sonst zu lange dauert, ehe etwas herauskommt. Von der Reform war schon solange die Rede, daß es höchste Zeit ist, sie zustande zu bringen. (Lebhafter Beifall links.)

Dr. v. Dziembowski (Pole) ist für den Antrag Schiffer.

Boehmer (kons.): Meine Freunde glauben, daß unser Antrag auf Kommissions- beratung mißverstanden ist. Wir stehen dem Antrag Schiffer durchaus sympa- thisch gegenüber und sind bereit, in eine Beratung solcher gesetzgeberischen Maß-

1. Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses. 181

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nahmen einzutreten. Die Nummer eins ist durch den Antrag Kirsch wesentlich ver- bessert. Ich beantrage, auch diesen Antrag der Kommission zu überweisen. Der zweite Teil des Antrages Schiffer bietet soviele Schwierigkeiten. daß eine Kommissionsberatung erforderlich ist.

Justizminister Dr. Beseler: In der Kommission habe ich meine Ansicht aus- gesprochen. Die Regierung steht auf dem Standpunkt, daß das Strafrecht für Jugendliche einer Revision bedarf, und wir werden mit allen Kräften dahin be- strebt sein. Der zweite Punkt des Antrags wünscht, daß bis zum Erlaß eines Ge- setzes die Versuche durch die Geschäftsverteiluug gefördert werden sollen. Es sind schon an verschiedenen Stellen Einrichtungen getroffen, durch die man zu er- reichen hofft, daß die jugendlichen Verbrecher von solchen Richtern beurteilt werden, die nach ihrer ganzen dienstlichen Stellung am meisten geeignet erscheinen, sich ein richtiges Bild über Tat und Person des Kindes zu machen. Das ist bisher an drei Stellen geschehen, aber in verschiedener Weise. Ich habe sämtliche Ober- landesgerichtspräsidenten zum Bericht aufgefordert, wie sie sich zu der Frage stellen, und ich werde von dem Ergebnis der Berichte meine Entscheidung ab- hängen lassen, wie weit ich anregen soll, in diesem Sinne zu verfahren. Ich meine, daß der Versuch, wie er da angestellt ist, sich empfiehlt. Die Einrichtung be- sonderer Jugendgerichte wird sich allerdings allgemein nicht durchführen lassen, sondern nur da, wo die Zahl der Richter nicht gar zu gering ist. Ich gedenke die Sache nachdrücklich zu fördern. Was den Punkt 1 betrifft, so hoffe ich, daß in verhältnismäßig kurzer Zeit, vielleicht schon in der nächsten Session, die Straf- prozeßreform an den Reichstag gelangt. Dann wäre es nicht am Platze hier ein besonderes Gesetz anzulegen, das doch nicht früher zur Entscheidung kommen könnte als die Vorlage im Reichstag. Für die Änderung des materiellen Straf- rechts ist die erste Lesung eines Entwurfs in der betreffenden Kommission fast beendet. Dabei wird auch die Frage der bedingten Verurteilung eingehend geprüft werden. Ebenso wird auch die Regelung des Strafvollzugs im Reiche abzuwarten sein. Der Antrag Schiffer würde für die Regierung annehmbarer sein, wenn er nach dem Antrag Kirsch geändert würde. Die Sache wird von der Regierung nach Kräften gefördert werden, aber der erste Punkt des Antrags scheint mir aussichts- los, und ich kann mich nicht dafür aussprechen. Dem ganzen Grundgedanken des Antrages können wir aber zustimmen.

Dr. Röchling (nl.): Ich bitte die Sache heute durch Abstimmung über den Antrag zu Ende zu bringen. Ein Missionsbericht würde nur alle dieselben schönen Reden wiederbringen, die heute gehalten sind. Es hat keinen Zweck, sich hier und in der Kommission mit allerlei Details zu beschäftigen; das wird Sache des Reichs- tags sein. Nehmen Sie also sofort unsern Antrag an, eventuell mit der Änderung des Abg. Kirsch, aber tun Sie etwas. (Beifall.)

Der Antrag Schiffer wird mit dem Antrag Kirsch an die Justizkommission überwiesen.

Im Anschluß an diesen Bericht veröffentlicht die Kölner Zeitung in No. 139 folgende Zuschrift, eine Zuschrift des Oberlandesgerichts Hamm:

Die Verhandlungen über den preußischen Justizetat boten die erfreuliche Ver- anlassung, Jugendfürsorge und Jugendstrafrecht zu erörtern. Bekanntermaßen ist die Einführung besonderer Jugendgerichtshöfe nicht nur durch sorgfältige Studien ähn- licher Einrichtungen fremder Staaten an Ort und Stelle vorbereitet worden vergl. namentlich die vorzügliche Darstellung von Herr »Das moderne amerikanische Besserungssystem« —, sondern auch die Praxis hat bereits den ihnen zu Grunde

182 B. Mitteilungen.

liegenden Gedanken aufgegriffen und ihn, soweit es im Rahmen der gegenwärtigen Gesetzgebung möglich war, verwirklicht. Bei dem Hinweise auf die Bildung von besondern Gerichtshöfen für Jugendliche in den Bezirken der Oberlandes- gerichte Frankfurt a.M. und Köln ist aber eine andere Einrichtung übersehen worden, die dem Fürsorgegedanken vielleicht mehr gerecht wird wie jene Gerichtshöfe und die daher in erster Linie berufen erscheint, für eine gesetzliche Ausgestaltung des Instituts die Unterlage zu bieten. Denn ein Vormundschaftsrichter als Schöffen- gerichtsvorsitzender und zwei Lehrer als Beisitzer mögen wohl Gewähr dafür bieten. daß häusliche Verhältnisse, Vorleben und Individualität des jugendlichen Delinquenten bei der Strafzumessung berücksichtigt werden; wie aber der Frankfurter Oberlandes- gerichtspräsident selbst in seiner Eröffnungsrede hervorhob, dürfen solche Gerichte nie vergessen, daß sie ein »Strafgericht« sind, welches die Aufgabe hat, »Straftaten zu sühnen«. Anderseits ist in dem amerikanischen Besserungssystem der springende Punkt der, daß die jugendlichen Übeltäter als unfertige und erziehungs- bedürftige Menschen angesehen werden und daß daher nicht sowohl gesühnt als erzogen und gebessert werden soll. Vor dem Strafrichter im Sinne sühnen- der Strafgewalt soll daher der Jugendliche unter allen Umständen bewahrt bleiben; darin aber versagen die Frankfurter Einrichtungen, so erfreulich und nachahmens- wert sie im übrigen sein mögen.

Dagegen hat sich im Bezirk des Oberlandesgerichts Hamm auf Anregung der Justizverwaltung an verschiedenen Plätzen ein aus Lehrern, Geistlichen und andern Personen zusammengesetzter interkonfessioneller Fürsorgeausschuß gebildet. Dieser betrachtet es als seine erste Aufgabe fürsorgebedürftige Kinder zu überwachen und wo die Erziehung des Elternhauses nicht ausreicht, für ihre anderweite Unterbringung, im äußersten Fall durch Herbeiführung der gesetzlichen Fürsorgeerziehung zu sorgen. Die Kinder sollen also vor der ihnen drohenden Ver- wahrlosung geschützt und vor dem Konflikte mit dem Strafgesetze bewahrt werden. Damit ist die Aufgabe des Fürsorgeausschusses aber nicht erschöpft. Auf An- weisung des ÜOberstaatsanwalts pflegt vielmehr die Anklagebehörde, sofern strafbare Handlungen Jugendlicher zu ihrer Kenntnis kommen, den Fürsorgeausschuß gut- achtlich darüber zu hören, ob der Beschuldigte zur Zeit der Begehung der Tat die zur Erkenntnis ihrer Strafbarkeit erforderliche Einsicht besessen hat, ob also nach dieser Richtung die gesetzlichen Unterlagen für eine Verurteilung gegeben sind. Allerdings kann sich die Anklagebehörde ihrer Pflicht, jene Frage selbständig zu entscheiden, nicht entziehen, aber sie wird naturgemäß auf die Ansicht solcher Personen, welche den Jugendlichen zu beobachten Gelegenheit hatten und welche durch ihre Berufsstellung für ein sorgfältiges Urteil nach dieser Richtung Gewähr bieten, besonderes Gewicht legen. Auf diese Weise wird denjenigen jedenfalls die öffent- liche Gerichtsverhandlung erspart, die mangels geistiger Reife freigesprochen werden müßten, während anderseits der Fürsorgeausschuß in solchen Fällen die gegen eine weitere Verwahrlosung erforderlichen erziehlichen Schutzmaßregeln herbeiführen wird. Es liegt auf der Hand. daß die Erfolge einer solchen gewissermaßen hinter den Kulissen wirkenden Einrichtung leicht übersehen werden; schon jetzt zeigt aber eine sorgfältige Beobachtung, daß die Fürsorgeausschüsse ihre Tätigkeit als eine sehr ernste und wichtige Aufgabe ansehen. Anderseits schreiten die Gemeinden, indem sie auch ohne besondere Anregung der Justizverwaltung aus sich heraus der- artige Ausschüsse bilden, auf dem einmal eingeschlagenen Wege fort, womit der Beweis erbracht ist, daß es sich hier um eine sehr zeitgemäße und populäre Maßregel handelt,

2. Inwieweit ist Rhachitis d. Kinder durch Trunksucht ihrer Eltern begründet? 183

2. Inwieweit ist Rhachitis der Kinder durch Trunk- sucht ihrer Eltern begründet?

Diese Frage wird bei der Tragweite ihrer Bedeutung viele beschäftigt haben, welche Dr. Fiebigs Schrift über: Rhachitis als eine auf Alkoholisation und Produktionserschöpfung beruhende Ent- wicklungsanomalie der Bindesubstanzen in Heft 28 der Beiträge dieser Zeitung lasen, oder doch dem Berichte Dr. Strohmayers über die Abhandlung!) Aufmerksamkeit schenken. Der Rhachitis, jener den Körper vieler Kinder aller Kulturvölker entkräftenden und verbildenden, die Ge- hirnfunktionen oft dauernd herabsetzenden Krankheit, muß mit allen Mitteln entgegengetreten werden. Sie arbeitet auch an dem Verfalle unseres Volkes.

Dr. Fiebigs Behauptung von der die Rhachitis sehr begünstigenden Wirkung der Alkoholisation läßt sich insofern schwer statistisch bestätigen oder bestreiten, als man dem Maße des Alkoholgenusses in den einzelnen Familien mit rhachitischen Kindern schwer nachgehen kann; nur unleug- bare Trunksucht tritt zu Tage und auch diese bloß bei dem lebenden Ge- schlechte und seinen zusammenwohnenden Gliedern. Doch trifft dieser Mangel die statistischen Tatsachen, welche für oder wider Dr. Fiebigs Meinung sprechen, in gleicher Weise.

Wenn ich nun die an der Plauener Hilfsschule gesammelten ärzt- lichen Befunde von abgelaufener Rhachitis überblicke und zur Beantwortung der gestellten Frage heranziehe, so darf ich letzteres insofern unbedenklich tun, als die Untersuchungen unserer Schüler bei ihrer Aufnahme in die Hilfsschule vom Arzte am nackten Kindeskörper unter besonderer Berück- sichtigung etwa noch vorhandener Spuren von Rhachitis vorgenommen werden. Zugleich darf ich auf den hier systematisch gepflegten erzieh- lichen Verkehr der Hilfsschule mit dem Elternhause hinweisen; diese Ein- richtung führt immer zur Entdeckung der dem Schularzte manchmal ver- heimlichten Trunksucht eines Schülervaters oder einer Mutter. Deshalb fühlte ich mich auch zu einer aufklärenden statistischen Erhebung be- sonders verpflichtet.

Das Ergebnis widerspricht der in genannter Schrift vertretenen An- nahme.

Unter 550 Schulkindern hatten 233 sicher Rhachitis gehabt 42°/,. Von diesen 233 stammten nur

25 von trunksüchtigen Vätern, 1 von einer solchen Mutter.

Von 233 nur 26 == 11 °/,, eine überraschend kleine Prozentzahl. Von 317 nicht-rhachitisch gewesenen Kindern stammten

17 von trunksüchtigen Vätern, 2 von solchen Müttern, 1 von solchen Eltern.

Von 317 also 20 = fast 61/, %,.

1) Ztschr. f. Kdf. 1907 Maiheft Seite 254.

184 B. Mitteilungen.

Angesichts der geringen Differenz von 4?/, °/, erscheint der Einfluß der elterlichen Trunksucht auf die Entwicklung der Rhachitis bei den Kindern so minimal, daß er sich durch die minderwertige Nahrung, Kinderpflege usw. vollauf erklärt, welche den Kindern trunksüchtiger Väter oder Mütter gewöhnlich zu Teil wird.

Die physiologische Alkoholisation des Kindes durch seine Erzeuger kann man demnach schwerlich für die rhachitische Erkrankung des Kindes verantwortlich machen. Die Ursachen der Rhachitis müssen andere sein. Übrigens scheint Rhachitis man gestatte mir diese beiläufige Bemer- kung ein günstiger Boden für Skrofulose zu sein. Denn von den 233 rhachitisch gewesenen Kindern waren dann 94 skrofulös, während »ur 51 andere skrofulöse Kinder vorher nicht an Rhachitis gelitten hatten. 1)

Plauen i. V. Delitsch.

3. Direktor Horny in Scheuern t.

Am 15. Februar 1908 verstarb in Nassau a. L. im 75. Lebensjahr stehend der längjährige und weit über die Grenzen der engeren Heimat hinaus bekannte frühere Direktor der Idiotenanstalt Scheuern, Herr M. D. Horny. Mit ihm ist der Mann aus dem Leben geschieden, der diese Anstalt, diese Stätte der Liebe und Barmherzigkeit aus kleinen An- fängen zu ihrer heutigen Größe und zu einer Musteranstalt herausgebildet hat; mit ihm ist ein Mann geschieden, der in edler Gesinnung und in großer Menschenfreundlichkeit, mit einem Herzen voll Liebe, ganz in seinem Berufe zum Wohl und Segen der Armen unter den Ärmsten aufging, und dem hervorragende Kenntnisse in der Behandlung der Idiotie zur Seite standen. Im Jahr 1833 in Gotschdorf bei Jägerndorf in Österreichisch Schlesien als Sohn eines Erbrichters geboren, absolvierte der Verstorbene die Volksschule und das Gymnasium und kehrte alsdann, leidend, in das Elternhaus zurück, in welchem er längere Zeit verbringen mußte. Während seiner Krankheit reifte in ihm der Entschluß, wenn wieder gesund ge- worden, sich in den Dienst der Inneren Mission, der Barmherzigkeit zur Linderung der Not leidender, kranker, oder hilfsbedürftiger Menschen zu stellen. Er trat deshalb, nachdem er beim Fürsten Pless dessen humani- täre Bestrebungen kennen gelernt hatte, ins »Rauhe Haus« bei Hamburg ein, um sich zu seinem Berufe vorzubereiten und auszubilden. 1863 er- hielt er einen Ruf nach Scheuern, um die Leitung der Rettungsanstalt zu übernehmen. An dieser waltete er 8 Jahre und stand nach Umwand- lung des Rettungshauses in eine Idiotenanstalt auch dieser noch 28 Jahre als Leiter vor, bis er 1898, müde geworden, sich nach Ruhe selınte. Wer von denen, die die Idiotenanstalt oder die Jahresfeste besucht haben, könnte es vergessen, in welcher Liebe die armen Idioten an ihm hingen. Sie nannten ihn »Vater« und er war ihnen ein Vater, er nannte sie

1) Bei der Tragweite der Fiebigschen Darlegungen wäre es sehr erwünscht, wenn auch noch andere Leser, insbesondere Kinder- und Schulärzte, dazu Stellung nehmen wollten. Tr.

3. Direktor Horny in Scheuern t. 185

»meine Kinder«, und sie wußten, daß er ihnen ein Vater war. Wer könnte den Anblick vergessen, wie die Pfleglinge in hellen Haufen ihn umstanden, um seinen Worten, seinen Belehrungen, seinen Verheißungen des himmlischen Vaters zu lauschen, wie sie freudestrahlenden Auges zu ihm aufschauten, wenn er erbetene Wünsche erfüllen konnte. Er hatte für jeden einzelnen unter den vielen stets ein freundliches Wort, einen Trost, eine Beruhigung. Welch unbändige Freude rief sein Lob, welch tiefe Niedergeschlagenheit sein Tadel hervor. Und wer könnte es ver- gessen, als der alternde, von schwerer geistiger und körperlicher Arbeit gebeugte Verstorbene bei Gelegenheit des Jahresfestes am 24. Juli 1898 dankerfüllten Herzens, aber mit wehmütigen Worten und oft zu Tränen gerührt, Abschied von seinem 36 jährigen, so segensreichen Wirken, von der Anstalt, von seinen Pfleglingen und vom Personal nahm. Wie be- zeichnend waren doch seine Worte für die Größe des Herzens- und Seelenadels, der sein Wesen ausmachte, und für den Dank zu Gott, daß er seine Arbeit gesegnet.

Leider sollte es dem Verblichenen, der in Nassau seinen Wohnsitz nahm, nicht vergönnt sein, lange in Gesundheit die ersehnte Ruhe zu genießen. Er, dem jeder nach einer so langen, segensreichen Tätigkeit einen besonders sonnigen Lebensabend gewünscht hätte, wurde schon zwei Jahre später von einem Schlaganfall betroffen, der ihn lähmte und hilflos machte. Hierzu gesellte sich seit einem Jahre der Verfall des Körpers und des Geistes, so daß der Tod für ihn eine Erlösung von schweren Leiden war. Die über ihn hereingebrochene Krankheit setzte aber auch seiner Absicht, seine Erfahrungen auf dem Gebiete der Idiotie schrift- stelleriech der Nachwelt zu übermitteln, ein Ziel.

Sonnenstrahlen in seinem schweren Leiden waren es für ihn, wenn er Gattin und Kinder um sich versammelt sah, und wenn er hörte, daß es seinen Lieben gut gehe und sah, wie sie alle besorgt und bemüht waıen, sein schweres Los nach Kräften zu lindern: Sein Blick wandte sich dann dankerfüllt gen Himmel. Wie sehr aber auch nach außen hin die Verdienste dieses Mannes anerkannt wurden, beweist, daß er von Sr. Majestät dem Kaiser mit der Verleihung des Kronenordens IlI. Klasse und dem Roten Adlerorden IV. Klasse ausgezeichnet worden ist.

Der Name »Direktor Horny« wird sobald nicht in Vergessenheit kommen, er ist mit der Idiotenanstalt Scheuern und wissenschaftlich mit dem Gebiete der Idiotie vielfach tief und eng verwoben. Ruht sein Körper auch unter dem grünen Rasen, sein Geist, sein Werk, seine rast- lose Tätigkeit werden weiterleben in dem Segen seiner Arbeit und bei allen, die den edlen Menschenfreund gekannt haben. So möge er denn sanft ruhen nach einem Leben voll aufopfernder hingebender Arbeit im Dienste der Barmherzigkeit, nach einer Reihe von Jahren in schwerer Krankheit und in schweren Leiden. Es möge ihm die Erde leicht werden.

186 B. Mitteilungen.

4. Ferienkurse über Schulhygiene

werden als eine besondere Abteilung der alljährlich in Jena stattfindenden allgemeinen Ferienkurse vom 5.—18. August d. J. abgehalten. Ihr Zweck ist, Ärzte, besonders beamtete und Schulärzte, Lehrer und Lehrerinnen über wichtige Kapitel der Schulhygiene in abgerundeten Vortragszyklen von durchschnittlich 12 Stunden zu unterrichten. Folgende Themata sind in Aussicht genommen: Allgemeine Schulhygiene (Prof. Dr. Gärtner-Jena), Stimmbildung und Stimmpflege in der Schule (Priv.-Dozent Dr. Gutzmann- Berlin), Psychopathologie des Kindesalters (Priv.-Dozent Dr. Strohmayer- Jena), das Auge, seine Erkrankungen und Pflege während der Schulzeit (Prof. Dr. Hertel-Jena), Hygiene des Mundes und der Zähne (Priv.-Doz. Dr. Hesse-Jena). Für viele Teilnehmer aus Ärztekreisen wird es will- kommen sein, bei dieser Gelegenheit auch den einen oder anderen natur- wissenschaftlichen Kurs (Botanik, Zoologie, Physiologie der Sinnesorgane, physiologische Psychologie) belegen zu können. Auskunft und kosten- freie Übersendung der ausführlichen Programme vermittelt das Sekretariat der Ferienkurse, Frl. Clara Blomeyer, Jena, Gartenstraße 4. U.

5. Anstalt für Epileptische.

Seitens der Stadt Braunschweig wird zu Ostern eine Anstalt eröffnet, in welcher mit Epilepsie behafteten Kindern ärztliche Behandlung, volle Verpflegung und Erziehung mit Einschluß des Schulunterrichts gewährt werden soll. Vorläufig sollen nur Knaben im Alter von 8—14 Jahren aufgenommen werden. Arzt an der Anstalt ist Dr. Berkhan.

6. Erklärung.

Im Januarheft veröffentlichten wir einen Fragebogen des »Instituts für angewandte Psychologie«, die Psychologie der Aussage betreffend. Nun schreibt mir aber Herr Prof. W. Stern, der Fragebogen sei nicht zur Veröffentlichung bestimmt gewesen. Ich bedaure sehr, daß aus dem Ge- fallen, den ich den Leitern des Instituts erweisen wollte, ein Verdruß ge- worden ist. Der Fragebogen ging mir ohne das Begleitschreiben zu, und nichts deutete darauf hin, daß der Abdruck nicht erwünscht sei; ich mußte vielmehr das Gegenteil annehmen. Ufer.

a SA NASEN N ITS SI MITN

C. Literatur. 187

C. Literatur.

Zur Literatur über Jugendfürsorge und Jugendrettung. Von K. Hemprich in Freyburg (Unstrut).

Es ist gewiß ein erfreuliches Zeichen unserer Zeit, daß sie eine so zahlreiche Literatur über die Kapitel Jugendfürsorge und Jugendrettung und deren psychologische und ethische Grundlage aufweist. Liegt doch in dieser Tat- sache der Beweis dafür, daß gegenwärtig ein lebhaftes Interesse in unserm Volke für die arme Jugend, die sich auf dem Wege der Verwahrlosung befindet, vorhanden ist; und nicht bloß ein Interesse, sondern ein ernstlicher Wille zur Hilfe. Das kann jeden Volksfreund nur mit großer Freude und Genugtuung erfüllen. Wir wollen die zahlreichen Schriften und auch Aufsätze einer Besprechung unterziehen, indem wir sie so gruppieren:

Zunächst (I) diejenigen aufführen und kurz charakterisieren, die sich mit der staatlichen Gesetzgebung über Jugepdfürsorge, Kinderschutz usw. befassen und Vorschläge zur besseren Ausgestaltung dieser Maßnahmen z. B. Berufsvormund- schaft usw. machen, sodann seien (II) die Schriften aufgezählt, die auf die Jugend- rettung hinweisen, die durch private Hilfe, durch Vereine usw. geschehen kann und geschieht. Es kämen hier besonders die Jugendvereinigungen, Jünglingsvereine usw. in Betracht. Hierbei wären zu unterscheiden die konfussionellen und interkonfessio- nellen Vereinigungen. Und endlich (III) gilt es, alle die Schriften einer Besprechung zu unterziehen, welche sich mit psychologischen, soziologischen und ethischen Untersuchungen des Bodens befassen, aus dem die Verwahrlosung der Jugend hervor- wächst.

I.

Unter allen Gesetzen der Neuzeit ist das Preußische Fürsorgeerziehungs- gesetz vom 2. Juli 1900 als eine soziale Großtat ersten Ranges bezeichnet worden. Denn es wurde gegeben, um der stetig wachsenden Kriminalität, Verwahrlosnng und Verrohung unter den Jugendlichen zu wehren. Bis zum Erscheinen des Für- sorgeerziehungsgesetzes hatte die Zwangserziehung in Preußen einen strafpolitischen Charakter, Zwangserziehung trat im wesentlichen nur als Ersatz einer Strafe ein. Das Fürsorgeerziehungsgesetz will nicht allein den bereits sittlich verwahrlosten Minderjährigen, sondern vor allem den noch unverdorbenen Jugendlichen, die der Gefahr der Verwahrlosung ausgesetzt sind, wenn sie nicht von ihren moralisch ver- kommenen Eltern oder Erziehern getrennt werdeu, die Wohltaten einer geordneten Erziehung bringen.

Die Mängel bei der Ausführung dieses so ideal angelegten Gesetzes sind be- sonders durch Kammergerichtsentscheidungen herbeigeführt worden, nach denen in Wirklichkeit solange gewartet wird, bis die Kinder verwahrlost sind. Es seien folgende Bücher und Schriften über das Gesetz und seine Mängel angeführt:

Trüper, Zur Frage der Erziehung unserer sittlich gefährdeten Jugend. Bemer- kungen zum Entwurf eines Gesetzes über die Zwangserziehung Minderjähriger. Heft 5 der »Beiträge für Kinderforschung und Heilerziehunge. 34 S. Langen- salza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1900. Preis 50 Pf.

Dr. P. F. Aschrott, Gesetz über die Fürsorgeerziehung Minderjähriger vom 2. Juli 1900 nebst den Ausführungsbestimmungen. Textausgabe mit Einleitung und Er-

188 C. Literatur. läuterungen. Guttentagsche Sammlung preußischer Gesetze, No. 28. Berlin, J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung, 1901. Preis 2 M.

Ludwig Schmitz, Die Fürsorgeerziehung Minderjähriger, Preußisches Gesetz vom 2. Juli 1900 und die dazu ergangenen Ausführungsbestimmungen sowie die Für- sorge- bezw. Zwangserziehungsgesetze der übrigen deutschen Bundesstaaten. Mit Einleitung und ausführlichen Erläuterungen. 3. Aufl. Düsseldorf, Druck und Verlag von L. Schwann, 1901. Preis 4 M.

Derselbe, Wegweiser zum Preußischen Fürsorgeerziehungsgesetz. Kleinere Aus- gabe des vorigen Buches.

C. v. Massow, Das preußische Fürsorgeerziehungsgesetz vom 2. Juli 1900 und die Mitwirkung der bürgerlichen Gesellschaft bei seiner Ausführung. Berlin, Nicolai- sche Verlagsbuchhandlung, 1901. Preis 2 M.

C. Ommerborn, Gesetz über die Fürsorgeerziehung Minderjähriger vom 2, Juli 1900 sowie die der Schule und den Erziehern und denselben nahestehenden Kreisen daraus erwachsenden Aufgaben. Breslau, Franz Goerlich. Preis 0,60 M.

Trüper, Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache von Gesetzesverletzungen Jugendlicher. Heft 8 der »Beiträge für Kinderforschung und Heilerziehung:«. 57 S. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1904. Preis 1 M.

D. Kaftan, Der Kardinalfehler im Preußischen Fürsorgeerziehungsgesetz. (Die Jugendfürsorge 1906. Heft 6. Berlin N. 58. Deutscher Zentralverein für Jugend- fürsorge.)

Kurtz, Amtsgerichtsrat. Weitere Entwicklung der Fürsorge für jugendliche Per- sonen. Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung 1906. No. 17—19. Leipzig, Julius Klinkhardt.

Dr. Schiller, Zur Statistik über die Fürsorgeerziehung Minderjähriger für das Jahr 1903. (Jugendfürsorge 1906. Heft 12.)

Verhandlungen über die Wirksamkeit des Fürsorgeerziehungsgesetzes. Konferenz der Zentralstelle für Jugendfürsorge in Berlin am 15. und 16. Juni 1906 in Berlin. Berlin, Karl Heymanns Verlag, 1906. 2 M.

Erster Verhandlungstag: Ist eine Änderung des Fürsorgeerziehungsgesetzes und der Armengesetzgebung nötig, um der Verwahrlosung unserer Jugend wirksamer entgegentreten zu können, als es bis jetzt geschieht? Ref. Landesrat Gerhardt, Berlin. Zweite Verhandlung: Erscheint eine Änderung des Verfahrens in Fürsorge- erziehungssachen geboten? Ref. Amtsgerichtsrat Dr. Paul Köhne, Berlin, Dritte Verhandlung: Welche Forderungen sind an die Anstaltserziehung und welche an die Familienerziehung zu stellen? Ref. Direktor Plaß, Zehlendorf. Vierte Ver- handlung: Wie ist eine wirksame Aufsicht über die Anstaltserziehung zu erzielen? Ref. Geh. Regierungsrat Landesrat Dr. Osius, Kassel.

Szana, Temesvar, Über Anstaltserziehung. Jugendfürsorge 1906. 2. Heft.

K. Hemprich, Das preußische Fürsorgeerziehungsgesetz, seine Vorzüge und die Mängel in seiner Ausführung. Blätter für die Fortbildung des Lehrers und der Lehrerin. Heft 5 und 6. Berlin, Gerdes und Hödel, 1907.

Landsberg, Das Recht der Zwangs- und Fürsorgeerziehung. Berlin, Rothschild. Preis 10 M.

Das Gesetz will ferner die Kinder schützen gegen Ausbeutung durch die über- mäßige Kinderarbeit. »Die frühe Kinderarbeit schädigt Schulbildung und Erziehung, Kinderarbeit bedeutet Hilflosigkeit und Ärmlichkeit, Ärmlichkeit bedeutet oder kann bedeuten und bedeutet tatsächlich hunderttausendmal Unterstützungsbedürftigkeit in Arbeitshaus, Verbrechen und Gefängnis. Darum schützt sich die menschliche Ge-

C. Literatur. 189

sellschaft und sichert sich der Staat, wenn sie sich gegen vorzeitige Kinderarbeit wenden.« Das Gesetz, betreffend Kinderarbeit in gewerblichen Be- trieben vom 30. März 1903 will hier helfend eingreifen. Folgendes Buch sei in erster Linie empfohlen:

Konrad Agahd, Gesetz betr. Kinderarbeit. 2. Auflage. Jena, Gustav Fischer. 1904.

Wer sich weiter über die Gesetzgebung des Deutschen Reiches zum Schutze der gewerblich tätigen Jugend unterrichten will, dem sei empfohlen:

Dirksen, Tabellarische Zusammenstellung der gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze A. der gewerblich tätigen Jugend, B. der gewerblichen Arbeiterinnen. Hannover, Gebrüder Jänecke, 1906.

Diese Tabelle orientiert nicht nur über den Inhalt der Gesetze betr. Schutz der gewerblichen Jugend im Alter von 10—14 Jahren, sondern weist auch hin auf alle einschlägigen Verordnungen für Lehrlinge und jugendliche Arbeiter bis zum 16., 18., ja in einigen Fällen bis zum 25. Lebensjahre. Der Inhalt gliedert sich in folgende Abteilungen: 1. Schutz der Gesundheit. 2. Beschäftigungsdauer (Arbeits- schicht Überarbeit) innerhalb 24 Stunden. 3. Beschäftigungszeit (Nachtarbeit). 4. Arbeitspausen. 5. Ununterbrochene Ruhezeit. 5. Schutz der Sittlichkeit. 7. Schutz der religiösen Bedürfnisse. 8. Bildung. 9. Sicherung der Privatrechte und des wirtschaftlichen Fortkommens. Gewöhnung an Zucht und Ordnung. Stärkung des Ansehens der Eltern und Arbeitgeber. Staatsaufsicht.

Was weiter zu tun ist für die armen Kinder unseres Volkes durch Beschaffung besserer Wohnunßsverhältnisse, die Fürsorge für Säuglinge, Ziehkinder, ist aus folgender Literatur zu ersehen:

Ascher, Die ländlichen Arbeiter-Wohnungen in Preußen. Schriften der Zentral- stelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen No. 13. Berlin W. 8, Karl Heymann.

Albrecht, Das Arbeiterwohnhaus. Ebenda. Preis 10,50 M.

Die Verbesserung der Wohnungen. Vorberichte und Verhandlungen der Konferenzen vom 25. und 26. April 1892. Schriften der Zentralstelle No. 1. Ebenda. Preis 8 M.

Fürsorge für Säuglinge. Schriften der Zentralstelle No 17. Preis 6 M.

Die Ursachen der Auflösung der Familie, Jugendfürsorge 1901. Heft 4.

Amtliche Nachrichten der Charlottenburger Armenverwaltung. Jugendfürsorge 1906. Heft 11.

Klumker u. Spann, Die Bedeutung der Berufsvormundschaft für den Schutz der unehelichen Kinder. Dresden, Verlag von Böhmert, 1905. Preis 1 M.

Spann, Zur Begründung der Forderung einer Berufsvormundschaft für uneheliche Kinder. Jugendfürsorge 1906. Heft 1.

Aufsicht über Ziehkinder. Besoldete Aufsichtsdamen? Generalvormundschaft? Jugendfürsorge 1906. Heft 2.

Brugger, Die Bedeutung der Berufsvormundschaft für lie zeitgemäße Ausgestaltung des Kinderschutzes. Jugendfürsorge 1906. Heft 6.

Zur Frage der Generalvormundschaft und Kollektivormundschaft. ‚Jugendfürsorge 1906. Heft 8.

Pallmann, Die gesetzliche Vormundschaft in Leipzig. Jugendfürsorge 1906. Heft 9.

Aus der Vorlage betr, Einführung der Generalvormundschaft. Jugend- fürsorge 1906.

Dr. Seiffert-Leipzig, Die staatswirtschaftliche Bedeutung einer hohen Säuglings- sterblichkeit. Jugendfürsorge 1906. Heft 11.

190 C. Literatur.

Pütter, Geh. Regierungsrat, Die Verheimlichung und Verschleppung von Säug- lingen. Ebenda. Heft 10.

Die Musteranstalt zur Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit. Ebenda, Heft 2.

Aufsicht über Ziehkinder. Ebenda. Heft 2.

Fürsorge für Säuglinge. Heft 17 der Schriften der Zentralstelle für Arbeiter- Wohlfahrtseinrichtungen. Berlin, Karl Heymanns Verlag.

Dr. Johannes Petersen, Die Öffentliche Fürsorge für die hilfsbedürftige Jugend.

Inhalt: I. Die vormundschaftliche Fürsorge. 1. Die elterliche Gewalt. 2. Vormundschaft und Pflegschaft. 3. Die Beistandschaft. 4. Das Vormundschafts- gericht. 5. Die Berufsvormundschaft (Generalvormundschaft). 6. Der Gemeinde- waisenrat, II. Die Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit. III. Die Fürsorge für die unehelichen Kinder. Ziehkinderwesen. 1. Die allgemeine Lage des Unehelichen. 2. Das Ziehkinderwesen (Privat-Kostkinderwesen). IV. Die armenrechtliche Hilfs- bedürftigkeit und die Organisation der Gemeindewaisenpflege. 1. Allgemeines über die Jugendlichen in der Armenpflege. 2. Die praktische Ausübung der Waisen- pflege. Anstalts- und Famlienpflege. 3. Waisenanstalten und Anstaltsleben. 4. Familienpflege. 5. Die Organisation der Gemeindewgisenpflege.

Derselbe, Die öffentliche Fürsorge für die sittlich gefährdete und die gewerblich tätige Jugend,

Inhalt: I. Die Kriminalität der Jugendlichen und die Zwangserziehung. 1. Die Kriminalität. 2. Die Zwangserziehung (Fürsorgeerziehung) Jugendlicher. A. Das Wesen der Zwangserziehung. B. Die Zwangs-(Fürsorge-) Erziehungsgesetze in den einzelnen Bundesstaaten. C. Die Zwangserziehung im Verhältnis zu den $$ 1666 und 1838 des Bürgerlichen Gesetzbuches und der Armenpflege. D. Statistik der Fürsorgeerziehung in Preußen. E. Die Praxis der Zwangserziehung. F. Die geistig minderwertigen Zwangserziehungszöglinge. G. Die Erfolge der Zwangserziehung. II. Die gewerbliche Ausnützung der Kinder und der Kinderschutz im Gewerbe. III. Die öffentliche Fürsorge für die schulentlassene Jugend. 1. Allgemeines. 2. Die Regelung des Dienst- und Arbeitsverhältnisses. 3. Die Unterbringung des Jugendlichen in Lehr- und Dienststellen.

Bd. 161 u. 162 der Sammlung wissenschaftliceh-gemeinverständlicher Darstellungen. Aus Natur und Geisteswelt. Leipzig, B. G. Teubner, 1907. Preis ä 1,25 M.

Ein vortrefflicher Führer durch die öffentliche Jugendfürsorge! Der Verfasser schreibt aus der Praxis und ist auch ein gründlicher Kenner der Literatur auf diesem Gebiete.

Dasselbe gilt von folgendem Buche:

Konrad Agahd, Jugendwohl u. Jugendrecht. Praktischer Wegweiser durch das Gesamtgebiet einer Kinder- und Jugendfürsorge. Für Eltern, Pfleger, Vor- münder, Waisenräte, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Vereine, Gewerkschaften, Rechtsauskunftsstellen, Kinder- und Jugendschutz - Verbände, Wohlfahrteinrich- tungen, Schule, Kirche u. Behörden. Halle, Verlag v. Hermann Schroedel, 1907. Preis 3 M.

Inhalt: 1. Teil: Grundlegende Betrachtungen u. Forderungen. 2. Teil: Zur Theorie und Praxis der Kinder- und Schulentlassenenfürsorge im weiteren und engeren Sinne. 3. Teil: Gesetzliche Bestimmungen als Grundlage praktischen Kinder- und Jugendschutzes. Hier sind mehr als 1000 Fragen über Kinder- und Jugendlichenrecht, aus zehn Gesetzen herausgezogen, und für jedermann verständ-

C. Literatur. 191

lich geschrieben, beantwortet. 4. Teil: Nachweis von Rechtsauskunftsstellen und Wohlfahrtseinrichtungen in Deutschland. 5. Teil: Praktischer Führer durch die Literatur einer Kinder- und Jugendlichenfürsorge.

Köstlich ist gleich der 1. Abschnitt des Buches: »Es geht nicht ohne dich! Er lautet:

Erste Satzung: Du sollst nicht viel schwatzen, sondern handeln. Was ist das? Unsere Zeit bildet sich viel ein auf ihre Fürsorge für Säuglinge und vor- schulpflichtige Kinder, für die schulpflichtige und schulentlassene Jugend. Über Fürsorge reden, ist noch nicht Fürsorge treiben. Vorträge, Aufrufe, Kongresse sind gut. Aber besser ist es, wenn du einem Krüppel hilfst, wenn du ein Kind als Pfleger bewahrst, wenn du in das Haus der Armut trittst, wenn du einem Knaben eine Stelle verschaffst, wenn du Tränen trocknest.

Zweite Satzung: Du sollst eine Sache zu Ende bringen und nicht mutlos werden. Was ist das? Es gibt Menschen, die nicht verstehen, wie »Du zum Volke herabsteigen« kannst. Narren und Hochmütige zugleich sind es, die dir raten, an dich zu denken. Sie frönen ihrer Bequemlichkeit und schwatzen von »Undank- barkeit des Volkes«. Sie kennen das Volk nicht, denn ihrem Blick blieb das Elend der besitzlosen Mehrheit und die Notwendigkeit umfassendster Sorge für heranwachsende Geschlechter verschlossen. Höre nicht auf sie! Fange an! Hast du mit Behörden zu tun, so lerne warten, aber lasse deine Sache nicht in den Akten ersäuft werden. Lasse dir durch den Instanzenjammer, der nun einmal ge- tragen werden muß, deine Sache nicht verleiden. Es schreien heute die Behörden mehr nach »Menschens, wie Persönlichkeiten nach Behörden schreien. Es sind ernste Zeiten.

Dritte Satzung: Du sollst ein Kämpfer sein für das Recht der Kinder, denn sie sind Menschen und werden zu Gericht sitzen über dir und der Gesell- schaft. Was ist das? Du sollst deinen Mund auftun gegen den Moloch Geld, wenn er des Kindes Kräfte aussaugt, du sollst reden vom Fluche des Alkohols. Du sollst Eltern ihr Kind rauben können, wenn sie es verderben lassen. Du sollst den Buch- staben des Gesetzes mit Geist erfüllen und die Akten der Behörden mit Leben. Du sollst dir Mittel erkämpfen und fordern der Kinder Rechte, denn das Kind ist das Größeste im Himmelreich. Achte nicht auf Geschwätz von »früher« und »Humani- tätsdusele und »’s ist ja nur ein Kind«. Das Kind wird Mann oder Frau sein in kaum zwanzig Jahren. Es könnte der Gesellschaft fluchen, wenn du nicht hilfst.

Vierte Satzung: Du sollst nicht bescheiden sein in deinen Forderungen für Jugendwohl, denn mit Halbheiten oder Viertelheiten ist hier nichts getan. Was ist das? Wir sollen nicht glauben, daß wir zuviel tun könnten auf diesem Gebiete. Was hast denn du überhaupt getan? Daß wir jetzt viel tun müssen, kommt nur daher, daß bislang zu wenig getan wurde. »Von der Gesellschafte sagst du. Nein, von dir! Wer hier noch heute mit Pfennigen rechnet, wird nach 30 Jahren Taler zum Fenster hinauswerfen, es seien Vereine, Kuratorien, Fabrikherren, Aktiengesellschaften, Bürgermeister, Räte oder Minister.

Fünfte Satzung: Du sollst Opfer bringen auf dem Altar der Jugend des Vaterlandes. Was ist das? Denke nicht, daß du erst übermorgen essen würdest, wenn du heute Hunger hast: Überwinde die Scheu vor dem »Armleutegeruch«, opfere Zeit, denn das Kind, welcher heute mißhandelt wird, schreit nicht: Hilf mir in sechs Wochen! Hast du Geld, so gib es her! Hast du Geist, verschwende ihn hier. Tue, was dein Herz dir sagt, und bedenke immer, wie dir zu mute ist, wenn du Hilfe suchen mußt und man dich nicht hört oder erhört oder gar abweist, wie einen Bettler.

192 A. Abhandlungen.

Nun noch die 10. Satzung: Du sollst nicht ein Streber sein auf diesem Ge- biete, noch durch die Arbeit Ruhm haben wollen vor den Menschen. Was ist das? Da siehe deinen Stand an, ob du etwa befördert werden könntest wegen deiner »Verdienste«: als Lehrer zum Hauptlehrer, als Arzt zum Sanitätsrat, als Geistlicher zum Ephorus, als Kreisschulinspektor zum Rat, als Geschäftsmann zum Hofliefe- ranten usw. Und die unter dir stehen, sollst du nicht zu solcher Arbeit mit leisem Drucke zwingen. Sie möchten sonst Heuchler werden, und würde der Sache nur geschadet. Hier sollen alle Standesunterschiede fallen, und müssen gerade hier die Vertreter aller Stände und Behörden nebeneinanderarbeiten und miteinander. Hier gibt es keine andern Herren als: Freiheit und Gewissen, und gibt es keine andere Vorschrift als etwa den göttlichen Goethespruch: Edel sei der Mensch, hilf- reich und gut. (Schluß folgt.)

Eingegangene Schriften.

Bollettino, Dell’Associazione Romano per la cura medico-pedagogica dei fanciulli anormali e deficienti poveri. Sommario: I fanciulli anormali. Prof. dott. Sante de Sanctis. I fanciulli tardivı. Prof. Georges Rouma. Al Congresso Internazionale d’Igiene scolastica. Prof. Giulio Ferreri. Tra libri e riviste. G. F. Informazioni e notizie. Rendiconto finanziario per l'anno 1907. Roma, Tipografia di Attilio Friggeri Via della Mercede 28—29, 1908.

Krüppel-, Heil- und Fürsorge-Verein für Berlin-Brandenburg. E. V. Erster Rechenschaftsbericht über die Berlin - Brandenburgische Krüppel-, Heil- und Erziehungsanstalt Am Urban. Berlin S. 59, Urbanstraße 22—23. Fern- sprecher-Amt 4, No. 737 für 1906—1907.

Pabst, Direktor Dr., Leipzig. »Beobachtungen und Bemerkungen über die Koedu- kation in amerikanischen Schulen.« Sonderabdruck aus Deutsche Schule XI. Jahrg. 1. Heft.

Herfort, Dr. Karl, Dr. Karl Amerling. Ein Beitrag zur Geschichte der Schwach- sinnigenfürsorge in Böhmen. Zur Feier seines 100. Geburtstages. Separatabdruck aus »Eos«, Vierteljahrsschrift für die Erkenntnis und Behandluug jugendlich Ab- normer. Heft 1. 1908.

Köhne, Amtsgerichtsrat Dr., Berlin, »Ist eine Abänderung des preußischen Für- sorgeerziehungsgesetzes erforderlich?« Deutsche Juristen-Zeitung XIII. Jahrgang 1908 No. 4.

Ferreri, Prof. Giulio, La Questione dei Ciechi al Congresso Interna- zionale d’Igiene scolastica. Roma, Tipografia »Roma«, Deutsche Buchdruckerei, 1908.

Sechster Jahresbericht der Epileptischen Anstalt zu Nieder - Ramstedt bei Darmstadt. 1. April 1906 bis 31. März 1907. Darmstadt, C. S. Wintersche Buch- druckerei, 1907.

Trüpers Erziehungsheim und Kindersanatorium auf der Sophienhöhe bei Jena i. Th. Jena, Weihnachten 1907.

Schaefer, Prof. Dr. Karl L., Die psychologische Deutung der ersten Sprachäuße- rungen des Kindes. Separatabdruck aus der »Mediz.-pädag. Monatsschrift für die gesamte Sprachheilkunde«. XVII. Jahrg. Heft 11/12.

Fürstenheim, Dr. med. W., Soziale Fürsorge für geistig abnorme Kinder. Separat- abdruck aus »Fortschritt der Medizin«, 1908, No. 3.

Derselbe, Enuresis nocturna infantum. Sonderabdruck aus »Therapeutische Monathefte«. Januar 1908. (Forts. folgt.)

Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensaiza.

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A. Abhandlungen.

--——

1. Notwendige Aufklärung der Mädchen in der Schule über Kinderpflege und Kindererziehung. Ein Versuch, der mit den Mädchen aus der I. Klasse der höheren Bürgerschule zu Meifsen gelang. Von Kurt Walther Dix in Meißen. (Schluß.)

Wie es ein Zug der Zeit ist, für leibliche und geistige Schäden der Kinder zunächst die Schule verantwortlich zu machen, so ist es auch für unsere Zeit charakteristisch, der Schule immer neue Auf- gaben auf den verschiedensten Gebieten zu stellen, ohne daran zu denken, welches ihre erste, zunächstliegende ist, ohne weiter zu über- legen, daß die Volksschule gar nicht so schnell ein Kind der Zeit werden kann. Ihre Einrichtung, die auf eine jahrhundertlange Ent- wicklung zurückzuführen ist, läßt sich nicht so schnell ändern, wie man meint; ihre Ziele und Aufgaben sind gesetzlich festgelegt, und ihre Zeit ist beschränkt. Der ganze Betriebsapparat ist zu kompliziert, als daß er sich so schnell in eine andere Richtung einstellen ließe.

Es werden also noch viele Jahre vergehen bis alle die be- rechtigten Wünsche erfüllt werden. So werden auch noch viele Mädchen zu Müttern heranwachsen, ohne nach der Konfirmation einen Unterricht in Kindererziehung erhalten zu haben.

Trotzdem aber meine ich, daß man jetzt schon die Mädchen in der Schule über Kinderpflege und geistige Erziehung der Kleinen

Zeitschrift für Kinderforschung. XII. Jahrgang. 13

194 A. Abhandlungen.

aufklären kann. Einen Versuch damit habe ich in der I. Klasse der höheren Mädchenschule zu Meißen gemacht.

Es wird für die Beurteilung der geleisteten Arbeit gut sein, wenn ich am Anfang auf die Schwierigkeiten eingehe, die damit verbunden sein können.

Die erste und größte liegt im Haus bei den Eltern. Es ist sehr fraglich, ob die Eltern einverstanden sind, daß ihre Kinder in der Schule mit der Kinderpflege vertraut gemacht werden. Wenn man bedenkt, daß nicht einmal erwachsene Töchter, die vor der Hochzeit stehen, Aufklärung erhalten, werden wir wohl zugeben müssen, daß unseren aufklärenden Maßnahmen erst recht Gegner gegenüberstehen. Es ist fast unglaublich, wie weit die Prüderie geht. Hat sich ja tatsächlich ein Vater darüber erregt, daß in der Menschen- kunde das Wort »Bauch« gebraucht werde. Wahrscheinlich will er von einer »Leibspeicheldrüse und einem Leibfell«e reden.

Diese Gruppe Eltern müssen noch erzogen werden, daß sie die Schularbeit richtig beurteilen lernen, daß sie die Schule nicht durch ihre sich auch noch auf andere Weise unangenehm bemerkbar machenden, rückständigen Ideen in ihrer Entwicklung hemmen.

Glücklicherweise kann ich aus meiner Erfahrung mitteilen, daß die Eltern scheinbar alle darüber erfreut und damit einverstanden waren. Tatsächlich haben viele Mütter und zwei Väter besonders für diesen Unterricht gedankt.

Die zweite Schwierigkeit liegt in der Sache selbst. Es ist natürlich, daß die Aussprache oft hart an der Grenze des sexuellen Gebietes hingeht oder, daß Dinge gestreift werden, worüber mit den Mädchen noch nicht gesprochen wurde und die man wohl gar zu verheimlichen suchte.

Z. B. Als wir über die Nahrung des Säuglings sprachen, stand ein Mädchen auf, das einen kleinen Bruder bekommen hatte, und sagte: »Unser Bubi trinkt bei der Mutter. Der Arzt bat gesagt, er solle gestillt werden; das wäre das beste.«

Nach meinem Erachten kommt es hier auf die Stimmung an, die in der Stunde herrscht. Es müssen Weihestunden sein; die große Verantwortung, die eine Mutter mit der Erziehung ihres Kindes auf sich nimmt, muß den Mädchen bewußt werden. Für den Lehrer gilt aber, daß er Herr der Situation bleibe. Darum wich ich auch dem Mädchen nicht aus obwohl zweie die Sache ins Lächerliche ziehen wollten. Ganz ruhig antwortete ich ungefähr: »Nun darüber könnt ihr euch freuen. Ibr werdet dadurch ein gesundes Brüderchen be- kommen, das euch viel Freude machen wird. Diese Art der Kinder-

Dix: Notwendige Aufklärung der Mädchen in der Schule über Kinderpflege. 195

ernährung ist die natürliche und darum die beste.« Als später auf dem vom Gesundheitsamt ausgegebenen Blättern über Tuberkulose wieder vom »Stillen« gelesen wurde, war aus dem Verhalten der Kinder zu erkennen, daß ihnen dies vollkommen natürlich erschien und sie dem Ausdruck unbefangen gegenüberstanden.

Schließlich erwähne ich noch die dritte Schwierigkeit, die in den Kindern selbst liegt. Unter den Mädchen können immer noch welche sein, die geistig noch nicht reif genug sind, den Aus- führungen den nötigen Ernst und das rechte Verständnis entgegen- zubringen. Diese können den glatten Verlauf einer Stunde stören.

Weil hysterische Kinder!) fehlten, die durch ihre krankhafte Phantasie den Lehrer leicht in übles Gerede bringen können, war es mir leicht, die letzte Schwierigkeit zu überwinden.

Das Ehrgefühl und Selbstbewußtsein der Mädchen wurden geweckt und gehoben. Dann suchte ich sie für die Erziehung der kleinen Kinder zu interessieren, indem ich mich an ihr Mitleid wandte. Sie mußten einsehen, unter welchen traurigen Verhältnissen die Kleinen und zwar nicht nur die aus armen, »niedern« Kreisen aufwachsen. Sie erkannten, wie oft sich die Mutter durch ihre Unkenntnis an ihrem Liebling versündigt. In eindringlichen Worten schilderte ich die Reue der Mutter, die sich schuldig fühlen muß, ihren eigenen Liebling zum Krüppel gemacht zu haben wohl gar zu seinem Tode die Ursache gewesen zu sein.

An zahlreichen Beispielen wurde ihnen klar, daß zum rechten Kindererziehen ein Wissen gehöre, daß man darin auch unterrichtet werden müsse.

An der gespannten Aufmerksamkeit erkannte ich, daß auf diese Weise zwischen uns das rechte geistige Band geknüpft war. Es wurde mir auch bestätigt dadurch, daß die Mädchen selbst baten, sie über Kinderpflege und ihre Erziehung aufzuklären; nachdem ich in kurzen Zügen besonders darauf hingewiesen hatte, wie es gerade für sie von größter Wichtigkeit sei, darüber Aufklärung zu erhalten, da ihnen im spätern Leben doch mehr oder weniger die Pflicht erstünde, Kinder zu erziehen. 8)

Von der geleisteten Arbeit gebe ich nun eine Skizze. Es ist

1) In Rücksicht auf die oft krankhafte Phantasie mancher Kinder in der Pubertät empfehle ich, die Kinder erst ein Jahr scharf zu beobachten und dann im zweiten Jahr, wo man weiß, wie weit man mit der Klasse gehen kann und welche Kinder die »gefährlichen« sind, mit den Aufklärungen zu beginnen.

®, Von hier aus könnte man vielleicht auch am Schlusse des Jahres zu weiteren sexuellen Aufklärungen gehen.

13*

196 A. Abhandlungen.

die vorletzte Stunde!) des Jahres. In Form zwangloser Unterhaltung wurden noch einmal die wichtigsten Ergebnisse von den Kindern ausgesprochen.

Die hier als Überschriften stehenden Wörter oder Sätze sind die Reizworte, die ich den Mädchen zurief, wodurch dann die angeführten Vorstellungsketten ausgelöst wurden. ?)

I. Ernährung. 1. Mund und Zähne.

Nach Ansicht der Ärzte soll der Mund Neugeborener gar nicht oder nur früh einmal ausgewaschen werden. Dadurch würden nur Bazillen in den Mund gebracht. Beim Auswaschen ist die größte Sauberkeit zu beachten, am besten bestimmt man ein besonderes Näpfchen mit immer neuem Läppchen dazu. Niemals verwende man das Badewasser!

Anders wird es, wenn das Kind 1 Jahr gewesen ist und Zähne hat. Nun werden wir den Mund reinigen. Die Kinder sollen bald daran gewöhnt werden, sich mit Salzwasser den Mund zu spülen. Von irgendeinem Mundwasser sehen wir ab, da sie leicht Wasser verschlucken. |

Sehr bald gewöhne man das Kind an die Zahnbürste. Man reinige die Zähnchen von Zeit zu Zeit mit einem Läppchen, worauf 1—2 Tropfen Alkohol?) sind. Notwendig ist es auch, die Kleinen bald ans Gurgeln zu gewöhnen. Bei den die Kinder leicht befallenden Halskrankheiten erweist es sich dann als sehr zweckmäßig.

Die Ansicht, daß man die Milchzähne nicht so zu pflegen brauche, weil sie ausfielen, ist falsch. Auch sie lasse man plombieren. Da- durch und durch die regelmäßige Pflege werden sie länger erhalten und die zweiten, bleibenden Zähne werden kräftiger, können sich voll- kommen entwickeln. Es kann sich auch als nötig erweisen, den ersten Zahn ziehen zu lassen, damit der zweite die richtige Stellung einnehmen kann.

Für die Pflege der zweiten gilt neben allen anderen bekannten Forderungen: Gehe jährlich zur Untersuchang zum Zahnarzt!

Wenn zur Zeit des Zahnens Erkrankungen der Kleinen auftreten, so denke man nicht leicht darüber und führe sie nicht nur aufs

1) Herr Dr. Ament, Würzburg, wohnte der Stunde als Gast bei, und auch er war von der Freude und dem Verständnis überzeugt, das die Mädchen der Sache entgegenbrachten. Den ganzen Versuch hielt er auch für sehr wohlgelungen.

?) Ich begann mit der Ernährung, ging zur Bewegung, schließlich wurden noch die Hauptsätze über geistige Erziehung angeführt.

2) Die Anwendung von Alkohol kann bedenkliche Folgen haben. Tr.

Dix: Notwendige Aufklärung der Mädchen in der Schule über Kinderpflege. 197

Zahnen zurück. Es ist nicht ausgeschlossen, daß dadurch krankhafte Erscheinungen ausgelöst werden, aber meist liegen doch andere, dem Laien verborgene Ursachen vor, und darum ist unbedingt bei ein- tretenden Erkrankungen der Arzt zu fragen.

Während des Zahnens führen die Kinder gern alles zum Munde, da ihnen die Berührung des Zahnfleisches, das Reiben angenehm ist. Gewöhnlich brechen die beiden unteren mittleren Milchzähne zuerst durch, dann die oberen inneren, hierauf die zwei oberen äußeren. Die dritte Gruppe bilden zwischen dem 12. und 15. Monat die 4 Back- zähne und die zwei äußeren unteren Schneidezähne.!) Der Zahn- durchbruch beginnt gewöhnlich im 8. Monat; doch kann er auch schon im 4. oder 6. Monat eintreten.

2. Zunge. Die Zunge ist beim Säugling lang und flach; damit kann er be- quem saugen. Das Zäpfchen am Gaumen ist noch sehr klein.

3. Magen.

Der Magen der Neugeborenen ist von dem der Erwachsenen wesentlich verschieden. Er ist röhrenförmig, liegt mehr senkrecht, parallel zum Rückgrat. Sein Schlundschließmuskel ist noch wenig entwickelt. Darum ist es erklärlich, daß Kinder so leicht brechen, wobei sich der Magen mit einer Leichtigkeit entleert, wie wenn ein Sack ausgeschüttet würde, ohne die krampfhaften Anstrengungen, worunter es beim Erwachsenen vor sich geht. Er liegt auch höher.

Daraus folgt, daß wir den Säugling nach dem Trinken liegen lassen. Ganz zu verwerfen ist die Ansicht alter Wärterinnen, Kinder nach dem Trinken aufzurichten und auf den Rücken zu klopfen, da- mit »es ihm aufstoße«. Auf diese Weise erzieht man das Kind zum Brechen.

4. Nahrung.

Die Nahrung des Säuglings, die am besten zum Gedeihen bei- trägt, ist die Muttermilch;?) sie sollte dem Kinde nicht vorenthalten werden.

Tatsache ist, daß Kuhmilch fürs neugeborene Kind stark ver- dünnt werden muß. Über Mischung und allmählichen Übergang zur reinen Kuhmilch befrage man den Arzt.

!) Ausnahmen sind nicht unnatürlich. ?) Wie leicht mir die Behandlung dieses Punktes gemacht wurde, habe ich oben gezeigt.

198 A. Abhandlungen.

Das sicherste Zeichen, daß das Kind bei der gereichten Nahrung in rechter Weise gedeiht, ist die Gewichtszunahme, die man wöchent- lich prüfen soll. Auch empfiehlt es sich, mittels der Wage die Menge der getrunkenen Milch festzustellen, was natürlich beim Flaschenkind wegfällt.

5. Allgemeine Regeln über die Ernährung der Kinder.

Nicht zu viel Süßes! Das Verlangen der Kinder nach Zucker ist ganz natürlich. Es braucht zum Aufbau seines Körpers Kohlenhydrate. Aber verkehrt ist es, dem Kinde »Zuckerschnuller« zu geben. Dieser unvermischt genossene Zucker säuert nur, was zu ganz wesentlichen Störungen in der Verdauung führen kann. Außerdem aber begünstigt er auf diese Weise genossen die Bildung von Schwämmchen. Einen Gummischnuller zu geben, ist nicht zu empfehlen.

Zur Bereitung der Kuhmilch nehme man den Soxleth. In neuerer Zeit wird ein zu langes Kochen der Milch verworfen. Sobald die Milch aufkocht, entferne man die Wärmequelle.

Mit dem Durchbruch der Zähne ist es natürlich, dem Kind nebenbei ein Biskuit zu reichen. Das Kauen an einer Brotrinde wird auch empfohlen, weil dadurch die Absonderung des Speichels und damit die Verdauung gefördert werden.

Größte Sauberkeit und Pünktlichkeit beim Verabreichen der Nahrung sind die ersten Forderungen.

6. Herz und Lunge.

Das Kind hat noch höchst unregelmäßigen Puls. Die Herzspitze liegt höher als beim Erwachsenen, da das Herz verhältnismäßig breiter ist. Auch die Lungen sind anders als bei dem Erwachsenen. Ihre Lage ändert sich, ebenso der Umriß und die Gestalt. Das Kind hat viel mehr Pulsschläge als die Erwachsenen.

Kinder atmen schneller und unregelmäßig. Erst nach und nach wird die Atmung gleichmäßig. Die Schnelligkeit des Atmens ist auch zweckmäßig; denn die lebhaften und unzählig vielen, schnellen Bewegungen würden einen zu großen Kräfteverbrauch bewirken, der den Kindern gefährlich werden könnte, wenn nicht auf diese Weise die notwendigen Ersatzstoffe herbeigeschafft würden.

Wegen ihrer Zartheit neigen die Lungen auch leicht zu einer Entzündung. Frische Luft ist unbedingt zu schaffen; doch soll man besonders im Frühjahr vorsichtig sein, daß man die Kinder nicht zu zeitig an die Luft bringe, weil sich leicht ein Katarrh einstellt. Die

Atmungsorgane (Nase, Rachen) bedürfen einer besonderen Pflege und Schonung.

Dıx: Notwendige Aufklärung der Mädchen in der Schule über Kinderpflege.. 199

Il. Bewegung. l1. Säugling.

Das Knochengerüst ist zart. Das Rückgrat ist noch nicht ge- festigt. Es braucht eine Stütze. Das Lager des neugeborenen Kindes sei darum möglichst flach und fest. Lege das Kind auf Roßhaare oder Seegras! Damit ist noch der Vorteil verbunden, daß es kühl liegt. Das Kind soll in seiner Ruhestätte liegen bleiben; nur zu den Mahlzeiten wird es herausgenommen. Auf »Büschen« und Herum- tragen verzichten wir. Erst wenn es sich selbständig aus der Rücken- lage hebt, lassen wir es sitzen. Es ist stets besser, mit dem Stütz- sitzen nicht zu zeitig zu beginnen. Das »Freisitzen«, das verschieden vom 8.—9. Monat beginnt, ist dann das Zeichen, daß aus dem Kind ein

2. Trag- und Sitzkind geworden ist.

Die Kopfhaltung ist erst in der 15. Woche gesichert. Man trage das Kind abwechselnd auf dem rechten und linken Arm. Die beste Haltung ist die, daß der Rücken an den Leib des Tragenden zu liegen kommt.

3. Kriech-, Steh- und Laufkind.

Das Kriechen soll man dem Kinde erlauben; es hilft ganz be- deutend den Vorstellungskreis des Kindes erweitern, da das Kind auf Entdeckungsreisen ausgeht.

Es ist auch die natürliche Vorstufe des Stehens und Laufens. Man hüte sich, die Kinder zu zeitig stehen und laufen zu lassen, weil sehr oft der Knochenbau noch nicht so gefestigt ist, daß es ohne Schaden fürs Kind abgeht. Auch hier gilt die Regel: Warte bis das Kind allein, aus eigenem Antriebe aufsteht. Ist es so kräftig, so zieht es sich allein in die Höhe und steht, dabei allerlei Experimente machend.

Das Laufen lernende Kind halte man unter den Armen. Niemals aber hebe oder ziehe man es an einem Arme, da die Gelenkbänder noch nicht festgezogen sind und dabei das Gelenk leicht ausgekugelt werden kann.

Da beim kleinen Kinde die Nacken- und Lendenbiegung des Rückgrats fehlen, ist es für den kleinen Anfänger schwer, im Laufen das Gleichgewicht zu halten. Daraus erklärt sich das wiederholte Hinsetzen der Kleinen.

NB. Ich ließ mir nun noch eine Einteilung der Bewegungen beim Kinde geben. Die Mädchen hatte ich darüber nach PrEyver und AwEnT unterrichtet. Das Buch von Ament über »Die Seele des

200 A. Abhandlungen.

Kindes« besitzen viele selbst. Hier kann ich es mir ersparen, die

von den Kindern gewonnenen Ergebnisse anzuführen, da ich in dieser

Stunde auch darauf verzichtete. Ebenso mußte ich die Wiederholung

der wertvollen Ergebnisse aus dem ausführlichen Unterricht über die

Entwicklung des Sehens, Hörens, Greifens und Sprechens unterlassen.!) Zum Schlusse forderte ich eine Aussprache über

III. die geistige Erziehung der Säuglinge und kleinen Kinder.

Obenan steht die Forderung: Tue beim Säugling nichts zur Aus- bildung der geistigen Kräfte! Laß dem Kinde seine Ruhe!

Es hat so unendlich viel zu lernen; jeder Blick bringt etwas Neues, jedes Geräusch, jede Bewegung auch das Saugen verbrauchen Kräfte, wirken ermüdend. Darum sollen wir nicht versuchen, das wach im Korbe oder Wagen liegende Kind zu beschäftigen. Es ist sich selbst genug. Schreit ein Säugling trotzdem, daß er getrunken und sonst keine Beschwerden hat, so ist das fast immer ein Zeichen der Er- müdung; dann versuche man, das Kind zum Schlafen zu bringen. Verfehlt ist es auch, dem Kind an den Korb oben einen Ball oder eine glänzende Kugel zu binden. Durch die angespannte Aufmerk- samkeit wird das Baby geistig ermüdet. Als Spielzeug ?)?) gebe man niemals zu viel, was nur zerstreut. Der Säugling hat genug an seinen Fingerchen usw. Sich selbst erst kennen zu lernen, ist seine erste Lebensaufgabe und Arbeit. Das »Herumspaßen« und »Einreden« aufs Kind unterlasse man auch; alles ermüdet zu sehr. Man sorge auch für regelmäßigen, ungestörten Schlaf, der zur Erneuerung der Kräfte dient.

IV. Befehl und Strafe.

Die Erziehung eines Kindes kann schon im 5. Monat beginnen. Es lebt nur seinen Trieben. Wir müssen sie regeln. Es wäre dem Kinde nicht gedient, überließen wir es nur diesen Trieben. Ernster Blick wird sehr wohl in diesem frühen Alter verstanden.

Im späteren Alter ist ein wichtiges Erziehungsmittel der Befehl. Er sei aber immer der Leistungsfähigkeit des Kindes angepaßt; er muß ausführbar sein. Haben wir ihn nun einmal gegeben, so sollen wir auf strenge Durchführung halten.

1) Ich habe die Mädchen teilnehmen lassen an den täglichen Beobachtungen an meinem Jungen und zeigte ihnen auf diese Weise, wie sie später einmal ein brauchbares psychologisches Tagebuch zu führen hätten.

?) Wir haben hier aus Ament »Die Seele des Kindes« gelesen Seite 50 ff.

5) Über Kinderspielzeug haben wir eingehend gesprochen. Siehe M. ENDERLEIN, Das Spielzeug in seiner Bedeutung f. die Entwicklung des Kindes. Beiträge z. Kdf. H.24.

Dix: Notwendige Aufklärung der Mädchen in der Schule über Kinderpflege. 201

Wird er nicht ausgeführt oder ist irgendeine andere Ungezogen- heit vorhanden, so haben wir dann die Drohung. Hier gilt vor allen Dingen: Wort halten und sie auch ausführen, daß sie nicht zur »Rederei« werde.

Schließlich, wenn auch das nichts nützt, bleibt die Strafe.

Unter Strafe verstehen wir nicht allein die körperliche Züchtigung. Sie sei »naturgemäß« die natürliche Folge des Vergehens.!) Sie ist der letzte Nachdruck, den Gehorsam zu erzwingen.

Von der körperlichen Züchtigung glauben wir: lieber einen zu wenig, als zu viel. Es läßt sich nicht umgehen, kleine Kinder durch einen »Klapps« zu strafen. Je älter das Kind wird, um so mehr möchte sie verschwinden. Sie dient ja doch nur zur »Ab- schreckung«e. Der Erfolg ist zweifelhaft. Wo aber das rechte Band der Liebe um Kinder und Eltern geschlossen ist, gibt es z. B. durch Aufheben dieses Verhältnisses u. a. m. wirksamere Erziehungsmittel als die »Prügel«e. Man hüte sich vor dem gedankenlosen Schlagen, wenn es auch so leicht ausführbar und fast immer von einem »augen- blicklichen Erfolg« begleitet ist.

So verlief die Wiederholungsstunde, die Unterhaltung. Was ich hier gegeben habe, ist nur eine Skizze unvollkommen. Aber die Begeisterung, womit die Mädchen an der Aussprache im Unter- richt des ganzen Jahres teilnahmen, ihre Fragen und Bitten haben mich überzeugt, daß der Versuch gelungen war. Bei einem zweiten würde ich der geistigen Erziehung die längere Zeit widmen.

Wenn nun diese meine Ausführungen dazu beitrügen, den einen oder den andern anzuregen, auch einen Versuch zu machen und die, die in dieser Weise schon arbeiteten, veranlaßte, mir Mitteilungen zu geben, wäre der Zweck meiner Arbeit erreicht.

Literatur. AMENT, Die Seele des Kindes. Stuttgart, Kosmos. Bıepert, Das Kind. Stuttgart, Enke. OPPENHEIM, Die Entwicklung des Kindes. Leipzig, Wunderlich. . SIKORSKY, Die Seele des Kindes. Leipzig, Barth. Surıy, Untersuchungen über die Kindheit, Dr. Stimpfl. Leipzig, Wunderlich. SPENCER, Die Erziehung. Leipzig, Haake. Perez, Anfänge des kindlichen Seelenlebens. Übers. v. Ufer. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann). 8. Preyer, Die Seele des Kindes. Leipzig, Griebens. 9. Derselbe, Die geistige Entwicklung in der ersten Kindheit.” Stuttgart, Union

deutsche Verlagsgesellschaft. 10. Zeitschrift für Kinderforschung (Die Kinderfehler), XII. Jahrgang.

NPP

1) Die Mädchen unterrichtete ich im Sinne Sprxcers u. a. Pädagogen. Sie brachten selbst bald passende Beispiele aus ihren Erfahrungskreisen.

202 A. Abhandungen.

2. Das Heufieber in seiner Einwirkung auf die körperliche und geistige Entwicklung des Kindes. Von Otto Schultz in Hannover.

Zu den Krankheiten, die von den davon Betroffenen zu den schwersten gerechnet werden, gehört das Heufieber. Sind andere Krankheiten ein vorübergehendes Leid, das man nach der Heilung wieder vergißt, so ist das Heufieber dadurch, daß es lebenslänglich unheilbar ist, daß es in jedem Sommer, solange Gras, Korn und ver- schiedene andere Pollenblüher (z. B. Linden) blühen, aufs neue wieder erscheint, als eine wirkliche Lebensstörung zu bezeichnen.

Für Neuerkrankte und Unkundige mag hier eine kurze Angabe über Entstehung und Wesen des Heufiebers Platz finden. Das Heu- fieber besteht hauptsächlich in Schnupfen, Augenentzündung, Asthma. Es kommt zur Erscheinung, wenn die unsichtbar in der Luft schwebenden Blütenpollen (der Blütenduft) von Gras und Korn, und einigen anderen Pollenblühern dem Kranken beim Atmen in die Nase, den Mund, und die tieferen Atmungswege, Schlund, Hals, Bronchien gelangen. Wer einmal an wirklichem Heufieber gelitten hat, der bekommt es sein ganzes Leben hindurch in jedem Jahr zur Blütezeit wieder; eine durch Arzeneien, Operationen usw. bewirkte wirkliche, endgültige Heilung ist noch nirgend beobachtet.

Daß die genannten Blüten die eigentlichen Heufiebererreger sind, ist durch Versuche festgestellt; außerhalb der Blütezeit, z. B. mitten im Winter streute man in die Zimmer von Heukranken, mit, oder auch ohne Vorwissen der letzteren, aufbewahrte Blütenpollen aus: binnen wenigen Minuten traten dann bei den Heukranken die üblichen Erscheinungen, Niesen, Augenröte, Asthmaanfälle usw. auf. Wenn bierdurch gleichzeitig festgestellt wurde, daß das Heufieber nicht nur zu gewissen Kalenderzeiten da ist, sondern das ganze Jahr hindurch (also durchs ganze Leben ununterbrochen) im Körper des Heukranken schlummert, und nur durch das Einatmen der Blüten- pollen zu seinen quälenden Erscheinungsformen erweckt wird, so ist doch über die eigentlichen Grundursachen zur erstmaligen Erkrankung der einzelnen Heukranken nichts bekannt. Man hat nur beobachtet, daß Erkältungen, Schwächezustände nach überstandenen anderen Krankheiten, eine größere Empfänglichkeit für Heuerkrankung mit sich bringen. Manche Kranke gaben auch an, daß das Leiden ohne jeden erkennbaren Grund ganz plötzlich beim Aufenthalt auf größeren blühenden Grasflächen auftrat .... um dann bei ihnen als lebens- länglich unheilbare Krankheit zu bleiben.

Schurtz: Das Heufieber. 203

Das Heufieber tritt bei den verschiedenen Kranken in verschiedener Weise auf; bei einigen tritt die Augenentzündung mehr in den Vorder- grund, bei anderen Schnupfen bis zu 100 und mehrmaligem Niesen, bei wieder andern Asthma. Manche leiden nur wenig; die bei weitem größte Mehrzahl der Heukranken bezeichnet sich jedoch als schwerleidend; von einer sehr großen Anzahl las und hörte ich die Äußerung: »so schwer wie ich kann es niemand weiter haben.«e Viele werden so schwer davon befallen, daß sie in der alljährlichen Krankheitszeit (in Nord- deutschland Anfang Juni bis Mitte Juli) bis zur gänzlichen Unfähig- keit zu irgend welcher körperlichen oder geistigen Tätigkeit herunter- kommen. Die bei dem Heufieberbund einlaufenden Mitteilungen sprechen sich häufig genug sehr niedergedrückt aus; »Ich war ganz verzweifelt« ... »Mit Grauen und Entsetzen sehe ich dem Juni wieder entgegen,« sind selbst bei Männern in den besten Jahren keine seltenen Ausdrücke.

Das Heufieber dauert bei denen, die geeignete medizinische Mittel anwenden von Anfang Juni bis Mitte Juli für Norddeutschland; in Süddeutschland, Österreich der früheren Blütezeit entsprechend liegen diese 6 Wochen um 8—14 Tage früher im Jahr. Wer keine geeigneten Mittel anwandte, hat länger zu leiden; der geschwächte Körper ist empfänglicher und empfindlicher, so daß er selbst von kleinsten Mengen der unsichtbar in der Luft schwebenden Blütenpollen zu leiden hat, und bis weit in den August hinein, zuweilen bis zum September dem Heufieber unterworfen ist.

Viele Heilmittel sind versucht worden. So ziemlich alle Mittel, die in der medizinischen Wissenschaft bekannt sind, oder fürs Heu- fieber als spezifische Mittel erdacht wurden. Es zeigte sich bei jedem neuen Mittel, daß immer nur eine stundenweise Linderung für jeden einzelnen Anfall zu erzielen war. Als verhältnismäßig am günstigsten erwies sich die Serumbehandlung, sowie die mit den verschiedenen Präparaten aus der Nebenniere. Manches führte aber selbst zu Schädigungen, z. B. die schmerzstillenden Mittel, Morphium, Kokain, die bei einigen Benutzern sehr üble Folgen hatten. Die Aufzählung der brauchbaren, und der nicht zu empfehlenden Mittel, übersteigt den Raum dieser Blätter; sie füllt ein ganzes Buch, wie solches z. B. vom Heufieberbund alljährlich herausgegeben wird; man wende sich an den Bund,!) der seine aufklärenden Schriften bereitwilligst an alle Anfragenden, Heukranke, wie Ärzte, aussendet.

1) Heufieber-Bund von Helgoland, eingetragener Verein; Vorsitzender OrTto Schutz, Hannover, Mittelstraße 8.

204 A. Abhandlungen.

Man kann aber dem Heufieber ganz aus dem Wege gehen, ihm völlig ausweichen; das erreicht man, wenn man während der heimat- lichen Gras- und Kornblütezeit an einen Ort geht, der zu dieser Zeit blütefrei ist. Abgesehen von Seereisen, hat sich hierfür die Insel Helgoland als einer der günstigsten Plätze erwiesen, wo ich seiner- zeit den Heufieberbund begründete, und wo sich nun seit Jahren eine alljährlich steigende Kolonie Heukranker immer wieder zusammen- findet, um so gut wie frei von Leiden das Ende der heimatlichen Blüte- und damit Krankheits-Zeit dort abzuwarten.

Wie wirkt nun das Heufieber auf das Kind ein? Wir müssen berücksichtigen, daß die dem Gehirn zunächst liegenden Nerven- gruppen des Kopfes, der nerv. trigeminus, der nerv. sympathicus, die Augen- und die Stirnhöhlen-Nerven die in erster Linie vom Heufieber angegriffene Teile sind; wir müssen berücksichtigen, daß dem Schüler, wie mir’s mehrfach mitgeteilt wurde, von dem des Heufiebers un- kundigen Lehrer, der in den oft seltsamen Krankheitserscheinungen eine durch Trägheit veranlaßte Krankheits-Simulation vermutete, Ver- weise, harte Behandlung, Strafen zuerteilt wurden; wir müssen be- rücksichtigen, daß das Kind sieht, wie seine Krankheit ihm seine Lerntätigkeit erschwert; daß es weiß, diese Qualen werden sich in jedem Jahr in steigendem Maße wiederholen; wir müssen berück- sichtigen, daß das Kind weder die körperliche noch die seelische Widerstandsfähigkeit besitzt wie der Erwachsene. Da müssen wir uns klar werden, daß das Kind stärker unter dem Heufieber zu leiden bat, als der Erwachsene; daß das Kind schon in seinen Lern- und Entwicklungsjahren verkümmert und vergrämt; die körperliche wie die geistige Ausbildung und Entwicklung, die Jugendfröhlichkeit wird gestört und niedergehalten; das Kind tritt, durch sein unbesieg- bares Geschick niedergedrückt, aus der, anderen »fröhlichen« Jugend- zeit matt und erschlafft, ungenügend vorbereitet in den Kampf ums Dasein hinein.

Allerdings kann ich keine statistischen Nachweise bringen, wie- viel Menschen durch das im Kindesalter bei ihnen eingetretene Heu- fieber in dieser Weise geschädigt wurden; und ebensowenig, wie weit diese Schädigung bei den einzelnen Persönlichkeiten ging; teils weil dazu eine mehrere Jahrzehnte lange Registrierung erforderlich wäre, aus Zeiten her, wo das Heufieber noch gar nicht als solches erkannt worden ist; teils weil es wohl recht schwer zu sagen seın dürfte, diese oder jene Persönlichkeit wäre ohne Heufieber so und so viel besser entwickelt, klüger, kräftiger, fröhlicher geworden.

Aber auch ohne solche Statistik müssen wir begreifen, daß

Schuurtz: Das Heufieber. 205

Kindern eine schwere Schädigung durch das Heufieber beigebracht werden kann. Wir müssen deshalb mit allem Nachdruck sagen: Gebt den heukranken Kindern die besten, wirksamsten Mittel gegen ihr Leiden; laßt sie Mittel anwenden, die sie soweit als möglich, vielleicht ganz von den Leiden und Störungen des Heufiebers freihält; Mittel, die ihnen gestatten, sich ungehindert ihrer Lerntätigkeit, ihrer körperlichen und geistigen Ausbildung und Entwicklung hinzugeben.

Hier hat jetzt der Heufieberbund mit seiner Tätigkeit eingesetzt; er will an dem Platz, der als einer der günstigsten erkannt wurde, in Helgoland, für die Heufieberzeit einen besonderen Unterricht für heukranke Kinder ins Leben rufen; es sollen Lehrer und Lehrerinnen angestellt werden, die für diese Zeit (Anfang Juni bis Mitte Juli) nach Helgoland gehen, um unter der Oberleitung eines bereits für die Sache gewonnenen höheren Schulmannes Unterricht, und soweit nötig, Beaufsichtigung der dorthin kommenden heukranken Kinder zu übernehmen.

Fragen wir nun, wieviel Heukranke gibt es denn überhaupt, und wieviel heukranke Kinder sind darunter, so geben uns die Listen des Heufieber-Bundes folgende Zahlen an: für die in Frage kommen- den Länder (ohne die nichtdeutschredenden) sind 3750 Heukranke insgesamt eingetragen; ein vollständiges Bild kann diese Zahl indessen nicht geben; fast jeder Tag bringt neue Anmeldungen; erscheinen Veröffentlichungen des Bundes in den Tageszeitungen, so laufen regel- mäßig sofort größere Mengen von Anmeldungen ein; man wird die Gesamtzahl der Heukranken in Deutschland auf 10000 oder mehr schätzen müssen. Im Jahre 1904 veranstaltete der Heufieber-Bund eine Umfrage über das Lebensalter, in dem das Heufieber bei den Angefragten zum ersten Male aufgetreten ist. Von den 520 Beant- wortern wird angegeben:

9 Ersterkrankungen im 0.— 5. Jahr

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206 B. Mitteilungen.

Nach dem Geschlecht teilen sich die Mitglieder des Bundes heute in 883 männliche und 501 weibliche Mitglieder, zusammen 1384 (darunter 46 Ärzte und Mediziner).

Nun zu der Frage nach den Kosten des vom Heufieberbund in Aussicht genommenen Helgoländer Juni-Juli-Schulunterrichts. Ein Erwachsener kann dort zu dieser Zeit mit 4—5 M täglich bei mittleren Ansprüchen auskommen; für Kinder in größerer Zahl wird, wenn dabei eine eigene haushälterische Wohnung und Beköstigung einge- richtet werden kann, die Hälfte oder weniger zu rechnen sein, so daß der Betrag von etwa 125 M einschließlich des Unterrichts an- zunehmen ist. Für manchen wird das zu viel sein; da kann der Heufieberbund einspringen; seine Satzungen bewilligen unbemittelten Heukranken für den Aufenthalt in Helgoland einen Geldzuschuß, der auch bislang schon von Erwachsenen wie Unerwachsenen benutzt wurde.

Für weitere Auskünfte über Heufieber und dessen Behandlung, sowie über die beregte Schulangelegenheit wende man sich an den »Heufieber-Bund von Helgoland, eingetragener Vereine. Adresse des Vorsitzenden: Orro ScuuLtz, Hannover, Mittelstraße 8.

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B. Mitteilungen.

1. Zur Frage des sogenannten 6. Sinnes der Blinden

bringt das Dezemberheft vorigen Jahrgangs d. Zeitschrift anläßlich eines Berichts über den XII. Blindenlehrerkongreß in Hamburg aus der Feder des Herrn Inspektors Fischer- Braunschweig eine Bemerkung, die wegen ihrer Form und Begründung zu Mißdeutungen Anlaß geben muß, und die ich deshalb mit kurzen Worten hier ergänzen möchte.

Die betreffende Bemerkung lautet: »Ein Druckgefühl in der Stirn-, Schläfen- oder Öhrengegend oder auch im Trommel- fell, von zuwrückgeworfenen Luftwellen herrührend, wie auch gewisse Gehörsempfindungen, lassen ihn (den Blinden) das Vorhandensein solcher Gegenstände (Bäume, Mauern, Straßenlaternen usw.) schon vor der unmittelbaren Berührung erkennen. ... Herr Truschel führt dieses Ferngefühl auf reflektierte Schallwellen zurück; da aber auch Taub- blinde dasselbe zeigen, so dürfte Truschels Schallwellen- theorie nicht zutreffen.«!)

Zur allgemeinen Orientierung über meine Arbeit?) verweise auf die

1) Durch den Einsender gesperrt. 2) Truschel, Der 6. Sinn der Blinden, in Meumanns »Exp. Päd.«e Bd. 3—5.

1. Zur Frage des sogenannten 6. Sinnes der Blinden. 207

objektiv gehaltene Besprechung von Dr. Maennel, die dasselbe Heft unter den Literaturberichten bringt, sowie auf die kritischen Referate von Prof. Dr. Zoth in »Eos« 1907, H. 2 und Blindenlehrer Reckling »Eos« 1908, H. 1 und »Heilpädagogische Umschau« 1907, No. 6. Zur ge- naueren Information über die Kongreßverhandlungen und den derzeitigen Stand der Frage muß auf das im Kongreßbericht enthaltene Stenogramm der Hamburger Verhandlungen und auf die ausführlichere kritische Be- sprechung in den nächsten Heften bei Meumann!) verwiesen werden.

Hier muß ich mich, die Frage der Taubblinden betreffend mit einigen Hinweisen auf Feststellungen begnügen, deren Begründung (soweit es sich nicht um allgemein-wissenschaftliche und längst bekannte Tatsachen handelt) an den angegebenen Stellen nachzulesen wäre.

Zunächst ist folgendes bemerkenswert:

Daß Taubblinde dasselbe merken wie hörende Blinde, ist bis jetzt nicht nachgewiesen. Kunz hat nur mit einer taubblinden Versuchs- person experimentiert, die nur schwaches »Ferngefühl« zeigte (die Hälfte der Durchschnittsstärke).

Die Druckempfindlichkeit der Haut, auf der nach Kunz diese Fähig- keit beruhen soll, ist bei dieser Versuchsperson aber dem Durchschnitt gleich, beträgt also verhältnismäßig das Doppelte von dem, was nach Kunz’ Regel zu erwarten wäre.

Die Experimente Kunz’ wurden so ausgeführt, daß man nicht mit Sicherheit beurteilen kann, ob die Taubblinde auf die angegebene geringe Entfernung (11 cm) Temperaturreize (durch die Bewegung der Luft ver- ursacht) wahrnahm, wie wir Sehende sie in solchen Fällen auch empfinden (was mit dem in Frage stehenden X-Sinn aber nichts zu tun hat), oder ob sie auf Schalleitung zurückzuführen sind.

Wer hier den Einwand erheben wollte: »Ja, wenn die Person doch absolut taub ist (Hörweite = 0), so kann ihr Gehörorgan doch keine Schallwellen perzipieren«e, dem brauche ich wohl auch nur mit wenigen kurzen Hinweisen zu erwidern, da jener Schluß ein offensichtlicher Trugschluß ist.

1. Die Trommelfelle der Taubblinden sind zur Aufnahme und Leitung von Schallwellen nicht unbrauchbar. Wie Kunz aus Griesbachs?) Tabellen, auf die er sich stützt, hätte ersehen können, hören andere Blinde mit ähnlichen Trommelfelldefekten zum Teil normal, zum Teil unter dem Mittel, während einige andere mit normalen Trommelfellen weniger hörten als jene mit ihren schweren Anomalien.

2. Das Trommelfell ist nicht das einzige Eingangstor für Schall- wellen. Seine Hauptaufgabe ist nicht die Zuleitung, sondern die Regu- lierung und Akkomodation.

3. An die Funktion der eustachischen Röhre, sowie die Bedeutung der Kopfknochenleitung sei ebenfalls kurz erinnert.

!) Meumann, »Experimentelle Pädagogik.«e Ders., »Archiv für die gesamte Psychologie. Pflügers Archiv Bd. 74—75.

208 B. Mitteilungen.

4. Das Ohr-Labyrinth ist kein einheitliches, einfaches Organ, sondern es dient mit verschiedenen Teilen verschiedenen Funktionen. Das Teil- organ, das eventuell der Perzeption der (akustischen) X -Empfindungen dient, kann intakt sein bei gleichzeitiger starker Anomalie der andern.

5. Taubheit kann auf zentralen Störungen beruhen bei völlig normalem peripherischem Hörapparat.

Ein gleichzeitiges Fehlen des Hörvermögens bei Vorhandensein des X-Sinnes widerspräche also (falls sich dieses Zusammentreffen, wie ich hoffe, nachweisen ließe) meiner Schallwellentheorie nicht. Nur muß diese Theorie so aufgefaßt und dargestellt werden, wie sie sich aus meinen Veröffentlichungen ergibt, und bisher von allen Beurteilern (Kunz aus- genommen) verstanden worden ist. Auf Mißverständnisse, Verwechslungen und weitere Trugschlüsse einzugeben ist hier nicht der Ort. Es sei des- halb aus den Kongreßverhandlungen nur der Abschnitt mitgeteilt, der in gedrängter Zusammenfassung eine Darstellung gibt von dem, was ich unter einem sogenannten »sechsten Sinn« (X-Sinn) der Blinden verstanden habe, und wie sich diese Erscheinungen auf Grund der Schallwellentheorie er- klären lassen. Zugleich wird aus der Berührung der weiteren Hypothesen, dıe sich an das Hauptproblem anreihen, die wissenschaftliche Bedeutung der Frage zu ersehen sein,

Nichts erscheint mir wünschenswerter als eine rein objektiv-kritische Nachprüfung, die, wenn sie sich auf die wenigen entscheidenden Ver- suche beschränkt, die zur Feststellung der Hauptthese erforderlich sind, mit den einfachsten Mitteln auskommt und von jedem, der Gelegenheit hat, mit Blinden oder Taubblinden zu experimentieren, ausgeführt werden kann.

Ich veröffentliche diese Zeilen in der Hoffnung, einen weiteren Leser- kreis für das Problem interessieren und so zu einer solchen Nachprüfung anregen zu können. Zu persönlicher Auskunft wäre ich eventuell jederzeit gern bereit. Es möge also hier der Schluß meiner Ausführungen auf dem Hamburger Kongreß folgen.

Unter X-Sinn faßte ich die Empfindungen zusammen die den Blinden ‚auf andere Weise als den Sehenden die Nähe eines ruhenden, geräusch- losen Gegenstandes melden, Empfindungen, die größere Intensität und einen anderen Charakter zu haben scheinen (nach den Aussagen und dem Verhalten der Blinden), als die verwandten Empfindungen unseres Sen- soriums, Empfindungen, die den nicht besonders belehrten und aufmerk- sam gemachten Blinden von wenigen Ausnahmen abgesehen ihrem Wesen nach nicht bewußt werden, die ihnen aber ermöglichen, nicht nur die Nähe des Objekts zu merken, sondern auch mit ziemlicher Sicherheit ‚die Richtung, den Abstand und sehr oft auch die Höhe und andere räum- liche Eigenschaften wahrzunehmen.

Ich nannte die betreffenden Reize vorläufig X-Reize, weil sie unbe- kannt, d. h. ihrem Wesen nach noch zu erforschen sind, und unterschied ‚auf Grund meiner Beobachtungen 2 Gruppen bezw. Gattungen (ob es bloß Gruppen, oder wesensverschiedene Gattungen sind, kann erst mit dem end- gültigen Abschluß der bezüglichen Forschungen festgestellt werden):

1. Zur Frage des sogenannten 6. Sinnes der Blinden. 209

I. Die auf größere Entfernungen wirkenden, deutlicheren, inter- mittierenden (das Entscheidende ist das Intermittieren),

II. die auf geringere Entfernungen wirkenden, angeblich andersartigen, konstanten Reize. (Bei der zweiten Gattung ist das äußerliche Haupt- kriterium die Konstanz.)

Diese II. Gattung ist nicht identisch mit dem, was Herr Kunz mit »Ferngefühl« umschreibt, sondern mit dem, worüber z. B. Hauptvogel blind sagt: »Wenn ich stehen bleibe, so dauert das Gefühl unverändert fort... auf dem Luftdruck beruht es nicht.«

Sie wissen meine Damen und Herren, daß ich alle X-Empfindungen, aber nur diese, auf die Erregung des Gehörorgans durch Schallwellen zu- rückgeführt habe. Ich habe nicht gesagt, daß es immer reflektierte Schall- wellen sind, die diese X-Empfindungen auslösen, sondern nur, daß diese Empfindungen auf reflektierten Schallwellen beruhen; d. h. wie ich dann näher ausgeführt habe, daß Schallreflexion immer die Veranlassung bilde zur Entstehung der akustischen Veränderungen, die nun die eigentlichen X-Reize darstellen. Worin diese Veränderungen bestehen, darauf werde ich nachher mit einigen Worten zurückkommen. Ich will Ihnen jetzt zu- nächst die beiden Beispiele erzählen, die ich Ihnen schuldig bin; denn ich hoffe, daß diese deutlicheren Erscheinungen dazu beitragen werden, Ihnen meine Erklärung des X-Sinnes etwas weniger befremdlich erscheinen zu lassen.

Sie werden, wenn Sie Hamburg verlassen, fast alle einen Schnellzug benutzen. Nun, der fährt an vielen kleinen Stationen, Wärterhäuschen, anderen Gebäuden, Mauern, Wäldchen, hohen Böschungen und viel der- gleichen Reflektoren vorbei. Im Augenblick des Vorbeifahrens, d. h. für die Dauer des Nebeneinander von Zug und Reflektor, werden Sie eine Veränderung des Zuggerassels wahrnehmen. Es wird stärker, selbstver- ständlich, aber diese quantitative Veränderung erscheint mir nicht als das Wesentliche; denn sie ist sehr unregelmäßig und ist ein sehr unzuverlässiges Kriterium für die Abschätzung des Abstandes, hängt auch von mehreren anderen Umständen ab. Wenn Sie nun das Gerassel in seiner allgemeinen Tonhöhe, dem Grundton oder der mittleren Tonhöhe leise mitsummen, so werden Sie während des Vorbeifahrens an einem solchen Reflektor ganz deutlich eine von (uantitätsschwankungen ganz unabhängige qualitative Veränderung wahrnehmen. Um Sie nicht zu beeinflussen, will ich Ihnen nicht sagen, ob Sie höhere oder tiefere Töne hören werden. Sie werden das schon selbst erkennen. Sie werden auch beobachten können, soweit Sie ein leidlich musikalisches Ohr haben, wie groß der Unterschied in jedem Falle ist, und Sie werden finden, daß die betreffenden Intervalle regelmäßig mit dem Abstand zwischen Schallquelle, also Zug, und Re- flektor korrespondieren.

Nun, ähnliche Beobachtungen mache ich (und dasselbe versicherten mir auch einige aufmerksame und intelligente Blinde), wenn ich an einem dicken Baumstamm etwa so dick oder dicker ais diese Säule und etwa in diesem Abstand vorbeigehe, oder noch deutlicher an einer Mauer, Hauswand oder dergleichen, und ebenso, wenn ich auf diese Ob-

Zeitschrift für Kinderforschung. XIII. Jahrgang. 14

210 B. Mitteilungen.

jekte direkt zugehe und mich wieder entferne: stets nehme ieh die- selben qualitativen Veränderungen wahr. Das betrifft die sogenannte I. Gattung der X-Reize.

Nun will ich Sie auf eine Beobachtung hinweisen, die vielen von Ihnen auch nicht fremd sein wird, und die trotz größter Deutlichkeit doch schon überleitet zur II. Gattung. Sie gehen im schiefen Winkel auf eine Wand oder Mauer zu, die von der anderen Seite her ebenfalls im schiefen Winkel von dem Schall eines rauschenden Wasserfalles, Flusses, eines Eisenbahn- oder Trambahnzuges oder dergleichen getroffen wird. - Sie können aber im Augenblick die Schallquelle nicht sehen, da sie durch eine Häuserreihe verdeckt wird. Sie wissen auch nicht, oder denken wenigstens augenblicklich nicht daran, daß sich irgend -eine Schallquelle dort befindet. Wenn Sie Sich nun der Wand nähern, so scheint diese förmlich zu kochen, d. h. sie scheint selbsttätig ein konstant bleibendes, brausendes Geräusch von sich zu geben, so eigenartig, daß es Sie nicht sofort an die wirkliche Schallquelle erinnert.

Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Eindruck, den ein solches Schneckenhaus hervorruft, wenn wir es dem Öhre nähern. Gestern, als Herr Prof. Kunz seine Experimente ausgeführt hat mit dem Brett und der Filzplatte, da habe ich dieses Schneckenhaus auch so aus der Tasche ge- zogen und dem Ohr genähert. Meine Damen und Herren! auch als es in dem Saale scheinbar ganz still war, da drin hat es stets »gekocht«, wie man im Volksmunde bei uns zu Lande zu sagen pflegt. Die Ge- räusche, die dieses Brausen verursacht haben, bestimmt herauszuhören, war mir natürlich nicht möglich. Das hört man nur an einzelnen eigenartigen und lauten Geräuschen. Nun, einen ganz ähnlichen Eindruck, wenn auch schwächer, verursacht ein solches Buch, ein Hut, oder etwas dergleichen, auch die hohle Hand z. B., wenn man sie sich dem Ohr nähert, obgleich diese Gegenstände keine solche Windungen aufweisen und nicht als Resonatoren wirken können. Es läßt sich auch ganz leicht nachweisen, daß das Schneckenhaus nicht infolge eines Mitschwingens der elastischen Wan- dungen wirkt, denn wenn ich es mit der weichen Hand so ganz um- klammere und dann wieder dem Ohr nähere, so läßt sich kein Unter- schied wahrnehmen. Wir müssen also an Reflexion und die dadurch ver- ursachte Interferenz denken. Nähere ich die Hand etwas rascher dem Ohr, so (von der Seite) oder besser so von hinten oder von vorn, so empfinde ich ganz deutlich noch etwas Anderes auf der Haut der Ohr- muschel, im Gehörgang, im Nacken, auf der Stirn, an den Schläfen: näm- lich eine Kühlung, verursacht durch die Luftbewegung; den Luftdruck aber, dem Herr Professor Kunz den Löwenanteil zumißt, vermag ich in diesem Falle nicht zu empfinden. Diese Kühlung kommt allen Menschen, Sehenden und Blinden ganz deutlich als solche zum Bewußtsein. Ich hatte also keinen Anlaß, sie mit zu den X-Reizen zu zählen und genauer zu untersuchen.

Worin nun die in Frage stehenden akustischen Erscheinungen eigent- lich beruhen, das läßt sich nicht so leicht feststellen. Ich selbst kann keine bestimmten Töne heraushören; dazu bin ich jedenfalls nicht musi-

1. Zur Frage des sogenannten 6. Sinnes der Blinden. >11

kaliseh genug. Ich kann nur angeben und den von mir befragten Blinden ergeht es mit einer Ausnahme nicht besser -—— daß Verände- rungen in der Tonhöhe eintreten, und wir können dann das ungefähre Intervall zwischen der primären und der sekundären Tonhöhe erkennen. Wie aber diese Tonschwankungen entstehen, war mir jahrelang unerklär- lich. Da fand ich zufällig in den Archives Néerlandaises einen Bericht über Untersuchungen des Physikers van Gulik, und auch bei Müller- Pouillet ähnliche Hinweise. Van Gulik hatte an sich selbst die- selben Tonschwankungen wahrgenommen, die ich 3 Jahre vorher ver- zeichnet hatte. Er prüfte die Erscheinung experimentell genauer nach, ohne sie mit dem Verhalten der Blinden in Beziehung zu setzen, und hörte auch bestimmte Töne heraus z. B. a’, e’, e” usw. Er fand dazu ich kann das natürlich wieder nur andeuten folgende Erklärung, die natürlich nur eine Hypothese darstellt: Ähnlich wie das weiße Licht, das ja bekanntlich eine Mischung sämtlicher Farben darstellt, durch das Prisma in seine Komponenten, die 7 Regenbogenfarben, aufgelöst wird; so wird (nach van Gulik) ein unharmonisches Schallwellenbündel (Geräusch) durch den Aufprall auf einen Reflektor, d. h. durch Reflexion und Interferenz auf- gelöst in die verschiedenen harmonischen Schwingungen, von denen wir dann unter günstigen Umständen einzelne als Töne heraushören. Van Gulik hat genaue Berechnungen angestellt, und die Töne, die man nach seinen Berechnungen auf bestimmte Abstände hören müßte, sollen mit dem wirklich gehörten übeinstimmen.

Ich habe dann weitere Vermutungen dieser Hypothese hinzugefügt, stehende Wellen, halbe Wellenlänge, Phasenwechsel betreffend, und be- züglich der II. Gattung der X-Reize die Vermutung ausgesprochen natürlich nur als Frage an die Physiologen —, das peripherische Organ für diese Reize könnte in dem Vorhof und den Bogengängen zu suchen sein.

Aber auch damit erschöpft sich das Problem noch nicht. Herr Prof. Kunz hat noch eine ganze Reihe von Fragen außer acht gelassen, die zum Teil der Beurteilung der Blindenpädagogen sehr wohl zugänglich sind, ja über- haupt nur von diesen behandelt werden können. So z. B. die pädagogisch- didaktische Bedeutung und Benutzung dieser Fernreize, die von der Auf- fassung ihres Charakters fast ganz unabhängig ist. Dann will ich noch schnell erwähnen die mehr wissenschaftlich-psychologische Frage nach dem Anteil der Fernreize und speziell der X-Reize an dem Ausbau der Raum- bilder und der Ausbildung der Raumphantasie, ferner den Anteil dieser Reize bei der Orientation in bekannten Räumen, worüber ich ja auch nur wenige Experimente ausgeführt habe. Dann wäre natürlich auch die physi- kalische Seite des Problems weiter zu bearbeiten, um den Einfluß der Interferenz, den Einfluß der Variationen an Schallstärke und Klangfarbe im Verhältnis zu den qualitativen Erscheinungen genau abzugrenzen. Auch bezüglich der Knopfknochenleitung und der Summation ließen sich auf experimentellem Wege sicher genauere Ergebnisse gewinnen. Diese Fälle von Teil- und Unterrichtsproblemen erhöht nicht nur das formal-wissenschaftliche Interesse an dieser wichtigen Frage, sie läßt auch die Hoffnung zu, daß eine gründliche, allseitige Bearbeitung der Frage

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21? B. Mitteilungen.

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durch die berufenen Spezialforscher schließlich den Blinden einen un- schätzbaren praktischen Dienst leisten wird durch die Ermöglichung einer sorgfältigeren Ausbildung all ihrer sensoriellen Fähigkeiten und damit letzten Endes durch Erhöhung ihrer Bewegungsfreiheit.

Straßburg i. E. L. Truschel.

2. Ein Urteil über meine Klasse im Zeitraume von vier Monaten nach Aufnahme der Kinder.

Von S. Barth, Lehrer an der Hilfsschule zu Erfurt.

Die vorliegende Arbeit will die Beobachtungen, zu denen ich in einem angemessenen Zeitraume Gelegenheit fand, sammeln und zu einem ganzen Bilde zusammenstellen. Aufgebaut auf den Aufzeichnungen in den Charakteristiken, will sie zeigen, welches umfassende Material dieselben zur zweckdienlichen Beurteilung jedes einzelnen Kindes und der Gesamt- heit bieten, und will das Verhältnis der in den Charakteristiken nieder- gelegten ersten Beobachtungen zu den tatsächlichen Erscheinungen an den geistig anormalen Kindern näher beleuchten.

I. Von 24 Kindern werden voraussichtlich 11 das Klassenziel er- reichen, 8 überhaupt nicht, und 5 sind als fraglich zu bezeichnen. Von den 11 hoffnungsvollen Abiturienten der Klasse gehören 6 dem II., 3 dem II, je 1 Kind dem I. und IV. Schuljahre an; von den 5 fraglichen 3 dem IM., je 1 Kind dem IV. und Vll.; von den 8 ausfallenden Kindern 4 dem IL, 1 dem III. und 3 dem I. Schuljahre. Daraus könnte man schließen, daß die Mehrheit der Zielsichern meist dem III. Schuljahre an- gehört und die späteren Jahrgänge im Ziele fraglich erscheinen, während die beiden ersten Schuljahre meist solche Zöglinge aufweisen, die im Ziele ausfallen.

II. Nach dem Grade der geistigen Schwäche sind von den 11 Ziel- sichern 8 als geistig minderwertig, 2 als geistig zurückgeblieben und 1 als hochgradig schwachsinnig bezeichnet; demnach (letztes Kind ausge- nommen) von 10 Kindern #/, geistig minderwertig. Von den 5 fraglichen sind 2 geistig minderwertig, 2 geistig zurückgeblieben und 1 schwach- sinnig. Von den 8 ausfallenden ist 1 geistig zurückgeblieben, 2 geistig minderwertig, 5 schwachsinnig. Daraus könnte erhellen, daß die geistig Minderwertigen im III. Schuljahre am ersten befähigt sind, das Klassen- ziel zu leisten, die geistig Zurückgebliebenen im III. Schuljahre vielleicht zu gleichen Teilen das Ziel erreichen oder durch besondere Umstände im Ziele fraglich werden, während geistig minderwertige und zurückgebliebene Kinder im III. Schuljahr und die als schwachsinnig und angeboren schwach- sinnig bezeichneten Kinder in den ersten Schuljahren das Ziel als aus- geschlossen erscheinen lassen.

III. Die geistig Zurückgebliebenen wie auch die geistig Minder- wertigen frequentieren sich zumeist aus dem II. (6 Kinder) und II. (9 Kinder) Schuljahre und sind im II. Schuljahre zur Hälfte, im III. zu 2/,, also zumeist, zielfähig. Die Schwachsinnigen sind zumeist gleich im I. Schuljahre vertreten und erweisen sich als nicht zielfähig.

2. Ein Urteil über meine Klasse im Zeitraume von vier Monaten usw. 213

Jn welcher Weise also die geistige Entwicklung in vier verschiedenen Graden nur im Verhältnis zum Alter bezw. den Jahren des Schulbesuchs die erste Bildungsfähigkeit beeinflussen, hat diese Veranschaulichung ge- zeigi.

IV. Ins Auge fallen roch die Kinder, bei denen Arzt und Pädagoge verschiedene Urteile fällten. Wie stellt sich nun ihre Zielbefähigung zu beiden Urteilen? An zwei Schülern soll diese Frage erörtert werden.

Erster Schüler: Ärztliches Urteil: Schwachsinn! Pädagogisches Urteil: geistig minderwertig! Zielbefähigung: ist zu bejahen! Die Wahr- scheinlichkeit spricht also dem Pädagogen das getroffene Urteil zu. Wenn selbst bei erblicher und körperlicher Belastung nur auf geistig zu- rückgeblieben und geistig minderwertig erkannt wird, wie in 10 Fällen das geschah, liegt doch zunächst kein Grund vor, bei einem »scheinbar gesund gebornen Kindes (Charakteristik), welches offenbar den Geistes- defekt »durch Gehirnerschütterung im 1. Jahre und Schädelbruch im 7. Jahre« erworben und sonst nur »Masern überstanden« hat, auf Schwach- sinn zu erkennen. Ferner spricht dagegen, daß sich der Knabe durch Fleiß und lobenswertes Betragen auszeichnet, was bei den Schwachsinnigen selten der Fall ist. Auch fällt bei ihm nur grün aus (Untersuchung auf Farbenkenntnis), es ist nichts zu erwähnen, was die Erfolge hindert, und schließlich haben selbst 3 Wochen Versäumnis seine Zielbefähigung bisher nicht zu seinem Nachteile beeinträchtigen können.

Zweiter Schüler: Ärztliches Urteil: geistig zurückgeblieben! Päda- gogisches Urteil: Schwachsinn! Zielbefähigung: ist fraglich! Hier fällt an- scheinend wieder dem Pädagogen das getroffene Urteil zu. Dafür spricht schon die erbliche und körperliche Belastung (2 Geschwister wurden gleichzeitig in die Hilfsschule aufgenommen), ferner die Zugehörigkeit des Knaben zum VII. Schuljahre. Acht Wochen Aufenthalt im städtischen Krankenhause wegen Gehirnerschütterung durch Fall, seit welcher Zeit er geistig zurückgeblieben sein soll, erscheinen auch geeignet, Schwach- sinn zur Folge zu haben. Außerdem kennt er nur schwarz, weiß, rot; und während er sich anfangs willig und regsam im Unterrichte zeigte, hat er mit den steigenden Anforderungen sich der Unaufmerksamkeit, Trägheit und Gleichgültigkeit zugeneigt. Im Verhältnis zu seiner Zielbefähigung hat er auch schon zu viel durch Krankheit versäumt.

V. Welchen Einfluß auf die erste geistige Entwicklung in unserer Schule zeigen überstandene Krankheiten, sowie bestehende Gebrechen und erbliche wie körperliche Belastung?

Zur besseren Einsicht sei hierzu folgendes vorausgeschickt. Von den 24 Kindern der Klasse sind 13 erblich und körperlich belastet. Solche Belastungsursachen sind, kurz angeführt: 1. Vater rückenmarkleidend. 2. Vater an Lungentuberkulose gestorben, ältere Schwester des Kindes nervös. 3. Mutter verwachsen und schmutzig, ein Bruder schon in der Hilfsschule,. 4. 2 Geschwister wurden gleichzeitig aufgenommen. 5. Mutter nervös, ein verheirateter Bruder des Kindes geistesschwach. 6. Vater nervenleidend, ein Bruder wegen Schwäche 1 Jahr zurückgestellt. 7. Ver- storbene Schwester geistig zurückgeblieben. 8. Mutter leidet an Neuralgie

214 B. Mitteilungen.

der verschiedensten Art. 9. Ein Onkel des Kindes besuchte die ehemalige Remanentenklasse und wurde vom Militärdienst befreit. 10. Ein außer- eheliches Kind, Mutter geistig minderwertig, Von den 24 Kindern haben 20 mehr oder minder gut die Masern überstanden. Eine Zusammen- stellung der Erkrankungen der Kinder zeigt 15 verschiedene Krankheiten: 1. Wucherungen im Nasenrachenraum. 2. Krämpfe verschiedener Art. 3. Gehirnerschütterung. 4. Öhreneiterung und Schwerhörigkeit. 5. Ver- schiedene Sprachdefekte. 6. Schädelbruch. 7. Scharlach. 8. Skrofeln und Ausschläge. 9. Lungenentzündung. 10. Englische Krankheit. 11. Magenkatarrh. 12. Brechdurchfall. 13. Keuchhusten. 14. Augen- erkrankungen. 15. Gehirnentzündung.

Aus den Angaben der Charakteristiken ist ohne Zweifel schon zu er- sehen und findet vollste Bestätigung, daß erbliche und körperliche Be- lastung im Verein mit schweren überstandenen Krankheiten und bestehen- den Gebrechen bei den im Ziele fraglichen und ausfallenden Kindern vor- wiegend sind und für die Folgezeit von erheblichem Einflusse auf die ge- samte Geistesentwicklung der betroffenen Kinder bleiben. Überzeugende Beispiele dazu sind die vorbemerkten Belastungsursachen, die sich auf diese Kinder beziehen. Wiederum ist bei andern zu erkennen, daß trotz schwerer Erkrankungen doch die moralische Bildung nicht gelitten hat (was freilich nicht Verdienst dieser Kinder, sondern vorzüglich der Erziehung in gesunden, besser situierten Verhältnissen zuzuschreiben), welche in der Betätigung ihrer Kräfte, Fleiß, Aufmerksamkeit, Folgsam- keit, Willigkeit, Eifer und treuherzigem Zutrauen, der geistigen Förderung an ihnen selbst behilflich ist und manche Lücke füllt, die ohne diese moralischen Kräfte offen bleiben würde. Schwere Sprache und Nervosität, auffallende Zerstreutheit, kindliche Spielerei, die die Aufmerksamkeit sehr ablenkt, allzu unruhiges, lebhaftes und empfindliches Wesen lassen Lücken aufkommen, die ohne die Gegenüberstellung von besonders gutem Eifer und Fleiße wie Betragen nicht unerhebliche Störungen in der Entwicklung verursachen würden. Zwei Kinder haben dazu noch erhebliche Versäum- nisse zu überwinden gehabt, wodurch der Erfolg bei geringerer moralischer Bildung sicher scheitern müßte.

VI Von Interesse ist auch die Beurteilung der bisherigen Versäum- nisse. Von 24 Kindern haben in 13 Wochen 230 versäumte halbe Tage in der Liste gestanden. So kommen auf 1 Woche 17,7 Tage, so daß

ein Kind ungefähr in 1 Woche nn oder =; rund 3/, Tage versäumt hat. Würden also z. B. in 1 Woche zusammen 6 Kinder fehlen, so versäumten sie 6 x ®/, = 4!/, Tage. Diese Durchschnittsversäumnis erscheint hoch genug, Veranlassung zu geben, sie mit möglichen Mitteln auf ein geringeres Maß einzuschränken, wenn sie nicht ein lästiger Hemmschuh an der ganzen Arbeit sein soll.

VI. Eine Probe auf das über die einzelnen Kinder gefällte Urteil gibt ihre Farbenkenntnis bei der Aufnahme. Ich betrachte zunächst die voraussichtlich Zielsichern. Bei einem Kinde fällt nur grün aus, beim andern nur gelb. 3 Kinder kennen die deutschen Farben, 1 Kind kennt

3. III. österreichische Konferenz der Schwachsinnigenfürsorge. 215

nur schwarz und weiß, beim andern fällt gelb und grün aus. 4 Kinder kennen alle Farben. (Gemeint sind: schwarz, weiß, rot, blau, grün, gelb.) Somit fallen bei den Zielsichern 1 bis 3 Farben aus oder sind alle be- kannt, und zwar die deutschen Farben immer. (Hier macbt nur 1 Kind im Ausfalle von rot eine Ausnahme.) Anders gestaltet sich schon die Farbenkenntnis bei den Fraglichen. 2 Kinder kennen nur schwarz und weiß, ein anderes hat von den Farben öfter Vorstellungen als Begriffe, und gelb fällt ganz aus. Die geringste Farbenkenntnis zeigen die Kinder, welche das Klassenziel nicht erreichen. Ein Kind unterscheidet nicht blau und grün, und gelb fällt aus. Bei einem andern fällt gelb aus, die übrigen werden nicht sicher unterschieden. Einem andern sind die deutschen Farben vielleicht bekannt; eins kennt nur rot; ein anderes schwarz und rot, blau vielleicht; eins kennt gar keine Farben; bei einem andern ist schwer zu entscheiden, ob und welche Farben es kennt, beim letzten eine diesbezügliche Probe unmöglich. Die Gesamtprobe zeigt die bekannte Tatsache, daß die Bildungsfähigsten fast alle, die nicht Bildungs- fähigen fast keine, die Fraglichen nur wenige Farben kennen, und nament- lich fallen bei den zwei letzten Gruppen zum Teil auch die Hauptfarben aus, während sie in der ersten Gruppe mit Sicherheit unterschieden werden.

3. III. österreichische Konferenz der Schwachsinnigen- fürsorge.

Der Verein »Fürsorge für Schwachsinnige und Epileptische in Wien«, der sich zur Aufgabe gestellt hat, die Fürsorgebewegung für diese Unglücklichen in ganz Österreich gleichmäßig zu fördern, hat die Il. österreichische Konferenz der Schwachsinnigenfürsorge nach Graz für den 19. und 20. Juni 1908 einberufen und hofft im Hinblicke darauf, daß der Grundgedanke seiner Bestrebungen in Graz die vollste Würdigung gefunden hat, wie die Errichtung und fortgesetzte Aus- gestaltung seiner Hilfsschulen und anderweitige schulorganisatorische Maß- nahme bezeugen, auch anf eine lebhafte Beteiligung.

Die Tagesordnung ist die folgende:

Freitag, den 19. Juni 1908, 9 Uhr vormittags im »Ritter- saale« (Herrengasse, Landhaus).

1. Eröffnung der Konferenz. 2. Offizielle Ansprachen. 3. Vor- träge: a) Gegenwärtiger Stand der Schwachsinnigenfürsorge in Österreich. Referent k. k. Bezirksschulrat, Oberlehrer Hans Schiner-Wien. Der Infantilismus. Vortrag mit Demonstrationen. Gehalten vom Direktor der k. k. neurologisch - psychiatrischen Klinik in Graz. Universitätsprofessor Dr. Fritz Hartmann. c) Hilfsschulzöglinge und Militärdiensteignung. Referent Regimentsarzt Dr. R. Mattauschek-Wien,

Freitag, den 19. Juni, 3 Uhr nachmittags.

d) Neuere Forschungen auf dem Gebiete der Idiotie. Referent An- staltsdirektor Dr. Theodor Heller-Wien. e) Fürsorge für die der Schule und der Anstalt entwachsenen Schwachsinnigen. Referent Fach-

216 B. Mitteilungen.

lehrer Pulzer-Graz. f) Der Leseunterricht in der Hilfsschule mit Rücksicht auf den somatischen Zustand der Kinder. Referent Dr. Erwin Lazar-Wien.

Samstag, den 20. Juni, 9 Uhr vormittags.

g) Innere Ausgestaltung der Hilfsschule. Referent k. k. Bezirks-

schulinspektor kais. Rat Alois Fellner-Wien. h) Welche Einrich- tungen wären im Interesse der epileptischen Kinder zu schaffen? Re- ferent Anstaltsdirektor Lehrer Ferdinand Eminger-Wien. 4. An-

träge und Wünsche.

NB. Selbständige, nicht mit der Tagesordnung zusammenhängende Anträge sind schriftlich einzubringen und bis längsten 1. Juni an den Verein »Fürsorge für Schwachsinnige und Epileptische« in Wien, XVIIL, Anastasius Grüngasse 10 zu übermitteln.

Anmeldungen zur Teilnahme an der III. österreichischen Für- sorgekonferenz sind zu richten an den »Ortsausschuß« in Graz (Schulgasse No. 1), welcher auch alle erwünschten Auskünfte (betrefis der Wohnung usw.) bereitwilligst erteilt,

4. Kurse in moderner Pädagogik auf Grund Fröbelscher Ideen für Lehrer und Lehrerinnen veranstaltet vom Casseler Ev. Fröbel- seminar, vom 22. Juli bis inkl. 3. August 1908.

Vorlesungen und praktische Übungen:

1. Grundsätze der Fröbelschen Erziehungslehre und ihre Entwicklung in der Gegenwart. Probelektionen und Diskussion. Fräulein Mecke 2. Kinderseelenkunde Einführung in die Beobachtung des Kindes in Schule und Haus. Dr. phil. W. Ament-Würzburg. 3. Die Methode der Gaben und Beschäftigungen in Kindergarten, Schule und Kinderhort. Probelektionen (Anschauungs- und Darstellungsübungen inkl. Turnspiele und Bewegungsspiele). Fräulein Mecke und Fräulein Hildebrandt. 4. Die Fröbelsche Pädagogik in der Elementarklasse nach dem Prinzip der Selbsttätigkeit. Lehrproben und Diskussion. Lehrer V. Traudt- Rothenditmold und Fräulein Müllens. 5. Anleitung zur Anfertigung von Fröbel-Arbeiten in Familie, Kindergarten und Schule, bes. Hilfsschule. Fräulein Hildebrandt, Fräulein Schimmack und Fräulein Gärtner. Reichhaltige Ausstellung von Fröbelarbeiten und Handfertigkeiten. 6. Handarbeitsunterricht in der heutigen Erziehung. Direktor Dr. Pabst-

Leipzig. 7. Das Mannheimer Schulsystem. Stadtschulrat Dr. Sickinger-Mannheim. 8. Erziehung und Unterricht nicht normal be- anlagter Kinder, Diskussion. a) Betrachtung vom medizinischen Stand-

punkt aus. Dr. Blumenfeld. b) Betrachtung vom praktisch - pädago- gischen Standpunkt aus. Hauptlehrer Lessenich-Bonn a. Rh. c) Im Anschluß hieran ist den Teilnehmern Gelegenheit gegeben, die Idioten- anstalt Hephata in Treysa zu besichtigen. 9. Grundsätze der künst- lerischen Erziehung der Jugend. Lehrer V. Traudt. 10. Die Auf-

C. Literatur. 217

gabe und Methode der sozialen Frauenschule als Fortbildungsklasse der höheren Mädchenschule als Reformpensionat. 11. Aufgaben der Fort- bildungsschule. Lehrer R. Niehoff. 12. Aufgaben und Organisation: a) des Kindergärtnerinnen-Seminars, der Kinderpflegerinnen-Schule, des Kindergartens. Fräulein Mecke. b) des Kinderhorts und Heimgartens. Fräulein Schimmack. 13. Die Erziehung des Stimmorganes zur Ver- edelung der Sprache, Beseitigung von Sprachfehlern wie zur Verhütung von Halsleiden. L. v. Bodenhausen-ÜCassel. 14. Einführung in die Probleme der modernen Nationalökonomie. Adolf Damaschke-Berlin. 15. Der sozial-pädagogische Unterricht. Frau Gruss. 16. Besprechung volkshygienischer Fragen. Dr. v. Wild. Im‘ Anschluß daran Besuch der Walderholungsstätte und Waldschule Kragenhof. 17. Soziale Fragen, insbesondere Wohlfahrtseinrichtungen für Kinderschutz und Pflege. Dr. Blumenfeld. 18. Besuch der Wohlfahrtseinrichtungen der Stadt Cassel zur praktischen Einführung in die soziale Arbeit der Lehre- rinnen und Kindergärtnerinnen: Arbeit in Volksunterhaltungsabend, Fabrikarbeiterinnenheim, Milchküche, Säuglingsheim usw., Jugendverein und Kinderspeiseeinrichtung nach modernen Grundsätzen der Armenpflege.

Anmeldungen und Anfragen sind an das Ev. Fröbelseminar in Cassel zu richten.

ANIME NIT WITT ZN

C. Literatur.

Zur Literatur über Jugendfürsorge und Jugendrettung. Von K. Hemprich in Freyburg (Unstrut). (Fortsetzung.)

Auf die gefahrvolle Lücke in der Jugenderziehung, die Zeit zwischen Schulbank und Kaserne« finden wir besonders in folgenden Schriften Aus- führungen:

C. v. Massow, Reform oder Revolution. Berlin, Otto Liebmann.

Georg Kerschensteiner, Staatsbürgerliche Erziehung. Erfurt, Villaret.

Schenkendorf und Lorenz, Wehrkraft durch Erziehung. Schriften des Zentral- ausschusses zur Förderung der Volks- und Jugendspiele in Deutschland. Leipzig, R. Voigtländer.

Aufruf zur Errichtung von Jugendvereinigungen in den sächsischen Landen. Komitee für Jugendvereinigungen in der Provinz Sachsen z. H. des Herrn Oberpräsidenten zu Magdeburg.

K. Hemprich, Winke zur Gründung und Leitung von Jugendvereinigungen. Osterwieck a. H., A. W. Zickfeldt. Preis 1,80 M.

Diese gefahrvolle Lücke soll ausgefüllt werden durch Fortbildungsschulen und Fortbildungsschulvereine.

A. Clauß, Regierungs- und Gewerbeschulrat, Anleitung zur Aufstellung von Lehr- plänen und Handhabung des Unterrichts an gewerblichen Fortbildungsschulen. Erfurt, A. Stenger. Preis 30 Pf.

218 C, Literatur.

M. Schmidt, Das Prinzip des organischen Zusammenhangs und die allgemeine Fortbildungsschule. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1904. Preis 40 Pf.

Spannenberg, Welche Veranstaltungen sind für das nachschulpflichtige Alter zu treffen, damit die Resultate des Schulunterrichts und der Schulerziehung gesichert werden und die durch sozialen Verhältnisse der Gegenwart bedingte Ausgestaltung erfahren? Bielefeld, A. Helmichs Buchhandlung. Preis 50 Pf.

Richard Seyfert, Zur Erziehung der Jünglinge aus dem Volke. Leipzig, Ernst Wunderlich, 1901. Preis 50 Pf.

Fr. Lembke, Die dänische Volkshochschule nebst einem Plan einer deutschen ländlichen Volkshochschule. Sonderheft der Zeitschrift für das gesamte Fort- bildungsschulwesen in Preußen. Kiel u. Leipzig, Verlag von Lipsius & Tischer, 1904. Preis 1 M.

Gräve, Die Fürsorge für die gewerbliche Jugend. Minden i. W., C. Marowsky.

Schreiber, Fachberufliche Knaben -Fortbildungsschule zu Kaiserslautern. Verlag von Eugen Crusius. Preis 2 M.

Die deutsche Fortbildungsschule, Organ des deutschen Vereins für das Fort- bildungsschulwesen. Wittenberg, Herrose. Jährlich 6 M.

Satzungen des Vereins »Jugendklub«. Verein ehemaliger und gegenwärtiger Schüler, Freunde u. Gönner d. Fortbildungsschule zu H. Jugendfürsorge 1906. H. 9.

Reimann, Führer durch die Fortbildungsschulliteratur. Ein vollständiger, zuver- lässiger Führer auf diesem Gebiete. Meißen, H. W. Schlimpert. Preis 0,75 M.

ITa.

Der Jugend soll indirekt geholfen werden durch Volksabende, Eltern- abende, Familienabende, Lesehallen usw. Auf folgende Literatur weise ich in dieser Hinsicht hin:

Hemprich, Lehrplan für die evangelische Erziehungsschule auf dem Lande. 2. Teil, S. 186 ff. Die Ausführungen über Schule, Eltern und Familienabende. Oster- wieck a. H., A. W, Zickfeldt.

Dr. Paul Luther, Deutsche Volksabende. Berlin, Alexander Dunker. Preis 3 M.

Johannes Berninger, Elternabende. Wiesbaden, Otto Nemnich, 1904. 2 M.

Julius Tischendorf, Warum sind Elternabende abzuhalten und wie; sind sie zweckmäßig zu gestalten? Dresden, Wilhelm Reuter. Preis 1 M.

Trebst u. Poppe, Elternabende an Volks- und Bürgerschulen. Halle a. S., Herm. Schroedel. Preis 65 Pf.

Löwenfeld, Die Dichterabende des Schillertheaters. Berlin, Hermann Paetel.

Die Volksunterhaltungsabende nach Bedeutung, Entwicklung und Einrichtung. Ein Weg zur geistigen und sittlichen Einheit des deutschen Volkes. Herausgeg. von der Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung zu Berlin.

Löwenfeld, Die Volksunterhaltung, stenographischer Bericht über den ersten Kongreß für Volksunterhaltung. Berlin, Ferd. Dümmler, 1898.

Dr. med. v. d. Steinen, Programm des Düsseldorfer Bildungsvereines über Volks- unterhaltungsabende. Düsseldorf.

Hermann Kaiser, Volksabende. Gotha, Emil Perthes. Bis jetzt 8 Hefte erschienen.

Dichter- u. Liederabende. Eine Sammlung von Programmen nebst vollständiger Stoffdarbietung. Buchhandlung des Östdeutschen Jünglingsbundes. Berlin C. 54.

Der Familienabend. Eine Sammlung von Programmen und vollständiger Stoff- darbietung. Ebenda. Bis jetzt 26 Hefte.

C. Literatur.

219 Hermann Barth und Schirmer, Vortragsstoffe für Volks- und Familienabende. Leipzig, Verlag von Friedrich Engelmann. 19 Hefte liegen mir vor. Müller und Just, 100 Entwürfe zu Vorträgen in evangelischen Arbeiter-, Männer- und anderen Vereinen. Gütersloh, Bertelsmann, 1906. Preis 2,75 M. Schliepe und Liedtke, Christliche Familienabende. Ebenda. Jeder Band 1,50 M. Lic. theol. Weber, Ansprachen für Evangelische Arbeiter-, Bürger-, Volks- und Männervereine. Ebenda. Preis 3,60 M. Hirtz., Volksunterhaltungsabende. Hamm i. W., Breer & Thiemann. Preis 6 M. Tews, Volkstümliche Leseanstalten. Berlin, Leonhard Simion. Preis 40 Pf. Huppert, Öffentliche Lesehallen. Köln, Bachem.

IIb.

Der Jugend soll direkt geholfen werden durch organisierte Jugendvereinigungen. Die konfessionellen Jugendvereinigungen. Jünglingsvereine. Christlicher Verein junger Männer. Jugendbund für entschiedenes Christentum. Die katho- lischen Jugendvereinigungen, Gesellenvereine.

D. Theodor Schäfer, Leitfaden der Innern Mission. 4. Aufl. Hamburg, Agentur des Rauhen Hauses, 1903. Preis 7 M. Abschnitt über Jünglingsvereine mit voll- ständiger Literaturangabe.

Wurster und Hennig, Was jedermann heute von der Innern Mission wissen muß. Berlin C. 22, Buchhandlung des ostdeutschen Jünglingsbundes, 1902.

Der Jünglingsverein: Eine Monatsschrift für die Leiter und Vorstände evan- gelischer Männer- und Jünglingsvereine von Thiele und Stuhrmann. Berlin. Ebenda.

Fritzsch, Die Tätigkeit der Innern Mission auf dem Gebiete der Fürsorge für die heranwachsende gewerblich-männliche Jugend. Schriften der Zentralstelle No. 21. Berlin, Karl Heymann, 1901. Preis 6 M.

Derselbe, Evangelische Vereine für schulentlassene Jugend. Schriften der Zentral- stelle No. 19. Preis 6 M.

Statistik der Inneren Mission der deutschen evangelischen Kirche, heraus- gegeben vom Zentralausschuß. Berlin, Geschäftsstelle des Zentralausschusses. Berlin W., Linkstr. 4, Kommissionsverlag A. Warnow.

Ernst Wartmann, Geschichte des Ostdeutschen Jünglingsbundes 1856—1906 nebst einer Geschichte der Evangelischen Jünglingsvereine vornehmlich im östlichen Deutschland mit einer Karte und vielen Bildern zum 50jährigen Jubiläum des Bundes am 10. Juni 1906. Berlin C., Sophienstr. 19, Verlag der Buchhandlung des Östdeutschen Jünglingsbundes. Preis 4 M.

Ein Prachtwerk in seiner äußeren und inneren Ausstattung. Wer sich über die Geschichte und den Entwicklungsgang der evangelischen Jünglingsvereine vor- nehmlich im östlichen Deutschland orientieren will, wird kein besseres Buch finden. Im 1. Teile bietet der Verfasser auch die allgemeine Geschichte der deutschen Jünglingsvereine.

Dr. Pieper, Die Tätigkeit der katholischen Vereine in der Fürsorge für die schul- entlassene männliche gewerblich tätige Jugend. Schriften der Zentralstelle für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen No. 21. Berlin, Karl Heymann, 1901. Preis 6 M.

Dr. Drammer, Katholische Vereine für jugendliche Personen. Schriften der Zentralstelle No. 19. Berlin.

C. Forschner, Soziale Briefe. I. Fürsorge für die schulentlassene Jugend. Mainz, Verlag von Kirchheim & Co. Preis 1,50 M.

220 C. Literatur.

Die sozialen Briefe setzen die großen Grundfragen sozialer und wirtschaft- licher Natur in schlichter, volkstümlicher Weise auseinander, bringen sie der Ver- wirklichung im praktischen Leben näher und helfen dadurch die Arbeiten unserer großen Sozialpolitiker zum Gemeingut des christlichen Volkes machen. In 20 Briefen führt der Verfasser in das ganze Gebiet der Jugendfürsorge in anregender und auf- munternder Weise ein.

Johann Honnef, Handbuch für katholische Jugendvereinigungen. Ein Wegweiser für Leiter und Mitarbeiter. Freiburg i. Breisgau. Charitasverband für das katho- lische Deutschland, 1906. Preis 2 M.

Dieser treffliche Wegweiser auf dem Gebiete der katholischen Jugendfürsorge hat folgenden Inhalt: I. Die Notwendigkeit besonderer Vereinigungen für die schul- entlassene männliche Jugend. II. Die Aufgaben der Jugendvereine. 1. Religiös- sittliche Charakterbildung. 2. Förderung der Fach- und Allgemeinbildung. 3. Wirt- schaftliche Aufgaben. 4. Unterhaltung und Erholung. III. Fürsorge für die schul- entlassene männliche Jugend auf dem Lande. 1. Die Aufgaben der ländlichen Jugendvereine. 2. Fürsorge für die Abwanderer vom Lande. IV. Die Gewinnung der Jugendlichen für unsere Vereine. V. Die innere Verwaltung unserer Vereine. VI. Die Jugendvereinigungen im Dienst anderer Vereine. VII. Fortbildungsschule und Jugendvereine. VIII. Statistik und Organisation. IX. Jugendschutzkommission. X. Protestantische Jugendvereine. XI. Ministerial-Erlasse betr. Jugendfürsorge. Wegweiser der Jugendrettung. Herausgegeben vom Verein katholischer

deutscher Lehrerinnen. 2. Aufl. Charitas-Schriften 10. Heft. Freiburg im Breis- gau 1905. Preis 1,50 M.

Das Buch ist zunächst für die Hand der katholischen Lehrerin bestimmt, ent- hält aber sehr viel Anregungen für das gesamte Gebiet der Jugendrettung und Jugendfürsorge.

Hub. Franz Schweitzer, Der katholische Gesellenverein. Handbuch für Vereins- vorsteher.

Das Buch ist als Manuskript gedruckt und direkt zu beziehen von der Ge- schäftsstelle des Kolpingsblattes. Köln a. Rhein, St. Apernstr. 19. Preis 6,50 M.

Das Buch bietet eine treffliche übersichtliche Darstellung des weitverzweigten Verbandes katholischer Gesellenvereine, seiner Organisation und seiner Einrichtungen. Ich empfehle es jedem Leiter von Jugendvereinigungen zum Studium. Es wird sich von den reichen Erfahrungen einer langjährigen Praxis, die in diesem Buche niedergelegt sind, viel zu nutze machen.

Drammer und Pirnay, Korrespondenz-Blatt für die Präsides der kath. Jugend- Vereinigungen. Organ der kath. Jugendvereinigungen Deutschlands. Köln a. Rb., Bachem. Halbjährlich 1,50 M. i

Dieses Vereinsorgan, das monatlich erscheint, bringt sowohl belehrende Auf- sätze über Gründung und Leitung der Jünglingsvereinigungen als auch bildende Vor- träge für die Jünglinge aus dem religiösen, geschichtlichen, 'naturwissenschaftlichen und sozialen Gebiete, sowie verschiedene Unterhaltungs- und Beschäftigungsarten für die freien Nachmittage, leicht ausführbare Theaterstücke für die Vereinsbühne und geeignete Bücher für idie Bibliothek. Dieses Blatt soll eine Stütze und eine Hilfe für die oft mit anderen Arbeiten überladenen Vereinsleiter sein, die diese Leitung der Regel nach nur im Nebenamte führen können und darum jede An- regung und jede Unterstützung auf diesem Gebiete von Herzen willkommen heißen. Kolpingsblatt. Vereinsorgan des katholischen Gesellenvereins. Redaktions- und

Geschäftsstelle in Köln, St. Apernstraße.

C. Literatur. 92]

Andere katholische Zeitschriften für Jugendvereine sind:

Burschenblatt. Zeitschrift für die katholische Burschenschaft Bayerns. Regens- burg. Jährlich 1,20 M.

Der treue Kamerad, Organ süddeutscher katholischer Jugendvereinigungen. Halb- monatsschrif. München. Jährlich 2 M.

Die Wacht. Monatsschrift, herausgegeben von der Vereinigung der Jugendpräsides der Erzdiözese Kölns. M.-Gladbach.

Die Kommenden. Monatsschrift, herausgegeben vom Verbande der Jugendvereine Berlins und der Delegatur. Berlin. Jährlich 0,80 M.

Der Jünglingsverein. Eine Monatsschrift für die Leiter und Vorstände evangel. Männer- und Jünglingsvereine. Herausgegeben von Jordan und Mendelson. Berlin C., Sopbienstr. 19, Buchhandl. des Ostdeutschen Jünglingsbundes, Preis jährl. 2,50 M.

Diese trefflich redigierte Monatsschrift orientiert nicht nur über die Bestre- bungen der evangelischen Jünglingsvereine sondern bietet auch Handreichung für die Vereinsarbeit. Daneben bestehen noch Organe für die einzelnen Jünglings- vereinsbündnisse wie Leuchtturm (Westd. Bund), Bundesbote (Ostd. Bund), Jünglingsbund (Südd., Oberrh. und Bayr. Bund), Sächsischer Jünglingsbote, Norddeutscher Bote und Schlesischer Bote Jung-Deutschland. Ilu- strierte Wochenschrift für evangelische Jugendvereine, jährlich 1,80 M. Barmen (Westdeutscher Jünglingsbund).

Die interkonfessionellen Bestrebungen auf dem Gebiete der Jugend- vereinigungen.

Jugendklubs. Leitfaden für Begründer und Leiter von Jugendvereinigungen. Schriften der Zentralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen No. 23. Berlin, Karl Heymann, 1903.

Der Leitfaden ist hervorgegangen aus einem »Kursus für Leiter von Vereini- gungen für die schulentlassene gewerblich-männliche Jugend«, der im April 1902 in Berlin stattgefunden hat. Der Leitfaden ist in erster Linie nicht für die kon- fessionellen Jugendvereinigungen berechnet sondern für solche Vereinigungen ge- dacht, die nicht im Gegensatz wohl aber in Ergänzung der konfessionellen Vereine entstehen und den Teil der Jugend sammeln, der sich den segensreichen Einflüssen jener entzieht. Das Buch hat folgenden Inhalt: 1. Die Vereinigung St. Paulianer Lehrlinge von Pastor Clemens Schultz, Hamburg, St. Pauli. 2. Aus- flüge und sonstige Maßnahmen zur Weckung der Freude an der Natur von Museums- direktor Dr. Lehmann, Altona. 3. Unterhaltung durch die bildende Kunst von Dr, R. v. Erdberg, Berlin. 4. Unterhaltung durch Musik und Gesang von Pastor H. Kaz, Seeischeid (Rheinprovinz). 5. Dramatische Aufführungen von Dr. Wilhelm Hohn, M.-Gladbach. 6. Sonntagabendunterhaltungen von Pastor R. Rene, Berlin. 7. Leseanstalten von J. Tews, Berlin. 8. Geregeltes Spiel von Professor Dr. R. Koch, Braunschweig. 9. Handfertigkeitsunterricht von Direktor Pabst, Leipzig. 10. Die Benutzung des Skioptikons und die Beschaffung von Lichtbildern von Dozent F. Fürstenberg, Berlin.

Aufruf zur Errichtung von Jugendvereinigungen in den sächsischen Landen. Komitee für Jugendvereinigungen in der Provinz Sachsen, z. H. des Herrn Oberpräsidenten.

W. F. Classen, Großstadtheimat. Beobachtungen zur Naturgeschichte des Groß- stadtvolks. Hamburg, Im Gutenberg-Verlag Dr. Ernst Schultze, 1906. Preis 3 M.

Inhalt: Verlorene Volkskinder. Die Jugend, unsere Hoffnung. Lehrlings- vereine. Zur Naturgeschichte des Großstadtvolks. Weltanschauung und Großstadt.

222 C. Literatur.

Das Volksheim in Hamburg. Bericht über das fünfte Geschäftsjahr 1905/06.

Geschäftsstelle: Billhorner Mühlweg 41.

Classen, Soziales Rittertum in England. Hamburg, C. Boysen.

Johannes Honnef, Handbuch für katholische Jugendvereinigungen. Freiburg i. B., Charitasverband f. d. kath. Deutschland. Abschnitt: Allg. Jugendvereine S. 239 f.

Korrespondenzblatt 1903. Heft 1, 2 u. 4.

Präsides-Korrespondenz von Pieper, M.-Gladbach 1903. Heft 1—2: Alte und neue Wege in der Jugendfürsorge. Verlag der Zentralstelle des Volksvereins für das katholische Deutschland in M.-Gladbach.

Evangelisch-Sozial. Jahrgang 1906, No. 9/12. »Jugendarbeit.« Berlin W. 35, Alexander Duncker.

Ratgeber für Jugendvereinigungen, herausgegeben von der Zentralstelle für Volkswohlfahrt. Als Manuskript gedruckt. Wird gratis und franko versandt. Berlin SW. 11, Dessauerstr, 14.

Hugo, Blitz, Die allgemein geistig-sittliche Fortbildung unserer schulentlassenen männlichen Volksjugend in obligatorischen Jugendvereinen. 2. Aufl. Lüneburg, Georg Daur. Preis 1 M,

Inhalt: Die Notwendigkeit einer Erziehung unserer männlichen Volksjugend über das 14. Jahr hinaus. I. Kritischer Teil: Keine der bestehenden Einrichtungen und der bisher gemachten Vorschläge bringen eine Lösung der vorhandenen Schwierig- keiten. 1. Der jetzige Stand der Fortbildung. 2. Die gegenwärtigen Bestrebungen, die Fortbildung zu fördern, mit besonderer Berücksichtigung der einschlägigen Ver- handlungen des 11. Evangelisch-sozialen Kongresses, 3. Kritik der bestehenden Ein- richtungen und der Vorschläge des Evangelisch-sozialen Kongresses. a) Die Unmög- lichkeit einer Gewerkschaftserziehung. b) Die Unmöglichkeit einer Erziehung durch die kirchliche Christenlehre. ce) Die Unzulänglichkeit der Erziehung durch die christ- lichen Männer- und Jünglingsvereine. d) Die Unzulänglichkeit der Erziehung durch die jetzige Fortbildungsschule und die Unmöglichkeit ihres weiteren Ausbaues. II. Positiver Teil: Einer Lösung wird die Frage einer sittlichen und intellektuellen Erziehung unserer heranwachsenden männlichen Volksjugend näher geführt durch den Gedanken der »Öbligatorischen Jugendvereine«. 1. Das Jugendheim. 2. Die Organisation. 3. Die Arbeit und ihr Ziel. 4. Die Methode. 5. Die Eingliederung der Berufsbildung in den Betrieb der obligatorischen Jugendvereine. 6. Die fach- männische Leitung. 7. Die finanzielle Möglichkeit. Notwendige Begleitarbeit.

Dr. H. Stoerl, Einige Betrachtungen über die Lehre, Schule und Erziehung unserer im reiferen Knabenalter stehenden Söhne, Leipzig, Julius Klinkbardt, 1890. Preis 50 Pf.

Spannenberg, Welche Veranstaltungen sind für das nachschulpflichtige Alter zu treffen, damit die Resultate des Schulunterrichts und der Schulerziehung gesichert werden und die durch soziale Verhältnisse der Gegenwart bedingte Ausgestaltung erfahren? Bielefeld, A. Helmichs Buchhandlung. Preis 50 Pf.

Nuzinger und Cesar, ländliche Volksfeste und Fürsorge für die erwachsene Landjugend. Berlin SW, 11, Deutsche Landbuchhandiung. Preis 50 Pf.

Baur, Der schweizerische Verein der Freunde des jungen Mannes. Was er ist und was er will. Basel, Gasser & Co.

Schweizerischer Verein der Freunde des jungen Mannes. Verhandlungen der 2. Delegierten-Konferenz vom 28. Mai 1907 in Olten. Ebenda.

Die Jugendfürsorge. Zentralorgan für die gesamten Interessen der Jugendfür- sorge und Kindeswohlfahrt mit besonderer Berücksichtigung der Waisenpflege, der

C. Literatur. 293

einschlägigen Gebiete des Armenwesens, sowie der Fürsorge für die schulent- lassene Jugend. Herausgegeben von Rektor Franz Pagel. Berlin, Verlag der Jugendfürsorge, No. 58, Lychenerstr. 98. Jährlich 10 M.

K. Hemprich, Bericht über einen Jünglingshort. Deutsche Blätter für erziehen- den Unterricht. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1904. No. 32 und 33.

Derselbe, Mein Jünglingshort. Ebenda 1905. No. 33—35.

Derselbe, Aus der Praxis der Gründung und Leitung einer Jugendvereinigung, Preußisches Volksschularchiv von Regierungsrat K. v. Rohrscheidt. IV. 4. Berlin, Franz Vahlen.

Heinrich Sohnrey, Die Wohlfahrtspflege auf dem Lande. Berlin, Karl Hey- mann.

Derselbe, Wegweiser für ländliche Wohlfahrts- und Heimatspflege. Berlin, Meyer & Wunder, 1902.

K. Hemprich, Winke zur Gründung und Leitung von Jugendvereinigungen. Oster- wieck (Harz), Verlag von A. W. Zickfeldt, 1906. Preis 1,80 M.

Inhalt: 1. Wichtigkeit und Notwendigkeit der Erziehung der erwerbsarbeiten- den Jugend. C. von Massows Ausführungen darüber. Graf von Häseler über die gefahrvolle Lücke in der Jugenderziehung. Kerschensteiner über die Gefahren des frühen Abbruches der Volksschulbildung. Der Aufruf zur Errichtung von Jugend- vereinigungen in den sächsischen Landen. 2. Wie kann Abhilfe geschehen und welche Einrichtungen zur Fürsorge für die arbeitende Jugend sind bereits getroffen worden? Das Ideal der Jugendfürsorge, Massows Pflegschaften. Die obligatorische Fortbildungsschule Die Turnvereine. Die Volksbibliotheken und Familienabende. Lehrlingsheim, Jünglingsvereine, die katholischen Jugendvereinigungen. Die Jugend- vereinigungen des Pastors Clemens Schultz in Hamburg. Der Frankfurter Verein Jugendfürsorge. Zur Gründung und Leitung von Jugendvereinigungen gehören Männer, die Herz und Verständnis für die Jugend haben. Die psychologische Be- handlung der jungen Leute. In erster Linie sind Geistliche und Lehrer zur Grün- dung und Leitung von Jugendvereinigungen berufen, aber auch in andern Ständen gibt es geeignete Persönlichkeiten. Der Versammlungsraum. Die nötigen Spiele. Die Statuten. Verlauf eines Versammlungsabends. Die beiden Abteilungen der Jugendvereinigung. Wanderungen und Familienabende der Jugendvereinigungen Die Unterhaltungsstoffe.. Die Kosten zur Unterhaltung der Jugendvereinigung. 2. Teil (Der praktische Teil). 1. Über unsere Handelsflotten. 2. Christentum und Islam. 3. Turnvater Friedrich Ludwig Jahn. 4. Sandy Harte. Von Young. 5. Das Glück der Riegels von Petersgrün. Von Wilhelm Polenz. 6. Wie man vor einem halben Jahrhundert Ingenieur wurde. Von Max Eyth. 7. Auf dem Schlachtfelde von Wörth. Von Karl Zeitz. 8. Der Trinsche Esel un n Harr Kanter sein Esel. Von Hermann Wäschke. 9. Der Bauer und sein Sahn. Märchen. Von Eduard Mörike. 10. Heinz Treulieb. Ein Märchen von Julius Stinde. Literatur.

(Schluß folgt.)

Kölle, Friedrich, Direktor der Schweizerischen Anstalt für Epileptische in Zürich, von Adolf Ritter f, Pfarrer am Fraumünster in Zürich, mit einer Einleitung: Epilepsie und Fürsorge für Epileptische von Dr. A. Ulrich. (Separat- abdruck aus dem Neujahrsblatte der Züricherischen Hilfsgesellschaft vom Jahre 1907.) Zürich, Schultheß & Co.

Friedrich Kölle gehörte, wie noch jetzt sein Bruder Karl Kölle, Direktor der Schwachsinnigenanstalt auf Schloß Regensherg bei Zürich, zu den Freunden

224 C. Literatur.

und Mitarbeitern unserer Zeitschrift. Ich lernte ihn gelegentlich einer Schweizer- reise Anfang der 90er Jahre persönlich kennen. »den hochgewachsenen Mann mit der kraftvollen Gestalt, dem klaren Auge in dem sympathischen, charaktervollen Antlitz, dem sicheren, ruhigen Wesen, der bescheidenen Zurückhaltung und der großdenkenden Art,« wie sein Biograph und Freund Ritter sich treffend ausdrückt. Und ich lernte die Anstalt kennen auf dem herrlichen Plateau »an einer der schönsten Lagen Zürichs, auf aussichtsreicher Höhe mit wundervollem Blick über die Stadt, das Limmattal hinunter bis zur Burg von Regensberg, wo sein Bruder als Direktor die Anstalt für schwachsinnige Kinder leitet, im Süden die Alpen mit ihren Schneefirnen, im Norden und Osten die wald- und villenbedeckte Zürich- bergkette und zu Füßen der liebliche See,« wie Dr. Wildermuth ihre Lage treffend charakterisiert, und ich gewann gar bald den Eindruck, daß es innerlich und äußer- lich die beste Anstalt war unter den vielen, die ich bis dahin kennen gelernt hatte und daß, um wiederum mit Wildermuth zu reden, ses nicht zum wenigsten seiner reichen Erfahrung, seiner praktischen Tüchtigkeit, seinem aufopfernden Fleiß zu danken ist, daß die Anstalt nach Anlage und Entwicklung eine Musteranstalt ge- worden ist.«e Und wer den gediegenen Artikel über »Epilepsie« in Reins Encyklo- pädischem Handbuch der Pädagogik« gelesen hat, der weiß auch, daß Kölle den Gegenstand seiner Fürsorge aus reichster Erfahrung und theoretischem Studium gründlich kannte, trotzdem jenes Lebenswerk ja mit zu den Anstalten gehört, die nicht »der Erfahrung, der Wissenschaft und der Humanität« entsprechen!

Gerade aber aus Humanität und um der Humanität willen möchte ich jeden, der an Schwachsinnigen und Epileptischen arbeitet, dringend ans Herz legen, die Lebensgeschichten von Männern wie Friedrich Kölle sich etwas genauer anzu- sehen. Manchem, der heutzutage als Mediziner und Pädagog das Wesen des Schwachsinns und der Epilepsie und die Methode, die zum Heile der Bedauerns- werten führt, in der Hauptsache nur durch Zerschneiden der Gehirne von Leich- namen und durch »experimentelle« Versuche an Lebenden glaubt entdecken zu können, wird ja manches in der von einem »frommen« Pastor über einen »frommen« Schul- meister abgefaßten Biographie wie aus einer entlegenen und versunkenen Welt an- muten, vielleicht wie »mittelalterlich«e. Wir aber meinen, daß auch diese Seite des menschlichen Lebens so wertvoll ist, daß wir die größten Fortschritte der Wissen- schaft sogar nach DuBois-Reymonds Auffassung ihr verdanken. Sie bewirkte es auch, daß man, wie der Biograph sich ausdrückt, »Kölle gegenüber nie das Gefühl hatte: ‚Der Mann sucht sich“ Er suchte die Sache.« Und von solchen Männern soll man in erster Linie lernen, wenn man Unglücklichen dienen will. Tr.

Eingegangene Schriften.

Die Hilfsschule. Organ des Verbandes der Hilfsschulen Deutschlands. Monats- schrift für die gesamten Interessen der Hilfsschule und ihrer Lehrer. Im Auf- trage des Verbands-Vorstandes herausgegeben von A. Henze, Rektor der Wiesen- hüttenschule in Frankfurt a. M. u. E. Schulze, Lehrer der Hilfschule in Halle a.S. Halle a. S., Carl Marhold, Verlagsbuchhandlung.

The Association Review. Published by the American Association to promote the teaching of speech to the deaf. Washington D. C., Frank W. Booth, Editor. February 1908.

Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensaıza.

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A. Abhandlungen.

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1. Johann Hinrich Wichern.

Der hundertjährige Geburtstag Joaann Hinrich WIcHErNs (der 21. April) gibt auch uns als Herausgeber, Mitarbeiter und Leser einer Zeitschrift für Kinderforschung und Jugendfürsorge begründeten Anlaß, uns zu vergegenwärtigen, daß die Bedeutung dieses Propheten der christlichen Liebe sich nicht innerhalb des Rahmens oder eigent- lich nur wohin die Engherzigkeit hierarchischer Orthodoxie seine Bestrebungen selber wies des Schattens der evangelischen Kirche erschöpft, sondern sich in vollem Maße erstreckt auf das weite Gebiet des nationalen, sozialen und religiösen Volkslebens, und daß innerhalb dieses Gebietes die Jugendfürsorge im weitesten Sinne und damit auch indirekt das Kinderstudium einen ganz hervorragenden Platz einnimmt. Die liberalistische Orthodoxie hat ihn zwar nie oder selten als Pädagogen, geschweige denn als Volkserzieher großen Stiles ge- würdigt, ebensowenig wie die konservativistische Orthodoxie einen Fröbel anzuerkennen wußte und selbst noch einen Pestalozzi zur Seite zu drängen suchte. Aber das mindert an seiner Bedeutung nichts.

Die 6 Bände seiner »Gesammelten Schriften« bekunden, welchen Reichtum lebensfähiger Gedanken WicHErn uns hinterlassen hat, dar- unter auch tiefgreifende für unser Sondergebie. Wenn der junge 25 jährige Theologe die verwahrlosten Kinder von den Straßen Hamburgs aufnahm und ihnen den Segen eines geordneten Familien- lebens in dem sogenannten Rauhen Hause zu Horn bei Hamburg zu

Zeitschrift für Kinderforschung. XIII. Jahrgang. 15

226 A. Abhandlungen. verschaffen suchte, so ist das der Anfang und zugleich das Muster geworden für die heutige Erziehung der gefährdeten und der ver- wahrlosten Jugend. Seine »Familien«e mit je 12 Knaben unter einem Hausvater sind vorbildliche Einrichtungen für alle Kulturländer ge- worden.

Auch der Vater des preußischen Fürsorgegesetzes, das er selbst aber noch »Zwangserziehungsgesetz« genannt hatte, Geh. Reg.-Rat Dr. Kroune, bekennt in seinem lehrreichen Werke über »Erziehungs- anstalten in Preußen«, daß Wicherss Rauhes Haus und Jugendfürsorge untrennbar miteinander verknüpft sind.

WiIcHERN erklärte bei der Aufnahme jedem Zögling: »Mein Kind, dir ist alles vergeben! Sieh um dich her, in was für ein Haus du aufgenommen bist! Hier ist keine Mauer, kein Graben, kein Riegel; nur mit einer schweren Kette binden wir dich hier, du magst wollen oder nicht; du magst sie zerreißen, wenn du kannst; diese heißt Liebe, und ihr Maß ist Geduld.« Wir haben an diesem Orte so oft betonen müssen, wie einerseits die psychopathisch belastete und andrerseits die verwahrloste Jugend von dieser herzgewinnenden und vertrauenerweckenden Liebe ungenügend zu kosten bekommt, und darum hat WicHerv noch lange als Befreier unserer Jugend von dem römisch -juristischen, militärisch - polizistischen Geiste in zahllosen Jugendasylen zu wirken. Erfreulicherweise kommt ihm endlich nach 75 Jahren neben der modernen Pädagogik die Medizin und all- mählich auch ein neuer deutscher Geist in der Jurisprudenz eifrig zu Hilfe.

In der ganzen Pädagogik Wiıcherns lag die sorgfältige Indivi- dualisierung als etwas Selbstverständliches inbegriffen. Treffend be- bemerkt der »Rettungshaus-Bote« in seiner Aprilnummer:

»Wer einmal jene Tagebücher Wiıcuherns mit eigenen Augen schaute, der sieht immer noch vor sich diese großen Seiten im Folioformat mit der feinen, zu- erst so sorgfältigen, später so schwer leserlichen Handschrift. Und was geht aus diesen Tagebuchblättern hervor? Eine unermüdliche Aufmerksamkeit auf jedes einzelne Kind, über welches immer wieder berichtet wird, dessen Fehler und auch dessen bessere Regungen sorgfältig beobachtet und mit hoffnungsvoller Freundlichkeit anerkannt werden.«

Und ÖOLpexgere sagt in seiner Biographie Bd. I, S. 494:

»Mit jedem Kinde lebte er dessen Einzelleben. Ein jedes wußte er in rechter Stunde zu erreichen und von jedem ließ er sich erreichen. Es kamen Tage, an denen fünf und sechs Stunden hindurch sein Sprechzimmer nicht leer wurde von solchen, die ihn zu sprechen wünschten oder die er zu sich gerufen. Die einen wußte er mit holder Freundlichkeit zu ermutigen, zu beruhigen, zu erwecken, die andern mit erschütterndem Ernste niederzuwerfen, daß sie in der ganzen Tiefe ihres Elends sich entdeckt sahen.s

Trürer: Zur Wertung der Kinderforschung und Pädagogik usw. 227

WiIcHERNs Geist ging aber allmählich mehr ins Große und Ganze, ins Soziale, so daß eigentlich ein Staatsmann und Sozialpolitiker an ihm verloren ging. Jener psychologische Ausbau ist darum durch ihn nicht genügend zur Geltung gekommen, zumal der mystische Begriff der Bekehrung dem Pietisten hemmend im Wege stand. Heute nach 75 Jahren lernen aber leider erst manche seiner Jünger dieses Erbteil ihres Meisters voll werten. Im andern Falle wären wir mit der Jugend- kunde und Jugendfürsorge weiter. Dennoch ist die Pflege des Ge- mütslebens, die Seelsorge an den Einzelnen, die vor ihm schon von den Philanthropen, von Pestalozzi und von Jahn kräftig betonte Entfaltung aller guten Kräfte und Anlagen als Unterdrückung alles Schlechten durch kräftigende praktische Arbeit, durch Turnen, durch Spiel und jede edle Erholung, insbesondere aber durch Pflege des Gesanges und der Musik Gemeingut aller Rettungshäuser WicHErNscher Richtung geblieben, ja Gemeingut aller pädagogisch Gebildeten ge- worden.

Darum wollen auch wir nicht verfehlen, unsern Lesern das Studium seiner »Gesammelten Schriften« (Verlag des Rauhen Hauses) wie der trefflichen Biographien von Dr. OLpzngers und von D. Knopr dringend zu empfehlen. Die »rettende Liebe«, wie WIcHERN sie in der eindringlichsten Weise predigte und betätigte, muß auch die Kinderforschung und Jugendfürsorge beseelen, sonst bleibt sie ein nur »tönendes Erz« und eine nur »klingende Schelle«, sonst führt sie zu keiner beseligenden und beglückenden Tat. TRÜPER.

2. Zur Wertung der Kinderforschung und Pädagogik in der Strafrechtsreform und der Jugendfürsorge. !)

IH.

Noch einmal sei wiederholt: Herr Amtsgerichtsrat Dr. Köhne ge- hört neben Reicher, Kulemann, Felisch, Landsberg und anderen zu denjenigen Juristen, welche für eine entschiedene Mitwirkung von

1) Die für dieses Heft bestimmte psychopathologische Abhandlung über den Tic bei Kindern von G. Dirks-Jena müssen für das nächste Heft zurückstellen, um einer dringlichen Tagesfrage Raum zu geben. Ich war ersucht worden, in zwei größeren Städten einen Öffentlichen Vortrag über diese Frage zu halten. Unter andern wegen Mangel an Zeit mußte ich ablehnen. Im Nachstehenden will ich nun aber versuchen, diesen und anderen an mich ergangenen Ersuchen nachzukommen, indem ich meine Reformwünsche als abweichende Bemerkungen zu zwei beachtens- werten Arbeiten von einem uns nahestehenden und auf diesem Gebiete sehr ver- dienstvollen Juristen möglichst scharf pointiert zum Ausdruck bringe. Tr.

15*

298 A. Abhandlungen.

Lehrern, Ärzten und Geistlichen in der Strafrechtspflege und der Für- sorgeerziehung eintreten. Aber seine Forderungen entsprechen unseres Erachtens der Sache nicht genügend.: Selbstverständlich soll das kein Vorwurf sein. Es kann von ihm als Jurist nicht verlangt werden, daß er die Aufgaben und Ansprüche der Pädagogik voll erkennt und an- erkennt. Dafür haben wir zu sorgen. Und dieser Aufklärung sollen abermals die nachstehenden Zeilen dienen.

Als das preußische Fürsorgegesetz noch Entwurf eines Zwangserziehungs- gesetzes war, habe ich bereits hervorgehoben in Heft 5 unserer »Beiträge«, daß das Fürsorgegesetz den Juristen und Polizisten die Hauptaufgabe überlasse, daß beide an sich aber nicht für diese Aufgabe hinreichend befähigt seien, daß Lehrer, Ärzte und Geistliche als Vollberechtigte korpo- rativ mit tätig sein müßten, wie es in einer Hinsicht das norwegische Gesetz verlange.

Das sieht jetzt erfreulicherweise auch Dr. Köhne ein. Er veröffent- licht in No. 4 der » Deutschen Juristenzeitung« einen sehr beachtens- werten Artikel mit der Überschrift »Ist eine Änderung des preußi- schen Fürsorgegesetzes erforderlich? « t)

Köhne sagt:

»Fast sieben Jahre ist das preuß. Gesetz betr. die Fürsorgeerziehung Minder- jähriger v. 2. Juli 1900 in Kraft; für fünf Jahre seiner Wirksamkeit liegen amtliche Berichte in der im Ministerium des Innern bearbeiteten Statistik vor. 33600 Minder- jährige sind während dieser fünf Jahre der FE. überwiesen, 2941 inzwischen durch Tod, Entlassung oder Erreichung der Volljährigkeit ausgeschieden, so daß am 31. März 1906 30659 Zöglinge in FE. blieben. Dazu kommen noch 6796 Minder- jährige, welche nach dem früheren Gesetze v. 13. März 1878 überwiesen waren, so daß im ganzen 37455 jugendliche Personen in öffentlicher Erziehung sich be- fanden, ungerechnet die auf Grund des $ 56 StrBG. in den staatlichen Erziehungs- anstalten untergebrachten Zöglinge. Diese Zahlen übersteigen erheblich die Voraus- sagungen des Gesetzgebers. Die Motive rechneten nur auf etwa 23000 Zöglinge, während jetzt mit mehr als 37000 Zöglingen der Beharrungszustand noch kaum er- reicht sein dürfte. Die öffentliche Erziehung einer so großen Zahl aus ihrem natür- lichen Familienverbande gelöster junger Menschen stellt den staatlichen Organen eine überaus schwierige und verantwortungsvolle Aufgabe, eine Aufgabe, welche nur gelingen kann, wenn sie von dem Vertrauen des Volkes und der freudigen Mitwirkung weitester Kreise getragen wird.

Es kann nun kein Zweifel darüber bestehen, daß die öffentliche Meinung an die Segnungen des FEG. nicht glaubt. Kaum ein Jahr ist es in Kraft gewesen, als in wissenschaftlichen und Volksversammlungen, in Parlament und Presse der Ruf nach seiner Abänderung erhoben wurde.”) Dieser Ruf hat seither an Kraft nicht eingebüßt.

1) Das soeben erschienene Werk von Landsberg: »Das Recht der Zwangs- und Fürsorgeerziehung« deckt sich in der Kritik fast vollständig mit meinen Aus- führungen, fordert aber eine umfangreiche Abänderung nicht nur der geltenden Armengesetzgebung, sondern auch des FEG. und der vormundschaftsrechtlichen Vor- schriften des BGB. (Köhne.)

2) Ich hatte das a. a. O. bereits vorher gesagt. Tr.

Trürer: Zur Wertung der Kinderforschung und Pädagogik usw. 299

—— S

Zwei durchaus verschiedene Vorwürfe sind es, die dem FEG. und seiner An- wendung gemacht werden; teilweise getrennt sind die Volkskreise, welche diese Vorwürfe erheben.

Geistliche, Lehrer, Ärzte, Armenbehörden, Leute, die im Dienste der Volks- wohlfahrt stehen, beklagen, daß der Kreis der Minderjährigen, welche der FE. an- heimfallen, zu eng gezogen sei, daß die Wohltaten des Gesetzes Gefährdeten nicht zuteil würden, sondern nur Personen, die so sehr verwahrlost seien, daß die Er- ziehungsarbeit eine besonders schwere und in zahlreichen Fällen erfolglose sei. Die FE. trete zu spät ein; man bewahre die Kinder nicht vor sittlicher Erkrankung, sondern versuche nur bei weit vorgeschrittener Erkrankung ein oft erfolgloses Heil- verfahren.

Auf der andern Seite hört man aus den Kreisen, denen die Fürsorgezöglinge entstammen, die Klage, daß die FE. nicht bessere, sondern daß die Einschließung mit andern verdorbenen Elementen, der Mangel an tüchtiger Fachausbildung und liebevoller Behandlung die Zöglinge eher verschlechtere, sie jedenfalls für den Kampf mit dem Leben nicht tauglich mache.

Die Frage nach der Reformbedürftigkeit des Gesetzes und seiner Ausführung ist gleichbedeutend mit der Frage nach der Berechtigung dieser Klagen.«

Köhne untersucht nun die Berechtigung dieser Klagen, auf die wir hier wegen Mangel an Raum nicht näher eingehen können, und die darum der interessierte Leser an der betreffenden Stelle nachlesen möge. Unter Hinweis auf seine Zuschrift möchte ich aber hier betonen, daß er auf die eigentlichen pädagogischen und psychopathologischen Einwände gegen das Gesetz nicht weiter eingeht. Er beschäftigt sich in der Hauptsache nur mit juristischen und Verwaltungseinwänden wie mit den Einwänden, die in der Tagespresse gemacht werden und aus unbestimmten Kreisen stammen. Selbstverständlich hat er als Jurist seine Pflicht voll damit erfüllt. Uns aber geziemt es, das Fehlende so nachdrücklich zu ergänzen, daß auch die Juristen es beachten.

Köhne sagt:

»Die Tatsache, daß die Fürsorgeerziehung nur noch bei einer kleinen Minder- heit nicht verwahrloster, nur gefährdeter Kinder und in der Hauptsache nur bei verdorbenen Kindern angewendet wird, ist statistisch nachweisbar.«

Das ist seit je unser Hauptvorwurf gewesen, daß die Juristen und Verwaltungsbeamten und darum auch die Handhaber dieses Gesetzes keine Prophylaxe kennen, sondern erst den Armen schuldig sein lassen und ihn dann der Pein überweisen, daß geradezu die Ablehnung der Fürsorge begründet wird, das Kind sei noch nicht verdorben genug, wie wir an diesem Orte wiederholt in Beispielen nachwiesen, daß die Fürsorge ab- gelehnt wird, auch wenn das Kind unter den denkbar-größten Verkommen- heiten im Elternhause aufwächst. Unser Vorwurf ist der, daß die ganze Gesetzgebung also wiederum in der Hauptsache die Arbeit von Juristen nicht das nötige Verständnis hatte und berufswissenschaftlich auch nicht haben konnte, dieser Verheerung der Familie Einhalt zu tun. Wir erinnern hier nur an den Kampf gegen den Schmutz in Wort und Bild. In denselben Tagen, wo der preußische Minister Moltke betonte, wie sehr energisch man eingeschritten sei, wieviel Schmutz beseitigt sei,

230 A. Abhandlungen.

S SS nn nn ng

wurde auf den Bahnhöfen in Berlin und anderswo noch das Widerwärtigste feil geboten, ich sage: an den staatlichen Bahnhöfen; von dem was in den Läden an der Friedrichstraße zu sehen und zu haben war, ganz zu schweigen.

Für alle diese Dinge sind in erster Linie die Machthabenden in Verwaltung und Rechtspflege verantwortlich, denn nur sie hatten hier das Heft seit je in der Hand. Die lauten Klagen der Lehrer und Geistlichen waren stets vergebens, weil sie keine Macht und keine anerkannte Autorität besitzen, um Verwaltung, Gesetzgebung und Rechtsprechung zu beein- flussen. Sie können nirgends ein entscheidendes Wort mit in die Wagschale werfen, mit Ausnahme der katholischen Geistlichkeit, die es durch die Macht des Zentrums fertig bringt, und doch wegen der ein- seitigen Auffassung in der Sache mit ihrer Lex-Heinze im Reichstag durchfiel.

Es ist also unbedingt notwendig, daß Ärzte, Lehrer und Geistliche nicht bloß als Geduldete auftreten und in der Presse Anklage erheben oder sich beschweren dürfen, wofür sie dann obendrein wie der Lehrer Agahd noch gemaßregelt anstatt befördert werden, sondern daß sie neben den Juristen ein gleiches Recht bekommen, mit zu raten und zu taten. Nur wenn das geschieht, dann werden viele Übel- stände schwinden, und wahrscheinlich wird dann auch das mißkreditierte Ansehen der Rechtspflege wieder gehoben werden. Selbstverständlich liegt es mir sehr fern, gegen die einzelnen Juristen oder gegen den Stand als solchen Klage zu erheben. Ich behaupte nur, daß er Aufgaben lösen soll, die jenseits der Rechtspflege liegen und in das Gebiet des Erziehers, des Seelsorgers und des Arztes fallen, und ich behaupte, daß es sich ins- besondere bei unserer kriminellen wie gefährdeten Jugend um Aufgaben handelt, die durch Strafurteile u. dergl. niemals gelöst werden können. Nur von diesem Gesichtspunkte aus bitte ich meine sämtlichen Aus- führungen auffassen zu wollen.

Der nächstfulgende Satz des Köhneschen Artikels bringt schon gleich den Beweis für meine Behauptung.

»Die Tatsache, daß die FE. nur einer kleinen Minderheit noch nicht verwahr- loster, bloß gefährdeter Kinder zugute kommt und in der Hauptsache auf bereits verdorbene angewendet wird, ist statistisch erweisbar. Als verdorben müssen die- jenigen bezeichnet werden, welche wegen Begehung einer strafbaren Handlung ($ 1 No. 2 FEG.) und zur Verhütung ihres völligen sittlichen Verderbens ($ 1 No. 3 FEG.) überwiesen werden, denn nach der Rechtsprechung des Kammergerichts (Jahrb. Bd. 23 S. A 46) ist vorausgesetzt, daß bei der letzten Gruppe das sittliche Ver- derben schon begonnen’ haben.

Nach der amtlichen Statistik sind i. J. 1905 von sämtlichen überwiesenen Zöglingen 15°/, auf Grund der No. 1, 10°/, auf Grund der No. 2, 65,1°/, auf Grund der No. 3, 9,9°/ auf Grund mehrerer Nummern überwiesen. Auch die letzten 9,9°/, gehören zu den bereits Verdorbenen, so daß die bloß Gefährdeten, welche zur Verhütung ihrer Verwahrlosung bei Verschulden ihrer Eltern oder Erzieher zur FE. gelangen, in den 15°/, der auf Grund des $ 1 No. 1 FEG. Überwiesenen stecken. Indessen auch unter diesen 15°/, sind noch eine Anzahl solcher Minder-

Trürer: Zur Wertung der Kinderforschung und Pädagogik usw. 231

jähriger, welche zwar unter einem Verschulden ihrer Erzieher leiden, aber doch schon sittlich defekt sind, so daß kaum 10°/, aller Überwiesenen durch die FE. vor dem Beginn der Verwahrlosung behütet werden. Das ist im Interesse des Erfolges der FE. sicherlich beklagenswert; es führt dazu, das Gesetz zu diskreditieren, die Freude an der Erziehungsarbeit herabzusetzen und einen Teil der recht hohen Kosten unnütz aufzuwenden. «

Und weiter:

Diese Schwierigkeiten haben dazu geführt, »daß Vormundschaftsrichter, welche ihr Amt zwar pflichtgemäß, aber ohne spezielles Interesse für die Materie und die ihnen anvertraute Bevölkerung verwalten, bei Gefährdung von Kindern es bei papiernen Beschlüssen auf Grund der $$ 1666, 1838 BGB. bewenden lassen, ohne sich um deren Ausführung zu kümmern (vergl. Preuß. Statistik 1903 S. 25), die FE. selbst aber nur anordnen, wenn strafbare Handlungen oder schwere Laster der Minderjährigen ihre weit vorgeschrittene Verwahrlosung offenbaren. Die ungeheuren Kosten andrerseits, welche die Ausführung der FE. schon jetzt erheischt in Preußen i. J. 1905 6776116 M macht viele Antragsbehörden bei ihren An- trägen auf Anordnung der FE. zurückhaltender, als es dem öffentlichen Wohle ent- spricht. Es kann mithin nicht geleugnet werden, daß die vormundschaftliche Für- sorge für gefährdete Kinder im allgemeinen spät einsetzt.«

Wir deckten schon im Jahre 1899 durch die Übersetzung und Ver- öffentlichung der Hagenschen Berichte arge Mißstände in der Behand- lung der gefährdeten Jugend auf. Jetzt bekennt auch Köhne:

»Auch die Vorwürfe, welche gegen die Ausführung der FE. erhoben werden, sind nicht durchweg unbegründet. Immer wieder wird die öffentliche Meinung durch Zeitungsnachrichten beunruhigt, welche von schweren Straftaten entlassener Fürsorgezöglinge berichten oder melden, daß Anstaltszöglinge sich gegen das Strafgesetz vergehen, um die Erziehungsanstalt mit dem Gefängnis vertauschen zu können. Auch Zusammenrottungen von Zöglingen, die in Familien untergebracht waren, sind schon vorgekommen. Allerdings darf nicht außer Betracht bleiben, daß die Öffentlichkeit nur von den Mißerfolgen der FE. erfährt, die zahlreichen Erfolge aber nicht kennen lernt. Daß Erfolge erzielt werden, und daß sie an Zahl die Mißerfolge übersteigen, ist unzweifelhaft. Diese Tatsache wird gelegentlich von entlassenen Zöglingen selbst anerkannt. Aufgabe der nächsten Reformbestrebungen muß es sein, die Methoden, welche zu günstigem Erfolge geführt haben, zu ver- allgemeinern.«

Die wissenschaftlichen Grundlagen für diese Methoden zu schaffen, ist Aufgabe der Kinderforschung, der pädagogischen Psychologie. und die Methoden selbst festzustellen, zu prüfen, auszubauen, ist Aufgabe nicht der Jurisprudenz, weder der Verwaltung noch der Rechtspflege, sondern wiederum der in den machthabenden Kreisen nicht anerkannten oder doch nur als subalterne oder »extraordinäre« Wissenschaft gemißachteten Päda- gogik und der pädagogischen Erfahrung. Dinge, die zahlreich aus Für- sorgeanstalten berichtet wurden, sind Früchte der Rechtspflege und der Verwaltung, nicht aber einer selbständigen Pädagogik.

Köhne erkennt und anerkennt auch diesen Mißstand:

»Der Einfluß der Pädagogen ist an den Zentralstellen noch überaus gering. Nur so ist es zu erklären, daß selbst kommunale Anstalten von Gefängnissen kaum

232 A. Abhandlungen.

zu unterscheiden sind, und daß sie schulentlassene Zöglinge ein oder mehrere Jahre zwischen ihren Mauern halten, ohne ihnen eine Berufsbildung zu geben. Nur so ist es ferner zu erklären, daß großstädtische Kinder in landwirtschaftliche Berufe gegeben werden, zu welchen sie weder Fähigkeit noch Neigung haben, und aus welchen sie entfliehen, sobald sie die Volljährigkeit erreicht haben, um dann das großstädtische Proletariat zu vermehren. «

Nach diesem Zugeständnis dürfte man erwarten, daß Köhne sich ganz oder doch teilweise unserer Forderung anschließen würde. Doch er erkennt das Fehlende nicht in seiner Tragweite.

»Es kann nicht zweifelhaft sein, daß das möglichste getan werden muß, die FE. zu einem wirksamen Mittel des Jugendschutzes auszugestalten und sie von den Mängeln zu befreien, welche ihr noch anhaften. Fraglich aber kann erscheinen, ob es hierzu einer Änderung des FEG. bedarf, ja ob eine solche überhaupt auch nur wünschenswert ist. Und diese Frage muß verneint werden.«

Wenn Köhne meint, es entspreche Pflicht und Ansehen der Vormundschaftsrichter, »bei jedem einzelnen Kinde die Maßregeln sorg- fältig auszuwählen, welche dessen Gedeihen am besten verbürgen« (S. 231), so müssen wir das doch als eine besondere Aufgabe des Pädagogen und zum Teil auch des Arztes betrachten und aus dem spezifischen Pflichten- kreise des Juristen ausschalten. Die Unfähigkeit dazu haben ja auch zahllose durch die Presse gegangene Urteile dargetan. Gerade hier muß die dem Vormundschaftsrichter koordinierte Tätigkeit der Erzieher und Ärzte einsetzen, wenn anders sie überhaupt mittun sollen. Das »Ansehen« brauchen die Lehrer zwar noch in einem höheren Grade als die Richter, die es seit je offiziell besitzen, aber das kann und soll nicht ausschlag- gebend sein, sondern die naturgemäße Sachkenntnis und das Wohl der Kinder.

Die Mängel der Verwaltungsbehörden für die Aufgabe der Fürsorge- erziehung erkennt Köhne und seine Auffassung war auch seit je die unsere.

Er sagt:

»Die Fürsorgeerziehung steht nach der gesetzlichen Vorschrift den Dienst- aufsichtsbehörden, d. h. den Oberpräsidenten, und in letzter Instanz dem Minister des Innern zu. Dazu kommt für die geschlossenen Anstalten die Schul- aufsicht durch die Regierungen, die bauliche durch den zuständigen Baubeamten, die hygienische durch den beamteten Arzt, ein wirres Durcheinander von Aufsichts- instanzen, von denen die meisten nicht die Sache als Ganzes, sondern nur in Einzel- beziehungen ergreifen. Daß die Oberpräsidenten bei ihrer mannigfaltigen und be- deutungsvollen Tätigkeit nicht in der Lage sind, in Erziehungsfragen großen Fort- schritten die Bahn zu weisen, bedarf keiner Begründung. Und selbst der Dezernent im Ministerium des Innern, welcher fördernd wirken kann und bisher fördernd ge- wirkt hat, steht sich doch einer zu großen Fülle der Erscheinungen gegenüber, um überall eingreifen zu können, abgesehen davon, daß er auch mit dem natürlichen Gegensatz zwischen Selbstverwaltung und staatlicher Aufsicht zu kämpfen hat.«

Darum finden folgende Forderungen auch unsere volle Zustimmung:

»Den gesetzlich bestellten Aufsichtsorganen sind daher freie Revisionskommissionen anzugliedern: In diese Kommissionen müßten Pädagogen und psychiatrisch gebildete Arzte, Verwaltungsbeamte, Vormundschaftsrichter, Bautechniker und Vorstands-

Trürer: Zur Wertung der Kinderforschung und Pädagogik usw. 233

mitglieder der großen charitativen Vereine, auch Frauen berufen werden. Eine solche Kommission könnte für die ganze Monarchie unter Vorsitz des Ministers des Innern oder seines Vertreters, Unterkommissionen für jede Provinz könnten unter Vorsitz des Oberpräsidenten oder seines Vertreters berufen werden. Ihnen müßte häufige Revision nicht nur der Anstalten, sondern auch der in Familienpflege unter- gebrachten Zöglinge zur Pflicht gemacht, die Auffindung und Ausbildung geeigneter Pflegefamilien und Erzieher gestattet werden. Man brauchte ihnen nicht einmal das Recht zu gewähren, wahrgenommene Mängel selbst abzustellen. Es genügt, wenn sie darüber an die Oberpräsidenten bezw. den Minister des Innern berichten. Freilich müßten ihre Berichte veröffentlicht werden. Die Öffentlichkeit der Kritik ist viel wirksamer als eine behördliche Rüge; sie ist ferner das einzige Mittel, das im Volke wurzelnde Mißtrauen gegen die Vorgänge innerhalb geschlossener An- stalten zu beseitigen. Die Veröffentlichung der Berichte gewährt auch die beste Möglichkeit, Erfahrungen, welche an einer Stelle gesammelt, Fortschritte, die dort erzielt sind, der Gesamtheit nutzbar zu machen.«

Köhne verneint nun die in seiner Überschrift gestellte Frage. Ich glaube, er müßte zu einer Bejahung kommen, wenn er die Frage genau untersuchen wollte, welche Aufgabe vor und neben dem Vormundschafts- richter und dem Verwaltungsbeamten dem Erzieher um des Kindes willen zufallen sollte.

Bei der derzeitigen Behandlung der Erziehungswissenschaft an den Universitäten wird freilich seitens der Machthabenden die Erfassung dieses Problems in seiner tiefsten Bedeutung kaum zu erwarteu sein.

IV.

Köhnes »Entwurf zu einem Reichsgesetz, betreffend die Ahndung und Verfolgung strafbarer Handlungen, welche von jugendlichen Personen begangen werden, nebst Begrünrdung« (Beiträge zur Reform des Strafprozesses. Herausgegeben von Dr. Franz Adickes, Dr. P. F. Aschrott, Dr. Karl von Lilienthal, Dr. Fr. von Liszt. Band I. Heft 1. Berlin, J. Guttentag, 1908) enthält so viele beachtens- werte und bedeutsame Reformforderungen, daß wir ihn auf das ange- legentlichste der Beachtung, aber auch der sorgfältigen Prüfung empfehlen möchten. Auch hier liegen die meisten seiner Reformvorschläge in der von uns seit je vertretenen Richtung.

Die Bedeutung der ganzen Frage findet er in folgendem Umstande begründet:

»Die amtliche Kriminalstatistik des Deutschen Reiches gibt ein außerordentlich trauriges Bild über die wachsende Kriminalität jugendlicher Personen. Es wurden im Jahre 1882 30719, im Jahre 1905 51498 jugendliche Personen wegen Verbrechen und Vergehen gegen Reichsgesetze verurteilt. Die Zunahme der jugend- lichen Verurteilten ist größer als die der Verurteilten überhaupt und der erwachsenen Verurteilten, obwohl die Bevölkerungszunahme der Jugendlichen geringer war als die der übrigen Personen. Der Anteil der Jugendlichen an den Verurteilten betrug in den Jahren 1883—1887 9,6°/,, 1888—1892 11°/,, 1893—1897 10,30/,, 1898 bis 1902 10,4°/,. Am meisten sind die Anteilzahlen für die jugendlichen Verurteilten gewachsen bei Mord, beim einfachen und schweren Diebstahl, beim Raub, bei der

234 A. Abhandlungen.

einfachen Hehlerei, bei vorsätzlicher und fahrlässiger Brandstiftung sowie bei den Religionsvergehen. Betrachtet man den Zeitraum von 1882—1905, so beträgt die Steigerung der Kriminalität bei den Verurteilten überhaupt 20,6°/,, bei den jugend- lichen Verurteilten aber 26,20/,. Es kommt dazu, daß 17,1°/, der im Jahre 1905 verurteilten Jugendlichen bereits vorbestraft waren, viele schon wiederholt. Gegen- über diesen traurigen Zahlen, welche jedenfalls beweisen, daß unsere Strafjustiz die Jugendlichen weder von Begehung von Straftaten abhält noch sie bessert, ist es kein Trost, daß in den Jahren 1902—1904 die Zahl der verurteilten Jugendlichen um eine Kleinigkeit herabgegangen ist, nämlich von 51046 auf 50028. Denn dieses Herabgehen dürfte seinen Grund lediglich in dem Umstande haben, daß durch die inzwischen erlassenen Fürsorgeerziehungsgesetze ein sehr großer Teil der zur Kriminalität neigenden Jugendlichen durch Einschließung in Erziehungsanstalten seiner Bewegungsfreiheit beraubt ist.‘) Übrigens bewegen sich die Zahlen bereits wieder in aufsteigender Linie; denn nach den Ergebnissen der Kriminalstatistik für 1905 sind in diesem Jahre 51498 Jugendliche wegen Verbrechen und Vergehen gegen Reichsgesetze verurteilt. Während die Verurteiltenziffern der Gesamtheit um 1,1°/, herabsank, wuchs die der Jugendlichen gegen das Vorjahr um 1,3°/,.<

Was die wachsende Kriminalität der Jugend bedeutet, habe ich in früheren Abhandlungen wiederholt und eindringlich hervorgehoben. Auch Köhne redet mit Sperrdruck vom »allerdringendsten Notstand«, den er »in der strafrechtlichen, strafprozessualen und straf- vollstreckenden Behandlung von Kindern und jugendlichen Personene erblickt.

Und der Beseitigung dieses Notstandes bietet sich nach Köhne als größte Schwierigkeit die, » welche durch die Spaltung philosophischer Grundanschauungen dem Reformwerke in die Wege gelegt wirde.

»Die Anhänger des Determinismus und des Indeterminismus, der Vergeltungs- und der Schutzstrafe werden notwendig über die Grundlagen der Reform und die Grundlinien der Neuordnung verschiedener Ansicht sein. Beide Parteien haben ungefähr die gleiche Stärke, und wenn auch gehofft werden muß, daß eine Einigung auf irgend einer mittleren Linie stattfinde, so ist doch bisher diese mittlere Linie kaum gefunden, und es erscheint zweifelhaft, ob sie in naher Zeit gefunden werden mag.«

Darum meint Köhne:

»Es wird vor allen Dingen eine Einigung über das allgemeine Prinzip statt- zufinden haben, welches der Reform zu Grunde zu legen ist. Dieses Prinzip ist der Ätiologie jugendlichen Verbrechertums zu entnehmen. Vererbung und anomale Anlage, die Einflüsse trunksüchtiger oder gar verbrecherischer Eltern, Wohnungs- elend, der abstumpfende Anblick von Unsittlichkeit und Unredlichkeit, körperliche und psychische Mißhandlung, mangelhafte Eınährung, häufig direkte Anstiftung seitens der Erzieher, in anderen Fällen Versuchung und Verführung ohne das Gegengewicht charaktervoller Erziehung, idealer und religiöser Beeinflussung sind der Boden, auf welchem das Kind zum Verbrecher erwächst. Körperliche, geistige und sittliche Verwahrlosung, psychische Degeneration und kriminelles Verhalten

1) Wenn allein in Preußen 37000 in Fürsorgeerziehung sich befinden, so würden die Kriminellen unter ihnen die 50028 schon ganz erheblich vermehren und damit den angeblichen Rückgang in ein starkes Anwachsen verkehren. Tr.

Trürer: Zur Wertung der Kinderforschung und Pädagogik usw. 235

haben dieselbe soziale Ursache; es ist reiner Zufall, welche Erscheinungen diese Ursache zeitigt. Wird dies zugegeben, so ist es für die Anhänger der Zweck- oder Schutzstrafe zweifellos, daß die Bekämpfung des jugendlichen Verbrechertums in der Weise geschehen muß, daß Erziehung und Besserung des Verwahrlosten in erste Linie zu stellen, und Strafe nur dort anzuwenden ist, wo bessernde Maß- nahmen aussichtslos erscheinen. Zu demselben Ergebnis können aber auch die Anhänger der Vergeltungsstrafe gelangen, ohne ihrer Grundanschauung auch nur im geringsten untreu zu werden. Dies erhellt ohne weiteres für solche Fälle, wo es sich um mißbrauchte urd verführte Kinder handelt, welche vielleicht sogar von ihren Erziehern zu Strafhandlungen angestiftet werden. Das gleiche gilt aber auch für die übrigen Fälle.

Mit Recht sagt Bärnreither in seinem Werke über Jugendfürsorge und Strafrecht in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. XII: Jugendfürsorge und Jugendstrafrecht sind kein isoliertes Problem der Gesetzgebung oder Verwaltung; sondern Kulturaufgaben, Aufgaben der Erziehungspolitik, der Entwicklung der Volks- moral und der Volksgesundheit.«

Was Köhne über den Erfolg der juristischen Strafrechtspflege bei Kindern und Jugendlichen sagt, kommt einer Bankerotterklärung gleich. Daß er als Jurist das zugesteht, ist für die Sache, d. h. für das Wohl der Gesellschaft, sehr wertvoll. Uns stand oft der Verstand still, wenn wir in der Tagespresse lasen, wie z. B. ein unmündiges Kind unter dem großen theatralischem Aufwande einer öffentlichen Gerichtsverhandlung wegen »Raubes« zu Gefängnis verurteilt wurde, weil es einem andern Kinde auf der Straße einen Gegenstand im Werte von ein paar Groschen entrissen hatte.!) Durch solche Vorkommnisse konnte doch wohl nur der Gegensatz zwischen »juristischem Scharfsinn« und »gesundem Menschen- verstand« entstehen. Köhne sagt:

»Wenn nach den Angaben der Reichs-Kriminalstatistik für 1904, S. II 32 in den vorhergehenden Jahren eine Reihe von Kindern zwischen 12 und 14 Jahren wegen Zuwiderhandlungen gegen die Bestimmungen betreffend die Sonntagsruhe und den Ladenschluß, wegen Majestätsbeleidignng, wegen Gewalt und Drohungen gegen Beamte verurteilt sind, so dürfte die Behauptung kaum Widerspruch finden, daß damit traurige Mißgriffe begangen sind, daß in allen diesen Fällen ein ver- nünftiges Bedürfnis nach strafrechtlicher Vergeltung nicht bestand, und höchstens Anlaß zum Eingreifen der häuslichen oder Schulzucht gegeben war.«

Dieser Einsicht ist der Köhnesche Gesetzentwurf entsprungen. Diesen Gedanken, daß es sich hier um kein isoliertes Problem der Gesetz- gebung und Verwaltung handele, sondern um Kulturaufgaben, Aufgaben der Erziehungspolitik, der Entwicklung der Volksmoral und der Volks- gesundheit, will der Entwurf Rechnung tragen.

»Er will die Möglichkeit einer sachgemäßen Erziehung für alle diejenigen Kinder und jugendlichen Personen schaffen, bei welchen zu hoffen ist, daß Erziehung sie von der Bahn des Verbrechens fernhalten oder von dieser Bahn zurückführen

1) Köhne führt selbst an: »Im 79. Jahresbericht der Rheinisch- Westfälischen Gefängnisgesellschaft S. 58 wird mitgeteilt, daß ein kaum dem Knabenalter ent- wachsenes Bürschchen 287 Tage Haft wegen Gewerbevergehen er hatte an ver- botenen Stellen Gemüse und Obst feil gehalten verbüßen mußte.«

236 A. Abhandlungen.

werde. kr sieht die Vergeltungsstrafe nur für diejenigen Fälle vor, in welchen nach menschlichem Ermessen eine solche Hoffnung nicht mehr gehegt werden kann. Er sucht ferner alle Gefahren zu beseitigen, welche noch gegenwärtig aus der Be- rührung mit Staatsanwalt, Richter und Strafanstalt für jugendliche Personen er- wachsen. Er sucht endlich die Möglichkeit zu schaffen, daß auch im gerichtlichen Verfahren die qualitativen Eigentümlichkeiten von Kindern und jugendlichen Personen ausreichende Berücksichtigung finden. Somit mußte sich der Entwurf Abänderungen des Strafrechts, des Strafprozesses und die Schaffung einiger Richtlinien für die Strafvollstreckung zum Gegenstande nehmen. Es mußte aber andrerseits im Inter- esse der praktischen Erreichbarkeit sorgfältig vermieden werden, zu weit gehende Vorschläge zu machen und den Boden der bestehenden Gesetzgebung zu verlassen. Es war wohl möglich, das Notwendige in eine verhältnismäßig kleine Zahl von Ab- änderungen der geltenden Gesetze zu konzentrieren und die Abänderungsvorschläge so zu fassen, daß der Entwurf, zum Gesetz geworden, auch bestehen bleiben kann, wenn einmal die große Strafrechts- und Strafprozeßreform, welche seit lange ge- plant ist, zur Tat wird.«

Besehen wir uns jetzt den Entwurf selbst etwas näher. Er ver- dient es.

»$ 1. Kinder im Sinne dieses Gesetzes sind Personen, welche das 14. Lebens- jahr nicht vollendet haben, Jugendliche, welche zwar das 14., aber nicht das 18. Lebensjahr vollendet haben.«

Eine klare Scheidung, die wir auch in der Psychologie und der Pädagogik annehmen sollten, obgleich es Achtzehnjährige gibt, die noch Kinder in jeder Hinsicht sind, und Dreizehnrjährige, die körperlich und seelisch die Kinderschuhe bereits ausgezogen haben. Diese Entwicklung hängt von vielem ab, u. a. auch von dem Rassenblut. Semiten und und Romanen sind z. B. 1—3 Jahre früher geschlechtsreif als Germanen. Aber aus praktischen Gründen müssen wir irgendwo die Grenzen ziehen und hier ist wohl die zweckmäßigste Stelle: das Ende der Schulpflicht,

»$ 2. Kindur können strafrechtlich nieht verfolgt werden.«

Köhne bemerkt dazu:

»Die Heraufsetzung des Beginns des bedingten Strafmündigkeitsalters ist eine so allgemein erhobene Forderung, daß sie einer eingehenden Begründung nicht mehr bedarf.«

Vom psychologischen, pädagogischen und allgemein kulturellen Stand- punkte aus müssen wir hier Einschränkungen machen und Fragen er- heben.

Was soll mit verbrecherischen Kindern geschehen? Wenn schwere Verbrechen vorkommen, nicht selten mit voller Einsicht und Absicht aus- geführt, sollen sie dann straffrei bleiben? Das wird die Jugend sich bald merken und die Verrohung wird um so mehr zunehmen, als die Justiz den Selbstschutz je länger je mehr verneint hat, indem sie jeden, der einem rohen Jungen wegen gröbsten Unfugs, wegen Diebstahls usw. ein paar Öhrfeigen gab oder ihn an der geeignetsten Stelle züchtigte, vor das öffentliche Gericht zog und bestrafte! Die Gesellschaft braucht unbedingt Schutz gegen die Roheiten der Kinder. Aber auch diese bedürfen auf der Straße und manchmal auch im Elternhause und der Schule noch eine

Trürrrk: Zur Wertung der Kinderforschung und Pädagogik usw. 237

d

andere Zucht als die der Eltern und Lehrer. Hier brauchen wir ebenfalls Kindergerichte.

Solange freilich unsere heute geltenden juristischen Straftheorien maß- gebend bleiben und man für das geltende römische Recht nicht die Maßstäbe der Ethik anerkennt, 1) solange müssen wir alles unterstützen, was die Kinder von dieser hergebrachten Behandlung befreien kann und Köhne wiederum zustimmen:

»Die Heraufsetzung des Beginns des bedingten Strafmündigkeitsalters ist eine so allgemein erhobene Forderung, daß sie einer eingehenden Begründung nicht mehr bedarf.«

Auch darin stimmen wir Köhne voll bei, daß die Medizin, so an- maßend einige ihre Vertreter auch manchmal aufgetreten sind, hier nichts zu suchen, wenigstens nichts zu bestimmen hat:

»Das für die bestehende Gesetzgebung entscheidende Gutachten der wissen- schaftlichen Deputation für das Medizinalwesen ist um deswillen nicht von durch- schlagender Bedeutung, weil das Problem der Strafmündigkeit kein medi- zinisehes, sondern mehr ein psychologisches und pädagogisches ist. <

Also auch kein juristisches!

In diesem Zugeständnis liegt der Schwerpunkt der ganzen Frage. Hier liegt aber auch die Ursache, warum man bei uns mit der Kinder- und Jugendfürsorge nicht vom Flecke kann. Das ganze Problem ist ein psychologisches und pädagogisches. Aber Psychologie und Pädagogik sind nicht maßgebend. Maßgebend im Staats- und Rechtsleben sind nur Juris- prudenz, Medizin und Theologie. Die Pädagogik soll auch nicht maß- gebend werden und darum wird auch Köhne mit seinen Forderungen nicht durchdringen und das Kriminalproblem der Kinder und Jugendlichen wird in seiner ganzen Schwere bleiben. Ich wiederhole, was ich unlängst in der Tägl. Rundschau (vom 26. 2. d. J.) in einem Artikel über »Die Pädagogik an unseren Universitäten« sagte:

»Wir haben im Deutschen Reiche etwa 20 Millionen erziehungs- bedürftige Kinder und Jugendliche, allein 9 Millionen volksschul- pflichtige Kinder! Und für ihre ganze Behandlung wie für die Erforschung ihrer normalen wie abnormen Entwicklung sorgen unsere Universitäten nicht so viel wie für das Studium der Absterbenden und der Leichname, ja nicht einmal so viel wie für das Studium und die Behandlung des Viehes. Das sind einfach der Sache unwürdige Zustände!«

Nun mag die autodidaktische Wissenschaft Pädagogik noch so viel untersuchen, feststellen und fordern, sie erhält zur Antwort: Deine Sache mag recht und gut sein, aber du bist nicht ebenbürtig und vollgültig und erlangst darum kein Gehör weder in den Parlamenten, noch in den Ge- setzen noch beim König. Daran wird auch Köhne nichts ändern. Als Dienerin wird man sie nicht entbehren wollen und können, weil doch die 50000 Jugendlichen, mit denen die Justiz nicht fertig werden kann, das Gewissen allzuschwer belasten. Wir können aber nicht umhin, denjenigen

1) Erfreulicherweise hat endlich auch eiu Jurist, Staatsanwalt Dr. Wulffen in Dresden, mit allem Nachdruck darauf hingewiesen.

238 A. Abhandlungen.

diese 50 000 mit aufs Gewissen zu binden, welche die Erziehung dem Dilettantismus anderer Berufskreise in Verwaltung und Gesetzgebung über- lassen und selbst die akademische Jugend wegen Mangel an Zuchtlosigkeit verderben lassen, wovon die in den letzten Tagen stattgefundenen Münchener Schwurgerichtsverhandlungen über das Studentendrama Moschel nur ein Beispiel von Tausenden bietet. Fast erweckt es für einen unbefangenen Zuschauer den Eindruck, als wenn der Begriff »akademische Freiheit« sich mit dem der jugendlichen Kriminalität decken soll. So verwildern selbst an den höchsten Stätten der Bildung die Begriffe der Ethik und der Erziehung. Auch hier in Jena habe ich im letzten Jahr kaum einen Bericht über Schöffengerichtsverhandlurgen gelesen, worin nicht auch Studenten eine große Rolle spielten. Aber auch hier nützen Gerichts- strafen nichts. Auch hier sind erzieherische Maßnahmen am Platze. Unter anderen würde der sofortige Ausschluß aller Alkoholisten, die doch der höchsten Erziehungsstätte des Volkes unwürdig sind, 80 %, dieser Ge- setzesübertretungen verschwinden lassen. Jedoch gewisse maßgebende Kreise protegieren obendrein noch gerade die studentischen Verbindungen, welche die alkoholistische Jugendverderbnis satzungsgemäß betreiben, welche den Trinkzwang fordern, dessen ekelhafte Ausführung jeder Beschreibung spottet! Und diese Jugend soll dann später das Volk richten, regieren, erziehen! Bei 80°/, aller Jugendsünden ist der Alkohol Ursache oder Mitursache. Und das sollen dann diese mit alkoholistischen Jugendsünden schwer Belasteten später einsehen und abstellen!

Darum sei noch einmal auf Baernreithers Wort verwiesen: Das Problem der Kriminalität der Jugend ist kein bloß juristisches, sondern ein Kulturproblem, und zwar ersten Ranges!

Von diesem Gesichtspunkte aus ist eine erfolgreiche Lösung der Frage nach der forensischen Behandlung der Kinder und Jugendlichen nur möglich in Verbindung mit der pädagogischen Frage von der Zucht (Er- ziehung im engeren Sinne) der Kinder und Jugendlichen. Hier liegt die Frage der Verhütung der jugendlichen Missetäter und der Besserung der Missetäter. Was hier Wissenschaft, Gesetzgebung und Praxis nicht zu leisten vermag, das hätte auch nach Köhne erst der richterlichen Be- strafung zuzufallen. Der Entwurf verlangt darum in $ 3 mit Recht:

»Ein Jugendlicher, welcher nach Vollendung seines 14. Lebensjahres eine strafbare Handlung begangen hat, ist zu bestrafen, sofern nach der Art der Tat und dem Charakter und Vorleben des Täters anzunehmen ist, daß durch Erziehungs- maßnahmen seine Besserung nicht erreicht werden kann.«

Freilich soll nach Köhne nicht der berufsmäßige Erzieher darüber entscheiden, sondern maßgebend für die Erziehungsfrage bleibt auch für ihn der Richter: »Es ist angezeigt den Richter anzuweisen, auf Strafe dort zu erkennen, wo er glaubt, daß Erziehungsmaßnahmen nutzlos sein würden.e Soll das jedoch im Sinne von $ 10 geschehen, so bin ich einverstanden.

Köhne hält die Erzeugung eines solchen Glaubens sogar für eine einfache Sache. Der Richter solle aus dem Vorleben des Angeklagten er-

Trürer: Zur Wertung der Kinderforschung und Pädagogik usw. 239

forschen, ob es Mängel der Erziehung und Fehler der Umgebung sind, welche den Jugendlichen zu Gesetzesübertretungen in letzter Linie ver- anlaßt haben. »Die Grenze zwischen der Strafbarkeit und dem Erziehungs- zwanze ist eine einfache und klare.« (S. 18.)

Ich selbst habe mich zwar schon fast 2 Jahrzehnte berufsmäßig theoretisch wie praktisch Tag aus Tag ein mit den verschiedensten ab- normen Erscheinungen im kindlichen und jugendlichen Seelenleben be- schäftigt. Ich könnte es aber nicht auf mein Gewissen nehmen, hier ein Entweder-oder auszusprechen. Mein Urteil würde in den allermeisten Fällen wie das des alten Weisen in Gorkis »Nachtasyl« lauten: Die Menschen sind nicht entweder gut oder böse, sondern sowohl gut als böse. Und darum würde ich für jedes Vergehen sowohl Erziehung als auch Strafe fordern. Tatsächlich ist ja schon das Erscheinen vor dem Richter eine Strafe und die Überweisung zur Zwangserziehung erst recht.

Darum ist vom pädagogischen Standpunkt auch der $ 4 verwerflich:

»Als Strafen dürfen gegen Jugendliche nur verhängt werden: Geldstrafe und Gefängnisstrafe.«

Aus der Begründung geht hervor, daß Köhne Erziehungsmaßnahmen im Gegensatz zur Strafe stellt, während für uns jede Strafe zugleich Er- ziehungsmaßnahme sein muß, zumal für Jugendliche. Wiederum ein Be- weis, wie innig sich Pädagogik und Rechtspflege berühren. Köhnes Verdienst aber bleibt es, diese Verbindung durch seinen Entwurf angebahnt zu haben, bei der jedoch keineswegs nur die Strafrechtspflege, sondern in demselben Maße auch die Erziehung in Theorie und Praxis sich zu vervoll- kommnen hat. Was dort an Pädagogik fehlt, das fehlt hier an Rechts- sinn und Rechtsordnung, vielleicht in gleich hohem Maße.

Von den weiteren Paragraphen des Entwurfs mögen nun zum Schluß noch folgende ohne kritische Bemerkungen mitgeteilt werden, wobei jeder, der sich näher für diese wichtige Frage interessiert, nicht verfehlen sollte, sich auch Köhnes Begründungen näher anzusehen.

»8 5. Auf die zu verhängenden Geldstrafen finden die §§ 27 und 30 des Strafgesetzbuchs für das Deutsche Reich Anwendung. Eine Umwandlung der Geld- strafe in Freiheitsstrafe findet nicht statt. Die Geldstrafe kann ratenweise ein- gezogen werden.

$ 6. Der Höchstbetrag der gegen Jugendliche zu verhängenden Gefängnis- strafe beträgt 15 Jahre, der Mindestbetrag 6 Monate. Auf eine Gefängnisstrafe von 6 Monaten bis zu einem Jahre kann erkannt werden, wenn die Strafhandlung im Höchstbetrage mit einer geringeren Strafe bedroht, aber der Angeklagte bereits früher bestraft oder in Fürsorgeerziehung gewesen ist.

87. Die Vollstreckung der Gefängnisstrafe hat bis zum vollendeten 21. Lebens- jahre des Verurteilten in besonderen, nur für Jugendliche bestimmten Strafanstalten zu erfolgen. Eine vorläufige Entlassung kann auf Antrag des Gefängnisvorstandes jederzeit durch das zuständige Jugendgericht im Beschlußverfahren erfolgen. Das Jugendgericht kann geeignete Erziehungsmaßnahmen oder Aufsicht durch einen Verein über den vorläufig Entlassenen anordnen.

$ 8. Die §§ 55 bis 57 des Strafgesetzbuches für das Deutsche Reich werden aufgehoben, die §§ 23 und 25 finden auf Jugendliche nicht Anwendung.

240) A. Abhandlungen.

$ 9. Für die Verhandlung und Entscheidung von Strafsachen gegen Jugend- liche sind, soweit nicht gemäß $ 136 Ziffer 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes das Reichsgericht in erster Instanz zuständig ist, ausschließlich die Jugendgerichte zu- ständig. Dies gilt auch für den Fall eines Zusammenhanges zwischen den straf- baren Handlungen Erwachsener und Jugendlicher.

$ 10. Die Jugendgerichte bestehen aus dem Vormundschaftsrichter als Vor- sitzenden und zwei Schöffen, welche aus dem Stande der Lehrer, Ärzte, Geistlichen oder in der Jugendfürsorge tätigen Personen zu entnehmen sind. In denjenigen Bundesstaaten, in welchen die vormundschaftsgerichtlichen Funktionen Gemeinde- behörden übertragen sind, ist landesgesetzlich über den Vorsitz im Jugendgericht zu bestimmen. Der Vorsitz darf nur einem Beamten übertragon werden, welcher die Fähigkeit zum Richteramt erlangt hat und sich in einer den §§ 7 und 8 des Gerichtsverfassungsgesetzes entsprechenden Stellung befindet.

$ 11. Der bei dem Amtsgerichte zusammentretende Ausschuß ($ 40 GVG.) hat eine besondere Schöffenliste für das Jugendgericht aufzustellen. In diese Liste sind nur Lehrer, Ärzte, Geistliche oder in der Jugendfürsorge bewährte Personen aufzunehmen.

$ 12. Die Verhandlungen vor dem Jugendgerichte sind so anzusetzen, daß eine Berührung der Jugendlichen mit erwachsenen Angeschuldigten oder Angeklagten im Gerichtsgebäude vermieden wird.

$ 17. Die Staatsanwaltschaft hat von jeder Straftat eines Kindes, welche zu ihrer Kenntnis gelangt, dem zuständigen Vormundschaftsrichter Anzeige zu erstatten. es sei denn, daß es sich nur um eine Übertretung handelt und weder Gefährdung noch Verwahrlosung des Täters vorliegt.

$ 18. Bei Straftaten Jugendlicher hat der Staatsanwalt die Wahl zwischen einem Antrage auf Anordnung von Erziehungsmaßnahmen und Erhebung der öffent- lichen Klage.

$ 19. Trägt der Staatsanwalt auf Erziehungsmaßnahmen an, so hat ihm der Vormundschaftsrichter seine Entscheidung zuzustellen; er kann sie mit den ordent- lichen Rechtsmitteln anfechten.

$ 20. Die Erhebung der öffentlichen Klage hat, soweit nicht das Reichs- gericht in erster Instanz zuständig ist, vor dem Jugendgerichte zu erfolgen.

$ 21. Eine Voruntersuchung findet in den vor das Jugendgericht gehörigen Strafsachen nicht statt.

§ 22. Eine Entscheidung über Eröffnung des Hauptverfahrens ergeht nicht. Sobald die Anklage bei dem Jugendgerichte eingegangen ist, ist Termin zur Haupt- verhandlung anzuberaumen, vorbehaltlich des Rechts des Vorsitzenden, vorher einzelne Beweiserhebungen anzuordnen ($ 200 StPO.).

$ 25. Das Jugendgericht darf, sofern es auf Strafe nicht erkennt, alle die- jenigen Erziehungsmaßnahmen anordnen, welche nach Reichs- und Landgesetz vom Vormundschaftsrichter verhängt werden können. Das Jugendgericht darf ferner auf einen Verweis, verbunden mit Erziehungsaufsicht, erkennen.

§ 26. Wird Erziehungsaufsicht angeordnet, so ist dem gesetzlichen Vertreter oder einem besonders zu bestellenden Fürsorger aufzugeben, allmonatlich über das Verhalten des Angeklagten dem zuständigen Vormundschaftsrichter zu berichten.

§ 31. Richterliche, polizeiliche und Verwaltungsstrafbefehle gegen Jugendliche sind unzulässig.«

Trüper.

1. Phantasie und dichterische Veranlagung eines Kindes. 241

B. Mitteilungen.

l. Phantasie und dichterische Veranlagung eines Kindes.

Von M. Silber, geb. Prusse, Sanatorium Stolzenberg, Soden-Salmünster.

Wenn man sagt, Sonntagskinder sehen und hören mehr als andere Sterbliche, so möchte ich das fast von unserm Sonntagskind Irmgard, Usche genannt, glauben. Nicht, daß sie frühreif wäre oder nach irgend einer Richtung dressiert, nein, sie ist so ursprünglich und naiv, wie nur ein Kind von 4 Jahren sein kann. Nur durch ihr beständig strahlendes, glückatmendes Wesen unterscheidet sie sich von manchen anderen Kindern. Lebhaft, geschwätzig, immer vergnügt, eriunert sie mich an ein helles Waldquellchen. Sie ist das Gegenteil ihres Bruders, eines ernsten, wort- kargen Grüblers, dessen Augen beständig trinken, der nur fragt und auf- nimmt. Aber auch für ihn wird die Zeit des Überfließens kommen und sie wird reich sein. Was aber meine Usche bei jedermann beliebt macht, ist das rührende Herzchen, das Mensch und Tier nicht leiden sehen kann, das sie bewegt, lächelnd den Bissen aus dem Munde zu ziehen, wenn ein andrer ihn will.

Die poetische Veranlagung hat sie vielleicht geerbt, da sie in unerer Familie in allen Gliedern stärker oder schwächer zum Ausdruck kommt. Von außen ist es nicht in sie gebracht, da sie erst seit kurzer Zeit gern Geschichten oder Gedichte anhört und darum bittet. Vielleicht brauchen auch Menschen mit starker Einbildungkraft keine Anregung, sondern lassen lieber ihre Phantasie spielen, die sie ganz ausfüllt und hervor will.

Irmgard wurde am 25. Oktober 1903 geboren, die Aufzeichnungen der Tagebücher sind immer sofort wörtlich gemacht worden. Schon vor dem zweiten Jahr sah sie auf Tapeten und Holz Bilder und Figuren, hielt in der Hand oder fing Vögel, Fliegen, Schmetterlinge, alles nur bildlich. Auch begann sie gern in diesem Alter, sich reimende Worte zusammen- zusagen, später sie massenhaft zu suchen.

27.1. 06. Seit einigen Tagen spielt sie ein niedliches Theater. Sie wirft die Schürze übern Kopf und erklärt: »Nikenaus tommt« (Nikolaus war am 6. Dezember da). Dann spricht sie mit tiefer Stimme: »Wirste artig sein, Mutter wirste singen: o Tannebaum!« Ich singe natürlich, die Schürze fällt, die kleinen Hände recken sich mir entgegen, als gäben sie etwas. »Da Äpfel, Nüsse, da Fefferkuchen!« Darauf in reizend fragen- dem Tonfall mit blitzenden Augen: »War Nikenaus da, Mutter?« Ich er- zähle ihr alles und sie tut so neugierig und überrascht, als hörte sie’s zum erstenmal.

2. II. Die Kinder spielen kochen »ohne etwas«. Sie schälen Äpfel, Usche erbittet ein Messer, und der Bleistift, den ich ihr reiche, genügt

Zeitschrift für Kinderforschung. XIII. Jahrgang. 16

242 B. Mitteilungen.

ihr. Eine Weile schält sie emsig, plötzlich kommt sie angerannt: »Mama (nur im Spiel nennt sie mich so, sonst Mutter) ich hab mich deßnitten, Jut jauft (Blut läuft), Verband deben.« Ich tue, als verbinde ich, und sie ist sehr zufrieden.

7. IIL Sie setzt einen Hut auf, nimmt einen Stock und verkündet: »Ich bin Vater, geh zu ßanken (Kranken) hab viel Banken.e Dann kommt sie zu mir: »Bist du ßank?« ja »Fieber?« nein. »Muß ich Verband deben.« Das tut sie nun auch scheinbar mit größter Umständlichkeit. Gern gießt sie ihre Blumen und spricht mit ihnen: »Jume, hast du Durst?« Soll sie ins Freie, ruft sie: »Sonne, warte, komm jeich jaus!«e Beim Geschichtenerzählen ist sie gar nicht aufmerksam, geht herum, frägt dazwischen, ist offenbar ganz mit sich beschäftigt.

27. II. Lieder variiert sie gern. Statt: ist ein Jud = ist eine Tante Meta ins Wasser gefallen, oder »Liebes Vöglein, fliege weiter, nimm den Zettel wieder mit!«e Einmal im Bett hörte ich sie sagen: »Ich dachte, ich bin ganz von Bokolade und dabei bin ich gar nicht von Bokolade.«

19. V. Sie sagt zu mir: »Ich bin Jokter, du bist ein Junge, du hast dich verjannt« (verbrannt). Dann setzt sie den alten Zylinder auf, nimmt einen Schirm und kommt an. »Bist du Bank, Beiner Junge?« Ich weinerlich: »Ja, ich bin krank, hab mich verbrannt.« Sie darauf sehr ernst: »Da muß ich dich nähen.«e Kommt mit dem Schirm auf mich. Ich fange an zu heulen, sie sieht mich entsetzt an, wirft alles weg, fährt bitterlich weinend unter einen Tisch, ist lange nicht zu trösten. Offenbar glaubte sie, mir argen Schmerz zugefügt zu haben.

19. VII. Im Ausdruck ist sie sehr reich, in Tonfall und Geberde beim Erzählen immer dramatisch bis zur Darstellung: »Ich bin hin- gepurzelt, es lag ein Tein dort, (zeigend) da bin ich (weinerlich) so gepurzelt, (wirft sich hin) hab mich auf die Hände geßagen, hier und so gewei—nt, (vergnügt) und jetzt wein’ ich nich.« Sie ist sehr ge- sprächig und gründlich, läßt beim Erzählen nichts aus im Gegensatz zum Bruder, der nichts erzählt und Fragen einsilbig beantwortet. Bei meinem Erzählen ist sie gar nicht bei der Sache, stellt aber alles dar, was sie gerade hört. Ich sage: »Da fiel sie hin,« wirft sie sich sofort nieder und fragt: »So oder so?« Ich: »Da sie den Apfel.« Usche tut, als schlänge sie: »So so so.« Mitten in einer Geschichte ruft sie: »Muß mal jumrennen.« Und dann geht es um den Tisch.

15. XI. Wir beide gingen spazieren, sie sprach mit Sonne und Blumen: »Die Sonne kuckt immer auf mich, sie ßeichelt (streichelt) mich, sie hat auch Hände. Ich bin die Tante ich habe ßon ein Kind. Haben Sie auch ein Kind? zu mir. Worauf wir uns wie zwei Tanten unterhielten. Dann, indem sie mich zärtlich umfaßte: »Jetzt bin ich der Vater.«

25. XI. Diese Usche ist das reine Sonnenkind, jeden Strahl begrüßt sie mit Jubel. Früh schien die Sonne auf sie ins Bett. Andächtig guckte sie hin und sagte: »Sonne, ich möchte dich so anbeißen, gib mir ein Tückel (Stückchen) von dir!« Dann leise, als hätte sie Antwort bekommen: ja. Nun sperrte sie den Mund auf, tat, als bisse sie etwas ab, kaute

1. Phantasie und dichterische Veranlagung eines Kindes. 243

ganz selig und flüsterte: »Das Beckt aber gut.« Sie singt öfter eigne Melodien ohne Worte vor sich hin und fragt mich: »Was war das?« Ich: keine Ahnung. Sie: »Ein Lied vom Patz (Spatz) oder Das heilige Paar« usw. Das Fräulein verbot ihr, zu plumpen, da flog krächzend ein Rabe vorbei. Usche: »Fräulein, aber der Rabe sagt mir rab rab, plump, plump, da muß ich plumpen.«

5. X. Das Kopfkissen ist ihr kleiner Bernhardiner, den sie kost, mit dem sie plaudert, sie fängt eine Maus. Wenn man fragt: Wo ist sie aber? »Ach ich träume das nur.« Die ständige Antwort auf ähnliche Fragen. Immer auch hat sie Kinder. Hölzchen, Blätter, Papierchen sind es, wie die zerbrochene Puppe. Immer ist sie sehr mütterlich, wie bei ihr das Weibliche stark ausgeprägt ist. Die Kinder werden gewiegt, ge- füttert, sınd krank, am liebsten und niedlichsten spielt sie allein.

10. X. Wir schauten nach den rosa Abendwolken. Sie rief: »Wolken, kommt mal herein, setzt euch zu mir, wir werden euch ein Bönes Lied vorsingen. Kommt mal, ich will Euch die Hand geben (sie ausstreckend und winkend. Wir erzählen euch was hipses, ich führ euch herein. Na, wenn ihr nicht wollt, fang ich ein Käferle.. Sie kommen ßon.«

3. XI. Usche sagt: Ich will mal einen kleinen, lebendigen Mond, so groß, und eine kleine Bur (Schnur), da will ich ihn anbinden.« Ein andermal: »Mutter, sei du der liebe Gott und regne« Wenn ich er- zähle, gibt sie manchmal acht. Sie phantasiert vor sich hin: »Ruff-ruff (Schweinchen) komm mal her, komm doch mal, hopp zu mir auf den Tuhl (Stuhl), na, hopp, so willst du wieder runter?

21. XI. guckte sie aus dem Fenster und rief strablend: »Sieh mal, der Himmel freut sich über mich und ich freu mich über den Himmel.« Am nächsten Tag ganz unvermittelt: »Der liebe Gott ist mir gut und ich bin ihm auch gut, oder früher: »Ich bab den Papa lieb, ich hab die Mama lieb und ich hab mich selber lieb.« Wie sie über Mittag im Bett lag, rief sie: »Mutter, ich bin der liebe Gott, worauf ich dann ein strenges Gericht hörte. Ich kam und fragte: »Was machst du denn?« »Ach, die Menßen, das sind Vaters Buh (Schuh), wollen mir nicht folgen, da muß ich sie im Ofen verbrennen mit Feuer.«< Und die Schuhe flogen nur so im Zimmer herum. Und sie hat doch noch nie von dem alttestamentlichen Rachegott gehört! Die Kinder erzählen sich ihre Träume. Usche: »Ich träumte, der Mond und die Sterne sind in mein Bett gekommen, da habe ich sie ganz fest zugedeckt, da ist auch der Himmel gekommen, da habe ich ihn auch zugedeckt.« Sie erzählt: »Wenn ich Blafe, da holt mich der liebe Gott in den Himmel, da gibt er mir Äpfel und ßokolade und ist mir gut und dann trägt er mich ßnelle ins Bett zurück.« Oder sie öffnet die Tür: »Ich lasse alle guten Geisten herein. (flüsternd) Kommt ihr Geisten, alle, immer kommt, noch einer, noch viele, alle, der letzte, so.« Dann schließt sie die Tür. So läßt sie auch öfter Kinder, Onkels, Sol- daten herein und scheint wirklich zu sehn, was sie will. Mein Kleid hängt und sie sagt: »Da hängt die Mutter zur Bafe (Strafe), warum sie nicht artig war.« Früh im Bett erzählt sie mir: »Es waren gute Riesen bei mir, die sagten: »gute Usse, sollen wir dich auf den Ahm (Arm)

po~

244 B. Mitteilungen.

nehmen?« Da haben sie mich auf den Ahm genommen, so hoch und da sind sie bei mir geblieben und haben mit mir gepielt.« So langschweifiz erzählt sie stets. Ein andrer Traum: »Einmal, da Blief ich ganz fest, da hat es einen Knall (auf das Wort wird eine Skala von Tönen angewendet) gegeben, bis in den Himmel hinauf. Da war der liebe Gott tot. Da ist ein andrer lieber Gott gekommen und in den Himmel geklettert, aber der war böse. Der hat ein Bießgewehr genommen, puff war der Mensch tot.«

6. II. 07. Sie guckt die Uhr an und sagt: »Die Uhr weiß nicht, soll ich zum Vater oder soll ich zur Mutter.« Sie personifiziert noch alles. Wir hatten starken Sturm, den das in der Stadt groß gewordene, erst seit Dezember hier lebende Kind in dieser Gewalt noch nie erlebt hatte. Sie stand ganz hingenommen am Fenster, sah und hörte sonst nichts. Es schien ihr angst zu sein und sie schalt: »Du häßlicher, du böser Wind, wirst du die Bäume nicht so schütteln, du! Ruhig, hörst du nicht, du sollst artig sein. Nachher schlug sie einen sanfteren Ton an: »Ich weiß, du bist ein guter Wind, du tust nichts, aber sei auch artig, hörst du?« Nun fing sie an, ihm zu schmeicheln: »Ich Benk dir auch was hübses, du mußt’s aber nicht wegwerfen, denn du bist ein guter Wind.« Offenbar hatte sie Furcht und bot alles auf, Drohen, Schmeicheln, Geschenke, wie wohl unsere Ahnen den alten Göttern.

Es beginnt nun die eigentliche Epoche, für ihre Gedanken andere Form, zu finden, als erzählen. Und zwar macht sich das Kind eine Melodie, sprechend einförmig oft, an die Kirchengesänge der Geistlichen erinnernd, dann wieder laut, auf- und absteigend, manche Worte oft wiederholend. So singt sie zusammenhängende Phantastereien und spricht meist eine Überschrift voran. Auf Wunsch kann sie es nicht, es kommt förmlich über sie, die Augen werden groß, das Gesichtchen sieht weltent- rückt aus. Durch Lachen oder Störungen unterbrochen, findet sie den Faden nicht mehr, kann auch ihre Lieder kaum wiederholen. Besonders wenn sie Mittagsschlaf halten soll und ich im selben Zimmer oder nebenan bin, höre ich sie häufig ihre originellen Gesänge flöten. Zum erstenmal schrieb ich am 20. V. 07 nach: »Das böse Kind. (Nun singend) Der liebe Gott, der liebe Gott straft das böse böse Kind, warum es böse ist. Er läßt es in ein Loch fallen, ein tiefes Loch, das böse Kind, zur Strafe. Da lacht der liebe Gott, da lachen alle Engelein. Mutter, jetzt kommt Pfarrers Haus, (nun singend) Pfarrers Haus (3 mal wiederholt) ist ein- gestürzt, ganz eingestürzt, alles zerfallen. Es hat gebrannt in Pfarrers Haus, alles ist kaput, man kann nicht hinein, nur ein kleines Stückchen, alles ist verbrannt in Pfarrers Haus. Nichts ist mehr in Pfarrers Haus, nur ein Spiegel und ein Tragebett. Pfarrers Haus ist eingestürzt. (sprechend) Jetzt kommt die gestorbene Mutter. (singend) Die Mutter ist gestorben, der Vater liegt ganz lang, der Bruder weint und die Mutter ist tot, alle weinen, sie liegt in der Nebenstube. Da geht der Bruder rein und kommt gelaufen: Die Mutter ist lebendig, die Mutter ist wieder lebendig.ce So ein Schluß ist bei ihr typisch. Für ihr gutes Herzchen muß sich alles in Wohlgefallen lösen. Selbst der Wolf im Rotkäppchen

1. Phantasie und dichterische Veranlagung eines Kindes. 245

wird lebendig und nimmt am Kuchen- und Weingelage teil. Schneewitt- chen kommt nach dem vergifteten Apfel doch wieder ins Leben und die Zwerge schließen nun auch das Fenster mit dem Laden, damit nichts Böses zu ihr kann.

Im Mai kam es noch oft vor, daß sie mit Gegenständen sprach, z. B. zum Kronleuchter mit 4 Glocken: »1, 2, 3, 4, ihr 4 Kinder, was ist denn das, was wollt ihr da oben auf meinem ßornstein, gleich runter, ist das eine Art? Oder sie kommt: »Mutter, die Vögel zwitschern immer, ich soll ihnen nichts tun, und dabei tu ich ihnen doch nichts.« Sie versteht genau, was Tiere und Blumen sprechen, und erklärt es uns oft.

19. VII. Sie liegt an Masern und dichtet häufig, z. B. »Eine Glocke auf einem Balle saß und hielt sich nicht an, und fiel nicht runter. Die Glocke klingelt bimbim, bimbim, sie klingelt den ganzen Tag bimbim, bimbim.« Sie hatte ein Glöckchen zum spielen im Bett. Oder, dreimal mit kräftiger Melodie: »In die Freiheit gezogen! (sanft) Ich wohne in der Heimat, der runden Heimat (vielleicht, weil wir ringsum Berge haben). Nur tut mir nichts zu leide, sonst geh’ ich in andre Häuser, sonst wasch’ ich mich in andern Häusern.« Etwas später: »Bim baum Rosenstock, wie blau sind deine Blümelein, bim baum Rosenstock, wie blau sind deine Blümlein!« Nach dem eigentümlichen, vielversprechenden Anfang: »Auf einem hohen Berge lag der Teufel und wärmte sich;« wurde sie unter- brochen und wußte nicht mehr, wie es weiter ging. Im Bade spielte sie mit dem Thermometer und sang: »Hier fahr’ ich mich zu Tode, piff paff. Ich fahre ganz allein auf meinem Schiff, allein. Ich fahre, ich fahre und bin allein.«

3. VIII. singt sie auf einen Frosch: »Im allerßönsten Mai—ai, er ist noch nicht ertrunken im Bönsten Mai—ai. Was machst du für Augen, komm hervor, du Wicht.« Oft nimmt sie einen kurzen Text und variiert nur die Melodie nach allen Möglichkeiten, z. B. »Donnerwetter, alle Kinder, alle Kinder sind so froh,« oder »Fleisch und Pilze, Pilze und Fleisch, ich so gern, so gerne«. Das Schwesterchen erklärt sie, von nun an Pfefferkuchen zu nennen, das wäre ein schöner Name und führt es auch durch. Einmal abends hörten wir die Kinder im Schlafzimmer laut lachen und als wir hereintraten, erzählte der Junge prustend: »Usche singt Witzlieder, da muß man lachen.« Noch am nächsten Tage schüttelte er sich vor lachen, wenn er dran dachte, was sonst nicht seine Art ist. Ein Beweis, wie die Komik dem Kindlichen angepaßt gewesen sein muß. Usche wollte aber die Lieder nicht wiederholen und Hellmuth meinte: »Erzählen kann man’s gar nicht. Es war so furchtbar drollig, da mußt du dich mal hinter die Tür stellen und horchen. Es kam so vor: Die Eisenbahn ist auf den Tisch gekrocher und hat mit ihren Rädern alle Sachen fortgewischt und dann ist ein Eisenbahnunglück passiert und da hat sie mit ihren Rädern die andre Eisenbahn aufgehoben und mit den Rädern die Türen zugemacht. Sie sang auch ein Lied vom Löwen, das war aber lange nicht so witzig hör mal, sie fängt schon wieder zu witzen an.« Richtig, sie sang: »Die Badehose fliegt, das Hemd fl, fi, fl,

246 B. Mitteilungen.

fliegt, der Schranken fliegt.« Da wir aber lachten, erklärte sie: »Nun gehts nicht weiter.« Der Vater fragte: Woher kennst du denn die Witz- lieder? und sie schelmisch: »Von Herrn Niemand.«

Am 3. IX. bat ich sie, mir doch auch mal ein schönes Lied zu singen. Sie strich sich paarmal gedankenvoll über die Stirn, meinte, sie müsse sich besinnen, und begann nach einem Weilchen: »Der Mond hat am Himmel gestanden, da ist der liebe Gott heruntergeßwebt, da hat der liebe Gott zum den Mond gesprochen und der Mond hat zu den Engeln gesprochen: Ihr sollt artig oben bleiben und in eure Betten gehn und Bön einßlafen. Und wenn ihr munter seid, sollt ihr hübsch eure Flasche austrinken und dann wieder herkommen zu mir und zu dem lieben Gott.« Später mal: »Komm, du kleines Klingelein, kling, klingeling, kling, kling. Wenn wir was wollen, dann klingelst du gleich, wenn wir nichts wollen, dann klingelst du nicht.« Und am 24. »Du Fahne so schwarz und du Fahne so weiß, du Fahne so rot, blau, schwarz und grün, du führst mich zum Tod, zu Todesnot, du Fahne voran!« Und später: »Kleeblättchen mit den roten Bäckelein, so schreits, o so sehre, (fortwährend wiederholt) in der Mantari? Su su, biri bu.«

Am 3. X.: »Wollen jetzt ein Kränzlein winden, aber erst wolln wir Kaffee trinken, dann wollen wir ein Kränzlein winden, trallalalala.. Gehn wir alle an den Bach, wollen uns die Hände waschen, gehn wir an den andern Bach, den reinen, wollen das Gesicht uns waschen, trallalalala. Und dann wollen wir uns baden, wollen unsre Füße waschen.e Am Abend sang sie vor sich hin: »Ein Bild am Sprudel, zwei Frauen lebendig, die holen sich Wasser in ihrer Schüssel, der Schüssel aus Glas.« Ich gestehe, daß die wenigen Worte, so malerisch und plastisch, tief auf mich wirkten. Ich schaute dem hüpfenden Kind mit dem lachenden Ge- sichtchen nach und staunte, daß ihrem Mund solche Worte entfließen konnten. Zu ihrem Geburtstag wünscht sie sich in erster Linie ein lebendiges Kind, wie ein echtes, kleines Weib, aber dann einen Igel auf Rädern, ein Schwalbennest auf Rädern, einen kleinen Monteur auf Rädern und ähnliche Variationen.

8. X. Einen traurigen Schluß verträgt sie nicht. Ich sang auf Bitten der Kinder: Es zogen drei Burschen wohl über den Rhein. Gegen das Ende wurden ihre Augen immer größer, das Mäulchen senkte sich. Als ich fertig war, fiel sie rasch ein: »Es geht doch noch weiter, so: Und da seh ich zu meinem Brecken, dalala, daß du nicht bist tot. Und da hab ich dir auch Bleifen mitgebracht, viele ßleifen, warum du nicht bist tot, und freue mich, dalala, treilelftti, trappapäm.« Lieder verändert sie immer noch gern, z. B. »Morgen früh, wenn Gott hopst (will), wirst du wieder geweckt.« Auch drückt sie sich meist schön und besonders aus: »Mein Stock liegt im purpurnen Weg.« (Es war der Rosengang, der 4 Monate früher in voller Blüte stand.) In den Bach schaut sie und meint: Die Wellen sagen: »fang mich, fang mich.« Der Bruder: »Das kann ich gar nicht hören,« und sie: »Aber ich höre alles sprechen.x Am Geburtstag freute sie sich mit dem ganzen Körperchen und rief unzählige Male, im Zimmer tanzend: »Ach, wie bin ich glücklich, daß ich so fröh-

1. Phantasie und dichterische Veranlagung eines Kindes. 247

lich bin.«e Nach grauen Novembertagen frägt sie beim Erwachen: »Ist denn der Himmel nun endlich gewaschen

Am 9. XII. betrachtet sie einen Schornstein und singt: »Da oben kommt der Rauch heraus und ßwebt so wie ein Mann und ßwebt so wie ein Glockenhaus.« Zum Thermometer sagt sie: »Es ist ein Männchen, da sind zwei Augen (R. und C.) da das Bärtchen und da die Beine.« Ebenso sieht sie im abgebissenen Butterbrot allerhand Gestalten.

Zum letztenmal schrieb ich am 12. II. ein Gedicht nach.

»Einmal kam das kleine Lieschen aus dem Sanatorium Und wollte aus einem Glase Wasser trinken,

Auf einmal schmeckte das Wasser wie Wein.

Da wollte sie aus dem Bache trinken,

Da schmeckte der Bach auch so wie Wein.

Da war ein Weinfisch daripnen,

Der hatte den Wein rausgespuckt.

Da ist das Lieschen weitergegangen,

Da kam die Sonne mit ihr.

Da hat sie ihr kleines Portemonnaie verloren,

Das sie zu Weihnachten geschenkt bekam.

Nun ist sie denselben Weg zurückgegangen

Und da hat sie es wiedergefunden.

Wie sie nach Hause kam, hat's die Mutter eingeschlossen, Und sie hat es nie mehr mitgenommen.«

Das Kind hat keine Ahnung, daß man ihr nachschreibt oder sonst Wert auf ihre »Gesänge« legt. Auffallend ist das ganz Originelle des Inhalts, nie an Lieder oder Geschichten erinnernd, die sie hörte, außer vielleicht: Du Fahne so schwarz == ich bin ein Preuße. Häufig und eigen- tümlich sind die selbsterfundenen Zwischenworte wie: su su, biribu, dallala, treilalitti trappapam u. m., die man auch sonst oft bei ihr hört. Niemals ist sie irgend angehalten worden, sich zu produzieren, wie ich bei dem geweckten Kinde im Gegenteil überall bemüht bin, alles im Schlummer zu halten, sie möglichst bei mir und wenig unter Erwachsenen zu haben. Seit ihrem vierten Jahr ist allmählich eine große Veränderung vorgegangen, mit beeinflußt vielleicht durch den Umzug vom Sanatorium ins neue Arzt- haus am 26. November. Sie ist ruhiger und seßhafter geworden, findet Gefallen am Nähen, Bauen, Legespielen und zeichnet sehr drollige Bild- chen. Geschichten hört sie sehr gern und erbittet sie täglich, ist voll tiefer Andacht. Seit sie aber die dem Bruder gelesenen Balladen mit an- gehört hat, ist sie ganz begeistert davon, möchte sie sehr oft hören, am liebsten »Erlkönig« und »Zauberlehrling«e. Atemlos lauscht sie mit Riesen- augen. Auch beim Unterricht des Bruders hört sie im Spiel gern zu, besonders die biblische Geschichte. Das ist seit 3 Monaten. Ich weiß nicht, warum sie früher so viel von Gott, Himmel, Engeln fabelte, wo sie nie davon hörte. Im übrigen ist sie eine glückliche, von allen Menschen unabhängige kleine Person, die sich schon vor dem vierten Jahre ganz allein anzog und selbst wenn sie sich weh tut, keinen Tröster braucht, sondern in einer Ecke ihren Schmerz ausschluchzt. Am meisten aus-

248 B. Mitteilungen.

geprägt aber ist zu meiner Freude ihre Mütterlichkeit, so wie sie echt weiblich ist, mit allen Vorzügen und Fehlern. Mir kommt sie wie ein Miniaturmütterchen vor, zu dem ja auch die Gabe des Erzählens gehört. Und wenn ich sie einst als wirkliche, glückliche Mutter sähe, wäre auch mein Glück voll.

2. Österreichische Gesellschaft für Kinderforschung. Von Dir. Dr. Theodor Heller, Wien-Grinzing.

Montag, 2. Dezember 1907, fand unter dem Vorsitz des Hofrates Professors Escherich die vierzehnte Sitzung der Österreichischen Gesell- schaft für Kinderforschung statt, in der Gerichtssekretär Dr. Hermann Drawe über die Erfahrungen sprach, die er als Strafrichter über die Ver- wahrlosung der Jugendlichen gesammelt hatte. Der Vortragende hat be- kanntlich keine Mühe, keine Opfer und keine Unbequemlichkeit gescheut, um aus eigener Anschauung die Wiener Quartiere des Elends und Ver- brechens kennenzulernen.

Spezielle Studien über die Verwahrlosung der Jugendlichen wurden von dem Vortragenden wohl projektiert, konnten aber aus verschiedenen Gründen nicht ausgeführt werden. Gleichwohl hat der Vortragende, so- bald ihm ein besonders krasser Fall von Verwahrlosung vorgekommen ist, nach Tunlichkeit getrachtet, das Milieu kennenzulernen, dem der betreffende Jugendliche angehörte, und in jedem Falle durch Einvernahme außerhalb der Dienstzeit und durch freundlichen Zuspruch Vieles in Erfahrung ge- bracht, was bei dem richterlichen Verhör nicht eingestanden wurde.

Das Material, das Dr. Drawe auf diese Weise gesammelt hat, ist er- schreckend groß und enthält Tatsachen, welche selbst jene, die einiger- maßen mit dem Erscheinungsbild der Verwahrlosung Jugendlicher vertraut sind, mit Schaudern und Entsetzen erfüllen muß.

Hinsichtlich der Verwahrlosten weist Drawe auf die Statistik hin, die Gerichtssekretär Dr. Schuster von Bonnott für den Kinderschutz- kongreß zusammengestellt hat. Dort wird die Zahl der Verwahrlosten in Wien (mit Ausschluß des 21. Bezirkes) mit 10 220 angegeben. In Wirk- lichkeit ist diese Summe viel zu niedrig bemessen. In erster Linie ist es der Mangel jedweder Aufsicht und Erziehung, welche die Kinder der Verwahrlosung entgegentreibt. Weiterhin sind die elenden Verhältnisse vieler Familien, unzureichende Wohnung und Ernährung, das schlechte Beispiel der Erwachsenen hierfür verantwortlich zu machen. Dem Vor- tragenden sind Fälle bekannt geworden, in denen Eltern ihre Kinder zu kriminellen Handlungen verleiteten. Knaben als Mitglieder von Diebes- banden, »Aufpasser« von Prostituierten werden fast alltäglich aufgegriffen. Viele derselben führen ein ganz ungeordnetes Leben, haben keine feste Wohnung, übernachten in Massenquartieren, kommen oft tage- und selbst wochenlang nicht zu ihren Angehörigen. Ihre Nahrung wird erbettelt und besteht nicht selten nur aus den Überresten auf den Tellern der Wirts- häuser. Der Haupterwerbszweig der verwahrlosten Mädchen ist die Prostitution. Mädchen im schulpflichtigen Alter waren mit

2. Österreichische Gesellschaft für Kinderforschung. 249

Syphilis behaftet und hatten bereits Knaben angesteckt, die als ihre Zu- hälter fungierten. Der Vortragende gibt eine Reihe von Fällen bekannt, in denen die Eltern oder die Mütter keinen geordneten Erwerb nachweisen konnten und in Wirklichkeit von dem Schandlohn lebten, den ihre Töchter als Prostituierte erzielten. So hatte z. B. ein beschäftigungsloser Schuster Betten in seiner Wohnung um verhältnismäßig hohe Preise vermietet. Der gute Ertrag dieser Vermietung erklärte sich daraus, daß er gleichzeitig seine Töchter den Bettgehern zur Verfügung stellte. Es kommt gar nicht selten vor, daß Kinder, die sich weigern, die ihnen von den Eltern oder An- gehörigen gewiesenen schlechten Wege zu gehen, durch unmenschliche Mißhandlungen hierzu gezwungen werden. Die raffiniertesten Martern, die dem Vortragenden bekannt wurden, sind nicht von den Vätern, sondern von den Müttern ausgedacht und durchgeführt worden. In sehr vielen Fällen sind keine Spuren körperlicher Mißhandlungen nachzuweisen, weil die Peiniger in dieser Hinsicht sehr vorsichtig zu Werke gehen. Nicht selten handelt es sich um ein System von Martern, vergleichbar der mittelalterlichen Tortur.

Was das Bettelunwesen der Kinder anbelangt, so existieren hier be- sondere Gilden. Die Verkäufer der sogenannten »Planetenzettel« (Zu- kunftsprophezeiungen auf Zetteln mit beigesetzten Nummern zum Spiel in der kleinen Lotterie) bilden eine solche geschlossene Gemeinschaft. Sehr interessant waren die Aufschlüsse des Vortragenden über die in Wien bestehende »Bettlerbörse«, auf welcher schöne oder krüppelhafte Kinder zur wirksamen Unterstützung erwachsener Bettler zum Preise von 4—6 K für wenige Stunden zur Vermietung gelangen. Trotz aller ge- richtlichen und polizeilichen Verordnungen sind bettelnde Kinder noch immer in den belebten Straßen zu sehen.

Vom richterlichen Standpunkt aus erscheint eine Reform des Vor- mundschaftswesens dringend nötig. Für manches verlassene Kind ist ein einwandfreier Vormund nicht zu erhalten. Gar nicht selten sucht der Vormund im Einverständnis mit den nächsten Angehörigen eines ver- wahrlosten Kindes das Gericht zu täuschen oder ergeht sich in wider- spreehenden Äußerungen, was der Vortragende an einem speziellen Fall nachweist.

Dem Richter fehlt es an einer entsprechenden Gesetzesstütze, wenn er gegen verwahrloste Jugendliche vorgehen will. Er ist auf das ver- altete und höchst unvollkommene Vagabundengesetz angewiesen, dessen Praxis ganz besonders in dem Punkte, wo es sich um ortsfremde Indivi- duen handelt, grausam genannt werden muß. Die Abschiebung in eine kleine Ortsgemeinde, wo der »Vagabund« heimatberechtigt ist, hat zur Folge, daß der unliebsame Eindringling dort allen möglichen Schikanen ausgesetzt, in vielen Fällen gar nicht aufgenommen wird. Das Elend, welches sich aus einer solchen Situation ergibt, spottet jeder Beschreibung.

Wenn auch der Richter den besten Willen hat, sich eines verwahr- losten Jugendlichen anzunehmen, so fehlt es ihm hierzu an Zeit. Der Strafrichter wird mit Dingen behelligt, die oft seiner Würde und der Würde des Gerichts widersprechen. Da der Richter über Straffakten, wie

250 B. Mitteilungen.

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ausgelöschte Wagenlaternen, aufsichtslose Hunde und Ähnliches mehr zu judizieren hat, so bleiben oft zur Aburteilung der zum Schluß des Ver- handlungstages vorgeführten Vagabunden nur wenige Minuten. Wie ver- trägt sich dies mit der selbstverständlichen Forderung nach individuali- sierender Behandlung der Straffälligen ?

Man hat früher die Wirksamkeit privater Vereine für Jugendfürsorge als Wohltätigkeitsspielerei bezeichnet. Die freie Vereinstätigkeit ist gegen- wärtig in Wien und Österreich der wirksamste Faktor im Kampfe gegen die Verwahrlosung und verdient daher tatkräftige Unterstützung.

Zum Schluß wendet sich der Vortragende jenen Fällen zu, in denen krankhafte Veranlagung als Ursache von Verbrechen oder Vergehen anzu- sehen ist. Nach seiner Ansicht enthält die Bezeichnung: »Geisteskranke Verbrecher«e einen inneren Widerspruch. Ein Verbrechen ist eine durch Motive bedingte Tat und kann deshalb nur von einem geistig normalen Individuum verübt werden. Die antisozialen Handlungen Geistesgestörter gehören überhaupt nicht vor das Forum des Stıafrichters, sie sollen den Arzt beschäftigen. Die Unterbringung solcher Kranken in der Besserungs- anstalt oder im Gefängnis ist nicht zu befürworten, sie gehören in die Heil- oder in die Bewahranstalt. Der Vortragende hat alle jene Besserungs- anstalten in Österreich besucht, in denen Jugendliche untergebracht sind, und überall ist ihm die große Zahl offenbar Geistesgestörter oder geistig Minderwertiger unter den Korrigenden aufgefallen. (Starker, wiederholt sich erneuernder Beifall.)

Der Vorsitzende, Hofrat Escherich, dankt dem Vortragenden im Namen der Gesellschaft. Er stimme der Forderung nach individualisierender Behandlung der Straffälligen nachdrücklichst bei. Der Vortragende habe sich in der psychologischen Auffassung seiner Wirksamkeit und in seinem Eingehen auf das Seelenleben der Straffälligen geradezu als Seelenarzt er- wiesen,

3. Otto Danger t.

Im September 1907 starb zu Goslar am Harz der verdiente Direktor Otto Danger nach langer schwerer Krankheit. Der Verstorbene, ein bekannter Pädagog auf dem Gebiete der Taubstummenbildung, war am 15. Februar 1840 zu Hildesheim geboren. Als Sohn des dortigen Waisen- hausinspektors hatte der junge Danger schon früh reichlich Gelegenheit, die verschiedensten Formen menschlichen Elends kennen zu lernen. Seine Vorliebe für die Gehörlosen bewog ihn denn auch, nach vollendeter Aus- bildung zum Lehrerberuf sofort sich diesen Unglücklichen zu widmen. In den Jahren 1862—1868 wirkte Danger zunächst an den königl. Taubstummenanstalten zu Osnabrück und Hildesheim. Besonders an ersterem Orte war ihm die Möglichkeit geboten, sich eingehend mit der Behandlung taubstummer Kinder vertraut zu machen. Denn hier in Osnabrück lebte und arbeitete seit 13857 einer der bedeutendsten Schüler des Altmeisters Hill, Ed. Rößler, der nachhaltig für die Verbindung von Sach- und Sprachunterricht eintrat.

4. Die Eierscheu. 251

Nachdem Danger gewissermaßen seine Lehrzeit beendet hatte, ward er 1870 in den Lehrkörper der Anstalt zu Braunschweig berufen. Treu und hingebend, wie er war, wurde er später zum dirigierenden Haupt- lehrer derselben Anstalt befördert. Als solcher amtierte er noch bis zum Jahre 1882 in Braunschweig.

Um diese Zeit siedelte der Leiter der ostfriesischen Anstalt zu Emden, A. Frese (siehe d. Zeitschr. V. Jahrg., 211), nach der Schweiz über. Als es sich nun darum handelte, für diesen einen geeigneten Nachfolger zu finden, entschied man [sich einmütig für Danger. Derselbe trat am 1. Oktober 1882 seinen neuen Posten an und hat ihn fast ein Viertel- jahrhundert lang mustergültig verwaltet. Er ließ es sich besonders an- gelegen sein, das Institut, den zeitgemäßen Forderungen entsprechend, zweckdienlich auszugestalten. Eine verständnisvolle Förderin seiner Pläne fand Danger namentlich in seiner Gattin, die besonders für die industrielle Ausbildung der Mädchen recht ersprießlich wirkte. Körperliche Leiden zwanger ihn dann, 1906 sein Amt aufzugeben, um in der Stille auszu- ruhen. Leider ist ihm nur noch eine kurze Rast beschieden gewesen, denn bereits im nächsten Jahre geleiteten seine Freunde ihn zur letzten Ruhestätte.

Der Verblichene, mit einem äußerst rührigen und beweglichen Geiste ausgestattet; er brachte den mannigfachen pädagogischen Fragen ein reges Interesse entgegen. So war er eifrig bemüht, die soziale Stellung der entlassenen Taubstummen zu heben. Außer seiner praktischen Tätigkeit fand er auch noch genügend Zeit, literarisch zu wirken. Von Dangers Schriften verdienen die nachfolgenden genannt zu werden: Christliche Religionslehre für evangelische Taubstumme, Braunschweig 1874. Der Unterricht in den Realien, 3 Teile, 1877. Fünfzigjährige Arbeit für das Wohl der Taubstummen Ostfrieslands, Emden 1894. Drei- sinnige, Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1903. Die Erziehung der Taubstummen zum Gemeinschaftsleben, Friedberg 1904. Von seinem Fleiße zeugen auch die zahlreichen Arbeiten, die Danger in den ersten zehn Jahrgängen dieser Zeitschrift veröffentlichte. Auf die Artikel über Helene Keller und das amerikanische Taubstummenwesen wäre da besonders hinzuweisen.

So wird denn auch Danger nicht sobald vergessen werden, sondern vielmehr sein Andenken bei allen, die mit ‘ihm in Berührung kamen, lebendig erhalten bleiben.

Fürstenwalde-Spree. M. Kirmsse.

4. Die Eierscheu.

Unter den Abneigungen der Kinder gegen gewisse Speisen spielt die Eierscheu eine hervorragende Rolle. Außerdem gibt es nicht bloß Mütter, sondern auch Ärzte, die schwächlichen Kindern den täglichen Eiergenuß in reichlichen Dosen verordnen und nicht bedenken, daß auch das Kind nicht von dem lebt, was es ißt, sondern nur von dem, was es verdaut, und daß die Magennerven ganz besonders leicht ermüden beim Verdauen

952 B. Mitteilungen.

von Eiern. So entsteht dann oft plötzlich eine ganz natürliche Abneigung ja Widerwille gegen ein Nahrungsmittel, das noch kurz zuvor gerne ge- nommen wurde. Selbstverständlich hat eine solche Ernährung dann absolut keinen Zweck. Ich bekam einmal ein zwölfjähriges Gutsbesitzerstöchter- chen, das von der Mutter im Einvernehmen mit dem Hausarzte täglich bis zu 8 Eiern bekommen hatte. Sie hatte dabei aber in Jahr und Tag nicht ein Pfund an Körpergewicht zugenommen, während sie bei uns mit normaler Ernährung in wenigen Monaten 20 Pfund zunahm.

Eine interessante Mitteilung über »Die Eierscheu und ihre Heilung« bringt die Tägl. Rundschau. Sie schreibt: »Manchem wird es überraschend klingen, daß sich unter den Genußmitteln, die bei einzelnen Personen heftige Krankheitserscheinungen auslösen, auch die gewöhnlichen Hühnereier befinden. Die Idiosynkrasie gegen Erdbeeren oder Krebse ist eine wohlbekannte Sache, der man übrigens kein großes Gewicht beizu- legen pflegt. Die Literatur verzeichnet jedoch auch Fälle einer vergleich- baren Abneigung gegen das Ei, deren Symptome in heftigem Erbrechen, Erkrankung der Verdauungsorgane und vorübergehenden Sehstörungen be- stehen. Irgend eine eihaltige Speise genügt, um solche Folgen wachzu- rufen, ohne daß bisher ein Verfahren zur Bekämpfung des Übels angegeben worden wäre. Dr. Shefield beschreibt nun im »Lancet« einen schweren Fall von Eier-Idiosynkrasie, bei dem ihm die vollständige Heilung ge- lungen ist. Es handelte sich um einen dreizehnjährigen Knaben, der nach jeder Speise, die auch nur ganz wenig eihaltig war, schwer erkrankte. Die Anfälle äußerten sich in heftigem Speichelfluß und brennendem Ge- fühl der Lippen, worauf bald ein starker Nesselausschlag folgte. Von »Suggestion« konnte keine Rede sein, da während der ganzen Kinderzeit die Reaktion auch dann erfolgte, wenn der Zusatz von Eiern zu genossenen Speisen nicht vermutet werden konnte. Bei Beginn der Behandlung mochte der sonst bis auf etwas erweiterte Drüsen völlig gesunde Knabe schon etwa 150 Anfälle durchgemacht haben. Sie bestand in der Ver- abreichung von Pillen, deren jede neben etwas milchsaurem Kalk ungefähr den tausendsten Teil eines Hühnereies enthielt, ohne daß der Patient eine Ahnung von der Art des Medikaments hatte. Schulbesuch und Lebens- weise erfuhren keine Änderung. Jeder Eizusatz zur Nahrung wurde streng vermieden. Die Pillen wurden von Monat zu Monat um 50 v. H. ihres Eigehalts verstärkt, bis sie nach !/, Jahr auf !/,, kamen. In diesen sechs Monaten hatte der Knabe also zum ersten Male in seinem Leben ein ganzes Hühnerei zu sich genommen. Anfang Juli wurden ihm probeweise Speisen verabreicht, die er eihaltig glaubte, obne daß sie es in Wirklich- keit waren. Sie wurden reaktionslos vertragen. Sodann wurde ein Eier- zusatz zur Nahrung gemacht, so daß die tägliche Menge schon 1/, eines Eies betrug und der junge Patient nächsten Monat insgesamt vier Eier aufnahm. Das Befinden blieb ungestört, und die Dosis konnte rasch auf ein Ei an jedem Tage erhöht werden.« Ir,

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C. Literatur. 253

C. Literatur.

Zur Literatur über Jugendfürsorge und Jugendrettung. Von K. Hemprich in Freyburg (Unstrut). (Schluß.)

III.

Schriften, die sich mit physiologischen, psychologischen, sozio- logischen und ethischen Untersuchungen des Bodens befassen, aus dem die Verwahrlosung der Jugend hervorwächst. (Heilpädagogische Literatur.)

Schinz-Ufer, Die Sittlichkeit des Kindes. Langensalza, Hermann Beyer & Beyer (Beyer & Mann). Preis 75 Pf.

Trüper, Zur Frage der Erziehung unserer sittlich gefährdeten Jugend. Ebenda. Preis 50 Pf.

Piggott, Die Grundzüge der sittlichen Entwicklung und Erziehung des Kindes. Ebenda. Preis 1,25 M.

Trüper, Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache von Gesetzesverletzungen Jugendlicher. Ebenda. Preis 1 M.

Polligkeit, Strafrechtsreform und Jugendfürsorge, Ebenda. Preis 50 Pf.

Trüper, Zur Frage der Behandlung unserer jugendlichen Missetäter. Ebenda. Preis 50 Pf.

Reicher, Die Verwahrlosung des Kindes und das geltende Recht. Ebenda. Preis 60 Pf.

Fiebig, Über Vorsorge und Fürsorge für die intellektuell schwache und sittlich gefährdete Jugend. Ebenda. Preis 75 Pf,

Plaß, Über Arbeitserziehung. Ebenda. Preis 40 Pf.

Psychopathisches im Kindesleben. Artikel in Reins Handbuch der Päd. v. Trüper. Daselbst auch ausführliche Literatur über diesen Gegenstand.

Pädagogik und Medizin. Artikel in Reins Handbuch v. Trüper nebst ausführ- führlicher Literatur.

Kulemann, Die forensische Behandlung der Jugendlichen. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann). Preis 40 Pf.

Felisch, Die Fürsorge für die schulentlassene Jugend. Ebenda. Preis 30 Pf.

Damaschke, Wohnungsnot und Kinderelend. Ebenda. Preis 30 Pf.

von Rohden, Jugendliche Verbrecher. Ebenda. Preis 35 Pf.

Stier, Die Bedeutung der Hilfsschulen für den Militärdienst der geistig Minder- wertigen. Ebenda, Preis 50 Pf.

Kiefer, Die Prügelstrafe in der Erziehung. Ebenda.

Derselbe, Die körperliche Züchtigung bei der Kindererziehung in Geschichte und Beurteilung. Ein Buch für Eltern und Erzieher. Berlin W. 15, Albert Köhler. Preis 4 M.

Nelly Wolffheim, Zur Geschichte der Prügelstrafe. Berlin, Ernst Frensdorff.

Beide Verfasser lassen die Geschichte der Prügelstrafte von der ältesten Zeit bis zur Gegenwart an uns vorüberziehen. Es ist mehr oder minder eine Geschichte menschlicher Verirrung. Zuletzt wird untersucht, ob überhaupt das System, das die Prügelzucht fordert oder noch zuläßt, noch das unsrige ist. Je weltfeindlicher das Ideal, das sich ein Erziehungssystem aufstellt, beschaffen ist, um so grausamer,

254 C. Literatur.

menschenfeindlicher sind die Mittel, mit denen es diesem Ideal nahe zu kommen wähnt. Das Prügelsystem, so sagt Wolffheim zum Schlusse, wird, wie so manches andere, das sich überlebt hat, in nicht allzu ferner Zeit verschwinden. Spätere Gene- rationen werden die Rute ebenso mit Staunen und Grausen betrachten, wie wir die Folterwerkzeuge des Mittelalters.

Eduard Schulze, Inhaitsverzeichnis der ersten zehn Jahrgänge der Zeitschrift für Kinderforschung (Die Kinderfehler) und der Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

In diesem fleißig gearbeiteten Inhaltsverzeichnisse findet der Leser die Arbeiten, die über die in Rede stehenden Fragen in der »Zeitschrift für Kinder- forschung« sowie in den »Beiträgen zur Kinderforschung und Heilerziehung« ab- gedruckt worden sind. Die Literatur ist nach sachlichen Gesichtspunkten geordnet. Unter den Überschriften: Zur medizinischen und pädagogischen Pathopsychologie, Zur Medizin, Physiologie, Psychiatrie und Hygiene, Heilpädagogische Erziehungs- und Unterrichtslehre, praktische Heilerziehung wird der Leser noch eine Fülle von Material finden über diese wichtigen Gegenstände, die gewissermaßen die Grund- lagen zu einer richtigen Jugendrettung und Jugendfürsorge bilden. Die Zeitschrift für Kinderforschung hat mit dazu beigetragen, daß besondere Fürsorge getroffen wird für die intellektuell Geschwächten in Form von Hilfsschulen. Sie hat auf dem Plane gestanden, als es galt, die Strafbehandlung der Willensschwachen und der jugendlich Verirrten aus der einseitigen und noch verderblicher wirkenden Zwangs- erziehung umzuwandeln in eine Fürsorgeerziehung, indem sie die Schwächen, Fehler und Verkehrtheiten des Willens psychologisch erfassen und damit sachgemäßer und zugleich humaner behandeln lehrte. Sie hat aber auch für die leiblich und geistig gesunde Jugend zur Verhütung von Entwicklungschäden ein besseres Verständnis angebahnt und sich so um die leibliche, geistige und ethische Hygiene aller Kinder bemüht. Die Zeitschrift hat nicht nur an der Erforschung des Seelenlebens der Jugend nach Kräften beigetragen, sondern auch stets auf die Schäden und Miß- stände des Volkslebens nachdrücklichst als Ursachen körperlicher wie seelischer Degeneration hingewiesen.

Ernst Schultze, Volksbildung und Kneipenleben. Hamburg, Gutenberg-Verlag.

Weigl, Jugenderziehung und Genußgifte. München, Verlag der Lentnerschen Buchhandlung. Preis 40 Pf.

Verfasser fordert völlige Enthaltsamkeit von allen Genußgiften (alkoholischen und koffeinhaltigen Getränken und nikotinhaltigem Tabak) seitens der Jugend. Denn »eine gesunde Jugend heranzubilden, die an Leib und Seele frisch und vollwertig in das tätige Leben hinaustritt, muß das völkische Erziehungsideal der vater- ländischen Treuen in allen Berufen und Ständen sein.e Aus dem Schatze reicher Erfahrung und statistischen Materials weist Verfasser nach, daß im deutschen Volke eine Entartung bis zu einem gewissen Grade Platz griff; er' warnt davor, den glücklicherweise noch reichen Fonds ungeschwächter Reservekräfte an Volks- gesundheit zu erschöpfen.

Es wäre hier vielleicht noch die weitere Literatur über Jugend und Genuß- gifte anzuführen. Ich sehe aber davon ab, da es doch über den Rahmen der Literatur über Jugendfürsorge und Jugendrettung hinausführt.

Landsberg, Das Recht der Zwangs- und Fürsorgeerziehung. Berlin u. Leipzig, Walter Rothschild. Preis 10 M.

Es handelt sich in diesem Buche ebenfalls um das große Gebiet der vor- beugenden Erziehung, worunter alle erziehlichen Bemühungen der Gesetze, der Be-

C. Literatur. _ 255

hörden und der Vereine zu verstehen sind, welche darauf abzielen, der Verwahr-

losung, der Entartung und der Entstehung von Verbrechern vorbeugend im Einzel-

falle entgegenzutreten. Unter dem Bilde eines Kampfes gibt der Inhalt einen

völligen Überblick über alle in Betracht kommenden Lebens- und Rechtsgebiete.

Die Abschnitte im 1. Teile sind überschrieben: Entartung und Verwahrlosung. Der

Nährboden des Unkrautes. Heimarbeit, Schutzsystem und Kinderschutz. Fehltritt

und Laster.

Gaupp, Über moralisches Irresein und jugendliches Verbrechertum. Halle a. S., Karl Marhold. Preis 2,40 M.

Laquer, Die ärztliche und erziehliche Behandlung von Schwachsinnigen in Schulen und Anstalten und ihre weitere Versorgung. Ebenda. Preis 1,50 M.

Neisser, Psychiatrische Gesichtspunkte in der Beurteilung und Behandlung der Fürsorgezöglinge. Ebenda. Preis 0,80 M.

Lange, Die Erziehung der sittlich gefährdeten Schulkinder. Dresden, Bleyl & Kämmerer. Preis 0,50 M.

Karl Schaefer, Bericht über den Kongreß für Kinderforschung u. Jugendfürsorge in Berlin. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1907. Preis 7,50 M

Siefert, Über die Geistesstörungen der Strafhaft. Halle a. S., Karl Mar- hold, 1907.

Siefert betrachtet rückläufig die Anlage und die Vergangenheit des geistes- krank gewordenen Gewohnheitsverbrechers und kommt zu dem Schlusse, daß zwischen den eigentlichen sogenannten »gesunden« Verbrechern und den Irren, die eine Straftat begangen haben, eine dritte Gruppe steht, die aus rein krankhafter Anlage verbrecherische Neigungen haben: die entarteten Verbrecher. Naturgemäß muß sich diese Anlage bereits in der Kindheit vorfinden und u. u. offenbaren, nicht nur in Verbrechen, sondern in dauernd vorhandenen abnormen Eigenschaften: »Unstetigkeit, Reizbarkeit, aus dem Innern heraus entstehende (von äußeren An- lässen höchstens scheinbar abhängige) Stimmungsschwankungen, träumerische Phan- tastik, übergroße Subjektivität und Unfähigkeit, bei einschneidenden Vorgängen in der Umgebung den Standpunkt richtiger, kritischer Beurteilung einzuuehmen, starke Suggestibilität (Beeinflußbarkeit durch fremde und eigne Vorstellungen), Steigerung der Phantastik, der Suggestibilität, der Affektschwankungen usw. bis zur sogenannten »Hysterie«, Neigung zu Kopfschmerzen, migräneartigen Zuständen, Unruhe- und Angstgefühlen, hypochondrische Beschwerden, leichte Ermüdbarkeit u. s. £.«

Unter den Fürsorgezöglingen wird man die Vorstufen des entarteten Ver- brechers vielfach finden, ohne daß er bis jetzt noch richtig bewertet wird. Er muß nicht mit dem Gros, den sogenannten »Milieukindern«, in eine Reihe gestellt werden: diese sind verwahrlost oder gefährdet, aber tüchtig veranlagt, der Ent- artete ist minderwertig, ein psychischer Invalide, auch wenn er intellektuell reif und klug ist.

Die Unterscheidung scheint vom Standpunkt der Erziehung ebenfalls richtig zu sein. Nach der übereinstimmenden Ansicht sämtlicher Strafanstaltsärzte und nach unwiderlegbaren Tatsachenbeweisen sind die Geistesstörungen der Strafhaft Kunstprodukte der disziplinierenden Behandlung, hochgezüchtete Auswüchse und krankhafte Übertreibungen der Charakteranlage des Entarteten. Wahnsinn, Delirium, Sinnestäuschungen schwinden fast gesetzmäßig selbst in der primitivsten ärztlichen Behandlung, mit Sicherheit in der modernen Irrenanstalt. Es zeigen sich sogar

256 C. Literatur.

gute Eigenschaften, Interessen, die niemand geahnt hätte und drängen zu der Frage: was wäre aus dem Geistesinvaliden geworden, wenn man ihm nicht in einem Lebens- abschnitt (18. Lebensjahr), wo jeder Mensch unter dem Einfluß der Umgebung seine Anlagen zur Reife und schließlichen Stabilität entwickelt, in ein Milieu hinaus- gestoßen hätte, das gerade die pathologischen Seiten seines Wesens mit zwingender Notwendigkeit zur Entfaltung bringen mußte? »Erfolgt die Entwicklung des Indi- viduums in von vornherein ungünstigen Milieuverhältnissen, so tritt fast gleichzeitig mit dem Erwachen selbständiger Handlungsfähigkeit auch eine antisoziale Lebens- führung sofort in Erscheinung, und Vagabondage, ein Akt der Roheit, ein Diebstahl eröffnen bereits im zarten Kindesalter die Szene; sehr rasch sinkt,dann das Indi- viduum in die tiefsten sozialen Schichten herab, verliert den Kontakt mit der nor- malen Welt, wird mehr und mehr in den Bannkreis ähnlich gearteter Persönlich- keiten gedrängt .... und verfällt immer häufigeren und längeren, Freiheits- strafen.

Nicht viel besser ergeht es demjenigen und sie stellen in unserm (Sieferts) Material die ganz überwiegende Zahl dar welche aus genügend geordneten Ver- hältnissen hervorgehen. Auch hier erstehen antisoziales Fühlen und kriminelles Handeln bereits in früher Jugend; sie führen aber zunächst noch nicht weiter, sondern rufen zunächst seitens der eıschreckten und entrüsteten Umgebung Re- pressalien verschiedener Art hervor. Wenn die strengste Erziehung in der Familie sich als machtlos erwiesen hat, treten die Faktoren der Zwangserziehung in Tätigkeit; mit allen Mitteln der Disziplinierung, der Religion, der Güte und Gewalt sucht man einzuwirken; man gewinut Lehrmeister, die bereit sind, äußerste Geduld zu üben, man hält die Zöglinge selbst in Zwangserziehungsanstaltsverwahrung bis zum 18. Lebensjahr. Alles umsonst! Mit dem Moment, wo der äußere Zwang, die rein mechanische Hinderung verbrecherischen Tuns, aufhört, stürzt der Stein der Ent- wicklung sofort mit beschleunigter Kraft in die Tiefe des verbrecherischen Daseins. Und selbst die günstigsten Verhältnisse, alle die Vorsichtsmaßregeln, die Kontrolle und Verschleierung, welche Besitz und Intelligenz einer Familie einem entarteten Sprößling gewähren können, erweisen sich oft genug als machtlos und halten höchstens für einige Jahre den Gang der Dinge auf.«

Diese Tatsachen sind um so wertvoller, als Siefert nicht verbrecherische Kinder beschreibt, die er für Kranke anspricht, sondern die rückläufig festgestellte Kindheit seiner unverkennbar geisteskranken entarteten Verbrecher schildert. Sie zeigen, was das Milieu leisten kann und was es nicht leisten kann, sie decken den haltlosen Trieb des Entarteten zum Verbrechen, seine gesellschaftliche Unmöglich- keit auf. In schroffem Gegensatz dazu steht die Haltung der Entarteten in einer Umgebung, die sie für das nimmt, was sie sind: Kranke.

Der Wunsch, daß der Irrenarzt an der Fürsorgeerziehung seinen Anteil er- halten soll, wird hierdurch in verständlicher Weise gestützt.

Galkhausen (Rhl.) Dr. med. Hermann.

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Druck von Hermann Beyer & Söhne (Boyer & Mann) in Langensauza,

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A. Abhandlungen.

1. Der Tic im Kindesalter und seine erziehliche Behandlung. !)

Von

Gustav Dirks.

Der Tic ist aus verschiedenen Gründen und nicht zum wenigsten vom psychologischen Standpunkt aus eine interessante Erscheinung im Nervenleben des Menschen. Dazu grotesk, bizarr, nicht selten mit einem Stich ins Komische reizt er auch an und für sich nicht wenig zur genaueren Beobachtung. Er gehört zu den nervösen Be- wegungen und hat mit dem Krampf, dem Zittern, den hysterischen und choreiformen Bewegungen, den Stereotypien und Angewohnheiten große Ähnlichkeit. Und da die Tics durchaus nicht selten auftreten, vielmehr sich verhältnismäßig häufig bei Kindern finden, so ist es von durchaus praktischer Bedeutung, daß Eltern und Erzieher die Tics kennen. Für sie sind meine Ausführungen bestimmt. Mir gaben einige Fälle, welche mir bei meiner Erzieherarbeit auf der Sophien- höhe begegneten, den Anlaß, mich mit dem Tic näher zu beschäftigen, und ich fand in den verschiedenen Lehr- und Handbüchern der Psychiatrie wenig oder nichts über den Tic, jedoch in der Schrift »Der Tic, sein Wesen und seine Behandlung von Dr. Hesry MEIGE und Dr. E. Femper«,?2) ein vorzügliches Handbuch zum Studium.

1) Der Aufsatz erscheint hier wesentlich gekürzt, vollständig als Heft 50 der »Beiträge für Kinderforschung und Heilerziehung«. 2) Deutsche autorisierte Ausgabe von Dr. O. Giese, Nervenarzt in Düsseldorf. Leipzig u. Wien, Verlag von Franz Deuticke. Zeitschrift für Kinderforschung. XIII. Jahrgang. 17

258 A. Abhandlungen.

Meine Ausführungen, die ursprünglich nur eine Arbeit für eine Konferenz im Trüperschen Erziehungsheime waren, lehnen sich in der Hauptsache an das Werk an.

I. Das Wesen der Tics.

Der Tic ist eine »psycho-motorische« Störung und hat also neben dem motorischen einen rein psychischen Faktor. Beide gehören zum Wesen des Tics. In mancher Beziehung wäre es vorteilhaft, die beiden Komponenten ganz getrennt voneinander zu behandeln. Aus praktischen Gründen indes, namentlich um dem Leser ein Zurück- blättern möglichst zu ersparen, will ich sie tunlichst in Verbindung bringen. -

Im Interesse der Klarheit schicke ich einige orientierende Sätze voraus.

Unser Körper ist ein Zellenstaat, eine Gesellschaft von Zellen. Jede Zelle ist ein Lebewesen, ein Ganzes für sich, freilich nicht mehr ein ganz selbständiges Ganze. Die Zelle des menschlichen Körpers zeigt nicht mehr alle Eigenschaften in der Stärke, wie sie der frei für sich lebenden Zelle eigen sind, wie sie uns die Protisten, die Einzeller, noch heute bei einem Blick durchs Mikroskop zeigen. Wir sehen sie sich fortbewegen, sich drehen nach rechts und links, sehen sie fliehen vor dem herannahenden Feind und ihrer Nahrung nachgehen, bemerken, wie sie auswählen, die Nahrung aufnehmen und verdauen, kurz alle Lebensfunktionen sind vorhanden in der einen Zelle, jedoch unvollkommen. Größere Vollkommenheit und größere Existenzmöglichkeit trat ein mit der Staatenbildung, der Vergesell- schaftung mehrerer Zellen zu einem Ganzen. Mit der Arbeitsteilung tritt Differenzierung ein. Die verschiedenen Zellgruppen bilden unter Vernachlässigung anderer Funktionen je eine Funktion besonders aus, die Muskelzellen die Kontraktilität, die Nervenzellen die Reizleistung u. s. f. Erzielt wird dadurch eine größere Gesamtleistung, gewonnen ist für jede Zelle größere Daseinsmöglichkeit. Doch ist dieselbe be- zahlt mit Aufgeben der Selbständigkeit. Aufgeben der Selbständigkeit ist notwendig verknüpft mit der Bildung einer Gemeinschaft.

Doch ist die Selbständigkeit ein Faktum, das der Zelle ursprüng- lich eigen ist, das sich nicht leicht ganz verliert. Und so ist selbst in unserm Körper die Selbständigkeit in einigen Zellen und Zellgruppen nicht völlig erloschen, namentlich in den Ganglien nicht. Die Ganglien zu kleineren und größeren Gruppen vereint, geben ihre Selbständigkeit erst nach und nach auf, geraten erst nach und nach

Dires: Der Tic im Kindesalter und seine erziehliche Behandlung. 259

in Abhängigkeit voneinander und vom Ichkomplex, die einen früher, die anderen später, die einen mehr, die andern weniger oder kaum. Die einfachen Reflexbewegungen des Beines z. B. sind insofern selb- ständige Handlungen der Rückenmarksganglien, als sie nicht unter Einfluß der Großhirnrinde ausgelöst werden. Die Selbständigkeit der Ganglien gibt sich noch deutlicher zu erkennen in den Strampel- bewegungen Neugeborner, in den sogenannten impulsiven Be- wegungen. Hier fehlt auch der periphere Reiz. Selbständig, d. h. aus inneren Ursachen heraus, treten die Ganglien in den Zustand der Erregung und lösen die Bewegungen aus. Ein Einfluß vom Ich- komplex aus ist von vornherein für die erste Zeit nach der Geburt ausgeschlossen. Erst nach und nach werden die verschiedenen Zentren erregt und assoziiert, womit dann die Abhängigkeit beginnt. Und es kann jetzt das Ganglion in den Zustand der Erregung treten

a) aus inneren Ursachen heraus, die also in dem Ganglion selbst liegen,

b) infolge von Ursachen, die außerhalb des Ganglions liegen.

Die können sein

1. periphere Reize,

2. Reize, die ausgehen von anderen Ganglien, nämlich solchen, die mit dem zu erregenden Ganglion assoziativ verbunden sind. Seien es

aa) übergeordnete,

bb) untergeordnete, oder

cc) nebengeordnete.

Beim normalen Menschen tritt die Einheitlichkeit der Ganglien unter sich und die Abhängigkeit derselben voneinander allmählich ein. Ist die Assoziation der verschiedenen Zentren mit dem Ich- komplex innig und die Abhängigkeit derselben mehr oder weniger vollkommen, so sprechen wir von einem Charakter. Das normale Verhältnis kommt indes nicht immer zustande, nämlich allemal dann nicht, wenn die Assoziationsbahnen und Ganglien sich nicht normal entwickeln. Es können bestimmte Ganglien im Gegensatz zu andern bezüglich der Intensität ihrer Erregungsmöglichkeit um ein Bedeuten- des hinter dem Normalen zurückbleiben, wie auch über die normale Grenze hinausgehen, womit bei einem solchen Individuum eine Un- gleichheit, eine Disharmonie gegeben ist. Es kann ein Ganglion im Zustand der Jugend verharren, einen häufigen Wechsel von Erregung und Lähmung zeigen u. s.f., und die Folge ist wiederum Disharmonie. Solche psycho-motorische Disharmonie liegt beim Tiekranken vor, und die Tics, die Tiebewegungen, sind der Ausfluß derselben. Ich führe

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260 A. Abhandlungen.

einige, Beispiele an,!) die einmal die Disharmonie zeigen und zum andern die Ticbewegungen, die motorischen Störungen, als welche der Tie in die Erscheinung tritt.

Als erstes Beispiel wähle ich einen Fall, der einfache Tics zeigt. Die Disharmonie bekundet sich hier namentlich im Widerspruchsvollen.

A. H. kommt vom Aufstehen in der Frühe bis zum Zubettgehen am Abend zu spät. Er erscheint selten pünktlich zum Unterricht und zum Essen. Doch geht diese Trägheit Hand in Hand mit nervöser Hast.

Sein Gemüt ist einerseits äußerst weich. Stellen aus der Erzählung von Schillers Leben entlocken ihm Ausrufe lebhaften Bedauerns und bringen einen feuchten Glanz in seine Augen. Andrerseits aber neckt und quält er fortwährend seine Kameraden, schlägt und stößt.

Zu Zeiten gibt er Widerworte, ist bald in hohem Grade frech und aufsässig gegen jedermann, und im nächsten Augenblick bettelt er wieder fußfällig um Gnade, ist freundlich, zuvorkommend und gefällig. Er ist feige und mutlos, sah lange den Spielen im Freien wie im Wasser des Schwimmbassins zu. Zugleich aber war er in hohem Maße mutig, zuckte mit keiner Wimper, ja empfand sogar geradezu eine Art Wonne, als der Arzt ihm die Rachenmandeln herausholte.

Er hat kein Gefühl für Rhythmus. Es ist ihm darum unmöglich, Takt zu halten. Lange Zeit konnte er nicht im Takt marschieren, keinen Wechseltritt aus- führen, weder Armkreisen noch Keulenschwingen. Er hat eine ungeschickte Hand, doch eine gute Schrift.

Immer fragt er nach dem Warum und Wie, auch da, wo es kein Warum und Wie gibt, sowie auch in solchen Fällen, wo er es weiß.

Dieser A. H. nun hat schon manchen Tic gezeigt. A. H. bohrt gewaltig in der Nase, so daß sehr häufig Blut fließt. Das Bohren wird ihm verboten. Kurz darauf erfolgt es wieder und immer wieder. Man denkt an Krustenbildung in der Nase infolge eines Katarrhs. Die Nase wird vom Arzt untersucht. Es ist keine physiologische Ursache für das Gebahren vorhanden. Es handelt sich um einen Bohrtic. Ohne Grund, ohne Zweck bohrt der Junge in der Nase nicht einmal, immer wieder; er kann’s nicht lassen. Er bohrt, daß Blut fließt. Die Bewegung ist also übertrieben.

Aber wie kommt er zu dem Tun? Es ist augenscheinlich, daß die auslösende Ursache Ansammlung von verhärtetem Sekret der Nasenschleimhäute gelegentlich einer Erkältung gewesen ist, Das Sekret reizte und rief das Bohren hervor. Doch die Erkältung und die Sekretion gingen vorüber. Das Bohren blieb. Jeder Junge bohrt in der Nase unter den genannten Umständen, doch der normale nur dann. Verschwindet der Reiz in der Nase, verschwindet die Handlung, das Bohren. Bei A. H. aber bleibt sie trotzdem. Darin liegt das Abnorme. Die Ganglien, deren Er- regung die Bohrbewegung zur Folge haben, sind selbständig geworden. Aus inneren, in ihnen selbst liegenden Ursachen heraus treten sie in den Zustand der Erregung, ohne einen von außen kommenden Reiz. Und damit ist die Bewegung ein Tic.

Später hatte A. H. einen eigenartigen Lippentic. Die Oberlippe wurde vor- gestreckt und in Berührung mit der Nase gebracht. Auch bei diesem Tie ist die Entstehung nicht schwer zu erkennen. Schrundenbildung an der Nase, leichte Ent- zündung der Haut infolge Fließschnupfens wird die Ursache gewesen sein. Doch

1) Weitere in Heft 50 der »Beiträge«.

Dirks: Der Tic im Kindesalter und seine erziehliche Behandlung. 261

von den Schrunden ist nichts mehr zu sehen. Die Nase ist völlig heil, und doch werden die Bewegungen ausgeführt.

Sehr hartnäckig zeigte sich auch folgender Tic. A. H. atmet gegen die Finger und bewegt dann die Fingerspitzen blitzesschnell und mit einer gewissen Eleganz an der Nase vorbei. Diese Manipulation, übertrieben in ihrer Art, auftretend in ungleichen Intervallen, war verursacht worden durch Riechen aus dem Munde. A. H. atmete gegen die Finger, um sich dann beim Vorbeiführen der Finger an der Nase von dem Geruch zu überzeugen. Das Riechen aus dem Munde hörte auf, die Bewegung blieb bestehen und war damit ein Tic.

Der folgende Fall ist sehr interessant. Insbesondere ist die Dis- harmonie typisch. Sie besteht in einem einseitigen Fortschreiten bei vielseitigem Verharren.

F. S. ist 14 Jahre alt, Sein Körpergewicht beträgt 52 kg, er mißt 162 cm. Die körperliche Entwicklung ist also nach dieser Seite normal. Von Geburt an war er mit einem Schichtstar behaftet, der später operiert wurde. Die Netzhaut ist gesund, so daß er mit Hilfe einer Fern- und einer Nahbrille leidliche Bilder der Außenwelt empfängt. Er kann z. B. Druckschrift in der Größe, wie sie in Lese- büchern üblich ist, lesen.

Das Schulzeugnis nun lautet wie folgt:

Religion: Recht gut.

Geschichte: Gut, teils sehr gut.

Lesen: Befriedigend.

Rechnen: Gut, besonders auch bezüglich des Kalkulierens. Formenlehre: Gut, zum Teil geringer.

Aufsatz: Fast gut.

Geographie: Fast gut.

Naturkunde: Mangelhaft.

Die Zeugnisgrade beweisen jedenfalls, daß F. S. intellektuell nicht schwach- sinuig genannt werden kann.

Im Gegensatz dazu: Wo F.S. steht, da steht er. Fehlt ihm etwas, so meldet er es nicht. Und doch weiß er sehr genau, daß er das zu tun hat. Liegt das Frühstücksbrot nicht genau vor ihm, so bringt er es fertig, eine Viertelstunde am Tisch zu sitzen, ohne zu essen, ohne sich nach dem Brot umzusehen, und ohne jemand darum zu bitten, oder es sich selbst zu holen. Man könnte glauben, der Junge hat keinen Appetit, dem ist aber nicht so. Er verzehrt eine gehörige Portion.

Auf einem Spaziergang verliert F. S. seine Brillenschachtel. Er bleibt einen Augenblick stehen und sieht sich um, anstatt jedoch sich zu bücken, geht er weiter.

Soll F. S. etwas besorgen, bleibt er auch auf halbem Wege stehen.

Ebenso ist sein Verhalten beim Spiel. Aus eignem Antrieb beteiligt er sich überhaupt nicht an einem geregelten Spiel. Beim »Ziegenhüten« wirft F. S. den Stock direkt vor sich hin. Er zielt nicht einmal nach der »Ziege«. Beim Plump- sack bleibt F. S. ruhig stehen, wenn er geschlagen wird. Erst nach einer ganzen Weile setzt er sich langsam in Trab. Beim »Zeck« trabt F. S. langsam hinter dem zu schlagenden her. Bleibt der stehen, so bleibt auch er stehen und zögert sehr mit dem Zuschlagen. Dagegen spielt er gern mit einem andern in der Art, daß sie sich am Rocke zupfen oder sich zurufen: Alter Kerl! usw. Da ist er außer sich vor Freude. Und wie lacht er? Nicht nur aus vollem Halse. Er wippt auf dem Stuhle auf und ab, und die halbgebeugten Arme führen lebbafte Schwingungen

262 A. Abhandlungen.

aus. Ebenso wie er durch eine ganze Kleinigkeit in helles Lachen gerät, ebenso leicht weint er. Doch braucht dann nur einer zu sagen: Armer F... oder: F... sieh einmal, was ich hier habe, und alles ist wieder gut.

Wem gleicht F. nun in allen diesen Erscheinungen? Es liegt auf der Hand: einem kleinen Kinde. Und dem entspricht auch ganz sein Gesichtsausdruck. Keine Andeutung irgend eines markanten Zuges. Die Gesichtsfarbe wie Milch und Blut.

Der Intellekt normal, die psychische Gesamtverfassung weit in ihrer Ent- wicklung zurückgeblieben, ergibt eine psychische Disharmonie.

Und nun zeigt dieser F. S. verschiedene Tics, zunächst einen Augentic. Er bewegt die Augäpfel mit einem Ruck aufwärts und läßt sie eine geraume Zeit in der gehobenen Stellung verharren. Dann bewegen sich die Augen mit einem Ruck in die natürliche Lage zurück. Merkwürdig ist hier das lange starre Verharren eines Organs in einer bestimmten Haltung. Man bezeichnet Tics dieser Art tonisch, im Gegensatz zu den klonischen, zu denen der vorhingenannte Blinzeltic gehört.

F. S. wendet sein Auge dem Lichte zu. Es hängen z. B. in dem Turnsaal Bogenlampen. Wenn F. S. nun bei Licht Turnen hat, so schießen seine Augen schräg aufwärts zum Licht. Nach einiger Zeit kehren sie in ihre Lage zurück, um bald darauf von neuem hinzustarren. Fühlt er sich sicher, so dreht er den ganzen Kopf lichtwärts. Weiß er sich beobachtet, so bleibt der Kopf in Ruhe, und nur die Augen wenden sich, denn F. S. weiß, das ins-Licht-sehen ist verboten. Wenn es entdeckt wird, stellt man mich wieder so, daß ich nicht mehr hinsehen kann. Er führt die Tics heimlich aus. Auch das ist charakteristisch für die Tickranken.

Ein weiterer tonischer Tic, den sich F. S. leistet, ist folgender: Schreibt F. S., so dauert es nicht lange und er stiert seinen Federhalter an, wobei er diesen senk- recht richtet. Nach einer Weile schreibt er weiter, um kurz darauf die Sache zu wiederholen.

Ist F. S. nicht mit Schreiben beschäftigt, so macht er dieselbe Manipulation, nur tritt an die Stelle des Federhalters der Finger. Mit einem gewissen Ruck neigt er den Kopf, richtet den Finger aufwärts und stiert ihn an, bewegungslos, um dann nach einer bestimmten Zeit in die natürliche Lage zurückzukehren.

Endlich will ich hier anschließend noch einige Bewegungen erwähnen, die nicht zu den Tics, sondern zu den Stereotypien zu rechnen sind, welche den Tics sehr nahe verwandt sind. F. schlägt in seiner freien Zeit häufig mit der Rückenfläche seiner rechten Hand in die hohle linke. Dabei macht sein Kopf kreisende oder schwingende Bewegungen, die fast aussehen wie die Kopfbewegungen eines Bären in der Menagerie. Zu anderer Zeit flügelt F. S. mit seinen Armen. Ober- und Unterarm bilden einen rechten Winkel, die Hände hängen schlaff ab- wärts, dazu tritt die flügelschlagähnliche Bewegung.

Unwillkürlich drängt sich die Frage auf: Wie sind denn die Ticbewegungen bei F.S. entstanden? Die Frage ist unschwer zu be- antworten. Die auslösende Ursache liegt in dem Augenleiden. In- folge des Stars gelangte sehr wenig Licht auf die Netzhaut, was Wunder, wenn F. S. das Bedürfnis nach mehr Licht hatte und das Licht suchte. Die Drehung des Auges zum Licht war mithin eine natürliche Handlung. Nach der Operation jedoch war dem nicht mehr so. F. S. kennt auch die Schädlichkeit seiner Angewohnheit: er weiß, daß das Blenden die Empfindlichkeit der Netzhaut für das

Dierks: Der Tic im Kindesalter und seine erziehliche Behandlung. 263

Licht herabsetzt. Er tut es dennoch, und damit ist das ins Licht sehen ein Tic zu nennen.

Es dürfte gut sein, hier noch besonders darauf hinzuweisen, daß das Augenleiden nur die auslösende und lokalisierende Ursache der Tics war, nicht die primäre. Die primäre ist die bestehende Dis- harmonie. Jeder, der mit einem Star behaftet ist, wird ein Bedürf- nis nach Licht empfinden und das Auge dem Licht zuwenden. Wer daran zweifelt, den erinnere ich an sein Verhalten zu einem losen oder sonst irgendwie verletzten Zahn oder an sein Verhalten zu der Wunde, die ein gezogener Zahn hinterlassen hat. Hat er nicht da das Bedürfnis empfunden, immer wieder zuzufühlen? Hat er nicht dem Bedürfnis auch nachgegeben? Also keine Abweichung von der Norm. Wie aber beim normalen Menschen das Fühlen nach der Wunde mit dem Heilen der Wunde aufhört, so muß auch das Suchen des Lichtes normalerweise nach geglückter Operation eingestellt werden.

Das geschah nicht bei F. S. Die Ursache dafür liegt in der psychischen Disharmonie.

Die Assoziation, der Träger dieser Bewegung, ist infolge der Übung äußerst fest, und es überwiegt bei weitem der Zustand der Erregung gegenüber dem der Lähmung, und das Eintreten des Zu- standes der Erregung kann infolge der bestehenden Disharmonie nicht verhindert werden. Infolgedessen tritt die Bewegung immer und immer wieder auf.

Ein dritter Fall F. R. soll endlich mit einer neuen auslösenden Ursache bekannt machen, die wegen ihrer Konstanz von weit- tragender Bedeutung ist, nämlich der Nachahmung. Es handelt sich um den lebhaften Knaben F. R.

F. R. ist beständig in Bewegung. Er sitzt oder steht keinen Augenblick still, nicht nur außerhalb des Unterrichts, sondern auch während desselben. Liegen die Hände ruhig, so bewegen sich die Füße. Sind einmal Hände und Füße wirklich in ruhiger Lage, so macht sich die Unruhe an irgend einer anderen Stelle Luft. F. R. hat starke Aufmerksamkeitsstörungen, die die Unterrichtsfähigkeit auf ein geringes Maß herabdrücken und die Ursache für die geringen schulischen Leistungen sind. Die übrigen geistigen Funktionen bewegen sich in normaler Breite. Der Gedankenablauf erfolgt rasch. Es fehlt nicht an höheren Assoziationen, Denkfähig- keit und kombinierende Phantasie sind vorhanden.

Im Gesinnungsunterricht gelingt es, F. R. bei dem großen Interesse, das er Menschen und Menschenschicksalen entgegenbringt, meistens trotz der Aufmerksam- keitsstörungen mit Hilfe seiner Phantasie die Geschichten aufzufassen. Das religiös- ethische Urteil ist dagegen noch sehr kindlich und entspricht nicht dem Alter.

F. R. kalkuliert ganz gut, dennoch ist Rechnen fast sein schlechtestes Fach. Er liest fließend, doch mit unendlich viel unangebrachtem Pathos. Die Satzbildung

264 A. Abhandlungen.

ist mangelhaft, nicht seinem Alter entsprechend, die Rechtschreibung vollständig ungenügend. F. R. hat einen schwachen Ortssinn. In der Naturkunde zeigt er eine ziemlich kindliche Auffassungsweise.

Die geistige Disharmonie, das Zurückbleiben gewisser psychischer Seiten bei normaler Entwicklung anderer, das Unbeständige in dem ganzen Wesen usw. tritt auch hier wieder deutlich zu Tage.

Nun schnaubt F. R. fortwährend stark auf, als wäre die Atmung durch die Nase in etwas behindert, oder als wolle er das Sekret der Nasenschleimhäute vor dem Herausfließen aus der Nase bewahren. Das ist ein Schnüffeltic, denn dieses Gebahren ist nicht physiologisch bedingt. Die Nase hat nichts Pathologisches. Sie ist vollständig in Ordnung. Es handelt sich eben um eine psycho-motorisch bedingte Störung einer Funktion, deren Entstehung sehr leicht ersichtlich ist. Eine Erkältung hat zur Folge gehabt, daß die Nasenschleimhäute größere Mengen Schleim absonderten. Anstatt sich zu schnäuzen, hat F. R. nach Kinderart versucht, das Sekret aufzu- ziehen. Somit war das Schnüffeln eine zweckmäßige Handlung. Nun aber ist der Schnupfen vorübergegangen, die Sekretion ist verschwunden. F. R. schnüffelt aber weiter, ohne Ursache und ohne Zweck, wie es zum Wesen des Tics gehört.

Einige Wochen später hatte sich das Aufschnauben verloren; an seine Stelle ist ein stoßweises, geräuschvolles Experieren getreten. Beim Spiel und in dem Unterricht, der F. R. lebhaft interessiert, fällt das Experieren, wie vorher das Auf- schnauben vollständig weg, dagegen tritt es zu anderen Zeiten sehr heftig auf. Zurechtgewiesen unterbleibt es einige Zeit, tritt dann jedoch wieder auf, wobei sich R. wie schuldbewußt umsieht, ob es auch wohl gemerkt worden ist. Dieser Tic hat seinen Ausgangspunkt nicht von der Nase genommen. Er hat seine auslösende Ursache nicht in einem Stockschnupfen oder dergl. gehabt. Es war ein Produkt der Nachahmung. Wie er räuspert und wie er spuckt, das hatte er jemandem seiner Umgebung glücklich abgeguckt. Es ist auffallend, wie sehr F. R. zur Nach- ahmung neigt. Hier gesellt sich also zu den Entstehungsursachen des Tics die Nachahmung hinzu.

Nachahmen ist etwas Natürliches. Allein der normale Mensch kann sich ohne Mühe der Nachahmung entziehen. Für den Tic- kranken hat das Nachahmen indes einen ganz besonderen unwider- stehlichen Reiz. Er quält sich geradezu, Eigenartiges anderer sich anzueignen, und nicht lange Zeit darauf kann er dann mit Recht sagen: »Die Geister, die ich rief, werd ich nun nicht los.« Er ist Sklave seiner neuen Geste.

Das zerstreut Gefundene zusammengestellt, ergibt:

Grundlage oder auch psychischer Faktor des Tics ist »psychische Disharmonie«, die sich auf sehr verschiedene Weise äußern kann, jedoch immer vorhanden ist. Gewöhnlich ist die geistige Verfassung ganz oder teilweise auf der Stufe früher Kindheit stehen geblieben, was sich zeigt in kindischen Anschlägen und Neigungen, kindlicher Auffassungsweise, Naivität, kindischen Urteilen, kindlicher Unbeständigkeit und Launenhaftigkeit, himmelhoch Aufjauchzen, zum Tode betrübt sein usw.

Dirks: Der Tic im Kindesalter und seine erziehliche Behandlung. 265

a nn nn

Die motorische Seite besteht in einer motorischen Störung. Sie ist hervorgegangen l. aus einer Funktion, nämlich a) einem Reflex oder Automatismus, b) einer Ausdrucksbewegung, c) einer bewußten Handlung, namentlich Abwehrbewegung und Nachahmung, 2. einer impulsiven Bewegung.

Es gehört zum Wesen der Funktion, daß ein bestimmter Reiz eine bestimmte Bewegung auslöst. Derselbe Reiz löst wenigstens mit der Zeit immer wieder dieselbe Bewegung aus. Reiz und Bewegung sind koordiniert, und die Bewegung untersteht dem Gesetz des ge- ringsten Kraftverbrauchs.. Man kann immer unterscheiden:

Ursache Bewegung Zweck, nämlich: Sandkorn Blinzeln Entfernen aus dem Auge Sekretion Aufschnauben das unangenehmeHeraus-

fließen zu verhindern Wenig Licht Augenbewegen mehr Licht Mundgeruch Atmen gegen dieHand Prüfen, sich vergewissern Zustimmender Ge- Kopfnicken Den Gedanken aus- danke drücken SeheneinerBewegung Nachahmen der Be- Sich die Bewegung an- wegung eignen

Weiterhin gehört zum Wesen der Funktion, daß sie sich wieder- holt, jedoch nur beim Vorhandensein des auslösenden Reizes. Denn mit der Ursache der Funktion fällt auch der Zweck weg. Wenn kein Sekret in der Nase vorhanden ist, das reizt, ist es unsinnig aufzu- schnauben, um das Herausfließen zu verhindern u. s.f. Ohne Reiz, sei er peripher oder kordikal, kein Auftreten einer Funktion. Tritt die funktionelle Bewegung dennoch auf und immer wieder auf, ohne Grund und ohne Zweck, so hat man es mit einer funktionellen Störung, einem Tic, zu tun. Die funktionelle Störung besteht darin, daß die Träger des motorischen Teils der Funktion selbständig geworden sind, ohne einen von außen kommenden Reiz, aus inneren Ursachen heraus in den Zustand der Erregung treten. Dabei wird die funktionelle Bewegung mit viel zu großem Kraftaufwand ausgeführt, sie wird zeit- lich beschleunigt und räumlich über die normale Grenze hinaus aus- gedehnt. Dadurch wird die funktionelle Bewegung häufig derart ent- stellt, daß ihre ursprüngliche Form nur noch schwer zu erkennen ist.

Daß der Tie aus impulsiven Bewegungen hervorgeht, ist selten,

266 A. Abhandlungen.

doch möglich und zwar namentlich bei jugendlichen Individuen. Hier- her zählt ein Teil der nervösen Unruhe. Diese Bewegungen sind von vornherein keine Funktion, wohl aber sind sie physiologisch abgegrenzt.

Allen Ties ist gemein, daß sie gegen den Willen des Individuums auftreten. Der Wille ist allerdings imstande, die Bewegung auf kurze Zeit zu unterdrücken. Die Tics setzen aus, sobald das Individuum bei einer Sache lebhaft interessiert ist, sich in eine Sache vertieft hat.

Die Entstehungsmöglichkeiten des Tics lassen schon erkennen, wie unendlich mannigfaltig sie aussehen können. Die Tatsache, daß sie aus den verschiedensten Störungen der verschiedensten Funktionen bestehen, macht eine Beschreibung aller Tics unmöglich, es entstehen täglich neue Formen. Sie ist auch nicht notwendig.

Man benennt die Tics entweder nach den Organen, die sie be- fallen haben (Nasentic, Augentic, Schultertic usw.), oder nach den Funktionen, deren Störung sie darstellen (Blinzeltic, Schnüffeltie). Nach ihrer Form werden sie eingeteilt in klonische und tonische.

Schon die Entstehung des Tics durch Nachahmung weist darauf hin, daß er mitunter den anderen sogenannten nervösen Bewegungen äußerst ähnlich sehen kann. Wie unterscheidet er sich von ihnen?

An dieser Stelle kann wegen Raummangel nur der Vergleich mit der Gewohnheitsgeste ausgeführt werden. In dem »Beitrage« folgt noch der Vergleich mit den Stereotypien, dem Krampf, der Echolalie und Echokinesis, der Koprolalie, den Zwangs- vorstellungen und -Handlungen, der Chorea und der hyste- rischen Zitterkrankheit.

Irgend eine Angewohnheit, Gewohnheitsgeste, hat wohl jedermann, der eine dreht seinen Schnurrbart, daß die Haare brechen, der andere beißt sich auf die Lippen oder streckt seine Zunge vor, der dritte kratzt sich hinter den Ohren, der vierte räuspert sich, der fünfte führt eigentümliche Arm- und Handbewegungen aus usw. Entstanden sind solche Gesten häufig wie die Tics, ein Katarrh veranlaßte das Räuspern, Schrunden an der Lippe das Beißen auf dieselben, ein Jucken das Kratzen u. s. f., oder aber, sie sind die Fortsetzung und Ausdehnung von Ausdrucksbewegungen. Die Frage nach der Entstehung ergibt kein Kriterium, wohl aber die Frage nach dem Auftreten.

Wann führt eine Person ihre Gewohnheitsgeste aus? Allemal dann und zwar nur dann, wenn sie stark aufmerkt, wenn sie ganz bei einer Sache ist, wenn sie in Affekt gerät. Es ist wie bei einer Uhr; wenn es voll ist, schlägt sie, sonst nicht. Umgekehrt beim Tic. Wenn das Individuum interessiert ist, wenn es sich einer Sache ganz hingegchen hat, tritt kein Tic auf.

Kuremans: Zur Begriffsbestimmung der Jugendlichen. 267

Weiter, die Gewohnheitsgeste wird ganz unbewußt ausgelöst. Wird die Person aufmerksam darauf gemacht, so ist es ihr gar nicht schwer, die Geste zu unterdrücken. Die Gewohnheitsgeste wird eben beim Ablauf einer Assoziationsreihe mitausgelöst, wie das Schlagen der Uhr. Anders der Tic. Er meldet sich als Bedürfnis an. Das Unterdrücken desselben hat Unlustgefühle, Unruhe, Erregung, Angst im Gefolge. Das Nachgeben gewährt hohe Befriedigung. Der Tie zeigt die Symptome der Leidenschaft.

Tie und Gewohnheitsgeste sind also gleich oder ähnlich nach ihrer Entstehung und in ihrer Form. Sie verhalten sich entgegen- gesetzt in Bezug auf die Bedingung ihres Auftretens, und sind end- lich völlig verschieden hinsichtlich ihrer psychischen Wirkung.

(Schluß folgt.)

2. Zur Begriffsbestimmung der Jugendlichen. Von Landgerichtsrat Kulemann -Bremen.

Vorbemerkung. Als Ergänzung zu meinen Ausführungen in dem letzten Hefte möchte ich noch ausdrücklich auf die Vorarbeiten des Köhne- schen Entwurfes und seiner Begründung hinweisen, die in unsern »Beiträgen« wie in unserer »Zeitschrift«e von Hagen, Monroe, Reicher, Binswanger, Polligkeit, Kulemann, von Rohden, Stier und mir erschienen sind.

Kulemann verlangt neuerdings in der »Deutschen Juristenzeitung« (1908 No. 9) aufs neue ein gesetzgeberisches Vorgeben. Ohne ein solches sei eine befriedigende Lösung der Frage der kriminellen Behandlung der Jugendlichen nicht möglich. Er sucht das an einem Punkte nachzuweisen, der freilich nur einer unter vielen sei, der aber vor allem einer Klärung bedarf hinsichtlich der Begriffsbestimmung.

Kulemann weist dabei in einer Fußnote darauf hin, was ich im letzten Hefte zu tun übersehen habe, aber hier nachholen möchte, daß der Köhnesche Entwurf mit Begründung »in den wesentlichsten Punkten auf dem Boden seiner Vorschläge steht«.!)

Kulemanns letzte Ausführungen sind für die Kinderforschung so beachtenswert, daß wir mit Erlaubnis des Verfassers sie auch hier zum Abdruck bringen wollen, zugleich aber möchte ich unsern Lesern die Lektüre jenes Vortrages dringend empfehlen.

Die vorliegende Arbeit erachte ich auch noch deshalb für besonders wertvoll, weil Kulemann mit mir?) dem verderbenbringenden, aus Rom stammenden und namentlich vom landläufigen Liberalismus treu konser- vierten praktischen Intellektualismus nun auch in der Rechtspflege energisch entgegentritt. Trüper.

1) Die forensische Behandlung der Jugendlichen. Vortrag gehalten auf dem I. Kongreß für Kinderforschung und Jugendfürsorge. Heft 26 der »Beiträge für Kinderforschung und Heilerziehung«. U. a. in: Anfänge abnormer Erscheinungen im kindlichen Seelenleben. Zur Frage der ethischen Hygiene. Beide im Verlag von Oskar Bonde-Altenburg.

268 A. Abhandlungen.

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Das StrGB. teilt die verbrecherischen Personen in drei Klassen: Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Gegen Kinder sind nur erzieherische Maßregeln, gegen Erwachsene nur Strafen zulässig. Für die Jugendlichen gilt ein Sonderrecht. Zunächst muß bei ihnen festgestellt werden, ob sie bei Begehung der Tat die zur Erkenntnis ihrer Strafbarkeit erforderliche Einsicht besessen haben. Wird diese Frage vereint, so wird der Täter ebenso behandelt wie die Kinder, d. h. es sind nur Erziehungsmittel anwendbar. Wird sie bejaht, so tritt Bestrafung ein, wenn auch in milderer Form als bei Erwachsenen. Der Umstand, der über den Eintritt von Erziehung oder Strafe entscheidet, ist also die Einsichtsfähigkeit.

Daß dieser Ausgangspunkt verfehlt sei, wird immer allgemeiner anerkannt. Der Beweis dafür kann auf doppeltem Wege geführt werden.

Nach der Statistik wird die Einsichtsfähigkeit nur in 4°/, aller Fälle verneint. Man hat hieraus gegen die Gerichte einen Vorwurf hergeleitet, indem man auf die schädigende Wirkung des Gefängnisses hinweist. Aber der Tadel wendet sich an die falsche Adresse. Gewiß gehören Kinder von 12 Jahren nicht in das Gefängnis, aber an der Hand des heutigen Gesetzes kann der Richter nicht anders handeln. Denn daß ein solches Kind bei normaler Entwicklung das Unrecht der von ihm be- gangenen Straftat einsieht und sich der Möglichkeit einer Bestrafung bewußt ist, kann gar keinem Zweifel unterliegen. Der Fehler liegt an dem Gesetze, das die Unterscheidung zwischen Gefängnis und Erziehung an diesen Umstand knüpft; denn ein Gesetz, das seinen Zweck, unreife Personen vor dem Gefängnisse zu bewahren, nur in so geringem Umfange erreicht, ist verfehlt.

Aber es ist auch leicht einzusehen, worin der Fehler liegt. Die Einsichts- fähigkeit ist ein lediglich intellektualistisches Moment. Sie zum alleinigen Ausgangspunkte für die Entscheidung über Strafe oder Erziehung machen ist ebenso verfehlt, als wenn man das Wesen des Menschen überhaupt ausschließ- lich im Intellekt sehen wollte. Es gab eine Zeit, zu der man die drei Seelen- vermögen: Erkenntnis-, Gefühls- und Willensvermögen als selbständige Gebiete des Geisteslebens ansah. Vielleicht hat diese Auffassung die Väter des StrGB. be- herrscht. Aber selbst von ihr aus ließe sich die jetzige Vorschrift nicht recht- fertigen. Diese wäre nur dann zu verteidigen, wenn eine von zwei Voraussetzungen zuträfe, nämlich, wenn entweder bei dem Beschlusse zu einer verbrecherischen Tat nur der Intellekt in Betracht käme, oder wenn nur er einer von dem Alter des Täters abhängigen Entwicklung unterworfen wäre. Es läßt sich leicht zeigen, daß beide Voraussetzungen unrichtig sind,

Der Entschluß, ein Verbrechen zu begehen, wird bei einem normalen Menschen nur gefaßt nach einem vorangegangenen Kampfe. Auf der einen Seite steht die Begierde nach dem durch die Tat zu erzielenden Erfolge, auf der anderen stehen gewisse Einflüsse, die man als Hemmungsvorstellungen zusammenfassen kann. Zu ihnen gehören auch die Erwägungen über die Größe des Unrechts und die Gefahr der Strafe. Beide können durch Einsicht und Überlegung beeinflußt werden. Aber neben ihnen wird der Kampf weitgehend entschieden durch das bei dem Täter vor- handene Maß der Beherrschung seiner Begierden, also durch ein Willensmoment. Es ist also psychologisch falsch, die Scheidungslinie lediglich nach dem intellektuellen Gesichtspunkte zu ziehen.

Berechtigt wäre dies allerdings, wenn nur auf intellektuellem Gebiete eine Entwicklung mit zunehmendem Alter sich vollzöge. Aber das wird niemand be- haupten. Wir alle suchen unsere Kinder in der Jugend vor Versuchungen zu schützen, denen wir sie in reiferem Alter unbedenklich aussetzen, weil wir wissen daß die Fähigkeit, Versuchungen Widerstand zu leisten, dann gewachsen ist.

Kuemann: Zur Begriffsbestimmung der Jugendlichen. 269

Das Gesagte bewegt sich auf dem Boden der Unterscheidung der drei Seelen- vermögen, Aber man hat sie längst als verfehlt preisgegeben und eingesehen, daß das Geistesleben einheitlich ist. Gibt man das zu, so ist es offenbar un- richtig, die Strafmündigkeit abhängig zu machen von einem einzelnen Momente derselben, nämlich der intellektuellen Seite. Die einzige nach psychologischen Ge- sichtspunkten gerechtfertigte Unterscheidung für die Frage, ob gegenüber einer be- gangenen Straftat Erziehung oder Bestrafung des Täters das geeignete Mittel sei, ist vielmehr die nach dessen allgemeiner geistigen Reife.

Es würde schon viel gewonnen sein, wenn bei der Begriffsbestimmung der Jugendlichen an die Stelle der Einsichtsfähigkeit die geistige Reife des Täters ge- setzt würde, aber zu einem völlig befriedigenden Ergebnisse würde man damit noch nicht gelangen. Dazu bedarf es eines tieferen Eingriffes in das bestehende Recht.

Die Reaktionen des Staates gegen das Unrecht sind teils präventiver, teils repressiver Natur. Zu der ersteren Form gehört neben anderen Mitteln die Er- ziehung, zu der letzteren die Strafe. Beide sind keine absoluten, sondern nur relative Gegensätze. Wie die Erziehung ohne Strafe nicht auskommen kann, so enthält jede Strafe ein erzieherisches Moment. Immerhin sind beide wesentlich verschieden. Allerdings kommt hier der Gegensatz der beiden kriminalistischen Schulen in Betracht. Die ältere will nach dem Grundsatze: punitur quia peccatum est von einem Zwecke der Strafe überhaupt nichts wissen, die jüngere steht auf dem Standpunkte: punitur ne peccetur, d. h. sie sieht den Zweck in der Ver- , hinderung des Unrechts. Beides ist einseitig. Gewiß ist es einfach ein Verzicht auf befriedigende Erklärung, wenn man von einem Zwecke der Strafe ganz absieht, denn kein vernünftiger Mensch handelt ohne einen Zweck. Aber ebensowenig kann die Verbrechensverhütung als einziger Zweck anerkannt werden, denn dann würden wir auf Bestrafung in Fällen verzichten müssen, in denen unser natürliches Gerechtigkeitsgefühl sie zwingend fordert. Das letztere verlangt, daß, wenn das Unrecht nicht mehr verhindert werden kann, wenigstens eine Sühnung erfolge. Also auch der Vergeltungsgedanke hat sein Recht. Aber eine »Zweckstrafe« kann ja auch ihn umfassen.

Hiernach läßt sich das Verhältnis zwischen Erziehung und Strafe scharf be- zeichnen. Sie fallen in ihrem Zwecke nicht zusammen, denn die erstere will neben der Verhütung des Unrechts etwas wesentlich Höheres, nämlich die Ent- wicklung der Persönlichkeit, die letztere will neben jener Verhütung zugleich Ver- geltung üben. Immerhin stehen sie in dem Verhältnisse von Flächen, die sich zum Teil decken, denn sie haben eben in der bezeichneten Verhütung des Unrechts einen gemeinsamen Zweck. Aber sie unterscheiden sich in den Mitteln. Die Strafe will begrifflich ein Übel zufügen. Die Erziehung ist umgekehrt ein Gut. Beides gilt unabhängig von der subjektiven Auffassung des von Strafe oder Er- ziehung Betroffenen.

Stehen also dem Staate zur Bekämpfung des Unrechts zwei Mittel zur Ver- fügung! Strafe und Erziehung, so handelt es sich darum, den grundlegenden Ge- sichtspunkt zu finden, nach dem zu entscheiden ist, ob das eine oder das andere zur Anwendung gelangen soll. Das bisherige Gesetz bestimmt die Strafe für die Einsichtsfähigen, die Erziehung für die nicht Einsichtsfähigen; wir haben gesehen, daß das falsch ist. Aber auch wenn wir au Stelle der Einsichtsfähigkeit die geistige Reife setzen, so begehen wir einen Fehler, denn auch sie ist ein lediglich aus der Persönlichkeit des Täters entnommenes, also subjektives Moment. Niemand ist aber ausschließlich abhängig von sich selbst, sondern weitgehend auch von seiner

270 A. Abhandlungen.

Umgebung und allen den Verhältnissen, in die er hineingesetzt ist, also von dem, was man in neuester Zeit mit dem nicht gut zu übesetzenden Fremdworte Milieu bezeichnet. Sowenig man den Deterministen folgen soll, die allein in diesen ob- jektiren Umständen die Quellen menschlicher Taten sehen, sowenig ist ihr weit- gehender Einfluß zu bestreiten. Daß er aber auch für unsere Frage eine ent- scheidende Bedeutung hat, tritt deutlich hervor, sobald wir uns vorstellen, es hätten zwei Personen von ganz gleicher geistiger Reife, A und B, dieselbe strafbare Tat begangen, A aber sei aufgewachsen in einem durchaus günstigen, B in einem höchst ungünstigen Milieu. Bei A, der trotz der besten Erziehung und des geringsten Maßes der Versuchung auf die Bahn des Verbrechens geraten ist, würde es offenbar keinen Sinn haben, noch einmal Erziehungsmaßregeln zur Anwendung zu bringen, die sich schon als einflußlos erwiesen haben. Ist bei ihm überhaupt noch eine Besserung möglich, so darf sie nur erwartet werden von einem so tief eingreifenden Mittel wie der gerichtlichen Strafe, äußerstenfalls aber muß eben der Vergeltungs- gesichtspunkt der letzteren in sein Recht treten. Ganz anders bei B; bei ihm läßt sich durchaus hoffen, daß das Herausnehmen aus der schädlichen Umgebung und die Anwendung derjenigen Erziehung, die er bisher entbehren mußte, eine Besserung herbeiführen wird.

Ich kann das bisher Gesagte in folgender Weise zusammenfassen: Bei der Entscheidung zwischen Erziehung und Strafe muß der sowohl dem heutigen Gesetze zugrunde liegende wie der auch bei Einfügung der geistigen Reife an Stelle der Einsichtsfähigkeit verbleibende anthropologische, d.h. aus der physisch-psychi- schen Natur des Täters entnommene Ausgangspunkt ersetzt werden durch den päda- gogischen, der alle Umstände in Betracht zieht, von denen man für den be- absichtigenden Zweck einen Einfluß erwarten kann.

Es könnte scheinen, als ob ich damit den Begriff der Jugendlichen überhaupt fallen ließe, denn der aufgestellten Forderung scheint am besten Rechnung getragen zu Sein, wenn der Richter ermächtigt wird, die Entscheidung zwischen Erziehung und Strafe ohne irgendwelche gesetzliche Schranken lediglich nach den Umständen des Einzelfalles zu treffen. Aber das würde dahin führen, daß der Staatsanwalt sowohl bei einem jährigen Kinde wie bei einem 30jährigen Manne die Entscheidung des Gerichts über jene Frage anrufen müßte. Für so extreme Fälle kann das Gesetz selbst Anordnung treffen; dem Richter sind nur solche zu überweisen, in denen die Entscheidung zweifelhaft sein kann.

Damit gelangen wir zu folgendem Ergebnis:

1. Kinder sind solche Personen, gegen die das Gesetz unter keinen Um- ständen Strafe, sondern ausschließlich Erziehungsmaßregeln zur Anwendung gebracht wissen will.

2. Erwachsene sind diejenigen, die, ihre Zurechnungsfähigkeit vorausgesetzt, der normalen Strafe unterworfen werden sollen.

3. Zwischen beiden bilden die Gruppe der Jugendlichen die Personen, bei denen mit Rücksicht auf ihr Alter und ihre dadurch bedingte geistige Entwicklung die Entscheidung zwischen Erziehung und Strafe nicht allgemein im voraus von dem Gesetzgeber, sondern nur im Einzelfalle, unter Berücksichtigung aller Um- stände subjektiver und objektiver Natur durch das Gericht getroffen werden kann.

Das bedeutet allerdings eine völlig und grundsätzlich geänderte Begriffs- bestimmung der Jugendlichen; aber mir scheint, daß man sich zu ihr wird ent- schließen müssen, wenn man zu einer befriedigenden Regelung gelangen will.

Trürer: Für oder gegen die Prügelstrafe in der Erziehung? 271

3. Für oder gegen die Prügelstrafe in der Erziehung?

Über die Frage der Prügelstrafe brachte Herr Dr. O. Kiefer bereits im Jahrgang 1904 Heft 4 einen kleinen Aufsatz, worin er sich gegen die körperlichen Züchtigungen erklärte. Kiefer hat nun die Frage weiter verfolgt und das Für und Wider eingehend erwogen. Das Ergebnis, zu dem er in dieser alle Eltern wie alle Lehrer und Schulbehörden seit langem beschäftigenden Frage gekommen ist, veröffentlichen wir in Heft 48 unserer »Beiträge«, ohne uns mit dem Inhalte in allem einverstanden zu erklären.

Wir sind aber überzeugt, daß die Frage, wenn sie zu einem prak- tischen Ergebnis führen und etwa gesetzgeberisch für reif erklärt werden soll, noch einer weiteren Erörterung des Für und Wider sowohl vom pädagogisch - psychologischen wie vom medizinisch -hygienischen und vor allem vom Standpunkte der Erfahrung aus dringend bedarf.

Dafür stellen wir gerne unsere Zeitschrift zur Verfügung, hoffend so eine tiefgreifende Frage der Erziehung in Haus, Schule und in Straf- anstalten ernstlich fördern zu können.

Daß die Entscheidung über das Für und Wider nicht so leicht ist, wie das Spiel mit pädagogischen Problemen in Ellen Keys »Jahrhundert des Kindes« sie erscheinen läßt, dafür ist Dr. Kiefer selbst ein Beispiel. Er bekennt im Vorwort:

» Vorliegendes Werk beabsichtigt, einmal ohne Parteinahme für oder gegen die in unsern Tagen wie nur je wieder aktuell gewordene Frage »Soll man die Prügelstrafe in der Pädagogik verwerfen oder nicht?« in gründlicher Weise zu behandeln. Der Verfasser, der noch vor einigen Jahren ein einseitiger Gegner jeder Prügelstrafe war, hat sich bereits in seiner vor Jahresfrist erschienenen Broschüre (»Leipziger Verlage Q. m. b. H. 1906) »Zur Frage der körperlichen Züchtigung der Kinder« von seiner früheren Einseitigkeit befreit und in kurzen Umrissen darzulegen versucht, warum und wann auch ein moderner Pädagoge noch zum Stock und zur Rute greifen darf, ja greifen soll. Doch waren diese Darlegungen mehr eine Art Programm und sollten den neuen Standpunkt einleiten, der im folgenden Werk genauer begründet werden soll. Weitere praktische Er- fahrungen sowie Mitteilungen anderer Praktiker haben seitdem den Ver- fasser noch in seinen geänderten Ansichten bestärkt.

Doch es sei hier dem Inhalt des Buches nicht vorgegriffen und nur noch betont, daß der Verfasser, wie schon in der genannten Broschüre erwähnt, für Mitteilungen aus der Praxis usw. stets dankbar ist. Kann doch nur die Erfahrung möglichst vieler Menschen ein einigermaßen voll- ständiges Bild geben.

Damit lege ich auch diese Schrift allen denkenden Praktikern der Erziehung vertrauensvoll in die Hand.«

Wir aber wünschen außerdem eine lebhafte und ergebnisreiche Debatte an diesem Orte. Mit Rücksicht auf den Raum aber bitten wir, kurz und

bündig nur das zu sagen, was von anderer Seite noch nicht gesagt wurde. Ir.

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272 B. Mitteilungen.

B. Mitteilungen.

1. Die Fernwahrnehmungen (sogen. 6. Sinn) der Blinden und Taubblinden.

Von G. Fischer, Inspektor der Blinden- Erziehungsanstalt in Braunschweig.

Die Ausführungen des Herrn Truschel in Straßburg i. E. über den sogenannten 6. Sinn der Blinden (s. Aprilheft 1908 dieser Zeitschrift) veranlassen mich, meinen Bericht über den 12. Blindenlehrerkongreß in Hamburg (s. Dezemberheft dieser Zeitschrift) folgendermaßen zu ergänzen:

Im engen Rahmen eines Kongreßberichtes konnte ich den Kongreß- vortrag des Direktors der Blindenanstalt Illzach bei Mülhausen i. E. Professor Kunz über »Das Orientierungsvermögen und das sogenannte Ferngefühl der Blinden und Taubblinden« wie auch die ausführlichen Ent- gegnungen des Lehrers Truschel in der Diskussion nur kurz erwähnen.

Im Kongreßbericht heißt es S. 86 oben: »Der Blinde bemerkt be- kanntlich aus einer gewissen Entfernung Hindernisse, welche ihm beim Gehen und Fortbewegen entgegentreten. Er weicht solchen Hindernissen, Bäumen, Mauern, Straßenlaternen usw., welche ihm im Wege stehen, bei- zeiten aus. Ein Druckgefühl in der Stirn-, Schläfen- oder Ohrgegend, oder auch im Trommelfell, von zurückgeworfenen Luftwellen herrührend, wie auch gewisse Gehörsempfindungen lassen ihn das Vorhandensein solcher Gegenstände schon vor der unmittelbaren Berührung erkennen und schützen ihn vor Verletzungen (s. auch Kunz »Das Orientierungs- vermögen und das sogenannte Ferngefühl der Blinden und Taubblinden« bei Engelmann, Leipzig 1907). Herr Truschel führt dieses Ferngefühl auf reflektierte Schallwellen zurück; da aber auch Taubblinde dasselbe zeigen, so dürfte Truschels Schallwellentheorie nicht zutreffen.«e Als Anhänger der Kunzschen Theorie unterließ ich nicht, wenigstens das eine Argument gegen die von Truschel vertretene Schallwellentheorie anzuführen, welches mir auch für einen weiteren Leserkreis am ein- leuchtendsten und überzeugendsten zu sein scheint, nämlich das auch bei Taubblinden festgestellte Ferngefühl; andere gegen die Schallwellentheorie erhobene Einwände überging ich. Da nun die in letzter Zeit viel er- örterte Frage des Fernsinns oder Ferngefühls (sogenannter 6. Sinn oder x-Sinn) des Blinden auch weitere Kreise als die der Physiologen und Blindenlehrer interessieren dürfte, so verweise ich zu eingehenderer In- formation über diesen Gegenstand nicht allein auf die bereits von Truschel auf S. 206 und 207 dieser Zeitschrift angegebenen Abhandlungen, sondern auch auf die bekannten Kunzschen Schriften: Zur Blindenphysiologie (das sogenannte Sinnenvikariat), das Orientierungsvermögen und das so- genannte Ferngefühl der Blinden und Taubblinden (beide Schriften wie auch die übrigen bisher erschienenen Arbeiten des Professors Kunz sind enthalten in der zur Feier des 50 jährigen Bestehens der Illzacher Blinden- anstalt herausgegebenen, prächtig ausgestatteten und reich illustrierten Jubiläumsschrift (bei Engelmann, Leipzig 1907), dann auf Kunz’ Ver-

1. Die Fernwahrnehmungen (sogen. 6. Sinn) der Blinden und Taubblinden. 273

öffentlichungen im Internationalen Archiv für Schulhygiene Bd. 4 und 5, und endlich auch auf die neue Arbeit von Kunz im 7. Band von Meu- manns Experimentelle Pädagogik »Nochmals der (von Laien sogenannte) 6. Sinn der Blinden«. In dieser ausführlichen Abhandlung gibt Kunz eine Darstellung seiner zahlreichen Versuche, deren Ergebnisse in Tabellen übersichtlich zusammengestellt worden sind und meines Erachtens keinen Zweifel darüber lassen, daß das »Ferngefühl« kein 6. Sinn ist, sondern zu den Funktionen des Tast- oder Hautsinnes gehört.

Meine Ansicht über die Ursache und das Wesen des Ferngefühls stützt sich nicht auf eigene Experimente, sondern auf Beobachtungen der Blinden während meiner mehr als 20 jährigen Tätigkeit als Blindenlehrer und auf das Studium der über diesen Gegenstand bisher veröffentlichten Arbeiten. Zu einer eingehenderen Betrachtung der entgegenstehenden Meinungen wie auch zu einer weiteren kritischen Auseinandersetzung in dieser Zeitschrift überlasse ich daher gern das Wort den betreffenden Autoren. Nachdem sich Herr Truschel bereits zu diesem Gegenstand geäußert, wird sicher auch Herr Professor Kunz nicht abgeneigt sein, seinen Standpunkt auch in dieser Zeitschrift klarzulegen und zu begründen.

Ich beschränke mich hier darauf, unrere Leser im allgemeinen über die vorliegende Streitfrage zu orientieren.

Es ist schon lange bekannt und von mir auch schon in Reins Enzyklopäd. Handbuch der Pädagogik 2. Aufl. S. 720 mitgeteilt worden, daß viele Blinde beim Gehen nicht an eine Mauer oder Wand, einen Baum oder sonst ein im Wege stehendes größeres Hindernis stoßen, sondern rechtzeitig ausweichen, ebenso daß sie im Hause, z. B. in der Blinden- anstalt, nicht gegeneinander laufen und daß sie sich oft mit überraschen- der Sicherheit in kleineren und größeren Räumen, ja seibst in größeren Städten orientieren. Der Blinde orientiert sich mit Hilfe der ihm ver- bliebenen Sinne, des Gehörs, der Tastorgane (auch der Füße) und des Geruchs, wobei ihn das Ortsgedächtnis unterstützt (der Geschmack kommt hier nicht in Betracht). Blinde mit Sehresten benutzen bei der Orien- tierung auch die noch vorhandenen helleren und dunkleren Lichtempfin- dungen. Die größte Bedeutung hat hier das Gehör als der eigentliche Fern- sinn des Blinden; der veränderte Schall leistet ihm bei der Orientierung die besten Dienste. Da bei Taubblinden dieses wichtige Hilfsmittel fort- fällt, so ist ihr Orientierungsvermögen auch unvollkommener. Aus dem veränderten Schalle der Fußtritte, der Stimme oder sonstiger Geräusche schließt der Blinde auf veränderte räumliche Erscheinungen in seiner Um- gebung, z. B. Umstellung oder Veränderung des Mobiliars eines Raumes, Annäherung oder Entfernung eines Gegenstandes, Kreuzung und Biegung von Straßenzügen, Unterbrechung einer Häuserreihe, einer Mauer oder eines Zaunes durch Tore und Pforten, unbebaute Plätze usw. Um sich zu vergewissern, ruft er selbst Geräusche hervor, z. B. Husten, Knipsen mit den Fingern, Aufschlagen mit dem Gehstock usw. Jeder Sehende hat dasselbe Vermögen, nur beachtet, benutzt und übt er es nicht, weil er im Sehorgan ein weit vollkommneres Orientierungsmittel besitzt.

Auch Kunz schätzt den Wert der »hörbaren« Schallwellen, welche

Zeitschrift für Kinderforschung. XII. Jahrgang. 18

274 B. Mitteilungen.

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er als das hervorragendste Orientierungsmittel betrachtet, während er jeden Einfluß von unhörbaren Schallwellen auf das ÖOrientierungsvermögen ablehnt. Welchen Anteil hat nun der Haut- oder Tastsinn an der Orien- tation? In dieser Frage liegt der Gegensatz zwischen den Vertretern der Luft- und der Schallwellentheorie. Professor Kunz, eine der ersten Autoritäten im Blindenwesen, der auf eine fast 30 jährige Tätigkeit als Blindenpädagoge zurückblickt, hat sich schon seit Jahren zur Erforschung der Blindennatur des Experimentes bedient. Durch seine Forschungen über den Raumsinn der Haut (Raumschwelle) und das ganze Sensorium der Blinden und auch einer Taubblinden in seiner Anstalt hat er manche hergebrachte irrtümliche Meinung berichtigt. Zur Erforschung des Orien- tierungvermögens der Blinden stellte er Gehversuche an auf größtenteils unbekanntem Gebiet mit offenen, zum Teil auch verstopften oder ver- bundenen Ohren der Versuchspersonen zu oder seitlich von Bäumen, Mauern, stehenden und hängenden Platten, wobei er den bedeutenden An- teil des Gehörs bei der Orientierung mit Hilfe der veränderten Schall- wellen feststellte. Um nun das eigentliche Ferngefühl zu ermitteln und dessen Tragweite zu erkennen, stellte er Versuche an, bei denen andere Sinnesreize möglichst ausgeschlossen wurden. Die Versuchspersonen saßen ruhig auf einem Stuhl, während Glas-, Filz-, Holz- oder Pappe- Platten, die an 3—4 m langen Stangen befestigt waren, »möglichst lang- sam und stetig, bald von vorn, bald von einer Seite, bald von hinten und oben, in die Nähe ihrer Köpfe gebracht wurden.« Sobald nun die Ver- suchspersonen die Platte bemerkten, zeigten sie dies durch Ausstrecken des Fingers nach derselben an. Den Drucksinn der Haut untersucht er mit Tasthärchen verschiedener Beugungswiderstände an den für das Fern- gefühl in Betracht kommende Hautstellen, der Stirn, der Augenbrauenhaut, den Wangen usw. Der Tastsinn ist der eigentliche Raumsinn der Blinden, er gibt Aufschluß über die räumliche Gestalt, die Form und Größe der Gegenstände, deren Lage zueinander usw.; er ist dabei an die unmittel- bare Berührung der Gegenstände mit den Tastorganen gebunden, doch nimmt er auch Reize aus gewisser Entfernung auf. Solche Reize werden durch zurückgeworfene Luftwellen verursacht, die bei der Annäherung eines Gegenstandes oder zu einem Gegenstande hin entstehen und an der Kopfhaut (Stirn, Augengegend, den Schläfen, Ohrenmuscheln, dem Gehör- gang und dem Trommelfell, sowie am Nacken (wenn derselbe nicht wie bei manchen Mädchen durch hängende Haare verdeckt wird) bemerkt oder lokalisiert werden. Daß die von solchen Reizen verursachten Empfin- dungen an den genannten Stellen lokalisiert werden, wissen wir von den Blinden selbst. Besonders sind Gehörgang und Trommelfell sehr empfind- lich für Berührungen, wie jeder aus eigner Erfahrung weiß; hier wird daher der aufmerksame Blinde auch einen von schwächeren Luftwellen herrührenden Reiz leicht empfinden, besonders wenn derselbe von der Seite, von links oder rechts kommt. Die Blinden selbst behaupten, daß sie solche Reize oft im Ohre, Gehörgang oder Trommelfell fühlen. Gerade diese feine Empfindlichkeit des äußeren Ohres (Gehörgang und Trommel- fell) hat nach Kunz offenbar die Schallwellentheorie geboren, welche die

1. Die Fernwahrnehmungen (sogen. 6. Sinn) der Blinden und Taubblinden. 275

hier in Betracht kommenden Reize auf reflektierte Schallwellen, für welche das Gehör zuständig ist, zurückführt. »Das Trommelfell als Fell spielt beim Ferngefühl eine große Rolle, nicht aber als Hörapparat« (Kunz). Sind nun diese Reize akustischer oder taktiler Natur? Rühren sie von Luft- oder Schallwellen her? Bekanntlich werden die Empfindungen des Seh- und Gehörorgans im Organ selbst nicht lokalisiert. Wo die optischen und die akustischen Empfindungen zu stande kommen, erfahren wir nicht; das Netzhautbild bemerken wir nicht, die Vibration des Trommelfells spüren wir nicht; höchstens lokalisieren wir diese Reize, wenn dieselben von so starker Intensität sind, daß sie schmerzhaft wirken (grelle Licht- und starke Hörreize). Lokalisiert werden nur und zwar an den ver- schiedenen Hauptpartien mit ungleicher Genauigkeit die Druck- oder Berührungsempfindungen der Haut, also Tastreize. Alle auf irgend einer Hautstelle lokalisierten Reize sind daher taktiler Natur, mithin auch die- jenigen Reize, die der Blinde an Stirn, Schläfen, Augengegend, Ohr- muschel, Gehörgang, Trommelfell und Nacken lokalisiert; wären diese Reize akustischer Art, so würden sie, wie alle akustischen Reize, nicht lokalisiert werden. Darum faßt Kunz diese Empfindungen unter dem Namen »Ferngefühl« zusammen. Nun hat Kunz festgestellt, daß auch Taubblinde Ferngefühl besitzen. Da in der Illzacher Blindenanstalt sich nur eine Taubblinde befindet, so stand ihm nur diese eine Versuchsperson zur Verfügung. In seiner Abhandlung »Das Orientierungsvermögen« usw. führt Kunz aber verschiedene Taubblinde an (Laura Bridgman, H. Keller, E. Malossi u. a.), von denen er nach eingezogener Erkundigung (die betr. Briefe sind in der genannten Schrift [s. auch Jubiläumsschrift S. 286 bis 290, 322—323 u. 336] veröffentlicht) annehmen muß, daß sie Ferngefühl besitzen. So schreibt ihm z. B. Prof. Ferreri in Rom, der Gelegenheit hatte, Helen Keller längere Zeit in Boston zu beobachten, u. a. folgendes: »Ich kann Ihnen aber das sagen, daß ich sie (H. Keller) sehr oft längs einer Terrasse allein spazieren sah. Jedesmal, wenn sie an das Ende derselben kam, stand sie unversehens plötzlich etwa 1 m vor dem Hindernis still; es ist also sicher, daß sie dasselbe durch taktile Eindrücke wahrnehme, da bei ihr Gehöreindrücke gänzlich ausgeschlossen sind.«e Auch erzählt Prof. Ferreri a. a. O., H. Keller sei in Boston in das ihr unbekannte Arbeits- zimmer eines Pfarrers getreten und habe sofort richtig bemerkt: »Dies ist ein großes, aber nicht sehr hohes Zimmer, in welchem viele Bücher stehen.«

Auf das Vorhandensein von Ferngefühl bei Taubblinden lassen auch die ebenfalls in der genannten Schrift veröffentlichten Äußerungen von Sachverständigen, wie z. B. der Leiterin der Anstalt für schwachsisnige und taubstumme Blinde in Wenersborg (Schweden) Frau Andrep-Nordin schließen. Es liegt kein Grund vor, an diesen Mitteilungen zu zweifeln.

Nun meint allerdings Truschel auf S. 208 dieser Zeitschrift: »Ein gleichzeitiges Fehlen des Hörvermögens bei Vorhandensein des x-Sinnes wider- spräche also (falls sich dieses Zusammentreffen, wie ich hoffe, nachweisen ließe) meiner Schallwellentheorie nicht.« Er verweist auf die Möglichkeit der Schalleitung auch bei teilweise defekten Hörorganen der Taubblinden, auf die Funktion der eustachischen Röhre und die Bedeutung der Kopfknochenleitung.

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276 B. Mitteilungen.

Die Taubheit verhindert zwar die Leitung von Schallwellen auch durch ein defektes Trommelfell (sogar ohne Trommelfell ist ein Hören noch möglich) wie durch die eustachische Röhre oder die Kopfknochen (cranio-tympanale Schalleitung) nicht, leider verhindert sie aber, wenn nicht durch einen anderen Fehler des Gehörorganes so doch durch eine Störung des Hörzentrums im Gehirn, die Umwandlung der Reize in akustische Empfindungen und Wahrnehmungen, das Bewußtwerden der- selben. Auch die cranio-tympanale Schalleitung löst bei Tauben und Taub- blinden keine Gehörsempfindungen aus. Schwerhörige hören wohl bei hin- reichend starker Schallintensität und bei direkter Berührung des Schall- erregers (Uhr, Stimmgabel usw.) auch durch die Leitung der Knochen und der Zähne, sobald aber der Schallerreger etwas vom Kopf entfernt gehalten wird, hört die Gehörempfindung auf, wie durch Versuche bei Schwerhörigen leicht nachgewiesen werden kann. Eine Übertragung durch die Luft ohne direkte Berührung ist, wie auch die Kunzschen Versuche mit der Stimmgabel bestätigen, ausgeschlossen. Taube merken wohl die Öszillation der Stimmgabel, sie fühlen sie, hören aber den Ton nicht, wie auch H. Keller Musik »hört«, wenn sie die Hände auf ein Musikinstrument legt, welches gerade gespielt wird. Was ohne direkte Berührung mit der Schallquelle die stärkeren Schallreize einer Stimmgabel, Uhr usw. nicht vermögen, werden auch die beim sogenannten x-Sinn vermuteten schwachen reflektierten Schallwellen nicht fertig bringen, nämlich akustische Wahr- nehmungen zu erzeugen, die für die Orientierung von Bedeutung sind. Die hohe Bedeutung der wirklich hörbaren Schallwellen bei der ganzen Orientation ist schon erwähnt.

Beruht das Ferngefühl (oder der x-Sinn) auf Schallwellen, dann ist es auch von der Hörschärfe oder Hörweite abhängig, nicht aber von der musikalischen Befähigung des Ohres, welche meines Erachtens bei den hier in Betracht kommenden unhörbaren und daher keine musikalischen Empfindungen hervorrufenden reflektierten Schallwellen nicht erforderlich ist. Kunz hat durch zahlreiche Versuche die Hörweite gemessen und mit dem Ferngefühl verglichen, die Tabellen zeigen aber keine Proportio- nalität, auch nicht bei musikalisch befähigten Blinden. Die von Professor Krogius-Petersburg bei Blinden ermittelte größere Hörfähigkeit steht im Widerspruch mit den Kunzschen Ergebnissen, nach denen die Hörschärfe (Hörweite) der Blinden im allgemeinen eher geringer ist als die der Sehenden, da bei der Erblindung nicht selten auch das Gehör gelitten hat. Auch das Lokalisationsvermögen des Gehörs, welches der Aufnahme der x-Reize günstig sein könnte, ist von Kunz im Zusammenhang mit dem Ferngefühl untersucht; eine Beziehung zwischen Lokalisatonsvermögen und Ferngefühl ist aber nicht gefunden worden. Kämen Schallwellen in Frage, dann müßten Reize von der Seite auf größere Entfernungen und leichter wahrgenommen werden als z. B. von vorn vor dem Gesicht; bei ruhiger Körperhaltung, also minimaler Luftbewegung war aber die Trag- weite des Ferngefühls nach vorn größer als seitlich. Während Schall- wellen von allen Seiten in das Ohr gelangen können, wurden über und hinter dem Kopf befindliche Gegenstände bei ruhiger Luftbewegung nie-

1. Die Fernwahrnehmungen (sogen. 6. Sinn) der Blinden und Taubblinden. 277

mals wahrgenommen. Bei schnellerer Bewegung des Körpers gegen Ob- jekte hin oder an diesen vorbei und bei rascherer Bewegung der Platten, also bei stärkerer Luftbewegung, wurde auch die Tragweite des Fern- gefühls größer; betrug dieselbe in der Ruhe 0—90 cm, dann bei Be- wegung 100—700 cm. An überaus zahlreichen Versuchen hat Kunz die Druckempfindlichkeit der Haut an verschiedenen Hautpartien, besonders den für das Tasten und die Aufnahme der Luftwellen beim Ferngefühl in Frage kommenden Stellen gemessen und eine Proportionalität des Druck- sinnes, der Berührungsempfindung, mit dem Ferngefühl festgestellt, wie die Tabellen (s. Meumann, Experiment. Pädagogik) zeigen. Nach Kunz be- ruht das Ferngefühl auf einer Überempfindlichkeit der Haut für taktile Reize, die sich auch auf thermische Reize erstreckt. Während Professor Krogius, auf den sich Truschel mehrfach beruft, die thermischen, also auch taktile, nicht akustische Reize, in erste Linie stellt, hält Kunz die Druckreize der Luftwellen beim Ferngefühl für ausschlaggebend, ohne einen gewissen Einfluß der Temperatur abzulehnen. Wie aus Kunz’ An- gaben zu ersehen ist, wurde das Ferngefühl bei höherer Temperatur ge- steigert, bei niederer herabgesetzt. Da das Gehör von der Lufttemperatur unabhängig ist, so können Schallwellen hier wohl nicht im Spiele sein.

Nicht nur Blinde und Taubblinde, auch Sehende haben Ferngefühl, wie dasselbe auch manchen Blinden, Taubblinden und Sehenden fehlen kann; es ist keine Folge der Blindheit, steht aber vielleicht mit der Erblindungs- ursache im Zusammenhang, da es mehr bei solchen Blinden zu finden ist, die durch Haut- und ähnliche Krankheiten (auch Blennorrhoea neonatorum [Augenentzündung der Neugeborenen]) erblindeten, als bei anderen. Da auch krankhafte Hautauswüchse druckempfindlicher sind als die gesunde Haut und ein größeres Ferngefühl zeigen, so führt Kunz das Ferngefühl auf eine krankhafte, vielfach von Hautkrankheiten zurückgebliebene ab- norme Hautsensibilität (Hyperästhesie) für Druck- und auch Temperatur- unterschiede zurück, wodurch sich die Abhängigkeit des Ferngefühls von den Erblindungsursachen erklärt. Das Ferngefühl wurde bei allen Versuchen mit verstopften Ohren nicht verändert.

Vorstehende Andeutungen mögen genügen, da es mir nicht möglich ist, das vollständige Material, welches den Angaben zugrunde liegt, zu veröffentlichen. Bei aller Wertschätzung auch einer gegenteiligen Meinung kann ich der Schallwellentheorie solange nicht beitreten, als Kunz nicht durch Gegengründe, welche auf exakten Forschungen beruhen, widerlegt werden kann. Nach meiner Überzeugung ist durch die exakten Forschungen des Professors Kunz klar erwiesen, daß ein Ferngefühl, welches auf taktilen Reizen beruht, vorhanden ist. Dieses Ergebnis deckt sich auch mit meinen Beobachtungen und Erfahrungen. Ich betone noch einmal: Das Ferngefühl ist nicht das einzige ÖOrientierungsvermögen der Blinden, sondern nur ein Hilfsmittel desselben.

Ob außer den taktilen Reizen auch noch akustische Reize oder »ge- heimnisvolle Reizgattungen«, die auf unhörbaren reflektierten Schallwellen beruhen, bei der Orientierung mitspielen, ist noch experimentell nachzu- weisen.

278 B. Mitteilungen.

2. Über die sexuelle Aufklärung der Kinder.

Bericht über die Sitzungen der Österreichischen Gesellschaft für Kinderforschung am 17. Februar und 2. März 1908, erstattet von

Dir. Dr. Theodor Heller, Wien-Grinzing.

Dr. Josef K. Friedjung: Gründe mannigfacher Art haben zusammen- gewirkt, das Thema in den Mittelpunkt vieler ernsten Diskussionen der letzten Jahre zu stellen. Der Vortragende entwickelt in flüchtigen Strichen die Genese des Problems und erörtert dann um so ausführlicher seine volkshygienische Seite, weil sie ihm als Arzt besonders bedeutsam er- scheint und von der Laienwelt immer noch nicht genug gewürdigt wird. Die Durchseuchung fast der gesamten Bevölkerung mit den oft folgen- schweren Geschlechtskrankheiten ist ein so schwerer Notstand, daB die Erkenntnis der unverhüllten Wahrheit unerläßlich ist. Wenn man aber bedenkt, daß diese Krankheiten vorwiegend Minderjährige, oft kaum den Kinderjahren Entwachsene befallen, daß das anarchische Sexualleben unserer jungen Männer Opfer auf Opfer erfordert und zuletzt die eigene Familie ins Verderben zieht, so muß man wohl zu dem Schlusse kommen, die bisher beobachtete sexuelle Nichterziehung sei ein schwerer Fehler. Nur eine rechtzeitige Aufklärung und Warnung des heranwachsenden Kindes kann hier Wandel schaffen, und nur einen zum Besseren; denn schlimmer, als es ist, kann es nicht mehr werden. Nach dieser Erledigung des Ob? wendet sich der Vortragende der Besprechung des Wann? Wer? und Wie? zu.

Die Schwierigkeit dieses erzieherischen Problems darf nicht einseitig überschätzt werden. Was hier ausgeführt wird, kann freilich aus wirt- schaftlichen Gründen vorerst nur einer schmalen Schicht von Kindern aus gebildeten und bemittelten Kreisen zu gute kommen; es soll aber damit ein Vorbild für eine künftige Zeit einer gerechteren Wirtschaftsordnung geschaffen werden.

Der Zeit nach muß die Aufklärung mit der ersten zugehörigen Frage des Kindes einsetzen und dann allmählich organisch, vielleicht oft im Laufe von Jahren erfolgen. Mit diesem streng individualisierenden Grund- satze erledigt sich auch die Frage, ob die erste sexuelle Aufklärung von Schule oder Haus zu besorgen sei, automatisch zugunsten des Hauses. Die Schule kann mit der Vermittlung naturwissenschaftlicher Kenntnisse allerdings fördernd eingreifen. Die weitere Aufklärung dagegen über Ge- schlechtskrankheiten, die Weisungen fürs Leben kann die Schule auf der mittleren Stufe recht wohl vermitteln.

Die Methode, die ein inniges Vertrauensverhältnis zwischen Kind und Erzieher zur Voraussetzung hat und von diesem den feinsten Takt erfordert, kann nur eine naturwissenschaftliche sein und fußt am besten auf der Entwicklungslehre. Der Weg von der Pflanze und den niedrigsten Lebewesen bis zum Säugetier und Menschen muß mit kluger Benutzung der eigenen Beobachtungen des Kindes allmählich durchmessen werden. Die Belehrung geschehe mündlich, nur ausnahmsweise mıt Hilfe eines geeigneten Büchleins, Unter der vorhandenen Literatur gibt der Vor- tragende Siebert den Vorzug vor allen anderen.

2. Über die sexuelle Aufklärung der Kinder. 279

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Diesem Vorgehen, das er im einzelnen schildert, hält der Vortragende die unsachliche, unwürdige Art gegenüber, wie sich die Kinder bisher zumeist ihre sexuelle Aufklärung bei Dienstleuten und Schulkameraden holen. Er weist nach, wie aus der Verlogenheit in diesen Fragen, die beim Kinde beginnt, jene verlogene sexuelle Moral notwendig hervor- wachsen muß, die in unserer Gesellschaft herrscht, und Unglück auf Un- würde häuft. Will man aber diesem Übel beikommen, dann muß die Quelle verstopft werden. Und so wird auch hier die Forderung des Hygienikers zuletzt zum sittlichen Gebot im Dienste einer höheren Kultur.

Vorsitzender Professor Dr. Friedrich Jodl erkennt die edlen Ab- sichten des Vortragenden gerne an. Er kann aber nur in zweifacher Richtung mit Dr. Friedjung übereinstimmen, daß nämlich die Aufklärung nicht in die Schule gehöre und die Aufklärungsschriften einer ernsten Kritik nicht standhalten.

Dr. Friedjung als Arzt zeige sich besorgt um die Zukunft der Menschheit, die von Geschlechtskrankheiten immer mehr durchseucht werde. Diese Sorge ist gewiß begründet; aber ebenso berechtigt ist die Sorge um das seelische Wohl der Menschen, um das seelische Wohl der Kinder. Es gibt gewisse Attribute der kindlichen Seele, die durch eine so weitgehende Aufklärung, wie sie Dr. Friedjung wünscht, geraubt werden: Reinheit, Unschuld, Unbefangenheit. Wenn man aber so weit geht, selbst über Geschlechtskrankheiten mit Kindern zu sprechen, dann streut man Gift in Kinderseelen.

Die sexuelle Aufklärung der Kinder entspringt jenem Intellektualismus, der für unsere Zeit charakteristisch ist. Das Sexualleben wurzelt nicht in Überlegungen, sondern in einem Trieb, der zu den mächtigsten und stärksten psychischen Elementarkräften gehört. Diesem gegenüber ist nicht Aufklärung, sondern Erziehung angebracht. Nicht unterdrücken, aber veredeln läßt sich dieser Trieb; wir wünschen nicht das vor- zeitige Erwachen dieses Triebes, wir haben es nicht notwendig, über Dinge zu sprechen, die für das Kind noch nicht bestehen; späterhin mag eine vernünftige Aufklärung passend sein und manches Gute bewirken; man wird aber nicht bis zu den letzten Geheimnissen fortschreiten dürfen, sondern vor dem Schleier stehen bleiben müssen, bis mit zunehmender Reife auch diese letzten Geheimnisse offenbar werden.

Was der Ethiker und Psychologe vor allem wünschen muß, das ist, daß das Kind Kind bleibe; warum denn vorzeitig das Sinnen, Trachten und Streben, die Leidenschaften und Begierden des Erwachsenen in die Kinderseele tragen? Der Vortragende kann sich mit jenen Theorien, welche das Ausleben schon der Kinder verlangen, durchaus nicht ein- verstanden erklären und ebensowenig mit jener Form der Aufklärung, wie sie Dr. Friedjung hier vorgetragen hat. 1)

1) Der vorstehende Auszug gibt den Gedankengang der geistvollen und mit elementarer Gewalt wirkenden Rede Prof. Jodls nicht wieder, wie ich als Referent freimütig bekennen muß. Ich schreibe die obigen Zeilen nach mehreren Wochen aus dem Gedächtnis nieder.

380 B. Mitteilungen.

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Regierungsrat Professor Dr. L. Burgerstein: Die vorbeugende Be- lehrung der Kinder und Adoleszenten ist eine schwierige Angelegenheit. Die Notwendigkeit besteht, da schließlich jedermann weiß, aber die aller- meisten aus unreiner Quelle geschöpft haben und Ausbleiben der Be- lehrung in dem Moment gefährlich zu werden beginnt, als das Kind aus natürlicher Wißbegierde frägt und zu merken beginnt, daß man ihm etwas verheimliche. Die beste vorbeugende Belehrung wäre jene durch kluge liebende Eltern, aber wie soll man die Masse für diese Arbeit gewinnen, wie viele Eltern sind dazu befähigt und gewillt? Materielle Möglichkeit der Massenbelehruug ist mit Zuhilfenahme der Schule gegeben, aber jede solche Belehrung hat eine Reihe kritischer Seiten, nicht zum mindesten die, daß, wenn sich die Belehrung nicht nur auf jene hinsichtlich der Masturbation erstreckt, der menschliche Geschlechtsakt mindestens geahnt werden wird; und darin liegt eine kritische Seite, sofern schulmäßige Belehrung in einer Altersphase gegeben wird, in welcher normale Ge- schlechtsbetätigung noch nicht physiologisch ist; ist jene Betätigung aber eingetreten und dann (Alter) gewiß irregulär, so ist der Augenblick vor- beugend zu belehren versäumt. Daß aber dennoch der Weg an der Volksschulgrenze, also für die Masse gangbar ist, hat die in einigen Fin- ländischen Städten in den allerletzten Jahren betretene Praxis gezeigt Volksschule, also trotz der niederen Altersstufe, weil die Masse später nicht mehr zu haben ist.

Blindenanstaltsdirektor Heller spricht sich gegen die sexuelle Auf- klärung der Kinder aus. Die Frage müsse zunächst psychologisch erfaßt werden. Ein über sexuelle Dinge aufgeklärtes Kind sei kein Kind mehr. Es gibt eine große Zahl ethisch hochstehender Menschen, die es gar nicht über sich bringen, mit Kindern über sexuelle Dinge zu sprechen. Es handelt sich hier nicht um ein » Vorurteile, sondern um eine als Hemmung sich geltend machende sittliche Norm. Was den Kindern gesagt wird, ist schließlich doch nicht erschöpfend, bis zu den letzten Dingen vorzu- dringen, widerraten selbst die Anhänger der Aufklärung. Redner ist durchaus nicht der Ansicht des Vortragenden, daß alle Fragen der Kinder beantwortet werden müssen. Bei vielen wird durch die Aufklärung nichts anderes erregt, als Neugierde, bei anderen geradezu Lüsternheit.

Dozent Dr. Ullmann kann sich der Ansicht des Vorredners nicht anschließen und spricht sich für die sexuelle Aufklärung aus. Er be- gründet einige Thesen, deren wichtigste hier wiedergegeben werden sollen:

1. Die Frage der sexuellen Aufklärung der Jugend ist wie bisher auch bis auf weiteres zunächst eine Aufgabe der häuslichen Erziehung, weiterhin erst als ein Gegenstand des Schulunterrichts zu behandeln.

2. Die Gefahr sexueller Verirrungen der Schuljugend wird am wirk- samsten und auch zweckmäßigsten durch solche Maßnahmen bekämpft, welche eine freie, gesunde und volle physische Entwicklung der Kinder ermöglichen und auch geeignet sind, der so häufigen hereditären Anlage zur Neurasthenie und damit der ersten und wichtigsten Quelle der sexu- ellen Verirrung entgegenzuwirken.

3. Von ärztlicher, vielfach auch von pädagogischer Seite steht dem

2. Über die sexuelle Aufklärung der Kinder. 81

nichts entgegen, Schilderungen der Generations- und Entwicklungsvorgänge, des pflanzlichen und tierischen Lebens mit Ausschluß der physiologisch- sinnlichen Liebeswerbungen in allen Altersstufen den schulpflichtigen Kindern vorzutragen.

Der Vortragende setzt sich ferner nachdrücklich für einen dem Lehr- plan neu einzufügenden obligaten Unterrichtsgegenstand: »Somatologie und Hygiene« ein und wünscht das baldige Inslebentreten der schulärztlichen Institution. Auch der Aufklärung durch die Eltern ist durch Abhaltung von Elternabenden und Empfehlung guter Aufklärungsschriften seitens der Schule der Weg zu weisen. Der Vortragende nimmt schließlich zur Frage der Schulreform im allgemeinen Stellung und wünscht eine zeit- gemäße Reform des Religionsunterrichts, dessen Lehrtexte manches ent- halten, was mit der Aufklärungsfrage in Beziehung steht.

Dr. Theodor Heller meint, daß die Aufklärungsfrage zwei Probleme enthält, deren strenge Scheidung notwendig ist: Das biologische und das hygienische. Das letztere, die Verhütung der Geschlechtskrankheiten be- treffend, das weitaus wichtigere, hat aber mit dem Kindesalter nichts zu tun, was der Vortragende im Gegensatz zu Dr. Friedjung betont.

Im übrigen erscheint ihm die häufige Aufrollung des Aufklärungs- problems als symptomatisch für die Erziehungsnot unserer Tage. Statt zu erziehen, d. h. durch vorbildliches, sittliches Handeln anzuleiten, werde allzuviel geredet. Der Vortragende hält als das Wichtigste in Hinblick auf die Gefahren sexueller Verirrungen rechtzeitige Erziehung des Willens, vernünftige Eindämmung des Trieblebens. Auf der obersten Stufe einer planmäßig eingeleiteten und durchgeführten Erziehung erscheint ihm die sexuelle Aufklärung möglich und nützlich. Ganz und gar paradox er- scheint ihm aber die Sache dann, wenn es die Verhältnisse mit sich bringen, daß statt Erziehung Aufklärung gesetzt werde. Dann ist die Gefahr naheliegend, daß das sexuelle Moment oft vorzeitig in den Vorder- grund gerückt werde und Begierden entbrennen, wo sie verhütet werden sollen. Speziell bei psychopathischen Kindern kann dies leicht statt- finden, wie der Vortragende aus Fällen seiner Erfahrung weiß. Die Ver- hütung sexueller Gefahren ist schließlich auch Sache einer richtigen körper- lichen Erziehung. »Mehr bewegen, weniger aufklären

Kustos Dr. Frankfurter: Die Begriffe »sexuelle Aufklärung« und »Kinder« sind unvereinbar. Es ist eine völlige Verkennung der kind- lichen Natur, daß ein Kind und nur von diesem ist hier die Rede aus der allmählichen Belehrung über die Fortpflanzung von Tieren und Pflanzen den Übergang und Schluß auf die Menschen mache. Eine weitere Unklarheit besteht über den Zweck der ganzen Sache. Warum sollen eigentlich Kinder aufgeklärt werden? Ein Interesse für eine solche Be- lehrung besteht, wie der Vortragende aus eigener Erfahrung weiß, bei unverdorbenen Kindern nicht. Es fehlt ihnen auch die nötige geistige Reife. Sexuelle Gefahren (Onanie) werden durch eine vorzeitige Auf- klärung nicht vermieden, vielleicht in manchen Fällen erst erregt. Wenn aber geglaubt wird, daß durch die sexuelle Aufklärung der Kinder Ge- schlechtskrankheiten verhütet werden können, so ist dies eine grobe

282 B. Mitteilungen.

Täuschung und Dr. Friedjung hat in dieser Sache, über welche die Mei- nungen so weit auseinandergehen, nicht das Recht zu der apodiktischen Sicherheit, mit der er wie ein Dogma die Notwendigkeit der sexuellen Aufklärung zur Verhütung der Geschlechtskrankheiten verkündigt. Bei der reiferen Jugend kann von einer Aufklärung nicht die Rede sein, höchstens von einer Belehrung, und hier gibt der Vortragende der Be- lehrung aus Büchern aus verschiedenen Gründen den Vorzug vor der mündlichen Belehrung.

Das Storchmärchen hält der Vortragende für entbehrlich, aber schließ- lich auch nicht für ein Unglück. Die ganze Aufklärung verliert ihre Be- deutung, wenn man mit den Kindern von natürlichen Dingen, wie Geburt und Schwangerschaft, unbefangen spricht. Der Vortragende hat als Kind die Bibel im Urtext gelesen und auch die »verfänglichen Stellen« daselbst, ohne sich besondere Gedanken darüber zu machen. Wozu die Kinder erst im Unklaren lassen oder falsch belehren und dann, wenn sie an den Storch nicht mehr glauben, mit der halben Wahrheit kommen, die sie schließlich doch nur zu weiterem Nachgrübeln, zu Nachforschungen auf eigene Faust veranlaßt? In zwei Dingen stimmt der Vortragende mit Dr. Friedjung überein: 1. daß er die Schule von der sexuellen Aufklärung befreit wissen will und 2. daß er die in neuerer Zeit für diesen Zweck entstandenen Anweisungen ablehnt.

Dr. Ludwig Teleky betont, daß es sich bei der Frage nach der sexuellen Aufklärung der Jugend um eine Frage handle, die nur für einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung irgend eine Bedeutung habe, und zwar nur für bestimmte Schichten des Bürgertums in den Städten. Die gesamte Landbevölkerung und die städtische Arbeiterbevölkerung habe an diesen Fragen deshalb kein Interesse, weil hier durch die bestehenden Verhält- nisse die Aufklärung sehr zeitig erfolge. Wenn ein Vorredner meint, diese Aufklärung über die sexuellen Verhältnisse solle durch die Eltern und erst dann erfolgen, wenn die Jünglinge und Mädchen die volle geistige Reife und Selbstbeherrschung erlangt haben, und zu glauben scheint, daß bisher im Bürgertum die Aufklärung in solcher Weise erfolgt sei, so frage Redner die Anwesenden, wer von ihnen denn in solcher Weise und zu solcher Zeit von seinen Eltern aufgeklärt worden sei?

Was aber die Frage anbelangt, wie die Schule eingreifen solle, so sei es sehr wichtig, daß die 14jährigen Knaben und Mädchen, ehe sie aus der Schule ins Leben treten, darüber aufgeklärt werden, welche Ge- fahren ihnen durch einen frühzeitigen und ungeregelten Geschlechtsverkehr drohen. Aufgabe der Schule sei es, diese Aufklärung zu vermitteln.

Direktor Dr. Ortmann will den hygienischen Wert der Aufklärung nicht unterschätzen, tritt jedoch bauptsächlich vom ethischen Standpunkte für sie ein: erst wenn diese Dinge in der Erziehung und zwar Haus- und Schulerziehung von allem Anfang an ohne Lügen und ohne Ge- heimtuerei behandelt werden, werde eine reinere und verständigere Auf- assung des ganzen Geschlechtslebens, als sie jetzt herrschend sei, wieder möglich werden. Referent zeigt im einzelnen, wie Haus und Schule gegenüber den zwei Teilfragen vorgehen müßten, in die das Problem zer-

2. Über die sexuelle Aufklärung der Kinder. 283

fällt, nämlich gegenüber der Frage der Mutterschaft und der der Zeugung: die erste biete gar keine Schwierigkeiten, wenn man sich nicht künstlich welche schaffe; und das richtige Wissen von den ernsten Tatsachen der Mutterschaft (die ja nicht nur physische, sondern auch tief und weit reichende seelische Tatsachen sind) bilde zugleich eine hochwichtige Vor- bereitung für die Beantwortung der zweiten Frage: hier sei die Art der Mitteilung allerdings schwieriger, lasse sich aber doch auch ganz gut finden.

Im ganzen gelte folgendes: wenn man sich (mit Geschick und Takt, die ja aber in der Erziehung überall notwendig sind) einfach immer an die Wahrheit hält, dann wird man eine besondere, absichtsvolle » Auf- klärung« nie nötig haben, am wenigsten mit langatmigen theoretischen Auseinandersetzungen unkindlicher Art. Man braucht das sexuelle Thema im Verkehr mit den Kindern gar nie zu suchen, man muß es nur, wenn und wo es kommt, unbefangen nehmen wie irgend ein anderes, ihm nicht ausweichen und sich nicht davor fürchten. Zu vermeiden und zu fürchten sind nur Unwahrheit und Antwortverweigerung, denn sie unter- graben das Vertrauen und stiften dadurch weitgreifenden Schaden, der oft nie wieder gut gemacht werden kann.

Dr. Emmerich Adler: Nach meiner individuellen Überzeugung ist die Lösung der sexuellen Aufklärungsfrage keine dringende; ich bin weiterhin der Meinung, daß eine jede Aufklärung der Kinder in Bausch und Bogen, gruppen- oder klassenweise, generalisierend vorgenommen, zu verwerfen sei. Wer eine sexuelle Aufklärung nicht wünscht, der hat auch das Bedürfnis nicht darnach und in einem solchen Falle müssen wir uns von dem Grundsatze leiten lassen: Quieta non movere. Anders verhält es sich, wenn ein Kind die Aufklärung verlangt. Da heißt es streng in- dividualisieren und vorsichtig an die Arbeit gehen. Je nach dem Alter, Reife, Intelligenzgrade des Kindes wird man bald den einen, bald den anderen, dem Einzelfalle eben entsprechenden Weg einschlagen müssen.

Was die Methodik der Aufklärung betrifft, so sind die Meinungen darüber sehr divergierend. Ich kann mich mit dem Vorschlag des Herrn Dr. Friedjung, insofern er histogenetische Probleme, die komplizierte Zellenlehre mit all ihren Kernteilungen und Zellvermehrung zur sexuellen Aufklärung der Kinder heranziehen will, nicht einversianden erklären; ich könnte mich aber auch nicht entschließen, den anderen Weg, den uns Herr Prof. Jodl angedeutet hat, zu betreten. Ein jeder von uns weiß es, wie rege die kindliche Phantasie, wie ausgeprägt der Wissensdrang, die Neugierde und das Bestreben alles zu ergründen bei Kindern ist, und da werden Sie es wohl begreifen, daß es nicht gut geht, Kinder bis zum Schleier des Lebensgeheimnisses zu führen und sie dort ganz einfach sich selbst zu überlassen. Ein halbwegs vernünftiges, denkendes Kind wird dadurch, erst recht zur Neugierde gereizt, das Bestreben haben, den Schleier zu lüften, und was ist natürlicher als, wenn seine eigene Kräfte, seine jugendliche Phantasie dazu nicht ausreichen und er an seine Erzieher, Eltern, Lehrer, die ihn auf dem halben Wege stehen gelassen haben, nicht mehr herantreten kann, die Mithilfe seiner erstbesten Um-

284 B. Mitteilungen.

gebung der dienstbaren Geister oder des älteren, viel zu viel auf- geklärten Freundes in Anspruch zu nehmen. Daß diese Art der Auf- klärung unseren Intentionen nicht entsprechen kann und daß wir durch ein solches Vorgehen gerade das heraufbeschwören, was wir vermeiden möchten, ist doch ganz klar.

Ob die sexuelle Aufklärung der Kinder im Elternhause durch die Eltern, oder in der Schule durch deren Organe durchgeführt werden soll, darüber sind die Meinungen auch sehr verschieden. Alle sind wir aber darin einig, daß diese delikate Angelegenheit mit viel Takt, Intelligenz, Liebe und Vernunft in Angriff genommen werden muß. Leider muß ich es gestehen, daß ich einer großen Zahl von Eltern diese oben auf- gestellten Postulate absprechen muß, und ich will mich gar nicht weiter darauf einlassen, was mit denjenigen heranwachsenden Kindern geschehen soll, die die Wohltat einer Erziehung, einer elterlichen Fürsorge überhaupt nicht genossen haben. Es bleibt uns also in manchen Fällen doch nichts anderes übrig als die Schule anzurufen, deren Organe einheitlich durch- gebildet sind und bei denen wir die obigen Postulate eher voraus- setzen können. Sie sehen also, daß wir Schritt und Tritt auf neue Schwierigkeiten stoßen. Ich setze aber den Fall, wir würden all diese Schwierigkeiten aus dem Wege geräumt haben und wir hätten uns schon über die Art und Weise der sexuellen Aufklärung geeinigt, so müßten wir uns noch immer die Frage vorlegen: wozu die ganze Aufklärungsfrage und was wollen wir mit der sexuellen Aufklärung der Kinder bezwecken? Sehr großen, sanguinischen Hoffnungen dürfen wir uns nicht hingeben, damit als prophylaktisches Mittel das Böse hintanzuhalten. Mächtiger als die Philosophie, Medizin und die Bestrebungen zur Bekämpfung der Ge- schlechtskrankheiten sind die menschlichen Leidenschaften: Geschlechtstrieb, Sinnlichkeit, Liebe. Sie sind mit dem Menschen innig verbunden und haben ungeachtet der Hindernisse und bösen Folgen ihren Siegeszug durch alle Völker, zu allen Zeiten gemacht und werden sich auch in der Zu- kunft nicht aufhalten lassen.

Wollen wir aber die sexuelle Aufklärung der Kinder hinsichtlich der menschlichen Entstehung, um die Lüge des Storchmärchens, an das kein Kind schon in der frühen Jugend mehr glaubt, aus der Kindererziehung zu verbannen, so müssen wir dessen ethischen Wert immerhin anerkennen.

Wir leben im Jahrhundert des Kindes. Vieles ist in den letzten Jabren für das Kind geschehen, viel wird noch in der Zukunft geschehen müssen. Man geht emsig an die Arbeit, als wollte man die Sünden, die Versäumnisse vergangener Zeiten jetzt auf einmal gutmachen. Überrumpeln läßt sich so etwas nicht! Und mit Schlagworten, wie die sexuelle Auf- klärung der Kinder, kommen wir nicht zum Ziele; vielmehr muß auch weiterhin in der Kindererziehung nebst den idealen Grundsätzen auch dem Rationellen sein Platz eingeräumt werden. Ich betonte gleich an- fangs, daß die Lösung der sexuellen Aufklärungsfrage der Kinder nicht drängt. Es sind bedeutend wichtigere soziale Probleme, die mit der Kindererziehung indirekt zusammenhängen und die der Lösung harren.

3. Fortbildungskurse für Heilpädagogik und Schulhygiene. 285

3. Fortbildungskurse für Heilpädagogik und Schul- hygiene.

Die süddeutsche Gruppe des Vereins für christliche Erziehungswissen- schaft veranstaltet vom 15.—24. Juli in München einen Fortbildungskurs für Heilpädagogik und Schulhygiene mit folgendem Programm:

1. Die Heilpädagogik im Ganzen der Erziehungsarbeit. Hofrat Uni- versitätsprofessor Dr. phil. Otto Willmann. (1 Vortrag.)

2. Die psychiatrischen Grundlagen der Heilpädagogik. Privatdozent Dr. med. Specht-München. (4 Vorträge.)

3. Grundfragen der Willensbildung mit besonderer Beziehung auf heilpädagogische Probleme. Privatdozent Dr. phil. W. Förster- Zürich. (2 Vorträge.)

4, Pädagogische Gesichtspunkte für die Behandlung Schwachsinniger. Hilfsschullehrer F. Weigl-München. (2 Vorträge.)

5. Der Religionsunterricht in der Schwachsinnigenschule Anstalts- direktor M. Herberich-Gemünden. (2 Vorträge.)

6. Der erste Leseunterricht bei den Schwachsinnigen (mit Berück- sichtigung des Artikulationsunterrichtes). Schulinspektor J. Schips-Nere- heim. (2 Vorträge.)

7. Der Rechtschreibunterricht in der Hilfsschule in seinen Beziehungen zum Lautier- und Sprechunterricht. Hilfsschullehrer A. Schubeck-Mün- chen. (2 Vorträge.)

8. Der Rechenunterricht bei Schwachsinnigen. Anstaltslehrer Au- finger-Ursberg. (2 Vorträge.)

9. Der Handfertigkeitsunterricht in der Hilfsschule. Hilfsschullehrer A. Schubeck-München. (1 Vortrag.)

10. Blindenfürsorge und vorbeugende Maßnahmen gegen Erblindung. Hauptlehrer Anton Schaidler-München. (1 WOHER und Führung durch das Kgl. Central-Blindeninstitut.)

11. Was sollen Lehrer und Schulinspektoren von der Krüppelfürsorge wissen? Universitätsprofessor Dr. med. Fritz Lange-München. (1 Vor- trag mit Vorführung von geheilten und unbehandelten Kranken.)

12. Das allgemein Wissenswerte von der Taubstummenfürsorge. Taubstummenlehrer Gg. Pongratz-München. (1 Vortrag mit praktischen Vorführungen und Besichtigung des Kgl. Central-Taubstummeninstituts.)

13. Organisation der heilpädagogischen Fürsorge. Hilfsschullehrer F. Weigl-München. (2 Vorträge.)

14. Einführung in die Aufgaben der Jugendfürsorge. Regierungsrat Braun-München. (1 Vortrag.)

15. Grundzüge der Schulhygiene. Schularzt Dr. med. J. Weigl- München. (4 Vorträge.)

16. Besuch einer Münchner Hilfsschule mit praktischen Vor- führungen und Besuch der Schulabteilung der Ausstellung Mün- chen 1908.

Das Honorar für Teilnehmer am ganzen Kurs beträgt 10 M (für Mitglieder ermäßigt 5 M). Außerdem werden Halbtagskarten à1 M ausgegeben werden.

286 C. Literatur.

Anmeldungen nimmt jetzt schon entgegen die Geschäftsstelle des Vereins für christl. Erziehungswissenschaft, Lehrer F. Weigl- München, Erhardstraße 31/1

4. Personalnachricht.

Unser Mitarbeiter und eifriger Förderer des Hilfsschulwesens in Berlin, der Königl. Kreis- und Stadtschulinspektor Schulrat Dr. Paul von Gizycki ist nach langem Leiden am 28. März 1908 in Berlin gestorben.

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C. Literatur.

1. Batt, John H., Dr. Barnardo: The Foster-Father of »nobodys chil- dren«, A Record and an Interpretation. London, S. W. Partridge & Co., 1904. 196 8.

2. Stead, W. T., Dr. Barnardo: The Father of »nobodys children«. A sketch from »Review of Reviews«. London, Office. 28 S.

3. Code, George, These forty Years«. 40th Annual Report of Dr. Barnardo’s Homes: National incorporated association. Head Offices of the Homes: 18 to 26. London, Stepney Causeway, E., 1905. 64 S.

4. Night and Day, The National Waif’s Magazine. Vol. XXVII, No. 234. Lon- don 1905.

5. Bode, Dr. Wilhelm, Dr. Barnardos Liebeswerke in London. Volks- wohlschriften Heft 3. Dıesden, O. V. Böhmert. 32 S. 0,60 M.

In dankenswerter Weise hat Herr Ufer den Lesern dieser Zeitschrift eine Skizze über den hochverdienten Londoner Kinderfreund Dr. Barnardo zugänglich gemacht (XI. Jahrg. S. 57—59). Wir sind nunmehr in der glücklichen Lage, einige Schriften und eine Zeitschrift, die eingehend über den seltenen Mann und seine reiche Wirksamkeit berichten, anzuzeigen. Welche Energie und Tatkraft demselben innewohnte, beweist der Umstand, daß im Jahre seines Todes (1905) in den ver- schiedenen Heimen und Anstalten die gewaltige Summe von 2412 Kinder beiderlei Geschlechts im schulpflichtigen Alter Aufnahme fanden. Die Gesamtzahl aller zu versorgenden Zöglinge betrug 9683 am 1. Januar 1906. Wo in der ganzen Welt findet sich wohl ein ähnliches Werk? Und was für arme Wesen werden da, so- zusagen, von der Straße aufgelesen! Keins wird ausgeschlossen, jedes darf kommen und zwar zu jeder Zeit: Denn Tag und Nacht stehen die Barnardo-Heime den verlassenen heimatlosen Kindern offen. Gesunde und Kranke, Schwachsinnige und Krüppel, Unheilbare und Verwahrloste, Säuglinge und junge Burschen, alle strömen sie in der Londoner Zentrale (Stepney Causeway, E., 18—26) zusammen und werden dann den einzelnen Internaten zugeteilt. Und wie zweckmäßig ist das ganze Riesen- werk organisiert. Da gibt es keine großen öden Kasernen und finsteren Höfe, sondern in allen Heimen pulsiert frisches, lichtes und warmes Familienleben. Ge- radezu ans Wunderbare grenzen die Erfolge, denn von den im Laufe von 40 Jahren aufgenommenen 59384 Kindern haben sich nur wenige nicht bewährt; zahlenmäßig läßt sich dieses nicht feststellen. Im Jahre 1905 sind ihrer allein 1314, und zwar 981 Knaben und Jünglinge, und 333 Mädchen, übers Meer nach Kanada aus-

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C. Literatur. 287

gewandert, um sich dort eine dauernde Heimat zu gründen. Enorm sind auch die Ausgaben, die dieses Werk der Kinderrettung gekostet hat. In den ersten 2 Jahren 1866—1868, waren es nur £ 214 = 4385 M, 1905 aber £ 196286,11 = 3 013847,70 M; die Ausgaben betrugen in 40 Jahren Æ 3315932,13 == 67810759,40 M. Die Aus- bildung der vielen jugendlichen Individuen in zahllosen Werk- und Arbeitsstätten ist gleichfalls aufs beste in die Wege geleitet worden. Alle, denen aus irgend einem Grunde ein Handwerk nicht zuträglich ist, werden in der Land- und Garten- wirtschaft unterwiesen, und zu diesem Zwecke zum großen Teil nach Amerika ge- schickt.

Aus der Geschichte der Erziehung weiß man, wie oft dergleichen nützliche Anstalten, nach dem Tode ihres Gründers in sich selbst zusammenfielen. Dieses Werk wird, soweit Menschen sehen, nicht untergehen. Schon zu seinen Lebzeiten hatte Barnardo, klug wie er war, ein Netz von Ausschüssen und Komitees gebildet, an deren Spitze die Königin von England steht. Weiter hatte er schon vor Jahren einen Generalfonds gesammelt, zu dem nach seinem Tode noch ein »National- Memorial-Fund« hinzugekommen ist. So wird denn fort und fort die Überschrift über der Tür der Zentrale lauten: »No Destitute Boy or Girl Ever Refused Ad- mission

Von den vorliegenden Schriften enthält die erste eine ausführliche, die zweite eine kürzere Beschreibung des Lebens und Wirkens von Dr. Barnardo. Das dritte Buch ist ein Jubelbericht, anläßlich des vierzigjährigen Bestehens des Erziehungs- werkes, aus der Feder eines seiner Sekretäre. No. 4 unter dem bezeichnenden Titel »Nacht und Tag« stellt das offizielle periodische Organ der Anstalten dar. Die letzte Schrift hat der bekannte Soziologe Dr. Bode schon vor Jahren verfaßt; sie scheint aber die einzige deutsche Schrift über Dr. Barnardo zu sein, abgesehen von einigen größeren Aufsätzen, die in der Jugendfürsorge (Jahrg. 1907) und in Schäfers Monatsschrift für innere Mission (Jahrg. 1906) erschienen sind. Ein paar Worte Barnardos, Bode S. 7, scheinen uns bemerkenswert zu sein, darum mögen sie hier stehen: »Mein Vater war ein Deutscher, und ich habe eine große Achtung vor den Deutschen. Wissen Sie, warum?« »Weil in Deutschland ein so schönes Verhältnis zwischen Eltern und Kindern herrscht.x Auf einen Einwand Bodes, daß dieses nicht immer der Fall sei, bemerkte er weiter: »O doch, mein Vater verehrte seine Eltern, und so sind wir zur Verehrung unserer Eltern herangewachsen, mehr als die englischen Kinder sonst.«e Man sieht daraus, daß ein edler Mann nicht nur eine ganze Nation in guten Ruf bringen, sondern auch durch das Vorbild seiner Tugend unermeßlichen Segen stiften kann.

Die Generalleitung der gesamten Stiftungen Barnardos ruht zur Zeit in den Händen eines seiner bedeutendsten Mitarbeiter, William Baker, eines hervor- ragenden Pädagogen.

Ketschendorf-Spree. M. Kirmsse.

Scupin, Ernst und Gertrud, Bubi’s erste Kindheit. Ein Tagebuch über die geistige Entwicklung eines Knaben während der ersten drei Lebensjahre. Mit vier Porträts und Nachbildungen von Kinder-Zeichnungen. 8%. IV, 263 S. Leipzig, Th. Grieben, 1907. 4 M, geb. 4 M 80 Pf.

Inhalt: Tagebuch. Die Unterscheidung der Farben. Verzeichnis der bis zum

Ende des 3. Lebensjahres gebrauchten Worte. Chronologische Übersicht. Sach-

register. Nachbildungen von Zeichnungen.

Preyer hatte noch 1893 gesagt: »Soviel mir bekannt, bin ich aber bis jetzt

288 C. Literatur.

der einzige, welcher eine fast alle Tage umfassende Beobachtungsreihe vom Anfang an bis gegen Ende des dritten Lebensjahres an einem Kinde durchgeführt hat. Ich rate sehr zur Wiederholung dieser Arbeit, denn sie erhöht die Freude am Kinde und fördert die Kenntnis der Seelenentwickelung, auch wenn der Beobachter nicht Physiologe ist.« Und er hatte mit dieser Forderung nur zu sehr Recht: Denu ein Fundament der Kinderseelenkunde wird für alle Zeiten das Tagebuch bleiben und es steht ihm sogar noch eine große und wichtige Entwicklung beyor: Dem all- gemeinen Tagebuch wird das Spezial-Tagebuch über einzelne Probleme zur Seite treten, deren über die Entwicklung der Sprache ja schon vorliegen. Aber leider ist Gelegenheit und Neigung, Tagebücher zu führen, so gering, daß mit Shinn, Hogan und Stern die in erster Linie in Frage kommende Nachfolge Preyers fast schon erschöpft ist.

Als von seiten des Kosmos- Verlags die Ankündigung meiner kleinen »Seele des Kindes« erfolgte, erhielt ich u. a. die Einsicht in ein Tagebuch angeboten, welches eine Mutter mit der Vorbildung einer wissenschaftlichen Lehrerin in An- lehnung an W. Preyers »Seele des Kindes« geführt habe. Obwohl ich gegen die Angebote von Tagebüchern begeisterter Mütter etwas mißtrauisch bin, glaubte ich hier doch eine Zusage wagen zu dürfen und war bald überrascht, einen ganz in der Stille gewachsenen Versuch vor mir zu sehen, der in der Nachfolge Preyers unzweifelhaft einen Rang einnimmt. Ich empfahl dem Verfasser-Ehepaar die Veröffentlichung. Mit Sorgfalt bearbeitet liegt sie jetzt vor.

Nach dem Datum des Kalenders berichtet das Buch in anziehender Sprache die Fortschritte, Taten und Aussprüche eines geweckten, gemütvollen Knaben, Über- sichten und Register heben die Kernpunkte noch einmal heraus. Im Verhältnis zu Preyer treten die psychophysischen und sinnesphysiologischen Beobachtungen allerdings zurück, die Beobachtungen der Sprache hingegen in den Vordergrund, ja auf ihr ruht sogar, nicht zum Nachteil des Buches, das Hauptgewicht. Diese Beobachtungen sind in dem anhangsweisen »Verzeichnis der Wortes auch noch- mals besonders zusammengestellt. Das Buch hat etwas von der Farbe eines Spezial-Tagebuchs der Sprachentwicklung. Eingehender hätte ich selbst im Interesse der Sprachbeobachtung die Beobachtung der Ausdrucksbewegungen. Mimik und Gebärden, gewünscht. Über allgemeine Konstatierungen, wie das Kind »wechselte beständig sein Mienenspiel«, es »drücke Zorn, Eigensinn, Furcht usw. aus«, ist hierin leider meist nicht hinausgegangen. Das Datum des Kalenders hätte schon im Tagebuch selbst in Jahre, Monate, Wochen und ev. Tage ab der Geburt umgerechnet werden müssen, nicht erst in der chronologischen Übersicht. Das erschwert für gewisse Fälle die Benutzung. Im übrigen wünschen wir den Verfassern für ihren Ernst und Fleiß einen vollen Erfolg.

Würzburg. Wilhelm Ament.

Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensaıza,

Die Unterzeichneten erfüllen hiermit die schmerz- liche Pflicht, unsern Lesern und Mitarbeitern eine doppelte Trauernachricht zu melden.

1. Am 3. Juni d. J. entschlief Herr Verlagsbuchhändler

Friedrich Mann zu Langensalza im Alter von 73 Jahren.

2. Am 25. Juni d. J. folgte ihm in die ewige Heimat der Mitbegründer und Mitherausgeber unserer Zeitschrift Herr Medizinalrat

Dr. med. Julius Ludwig August Koch

zu Zwiefalten

im Alter von 67 Jahren. Das Hinscheiden beider ist für unsere Zeitschrift und

ihre Bestrebungen ein schmerzlicher Verlust, wie wir im nächsten Hefte eingehend darlegen werden.

Die Schrifileitung und der Verlag der Zeitschrift für Kinderforschung.

A. Abhandlungen.

1. Der Tic im Kindesalter und seine erziehliche Behandlung. Von Gustav Dirks. (Schluß)

1. Heilbarkeit und Behandlung des Tics.

Man hat die verschiedensten Therapien versucht, und die erzielten Erfolge und Nichterfolge können als weitere Belege dafür gelten, inwiefern die Auffassung des Tics als psychisches Leiden richtig ist.

Man hat die Tics durch chirurgische Eingriffe zu heilen versucht, ohne indes den gewünschten Erfolg gehabt zu haben. Desgleichen hat die Behandlung mit Medikamenten zu keinem eigentlichen Resultat geführt. Brompräparate sollen allerdings in einigen Fällen eine gute Wirkung ausgeübt zu haben. Aber mit der Herabminderung der Er- scheinungen nervöser Bewegung mindert es auch die seelische und leibliche Leistungsfähigkeit schlechthin herab. Ähnliches wird be- richtet von der Anwendung der Elektrizität. Hydrotherapie und Massage haben keine Heilung bewirkt, wohl aber können sie die Heilung unterstützen.

Der Tic ist eine psycho-motorische Störung, darum hat die eigentliche Behandlung des Tics psycho-motorisch zu sein. Die Be- handlung hat die psycho-motorischen Abweichungen vom Normalen, welche beim Tickranken vorliegen, zu beseitigen. Sie hat sich zu

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Dies: Der Tic im Kindesalter und seine erziehliche Behandlung. 291

richten 1. gegen die überkräftigen Träger der Ticbewegung, 2. auf Heranbildung eines kräftigen, gleichmäßigen, bewußten Willens, 3. auf die Verbindung der verschiedenen Zentren miteinander, insbesondere mit dem motorischen und Herstellung des psychischen Gleichgewichts. Die drei unterschiedenen Punkte werden in der Praxis ineinander- fließen, dennoch ist eine Unterscheidung vorteilhaft.

Also erstens sind Übungen zu verordnen, welche die Träger der Ticbewegungen, die überkräftigen Ganglien, schwächen, relativ und absolut. Beides geschieht durch Übungen, welche die angrenzenden Ganglien in Anspruch nehmen. Dadurch werden diese kräftiger und ziehen einen größeren Teil der Nahrungszufuhr an sich. Die Folge ist Stärkung der umliegenden Ganglien und Schwächung der über- wertigen. Welche Übungen erfüllen nun diese Aufgaben? Es sind dem Tic ähnliche Funktionen desselben Organs. Handelt es sich um einen Armtic, so bestehen die Heilübungen in angrenzenden Bewegungen des Armes. Für einen Halstic werden Bewegungen des Halses ver- ordnet. Bei einem Sprachtic sind Übungen der befallenen Sprach- organe am Platze. Insbesondere kommen hier auch Atemübungen in Betracht. !) P

Vor allen andern sind von den Heilübungen diejenigen wirksam, welche den Ticbewegungen entgegengesetzt sind; denn dadurch werden die Gegner der Ticganglien gestärkt, die die Hemmung zu besorgen haben.

Von großer Bedeutung sind auch die Spiegelbewegungen. Ich nehme in jede Hand einen Stift und bringe sie aufs Papier. Ich be- ginne mit der rechten zu schreiben und überlasse die linke sich selbst, gebe ihr allenfalls nur den Impuls sich mitzubewegen. Dann schreibt die linke mit derselben Geschwindigkeit wie die rechte, nur in Spiegelschrift, ohne daß ich es jemals geübt habe. Die Schreib- bewegungen also, die die rechte sich mit großer Mühe und in lang- jähriger Übung angeeignet hat, sind auf die linke ohne mein Zutun unbewußt im Spiegelbild übergegangen. Will ich das Schreiben will- kürlich ausführen, so folgt die linke weit schlechter und zeigt sich unbeholfen. Normal gerichtete Schrift vollführt die linke sehr mangel- haft, wenn überhaupt aus.

Ich halte meine Hände so vor mir, daß sich die ausgestreckten Zeigefinger aneinanderlegen. Nun ist es sehr leicht, die rechte und linke Hand so kreisen zu lassen, daß die linke das Spiegelbild der Bewegung der rechten darstellt. Dagegen ist es sehr schwer, zu

1) Vergl. Feree und Memper S. 339 u. f. 19*

292 A. Abhandlungen.

gleicher Zeit die rechte auf-auswärts und die linke aufwärts dem Körper zugewandt kreisen zu lassen.

Diese und andere Erscheinungen zeigen deutlich, daß die Funk- tionen einer Körperhälfte die andere stark beeinflussen, nämlich sich in latenter Form auf die andere übertragen, jedoch derart, daß sie als Spiegelbild erscheinen, sofern sie ausgelöst werden. Mit andem Worten: Die Erregungszustände der Ganglien und ihre Assoziation rufen die gleichen Zustände und gleichen Assoziationen der ent- sprechenden Ganglien der anderen Körperhälfte hervor in einem Stärkegrad, der Veränderungen schafft, die man als Disposition be- zeichnet. Und nun die Anwendung.

Die Ganglien der gesunden Körperhälfte können die entsprechen- den der andern Körperhälfte im Kampf gegen die überwertigen Ganglien, die Träger des Tics, unterstützen und die übermäßig fest- gefügten Assoziationen durchbrechen helfen. Das Durchbrechen er- folgt durch Ausführung von Bewegungen, die dem Tic sehr ähnlich sind. Das ist für den Tickranken äußerst schwer und gelingt leichter wenn die gesunde Seite die Spiegelbewegung mitmacht.

Ich komme zum zweiten Punkt. Die Ticbewegung geht wider den Willen vor sich, dem Willen zum Trotz. Direkte Stärkung des Willens muß demnach neben der Schwächung der Träger des Tics versucht werden. Die Willensbildung hat eine allgemeine und spezielle zu sein. Sie hat die Aufgabe, den Willen zu stärken und die gewonnene Kraft gegen die Tics zu richten. Je mehr ich be- wußt tue, desto mehr stärke ich meine Handlungskraft. Ich gebrauche das Wort Handlungskraft, weil der Schwerpunkt auf das Handeln zu legen ist. Wollen ohne Handeln ist für den Tickranken nichts nütze, sondern schädlich. Bewußt handeln muß er. Darum hat er einen bis ins kleinste ausgeführten Tagesplan inne zu halten, zur bestimmten Zeit aufzustehen, innerhalb einer bestimmten Zeit angekleidet zu sein, zur festgesetzten Zeit bei Tisch zu sein und so fort, alles pünktlich nach vorgeschriebenem Plan.

Der Ticbehaftete hat täglich verschiedene Arbeiten auszuführen, Botengänge zu machen, Aufgaben zu lösen usw. Jedesmal wird vor- her die Zeit festgelegt, innerhalb der eine Arbeit fertiggestellt sein muß. Und auf Innehaltung derselben ist mit aller Macht zu sehen. Sie kann reichlich bemessen werden, denn um so größer ist die Freude, wenn die Arbeit schneller beendet worden ist. Jedes Ge- lingen stärkt, jedes Mißlingen schwächt.

Wird aber der Ticleidende einen solchen Plan innehalten? Das hängt von verschiedenen Umständen ab. Zunächst ist es von größter

Dires: Der Tic im Kindesalter und seine erziehliche Behandlung. 293

Wichtigkeit, das Wollen des Kranken zu gewinnen. Zu dem Ende ist es nötig, ihn zur Erkenntnis seines Zustandes zu bringen, sofern er nicht selbst darüber klar ist, und zwar ist derselbe so zu beleuchten, daß er ihn als abschüttelnswürdig, als unhaltbar empfindet, und ein Verlangen nach Besserung in ihm erzeugt wird.

Dieses Verlangen nach Besserung muß möglichst bis zu solcher Kraft entwickelt werden, daß der Leidende es aus eignem Antrieb ausspricht. Suggestiv-Fragen sind zu meiden, denn ein erzwungener oder oktroierter Ausspruch hat keinen Wert, weil er nicht moralisch verpflichtet, und weil er nicht den Widerstand beseitigt, den jedes Individuum naturgemäß jedem fremden Eingreifen, auch dem er- zieherischen Eingreifen, entgegensetzt; und damit wird dann der er- zieherische Erfolg zum mindesten in Frage gestellt. Es ist ja eigen- tümlich, wie sich dieselben Gesetze in den verschiedenen Erschei- nungen zeigen. Und so istz.B. ein Parlament ein durchaus zutreffendes makrokosmisches Bild der psychisch-physiologischen Vorgänge in der Hirnrinde eines Individuums. Die verschiedenen Parteien entsprechen ganz den verschiedenen Zentren. Die Parteien sind sich uneins. Sie bekriegen sich gegenseitig, und nicht selten wird so ein gedeihlicher Fortschritt verhindert. Doch erfolgt ein Angriff auf die Nation, so sieht man plötzlich allen Hader eingestellt, und einmütig richtet sich alles gegen den Angriff. Genau so ist es bei einem Individuum. Es ist deshalb die erste Aufgabe des Erziehers, sei er Pädagoge, Arzt oder Angehöriger, es fertig zu bringen, sich mit den guten Seiten im Tickranken zu verbinden, um mit diesen gemeinschaftlich die andern zu bekämpfen, übrigens eine Forderung die in der Erziehung All- gemeingültigkeit hat. Das aber ist nur möglich, wenn der Kranke in den vorhin gekennzeichneten Zustand versetzt wird. Ein gutes Mittel, den zu erreichen ist die Benutzung der »Kraft« und des mannhaften« als Ideal. Es ist mir wohl vorgekommen, daß das »Qute« als Ideal hingestellt, versagte, und mir ein Schüler antwortete: Ich will gar nicht gut sein. Dagegen habe ich noch nicht den Fall gehabt, daß einer nicht stark sein wollte. Und es ist das auch natür- Hch. Das Starkseinwollen ist zu tief in dem Wesen des sich ent- wickelnden Individuums begründet. Der Begriff »sich entwickelndes Individuum« ist geradezu unmöglich zu denken ohne den Drang zur Kraftentfaltung. Darum wird das Appellieren an »Kraft zeigen wollene kaum jemals versagen, und Sache des Erziehers ist es, das Gewünschte als etwas hinzustellen, an dem der Tickranke seine Kraft entfalten und entwickeln kann, und sich als denjenigen hinzustellen, der ihm dabei behilflich sein will.

294 A. Abhandlungen.

Alsdann ist es durchaus nötig, den Plan und die Übungen dem Grade seiner Willensschwäche und seinen Neigungen fein anzupassen. Lieber zu wenig als zu viel auf den Plan setzen, auch aus dem Grunde, um den Plan bald weiter ausgestalten zu können, denn der Ticleidende verlangt nach Abwechslung, und Fortschritt ist für jeder- mann ermutigend.

Drittens ist fast unentbehrlich und jedenfalls äußerst wertvoll ein Taschenbuch, wohinein für jeden Tag der Plan geschrieben ist, und worin ferner Rubriken gemacht sind für Eintragung der Zeit des Anfangs, der Dauer und des Endes einer Übung, einer Arbeit usw., sowie für eine etwaige Zensur, als auch, ob die Tics selten oder häufig auftraten.

Und endlich muß dem Ticleidenden ein fester, konsequenter Wille zur Seite stehen, der ihm über jedes Schwanken und Ab- schwenken hinweg hilft, ihm seinen Mangel an Willensstärke mehr oder weniger unbewußt ersetzt, bis sein Wille anfängt zu erstarken.

Hand in Hand mit diesen Übungen haben sodann die zu gehen, welche die Herrschaft des Willens über den Tic bewirken sollen. Sie betreffen das Einhalten absoluter Ruhe und das Willkürlichmachen der Ticbewegung. Das Einhalten absoluter Ruhe ist für den Tic- kranken häufig sehr schwer. Ja manchmal stellt es sich heraus, daß der Kranke gar nicht orientiert ist über die Lage seiner Glieder, daß ihm der Lagesinn fehlt. Da ist es denn von Vorteil, den Spiegel zu Hilfe zu nehmen, damit durch das Auge die Kontrolle der Körper- haltung möglich wird. Zunächst wird nur kurze Zeit absolute Ruhe gefordert, einige Sekunden im Anfang. Die Stellung des Patienten sei bequem. Er soll vorher wissen, wieviel Sekunden er in Ruhe verharren soll. Die ganze Handhabung der Übung kann Ähnlichkeit haben mit derjenigen des Photographen im photographischen Atelier gelegentlich einer Aufnahme. Die Dauer des Verharrens ist nur langsam zu steigern, doch an dem Erreichten ist mit Zähigkeit fest- zuhalten. Es kann mitunter vorteilhaft sein, die Übung auf einen Tag auszusetzen.

Beim Willkürlichmachen des Tics ist es wichtig, die Entwick- lungsgeschichte des Tics festzustellen und dann die Ticbewegung in ihre einzelnen Teile zu zerlegen. Dann werden diese Bewegungen dem Ticbehafteten vorgemacht. Er übt sie mit der gesunden Seite, natürlich nur, sofern der Tic einseitig ist, um dann zu versuchen, beiderseitig die betreffende Bewegung willkürlich ganz und teilweise auszuführen, womit dann der Tic wieder in Abhängigkeit vom Willen gerät und aufhört ein Tic zu sein.

Dwers: Der Tic im Kindesalter und seine erziehliche Behandlung. 295

Der dritte Punkt, soweit er die Verbindung der psychischen Zentren mit den motorischen betrifft, ist durch das Vorhergehende bereits erledigt. Denn alle Übungen hatten als integrierenden Teil bewußtes Handeln in sich eingeschlossen. Doch sei hier noch einmal darauf hingewiesen und das Handeln, vor allem das bewußte Handeln, als Schwerpunkt der ganzen Heilübungen festgelegt. Darum ist darauf zu achten, daß der Leidende auch außer den planmäßigen Übungen beschäftigt is. Denn mit Muskelarbeit, besonders der der feineren Muskulatur, ist eine weitere Ausbildung der Zellen der Hirnrinde be- dingt, was eine Steigerung der geistigen Fähigkeiten bedeutet. Schnitzen, Modellieren und alle Arten Handarbeit, sowie das Musi- zieren sollen, wenn es nicht genügend in Haus und Garten zu tun gibt, gebührend in Betracht gezogen werden. Doch ist den häuslichen Arbeiten der Vorzug zu geben. In sie legt das Kind einen größeren Wert. Es ist Arbeit, die Sinn hat. Sie muß getan werden. Und so fühlt das Kind, daß sein Tun Wert hat, daß es Werte schafft. Es fühlt sich als nützliches, womöglich als notwendiges Glied der Ge- sellschaft. Alle diese Wertbegriffe sind den andern Arbeiten nicht eigen.

Endlich sei hier noch des Sports in seinen verschiedenen Formen gedacht, der sehr willensbildend wirkt. Man wähle den Neigungen des Ticsleidenden entsprechend aus, nicht etwa umgekehrt.

Im übrigen ist die Ausbildung der zurückgebliebenen Seiten und damit Herstellung des psychischen Gleichgewichts Sache eines heil- erziehenden Unterrichts, der die zurückgebliebenen Gebiete von allen Seiten anregt, der es versteht, die Assoziationsbahnen zwischen nor- malen und zurückgebliebenen Zentren von jenen aus auszuschleifen, die zurückgebliebenen zu erregen, vielfach zu assoziieren und so in der Entwicklung zu fördern.

Und nach welcher bestimmten Zeit ist dann der Ticleidende ge- heilt? Das läßt sich nicht sagen. Es ist sehr fraglich, ob die auf- gezählten Bedingungen alle erfüllt werden. Wenn der Ticleidende innerhalb der Familie bleibt, wohl kaum. Gleichviel, ob den Eltern nicht auch schon in etwas das psychische Gleichgewicht mangelt oder nicht, so werden sie doch nur in den allerseltensten Fällen in Besitz des nötigen festen Willens sein, über die eiserne Konsequenz verfügen, das A und O aller Erziehung, und somit vor allem andern A und O der Erziehung aller Tickranker, einer Konsequenz, an der Bitten, Betteln, Flehen, Schluchzen und Jammern ebenso spurlos ab- gleitet, wie Murren, Launen, Trotz oder Schmeicheln und Liebkosen. Es steht diese Konsequenz nicht etwa im Widerspruch mit der vorhin

296 ra Abhandlungen.

gestellten Forderung, daß der Erzieher stets mit der guten Seite seines Zöglings verbündet sein müsse. Im Gegenteil. Wenn der Erzieher erst Posto gefaßt hat, heißt es standhalten. In solchen Augenblicken der Revolution und des Zusammenbruchs, in denen die Schwäche obsiegt, bedarf das Individuum eines unwandelbaren Pols, an dem es sich schnell wieder aufrichten kann, wenn der Affekt vorübergeht. Und selbst wenn es zu einem kurzen Aufsässigsein gekommen ist, wird das Verharren in ruhiger Konsequenz nur ein noch größeres Ver- trauen eintragen. Nichts imponiert dem Ticleidenden mehr als eisern sein, sowohl was die Festigkeit anbetrifft, als auch die Kühle Und gerade das letzte darf nicht unterschätzt werden, denn läßt sich der Erzieher in Affekt bringen, wodurch unterscheidet er sich noch von dem Tickranken? Doch kann es sich empfehlen, solche Attacken zu vermeiden. Der geschulte Blick des Erziehers muß die Anzeichen erkennen, welche bekunden, daß der Ticleidende seinen schlechten Tag hat und danach seine Forderung stellen, eventuell die ganze Übung ausfallen lassen. Denn solche Szenen erhöhen nicht das Selbst- vertrauen des Individuums.

Diese Andeutungen mögen genügen, um zu zeigen, daß die Heil- erziehung Ticleidender nicht jedermanns Sache ist, daß dazu Quali- täten erforderlich sind, welche sich kaum bei den Personen seiner Umgebung finden werden, wenn auch deren Geistesverfassung sich noch in physiologischer Breite bewegt, was indes häufig nicht bei allen der Fall ist, vielmehr finden sich innerhalb der Verwandtschaft des öftern nervöse und seelische Störungen, die für die Tics des Kindes den günstigen Resonanzboden abgeben. Gegebenenfalls wird also der Ticleidende aus der Familie herausgenommen und zwecks seiner Heilung in eine geeignete Familie oder Heilerziehungsanstalt untergebracht werden müssen. Und wenn hier nun alle Bedingungen erfüllt werden? Auch dann kann die Antwort auf die Frage nach Heilung nur in einem Achselzucken bestehen. Die vorhandene mo- torische Störung wird sich schon beseitigen lassen. Inwieweit aber die geistige Disharmonie zu heben ist, läßt sich kaum sagen. Zu- nächst ist von Bedeutung, ob der Tic die einzige Geistesstörung bei einem Individuum darstellt, oder ob neben ihm noch andere bestehen, als Stereotypien, Echolalie, Koprolalie, fixe Ideen, Wahnideen, Sch wach- sinn usw. In allen diesen Fällen besteht von vornherein sehr wenig Aussicht auf eine Besserung, die auch nur einigermaßen an Heilung hinangrenzt. Etwas anderes ist die Sache in den Fällen, wo der Tic in reiner Form auftritt, wo ihm eine Geistesverfassung zu Grunde liegt, deren Abweichen von der Norm sich nur dadurch charakteri-

Dwers: Der Tic im Kindesalter und seine erziehliche Behandlung. 997

siert, daß gewisse Seiten auf der Entwicklungsstufe früher Kindheit verharren.

Es ist eine bekannte Tatsache, daß die Entwicklung des Kindes sich nicht genau dem Alter proportional vollzieht, auf Perioden starken Wachstums folgen solche, in denen fast ein Stillstand konstatiert werden kann. Desgleichen geht die körperliche und die geistige Ent- wicklung nicht parallel. Vielmehr kann bei manchen Individuen ein Abwechseln geistiger und körperlicher Wachstumsperioden miteinander beobachtet werden. Und ebenso können Unebenheiten in der geistigen Entwicklung eintreten, die sich nachher wieder ausgleichen. Bei einigen Individuen tritt die geistige Reife z. B. frühzeitig ein, während sie bei andern sich erst im Schwabenalter einstellt. So ist denn auch bei Ticleidenden die Möglichkeit eines völligen Ausgleichs nicht aus- geschlossen, zumal wenn eine richtige Behandlung, vor allem eine richtige Geistesgymnastik, mithilf. Aber, ich kenne einen Knaben, der ist jahrelang nicht nur reichlich, sondern überschüssig ernährt, er bekommt die verschiedensten Bäder, er wird massiert, er macht Gymnastik, alles erdenkliche wird getan, und dennoch nimmt er nur zu an Alter. Jeder, der den 15 jährigen sieht, wird ihn für kaum sechsjährig halten, sowohl infolge seiner Größe, als der Zartheit seiner Glieder, als auch seines Gesichtsausdrucks, seiner Stimme, seines ganzen Benehmens u. s. f., kurz er war infantil, ist infantil und bleibt es. Und was sich hier bei diesem Knaben auf körperlichem wie geistigem Gebiete zeigt, damit muß man auch bei dem Ticleidenden rechnen. Eine so stark hervortretende negative Entwicklungstendenz, wie sie bei den Ticleidenden vorliegt, läßt sich durch menschliches Zutun nicht beseitigen, wodurch die begründet ist, entzieht sich völlig unserm Wissen. Eine Anlage läßt sich entwickeln, aber nicht be- liebig entwickeln, sondern nur insoweit, als eine Entwicklungsmöglich- keit vorliegt. Die kann bedeutend sein, aber auch gering, ja sich gleich Null erweisen. Und es ist auf die Frage: Ist der Tic heilbar? zu antworten: Möglicherweise. Auf die Frage nach Besserung zuver- sichtlich: Ja, in der Regel.

298 A. Abhandlungen.

2. Zur Statistik über Selbstmorde und Selbstmord- versuche von Schülern und Hochschülern in Russland. Von Carlo v. Kügelgen in St. Petersburg.

Immer bleibt uns der Tod unbegreiflich, und wenn wir einem Toten ins bleiche Angesicht schauen, starren wir ins Nichts, stehen wir vor einem Rätsel, das um so schrecklicher ist, je jünger und kraftvoller der Lebende war. Hat aber das Leben sich selbst vernichtet, hat der Lebende aus eigenem Willen sich getötet, dann wird das Rätsel des Todes und Lebens doppelt geheimnisvoll und furchtbar. Nur gar, wenn der Selbst- mörder im Kindes- oder Jünglingsalter stand. Im Einzelfall kann die Um- gebung des jugendlichen Selbstmörders das Geschehnis gewöhnlich nicht fassen und steht verloren und erschüttert vor der unwiderruflichen Tat- sache. Die Kirche mit ihrer Lehre von der unsühnbaren Sünde des Selbstmordes und der Verweigerung eines christlichen Begräbnisses, der Staat mit der Verurteilung des Selbstmordes als eines Verbrechens haben dem Entsetzen über den Selbstmord noch das Gefühl der Schuld und Schmach hinzugefügt, ohne den Selbstmord aus der Welt zu schaffen.

Die moderne wissenschaftliche Weltanschauung hat freilich unter den Gebildeten mit der Schuld- und Schmachbeurteilung des Selbstmordes stark aufgeräumt. Heute weiß es wohl jeder, der auf Bildung Anspruch er- hebt, daß ein großer Prozentsatz der Selbstmorde auf Geisteskrankheiten, nervöse Zerrüttung, Degeneration, psychische und körperliche Anomalien, erbliche Belastung usw. zurückzuführen ist. Und mag auch in vielen Fällen eine ausgesprochene Krankheit nicht nachweisbar sein, mögen auch feste Gründe, wie Unglück in der Liebe oder im Erwerb vorliegen, die Mehrzahl der Psychiater neigt der Meinung zu, daß der Selbstmörder, ob- gleich scheinbar in vollem Besitz seiner Kräfte, dennoch nur in einem un- normalen Zustande die naturwidrige Handlung unternehmen konnte, Religion, Moral und Charakterbildung werden durch diese Erkenntnis nicht geschmälert; sie sollen nach wie vor alle ihre Kräfte zur Erhaltung und Vervollkommnung des Menschen aufbieten. Doch nicht der Fluch, der dem Toten in die ungeweihte Erde und die ewige Verdammnis folgt, spielt hierbei eine Rolle, sondern der Schutz der Gesunden und die liebe- volle Pflege der Kranken. Die Erkenntnis aber vermittelt das Verständ- nis. Das ist die Grundlage jeder Liebe, jeder erzieherischen Einwirkung der Menschen aufeinander.

Die Wissenschaft hat in bezug auf den Selbstmord in zweierlei Rich- tung gearbeitet. Sie hat die Ursachen des Selbstmordes im einzelnen Fall erforscht und häufig als Krankheitserscheinung nachgewiesen, sie hat ferner den Selbstmord als Erscheinung im Volk erforscht: Selbstmord- statistik.

Wenn im Einzelfall der Selbstmord im lebensprühenden Kindes- oder Jünglingsalter als unfaßbares Rätsel erscheint, so lehrt die Statistik, daß die Jugend dem Selbstmord nicht in schwächerem Maße ausgesetzt ist als die übrigen Altersstufen und daß die gefährlichste Zeit die der Geschlechts- reife (etwa das 16., 17. Jahr) ist. So rechnet Professor Chlopin in

KöüssLern: Zur Statistik über Selbstmorde und Selbstmordversuche usw. 299

einer Broschüre, die noch näher besprochen werden wird, aus, daß sich in Rußland die Selbstmorde der Schüler zu denen der übrigen Bevölkerung wie 106 zu 30 verhalten und die Hochschüler gar mit der Selbstmord- ziffer 164 zu bezeichnen sind. Diese Ziffern, die sich auf die Jahre 1872 bis 1875 beziehen, geben die Zahl der Selbstmorde auf 1 Million Be- wohner an. Es kämen demnach auf 1 Million »Lernender« 3 bis 5 mal soviel Selbstmorde (106—164) als auf 1 Million aller Bevölkerungsklassen (30). Man vergesse aber nicht, daß seit 1875 nicht nur die Selbstmorde im allgemeinen, sondern in erhöhtem Grade die jugendlicher Personen zu- genommen haben, wie aus den später folgenden statistischen Zahlen für Petersburg klar hervorgeht. In Preußen, wo eine genaue Statistik für Kinderselbstmorde vorliegt, gestaltet sich das Wachstum der Selbstmord- ziffer für Kinder bis zum 15. Jahr schreckenerregend. Dr. A. Baer hat die Zeit von 1869—1898 in Perioden von 5 Jahren geteilt und berechnet, wieviel Kinder (bis zum 15. Jahr) sich im Durchschnitt jährlich in jeder dieser Perioden das Leben nahmen. Er erhielt folgende, Schwankungen unterworfene, aber dennoch steigende Zifferreihe: 38,2 42,8 64,8 592 718 64,8. Also 1894—98 haben jährlich beinahe 65 Kinder in Preußen Selbstmord verübt, davon 3, die das 10. Jahr nicht erreicht hatten. Für Rußland sind die Zahlen so sprunghaft, daß ich sie nicht anführe, doch konstatiert Prof. Chlopin gleichfalls ein Wachsen der Jugendselbstmorde. Freilich darf man nicht vergessen, daß die Selbst- morde im allgemeinen fast in allen Staaten steigen. So entfielen auf 1 Million Einwohner in Preußen von 1816—1821 70,2 Selbstmorde, von 1870—1875 aber 133,1; in Deutsch-Österreich verhalten sich diese Zahlen wie 32 zu 211,7 und in Sachsen wie 150 zu 311,4, in Rußland wie 17,6 zu 29 und in Spanien wie 14,5 zu 17. Die Entwicklung der Statistik mag das Wachsen der Selbstmordbewegung in den einzelnen Ländern stärker hervortreten lassen. Doch ist es nicht zu leugnen und man sieht, daß die Jugendselbstmorde gleichsam nur ein Teil einer größeren, umfassenden Erscheinung sind, über die einzig und allein die Statistik Aufschluß zu geben vermag.

Doch bevor ich näher auf das weitere Zahlenmaterial Prof. Chlopins eingehe, muß ich einige Worte über die Selbstmordstatistik im all- gemeinen und die in Rußland im besonderen sagen. Es ist klar, daß eine genaue Selbstmordstatistik überall schier unmöglich ist. Stets wird die Familie des Selbstmörders versuchen, den Fall zu verbergen, und eine große Zahl von Selbstmorden und Selbstmordversuchen wird gar nicht bekannt. Sie heißen dann eben Herzschlag oder Unglücksfall. Besonders häufig wird diese Erscheinung bei uns in Rußland in Kraft treten, wo die Kirche defi Selbstmord als Verbrechen verfolgt, der Selbstmordversuch Kirchenbuße nach sich zieht und das Testament des Selbstmörders seine Gültigkeit verliert.. Doch selbst abgesehen von den geheimen Selbstmorden wie wird bei uns Statistik geführt? Wer es noch nicht weiß, der vergleiche folgende Zahlen und mache sich dann ein Bild von der Un- vollständigkeit und Ungenauigkeit eines offiziellen statistischen Zahlen- materials.

300 A. Abhandlungen.

Prof. G. W. Chlopin, Chef der ärztlich sanitären Abteilung des Unterrichtsministeriums, hat das offizielle Material des Ministeriums in einer Broschüre!) verarbeitet. Das Ministerium hat im Jahre 1882 den Vorstehern aller Schulen zirkulariter vorgeschrieben, genau über alle der- artigen Fälle zu berichten. »Darum besitzt unser statistisches Material«, meint Prof. Chlopin, »einen bedeutenden Grad von Zuverlässigkeit. Man kann natürlich nicht sicher sein, daß die Zentralbehörde unbedingt alle Nachrichten erhalten hat, doch es ist auch kein besonderer Grund vor- handen, anzunehmen (?), daß ihr viele Selbstmorde und -Versuche unbekannt geblieben sind.« Folgendes Material liegt ihm vor:

Für den Selbst- Selbst-

Zeitraum morde mordvers. Niedere Lehranstalten . . 1899 1904 6 1 Knabenmittelschulen . . . 1883 —1904 234 73 Mädchemmittelschullen . . 1888, 1899—1904 25 14 Hochschulen . . . .. 1880—1904 72 7

Summa . .„ 337 95

Für die Jahre 1905 und 1906 hat Prof. Chlopin dasselbe offizielle Material in aparten Jahresheften?) bearbeitet. Das für 1907 steht noch aus.

Für 1905 und 1906 liegt folgendes statistische Material vor:

1905 1906 Selbst- Selbst- Selbst- Selbst- morde mordvers. morde mordvers.

M. WW. M. W. M. Ww M

Lehranstalten :

MIOdEre: 4, -o e a 2 —_ 10 1 3 mittlerö’ -goa p .. 17 6 32 12 20 3 höhere. + e s Å« 2 a| č = č T 2 [l MHM 21 6 49 13 23 3

Jedem Laien, der sich nie mit Statistik beschäftigt hat, wird beim Lesen all dieser alten und neuen Ziffern, an deren Zuverlässigkeit der Professor so fest glaubt, ein Zweifel aufsteigen. Man braucht nur einen Zeitungsband zur Hand zu nehmen und nachzuprüfen, sogleich stellt sich die absolute Unhaltbarkeit dieses Materials dar.

Man vergesse nicht, hier sind die Selbstmorde der »lernenden Jugend« für das ganze Riesenreich angegeben. Da die beiden letzten Jahre den größten Anspruch auf Genauigkeit erheben, vergleichen wir sie mit den

1) Selbstmorde, Selbstmordversuche und Unglücksfälle unter den Zöglingen der russischen Lehranstalten. St. Petersburg, Staatsdruckerei, 1906.

?) Die Selbstmorde, Selbstmordversuche und Unglücksfälle unter den Zöglingen der Lehranstalten des Unterrichtsministeriums für das Jahr 1906. Zweiter Jahrgang. Unter der Redaktion des Chefs der ärztlichen Abteilung des Unterrichtsministeriums Professors G. W. Chlopin herausgegeben. (In russischer und französischer Sprache.)

Küssen: Zur Statistik über Selbstmorde und Selbstmordversuche usw. 301

gleichen Daten für die Stadt St. Petersburg, die das statistische Bureau unseres Stadtamtes herausgegeben hat.!) Da finden wir folgende Zahlen für die Selbstmorde und Selbstmordversuche von Lernenden;

1904 1905 1906 1907 M W. M. W. M. W. M. W. Selbstmorde . . . 7 2 12 1 22 4 18 7 Selbstmordversuche. 4 8 5 4 5 8 7 N zz’ mn, (mer mn (er Van raue

Summa 13 26 35 40

Diese Zahlen sind nicht vollständig und das Statistische Bureau, an dessen Spitze der tüchtige W. Stepanow steht, ist fest davon überzeugt, daß viele Fälle nicht zur Registrierung gelangen. Vergleicht man aber diese Daten für die Stadt Petersburg mit dem offiziellen Material Prof. Chlopins für das ganze Reich, so gelangt man zu folgenden abstrusen Zusammenstellungen. Im Jahre 1905 z. B. hat das Ministerium in Ruß- land 27 Selbstmorde und Selbstmordversuche »Lernender« festgestellt, in Petersburg allein aber haben 26 Hand an sich gelegt, nach Prof. Chlopin hat sich kein weibliches Wesen unter den Selbstmördern befunden, in Petersburg sind sechs registriert worden, usw. Prof. Chlopin gibt für den ganzen Petersburger Lehrbezirk pro 1905 5 Selbstmorde und 2 Selbst- mordversuche an. Zu diesem Lehrbezirk gehören die Gouvernements Archangel, Wologda, Nowgorod, Olonez, Pskow, Petersburg und ganz Finnland. Und doch verhalten sich Prof. Chlopins Zahlen für dieses Riesenarsenal zu den Zahlen des Petersburger Statistischen Bureaus wie 7 zu 26. Mit anderen Worten, Prof. Chlopin arbeitet mit einem ver- schwindenden Bruchteil der bekanntwerdenden Selbstmorde. Denn wenn selbst in Petersburg nicht einmal ein Viertel der Selbstmorde der Zentral- behörde gemeldet wird, wie mag es da mit den Provinzen stehen! Prof. Chlopin könnte vielleicht erwidern, daß die vom Statistischen Bureau registrierten Fälle sich auf Schulen und Hochschulen beziehen, die nicht zum Unterrichtsministerium gehören.?) Doch dieser Einwand kann die redenden Zahlen nicht zum Schweigen bringen. Ich habe mir die Mühe gemacht für das Jahr 1906 in der »St. Pet. Ztg.« die zufällig gemeldeten Fälle daraufhin nachzuprüfen. Vom 1. Januar bis zum 1. Mai fand ich 9 Selbstmorde von Schülern und Hochschülern, die mit einer einzigen Ausnahme zu Anstalten des Unterrichtsministeriums gehörten. Professor Chlopin gibt aber für das ganze Jahr 1906 für den Petersburger Lehrbezirk 7 Selbstmorde an. Hätte Prof. Chlopin bloß die Zeitungen in die Hand genommen, so hätte er ein vollständigeres statistisches Material beschaffen können, als mit Hilfe des riesigen Apparats seines Ministeriums.

Das Traurigste an der Sache ist, daß der Mann der Wissenschaft

1) Monatsheft der statistischen Abteilung des St. Petersburger Stadtamtes. Januar 1908 (in russischer und französischer Sprache).

?) Eine Anzahl Schulen und Hochschulen in Russland sind nicht dem Unter- richtsministerium unterstellt, so z. B. die Handelsschulen.

302 A. Abhandlungen.

fest an seine Zahlen glaubt und sich bei seinen Folgerungen blind auf sie stützt. So stellt er fest, daß im Laufe von 6 Jahren (1899—1904) in den Volksschulen des Reichs 2 (!) Selbstmorde und 36 (!) Unglücks- fälle vorgekommen seien, und ist höchst befriedigt, daß diese Erschei- nungen in den Volksschulen keine Tendenz zum Wachsen haben. In Preußen hat Gutstadt gleichfalls in sechs Jahren (1883—1888) 209 Selbstmorde unter Zöglingen der Volksschulen registriert und Dr. A. Baer hat von 1869—1898 für Preußen 93 Selbstmorde von Kindern bis zum 10. Jahr und 1708 von Kindern zwischen 10 und 15 Jahren verzeichnet. Diese Zahlen sind entsetzenerregend.. Wenn aber Prof. Chlopin, an unsere entsprechenden 2 Selbstmorde und 36 Unglücksfälle glaubend, die russischen Volksschulen als eine »angenehme Ausnahme« preist, die dieses Unglück noch nicht getroffen hat, so ist das tragikomisch. Ja, er warnt, sich auf sein Zahlenmaterial stützend, davor, bei der Reform der Volks- und Mittelschule deutschen Mustern zu folgen. ...

Wie gut und nützlich die von Prof. Chlopin und dem Unterrichts- ministerium unternommene Arbeit der wissenschaftlichen Statistik der Schülerselbstmorde auch ist, so fragt es sich doch, ob eine Arbeit als wissenschaftlich anerkannt werden kann, die mit so naiven Mitteln, so offenbar falschen Daten hantiert. Die Antwort muß unbedingt verneinend ausfallen. Eine kritische Beleuchtung dieses offiziellen Zahlenmaterials blamiert die statistischen Arbeiten des Unterrichtsministeriums ebenso un- sterblich, wie die wissenschaftliche Qualifikation Prof. Chlopins als eines Statistikers.

Doch sei gleichzeitig hervorgehoben, daß die Arbeiten Prof. Chlopins im allgemeinen höchst sympathisch und die Schlüsse, zu denen er gelangt, und die Anregungen, die er gibt, meist sehr beachtenswert sind. Häufig kann man es bedauern, daß auf das unfaugliche bureaukratisch gesammelte Material so peinliche Mühe in Zusammenstellungen und Berechnungen an- gewandt worden ist.

Man braucht sich nur zu vergegenwätigen, daß die Zahlen des Unter- richtsministeriums auf den Berichten der Direktoren und Rektoren beruhen, und man wird sich ihre Unvollständigkeit erklären können. Denn selbst- verständlich wird jeder Leiter einer Lehranstalt, wenn irgend möglich den Selbstmord eines seiner Zöglinge vertuschen, da das liebe Publikum stets bereit ist die »Schuld« der Lehranstalt aufzubürden. Besonders klar tritt die Untauglichkeit dieser Art von Selbstmordstatistik bei der Untersuchung der Gründe von Schülerselbstmorden hervor. Es zeigt sich, daß bei uns die Schulverhältnisse viel seltener als Grund auftreten als in Preußen.

Doch die dunkle Frage der Gründe von Kinderselbstmorden verdient apart behandelt zu werden.

Eine Erscheinung untersuchen, heißt ihre Gründe darlegen. Hat man die Wurzeln aufgedeckt, dann wird einem nicht nur die Erscheinung klar, sondern man erhält auch die Möglichkeit, die vorhandenen Mittel zu ihrer Förderung oder Bekämpfung anzuwenden. So ist auch beim Selbstmorde jugendlicher Personen die wichtigste Frage die nach dem Grunde dieses schrecklichen, stets zunehmenden Übels. Die Statistik hat sich an ihre

KüseLsEn: Zur Statistik über Selbstmorde und Selbstmordversuche usw. 303

Lösung gemacht und sucht mit möglichster Genauigkeit die Gründe und deren Bedeutung aufzudecken. Doch was von der Selbstmordstatistik im allgemeinen gesagt war, gilt in verstärktem Maße von der Statistik der Gründe. Sie entziehen sich großenteils der Öffentlichkeit, ja, sind häufig auch für die nächste Umgebung des Selbstmörders in rätselhaftes Dunkel getaucht.

Häufig wird als Grund der Selbstzerstörung eines jungen hoffnungs- vollen Lebens irgend eine Kleinigkeit, eine vorübergehende Enttäuschung, eine momentane Kränkung, der Verweis eines Lehrers oder eine un- genügende Nummer angeführt. Ein 14 jähriger Selbstmörder, Schüler der l. Klasse einer Stadtschule hat folgenden Zettel hinterlassen:!) »Der Auf- seher hat mich unnützerweise hinausgeworfen und darum habe ich mich aufgehängt! N. N. hat unnützerweise meine Seele in jene Welt gejagt.« Hier müßte man also Rache am ungerechten Aufseher als Motiv des Selbst- mordes annehmen.

Zusammenfassend werden in der Selbstmordstatistik Jugendlicher folgende Rubriken geschaffen, in die Prof. Chlopin sein Material einreiht und mit den preußischen Angaben vergleicht. Ich gebe neben der An- gabe des Grundes den Prozentsatz der auf ihn entfallenden Selbstmorde in den Knabenmittelschulen Rußlands und Preußens, wobei die ein- geklammerte Zahl die für Preußen ist:

Nerven- und Geisteskrankheiten . . . . 29,9 (14,5)

Unaufgeklärte Fälle . . . 2 2 . . . 25,6 (36,2) Somo 3,5 4 wir. et. ABA; Familienverhältnise . . . . . . . . 10,3 (1,3) Unglückliche Liebe . . = > s = a a 841 (5,3) Schule und Familie. . . . . . . 4,83 (3,9) Braniheten Ga a eo T ee et R LG) Verschiedene Gründe . . 2 . . . . 1,3 (27,6)

Prof. Chlopin, der mit großem Fleig sein Zahlenmaterial verarbeitet hat, ist vom Resultat sehr befriedigt. »Zum erstenmal,« sagt er, »wird hier faktisch festgestellt, daß in Rußland die Schule unter den Ursachen von Schülerselbstmorden (18,8 %,) hinter den anderen Ursachen, nament- lich den Nerven- und Geisteskrankheiten (29,9 °/,) zurücksteht, während in Preußen die Schulverhältnisse mit 36,2 °/, den ersten Platz einnehmen.« Ja, wenn nicht das ganze Material Prof. Chlopins untauglich wäre und wenn nicht die Schuldirektoren die Gründe gemeldet hätten, dann hätte diese Tatsache wohl einen relativen Wert. So ist es lächerlich davon zu reden. Da zudem die preußischen Daten sich bloß auf die Jahre 1883 bis 1886 beziehen, ist dieser ganze Vergleich recht müßig. Größeres Interesse beansprucht die von Prof. Chlopin dargelegte Tatsache, daß von den Geistes- und Nervenleiden der Schüler, die zum Selbstmord geführt haben, 29°/, erblich waren. Im übrigen wird die Angabe des Grundes, auch abgesehen von der nur zu begreiflichen Unrichtigkeit der Direktoren-

1) Wiedergegeben im Jahrbuch für 1906 von Prof. Chlopin.

304 A. Abhandlungen.

berichte, die ja die meisten Fälle ganz verschwiegen haben, höchst schwierig sein. Ob der Grund in Schul- oder Familienverhältnissen liegt, ist häufig schwer zu entscheiden und auch die Rubrik »Schule und Familie« hilft nicht viel. Man kann annehmen, daß jedes Kind, das eine so wider- natürliche Handlung begeht, nervös ist. Unter den Nervenleiden figuriert z. B. auch Kopfschmerz und Neurasthenie. Da kann man fragen, ob nicht leicht bei allen jugendlichen Selbstmördern diese Gründe angegeben werden können. Und viele werden die Frage, auch wenn sie nicht Schul- leiter sind, bejahen, obgleich die Veranlassung zum Selbstmorde in der Schule lag.

Man wird der Frage nach dem Grunde der Kinderselbstmorde näher kommen, wenn man fürs erste von den direkten Ursachen der häufig gering- fügigen Veranlassungen des Selbstmordes absieht und einigen allgemeinen Erscheinungen seine Aufmerksamkeit zuwendet.

Die Statistik hat nachzuweisen versucht, daß die Häufigkeit der Selbstmorde von geographischen Verhältnissen (Klima usw.) abhängt. Das gemäßigte Klima scheint gegenüber dem kalten und heißen den Selbst- mord zu begünstigen. So nimmt Morselli einen Selbstmordgürtel für Westeuropa an zwischen dem 47. und 57. Breitengrade, begrenzt durch den 20. und 40. Längengrad. Dieser Gürtel entspricht (von England ab- gesehen) wohl auch dem Gürtel der höchsten Kultur und stärksten Be- völkerung (Paris, Berlin, Wien, Sachsen usw.). Schön hat, wie Chlopin berichtet, für das Europäische Rußland nachgewiesen, daß der Selbstmord mit der Kultur von Westen nach Osten abnimmt. Prof. Chlopin selbst hat aus seinem Zahlenmaterial für ganz Rußland keine Gesetzmäßigkeit . finden können. Im Warschauer Lehrbezirk z. B. hat er überhaupt keinen (!) Selbstmord und nur 27 (!) Selbstmordversuche zu verzeichnen. Im Amur- gebiet ist wieder die größte Zahl von Selbstmorden und kein einziger Selbstmordversuch gemeldet. Auch diese Zahlen beweisen die Nichtigkeit des Materials. Dennoch glaubt Prof. Chlopin für die Schüler des Europäi- schen Rußland einen Selbstmordgürtel in Südrußland festzustellen, der von Westen nach Osten immer breiter wird.

Gehen wir zu einem anderen Abhängigkeitsverhältnis über, das uns gleichfalls die Frage nach den Gründen des Selbstmordes näher bringt. Es ist die Abhängigkeit der Selbstmorde von der Jahreszeit. Professor Chlopin hat sie in seiner Broschüre nicht berücksichtigt, seine Angaben für 1905 und 1906 sind zu gering, um Schlüsse zuzulassen. Doch ist es bekannt, daß im allgemeinen die Jahreslinie der Selbstmorde bestimmten Gesetzen folgt und nicht etwa im düstern Winter, sondern im Frühling ihren Höhepunkt erreicht. Daraus ersieht man noch klarer als durch die geographische Abhängigkeit, daß der Selbstmord eine höchst komplizierte Erscheinung ist, die im Zusammenhang mit allen Lebensverhältnissen steht, selbst die kosmischen inbegriffen.

Einen noch viel stärkeren Einfluß auf dieses furchtbare Übel müssen die politischen und sozialen Verhältnisse ausüben. Doch fällt es der Statistik schwer hier die Gesetzmäßigkeit aufzudecken. Bisweilen aber treten gleichsam Selbstmordepidemien ein und werfen einen hellen Schein

KüseELGEn: Zur Statistik über Selbstmorde und Selbstmordversuche usw. 305

auf den Zusammenhang mit den politischen und sozialen Verhältnissen im Lande. Augenblicklich herrscht, hervorgerufen durch die politische Er- nüchterung, eine solche Selbstmordepidemie in Rußland, eine Reaktion ihrer Art auf die Zeit der Revolution. Denn in politisch stark erregten Zeiten nimmt der Selbstmord ab. Das Peterburger statistische Bureau hat in Petersburg registriert für 1904 327 Selbstmorde und Selbstmord- versuche, für 1905, das Revolutionsjahr, gleichfalls bloß 354 Fälle; für 1906 steigt die Ziffer rapid auf 532 Fälle und 1907 erhebt sie sich auf 896, das ist nicht viel weniger als beinahe das Dreifache von der Zahl des Jahres 1904. Die entsprechenden Ziffern für Lernende betrugen, wie wir schon gesehen haben: 13; 26, 35; 40. Hier sind also die Selbst- morde mehr als ums Dreifache gestiegen. In der Petersburger »Gesell- schaft zum Schutz der Volksgesundheit« wurde kürzlich anläßlich eines Vortrages eines Dr. A. Trachtenberg auch die augenblicklich herrschende Selbstmordepidemie konstatiert. Diese erklärte der anwesende Dr. Nishe- gorodzew dadurch, daß die Aufmerksamkeit nicht mehr, wie in der Revolutionszeit, abgelenkt und absorbiert werde. Nehmen wir noch den Stimmungswechsel hinzu, der sich für alle Schwärmer in die Worte »revolutionärer Aufschwung« und »traurige Reaktion« kleide. Bedenken wir ferner alle die utopischen Träume, die die politische und soziale Er- nüchterung zerstört hat, so wird das Anwachsen der Selbstmorde leicht erklärlich. Zu bemerken ist, daß (wie die Zahlen für Petersburg beweisen) unter der lernenden Jugend schon im Revolutionsjahr die Selbstmorde in die Höhe schnellten (1904 13, 1905 das Doppelte, 26 Fälle ın Petersburg). Dies läßt sich wohl durch das verbrecherische Hineinziehen der unmündigen Jugend in den politischen Kampf erklären, dem sie nicht gewachsen war.

So sehen wir, indem wir von den Einzelfällen und ihren häufig un- verständlichen und kleinen Veranlassungen absehen, immer deutlicher den Selbstmord als eine Erscheinung hervortreten, die mit allen Lebensverhält- nissen der Menschen in Zusammenhang steht. Noch klarer wird dieser Zusammenhang bei einer Untersuchung des Lebensalters, in dem am häufigsten der Selbstmord auftritt. Wie eingangs dargelegt wurde, ist das zarte, starkempfindende Jugendalter dem Selbstmord nicht schwächer aus- gesetzt als die späteren Lebensalter. Dies ist bei psychologischer Ver- tiefung nur zu verständlich; der junge Mensch ist leichter Enttäuschungen ausgesetzt und kann leichter aus dem Gleichgewicht gebracht werden als der durch Erfahrungen gestählte. Richtet man aber seine Aufmerksamkeit darauf, wie sich die Jugendselbstmorde auf die einzelnen Jahre verteilen, so gewinnt man einen neuen und höchst wichtigen Einblick in dies dunkle Grebiet.

Prof. Chlopin weist trotz seines unvollständigen Materials über- zeugend nach, daß die größte Zahl jugendlicher Selbstmörder auf die Zeit der Geschlechtsreife, also etwa das 16.—17. Lebensjahr fällt. Auf die Schulklassen der Mittelschulen verteilen sich Selbstmorde und Selbst- mordversuche, in Prozenten ausgedrückt, folgendermaßen, wobei die ein- geklammerten Zahlen die Selbstmordversuche bedeuten:

Zeitschrift für Kinderforschung. XIII. Jahrgang. 20

306 A. Abhandlungen.

» LED wm v ww vw wa.

96 87 171 171 249 200 96 schulen (—) (=) (6,9) (1 3,2) (20,6) (33,8) (1 7,6) (8,9) eero E ee BR Bi schulen | I 7) (—) (71) (28,6) (28,6) (28,6) (7,1)

In der VI. Klasse erreicht die Selbstmordziffer ihren Höhepunkt. Da das Alter der Schüler und Schülerinnen, ebenso wie die Zeit der Ge- schlechtsreife bei den einzelnen schwankt, kann man vermuten, daß die größte Mehrzahl dieser Fälle, die von Zöglingen der fünf obersten Klassen vollführt wird, in diese schwere und unausgeglichene Periode des Über- ganges vom Knaben zum Jüngling, vom Kinde zur Jungfrau entfällt. Den wissenden Pädagogen und Eltern ist es nicht verborgen, mit wie schweren körperlichen und seelischen Qualen häufig das Erwachen des Geschlechts- lebens verbunden ist. Der Körper wirft unzählige Fragen auf, die der Geist nicht beantworten kann. Gewissensqualen, unfruchtbare Grübeleien, der ermüdende Kampf mit der jungen phantasiereichen Sinnlichkeit, ge- nährt durch falsche Lektüre und ungesunde Lebensweise. In vielen Fällen kommt noch die ach so verbreitete Jugendkrankheit der Onanie hinzu. Ein Arzt, der den erwähnten Vortragsabend mitmachte, erzählte von den ver- zweifelten Briefen jugendlicher Onanisten, die er als Redakteur eines ärzt- lichen Blattes erhalten habe. »Helfen Sie mir, oder ich nehme mir das Leben!« war der Refrain dieser unberatenen jungen Leute, die durch die verbreiteten übertreibenden Schriften, erschreckt, ohne Rat und Unter- stützung sich in Verzweiflung und Schwäche verzehrten.

Schauen wir jetzt zurück, so sehen wir, warum die Statistik der Gründe der Selbstmorde so schwierig ist und meist im Dunkel tappt. Was sie anführt, sind meist nicht Gründe, sondern bloß Veranlassungen. Der Grund liegt immer tief, sehr tief und ist gleichbedeutend mit einer ererbten oder erworbenen Zerstörung des seelischen Gleichgewichts. Nicht jeder Selbstmörder ist geisteskrank, aber der Geist eines jeden ist krank. Die Zeit der Geschlechtsreife, in der die Natur an den Geist und Körper des Kindes übergroße Anforderungen stellt, gibt bei unharmonischen, erb- lich belasteten Naturen verhältnismäßig leicht eine Disposition zur wider- natürlichen Handlung. Da kann häufig eine Kleinigkeit, Nachahmung, momentaner Zorn usw. den Anstoß geben. Daß die Schule als solche nicht die Schuld trägt, dafür ist der beste Beweis das starke Abnehmen der Selbstmorde in der schwersten, der Abiturientenklasse.

Der Kampf mit den Kinderselbstmorden hat sich in erster Linie natürlich nicht gegen die häufig zufälligen Veranlassungen zu wenden, sondern gegen die tiefliegenden Gründe. Vor allem müssen die Eltern mit sich selber anfangen, um den Kindern eine widerstandsfähige ge- sunde Natur für das Leben mitzugeben. Die Statistik hat mit brutaler

1) In Rußland ist die Prima die unterste und die VIII. die Abiturientenklasse.

1. Drei Vorkämpfer der Kinderforschung vor fünfzig Jahren. 307

Überzeugungskraft nachgewiesen, daß von den Kindern, die zu psychischen Anomalien neigen, die meisten trunksüchtige Väter oder Eltern gehabt haben. Ebenso entsetzlich wirkt der Alkohol, der von den Kindern selbst genossen wird. Dies sei nur ein Hinweis. Dcch man muß die Frage weiter fassen. Gesunde einfache Lebensweise ist das Hauptmittel gegen vielfaches Ungemach und im besonderen auch gegen die Kinder- selbstmorde.

Liebevolle, vertrauensvolle und vertrauenweckende Erziehung, die auf das Wesen und die Eigenart des einzelnen eingeht, die den Körper nicht vernachlässigt und das Kind nicht in den schwersten Fragen ratlos sich selbst überläßt, ist gleichfalls ausschlaggebend. Häufig hat eine falsche, verweichlichende oder brutale Erziehungsmethode Kinder in den Tod ge- trieben. Sowohl in der Schule wie in der Familie rechnet man meist viel zu wenig damit, daß der junge Mensch in seinem Entwicklungsgange starke Veränderungen durchmacht, die berücksichtigt werden müssen. Un- kenntnis der körperlichen und seelischen Entwicklungsphasen kann vorüber- gehend selbst liebevolle Eltern dazu bringen, zu untauglichen und harten Maßregeln zu greifen.

Der Umstand, daß es sich bei Kinderselbstmorden häufig um vorüber- gehende Zustände handelt, beweist klar, daß die Veranlassungen zum Selbstmorde nicht unberücksichtigt bleiben dürfen. Sie behalten ihre große Bedeutung und sind nach Möglichkeit zu vermeiden. Körperliche harte Züchtigungen, Ungerechtigkeiten, der Anblick brutaler häuslicher Szenen, Anforderungen, denen das Kind nicht gewachsen ist, das alles sind nicht Momente, die ein gesundes Kind zum Selbstmord treiben, können aber bei krankhaftem Seelenzustand zu Katastrophen führen.

Strenge Einfachheit in der Lebensweise, Pflege und genaue Beobach- tung des Körpers, Kontrolle und Rat des Arztes, liebevolle verständnis- getragene Erziehung und ein freundschaftlich vertrauensvolles Verhältnis zwischen dem Kinde und seinen Eltern und Erziehern das sind die besten Mittel, um gesunde und lebensfrohe Menschen in den Kampf des Lebens zu stellen.

x

B. Mitteilungen.

1. Drei Vorkämpfer!) der Kinderforschung vor fünfzig Jahren.

Von M. Kirmsse-Ketschendorf a. d. Spree.

Im selben Jahre (1856), als B. Sigismunds bekanntes Buch Kind und Seele erschien, da vereinigten sich in der Nähe von Wien, auf dem Schlosse zu Liesing zwei hochbegabte Pädagogen und eine, mit

1) Unseres Wissens ist es das erste Mal, daß über die Bestrebungen derselben auf dem Gebiete der Kinderforschung berichtet wird. Christmann, Stimp£fl und selbst Ament erwähnen sie in ihren geschichtlichen Abrissen nicht.

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308 B. Mittteilungen.

vorzüglicher Bildung ausgerüstete Schriftstellerin, um gemeinsam die Heil- pflege- und Erziehungsanstalt »Levana« zu errichten. Dieses Institut wäre ohne Zweifel, wenn nicht sein vorzeitiger Untergang dazwischen ge- kommen, zu epochemachenden Aufgaben auf dem Gebiete der Kinder- forschung und Heilpädagogik berufen gewesen. Daß es anders kam, lag weniger an den Persönlichkeiten der drei Stifter, als vielmehr in der Un- gunst der Zeitverhältnisse und anderen hemmenden Einflüssen begründet. Denn die Ideen, die jene hegten, sind in der Gegenwart von neuem auf- genommen und zumeist auch mit gutem Erfolge realisiert worden.

Die Namen der drei Bahnbrecher sind fast vergessen, sie lauten: Dr. Jan Daniel Georgens, Heinrich Marianus Deinhardt und Jeanne Marie von.Gayette. Ehe wir ihre gemeinsame Betätigung zu- gunsten der normalen wie der abnormen Kinderwelt näher charakterisieren, wollen wir zuvor kurz einen Blick auf ihren Lebensgang werfen, um zu erfahren, daß die drei Persönlichkeiten wohl geeignet schienen, die Lösung der angedeuteten Fragen in die Hand zu nehmen.

Georgens,!) ein Pfälzer, geboren am 23. Juni 1823 zu Dürk- heim a. d. Hardt, besuchte das Lehrerseminar seiner Heimat und bestand auch das Maturitätsexamen. In Heidelberg, Gießen und Berlin studierte er Natur- und Heilwissenschaften. Seine Laufbahn als Lehrer begann er an der höheren Mädchenschule in Frankental und setzte sich dann in der Mannheimer Knabenerziehungsanstalt weiter fort. Hier lernte Georgens den Naturforscher A. F. Schimper (1803—1867, Entdecker der Blatt- stellungsgesetze) kennen, der ihn für anthropologische und pädagogische Fragen zu interessieren wußte. Im Herbst 1848 eröffnete er in Worms ein Bildungsinstitut für junge Mädchen, verbunden mit einem Kindergarten. Nach kurzer Zeit verlegte er beide Anstalten nach Baden im Großherzog- tum und fügte dort noch ein Internat für Beamtenwaisen sowie ein Lehrerinnenseminar hinzu. Durch diese vielseitigen Tätigkeiten erwarb sich Georgens die Gunst verschiedener deutscher Fürstinnen, von denen namentlich die Großherzgin Sophie von Baden seine Bestrebungen bereit- willig förderte. Sie veranlaßte ihn auch, sich nach Wien zu begeben, um dort ausgedehnte medizinische und soziale Studien aufzunehmen. In Wien trat Georgens mit einer unmittelbaren Schülerin Pestalozzis, der Gräfin Gabriele von Brunswick (Gründerin der ersten österreich. Kinder- bewahranstalt) und deren Verwandten, Graf Friedrich Deym (Begründer der Grenzboten) in Verbindung. Sie brachten seine Pläne betreffs Grün- dung einer umfassenden Erziehungsanstalt zur Reife, indem besonders der Graf finanzielle Unterstützung zusagte. Da starb plötzlich Graf Deym und Georgens vollendete zunächst die Erziehung der zehn Kinder des Verstorbenen. Hierauf unternahm er Reisen durch fast alle europäischen Länder um die verschiedenen Erziehungsmethoden zu studieren. Nach Wien zurückgekehrt, fand er in zwei Vertretern der Kinderheilkunde, den

1) Vergl. Merle, Sengelmann, Söder, Das Blinden-, Idioten- und Taub- stummen- Wesen. Beiträge zur Heilpädagogik. 1. Band. Norden 1887. S. 212 bis 214.

1. Drei Vorkämpfer der Kinderforschung vor fünfzig Jahren. 309

Professoren Dr. Löbisch!) und Dr. Mauthner verständnisvolle Förderer seiner Ideen. Allein auch sie entriß ihm der Tod in kurzer Zeit. Als neuen Ersatz gewann Georgens nunmehr Deinhardt und v. Gayette. Mit ihnen eröffnete er bald darauf die geplante Anstalt. Sie hat ein Jahr- zehnt bestanden und mußte dann infolge an Teilnahmlosigkeit und anhaltender Feindschaft der Jesuiten geschlossen werden. Es war ein schwerer Schlag für Georgens, sein Werk so vernichtet zu sehen, aber er hat auch fernerhin nicht abgelassen, dem Wohle der Kinderwelt zu dienen. Er starb am 9. November 1886 im Seebade Doberan. Teils mit seiner Gattin, teils im Verein mit dieser und Deinhardt veröffentlichte Georgens gegen 30 Schriften. Sie haben zwar eine recht verschieden- artige Beurteilung erfahren, enthalten aber trotzdem nicht wenig wertvolle pädagogische Samenkörner. Georgens’ Streben zielte im Grunde auf eine, die gesunde Kultur fördernde, und deshalb soziale Erziehung, die er schon als Jüngling durch eine Schule für genetische Anthropologie in Angriff zu nehmen gedacht hatte. Angezogen von den Bestrebungen Fröbels, suchte er dessen enge Formen weiter zu fassen, tiefer und praktischer zu begründen, indem er eifrig in Theorie und Praxis auf die Ausgestaltung des Spieles als ein wesentliches Bildungs- und Erziehungs- mittel?) hinarbeitete.

Deinhardt,®) ein Thüringer, ist am 29. Januar 1821 zu Nieder-

!) Auch ein Kinderseelenforscher. Siehe weiter unten.

?) Von seinen Schriften, die in dieser Hinsicht bemerkenswert erscheinen, sind zu nennen: Die Bildewerkstatt für die Jugend, 1857, 2 Bde. Die Aus- und Zu- schneideschule f. d. Jug., 1856, 5 Hefte. Der Jugend Spiel u. Arbeit, 1879. Auf den alten Diesterweg machten gerade die beiden erstgenannten Werke einen tiefen Eindruck; er nennt sie »echte Produkte der Pestalozzischen Elementarmethode«. Vergl. Rhein. Blätter, N. F. LV. 1857, S. 23, ferner Diesterwegs ausgew. Schriften, herausg. v. Dr. E. v. Sallwürk, Bd. I, S. 416—425. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1899.

Von den übrigen Werken Georgens verdienen Beachtung: Medizinisch - päda- gogisches Jahrbuch der Levana für das Jahr 1858, mit Deinhardt u. Gayette heraus- gegeben. Dasselbe, mit zahlreichen Tafeln und Abbildungen, Porträts und Kranken- geschichten u. dergl. bildet eigentlich die Programmschrift der Levana und der damit verbundenen Projekte. Die mit Deinhardt allein edierte zweibändige Heil- pädagogik, Leipzig 1861—1863, enthält im ersten Bande die Begründung einer heil- pädagogischen Gesamtwissenschaft und im zweiten die Darlegungen über Idiotie und Idiotenerziehung in ihrem Verhältnis zu den übrigen Zweigen der Heilpädagogik und zur Gesundenerziehung. In Österreich istıman geneigt, dieses Werk Deinhardt allein zuzuschreiben und Georgens unlauterer Motive zu beschuldigen, eine Ansicht, die nicht aufrecht erhalten werden kann, die aber jedenfalls durch die traurige Lage, in die der persönlich ebenfalls makellose Deinhardt nach seinem Austritt aus der Levana geriet, beeinflußt wurde.

3) Vergl. Pädagog. Jahrbuch der Wiener pädagog. Gesellschaft. 3. Bd. 1880, S. 1—21. C. Huber, Österreich. Schulbote 1880, No. 7—8. F. Frisch, Pädagogische Bildnisse. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1888, S. 4—7. D. ist nicht zu verwechseln mit seinem Onkel Joh. H. Deinhardt, dem 1867 in Bromberg verstorbenen Gymnasialdirektor. |

310 B. Mitteilungen.

Tr, EEE

zimmern geboren. Er besuchte mit Goethes Enkel zusammen, das Gymna- sium zu Weimar, studierte in Jena und Halle Theologie, Philosophie und Geschichte. Schon in Halle verfaßte er mehrere Schriften über das Er- ziehungswesen, die Volksschule und ihre Nebenanstalten, die einen nicht gewöhnlichen Geist verraten. Im Jahre 1848 mußte Deinhardt wegen seiner politischen Ansichten fliehen, wodurch ihm für immer eine An- stellung im Vaterlande abgeschnitten wurde. 1856 zum Direktor des Gymnasiums zu Rudolstadt vorgeschlagen, an dem bereits der Kinder- psychologe Sigismund wirkte, verweigerte leider das Ministerium die Bestätigung. Zur selben Zeit lernte er in Weimar Georgens kennen, der ihn nach Wien zog, um gemeinsam mit diesen die Pläne der Levana verwirklichen zu helfen. Nach Auflösung derselben amtierte Deinhardt als Lehrer an den evangelischen Schulen und der Lehrerbildunganstalt der Kaiserstadt. Im Jahre 1878 plötzlich pensioniert und dadurch der bittersten Armut preisgegeben, starb der Schwergeprüfte, gebrochen an Leib und Seele, bereits am 10. März 1880. Beeinflußt von den Ideen Pestalozzis nach der pädagogischen, und von Fichte und Hegel nach der philosophischen Seite hin, suchte auch Deinhardt der Volksschule neue Wege zu weisen, die er theoretisch eingehend entwickelte. Das charakteristische derselben offenbart sich besonders darin, daß er das pädagogische Gebiet in nahe Beziehung mit der Ästhetik und Nationalökonomie gesetzt wissen wollte. Die Tendenzen Pestalozzis faßte er vorzugsweise von ihrer sozialen Seite auf. Wie Georgens so war auch Deinhardt von der Notwendigkeit einer neu zu begründeten Methode (Heilpädagogik) gegen das menschliche Elend tief überzeugt, was sich aus seinen Aufsätzen: Die Erziehung zur Arbeit durch die Arbeit, Die Gymnastik, Die pädagogische Bedeutung der Triebe und Neigungen, Über Heilhygiene usw., leicht erweisen läßt. Mit einer Schrift über Lehrerbildung und Lehrerbildungsanstalten war er seiner Zeit weit vorausgeeilt.

Marie von Gayette,!) die Tochter eines ÖOffiziers, erblickte am 11. Oktober 1817 zu Kolberg i. P. das Licht der Welt. Das dichterisch begabte und scharf beobachtende junge Mädchen fühlte sich schon früh von ernster Arbeit angezogen. Sie studierte eingehend die Fragen des Familienlebens, der Erziehung und der Frauenbewegung. Reisen erweiterten ihren Erfahrungskreis und der Verkehr mit bedeutenden Pädagogen ver- tiefte auch ihr soziales Interesse. Nachdem sie Gelegenheit gehabt hatte, Georgens in seiner beruflichen Wirksamkeit kennen und schätzen zu lernen, ward v. Gayette 1856 dessen Gattin, um mit demselben die Levana ins Leben zu rufen. Nach dem Verlust dieses Schaffenskreises und dem Tode ihres Gatten, lebte sie an verschiedenen Orten, bis sie am 14. Juni 1895 zu Leipzig starb. Schriftstellerisch ungemein tätig, war es ihr besonders darum zu tun, den Verkehrtheiten und Ausartungen des weiblichen Lebens entgegenzutreten und neue Richtlinien aufzustellen für eine angemessene praktische Betätigung desselben.

1) Vergl. F. Brümmer, Lexikon d. deutsch. Dichter etc. 1. Bd. S. 411—412. H. Groß, Deutsche Dichterinnen etc. II. Bd. Berlin 1885. S. 127—130.

1. Drei Vorkämpfer der Kinderforschung vor fünfzig Jahren. 311

Diese drei Persönlichkeiten verbanden sich also, um gemeinsam eine Reihe von Problemen zu lösen, deren notwendige Existenz ihnen un- erläßlich erschien. Das Unfertige der damaligen Volksschule und der da- durch bedingte Tiefstand der allgemeinen Volksbildung einerseits, sowie die fortwährende Zunahme und Nichtbeachtung sozialer Volksschäden ließ sie auf den Gedanken kommen, ein umfassendes Erziehungs- und Bildungs- institut zu begründen, um dadurch anregend und vorbildlich wirken zu können. Bei einer Umfrage an gelehrte und volkswirtschaftliche Gesell- schaften!) ergab sich, daß diesem Gedanken allseitige Zustimmung zuteil ward. Da aber neuen Ideen erfahrungsgemäß sehr oft Widerstand und Gleichgültigkeit entgegengesetzt wird, so beschloß man noeh vor dem Er- öffnen der Anstalt eine, die neuen Bestrebungen fördernde Zeitschrift?) zu edieren.

Das Institut selbst, trat am 14. Juni 1856 zu Baden bei Wien ins Leben. Nachdem die niederösterreichische Statthalterei die Genehmigung erteilt hatte, fand die Übersiedlung in das schön gelegene und geräumige Schloß Liesing statt. Der Charakter der Anstalt war zunächst durch die medizinisch-pädagogische Behandlung von gesunden und kranken Kindern aller Art, bedingt. Damit aber waren die gestellten Aufgaben noch lange nicht erschöpft. Eine Reihe an sich verschiedener Abteilungen sollte in ihrem Zusammenwirken sich gegenseitig ergänzen und die erzielten Er- gebnisse der allgemeinen Schulerziehung zugänglich machen, und somit die heilpädagogische Tendenz in die weitesten Kreise tragen. Unter dem Begriff »Heilpädagogik« verstanden Georgens und Deinhardt keines- wegs ausschließlich die erziehliche Betätigung an abnormen Individuen, sondern sie bezeichneten damit die Bekämpfung der Regelwidrigkeit in der gesamten Erziehung?) und ihrer Objekte überhaupt.

Somit gliederte sich auch die, diesen Zwecken dienende Institution in folgende Veranstaltungen:

Die Säuglingsabteilung.*) Sie hatte in erster Linie der wissen-

1) Die k. Leopoldinisch-Karolinische Akademie der Naturforscher in Breslau war über die vorgelegten Pläne derart erfreut, daß sie Georgens und v. Gayette zu Ehrenmitgliedern ernannte und ersterem den akademischen Namen »Pestalozzi-Fröbel« und letzterer »Levana« verlieh. In Erinnerung an Jean Pauls Erziehungslehre er- hielt später auch die Anstalt die Bezeichnung Levana.

2) Dieselbe erschien von 1856—1863 und nannte sich: »Der Arbeiter auf dem praktischen Erziehfelde der Gegenwart«, später »Sozialpädagogischer Arbeiter für die Volkserziehung«e. Der Inhalt beschäftigte sich mit der fortlaufenden Be- sprechung aller möglichen pädagogischen Fragen, Mitteilung von Tatsachen und Er- fahrungen, Kritik pädagogischer Erscheinungen usw. Insbesondere sollte die Zeit- schrift auch das gebildete Publikum für die Interessen der Schule gewinnen helfen.

23) Vergl. den 1. Band der »Heilpädagogik« und »Die Gegenwart der Volks- schule«. Wien 1857 ff. Erschienen sind 4 Hefte, die sich sämtlich mit der Kritik und Darstellung volkspädagogischer Fortschrittsversuche beschäftigen.

4) Die gleiche Idee hatte schon Dr. Guggenbühl auf dem Abendberge gehabt, um namentlich Material über die Entwicklung der kretinischen Kinder zu gewinnen zwecks angemessener Behandlung derselben. Er wurde aber verlacht und eine

312 B. Mitteilungen.

schaftlichen Beobachtung zu dienen, um das Verhältnis der angeborenen zu den hinzukommenden Entwicklungsstörungen festzustellen, daneben aber auch der geistigen und physischen Entfaltung des Kindes überhaupt. Wie modern die drei Pädagogen hierüber dachten, läßt sich deutlich aus dem Zusammenschluß von Freunden der Kinderpsychologie ersehen, um die wichtige vergleichende Forschung zu ermöglichen. Besonders die schon erwähnten Professoren Löbisch!) und Mauthner unterstützten diese Maßnahmen. Über den Gegenstand an sich macht Georgens folgende Mitteilungen,?) die aber auch die Schwierigkeit der Ausführung nicht verkennen:

»Im Zusammenhange mit dem Plane einer Säuglingsabteilung stand von vornherein der Plan zur Gründung eines Vereins für die Beobachtung des kindlichen Entwicklungslebens, zu welchem sich bereits eine kleine Zahl bekannter Männer als Mitglieder zugesagt haben. Die physiologische und psychologische Wissenschaft hat es bis jetzt zu einer wirklichen Ent- wicklungsgeschichte des menschlichen Organismus nicht gebracht, obgleich eine solche im Grunde die Voraussetzung für die durchgreifende Einsicht in das Wesen des menschlichen Organismus und für die medizinisch- pädagogischen Einwirkungen auf denselben ist. Die Einrichtung einer Säuglingsabteilung hat bei den hier gegebenen Verhältnissen allerdings große Schwierigkeiten, die ohne Unterstützung von außen schwerlich zu überwinden sein möchten. Wir haben indessen einen Anfang machen zu müssen geglaubt, und aus dem Wiener Findelhause uns ein zehn Tage altes Kind am 26. Mai v. J. (1857) übergeben lassen. Der kleine Paul, wie er hier getauft worden, starb aber schon nach acht Tagen an Kon- vulsionen. Herr Medizinalrat Prinz, der Direktor des k. k. Findelhauses in Wien, zeigte sich sehr eingänglich auf unsern Plan und hat uns (lessen Förderung in Aussicht gestellt, kann uns aber zunächst Kinder nur unter den gesetzlichen Bestimmungen überlassen, unter denen die Herstellung und Erhaltung einer Säuglingsabteilung für die Levana gegenwärtig

Bedeutung dieses Studiums der Kindheit verkannt. Guggenbühl sagt deshalb in seinem 1853 erschienenen Buche »Die Heilung u. Verhütung d. Kretinismus«, S. 82. »Solche Ansichten konnten nur daher kommen, weil man das Studium derselben (der Kinder) gänzlich vernachlässigt hat.«e Also Guggenbühl wäre in gewisser Hin- sicht auch als ein Vorläufer der Kindesforschung zu bezeichnen. Anscheinend haben die Levanagründer diesen Gedanken wieder aufgegriffen, da sie den Wert desselben klar erkannten, verstärkt durch Löbischs Buch (siehe nächste Anmerk.).

1) Verfasser der Entwicklungsgeschichte des Kindes. Wien 1851. Er starb schon vor der Gründung der Levana. Als Direktor des ersten öffentlichen Kinder- Krankenhauses zu Wien, bot sich ihm reichlich Gelegenheit, die Kleinen nach den verschiedensten Seiten hin eingehend beobachten zu können. Außer der »Ent- wicklungsgeschichte« veröffentlichte er noch die in mehreren Auflagen, 1848 und 1852, erschienenen »Studien zur Kinderheilkunde«, die das Seitenstück zur »Ent- wicklungeschichte« bilden, indem sie mehr die physische und ärztlich-pädagogische Seite der Erziehung betonen.

?) Jahrbuch S. 51.

1. Drei Vorkämpfer der Kinderforschung vor fünfzig Jahren. 313

finanziell unmöglich ist. Für die Wissenschaft wär es jedenfalls sehr förderlich, wenn in Säuglingsbewahranstalten die Beobachtung der kind- lichen Entwicklung organisiert und auf diese Weise ein vielseitiges Material von Erfahrungen gewonnen würde.«

Scheiterte also die Säuglingsbeobachtung in der Levana zunächst aus rein äußeren Gründen, so wurde die Sache selbst doch nicht außer acht gelassen. Einige Jahre später wird nämlich die Anlage von anthropo- logischen Tagebüchern !) (Individuallisten) gefordert und selbst einige kleinere Entwicklungsgeschichten ?) dargeboten, die in der Levana an Kindern auf- genommen waren, die nicht aus dem Wiener Findelhause stammten.

Die Krankenabteilung bestand in der Hauptsache aus geistes- schwachen Kindern aller Grade. Die Behandlung derselben richtete sich streng nach dem einzelnen Individuum. Das Ziel bildete die Versetzung in die

Gesundenabteilung.®?) Sie beherbergte in der Regel geistig normale Knaben und Mädchen mit Berücksichtigung sittlich besserungs- bedürftiger Kinder. Spiel, Arbeitsübung, Wanderungen und Unterricht wechselten hier in sinngemäßer Weise miteinander ab. Die Bildungszeit endete mit dem 14. Jahre, worauf dann die Schüler entweder in einen Beruf, in eine höhere Schule oder in die Lehrlingsschule eintraten. Die Befähigteren hoffte man zu Erziehern und Erzieherinnen mit bestimmter Richtung auf die Heilpädagogik auszubilden.

Für diese Zwecke war ein Seminar zur Heranbildung von theoretisch und praktisch zu schulenden Kräften geplant und auch teilweise in der Ausführung erprobt worden. Seine Aufgabe be- stand zunächst darin, einen Stamm von Erziehern zu schaffen, die mit dem Wesen heilpädagogischer Erziehungsmethoden vertraut, die geistig minderwertigen, verwahrlosten und sonstigen abnormen Kinder zweckmäßig zu leiten vermöchten. Auch Pädagogen und Mediziner sollten in diesem Institute im gemeinsamen Wirken einander näher treten, die gegenseitigen Maßnahmen kennen lernen und zum Nutzen der leidenden Kinder ver- wenden. Die Dauer des Kursus sollte mindestens ein Jahr währen.

Diese Institution harrt bis heute der Wiedererweckung, besonders in bezug auf Ausbildung von sogenannten Erziehungsgehilfen in den An- stalten für Schwachsinnige und Verwahrloste. Hier werden zumeist Kräfte aus allen möglichen Berufen verwendet, die, ohne die geringste Kenntnis von dem Zustande der ihnen anvertrauten Kinder zu besitzen, diese zweck- mäßig erziehen sollen, wovon natürlich keine Rede sein kann. Eine Aus- führung der Levana-Ideen wär hier sehr am Platze, denn außer dem guten Willen gehört auch eine systematische Vorbereitung zu dieser schwierigen Arbeit.

1) Heilpädagogik. I. Bd. S. 292.

?) In den beiden letzten Jahrgängen des »Arbeiters« enthalten.

5) Dieser Abteilung entsprechen zum gewissen Teil die heutigen Land- erziehungsheime, wie sie in Ilsenburg, Haubinda usw. bestehen. Vergl, »Deutsche Land-Erziehungsheime«. Leipzig 1906.

314 B. Mitteilungen.

Große Hoffnungen wurden an die »doppelte Lehrlingsschule« geknüpft. Ihrer Einrichtung nach trug sie einen zweifachen Charakter. Einmal hatten hier diejenigen geistig minderbegabten Schüler »welche über das Alter der Volksschule hinaus sind (und wo es) durchaus notwendig erscheint, daß sie in besonderer Art und Weise und in demselben Lebens- kreise, in welchem ihre Heilung bis zu einem gewissen Grade durch- gesetzt worden ist,« 1) ihre Ausbildung in einem Handwerk oder in der Garten- und Landwirtschaft empfangen. Dann aber sollten auch geistig gesunde Lehrlinge in dreijähriger Lernzeit Unterweisung für ihren Beruf erhalten, um eine ziemliche Auswahl von einzelnen Arbeitszweigen zu er- möglichen. Ein besonderer Zweck dieser Lehrlingschule war auch der, Theorie und Praxis des betreffenden Berufes miteinander zu verbinden und die Lernenden durch gesunde und bildende Erholung, gymnastische Übungen und sonstige Maßnahmen psychisch und physisch vor Degeneration zu bewahren.

Zu diesen Veranstaltungen der Levana trat alsdann noch die ein- gehende Propaganda für die Einführung des Arbeitsunterrichts in der Volksschule, 2) den Deinhardt und Georgens wie schon aus dem vor- hergehenden sich ergibt, ein besonderes erziehliches Moment beimaßen. Die Idee der Erziehung zur Arbeit durch die Schule fand damals noch vielen Widerspruch, hat sich aber dennoch siegreich Bahn gebrochen und wird in der Gegenwart fast allgemein anerkannt. In ihren instruktiven, auch heute noch nicht veralteten »Thesen« ®) für den Wohltätigkeitskongreß zu Frankfurt und für die allgemeine Deutsche Lehrerversammlung in Weimar (1858), bieten die Verfasser in bezug auf dieses Thema sowie die Hebung der Volksschule überhaupt, wertvolle Direktiven.

Schließlich sei auch erwähnt, daß die Levana-Pädagogen die Einrich- tung von »heilpädagogischen« Konferenzen dringend für nötig hielten. Das Arbeitsprogramm dieser Veranstaltungen sollte so ziemlich das Gepräge der »gesamten Kinderfürsorge« tragen, ähnlich dem von Direktor Trüper mit großer Beharrlichkeit ins Leben gerufenen Kongreß.

Hieran schloß sich endlich der Wunsch betreffend Herausgabe einer »heilpädagogischen Zeitschrift«. Man hoffte, um diesen Gedanken verwirk- lichen zu können, das »Mediz.-pädagog. Jahrbuch« allmählich zu einem

1) Jahrbuch S. 53, 289—290. Mit ähnlichen Bestrebungen traten um 1860 herum die Gebr. Labitte in Frankreich (vergl. Hilfsschule No. 7, 1907) hervor. Die Kolonien zu Pleischwitz b, Breslau, Gut Perle b. Bremen, sowie die auf der Sophienhöhe b. Jena und die in Schleswig-Holstein und von Frankfurt a. M. aus projektierten Institute sind bis dato die einzigen Zweige dieses Baumes, abgesehen von Handwerkerbildungsanstalten, wie sie z. B. in Gemünd, Urft usw. für Rettungs- haus-Kinder bestehen.

?) Vergl. A. Pabst, Die Knabenhandarbeit in der heutigen Erziehung. Leipzig 1907. 8. 25. 26. Jahrbuch S. 298—300.

®) Wir hätten die Thesen hier gern wiedergegeben, müssen jedoch auf unsere später erscheinenden Publikationen: Geschichtliche Entwicklung der österreichischen Schwachsinnigenfürsorge und eingehende Darstellung der Bestrebungen von Georgens und Deinhardt verweisen,

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2. Die Fürsorge-Erziehung im braunschweigischen Landtage. 315

regelmäßig erscheinenden Fachblatte zu erweitern. Doch mußte dieser Vorsatz unterbleiben, da außer einigen wenigen, nicht genügend Inter- essenten zu finden waren. Wie gering dieses vorhanden war, beweist am besten der 1871—1872 von P. Hübner in Wien herausgegebene »Heilpädagog«e, an dem Deinhardt mitarbeitete, und der sein Erscheinen bald wieder einstellte.e Denn erst der jüngsten Vergangenheit ist es be- schieden gewesen, und das zu einem großen Teile der Initiative dieser Zeitschrift (f. Kinderforschung, Kinderfehler), den Plänen und Projekten der Levana-Gründer neues Leben einzuhauchen. Was jene in jahrelangem Kampfe vergeblich zu erstreben suchten, findet in der Gegenwart offene Ohren und willige Hände.

Zehn Jahre lang, 1856—1866, blühte die Levana, dann trat der Rückschlag ein. Böswillige Verleumdungen und Verdächtigungen der Jesuiten samt dem für Österreich unglücklich ausgehenden Kriege be- siegelten das Schicksal der Anstalt. Als ein Fehler, und vielleicht nicht der kleinste muß es entschieden bezeichnet werden, daß die Gründer der Projekte zuviel auf einmal verwirklichen wollten, statt sie nacheinander zu realisieren. Die stumpfe Gleichgültigkeit damaliger Zeiten gegen derartige Bestrebungen trägt natürlich auch ein gut Teil Schuld mit. Vergeblich hatten die drei Bahnbrecher Vermögen, Zeit und Kraft einer guten Sache geopfert; ihrer Saat war keine Ernte beschieden, trotz mehrfacher, selbst kaiserlicher Anerkennung. Ehre ihrem Andenken!

2. Die Fürsorge-Erziehung im braunschweigischen Landtage.

Von M. Kirmsse-Ketschendorf a. d. Spree (früher Braunschweig).

Zu den äußerst schwierigen sozialen Problemen der Gegenwart ge- hört entschieden die Fürsorgeerziehung. Diese wichtige Frage wird niemals ihre endgültige Lösung vom grünen Tische aus finden können; aber eben- sowenig wird sie sich ohne Mitwirkung der gesetzgebenden Körperschaften erledigen lassen. Sehr häufig werden Bestimmungen über Bestimmungen erlassen, die den Kern der Sache vollständig illusorisch machen. Es sei hier z. B. an das Gesetz!) betreffend die Ausbildung nicht vollsinniger usw. Kinder vom 30. März 1894 für das Herzogtum Braunschweig erinnert. Dasselbe hat ja eine sehr freundliche Aufnahme bei allen Menschenfreunden gefunden, und doch enthält es Ausführungen, die von nicht allzugroßem praktischen Verständnis zeugen. In $ 1 heißt es, daß Kinder wegen unzulänglicher Bildungsfähigkeit »für die Dauer des schulpflichtigen Alters in den zur Ausbildung solcher Kinder bestimmten Anstalten untergebracht werden«e müssen. Das heißt also, schwachsinnige Kinder müssen mit Vollendung ihres 14. Lebensjahres das Ziel der Ausbildung erreicht haben. Wieviel es wirklich erreichen, ist natürlich eine andere Frage; jedenfalls

1) Vergl. d. Zeitschr. II. Jahrg. S. 120—122, IV. Jahrg. S. 140, V. Jahrg S. 277—279.

316 B. Mitteilungen.

nur sehr wenige Schüler, vorausgesetzt daß diese besonders früh in die Anstalt eintreten. Sehr viele unverständige Eltern aber nehmen ihre Kinder, sobald sie 14 Jahre alt geworden sind, aus dem Institut hinweg und entziehen dieselben so der wohltätigen erziehlichen Einwirkung, die sie noch mindestens 2—3 Jahre nötig gehabt hätten. Was später mal aus diesen Kindern werden soll, wird nicht bedacht. Alle vernünftigen Vorhaltungen prallen an dem Eigensinn ihrer Erzeuger ab. Hierbei kann man sehr häufig auch zu hören bekommen, daß das Gesetz es doch so vorschreibe. Der Grund, warum die Kinder aus ihrer noch nicht ab- geschlossenen Entwicklung herausgerissen werden, ist fast immer ein egoistischer: die Kinder sollen arbeiten, Geld verdienen, während sonst für sie noch bezahlt werden müßte. Nun sind aber die Kinder noch nicht an die Arbeit gewöhnt sollte dieses der Fall sein, dann müßte es systematisch geschehen, woran es in vielen Anstalten noch sehr mangelt, folglich werden sie überanstrengt, es macht sich Unlust zur Arbeit geltend, die Eltern müssen wohl oder übel nachgeben, und so kommt denn schließlich ein vollständig negatives Resultat heraus: die Erziehung war verfehlt.

Eine Änderung des Gesetzes, die das Übel beseitigt, ist aber nicht so leicht zu erreichen, wie es wünschenswert wäre. Daß sie dennoch er- folgt, ist als ein Akt absoluter Notwendigkeit zu bezeichnen.

Bemerkenswert ist es nun auch, wie auf dem Gebiete der Fürsorge für Verwahrloste dieselben Körperschaften, die bei der gesetzlichen Regelung mitwirken, die Ergebnisse dieser Fürsorgeerziehung bewerten. Davon boten jüngst die Verhandlungen der braunschweigischen Landesversammlung ein bezeichnendes Bild, das wir im Interesse der Sache hier darbieten.

Bekannt ist ja, wie schwer es hält, die Objekte der Fürsorge, nämlich die Kinder selbst, nach ihrer anstaltlichen Behandlung, so unterzubringen und so zu überwachen, daß sie wirklich brauchbare Glieder der mensch- lichen Gesellschaft werden. In der fraglichen Versammlung nun wurde von einem Abgeordneten die Frage der Verwendung von entlassenen Zwangszöglingen in der Landwirtschaft angeschnitten. Es handelt sich hier um die herzogliche Erziehungsanstalt Wilhelmstift zu Bevern.!) In der Debatte sprach der Abgeordnete Lambrecht die denkwürdigen Worte:

»Ich stehe auf dem Standpunkte, wir Landwirte wollen von Bevern gar keine Arbeiter haben, die können wir nicht gebrauchen. Auch wenn Aufseher mitkämen, leisten die Jungen zu wenig, die Aufseher sind meist zu human«.

1) Sie besteht als solche seit 1871 zur Bewahrung und Rettung Jugendlicher, deren Aufnahme 1. von den Vätern beantragt, 2. gerichtsseitig wegen ungenügender sittlicher Erziehung, 3. wegen verübter strafbarer Handlung oder 4. auf Grund des 8 56 des Reichs.-Str.-Ges. verfügt wurde. Am 1. Januar 1908 zählte die Anstalt 195 Knaben und 88 Mädchen. Provisorisch entlassen sind 281 Knaben und 85 Mädchen. Am 1. April 1907 wurden 72 Kinder, 47 schulpflichtige und 25 schul- entlassene in Familien untergebracht. Die Erfahrungen hierbei sind durchweg als günstig zu bezeichnen.

2. Die Fürsorge-Erziehung im braunschweigischen Landtage. 317

Weiter äußerte derselbe Abgeordnete, daß die größten Feinde der- artiger Anstalten die Bezirksvorsteher mit ihren zu weitgehenden Humanitäts- bestrebungen seien, was er durch eine in früheren Jahren unternommene Studienreise in sächsischen Anstalten erwies.

Ganz objektiv betrachtet, wird durch obige Worte eine Bankerott- erklärung der staatlichen Kasernenerziehung ausgesprochen. Selbst wenn man den Auslassungen eines einzelnen Abgeordneten nicht allzuviel Ge- wicht beilegen möchte, so bieten die Ausführungen des Geh. Rat Hartwieg, die die Antwort auf das von dem Abgeordneten Lamprecht Vorgebrachte enthalten, doch eine Bestätigung derselben. Der Minister erklärte nämlich: Bevern könne mit seinen Erziehungsresultaten zufrieden sein. Vor großen Ausschreitungen und Revolten sei man dort bisher verschont geblieben. Es liege das an der richtigen Art und Weise der Erziehung. Es müßten aber notwendigerweise besondere Räume für die besonders schwer erzieh- baren Zöglinge geschaffen werden. Doch sei zu befürchten, daß auch diese Maßnahme kaum genügen werde für diejenigen Elemente, die eigent- lich ins Arbeitshaus gehörten. Sie dahin zu bringen verbiete das bürger- liche Gesetzbuch; aber es sei zu erwägen, ob man nicht eine zweite Ab- teilung der Gefangenenanstalt als Arbeitshaus für derartige Individuen, an- gliedern könne.

Daß das staatliche Fürsorgegesetz vielfach den tatsächlichen An- forderungen nicht genügen kann und nicht genügen wird, ist eine Tat- sache, so alt wie das Gesetz selbst und auch genugsam erörtert, nicht zum wenigsten in den Spalten dieser Zeitschrift. So lange die Erziehungs- gesetzgebung auf diesem Gebiete ihren Standpunkt nicht ändert zugunsten einer wahren und echten Erziehung, d. h. auf pädagogischen Prinzipien, statt Polizeiparagraphen aufgebaut wird, so lange werden auch die Erfolge problematisch bleiben.

Fort und fort wird der Ruf erhoben werden, von den einen: die Erziehung ist zu human, strenger müßt Ihr werden, Ihr Erzieher, mehr Gewaltmaßregeln Eurer Methode einfügen, dann wirds helfen! und die andern: das Kind ist ein noch im Werden begriffenes Wesen und selbst der junge Bursche ist noch nicht fertig, darum bilde stets das Objekt den Ausgangspunkt aller Maßnahmen und nicht eine, alles im Keime er- stickende Schablone!

Gerade diese Schablone ist es ja zumeist, die den Kindern den Stempel einer Anstaltspflanze aufdrückt, so daß sie sich später im Leben nicht mehr zurechtfinden können und darum der menschlichen Gesellschaft schaden müssen.

Und nun zum Schluß noch ein Rätsel: Wie ist es möglich, daß gerade der edle Dr. Barnardo!) in der Erziehung verwahrloster Kinder so große Erfolge erreichte?

1) Über amerikanische Erziehungsanstalten und Jugendgerichtshöfe ist in den letzten Jahren genugsam berichtet worden, aber Dr. Barnardos Erziehungs- und Besserungsmethoden sind bisher noch nicht genügend dargestellt und erörtert worden. Siehe Literaturbericht des Juniheftes im laufenden Jahrgang dieser Zeitschrift,

318 B. Mitteilungen.

3. Aus den Verhandlungen des 7. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für orthopädische Chirugie zu Berlin heben wir die sich mit Krüppelfürsorge beschäftigenden der zweiten Nachmittagssitzung besonders hervor. Dr. Biesalski-Berlin gab die Resultate der amtlichen Zählung jugendlicher Krüppel in Deutschland bekannt. Abgesehen von Bayern, Baden und Hessen, wo eine Sonder- statistik erfolgte, fand man unter 75000 Krüppeln unter 15 Jahren nicht weniger als 42000, deren Behandlung und Erziehung in Krüppelheimen von Ärzten für nötig erachtet wurde. Ganz Deutschland hat für etwa 50000 hilfsbedürftige Kinder nur 2826 Betten in 32 Krüppelheimen bereit. Diese äußerst beredte Statistik hat bis jetzt den Neubau von weiteren 12 Krüppelheimen angeregt, unter denen die Berliner Anstalt in

einem Jahre 100 Betten belegte.

Die Fortschritte auf dem Gebiete der Krüppelfürsorge besprach Dr. Rosenfeld-Nürnberg. Widmeten sich die Anstalten einst im wesentlichen der Erziehung und beruflichen Ausbildung, so gelingt es der Orthopädie heute weit mehr Gebrechen wie früher zu heilen. Der Redner forderte auch für die Krüppel gesetzliches Recht auf Hilfe, welche bestehen müßte in ausgiebiger ärztlicher Behandlung, Erziehung zu den Zielen der Volksschule, Ausbildung geeigneter gewerblicher Tätigkeit, Versorgung der Unheilbaren und Beschäftigung der halben Kräfte auch in vorbeugenden Maßregeln. Er befürwortete deshalb Einrichtungen von Beratungsstellen und Polikliniken und von allerhand Erholungsstätten (Kolonien, Bädern) für jugendliche Krüppel.

Einstimmig beschließt die Versammlung folgende von Prof. Lange- München aufgestellten Thesen den Regierungen aller deutschen Bundes- staaten, die Universitäten besitzen, zuzustellen: 1. Dringend erwünscht für die Krüppelfürsorge ist eine bessere orthopädisch-chirurgische Ausbildung der Studierenden und Ärzte an den Universitäten. 2. Zu diesem Zwecke ist für die größeren Universitäten die Schaffung von Lehraufträgen für orthopädische Chirurgie und die Errichtung von orthopädischen Polikliniken mit einer kleinen Anzahl von Betten notwendig. 3. Diese Polikliniken müssen vollständig unabhängig von den chirurgischen Kliniken sein und, um die Studierenden heranzuziehen, wenigstens teilweise Prüfungsrecht besitzen.

4. Zwei Mitteilungen, die Gerichtspflege Jugendlicher betr. Allen Interessenten werden folgende zwei typische Fälle zur Er- wägung auf Abhilfe unterbreitet.

1. Fall: Eine rechtliche Frau läßt sich von ihrem Manne, einem

Rauf- und Trunkenbolde, scheiden. Das Gericht spricht ihr 2 noch schulpflichtige, dem Vater 2 nicht mehr schulpflichtige Kinder zu. In Wirklichkeit bleiben auch die beiden älteren Kinder nicht bei dem Vater, sondern ziehen zur Mutter. Die heiratet einen rechtlichen zweiten

4. Zwei Mitteilungen, die Gerichtspflege Jugendlicher betr. 319

Mann, und dieser erzieht die Stiefkinder in verständiger Weise. Doch der älteste Sohn nun 18 Jahre alt will sich dem nicht mehr fügen: »Du bist nicht mein Vormund; mein rechter Vater ist mein Vormund«e. Der Bursche gerät auf Abwege, stiehlt. Das Gericht be- nachrichtigt nun nicht die Mutter oder deren zweiten Mann, sondern den meist trunkenen Vater von den Straftaten des Sohnes und der bevor- stehenden Gerichtsverhandlung, handelt gesetzmäßig, aber widersinnig. Denn der Trunkenbold kümmert sich auch jetzt nicht um die Be- strafung und Erziehung seines Sohnes.

Zwar werden die Ehescheideakten wohl in allen Fällen dem Vor- mundschaftsgerichte unterbreitet, bei denen es sich auch um minderjährige Kinder handelt. Allein dasselbe ist selten in der Lage, ohne eingehende Erkundung die schwere Frage richtig zu beantworten, ob dem Kinde ein Vormund oder Erziehungsbeirat zu bestellen sei, oder ob man dem betr. Elternteile die Erziehung ohne weiteres überlassen dürfe. Jugend- fürsorgevereine oder Waisenräte sollten angegangen werden und bereit sein, die nötigen Erkundungen einzuziehen und der Obervormundschaft zu unterbreiten, sollten ihren erziehlichen Einfluß auf sittlich gefährdete Kinder Geschiedener mit erstrecken.

2. In diesen Tagen stand in einer Zeitung folgende Notiz:

»Durch widersinniges Leugnen suchte heute der 28 Jahre alte Maurer M. von hier seine Lage vor dem Schöffengerichte zu verbessern, erreichte aber hierdurch nur das Gegenteil. Der Mann, der bereits mehrmals vorbestraft ist, sollte eigentlich schon soviel Kenntnisse ge- sammelt haben, um zu wissen, daß bei erfolgter Überführung es ent- schieden ratsam ist, um milde Strafe zu bitten, anstatt frech und trotzig zu leugnen oder die Zeugen zu beschimpfen usw.«

Tatsache ist: Arno M. ist erblich belastet. Vater und Mutter sind geisteskrank. Er selbst besuchte mit geringem Erfolge die Hilfsschule, wurde später öfters bei Verstößen gegen die Polizeiordnung als nicht recht zurechnungsfähig freigesprochen. Mit seiner Mündigkeit hörte diese Nachsicht auf. Anstatt den geistig beschränkten, nicht ganz ungefährlichen Menschen in eine Arbeitsanstalt zu bringen, beurteilt und bestraft man ihn als Normalen.

Die Plauener Hilfsschule will über ihre Moralisch-Schwachsinnigen nun bei der Polizeibehörde Charakteristiken hinterlegen, die event. bei der Heimatbehörde im Strafregister vermerkt werden und dann bei jeder Ver- handlung zur Kenntnis des Gerichtes kommen.!) Allein wir möchten nicht, daß diese Charakteristiken zu Freibriefen würden. Jeder Staat muß sich entschließen, Arbeitsstätten für Moralisch-Schwachsinnige zu errichten. Solche Anstalten könnten aus Arbeitslehrkolonien für halbe Kräfte (Breslau) hervorgehen. Zwar haben diese Kolonien zunächst nur vorbeugenden Charakter, können aber recht wohl vorerst einzelne Gescheiterte mit auf- nehmen. Später sind diese besonderen Arbeitsanstalten zuzuweisen. Man

1) Frenzel hat im Vorworte zum neuen Hilfsschulkalender unseren Vorschlag nun auch zu dem seinigen gemacht.

320 C. Literatur.

hat dann in den Arbeitslehrkolonien die nötigen pädagogischen Erfahrungen

gesammelt. Und das Bedürfnis nach Arbeitsanstalten hat sich geltend

machen können, wird nun über die Größe der neuen Anstalten entscheiden. Delitsch.

C. Literatur.

Bleuler, Affektivität, Suggestibilität und Paranoia, Halle, Carl Marhold, 1906.

Diese vorwiegend psychologische Arbeit enthält zahlreiche klärende Beobach- tungen und Deutungen aus Gebieten des Seeienlebens, die auch in der Seele des Kindes und Schülers eine große Rolle spielen. Ich kann leider nur wenige Stich- proben geben. Die Gefühle von Lust und Unlust, die fast jeden unserer Denk- vorgänge begleiten, werden als Affektivität bezeichnet. Sie ist, viei mehr als die Überlegung, das eigentlich treibende Element aller unsrer Handlungen und Unterlassungen. Sie ist gegenüber den Erkenntnisvorgängen (Intelligenz!) selbständig. So können sich Affekte übertragen und ausbreiten, sich auf Grund körperlicher Zu- stände entwickeln. Eine der wichtigsten Äußerungön der Affektivität ist die Auf- merksamkeit (ziemlich gleich Interesse). Die Aufmerksamkeit des Kindes kann nur dann auf einen Gegenstand geriehtet und derselbe wirklich erfaßt werden, wenn es dem Lehrer gelingt, ihn mit affektbetonten Vorstellungen in Verbindung zu bringen. Die Aufmerksamkeit ist eine Seite der Affektivität, die genau das Gleiche tut was die Affekte tun: Gewisse Gedankenverbindungen (Assoziationen) bahnen, andere, störende, hemmen. Die Affektivität wird vom Kinde mit auf die Welt gebracht und führt schon längst zu instinktiv richtigen Schlüssen, ehe die ent- sprechenden Gedankenverknüpfungen vorhanden sind. 3 anschauliche Beispiele leb- hafter Affektivität beim 2jähr. Kinde. Die Erwerbung des Weltbildes beruht auf den gleichen Analogieassoziationen wie die Logik des Erwachsenen. Was der In- telligenz des Kindes fehlt, ist der Erfahrungsinhalt. Die Affektivität braucht keinen Inhalt, kein Material von außen zu bekommen, die Erfahrung gibt in den Erleb- nissen nur die Gelegenheit zum Produzieren eines Affektes. Durch die Erziehung werden entsprechende ethische Vorstellungen in überwertiger Weise gefühlsbetont. Idioten können natürlich keine Gefühle bilden zu Vorstellungen, die ihnen fehlen. Sie sind aber sehr schöner und mächtiger instinktiver Affekte fähig (Liebe, Auf- opferung). Umgekehrt ist hohe intellektuelle Entwicklung mit Kenntnis, aber sehr geringer oder fehlender Gefühlsbetonung ethischer Begriffe möglich (moralische Idiotie). Aus allem geht hervor, wie die Affektivität unabhängig ist von der In- telligenz, was dem Erzieher viel zu überlegen gibt.

Die Suggestion ist ebenfalls ein affektiver Vorgang. Sie ist das für die Herde, die Gemeinschaft, was der Affekt für den einzelnen ist. Sie dient dazu, Affekte und gefühlsstarke Vorstellungen mitzuteilen. In dieser Eigenschaft unterstützt sie den Lehrer, den Befehlshaber bei der Massendisziplin. Das Kind hat nicht nur ein angeborenes Verständnis, sondern auch eine angeborene Resonanz für Affekt- äußerungen. Ältere Kinder werden leicht »angesteckt«, Säuglinge reagieren auf Miene und Tonfall mit dem entsprechenden Affekt. Neben der Suggestibilität be- steht gleichzeitig in jeder Seele eine primäre Neigung, Einflüsse von außen abzu- lehnen, die Wurzel des Eigensinns (konträre Suggestion).

Galkhausen (Rhld.). Dr. med. Hermann.

Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensaiza,

Friedrich Mann.

A. Abhandlungen.

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Zum Gedächtnis unserer Verstorbenen. 1. Friedrich Mann +.

Als für das neubelebte Studium der abnormen Entwicklung der Kindesseele, der pädagogischen Pathologie, ein eigenes Organ notwendig wurde, da erklärte der Leiter der Firma Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza, Herr Fræprica Mann, sich sofort bereit, uns durch Übernahme des Verlages dabei behilflich zu sein, Er war zwar der Überzeugung, daß eine solche neue Spezialität, wo- für wir anfangs kaum ein paar Mitarbeiter zu gewinnen vermochten, für einen Verlagsbuchhändler kein »Geschäft« sei, es sei aber eine selbstverständliche Pflicht eines Verlegers, auch durch finanzielle Opfer eine gute Sache zu fördern. Auch später hat er in gleicher Weise unsere Bestrebungen zu fördern gesucht, gleichviel ob es galt, den Umfang dieser Zeitschrift ohne wesentliche Preiserhöhung zu erweitern oder aus dem Zweimonatsheft ein Monatsheft zu gestalten oder durch unentgeltlich gelieferte Sonderabdrücke für irgend einen guten und nützlichen Gedanken das Werben zu ermöglichen oder den Verlag des sehr umfangreichen Berichtes des Kongresses für Kinderforschung und Jugendfürsorge zu übernehmen. Stets war es ihm um die Sache selbst, erst in zweiter Linie um das Verlagsgeschäft zu tun. Auch die Idee der Ergänzung unserer Zeitschrift durch ein neues Spezial- organ für die Hilfsschule hat er gleich den Herausgebern wohl- wollend begrüßt, und er war abermals bereit, auch hier durch die

Zeitschrift für Kinderforschung. XIII. Jahrgang. 21

322 A. Abhandlungen.

günstigsten Verlagsbedingungen der Sache zu dienen, und nur die ganze Art und Weise der Behandlung der Frage seitens ihrer Ver- treter führte schließlich zu einem gemeinsamen Nein, was bei dieser Gelegenheit unsern Lesern andeutungsweise zur Aufklärung gesagt sein mag.

Aber nicht bloß als Verleger unserer Zeitschrift und des Kongreß- berichtes hat er unsere gute Sache gefördert. Er war selbst Heraus- geber eines der verbreitetsten Pädagogischen Zeitschriften, der »Deutschen Blätter für erziehenden Unterricht«, und hat auch hier so manche Arbeit aus unserm Gebiete gebracht, wovon das Ver- zeichnis der Sonderausgaben der Abhandlungen im »Pädagogischen Magazin« den Leser bald überzeugen kann.

Namentlich aber hat er durch den Verlag der beiden starken Auflagen des »Encyklopädischen Handbuchs der Pädagogik« von Prof. Reın, das auf meinen Vorschlag hin auch das Gebiet der Pädago- gischen Pathologie wie das der Kinderforschung überhaupt mit ency- klopädisch verarbeitet hat, sich wiederum in einer wesentlich andern Richtung für unsere Sache Verdienste erworben.

Es geziemt sich darum, dem Verstorbenen an dieser Stelle einen Denkstein der Dankbarkeit zu setzen und in unserer Zeitschrift für genetische Psychologie auch der Genesis der Psyche dieses Mannes in etwas nachzugehen.

Frieprıch Mann wurde am 5. September 1834 in Langensalza geboren. Sein Vater war ein ehrsamer Handwerksmeister. Wie es damals üblich war, hatte dieser während seiner Gesellenzeit ein gutes Stück von Mitteldeutschland durchwandert und sich darnach mehrere Jahre in Südfrankreich, insbesondere in Marseille zurzeit Napoleons L, sowie in der Schweiz in Genf aufgehalten. Von hier aus kehrte er in schon gereifteren Jahren in seine Heimat Langensalza zurück, ließ sich hier als Meister nieder und heiratete ein Bürgermädchen seiner Vaterstadt. Aus dieser Ehe gingen eine Anzahl Kinder hervor, die bis auf 3 in jugendlichem Alter starben. Das jüngste aller Kinder, ein Spätling, war Frreprich Mann. Als dieser ungefähr 10 Jahr alt war, zog sich sein Vater infolge eines Sturzes auf der Treppe ein langwieriges und schmerzhaftes Rückenmarksleiden zu, dem er nach einigen Jahren erlag. Das Siechtum des Vaters und die schlechten Zeiten bewirkten, daß das Vermögen immer mehr schwand und die Familie verarmte. So mußten die Kinder schon früh des Erwerbes wegen arbeiten lernen. Auch der Jüngste erwarb sich seit dem elften Jahre in seiner schulfreien Zeit durch Kolorieren einige Groschen. Oft hat er noch seinen Kindern erzählt, daß er im Jahre 1847, dem

Trürer: Zum Gedächtnis unserer Verstorbenen. 393

großen Hungerjahre, mit einer Schwester die ganze Stadt durch- wandert sei, um der Mutter zum Geburtstage als Geschenk zwei Brote zu kaufen. Nach langem Suchen gelang es den Geschwistern für je einen Taler, die sauer genug verdient waren, sie zu erwerben. So war der Ernst des Lebens schon früh an den Knaben herangetreten, und wahrscheinlich hat dieser Schutzengel »Armut« auch ihn noch später im Kampfe des Lebens gestählt und ihn vor manchen Fährlich- keiten und Versuchungen beschirmt, denen mancher Jüngling mit gefüllten Taschen erliegt. Nach dem Tode des Vaters erkrankte auch die Mutter schwer an Gicht. Der jüngste Sohn hat sie seit seinem 20. Jahre unterhalten und sie von Anfang an treulich gepflegt bis zu seinem 34. Lebensjahre, als sie hochbetagt durch den Tod von ihrem Leiden erlöst wurde.

Mann bewies von Kind auf, daß man auch ohne höhere Schulbildung ein wahrer Mann des Geistes und des Gemütes werden kann. Die Schule des Lebens mit ihren ernsten Sorgen in der Familie ersetzt keine Schulbank, die Bekundung der Elternliebe keine Kameradschaft, die übermittelten Lebenserfahrungen des Vaters keine Geographie- und Geschichtsstunde. Aber auch die Blumen des Feldes, die Bäume des Waldes, der Käfer am Boden, der Vogel in der Luft, der rauschende Bach wie das feste Gestein wurden ihm zum Lehrer, und durch Selbststudium und Privatunterricht brachte er es so weit, daß er das Seminar- Abgangsexamen in Weißenfels mit Auszeichnung bestehen konnte. Diese notwendige Kontrolle seiner Selbststudien gab ihm aber nur Ansporn zu neuem Lernen; daneben allerdings auch Amt und Brot. Er wurde zunächst Hauslehrer in einer Thüringer Adelsfamilie und trat dann später in den Schuldienst seiner Vater- stadt ein. Daneben erlernte er Französisch und Englisch und be- schäftigte sich eingehend mit Germanistik wie mit Philosophie. Wer persönlich in nähere Beziehung zu ihm gekommen, hat erfahren, daß diese Studien nicht bloß seinen Kopf erhellt und ihm eine reife, objektive einheitliche Weltanschauung, sondern auch seinem Charakter ein philosophisches Gepräge gegeben hatten.

Als Lehrer trat Mann in nahe Beziehungen zu Hermann Beyer und dessen »Verlagskomptoir«. Beyers Tochter wurde seine Gattin und er wurde die Seele des Verlages. Von dem Tage ab, wo Hermann Beyer das Verlagskomptoir übernommen hatte, ist bis in die jüngste Zeit nichts in den Verlag aufgenommen worden, was Mann nicht geprüft und für gut befunden hat. Aber Mann wurde auch zugleich ein Hauptautor des Verlages. Seit 1869 erscheint von ihm die ə Bibliothek pädagogischer Klassikere. Sie ist die älteste Sammlung

21*

324 A. Abhandlungen.

ihrer Art. Der soeben erschienene 43. Band beweist, daß sie auch dıe umfangreichste ist und nach der Höhe der Auflagen zu schließen, die verbreitetstee Im Mittelpunkte derselben stehen Pestalozzis Werke, von Mann selbst herausgegeben. Seit 1873 gab Mann die »Deutschen Blätter für erziehenden Unterricht« heraus. Sie gehören zu den gelesensten Schulblättern. Vom »Pädagogischen Magazin« sind 351 Hefte erschienen, darin manche Abhandlungen von hervor- ragendem und dauerndem Werte. Als Frucht seiner germanistischen Studien erschien das » Wörterbuch der deutschen Sprache« (8. Aufl. 1908), »Der Deutsche Aufsatz« u. a. m.

Als Hermann Beyer 1877 starb und sein Sohn Albin hoffnungs- los erkrankte (t 1880), war Mann gezwungen, aus dem ihm lieb- gewordenen Schuldienste auszuscheiden und die Leitung des Ge- schäftes am 1. Januar 1879 zu übernehmen. Unter dieser Leitung hat der Verlag sich außergewöhnlich gehoben. Hervorragende Männer auf pädagogischem und philosophischem Gebiete stellten sich ihm zur Verfügung, wie Srtoy, ZILLER, VON SALLWÜRK, FLÜGEL, AnprEi, REN, Münca u. a. Ein verdienstvolles Unternehmen war die Herausgabe von Herbarts sämtlichen Werken durch Dr. Krursaca, ein noch bedeut- sameres und einflußreicheres, das Encyklopädische Handbuch der Pädagogik von Prof. Dr. Rem. Mehr als 250 angesehene Schriftsteller haben daran mitgearbeitet. Wohl noch nie hat eine solche umfang- reiche Encyklopädie so rasch die 2. Auflage erlebt.

Seit dem Jahre 1894 erscheint die »Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik« von Rem und FLüGEL, seit 1896 unsere »Zeitschrift für Kinderforschung«, daneben die »Beiträge für Kinderforschung und Heilerziehung«.

Neben dem Buchverlag besteht noch ein umfangreicher Musikalien- verlag. Mann selbst gab heraus: »Archiv klassischer Kompositionen für eine und zwei Violinen, für Violine und Pianoforte, sowie für Streichquartett«, ferner die »Pianofortebibliothek«e und »Klassische Kompositionen für Klavier, von Clementi bis Beethoven progressiv fortschreitend«e (6. Bde). Mann hatte auch nicht minder hervor- ragenden Anteil an der Begründung der von Prof. Erxst Rasic unter Mitwirkung der hervorragendsten Musikschriftsteller heraus- gegebenen »Blätter für Haus- und Kirchenmusik« (XII Jahrgänge).

Im Jahre 1888 bekam Mann Netzhautablösung. »Ich weiß be- stimmt, daß ich blind werde, aber ich sehe diesem Schicksal mit Ruhe entgegen«, sprach der Philosoph Mann zu einem Freunde. Die Erblindung kam. Dazu verlor Mann seinen ältesten Sohn Dr. Georg Mann, ein harter Schlag für das Vaterherz, wie auch für den Verlag.

TrüPER: Zum Gedächtnis unserer Verstorbenen. 325

Aber die Harmonie seines Wesens erlitt kaum einen Abbruch. Seine körperliche und geistige Kraft blieb trotz Alter und Blindheit un- gebrochen; noch in den letzten Lebenstagen war er mit der Prüfung von Manuskripten für die »Deutschen Blätter« beschäftigt. Als er völlig erblindet war, lernte er noch Maschinenschreiben und be- sorgte so weiter die wichtigste Korrespondenz eigenhändig, nachdem ihm die Eingänge von seiner Gattin oder seinem Sohne vorgelesen waren. Es lag nicht in seinem Wesen, durch einige nichtssagende Worte hinzuhalten; er schrieb erst dann, wenn er mit sich fertig war. Selten kam es vor, daß er einen Vorschlag zurückzog, daß er einen Plan änderte.

Aber neben der Leistung des Kopfes bekundete er auch eine edle, vornehme Gesinnung, ein ideal gerichtetes Wollen und eine Tiefe des Gemütes. »Was seinen Umgang«, sagt Prof. Rasicm, »in erster Linie begehrenswert machte, war die vollkommene Einheit seiner Persönlichkeit. Bei ihm entsprach das Werk dem Wort, das Wollen dem Können und die Tiefe des Gemüts der Klarheit des Verstandes. Die Vertretung der eigenen Interessen geschah stets unter billiger Berücksichtigung berechtigter Ansprüche anderer. Die überaus liebens- würdigen Formen im Verkehr, die ich möchte sagen keusche Behandlung pekuniärer Fragen, vervollständigten den harmonischen Eindruck, den man von Fræprica Mann empfing. Das unbedingte Vertrauen seiner Familie und des Geschäftspersonals in seine Einsicht und Redlichkeit, die Hochachtung, welche man ihm von diesen Seiten entgegenbrachte, ließ ihn als einen Patriarchen der Vorzeit erscheinen. Wie groß aber auch sein Ansehn in weiteren Kreisen war, bewies die allgemeine Teilnahme bei seinem Tode. Das Leichenbegängnis gab für wenige Stunden der ganzen Stadt Langensalza ein besonderes Gepräge. Die Friedhofshalle faßte nur den kleinsten Teil der Trauer- versammlung. Sämtliche Geistliche der Stadt nahmen im Ornat an der ernsten Feier teil.«

So zeigt die Entwicklung des Verstorbenen, daß er in jeder Lebensphase seinem Namen die größte Ehre machte und sich als Mann erwies.

Es dürfte eine verdienstvolle Aufgabe der genetischen Psycho- logie sein, die Entwicklung solcher Männer aus eigener Kraft im einzelnen zu studieren und sie zu vergleichen mit der Entwicklung solcher, die von außen her geschult wurden. Ich glaube, der Schul- dünkel würde ein wenig schwinden, das Selbsterwerben würde gegen- über dem auf Nieder-, Mittel- und Hochschulbänken künstlich Ver- erbten in eine wesentlich richtigere Wertschätzung geraten und da-

326 A. Abhandlungen.

mit die Schulweisheit mitsamt der Schulmethodik in bescheidenere Grenzen gewiesen werden können und damit wiederum ein wesent- liches Stück des Schulleidens der Jugend aber auch’ der einseitigen und oft ungerechten Beurteilung der Schule schwinden.

Daß auch die Entwicklungsgeschichte unseres verstorbenen Freundes Kocu uns ein Ähnliches lehrt, werden wir im nächsten Hefte dartun. TRÜPER.

2. Gedanken über Beobachtungen, wie sich Kinder bei der Spracherwerbung Fremdwörtern gegenüber verhalten.

Beitrag zur Kenntnis der kindlichen Sprachentwicklung.

Von Hauptlehrer Karl Baldrian, Wien.

Das intelligente Kind sieht und schaut, hört und horcht, greift und tastet, schmeckt und »kostet«, sagt und redet, faßt auf und vergleicht, forscht und sucht.

Alle ersten Eindrücke werden vom bereits denkenden Kinde mit prüfendem Blicke, mit erwägendem Betrachten aufgenommen; auch von »neuen«, zum ersten Male vom Kinde mit Bewußtsein auf- genommenen Spracherscheinungen gilt dies.

Man könnte vielleicht meinen, im Kinde werde jede sprachliche Neuheit, ob aus der Muttersprache oder aus einer fremden Sprache stammend, gleiche Wirkung hervorufen. Dem ist nicht so.

Das Kind verhält sich zwar beim Neuauftreten eines Wortes, gleich- viel ob der Muttersprache oder einer fremden Zunge angehörend, gleich, aber die Wirkung ist eine sehr verschiedene.

Tritt ein Wort der Muttersprache zum ersten Male dem Kinde ins Bewußtsein, so hält es sofort Umschau in seinem Wort- und Formen- schatze und sucht Ähnlichkeiten, Gleichheiten, Gegensätze auf und bringt das Neue mit dem Alten in organische Verbindungen mannigfachster Art, wodurch das Neue in festen Besitz des Kindes übergeht.

Wunderbar ist diese Fähigkeit des kindlichen Geistes, der sich ganz ohne absichtliche Einwirkung des Erwachsenen selbständig begriffs- und sprachbildend erweist. |

Erscheint nun zufällig einmal ein Fremdwort vor dem geistigen Blicke des spracherwerbenden Kindes, so sucht es, ganz so, wie es von ihm bei jedem neuen Worte der Muttersprache geübt wurde, in seinem Sprachschatze nach Verwandtem bezüglich Inhalt und Form natur- gemäß mit wenig Erfolg im Finden!

Hiebei kommt manchmal das die Sprache betrachtende Kind zu Er- gebnissen, die, wenn es sie zum Ausdrucke bringt, unser helles Lachen hervorrufen.

Barprıan: Gedanken über Beobachtungeen usw. 327

Ich bringe hier zwei Sprach-Betrachtungs-Produkte meiner Kinder zur Mitteilung, die deutlich zeigen, wie Kinder jedes Wort denkend, deren Wortbedeutung förmlich suchend, anwenden möchten.

Der noch nicht 6jährige Bub hörte im Gespräch zwischen Vater und Mutter den Ausdruck »Medikus«; sofort ging ein Suchen nach Ähn- lichem, Bekanntem durch sein Gehirn, was in der Frage »was ist das, bitte, medicus?« sprachlichen Ausdruck fand. Als man ihm antwortete man wollte den Ausdruck »Arzt oder Doktor« vermeiden, da der Bub krank war und vom »Doktor« nicht gern gehört hätte —, daß er das richt zu wissen brauche, meinte er: »Ah, ich weiß es ohnehin, das ist ein Kug, den man dem Mädi (seinem Schwesterchen) gibt. e

Ist dieser »Kindeswitz«e nicht der deutliche Beweis dafür, wie das kindliche Sprachdenken geartet ist: lebensfrisch, plastisch, auf konkreter Unterlage fußend, die Wortbedeutung noch klar sehen wollend!

Und ein anderes Mal bekam das 21/,jährige Schwesterchen dieses Buben eine Arznei, von der auch der Bub »nehmen« sollte, da beide gleich katarrhalisch waren. Dem Mädchen sagte der Geschmack der Arznei zu, was der Bub bemerkte und weshalb er sagte: Ah, ich freue mich, ich bekomm’ auch »Medizin«.

Das Schwesterchen hörte dies, »stutzte« einen Augenblick und meinte dann: Nein, Karli bekommt »Bubizin«, ich »Mädizin«e.

Auch darin spiegelt sich des Kindes Streben, dem Worte inhaltliche Kraft, Bedeutung, Sinn von auschaubarer, sinnenfälliger Grundlage bei- zulegen oder darin zu sehen!

Wohin weist uns diese Beobachtung? Vor allem dahin, daß es äußerst unnatürlich ist, wenn dem spracherwerbenden Kinde viele Fremd- wörter vor »Ohren« kommen, die es nicht organisch seinem von Tag zu Tag wachsenden Sprachschatze einzuverleiben vermag, obwohl es alle möglichen Anstrengungen hierzu macht.

Weiteres ergibt sich daraus, daß solche dem Kinde oft in der An- . wdung vorkommende Fremdwörter von ihm verstanden und auch ric.tig gebraucht werden, ohne daß eine Grundbedeutung dem Kinde denkbar würde, daß ihm also wohl die aus der Anwendung sich ergebende Sinnbedeutung, keineswegs aber die Wortbedeutung klar werden könnte,

Und das ist ein arger Schaden für die kindliche Sprach- entwicklung! Wieso? Das Kind gewöhnt sich allmählich daran, sich mit dem aus der erlebten Situation bei gleichzeitigem Gebrauche des Fremdwortes ergebenden Sinne zu begnügen, ohne weiteres mehr dem Wortsinne nachzuspüren, wie es des Kindes ursprüngliche Ge- wohnheit ist, wie die zwei angeführten Beispiele aus »Kindermund« be- weisen.

Die Macht der Gewohnheit, auch die der schlechten, ist bekanntlich groß: allmählich nimmt das Kind auch Wörter der Muttersprache ohne weiteres Nachdenken und Überlegen, ohne Besinnen auf seine ursprüngliche Bedeutung in sich auf.

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Selbst Familien-Namen mit konkretem Wortsinne wie » Wagner, Schmied«, »Bauer«, »Schneider« usw. werden dann bloß als reine Sym- bole für die diese Namen tragenden Personen gedacht, ohne daß die grundlegende Bedeutung auch nur nebenher durchs Gehirn zucken würde.

So geht allmählich das dem Kinde eigene frische Schauen für sprachliche Bildungen verloren, die Sprache wird zum rein symbolistischen, scheinbar jeder inneren Begründung entbehrenden Begriffs- und Gedanken- trägertum.

Soviel und nicht mehr ist den meisten Leuten selbst ihr: Muttersprache! Sie leben lange Jahre, ohne je über Wortsinn der vn ihnen richtig angewandten dabei oft falsch ausgesprochenen Wörter fremder Sprachen und auch über der der Wörter ihrer Muttersprace nachgedacht zu haben! Sie gebrauchen alles Sprachliche so, wie es sich vermöge der sprach-psychologischen Reflex-Mechanik »vo2 selbst« ergibt, eigene, persönliche Willensbekundung, absichtliches Nach- denken, Auswahl aus den zur Verfügung stehenden sprachlichen Zeichen fehlt da gänzlich. Alles Sprechen dieser Leute ist rohes, unbewußtes Gebrauchen der ihnen als Himmelsgabe in den Schoß gefallenen Sprache des Menschen, die wohl wert wäre, genauer und liebevoller besehen und immer wieder bewundert zu werden als Geschmeide aus Gold und Edel- gestein !

Was könnte geschehen, daß die Pracht und Herrlichkeit der Sprache allen mehr zum Bewußtsein käme, als es jetzt der Fall ist, daß die Sprache, dieses Diplom der Menschheit, mehr ge- würdigt und geschätzt würde?

Wirksam wären für diesen Zweck folgende Maßnahmen:

Fremdwörter sind besonders während der Zeit der Sprach- erlernung der Muttersprache soviel als möglich im Sprach- vorbilde zu meiden. Diese Forderung wird unbeabsichtigt bei der Er ziehung der Kinder in ländlicher Gesellschaft erfüllt. Daher ergibt s’ auch daraus, daß Kinder bäuerlicher Abstammung ein ruhigeres festigteres, entschiedeneres, Sprachbewußtsein haben als Kind .us manchen städtischen Kreisen, z. B. von (Gewerbetreibenden. Damit ist auch teilweise erklärt, warum Bauernbuben im Gymnasium in der Regel recht gute Fortschritte im »Deutschen« und auch im »Lateine und im »Griechischen« machen.

Bei späterem Auftreten von Fremdwörtern sollte, so oft es angeht, auch auf die Wortbedeutung Rücksicht genommen werden. Hierbei kann nicht unterdrückt werden, zu beklagen, daß beispielsweise in Lehrerbildungsanstalten das Etymologische im Umgang häufig gebrauchter Fremdwörter keine Erklärung findet. Und doch wäre dies nicht bloß das zweckdienlichste Mittel zur bewußt-richtigen Anwendung dieser »Eindringlinges, sondern auch zu ihrer Vermeidung in Rede und Schrift, daher von wirklich sprachbildendem Werte!

Weiteres müßten nicht bloß zufällig hie und da, sondern regelmäßig und konsequent Wörter der Muttersprache, deren Wortsinn

Sauter: Die anthropomorphistische Betrachtungsweise. 329

allmählich einzuschlafen scheint und dem Volke abhanden kommt, durch etymologische Erörterungen belebt werden.

Hiebei würde gebührende Rücksicht auf den Dialekt mit seinen alten, im Schrifttum und in der städtischen Verkehrssprache sie ist nicht die Schriftsprache! nicht vorkommenden Ausdrücken und Fügungen diese Bestrebungen wesentlich erleichtern und beleben.

Zum wirksamsten zählt das wirklich gute Sprach-Vorbild, das desto besser ist, je einfacher und anschaulicher die Ausdrucksweise ist. Leider wirkt in dieser Hinsicht die heimische Presse, die das »tägliche Brot« für Sprachgeistiges liefert und aufzudrängen weiß, recht verderb- lich auf den Sprachsinn. Sie verleitet Jung und Alt bewußt und unbewußt zur Anwendung undeutscher Wörter, schmuggelt Fremdes un- merklich ein und schädigt den Sprachsinn des Volkes wie den Sprach- bestand. Möchten doch alle sich der Verantwortlichkeit ihres Tuns bei Gebrauch der Sprache für öffentliche Zwecke bewußt werden zum Heile des deutschen Volkes wie zur achtung- und liebevollen Pflege ihres Kleinodes, der schönen deutschen Muttersprache!

3. Die anthropomorphistische Betrachtungsweise. !) Von Christof Sauter, Hilfsschullehrer in Augsburg.

Sie zieht Nichtmenschliches in das Bereich des Menschen herüber, indem sie die verschiedensten Dinge, besonders Tiere und Pflanzen in menschlicher Weise empfinden, denken, sprechen und handeln sieht, so daß als Hauptunterschied zwischen dem also betrachteten Wesen und dem Menschen oft nur mehr die rein äußerliche körperliche Erscheinungsform übrigbleibtt. Es gibt viele Freunde dieser von einer gewissen panthe- istischen Tendenz getragenen Auffassung der Erdendinge, wobei sie theo- logischen Verwarnungen mit einem Lächeln begegnen und sich mit Froh- sinn des Satzes bewußt sind, daß der Mensch das Maß der Dinge ist. Sie erhoffen von ihr besonders in pädagogischer Hinsicht außerordentlichen Gewinn. Viele Kinder sind grausam gegen Tiere, weil sie glauben, die- selben entbehrten der körperlichen und seelischen Empfindungen. In ihrem Vorstellungsleben erscheint das Tier zu weit vom kindlichen Ge- müte entfernt, als daß Mitgefühl entstehen könnte. Auf dem Wege der anthropomorphistischen Betrachtungsweise glauben deren Freunde am ehesten jene Auffassung zerstören zu können. Besonders Jean Paul tritt sehr warm dafür ein, dem Kinde die Organismen nahezubringen, indem er rät, vor dem Kinde jedes Leben ins Menschenbereich hereinzuziehen. Er bietet dafür zwei Beispiele: Einen alten Hund z. B. soll man dem Kinde dadurch nahe bringen, daß man ihn als einen alten haarigen Mann bezeichnet. Der Mund ist geschwärzt und lang gereckt; die Ohren sind hinaufgezerrt. An den zottigen Vorderarmen bemerkt man zugespitzte lange Nägel. Die Lilie, die das Kind unnütz aus dem organischen

1) Vergl. Grünewald, Über den Kinderfehler der Grausamkeit. Jahrg. V, S. 38 ff. Ders., Die Grausamkeit der Kinder. Jahrg. X, S. 199.

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Dasein ausreißt, malt man ihm als eine Tochter einer schlanken Mutter vor, die im Beete steht und das kleine weiße Kind mit Saft und Tau aufzieht. Auf dem Gebiete der naturkundlichen Literatur erscheint Jean Pauls Anregung nach und nach immer häufiger ausgeführt. Es sei nur an Baade, Budde, Bölsche u. a. erinnert.

Das Verfahren hat aber auch schon scharfe Verurteilungen erfahren. Man spricht von einer Haltlosigkeit jener pantheistischen Denkweise und Allbeseelungstheorie; Turgenjeff sagt, die anthropomorphistische Be- trachtungsweise verletze die Würde des Menschen; man kann da und dort hören, es sei geschmacklos und pädagogisch irrig zugleich, wenn man den Marder einen blutgierigen Mordbuben, den Regenwurm einen Biedermann, den Fischotter einen klugen Baumeister, wohlausgerüsteten Schwimmkünstler, gewandten Fischer heiße, und man spielt Jean Pauls Beispiel vom alten Hund gegen das Vermenschlichen aus.

So stehen zwei Anschauungen einander schroff gegenüber, und im Streit könnte die anthropomorphistische Betrachtungsweise der Dinge in Mißkredit kommen. Mir würde es leid tun um sie.

Ich kann es mir nicht versagen, wenigstens im Vorübergehen gegen ein zu geräuschvolles Abrücken des Menschen vom Tiere leisen Einspruch zu erheben. Dieser Einspruch wird von den Ergebnissen der Natur- forschung bestätigt, er ist also keine bloß gefühlsmäßige Äußerung. Welche Bereitwilligkeit zeigt der Physiologe zu einer Parallele zwischen Mensch und Tier, und wie viele Dinge der Gleichheit, Ähnlichkeit und Verwandtschaft zwischen ihnen weist er uns auf! Der Psychologe scheidet wohl die Pflanze bei einem Vergleiche mit dem Menschen aus; denn sie hat nicht die materiellen Bedingungen für geistige Tätigkeit in Gestalt eines Nervensystems. Aber das Tier mit seinem Seelenleben legt ihm gar oft nahe, es mit der menschlichen Psyche in Vergleichsbeziehungen zu bringen. Es hat Sinnesempfindungen, Vorstellungen und einfache Be- griffe; es hat ein Triebleben, das mit dem menschlichen gar wohl Ver- gleichsmöglichkeiten aufweist, besonders für den, dem das Problem von der Freiheit des Willens noch Kopfzerbrechen bereitet; es hat ein Sprach- vermögen, so daß es sich seiner Umgebung verständlich machen kann. Der Philosoph endlich grübelt über die ihn umgebenden Welträtsel. Er fragt sich: Was ist Kraft und Materie? Woher kommt die Bewegung im All? Woher das Leben? Wer begreift das Bewußtsein? Und alle diese Fragen umfangen Mensch wie Tier in der gleichen undurchdringlichen Weise. Sein Mühen lohnte sich nur mehr, als er auch das tierische Sein, weil es das Einfachere ist, unter Ausschluß des komplizierteren menschlichen Seins zur Betrachtung heranzog. Er betrachtet »das mikro- skopische Klümpchen Nervensubstanz, welches der Sitz der arbeit- samen, baulustigen, ordnungsliebenden, pflichttreuen, tapferen Ameisenseele ist, mit demselben erfurchtsvollen Staunen«, wie das mächtige Hirn eines Menschen, das Schöpfungen der Unvergänglichkeit schuf. In der Hauptsache ist ihm die erhabenste Seelentätigkeit eines genialen Menschen nicht unbegreiflicher als die Sinnesempfindung eines Tieres. Schließlich ist die Deszendenztheorie mit der Lehre von der natürlichen Zuchtwahl

Sauter: Die anthropomorphistische Betrachtungsweise. 331

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noch nicht so abgetan, als daß an sie gar nicht mehr erinnert werden dürfte. Lauter Dinge, die es nicht zulassen können, daß das Tier viel- leicht zufolge religiöser Vorurteile unerreichbar weit vom Menschen weggerückt und ihm gar kein verwandtschaftlicher Zusammenhang mit diesem zugestanden wird.

Auch ein unbefangener Laienverstand kann in einer anthropomorphi- stischen Betrachtungsweise der Tiere keine Verletzung der Menschenwürde finden. Eine Entrüstung wäre eher erklärlich, wenn das Gegenteil ge- schehen würde, indem der Mensch ins Bereich des Tierlebens herabgezogen würde. Nun haben wir sogar die Erscheinung, daß man es ganz in der Ordnung findet, wenn man den Mutigen einen Löwen nennt, wenn es im Nibelungenliede von Siegfried und Hagen heißt: Wie zwei wilde Panther sie liefen durch den Klee! wenn Lessing im Nathan Daja zum Tempel- herrn sagen läßt: So geh, du deutscher Bär! Allgemein hält man es für recht, wenn der geizige Mensch ein Hamster gescholten wird, der falsche eine Katze, der eitle ein Pfau. Und in welch naiver Zeit lebte noch Homer! Er vergleicht in der Ilias den Ajax mit einem Esel, den Odysseus mit einem Bocke, den Antilochus mit einem Hunde. Ja er durfte noch Odysseus einer Magenwurst gegenüberstellen, indem er erzählt, wie sich der Held in der Nacht vor dem Freiermorde unruhig auf dem Lager hin- und hergewälzt habe:

Also wendet ein Mann am großen brennenden Feuer

Einen Ziegenmagen, mit Fett und Blute gefüllet,

Hin und her und erwartet es kaum ihn gebraten zu sehn,

Also wandte der Held sich hin und wieder, bekümmert

Wie er den schrecklichen Kampf mit den schamlosen Freiern begönne.

Doch bei der modernen Betrachtungsweise der Tiere liegt die Sache umgekehrt. Man will dem Kinde (sowohl seinem Verstande wie seinem Gemüte) das Tier durch Vermenschlichung näher bringen, und da kann ich nicht einsehen, daß man jenen Weg nicht mit Freude und Hoffnung beschreiten will, sondern in solchen Parallelen Verletzungen der Menschen- würde sieht.

Damit sei Jean Pauls Beispiel, worin man aus einem alten Hunde einen alten haarigen Mann schaffen und ihm einen menschlichen Mund, menschliche Ohren und Arme mit Fingernägeln zudichten soll, durchaus nicht verteidigt. Es muß vielmehr als in der Ausführung völlig verun- glückt bezeichnet werden. Auf das »alt« kommt es an, nicht darauf, zur Ermöglichung der Übertragung die Phantasie derweise zu vergewaltigen, daß sie im Hunde eine Menschengestalt sehe. Den »alten« Hund will Jean Paul dem Gemüte nahe bringen, das »Alter« ist das tertium compa- rationis (das Dritte der Vergleichung), worin der Hund und der Mensch einander ähnlich sind. Es ist kaum verständlich, daß Jean Paul den offen daliegenden Verbindungsweg zwischen den beiden Wesen, kaum betreten, sofort verliert. Das Altwerden mit den Begleiterscheinungen muß auch der ungnädigste Herrenmensch als etwas Naturgesetzmäßiges dem Hunde zugestehen, und es ist ihm wirklich nicht zu helfen, wenn er sich in

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seiner Würde als Mensch verletzt fühlt, weil ein Hund auch alt wird wie er, dann auch grau ist wie er, dann auch körperlich gebrechlich ist wie er, dann auch über eine bereicherte Lebenserfahrung verfügt wie er, dann auch auf etwaige Dienstleistungen zurückblicken kann wie er etwa! Die Phantasie kann eben auch negativ tätig sein, nicht nur positiv. Sie kann auch Merkmale am Dinge hinwegstreifen, und das tut sie im Vergleiche. Wie sollte sie, wenn ein Merkmal an einem Dinge und ein Merkmal an einem zweiten Dinge ihrer gleichartigen Bedeutung wegen zum Vergleiche einladen, die beiden Dinge oder auch nur eins derselben durch Hinzufügen von Vorstellungen noch aufzuputzen, um dadurch die Ver- gleichsvorstellung vielleicht an die Wand zu drücken und zu ersticken und somit den ganzen Vergleich zu gefährden! Nein, sie läßt sorglos und kühn viele, vielleicht fast alle Merkmale am Dinge fallen, um nur die eine Vorstellung festzuhalten, die in einer Vorstellung am zweiten Dinge eine Schwester findet und freudig zu ihr hinüberspringt, und das ist bei Jean Pauls Beispiel das »Alter« bei Hund und Mensch. Ein Beispiel aus meiner Klasse: Meine Kinder und ich plauderten über die Wochentage, deren Namen und Besonderheiten. Die Stellung des Mittwochs nun, schön mitten in der Tagereihe, läßt den kleinen A. Riehr ein Bild schaffen. Er ruft auf einmal laut aus: »Das ist der Lump! Drei Polizei- diener gehen voran, nnd drei Polizeidiener kommen hintennach!« Der Aufmarsch der Tage mit dem Mittwoch in der Mitte erweckt im Kleinen die Vorstellung eines Grefangenentransportes, wo die Begleitung zwecks sorgfältiger Bewachung ebenso gleichmäßig postiert ist wie dort. Die packende Ähnlichkeit zwischen dem Mittwoch und dem Gefangenen hin- sichtlich der örtlichen Lage und der Gruppierung der Umgebung hieß das Kind alle übrigen wesentlichen Merkmale wegwerfen, um nur die ähnlichen Vorstellungen an beiden Dingen zu erfassen und im Gleich- klang zusammenfallen zu lassen. Wie weit käme man doch da, wenn eine Übertragung erst dann geschehen könnte, nachdem das dazu ins Auge gefaßte Objekt das Exterieur des homo sapiens zugelogen bekommen hätte! Da könnten wir uns in unserer Sprache kaum an erträglichen Vergleichen und Gleichnissen, geschweige denn an Metaphern und Bildern erfreuen. Das Volk hat sich auch nie durch ähnliche Grillen einengen lassen. Die Sprache bestätigt das, denn »Volk und Sprache ist eins«. (J. Grimm.) Schon Quintilian schreibt, die Übertragung sei den Menschen so in Fleisch und Blut übergegangen, daß auch Ungebildete sie oft unbewußt gebrauchten; und Jean Paul kann sagen: Jede Sprache ist ein Wörterbuch verblaßter Metaphern. Unsere Sprache gibt nicht bloß dem Menschen einen Kopf, sondern auch dem Tiere, dem Blümchen, dem Kohl, dem Balken, dem Berge. Der Berg bekommt dazu noch Scheitel, Rücken und Fuß, vielleicht noch eine Nase. Der Fluß hat Arm und Mund, das Meer einen Busen, das Land eine Zunge. Die einsame Bergtanne streckt sehnsüchtig die Arme gen Himmel, und der Bach stürzt sich wie ein übermütiger Knabe über den Felsen. Naturerscheinungen, die selbst Kraft und Bewegung zeigen, ermuntern unwiderstehlich zur Personifikation. Da ist vor allem der Wind, der Wind, das himmlische

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Kind; er ist unseren Alten ein Riese, der weit draußen in der Ebene liegt; da steht er auf, er erhebt sich, er kommt, er heult, er rüttelt an den Fenstern, er legt sich. Das Volk gibt ihm sogar eine Braut, die Windin, die Windsbraut. So ist es auch mit dem Feuer. Es ist ein wildes Tier, das ausbricht, um sich greift, leckt und züngelt, und alles frißt und verzehrt. Die Wolken sind das am Himmel hinziehende wilde Heer, und in dem von der Luft bewegten Getreidefelde jagt der Wolf die Schäfchen. Das Volk belegt Schwerter mit menschlichen Namen und belebt sie damit (Balmung), ebenso Geschütze, Glocken, Lokomotiven, Schiffe. Ja die einfachsten Werkzeuge zum täglichen Gebrauche personi- fiziert es. Unterm Stubenschranke liegt ein Brettchen, das die Schuhe von den Füßen zieht. Welche Beseelung erfährt es durch den Namen Stiefelknecht! Der Knacker ist ein totes Instrument, aber durch die En- dung »er«, welche ursprünglich nur Personen zukommt, wird es ein lebendiges, nüsseknackendes Wesen und steht auf gleicher Stufe mit dem Schreiber, Schreiner, Töpfer. Dieselbe Personifikation haben wir in Leuchter, Träger, Schläger, Klopfer. Ebenso werden Abstrakta verleben-ligt, so daß ihnen eine erquickende Frische aus dem Auge schaut. Die Arbeit steht still, sie ruht, schreitet vorwärts, kommt in raschen Gang; die Angst packt ihn; die Sorge schaut zum Fenster herein; Hunger ist der beste Koch. »Um wie vieles sinnenfälliger und greifbarer erscheint es, wenn das Volk sagt: Er ist die Liebenswürdigkeit selbst, sie war die reine Güte! als wenn der Gebildete dafür einsetzt: Er war sehr liebens- würdig, sie war außerordentlich gütig!« Welche Beseelungslust spricht aus den Märchen, Kinderliedern und Tier- und Pflanzensagen, die das kindliche Volk seinem Kindervolke schuf! Es ist so, das Vermenschlichen der Dinge ist eine völkerpsychologische Tatsache! Und soll ich noch rasch an unsere Dichter erinnern? »Da liegt die Mutter Erde in stillem Morgen- schlummer, und der Mutter Sonne Scheideblick brütet die Beeren des Weinstocks; da schauen sich die Sterne mit Liebesweh an, da kichern und kosen die Veilchen, da träumt der Fichtenbaum im Norden auf kalter Höh von einer Palme, die einsam und schweigend trauert auf brennender Felsenwand; die Blumen flüstern; der Tannenbaum mit grünen Fingern pocht an das niedre Fensterlein, und der Mond, der stille Lauscher, wirft sein goldnes Licht hinein; der Krieg und der Hunger schweifen heulend, die Pest durchtappt die Finsternis; der Adler knüpft an das Gewölke die Welt.« (Weise: Ästhetik der deutschen Sprache.)

Schon nach diesem flüchtigen Streifzuge durch unser Sprachbereich wird man zugeben müssen, daß der Fischotter ein kluger Baumeister, ein wohlausgerüsteter Schwimmkünstler, ein gewandter Fischer genannt werden darf. Baut und schwimmt und fischt der Fischotter etwa nicht geschickt? Es ist köstlich: das Verb will der Mensch mit dem Tiere teilen, aber das Substantiv will er für sich reservieren; obwohl z. B. mancher Berufs- fischer vielleicht ins Hintertreffen käme, wenn es gälte, mit dem Fisch- otter als Fischer in eine Konkurrenz einzutreten. Der Hund läßt sich auf die oben angedeutete Weise dem menschlichen Gemüte entschieden naherücken. Und der Regenwurm ist ein guter Kerl, das ist auch

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wahr. Er wird zu Unrecht von den Menschen verachtet und verfolgt; dennoch lebt er in seiner nutzbringenden, bescheidenen Art weiter.

Übrigens hat der Mensch von jeher erkannt und anerkannt, daß es Tiere und Pflanzen mit Eigenschaften und Vermögen gibt, deren Träger auch er ist. Ja er nahm sie zum Teil sogar in seine sittliche Welt auf als Maßstäbe, denen nachzueifern ist, oder die abschreckend und eindämmend wirken sollen. Er hat Sinnbilder geschaffen, Sinnbilder der Reinlichkeit, der Treue, der Bescheidenheit, der Trägheit, der Ver- schlagenheit, des Stolzes.

Es reizt noch näher darauf einzugehen, ob nicht doch auf diese Weise die Tiere den Kindern am nächsten gebracht werden könnten und damit ihren Grausamkeiten an diesen Organismen erfolgreich entgegen- gearbeitet würde; daß dabei der Mensch nicht entwürdigt, wohl aber das Tier gewürdigt würde. Doch es sei darauf verzichtet, um noch kurz den Lehrer, speziell den Hilfsschullehrer zum Worte kommen zu lassen.

Die Anschauung, die anthropomorphistische Betrachtungsweise der Tiere verletze die Würde des Menschen, muß bei konsequentem Denken zu der Auffassung führen, daß die Menschenwürde noch viel tiefer ver- letzt wird, wenn wir Pflanzen oder gar leblose Dinge, also in der Rang- ordnung der Wesen den Tieren nachstehende Naturdinge, mit mensch- lichem Fühlen, Schließen, Sprechen und Handeln ausstatten. Es sei hier die Frage nach der Stellungnahme der Jünger Turgenjeffs zu dieser Schlußfolgerung nicht aufgeworfen, sondern wir erklären geradehin, daß für jeden Lehrer, und für den Hilfsschullehrer im besonderen, das Ver- persönlichen der Dinge ein Unterrichtsweg ist, der so natürlich, so sonnig, so gerade zum Ziele führt, daß wir ihn nimmermehr uns verlegen lassen wollen, und sollten wir noch so geschmacklos und in bodenloser päda- gogischer Verirrung befangen gescholten werden. Es ist eine bekannte Tatsache, daß das Kind denselben ausgeprägten Hang zur Beseelung und Vermenschlichung der Dinge hat, wie das Volk. Da zeigt sich wieder die Tatsache, wie sich im Entwicklungsgang des Individuums der Weg, den die Gattung macht, in Kürze wiederholt. Jeder Kinderfreund und Kinderkenner weiß, welches Leben der Spazierstock des Vaters, der Stuhl, die Puppe, die Blume in der Kinderstube übertragen bekommt. Und wer diese Erscheinung an der kindlichen Psyche in seinen erzieherischen und unterrichtlichen Maßnahmen berücksichtigt und sie als eine Größe einsetzt, mit der er operieren kann und muß, der arbeitet nicht päda- gogisch irrig, sondern naturgemäß, im Sinne Pestalozzis, jenes lauten Rufers nach einem naturgemäßen Unterrichte.

1. Weshalb finden die Kinder an den Märchen Gefallen? 335

B. Mitteilungen.

1. Weshalb finden die Kinder an den Märchen Gefallen ?!)

Von Paolo Lombroso in Turin. Rechtmäßige Übersetzung von Helene Goldbaum in Wien.

Die spärliche Phantasie der Kinder die Wunder der wirklichen Welt und die Wirklichkeit in den Fabeln. Die sich 'gleichenden Deutungen der Kinder der kindliche Anthropomorphismus. Märchen und Romane. Sollen wir den Kindern Märchen erzählen ?

Warum finden die Kinder an den Märchen solches Wohlgefallen? Wir Erwachsenen fragen uns oft, wieso die Kinder so viel Interesse und Vergnügen an den Märchen, an diesen von Unwahrscheinlichkeiten er- füllten Erzählungen finden können, die unser gerader Verstand zuzugeben sich weigert und die im Gegenteil den Kleinen umso besser gefallen, 'je unmöglicher und sinnloser sie sind: tanzende Bäume, singende Steine, eine Nuß, aus der ein herrliches wie der Mond helleuchtendes Gewand emporsteigt, Siebenmeilenstiefel, ein Ring der seinen Träger unsichtbar macht, die Prinzessin, welche mit ihren Zöpfen das Wasser aus dem tiefen Brunnen herausschöpft alle diese unwahrscheinlichen Dinge werden von den Kindern mit einer lebhaften Empfänglichkeit, Freude und unersättlichen Gier aufgenommen und bilden eben die Anziehungskraft, die die Märchen auf die Kleinen ausüben.

Viele glauben, daß diese Vorliebe für Märchen mit der großen Phan- tasie der Kinder im Zusammenhang steht und daß die Kleinen deshalb an dem Erzählen von außerordentlichen und unwahrscheinlichen Aben- teuern Gefallen finden.

Der Grund dieser Erscheinung wird aber wohl ein anderer sein; ich, die ich lange Zeit eine große Anzahl Kinder beobachten konnte, habe mich überzeugt, daß die Kinder ganz im Gegenteil sehr wenig Phantasie besitzen und daß die wunderbaren Einzelheiten der Feen- und Zauber- märchen von den Kleinen in einer Weise aufgefaßt werden, die wir nicht vermuten und uns auch nicht leicht vorstellen können.

Die übernatürliche Märchenwelt hat für die Kleinen nichts Zauber- haftes und Unmögliches an sich, sie erscheint ihnen im Gegenteil einfach und natürlich.

Wenn wir vom Gesichtspunkte des Kindes aus die Dinge betrachten und den Gedankenballast ablegen wollten, den wir uns als Erwachsene angeeignet haben, dann würden wir zur Erkenntnis gelangen, daß das Kind von den ersten Momenten seines Lebens angefangen, sich unter viel wunderbareren Dingen und Eindrücken befindet als jene, mit denen wir unsere Märchenerzählungen zu schmücken pflegen.

1) Aus dem Buche »La Vita dei Bambini« (Bocca, Turin).

336 B. Mitteilungen.

Ich habe zum Beispiel gesehen, daß sich mein Kind im Alter von zehn bis vierzehn Monaten mit einer Sache beschäftigte, die ihm scheinbar sehr wichtig vorkam: das Glockengeläute.

Wir waren damals in eine in der Nähe einer Kirche gelegene Wohnung eingezogen, und plötzlich, während wir im Zimmer saßen und nichts sich um uns bewegte, wurde die Luft von Klängen erfüllt. Ich erinnere mich an die Verwunderung und an die Unruhe des Kleinen, der sich in die Höhe reckte, um sich blickte und schließlich zu weinen an- fing. Die Sache war für ihn umso wunderbarer, als er das Läuten nicht sehen konnte; wir Erwachsene verbinden wenn wir das Läuten hören damit den Gedanken an einen trichterförmigen metallenen Gegenstand, in dessen Mitte ein kleines Hämmerchen hängt, und wir wundern uns darüber gar nicht.

Das Kind jedoch, das keine Idee davon hat, was ein Glockengeläute ist, daß auch keine sichtbaren Ursachen für dieses Phänomen in seiner Um- gebung bemerken kann, wird, wenn es fühlt, daß harmonische Klänge die Luft durchzittern, ebenso gut auch an einen singenden Baum glauben können.

Die singenden Bäume, die tanzenden Steine, erwecken in dem Kinde Empfindungen, die von jenen, welche durch seine Umgebung hervorgerufen werden, kaum verschieden sind. Übrigens, weshalb sich über einen sin- genden Baum wundern, wenn man einen Leierkasten oder ein Klavier spielen hören kann, die ja doch gewöhnlichen Möbelstücken so ähnlich sehen und deren innerer Bau dem Kinde unbekannt ist.

Aus eben diesem Grunde finden die Kinder in den Abenteuern des Freiherrn von Münchhausen befriedigende Aufklärung über gewisse Natur- erscheinungen; doch wollte man es versuchen, ihnen die Bildung der Töne durch die Schwingungen einer gespannten Saite zu erklären, so würden sie davon nichts begreifen; dabei finden sie es vollkommen ver- ständlich, daß Musikklänge in sichtbaren Musiknoten sich aus einem Horn ergießen, oder daß Weindämpfe in Gestalt einer wallenden Wolke dem Schädel eines Besoffenen entsteigen, können; in diesen trügerischen Bildern und märchenhaften Erzählungen finden die Kinder nicht wie gemeiniglich angenommen wird die Freude an etwas Phantastischem, sondern vielmehr dieselbe Befriedigung, die wir durch die deutliche und überzeugende Erklärung irgend eines Naturphänomens empfinden.

Eine andere ziemlich merkwürdige Eigenheit, die ich bei meinem Kleinen vom zehnten bis achtzehnten Monat bemerken konnte, war seine ganz ausgesprochene Vorliebe für Schuhwerk. Kein einziges Spielzeug kann meinen Kleinen so sehr erfreuen als seine kleinen Schuhe; wenn er wach ist, nimmt er sie in die Hände, betrachtet und liebkost sie, ver- sucht, sie selbst auf seine Füßchen anzuziehen usw. und nicht bloß seine Schuhe erregen so sehr seinen Gefallen, sondern auch die meinigen und überhaupt jedes Schuhwerk ohne Unterschied. Diese Vorliebe ist übrigens beinahe allen Kindern in diesem Alter eigen. Der Grund dieser Freude und dieser Bewunderung wird wohl darin liegen, daß die Kinder in den Schuhen einen Teil ihres Körpers sehen, ähnlich wie die Schnecke ihr

1. Weshalb finden die Kinder an den Märchen Gefallen? 337

Gehäuse als einen Teil des eigenen Ichs betrachten muß und sicher- lich greifen die Kinder mit derselben Freude nach ihren Schuhen wie nach ihren Füßen.

Man könnte ja ganz richtig bemerken, daß es auch andere Dinge gibt, die das Kind als einen Teil seines Ichs betrachten könnte so z. B. der Hut, doch wird dieser nicht stets getragen und besitzt auch keine so menschliche Form wie der Schuh, der einem wirklichen Fuße doch so ähnlich ist.

Einen analogen Eindruck ruft auch die Brille hervor; das Kind sieht in ihr eine Art von Augen; so fühlte sich mein Kleiner, als er erst einige Monate alt war, ganz besonders zu einer Person hingezogen, die eine Brille trug; er riß sie dieser plötzlich hinunter und betrachtete sie aufmerksam. Auch bei vielen andern Kindern habe ich dieselbe Neugierde und Verwunderung beobachten können.

Sully erzählt von einen kleinern Jungen, dessen Strümpfe auf sei- nen Füßen schwarz abgefärbt hatten, und der als er dies bemerkt hatte, glaubte, seine Füße: seien ausgetauscht worden. »Das sind doch nicht meine Füße von heute morgen« meinte er.

Und ein mir verwandtes kleines Mädchen glaubt, daß man ihr die Nase wegtragen könne und sie hat große Angst.

Ich habe bei meinem Kleinen, als er vierzehn Monate alt war, die Beobachtung gemacht, daß er im Glauben sei, das Schaf blöke mit dem Schwanze; das kam daher, weil ein kleines Schäfchen aus Papiermach& das ich ihm geschenkt hatte, blökte wenn es beim Schwanze gezogen wurde. Und weshalb sollten die Kinder unsere Behauptung unglaubwürdig finden, daß »unser kleiner Finger uns dies oder das erzählt habe!«

Es gibt noch eine ganze Menge anderer Dinge die den Kindern un- glaubwürdig vorkommen müssen, während sie uns Dank unserem Wissen und unserer Erfahrung einfach und logisch scheinen.

Ich habe ein zweijähriges Kind gekannt, daß eine schreckliche Furcht vor den an der Straße stehenden Bäumen hatte; es betrachtete sie stets mit Angst und wollte niemals an ihnen vorübergehen, denn es fürchtete daß sie umkippen und ihm auf den Rücken fallen würden. Diese Furcht war von seinem Gesichtspunkte aus logisch begründet: es hatte bei seinem Kegelspiel gesehen, daß eine kleine Kugel genügte, um die Kegel umzu- werfen, es hatte auch gesehen, daß ein Stock nicht von selbst gerade stehen könne, und für alle diese Erscheinungen fand es keine Erklärung. Wie machen es also die Bäume, um gerade und fest zu stehen, mußte es sich denken, und stehen sie nicht am Ende durch eine jener ma- gischen Kräfte, von denen die Märchen erzählen, so fest da?

Ein anderer dreijähriger Knabe weigert sich die Sterne anzuschauen, weil sie »brennen«. Er verwechselte sie mit den Feuerfunken; ein an- derer Junge wieder glaubte, daß die Sterne an dem Himmel so befestigt sind, wie die Bilder an der Wand. Es ist sehr wahrscheinlich, daß die Kinder bei der Erzählung des Märchens »Die Eselshaut« es ganz begreif- lich und natürlich finden, daß Eselshaut auf der Stirne einen Stern. ihre

Zeitschrift für Kinderforschung. XII. Jahrgang. 22

338 B. Mitteilungen.

bösen Schwestern jedoch Eselsschweife bekommen haben. Mit dem all- mählichen Wachstum des Kindes entwickeln sich vor seinen Augen immer neue und wundersamere Dinge.

Es sieht im Bade den Schwamm auf der Oberfläche schwimmen, während der in den Bach geworfene Stein sofort in die Tiefe sinkt.

Kaum aus dem Schlafe erwacht, tritt das Kind an einem schönen Wintermorgen an das Fenster und sieht ein wie durch die Macht eines Zauberstabes gänzlich verändertes Bild: der Boden ganz weiß, die Bäume und Zweige, die Gesimse und Häuser in Weiß gehüllt, und eine Unmasse weißer durch die Luft leise wirbelnder und zur Erde fallender Flocken.

So rief ein mir bekanntes Kind ganz verwundert seiner Mutter zu: »Mama, Mama, sieh doch her! Der liebe Gott wirft Brosamen für die Vögelchen herab!«

Ein anderes Kind glaubte, die leichten Schneeflocken wären Zucker.

Es ist leicht begreiflich, daß ein drei- oder vierjähriges Kind welches gesehen hat, wie der Schnee in Wircklichkeit und auf ganz natürliche wenn auch ihm unerklärliche Weise niederfällt, in einem Schokolade-, Bon- bon-, Gold- oder Silbermünzenregen ebensowenig etwas Übermenschliches finden wird.

Auch in dem von den Kindern so beliebten Buche »Le Robinson Suisse« spricht sich einer der Söhne Robinsons in der von mir an- gedeuteten Weise aus: so fragt dieser Kleine, ob man nicht anstatt Korn und Weizen ebenso gut Goldmünzen säen könnte, aus denen sich Blumen und Pflanzen entwickeln würden.

Die ‘Sache scheint mir durchaus nicht unsinnig, sondern vielmehr klug und einfach zu sein.

Übrigens ist dieser Gedanke nicht weit entfernt von demjenigen der Eingeborenen von Tahiti, die, als sie unter den Sachen des Kapitän Fook einige eiserne Nägel fanden, diese in die Erde säeten, in der Hoff- nung, daß sie drinnen keimen würden.

Ich habe das Erstaunen eines kleinen vierjährigen Mädchens be- obachtet, das plötzlich als es seiner Mutter einen Korb, in welchem sich ein Stück rohen Fleisches befand, tragen half zwei, drei Hunde erblickte, die herbeiliefen und murrend den Korb beschnupperten. »Sie riechen das Fleisch«e sagte die Mutter. »Wie ist dies möglich, der Korb ist doch zugedeckt? Wie können sie, ohne es zu sehen, wissen, daß sich in dem Korb Fleisch befindet?«

Es wäre dem Kinde unmöglich gewesen, diesen Vorgang zu begreifen und zu verstehen, wie die Hunde einen Geruch wahrnehmen konnten, der uns entgeht.

Dasselbe Kind, das gesehen hatte, wie nasse den Sonnenstrahlen ausgesetzte Wäschestücke nach einer halben Stunde trocken geworden waren, fragte hartnäckig: »Wo ist die Nässe hin, wer hat sie fortge- tragen?« Und wenn ein nasser Gegenstand trocken werden kann, weshalb sollte das Süße sich nicht in Bitteres, das Grüne sich nicht in Rosa verwandeln ?

Sully berichtet von einem Kinde, welches das Schmelzen der Zucker-

1. Weshalb finden die Kinder an den Märchen Gefallen? 339

stückchen im Wasser becbachtet hatte und nun in derselben Absicht Fleischstücke ins Wasser warf.

Ein anderes Kind hatte gesehen, daß die Luftballons sich aufblähen, wenn man in sie hineinhaucht und es versucht, in seine eigene Hand hineinzublasen und fragt: »Weshalb bläht sich unsere Hand nicht auf, wenn wir in sie hineinblasen?« Und ein anderes Kind wieder wunderte sich darüber, daß eine ins Wasser gesteckte Hand kein Loch in der Flüssigkeit verursachte.

Was die Aufmerksamkeit der Kinder ebenfalls sehr erregt, ist das Echo, diese sonderbare Stimme, die die von uns gesprochenen Worte, unser Lachen, an verschiedenen Orten wiederholt. Wenn sich nun das Kind zu jenem Ort begibt, woher die sonderbare Stimme zu kommen schien und es dort nichts vorfindet, was könnte es dann sein? Eine aus der Luft kommende Stimme, ein Geist oder ein unsichtbarer sich verbergender Mensch. . . Diese für die Erwachsenen so gewöhnliche Er- scheinung wirkt auf die Kinder überwältigend. »George Sand erzählt in ihrer ‚Histoire de ma vie‘ (Geschichte meines Lebens) von allen jenen sonderbaren und phantastischen Hypothesen, die ein Echo in einem alten Schlosse in ihr wachgerufen hatte.«

Ich will nun eine andere Gruppe von Fragen anführen, die bei den Kindern sehr häufig sind und die uns beweisen, wie das Natürliche und das Mögliche sich bei den Kindern mit demjenigen, was wir als unmöglich erkannt haben, vereinigt und verschmilzt.

Ein kleines Kind sagte einst zu seinem Großvater: »Wenn ich ein- mal groß und Du klein geworden sein wirst, dann werde ich dich herum tragen.« Diesem Kinde scheint es also, ebenso wie vielen andern möglich, nach Wunsch und ohne bestimmte Regel, aus klein groß, aus groß klein, aus jung alt, und aus alt jung werden zu können.

Hingegen glaubte ein kleines Mädchen, daß das Wachsen kein Ende nehme: »Wenn mein Vater siebzig Jahre alt sein wird, dann wird er in seiner Wohnung keinen Platz haben.«

Ein anderes Mädchen konnte nicht verstehen, woher das Wachsen käme. »Wieso wird man größer« fragte sie; sie glaubte, daß man um größer zu werden, die Füße, die Arme und den Kopf anstückeln müsse,

Einen andern Fall, welcher beweist, wie wenig die Kinder das Phänomen des Wachstums begreifen, hat mir meine Schwester geliefert, die als kleines Kind daran glaubte, die Menschen kämen in verschiedenen Gestalten auf die Welt als Erwachsene, Männer und Frauen, als Back- fische, als große und kleine Kinder.

Ein Kind wieder meinte, daß ebenso wie die Kleinen die Kinder der Erwachsenen sind, ebenso die kleinen Steine die Kinder der großen Steine, die kleinen Stöcke die Kinder der großen Stöcke seien, und daß die großen Steine und die großen Stöcke den kleinen Stöcken und Steinen dieselbe Liebe entgegenbringen wie die Mutter ihren Kindern.

Eine große Anzahl von Kindern glaubt, daß die noch ungeborenen Kleinen zwischen den Brennesseln, dem Kohl oder den Blumen zu finden sind, und eine meiner Freundinnen hat mir erzählt, daß sie bis zu ihrem

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340 B. Mitteilungen.

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neunten Jahre wenn sie auf dem Lande war mit großer Ausdauer und vollem Glauben hinter jedem Kohlkopf ein kleines Kind gesucht habe. Weshalb sollten die Kinder an einer Sache zweifeln, die ihnen mit allem Ernst so oft wiederholt worden ist und deren wahren Vorgang und dessen vorangehende Ursachen ihnen fremd sind.

Daß ein Kind einem Kohlkopf oder einem Kürbis entsteigen kann, das wird dem kindlichen Verstande nicht sonderbarer und unwahrschein- licher dünken als die Tatsache, daß ein lebendiges Küchlein einem Ei entspringt.

Übrigens ist ja das Entstehen des Kindes, das vollkommen entwickelt und lebendig aus dem Leibe der Mutter kommt, das Wunderbarste und Unerklärlichste von allen sonderbaren und phantastischen Vorstellungen, die ein Märchen erfinden kann.

Mein Kinderglaube über diese Frage ist mir merkwürdig klar im Gedächtnis geblieben: ich erinnere mich, daß ich fest daran glaubte, die Puppen könnten sich eines Tages in lebendige Kinder verwandeln. Ich hatte eine herrliche große Puppe mit einem Kindergesicht zum Geschenke erhalten. Sie konnte die Augen schließen und hatte eine Wiege, eine Matratze, einen Schleier, um sich vor den Sonnenstrahlen zu schützen; mit einem Worte, sie besaß alles, wie die ganz Kleinen es haben. Es schien mir immer, als würde ich eines schönen Tages, wenn ich zu meiner schönen Puppe käme, um sie aus dem Schlafe zu wecken, sie aufrecht sitzend und lebendig finden.

Niemand hatte mir diesen Gedanken suggeriert; ich hatte von selbst das Gefühl, als müsse in einer der menschlichen so ähnlichen Hülle auch unbedingt eines Tages das Leben einziehen.

Sicherlich, vom kindlichen Gesichtspunkte aus, war die Sache viel logischer und verständlicher als die wirkliche Erklärung selbst wenn man mir eine solche gegeben hätte es gewesen wäre; diese kindliche Auffassung unterschied sich wenig von jener, welche die heilige Schrift uns über die Erschaffung des Menschen, des aus Staub gemachten leb- losen Wesens gibt, dem der liebe Gott seinen Odem eingehaucht und ihn dadurch zum Leben erweckt hatte.

Auch Sully erwähnt eines Kindes, das hartnäckig seine Mutter zu fragen pflegte: »Bin ich ein Kind oder bin ich eine Puppe?«

Ein anderer charakteristischer Zug der Kinder, der dazu beiträgt, daß sie die Fabeln und Märchen in einer Weise verstehen, von der wir keine Ahnung haben, liegt in ihrem angeborenen »Anthropomorphismus«. Alle von uns gezogenen und spitzfindigen Grenzlinien zwischen dem Tier-, Pflanzen- und Mineralreich, zwischen dem Lebewesen und den leblosen Dingen, sie existieren für das Kind nicht; dieses deutet und urteilt über alle es umgebenden Dinge nach der einzigen Quelle seiner Erfahrungen, nach seinen eigenen Empfindungen. Infolgedessen sieht es alles, was sich bewegt, spricht und läuft, als lebend an; alles was es in seiner Um- gebung findet, scheint ihm von einem dem seinigen ähnlichen Leben er- füllt zu sein; es genügt ihm also zu sehen, daß ein Ding sich bewegt, um zu glauben, daß es lebt.

1. Weshalb finden die Kinder an den Märchen Gefallen? 341

So haben einige Kinder einer Londoner Schule auf die Frage, was sich im Zimmer Lebendiges befinde, geantwortet: »Das Feuer und das Wasser.«c Daß das Wasser lebt, glauben auch manche indische Stämme (wir ersehen daraus, wie sehr die primitive Welt der Welt das Kindes ähnlich ist).

Taine erzählt von einem Kinde, welches behauptete, der Mond spiele mit ihm Verstecken, und ein anderes Kind fragte mich, wer den Mond zu Bette bringe; ein kleines englisches Mädchen glaubte, daß es die Steine langweilen müsse, sich nicht vom Flecke rühren zu können; mein zwei- jähriger Knabe meint, daß der Eisenbahnzug, den er vorbeirollen sieht, nach Turin geht, um dort mit seinem Großvater zu sprechen, ebenso auch glaubt er, daß der Eisenbahnzug zur selben Stunde sich mit ihm zu Tische setzt und zur selben Stunde mit ihm zu Bette geht.

Ein mir bekanntes kleines Mädchen spricht im Spielen zu seinem Spielzeug: »Kaffeekännchen, wo bist du?« »Siehst du denn nicht, daß ich hier bin?« »Wo denn?« »Auf dem Sessel.« »Willst du, daß ich dich mit Wasser anfülle?«e Auch sonst spricht diese Kleine mit den um sie herumbefindlichen Gegenständen. »Öffne dich, Tür!« »Warum willst du dich nicht öffnen?«

Das Kind droht mit tiefer Stimme seinen Kreiseln, wenn diese sich nicht drehen wollen und sagt von dem einen, daß es ein Mann, von dem andern, daß es eine Frau sei.

Stehen Kinder zum ersten Male vor einem Phonographen, dann glauben sie nicht, daß es sich um einen Mechanismus handelt, sondern, daß ein lebender Mensch drinnen versteckt ist. Die Kinder begreifen auch nicht, daß alle mechanischen Spielzeuge, als da Reiter, Clowns, Spiel- automobile usw. durch ein Räderwerk in Bewegung gesetzt werden; sie sind vielmehr überzeugt, daß alle diese Dinge durch einen Lebenshauch getrieben werden.

Andere Kinder finden es ganz natürlich, daß auch die Tiere und die Dinge sprechen und dieselben Gedanken wie wir ausdrücken.

Ein kleines Mädchen, welches eine zerdrückte Mücke zwischen den Blättern eines Buches gefunden hatte, sagte zu mir: »Wenn wir der Mücke zu Hilfe gekommen wäre, hätten wir ihr in ihrer Mückensprache zurufen können, sie soll sich in acht nehmen, denn sicherlich hatte diese Mücke vor ihrem Tode um Hilfe gerufen.«

Ein anderes kleines Mädchen hätte gern wissen wollen, womit die Vögel und die Kaninchen sich wenn sie bei ihren Eltern sind die Zeit vertreiben, wo sie wohnen, ob sie in die Schule gehen usw. Übrigens kennen die Kinder aus den Zirkusvorstellungen eine ganze Menge ge- lehriger Hunde und Katzen, welche grüßen, auf zwei Beinen stehen, die Zeitung bringen, die Pfote ausstrecken, um ein Stückchen Zucker zu nehmen und durch Reifen springen. Infolgedessen überraschen sie die Tiere aus der Märchenwelt vom gestiefelten Kater und dem Wolf im Rotkäppchen an bis zu dem Bären in der Erzählung der Mme de Sögur und dem Schwane von Andersen, die in ihren Handlungen und in ihrer Sprache so vernünftig und klug wie Menschen sind, gar nicht mehr.

342 B. Mitteilungen.

Es ist wahrscheinlich, daß eine der Ursachen, weshalb die Kinder an Märchen so viel Freude haben, in der Wahrheit oder Wahr- scheinlichkeit, die diese darin finden, zu suchen ist. Wenn wir ein Mär- chen erzählen, glauben wir die Kinder in eine phantastische, unwahr- scheinliche Welt zu versetzen, in welcher sie nichts als poetische Erfin- dung sehen; die Kleinen jedoch finden in dieser außergewöhnlichen Welt von verzauberten Schlössern, von Wünschelruten, mysteriösen Stimmen, sprechenden und handelnden Tieren lauter Erscheinungen, die nach ihrer Empfindung der Wirklichkeit viel näher sind als dem phantastischen. Die persönliche Erfahrung der Kinder ist eine solche, daß die wunder- samsten Zaubermärchen ihnen nicht wunderbarer erscheinen können als die sie umgebende Welt.

Und darin eben muß die große Freude, die das Kind an den Märchen findet, liegen; es glaubt eben fest daran, daß die ungeheuerlichsten Dinge eintreffen können und weist deren Möglichkeit nicht zurück.

Es findet an den Märchen dasselbe Interesse wie die Erwachsenen an Romanen, die ja auch erfunden, jedoch nicht ganz unwahrscheinlich sind und verschiedene Berührungspunkte und Ähnlichkeiten mit unserem Leben, unseren Gefühlen und mit unserem Dasein aufweisen.

Ein Kind würde sich langweilen, wollte man es einen Roman von Bourget, Tolstoi oder Gorki lesen lassen oder ihm dessen Inhalt erzählen, denn die Ereignisse, die Gefühle, die Gedanken, die Handlungen der Personen und das Interesse, das die Romane dieser bedeutenden Autoren bieten, sind der kindlichen Auffassung ganz fremd. Daß ein Mann einer Frau oder eine Frau ihrem Manne untreu wird, daß die Untreue auf diese oder jene Weise geschieht, daß der Mann seine Frau dabei erwischt, daß ein Duell darauf folgt, daß der eine oder der andere von Reue gefoltert wird oder das alles glücklich durch eine Ehe endet das sind lauter Dinge, die das Kind nie gesehen, an denen es niemals beteiligt gewesen und beteiligt sein konnte und die ihm also total fremd und unbegreiflich sind. Rotkäppchens Abenteuer dagegen, Dornröschen oder Eselshaut stehen der kindlichen Seele viel näher.

Jetzt nachdem wir gesehen, welchen von unseren gewöhnlichen Voraussetzungen grundverschiedenen tiefen Sinn die Märchen für die Kleinen haben, bliebe uns noch eine andere Frage zu lösen: sollen wir fortfahren, unseren Kindern Märchen zu erzählen, sollen wir es auch ferner zugeben, daß ihr Geist von phantastischen Bildern erfüllt wird, oder wäre es besser, diesen natürlichen Hang zum Phantastischen zu dämmen und in andere Bahnen zu lenken?

Diese Frage könnte von den Pädagogen besser und gründlicher be- antwortet werden, als von den Psychologen. Ich bin keine Pädagogin, und ich gehe vielleicht ein wenig empirisch, so zu sagen tastend in dieser Frage vor, doch ist die Lebensregel, die ich für mein Kind durchführen möchte, die folgende: ihm das größte Maß an Freude und Vergnügen zu verschaffen, und um keinen Preis möchte ich es der so unschuldigen köstlichen und lebhaften Freude an den Märchen berauben, selbst wenn mein Kleiner deshalb einige Jahre an die Authentizität des gestiefelten

1. Weshalb finden die Kinder an den Märchen Gefallen? 343

Katers und des Marquis von Sarabas mehr als an jene der römischen Kaiser und longobardischen Könige glauben und reichere Kenntnisse über die singenden Bäume und tanzenden Steine als über einfache und zu- sammengesetzte Blüten haben sollte .

Mich dünkt, daß die Märchen auf die Kleinen denselben Einfluß haben wie die Poesie auf die Jugend, das Wissen auf die Erwachsenen.

Es wird wohl kaum einen Jüngling oder ein junges Mädchen geben, die sich von ihrem sechzehnten bis zum zwanzigsten Jahre nicht für irgend ein lyrisches Gedicht begeistert und nicht an den eigenen Schul- tern das Wachsen von Flügeln zu einem poetischen Fluge gefühlt hätten und warum? Sicherlich deshalb, weil unsere Seele in der Zeit der reifern Jugend ganz von lyrischen, erotischen und heldenhaften Gefühlen durchbebt und durchzittert wird, die den natürlichen Inhalt der Poesie ausmachen; weil es dann die Zeit ist, in welcher sich das Leben mit der größten Frische und intensitivsten Kraft Bahn bricht: wenn die ersten Ausbrüche der Liebe, die ersten berauschenden Bestrebungen nach Ruhm unsere Seele mit ihrer Trauer und ihrer Sanftmut erfüllt haben, sind wir auch allen Empfindungen und poetischen Gefühlen leichter zugäng- lich und eben deshalb sind Leopardi und Carducci, Viktor Hugo und Foscolo allein im Stande, die lebendige leuchtende und sengende Flamme zu entfachen und zu nähren.

Wenn jedoch der jugendliche Glanz von der dichten Patina der täglichen Sorgen und des kleinlichen Kampfes ums Dasein überzogen worden ist, wenn der Jüngling sich in einen ernsten, einem bestimmten Berufe sich widmenden Mann Arzt, Ingenieur, Chemiker oder Mecha- niker verwandelt hat, dann wird die Anziehungskraft und das leb- hafte Interesse, das die Poesie früher auf ihn ausgeübt hatte, sich ab- stumpfen oder ganz verschwinden; die Gedichte werden ihm stumpfsinnig und albern scheinen und kein Bnch wird dem Betreffenden so interessant dünken wie ein Werk, das über sein spezielles Fach handelt, das dessen Eigenheiten beleuchtet und dessen Probleme löst.

Es schlummern in uns Elemente, die in uns nach und nach ein Interesse für Poesie, Roman oder wissenschaftliche Abhandlungen hervor- rufen. Derselbe Vorgang findet beim Kinde statt: es trägt in sich solche intellektuelle Elemente, daß die Märchen tatsächlich seine natürliche geistige Nahrung bilden müssen. Sie sind für das Kind geschaffen und bieten seinem Gehirn eine ebenso reiche und kräftige Nahrung wie die Milch seinem Magen; mit demselben allmählichen Wachstum des Kindes, mit der Erweiterung seiner Kenntnisse und Erfahrungen verblassen und entblättern sich die Märchenbilder in seinem Geiste.

Da jedoch unsere Kinder nach dieser Nahrung verlangen, so müssen wir Erwachsene ihnen dieselbe ohne Bedenken zugestehen und müssen sie in dieser Welt von Träumen, von zauberischen und gleichzeitig auch wahren Bildern lassen, die sind die Kleinen einmal groß geworden für sie wie ein vergessenes Spielzeug, wie die Liebkosung einer Mutter der entzückendste Hintergrund ihrer Kindheit sein werden.

344 B. Mitteilungen.

2. Noch einmal der sogen. 6. Sinn der Blinden und

Taubblinden. Von L. Truschel-Straßburg.

(Erwiderung auf das Referat von Inspektor Fischer im Juniheft dieser Zeitschrift.)

Zunächst die Feststellung, daß die Bezeichnung »6. Sinn der Blinden« nicht von Laien, sondern von Physiologen!) in die Öffentlichkeit ge- tragen worden ist, wobei ja von vornherein klar ist, daß dies in An- lehnung an die populäre Auffassung von den »fünf Sinnen« geschah, da man ja heutzutage in wissenschaftlichen Abhandlungen kaum mehr anders von 5 Sinnen sprechen darf als von 4 Elementen.

Zweitens die Feststellung, daß Herr Fischer seine Absicht, in seiner Erwiderung im Juni-Heft »im allgemeinen über die vorliegende Streitfrage zu orientierene, nur sehr einseitig zur Ausführung gebracht hat. Denn er beschränkt sich auf eine Wiederholung der Argumente, die Kunz in seiner Arbeit und auf dem Hamburger Kongreß geltend machte, sagt aber kein Wort von der Widerlegung, die diese Thesen erfuhren. Wer über die Streitfrage wirklich orientieren will, sollte doch von einer fast zweistündigen Debatte nicht die eine Hälfte überschlagen, sondern den Thesen seines Gewährsmannes, soweit er sie unverändert wiederholt, die entsprechenden Gegenthesen gegenüberzustellen. Ich habe das im April- heft nicht getan und will es auch hier nicht nachholen. Die Ausein- andersetzung würde den Raum, den diese Zeitschrift hierfür zur Ver- fügung stellen kann, weit überschreiten. Ich halte es auch für über- flüssig, dieselben Ausführungen, die ich in Hamburg an jede der Kunzschen Thesen?) anknüpfte, an dieser Stelle zu wiederholen, muß es des- halb vorläufig ganz den Lesern dieser Zeitschrift überlassen, ob sie meinen subjektiven Standpunkt, die von Kunz aufgeführten und von Fischer wiederholten Argumente seien bereits widerlegt, teilen wollen oder nicht, und will auch auf die ganz unzweideutige Haltung und Stellungnahme der Versammlung, vor der die beiden Theorien erörtert wurden, kein Ge- wicht legen. Ich trete vielmehr ganz Herrn Fischer bei: nur durch exakte Experimente kann eine entscheidende Klärung herbeigeführt werden.

Eins aber kann und muß jetzt schon klargestellt werden, wenn die Kollegen, die das Problem weiterverfolgen wollen, sich nicht erst durch ein Wirrnis von Mißverständnissen, Verwechslungen und falschen Zitaten durcharbeiten sollen. Nämlich: worin Kunz und Truschel bereits einig sind, und was nun eigentlich als strittig oder unbewiesen womöglich von dritter Seite nachgeprüft werden muß.

Übereinstimmung herrscht darüber, »daß (um mit Fischer zu sprechen) ein Ferngefühl, welches auf taktilen Reizen beruht, vorhanden ist.e Wer Truschel die gegenteilige Ansicht unterschiebt, kennt seine

!) Wohl zuerst von Prof. Dr. Javal-Paris durch sein Buch: »Entre avengeles«. ?) Interessenten seien an den Kongreßbericht verwiesen.

2. Noch einmal der sogen. 6. Sinn der Blinden und Taubblinden. 345

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Arbeit nicht, oder hat sie nicht verstanden. Was ich im Gegensatz zu den altbekannten und allen bewußten Empfindungen vorläufig als sogen. 6. Sinn oder x-Sinn bezeichnet und experimentell untersucht habe,!) ist auch im April-Heft dieser Zeitschrift dargelegt worden, und ich darf wohl hoffen, es nicht mehr allzuoft »wieder« sagen zu müssen.

Übereinstimmung herrscht ferner darüber, daß außer diesem taktilen Ferngefühl auch die gewöhnlichen Empfindungen des Gehörs-, Temperatur- und Geruchssinns, sowie die Ortskenntnis und die Intelligenz an der Orientation der Blinden teilnehmen.

Wenn Kunz diese beiden Tatsachen nachgewiesen hat, so hat er eben etwas näher untersucht und bestätigt, was meines Wissens bisher noch niemand bestritten hat, und was auch Truschel in seiner Arbeit wiederholt als etwas Selbstverständliches aussdrücklich mit erwähnt. ?) Man vergleiche die genauen Zitate bei Meumann |. c.

Ein tatsächlicher Gegensatz beginnt erst da, wo es sich darum handelt, den Bereich der einzelnen Sinnesgebiete abzugrenzen, d. h. dem oder jenem den Hauptanteil zuzuschreiben. Hier neigt Truschel zu der Ansicht von Krogins, der im Temperatursinn den Hauptfaktor sieht (für das »Ferngefühl«!), während Kunz (wie Fischer sagt) »eine Proportio- nalität des Drucksinnes, der Berührungsempfindung, mit dem Fern- gefühl festgestellt hat.« Obwohl diese Abgrenzungsfragen nur von untergeordneter Bedeutung sind, so muß doch betont werden, daß Kunz den Nachweis der Proportionalität nicht geführt hat. Wenn er geglaubt hat, auf Grund seiner Tabellen eine solche Proportionalität annehmen zu dürfen, so ist ihm damit ein Irrtum unterlaufen. Denn bei genauer Prüfung der betreffenden Tabellen stellt sich heraus, daß eine annähernde Proportio- nalität nur in 17 bezw. 29°/, der beschriebenen Fälle eintraf,®) also nur ausnahmsweise. Hätte Kunz seine Hauptthese also induktiv zu gewinnen und gewissenhaft zu fundieren versucht, so wäre er zu dem umgekehrten Ergebnis gelangt: »Das Druckgefühl ist dem Ferngefühl in der Regel nicht proportional«, oder einfacher ausgedrückt: »Das Fern- gefühl ist vom Druckgefühl unabhängig.« Daß in der beschränkten Anzahl von Ausnahmefällen annähernde Proportionalität eingetreten ist, ist nur natürlich. Selbst wenn es nicht 17 bezw. 29°/,, sondern mehr als 50°/, wären, so würde diese Feststellung noch nicht zu der Behauptung berechtigen, daß eine gegenseitige Abhängigkeit oder gar »Proportionalität« besteht. Denn es versteht sich doch von selbst (auch Kunz teilt diese Ansicht), daß bei vielen Personen, vielleicht bei den meisten, die ver- schiedenen Sinne von Natur aus ungefähr gleichmäßig scharf sind. Den Nachweis, wie die übrigen Kunzschen Thesen fundiert sind, mögen Interessenten bei Meumann nachlesen in demselben Heft, das

1) Meumann, Experimentelle Pädagogik. Bd. III—V.

?) Damit soll aber nicht gesagt sein, daß die diesbezüglichen umfangreichen Untersuchungen von Kunz überflüssig gewesen wären.

3) Näheres hierüber bei Meumann |. c. Die Kunzschen Tabellen, die ich nachgeprüft habe, sind die im Archiv für Schulhygiene Bd. V 1 veröffentlichten.

346 B. Mittteilungen.

(nach Fischer) diese »beweisenden« Tabellen nebst einem weiteren Bericht anscheinend (noch einmal) bringen soll (nicht gebracht hat!).!) Daß diese Frage aber von untergeordneter Bedeutung ist, sei hier nochmals betont.

Die Hauptdifferenz besteht in den Ansichten über die sogenannten x-Reize, die nach Truschel akustischer Natur sind und einen entscheidenden Anteil nehmen an der Orientation, nach Kunz (und Fischer) aber gar nicht mitwirken. Fischer sagt am Schluß seines Referats: »Daß sie bei der Orientation mitspielen, ist noch experimentell nachzuweisen.

Mit Verlaub! Ich habe die bezügliche Theorie nicht aus den Fingern gesogen, sondern mühsam, Schrittchen für Schrittchen aus Experimenten gefolgert. Man wolle doch wenigstens S. 143 bis S. 148 meiner Ab- handlung (Seite des Sonderdrucks) etwas genauer ansehen.

Die rein theoretischen Erwägungen Fischers haben nicht die ge- ringste Beweiskraf. Wenn er z. B. meint, »die in Betracht kommenden reflektierten Schallwellen (I. Gattung) könnten keine musikalischen Emp- findungen hervorrufen«, so ist das eine Meinung, weiter nichts. Und dieser Meinung stehen ganz genaue experimentelle Forschungen gegenüber. Ich erinnere nur an die des Physikers van Gulik. Ich darf doch in erster Linie verlangen, daß nicht ganze Kapitel der Vorarbeiten einfach überschlagen werden. Die Kunzschen Stimmgabel-Experimente u. dergl. haben mit dem, was ich als sogen. II. Gattung der x-Reize experimentell untersucht habe, nichts zu. Ohne Berücksichtigung dieser Experimente und der Funktionen des Vestibularapparats, bei denen es sich ja gar nicht um bewußte Schallempfindungen handelt, sowie der physi- kalischen Forschungen über die Reflexions- und Interferenztöne läßt sich das Problem der Fernwahrnehmungen der Blinden nicht befriedigend lösen. Denn das haben meine ersten Experimente zum mindesten bewiesen, daß die in Frage stehenden akustischen Erscheinungen mitwirken. Es bleibt nur ihr Einfluß im Verhältnis zu den altbekannten Reizen. die ich nicht näher untersucht habe, abzugrenzen.

Die übrigen Differenzen sind, wie auch der Physiologe Zoth sofort nach Erscheinen der Kunzschen Arbeit erkannt hat, »begrifflicher Natur und erfordern eine begriffliche Auseinandersetzung zwischen Truschel und Kunze. Hierfür ist natürlich diese Zeitschrift nicht der Ort. Ich kann nur andeuten, worauf es ankommt: daß künftighin beide mit den- selben Ausdrücken dasselbe bezeichnen und einander gegenseitig verstehen. Auf die Weiterführung der Termini »6. Sinn« und »x-Sinn« verzichte ich von Herzen gern. Den ersten hatte ich von Javal übernommen, und das x hatte ich für das zu Erforschende eingesetzt. Sobald die bezüg- lichen Untersuchungen zu Ende geführt sein werden, wird an dessen Stelle ganz von selbst etwas Bestimmtes und Bekanntes treten. Ob dann nicht doch etwas Neues mit dabei sein wird, das wird sich ja schon

1) Zusatz bei der Korrektur: Das Referat von Fischer im Juniheft stützte sich auf eine Einsicht in die Korrekturbogen. Das betreffende Heft ist auch heute (1. August) noch nicht erschienen.

3. Außereheliche Schulkinder und ihre Bewertung. 347

zeigen. Ein neuer »Sinn« braucht’s aber nicht unbedingt zu sein. Darüber mögen nach Beendigung der eigentlichen Forschungen die Physiologen von Fach urteilen. Keinesfalls aber erhielt er die No. 6. Die ist ja schon längst überschritten.

Um eine Verständigung zu erleichtern, will ich gern einräumen, daß ich durch Voranstellung der Erklärung, unter dem Ausdruck »6. Sinn oder x-Sinn« sei nicht die Totalität der Fernwahrnehmungen zu verstehen, sondern ich hätte nur die im Laufe der Ausführungen näher bezeichneten beiden hypothetischen Reizgattungen darunter begriffen, ver- mutlich viele Mißverständnisse hätte verhüten können. Daß jedoch aus der Einsetzung des x dies deutlich genug zu erkennen war für alle, die vor dem Beginn der Kritik die ganze Arbeit lasen, beweisen mir andere Besprechungen, besonders augenfällig die von Dr. Ackerknecht in der »Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane« und in No. 14 der wissenschaftlichen Beilage zur Voss. Ztg., wo ausdrücklich auch über meine Unterscheidung zwischen den x-Reizen und den Funktionen der Hautsinne berichtet wird. Wenn diesem Referenten diese Unterscheidung beim ersten Lesen meiner Arbeit auffiel, dann konnten sie Kunz und Fischer doch wohl auch finden. Ich bin selbstverständlich weit davon entfernt, meine Arbeit für abschließend zu halten. Ich wollte, wie ich S. 117 sagte, »den berufenen Spezialforschern das verwertbare Material aufzeigen, um sie zur etwaigen Inangriffnahme anzuregen.« Daß diese Anregung auf sehr fruchtbaren Boden gefallen ist, freut mich trotz der teilweisen Gegnerschaft aufrichtig. Die Gründlichkeit, mit der jetzt an verschiedenen Orten gearbeitet wird, bürgt dafür, daß die Flüchtigkeiten, die die bisherigen Arbeiten (meine inbegriffen) enthalten, sich nicht wiederholen werden, und wir von einem abschließenden Resultat, soweit der heutige Stand der Spezialwissenschaften es überhaupt ermöglicht, nicht mehr allzuweit entfernt sind.

r weitere Untersuchungen zum »experimentellen Nach- weise des akustischen Charakters der bewußten Reize (x-Reize der II. Gattung) habe ich bereits im Januar einen Bericht an Professor Meumann gesandt.!) Bis der erschienen ist, tun Interessenten wohl am besten daran, ebenfalls zu experimentieren, soweit sie nicht abwarten wollen.

(Eingegangen am 15. Juni.)

3. Aussereheliche Schulkinder und ihre Bewertung.

Dannemann schreibt in seiner »Psychiatrie und Hygiene in den Erziehungsanstalten«: »Soll die Konstatierung der außerehelichen Geburt somit einerseits keine Herabsetzung eines Menschen enthalten, so schließt sie anderseits genau genommen leider doch in der Mehrzahl der Fälle den Nachweis einer gewissen Minderwertigkeit und mangelhaften

1) Wegen Erkrankung des Herausgebers verzögert sich das Erscheinen dieses und des oben erwähnten Berichts um einige Monate.

348 B. Mitteilungen.

Anlage ein« Da man öfters ähnlich lautenden Urteilen begegnet, wird man es verstehen, wenn der Plauener Jugendfürsorge- Verein über die unehelichen Schulkinder der Stadt Erhebungen anstelle, um sein Hauptwirkungsfeld bloßzulegen. Vorsichtigerweise schloß unsre Statistik auch noch sämtliche Mitteilungen über adoptierte uneheliche Kinder aus, weil diese meist in günstigen Verhältnissen aufwachsen. Trotzdem erlebte der Verein eine höchst angenehme Enttäuschung.

Man zählte unter 14184 Kindern in den Volksschulen 559 unehe- liche = 49%), |

unter 216 Hilfsschülern 12 uneheliche = 51/, %/,.

Von den 559 unehelichen Volksschülern wurden nach ihrer Begabung

8 mit sehr gut, 211 mit gut, 333 mit genügend, 7 mit wenig oder ungenügend zensiert. Nach ihrem Fleiße erhielten 206 = I 173 == Ib nur 180 darunter. Nach ihrem sittlichen Verhalten 525 == I 19 = Ib nur 15 darunter.

Als unwahr wurden 29, als unehrlich 17 bezeichnet.

Als körperlich vernachlässigt werden nur 28,

als kränklich nur 61 angeführt.

Das bedeutet nichts anderes, als daß Plauens uneheliche Schulkinder in Begabung, Fleiß und sittlichem Verhalten über dem Durchschnitte stehen, zum großen Teile auch körperlich kräftiger und gesunder sind als eheliche Schulkinder. Nur eine geringe Auslese wird häuslich vernach- lässigt, verwahrlost, ist nach Fleiß und Begabung äußerst minderwertig bedarf der »Jugendfürsorge«. Dieser Kinder wird sich unser Verein ganz besonders annehmen.

Unter dem tiefsten häuslichen Elende leiden nicht die unehelichen, sondern die bedauernswertesten aller Kinder, die der Trunkenbolde. Wann wird das Gesetz der Trunksucht in Deutschland endlich Einhalt tun!

Plauen. Delitsch.

4. Ein Schweizerischer Informationskursus in Jugend- fürsorge

findet in der Zeit vom 31. August bis 12. September d. J. in Zürich statt. Zur Behandlung kommen nachfolgende Gebiete der Jugendfürsorge: a) Wöchnerinnenfürsorge und Mutterschutzbestrebungen. b) Säuglingsfürsorge. c) Soziale Fürsorge für unterstützungs- und schutzbedürftige Kinder. d) Für- sorge für physisch, intellektuell oder moralisch anormale und gebrechliche Kinder.

Die Teilnehmer entrichten ein Kursgeld von Fr. 30.—. Sie haben Zutritt zu allen von der Kursleitung angeordneten Veranstaltungen und

C. Literatur. 349

7.0. 7m 1 72722. 0 nn m IL

erhalten nach Schluß des Kurses einen gedruckten Bericht, umfassend die Vorträge, Referate, Ergebnisse der Diskussionen usw.; der Bericht bildet einen Bestandteil des Jahrbuches der schweizerischen Gesellschaft für Schulgesundheitspflege.e Ferner wurden zum Besuch der Vorträge Tages- karten zu Fr. 1 und Abonnementskarten für die ganze Kursdauer zu Fr. 10 ausgegeben.

Anmeldungen haben bis spätestens 15. August bei H. Hiesland, Vorsteher des städtischen Amtes für Kinderfürsorge in Zürich zu erfolgen. Einen ausführlichen Plan der Veranstaltung versendet Dr. F. Zollinger, Sekretär des Erziehungswesens im Kanton Zürich. U.

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C. Literatur.

Stern, Clara u. William, Die Kindersprache. Eine psychologische und sprachtheoretische Untersuchung (Monographien über die seelische Entwicklung des Kindes. I). Leipzig, Joh. Ambr. Barth, 1907. 8%. VI u. 394 S. Preis geh. 11 M, geb, 12 M.

Die Literatur zur Psychologie des Kindes ist in der neueren Zeit zu einer fast unübersehbaren Fülle angewachsen, so daß zusammenfassende Darstellungen des erarbeiteten Materials zum Zwecke der Orientierung sowohl als auch im Inter- esse der wissenschaftlichen Forschung nachgerade sehr erwünscht sind. Der auch unsern Lesern vorteilhaft bekarmte Breslauer Professor William Stern und seine Gattin haben es unternommen, wenn auch vielleicht nicht die einzelnen, so doch einzelne Gebiete der Kindespsychologie nach dem gegenwärtigen Stande und unter Verwertung eigener Beobachtungen monographisch zu bearbeiten, und zwar in der Weise, daß den Monographien nicht nur ein orientierender, sondern auch ein im höhern Sinne wissenschaftlicher Wert zukommt.

Die. monographische Darstellung einzelner Gebiete des Seelenlebens, auch des kindlichen, ist nicht ohne jede Gefahr, da die gerade zu behandelnden Partien naturgemäß leicht etwas »gefräßig« werden, d. h. manches an sich reißen, was eigentlich nicht zu ihnen gehört. Der Beweis hierfür wäre aus der Literatur der pädagogischen Psychologie nicht schwer zu erbringen. Verringert wird allerdings die Gefahr, wenn der Bearbeiter nicht lediglich einen einzigen Gegenstand ins Auge faßt, sondern nach einem vorher aufgestellten Plan an die Abfassung einer ganzen Reihe von Monographien herantritt und hierzu die nötige Weite und Klarheit des Blickes mitbringt, wie es bei Stern der Fall ist.

Das Gebiet der Kindespsychologie, das gegenwärtig die monographische Be- handlung nicht nur am besten verträgt, sondern auch am notwendigsten hat, ist die sprachliche Entwicklung im Kindesalter, und mit ihrer Behandlung wird die Reihe der Einzeldarstellungen in vielversprechender Weise eröffnet.

Das Erfahrungsmaterial, auf das sich die Untersuchung in erster Linie stützt, ist durch die Beobachtung von zwei Kindern der Verfasser gewonnen worden; in zweiter Reihe werden die Beobachtungen anderer benutzt, die bereits in der Lite- ratur niedergelegt sind oder auf dem Wege privater Mitteilung zur Kenntnis der Herausgeber gelangten. Was die zeitliche Begrenzung der Kindessprache betrifft, so betrachten die Verfasser diese als abgeschlossen, wenn »die Aneignung der Um-

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350 C. Literatur.

gangssyntax in den Hauptzügen« erfolgt ist, doch wird an einigen Stellen diese Grenze überschritten, da manche Eigentümlichkeiten der Kindessprache, z. B. die »Zusammensetzungen« und »Ableitungen« noch länger andauern. Auf Grund meiner Erfahrungen im deutschen Sprachunterricht möchte ich übrigens glauben, daß dieses Fortdauern noch weiter reicht, als die Verfasser anzunehmen scheinen (im all- gemeinen nämlich bis zum 6. Lebensjahre); doch handelt es sich für die spätere Zeit vielleicht weniger um eine psychologische, als um eine pädagogische Ausbeute, auf die aber in dem vorliegenden Werke, wie die Verfasser ausdrücklich hervor- heben, keine Rücksicht genommen werden soll, wie ferner auch alles ausgeschlossen bleibt, was für den Spracharzt unmittelbar von Wichtigkeit sein könnte. Die Kindersprache wird definiert als »diejenige Sprachepoche, die vom ersten sinn- voll gesprochenen Wort bis zur Bewältigung der Hauptarten des Satzgefüges reicht«.

Fragen wir nach dem Standpunkte, den die Verfasser hinsichtlich der Kindes- sprache als eines Ausdrucksmittels einnehmen, so befinden sie sich in einer Art Mittelstellung: sie verwerfen die intellektualistische Auffassung, wie sie nach ihrer Meinung noch bei Ament (1899) hervortritt; sie tragen aber andrerseits auch Be- denken, der Auffassung Wundts, Meumanns und Idelbergers völlig beizutreten, die die ersten Sprachanfänge möglichst einfach als Begehrangsäußerungen und den Prozeß der Sprachaneignung möglichst passiv als reines Nachahmungsprodukt zu verstehen suchen.

Die sprachwissenschaftliche Absicht der Verfasser geht dahin, nachzuweisen, daß die Kindessprache ein in sich geschlossenes Sprachganzes bildet, welches trotz der großen Unterschiede zwischen den einzelnen Kindern und den verschiedenen Entwicklungsphasen seine typischen Eigenregeln hat, kurz, daß es eine wirkliche Kindersprachwissenschaft gibt.

Das Werk gliedert sich in drei Teile: I. Sprachgeschichten zweier Kinder in chronologisch -synchronistischer Darstellung. II. Psychologie der Kindersprache. lII. Zur speziellen Linguistik der Kindersprache.

Der erste Teil eignet sich seiner Natur nach wenig zur Berichterstattung im Rahmen einer Buchanzeige; doch muß auf zweierlei ausdrücklich hingewiesen werden, einmal darauf, daß die Vorbereitungs- und Anfangsstudien des kindlichen Sprechens, die schon früher eine umfängliche Untersuchung erfahren haben, weniger berück- sichtigt werden, daß hingegen die eigentliche Sprachentwicklung nach ihrer psycho- logischen und sprachtheoretischen Seite besonders ins Auge gefaßt ist, sodann daß bei der Materialbeschaffung dem bisher meistens üblichen chronologischen Verfahren ein synchronistisches zur Seite gestellt wird, um zu verschiedenen Zeitpunkten den Status praesens innerhalb gewisser Teilgebiete oder auch des Gesamtgebietes zu ermitteln,

Im zweiten Teil des Werkes wird zunächst das Kausalproblem der Kinder- sprache behandelt. Die oben bereits angedeutete vermittelnde Stellung W. Sterns kennzeichnet sich deutlicher in folgenden Worten: »Das sprechenlernende Kind ist in bezug auf seine Sprachform weder ein äußere Schälle bloß zurückwerfender Phonograph, noch ein souveräner Sprachschöpfer; und es ist in bezug auf seinen Sprachinhalt weder eine reine Assoziationsmaschine, noch ein souveräner Begriffs- bildner. Vielmehr beruht seine Sprache auf dem fortwährenden Zusammenwirken von äußeren Eindrücken und inneren, meist unbewußt wirkenden Anlagen, ist also das Ergebnis einer ständigen »Konvergenz«. Das wird dann im einzelnen nach- gewiesen.

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Sodann werden die »Vorstadien« des Sprechens behandelt, nämlich Schreien und Lallen als die beiden Formen spontaner Aktion (der hier der Vortritt zu- kommt) und Lautnachahmung und Sprachverständnis als die beiden Formen der Reaktion auf Gehörseindrücke. Im einzelnen erscheint besonders bemerkens- wert, daß das von Fritz Schultze aufgestellte und u. a. auch von Gutzmann vertretene »Prinzip der geringsten physiologischen Anstrengung«, nach welchem erst die Lippen-, dann die Zahn- und zuletzt die Gaumenlaute auftreten müßten, auf Grund des in der Literatur niedergelegten Erfahrungsmaterials als widerlegt bezeichnet wird; zu untersuchen bleibt aber nech, ob die Reihenfolge jenes Prinzips nicht wenigstens für die kindliche Nachahmung der Sprachlaute Gültigkeit hat (Gutzmann).

Die Vorstadien werden dadurch gekennzeichnet, daß das Kind einerseits lallend und nachahmend eine Reihe von Lautkomplexen äußert ohne Verständnis, und daß es andrerseits eine Reihe von Lautkomplexen versteht, ohne sie selbständig hervor- bringen zu können. »Sobald sich nun mit dem Selbstgeäußerten das Verstehen und mit dem Verstehen das Selbstäußern verknüpft, ist das Sprechen da.« Es geschieht zunächst in der Form des Einwort-Satzes, der von den Verfassern in einem be- sondern Kapitel behandelt wird. Sodann tritt eine Entwicklung ein, die sowohl mit Bezug auf den Satz, wie auch mit Bezug auf die einzelnen Wortarten in zwei Kapiteln eine eingehende Behandlung erfährt.

Ein weiteres Kapitel handelt von der individualen Differenzierung nach ihren äußern und innern Bedingungen.

Als äußere Bedingungen werden angegeben die soziale Schichtung und im engen Zusammenhang damit der Einfluß der mehr oder weniger intensiven Be- schäftigung mit dem Kinde, das etwaige Vorhandensein älterer Geschwister, plötz- licher Wechsel in der Umgebung. In letzterer Beziehung ist es von besonderm Interesse zu sehen, daß die Sprachentwicklung ungemein schnell vor sich geht, wenn das Kind aus einer ungünstigen Umgebung, in der sich die sprachlichen Trieb- kräfte anstauen, in eine günstige Umgebung versetzt wird, in der sich die Schleusen öffnen, in der eine aufgespeicherte Menge bis dahin latent gebliebener Sprachreize akustischer Natur in Sprechbewegung umgesetzt wird.

Hinsichtlich der innern Bedingungen der Differenzierung ist namentlich das Geschlecht zu nennen. Mädchen weisen Knaben gegenüber wie in körperlicher und seelischer, so auch insbesondere in sprachlicher Beziehung eine beschleunigte Ent- wicklung auf, stehen aber, was Selbständigkeit und Eigenart betrifft, den Knaben im allgemeinen nach.

Das letzte Kapitel des zweiten Teils befaßt sich mit Parallelen zwischen der Sprachentwicklung des Individuums und der Gattung und kommt zu dem Ergebnisse, daß in mancher Beziehung Parallelen unverkennbar seien, daß man aber von einer durchgehenden Übereinstimmung nicht reden könne,

Der dritte Teil des Werkes, der sich mit der speziellen Linguistik der Kinder- sprache beschäftigt, ist mehr sprachwissenschaftlicher als im engeren Sinne psycho- logischer Natur.

Das ganze Werk zeigt die Klarheit in der Darstellung und die Treffsicher- heit des Ausdruckes, wie wir sie bei den Veröffentlichungen Sterns gewohnt sind. Es wird auf lange Zeit die bedeutendste Arbeit über die Kindersprache bleiben.

Ufer.

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Wilmanns, Gefängnispsychosen. (Sammlung zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiet der Psychiatrie. 1908.)

Wilmanns hat sich um die Feststellung des Krankheitsbegriffs der »Ent- artung« verdient gemacht. Er nennt Entartung die Summe der minderwertigen Variationen des Menschen auf körperlichem und geistigem Gebiet. Aus diesem Boden heraus, der die eigentliche Krankheit darstellt, entwickeln sich in bunter Reichhaltigkeit und mannigfacher Durchmischung Zustandsbilder (Syptomenkomplexe), deren jedes für sich wenig verständlich war, bis der gemeinsame Grund, die ent- artete Charakteranlage als angeborene, unheilbare und unwandelbare Geistesanomalie erkannt war. Für den Schwachsinn auf intellektuellem Gebiet (Dummheit, Debilität, Imbeeillität) ist bei Richtern und Erziehern das Verständnis wach geworden. Gegen- über dem moralischen Schwachsinn (moral insanity), der epilepsieähnlichen Ent- artung, der Hysterie, dem »pathologischen Charakter«, dem krankhaften Lügner und Schwindler (Pseudologia phantastica) bestehen zur Zeit noch vielfache Bedenken, selbst in ärzlichen Kreisen, und manchmal nicht mit Unrecht. Was wird nicht alles, um nur ein Beispiel zu nennen, vom Kenner als Hysterie bezeichnet: Schwere Geisteskrankheiten, Nervenlähmungen, »eingebildete« Schmerzen, Frauenleiden (daher der Name), Massenepidemien des Mittelalters, wie solche in heutigen Schulklassen, kleine Schwächeanwandlungen, Stottern, Bettnässen und hundert andere alltägliche Dinge beim Kinde, Krampfanfälle u. s. f., und dabei weiß niemand zu erklären, was eigentlich Hysterie ist. In der Tat drückte der Arzt mit der Bezeichnung Hysterie eigentlich nur aus, daß die betreffende Krankheitsäußerung, sei sie nun körperlicher oder seelischer Art, durch eine gefühlsstarke Vorstellung entstanden sei und durch eine solche (Suggestion, Schreck, Schmerz!) auch wieder zum Verschwinden zu bringen sei. Nun ist dieser Vorgang im normalen Seelenleben etwas alltägliches. Man bezeichnet daher alle Störungen, die keine organische, greifbare Ursache haben (das wäre: organo-gen), sondern dem Vorstellungsleben (Psyche) entspringen, als psycho-gen und spricht in diesem Sinne von Psychogenie (Genesis = Entstehung). Sie ist eine physiologische Eigenschaft der Kindesseele, die aber ebenso wie die Frauenseele außerdem noch viele Ähnlichkeiten mit dem sogenannten hysterischen Charakter (siehe weiter unten) hat. Die Hysterie ist überhaupt nicht etwas Fremdes, das den Gehirnmechanismus in Bande schlägt; der hysterische Charakter folgt aus der Weiterentwicklung gewisser Züge, die in jedem Seelenleben schlummern, z. B. erhöhte Suggestibilität (vergl. die schönen Untersuchungen von Witasek, XII. Jahrg. 1907, Oktoberheft dieser Zeitschrift), Phantastik, Lügetrieb, blinder Autoritätsglaube, rasche Ablenkbarkeit, Eigensinn, ungeheuerliche Affektausbrüche, Sucht, beachtet zu werden, Neigung zu Krämpfen u. s. f, vor allem wie erwähnt die Psychogenie. Der Boden, auf dem sich die hysterische Charakterentwicklung in obigem Sinne ab- spielt, ist dieselbe Entartung, die jederzeit auch andere Zustandsbilder entfalten kann. Für diese Fälle darf man den Namen Hysterie beibehalten. Daß eines ihrer hervorstechendsten Zeichen die Psychogenie sein kann (aber nicht muß), ist nun kein Grund, jegliches psychogene Symptom, das irgendwo auftritt, zur Hysterie zu stempeln und damit z. B. bei einer Zitterepidemie eine ganze Schulklasse für hysterisch zu erklären.

Mit diesen wesentlich klareren Anschauungen wird es gelingen, dem Laien psychopathische Minderwertigkeiten, wo sie wirklich da sind, auch glaubhaft zu machen, auch wenn das verstandesmäßige Denken, die Intelligenz und Kenntnisse des Kranken vortrefflich sind.

Galkhausen (Rhld.). Dr. Hermann.

Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensaiza,

Julius Ludwig August Koch.

A. Abhandlungen.

Zum Gedächtnis unserer Verstorbenen. 2. Julius Ludwig August Koch.

Medizinalrat Dr. med. J. L. A. Koca stand unserer Zeitschrift und unsern Bestrebungen näher, als die meisten Leser ahnen. Nur sein langjähriges Leiden war die Ursache, daß wir schon seit Jahren auf seine direkte Mitarbeit ganz verzichten mußten.

Gewisse Dinge liegen oft sozusagen in der Luft, und sie führen dann Personen zusammen, die sich früher nicht kannten. In den Jahren 1889/90 beschäftigten ganz unabhängig von einander den fast 80jährigen Leipziger Prof. Lupwıs STRÜMPELL, den Zwiefaltener Irren- anstaltsdirektor Kocs, den Konrektor Urer in Altenburg und den Schreiber dieses eine Reihe verwandter Probleme. Fast gleichzeitig erschienen die Veröffentlichungen der Ergebnisse in der bahnbrechenden Schrift Strümpells: »Die pädagogische Pathologie oder die Lehre von den Fehlern der Kinder«, in den Schriften Kochs über »Psychopathische Minder- wertigkeiten“, in mehreren Abhandlungen Ufers über Kinderstudium und über Nervosität der Jugend, während ich durch Gründung meiner Anstalt für schwer erziehbare oder psychopathisch minderwertige Kinder zugleich neue Bahnen der praktischen Fürsorge suchte.

Was Koch für Strümpell bedeutete und wie der Achtzig- jährige noch seine eigenen Anschauungen durch Kochs Anregungen umdachte, davon zeugt in umfangreichster Weise die zweite Auflage jener Schrift, vielleicht mehr aber noch der rege und immer freund- schaftlicher sich gestaltende Briefwechsel zwischen beiden vorher einander unbekannten Männern.

Zeitschrift für Kinderforschung. XII. Jahrgang. 23

354 A. Abhandlungen.

Auch meine 1893 erschienene Schrift: »Psychopathische Minder- wertigkeiten im Kindesalter« sagt schon im Titel, in welches Ver- hältnis mein theoretisches Denken wie meine praktische Arbeit zu Koch geraten war.

Koch hatte uns jedoch mehr gegeben, als seine Lehre und An- schauung, die wir uns teilweise ja schon ohne seinen Einfluß gebildet hatten, er gab mit der bei Gelehrten sonst oft kalten, rücksichtslosen Lehre stets sein warmfühlendes Herz. Aus dem verwandt Denkenden wurde auch mir ein treuer, vertrauter, hochherziger, edelgesinnter Freund. Er wurde es aber auch der Sache, die wir hier seit je vertreten haben: der belasteten Jugend, der Schule, der Pädagogik.

In Gemeinschaft mit Koch, Ufer und Zimmer Strümpell wollte sich seines Alters wegen nicht mehr aktiv beteiligen wurde diese Zeitschrift begründet. Man wolle noch einmal nachlesen, was Koch über das Zusammenwirken von Medizin und Pädagogik in unserm Programm für diese Zeitschrift, betitelt: »Zur pädagogischen Pathologie und Therapie« (Pädagogisches Magazin, Heft 71. Langen- salza, Hermann Beyer & Söhne [Beyer & Mann]) sagt. Hier wie in den verschiedensten Schriften Kochs finden wir eine große Reihe von Problemen, an denen man in seinem Geist und Sinne von medi- zinischer wie pädagogischer Seite zwar fleißig gearbeitet hat, die zu lösen aber noch auf lange ein treues Zusammenarbeiten erfordert, die noch immer für uns ein Programm bleiben.

Wenn wir nun dem Werdegange des Mitbegründers und Mit- herausgebers dieser Zeitschrift nachgehen und nach eigner Kenntnis wie nach Mitteilungen ihm sonst nahe Gestandener sein Lebensbild psychologisch kennzeichnen wollen, so hat das neben der Bekundung der Dankbarkeit zugleich für uns ein psychogenetisches wie päda- gogisches Interesse, und aus dem Grunde werden auch Daten, Ent- wicklungsphasen und Charaktereigenschaften ihre Bedeutung gewinnen, die mit Kinderpsychologie und pädagogischer Pathologie scheinbar nichts zu tun haben. Seine wissenschaftlichen wie Charakterqualitäten gewinnen jedoch in einer Zeit mit der Tendenz einer Art anarchistischer Umwertung aller Werte eine besondere Bedeutung für ernste psycho- logische, ethische und pädagogische Bestrebungen. Ja, ich möchte bei dieser Gelegenheit auf seelische Seiten hinweisen, die trotz ihrer weitgreifenden Bedeutung von der Psychologie der Gegenwart, auch von der Kinderforschung, außergewöhnlich vernachlässigt werden.

Der Verewigte hat sich in späterer Zeit auf dem Titel seiner belletristischen Schriften »JuLıus Kocu- Westerhove« genannt. Da-

Zum Gedächtnis unserer Verstorbenen. 355

mit ist auf das Dorf im Hannöverschen hingewiesen, das als der Stammort der Kochschen Vorfahren zu bezeichnen ist, denen unser Verstorbener in seinem ausgeprägten, von pietätvoller Liebe durch- wärmten Familiensinn sorgfältig nachgeforscht hat. Nach diesen Forschungen finden sich die Koch, nachdem sie, wie es scheint, aus dem damals dänischen Schleswig-Holstein herübergekommen sind, vom 6. Ahnherrn an abwärts im damaligen Königreich Hannover und zwar stets als Schullehrer, wobei das Amt sich zum Teil vom Vater auf den Sohn vererbte. Der Großvater des Heimgegangenen wirkte dann als Schulmann in Hamburg. In seinem Alter erlebte er den großen Hamburger Brand des Jahres 1842, der neben anderem Miß- geschick ihn um sein schönes Vermögen gebracht hat. Er starb im Alter von 94 Jahren.

Den Sohn, Kart Avorr Lovis Koch, geboren 1804 in Westerhove, finden wir in Württemberg, wohin der Vater den Jüngling ge- schickt hatte, um das 1811 neu gegründete, damals weit berühmte Schullehrerseminar in Eßlingen kennen zu lernen. In Württemberg hat er dann auch studiert, zuerst Theologie und sodann Medizin, wo- bei er in den Ferien den Weg zwischen Tübingen und Hamburg im eigenen Wagen und mit den eigenen Pferden zurücklegte. Er schloß seine Studien als Doktor der Philosophie und Medizin. Er war ein Mann von großer Energie, dabei ein feinfühliger, feinsinniger, poetisch und musikalisch veranlagter Mensch und ein kindlich gläubiger Christ. Die feine Form und ein reges, auch schriftstellerisch betätigtes wissen- schaftliches Interesse hat er sich auch die ganze Zeit bewahrt, wo er (1836—1877) in Laichingen, einem größeren Landort der Schwäbi- schen Alb, als menschenfreundlicher, sehr gewissenhafter und be- liebter Arzt wirkte. Selbst nicht mehr mit irdischen Gütern gesegnet, hat er viele Patienten unentgeltlich behandelt, hat oft große Wege, auch des Nachts und im tiefen Schnee, zu Fuß zurückgelegt, um den Leuten das Fuhrwerk zu ersparen. Neben seiner Praxis besaß und leitete er eine kleine Privatanstalt für Nervenkranke mit Familien- anschluß.

Die Mutter des Verstorbenen, die Pfarrerstochter PAULINE FRIEDERIKE ZELLER, war eine fromme, verständige Frau, auch humor- voll und heiter angelegt. Sie stammt aus dem weitverzweigten schwäbischen Geschlecht der Zeller, dessen Glieder besonders im württembergischen Pfarrstand vertreten sind und das so manche kluge und feine Köpfe in seinen Reihen zählt, wie z. B. den jüngst ver- storbenen Philosophen EpuARrD ZELLER.

Das Doktorshaus in Laichingen belebte sich allmählich mit acht

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Kindern, von denen unser Verstorbener das älteste war und von denen drei ihn nun überleben. Jruius Lupwıs Ausust Koch ist da- selbst am 4. Dezember 1841 geboren. Die elterlichen Eigenschaften haben sich in reichem Maße auf ihn vererbt. Seine Erziehung war einfach, streng und gottesfürchtig, Zur besseren Ausbildung sandte ihn der Vater in die Lateinschule (damaliges Pädagogium, jetziges Gymnasium) nach Eßlingen, wo er bei einem Lehrer, dem Vater des be- kannten Musikers Faısst, untergebracht war. An jene Jugendjahre, auch an ihre Mühen und Entbehrungen, hat er sich stets gerne erinnert. Infolge einer Typhuserkrankung gelang es dem vierzehnjährigen Knaben nicht, durch die Pforten des sogenannten Landexamens in eines der bekannten württembergischen evangelisch - theologischen Seminarien einzutreten. Sein Rektor riet, ihn auf eine Schreibstube zu bringen, der Vater aber gab ihn in die Lehre zu Apotheker Leupr in Ravensburg, einem ebenso frommen als wissenschaftlich angeregten Mann. Von dort aus kam er als Apothekergehilfe nach Reutlingen. Hier faßte er den Entschluß, Medizin zu studieren, um die väterliche Anstalt und einen Teil der väterlichen Praxis einst übernehmen zu können. Da galt es zunächst, die abgebrochene Gymnasialbildung bis zur Maturitas weiterzuführen, was er in der kurzen Frist von 1!/, Jabren durch den Besuch des Tübinger Obergymnasiums er- reichte. Privatunterricht im Französischen erhielt er von Professor WiILDErMUTH, dem Manne der Schriftstellerin Ottilie Wildermuth. Seine Studentenzeit in Tübingen, in den Jahren 1863—67, genoß Koch bei aller Sparsamkeit und regen Arbeit mit frohem Jugendmut. Die schönen Erinnerungen an die damalige Zeit, besonders auch an den innigen Kreis gleichgestimmter Freunde, begleitete ihn durchs ganze Leben. Bezeichnend ist, was bei seinem Tode einer von ihnen schrieb: »Noch steht sein Bild vor meiner Seele, wie er unter uns aus- und einging, durch seine Begabung und durch seine abgeklärte geistige Reife in Charakter und Urteil uns jüngeren Freunden weit überlegen und doch in herzlicher Teilnahme jedem aufgeschlossen und zugänglich.«e In Dankbarkeit und Verehrung hat Koch auch stets von seinen akademischen Lehrern gesprochen, einem Lusc#hka, Nme- MEYER, QUENSTEDT, auch einem Toss Beck, dem tiefsinnigen biblischen Theologen, bei dem er ebenfalls mehrere Vorlesungen hörte und in dessen Haus er täglich aus- und eingehen durfte. Schon nach sieben Semestern, im Jahr 1867, bestand er die medizinische Prüfung mit ausgezeichnetem Erfolg, und im folgenden Jahre legte er ebenfalls mit Glanz in Stuttgart das Physikatsexamen für Anstellung im Staats- dienste ab. In die Zwischenzeit fällt eine wissenschaftliche Reise zum

Zum Gedächtnis unserer Verstorbenen. 357

Besuche deutscher Irrenanstalten über. Prag nach Berlin, wo er etwa ein Jahr lang studierte. Hier hörte er unter anderem Vorlesungen bei dem berühmten Psychiater GRrIEsIssER, mit dem er auch in persönliche Berührung kam. Vorübergehend war, daß er unter dem Einfluß von GrirE einige Zeit daran dachte, Augenspezialist zu werden.

Nach der Rückkehr in die Heimat fehlte es dem angehenden Arzte nicht an verlockenden und ehrenvollen Anträgen. Aber seinem ursprünglichen Wunsch und Plane getreu zog er nach Laichingen. Dort gründete er auch im Mai 1870 seinen Hausstand mit JuLıE Herwıc, Tochter des Pfarrers Herwig in Meimsheim, die ihm bis zu seinem Tode nicht nur eine treue, liebevoll hingebende Lebens- gefährtin war, sondern auch bei seinem Schaffen und Wirken ihm mit verständnisvoller Teilnahme zur Seite stand. Noch im gleichen Jahr 1870 folgte er einer Einladung des verstorbenen Medizinalrats Dr. Lınperer, in dessen Heilanstalt die Hausarztstelle zu übernehmen. Er tat es erst auf dringendes Zureden seines Vaters und nicht ohne sich auszubitten, diesen, an dem er mit großer Liebe hing, alle vier Wochen zwei bis drei Tage (über Sonntag) besuchen zu dürfen, was er auch treulich ausgeführt hat.

Nach vierjähriger Tätigkeit in Göppingen wurde Koch durch das Vertrauen der Kgl. Regierung die Direktorstelle an der Staats- irrenanstalt Zwiefalten übertragen, der er fast 24 Jahre lang vor- stand. Ihr widmete er wie seine besten Mannesjalıre so ein hohes Maß von Kraft und angestrengter Arbeit. Der junge Direktor hat die Anstalt am 18. Juli 1874 mit ca. 150 Kranken übernommen. Sie befand sich in einem Zustand, der eine mit starker Hand durch- greifende innere Umgestaltung erforderte. Sein kraftvolles Organisations- talent konnte er aber auch bei der notwendig gewordenen Erweiterung der Anstalt beweisen, die unter ihm anfangs der 90er Jahre ihre seit- her höchste Belegziffer erreichte (ca. 560 Kranke). Dabei war Koch gleich im ersten Jahre fünf Monate lang ohne Hilfsarzt und übte neben allem noch als ein mehr denn ihm lieb war begehrter Arzt allgemeine Praxis aus. Die Belegziffer der Anstalt hatte sich schon Jahre lang verdoppelt, als er immer noch keinen zweiten Assistenz- arzt hatte. Diesen konnte er erst nach 14 Jahren erhalten (1888). Dabei beherbergte die Anstalt die gefährlichsten Elemente in größerer Zahl. Koch aber hatte es sich zur Pflicht gemacht, entartete Ver- brecher, auch wenn sie nicht geisteskrank im engeren Sinne waren, zum Schutz der Gesellschaft zu verwahren, wenn er es auch stets beklagte, daß wegen dieser Elemente zum Teil die Bewegungsfreiheit

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auch der ordentlichen Kranken mehr, als für diese nötig war, ein- geschränkt werden mußte. Hat aber so der Verstorbene unter äußer- lich oft wenig günstigen Verhältnissen gearbeitet und hat er die später erfolgte Besserung durch reichlichere Bereitstellung von Mitteln und durch Schaffung weiterer und vor allem auch ständiger Arzt- stellen mehr bloß energisch angestrebt als selber noch im Amte erlebt und genossen, so hat ihm die warme Liebe zu seinen Kranken und das persönlich wie dienstlich und wissenschaftlich schöne und anregende Verhältnis zwischen ihm und seinen Assistenzärzten viel Freude in dem hohen und schweren Berufe gegeben, an dem er mit seiner Seele hing.

Die Arbeitskraft Kochs bewies sich nicht zum wenigsten auch in seiner literarischen Tätigkeit. Von ihr zeugen eine erhebliche Anzahl psychiatrischer und pädagogischer, philosophischer und natur- wissenschaftlicher Schriften und Abhandlungen, zu denen in der Muße des Alters auch theologische und in Wiederaufnahme alter Lust und Neigung poetische Arbeiten (Erzählungen, Gedichte, Dramen) traten. Solche bis in die Tage der Krankheit und Schwachheit geübte Betätigung ist ihm innerstes Lebensbedürfnis gewesen. Dabei ging das Denken und Forschen in die Tiefe und auf den Grund und so bieten seine meisten Veröffentlichungen etwas Öriginelles und Neues, weit mehr Bahnbrechendes als die sogenannte Schulgelehrsam- keit anfangs zugestehen wollte. 1)

Das meiste von dem, was der Verstorbene dachte und schrieb, entstand eben in dem kleinen, weltabgeschiedenen Zwiefalten, einem ehemaligen Kloster, an einem einfachen kleinen Tisch, auf dem kaum mehr als sein Manuskript Platz hatte, und auf einem einfachen hölzernen Stuhl. Doch hat sich an ihm das Wort nicht erfüllt: »Im engen Kreis verengert sich der Sinn.« Er war und blieb eine weite, freie, großangelegte Natur; er hat auch, soweit es ihm nach seinen Um- ständen möglich war, die Welt aufgesucht, hat sie gekannt, genützt und mit vornehmer Feinheit sich in ihr zu bewegen gewußt. Aber nicht weniger charakteristisch für ihn ist, daß er von äußeren Dingen, von äußerer Anregung und äußerem Verkehr merkwürdig unabhängig war. Er schöpfte seine Gedanken und Pläne von innen heraus, mit ursprünglicher Kraft, in keuscher Stille.

Kochs reger und vielseitiger Geist ließ ihn keineswegs bei den rein gelehrten Studien stehen bleiben, vielmehr kennzeichnet den

1) Als Anhang bringen wir ein Verzeichnis seiner literarischen Arbeiten, deren Würdigung in einem besonderen Artikel wir uns vorbehalten.

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Heimgegangenen die Aufgeschlossenheit für alles Wissenswerte, Schöne und Edle, und das gibt auch wieder seinen Spezialarbeiten ihren Weitblick und ihre Tragweite. Wie gerne und eingehend hat er sich stets mit Botanik und Geologie beschäftigt, wofür ihm gerade auch die Zwiefalter Gegend eine reiche Fundgrube war! Oder er hat sich zu seiner Erholung speziell der Edelsteinkunde gewidmet, wobei es in seiner Natur lag, auch solche Erholungsbeschäftigung mit wissen- schaftlichem Geiste zu erfassen und zu betreiben. Mit Aufmerksam- keit und selbständigem Urteil verfolgte er die Zeitereignisse und Zeit- fragen von höhere Warte aus. Ganz besonders aber war es die Kunst, an der er Freude hatte, für die er ein fein durchgebildetes Verständnis besaß. Es ist nicht zufällig, daß ihn mit Männern wie dem Künstler Jonannes WÖLFFLE, den Malern Gumo Hammer und TaEeovor Schatz nähere und anregende Beziehungen verbanden. Auch Bilder und Zeichnungen von seiner eigenen Hand, die Hausmusik, die er pflegte, zeugen von seiner Freude an diesen Dingen allen. Eine kleine Kunstlehre, die er in der letzten Zeit seines Lebens ent- warf, hat er nicht mehr vollendet.

In früheren Jahren war Koch auch ein rüstiger Wanderer mit offenem Herz und Sinn. Er liebte die Tiere des Waldes, er kannte sie nach ihren Gewohnheiten und Eigenarten, er freute sich, wenn sie ihm begegneten, er freute sich überhaupt an allem Reiz und Reichtum der Natur speziell der schönen, ihm so lieben Zwiefalter Gegend, die ihn oftmals nach des Tages Last und Hitze erquickte. Die Tour eines halben oder ganzen Tages war für ihn eine Erholung für Wochen und ließ ihn oft förmlich wieder aufleben. Das Schönste war für ihn der seltene Genuß einer Schweizerreise. Wie verjüngt kam er zurück, sprudelnd von Humor, Wahrheit und Dichtung in seinen Schilderungen glücklich verbindend. Daß ihm endlich im be- sondern das Leben im Kreise seiner Familie, die so sehr viel an ihm hatte, eine Quelle des Behagens und der Erquickung bedeutete, soll hier nur kurz hervorgehoben sein.

Schon das Vorstehende weist darauf hin, wie sich bei Koch mit dem klaren und eindringenden Verstand ein reiches Gemüt verband. Wer ihm persönlich nahe trat, dem wird gerade dies ein besonderer Eindruck bleiben: das tiefe, durchgebildete Gemüt, die warme, echte Herzlichkeit, die so innig aus seinen Augen leuchten konnte, das Feine und Edle seiner Empfindung und seines ganzen Wesens, die innere Vornehmheit, die auch in seiner äußeren Erscheinung und Haltung, in seinen Schriften wie in dem einfachsten Briefe zum Aus- druck kam. Nimmt man seine frische, anregende Art, seine gesellige

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Gabe und den feinen quellenden Humor hinzu, der sich harmonisch mit seinem ganzen Wesen verband, so erklärt sich die große und lebendige Macht, die von seiner Persönlichkeit ausging. Wer ihm näher trat, merkte sogar im brieflichen Verkehr, daß er unter die Macht des Persönlichen gekommen war. »Er hat einen tiefgehenden Einfluß auf meine Entwicklung gewonnen. ... Die Freundschaft und Verbundenheit mit ihm ist mir zur Quelle reichsten Segens ge- worden,« bekennt ein hochgestellter Theologe. Auch mir ist sie es geworden und wird sie es bleiben.

Nicht bloß seine wissenschaftliche Größe, sondern auch seine Gemütstiefe haben ihm darum Freunde gewonnen, mit denen er bis an das Ende seines Lebens in Liebe und Treue verbunden geblieben ist. Als Freund war er tief, innig und treu, und er hatte das Glück, viele geistig hochstehende, treffliche und edle Charaktere aus allen Berufsschichten zu Freunden zu haben.

Anziehend war vor allem auch der lautere Charakter. Unser Heimgegangener war gewissenhaft und treu, mannhaft und un- bestechlich, innerlich vornehm durch und durch, dankbar gegen Gott und Menschen. Was er für recht erkannt hat, das hat er vertreten, unter Hintansetzung seines persönlichen Vorteils. Er hat den Menschen im Menschen geachtet, Echtes und Großes auch durch die niedrigste Hülle hindurch erkannt und geehrt, war speziell in literarischen Dingen mit aller Gewissenhaftigkeit darauf bedacht, die Verdienste anderer genau zu werten und ihnen die nach rückwärts und vorwärts richtige geschichtliche Stelle zu geben. Für sich selber war er demütig und hat Bitterkeit in keiner Weise an seine innere Seele herangelassen.

Dies hängt mit einem Hauptgrundzug seines Wesens zusammen, mit seiner Frömmigkeit, der Demut vor Gott, die ihn in den innersten Grund seines Wesens durchdrang und beseelte.. Er konnte sich über Anerkennung und Erfolg, über Liebe und Verehrung, die ihm in seinem Leben reichlich widerfuhren, so recht von Herzen freuen, aber im Grunde stand er der äußeren Ehre und dem äußeren Erfolge innerlich völlig frei gegenüber. Er stand in einer solchen innern Freiheit, wie sie sich schließlich nur für den Menschen er- geben kann, der seinen innern Standort im letzten Grunde nicht in dieser Welt hat, sondern im Göttlichen und Ewigen. Alle irdischen Güter und Genüsse, denen er mit so gesundem, frohem, bejahendem Gefühl gegenüberstand, erschienen ihm schal und nichtig gegenüber den himmlischen und ewigen Gütern. Alle Ehre vor und von Men- schen, die er nicht gering schätzte, war ihm ein Geringes gegenüber der Ehre vor Gott, die er so ernstlich gesucht hat. So hat er auch

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seine mancherlei Pläne und Entwürfe, die er an sich gerne noch ausgeführt bezw. vollendet hätte, getrost mit sich ins Grab genommen, weil er Höheres gekannt hat als menschliches Planen und Schaffen, und weil er überhaupt die ganze Führung seines Lebens in völliger Ruhe und absolutem Vertrauen in die Hände des Vaters im Himmel gelegt hat, von dem er sich in Gehorsam führen ließ. Wahrlich er hatte auch seine Erschwernisse und seine Sorgen und wurde zuletzt in langes, schweres Leiden geführt, aber er ist ruhig und ergeben, glaubensvoll und friedevoll geblieben bis zum letzten Stündlein und hat nicht gesorgt, sondern gebetet und geglaubt. Dies wissen die Seinen, und es istihnen ein besonderer und tiefer Eindruck gewesen.

Die Frömmigkeit Kochs, die der tiefste Quell und Nerv seines Lebens und Wesens war, war natürlich und nüchtern, auf die Bibel gegründet. Sie ist ihm dasjenige Buch gewesen, das er am meisten las, in dem er unablässig forschte, von deren ewigem Wahrheits- gehalt er das Höchste bezeugte.

In der heutigen Zeit verkünden zwar Schriften in Auflagen von Hunderttausenden mit apodiktischer Gewißheit den breiten Massen der leicht Gläubigen und oberflächlich Denkenden in allen Kreisen der Kulturvölker mit Emphase, daß moderne Wissenschaft und christ- licher Glaube, naturwissenschaftliche Forschung und religiöser Sinn sich schlechterdings nicht mehr miteinander vertragen und daß für einen naturwissenschaftlich gebildeten modernen Menschen die einzig mögliche Weltanschauung wie früher der Materialismus, so jetzt der sogenannte Monismus und auf alle Fälle der Atheismus sei, und diese Lehre wird als unumstößliches Dogma von ihren Gläubigen aufgenommen und nachgesprochen, so sehr nicht bloß Theologen, sondern auch tiefsinnige Philosophen, wie der jüngst und leider zu früh verstorbene Frreprıch Pausen, und exakte Naturforscher, wie der Petersburger Physiker CawoLson mit seinen »Zwei Fragen an den Monismus« man möchte fast sagen diese modernen Dogmen jeder Diskussion für ernst Denkende enthoben haben. Auch in weiten Kreisen der Mediziner galt eine Zeit lang der Gehirnanatom fast mehr als der Seelenforscher, und diese materialistische Auffassung versuchte man obendrein als die Wissenschaft und die Humanität zur alleingültigen zu erheben. Wenn jemand, wie z. B. der berühmte Chirurg, Geh. Rat Dr. von Beremann mit dem Gebet des Liedes »So nimm denn meine Hände«, voll frommen Glaubens aus diesem Leben geschieden ist, so wird mancher Neugläubige dafür vielleicht den be- kannten Erklärungsgrund: Senilismus, Altersschwachsinn, anführen, ohne nachzuforschen, ob dar religiöse Sinn je anders gewesen ist. Ich habe

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vorhin dargetan, daß dieser Sinn Koch angeerbt und er in allen Lebensphasen bei ihm lebendig geblieben ist. Auch in seinen zahl- reichen Schriften hat er stets kräftig und entschieden ebensosehr den Standpunkt exakter Naturwissenschaft, als den des gläubigen Christen mit scharfsinniger Philosophie vertreten.

Zur Kennzeichnung seines Standpunkts!) mögen hier noch zwei kleine Gedichte von ihm folgen. Das eine trägt die Überschrift »Naturwissenschaft und Offenbarung« und lautet:

Die treue Wissenschaft, die Gott nicht widerstrebt, Sie sei gesegnet mir und jeder, der drin lebt.

Erforschet die Natur, Gott gab euch Sinn und Kraft, Das offenbare Wort dient nicht der Wissenschaft.

Das offenbare Wort, das zu dem Glauben spricht, Bedarf hinwiederum des Menschenwissens nicht. Und wo das Wissen will die Offenbarung fein Erhellen, wird’s ein irreleitend Irrlicht sein.

Das andere: »Ungelöste Rätsel«, bezeugt:

Wir sind von tausend Rätseln Umgeben und umstrickt, Wofür der Geist des Menschen Die Lösung nie erblickt.

Und auch der starke Glaube, Er löset sie nicht auf,

Er schwingt nur triumphierend Darüber sich hinauf.

Die religiöse Lyrik Kochs, die er 1904 unter dem Titel »Reich Gottes« in einem schmucken Bändchen vereinigte und die sich durch Schönheit der Form und Prägnanz des Ausdrucks wie durch innere Kraft und Tiefe auszeichnet, läßt einen besondern Blick in sein inneres Leben tun und sei deshalb denen, die sich dafür interessieren, besonders genannt.

Die feste Gründung Kochs im Ewigen hat ihn übrigens auch in dieser Welt nur auf um so festerem Boden stehen lassen. Auch würde man von einem falschen Bilde ausgehen, wenn man irgendwie schwächliche Züge in ihm finden wollte. Er war eine kraftvoll-männ- liche Natur, streng, wenn auch gerecht und billig, je nachdem auch zu wackeren Zorne fähig.

1) Nicht jeder Leser wird und soll ihn teilen. Unsere Zeitschrift hat kein bestimmtes Glaubensbekenntnis. Wir treten nur ein für Duldsamkeit in Dingen, die nicht Gegenstand empirischer Naturforschung sondern religiösen Glaubens sind, eines Glaubens, der weniger im objektiven Erkennen als im subjektiven Gemüts- leben wurzelt. Ich möchte hier nur dartun, daß ernste tiefgründige Wissenschaft sich mit inniger Frömmigkeit bei Koch sehr wohl vertrug und der ganzen Persön- lichkeit ihr harmonisches Gepräge verlieh. Tr.

Zum Gedächtnis unserer Verstorbenen. 363

Noch gehören die folgenden Züge zu seinem Bild. Nie hat er ein flaches Gespräch geführt, und jedes Thema verstand der all- seitig Unterrichtete für den Zuhörer nach seinem Bildungsstand interessant und anregend zu machen. Ohne je pedantisch zu sein, hat er doch alles sehr gründlich genommen, und sein Urteil war stets wohl überlegt. Was er mit seinem guten Gedächtnis aufgenommen, das verstand er nicht nur meisterhaft umgegossen in veränderter oder gleicher Fornı wieder zur Darstellung zu bringen, sondern auch kritisch verarbeitet und mit eigenen originellen Gedanken durchsetzt. In der mündlichen Darstellung und Belehrung war er ein vorzüglicher Meister von einleuchtender Klarheit und großer Geduld. Er liebte es, wenn ihm Fragen gestellt oder Einwände gemacht wurden. Gerne ließ er auch sich selbst belehren, wobei sich allerdings das Ver- hältnis oft rasch umkehrte. Er war ein kritischer Zuhörer, aber ver- bindlich in der Form; oft hat er nur gelächelt, wo andere scharfe Worte gebraucht hätten. Bei allen Dingen suchte er den leitenden Gedanken herauszuschälen, und manch einem hat er Ordnung in seine Gedanken gebracht.

Die natürliche und ruhige Klarheit, die durchgebildete Sicherheit in den kleinen und großen Lebensfragen, die ihm etwas Überlegenes gab, hat mit zu dem gehört, was ihn im besonderen zum Berater und auch zum Erzieher anderer befähigte, nämlich hervorragende Menschenkenntnis und feine Psychologie. Als ein rechter Seelenarzt verstand er in der menschlichen Seele zu lesen, auch ohne große Examina. Er konnte das, was unter der Schwelle des Bewußtseins lag, heraufheben, so daß sich einem Menschen das eigene Ich blitz- artig erleuchtete. Er hat auch den verborgensten Funken des Guten gefunden und ihn anzufachen gewußt. Dabei tat ein zartes und Jiebe- volles Empfinden wohl und weckte Vertrauen. Wohl gab sich an rechtem Orte auch der unbestechliche Ernst seines Wesens und Willens zu erkennen, aber durch ihn hindurch vor allem die abgeklärte Milde, die Menschenfreundlichkeit und Güte, die warme Herzlichkeit, welche die Seelen wie in Hochachtung und Vertrauen, so in Anhänglichkeit und Liebe mit ihm verband. Alle Dankbarkeit und Verehrung aber, die er erfuhr, hat ihn wohl glücklich, aber nie stolz gemacht und ihn in seiner Demut nur bestärkt. Auch war er sich bewußt, wie- viel andere ihm gewesen sind, und hat es in einem aufrichtig dank- baren Herzen bewahrt.

Von äußeren Ehren ist Koch, wie sich aus dem früher Gesagten von selbst ergibt, unabhängig gewesen. Soweit sie ihm zu teil ge- worden sind, konnte er sich auch über sie in der rechten Weise

364 A. Abhandlungen.

freuen. Schon zu Anfang seiner Zwiefalter Laufbahn wurde er Ehrenmitglied der Société de Mödicine Mentale de Belgique. 1881 erhielt er das Ritterkreuz des Ordens der Württembergischen Krone. 1894 wurde er Ersatzmitglied der württembergischen Landessynode, zu deren ordentlichem Mitglied er später aus Gesundheitsrücksichten nicht mehr gewählt werden konnte. Wiederholt kam er bei der Be- setzung von philosophischen und psychiatrischen Lehrstühlen an Hochschulen in Betracht. In seinem Ruhestande, im Jahre 1903, er- hielt er den Titel eines Medizinalrats, dessen Rang er seit dem Jahr 1874 inne hatte. Sein höchster Ehrentitel war sein Gelehrtenname J. L. A. Koch, der einen guten Klang hatte und behalten wird, nicht nur in Deutschland, sondern auch darüber hinaus.

Schon jahrelang hatte Koch während angestrengter beruflicher Tätigkeit unter einer Herz- und Lungenerweiterung zu leiden gehabt, als er sich im November 1896 eine Influenza zuzog, die, anfangs vernachlässigt, ihn bald auf ein schweres Krankenlager warf, das ihn fast ein Jahr lang ans Bett fesselte und im Februar 1898 zu seiner Versetzung in den Ruhestand führte. Diesen verlebte er in Cann- statt, wo es ihm vergönnt war, wieder in innige Beziehungen zu seinen Verwandten, in erster Linie zu seinem Bruder, und zu den ihm aus Elternhaus, Studienzeit und späterem Leben ans Herz ge- wachsenen Freunden zu treten. Wohl hatte er in Cannstatt zum Teil wieder recht befriedigende Zeit; aber doch mußte er sich bei seinen Umständen gerade auch in Verkehr und Geselligkeit manche Zurückhaltung auferlegen, die dem seiner Natur nach auf- geschlossenen, geselligen Manne gegen Herz und Bedürfnis ging. Als dann namentlich das zunehmende Herzleiden darauf hinwies, wieder in die Stille und in die kräftigere Luft des Landlebens zurückzukehren, erlebte der ältere seiner beiden Söhne als Oberarzt an der Zwiefalter Anstalt die Freude, seinen Vater zu sich nehmen zu können und selber behandeln zu dürfen. Es war eine besonders schöne Fügung, daß es dem Entschlafenen vergönnt war, nicht nur an den Ort seiner einstigen Wirksamkeit, für den er sich eine treue Anhänglichkeit bewahrte, sondern auch in die alte Wohnung zurückkehren zu dürfen, deren weite Räume dem an Asthma Leidenden so besonders wohltuend waren.

7 Jahre waren verflossen, als er im August 1905 wieder nach Zwiefalten zurückkehrte. Noch einmal lebte sein leidender Körper auf. Jedoch schon binnen Jahresfrist begann er wieder ernstlich zu kränkeln, und er hat seitdem wieder viel Schweres stark und ritter- lich und in zarter Rücksicht und Liebe gegen die Seinen durch- kämpft. In den ersten Tagen des Juni erkrankte er nach leid-

Zum Gedächtnis unserer Verstorbenen. 365

lichem Wohlbefinden plötzlich an einer Bronchitis, von der er sich gleichfalls wieder zu erholen schien, noch immer auch von seinem fröhlichen, sonnigen Humor nicht verlassen, noch immer sich für die Tages- und Zeitfragen interessierend. Auch hat er sich noch so, gar herzlich und dankbar über ein kurz vorher gemeldetes Enkelkind freuen können, dessen Geburt ihm als ein erquickender Sonnenstrahl in das ernste Krankenzimmer hereingeleuchtet hatte. Aber sein mehr und mehr entkräfteter Körper hielt schließlich doch nicht mehr stand. Am Morgen des 25. Juni durfte Julius Koch im Frieden eingehen zu der ewigen Ruhe. Die irdische Ruhestätie hat er auf dem freund- lichen Dorffriedhofe in Zwiefalten gefunden.

Im Sinne des Verewigten setzen wir über sein Leben das biblische Wort: »Von Gottes Gnaden bin ich, das ich bine. Wir dürfen aber mit Paulus hinzufügen: Gottes Gnade an ihm ist nicht vergeblich gewesen. TRÜPER.

Schriften und Abhandlungen von Medizinalrat Dr. J. L. A. Koch, ehemaligem Direktor der Kgl. Staatsirrenanstalt Zwiefalten.

Über das Hirn eines Buschweibes. Inaugural-Abhandlung. Tübingen 1867.

Über ein neues Verfahren bei der künstlichen Ernährung Geisteskranker. (Archiv der deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und gerichtliche Psychologie. XVI. Jahrg. Neuwied 1869.)

Vom Bewußtsein in Zuständen sogenannter Bewußtlosigkeit. (Vortrag, gehalten in der psychiatrischen Sektion der 50. deutschen Naturforscher- Versammlung zu München.) Stuttgart, Ferdinand Enke, 1877.)

Zur Statistik der Geisteskrankheiten in Württemberg und der Geisteskramkheiten überhaupt. Separatabdruck des III. Heftes des Jahrgangs 1878 der Württemb. Jahrbücher für Statistik und Landeskunde. Stuttgart 1878.

Noch ein Wort über das Bewußtsein. (Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie usw. Bd. 35. Berlin, Reimer, 1879.)

Bemerkungen von Koch zur Lehre vom Othämatom finden sich in einer kasuistischen Mitteilung von Essig im selben Band der A. Z.

Beitrag zur Lehre von der primären Verrücktheü. (Ebendaselbst Bd. 36. 1879.)

Zur Geschichte des Irrenwesens in Württemberg. (Med. Korr.-Bl. des W. ärztl. Vereins. Bd. L. Stuttgart, Schweizerbart, 1880.)

Die primäre Verrücktheit. (Irrenfreund. XXII. Jahrg. Heilbronn, Scheurlen, 1880.)

Psychiatrische Winke für Laien. Stuttgart, Paul Neff, 1880. 2. Auflage im selben Jahr.

Über das Gedächtnis. Mit Bemerkungen zu dessen Pathologie. (Zeitschrift für Philosophie und philosoph. Kritik. Neue Folge. Bd. 78. Halle, Pfeffer, 1881.)

Über das Unterscheidungsvermögen. (Ebendaselbst Bd. 79. 1881.)

Über die Richarx’sche Lehre von der Zeugung und Vererbung. (Allg. Zeitschrift für Psychiatrie usw. Bd. 38. 1881.)

366 A. Abhandlungen.

Über die Grenzgebiete der Zurechnungsfähigkeit. (Irrenfreund. XXIII. Jahrg. 1881.)

Zur Psychophysik. (Zeitschrift für Philosophie usw. Bd. 80. 1882.)

Der menschliche Geist und seine Freiheit. (Ebendaselbst.)

Über die Seelenvermögen. (Ebendaselbst. Bd. 81. 1882.)

Die Irrenanstaltsberichte. (Allg. Zeitschrift für Psychiatrie usw. Bd. 39. 1882.)

Erkenntnistheoretische Untersuchungen. Göppingen, Erwin Herwig, 1883.

Grundriß der Philosophie. Göppingen, Erwin Herwig, 1884. Zweite, erweiterte und durchgesehene Aufl. 1885.

Die Variabilität der Wahnvorstellungen und Sinnestäuschungen. Mit weiteren Bemerkungen über diese. (Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie usw. Bd. 42. 1885.) Vergl. hierzu auch die Bemerkungen von Koch in der im Band 49 der- selben Zeitschrift 1892 veröffentlichten Abhandlung von Kölle über diesen Gegenstand.

Hermann Ulrici. (Biograph. Jahrbücher f. Altertumskunde. Berlin, Calvary, 1885.)

Die Wirklichkeit und ihre Erkenninis. Eine systematische Erörterung und kritisch vergleichende Untersuchung der Hauptgegenstände der Philosophie. Göppingen, E. Herwig, 1886.

Der Einfluß der soxialen Mißstände auf die Zunahme der Geisteskrankheiten. (Soziale Zeitfragen. [Neue Folge] 20. Heft. Minden i. W., J. C. C. Bruns, 1888 [1887].)

Kurzgefaßter Leitfaden der Psychiatrie. Mit besonderer Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse der Studierenden, der praktischen Ärzte und der Gerichtsärzte. Ravensburg, Dorn’sche Buchhandlung, 1888. Zweite, verbesserte und ver- mehrte Aufl. 1889.

Die Blattflechten der Zwiefalter Gegend. (Jahreshefte des Vereins für vaterländ. Naturkunde in W. Stuttgart, Schweizerbart, 1888.)

Ein psychiatrischer Wink für den Hausarzt. (Irrenfreund. XXIX. Jahrgang. 1888 [1887).)

Anleitung xur gerichtsärztlichen Untersuchung und Begutachtung der psycho- pathischen Zustände. (Dr. Paul Börners Reichs-Medizinal-Kalender f. Deutsch- land auf das Jahr 1890 [1889].) Weitere Auflagen in einigen folgenden Jahren.

Spezielle Diagnostik der Psychosen. Kurz dargestellt. Ravensburg, Otto Maier (Dorn’sche Buchhandlung), 1890.

Die psychopathischen Minderwertigkeiten. I. Abteilung. Ravensburg, Otto Maier (Dorn’sche Buchhandlung), 1891 [1890].

Fürsorge für Geisteskranke. Thesen für die Mitglieder des IV, theoretisch - prak- tischen Instruktionskurses über Innere Mission (1891). Vergl. auch Irren- freund. 1891. 33. Jahrg.

Diagnostischer Überblick über die Psychosen. (Dr. Paul Börners Reichs-Medizinal- Kalender für Deutschland auf das Jahr 1892 [1891j.) Weitere Auflagen in folgenden Jahren.

Die Lehre von den psychopathischen Minderwertigkeiten in threm Verhältnis xu den Degenerationstheorien. (Irrenfreund.. XXXII. Jahrg. 1892 [1891].)

Die psychopathischen Minderwertigkeiten. II. Abteilung. Ravensburg, Otto Maier (Dorn’sche Buchhandlung), 1892.

Die psychopathischen Minderwertigkeiten. TI. Abteilung. Ravensburg, Otto Maier (Dorn’sche Buchhandlung), 1893.

Beitrag xur Lehre von den krankhaften Vorstellungen. (Irrenfreund, 1893.)

Zunı Gedächtnis unserer Verstorbenen. 367

Die Bedeutung der »psychopathischen Minderwertigkeiten für den Militärdienst. Ravensburg, Otto Maier, 1894 (1893).

Laienpsychiatrie, Ein Beitrag zu den psychiatrischen Zeit- und Streitfragen. Ravensburg, Otto Maier, 1894. (Separatabdruck aus »Der Irrenfreund«, 1893.)

Die Frage nach dem Geborenen Verbrecher. Ravensburg, Otto Maier, 1894.

Das Nervenleben des Menschen in guten und bösen Tagen. Eine Schrift zur Be- lehrung, zu Rat und Trost. Ravensburg, Otto Maier, 1895 (1894). Weitere Auflagen in den folgenden Jahren.

Einige Fälle von Verkennung des Irreseins und der Psychopathien überhaupt. (Irrenfreund, 1895.)

Pädagogik und Medizin. (Pädagog. Magazin usw. 71. Heft. Langensalza, Herm. Beyer & Söhne [Beyer & Mann], 1896.)

Die überwertigen Ideen. (Zentralblatt f. Nervenheilkunde u. Psychiatrie usw. 1896.)

Noch einmal die überwertigen Ideen. (Ebendaselbst.)

Soll man seinen Schmuck verkaufen? (Die erste der sechs »Kleinen medizinisch- pädagogischen Abhandlungen« in »Die Kinderfehler usw.« [Mitherausgeber Dr. J. L. A. Koch.] 1. Jahrg. 1896.)

Etwas aus dem Reichsgesundheitsbüchlein. (Ebendaselbst.)

Ist das Rauchen und das Trinken wirklich so schädlich? (Ebendaselbst.)

Die Überbürdung der Schüler mit Hausaufgaben. (Ebendaselbst.)

Ein drittes Mal die überwertigen Ideen. (Zentralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie usw. 1896.)

Geschlechtliche Anomalien. (Kinderfehler usw. 2. Jahrg. 1897.)

Zur Orientierung über die verschiedenen Arten von geistiger Störung. (Ebenda- selbst. 4. Jahrg. 1899.)

Abnorme Charaktere. V. Heft der Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. Einzeldarstellungen f. Gebildete aller Stände. Wiesbaden, J. F. Bergmann, 1900.

Die Vermehrung des Lebens. Ein Wort an die Eltern für die Kinder. Stuttgart, D. Gundert, 1901 (1900).

Die menschliche Freiheit, Verantwortlichkeit, Zurechnungsfähigkeit. (Württ. Med, Korr.-Bl. 1901.)

Die psychopathischen Minderwertigkeiten in der Schule. (Ein Beitrag zu Baur, Das kranke Schulkind. Stuttgart, F. Enke, 1902.) Zweite u. dritte Aufl. 1903.

Die erbliche Belastung bei den Psychopathien. (Kinderfehler usw. 8. Jahrg. 1903.)

Die Schulhygiene mit Rücksicht auf die psychopathischen Minderwertigkeiten. (Ein Beitrag zu Baur, Die Hygiene des kranken Schulkinds. Stuttgart, F. Enke, 1903.)

Lieb und Leid. Gedichte von Karl Julius Fredelig im Verein mit seinem Vater. Ravensburg, Verlag der Dornschen Buchhandlung, 1869.

An Johannes Wölffle. Als Manuskript gedruckt, und ihm und seinen Freunden gewidmet. Stuttgart 1887.

Biblische Einführung in die Christliche Erkenntnis. Stuttgart, J. F. Steinkopf, 1902.

Reich Gottes. Gedichte. Stuttgart, Greiner & Pfeiffer, 1904.

Der Baum der Genesung. Schauspiel in drei Akten. Ebendaselbst 1905.

Alboin. Tragödie in vier Aufzügen. Ebendaselbst 1906.

Anmerkung. Einige kleinere Erzählungen erschienen da und dort, die erstere 1897, drei andere in der Zeit des Ruhestandes. Eine Reihe dogmatisch-apologetischer Abhandlungen für Gebildete und denkende schlichte Christen wurde in der Zeitschrift »Der alte Glaube« 1906 bezw. 1906 eröffnet, aber nicht mehr fortgesetzt.

368 A. Abhandlungen.

2. Schularzt und Nervenkrankheiten.!)

Von Dr. Julius Zappert Privat-Dozent für Kinderkeilkunde in Wien.

Wenn ich es hier übernommen habe über Nervenkrankheiten und Schularzt, bezw. Schule zu sprechen, so bin ich mir bewußt, daß ich damit in eines der modernsten und vielumstrittensten Kapitel der Schulhygiene hineingreife. Die Fragen der sogenannten Schulkrankheiten, der viel diskutierten Überbürdung der Kinder, der Stundeneinteilung, der Ruhepausen, ferner auch die Fragen der Schuldisziplin, der Prüfungen, insbesondere auch der Maturitätsprüfung an den Mittelschulen, der Ferien- einteilung und noch viele andere gehen ja schließlich darauf hinaus, die Nervenhygiene der Schulkinder zu bessern und mancher üblen Erscheinung bei denselben zu steuern. So interessant diese Fragen aber auch für den Schularzt sind, und so anregend sich die Diskussion derselben gerade vor diesem Forum gestalten würde, so halte ich es doch nicht für opportun hier auf dieselben einzugehen, denn ich fürchte, daß ich damit nur den leider noch zahlreichen Gegnern des Schularztsystems das Argument in die Hand geben würde, daß wir Ärzte in dem Kampf um den Schularzt eine Art Herrschaft in der Schule anstreben oder zu mindest durch hy- gienische Forderungen das Gefüge der heutigen Schule schwer schädigen wollten. Tatsächlich sind Verbesserungen des Lehrplanes, der Lehrtätigkeit und in weiterer Linie Vorschläge zur Vermeidung der sogenannten Schul- krankheiten bei Schülern, und, worauf ich hier ausdrücklich hinweisen will, auch bei Lehrern, natürliche Folgen des Schularztsystems, wie sie sich bei reichlicher schulärztlicher Erfahrung von selbst ergeben, und wie sie sich durch einträchtliches Wirken der Schulärzte und Pädagogen in manchen Ländern bereits entwickelt haben. Aber es liegt mir ferne dem Schularzt selbst irgend ein Bestimmungsrecht auf alle diese Fragen einräumen zu wollen und ich kann ängstliche Gemüter darüber beruhigen, daß allenthalben, wo Schulärzte eingeführt sind, deren Wirkungsgebiet strenge von der Ein- mischung in derartige hygienisch-pädagogische Fragen ferne gehalten wird.

Wenn wir aber auch dieses ideale Ziel, welches seinerzeit als reife Frucht des Schularztsystems Lehrern und Schülern zugute kommen mag, außeracht lassen, so bleibt doch genug übrig, um auch jetzt schon dem Schularzt eine wichtige Rolle in Bezug auf die Nervenkrankheiten des Kindes zuzuweisen.

Schon bei der ersten Untersuchung, der Assentierung der Neueingetretenen, wird der Schularzt auf eine Reihe von Kindern stoßen, deren Nervensystem ihn vor die Frage der Schulfähigkeit derselben stellen und zu bestimmten Vorschriften in Bezug auf die Gesundheit der Kinder und den ungestörten Schulunterricht veranlassen wird.

Die in den ersten Lebensjahren gar nicht seltenen Entzündungen einzelner Teile des Gehirns und Rückenmarks führen zumeist zu dauernden Lähmungen, die in ihrer Bedeutung für die Schulfähigkeit des Kindes wohl nur von einem geübten Arzt recht gewürdigt werden können. Schwere Fälle allgemeiner Lähmungen, die ja zumeist auch mit intellektuellen De- fekten einhergehen, wird er wohl von vornherein vom Schulbesuche

1) Diskussionsbemerkungen anläßlich einer Schularztdebatte im Verein für Kinderforschung im Januar 1908 in Wien.

ZappeERT: Schularzt und Nervenkrankheiten. 369

ausschließen. Andererseits aber wird er sich bei einer nicht ge- ringen Anzahl von partiellen Lähmungen oder allgemeiner Muskelsteifigkeit überzeugen können, daß die geistigen Fähigkeiten des Kindes keineswegs so gering sind als dies manchmal auf den ersten Blick scheinen mag, und daß oft nur die dem gelähmten Kinde aufgezwungene Isoliertheit in den ersten Lebensjahren ein geistiges Zurückgebliebensein vortäuscht. Endlich wird er in einer großen Anzahl von schlaffen Lähmungen der Arme und Beine eine vollkommen ungestörte Intelligenz der Kinder konstatieren können, so daß die Frage der Schulfähigkeit lediglich nur von der Mög- lichkeit des Transportes in die und aus der Schule abhängig gemacht werden muß. Er wird also in solchen Fällen von Lähmungen oft mit besonderem Nachdruck den Schulbesuch empfehlen, um die durch ihre Lähmung von der Außenwelt bisher ziemlich abgeschlossenen Kinder die ihnen gebührende geistige Ausbildung nicht vermissen zu lassen. Aller- dings werden sich dann in der Regel Bemerkungen für den Lehrer an- schließen, um Dispensen vom Handarbeiten, Turnen, eventuell Nachsicht beim Schreiben, wohl auch Geduld gegenüber Eigenheiten solcher Kinder zu erwirken. Dem Lehrer wird hierdurch manche vergebliche Mühe, dem Kinde selbst aber der Kummer erspart bleiben, seine sonst vielleicht guten Fortgangsnoten durch schlechte Qualifikation in den manuellen Fähigkeiten geschädigt zu sehen,

Von noch größerer Wichtigkeit: ist die schulärztliche Begutachtung des Geisteszustandes der Kinder. Direkt blödsinnige Kinder vom Schulbesuche fern zu halten ist leicht und dazu bedarf es nicht der schul- ärztlichen Kontrolle. Aber bei der leider sehr großen Anzahl schwach- sinniger und debiler Kinder gewinnt die schulärztliche Begutachtuug eine große Wichtigkeit. Es wird von dem Urteil des Arztes abhängen, ob ein solches Kind schul- und bildungsfähig ist, ob die Aufnahme desselben als eine Störung des Unterrichts für andere Kinder anzusehen ist, ob häus- licher Unterricht oder die Unterbringung in Hilfsklassen oder sogenannte Förderklassen (nach Mannheimer System) notwendig erscheint.) Man hat die Forderung nach der Errichtung solcher Schulen oder Klassen für schwachsinnige Kinder als eine unangenehme Folge des Schul- arztsystems bezeichnet, da hierdurch die Schulbehörde sofort in große Ausgaben gestürzt würde.?) Nun das ist richtig, aber auf diesem Gebiete gibt es keine Vogelstraußpolitik. Wenn man bedenkt, daß in Großstädten und noch mehr am Lande eine ganz außerordentlich große Zahl von schwachsinnigen Kindern sich befindet, welche für die gewöhnliche Schule zu wenig, für die Unterbringung in eine Idiotenanstalt zu viel Intelligenz besitzen, so geht es mit und ohne Schularzt nicht an, diese Tatsache zu ver- nachlässigen, und die Errichtung derartiger Hilfsklassen ergibt sich als eine unabweisbare Notwendigkeit. Am meisten Vorteil haben hierbei wohl

1) Wenn für diese Fragen der Lehrer noch erst des Beistandes eines Arztes bedarf, dann ist seine Vorbildung für seinen Beruf so ungenügend, daß ihm keine Schule selbständig unvertraut werden darf. Tr.

?) Ob das für Österreich zutrifft, weiß ich nicht. Im Deutschen Reiche waren für alle diese Dinge die Lehrer Bahnbrecher. Die Schulärzte und Psychiater be- mächtigten sich erst hinterdrein der Frage. Aber Heil beiden! Tr.

Zeitschrift für Kinderforschung. XIII. Jahrgang. 24

370 A. Abhandlungen.

die Lehrer selbst, für welche die Entfernung eines den gewöhnlichen Anforde- rungen nicht nachkommenden Kindes aus einer Schulklasse nur erwünscht sein kann. Ich will übrigens nicht verhehlen, daß ein verheißungsvoller Anfang mit derartigen Hilfsschulen auch in Wien bereits gemacht worden ist.

Gegenstand gewissenhafter Fürsorge für den Arzt bilden auch epi- leptische Kinder. Derzeit gilt es als Regel, daß Kinder, die an Epilepsie leiden, vom Schulbesuche fernzuhalten sind. Das ist insofern richtig, als das Auftreten schwerer epileptischer Anfälle in der Schule für die anderen Kinder einen großen Schrecken, für den Lehrer eine be- trächtliche Kalamität mit sich bringt. Aber auch hier gibt es graduelle Verschiedenheiten und Fälle mit nur ganz schwachen oder nur nächtlichen Anfällen, denen der Schularzt ohne weiteres den Schulbesuch gestatten kann. Diese Entscheidung wird sich allerdings, soweit sie sich nicht auf die Angaben der Eltern stützen kann, nicht so sehr bei der ersten Assen- tierung der Schulkinder, als während des Schulbesuches fällen lassen, aber es ist von Wichtigkeit, wenn der Schularzt bereits frühzeitig die Auf- merksamkeit der Lehrer auf bestimmte Schüler lenkt und ihnen die Be- obachtung derartiger Kinder ans Herz legt.

Wir sind damit bei den Aufgaben des Schularztes zu jener Tätigkeit gelangt, die er bei gelegentlichen Kontrollbesuchen in Bezug auf die Schule bereits besuchende Kinder zu entfalten hat. Ich will auch hier wieder davon absehen, daß bei derartigem ständig überwachten Materiale sich wertvolle Studien über die Leistungsfähigkeit, Ermüdbarkeit usw. der Schüler anstellen lassen, die aber nicht so sehr Gegenstand der schulärztlichen Tätigkeit als des gemeinsamen Wirkens von Arzt und Lehrer bilden müssen.

Viel wichtiger für Lehrer und Schüler sind hingegen solche Krank- heiten, die dem Lehrer während des Unterrichts auffallen und ihn veran- lassen die Kinder dem kontrollierenden Schularzte vorzuführen, um seine Meinung über deren Verbleiben und Verhalten in der Schule einzuholen. Abgesehen von den bereits erwähnten nervösen Zuständen, kommt hier in erster Linie der Veitstanz in Betracht, der von den Eltern wenig be- achtet, oft genug erst von dem Lehrer in der Schule richtig gewürdigt werden kann. Dieser wird sich gerne beim Schularzt Rats erholen, ob eine auffällige Ungeschicklichkeit des Kindes, eine rasch auftretende Ver- schlechterung der Schrift, eine leichte Reizbarkeit, ein Nachlassen der geistigen Fähigkeiten, nicht als krankhaft anzusehen seien, und wird über strikten Auftrag des Arztes den Eltern verbieten, solche Kinder während ihrer meist mehrwöchentlichen Krankheit in die Schule zu schicken. Keineswegs so strenge Maßregeln werden hingegen bei solchen Kindern zu ergreifen sein, die an nervösen Zuckungen, Gesichterschneiden, Unruhe leiden, und welche man in die Gruppe der sogenannten Tickrankheiten einreihen muß. Es kann die Unterscheidung zwischen diesen Krankheiten wohl nur dem Schularzte zufallen und es wird dem Lehrer sicherlich nur eine Beruhigung sein, wenn er erfährt, daß solche auch sonst nervöse Kinder keineswegs als schwerkrank anzusehen sind, daß sie besonderer Rücksicht beim Unterricht nicht bedürfen, daß freilich auch Ermahnungen in Bezug auf ihre körperliche Unruhe kaum einen Erfolg haben können.

ZAPPERT: Schularzt und Nervenkrankheiten. 371

Wenn der Schularzt sonst in Bezug auf die Schuldisziplin nur mit größter Vorsicht eingreifen wird, so wird er es sich doch nicht nehmen lassen, jene Vorschrift für alle oder doch für bestimmte Kinder der ersten Schulklassen zu erleichtern, welche sie zwingt, ihre Notdurft nur in be- stimmten Pausen zu verrichten. Die kleinen Kinder, insbesondere die, Schulanfänger, welche bisher diesen Verrichtungen nicht die geringste Aufmerksamkeit geschenkt haben, werden durch das strenge Verbot, das Schulzimmer während des Unterrichtes zu verlasssen, geschreckt, die Furcht vor dem auftretenden Bedürfnis ruft ein solches hervor und be- dingt schließlich eine Störung des ganzen, recht komplizierten Apparates der Harnentleerung, die sich in Naßmachen der Kleider bei Tag, bei Nacht, oder doch zu mindestens in einem krankhaft gesteigerten Harndrang geltend macht. Von solchen Kindern und auch von jenen bei denen eine Störung der Blasenentleerung bereits vor dem Schuleintritt bestanden hat, wird die durch Vermittlung des Schularztes erteilte Er- laubnis, das Schulzimmer auch während des Unterrichtes zur Erledigung ihrer Bedürfnisse verlassen zu dürfen, als eine wohltuende Erleichterung empfunden werden.

Eine unerschöpfliche Quelle der gegenseitigen Belehrung zwischen Lehrkraft und Schularzt bieten zweifellos die vielfachen nervösen Zu- stände der Schulkinder, von den periodischen Kopfschmerzen ange- fangen bis zu den ausgesprochen hysterischen Erscheinungen. Man wird vielleicht behaupten, daß derartige Zustände mehr in den Bereich der haus- ärztlichen Behandlung gehören als in jenen der schulärztlichen Aufsicht. Ist ja doch erst letzhin die Frage des Schularztes an den Mittelschulen von einem Fachmann damit kurz erledigt worden, daß dieser nicht not- wendig sei, weil ja die Kinder im Notfalle ihren hausärztlichen Berater besitzen. Wie wenig dies aber für die Familien der Armen, aber auch des kleinen Mittelstandes zutrifft, kann wohl nur der im Armenambula- torium tätige Arzt entscheiden, der am besten sieht, daß in allen solchen Familien der Arzt nur zu ganz akuten Krankheiten beigezogen wird, während chronische Zustände meist unbeachtet oder zum mindesten unbe- handelt bleiben. Aber selbst für nervöse Kinder der Wohlhabenden ist die Schule oft ein besseres Heilmittel als der teuerste Hausarzt, und da ist es für den Lehrer und Schüler gleich wichtig, wenn der erstere von dem unbefangenen Schularzt und nicht von den oft recht kritiklosen Eltern einige Direktiven über die Art des Kindes und dessen pädagogische Be- handlung erhält. In höheren Klassen, namentlich an Mittelschulen, kann eine derartige richtige ärztliche Auffassung der Eigenschaften eines Kindes geradezu für dessen ganze künftige Existenz von Bedeutung sein. Denn manche unbewußte Nachlässigkeit, manches Versagen in bestimmten Punkten, manche scheinbare Lügenhaftigkeit, ja sogar manches Schulstürzen kann . auf krankhafter Basis beruhen und durch freundliche Worte und Schonung des Kindes wieder zurecht gerückt werden, während die Anwendung der vorgeschriebenen Disziplinarstrafen, die Heranziehung der Eltern zur Zu- rechtweisung des Kindes geistigen Stillstand, moralisches Zusammensinken, vollkommenes Nachlassen jeder geistigen Anspannung, schließlich sogar

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372 A. Abhandlungen.

Selbstmord zur Folge haben kann. Vielleicht könnte in höheren Knaben- schulen auch die ÖOnaniefrage durch den Schularzt in bessere Beleuchtung gebracht werden als dies derzeit der Fall ist. Denn es geht ja doch nicht an, daß über dieses so ungemein verbreitete Übel die Lehrer mit Stillschweigen oder im Einzelfall mit schwersten diziplinaren Maßregeln hinweggehen.

Und nun zum Schlusse noch eine, wenn auch seltene, so doch recht wichtige Betätigung des Schulnervenarztes. Das kindliche Gemüt ist für unangenehme Eindrücke, für Schrecken und Furcht sehr empfänglich, aber auch zur Nachahmung äußerst geneigt. Es kann auf diese Weise geschehen, daß ein Kind mit auffällig nervösen Erscheinungen, etwa einem epilep- tischen Anfall, einer schweren Ohnmacht, hysterischem Zittern usw. auf andere Kinder ansteckend wirkt und daß sich sogenannte nervöse Schulepidemien entwickeln. Es gibt bereits eine große Reihe von Be- richten über derartige nervöse Schulinfektionen, die namentlich in Mädchenklassen recht häufig sind und sich darin äußern, daß große Mengen von Kindern an Öhnmachtsanfällen, an Zitterkrämpfen, an Schluchzen usw. erkranken. Ich selbst kenne eine bisher noch nicht beschriebene Epidemie in einer Wiener Schule, welche sich darin äußerte, daß die Mehrzahl der Mädchen in einen lethargischen Zustand verfielen.!)

Diese hysterischen Zustände oder Imitationskrankheiten?) (nach Szegö) verbreiten sich sehr rasch über einzelne Schulklassen, Schulen, ja sogar durch Berichte in den Zeitungen und Gerede der Leute in ver- schiedenen benachbarten Städten und können durch Entstehen immer wieder neuer Fälle überaus lästig und langwierig werden. In solchen Fällen ist rasches Eingreifen des Schularztes dringend notwendig. Durch energisches Auftreten den erst erkrankten Kindern gegenüber, durch sofortige Iso- lierung derselben, eventuell bei Weitererlaubnis des Schulbesuches, kann der Schularzt solche Epidemien im Keime ersticken und durch seine Auto- rität und seine Kenntnis der Sachlage vielleicht mehr ausrichten als der Pädagoge, dem er jedenfalls ein wertvoller, verlässlicher Ratgeber sein wird.

Ich habe Ihnen, meine verehrten Anwesenden, nur einen kurzen Überblick über das gegeben, was der Schularzt in Bezug auf die Nerven- hygiene der Schüler leisten kann. Auf Zahlen aus der reichen Erfahrung der deutschen Schulärzte und auf die eigene Kasuistik, die sich aus den Ambulatorien für nervenkranke Kinder und aus der Privatpraxis leicht zusammenstellen ließe, habe ich hierbei verzichtet. Zweifellos wird auch der Schularzt in diesen Punkten selbst erst manche Erfahrung sammeln und sich ebenso vom Pädagogen belehren lassen als diesem mit seinem Wissen zur Seite stehen können. Wenn aber Lehrer und Arzt beide guten Willens und guten Herzens sind, dann kann tatsächlich dem Kinde viel genützt werden und die Schule wird nicht nur als intellektuelle Bildungs- stätte, sondern auch als wahres Erziehungsinstitut für die heranwachsende Generation ihre ideale Aufgabe voll erfüllen können.

1) Auch ein in Wien in der allerletzten Zeit beobachtetes Auftreten von so- genanntem Sonnenstich in einer Wiener Mädchenschule ist zweifellos als eine der- artige hysterische Epidemie aufzufassen.

?) Unsere Leser seien dabei auf die zahlreichen in der »Zeitschrift«< wie in den »Beiträgen« veröffentlichten Arbeiten über diese Frage hingewiesen, insbesondere auf die von Dix. Tr.

antun

1. II. Österreichische Konferenz der Schwachsinnigenfürsorge. 373

B. Mitteilungen.

1. III. Österreichische Konferenz der Schwachsinnigen- fürsorge in Graz am 19. und 20. Juni 1908. Mitgeteilt von Dir. Dr. Theodor Heller (Wien-Grinzing).

Die herrliche Landeshauptstadt der Steiermark hatte sich festlich ge- schmückt, um die Teilnehmer der 3. Konferenz zu empfangen. Vertreter aller Behörden waren bei der Eröffnung derselben anwesend. Als liebe Gäste aus Deutschland erschienen die Herren Stadtschulrat Dr. Wehrhahn aus Hannover und Rektor Henze aus Frankfurt a. M. Die Konferenz nahm einen glänzenden Verlauf. Der geräumige Rittersaal des Landhauses erwies sich bisweilen als zu klein, um die große Zahl der Gäste aufzunehmen. In kurzer Zeit wurde viel geleistet und die Schwachsinnigensache in Österreich hat durch die Konferenz einen großen Schritt nach vorwärts getan. Besonders erfreulich erschien die volle Eintracht zwischen Ärzten und Pädagogen, zwischen Anstalten und Hilfsschulen. Der berühmte Sohn der Steiermark, P. K. Rosegger, hatte der Konferenz folgenden poetischen Gruß gewidmet:

Auf dem Wege zum Licht lasset keinen zurück. Führet jeden mit euch, der vergessen vom Glück. Dem die Ampel verlosch, dem die Glut nie gebrannt, Das Kind, das den leitenden Stern nie gekannt,

Sie taumeln in Nacht und Verlassenheit.

Ihr begnadeten Pilger der Ewigkeit

Führt alle mit euch in Liebe und Pflicht,

Lasset keinen zurück auf dem Wege zum Licht!

Die Versammlungen wurden von den Präsidenten des Vereins »Für- sorge für Schwachsinnige und Epileptische« Dr. Freiherrn von Spinette und Bezirksschulrat Direktor Hans Schinner in musterhafter Weise geleitet. Alle Vorträge fanden reichen Beifall. Lobend muß die Tätigkeit des Ortscomitös, besonders des Herrn Hilfsschullehrers Pulzer, hervorgehoben werden.

Über den gegenwärtigen Stand der Schwachsinnigenfürsorge in Österreich sprach Direktor Hans Schinner (Wien). Er führte aus, daß in früheren Jahren auf dem Gebiete der Fürsorge für die Schwachsinnigen wenig geschehen sei. Erst das Jahr 1902 brachte die Gründung des Vereines für Schwachsinnige und Epileptische und erst durch ihn ist es möglich geworden, einen genauen Überblick zu erreichen. Der Verein war der Sammelpunkt der Lehrkräfte einschlägiger Anstalten und Hilfsschulen, der Funktionäre der örtlichen oder Landes-Unterstützungsvereine, sowie der Beamten und Seelsorger. Bald darauf trat auch der Verein mit den Schulbehörden in Verbindung und schon die erste Konferenz 1904 wurde zu einer mächtigen Kundgebung der Fürsorgebestrebungen. Besonders begrüßenswert ist es, daß sich das k. k. Unterrichtsministerium, sowie die

374 B. Mitteilungen.

Staats-, Landes- und Kommunalverwaltungen mit den gemachten Vor- schlägen beschäftigen, so daß Österreich in nicht allzuferner Zeit den Nachbarstaaten nachkommen dürfte. Der Unterrichtsminister hat kürzlich erklärt, daß für die Fürsorge schwachsinniger Kinder größere Opfer ge- bracht werden müssen. In letzter Zeit hatten sich die Verhältnisse so gebessert, daß das Beste zu erhoffen ist. Minister Marchet hat in dieser Hinsicht ein Arbeitsprogramm entwickelt, in dem er die Notwendigkeit besonderer Einrichtungen hervorhebt. Es ist mit Recht eine Wendung in der bisherigen Schwachsinnigenfürsorge zu erwarten. Die Aktivierung der Hilfsklassen, die Heranbildung von Lehrkräften stehen bevor. Redner gab eine genaue statistische Darstellung in den einzelnen Kron- ländern. Nach dieser bestehen in Österreich insgesamt 17 Anstalten mit 890 Kindern. Den Unterricht besorgen 21 weltliche Lehrkräfte, 28 Schwestern und 14 Kindergärtnerinnen. Hilfsschulen bestehen 11 mit 21 Klassen, in denen insgesamt 510 Kinder untergebracht sind. Redner erwähnte, daß dies leider ein kleiner Bruchteil dieser Armen ist. Mehr als 30000 Kinder wachsen in Österreich ohne Unterricht auf. Deutschland besitzt 900 Hilfsschulen, in denen 20000 Kinder untergebracht sind, und 90 Anstalten mit 1100 Kindern. Wenn aber auf der betretenen Bahn fortgefahren werde, so sei mit Bestimmtheit zu erwarten, daß sich in nicht allzu ferner Zeit die Verhältnisse bessern werden. Dem gründlichen und übersichtlichen Referat folgte eine längere Diskussion. Es wurde insbe- sondere auf die Notwendigkeit einer klaren Fassung des Begriffes »Schwach- sinn« und einer richtigen Statistik hingewiesen. Universitäts-Professor Dr. Fritz Hartmann (Graz) hielt einen interessanten Vortrag über Infan- tilismus. Der Infantilismus ist ein Sammelname für eine ausgebreitete Vegetationsstörung des Organismus. Wenn in irgend einem Alter der Entwicklungszeit eine Verzögerung oder Hemmung der Entwicklungstendenz des Organismus platzgreift, so ist leicht ersichtlich, daß hieraus ein Stehen- bleiben des Organismus in Form und Funktion auf kindlichem Typus resultieren kann. Ein solches Stehenbleiben des Organismus in Form und Funktion auf kindlichem Typus nennt man seit Lasegne »Infanti- lismuse.. Der Vortragende erörterte zunächst die wichtigsten Er- gebnisse der Forschungen des normalen Wachstums an zahlreichen projizierten Bildern und stellt fest, daß es möglich ist, aus dem Be- stehenbleiben gewisser proportionaler Wachstumsverhältnisse einzelner Körperteile das Stehenbleiben auf einzelnen Entwicklungsstufen zu erkennen. Die harmonische Entwicklung des Organismus und seiner Teile ist von den Gesetzen der Entwicklungsmechanik abhängig, eine Resultierende aus der Summe gestaltender und erhaltender Funktionen. Diese sind das Produkt einer intimen chemischen und physikalischen Korrelation der Organe. Störunger in der Entwicklungstendenz und Funktion einzelner Organe vermag dementsprechend nachhaltigen Einfluß auch auf Form und Funktion des Gesamtorganismus zu gewinnen. Hier sind es insbesondere die drüsigen Organe des Körpers, denen physiologisch ein mächtiger Ein- fluß insbesondere auch auf das Wachstum zukommt. Von den auf solchen Grundlagen entstehenden Vegetationsstörungen steht der Infantilismus

1. IH. Österreichische Konferenz der Schwachsinnigenfürsorge. 375

myxoedematosus von Brissand obenan an Häufigkeit und Schwere der Folgeerscheinungen für das Nervensystem. Seine Erscheinungsformen und Eigenart wird an einer Reihe von projizierten Bildern erläutert, seine er- folgreiche Behandlung des näheren erörtert. Hierher gehören auch Formen des Infantilismus, welche sich auf chronischem Hypothyreoidismus leichterer Art aufbauen (Hertoghe). Es finden Erwähnung Formen des Infantilismus, welche auf der Grundlage von Pankreaserkrankung (Byron Bramwell) und von Erkrankung der Nebenniere (Morlat) beschrieben werden. Von diesen Formen verschieden, aber mindesten ebenso wichtig und häufig kommt der Infantilismus dystroficus von Lorrain zur Beobachtung. Auch von dieser Krankheitsgruppe wurden an Lichtbildern eine Reihe von Fällen und ihre Symptome besprochen. Als Ursachen dieser Wachstums- hemmungen sind hereditäre Momente (Syphilis, Pellagra, Tuberkulose, Alkoholismus der Eltern), chronische Infektionskrankheiten der Kinder, wie Tuberkulose, Malaria und abnorme Anlage des Gefäßsystemes, kindliche Herzklappenfehler und Status thymicus bekannt. Was die bei den ver- schiedenen Formen des Infantilismus auftretenden nervösen Folgeerscheinungen anlangt, so finden sich bei den Formen des myxoedematösen Infantilismus schwere Fälle von Idiotie und Imbezillität vor, während für den dystro- fischen Infantilismus das Zurückbleiben des ganzen geistigen Lebens auf kindlichem Typus charakteristisch ist und vom eigentlichen Schwach- sinn wohl abgetrennt werden kann. Die schweren Formen werden von vorneherein den Hilfsschulen zuzuweisen sein, bei den leichteren Formen ersieht man nicht selten, daß erst in den höheren Klassen der Schulen vordem gute geistige Anlagen allmählich versagen und insbesondere eine enorme Disposition zu nervösen Erkrankungen gesetzt wird. Hier hat ständige ärztliche Kontrolle kommendes Unheil zu verhüten, der Unter- richt muß individualisiert werden. Solche Individuen in diesen Momenten bleiben aber von da ab Minderwertige und können im Kampfe ums Dasein nicht bestehen. Sie bedürfen der Anleitung in der Berufswahl und der Fürsorge durch ihrem infantilen Nervenleben angepaßte Fortbildung jenseits des schulpflichtigen Alters. Dies erscheint deshalb hier be- sonders erfolgversprechend, weil solche Kinder mit von vorneherein aus- reichenden geistigen Anlagen durch den Stillstand in der Entwicklung, aber auch durch das Fehlen entsprechender Fürsorge dem Elende preis- gegeben werden oder in Krankheit und Siechtum verfallen. -— Das Zu- sammenarbeiten von. Nervenärzten und Pädagogen muß auf das intensivste gefördert werden. Es liegt ein Organisationsplan für die Errichtung einer ständigen Untersuchungsstelle für nervenkranke und schwach- sinnige Jugendliche an der Grazer Nervenklinik schon vor, welcher ständige Untersuchungstage und gemeinsame Konversatorien für Pädagogen und Ärzte vorsieht. In diesem Rahmen sollen auch Vorträge über Bau und Leistung des Gehirnes im gesunden und erkrankten Zustande den Bedürfnissen des Schulmannes entgegenkommen. Dem Zusammenwirken von Arzt und Pädagogen reift ebenso wie dem neuerlich immer mehr be- tonten von Arzt und Richter in Fragen des Nervenlebens eine Fülle von Arbeit, erblüht aber auch ein beglückender Ausblick auf erfreuende Erfolge.

376 B. Mitteilungen.

Der letzte Gegenstand des Vormittagsprogrammes bildete das Thema »Hilfsschulzöglinge und Militärdiensteignung«. Referent Regi- mentsarzt Dr. R. Mattauschek (Wien) sagte in seinen Ausführungen, daß die große Zahl der mangels geeigneter Vorkehrungen alljährlich in das Heer eingestellten, geistig schwachen Individuen vom charitativen, psychiatrischen und humanitären Standpunkt aus dringend ein Einschreiten erforder. Eine der wichtigsten Grundlagen zur rechtzeitigen Erkennung und Beurteilung der Militärdienstleistung der Schwachsinnigen im allge- meinen bilde die Kenntnis der Vorgeschichte, vorausgegangener physischer Erkrankungen, des Schulerfolges, des Urteiles des Lehrers und des Schul- arztes. Die weitaus überwiegende Mehrzahl jener Individuen, welche in der Normalschule nicht fortkommen und mit Abgangszeugnissen entlassen werden, ist zum Militärdienst ungeeignet. Referent macht folgende Vor- schläge:

Man möge an das Reichskriegsministerium und an das Landesver- teidigungsministerium mit folgenden Anträgen herantreten: 1. Daß die Direktionen der Irrenanstalten, der Pflege- und Erziehungsanstalten für Schwachsinnige, ferner die Vorstände psychiatrischer Kliniken angewiesen werden, über die aus den betreffenden Anstalten nach Ablauf geistiger Erkrankung aus der Anstaltspflege und Behandlung entlassenen männlichen Individuen im Alter von 14 bis 25 Jahren Verzeichnisse mit Angaben der Dauer des Aufenthaltes und der Art der vorgelegenen geistigen Er- krankung behufs Vormerkung in den Assentlisten der betreffenden Indi- viduen an die politische Behörde des Standortes der Anstalt einzusenden. 2. Daß zu demselben Zwecke die Anzeige der Absolventen von Hilfs- schulen unter Vorlage der Abgangszeugnisse, Personalbogen, ärztlichen Atteste usw. an die politische Behörde des Standortes der Hilfsschule obli- gatorisch gemacht werde, und teils die Assentierung offenkundig Untaug- licher zu vermeiden, teils nach militärpsychiatrischer Begutachtung die tunlichst rasche Wiederausscheidung der versuchsweise assentierten Hilfs- schüler zn ermöglichen. 3. Mit Rücksicht auf die derzeit noch geringe Anzahl von Hilfsschülern wären die Leitungen der allgemeinen Volks- schulen zur Einsendung ähnlicher Verzeichnisse und Dokumente aufzu- fordern. 4. Die Gemeindevorstehungen, besonders in schulärmeren Gegenden, wären dringend auf ihre Pflicht und ihr Recht aufmerksam zu machen, noch vor oder auch erst während der Assentierung von geistig abnormen Stellungspflichtigen aus ihrem Gemeindegebiete den politischen Behörden Mitteilung zu machen.

Dem trefflichen Vortrag folgte eine Diskussion, an der sich Uni- versitätsprofessor Mischler hervorragend beteiligte.

Über Schwachsinnigenforschung hielt Dr. Theodor Heller einen Vortrag. In den letzten zwei Jahrzehnten ist ein mächtiges Interesse für Schwachsinnigenforschung erwacht. Als der größte Erfolg auf medizinischem Gebiet ist die Heilung des Kretinismus, als die hervorragendste päda- gogische Leistung die Schaffung von Hilfsschulen für schwachbefähigte Kinder zu betrachten; auch die Vertreter der Rechts- und Sozialwissen- schaft widmen diesem Gebiet ihre Aufmerksamkeit, seitdem sich heraus-

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gestellt hat, daß die Fürsorge für Schwachsinnige eine der wirksamsten Maßregeln im Kampfe gegen die Verwahrlosung der Jugendlichen bedeutet. Der Vortragende würdigte die großen Verdienste, die sich Professor Wagner von Jauregg um die Bekämpfung des endemischen Kretinismus und der mit demselben eng verbundenen endemischen Taubheit erworben hat. Als besondere Formen des Schwachsinnes schildert Dr. Th. Heller den Mongo- lismus und die infantile Demenz. Große Erwartungen sind der Erforschung des sog. Infantilismus entgegenzubringen, den Professor Hartmann in seinem Referate erschöpfend besprochen hat. Eingehend behandelte der Vortragende die Sprachstörungen der schwachsinnigen Kinder und schilderte als Pseudotaubheit einen eigenartigen Zustand, der sich aus dem Zu- sammentreffen von Hör- und Intelligenzdefekten ergibt. Groß ist bei schwachsinnigen Kindern die Ermüdbarkeit. Starke Dispositionsschwankungen machen ein besonderes Verfahren beim Unterricht notwendig. Viele Sonderbarkeiten schwachsinniger Kinder erklären sich aus ihrer hysterischen Anlage, bei diesen bewirkt ein entsprechendes heilpädagogisches Vorgehen eine oft rasche Besserung des Zustandes. In Anbetracht der Tatsache, daß nahezu 50 Prozent der für die Fürsorgeerziehung in Betracht kommenden Jugendlichen geistig nicht normal sind, verlangte der Vortragende für dieselben die Errichtung besonderer Heilerziehungsanstalten und erwartet, daß beim Erlaß eines österreichischen Fürsorgeerziehungsgesetzes auch die Ergebnisse der Psychiatrie und der Heilpädagogik berücksichtigt werden.

Dr. Erwin Lazar in Wien referierte über das Thema »Der Leseunterricht in der Hilfsschule«, klinische Beobachtungen in den Wiener Hilfsschulklassen. Redner bemerkte, daß bei der Unter- suchung des Geisteszustandes eines Kindes das Wichtigste sei, sich über die Fähigkeiten, die zur Erlernung der Unterrichtsgegenstände notwendig sind, zu orientieren. Besonderes Interesse verdiene die Erlernung der Schriftsprache, weil sich hier der ganze, so komplizierte Mechanismus in seine elementarsten Bestandteile auflösen läßt und daher von Anfang an zu verfolgen ist. Eine besondere Unterstützung erhält das Studium der .Erlernung der Schriftsprache durch die Forschungen der Gehirnstörungen in der sogenannten Aphasie, einer Krankheit, die durch Zerstörung ge- wisser Gehirnpartien entsteht und unter Umständen auch zur Vernichtung des Lese- und Schreibvermögens führt. Die bei diesen Studien ange- wendeten Schemen wurden den Untersuchungen beim Lesenlernen an der Hilfsschule unterlegt, wodurch eine klinische Beobachtung des Leseunter- richtes angebahnt erscheint und wobei die geistige Eigenart des Kindes oft recht deutlich hervortritt.

Fachlehrer Franz Pulzer in Graz referierte sodann über das Thema »Fürsorge für die aus den Schulen und Anstalten ent- lassenen Schwachsinnigen«. Erziehung und Unterricht in den Schulen und Anstalten für Schwachsinnige seien so zu gestalten, daß auf ein möglichst selbständiges Fortkommen der austretenden Zöglinge Bedacht genommen wird. Zu diesem Zwecke ist in den Lehrprogrammen dem planmäßigen Handfertigkeits- und Handarbeitsunterrichte eine wichtige Stelle unter den Unterrichtsgegenständen zuzuweisen, und zwar nicht als

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bloßes Lehrfach allein, sondern als Lehrprinzip, das den Gesamtunter- richt zu durchdringen hat. Für die aus den Schulen und Anstalten ent- lassenen Schwachsinnigen, welche die Fähigkeit zur Aufnahme in eine freie Lehre besitzen, sind eigene Fortbildungskurse zu schaffen. Für schulmündige Schwachsinnige, deren Fähigkeit zur Aufnahme in eine freie Lehre fraglich ist, sind mit den Schulen und Anstalten besondere Arbeits- ausbildungstätten zu verbinden, wo den Zöglingen neben der geistigen und praktischen Ausbildung der Schule hauptsächlich Gelegenheit zur Er- lernung eines geeigneten Lebensberufes gegeben wird und in denen sie beschäftigt werden können, bis es ihnen gelingt, eine dauernde Beschäftigung zu finden. Für beschränkt erwerbsfähige Schwachsinnige sind je nach den Verhältnissen und den Bedürfnissen Arbeitsstätten zu schaffen, in denen sie, durch Sachverständige angeleitet, nutzbringend beschäftigt werden. Für die Zeit des Alters oder der Invalidität erwerbsunfähig gewordener Schwachsinniger ist durch Gründung von besonderen Altersheimen in ausreichender Weise zu sorgen. Für Schwachsinnige, die nach dem Aus- tritte aus den Schulen und Anstalten nicht für das Leben mit seinen Forderungen gewonnen werden können, wie auch für jene Unglücklichen, die in den Schulen und Anstalten wegen ihrer Bildungsfähigkeit keine Aufnahme gefunden haben, also von vornherein von einer pädagog. Fürsorge ausgeschlossen sind, ist es ein Gebot der Humanität, in ausreichender Weise durch Gründung besonderer Pflegeanstalten zu sorgen, in denen sie frühzeitig Aufnahme finden können und ihrer Eignung nach höchstens zu Beschäftigungen angeleitet werden, um ihr trauriges Los zu erleichtern. Ein wichtiges, bedeutsames Moment für die aus den Schulen und Anstalten entlassenen Schwachsinnigen tritt bei der Berufswahl ein. Der Zögling muß daher schon während seines Aufenthaltes in der Schule eingehend beobachtet und auf seine Befähigung für den einen oder anderen Beruf geprüft werden. Nach den bisher gewonnenen Erfahrungen wird man ihn am besten so placieren, daß er in einen größeren Organismus eingegliedert ist, wo er unter zuverlässiger Aufsicht arbeitet und in der Gärtnerei, in der Landwirtschaft, in der Industrie oder im Gewerbe in geeigneter Stellung seinen Lebensunterhalt erwirbt. Ein notwendiges Glied in der Kette der Fürsorgebestrebungen für die aus den Schulen und Anstalten entlassenen Schwachsinnigen sind wohlorganisierte Fürsorgevereine, deren Mitglieder sich nach »Patenart« verpflichten, schulmündige Schwach- sinnige in besondere Obhut zu nehmen und ihnen unter allen Bedingungen in allen Epochen ihres Lebens einen permanenten, ausreichenden persön- lichen Schutz zu gewähren.

Direktor Ferdinand Eminger (Wien) behandelte das Thema: Welche Einrichtungen wären im Interesse der epileptischen Kinder zu schaffen? und befürwortete zum Schlusse die Annahme folgender Resolution:

Da die von Epilepsie befallenen Kinder in der Regel am allge- meinen Unterrichte nicht teilnehmen können, oft auch nicht teilnehmen dürfen, diese Kinder daher meist ohne jeden Unterricht bleiben, empfiehlt die Konferenz die Errichtung eigener Schulen, beziehungsweise Klassen für epileptische Kinder in größeren Städten. Die auf dem Lande vor-

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kommenden Kinder, ferner solche Kinder, die häufig und heftig von An- fällen heimgesucht werden, sind in einer für diese Zwecke zu errichtenden Anstalt unterzubringen. Die Anstalt wäre derart auszugestalten, daß auch die der Schule Entwachsenen und aus der Anstalt Entlassenen mit der Anstalt in regem Verkehr bleiben und nötigenfalls in der Mutteranstalt wieder Aufnahme und auch nutzbringende Beschäftigung durch Erlernung eines Handwerkes finden. Da die Arbeit im Freien dem menschlichen Organismus sehr zuträglich ist, empfiehlt es sich mit dieser Anstalt auch einen landwirtschaftlichen Betrieb zu verbinden.

Bezüglich der inneren Ausgestaltung der Hilfsschulen stellt Bezirks- schulinspektor kais. Rat Fellner (Wien) folgende Anträge:

1. Die Hilfsschule für schwachbefähigte Kinder soll eine Erziehungs- anstalt sein.

2. Nach Maßgabe der Bildungsfähigkeit der Zöglinge soll ihre Auf- gabe sein: die körperliche Erziehung der Zöglinge zu fördern, deren sittlich- religiöses Gefühl zu wecken, ihr Wollen, Wissen und Können anzuregen,

3. Das Ziel der Erziehung sei, die Erwerbsfähigkeit der Zöglinge vorzubereiten.

4. Der Unterricht in der Hilfsschule soll nicht Selbstzweck, sondern der Erziehung dienstbar sein; er sei ein erziehlicher Unterricht, der das Wollen der Zöglinge zum Können führt und daraus den Wissensstoff ab- leitet und vermittelt,

5. Der erzielte Unterricht bilde ein einheitliches Ganzes, das nur dem Lehrer, aber nicht dem Zögling merkbar in »Lehrgegenstände« unter- teilt ist.

6. Der Einigungspunkt des erziehlichen Unterrichtes seien die Vor- stufen der »erziehlichen Arbeit«, nämlich das Spiel und die Beschäftigung.

7. Aus Spiel und Beschäftigung sollen sich die Bildungsstoffe, die im Religionsunterrichte mit Einschluß der religiösen Übungen in den An- schauungs- und Sprechübungen, im Schreiben, Lesen, Rechnen, Zeichnen, Singen, Turnen, Handfertigkeitsunterricht und in weiblichen Handarbeiten liegen, ungesucht entwickeln.

8. Die Darbietung der Erziehungsstoffe an die Zöglinge trage zumeist das Wesen, des Einzeln- selten das des Gesamtunterrichtes und ge- schehe in Form von Wochen- oder Monatsbildern.

Der Vortragende begründete diese Anträge in sehr ausführlicher Weise, sprach dann über die Gliederung der Hilfsschule, den Erziehungs- (Lehr-)Plan, den Stundenplan und die Lehrpersonen. Eine eingehende Diskussion folgte dem sehr beifällig aufgenommenen Vortrag.

Hierauf erstattete Dr. Karl Potpeschnigg, Assistent an der Universitäts-Kinderklinik, sein Referat »Über Ursachen und Wesen kindlicher Minderwertigkeiten«e. Dem Referate lagen die Be- obachtungen zugrunde, die der Berichterstatter gelegentlich einer ärztlicher Untersuchung sämtlicher Grazer Hilfsschüler gesammelt hatte. Es wurde der Einfluß des Alkoholismus, nervöser und geistiger Erkrankungen der Eltern auf das Schicksal der Grazer Hilfsschüler erläutert, die große Rolle, welche Schädigungen kurz vor und während der Geburt spielen, hervor-

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gehoben. Es wurden die Beziehungen der Rachitis, der kindlichen Krämpfe, der Schädelmißbildungen, der Anomalien des Schilddrüsenapparates usw. zu den Befunden an den Grazer Hilfsschülern besprochen und eine große Anzahl mit kennzeichnenden Krankheitserscheinungen in Projektionsbildern vorgeführt und angedeutete Befunde durch typische, an der Kinderklinik beobachtete Fälle erläutert. Zum Schlusse seiner Ausführungen betonte der Berichterstatter, mit Freude auch vom ärztlichen Standpunkte aus eine ganze Reihe von schönen, durch den Unterricht in den Hilfsklassen er- zielten Erfolgen feststellen zu können. Die Projektion der Bilder besorgte in liebenswürdigster Weise Herr Universitäts-Assistent Dr. Hennike.

2. Berücksichtigung der psychopathischen Minder- wertigkeiten im Stenographieunterricht.

Lehrer Paul- Wiesbaden betont in seinem Bericht vom Stenographen- tag Stolze-Schrey zu Frankfurt a. M. 1903 im veröffentlichten Vortrage über Berücksichtigung psychopathischer Minderwertigkeiten beim stenographischen Unterrichte: Stenographie braucht jedermann, der sich viel mit Schreiben beschäftigt, also nicht bloß der Hochbegabte, Widerriet man bisher häufig schwächeren Schülern die Erlernung, so erwog man nicht, wie willkommen gerade für diese Schüler eine Ent- lastung durch den Gebrauch der Stenographie sein würde In der Tat ist ja geistige Begabung eine organische Verbindung von so vielen, so verschiedenen, so eigenartigen Elementen, daß es durchaus nicht zu verwundern ist, wenn sie in jedem Falle ein besonderes Gesicht zeigt, wenn dem einen Begabten diese, dem anderen jene Betätigung besser ge- lingt. So erklärt es sich z. B. auch, wenn bisweilen Urteilsschwächere die Stenographie leichter und vollkommener erlernen, als Hochbegabte, die ja auch das mechanische Vielschreiben selten beruflich ausüben.

In dem Sinne verlangt Paul obligatorische Einführung des Steno- graphieunterrichtes in allen Schulen bei methodischer Berücksichtigung geistiger Minderwertigkeiten. Haben doch sogar Blinde und Taube mit gutem Erfolge Stenographie betrieben. So jener taube Senator in Paris, der jedes Wort auf dem Papiere seines Stenographen verfolgte und oft mit verblüffender Sicherheit in die Debatte eingriff. Paul bekräftigt auch seine Forderung des allgemeinen Stenographieunterrichtes durch folgenden Ausspruch Dr. Cohns: »Man wird die Gesundheit des Auges entschieden fördern, wenn man die Kurzschrift obligatorisch erlernen ließe.«

Freilich die Meisterschaft wird auch in dieser Kunst den Begabten vorbehalten bleiben. D.

3. Das Plauener Rachitismerkblatt.

Soeben erschien im Verlage der Plauener Jugendfürsorge das erste deutsche Rachitis-Merkblatt. Keine Seuche des Kindesalters zehrt in höherem Grade an der gesunden Kraft, an der Erwerbsfähigkeit unseres Volkes, wie die Englische Krankheit; man nennt sie richtiger: Rachitis.!)

1) Professor Dr. Stoelzner, Pathologie und Therahie der Rachitis.

3. Das Plauener Rachitismerkblatt. 381

Leider erkennt die Mutter sie an ihrem Kinde fast immer zu spät, weil sie ohne Fieber verläuft. Nicht die scheinbar geschwollenen Gelenke (in Wahrheit sind nur die Röhrenknochen wesentlich verdünnt), sondern abnehmendes Verlangen nach Nahrung, nervöse Unruhe, Unleidlichkeit, blasse Haut, Kopfschweiße, in vielen Fällen auch sogenannte Zahnkrämpfe, sind die ersten Kennzeichen dieser Krankheit, die Tausende von Kindern verkrüppeln läßt, andere geistig beschränkt macht, viele so entkräftet, daß sie jeder Ansteckung zugänglich sind und daher in der Kindheit eigentlich nie gesund werden.

Schon gehen empfehlende Zuschriften für das Plauener Rachitis- blatt ein, von denen wir einige folgen lassen.

Königl. Sächs. Staatsanstalt Chemnitz, 18. Mai 1908.

` Der Plauener Verein »Jugendfürsorge« hat mit diesem künst- lerisch ausgestatteten Merkblatte den Kampf gegen eine Volkskrankheit populär gemacht, dem schon längst eine allgemeinere Beachtung hätte ge- schenkt werden sollen. Wenn die Rachitis auch nicht mit so rauher tod- bringender Faust in das Leben der Menschen hineingreift, wie die Schwind- sucht und andere Seuchen, so untergräbt sie doch viel häufiger als man gemeinhin annimmt, die Gesundheit und das Glück Tausender unserer Volksgenossen. Sie ist am Elende fast aller Krüppel schuld; sie hat bei der Mehrzahl unserer Schwachsinnigen als Hauptfaktor bei der Entstehung ihrer mangelhaften geistigen Anlagen mitgewirkt. Möchte auch bei dieser schwächenden und zur Entartung führenden Krankheit der Weg der Volks- aufklärung, die sich anderweit so erfolgreich erwiesen hat, zu einer Zu- rückdrängung führen zum Heil der Menschheit?

Anstaltsbezirksrat Dr. Meltzer.

Wien, 18. Mai 1908. Das Plauener Rachitismerkblatt habe ich mit dem Empfinden einge- sehen, daß es die weiteste Verbreitung in allen Volkskreisen verdient, da seine kurzen, klaren eindringlichen Ratschläge berufen sind zur gesunden Entwicklung des Kindes ab ovo beizutragen. Regierungsrat Prof. Dr. Leo Burgerstein.

Berlin, 19. Mai 1908.

Die Rachitis ist nicht allein an sich eine unangenehme und wider-

wärtige Erkrankung der frühesten Altersstufe der Kindheit; sie wird noch

dadurch bedeutungsvoll, daß sie als Komplikation anderer, insbesonders der

akuten infektiösen Kinderkrankheiten, dazu beiträgt, dieselben gefährlich zu

gestalten. Sie bahnt auch durch Verbildung des Thorax der Tuberkulose

den Weg. Darum ist alles daran zu setzen, ihrer Entstehung entgegen-

zuarbeiten und sie zu verhüten. Zu diesem Verhütungskampfe wird das Merkblatt sich sicherlich nützlich erweisen.

Prof. Adolf Baginsky, Dir. des Kaiser- und Kaiserin-Friedrich-Kinderkrankenhauses.

Nürnberg, 19. Mai 1908. Das vom Plauener Verein f. Jugendfürsorge herausgegebene Rachitis- Merkblatt mit Zeichnung darf als ein gelungener Versuch betrachtet

382 C. Literatur.

on

werden, unsere jungen Mütter rechtzeitig auf die drohenden Gefahren, un- zweckmäßiger Ernährung und ungeeigneter Pflege ihrer Lieblinge auf- merksam zu machen. Dieser Versuch ist doppelt hoch anzuschlagen, weil durch das Blatt auf die Früh-Symptome der englischen Krankheit hingewiesen wird, so daß ärztliche Hilfe den Ausbruch der schweren Formen dieses Leidens noch verhüten kann. Hofrat Dr. Stich.

Die Volksausgabe A wird durch Behörden an hoffende Mütter verteilt. Es kostet das Stück im Massenbezuge 10 Pfennige.

Die vornehm ausgestattete Liebhaberausgabe, in der die Heinrich Axtmannsche Photographie eines gesunden und eines gleichalterigen rachi- tischen Knaben mit ihrer wunderbar gelungenen allegorischen Umzeichnung Hermann Vogels ganz besonders gut zur Geltung kommen, ist durch Kells Buchhandlung (Plauen) zn beziehen. Preis 50 Pfg., durch die Post nach auswärts 60 Pfg. Der Reinertrag soll eine »Stiftung für halbe Kräfte« ergeben. Unglückliche, wie der rachitische Zwerg auf unserem Bilde, sollen nach Möglichkeit beruflich ausgebildet und vor unverschuldeter Not bewahrt werden.

Das Kunstblatt ist den deutschen Frauen gewidmet. Wer der Kinder- pflege fern steht, hat doch gewiß bekannte oder verwandte junge Frauen, denen man kaum ein sinnigeres und so wohlfeiles Geschenk machen kann, als unser Blatt. Durch Verbreitung nach auswärts wird unserer guten Sache besonders gedient.

Auf Wunsch wird deshalb das Merkblatt ohne Preisaufschlag als Drucksache verpackt abgegeben oder nach angegebenen Adressen gegen vor- herige Einsendung des Betrages verschickt.

Wer hilft unserem Merkblatt Freunde werben?

Der Vorstand der Jugendfürsorge.

4. Behandlung schwachsinniger Kinder. Erziehungsinspektor Piper in Dalldorf hält vom 28. September bis 10. Oktober cr. einen Kursus über die Behandlung schwachsinniger Kinder ab. Anmeldungen sind bis zum 25. September cr. an ihn zu richten.

ER R LARA a AR DS Mt

C. Literatur.

Kunz, Prof. M., 1856—1906. Geschichte der Blindenanstalt zu Illzach- Mühlhausen i. E., ferner deutsche, französische, italienische und griechische Kongreßvorträge und Abhandlungen über das Blinden- wesen. 346 und 15 S. 1 Situationsplan, 143 Abbild. und 5 Hochdruckproben. Leipzig, Wilh. Engelmann, 1907. 10 M.

Von jeher erfreute sich das Blindenwesen besonderer Sympathien der Menschen- freunde in allen Ländern. Kaum eine von den Disziplinen des Abnormenwesens hat eine so reiche Förderung erfahren wie eben die Blindenpädagogik. Das beweist auch der vorliegende stattliche Quartband, dessen Verfasser durch seine zahlreichen Lehrmittel »welche durch die ganze Welt gehen«, bestens bekannt geworden ist.

C. Literatur. 383

Die Illzacher Anstalt, begründet durch den im Mannesalter erblindeten A. Köchlin, steht seit 25 Jahren unter der Leitung des hervorragenden Blindenpädagogen Kunz. Als dieser seinerzeit in das Blindenfach eintrat, mangelte es besonders noch an dem notwendigen Anschauungsmaterial. Es hieß deshalb: »Hand ans Werk, um Lehrmittel zu schaffen!« Kunz unternahm hunderte von Versuchen, um auf den Gebieten der geographischen und der naturkundlichen Lehrmittel, sowie des Hoch- drucks überhaupt, ehe es ihm gelang, eine glückliche Lösung der Frage herbei- zuführen. Insbesondere hat sein Blindenatlas, 87 Karten (Hochrelief) sich die An- erkennung aller Sachverständigen erworben. Dasselbe gilt von den naturgeschicht- lichen Reliefabbildungen und der Schreibtafel für einseitige und doppelseitige Punkt- und Heboldschrift,

Den größten Raum des Buches nehmen die wissenschaftlichen Arbeiten des Autors ein, die teils als Geleitsbriefe zu seinen Lehrmitteln zu betrachten sind, teils über die geschichtliche Entwicklung der Blindenbildung orientieren und teils wichtige Fragen des Gebietes betreffen. Unter letzteren interessieren namentlich die Artikel »Zur Blindenphysiologie, (das sogenannte Sinnenvikariat«e) und »das Örientierungs- vermögen und das sogenannte Ferngefühl der Blinden und Taubblinden«, Dieses Ferngefühl der Blinden wird für gewöhnlich auch als »sechster« Sinn derselben bezeichnet, und hat in der letzten Zeit ausgiebige Meinungsverschiedenheiten zwischen Prof. Kunz und seinem Gegner, Lehrer Truschel-Straßburg, hervorgerufen. Ersterer vertritt auf Grund eingehender Forschungen und zahlreicher Experimente die Ansicht, daß das Ferngefühl der Blinden ein wertvolles Hilfsmittel des Orientierungs- vermögens der Blinden darstelle, und durch die Kombination der intakten Sinne der Intelligenz und des Gedächtnisses ermöglicht werde. Truschel dagegen (früher Lehrer der Illzacher Anstalt), führt alle Fernwahrnehmungen und das gesamte Orientierungsvermögen der Blinden allein auf die Erregung der Gehörorgane durch reflektierte (hörbare und unhörbare) Schallwellen zurück. Auf dem XII. Blinden- lehrerkongresse zu Hamburg 1907, schien es, als ob die Hypothese Truschels den Sieg davon tragen würde. Allein so wichtig diese Experimente auch sein mögen, wertvolle, epochemachende Neuerungen werden sie kaum hervorrufen. Kunz, allen sanguinischen Hoffnungen abhold, bietet in seinem Werke auch ein recht lesenswertes Elaborat über das psychologische Wunder Amerikas, Helene Keller. In seiner Anstalt sind ja auch 6 Taubstummblinde ausgebildet worden, die sich teil- weise ihr Brot durch Bürstenbinden verdienen können. Sein Urteil über die Erfolge Helenens zeichnet sich durch große Nüchternheit aus. So beanstandet Kunz eine Reihe Ausführungen in deren Büchern (Geschichte meines Lebens u. Optimismus), und weist darauf hin, daß das junge Phänomen infolge ihrer mangelhaften sinnlichen Eigenwahrnehmungen über viele Dinge eigentlich nur mehr reproduzieren als produ- zieren könne, wenngleich er der eminenten Begabung und dem eisernen Fleiße der Dame hohe Anerkennung zollt.

Das Buch sei hiermit bestens empfohlen, denn es wird neben den Blinden- lehrern auch die übrigen Pädagogen (Reliefkarten) interessieren.

Ketschendorf-Spree. M. Kirmsse. Viertes Programm der Provinzial - Taubstummenanstalt zu Hildesheim. Ostern 1906. 100 S.

Fünftes Programm und Festschrift zur Feier des 5Ojährigen Bestehens der Prozinzial-Taubstummenanstalt in Stade. 1907. 31 u. 154 S.

Während vielfach die Jahresberichte mancher Anstalten, die außer Haus-

chronik, Rechnungsablage, Liste der Liebesgaben usw., nichts Beachtenswertes ent-

384 C. Literatur,

halten, vollständig wertlos sind, müssen namentlich solche verschiedener Taub- stummen- und Blinden-Institute weitgehendstes Interesse beanspruchen. Dies gilt auch von den beiden vorliegenden Druckschriften. Hinter dem bescheidenen Titel »Programm« verbergen sich zwei sehr gediegene Arbeiten, deren Kenntnis weiteren Kreisen erwünscht sein möchte.

Das Hildesheimer Programm enthält außer den Schulnachrichten eine in- struktive Abhandlung »Der gegenwärtige Stand des Unterrichts Schwachbegabter an preußischen Taubstummenanstalten<s von Lehrer Bodensieck. Auf Grund einer Informationsreise lernte derselbe den Unterricht der taubstummen Schwachkefähigten kennen. Infolge Aufforderung seiner Behörde, stellte dann der Autor das gesamte Material zusammen. Die Ausbildung der Kinder wird,zumeist nach zwei Gesichtspunkten gehandhabt. In verschiedenen Provinzen, wie Ost- und Westpreußen, Hannover, Westfalen und Schlesien, existieren sogenannte A- und B-Klassen; erstere für normal veranlagte, letztere für minderbegabte Schüler. In anderen Provinzen, so Pommern und die Rheinprovinz, nehmen die einen Anstalten die besser-, die anderen die schwächerbefähigten Taubstummen auf. In der Schleswig - Holsteiner Anstalt, Schleswig, erfolgt die Einteilung in drei qualitativ abgestufte Klassen. In den übrigen preußischen Landesteilen steht die Regelung noch aus. Hinsichtlich der Unterrichtsmethode, ist die Anwendung der Gebärde vollständig ausgeschlossen, auch bei den Schwachbefähigten. Es dominiert auch bei diesen die Lautsprache, um sie in den Besitz der Wortsprache zu setzen. Im übrigen weicht der Unterricht der geistesschwachen Kinder insofern von dem der geistesstärkeren ab, als bei ersteren neben Stoffverminderung auch sonst dem geringeren Intellekte Rechnung getragen wird.

Die Stader Anstalt beging am 11. August 1907 das 50jährige Jubiläum ihres Bestehens. Der Direktor derselben, Werner, bekannt durch mehrere vorzügliche Elaborate,') gibt zunächst einen Rückblick über die vergangenen fünf Dezennien, Hieran schließt sich eine eingehende Arbeit des Taubstummenlehrers O. Stern »Die Entwicklung der Konsonanten in der Artikulationsklassee. Wer die instruktive Abhandlung des Verfassers »Der Zitterlaut in unserer Zeitschrift?) gelesen hat, der wird auch gern nach der neuen Studie greifen, die aus der mühsamen Kleinarbeit der Praxis hervorgegangen ist. Der Bearbeitung der einzelnen Laute liegt folgender Stufengang zugrunde: 1. Lautphysiologische, resp. phonetische Erörterungen, 2. An- gabe von Winken und Fingerzeichen für ein rationelles Verfahren, 3. Ratschläge der Literatur und Erfahrungen der eigenen Praxis, 4. Bemerkungen über das korrekte Sprechen. Auf diese Weise ist ein recht brauchbarer Lehrgang für die Laut- entwicklung entstanden, der dem Lehrer schwachbefähigter Schüler gute Dienste leisten wird. Auch die Hinweise über Vorbereitung, Darbietung und Anwendung sind sehr instruktiv, Im übrigen sei auf das Werk selbst verwiesen.

Ketsoehendorf-Spree. M. Kirmsse.

Zur Nachricht: Mehrere Artikel »für oder gegen die Prügelstrafe« mußten wegen Raummangel für das nächste Heft zurückgestellt werden. Tr.

1) Übersetz. des Juan P. Bonet, »Vereinfachung der Buchstaben und die Kunst Stumme sprechen zu lernen« aus dem Spanischen. Stade 1895. »Psycho- logische Begründung d. deutsch. Methode des Taubstummenunterrichts.« Berlin 1906.

?) XI. Jahrg. 1907. S. 289. 353 ff.

Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensaıza,