THE UNIVERSITY OF ILLINOIS LIBRARY

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Zeitschrift für Kinderforschung

mit besonderer Berücksichtigung der pädagogischen Pathologie

Im Verein mit

Dr. G. Anton Dr. E. Martinak Chr. Ufer Dr. Karl Wilker

Geh.Med.-Ratu.Prof. o. ð. Prof. d. Philosophie Rekt.d.Süd-Mädchen- Dir. d.Städt. Erziehungs- an der Univ. Halle u.Pädag.a.d.Univ.Graz Mittelsch. i. Elberfeld haus. Berlin-Lichtenberg

herausgegeben von

J. Trüper

Direktor des Erziehungsheims und Jugendsanatoriums auf der Sophienhöhe bei Jena

Zweiundzwanzigster Jahrgang

Langensalza Hermann Beyer & Söhne

(Beyer & Mann) Herzogl. Sächs. Hofbuchhändler

1917

Alle Rechte vorbehalten.

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Inhalt.

A. Abhandlungen:

a Zur Behandlung und Erziehung der zurückgebliebenen und entarteten inder . . Brandenberg, Über das Problem des sogenannten Versehens der Frauen Delitsch, Einführung in das sächsische Gesetz über Fürsorgeerziehung 136. Dickhoff, Das Problem des Krüppels und Richtlinien für die Erziehung des Krüppelkindes nt si ar AAS Janisch, Jugendstrafrecht und Jugendrichteramt in Österreich ; Kley, Die Lehre vom Lernen . . . EEE Meyer, Wilhelm Rein und die Pädagogik der Gegenwart Es 344. Moede, Untersuchung und ech des FERNER: nach” experimen- tellen Methoden . k

Pudor, Mutternot! . . HEINE El RT RE Saupe, Die Einheitsschule . . 1: N Schmidt, Die Unterbringung und unterrichtliche Versorgung der PS:

zöglinge 30% s . . 145. Trüper und Kerner, "Zum Verständnis Berthold Ottos . Ei Trüper, Wilhelm Rein zum 70. Geburtstage. . .

B. Mitteilungen:

Wird die » Wiederholung« im Lehrverfahren aller Schulen hinreichend beachtet?

Wie sich mein Sohn bis zum Alter von 3!,, Jahren zu den Dingen, Tieren und Pflanzen der Umwelt stellte . . 2.30. 65.

Über den Ernährungszustand der Schulkinder im ‘3. ' Kriegsjahr .

Ein Pflegeheim für geschlechtskranke Kinder. .

Direktor der Kgl. re Aa zu u Chemnitz Emil Gustav Nitzsche of

Mitteilung >

Paycholegische Profile . 3

Die engere Verknüpfung von Schul- und Familienerziehung .

Stephanie Schön F . . è

Über die Erziehung der Schuljugend auf der Straße

Die Fürsorgezöglinge im Kriege i .

Von Kind und Krieg .

Forschungsinstitut für Geschichte des "Weltkrieges

Militärdienst und geistige Eigenart der Rekruten .

Die Hilfsschule in Hamburg . . A k

Sozialakademie für Frauen in Düsseldorf

Preisausschreiben . aon a chen a a e

Kurze Nachrichten . . . u E38)

Rein, Herbartianismus, Konfessionalismus und "Liberalismus su:

Die Stellung der Thüringer Herbartfreunde unter Reins Vorsitz zur Schulver- fassungs- und Lehrerbildungsfrage a ee ae Sch

Dem Philosophen Theodor Ziehen . . . 2: 2 m nn rn ne

Adolf Matthias 7. Dt cn ar Pr i

Ein neues Ernährungssystem .

Lehrgang für Kleinkinderfürsorge .

Kinderschutztagung . E uy s

eilübungen . er Deutsche Verein für Psychiatrie

4.3280 !

IV Inhalt,

C. Zeitsehriftenschau: . . . . 2 . . . 40. 95. 184. 233.

D. Literatar:

Baerwald, Zur Psychologie der Vorstellungstypen mit besonderer Berück- sichtigung der motorischen und musikalischen Anlage 2

Bericht des Fursorgeverbandes Leipzig über das Jahr 1915 .

Boerner, Schulbygiene und Diensttauglichkeit . Š

Brinkmann, Das eriment in der Pädagogik. .

Budde, Noologische ädagogik. Entwurf einer Porsönlichkeitspädagogik auf der Grundlage der Philosophie Rudolf Euckens . .

von Bunge, Die zunehmende Unfähigkeit der Frauen ihre Kinder zu stillen

Burgerstein, Alkohol und Schule . . . .

Czerny, Der Arzt als Erzieher des Kindes . .

Eckhardt und Lüllwitz, Der erste Schulunterricht . MEET

Eingegangene Literatur. . . A neia ee) :5

Elsenhans, Der Krieg als Erzieher. P E At Fan re

Fröbes, Lehrbuch der experimentellen Psychologie ee“

Gutberlet, Experimentelle Payohologis mit besonderer Berücksichtigung 1 der Pädagogik . .

Henning, Ernst Mach als Philosoph, Physiker und | Psycholog.

Herget, Psychologie und Erziehungslehre . :

Hering, Die Seele des sechsjährigen Kindes .

Hirschfeld, Sexualpathologie . . š

Jahrbuch der Schulgesundheitspflege NS}.

Kammel, Das pädag.-psychologische Laboratorium an der n. ö. Landes-Lehrer- akademie in Wien. .

Klumker, Die öffentliche Kinderfürsorge eine e Kulturaufgebe \ unseres Volkes

*** Krieg und Kinderseele. . . . .

Kunst und Schule ES

Mayer, Kinderideale

Messer, Psychologie x

Moede, Die Untersuchung und Übung ` des 3 Gehirageschädigten nach experi- mentellen Methoden

Peiper, Die Säuglingspflege . 4

Peters, Über Vererbung psychischer Fähigkeiten E

Poelchau, Die wichtigsten chronischen Krankheiten des Schulkindes und die Mittel zu ihrer Bekämpfung mit Desondann iaei der Tuberkulose =

Rousseau, Emil oder Über die Erziehung

Ruttmann, Erblichkeitslehre und Pädagogik . .

Sickinger, Der Differenzierungsgedanke in seiner Anwendung auf die Ge- nesendenkompagnie. . a

Sommer, Die körperliche Erziehung“ der deutschen i Studentonschaft

Stern, Psychologie der frühen Kindheit

Stern, Jugendliches Seelenleben und Krieg

Stern, Die Jugendkunde als mE TAES

Tews, Die Deutsche Einheitsschule . 5

Tews, Die Deutsche Einheitsschule . š

Wunderle, Aufgaben und Methoden der modernen i Religionspsychologie 5

Zeit- und Streitschriften

Zschommler, Unser Körper

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A. Abhandlungen.

Untersuchung und Übung des Gehirngeschädigten nach experimentellen Methoden. !) Von Dr. Walther Moede.

I. Die experimentelle Psychologie und Pädagogik im Dienste

der Gehirngeschädigtenfürsorge.

Zahlreich und mannigfaltig sind die Hilfswissenschaften der Medizin. Physik und Chemie, Botanik und Zoologie reichen dem Arzte eine Fülle erprobter Methoden dar, die eine genaue Analyse und erfolg- reiche Behandlung einer Anzahl krankhafter Störungen des Körpers durchzuführen gestatten, und der praktische Arzt möchte diese Hilfs- truppen aus dem Lager der Naturwissenschaften nicht mehr missen.

Neben dem Körper und seinen Funktionen, deren Studium Sache der Naturwissenschaften ist, ist die Seele oder das Bewußtsein und seine Funktionen nicht geringeren Schädigungen ausgesetzt. Die Psychologie ist nun diejenige Wissenschaft, die dem Lehrer wie dem Nervenarzte zur Diagnose und Therapie psychischer Störungen eine Fülle erprobter Methoden zur Verfügung stellt, und viele machen auch schon regen Gebrauch davon.

Die Psychologie hat sich seit der Einführung von Experiment

1) Kap. 1 u. 2 des soeben unter gleichnamigem Titel im Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza erschienenen Buches. Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziebung. Heft 135. 125 Seiten. Mit 44 Textabbildungen. Preis 4 M 50 Pf.

Zeitschrift für Kinderforschung. 22. Jahrgang. 1

2 A. Abhandlungen.

und Statistik, von Maß und Zahl zum Range einer exakten Wissen- schaft erhoben, deren Forschungsergebnisse ebensowenig anzuzweifeln sind, wie etwa die Gesetze der Physik und Chemie, da sie auf der Grundlage positiver, Maß und Zahl verwendender Methoden gewonnen worden sind.

Wie der Arzt nun dem Chemiker die Analyse auf Eiweiß und Zucker oder dem Bakteriologen den Nachweis pathogener Mikroben überläßt, und wie der Physiker dem praktischen Arzte eine Fülle von Naturkräften in geeigneter Form zur Verfügung stellt, so sollten auch der Nervenarzt und der Heilerzieher den Experimentalpsychologen und seine Methoden herbeiziehen, wenn es die Untersuchung und Behand- lung psychischer Störungen gilt.

Das gebirngeschädigte Kind wird in besonderen Anstalten und Schulen besonders pfleglich behandelt und diesen Sonderschulen wird im Rahmen unseres Schulwesens zunehmend mehr Beachtung und Interesse geschenkt.

Die Abschätzung der Begabungsgrade der Kinder wurde zunächst vorwiegend dem erfahrenen Schulmann überlassen, bald aber gingen Psy- chologen und Pädagogen daran, ein System von Intelligenzprüfungen zu entwerfen und zu aichen, das auf einheitlicher Grundlage die in- tellektuelle Entwicklungshöhe eines Kindes, sein Intelligenzalter, fest- zustellen gestattet, so daß nun eine Überweisung von Minderbefähigten in Hilfs- und Sonderschulen ungleich besser durchführbar wird. Schließlich siegte der Grundgedanke der Intelligenzstaffelprüfung auf der ganzen Linie. Psychologen, Pädagogen und Nervenärzte nahmen ihn auf und steuerten bald mancherlei wertvolle Beiträge zu diesem Maßsystem intellektueller Normalien bei.

Freilich ist mit der allgemeinen Intelligenzprüfung, die gleichsam eine Gesamtzensur über die Begabung abgeben will, nicht allzuviel er- reicht. Es ist vielmehr Sache der psychologischen Spezialuntersuchung, die Art und Größe der Schädigung festzustellen, damit der Lehrer eine Grundlage hat, auf welche Weise er am besten im Unterricht vorgeht, um das Kind individuell zu behandeln und zu fördern. Setzt nun eine systematische Übungstherapie ein, so erlischt die Zuständig- keit des Nervenarztes vollkommen, da er über die Grundsätze eines fruchtbaren Unterrichtes gar keine Erfahrung, weder grundlegende Kenntnisse noch wesentliche Fertigkeiten, besitzt. Vielmehr tritt der Experinientalpädagoge an seine Stelle, der mit besonderen Methoden die Prinzipien der individuellen Behandlung entwickelt und ihre Er- gebnisse fortlaufend kontrollieren kann. Die Behandlung der Sprach- geschädigten gibt uns ein leuchtendes Vorbild dafür, wie Arzt, Psy-

Moede: Untersuchung und Übung des Gehirngeschädigten usw. 3

chologe und Pädagoge nutzbringend und fruchtbar zusammenarbeiten. Die Vorlesungen Gutzmanns über Sprachheilkunde, der das Erbe seines Vaters, des Taubstummenlehrers, antrat und mehrte, legen Zeug- nis ab von der regen Unterstützung und Hilfe, die er als Arzt von seiten der Psychologen und Pädagogen erfahren hat.

Der gehirngeschädigte Erwachsene will anders behandelt sein als das entwicklungsgehemmte Kind. Durch die organischen Defekte, etwa infolge von Kopfschüssen, sowie die funktionellen Erkrankungen, etwa infolge von Verschüttung, Granatexplosion, Schreck, wurde ein Heer von Gehirngeschädigten geschaffen, bei deren Untersuchung und Behand- lung nach der Übungstherapie das psychologische Lazarett-Laboratorium besonders gute Dienste leisten kann und schon geleistet hat. Auch hier kann ein harmonisches Zusammenwirken von Nervenärzten, Psy- chologen und Pädagogen ausgezeichnete Resultate ergeben, wie die Erfahrungen an mehreren Orten zeigen, wo man zur Gründung be- sonderer Laboratorien und Übungsschulen für Gehirngeschädigte ge- schritten ist. Wenn auch die Leitung des Laboratoriums sowie die Untersuchung der vom Arzte überwiesenen Patienten wie auch die Durchführung der Übungstberapie dem Psychologen zusteht, so wird doch der Militärnervenarzt auf eine Kontrolle des gesamten Betriebes nicht verzichten können.

Außer der Untersuchung und Übung erwächst den psycho- logischen Lazarettlaboratorien zudem noch die Aufgabe der Renten- festsetzung, die ein zablenmäßiger Ausdruck der Schädigung sein soll, sowie der Berufsberatung, damit der Patient in einen seinen Fähigkeiten entsprechenden Beruf eingewiesen wird.

Auch der normale Erwachsene wird sich mit Vorteil nach nervenärztlicher Befragung an einen Experimentalpsychologen wenden, falls er geistige Schwächen merkt, etwa einen Ausfall des Namen- und Zahlengedächtnisses oder eine starke geistige Ermüdbarkeit, da- mit er nun nach der Untersuchung sich an einem entsprechenden Übungskurse beteiligen und Besserung finden kann.

Alle diese wichtigen Dienste zu leisten sind experimentelle Psychologie und Pädagogik durchaus in der Lage. Eine Reihe von Methoden sind von diesen Wissenschaften ausgebildet worden, die eine genaue Analyse des gesamten Bewußtseins und seiner Funktionen ermöglichen, der Sinneswahrnehmung sowohl wie der emotionalen und intellektuellen Funktionen, also eine Avalyse des Empfindens und Vorstellens, des Denkens, Wollens und Fühlens. Die experimentelle Forschung ist weiter im Stande, eine Reihe von metho-

dischen Anweisungen zu geben, auf welche Weise durch geeignete 1*

4 A. Abhandlungen.

Übungstherapie die geschwächten Funktionen, etwa Anfmerksam- keit, Gedächtnis und Wille gebessert, ja der Normalität zugeführt werden können. Als Grundmittel der Behandlung wird der psycho- logische Arbeits- und Übungskurs verwendet. Denn nicht bloß der Muskel und das Gelenk können beträchtlich durch orthopädische Übungen in allen ihren Leistungen gebessert werden, die durch ob- jektive Hilfsmittel meßbar sind, sondern auch die Bewußtseinskräfte bieten der Behandlung durch methodische Übung ein sogar ungleich dankbareres Arbeitsfeld, deren Erfolge, wie vielfältige Erfahrung be- wiesen hat, keineswegs hinter denen der körperlichen Orthopädie zurückstehen.

Zahlreich sind die psychologisch pädagogischen Laboratorien in Deutschland, die in langer Arbeit eine Fülle von Kenntnissen ge- sammelt und eine Reihe von Untersuchungsmethoden entwickelt und mannigfach erprobt haben. Wundt, der vor allem Herbartsche Grund- ideen aufnahm und fortführte und in dem die klassische Psychologie ihren Höhepunkt erreichte, fand zahlreiche Mitarbeiter, die das Fun- dament weiter und weiter ausbauten, weit über den Meister hinaus- gingen und ein Gebiet nach dem andern der psychologischen Forschung erschlossen. Wir nennen nur die Namen: Ach, Külpe, Krüger, Marbe, G. E. Müller, Meumann, Wirth, Stern eine Reihe von Forschern, die beliebig vermehrt werden könnte.

Neben die generelle Psychologie, die die elementarsten Gesetz- mäßigkeiten des Bewußtseins erforscht, trat die differentielle Seelen- forschung, die den Unterschieden der Individualität ihre Beachtung schenkt. Die Individualpsychologie wurde durch die Kollektivpsycho- logie ergänzt, die die Wechselwirkungen mehrerer Individuen studiert, die in einer Gruppe aufeinander wirken. Schließlich erstand nach und nach auch die angewandte Forschung, die besonders die Fragen des Wirtschaftslebens, Gütererzeugung und Vertrieb, sowie die Probleme des Erziehungswesens mit dem Lichte exakter Erkenntnis durch- leuchtet. Neben der systematischen Bearbeitung wird allenthalben Entwicklungspsychologie gepflegt, die besonders als Kinder- und Völkerpsychologie weiteren Kreisen bekannt geworden ist.

Psychologisch pädagogische Laboratorien, die Zentralstätten der Arbeit, haben wir an allen größern Universitäten der gesamten Kultur- welt. Noch jüngst wurde in Berlin vom Kultusministerium eine Sammelstätte auch der experimentellen Bestrebungen geschaffen durch die Gründung des »Zentralinstitutes für Erziehung und Unterrichte einer Kaiser Wilhbelmsstiftung, das für die Erweiterung der psycholo- gischen Kenntnisse vom Kinde und seiner Entwicklung sowie für die

Moede: Untersuchung und Übung des Gehirngeschädigten usw. 5

äußere und innere Organisation des gesamten Bildungswesens, kurz die gesamte empirische Pädagogik, segensreich wirken wird.!)

Die Sonderinstitute für Heilerziehung, die sich der gehirnge- schädigten Kinder besonders annehmen, verwenden ebenfalls seit Jahren mit großem Erfolge die Methoden und Erfahrungen, die die Forschungsstätten der Psychologie gemacht haben, ja sie sind sogar teilweise schon zur Errichtung eigener Laboratorien übergegangen.

Die -Militärbehörden Deutschlands und Österreichs haben nicht gezögert, bei den verschiedensten Fragen den Fachpsychologen zu Rate zu ziehen. Dies gilt sowohl für die militärische Erziehung in der Heimat, als auch den Felddienst sowie die Eignungsprüfung der Anwärter gewisser Spezialtruppen. Das gleiche hört man von den Bestrebungen der französischen Regierung. Auch das Militärsanitäts- wesen hat an verschiedenen Orten einige Psychologen und Pädagogen aufgenommen und ihnen wichtige Aufgaben übertragen. Hartmann, der Leiter der Grazer Universitätsnervenklinik, eröffnete als erster eine Schule für Gehirnverletzte und zog als Helfer den Stadtschul- inspektor Göry und 4 Hilfslehrer mit herbei. Sprechen, Zählen, Schreiben, Lesen, Wiedererkennen, kurz: Erziehung elementarer geistiger Leistungen und auch Vermittlung von bestimmten Kennt- nissen, das ist der Grundgedanke und das Programm seiner Schule. In Deutschland leitet Poppelreuter ein Kopfschußiustitut in Köln-Lindenthal, wo ähnliche Bestrebungen verwirklicht werden. Er berichtete über die trefflichen Erfolge der Gründung auf der außerordentlichen Tagung der Deutschen Vereinigung für Krüppel- fürsorge, wo auch Goldstein (Frankfurt a. M.) den Gedanken der Übungsschule für die Gehirnkrüppel besonders warm vertrat und eifrig für ihn warb. Weiter wurden zahlreiche Erfahrungen über die Heilbeschäftigung der Nervenkranken veröffentlicht, die den erziehlichen und therapeutischen Wert der Handarbeit erweisen, sowie die guten Erfolge der Sprachbehandlung bekannt gegeben, wie sie besonders von Gutzmann und andern Sprachärzten und Pädagogen gepflegt werden.

. Eine Einschränkung der Übung aber auf einige wenige Funktionen ist durch nichts gerechtfertigt. Vielmehr ist die systematische Übung des gesamten Bewußtseins und aller seiner Funktionen das Ziel, dem eine rationelle und methodische Übungstherapie zu- zustreben hat. Weiter sind wir der Ansicht, daß die geistige Funktions-

1) Ein solches Institut forderte Trüper mit besonderem Nachdruck bereits im Jahre 1911. Beiträge für Kinderforschung und Heilerziehung. Heft 80. S. 14 ff. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

6 A. Abhandlungen.

übung zweckmäßigerweise der Kenntnisvermittlung voranzugehen hat, da die Stärkung und Ausbildung der geschädigten Funktionen zunächst in Angriff genommen werden muß, ebe wir an eine Übertragung von Wissen und Vermittlung von Fertigkeiten denken können. Freilich ist eine Mitübung seelischer Funktionen auch dann gegeben, wenn wir Lese- und Schreibunterricht erteilen oder Handfertigkeit und Sprachübungen treiben. Aber die Übung der Funktionen selbst, etwa der Aufmerksamkeit oder des Gedächtnisses, nach wissenschaftlichen Methoden ist in ungleich reinerer Weise durchaus durchführbar. Solche Übungskurse könnten sehr leicht an den Lazarettschulen ein- gerichtet werden, die nach Goldsteins trefflichem Vorschlag in jeder Garnison, allerdings nicht als Anhängsel einer Nervenheilanstalt, ent- stehen sollten.

Welches sind nun die konkreten Aufgaben solcher psychologi- schen Laboratorien? Was kann der Fachpsychologe in ihnen leisten und versprechen? Wir denken zunächst an die Lazarettlaboratorien, die im Interesse der Gehirnbeschädigten errichtet werden sollten, können uns aber vor allem auch auf die Untersuchungs- und Übung- stätten beziehen, die im Anschluß an Hilfsschulen oder heilpäda- gogische Institute ihre Arbeit verrichten.

Sie sind zunächst die Stätten der psychologischen Untersuchung der Patienten. Wie im Röntgenzimmer der Knochenbruch oder der Sitz des Geschosses studiert wird oder wie man im bakteriologischen Laboratorium mit speziellen Methoden dem Parasiten nachspürt, so geht im psychologischen Laboratorium der Psychologe an die Arbeit, indem er mit bewährten instrumentellen Hilfsmitteln das Bewußt- sein und seine Schäden ableuchtet oder mit leichteren versuchstech- nischen Hilfsmitteln die Analyse durchführt. Die Untersuchung kann eine allgemeine oder besondere sein, je nach dem Grunde der Ein- lieferung des Patienten. Oftmals werden Nachweise von Empfin- dungsstörungen wünschenswert sein, ein andermal soll der Verdacht der Simulation mit objektiven Methoden auf seine Berechtigung hin begutachtet werden, dann wieder wird eine allgemeine Bestandsauf- nahme und -prüfung des Bewußtseins gewünscht. Besondere Auf- merksamkeit erheischt in den meisten Fällen die Arbeitsfähigkeit des Patienten, die für die Rentierung wesentlich ist, sowie seine Übungs- fähigkeit, die für die Behandlung nach den Prinzipien der allgemeinen Übungstherapie entscheidend ist. Neben der Art der Schädigung ist stets ihre Größe möglichst in exakten und nachprüfbaren Maßen an- zugeben, genau wie vom Chemiker der Zuckergehalt des eingesandten Harnes berechnet wird. In vielen Fällen freilich genügt der posi-

Moede: Untersuchung und Übung des Gehirngeschädigten usw. 7

tive oder negative Ausfall der Prüfungen, wie auch bei Serum- reaktionen der positive oder negative Ausfall etwa der Wassermann- schen Reaktion ausreichend ist, ohne daß genauere Gradabstu- fungen verlangt werden. Wo aber solche Grenzfälle der normalen Leistung nicht als Prüfungsmittel verwandt werden, da kann stets der Ausfall der Untersuchung der einzelnen Funktionen in Grad- abstufungen zensiert werden. Diese Rangordnung der Leistungs- fähigkeit sind wir ja von den Zensuren unserer Schulzeit her ge- wöhnt. Meistens freilich ist die Wertung noch viel genauer durchführ- bar, falls dies nötig wird und längere Zeit zur Verfügung steht, und das Untersuchungsergebnis ist stets kontrollierbar, da die Bedingungen der objektiven Prüfung stets bekannt, wiederholbar und veränderlich sind. Oftmals, etwa bei halbseitigen Empfindungsschäden ist die Größe der Herabsetzung durch Vergleich der gesunden und kranken Körperhälfte prozentual genau festzulegen, ein Fall, der z. B. bei Hysterie nach Verschüttung oder Kopfschüssen sehr oft beobachtet werden kann. Sind uns die Normalwerte der gesunden Seite als Grund- maße nicht zur Hand, so können wir die Aichungen neuer Unter- suchungsmittel stets an Normalen durchführen und durch Vergleich mit diesen Mittelwerten die Höhe der Schädigung sehr genau feststellen, Doch sind die Erfahrungen des Psychologen und besonders des Päda- gogen schon recht umfassend, so daß er z. B. bei allgemeiner Hem- mung der intellektuellen Funktionen durchaus in der Lage ist anzu- geben, welches Intelligenzalter etwa diesem Patienten zukommt. Wir können dann prüfen, ob er auf der Stufe eines 10- oder l2jährigen Kindes steht, da durch langjährige Untersuchungen in allen Kultur- ländern die intellektuellen Normalien des heranwachsenden Menschen bekannt sind, falls wir die gleichen bewährten Prüfungsmethoden ver- wenden, genau wie wir über die mittlere Größe des Rekruten in einem Lande durch zahlreiche Messungen wohl unterrichtet sind. Sind Defekte da, die etwa das Wissen und die Fertigkeiten des Patienten stark geschädigt haben, so werden wir die intellektuellen Fähigkeiten studieren, etwa die Kombination, und können uns dann Hand in Hand mit der Prüfung seiner Übungsfähigkeit sehr wohl das Urteil erlauben, ob der Patient bei eingehender Übung sich in neue Verhältnisse gut einarbeiten wird oder ob dies ausgeschlossen oder unwahrscheinlich ist. Zahlreiche Untersuchungen haben z. B. ergeben, daß wir die zukünftige Rangordnung der Kinder, die in irgend eine Schulgattung eintreten, annähernd voraus berechnen können, falls wir eine Prüfung ihrer Fähigkeiten vorher durchgeführt haben. Sogar die komplexen Verhältnisse, wie sie das Schulleben

8 A. Abhandlungen.

und der Unterricht darstellen, sind mit exakten Methoden in charakte- ristischen Werten zu erfassen, so daß die Untersuchung der durch Läsionen geschädigten Patienten ungleich leichter genannt werden nıuß. Sehr schwer ist es, die Schattierungen der Individualitäten exakt zu erfassen, während die Ausfallssymptome der funktionellen und organischen Hirnschäden in vielen Fällen gleichsam mit den Händen zu greifen sind, wenn es erlaubt ist, unsere Erfahrung her- beizuziehen.

Wir sehen, daß nicht nur die Diagnose der körperlichen Schä- digungen ein hohes Maß von Sicherheit erreicht, sondern daß dem- entsprechend auch die allgemeine oder partielle geistige Schädigung, die in so vielen Fällen in mancherlei Form vorliegt, mit guten Methoden von dem Psychologen festgestellt werden kann, mag die Schädigung organischer oder funktioneller Natur sein. Ja, man kann auch Methoden ausbilden, die unabhängig von der ärztlichen Diagnose rein aus den psychologischen Untersuchungswerten heraus die Wahr- scheinlichkeit der organischen oder funktionellen Natur des Gehirn- schadens plausibel machen. Will der Arzt nun eine Kontrolle haben über die Erfolge seiner Behandlung, sei diese medikamentös, physi- kalisch-diätetisch usw., so kann er an der Hand der Untersuchungs- befunde des Psychologen sich sehr gut über den Stand des Bewußt- seins seines Patienten unterrichten und sich eine Kurve des Krank- heitsverlaufes entwickeln, genau wie er an der Hand von Tem-. peraturmessungen die Fieberkurve entwirft. Denn nun wird ihm mit- geteilt werden können, welcher Art und Größe die Fortschritte oder Rückschritte des Patienten sind, da nun mit objektiven und exakten Methoden die Beschaffenheit der seelischen Funktionen und die Rich- tung und Größe der Schädigung oder Besserung festgestellt wird in ähnlicher Weise wie die fortlaufende chemische Analyse auf Zucker die Kur des Zuckerkranken zu kontrollieren gestattet.

Die exakte Zergliederung des Psychologen kann sich auf alle Seiten des Bewußtseinslebens erstrecken, auf die Sinneswahrnehmung so gut wie auf die Gesamtheit der emotionalen und intellektuellen Funktionen. Es gibt keine geheimen Funktionen, irgend welche see- lischen Bezirke von Bedeutung, die wir mit den Untersuchungsmethoden nicht fassen könnten, da der ganze Mensch und das gesamte Bewußt- sein Gegenstand der psychologischen Analyse sein kann. Längst ver- flossen sind die Kinderjahre der Forschung, wo man sich nur um die Zergliederung der Sinnesempfindungen abmühte und nur schüchtern und zaghaft an die einfachsten zentralen Prozesse etwa der Aufmerk- samkeit oder des Gedächtnisses heranging. Die Anwendung der Psycho-

Moede: Untersuchung und Übung des Gehirngeschädigten usw. 9

logie auf die Fragen des Lebens machte die Ausbildung neuer ein- wandsfreier Methoden nötig, die auch die verwickelteren Funktionen exakt zu analysieren erlauben. Der Pädagoge z. B. hätte von der genauesten Zergliederung der Sinneswahrnehmung des heranwachsen- den Kindes nur recht mäßigen Gewinn und betrübten Sinnes und voller Resignation würde er die Psychologie weit hinter sich lassen, wenn sie wirklich nur imstande wäre, die allerelementarsten geistigen Vorgänge mit exakten Methoden zu fassen. Gegenwärtig ist aber die experimentell pädagogische Literatur ungleich reicher angebaut als die eigentlich psychologische und das Studium der höhern seelischen ‚Prozesse fesselt eine ungleich größere Anzahl von Bearbeitern.

Es trat sehr bald neben die klassische Experimentalpsychologie, die in Wundt ihren Höhepunkt fand, eine neue Forschungsrichtung, die inhaltlich und methodisch neue erfolgreiche Wege einschlug und die bald ernst machte mit der Anwendung der experimentellen Methodik auf die mannigfachen Probleme des Lebens; wir nennen nur Pädagogik und Wirtschaft. War das ganze Interesse des klassischen Psychologen auf die Forschung gerichtet und bemühte er sich, in langer Arbeit mit hochempfindlichen Apparaten die einfachsten seelischen Vorgänge nach allen Richtungen hin systematisch zu ergründen, so legte die neue Richtung den Schwerpunkt auf die Prüfung des Menschen und seiner Funktionen durch einfache und charakteristische Stichproben. Ihre Bemühungen wurden reichlich gelohnt, denn der Psychologe ist nun in den Stand gesetzt, in kurzer Zeit mit bewährten Methoden eine psychologische Diagnose eines Falles zu stellen genau wie der Arzt in der Sprechstunde sehr bald die wesentlichsten Körperfunktionen durch kennzeichnende Stichproben und Prüfungen teils mit, teils ohne instrumentelle Hilfsmittel untersucht.

Die psychologische Untersuchung des Patienten begegnet da- her keinen Schwierigkeiten mehr. Sie beginnt mit der Sinneswahr- nehmung, wo wir eine Fülle von experimentellen Hilfsmitteln und Methoden von der klassischen Psychologie übernehmen können. Alle Ausfallserscheinungen können nicht entgehen, wie auch vom Arzte Herztöne und Atemgeräusche nicht überhört werden können. Die Zeit und Sicherheit der psychologischen Analyse dürfte von der ärztlichen Prüfung der Körperfunktionen keineswegs übertroffen wer- den, falls der Psychologe hinreichende Übung, Erfahrung und Kennt- nis hat. An die Sinnesprüfung reiht sich die Untersuchung der höheren Funktionen, wobei wir wieder teilweis hochempfindliche Prä- zisionsinstrumente verwenden können, teilweis aber auch leichtere versuchstechnische Hilfsmittel benutzen, wie sie der Psychiater eben-

10 A. Abhandlungen.

falls in seiner Praxis gebraucht und auf die er sich gleichfalls durch- aus verläßt. Gerade die Psychiatrie und die Psychologie haben in reger Wechselwirkung eine Reihe von methodischen Hilfen der Untersuchung ausgebildet, deren gemeinsames Ziel es ist, charakteristische Proben von hohem Symptom werte von den einzelnen Bewußtseinsfunktionen in kurzer Zeit abzuleiten, wobei das Prüfungsergebnis möglichst mit Maß und Zahl ausdrückbar und die Wiederholung und Variation der Abnahme beliebig oft und mannigfach möglich ist. Kein Geringerer als Ziehen, dem eine reiche Erfahrung zu Gebote steht, gibt in seiner Psychiatrie eine genaue Aufstellung der Gesichtspunkte und des Pro- grammes einer psychiatrischen Analyse mit Hilfe dieser objektiven Methoden, und die Wertschätzung dieser objektiven Methodik, die eine genaue Bestandsaufnahme der Bewußtseinsfunktionen ermöglicht, zeigt sich darin, daß Ziehen eine gesonderte Zusammenstellung der be- währten Untersuchungsmethoden der intellektuellen Funktionen versucht hat, wo eine Fülle von Prüfungsweisen angegeben werden, die zunächst in der Psychologie ausgebildet wurden, deren Gediegen- heit er aber auch in der psychiatrischen Praxis erprobt hat, da er sie eigentlich zur Untersuchung aller Fälle dem Psychiater empfiehlt. Naturgemäß sind bei der Begutachtung einiger Bewußtseinsseiten, etwa der Lernfähigkeit und des Behaltens eine Reihe von Sitzungen nötig, so daß nun eine längere Zeit zur Untersuchung zur Verfügung stehen muß.

Fassen wir den Stand der psychologischen Wissenschaft zusam- men, so können wir sagen: Die psychologische Untersuchung ist mit bewährten Mitteln schnell und sicher durchzuführen und steht den Prüfungen der körperlichen Funktionen durch den Arzt in keiner Weise nach. Sie erstreckt sich auf alle Bewußt- seinsfunktionen und kann die Ausfalls- und Reizungserscheinungen nach Richtung und Größe genau feststellen. Durch Angabe der Versuchsbedingungen wird sie jederzeit kontrollierbar und verifika- tionsfähig, da sie nicht auf ungefährer Schätzung, sondern zuver- lässiger Bestimmung der Güte einer seelischen Leistung beruht.

Die organischen Schäden, bei denen nach der Definition der Psychiater ein pathologisch-anatomischer Befund gegeben ist, zeigen einen relativ feststehenden Sachverhalt, dessen exakte Auswertung bald gelingen wird. Schwieriger dagegen sind die Untersuchungen einiger funktioneller Störungen, bei denen ein pathologisch-anatomi- scher Befund nicht vorhanden ist. Hier liegt oftmals ein fließender Sachverhalt vor, dessen Erfassung nur dem vorsichtigen und erfahre- nen Untersucher glücken dürfte. Gerade die objektive Methodik er-

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Moede: Untersuchung und Übung des Gehirngeschädigten usw. 11

laubt es, ohne Wissen des Patienten zu arbeiten und auch die Größe der Schwankung einer Bewußtseinsleistung einwandsfrei auszudrücken. Durch die Untersuchungen an Kindern hat der Psychologe eine gute Schulung genossen, wie ein labiles Bewußtsein zu behandeln ist und welches diejenigen Methoden der Untersuchung sind, die eine mög- lichst geringe Belastung und Beeinflussung des geprüften Bewußtseins mit sich bringen.

Die Gutachten, die der Psychologe daher frohen Herzens voll ver- antwortlich zeichnen wird, müssen dem Lehrer wie dem praktischen Arzte bei der Diagnose eine wertvolle Hilfe sein genau wie der chemische, bakteriologische und serologische Befund von diesem hochgeschätzt, ja für manche Diagnose als entscheidend angesehen wird. Es ist eine Eigenart der psychischen Maße, daß man in den meisten Fällen neben der Wertmaßzahl auch die Schwankungen der Bestimmungen unter gleichen Bedingungen angeben kann, so daß neben der Leistungs- prüfung auch ein Maß der Sicherheit der Beobachtung selbst, falls es verlangt wird, ableitbar wird. Die Chance der Sicherheit eines Be- fundes, in prozentualem Ausdruck zur Leistungsmaßzahl, ist natur- gemäß auch wieder ausgedrückt in einer Zahl, so daß alle Mutmaßungen vor dem konkreten Werte zu verschwinden haben.

Die psychologische Untersuchung hat neben der Unterstützung der ärztlichen und pädagogischen Tätigkeit hohe Bedeutung für die Rentenfestsetzung und auch für die Berufsberatung des Patienten, die hinsichtlich ihrer Bedeutung die materielle Entschädigung oftmals um ein vielfaches übertreffen kann.

Die Rente soll der zahlenmäßige Ausdruck für die Schädigung des Patienten und seine Versorgungsberechtigung sein. Damit ist aber gegeben, daß die besten Methoden der Rentenfestlegung solche sind, die exakt im Sinne der positiven Wissenschaft genannt werden müssen, sich auf systematischen und objektiven Verfahrungsweisen auf- bauen und möglichst das Untersuchungsergebnis in Maß und Zahl auszudrücken imstande sind. Denn dann ist die Gefahr einer per- sönlichen und subjektiven Einschätzung und Aburteilung beseitigt, einer Schätzung am grünen Tisch vorgebeugt und irrationale Privat- meinungen werden vermieden. Wie aber auch der erfahrenste Arzt ohne exakte Hilfsmittel großen Irrtümern unterliegt, so ist umgekehrt die Untersuchung eines anderen Fachmannes mit weniger Kenntnissen aber besseren Methoden ungleich sicherer, genau wie der Stümper, der mit einem Lineal oder gar einer automatischen Registriervorrich- tung bewaffnet ist, ungleich besser eige gerade Linie ziehen kann als der Künstler, der freihändig arbeitet. Kein anderer als Kräpelin

12 A. Abhandlungen.

betonte mit Nachdruck die Bedeutung objektiver Methoden bei der Rentenfestsetzung, und er selbst und seine Schule haben großen Aufwand von Energie darauf verwandt, gerade die Methoden zur Untersuchung der Arbeitsfähigkeit des Klienten klassisch zu entwickeln. Nur durch objektive Verfahren schützt sich nach Kräpelins Ansicht auch der erfahrenste Psychiater vor den Gefahren der Simulation sowie un- gerechter und unsachlicher Beurteilung der Arbeitsfähigkeit eines Patienten. Die Handhabung der Kräpelinschen Methode ist, wie er ausführt, so sicher in der Hand des Kundigen, daß selbst bei dem festen Willen zur Simulation und eingehenden Kenntnissen des Simu- lanten eine Täuschung des Untersuchers nicht möglich ist. Denn die Abwandlung der Versuchsbedingungen ist so reichhaltig und die not- wendigen Leistungsänderungen als Antwort auf diese Bedingungsver- änderungen sind durch zahlreiche Erfahrungen so sicher gestellt, daß die Abweichungen von der Norm, wie sie das Naturgesetz vorschreibt, ohne weiteres entdeckt werden müssen.

Wenden wir erprobte Hilfsmittel und Kunstgriffe an, die in der Variation der Arbeitsbedingungen bestehen, so müssen sich bestimmte Änderungen der Leistung ergeben, deren Eintritt so sicher erwartet werden kann, wie der Fall des Steines nach unten der Schwerkraft gemäß. Die Entlarvung des Simulanten muß daher fast stets gelingen, ist doch die Überführung eines Schuldigen durch psychologische Me- thoden eine ganze Wissenschaft geworden, die sich als Tatbestands- diagnostik bezeichnet und die im Dienste der Justiz schon erfreuliche Erfolge zu verzeichnen gehabt hat. Gerade in einer Zeit der höchsten materiellen Anspannung aller Volkskreise müßte es oberster Grund- satz sein, mit allen Mitteln zu verhüten, daß infolge mangelhafter oder Fehldiagnose Renten unnötig ausgesetzt und weggeworfen werden.

Der Kampf um die Rente, der Hand in Hand mit der Ausbildung des Versicherungswesens einsetzte und nach wie vor auf beiden Seiten hartnäckig und bitter geführt wird, dürfte auch bei der Ren- tierung der Kriegsverletzten, zumal der Gehirngeschädigten, in voller Schärfe sich entwickeln, da der Gehirnschaden eben dem unbewaff- neten Auge nicht sichtbar ist, wie die Lähmung oder Verstümmelung eines Gliedes, sondern besonderer psychologischer Methoden zu seiner genauen Feststellung bedarf. Wie es berechtigte Forderung des Kriegs- invaliden ist, daß er voll entschädigt wird und somit auf die beste Spezialuntersuchung Anspruch hat, so ist es umgekehrt selbstverständ- liche Pflicht des Staates, die Rente nur so hoch anzusetzen, als sie durch die tatsächliche Schädigung begründet ist, zu welchem Zwecke sich auch hier die genaueste Spezialuntersuchung als gerade

Moede: Untersuchung und Übung des Gehirngeschädigten usw. 13

gut genug empfiehlt, so daß nun als Ergebnis eine Rente heraus- wächst, die den tatsächlichen Verhältnissen möglichst genau angepaßt ist und zwar in eınem Maße, wie es sich eben aus dem Stande der wissenschaftlichen Forschung ergibt.

Neben der Rentenfestsetzung kann der Fachpsychologe bei den Fragen der Berufsberatung gute Dienste leisten. Eine gute Berufs- beratung und Unterbringung eines Patienten, eines Schul- oder Lazarettentlassenen in einer Stellung, deren Anforderungen er ge- wachsen ist und die ihn befriedigt, ist in den meisten Fällen materiell und ideell höher anzusetzen als die weitgehendste Renten- versorgung. Jeder sollte nach seinen Kenntnissen und Fähig- keiten beschäftigt werden, so könnte die ideale Grundforderung lauten, deren Verwirklichung freilich stets nur bruchstückweise und annähernd gelingen wird. Aber nıemals waren die Bedingungen einer rationellen Berufseinweisung so günstig wie gegenwärtig, wo eine Fülle Kriegsverletzter sich der Notwendigkeit eines Berufswechsels gegenüber sieht und wo auch die Arbeitgeberverbände sowie die staatlichen Organisationen den Bestrebungen der Ansiedelurg in neuen Berufen wohlwollend, ratend und helfend gegenüberstehen.

Die Feststellung der Kenntnisse ist in einem Lande wie Deutsch- land nicht allzuschwer, da alle Kenntnisse und Fertigkeiten meistens verbrieft und versiegelt vom Inhaber in der Tasche mitgeführt werden können. Ungleich wertvoller und schwieriger ist aber die Diagnose der Fähigkeiten, die ohne fachmännische Spezialuntersuchung des Psychologen kaum oder nur oberflächlich durchführbar ist, so daß dann die Berufsberatung Gefahr läuft, nicht fördernd, sondern schä- digend zu wirken. Sind gute Fähigkeiten vorhanden und ein fester Wille sie auszunutzen, so kann über viele Lücken in den Kenntnissen und Fertigkeiten hinweggesehen werden, da nun ein Berufswechsel kei- nen Gefahren ausgesetzt ist. Wird aber umgekehrt ein falscher Weg gewiesen, so sind materiell unnötige Opfer vergebens gebracht und ideell ist Enttäuschung und Verdruß, ja Arbeitsunlust bei dem ein- gezogen, den arbeitsfroh und berufsfreudig zu machen alle Welt sich bemühte.

Durch exakte Analyse ist zunächst die Arbeitsfähigkeit des Patienten überhaupt festzustellen, was für geistige und körperliche Beanspruchung gilt. Wir gewinnen dann einen Einblick in die Kräfte- bilanz des Stoffwechsels sowie in die Willensqualitäten des Prüflings, was äußerst wertvoll ist. Stets sind bei jeder Arbeit gewisse formale Faktoren in gleicher Weise vorhanden. Stets gehört zur fortlaufen- den Arbeit eine gewisse Größe und Dauer der Willens- und Auf-

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merksamkeitsspannung, ein bestimmter Grad von Widerstandsfähigkeit gegen die Ermüdungssymptome, soll der Verlauf der Arbeitskurve rentabel sein im Sinne des Unternehmers und normal im Sinne der psychologischen Gesetzmäßigkeit. Wir werden bald die zweckvollste Teilung zwischen Arbeit und Ruhe bei einem Patienten feststellen oder anordnen können, damit er imstande ist, einen ganzen oder halben Arbeitstag mit leichteren oder schwereren geistigen oder körper- lichen Beschäftigungen zu verbringen.

Zu den formalen Anforderungen, die jede Arbeit an uns stellt, ge- sellen sich besondere, die durch die einzelnen Betriebsarten und Berufs- gattungen gegeben sind. Für die niederen Berufe kommt vor allem die Fähigkeit zu bestimmten Einzelverrichtungen in Betracht, die nur auf der Grundlage leistungsfähiger Organe und hinreichender Willens- qualitäten möglich sind. Ist die Tätigkeit derart, daß besonders Auge oder Ohr in Frage kommen, also optische oder akustische Qualitäten, oder die manuelle Betätigung irgend einer Art, so werden wir die Ausbildung dieser Empfindungsqualitäten des Organes oder der Organ- systeme festzustellen haben, damit der Beweis erbracht ist, der An- wärter, meistens doch ein ausgewachsener Mann, verfügt überhaupt über hinreichend feine Empfindungen auf einem bestimmten Sinnes- gebiete, ohne die eine spezielle, berufliche Tätigkeit unmöglich oder unrentabel wird. Weiter ist nun die Ermüdbarkeit dieser be- stimmten Empfindungssysteme festzustellen, da große Augen- oder ÖOhrermüdung oder baldiges Nachlassen kinästhetischer oder taktiler Qualitäten die Ungeeignetheit des Anwärters für einen speziali- sierten Beruf ebenfalls beweist. Die hohe Arbeitsteilung des Wirt- schaftslebens stellt an viele Arbeiter in der Tat ganz bestimmte, eng umgrenzte Spezialforderungen, deren Befriedigungsmöglichkeit durch ihn ohne weiteres durch die psychologische Untersuchung fest- zustellen ist, noch ehe eine einzige Arbeitswoche in dem neuen Be- rufe vergangen ist. Die tatsächliche Erfahrung wird in den meisten Fällen der wissenschaftlichen Begutachtung recht geben.

Besondere Eigenschaften sind auch erforderlich, wenn wir uns den höheren und höchsten Berufen zuwenden. Nicht einige wenige, oft winzig kleine, spezielle Funktionen kommen nun in Betracht, son- dern meistens eine allgemeine geistige Beweglichkeit und Anpassungs- fähigkeit überhaupt. Hier ist nicht ein Pensum zu erledigen, das beinahe reflektorisch nach hinreichender Übung abläuft, sondern es ist die Nötigung zu selbständiger Gedankenarbeit, zu eigenen Syn- thesen intellektueller Art gegeben, deren Möglichkeit nun ebenso die Vorbedingung zu einer ersprießlichen Berufsbetätigung ist und depen

Moede: Untersuchung und Übung des Gehirngeschädigten usw. 15

Prüfung dem Fachpsychologen zufällt. Auch hier sind gute Methoden ausgebildet, um vorhandene Fähigkeiten zu aktiven Gedankenverbin- dungen festzustellen, genau wie wir die Möglichkeit zu einfachen senso- motorischen, also Empfindungs-Bewegungs-Leistungen diagnostizieren, ja mit Maß und Zahl werten können. Viele Betriebe, die zu ihrer Jeitung nur Männer mit hochorganisierten intellektuellen Funktionen brauchen können, haben meistens auch eine so erhebliche Arbeitsteilung, daß an den einzelnen Posten auch solche Invaliden beschäftigt werden können, die nur ein intellektuelles Leben von begrenzter Leistungsfähig- keit aufweisen, dessen Verheerungen auf den ersten Anblick erschreckend zu sein scheinen. Einfache geistige Beschäftigung, die bei hinreichen- der Übung bald mechanisch wird und sich in ihrer allgemeinen Ver- laufsform stets wiederholt, können viele Gehirngeschädigte, etwa Kopf- schüßler, dennoch ohne weiteres verrichten, falls Ruhe und Beschäf- tigung im richtigen Ausmaß miteinander abwechseln.

Neben der Ermüdbarkeit ist die Übungsfähigkeit eine Grund- qualität der individuellen Arbeitsfähigkeit. Erst wenn wir uns durch unsere Untersuchung überzeugt haben, daß Übungsfähigkeit in be- stimmtem Grade vorhanden ist, werden wir mit gutem Gewissen den Rat zu einem Berufswechsel und zu einer Einarbeitung in andere Verhältnisse geben, die eben erfolgreich nur auf der Grundlage einer Übungsfähigkeit von bestimmter Größe geschehen kann, da sonst der Übungsprozeß, den der neue Beruf verlangt, von vornherein aussichts- los erscheint. Kennt der Psychologe die Anforderungen an Körper und Geist, die die einzelnen Berufe verlangen, teilt ihm der Fabri- kant, der Meister oder der erfahrene Arbeiter die Fähigkeiten mit, die zur rentablen Betätigung in einem bestimmten Fache nötig sind, oder studiert er selbst, autoptisch, die Bedingungen der Berufsarbeit in bestimmten Betrieben, so muß er sehr bald in der Lage sein, anzu- geben, welche Eigenschaften in erster Linie vorhanden sein müssen und auf welche Weise er sie in Anlehnung an die tatsächlichen Arbeitsverhältnisse am besten prüf. Dann wird sein Gutachten über einen Prüfling, der im Wirtschaftsleben sich betätigen will, von segensreicher Bedeutung sein, da nun für seine Verwen- dung in einem Betriebe bestimmter Art keine Schwierigkeiten ent- stehen können, wenn zu den speziellen Fähigkeiten, die nötig sind, auch die Bedingungen jeder erfolgreichen Arbeit überhaupt hinzu konmen, zu denen freilich auch Fleiß, Ordnungsliebe und andere ethische Qualitäten gehören, soll neben der Leistungsmöglichkeit auch die tatsächliche Leistung im Verlaufe längerer Zeiträume voll- wertig und im Sinne des Unternehmers rentabel sein.

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II. Die Übungstherapie der Bewußtseinsfunktionen.

Der Schwerpunkt der psychologischen Tätigkeit muß neben der Untersuchung mit den besonderen Nutzanwendungen der Rentierung und Berufsberatung in den therapeutischen Bestrebungen gelegen sein, deren die Gehirngeschädigten bedürfen. Denn durch eine gute Behandlung ist eine Besserung und Heilung des Kranken möglich, so daß nun ein Berufswechsel nicht mehr nötig ist und die Rente ganz gespart oder doch beträchtlich vermindert werden kann. Ist aber dennoch ein Berufswechsel erforderlich, so ist durch die Funktionsübung eine starke geistige Anregung und intellektuelle Be- weglichkeit gewirkt, deren heilsame Folgen nicht ausbleiben werden, wenn es nun gilt, sich in neue Verhältnisse hineinzufinden. Für die Therapie wird das Laboratorium von neuem eine wertvolle Hilfe des behandelnden Arztes oder des Erziehers. Es ist der geeignete Ort, wo eine systematische Übungstherapie des gesamten Bewußtseins und seiner Funktionen durchgeführt werden kann. Wie der Grundgedanke aller Untersuchungsmethoden darin gelegen ist, möglichst mit Maß und Zahl eine seelische einfache oder komplexe Funktion zur Dar- stellung zu bringen, so ist bei allen Heilbestrebungen des Psycho- logen die systematische und methodische Übung das gemeinsame Grundprinzip, dessen Fruchtbarkeit durch kaum ein anderes über- troffen werden kann. Ist der Patient oder der Zögling übungsfähig, so wird er dem Übungssaal überwiesen, wo nun teilweise mit Hilfe experimentell psychologischer Instrumente teils ohne besondere Apparatur eine eingehende psychische Übungstherapie durchzuführen ist. Stets wird dem Übungskursus eine Untersuchung vorausgehen, und der Gang der Behandlung wird durch periodische Untersuchungen zu kontrollieren sein, so daß die Veränderung der Funktionen durch die Therapie jederzeit einwandsfrei feststeht. Damit ist auch die Ge- fahr einer Überanstrengung des Kursisten beseitigt. Die Anfangs- untersuchung wird die Übungsfähigkeit des Klienten sicherstellen und durch Ermüdungsmessungen wird sich auch die rechte Dosierung zwischen Arbeit und Ruhe, also die zweckmäßige Dauer und Häufig- keit der Übungen sehr bald ableiten lassen. Da stete exakte Kon- trollen zu allen Zeiten des Kurses vorhanden sind, können Schädi- gungen nicht eintreten.

Die Übung ist eins der gesichertsten physiologischen und thera- peutischen Prinzipien. Die Tatsache der Übung besagt, daß von jeder Erregung in der organischen Substanz Spuren zurückbleiben, die im Stoffwechsel beharren und so geartet sind, daß sie gleiche

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oder ähnliche Reaktionen quantitativ und qualitativ besser ablaufen lassen. Die Tatsache des Nachwirkens gilt nun für die organische Substanz überhaupt, so daß eine Übungsfähigkeit für jede Zelle, für jedes Gewebe und für alle Gewebesysteme besteht. Wir können die Therapie daher auf alle Organe des Menschen ausdehnen und können gewiß sein, daß alle Funktionen dadurch qualitativ und quantitativ besser werden. Neben der funktionellen Erleichterung und Besserung tritt eine erhöhte Ernährung des beanspruchten Gewebes ein, außer- dem sind Zellproliferationen, also Wachstumserscheinungen, beobachtet worden.

DieReizung durch fortlaufende Beanspruchung wirkt demnach funk- tionell, formativ und nutritiv, wie Virchow lehrt. Denken wir an die Muskelübung. Der untätige Muskel wird funktionell schlechter. Alle Leistungen werden quantitativ und qualitativ, an Menge und Güte zurückgehen, die Substanz selbst schrumpft und zeigt Rückbildungs- erscheinungen. Wie anders dagegen ist das Bild bei systematischer Übung! Nur hier wird quantıtativ und qualitativ stete Besserung beobachtet, die erhöhte Durchblutung regt Wachstumsvorgänge mannigfachster Art und eine erhöhte innere Differenzierung und Organisierung des Gewebes an. Erlernen wir neue Bewegungs- koordinationen, Radfahren, Schwimmen u. a., so wird dieser Pro- zeß der fortgehenden Übung und wachsenden Organisierung der Leistung und ihrer nervösen Grundlage sehr gut beobachtbar. Zuerst sind wir unbeholfen und ungeschickt, vollführen die Arbeit sehr schlecht, brauchen großen Zeit- und Energieaufwand für die kleinsten Leistungen und sind bald erschöpft von Bemühungen, deren objektiver Wert zunächst lächerlich gering ist. Allmählich aber wächst die Be- herrschung der Bewegungskoordination, wir streben einem energetischen Minimum der Beanspruchung der nervösen Substanz zu, indem wir mit kleineren Energiemengen zunehmend mehr und Besseres leisten. Schließlich setzt eine Mechanisierung des zunächst mühsam Gelernten ein, und automatisch, lediglich auf einen zentralen Impuls hin, wird die gesamte Tat fehlerfrei und mit maschineller Sicherheit vollführt. Der Prozeß der wachsenden Organisierung unseres Bewußtseins bringt es mit sich, daß täglich und stündiich funktionelle Leistungen einfacher und komplexer Art sich zu Verlaufsformen umbilden, die zuletzt den Charakter einer halbbewußten Handlung tragen.

Diese Tatsachen können wir nun auch ganz allgemein in der Sprache der mathematischen Formel ausdrücken. Wir nehmen an, daß zunächst einem Reize R eine Erregung E entspricht:

R E Zeitschrift für Kinderforschung. 22. Jahrgang. 2

18 A. Abhandlungen.

Wird die Reizung wiederholt, so genügt nun schon ein Teil der ursprünglichen Energie, um den ganzen Effekt E zu erzielen. Wir erhalten also:

R-—-ıx->E Trifft aber dennoch der Originalreiz R den Organismus, so kann er nun mehr leisten, was wir in der Beziehung darstellen können: R->E+a+b-+e+H....

Schließlich wird durch fortlaufende Übung ein Bruchteil des ursprüng- lichen Reizes imstande sein, ganze Ketten von Erregungen auszulösen, so daß wir nun die Beziehung haben:

\v e ANIS NI

R— nx> E +a b c

AN, AS. SAN In Worten besagt diese Kräfterelation: Wachsende induzierte Energie bei schwindenden induzierenden Kräften oder: Wachsende Produktion bei geminderter Induktion oder auch: Wachsende Leistung bei sich mindernder Zufuhr! Ob das Ende eines Übungsprozesses jemals erreicht wird, kann nicht ohne weiteres gesagt werden, da nach einigen Forschern die Erleichterung und Verbesserung der Leistung bis ins Unbegrenzte fortgeht. Für die Praxis freilich ergeben sich keinerlei Schwierigkeiten. Denn dort ist lediglich darauf zu achten, wann nach dem ersten steilen Anstieg der Übungskurve der ruhigere und bei weitem geringere Fortgang erfolgt, der dann schließlich eine praktisch nicht mehr greifbare Verbesserung aufweist. Die allgemeine Verlaufsform der Übungsprozesse überhaupt gibt uns einen guten Wegweiser für die Praxis, da wir nun nicht Gefahr laufen, die Übung allzufrüh abzubrechen oder sie unnötig lange fortzusetzen.

Die Zweckmäßigkeit der Übungsprozesse für den Organismus ist ersichtlich. Denn nur durch die wachsende Mechanisierung der Pro- zesse werden neue Energien für neue Lebensaufgaben frei, denen sonst der ringende Organismus im Kampfe ums Dasein nicht ge- wachsen wäre.

Diese Teleologie oder Zielstrebigkeit der Übung zeigt sich be- sonders auch durch die Tatsache der affektiven Gewöhnung, die nur eine besondere Form der allgemeinen Gesetze des Nachwirkens einer Reizung auf dem Gebiete des Gefühlslebens darstellt. Trifft uns ein gefühlsbetonter Reiz, etwa ein starker Schreckreiz, so wird unsere erste Reaktion auf die ungewohnte Erregung ungewöhnlich groß sein. Bald aber wird bei Wiederholung des gleichen und ähnlicher Reize die Reaktion des Bewußtseins kleiner und kleiner, da wir uns nun zunehmend auch an das Unangenehme gewöhnen. Die Quittungen unseres Bewußt-

Moede: Untersuchung und Übung des Gehirngeschädigten usw. 19

seins auf schreckhafte und gefühlsbetonte Reize, wie sie in den Gefühlen und Gemütsbewegungen vorliegen, werden immer geringer und schwä- cher, so daß uns schließlich auch starke Erregungen wenig rühren oder ganz kalt lassen. Diese Tatsache der affektiven Gewöhnungs- fähigkeit ist therapeutisch ebenfalls nicht zu unterschätzen.

Gilt das Gesetz der Übungsfähigkeit für alle Organe und Organ- systeme, besonders aber für die nervöse Substanz, so dürfen wir nicht zögern, die therapeutischen Folgerungen zu ziehen oder besser die Folgerungen, die von der Medizin bisher schon gezogen wurden, systematisch zu erweitern und zu vervollkommnen. Wir stellen als umfassendstes Programm die Übung aller Bewußtseinsfunktionen auf und setzen diese in Parallele zur systematischen Übung aller Körperfunktionen, die meistens auch ohne Bewußtseinsanteile nicht denkbar sind.

Nur ein kleiner Teil der Forderung ist bisher erfüllt, so daß es der zukünftigen Organisation überlassen bleibt, den größeren und keineswegs unbedeutenderen Rest des Programmes zum Heile der Gehirnbeschädigten auszuführen. Anfänge freilich sind auch hier schon an den verschiedensten Orten mit guten Erfolgen gemacht worden.

Gelenk- und Muskelübungen, körperliche Gymnastik also, sind für viele Gelenk- und Muskelschädigungen ein so allgemein anerkanntes und auch durchgeführtes Behandlungsprinzip geworden, daß die Zander- institute im Rahmen der Kriegsverletztentberapie eine hervorragende Stellung allerorten einnehmen. Als Ergänzung der körperlichen Gym- nastik sind oftmals Werkstätten für Heilbeschäftigung eingerichtet worden. Die Aufgabe des Arbeitsunterrichtes ist es, nicht bloß kom- pliziertere Gebrauchsbewegungen der Glieder allmählich heranzubilden, sondern auch eine heilsame Wirkung auf das gesamte Bewußtsein auszuüben. Die Selbsttätigkeit, besonders als manuelle Betätigung, das eigene Schaffen und Arbeiten, das ohne Sinnesfunktionen und Bewegungskoordinationen nicht möglich ist, ist ja auch pädagogisch, gerade in der Gegenwart, als ausgezeichnetes erzieherisches Prinzip anerkannt. Freilich wird bei den Schulmännern die Arbeitsschule nicht bloß material als Handfertigkeitsunterricht gedacht und einge- ` richtet, sondern weit über diese Grenzen hinaus wird die Arbeit und Selbsttätigkeit als formales Bildungsprinzip hochgeschätzt, das besonders auch für das geistige selbsttätige Schaffen hohe Bedeutung hat.

Die Allmacht der Übung wurde durch keinen Geringeren als Frenkel der staunenden Welt eindringlich vorgeführt. Er entwarf als erster einen systematischen Lehrgang für Bewegungskoordinationen

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bei Tabikern, der auch die schwersten Fälle zu Zielbewegungen taug- lich machen muß. Der Triumphzug seines Systems verbreitete seinen Ruhm durch die gesamte Kulturwelt.

Er hat eine doppelte Form der Übung als Behandlungsprinzip eingeführt, theoretisch begründet sowie praktisch erprobt, und sein System wurde damit grundlegend für die Therapie aller nervösen Störungen überhaupt. Zunächst verwendet er eigentliche und unmittelbare Übung der Empfindungsreste, die nur bei leichteren Fällen möglich ist, da dort schwache kinästhetische Empfindungen in den Gelenken und Muskeln noch vorhanden sind. Diese Rudimente durch besondere Übungen auszubilden, ist in vielen Fällen möglich. Zweitens aber führt er kompensatorische Übung durch. Sind die sensiblen Schäden zu groß, so züchtet er durch systematische Übung kortikale Äquivalente, Ersatzmannschaften des Gehirns, die nun statt der ausgefallenen Empfindungen die Bewegungskoordi- nationen, Ziel- und Gebrauchshandlungen, ermöglichen. Gerade die kompensatorische Übung ist bei vielen nervösen Schäden sehr frucht- bar, da die Stellvertretung ein allgemeines Prinzip der Funktion des Zentralnervensystems ist.

Eine besondere Stelle nehmen von jeher die Sprachübungen ein, die in systematischer Weise vor allem von Gutzmann entwickelt und erfolgreich angewendet werden. Hier sind Atem-, Stimm- und ‚Artikulationsübungen im Verlauf des Kurses vorgesehen, und es ist ‚ein genauer Lehrgang ausgebildet, dessen Güte durch vieljährige Er- folge bewiesen ist. Besonders sind seine Bemühungen hervorzuheben, möglichst mit Maß und Zahl durch exakte Hilfsmittel die Güte der einzelnen Leistungen des Sprechmechanismus zu bestimmen, damit über den Fortgang der Übungstherapie kein Zweifel bestehen kann.

Wir müssen den Ring schließen und auch die Übung anderer geschädigter Bewußtseinsfunktionen tatkräftig durchführen, deren syste- matische Entwicklung keineswegs größeren Schwierigkeiten begegnet. Die Erfolge, die wir in unserer Praxis auch mit solchen erweiterten Übungskursen hatten, sind doch so erfreulich, daß die Fruchtbarkeit des bewährten Übungsprinzipes für alle Bewußtseinsfunktionen sicher gestellt sein dürfte.

Halten wir fest an dem Programm einer Übung aller Bewußt- seinsinhalte und aller Bewußtseinsfunktionen, die geschädigt sind, so ist die klare und deutliche Aufgabe, die damit dem Psychologen und Pädagogen erwächst, unschwer zu umreißen. An erster Stelle im System haben die Übungen der Empfindungssysteme zu stehen. Unter den Empfindungen nehmen die kinästhetischen eine besondere

Moede: Untersuchung und Übung des Gehirngeschädigten usw. 21

Rolle ein, da die normalen Ziel- und Zweckbewegungen der Glieder im täglichen Leben ohne diese Empfindungen der Gelenke, Muskeln und Bänder nicht möglich sind, deren Stärkung damit vor allem nahe ge- legt wird. Die Behandlung der Ataxie hatte schon durch Frenkels Bemühungen bei schweren organischen Rückenmarkschäden ausge- zeichnete Erfolge, so daß eine Übungshandlung auch bei anderen or- ganischen Schäden, etwa Kopfschüssen, oder funktionellen Störungen, etwa hysterischer Art, ebenfalls gute Erfolge verheißt, genau wie die Sprachübungen bei den mannigfaltigsten organischen Störungen und gerade auch hysterischen Hemmungen mit gutem Ergebnissen durchzu- führen sind. Diese kinästhetischen werden Hand in Hand zu gehen haben mit Innervationsübungen, wobei wir unter Innervation die zen- tralen Willensimpulse zusammenfassen wollen, die neben den sensori- schen und reproduktiven Anteilen, also Empfindungs-, Vorstellungs- und Gedächtnisfaktoren, bei jeder Bewegung beteiligt sind. Reizungs- erscheinungen sind ebenso wie die Ausfallsschäden sehr wohl durch Übung besserungsfähig, wie die Erfahrung lebrt. Die Entwicklung der Prüfungs- und Übungsmethoden und auch die Entscheidung dar- über, ob entwickelnde oder kompensatorische Übung einzutreten hat, kann dem Fachmanne nicht schwer fallen, der neben allgemeinen Grundsätzen auch die Anpassung der Therapie an die individuelle Natur des Leidens zu beachten hat.

Empfindungsübungen setzen sich ohne weiteres fort in Übung der Vorstellungen und Vorstellungsabläufe passiver und aktiver Art. Neben die Sinneswahrnehmung und ihre Ausbildung durch die An- schauung tritt die Kultur der komplexeren intellektuellen Bewußt- seinsinhalte und Funktionen. Die Erziehung aktiver Gedanken- bewegungen ist ebenso gut durchführbar wie die Ausbildung des mechanischen Vorstellungsablaufes, den wir als Gedächtnis und As- soziation zu bezeichnen pflegen. Kurz, Aufmerksamkeits- und Ge- dächtnisübungen oder intellektuelle Betätigung mannigfachster Art nach besonderen Methoden durchzuführen, ist eine verheißungsvolle Aufgabe, deren Erfolge hinter denen der körperlichen Gymnastik nicht zurückstehen.

Neben dem intellektuellen ist das emotionale oder Gefühlsleben zu entwickeln. Schreckgewöhnung verlangt z. B. Ziehen bei hysteri- schen Störungen. Gerade die Gefühle, die doch die Reaktionen des Be- wußtseins auf die Reize der Außenwelt darstellen, sind fast stets von vasomotorischen Erscheinungen, Veränderung von Puls und Atmung begleitet, auf die einige Forscher die Gefühle überhaupt zurückführen wollen. Stärkung der Vasonıotoren durch systematische Schreckgewöh-

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nung durchzuführen, begegnet keinen Schwierigkeiten. Wenn wir z. B. auf einen schreckhaften Patienten einen starken Schallreiz plötzlich ein- wirken lassen, so sind in vielen Fällen beträchtliche Erregungen, ja krampfartige Zuckungen zu beobachten. Man kann nun allmäblich die Schallstärke verringern und diejenige Größe des Geräusches festlegen, die gerade noch ohne Chokwirkung ertragen wird. Nun lassen wir den Patienten täglich üben und immer, etwa am Schallpendel, die- jenige Reizgröße einstellen, die er eben noch erträglich empfindet. Durch Übung wird diese Grenze nach oben verschiebbar, so daß schließlich auch starke, plötzlich ohne Erwartung der Patienten ein- wirkende Schallreize keinerlei Reizungssymptome mehr nach sich ziehen.

Neben der Gewöhnung an einfachste schreckhafte Reize können wir auch an die Gewöhnung an Ärger und Verdruß denken, die im täglichen Leben nicht ausbleiben. Der Patient wird dann, wie Ziehen will, angeregt, falls er genügend widerstandsfähig ist, sich ein wenig um seine Geschäfte zu kümmern oder die Familienangelegenheiten allmäblich wieder selbständig zu regeln und zu leiten. Freilich ist nun eine geeignete Dosierung nicht mehr so einfach anzubringen, aber das Grundprinzip der Steigerung der Belastung des Bewußtseins kann vielleicht auch hier verwirklicht werden.

An die Übung des emotionalen schließt sich die Stärkung des impulsiven Lebens. Willensübungen können mannigfach angestellt werden. Ihr Ziel ist, die Willensleistung allmählich quantitativ und qualitativ zu steigern, so daß schließlich eine gleichsam unendliche Arbeitskurve möglich ist, wie sie das berufliche Leben von uns ver- langt. Dann ist eine bestimmte Betätigung körperlicher oder geistiger Art bei angemessener Arbeitsweise gleichsam unbegrenzt durchzu- führen, da nun im Laufe des Arbeitstages störende Ermüdungs- erscheinungen, die über das normale Maß hinausgehen, nicht mehr zu beobachten sind.

Wir sehen also, daß, so leer und formal das allgemeine Übungs- prinzip ist, es ebenso bunt und mannigfaltig wird, wenn wir an die konkrete Übung der einzelnen Seiten des Bewußtseinslebens heran- treten. Die Psychologie und Pädagogik haben zur Prüfung und Übung der einzelnen Funktionen eine Fülle von besonderen Methoden ent- wickelt, deren segensreiche Wirkung auf das kranke Bewußtsein nicht ausbleiben kann, wenn in zweckmäßiger Form die Übungstherapie durchgeführt wird.

Der allgemeine Gang des Kurses ist in großem Umriß durchaus gleichartig. Die allgemeine Funktionserleichterung bei wiederholter gleicher und ähnlicher Reizung, die auf der Tatsache des Nachwirkens

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beruhte und die in jener allgemeinen energetischen Grundrelation jeder Übung ihren Ausdruck fand, setzt sich gleichsam von selbst in Forderungen der Therapie um. Wiederholung des Gleichen, Fort- schreiten vom Einfachen zum Schwierigeren, das sind methodische Grundregeln, die sich aus jener Grundgleichung mit zwingender Not- wendigkeit ergeben, wollen wir die Übungstherapie an die allgemeine Gesetzmäßigkeit der nervösen Substanz eng anpassen. Freilich ist es dazu nötig, die Funktion in ihrem ganzen Umfange und ihrer ganzen "Breite genau zu kennen, wenn wir nicht verhängnisvolle Irrwege wandeln wollen. Das Gedächtnis z. B. zeigt als einfachste Leistung viele mechanische Funktionen einfacher assoziativer Betätigung, die mit einem energetischen Minimum verknüpft sind und von denen wir auszugehen haben. Schreiten wir fort zur eigentlichen Lernarbeit, so werden wir das Wiedererkennen als einfachste Leistung an den Anfang zu stellen haben, an das sich die gestützte und dann erst die freie Reproduktion als eigentliches Können eines gelernten Stoffes an- schließt, das dem populären Bewußtsein erst als eigentliche Gedächt- nisleistung imponiert. Besondere und individuelle Therapie ist in vielen schweren Fällen nötig. Natürlich gilt es stets auch hier, die Reste aufzusuchen, die vorhanden sind, und auf der Grundlage dieser stehen gebliebenen Stümpfe und Reste den weiteren Aufbau zu be- ginnen. Ohne eingehende Untersuchung ist daher eine fruchtbare und wissenschaftliche Übung nicht durchführbar.

Schließlich ergibt sich als methodisches Hilfsprinzip: Alle Übungen interessant zu gestalten. Wir werden nicht nur geeigneten Stoff zur Übung nehmen, der dem bisherigen Milieu des Patienten nahe liegt, z. B. Associationen aus dem Landleben bei bäuerlicher Her- kunft des Patienten, sondern auch die Fülle der kollektiven Fak- toren nicht außer Acht lassen, die gerade durch das soldatische Leben oder die Gemeinschaftserziehung gegeben sind. Wir erinnern an den Ehrgeiz, den Wetteifer, die gemeinsame Arbeit Vieler auch bei geistiger Beschäftigung, die in vielen Fällen noch möglich ist, wo die Einzeltat gar nicht hervorzulocken ist oder nur dürftig ausfällt, und die zum Zwecke der allmählichen Leistungssteigerung nicht zu unter- schätzen ist. Wir werden daher Chorlernen veranstalten oder Wett- arbeit anregen und was dergleichen Kunstgriffe mehr sind.

Nun erhebt sich die Frage: Wann sind solche Übungen der Bewußtseinsfunktionen zu verordnen und durchzuführen? Zunächst bei allen organischen Schäden verschiedenster Art und Größe, so wird die Antwort lauten. Es wird kaum Widerspruch erregen, wenn die Behauptung aufgestellt wird, daß hier in den meisten Fällen die

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Übung die einzige, überhaupt mögliche Behandlungsweise ist. Der motorische Aphatiker muß eben üben und die Sprache von Grund aus neu lernen. Das gleiche gilt von anderen motorischen Störungen sowie von Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsdefekten infolge zentraler Schäden. Dem Arzt gebührt naturgemäß das entscheidende Wort, ob der Zeitpunkt gekommen ist, wo die Ruhe durch angemessene Be- tätigung körperlicher oder geistiger Art unterbrochen wird, und es kann auch von ihm eine besondere Arbeitsfähigkeitsuntersuchung oder längere Beobachtung angeregt werden, damit sich ganz einwandsfrei die Zweck- mäßigkeit und Möglichkeit des Übungsbeginnes ergibt.

Die Wunder der Übung und ihre Bedeutung für Differenzierung der nervösen Substanz lehrt eindringlich der Entwicklungsgang des Kindes. Auch beim Kinde will diese Entwicklung systematisch ge- leitet sein und zwar ist es zunächst die Familie, dann die Schule und schließlich das Leben oder die Individualität selbst, die die Erziehung und Unterweisung übernehmen. Das Kind ist ataktisch und aphasisch, erst ganz allmählich lernt es stehen und gehen und alle anderen Gebrauchsbewegungen der Gliedmaßen und erst ganz allmählich bildet sich auch die Sprache heran unter steter Wechselwirkung zwischen dem kindlichen Bewußtsein und seinem Milieu. Ruhe würde hier den Tod der Entwicklung und geistige Verödung bedeuten. Goldstein berichtet ebenfalls von Gehirnverletzten, die durch Dauerruhe eine „wachsende Verödung des Bewußtseins erlitten, außerdem scheu und unfähig zum Gemeinschaftsleben wurden. Hier ist eben die rationelle Übung die einzig mögliche Behandlungsform, um das Bewußtsein und seine Funktionen zu bilden und zu entwickeln.

Die pädagogische Praxis lehrt, daß sogar bei schweren Entwicklungs- hemmungen der Debilität und Imbecillität durch systematische Arbeit wesentliche Fortschritte erzielt werden können. Wie viel leichter muß die Behandlung sein und wie viel größer ihre Erfolgschance, wenn nicht Gehirnsieche, sondern Gehirnkrüppel, Kriegsverletzte, das Objekt der Übung sind, die bis zu ihrer Verwundung gesund waren und ein vollwertiges Gehirn besaßen, die weiterhin meistens in der Vollkraft der Jahre stehen und deren Schäden oftmals nur von eng umgrenzter Ausdebnung sind. Sie gehen mit Eifer und Interesse an die Arbeit, da ihnen selbst die Heilung oder Besserung sehr am Herzen liegt, um wieder arbeits- und genußfähige (lieder des Gemeinschafts- lebens zu werden. Die Nachwirkung der Übungen ist aber ungleich größer, wenn der Kursist mit Lust und Liebe zur Sache an die Arbeit geht, als wenn nur mit Widerwillen und Unbehagen für die Schule oder den Lehrer die vorgeschriebene Aufgabe erledigt wird.

Moede: Untersuchung und Übung des,Gehirngeschädigten usw. 25

Betrachten wir nach den organischen die funktionellen Schäden, so liegen die Verhältnisse etwas anders. Hier ist die systematische Übung eines der vielen Behandlungsprinzipien, die alle durch die Tatsächlichkeit der Erfolge ihre Daseinsberechtigung erworben haben. Wir nennen bei der Therapie der Hysterie, die besonders häufig an- zutreffen ist, physikalisch diätetische Kuren, elektrische Behandlung, Wach- und in der Hypnose gegebene Suggestionen, die Metalltherapie u.a. Doch maßgebende Psychiater empfehlen auch hier die Übungs- therapie. Ziehen z. B., dem eine gute Erfahrung zu Gebote steht, wünscht für die Kranken eine Beschäftigung, deren Ausführung man nach Quantität und Qualität kontrollieren kann. Keine zweite Form der Beschäftigung aber kann quantitativ und qualitativ so genau dosiert und gemessen werden wie die Funktionsübung nach experimentellen Methoden der Psychologie und Pädagogik. Wir sind hier in der Lage, körperliche und geistige Tätigkeit im angemessenen Wechsel einander folgen zu lassen, können die Schwierigkeit der Leistung stufenweise erhöhen und haben stets ein einwandfreies, nicht von willkürlicher Schätzung abhängiges, mit Maß und Zahl begründetes Urteil, wie die jeweilige Leistung beschaffen ist, in ihrem Ausmaß schwankt und durch die Therapie günstig verändert wird. Auch bei besonderen Störungen auf hysterischer Grundlage, etwa Lähmung und Ataxie, empfiehlt Ziehen wie auch Lazarus u. a. Übung systematischer Art. Die Erfolge der Übung dürften kaum hinter anderen Behandlungs- weisen zurückstehen, wobei noch die harmlose Natur der ganzen Be- handlungsform hervorzuheben ist, während gerade andere Maßnahmen, wir erinnern an die Therapie der Gewaltakte durch starke Faradisation oder schreckhafte Douchen, nicht ungefährlich sind und nur von dem erfahrenen Nervenarzte angewendet werden dürfen.

Wir konnten feststellen, daß auch bei allgemeiner Hemmung aller Bewußtseinsfunktionen durch systematische Übung sehr gute Fortschritte erzielt werden konnten, die in vielen Fällen lebhaft ge- nannt werden mußten, wo andere therapeutische Prinzipien ihre Un- zulänglichkeit erwiesen und den Kranken nur hartnäckig und ver- stockt gemacht hatten. Die heilsame Wirkung der objektiven Be- schäftigung mit den Dingen, die mit dem Ich und seinen mannig- fachen Beschwerden nichts zu tun haben, bleibt bei vielen funktionellen Erkrankungen nicht aus, wie besonders auch Ziehen hervorhebt. Nun wird die egozentrische Weltanschauung, wo das Ich und seine Beschwerden im Mittelpunkte aller Interessen und Gedanken steht, allmählich abgebaut. Der Kranke sieht sich täglich vor eine konkrete Aufgabe gestellt, der er gewachsen ist, und die Erfüllung des Auf-

26 A. Abhandlungen.

trages und die Erreichung des Zieles lassen allmählich ein wachsendes Gefühl eigener Leistungsfähigkeit aufkommen, das neben der ab- lenkenden Wirkung der Arbeit nicht zu unterschätzen ist. Oft sahen wir, wie froher Sonnenschein und lachendes Frühlingswetter in ein Gemüt einzog, wo bislang nur tiefe Verschlossenheit, Stumpfheit und Resignation herrschte.

Es ist ein Grundgesetz des menschlichen Geisteslebens, daß die Übung sich stets weiter ausdehnt und stets mehr Wirkungen hinter- läßt, als zunächst beabsichtigt wird. Die Kräftigung greift über die zunächst beanspruchte Funktion weit hinaus, da auch alle Funktionen und Betätigungen verwandter Art gleichzeitig mitgeübt werden. Ein Aufmerksamkeitsfaktor z. B. steckt in jeder Arbeit, mag sie nun Gedächtnisleistung oder Gedankensynthese sein. Üben wir nun die Aufmerksamkeit, so haben wir damit auch die anderen geistigen Be- tätigungen ebenfalls gefördert, und zwar ist der Grad der Gemeinsam- keit der Leistungen, ihre Verwandtschaft also, ein Maß der Mitübung, die stets gleichzeitig mit erreicht wird. Es greift aber die heilsame Wirkung der Arbeit auch auf das Gefühlsleben über, so daß wir er- kennen müssen, daß unsere Rechnung allenthalben mit einem Plus abschließt, wodurch die Therapie noch mehr empfohlen wird.

Dies Prinzip der Übung der geistigen Kräfte ist ein alter Er- ziehungsgrundsatz, der das gesamte öffentliche Erziehungswesen seit etwa hundert Jahren beherrscht. Er wurde für die höheren Schulen durch Humboldt und für die Elementarbildung durch Pestalozzi ein- geführt. Wir sollen den Schwerpunkt der Bildung nicht auf den Er- werb spezieller Kenntnisse und Fertigkeiten legen, so lehren diese Männer, sondern auf die Ausbildung der Kräfte überhaupt. Da nun das Gesetz der Mitübung des Verwandten besteht, so werden wir Freude am Zögling auch dann erleben, wenn ganz andere Aufgaben im Leben an ihn herantreten, als wie er in der Schule zu bewältigen angeleitet wurde. Hat er überhaupt einmal arbeiten gelernt, aufmerksam zu sein, zu kombinieren, Gedanken zu verknüpfen, so werden seine Leistungen auch im Berufe ausgezeichnet sein, wenn auch der Stoff, an dem die Funktionen angreifen, ganz anders ist und mit dem Schulpensum in gar keiner Beziehung zu stehen scheint. Deshalb führen wir den Zögling nach Hellas und Rom, damit er formale Bildung sich aneignet, wie das Grundprinzip lautet, nicht etwa, um Kulturgeschichte zu treiben. Die entwickelten geistigen Kräfte machen ihn tauglich zu allen Aufgaben, die doch stets anders aussehen und stets andere Synthesen verlangen. Er wird sie aber lösen, da die Fähigkeit zur erfolgreichen Arbeit in ihm systematisch entwickelt

1. Wird die Wiederholung im Lehrverfahren aller Schulen hinreichend beachtet? 27

worden ist. Dieser Gedanke der formalen Bildung der Funktionen kann in reinster Form im Laboratorium durchgeführt werden, wo wir die einzelnen seelischen Kräfte möglichst rein’ an meßbarem Material arbeiten lassen und sie systematisch und methodisch schulen, so daß ein reges geistiges Wachstum und eine gute allgemeine Durch- bildung des Bewußtseins erzielt werden muß.

nam

B. Mitteilungen.

1. Wird die »Wiederholung« im Lehrverfahren aller Schulen hinreichend beachtet?

Von Direktor Karl Baldrian in Wr.- Neustadt.

Es ist ein alter didaktischer Grundsatz, neu vorgeführten Lehrstoff des öfteren »wiederholen« zu lassen, und zwar womöglich immer von einem anderen Gesichtspunkte der Betrachtung aus. Schon das lateinische Sprichwort »repetitio est mater studiorum« weist nachdrücklich auf den Wert der Wiederholung hin. Auch Sinnsprüche unserer Dichter be- zengen, daß sie dem »Lernene, d. i. der wiederholten Vor- und Durch- nahme desselben Denkstoffes zum Zwecke der Einprägung der Gedanken und ihrer Folge wie des sprachlichen Ausdruckes hiefür größte Bedeutung beilegen. Es sei bloß auf folgende bekannte Worte hingewiesen:

Begriffen hast du’s, doch damit ist nichts getan, Nun lern’ es auch, dann erst gehört es ganz dir an!

Bei gerechter Beurteilung der Frage, ob das Wiederholen in hin- reichendem Maße gepflegt wird, muß untersucht werden, wann wiederholt wird. Da muß nun zugestanden werden, daß bei Nenvorführung von Denkstoffen im allgemeinen d. i. in allen Arten von Schulen die Wiederholung zu ihrem Rechte kommt. Anders steht die Sache, wenn die Frage zur Beantwortung vorgelegt würde, ob all das grundlegende Wissen, das die Voraussetzung für den Erwerb weiterer Kenntnisse und für das dienstfertige Können ist, auf allen Stufen der Lernarbeit ge- nügend wiederholt wird.

Finden wir nicht ziemlich häufig, daß Schüler höherer Stufen auch mit Kenntnissen und Fertigkeiten nicht genügend vertraut sind, die Lehr- und Lernstoff tieferer Stufen sind?! Freilich können da verschiedene Ein- wände gemacht werden, die nicht ungerechtfertigt sind. So könnte ge- sagt werden, daß Unterbrechungen im Schulbesuche aus verschiedenen Ursachen, geringe Begabung einzelner Schüler, Lehrerwechsel usw. die angeführte unliebsame Erscheinung herbeiführen. Damit wird aber die Tatsache selbst nicht aus der Welt geschafft, daß es fast in jeder Klasse

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Schüler gibt, die manch grundlegendes Wissen und Können zwar nicht besitzen, es aber besitzen könnten, wenn eine Voraussetzung er- füllt würde. Diese liegt darin, auf allen Stufen den unbedingt nötigen und wissenswerten Lehr- und Lernstoff gründlich zu wiederholen. Es darf nicht etwa entgegnet werden, daß dies nicht angehe, da sonst der Lehrstoff der »Klasses nicht bewältigt werden könne. Der Schüler und nicht der Lehrplan muß vor allem Berücksichtigung erfahren, sonst bleibt viel des in der Schule zur geistigen Aneignung Gebotenen ohne ` Grundlage, es bleibt sozusagen in der Luft hängen und wird vom leisesten Lüftchen für immer hinweggefegt. Und das darf besonders dann nicht sein, wenn es sich um grundlegendes Wissen und Können von »Stoffen« handelt, die fürs Leben von Wichtigkeit sind.

Daß die Zahl jener Schüler vermindert werden könnte, die anf höheren Stufen auffallende Lücken im elementaren Wissen und Können aufweisen, wenn auf allen Stufen der Wiederholung des Wesentlichen mehr Zeit zu- gemessen würde, als dies bis jetzt geschieht, ist als sicher anzunehmen; schon aus dem Grunde, weil mit der zunehmenden Reife des Geistes der Kinder auch »schwächere« Schüler zur Erfassung und zum Verständnisse des geistigen Inhaltes des Denkstoffes kommen.

Vielleicht ist gar kein anderer Unterricht so sehr angetan, die Wichtig- keit steter Wiederholung der Elemente des Wissens und Könnens von der Unterstufe des Lehrens und Lernens an durch alle Stufen hinauf bis zur obersten hervorleuchten zu lassen, als jener, dem der Schreiber dieser Zeilen seine Kraft zu widmen hat: der künstliche Sprachunterricht in der Taubstummenschule, durch den (infolge ihrer Gehörlosigkeit) sprachlose Kinder in den Besitz der menschlichen Sprache, der Laut-, Ton- oder Wortsprache nach Rede und Schrift zu bringen sind. In diesem schwierigen Beginnen zeigt sich auf Schritt und Tritt, daß alle Elemente zur Sprachanbildung ununter- brochen geübt werden müssen, soll lebendige Sprache, Sprachverständnis und Sprachbereitschaft, als Erfolg der Unterrichtsmühen hervorgehen. Die geringste Außerachtlassung des Grundsatzes, alles Sprachliche auf Grund der Anschauung immer wieder zum vollen Verständnisse zu führen, würde sich rächen, so daß die aufgewendete Mühe von Lehrer und Schüler vergebens gewesen wäre,

Im Unterrichte der Vollsinnigen zeigt sich die Wichtigkeit der Beherrschung der Elemente am deutlichsten im Rechenunterrichte.

Immer wieder trifft man auch auf mittleren und oberen Stufen Schüler, die z. B. das Wesen des Zahlensystems für die Praxis des An- schreibens und Lesens der A&hlen nicht ganz erfaßt haben. Würde die Klarstellung dieses »Stoffes« auf jeder Stufe und da auch wieder nicht bloß einmal und flüchtig, sondern oft und nachdrücklich erfolgen, so würden gewiß alle oder doch fast alle Schüler, sicherlich aber mehr als bis jetzt zur Beherrschung des Zahlenanschreibens und -Lesens gelangen. Es ist nicht zu befürchten, daß durch stete Wiederholung Interesselosig- keit eintreten würde, da durch den Ausbau des Denkgebietes in unserem Falle der Zahlengrößenverhältnisse mit dem Alten stets Neues in Ver-

1. Wird die Wiederholung im Lehrverfahren aller Schulen hinreichend beachtet? 29

bindung käme, woran der Schüler sein Können deshalb gerne betätigen würde, weil er mit Freude die Verwertung des bereits früher einmal Geübten zeigen könnte. Unmerklich würde da von den Elementen hinan- führende Lehr- und Lernbetätigung zur Festigung des Wissens und Könnens aller Schüler führen.

Daß solcher Auf- und Ausbau immer weiter hinauf von größter Wichtigkeit ist, wird wohl niemand bezweifeln; daß er aber nicht immer erfolgt, ja nicht einmal schulmäßig allseitig gefordert wird, möge nur ein Beispiel zeigen, das in das Gebiet des eben Besprochenen hineinreicht. Es wäre z. B. gelegentlich des immer wieder zu pflegenden Zahlenanschreibens auch rasches Zusammenzählen zu üben auch das geht bekanntlich nicht immer so »flott«, als es wünscheuswert wäre! Da lasse man einmal auch Zahlen erscheinen, deren untereinander stehende Posten als Summe mehr als 99 ergeben, also etwa 100, 104, 115, 207, 316 usw. Dabei wird es sich zeigen, daß solche Übungen ganz und gar nicht überflüssig sind. Und für die Praxis des Lebens sind sie gewiß von Vorteil, da sonst solche Summen den Unkundigeu beim Anschreiben und Weiterzählen zur nächst höheren Ziffernreihe stutzig machen oder ihn gar in Verlegenheit bringen oder bringen könnten.

Ähnliche Beispiele aus dem Gebiete des elementaren Rechenunter- richtes der Volksschule lassen sich unschwer anfügen. So sollte z. B. das Kopfrechnen auch durch ausbauende Wiederholungen, wobei mit stets höheren Zahlenwerten zu operieren wäre, fort und fort geübt werden. Gewöhnlich aber schließt das hiebei nötig werdende Zerlegen der Zahlen schon innerhalb der Grenze des ersten Hunderters ab, statt daß diese Zerlegungen auch an Tausendern usw. zur Übung kämen. Daß dieser Auf- und Ausbau des Zahlensystemes von unten hinauf sinnenfällig an den Wertgrößen des Geldes, der Maße für die Mengen, des Raumes, des Gewichtes und der Zeit besonders zu üben ist, ergibt sich wohl von selbst.

Aber auch in den Mittelschulen sollte die erweiternde Wieder- holung von den Elementen an, die zugleich auch eine Vertiefung bringen soll, eine größere Rolle spielen, als es bis jetzt der Fall ist. Was nützt es z. B, wenn auf einer unteren Stufe Sätze über Kongruenz und Älın- lichkeit der Dreiecke von den Schülern mit Mühe erfaßt werden und in der Folge nur mehr dann flüchtig darauf verwiesen wird, falls es gerade ein Beweis erfordert? Soll denn das Wenige des forınal bildenden Ein- flusses bei der Durchnahme der Kongruenz- und Ähnlichkeitssätze allein die Berechtigung ergeben, viel Zeit und Nervenkraft der Schüler darauf verwenden zu dürfen? Man wundert sich nicht selten, daß Schüler der Oberstufe »nicht einmal dies und jenes mehr« können. Eigentlich sollte man aber vielmehr darüber staunen, daß überhaupt doch einige Schüler »dies und das noche können. Denn vieles »kommt« nach der Durch- nahme in der betreffenden Klasse überhaupt »nicht mehr vor«, wird nicht mehr geübt, nicht wiederholt. Ist es da dann nicht begreiflich, wenn plötzlich z. B. Potenzieren und Radizieren nicht mehr »geht«!

Und wie es im Rechenunterrichte ergeht, so ist es auch in allen

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anderen Unterrichtsgegenständen; nur läßt sich dort manches leichter verbergen.

In allem Unterrichte sollte immer und immer wieder auf das Grund- legende zurückgegriffen werden, namentlich auch im Sprachunterrichte. Besonders für den grammatikalisch richtigen Ausdruck sollten immer wieder die einfachsten, anschaulichsten, durch graphische Hilfen unterstützten Hin- weise aber so viel wie möglich ohne Wortschwall! gemacht werden. Man scheue sich nicht, auch auf der Oberstufe z. B. zu fragen: Wie sagt man richtig, ich gehe heute ohne meine oder ohne meiner Mutter in die Stadt; ich gehe nachhause oder zuhause. Dabei stelle man recht oft Ähnliches gegenüber, etwa so:

mit ohne Eri

dem den [dem] =353 der den----n die die [der] 2 ER I re em] Ars HFS

oder: SESE

wo? (sich aufhalten, sein) | wohin? (gehen, laufen) FEE

zuhause nachhause [zuhause] "Z°

Die Unterstützung alles Lehrens durch graphische Mithilfe ist eim dringendes Gebot der nötigen Rücksicht auf əvisuelle veranlagte Kinder und kommt allen Schülern zugute.

Diese wenigen Zeilen sollen eine Mahnung sein, das »Wiederholen« nicht bloß des neu zu erwerbenden Wissensstoffes fleißig in Anwendung bringen zu lassen, sondern namentlich auch die Wiederholung »alten« Stoffes absichtlich zu pflegen, und bei jeder Erweiterung und Vertiefung des Wissens und Könnens so viel als möglich bei den Grundlagen der Erkenntnisse zu beginnen und von diesen lückenlos fortzuschreiteu.

In diesem Sinne möchten die paar Zeilen die Lehr- und Lernarbeit fördern und erfreulicher gestalten helfen.

2. Wie sich mein Sohn bis zum Alter von 3'/, Jahren zu den Dingen, Tieren und Pflanzen der Umwelt stellte.

Von Frau Hanna Neugebauer, Kostenblut.

Mein Sohn Rafael ist am 4. September 1910 als gesundes und kräftiges Kind geboren. Er wächst in einem dörflichen Marktflecken auf. Unsre Wohnung im Schulhause, der Schulhof und unser Garten sind seine täglichen Spielplätze. Die täglichen Spaziergänge, früher -fahrten, führen ihn auf die Dorfstraße, aufs Feld, auf Wiesen, an Teiche, zu Wind- mühlen und Strohschobern, auf Chausseen, in Bauernhöfe und Ställe, in ländliche Kaufläden und allerlei einfache Werkstätten. Etwa dreimal im Jahre kam er mit seinen Eltern auf je 8—14 Tage zu Verwandten nach Breslau und Brieg.

Es waren hauptsächlich vier Beziehungen, in denen mein Sohn bis

2. Wie sich mein Sohn bis zum Alter von 3!/, Jahren zu den Dingen usw. stellte. 31

zum Alter von 3!,, Jahren zu den Dingen, Tieren und Pflanzen der Um- welt stand.

1. Er brachte ihnen Interesse entgegen.

2. Er äußerte Zuneigung zu ihnen.

3. Er legte ihnen Gedanken und Absichten unter.

4. Er gab ihnen Befehle.

Unter diesen 4 Gruppen nimmt das Interesse den weitaus ersten Rang ein, sowohl der Frühe des Auftretens und der Dauer als auch der Stärke nach. Es ist eine der ersten Seelenregungen des Kindes über- haupt und umfaßt in den ersten Monaten des Erwachens der seelischen Fähigkeiten fast jeden Gegenstand, der dem Kinde nahe gebracht wird. Rafael interessierte sich, wie andre Kinder, auch in der ersten Zeit nament- lich für Glänzendes, Bewegtes und für Tiere.

Diese Arbeit soll deshalb nur diejenigen Interessen meines Kindes behandeln, die es nach dem Ablauf des ersten Lebensjahres hatte, und zwar zunächst die nach Dauer und Stärke auffallenden und danach die mehr vorübergehenden und gelegentlichen Interessen. Vor dem Ablauf des ersten Jahres ist auch gewöhnlich keine freie Auswahl unter den Gegenständen der Umwelt des Kindes möglich. (Vergl. Ladislaus Nagy, »Psychologie des kindlichen Interesses«, S. 20.)

Unter den Tieren, für die sich Rafael interessierte, standen Kühe, Katzen und Schweine an erster Stelle. Mein Tagebuch sagt: »Jeden Mittag finden wir uns am Pfarrhoftor ein, da sammeln sich die Kühe zur Weide. Rafferle ist selig, wenn eine Kuh nahekommt, ihren Kopf zu ihm herunterneigt, ihn anpustet, wenn er ihre Nase anfühlen und womöglich sein Fingerchen in ihre Nasenlöcher stecken kann.« Er war damals 1; 0!/, alt, d. h. 1 Jahr und !/, Monat. Katzen nannte er in den höchsten Quietschtönen miemiemiemie, war glücklich, wenn man ihm eine fing und weinte bitterlich, wenn sie sich seinen Liebkosungen durch die Flucht entzog. Schweine liebte er nicht nur in Wirklichkeit sehr, sondern auch auf Bildern. Zu seinem und unserem Kummer gab es kaum in einem Bilderbuche ein Schwein, so daß wir unsre Zuflucht zu den Schweine- bildern nehmen mußten, die den Futtermittelanpreisungen in Zeitungen beigegeben waren. Sie taten auch vollständig das Ihre, obgleich sie klein und nicht bunt waren. Das brennende Interesse für diese Tiere, nament- lich für Schweine und Katzen, hielt über ein halbes Jahr an. Ein Inter- esse für Pferde, die doch Rafael ebenso häufig zu sehen bekam, hatte er nie; dementsprechend spielten auch die sonst bei Knaben so beliebten Pferdespiele mit Peitsche, Leine usw. keine Rolle. Auch hatte er noch nie die Absicht, Kutscher zu werden, wie so viele kleine Jungen, auch mein Bruder, der in seiner frühen Kindheit in dieser Hinsicht eine wahre Leidenschaft entwickelte, namentlich für Peitschen.

Von den Tierbildern eines Fabelbuches erweckte der Affe 3—4 Monate lang das stärkste Interesse; einen wirklichen Affen zu sehen, hatte er damals noch keine Gelegenheit.

Später, 1; 7 bis 1; 9, beobachtete er sehr gern’ im Garten Käwl. Er meinte damit nicht nur Käfer, sondern auch Bienen, Fliegen, Ameisen usw,

33 B. Mitteilungen.

Er ging leise näher, freute sich, wenn sie krochen, war betrübt, wenn sie fortflogen, tröstete sich aber mit der Hoffnung, daß sie wiederkommen würden. »Gestern«, sagt das Tagebuch, »brachte er mir zwischen 2 Fingern einen wum (= Regenwurm), legte ihn auf die Erde und wartete geduldig, bis er anfing zu kriechen.«e Gern und lange kauerte er bei den Küchlein am Drahtkäfig, sah ihnen zu und steckte sein Fingerchen durch das Drahtgeflecht.

Von den Tieren des zoologischen Gartens, den er 1; 11 zum erstenmal sah, haben ihm nur die Elefanten und die Pelikane einen dauernden Ein- druck gemacht. In diesem Alter verlangte er oft, zu den Teichen zu gehen, damit er Frösche sähe. Frösche hatten eine große Anziehungskraft für ihn. Er scheute sich auch nicht, sie anzufassen, und hielt sie, so lange sie es duldeten, voll Freude in den Händen.

Das Katzeninteresse von früher wurde, als Rafael knapp 2 Jahre alt war, noch einmal neu belebt dadurch, daß eine fremde kleine Katze eine Zeitlang täglich in unsern Garten kam. Er spielte lange mit ihr und machte sich Gedanken über ihre Anatomie.

Bei einem Besuch bei den Großeltern Rafael war 2 Jahr alt beschäftigte ihn der Kanarienvogel sehr. Er redete ihn an: Nu Hansel, komm mal runter! Er griff gern nach des Vogels Füßen und erschrack dann etwas, wenn dieser flügelschlagend nach ihm pickte.

Das Interesse an Tieren hat sich natürlich auch aufs Spiel über- tragen; und zwar war die Rolle, die die Tiere in Rafaels Phantasiespielen hatten, eine weit größere als die der wirklichen Tiere. Rafael war in seinen Spielen eine Zeitlang (um 2; 10 und länger) fast täglich ein Frosch, eine Katze, ein Kuckuck oder ein andrer Vogel, ein Affe, ein »wildes Tier«. Strahlend zeigte er mir in allen Zimmerecken seine eingebildeten Kühe, Schweine, Pferde, Ziegen, Kaninchen, Maulwürfe, und nachdem er im Zirkus gewesen war, seine Elefanten, Löwen und Kamele. Er führte mich in seinen zoologischen Garten und zeigte mir die wunderbarsten Tiere, z. B. Wasserelefanten, grüne Tapiere, blaue Maulfische usw. Doch dies alles gehört in das Reich der Phantasie und soll in einer späteren Arbeit ausführlich dargestellt werden.

Nach der obigen Tagebuchnotiz über den Kanarienvogel verging fast ein Jahr, ehe ich Grund hatte, wieder von einem besonderen Interesse an Tieren etwas einzutragen. Dieses Interesse bezog sich auf Karpfen, die Rafael bei einem Besuch in Breslau sah. Er nannte sie Maulfische, weil sie, als wir sie mit Semmel fütterten, das Maul sehr weit aufmachten und große Stücke verschluckten. Er verlangte, solange wir in Breslau waren, öfters, zu den Maulfischen zu gehen, und hatte große Freude an ihnen. Auch die Schwäne hatte er das eine und andre mal gern. Er fütterte sie lieber, als daß er der konzertierenden Militärkapelle zusah, und teilte mir freudig seine Beobachtungen über ihre gebogenen Hälse und über die Laute, die sie von sich gaben, mit. Etwas später verfolgte er in einem fremden Dorfe einen großen, schwarzen, ziemlich er.:sthaften Spitz, Er lief hinter ihm her und war unermüdlich, ihn zu rufen und zu umwerben. Die Hunde, die er täglich zu Hause sieht, lassen ihn gleichgültig. Höchstens

2. Wie sich mein Sohn bis zum Alter von 3!/, Jahren zu den Dingen usw. stellte. 33

erweckt der eine oder andre einmal ein vorübergehendes Interesse durch besondre Niedlichkeit oder auffallendes Benehmen.

Was man ihm vom Leben der Tiere erzählt, hört er sehr gern; er merkt es sich gut und bittet immer wieder um dieselben Geschichten. Am liebsten spricht er vom Storch, wie er sich Futter sucht, und vom Maulwurf, wie er in der Erde gräbt. Für Märchen hat er noch gar keinen Sinn.

Zusammenfassend möchte ich sagen: Rafael hatte in der frühesten Kindheit, von 1; 0 bis 1; 6 ein leidenschaftliches Interesse für Kühe, Katzen und Schweine. Sein späteres Interesse für Tiere war viel schwächer, mehr gelegentlich und nicht von langer Dauer.

Ich wende mich jetzt seinem Interesse für Dinge zu.

Ich schicke voraus, daß sich in dieser Hinsicht 3 Zeiträume scharf abgrenzen lassen:

1. Die Zeit der ta Uhr, von 0; 11 bis 1; 7,

2. die Zeit des Maschinellen und des Handwerks, von 1; 7 bis 2; 7,

3. die Zeit des Spielzeugs, mit maschinellem Einschlag, von 2; 7 an. Natürlich laufen andre Interessen nebenher, sind aber schwächer und kürzer.

Die Zeit der fifa reicht von 0; 11 bis 1; 7, umfaßt also 8 Monate. Sie begann mit dem ersten Aussprechen des Wortes kl-ta = tiktak, das Rafaels allererstes sinnvoll gebrauchtes Wort überhaupt war. Er suchte und fand die Uhr in diesem Alter in jedem fremden Zimmer und war beglückt von ihrem Anblick. Auch das erste Bild, das er er- kannte, war das einer Uhr. Von nun an wollte er beständig Uhren gemalt haben. Wenn er nur ein Stückchen Papier fand, so bettelte er: kl-ta, kl-ta, später tita! »Groß ist seine stille Seligkeit (mit 1 Jahr), wenn ich das Türchen der Wohnzimmeruhr unten aufmache, so daß er das Perpendickel hin- und hergehn sehen kann.« 1; 4 habe ich einen Papierstreifen ins Tagebuch geklebt, auf den ich auf sein dringendes Ver- langen 7 Uhren nebeneinander gemalt hatte. Derartiges wiederholte sich täglich. Notizbücher und Zettel aus jener Zeit bezeugen es. Jedes andre Bild wurde verschmäht. Erst nach 1; 4 durfte es auch manchmal ein Schwein oder eine »Mama« sein. Doch dauerte das brennende Interesse an wirklichen Uhren unvermindert fort bis 1; 7.

Neben der Tiktak gab es noch andre Interessen. Da waren z. B. Bücher. Das Tagebuch spricht zwischen 1; 3 und 1; 4 dreimal davon: »Bilder sieht er sehr gern an. Wenn er uns zu ungelegener Zeit quält mit auf (d. h. er will auf den Schoß genommen werden) und dabei an- baltend ‚bitte bitte‘ macht, läßt er sich doch meist fortschicken zu einem Bilderbuch.«e 14 Tage später: »Auf Bücher ist er ganz verrückt, zeigte auch beim Anblick eines Buches, welches von seinen Lieblingsbildern darin ist, und verlangt es immer wieder zu sehen.«e Dann wieder: »Er trägt sehr gern etwas in der Stube herum, besonders Bücher, manchmal in jeder Hand eins.«e Von großem Interesse für alles, was vorging, zeugt die kurze Notiz: »Alles, was geschieht, will er sehn, überall hingehn, alles ansehn, alles mir zeigen.« Er wiederholte endlos die Bitte: sehn,

Zeitschrift für Kinderforschung. 22. Jahrgang. 3

34 B. Mitteilungen.

sehn, sehn! und gehn, gehn, d. h. ich will dorthin gehn, wo das zu sehn ist, ich will alles ansehn, ansehn, ansehn!

Vor allem aber wirft schon jetzt die Zeit des Maschinellen ihre Schatten voraus, indem Rafael sich interessiert für die Lokomobile, für Feuer, Licht, Rauch und Schornsteine. Noch vor 1; 1 ist einmal notiert, daß er »lange Zeit in stumme Betrachtung der Lokomobile versunken« war. 1; 1 erfindet er für die Lokomobile die Bezeichnung sch, sch, und die Höfe, in denen er vor 1 oder 2 Tagen eine Lokomobile gesehn hat, erkennt er im Vorbeifahren von außen wieder und sagt sch, sch. 1; 2 kennt er den Weg, der zur Molkerei führt, und verlangt stürmisch dort- hin, damit er den herrlichen, hohen Schornstein sehen kann, mit dem ge- liebten auch —= Rauch. Schsch auf Bildern sind 1; 3 sehr wichtig, und 1; 4!/, ist verzeichnet: »Neulich hat er sich sehr lange mit dem Bilde einer Dampfmaschine unterhalten. Er rief: Schsch auf lolo eule kole heiß. D. h.: Die Maschine geht aufzumachen (dabei zeigte er aufs Feuerloch). Da ist ein Loch, da ist Feuerle drin, da tut man Kohle rein, da ist’s heiß. Das hat er immer und immer wieder voll Eifer er- zählt, und ist dazwischen immer zum Öfen gelaufen, um ‚Loch‘ und ‚heiß‘ zu erklären.e Das tägliche Feuermachen in den Öfen war ihm einer der fesselndsten Vorgänge, und im Fabelbuch war ein ewle oder eula = Feuerle ein wochenlang täglich neu interessantes Bild; er- höht wurden die Vorzüge dieses Feuerbildes dadurch, daß 2 Katzen mit darauf waren. Schließlich erschienen noch als ein vom Maschinellen vorausgeworfener Schatten die nudel-nudel auf dem Plan. So hießen die Fleisch- und die Kartoffelmühle in der Küche. Ihre Handhabung fing schon 1; 4 an, ihn sehr zu interessieren.

Über allem aber stand die Tiktak, bis plötzlich 1; 7 die Zeit des Maschinellen und des Handwerks einsetzte! Im Mittel- punkt des Maschineninteresses standen die Eisenbahn und die Lokomobile. Nach unserer Rückkehr von einer Reise mit der Eisenbahn wollte er plötzlich nicht mehr Uhren gemalt haben, sondern Eisenbahnen, »und zwar immer zuerst eine große und dann eine kleine«. Die Räder dredi sagte er und der Rauch waren dabei sehr wichtig. Von jetzt an bringt das Tagebuch alle 3—8 Seiten Notizen, die Rafaels großes Interesse für das Maschinelle beweisen. Ich führe die bezeichnendsten davon an. »Er müßte ein Spielzeug haben, das er auseinanderschrauben und wieder zusammensetzen könnte. Die Nudel-nudel, d. h. die Fleisch- und die Kartoffelmühle, beseligen ihn, weun man sie zernimmt. Und die »Dredl« in der Molkerei sind so schön, daß man ihn auf dem Arm weg davon tragen muße«e.... »An der Nähmaschine will er immer spulen und bekommt auch, wenn er auf meinem Schoß sitzt, die Spule richtig hinein, ohne daß ich’s ihm absichtlich gezeigt hätte; er hat mir’s einfach ab- geguckt.«e »Bei seinem Eisenbahninteresse habe ich das Auto und die Feuerspritze einzutragen vergessen. Das Auto nennt er Aufte, ist glück- selig, wenn er eins vorbeiflitzen sieht, macht puffpuff und tutut und möchte immer hingehn. Die Feuerspritze hat er leider noch nicht ge- sehn .... er kennt sie nur von einem Bilde.«.... Bei einem Besuch bei

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der Tante Else »beschäftigte er sich lange, fast immerfort, mit dem Spinn- rad, das dort als Urväterhausrat steht. Er drehte das Rad und die Spindel, hatte bald heraus, daß das Rad sich durchs Treten drehte und hakte die Verbindungsstange los; beim Daranmachen ließ er sich erst helfen, nach- dem er sich selber lange damit geplagt hatte. So macht er’s immer. Raffel machen! bis schließlich doch die Muttel helfen solle. .... »Auf der Reise entzückte ihn jeder Fabrikschornstein. Er nannte jeden eine Molkerei, weil der Molkereischornstein hier der einzige hohe Schornstein ist, den er kennt. »In der Bahn wollte er immer eine Lokomotive vorbei- kommen sehn... . Eınmal auf dem Ring in Breslau sah er so viele Autos, daß er ganz selig war: Autooooo! mußte er immerfort rufen... .. Ebenso herrlich war die elektrische Straßenbahn.« In dieser Zeit waren wir zum erstenmal mit ihm im zoologischen Garten. Sobald er aber hörte, daß wir mit dem Dampfer zurückfahren wollten, verlangte er aus dem Garten heraus, weinte, wollte einzig und allein zum Dampfer gehn und konnte seine Ankunft kaum erwarten. »Das Herrlichste war die Rückfahrt auf dem Dampfer; das große Rad geht rum, macht plätscherplätscher, aus dem Schornstein kam Rauch raus, und unter den Brücken wurde der Schornstein umgelegi.« ..... »In Brieg war ich ein paarmal mit ihm beim Eisenbahnübergang. Da sah er viele Züge und einzelne Lokomotiven. Er sah auch einen zweirädrigen Karren mit einer Wassertonne, den er für eine Feuerspritze hielt. Auch den Spreugwagen nannte er Feuerspritze und hatte viele Freude daran. Den weißen Milchwagen der Molkerei nannte er weiße Feuerspritze und eine verräucherte Fabrik schwarze Molkerei. ..... Von den Fenstern aus wollte er immer die rauchenden Fabrikschornsteine sehn. Einer war zu seinem größten Kummer von einem hohen Baum fast verdeckt, so daß er den Baum: abhacken wollte.« er Wieder zu Hause, trug ich ein: »Über jede Maschine ist er selig, er sieht ja jetzt auch genug Heumaschinen, Pflüge usw. Selbst Jauche- tonnen sind sehr beliebt.«e..... »Die Eisenbahn und die Lokomobile, die er jetzt fast täglich dreschen sieht, sind immer noch sein Herrlichstes. Eisenbahnen muß man ihm malen, wo immer er ein Stück Papier sieht. Bei der Lokomobile teilt er mir seine Beobachtungen mit: Kommt Rauch raus, schwarzer Rauch, viel Rauch das dreht sich, das wackelt das macht ss ss das machi roch roch und zeigt dabei auf alles, was er nennt und meint. Er erzählt auch aus der Erinnerung vom Dreschkasten, Sack, Bändel, Körndel. Mit »Bändel«e meint er den Riemen; heut hat er aber die Nähmaschine mit einer Sch verglichen und dabei den Faden Riemen genannt. Etwas unheimlich ist ihm aber die Sch doch immer noch, ganz nahe mag er nicht hin. Als ich ihn mal nahe hinführen wollte, sagte er: da hat er Angst.<..... »Alles Mög- liche muß eine Sch vorstellen, sogar in der Küchenlampe sieht er eine. Der Zylinder ist der Schornstein.«e Einen großen eisernen Haken brachte er an: Raffel bringt eine Sch. Der wagerecht liegende Teil war der Dampfkessel, der senkrechte der Schornstein. .... »Gemalt haben will er auch immer Dampfer, Elektrische, Mühlen und dabei ein »großes Rad«, das eigentlich in der Mühle sein soll;« er will es doch aber gern sehn. 3*

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»Die Kartoffelmühle stellte kürzlich eine Sch vor. Als er sie sehr lange mit Anstrengung gedreht hatte, sagte er: Sch sehr miede, Sch (sch)lafen und ruhte sich einen Augenblick aus. Dann gleich: Sch weiter.«c »Stundenlang steht er im Zug, Staub, Rauch und Lärm, wenn er nur irgend einer Maschine zusehn kann.e »Vorhin waren wir mit ihm bei der Lokomobile, die grade aufgestellt wurde Er war auf die Leiter gestiegen, die auf den Dreschkasten hinaufführt und wehrte sich mit Geschrei und Gestrampel, als er heruntergenommen wurde und mit uns zur Mühle gehn sollte. Dort ging das große Rad rum, so daß er von da wieder nicht wegzukriegen war.e »Seinen Schuh nannte er schon zweimal’ Sch. Er zeigte auf die Schuhspitze: hier kommt Rauch raus und auf die Sohle an der Seite: kier kommt Dampf raus. Jetzt sitzt er an der Nähmaschine und hantiert mit Spulen und Garn- röllchen. Das Eisenbahnbilderbuch ist etwas in den Hintergrund ge- treten, dafür sieht er täglich mehrmals ein altes »Kürschners Jahrbuch« an, in dem zu statistischen Zwecken mehrere Lokomotiven, Autos und Dampfer abgebildet sind.«e Wie sehr die Maschinen sein ganzes Spielen und Denken beherrschen, zeigt ein Gespräch von ihm, das ich, als er knapp 2 Jahre alt war, 7 Stunden lang als Sprachprobe mitstenographiert hatte. Ich gebe einige Stellen daraus hier wieder: er sah in meinem Notizbuch, in das ich stenographierte, eine für ihn gemalte Lokomotive: dort eine Sch, dort noch eine Sch. Noch eine suchen. Noch eine solche Sch schreiben. Das nich ein Schornstein! Drehen! Dresch- kasten! Ei! Eine solche macht! Ein Dreschkasten sollste mal machen! ... Hier geht ein Riemen rum. —- Eine solche macht, ein Dresch- kasten. . . Hier noch eine Sch schreiben, eine solche. Dort noch eine Sch malt. Dredeln (=Rädel) noch eine große Sch machen —, ‚noch eine solche macht. Ein Dreschkasten machen. Schwarzer Rauch machen, Dredl. Er weinte, weil ich sagte, das sei die letzte Sch, ich hätte genug gemalt. An der Nähmaschine: Nähn! Muttels Schoß setzen! Hier einfädeln. Muttel einfädeln. Raffel timten, d. h. das Rad drehn, so daß die Nadel auf und ab geht, leine tımten. Das hier nich reinfallen. Deckel abmachen, hierhin legen. Spule drinne; eine rausholen. Trrrr wieder machen (= spulen). Hier dranmachen das. Reinmachen. Hidri macht das (mit hidri suchte er ein leise quietschendes Surren nachzuahmen). Das drehn. Leine, ganz leine timten. Zu- machen. ...trrr machen. ..... Eine ganz kleine Maschine. ein ganz kleines Dredl. Ein großes Rad. Das fest machen, Mutiel machen. . - - Maschine aufmachen, Maschine (ka-\put machen. Raffel rein- macht. Beim Eisenbahnbilderbuch: Lichtern. Puffern. Das ein Licht. Noch ein Licht. Das Puffern. Unten is Puffern, oben Lichtern. Mann nich Dampf macht, der läßt nich Dampf raus.

Ein andern suchen. Der (wird) Dampf rauslassen...... Kohle rein- gehn. Kommt viel Rauch raus. Warxe (schwarzer) viel Rauch. Gleich Dampf rauslassen, der Dampf rauslassen....... Hier is ein

Dampfer. Noch ein kleiner Dampfer. Eine Sch; eine kleine Sch, noch eine kleine Sch. Das eine Molkerei: Eine große Sch. Ein

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Schornstein dran. Ein Auto. Hier kommt Dampf raus. Eine Auto. Eine Sch, hooach (bewundernd) eine Sch. Noch eine große Sch. Ein Radler, das ein Radler. Duff duff macht das. Sch sch duff duf macht. Hier noch eine Sch. Kommt kein Rauch raus. Eine große Sch. Noch eine große Sch. Tife tafe fährt die fort, Breslau. Tante Trude, Breslau. Weit, so weit is das. Dort is das. Kommt eine dort Breslau. Breslau kommt eine Sch. Richtig!!! Soviel warzer Rauch kommt raus..... Dort noch eine Sch. Ein kleines Dredel dran. Tief tief macht das. Ontlich (= ordentlich) tier tief sehn! Dredel hier bloß. Hier tuff tuff macht das, Sch fährt weg. Kostenblut. Er legt den Kopf aufs Buch. Bei der Sch lafen. Raffel lafen. Noch eine große Sch. Ein kleines Dredel dran. Eine große Sch. Rausnehmen Mann. Ein Mann rausnehmen das. Schorn- stein rausnehmen Mann. Umlegen. Sch fortfahrn. Er hatte gesehn, daß der Lokomobilschornstein umgelegt wurde, wenn sie aus einem Gehöft in ein andres fuhr. Umlegen die. Kommt kein Rauch raus. Nich rauchen (soll) die. Die raucht noch. Ande = andre. Die nich raucht. Ein Riemen dran. Eine Kugel dran. Hier noch eine große Sch. Noch eine Brücke. Noch eine Sch. Die fährt Brücke. Ein Dampfer. Mann das ziehn. Onkel Ourt, Dampfer. Einsteigen Onkel Ourt. Dredel sehn, ontlich Dredel sehn. Hier ein Dredel dran. Die nich raucht. Die macht tufftuff. And(t)e nich raucht. Aber die raucht. Die nich raucht. Mann Feuer machen, kommt Rauch raus. Die hibsch. Hier warz, is die hier warz. Das (stinkt, Dredel tinkt das, sehr tinkt. Feuer Mann drinne machen, kommt Rauch raus.

»Sehr gern zeigt er, wie die Sch macht; die im rechten Winkel an den Körper gelegten Arme mit geballten Fäusten bewegt er heftig stoßend und etwas im Kreise vor und zurück, stößt dazu heftige sch sch sch aus und beugt taktmäßig die Knie. Die Äuglein strahlen dabei; so gern hat er die Sch! Heut früh ist er !/, Stunde allein, ohne die sonst fast unent- behrliche Muttel, in P.’s Hof bei der Sch gewesen. Er stand immer an derselben Stelle, ich konnte es... . sehen.c »In der Molkerei ging ich kürzlich mit ihm hinunter ins Maschinenhaus und bekam ihn dann nicht weg. Er ging an der Maschine entlang, obgleich zwischen der Maschine und der Wand nur ein ganz schmaler Raum ist; früher fürchtete er sich davor.e Auf dem Jahrmarkt sah er lange dem Scherenschleifer zu, und bei dem Karussell interessierte ihn der Motor, der es trieb, mehr als das Karussell selbst. »Als wir in Neiße ankamen, wollte er so gern die Lokomotive des Zuges sehn, aus dem wir ausgestiegen waren, und bettelte, bis ich mit ihm an den Anfang des Zuges ging und mit ihm im Regen dastand, bis der Zug abgefahren war.« »Vor dem Haus der Familie R., die wir dort besuchen wollten, standen 4 oder 5 Autos, von denen konnte er sich gar nicht trennen; die Tante Liesel R. mußte auf die Straße herunter kommen, um uns zu holen.« »Auf dem Wege zum Bahnhof erzählte er der Tante Grete viel von der Sch. Er sah sich auch die Bäume an und sagte: Sch hat nich Blätter, Sch hat Dredel. In der Bahn verlangte er dringend, das rumpelrumpel zu

38 B. Mitteilungen.

sehn, das die Räder machten.<e Wie in dem Vergleich mit den Bäumen übte er auch in dem folgenden Beispiele seine geringen Denkkräfte an der Sch. »Er sah zum erstenmal Bilder von Segelschiffen und vermutete: Segelschiff hat Dredel. ‚Nein‘, sagte ich, ‚das Segelschiff hat Segel‘. Darauf er: Dampfer hat Dredel! Sch hat Dredel!« »Auf der Elek- trischen fährt er immer noch sehr gern. Am liebsten kniet er auf der Bank und guckt hinaus, um keine Elektrische und namentlich kein Auto zu verpassen. Das Innere der Elektrischen interessiert ihn aber auch sehr. Er will immer gern ‚klingling‘ sehn, beobachtet, wie der Schaffner an dem Riemen zieht, wie er allen Leuten Zettel gibt, wie der Führer vorn dreht, und erzählt, daß unten darunter die Dredel sind. Als wir einmal in Scheitnig an der Endstation ausgestiegen waren, wo 2 oder 3 elektrische Wagen unbenutzt standen, lief er endlos glückselig von einer Seite eines Wagens zur andern, kauerte sich dicht dazu, zeigte uns immer wieder die Dredel, die Puffern, den Ritz im Puffer und war nicht wegzukriegen, so daß ihn ein Straßenkehrer als Ingenieur anredete. Jedes Auto beglückt ihn. ...« Bei einer Dampferfahrt »kauerte er die längste Zeit an dem Gitter, an dem man in den Maschinenraum hinuntersehu kann, und war ganz Auge. An den vorbeikommenden Raddampfern interessierte ihn am meisten das große Rad, das er zu seinem Kummer am eignen Dampfer nicht sehen konnte. Der Schornstein mit dem Rauch war nicht mehr das Wichtigste. Später stand er, weil es kalt war, auf dem warmen Eisen- kasten über dem Maschinenraum, aus dem ein heißes, geschlossenes Kupfer- rohr hervorragte. Dieses Rohr und das Heiße fesselten ihn sehr, er konnte nicht oft genug uns allen erzählen: Da is was Heißes drinne! Heiße Luft is drinne! Dann verlangte er dringend: Heiße Luft mal sehn!« In Breslau blieb er niemals bei den Schaufenstern mit Spielsachen und Süßigkeiten stehn; aber von denen mit Autos, Nähmaschinen, Maschinen- teilen usw. war er kaum wegzubringen. Besonders herrlich war in einem Fenster ein in Bewegung befindlicher Teppichstaubsauger. »Er hat sich bei seinem Eisenbahnbuch schon den Kopf zerbrochen, ob in einer gewissen Röhre an der Lokomotive Dampf oder Wasser ist. Ich hab ihm das leider auch nicht sagen können, habe ihn aber damit auf den Onkel Curt vertröstet.«e »lIch schnitt ihm aus einem Lehrmittelkatalog Bilder zum Einkleben aus. Er verschmähte aber die schönsten Pferde- und Schmetterlingsbilder und wollte nichts als einen Fabrikschornstein. Ich fand dann auch glücklich eine Grubenanlage.«e »Die Vorstellung einer Eisenbahn (er ist jetzt 2; 2 alt) erweckt immer noch strahlendes Ver- gnügen. Er ahmt dann ihre Bewegungen und Geräusche nach: sch sch sch ch ch ch pu hu pu hu pu hu, und ist ganz selig: Da geht’s los! Da fährt se! Die Rädel drehn sich rum! Da kommt Rauch raus!« An der Nähmaschine sagte er selbst: Bei der Maschine freu ich mich! . Er gab vor, aus einem Buch folgendes zu lesen: Hier drauf steht: die pfeift. Die Sch hat pfeifen (= gepfiffen).. Da kommen die Leute (Arbeiter). (Wenn) die Leute gehn, da geht die Sch auch. Da macht se: ts ts is ha ha ts ha ts ha ch ch ch ch ch. Da kommt aber viel Dampf raus. Dann geht se langsam. »Oft spielt er, er ist die

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Sch. Er läßt sie ganz allmählich angehn, macht langsam sch sch sch sch so naturgetreu, daß es wirklich ebenso klingt, wie wenn die Lokomobile beim Anfangen langsam Dampf ausstößt. Dabei bewegt er auch die Arme ganz, ganz langsam und erst allmählich schneller. Manchmal sagt er: Ich muß de Lokebile abstellen, tut, als drehte er irgend etwas an seinem Körper, da bewegt er nur den einen Arm, den andern hält er still in der Haltung wie beim Lauf im Turnen. Dann stellt er die Maschine wieder an, und beide Arme bewegen sich nach vorn, drehend, und zwar nicht gleichsinnig, sondern wenn die eine Faust oben ist, ist die andre unten. Nicht imıner macht er Fäuste, manchmal streckt er beide Hände scharf aus!« 2;4: »Wenn er selbst eine Maschine ist, stellt der Kopf den Schorn- stein vor, die Beine Stangen, die Brust den Dampfkessel, die Füße und Hände Räder.e »Er fragt mich auch öfter nach den Teilen der Nähmaschine: ‚Was das heißt, Muttel? (= wie heißt das?) Erzähle mal das! Wo war das, Muttel?‘ Ich antworte: ‚Das ist in einer Fabrik gemacht worden.‘ Mutiel, wo is die Fabrik? Da ich mit der Antwort zögerte, fuhr er fort: Ich weiß das nich, Mutiel, Raffel weiß das nich! Ich: ‚Wenn du groß bist, kannst du vielleicht mal in so eine Fabrik

gehn.‘ Er voll Freude: Da wer ich das sehn!« Senr interessant war ihm auch das Spiritusplätteisen, das Photostativ, Briefwagen, Lineale und allerlei Handwerkszeug. Sein Onkel Curt hatte ihm viele alte

Nummern einer Maschinenzeitschrift geschickt. Da zerbrach er sich oft lange Zeit den Kopf über all den Dampfturbinen, Kondenstöpfen, Fräs- maschinen usw. und verlangte endlose Erklärungen von mir. Wenn er Bilder von Fabriken sah, sprach er seine Vermutungen über ihr Erzeug- nisse aus: Die (=in der) wird Zucker macht; die werden Näh- maschinen macht. »Gestern Abend er ist jetzt 2; 4 alt stellte er wieder mal eine Sch vor; seine Brust war der Dampfkessel, seine Hände, die regulierenden, sich drehenden Kugeln; er fragte: Mutiel, wo kommt der Dampf raus? Ich zeigte auf seinen Mund: Hier aus dem Ritzel.« Das Eisenbahnbuch stand in dieser Zeit wieder sehr im Vordergrunde Sehr interessierte ihn auch das Dreschen mit dem Dreschflegel. Das Spazierengehn in diesem Winter war eine Not; es war fast nur ein Gehen von einer Scheune zur andern, von der Lokomobile zum Göpeldreschen, vom Göpeldreschen oder der Wurfmaschine zum Flegel- dreschen. »Am Sonntag kam er mit der Emma vom Spazierengehn zurück, kam ins Zimmer gelaufen und erzählte sofort, schon an der Tür: Muttel, ich war bei der Kürzelmühle, da hab ich das große Rad gesehn und das kleine Rädel und noch ein Rädel und einen Riemen und noch einen Riemen und die Kugeln, und das moppelt immer (= dreht sich). Hat’s immer reingefahren ins andre Zahnrad. Da ging’s los! Und da ging’s los! Den letzten Satz rief er unter großer Begeisterung sechsmal. «

Von jetzt an werden jedoch die Notizen über das Maschineninteresse im Tagebuch seltner und seltner. Als er zwar um diese Zeit 2; 6 wieder nach Brieg kam, verlangte er noch sehr, zur Eisenbahn zu gehn, und zog mich auch auf der Straße in der richtigen Richtung auf den Eisen- bahnübergang zu. Aber gleich darauf heißt es: »Das Maschinenwesen ist

40 : C. Zeitschriftenschau.

in der letzten Zeit sehr in den Hintergrund getreten; in Brieg hat er nur ein paarmal vorgemacht, teils von selbst, teils auf Verlangen der Verwandten, wie die Lokomubile zu gehn anfängt, und hier hat er einmal seine Beine verschiedentlich arbeiten lassen und sich danach Knautsch-, Schiebe- und Lochmaschine genannt.«e Ähnlich berichtet das Tagebuch 14 Tage später: »In dieser Woche war ich ein paarmal mit ihm bei G., wo die Lokomobile drosch. Er interessierte sich aber für den Kuhstall und das, was der Schweizer tat, mindestens ebensosehr wie für das Dreschen.e Natürlich übte seine Maschinenleidenschaft auch auf sein Malen und Bauen ihren Einfluß. 1; 9 »malte« er ziemlich viel. »Was zufällig rund wurde, nannte er Dredel und machte dann voll Freude noch mehr Dredel. Alles andre nannte er Hammer, Mühle, Schiff, Schsch, lange Sch, Auto und Rauch.e 1; 11: »Wenn man ihm eine Lokomobile malt, vervoll- ständigt er durch Gekritzel an den richtigen Stellen den Rauch, den Dampf und die Puffer.«e 2; 2: »Die Sch, die man ihm an die Tafel malt, soll neuerdings immer »Streifen« haben; man muß also lauter senk- rechte Striche darauf machen. Die Radspeichen heißen auch Streifen und dürfen nicht vergessen werden. Schwieriger ist es schon, eine gewisse Röhre anzubringen. die er verlangt. Ich mache sie nämlich immer seiner Ansicht nach an die falsche Stelle. Dann nimmt er selbst die Kreide in die Hand und malt einen einfachen oder doppelten Strich als Röhre von unten nach oben über die Maschine weg.... Auf die Wagen malt er, wie er’s von mir gesehen hat, Kohlenberge.« (Forts. folgt.)

C. Zeitschriftenschau,

Experimentelle Psychologie.

Tumlirz, Otto, Beiträge zur Hygiene und Ökonomie der geistigen Arbeit, Die Deutsche Schule. XVIIL, 9 (September 1914), S. 565.

Pädagogische Erörterungen, die an experimentelle Versuche an Erwachsenen anknüpfen. Diese zeigten, daß ein Typus vorhanden ist, bei dem die Leistungen ausgesprochen besser werden durch die Wirkung anderer Faktoren, die die Wirkung der Ermüdung übertrafen. Auf die Versuche wird in dieser Arbeit aber nicht ein- gegangen.

Wagner, Paul Andreas, Das freie Zeichnen von Volksschulkindern. Zeitschrift für angewandte Psychologie. VIII, 1/2 (September 1913), S. 1—70.

Der von Stern 1905 in Breslau angeregte Versuch, Volksschulkinder das Thema »Schlaraffenland« zeichnerisch bearbeiten zu lassen, wurde auf dem ersten Kongreß für Kinderforschung in Berlin teilweise mitgeteilt. Wagner hat das Material noch aus Waldenburg vermehrt, so daß ihm zusammen 1364 Zeichnungen vorlagen. An Hand von Abbildungen werden besprochen: die allgemeine Be- schaffenheit der Zeichnungen, ihr Inhalt (Inhalt, Auswahl und Ausführung der Motive, zeichnerischer Ausdruck des Humors und der Bewegung, Menschendar-

C. Zeitschriftenschau. 41

stellung usw.), die Unterschiede in den Knaben- und Mädchenzeichnungen (die

Mädchen zeigen gegenüber den Knaben eine starke Minderwertigkeit, nur in einigen

aufs Äußere gerichteten Darstellungen eine gewisse Überlegenheit) und der Einfluß

der neuzeitlichen Zeichenmethode (günstige Beeinflussung).

Wagner, Paul, Über die rechnerische Behandlung der Ergebnisse bei der Prüfung des unmittelbaren Behaltens. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie. 14, 1 (Januar 1913), S. 60—63.

Entwicklung einer entsprechenden Formel.

Weigl, F., Kind und Märchen. Gottesminne. VII, 1913, 4/5, S. 341—355.

Der Verfasser arbeitete einen Fragebogen aus, den er von 53 Erwachsenen, außerdem von 7 Kindergärtnerinnen, 4 Ärzten und 1 Ärztin beantwortet zurück erhielt. Ferner wurden 11 Mädchen einer höheren Mädchenschule in Preußen, 118 Mädchen einer solchen unter Leitung von Klosterfrauen und 58 Mädchen eines Kinderhorts für arme Schülerinnen mit in die Untersuchung einbezogen. Die Er- gebnisse werden zum Teil in Wortlaut mitgeteilt, zum Teil auch zahlenmäßig ver- arbeitet. Sie müssen im Original nachgeschlagen werden.

Wiersma, E. D., Intelligenzprüfungen nach Binet und Simon und ein Versuch zur Auffindung neuer Tests. Zeitschrift für angewandte Psychologie. VIII, 3/4 (Januar 1914), S, 267—275.

Untersucht wurder 141 Kinder (68 Knaben, 73 Mädchen) der Volksschule in Groningen. 75°/, der Kinder beantworteten die Tests ihres Alters. Die jüngeren Kinder zeigen einen geringeren Intelligenzrückstand als die älteren. Die Knaben haben einen größeren Intelligenzrückstand als die Mädchen, aber einen größeren Intelligenzvorsprung; es kommen also die höchsten und niedrigsten Leistungen bei ihnen gleichzeitig häufiger vor. Die Tests müssen sich auch auf die Aufmerksam- keitskonzentration erstrecken und auf die Phantasieleistungen. In dieser Richtung stellte W. Versuche an, die u. a. ergaben, daß die Aufmerksamkeitskonzentration sich mit den Jahren vergrößert und ebenso die verlangten Phantasieleistungen. Ziehen, Theodor, Versuche über die Beteiligung von Bewegungsempfindungen

und Bewegungsvorstellungen bei Formkombinationen. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie. 15, 1 (Januar 1914), S. 40—44.

Die Versuche wurden an normalen, schwachsinnigen und früh erblindeten Kindern sowie an Erwachsenen angestellt: einfache geometrische Figuren waren bei geschlossenen Augen zusammenzulegen. Die spezifischen kinästhetischen Vorstellungen (die nicht-optischen Bewegungsvorstellungen) spielen nicht die erhebliche Rolle und sind nicht so differenziert, wie meistens angenommen wird.

Zürcher, E., Kinderaussagen. Zeitschrift für Jugenderziehung und Jugendfürsorge. 3,9 (15. Januar 1913), S. 249—255.

Zwei lehrreiche Fälle als Beispiele dafür, »daß es in vielen Fällen möglich ist, zu einer Rekonstruktion des Herganges und zur Überzeugung zu gelangen, daß etwas nicht passiert oder passiert ist und wie es passiert ist, auch wenn in der Hauptsache kein Material als die Aussagen eines Kindes zur Verfügung steht«, Besonders wird auf die große Bedeutung der Suggestivfragen hingewiesen, deren Gefahren noch viel zu wenig bekannt sind.

Bloch, Ernst, Die Intelligenzprüfungen nach der Methode von Binet-Simon. Zeit- schrift für Schulgesundheitspflege. 26, 9 (September 1913), S. 625—633.

Die Arbeit will keine detaillierte Beschreibung geben, sondern nur einen Über-

blick für den bisher Unkundigen. Bloch schlägt vor, statt der viel zu allgemeinen

42 C. Zeitschriftenschau.

Einteilung der Nichtnormalen in Imbezille, Debile und Idioten künftighin einfach den Intelligenzquotienten des Kindes anzugeben (IQ = IA/LA). Von großem Werte wären für die Schule »Intelligenzbogen« (im Anschluß an die Personalbogen), die etwa mit dem 4. Lebensjahre beginnen könnten. Dadurch würde es auch möglich, in die Hilfsschule gehörige Kinder schon mıt 7 statt 8 Jahren dahin zu überweisen. Auch tritt Bloch für die Aussonderung der Übernormalen mittels der Intelligenz- prüfungen und der Beobachtung des Lehrers ein und für deren Zusammenfassung in Sonderklassen für Hervorragend-Befähigte.

Bobertag, Otto, Bericht über die neueren Arbeiten über Tests und Intelligenz- prüfungen. Der Säemann. 1913, 9 (30. September), S. 420—423. Kurze Berichte über Arbeiten von Huey, Groszmann, Burt und Moore, Simp- son, Fernald, Murtfeld, Chotzen, Bobertag, Bloch und Preiß, Kuhlmann, Schmitt, Termann und Childs, Squire, Stern, Meumann, Kramer.

Lode, A., Welche Erfahrungen hat man mit der Intelligenzprüfungsmethode Binets besonders bei Untersuchungen an Schwachsinnigen gemacht? Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger. 34, 8 (August 1914), S. 163— 169.

Ein kurzer Bericht über die Bewährung der Methode.

Kammel, Wilibald, Der diagnostische Wert von Ermüdungsmessungen. Heil- pädagogische Schul- und Elternzeitung. V, 9 (September 1914), S. 149—153.

Der Verfasser hat die von Binet eingeführte Ermüdungsmessungsmethode mit Ästhesiometerkartons weiter ausgebildet. Er beschreibt seine Methode. Aus den bisher erhaltenen Ergebnissen geht hervor, daß der Nachmittagsunterricht für 11 bis 16jährige Realschüler entschieden erschöpfender wirkte als der Vormittagsunter- richt, daß die fünfte Vormittagsunterrichtsstunde nicht überaus stark ermüdet, daß der Turnunterricht nicht als Erholung von geistiger Anstrengung angesehen werden darf. Das neue Instrument ermöglicht es insbesondere, den Grad der Ermüdbarkeit im Laufe des Schultags zu bestimmen.

Sanctis, Sante de, Das Maß der Intelligenz. Eos. X, 2 (April 1914), S. 88—97.

Historischer Überblick über die Entwicklung der Testmethoden, denen man in Italien immer etwas skeptisch gegenüber gestanden hat. Nach Ansicht des Ver- fassers müßten die Behörden technische Kommissionen einsetzen, die sich mit der Auswahl der Schüler nach der Begabung und nach ihrem gesamten geistigen Habitus zu befassen hätten.

Stern, H., Intelligenzprüfungen. Deutsche Elternzeitschrift. V, 8 (1. Mai 1914), S. 121—124.

Eine kurze allgemein verständliche Darstellung.

Stern, H., Intelligenzprüfungen. Die Deutsche Schule. XVIII, 8 (August 1914), S. 502—517.

Die Aıbeit gibt einen vorzüglichen Überblick über die Entwickelung und den gegenwärtigen Stund des Problems. Stern betont besonders, ein wie dankbares Arbeitsfeld grade der praktische Pädagoge hier findet.

Trümper-Bödemann, Aussage und Intelligenz. Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger. 34, 8 (August 1914), S. 170—175; 9 (September), S. 187—192.

An 10 Schülern im durchschnittlichen Lebensalter von 13,7 Jahren und im Intelligenzalter von 8.9 Jahren stellte der Verfasser zwei Aussageversuche an. Das Ergebnis war: »Bei Schülern, deren eine Aussage völlig ihrem Intelligenzniveau und ihren schulischen Leistungen entspricht, wird in der Regel bei einem zweiten Versuche die Aussagekurye nach oben bezw. unten ausschlagen.e Die Beobachtungs-

C. Zeitschriftenschau. 43

fähigkeit und die Aussagerichtigkeit ist bei Anormalen schwankend; gute Schüler sind durchaus nicht immer gute Beobachter. Wollermann, E., Über Intelligenzprüfungen. Blätter für Taubstammenbildung. XXVII, 16 (15. August 1914), S. 242—253; 17 (1. September), S. 269—270. Allgemeine Besprechung der Intelligenzprüfungen und Mitteilung eines in der Berliner Arbeitsgemeinschaft für exakte Pädagogik ausgearbeiteten Sprach- und Denktests (Ausfüllen von Lücken in einer Erzählung). Einige Lösungen dieses Tests durch Taubstumme werden angeführt. Für Taubstumme sind Tests, die den Besitz der Sprache zur Voraussetzung machen, in den ersten Jahren überhaupt nicht und auch später nur mit Vorsicht zu gebrauchen. Für Taubstumme im vorschulpflichtigen Alter und in den ersten Schuljahren geeignete Tests werden angeführt. Den Schluß bilden Beispiele über Intelligenzprüfungen aus der Geschichte des Taubstummen- unterrichts. i

Scheibner, Otto, Die Verhandlungen des III. Kongresses für Jugendbildung und Jugendkunde. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie. XIV, 11 (November 1913), S. 556—574.

Anschütz, Georg, Dritter Deutscher Kongreß für Jugendbildung und Jugendkunde zu Breslau vom 4.--6. Oktober 1913. Der Säemann. 1913, 10 (7. November 1913), S. 435—439.

Brahn, Max, Diə Frage der gemeinsamen Jugenderziehung auf dem Kongreß des Bundes für Schulreform in Breslau. Die Pädagogische Praxis. Il, 3 (Dezember 1913), S. 135—140.

Hylla, E., Der Unterschied der Geschlechter und seine Bedeutung für die Jugend- erziehung. Die Deutsche Schule. XVII, 12 (Dezember 1913), S. 782—790. Scherer, Heinrich, Dritter deutscher Kongreß für Jugendbildung und Jugend-

kunde. Die Arbeitsschule. 27, 12 (Dezember 1913), 8. 364—368.

Scheibner, Otto, Die Ausstellung zur vergleichenden Jugendkunde in Breslau. Ebenda. S. 368—372.

Schneider, G., Zwei Breslauer Schulreform - Kongresse. Pädagogischer Anzeiger für Rußland. V, 12 (28. Dezember 1913), S. 705—715.

Aus den zahlreichen Berichten seien diese als die beachtenswertesten hervor-

gehoben. Anormalenpädagogik.

Baldrian, K., Die Zöglinge der Taubstummenanstalten nach ihren seelischen und körperlichen Eıgentümlichkeiten. Eos. X, 3 (Juli 1914), S. 173—180. Zeichnung einiger häufig vorkommender Typen abnorm veranlagter Taub- stummer. Daraus ergibt sich, daß jede Taubstummenanstalt zugleich Besserungs- anstalt und Hilfsschule sein muß. Büttner, Georg, Schwere Sorgenkinder. Deutsche Elternzeitschrift. V, 7 (April - 1914), S. 115—116. Ganz kurze Charakteristik moralischer und intellektueller Defekte. Gruhle, Hans W., Vererbung und Erziehung (besonders bei der sittlich verwahr- losten Jugend). Die Pädagogische Forschung. II, 4 (Juli 1914), S 369—383. Gruhle kommt zu folgendem Ergebnis bei seinen grundlegenden Betrachtungen: »Ob eine persönliche Eigenschaft ererbt, angeboren, bildungsfähig (erziehbar) ist, kann niemals zugleich von einem Gesichtspunkt aus entschieden, muß vielmehr jedesmal von allen drei in sich ganz verschiedenartigen Seiten untersucht werden.«

44 C. Zeitschriftenschau.

Für uns besonders beachtenswert sind noch folgende Sätze: »Sicherlich liegt es nicht an den Anlagen allein, daß der größte Teil der sittlich verwahrlosten männ- lichen Jugendlichen unsere Erziehungsanstalten ungeändert passiert, sondern am System. Denn es hieße Übermenschliches von der Kunst eines Pädagogen verlangen, der mit Hilfe einer Schar wackerer, doch seelisch äußerst unkomplizierter ehemaliger Unteroffiziere 120 der charakterologisch schwierigsten Burschen umbilden und zu sozial nützlichen Persönlichkeiten wandeln soll.e Auf Grund seiner eigenen Forschungen gesteht Gıuhle allerdings weiter, daß es nicht nur am System liegt, sondern daß man vielfach an die Grenzen der Erziehbarkeit herankommt. »Es gibt Persönlich- keiten, die durch ihre Anlagen unfahig sind, sich in die sozialen Verhältnisse unserer Zeit zu schicken. und es gibt solche Persönlichkeiten, deren Anlagen so stark und in ihrer Kombination so fest gefügt sind, daß an ihnen jede Erziehung scheitert.« Herfort, Karl, und Broäek, Arthur, Die eugenische Zentrale des Ernestinums. Eos. X, 3 (Juli 1914), S. 161—173.

Die Zentrale wurde im Juli 1913 begründet, um den allgemeinen Gesundheits- zustand der Familien der schwachsinnigen Anstaltszöglinge zu studieren. Vier Stammbäume geben ein Bild von der Art der Arbeit. Die bisherigen Feststellungen ergaben, daß zwei neuropathische, aber nicht schwachsinnige Eltern eine durchwegs neuropathische Nachkommenschaft haben; auch schwachsinnige Individuen finden sich unter ihren Kindern. Die neuropathische Tendenz wird nach Ansicht der Ver- fasser nicht nach den einfachen Mendelschen Regeln vererbt, sondern nach den Regeln der Polymerie (Theorie der gleichsinnigen Faktoren, Johannsen, Ehle). Sie schließen ihre Arbeit mit den Worten: »Auch wenn das Studium und die Analyse der Stammbäume mit den Fortschritten der Eugenik bestimmt dartun sollte, daß es nicht möglich ist, die einfachsten Mendelschen Regeln zu finden, bleibt doch der große Wert der eugenischen Forschung für die Erkenntnis des jugendlichen Schwach- sinns ungeschmälert aufrecht.«

Hoche, P., Defekte im Charakter des Kindes. Zeitschrift für Kinderpflege. Jg. IX (August 1914), S. 144—147.

Eine sehr allgemein gehaltene Schilderung, die wohl nur für Mütter zur oberflächlichen Orientierung bestimmt ist.

Hovorka, Oskar von, Erbliche Belastung und andere, den Kinderschwachsinn veranlassende Momente. Heilpädagogische Schul- und Elternzeitung. V, 10 (Ok- tober 1914), S. 165—171.

Unter den 419 Kindern, die 1913 in die nieder-österreichische Landesanstalt für schwachsinnige Kinder in Wien-Gugging aufgenommen wurden, waren 130 durch Trunksucht in der Aszendenz belastet. Bei diesen Kindern herrschten die schweren Formen von Idiotie und hochgradigem Schwachsinn vor. Irrsinn findet sich in der Aszendenz von 5l Kindern, krankhafte Beeinträchtigung des Nervensystems bei 107, Epilepsie bei 15; durch Selbstmord endeten die Angehörigen von 21 Kindern. Bluts- verwandte Eltern hatten 8 Kinder. An Tuberkulose starben die Angehörigen von 61 Kindern, Syphilis des Vaters wurde nur bei vier Kindern angegeben. Alles in allem waren 9 Zehntel der Kinder belastet. Es werden dann noch kurz ätiologische Momente des Schwachsinns besprochen, die das Kind selbst treffen. Diese treten aber mehr in den Hintergrund gegenüber der ersten Gruppe.

Kıckh, Adolf, Alkohol und Kindersterblichkeit. Internationale Monatsschrift zur Erforschung des Alkoholismus. XX1V, 9/10 (September/Oktober 1914), S. 320 bis 326.

Für seine Untersuchungen verwandte der Verfasser die Forschungen von

©. Zeitschriftenschau. 45

230 Familien mit 1328 Kindern. Die Ergebnisse der Untersuchung bringen nichts neues: die Sterblichkeit der Trinkerkinder ist eine hohe; sie merzt die Minder- wertigen nicht aus, sondern es handelt sich dabei um eine Entartung vorher ge- sunder Familien.

Altherr, Viktor, Entwicklung des schweizerischen Blindenwesens in den Jahren 1903—1913, dem ersten Jahrzehnt des Bestandes des schweizerischen Zentral- vereins für das Blindenwesen. Eos. X, 3 (Juli 1914), S. 213—222.

In der angegebenen Zeit hat sich die Zahl der Schutzbefohlenen mehr als ver- dreifacht: sie stieg von 336 auf 1043. Die neuen Blindenstatistiken zeigen eine Abnahme der Jugendblindheit. Im weiteren werden die Aufgaben der Zentralstelle näher bekannt gegeben.

Classe, H., Einführung der Schüler in die Zeitrechnung, Jahr, Monat, Tag, Stunde. Ebenda. S. 190—196.

Aus der Unterrichtspraxis.

Geelhaar, A., Die Erziehungsmethode der Montessori für das vorschulpflichtige Kindesalter. Dia Hilfsschule. VII, 7 (Juli 1914), S. 196—198.

Kurzer Bericht über die Hauptmomente. Zum Schluß wird betont, daß die Methode in den Kindergärten Berlins versuchsweise angewandt werden soll. Auch für die Hilfsschule wären bei vorsichtiger Anwendung der Methode vielleicht Er- folge zu erhoffen.

Hausstein, J., Verhütung und Bekämpfung von Sprachfehlern. Die Hilfsschule. VII, 7 (Juli 1914), 8. 183—190.

Die Kinder müssen frühzeitig gute Vorbilder im Sprechen erhalten. Wünschens- wert erscheint eine Schrift für die Eltern, in der sie über das Verhalten gegenüber zu Sprachfehlern neigenden Kindern Auskunft bekommen. Das verbreitetste Übel ist das Stottern. Der Schwerpunkt der Bekämpfung muß in der Zeit des schul- pflichtigen Alters liegen. Der Verfasser tritt für Sonderklassen für Stotterer ein, da die Volksschule jetzt den stotternden Schülern nicht gerecht zu werden vermag. Wo dıese Einrichtung nicht möglich ist, muß an den Kursen festgehalten werden. Dringend erforderlich ist die Unterweisung aller Lehrer in der Behandlung von Sprachfehlern (besondere Kurse).

Kolar, Heinrich, Zur Einführung in das Schreiben und Lesen. Eos. X, 3 (Juli 1914), S. 222—234.

Die Schüler müssen vor allem in das Erfassen zweilautiger Verbindungen ein- geführt werden. Die Arbeit zeigt, wie das geschieht. Von Anfang an muß das Schreiben und Lesen den Anschauungssprechübungen ein- und untergeordnet werden. Der Schreibleseunterricht ist psychologisch auszugestalten und zu vertiefen. Lehm, Kurt, Im sonnigen Eckstübchen. Die Hilfsschule VII, 7 (Juli 1914),

S. 173—182.

Die Arbeit will die Durchführbarkeit des Spiels in der Praxis des Hilfsschul- unterrichts darlegen.

Rockenschaub, Berta, Aus der Rechenstunde. Heilpädagogische Schul- und Flternzeitung. V, 8 (August 1914), S. 142—145.

Die Verfasserin stellt die Hunderte durch eine Linie, die Zehner durch leere Felder, die Einer durch Striche dar. Mit dieser Methode hat sie im Hilfsschulunter- richt gute Erfahrungen gemacht.

Seifert, H., Spiele für den Unterricht schwachsinniger Kinder. Die Hilfsschule. VII, 8 (August 1914), S. 219—223. -

46 C. Zeitschriftenschau.

Die von Fräulein Descoeudres in Anlehnung an Decroly zusammengestellten Spiele können als eın vortreffliches Mittel für die Willens- und Aufmerksamkeits- erziehung schwachsinniger Kinder betrachtet werden. Durch sie wiederholt das Kind einzeln, was es mit dem Lehrer gelernt hat, es findet eine wohltuende Beschäfti- gung und ein reiches Feld für den Handarbeitsunterricht (Selbstverfertigung der Spiele). Alle Spiele können auch als Tests benutzt werden. Die Spiele sind nach Sinnesübungen, Rechenspielen und Lese- und Orthographiespielen übersichtlich zu- sammengestellt. Auch für den Normalen - Unterricht würden sich verschiedene Spiele mit Nutzen verwenden lassen. Der ziemlich hohe Preis wird eine Ver- breitung in der Hilfsschule allerdings vorläufig noch hindern.

von Hoffmann, Géza, Die rassenhygienischen Gesetze des Jahres 1913 in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Archiv für Rassen- und Gesellschafts- biologie. XI, 1 (17. Juli 1914), S. 21—32.

Ergänzt des Verfassers Buch »Die Rassenhygiene in den Vereinigten Staaten von Nordamerika«. Eine strenge Durchführung der Eheverbote ist bisher noch nicht geglückt; doch geht der Amerikaner langsam zielbewußt vor. Der Sterilisierung Minderwertiger stellen sich unerwartet juristische Hinderungen in den Weg. Doch steht zu erwaıten, daß sich die Rechtsauffassung allmählich rassenhygienischen Er- wägungen zugänglich erweist.

Kirmsse, M., Dr. med. Ferdinand Kern. Zeitschrift für die Behandlung Schwach- sinniger. 34, 7 (Juli 1914), S. 150—157.

Kern lebte von 1814 bis 1868. Er ist einer der bedeutendsten Vertreter der Schwachsiunigenfürsorge in Deutschland. Vergl. diese Zeitschrift, XIX, 12. Piper, H., Ein vierzigjähriges Jubiläum. Zeitschrift für die Behandlung Schwach-

sinniger. 34, 9 (September 1914), S. 181—187; 10 (Oktober), S. 197—212.

Der Verein für Erziehung, Unterricht und Pfiege Geistesschwacher feiert im September sein 40jährıges Bestehen. Über die auf den 14 Konferenzen verhandelten Themen usw. wird in der Arbeit Bericht erstattet.

Schumann, Paul, Zur Geschichte der Fachausdrücke des Taubstummenbildungs- wesens. Eos. X, 2 (April 1914), S. 97-105; 3 (Juli), S. 180—212.

Der Aufsatz befaßt sich mit dem Aufkommen und Sichfestsetzen, dem Sich- wandeln und Vergehen von Fachausdrücken: Taubstumm, Taubstummenbildurg; Art- bezeichnungen für Taubstumme; Französische Methode, deutsche Methode und ähn- liches; Lautsprache, Tonsprache und ähnliches; Sprechempfindung, inneres Gehör und ähnliches; Absehen, Ablesen und ähuliches; Gebärde, Gebärdensprache. Sengstock, Über die Lehrwerkstätten und die hauswirtschaftliche Fortbildungs-

schule des Königsberger Vereins zur Fürsorge für Schwachsinnige. Die Hilfs- schule. VII, 8 (August 1914), S. 223 —226.

Erziehungsheim für schwachbefähigte Mädchen in Breslau, Pogelwitzstraße. Ebenda. S. 226—227.

Zwei kurze, aber erfreuliche Jahres- und Rechnungsberichte.

Weißer, Ewald, Das anormale Kind und seine Ausdrucksformen auf der Leipziger Weltausstellung für Buchgewerbe und Graphik. Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger. 34, 7 (Juli 1914), S. 187—150.

Das Taubstummenwesen ist der Sprache, das Blindenwesen der Schrift ein- gegliedert, während die Ausstellung des Schwachsinnigenwesens in die einzelnen Ab- teilungen der Gesamtschulausstellung eingegliedert ist. Oberster Ausstellungsgedanke

D. Literatur. 47

war, den kindlichen Ausdruck als Maßstab der Innenkultur und darum als Erziehungs- ziel aufzufassen. Aus den Ausdrucksformen sollen Richtlinien für die Erzieherarbeit gewonnen werden.

D. Literatur.

Kammel, Willibald, Das pädag.-psychologische Laboratorium an der n. ö. Landes-Lehrerakademie in Wien. Bericht über das III. Studienjahr. Wien 1916, Selbstverlag (Wien I., Hegelgasse 12). 19 8.

Der Bericht läßt ein erfreuliches Fortschreiten dieses der empirisch-pädagogi- schen Forschung gewidmeten Institutes erkennen. Möge es sich ebenso weıter ent- wickeln und dadurch all den großen Aufgaben in immer reicherem Maße entsprechen können, wie sie z. B. W. Stern in der Zeitschrift für pädagogische Psychologie 1916, Heft 7/8, S. 273 ff. schön dargelegt hat. Der Bericht enthält u. a. ein Ver- zeichnis der Apparate, der Bücher und Zeitschriften, bringt kurze Auszüge aus 49 Protokollen über Beobachtungen und Untersuchungen aus dem Gebiete der Jugendkunde, teilt alle seit Gründung des Laboratorıums veröffentlichten und fertig- gestellten Arbeiten mit und gibt schließlich ein Verzeichnis der stattlichen Reihe von Vorträgen, die in Vereinen und Schulen gehalten wurden. Man sieht, es wird fleißig und zielbewußt gearbeitet.

Graz. E. Martinak.

Zeit- und Streitschriften. Verlag »Volksheil«, Graz, 1916. Heft 1. Johann Ude, Prostitution, Geschlechtskrankheiten und deren Bekämp- fung. 56 S. 30 Pf. Heft 2. Ders., Alkobol und Unsittlichkeit. 24 S. 15 Pf. Heft 3. D gn, Das Era des 20. Jahrhunderts, der Neomalthusianismus, 358. 15 Pf. Heft 4. Ders., Rauclısklaverei and Kultur. 88. 10 Pf. Heft 5. SAE EPRI Metzger, Der Feind und die Zukunft Österreichs. 20 8. 15 Pf. Heft 6. Johann Ude, Brotnot!! Milchnot!! Warum?? 28 S. 20 Pf. Heft 7. Max Josef Metzger, Der Weltkrieg Bankerott oder Triumph des Christentums? 19 S. 20 Pf. Heft 8. Johann Ude, Die Verwahrlosung der Jugend. 35 S. 20 Pf. Heft 9. Max Josef Metzger, Nachstenliebe oder Wein? 56 S. 40 Pf. Wie sich aus der bloßen Aufzählung schon erraten läßt, handelt es sich bei diesen Zeit- und Streitschriften um eine Reihe von Werbeschriften für die Ideen der Enthaltsanıkeit und der Sittlichkeit und ihnen verwandter Bestrebungen. Die Schriften sind fesselnd geschrieben, enthalten zum Teil reiches Zahlenmaterial und müssen auf jeden denkenden Menschen einen tiefen Eindruck machen. Sie haben alle einen streng katholischen Charakter, wodurch ihre Verbreitung natürlicher- weise beschränkt bleiben wird. Heft 1 und 3 sind bereits in zweiter, Heft 2 in fünfter Auflage erschienen ein Beweis dafür, daß es diesen Schriftchen nicht an Verbreitern fehlt, deren sie allerdings kaum genug werden finden können. Jena. Karl Wilker.

von Bunge, G., Die zunehmende Unfähigkeit der Frauen ihre Kinder zu stillen. 7., durch neues statistisches Material vermehrte Auflage, mit einem polemischen Nachwort. München, Ernst Reinhardt, 1914. 40 S. Preis 80 Pf. Auf Grund eines statistischen Materials, das sich nunmehr auf 2709 Familien bezieht, kommt B. zu dem Ergebnis, daß Trinkertöchter die Fähigkeit verlieren, ihre Kinder die normale Zeit hindurch ausreichend zu stillen. Die Stillunfahigkeit paart sich mit anderen Degenerationssymptomen, insbesondere mit der Widerstands- losigkeit gegen Erkrankungen aller Art, an Tuberkulose, an Nervenleiden, an Zahnkaries. Man hat Bunges Untersuchungen mehrfach angegriffen; sie wirklich einwand-

48 D. Literatur.

frei zu widerlegen ist bisher noch keinem seiner Gegner gelungen. Für den Rasse- hygieniker ergeben sich aus der Bungeschen Arbeit natürlich die weittragendsten Konsequenzen. Für den Alkoholgegner bietet sie eine Fülle wertvollen Materials, und dem Kinderforscher sollte sie nicht nur aus den Referaten und Anmerkungen der Rassehygieniker und Alkoholgegner bekannt sein, sondern er solite sich die Mühe machen, die wenigen Seiten durchzulesen und vor allem durchzudenken. Jena. Karl Wilker.

Jahrbuch der Schulgesundheitspflege 1915. Herausgegeben von Moritz Fürst. Mit einem Beiheft: Schulhygienischer Notizkalender. Jena, Gustav Fischer, 1915. X und 168 Seiten. Beiheft: IV und 124 Seiten. Preis brosch. 3 Mark, geb. 4 Mark.

Dem Buche merkt man den Einfluß des Krieges an, der ja ganz selbstver- ständlich einer derartigen Arbeit nicht förderlich sein konnte. Es enthält nur zwei kurze Aufsätze, einen vom Herausgeber über Schulhygiene und freie Arztwahl, den zweiten von W. Hanauer über die Schulhygiene in Fortbildungs- und Gewerbe- schulen. Eine Fülle von Zusammenstellungen usw. machen das Jahrbuch zu einem unentbehrlichen Nachschlagebuch für jede Lehrerbibliothek; denn daß es in die Hand eines jeden Schularztes gehört, braucht wohl kaum noch besonders betont zu werden.

Jena. Karl Wilker.

Peiper, Erich, Die Säuglingspflege. Leitfaden für den Unterricht der Säug- lingspflege an Mädchenschulen. Mit 22 Abbildungen im Texte. Greifswald, Verlag Ratsbuchhandlung L. Bamberg, 1916. 58 Seiten. Preis kart. 2,20 M.

Professor Dr. Erich Peiper, Geh. Med.-Rat und Direktor der Universitäts- Kinderklinik zu Greifswald, veranstaltete in Gemeinschaft mit Schulrat Gercke 1916 in Greifswald Unterrichtskurse über Säuglingspflege für 12—14jährige Mäd- chen. Den Lehrstoff, den er in acht Vorlesungen bot, hat er in dem vorliegenden Leitfaden weiteren Kreisen zugänglich gemacht. Damit ıst der guten Sache ein wertvoller Dienst erwiesen; deun es wird hier der Stoff geboten, der tatsächlich mit Kindern durchgearbeitet wurde. Diese Erkenntnisse faßten die Mädchen, und die Belehrungen wurden in dieser Form auch von ihnen verstanden, was die schrift- lichen Arbeiten der Mädchen und die kurzen Prüfungen am Ende jeder Vorlesung bewiesen.

Außerdem wurden praktische Übungen veranstaltet, die in jeder Vorlesung angegeben sind, und an Lichtbildern veranschaulichte Peiper seinen Vortrag. Diese Lichtbilder können leihweise durch die Fırma Hausmann, Optisches In- stitut, Göttingen, bezogen werden. Daß den Mädchen auch gesunde, schwäch- liche und kranke Säuglinge u. a. m. tatsächlich vorgeführt werden konnten, ist von Vorteil, der sich leider selten bieten wird, wie auch nicht aller Orten solch Fach- mann mit reichster Erfahrung und tiefem Wissen als Lehrer auftreten kann.

Aber eine wertvolle Hilfe bietet sein Leitfaden allen, die solche Kurse ver- anstalten wollen. Natürlich genügen für den Lehrer nicht allein diese 8 Vorlesungen, die zwar einen Reichtum an Erkenntnissen und Belehrungen enthalten. Er muß neben notwendigen Erfahrungen aus der Kinderstube sein Wissen vertiefen durch ein gründliches Studium der einschlagenden Literatur aus der Hygiene, Pädagogik und Psychologie des Säuglings und Kleinkindes. Erst dann wird er auf dem hohen Standpunkt stehen, um von dort aus die notwendigen Erläuterungen geben zu können, nicht gebunden an einen Leitfaden. Es ist darum notwendig, daß bei einer Neu- auflage dem Leitfaden ein Wegweiser durch die Literatur der erwähnten Gebiete für die Lehrer angefügt wird.

Peipers Leitfaden können auch die Mädchen in die Hand bekommen, was ebenfalls sehr zu empfehlen ist.

Daß der Gedanke, die Mädchen in der Schule über Säuglingspflege und Klein- kindererziehung zu belehren, nicht neu ist und schon früher verwirklicht wurde, zeigten wir in dieser Zeitschrift XXI. Jahrg., Heft 9 u. 10, S. 417 ff.

Jetzt aber, wo sich überall diese Kurse einführen, weisen wir besonders emp- fehlend auf den vorliegenden Leitfaden hin.

Meißen i. Sa. Kurt Walther Dix.

Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.

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A. Abhandlungen.

Über das Problem des sogenannten Versehens der Frauen. Von Dr. med. F. Brandenberg, Kinderarzt in Winterthur,

Unter diesem Titel veröffentlicht Kuhn-Kelly, St. Gallen, einige Fälle aus seiner 20jährigen Tätigkeit in Kinder- und Jugendfürsorge- praxis. 1) Nachdem der Erzieher der Frage nach seiner Auffassung näher getreten ist, dürfte es auch dem Arzte gestattet sein, Stellung zu diesem Problem zu nehmen. Die Literatur zu diesem Kapitel ist nicht arm. Das am meisten Interessierende will ich an Hand einer Arbeit von Dr. Blenke, Spezialarzt für orthopädische Chirurgie, Magde- burg, in der Zeitschrift für orthopädische Chirurgie, IX. Bd., S. 622 u. folgende, wiedergeben.

Welsenburg schreibt in seinem Buche über das » Versehene: »Der Glaube daran gehört zu jenen elementaren Völkergedanken, die überall die Menschheit von den dunklen Träumen der Kindheit bis zu den klaren Erkenntnisstufen, auf denen die Zivilisation beruht, be- gleiten. Er ist über die ganze Erde verbreitet und bei Völkern heimisch, die niemals miteinander in Berührung kamen.«e Nach Ploß- Bartels glauben an das »Versehen« die Chinesen, die Indianer am Orinocco wie die Wakamba in Ostafrika.

Um das »Versehen« abzuwenden, gibt es natürlich auch Mittel.

1) Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung. Heft 134. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann). 27 Seiten. Preis 60 Pf. Zeitschrift für Kinderforschung. 22. Jahrgang. 4

50 A. Abhandlungen.

In Siebenbürgen hilft das Entweder oder, entweder das Ding, vor dem man erschrickt, recht genau sich ansehen oder den Blick davon abwenden. Hat sich die Frau an etwas versehen, so soll sie s. v. v. sich sofort an den Hintern greifen, dann hat das Versehen keine Folgen oder aber das »Mal« entsteht an dieser Körperstelle. Die An- sicht, daß die Mißbildungen entweder Werke des Teufels oder eine Strafe Gottes sei, wurde zuerst energisch von einem italienischen Anatomen Matteo Realdo Colombo (1470—1559), später von dem englischen Arzte Jacob August Blondel bekämpft. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts stellte die kaiserl. Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg als Preisaufgabe folgende Frage auf: »Welches ist die nächste Ursache, die eine Veränderung am Körper des Fötus hervorbringt, nicht aber an dem der Schwangeren, wenn deren letzteren Seele aus irgend einen Grunde heftig erregt wird, und warum ge- schieht dies an dem Teile des fötalen Körpers, den die Mutter an ihrem Körper mit ihrer Hand berührt hat?« Nach Welsenburg er- hielt der Leipziger Anatom Karl Christian Krause den Preis »trotz des gänzlichen Mangels an Sachkenntnis und an Urteilsvermögen.« Er glaubte an eine von ihm angenommene »Nervenverbindung« zwischen Mutter und Kind und bejahte die Möglichkeit des Versehens.

Es werden dann in späteren Jahren eine Menge von Gründen angeführt, die gegen die Möglichkeit des Versehens sich aussprechen. Ich führe einige davon hier an, während die übrigen im Zusammen- hang später folgen werden. So schreibt Welsenburg, daß häufig Mißbildungen an Organen vorkommen, welche die Mutter gar nicht kennt oder jedenfalls nicht sehen konnte. Fleischmann betont, daß viele Mißgeburten ihrem vermeintlichen Vorbilde gar nicht gleichen, daß z. B. Hasenscharten in Gegenden vorkommen, wo es gar keine Hasen gibt.

Sehr häufig werden die Frauen erst von fernstehender Seite auf- merksam gemacht, ob sie sich nicht »versehen« hätten, und so kann dann ein Kausalkonnex gesucht und gefunden werden, der den eigent- lichen Tatsachen gar nicht entspricht. Welsenburg stellt das Ver- sehen nicht in Abrede, weil »Männer mit gutem Namen« wieder Fälle zugunsten desselben mitgeteilt haben. Er schließt sein Werk mit den Worten Burdachs:

»Trotz aller theoretischen Starkgeisterei wird kein Weib im Prak- tischen den Glauben an das Versehen ganz überwinden.«

Ich bin bisher genau den Angaben Blenkes gefolgt, der nach diesen mehr historischen Belegen dann auf eine modernere Ansicht der Entstehung von Bildungsfehlern übergeht, wonach diese mehr durch

Brandenberg: Über das Problem des sogenannten Versehens der Frauen. 51

äußeren mechanische Momente bedingt seien. Selbstverständlich kann diese Ursache nur für ganz bestimmte Mißbildungen in Frage kommen.

Ich selbst habe die Frage der Vererbung von Mißbildungen zur Grundlage mehrerer Veröffentlichungen gemacht, deren erste unter dem Titel »Mißbildung und Heredität« im Bd. XXI der Zeitschrift für orthopädische Chirurgie erschien. Eine 2. Arbeit veröffentlichte ich im Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie, 1910, Heft 3, sie trägt den Titel: Kasuistische Beiträge zur gleichgeschlechtlichen Ver- erbung, und als letzte Arbeit erschien im Bd. XXXIII der Zeitschrift für orthopädische Chirurgie: Drei seltene Mißbildungen. Während in der ersten Arbeit über 10 Fälle referiert wird, erstreckte sich die letzte Arbeit über ein Material von 128 Fällen, eine Sammelarbeit aus eigener Praxis und Literatur von mehr als 10 Jahren. Beim ersten meiner eigenen Fälle handelte es sich um Doppelbildung von Daumen- und Großzehen - Nagelglied, sowie Schwimmhautbildung zwischen 2., 3. und 4. Finger und 2., 3. und 4. Zehe beiderseits; in der Familie sind keine Mißbildungen vorgekommen. Diese Frau ver- heiratete sich mit einem tuberkulösen Manne. Es entsprossen der Ehe 4 Kinder, welche zur Zeit der ersten Veröffentlichung (1908) folgende Befunde zeigten:

Otto 7!/, Jahre alt, gesund und in jeder Beziehung normal.

Martha 6 Jahre. Doppelbildung des Großzehen-Nagelgliedes beider- seits, Schwimmhautbildung zwischen 2. und 3. Zehe beiderseits, sowie zwischen 3. und 4. Finger beiderseits.

Lisbeth 4!/, Jahre. Doppelbildung des Nagelgliedes an beiden Großzehen, Schwimmhautbildung zwischen 1., 2. und 3. Zehe beiderseits, beide Daumen zeigen Verbreiterung des Nagel- gliedes.

Hedwig 3!/, Jahre, zeigt keine Mißbildung.

In einem 2. Falle handelte es sich um eine äußerst seltene, an- geborene Erkrankung des Augenhintergrundes bei zwei 3!/,- und nicht ganz ljährigen Mädchen, während der 2jährige Knabe von der Er- krankung verschont blieb. Das Interessanteste ist, daß in diesen Fällen je nur die Mädchen in beiden Familien befallen wurden. Ich habe nun in der Folge solche Fälle herausgesucht, wie der Titel der 2. Arbeit bereits angibt, wo nur das eine Geschlecht oder das eine in bevorzugter Weise die typischen Mißbildungen oder Krankheiten aufweist. Über diese Statistik werde ich später referieren. Welche Schlüsse lassen vorerst diese zwei merkwürdigen Fälle von Vererbung oder im 2. Falle richtiger gesagt von familiärem Auftreten von Miß-

bildung und Erkrankung zu? 4*

52 A. Abhandlungen.

Zur Erklärung von Vererbungen stellt Hering die Lehre von der »Gedächtnisfunktion der lebenden Materies auf, die Semon in seiner »Mneme« weiterführt. Die Vererbung ist eine Wirkung dieses Zell- gedächtnisses, das es ermöglicht, daß der organische Keim immer von neuem den Entwicklungsgang der Vorfahren wiederholt. Haeckel spricht sich bei Vorführung eines Falles von angeblicher Vererbung erworbener Eigenschaften wie folgt aus: »Daß durch psychische Ein- drücke während der Schwangerschaft Anomalien des Kindes erzeugt werden, ist abzuleugnen, da das befruchtete Ei bald durch seine Hülle vom mütterlichen Organismus abgeschlossen ist, dagegen sind Ein- wirkungen auf dem Wege des Versehens vor der Befruchtung nicht von vornherein unwahrscheinlich.«

Als weiteren Grund für das Zellgedächtnis führt Haeckel die Tatsache an, daß weibliche Tiere, die zu Anfang von schlechten männ- lichen Tieren belegt wurden, auch bei späterer Paarung mit guten männlichen Tieren Junge mit den Eigenschaften der schlechten männ- lichen Tiere zur Welt brachten.

Ob nun wirklich die Mneme in meinen zwei Fällen als mit- wirkend beim Zustandekommen der Anomalien angesehen werden darf? Gewiß ist die Frage zu verneinen. Beim 1. Fall war die Idee der Mutter, ihre Mißbildung könnte sich bei den Kindern wiederholen, am stärksten vor der ersten Schwangerschaft vorhanden; gerade dieses Kind zeigte keine Mißbildung; daß dagegen für das 3. Kind die Mneme verhängnisvoll werden konnte, läßt sich nicht absprechen, eigentümlich ist aber, daß bei diesem Kinde die Mißbildungen weniger schwer sind als beim 2., und daß beim 4. Kinde die Mneme ganz aus dem Spiele fällt. Beim 2. Fall mit den Erkrankungen des Augenhintergrundes hätte die Mneme das 2. Kind der Gefahr am meisten ausgesetzt, und gerade dieses zeigte die Erkrankung nicht, während das 3. Kind, dessen Geburt die Mutter froher entgegenbliecken durfte nach dem ge- sunden Knaben, wieder die gleiche Erkrankung aufwies wie das erste Kind. Das »Versehen«, für welches ich im Sinne von Vererbung das Wort Mneme gesetzt habe, wäre im ersten Fall leicht möglich ge- wesen, da die Mutter wenigstens noch durch das Operationsresultat an ihre Mißbildung erinnert wurde, im zweiten Fall war das er- blindete erstgeborne Mädchen täglich Gegenstand des »Versehens«e.

Neugebauer bringt einen Fall von Doppelbildung an Daumen- und Großzehen-Nagelglied einer Frau, deren Mißbildung er photo- graphierte. Weder Verwandte des Mannes noch die früheren Kinder dieser Frau zeigten die Mißbildung, erst das Kind, mit dem die Frau in den ersten Monaten zur Zeit der photographischen Aufnahme ging,

Brandenberg: Über das Problem des sogenannten Versehens der Frauen. 53

zeigte die Mißbildung der Mutter, der Vater warf nun dem ärztlichen Photographen vor, er habe durch die photographische Aufnahme die Gedanken der Frau besonders auf ihr Leiden gerichtet.

Dieser Fall könnte den Anhängern des Glaubens an das Ver- sehen als klassischer Beweis erscheinen. Ich sage erscheinen, weil an Hand weiterer Beispiele der gleichen Mißbildung und an Hand von Experimenten noch andere zuverlässigere Faktoren für das Zustande- kommen dieser gar nicht seltenen Mißbildung mitsprechen.

Einer Arbeit von Dr. Georg Amrein, Sursee, über diese Miß- bildung entnehme ich folgende Angaben: In einem Dorfe des franzö- sischen Departements de l’Isöre, wo wegen schwierigen Verkehrsver- hältnissen eine Verbindung mit der Nachbarschaft fast unmöglich war, zeigte sich eine auffällige Häufung von Einwohnern mit über- zähligen Fingern und Zehen (Polydaktylie). Sobald der Verkehr er- leichtert wurde und sich die polydaktylen Einwohner mit normalen Auswärtigen verbanden, nahm sofort die Zahl der Polydaktylen ab und verschwand bald vollständig. Noch einschneidender in die Frage des Versehens muß der eigene Fall der Dissertation Amreins ange- sehen werden. Es handelt sich um eine Familie, bei der überzählige Finger und Nägel (Hexadaktylie) während 4 Generationen beobachtet wurden, bei den vorausgehenden 3 Generationen fand sich die Mißbildung bei Vater, Großvater und Urgroßvater, während in der 4. Generation die 7 erstgeborenen Mädchen von der Mißbildung betroffen wurden. Das 8., 9. und 10. Kind waren mißbildungsfreie Knaben, das 11. und 12. mißbildungs- freie Mädchen. Es würde wohl dem überzeugtesten Verfechter der Lehre des;Versehens schwer fallen, dieses höchstmerkwürdige Vor- kommnis mit seiner Hypothese in Einklang zu bringen.

Von den vielen mir zu Gebote stehenden Mißbildungen wähle ich extra die Fälle von überzähligen Fingern und Zehen aus, weil sie experimentell erzeugt werden konnten und so Anhaltspunkte für die Möglichkeit einer Entstehung durch rein mechanische Einwirkungen abgeben.

Beim Triton, einer Molchart, gelang dies experimentell, wenn man alle Zehen bis auf den mittelsten abtrug und durch diesen einen Schnitt bis zum Waden- und Schienbein führte. Ein anderer Triton bekam eine Doppelhand nach Abschneiden der Gliedmaßanlage und Darüberlegen eines Fadens in der Mitte.

Auch beim Menschenfötus sind Fälle bekannt, wo durch die Ein- wirkung von Eihautfäden Abschnürungen und Einschnürungen ent- standen, selbst Amputationen ganzer Gliedmaßen sind nachgewiesen.

54 A. Abhandlungen.

Selbstverständlich müssen diese Einwirkungen in eine ganz frühe Fötal- zeit verlegt werden, wo weder Verknöcherung, nicht einmal Ver- knorpelung, stattgefunden hat. Wie beim Tierexperiment durch Ein- schnüren mit Faden Doppelbildung von Fingern und Zehen erreicht wurde, ließe es sich denken, daß solche Eihautfäden gelegentlich der- artige Doppelbildung beim Menschen veranlassen könnten, aber das gübe noch lange keine Erklärung für die Vererbung der Mißbildung durch mehrere Generationen oder gar dafür, daß die Mißbildung nur das eine Geschlecht betrifft. Da muß eine andere Erklärungsweise ge- sucht werden. Jedenfalls deuten Erfahrung und Experiment bei den aufgezählten Fällen dafür, daß ein »Versehen« hier keine Rolle ge- spielt hat.

Die Experimente speziell veranlassen denn auch Prof. Paul Ernst (Heidelberg, früher Zürich) in seiner Arbeit: »Die tierischen Miß- bildungen in ihrer Beziehung zur experimentellen Entwicklungsge- schichte (Entwicklungsmechanik) und zur Phylogenie« ‚Stellung‘ zur Frage des Versehens zu nehmen. Er schreibt darüber: »Die Entstehung der meisten hier in Betracht kommenden Mißbildungen muß nach dem heutigen Wissen in eine noch viel frühere Zeit (1.—2. Monat) ver- legt werden oder wie man sich jetzt ausdrückt der teratogenetische Terminationspunkt liegt um viele Monate früher als das Datum des angeschuldigten Erlebnisses. ... Ganz unhaltbar aber erscheint die Lehre (des Versehens), wenn wir bedenken, daß wir genau dieselben Mißbildungen wie beim Menschen auch bei den Tieren antreffen, denen wir so tiefgehende seelische Eindrücke (psychische Traumata) nicht zutrauen. Interessant sind besonders die experimentell erzeugten Mißbildungen, die nach der alten Einteilung als monstra per excessum und per defectum beschrieben wurden.«

Förster, zit. bei Blenke, führt folgende Gründe gegen das Ver- sehen an:

1. Dieselben Mißbildungen, welche in einzelnen Fällen durch das Versehen entstanden sein sollen, kommen viel häufiger auch ohne Versehen vor.

2. Dieselben Mißbildungen kommen auch bei Tieren vor, und zwar unter Umständen bei solchen Tieren, bei denen an ein Versehen gar nicht zu denken ist.

3. Alle Mißbildungen entstehen in den ersten Monaten, ja die meisten in den ersten Wochen der Schwangerschaft, zu einer Zeit, in welcher viele Frauen noch gar keine Ahnung davon haben, daß sie schwanger sind, während die meisten Fälle von Versehen in den letzten Schwangerschaftsmonaten vorkommen, in welchen der Fötus

Brandenberg: Über das Problem des sogenannten Versehens der Frauen. 55

vollständig ausgebildet ist, und eigentliche Mißbildungen gar nicht mehr vor sich gehen können.

4. Dieselbe Mißbildung kehrt bei mehreren Kindern derselben Frau wieder, bei dem einen soll sie sich versehen haben, beim andern nicht.

5. Alle Mißbildungen sind nach einem gesetzmäßigen, der physio- logischen Entwicklung entsprechenden Typus gestaltet und nicht dem zufälligen Gegenstand des Schreckens der Mutter nachgemodelt.

6. Bei Zwillingen ist oft nur der eine mißgebildet, der andere nicht, während man doch erwarten sollte, daß das Versehen auf beide zugleich einwirken sollte.

7. Es findet keine direkte Nervenverbindung zwischen Mutter und Kind statt.

8. Heftige psychische Affektionen, insbesondere Schreck, kommen bei Schwangeren ziemlich häufig vor, Mißbildungen aber sind selten.

Nach diesen Ausführungen möchte ich die Fälle Kuhn-Kellys kurz auf ihren Wert für die Lehre des Versehens prüfen. Sein eigener erster Fall hat gewiß für jeden Laien etwas frappierendes, nicht des Auftretens der kleinen Blutgeschwulst wegen, das treffen wir ja in 1000 und aber 1000 Fällen, sondern der Lokalisation wegen. Kuhn-Kelly gibt für den in Frage kommenden Zeitpunkt ungefähr den 3. Schwanger- schaftsmonat an, eine Zeit, in welcher das Auftreten einer Blutgeschwulst nicht unmöglich war; allerdings gibt Kuhn-Kelly als Zeitpunkt der Ge- burt an, nach »etwa einem halben Jahre. Wenn schon diese Zeitangabe nicht mit absoluter Exaktheit gegeben werden kann, ist dann Frau Kuhn- Kelly so ganz sicher, daß sie gerade auf den Punkt hingewiesen hat, wo das Blutgeschwülstchen entstand? Handelt es sich da nicht doch viel- leicht um eine Rekonstruktion, bei der dem fronrmen Glauben mehr Spielraum gewährt wird als dem absoluten Tatbestand? Unser Ge- dächtnis ist gegen seelische Beeinflussung nicht ganz gefeit. Ähnlich läßt sich das Schwabenkäfer-Muttermal in seiner Abhängigkeit vom Versehen beurteilen. Als Gegenbeispiele möchte ich 2 Beobachtungen aus meiner Praxis anführen. Ein Fabrikarbeiter zeigte an Hals- und Ohrgegend ein ausgebreitetes Muttermal infolge Blutgefäßveränderungen. Die Frau sagte mir, sie hätte immer Angst gehabt, die Kinder könnten ein so entstellendes Muttermal erben. Trotz dieser besten Gelegenheit zum Versehen und trotz der Ideenkonzentration auf das Muttermal des Mannes hatte keines der 4 Kinder irgend ein Muttermal an der gleichen oder einer anderen Stelle aufzuweisen. Eine Frau bringt ihr kleines Kind zu mir, das eine Blutgeschwulst der Haut aufweist, statt einer Himbeere aber war es nach Ansicht der Mutter eine Erdbeere,

56 A. Abhandlungen.

was sie sich sofort damit erklärte, daß sie während der Schwanger- schaft, die sich im Herbst und Winter abspielte, eine »schreckliche Lust« nach Erdbeeren hatte und diese Lust der Jahreszeit wegen leider nicht befriedigen konnte. So hätte denn das Kind die damals gewünschte »Frucht« an sich zur Welt gebracht.

In einer Fußnote führt Trüper 2 Fälle von Hasenscharten an, schon das zweimalige Vorkommen!) in der gleichen Familie spricht mehr für Vererbung, als für Versehen.?) Auch für den ersten Fall, dem Versehen zugemessen wird, müßte der genaue Zeitpunkt ange- geben werden können, in welchem Schwangerschaftsmonat das Erlebnis stattgefunden hat. Lippen- und Gaumenspalten, in ihrer Kombination Hasenscharten genannt, beruhen auf unvollständiger Verwachsung der paarig angelegten Oberkieferfortsätze des Embryo, die Verwachsung findet ungefähr um den 3. Schwangerschaftsmonat statt, nachher hätte auch das intensivste Versehen keinen Einfluß mehr. Ich verfüge in meiner Statistik über 15 Fälle von Lippen- und Gaumenspalten, welche teils vererbt beim gleichen Geschlechte oder beim andern oder familiär in Abwechslung von Zahnanomalien und Nasenverbiegung vorkamen. Diese Fälle würden in all den Varianten keine Stütze für die Hypo- these des Versehens bilden.

Der junge Student Kuhn-Kellys, der »die reinste Kopie seines Vaters« war, gehört ins Kapitel der Vererbung. Typisch ist die Ver- erbung äußerer Merkmale bei der Habsburger Nase resp. Oberlippe.

Die »Möglichkeit der vorgeburtlichen Beeinflussung« des jetzt 15jährigen Knaben, der eine ganz unwiderstehliche Sucht zum »Schnipfen« ‚hatte, kommt bei der Belastung des Knaben (Vater Al- koholiker) wissenschaftlich kaum in Betracht. Auch das Mädchen, das an auffallender Schüchternheit und Schreckhaftigkeit leidet, ist nicht »vorgeburtlich« beeinflußt, sondern die leibliche Tochter einer psychisch nicht sehr starken Mutter, sonst hätte diese sich nicht hinter einen Holzstoß verkrochen. Die Erklärung Kuhn-Kellys, daß sich dıe Mutter zu ihrem noch nicht geborenen Kinde in ähnlichem Kontakt befinde wie eine Telephon- oder Telegraphenstation zur andern, fällt mit dem anatomisch nachgewiesenen Fehlen von Nervenbahnen zwischen Mutter und Kind dahin, denn das Blut wird wohl von keinem Physio- logen als Träger des Intellektes angesehen. Wenn das Blut nach Kuhn- Kellys Ansicht wirklich Träger des Intellektes wäre, welchem Ver- dummungsprozeß wäre da der Mensch, denken wir vorerst an die ge-

1) Ein Irrtum. Ich erwähnte nur einen Fall der Familie. Der Gegenstand des Schreckes war ein französischer Gefangener, ein Turkos. Tr. ?) Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung. Heft 134. Seite 10.

Brandenberg: Über das Problem des sogenannten Versehens der Frauen. 57

bärende Frau, nach starkem Blutverluste ausgesetzt! Der weitere Fall des stummen Kindes, dessen Vater beim Sprunge aus einem brennenden Hause stockheiser geworden und sein späteres Leben blieb, kann wieder nicht als psychisches Trauma der schwangeren Frau aufgefaßt werden. Der ziemlich große Kopf und die abnorme Schädelbildung des Kindes sprechen für einen Entwicklungsfehler in der Hirnanlage, und diese ist voraussichtlich Grund der Stummheit. Nun kann aber Hirnanlage und Schädelbildung durch einen Schreck in den letzten Schwangerschaftsmonaten nicht melır beeinflußt werden.

Da nun die gleichen Mißbildungen, welche auf Verseheu beruhen sollten, sonst häufig angetroffen werden, entweder familiär, d. h. in einer Generation gehäuft oder aber vererbt durch eine oder mehrere Generationen, dürfte der Entstehung von Mißbildungen auf einem anderen Wege näher getreten werden: auf dem Wege der Vererbung nämlich. Trotz aller Arbeiten haben wir es noch lange nicht zu einem Vererbungsgesetze gebracht, aber zu annehmbaren Hypothesen hat sich die Wissenschaft doch durchgerungen. Die bereits angeführten 2 Fälle aus meiner Praxis und der Fall Amrein von Hexadaktylie haben mich bewogen, Mißbildungen und Krankheiten, die keine andere Deutung zulassen, auf ihr familiäres Vorkommen in einer oder mehreren Generationen zu sammeln. Bei der Sichtung dieser Fälle, soweit sie immer das eine Geschlecht ausschließlich oder doch auf- fallend stark betrafen, hoffte ich auch Stellung zur Frage der Ge- schlechtsbildung nehmen zu können. So sammelte ich denn in meiner Praxis und in der Literatur möglichst viele Fälle, um daraus eine Hypothese zu folgern. è

Die 128 Fälle konnte ich in 4 Typen einteilen. Die Vererbung betrifft bei Typus I das Geschlecht des mißbildeten oder erkrankten Erzeugers.

38 Fälle, darunter 19 Mißbildungen und 19 Krankheiten.

Typus L')

Mangel der Kniescheibe. Schichtstaar. s ? EEE g di e ? g

1) Die @' È bedeuten die mißbildeten und erkrankten, g die normalen Familienglieder.

58 A. Abhandlungen.

Chronische familiäre Gelb- Schwimmhautbildung und sucht. überzählige Finger. bd d bd d > c c Flughautbildung an beiden Flughautbildung am Ell- Kleinfingern. bogen. gs 2992??? d Typus II das Geschlecht des nicht mißbildeten oder erkrankten Er- zeugers.

21 Fälle, darunter 5 Mißbildungen und 16 Krankheiten.

Typus I. Hexadaktylie (Fall Amrein). Schichtstaar. s 229? ei te $ ggde Schichtstaar. Hasenscharte. Überzählige Finger. kd ts C > 4 dESs?? 2?

d Haemophilie (Bluter). d? 2 EERE u nr nm en. —— KTTTr CEE A SS sE E'E'd Typus III beide Geschlechter wahllos. 27 Fälle, 11 Mißbildungn, 16 Krankheiten.

Brandenberg: Über das Problem des sogenannten Versehens der Frauen. 59

Typus III.

Angeborne Hüftgelenkluxation. g’ Bruder Q Schwester |

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Kraushaarfamilie. % g kd c ? eE l" ALL AAN N d g Dominierendes Merkmal. Rezessives Merkmal.

Verknöcherung eines Klein- Flug- und Schwimmhaut- fingergelenkes. bildung.

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? loo d d Q (@ Geschlecht nicht angegeben.) ps è A A NASA SLE? $ Ss

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ißbildung beider Ohrmuscheln. F >? DEE BE BE Br Zur Ki t /N /N /N | SZ nder normal. EI 99g dd? g Kinder normal. Zuckerharnruhr (2 Fälle).

60 A. Abhandlungen.

Typus IVa familiäres Auftreten, also nur in einer Generation, bei nur dem einen Geschlechte. 26 Fälle, 6 Mißbildungen, 20 Krankheiten. Typus IVb familiäres Auftreten bei beiden Geschlechtern. 16 Fälle, 8 Mißbildungen, 8 Krankheiten. \

Typus IV. a) Zur Vererbung des Schielens. b) Klumphände. g - g $ TEL TEREE Er EE y Typus IVa. Hasenscharten. 1. g2? 2: d F a En u a, CE 2? Mißbildete Knaben. I. Ehe. II. Ehe mit der Schwester der 1. Frau. dÈ? EEE hf??? Typus IVb. Lippenspalten. Familiäre Idiotie 1. Os 8! O9 (8 Nasenverbiegung) mit Blindheit, 2 e??? 2219 3. 9e 4. ® 7 (g schlechte Stellung der Zähne) In 2 Generationen wurden Mißbildungen u. Krankheit. 41 mal angetroffen. 3 1 y 29 9 4 9 bi 1 »” 5 1) 1 6 7 1) 1 9 1

Alle Fälle zeigen, daß es sich bei der Vererbung nicht um ein planloses zufälliges Zusammentreffen pathologischer Befunde handelt, sondern sie zeugen für den Ausspruch Murzbachers, zitiert in einer Arbeit von L. Plate in Jena über das Vererbungsproblem:

»Der Vererbung wohnt eine große Stabilität inne, welche sich dokumentiert in der Gleichheit des Vererbungstypus innerhalb einer Familie und in der Ähnlichkeit des Krankheitsbildes in ein und der- selben Familie.«

Brandenberg: Über das Problem des sogenannten Versehens der Frauen. 61

Der Fall Trüper, 2 Hasenscharten bei 2 Brüdern, !) spricht neben meinen vielen eigenen Fällen für die Richtigkeit dieses Satzes.

Wir wissen nun, daß sowohl in der reifen Eizelle wie in der befruchtenden Samenzelle die Träger der Vererbung lagern müssen, anders läßt sich ja nicht erklären, daß im Produkte beider die Eigen- schaften jedes der Erzeuger vorkommen. Bei der Kernteilung der Zelle (Karyokinese) finden wir ein Liniennetz mit aufgelagerten färb- baren Körnern und Fäden, dem Chromatin. Das Chromatin teilt sich dann in Stücke: die Chromosomen. Durch zahlreiche Beobachtungen bei verschiedenen, hauptsächlich mehr den niederen Klassen ange- hörigen Tieren und Pflanzen stellte es sich heraus, dal bei der Teilung der Kerne stets die gleiche Anzahl von Chromosomen entstehen, so beim Ei des Pferdespulwurms, der ein besonders günstiges Beobach- tungsobjekt ist, 4 Chromosomen, bei andern Arten 12, 16—24.. Für den Menschen werden allgemein 24 Chromosomen angenommen, d.h. jede Sexualzelle, Ei und Samenzelle, besäße demnach je 12 Chromosomen, die- selben setzen sich aus elterlichen, groß- und urgroßelterlichen Chromo- somen zusammen. Die Zahl der möglichen Kombinationen beträgt

nach H. E. Ziegler $ + 1, wobei n die Chromosomenzahl bedeutet. Auf den Menschen berechnet gäbe das 5 + 1 = 13 Möglichkeiten

für jede Sexualzelle, es könnte also vorkommen, daß eine Sexualzelle 12 väterliche und 0 mütterliche Chromosomen aufwiese

oder 11 5 Fe! j 7 1) 1 5 » 6 3) 6 ”„ 0 12 usw.

n n Da bei der Befruchtung für jede Sexualzelle die Zahl der Mög- lichkeiten . + 1 beträgt, so ist die theoretisch mögliche Zahl der

n E . n 2.3 Fälle ($ + 1) =y +n +l oder bei z + 1 = 13 für den Menschen 169 Varianten. So wäre die Verschiedenheit der Kinder einer noch so zahlreichen Familie leicht erklärbar. Da von den Eltern gleiche Chromosomenzahlen mitgegeben werden, glaubt Ziegler, daß die verschiedenen Veranlagungen der Kinder auf wechselnden Kombi- nationen der Chromosomen der Großeltern beruhen (vergl. Die Chromo- somen als Vererbungsträger, Jahreshefte des Vereins für vaterländische Naturkunde in Württemberg, 1911). Die ganze Hypothese Zieglers,

1) Fußnote S. 56. Tr.

62 A. Abhandlungen.

so interessant es auch ist, sie weiterzuspinnen, ist zu spekulativ, um zu bindenden Schlüssen für ein Vererbungsgesetz zu führen, obwohl es gelingt, damit für die verschiedensten vererbten Mißbildungen und Krankheiten ein event. mögliches System aufzustellen. Gegenüber der Hypothese haben wir aber eine unbestrittene Tatsache, die im Mendel- schen Gesetz klargelegt wird. Bei dem bekannten Versuche des Augustinerpaters Mendel, rot- und weißblühende Bohnen zu kreuzen, zeigte sich ein gesetzmäßiger Typus. Bezeichnen wir mit @ die rot- und mit O die weißblühenden Bohnen, so ergab sich regelmäßig

f des: olgendes x O

1. Generation 909000900

2. Generation ee | ee ee 00 |O OO

3. Generation © eeo O

4. Generation ®@ oO

Die 1..Generation wird vom dominierenden Merkmal: rote Blüte beherrscht.

In der 2. Generation zeigen ®/, das dominierende, 1/4, das rezessive Merkmal, weiße Blüte.

In der 3. Generation behalten die Nachkommen, welche das rezessive Merkmal zeigen, dasselbe bei, !/, der 2. Generation mit dem dominierenden Merkmal behält dasselbe bei, von den restierenden ?/, mit dem dominierenden Merkmal zeigen wiederum ®/, das dominierende und !/, das rezessive Merkmal.

Professor Plate hat nun dieses Gesetz auf eine Reihe von Fällen von Erkrankungen angewendet, bei denen diese von scheinbar ge- sunden Müttern nur auf die Söhne und zwar nur auf die eine Hälfte übertragen werden. Zu der bekanntesten dieser Krankheiten gehören die sogenannten Bluter. An Hand von 11 von Merzbacher zusammen- gestellten Fällen kommt Plate zum Schluß, daß gewisse Erkran- kungen in ihrer Vererbung eine besondere Form der Mendelschen Vererbung zeigen. Ich habe seitdem einen Fall von Kraushaarfamilie aufgetrieben (Typ. 3), welcher bis jetzt wohl als der reinste »Mendel« bezeichnet werden kann, der bekannt ist. Es handelt sich um eine Familie, die in 4 Generationen erforschbar ist. Die Urgroßmutter hatte Kraushaar, von ihren 4 Kindern hatten 3 männliche krause Haare, in der nächstfolgenden Generation zeigen alle Abkömm- linge der kraushaarigen Väter krauses Haar und zwar 7 Söhne und 4 Töchter, die nicht kraushaarige Tochter hatte 6 Knaben und 1 Mädchen ohne krauses Haar, einer dieser Söhne wiederum 2 Knaben ohne Kraushaar. In der 2. Generation finden wir den Mendelschen Typus von ®/, : /!,, wenn wir das Kraushaar als domi-

Brandenberg: Über das Problem des sogenannten Versehens der Frauen. 63

nierendes Merkmal ansehen und finden durch 2 Generationen, daß den Nachkommen, die das rezessive Merkmal, glattes Haar, zeigen, dasselbe verbleibt. Es wird allerdings äußerst schwer fallen, für den Menschen soviele Fälle von Vererbung nach Mendelschem Gesetze aufzutreiben, daß sie überzeugend für den Laien sind. Es braucht dazu nicht nur 3—4 genau bekannte Generationen, sondern vor allem auch recht zahlreiche Vertreter in jeder einzelnen Generation. Immer- hin beweist mein Fall, daß das von Mendel bei der Kreuzung von rot und weiß blühenden Bohnen gefundene Gesetz beim Menschen wirklich beobachtet wurde. Damit haben wir uns bereits vom allzu spekulativen Gebiet der reinen Hypothese einem Vererbungsgesetz sehr genähert. Hypothesen sind der Tummelplatz spekulativer Geister, aber sie regen an und zwingen zum Aufsuchen von Erklärungen. Hartwig sagt in seinem Werke: Der Kampf um Kernfragen der Ent- wicklungs- und Vererbungslehre (Jena 1909): »Damit Hypothesen ihren Zweck erfüllen, müssen sie beständig an den realen Erscheinungen der Natur je mehr um so besser geprüft und kritisiert werden.«

Ich selbst möchte diese Arbeit schließen mit den Schlußsätzen, mit denen ich im Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie meine kasuistischen Beiträge zur gleichgeschlechtlichen Vererbung endete:

»An Hand dieser Zusammenstellung wollte ich zeigen, daß das Auftreten von Mißbildungen und Krankheiten bei Mitgliedern des gleichen Geschlechts oft durch eine Reihe von Generationen einerseits, und das Auftreten von pathologischen Befunden mit besonderer Be- vorzugung des einen Geschlechtes anderseits, kein bloßer Zufall sein kann, wenn auch die Zahl der angeführten Fälle im Verbältnis zu den unzähligen angeborenen Mißbildungen und Krankheiten eine ver- schwindend kleine ist. Es scheint mir doch eine bestimmte Gesetz- mäßigkeit im Vorkommen dieser Erscheinungen zu liegen. Alle die mechanischen Momente, die so vielfach zur Erklärung der angeborenen Mißbildungen angenommen werden (Eihautfäden beim Auftreten über- zähliger Nagelglieder, ungenügende Mengen von Fruchtwasser beim Zustandekommen von Klumpfüßen) oder die Erklärung durch Ver- sehen oder durch den Einfluß der Mneme, sie können uns für die an- geführten (nun 128) Fälle nicht befriedigen.

Es müssen für Geschlechtsbestimmung, wie für das hereditäre und familiäre Auftreten von Mißbildungen und Krankheiten, schon in der ersten Keimanlage bestimmende Verhältnisse vorhanden sein, die allerdings noch der Aufklärung bedürfen. Die experimentelle Ent- wicklungsgeschichte, die bisher so Außerordentliches geleistet hat, wird wohl auch in dieses Dunkel die nötige Leuchte tragen.«

64 B. Mitteilungen.

B. Mitteilungen.

1. Über den Ernährungszustand der Schulkinder im 3. Kriegsjahr.

Von Medizinalrat Dr. Engelhorn in Göppingen.

In meiner Mitteilung über den Ernährungszustand der Schulkinder im 2. Kriegsjahr im 5./6. Heft des vor. Jahrg. der Zeitschrift für Kinder- forschung habe ich die Erwartung ausgesprochen, daß sich die Ernährung der Schulkinder auch während der weiteren Dauer des Krieges nicht schlechter gestalten würde, da die bisherige Erfahrnıg gezeigt hat, daß die Gesamternährung unseres Volkes eine vernünftigere uud gesundheits- gemäßere geworden ist.

Da diese Erwartung nicht in ihrem vollen Umfang eingetroffen ist, entspreche ich meiner Zusage, Abweichungen von dem damaligen Ergebnis rückhaltslos mitzuteilen.

Die Untersuchungen w:rden auch für das Jahr 1916/17 auf Grund des württembergischen Oberamtsarztgesetzes an den Kindern des 1., 4. und 7. Schuljahres vorgenommen. Nach den früher ausgesprochenen Grund- sätzen wurde die Ernährung als »gut«, »mittele oder »schlecht« bezeichnet. Die Zahl der Untersuchten beträgt 3273. Im Vorjahr war eine Unter- scheidung der in der Obera’ntsstadt Göppingen und der in den Land- gemeinden untersuchten Kinder nicht erforderlich, da der Ernährungszustand bei beiden Arten von Kindern der gleiche war. Dies trifft für das Jahr, über das ich jetzt berichte, nicht zu, so daß die Kinder der Stadt und der Landgemeinden besonders zu betrachten sind.

Stadtkinder waren es 1371. Bei ihnen wurde beobachtet, daß gegen- über dem Vorjahr namentlich bei den erst im Dezember und Januar unter- suchten Kindern eine kleine Verschiebung von »gut« zu »mittele und eine ebensolche von »mittele zu »schlecht« festzustellen war. Daneben wurden zweifellos etwas häufigere Fälle von Blutarmut wahrgenommen. Von diesen beiden Veränderungen abgesehen, war eine weitere Ver- schlechterung des Gesunilheitszustandes nicht zu beobachten.

Was die einzelnen Jahresklassen betrifft, in welchen sich obige Ver- sehiebungen zeigten, so war von ihnen am meisten das 4. Schuljahr be- troffen, weniger das 1. und nur ganz ausnahmsweise das 7. Daß die Mädchen an der Verschlechterung weniger teilnahmen, als die Kuaben, erklärt sich aus dem Umstande, daß die Mädchen im Oktober, die Knaben im Januar untersucht wurden. Dies gibt einen Hınweis daranf, daß die Verschlechterung erst mit dem neuen Jahre begann, einem Zeitpunkt, in dem wenigstens in der Stadt die Milch knapper zu werden begann.

Im Gegensatz zu den Stadtkindern waren die 1902-Schüler der länd- lichen Gemeinden im Durchschnitt von einem geralezu glänzenden Er- nährungszustand und erst in den letzten Tagen noch habe ich in einigen Gemeinden ganze Reihen wahrer Prachtexemplare körperlicher Voll-

2. Wie sich mein Sohn bis zum Alter von 3'/, Jahren zu den Dingen usw. stellte. 65

kommenheit beobachtet und selbst bei Kindern, die bei der letzten Unter- suchung vor 3 Jahren, also mitten im tiefsten Frieden, mittel oder schlecht gefunden wurden, ließ sich eine wesentliche Besserung feststellen. Aus- nahmen kamen auch hier vor, namentlich in den Gemeinden, in denen die Bevölkerung aus Angehörigen des Bauernstandes und der Arbeiterschaft gemischt war. Daß diese Ausnahmen nicht zahlreich waren, erklärt sich aus der Lebensbaltung unserer Arbeiter in den Landgemeinden, die es mit sich bringt, daß die meisten Arbeiterfamilien noch über einen kleinen landwirtschaftlichen Besitz verfügen.

Wenn man geneigt wäre, für die Güte der Ernährung ausschließlich das Gewicht und den Fettreichtum der Gewebe in Betracht zu ziehen, so würden von den Landkindern viele Knaben des 7. Schuljahrs die Be- zeichnung »gut« nicht verdienen, da es bei ihnen infolge schwerer Be- lastung mit landwirtschaftlichen Arbeiten zu einem reichlichen Fettansatz nicht kommen konnte. Betrachtet man aber ihre derbe Muskulatur, ihre elastischen, sehnigen Gestalten, die Frische ihrer Hautfarbe und die Leb- haftigkeit ihres Wesens, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß sie an körperlicher Tüchtigkeit nur gewonnen haben. Unter dem Einfluß der Anspannung ihrer Kräfte war es auffallend, daß auch das Längenwachstum sichtlich begünstigt war und ich habe unter diesen Knaben zum Teil kräftigere Erscheinungen beobachtet als unter den 18jährigen, die zum Heere ausgehoben wurden.

Ich fasse daher meine Ergebnisse der Schüleruntersuchungen im 3. Kriegsjahr folgendermaßen zusammen:

1. Eine Verschlechterung des Ernährungszustandes bei den Kindern in der Stadt ist seit Anfang 1917 unverkennhar.

2. Der Ernährungszustand der Kinder in den ländlichen Gemeinden ist ein guter, mindestens so gut oder besser als im Frieden.

2. Wie sich mein Sohn bis zum Alter von 3'/, Jahren zu den Dingen, Tieren und Pflanzen der Umwelt stellte.

Von Frau Hanna Neugebauer, Kostenblut. (Fortsetzung.)

Vom Bauen sagt 1; 10 das Tagebuch: »Er baut sehr gerne Türme, Eisenbahnen, Schiffe und Öfen, indem er die Klötze oder Würfel in der verschiedensten Weise auf-, über- und nebeneinanderstellt. Eine gebaute Eisenbahn schiebt er vorsichtig entlang, macht dazu sch sch sch sch und sieht in seiner Phantasie dabei Dredel, Rauch, Dampf, Mann und die Tante Trude, die einsteigt und nach Breslau fährt. Das alles erzählt er. »Sehr gern baut er auch einen hohen Schornstein; ein Mann soll unten Feuer machen, damit oben Rauch rauskommt. Dabei hebt er das Ärmchen, streckt sich, so hoch er kann, um zu zeigen, wie hoch der Schornstein ist, und ruft endlos: Oben kommt Rauch raus!« »Als ich ihm an der wirklichen Eisenbahn die Puffer

Zeitschrift für Kinderforschung. 22. Jahrgang. 5

66 B. Mitteilungen.

gezeigt hatte, legte er dann an seine gebaute Eisenbahn die Säulchen als Puffer, und bei einer Loketive aus Würfeln zeigte er richtig die Stelle, wo die Puffer sitzen müssen.«a Er baut eine Sch oder ich muß eine bauen äußerst primitiv aus Steinen, Knöpfen, Holzstücken, ja, die leeren Gewürzbüchsen in der Küche mußten, quergelegt, herhalten, eine hohe Tasse wurde als Schornstein auf die vorderste Büchse gestellt.« 2; 0: »Aus Münzen baute er eine Eisenbahn: Die Lokomotive aus 4 Münzen übereinander, die Wagen waren einzelne Münzen hintereinander.« »Er baut auch manchmal eine Brücke und läßt ein flaches Klötzchen als ‚Elektrische‘ durchfahren.«

Das Handwerkinteresse war ebenso stark wie das maschinelle. Es be- gann etwas später und endete gleichzeitig. 1; 8 steht im Tagebuch: »Alles Maschinelle und auch alle Männertätigkeiten mit Werkzeugen inter- essieren ihn am meisten: graben, schaufeln, hacken, hämmern, anstreichen, sägen. Vom Sägen besonders war er in den letzten Tagen so begeistert, daß er lange Zeit und immer wieder mit einem Holzscheit im Garten an den Bäumen herumsägte, und zwar so hoch oben, wie er nur irgend reichen konnte, ja er stieg sogar dazu auf eine Fußtank und schleppte sie von Baum zu Baum.« ....»Ich hatte ihn zu seiner Freude öfters in eine Stellmacherwerkstatt mitgenommen. Der Meister Sch. gab ihm einmal (1; 8) einen kleinen Hammer und ein Brettchen zum Beklopfen. Das gefiel ihm so gut, daß er hierbleiben wollte; ich ließ ihn auch dort.« Zu meinem großen Staunen hielt er’s dort sehr vergnügt !/, Stunde ohne die Muttel aus. Zu Hause im Zimmer wollte er immer etwas hämmern; ich ließ ihn Nägel in weite Dielenritze schlagen. Als er dann etwas geschickter und stärker war, gab ich ihm ein eignes starkes Nagelbrett, in das er große Nägel schlagen durfte nach Herzenslust. 2; 5 nagelte er aus eignem Antrieb viereckige Pappstücke auf sein Nagelbrett; er schlug gleichmäßig in alle 4 Ecken einen Nagel. Jener Stellmacher Sch. und seine Tätigkeit war ihm dann lange Zeit sehr interessant und nachahmens- wert; er hatte sein kleines hölzernes Stühlchen in alle Teile zerlegt, plagte sich, es wieder zusammenzusetzen und spielte, er wäre der kleine Schenk. Dabei plauderte er: Ach geht das nich ach hm das rein-

stecken, fesimachen kleine Schenk kann nich das machen ont- lich (= ordentlich) geht nich das ontlich Schenk kriegt nich das raus ach ach ach ach fällt immer um das nu nu,

das Ding usw. Wenn’s dann glücklich ganz ist, nimmt er’s sofort wieder auseinander, und das schöne Spiel fängt von vorn an.« Wochenlang stand das Stühlchen auf dem täglichen Spielplan. Wo nur jemand im Hause einen Nagel einschlug oder etwas sägte, durfte Rafael nicht fehlen. Als ihm ein Knabenhelm aufgesetzt wurde, wollte er nichts davon wissen, rief: nich ein Soldat werden! nahm den Helm ab und drehte die Spitze hin und her: Soldat schraubt das. Mit 2 Jahren sah er einem Maurer lange still zu. Dann nahm er mit seinem Schäufelchen Mörtel und »mauerte« auch. Als er sich mit der Schaufel sehr weh getan hatte, so daß er heftig schrie, war er dennoch nicht entmutigt, sondern arbeitete bald weiter. »Seine Hände sind schon ganz geschickt. Den

2. Wie sich mein Sohn bis zum Alter von 3!/, Jahren zu den Dingen usw. stellte. 67

Schraubenzieher dreht er mit beiden Händen ganz richtig und ächzt dazu, weil’s so schwer geht. Mit der Drahtzange faßt er ganz geschickt an der Nähmaschine dies und das an.«e »Die Nägel sind aus Fisen (ge-Jmaeht, stellte er fest, und beim Hammer und Schraubenzieher sagte er unaufgefordert richtig, welcher Teil aus Eisen und welcher aus Holz ist.e >Er hat 2 Männer mit der Kluppsäge sägen sehn. Das machte er nach. Mit dem Spazierstock fuhr er an der Mittelleiste der spanischen Wand auf und ab, faßte den Stock unten an und verlangte, daß ich oben ziehe.«e Bei seinen Handwerkerspielen war er sehr eifrig‘; »der Vater wollte, als Rafael irgend etwas hämmerte oder sägte, einen Kuß von ihm haben. Rafael schob Vaters Kopf mit der Hand weg und sagte: Nich! Ich muß weiter arbeiten! Ein andermal rief er bei einem solchen Spiel den Vater zu sich: Vatel, komm! Beim Schmied ist's schön! Gleich wird das Rad wieder passen.«e 2; 4 sagt das Tagebuch: »Er kramt sehr gern im Nagelkasten, in dem auch allerlei Haken, Schrauben, Ringe usw. sind. Darin fand er eine Schraubenmutter und wollte sie durchaus an eine Maschine anschrauben. Was blieb mir übrig, als eine ‚Maschine‘ zu bauen? Zwei Klumpen Plastilin wurden 2 Maschinenkörper, die ich nun reichlich belud mit Rädern, Schornsteinen, Röhren, Stangen, Riemen, Schläuchen, Schrauben und Kugeln, die ich alle dem Nagelkasten entnahm oder aus Plastilin machte. Die Dinger sahen wirklich niedlich aus, so daß ich lachend rief: ‚das ist ja eine wunderbare Maschine!‘ Rafael griff das Wort sofort auf, und die beiden kleinen Un- getüme hießen von nun an ‚die wunderbare Maschine. Wenn er nun früh aufwacht, ist, wie immer, sein erstes Wort: Muttel, zünde mal ein Lichtel an! Sein zweites: Ich will zur Muttel kommen! Aber- sein drittes: Ich will die wunderbare Maschine haben! Sie macht ihm sehr viel Spaß, trotzdem er doch weiter nichts damit machen kann, als sie anzugucken und sich auszudenken, wo der Schlauch und die Röhre hin- geht usw. Er hat mir auch am nächsten Tage noch Verbesserungen an- gegeben, die ich ausführen mußte: einen Hahn, noch einen Schlauch und einen Eimer darunter.«e Seiner Schraubenleidenschaft zu Liebe hatte ihm der Onkel Curt nach eigner Zeichnung einen kleinen Rollwagen machen lassen, an dem kein Teil fest an dem andern war, sondern jeder Teil sich ab- und anschrauben ließ. Rafael sagte davon: Daß ich immer das auseinandermachen kann, das is hübsch. Die abschraubbare Spann- kette dieses Wagens wurde mit Vorliebe als Säge benutzt; Viertelstunden lang mußte ich sie mit ihm über irgend ein Brettchen hin- und herziehn. Er hängte sie auch an die Nähmaschine an, spielte, sie wäre ein Rohr und sagte: Das Wasserrohr aufdrehn, da läuft Wasser raus. Nich zu sehr aufdrehn, da läufts über! ...' Sein neuestes Vergnügen ist, die Nähmaschine zu zerschrauben. Er sagte von ihr: Das is ein hübsches Maschindel! Da seh ich was Hübsches! Hübsches! Hach! (Ge-)fällt mir! Zum Glück sitzen die mehr inneren, wichtigen Schrauben so fest, daß auch ich sie nicht aufdrehn kann. Raffel empfindet das natürlich als einen Mangel und klagt: Der Mann hat das so fest macht! Der Mann soll das nich so festmachen! Gestern hat er auch entdeckt, daß die 5*

‘68 B. Mitteilungen.

Fußbank auseinanderzuschrauben geht, und hat kein Teil auf dem andern gelassen. Das war eine Freude! Gestern abend drehte er sogar an seinen Handgelenken herum und fragte: Mutiel, wie gehn die Händel zu ab- machen? Er sagte von sich selbst: Ich bin der kleine Schraubermann und: ich bin ein Ölermann. Die beiden Fußbänke zerschraubte er jetzt täglich mehrmals; es war eine Plage für uns Erwachsenen. ... »So an- spruchsvoll er oft mit Schrauben und Maschinenteilen ist, so anspruchslos spielt er wieder manchmal;« manches Phantasiespiel gehört hierher. Aus der Vorliebe für Riemen an Maschinen entsprang eine lange anhaltende Lust am Schnurenziehen. Er zog Schnuren im Zimmer von einem Möbel zum andern, wickelte sie um Möbelvorsprünge, ja einen ovalen Tisch band er am Bein fest und zog ihn durch die ganze Stube. Am liebsten verband er durch viele »Riemen« die Nähmaschine mit einem nahestehenden Korb- stuhl. Auch die Spannkette seines Wagens diente ähnlichen Zwecken. Er hängte sie an verschiedene in sein hölzernes Schaukelpferd geschlagene Nägel und wickelte sie verschiedentlich um. Im Garten verband er Bäume und Tischbeine durch Schnur und Bast. Sehr gern und lange schnürte er die Schnürsenkel durch alle Schuhe, die er bekommen konnte. Alle Werkstätten waren ihm sehr interessant. Einmal waren wir bei einem Sattler. Rafael sah sich in der kleinen Werkstatt sehr um. Da der Meister sehr wortkarg war, erklärte ich dem Jungen, so gut ich konnte, alles, was da zu sehn war. Er wandte sich aber immer wieder an den Sattler mit der eindringlichen, wiederhoiten Frage: Sattler, wo is denn noch was zu machen? Sattler, was is denn noch zu machen? Ebenso richtete er an einen ihm fremden Zimmermann, der an unserm Gartenzaun arbeitete, 28 Fragen hintereinander, nur ab und zu sich durch eine Nebenbemerkung unterbrechend, ohne jemals eine andere Antwort als ein kurzes Ja oder Nein zu bekommen; alle 28 Fragen bezogen sich auf des Mannes Arbeit: Die Bretter, die Leiter, das Nageln, Sägen und Hammern. Beim Schmied und Schlosser hätte er täglich stundenlang verweilen können, ohne dabei selbst etwas zu tun. Er stand und schaute nur. Das Pferdebeschlagen verfolgte er aufmerksam bei allen 4 Hufeisen und ahmte zu Hause im Spiel die Arbeiten des Schmiedes und Schlossers nach. Am liebsten schraubte er Vaters zwei Notenpulte auseinander, legte jeden einzelnen Teil ins Feuer, d. h. aufs Sofa, wartete, bis er glühte, nahm ihn dann mit der Zange heraus, damit er sich nicht verbrenne, legte ihn auf die Erde und behämmerte ihn; manchmal brachte er noch eine zweite Zange, gab sie mir und machte mich damit zu seinem Ge- sellen. Ganz glücklich und eifrig war er bei diesen Spielen. In dieser Zeit äußerte er oft den Wunsch, ein Schlosser zu werden. Zum ersten- mal war dieser Wunsch freilich hervorgerufen worden durch die Frage: »Du willst wohl ein Schlosser werden?« Denn ich glaube nicht, daß ihm damals schon bewußt war, daß es jemals eine so ferne Zukunft für iha gäbe, daß er jemals etwas anderes sein könnte als das, was er jetzt ist. Seitdem beharrte er aber fest bei der Absicht, Schlosser zu werden und ließ sich auch durch einen Bäcker und einen Schuster, die ihm zu ihrem Gewerbe zurieten, nicht wankend machen: Nein, lieber ein Schlosser!

2. Wie sich mein Sohn bis zum Alter von 3'/, Jahren zu den Dingen usw. stellte. 69

Nur wollte er um 2; 6, ganz vorübergehend, ein Müller werden, weil das Getriebe der Windmühle, die er oft von innen im Gange sah, ihm so gut gefiel. Er malte sich sehr gern aus, was er später als Handwerker, namentlich als Schlosser alles machen könnte. Ich habe manche seiner derartigen Gespräche mitstenographiert und gebe diejenigen wieder, die nicht nur Phantastereien sind. Das erstemal bezog sich sein Ausdenken auf allerlei Handwerke. Er saß am noch nicht abgeräumten Mittagstisch, sah sich, während er sprach, im Zimmer um und wurde von den Gegen- ständen, die er sah, angeregt. Wenn ich ein Fabrikmann bin, ein Schlosser bin, da kann ich auch Zeiger machen für die Tiktak. Da kann ich auch solche Löchelein zur Tiktak machen, hier in der Mitte, so welche kleine, hübsche. Wenn ich ein Schuhmacher bin, da kann ich auch Schuhe machen, aus Leder. Wenn ich ein Kann bin, ein Glasfabrikmann, da kann ich auch Fensterscheiben machen. Da kann ich immer auch Glocken machen für die Lampe, und da kann ich auch Ketten (an den Lampenschirm) machen für die Lampe. Ich: »Der Glasfabrikmann kann nicht Ketten machen.«e Da kann ich zuerst Glocken machen, dann kann ich, wenn ich, wenn ich mit der Glocke fertig bin, da mach ich dann noch Kelten. Da mach ich auch (er unterbricht auch) werden auch Gardindel (Scheibengardinen) mit Maschinen gemacht? Ich: »Ja, mit Webmaschinen.«e Wenn ich ein Schlosser bin, da kann ich auch Webmasckinen machen. (Vom Weben und Webstühlen hatten wir 6—8 Wochen vorher auf seine Frage nach der Herstellung des Tischtuchmusters gesprochen) Wenn ich ein Fabrikmann bin, kann ich auch noch Maschinen machen. Wenn ich ein Schlosser bin, kann ich Gardinenstangen machen. (Er sah dabei unsere Messingstangen an) Wenn ich ein Schlosser wenn ich ein Tischler bin, kann ich einen hölzernen Mann machen. Wenn ich ein Blechmann bin, kann ich Löffel machen. Wenn ich ein Fabrikmann bin, da kann ich auch so ein Näppel (Näpchen) machen, zum Kerne reinspucken (Schalenkörbchen), so welche Dingerle, so kleine, hübsche. Ein andres Mal (2; 6) erzählte er auf die Frage, was er als Schlosser machen könnte: Kugeln zur Lokomotive und Muttern und Schräubele, so kleine, runde, so kleine (das sagte er ganz entzückt von der Kleinheit und Niedlichkeit) mit Spitzen. Und Räder und Zahn- räder. Da kann ich auch so welche Nägel. machen, die man (sehr nach Worten suchend) anbummern kann an die Breiter mitn Hammer, große, dicke auch, große, hohe! Lange, lange, so hohe! Dabei stand er auf dem Sofa auf und zeigte mit dem Arm, so hoch konnte. Das folgende war mehr Phantasie. Ein andres Mal: Wenn ich ein Riemenmann bin, da kann ich so ein Löchel machen, wo der Benxzindampf rauskommt (am Automobil). Wenn ich ein Riemen- mann bin, da kann ich auch xu der Lokomasbile auch so einen langen Riemen machen. .... Da kann ich viel machen. Für den Groß- papa auch eine kleine Gießkanne. .... Auch so welche eiserne Bretterle. (Tante Grete: »Und da kannst du ein Vogelgebauer machen.«) Und da kann ich ein Reifen zu dem Türdel machen. Und da kann ich auch

70 B. Mitteilungen.

ein Fabrikhaus machen. Da kann ich für den Opapa auch einen Wagen machen. Mit einer Deichsel. Da kann ich auch so runde, kleine Schräubelein zu dem Wägelein, das der Onkel Curt geschenkt mir hat. Da kann ich auch einen Reifen (Rahmen?) machen zu dem Fenster. (Tante Grete: »Da kannst du wohl auch eine Eisenbahn machen.«) Und da kann ich zu der Eisenbahn auch Räder machen und Schorn- steine machen, und da kann ich so eiserne Soldaten machen. Natürlich hatte er bei seinem brennenden Interesse auch eine für sein Alter verhältnismäßig große Sachkenntnis. 2; 4 wollte er an seine kleine Spiellokomobile noch ein Rädchen aus Wachs gemacht haben, nahm den Wunsch aber gleich zurück: Nich mehr! Lokebile hat immer so keins. Sie sollte der wirklichen Lokomobile möglichst gleichen. 2; 6 erzählte er vom Göpel mit der Haferquetsche: Da sind in der Mitte Zahnrädel, in der Mitte und eine lange, hölzerne Stange, und dann eine eiserne Stange, die is nich so dick wie die hölzerne Stange, die geht in die Erde rein, und dann kommt se wieder raus und und da geht se zu der Maschine. Da is ein großes Rad und zwei kleine Rädel, die sind ganz nahe zusammen. Da half ich ein: »Und darüber —« is ein Kasten wie bein Müller, und da schütlel der Kleiner (Name des Besitzers, bei dem er die Haferquetsche gesehen hatte) einen Sack rein. Hier wurde er durch etwas andres abgelenkt und er- zählte nicht mehr weiter. Ich hatte ihm das Vorstehende aber öfters er- zählt, nachdem er den Vorgang mehrmals gesehen hatte. Wenige Tage epäter fragte ihn die Großmama: »Wenn du Schlosser bist, da machst du wohl Tische?«

Nein.

Gr.: »Wer macht denn die Tische?« Der Tischler.

Gr.: »Baust du die Häuser?« Nein.

Gr.: »Wer baut denn Häuser?« Der Maurer. Gr.: »Wirst du da Röcke machen und Kleider nähn?« Wenn ich Schlosser bin, kann ich keine Röcke machen. Gr.: »Wer macht denn die Röcke?« Die Schneiderin. Gr.: »Was macht denn der Schlosser?« Eisen.

Rafaels Spiele standen natürlich stark unter dem Einfluß des Ma- schinen- und Handwerkerinteresses. Das Tagebuch legt an vielen Stellen Zeugnis dafür ab, wovon ich einige folgen lasse. »Eben zieht er seine lange Schaufel um den Tisch herum und behauptet, sie wäre eine Dampf- maschine. Jetzt ist aber die Nähmaschine eine Dampfmaschine, er dreht das Rad und sagt er sei .... ein großer Mann, der den Riemen ab- macht und wieder dranmacht. Gestern war auch sein Sportwagen eine Maschine und er der Mann dabei. Im nächsten Augenblick war er selbst die Maschine, er kratzte sich und sagte: Maschine krimmert, Maschine

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ein(sch)miern!« Er hatte gesehn, daß der Führer der Lokomobile Wasser in die Tonne goß zur Dampfbildung. Rafael goß nun im Garten aus dem leeren Eimer eingebildetes Wasser zu einer Phantasielokomobile: Sch Wasser geben! .... Ein neues Spiel hat er erfunden: er sägt uns mit der bloßen Hand Arme, Hände, Beine und den Kopf ab und schraubt alles sofort wieder an. »Hufeisen, Nägel und Schrauben greift er aus der Luft und beschlägt, benagelt und beschraubt sich und uns an Kopf, Armen und Füßen, alles mit sorgfältigen Handbewegungen, als ob er mit wirk- lichen kleinen Gegenständen umginge.« »Einen Abend hat er 8/, Stunden, wenn nicht noch länger, die Räder seines Stühlchens eingeölt und dabei fortwährend vom Schrauben, Abmachen, Ölen, Eingießen, Durchkommen usw. geplaudert. Voll Eifer lief er ums Stühlchen, ließ es sich umkippen und erzählte: Schmied kann das machen. Ich kann das auch machen, ich bin schon sehr stark! Ich bin auch der Schmied, Muttel! Auch die aus Würfeln gebaute Sch wurde eingehend geölt. »Ich bin der Schlosser, Mutiel, mach mal die Armel rauf!«

Ein andres Mal: »Jetzt ölt er schon 1/, Stunde mit einem leeren Spirituskännchen alles mögliche ein. Zuerst ölte er beim Ofen alle Ritze und Fugen und mischte das überlaufende Öl mit dem Staubtuch ab; dann die Molkerei, d. h. das Bücherbrett, das Türschloß und die Sicherheits- kette, seinen kleinen Wagen und schließlich das Bild einer Maschine.« Aus Plastilin formte er ..... schöne Fabriken, mit hohen Schornsteinen und viel schwarzem Rauch. Von uns verlangte er fast ausschließlich Eisenbahnen und Dampfer aus Plastilin. An der Lokomotive muß ein Kohlenwagen, ein Petroleum- und ein Möbelwagen sein. »Seit ein paar Tagen hat er wieder seine kleine 50 Pfennig-Eisenbahn ausgekramt, die schon sehr gelitten hat. Er verlangte ‚eine lange Stange‘, um in die Lokomotive ‚reinschießen‘ zu können und den Ruß herauszumachen, wie er es nach Feierabend bei der Lokomobile hatte machen sehn. Ich gab ihm dazu eine dicke Stricknadel. Er lud den Kohlentender voll Bohnen als Kohle und heizte damit.« Ein Tuch zog er lange Zeit um den Tisch herum, spielte, es wäre ein Dampfer und sprach vom Wasser und den Rädern; dann stellte es einen Pflug vor, er erzählte, wie die Erde purzelt und wie er mal weit draußen hinter der Mühle einen Pflug ganz nahe arbeiten gesehen hatte.« Von einer Papierschere und einem Feder- halter, die zufällig parallel nebeneinander lagen, sagte er: Das sind Schienen. Da kommen die Eisenbahnen drauf gefahren. .... Da kommen die Rädel drauf gefahren. Da muß ich immer aufpassen auf die Eisen- bahn. Ich: »Warum denn?« Damit sie nich an einen Baum fährt, und da gehn alle Wagen kaput, alle kaput und der Schornstein auch. Da hat’s bumbl bumbl gemacht. Eine Erzählung von der Mühle stammt aus dieser Zeit; den Anfang konnte ich leider nicht mitsteno- graphieren: Und da seh ich was. Wenn was (er meint die Hemme) nich anklappt an das Rad, da geht die Mühle. Aber wenn das wieder abklappt, da geht sie wieder. Da is die Kürzelmühle. Da is die. Bei der waren wir mal. .... Oben, da is so ein viereckiger Kasten, oben. Und was man oben reintut? Kötndel, Weixenkörndel.

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Und unten runter, da kommen immer die kleinen Körndel: tip tip tip tip tip tip. Und da sind hier Schrauben angeschraubt, und da is die Mühle fest, und oben drauf, da is das Rad. .... Ich hab eine Mühle. Es folgte nun eine ausführliche Beschreibung seiner Phantasie- mühle. ;

Auch seine Träume wurden von seinen Interessen beeinflußt. 2; 5 »erwachte er nachts und machte noch im Halbschlaf mit beiden Armen seine Dampfmaschinenbewegungen, wie er sie im Wachen immer macht. Als er früh aufgewacht war, erzählte er gleich: Da war ein Dampfer, der hat stille gehalt, da hab ich ein Wägelein mitgebringt und Schräubelein und Mutterlein, viele, viele Mutterlein und viele, viele Schräubelein. Kurz darauf steht im Tagebuch: »Heut nacht hat er lebhaft geträumt. Was er zuerst sagte, weiß ich nicht mehr. Dann: Muitel, wo sind die eisernen Schornsteine® Wo is das Ding, wo die Zahnrädel drinne sind? Is das Ding weg? Ich: »Ja, das ist weg.« Unterdessen ist er im Bett aufgestanden, sieht sich im Zimmer um und

“ruft: Weg!!! Ja, das is weg! Wo haben die eisernen Schornsteine gestanden, Muttel? Wo haben die Zahnrädel gestanden? Ich: »Die haben nicht hier gestanden, Raffel, du hast das bloß geträumt, das war bloß in deinem Köpfel so.« Dann sagte er bei mir im Bett mit groß offnen Augen und ganz klarer Stimme: Da waren 1, 2, 3, 4 Schornstein- feger. Am Nachmittag kam er auf den Traum zurück: Muttel, wo sind die Männer, die immer mit den Dingern reinpieken® Ein Mann, viele Männer haben reingepiekt. 2; 7: »Im Traume weinte er: Ich will die Elektrische sehn!« Ein andres Mal drehte er im Schlaf mit dem rechten Arm eine ganze Weile an irgend einer geträumten Kurbel.

Viele verwandte Interessen laufen nebenher, nicht weniger stark, aber kürzer und gelegentlicher als das Hauptinteresse für Maschinen und Handwerk. Es gehört hierher das Interesse für Öfen, Ofenrchre, Wasser- röhren, Kohle und Heizung, Schornsteinfeger, Gewehre, Kanonen, Lampen, Kuckucksuhren, Telegraphendrähte, Blitzableiter, Schlittschuhe, Wasserturm, Leuchtturm, Möbelwagen und Springbrunnen.

Von 2 Jahren an machte es ihm monatelang große Freude, mit dem Ofenhaken, einem Stemmeisen oder dergleichen in das ungeheizte Ofen- loch zu fahren, auch in fremden Zimmern. Er plauderte dabei unanfhör- lich von Mäusen und Fröschen, die darin wären, und war ganz glücklich. Er rief uns allen seine Phantasieentdeckungen mit großem Jubel zu. Abend für Abend räumte er die Asche aus den Öfen und legte Kohle hinein. Die Freude daran war jeden Abend von neuem so groß, daß wir es, trotz der unvermeidlichen Schmutzerei, nicht übers Herz brachten, sie ihm zu nehmen. Mit großem Eifer trug er täglich mit der Hand oder der Schaufel Kohle aus einem Kohlenkasten in den audern. Beim Großvater in Breslau sah er zum erstenmal einen Badeofen. »Das Ofenrohr, das vom Badeofen durch die Wand in die Küche und dann in die andre Wand ging, interessierte ihn außerordentlich. Nachdem ich ihm erklärt hatte, wo es herkam und hinging, erzählte er das sehr oft wieder, nahm jeden, der ihm standhielt, bei der Hand, führte ihn zum Badeofen, dann in die

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Küche, zeigte voll Eifer und erklärte ungefähr so: (Wenn) unten Feuer is, kommt hier Rauch raus, gehts hier rauf, kommts hier rein, hier durch, geht's Schornstein rauf fliegt’s weg! Luft fliegt’s! Bei einem Bild von der Küche mit Reimen war ihm »der Kohlen- eimer« und »die Ofenbürstee am eindrucksvollsten. »Noch öfter aber ver- langt er, daß ich vom Ofenrohr erzähle, das zwar auch aufgemalt, aber nicht bedichtet ist. Da mußte ich selber reimen: (das Ofenrohr kommt aus dem Ofen vor da geht der Rauch rein der geht in den Schorn- stein). Diese Verse finden seinen lebhaften Beifall, er will sie immer und immer wieder hören.«e »Die Ofenrohre, auch in fremden Häusern, fesseln ihn immer noch sehr. Wenn er ein Rohr in eine Wand gehn sieht, zieht er mich an der Hand ins Nebenzimmer, vergißt ganz die Schüchternheit, die ihn sonst in fremder Umgebung befällt und ruft: Woll’n mal sehn, wies durchkommt!« Kurz vor 2; 3 ist verzeichnet: »Oft schon hat er sich sehr gefreut bei dem Gedanken: wenn das und das kaput ist, z. B. ein Ofenrohr, kann man’s inwendig sehn. Vorhin wieder bei einer Schraube an seinem Stühlchen: Das auch abmachen, da kann ich de Schraube sehn, wie se geht: schraub, schraub, schraub. Überhaupt will er bei allem sehn, wo es herkommt, wo’s hingeht, wie’s durchgeht. Sein Stühlchen, die Steigeleiter und allerlei möchte er immer am liebsten durchsichtig haben, damit er sehn kann, wie die Teile in- einandergefügt sind. So auch vorhin beim Spiritusplätteisen: Ich weiß das nich, wie das hier reingeht. Wo kommt denn das her? Wo geht denn das hin? Wo kommt das durch? Wo kommen die Löchel durch? Dann wieder beim Ofen: Mal sehn, wo das lange Rohr is!« »Er entdeckte in der Küche das Ausgußrohr und konnte nicht oft genug Wasser hineingießen und dann horchen, wie’s draußen in den Hof hinaus plätscherte (Wasserleitung haben wir nicht). Dabei erzählte er end- los dasselbe, ungefähr wie damals in Breslau beim Badeofen: Geht’s Wasser hier rein in Rohr geht's in de Wand, geht’s durch, plätschert’s raus! Und einmal sagte er von der Wand: da kann man nich sehn (wie’s durchläuft); de Wand is ganx zu.

»Gestern früh entdeckte er in der Schlafstube das Ofenrohr und war darüber voll Entzücken. Der Vater mußte ihn hoch heben, daß er hinauf- reichen konnte. .... Dann suchte und fand er auch alle Rohre an den unteren Öfen und lief immerfort von einem Ofen zum andern, zeigte uns seine geliebten Rohre und erzählte von ihnen, daß der Rauch hineingeht und daß sie durch die Wand gehn, bald im Tone staunender Bewunde- rung, bald mit hellem Jubel.« Der Schornsteinfeger und namentlich seine Tätigkeit flößte ihm, besonders zwischen 2; 0 und 2; 6 ein großes, doch nicht mit Furcht gemischtes Interesse ein. Er ließ sich auf den obersten Boden des Hanses führen, um ihm zuzusehn, und wenn auf den gegen- fiberliegenden Dächern der Schornstein von außen gekehrt wurde, konnte Rafael voll Erwartung und Seligkeit halbe Stunden lang in Kälte und Wind auf der Straße stehn, damit ihm keine Bewegung des Schornstein- fegers entginge. Ganz wunderbar und aufregend waren ihm (2; 1) die Kuckucksuhren (die er bei einem Besuch sah). Er wurde ganz rot,

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bebte ordentlich vor Aufregung und wollte zu gern immer wieder das Vögele sehn. Als er mit 2 Jahren zum erstenmal die Gewehre in Großvaters Gewehrschrank sah, »hatte er daran eine stillselige Freude. Er sagte davon öfters: Jäger kann das aufmachen. Wird er das nehmen das auch. Das wird aber schön sein! Bei einem andern Besuch, !/, Jahr später, zeigte ihm der Großpapa die Gewehre und Re- volver. Rafael war darüber sehr glücklich und ließ sich eine Stunde lang erklären, wie jedes gespannt und abgeschossen wurde, versuchte es auch selbst. Auch Möbelwagen erfreuten ihn sehr. 2; 5 hatte der Vater ihm versprochen, ihm aus Breslau eine kleine Kanone mitzubringen und hatte ihm beschrieben, wie sie aussehn wird. Er er- zählte es gleich darauf richtig wieder und fragte später: Is das Rohr mit Schrauben angeschraubt? Sind Muttern davorgeschraubt? Da kann man die Muttern abschrauben, ein starker Mann (kann das). Da kann man die in ein Kästel legen. Die sind eingeschmiert mit Schmiere. Das Rohr kann man abmachen, da kann man keine Kugeln nich mehr reintun.«e »Die Schlittschuhe hatten ihn schon im Schattenbilderbuch sehr interessiert. In Wirklichkeit macht er sich viel damit zu tun. Er schraubt auf und zu, zieht einen Faden durch alle Löcher, zieht ihn hin und her und sägt damit.« »Bei Gelegenheit erzählte ich ihm vom Blitzableiter. Er war davon sehr begeistert, wollte es immer wieder hören und tage- und wochenlang beim Spazierengehn die Blitzableiter auf den Häusern sehn und bis zur Erde hinunter ver- folgen. Er erzählte auch andern davon und sagte einmal im Eifer Ableite- blitxer.« 2; 2 »entdeckte er auf der Straße die Telegraphendrähte und verfolgte sie sehr eifrig: Wo geht’n das hin Muttel? Geht zu der andern Stange. Da is was oben dran, da is der Draht festmacht. Einige Tage später: »Die Telegraphendrähte sind weiter höchst verfolgens- wert und ihre Abzweigungen sehr merkwürdig. Raffel läuft freudig er- regt auf dem Ringe hin und her und ruht nicht, ehe er entdeckt hat, wo dieser und jener Draht hingeht: der geht bei der Molkerei der geht bei ’n Ludwig der geht dort weiter, ganz weit fort?! Der Onkel Curt schickte vor ein paar Tagen eine Ansicht von Swinemünde mit dem Leuchtturm. Der interessierte Rafael sehr. Ich mußte ihm davon erzählen. Er meinte dann, er hätte schon mal einen Leuchtturm in Brieg gesehn. Ich sagte ihm, daß das wahrscheinlich der Wasserturm war und erzählte ihm ein paar Worte davon. Seitdem denkt er sich viel lieber aus, der Leuchtturm wäre ein Wasserturm und spricht von allerlei Röhren, die da rauf- und runtergehn. Dabei hält er aber Schein und Sein auseinander; ein paarmal hat er gefragt: Is das ein Leuchtturm? »Ja.« Kann ich auch denken, es is ein Wasserturm? Oder: Ich denke lieber, es is ein Wasserturm. Jedesmal, wenn er in Breslau oder Brieg einen Springbrunnen sah, freute er sich sehr, und wenn ein Springbrunnen Springsprung sagte er abgestellt war, quälte er uns mit Fragen, warum er nicht geht. Wirklich unglücklich und schwer zu trösten war er. als die hohe »Feuerfontäne« im Breslauer Zoologischen Garten, der er kurze Zeit zugesehn hatte, plötzlich abgestellt wurde.

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Die Lampen spielten unter diesen mit dem Maschinellen verwandten Interessen eine Hauptrolle, und zwar am stärksten 1. Monat lang, von 2; 1 bis 2; 2. Einmal hatte ich ihm mit einer neugekauften, ganz kleinen Flurlampe spielen lassen, das verlangte er dann alle Tage. »Er schraubt voller Freude das kleine, runde Docht hoch, das bald ein Putzer, bald ein Schornstein ist, schraubt es dann wieder herunter, bis als es Mäusel ins Loch kriecht, setzt den Zylinder auf und ab, der auch manchmal einen Schornstein vorstellt, und schraubt mit meiner Hilfe den Brenner ab.e Etwas später: »Lampen interessieren ihn jetzt sehr. Ich muß manchmal fünf, sechsmal hintereinander das Bassin einer brennenden Lampe aus dem Fuß heben, damit er das Docht sieht. Er nennt es einen Pinsel, weil es unten ausgefranst ist und freut sich riesig darüber; in- wendig drinne ist es, sagt er.e »Das Lampenputzen vorhin mit mir hat ihn wieder sehr beseligt. Er wollte alles ganz alleine machen.« Bald kam er drauf, eine der großen Lampen zum Spielen zu zerschrauben. Er tat’s nicht unter 11/, Stunden und seitdem bettelt er den Vatel und mich zu allen Tageszeiten: Mit der Lampe pielen! Wenn ich geahnt hätte, daß er sich den Lampen mit su großer und so anhaltender Be- geisterung hingeben würde, hätte ich ihn nicht erst damit anfangen lassen, denn es nimmt mir doch eine ganze Menge Zeit weg.« Dann wieder: »Mit dem Lampenschrauben plagt er uns tapfer weiter. Den Lampenring an der einen Stehlampe kann er drehn; er sagte dazu: So macht der Chauffeur, in Auto, große Auto, das immer fährt. Macht er tutut, gehn de Leute weg. An der kleinen Flurlampe hat er entdeckt, daß das Rad, welches das Docht schraubt, ein Zahnrad ist: Das Rädel hat Zähnel.« Einmal habe ich 1 Stunde lang mitstenographiert, was er beim Lampenschrauben gesprochen hat. Ich führe eine Stelle daraus an. Das ganze Gespräch soll in einer Arbeit über Rafaels Sprachentwicklung folgen. Muitel das drauftun. Festschrauben. Das drauftun. Die Glocke kommt erst. Das Rädel is das. Das is kein Rad, ein Rädel bloß. Das hat was; das hat Kegel. Das is der Brenner hier unten. Das is er. Dort drinne is er. Raffel sieht 'n Brenner. Das Docht wer ich sehn. Muttel mal das abschrauben. Das is das Docht. Das is der Brenner. Da drinne is ’s Docht. Da kommt’s rauf. Mal sehn! Da is was drinne. Raffel, Raffel mal! Da wird’s rauf- kommen. Muttel mal schrauben. Dann geht’s runter. Der hier auch runterschrauben. Ganz runter is es wieder usw.« Eine Woche später: »Die Lampen werden sämtlich noch täglich durchgearbeitet, aber schon etwas kürzer abgemacht.«e Nach 3 Wochen war das Lampen- spielen »fast ganz erloschen«.

Dem Interesse für Maschinen entsprechend, wollte er auch immer gern alles inwendig sehn. 2; 3 steht im Tagebuch: »Er wollte gern ergründen, wie die Pumpe und wie die Nähmaschine zusammengesetzt ist. Wie kommt denn das eben? rief er bei der Maschine. Er drehte langsam das Rad und verfolgte aufmerksam alles, was gleichzeitig vor sich ging. Um die Pumpe lief er eifrig herum und verlangte, daß ich pumpe, damit er den Schwengel sich oben im Ritz bewegen sähe. Dann plauderte

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er entzückt von dem Rohr, das da rein- und inwendig weiter - geht.« Als er zum erstenmal gesehn hatte, daß die Platte an der Nähmaschine aufzuklappen geht, so daß man die Maschinerie von unten sehn kann, bat er mich täglich darum. Ich mußte ihm dann endlich erklären, wie es kommt, daß das Rad das Schiffehen bewegt. Er half mir immer ein: Mutiel, erzähle mal: Von dem Rade geht eine Stange. .... »Die Schrank- und Türschlösser untersucht er sehr gern.«e Er schließt sie auf und zu, beobachtet, wie sie schließen, zieht die Schlüssel aus den Schlüssel- löchern, steckt sie wieder hinein und freut sich, wenn er selbst die Ant- wort auf seine begierige Frage findet: Wo kommt der Schlüssel durch? Um 2; 4 war ihm die Herstellung aller Dinge sehr interessant.!) Z. B. steht im Tagebuch: »Er wollte wissen, wie der Spiegel gemacht worden ist. Ich erzählte es ihm so einfach wie möglich. Da sprang er von meinem Schoß, lief zum Schrank und fragte, wie der gemacht worden ist, kam wieder auf meinen Schoß, ließ sich’s erzählen, lief zur Tür und wollte von ihr erzählt haben. Am interessantesten war ihm dabei, daß der Schlosser das Schloß macht.«

2; 7 erlosch mit dem maschinellen zugleich das Handwerksinteresse. Beide waren in ihrer Blütezeit so stark und so dauernd gewesen, daß ich schon glaubte, daraus auf den künftigen Beruf des Kindes schließen zu dürfen. Um so erstaunter war ich, nach einem Jahr beide Interessen schwinden zu sehen, zumal nichts anderes, ebenso Intensives, an ihre Stelle trat. Es kam zunächst eine Zeit besonderen Phantasiereichtums, die sich über einige Monate erstreckte. In sie hinein spielte schon an- fangs eine Vorliebe für seine Spielsachen. Doch war diese Periode des Spielzeugs lange nicht so auffallend wie die der Maschinen und des Handwerks.

Rafael lernte jetzt erst seine Spielsachen richtig schätzen und be- nützen, wobei ihm zum Teil die Phantasie sehr zu Hilfe kam. Er konnte z. B. jetzt halbe Stunden lang mit seiner Pfeife herumgehn und pfeifen, indem er spielte, er wäre der Lokomotivführer. Gewisse Spiele spielte er wochenlang täglich, namentlich Lege- und Zusammensetzspiele. Aus bunten Würfeln legte er unermüdlich Muster, bis er alle Vorlagen rasch und leicht nachlegen konnte, aus Bilderwürfeln legte er die Bilder der Vor- lagen. Auch baute er viel, doch spürte man hier noch sehr den maschi- nellen Einschlag, denn er baute fast immer Eisenbahnen, die er auf dem Tisch oder auf der Erde entlang fahren ließ. Sehr selten entstand auf Anregung eines größeren Jungen ein Pferdestall oder eine Kirche. Auch die hölzerne Eisenbahn, die ihm der Großvater in der Blütezeit des Maschineninteresses gemacht hatte, kam jetzt erst zur Geltung. Sie wurde nun täglich im Haus und Garten herumgezogen und mit Bohnen, Sand, Püppchen oder Holztieren beladen. Schließlich wurde das Ver- steckenspielen mit seinen Eltern und mit andern Kindern sehr beliebt.

1) Vergl. über R.s fragen: H. Neugebauer, Beobachtungen über die Ent- wicklung der Frage in der frühen Kindheit. Zeitschrift für angewandte Psychologie. Band VIII. Heft 1 u. 2.

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Die ganze Zeit über liebte er es sehr, auf die Reckstangen des Turnplatzes und auf landwirtschaftliche Maschinen zu klettern; doch interessierten ihn die Maschinen nicht mehr wegen ihres Baues oder ihrer Arbeit, sondern weil er sie erklettern konnte. Er saß dann voll Freude auf der höchsten Stelle und spielte, daß er irgendwohin führe, kletterte wieder herab und wieder hinauf, so oft es ihm nur erlaubt wurde.

Von einem besonderen Interesse für Pflanzen ist nur wenig zu erwähnen. Im Garten interessierte er sich für die Blumen, kannte die meisten Blumennamen, auch schwierigere und selten genannte: Tagetes, Dahlien, Gladiolen, Kanna und andere. Er bezeichnete auch richtig Staub- gefäße, Stempel und Frucht£noten der Blüten und öffnete gern die Blüten, um die inneren Teile zu sehen und uns zu zeigen. Beim Spazieren- gehn pflückte er Mohnköpfe, Sauerampfer, Löwenzahn, die Blüte des Fuchsschwanzes und andrer Gräser und verlangte ihre Namen zu wissen. Doch diente ihm dieses alles zum Spielen. Die Mohnsamen machte er heraus, die Sauerampfer- und Grasblüten streifte er ab und verkaufte sie mir als Gries, Reis usw. Die Löwenzahnsamen blies er aus den Fruchtböden heraus, und aus den Löwenzahnstengeln machte er den ganzen Mai hin- durch fast täglich Ketten. Es war in der 2. Hälfte des 3. Jahres. Kastanien und Eicheln suchte er gelegentlich gern, warf sie aber bald fort, oder, wenn er sie nach Hause gebracht hatte, kümmerte er sich nicht mehr um sie. Einmal um 2; 9 gab es eine kurze Zeit, in der er bei unsern Spaziergängen nach den Namen der Bäume, die er sah, fragte. Am interessantesten war ihm dabei die Pappel, wohl des Klanges wegen. Er merkte sich den Namen und bezeichnete unaufgefordert alle Pappeln, die zu sehen waren.

Außer diesen nach Dauer und Stärke auffallenden Interessen be- kundete Rafael noch gelegentlich Interesse an allerlei Dingen, Tieren und Pflanzen. Es äußerte sich teils in Fragen, teils in ausgesprochenen Beobachtungen, und auch, im frühesten Alter, durch stummes Betrachten. Ich führe die darauf bezüglichen Stellen aus den Tagebüchern in chrono- logischer Reihenfolge an.

1; 3 interessierte ihn die Dunkelheit. Im erleuchteten Zimmer führte er mich an der Hand zur offnen Tür des dunklen Nebenzimmers, dann zur Tür des dunklen Flurs, sagte jedesmal = finster, und führte mich so mehrmals hin und her. Furcht mischte sich nicht hinein. In derselben Zeit beobachtete er gern Fliegen, wie Preyers Sohn 2; 8. U. a. ist eingetragen: »Gestern abend kam wieder mal eine jetzt so seltne Fliege auf den Tisch geflogen. Rafael sah ihr voll Freude und mit lachendem Gesichtchen zu. Als sie wegflog, sagte er: bum! (wie schon früher einmal) und machte dann »bitte bittee, damit sie wiederkäme. Bei der Weihnachtseinbescherung (1; 31/,) »sah er zuerst seine Holzpferdchen und war von ihnen ganz erfüllt, so daß er gar nicht den Christbaum recht würdigte,« im Gegensatz zum nächsten Jahre. 1; 5 erfreuten ihn bei einem Besuch beim Großvater die Fischchen im Aquarium und die Vögel in den Käfigen sehr. Von den Fischen sagte er: tan sie tanzen und machte ihre Bewegungen mit dem ganzen Körper nach.

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1; 5 fing ich an, ihn zu Fuß auf Spaziergänge mitzunehmen, statt, wie bisher es war im Winter im Wagen. Bei den ersten Spazier- gängen »war er von verschiedenen Stellen nicht wegzukriegen: wo zwei Männer den Schmutz an die Seite der Straße kratzten, wo viele Brote auf einen Bäckerwagen geladen wurden, wo beim Stellmacher Baumstämme aufgeladen wurden und wo Jungen Eis in einer Wasserrinne aufhackten.« Sehr interessierte ihn auch durch Monate hindurch das Rasieren beim Vater und Großvater. Die einzelnen Tätigkeiten dabei benannte und ver- folgte er aufmerksam.

Ein besonderes Interesse fürs Essen, auch für Süßigkeiten, zeigte Rafael nicht. Nur er gerne jedes ruhe und gedämpfte Obst, je nach der Jahreszeit; ich hatte ihn allerdings zeitig daran gewöhnt. Süßigkeiten ißt er zwar auch gern, wenn man ihm welche gibt, doch fällt es ihm kaum einmal ein, ohne äußeren Anlaß um dergleichen zu bitten, während er Obst, namentlich rohe Äpfel und frische und getrocknete Bananen, auch Nüsse, von 1!/, Jahren an täglich mehrmals erbittet, sofern nur welche im Hause sind. Doch stellte er niemals Fragen nach der Eßbar- keit dieses oder jenes Dinges. Es steht dies im Gegensatz zu Nagy, der (in »Psychologie des kindlichen Interesses«, S. 34) von diesem Alter sagt: »Unzählige Male taucht beim Kinde die Frage auf, von irgend welchem Dinge der Natur, wäre es gut zu essen oder nicht gut?« 1; 6 »war er mit uns auf dem Jahrmarkt, mittags, als noch nicht viele Leute da waren. Zuerst rannte er voll Entzücken von einer Bude zur andern und bewunderte und verlangte alle die Brr, (Schafe), Puppel, Ticktacks usw. Dann aber regte ihn das Neue auf, wie zu Weihnachten, so daß er rasch müde und verdrießlich wurde.« Das Interesse für die Spielzeugpferdchen am Jahrmarkt und an Weihnachten war aber ganz augenblicklich; beim Spielen mit seinen Holztieren bevorzugte er nicht die Pferde, sondern das Schwein.

Bei einem Besuch in Breslau 1; 9 gefiel ihm sehr die Pumpe seines kleinen Onkels Eugen. Noch 9 Tage später sagte er: Eugen Plumpe habt. Als wir ihm daraufhin einige Wochen später eine kleine Pumpe kauften, war das Interesse dafür erloschen: er spielte so gut wie gar nicht damit. 1; 91/, ist eingetragen: »Oft, wenn wir draußen im Felde sind und still im Grase sitzen, horcht er (von mir aufmerksam gemacht) lange auf das Trillern einer Lerche, sucht es nachzumachen, verfolgt lange den Flug der Schwalben und wünscht, daß wieder eine Walbe kommt. 1; 10 erfreute ihn das Karusselfahren; wenn das Karussel hielt, »ver- langte er: (noch-) mal machen; am schönsten war aber beim Karussel der Mann, der zur Leier tutut machte.« Im selben Alter betrachtete er in einiger Entfernung von mir allein eine Anzahl Kühe. Als er zu mir zurückkam, teilte er mir das Ergebnis seiner Betrachtung mit: Mumu Zopfen, d. h. die Kühe haben ein Ruter. Er war, soviel ich weiß, vorher nicht darauf aufmerksam gemacht worden und hatte auch noch nicht melken gesehn. Darauf, daß er das Euter meinte, bin ich erst später ge- kommen, damals glaubte ich, er meinte die Schwänze der Kühe 1; 11 stand er lange an der Schranke eines Eisenbahnüberganges und

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beobachtete, wie sie hinauf und herunter ging. Dabei sagte er, auf eine sich drehende Scheibe deutend: Das dreht sich und, auf den beschweren- den Kasten zeigend: das kommt rauf. Einmal machte ihm ein Rüben- feld lange Zeit ungeheure Freude. Er stieg in den Furchen umher, vor- sichtig, um nicht die Blätter zu zertreten, freute sich riesig, daß so viele und so große Rüben da waren und hätte sie am liebsten ausgerissen. An zwei Kalben, die einen Wagen zogen, fielen ihm kleine Füßel auf. Zu seinem 2. Geburtstag hatte er ein Windrädchen bekommen. Ein- mal, als es sich schnell drehte, sah er es aufmerksam an und sagte: Wind macht das! Kurz darauf stand er bei einem starken Regen mit mir an der Haustür und sprach seine Beobachtungen aus: Regen macht plätscher plätscher (aus der Dachrinne). Baum wird naß. Draußen is mutzig. Dach wird naß. Dach abnehmen. Er sagte diese Sätz- chen in Pausen von wenigen Sekunden, in denen er sich umsah. Als er an demselben Abend »über die Straße ging und hinter ihm das helle Licht von einem Schaufenster war, fiel ihm sein Schatten sehr auf. Er hob die Beine hoch, wahrscheinlich wollte er untersuchen, ob der Schatten an seinen Füßen festgeklebt ist.«

Er begann jetzt, mit 2 Jahren, eine Periode großer Wißbegierde. Da er aber sprachlich die Frage noch nicht beherrschte, bediente er sich des Rufes mal sehn, und zwar in einem Umfang, der seine Umgebung fast peinigte. Die Erklärung von gehörten, ihm fremden Worten verlangte er mit sehn! Nacht sehn! Schnee sehn! verlangte er im September, als das Wort »Schnee« fie. Mal sehn war sein drittes Wort, heiße Luft mal sehn! Professor mal sehn! Körperlich mal sehn! Mal sehn wollte er das Wasser der Leitung, das er in der Wand rauschen und glucksen hörte, mal sehn die Geräusche der elektrischen Bahn, mal sehn, wie die Uhr schlägt, mal sehn das cis, das ein Violinschüler beim Notenlesen immer wieder aussprach.!) Diese Periode das mal sehn er- streckte sich über etwa 3 Monate.

In Brieg freute er sich bei der Ankunft am Abend sehr über die großen, hellen Straßenlaternen und rief seine Freude sehr laut die Straße entlang. Als ihm zum erstenmal ein helles, seidnes Haarnetz in die Hände kam, befühlte und besah er es aufmerksam und hielt es wohl an- fangs für eine Spinnwebe, denn er sagte dann: Is keine Pinnwebe. In .Neiße interessierten ihn die Soldaten; er stellte bei jedem, den er sah, fest, daß er eine Bommel habe.

2, 1 beobachtete er auf der Straße den warmen Hauch eines Pferdes und nannte ihn Dampf. Kurz darauf fiel ihm an einem kalten Morgen sein und mein Hauch auf; es machte ihm dann großes Vergnügen, in alle Gitter über den Kellerfenstern zu hauchen. Als er Großvaters lange Pfeife entdeckte, war er ganz aufgeregt. Er hielt sie zuerst für eine Kanone; als er aber erfuhr, daß man damit rauchen könnte, war er ebenso begeistert. In denselben Tagen legte er sein Ohr auf meine Brust, hörte

1) Vergl. Hanna Neugebauer, Über die Entwicklung der Frage in der frühen Kindheit. Zeitschrift für angewandte Psychologie. Bd. VIII. Heft 1/2.

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den Herzschlag und sagte: Das rumpelt immer. Vom Fenster aus wurde ihm der fast volle Mond gezeigt; er machte ihm große Freude. Rafael zog uns alle voll Eifer zum Fenster und rief: Dort sitxt der Mond, dort oben auf'm Himmel! Dort .drieben sitzt er! Vatel mal gucken! Dort mal zeigen! Dort hinter! Ach! Dort hinten sitzt er! Als ich Klavier spielte, stellte er sich dicht an die Seiten- wand, legte die Hand daran und rief: Da is ein Bumbum drinne! Raffel hörťs mit `n Händel! Er fühlte die Erschütterung. Beim Spazierenfahren rückwärts schien ihm die Luft fortzugehn: Luft geht fort von Raffel, dort geht se hin bei 'n Schenk.

2; 2 hatte er beim Kaufmann Rehe hängen sehn, die ihn sehr inter- essierten. Als er dann zu Hause gefragt wurde, was er beim Spazieren- gehn gesehn habe, erzählte er: Ein Tier hab ich sehn! Ein totes Tier! Ein blut(ig)es Tier! Jäger hal piffpaffpuff macht war's tot! Auf sein Husten war er aufmerksam und spürte wohl die Erschütte- rung des Leibes dabei, denn er sagte: Bauchel macht hustehuste. Er sah mir aufmerksam zu beim Häuteln eines Rehrückens, so daß er es ein paar Tage später nachahmte: er fuhr mit einer Nadel flach unter die obersten Fäden des Sofabezuges und sagte: Ich mach von Hühnel Haut ab. Allmählich werden ihm einige einfache Frageformen geläufig. Er be- nützt sie, während das mal sehn daneben weiterbesteht, zu den ver- schiedensten Erkundigungen. Er bringt Bohrer und Vorbohrer aus dem Werkzeugkasten und fragt nach ihren Namen. Er hörte es in seinem Ohr klingen und wollte wissen, was das ist. Auf der Straße: Der Bauch von ’n Ferdel, wo is? Ebenso fragte er bei einer abgebildeten Eidechse nach ihrem Bauch. Von Mohrrüben sagte er: Moibele is in der Erde wachst. Wo sind de Wurzeln?

2; 3 fragt er sehr viel nach den Namen der Dinge: was das heißt? Er zeigt dabei auf die verschiedenen Teile einer Lampe, eines Stuhles usw. Er zeigt immer wieder auf denselben Teil, aber an einer andern Stelle, und will z. B. wissen, ob das Stuhlbein oben ebenso heißt wie unten. Auch die Namen von Personen interessieren ihn; einige Male, als ein ihm fremder Mann ins Zimmer kam, fragte er: Was der Mann heißt? Ebenso bei Arbeitern, die er bei der Lokomobile sah. Ein besonderes Interesse hatte er lange Zeit für die Herkunft, Entstehung, Herstellung und den Hersteller der Dinge: er wollte wissen, wo die Semmel und der Zucker her sind, die Haferflocken, die Milch, die Mohrrüben, die Bohnen, die Blaubeeren, die Butter usw. Etwas später: Wie heißt das Buch? Wer hat das Buch macht? Wie is das Tablett macht? Wie is das Obstmesser macht? die Spitze (des Obstmessers)? (2; 4) Immer wieder fragt er: Wer hat das gemacht? Er meint damit allerlei Möbel, Haus, Fußboden, Ofenrohr, Straße, Ziegel, Steine, Gras, Bäume usw. Wie is der Bleistift macht? Von wo is die Farbe (am Bleistift)? Wer die Schuhe gemacht hat und wie, ließ er sich von meinem Mädchen, dessen Vater Schuhmacher ist, eingehend erklären. Ich führe noch eine An- zahl von Fragen an, die sein Interesse an allen Dingen der Umgebuug bekunden:

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Wie geht der Ofen zu wegrücken? Wie geht das Händel zu abmachen? Is das Händel gewachsen? Ebenso fragte er nach andern Körperteilen. Mit was zieht sich die Blume das Wasser rauf?

Warum is der Schnee naß? Warum haben die Gänsel keine Schuhe an? Warum haben die Blätter kleine Kitzerle® Er meinte die Behaarung der Primelblätter. Wie kann man träumen? Wie

geht die Sonne weg? Wo gibts denn immer Fleisch? »Beim Fleischer.e »Wer gibt denn dem Fleischer immer Fleisch?« (2; 6). Was is das: schlafen? Wie macht man das: schlafen? So rum legen? (Er legt sich auf die Seite.) Is das jex schlafen? Nach 2; 7 nimmt die Anzahl der Fragen allmählich ab. 2; 9 fragt er nach dem Moos auf einem Dache: Was is denn das, was da auf dem Dache liegt? Und nach den Sternen: Können die nich runterkommen? Für den Bau des menschlichen Körpers, namentlich der inneren Teile hatte er sich schon seit Monaten gelegentlich interessiert und besonders oft nach der Speiseröhre gefragt. 2; 9 fragte er: Muß man da in die Haut ein’n Ritz machen, damit man die Speiseröhre sehen kann? Die Emma hat schon die Speiseröhre gesehn, bei einer Taube. Wo die Emma den Kopf abgemacht hat, da is die Speiseröhre. Wie andre beobachtete Kinder (Sully, Untersuchungen über die Kindheit, S. 68), war er geneigt zu glauben, daß die Bäume den Wind machen; er fragte: Machen die Bäume den Wind? Der Wind war ihm überhaupt sehr rätselhaft und erforschungswert. Er hat in der Zeit des heftigsten Fragens, von 2; 3 bis 2; 8 sehr oft wissen wollen, wo der Wind her- kommt und konnte durch unsre verschiedenen Antworten nie befriedigt

werden. Bei einem Maulwurfshaufen fragte er 2; 9: Is das von ein Maulwurf? Wo is der Maulwurf? Ich will ihn mal sehn. Hat der was Schwarzes? (Fell) Warum was Schwarzes? Er hörte eine

Wachtel rufen und fragte wiederholt danach: Js das die Wachtel? Warum macht denn die so? Pickperick? Wie heißt denn das? Wie macht denn die? Pickperwick? So oft er im Laufe der nächsten Viertel- stunde den Ruf wieder hörte, unterbrach er sein Spiel und fragte wieder danach. Er fand einen porösen Stein, in den ein kleiner Kiesel ein- geschlossen war und zeigte ihn mir. Meine einfache Erklärung hörte er aufmerksam an und merkte sie sich, so daß er, als er ein paar Tage später einen ähnlichen Stein fand, die Erklärung ungefragt selbst gab. Für Blut hatte er sich zum erstenmal 1; 11 interessiert an geschlachtetem Geflügel; seitdem war ihm das Blutige gelegentlich interessant. 2; 10 »sah er an meiner Hand einen frischen Ritz und fragte, wovon das blutig wäre. Ich sagte, ich hätte mich an einer Nadel geritzt. Auf einmal sprang er auf und wollte fortlaufen. Ich fragte: »Wo willst du denn hin?« Eine Nadel holen. »Willst du mir einen Ritz machen?« Ja. Daß es mir wch täte, darauf kam er nicht. Als ich’s ihm sagte, verzichtete er darauf. Es war bloßes Interesse an dem Herauskommen des Blutes. So führte er auch den Vater in die Klasse zum Kruzifix: Ich will dir mal zeigen wo bei 'n lieben »Jesus das Blut rauskommt«. Einige Wochen später plauderte er beim Anblick eines Kruzifixes: Wenn man

Zeitschrift für Kinderforschung. 22. Jahrgang. 6

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in die Mitte bein lieben Jesus ein Nagel reinschlägt, da kommt viel Blut rausgedrückl. Dem Ofensetzer sah er 2; 9 lange zu und ahmte seine Arbeit etwa 14 Tage später ziemlich genau nach mit Erde, Steinen und Wasser. 2; 9, Warum haben die Hühner Flügel? Viel- leicht war es ihm aufgefallen, daß sie keinen Gebrauch davon machen. Wie wird denn aus der Puppe ein Maikäfer? »der wächst«. Da dran werden auch Beine und Augen und Flügel und ein Kopf. 2; 10 betrachtete er, während er auf einem Quittenbaum saß, Ameisen, die an einem benachbarten dünnen Eschenbäumchen hinauf- und hinunter- liefen. Er meinte: Vielleicht kommen sie von der Erde rauf und hier den Stiel rauf und oben raus und hier kriechen sie wieder runter. Da laufen sie runter in die Erde. Da krappeln sie in der Erde rum. Bei einem abgebildeten Hirsch fragte er, warum er Hirsch heiße und was der Hirsch fängt. Er dachte, der Hirsch fräße Tiere. In dieser Zeit war ich mit ihm und seiner 9 Wochen jüngeren Freundin Lenchen auf einer neugebauten Chaussee bei einer Dampfwalze. »Wir gingen 15 bis 20 Minuten lang neben ihr her. Während dieser Zeit sah Rafael sie unentwegt ernsthaft an, während Lenchens Interesse nach wenigen Minuten erloschen war.« Rafael ließ sich auch durch Lenchen, die vorauslief, über Steinhäufchen sprang und uns anlachte, nicht ablenken, trotzdem sein »Maschinenraptus« zu dieser Zeit schon seit 3 Monaten vorüber war. 2; 1117, beobachtete er lange eine Hummel, die im Zimmer alle Blüten zweier Kressensträuße besuchte. Besonders achtete er auf ihr Brummen und sagte: Wenn die Hummel in eine Blüte ge- krochen is, da brummt se nich. Um diese Zeit war ihm das Märchen vom Rotkäppchen erzählt worden. 2; 11 fragte er: Wie das Rotkäpp- chen in den Wald ging, wo kam denn aber der Wolf her? Ich: »Aus seiner Höhle.«e Wo is denn aber von ihm die Höhle? Mit 3 Jahren begann wieder eine Zeit des Fragens. Er fragte: Wo haben die Maden eigentlich den Bauch? Und während der Vater aufs Rad stieg: Wenn der Vatel tritt, wie kommt denn das, daß das Rad da immer weiter geht? Dasselbe fragte er einige Wochen später. In demselben Alter überraschte er mich mit der Frage: Wo kommen eigentlich die Menschen her? Ich: »Sie wachsen.« Aber zuerst? »Zuerst sind sie kleine Kindel.« Aber wo sie ganz zuerst herkommen? Wo nehmen die Leute Glas her? Er machte sich selbst eine Antwort zurecht: Da machen sie die Scherben wieder zusammen. Im Garten dachte er an den Star, den er im Frühjahr im schwachbelaubten Baum gesehn hatte und fragte, ob sein Häuschen, das er im dichten Laub nicht sehen konnte, jetzt auch noch darin wäre, und warum. Ich sagte, es sei noch darin, zum Schlafen. Er fuhr fort: Da macht er seine Flügel zu und seine Augen xu und schläft. Dann fliegt er wieder raus.

Seinen eigenen Bewegungen, auch automatischen und selbst unwill- kürlichen, schenkt er Aufmerksamkeit, dem Essen, Trinken, Gehen, Stehen, Springen und Gähnen. Ein paar Beispiele: Erst is der Kuchen draußen. Dann kratx ich ihn mit den Zähnen (he)rein. Beim Wasser- trinken beobachtete und beschrieb er genau, wie die Zunge und die Zähne

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dabei beteiligt sind, wie die Zunge sich nach innen biegt er machte es mit gebeugtem Arm vor und wie die Zähne das Wasser in den Mund »kratzen«. Leider hatte ich diesmal seine Worte nicht mitschreiben können. 3; 2 beim Trinken: Muttel, die Zunge streck ich raus, dann laß ich hier unten so ein kleines Ritzel, dann läuft der Johannis- beersaft durch. Beim Essen einer süßen Speise: Die Zunge fährt drunter und biegt sich dann und gibts zu den Zähnen. 3; 1: Wenn ich springe, da halt ich immer die Beine ganz hoch. Dreimal blieb er in diesen Wochen beim Gehen auf der Straße stehen: So steht man und, indem er weiterging: so geht man. 3; 2: Wie ich in mein'n Bettel gegähnt hab, so lange, da hab ich mit der Hand ge- zittert. Allerlei Pflanzen und Tiere, die er oft sah, beobachtete er. 3; 0: Wenn die Tauben fliegen, da zittern sie immer mitn Schwanz. Haben die Pappein keinen Mund? Die Hühner haben keine Zähne. Die Gänse auch nich. Die Tauben auch nich. Muttel, sag mal ein Tier, das Zähne hat. »Früh im Bett betrachtete er eine Tür und dachte sich aus, wie sie gemacht worden ist: Die Tischler kommen hier rein, und da machen sie das (die Tür selbst) Dann kommen die Maurer und machen die Türe rein (= hinein). Dann kommt der Schlosser hier rein, und da macht er das Schloß rein. Und da streicht er’s so glänzend an. Das besprochene Schloß war aus Messing. 3; 1 fragte er, während ich im dunklen Zimmer ein Licht an- zündete: Warum macht denn das Licht hell? Ich hatte den Eindruck, daß er nicht den Zweck, sondern die Weise des Hellwerdens erforschen wollte. Wie werden die Fensterscheiben reingemacht (in den Rahmen)? Ein paar Radausflüge, die wir mit ihm machten, gaben Anlaß zu mehreren Fragen und Beobachtungen: Is das ein Wald? Lauter Bäume? Is hier drunter noch Erde? Bei der Annäherung an einen kleinen Berg zeigten wir ihm denselben. Als wir dann schon ein kleines Stück hinauf- gestiegen waren, fragte Rafael: Wo is der Berg? Ich seh ja nich den Berg. Das sind ja Bäume! Das muß doch Erde sein! Wahrschein- lich hatte er gedacht, er müßte steil vor sich einen großen Erdhaufen sehn. Dann fragte er: Is hier drunter noch nasse Erde? Warum is da noch Erde drunter? Beim Bergabgehn zeigte ich ihm eine Baum- wurzel. Darauf bückte er sich wohl zu 20 Baumwurzeln nieder, zeigte darauf und fragte: Is das auch eine Wurzel? Manchmal war’s auch ein Stein. An einem Bach: Sieh mal wie dort bei dem großen Blatte das Wasser ulkig läuft! Das läuft immer so ulkig rundum. Es war ein kleiner Strudel. Ganz oben, Vatel, fliegt eine Krähe. Die fliegt zum Abend. Sie flog ins Dunkle hinein, es war schon fast Abend. Die Krähen und ihr Ruf interessierten ihn in denselben Tagen überhaupt sehr. Einige Male flogen dicht am Wege Rebhühner auf. Rafael sagte: Wenn sie fliegen, das bummert so .... das macht bupbupbupbupbup ! Der Fasanruf von ferne fiel ihm auf, er fragte mich danach. Einige Minuten lang hat er einen gurrenden Täuber beobachtet. Mehrere Tage lang hintereinander interessierte und erfreute ihn zu einer bestimmten Morgenstunde die Brechung des Sonnenlichtes durch die ge- 6*

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schliffnen Büffettscheiben. Er machte oft die Büfettür auf und zu und verfolgte den wandernden Schein an den Wänden, stellte sich davor und versuchte, ihn mit der Hand zuzudecken. Die Fliegen haben solche dünne Flügel. Muttel. Warum haben die Fliegen solche dünne Flügel? Haben die Fliegen auch Blut? Haben wir die Plumpe gekauft? Wer hat die Plumpe gemacht? Haben wir die Schub- karre gekauft? Kann man Tischtücher nähn?

3; 2: Beim Wasser eines Mühlgrabens, das er lange still betrachtet hatte, fragte er: Wo läuft alles Wasser hin? Läuft das Wasser immer- fort? Bis zum Abend? Beim Milchtrinken sprach er wieder einmal von der Speiseröhre: Die Speiseröhre hal sich so weit runtergelegt. Das is gut, daß sie sich so weit runtergelegt hat, daß die Milch runterlaufen kann iwn Magen. Die Speiseröhre is dran arn Magen. Er meinte, es sei gut, daß die Speiseröhre bis zum Magen hinunter reiche. Nach der Heizung der Bahn fragte er. Ich hatte ihm einige Wochen vorher gesagt, daß in der Bahn auch geheizt würde; nun fıagte er: Wenn in der Eisenbahn Feuer gemacht wird, in Personenwagen, da is doch aber kein Ofen? Nach langer Pause interessierten ihn wieder einmal die Telegraphenstangen sehr. Er fragte viel nach ihnen und nach den Drähten, namentlich nach den Stützstangen und ihrem Zweck. Bei Bekannten sah er eine kleine Spielfigur, die auf Rädern stand und sich beim Fahren bewegte. Rafael untersuchte mit einem raschen Blick den Mechanismus und stellte fest: Da is ein Haken, und ein Draht geht inwendig rauf, und da bewegt sich’s. Als er einen Hund ein Kaninchen jagen sah, fragte er, warum der Hund das täte. Ich erzählte es ihm so kindlich wie möglich, indem ich zur Lehre vom Atavismus griff. Ein andres Mal erklärte ich ihm auf seine Frage, warum der Hund mit den Hinterfüßen seine Exkremente zu verscharren suche. Er hörte aufmerksam zu. Die 9 Wochen jüngere Lenchen B., die neben ihm ging, hörte gar nicht zu, versuchte sogar, durch Neckereien Rafael abzulenken. Er ließ sich aber nicht stören und wehrte nur einmal: Laß

doch, Lenchen! Unmittelbar darauf verlangte er noch einmal, wie auch später, nach Wochen, zu hören, warum der Hund dem Kaninchen nach- jagte. Bei demselben Spaziergang blickte er lange in die Krone einer

Birke hinauf und machte mich aufmerksam: Sieh mal, wie die Ähren runterhängen die Gerten! Bei einer Betrachtung der Staupsäule auf unserm Marktplatz fragte er, wozu die Ringe daran wären. Ich erzählte ihm von der Strafe des Stäupens. In den nächsten Tagen hat er sehr oft verlangt: Erzähle mal von der Staupsäule! Manchmal wollte er es dreimal hintereinander hören. 3; 3 fragte er, als er einen Korkfeder- halter sah: Js der aus Holz oder aus Stein? und beschäftigte sich noch einige Minuten mit der Härte des Korks und der Schwierigkeit, ihn zu schneiden. Der Gang der Pferde war ihm aufgefallen: Die Menschen gehn nich so wie die Pferde. Die Menschen gehn so (er ging ge- wöhnlichen Gang), und die Pferde gehn so (er ging mit Knieheben bei jedem Schritt. Mehrmals fiel ihm der Schatten von Dingen auf; vom Schatten eines auf dem Tisch liegenden Zierkürbisses ‚sagte er: Der

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Schatten is glatt; er meinte, wie ich erfragte, daß man am Schatten nicht die warzenartigen Auswüchse des Kürbisses sah. Bei der im Türfutter hängenden Reckschaukel, die er seitlich hin- und herbewegte, beobachtete er, daß ihr Schatten bald an der rechten, bald an der linken Seite des Türfutters war, und als er mit seiner Eisenbahn im Sonnenschein auf der Straße fuhr, fiel ihm die Höhe des Lokomotivenschornsteins im Schatten auf, im Vergleich zu der wirklichen Höhe.

Die Zuneigung läßt sich vom Interesse schwer trennen. Bezüglich der Tiere läßt sich hierher wohl alles vom Interesse für Tiere Gesagte rechnen.

Was die Dinge der Umgebung betrifft, so hatte Rafael im frühesten Kindesalter für bestimmte Dinge eine Vorliebe, die ich eher Zuneigung als Interesse nennen möchte, insofern als diese Dinge mehr mit dem Ge- müt als mit der Intelligenz erfaßt wurden, zumal in jenem Alter die In- telligenz noch sehr unausgebildet war. Es war dies etwa in der Zeit von 0; 9 bis 1; 5. Die Zuneigung bezog sich auf solche Diuge, die der In- telligenz weiter keinen Anhalt boten, die den Forschungsdrang des so jungen Kindes nicht anregten.

Eine solche Vorliebe Rafaels zeigte sich zuerst für Taschentücher. »Seit Monaten schon hat er eine Leidenschaft für Taschentücher. Be- sonders früh im Bett ruht er nicht, ehe er nicht alle Taschentücher, die in seinem Gesichtskreis sind, in den Händen hat, am liebsten in jeder Hand zwei. Bei Tage im Zimmer kriecht er mit einem Taschentuch in der Hand herum, trotzdem es ihn immerfort aufhält, weil er sich darauf kniet.«c Etwas später verlangte er immer zum Einschlafen ein Taschen- tuch. Noch 1; 9 war das Tasentuchn oder auch Tusentachen zum Ein- schlafen sehr wichtig. Er hielt es in der Hand, nahe am Gesicht, ohne es irgendwie zu benutzen.

Ferner zeigte sich eine Vorliebe für kleine, rundliche Dinge. Mit einem Jahr ging er sehr gern auf dem Kirchhof an den Grabgittern ent- lang, faßte alle silbern und golden bronzierten Kugeln an und freute sich sehr über sie. Beim Spazierengehn zog er mich nach der Richtung des Kirchhofs hin. Noch 1; 6 bestand die Liebe zu diesen Kugeln. In der- selben Zeit 1; 0 ist ins Tagebuch eingetragen: »Bohnen und solche kleine Dinge liebt er sehr; eine Kastanie, einen Manschettenknopf oder ein Lichtstümpfehen schleppt er (beim Kriechen) halbe Stunden lang bei allen sonstigen Spielen mit herum, nimmt sie mit ins Badewasser, läßt sie auch während des Abtrocknens und Anziehens nicht los, sondern erst (un- bewußt) beim Fläschchentrinken, wenn er schon halb schläft.« Ein be- stimmter, kugeliger, schwarzer, glänzender Westenknopf war lange Zeit sein besonderer Liebling. Wenn er die Knopfschachtel bekam, suchte er ihn sofort heraus, und ich habe oft bewundert, mit welcher Schnelligkeit er seinen Liebling unter der Menge der anderen Knöpfe fand, wenn er ihm zwischen sie gefallen war. Dabei diente er ihm zu keinerlei Spielen, er hielt ihn, wie die andern genannten kleinen Dinge einfach in der Hand. Eine Ausnahme bildeten nur Kerzen und Kerzenstümpfchen; diese benagte er auch; entweder schmeckten sie ihm gut, oder, was ich mehr glaube,

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das Schaben und Nagen der Zähne daran war ihm angenehm. »Wo er nur eine Kerze sieht, sucht er ihrer habhaft zu werden und beißt selig an ihr herum. Wenige Tage später (1; 3): »Mit Wonne verspeist er Stearinkerzen, wenigstens Stücke davon, wenn er nicht gehindert wird.« Kurz und heftig war um 1; 1 eine Leidenschaft für Schlüssel: »Er zieht sie aus allen Schränken und Schüben und schleppt sie herum, so daß man sie dann suchen muß.« Einen gewaltigen Raum in seinem Herzen nahmen von 1; 1 bis fast 1; 4 alle Steine ein: »Wenn man mit ihm auf der Straße geht, sammelt er immerfort Steine von der Größe eines Hirsekorns bis zu der eines Viertel Ziegelsteins.« .... »Kürzlich entdeckte er, daß die Kirchhofsmauer aus lauter großen Steinen gemauert ist, und kann sich jetzt immer nicht genug freuen und Teinn! Teinn! sagen, wenn er sie sieht. Dabei liegt im Ausdruck des Teinn!!! die Bewunderung der Größe der Steine.« Er ließ sich gerne hochheben, da- mit er die einzelnen Steine befühlen konnte. Zur selben Zeit waren Löcher sehr beliebt. Das Tagebuch erzählt, wie selig er war, wenn er sein Fingerchen in das Nasenloch einer Kuh stecken konnte, und fährt fort: »Überhaupt läßt er kein Löchel ununtersucht.« Er freute sich lange, wenn er z. B. in einer Mauer oder Wand ein kleines Loch fand. (Meine jüngeren Geschwister interessierten sich auch sehr für Löcher in Wänden, aber nicht des Loches wegen, sondern weil sie mit Leidenschaft den Mörtel aßen.) Noch nach 1; 3 sind »Steine und Löcher seine Leiden- schafte. Auch Streichhölzer und Sicherheitsnadeln erfreuten sich seiner besonderen Wertschätzung, doch, wie ich glaube, mehr deshalb, weil sie ihm zu besonderen Spielen dienten. Mit offnen Sicherheitsnadeln z. B. stach er sich sehr gern ins Bein, noch lieber in den Fuß durch die Löcher seiner Sandalen, rief dazu voll strahlenden Vergnügens: kich! = stich und wiederholte dieses Spiel ungezählte Male. Bezeichnend für diese Zeit ist die kurze Tagebuchnotiz: Früh »kriecht er immer gleich zum Nacht- tisch, holt sich die Tita (Uhr), beißt in die Kerze und wirft alle Streichhölzer herum« (1; 1). Um 1; 5 beglückte er jeden Radiergummi mit seiner besonderen Liebe. Jeden Morgen, wenn er aus dem Schlafzimmer ins Wohnzimmer kam, lief er gleich zum Schreibtisch, machte einen langen Hals, um den daraufstehenden Behälter für Bleistifte, Gummis usw. sehen zu können, gab einen eigentümlichen und nur in diesem Falle gebrauchten, langgezogenen, heiseren Freudenjauchzer von sich, indem er die Luft ein- zog, und wenn man ihm dann den Behälter auf einen Stuhl stellte, legte er alle Sachen heraus und bemächtigte sich voll eifriger Seligkeit seines geliebten Mungi, wie er statt Gummi sagte; er spielte aber nicht damit, sondern war zufrieden, wenn er ihn in der Hand halten konnte. Die 1; 6 auftretende Vorliebe für Sand entspringt wieder dem Spieltrieb: »Das Schönste ist jetzt das Spielen im Sand. Er füllt Eimerchen und Blumen- töpfe mit Sand usw. .... Auf der Straße, wo er keinen Sand hat, tut’s auch ein Maulwurfshaufen, der zu einem Gartenzaun herausgestoßen worden ist. Die Erde ist ihm etwas Neues (es war im März), er gräbt und wühlt darin und zerdrückt (anscheinend) gedankenvoll die Erdklumpen mit den Händen.«

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Die Zuneigung zu Dingen, mit denen er nicht spielte, war um 1; 5 bis 1; 6 erloschen.

Ein neues Moment erscheint in seiner Zuneigung 1; 8: Er tut etwas, wovon er so scheint es denkt, daß es dem geliebten Gegenstande angenehm ist. Damals hatte er ein Schaukelpferd bekommen, »das er sehr liebt. Er bringt ihm Bananen zu essen, Himbeerwasser zu trinken, setzt ihm seinen Hut auf und bringt ihm Blumen.« Es ist dies die einzige derartige Beobachtuug, die ich gemacht habe. Es kann aber auch sein, daß die genannten Handlungen gar nicht dem Drange entsprangen, dem Schaukelpferd etwas Gutes zu tun; vielleicht waren sie nur Äuße- rungen des Spieltriebes, die zufällig diesen Charakter hatten.

Eine Neigung zu Puppen fand ich nicht bei ihm. Wenn er bei einem kleinen Mädchen auf der Straße eine Puppe sah, verlangte er sie zwar nahe zu sehn, betrachtete und befühlte sie erfreut, gab sie aber dann ruhig wieder hin. Es war dies vielleicht nur ein ästhetisches Wohl- gefallen; ich machte ihm nach 1; 9 aus bunten Fleckchen eine kleine nicht schöne Puppe, um zu sehn, wie er sich dazu stellen würde »Er nannte sie gleich Mädel, stellte fest, daß sie Augen, Nase, Mund, Arme und eine Schürze habe, vermißte aber Beine, Schuhe und Strümpfe Er nahm sie zwar mit in den Garten, kümmerte sich aber dann nicht mehr um sie.« Als er um 2; 3 aus häuslichen Gründen einige Male die Spielschule besuchte, brachten ihm die größeren Mädchen ihre Puppen, die er nun ganz gern hatte. Mein Mädchen, das mit ihm dort war, be- richtete, er habe sie gern vor sich sitzen gehabt und sie auch schlafen gelegt. Vielleicht fehlte es nur am Beispiel und an der Anregung zum Puppenspiel. Von der Großmama bekam er allmählich drei Puppen ge- schenkt. Er spielte aber nur ab und zu mit der einen oder andern, wenn man ihn dazu anregte. Er zog sie aus und an, legte sie schlafen und fuhr sie spazieren. Viel mehr Zuneigung flößte ihm sein Spielbär ein. Er spielte nicht nur viel mit ihm, sondern redete ihn auch zärtlich an: Nu Bärdel! und betrachtete oft lange sein Gesicht.

Große Freude erregten 2; 1 mechanische Spielsachen, die er in einer fremden Familie sah. Derartiges war ihm ganz neu. »Ein Junge, der mit Gewichten turnte, gefiel ihm sehr; er ahmte, während er ihm zusah, unwillkürlich dessen Bewegungen nach. Noch schöner war ein aufge-

zogenes Dreirad. .... Darüber hat sich Rafael so gefreut, daß er sich bis zur Erde bog, bis er fast auf dem Kopfe stand, und laut und lange lachte. «

Wenige Male äußerte Rafael eine Zuneigung, die ihren Grund in ästhetischem Wohlgefallen zu haben schien. Es war dies in der Zeit von 2; 3 bis zu 3 Jahren. Bei der Einbescherung am heiligen Abend sah er zuerst und lange Zeit den Christbaum an, ehe er sich schüchtern seinen Geschenken zuwendete. Auch am nächsten Tage stellte er sich öfters vor den Baum und sagte strahlend: Jetx is der Christbaum da! Auch früh im Bett und nachmittag beim Spazierengehen fiel er ihm an- scheinend unvermittelt ein und erregte seine Freude. In den folgenden Tagen bat er jeden Morgen und jeden Abend, daß wir den Baum an-

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zündeten. Er hatte nur rote Äpfel, herz-, stern- und kreisförmige Plätz- chen und Lichte, kein Lametta und keinen andern Schmuck. Noch am Sylvestertag ist eingetragen: Mufttel, ich freu, daß Weihnachten is! Wenn der Christbaum da is! Hibsch! Ach hibsch! 2; 7: »Er lag rückwärts mit dem Kopf auf dem Tisch. so daß eine Topfblume über seinem Gesicht war. Ein großes Blatt streifte sein Gesicht und verbog sich wohl dabei; denn er sagte zärtlich: Schönes Blatt, schönes Blatt, du sollst dich nich xerknautschen (= zerdrücken)!« .... »Es gefällt mir gut, daß er sich kleine Dinge gern lange ansieht, z. B. lange lieblich erfreut von einem Vergißmeinnicht spricht und uns auf dessen einzelne Knöspelein aufmerksam macht. Auch Käfer und Ameisen beobachtet er genau. Im Pfarrgarten gegenüber sieht er oft lange den Staren zu, wie sie schnurren, zwitschern, mit den Flügeln schlagen, vor dem Häuschen sitzen und davonfliegen. Er zeigt den Star auch mir und fragt wohl 15 mal siehsten? siehsten? d.h.: siehst du ihn?« .... »Er kauerte sich im Garten dicht vor eine große blaue Aster mit gelben Staubfäden, brachte sein Gesicht dicht an die Blüte, umfaßte sie lose mit beiden Händchen, drehte den Kopf hin und her und sagte zärtlich: Du Blumerle! Du Blumerle! Nu du Blumerle! Dann zu mir: Die Blume lacht. Es war reizend und rührend anzusehn.«

Einige Male äußerte Rafael Mitgefühl mit Tieren und Pflanzen. 1; 9 hatte er ein heftiges, wenn auch wahrscheinlich ihm selbst sehr un- deutliches Mitleid mit einem abgebildeten Vogel. »Auf einem Bild im Fabelbuch trägt ein Raubvogel einen schreienden Sperling in den Klauen fort. Da Rafael mit den Blicken eine Erklärung verlangte, sagte ich ihm: ‚Der große Vogel trägt den kleinen Vogel fort. Da schreit der kleine Vogel: piepiepiep! Er hat Angst!‘ Schon während ich das sagte, merkte ich (an seinem Gesichtsausdruck), daß ich’s lieber nicht hätte sagen sollen. Er rief ängstlich, fast weinend: Nich Angst! und kam zu mir gelaufen: Muttel lieb machen! Als ich ihn umarmte und sagte: ‚Jetzt ist’s wieder gut, jetzt hat der Vogel keine Angst mehr,‘ lachte Rafael und sah weiter vergnügt Bilder an. Ähnlich war es bei einem Bilde, auf dem ein kleiner Junge weint.« Dagegen weckte geschlachtetes Geflügel kein Mitleid in ihm. 1; 11 interessierte ihn bei einer geschlachteten Ente das Blut, er half sie rupfen. In demselben Alter sah er auch einmal, wie Pferde, die eine Lokomobile ziehen sollten, gepeitscht wurden. Es machte ihm keinen Eindruck, er beachtete es gar nicht, sondern sah nur zu, wie die Lokomobile vom Fleck kam. (Hingegen erinnere ich mich aus meiner eignen Kindheit, daß ich mit leidenden Tieren ein so großes Mitleid hatte, daß es mir fast das Herz sprengen wollte, wenn ich z. B. eine Kuh, die von ihrem Kalbe getrennt worden war, unaufhörlich rach diesem brüllen hörte. Wenn Pferde, die z. B. einen schweren Rübenwagen aus dem Schmutz ziehen sollten, gepeitscht wurden vielleicht wurde auch nur die Luft gepeitscht hielt ich mir Augen und Ohren zu und rannte fort. Ich war aber damals schon bedeutend älter, vielleicht schon 5 bis 8 Jahr. Damals dachte ich, wenn auch nicht so deutlich, wie ich’s jetzt schreibe: Wie soll ich das ganze, lange Leben ertragen, wenn ich immer

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wieder so etwas sehen und hören muß! Es war vielleicht grade bei dem Fall mit den Pferden nicht reines Mitleid: Die roh klingenden Zurnfe der Knechte mögen das ihrige dazu getan haben, mich abzustoßen. Heute noch sind meine Gefühle bei denselben Gelegenheiten denen in meiner Kindheit ganz ähnlich.) 2; 9 sah er in einem Kornfeld viel Hedrich und sagte fragend und bedauernd: Wenn sie das abmähn, da schneiden sie ja aber alle Blümel mit ab?! Und 2; 11, als er von einem Besuch bei den Großeltern zurückkehrte, erzählte er dem Mädchen, daß der Kanarienvogel der Großeltern tot sei, mit den folgenden, in be- dauerndem Tone gesprochenen Worten: Der Hund hat ihn aufgeschnappt. Das is aber schade! Der konnte doch noch leben! Er war doch noch so jung! Er war doch nich so alt! Er war doch noch nich so groß wie der Hund!

Mitfreude zeigte Rafael nur Menschen gegenüber; die Beispiele dafür sollen in einer späteren Arbeit über die Gemütsentwicklung ange- führt werden.

Im folgenden Abschnitt führe ich diejenigen Tagebuchstellen an, in denen Rafael seine Gedanken über Dinge, Tiere und Pflanzen äußert. Der Grundzug aller ist: er beurteilt seine Umgebung nach sich. Er legt Dingen, Tieren und Pflanzen menschliches Denken und Tun unter, und behandelt sie so, als ob sie ihn verständen und Befehle ausführen könnten.

Zum ersten Male bemerkte ich derartiges an ihm im Alter von 13%, Jahren. Ein gefundener toter Igel wurde vergraben. Rafael sah dem mit großem Interesse zu und meinte dann befriedigt: läft er schläft. Von einem Streichholz, mit dem er im Bett gespielt und das er ver- loren hatte, sagte er: Treichel fortkrochen. Er ging zu den Hühnern mit der Absicht, ihnen etwas zu fressen zu geben und sagte unterwegs: Ssiepel freun. (Schiepel ist Dialektwort für »Hühnchen«.) Wenn er nicht einschlafen wollte, nannte ich ihm allerlei bekannte Kinder, die auch schon schliefen. Eines Abends zählte er selbst die Kinder auf und setzte hinzu: Wasser lafen. In den folgenden Abenden traute er auch den Blumen, der Kirche, dem Kloster, der Stube, der Lampe und verschiedenen anderen Dingen zu, daß sie nachts schlafen. 1; 10 nahm er zum Reiten auf dem Schaukelpferd gern ein Bauklötzchen in die Hand, damit es auch reilen könne. Einmal hatte er beobachtet, wie die Abendsonne hinter Wolken verschwand, und betrübt gesagt: Sonne weggeht! 1; 11 stellte er eine Figur Moltkes dicht an die Fensterscheibe, damit der Soldat auch rausgucken könne. Er hatte seinen kleinen Dampfer in eine Schachtel gelegt nnd flüsterte mir zu: Dampfer läft. Seinem Spielzeugschäfchen zeigte er die Zierkürbisse im Garten. Er hielt es mit dem Kopf dicht an jeden einzelnen Kürbis. Als er rasch auf ein Huhn zuging, so daß dieses fortlief, rief er: Putte srocken =— Das Huhn ist erschrocken.

Mit 2 Jahren glaubte er noch eirmal von einem Streichholz, es sei fortkrochen. Es war aber diesmal kein wirkliches Streichholz, sondern eines, von dem er unmittelbar vor dem Erwachen geträumt hatte und das er dann zu seinem Staunen nicht im Bett fand. Seinem Spielzeug- schweinchen zeigte er ein Bild mit einem Frosch und verlangte, daß das

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Schweinchen seine Freude über das Bild des Frosches äußere: Nuschel (soll) großer Frosch sagen! und dann in verdrießlichem Tone: Nuschel sagt noch nich! Von einem lebendigen Schwein, das schrie, verlangte er: Nuschel soll nich schrein! 2; 1 hielt er sein kleines Porzellan- püppchen an die Klaviertasten und sagte: Mach lala! Mit der Hand! Lala! Sollst lala machen! (»Lalamachen« war die ständige Bezeich- nung für Klavierspielen.) Bei einem späteren vergeblichen Versuch, das Püppchen Klavierspielen zu lassen, sagte er: Das Mädel macht noch nich lala, hat die Hände xu. Dann sah er seine eignen Hände an und sagte: Raffel hat nich die Hände xu. Er schälte einen Apfel und sagte: Da is noch Schale dran, da schimpf ich auf e Schale! 2; 2 fütterte er sein Spielzeugschweinchen mit Bohnen und forderte: Nuschel (soll den) Mund aufmachen! 2; 3 sah ihn eine ganz nahe stehende Kuh groß an, da meinte er: Die Kuh denkt was! 2; 8 spielte er auf dem Tisch mit Zierkürbissen und einer russischen Holzpuppe. Wir drehten die Kürbisse, so daß sie tanzten, und als ein großer Kürbis dabei die Puppe umwarf, rief er voll Jubel: Jeix hat der große Kürbis was erfunden! Von einem singenden Vögelchen sagte er: Das erzählt sich was. Als bei ruhiger Luft plötzlich ein Windhauch kam, so daß die Blumen im Garten zitterten, meinte er: Die Blumen frieren. Als 2; 9 einmal der Spirituskocher ausgelöscht wurde, sagte Rafael: Die Flammen gehn in die Löchel ‘rein, die wollen schlafen. 2; 10 sagte er beim Treppenhinabgehn, indem er auf die nächste Stufe deutete: Die Stufe wartet immer; dann auf die nächste: Die wartet auch auf mick. Als wir unten waren, sagte ich: »Jetzt warten die Stufen auf den Vatel« (der bald nach uns kommen wollte). Drauf Rafael: Die wollen schon immer den Vatel sehn. Er hatte aus seinen Spielsachen einen Kaufmannsladen aufgestellt, ging dann einmal mit mir weg davon und sagte auf dem Rückwege: Der Laden wartet auf mich. Der hört mich schon kommen, der wartet immer ob ich noch nich komme. Beim Blumengießen sagte er: Die Tagetes wollen auch was haben, die warten immer auf mich, ich bring ihnen schon Wasser. Als er einmal mit den Lippen brummte, wie es Kinder oft machen, sagte er: Meine Nase is ganz erstaunt. »Worüber denn?« fragte ich. Uber das brrrr. Es mag wohl aber Schelmerei dabei gewesen sein, zu der er sehr neigt. Er betrachtete mehrere verschieden große Sonnenblumen: Die große Sonnenblume is der Vatel von den kleinen Sonnenblumen. 2; 11 hörte er dem Krähen zweier Hähne in 2 verschiedenen Höfen zu, die sich gegenseitig zu antworten schienen; er übersetzte sich den Hahnruf so: Der andre sagt immer zu den (statt »dem«) andern: ich hab auch Hühnel! Ich hab auch Hühnel!

Mit 3 Jahren: »Nachdem es lange geregnet und dann wieder auf- gehört hatte, verdolmetschte er das behagliche Gackern eines Hahnes: Jetz is es wieder schön!« Ein andres Mal »lag er im Garten auf dem Lodenkragen im Sande; eine Raupe war zu ihm gekrochen, und er sagte zu ihr: Raupe! Ich will dich behalten! (Er suchte sie in eine Falte des Kragens zu schieben) Das is dein Raupennest. Na, was willste

2. Wie sich mein Sohn bis zum Alter von 3!/, Jahren zu den Dingen usw. stellte. 91

machen? Hier reinkriechen? Na, kriech hier rein. Muttel, ich hab eine Raupe. Sie soll mitn Köppel reingehn. Geh mitn Köppel rein. Rein mitn Köppel. Mutiel, die Raupe fang ich immer. Das is das Raupennest. Da tu ich sie dahin. So. Raupe? Na, was willst du machen? Ach, du Raupe! Kannste da kriechen. .... Na, gut, da kriech jetx wieder weiter.« Bei einem Spaziergang mit der Tante Grete hatte er sein Pistölchen mit und knipste es unterwegs auf einen kleinen Hund ab. Der erschrak, lief davon und knurrte dann unter dem Zaun hervor. Rafael erzählte mir das 1 oder 2 Tage später und übersetzte mir das Knurren des Hundes so: Der Hund sagt, wenn ich ihn schieße, da mag er nich xu mir kommen. Im selben Monat: »Jetzt eben belauschte ich ihn, als er den Hühnern ein paar Krümel in den Hof gestreut hatte; er ging auf einen Hahn zu und sagte zu ihm: Wenn du zu mir gekommen wärst, hätte ich dir noch was gegeben. Aber du bist nich zu mir gekommen.

Befehle an Dinge und Tiere hörte ich öfters, zuerst mit 1°/, Jahren. Freilich weiß man nicht, was sich das Kind dabei denkt: ob es wirklich der Meinung ist, das Ding oder Tier verstehe ihn, oder ob es sich viel- leicht nur des oft an ihn gerichteten und ihm dadurch geläufigen sprach- lichen Ausdrucks bedient. Ich bin geneigt, das erste anzunehmen, weil seine geäußerten Gedanken über Dinge und Tiere zeitlich mit den Befehlen zusammenfallen. Das erste Mal lief er mit gesammelten Maikäfern zu den Hühnern und rief ihnen zu: Put put put! Maikäwa essen! Kurz vor Schluß des 2. Jahres redete er eine Bohne, die er nicht aus einem Kästchen herausbekam, an: Gehste du raus!? -——- Eine fremde kleine Katze war in unsern Garten gekommen. Rafael lief immerfort hinter ihr her. Miexel, komm her! rief er ohne Ende im eindringlichsten Tone. Und wenn sie sich dennoch seinen Liebkosungen entzog: Mixädäää! Solls nich hier reinkriechen! Solls hier nich setzen! Dann riß er Gras ab, das sollte die Katze fressen. Miekatze esse! rief er und hielt’s ihr vors Maul. Solls aufmachen Mund! Auch Holunderbeeren suchte er ihr einzufüttern. Nachher fand er, sie sei unter dem Schwänzchen schmutzig. Er pflückte ein Blatt, lief damit hirter ihr her und suchte sie am Schwanz festzuhalten und abzuwischen. Einmal nannte er sie liebe Miekatze. Als er zum Luftbad ausgezogen wurde, verlangte er: Miekatze auch ausziehn und sagte auf ihr behaartes Bein zeigend: Das (ist) Mie- katzes Trümpel (= Strümpfel). Als die Katze zufällig zwischen seinen Beinen durchgekrochen war, verlangte er das dann immerfort. Miekatze hier durch! rief er, hob das Röckchen, zeigte auf seine Beine und wurde ordentlich böse, als ihm die Katze nicht folgte. Nach seiner Art, zu ihr zu sprechen, ist er überzeugt, daß sie ihn versteht.« 2; 1, als beim Hühnerfüttern ein Brocken auf die Stufen gefallen war, rief er einen Halın zu: Hahn, da liegt's! Das zusammengeschobene Photostativ redete er heftig an: Steh ontlich (ordentlich)! und befahl einem Bettzipfel: Bleib unten! Ebenso 2; 2, als er sich vergeblich bemühte, den Schiffchen- verschluß an der Nähmaschine einzuschieben: Geh in ’n Ritz rein! Und als er die Kohle nicht auf die Schaufel bekam: Kohle geh drauf! Zu

92 B. Mitteilungen.

einem hölzernen Vögelchen sagte er: Sing, sing mal! Mach mal der Mund auf! Einen abgebrochenen Bleistift, der vorn eine Öffnung zeigte, weil der Graphitstift tiefer darin steckte, rief er energisch an: Mach ’n Mund zu! 2; 3: Spiegel, geh du weg! Er spielte mit den Lichtmanschetten am Klavier und sagte dann zu einer von ihnen, im Begriff wegzugehn: Halte mal stille, bis ich wiederkomme! Komm gleich wieder. Halte mal stille! Emma wer ich was sagen, zur Emma. Beim Beobachten einer Spinne sagte er ihr freundlich zu- redend: Kriech rauf, immer rauf, immer rauf! 2; 5 redete er eine Fußbank, die er zerschrauben wollte, liebreich an: Komm mal, Ritschele, komm mal zu mir! 2; 8 brachte er wieder den Hühnern Maikäfer und Schnecken und redete sie an: Putputput! Hier sind Maikäfer! Henne, hier haben Se was! Haste was, Henne! Ich hab Sehnecken gebracht! Bei dem beliebten Schnurenziehn redete er eine Schnur, die nicht nach seinem Willen ging, an: Da nich! Da nich! Da mußte nich sein! 2; 9 sagt das Tagebuch: »Die Hühner redet er immer noch an, als ob sie ihn verständen; wenn er ihnen z. B. eine Raupe bringt, ruft er: Putput! Hier is eine Raupe! Da liegt se. Hier, wo ich zeige! Hier! Hier! Bier! Putput! und wird ordentlich böse, wenn sie sie nicht finden oder nicht mögen.e Einem herunterrutschen- den Band rief er 2; 11 zu: Bleib doch oben! Er nahm aus seinem Eisenbahnwagen ein Bänkchen heraus: Bank, kommen Sie mal raus! Jetz mußle stillhalten. Jetx muß die Sache rausgemacht werden. Zum Puppenjungen sagte er: Geh rein, du Puppenjunge, du Kerl! Doch schienen mir die beiden letzten Äußerungen nicht mehr so naiv zu sein wie die früheren. (Schluß folgt.)

3. Ein Pflegeheim für geschlechtskranke Kinder.)

Von E i cobi. Q ugenie Ja obi Nachdruck verboten.

In Friedrichshagen, einem östlichen Vorort Berlins, befindet sich Seestraße 43 ein in Deutschland noch einzigartiges »Pflegeheime. Sein Begründer und Leiter, der als Forscher auf dem Gebiet der Hautkrank- heiten bekannte Geheimrat Rosenthal in Berlin, rief es 1909 für die durch geschlechtskranke Eltern erblich belasteten und darum als unheilbar geltenden Kinder, und zwar ausschließlich für solche, ins Leben. Vor- bildlich war hierbei die in Stockholm als erste der Art überhaupt einge- richtete Anstalt, die auch in Kopenhagen zu gleicher Gründung ange- regt hat.

Geheimrat Rosenthal überweist dem Pflegeheim nur Kinder, die noch im ersten Lebensjahr stehen, wobei ungefähr deren 11. Monat als »Höchstgrenze« gilt. Je jünger sie bei der Aufnahme aber sind, um so

1) Vergl. Welander, Über den Einfluß der venerischen Krankheiten auf die Ehe sowie über ihre Übertragung auf kleine Kinder. Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung. Heft 55. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

4. Direktor der Kgl. Schwachsinnigenanstalt zu Chemnitz Emil Gustav Nitszche +. 93

besser ist es. Eine solche erfolgt jedoch nicht sofort, nachdem Geschlechts- krankheit festgestellt wurde. Die Kleinen erhalten zunächst in Berlin in der Charit& oder in einer sonstigen Krankenanstalt eine Behandlung und kommen dann erst nach Friedrichshagen, wo ihr Verweilen nach allge- meiner Aufstellung 4 Jahre andauert. Innerhalb solcher Zeit ist eine voll- ständige Ausheilung möglich, und hieraus sich ergebende Entlassungen sind auch bereits zu verzeichnen gewesen. Je nach der Art des Einzel- falles im besonderen wird der Aufenthalt aber vielfach mehr oder minder, jedoch nicht länger als bis zum 6. Lebensjahr des Kindes, ausgedehnt. Diese Zeitdauer reicht selbst bei besonders hartnäckig veranlagter Natur des Übels hin, um gänzliche Gesundung zu erzielen, und nur in solchem Zustande befindliche Kinder entläßt die Anstalt. Sie gibt dieselben auch nicht zu Besuchen oder einem zeitweiligen Aufenthalt bei Verwandten heraus. Letztere dürfen mit den Kleinen bloß während bestimmter Stunden in der Anstalt selbst zusammentreffen.

Vorwiegend handelt es sich hier aber um uneheliche, unter jammer- vollen Verhältnissen zur Welt gekommene Wesen, nach denen kaum jemand fragt. Sie fallen meistens der Armenpflege anheim und werden, nach ihrer Entlassung aus der unmittelbaren Obhut der Anstalt gleichsam in deren mittelbarer stehend, bei geeigneten Familien untergebracht. Bisweilen kommt es allerdings vor, daß unter gewissen Bedingungen gleichzeitig mit dem Kinde die Mutter, besonders wenn sie dasselbe stillen kann, Auf- nahme finde. Der beim Einzuge ins Pflegeheim jammervolle Zustand der Kinder verkehrt sich unter dem Einfluß der neuen, nach jeder Rich- tung hin mustergültig gestalteten Umgebung bald mehr und mehr zu seinem gänzlichen Gegenteil. Die »älferene Kleinen erscheinen wenigstens dem Laien so munter, frisch und lebensvoll, wie man dies jedem Kinde nur wünschen kann.

Das Pflegeheim steht in einem nach dem Müggelsee hinlaufenden Garten. Es macht schon in seinem Äußern einen sehr ansprechenden Eindruck und nimmt sich im Innern wie ein Ideal der Sauberkeit und gesundheitsgemäßen Eiurichtung aus. Seine Räume gewähren 40 Kindern Unterkunft. Die dem Hause vorstehende Oberin, die bei ihrem mühe- vollen Wirken geschulte Kräfte zur Seite hat, sagte, man hätte absichtlich keine größere Zahl ins Auge gefaßt, um jedem einzelnen Kinde nach seiner Natur im besondern eingehender beikommen zu können.

4. Direktor der Kgl.Schwachsinnigenanstalt zu Chemnitz Emil Gustav Nitzsche t.

Am 29. November 1916 starb infolge Gehirnschlag der Direktor der Kgl. Schwachsinnigenanstalt zu Chemnitz i. Sa. Herr Emil Gustav Nitzsche im 55. Lebensjahre. Er wurde am 23. Mai 1862 in Pulsnitz geboren und besuchte von 1877—1881 das Lehrerseminar zu Dresden- Friedrichstadt. Nach seinem Abgange übernahm er als Hilfslehrer eine Stelle an der Schröterschen Erziehungsanstalt für Schwachsinnige in

94 B. Mitteilungen.

Dresden, und am 1. Oktober 1883 kam er als Lehrer an die Dresdner Kgl. Blindenanstalt. Das Jahr darauf berief ihn das Kgl. Ministerium an die Blindenvorschule zu Moritzburg, 1888 an die Blindenaußenabteilung Königswartha und nach zweijähriger Wirksamkeit daselbst als Leiter an die Landesanstalt für schwachsinnige Knaben in Großhennersdorf.

Das Jahr darauf wurde er zum Oberlehrer, 1898 zum Oberinspektor und 1904 zum Schuldirektor befördert. Als am 1. September 1905 die Kgl. Landesanstalt für Blinde und Schwachsinnige in Chemnitz eröffnet und die Großhennersdorfer Anstalt nach Chemnitz verlegt wurde, siedelte er in gleicher Amtseigenschaft nach dort über. Am 14. November 1916 er- nannte ihn das Kgl. Ministerium zum Direktor der Schwachsinnigenanstalt. Nach dem Tode des Herrn Oberregierungsrates Müller, des bisherigen Anstaltsdirektors, dessen Stellvertreter Nitzsche bereits gewesen war, übertrug ihm das Kgl. Ministerium die Leitung der gesamten Anstalt.

Das treue Wirken und die Verdienste, die der Verewigte als Leiter der Schwachsinnigenanstalt und später der ganzen Anstalt für Blinde und Schwachsinnige hatte, erkannte das Kgl. Ministerium an und ehrte ihn durch Verleihung des Ritterkreuzes II. Klasse vom Verdienstorden und des Ritterkreuzes I. Klasse vom Albrechtsorden. Zu Ehren des verstorbenen Direktors wurde in der Turnhalle vom Lehrerkollegium der Schwach- sinnigenanstalt eine Gedächtnisfeier abgehalten, der Angehörige des Ent- schlafenen, die schwachsinnigen Zöglinge mit ihren Pflegern und Schwestern und andere Anstaltsbeamte beiwohnten. Der unter großer Teilnahme statt- gefundenen Beerdigung, ging eine Trauerfeier in der Anstaltskirche voraus. Als Vertreter des Kgl. Ministeriums war Herr Regierungsrat Jeremias erschienen. Herr Anstaltspfarrer Sachse hielt die Gedächtsnisrede, der er die Bibelstelle Joh. 13, 7: »Was ich tue weißt du jetzt nicht, du wirst es aber hernach erfahren,« zugrunde gelegt hatte.

Direktor Nitzsche war eine stille, zurückgezogene, in den Feier- stunden ganz seiner Familie lebende Persönlichkeit. 26 Jahre hat er mit Liebe und Treue die Schwachsinnigenanstalt geleitet und sich auf dem Gebiete der Schwachsinnigen-Erziehung und -Fürsorge große Verdienste erworben. Mehrfach hat sich Nitzsche auch schriftstellerisch betätigt. Am bekanntesten sind das kleine Werk: »Aus der Praxis der Vorschule,« »Die Lesefibel in Antiqua« und die 1907e gemeinsam mit dem Lehrer- kollegium bearbeitete Schrift »Die Königlich Sächsische Landeserziehungs- anstalt für schwachsinnige Kinder«e. Außer diesen drei in Fachkreisen be- achteten Schriften hat er noch einige kleinere Aufsätze in der Schröter- schen Zeitschrift veröffentlicht.

Die Chemnitzer Schwachsinnigenanstalt mit ihren Außenabteilungen Grünhein, für entlassene ältere schwachsinnige Mädchen und die Kolonie Großhennersdorf, für erwachsene männliche Zöglinge, welche beide von Nitzsche ins Leben gerufen wurden, ist unter seiner Leitung durch das stets huldvolle Entgegenkommen des Kgl. Ministeriums zu einer Muster- anstalt geworden. Das bezengt auch die große Zahl der Besucher, be- stehend aus Ärzten, Geistlichen, Pädagogen, Staats- und Stadtvertretern aller Länder Europas, die hierherkamen, um die Einrichtung der Anstalt,

C. Zeitschriftenschan. 95

besonders die Schwachsinnigenschule zu studieren. Keiner ist wohl von hier fortgegangen, der nicht befriedigt gewesen wäre von dem, was er in Chemnitz gesehen und gelernt hatte. Mit Direktor Nitzsche ist eine in Beamten-, Anstalts- und Hilfsschullehrerkreisen bekannte und geschätzte Persönlichkeit dahingegangen, deren Verlust allgemeine Teilnahme und Bedauern findet. Sein Andenken wird allezeit in ehrender Erinnerung bleiben. Oskar Israel.

C. Zeitschriftenschau,

Jugendfürsorge.

Tatsachen. Appenzeller, G., Heimarbeit und Kinderarbeit. Monatsblatt des Kant. Bernischen Vereins für Kinder- und Frauenschutz. 3 (15. Oktober 1913), S. 15—16.

Im Kanton Bern wird Kinderarbeit noch getrieben in der Leineweberei, Holz- schnitzerei, Korbwarenindustrie, Uhrenindustrie. Hingewiesen wird außerdem auf die schädliche Arbeit des Kegelaufstellens.

Aschrott, Die Kriminalität der Jugendlichen. Deutsche Strafrechtszeitung. I, 1/3 (April 1914), S. 83—89.

Der Verfasser macht auf eine Reihe von Tatsachen aufmerksam, die beachtet werden müssen, wenn man aus den Ziffern der Kriminalstatistik ein richtiges Bild von der Kriminalität der Jugendlichen gewinnen will. Er weist u. a. darauf hin, daß die einzelnen Delikte besonders untersucht werden müssen. Er tritt auch für eine noch weitergehende Scheidung nach Altersklassen als bisher üblich ein: die Gruppe der 14—18jährigen müßte in zwei (14—16jährige und 16—18jährige) ge- trennt werden. Dadurch würde auch Material gewonnen für die Bearbeitung der Frage, ob für die ganze Altersklasse der 14 bis 18jährigen die Wahl zwischen Strafe und Erziehung zugelassen werden soll. Auch müssen bei der Behandlung dieses Problems die in Fürsorge befindlichen Jugendlichen wie die auf Grund von § 56 RStrGB Freigesprochenen mit berücksichtigt werden.

Aufsichtslose Kinder. Das proletarische Kind. Januar 1914.

Mannigfache Zahlenangaben. In Deutschland bestehen erst (Ende 1912) an 256 Orten 1245 Kinderhorte, in denen rund 84000 Kinder beaufsichtigt werden. Aus staatlichen Mitteln wird nur 2700 Mark Unterstützung dafür gewährt.

Blos, Anna, Kinderhandel. Das proletarische Kind. Dezember 1913.

Kurze Darstellung des Kinderhandels in Anlehnung an die Schriften Henriette Arendts.

Bosshard, G., Unsere Stadtjugend. Zeitschrift für Jugenderziehung und Jugend- fürsorge. IV, 10 (1. Februar 1914), S. 277—281; 11 (15. Februar), S. 312—316.

Erfahrungen und Beobachtungen auf der Gasse und in der Schule werden mit- geteilt. Man könnte sie als einen Anfang zur Psychologie der Stadtjugend bezeichnen. Teilweise bringt die Arbeit auch praktische Winke, besonders wird vor dem Gassen- leben der Kinder gewarnt. Auch wird darauf hingewiesen, daß die Jugendpflege das Verantwortlichkeitsgefühl der Eltern gegenüber den Kindern wecken muß.

96 C. Zeitschriftenschau.

Bünzli, Bertha, Der Kinderhandel in der Schweiz, seine Ursachen und die Maß- nahmen zu dessen Bekämpfung. Zeitschrift für Jugenderziehung und Jugend- fürsorge. IV, 21 (15. Juli 1914), S. 617—633.

An einzelnen Beispielen werden die verschiedenen Arten des Kinderhandels in der Schweiz illustriert. Die Hauptursache liegt in den wirtschaftlichen Verhält- nissen. Als erforderliche Maßnahmen ergeben sich: Bekämpfung des sozialen Elends, Bekämpfung der doppelten Moral in unserer Gesellschaft, Errichtung von Mütter- heimen, behördliche Überwachung aller außerehelichen Kinder bis zum 18. Lebens- jahre, die staatliche Unterstützung der Jugendfürsorgevereine und -eiurichtungen, Verbot der Veröffentlichung zweifelhafter Hebammeninserate usw., endlich die Gründung eines Komitees zur Bekämpfung des Kinderhandels.

Colbert, Karl, Der Piccolo. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. VI, 1/2 (Februar 1914), S. 15—18.

Eine Betrachtung über die Lehrlingsverhältnisse im Gastwirts- und Schank- gewerbe. Die Altersgrenze für solche Lehrlinge müßte heraufgesetzt, die Verwen- dung zu Hilfsarbeiten verboten, die Gesamtarbeitszeit auf nicht mehr als 6 Stunden festgesetzt werden.

Doernberger, Kleinkinderfürsorge. Der Arzt als Erzieher. X, 1914, 2, S. 17 bis 20; 3, S. 30—33.

Es fehlt noch eine Fürsorge über das erste Lebensjahr hinaus bis zum Schul- anfang. Wie notwendig eine solche ist, wird durch zahlreiche Zahlen bewiesen. Die Wohnungsverhältnisse mit der Entwicklung der Zähne und dem Beginn des Laufens ohne weiteres in Beziehung zu setzen, scheint doch zu weit zu gehen; ob es nicht richtiger wäre, die ganze soziale Stellung und die hereditären Verhältnisse statt dessen zu berücksichtigen? Auf die erbliche Belastung, die Tuberkulose und die Infektionskrankheiten in der vorschulpflichtigen Zeit wird hingewiesen. Über- sichten aus den Volksschulen Münchens und Nürnbergs zeigen, »daß über die Hälfte aller Lernanfänger nur das Prädikat mittel verdient, d. h. zwar nicht krank, aber doch nicht dem Alter entsprechend kräftig und völlig einwandfrei befunden wurde.« Verschiedene Fürsorgemaßnahmen und -möglichkeiten werden besprochen. Friedeberg, Die Kriminalität der Jugendlichen nach der letzten Statistik. Mit-

teilungen d. Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge. IX, 3 (15. Juni 1914), S. 3—5.

Das Jahr 1911 verzeichnet einen Rückgang der Verurteilungen Jugendlicher. Für 1912 ist allerdings wieder eine Steigerung zu vermuten. Das häufigste Delikt der Jugendlichen ist der Diebstahl (52 °/, aller Fälle). Über 1000 Jugendliche waren 1911 schon drei- und mehrmal vorbestraft. In deu Jahren 1894—1911 wurden rund 928000 Jugendliche eines Verbrechens oder Vergehens überführt. Rund 36000 (= 4°/,) wurden auf Grund von $ 56 StrGB freigesprochen. Es wurden 1911 von 50000 Jugendlichen 26000 zu Gefängnis, 10000 zu Geldstrafen, 14000 zu Verweisen verurteilt. Die Arbeit bringt weiter Angaben über die Strafdauer sowie über das Alter der jugendlichen Kriminellen.

Hanauer, W., Die hygienische Seite der gewerblichen Kinderarbeit. Deutsche Med. Wochenschrift. 39, 45 (6. November 1913), S. 2200—2202.

Das Kinderschutzgesetz von 1903 hat nicht überall so gewirkt, wie zu wünschen ist. Eine Zeit lang hat die Kinderarbeit abgenommen. Jetzt nimmt sie wieder zu. In Baden z. B. ist eine Steigorung der gewerblichen Kinderarbeit von 1910 auf 1911 um 12°/,, von 1911 auf 1912 um 8°/, zu verzeichnen. Vielfach wird das Gesetz als unberechtigter Eingriff in die Rechte der Kinder betrachtet und übertreten. Eine wirksame Durchführung läßt sich nur ermöglichen durch Zusammenarbeiten

C. Zeitschriftenschau. 97

von Schule und Gewerbeinspektion. Die Schule muß sich die Hilfe des Schularztes sichern. Der Erlaß von reichsgesetzlichen Schutzbestimmungen für die in der Land- wirtschaft tätigen Kinder ist dringend nötig. Das Kinderschutzproblem ist ein inter- nationales. Die Stellung der einzelnen Kulturstaaten dazu wird kurz gekennzeichnet. Zum Schluß wird hingewiesen auf die Untersuchungen von Max Hirsch (Berlin) über den Zusammenhang zwischen Kinderarbeit und Störungen in der Sexualsphäre beim Weibe. Störungen der Schwangerschaft und der Geburt, ja auch Sterilität können durch die gewerbliche Beschäftigung kindlicher und jugendlicher Arbeite- rinnen verursacht werden. »In der Ära der Geburtenabnahme haben also unsere Regierungen alle Ursache, auch von diesem Standpunkt aus der gewerblichen Kinder- arbeit ihre Aufmerksamkeit zu schenken.«

Hanselmann, H., Presse und Fürsorgeerziehung. Der Rettungshausbote. 34, 8 (Mai

1914), S. 170—175.

An einem Beispiel wird gezeigt, wie durch ein gewisses Vorurteil allen Für- sorgezöglingen gegenüber oft ganz verdrehte Nachrichten in die Presse gelangen. Hecke, Wilhelm, Die Zählung der Pflegekinder in Österreich. Zeitschrift für

Kinderschutz und Jugendfürsorge. VI, 8/9 (August/September 1914), S. 236—238.

Nach der Zählung vom 31. Dezember 1910 gab es in Österreich 127 855 Pflege- kinder (4,5 auf 1000 Einwohner). Anstaltsinsassen sind dabei nicht mitgerechnet. Die meisten Pflegekinder finden sich in den Alpenländern; zum Teil ist das Pflege- kinderwesen als Folge der zahlreichen unehelichen Geburten anzusprechen. Hellwig, Albert, Illusionen und Halluzinationen bei kinematographischen Vor-

führungen. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie. 15, 1 (Januar 1914), S. 37 bis 40.

Referat über eine Arbeit des Italieners Ponzo. Es handelt sich um das Auftreten momentaner Illusionen und Halluzinationen bei Kinovorführungen, die einen Beweis für den tiefen Eindruck derartiger Vorgänge schon auf gesunde Er- wachsene liefern. Wie muß dann erst die Wirkung auf Kinder sein!

v. Hentig, Hans, Alkohol und Verbrechen in Bayern. Münchner Med. Wochen- schrift. Jg. 60, 45 (11. November 1913), S. 2525—2526.

Die Bayerische Justizverwaltung macht seit drei Jahren Angaben über Alkohol und Kriminalität 1912 wurden 8629 Personen wegen 10011 im Rausche oder bei chronischem Alkoholismus begangener strafbarer Handlungen verurteilt. 231 davon standen im Alter von 12—18 Jahren. >»... wenn die Statistik ‚nur‘ sagt, so kann ich dem nicht zustimmen, denn diese Angabe umfaßt nur dıe verurteilten Jugend- lichen. Die freigesprochenen und wegen mangelnder Einsicht nicht bestraften Jugendlichen fallen hier weg.« Die meisten der strafbaren Delikte sind natürlich gefährliche Körperverletzungen. Ein genaues Bild gibt die Statistik übrigens nicht, da sie sich nur auf Vergehen und Verbrechen gegen die Reichsgesetze bezieht, die Übertretungen, die 1911 in Bayern über drei Viertel aller Verurteilungen aus- machten, ganz außer Acht läßt.

Hildebrandt, P., Familienerziehung. Zeitschrift für Jngenderziehung und Jugend- fürsorge. 1V, 18 (1. Juni 1914), S. 521—526.

Trotzdem die Familie viele wunde Punkte für die Erziehung zeigt, soll man sie als Erziehungsstätte nicht aufgeben, zumal in unserer Zeit alle möglichen Kräfte auf eine Regeneration hinarbeıten. Man soll der Familie die Verantwortung für die Erziehung nicht nehmen, sondern lieber ihr Verantwortlichkeitsgefühl zu stärken versuchen.

Zeitschrift für Kinderforschung. 22. Jahrgang. 7

98 C. Zeitschriftenschau.

Hoche, P., Kinderverbrechen. Zeitschrift für Kinderpflege. IX, Mai 1914, S. 89 bis 92.

Viele Verbrechen werden auch von nicht anormalen Kindern begangen, ohne daß sie die Tragweite ihrer Handlungen einsehen. Vielfach sind allerdings die Ver- brechen durch die psychopathische Konstitution des Kindes bedingt. Man muß das Wesen des Kindes zu verstehen suchen. wenn man das Verbrechensmotiv richtig werten will.

Kesseldorfer, Heinrich, Schule und Jugendgerichtspflege. Heilpädagogische Schul- und Elternzeitung. 4, 9 (September 1913), S. 153—164.

K. gibt eine Reihe von Bildern über die Ursachen jugendlicher Verwahrlosung, die unterrichten sollen, worüber der Jugendrichter Bescheid wissen will und wie die Schule ihm helfen kann.

Kuhn-Kelly, Bericht der amtlichen Jugendschutzkommission der Stadt St. Gallen über ihre Tätigkeit im Jahre 1913. Zeitschrift für Jugenderziehung und Jugend- fürsorge. IV, 16 (1. Mai 1914), S. 466—471.

Der Bericht enthält eine Reihe Einzelbilder aus der Jugendfürsorge.

K. K., Statistik der jugendlichen Verbrecher im Kanton Zürich für das Jahr 1912. Schweizerische Blätter für Schulgesundheitspflege. XII, 6 (Juni 1914), S. 84—86.

Unter 3510 verurteilten Angeklagten waren 67 jugendliche Verbrecher, von denen 52 wegen Vergehen und Verbrechen gegen das Vermögen bestraft wurden. 86,5 °% sind männlichen, 13,5 °/, weiblichen Geschlechts. Die Gesamtzahl der jugendlichen Verurteilten (12—17 Jahre alt) betrug im Dezennium 1903—1912 862. Die Zahl der Verurteilten im Alter von 17 bis zu 19 Jahren betrug im gleichen Zeitraum 2455. »Wer zwischen dem 17. und 19. Jahre straffällig wird, hat doppelt schwer im späteren Leben vorwärts zu kommen, er wird nachher, wie es die Kriminal-Statistik treffend beweist, nur das Heer der ‚Vorbestraften‘ vermehren.« von Liszt, Elsa, Bilder aus der Berliner Jugendgerichtshilfe. Zeitschrift für

Jugenderziehung und Jugendfürsorge. IV, 13 (15. März 1914), S. 374—382. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. VI, 1/2 (Februar 1914), 8. 11 bis 15.

Im wesentlichen einzelne Bilder aus der Praxis des täglichen Lebens. In etwa zwei Dritteln aller vor das Jugendgericht kommenden Fälle wird vom Gericht Schutzaufsicht angeordnet, die in der großen Mehrzahl der Fälle nach drei Jahren wieder aufgehoben werden kann, weil das Kind nicht mehr gefährdet erscheint. Löwitz, H., Ein ernstes Mahnwort der Kinder an ihre Väter. Volksfreund.

XVIII, 4 (1. April 1914), S. 54—57.

Eine Reihe von Kinderaufsätzen über das Bild »Der Zahltag« läßt tief hinein- blicken in das soziale Elend der Industriegegend. Fast alle Kinder haben das ist auch psychologisch interessant statt der Bildbeschreibung Milieuschilderungen und Bilder aus dem eigenen Leben gegeben.

Mulhall, Edith F., Crime and mental deficiency. The Training School. X, 6 (october 1913), S. 86—87.

Mindestens 25 °/ der jugendlichen Gefangenen Amerikas sind schwachsinnig. Die Sorge für die geistig Defekten ist die beste Verhütung der Verbrechen. Neumann, Fritz, Trinkerfürsorge und Jugendschutz. Zeitschrift für Kinderschutz

und Jugendfürsorge. VI, 6 (Juni 1914), S. 153—156.

Die Trinkerfürsorge muß vor allem auch das Kind vor den Trinksitten be- wahren und Vorsorge treffen hinsichtlich der Prädisposition der Trinkerkinder fùr physische und seelische Dauerschädigung. Trinkerfürsorge kann nicht nebenbei ge-

C. Zeitschriftenschau. 99

leistet werden, sondern nur durch organisierte Abstinenten in regelmäßiger Arbeit. Eine Reihe von Fällen illustrieren die Aufgaben in vortrefflicher Weise.

Peters, Erwerbsarbeit von Volksschulkindern. Zeitschrift für Kinderpflege. VII Dezember 1913, S. 291—296.

Unter den Volksschulkindern Halles fand der Verfasser 6,6°/, nach eigener Angabe erwerblich beschäftigt. Die Prozentzahlen steigen von 1 °/, der unteren Klassen auf 15,5 °/, der höheren. Besonders bedenklich erscheint die Beschäftigung mit häuslicher Klebe- und Flickarbeit. Harmloser erscheint dem Verfasser die Be- schäftigung mit Botengängen und mit Kinderwartung. Lehrer und Ärzte müssen die Erwerbsarbeit ernstlich überwachen.

Reichen, A., Gegen die Schulsparkassen. Zeitschrift für Jugenderziehung. IV, 2 (1. Oktober 1913), S. 29—32.

Vom pädagogischen Standpunkte aus sind die Schulsparkassen abzulehnen, vor allem weil sie altruistische Neigungen unterdrücken und zu kleinen Diebereien, Unregelmäßigkeiten usw. veranlassen können.

Rupprecht, Die Alkoholkriminalität der Jugendlichen in Bayern. Zeitschrift für Jugenderziehung und Jugendfürsorge. IV, 8 (1. Januar 1914), S. 238—239.

Die Zahl der jugendlichen Trunkenbolde ist in Bayern von Jahr zu Jahr ab- solut und relativ gewachsen, und zwar mehr als die Zahl der jugendlichen Ver- urteilten überhaupt. Die Gefährdung ist besonders stark in den kleinstädtischen und ländlichen Bezirken. Zahlenmaterial! ; Rupprecht, K., Die Alkoholkriminalität der Jugend Bayerns. Münchener Med.

Wochenschrift. 61, 13 (31. März 1914), 8. 713—716.

Vergl. desselben Verfassers Arbeit über dieses Thema in dieser Zeitschrift, XIX, 9 Juni 1914), S. 513. Dieser Aufsatz bringt verschiedene gute Übersichts- tabellen, insbesondere sucht er auch etwaigen Zusammenhängen zwischen Alkohol- genuß, Zeugungsfähigkeit, Fortpflanzungsenergie und Säuglingssterblichkeit nach- zugehen.

Sándor, Josef, Beiträge zur Kriminalität ländlicher Minderjähriger. A Gyermek, VUI, 1914, 3, S. 244—247.

Den Minderjährigen im Gefängnis zu Brasso wurden verschiedene Fragen vor- gelegt. Auf die erste Frage »Was tat ich, bevor ich hierher kam?« antworteten die Kinder ganz kurz und ziemlich eintönig über die Vergangenheit. 35%, der Kinder waren Waisen. 90°/, genossen Branntwein. Das sexuelle Leben der Dorf- jungen begann mit 15 und 16 Jahren. Die Frage »Warum bin ich hier?« wurde mit trockenen Beschreibungen der Vergehen beantwortet. Die Frage »Was werde ich machen nach meiner Entlassung aus dem Gefängnise wurde mit besten Ver- sprechungen beantwortet.

Schwarz, Marie, Mädchenschutz. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfür- sorge. V, 12 (Dezember 1913), S. 341—345.

Die Verfasserin wendet sich gegen Mißstände im sozialen Leben. Besonders scharf verurteilt sie auch die Heranziehung der Kinder zum Theater und Ballet. Vielfach treibt das später die Mädchen zur Prostitution. Durch Milieuveränderung kann oftmals ein verfallenes Kind wieder gebessert werden. Für die Frau bieten sich viele Betätigungsmöglichkeiten. Vor allem wichtig wäre eine Heraufsetzung des Schutzalters der Mädchen auf das 18. Lebensjahr.

Will, O., Die neue Groschenkunst. Der Säemann. 1913, 9 (30. September), 8. 417—419.

?

100 C. Zeitschriftenschau.

Neuerdings tauchen die Schundliteratur-Produkte vielfach unter Namen auf, die gute Literatur vortäuschen können, wie »Der neue Lederstrumpf«, »Ein neue Kobinson«, »Von deutscher Treue«, »Unter deutscher Flagge«, »Unter Fahnen und Standarten«.

Yoshida, A., Über den Schlaf der armen Kinder. Jidö Kenkyü. XVII, 2 (Sep- tember 1913).

Die Schlafdauer ist bei den armen Kindern Japans eine viele niedrigere als bei den begüterten. Das liegt an der Ausnützung der Kinder zu Arbeiten und an der zweckwidrigen Einrichtung der Schlafzimmer.

Zollinger, F., Die neuesten Erhebungen über Lohnarbeit von Schulkindern in Dänemark, Österreich und der Schweiz. Schweizerische Blätter für Schulgesund- heitspflege. XI, 9 (Oktober 1913), S. 135—139; 10 (November), 8. 151—153.

Die Erhebung in Dänemark betraf 370440 Schulkinder. 45512 arbeiteten für ihre Eltern oder Ernährer, 65597 für Fremde. Es waren also drei Zehntel der Volksschulkinder gewerblich beschäftigt. Über die Hälfte der für Fremde arbeiten- den Kinder waren 12 und 13 Jahre alt. Die Statıstik in Österreich erstreckt sich auf etwa 15—20 °/, sämtlicher Schulkinder. 34,8 °/, der befragten waren beschäftigt. In den Landgemeinden ist die Kinderarbeit doppelt so stark verbreitet wie in den Städten; verwaiste Kinder und uneheliche Kinder werden mehr zu Arbeiten heran- gezogen. Die meisten Kinder arbeiten in der Landwirtschaft, im Haushalt und in der Industrie. In der Schweiz hat die Zahl der jugendlichen Arbeiter in den letzten Jahren zugenommen. Sie betrug 1911 15,5 °/,. Es waren Jugendliche vom Gesamt- arbeiterstand in der

Schifflistickerei. . . . . . . 32 % Schuhfabrikation . . . . . . 295, Baumwollzwirnerei . . . . . 264, Strohgeflecht-Herstellang . . . 25,3 Baumwollspinnerei. . . . . . 218 Schokoladenfabrikation . . . 19,5

Die 15,5 °% jugendlicher Arbeiter setzen sich aus 7,1 °/, männlichen und 8,4 °/, weiblichen zusammen. 41,1 °/ der Arbeiter unter 18 Jahren standen im Alter von 14 bis zu 16 Jahren. Unter den jugendlichsten Altersstufen sind die Mädchen be- sonders stark vertreten: Von 100 Arbeitern jeder Altersstufe waren 1911 weibliche in der Schweiz:

14—16 16—18 18—50 unter 50 Jahre Total 55,3 53,3 47,1 27,1 35,8

Insgesamt arbeiteten 1911 in der Schweiz in 7785 Betrieben 9406 männliche,

11632 weibliche 14—16jährige und 14063 männliche, 16054 weibliche 16—18 jährige.

Massnahmen.

Assmus, Walther, Jugendwanderungen. Zeitschrift für Kinderpflege. 8, Oktober 1913, S. 245—246. Kurzer Hinweis auf den Wert der Wanderungen im allgemeiuen und auf die Wandervogelbewegungen im besonderen. Ders., Eine Mittelstelle für Volksschriften. Neue Bahnen. 24, 9 (Juni 1913), 8. 419—421. Besprechung einiger Maßnahmen im Kampfe gegen die Schundliteratur, im besonderen der Neueinrichtung, gute Bücher mit einem Stempel »Empfohlen vom Dürerbunde« zu versehen.

C. Zeitschriftenschau. 101

Backhausen, Gegen die Fürsorgeerziehung. Der Rettungshausbote. 33, 7 (April 1913), S. 155 —158. Wendet sich gegen die Geringschätzung der Fürsorgeerziehungsarbeit von seiten der Sozialdemokratie. Bader, Paul, Die Aufgabe der Schule bei der Berufswahl und Stellenvermittlung der Jugendlichen. Die pädagogische Praxis. 1, 3 (Dezember 1912), S. 129—138. Die Schule kann keine Lehrstellenvermittlung übernehmen, wohl aber die Be- ratung bei der Berufswahl. Vor allem muß sie warnen vor der Tätigkeit als un- gelernter Arbeiter. Die Beratung im Verein mit besonderen Stellenvermittlungs- zentralen hat in Süddeutschland zu guten Erfolgen geführt. Es stellt sich die Auf- gabe etwa folgendermaßen dar: im April Besprechung der Lehrer über die Berufs- wahl; im Mai Beginn der Beratung der Kinder; im Juni Ausfüllung von Fragebogen und Anmeldescheinen für die Stellenvermittlungszentrale; im Juli und August Über- weisung derselben an die Zentrale und Besichtigung dieser mit den schulabgehenden Kindern; im September Austeilung der Zuweisuugskarten und Vermerkzettel an die Kinder durch die Zentrale; im Oktober erstmalige Kontrolle durch die Schule an der Hand der Vormerkzettel. In den folgenden Monaten hat sich diese Kontrolle zu wiederholen. Wünschenswert ist eıne Fortsetzung der begonnenen Arbeit, ins- besondere weitere Kontrolle, durch die Fortbildungsschule, da erfahrungsgemäß in der ersten Zeit oft ein Berufs- und Stellenwechsel stattfindet.

Baernreither, Joseph M., Jugendpflege in Triest. Ebenda. S. 227—230. Hervorgehoben sei aus dem Bericht, daß seit dem 5. Januar 1913 in Triest ein kommunales Kinderschutzamt besteht.

Barnes, Earl, Comparison of Froebelian and Montessori Methods and Principles. The Training School. X, 10 (February 1914), S. 145—148. Nach einer kurzen geschichtlichen Darlegung werden die Unterschiede zu- sammengestellt. Dem Verfasser erscheint die Methode Montessori weniger be- deutungsvoll als manchen anderen Autoren.

Barth, B., Schülervereine, Der Säemann. 1913, 5 (22. Mai), S. 216—223.

Die Schule muß die Gründung von Schülervereinen begünstigen. Sie stellen im allgemeinen ein wertvolles Moment in der Erziehung dar. Zugleich sind sie auch gewichtige Faktoren in der Jugendfürsorge. Wie die Schule derartige Vereine fördern kann, zeigt Barths Aufsatz.

Bechtold, F., Raterteilung bei der Berufswahl. Deutsche Elternzeitschrift. 4, 7 (1. April 1913), S. 113—114; 8 (1. Mai), S. 129— 130.

Die Beratung bei der Berufswahl ist namentlich für die Kinder der Volks- schule sehr notwendig. Wie sie durch den Freiwilligen Erziehungsbeirat für schul- entlasseue Waisen in Berlin, durch Professor Presler in Hannover, das statistische Amt in Halle erteilt wird, hat sie sich sehr bewährt.

Becker, Die Bedeutung der Freude für die Erziehung der verlassenen und ver- wahrlosten Jugend. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. VI, 1/2 (Februar 1914), S. 18—22.

Die Freude kann geboten werden in Beköstigung (das Bier erscheint uns aber auch für größere nicht als Freudendarbietung geeignet), Bekleidung, Wohnung, Unterricht (Naturfreude), Spiel (Theater usw.), Religion.

Becker, Wilhelm, Ein bedeutungsvoller Schritt auf dem Gebiete der Jugend- fürsorge. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. 5, 8/9 (August/Sep- tember 1913), S. 240 —245.

102 C. Zeitschriftenschau.

Bericht über einen vom Unterrichtsministerium in Wien veranstalteten Kurs zur Heranbildung von Lehrkräften in der Jugendfürsorge, bezw. im Hortwesen.

Beckmann, Familie und Jugendverein. Evangelisches Schulblatt. 58, 1 (Januar 1914), S. 13—18. Bei der heutigen Lage der Dinge sind Jugendvereine unentbehrlich. Familie und Verein dürfen aber weder nebeneinander noch gegeneinander arbeiten. Jugend- pflege muß in enger Verbindung mit der Familie erfolgen.

Belem, Petra, Zur Frage der Schutzaufsicht über Jugendliche. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. 8/9 (August/September 1914), S. 215—220.

Die Verfasserin tritt vor allem für eine regelrechte hauswirtschaftliche Aus- bildung der schulentiassenen Mädchen ein, analog der Lehrzeit bei den Knaben. Mit den Lehrfragen müßte sich eine eigene Instanz befassen. Besondere Dienst- botenschulen müssen eingerichtet werden. Privathaushaltlehren sind nur mit be- sonderer Vorschrift einzuführen; die Verfasserin befürchtet dabei vor allem Aus- nutzung der jugendlichen Arbeitskraft bei zu geringer oder ganz fehlender Lohn- zahlung.

Bendokat, Franz, Wie wir auf die Erziehung der aus unserm Hause entlassenen Zöglinge Einfluß zu gewinnen suchen. Der Rettungshausbote. 34, 8 (Mai 1914), S. 181—190.

Ein solcher Einfluß läßt sich gewinnen durch Veranstaltung von Zusammen- künften der Meister und Lehrherren in der Anstalt und Erörterung von zweckent- sprechenden Themen dabei, wofür die Arbeit ein Beispiel bietet.

Biedermann, Strafe und Fürsorge. Zeitschrift für Jugenderziehung und Jugend- fürsorge. IV, 20 (1. Juli 1914), S. 577—583.

An einem Beispiel wird gezeigt, daß Strafensystem und insbesondere Straf- vollzug wenig geeignet sind, erzieherisch und bessernd auf den Rechtsbrecher ein- zuwirken. Die durch ihn gefährdete Umgebung muß aber mindestens geschützt werden durch Absonderung des gefährdenden oder des gefährdeten Teiles. Vor ailem sollte man sich nicht mit der Hoffnung auf Besserurg begnügen, sondern überlegen, ob die Ursachen für die Zukunft ausgeschaltet werden können. Im allgemeinen legen »die zuständigen Behörden viel mehr Respekt vor der elterlichen Gewalt als Initiative und Tatkraft bei körperlicher und sittlicher Gefährdung der Kinder durch die Eltern an den Tag«.

Billek, Rudolf, Die Kinder-Schutz- und Rettungs-Gesellschaft in Wien. Zeit- schrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. VI, 4 (April 1914), S. 88—91.

Die Gesellschaft besteht seit 1899. Sie will vor allem Kinder gegen Mißhand- lung und Verwahrlosung schützen. Bis Ende 1913 waren etwa 600 Kinder von ihr in dauernde Verpflegung genommen.

Böhme, Hildegard. Jugendbewahrungsheime und -Asyle. Mitteilungen der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge. IX, 1 (l. Februar 1914), S. 7—10; 2 (15. April), S. 7—10.

Einrichtungen und Erfahrungen aus veıschiedenen deutschen Städten sind über- sichtlich zusammengestellt nach den Berichten der betreffenden Anstalten. Classen, Walther F., Die Volksheimidee und die großstädtische Jugendpflege.

Der Säemann. 1913, 9 (30. September), S. 389—395; 10 (7. November), S. 455 bis 460.

Durch Settlements lassen sich in den großen Arbeiterquartieren Stätten wahrer

Kultur schaffen. Es werden Winke für die Organisation und Arbeit gegeben.

WELLEN ET

C. Zeitschriftenschau. 103

Cope, Ellen, Home Economics. The Pedagogical Seminary. XXI, 1 (March 1914), 8. 1—27.

Die hauswirtschaftliche Unterweisung datiert in Amerika seit 1789. 1909 wurde eine American Home Economics Association begründet. Außer dem histori- schen Überblick und einer allgemeinen Betrachtung über das Heim wird ein Ideal- plan einer hauswirtschaftlichen Schule entworfen.

Dragehjelm, Hans, Die Spielplätze der Kleinen. Neue Bahnen. 24, 11 (August 1913), S. 489— 497. Zeitschrift für Kinderpflege. 8, Juli 1913, S. 185—190.

Alles, was für die Anlage der Kinderspielplätze in Betracht kommt, wird er- örtert, auch die Art der Beschäftigung des Kindes. Die Erörterungen beziehen sich vielfach auf bestehende Einrichtungen. Beide Aufsätze stimmen inhaltlich überein.

Fawer, E., Das Bernische Verdingkindersystem. Zeitschrift für Jugenderziehung und Jugendfürsorge. 3, 23 (15. August 1913), S. 679—683.

Der Kanton Bern hat etwa 6000 freie Kostgeldplätze nötig. Es muß zuge- geben werden, daß nicht alle einwandfrei sind; vielfach wird deshalb auch bei den Pflegekindern ein Wechsel des Pflegeortes vorgenommen. Im allgemeinen ist das .»System des Pflegekinderwesens im Kanton Bern entschieden gut« zu nennen. Die dagegen erhobenen Vorwürfe lassen sich kaum aufrecht erhalten.

Fischer, Aloys, Hauptprobleme der Kindergartenreform. Zeitschrift für päda- gogische Psychologie. 14, 1 (Januar 1913), S. 11—17.

Die Kleinkinderpädagogik zehrt trotz aller kinderpsychologischen Forschungen noch wesentlich von den Gedanken und Erfahrungen der Tradition. Nötig sind Versuchskindergärten (besteht z. B. in München). Die einzelnen Probleme der Kindergartenpädagogik werden in drei Abschnitten durchgegangen.

Förster, Ernst, Schulvereinigung und Pfadfinderinnenbewegung. Der Vortrupp. II, 13 (1. Juli 1914), S. 410—412.

Die Schule leistete Jugendpflege außerhalb ihres eigentlichen Gebietes in den Schulvereinigungen (Schulwanderbünden). Die Aufgabe außerhalb der Schule neue Organisationen zu schaffen, erfüllte die Pfadfinderinnenbewegung, deren Hauptzüge kurz angegeben werden. In Hamburg zählen die Gruppen 10 bis höchstens 20 Mit- glieder im Alter von 10 bis zu 18 Jahren unter Leitung einer Frau und eines Mannes (Wandereltern).

Ders., Gemeinschaftserziehung und Pfadfinderinnenbewegung. Der Säemann. 1914, Heft 6 (2. Juli), S. 223—224.

Man lernt plötzlich eine neue letzte Aufgabe der Pfadfinderinnenbewegung kennen, nämlich die, die Vorbedingungen zu schaffen dafür, daß der männlichste Mann das weiblichste Weib vorfindet! Die Gemeinschaftserziehung wird vom Verfasser ziemlich kritiklos oberflächlich abgetan.

Freundlich, Emmy, »Damit das Kindervolk blühe!« Das proletarische Kind. Mai 1913.

Berichtet über den österreichischen »Kinderrat«, eine sozialdemokratische Ein- richtung, und insbesondere über die sozialdemokratische Jugendarbeit in Graz. Frauen als Jugendgerichtsschöffen. Das proletarische Kind. Januar 1914.

Daß die Frauen bisher vom Schöffendienst ausgeschlossen waren und noch Sind, ist ein großes Unrecht. Hoffentlich wird dieses Unrecht mit Rücksicht auf die Jugend beim kommenden Jugendgerichtsgesetz wieder gut gemacht.

Geiges, Emil, Schule und Elternhaus. Zeitschrift für Kinderpflege. IX, Juni 1914, 5. 116—118.

104 C. Zeitschriftenschau.

Nach des Verfassers Ansicht lassen sich die Beziehungen beider zueinander am besten durch Veranstaltung von Elternabenden heben. Von Sprechstunden, Be- suchswochen in den Schulen usw. verspricht er sich nicht viel.

Glaser, Der Entwurf eines Gesetzes gegen die Gefährdung der Jugend durch Zur- schaustellung von Schriften, Abbildungen und Darstellungen. Deutsche Straf- rechtszeitung. I, 1/3 (April 1914), S. 95—99. à

Der Verfasser lehnt den bekannten Entwurf ab. »Asthetische Erziehung ist es, was der Jugend nottut, Besuch der Museen unter Leitung Begeisterung weckender

Lehrer, Betrachtung guter Nachbildungen, Verteilung von Postkartenbildern zur Be-

lohnung für Kunstinteresse und zur Förderung der Kunstfreude, alles dies ohne

jede Scheu vor Nuditäten; von diesem Programm verspreche ich mir weit mehr als nur eine Hilfe gegen die Gefährdung der Sittlichkeit, verspreche ich mir eine un- schätzbare Bereicherung der Jugend für ihr ganzes Leben.« Der weit gefährlicheren

Vergiftung der Jugend durch Schundfilms und die Plakate dazu könnte bei der ge-

planten Regelung des Lichtspielwesens vorgebeugt werden.

Vergl. dazu: Heyer, Immanuel, Jugendschutz. Der Säemann. 1914, 5 (29. Mai), S. 194—195. Aus: Neue Hamburger Zeitung vom 10. April 1914. Hier wird der Ent- wurf von einem Theologen mit aller Entschiedenheit abgelehnt. Statt dessen soll ein Beirat von Männern und Frauen, »die von den Geheimnissen und der Pflege der Menschenseele, von Kunst und Wissenschaft etwas verstehen, und daher vor

Auslage oder Verkauf von Schmutz und Schund warnen können,« helfen, die Jugend

vor Verrohung zu schützen. Dieser Beirat könnte sofort mit seiner Arbeit beginnen.

Vor allem müßten ihm Väter und Mütter angehören.

Gohde, G., Film und Lichtbild. Neue Bahnen. 24, 7 (April 1913), S. 317—322.

An Maßnahmen gegen Kinos werden besprochen: Einrichtung gemeinnütziger öffentlicher Lichtbildbühnen, Kinematographensteuer, Billetsteuer, Verschärfung der polizeilichen Bestimmungen, Veranstaltung besonderer Vorstellungen, strengere Hand- habung der baupolizeilichen Bestimmungen. Der Wert des Kinos wird kurz dar- gelegt. Daneben ist aber der Wert stehender Lichtbilder zu betonen. Besonders für die Schulen kommen sie event. im Verein mit beweglichen Bildern in Betracht

Greif, Sophie, Kinderheim. Zeitschrift für Jugenderziehung und Jugenfürsorge. IV, 14 (1. April 1914), 8. 412—413. Die Verfasserin regt an, für Kostkinder kleine Kinderheime auf dem Lande zu schaffen, wie ein solches am Zürichsee vor kurzem für sechs Kinder begründet wurde.

Grempe, P. Max, Erleichterungen in der Berufswahl. Zeitschrift für Jugend- erziehung und Jugendfürsorge. 3, 21 (15. Juli 1913), S. 624—628. Der Verfasser möchte für die Erleichterung der Berufswahl den Kinemato- graphen verwerten, der informatorische »Berufs«-Films zeigen sollte. Grosse, H., Das Deutsche Land-Waisenheim von Dr. Lietz. Deutsche Blätter für erziehenden Unterricht. 40, 49 (29. August 1913), S. 501—502. Kurze Darlegung der Aufgaben und Ziele. Grünbaum, Rosa, Volkskindergärten! Zeitschrift für Kinderpflege. 8, Juli 1913, S. 190—193. Nach der Fröbelschen Methode und nach modernen Erziehungsgrundsätzen ge- leitete Volkskindergärten müßten vor allem in unseren großen Städten überall ein- gerichtet werden.

C. ‚Zeitschriftenschan. 105

Guggenheim, Ernst, Das Jugendgericht. Zeitschrift für Kinderpflege. IX, Juli 1914, S. 121—123.

Kurze Darstellung der Entwicklung und der gesetzlichen Behandlung. Der Verfasser hofft, daß noch 1914 ein deutsches Jugendgerichtsgesetz erlassen wird. Gulick, Luther Halsey, Amerikas weibliche Jugend am Lagerfeuer (The Camp

Fire Girls of America). Zeitschrift für Jugenderziehung und Jugendfürsorge. 3. 15 (15. April 1913), 8. 429—432.

Die neue Mädchenorganisation wurde durch den Erfolg der Boy Scouts ver- anlaßt. Sie will allen jungen Mädchen dienen. Ziele sind: Förderung der Organi- sationskraft, Erziehung zu gemeinsamer Arbeit, Entwicklung des Verantwortlichkeits- gefühls für die Arbeit und deren Beziehung zum Gemeinwohl, Erziehung zum Um- gang mit Geld. Das ganze hat einen sehr stark romantischen Einschlag bekommen, den der Verfasser aber für nötig hält, damit die Mädchen für die Sache gewonnen werden. H. G., Ist die Erziehung zu körperlicher Arbeit während der Schuljahre eine Not-

wendigkeit? Evangelisches Schulblatt. 58, 1 (Januar 1914), S. 34—38.

Knüpft an an Vorschläge Kabischs, in den Landschulen die Knaben der letzten drei Schuljahre praktische Landarbeit erlernen zu lassen. Die Erziehung zu körperlicher Arbeit durch die Schule erscheint auch dem Verfasser notwendig. Daß die Eltern diese Erziehungsaufgabe übernehmen, scheint wenig sicher. Die Durchführbarkeit des Reformvorschlags bleibt allerdings noch zu erörtern. Halfter, J. P., Etwas über körperliche Züchtigung. Kvangelisches Schulblatt.

57, 12 (Dezember 1913), S. 541—546.

Aus langjähriger Erfahrung führt der Verfasser einige Beispiele dafür an, daß die Prügelstrafe nicht unbedingt aus der Volksschule zu verbannen ist. Daß man mit ihrer Erteilung weise und maßvoll verfahren muß, ist selbstverständlich. Hantke, In welcher Weise kann die Volksschule ihre Schüler und Schülerinnen

während des letzten Schuljahres auf Veranstaltungen der Jugendpflege hinweisen und sie möglichst wirksam anregen, nach der Schulentlassung solchen Jugend- vereinigungen beizutreten? Deutsche Blätter für erziehenden Unterricht. XLI, 11 (28. November 1913), S. 107—108; 12 (12. Dezember), S. 113—115.

Der Aufsatz bespricht Anregungen, die für Preußen durch den Ministerial- Erlaß vom 14. März 1913 gegeben wurden. Vor allem wird Gewicht auf körper- liche Betätigung und Anregung dazu gelegt. Aber auch das Seelen- und Gemüts- leben muß berücksichtigt werden. Der Unterricht muß da bereits für die Zeit nach der Schulentlassung vorarbeiten. Sehr viel kommt auf die Lehrerpersönlichkeit und auf gute Beziehungen zum Elternhause an.

Hartmann, (eschichte der Behandlung jugendlicher Straffälliger. Der Monats- bote aus dem Stephansstift. 34, 8 (August 1913), S. 121—128; 9 (September), S. 141—149.

Hartmann gibt eine geschichtliche Darstellung der Behandlung von Kindern und Jugendlichen (bis zu 21 oder gar 25 Jahren), die die Strafrechtsgrundsätze übertreten haben, in Griechenland, bei den Indern, den Römern, den germanischen Völkern. Bei den letzteren unterscheidet er drei Perioden: die Zeit vor den Rechts- büchern (Anfang des 13. Jahrhunderts), die Zeit der Rechtsbücher bis zam Anfang des 16. Jahrhunderts und die Zeit der peinlichen Gerichtsordnung Karls V. (1522 bis zur Neuzeit). Bemerkenswert ist in der Zeit der Rechtsbücher der jetzt wieder auftauchende Gedanke, Kinder keine öffentliche Strafe erdulden zu lassen, sondern sie nur für den Schaden aufkommen zu lassen (das Kind konnte dem Beschädigten zum Abverdienen übergeben werden).

106 C. Zeitschriftenschau.

Ders., Welcher Weg ist einzuschlagen, um gefährdete oder verwahrloste Kinder aus der sie gefährdenden Umgebung zu entfernen. Der Monatsbote aus dem Stephansstift. XXXIV, 11 (November 1913), S. 173—175.

Zunächst kommt der Armenverbaud in Betracht, weiter das Vormundschafts- gericht. Die Möglichkeiten zum Eingreifen werden besprochen. Beachtenswert ist für kleinere Gemeinden, daß die Kosten der Fürsorgeerziehung vom Kommunal- verbande und vom Staate, nicht von der Gemeinde getragen werden. Nur die Kosten der ersten Ausstattung hat der Ortsarmenverband des Unterstützungswohnsitzes des Minderjährigen zu tragen. »Wegen der Kosten braucht man also mit etwaigen An- trägeu auf Unterbringung der Fürsorgeerziehung nicht zurückzuhalten.« Hättenschwiller, A., Kinderversicherung. Zeitschrift für Jugenderziehung und

Jugendfürsorge. 3, 12 (1. März 1913), S. 341—344.

Die Kinderversicherung und ihre staatliche Subventionierung ist sehr zu emp- fehlen. Die Ausgaben dafür bedeuten Unterstützung des Kinderreichtums und Förderung der Volksgesundheitspflege.

Haupt, Albert, Lehrlingsfürsorge. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfür- sorge. VI, 7 (Juli 1914), S. 183—188.

Der Verfasser tritt ein für die obligatorische Fortbildungsschule (auch für Hilfsarbeiter), für ärztliche Untersuchung vor Eintritt in einen Beruf, für Berufs- beratung, für Ausschaltung des Sonntagsunterrichts aus der Fortbildungsschule, für ein Verbot der Verwendung von Knaben und Mädchen unter 14 Jahren als Lehr- linge und Arbeiter. Besprochen werden dann die in der Lehrlingsfürsorge wichtigen Lehrlingshorte und Lehrlingsheime und sonstige Maßnahmen aus der Jugendpflege. Hellwig, Albert, Die gesundheitlichen Gefahren kinematographischer Vorführungen

vom Standpunkte des Juristen. Deutsche Med. Wochenschrift. 39, 31 (31. Juli 19:3), S 1513—1514.

Eine kurze Darlegung dor rechtlichen Maßnahmen, die möglich sind, um den gesundheitlichen Gefahren, die sich aus dem Inhalte der Films, aus technischen Mängeln der Vorführung und aus der schlechten Luft in den Aufenthaltsräumen ergeben, wirksam entgegenzutreten.

Ders., Sind Beschränkungen des Besuchs von Kinotheatern durch Kinder in Zürich zulässig? Zeitschrift für Jugenderziehung und Jugendfürsorge. 3, 16 (1. Mai 1913), 8. 461—464; 17 (15. Mai), S. 497—501.

Die Frage wird nicht nur für Zürich und die Schweiz, sondern auch für deutsche Verhältnisse erörtert. Man unterscheidet Schulverbot und von der Polizei- behörde erlassenes Kinderverbot. Das erste hält Hellwig nur da für angebracht, wo kleine Orte eine genaue Kontrolle ermöglichen. Die Zulässigkeit der polizeilichen Kinderverbote ist für Deutschland und wohl auch für die Schweiz zu bejahen. Ver- schiedene gesetzliche Anordnungen werden im Wortlaut mitgeteilt. H. wünscht, daß die übrigen Kantone möglichst bald dem Beispiel des Züricher Kinderverbots folgen möchten.

Ders., Über die schädliche Suggestivkraft kinematographischer Vorführungen. Ärzt- liche Sachverständigen-Zeitung. 1914, 6. (Sonder-Abdruck. 16 Seiten.)

Es werden einzelne Fälle mitgeteilt, in denen solche schädlichen Einwirkungen sichergestellt wurden. Daran wird die Forderung geknüpft, durch ein Reichsgesetz dem Filmzensor größere Befugnisse zu geben, als ihm heute zustehen. Vor allem müßte eine einheitliche Reichsfilmzensur eingeführt werden.

Ders., Zur Frage der Reform des Kinematographenrechts in der Schweiz. Zeit- schrift für Jugenderziehung. IV, 12 (1. März 1914), &. 337—340.

C. Zeitschriftenschau. 107

Ein Entwurf der Stadt Biel wurde vom Regierungrat des Kantons Bern auf- gehoben. Die einzelnen Punkte werden besprochen. Hellwig hält es für das zweckmäßigste ein kantonales Gesetz zur Regelung des Kinematographenwesens ab- zuwarten. Eine Regelung der Kinematographenfrage für die ganze Schweiz dürfte kaum möglich sein.

Ders., Verteidiger beim Jugendgericht. Monatsschrift für Kıiminalpsychologie und Strafrechtsreform. XI, 1914/15, S. 162—166.

Beim Jugendgericht ist ein Verteidiger weniger oft nötig als in anderen Schöffengerichtssachen, da die Vorermittlungen durchweg sorgfältiger vorgenommen werden. Tritt ein Verteidiger vor dem Jugendgericht auf, so muß er alles ver- meiden, was auf den Jugendlichen ungünstig einwirken könnte. Dann wird sein Auftreten kaum schaden, in seltenen Fällen vielleicht mal nützen.

Hungernde Schulkinder. Das proletarische Kind. November 1913.

Schulspeisungen sind erst in verhältnismäßig geringem Umfang verbreitet. Die Sozialdemokraten fordern obligatorische Schulspeisungen für alle Schüler und alle Schulen.

Jaffs, Lisa, Die Montessorischule. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 27, 1 (Januar 1914), S. 15—27.

Es liegen diesem Berichte Beobachtungen in einer Montessorischule in Süd- england zugrunde, Die Verfasserin gibt zu, daß bei Übertragung der Montessori- methode auf Kinder anderer Volksstämme Schwierigkeiten auftreten, sie meint aber, daß das Endresultat schließlich doch dasselbe sei. Sie vermißt in der Montessori- methode das künstlerische Moment: in der englischen Schule war man bald ge- nötigt, Buntstifte, Farben, Modeilierton für die Kinder zu beschaffen, auch auf Musik mußte größerer Wert gelegt werden. Die Zahl der Montessorischulen ist in ständiger Zunahme begriffen. Vergl. ferner:

Dies., Ein Tag in der‘ Montessori-Schule. Der Säemann. 1914, 3 (20. März), S. 97—103.

Janisch, Franz, Der Stand der Kinderschutz- und Jugendfürsorgebewegung im Sprengel des Gerichtshofes zu Eger (Böhmen). Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. 5, 8/9 (August/September 1913), S. 224—227.

Nach Gerichtsbezirken eingeteilter Bericht.

Ders.. Der Mädchenhandel und seine internationale gesetzliche Bekämpfung. Zeit- schrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. VI, 4 (April 1914), S. 81—86.

Der Mädchenhandel wird in allen denkbaren Formen international betrieben, wie kurz nachgewiesen wird. Einzel-Schutzmaßnahmen blieben erfolglos. Seit 1910 bestehen internationale gesetzliche Verträge, die Erfolg im Kampf gegen den Mädchen- handel versprechen. Erwägen ließe sich die Einführung der Prügelstrafe für Mädchenhändler und Zuhälter, mit der man in England gute Erfolge erzielt haben will. Kiefer, O., Ergebnis einer Umfrage über die Prügelstrafe. Zeitschrift für Kinder-

pflege. VIII, Dezember 1913, S. 290—291.

Der Verfasser frischt eine uns schon aus früheren Veröffentlichungen bekannte Statistik aus dem Jahre 1910 wieder auf, die er mit Hilfe einer württembergischen Zeitung gewann. Es liefen allerdings nur 71 Antworten ein! Er glaubt, daß die Württemberger im allgemeinen keine Änderung des bestehenden Zustands wünschen, mit anderen Worten: die Prügelstrafe in der Erziehung nicht unbedingt verschmähen. Kinderschutz-Kommissionen. Das proletarische Kind. März 1914.

Berichtet über die Gründe, die zur Einrichtung derartiger Organisationen innerhalb der sozialdemokratischen Partei führten und über ihre Aufgaben.

108 C. Zeitschriftenschau.

Klinke, W., Frauenschulen für soziale Berufsarbeit. Schweizerische Blätter für Schulgesundheitspflege. XII, 1 (Januar 1914), S. 2—6.

Anregungen, wie den höheren Mädchenschulen (zunächst speziell denen Zürichs) nach dieser Seite hin Kurse angegliedert werden könnten.

Kluge, Walther, Zu viel Jugendpflege?! Neue Bahnen. XXV, 7 (April 1914), S. 327—330.

Kluge warnt mit Recht vor der vielfach geradezu fürchterlichen Überlastung Jugendlicher mit allen möglichen Jugendpflegeveranstaltungen. Auch dürfen die ge- troffenen Veranstaltungen nicht bloß einem Teil der Jugend zugute kommen, sondern der Staat muß dafür sorgen, daß alle Jugendlichen ihrer teilhaftig werden. Klumker, Grundfragen des Kinderschutzes. Zeitschrift für Jugenderziehung und

Jugendfürsorge. 1V, 16 (1. Mai 1914), S. 457—460; 17 (15. Mai), S. 489—494.

Allgemeine Erörterungen.

Kolinský, A. J., Der organisierte Jugendschutz und die autonome Verwaltung. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. VI, 5 (Mai 1914), S. 117—120.

Die organisatorische Tätigkeit der Jugendschutzbestrebungen muß durch Mit- wirkung der öffentlichen Faktoren vervollständigt werden, wie das Tuma für das Königreich Böhmen vorgeschlagen hat. Da es sich mehr um Fragen lokaler Be- deutung handelt, seien Interessenten auf die Originalarbeit verwiesen. Kretzschmar, Johannes, Die Aufgaben einer vergleichenden Pädagogik. Die

Pädagogische Forschung. 2, 2 (Januar 1914), S. 129—146.

Die Aufgaben einer vergleichenden Pädagogik, die die Grundlagen für eine moderne pädagogische Wissenschaft zu liefern haben wird, werden in knapper Form dargelegt.

Kuhn-Kelly, Jugendfürsorge und Jugendstrafrecht. Zeitschrift für Jugenderziehung und Jugendfürsorge. IV, 15 (15. April 1914), S. 425—437.

Der Verfasser berichtet besonders über die Organisation des Münchener Jugendgerichtes, das er aus eigener Anschauung kennen gelernt hat, und flicht in diese speziellen Betrachtungen einige allgemeine Bemerkungen ein.

Kühne, Alfred, Neue Möglichkeiten der Berufsberatung. Der Säemann. 1914, 1 (29. Januar), S. 19—23.

Bei der Berufsberatung müssen Schule und Schularzt, Arbeitsnachweis und Berufsberatung zusammenwirken. Neue Möglichkeiten sieht der Verfasser in den Bestrebungen Taylors, soweit sie Methoden der experimentellen Psychologie ver- werten. Doch braucht deren Ergebnis nicht erst abgewartet zu werden. Landsberg, J. F., Sozialdemokratie und Fürsorgeerziehung. Der Rettungshaus-

bote. 34, 7 (April 1914), S. 145—151.

Aus dem Rhein. Fürs. Erz.-Blatt, Februar 1913. -- Die Fürsorgeerziehung bedarf sachlicher und gerechter Kritik, nicht der verhetzenden Kritik, wie die sozial- demokratische Presse sie übt.

Lederer, Max, Ein Besuch in der Bezirksheimstätte für verwaiste, verlassene und verwahrloste Kinder in Schlackenwerth. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugend- fürsorge. VI, 8/9 (August/September 1914), S. 210—215.

Die Anstalt, die am 2. Dezember 1913 eröffnet wurde, liegt 18 km von Karls- bad entfernt. Besonders gerühmt wird die glückliche Raumeinteilung. Belegt ist das Heim zurzeit mit 24 Knaben und 15 Madchen. Aufgenommen können 180 bis 200 Kinder werden; doch reichen die Geldmittel für eine solche Zahl noch nicht aus, während andererseits infolge der geringen Zöglingszahl die Verpflegungskosten ziemlich hohe sind (etwa 400 K pro Kopf und Jahr).

D. Literatur. 109

Lederer, Max, Der Gesetzentwurf über die Fürsorgeerziehung. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. VI, 5 (Mai 1914), S. 120—123. Der Aufsatz referiert über einen Vorbericht betreffend diesen Gesetzentwurf, der vom Herrenhaus des österreichischen Reichsrates bereits im November 1911 beschlossen wurde, vom Abgeordnetenhause aber noch nicht verabschiedet ist.

D. Literatur.

Boerner, Schulhygiene und Diensttauglichkeit. Erfurt, O. Kühne, 1915. Zweite verbesserte Auflage. 16 Seiten. 20 Pf.

In knappen Umrissen wird der Einfluß der Schule bei der Heranbildung zur Militärdienstfähigkeit dargestellt: es wird gezeigt, wie eine gute Schulhygiene dazu beitragen kann, die Diensttauglichkeitsziffer zu steigern. Für den Schulhygieniker nichts Neues, aber für den Neuling auf diesem Gebiete eine recht brauchbare Zu- sammenstellung.

Czerny, Ad., Der Arzt als Erzieher des Kindes. IV., vermehrte Auflage. Leipzig und Wien, Franz Deuticke, 1916. IX u. 118 Seiten. Preis geh. 2 M.

In Form von 7 Vorlesungen bietet der Verfasser eine Art Kleinkinderpäda- gogik vom ärztlichen Gesichtspunkt aus. Es mag vom pädagogischen Standpunkt aus manches darin anfechtbar erscheinen (z. B. in den Ausführungen über das Kinderbuch, die Strafe), immerhin ist es sehr erfreulich, wenn ein hervorragender Arzt wie Czerny seine Ansichten in einer leicht lesbaren Schrift darlegt, die vielen Eltern ein wertvoller Ratgeber sein kann.

Burgerstein, Leo, Alkohol und Schule. Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Schulhygiene 1916, Nr. XXIV. Souderabdruck. Wien, Alfred Hölder, 1916. 16 Seiten.

B.s Vortrag will zur Förderung der Jugenddank-Bestrebungen beitragen, die darauf zielen, unsere Jugend alkoholfrei leben zu lassen. Es handelt sich nicht um neues Material. Das gute und beweisende alte genügt und ist übersichtlich darge- boten. Es zwingt »zu dem wohlbegründeten Schlusse, daß für die Kindheit und Jugend die vollständige Enthaltung anzustreben seie. Burgerstein übersieht die sich dem entgegenstellenden Schwierigkeiten keineswegs, aber er zeigt auch die gangbaren Wege zu dem anzustrebenden Ziel.

Auch über Österreichs Grenzen hinaus verdienen die Ausführungen des be- kannten Wiener Schulhygienikers Interesse.

Kunst und Schule. Jahrg. I, Heft 3 (März 1915). Kriegsnummer. Wien, Gerlach & Wiedling 61 Seiten. Preis 4 M = 4,80 Kronen.

Dieses Sonderheft enthält eine Fülle von zum Teil farbig wiedergegebenen Kinderzeichnungen zu dem großen Thema »Der Kriege.

Die Zeichnungen sind nach den einführenden Worten A. Hartmanns nicht gänzlich spontan entstanden, die Lehrer haben vielfach Anregungen dazu ge- geben. Die Altersgrenze wurde nach oben auf 16 Jahre festgesetzt. Eine wissen- schaftliche Bearbeitung erfolgte nicht. Das Heft enthält also nur Material, das allerdings wertvoll ist. Außer den Zeichnungen sind eine Reihe kleiner Aufsätze zum Abdruck gekommen. Sämtliche Arbeiten stammen von Wiener Kindern aus verschiedenen Schulklassen und -arten.

Die Zusammenstellung scheint mir den Gedanken nahe zu legen, einmal gründ- lich die Entwicklung etwa norddeutscher Kinder mit der österreichischer, oder auch etwa Berliner mit der Wiener hinsichtlich zeichnerischer und sprachlicher Ausdrucks- gestaltung zu vergleichen. Ganz unwillkürlich hat man beim Studium dieses Heftes das Gefühl einer früheren Reife des Wiener Kindes.

110 "D. Literatur.

Abgesehen von seinem Werte als Materialsammlung hat das Heft für jeden Erwachsenen sicher etwas ungemein Fesselndes: er lernt daraus, wie das Kind den Krieg sieht. Und seine vielen Bilder werden manchen für Augenblicke erheitern können trotz allem Erschütternden, was sich letzten Endes dahinter verbirgt.

Sommer, Robert, Die körperliche Erziehung der deutschen Studenten- schaft. Leipzig, Leopold Voß, 1916. 19 Seiten. Preis 0,60 M.

Sommer hat während seiner Rektoratszeit an der Universität Gießen (1915/1916) sich lebhaft bemüht um die Fertigstellung des dortigen akademischen Turn- und Spielplatzes, von dem dieses Schriftchen 2 Abbildungen mit den nötigen Erklärungen bringt. Im Zusammenhang damit entwickelt S. seine Ansichten über das Spiel vom wissenschaftlichen Standpunkte aus, nach dem die Leistungen als Teil der psycho-physischen Persönlichkeitsforschung aufzufassen sind. Er verlangt daher auch, daß die Messung der Leistungen durch die ganze Einrichtung des Turn- und Spielplatzes möglichst gefördert wird. Wie das zu denken ist, wird an einem Bei- spiel gezeigt.

Zum Schluß der kleinen aber sehr beachtenswerten Arbeit weist Som mer darauf hin, daß die körperliche Erziehung der deutschen Studenteuschaft einer der wichtigsten Punkte der Regenerationsbestrebungen sein muß, auf denen nach Schluß dieses Krieges unsere ganze Zukunft beruhen wird.

Jena. Karl Wilker.

Eckhardt und Lüllwitz, Der erste Schulunterricht. Leipzig, Verlag Teubner, 1911. Preis 3 M, geb. 3,60 M.

Es liegt hier ein empfehlenswertes Buch vor, das die wichtigsten Bestrebungen auf dem Gebiete der ersten Schulerziehung darbietet und als gangbaren Pfad die goldene Mitte empfiehlt. Für jene, welche die Arbeiten unserer pädagogischen Reformer und Forscher selbst kennen, bietet das Buch nichts Neues. Hauptzweck dieses Buches ist, Überblick und eine haltbare Synthese zu geben, welche aus dem Streite der Meinungen und pädagogischen Parteien uns in ein solides Fahrwasser bringen soll.

München. Egeuberger.

Rousseau, J. J., Emil oder Über die Erziehung. Quellen zur Geschichte der Erziehung. Herausgegeben von Dr. R. Dinkler, Oberlyzealdirektor in Remscheid. 4. Bändchen. Leipzig, Verlag Otto Nemnich. 71 Seiten. Preis 0,70 M.

Man könnte fragen, ob es angebracht ist, die Werke der alten Pädagogen, in so gekürzt bearbeiteter Form dem Schüler in die Hand zu geben, da wir ja wünschen, daß die Schüler vor allem Seminaristen Quellenstudien treiben. Wer aber weiß, mit welchen Schwierigkeiten dieses verbunden ist, wer ferner auch bedenkt, wie schwer sich viele dieser jugendlichen Studierenden in »die Alten« hineinlesen, wird dem Grundsatz Dinuklers zustimmen, nach dem »nur solche Stoffe zu bieten sind, die für die Pädagogik der Gegenwart noch praktische Bedeutung haben oder als charakteristisch für frühere Perioden und deren hervorragende Ver- treter zu betrachten sind.« Die Einleitung zu diesem Büchel beschränkt sich auf einige kurze Mitteilungen über den Autor und sein Werk.

Diese Bücher sind sicher geeignet, auf leichte Weise den Schüler in die Literatur der alten Pädagogik einzuführen. Wir hoffen, daß er dadurch angeregt wird, auch das Urwerk zu studieren, vor allem aber. daß dadurch mit die Achtung vor dem Alten erzogen wird; denn so manches »Neuland« in der Pädagogik erweist sich bei rechter Kenntnis der Literatur als best bearbeitetes Gebiet der »Alten«.

Meißen i. Sa. Kurt Walther Dix

Stern, William, Psychologie der frühen Kindheit. 384 Seiten mit 6 Tafeln. Leipzig, Verlag von Quelle & Meyer, 1914. Broschiert 7 M, in Originalleinen- band 8,60 M.

W. Stern genießt als bahnbrechender Psycholog und Kinderpsycholog einen guten Ruf, und seine Verdienste sind auch in dieser Zeitschrift bei Besprechung seiner früheren wertvollen Teilpsychogramme gewürdigt worden. Wenn er uns jetzt eine Gesamtdarstellung der Ergebnisse der Forschungen über die Kindesseele

D. Literatur. 111

in der frühen Kindheit vorlegt, ist dies sehr zu begrüßen, da eine solche in der Form, wie sie uns hier von Stern zusammenfassend geboten wird, fehlte und doch so notwendig war. W. Sterns Werk gewinnt an Wert dadurch, daß er alle seine Erkenntnisse auf eigene Beobachtungen an seinen drei Kindern zurückführt, wobei er jederzeit die vorhandene Literatur über ähnliche Kinderbeobachtungen verwendet und die dort gewonnenen Erkenntnisse bewertet. Wie bekannt, hat die mühsame Arbeit des Tagebuchführens seine Gattin, Frau Clara Stern, übernommen, deren darin angeführten erzieherischen Maßnahmen für Mütter beherzigens- und lesens- wert sind. Auch die anderen Darstellungen sind allgemeinverständlich, so daß jede gebildete Mutter darin eine Quelle vieler Freuden und Erkenntnisse fände.

Die gebotenen Beobachtungen sind deshalb wertvoll, weil sie von der Mutter unter den richtigen Voraussetzungen, der psychologischen Urteilsfähigkeit, gebucht wurden. Im Interesse einer allgemeinen Verwendbarkeit bei kinderpsychologischen Arbeiten, wäre es zu begrüßen, wenn sich Frau Clara Stern entschlösse, auch über die anderen seelischen Fähigkeiten ihrer Kınder Tagebücher zu veröffentlichen, wie sie uns von Cl. und W. Stern über Kindersprache, Erinnerung und Aussage, Zeichnen vorliegen.

Mit W. Sterns Werk hat die Kinderpsychologie eine große Bereicherung er- fahren, da es durch die Art der feineren Beobachtungen und Deutungen des Alt- meisters Preyer Werk überholt. Nach einer kurzen Einleitung über Wesen und Methoden der Kinderpsychologie wird in 8 großen Abschnitten die sprachlose Zeit des Säuglings, die Sprachentwicklung, die Bildbetrachung, das Gedächtnis, die Phantasie und das Spiel, die Formen des kindlichen Denkens, Gemüts- und Willens- leben allgemein und speziell geschildert.

Das Werk bedarf keiner Empfehlung. Für jedem, der Kinderpsychologie und Pädagogık treibt, wird es zur Notwendigkeit, dieses Sternsche Werk zu studieren.

Meißen i. Sa. Kurt Walther Dix.

Stern, William, Jugendliches Seelenleben und Krieg. Materialien und Berichte. Unter Mitwirkung der Breslauer Ortsgruppe des Bundes für Schulreform und von O. Bobertag, K. W. Dix, C. Kik, A. Mann. 12. Bei- heft zur Zeitschrift für angewandte Psychologie und psychologische Sammel- forschung. Herausgegeben von William Stern und Otto Lipmann. Leipzig, Verlag Johann Ambrosius Barth, 1915. 181 Seiten mit 15 Abbildungen im Text. Preis 5 M.

Es lag nahe und ist ein Verdienst, daß sich William Stern sofort der wichtigen Arbeit unterzog, Materialien zu sammeln, woran später erschöpfende psy- chologische Untersuchungen und Erörterungen angestellt werden können, um fest- zulegen, wie der Weltkrieg aufs Seelenleben des Kindes und der Jugendlichen wirkte. Die Breslauer Ortsgruppe des Bundes für Schulreform brachte im Februar 1915 eine reiche Sammlung von kindlichen freien Zeichnungen, Auf- sätzen und Gedichten zustande, die schließlich nach psychologischer Sichtung und Gruppierung der Berliner Ausstellung »Schule und Krieg« zugeführt wurde. Die Hauptergebnisse jener ersten Sammlung werden im vorliegenden Buch einem weiteren Leserkreise zugänglich gemacht. Zeichenlehrer C. Kik, Bres- lau, bewertet psychologisch die Zeichnungen, Dr. Alfred Mann, Breslau, die Aufsätze und Professor W. Stern, Hamburg, die Gedichte. Diesen Arbeiten sind noch zwei Berichte angefügt: Von Dr. O. Bobertag, der die Berliner Aus- stellung »Schule und Kind« vom psychologischen Standpunkt aus beurteilt und von Lehrer Kurt Walther Dix, Meißen, der seine psychologischen Beobachtungen über den Einfluß der Kriegsereignisse aufs Seelenleben der Kinder vom 7. bis 16. Lebensjahr bietet. ? N .

Die Darstellungen aller Verfasser sind rein objektiv und bieten dem Leser eine reiche Fundgrube zu psychologischen Tatsachen, die sowohl in der kindlichen Einzelseele, als auch Massenseele liegen, die uns ganz typische Merkmale der differen- tiellen Psychologie bieten, frühere Erkenntnisse bestätigen, neue eröffnen, die eine große pädagogische Bedeutung für gegenwärtig und zukünftig zu treffende Maß- nahmen besitzen. Wir wünschen das Buch in die Hand vieler Lehrer aller Schul- gattungen, da sie dadurch sicher zu psychologischem Beobachten angeregt würden.

112 D. Literatur.

Und hätten sie bis jetzt zur Seite gestanden, wie dies leider soviel von Lehrern der höheren Knabenschulen geschieht und auch W. Stern wieder hemmend empfand, so würden sie durch die interessanten, psychologisch und pädagogisch wertvollen Darbietungen für die dankenswerte Arbeit der Materialiensammlung und selbständigen Beobachtung gewonnen werden.

Meißen i. Sa. Kurt Walther Dix.

Stern, W., Die Jugendkunde als Kulturforderung. Mit besonderer Berück- sichtigung des Begabungsproblems. Leipzig, Quelle & Meyer, 1916. 83 S. 1,40 M. Während F. W. Foerster in seiner »Jugendlehre« die sittliche Entwicklung und E. Martinak in der »Schülerkunde« den etwa durch die Schulzeit abge- grenzten Lebensabschnitt allseitig einer Bearbeitung unterzogen hat, will Verf. in seiner »Jugendkunde« das gesamte Erziehungs- und Berufswesen insbesondere psy- chologisch durchdrungen wissen. Wenn W. Peters in seiner »Einführung in die Pädagogik« (Quelle & Meyer, 1916) anstrebt, pädagogische Probleme in Verbindung zu halten mit der pädagogischen und sozialen Praxis, so will Verf. nachweisen, daß dıe Ergebnisse psychologischer Forschungen hohe politische Werte darstellen können. Unter seinen Darlegungen finden wir manche, die den Lesern dieser Zeitschrift als Forderungen längst bekannt sind, wie z. B.: Entwicklungsanfänge verfolgen und dabei Einflüsse der Vererbung und der sozialen Verhältuisse in Betracht ziehen Seelenkunde der Sorgen- und Hoffnungskinder durch Beobachtungsbogen und In- telligenzprüfungen erarbeiten Um emer vaterländischen Menschen- Ökonomie willen eine Berufsgliederung vorbereiten Die Lebensjahre 14—18 erforschen zur Ausnutzung der Fortbildungsschulzeit. bei der Wahl der höheren Schule, der Jugend- militarisierung u.a. m. gesonderte Soziologie der Jugend, um ihr Außerungs- und Geselligkeitsbedürfnis zu regeln.

Alle diese Darlegungen führen den Leser hin auf das zeitgemäße, vielseitige Begabungsproblem, das Verf. nunmehr eingehend behandelt (Vergl. R. Baerwald, Theorie der Begabung. Leipzig 1896, E. Meumann, Abriß der experiment. Päda- gogik. Leipzig, Engelmann, 1914 und Der Aufstieg der Begabten. Leipzig, Teubner, 1916. Ebenso eine Reihe von Abhandlungen in der »Zeitschr.« und in den »Beıträgen für Kinderforschung«.) Für Stern bedeutet es ein Antrieb zur wissenschaftlichen Erforschung des inneren Anlage- Kapitals unseres Volkes. Das Vertiefen in dieses Problem kann verhindern, daß die berufenen Beurteiler der Jugend weiterhin im Dunkeln tappen, z. B. bei der Schulbahn- und Berufsberatung, ja, es kann ermög- lichen, daß immer der rechte Mensch auf den rechten Platz gesetzt wird. Die eigentliche wissenschaftliche Arbeit der Jugendkunde besteht aber in der Feststellung der qualitativen Unterschiede der Anlagen und ihrer gesetzmäßig abgestuften Intelli- genz-Grade, sowie in deren Abhängigkeit von bestimmten Bedingungen der Natur (Ver- erbung) und Kultur (soziale Schichtung). Hierbei kann geradezu eine diagnostische Feststellung und exakte Fähigkeits- und Talentprüfung zur Anwendung kommen.

In allen seinen Darlegungen weist Verf. überzeugeud nach, wie die wissen- schaftliche Psychologie dem Leben, dem einzelnen Menschen, wie dem ganzen Volke dienen kann. Daher nennt er mit Recht die Forderung des Ausbaues einer Jugend- kunde eine Kulturforderung, die durch besondere Institute und durch besondere Pfleger in jedem größeren Schulorte zu betreiben ist. »Es wird freilich noch viel Zeit vergehen, ehe dieses Ideal zur Wirklichkeit werden dürftee so erklärt Verf. selber, und wir denken dabei besonders an den »Schulpsychologen«.. Im übrigen wünschten wir, daß das Sternsche Büchlein der sogenannten Schulpsycho- logie eine breite Gasse baut.

Halle, Saale. een Dr. B. Maennel.

Mitteilung.

Der Mitherausgeber unserer Zeitschrift, Dr. phil. Karl Wilker-Jena, zurzeit Feldunterarzt in Alexandrowo, wurde auf Vorschlag der Städtischen Waisendeputation in der Berliner Magistrats-Sitzung vom 19. Januar zum Direktor des Städtischen Erziehungshauses zu Berlin-Lichtenberg gewählt, dessen bisheriger Leiter, Direktor Rake, die am 1. April zu eröffnende landwirtschaftliche Erziehungsanstalt Struves- hof bei Berlin übernimmt.

Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.

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sen

A. Abhandlungen.

1. Mutternot! Von Dr. Heinrich Pudor.

1. Die deutsche Mutternot.

Mutternot was ist das? So werden viele Leser und Leserinnen fragen. Gibt es eine solche und worin besteht sie? Eine Mutternot gibt es in der Tat in zweifachem Sinne, einmal insoweit, als es heute infolge der Männerverluste im Kriege unzählige Mädchen gibt, die keine Aussicht haben, zu heiraten und Mutter zu werden, und zweitens insoweit, als es in heutiger Zeit und fortschreitend mehr und mehr Frauen gibt, die aus mancherlei Gründen nicht dazu kommen können, ihren Mutterberuf zu erfüllen. In beiden Fällen handelt es sich um ein verfehltes Leben für die betreffende Frau und für das betreffende Mädchen, insofern der alleinige natürliche Beruf und zugleich ein heiliger Beruf und der wichtigste Beruf in Ansehung der Zukunft der menschlichen Geschlechter eben der Mutterberuf ist. Der Welt, der Erde, dem Leben, dem Menschengeschlechte, und nicht am wenigsten seinem Volk und Vaterland einen neuen Menschen zu schenken, der zugleich die Anwartschaft auf endlose Geschlechterfolge bietet, das ist der Frau in ihren Schoß gegeben, und das ist ein Beruf, nicht nur wichtiger als alle nur denkbaren Berufe, ein Beruf zugleich, der viele andere einschließt, wie den der Erziehung, der Heilkunde, der Seelenlehre, Sprachkunde, und zugleich der Beruf, der das höchste Glück, das für den Erdenpilger erreichbar ist, in sich schließt. Das Glück, Mutter zu werden, Mutter zu sein, und als Mutter zu wirken begreift in der Tat für die Frau eine solche Fülle irdischer Seligkeit

Zeitschrift für Kinderforschung. 22. Jahrgang. 8

114 A. Abhandlungen.

in sich, daß man nur allzusehr berechtigt ist, in den Fällen, wo die Frau dieses wahrhafte Glück ihres Lebens nicht erreichen kann, von Unheil, Unseligkeit, Unglück und Not zu sprechen, und weil heute eben so viele Frauen nicht dazu kommen, dieses Glück zu erreichen und die natürliche, gesetzmäßige Lebensaufgabe des Weibes zu er- füllen, kann man in der Tat von einer Mutternot sprechen. Das Wort selbst ist übrigens nicht von dem Verfasser geprägt, er fand es als Aufschrift eines schönen Buches des Dichters Ellerbek, aber er möchte dieses Wort nicht nur in bezug auf die bisher gegebenen Erörte- rungen gebrauchen, sondern insonderheit in bezug auf die verhängnis- vollen und geradezu unseligen Bestrebungen und Bewegungen unserer Zeit, darin bestehend, den Frauen einen horror, eine Abneigung, ja womöglich gar einen Ekel vor ihrem natürlichen und heiligen Mutter- beruf beizubringen und einzuimpfen und dadurch die Frauen nicht etwa glücklich und zufrieden, sondern im tiefsten Grunde ihrer Seele unglücklich, namenlos unglücklich, enttäuscht vom Leben, wahrhaft unselig zu machen. Oder hat man etwa nicht den Frauen solange und so anhaltend von »Frauenberufen« gesprochen, bis sie den einzig natürlichen, den einzigen Segen bringenden Beruf, den der Mutter- schaft und der »gesegneten Umstände« vergessen haben, und haben sich nicht die Mädchen für alle möglichen »Frauenberufe« vorbereitet, nur nicht für den wichtigsten und allein ihnen Befriedigung ver- heißenden Beruf der Mutter? Ist es nicht soweit gekommen, daß man den Frauen, um sie entweder ganz unfruchtbar zu machen oder für das Zweikindersystem zu gewinnen, mit dem Schlagwort »sie seien doch keine Gebärmaschinen« Ekel vor dem Gebären beibrachte? Daß man überhaupt allen jenen Dingen, welche mit den »Wochen« und dem »Niederkommen« in Beziehung stehen, die Weihe, den Nimbus, das Glückverheißende nahm und Trugbilder von Frauenrechten, Gleich- berechtigung der Frau, Politisierung der Frau, Frauenstimmenrecht usw. an die Stelle setzte? Hat man nicht schon Jahre und Jahrzehnte lang den Hausfrauenberuf und Hausmutterberuf des Weibes bewitzelt, be- spöttelt und schließlich gering geschätzt oder gar verachtet und das Weib seinem natürlichen Berufe entfremdet, hat man nicht die Er- ziehung ausdrücklich diesem Mutterberuf zuwider eingerichtet und die Mädchen für alles andere, entweder wissenschaftliche Idiome oder aber für Spielereien oder rein repräsentative Aufgaben vorbereitet, nur wiederum nicht für ihren Mutterberuf? Das ist die Mutternot, von der wir hier zu sprechen haben. Und diejenigen Mädchen, die trotzdem zur Ehe gelangen und trotzdem »entbunden« werden, sind dann unvorbereitet für die großen Pflichten und Aufgaben, die jetzt

Pudor: Mutternot! 115 an sie herantreten, so daß die Mutternot nun erst recht kommt und Säuglingssterblichkeit und -krankheit, mangelhafter Zusammenhalt der Familie, unzureichende Kindererziehung u. a. sich einstellen.

Aber noch in einer anderen Richtung kann man von »Mutternot« sprechen. Ebenso wie die Frauen ihrem Mutterberuf sind nämlich die Männer ihrem Vaterberuf entfremdet und betrachten es nicht mehr als höchstes Ziel ihres sozialen Existenzkampfes, eine Familie zu gründen und dem auserwählten Mädchen zur Mutterschaft zu helfen. Das Wort »Vaterfreuden« hat heute nicht mehr den rechten Ton, und von »Vaterglück« analog dem Mutterglück hört man selten sprechen. Wie bei der Frau die Frauenbewegung, sind im Bereiche des Mannes mancherlei Bestrebungen und »Bewegungen« aufgekommen, die ihn von seiner natürlichsten Aufgabe, eine Familie zu gründen, dem wahren Sinn des Erdenlebens entsprechend sich »trauen« zu lassen und Gatte zu werden, sein Geschlecht weiter zu pflanzen, dem Vater- land neue Bürger zu schenken, entfernt haben. Unter diesen, der Frauenbewegung parallel gehenden Bestrebungen und Bewegungen möchte ich vor allem diejenige nennen, die dem Manne einen Ab- scheu, nicht nur vor der Eheschließung, sondern überhaupt vor dem Kinderzeugen und der natürlichen Betätigung des Geschlechtstriebes beizubringen sucht, also vor allem die homosexelle Bewegung, die ausschließlich von Juden propagiert wird, und ferner auch die Ver- einigungen und Bestrebungen zur Bekämpfung der Geschlechtskrank- heiten, die vielfach eben das Ziel verfolgen, dem Manne Angst zu machen vor dem Weibe und die man zum Teil Gesellschaften für Geschlechtskrankheiten nennen möchte. In derselben Richtung liegen teilweise die sogenannten Sittlichkeitsbestrebungen. Wenn diese letzteren wirklich den richtigen Weg und das richtige Ziel verfolgen würden, müßten sie doch vor allem die von galizischen und ähn- lichen Leuten bedienten öffentlichen Häuser, die die dunkelste Seite der Mutternot bedeuten, beseitigen, aber die Ironie der Weltgeschichte läßt es zu, daß neben der Kirche oder nicht allzuweit von den Kirchen diese ganz ernsthaft »Freudenhäuser« genannten Stätten der Unzucht blühen und daß der Fiskus gute Einnahmen aus ihnen zieht. Wie muß man da von den Sittlichkeitsvereinen, und wie muß man von den Pfarrern denken? Und wie von deuen, denen das Wohl der Ge- meinde zur Berufspflicht gemacht ist? Gibt das Komödienhaus, das meist ebenfalls nicht weit entfernt liegt, die Erklärung? Wir halten die Sittlichkeitsbewegung auch nicht in dem Sinne für ungesund, daß sie den natürlichen Trieb des Weibes zum Manne und des Mannes zum Weibe eindämmen, fälschen und zurückdrängen will. Insoweit

8*

116 A. Abhandlungen.

ist es ganz folgerichtig, daß sie die dem Nachwuchs nicht dienenden Bordelle unbehelligt läßt und gleichzeitig die dem Nachwuchs dienen- den gegenseitigen Annäherungsversuche der Geschlechter, z. B. in der Mode und in gesellschaftlichen Dingen bekämpft. Aber man verkennt das Walten der Natur und die Gesetze und Einrichtungen der Natur, wenn man dagegen eifert, daß das Weib den Mann verlockt und ihn an sich zu ziehen sucht und ihm Lust zur Liebe und zur Ehe machen will. Der Mann ist von Natur spröde und gerade der Deutsche hart und verschlossen, und man möchte es beinahe als Pflicht, jedenfalls aber als einen sehr natürlichen und gesunden Trieb des Weibes be- zeichnen, daß es als Weibchen vor dem Männchen sich schön macht und seine Blicke an sich zu ziehen sucht. Diesem Zwecke dienten unbewußt, aber nachdrücklich die Volkstrachten, und man wolle an den »Moden« nicht gerade eben dies, was demselben Zwecke dient, bekämpfen. In diesen Irrtum begeben sich alle die, welche trotz Ge- burtenrückgang, trotz des männermordenden Krieges, trotz Mutternot der Frauenkleidung alles Freudige, alles Farbenreiche, alles sehr be- rechtigt Kokette nehmen wollen. Und so brauchen wir überhaupt im ganzen gesellschaftlichen und privatem Leben das bunte Gewand, ebenso wie dic bunte Reihe, und vielleicht kommt wirklich von »bunt« auch das Wort Bund der »Bund fürs Leben«: den brauchen wir. Ehen müssen gegründet werden, wie man Bäume, pflanzt und Baum- schulen anlegt, wie man Häuser baut und Staaten gründet unten fest und oben freudig und fruchtbar in das Himmelsblau hinein, Männlein und Weiblein gepaart, wie es Schwalben und Kolibris tun dann hats ein Ende mit der »Mutternot«. ....

2. Die Geburtenabnahme und der Weltkrieg. +)

»Die stetig zunehmende und unter den gegen- wärtigen Verhältnissen ganz naturgemäße Geburten- abnahme bedroht des deutschen Volkes Zukunft mehr als alles jetzige Wüten seiner Feinde.«

C. C. Eiffe.

Der Zug der Völker geht von Ost nach West. In dieser Rich- tung erfolgten die großen Kriegszüge des Altertums, in dieser Richtung

1) Literatur siehe bei Medizinalrat Dr. Graßl, Kempten, »Der Geburtenrück- gang in Deutschland, seine Ursachen und seine Bedeutung«. Kempten, Jos. Kösel, 1914. Vergl. ferner Innere Einflüsse der Bevölkerungswanderung auf die Geburten- zahl. Zeitschr. f. Sozialwissenschaft, Heft 2, 1916.

Fruchtbarkeitsabnahme und Geburtenrückgang der Evangelischen und Katho- liken in Baden. Ebenda.

»Zur Frage der Bekämpfung gewollter Kindlosigkeit« von Geh. Reg.-R. Prof. Dr. M. Faßbender, M. d. R. Kölnische Volkszeitung 22. II. 16. Nr. 153.

Pudor: Mutternot! 117

erfolgte die Völkerwanderung, in dieser Richtung erfolgt heute der Druck von Asien auf Europa und in dieser Richtung erfolgt auch die Bevölkerungsabnahme. Die Fruchtbarkeit der Völker ist am größten in Ostasien, und sie nimmt, je weiter man nach Westen fortschreitet, desto mehr ab. Im russischen Osten ist sie noch so groß, daß Ruß- land sich sogar die Opfer dieses Weltkrieges 1914/16 leisten kann im westlichen Frankreich ist sie beinahe auf dem Nullpunkt angelangt. In Deutschland ist sie, wie bekannt, immerhin noch ganz »anständig«, aber wir dürfen uns darüber keiner Täuschung hingeben, daß mit jedem Jahr die slawische Bevölkerungsgefahr wie gesagt trotz der Verluste des Krieges für uns bedrohlicher wird, und daß die asiatische Gefahr näher rückt: schon beginnen die Engländer des Ostens China zu japanisieren und zu militarisieren. Und wir dürfen uns auch darüber keiner Täuschung hingeben, daß die Verluste, die uns der männermordende Krieg bringt, nicht nur unsere augenblick- liche Bevölkerungszahl herabsetzen, sondern auch der nächst künftigen Bevölkerungsvermehrung Abbruch tun, selbst dann, wenn es wahr ist, daß die Völker nach Kriegen die Tendenz der Bevölkerungszunahme zeigen. Die Verluste sind eben doch zu beträchtlich. Dazu kommt, daß infolge der Begleitumstände des Krieges, wie mangelhafte Er- nährung, die Säuglings- und allgemeine Sterblichkeit größer wird. In London soll die Säuglingssterblichkeit nach den »Times« im ersten Vierteljahr 1915 50°/, höher gewesen sein als im vorangegangenen Jahr. In Deutschland war die Geburtenzahl schon vor dem Kriege auf etwa 28 auf das Tausend gesunken!) gegenüber 42,6 im Jahre 1876, und sie dürfte gegenwärtig auf etwa 20, wenn nicht noch tiefer, weiter gesunken sein. In Frankreich beträgt die Geburtenzahl nach einer Statistik des Pariser »Journal«e nur noch den fünften bis scchsten Teil der Geburtshäufigkeit vor dem Kriege und war doch damals schon niedrig genug. Auffällig und nur als eine Art letzter Selbst- hilfe der Natur zu erklären ist dabei der stark steigende Geburten- überschuß der Knaben gegenüber dem der Mädchen.

Nachdem aber Rußland durch Gesetz vom 5. November 1906 die

1) Sie betrug beispielsweise in München

im Jahre 1800 5,7 pro Hundert

KL 1900 3,5

1909 2,7 khi

n” kk] 1911 1,7 »” (vergl. Heudelang, Die ehelose und unehelose Fruchtbarkeit mit besonderer Be- rücksichtigung Ungarns. München 1909, und Groth und Hahn, Säuglingsverhält- nisse in Bayern. Zeitschr. d. kgl. Bayr. Statist. Landesamts, 1910, Heft 1).

118 A. Abhandlungen.

Agrarreform‘,Stolypin-Kriwoschein eingeleitet hat, ist wie gesagt an- zunehmen, daß es einen noch so unglücklichen Ausgang dieses Krieges verhältnismäßig rasch überstehen wird, und wir wollen sehr auf der Hut sein zu glauben, daß die russische Gefahr durch das Vorrücken unserer Heere selbst bis Kiew und bis zum Peipus auf absehbare Zeit beseitigt wäre. Das kommt vor allem auf den Friedensschluß an! Aber jedenfalls ist hundertmal zu wiederholen, daß die jährliche Quote der russischen Bevölkerungsmehrung in den letzten Jahren bis zu 3 Millionen Menschen betragen hat, gegenüber etwas mehr als 0,8 Millionen in Deutschland, daß die russische Bevölkerung seit 1870 sich mehr als verdoppelt hat sie wurde 1870 auf etwa 80 Millionen geschätzt, sie betrug nach der Volkszählung von 1889 mehr als 125 Millionen, und sie beträgt heute über 170 Millionen!) daß die schon erwähnte Agrarreform das ganze Land einer Neugeburt ent- gegenführt, und daß die sibirische Kolonisation zu einer Quelle der Kraft für ganz Rußland wird: man rechnet allein für Westsibirien für das nächste Jahrzehnt mit einer Bevölkerung von 20 bis 25 Mill Menschen. Dabei ist, wie das Verhalten der sibirischen Regimenter im Kriege zeigt, auch die »Qualität« dieser sibirischen Bevölkerung eine vorzügliche, und wir werden einen Fehler begehen, wenn wir uns damit trösten und darauf stützen wollen, daß wir an Qualität er- setzen, was wir an Zahl einbüßen. So ganz Unrecht hatte also Bern- hard Shaw nicht, als er den europäischen Krieg als den europäischen Selbstmord zugunsten Rußlands bezeichnete.

Was sollen wir also tun? Die Mittel und Wege, die ergriffen werden müssen, sind zahllos, und eins muß ins andere greifen und von den verschiedensten Richtungen aus muß dem gesteckten Ziele nach- gegangen werden vom Mutterschutz, von der Säuglingshygiene bis zur Wohnungshygiene, von der Geburtenprämie bis zur Junggesellensteuer, von der allgemeinen Gesundung der Lebensweise und Ertüchtigung und Kräftigung der Gesamtbevölkerung bis zur Entindustrialisierung und Wiedererrichtung der Bevölkerungsexistenz auf der Grundlage des Landbaues, von der Ausrottung des Prostitutionsübels bis zur sittlich-religiösen, ins Innerste greifenden Wieder- und Neugeburt des Volkes!

Das Steckenpferd der Bevölkerungs-Enthusiasten ist bisher immer der Säuglingsschutz und der Mutterschutz gewesen, und zweifellos sind die Vorschläge, die in dieser Richtung z. B. die deutsche Ver-

1) Nach dem Russ. Stat. Jahrbuch von 1910 betrug sie im Jahre 1858 74,6 Millionen.

Pudor: Mutternot! 119

einigung für Säuglingsschutz und ihr Vorsitzender v. Behr-Pinnow gemacht hat,!) sehr beachtenswert.

Aber die Wurzel des Übels treffen sie nicht, und die Quelle des Heilstromes finden sie nicht. Das erhellt schon daraus, daß das alte Rom, als es in der Lex Poppaea die Junggesellensteuer und die Geburtenprämie einführte, dem Untergang trotz alledem entgegenging. Verfasser hat selbst schon vor Jahren, als er (im Jahre 1907) die Monatsschrift »Kultur und Familie« herausgab, diese und andere Vor- schläge gemacht, und er hat vor allem darauf hingewiesen, daß der Ausgang aller dieser Reformen in einem Wiederaufbau und Neu- aufbau des Familienideals liegen müsse und daß vor allem die Familien, aus denen die Geburten, soweit sie Daseins- und Geschlechteraussichten haben,?) hervorgehen, wieder fester gegründet werden müssen. Die Kraft des Staates und Volkes wurzelt in der Familie. Die Sicherheit des Bestandes eines Staates hängt von der Qualität seiner Familien- organisationen ab. Deutschland ist größer geworden als Frankreich, weil es einen tieferen Familiensinn und demzufolge einen reicheren Kindersegen ‘und folglich auch mehr Soldaten hatte als Frankreich, in welchem der Malthusianismus die Familien und das Volk zugrunde gerichtet hat. Auch England dankt seine bisherige Größe wesentlich dem außerordentlich entwickelten Familiensinn seiner Bewohner. Und Amerika wiederum ist groß geworden, weil es von beiden, vom Deutschen und vom Engländer, den Familiensinn ererbte. Sonst wäre es längst aus den Fugen gegangen. Überall, wo Völker zugrunde gehen, liegt die Ursache in der Zerstörung des Familienlebens, ver- gleiche Spanien, die Länder des Orients, das alte Rom. Auch ein Vergleich zwischen dem Familienleben in Rußland und demjenigen in Japan ist nach dieser Richtung interessant. Weiter war die außer- ordentliche Kulturblüte des alten Hellas nur möglich, weil das Familien- leben in Griechenland heilig war, vergleiche die Odyssee und Ilias, welche beide die großartigsten Hymnen auf die Heiligkeit des Familien- lebens sind. Selbst die hohe Blüte der italienischen Renaissance basierte nebstbei auf einer tiefinnerlichen Erneuerung des Familien-

1) Wir führen die wichtigsten an: 1. Baldiger Erlaß eines Wohnungsgesetzes, 2. Höhere Besoldung an Verheiratete und besonders an kinderreiche Angestellte, 3. Schwangerenhilfe und Stillgeld. 4. Bestrafung der Anpreisung von Verhütungs- mitteln. 5. Zwangsweise Reichsmutterschaftsversicherung. 6. Reichsammengesetz. 7. Steuer für Unverheiratete und stärkere steuerliche Heranziehung der kinderlosen Ehepaare.

2) Es werden nach der Statistik im deutschen Reiche jährlich etwa 180000 uneheliche Kinder geboren.

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lebens, wie man an den ewig wertvollen künstlerischen Darstellungen des Familienlebens von Malern, wie Rafael unter dem Namen »Heilige Familie«, sieht.

Wenn wir aber vorhin sagten, daß die Größe Deutschlands auf der Festigkeit der deutschen Familienorganisation, auf der Wahrheit, Echtheit, Innerlichkeit und Herzlichkeit des deutschen Familienlebens beruht, so ist auf der anderen Seite nicht zu bezweifeln, daß auch an den Eichbaum deutschen Familienlebens die Axt gelegt ist, daß viel Unwahrheit, Äußerlichkeit, Falschheit, Lüge sich eingeschlichen hat statt daß dieses Familienleben immer mehr vertieft werde, immer mehr gefestigt, immer mehr verinnerlicht werde und immer mehr das gesamte Volk umfasse. Der Malthusianismus hat sich schon seit mehr als 25 Jahren wie ein Gift in das deutsche Familienleben eingefressen. Der immer stärker werdende Existenzkampf hat ihm die materiellen Grundlagen genommen. Philosophische Wahnsysteme und falsch verstandene oder falsch ausgelegte und falsch angewandte sozialistische Systeme haben an seinen theoretischen Grundlagen ge- rüttelt. Dazu kam der allgemeine Zug der Oberflächlichkeit und Äußerlichkeit. Die Autorität der Kirche ging vielfach verloren, ohne daß etwas Besseres an die Stelle treten konnte. Das Schlimmste war vielleicht dies, daß die heranwachsenden Geschlechter dem Schutze der Familie entrissen und in Schulen unterrichtet (weniger erzogen) wurden, in denen das Familienleben keine oder nur eine ganz unter- geordnete Berücksichtigung erfuhr.

Was heißt das: »Familien-Kultur«? Kultur heißt auf deutsch Pflege. Also um Pflege der Familie und des Familiensinnes handelt es sich. Im weiteren Sinne umfaßt die Kultur das ganze Gebiet der Gesittung und des inneren, geistigen Lebens eines Volkes. Also will »Familien-Kultur« das Familienprinzip in Anwendung bringen auf die Kultur, auf das innere und geistige Leben des Volkes und auf seine Gesittung. Ja, Kulturprinzip soll geradezu als Familienprinzip gefaßt und behandelt werden. Alle wichtigen Kulturfragen ‘sollen nach dem Wert, den sie für das Familienprinzip haben, geprüft werden. Das letztere, als der wahre »rocher de bronce« (Felsen von Erz) soll der Prüfstein der Kultur, zunächst unserer deutschen Kultur werden. Prof. Tönnies sagte: »Aller Kultus ist ja ursprünglich Haus- und Herd- kultus. Von Haus und Herd darf auch der Kultus sich erneuern.« Das Wort Familie ist also in dem Wort Kultur eigentlich schon ent- halten. Im deutschen Volkscharakter ist der Sinn für Familienleben tief ausgeprägt. »Das größte Werk, das du tun kannst, ist eben dies, daß du dein Kind recht erziehest.«

Pudor: Mutternot! 121

Natürlich müssen für einen größeren Kinderreichtum der Familien auch die wirtschaftlichen Bedingungen geschaffen werden.

Also auf der einen Seite staffelweise Erhöhung der Steuern für kinderarme Familien und Junggesellen und auf der andern Seite Be- amtenbesoldung abgestuft nach der Anzahl der Kinder. Hierfür ein- zutreten ist Sache einer nationalen Familienpolitik. Und Familien- politik brauchen wir in weit höherem Maße als Kolonialpolitik. Unser nationales Blut im Lande zu erhalten und so zu pflegen, daß jeder männliche Stämmling eine Familie mit sechs Buben gründet, deren jeder das Gleiche tut, und hierfür die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen zu schaffen, das ist das Wichtigste, was wir tun können, vom Standpunkt unseres Volkes, unseres Vaterlandes und unserer Rasse.

Man wage nur an die Zustände zu denken, die uns das groß- städtische Wohnungswesen!) nach dem Kriege bringen wird! Auf der einen Seite unerschwingliche Mieten, auf der andern alle Mißstände einer unheilvollen Gründerperiode, die schon jetzt ihre Schatten voraus- wirft. Dabei weist der große Berliner Verein für Kleinwohnungs- wesen darauf hin, daß die Säuglingssterblichkeit in den Mietskasernen, besonders in den Seitenflügeln ohne Querlüftung, erschreckend hoch sei. Er gibt auch Mittel zur Bekämpfung der Mißstände?) an.

Oder man denke an die schon jetzt jeder rationellen Bevölkerungs- politik Hohn sprechende amtlich geduldete gewerbsmäßige Unzucht. Erwähnt sei hierbei, daß Verfasser in dem Aufsatz zur Straffreiheit der gewerbsmäßigen Unzucht in der Zeitschrift »Der Gerichtssaal« (81. Bd. 4.—6. H.) nachdrücklich für die Aufhebung jeder Art ge- werbsmäßiger Prostitution eingetreten ist, und daß der Sächsische Landesverein für Innere Mission in Übereinstimmung mit dem Deutschen Sittlichkeitsverein gefordert hat, daß die gewerbsmäßige Unzucht als solche mit klaren Worten unter Strafe gestellt wird, und daß insbesondere grundsätzlich die in der gegenwärtigen Reglemen- tierung und Kasernierung liegende amtliche Duldung der Prostitution

1) Vergl. Damaschke, Wohnungsnot und Kinderelend. Heft 40 unserer »Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehunge. Langensalza, Hermann Beyer Söhne (Beyer & Mann).

7) 1. Erneute Inangriffnahme der Realkreditfrage.

2. Erhöhung des bestehenden Wohnungsfürsorgefonds.

3. Ausdehnung der öffentlichen Hilfe auf die Kleinwohnungsfürsorge.

4. Übernahme der Sicherheiten für zweite Hypotheken auf Kleinwohnungs- bauten seitens der Reichsversicherungsanstalt und Landesversicherungs- anstalten.

122 A. Abhandlungen.

aufgehoben wird. Nicht nur das Zeugen und Gebären schafft die- jenigen Menschen, welche wir für diesen Völkerkampf brauchen, sondern vor allem das Bilden, Pflegen und Erzieben der Kinder inner- halb der Familiengemeinde Denn nicht allein Körperkraft, sondern sittliche Kraft ist notwendig, Die Körperkraft stand immer gerade, wenn die Völker vor dem Ruin standen, in Gestalt von Athletentum auf der Höhe, wie beim alternden Rom. Aber gerade bei den Germanen war es immer die Übereinstimmung der leiblichen und sittlichen Kraft und Größe, die sie Großes hat vollbringen lassen. ... 1813 ebenso wie zu alten Zeiten, als sie das Römertum überwanden, und ebenso zu den Zeiten der Wikinger auf Island, ebenso zur Zeit der Blüte der Hansa. Es ist keine Frage: wir sind konstitutionell so weit herunter- gekommen, daß wir zu sittlichem Ernst unfähig geworden sind. Es fehlt rein physiologisch an Rückgrat.!) Das eigentlich Rassenmäßige ist bereits in Verfall geraten. Deshalb dieses furchtbare, den tiefer Blickenden mit Erschütterung schlagende Komödie-Spielen. Und fast scheint es schon zu spät, aufs neue den Versuch zu machen, sittliche Grundsätze unserem Volke wie Eisen ins Blut zu gießen. Aber der Ver- such soll gemacht werden. Vielleicht heißt es auch hier: wenn die Not am größten, ist uns Gott am nächsten. Und unser Volk hat sich immer erst ermannt, wenn es am tiefsten darniederlag. Erfreulicherweise hat die deutsche Staatsregierung, auf die Re- solution des Abgeordnetenhauses in einem Nachtragsetat für 1913 kinderreichen Unterbeamten und mittleren Beamten mit einem 3000 M nicht übersteigenden Gehalt in allen Verwaltungen unter 'Abstufung nach der Zahl der Kinder Teuerungszulagen zu gewähren ... be- schlossen, dieser Resolution jetzt keine Folge zu geben, jedoch in eine eingehende Prüfung der Frage der Gewährung von Familienzulagen einzutreten, zu welchem Zweck zunächst die Grundlage hierfür be- schafft wird, die nur eine geeignete Statistik geben kann. An und für sich steht man der Gewährung von Familienzulagen durchaus sympathisch gegenüber, zumal der Rückgang der Geburten jede Maß- nahme als notwendig erscheinen läßt, die dieser bedrohlichen Er- scheinung Einhalt zu tun geeignet ist. (Schluß folgt.)

!) Vergl. auch Trüper, »Der Weltkrieg und die Erziehungs- und Schulreform der Gegenwart. Nochmals ein paar ernste Fragen in großer Zeit. XXI. Jahrg., Heft 1/2 d. Zeitschr. Ebenso Jahrg. XX: Heft 3, S. 97—100; Heft 5/6, S. 241 bis 243; Heft 7/8, S. 364—369; Heft 9, S. 418—423; Heft 11/12, S. 558.

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3. Das Problem des Krüppels und Richtlinien für die Erziehung des Krüppelkindes.!) Von Dr. phil. E. Dickhoff, Stadt- und Kreisschulinspektor in Berlin.

(Vortrag, gehalten im »Erziehungs- und Fürsorge-Verein für geistig zurückgebliebene [schwachsinnige] Kinder«, im Januar 1917.)

° T-

Dem rein natürlich empfindenden Menschen erscheint jede Ab- weichung von der normalen Körperform befremdlich, jede körperliche Verunstaltung unbehaglich. Beim Anblick eines Lahmen oder Buck- ligen überkommt ihn zuerst das Gefühl des ästhetischen Widerwillens, dem sich erst späterhin das sympathetische Gefühl des Mitleids hinzu- gesellt. Die peinigende Frage löst sich in seinem Innern: Warum mußte die Natur einen solchen Mißgriff in ihrem Schaffen begehen ? Das religiöse Gemüt rätselt: Wie konnte der allmächtige Schöpfer, der den ersten Menschen nach seinem Bilde schuf, in einem Spät- geschaffenen eine so mißratene Arbeit liefern? Woher dieses Sinken der Kraft, statt der zu erwartenden höheren Leistung? Der natur- wissenschaftlich gerichtete Geist wendet seine Kenntnisse von der Vererbungstheorie um und um und sucht das Gesetz in des Zufalls grausen Wundern. Er folgert auf Grund seiner biologischen Kenntnisse: Die Entwicklung des Individuums ist von Anfang an vorherrschend bestimmt durch Naturgesetze, die schon bei der Zeugung obwalten. Zeigt der Keimstoff Entartungserscheinungen, hervorgerufen durch Alkoholismus oder sonstige das Blut vergiftende Wirkungen, so sind körperliche und geistige Mißbildungen mit Bestimmtheit zu erwarten. Starke, vom Mitleid nicht angekränkelte Rasseveredler schwingen sich gar zu der Entschließung auf: Körperlich oder geistig anormale Kinder müßten sofort nach der Geburt schmerzlos getötet werden. Laßt uns der Natur zu Hilfe kommen und erleichtern wir ihr die

1) Wir brachten bereits im VII. Jahrgang (1902) ein ähnliche Arbeit: »An- staltsfürsorge für Krüppel« von Sanitätsrat Dr. Hermann Krukenberg, damals Direktor des städtischen Krankenhauses und leitender Arzt des Krüppelheims der Wilhelm- und Augusta-Stiftung zu Liegnitz (auch erschienen als Heft 6 der »Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung.).

Außerdem haben wir noch wiederholt, auch in der nachstehenden Arbeit er- wähnte Beiträge zu dieser Frage geliefert. Doch infolge des Krieges mit seinem Krüppelelend einerseits und andererseits durch die Organisation der Krüppelfürsorge in einem besonderen Verein unter Führung von Prof. Dr. Biesalski hat die Frage eine derartige Gegenwartsbedeutung gewonnen, daß unsere Leser mit uns die er- neute Anregung mit Freuden begrüßen werden. Der Herausgeber.

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Vernichtung des Unbrauchbaren! Lehrt doch die Wissenschaft: was nicht Kraft in sich trägt, daß es lebt, ist wert, daß es zugrunde geht. Wozu die Heilanstalten mit elendem Material anfüllen? Was sind die Krüppel? Fallobst vom Baume der Menschheit. »Was fällt, das soll man auch noch stoßen spricht mit ihnen kaltherzig Friedrich Nietzsche. Und geschichtlich orientierte Gesinnungsge- nossen stimmen diesen Menschheitsveredlern von starken Nerven und robustem Gewissen bei: Ihr habt recht; ims Altertum ging man in der Menschenaufzucht für das Gemeinwesen energischer und prak- tischer zu Werke als in unserer schwächlichen und empfindsamen Zeit. Da war jedes Krüppelkind mit dem Tode bedroht. Ihr kennt doch die Spartaner und die Klüfte des Taygetos! Nun, und die hausbackene, wehleidige Tagesweisheit vieler unserer Familien- mütter, Onkel und Tanten? Wie lautet sie doch, die typische Klage? Es wäre besser gewesen, das Krüppelkind wäre bei der Geburt ge- storben, als daß es nun in der Heilanstalt im Gipsverband liegt und leiden muß. Die armen unglücklichen Eltern! Wie haben sie sich auf Nachkommenschaft gefreut! Nun sind sie mit ihrem Kinde grausam gestraft. Zeitlebens müssen sie das Elend vor Augen haben, wie das Unglücksgeschöpf durchs Leben schleicht oder humpelt und vielleicht gar verspottet wird. Und schließlich läßt sich mit Macht noch eine Gruppe im Chor der Stimmen vernehmen: die Leute von Kopf und Herz, wie sie sich nennen. Sie vereinigen Nächstenliebe und Sinn für Nützlichkeit in »angenehmer Mischung«, wie es sie dünkt. Ihre Meinungen lassen sich auf folgende Normalform bringen: Es ist einmal Menschenpflicht, sich der Verkrüppelten anzunehmen, und eine fürsorgliche Staatsökonomie wird auch aus volkswirtschaftlichen Gründen darauf bedacht sein müssen, vorhandene, wenn auch minderwertige Menschenkräfte zu erhalten und zu verwerten. Es sind deshalb Maß- nahmen zu treffen, das reichliche Material der verkrüppelten Kinder in Anstalten anzusiedeln, wo ihnen eine ausreichende Unterweisung, namentlich in Handgeschicklichkeit, zu erteilen sein wird, die sie befähigt, sich später im Leben fortzuhelfen, ohne daß sie genötigt sind, staatliche Unterstützung für sich in Anspruch zu nehmen. In be- sonderem Maße geistiges Können bei ihnen zu entwickeln, wird sich einmal durch den Umstand verbieten, daß die physischen Grund- lagen zu einer anstrengenden Gehirntätigkeit meist nicht ausreichend vorhanden sind, und sodann aus dem Grunde, weil eine höhere und vielseitige Ausbildung durch Unterricht einen verhältnismäßig zu ge- ringen Nutzen im Vergleich zu den beträchtlichen Kosten eines aus- gedehnten Sonderunterrichts abwerfen würde.

Dickhoff: Das Problem des Krüppels und Richtlinien für die Erziehung usw. 195

Wir fragen uns: Sollen wir uns wirklich dieser letzten, mit soviel »gesundem Menschenverstand« gepredigten Ansicht anschließen? Ist die darin enthaltene Nützlichkeitsmoral der pädagogischen Weis- heit letzter Schluß? Ist die Aufgabe der Krüppelerziehung mit diesem Rezept praktisch gelöst? Ich sage entschlossen nein, mit nichten! So einfach ist das Menschheitsproblem des Krüppeltums nicht beiseite zu schaffen, ein ungeheures Motiv von eisigem Ernste und tragischem Leide, das schaurig durch die Welt klingt, seitdem es Menschen gibt, ein Rätsel der Sphinx, das schon die graue Vor- zeit verzagen machte, ein Dämonsschatten, der die Kulturgeschichte überfinstert und den Glauben an eine göttliche Gerechtigkeit zu er- schüttern imstande ist. Wie dünkt dich, o Mensch, um den Krüppel? Ist er deines Wesens, oder ist er aus geringerem Stoff geformt? Hat auch er Teil an Gottes Gnade, oder ist er ein Abkömmling böser Mächte? Betrachten wir ihn im Spiegel der Zeiten.

2.

Wie urteilt das Altertum über die Krüppel?

In der hellenischen Weltanschauung rückt alles Unharmonische in eine dunkle Sphäre. Das Abnorme tritt auf als Gegensatz zu der olympisch verklärten, schönheitsstrahlenden Welt der Götter und Helden. Der Gedanke an Verkrüppelung, an Altern und Siechwerden ist dem Hellenen peinlich. Wer äußerlich als anormal gekennzeichnet ist, ist auch innerlich minderwertig. Der verwachsene Thersites des Homer ist ein Schandmaul sondergleichen. Beim Klumpfuß Ödipus sind es vorwiegend äußerliche Verwicklungen, die sein Schicksal traurig ge- stalten ; die innere Tragik, als lahmender Hinkfuß gekennzeichnet zu sein, tritt nirgends hervor. Nur im Mythos vom lahmen Hephästos wird die Kunst psychologischer Charakteristik versucht. Die spätere Antike allerdings erhebt sich zu einer höheren geistigen Auffassung. Tyrtäos, der Freiheitssänger, der aus Athen den Spartanern gegen die Messener zu Hilfe kam, ist lahm. Der Fabel- dichter Äsop, welcher der Tierwelt menschliches Empfinden und die Sprache lieh, ist eine krüppelhafte Mißgestalt. Zu siegender Charakter- kraft ringt sich empor Epiktet, der krüppelhafte Sklave. Von diesem stoischen Philosophen rühren die Worte her: »Die Krankheit ist ein Hindernis des Körpers, aber nicht des Willens, falls er nicht selbst will. Eine Lähmung ist ein Hindernis des Schenkels, aber nicht des Willens. Wie stand es in Rom? Zur Zeit der Caesaren sind Ver- krüppelungen künstlicher Art häufig. Seneca berichtet davon. »Jener Beinzermalmer,« schreibt er, >haut den einen Arm ab, schwächt den

A. Abhandlungen.

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andern, verdreht diesem grausam und höhnisch zugleich die Schulter, damit er höckerig werde.« Die unglücklichen Wesen, meist Kinder, wurden, wie es heute noch vielfach in Rußland geschieht, zum Betteln für die Herren gebraucht, oder gegen Entgelt verliehen. Von einem Versuche der gebildeten Stoiker, diese Greuel abzuschaffen, ver- nehmen wir nichts. Man hält sich aus Zimperlichkeit und aus dem Empfinden für äußere Harmonie möglichst fern von diesen Gekenn- zeichneten der Natur.

Wie prachtvoll hebt sich gegen diese seichte Auffassung der Ernst der alten hebräischen Propheten ab! Sie zeigen mit rhetorischer Wucht, mit ingrimmigem Pathos und jubelnder Weltverachtung, daß Gott sich gerade der Verstoßenen und Zer- schlagenen annimmt. Mit dem Allerwirklichsten ist der Gott der Propheten im Bunde. Mit dem ganz Lebenswahren, dem Mensch- lichen, Allzumenschlichen ist auch der Heiland umgeben. Die Tragik des Alltags zieht hinter ihm her in Gestalt von Lahmen, Gicht- brüchigen und allerlei andern Krüppeln. Kein zages Mitleid treibt des Menschen Sohn, den Gebrechlichen unter seinen Brüdern zu helfen, sondern ein kerniger Lebensidealismus und der auf die Praxis gerichtete Wunsch, ihnen das Dasein erträglich zu gestalten und sie zur Arbeit nach Möglichkeit wieder zu befähigen. Das frühe Christentum lehnt sich mit Macht auf gegen den einseitigen, ober- flächlichen Kultus der bloß äußeren Wohlgestalt. Das Märtyrertum gewöhnt die Augen an furchtbare Verstümmelungen. Die Legenden und Heiligengeschichten sind voll Triumph des Geistes über das grauenhafteste Leid und die körperliche Bresthaftigkeit.

Auch die andern östlichen Religionsformen: die Lehre des Kongfutse, der Islam und der Taotismus werden dem Krüppel gerecht. Konfuzius stellt den chinesischen Krüppel Wang Tai über sich selbst. Der große Weisheitslehrer sagt von ihm: »Er sieht die große Einheit und sieht hinweg über die Unvollkommenheit. Den Verlust seines Fußes betrachtet er, als hätte er einfach ein Stück Erde davon zurückgelassen.«e Die islamitische Überlieferung er- zählt: Als zu Mohammed ein Gebrechlicher, ein Blinder, kam, runzelte er zuerst die Stirn und wandte sich ab. Dann aber folgte er einer höheren Stimme, die ihm sagte: »Du sollst gerade des Un- glücklichen im Koran auf besonders geehrten, erhöhten und gereinigten Stellen gedenken.e So schaut denn der Koran ahnungstief gerade für die Gebrechlichen den Tag der strahlenden, lachenden und ver- klärten Gesichter. Unter den Religionsformen, die sich zwar nicht zu den Weltreligionen ausgebildet, aber sich doch stark mit Menschen-

Dickhoff: Das Problem des Krüppels und Richtlinien für die Erziehung usw. 127

kunde und Philosophie durchsetzt haben, beschäftigt sich der Taotismus merkwürdig viel mit dem Krüppel und nimmt im Namen der Wirk- lichkeit und einer ausgleichenden Gerechtigkeit für ihn Partei. Das Krüppeltum, das sich zur Weisheit und zu besonderem Können durch- ringt, erscheint hier als Widersacher des Sinnes, der sich in Äußer- lichkeiten ergeht und sich daran genügen läßt. Stellenweise wird der Krüppel geradezu idealisiert. In sinniger Weise wird uns bedeutet: Geistige Vorzüge lassen über körperliche Gebrechen hinwegsehen. Ein Krüppel, der die ewige Frühlingsmilde der inneren Ruhe und Harmonie gewonnen, der seine geistigen Kräfte durch Selbstbeherrschung zu- sammenzuhalten weiß, wirkt auf die Dauer angenehmer als der äußer- lich schöne, aber unruhig gestimmte Zweck- und Absichtsmensch.

Der Heroismus, der Lähmung und Wunden geringschätzt, strahlt besonders hell in der germanischen Heldensage. Die Helden des Walthariliedes schlugen sich allesamt gegenseitig zu Krüppeln. So verstümmelt sie auch waren, so behielten sie doch guten Mut. Ja sie scherzten sogar darüber. Keine Spur der Empfindung überkommt sie, daß sie durch ihre Verstümmelung etwa eine Einbuße an Ansehen erlitten hätten, daß sie als verachtete Ungestalten oder als bemitleidenswerte Krüppel unter ihren Heimatgenossen wandeln müßten. Eine gleiche Auffassung durchzieht auch die Edda. Den uranischen Göttern der Germanen schadet eine gewisse Verkrüppe- lung nicht, sie macht sie vielmehr ehrwürdig und interessant. Odin ist einäugig, Tyr ist einarmig, Donar leidet an einer Schädelver- letzung, die er sich durch das Sprengstück eines Schleudersteines, den ein Riese nach ihm geworfen, zugezogen hat. Wieland der Schmied geht an Krücken, sind ihm doch die Fußsehnen durch- schnitten dennoch ist seine Kunstfertigkeit eine unvergleichliche, und er ist der erste, der sich auf Flügeln zu den Wolken erhebt. Hagen von Tronje hat nur ein Auge, aber der Glanz der Mannen- treue strahlt aus ihm.

3.

Ein Umschwung in der Auffassung vom Krüppelmenschen voll- zieht sich im Mittelalter. In diesem Kulturabschnitt erscheint alles Häßliche und Abnorme, wenn es die Kirche nicht aus besonderen Gründen in Schutz nimmt, wiederum, wie bei den Hellenen, als Störung der Weltharmonie, wenn auch nicht so sehr der ästhe- tischen, so doch der religiösen. Der Glaube der Urzeit, der Animis- mus, der alle Vorgänge auf das Wollen oder Nichtwollen verborgener Seelen zurückführt, gestaltet sich im Mittelalter zu der Auffassung,

128 A. Abhandlungen.

daß alles Ungewöhnliche entweder durch ein besonderes Vorhaben Gottes oder durch die gottfeindliche Macht, den Teufel, bewirkt wird: Der Wechselbalg, der Hinkfuß, der Krüppel, die häßliche alte Hexe waren schon durch ihre äußere Gestalt jedem Christenmenschen ver- dächtig. Man glaubte es bei ihnen mit Verkörperungen magischer Kräfte zu tun zu haben, die von der Absicht erfüllt sind, die gött- liche Heilsharmonie zu stören, ja die Heilsordnung zu zer- sprengen. Daher die Verfolgung von Frauen, die mißgestaltete Kinder zur Welt brachten oder selbst böse Absichten mutmaßen ließen. Überall, in der ganzen Natur, witterte man versteckte Quellen des Bösen. In der Danteschen Hölle konnte sich das böse Wollen seine wahre, dem Gedanken entsprechende äußere Form geben. Wie wenig religiöse Subjektivität selbst des Reformationszeitalters imstande ist, dem Krüppel gerecht zu werden, dafür liefert Luther selbst ein Beispiel. Er betrachtete die Krüppel ganz nach Art des Mittelalters noch als Wechselbälge und sprach ihnen geradezu das Recht auf Leben ab. »Wenn ich da Fürst oder Herr wäre,« sagt er, »so wollte ich mit diesem Kinde (es war von einem Krüppelkinde die Rede) in das Wasser, in die Molda (Mulde), so bei Dessau fleußt, und wollte das Homicidium (die Tötung) daran wagen! Aber der Kurfürst zu Sachsen, so mit zu Dessau war, und die Fürsten zu Anhalt wollten mir nicht folgen. Da sprach ich: So sollten sie in der Kirche die Christen ein Vaterunser beten lassen, daß der liebe Gott den Teufel wegnehme. Das täte man täglich zu Dessau. Da starb das- selbige Wechselkind im andern Jahre danach.e Als eine Perle unter dem Schutt und Wust des Unsinns und der Überlieferungen nimmt sich ein Liedchen aus des »Knaben Wunderhorn«< aus, in dem

es heißt: i f Es kränkt mich gar nicht,

Daß ein Krüppel ich bin,

Wer weiß, ob nicht eben

Ein Glücksstern darin. Die mittelalterliche Lehre von der Willensmagie war ebenso ein Denk- fehler, wie der antike Wahn der äußeren Weltharmonie. Beide Irr- tümer wurden zu Verhängnissen für den Krüppel und schufen Literaturgebilde, die innerhalb der Kunstwerke, in denen sie auf- treten, zwar ästhetisch berechtigt sind, aber ethisch betrachtet, den schlimmsten Vorurteilen Vorschub leisteten,

4.

Die neuere Zeit konnte auch zunächst dem Krüppel nicht gerecht werden. Shakespeare stellt uns in Richard dem Dritten

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den ersten großen Bösewicht des modernen Dramas als Krüppel hin. Ihm verwandt ist Franz Moor in Schillers »Räubern«. Die ästhetischen Abneigungsgefühle gegen die Krüppel überwiegen auch in den Urteilen vieler ernster Gelehrten. Naiv spricht sich das Verhalten mancher am Bildhaften klebenden Geister bei der Würdigung des Krüppels beispielsweise in einem Urteil von Bogumil Goltz aus: »Eine Redensart unserer Väter sagt unbarmherzig: ‚Hüte dich vor dem, den Gott gezeichnet hat.‘ Leute, die mit Leibesschäden behaftet sind, können es in der Regel ihren Mitmenschen nicht ver- zeihen, daß sie selbst von der Natur stiefmütterlich behandelt sind. Ein Zwerg, ein monströs gearteter, körperlich ganz verunstalteter Mensch ist nicht frei, nicht unbefangen. Freiheit besteht nicht nur in dem »freien Willen«, sondern auch in der bewußten Gleichheit mit den Geschöpfen der eigenen Rasse und Art, in dem Gefühl, zu gleichen Rechten und Pflichten mit allen andern in der Gesellschaft aufgenommen und von seinesgleichen wohlgelitten zu sein.« Und ein bedeutender belgischer Gelehrter äußert sich in einem Werke über Religion dahin, daß »fehlerhafte Geschöpfe, deren ganze Wesenheit physisch und moralisch verzerrt ist, immer mehr von den Pfaden der Natur abtreiben und Zustände schaffen der schlimmsten Art im Leben der Gesellschaft und der Familie«.

Wohltuend unterscheidet sich von dieser Manier, für unangenehm wirkende Erscheinungen verallgemeinernde Kennzeichen zu ersinnen, Hermann Hesse in seinem Roman »Peter Camenzind«. Hier ist es nicht der furchtbar entstellte Krüppel, der sich nicht zur Vergebung entschließen kann, sondern der Gesunde, der es dem Krüppel zunächst kaum verzeihen mag, daß dieser so häßlich ist. Als man den Krüppel fragt, wie es ihm gelinge, sich immer mit seinem schmerzenden und kraftlosen Leibe abzufinden, lacht er freundlich: »Das ist sehr einfach. Es ist eben ein ewiger Krieg zwischen mir und der Krankheit. Bald gewinne ich eine Schlacht, bald verliere ich eine, so balgen wir uns weiter, und zuweilen halten wir auch beide still, schließen einen Waffenstillstand, passen einander auf und liegen auf der Lauer, bis einer von uns wieder frech wird und der Krieg aufs neue losgeht.« In Wilhelm von Kügelgens »Jugenderinnerungen eines alten Mannes« ist der Krüppel von Hohenstein ein edler Erzieher mit liebevoller Beseelungs- und Erleuchtungskraft. Trotzdem er an beiden Beinen gelähmt ist, ist er ein Wohltäter seiner Umwelt. Denn dieser Krüppel findet bei seinem Leiden noch die Kraft, arme Fabrik- kinder, die tagsüber für ihren Unterhalt arbeiten müssen und die Schule daher nicht besuchen können, freiwillig und ohne Cudi zu

Zeitschrift für Kinderforschung. 22. Jahrgang.

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unterrichten und auch eine kleine Gemeinschaft Erwachsener zu be- lehren.

Etwas verstiegen mutet uns jedoch das übertriebene Lob an, das der französische Romanschriftsteller Balzac den Krüppeln spendet. Er urteilt in der »Modeste Mignon«, daß die Buckligen »wunder- bare Geschöpfe« sind, und behauptet, daß die Krümmung der Wirbel- säule bei diesen scheinbar stiefmütterlich ausgestatteten Menschen gleichsam ein Behältnis hervorbringe, worin sich Nervenfluida in größeren Mengen ansammeln als bei andern. In dem Mittelpunkt, wo diese sich verarbeiten, wo sie wirken, erzeugen sich nach seinem Dafürhalten eigenartige Kräfte; eine Lichtquelle entspringe hier, die das ganze innere Wesen durchflutet. »Man suche einen Buckligen,« ruft er aus, »der nicht mit irgend einer höheren Eigenschaft aus- gestattet wäre, sei es nun mit scharfem Witze, sei es mit vollkommener Bosheit oder mit erhabener Gutmütigkeit«. Voll rührender Innigkeit und zugleich von erhabenster poetischer Weihe erfüllt ist das Bild- chen, das uns Volkmann-Leander in seinem Märchenbuch »An französischen Kaminen« von einem armen Krüppelkinde entwirft. Ein kleines buckliges Mädchen verlor seine Mutter. Der Vater heiratet eine junge, schöne, aber hartherzige Frau, die mit der verwachsenen Stieftochter nicht ausgehen mag, weil es ihr peinlich ist, Begleiterin einer solchen Mißgestalt zu sein. »Du bist ja ganz bucklig,« sprach sie, »bucklige Kinder gehen nie spazieren, die bleiben immer zu Hause«. Darauf wurde das kleine Mädchen ganz still, und sobald die neue Mutter das Haus verlassen, stellte es sich auf einen Stuhl und besah sich im Spiegel; und wirklich, es war bucklig, sehr bucklig! Da setzte es sich wieder auf sein Fensterbrett und sah hinab auf die Straße und dachte an seine gute alte Mutter, die es doch jeden Tag mitgenommen hatte. Dann dachte es wieder an seinen Buckel: »Was nur da drin ist?« sagte es zu sich selbst, »es muß doch etwas in so einem Buckel drin sein.«e Und der Sommer verging, und als der Winter kam, war das kleine Mädchen noch blasser und so schwach geworden, daß es sich gar nicht mehr auf das Fensterbrett setzen konnte, sondern stets im Bett liegen mußte. Und als die Schnee- glöckchen ihre ersten grünen Spitzchen aus der Erde hervorstreckten, kam eines Nachts die alte gute Mutter zu ihm und erzählte ihm, wie golden und herrlich es im Himmel aussehe. Am andern Morgen war das kleine Mädchen tot. »Weine nicht, Mann!« sagte die neue Mutter, »es ist für das arme Kind so am besten!« Und der Mann erwiderte kein Wort, sondern nickte stumm mit dem Kopfe. Als nun das kleine Mädchen begraben war, kam ein Engel mit großen, weißen Schwanen-

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flügeln vom Himmel herabgeflogen, setzte sich neben das Grab und klopfte daran, als wenn es eine Türe wäre. Alsbald kam das kleine Mädchen aus dem Grabe hervor, und der Engel erzählte ihm, er sei gekommen, um es zu seiner Mutter in den Himmel zu holen. Da fragte das kleine Mädchen schüchtern, ob denn bucklige Kinder auch in den Himmel kämen. Es könne sich das gar nicht vorstellen, weil es doch im Himmel so schön und vornehm wäre. Jedoch der Engel erwiderte: »Du gutes, liebes Kind, du bist ja gar nicht mehr bucklig!« und berührte ihm den Rücken mit seiner weißen Hand. Da fiel der alte garstige Buckel ab wie eine große hohle Schale. Und was war darin? Zwei herrliche, weiße Engelflügel! Die spannte es aus. als wenn es schon immer fliegen gekonnt hätte, und flog mit dem Engel durch den blitzenden Sonnenschein in den blauen Himmel hinauf. Auf dem höchsten Platze im Himmel aber saß seine gute alte Mutter und breitete ihm die Arme entgegen. Der flog es gerade auf den Schoß. Auch noch if manchen andern Werken der neueren Literatur (H. H. Boyesen, »Findelhaus und Krüppelhaus«; Hermann Hesse, »Gertrud«; Hans Kyser, »Der Blumenhiob«) zeigt sich ein Streben, die bisher verborgene oder verkannte Innenwelt der Krüppel zu er- öffnen und eindringlich zu betrachten. Dieser Neigung kommt die neuere Psychologie mit feinem Rüstzeug zu Hilfe.

5.

Was nun das eigentliche fachmännische Moment meines Vor- trages »Psychologische Würdigung des Krüppelkindes und seine vernunftgemäße Erziehung« anlangt, so ist es, bevor wir uns in die Einzelheiten dieses Zweiges der Pädagogik vertiefen, unsere Pflicht, der beiden berufensten Führer auf diesem schwierigen, noch wenig erforschten Gebiete zu gedenken: des Professors Dr. med. Kon- rad Biesalski, des Direktors und leitenden Orthopäden der Berlin- Brandenburgischen Krüppelheil- und Erziehungsanstalt, des »Oskar- Heleneheims« in Berlin-Zehlendorf, und des Erziehungsdirektors Hans Würtz an diesem Institut. Der erstgenannte Fachmann ist ein Chirurg und Organisator ärztlicher und sozialer Wohlfahrtsbestrebungen, dem Tausende: Krüppelkinder, von Natur gebresthafte Erwachsene und Kriegsbeschädigte, Leben, Gesundheit und Linderung ihrer Leiden verdanken, dessen fachwissenschaftliche Schriften durch die Welt gehen und Aufklärung verbreiten. Der zweite ist ein tatkräftiger, zugleich frohsinniger und nachdenklicher Pädagoge, dessen Lebensanschauung

und erziehliche Forderungen in einer Schrift sich kristallisiert haben: 9*

132 A. Abhandlungen.

»Uwes Sendung,«!) einem Erziehungsbuch hohen Stiles, das Herz und Sinn gefangen nimmt. Dieses Werk, das er in Gemeinschaft mit dem Philosophen Willi Schlüter herausgebracht hat, ist, trotzdem das Grundthema »erziehliche Behandlung des Krüppelkindes« nur auf einen begrenzten Leserkreis Anspruch erheben wird, von nachhaltigstem Eindruck auf jeden pädagogisch Interessierten. Und ich gestehe offen: Ich kenne kein Erziehungsbuch neueren Datums, das durch Tiefe der Gedanken, Fülle der Belesenheit, Macht und Form der Darstellung und durch fesselnden, dramatischen Gang des Dialogs an diese sieghafte Pädagogik in Romanform heranreicht. Wollte man Vergleiche anstellen, so würde es nicht genügen, etwa auf »Anton Reiser« zu- rückzugehen. Die Kraft der Beredsamkeit, die hoffnungsvolle Über- zeugung von der Entwicklungsmöglichkeit der Menschkeit erinnern an den Überzeugungsdrang der Mystiker, an die Glülphi-Episode aus »Lienhard und Gertrud« und die »Abendstunden eines Einsiedlers«. Ich halte »Uwes Sendung« kurz gesagt für eine geniale Leistung. Und wenn ich im meinen ferneren Darstellungen mir die Gedanken- gänge dieses von mir hochverehrten Kollegen von der pädagogischen Orthopädie und orthopädischen Pädagogik zunutze mache, so sehe ich darin keine mich herabsetzende Gefolgschaft, sondern eine Bereiche- rung meines eigentlichen Wissens um diese fremdartigen Dinge.

6.

Zur Vororientierung über den Gegenstand meines pädagogi- schen Themas seien mir noch einige Andeutungen physiologischer Natur gestattet. Ich frage zunächst: Was ist ein Krüppel? Diese Frage ist verschieden beantwortet worden je nach dem Beruf oder der Stellung dessen, an den sie gerichtet war. Im Jahre 1906 sind nämlich sämtliche jugendlichen Krüppel in Deutschland gezählt worden. Für diese Zählung ist eine Begriffsbestimmung aufge- stellt worden, die späterhin von der »Deutschen Gesellschaft für ortho- pädische Chirurgie«e und von den Bundesstaaten angenommen worden ist. Diese exakte Definition lautet: »Ein heimbedürftiger Krüppel ist ein infolge eines angeborenen oder erworbenen Nerven- oder Knochen- und Gelenkleidens in dem Gebrauch seines Rumpfes oder seiner Gliedmaßen behinderter Kranker, bei welchem die Wechsel- wirkung zwischen dem Grad seines Gebrechens und der Lebenshaltung seiner Umgebung eine so ungünstige ist, daß die ihm verbliebenen

1) Hans Würtz, Uwes Sendung, ein deutsches Erziehungsbuch mit besonderer Berücksichtigung der Krüppel. Leipzig, Vogel. 12 M.

Dickhoff: Das Problem des Krüppels und Richtlinien für die Erziehung usw. 133

geistigen und körperlichen Kräfte zur höchstmöglichen wirtschaftlichen Selbständigkeit nur in einer Anstalt entwickelt werden können, welche über die eigens für diesen Zweck notwendige Vielheit ärzt- licher und pädagogischer Einwirkungen gleichzeitig verfügt.« Die ge- samte öffentliche Krüppelfürsorge Deutschlands befaßt sich nur mit den Krüppeln der armen Bevölkerung. Auch in der Reichs- statistik sind Krüppel wohlhabender Eltern nicht mitgezählt. Nach der Zählung von 1906 ergibt sich, daß im Deutschen Reiche 98263 Krüppel unter 15 Jahren vorhanden waren, von denen 56320 heim- bedürftig und 41943 nicht heimbedürftig waren. Es sind also in Deutschland unter je 10000 Menschen 15 Krüppelkinder, von denen mehr als 8 in ein Heim gehören; 12 von den 15 bedürfen ärztlicher Hilfe. Am schlechtesten ist nach Ausweis der Statistik das König- reich Sachsen daran. Im allgemeinen bringen Großstädte und In- dustriebezirke mehr Krüppel hervor als das flache Land mit Ackerbau treibender Bevölkerung. Diese Tatsache hat ihre guten oder vielmehr schlechten Gründe, über die nachher zu reden sein wird. Kein Lebensalter ist vom Krüppeltum verschont; schon unter den Säug- lingen gibt es bei jener Zählung 457 Krüppel. Dann steigt die Kurve steil an bis zum 12. Lebensjahre und fällt um die Hälfte bis zum 15. Lebensjahre. Die Scheidung nach den Geschlechtern ergibt für das weibliche Geschlecht einen etwas geringeren Teil als für das männliche Geschlecht (39303 : 35880, also rund 39,5 : 36), was da- durch erklärt werden kann, daß Knaben in größerer Zahl frühzeitig in schädigende Erwerbsverhältnisse kommen und auch bei ihrem leb- haften Bewegungstrieb leichter einer Gefahr ausgesetzt sind. Worauf erstreckt sich nun in den Krüppelheimen die Tätigkeit des Arztes? Die orthopädische Chirurgie ist die- jenige ärztliche Spezialwissenschaft, welche sich mit der Heilung von Krüppelgebrechen beschäftigt. Sie ist heute eine selbständige Disziplin, welche zum Teil eigene Heilmethoden ausgebildet hat, zum Teil sie aus den Fachgebieten (Chirurgie, Röntgenologie) übernimmt. Besser nennt man diese Spezialwissenschaft Orthopädie (Gerade- richtung kindlicher Verkrümmungen) allein, denn ebenso wichtig als die blutigen Methoden, welche sie mit der Chirurgie gemein hat, sind die mechanischen Heilmittel, über die sie allein verfügt. Die häufigsten Krüppelleiden, die in den orthopädischen Anstalten zur Behand- lung kommen, sind: Lähmung mit 16,4°/,, Tuberkulose mit 15°, Rückgratsverkrümmung mit 12,2 /,, Rhachitis mit 9,5 °/ọ» Diese vier Krankheiten machen mit 53,1°/, mehr als die Hälfte aller Krüppel- leiden aus. Über die Art der medizinischen Behandlung der

134 A. Abhandlungen.

einzelnen Krüppelleiden zu sprechen, ist Sache eines Arztes, nicht eines Pädagogen.!) Aber innerste Angelegenheit jedes Volksfreundes ist die Frage: Was ist die Ursache dieses verheerenden Gebrechens?

Nach Dr. Hoppe »Alkoholmißbrauch und Krüppeltum« (Zeit- schrift für Krüppelfürsorge Bd. 2) gingen von 57 Kindern aus 10 Trinkerfamilien, die Demme beobachtet hat, 12 Kinder in den ersten Lebenstagen an Lebensschwäche, 15 in den ersten Lebens- monaten an Krämpfen zugrunde; von den Überlebenden zeigten 5 Zwergwuchs, 5—8 angeborene Mißbildungen, 5 waren epileptisch, 7—12 waren Idioten, 1 blieb in der Entwicklung zurück, 1 hatte Veitstanz; normal waren nur 10—17 Kinder. Dagegen waren in 10 zum Vergleich herangezogenen mäßigen Familien mit 61 Kindern 50 Kinder normal. Hurlimann, Leiter eines Privatsanatoriums für Kinder in der Schweiz, konstatierte bei einer großen Anzahl von rhachitischen Kindern mit auffallendem Zwergwuchs und elender Kon- stitution Trunksucht des Vaters oder der Mutter. Nach Fest- stellungen französischer Ärzte ist die Häufigkeit der Rhachitis und Skrophulose in den Manufakturzentren der Nordd&partements auf den unter den Arbeitern herrschenden Alkoholmißbrauch zurückzu- führen. Fiebig?) weist nach, daß die Rhachitis erst am Ausgang des Mittelalters mit der zunehmenden Verbreitung des Alkoholismus zu einer Volkskrankheit geworden ist, während man sie früher kaum kannte. Sie kommt fast nur bei den alkoholisierten Völkern vor, am häufigsten in Deutschland, Rußland, England, den Niederlanden, Belgien, Frankreich und Oberitalien, während sie bei der weniger alkoholisierten Bevölkerung Unteritaliens, in den südlichen Land- schaften der iberischen Halbinsel, in der Türkei und in Griechenland viel seltener ist und in Norwegen in den letzten Jahrzehnten mit dem stark sinkenden Alkoholkonsum seltener geworden ist. Bei der nicht alkoholisierten Bevölkerung des Orients ist sie sehr selten, in Algier, Tunis und Marokko ist sie so gut wie unbekannt. In Ägypten kommt sie bei der einheimischen Bevölkerung nur in den höheren Ständen und bei den Mischlingen vor, die europäische Trink- sitten angenommen haben. Bei den unkultivierten, d. h. bei den von

1) Vergl. die vorzügliche Abhandlung: Hoffa, Die medizinisch-pädagogische Behandlung gelähmter Kinder. Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung. Heft 4. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

?) Rachitis als eine auf Alkoholisation und Produktion beruhende Entwicklungs-

anomalie der Bindesubstanzen. Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung. Heft 28. Ebenda.

Dickhoff: Das Problem des Krüppels und Richtlinien für die Erziehung usw. 135

den Trinksitten der Kulturländer unberührten Völkerschaften, sucht man sie vergebens; die Neger sind in ihrer ursprünglichen Heimat immun gegen die Rhachitis; sobald sie aber ihre Heimat verlassen und sich mit dem Alkohol befreunden, bleiben sie von ihr nicht ver- schont. In Mitteleuropa hat die Rhachitis in den letzten Jahrzehnten mit der Zunahme des Alkoholverbrauchs, insbesondere des Bierkonsums, erheblich zugenommen. Wenn die Anschauung Fiebigs richtig ist, und wir haben keinen Grund, sie zu bezweifeln daß die Rhachitis eine in der Keimanlage bedingte Entwicklungsanomalie der Bindesubstanzen, vorwiegend des Knochengewebes ist, die ihr Entstehen in erster Linie dem starken Alkoholgebrauch der Vor- fahren verdankt, so kann man ermessen, in welch hohem Maße der Alkoholismus durch die Hervorrufung der Rhachitis, die eine der häufigsten Ursachen des Krüppeltums ist, zur Entwicklung von Krüppeln beiträgt. Recht gut unterrichten über diesen Punkt: Mönke- möller, »Alkoholismus im Kindesalter,<!) und Richard Schauer, »Beobachtungen über die typischen Einwirkungen des Alkoholismus auf unsere Schüler«e.2) Das krasseste Bild des körperlichen und geistigen Niedergangs der Glieder einer Familie, die durch Trunksucht entartet in Schwachsinn, Entartung und Verbrechen versinken, ent- wirft Goddard in seiner berühmt gewordenen Abhandlung »Die Familie Kallikak«.3) Ich empfehle diese Schriften der Aufmerk- samkeit derer, die sich für psychologische Probleme und die Nacht- und Schattenseiten der menschlichen Natur besonders interessieren. Die Rhachitis, die englische Krankheit, ist heute zu einer Art Volkskrankheit geworden. Hauptsächlich bedingt unzweckmäßige Ernährung, Mangel an frischer Luft, Anhäufung vieler Menschen und ungenügend gelüftete Wohnungen, erschöpfende Arbeit, namentlich Fabrik- arbeit, der Eltern die Degeneration der Kinder. Biesalski stellt z. B. folgende tragische Prognose: »Heiratet ein gesunder Knecht vom Lande, der nach seiner Militärzeit in der Großstadt bleibt und Fabrikarbeiter wird, ein gleichfalls vom Lande stammendes Dienstmädchen, das während der Ehe durch Heimarbeit sich erschöpft, so sind ihre Kinder weniger gesund und widerstandsfähig als die Eltern, besonders dann, wenn sie in den ungesunden Verhältnissen der Arbeiterwohnungen in Fabrikstädten aufwachsen und womöglich niemals aus der Stadt heraus- kommen. Heiratet ein Sohn dieser beiden ein vielleicht schon in

1) Pädagogisches Magazin. Heft 443. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

2?) Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung. Heft 98. Ebenda.

3) Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung. Heft 116. Ebenda.

136 A. Abhandlungen.

dritter Generation degeneriertes Fabrikmädchen, und kommt womöglich nun noch erworbener oder vererbter Alkoholismus oder gar Syphilis hinzu, so ist die nächste Generation mit Sicherheit militäruntaug- lich und wahrscheinlich schon schwer rhachitisch, jedenfalls nur noch imstande, eine weitere Generation ganz Degenerierter in die Welt zu setzen. Dieses Beispiel zeigt, von welchen Seiten her eine so schwierige Frage, wie die Bekämpfung der englischen Krankheit und anderer Entartungserscheinungen, in Angriff genommen werden muß.« Wir wissen also nun, mit welchen entarteten Daseinsformen und fleisch- gewordenen Lebensrätseln der Orthopäde seine Zeit verbringt und welcher Art die körperliche Aufzucht ist, die er zu bewirken hat. Die Eugenetik geistiger Art an körperlich Entarteten bewirkt der Krüppelerzieher, der orthopädische Pädagoge auf Grund ein- gehendster Erfahrung in der Krüppelpsychologie. (Schluß folgt.)

3. Einführung in das sächsische Gesetz über Fürsorge- erziehung. Von Johannes Delitsch.

Sittliche und geistige Verwahrlosung gedeihen beide auf dem Boden verschuldeter wie unverschuldeter Armut. Die stärkste Quelle unverschuldeter Armut ist der Schwachsinn. So ist das Fürsorge- erziehungsgesetz auch bedeutungsvoll für die Heilpädagogik.

Im Einführungsgesetz zum BGB. für das deutsche Reich vom 18. August 1896 beginnt der Artikel 135: Unberührt bleiben die landesgesetzlichen Vorschriften über die Zwangserziehung Minder- jähriger. In diesen Worten lag eine Aufforderung an die deutschen Bundesstaaten, ihre landesgesetzlichen Bestimmungen über Zwangs- erziehung zu vervollkommnen. Das war der äußere Anlaß. Innerlich wurzelt unser sächsisches Fürsorgeerziehungsgesetz im Boden deutscher Jugendfürsorge, wie sie aus den Zeitnöten des 19. Jahrhunderts und früherer Vergangenheit hervorwuchs; erst in Verbindung mit der Armenpflege, dann gesondert; erst privat gepflegt, dann öffentlich geregelt.

Hatte schon die napoleonische Gewaltherrschaft im Jahre 1809 den Verein für Rat und Tat entstehen lassen, so brachte das Revolutions- jahr 1848 mit dem Wittenberger Kirchentage dem Königreiche Sachsen

die Gesellschaft für Armenfreunde, die ersten Jünglingsvereine und die Gründung kleiner Rettungsheime.

Delitsch: Einführung in das sächsische Gesetz über Fürsorgeerziehung. 137

Von letzteren wurden das »Zum Weinberg« bei Riesa, das »Ret- tungshaus Berthelsdorf« bei Herrnhut und das »Prinz Albert-Stift« bei Schwarzenberg vorbildlich.

In unmittelbarem Anschlusse an den Einungskrieg des nord- deutschen Bundes erwachte neben der Fürsorge für Taubstumme, Blinde und Geistigbeschränkte auch die planmäßige Bekämpfung der Volks- sünden und Kinderverwahrlosung. In dem Sinne wurde am 30. Sep- tember 1867 zu Dresden der damalige Hauptverein für innere Mission jetzt heißt er Landesverein gegründet. Seine reiche Tätigkeit für Volkserziehung sei durch Anführung seiner Spezialkonferenzen von

1869 für Jünglingsvereine,

1870 für Rettungshauswesen,

1872 für Gefängniswesen,

1876 für Anstaltsgeistliche,

1877 für Kindergottesdienste, und seiner nächstliegenden Anstaltserrichtungen

1872 Brüderanstalt zu Moritzburg,

1874 Bethlehemstift zu Augustusbad, flüchtig angedeutet und dahin ergänzt, daß sich der Landesverein für innere Mission zuerst der öffentlichen Unsittlichkeit, dann der Trunk- sucht und Arbeitsscheu entgegenwandte, auch Magdalenenheime, Trinkerheilstätten, evangelische Arbeitervereine, Herbergen und Ar- beiterkolonien teils selbst ins Leben rief, teils ihre Errichtung an- regte. Das besonders warme Interesse dieses kirchlichen Landes- vereins mochte nicht minder der pastoralen Schulaufsicht als der Seelsorge entspringen, also durch Klagen der Lehrer bei den ihnen vorgesetzten Geistlichen über sittliche Gefährdung von Schulkindern und über sittliche Entartung reiferer Jugend genährt worden sein. In Nacheiferung von Francke, Pestalozzi und Wichern !) stellten sich Geistliche und Lehrer vielfach in den Dienst privater Ersatzerziehung.

Übrigens bot schon die sächsische Armenordnung vom 22. Ok- tober 1840 in $ 33 die Möglichkeit, im Königreiche Sachsen gegen Kinderverwahrlosung armenrechtlich vorzugehen. Später gab auch das sächsische Schulgesetz von 1873 in $ 5 den Bezirksschulinspek- tionen das Recht, sittlich verwahrloste Schulkinder ihren Eltern zu nehmen und anderweit unterbringen zu lassen. Auch besaß unser engeres Vaterland schon seit 1822 das staatliche Landeswaisenhaus Bräuusdorf, das 1832 in eine Korrektionsanstalt für Kinder und 1850

1) Francke errichtete sein Waisenhaus 50 Jahre nach dem westfälischen Frieden, Wichern sein »Rauhes Haus« 20 Jahre nach der Völkerschlacht bei Leipzig.

Sr

138 A. Abhandlungen.

in eine Erziehungs- und Besserungsanstalt für Kinder und Jugend- liche umgewandelt wurde.

So verzögerte sich bei uns die landesgesetzliche Neuordnung der Fürsorgeerziehung als nicht besonders dringlich. Die Beratung der sächsischen Ständekammer von 1902 brachte es nicht zustande. Der I. Entwurf ging der II. Kammer erst am 2. November 1907 zu. Und das sächsische Fürsorgeerziehungsgesetz erlangte erst am 1. Ok- tober 1909 Kraft also 13 Jahre nach der Anregung durch das BGB. des Deutschen Reiches.

Alle bundesstaatlichen Fürsorgeerziehungsgesetze in Deutschland gründen sich auf $ 1666 des BGB. und auf die §§ 55 und 56 des StGB. Der $ 1666 Absatz 1 des BGB. lautet:

»Wird das geistige oder leibliche Wohl des Kindes dadurch ge- fährdet, daß der Vater das Recht der Sorge für die Person des Kindes mißbraucht, das Kind vernachlässigt oder sich eines ehrlosen oder unsittlichen Verhaltens schuldig macht, so hat das Vormundschafts- gericht die zur Abwendung erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Das Vormundschaftsgericht kann insbesondere anordnen, daß das Kind zum Zwecke der Erziehung in einer geeigneten Familie oder in einer Erziehungsanstalt oder Besserungsanstalt untergebracht wird.«

Hier wird dem Kinde Schutz vor Mißhandlung, Ausbeutung, Ver- nachlässigung und sittlicher Gefährdung. Die Schuld trifft die Eltern. Die gerichtliche Abwehr braucht nicht in Fürsorgeerziehung zu be- stehen. Handelt es sich nicht um sittliche Gefährdung, sondern um leibliche Schädigung oder Vernachlässigung, so kann das Vormund- schaftsgericht wie zuvor dem Vater die elterlichen Rechte entziehen und den Waisenrat veranlassen, das Kind auf Kosten der Armenkasse in geeignete Erziehung zu geben. Droht andernfalls sittliche Ge- fährdung, die durch keine andere Maßnahme vom Kinde abgewendet werden kann, so soll Fürsorgeerziehung vorbeugend verfügt werden.

Dagegen bieten die §§ 55 und 56 des StGB. die rechtliche Grundlage für rettende Fürsorgeerziehung. Sie weisen darauf hin, daß Missetäter im Alter unter 12 Jahren, bei mangelnder Strafeinsicht solche unter 18 Jahren straffrei ausgehen, und verlangen für diese Rechtsbrecher erzieherische Maßnahmen im öffentlichen Interesse.

So gibt es nach $ 1666 des BGB. schuldlose, nach den §§ 55 und 56 des StGB. aber auch schuldige Fürsorgezöglinge. Die Schuldlosen etwa 10° leiden freilich unter dem schlechten Rufe der Schuldigen. Man könnte sie unter der Bezeichnung »Be- wahrte Zöglinge« von schon verdorbener Jugend abheben.

Alle bundesstaatlichen Fürsorgeerziehungsgesetze regeln die Maß-

Delitsch: Einführung in das sächsische Gesetz über Fürsorgeerziehung. 139

nahmen der Anzeige, Beantragung, Verfügung, Vollziehung, Unter- brechung durch Urlaub und Beendung der Fürsorgeerziehung. Sach- gemäße Klarlegung und Erwägung dieser Maßnahmen führt uns Päda- gogen am besten in das Wesen und in die Bedeutung des sächsischen Fürsorgeerziehungsgesetzes ein.!)

Das Recht der Anzeige über Kindermißhandlung, Vernach- lässigung und sittliche Gefährdung, wie sittliche Entartung Unmün- diger steht jedermann zu, und jeder sollte sich angesichts dringender Fälle innerlich verpflichtet fühlen, an rechter Stelle Anzeige zu er- statten. Amtliche Verpflichtung dazu haben alle, die gefährdeter oder verdorbener Jugend beruflich näher treten, so die Beamten und Be- amtinnen von Kirche und Schule, von Polizei und Armenamt. Gerade die Unterbeamten der städtischen Verwaltungen, die nicht an die Amtsstube gebannt sind, sondern täglich Einblick in ungeordnetes Familienleben nebmen, sollten dieser Anzeigepflicht mit geschärftem sozialen Gewissen und sachlicher Schulung nachgehen. In dem Sinne haben Dresden und Leipzig in Moritzburg vorgebildete Stadtmissio- nare angestellt. Den meisten zuständigen Unterbeamten fehlt es an theoretischer Vorbildung. Diese kann durch bloß praktische Aus- bildung nur ausnahmsweise ganz ersetzt werden.

Das planmäßige Zusammenwirken von Armenamt, Jugendfürsorgeamt, Schulamt und Polizeiamt eines vielverzweigten städtischen Verwaltungs- systems muß versagen, wenn es sich z. B. nicht bloß um die gesetz- lich angeordneten Mitteilungen über Verfehlungen Schulpflichtiger an die Schuldirektionen handelt, sondern wenn sich weitere Mit- teilungen über moralische Verseuchung der Familien durch schul- entlassene und erwachsene Familienglieder zur Vorbeugung von Kinder- verwahrlosung nötig machen. Noch erscheint es fraglich, ob sich ein so weitgehendes Zusammenwirken im Interesse der Volkserziehung praktisch verwirklichen läßt. Sicher aber vermöchte jede städtische Verwaltung bei ihren Erörterungen über etwaige Fürsorgeerziehung eines Minderjährigen die üblen Erfahrungen der einzelnen Stadtämter über die anderen Glieder der anrüchigen Familie mit in Betracht zu ziehen. Auch könnten schon die Schulanzeigen auf Fürsorge- erziehung recht wohl in wirksamer Weise auf unhaltbare häusliche Verhältnisse hinweisen. Diese Anzeigen bleiben leicht schon bei mangelhafter Form wirkungslos.

Fassen wir beispielsweise die mißglückte Anzeige auf Fürsorge- erziehung gegen den Schulknaben X ins Auge. Sie wirkte schon

1) Vorliegender Vortrag wurde in einer Direktorenkonferenz gehalten.

140 A. Abhandlungen.

dadurch mißverständlich, daß sie sich an ein ganz unbedeutendes Vergehen anknüpfte. X hatte in einem Bache unerlaubterweise kleine Fische gefangen. Nun sollte die Schule dem Jugendgerichte in ge- wohnter Weise über das sonstige Verhalten des Knaben Auskunft geben. Und der Schuldirektor gab dem Klassenlehrer den Rat, er solle sich bei der Gelegenheit über das ganz freche Betragen des X, über seine für die Klasse verhängnisvolle Neigung zu dummen Streichen, über seine Unzuverlässigkeit und Lügenhaftigkeit aussprechen und die beispiellos unsittlichen häuslichen Verhältnisse aufdecken kurz der Behörde Antragstellung auf Fürsorgeerziehung nahelegen. Allein der Klassenlehrer schrieb iu seinem Bestreben, der Behörde nur das mitzuteilen, was er unbedingt verantworten könnte: Der Vater dürfte ein Trinker sein. Die Mutter ist tot. Die ältere Schwester, die dem Hausstande vorsteht, dürfte eine Dirne sein. Ein Bruder des Knaben ist Fürsorgezögling usw. Er meinte wohl, die Kriminalpolizei, der das Schriftstück zunächst übergeben wurde, werde diese Mutmaßungen vor Weitergabe der Angelegenheit bestätigen oder verneinen. Denn die Sittenpolizei kannte das Mädchen als Dirne außer Kontrolle; nur weil sie mit ganz gewöhnlichen Menschen verkehre, finde sich kein Anzeiger gegen sie. Und die Bezirkswache kannte auch den Vater als Trinker und wußte um die Verwahrlosung der Kinder X. Doch niemand zog diese beiden Polizeistellen zu Rate. Man nahm auch keinen Einblick in die Fürsorgeerziehungsakten des älteren Bruders. Man hob nur behördlich die Geringfügigkeit des vorliegenden Ver- gehens unerlaubten Fischfangs hervor und ging im Hinblicke darauf der Anregung nicht nach. Doch nicht das Fischen des Knaben, sondern die Tatsache, daß er mit seiner älteren Schwester, einem ihrer beiden Zuhälter und einem Herrn ins Freie ging, erschien mo- ralisch höchst bedenklich. Hätte sich die Anzeige ausdrücklich auf § 1666 des BGB bezogen, so wäre ohne weiteres; klar gewesen, daß die Schule hier vorbeugende, aber nicht rettende Fürsorgeerziehung angewendet haben wollte.

Solche Mißerfolge stellen immer wieder vor die Frage: Wie ist eine auf Fürsorgeerziehung gerichtete Anzeige wirksam zu gestalten? Denn die Beantwortung der bekannten vom Jugendgerichte an die Schule gestellten Erkundungsfragen verfolgen doch den Zweck der Vorbereitung des Strafverfahrens, aber nicht Veranlassung der Fürsorgeerziehung, und das der Kürze wegen beliebte Ja-und-nein- Spiel dieser Beantwortung macht noch einen kläglicheren Eindruck.

Jedenfalls darf einer Anregung auf Fürsorgeerziehung von unserer Seite die wohlbegründete Bezugsnahme auf den oder die betreffenden

Delitsch: Einführung in das sächsische Gesetz über Fürsorgeerziehung. 141

Gesetzesparagraphen nicht fehlen. Es muß klar hervorgehoben werden, ob es sich um vorbeugende oder rettende Fürsorgeerziehung handelt. Und es dürfen der Antragsbehörde bloß Fälle von zwingendem Cha- rakter unterbreitet werden.

Die vorzüglichste Anleitung für den Inhalt unserer Eingabe bietet jedenfalls das behördlich vorgeschriebene Formular, das die Antragsbehörden und nur diese zu benutzen haben, und das dem sächsischen Fürsorgeerziehungsgesetz, herausgegeben von Blase, wie dem von Käubler angefügt ist. Wir haben natürlich kein Recht, dieses Formular für unsre Anzeige einfach auszufüllen. Wir dürfen unsrer Eingabe überhaupt nicht die Form eines Antrages geben, sie ist vielmehr mit der Überschrift „Anzeige“ zu versehen.

Die Antragsbehörden nehmen im Fürsorgeerziehungsverfahren eine ähnliche Stellung ein wie die Staatsanwaltschaft im Strafverfahren. Doch ist der Antrag auf Fürsorgeerziehung weit mehr in das Er- messen der Antragsbehörden gestellt als der Strafantrag in das des Staatsanwaltes. Handelt es sich bei einem Strafantrage um Annahme einer Tat, so beim Antrage auf Fürsorgeerziehung um den Grad, den elterliche Kindermißhandlung, Vernachlässigung, Gefährdung oder den kindliche Verderbnis erreicht haben. Und die letzte Entscheidung über die Beantragung bringt die Frage: Gibt es wirklich keine andere erziehliche Maßnahme, um dem Übel zu steuern, als einzig und allein die Fürsorgeerziehung? Mag die Antwort noch so gewissenhaft bedacht werden, sie kann keine unbedingte Gewißheit bringen, sie bleibt Mutmaßung, denn wer könnte mit unbedingter Sicherheit in die Zukunft sehen, wer könnte aus gegenwärtigen Bedingungen eines jungen Menschenlebens, die niemand bis auf den Grund durchschaut, noch auf Stärke und Beständigkeit ihrer Wirkung ermißt, sichere Folgerungen ziehen? Wer könnte dabei alle Nebenwirkungen be- rechnen?

Wir Schulmänner haben großes Interesse daran, zu erfahren, welche Antragsbehörden uns und anderen für Anzeigen auf Fürsorge- erziehung offenstehen, und in welcher Weise den Anzeigen von den einzelnen Antragsbehörden nachgegangen wird.

Wir lesen in $ 3 Absatz 2 des Fürsorgeerziehungsgesetzes: Das Vormundschaftsgericht verfügt von Amtswegen oder auf Antrag. In der Tat ist jedermann berechtigt, das Vormundschaftsgericht im Interesse der rechten Erziehung eines Minderjährigen auf dessen Mißhandlung, Vernachlässigung oder sittliche Gefärdung aufmerksam zu machen. Verpflichtet hierzu ist jeder Vormund und jeder Pfleger für die Person eines Unmündigen, soweit sein Mündel in Frage kommt.

142 A. Abhandlungen.

Wir lesen in Absatz 3 desselben Paragraphen: Zur Stellung des Antrages ist die untere Verwaltungsbehörde des Ortes, an welchem

der Minderjährige seinen gewöhnlichen Wohnsitz hat, und bei einem schulpflichtigen Minderjährigen auch die Bezirksschulinspektion zu- ständig. Untere Verwaltungsbehörde im Sinne dieser Vorschrift ist die Amtshauptmannschaft, für Städte mit revidierter Städteordnung der Stadtrat. Das Gesetz erhebt zunächst in unzweideutiger Weise diese untere Verwaltungsbehörde zur Antragsbehörde für Fürsorge- erziehung schlechthin, also für Unmündige jeden Alters. Das Gesetz fügt aber weniger klar hinzu: Bei einem schulpflichtigen Minderjährigen ist auch die Bezirksschulinspektion zuständig. Man kann aus dem Satze sicher nicht folgern: Für alle Schulpflichtigen ist ausschließlich die Bezirksschulinspektion zuständig. Anderseits ist aber auch nirgends angedeutet, in welchen Fällen, die das Schulalter umschließt, der Stadtrat als Antragsbehörde hinter die Bezirksschulinspektion zurück- treten solle. Solange Zusatzbestimmungen darüber nicht bestehen, läßt das Fürsorgeerziehungsgesetz Freiheit für örtliche Vereinbarungen.

In Plauen steht der Anzeige auf Fürsorgeerziehung neben dem Vormundschaftsgericht, der unteren Verwaltungsbehörde (Fürsorgeamt) und der Bezirksschulinspektion noch eine vierte Stelle offen. In allen Gutachten über jugendliche Rechtsbrecher, mögen die Mitteilungen nun von der Schule, von dem Jugendfürsorgeverein oder anderen verfaßt sein, kann ebenfalls Anwendung von Fürsorgeerziehung em- pfohlen werden; denn der Jugendrichter hat über alle angeschuldigten Minderjährigen, über die er zu Gericht sitzt, obervormundschaftliche Gewalt. Die Herren Amtsrichter Schmidt und Dr. Koch in Plauen haben solche Vorschläge von freiwilligen Jugendgerichtserkundern gewünscht. Anderwärts wird man die gleiche Gepflogenheit antreffen.

Wie verschieden ist doch die Behandlung der Anzeige auf Für- sorgeerziehung an den vier Stellen, ehe sie zum Antrag erhoben wird!

Im Jugendgerichte bilden die beiden juristischen Voruntersuchungen von Staatsanwalt und Strafrichter und die Gerichtsverhandlung selbst für die nachfolgende Entscheidung auf Fürsorgeerziehung eine vor- zügliche Grundlage, auf der das Bild des Unmündigen ganz besonders klar hervortritt.

Verhandelt das Vormundschaftsgericht an sich über Fürsorge- erziehung, so kann nur insofern von einem Antrage die Rede sein, als ein juristischer Vorbereiter die Fürsorgeerziehung vorschlägt und der Gerichtsvorstand dieselbe dann verfügt. Bei der Vorbereitung handelt es sich um ein protekollarisches Vernehmen der Eltern und anderer gesetzlicher Vertreter des Minderjährigen, um weiteres in

Delitsch: Einführung in das sächsische Gesetz über Fürsorgeerziehung. 143

das Ermessen des Vormundschaftsrichters gestelltes Vernehmen von Verwandten und Verschwägerten des Minderjährigen, um Zurateziehung des zuständigen Arztes, Geistlichen und Lehrers, um Hörung der be- treffenden Ortsbehörde.: Blase schreibt: Die Anhörung des Minder- jährigen selbst ist im Gesetz nicht vorgeschrieben. Sie wird sich aber in der Regel, um einen persönlichen Eindruck zu gewinnen, empfehlen. Er kann zwangsweise vorgeführt werden. Die Vor- bereitung der Verfügung liegt ganz in der Hand eines Juristen. Neben diesem Vorzug besteht der Mangel: Niemand geht ins Eltern- haus des Minderjährigen, um sich an Ort und Stelle nach den er- ziehlichen Verhältnissen u. a. m. persönlich umzusehen.

Das geschieht nur, wenn die örtliche Unterverwaltungsbehörde, wenn z. B. das Plauener Fürsorgeamt, sich mit der Erwägung eines Antrages auf Fürsorgeerziehung befaßt. Freilich wird mit diesen dem Minderjährigen nachgehenden Erkundungen ein nicht vorgebildeter Unterbeamter betraut, ein einfacher Mann von gutem Willen, der sich auszudrücken weiß und als Armenpfleger Eıfahrungen gesammelt hat, der den einfachen Kreisen, um die es sich hier im wesentlichen handelt, gesellschaftlich nahe steht, der viele solche Leute kennt und mit ihnen umzugehen versteht. Dieses erfahrungsmäßige Verständnis verbindet sich aber leicht mit zu geringer Feiofühligkeit, mit zu ge- ringen Anforderungen an elterliche Verpflichtungen, mit zu opti- mistischer Beurteilung unduldbarer Mißstände der Erziehung, was zwar zur Ersparung von Fürsorgeerziehungskosten wesentlich beiträgt, aber rechtzeitiges Zugreifen versäumt, bis Einzelfälle jugendlicher Verwahrlosung sich zur Aussichtlosigkeit auf Besserung gesteigert haben. Gewiß entscheidet über die Antragstellung im Fürsorgeamte nicht dieser untergeordnete Fürsorgebeamte, sondern der juristische Dezernent selbst, aber er tut es auf Grond der Niederschrift und mündlichen Auskunft des Unterbeamten. Er schickt ihn auch in die Schule, in die Arbeitsstätte; hier besteht doch offenbar die Gefahr, daß dem gelegentlich fragenden Unterbeamten ungenügende Ant- worten zuteil werden, weil er in ungenügender Weise fragt, oder weil der Gefragte mitten in seiner Berufsarbeit weder Zeit noch Sammlung für wohlerwogenes Antworten hat. Wohin das führen kann, mag ein Fall veranschaulichen, der selbstverständlich unter die Ausnahmen gehört und sich nicht gegen irgendwelche Person, sondern gegen das Prinzip des Verfahrens wendet. Der Unterbeamte fragt, ob der Schüler sich erneut Unehrlichkeiten zuschulden kommen ließ. Der Direktor, der zugleich Klassenlehrer des Knaben ist, ver- neint das. Und der Erkunder schreibt nun in seinen Bericht: Die

144 A. Abhandlungen.

Schule ist jetzt außerordentlich zufrieden mit dem Knaben. Tat- sächlich hat aber der Junge wieder den Unterricht unentschuldigt versäumt, Hausaufgaben nicht gelöst und sich mit Lügen entschuldigt. Er hat nur unter dem Drucke der verschärften Schulaufsicht von seiten der Lehrer und Mitschüler noch keine neue Unehrlichkeit ge- wagt, ohne sich wirklich gebessert zu haben. Es wird auch trotz des zu Gunsten des Schülers sprechenden Berichtes des Unterbeamten vom Vormundschaftsgerichte Fürsorgeerziehung verfügt. Doch der Vater legt dagegen sofortige Beschwerde ein, und das Landgericht hebt die Verfügung auf: Wohl erkennt es im Hinblicke auf die ge- häuften Vergehen des Knaben den hohen Grad seiner sittlichen Ver- wahrlosung an. Aber es sei doch dem Vater, besonders im Hinblicke auf die neuerliche außerordentlich gute Führung des Knaben in der Schule, nicht zu widerlegen, daß sich der Knabe auch ohne Fürsorge- erziehung im Elternhause bessern lasse. Ob das Vormundschafts- oder das Landgericht Recht behalten wird, kann erst die Zukunft entscheiden. Eins aber erregt unser Bedenken: Die ausschlaggebende Bedeutung, welche das Landgerieht dem Berichte des städtischen Unterbeamten beigemessen hat. Wenn sich die Fälle auch sehr selten in ähnlicher Schärfe des Widersinns abspielen, die Erkundungen des Unterbeamten bringen dem Dezernenten doch neben wertvollem, auch fragliches Material für sein Entscheiden, ob er Antrag auf Fürsorge- erziehung stellen solle oder nicht. Aus dieser ausschlaggebenden Be- deutung des Berichtes des städtischen Unterbeamten allein erklärt sich die nicht ganz unberechtigte Meinung der Schule, das Fürsorge- amt würdige die Angaben der Schule nicht genug. Zweifellos lassen sich die Mißstände durch Einstellung von erzieherisch vor- gebildeten Unterbeamten und durch schriftliche oder durch persön- liche Vernehmungen der Schulvertreter im Fürsorgeamte selbst ohne Schwierigkeit heben. Fehlt es dem Dezernenten an Zeit, so müssen diese äußerst wichtigen Arbeiten doch in die Hände eines juristischen Mitarbeiters gelegt werden. Das Fürsorgeamt ist noch jung, man kann von ihm gerechterweise keine vollendete Ausgestaltung verlangen, die nur Frucht langjähriger und reicher Erfahrung sein kann. Ich deutete schon an, daß dieses neue städtische Amt zur Bearbeitung seiner Fürsorgeerziehungsfälle sich die anderen städtischen Amts- stellen in erhöhtem Maße zunutze machen könne. Auf seine Wirk- samkeit als Vollzugsbehörde komme ich noch zurück. Ich habe aber schon hier zu betonen, daß jene Wirksamkeit doch ganz wesentlich erleichtert und vorbereitet wird, wenn man dem Fürsorgeamte die Anträge auf Fürsorgeerziehung im großen und ganzen überläßt. Es

Schmidt: Die Unterbringung u. unterrichtliche Versorgung d. Fürsorgezögl. 145

lernt auch von den Fällen, für die es den Antrag auf Fürsorgeerziehung vorläufig vertagt, aber vormerkt. Es wird fragliche Fälle noch schärfer als bisher im Auge behalten und hat in seiner Anlehnung an das Armenamt beide Ämter stehen unter einem Dezernenten wirk- lich reiche Erfahrungen über die Gesellschaftsklasse, aus der die meisten Fürsorgezöglinge hervorgehen. Denn Armut ist die wichtigste und häufigste Ursache kindlicher Verwahrlosung.

Dieser ursächliche Zusammenhang zwischen Armenelend und Ent- sittlichung ist dem Schulamte und der Bezirksschulinspektion sicher fremder als dem Fürsorgeamte. Dazu fehlt es dem Bezirksschul- inspektor, auf dessen Schultern die Hauptarbeit lasten würde, wenn die Bezirksschulinspektion über alle Anträge auf Fürsorgeerziehung Schulpflichtiger in ihrem Bezirke entscheiden wollte, an Zeit und ge- eigneten Hilfskräften, um nicht bloß die Schulerkundungen, sondern auch die übrigen Auskünfte einzuholen und nachzuprüfen. Der Be- zirksschulinspektor müßte sich doch der städtischen Amtsstellen und ihrer Beamten bedienen und sich auf sie verlassen.

Noch ein anderes Bedenken steigt auf: Der Schulinspektor würde als Vorsitzender der Bezirksschulinspektion nur für schulpflichtige Minderjährige zuständig sein, nicht für die übrigen Kinder derselben Familien, deren Unterbringung in Fürsorgeerziehung vielleicht ebenso nötig wäre. Solche Fälle sprechen warm für Hand-in-Hand-Gehen von Bezirksschulinspektion und Fürsorgeamt.

Anderseits kann es die Volksschule der Bezirksschulinspektion nicht genug danken, wenn sie für erhöhte Bewertung der Schulgutachten von Seiten des Fürsorgeamtes in Sachen der Fürsorgeerziehung ein- tritt, und wenn sie daran erinnert, daß in Erziehungsfragen der Pädagoge selbst dem Juristen als Sachverständiger vorzuziehen ist. Es wäre ge- wiß zu erwägen, ob nicht in den städtischen Fürsorgeämtern dem juristischen Dezernenten ein pädagogisch gebildeter Mitarbeiter als be- zahlte Kraft an die Seite gestellt werden sollte. Es ist das meines Wissens in Magdeburg mit gutem Erfolge geschehen. (Schluß folgt.)

4. Die Unterbringung und unterrichtliche Versorgung der Fürsorgezöglinge. Von A. Schmidt, Rektor in Langensalza.

‚Seit Beginn des Weltkrieges wollen die Klagen über zunehmende Verrohung und Verwilderung der Jugend nicht verstummen. Wenn man meines Erachtens in dieser Beziehung auch vielfach zu scharf

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urteilt, so kann man doch nicht leugnen, daß in der Jetztzeit die Jugendlichen, welche infolge natürlicher Veranlagung oder fehler- hafter Erziehung zum Bösen neigen, sich häufiger unliebsam in der Öffentlichkeit bemerkbar machen als in Friedenszeiten. Die Ursachen dieser Erscheinung liegen nach meinen Beobachtungen in der durch die Kriegsschilderungen angeregten Abenteuerlust der Jugendlichen, in der vielfach fehlenden Zucht infolge der zum Heeresdienste eingezogenen Väter und anderer Erzieher (Lehrer!) und in der infolge der Abwesen- heit vieler Aufsichtspersonen erleichterten Gelegenheit, gesetzliche Bestimmungen zu übertreten. Eine Folge dieser Tatsachen ist das Anschwellen der Zahl jener unmündigen Personen, welche der Fürsorge- erziehung überwiesen werden müssen. Die sogenannten Rettungs- häuser sind meist vollbesetzt; wurde mir doch im Anfange vorigen Jahres auf eine Eingabe, in der ich um anderweitige Unterbringung solcher Rettungshauszöglinge bat, welche für den Volksschulunterricht ungeeignet waren, der Bescheid, daß dies erst nach Ostern erfolgen könne, weil in den betreffenden Anstalten kein Raum vorhanden sei.

Die Beobachtungen und Erfahrungen, welche ich als Leiter einer siebenstufigen Volksschule gemacht habe, in die seit fünf Jahren die Knaben eines Rettungshauses eingeschult sind, veranlaßten mich zu prüfen, ob die Unterbringung und unterrichtliche Versorgung dieser Kinder unseres Volkes so erfolgt, daß sie selbst und die Volks- gemeinschaft davon Vorteil haben.

Unterbringung und Beschulung der Fürsorgezöglinge haben in Preußen im Fürsorgeerziehungsgesetz vom 2. Juli 1900 und in den dazu erlassenen Ausführungsbestimmungen vom 18. Dezember 1900 ihre gesetzliche Grundlage. Im $ 2 des Gesetzes wird bestimmt, daß die Fürsorgeerziehung entweder »in einer geeigneten Familie oder in einer Erziehungs- oder Besserungsanstalt« erfolgen kann. Die Ausführungsbestimmungen fordern dazu: »Solange die Zwecke der Fürsorgeerziehung durch Unterbringung in einer Familie nur irgend erreicht werden können, ist dieser der Vorzug zu geben. Sie wird von vornherein zur Anwendung zu bringen sein, wenn der Zögling das schulpflichtige Alter noch nicht überschritten hat und ein erhebliches sittliches Verderbnis nicht vorliegt, oder nach vorauf- gegangener Anstaltserziehung, wenn der Zögling durch sie an Zucht und Ordnung gewöhnt, körperlich, geistig und sittlich gekräftigt ist. ... Die Unterbringung in Anstalten erscheint vorzugsweise angebracht für Minderjährige, die zu geschlechtlichen Ausschweifungen, zum Landstreichen und zu Verbrechen neigen oder in anderer Weise sittlich verwahrlost sind, sowie solche, deren körperlicher Zustand

Schmidt: Die Unterbringung u. unterrichtliche Versorgung d. Fürsorgezögl. 147

eine besondere Pflege unter ärztlicher Aufsicht fordert. Die Zöglinge sollen aber in der Anstalt nur solange bleiben, als unbedingt not- wendig ist, um sie an Zucht und Ordnung zu gewöhnen, leiblich und geistig zu kräftigen. Sobald dieser körperliche und sittliche Reinigungs- prozeß beendet ist, sind sie in Familien, wenn möglich unter Auf- sicht des Anstaltsvorstehers, der ihren Charakter kennt, unterzubringen, die Schulpflichtigen in Pflege, die Schulentlassenen im Gesindedienst oder als Lehrlinge.«e Bezüglich der unterrichtlichen Versorgung wird im $ 19 des Gesetzes festgestellt: »Wenn schulpflichtige Zöglinge der öffentlichen Volksschule ohne sittliche Gefährdung der übrigen die Schule besuchenden Kinder nicht zugewiesen werden können, so hat der Kommunalverband dafür zu sorgen, daß diesen Zöglingen während des schulpflichtigen Alters der erforderliche Schulunterricht anderweitig zuteil wird. Im Streitfalle entscheidet der Oberpräsident.«

Man sollte nun meinen, daß auf Grund der angezogenen gesetz- lichen Bestimmungen die in der Überschrift angeschnittene Frage in befriedigender Weise geregelt sei. Leider ist das aber meiner Über- zeugung nach nicht der Fall; denn sonst könnten einerseits gut be- gabte und sittlich wenig belastete Knaben nicht längere Zeit den Gefahren einer Anstaltserziehung ausgesetzt und andererseits schwach- befähigte Kinder, welche bisher eine sogenannte Hilfsschule besuchten, nicht Anstalten überwiesen werden, die für solche Schüler keine ge- eignete Unterrichtsgelegenheit bieten. Auch würde man dann nicht in hiesiger Stadt Ostern 1912 trotz des Widerspruches der Schul- leitung sämtliche Zöglinge des Rettungshauses der öffentlichen Volks- schule zur unterrichtlichen Versorgung überwiesen haben, zumal wohl niemand im Ernste wird bebaupten wollen, daß die damals ein- geschulten 21 Zöglinge samt und sonders gebessert und keine sittliche Gefahr für die übrigen Schüler waren. Der Grund der Umschulung lag in den mangelhaften Leistungen der einklassigen Rettungshaus- schule, die nach meinen bei einer eingehenden Prüfung der Anstalt gemachten Beobachtungen ibre Ursachen in der Einrichtung der Schule, in ihrem Lehrplan und in ihrem Unterrichtsbetriebe hatten.

Nach meinem Dafürhalten können die gekennzeichneten Übel- stände bei der Unterbringung der Fürsorgezöglinge, bei deren unter- richtlicher Versorgung und späteren Entlassung aus der Anstalts- erziehung trotz bester Absicht der in Frage kommenden Behörden vorkommen, weil die gesetzlichen Bestimmungen eine Lücke aufweisen. Diese besteht meines Erachtens darin, daß man sich 1. bei der Aus- wahl der Erziehungs- und Unterrichtsstätte nicht in ausreichender

Weise auf das Urteil erziehungskundiger Männer des bisherigen 10*

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Lehrers, Rektors, Geistlichen stützen kann und 2. bei der Ein- richtung, der Zielsetzung und dem Unterrichtsbetrieb der Anstalts- schulen von dem Bestreben leiten läßt, sie in möglichste Überein- stimmung mit den öffentlichen Volksschulen zu bringen.

Sollen die Unzuträglichkeiten, welche sich bei der jetzigen Ge- staltung der Ausführung der Fürsorgeerziehung ergeben, beseitigt werden, so müssen der bisherige Lehrer, Rektor und Geistliche in ihrem einzureichenden Gutachten über die Notwendigkeit der Fürsorge- erziehung zugleich angeben und begründen, welche Art der Unter- bringung sie für angebracht halten. Auf Grund dieser Gutachten und durch eingehende Prüfung der festgestellten Tatsachen und des Kindes hat nach erfolgter Überweisung desselben in Fürsorge ein erfahrener pädagogischer Beirat folgende Fragen zu entscheiden:

1. Ist Familien- oder Anstaltserziehung am Platze?

2. Ist der Besuch öffentlicher oder Sonderschulen zu fordern?

Endlich müßten dann noch in sämtlichen Rettungshausschulen Einrichtung, Lehrplan und Unterrichtsbetrieb dem besonderen Zwecke der Anstalt ganz und gar dienstbar gemacht werden.

Bei der Entscheidung der Frage, ob Familien- oder Anstalts- erziehung am Platze ist, hat der pädagogische Beirat eingehend die Ursachen und den Grad der Verwahrlosung des Jugendlichen zu prüfen und zur Grundlage seines Urteils zu machen. Mit diesen Punkten will ich mich im folgenden deshalb zunächst beschäftigen.

Die Ursachen der Verwahrlosung können im Elternhause oder im Kinde selbst liegen. Im ersteren Falle sind die häuslichen Ver- hältnisse von solcher Beschaffenheit, daß sie auf die Nachkommen- schaft in körperlicher und sittlicher Hinsicht schädlich einwirken müssen, weil Vater und Mutter entweder nicht fähig oder nicht würdig sind, Kinder zu erziehen.

Die Fähigkeit zur Kindererziehung muß den Eltern abgesprochen werden, die entweder in leichtfertiger Weise sich um die körperliche, geistige und sittliche Entwicklung ihrer Sprößlinge nicht ausreichend kümmern, weil sie Söhne und Töchter nicht als eine Gabe Gottes, sondern nur als eine hinderliche Last betrachten, oder die zu nach- sichtig und schwach sind, dem schädlichen Eigensinn und den bösen Trieben ihrer Kinder rechtzeitig durch erfolgreiche, scharfe Zucht entgegen zu treten.

Im ersteren Falle handelt es sich meist um Eltern, welche jedes Pflichtbewußtseins bar sind, und die den Zweck ihres Daseins nur im »Sichausleben«, in der Befriedigung ihrer sinnlichen Gelüste sehen. Solche Personen finden sich seltener auf dem flachen Lande, häufiger

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im »steinernen Meer« der Großstadt. Der Vater gehört fast regel- mäßig zu den ungelernten Arbeitern, und die Mutter ist nach ihrer Schulentlassung meist in einer Fabrik tätig gewesen. Beide haben sich häufig schon frühzeitig geschlechtlichen Ausschweifungen hin- gegeben und sind schließlich nach der Ankunft eines unehelichen Kindes Mann und Frau geworden. Da aber beiden der sittliche Ernst christlich-deutscher Lebensauffassung fehlt, betrachten sie die Ehe nur als Mittel, ihre sinnlichen Gelüste zu befriedigen. Da in der Regel die Frau von der Hauswirtschaft und der Kochkunst nur wenig versteht, sich auch nicht die erforderliche Mühe gibt, beides zu er- lernen, und der Mann seine Junggesellengewohnheiten insbesondere das Kneipenlaufen nicht aufgibt, so fehlt es im neuen Familien- kreise bald am erforderlichen Wohlbehagen und auch am Notwendigsten zum Lebensunterhalte. Mit Sicherheit kehrt dann Unfriede ins Haus ein. Oft kommt es soweit, daß der Mann ein Trunkenbold wird, der sich an Frau und Kindern tätlich vergreift, sich mitunter um seine Familie gar nicht mehr kümmert oder sie wohl gar gänzlich verläßt. Man muß den Schmutz in solchen Wohnungen, die Un- sauberkeit und Unterernährung der Kinder und ihr vielfach scheues und gedrücktes Wesen kennen gelernt haben, wenn man ermessen will, welche Wohltat solchen Unmündigen mit der Unterbringung in die Fürsorgeerziehung erwiesen wird.

Seltener sind die Fälle, in denen die Eltern infolge ihrer Nach- sicht und Schwäche gegenüber dem Figensinn und der bösen Triebe der Kinder die Ursache sind, daß Fürsorgeerziehung für diese an- geordnet werden muß. In solchen Familien haben Knaben und Mädchen von frühester Jugend an stets nach ihrem eigenen Willen ge- lebt. Sie haben nicht gelernt, den elterlichen Befehlen sofort und ohne Widerspruch Gehorsam zu leisten, weil die Affenliebe beider Eltern die Anwendung strenger Zuchtmittel verschmähte. Der schäd- liche Eigensinn der Kleinen wurde nicht gebrochen, die unsittlichen Triebe nicht rechtzeitig gezähmt. Stets konnten die Kinder auf den Schutz des Elternhauses rechnen, sobald die Schule strafend gegen die Bosheiten der kleinen Taugenichtse einschritt, oder wenn sich Erwachsene über deren Streiche beschwerten. Kein Wunder ist es dann, wenn der Junge seiner Mutter über den Kopf wächst und sich um ihre Anordnungen nicht im geringsten mehr kümmert. Das trifft in der Jetztzeit besonders in solchen Fällen häufig zu, in denen die geringe Achtung vor der väterlichen Gewalt durch Einberufung des Familienhauptes zum Heeresdienste in Wegfall gekommen ist. Diese Beobachtung muß man als Jugenderzieher leider seit Kriegsausbruch

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ziemlich häufig machen. Wie weit in solchen Familien oft der Unverstand der Mutter geht, möge ein Beispiel aus meiner Erfahrung beleuchten: Eine Kriegersfrau kam zu mir und beklagte sich über die Unbotmäßigkeit ihrer Söhne, die 10 und 13 Jahre alt waren. In Gegenwart der Mutter ermahnte ich die Knaben unter Hinweis auf das 4. Gebot zum Gehorsam und bedrohte sie mit Strafe, falls sie ihrer Mutter wieder Grund zur Klage geben würden, hatte doch so- gar der ältere Knabe seiner Mutter daheim erklärt: »Du hast hier gar nichts zu sagen!« Einige Tage später erschien der Großvater und führte im Namen seiner Tochter erneut Klage über die Jungen; das- selbe geschah wenige Tage darauf abermals durch eine Nachbarin, welche die Not der schwächlichen Mutter nicht mehr ansehen konnte. Ich setzte beide Knaben zur Rede; da sie aber hartnäckig leugneten, ging ich mit ihnen zu ihrer Mutter, und dort wurden sie von dieser verschiedener Übeltaten und Flegeleien überführt. Beide Jungen er- hielten daraufhin in der Schule von mir eine gehörige Tracht Prügel. Und das Ende vom Liede? Die Mutter erhob einen fürchterlichen Spektakel über das Eingreifen des Rektors. Sie erklärte, ihre Kinder könne sie selbst erziehen, dazu bedürfe sie des Rektors nicht. Bei einer solchen verkehrten häuslichen Erziehung kann selbstverständlich aus den Kindern nichts Gutes werden. Sie gehen, ohne die Mahnungen der Schule, der Kirche zu beachten, ihren eigenen Gelüsten nach und geraten oft auf die Bahn des Lasters. Bald machen sie dann mit dem Strafrichter Bekanntschaft, und das Vormundschaftsgericht sieht sich veranlaßt, die Fürsorgeerziehung zu beschließen, um sie vor der Verbrecherlaufbahn zu bewahren.

Neben der in vorstehenden Abschnitten gekennzeichneten Unfähig- keit der Eltern, Kinder zu erziehen, gibt es leider auch Fälle, die zeigen, daß Vater und Mutter nicht würdig sind, das Erzieheramt auszuüben, weil sie ihre Knaben und Mädchen zum Bösen anleiten. In solchen Häusern wird es meist mit dem »Mein« und »Dein« nicht genau genommen, und auch die Kinder werden zum Stehlen er- muntert oder gar angehalten. So hatte ich z. B. unter meinen letzt- jährigen Konfirmanden einen Knaben, der kurz vor seiner Schul- entlassung in eine Diebstahlsangelegenheit verwickelt wurde. Bei ihrer Untersuchung stellte sich heraus, daß er bereits seit längerer Zeit zu der Zunft der Langfinger gehörte. Da der Junge sonst zu Klagen keinen Anlaß gab, er meines Erachtens auch sittlich nicht verdorben war u.a. zeichnete er sich durch Wahrheitsliebe aus so forschte ich nach dem Grunde seiner Diebereien, und es ergab sich, daß seine Mutter ihn zu seinem gesetzwidrigen Tun angehalten

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hatte. Festgestellt wurde z. B., daß sie zu dem Knaben, als er ihr einst gestoblenes Gut von geringerem Werte brachte, gesagt hatte: »Otto, du bringst zwar immer etwas mit, aber etwas Richtiges bringst du nicht.e Bald darauf erfolgte dann durch den Jungen im Verein mit anderen Bürschchen ein größerer Diebstahl, der zur Entdeckung des Diebsgesindels führte. Häufig ist es auch der Fall, daß die meiner Schule zugeführten Rettungshauszöglinge von ihren Eltern zum Betteln angehalten, beim Schwänzen der Schule unterstützt oder zum schwer ausrottbaren Grundübel »Lüge« angeleitet worden sind. Wenn Kinder in ihren Eltern derartige Vorbilder und Erzieher besitzen, ist es kein Wunder, wenn sie auf die Bahn des Verbrechens geraten; denn: »Wie die Alten sungen, so zwitschern die Jungen«, sagt der Volks- mund im Sprichwort mit Recht.

Aber nicht nur in den Eltern, sondern auch in den Kindern kann die Ursache liegen, daß ihre weitere Erziehung dem Eltern- hause nicht mehr überlassen werden kann. Diese Fälle sind aller- dings sehr selten. Es handelt sich da um solche Jugendliche, bei denen alles Mühen des Elternhauses, der Schule und der Kirche, sie vor sittlichem Verderben zu bewahren, vergeblich sind. Die bösartige oder leichtfertige Natur solcher Kinder spottet den gewöhnlichen Maßnahmen genannter Erziehungsstätten, so daß außerordentliche Mittel in Anwendung gebracht werden müssen, damit sich diese jungen Leute nicht zu einer Gefahr für ihre Mitmenschen entwickeln. Allerdings wird man auch in der überwiegenden Anzahl der hier in Betracht kommenden Fälle ein Verschulden des Elternhauses insofern feststellen können, als es den Kindern in der frühesten Jugend zu viel Willen gelassen, ihren Eigensinn nicht rechtzeitig gebrochen und die bösen Neigungen nicht entschieden bekämpft hat. Immerhin gibt es unter dieser Gruppe von Fürsorgezöglingen eine Anzahl, deren Eltern durchaus schuldlos an der Verwahrlosung ihrer Kinder sind. Es liegt da meist erbliche Belastung vor und zwar derart, daß unter den Vorfahren von väterlicher oder mütterlicher Seite ein ungeratenes Reis am Baume der Familie zu finden ist, dessen Fehler im Ab- kömmling wieder zum Vorschein gelangen.

Die gekennzeichneten Ursachen, welche die Anordnung der Für- sorgeerziehung notwendig machen, können nun einen verschiedenen Grad der Verwahrlosung hervorgerufen haben, von vorliegender Gefahr bis zur erfolgten Verwahrlosung. Die Gefahr der Verwahr- losung ist vorhanden, wenn das Elternhaus in der oben geschilderten Weise seine Erziehungspflicht vernachlässigt oder mißbraucht und alle Zuchtmittel der Schule und der Kirche voraussichtlich nicht im-

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stande sind, eine heilsame und erfolgreiche Gegenwirkung auszuüben. Als verwahrlost muß ein Kind bezeichnet werden, das aus eigenem Antriebe bereits schwerere Übertretungen gesetzlicher Bestimmungen begangen hat, ohne Reue und Besserung zu zeigen, oder dessen un- sittlichen Eigenarten bereits so festgewurzelt sind, daß sie ohne be- sonders scharfe Maßnahmen nicht zu beseitigen sind. Nach vor- stehenden Ausführungen kann man die Fürsorgezöglinge in zwei große Gruppen einteilen; die eine wird von denen gebildet, die zwar selbst noch nicht verwahrlost sind, welche aber infolge der häuslichen Verhältnisse oder besonderer Anlagen der Verwahrlosung anheim zu fallen drohen, wenn sie nicht in eine andere Umgebung gebracht werden, und die andere Gruppe besteht aus den Jugendlichen, welche aus irgend einer Ursache falsche Erziehung oder erbliche Be- lastung bereits auf die abschüssige Bahn des Lasters geraten und in geringerem oder stärkerem Maße bereits verwahrlost sind. Auf Grund der Ursachen, welche die Fürsorgeerziehung notwendig ge- macht haben, und des bisherigen Verhaltens des Zöglings in und außerhalb der Schule, sowie der Art und Weise, wie er sich während der gerichtlichen Verhandlung benommen hat, und unter Berück- sichtigung der Gutachten von Schule und Kirche und des eigenen persönlichen Eindrucks während der Unterredungen mit dem Jugend- lichen welche hauptsächlich den Zweck haben, einen tiefen Ein- blick in das Seelenleben und in die sittliche Eigenart desselben zu gewinnen muß der pädagogische Beirat entscheiden, welcher von beiden Gruppen der einzelne Fürsorgezögling zuzurechnen ist.

Daraufhin ist dann zu erwägen, welche Art der Unterbringung ob Familien- oder Anstaltspflege in jedem Falle den Zwecken der Fürsorgeerziehung am besten entspricht.

Im Hinblick auf die Familienerziehung ist zu beachten, daß nach den oben erwähnten Ausführungsbestimmungen nur solche Familien zu wählen sind, die für »eine ernst religiös-sittliche Erziehung der Zöglinge Gewähr bieten,... in geordneten Verhältnissen leben und eine ausreichende Wohnung haben«. »Familien, die auf dem Lande oder in kleinen Städten wohnen und den Zöglingen Gelegenheit bieten, sich mit Land- und Gartenarbeit beschäftigen, sind besonders zu be- vorzugen. Von Familien, die in großen Städten und dichtbevölkerten Industriebezirken wohnen, wird möglichst abzusehen sein. Die Familie muß dem religiösen Bekenntnis des Zöglings angehören.« Von letzterer Bestimmung kann bei nicht mehr schulpflichtigen Kindern ausnahms- weise abgesehen werden. Die Auswahl geeigneter Familien ist immer eine schwierige Sache; denn unter denen, die sich zur Erziehung

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sittlich gefährdeter Kinder melden, gibt es auch solche, die es nicht aus christlicher Nächstenliebe, sondern nur der geringen Geld- entschädigung, noch häufiger aber und das trifft hauptsächlich in landwirtschaftlichen Betrieben zu der dadurch gewonnenen jugend- lichen Arbeitskraft halber tun. Auf dem Gebiete der Auswahl ge- eigneter Familien findet der oben gewünschte pädagogische Beirat ein weiteres Feld seiner Tätigkeit. Dabei wird er sich wieder. auf die Gutachten der Lehrer stützen können, da diese besonders in Dörfern und kleineren Städten durch ihre amtliche Tätigkeit und durch ihre Hausbesuche sehr wohl in der Lage sind, geeignete Vor- schläge zu machen.

Mit Recht fordern die » Ausführungsbestimmungen« in erster Linie die Unterbringung der Zöglinge in Familien; denn sie hat große Vor- züge im Hinblick auf das Ziel der Fürsorgeerziehung, die ja die Ent- wicklung des jungen Menschen zu einem brauchbaren und nützlichen Gliede der staatlichen und religiösen Gemeinschaft bezweckt, in die er hineingeboren ist, oder wie es in Absatz V der Ausführungs- bestimmungen heißt: »... daß die Zöglinge, der Verwahrlosung entnommen, zu religiös-sittlichen Menschen erzogen und zu brauch- baren Arbeitern, vorwiegend für die Landwirtschaft ausgebildet werden.« In der einzelnen Familie nämlich, die nur einen Zögling aufnehmen soll, ist dessen Beobachtung und die seiner Eigenart entsprechende erziehliche Beeinflussung zur Bekämpfung der ihm anhaftenden sitt- lichen Schwächen und zur Stärkung der guten Triebe und Anlagen leichter durchzuführen als in Anstalten. Voraussetzung ist natürlich, daß die Familie ihren erziehlichen Pflichten nachkommt und sich des Jugendlichen in echt christlicher Weise aunimmt. Dazu kommt noch, daß die Familienerziehung auf das Selbstgefühl des Zöglings nicht so niederdrückend wirkt, wie die Unterbringung in einer Anstalt. Das Gefühl des Ausgestoßenseins aus der menschlichen Gesellschaft bleibt ihm erspart. Er wird der Öffentlichkeit erhalten und in seiner persönlichen Freiheit weniger eingeengt als dies durch die strenge Ordnung des Anstaltslebens geschieht. Mit der Ortsjngend genießt er in der allgemeinen Volksschule den gleichen Unterricht. Die neuen Kameraden nehmen ihn in der Regel ohne Weigerung als Gleich- berechtigten in ihrer Mitte auf. Sie kennen ja meist die Ursache seines Auftauchens nicht, erfahren auch nichts davon, wenn der Neu- ling es nicht selbst erzänlt oder durch neue Streiche in unliebsamer Weise auffällt und dadurch innerhalb der Nachbarfamilien zu Ge- sprächen und Nachforschungen über sein Vorleben Anlaß gibt.

Die Anstaltserziehung dagegen kann der Eigenart des einzelnen

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Zöglings nicht so gerecht werden wie die Familienerziehung, trotzdem die Hausväter der Anstalt meist für ihr Amt besonders vorgebildet worden sind. Sie müssen ihre Zeit und Kraft infolge der größeren Zahl der ihnen anvertrauten Zöglinge zersplittern. Ferner ist zu be- achten, daß gerade das Anstaltsleben in Rettungshäusern sittliche Ge- fahren in sich birgt. Der Hausvater einer solchen Erziehungsstätte, die wie die hiesige etwa 15—25 Zöglinge besitzt, ist, wie ich aus meinen Erfahrungen als Rektor der Schule, welche diese Knaben besuchen, bezeugen kann, gar nicht imstande, das Tun und Treiben, das Reden und die schriftliche Betätigung seiner ihm anvertrauten Schar derartig zu überwachen, daß nichts geschieht, was diesem oder jenem Kinde sittlichen Schaden bringt. Da die meisten der Fürsorgezöglinge mit sittlichen Mängeln behaftet sind, so ist deren Weiterverbreitung unter den Kameraden sei es durch ein Gespräch auf dem Hofe, bei der Arbeit, im Garten, beim Aufenthalt in den Bedürfnisanstalten, ja selbst im Schlafsaale vielfach nicht zu vermeiden. Ich denke hierbei besonders an das Laster der Selbstbefleckung, das in solchen Anstalten kaum auszurotten sein dürfte. Dahin gehören ferner die Lügenhaftigkeit, der Hang zum Diebstahl pnd zum Betteln, die Durch- triebenheit in bezug auf das Hintergehen der Aufsichtspersonen und das heuchlerische Gebahren gegen dieselben. Wieviel Verdruß haben doch unsere Rettungshausknaben in den seit ihrer Einschulung verflossenen fünf Jahren dem Lehrerkollegium und mir durch oben genannte Eigenschaften bereitet; wieviel kostbare Zeit habe ich opfern müssen, um die von ihnen angestifteten Missetaten zu unter- suchen! Besonders widerwärtig und aufreibend sind diese Unter- suchungen infolge der Durchtriebenheit und Hartnäckigkeit im Leugnen, welche die Bürschehen dabei entwickeln. Häufig genug konnte ich auch feststellen, daß gerade die schlechtesten Zöglinge, falls sie über die nötigen Körperkräfte verfügten, eine Art Gewaltherrschaft über die anderen ausübten. So zwang z. B. ein solcher Bengel andere Kameraden, für ihn Frühstückbrote, Bleistifte, Federn u. dergl. zu stehlen. Einer der besseren Zöglinge, dessen Unterbringung in Familienerziehung am Platze gewesen wäre, beklagte sich bei mir nachdem ihn seine Kameraden aus dem Kreise der Stadtkinder dazu veranlaßt hatten —, daß sich seine gleichaltrigen »Hausgenossen oft tätlich an ihm vergriffen, weil er sich an ihrem bösen Tun nicht beteiligte. Solche Knaben müssen dann oft unter der Tyrannei der größten Rüpel leiden, weil es oft nicht gelingt, deren Roheiten an den Tag zu bringen, da sie nicht selten durch heimliche Drohungen ihren Opfern den Mund verschließen. Von Vorteil ist die Anstalts-

Trüper: Zum Verständnis Berthold Ottos. 155

erziehung nur in der Hinsicht, daß sie die verwahrlosten Kinder hindert, schädlich auf andere Jugendliche einzuwirken. Das ist aller- dings nur dann der Fall, wenn jene von diesen streng abgesondert werden. Daß hingegen, wie man vielfach glaubt, in der Anstalt die Zöglinge infolge der strengen Hausordnung schneller an Zucht und Ordnung gewöhnt und vor Landstreicherei und Durchbrennerei leichter behütet werden können als in der Familienpflege, ist, wie mich die Erfahrungen in den verflossenen fünf Jahren gelehrt haben, durchaus nicht zutreffend. Wenigstens ist es nicht der Fall, wenn man sie von der Außenwelt nicht vollständig abschließt. Letzteres kann hier in L. aber nicht geschehen, da die Knaben auf ihren Schulwegen nicht immer beaufsichtigt werden können, weil die Schulzeiten für die einzelnen Zöglinge, den Stundenplänen der verschiedenen Klassen entsprechend, oft sehr voneinander abweichen. Gerade die Insassen des Rettungshauses sind es, die immer wieder durch ihre Unpünktlich- keit, durch ihre Vergeßlichkeit, durch ihre Liederlichkeit, durch ihr ordnungswidriges Verhalten, durch ihr Fortlaufen aus dem Unterrichte während der, Pausen und durch ihre Vagabundenfahrten, die oft mehrere Tage dauern, ehe Festnahme erfolgt, die Lehrtätigkeit und Schulerziehung in hinderlicher Weise stören. (Schluß folgt.)

5. Zum Verständnis Berthold Ottos. I.

Vom Herausgeber.

Die nachfolgenden Entgegnungen von Herrn Pfarrer Kerner auf den Artikel des Herrn Prof. Sellmann sind uns insofern willkommen, als sie die vielfach mißverstandenen und falsch bewerteten Bestrebungen Berthold Ottosin das rechte Licht stellen und gerechter bewerten. Otto wird von vielen nicht ganz verstanden, weder als Individualist noch als Sozialist. Der Hauptgrund liegt wohl darin, daß er die herge- brachte Pädagogik anscheinend nur von ihrer schlechten Seite her kennt und bewertet. Er würde sonst finden, daß viele von seinen Forderungen schon vor und neben ihm erhoben worden sind, was er aber nicht zu wissen scheint; wenigstens weist er nie oder selten

1) Ich lasse aber gerne Otto selbst darüber reden. In seiner Schrift: »Familien- reform« (Berlin-Lichterfelde, Verlag des Hauslehrers) S. 94 heißt es: »Man wiid mir wieder, wie so oft sagen, daß ich meine Meinungen als etwas noch nie Dagewesenes, rein von mir Geschaffenes dem Publikum vorsetze. ... Es ist mindestens das

156 A. Abhandlungen.

und wohl auch viele Leser unserer Zeitschrift stehen aber den Be- strebungen Berthold Ottos durchaus wohlgeneigt gegenüber, und wir ziehen vielfach mit ihm an demselben Strange. Sein »Hauslehrer« wird z. B. in unserm Heim in mehreren Exemplaren gelesen, trotz- dem er sehr »individualistische, für Ottos eigene Erziehungsschule, zugeschnitten ist oder wenigstens es früher war. Der »Hauslehrer« ist meines Erachtens die beste Zeitschrift, die wir vom erzieherisch- bildnerischen Standpunkte aus der Jugend in die Hand geben können. Die Kriegs- und sonstigen politischen Ereignisse sind z. B. immer historisch, national und sozial so gut bearbeitet, daß ich nur wünschen könnte, diese wöchentlichen Betrachtungen ständen auch in mancher Tageszeitung als Leitartikel. Aber auch alle seine anderen pädagogi- schen Schriften haben für Theorie und Praxis ihre besondere Be- deutung. Daß man nicht mit allem einverstanden ist, schmälert nichts an ihrer Bedeutung. Doch Herr Pfarrer Kerner hat in dem nach- stehenden Artikel das Nähere nach dieser Seite hin dargelegt. Seine Kritik des Sellmannschen Aufsatzes heiße ich aus diesen Gründen durchaus willkommen. Nur bedauere ich, daß.sie sich zum Teil gegen etwas richtet, von dessen irrigem Auffassen ich Herrn Prof. Sellmann schon vorher überzeugt hatte, denn er schrieb mir auf meine Vorstellungen am 28. 9. 16:

»Erst jetzt komme ich dazu, Ihnen meinen Aufsatz über Ellen Key (die Korrektur desselben) wieder zuzuschicken. Ich habe gerne die gewünschten Ver- änderungen aufgenommen, obwohl ich mir bewußt bin, daß immerhin auch noch zwischen W yneken einer- und Ellen Key andererseits ein großer Unterschied ist.

Außerdem habe ich auch noch einen Schluß hinzugefügt, wo die beiden Ge- danken, die Sie in Ihrem Schreiben anführten, noch gebracht werden. Es ist wohl dieser Abschluß zur Abrundung des Ganzen noch erforderlich.«

Diese zweite Korrektur, die durch meine Hände ging, kam aber leider zu spät, denn inzwischen hatte der Verleger den Aufsatz mit der ersten Korrektur, die ich Herrn Prof. Sellmann in einem Exemplar wieder zugeschickt hatte, bereits gedruckt. Ich bringe darum den Schluß des Sellmannschen Aufsatzes mit seiner zweiten Korrektur noch einmal zum Abdruck mit dem hinzugefügten Schluß, der in dem Aufsatze fortgeblieben war.

»Auch diejenigen, die in den Fußtapfen der Schwedin Ellen Keys wandeln,

zehntemal, daß ich es ausdrücklich sage: ... Es ist nichts Neues in dem, was ich haben will. ... Man könnte es mir endlich glauben, daß ich das nicht für etwas Neues halte, was, wie ich immer wieder betone. schon vor zweieinhalb Jahrtausenden voll- ständig so formuliert worden ist, wie ich es erstrebe.« Die wissenschaftliche Be- gründung seines Verhaltens gibt Otto 8. 247—253 seiner »Beiträge zur Pychologie des Unterrichts«.

Trüpen: Zum Verständnis Berthold Ottos. 157

wollen wir nicht in unserer Mitte dulden. Die Zeit, wo ein Ludwig Gurlitt, Wyneken, Geheeb u. a. auf dem pädagogischen Gebiete eine große Zuhörerschaft fanden, müssen vorüber sein. Sicherlich werden neue falsche Propheten aufstehen, die in kommenden Zeiten den radikalen Individualismus weiter predigen werden. Wir dürfen nicht auf sie hören. Das wäre zum Verderb unserer Kinder und unseres Volkes. Wir haben ganz andere Meister, denen wir folgen können. Ich denke da an Pestalozzi, Schiller, Fichte, Schleiermacher, Kant und wie sie alle heißen. Wohl berufen sich noch manche modernen Reformer auf diese Meister, allein ihren Geist und ihre Kraft nehmen sie nicht in sich auf. Ich denke jedoch auch an unseren Altmeister Goethe, den so oft Ellen Key als Kronzeugen aufruft. Wohl hat Goethe als sein Bildungsideal aufgestellt, daß die Entwicklung der Kräfte des Menschen sein Glück bedeuten, und daß vor allem der Mensch sich selbst leben muß. Aber dieses Bildungsideal hat je länger, je mehr eine Ergänzung gefunden. Der Mensch muß auch um anderer willen leben lernen. Das wird oft zum Aus- druck gebracht. Ich erinnere nur an Faust, der in rastloser gemeinnütziger Tätig- keit den Weg zur Selbsterlösung fand.

Bei Ellen Key fühle ich mich als Deutscher, je mehr ich mich in ihre Ge- dankenwelt vertiefe, wie in der Fremde. Sie erscheint mir mit ihrer hohlen Pathetik durch und durch undeutsch. Wollen wir die deutsche Zukunftsschule aufbauen, so müssen wir uns Baumaterial bei unseren genannten deutschen Meistern holen. Durch sie sind wir groß geworden, durch sie können wir einzig und allein groß bleiben. Durch die Verwirklichung von Ellen Keys Gedanken kommen wir zu Anarchie und Selbstvernichtung.

Das eine wollen wir vor allem uns merken: Wir wollen uns von der hohlen und inhaltsleeren Phrase los machen und wieder schlicht und einfach unsere Pflicht tun. Ellen Keys Buch ist für mich nichts anderes als eine große Phrase, vorge- tragen mit gefallsüchtigem Gespreize und hohlem Wortschwall, fern von Verständ- nis für die Jugend und echter Liebe zu den Kindern. Bedauerlich ist es, daß diese große Phrase so viel Anklang im deutschen Volke finden konnte. Auch der Titel des Buches »Jahrhundert des Kindes« wurde unter uns zur hohlen Phrase. Während wir immer von dem Jahrhundert des Kindes sprachen, nahm die Zahl der Kinder in unserem deutschen Volke von Jahr zu Jahr ab. Die Zahl der Särge drohte im Jahre größer zu werden als die Zahl der Wiegen. Geburtenrückgang und Jahrhundert des Kindes, wie reimt sich das zusammen?

Auch wir sind dafür, daß das Kind zu seinem Recht kommt. Die Kinder sollen niemals in Not verkommen oder in Drill verkümmern. Auch wir wollen, daß allezeit warmer Sonnenschein unsere Jugend durchflutet, und helles Lachen unsere Kinderwelt durchdringt. Aber wir wollen unsere Kinder auch rechtzeitig an Pflichten gewöhnen, daß sie später selbst im Staud sind, warmen Sonnenschein und helles Lachen um sich zu verbreiten. Wir wollen dafür sorgen, daß sie nicht nur für sich etwas sind, sondern auch für andere, Nur dort ist eine große Zukunft, wo man nicht nur von Rechten predigt, sondern auch von Pflichten, Wenn wir alle, alt und jung, in kommenden Friedenszeiten unsere Pflicht tun, dann bleibt unser deutsches Vaterland auch in Zukunft stark und groß.

Wir haben bisher nur die Gedanken Ellen Keys über die Schule berück- sichtigt. Fassen wir ihre sonstigen Gedankengänge noch näher ins Auge, so wird der Abscheu vor dieser Schwedin noch größer und die Warnung vor dieser falschen Prophetin noch dringlicher. Sıe hat durch ihre Auffassungen, die sie über das Familienleben und üb,r die Frauenfrage äußert, viel Unheil auch in deutschen Landen angerichtet, Wohl klingt das Lied, das sie auf das Verhältnis von Mutter

158 A. Abhandlungen.

und Kind singt, gewaltig und stark. Die Töne können uns berauschen. Allein hören wir genauer zu, so sind es nur Klänge, die sich auf Naturtriebe im Menschen be- ziehen. Sittliche Klänge vernehmen wir hier nicht. So wird sie auch zur Ver- künderin der »freien Liebe« und Vorkämpferin für die »Mutterschutz- bewegung«. Wir jedoch, die wir ie dieser wilden Kriegszeit mit Schmerzen ein großes Zerstören von Tausenden von Familien in deutschen Landen sehen und einen Wiederaufbau des deutschen Familienlebens mit heißer Seele wünschen, wir mögen solche Töne, die die Vernichtung von Familienleben nur noch fördern, nicht hören. Es würde ein Unglück für unser Volk bedeuten, wenn in gewissen Frauenkreisen nach dem Kriege wieder derartige Anschauungen lebendig würden. Wir sehen darin nur Niedergangserscheinungen eines sterbenden Volkes,

Ferner will uns Ellen Key auch vom Christentum wegführen. Ihre sogenannte Religion ist nichts anderes als Anbetung des Entwicklungsgedankens und Vergötterung des Ichs. In ihrem Haß gegen das Christentum ist sie blind und fanatisch. Auch hier vermissen wir jedwedes Verständnis der hohen Werte dieser Religion, der wir doch soviel zu verdanken und deren Forderungen noch lange nicht erfüllt sind. Auch in dieser Beziehung ist sie verhängnisvoll ge- worden. Das Antichristentum hat durch ihren Einfluß neue Stärkung erhalten.

Wir sind der Meinung, daß unsere alte Ethik und unsere christliche Religion neu wieder in unserem Volke aufleben muß. Soll das geschehen, so muß unser Volk einer Prophetin den Rücken wenden, die in sittlich-religiöser Beziehung nur Verwirrung und Zerstörung anrichtet, in der Schule sowohl wie im Leben.«

Soweit noch Prof. Sellmann.

Damit keine weiteren Mißverständnisse platzgreifen, ist auch über Gurlitt noch ein Wort zu sagen. Wer Gurlitts ältere Schrift »Vaterland und Schule« gelesen hat, der wird ihn anders bewerten, als nach seinen späteren Schriften und nach seinen Vorträgen, die er vielerorts hielt, nachdem er den öffentlichen Schuldienst aufgegeben hatte. Gewiß stellt Gurlitt in »Vaterland und Schule« England als Vorbild in vielen Stücken hin. Aber wievielfach ist das vor dem Kriege nicht geschehen, von Wiese an bis auf Lietz und Gurlitt? Die Charakterlosen auf pädagogischem wie politischem Gebiete sind auch hierin umgeschlagen wie das Wetter. Dadurch, daß England unser Feind geworden, sind ihnen mit einem Male die Verdienste der Engländer um Wissenschaft und Erziehung auch sogleich schlecht, gemeinschädlich geworden. Ich habe eine einseitige Schwärmerei für England und das Engländertum nicht mitmachen können. Von der Rückständigkeit des englischen Schulwesens habe ich mich selbst über- zeugt. In der Erziehung haben wir aber viel von den Engländern lernen können und gelernt. Diese inneren Zustände eines Volkes haben vielfach nichts oder sehr wenig mit der äußeren Politik zu tun, wobei gewöhnlich rein materielle Interessen und äußere Macht aus- schlaggebend sind. Man kann mit England und den Engländern manche Sympathien haben und ihnen das Lob spenden, was schon

Trüper: Zum Verständnis Berthold Ottos. 159

Kant ihnen spendete, und bleibt doch bei der Überzeugung, daß die Nation als solche in ihren politischen Bestrebungen eine »Kanaille« ist, wie Kant in ein und demselben Satze sich ausdrückt. So ist es zu verstehen, wie auch Gurlitt gegenüber manchem öden, schemati- schen und einseitigen deutschen Schulbürokratismus, den nicht bloß die öffentlichen Lehrer, sondern sogar auch reine Privatunternehmungen, die doch in so vielen Dingen pfadsuchend und bahnbrechend voran- gehen, bis zum Überdruß zu kosten bekommen, für englische Ver- hältnisse mit mehr Selbstverwaltung und mehr Selbstregierung sich erwärmen konnte. Gurlitt ist m. E. oft in seiner Kritik zu weit ge- gangen und hat dem Subjektivismus zu sehr das Wort geredet, aber sein Eintreten für Recht und Kraft des Individuums, für die »Er- ziehung zur Mannhaftigkeit«, bleibt dennoch ein Verdienst, das auch Trof. Sellmann ihm wohl nicht absprechen wird.

Auch meine Ansicht über Ellen Key hat sich durch den Krieg nicht geändert. Sie ist gewiß, wie Berthold Otto mir schreibt, »eine sehr kenntnisreiche und wirklich selbstdenkende Dame,« mit der man in sehr vielen Dingen einverstanden sein muß. Ohne Frage hat sie Ver- dienste dadurch, daß sie die Rechte des Individuums gegenüber dem öden bürokratischen Sozialismus, auch in Hinblick auf das Kind, nachdrück- lich vertrat. Aber nicht erst nach dem Kriege und nachdem sie sich, wohl wegen ihrer schottischen Abkunft, als einseitige Parteinehmerin für England gegen uns stellte, haben wir Stellung gegen sie genommen, sondern schon lange vorher habe ich mich an diesem Orte, und noch schärfer hat damals Prof. Friedrich Paulsen sich gegen sie gewandt, . als eine für unser Volkstum gefährliche Agitatorin mit bedenklichen ethischen Anschauungen. Sie agitierte für das Gegenteil, was in dem Aufsatze von Dr. Pudor zum Ausdruck gekommen ist. Ihre Schriften und ihre Vorträge mit ihrer Schwärmerei für »freie Liebe« bedeuten Verödung und Zersetzung des Familienlebens, Vertreibung von Mutter- gefühlen und Mutterpflichten, Verminderung des Volkszuwachses usw. Ihre Ethik war zum Teil eine volksgefährliche. Aber wegen ihrer Federgewandtheit und Mundfertigkeit fand sie leider auch in Deutsch- land eine große, blinde Anhängerschaft, namentlich in gewissen Frauen- kreisen.

In der Anschauung über die Familie und die Stellung der Kinder zu den Eltern berührt sie sich mit Wyneken und anderen, die an Stelle der Familienerziehung die sozialistische Anstaltserziehung fordern und so bei den Kindern einen Gegensatz zur Familie aufkommen lassen. Scheinbar steht das mit dem Vorwurf des Individualismus in Widerspruch, aber nur scheinbar. Der wahre Sozialismus anerkennt

SEEN EEE

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die Familie als Urorganismus und Vorbild der menschlichen Gesell- schaft. Wer selber keine Familie gründen oder eine gegründete nicht zusammenhalten kann und den Gegensatz der Jugend gegen das Alter pflegt, der wirkt nicht sozial, sondern antisozial. »Zu meiner Zeit zog man das Kind hinauf zum Mann, jetzt kauern die pädagogischen Männe- lein hernieder zu dem Kindelein,« so hätte Logau auch noch zu Anfang dieses Jahrhunderts klagen können. Wyneken hat die Bezeichnung »freie Schulgemeinde« als Schlagwort gewählt. Seine Erziehungsgemein- schaft ist aber doch wohl noch etwas anderes als eine Schulgemeinde. Wer den Ausdruck in der Weise wie Wyneken verwenden will, der müßte doch zunächst sich mit dem historisch Gegebenen auseinander- setzen. Im Jahre 1863, also vor mehr als 50 Jahren, erschien eine bahnbrechend gewordene Schrift von Friedrich Wilhelm Dörpfeld, »Die freie Schulgemeinde und ihre Anstalten auf dem Boden der freien Kirche im freien Staat« (XV und 346 Seiten). Wie man nun aufs Neue von freien Schulgemeinden reden und eine solche Arbeit von einem so hervorragenden Schulmanne totschweigen kann, und wie in der ganzen pädagogischen Literatur, soweit sie mir be- kannt geworden, niemand den historischen Sinn bekundet hat, daß er darauf hingewiesen, das hat mich ein wenig gewundert, und wohl mit Recht.

Um nun aber noch einmal auf Berthold Otto zurückzukommen, so möchte ich auch das noch betonen: während Gurlitt und die meisten unserer Intellektuellen bis zum Weltkrieg für England und Engländertum schwärmten, hat Berthold Otto 1898 auf die Gefahr einer gemeinsamen Kriegserklärung Rußlands und Englands hinge- wiesen. Um diese Zeit begann hier in Jena die national-soziale Be- wegung unter Führung von Friedrich Naumann unter Mitwirkung hervorragender Männer des deutschen Volkes. Ich nenne nur die Professoren Rudolf Sohm und der jüngst als 70jähriger Kriegs- freiwilliger den Heldentod an der Westfront erlittene Gregory in Leipzig, Gelzer, Rein, Wendt und andere in Jena. Sie vereinigte Männer aller Parteien von den Konservativen bis in die Reihen der Sozialdemokraten mit dem Ziele, die innerpolitische Parteizerklüf- tung zu überbrücken, und alle, mit Einschluß der Sozialdemokratie, für die vaterländischen Aufgaben zu gewinnen. Auch sie erkannte England als den zukünftigen und gefährlichsten Feind. Die National-Sozialen wurden in ihrer Bedeutung nicht verstanden und von allen Seiten an die Wand gedrückt und Naumann mit seinen nahen Freunden wie Paul Göhre und Max Maurenbrecher von den damals Macht- habenden in einer vom vaterländischen Standpunkte aus unverständ-

Kerner: Zum Verständnis Berthold Ottos. 161

lichen Weise leider immer weiter nach links geschoben, wohin ihn dann viele seiner ursprünglichen Mitkämpfer nicht mehr folgen konnten. Die Ereignisse vom 4. August 1914 gaben den damaligen Bestrebungen leider allzu sehr recht. Auch Berthold Otto war damals mit auf dem Plane, wie seine vortreffliche Schrift über Bismarck!) es beweist.

Da die großen Ereignisse der Gegenwart uns alle wieder ver- binden, so bin ich überzeugt, daß bei genauerer Prüfung auch Prof. Sellmann mit Berthold Otto in vielen wesentlichen Punkten voll übereinstimmen wird.

Damit dies zum Bewußtsein kommt, begrüße ich Kritik und Anti- kritik. Wo sie über das Ziel hinausschießen, werden beide schon von selber sich wieder zurechtfinden.

I. Von Pfarrer Georg Kerner.

Im August/Septemberheft 1916 dieser Zeitschrift richtet Herr Professor Dr. Sellmann aus Hagen i. W. einen heftigen Angriff auf Ellen Key und auch auf einige deutsche Schriftsteller und Päda- gogen, die er für »Schüler« dieser »großen Meisterin« erklärt. »Die Zeit, wo ein Ludwig Gurlitt, Berthold Otto u.a. auf dem päda- gogischen Gebiete eine große Zuhörerschaft fanden, müssen vorüber sein. Sicherlich werden neue falsche Propheten aufstehen, die in kommen- den Zeiten den radikalen Individualismus weiter predigen werden. Wir dürfen nicht auf sie hören. Das wäre zum Verderb unserer Kinder und unseres Volkes.«

Wenn man in der Zeit des Burgfriedens so schwere Vorwürfe ausspricht und öffentlich vor deutschen Männern warnen zu müssen glaubt, die in weiten Schichten deutscher Erzieher mit ihren Gedanken und Vorschlägen begeisterte Zustimmung gefunden haben, dann müssen diese Vorwürfe und Warnungen, sollte man meinen, besonders wohl begründet sein; sonst sieht man wirklich keinen Grund, grade jetzt einen persönlichen Streit hervorzurufen. Oder hat Herr Professor Dr. Sellmann erwartet, daß die Angegriffenen still sein würden, da er ja befohlen hat, daß nicht mehr auf sie gehört werden darf?

Nun, bei einem der Angegriffenen wäre ihm das beinah geglückt. Berthold Otto liebt es im allgemeinen nicht, auf derartige Angriffe zu erwidern. Wer seine Ideen kennen lernen will, der wird ja sowieso sich nicht damit begnügen, seine Kenntnisse sich aus ein

1) Fürst Bismarcks Lebenswerk. Den Kindern und dem Volk erzählt. 8. Aufl. Berlin-Steglitz, Verlag von K. G. Th. Scheffer. Zeitschrift für Kinderforschung. 22. Jahrgang. 11

162 A. Abhandlungen.

paar schnell hingeworfnen Sätzen eines Gegners zu holen. Berthold Ottos Schriften bieten Gelegenheit genug, sich in seine Gedanken- welt zu vertiefen; und für den, der sich nicht vertiefen will, ist eben doch diese Gedankenwelt nicht faßbar. Er bleibt an Worten hängen.

Aber Worte werden leicht zu Schlagworten. Und weil manche solche Schlagworte wie z. B. das von den falschen Propheten des radikalen Individualismus manchen Gutgesinnten von vornherein ab- schrecken könnten, sich ernsthafter mit Berthold Ottos Werk zu beschäftigen, möchte ich hier zum Verständnis dieses Werkes einige Ausführungen machen dürfen. Denn je mehr ich mich in Berthold Ottos Gedankenwelt vertieft habe, um so deutlicher fühle ich mich da auf urdeutschem Boden. Es ist mir also da gerade umgekehrt ge- gangen wie Herrn Professor Dr. Sellmann in Ellen Keys Ge- dankenwelt. Vielleicht erreiche ich sogar durch meine Ausführungen, daß sich der Herr Professor auch mal mit Ottos Werk beschäftigt und dann, wenn auch nicht als »Christ und Deutscher«, so doch viel- leicht als ehrlicher Mann bekennt, daß er sich doch bis dahin in mancher Hinsicht über ihn geirrt hat. Dann wäre aus dem Streit eine Verständigung erwachsen, was leider bei Gelehrtenstreitigkeiten selten genug der Fall ist.

Wie steht es denn nun also mit dem »radikalen Individualisten« Berthold Otto? In Kreisen von Sozialpolitikern und über diese Kreise hinaus hat ein Werk Berthold Ottos Aufsehen erregt und wird grade in unsern Tagen der großen staatssozialistischen Versuche wieler eifrig besprochen, das den Titel führt: »Der Zukunftsstaat als sozia- listische Monarchie« (erschienen bei Puttkammer & Mühlbrecht). Da enthüllt uns der Verfasser politische Ideen, die Leute, die Schlag- wörter lieben, als radikalen Sozialismus zu bezeichnen pflegen und darum »als Christen und Deutsche« 3 Kreuze vor dem falschen Propheten machen.

So wäre also Otto als Politiker radikaler Sozialist und als Päda- goge radikaler Individualit? Nun, an und für sich wäre diese Ver- einigung von Gegensätzen in derselben Gedankenwelt gar nichts so Unmögliches! Es gäbe Möglichkeiten der Betrachtung, durch die man der Anwendung dieser beiden Schlagwörter auf denselben Berthold Otto sogar einen tieferen Sinn abgewinnen könnte. Aber nun wird diese Sache noch verwickelter dadurch, daß es Kenner oder sagen wir Leser von Ottos Schriften gibt, die ihn auch auf pädagogischem Gebiet nicht bloß für einen Utopisten, sondern auch für einen radikalen Sozialisten halten. Sie berufen sich dabei auf sein Werk »Volks- organische Einrichtungen der Zukunftsschule« (Berlin-Lichterfelde,

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Kerner: Zum Verständnis Berthold Ottos. 163

Verlag des Hauslehrers, 1914). Der zweite Hauptabschnitt dieses Werkes trägt die Überschrift: »Die einklassige Dorfschule als Volks- organ der Natur- und Seelenerkenntnis,« der dritte Hauptabschnitt: »Die Gemeinschaftserziehung in der Kreisschule als Organ der Selbst- erkenntnis des Volkes.«e Was Berthold Otto mit diesem Buch will, das sagt er selber in der Vorrede sehr deutlich: »Unser Volk und manches andere auch ist bei dem ganzen Erziehungswesen im Umdenken begriffen. Und die Art dieses Umdenkens kann mit wenigen Sätzen angedeutet werden. Alle bisherige Pädagogik, alle, ohne Ausnahme, sucht durch sorgfältige Studien, durch Erfahrung, durch Betrachtung geschichtlicher Entwicklung, durch wissenschaft- liche Erwägungen aller Art ein Schema F herzustellen, nach dem die Jugend sich bilden soll. Man nennt es zwar nicht Schema F, man nennt es »Bildungsideale oder mit sonst einem wohlklingenden Namen, aber es bleibt doch immer Schema F, eine ausgetiftelte leere Form, in die alles lebendige Wachstum hineingezwängt wird. Alle Triebe, die nicht hineinpassen, werden erbarmungslos beschnitten.

Die neue Pädagogik sieht sich die lebendigen, wirklich vor- handenen Kinder an, die doch in jeder Generation wieder ein wenig anders, ein wenig höher entwickelt sind. Sie sieht zunächst zu: Was steckt drin in den Kindern? Welche Anlagen sind da? Und dann fragt sie weiter: Wie können sich diese vorhandenen Anlagen am besten entwickeln? Was können wir tun, um Hemmnisse zu beseitigen? Und so stellt sich die neue Pädagogik das Ziel, alles was an Urkraft in den Kindern steckt, zur Entwicklung zu bringen und dem Volks- ganzen und damit der Menschheit nutzbar zu machen. Was das für Anlagen sind, davon haben wir vorher keine Ahnung. Das werden wir erst in unserer pädagogischen Tätigkeit sehen. Aber dieses Sehen will gelernt sein, und das soll gelernt werden. Und wie sich dieses Sehen lernen und dann in der Praxis ermöglichen läßt, das soll dieses Buch zeigen.«

Hat das nun der radikale Individualist oder der radikale Sozialist geschrieben? Herr Professor Dr. Sellmann und ihm gleichgestimmte Seelen werden sofort auf den Angriff auf das Bildungsideal hinweisen. Einer, dem ein »Ideal« nur eine leere Form ist, der den pädagogisch doch so notwendigen Zwang mit dem erbarmungslosen Beschneiden lebendiger Triebe oder mit dem Hineinpressen von lebendigem Wachs- tum in ein Schema vergleicht, den nennen wir eben in unserm Sprachgebrauch einen Individualisten. Und das schmückende Beiwort radikale, das zu deutsch ja wohl »wurzelhaft« bedeutet, das dient zur Verstärkung und zur deutlichen Heraushebung.

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164 A. Abhandlungen.

Wer sich die Stelle aber genauer ansieht oder gar das ganze Buch zur Erklärung zu Hilfe nimmt und warum sollte man jemand nicht erst studieren, ehe man über ihn urteilt der hört doch noch etwas anderes heraus. Der merkt, wie hier jemand mit einer Kraft und Anschaulichkeit vom Volksganzen ausgeht und alle individuellen wie sozialen Triebe im Menschen dem Volkswesen, durch das sie leben, einordnet, wie es bisher denn doch kaum irgendwo ernsthaft angebahnt, geschweige denn üblich gewesen ist. Und der Mann, der so vollständig selbständig seinen Weg geht, vor dem soll man warnen dürfen als einem Verführer deutscher Erzieher und deutscher Jugend, der uns auf die einseitig individualistischen Bahnen Ellen Keys (einmal vorausgesetzt, daß Herrn Professor Dr. Sellmanns Schilde- rung ihr gerecht wird) lenken will, deren »Schüler« er sein soll?

Berthold Otto ist ja grade der, der uns über einseitigen In- dividualismus und einseitigen Sozialismus hinaus zur volksorgani- schen Auffassung führt. Wieviel inhaltvolle Ausführungen hat Otto in seinen Werken dem Nachweis gewidmet, daß ein Volk ein lebendiges Ganzes ist, ein organisches Wesen, ein Lebewesen im biologischen Sinn des Wortes, dessen Gliederung, dessen Aufbau, dessen Seelen- leben wir immer gründlicher erforschen müssen; wie macht er immer wieder darauf aufmerksam, wie hier die schwersten aber auch frucht- barsten Fragen für den Psychologen vorliegen.

Von diesem Volkswesen ist ihm »die Kindheite der jugend- kräftige Teil, in dem die Anlagen zum Zukunftsvolk liegen. Diese Anlagen, die wir nicht geschaffen haben und auch nicht schaffen können, auf die wir aber für unsres Volkes Zukunft angewiesen sind, die Geisteskräfte der Kinder gilt es zu beobachten, zu erforschen mit derselben Ruhe und Gründlichkeit, wie der Naturforscher auch sonst in der Natur Vorgänge beobachtet, wobei er durch keinerlei vor- gefaßte Meinungen sich beirren lassen oder gar veranlaßt fühlen darf, unter Schelten und durch Zwangsmaßregeln auf die Natur einzu- wirken, weil sie andre Äußerungen hervorbringt, als sie ihm passen. So kann man mit dem Stock in der Hand auch wenn man ihn gar nicht anwendet die Natur des Kindes ebensowenig kennen lernen, wie der Wärter oder der Dresseur mit der Peitsche das ein- gefangne Tier. Mißtrauen entstellt den Menschen noch mehr wie das Tier. Aber dem Vertrauen öffnet sich allmählich das Innere, und es öffnet sich dem eignen Innern. Denn wir verstehen den andern erst, wenn wir sein Benehmen aus eignen Erfahrungen deuten können; wenn wir zu den äußeren Bewegungen des andern, zu seinen Äußerungen, die wir beobachten, die inneren Bewegungen des Geistes kennen,

Kerner: Zum Verständnis Berthold Ottos. 165

weil wir wissen, was bei gleicher »Äußerung« in uns vorgeht oder vorgegangen ist. So verstehen wir uns auch selber erst, indem am andern das Bewußtsein sich entzündet, was mit uns vor sich gegangen ist und so erfassen wir uns beide, der andre und ich, als Teile eines umfassenderen Geisteslebens, eben des geistigen Lebens unsres Volkes.

So ist Otto in »geistigen Verkehr« mit dem Kinde getreten; und indem er dadurch das Kind verstehen lernt, lehrt er zugleich das Kind oder hilft dem Kinde, sich selber verstehen und seine An- lagen entwickeln, auch die so wichtige Anlage zur Selbstbeherrschung und damit zur Selbsterziehung. So führt er zur Erziehung von innen her, zur Erziehung aus Freiheit; denn nur, wer so aus Freiheit heraus sich selbst befehlen gelernt hat, der wird einmal seelische Kraft ge- nug haben, sich freiwillig in das Staatsleben einzuordnen, das ihm sonst nur, wie die Schule manchem Kind, als eine Summe von quälenden Geboten und Verboten erscheinen würde, erscheinen müßte, denen man, wo man nur kann, sich zu entziehen sucht. »Man muß frei sein, um sich seiner Kräfte in der Freiheit zweckmäßig bedienen zu können,« sagt Kant, auf den sich Herr Professor Dr. Sellmann berufen zu dürfen glaubt. Und dieser Satz hat in der Erziehung sein eigentliches Anwendungsgebiet.

Auf dem Wege also der Beobachtung der Kinder im freien Ver- kehr mit ihnen kommt Otto zu seinen Methoden und Einrichtungs- vorschlägen für die Zukunftsschule. Seine eigne Schule in Berlin- Lichterfelde bietet dem, der sich Zeit und Mühe nimmt, sie sich wirk- lich anzusehen, statt nach geläufigen Schlagworten über sie zu ur- teilen, Gelegenheit genug, mit seiner Auffassung sich bekannt zu machen. Jedenfalls aber kann niemand Otto wirklich verstehen, der nicht seine Ideen, so wie sie ihm aus lebendigem Zusammenhang mit den Kindern erwachsen sind, in gleichartigem Zusammenleben mit Kindern zu erfassen sucht. Wer es aber tut, der wird merken, mit welcher Urkraft er da in Berührung und schließlich in innigen Zu- sammenhang kommt, einer Urkraft, die auch uns Erwachsenen neue Kräfte zuzuführen imstande ist.

Das ist dann freilich die entgegengesetzte Auffassung, wie sie Herr Professor Dr. Sellmann hat: »Wer Kinder kennt, der weiß, daß es Kleinigkeitskrämer sind, die niemals die großen leitenden Ge- sichtspunkte zuerst ins Auge fassen« (S. 441). Man blättre einmal in demselben Heft, in dem sich diese Äußerung des Herrn Professors befindet, ein paar Seiten weiter und sehe sich die Aufzeichnungen von Sofie Mical an. Es ist freilich kein Professor, der diese Be- obachtungen angestellt hat, und ich habe durchaus nichts dagegen

166 B. Mitteilungen.

(die Verfasserin gewiß auch nicht), daß man sie ernsthaft nachprüft; dann aber bitte auch mit der gleichen Liebe, denn sonst fehlt einem von vornherein das Auffassungsorgan. Man kann da aus der kurzen Geschichte S. 449/50 sehr schön ersehen, was man ohne Zwang er- reichen kann. Oder man sehe sich die Wiedergabe des Windes an (S. 449), die von einem ungelenken Jungen herstammt. Ja, Herr Professor, Kinder sind Kleinigkeitskrämer, sagen Sie; ich aber sage, nehmen Sie’s mir nicht übel, wenn Sie halb so treffsicher die Gedanken andrer Menschen aufzufassen und wiederzugeben verständen wie der Junge den Wind, so hätten Sie etwas Besseres über Berthold Otto wie über die deutschen Kinder zu sagen gewußt.

Otto nimmt das Kind grade darum so ernst, weil er in ihm den Zug zum Wesentlichen kennt, der in der Kindheit mit ganz be- sondrer Stärke hervortritt. Er sieht in allen Äußerungen des Kindes, auch also und vor allem in seinen Spielen, den Drang des Kindes, die Welt zu erfassen, alles Wesentliche in ihr zu begreifen, auch schließlich sich selber! Auf diesem Wege sucht er ihm zu helfen, wenn das Kind danach verlangt. Im Kindesdienst sind seine Methoden also entstanden, die ich schon deshalb hier erwähnen muß, damit der Leser nicht glaube, auch Berthold Otto gehe so unmethodisch vor, wie nach Herrn Professor Dr. Sellmanns Darstellung Ellen Key es tut. Man lese nur seine Mütterfibel und Leselerntafeln,!) wo er für den ersten Leseunterricht, seinen Lehrgang der Zukunftsschule Band I, wo er u. a. für die deutsche Sprachlehre, seine Lateinbriefe, wo er für das Erlernen fremder Sprachen neue Wege findet auf Grund seiner überlegnen Kenntnis der Natur des jugendlichen Geisteslebens. Da stammt jede Zeile aus der Praxis d. h. aus dem Zusammenarbeiten mit dem Kinde.

So ist Berthold Otto auch zum Entdecker der Kindersprache und der Altersmundarten geworden und hat uns gezeigt, wie man durch Anwendung der Kindersprache dem Kinde auch auf schwierige Fragen auch politische aus dem Gebiet der sogenannten Staats- bürgerkunde treffende Antworten geben kann. Ja, er hat die Kühnheit gehabt nachzuweisen, wie die Beschäftigung mit der Kinder- sprache imstande ist, die Sprache der Erwachsenen vom Phrasennebel zu befreien. Doch genug für diesmal. Das Vorstehende genügt wohl, um die Forderung zu begründen: Will man Otto wirklich bekämpfen,

1) Mütterfibel. Steglitz, Scheffer, 1903. Leselerntafeln. Ebenda 1906. Zukunftsschule. I. Teil: Lehrgang. 2. Auflage. Ebenda 1912. II. Teil: Volks- organische Einrichtungen. Berlin- Lichterfelde, Verlag des Hauslehrers, 1914. Lateinbriefe. Ebenda 1910.

1. Psychologische Profile. 167

dann soll man sich auch ernsthaft auf seine Forschungen einlassen. Einen Mann mit so bedeutendem Lebenswerk als Anhang einer Aus- länderin abtun zu wollen und ihn seinem Volke als falschen Propheten zu verdächtigen, ohne daß man ihn wirklich kennt, das ist eine Kampfesweise, die, wie ich annehme, im Grunde auch Herrn Professor Dr. Sellmanns Empfinden widerspricht. So viel gemeinsamen Boden werden wir ja als Deutsche wohl noch haben, daß wir ehrliche Kampfesweise allen andern Methoden vorziehen.

B. Mitteilungen.

1. Psychologische Profile. Von N. Braunshausen und A. Ensch (Luxemburg). _

Im 18. Jahrgang dieser Zeitschrift haben wir über Versuche be- richtet, die wir mit dem Rossolimoschen Verfahren der psychologischen Profile zur Prüfung der Intelligenz angestellt haben. Diese Versuche lieferten sehr befriedigende Ergebnisse, nur schien uns die Methode, ab- gesehen von Einzelheiten, in einem Hauptpunkte verbesserungsbedürftig: Die übergroße Zahl der Einzelversuche nimmt so viel Zeit in Anspruch, daß eine praktische Anwendung der Methode in vielen Fällen ausgeschlossen erscheint. Es kam uns vor allem darauf an, ein Versuchsverfahren zu finden, das es gestattete, die Zöglinge einer Erziehungsanstalt gleich bei ihrem Eintritt auf ihre geistige Veranlagung hin zu prüfen, um die Zeit tastender Erkenntnis durch die Beobachtung in der Schule abzukürzen und von vornherein brauchbare Grundlagen für ihre Behandlung zu ge- winnen. Darum versuchten wir, mit einem vereinfachten Schema die Methode Rossolimos leichter anwendbar zu machen.

Inzwischen hat der Verfasser selbst manche Änderungen an seinem ursprünglichen Verfahren vorgenommen. Im folgenden soll eine genaue Übersicht über das Schema gegeben werden, das wir unsren Versuchen zugrunde legten und das im wesentlichen auf Rossolimo zurückgeht; dar- nach sollen die Ergebnisse mit diesem vereinfachten Verfahren mitgeteilt werden.

I. Aufmerksamkeit: Zur Prüfung der Konzentration der Aufmerksam- keit werden die 5 letzten der zu gleichem Zweck verwandten Kartons von Rossolimo benutzt (s. die Mitteilung im 18. Jahrg. dieser Zeitschrift S. 463 ff). Weitere 5 Experimente stellen den Umfang der Aufmerksam- keit fest: 1. Die Versuchsperson zählt Punkte, die unregelmäßig auf einem Blatt zerstreut sind; der Versuchsleiter klopft dabei dreimal unter dem Tisch; nachher wird gefragt, was während des Zählens stattgefunden hat. 2. In der Mitte eines Blattes befindet sich eine auffällige Figur. Die Ver-

168 B. Mitteilungen.

suchsperson wird aufgefordert, diese zu beschreiben. Nach Entfernung des Blattes wird sie gefragt, ob sonst noch etwas darauf sichtbar war. Gemeint ist ein Kreis mit einem Kreuz, die in einer Ecke des Blattes eingezeichnet sind. 3. Die Linke schlägt fünfmal auf den Tisch. Bei jedem Schlag der Linken erfolgt gleichzeitig ein Schlag mit der Rechten, aber diese macht jedesmal einen Schlag mehr, also zuerst 1, dann 2 usw. 4. Eine Reihe von kleinen Figuren wird nachgezeichnet, und gleichzeitig werden die Wochentage in nmgekehrter Reihenfolge aufgezählt. 5. Eine Reihe horizontaler Striche, vermischt mit vertikalen, ist nachzuzeichnen; die ersten sind mit der rechten, die anderen mit der linken Hand zu zeichnen. Nach einer Änderung Rossolimos können die einen auch mit blauem, die anderen mit rotem Bleistift nachgezeichnet werden.

IH. Wille: Der Automatismus wird mit 5 Experimenten geprüft: 1. Vorzeigen der Lineale von Binet. 2. Man sagt der Versuchsperson, daß man bis zehn klopfen wolle, klopft aber öfters. Die Versuchsperson muß mit zehn aufhören. 3. Auf einem Blatt werden 5 lineare Figuren gezeigt. Auf einem zweiten Blatt erscheinen dieselben, aber es folgen noch andere darauf. Der Automatismus verleitet die Versuchsperson, auch einzelne von diesen als schon gesehen wiederzuerkennen. 4. Man fordert die Versuchsperson auf, mit dem Versuchsleiter auf gleiche Weise zu zählen und spricht ihr nun vor 21, 22, 23 usw. Bei 30 geht man etwa zu 51 über. Der Automatismus wirkt dahin, daß die Versuchsperson mit 31 weiterfährt. 5. Frage: Wann laufen die Kinder mit dem Kopf nach oben? 5 weitere Experimente betreffen die Widerstandsfähigkeit gegen Suggestion: 1. Suggestion einer Wärmeempfindung, indem man die Hand der Versuchsperson auf die seinige legt und sie fragt, ob sie letztere als warm empfinde. Darauf wird der Versuchsperson, welche die Augen ge- schlossen hält, angekündigt, daß sie nun die Hand des Versuchsleiters noch wärmer empfinden werde. Erklärt sie nun, daß die aufgelegte Hand jetzt wärmer sei, so ist sie der Suggestion unterlegen. 2. Ein Bild zeigt ein Mädchen, das Vögel füttert. Nach Vorzeigung des Bildes fragt man, auf welcher Seite die Vögel waren. Es waren aber keine Vögel ge- zeichnet. 3. Ein anderes Bild zeigt farbige Blüten aber farblose Blätter; man fragt nach der Farbe der Blätter, die meistens als grün angegeben werden. 4. Ein drittes Bild zeigt Mäuse auf einem Holzklotz. Man fragt, von welcher Seite die Katze heranschleiche. In Wirklichkeit ist keine Katze gezeichnet. 5. Die Versuchsperson soll die vorgesprochenen Eigen- namen zählen. Man nennt deren 9, legt aber nach und nach die 10 Finger zurück. Die Versuchsperson wird leicht verleitet, die Zahl 10 anzugeben.

III. Merkfähigkeit. 5 Figuren nach Rossolimo werden gezeigt und das unmittelbare Behalten mit der Methode des Wiedererkennens geprüft. Für 5 andere Figuren wird die Methode des Beurteilens gewählt. Dabei werden auf einer Karte je zwei ähnliche Figuren gezeigt, die in Einzel- heiten abweichen, und es wird nach den Unterschieden gefragt. Z. B. zwei Quadrate haben eine verschiedene Lage oder zwei Kreise sind ver- schieden dunkel schraffiert.

IV. Gedächtnis. Das Gedächtnis für optische Wahrnehmungen wird

1. Psychologische Profile. 169

durch das Vorzeigen von 5 linearen und 5 farbigen Figuren geprüft, die aus einer größeren Anzahl von ähnlichen Figuren wiederzuerkennen sind. Sodann werden 5 Bilder in derselben Weise zur Prüfung verwandt und 5 Gegenstände, die aber nicht mehr wiederzuerkennen, sondern aus dem Gedächtnis zu benennen sind, weil hier die Schwierigkeit der Reproduktion geringer ist.

V. Gedächtnis für akustische Eindrücke. Es werden nacheinander 5 Ziffern, dann 5 Silben, dann 5 Wörter und endlich 5 Sätze vorge- sprochen, die gleich darauf wiederzugeben sind.

VL Deutende Auffassung. Zunächst werden 5 Bilder, bezw. Reihen von Bildern geboten, die eine Geschichte ergeben. Die Versuchspersonen haben die Bilder zu erklären oder die Geschichte zu erraten. Hierzu eignen sich vorzüglich die Bilder, die Rossolimo neuerdings in eigenen Heften zusammengestellt hat. Darauf werden 5 Bilder mit widersinnigem Inhalt geboten und zwar benutzten wir die folgenden: 1. Eine Landschaft wird von Sonne und Mond zugleich beschienen. 2. Eine Dame liest ein Buch mit verbundenen Augen. 3. Ein Jäger läuft einem Hasen nach, die Flinte auf dem Rücken. 4. Im Dorf ist alles, außer den Dächern, mit Schnee bedeckt. 5. Ein Mann wirft den Schatten eines Vogels. Bessere Bilder finden sich in den oben erwähnten Heften. Es ist zu beaclıten, daß die Bilder der 1. und der 2. Serie abwechselnd darzubieten sind.

VI. Kombinationsfähigkeit. Aus Rechtecken und Dreiecken sind die Figuren 4, 6, 8, 9 und 10 zu bilden und aus ihren Stücken sind die in- haltslosen Figuren 6, 7, 8, 9 und 10 wieder zusammenzusetzen. Die Wiederherstellung von zerschnittenen Bildern ist zu leicht.

VII. Findigkeit. Es werden 5 Bilder verwandt, die Rossolimo für Beobachtungsfähigkeit angesetzt hat, nämlich ein Dampfer im Meere, an dem das Wasser aufschäumt und nach dem gefragt wird, ob er in Be- wegung sei. Ebenso zwei gleiche Tische, zwei Soldaten in Uniform, regel- los zerstreute Punkte, ein Fluß mit Pfad. Für die Prüfung der mechani- schen Fertigkeit werden die 5 letzten Apparate Rossolimos verwendet.

IX. Einbildungskraft. Die Figuren 1, 3, 5, 6, 8 nach Rossolimo sind zu ergänzen. Ebenso die folgenden Sätze: Der Apfel nicht weit

vom Stamm. haben kurze Beine. Keine Rose Dornen. Was ein Häkchen —, spitzt sich beizeiten. Wer den nicht ehrt, ist des nicht wert.

X. Abstraktionsfähigkeit. Generalisationsfragen: 1. Was sind die Ente, die Gans, die Schwalbe, der Sperling, der Rabe zusammen? 2. Was sind der Schrank, der Tisch, der Stuhl, die Bank, das Bett zusammen? 3. Was sind die Eiche, die Buche, die Tanne, die Birke, die Ulme zu- sammen? 4. Was sind Kirche, Schule, Haus, Palast, Kaserne zusammen? 5. Was sind Kinder, Männer, Frauen, Greise, Jünglinge, alle zusammen?

In einer zweiten Reihe werden, nach Ziehen, Erzählungen für Generali- sationsfragen geboten: 1. Ein Mädchen sieht, daß ein anderes Mädchen ein viel schöneres Kleid hat und gönnt ihm das Kleid nicht, weil es das Kleid selbst haben möchte; wie nennt man das? 2. Ich habe einem Mann viele Wohltaten erwiesen; nun bin ich selbst in Not geraten und bitte

170 B. Mitteilungen.

den Mann um eine Gefälligkeit. Da schlägt der Mann sie mir ab; wie nennt man das? 3. Wenn ein Knabe etwas genascht hat und es kommt heraus und er sagt dann, die Schwester sei es gewesen; wie nennt man das? 4. Ein Knabe geht an einem Geschäft vorbei, wo Obst und Zucker- waren ausliegen; er stopft sich die Taschen voll und läuft davon; wie nennt man das? 5. Ein Kind tut alles, was ihm die Eltern befehlen; wie nennt man ein solches Kind? .

Alle diese Versuche können bequem in 2 Stunden ausgeführt werden, und es bedarf dazu keines anderen Apparates als einer Stoppuhr und eines Tachistoskops, abgesehen von den Bildern und Vorrichtungen Rossolimos, die man sich nach den Angaben des Verfassers selbst verfertigen kann. Schließlich könnte ein geschicktes Vorzeigen und Verdecken der darzu- bietenden Objekte das Tachistoskop überflüssig machen und eine gewöhn- liche Uhr die Stoppuhr ersetzen, so daß die Versuche ohne besondere Um- ständlichkeit vor sich gehen könnten.

Drei Zöglinge der staatlichen Erziehungsanstalt waren uns für unsere Versuche zur Verfügung gestellt worden. Es sollten drei Schüler von guter, mittelmäßiger und schlechter Begabung sein, ohne daß wir die Be- wertung der einzelnen kannten. Zur Zeit der Versuche (26. 3. 1913) hatten diese Zöglinge folgendes Alter: J. 13; 10. B. 10; 2. M. 14; 2, Damit sie die Eindrücke, die im Tachistoskop dargeboten wurden, voll- ständig erfassen konnten, waren folgende Zeiten erfordert: für J. 40 Tausendstel Sekunden, für B. 50 und für M. 60. Die Kurven der einzelnen Versuche bieten viel des Interessanten, aber um abzukürzen, wollen wir nur in einer Gesamttabelle die Kurven der 3 Versuchspersonen für die 10 Hauptgruppen der Versuche bieten:

(Siehe nebenstehend.)

Schon eine Betrachtung jedes einzelnen Profiles für sich ist lehrreich. Das Profil J. ist auffallend durch den Tiefstand der Linie bei den Ver- suchen über Wille und Aufmerksamkeit. Die Linie steigt dort, wo es sich um unmittelbare Wiedergabe von Gesehenem handelt. Sie fällt aber schon wieder beim Gedächtnis für akustische Eindrücke, offenbar weil die Elemente der Rede der Versuchsperson nicht geläufig genug sind. Die deutende Auffassung und die Kombinationsfähigkeit zeigen wieder einen merkwürdigen Tiefstand. Nur die Findigkeit, besonders insofern sie auf mechanische Fertigkeit hinausläuft, scheint besser entwickelt. Die Ein- bildungskraft ist gering, die Abstraktionsfähigkeit aber, die übrigens auch an ziemlich konkreten Einzelfragen geprüft wurde, stellt sich wieder günstiger. Aber an keiner Stelle steigt das Profil über 5 hinaus.

Es ist nun interessant, die Resultate der Einzelversuche heranzuziehen. Um Raum zu sparen, wollen wir auf die graphische Wiedergabe verzichten und nur die Summe der richtigen Antworten für jede Einzelserie von 5 Versuchen hersetzen. I. Aufmerksamkeit: a) Konzentration 0; b) Um- fang 1. II. Wille: a) Automatismus 0; b) Suggestion 1. III. Merkfähig- keit: a) Figuren nach der Methode des Wiedererkennens 4; b) Figuren nach der Methode des Beurteilens 0. IV. Gedächtnis für optische Wahr-

L Psychologische Profile. 171

nehmungen: a) Wiedererkennen von linearen Figuren 2; b) Wiedererkennen von farbigen Figuren 0; c) Wiedererkennen von Bildern 3; d) Gegen- stände, die aus dem Gedächtnis aufzuzählen sind 4. V. Gedächtnis für akustische Eindrücke: a) Ziffern 1; b) Silben 0; c) Wörter 2; d) Sätze 2. VI. Deutende Auffassung: a) Serien von Bildern, die eine Geschichte er- geben 0; b) Bilder mit widersinnigem Inhalt 1. VII. Kombinationsfähig- keit: a) Kombinieren von Figuren 1; b) Zusammensetzen von inhaltslosen Figuren aus ihren Teilen 0. VIII. Findigkeit: a) Mit Bildern 1; b) Mecha- nische Fertigkeit 3. IX. Einbildungskraft: a) Ergänzen von Figuren 1; b) Ergänzen von Sätzen 2. X. Abstraktionsfähigkeit: a) Generalisations- fragen 3; Erzählungen für Generalisation 3.

Psychologische Profile. 012345678 910

1. Aufmerksamkeit

2. Wille

3. Merkfähigkeit

4. Gedächtnis für optische Wahrnehmungen

5. Gedächtnis für akustische Eindrücke

AAE 6. Deutende Auffassung w ee a N Br

7. Kombinationsfähigkeit

8. Findigkeit

9. Einbildungskraft

10. Abstraktionsfähigkeit

A EEASEVSKANAREA CEEC ETI EIELLELA

Wir haben es also hier mit einer geistigen Verfassung zu tun, die fast ausschließlich auf konkrete Eindrücke eingestellt ist, bei welcher die höheren psychischen Prozesse stark behindert, wenn nicht völlig gehemmt - erscheinen; der Wille ist auffallend schwach und widerstandslos.

Das Gesamtprofil stimmt mit dem Schema überein, welches Rossolimo aus seinem Material für die Gruppe der Lasterhaften berechnet. Die Tiefen und Höhen der Kurve liegen an denselben Stellen: Der Hochstand bei

172 P. Mitteilungen.

den optischen Eindrücken und der Findigkeit, der Tiefstand bei den Prozessen des Willens und der Prozesse, die Rossolimo Beobachtungsfähig- keit nennt, und denen wir den Namen deutende Auffassung gegeben haben.

Berechnen wir die Durchschnittsformel, mit welcher Rossolimo die einzelnen Prozesse zusammenfaßt, so ergibt sich für Aufmerksamkeit und Wille 1, für Merkfähigkeit und Gedächtnis 3,7, für Kombinationsprozesse 2,8 und als Gesamtformel P = 2,7. Nach Rossolimo zeugen aber die Profile, die von 1 bis 4 reichen, von Stumpfsinn und von Imbezillıtät verschiedenen Grades. Der relative Tiefstand des vorliegenden Profiles läßt demnach in der Versuchsperson den Typus des Imbezillen erkennen.

Wie stimmt mit dieser Berechnung auf Grund des psychologischen Experimentes die Wirklichkeit überein? Aus seinem Schulzeugnis geht hervor, daß er die Schule unregelmäßig besucht hat und daß er fast An- alphabet war, als er im Alter von ca. 13 Jahren in die Anstalt eintrat. Er kann auch heute nur mangelhaft lesen und schreiben. »In moralischer Hinsicht war er von Anfang an ein Scheusal.«< Er wurde übrigens der Erziehungsanstalt zugeführt infolge eines Richterspruches, der ihn wegen Angriffes auf die Schamhaftigkeit mit Gewalt und Drohungen an Knaben unter 14 Jahren der Regierung bis zum vollendeten 21. Lebensjahre zur Verfügung stellte. Mehrere Versuche, die später gemacht wurden, ihn bei Handwerkern in die Lehre zu geben, scheiterten, weil er nach kurzer Zeit immer wieder davonlief. Zusammenfassend kennzeichnet ihn die Anstalts- leitung folgendermaßen: »Er ist der Typus des durch angeborene und er- worbene Defekte ethisch degenerierten Menschen. Infolge seines geistigen Schwachsinns, der stark an Imbezillität grenzt, prallen Ermahnungen und Belehrungen so gut wie vollständig an ihm ab. Erfaßt sein debiles Gehirn trotzdem einmal die ihm gegebenen Ratschläge, so scheitert deren Befolgung alsbald an seiner allzugroßen Willensschwäche. «

Die Wirklichkeit bestätigt also durchaus die Diagnose des psycho- logischen Profils.

Die beiden anderen Profile weisen einen annähernd gleichen Verlauf auf, mit dem alleinigen Unterschied, daß für M. die Kurve im allgemeinen etwas höher liegt, was bei dem Prozeß der Abstraktionsfähigkeit am deutlichsten in die Augen fällt. Beide Kurven zeigen wieder den merk- würdigen Tiefstand für die Aufmerksamkeits- und Willensprozesse. Das Optimum liegt bei dem Gedächtnis für optische Wahrnehmungen. Auch die Kombination von konkreten Teilen zu einem Ganzen und die Ein- bildungskraft stellen sich günstig, während deutende Auffassung und Findigkeit wieder tiefer liegen.

Berechnen wir die Gesamtformel des Profils, so ergibt sich für B.: Aufmerksamkeit und Wille 1,7; Merkfähigkeit und Gedächtnis 6,7; Kom- binationsprozesse 4,8. Demnach stellt sich P = 4,2.

Für M. liegen die Verhältnisse folgendermaßen: Aufmerksamkeit und Wille 2; Merkfähigkeit und Gedächtnis 7,1; Kombinationsprozesse 5,8 und P= 4,9.

Beide Profile reichen nur wenig über 4 hinaus, so daß wir nach

1. Psychologische Profile. 173

Rossolimo leichtere Grade des Schwachsinns annehmen dürfen. Da in beiden Fällen die dritte Prozeßgruppe bedeutend hinter der zweiten Prozeß- gruppe zurückbleibt, so würde das auf Imbezillität hinweisen. Anderer- seits kennzeichnet sich wieder die Mangelhaftigkeit des Typus durch den sehr niedrigen Staud der Aufmerksamkeit und des Willens. Wir haben demnach in beiden Fällen willensschwache Typen vor uns, deren geistige Veranlagung zwar besser ist als die von J., die sich aber trotzdem an der Grenze des Schwachsinns hält. Obschon der Unterschied zwischen der Gesamtkurve von B. und derjenigen von M. nur ein geringer ist, so liegt die letztere doch durchgängig höher, und wir müssen M. als B. überlegen betrachten.

B. ist wegen wiederholten Diebstahls und schwerer Verletzung eines Haustieres der Anstaltserziehung zugeführt worden. Er hatte die öffent- liche Schule ohne Resultat besucht und kannte, als er die Anstaltsschule im Alter von 8 Jahren betrat, nur einige Buchstaben, sowie den Zahlen- kreis von 1—10. In der Anstalt hat er relativ gute Erfolge gehabt. Fleiß und Fortschritte sind zwar ungenügend, sein Charakter wird als jäh- zornig und eigensinnig geschildert, dabei als willensschwach, aber er hat es bis zu geläufigem Lesen und Schreiben gebracht, nnd auch im Rechnen sind seine Resultate befriedigend.

M. wurde wegen Angriffs auf die Schamhaftigkeit der Regierung zur Verfügung gestellt. Bis zum 12. Lebensjahr hatte er die Volksschule be- sucht, aber in den letzten Jahren fehlte er fast regelmäßig, so daß er es nur bis zum 4. Schuljahr brachte. Er konnte nur mangelhaft lesen und schreiben und galt als geistig schwach begabt. In der Erziehungsanstalt war er drei Jahre, ohne Fortschritte zu machen. Lesen und Schreiben waren kaum befriedigend. Von der Anstaltsleitung wird er sehr ungünstig beurteilt: »Willensschwach, leicht beeinflußbar, ehrgeizig. Er bewegt be- ständig den Kopf hin und her und kann den Blick nie ruhen lassen. Desgleichen konzentriert er seine Gedanken nie auf einen Gegenstand oder auf ein Thema, springt vielmehr ohne Verbindung von einem Punkt auf den andern. Weicht dem Blick beständig aus, und nur bei besonders fester und suggestiver Fragestellung halten die Blicke des Fragestellers ihn ge- fangen. Dann ist es ihm fast unmöglich, eine Antwort zu geben.«

Von der Anstalt wird also M. ungünstiger beurteilt als B., obschon das psychologische Profil des ersteren, wenn auch nur um ein Geringes, dem des zweiten überlegen ist. Der Grund liegt aber vielleicht zum Teil darin, daß M. den schlechteren Charakter zu haben scheint. Über ihn heißt es in einem Schulzeugnis: »Die Frechheit, Faulheit, Nachlässigkeit und Unzuverlässigkeit dieses Zöglings sind unbeschreiblich.« Es geschieht aber bisweilen, daß die Schule in ihrem Urteil über die geistige Be- gabung eines Zöglings sich durch ihr Urteil über seinen Charakter be- einflussen läßt. Das psychologische Profil gibt jedoch vorzugsweise Auf- schluß über intellektuelle und Erkenntnisprozesse. Andererseits mag die Überlegenheit des M. bei unseren Versuchen darin ihre Erklärung finden, daß er bei deren Ausführung 4 Jahre älter war als B. und eine viel längere Schulbildung hinter sich hatte.

174 B. Mitteilungen.

Im übrigen aber zeigen diese Untersuchungen, daß unsere Methode der abgekürzten Profile brauchbare Resultate liefern kann, daß sie vor allem es gestattet, die verschiedenartigen Elemente, die in einer Erziehungs- anstalt Aufnahme finden, schon gleich bei ihrem Eintritt ohne viel Zeit- verlust richtig zu beurteilen und provisorisch wenigstens zu klassieren. Wenn diese Versuche durch die Schulleiter vorgenommen werden, so sind zudem für sie viele Einzelbeobachtungen während der Versuche von Wichtigkeit, und sie erhalten oft ein überraschend richtiges Bild von der zu prüfenden Anlage. Wir glauben darum, daß die von Rossolimo mit viel Scharfsinn zusammengesetzte Methode der psychologischen Profile auch in der von uns angewandten abgekürzten Form gute Dienste leisten kann.

2. Wie sich mein Sohn bis zum Alter von 3!/, Jahren zu den Dingen, Tieren und Pflanzen der Umwelt stellte.

Von Frau Hanna Neugebauer, Kostenblut. (Schluß.)

Im folgenden Abschnitt möchte ich einiges erwähnen, das mir beim Lesen von L. Nagys Buch »Psychologie des kindlichen Interesses« auf- gefallen ist. Teils bestätigt es Nagys Beobachtungen, teils aber weicht es, soweit ich als Laie es beurteilen kann, von ihnen ab. Da sich meine Beobachtungen über das 2. und 3. Lebensjahr meines Sohnes erstrecken, während Nagy sich namentlich über das Alter von 8—15 Jahren ver- breitet, sind es nur wenige Punkte, in denen Beziehungen zwischen Nagys und meinen Beobachtungen bestehen.

Nagy stellt bei der Entwicklung des Interesses fünf Stufen auf:

1. Das sinnliche Interesse,

2. Stufe des subjektiven Interesses, 3. Stufe des objektiven Interesses, 4. Stufe des steten Interesses,

5. Stufe des logischen Interesses.

Das sinnliche Interesse Rafaels soll später Gegenstand einer ausführ- lichen Darstellung sein.

Beim subjektiven Interesse fand ich, daß im Gegensatz zu Nagy Rafaels Interesse für Naturdinge wenig subjektiv ist und war. Nament- lich interessierte ihn, wie ich schon erwähnte, nicht ihre Eßbarkeit. Sein Interesse an Naturdingen ist vielmehr mehr objektiv, wie Rafaels Fragen beweisen. Es mag dies zum Teil wohl damit zusammenhängen, daß ich nicht, wie es vielleicht sonst von Müttern geschieht, dem Kinde Anschau- ungen beigebracht habe. Ich habe es unbewußt und unwillkürlich vermieden, dem Knaben zu erzählen, der Mond gucke zum Fenster herein, ob Rafael brav schlafe, oder die Blümchen im Garten freuten sich auf ihn, oder der Tisch solle gestraft werden, weil das Kind sich an ihm gestoßen habe usw. Es scheint mir aus Rafaels Fragen vielmehr eine wirkliche Wißbegierde zu sprechen. Es gab zwar bei ihm auch eine Periode, in

2. Wie sich mein Sohn bis zum Alter von 3'/, Jahren zu den Dingen usw. stellte. 175

der er täglich viele gedankenlose und gewohnheitsmäßige Fragen stellte, namentlich Warumfragen, doch war die Bedeutung dieser Periode ver- schwindend gegen die meiner Ansicht nach von wirklichem Wissensdrang eingegebenen Fragen.

Die Stufe des objektiven Interesses setzt Nagy für die Zeit vom 7.—10. Jahre ein. Wie gesagt, scheint mir also Rafael schon im 3. Jahr Anfänge dieser Stufe zu zeigen. Wißbegierde, ein Verlangen, mit allen Dingen, die er zu sehen bekommt, bekannt zu werden. Bei den allerersten Besuchen in der Schmiede mag er sich vielleicht nur am Feuer, an den Funken und am Hämmern erfreut haben. Aber bald sah er dem Be- schlagen eines Pferdes bei allen 4 Hufeisen vom Anfang bis zum Ende mit objektivem Interesse und passiver Aufmerksamkeit zu. Erst zu Hause und stunden-, ja tagelang später setzte sich das aufmerksam Angeschaute, seinem Alter gemäß, in Phantasiespiele um.

Das stete Interesse, sagt Nagy, erscheint bei jedem Kinde im Alter von 10 bis 15 Jahren. Rafaels Interesse für Maschinen und Handwerk war ein Jahr lang so stark und beherrschte seine ganze Spiel- und Ge- dankenwelt so sehr, daß ich darin schon eine Spur eines steten Interesses erblicke. Rauch, Staub und Kälte nahm er stundenlang mit in Kauf, wenn er nur der Lokomobile und dem Dreschkasten zusehn konnte; am Eisenbahnübergang hätte er, zitternd vor Kälte, stundenlang gestanden, um die Lokomotive rangieren zu sehen.

Als Motive des Interesses führt Nagy an:

1. Die Tätigkeit,

2. die Wahrnehmungen,

3. die Gefühle (ästhetische, physische Gefühle, Sucht des Besitz- erwerbs, Mitgefühl und soziales Gefühl),

4. den Vorstellungsinhalt.

Nagy faßt die interesseweckende Wirkung der Handlung in 4 Er- fahrungsleitsätze zusammen, von denen für Rafael 2, der 1. und der 3. in Betracht kommen:

»1. Die äußere Wahrnehmung allein ist des Öfteren nicht genügend zum Hervorbringen des Interessenvorgangs.« »3. Derselbe Gegenstand weckt insofern einen Interessenhergang im Kinde, als er zu Handlungen anzutreiben vermag.«

Zu 1.: Die äußere Wahrnehmung war bei Rafael genügend zum Her- vorbringen des Interessenvorganges. Der bloße Anblick irgend einer still- stehenden Maschine oder irgend welcher einzelner Maschinenteile erregte sein lebhaftes Interesse. Es war dies bei Maschinen immer der Fall. Bei Tieren jedoch nicht immer: Raupen z. B. interessierten ihn in 2 Sommern aus dem Grunde sehr, weil er sie von den Bäumen absuchen und töten oder den Hühnern bringen durfte.

Zu 3 fand ich ein deutliches Beispiel: Pferde interessierten ihn nie- mals. Als aber in diesem Sommer ein Fohlenkoppel in unsrer Nähe ein- gerichtet wurde, blieb er bei jedem Spaziergang dorthin halbe Stunden lang bei den Pferden stehn, weil er Hände voll hohen Klees abreißen und die Fohlen damit füttern konnte.

176 B. Mitteilungen.

Nagy führt dann drei Stufen des Aktivitätsinteresses an: I. Die instinktive Stufe, II. die subjektive Stufe, III. die objektive Stufe.

Bezüglich des Laufens und Kletterns steht Rafael auf der ersten, der instinktiven Stufe: Die Bewegung selbst ist es, die ihn zum Laufen und Klettern anreizt, nicht das Ziel. Er erklettert Bäume und Zäune, nicht um Obst oder Blüten zu pflücken, sondern um das Kletterns selbst willen. Höchstens mischt sich die Phantasie hinein, indem Rafael sich, wenn er im Baum sitzt, als Vogel ansieht, Kuckuck ruft und »ausfliegt«, um sich Futter zu holen und dann wieder in sein »Nest« zu »fliegen«.

Bei der Stufe des objektiven Interesses erwähnt Nagy, daß die von ihm beobachteten Knaben bei ihrem Schmetterlingsinteresse für ihre Aus- flüge Stecknadeln und hartes Papier vorbereiteten, um die gefangenen Schmetterlinge aufzustecken. Einen Anklang daran fand ich darin, daß Rafael, als wir vorhatten, zu einem Teich zu gehen, aus dem Garten eine Anzahl Steine mitnahm, um sie in den Teich zu werfen. Ferner er- zählt Nagy von seinem 17jährigen Neffen, daß er die Funktionen der ganzen inneren Konstruktion einer Maschine mit Aufmerksamkeit ver- folgte. Dasselbe fand ich bei Rafael an der Nähmaschine im 3. Jahr. Er drehte langsam mit der Hand das Rad und beobachtete aufmerksam alles, was gleichzeitig vor sich ging.

Beim Motiv der sinnlichen Wahrnehmungen hebt Nagy die minder- wertige Rolle der Lautempfindungen hervor; die Stimme des Fasans, der Turteltaube usw. konnte nur dann ein wenig Interesse bei den Kindern hervorrufen, wenn sie darauf aufmerksam gemacht wurden. Rafael da- gegen bekundete mit 3 Jahren durch Bemerkungen und Fragen Interesse für den Ruf des Fasans, den Laut beim Flug der Rebhühner und den Ruf der Zikade; namentlich nach der Zikade hat er auf ihre Stimme hin sehr dringend gefragt. Von einem singenden Vögelchen sagte er spontan: Das erzählt sich was. Diese Aufmerksamkeit für Laute mag ihren Grund einerseits in Rafaels Anlage haben er war früh und stets auf Geräusche aller Art aufmerksam andrerseits in seiner Erziehung; wir lenkten sein Interesse im Garten und auf Spaziergängen oft auf Tier- stimmen.

Bezüglich der Rolle der Tastempfindungen kann ich bestätigend be- richten, daß Rafael gern kleine Tiere, wie Katzen, Hähnchen, Entchen im Schoß hielt und streichelte; später, als das Maschineninteresse vorüber war, zog er das Streicheln der Kälber sogar dem Anblick der bewegten Buttermaschine vor.

Nagy zeigt an einem Beispiele (Beobachtung von Ameisen, S. 76), daß »die gesamten selbstbewußten Wahrnehmungen der Kinder sich aufs Handeln beziehen«. Ich habe das bei Rafael nicht immer gefunden; ihn interessierte oft die bloße Körperbeschaffenheit der betrachteten Tiere. Viele seiner Fragen beweisen es: warum die Fliegen so dünne Flügel haben, warum die Frösche nicht auch einen Schwanz haben wie die Eidechsen usw.

2. Wie sich mein Sohn bis zum Alter von 3'/, Jahren zu den Dingen usw. stellte. 177

Weiter zeigt Nagy an Beispielen (Maschinen usw.), daß sich die Kinder »vornehmlich für die Wirkung« interessierten. Bei Rafael war das nicht der Fall. Bei der Dreschmaschine interessierten ihn die Körner am allerwenigsten, vielmehr die Bewegung, der Gang, die Konstruktion, die Teile der Maschine. Andre Fälle zeigen, wie Rafael sich für die Weise und das Mittel interessierte, während nach Nagy »die Weise der Handlung nur dann die Kinder interessierte, wenn die Bewegungen des Tuns sehr intensiv und in die Augen springend waren,« und die Kinder >von den Mitteln erst in zweiter Reihe selbstbewußte Wahrnehmungen ge- schöpft« haben. Rafael fragte im 3. Jahre sehr eindringlich, wie die Sonne weggeht, wie der Schuster die Schuhe macht, wie alle erdenklichen Gegenstände gemacht worden seien, wie ein Ausschlag aus der Haut herausgekommen sei, wie die Haare gewachsen seien, wie aus der Puppe ein Maikäfer wird usw. Und nach dem Mittel: womit die Flügel eines Engels (auf einem Bilde) befestigt seien, und womit sich die Blume das Wasser heraufzieht.

Den nächsten Abschnitt (III, S. 78) widmet Nagy dem Gefühl als Motiv des Interesses. Er behandelt das ästhetische, das körperliche Ge- fühl, die Sucht nach Besitzerwerb, das Mitgefühl und das soziale Gefühl.

Beim ästhetischen Gefühl kann ich die oft beobachtete Freude des Säuglings am Rhythmus bestätigen. Mit 3 Jahren hat Rafael große Freude an Kinderreimen, an gesprochenen Versen, weniger am gesungenen Lied. Er selbst singt nach eigner Phantasie »Lieder«, die aber keinen Rhythmus haben und deren Text meist dem Leben der Tiere entnommen ist. Zweimal äußerte Rafael spontan ästhetisches Wohlgefallen, einmal an einem schönen silbernen Abendhimmelstreifen, von dem er sagte: Dort so was Schönes soll auch zu uns kommen! und einmal an dem großen, halb- kreisförmigen, von Rasen und Pelargonienbeeten umgebenen Teich in der ` Breslauer Jahrhundertausstellung. Als er ihn plötzlich erblickte, entfuhr ihm ein langes, entzückendes aaak!!! Die schon immer bestehende Freude am Wasser überhaupt, an Springbrunnen usw. mag dazu beigetragen haben. Wenn er sich zu Hause einem natürlichen Teich näherte, freute er sich zwar auch, aber nur in der Aussicht, ins Wasser waten zu dürfen, oder Frösche und Kaulquappen zu sehn. In der Ausstellung war es deutlich

ästhetisches Wohlgefallen. Die von Nagy beobachteten Kinder waren sehr schwer auf die Schönheit einer prachtvollen Aussicht hinzulenken (S. 82).

Die körperlichen Gefühle spielen bei Rafael eine verschwindende Rolle als Motive des Interesses. Nur wenige Male gaben Verlangen nach oder Wohlgeschmack an bestimmten Speisen Anlaß zu diesbezüglichen, aber auch objektiven, Bemerkungen und Fragen; z.B.: Wo wachsen die Bananen? Wo wachsen die Rosinen? Pflückt der Bäckerjunge die Rosinen (im Kuchen) a5? Nachdem der Vater aus Breslau Apfelsinen mit- gebracht hatte: Wachsen in Breslau Apfelsinenbäume? Wo kommt immer Fleisch her? »Vom Fleischer.ce Wer gibt denn dem Fleischer immer Fleisch?

Zeitschrift für Kinderforschung. 22. Jahrgang. 12

178 B. Mitteilungen.

Eine Sucht nach Besitzerwerb bemerkte ich bei Rafael bis jetzt nie. Ich erwähnte schon, daß er gesammelte Kastanien oder Eicheln bald weg wirft oder sich nicht um sie kümmert. Höchstens verlangt er, wenn ein andres Kind bei ihm ist, gerade mit denjenigen von seinen Spielzeugen zu spielen, die das fremde Kind hat, und die er sonst wenig oder gar nicht schätzt. Nagy hebt wiederholt hervor, mit welchem Eifer die Knaben Schmetterlinge fingen, die Mädchen Blumen sammelten. Ich glaube, daß hierbei die Nachahmung eine große Rolie spielte. Ich möchte wissen, wie sich die Kinder in dieser Hinsicht benommen haben würden, wenn nicht Knaben und Mädchen gesondert spazieren geführt worden wären, sondern eine Anzahl Knaben zusammen mit einer Anzahl Mädchen, die sich alle untereinander kennten und die an den Umgang untereinander gewöhnt wären, so daß nicht Fremdheit wieder die Geschlechter trennte. Es hätten sich dann vielleicht manche Knaben den Blumen, manche Mädchen den Schmetterlingen zugewendet, manche sich vielleicht weder an dem einen noch an dem andern beteiligt. Gewiß bewirkte auch eine Art Suggestion das Ergebnis von Nagys Beobachtungen. Wenn bei den Ausflügen nur wenige Kinder gewesen wären, hätten sie sich vielleicht nicht mit so großem und anhaltendem Eifer den Schmetterlingen und Blumen gewidmet. An mir habe ich die Erfahrung gemacht, daß eine derartige »Sammelwut« vieler Kinder suggestiv wirkt. Ich habe nie An- lage gehabt, irgend welche Gegenstände zu sammeln, aber als ich zwischen 11 und 14 Jahren in einem Pensionat war, steckte mich das Sammeln von Heiligenbildern zeitweilig an, wenn ich’s auch nicht zu der Leiden- schaft mancher von meinen Gefährtinnen bringen konnte.

Zum Mitgefühl möchte ich bemerken, daß Rafael im 2. Jahre und zu Anfang des 3. Jahres gegen gleichaltrige Kinder scheu und ver- legen war, während größere Kinder, Schulkinder, ihm eine förmliche Angst einflößten, wenn mehrere ihn umringten und Zärtlichkeiten und Fragen an ihn richteten. Er schrie dann auch laut nach mir und rief unter heißen Tränen: Muttel, die Kinder kommen alle zu mir! Gegen das Ende des 3. Jahres jedoch redete er übereinstimmend mit Nagy einem kleinen Arbeitermädchen in seinem Alter sehr freundlich und lange zu, mit ihm zu kommen, und die Furcht vor den großen Kindern ist er- heblich zurückgegangen.

Nagy sagt (S. 113): »Das sympathische Interesse des 2jährigen Kindes kann man aus seinen unmittelbaren Nachahmungen ersehen. Wenn die Person, mit der das Kind sympathisiert, singt, klatscht, tut es ebenso. .. Ich habe derartiges an Rafael kaum bemerkt. Es mag individuell sein. Rafael ahmte dagegen Öfters nur einmal gesehene oder flüchtig bekannte Personen nach, nachdem Tage und Wochen nach dem Anblick vergangen waren; z. B. ging er um 1; 11 einmal ganz gebückt und sagte dazu: ‚So (F)rau = so machte es eine alte Frau, die er einige Zeit vorher auf der Straße gesehen hatte; und indem er eine Hand auf den Rücken legte, ahmte er genau die Haltung eines bekannten Herrn nach und erklärte seine Haltung. In seinen späteren dramatischen Phantasiespielen wirkten im Gegensatz zu Nagy niemals liebe Personen mit, wie Vater und

3. Die engere Verknüpfung von Schul- und Familienerziehung. 179

Mutter, sondern stets Tiere. Das ist vielleicht auch individuell. Ein 4!/, jähriges Mädchen, das zuweilen bei ihm ist, möchte immer mit ihm Mutter und Kind spielen, aber Rafael ist nie dafür zu haben.

Bezüglich des sozialen Gefühls möchte ich bemerken, daß Rafael zwar sehr gern und am schönsten mit Erwachsenen spielt (Nagy, S. 122), daß er aber täglich nach Kindern als Spielgefährten verlangt. Wenn dann ein etwa gleichaltriges Kind zu ihm kommt, freut er sich sehr, versteht aber nicht mit ihm zu spielen. Wenn ich nicht selbst ein gemeinsames Spiel der Kinder einrichte und leite, ist meistens Rafael bald bei irgend einer Beschäftigung ganz allein, während das fremde Kind etwas anderes spielt.

Rafaels individuelles Interesse war das für Maschinen und Handwerk. Ich glaube, daß es zum größten Teil angeboren ist. Gewiß wirkte auch die Umgebung mit, insofern als Rafael oft Gelegenheit hatte, Maschinen und Handwerk eingehend zu betrachten. Aber dieselbe Gelegenheit hatte er, Naturdinge zu betrachten, die ihn in täglich in Garten und Feld um- geben. Dieselbe Gelegenheit, Maschinen zu sehen, haben aber auch alle andern Kinder des Ortes, und ich weiß unter allen nur ein einziges, einen 6 jährigen halbidiotischen Jungen, der für Maschinen ein ähnliches Inter- esse hat wie Rafael es von 1; 7 bis 2; 7 hatte.

8. Die engere Verknüpfung von Schul- und Familien- erziehung.

Von F. Weigl, München-Harlaching.

Die Erziehungsaufgaben werden nach dem Kriege noch größer und bedeutsamer als zuvor. Nicht nur, daß der Verlust von Tausenden der Besten des Volkes zur größten Sorgfalt in der Heranbildung der Kräfte des Nachwuchses mahnt, auch die Gefahren für die Entwicklung der sitt- lichen Kräfte in der Jugend sind während des Krieges und wohl auch nach dieser Zeit nach dessen Ende größer als sonst je. Unser Sinnen muß deshalb darauf gerichtet sein, die erziehliche Einwirkung so sehr als es nur möglich erscheint, zu konzentrieren und alle Kräfte aufzurufen, die für die sittliche Erstarkung des Nachwuchses gewonnen werden können.

Man hat in den letzten Jahrzehnten vielleicht zu einseitig an die Schule gedacht, wenn von pädagogischen Aufgaben die Rede war und dar- über drohte die andere wichtige Erziehungsmacht, die Familie, zu sehr in den Hintergrund zu treten. Sie wollte meist gerne die ganze Verant- wortung auf die Schule abladen, und so wurde die Erziehungsmacht in ihrer Wirkung verringert, vielfach gelähmt, die doch zuallernächst alle Möglichkeiten der erziehlichen Führung der Jugend ergreifen sollte.

Es ist ein erfreuliches Zeichen, daß jetzt daran gegangen wird, das pädagogische Interesse des Elternhauses wieder zu mobili-

12*

180 B. Mitteilungen.

sieren. Auf 2 typische, nachahmenswerte Beispiele soll hier hingewiesen werden.!)

An der IL Höheren Mädchenschule in Leipzig wurde der Ver- such gemacht, »für Beobachtung des Schulkindes im Elternhaus« anzuregen. In einer Abhandlung, die sich an das Elternhaus wendet, hat Prof. Dr. Tränkmann unter Mitwirkung von Schulrat Prof. Dr. Gaudig versucht, für die Beobachtung der Schülerinnen durch die gesamte Schul- zeit Handreichung zu bekommen. Die Gebiete, auf denen dabei der Schule die Mitarbeit des Hauses gesichert werden soll, sind das körper- liche Leben der Schülerinnen, ihr seelisches Leben, wie es sich zeigt bei der Arbeit im Hause, in der Mußezeit, im Gemeinschaftsleben, ferner die allgemeine Natur der Schülerinnen, nämlich ihre allgemeine geist- leibliche Eigenart, ihre allgemeine Stellung zu Leben und Welt, ihre werdende Lebens- und Weltanschauung, ihr allgemeines Verhältnis zu sich selbst.

Das Schema, das von der Leipziger Anstalt für die Beobachtung dieser Erscheinungen im Leben der Schülerinnen entworfen wurde, ist außerordentlich geschickt gemacht und kann von Eltern, die ein wenig Interesse für die Erziehung ihres Kindes haben, leicht verstanden und zur Berichterstattung verwendet werden. Mit großem Geschick sind die Er- kenntnisse der modernen psychologischen Forschung, namentlich auch die Ergebnisse der Typenforschnng, der Untersuchung der Begabungsdiffe- renzen, der individualpsychologischen Aufnahmen verwertet und ohne Ver- wendung der für den Laien unverständlichen Fachausdrücke in sorgfältig gewählten beispielsweiseun Angaben allgemeinverständlich gemacht.

Es ist sicher, daß die Beantwortung dieser Fragen das Leben des Kindes vor der Schule außerordentlich deutlich aufdecken läßt, so die wichtigsten Fingerzeige für die richtige Beurteilung der Eigenart des ein- zelnen Kindes gibt und andererseits die Schule in die Möglichkeit versetzt, den Eltern mit wertvollem Rat für die richtige Behandlung des Kindes in Zweifelsfällen an die Hand zu gehen.

Diese Aufgabe will in sehr praktischer Weise Edmund Schopen, Godesberg, erreichen, indem er in einem Aufsatz: »Erziehungshilfe« der von der pädagogischen Stiftung Cassianeum in Donauwörth heraus- gegebenen pädagogischen Monatsschrift »Pharus« (VII, Nr. 8. Donau- wörth, Ludw. Auer, 1916) von der Anwendung von Kontrollkarten be- richtet, die Elternhaus und Schule miteinander verbinden zur Beobachtung und wohlüberlegten Beseitigung von Charakterfehlern der Kinder. Die Mitteilung, mit der die Zeitschrift wieder ihre bewußte, verständige Einstellung auf die erziehliche Seite der Schularbeit als deren wichtigste Aufgabe bewiesen hat, verdient Beachtung durch Nachahmung. Der Verfasser will diese Karten anwenden bei den erziehungswilligen aber un- geschickten Eltern, die mit der erziehlichen Behandlung der Kinder nicht

1) Trüpers weiter zurückliegender Vorschlag, der in seinem »Personalien- buch« (Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung. Heft 84. 2. Aufl. 1911) vorliegt, darf bei den Lesern dieser Zeitschrift als bekannt vorausgesetzt werden.

3. Die engere Verknüpfung von Schul- und Familienerziehung. 181

zurechtkommen. Zunächst verlangt er von diesen, ähnlich wie es die Leipziger Schule tut, die Ausfüllung eines Fragebogens, der allerdings wesentlich einfacher gehalten ist. Seine Hauptfragen sind etwa: Welches sind die besonders hervortretenden guten Eigenschaften des Kindes? Welche Fehler sind bisher meist hervorgetreten? Welches ist nach Ihıer Ansicht der Hauptfehler des Kindes? (nach Ungehorsam und Lüge wäre besonders zu fragen). Wie bestrafen Sie Ihr Kind für die obengenannten Fehler im einzelnen? Wie bringt das Kind die schulfreie Zeit zu? Mit wem ver- kehrt das Kind? Welche Hausarbeiten muß es leisten? Wann geht es schlafen und wann steht es auf? Es ist den Eltern die Gewißheit zu geben, daß der Fragebogen durchaus als diskrete Vertrauenssache behandelt wird. Auf Grund der eingelaufenen Antwort hat dann die Arbeit der Schule einzusetzen. Sicher ergibt sich schon allgemein manch wertvolle Aufgabe; so haben z. B. die Eltern nicht selten zur Revision ihrer Er- ziehungsmittel (abstumpfendes Schelten, harte Prügelpädagogik, Strafen in jähem Aufbrausen, ohne ruhige Überlegung, Inkonsequenz der Behandlung der Kinder usw.) veranlaßt werden müssen. Handelt es sich sodann beim Kinde um die Ausmerzung eines auftauchenden oder vielleicht sogar schon eingewurzelten Charakterfehlers, so tritt die Kontrollkarte in Ver- * wendung.

Die Vorderseite dieser Karte enthält für die einzelnen Tage Raum zum Eintrag von vorgekommenen Fehlern (Ungehorsam, Lüge, Unehrlich- keit, Naschhaftigkeit, Trotz, Frechheit, Trägheit, Unverträglichkeit, Zorn, Roheit, Tierquälerei, Sachbeschädigung) und der Art der Strafe. Die Rück- seite enthält folgende Erläuterung:

Bitte genau durchlesen!

1. Diese Karte hat den Zweck, das Zusammenwirken von Eltern, Lehrern und Geistlichen in der Erziehung der Kinder zu verwirklichen.

2. Jede Karte umfaßt die Kontrolle einer Woche und ermöglicht es, ... die Erziehungsfortschritte gemeinsam zu kontrollieren. !)

3. Die Karte wird angewandt bei jedem in guter häuslicher Erziehung befindlichen Schüler, bei dem irgend eine Charaktergefährdung.... be- merkbar wird, ohne daß häusliche Verwahrlosung die Schuld trägt.

4. Der Karteninhalt ist Amtsgeheimnis. Nach Ablauf eines Vierteljahres werden die Karten in Gegenwart des Schülers vernichtet.

5. Sorgfältige und gewissenhafte Ausfüllung ist nötig. ?)

Es ist nicht zu verkennen, daß eine sorgfältige Durchführung dieser Vorschläge, eine außerordentlich wertvolle ineinandergreifende Behandlung eines Charakterfehlers, durch Haus und Schule erzielen läßt, die allmählich zur sicheren Ausmerzung des betreffenden Fehlers führen wird.

Der Gedanke, der den Elternsprechstunden zugrunde liegt, ist hier in eine praktisch leichter zu handhabende Form übertragen. Wer in öffent-

1) Ich beschränke mich hier auf Wiedergabe der Hauptgesichtspunkte. Im einzelnen sind die Angaben zu finden in dem erwähnten Heft des »Pharus« S. 703 ff. ?) In einem 6. Punkt wird die Ausfüllung der Vorderseite näher beschrieben.

182 B. Mitteilungen.

lichen Schulen, besonders der Volksschule die Fühlungnahme zwischen Lehrer und Eltern energisch betreibt, weiß, welche Schwierigkeiten sich dabei immer wieder in den Weg stellen, weil die Notwendigkeit, dem Ver- dienst nachzugehen, Unabkömmlichkeit im Haushalt, oft auch Gleichgültig- keit immer wieder die Verbindung unterbricht, jedenfalls aber einen häu- figeren regelmäßigen Besuch den Eltern unmöglich macht. In der Ver- wendung des schriftlichen geregelten Verkehrs steht zweifellos ein Weg offen, dessen systematischer Ausbau versucht werden sollte.

4. Stephanie Schön t.

Am 7. Januar 1917 entschlief nach kurzer, schwerer Krankheit zu Zimpel bei Breslau die Leiterin der Arbeitslehrkolonie für Schwachbefähigte Frau Stephanie Schön, geb. Hoffmann. Frau Schön trat Ostern 1897 in der ältesten Hilfsschule in Breslau als Lehrerin ein. Die damals erst zweiklassige Schule, deren Entwicklung nur ganz langsam vor sich ging, bot der arbeitsfreudigen, für alles Gute begeisterten Lehrerin nicht ge- nügend Arbeitsgelegeuheit. Ihr reger Geist suchte sich ja zunächst in der reichen Ausgestaltung ihrer Schularbeit ein Betätigungsfeld zu schaffen. Da ihr dies auf die Dauer nicht ausreichend war, wollte sie immer neuen Aufgaben dienen. In jener Zeit bewegte uns in unserm kleinen Schul- kreise neben mancherlei anderen Fürsorgemaßnahmen auch die Versorgung für solche aus der Hilfsschule entlassenen Kinder, die durch die Meister- lehre keine ausreichende Ausrüstung fürs Leben finden konnten. Für diese einzutreten, erschien ihr als eine schöne Lebensaufgabe. So fing sie im Jahre 1903 mit drei Pfleglingen die erste deutsche Arbeitslehrkolonie für Schwachbefähigte in Gräbschen bei Breslau an. In ihrer opferfreudigen Art war sie bereit, ihr kleines Vermögen dafür hinzugeben. Sie wollte damit etwas Gutes schaffen und hoffte dann, daß edle Menschenfreunde ihr Werk weiter fördern würden. Dieser feste Glaube hat sie glücklicher- weise nicht betrogen, wenn sie auch mancherlei Schwierigkeiten über- winden mußte. Bedeutungsvoll für das junge Werk war das tatkräftige Eintreten des damaligen Oberpräsidenten der Provinz Schlesien für ihre Arbeit. Durch seine Vermittelung wurde ihr das schöne Schloß Pleisch- witz zur Verfügung gestellt, wo sie eine reichgesegnete Arbeit für ihre sechzig und mehr Pfleglinge, die sie für die verschiedensten Lebensberufe durch Lehrmeister ausbilden ließ, entfalten konnte. Im Herbst 1916 be- zog sie das neue Heim in Zimpel bei Breslau. Es war ihr nicht mehr vergönnt, an der Seite ihres Gatten die Ausgestaltung des neuen Heims nach ihren Wünschen ausführen zu können. Ein allzufrüher Tod hat ihrem segensvollen Schaffen ein Ende bereitet. Ihr Werk wird aber in der Schwachsinnigenfürsorge unvergeßlich bleiben. A. Schenk.

5. Über die Erziehung der Schuljugend auf der Straße

wurde vom Magistrat und Schulvorstand in Saalfeld folgende, auch ander- wärts durchaus angebrachte Mahnung erlassen: Das Treiben der Schul-

6. Die Fürsorgezöglinge im Kriege. 183

jugend auf den Straßen bietet gegenwärtig dem Beobachter häufig ein Bild zunehmender Zügellosigkeit. Es hat fast den Anschein, als seien die Kinder die Herren der Straße. Vorhaltungen und Verwarnungen Er- wachsener bleiben meist fruchtlos, bringen diesen oft nur Ärger und Ver- drng, wenn, was nicht selten vorkommt, unvernünftige Mitbürger für die jugendlichen Übeltäter Partei ergreifen. Die Schule mit ihren Lehrern ist nicht imstande, in solchen Fällen den im Felde stehenden Vater oder die die Verantwortung für den Haushalt und ihre Kinder allein tragende Mutter zu ersetzen. Ihre Zuchtmittel wirken nicht über die Schulräume hinaus, wenn sie nicht auf der Straße durch die gesamte Bürgerschaft unterstützt werden. Solche Unterstützung der Schulerziehung ist in einer Zeit wie der gegenwärtigen geradezu Pflicht jeden Bürgers. Wollen wir, während unsere tapferen Feldgrauen einer Welt von Feinden gegenüber standhalten, es geschehen lassen, daß unreife, zuchtlose Kinder durch Verwilderung eine Gefahr für die Zukunft unseres Volkes werden? Wollen wir ihrem Treiben gegenüber nur darum nicht eingreifen, weil uns Unbequemlich- keiten daraus erwachsen könnten? Unsere Kinder, Knaben und Mädchen, müssen sich auf der Straße beaufsichtigt fühlen! Wir richten daher an alle unsere Mitbürger die dringende Bitte, den Ungehörigkeiten unserer Schuljugend ernst entgegenzutreten, es an Zurechtweisungen nicht fehlen zu lassen, bei Widersetzlichkeit die Übertreter dem nächsten Schutzmann zuzuführen. Wer die jugendlichen Übeltäter ihrer Bestrafung entzieht, macht sich selbst strafbar.

6. Die Fürsorgezöglinge im Kriege.

Im Haushaltungsausschuß des Preußischen Abgeordnetenhauses ist bei der Beratung der Forderungen für allgemeine Ausgaben der Polizei auch über die Fürsorgeerziehung verhandelt worden. Es wurde hervorgehoben, daß während des Krieges die Kosten für die Fürsorgeerziehung erheblich gewachsen sind, und daß die Beschaffung der Kleider für die Fürsorge- zöglinge besondere Schwierigkeiten verursache. Im Jahre 1915 sind 11273 Fürsorgezöglinge in Preußen neu eingewiesen worden. Das ist die Höchstzahl, die seit Bestehen des Fürsorgeerziehungsgesetzes erreicht worden ist (fast eine Verdoppelung der Zahl von 1902). Die Erfahrungen, die mit den Fürsorgezöglingen im Kriege gemacht worden sind, sind im allgemeinen gut. 13072 Fürsorgezöglinge sind in das Heer eingetreten; sie haben sich mit wenigen Ausnahmen als tüchtige Soldaten gezeigt. Eine große Zahl von ihnen ist zu Unteroffizieren, einige sogar zu Offizieren befördert worden. Viele von ihnen haben das Eiserne Kreuz erworben, mehrere das Eiserne Kreuz erster Klasse. Die entlassenen Zöglinge stehen in lebhaftem brieflichen Verkehr mit ihren früheren Lehrmeistern und Dienstherren. Auch hier zeigt sich wieder der gute Kern, der im deutschen Volk steckt. W-r.

184 C. Zeitschriftenschau.

C. Zeitschriftenschau.

Der Säemann, Monatsschrift für Jugendbildung und Jugendkunde. 5. Jahrgang 1914.

Der 5. Jahrgang enthält, wie die vorhergehenden, viele kürzere Aufsätze, die namentlich neue Probleme und Einrichtungen in sehr anregender Weise darstellen, z. B. E. Neuendorff, Vom Wandervogel, A. Kühne, Neue Möglichkeiten der Berufsberatung, L. Pallat, Das Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht, K. Götze, Versuchsschulen, U. Peters, Die Erlösung vom Intellekt. Von aus- gedehnteren Arbeiten seien erwähnt:

Cauer, P., Im Kampf um die Jugend. 8. 41—55. Auseinandersetzung und Abrechnung mit Wyneken. Götze, B., Alfred Lichtwark. S. 81—86. Doell, O., Die Schulklasse als literarische Gesellschaft. S. 92—97, 134—139.

Versuch zur Fruchtbarmachung der bekannten Reformvorschläge der Ham- burger Jensen und Lamszus für den deutschen Unterricht, indem die einzelner Klassen der höheren Schulen in literarische Arbeitsgemeinschaften umgewandel: werden. Dem Unterricht liegt zugrunde der Grundsatz: Selbstentfaltung des Schülers durch Erlebenlassen.

Jaffö, L., Ein Tag in der Montessorischule. S. 97—103.

Besuch einer Montessorischule in England. Zustimmend. Braun, O., Volksgesundung durch Erziehung. S. 121—127.

Kritische Auseinandersetzung mit Langermanns Werk: Steins politisch-päds- gogisches Testament Volksgesundung durch Erziehung. Neuendorff, E., Die Jugendbewegung. S. 127—134.

Geschichte der Bewegung vom Beginn bis zur Entschließung des Siebener- Ausschusses.

Ruppert, J., Der Knabengerichtshof im »Münchner Jugendheim«. S. 139—145.

In dieser 1909 gegründeten Sammel- und Beobachtungsstelle für obdachlose, gefährdete und straffällige Knaben zog der erste Erzieher die Knaben selbst zur Mitarbeit heran, indem er einen Knabengerichtshof im Heim einführte. Nach Darlegung der Gründe für die Einsetzung des Gerichtshofes schildert R. Zusammen- setzung und Gang des Verfahrens sowie die dabei gemachten meist erfreulichen Beobachtungen und Erfahrungen.

Häbler, R. G., Heimatkunde als Unterrichtsprinzip. S. 162—169.

H. fordert sie aus erzieherischen und kulturellen Gründen mehr als aus unter- richtlichen. Formale Voraussetzung ist eine vollkommen durchgeführte nationale Einheitsschule.

Vogel, P., Die Leipziger Versuchsklassen. S. 175—181.

Durchführung und Erfolge.

Petersen, P., Religionsunterricht und Jugendkunde. S. 206—211.

Möglichkeiten und Schwierigkeiten.

Kühner,K., Die Kunst Eugen Burnauds in ihrer erzieherischen Bedeutung. 8.211—218.

Leben des Schöpfers der »Gleichnisse Christie und erzieherische Verwertbar- keit seiner Werke.

C. Zeitschriftenschau. 185

Johannesson, P., Die wichtigsten Formen der physikalischen Schülerübungen. B. 248—257.

Vor- und Nachteile der verschiedenen Übungsformen, der regellosen Arbeits- weise, der verwebten Frontübungen (Hahn), des heuristischen Verfahrens (Danne- mann) und der handwerklichen Betätigung durch den Gerätebau (z. B. am Sophien- gymnasium in Berlin). Für J. ist nicht die unterrichtliche Methode, sondern die unterrichtende Persönlichkeit ausschlaggebend.

Stockhausen, E., Über Sprachkurse für Lehrer. S. 257—265.

Von St. seit 1903 in Hamburg veranstaltöt. Einrichtung und Zweck: Stimm- bildung, Sprachkultur. Zum Schluß Gutachten von Teilnehmern über die Ergebnisse der Sprechkurse.

Ostwald, P., Was lehrt uns der Weltkrieg für den Geschichtsunterricht? S. 287—293.

Die Frage kann nur gelöst werden durch Ausgehen von dem Hauptziel des ganzen Geschichtsunterrichts; der Erziehung einer zur Mitarbeit am Staatswohl fähigen und dafür begeisterten Menschheit.

Jöde, Fritz, Singstunden. S. 293—298.

Ausgeführtes Beispiel: Löwes »Heinrich der Vogler«. Krahnen, E., Aus dem wilden Westen. S. 298—309.

Ein deutscher Ingenieur schildert in fesselnder Weise Leben und Unterricht in einer amerikanischen Volksschule.

Das Sept.-Nov.-Heft ist der deutschen Jugend und ihren Führern gewidmet. Es enthält folgende Beiträge: M. v. Gruber, Was uns die Augusttage von 1914 lehren; Fr. W. Förster, Christus und der Krieg; A. Paquet, Geist der Unab- hängigkeit; K. Scheffler, Die deutsche Zukunft; P. Natorp, Die große Stunde was sie der Jugend kündet; H. Reich, Der Weg der Jugend; G. Pauli, Philipp Otto Runge in unserer Zeit; K. Groß, Die bildende Kunst und das junge Volk; Fr. v. d. Leyen, Der Krieg und die deutsche Sprache; J. Ziehen, Der Krieg 1914 als Erlebnis des deutschen Volkstums; G. Kerschensteiner, Offener Brief an meine amerikanischen Freunde; E. Spranger, An die Jugend; H. Timerding, Die Naturwissenschaften und die militärische Vorbildung der Jugend. Das Dezember- heft enthält einen Aufruf von F. Avenarius an die Jugend.

Warstat, W., Der Geist des Pfadfinders und Wandervogels. 8. 426—432.

Entstehung, Geist und charakteristische Merkmale der beiden Bewegungen. Rehm, A., Die bayerischen Elternvereinigungen. S. 433—437.

Entstehung, Organisation, Aufgaben (Kampf gegen die Überfülle des Lern- stoffs, Bemühungen, um die Zeit für die körperliche Ausbildung zu sichern, Her- beiführung einer Pädagogik des Vertrauens), Erfolge. Der »Säemann« stellt mit dem Dezemberheft 1914 sein Erscheinen ein und wird nach dem Krieg seine Ar- beit wieder aufnehmen.

Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. XXVII. Band 1914. Jaffö, Lisa, Die Montessorischule. S. 15—27.

Übersicht über die Grundlagen der M.schule. Das Leben in einer M.schule in England.

Makower, Dr. A. A., Untersuchungen über Wachstum. 8. 97—120.

Resultate der Untersuchungen des Wuchses, des Gewichts und des Brustum- fangs, angestellt an den Schülern eines Wilnaer jüdischen Privatgymnasiums. Stellt die günstigen Wirkungen der Ferien sowie die ungünstigen der Prüfungen fest; schlußfolgert, daß das Gewicht, abgesehen vom Wuchse, auch vom Alter abhängt.

186 C. Zeitschriftenschau.

Stephani, IV. Internationaler Kongreß für Schulhygiene in Buffalo 1913. 8. 1-10, 120—134, 200—221, 281—295. Henneberg, Ein Beitrag zur Masernfrage. 8. 184—198.

Gibt statistische Angaben über Häufigkeit und Gefährlichkeit der Krankheit, behandelt ihre Übertragbarkeit durch die Schule und die Schulversäumnisse, die sie bedingt. Die Verhütungsmaßregeln teilt H. in allgemeine (seitens des Staates) und spezielle (seitens der Schule) ein. Er fordert mit Stephani gegen Cohn gesetzliche Anzeigepflicht für die Masern. Von seiten der Schule verlangt er gleich bei der Einschulung die Feststellung, ob und wann jedes neu angenommene Kind die Masern gehabt hat; bei einem Masernfall sind alle noch nicht durchmaserten Kinder dieser Klasse 10—14 Tage vom Schulbesuch auszuschließen. Die noch nicht durchmaser- ten, aber aus Masernherden zur Schule Kommenden, sind zu beobachten, ebenso die bereits durchmaserten Kinder, die zu Hause masernkranke Geschwister haben. Bei jeder eigentlichen Masernepidemie ist die Schule zwangsweise zu schließen. Lehrer, Eltern und Kinder sind über die Krankheit aufzuklären.

Barth, E., Die Tätigkeit des Schularztes an den höheren Lehranstalten nach fünf- jähriger Erfahrung. S. 264—281, 354—363.

Jetziger Stand der Frage. Die gebäudehygienische und die schülerhygienische Tätigkeit des Schularztes. Erfahrungen B.s in seiner Tätigkeit als Schularzt der Siemens-Oberrealschule zu Charlottenburg (über 1100 Schüler). Muster eines Ge- sundheitsscheines und eines schulärztlichen Fragebogens für Lernanfänger. Statistische Bearbeitung des gewonnenen Materials betr. die Krankheiten vor der Schulzeit, die Wachstumsverhältnisse, die Krankheiten und Fehler. Wichtigkeit der schulärztlichen Sprechstunde, der Mitwirkung des Schularztes bei Dispensationen von einzelnen Unterrichtsfächern, der hygienischen Belehrung und Untersuchung der Abiturienten. Aufgabe des Schularztes in der Unterrichtshygiene, namentlich in bezug auf die Be- einflussung der ganzen gesundheitlich-körperlichen Entwicklung der Schüler durch den Unterricht. B. foıdert, die Berechtigung zum einj.-freiw. Militärdienst nicht allein von dem Nachweis einer gewissen wissenschaftlichen Bildung, sondern in gleicher Weise von dem Nachweis einer entsprechenden erfolgreichen körperlichen Erziehung abhängig zu machen.

Altschul, Th., Die Frage der geistigen Ermüdung der Schulkinder. S. 346—354.

Kritik der Überbürdungsklagen. Pflicht der Schülerhalter, Maximalleistungen der Schüler anzustreben und die dazu notwendigen Schulreformen zu verwirklichen. Überbürdung und Übermüdung werden durch richtige und rechtzeitige Berufswahl vermieden.

Weinberg, M., Was Eltern, Erzieher, Lehrer und Lehrerinnen von den hauptsäch- lichsten Kioderkrankheiten wissen müssen. S. 363—366.

Übersetzung der von Lesieur für die Schulen der Stadt Lyon zusammen- gestellten Tabelle. Sie enthält für die verschiedenen Krankheiten a) Name der Krankheit, b) mittlere Inkubationszeit, c) Hauptsymptome, d) Maßnahmen für Iso- lierung des Kranken und seiner Geschwister.

Zucker, Gertr., Über die Mitwirkung des Schularztes bei der Berufsberatung. S. 417—420.

Kntik der heutigen Berufsberatungstechnik. Vorschlag, ärztlicherseits eine genaue Orientierung über die körperliche Konstitution eines jeden Berufsberatungs- Kandidaten, ebenso wie eine Information über die gesundheitlichen Anforderungen der Berufe den wirtschaftlichen Beratern zur Verfügung zu stellen.

c Zeitschriftenschau. 187

Müller, Joh., Die Breslauer umlegbare Schulbank und die Rettigbank, mit Er- widerung von Öbbecke. 8. 421—430. `

Hofbauer, L., Ziele und Wege bei körperlicher Erziehung unserer Schuljugend. 8. 481—493.

Erörtert die Gefahren, die infolge einer mangelhaften Belehrung der für das Turnen maßgebenden Vorsichtsmaßregeln und Richtungspunkte namentlich für Lungen und Herz entstehen können. Ausgeführtes Beispiel: Atemübungen. Mayer, E., Wirbelsäulenverkrämmung und Schule. S. 554-562.

Entstehungsursachen und Vorsichtsmaßregeln.

Kloss, E., Zur Methodik des Hygieneunterrichts in den Fortbildungsschulen. S. 609 -613.

Sieht den Kernpunkt der Reformbestrebungen auf diesem Gebiet darin, 1. die Gesundheitslehre als Ziel des gesamten naturgeschichtlichen Unterrichts, nicht nur des menschenkundlichen, darzustellen, 2. in der organischen Verbindung von Ana- tomie, Physiologie und Hygiene.

Lorentz, Fr., Gewerbehygienische Belehrungen an Fach- und Fortbildungsschulen. S. 613—618.,

Ihre Notwendigkeit. Methodische Anweisungen. Muster eines Stoffplanes im Anschluß an den Berliner Lebrplan für Pflichtfortbildungsschulen.

Bail und Schleissner, Notwendigkeit einer Reform der Schulmaßnahmen gegen übertragbare Kiuderkrankheiten. 8. 657—680. 705—724.

Kritische Besprechung der bisher angewandten und anzuwendenden Vorsichts- maßregeln namentlich am Beispiel der Diphtherie, dann auch der Masern, des Scharlachs usw.

Classen, K., Die Kinderfürsorge der Hanseatischen Landesversicherungsanstalt zu Lenste. 8. 753—760.

Gründung und Einrichtung des in Lenste, einem kleinen Dorf im holsteinischen Kreise Oldenburg gelegenen Heimes des Hamburger Vereins für Ferienkolonien. Wimmenauer, Zur Organisation der Schulzahnpflege: Schulzahnklinik oder freie

Ärztewahl. S. 764—774.

Die Frage ist behandelt auf Grund von statistischen Erhebungen betr. die Städte Mannheim, Heidelberg, Freiburg, Karlsruhe und Straßburg. Ergebnis: die freie Ärztewahl ist nicht teurer als das Kliniksystem; im Gegenteil. Der quanti- tativen Mehrleistung des ersten Systems (Mannheim) bei geringerem Kostenaufwand steht gegenüber die teurere, aber qualitativ auch bessere Leistung der Klinik. Die freie Ärztewahl wird danach streben müssen, dem Ideal der konservativen Behand- lung näher zu kommen, die Klinik wird ihre Rentabilität zu erhöhen streben müssen.

Der Schularzt, Beiblatt der Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. ` Jahrgang 1914. Thiele, Über Schulkinder mit offener Lungentuberkulose S. 73—81.

Beruht auf den Beobachtungen und Erfahrungen in Chemnitz, wo auf eine Durchschnittszahl von 44000 Volksschulkindern 74 Kinder mit offener Lungen- tuberkulose ermittelt wurden. Sie müssen für ihre Umgebung unschädlich gemacht werden; es muß ihnen aber auch möglich gemacht werden, sich geistig auszubilden, damit sie für den Fall ihrer Genesung erwerbs- und leistungsfähig werden. Moses, J., Ärztliches zur Zwangs- (Fürsorge-) Erziehung der verwahrlosten und

kriminellen Jugend. 8. 161—173.

188 C. Zeitschriftenschau.

Uinschreibt eine Reihe von Fällen und weist nach, daß jedes Individuum in solchen Fällen Anspruch auf eine genaue Erforschung seiner gesundheitlichen An- lagen, Zustände und Bedürfnisse hat.

Peters, Einfluß der Rhachitis auf Körperbeschaffenheit und Leistungen der Schul- kinder. 8. 321—332.

Durch Rhachitis werden, wie statistisch festgelegt wird, die körperlichen Funk- tionen in verschiedenster Art beeinträchtigt; eine Beeinträchtigung der Lernfähigkeit scheint indes nur insofern zu bestehen, als sie eben durch diese körperlichen Schä- digungen bedingt erscheint.

Crowley, R. H., Die gegenwärtige Lage der schulhygienischen Bewegung in Eng- laud. S. 385—398.

Bespricht die Einrichtung und Verwaltung des schulärztlichen Dienstes in den verschiedenen Schularten sowie den Einfluß der Schulhygiene auf schulische und periskoläre Maßnahmen.

Bartsch, H., Über die Bestimmung des Ernährurgszustandes bei Schulkindern. S. 465—469.

Geht von der Erwägung aus, daß der Ernährungszustand speziell eines Schul- kindes im wesentlichen dargestellt wird durch die Beschaffenheit, vor allem die Stärke der Weichteile im Verhältnis zur Körpergröße, und wählt als Vergleichsstelle den Oberarm.

Leubuscher, Erkrankungen der Lehrerschaft im Herzogtum Sachsen-Meiningen. S. 529—537.

Bespricht die bekannten über das Thema im allgemeinen veröffentlichten Schriften und fordert strengste Auswahl bei der Aufnahme der jungen Leute, schul- ärztliche Überwachung der Seminaristen, ärztliche Kontrolle des Gesundheitszustan- des der Lehrerschaft.

Carace, E., Der schulhygienische Überwachungsdienst in Italien. S. 593—602.

Zeigt beachtenswerte Ansätze.

Heller, J., Die Bedeutung der Hautkrankheiten der Schulkinder für den Schularzt. 8. 689—697, 738—748.

Geht nach kurzer Darstellung der Verbreitung der Hautkrankheiten auf die Behandlung folgender zwei Fragen ein: welche Hautkrankheiten erfordern allgemein- prophylaktısche Maßnahmen? (1. bakterielle Erkrankungen, 2. durch Fadenpilze hervorgerufene Schulkrankheiten, 3. die durch tierische Parasiten hervorgerufenen Schulkrankheiten) und welche Hautkrankheiten erfordern individuelle prophylaktische Maßnahmen ?

Wimmenauer. Die Röntgenologie der kindlichen Lungentuberkulose. S. 785—789.

Die kindliche Lungentuberkulose geht nicht von den Lungenspitzen, sondern vom Hilus, der Ein- und Austrittsstelle der Luftröhrenäste und Gefäße aus.

Archiv für Pädagogik. 2. Jahrgang. Hersg. Brahn und Döring. 1. Teil: Die pädagogische Praxis.

Aus dem reichen Inhalt seien besonders folgende Aufsätze hervorgehoben: »Führende Pädagogen der Gegenwart über sich selbst.« 8. 8—13.

Der Zschopauer Seminardirektor Richard Seyfert berichtet über sein Leben und seine Entwicklung. Im Anschluß daran würdigt ihn K. F. Sturm als theoreti- schen und praktischen Vorkämpfer der neuen Erziehung. S. 13—18.

»Kind und Psychologie.« 8. 18—25. Rud. Schulze macht in einer Festrede Leipziger Kinder mit der Persönlichkeit

C. Zeitschriftenschau. 189

und dem Werk ihres großen Mitbürgers Wundt sowie mit der geisteswissenschaft- lichen Forschungsweise überhaupt bekannt. Hübner, K., Vom Wesen der sprachlichen Gestaltung. S. 65—75.

Aufsatzschreiben wird definiert als eigentätige Anwendung des kindlichen Formenbesitzes auf seinen Vorstellungsbesitz, Umwandlung von Vorgängen, Be- obachtungen, Eindrücken in Sprache. Damit sind Ziel, Methode und Grenzen des sprachlichen Ausdrucks gegeben.

Bogen, A., Freiwillige Schularbeit. S. 75—83.

Betrachtet, auf seine Schulerfahrungen gestützt, die freiwillige Schularbeit als eine der vornehmsten Aufgaben der Zukunftsschule, weil in ihr eine Gewähr für die Veredlung der Arbeit und für eine sittliche Lebensanschauung der arbeitenden Schüler gegeben ist.

Klemm, G., Kulturkunde als konzentrierender Unterricht. S. 25—32, 83—88.

Zeigt an einem Lehrbeispiel (Hacke und Pflug), wie die Kulturkunde als Ge- samtunterricht die Kenntnisse vermittelt, die sonst getrennt und zerstückelt die andern Fächer brachten. Durch die innige Konzentration der Unterrichtsstoffe wird die Bahn frei für einen intensiv wirkenden Gesamtunterricht; auch werden manche schwer in ein Fach einzureihende Stoffe in gerechterer Weise behandelt, z. B. Pflug, Wagen, Weg, Werkzeuge, Gefäße, Geräte, Namen, Spiele, Tote usw. Verf. verweist auf zwei Aufsätze im 1. Jahrg. des Arch. f. Päd. sowie auf sein Buch »Kulturkunde auf heimatlicher Grundlage«. Dresden, Heinrich.

Nitzsche, Osk., Illustrieren als Ausdruckskultur. 8. 130—134.

Zeigt, wie das Illustrieren das zeichnerische Können fördert und Geist und Gemüt anregt.

Trenttzsch, O., Das Experiment im hygienischen Unterricht. 8. 88—93, 140—148.

Zusammenstellung von Experimenten für den betr. Unterricht.

Wicke, R., Der Lehrplan für den Gesangunterricht. S. 113—129.

Richtlinien für die Erteilung dieses Unterrichtes nach den Grundlinien der Arbeitsschule.

Brahn, M., Neue Ziele und neue Wege der Pädagogik. S. 177—196.

Darstellung der neuen Persönlichkeitspädagogik, der produktiven Arbeit (Geist und Hand) und der Arbeitsgemeinschaft (Wille). Die Verlängerung der Schulzeit, die Gründung von Versuchsschulen, pädagogischen Instituten und Arbeitsgruppen, Statistik und Experiment, Pädagogikprofessuren, schulorganisatorische Reformen helfen die neuen Ziele verwirklichen.

Hossann, K., Heimatprinzip und Heimatkunde. Ihr wechselseitiges Verhältnis und ihre Anwendung im Unterricht. S. 196—207, 250—261.

Fortsetzung eines Aufsatzes aus dem vorhergehenden Jahrgang. Theoretische Grundlagen und praktische Ausgestaltung des Heimatprinzips in Heimatkunde (mit Stoffplan), Erdkunde und Bürgerkunde. Versucht die tatsächlichen Verhältnisse klarer darzustellen.

Kuhlmann, Fr., Besitzt das Kind die Fähigkeit, selbsttätig Schrift zu gestalten ? S. 241-250.

Bejaht die Frage, Beispiele mit lateinischer und deutscher Schrift, mit spitzer und breiter Feder.

Kemsies, F., Diapositiv und Film im biologisch-hygienischen Unterricht. S. 289—299.

Für Biologie bestehen bereits zahlreiche Sammlungen, weniger für die Ge- sundheitslehre. K. zeigt‘än Beispielen: Belehrung über die Tuberkulose, die Amöben,

190

C. Zeitschriftenschau.

Zahnpflege an den Schulen, Schularzt und Schulrekrut u. a., wie durch eine ge- schickte Filmpädagogik die Tatsachen zu gruppieren und durch textliche Diapositive zu ergänzen sind, damit alle erzieherischen und unterrichtlichen Werte heraus- geholt werden.

Kabisch, »Der Erde goldener Segen«. S. 313—319.

Empfiehlt für die drei Oberklassen der Landschulen landwirtschaftlichen Ar- beitsunterricht, um durch die Arbeit der Hand das Leben der Heimat in ihrem Hauptberuf ergreifen zu lehren. Der Unterricht soll in drei an einem Tage hinter- einanderliegenden Wochenstunden während der eigentlichen Arbeitsmonate des Land- wirts, d. h. von April bis Oktober, in arbeitendem Erleben das Gesamtbild des land- wirtschaftlichen Lebens vorübergeführt bekommen, unter Mitarbeit von Bauern des Dorfes.

Prüll. H., Der freie Aufsatz im Mittelpunkte des gesamten Sprachunterrichts. S. 358—369, 431—439.

Bespricht das Wesen und die Grundbedingungen des sogenannten freien Auf- satzes, die Auswahl der Themen nach dem Prinzip des Interesses, sowie den Unter- richtsgang einer Aufsatzstunde, Grammatik und Rechtschreibung eingeschlossen. Gemäßigter Standpunkt.

Hilsdorf, Th., Werkunterricht oder Arbeitsprinzip? S. 370—376.

Sucht an einem praktischen Beispiele (Röhrbrunnen) zur Klärung der Arbeits- schulfrage beizutragen.

Wilker, K., Arbeitsfreudigkeit und Leistungen in Schule und Beruf.

Sozialpädagogische Gedanken. Untersucht die Ursachen des Mangels an Ar- beitsfreudigkeit (Alkoholismus und seine Folgen, Wohnungsnot, Tuberkulose usw.) und die Mittel Arbeitsfreudigkeit zu wecken: Individualhygiene (Schule, Elternhaus, Wandervogel), soziale Hygiene, Rassenhygiene.

Hylla, E., Dialekt und Schulsprache. S. 465—473.

Ausgehend von den Tübinger Untersuchungen von Gaßmann und Schmidt be- spricht H. die pädagogischen Ergebnisse ihrer Studien: Zulassung des Dialektes als Schülersprache im Anfang, Ablehnung als Lehrsprache (auch für die Erlernung der Schıiftsprache liegt die Sprechschwelle höher als die Verständnisschwelle), Wert des Dialektes als didaktisches Hilfsmittel.

Münster, A., Ernst Linde, dem Fünfzigjährigen! 8. 473—480.

Leben, Werke und Stellung Lindes in der Pädagogik der Gegenwart. Schulze, R., Quer durch den Bewußtseinsstrom. S. 480—489.

Beispiel einer Lehrstunde in experimenteller Psychologie unter Anwendung von Experimenten mit einem von den Schülern selbst hergestellten Tachistoskop (einem Stück Papier, ein paar Punkten und Buchstaben).

Lorentz, Fr., Die Hygiene im Lehrplan der Schulen und der Lehrerbildungs- anstalten. S. 529—536, 588—595.

Eingehende kritische Beschreibung der Lehrpläne und Vorschriften für höhere und Volksschulen Deutschlands und anderer Länder.

Schreiber, H., Jenseits der Gabelung des ersten Sprachunterrichts. S. 541—549.

Zeigt die Entfaltung des Gesamtunterrichts und wie sich allmählich die Gabe- lung des muttersprachlichen Unterrichts vollzog.

Erler, O., Die Heimat im Unterricht auf der Oberstufe. S. 549-556

Beispiel einer kulturkundlichen Lehrstunde; ihre Entstehung und Entfaltung (Verkehr am Hauptbahnhof).

D. Literatur.

191

Lüttge, E., Die Reformbestrebungen im Deutschunterricht und der Lehrplan. S. 577—587.

Führt sie auf drei Forderungen zurück: 1. Den Gegenstand des deutschen Sprachunterrichts bildet die Sprache des Kindes. 2. Aller Sprachunterricht ist Aus- druckspflege. 3. Der Sprachunterricht hat die Grundlagen der literarischen Bildung zu schaffen.

Scheiblhuber, A. Cl, Die Übertreibung. S. 598—606.

Ihre pädagogische Bedeutung und Verwendung. Schulze, R.. Seelenexperimente. S. 628—636.

Darlegung des Wesens der Eindrucks-, der Ausdrucks- und der Einschaltungs- methode.

Gerlach, A., Wie kommt der Preis einer Zigarre zustande? ein Rechenstoff für die Oberklasse. S. 636—644. Luxemburg. Dr. Schlottert.

mannna

D. Literatur.

Tews, J Die Deutsche Einheitsschule. Freie Bahn jedem Tüchtigen! Im Auftrage des geschäftsführenden Ausschusses des Deutschen Lehrervereins be- arbeitet. Leipzig, Julius Klinkhardt, 19165. 104 Seiten. Preis geh. 1 M

Der Krieg hat das Erscheinen dieser Schrift um nahezu zwei Jahre verzögert, aber die Frage der Einheitsschule verstummte auch in diesen Jahren gewaltigen Ringens nicht. Ein erfreuliches Zeichen für den kulturellen Hochstand unseres Volkes! Freilich waren es zumeist die Gegner, die die Sachlage nutzten, so daß es wohl an der Zeit war, sie abzuweisen und gleichzeitig »von denjenigen anderweitigen Forderungen abzurücken, die von uns nicht geteilt werden, und so die Forderung des Deutschen Lehrervereins möglichst klar und bestimmt darzustellen« (S. 3).

Tews versteht seine Aufgabe meisterhaft zu lösen. Knappheit, Übersichtlich- keit, Gründlichkeit, reiches Zahlenmaterial, dazu die warmherzige Sprache des Mannes, der alles für sein Ziel einsetzt!

Scharf und gründlich beleuchtet er die jetzige Lage der deutschen Schule. Die Beschlüsse und Forderungen des Deutschen Lehrervereins werden bekannt ge- geben. Der Begriff »Einheitsschule« wird geklärt. »... wır verstehen unter der Eirheitsschule das gesamte Gebiet des öffentlichen Unterrichtes vom Kindergarten bis zur Hochschule mit allen seinen Gliederungen und Verzweigungen auf den ver- schiedensten Stufen des Unterrichtswesens, in eine lebensvolle Verbindung aller Teile zu einem Ganzen gebrachte (S. 34). Es ist selbstverständlich, daß für die Hochbegabten aus den unbemittelten Kreisen alle wirtschaftlichen Hemmnisse be- seitigt werden müssen. Die hochinteressanten Berechnungen Tews’ zeitigen das für viele wohl verblüffende Ergebnis, »daß auch bei weitestgehender Unentgeltlichkeit des Unterrichts und der Verpflegung der in Betracht kommenden Schüler die An- he an die öffentlichen Leistungen nicht erheblich gesteigert werden würden« (S. 50).

Tews läßt auch die Bedenken nicht außer acht. Zwar sınd sie alle recht haltlos; aber es ist immer gut, sie ihren Verfechtern noch einmal zu zerpflücken. Nachdem das im 4. Kapitel geschehen, wird im folgenden die Möglichkeit der Ein- heitsschule nachgewiesen, und im nächsten die Wege zu ihr gezeigt. Mit vollem Recht betont der Verfasser, daß die Einheitsschule die Verwirklichung des in diesem Kriege mächtig gewordenen Organisationsgedankens auf dem Gebiet der öffentlichen Erziehung ist. »Mit Einrichtungen, durch die einzelne hervorragend Be- gabte gefördert werden, so wertvoll sie an sich im Einzelfalle sein werden, geht es nicht mehr. Das Volk, das auf dem Schlachtfelde, das in dem bittersten Ringen,

192 D. Literatur.

das die Weltgeschichte kennt, durch seine Organisation sich oben hielt, kann den Organisationsgedanken in der Schulstube nicht nur viertel und halb zur Anwendung bringen. Es wird und muß die Einheitsschule ganz und unverkürzt er- halten« (8. 89). »Und diese Gabe wird wie die soziale Gesetzgebung vor 25 Jahren dem Unbegüterten den Glauben an das Vaterland und die Liebe zum Vaterlande zurückgeben« (S. 96).

Ich zitiere Tews, um dem, der ihn noch nicht kennt, Lust zu machen, diesen beredten Anwalt des Volkes kennen zu lernen. Nicht nur für die Schulmänner hat der Deutsche Lehrerverein diese seine Schrift herausgegebeu. Jeder Deutsche

Mann und Weib sollte sie lesen und sich durch sie überzeugen lassen von der dringenden Notwendigkeit, durch die Einheitsschule die Bahn frei zu machen für jeden Tüchtigen.

Jena. Karl Wilker.

Ruttmann, W. J. Erblichkeitslehre und Pädagogik. Ausschnitte aus der experimentellen und angewandten Erblichkeitsiehre und Individualforschung. Leipzig. Schulwissenschaftlicher Verlag A. Haase, 1917. VIII u. 152 Seiten. Preis geh. 3,60 M, geb. 4,20 M.

Meines Wissens zum ersten Male macht ein Pädagoge und Jugendforscher mit diesem Buche den Versuch, die Beziehungen zwischen Erbkunde und Pädagogik eingehend und auf Grund naturwissenschaftlicher Forschungsarbeiten zu behandeln. Die Anregung dazu war in einer ganzen Reihe von Arbeiten bereits gegeben. Und grade jetzt liegt es besonders nahe, der Erblichkeitslehre große Aufmerksamkeit zu- zuwenden, da sie uns für die Eugenik nach dem Kriege Richtlinien liefern kann und muß. »Die künftig in noch höherem Grade nötige Kraftentfaltung unseres Volkes wird allein gewährleistet durch eine vorbeugende Pflege der gesunden Keime im Volksgut und durch eine auf Grund einer wissenschaftlichen Auslese der Be- gabten erfolgende Unterstützung eines jeden Tüchtigen« (S. VI).

Ruttmann hat seinen Stoff in vier Abschnitte gegliedert: In dem ersten be- handelt er den Umfang und die Aufgaben der Erbkunde, im zweiten ihre Grund- begriffe und Methoden, im dritten die Regeln von der spaltenden Vererbung (den Mendelismus) und in dem vierten die Vererbung beim Menschen. Der letzte Ab- schnitt ist nach Inhalt und Umfang der bedeutendste. 21 Abbildungen sind in den Text eingefügt.

Alles ihm zugängliche Material hat R. mit großem Fleiße und mit sicherem Verständnis bearbeitet. Daß es ihm aber gelungen wäre, seine Aufgabe so zu lösen, daß der auf dem Gebiete der Erblichkeitslehre noch ganz unbewanderte Pädagoge dieses Buch als einführenden Leitfaden benutzen könnte, bezweifle ich. Rutt- manns Buch setzt dafür doch zu viel voraus, behandelt die grundlegenden Fragen nicht einfach genug. Derartige »Ausschnitte« sind gewiß sehr wünschenswert und vielen sehr willkommen. Ob es aber nicht zweckmäßiger gewesen wäre, statt der Ausschnitte zunächst eine Einführung zu bieten?

Bemerkenswert ist es, daß auch dieses Buch wie schon so manches streng wissenschaftliche Werk entstehen konnte in und neben dem Heeresdienst. (Das mag zugleich manche Unklarheit im Stil, manche störenden Druckfehler ent- schuldigen!) Das deutsche Volk hat allen Grund, auf solche Leistungen stolz zu sein.

Klumker, Chr. J., Die öffentliche Kinderfürsorge eine Kulturaufgabe unseres Volkes. Frankfurt, Karl Scheller, 1916. 35 S. 50 Pf. i Die vier Aufsätze dieses Heftchens scheinen geschrieben zu sein, um die Frei- maurer für das Archiv deutscher Berufsvormüuder zu interessieren. Dement- sprechend bieten sie keine prinzipiell neuen Anschauungen, sondern stellen klar, worauf es bei der Kinderfürsorge vor allem ankommt: Konzentrierung der Erziehungs- arbeit. Nach dem Frieden hätte die gesamte Arbeit einzusetzen bei der Forderung eines Reichsgesetzes über Kinderfürsorge, das eine einheitliche Grundlage für die öffentliche Fürsorgearbeit schüfe, ohne etwa den Einzelstaaten ihre Besonderheiten zu nehmen. Jena. Karl Wilker.

Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.

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A. Abhandlungen.

1. Mutternot! Von Dr. Heinrich Pudor. (Schluß.)

In Australien, wo auf 1000 Frauen zwischen 15 und 50 Jahren 110 Geburten kommen (gegenüber 145 in Deutschland) ist am 10. Ok- tober 1912 ein Gesetz zur Gewährung von Mutterschaftsprämien in Kraft getreten, welches wie der »Tag« vom 14. Juni 1913 berichtet, bestimmt, daß jede in Australien wohnhafte Frau das Recht hat, bei einer staatlichen Kasse den Betrag von hundert Mark zu erheben, wenn sie einem Kinde das Leben schenkt, welches in Australien oder an Bord eines von oder nach Australien gehenden Schiffes geboren wird. Kein Anrecht auf die Prämie haben Frauen und Mädchen asiatischer Abstammung oder der australischen farbigen Arbeiter- bevölkerung. Diese Einrichtung entspricht dem neuerdings scharf hervortretenden Bestreben, Australien nur mit Angehörigen der weißen Rasse zu bevölkern. Bis 1. März 1913 waren bereits 40150 Gesuche gestellt und 38704 gewährt worden. Dies entspricht einem Prozent- satz von etwa 90°/, aller Geburten.

Nach der Revue Medicale betrug die mittlere Lebensdauer in den Ländern Europas im Durchschnitt in ganz Europa 39 Jahre. Im einzelnen ergaben sich folgende Altersdurchschnitte:

Jahre Monate Schweden und Norwegen . 50 2 Dänemark . . . 2. . . . 48 2 Irland s 2 2%: ws. AS 1

Zeitschrift für Kinderforschung. 22. Jahrgang. 13

194 A. Abhandlungen.

Jahre Monate England und Schottland . . 45 5 Belgien. . . 22.2.2... 44 11 Schweiz . . 2 22020. 44 4 Holland. . . 2 220202 44 0 Rußland . . 2 2220202. 45 7 Frankreich. . . . . . . 45 6 Preußen . . ... . . 839 4 Italien . e 2 2 A a a naD 2 Portugal . . 2 e aor i 6 0 Rumänien . . . 2 . . . 835 11 Griechenland . . . . . . 85 4 Österreich . . . . . . . 34 2 Bulgarien . . . . . . . 85 7 TÜrKEl: aoai e a e an DD 5 Spanien. . . . . . . . 32 4

Während in Spanien die mittlere Lebensdauer 18 Jahre unter derjenigen in Schweden und Norwegen liegt, gibt es Hundertjährige, Achtzig- und Sechzigjährige in Spanien annähernd so viele wie in Skandinavien. Der Grund soll darin liegen, daß die Kindersterblich- keit in Spanien besonders groß ist. In Schweden dagegen werden 89 °/, aller neugeborenen Kinder durch die Mutter oder durch eine Amme!) ernährt (in England 77 %,(?), Holland 65 °/,, in Frankreich 61!/, %/,, Preußen 581/,, Italien 57, in Österreich 56, in Spanien 52).

Also die Kurve der durchschnittlichen Lebensdauer entspricht derjenigen der Säuglingsernährung. Zufolge der hygienischen Maß- nahmen ist indessen das durchschnittliche Lebensalter der Bevölkerung gestiegen .... im Jahrzehnt 1870—1880 lebte ein Deutscher durch- schnittlich 35,85 Jahre, im Jahrzehnt 1900—1910 aber 44,82 Jahre, und auf dieser Hinaufsetzung des durchschnittlichen Lebensalters be- ruht seit 1876 unsere Bevölkerungszunahme, nicht also etwa auf der Zunahme der Geburten, wie in Rußland und Ostasien.

Was in Ansehung dieser Fragen die Wohnungsnot betrifft, so hat Prof. Benedikt Schmittmann im Märzheft (1916) der »Deutschen Arbeit« beachtenswerte Vorschläge gemacht. Nach der Korrespondenz der christlichen Gewerkschaften Deutschlands vom 9. III. 16 geht er von dem Gedanken aus, daß das Wohnungsproblem eine Geldfrage

1) Schweden hat sich deshalb auch vordem durch besonders fruchtbare Ehen ausgezeichnet. Man lese P. Fahlbecks Buch über den schwedischen Adel, wonach die durchschnittliche Ehe des schwedischen Adels 10—12 Geburten aufwies.

Pudor: Mutternot! 195 ist, für Kinderreiche eine Geldfrage im verschärften Maße. Daher müsse der Besitzlose befähigt werden, »mit steigendem Kinder- reichtum progressiv mehr für die Wohnung aufzuwenden, weil mit jedem Kinde die Anforderungen an die Größe der Wohnung zunehmen, gleichzeitig aber die Kaufkraft des Mietgeldes sinkt. Nur wenn mit steigender Kinderzahl steigende Mittel für die Miete zur Verfügung stehen und größere Sicherheit ihres Einganges gewährleistet ist, wird dem Vermieter ein Ausgleich geboten für die stärkere Ab- nutzung der Wohnung durch die größere Personenzahl.« Um das zu ermöglichen, schlägt Schmittmann eine öffentlich-rechtlich organi- sierte Sparpflicht vor der Heirat zur Erwerbung des Anrechtes auf eine mit der Kinderzahl progressiv steigende Wohnrente vor. Die Sparpflicht sei organisch mit der Invalidenversicherung zu verbinden, die Beiträge von allen ledigen Versicherten durch Doppelmarken zu erheben. Für die Jugendlichen müßte die Sparpflicht beginnen mit der Übernahme einer Beschäftigung gegen Lohn oder Gehalt. Die Auszahlung der Renten hätte wie bei den Invalidenrenten zu erfolgen, müsse aber auch an den Vermieter überwiesen werden können. Zu den Wohnrenten würde auch ein Zuschuß des Reiches in Frage kommen; ob Mittel dafür vorhanden seien, hänge von der Beant- wortung der Frage ab, wie hoch man das Interesse des Reiches an einem zahlreichen gesunden Nachwuchs einschätze. Das Gleiche müßten sich die Arbeitgeber fragen, wenn die Frage von Zuschüssen an sie herantrete. Sodann schlägt Schmittmann die Ausdehnung der Wohnversicherung auf die Angestelltenversicherung vor, da bei den Angestellten die standesgemäße Wohnung eine besonders große Rolle spiele. »Die Wohnungsbeschaffung für kinderreiche Familien,« so heißt es am Schluß der gehaltvollen, wohldurchdachten Abhandlung, »ist die wichtigste aller Staatsmaßnahmen; sie ist aber auch die rentabelste: Hebung der Geburtenzahl, Minderung der Armen- und Krankenpflegekosten, der Kosten der Fürsorgeerziehung werden die unmittelbare Folge sein; der Weg dazu: durch die unter staatlicher Mitwirkung organisierte Selbsthilfe der Beteiligten, in ledigen Jahren Vorsorge zu treffen für die Zeiten der Familienpflichten, erscheint gangbar und erzieherisch wertvoll. ... Wir dürfen nicht länger einer durch das Wohnungselend der Kinderreichen bedingten Ver- nichtung von Volkskraft, des wertvollsten Nationalreichtums, tatenlos und resigniert zuschauen, als ob es sich um Naturnotwendigkeiten handle, gegen die wir machtlos seien! Halten wir diese Zustände für unabänderlich, so geben wir die Zukunft der Nation preis.«

Im Reichstage ist am 22. Mai 1916 die Wohnungsnot besprochen 13*

196 A. Abhandlungen.

worden. Die Fraktion »Soziale Arbeitsgemeinschaft« hatte einen An- trag auf reichsgesetzliche Regelung des Säuglings- und Mutterschutzes gestellt. Der Präsident des Reichsgesundheitsamtes Bumm stellte dabei die Kriegslage in hygienischer Beziehung als sehr günstig hin: während nach 1870 die Pocken Hunderttausende von Opfern in Deutschland dahingerafft haben, ist es in diesem Kriege gelungen, Seuchen und Krankheiten fast völlig zu unterdrücken. Dann aber sagte er: Ein ernstes Problem ist allerdings die Säuglingssterblichkeit und die Sterblichkeit der Mütter. Wenn man bedenkt, daß jährlich 200000 Kinder im Deutschen Reiche sterben, so erklärt sich ohne weiteres die Wichtigkeit dieser Frage für die gesamte Volksvermehrung. Allerdings ist der Prozentsatz von 1901—1913 von 20,7 auf 15,5%, gesunken, immerhin aber bleibt er noch unnatürlich hoch und dürfte leider auch während des Krieges, wenigstens in den Großstädten, eine Vermehrung erfahren haben. Präsident Bumm hofft aber, daß es unmittelbar nach dem Kriege gelingen wird, den ganzen Komplex dieser Frage einheitlich zu regeln und durch geeignele gesundheit- liche Maßnahmen auch auf dem Gebiete des Wohnungswesens eine Besserung der Zustände herbeizuführen. So sollen im nächsten Etat als regelmäßige Ausgabe 30000 M zur Unterstützung der- jenigen Vereinigungen ausgesetzt werden, die die allgemeine Förde- rung des Kleinwohnungswesens bezwecken. Der Reichswohnungs- fürsorgefonds soll auf 10 Millionen erhöht werden.

Ein Abgeordneter sagte, für Deutschland sei es gewiß kein glänzendes Zeugnis, daß soviele andere Länder in der Säuglingsstatistik soviel besser dastehen als wir, die Schweiz, die Niederlande, die nordischen Länder, selbst Frankreich. Man habe ausgerechnet, es müßte bei intensiver Arbeit dazu kommen, daß jährlich 200000 Säug- linge mehr am Leben erhalten bleiben als jetzt. Die Frage liege darin, daß wir für unsere Bevölkerung die Erwerbs- und Verdienst- möglichkeiten schaffen müssen, die die Grundlage für die Gründung eines Hausstandes sein sollten. Im modernen Menschen wächst das Verantwortlichkeitsgefühl, daher wird auch die Frage erwogen, ob man die Kinder, die man in die Welt setzt, auch ernähren kann. Zu der Frage der Bevölkerungspolitik gehören auch die sehr wichtigen Ge- biete der Beamtenbesoldung, die Erhöhung des Wohnungsgeld- zuschusses für die kinderreichen Familien, die Hinterbliebenenversor- gung, eine Steuergesetzgebung, die Rücksicht nimmt auf die Kinderzahl.

Wir möchten unsererseits auch vorschlagen, daß in guten Ver- hältnissen lebende kinderlose Leute, Ledige sowohl als Verheiratete, über Kinder in armen kinderreichen Familien Patenschaft über-

Pudor: Mutternot! 197

nehmen, mit der sie sich verpflichten, für diese materiell und auch ideell bis zu einem gewissen Grade zu sorgen, bezw. den Eltern die Sorge tragen zu helfen. Zur Durchführung dieses Vorschlages würde es sich empfehlen, Vereine zu gründen.

Auch im Preußischen Abgeordnetenhause ist anläßlich des »Medi- zinalwesens«e der Geburtenrückgang Gegenstand der Besprechungen gewesen. Minister von Loebell erkannte an, daß diese Frage eine der wichtigsten für unser Volk sei. Er nannte sie sogar die Frage der Zukunft. Denn unsere Geburtenziffer ist seit 1876, wo sie mit 40,9 Lebendgeburten auf 1000 Einwohner ihren Höchststand erreichte, bis 1912 auf 28,2 herabgesunken. Allerdings war sie in unsern Nachbarländern noch sehr viel geringer: in Frankreich 19,6, in Belgien 23,8 und in England 25. Dazu kommt, daß wir eine außer- ordentlich günstige Sterblichkeitsziffer haben. Alle Maßnahmen zur Hebung der Geburtenziffer sieht die Regierung einen scharf geführten Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten, eine Verbesserung des Säug- lings- und Hebammenwesens und andere Maßregeln.

Der Referent des Ministeriums, Ministerialrat Kirchner, wies darauf hin, daß wir heute schon jährlich 560000 Geburten weniger haben, als wir haben müßten, wenn wir nur die Geburtenziffer von 1900 behalten wollen. Das bedeutet, daß wir heute 2!/, Millionen Einwohner mehr haben könnten, als wir sie jetzt haben. Die Mittel zur Bekämpfung des Geburtenrückganges sucht der Vertreter des Ministers vor allem auf moralischem Gebiet. Es habe sich leider in weiten Kreisen eine gewisse Weltanschauung geltend gemacht, die den Begriffen von Ehe und Kindersegen eine bedenkliche Umwertung gegeben habe, weil sie sagt, die Kinder seien nur eine Last, die allerlei unerfreuliche Verantwortlichkeiten mit sich bringe. Hoffentlich bringt auch hier der Geist der Opferwilligkeit, wie der Krieg ihn geboren hat, eine Wendung zum Besseren.

Nach einer längeren Aussprache, die eine erfreuliche Überein- stimmung zwischen allen Parteien ergab, wurden die Anträge der Kommission, soweit sie sich auf den Geburtenrückgang beziehen, an- genommen, ebenso ein fortschrittlicher Antrag auf Erlaß eines Wohnungsgesetzes, nachdem der Minister des Innern schon mitgeteilt hatte, daß ein neues Wohnungsgesetz unmittelbar nach Friedensschluß dem Landtag zugehen würde.

Aber auch dies alles trifft noch nicht den Punkt, an dem zwecks Beseitigung des Geburtenrückganges der Hebel angesetzt werden muß: das Volk selbst als solches muß wieder an der Scholle an- gekettet werden, es muß sozusagen der Erde und es muß

198 A. Abhandlungen.

dem Lande wiedergegeben werden: zur Natur, zur Mutter Erde und zum Lande müssen wir zurück .... dort liegen die Quellen der Fruchtbarkeit für Volk und Völker von Anbeginn bis in alle Ewigkeit. Und deshalb ist eins der wichtigsten Hilfsmittel zur Bevölkerungsvermehrung die Wiederaufhebung der Freizügigkeit. Kein Zweifel, Deutschland ist in den letzten Jahrzehnten in seiner Agrar- und Mittelstandsgesetzgebung abwärts geschritten, den Weg entlang, den England ihm vorausgegangen ist: mit welchem Erfolge zeigt der drohende Untergang, dem England jetzt entgegengeht. Das Sckicksal aller Völker, die zur Industrialisierung und Überindustrialisierung und Kapitalisierung übergehen und einem flüchtigen glänzenden Entwick- lungsrausch die Dauer ihrer Existenz zum Opfer bringen! Moltke hat einmal gesagt: das Deutsche Reich kann zugrunde gehen, ohne daß ein Schuß fällt, nämlich wenn die deutsche Landwirtschaft zu- grunde geht. Aber auch die ungesunden Erscheinungen der Über- industrialisierung und des Großstadt- und Großindustriestadtwesens können nur dadurch behoben werden, daß das Land und der Landbau und die Landwirtschaft sowohl in ihrer volkswirtschaftlichen Bedeutung als in ihrer eminenten kulturellen, volksorganischen und volkauf- bauenden Bedeutung mehr zu Worte kommen. Gerade wir Deutschen sind unserer Vergangenheit nach und unserer Volksbeschaffenheit nach ein landbauendes Volk, und von ganzem Herzen und von ganzer Seele ein Ackerbauvolk, und unsere Zukunft liegt nicht nur auf dem Wasser und nicht in der Luft und nicht in der Stadt, sondern auf dem Lande. Aus dem Lande und der Landwirtschaft kommt das gesunde Blut, kommt die Nachkommenschaft, kommt der Nachwuchs für unser Heer, kommt auch zum großen Teil der Nachwuchs für die Industriearbeiterschaft. Und endlich kommt aus dem Lande unser täglich Brot. Zudem stehen alle unsere Industrien mit dem Lande insofern in engstem Zusammenhang, als sie ihr Rohmaterial aus dem Lande erhalten, vom Erz bis zu den Spinnstoffen.

Die deutsche Landwirtschaft zu ihrem höchsten Ruhme kann es gesagt werden, hat gerade in den letzten Jahrzehnten ihre großen Aufgaben erfüllt, denn sie hat, abgesehen davon, daß sie uns ein starkes Jungdeutschland, reichlichen Nachwuchs, gesundes Blut und gesunde Lebensauffassung geschenkt und erhalten hat, uns ernährt, sie hat bis zu 95°/, die deutsche Bevölkerung mit Nahrungsmitteln versorgt.

Wenn nun in Berlin im Jahre 1907 38,26 °/, der ortsanwesenden Bevölkerung zugewandert war, und in Hamburg 36,07 °/,, so hat Ost- preußen von den hier geborenen Menschen 25,67 °/, der ortsanwesenden

Pudor: Mutternot! 199

Bevölkerung abgegeben. Bei dieser Gelegenheit mögen auch folgende überaus wichtigen Zahlen angeführt werden: von allen Stadtgebürtigen Deutschlands waren im Jahre 1907 7,54 °/, auf dem Lande ansässig d.h. fast alle Stadtgeborenen bleiben in den Städten. Aber von allen Landgebürtigen gingen 30,49 °/, in die Städte. Also fast ein Drittel des jährlichen Bevölkerungswachstums geht dem Lande ver- loren! Und weiter beachte man im Zusammenhang mit der Freizügig- keit und dem Heimatssinn, daß nur 50,87 °/, aller Ortsanwesenden des Reiches in ihrer Geburtsgemeinde ansässig waren: das heißt, die Hälfte wird der Heimat untreu!

Wenn uns nun aber der Weltkrieg in seinem Friedensschluß Neuland im Osten bringen sollte, dann kann, ebenso wie das Neuland im Westen die Industrialisierungsgefahr noch vergrößert, die Agrari- sierung unseres Volkes in die Wege geleitet werden, dann können die Gefahren der bisherigen industriellen Entwicklung beseitigt, dann kann der Landhunger unseres Volkes, wie er gottlob noch vorhanden ist, gestillt werden, und der Familienanbau auf der Scholle wird uns neue Fruchtbarkeit, wird uns jede gewünschte Volksvermehrung bringen auf dem einzigen von der Natur gegebenen Wege. Und es wird mit dem Volke sein, wie es mit dem einzelnen Menschen ist und wie es mit dem Riesen Antäus war, der, wenn immer er sich schwach fühlte, die Erde berührte und bei ihr sich neue Kraft holte: so werden auch Völker neugeboren. ...

Und das sind alles nichts weniger als Utopien oder Phantasien nur noch eine einzige nüchterne Tatsache sei angeführt: in Ostpreußen ist die Tauglichkeitsziffer mehr als das Doppelte so hoch als in Berlin. Die Frage des Wiederaufbaues der deutschen Wehrkraft aber ist für sich allein so notwendig und dringend, daß der hier vorgeschlagene Weg der Heilung von der mangelnden Fruchtbarkeit des Volkes auch von diesem Gesichtspunkt aus Erfüllung fordert.

3. Mutterschulen.

Ähnlich wie die Idee der Familie als Kulturprinzip weder theo- retisch noch praktisch gewürdigt worden ist, ist sie auch pädagogisch noch nicht zur Geltung gekommen. Wir denken hierbei nicht an die Familienrechte in der Erziehung und in der Schule, sondern an die Erziehung zur Familie, an die Erziehung der Eltern, zu Vätern, zu Müttern. Auch hier ist das Vorleben zwar alles. Aber häufig genug ist das, was den Kindern von den eigenen und fremden Eltern vor- gelebt wird, nicht darnach angetan, daß es nachgelebt zu werden ver-

200 A. Abhandlungen.

diente. Und doch hängt die Existenz und die Entwicklung des Menschengeschlechts davon ab, wie die Eltern ihre Pflichten als Eltern auffassen und erfüllen. Aber welcher Pädagoge hat daran ge- dacht, die Menschen zu dem, was am nötigsten ist, zu erziehen, zu Vätern und zu Müttern? Es gibt kein Buch über die Erziehung der Eltern, über die Erziehung der Väter und der Mütter, über die Kunst, Vater zu sein, Mutter zu sein. Der Tradition wurde auf diesem Ge- biete alles überlassen. Um so wichtiger ist daher die Aufgabe für die Pädagogen, den Vätern und den Müttern ein Wegweiser zu sein, nicht also nur, wie sie ihre Kinder erziehen sollen, sondern vor allem, wie sie sich selbst erziehen sollen. Denn letzteres ist das erste; ge- meinsam fängt man die Sache am verkehrten Ende an und hält die Eltern ihren Kindern gegenüber als vollkommen: diese, die Kinder seien von Haus aus »ungezogen« und müßten von den Eltern erst zu »guten« Kindern erzogen werden, und die Eltern dagegen seien ohne Fehl und Tadel. Ob es sich nicht gerade umgekehrt verhält? Wir wollen heute auf diese bedeutungsvolle Frage nicht näher eingehen, sondern uns gleich in medias res der Frage der Muttererziehung zu- wenden, also der Frage, wie die Frau zur Mutter zu erziehen ist. Hat man schon einmal von Mutterschulen gehört? In Deutsch- land wohl kaum. Nur Haushaltungsschulen kennen wir hier. Und auch diese nur für die bemittelten Stände. Aber gerade für das Volk, für die ungelehrten und unbemittelten Stände kommt es darauf an, Aufklärung über die Obliegenheiten der Frau als Mutter und als Haus- hälterin zu verbreiten. Hier ist der rechte Angelpunkt gegeben, von dem aus die Schäden der ungeheuren Säuglingssterblichkeit zu heilen sind. Die Frau der unteren Stände weiß nichts davon, von welch ausschlaggebender Bedeutung in der Aufziehung des Säuglings die Reinlichkeit ist. Die große Sterblichkeit der Wöchnerinnen infolge des Kindbettfiebers ist jetzt glücklich zurückgegangen dank vor allem der Einsicht in die Wichtigkeit eben dieser Reinlichkeit gerade zu dieser Stunde. Mit der Sterblichkeit der Säuglinge wird es genau in derselben Weise zurückgehen, wenn die Mütter über die Wichtigkeit der Reinlichkeit gerade bei Säuglingen aufgeklärt werden. Denn Rein- lichkeit ist eine Kunst, die erlernt und erkämpft werden muß. Daß der Körper des Kindes und die Wäsche, die es anhat, immer rein ist, daß die Luft des Zimmers rein ist, daß in der Nacht die schmutzigen Windeln aus dem Zimmer entfernt werden und Ventilation des Zimmers statthat, daß die Mutterbrust sehr sauber gehalten werden muß, daß bei künstlicher Nahrung die Kochtöpfe und Säuglingsflaschen mit peinlichster Sauberkeit rein zu halten sind, all das will gewußt,

Pudor: Mutternot! 201

erkannt, gelernt und geübt sein. Wie viele, viele Mädchen aber ver- heiraten sich und werden Mütter, ohne von alledem weder Kenntnis noch Übung zu haben. Man sagt ihnen, »wenn du nur deinem Mann eine Suppe kochen kannst und ein freundliches Gesicht zeigst, ist es genuge. Aber nie bekommen sie zu hören, daß sie nicht heiraten dürfen oder nicht Mutter werden dürfen, ehe sie von der Säuglings- hygiene und Erziehung etwas wissen und können. Zum mindesten müßten sie das erste Jahr der Ehe dazu benutzen, das Versäumte nachzuholen und Kurse durchzumachen, in denen sie zu Müttern herangebildet werden. Ja, wenn irgend eine Schule, irgend ein Kursus obligatorisch sein sollte, dann dieser: der Staat muß gesetzlich fordern, nicht nur, daß jeder Mann, der zum Altar schreitet, imstande ist, eine Familie zu ernähren, sondern auch, daß jede Frau, die eine Ehe eingeht, den Beweis erbringt, daß sie dem Wissen und Können nach die Säuglingshygiene und Erziehung beherrscht, oder aber verpflichtet ist, in den ersten sechs Monaten ihrer Ehe das Versäumte nachzu- holen und einen Kurs in einer der vielen Mutterschulen, die es dann geben wird, zu absolvieren. Und zwar wären diese Mutterschulen am besten von den Gemeinden zu errichten, gewissermaßen in Anhängig- keit von dem Standesamt der Gemeinden. Es ist ohne weiteres klar, daß auf diese Weise am wirksamsten der Kindersterblichkeit Einhalt getan werden kann, selbst dann, wenn, was wir an und für sich nicht wünschen, der Besuch der Mutterschulen nicht unentgeltlich sein könnte; aber wer eine Familie gründet, muß eben auf jede Weise Opfer bringen, um die Gesundheit der Nachkommenschaft zu sichern. Auf der andern Seite liegt es im Interesse von Staat und Gemeinde, die Familien-Gründung zu erleichtern, und von diesem Gesichtspunkt aus wäre der unentgeltliche Besuch der Mutterschulen wünschenswert.

Die Mutterschule zerfällt in zwei Abteilungen, die hauswirtschaft- liche und die mutterschaftliche. Auf der letzteren, nicht auf der ersteren liegt der Nachdruck, und ganz im allgemeinen liegt auf der praktischen Seite der Nachdruck, nicht auf der theoretischen, wie in den französischen Mutterschulen, die unserm Ideal durchaus nicht entsprechen und mehr für die bemittelten Stände berechnet sind, während wir an alle Stände, vor allem aber an die unteren Stände denken. Die hauswirtschaftliche Abteilung umfaßt Kochkunst, haus- wirtschaftliche Buchführung, Schneiderei, Stickerei, Wäscherei und Plätterei, Gemüsegärtnerei, Geflügelzucht, endlich Unterweisung in den Grundbegriffen der praktischen Ästhetik zwecks einer künstlerischen Ausgestaltung des Heims. Als fakultative Fächer dazu kommen noch einerseits Kleinlandwirtschaft, anderseits Kunstgewerbe.

202 A. Abhandlungen.

Die mutterschaftliche Abteilung umfaßt Wohnungshygiene, Nahrungs- und Kleidungshygiene, Nahrungschemie, Säuglingshygiene, Hygiene des Wochenbettes, Arzneimittellehre, Heilkunde in bezug auf die wichtigsten Handgriffe und Heilmittel bei den häufigsten Krankheiten. Als fakultative Fächer kommen dazu eine mehr theoretische Behand- lung der Heilkunde und Hygiene, Chemie, Finanzwirtschaft, Kunst, Kunstgewerbe und Ästhetik.

Wir brauchen keine Frauenbewegung, sondern eine Mütter- bewegung. Statt daß die Frauenbewegung versucht hätte, die deutschen Frauen zu Trägerinnen des Familien-, des Volks- und Rassenzucht- Gedankens zu machen, hat sie alles getan, sie dem Herde und der Familie, dem Volke und der Rasse zu entfremden.

Wir aber greifen dem Rad in die Speichen und rufen nach Müttern! Familienkultur also Mütter! Wir wollen Frauen als Hüterinnen des Herdes, als Priesterinnen des Hausaltars, als Führerinnen der Familie. Wir brauchen solche Frauen für die Zukunft unseres Volkes und für unsere Kinder. Wo die Frau als Mutter versagt, ver- wahrlosen die Kinder. Und wo die Frau als Patriotin versagt, ver- wahrlost das Volk! Erna Schmidt veröffentlichte vor einiger Zeit einen guten Aufsatz: »Deutsche Frauen deutsche Treue.« Diese deutsche Frauentreue muß sich in der Familie gerade auch gegenüber Volk und Vaterland betätigen. »Du sollst dein Volk lieben über alles: das verlangen wir auch von unseren Frauen und Müttern. Wir wollen die Lebhaftigkeit und Schärfe des Volks- und Rassenbewußt- seins nicht den Slawen überlassen, sondern, wenn wirklich unser Volk schon anfängt, alt zu werden und sich deshalb rassefremdem Aus- ländertum in die Arme wirft, wollen wir es wieder jung machen, neu- gebären, wiedergebären, daß es aus seiner gegenwärtigen Not wie ein Phönix aus der Asche steigt. Dazu brauchen wir die Mütter! Mütter die dem Kinde schon mit der Milch die heiße Liebe zum Vaterland einflößen und Abneigung gegen alles Fremdländische. Kein Volk hat es so nötig wie das unsrige, weil kein anderes Volk eine so niedrige Überschätzung alles ausländischen Wesens zeigt.

Dickhoff: Das Problem des Krüppels und Richtlinien für die Erziehung usw. 203

2. Das Problem des Krüppels und Richtlinien für die Erziehung des Krüppelkindes. Von Dr. phil. E. Dickhoff, Stadt- und Kreisschulinspektor in Berlin.

(Vortrag, gehalten im »Erziehungs- und Fürsorge-Verein für geistig zurückgebliebene [schwachsinnige] Kinder«, im Januar 1917.)

(Schluß.)

5

Die Psychologie beschäftigte sich früher nur mit dem normalen Seelenleben des entwickelten Einzelmenschen. Das ist auch jetzt noch das Hauptfeld ihrer Tätigkeit. Daneben sind aber in neuerer Zeit als Spezialgebiete ausgebaut worden: die Tierpsychologie, die Völkerpsychologie, die Kinderpsychologie, die pathologische Psycho- logie. Aber man wird noch weiter differenzieren müssen. Die empirische Psychologie wird nicht außer acht lassen dürfen, die seeli- schen Vorgänge auch körperlich abnormer Kinder wissenschaft- lich zu erforschen, zu beschreiben und zu klassifizieren. Sie sieht sich vor die Aufgabe gestellt, alle seelischen Erscheinungen dieser anormal organisierten und daher auch psychisch eigenartig gerichteten Kinder in die Elemente zu zerlegen und in ihrem synthetischen Aufbau verstehen zu lehren, ihren besonderen Entstehungsbedingungen nach- zuspüren, ihre Entwicklungen und gegenseitigen Beziehungen nach- zuweisen und überall womöglich die Gesetzmäßigkeit des geistigen Geschehens aufzuzeigen, die bei scheinbarer Regelwidrigkeit der An- lagen doch, wenn man genauer zusieht, in den Grundzügen vorhanden ist. Vor allem wird uns die Frage interessieren: Wie weit werden Bewußtseinserlebnisse durch äußere Defekte und De- formation beeinflußt? Welche psychischen Besonderheiten, welche Fehlreaktionen lassen sich ausfindig machen bei solchen Kindern, die mit einem Sinn oder mehreren Sinnen weniger begabt sind (»Sinnes- arme«), also bei Blinden, Tauben, Taubblinden, oder bei körperlich Verunstalteten, den Krüppeln. Es gibt bisher noch keine systematische Darstellung dieser Art. Es ist weder eine Pädagogik der Blinden, noch der Tauben, noch der Krüppel erschienen, nur Ansätze dazu sind vorhanden, gelegentliche Versuche, auf empirischer Grundlage beruhend. Daß diese speziellen Seelenlehren lange auf sich warten lassen, ist begreiflich. Die Zahl der unglücklichen Kinder der genannten Gattungen ist relativ gering. Eine Sammlung solcher Hilfs- bedürftiger an bestimmten Anstalten ist erst neuerdings erfolgt. Die wissenschaftlichen Teiter dieser Erziehungs- und Pflegeanstalten waren

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früher meist nur Ärzte, das Unterrichts- und Helferpersonal war nicht hinlänglich vorgebildet, um wissenschaftliche Arbeit zu leisten und sachverständige Urteile fällen zu können. Denn die Erforschung des Seelenlebens dieser Stiefkinder der Natur kann allein auf dem Wege intensiver planmäßiger Beobachtung und exakter Versuche erfolgen. Als Gegenstand der Beobachtung kommen nicht bloß die psychischen Vorgänge selbst in Betracht, sondern auch die stark von normalen Vorgängen abweichenden Nervenprozesse, die körperlichen Bewegungen, Ausdrucksbewegungen, die für die Beurteilung, Deutung und Erkenntnis der psychischen Inhalte von großer Wichtigkeit sind.

Der Krüppel befindet sich mit seiner unzulänglichen körperlichen Verfassung in einer besonderen Lage der Umwelt gegenüber. Die Eigenart seiner äußeren Konstitution beeinflußt entsprechend auch seine seelischen Zustände, so daß sich sein Gesamtzustand als ein oft anormaler bezeichnen läßt. Es kommen für ihn die wesentlichen Merkmale und Bedingungen des Abnormen in Frage. Denn es ist nicht zu leugnen: Bei den meisten körperlich Verunstalteten tritt menschliches Wesen und Wirken in Verzerrungen und Verstümme- lungen auf.

8.

Welches sind nun die hauptsächlichsten spezifischen Erziehungsmaßnahmen und Unterrichtsgrundsätze, die in Krüppelheimen Erfolg versprechen? Als erstes Moment ist die ungezwungene naturgemäße Ausbildung des Organismus und der seelischen Vorgänge zu nennen. Ohne diese läuft die ganze Erziehung aufs Abrichten hinaus. Krüppelkinder dürften nicht anderswo als in ländlicher Umgebung, am besten in einer Waldschule erzogen werden. Wenn ihre Gebrechlichkeit sie zunächst der großen Welt entzieht und sie so der unzähligen Anschauungs- und Anregungsmittel des öffentlichen Lebens beraubt, so muß ein Ersatz dafür geboten werden. Den kann nur die Natur gewähren. In der Natur kann sich der Krüppel darauf besinnen, daß er nicht nur das Mißgeschöpf eines unausweichlichen Verhängnisses ist, sondern auch ein vernunft- begabtes organisches Lebewesen, das ein Anrecht auf Menschendasein und Menschenglück hat. In ländlicher Umgebung tritt die Arbeit in ihrem logischen Zusammenhange, heranwachsend aus inneren, gesunden, natürlichen Bedürfnissen vor die kleinen Seelen hin. Hier offenbaren sich Garten und Feld. Hier wächst die tägliche Nahrung, hier gedeihen die Stoffe zur Kleidung, hier reden ihre besondere Sprache Naturfrische, Werktagsarbeit und Feiertagsruhe. In den Handwerksstätten regt sich fleißiges Schaffen, es lenkt den Sinn

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von den subjektiven Bekümmernissen auf die Dinge außer uns: froh und lehrreich wird die Erde Und der kindliche Körper erstarkt. Der junge Gärtner und Bauer ergeht sich im Sonnenbad und auf der Planschwiese, er arbeitet, schafft und tummelt sich im Licht, im Grünen, im frischen Naß. So weicht der Druck von seinem Herzen, unverschuldet ein Gekennzeichneter des Lebens zu sein.

Was eine Anstalt als Ersatz für die Traulichkeit des Familien- lebens zu bieten vermag, werde diesen Enterbten geboten, und sie wird ihnen zuteil im »Oskar-Heleneheim«; davon habe ich mich selbst wiederholt überzeugt und rate auch allen Ihnen zu einer Be- sichtigung. Die Mütterlichkeit der Erzieherinnen ist die Seele der Anstaltspflege. Mancherlei Regeln und Ratschläge sind hier zu befolgen. Es gibt zwar nur eine Pädagogik in der Welt, Gott sei Dank, aber ihre Satzungen lassen sich in verschiedene Sprachen übersetzen. Auch die Sprache der Krüppelpädagogik hat ein besonderes Gepräge. Solche Gebote sind beispielsweise: Strafe nicht zuviel, du nimmst sonst dem Krüppelkinde den Glauben an seine geringe Kraft. Trage ein Vergehen nicht nach, sonst rufst du leicht die Rachsucht wach. Dulde keine Angeberei, der Genossen- schaftsgeist wird schnell untergraben. Übe keinerlei Bevorzugung, du kommst sonst in den Geruch der Ungerechtig"eit und Willkür. Meistere deinen Eigensinn, vermeide aber die Prügelstrafe. Eine Krüppelpflegerin beschwichtige die Ängste ihrer leidenden Schützlinge, steigere aber ihr eigenes Mitgefühl nicht bis zur wehleidigen Zärt- lichkeit, sondern übe darin Zurückhaltung. Sie zeige sich gefaßt und beherrscht. Sie flöße dem Verzagten Lebensmut ein und klage das traurige Geschick nicht an. Vernunft ist mehr wert als Hätschelei.

Die Ergebnisse der Sinnespsychologie und des Motorismus, die Freude an der Bewegung, das Kraft- und Lustgefühl der schaffen- den Tätigkeit sind bei der Erziehung der Krüppelkinder ausgiebig zu verwerten. Der »Blumenhiob« in Kysers Roman läßt instinktiv sein blödes Kind die Bäume, Steine und Blumen nicht nur anschauen, sondern auch anfassen. Ja, er läßt es die Bäume zärtlich streicheln. Das Kind stammelt: »Lieber Baum, liebes Blatt!« Der Krüppel muß aber die Naturformen auch nachschaffen lernen. Er muß schon ohnehin die Finger üben. Die Prinzipien des darstellenden Unterrichts, besonders das körperliche Gestalten, die Techniken der Handfertigkeit werden im Sinne der Arbeitsschule den gesamten Unterrichtsplan zu beeinflussen haben. Lebendige Gebärden ver- langt der Unterricht, um dem weltmüden Sinn und der Eindrucks- scheu entgegenzuarbeiten. Der Rechenunterricht, das Kreuz der

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Krüppelschule, muß die Augenmuskeln in Bewegung setzen, um eine klare gegenständliche Auffassung der Raumgrößen zu erzielen.

Der Lebensschwung, in der Ausprägung rhythmischer Be- wegung, ist ein Haupttriebrad des Unterrichts. Höchst lehrreich sind die Ausführungen Uwes, wie der Rhythmus als Motor den Unter- richtsgang beschwingt. Es fällt auf, heißt es darüber, daß das Ge- dächtnis der Krüppelkinder in gewissen Unterrichtsstunden betrübend versagt. Trotzdem mit dem System der Assoziationspsychologie ge- arbeitet wird, ändern sich die schwachen Ergebnisse nicht. Infolge ihres körperlichen Gebrechens zeigen die Zöglinge eben ein starkes Retardieren und Stocken der Lebensrhythmen, also auch des Apper- zeptionsprozesses, wenn die anzueignenden Lernstoffe auf eintöniger Bahn verlaufen. Andernteils ist erwiesen, daß gefällige Rhythmen den Krüppelkindern ihnen infolge vielfach hervortretender musi- kalischer Begabung leicht eingehen und gut behalten werden. Es er- gibt sich also für den Erzieher die Aufgabe, das dienstverweigernde Gedächtnis durch harmonische Rhythmen zu beschwingen und da- durch der Aufnahme des Lernstoffes geneigter zu machen. Der Unter- richt ist daher in einer Form darzubieten, die solchen harmonischen Rhythmen einen möglichst weiten Spielraum läßt. Der Memorier- stoff muß ein musikalisches Vorzeichen bekommen. Selbst die Prosa muß Schwung und Rhythmus haben. Das pädagogische Können muß auf Harmonie abgestimmt werden. Der Rhythmus des Schaffens, Handelns und Darstellens gibt den Oberton der Lernaufgaben an. Statt des gleichmäßigen Fortschritts fühle man den beschleunigten Ruck der Handlung. Im Rechenunterrichte müssen daher die Tatzwecke der Arbeitsschule dynamisch hervortreten. Dramatisch verwandelt sich die Schule in einen Bäckerladen, Kaufmannsladen, ein Bankgeschäft, wo die Schüler als Käufer und Verkäufer mit- einander handeln und verhandeln. Besonders auch die Kopfrechen- aufgaben müssen sich an lebendiges Tun anknüpfen. Das praktische Leben wird stets besonderes Interesse wachrufen.

Daneben sind den guten methodischen Gepflogenheiten jedes er- ziehlichen Unterrichts in den Lehrstunden Rechnung zu tragen: im Lesen, Schreiben, Anschauen und Sprechen. Ein ruhiges klares Sprechen, eine saubere Handschrift, ein sachliches Beobachten und genaues Wiedergeben des Beobachteten sind ja für die Krüppelpädagogik besonders wichtig, denn nur ernste Qualitätsleistungen können vor Oberflächlichkeit in der Auffassung, vor Pfuscherei in der Ausführung und beschönigender Leichtfertigkeit in der Kritik bewahren. Die Überleitung des Wollens und Könnens zum Voll-

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bringen, zur Tat wird durch experimentelle Versuche in Werkstatt und Laboratorium besonders erforscht werden müssen. Diese Ver- suche fehlen, soweit ich sehe, bisher noch gänzlich. Die Leiter der Anstalt in Zehlendorf werden aber, mit mir im Verein, sobald die Zeiten wieder ruhiger geworden sind, dieser psychologisch wichtigen Frage, näher treten. Dafür habe ich ihre Zusicherung bereits erhalten.

9.

Es sollen jedoch nicht nur äußere Tüchtigkeiten und praktische Fertigkeiten, sondern auch innere Lebenswerte im Krüppel ge- schaffen werden. Die Nährsäfte der Lebensfreude wirken ver- jüngend auf den Organismus. Sie, die Lebensfreude, ist Pflicht und Recht des Krüppels. Sie ist sein Kraftkapital, die Verbündete der Heilkraft. Der Religionsunterricht darf daher nicht eine welt- abgekehrte Entsagung predigen, oder sich damit begnügen, nur Trost zu spenden für die Stunden eines erhöhten Leidgefühls, sondern muß eine tätige Lebensfreude erzeugen. Der Krüppel ist schon an sich ein Verlangender, ein Forderer. Stellt man ihn unter das Gesetz einer erhöhten Pflichtenforderung, so verzagt er, versagt er. Werden ihm nicht die Erfüllungsmomente der Religion geboten, so wird er verbittert. Leidende Askese ist keine Arzenei für ihn. Die Lektüre des Deutschunterrichts muß auf diese Willensstärkung Rücksicht nehmen. Da die Lesebücher der Krüppelanstalten solche Geschichten, in denen Körpergebrechliche das Schicksal durch sittliche Willenskraft bezwangen, nicht in genügender Anzahl enthalten, so sah sich der Erziehungsdirektor des Oskar-Heleneheims veranlaßt, be- sondere Erzählungen dieser Art für den’ Unterricht zu schaffen, und es schwebt der erziehliche Gedanke vor, ein besonderes Lesebuch für bewegungsbeschränkte und gebrechliche Kinder zusammenzustellen. Neben der Willensstärkung und Verjüngungsenergie muß die sitt- liche Freiheit hoch aufgerichtet in des Krüppels Seele stehen. Die Verzweiflung, die aus seiner körperlichen Einengung hervorgeht, über- antwortet ihn sonst den Mächten der Tiefe: einer Lusterwartung niedrigster Art, dem Neide über die körperlich glücklicher ausgestatteten Altersgenossen, der hämischen Bosheit, die ihn magisch nach sich zieht, der Scheingerechtigkeit, der Verstellung und dem »heimlichen« Laster. Über Mißtrauen und Rachsucht, Verbissenheit, Undankbarkeit und schnöde Selbstsucht wissen die Anstaltslehrer und Pfleger in Krüppelheimen manches zu berichten. Es ist, als ob die grausigen Gedanken, die den Unglücklichen von Geburt an plagen, die furcht- baren Ohnmachtssorgen, die sein Eingeweide durchwühlen, die Lebens-

208 A. Abhandlungen.

ansprüche, die sich niemals erfüllen, eine Hydra in seinem Herzen aufwachsen ließen. Diesem Schlangengezücht müssen die Köpfe ab- geschlagen werden. Doch stehen diesen schmerzlichen Mängeln auch reiche Tugenden und geistige Vorzüge gegenüber: Das Krüppelkind ist meist an und für sich religiös und neigt überhaupt zu vertiefter Innerlichkeit, es ist dankbar für Heilung, Unterricht und Pflege, es folgt willig den Anordnungen der Leiter, es ist anhänglich an die Anstaltschwestern und beweist, wenn es bettlägerig ist, eine unaus- sprechliche Geduld, es ist gesellig und zeigt sich zutraulich den Altersgenossen gegenüber, es hilft bescheiden aufwarten und erweist sich aufmerksam und lerneifrig im Unterricht. Es entwickelt Witz und Scharfsinn, zeigt Umsicht und eine verständnisvolle Beobach- tungsgabe. 10.

Ein weiteres Erziehungsprinzip von ausschlaggebender Bedeutung stellt die Kunst mit ihren Offenbarungen dar. Die künstlerische Lebensplastik stellt hohe Anforderungen an Vorstellung und Phantasie. Auch das Anstaltswesen, das ohnehin den Krüppel für gewöhnlich der schönen Natur entzieht, verlangt, daß man ihm Lebensfreude in seinem eigenen Heim bereite. Die Kunst allein vermag dies. Ein Lehrer, der ein Schaffender der Kunst, ein Kenner der Darstellung, ein Tatkünstler ist, vermag hier sein Erziehertalent im hellsten Lichte zu zeigen. Aus der Tatkunst aber wird sich eine zweckentsprechende Urteils- und Willensbildung ergeben. Auch die sozial-ethische Seite der Erziehung verlangt eine künstlerische Basis. Mit ab- strakten Forderungen, wie sie der Moralunterricht vorschreibt, ist hier nicht gedient. Der Überblick über die Pflichten kann künstlerisch vorbereitet und entwickelt werden. Das Kind muß die sich er- weiternden Sozialkomplexe, wie sie durch Vaterhaus, Dorf, Staat, engere Heimat, Vaterland umschrieben werden, anschaulich würdigen, um sie lieben zu lernen. Leider kann das Krüppel- kind nicht durch Wanderungen, größere Schulausflüge, Besichtigungs- gänge diese anschauliche Betrachtung an Ort und Stelle vornehmen. Die Dinge müssen zu ihm ins Schulzimmer kommen, damit sie in seinem Gesichtsfeld Wurzel schlagen. Gute Abbildungen von Naturszenen können dem Krüppel allein eine Ahnung vom Walten Gottes in der Natur, von der Majestät des Werdens und der Ver- jüngung, vom Verfall und Absterben im Reiche des lebendigen Schaffens geben. Die Kunst zeigt sich hier als Vermittlerin des Waltens Gottes in der Natur; ist es nicht also: der allmächtige Schöpfer spricht durch den Anblick seiner Werke im Bilde zu den

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Herzen dieser Stiefkinder des Glückes. Man sollte darauf achten, daß diese Verstoßenen, die den Entwicklungsgang der Menschheitsgeschichte und den Kreislauf der Natur hinter Mauern durchleben, sie wenigstens innerlich miterleben.

Die Frage erhebt sich nun: Darf man den Kunstsinn der Krüppelkinder voll entfalten? Sind ihnen nur Stimmungsland- schaften zu gönnen, die Darstellungen des nackten menschlichen Körpers dagegen vorzuenthalten? Man hat gemeint, daß die unver- hüllten Schönheiten der Plastik und Malerei ihnen, den Mißgestalteten, ästhetische Marterschmerzen verursachen müssen. Aber gerade, weil die bildende Kraft der Natur bei ihnen versagt hat, haben sie ein Recht auf eine uneingeschränkte Phantasie. Die ideale Kunst ge- währt ihnen allein Ersatz für den natürlichen Mangel. Außerdem verlangt eine praktische Pädagogik, die das Leben nimmt, wie es ist, daß kein Versteckspiel getrieben werde. Der nackte Körper wird dem aus der Anstalt entlassenen Krüppel bald genug im Bilde begegnen. Darum tut Vorbereitung gut auf alle Fälle. Gute Bücher und gute Bilder gehören vor allem ins Krüppelheim, sonst rächt sich die Phantasie hier aufs furchtbarste.e Eingeweihte wissen, welche erstaunlichen Opfer unsittliche Bilder und Schundbücher gerade bei den Abge- schlossenen angerichtet haben. Das »Oskar-Heleneheim« hat deshalb in weiser Beachtung diese ästhetisch-erziehlichen Momente besonderes Gewicht auf den künstlerischen Wandschmuck gelegt. Das Bildermaterial ist durchaus nach krüppelpsychologischen Gesichts- punkten ausgewählt worden. Jede Klasse des Heims trägt ein ein- heitliches künstlerisches Gepräge sowohl in der Form, als auch in der Stoffauswahl. So umgibt die Schule der einen Klasse die Welt des Krieges und der Waffen. In einer andern wirken religiöse Momente in entsprechender Zusammenstellung beruhigend auf die Ge- müter. Die Tierwelt spricht in typischen Vertretern aus dem Wand- schmuck einer dritten Klasse. Die vierte Klasse führt durch ihre Ausstattung in die bunte Welt der Vögel ein. Auch das Reich der Märchen findet seine Stätte in einem besonderen Klassenzimmer. Den Zeichensaal beleben die Bildnisse deutscher Maler und ihrer Er- zeugnisse, während der Gesangsaal die Phantasie der Kinder in sinn- bildlichen Darstellungen auf die tiefere Bedeutung des Volksliedes hinlenkt. Die Bildnisse großer deutscher Musiker vervollständigen den Gesamteindruck des Saales. Im Schulkorridor blicken die Bild- nisse sämtlicher Hohenzollern auf die Kinder herab, und zahlreiche Landschaften aus der Mark Brandenburg fördern den Sinn für die Schönheit der engeren Heimat. Bilder aus Alt-Berlin schmücken

Zeitschrift für Kinderforschung. 22. Jahrgang. 14

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einen andern Wandelgang. Deutsche Städtebilder aller Bundesstaaten Deutschlands vermitteln den Gesamteindruck von der Schönheit des umfassenderen Vaterlandes. Kurzum, alle Räume der Anstalt tragen künstlerische Einheitswelten, eine Anordnung, die auch schon darum geboten erscheint, weil die Krüppelpädagogik die Zerstreutheit, das Abschweifen und Umherfahren des Interesses, geistige Mängel, die durch das Leiden der Gebrechlichen bedingt sind, zu bekämpfen hat.

Wie das ästhetische Empfinden Tracht, Verkehr und Verrichtung zu läutern weiß, davon aus »Uwes Sendung« ein Beispiel. Trotz vieler Drohungen und Strafen, durch Anwendung eines fein ausgeklügelten Ordnungs- und Strafsystems, einer wissen- schaftlich gestaffelten Zuchtpädagogik wollte die Unsauberkeit und Unordnung aus Uwes Krüppelheim nicht weichen. Auf dem Fuß- boden lagen Papierschnitzel, die Werkstätten zeigten die Abfälle der Arbeit, in den Schlafsälen lagen Bücher auf den Betten, Kleidungs- stücke unordentlich auf dem Fußboden oder auf den Stühlen. Selbst unter dem Bette lagen Semmelreste und schmutzige Strümpfe in trautem Verein. Dazu waren auch die Anstaltsanzüge zerrissen und unsauber. Da half dem Erzieher Uwe eine Beobachtung ganz eigener Art. Während einer Plauderei mit einem Verwandten in dessen Garten bemerkte er, wie ein alter Gärtner die Rosensträucher vor dem Hause zärtlich streichelte. Auf sein Befragen, ob er das öfters. tue, erhielt er von der Dame des Hauses die Antwort: »Freilich, das ist so seine Gewohnheit. Die Rosenzucht ist seine Lieblingsbeschäfti- gung, und die Rosen pflegt er einzeln mit zärtlicher Sorgfalt. Übrigens habe ich mich auch schon dabei ertappt,« fuhr die Dame lächelnd fort, »daß ich blitzblanke Wäsche auch mit einem gewissen Behagen zu streicheln pflege, und mein Sohn hat geradezu ein kindliches Wohlgefallen an den sauberen Seiten seines Aufsatzheftes. Das scheint in der Familie zu liegen. Bei uns gewöhnen sich selbst die Dienst- mädchen bald an Korrektheit. Ob es nun davon kommt, daß wir auch die Menschen unwillkürlich mindestens ebenso sorgsam behandeln wie die Sachen, oder ob das Beispiel erzieherisch wirkt? Vielleicht liegt eine Wechselwirkung vor.«e Der Gedanke einer Wechsel- wirkung zwischen Sach- und Menschenbehandlung schlug wie ein Blitz in Uwes Seele ein. Es wurde ihm klar, daß er ganz im Gegensatz zu der instinktiven Erziehungsmethode dieser Familie den Sinn für Ordnung und Sauberkeit von außen her in die Seelen der ihm anvertrauten Kinder hatte tragen wollen. Er sah ein, daß kein inniges Verhältnis zwischen den Kindern und ihren Sachen be- stand, und es kamen ihm alle seine pädagogischen Verstöße in den

Dickhoff: Das Problem des Krüppels und Richtlinien für die Erziehung usw. 211

Sinn. Auf die Form, die Qualität, die Individualität der Anzüge beispielsweise hatte die Anstalt bisher kein Gewicht gelegt. Die Spielsachen der Krüppelkinder waren Massenproduktion ohne Kunst- ansprüche. Eine schmucklos uniforme Tracht, eine althergebrachte stets sich gleichbleibende Technik in den Arbeitsstätten ließ die Kinder weder an sich noch an den Dingen ihrer Umgebung Freude empfinden. Geschmacklose Einförmigkeit aber läßt den ästhetischen Trieb des Kindes, besonders des Krüppels, der schon ohnehin Mißbildung genug vor Augen hat, keine Nahrung finden. Auch der Sinn für äußere Ordnung muß zunächst mit der Freude an irgend welchem Ordnen beginnen. Hat das Kind Freude an seinen Gebrauchsgegenständen und Spielsachen, so wird es sie aus eigenem Trieb in Ordnung halten. Die ersten Lebensjahre sind wie für körperlich normale Kinder auch für den Krüppel entscheidend, ja sie sind für diesen von noch größerer Bedeutung. Die Richtung auf die Qualität muß von Anfang an stark hervortreten, denn im Konkurrenzkampf mit Qualitätsarbeiten wird er stets zurückbleiben. Die mangelhafte Ausrüstung seines. Körpers, die Schwäche der Struktur und die größere Ermüdbarkeit des Nervensystems stellen ihn in bezug auf Ausdauer an zweite Stelle. Auch die Disziplin kann nicht ohne einen künstlerisch- ethischen Überblick geleitet werden. Die individualisierende Methode, die schon ein künstlerisches Element in sich schließt, ist bereits durch die ärztliche Behandlung nahegelegt, die lauter Einzelfälle zu unter- scheiden hat. Andernteils fehlt es den Krüppeln nur gar zu oft an sozialem Empfinden. Dieses Empfinden muß durch pädagogische Be- einflussung planmäßig geweckt werden. Es gilt, die Selbständigkeit der einzelnen rege zu halten, aber auch die Einordnungswilligkeit zu erzeugen und zu disziplinieren. Um diese frei zu gestalten und ihr allen willkürlichen Zug zu nehmen, muß die Krüppelerziehungs- gemeinschaft einen kleinen Staat mit besonderen Interessen- gruppen bilden, die freilich in dauernder Pflichterfüllung zu erhalten sind. Als solche Gruppen sind zu nennen: eine Kinderkapelle, ein Haustheater, ein Leseverein. Ein konkretes Rechtssystem bindet die freiwillige Gruppenvereinigung durch unauflösliche Satzungen.

11.

Als letztes Moment verdient die Erziehung zum Gemein- schaftsleben eine kurze Betrachtung. Der Gemeinschaftssinn des Krüppels ist ein fragwürdiges Gebilde. Die Gemeinschaftstugenden der Aufrichtigkeit, Güte und Treue sind ihm innerlich durch das Be-

wußtsein der Gegensätzlichkeit zu den Gesunden oft arg erschwert. 14*

212 A. Abhandlungen. Man muß daher in Krüppelheimen Gemeinschaftsinteressen schaffen. Man muß die Krüppel bei den gemeinsamen Festen, geselligen Spielen und Freuden immer aktiv sein lassen, damit ihnen die Empfindung für ihren mangelhaften Organismus schwinde. Der Krüppel muß mit- tanzen, mitmusizieren, mitschmücken, mitleiten, mitorganisieren, mit- entscheiden. Das gemeinschaftliche Tun setzt sich nur dann in Ge- sinnung um, wenn es möglichst konkret und durch unausgesetzte Ver- richtung großgezogen wird. Gemeinsames Singen und Musizieren hilft schon bei normalen Kindern innere Berührungen erzeugen, bei Krüppeln ist es obligate Forderung. Bei der Ordnungsschöpfung läßt die hilfreiche Mitwirkung der Kameraden, die Rücksichtnahme auf die Schwachen ein Helfersystem entstehen, das den Triumph der praktischen Menschenliebe im Anstaltswesen darstellt. Schon die logische Lebensökonomie wird hier unterstützend wirken. Die Pflichten erstrecken sich auf folgende Punkte: Um die Hingabe an das All- gemeine zu vertiefen, müssen die Bettkinder, die Bewegungsunfähigen mit den Kunstleistungen erfreut werden. Den Schützlingen werden Bilder gezeigt, Geschichten erzählt. Unterhaltungsnachmittage kommen in Aufnahme. Die Reinigung der Kleider der Zöglinge, das Säubern der Stuben, die Führung der Aufsicht bei Spielen, Hülfeleistungen im Unterricht und bei ärztlichen Handlungen gehören ebenfalls in dieses Gebiet. Dem Ausbau des Rechtsgedankens wende man viel Fleiß und Sorgfalt zu. Sich anderen nützlich zu erweisen, hilfreich für ein- ander einzustehen, in der Arbeitsgemeinschaft sein Bestes zu leisten, sind soziale Tugenden, die nur aus einem wirklich gefühlten Rechts- bedürfnis, aus Gerechtigkeitssinn und Nächstenliebe erwachsen. Der Krüppel mnß ganz besonders davor bewahrt werden, in seinem egoistischen Arbeitsinteresse, in der geschäftlichen Verwertung seiner technischen Arbeitsleistung Aufgabe und Ziel seiner Erziehung zu erblicken.

In der Lebensfürsorge für den Krüppel machte sich bisher eine erschreckende Gleichförmigkeit in der Aufstellung der Lebens- bedingungen und Lebensziele bemerkbar, ein mechanischer Ausgleich, der an den Maschinenbegriff des Kräfteausgleiches erinnert. Die moderne Pädagogik kann sich und wird sich nicht zum Handlanger für äußere Nütz- lichkeiten und bürgerliche Notdürfte hingeben. Utilitarismus und Man- chestertum sind die ärgsten Feinde der Erziehungswissenschaft, wie der didaktische Materialismus der Todfeind eines erziehlichen Unterrichts

12. Ziehen wir die Summe des Berichteten, so ergibt sich: Die Kulturgeschichte lehrt uns: Am hoheitsvollsten leuchtet das menschliche

Dickhoff: Das Problem des Krüppels und Richtlinien für die Erziehung usw. 213

Antlitz des Krüppels in der religiösen Sphäre auf. In allen diesen Fällen erfahren wir von Krüppeln, die sich nicht nur Duldung und Anerkennung errangen, nicht nur den erhabenen Glanz des Tragischen um sich verbreiteten, sondern sich über das Elend ihrer Bresthaftig- keit innerlich erhoben. Die ethische Würdigung des Krüppels als Mensch und Ewigkeitswesen knüpft sich an die christliche ‘Moral. Denn nur in ihr wurde grundsätzlich, wenn auch leider nicht überall in der Praxis, mit der Ewigkeitsbedeutung jedes Menschen Ernst ge- macht. In der Antike war jedes Krüppelkind mit dem Tode bedroht. Es galt weniger als ein Sklave. Das Mittelalter überließ die Pflege der Krüppel den Sekten, Brüderschaften und kleinen Leuten voller Aberglauben. Von einer ernsten sittlichen Würdigung des Krüppels läßt sich erst mit dem Aufkommen des sozialen Staatsgedankens reden,

Für die Betrachtung in der Wissenschaft ergibt sich ein ähn- liches Bild. Von einer antiken oder mittelalterlichen Wissenschaft vom Krüppel ist nicht zu reden. Die Biologie für sich allein konnte natürlich das Krüppeltum nicht anders als eine Form der Entartung würdigen. Eine Wendung zugunsten des Krüppels ergab sich erst aus der Verbindung des Technischen und Biologischen in der modernen Orthopädie und aus der Verbindung beider mit der realhumanistischen Ethik und Pädagogik. Nun erst konnte die wissenschaftliche Würdigung des Krüppels eine erfreuliche Gestalt gewinnen. Die literarischen, ethischen und fachwissenschaftlichen Zeugnisse lehren, daß das Gute in den Krüppeln als wirkliche Lebensmacht vorhanden ist. Es ist nur zu erwecken, zu entwickeln und zu stärken. Keine Würdigung von außen her kann dem Krüppel helfen, wenn er nicht fühlen lernt, daß er als Mensch und Vernunftwesen das Gute schon ist und immer bleiben wird, solange nur ein freudiges Gewissen ihm das Recht ge- währt, an das Ewige in sich zu glauben. Ich bin am Ende meiner Ausführungen. Die Richtlinien einer Krüppelpädagogik, die ich in Aussicht gestellt hatte, glaube ich gezogen zu haben. Ich meine, ich habe gezeigt, daß mit den billigen Zusatzmitteln der »orthopädischen Ersatzpädagogik« der bequem denkenden »Leute von Kopf und Herz« auf unserm Gebiete nichts zu machen ist, daß es vielmehr einer durchaus sachkundigen Ausgestaltung und geschmeidigen Anpassung moderner Erziehungsgrundsätze bedarf, um der eigenartigen Konstitution dieser Schmerzenskinder der menschlichen Gesellschaft gerecht zu werden. Unter den Händen eines rauhen Gärtners verwelken diese empfindlichen Kinderpflänzlein gar zu leicht, aber bei sorgsamer Pflege bringen sie Frucht in Geduld, je nach Anlage und Art der Wartung. Die Zeitereignisse verleihen meinen bescheidenen Ausführungen

214 A. Abhandlungen.

einen blutigen Hintergrund jedermann weiß, was ich meine: die Kriegsversehrten erscheinen vor unserm Geiste. Die Tage werden kommen, da unser Volk starkherzig sein muß, um sich an den An- blick der vielen tausend Krüppel und Verstümmelten zu gewöhnen, die es vorher in der Blüte der Männlichkeit und Kraft gekannt hat, Da handelt es sich um eine andere Heldenhaftigkeit als die in der Schlacht, um eine große stille Standhaftigkeit, die die Träne unter- drückt, und um eine starkherzige Opferfreudigkeit, die bei der Krüppelpädagogik durch die Schule gegangen ist. Sie verzagt nicht, sie erfüllt unaufgefordert Menschenpflicht, sonst wäre sie ein tönend Erz und eine klingende Schelle. Mit ruhiger Anteilnahme fragt sie: Was soll aus meinen Brüdern werden und wie kann ich ihnen helfen? Wir alle sind zur Hilfe bereit.

3. Einführung in das sächsische Gesetz über Fürsorge- erziehung. Von

Johannes Delitsch. (Schluß.)

Der Weg zwischen Anzeige bei einer Antragsbehörde und Ver- fügung des Vormundschaftsgerichtes auf Fürsorgeerziehung ist nicht gerade kurz. Ist der Minderjährige elterlichen Mißhandlungen oder Nachstellungen ausgesetzt, die sein Leben gefährden, wird er auch nur grausam leiblich oder seelisch gequält, oder befindet er sich in jenem leider nur zu häufigen Zustande verbrecherischen Taumels, der ihn von Unehrlichkeit zu Unehrlichkeit treibt, so kann unmöglich der zeitraubende Instanzenweg eingeschlagen werden. Für solche Fälle sieht schon das BGB. in Artikel 23 seines Einführungsgesetzes selbst für Ausländer folgende Bestimmung vor: Das deutsche Vor- mundschaftsgericht kann vorläufige Maßregeln treffen, solange eine Vormundschaft oder Pflegschaft nicht angeordnet ist. Und das sächsische Fürsorgeerziehungsgesetz gründet auf diesen Artikel des BGB. seinen $ 6: Ist sofortiges Einschreiten dringend geboten, so kann das Vornundschaftsgericht, ohne an die Vorschriften des $ 4 oder an die aufschiebende Wirkung einer erhobenen Beschwerde ge- bunden zu sein, die vorläufige Unterbringung des Minderjährigen verfügen. Der $ 4 verlangt nämlich vom Vormundschaftsgerichte, es solle vor der Verfügung auf Fürsorgeerziehung erst Eltern, Ver- wandte usw., wie schon erwähnt, hören. Allein bei vorläufiger Unter-

Delitsch: Einführung in das sächsische Gesetz über Fürsorgeerziehung. 215

bringung werden alle diese Verpflichtungen bis zur Herbeiführung der regelrechten gerichtlichen Entscheidung vertagt, ist auch bis da- hin keine Beschwerde zulässig. Reicht bei dringender Not zum Schutze des Minderjährigen auch vorläufige Unterbringung nicht aus man denke, ein Kind brauche sofortigen Schutz, und das Vor- mundschaftsgericht sei zufälligerweise auf Tage geschlossen z. B. am Weihnachtsabend so erinnert Jugendrichter Landsberg in seiner sehr lesenswerten Schrift: Die öffentliche Erziehung der gefährdeten Jugend daran, daß die Polizei das Recht besitze, auch ohne Ge- richtsbeschluß jede gefährdete Person in Sicherungsgewahrsam zu nehmen. Leider macht die Polizei von dieser Maßregel selten Ge- brauch; denn sie muß auf alle Fälle die Kosten tragen. Die Polizei hat die Pflicht, die in Sicherheitsgewahrsam befindliche minderjährige Person möglichst an demselben Tage dem Vormundschaftsgerichte zuzuführen.

Der Vollzug der Fürsorgeerziehung liegt in Plauen dem Stadtrate ob, der sein Fürsorgeamt damit betraut hat. Auf dem Lande ist der Amtshauptmannschaft die gleiche Aufgabe zugeteilt. War die Voll- zugsbehörde die Antragstellerin, so ist ihr der Einzelfall schon be- kannt. Sie kennt den Grad der Verwahrlosung des Minderjährigen und weiß, ob für ihn Unterbringung in einer fremden Familie genüge, ob er in eine private Erziehungsanstalt oder öffentliche Besserungs- anstalt zu bringen sei. Sie weiß dann auch, in welchem Maße der schlimms Einfluß des Elternhauses auf den Fürsorgezöglingen zu fürchten und dieser deshalb vor dem Verkehr mit seinen Eltern zu schützen sei. Die Eltern pflegen dem Fürsorgeamte vor dessen An- tragstellung. ihr aufbegehrendes, aufhetzendes, unlauteres Wesen hin- reichend fühlen zu lassen. Man muß oft weite Entfernungen zwischen beide Teile der Familie legen, um der Fürsorgeerziehung den er- wünschten Erfolg zu sichern. Hat dagegen die Vollzugsbehörde, wenn der Antrag anderweit gestellt wurde, die ihr noch unbekannten, nur in den Akten geschilderten Verhältnisse erst nachzuprüfen, so bedeutet das immer eine Verzögerung und Erschwerung geeigneter Unterbringung. .

Gegen die Art der Unterbringung steht weder den Eltern, noch dem Vormundschaftsgerichte, noch anderen das Beschwerderecht zu. Doch unterstehen die Anordnungen der Vollzugsbehörden eines Regierungskreises der Aufsicht ihres Fürsorgeverbandes, der wieder dem Ministerium des Innern untergeordnet ist.

Im Königreich Sachsen bildet nach $ 8 des Fürsorgeerziehungs- gesetzes jeder Regierungsbezirk einen Fürsorgeverband. Unser Verband

216 A. Abhandlungen.

umfaßt also die Kreishauptmannschaft Zwickau und hat den Kreis- hauptmann zum Vorsitzenden und den Dezernenten für das Fürsorge- erziehungswesen in der Kreishauptmannschaft zum Stellvertreter des Vorsitzenden. Ihm steht ein ärztlicher Berater amtlich zur Seite.

Der Verband betätigt sich in seinen Verbandsversammlungen und in seinem Fürsorgeausschuß. Jede Vollzugsbehörde im Bezirke beschickt die Versammlungen mit drei, den Ausschuß mit einem Ver- treter. Der Ausschuß bereitet die Versammlungen vor, die alle Interessen des Fürsorgeverbandes pflegen und vertreten, die den Haus- haltplan festsetzen, die Kosten auf die einzelnen Gemeinden verteilen und Verträge für die verschiedenen Formen der Erziehung bestimmen. Der Verband fördert aber auch Bau und Erweiterung von privaten Erziehungsanstalten in seinem Bezirke und gründet nach Bedarf selbst Anstalten.

Zu den Kosten der Fürsorgeerziehung trägt der Staat die Hälfte bei. Übrigens ist der Verband berechtigt, von den Eltern seiner Fürsorgezöglinge die aufgewendeten Geldbeträge gerichtlich ein- zutreiben, auch das eigne Vermögen der Fürsorgezöglinge selbst in Anspruch zu nehmen. Doch pflegt man das den Zöglingen zu lassen, soweit es 300 M nicht übersteigt.

In der ministeriellen Anleitung für die Verwaltungsbehörden zur Ausführung des Fürsorgeerziehungsgesetzes vom 1. Februar 1909 § 4 wird bestimmt: Solange die Zwecke der Fürsorgeerziehung durch Unterbringung in einer Familie erreicht werden können, ist dieser der Vorzug zu geben. In 13 weiteren Abschnitten desselben Paragraphen sind bedeutsame Winke für solche Familienerziehung gegeben.

Der wärmste Fürsprecher der Familienerziehung war wohl der Waisenhausdirektor Petersen in Hamburg. Er klagte: Familien- erziehung wird zwar tbeoretisch in den Vordergrund gerückt, aber praktisch wenig durchgeführt. Bloß in Bayern brachte man es im ersten Jahre der Wirksamkeit des Fürsorgeerziehungsgesetzes auf 30/, der Fürsorgezöglinge in Familienerziehung, in Preußen dagegen nur auf 14—15°/,, und auch in den nächsten 6 Jahren hat sich hier die Zahl bloß auf 16—18°/, erhöht. Freilich möchten die Kinder, frisch aus häuslicher Verwahrlosung entnommen und gänzlich undiszipliniert, erst einen körperlichen und sittlichen Reinigungsprozeß in einer An- stalt durchmachen. Aber wenn die Kinder einmal in der Anstalt sind, sich dort eingelebt haben, sich gut führen, kann man sich schwer zu einer Erziehungsänderung entschließen. Und doch ist die Familie der geeignetste Boden. Freilich sind die Erzieher in den einfachen Familien, die hier nur in Frage kommen, keine Pädagogen. Es gibt

Delitsch: Einführung in das sächsische Gesetz über Fürsorgeerziehung. 217

kaum Erzieherideale unter ihnen, aber bei vielen überwiegt doch das Licht den Schatten. Und man kann bei Verteilung von Fürsorge- zöglingen an Familien sehr weitgehend individualisieren. Schwerere Fälle bekommen möglichst kinderlose Leute. Skrofulöse Kinder bringt man in Familien an die See, schwächliche in Waldhäuser. Allerdings muß Familienerziehung doppelt treu überwacht werden. Die von der Vollzugsbehörde bestellten Pfleger am Orte sind meist den Pflege- eltern befreundet. Dann ist die Klage des Zöglings oft berechtigt: Ich kann zu meinem Pfleger sagen, was ich will; ich bekomme nie recht. Deshalb muß die örtliche Aufsicht der Vertrauensmänner durch Berufsbeamte ergänzt werden. Sollen Vertrauenspersonen und Berufsbeamte einheitlich wirken, so muß aller Verkehr zwischen Voll- zugsbehörde und Zögling durch die Hände beider Aufsichtsorgane gehen, so darf man nie über den Kopf des Vertrauensmannes weg arbeiten.

Ich entnehme Petersens Vorschläge dem Jahrbuche 1908 des Fürsorgeerziehungstages, der seit 1889 in Deutschland wirkt. Dasselbe Jahrbuch enthält beachtliche Winke des Pfarrer Rohr über Erziehungs- kolonien. Es ist nämlich erlaubt, an eine Familie mehrere Zöglinge zu geben. Man tat das zunächst, um Geschwister nicht auseinander zu reißen. Man machte zwar schlechte Erfahrungen, wenn man sehr schlechte Elemente einmischte. Es erwies sich dagegen praktisch, das gesamte Gesinde eines Bauernhofes bloß aus Fürsorgezöglingen zusammenzusetzen. Denn nach dem Lande zieht heute der Abschaum der Großstadt, um zu dienen. Den besseren Teil verlangt die Industrie. Und die schlechten Elemente sucht sich der Bauer in seinem Leute- mangel dadurch zu erhalten, daß er ihnen unsittliches Leben gestattet. Sie bilden die größte Gefahr für die Fürsorgezöglinge auf dem Lande. Je mehr Zöglinge man in einen Ort brachte, desto leichter, billiger und intensiver wurde die Aufsicht. Auf die Weise entstanden Für- sorgeerziehungs-Kolonien, die man unter einen Leiter stellte. In Berlin waltete ein Fürsorgebeamter über sämtliche Zöglinge. Das ist eine Überlastung, die kaum noch besteht. Es gibt Kolonien ausschließlich für Anstaltszöglinge, sogenannte Außenanstalten. Sie werden teils von den Anstaltsleitungen beaufsichtigt, teils haben sie keinerlei Beziehung zur Anstalt. Das erstere ist zu empfehlen. Es gibt aber auch Kolonien für Zöglinge, die noch keiner Anstalt angehörten, sondern aus dem Elternhause sofort in Familienpflege kamen. Sie bleiben nach ihrer Konfirmation meist eine Zeit dort im Dienste. In anderen Orten findet man beide Systeme gemischt. Manche Kolonien dehnen sich ins Ungemessene. So umfaßte eine

218 A. Abhandlungen.

solche in Mecklenburg 224 Zöglinge in 3 Pfarrämtern. Der Leiter kann von keinen Erfolgen reden. Er kann mit seinen Besuchen nicht herumkommen. Ihm erscheint die früher besuchte Anstalt maßgebend für die Erfolge. In Orten mit Fürsorgeerziehungs-Kolonien wirkt meist eiu Erziehungsverein, dem die betreffenden Familienhäupter als Mitglieder angehören. Man bietet den Zöglingen auch Freude: Bunte Abende, Ausflüge, Turn- und Gesangsstunden, gute Bücher.

Im Jahrbuche 1914 finden wir einen beachtlichen Vortrag von Bartels über Organisierung der Familienpflege, in dem er auf die Frage eingeht: Wie gewinnen wir geeignete Familien? Nicht durch Zeitungsinserate, sondern durch Umfragen der Landlehrer in den Schulen und durch herzwarme Aufforderungen von Geistlichen im Anschlusse an Predigten.

Die Pflegefamilien, die privaten Erziehungsanstalten und staat- lichen Besserungsanstalten stehen unter öffentlicher Aufsicht. Wer auch immer Fürsorgezöglinge übernimmt, untersteht der Aufsicht des Fürsorgeverbandes. Die Fürsorgeerziehung des einzelnen Zöglinges überwacht außerdem der am Orte ehrenamtlich bestellte Fürsorger und die Vollzugsbehörde.

Die gesetzlichen Begriffe Erziehungsanstalt und Besserungsarstalt fordern eine erziehliche Scheidung der wenig und starkverdorbenen Zöglinge. Die Begriffe decken sich nicht ganz mit denen der offenen und geschlossenen Anstalten. Es gibt auch Mischformen. Das Friedrich Krausestift in Plauen ist eine offene Anstalt; ihre Zöglinge besuchen eine öffentliche Volksschule Man darf dem Stift schon deshalb nur besser geartete Zöglinge zuweisen. Die Privatanstalt Rebesgrün bei Auerbach hat eignen Schulbetrieb, kann schon in schwereren Fällen in Anspruch genommen werden. Die Staatsanstalt Bräunsdorf hat heute den ausgeprägten Charakter einer Besserungsanstalt.

Oft macht sich sofortige Unterbringung von Kindern und Jugend- lichen nötig, ehe man ihnen den Weg in eine geeignete Unterkunft bahnen konnte. Unverbesserliche Ausreißer aus Anstalten müssen auf Zeit in festes Gewahrsam genommen werden. Für die erstere Gruppe kann sich vorübergehender Aufenthalt in Armenhäusern nötig machen und für die schweren Fälle der zweiten Gruppe, für jugend- liche Verbrecher, erscheint die Korrektionsanstalt als letztes Mittel. Da bestimmt das Fürsorgeerziehungsgesetz: In Armen- und Arbeits- häusern, sowie in Korrektionsanstalten dürfen Minderjährige nur untergebracht werden, wenn sie von den übrigen Insassen getrennt gehalten und erzogen werden. Blase schreibt dazu: Wünschens- wert ist eine Mitbenutzung von Armen- und Arbeitshäusern sowie

Delitsch: Einführung in das sächsische Gesetz über Fürsorgeerziehung. 219

Korrektionsaustalten sicher nicht, da die vorgeschriebene Trennung von den übrigen Insassen in der Praxis nur zu häufig nicht in ge- nügendem Maße durchgeführet wird.

Der Unterricht der Fürsorgezöglinge untersteht in allen Fällen der Bezirksschulinspektion, auch wenn er in der Anstalt selbst er- 'teilt wird.

Immer noch hört man die Klage, daß sich Fürsorgezöglinge in der Anstalt gut betragen, doch nach der Entlassung in ihre alten Fehler zurückfallen. Um dem vorzubeugen, sieht das Fürsorge- erziehungsgesetz eine bedingte Entlassung die Beurlaubung vor. Es heißt $ 19 Absatz 1: Während der Fürsorgeerziehung ist eine Beurlaubung des Zöglings zulässig. Vor ihrer Anordnung sollen tun- lichst die mit der Fürsorgeerziehung Betrauten, insbesondere bei An- staltserziehung der Vorstand der Anstalt und im Falle der Unter- bringung eines schulpflichtigen Kindes in einer Familie auch der Leiter der Schule sowie der Fürsorger, über die Erfolge der Erziehung gehört werden. Anordnung wie Rücknahme der Beurlaubung er- folgen durch die Vollzugsbehörde Nur die Staatsanstalt Bräunsdorf hat die Rechte einer Vollzugsbehörde. Die Beurlaubung ist eine er- zieherische Maßnahme, ein Versuch der Entlassung aus der Fürsorge- erziehung vor erreichter Mündigkeit. Natürlich muß vor Ausspruch der Beurlaubung für ein geeignetes Unterkommen des Beurlaubten gesorgt sein. Man gibt ihn auf 3 oder mehr Monate in einen Dienst mit dem Versprechen, bei guter Führung werde er dann frei sein. Ich erinnere mich da an einen an mich gerichteten herzbewegenden Brief eines Fürsorgezöglings, in dem er mich um meine Vermittlung bat, er wolle lieber zurück in die Anstalt Bräunsdorf als nach Hause zur Stiefmutter. Und die Angst des Burschen war berechtigt. Was galt ihm das Ende der Fürsorgeerziehung vor erlangter Mündigkeit?

Das Vormundschaftsgericht kann von Amts wegen oder auf An- trag schon vor dem Eintritt der Volljährigkeit die Beendung der Fürsorgeerziehung verfügen. Antragsberechtigt sind die gesetzmäßigen Vertreter des Zöglings und die Vollzugsbehörde. Ist aber ein solcher Antrag abgelehnt worden, so darf er vor Ablauf von 6 Monaten nicht erneuert werden. Gegen Ablehnung steht den Antragstellern das Recht sofortiger Beschwerde zu.

Zum Schlusse ein kurzes Wort über die Erfolge der Fürsorge- erziehung und über die Hauptschwierigkeiten, die ihr entgegenwirken.

Das Jahrbuch 1912 des Fürsorgeerziehungstages bringt die amt- liche Statistik in Preußen. Sie berichtet über 8155 Zöglinge und bezeichnet

220 A. Abhandlungen.

a) genügend bis gut . . . 70°% männlich und 68,7°/, weiblich b) zweifelhaft. . . . . . 108% m 11,9% =

c) ungenügend bis schlecht . 19,2 °/, = 19,4% z

Ordnet man die Fürsorgezöglinge nach ihrem Lebensalter in dem sie der Fürsorgeerziehung überwiesen wurden, so betragen sich genügend bis gut

vor dem 14. Jahre aufgenommen 85,1 °/, männl., 88,0 °/, weibl. später, doch vor dem 16. Jahre aufgenommen 75,1%, 754% » vordem 18. Jahre aufgenommen 64,0%, „65,0%

Je früher also die Fürsorgeerziehung einsetzt, desto sicherer ist ihr Erfolg, aber auch die Besseren unter den später eingetretenen Zög- lingen sind aussichtsvolle Fälle. Jedenfalls ist das Wieder- und Wieder- Hinausschieben der Fürsorgeerziehung grundsätzlich zu widerraten.

Und nun die beiden Hauptschwierigkeiten der Fürsorgerziehung: Kindliche Entartung und der schlechte elterliche Einfluß.

Es sind wirklich recht schwererziehbare Kinder unter den Zög- lingen, die in dem Banne eines kaum widerstehlichen Hanges zum Vagabundieren, zum Stehlen oder zu geschlechtlichen Unarten leben. Seltner sind Tierquäler. Aber im großen und ganzen gedeihen die aus dem Sumpfe des Elternhauses in den gesunden Boden einer Familie oder Anstalt versetzten jungen Pflanzen überraschend gut. Die Folgen elterlicher Verwahrlosung und kindlicher Willensschwäche lassen sich durch wohlgeleitete Ersatzerziehung verhältnismäßig leicht beseitigen. Und die Erfolge der Fürsorgeerziehung wären noch viel glänzender, könnte man den schlechten Einfluß der Zöglingseltern nur während und nach der Fürsorgeerziehung ganz ausschalten. Der Anstaltsdirektor von Bräunsdorf Regierungsrat Böttcher behauptete auf Grund seiner reichen Erfahrungen in einem Vortrage über die Beziehungen der Fürsorgeerziehungsorgane zu den Zöglingsfamilien: Nur ein Viertel der Eltern unterstützt die Anstaltserziehung. 75°), der Eltern sind Ursache der Verwahrlosung ihrer Kinder, teils schuld- los, teils schuldhaft. Sie untergraben nach Möglichkeit unsern er- ziehlichen Einfluß durch Verhetzung der Kinder bei ihren Besuchen in der Anstalt, in ihren Briefen und Postkarten, auch durch ihre wiederholten Anträge auf Beurlaubung oder vorzeitige Entlassung. Und sie leiten ihre Kinder irre bei der Berufswahl. Aus dem Ergänzungsvortrag des Pfarrer Rhiel-Steinfeld hebe ich die Forde- rungen hervor: Wir müssen die Eltern bessern, die häuslichen Ver- hältnisse kennen lernen, den persönlichen und schriftlichen Verkehr mit den Eltern zum Guten lenken, uns auch indirekter Beeinflussung

Schmidt: Die Unterbringung u. unterrichtliche Versorgung d. Fürsorgezögl. 221

der Eltern durch Seelsorger, Lehrer, Vormundschaftsämter und Waisen- ämter Vereine des Heimatortes bedienen. Schon Wichern sandte Brüder in die Häuser zur Gewinnung und Bekehrung der Eltern seiner Zöglingee Es gilt schon beim ersten Begegnen mit den Eltern deren Vertrauen zu gewinnen. Rhiels weiteren Vorschlag: Gründung eines Korrespondenzblattes, das man kostenlos an die Eltern der Anstaltszöglinge verteilen möchte, trat der Vorsitzende der Tagung mit den Worten entgegen: Papiere haben wir schon reichlich.

Das Fürsorgeerziehungsgesetz mit seinem Verlangen auch nach privaten Anzeigen und Gutachten, mit seiner ehrenamtlichen Berufung von Männern und Frauen zu Fürsorgern, mit seiner Anregung zur Gründung von Fürsorgeerziehungs-Kolonien und Erziehungsvereinen, will jedem Deutschen die Verantwortlichkeit für Volkserziehung nahelegen.

Das ist dasselbe Bemühen, das um unsre private Mithilfe beim Gerichtsverfahren gegen Jugendliche wirbt.

Völkische Verantwortlichkeit wurde schon vor Kriegsausbruch seitens aller deutschen Regierungen gepflegt, wurde durch die Kriegs- tatsache und -nöte noch erhöht. Völkische Verantwortlichkeit wird auch die Weiterentwicklung unsres deutschen Fürsorgeerziehungs- wesens der Vollendung entgegenführen. Die deutsche Volksschule nimmt teil an dieser Arbeit.

4. Die Unterbringung und unterrichtliche Versorgung der Fürsorgezöglinge. Von A. Schmidt, Rektor in Langensalza. (Schluß.)

Dürfte sonach die Familienerziehung der Unterbringung in einem Rettungshause bei weitem vorzuziehen sein, so kann erstere doch selbst beim ausreichenden Vorhandensein geeigneter Familien nicht in allen Fällen gewählt werden, weil fast die meisten der Fürsorge- zöglinge bereits derart verwahrlost oder mit solchen sittlichen Mängeln behaftet sind, daß es unverantwortlich wäre, wollte man ihr schlechtes Beispiel weiterhin auf unverdorbene Kinder wirken lassen. Wenn ich z. B. an die meine Schule besuchenden Zöglinge des Rettungs- hauses denke, so muß ich auf Grund festgestellter Tatsachen bekennen, daß sie mit seltenen Ausnahmen eine schwere sittliche Gefahr für die übrigen Schüler bilden. Daß es gar nicht anders sein kann,

222 A. Abhandlungen.

dürfte sich auch aus folgender kurzer Zusammenstellung der Gründe ergeben, welche die Fürsorgeerziehung der in letzter Zeit meiner Schule zugeführten Anstaltszöglinge notwendig gemacht haben:

Nr. 1. Er stiehlt, treibt sich des Nachts umher, dreht Laternen aus, ist unreinlich in der Kleidung, beschmutzt seine Schulbücher, schwänzt die Schule und fertigt seine häuslichen Schularbeiten nicht an.

Nr. 2 Der Vater ist von früh morgens bis spät abends an der Arbeit und trinkt; die Mutter ist tot. Die Kinder verwahrlosen körperlich und verkommen im Schmutz.

Nr. 3. Der Knabe hat im Hause des Nachbars Stroh angezündet, einmal einer Frau 3 M aus einer Tasche entwendet, ist in einen Elbkahn eingestiegen und hat da aus einer Hose 14 M gestohlen.

Nr. 4. Schlechte Erziehung durch die Mutter, der Knabe schwänzt die Schule.

Nr. 5. Der Junge vagabundiert, er schwänzt die Schule. Vom Schultische hat er eine Rote Kreuzbüchse mit 4,50 M Inhalt ge- stohlen.

Nr. 6. Der Knabe treibt sich umher, er schwänzt die Schule. Der Hang zum Diebstahl ist in ihm ausgeprägt; er hat einen Brotbeutel und 3,60 M gestohlen.

Nr. 7. Der Vater treibt sich umher. Die Mutter hat die Kinder auch schon verlassen. Der Knabe ist verlogen, ungezogen, wider- spenstig; er schwänzt die Schule und fertigt seine häuslichen Schularbeiten nicht an.

Nr. 8. Der Knabe bettelt und ist verlogen, er fertigt seine Schul- arbeiten nicht an und hält seine Hefte unsauber.

Nr. 9. Der Junge ist durch den schlechten Einfluß seiner Stief- mutter zu einem Vagabunden geworden; er ist ein verlogener Bursche, der bereits auch gestohlen hat.

Nr. 10. Die Mutter ist eine Diebin. Sie hält das Kind zum Betteln an.

Nr. 11. Der Knabe schwänzt fortgesetzt die Schule; er treibt sich umher und bleibt auch des Nachts fort.

Der zuletzt in Betracht gezogene Junge rückte bereits am Tage nach seiner Aufnahme ohne ersichtlichen Anlaß während der Pause vom Schulhofe aus. Mit Rücksicht auf ihre Eigenart kommen meines Erachtens nur Nr. 4 und 10 für Familienerziehung in Betracht. Die übrigen bilden mit ihren bereits schon stark eingewurzelten Untugenden eine Gefahr für andere Kinder, so daß ihre Absonderung notwendig ist. Nun wird man allerdings einwenden, daß diese Absperrung einer

Schmidt: Die Unterbringung u. unterrichtliche Versorgung d. Fürsorgezögl. 223

Ausstoßung aus der menschlichen Gesellschaft gleich kommt, was von dem Standpunkte christlicher Nächsten- und suchender Sünderliebe verwerflich sei. Dem muß entgegnet werden, daß sich diese Burschen durch ihr unsittliches Verhalten selbst ausgestoßen haben. Ferner hat jeder Erzieher die Pflicht, alle schädlichen Einflüsse auf die ihm anvertrauten Kinder nach Möglichkeit abzuwehren. Deshalb muß er zu verhindern suchen, daß jene verdorbenen Jungen weiterhin durch ihr Beispiel nachteilig auf die sittliche Entwicklung unverdorbener Gemüter einwirken.

Nach vorstehenden Ausführungen sind die Zöglinge, welche nur infolge der mangelhaften häuslichen Verhältnisse der Fürsorge anheim- fallen, und bei denen die sittliche Verwahrlosung noch nicht ein- getreten ist, der Familienpflege zu überweisen. Sollte eine aus- reichende Anzahl geeigneter Familien nicht vorhanden sein, so sind diese Knaben bis zur Ausfindigmachung solcher in besonderen An- stalten unterzubringen. Die strenge Absonderung dieser Anstalts- zöglinge von den übrigen Kindern ist unnötig; doch muß streng darüber gewacht werden, daß sittlich verwahrloste Burschen in solche Pflegehäuser unter keinen Umständen aufgenommen werden. Solche Knaben müssen vielmehr mit denen, bei welchen die sittliche Ver- wahrlosung bereits ziemlich vorgeschritten ist, Rettungsanstalten zu- geteilt werden. In ihnen müssen sie verbleiben, bis ihr ganzes Wesen sich geändert hat und sie ihre Untugenden abgelegt haben. Sollte dies bis zur Beendigung der Fürsorgeerziehung nicht der Fall sein, so sind sie am besten Arbeitshäusern zu übergeben, da man ihnen die Freiheit, welche sie nur mißbrauchen würden, mit Rücksicht auf ihre Mitmenschen nicht geben kann. Bei der Entlassung sittlich ver- wahrloster Zöglinge infolge eingetretener Besserung muß sehr vor- sichtig verfahren werden, denn es gibt geriebene und dabei geistig gut begabte Jungen, denen die zwangsmäßig eingeengte Lebensweise in der Anstalt nie behagt, und die darum auf Mittel und Wege sinnen, ihr zu entgehen. Der Drang nach ungebundener Freiheit, nach der Befriedigung ihrer sinnlichen Gelüste ist in ihnen übermächtig. Sie merken aber, bald, daß durch Auflehnung und Widerstreben gegen die Anstaltsordnung eine Änderung ihrer Lage nicht zu erlangen ist. In ihrer durchtriebenen Schlauheit versuchen sie nun, ihr Ziel zu er- reichen, indem sie ihr wahres inneres Wesen verbergen und sich in scheinheiliger Weise das Gebahren eines gebesserten Menschen geben, der sich willig den Ordnungen des Hauses fügt. Gelingt es ihnen, die Freiheit zu erlangen, so bricht ihre wahre Natur bald wieder hervor, und sie beginnen ihre Verbrecherlaufbahn von neuem. Viele von

224 A. Abhandlungen.

diesen Unverbesserlichen sind meines Erachtens am besten als Geistes- kranke zu behandeln, denen man eine Heilerziehung angedeihen lassen sollte, wie sie Dr. med. Hermann in seiner Schrift »Heilerziehungs- häusere vorschlägt. (Pädagogisches Magazin. Heft 311. Verlag: Hermann Beyer & Söhne [Beyer & Mann], Langensalza) Auch bei der nach meiner Beobachtung geringen Zahl Verwahrloster, welche durch die Anstaltserziehung wirklich gebessert worden sind, ist Vor- sicht bei ihrer späteren Unterbringung in eine Lehre oder in eine Arbeitsstelle geboten. Sie bedürfen eines Meisters oder Arbeitgebers, der sich ihrer besonders annimmt. Leicht erfolgen sonst Rückfälle, zumal wenn sie wieder mit bösen Genossen oder ehemaligen Anstalts- kameraden zusammenkommen. So hatte sich z. B. ein Rettungshaus- zögling nach seiner Schulentlassung unter der Zucht eines guten Meisters zwei Jahre lang zur Zufriedenheit desselben geführt. Da kam er wieder in Berührung mit zwei Anstaltszöglingen, die ebenfalls entlassen worden waren. Die drei Burschen bildeten bald eine Diebesbande. Als sie abgefaßt wurden, unternahm der eine sogar eine höchst aben- teuerliche und gelungene Flucht aus dem Untersuchungsgefängnis, brach abermals ein und floh, als er dabei entdeckt wurde, über die Dächer, und es gelang ihm, seinen Verfolgern zu entgehen.

Wie die sittlich verwahrlosten sind auch die geistig minder- wertigen Kinder, welche aus irgend welchen Gründen der Fürsorge überwiesen werden müssen, in entsprechende Anstalten aufzunehmen, da die Erziehung dieser Zöglinge auch wenn bei ihnen in sittlicher Hinsicht keine Bedenken vorliegen für die Familien sehr schwer und ihre unterrichtliche Versorgung am Wohnorte der Pflege- eltern kaum in einwandfreier Weise möglich sein dürfte.

Ob nun die unterrichtliche Versorgung der Fürsorgezöglinge in den öffentlichen Volksschulen oder in gesonderten Schulen am zweck- mäßigsten ist, das hängt mit der Beantwortung der ersten Frage eng zusammen. Falls bei der Unterbringung nach den oben festgestellten Gesichtspunkten verfahren wird, ist es angebracht, alle Zöglinge, welche sich in Familienpflege befinden, die öffentliche Volksschule des Ortes besuchen zu lassen; denn ihre sittlichen Eigenarten bilden keine Gefahr für andere Schüler, auch sind sie in geistiger Hinsicht kein schädlicher Ballast für diese Unterrichtsanstalt, da diese Knaben in der Regel die geistige Reife für die ihrem Alter entsprechende oder wenigstens für die nächst tiefere Klasse besitzen. Ebenso könnte mit den Insassen solcher Anstalten verfahren werden, welche nur jene sittlich einwandfreien Zöglinge beherbergen, für die noch keine geeignete Familie gefunden ist. Anders verhält es sich aber

Schmidt: Die Unterbringung u. unterrichtliche Versorgung d. Fürsorgezögl. 225

nach meinen Erfahrungen mit der übergroßen Mehrzahl der Zöglinge, die in den eigentlichen Rettungshäusern untergebracht werden müssen. Ihre geistige Ausbildung ist zum Teil infolge ihres an Schulversäum- nissen reichen Vorlebens, ihres Widerwillens gegen die Anfertigung bäuslicher Schulaufgaben meist derart rückständig, daß sie in die ihrem Alter entsprechende Klasse nicht eingereiht werden können. Als Ostern 1912 die Knaben des hiesigen Rettungshauses der Volks- schule überwiesen wurden, konnten von den 21 Jungen nur 2 in die ihrem Alter entsprechende Klasse gesetzt werden; die anderen 19 mußten in 2—4 Stufen tiefere Klassen eintreten. Ein 15jähriger Bursche drückte nun z. B. mit den 9—10jährigen Knaben gemein- sam die Bänke der 4. Klasse, während eine ganze Anzahl seiner Hausgenossen bei ihrer Konfirmation aus derselben und der 3. Klasse entlassen werden mußten. Auch in der Folgezeit besaßen von 33 aufgenommenen Zöglingen nur 3 die geistige Reife, um mit ihren Alters- genossen zugleich unterrichtet werden zu können. Diese Erscheinung kann man nun nicht etwa darauf zurückführen, daß die neu ein- geschulten 33 Knaben bis dahin weniger gegliederte Volksschulen, als es die hiesige ist, besucht hatten; denn sie kamen fast ausschließ- lich aus Orten, deren Volksschulen sechs- und siebenstufig sind. Infolge ihrer mangelhaften geistigen Fortschritte bilden solche Kinder in mehrstufigen Schulen hemmenden Ballast, welcher besonders in den Mittelklassen über die sie selten hinauskommen als solcher empfunden wird. Dem Lehrer wird durch sie auf diesen Unterrichts- stufen das Arbeiten erschwert, und die übrigen Schüler können nicht so stetig und gleichmäßig gefördert werden, wie es der Fall wäre, wenn nicht auf das Mitkommen der Rettungshauszöglinge Bedacht genommen werden müßte.

Schlimmer aber als diese geistige Rückständigkeit genannter Schüler ist der schädliche Einfluß, den sie auf andere Kinder der Volks- schule ausüben. Zum Beweise seien einige der von mir in dieser Beziehung gesammelten Erfahrungen angeführt:

1. Ein ehemaliger Zögling des Rettungshauses leitete kurze Zeit nach seiner Schulentlassung 2 Söhne achtbarer Eltern aus hiesiger

Stadt zu Ladendiebstählen an und kündigte ihnen an, daß er

selbst in einer Mühle Geld »klauen«e wolle. Nur durch den

Besuch der öffentlichen Volksschule war er mit den Stadtkindern

bekannt geworden. Bei Nichteinschulung der Anstaltsknaben

wäre den betreffenden Bürgerfamilien schweres Herzeleid erspart geblieben. 2. Ein anderer Zögling brachte Postkarten mit, die er mit un- Zeitschrift für Kinderforschung. 22. Jahrgang. 15

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A. Abhandlungen.

züchtigen Zeichnungen bemalt hatte; diese zeigte er seinen Mitschülern.

. Wieder ein anderer Knabe brachte Postkarten mit, die er an

die Bürgerkinder verkaufte, bis ihm das Handwerk gelegt wurde. Seinen Klassengenossen gegenüber rühmte er sich, die Karten »geklaut« zu haben.

. Allein 19 Schüler einer Oberklasse wurden in kurzer Zeit von

den die Klasse besuchenden Zöglingen um Geld angebettelt und zur Naschhaftigkeit verleitet, indem diese versprachen, dem Geber für das erbettelte Geld Bonbons zu holen.

. Ein Rettungshauszögling einer Mittelklasse beschimpfte während

der Pause in Gegenwart seiner Mitschüler den Lehrer und rückte dann vom Schulhofe aus, um der Strafe zu entgehen. Als der Rektor einen Knaben aufforderte, die Haustür zu schließen, sagte ein daneben sitzender Zögling zu seinen Nachbarn: »Der Rektor ist wohl verrückt! Für den brauche ich die Tür nicht zuzumachen.«

Ohne ersichtlichen Grund sind Zöglinge des Rettungshauses während der Pausen oder auf dem Schulwege ausgerissen. Sie haben dann meist ihre Bücher in irgend eine Ecke geworfen, sich mehrere Tage vagabundierend umhergetrieben und in Stroh- diemen und Eisenbahnwagen genächtigt. Dieses Fortlaufen ist bereits von Stadtkindern nachgeahmt worden.

. Ein Zögling des Rettungshauses hat sich während der Pause in

gewandter Weise ins Klassenzimmer geschlichen und anderen Kindern das Frühstück gestohlen. Mit den gesammelten Vor- räten entwich er und ernährte sich in der Zeit seines Umher- vagabundierens davon. Durch sein Beispiel wurde ein anderer Knabe zur gleichen Dieberei veranlaßt, und wenige Tage darauf wurden 5 Schüler derselben Klasse abgefaßt, als sie sich nach dem Vorbilde des Rettungshauszöglings in die Klasse geschlichen hatten und dort im Begriff waren, ihre Mitschüler zu bestehlen. Das Frühstückstehlen scheint eine besondere Liebhaberei der

Anstaltsknaben zu sein. Nun könnte man meinen, daß sie vielleicht durch Hunger dazu getrieben würden, allein, wenn man ihre Frühstücks- brote ansieht, so muß man zu dem Ergebnis kommen, daß sie ihren Hunger damit genügend stillen können. Es ist meines Erachtens

nur

die Lust am Diebstahl, die sie zu obigen Vergehen veranlaßt;

denn oft genug konnte ich feststellen, daß die entwendeten Brote nicht verzehrt, sondern weggeworfen sogar in den Abort worden sind. Daß sich innerhalb der Schule diese Diebstähle meist

Schmidt: Die Unterbringung u. unterrichtliche Versorgung d. Fürsorgezögl. 227

auf Frühstücksbrote, Federn, Halter, Bleistifte u. dergl. beschränkt, hat nach meinen Beobachtungen seinen Grund darin, daß diese Gegen- stände leicht beseitigt oder infolge ihres vielfach gleichartigen Aus- sehens schwer als gestohlenes Gut festgestellt werden können, was die Jungen in ihrer Durchtriebenheit längst erkannt haben.

Daß die Schulzucht unter der Frechheit, Widerspenstigkeit und Geriebenheit der Fürsorgezöglinge sehr zu leiden hat, ist kein Wunder. Kam es doch sogar vor, daß ein 13jähriger Insasse der untersten Mittelklasse unserer siebenstufigen Schule sich sogar an einem kräftigen Lehrer vor der Klasse tätlich zu vergreifen suchte, was ihm natürlich übel bekommen ist. Vor allen Dingen muß die Verlogenheit der Jungen erwähnt werden. Sie verderben uns in dieser Hinsicht viele Schüler; denn häufig genug gelingt es den Anstaltsknaben, der ver- dienten Strafe durch ihr geriebenes Leugnen zu entgehen. Die Kame- raden beobachten dies, oft rühmen sich die Zöglinge auch dessen, und die anderen Kinder versuchen auch, auf demselben Wege der Sühne für ihre Streiche zu entrinnen. Die Entfernung der Anstalts- zöglinge aus den öffentlichen Volksschulen und ihre unterrichtliche Versorgung in gesonderten Schulen ist auf Grund der angeführten Tatsachen unbedingt erforderlich.

Es ist nun noch zu erörtern, wie sich die Einrichtung und der Lehrplan solcher Rettungshausschulen am besten zu gestalten hat. Diese Schulen werden in der Regel wenn es sich nicht um größere Anstalten handelt nur einklassig sein können. Befinden sich diese in Orten mit sechs- und mehrstufigen Schulen, so ist sie mit einer derselben derart in Verbindung zu setzen, daß dem Rektor der mehr- stufigen Schule auch die einklassige Rettungshausschule unterstellt wird. Diese Maßnahmen wünsche ich mit Rücksicht auf die begabten Kinder der Anstalt, welche sich im Laufe der Zeit auf Grund der Beobachtungen des Lehrers, Hausvaters und Rektors als ungefäkrlich für die Sittlichkeit anderer Kinder erwiesen haben, sei es, daß solche Knaben nur infolge des Mangels geeigneter Familien in die Anstalt gekommen sind, sei es, daß der Grad der Verwahrlosung bei der Unterbringung zu scharf beurteilt und der gesunde, sittliche Kern in ihnen nicht erkannt worden ist, oder sei es was nach meinen Beobachtungen allerdings selten der Fall ist —, daß Verwahrloste ihre Untugenden wirklich abgelegt und sittlich rein geworden sind. Diese Zöglinge können dann bei einer derartigen Verbindung beider Schulen ohne Schwierigkeiten der mehrstufigen Schule mit ihren besseren Aus- bildungsmöglichkeiten überwiesen werden. Erforderlich ist es aber

in solchen Fällen, daß diese Knaben gleichzeitig aus der Anstalt ent- 15*

228 A. Abhandlungen.

fernt und in Familienpflege untergebracht werden. Dazu eignen sich besonders landwirtschaftliche Betriebe und Handwerkerfamilien. Von letzteren kommen in erster Linie solche in Betracht, in denen der Knabe später zugleich als Lehrling bleiben kann. Sind nun aber die Rettungshäuser in kleinen Gemeinden mit einklassigen Ortsschulen untergebracht, so empfiehlt es sich, daß der Hausvater zugleich Lehrer seiner Zöglinge ist. Eine Verbindung mit der Ortsschule ist dort unnötig, da diese bei der Umschulung begabter und gebesserter Zög- linge nicht in Frage kommt. Soll aber der Hausvater zugleich das Lehramt verwalten, so muß die Zahl seiner Pfleglinge beschränkt sein. Meines Erachtens dürfte er nicht mehr als 8—10 Knaben unter seiner Obhut haben, keineswegs dürften es 20—25 sein, wie es hier vor 1912 der Fall war. In solchen Anstalten muß auch die beratende Stimme des Arztes von besonderem Einfluß sein.

Der Lehrplan hat auf die besonderen Umstände, unter denen Rettungshausschulen arbeiten, Rücksicht zu nehmen. Es findet ein stetes Kommen und Gehen der Zöglinge statt. Diese sind dazu viel- fach in ihrer geistigen Ausbildung wie ich oben gezeigt habe weit zurück. Infolgedessen dürfen die Lehrziele der Schule nicht allzu- hoch gesteckt werden. Aus diesem Grunde erscheint es mir auch ein Mißgriff gewesen zu sein, als man hier vor vier Jahren die Knaben des Rettungshauses samt und sonders der siebenstufigen Volksschule über- wies, deren Lehrziele für die überwiegende Mehrzahl jener Kinder viel zu hoch gesteckt sind. Die Rettungshausschulen haben nach meiner Ansicht das Hauptgewicht auf die Erziehung der Knaben zu brauchbaren Gliedern der menschlichen Gesellschaft zu legen. Erst in zweiter Linie kommt die Aneigung eines mehr oder weniger umfangreichen Wissens in Betracht. Der Lehrplan hat nur wenig Stoffe auszuwählen. Vor allen Dingen müssen solche religiös-sittlicher Natur berücksichtigt werden, die, ohne aufdringlich zu wirken, ge- eignet sind, das Menschenherz durch die Gewalt ihrer Tatsachen zu packen und zur Nacheiferung anzuspornen. In der Religion denke ich da besonders an das Vorbild unseres Heilandes, der sich in seiner suchenden Sünderliebe so oft als echter Freund der Mühseligen, Be- ladenen und Verlorenen, als Wohltäter seiner Feinde in Gethsemane, als Fürbitter für sie am Kreuzesstamme zeigt. Gerade diese ver- gebende Liebe zu denen, die uns Böses tun, muß den Kindern der Rettungshäuser eindringlich vor Augen geführt werden; denn sie sind durchgängig in hohem Grade selbstsüchtig und besitzen meist eine große Empfindlichkeit gegen Beleidigungen, vermeintliches oder wirk- liches Unrecht, das sie erdulden müssen. Die leichte Erregbarkeit

Schmidt: Die Unterbringung u. unterrichtliche Versorgung d. Fürsorgezögl. 229

veranlaßt sie dann, sich dagegen zu wehren und bewirkt nach ihrer Entlassung häufige Rückfälle in ihr früheres Treiben. Die Zöglinge müssen deshalb dahin geführt werden, nicht jedes böse Wort des Nächsten auf die Goldwage zu legen und selbst kleinere Verletzungen der eigenen Rechte in vergebender Nächstenliebe zu ertragen. Im Deutschen ist auf die Fertigkeit im Lesen, Schreiben und Recht- schreiben das Hauptgewicht zu legen. Der Rechenunterricht hat neben der Übung im Schnellrechnen Aufgaben aus solchen Sach- gebieten zu bevorzugen, die geeignet sind, die Knaben erziehlich zu beeinflussen, z. B. Sparkassenwesen, Alkoholmißbrauch, Feuerversiche- rung. In Geschichte muß sich der Lehrer auf die wichtigsten Ab- schnitte der deutsch-preußischen Geschichte beschränken. Gewicht ist da besonders auf solche Stoffe zu legen, welche den Segen des Gemeinschaftslebens (Heinrich I. Städtebau), die Nachteile der Un- einigkeit der Deutschen (Dreißigjähriger Krieg), die Vorteile der Einheit (1870/71, 1914), den Segen des opferwilligen Eintretens eines für den andern (Erhebung 1813), die Pflichten des Einzelnen gegen den Staat und die Mitbürger, Vorbilder dieser Pflichttreue (Friedrich der Große, Wilhelm II.) vor Augen rücken. Sie müssen zur Erkenntnis gebracht werden, welchen Schatz wir an unserm Kaiserhause und an unserm Vaterlande besitzen. Letzteres muß hauptsächlich Gegenstand der erdkundlichen Unterweisungen sein. Der Zögling soll da im inneren Herzen spüren, daß die Heimat, die deutsche Erde ein Land ist, »das eine unendliche Liebe und Treue in sich verschließt«, und daß beide »das edelste Gute sind, »was ein guter Mensch auf Erden besitzt und zu besitzen begehrte. Die Achtung vor den Lebewesen der Natur zu wecken, die Knaben zu befähigen, mit offnen Augen die Heimat zu durchwandern und zur sinnigen Naturbetrachtung anzuleiten, das möge im naturkundlichen Unterrichte erstrebt werden. Dabei sind die Gelegenheiten, im Sinne der Bekämpfung der Trunksucht, der Brandstiftung, der Körperverletzungen, der Beschädigung der Natur- körper und öffentlicher Einrichtungen (Eisenbahnwagen, Telegraphen- stangen) zu wirken, in geschickter Weise zu benutzen.

Immer muß aber bei der Auswahl des Stoffes berücksichtigt werden, daß nicht seine Menge, sondern sein erziehlicher Gehalt und seine rechte, fruchtbringende Behandlung die Hauptsache sind. Letztere muß es vermeiden, an allen Ecken und Enden den erziehlichen Zweck des Unterrichts hervortreten zu lassen. Lange Nutzanwendungen sind vom Übel. Ein kurzer Hinweis, welcher ungezwungen hier und da dem Kinde gleichsam als Wegweiser zu sagen scheint: »Gehe hin, und tue desgleichen!« genügt. Außer dem besten Lehrer Jesus möchte

230 B. Mitteilungen.

ich in dieser Hinsicht jenen berühmten Kanzelredner in der ehe- maligen Grafenresidenz H. am Main als Vorbild hinstellen, der in einer Totenfestansprache, nachdem er das gottselige Sterben eines h e C Grafen geschildert hatte, der Gemeinde als Nutzanwendung die wenigen Worte zurief: »Bürger H., so starb dein Fürst! Und wie stirbst du?«

B. Mitteilungen.

1. Von Kind und Krieg. Eine Plauderei von Franz Rabich.

Der Krieg begann, als mein Junge gerade 4 Jahre alt wurde. Wir wohnen an einer Hauptbahnlinie, und Tag und Nacht hörte er in den ersten Kriegsmonaten das Rollen der Züge, das Singen und Rufen der Soldaten, und er sah viel begeistertes siegesfrohes Winken unti Grüßen. Dann wurde es stiller und stiller, aber noch heute blickt der Junge voll Teilnahme auf das doch immer gleiche Bild der Transportzüge.e Es war ja ein Tag gekommen, da ihm in einem solchen der Vater in die feind- liche Ferne entschwand....

Die sonstigen Kriegseindrücke? Die Spannung auf das tägliche Sonder- blatt beherrschte auch den Jungen. Freilich nur um des Vergnügens willen, eins selbständig einzukaufen und gelegentlich den Verkäufer durch fleißiges Ausrufen zu unterstützen. Das hat ebenfalls längst aufgehört, jetzt ist der Posteinlauf das wichtigste Tagesereignis. Denn obwohl ich augenblicklich in der Heimat weile, lebe ich getrennt von den Angehörigen, und jeder Tag kann die Nachricht bringen, daß ich von neuem hinausziehe...

Gott Lob! der Junge kann mich öfter mit seiner Mutter besuchen. Und dann weicht er mir nicht von der Seite. Morgens huscht er zu mir ins Bett; wenn ich aufstehe, will er gleichfalls in die Kleider; er läuft mit bis zur Kaserne, empfängt mich bei der Rückkunft mit Juchzern und Sprüngen, und am liebsten behielte er mich sogar im Zimmer an der Hand. Sehr beschäftigt ihn, wenn ich mich an den Schreibtisch setze. Früher fragte und fragte er, was ich schriebe, warum ich es schriebe, wie es ge- druckt werde, ob die Leute das Gedruckte lesen und dergleichen mehr. Es machte ihm Not, mich schließlich nicht mehr zu stören, und sobald ich einen Augenblick sann, statt zu schreiben, klang es herüber, ob ich noch nicht fertig sei. Schloß ich endlich die Arbeit, begann die Ver- nehmung von vorn: »Was hast du geschrieben? Warum?« usw. Ganz neuerdings läßt er mich, solange ich schreiben will, in Ruhe. Ich habe ihm erzählt, daß ich für ihn ein Tagebuch führe, aus dem er einmal er- fahren werde, wie seine Eltern den Krieg erleben. Er möchte zu gerne

1. Von Kind und Krieg. 231

verstehen, wie das eigentlich gemeint ist, aber da vermeintlich alle Schreiberei ihm gilt, gönnt er mir dazu Frieden.

Es haben viele Eltern derartige Aufzeichnungen begonnen. Die Sammlung, die -sie erfordern, nützt ihnen selber, sich über die Tagesnöte hinwegzusetzen, und der Zweck verlangt eine Klärung der Erziehungs- absichten. Deshalb schon ist zu wünschen, daß die Aufzeichnungen nicht liegen gelassen werden, daß die Dauer des Krieges die Freude daran nicht schmälert. Für welches Alter sollen die Aufzeichnungen verständlich sein? Sollen sie nur Tatsachen melden, äußere Vorgänge schildern oder vornehm- lich die Empfindungen und Urteile des Schreibers zum Ausdruck bringen ? Das sind Fragen, die den Schreiber viel weiter führen, als es beim Beginn solcher Arbeit scheinen mochte, Fragen, die sich auch verschieden beant- worten, jenachdem sich die Entwicklung der Kinder anläßt. Wie er- staunlich für uns Eltern heben sich z. B. bei unserm Jungen bereits ber stimmte Wesenszüge heraus! Von Tag zu Tag regt sich sein Verlangen nach Beschäftigung kräftiger. Er brennt darauf, im Haushalt zu helfen, für Handwerker einzuspringen, Einkäufe zu machen, Bestellungen an dritte zu übermitteln. Ohne jede Anleitung, lediglich durch selbstgestellte Fragen hat er sich die Kenntnis der Zahlen und Fertigkeit in einigen einfachen Rechnungen erworben. Jetzt nehmen sein ganzes Interesse die Buchstaben in Anspruch, ihrer Verknüpfung zu Wörtern ist sein neuestes Bemühen gewidmet. Bemerkenswert ist dabei, daß er sie vor allem wissen will, am Schreiben, also an Arbeit damit, liegt ihm nur wenig trotz der Teil- nahme für die väterliche Schreiberei. Ähnlich ist es mit Geschichten und Märchen. Hören mag er sie vom Morgen bis zum Abend, aber selber er- zählen? Er könnte es, denn wenn ihm einmal eine Einzelheit nicht wie früher berichtet wird, verbessert er mit Leidenschaft. Anders am Klavier. Auch hier hat er ohne Anleitung sich allmählich einige Weisen erspielt, anfangs mit einem Finger tippend, nun schon bemüht, alle Fingerchen zu brauchen. Sogar mehrstimmige Tonerzeugung liegt ihm schon im Sinne und Tonmalerei. Er hat sich eine Art Glockenläuten ausgedacht, und das nennt er: der Dom. Was folgt aus alledem? Hat er musikalische Begabung, künstlerische Fähigkeiten? Wird er auch mehr Gewicht auf das legen, was die Sprache vermittelt als auf Grammatik? Dieser Schluß erscheint übertrieben, aber deutet nicht die nachstehende Wahrnehmung meiner Frau in gleicher Richtung? Unser Junge hat einen Freund, einen stillen Pausback. Eines Nachmittags vertreiben sie sich die Zeit mit dem Malen von Zahlen. Der kleine Freund ist auf ihre richtige Form ängstlich bedacht und liefert recht erfreuliche Zahlenbilder, während unser Prinzchen Krickel-Krackel aufs. Papier bringt, die nur ungefähr den Zahlen ent- sprechen. Darob Rüge des Freundes: »Du hast ja die 6 verkehrt herum geschrieben!« Antwort: »Das ist einerlei. Ich weiß, was es heißen soll. Weißt du, was 5 + 5 ist?« Langes Schweigen, »Nein.« »Etsch, zehne! Das muß man von den Zahlen wissen!«

Wieviel Nachdenken solch kleiner Kerl überhaupt schon aufbringt, belegt auch dieses. Er sieht im Theater das Stück »Schneiderlein Hoch- hinaus«. Darin ist die Lügentrude der böse Geist, dem das Wahrheits-

232 B. Mitteilungen.

elflein gegenübersteht. Letzteres siegt natürlich, und die Lügentrude be- kommt zuletzt Hiebe. Frage des Jungen: »Warum bekommt sie Hiebe? Sie hat doch lügen müssen!« Die Frage ist erstaunlich reif.

Ostern wird der Junge ein Schülerlein, wir fürchten, ein schwieriges, weil es mehr fragen wird, als den Lehrern lieb zu sein pflegt. Dabei ist er so leicht zu lenken, wenn man auf seine Gedanken eingeht. Lehr- kunst wird sich an ihm bewähren können.

Ich versprach eine Plauderei von Kind und Krieg. Habe ich das Versprechen gehalten? Zwei Kriegseindrücke nur habe ich namhaft gemacht: den meines ersten Abrückens ins Feld und den der Besorgnis vor der Wieder- holung desselben. Andere sind in dem Jungen tatsächlich nicht lebendig. Ihn bewegen Geschehnisse, wie Reisen, Zuschauen bei Besichtigungen und ähnliche nur augenblicklich, seine Erinnerung beschäftigen Freundlichkeiten einzelner Personen, ein paar Todesfälle nahestehender Menschen, seine Spiele sind nicht militärischen Charakters, wenigstens nicht mehr, als sie es auch im Frieden gewesen wären. Der Krieg liegt im großen Ganzen völlig außer dem Bereich seiner Seele. Eins muß ich da einschränkend allerdings erwähnen; die Ernährungsschwierigkeiten werden sich ihm wohl einprägen. Denn er begleitet die Mutter meist auf ihren Gängen. Aber es hat sich daraus bisher keine Rückwirkung auf seine Vorstellungen er- geben können. Denn er ist in die uns so neuen Zustände ja hinein- gewachsen. Wie frei wird ihm dereinst das Wirtschaftsleben der Friedens- zeit vorkommen! Trotz des Krieges lebt er in einer Welt, wie sie sein soll, und dies Glück möchte den meisten Kindern geschenkt sein. Möchten Geldsorgen und die Jagd nach Vorteilen, die der Krieg bei so vielen hungrigen Leuten erzeugt hat, ihnen nicht zu früh eine bessere Welt möglich und wünschenswert erscheinen lassen!

2. Forschungsinstitut für Geschichte des Weltkrieges.

Ein Forschungsinstitut für Geschichte des Krieges und alle damit in Zusammenhang stehenden politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Fragen ist in Jena begründet worden. Als Grundstock wurden die Sammlungen des von Professor Dr. v. Seydlitz ins Leben gerufenen Kriegsarchivs der Universitätsbibliothek Jena benutzt, die jetzt weiter ausgebaut und vervoll- ständigt werden sollen. Das Institut wird durch einen Vorstand verwaltet, an dessen Spitze der Staatsminister Dr. jur. Klemens v. Delbrück steht. Die wissenschaftliche Leitung ist dem Historiker Professor Dr. Georg Mentz übertragen worden. Dem Vorstand steht ein Verwaltungsrat zur Seite. Ihm gehören außer Vertretern der Zivil- und Militärbehörden, den Vor- stehern wirtschaftlicher Körperschaften und Vertretern der Presse An- gehörige aller Berufs- und Erwerbsstände an, insbesondere solche, die das Institut durch namhafte materielle Unterstützung gefördert haben.

Die wissenschaftliche Arbeit kann naturgemäß erst später beginnen; einstweilen kann es nur die Aufgabe des Instituts sein, die vorhandenen umfangreichen Sammlungen in umfassender Weise -auszugestalten, damit

C. Zeitschriftenschau. 233

neben der eigentlichen Buchliteratur, den Kriegszeitschriften und Zeitungen des In- und Auslandes auch die im Kriegs- und Heimatsgebiet gedruckten Gelegenheitsschriften sowie Feldbriefe, Maueranschläge, Kriegszeitungen, Karten und sonstige bildliche und künstlerische Darstellungen an einer Stelle an der Hand möglichst übersichtlicher Verzeichnisse nebeneinander benutzt werden können. Es gibt bis jetzt in Deutschland keine Stelle, an der dieses Material vollständig vorläge oder bereits zugänglich wäre. Auch die größten derartigen Sammlungen in Berlin, Leipzig und München können einstweilen nur bibliothekarische Ziele verfolgen.

In dem Jenaer Institut soll der Historiker, dem die militärischen Sammlungen noch auf Jahre hinaus verschlossen bleiben werden, eine Stätte freier Forschung finden, an der alle historischen, militärischen, wirt- schaftlichen urd kulturellen Probleme unserer großen Zeit eingehend be- arbeitet, aber auch die mannigfachen Wechselbeziehungen der geistigen und politischen Strömungen in den kriegführenden Ländern verglichen werden können. Aus allem Material zusammen soll sich ein geschlossenes Bild all der Fragen ergeben, die für Deutschland, die Verbündeten und die Feinde, für das Heimatsgebiet wie für die besetzten Gebiete von Wichtig- keit gewesen sind oder noch sein könnten.

Namhafte Stiftungen sind dem Institut von Behörden und Körper- schaften zur Durchführung seiner Ziele in Aussicht gestellt worden; um diese aber restlos erreichen zu können, richtet sich die Bitte auch an die Allgemeinheit um tatkräftige Mitwirkung bei der Sammlung aller Kriegs- drucksachen, die ihr später in irgendeiner Weise wertvoll sein könnten. Erwünscht sind vor allem die Drucksachen aus dem Felde und den be- setzten Gebieten, und was jetzt schon aus dem Ausland zu uns gelangt; ferner alle Manuskriptdrucke und solche Literatur, die nicht im Buchhandel erscheint. Zusendungen werden an das Kriegsarchir der Universitäts- bibliothek Jena erbeten.

C. Zeitschriftenschau.

Jugendfürsorge. Massnahmen.

Lederer, Max, Zum internationalen Jugendfürsorgekongreß in Brüssel. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. 5, 7 (Juli 1913), 8. 185—187.

Bespricht besonders auch die auf dem Kongreß zu beratende Einrichtung eines

Kinderschutzamtes.

Lietz, Hermann, Ein deutsches Land-Waisenheim an der Ilse im Harz. Zeit- schrift für Jugenderziehung und Jugendfürsorge. 3, 21 (15. Juli 1913), S. 620 bis 623.

Das neue Heim soll in ein bis zwei Familien je neun bis zehn Ganz- und

Halbwaisen, und zwar nur entwicklungsfähige, gesund veranlagte Kinder aufnehmen.

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234 C. Zeitschriftenschau.,

Vom 15. Lebensjahre an sollen sie Gelegenheit zu praktischer Berufsausbildung haben. Über unterrichtliche und erziehliche Aufgaben des Heims ist die Arbeit selbst nachzulesen.

Lindenau, Das Schaufenstergesetz. Deutsche Juristenzeitung. XIX, 7 (1. April 1914), S. 471—475.

Das Gesetz, durch das die Jugend vor sittlicher Gefährdung geschützt werden soll, muß in seiner Wirkung völlig von der jeweiligen Auffassung des Einzelfalls abhängig sein. Den schlimmsten Schmutz und Schund könnte man damit wohl ver- bannen. Wirksamer wäre aber vielleicht ein Verbot gegen jede Verbreitung von »Schriften, Abbildungen oder Darstellungen, die, ohne ein höheres Interesse der Wissenschaft oder Kunst zu bieten, geeignet sind, die Jugend sittlich zu gefährden«. Lohmann, Wilhelmine, Die Eingabe um alkoholfreie Erziehung und Einführung

des Nüchternheitsunterrichtes in Fürsorge-Erziehungsanstalten. Die Enthaltsam- keit. 15, 4/5 (April/Mai 1913), S. 29—30.

Auf 39 Anfragen waren bis Mitte März 1913 16 Antworten eingegangen, aus denen zu ersehen ist, daß die Eingabe nicht ohne Erfolg geblieben ist. Aus einzelnen Antworten werden Stellen mitgeteilt.

Mann, Alfred, Kino-Rezensionen in der Tagespresse! Zeitschrift für Jugend- erziehung. IV, 6 (1. Dezember 1913), S. 169—172.

Durch derartige Rezensionen hofft der Verfasser, den Schund in den Kinos wirksam bekämpfen zu können. Die Kritik soll sich auch auf die sachliche Richtig- keit angeblich wissenschaftlicher Films erstrecken. : Matter, Karl, Aus den belgischen Kindergärten. Zeitschrift für Jugenderziehung

und Jugendfürsorge. IV, 18 (1. Juni 1914), S. 531—533.

Hinweis auf die Hauptpunkte des Programms und der Methode des belgischen Kinderpsychologen Paul Kiroul, die auch außerhalb Belgiens Beachtung verdienen. Es handelt sich besonders um den Mathematikunterricht und die Einführung in denselben. Matz, Das Mädchenwandern. Deutsche Elternzeitschrift. 4, 8 (1. Mai 1913),

S. 130—132.

Führung, Kostenfrage, Ausrüstung und Verlauf von Mädchenwanderfahrten, die zur körperlichen Ertüchtigung sehr zu empfehlen sind, werden kurz aus eigenen Erfahrungen heraus besprochen.

Menge, Was will die neue Gesetzesvorlage über das Strafverfahren gegen Jugend- liche? Der Monatsbote aus dem Stephansstift. XXXV, 3 (März 1914), S. 40—46; 4 (April 1914), S. 50—55.

Der Verfasser geht die einzelnen Paragraphen des neuen Gesetzes referierend und kritisierend durch. Er berichtet ferner über die Kritik, die der Entwurf bisher erfahren hat. Er kommt zu dem Ergebnis: »Wenn auch manches auszusetzen ist, wenn auch manches noch zu wünschen ist, in seinen Grundgedanken und in seinen Zielen ist der Entwurf ohne Frage gesund und freudig zu begrüßen, und man kann nur wünschen, daß er recht bald in dieser oder jener Form Gesetz wird. Er bringt vor allen Dingen den großen Vorteil, daß mit der Durchführung seiner Bestim- mungen eine Macht in den aktiven Dienst der Rechtspflege gestellt wird, die bislang etwas in der Reserve stand: die Tätigkeit der Jugendfürsorgevereine wird unter dem neuen Gesetzentwurf ein ungleich reicheres Feld sozialer Liebestätigkeit vorfinden wie bisher.«

Metzler, Wie bereiten wir die Mädchen für ihre spätere Stellung in der Häus- lichkeit vor? Der Rettungshausbote. 34, 5 (Februar 1914), S. 100—1C5; 6 (März), S. 123—128.

C. Zeitschriftenschau. 235

Die Mädchen müssen zu den Tugenden erzogen werden, deren sie als Be- dienstete im Hauswesen nach ihrer Anstaltsentlassung bedürfen; sie müssen ferner eine gewisse äußere Fertigkeit und Übung bekommen. Besonders der erste Punkt wird eingehender besprochen.

Mözl, Franz, Die Jugendfürsorge in Mähren. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. 5, 8/9 (August/September 1913), S. 232—237.

Der Bericht berücksichtigt besonders die Wirksamkeit der Böhmischen Landes- kommission in Mähren. Er schließt mit den Worten: »Unsere Arbeit ist kein Almosenverteilen, sie ist kein bloßes Mitleid; mit der bloßen Betonung der Menschen- freundlichkeit kommen wir in dem nüchternen XX. Jahrhunderte der Milliardäre und der durch Hungersnot zugrunde gehenden Menschen nicht aus. Die wirtschaft- liche Kraft ist die unerläßliche Existenzbedingung eines jeden Volkes; wir betonen die Notwendigkeit des geistig und körperlich gesunden Nachwuchses, wir wollen die wirtschaftliche Stärkung unseres Volkes. Wir verlangen die Sozialisierung der Jugendfürsorge und bieten unsere Kräfte freiwillig den Gemeinden, dem Lande, sowie dem Staate an, damit es ihnen ermöglicht werde, ihren Pflichten auf dem Gebiete der Jugendfürsorge nachzukommen

Moses, Julius, Ärztliches zur Zwangs-(Fürsorge-)Erziehung der verwahrlosten und kriminellen Jugend. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 27, 2 (Februar 1914), 8. 161—173.

Die Arbeit gibt einen Überblick über die ärztlichen Seiten der Frage über- haupt. Besonders eingehend wird von der Milieuverwahrlosung gesprochen, deren Diagnose nur mit Vorsicht zu stellen ist. Für eine Spezialisierung der Anstalten wird eingetreten. Im Mannheimer Schulsystem hält der Verfasser ein Zusammen- fassen aller in ihrer sittlichen Entwicklung gefährdeten oder geschädigten Schüler in eigenen Abteilungen für möglich.

Murawski, Fr., Die gemeinsame Lektüre in der Schule. Deutsche Schulpraxis. 33, 11 (16. März 1913). S. 83—86.

Beitrag zur Bekämpfung der Schundliteratur. Für die einzelnen Schuljahre (auch die Fortbildungsschule) werden geeignete Lesestoffe mit genauer Quellen- angabe mitgeteilt.

Myrio, M., Wie kann man am besten einer schädigenden Wirkung anstößiger Re- produktionen auf die Jugend vorbeugen ? Zeitschrift für Kinderpflege. IX, Mai 1914), S. 86—88.

Man soll die Kinder rechtzeitig belehren und sie dadurch vor unreinen Ein- flüssen ihrer Kameraden schützen. Vor allem muß man die Kinder richtig daran gewöhnen, daß Nacktdarstellungen der Kunst keinen anstößigen Eindruck auf die Heranwachsenden machen: sie dürfen nichts Verbotenes und Anstößiges darin sehen. Nemes, Leopold, Leben und Zukunft der vorstädtischen Kinder. A Gyermek.

VIT, 1913, 2, S. 131—132.

Das beste Mittel, der namentlich in den Vorstädten drohenden Verwahrlosung Jugendlicher vorzubeugen, ist ihre Entfernung aus der gefährdenden Umgebung. Neuendorff, Edmund, Vom Wandervogel. Der Säemann. 1914, 1 (29. Januar),

S. 12—16.

Wendet sich vor allem gegen Versuche, den Wandervogel in die Arena der lauten Kämpfe und öffentlichen Fehden zu ziehen. Er ist und soll bleiben eine Jugendbewegung.

Nickel, Karl, Der Artikulationsunterricht in der Hilfsschule. Die Hilfsschule. VIIL, 2 (Februar 1914), S. 33—44.

236 C. Zeitschriftenschau.

Das Wesen der Sprachgebrechen wird kurz besprochen. In den Lehrplan der Hilfsschulen müssen zur Abstellung der Sprachgebrechen besondere Artikulations- stunden eingeschoben werden. Der Unterricht hat sich in diesen Stunden mit der lautlichen Schulung und der technischen Sprachfertigkeit seiner Schüler zu befassen. Für die Stoffauswahl maßgebend sind in erster Linie die in systematischer Weise zur Behandlung kommenden Sprachfehler der Kinder. Eine Gliederung des Unter- richts im allgemeinen und einer Stunde im besonderen wird geboten. Der Unter- richt muß das Mechanische und Ermüdende verlieren, er muß zum lebendigen Sprachunterricht werden.

Offaner, Wilhelmine, Kinderbibliotheken. Die pädagogische Praxis. I, 3 (De- zember 1912), S. 179—180.

Es sollten auch in Deutschland mehr Kinderbibliotheken eingerichtet werden, die sich namentlich in Amerika großer Beliebtheit erfreuen. Die Beeinflussung der Kinder läßt sich steigern durch Schaffung besonderer Erzählstunden, durch die auf bestimmte Bücher aufmerksam gemacht wird.

Paetow, Die Neuordnung der öffentlichen Jugendfürsorge in Bremen. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. 5, 7 (Juli 1913), S. 190—194.

Im Jugendamt, das seit dem 1. April 1913 besteht, ist alle behördliche Tätig- keit auf dem Gebiete der Jugendpflege vereint. Seine Aufgaben sind: Geschäfte des Gemeindewaisenrats, Aufsicht über das Halten von Pflegekindern, Führung der Generalvormundschaft (Dauer bis zum 21. Lebensjahr), Fürsorge für die Haltekinder der Armenverwaltung, Fürsorgeerziehung, Unterstützung der Erziehungsberechtigten bei Unterbringung erziehungsbedürftiger Kinder, Fürsorge für jugendliche Rechts- brecher. Der Verfasser hebt zum Schluß die wesentlichsten Unterschiede vom Hamburger und Bremer Jugendamt hervor.

Pallat, L., Das Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht. Der Säemann. 1914, 1 (29. Januar), S. 7—12.

` In Deutschland fehlt ein derartiges Institut noch, aber es ist zu hoffen, daß

es in Berlin binnen kurzem geschaffen wird. Die Aufgaben eines solchen Instituts

werden kurz charakterisiert.

v. Pidoll, Michael Freiherr, Die Ausgestaltung der Arbeitsgemeinschaft und prak- tischen Wirksamkeit der Zentralstelle für Kinderschutz und Jugendfürsorge. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. VI, 1/2 (Februar 1914), S. 2 bis 11.

Der Verfasser schlägt einen engen Zusammenschluß für Österreich vor, bei dem aber die Selbständigkeit der Landesorganisationen und sonstigen Jugendfürsorge- institute gewahrt bleiben soll.

Presler, Die Schwierigkeiten der Berufswahl und die Notwendigkeit der Berufs- beratung. Deutsche Elternzeitschrift. 4. 9 (1. Juni 1913), S. 148—149.

Kurze Angaben der Momente, die bei der Berufsberatung in Betracht kommen. Vor allem ist auf die Prüfung des Gesundheitszustandes Wert zu legen. Die Be- rufsberatung kann mündlich oder schriftlich erfolgen. Eine schriftliche Berufs- beratung ist in der »Deutschen Elternzeitschrift« eingerichtet.

Presler, O., Postlagernde Briefe. Deutsche Elternzeitschrift. V, 4 (Januar 1914), S. 67—68.

Hinweis auf die Gefahren, die in der Auslieferung postlagernder Sendungen an Jugendliche bestehen. Vorschlag, die Auslieferung an die Erreichung eines ge- wissen Alters zu knüpfen, eventuell auch Angabe des Absenders und Empfängers zu verlangen.

C. Zeitschriftenschau. 237

Reeschuch, W., Die Bekämpfung der Schundliteratur auf dem Lande. Schul- und Kirchenbote. XLVIII, 24 (15. Dezember 1913), S. 380—382.

Die Lehrerschaft muß in den Kampf gegen den Schund kräftig eingreifen. Auf dem Lande geboten scheint die Einrichtung von Dorfkasinos mit guter Lektüre und der Verkauf guter billiger Literatur auf den Jahrmärkten.

Reich, Einiges über die strafrechtliche Behandlung der Jugendlichen. Der Rettungs- hausbote. XXXIV, 2 (November 1913), S. 25—30; 3 (Dezember), §. 49—54.

Es kommt vor allem auf die persönliche Arbeit und das gute Beispiel aller Beamten an. Die amerikanischen Einrichtungen sind abzulehnen. Die Jugend- lichen sollen den Ernst und, die Strafe fühlen. Dazu muß die Erziehung treten, doch nicht so, daß aus der Strafanstalt eine Erziehungsanstalt wird. Die Jugend- gefängnisse der Zukunft müssen mehr Bewegungsmöglichkeiten, mehr Gelegenheit zu persönlicher Einwirkung geben. Vor allem ist sorgfältig zu individualisieren. Dem Jugendgefängnisse sind nur solche Jugendliche zuzuführen. »für die eine Ge- fängniserziehung als ultima ratio strafpolitisch notwendig erscheint, und die sich auch intellektuel! noch für eine solche eignen. Bei der Erziehung müssen Vor- stand, Geistliche, Lehrer, Aufseher Hand in Hand arbeiten. Bei der Haftstrafe ist möglichst zu individualisieren. Die richtige Beschäftigung macht zwar Schwierig- keiten. Neben der Strafverkürzung müßte Strafverlängerung möglich sein. Wichtig ist auch die Schutzaufsicht und die Fürsorge für Strafentlassene.

Reich, Emil, Was soll die Jugend lesen? Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. VI, 3 (März 1914), S. 56—59.

Die Jugendschrift soll ein Kunstwerk sein und erzieherisch wirken. Die Aus- wahl aus den Verzeichnissen der Prüfungsausschüsse usw. muß wieder individuell von Eltern und Erziehern getroffen werden.

Reimers, Friedrich, Praktische Winke für Geländespiele. Deutsche Blätter für erziehenden Unterricht. 41, 1 (1. Oktober 1913), 8. 7—8; 2 (3. Oktober), 8. 22 bis 23.

Reimers meint auf Grund jahrelanger Erfahrungen, daß das Kriegsspiel als Erziehungsmittel eine große Bedeutung habe. Er gibt ein Bild von der Durch- führung eines Kriegsspiels. Seinen besonderen Wert sieht der Verfasser darin, daß es die sozialen Gegensätze auszugleichen vermöge.

Rogal, Paul, Säuglingssprache. Zeitschrift für Kinderpflege. 1X, April 1914- S. 63—64.

Der Verfasser wendet sich gegen die Nachahmung der Kleinkindersprache von seiten der Umgebung des Kindes im Gespräche mit diesem. Man spreche mit dem Kinde nur in korrekter Sprache.

Roller, Margarete, Die Fürsorgeorganisation der Deutschen Landeskommission für Kinderschutz und Jugendfürsorge in Mähren. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. V, 11 (November 1913), S. 313—316.

Richtlinien der 1911 begonnenen Tätigkeit, die vielfach als mustergültig an- erkannt ist. Ziel: Zusammenfassung und einheitliche Gestaltung der gesamten Kinderfürsorge in Deutsch -Mähren auf Grundlage der Berufsvormundschaft nach nationalen Gesichtspunkten. Es arbeiten augenblicklich 33 Bezirkskommissionen. Rosenbaum, F., Mustergültige Einrichtungen für den hauswirtschaftlichen Schul-

unterricht. Zeitschrift für Jugenderziehung. IV, 6 (1. Dezember 1913), S. 166 bis 169.

Bei Schulneubauten empfiehit es sich, in den Kellerräumen Kleinküchen in

Form von Kojen an den Wänden eines langgestreckten Schulsaals einzurichten. Die

938 C. Zeitschriftenschau.

Einrichtung muß dem Milieu der Kinder entsprechen, also in Volksschulen durch-

aus einfach und schlicht sein,

Ruppert, Josef, Der Knabengerichtshof im »Münchner Jugendheim«. Der Säe- männ. 1914, 4 (24. April), S. 139—145.

Das 1909 gegründete Jugendheim dient vor allem der psychiatrisch-pädagogi- schen Untersuchung und Beobachtung obdachloser, gefährdeter und straffälliger Knaben, deren durchschnittlich 20—30 täglich untergebracht werden können. Die Knaben haben einen eigenen Gerichtshof. Die Erfahrungen lehren, daß die be- antragten Urteile »von einer geradezu blutrünstigen Strenge« sind, daß alle Zög- linge eine rege Anteilnahme zeigen, daß sie nach einem gerechten Strafmaß trachten, daß sie die Strafe individuell zu gestalten wissen, daß die verurteilten Knaben sich willig dem Urteilsspruch der Kameraden unterwerfen, und daß diese sich für die richtige Durchführung der Strafe verantwortlich fühlen. Als Strafen kommen in Betracht: qualitativer Kostabzug (z. B. kein Fleisch), Strafarbeit (Treppen-, Zimmer- reinigen), Silentium, Entziehung von Vergünstigungen (Sonntagsausgang) und von Ehrenämtern, Einsperren mit Arbeitsauflage, Schläge in Gegenwart sämtlicher Zög- linge. Die Ausführungen werden durch einzelne Beispiele aus der Praxis ergänzt und veranschaulicht.

Rupprecht, Die Jugendfürsorge in München. Ebenda. S. 438—439.

Zahlen aus dem Bericht des Münchener Jugendfürsorgeverbandes 1913. Als der Fürsorge bedürftig wurden 3857 Fälle angemeldet. Die meisten Fälle wurden in Familienpflege gegeben.

Rupprecht, Zwangserziehung und gemeindliche Jugendfürsorge in Bayern. Zeit- schrift für Jugenderziehung und Jugendfürsorge. 1V, 17 (15. Mai 1914), S. 496 bis 498.

Von den Zwangszöglingen Bayerns waren 1912 1692 = 38,9, in Familien und 2653 = 61,1°/, in Anstalten untergebracht. Die größeren Städte liefern die größere Anzahl erziehungsbedürftiger Minderjähriger. In neuerer Zeit hat man in Nürnberg und München die Fürsorge für die gefährdete und verwahrloste Jugend aus städtischen Mitteln unterstützt. In München steht vom 1. Februar 1914 an ein städtisches Asyl für etwa 50 obdachlose Burschen von 16 bis 20 Jahren zur Ver- fügung, zu dessen Ausbau 14000 Mark aus städtischen Mitteln bewilligt wurden. Die Stadtgemeinde Nürnberg hat beschlossen, gemeindliche Zwangserziehungsanstalten, und zwar getrennt für noch unverdorbene Kinder und für bereits verdorbene werk- tags- und fortbildungsschulpflichtige Knaben und Mädchen einzurichten.

Saxer, Ad., Die jugendlichen Arbeiter und die Jugendpflege. Zeitschrift für Jugend- erziehung und Jugendfürsorge. IV, 18 (1. Juni 1914), S. 528—530.

Eine wirkliche Jugendpflege muß die Heranwachsenden vor übermäßiger In- anspruchnahme ihrer Arbeitskraft schützen. »Der Sonntag allein kann nicht die nötige Erholung bringen; nur einige freie Nachmittage, die für Spiel, Turnen und Wanderfahrten verwendet würden, könnten die Nachteile der Werkarbeit kompen- sieren.«

Schellwitz, Anna-Lise, Die Doppelstellung des angenommenen Kindes nach dem bürgerlichen Gesetzbuch. Mitteilungen der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge. IX, 2 (15. April 1914), S. 3—4.

Im heute geltenden deutschen Recht ist die Annahme an Kindesstatt eine un- vollkommene. Durch die Adoption werden zahlreiche Interessenkonflikte hervor- gerufen, zu deren Lösung es besonders taktvoller und warmherzig empfindender Richter bedarf.

C. Zeitschriftenschau. 239

Schmidt, G., Vom Wandervogel und seiner Bedeutung in der Gegenwart. Der Säemann. 1913, 7 (29. Juli 1913), 8. 309—312.

Kurze Würdigung der Wandervogelbewegung für die Ertüchtigung der deutschen Jugend.

v. Schönwies, Max Schönowsky, Jugend und Wehrkraft. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. VI, 3 (März 1914), S. 59—63.

Die Arbeit gipfelt in der Forderung militärisch geschulter Jugenderzieher. »Die militärische Jugendvorbildung ist jenes unentbehrliche Mittel zur Volksgesundung, dessen Wert von Lykurgos bis Jahn und bis auf den heutigen Tag immer wieder von neuem erkannt wurde und niemals versagt hat.«

Schultze, Ernst, Berufsberatung. Die Deutsche Schule. XVII, 3 (März 1914), S. 144—152.

An Versuchen zur Regelung der Berufswahl hat es nicht gefehlt. Wohl aber fehlt es an zusammenfassenden städtischen Wohlfahrtsämtern. Gerade mit zu- sammenfassenden Organisationen lassen sich aber die besten Erfolge erzielen, wie namentlich die Erfahrungen im Ausland gezeigt haben. Als Beispiel wird die Be- rufsberatung in Boston eingehend geschildert, die in der kurzen Zeit ihres Bestehens auch bei den Unternehmern viel Anklang gefunden hat.

Ders., Was kann der Kinematograph der Kinderwelt bieten? Zeitschrift für Jugend- erziehung und Jugendfürsorge. IV, 13 (15. März 1914), S. 365—369; 14 (1. April), S. 397—402.

Die Auswahl der für Kinder geeigneten Stoffe kann nur auf Grund genauer Kenntnis des kindlichen Seelenlebens erfolgen. Die Vorführungen können aus folgenden Gebieten genommen sein: Sport, Heimat und Vaterland, Gestaltung und Gefahren des großstädtischen Verkehrs, Berufstätigkeit; sie können im geographi- schen Unterricht, im Moralunterricht usw. geboten werden.

Seemann, W., Wie wir »Heinz Brandt, den Fremdenlegionär« ‚erledigten. Die Pädagogische Praxis. Il, 7 (April 1914), S. 390—392.

Beitrag zur Bekämpfung der Schundliteratur. Bei einiger Ausdauer ist im engen Wirkungskreis der Schulklasse der Erfolg immer positiv und anhaltend. Seidel, Robert, Schulsparkassen und Sozialpolitik. Zeitschrift für Jugenderziehung.

IV, 6 (1. Dezember 1913), S. 157—165.

Der Verfasser tritt warm für die Einrichtung von Schulsparkassen ein, durch die die Schüler zur Tugend des Sparens erzogen werden können.

Sellmann, Der Film als Lehrmittel. Evangelisches Schulblatt, 57, 12 (Dezember 1913). S. 547—550.

Absolut zu verbannen ist der Film nicht, Im Unterricht läßt er sich als An- schauungsmittel neben anderen in allen Fächern verwerten. Hygienische Anforde- rungen müssen natürlich gestellt werden. Die Technik sucht sie auch nach Kräften zu erfüllen.

Siemering, Hertha, Die Pflege der weiblichen Jugend und die Zentralstelle für Volkswohlfahrt. Evangelisch-Sozial. XXII, 12 (Dezember 1913), S. 359—364.

Der Aufsatz will über die Aufgaben der genannten Zentralstelle auf dem Ge- biete der weiblichen Jugendpflege unterrichten und zur Materialsammlung anregen. Dies., Die Pflege der weiblicheu Jugend im Deutschen Reiche. Zeitschrift für

Kinderschutz und Jugendfürsorge. V, 12 (Dezember 1913), S. 347—349.

Die weibliche Jugendpflege hat alle normalen Mädchen im Alter von 14 bis 20 Jahren zu betreffen. Im besonderen: Bericht über die Pläne der Zentralstelle für Volkswohlfahrt auf diesem Gebiet.

240 C. Zeitschriftenschau.

Sonnenberger, Die sozialhygienischen Aufgaben der Ärzte im Zusammenhang mit der gesamten Jugendfürsorge. Der Kinder-Arzt. XXV, 5 (Mai 1914), S. 97 bis 101; 6 (Juni), S. 121—129.

Nach einem Referat auf der Darmstädter Tagung der deutschen Zentrale für Jugendfürsorge 1913. Die Arbeit befaßt sich besonders mit der Säuglingsfürsorge (Ernährungsfrage, Tuberkulosefrage, Alkoholfrage, Impffrage; Kinderkrippen) und kurz mit einigen Zweigen der Schulfürsorge (schwächliche und kränkliche Kinder; tuberkulöse Kinder; kindliche Neurosen und Psychosen). Wesentlich neue Gesichts- punkte bringt sie nicht.

Stein. O. Th., Neue Helfer für die Berufswahl. Deutsche Schulpraxis. XXXIII, 49 (7. Dezember 1913), 8. 381—391.

Als neuer Halfer soll die Vorführung von »Berufsfilms« dienen, gemeinschaft- lich betrieben von Gemeinde, Gewerbe- und Kaufmannsstand und Schule.

Streit, Über Jugendfürsorge und Jugendfürsorgeamt. Monatsblatt des Kant.-Berni- schen Vereins für Kinder- und Frauenschutz. 2 (15. September 1913), 8. 11—12; 3 (15. Oktober), S. 13—15; 4 (15. November), S. 17—19; 5 (15. Dezember), S. 21—23;

Die Arbeit erörtert die Frage nach der Verstaatlichung der Jugendfürsorge und deren Abgrenzung und Organisation. Sie bespricht die öffentliche und frei- willige Jugendfürsorgetätigkeit anhand der verschiedenen Formen der Hilfsbedürftig- keit. Die Fürsorgeeinrichtungen müssen zentralisiert werden, und zwar in den Ge- meinden. Das Jugendfürsorgeamt soll eine wirkliche Zentralstelle sein für alle Kinder.

Widenka, Leopold, Die neue schlesische Landeserziehungsanstalt in Teschen. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. VI, 5 (Mai 1914), 8. 123—128.

Die Anstalt wurde im November 1912 eröffnet. Sie dient für männliche Ver. wahrloste im Alter von 14 bis zu 18 Jahren (unter Umständen bis zum 20. Lebens- jahre). Die Zöglinge genießen außer gewerblicher oder landwirtschaftlicher Aus- bildung regelrechten Fortbildungsschulunterricht. Beschreibung der Anstalt, Skizzie- rung des Unterrichtsplanes, der Beköstigung, des Anstaltslebens usw.

Wild, A., Kinderhorte. Schweizerische Blätter für Schulgesundheitspflege und Kinderschutz. 11, 7 (Juli 1913), S. 103—106.

Zu empfehlen ist ein Zusammenschluß der verschiedenen Vereine. die die auch in der Schweiz nicht geringe Zahl von Horten unterhalten, zu einem schweize- rischen Jugendhortverband.

Wilker, Karl, The George Junior Republic. Die Deutsche Schule. 17, 8 (August 1913), S. 465—474.

Die Eutstehungsgeschichte, die Einrichtungen und Ziele des Instituts werden dargelegt. Die Einrichtungen legen eine Trennung von Gesunden und Psychopathen nahe. Für beide Kategorien von Fürsorgezöglingen müssen Heime geschaffen werden. Es fehlen »die Anstalten, die ihre Zöglinge nicht mehr nach bureaukratischen Schematen, nach amtlichen Erlassen, nach verfügbaren Plätzen aufnehmen, ohne den Gesichtspunkt physischer und psychischer Gesundheit oder Krankheit dabei hin- reichend zu berücksichtigen. Solche Anstalten müssen wir aber erhalten.« Windbichler-Wald, Julius, Jugendfürsorge- und Kinderschutzarbeit im Kron-

lande Salzburg. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. 5, 8/9 (August- September 1913), S. 237—240. Bericht über die bestehenden Einrichtungen.

C. Zeitschriftenschau. 241

Erfolge. Brun, Rud., Die Amtsvormundschaft in der Stadt Zürich. Zeitschrift für Jugend- erziehung. IV, 19 (15. Juni 1914), S. 554—559.

Kurzer Bericht über die Tätigkeit, die sich jetzt auf 5 Jahre erstreckt, Derlien, J., Kindergartenarbeit. Neue Bahnen. XXV, 8 (Mai 1914), S. 356—362.

Durch Abbildungen und allgemeine Bemerkungen ergänzter Bericht über die Weihnachtsausstellung 1913 des Hamburger Fröbelhauses, in der überall selbständiges Schaffen und strikte Durchführung des künstlerischen Prinzips zu merken war. Goebel, Die »Streetchildren-Clubs« in Birmingham. Mitteilungen der Deutschen

Zentrale für Jugendfürsorge. IX, 3 (15. Juni 1914), S. 6—8.

Die Klubs zerfallen in Juniorenklubs für 10—13jährige und in Seniorenklubs für ältere Kinder, die mindestens ein Jahr einem Juniorenklub angehört haben und in fester und aussichtsvoller Lehrlingsstellung stehen. Die Organisation besteht seit 7 Jahren. Sie umfaßt über die ganze Stadt ausgebreitet jetzt 44 Knaben- und 22 Mädchenklubs mit 2000—300U Mitgliedern und mehreren hundert Helfern aus den besseren Volksschichten. Die Jahresausgaben betragen etwa 30—40000 M. Die Klubs erfreuen sich bei der »Straßenjugend« großer Beliebtheit. Etwa 15 °/, der Straßenkinder gehören ihnen an. Es melden sich noch weit mehr Kinder; doch mangelt es an Möglichkeiten, sie aufzunehmen. Die Erziehungserfolge werden gelobt. Gr., Zur Frage der weiblichen Jugendpflege. Evangelisches Schulblatt. 58, 6 (Jusi

1914), S. 263—269.

Die Ausführungen bieten eine Übersicht über Veranstaltungen zur Pflege der weiblichen Jugend, die in Elberfeld bereits von seiten der Schule ins Leben gerufen wurden, ehe die jetzige Jugendpflege- Bewegung einsetzte. Es sind besonders so- genannte »Abendschulen«, mit denen man die besten Erfahrungen gemacht hat. Hedler, Adolf, Die Rekrutenprüfung in der Schweiz. Die Deutsche Schule.

XVIII, 9 (September 1914), S. 579—592.

Sehr eingehender und anschaulicher Bericht über die Prüfungen der Schweizer Rekruten, denen der Verfasser im Oktober 1913 beiwohnte. Durch diese wird der Militärverwaltung eine ziemlich zuverlässige Kenntnis der geistigen und körperlichen Leistungen der jungen Leute vermittelt. Insbesondere werden durch sie wohl die Psychopathen von vornherein ausreichend charakterisiert. Durch diese Prüfungen wurden aber auch die gesamten Schulleistungen gehoben. Der Verfasser versagt es sich, bestimmte Forderungen für Deutschland an seine Schilderungen anzuknüpfen, »Es ist ja selbstverständlich, daß schweizerische Einrichtungen nicht restlos von uns übernommen werden können. Wer es aber ernst meint mit einer zeitgemäßen Auffrischung unseres Schulwesens, der sollte an diesen Dingen nicht achtlos vor- übergehen.«

Hennings, Rich., Für die Jugend. Neue Bahnen. XXV, 8 (Mai 1914), S. 379 bis 380.

Kurzer Bericht über die Einrichtungen und die Tätigkeit eines 1911 in Ham- burg-Barmbeck von der Arbeiterschaft begründeten Ausschusses zur Förderung der Jugendspiele, dessen Arbeiten jeden Pädagogen mit besonderer Freude erfüllen werden.

Landsberg, J. F., Erzieher für Jugendpflege. Zeitschrift für Jugenderziehung und Jugendfürsorge. 1V, 18 (1. Juni 1914), S. 526—528.

In Traben an der Mosel ist ein Seminar für Jugendpfleger mit dreijähriger

Ausbildungsdauer als Eigentum des Rheinisch-Westfälischen Diakonie-Vereins zu Zeitschrift für Kinderforschung. 22. Jahrgang. 16

242 D. Literatur.

Lennep eingerichtet. Der Verfasser sieht die Zeit kommen, wo für jede Stadt von mehr als 10000 Einwohnern und für jeden Landkreis ein Berufsjugendpileger an- gestellt werden müsse. Dann werden nach dem Trabener Vorbild weitere Seminare eingerichtet werden.

Lemberger, Hedwig, Die Fürsorge für die aufsichtslose Schuljugend in Wien. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. VI, 7 (Juli 1914), S. 177—183; 8/9 (August), 8. 222—227.

Die Aufsichtslosigkeit ist vor allem durch die Fabrikarbeit der Frauen bedingt.

In Wien schritt 1913 die Polizei gegen 15265 Kinder im schulpflichtigen Alter ein.

An Fürsorgeeinrichtungen bestehen etwa 150 für 13000—14000 Kinder. Be-

sprochen werden zunächst die Kinderhorte, die aber leider gerade die der Fürsorge

am meisten bedürftigen Kinder nicht fassen, dann die Tagesheimstätten, die am besten die durch die Außerhausarbeit der Mutter in die Familie gerissene Lücke ausfüllen. 3000 Kinder genießen ihre Fürsorge. Für die wirklich zu erfüllenden

Aufgaben ist aber in erster Linie ein Volkserziehungsgesetz zu fordern, das eine

gesetzliche Fürsorge für die aufsichtslose Schuljugend ermöglichen würde,

Pinkus, Felix, Die Jugendfürsorge auf der schweizerischen Landesausstellung. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. VI, 8/9 (August/September 1914), S. 220—222.

Becker, Wilhelm, Die Kurse zur Heranbildung von Lehrkräften in der Jugend- fürsorge, bezw. im Hortwesen in Wien und Graz 1914. Ebenda. S. 227—236-

D. Literatur.

Neuere Werke zur experimentellen Psychologie.

Messer, August, Psychologie. Berlin u. Stuttgart, Deutsche Verlagsanstalt, 1914.

Mit Absicht hat Messer den Beinamen »experimentell« beiseite gelassen, denn wenn er seine Ausführungen auch überall auf die Resultate experimenteller For- schungen stützt, und wenn sein Lehrbuch auch einen fast vollständigen Überblick über die experimentelle psychologische Arbeit der letzten Jahrzehnte bietet, so kommt es ihm doch überall darauf an, den Zusammenhang mit den allgemeineren Fragen der Psychologie herzustellen. Dabei werden besonders die Probleme heran- gezogen, die den Gegenstand der neueren Forschung bilden wie z. B. die Husserl- sche Phänomenologie oder die von der österreichischen Schule angeregte Frage der Gestaltqualitäten.

Nach den einleitenden Kapiteln über Geschichte, Gegenstand, Aufgaben und Methoden der Psychologie kennzeichnet der Verfasser seinen vorsichtigen Stand- punkt dem Experiment gegenüber: »Man kann nur davor warnen. auf die Verwen- dung des experimentellen Verfahrens allzu kühne Hoffnungen für die Psychologie aufzubauen und zu erwarten, daß es uns in weseutlichen Punkten ganz neue Auf- schlüsse über das Seelenleben vermitteln werde. Der Überblick über die experi- mentellen Methoden hat bestätigt, daß sie niemals die Selbstbeobachtung des eigenen Seelenlebens und das deutende Erraten des fremden ersetzen können, sondern daß sie diese zwei psychologischen Erkenntnismittel ihrerseits voraussetzen und nur ihre Anwendung unterstützen.« Trotzdem gesteht er zu, »daß das Experiment in sehr vielen Fällen unser Wissen bestimmter und zuverlässiger gemacht hat, oder popu- lär-psychologische Überzeugungen widerlegt oder berichtigt hat.«

D. Literatur. 243

Bei der Besprechung der Sinnesempfindungen wird immer das Physiologische streng geschieden von dem Psychischen der Empfindung. Die durch Katz nach- gewiesenen Erscheinungsweisen der Farben werden ausführlicher gewertet. Die Qualitäten der verschiedenen Empfindungen werden nach dem Stande der heutigen Forschung wiedergegeben. Eigene Kapitel sind dem Raumbegriff und dem Zeit- bewußtsein gewidmet.

Für alle Begriffe, auch die abstraktesten, wird der Ursprung in anschaulichen Eindrücken nachgewiesen. Wir erleben mit den Empfindungen und an ihnen die Eindrücke Gleich, Ähnlich, Verschieden als anschaulich Gegebenes. So hat sich be- sonders der Begriff des Dinges, derjenige der Substanz, derjenige der Realität, auch derjenige der Kausalität (trotz Hume) aus der Anschauung entwickelt. Humes Kritik ist besonders dadurch beeinflußt worden, daß er den logischen Zusammen- hang von Grund und Folge schon in den Dingen suchte, statt dort nur den realen Zusammenhang von Ursache und Wirkung zu erwarten. Auf der anderen Seite nimmt Messer aber auch mit einzelnen Vertretern der Würzburger Schule ein »unanschauliches« Wissen oder Denken an, und zwar findet er das unanschauliche Element in der Intention. In dem Akt des Gegenstandsbewußtseins als der Erfassung von Objekten liegt der intentionale Charakter, der als Restbestand bei der Analyse der Erkenntnisphänomene übrig bleibt, wenn alles Anschauliche herausgehoben ist und der darum als unanschaulich, als begrifflich, als Denken zu bezeichnen ist. Offenbar ist diese Unanschaulichkeit eine andere als die etwa der scholastischen Philosophie, die aus der Unanschaulichkeit des Begriffs die Immaterialität der Seele ableitet. Denn die Messersche Unanschaulichkeit kommt schließlich auch der Emp- findung zu, insofern diese als psychischer Akt, abgesehen von ihrem Inhalt auf- gefaßt wird. Aber es bleibt hier Raum für eine gewisse Zweideutigkeit.

Gedächtnisvorgänge und Aufmerksamkeit werden nach den verschiedenen Seiten erläutert, die Beobachtung und Experiment während der letzten Jahrzehnte auf- gedeckt haben.

Gegen Wundt nimmt M. an, daß Lust und Unlust die einzigen Gefühlsquali- täten sind; die Frage, ob Lust oder Unlust nur in einer Art vorkommen oder ob es nuch verschiedene Qualitäten von Lust und Unlust gibt, ist für den Augenblick noch nicht spruchreif. Der Hinweis aber darauf, daß die geistigen Genüsse von den Moralister. höher gewertet werden als die sinnlichen, scheint anzudeuten, daß M. mehr zu der pluralistischen Ansicht neigt.

Ein eigenes Kapıtel ist den Wertgefühlen und den Werturteilen gewidmet. Die Psychologie muß nämlich die Seins- und Wertfragen trennen, die im praktıschen Leben und besonders auch von einer religiös gefärbten Metaphysik nicht auseinander gehalten werden. Zwei Hauptarten der Wertung, gefühlsmäßige und intellektuelle, sind zu unterscheiden. Hinweis auf die experimentelle Untersuchung der Wert- ergebnisse von Th. Häring.

Die Besprechung der Willensphänomene lehnt sich vorzüglich au Meumann, Ach und Scheler an. Das Problem der Willensfreiheit wird der Metaphysik über- lassen. Vom psychologischen Standpunkt aus ist nur zu sagen, daß man den Be- legen für das Freiheitsbewußtsein ebenso viele Belege für das Bewußtsein der Un- freiheit entgegenhalten kann. Das Sichbesinnen wird in seiner Abhängigkeit von Willensphänomenen besprochen. Daran schließt sich die determinierende Tendenz, wie Ach den regulierenden Einfluß des Willens auf das innere Geschehen nennt.

Gegen die Bergsonsche Intuition, auf die sich so gern diejenigen berufen, die darüber enttäuscht sind, daß die Wissenschaft nicht alle Welträtsel gelöst hat, wird mit Recht geltend gemacht, daß die »Gesichte« der Mystiker aus bekannten Ele- menten zusammengesetzt sind, deutlichen und undeutlichen Vorstellungen, Gefühlen und Organempfindungen, blitzartigem Erraten von Zusammenhängen, kurz psychischen Erlebnissen, die aus der Vergangenheit und dem Milieu der Begnadeten wohl er- klärlich sind.

Ein letztes Kapitel behandelt die metaphysischen Probleme des Ich und des Verhältnisses von Seele und Leib. Die Gründe für und gegen den Materialismus, für und gegen die Substantialitäts- oder die Aktualitäts-Hypothese, für und gegen die Wechselwirkung oder den psychologischen Parallelismus werden objektiv aus- einandergesetzt, ohne daß der Verfasser selbst klar Stellung nimmt.

16*

244 D. Literatur.

Das vorliegende Lehrbuch orientiert kurz aber sachkundig über alle allgemeine- ren und spezielleren Fragen der modernen Psychologie, so daß es den weitesten Kreisen empfohlen werden kann.

Fröbes, Joseph S. J., Lehrbuch der experimentellen Psychologie. Frei- burg i. B., Herdersche Verlagsbuchhandlung, 1915. I. Bd. l. Abteilung. 4 M. Als Ziel schwebte dem Autor vor, den Psychologen ein ähnliches Werk zu bieten, wie es die Physiologen in dem Lehrbuch der Physiologie von Tigerstedt besitzen. Er hat in der Tat aus der einschlägigen Literatur übersichtlich und klar alles zusammengetragen, was über die Psychologie der Siunesorgane von diesen handelt der vorliegende Band in den letzten Jahrzehnten erschienen ist. Der Reihe nach werden besprochen: Ziel und Wege der empirischen Psychologie, die Empfindung im allgemeinen, die Gesichtsempfindungen, die Gehörsempfindungen, die Geruchs- und Geschmacksempfindungen, die Hautempfindungen, die kinästhetischen und statischen Empfindungen, die Organempfindungen und die einfachen sinnlichen Gefühle. Der Verfasser bekennt sich als Schüler von G. E. Müller in Göttingen, dem er allerdings nicht in jeder einzelnen Frage gefolgt ist.

Die Auswahl des Materials für die einzelnen Kapitel ist objektiv gehalten, so daß man wirklich einen guten Einblick in die verschiedenen Seiten der behandelten Fragen gewinnt.

Interessant ist die Stellungnahme der experimentellen Psychologie gegenüber. Während in den ersten Jahrzehnten des Aufblühens experimenteller Forschungs- weise die orthodoxen katholischen Kreise sich eher ablehnend verhielten und das aristotelische Lehrgebäude der Psychologie nur wenig mit den Ergebnissen der neueren Forschungen belasteten, während z. B. das große Lehrbuch des Kardinals Mercier, das auch ins Deutsche übertragen wurde, einen geschlossen scholastischen Aufbau aufweist, bei welchem nur die Sinnes- und Nervenphysiologie im Sinne moderner Forderungen weiter ausgedehnt sind, lehnt sich das vorliegende Handbuch im Aufbau vollständig an die bekannten Lehrbücher der experimentellen Psycho- logie an, und der scholastische Grundgedanke des Verfassers drängt sich nirgends störend auf.

Wenn man bedenkt, daß ein Mitglied des Jesuitenordens ohne Erlaubnis seiner Oberen kein wissenschaftliches Werk herausgeben darf, so haben wir wohl hier ein Anzeichen vor uns, daß die experimentelle Psychologie eine weitere Eroberung ge- macht hat. Die orthodoxen katholischen Kreise werden ihr anfängliches Mißtrauen der neuen Wissenschaft gegenüber ablegen und am weiteren Ausbau derselben mit- arbeiten. In diesem Sinne ist das Vorgehen des P. Fröbes symptomatisch.

Herget, A, Psychologie und Erziehungslehre. Prag, Verlag von A. Haase, 1914. 227 S. 5 M.

Der Verfasser, Professor an der k. k. Lehrerbildungsanstalt in Komotau, hat wohl sein Handbuch für ähnliche Anstalten geschrieben. Dabei bietet es einen nicht gering anzuschlagenden Vorzug. Die einzelnen Fragen sind schon durch den Druck übersichtlich gegliedert und erleichtern so das Einprägen. Die Erklärungen sind manchmal etwas knapp geraten, aber das bedeutet auch keinen Nachteil für einen Unterricht, bei dem der erläuternde mündliche Vortrag eingreifen kann. Un- angenehm fallen positive Unrichtigkeiten oder schiefe Darstellungen, besonders auf dem Gebiet der Sinnespsychologie auf, wie z. B. »Nur der gelbe Fleck ist für alle Farben empfänglich«, S. 22, oder »Wir sehen die Gegenstände aufrecht, trotzdem das Bild auf der Netzhaut verkehrt ist, weil wir gewohnt sind, die lichtgebenden Punkte dorthin zu verlegen, woher wir das Licht erhalten haben«, S. 20. Trotz- dem bedeutet das Buch einen Fortschritt gegenüber alten Handbüchern, indem der Schüler hier überall auf die neuesten Arbeiten auf dem Gebiet der Psychologie und Pädagogik hingewiesen wird. Einzelne Kapitel wie z. B. das von der Aufmerksam- keit, sind ausführlich und gut behandelt und das Ganze wird zweifelsohne anregend auf den Schüler wirken.

Gutberlet, Constantin, Experimentelle Psychologie mit besonderer Be- ruensiohtigung der Pädagogik. Paderborn, Schöningh, 1915. 367 S. Ohne selbst Fachmann zu sein, will der Verfasser, der allerdings schon in

D. Literatur. 245

einer gründlichen Arbeit (Psychophysik 1905) sich mit der experimentellen Psycho- logie auseinander gesetzt hat, eine Beurteilung die allerdings oft zu einer Ver- urteilung wird der neuesten psychologischen und pädagogischen Arbeiten bieten.

In seiner Bewertung der experimentellen Psychologie zieht er seine Haupt- argumente aus der Rickertschen Erklärung gegen die Besetzung der Philosophie- professuren durch experimentelle Psychologen und aus den Einwänden, die Kostyleff gegen den Betrieb der experimentellen Psychologie gemacht hat in seinem Buche: La crise de la psychologie expérimentale. Wenn er dabei auch Hellpach als Un- parteiischen zitiert, so merkt man doch, daß seine Bewertung nur wenig von dem Wert des Experimentes übrig lassen will. Von Wundt zitiert er nur seine Ein- sprache gegen die grundlegende Bedeutung der experimentellen Psychologie für die Pädagogik. verschweigt aber seine prinzipielle Zustimmung zu den Bestrebungen des Leipziger Lehrerinstituts für experimentelle Psychologie, die seinerzeit in allen päda- gogischen Zeitschriften zum Abdruck kam.

In den folgenden Kapiteln verfolgt G. die Taktik, die einzelnen Vertreter der experimentellen Psychologie besonders in ihren Widersprüchen in bezug auf die einzelnen Fragen aufmarschieren zu lassen.

Unter dem Titel Assoziation werden folgende Arbeiten besprochen bezw. die Hauptresultate derselben angegeben: W. Poppelreuter, Nachweis der Unzweck- mäßigkeit der gewöhnlichen Assoziationsexperimente mit sinnlosen Silben. F. Nagel, Experimentelle Untersuchungen über Grundfragen der Assoziationslehre. F. Rein- hold, Beiträge zur Assoziationslehre auf Grund von Massenversuchen. H. Ohms, Untersuchung unterwertiger Assoziationen mittels des Wiedererkennungsvorgangs. P. Köhler, Beiträge zur systematischen Traumbeobachtung. H. J. Watt, Experi- mentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens. Ferner ein Artikel der Frank- furter Zeitung über das psychologische Experiment im Dienste der Justiz und eine Reihe von Artikeln über die Freudsche Psychoanalyse. Besonders zu schmerzen scheint es den Verfasser, daß auch eine adlige Dame, H. v. Hug-Hellmuth unter die Freudianer gegangen ist. Er sagt ihr geradezu, daß sie »ihre aristokratische Geburt verleugne«.

Zweifelsohne hat der Verfasser über all diese Arbeiten vernünftige und oft sogar treffende Urteile, aber seine Abneigung gegen das moderne Experiment kommt doch immer wieder zum Vorschein. Schon die schematische Aneinanderreihung von Arbeiten über die Assoziation zeigt außerdem, daß es ihm nicht auf eine syste- matische Behandlung seines Gegenstandes ankommt, so daß das Buch als Lehrbuch denkbar ungeeignet wäre.

In derselben Weise werden die folgenden Kapitel behandelt: Das Gedächtnis, Die Aufmerksamkeit, Die Denkprozesse, Leib und Seele, Differenzielle Psychologie, Zur Psychologie des Kindes, Frühkindliche Psychologie, Experimentelle Pädagogik, Der Gesichtssinn, Der sechste Sinn der Blinden, Das Gehör, Der Gefühlssinn (wie der Verfasser noch den Hautsinn nennt, obschon der Name Gefühl in der neueren Psychologie ausschließlich für die Phänomene der Lust und Unlust vorbehalten ist).

Am stärksten kommt die Tendenz des Verfassers in dem Kapitel: »Experi- mentelle Pädagogik«e zum Ausdruck. Wenn er darin behauptet, er habe in seiner »Psychophysik« eine objektive Darstellung der experimentellen Psychologie geben wollen und diese Darstellung sei verhängnisvoll für die neue Wissenschaft geworden, so muß man den Optimismus des Verfassers bewundern, denn in der eigentlichen experimentell psychologischen Literatur findet sich auch nicht eine Spur von dem Einfluß, den diese Psychophysik ausgeübt haben soll. Ihre Methode war übrigens dieselbe, wie sie in dem Kapitel: Experimentelle Pädagogik bis zum Überdruß an- gewandt worden ist, und darum muß sie ihrer Natur nach unfruchtbar sein. Glaubt denn der Verfasser im Ernst aus Einzelkritiken Wundts oder Hellpachs über einzelne Arbeiten Meumanns ein Chaos der experimentellen Pädagogik konstruieren zu dürfen? Übersieht er denn das viele Gemeinsame, zu dem alle experimentellen Psychologen sich bekennen ? Würde er etwa zugeben, daß man in der mittelalter- lichen scholastischen Philosophie ein Chaos sehe, weil Duns Scotus sozusagen in allen Punkten, die nicht gerade Dogma sind, der Widerpart des Thomas von Aquin ist? Und wenn er auf die abweichenden Ergebnisse in der experimentellen Er- forschung des Gedächtnisses hinweist, so müßte er doch zugeben, daß gerade das

246 D. Literatur.

Experiment mit seiner Möglichkeit der öfteren Wiederholung unter gleichen Be- dingungen, den einzigen Weg bietet, um schließlich in strittigen Fragen eine sichere Lösung zu finden. Daß der Verfasser die Kritik der experimentellen Pädagogik, die zwar W. James zum Urheber hat, die aber selbst starken kritischen Bedenken unterliegt und die nun schon fast zu Tode gehetzt ist, noch einmal aufwärmt, ist unter solchen Umständen selbstverständlich. Das Kapitel über experimentelle Päda- gogik ist, wie übrigens das ganze Buch, ein einseitiger und voreingenommener Ver- such, durch Zusammentragen von mißliebigen Kritiken und durch Gegenüberstellung von Widersprüchen in den Resultaten experimenteller Forschung die ungern ge- sehene neue Wissenschaft verächtlich zu machen. Der dabei betonte Anspruch auf Objektivität ist nur insofern berechtigt, als die zufällig zusammengewürfelten Ar- beiten experimenteller Pädagogen oder Psychologen mit längeren Inhaltsangaben, oft mit eigenen Worten der Verfasser angeführt werden. Dabei ist aber die Auswahl dessen, was von ihren Urteilen oder Resultaten geboten wird, immer eine tendenziöse, denn mit Ausschluß anderer Stellen, die das Gegenteil ergeben würden, sind immer Einzeläußerungen herangezogen, welche die These des Verfassers von dem Unwert alles Experimentierens stützen sollen. Er lese z. B. was die experimentellen Psycho- logen, unter ihnen Wundt selbst, über Meumann sagen in dem Heft der Zait- schrift für pädagogische Psychologie, das dem Andenken Meumanns gewidmet ist und vergleiche damit das Bild, das er seinen Lesern durch Zusammenstellung von Einzelkritiken bietet.

Das Gutberletsche Buch ist geeignet, dem Leser ein ganz schiefes und lückenhaftes Bild von einer Wissenschaft zu geben, die zwar nicht alle Hoffnungen erfüllt hat, die ein allzugroßer Optimismus in sie gestellt hatte, die aber in dem halben Jahrhundert ihres Bestehens mehr für die Kenntnis der menschlichen Psyche geleistet hat, als die vorwissenschaftliche Psychologie in Jahrtausenden, und deren Bedeutung für das Geistesleben der Gegenwart eine immer steigende ist.

Brinkmann, M., Das Experiment in der Pädagogik. Union, Deutsche Ver-

lagsgesellschaft (Heft 34 der Sammlung: Zur Fortbildung des Lehrers). 648. o. J.

Der Verfasser, Seminarlehrer in Hildesheim, ist der Meinung, daß es zwar

eine experimentelle Didaktik, nicht aber eine experimentelle Pädagogik geben könne.

Obschon prinzipielle Bedenken gegen die Zulässigkeit der experimentellen Methode

nicht erhoben werden können, so kann doch diese Methode nicht auf das ganze Ge- biet der Pädagogik angewandt werden.

In einem besonderen Teil werden die meisten Versuche und ihre Ergebnisse, die sich auf die Pädagogik beziehen, kurz besprochen, indem sie nach den drei Bildungsfaktoren Bildner, Bildungsobjekt und Bildungsinhalt geordnet werden.

Zusammenfassend würdigt der Verfasser das pädagogische Experiment folgender- maßen: »Es ist eine pädagogische Kurzsichtigkeit, in Beziehung auf das pädagogische Experiment behaupten zu wollen, die Pädagogik sei, indem sie den Spuren der neueren Psychologie folgte, in einen Hinterhalt geraten, bis jetzt gebe es kein ein- ziges, von allen Richtungen zugegebenes Resultat. Wie die Erörterung ergeben hat, ist die pädagogische Einsicht in manchen Punkten vertieft worden.«

Doch warnt er vor sechs naheliegenden Gefahren: 1. vor übereiliger Anwen- dung der Ergebnisse und vor zeitraubenden Probeversuchen in den Unterrichts- stunden: 2. vor einer Überschätzung der Didaktik und einer geringeren Betonung des erziehlichen Momentes; 3. vor einer Nichtachtung der äußerst wichtigen Ge- fühlskomponente, die nur in den seltensten Fällen experimentell festzulegen ist; 4. vor einem Übersehen der unkontrollierbaren inneren Hemmnisse, die z. B. bei Aussageversuchen eintreten können; 5. vor Unterschätzung der früheren Methoden »Ein Lorenz Kellner, ein Adolf Diesterweg haben mit den Hilfsmitteln der ‚vulgären Pädagogik‘ unendlich mehr für die Schule geleistet als die neue Pädagogik vielleicht bisher für die Praxis geboten hat;« 6. vor einem Übersehen des hohen Wertes der Lehrerpersönlichkeit.

Henning, Hans, Ernst Mach als Philosoph, Physiker und Psycholog. Leipzig, J. A. Barth, 1915.

Eben geht die Kunde durch die Blätter (Februar 1916), daß Mach auf seinem

Wohnsitz bei München, wo er in geistiger Frische seinen Lebensabend verbrachte,

D. Literatur. 247

die Augen für immer geschlossen hat. Die vorliegende Monographie gibt von seinen Lehren ein vollständiges und objektives Bild.

Machs philosophischer oder erkenntnistheoretischer Standpunkt ist besonders von den Kantianern mißverstanden worden. H. weist nach, daß die physischen und psychischen Elemente, in denen Mach die Elemente der realen Welt und des Ich sieht, daß speziell die Empfindung als psychisches Element von Mach nur als Funktion aufgefaßt wird. Das »Ich« ist für Mach ein Komplex von Empfindungen, den wir aus praktischen Gründen »Ich« nennen. Die Substanz ist nichts außer dem Zusammenhang der Elemente. »Erkenntnis und Irrtum fließen aus denselben psy- chischen Quellen; nur der Erfolg vermag beide zu scheiden. Der klar erkannte Irrtum ist als Korrektiv ebenso erkenntnisfördernd wie die positive Erkenntnis.« Auf psychologischem Gebiet sind besonders zu erwähnen die Arbeiten Machs über den Vestibularapparat des Ohres als Gleichgewichtsorgan, über die Zeit- und die Raumempfindungen. Als Methodiker faßte er die Wissenschaft nach dem Prinzip der Ökonomie auf. »Bei der Wissenschaft kommt es hauptsächlich auf Bequemlich- keit und Ersparnis im Denken an.« Vorläufer Machs findet H. in Pascal, Lichten- berg, Faraday, Maxwell, Joh. Müller, Goethe.

Als zuverlässige Einführung in das Werk Machs ist die vorliegende Mono- graphie sehr geeignet, da sie meistens Machs eigene Worte anführt, um seine Theorien darzustellen.

Peters, W., Über Vererbung psychischer Fähigkeiten Fortschritte der Psychologie und ihrer Anwendungen. LI. Bd. Berlin 1915.

Ein wichtiges Kapitel der Kinderforschung behandelt die umfangreiche Arbeit, die den Assistenten am Psychologischen Institut der Universität Würzburg, Professor Peters, zum Verfasser hat. Um den Einfluß der Vererbung psychischer Fähig- keiten festzustellen, hat er die Schulnoten von Kindern aus ländlichen Bezirken mit denen ihrer Eltern bezw. ihrer Großeltern verglichen, soweit diese erreichbar waren. Seine Untersuchungen beziehen sich auf 1162 Kinder von 344 Elternpaaren. Dazu kommen die Zeugnisse von 177 Großeltern und 11 Urgroßeltern.

Der Grad der Übereinstimmung in den Leistungen wurde in der Regel mit dem Yuleschen Vierfelderkoeffizienten, den Verfasser der bequemen Anwendung wegen vorzieht, oder mit dem Bravais-Pearsonschen Korrelationskoeffizienten oder mit dem Spearmanschen Rangordnungskoeffizienten gemessen.

Es zeigte sich eine weitgehende Übereinstimmung der Zeugnisse der Kinder mit denen der Eltern. Wenn beispielsweise beide Eltern ein Durchschnittszeugnis vom Werte 1 hatten, so hatten die Kinder in 177 Fällen die Durchschnittsnote 1, in 198 Fällen die Note 2, in 51 Fällen die Note 3. während die Noten 4 und 5 überhaupt nicht vorkamen. Hatten beide Eltern die Durchschnittsnote 3, so fand sich die Note 1 bei den Kindern 26mal, die Note 2 133 mal, die Note 3 148mal, die Note 4 Amal, die Note 5 11mal.

Interessanter noch ist das Ergebnis, daß es sich dabei nicht um eine Misch- vererbung, sondern um alternierende Vererbung nach der Mendelschen Regel handelt. Wenn die Eltern etwa Durchschnittsnoten von 1 bezw. 3 hatten, so würden die Kinder, wenn es sich um Mischvererbung handelte, die Note 2 aufweisen müssen. In Wirklichkeit aber folgen sie entweder dem Vater in der 1 oder der Mutter in der 3, oder umgekehrt, aber eine Mischung zeigt sich selten. Von 148 Kindern sind 103 uniparental veranlagt, d. h. sie folgen ganz oder teilweise dem einen Elter, während nur 15 biparental veranlagt sind, d. h. teils dem einen, teils dem anderen Elter folgen.

Ferner zeigt sich, daß die Mütter einen stärkeren Erbeinfluß auf die Kinder ausüben als die Väter. Nur für die Leistungen im Rechnen findet sich öfter Über- einstimmung mit dem Vater als mit der Mutter. Daß allerdings beim Erbeinfluß der Großeltern derjenige des Großvaters der dominierende sein soll, läßt sich mit diesem Ergebnis schwer in Einklang bringen, aber man muß bedenken, daß das Material für die Vererbung von Großeltern nicht genügend ist, um sichere Schlüsse ziehen zu können.

Um die Ähnlichkeit der Leistungen von Geschwistern zu prüfen, wurden Ge- dächtnisversuche, Kombinationsversuche und Versuche über Bewegungsgeschwindig-

248 D. Literatur.

keit in Würzburger Schulen angestellt, in denen Geschwister anzutreffen waren. Sie zeigten eine auffallende Ähnlichkeit in den Gedächtnisleistungen der Geschwister; diese Ähnlichkeit war besonders groß bei Geschwistern gleichen Geschlechts und bei solchen, deren Altersunterschied am geringsten war. Die Leistungen in den Kombinationsrersuchen nach Masselon und in den Versuchen über Bewegungs- geschwindigkeit (Einzeichnen von Kreuzen in die Felder quadrierten Papieres) zeigten jedoch keine besondere Ähnlichkeit.

Die Petersschen Untersuchungen verdienen die Aufmerksamkeit aller, die sich aus erziehlichen oder soziologischen Gründen mit dem Problem der Vererbung befassen. Die Arbeit enthält eine Fülle von Einzelheiten, die sich auf exakte Be- rechnungen stützen. Vielleicht ist der Wunsch berechtigt, daß derartige Schluß- folgerungen sich auf einer noch breiteren Grundlage von Materialsammlung aufbauen könnten, aber immerhin ist hier ein Weg in noch unbebautes Land gebahnt und weitere Arbeiten werden wohl weiteres Material bieten.

Baerwald, Richard, Zur Psychologie der Vorstellungstypen mit be- sonderer Berücksichtigung der motorischen und musikalischen An- lage. Auf Grund einer Umfrage der Psychologischen Gesellschaft zu Berlin be- arbeitet. Leipzig, J. A. Barth, 1916. 444 S. 14 M.

Das Charakteristische der vorliegenden Umfrage liegt in dem Umstand, daß sie sich nur an wissenschaftlich und meistens sogar psychologisch interessierte Kreise wendet. Von 159 Beantwortern waren 99 Herren und 60 Damen. Wenn darum die Zahl der Versuchspersonen zu gering scheint, um deren statistische Angaben zu verwerten, so bietet andererseits die gründliche und verständnisvolle Einzel- beobachtung eine bessere Gewähr für die Zuverlässigkeit der gemachten Angaben.

Baerwald will wirklich an einem praktischen Beispiel zeigen, daß die Me- thode der Enquete, die sonst mit nicht unbegründetem Mißtrauen betrachtet wird, eine wissenschaftlich ganz brauchbare Methode ist, wenn sie mit den nötigen Siche- rungen umgeben ist. Er hat die Fragen, die er zu stellen beabsichtigte, zuerst durch eine Vorprüfung ausprobiert, hat zugleich dieselben mehrmals den Zuhörern volks- wissenschaftlicher Vorträge vorgelegt, um Vergleiche ziehen zu können und hat endlich eine Reihe von Nachfragen gestellt, die sich aus der mangelhaften Beant- wortung einzelner Fragen der ersten Enquête ergaben.

Damit eine Enquête Wert habe, müssen die Fragen eine doppelte Klippe ver- meiden: Sie dürfen weder zu allgemein noch auch zu speziell sein. Als Beispiel einer richtig gestellten Frage mag die folgende gelten: Wollen Sie gefälligst 7 Sätz- chen aus dem Einmaleins z. B. 5 x 5 = 25 und 7 dreistellige Zahlen z. B. 365 leise und ohne wirkliche Bewegung der Sprachorgane überdenken. Während dessen beobachten Sie möglichst genau, ob ein aktives inneres Reden sich bei Ihnen be- merkbar macht, ob Sie irgendwelche »Gefühle«, die den beim Sprechen entstehenden Empfindungen ähnlich sind, in Lippen, Zunge und Kehlkopf haben z. B. beim S- Laut des Wortes »sechs« etwas in der Zungenspitze, beim K-Laut etwas am Zungen- grunde oder weichen Gaumen zu spüren vermeinen ...

Wenn die Selbstbeobachtung an derart genaue und zum Teil objektiv prüf- bare Kennzeichen sich anlehnt, so kann sie, wie die Ergebnisse Baerwalds dar- tun, wissenschaftlich wertvolle Angaben liefern.

Für die Frage der Vorstellungstypen bedeutet die Arbeit Baerwalds einen großen Fortschritt. Vieles ist geklärt, anderes richtig gestellt, manches neu auf- gedeckt worden.

Die bisherigen Untersuchungen haben schon vielfach dem Einfluß des Objektes nicht genügend Rechnung getragen. Das Bild einer Landschaft prägt sich in der Regel visuell ein, auch wenn im übrigen ein anderer Vorstellungstypus vorherrscht.

Was man aber besonders bisher übersah, ist das Vorhandensein eines aktuellen und eines potenziellen Vorstellungstypus. Nach dem ersteren richtet sich das Vor- stellungsleben im normalen Verlauf, beim absichtslosen Denken; der zweite ist als Anlage gegeben und kann sich unter ungewöhnlichen Umständen betätigen, während er sonst im Hintergrunde ist. Läßt man die Versuchsperson eine Zahloperation im Kopfe vornehmen und fragt man dabei: Können Sie die Zahlen während der Operation sehen? so prüft man damit nur den potenziellen Typus, denn durch die Leitung

D. Literatur. 249

der Aufmerksamkeit in einer bestimmten Richtung kann man eine Anlage zum Funktionieren bringen, die für gewöhnlich im Vorstellungsleben keine Rolle spielt.

Es mnß ferner zwischen Lerntypus und Denktypus unterschieden werden. Schon Segal hatte gefunden, daß Vorstellungen beim Buchstabenlernen sich mo- torisch verhielten, beim gewöhnlichen Denken aber durchaus nicht innerlich zu sprechen pflegten. Baerwald bestätigt das und weist darauf hin, daß man nicht mehr das Lautlernen als ein sicheres Zeichen des wortmotorischen Typus ansehen dürfe, weil infolge der Gewöhnung die meisten Menschen beim Lernen stärker wort- motorisch sind als sonst.

Ein weiterer Unterschied ist von St. Paul hervorgehoben zwischen Endophasie und mémoire verbale. Ein und dieselbe Vorstellung kann bei der Erinnerung an gehörte Worte, also bei dem eigentlichen Wortgedächtnis, einem anderen Typus an- gehören als bei dem freien, inneren Gebrauch der Sprache (Endophasie). Aber Baerwald findet die Unterscheidung künstlich.

In bezug auf die Stärke der Vorstellungen eines bestimmten Typus muß die Unterscheidung Segals aufrecht erhalten werden. Das intraindividuelle Verhältnis der Vorstellungen beruht darauf, daß bei einer Vorstellung etwa alle Vorstellungen nur einen geringen Grad von Intensität haben; dann kann ein Typus vorherrschen, dem nur mäßig intensive Vorstellungen entsprechen. Vergleicht man aber mehrere Vorstellungen in bezug auf die Stärke der herrschenden Vorstellungstypen, stellt man also das individuelle Verhältnis auf, so läßt sich nichts Sicheres mehr sagen, weil die Beobachtungen immer nur auf das intraindividuelle Verhältnis gehen.

Wichtig ist der Unterschied zwischen Empfindungs- und Vorstellungsmotorikern. Ersterer vergegenwärtigt sich Erlebnisse durch die Empfindungen von faktischen Be- wegungsansätzen, letzterer durch Reproduktion solcher kinästhetischen primären Ele- mente. Beide aber müsser, entgegen der Meinung Segals, als richtige Motoriker betrachtet werden.

Der motorische Typus als solcher wird bedingt durch Irradiabilität und Stärke der motorischen Reproduktionen. Denn entweder bricht die motorische Reaktion infolge ihrer größeren Stärke nach außen durch, oder eine schwächere kinästhetische Vorstellung findet infulge besonderer Irradiabilität, starker Reflexerregbarkeit und geringer Hemmungen den Weg nach außen offen. Irradiabilität zeigt sich aber weniger beim Gestikulieren, weil dieses vielfach aus Mitbewegungen und nicht aus reinen Auslösungsbewegungen besteht, als vielmehr beim unwillkürlichen Zusammen- schrecken.

Unter den Methoden zur Aufdeckung des motorischen Typus weist Baerwald die viel empfohlene Methode der Störungen als weniger zuverlässig zurück. Wenn akustische, visuelle und motorische Elemente eine feste Amalgamierung eingegangen sind, wie das oft vorkommt, so wirkt eine Störung des motorischen Elementes hemmend auf den ganzen Vorstellungsverlauf, ohne daß darum das motorische Ele- ment vorherrschend zu sein braucht. Er prüft dann weiter den Wert des inneren Redens, des Lautdenkens, des sachmotorischen, des schreib- und zeichenmotorischen Vorstellens für die Aufstellung des gesamtmotorischen Typus und berechnet aus den Antworten der Vorstellungen die Kontingenz dieser einzelnen Faktoren zueinander und zum Gesamtmotorischen.

Als beste Methode empfiehlt Baerwald die der Selbstbeobachtung, allerdings mit gewissen Vorsichtsmaßregeln umgeben.

Weitere Kapitel sind der Psychologie der Musikalischen und den praktischen Gesichtspunkten in der Bewertung der Vorstellungstypen gewidmet. Der Einfluß des Vorstellungstypus auf Charakter, Beruf und psychische Unterschiede der Ge- schlechter wird in feinen Bemerkungen mit sachlichen Belegen gewürdigt.

Es ist nicht möglich, in einem kurzen Bericht die Fälle neuer und lehrreicher Gesichtspunkte anzudeuten, welche die Baerwaldsche Arbeit enthält. Sie bedeutet eine entschiedene Bereicherung der Literatur über die Vorstellungstypen.

Luxemburg. N. Braunshausen.

250 D. Literatur.

Mayer, Heinrich, Kinderideale. Eine experimentell-pädagogische Studie zur Religions- und Moralpädagogik. Kempten und München, Verlag der Jos. Kösel- schen Buchhandlung, 1914.

Die wissenschaftliche Erforschung der Ideale der Kinder bildet den Gegenstand der vorliegenden kinderpsychologischen Monographie. Mayer knüpft in seiner Ar- beit an Meumann an. der uns in seiner 8. Vorlesung zur »Einführung in die ex- perimentelle Pädagogik und ihre psychologischen Grundlagen« (I. Leipzig 1911, 8. 620 ff.) nach einer umfassenden Zusammenstellung aller Untersuchungen auf diesem Teilgebiet der Kinderpsychologie eine lichtvolle, anregende Darstellung seiner eigenen Untersuchungen und ihrer Ergebnisse bietet. Die Untersuchung Mayers erstreckte sich auf 1499 Knaben und 2095 Mädchen im Alter von 9 bis 16 Jahren. Sämtliche Kinder waren katholisch. Den Schülern wurden vier Fragen vorgelegt: 1. die Frage nach dem persönlichen Vorbild, 2. die Frage nach dem Berufsideal, 3. die Frage nach der Lieblingslektüre und 4. die Frage nach dem besten Freund bezw. der liebsten Freundin. Die schriftliche Beantwortung der Fragen seitens der Schulen mußte stets eine Begründung enthalten. Mayer wurde bei der Auswahl der vier Fragen von dem Streben geleitet, den Idealismus im Wunschleben des Kindes und den Idealismus in seinen geistigen und persönlichen Interessen kennen zu lernen und ihn an den höheren oder niedrigeren Motiven zu messen. Meumann erblickt die allgemeine Bedeutung solcher Untersuchungen darin, daß wir die Ent- wicklung einer der wichtigsten Seiten des kindlichen Seelenlebens kennen lernen und an den Idealen der Kinder wertvolle Maßstäbe zur Beurteilung unseres ganzen Erziehungssystems und der idealbildenden Kraft unserer einzelnen Schulen ge- winnen.

Leider haften der von Mayer angewendeten statistischen Forschungsmethode einige Mängel an, welche den Wert der Ergebnisse mindern, Es ist nicht zu billigen, Kinder unter 9 Jahren deshalb von der Untersuchung auszuschließen, weil die Ver- suche mit den jüngeren Kindern »langwierig sinde. Meumann zog Kinder von 6 bis 14 Jahren in den Kreis seiner Untersuchungen. Die psychologische Betrachtung der jüngeren Kinder erfordert allerdings längere Zeit. Mit der statistischen Methode (d. h. der Feststellung der Vorzugsurteile, welche bei einer gewissen Zahl von Kindern auf die einzelnen Ideale fielen und der Ordnung der Ideale nach bestimm- ten Gesichtspunkten) erreicht man bei diesen Altersstufen nicht viel. Die kinder- psychologische Untersuchung ist hier vorzuziehen. Das einzelne Kind wird hierbei in seiner individuellen Eigenart beobachtet und das Auftreten gewisser Ideale in be- stimmten Jahren festgestellt. Meumann ist der Ansicht, daß die zukünftigen Ideal-Untersuchungen mehr als die bisherigen die kinderpsychologische und päda- gogische Seite berücksichtigen müssen. Die Untersuchungen dürften sich also nicht nur wie bei Mayer auf die Feststellung der Kinderideale und der Idealmotive be- schränken, sondern es müßte auch, wie Meumann mit Recht vorschlägt, der Zu- sammenhang der Ideale mit dem Entwicklungsgang des Kindes, mit seiner Anlage und Begabung, seinem Gemüts- und Willensleben, seiner Umwelt, seiner Schule und ihren Lehrfächern Gegenstand der Untersuchung werden. Wie sehr die Aus- wahl der Versuchspersonen das Untersuchungsergebnis beeinflußt, zeigt sich an den Folgen des Umstandes, daß Mayer nur katholische Kinder befragte. Die Antworten auf die Frage nach dem persönlichen Vorbild lassen in der Wahl religiöser Ge- stalten aus der biblischen Geschichte und der Heiligenlegende den Einfluß des ka- tholischen Religionsunterrichtes erkennen. Mayer glaubt durch seine Untersuchungen bewiesen zu haben, daß der Einfluß der Religionsstunden hinter dem des Geschichts- unterrichts keineswegs zurücksteht. Er wendet sich gegen Meumann, welcher auf Grund seiner Untersuchungen mit Kindern der verschiedensten Bekenntnisse zu dem Ergebnis kam: »Die Religion, die Gestalten der biblischen Geschichte, die Heiligen der katholischen Kirche geben weniger Jugendideale als die Persönlichkeiten der Weltgeschichte.«e (Meumann I. S. 626.) Mayer glaubt wahrgenommen zu haben, daß der Religionslehrer mehr »religiös gefärbte Antworten« erhielt als der weltliche Lehrer (S. 14). Ein merkwürdiges Licht auf die Zuverlässigkeit seiner Feststellungen wirft Mayers Erklärung dieser beobachteten Tatsache: »Jede Lehrerpersönlichkeit bringt ihre Gedanken und Ideale mit ins Zimmer. Durch die Gegenwart des Kate- cheten ist das Kind sofort in eine andere Welt versetzt. Ein ganzer Strom von

D. Literatur. 251

Vorstellungen ist ein-, ein anderer ausgeschaltet. Die Kinder sind in seiner Gegen- wart wirklich religiöser. Er suggeriert ihnen seine Gedanken und Ideale durch seine bloße Gegenwart und sein Wort, wie umgekehrt der weltliche Lehrer seinerseits seinen Gedankenkreis auch wieder suggeriert und bei ihm dem Kinde der religiöse Gedanke viel ferner zu liegen scheint, als es vielleicht tatsächlich der Fall ist.« Mayer ist (wie er S. 8 mitteilt) bei seinen Untersuchungen zwar bestrebt gewesen, jede Beeinflussung der Kinder bei der Erforschung ihrer Idealwelt zu vermeiden. Doch scheint seine Idealstatistik nach obiger Äußerung nicht ganz der Gefahr einer unbeabsichtigten Beeinflussung der Kinder entgangen zu sein.

In seinen Tabellen und graphischen Darstellungen faßt Mayer die Jugend vom 13.—16. Jahre in eine Altersstufe zusammen. Diese Zusammenfassung er- scheint nicht einwandfrei, wenn man bedenkt, daß die Kinder dieser Gruppe teils Volksschüler und teils Schulentlassene bezw. Fortbildungsschüler sind. Der Aus- tritt aus der Schule und der Eintritt in das Erwerbs- und Berufsleben übt schon allein ohne die erscheinenden psychophysischen Entwicklungszustände er- fahrungsgemäß einen wesentlichen umgestaltenden Einfluß auf das Denken und die gesamte Charakterentwicklung aus, so daß es nicht rätlich erscheint, die Jugend im Alter von 13—16 Jahren hei einer psychologischen Arbeit zu einer Altersstufe zu vereinen.

Trotz der gerügten Mängel ist die Arbeit reich an treffenden Beobachtungen und pädagogischen Winken. Besonders lehrreich sind der II. Teil: Das Berufsideal und der IIl. Teil: Der Idealismus in der Wahl der Lektüre. Jeder aufmerksame Leser aus dem pädagogischen Kreise erhält hier für die Berufsberatung seiner Schüler und für die Auswahl von Büchern für die Schülerbücherei eine Fülle von wertvollen Anregungen. Der Verfasser hätte ein Wort aus dem 4. Kapitel seines Buches (S. 45) als Leitwort benutzen können: »Es läßt sich nicht alles sagen, was man denkt, und es tritt nicht alles ins Bewußtsein, was an Idealismus in der Seele schlummert.«e Dieses Wort bezeichnet treffend die Grenzen der wissenschaftlichen Erforschung der Kinderideale. Anhangsweise sei noch erwähnt, daß neuerdings der bekannte Nationalökonom Werner Sombart in seinem epochemachenden Werke »Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen« (Mün- chen und Leipzig, Duncker u. Humblot, 1913. S. 222) beim Kinde vier elementare Wertkomplexe, vier Ideale festgestellt zu haben glaubt, welche sein Leben be- herrschen, und die merkwürdigerweise in allen spezifisch modernen Wertvorstel- lungen enthalten sind: 1. die Quantitätsbewertung (das sinnlich Große), die Be- wunderung jeder meß- oder wägbaren Größe, 2. die rasche Bewegung oder die Schnelligkeit irgend eines Geschehnisses (»das Zeitalter des Rekords«), 3. das Neue (»die Sensation«), 4. das Machtgefühl. Der englische Forscher W. Hutchinson unternahm es sogar, in einer Arbeit The growth of the child mind (Educational Times-London, Bd. 40), dem »biogenetischen Grundgesetz« entsprechend, eine Pa- rallele zwischen dem Entwicklungsgang der Ideale der Kinder und der Völker zu ziehen. Bo eröffnet die Bearbeitung des vorliegenden kinderpsychologischen Pro- blems recht interessante Ausblicke in andere Lebensgebiete und regt dadurch zu erneuter Untersuchung an.

Biebrich am Rhein. Hermann Grünewald.

Budde, Gerhard, Noologische Pädagogik. Entwurf einer Persönlich- keitspädagogik auf der Grundlage der Philosophie Rudolph Euckens,. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) 1914. 436 S. Preis 9 M.

Der Verfasser nennt seine Pädagogik »noologisch«. weil er ihr als obersten Standort die zeitüberlegene Geisteswelt oder das Geistesleben Euckens zuweist; sie ist aber auch, wie schon der Untertitel zeigt, eine Persönlichkeitspädagogik, in- sofern nämlich, als ihr oberstes Ziel die humanistische Persönlichkeitsbildung ist; nur muß die humanistische Erziehung auf dem Boden des deutschen Idealismus stehen und sich nicht, wie der Neuhumanismus irrtümlich glaubte, auf das Hellenen- tum aufbauen. Mit dieser Forderung, die übrigens von vielen anderen Pädagogen

(Ferd. Jak. Schmidt, Wilh. Förster usw.) aufgestellt wird, glaubt Budde die

Existenz des humanistischen Gymnasiums zu retten, das gerade in der gegenwärtigen

Zeit große Anstürme erfahren mußte.

252 D. Literatur.

Einleitend bespricht Budde die pädagogische Lage der Gegenwart. Im Vorder- grund des pädagogischen Interesses steht augenblicklich die experimentelle Pädagogik (Meumann f, W. Stern usw.), die nach der Ansicht des Verfassers noch zu jung ist, um ein abschließendes, sicheres Urteil über ihren Wert zu geben. Neben ihr findet sich die Kunstpädagogik (Lichtwark t, Weber) und die Persönlichkeits- pädagogik (Linde, Gansberg, Scharrelmann u. a.). Ob zwei andere Strömungen, die neupestalozzische und die Herbartsche Schule, als nicht mehr »spezifisch charakte- ristisch für die Gegenwart« einfach ausgeschieden werden können, lasse ich dahin- gestellt. Daß aber Budde hier die Heilpädagogik einfach totschweigt, befremdet mich um so mehr, als man im übrigen seinem Werke eine gewisse Gründlichkeit zusprechen muß.

In dem historisch -kritischen Teile seines Buches legt der Verfasser in ein- gehender Weise dar, wie die beiden geistigen Strömungen des Sozialismus und Indi- vidualismus auf die Pädagogik der früheren und gegenwärtigen Zeiten ihren Ein- fluß geltend gemacht haben: die moderne Sozialpädagogik faßt den Menschen zu einseitig als Natur- und gesellschaftliches Wesen. Die Individualpädagogik Nietz- sches und seiner Anhänger bleibt auch innerhalb des menschlichen Kreises stecken, weil sie mit der sozialen Bildung auch alle kosmische Bildung des Menschen ver- wirft. Diesen pädagogischen’ Strömungen fehlt nach der Ansicht Buddes der Aus- gleich zwischen den Forderungen, die von der kosmischen, der sozialen und der individueller: Art des Menschen aus an die Jugendbildung gestellt werden müssen. Diesen Ausgleich findet der Verfasser in der Weltanschauung Rudolf Euckens. Auf dieser fußend gelangt Budde in dem dritten Hauptabschnitte seines Werkes, der »Philosophischen Grundlegung«, zu dem Ergebnis, daß die Pädagogik über die Sozialpädagogik und Individualpädagogik hinausgehoben werden muß zu einer auf noologischer Grundlage ruhenden, d. h. im Geistesleben wurzelnden Persönlichkeits- pädagogik.')

Bevor der Verfasser auf den theoretischen Aufbau seiner noologischen Päda- gogik eingeht, zeigt er, in welcher Weise die verschiedenen geistigen Strömungen, der Naturalismus, Intellektualismus, die Sozialkultur und Individualkultur auf die Pädagogik gewirkt haben. Der Naturalismus, der in Frankreich in A. Comtes und in Deutschland in Wilh. Ostwald seine Hauptvertreter gefunden hat, verlangt, daß die Erziehung sich nur mit der Gegenwart befassen soll, und da der Mensch nichts anderes als ein Naturwesen ist, müssen die Naturwissenschaften im Mittelpunkt des Unterrichtes stehen. Die humanistische Bildung, wie überhaupt jede historische Bil- dung, ist überflüssig. Die Verkehrtheit nud Einseitigkeit dieser naturalistischen Päda- gogik liegt auf der Hand. Sie hat daher auch keinen wirklichen Einfluß auf die Jugendbildung gewinnen können. Anders steht es mit der aus dem Hegelschen Intellektualismus hervorgegangenen Intellektpädagogik. Durch den Intellektualismus, Historismus, Enzyklopädismus und Politismus Hegels ist die formale Bildung, der Gedächtnisdrill und überhaupt die Drilldisziplin in die Gymnasialpädagogik ein- gezogen, worauf viele Klagen über die Schulnöte zurückzuführen sind, die in Wort und Schrift der unermüdliche Trüper stets bekämpft hat und noch bekämpft, jener verdienstvolle Jenenser Pädagoge, der der erste Begründer der Landerziehungsheime ist, nicht Dr. Lietz, wie Budde irrtümlich meint.

In der Sozialpädagogik wird nach Budde das Individuum zu einseitig als Mit- glied der Gesellschaft erzogen, in der Individualpädagogik strebt man nach höchst- möglicher Ausbildung des Individuums; beide Grundfehler vermeidet die noologische Pädagogik, indem sie den Menschen in erster Linie als kosmisches und dann erst als soziales und naturhaftes Einzelwesen auffaßt und dem- entsprechend sich seine Bestimmung und Erziehung von der Geistes- welt vorschreiben, dagegen die Forderungen des sozialen und natur-

1) Die Notwendigkeit eines Gleichgewichts zwischen Individual- und Sozial- erziehung hat übrigens wohl keiner kürzer und klarer dargelegt als Dörpfeld, wie Trüper schon vor mehr als einem Vierteljahrhundert in der Abhandlung »Schule und Gesellschaft« (Jahrb. d. V. f. wiss. Pädag. 1890) und a. a. O. nachgewiesen und aufs neue nachdrücklich betont hat.

D. Literatur.

253 haften Individuums hinter denen des Geisteslebens zurücktreten läßt. Das ist die Grundidee der noologischen Pädagogik, wie sie Eucken in seinem Buche »Grundlinien einer neuen Lebensanschauung« bereits festgelegt hat. Das höchste Ziel der Erziehung ist das humanistische, ihm steht als zweites Erziehungs- ziel die soziale und als drittes die naturhafte Erziehung nach. Als Mittel der Er- ziehung fügt Budde zu der alten Fassung Unterricht und Zucht noch als drittes die Freiheit hinzu, die die Mitte zwischen der Zwangsdisziplin der Autoritätspäda- gogik und der extremen Anarchie zu halten hat. In dieser Beziehung redet Budde dem amerikanischen school-city-system das Wort. Als Grundlage einer künftigen humanistischen Bildung genügt nach Budde nicht mehr die Antike, sondern der deutsche Neuidealismus, wie iin Eucken lehrt. Dementsprechend muß der deutsche Unterricht das Zentralfach aller Schulen werden, der Religionsunterricht muß die Bildung des deutschen Gemütes und Willens geben, der fremdsprachliche Unterricht muß in der Lektüre den Schülern den Gedankengehalt der Schriftsteller vermitteln und weniger die sprachlich-grammatischen Gesichtspunkte betonen usf. Hierin steht Budde wohl im Einklang mit der Mehrheit der heutigen Pädagogen.

Das Kapitel über Jugendfürsorge und allgemeine Volksbildung ist wohl etwas zu kurz behandelt, wiewohl dieser Gegenstand heutzutage eine bedeutende Rolle in der Pädagogik spielt. Recht Treffliches und Wünschenswertes bringt Budde in dem Abschnitt über Lehrerbildung: Die Seminarbildung der Volksschullehrer ist reformbedürftig, mehr Wissenschaft und weniger Drill, Zulassung zum Studium an der Universität, Selbstverwaltung der Volksschule durch Beamte, die aus ihrem eigenen Stande hervorgegangen sind usw. Für die Oberlehrer ist eine weit bessere pädagogische Vorbildung zu fordern. Das setzt aber wieder die Errichtung päda- gogischer Lehrstühle an den Universitäten voraus. »So erscheint die Errichtung pädagogischer Professuren an den Universitäten von den verschiedensten Gesichts- punkten aus als eine Forderung von einschneidendster Bedeutung, deren Erfüllung nicht länger hinausgeschoben werden darf, wenn wir in der doch von allen Seiten als so wichtig anerkannten Frage der Jugenderziehung wirklich weiter kommen wollen«, sagt Budde und stellt damit eine Forderung auf, deren Erfüllung der Heraus- geber dieser Zeitschrift neben vielen anderen Schulmännern der Herbartischen Richtung durch Wort und Schrift seit Jahren angestrebt hat.

Zusammenfassend läßt sich sagen: Buddes noologische Pädagogik vertritt das deutsche Gymnasium und sucht den Forderungen Euckens für Erziehung und Unterricht durch neue Vorschläge gerecht zu werden. Dieser Versuch ist dem Ver- fasser vollauf gelungen.

Berlin- Wilmersdorf. W. Krassmöller.

Hirschfeld, Magnus, Sexualpathologie. Ein Lehrbuch für Ärzte und Stu- dierende. Erster Teil: Geschlechtliche Entwicklungsstörungen mit besonderer Be- rücksichtigung der Onanie. Mit 14 Tafeln, einem Textbild und einer Kurve. Bonn, A. Marcus & E. Weber (Dr. iur. Albert Ahn), 1917. XVI u. 211 S. Preis geh. 8,40 M, geb. 10 M.

1886 erschien im Verlag von Enke in Stuttgart des Grazer Psychiaters R. von Krafft-Ebing klinisch-forensische Studie »Psychopathia sexualis«, da- mals noch ein schmaler Band von wenig über 100 Seiten, dann aber von Auflage zu Auflage an Inhalt und Umfang zunehmend bis zu nahezu 500 Seiten. Die Be- deutung dieses Werkes ist zu bekannt, als daß sie noch besonders betont werden müßte. Aber 30 Jahre moderner naturwissenschaftlicher Forschungsarbeit haben soviele neue Ergebnisse gezeitigt, daß es fast selbstverständlich ist, daß Krafft- Ebings Werk veraltet ist, veralten mußte.

>Den Manen Krafft-Ebings« geweiht erstrebt Hirschfelds »Sexualpatho- logiee für unsere Zeit den gleichen Zweck zu erfüllen wie die »Psychopathia sexualis«e für seine; und nach dem vorliegenden ersten Bande darf man sagen: sie erfüllt diesen Zweck in hervorragender Weise.

In der neueren Medizin ist ein Gebiet in letzter Zeit von allergrößter Be- deutung geworden, nämlich das der inneren Sekretion, auf dem bedeutende Leistungen erzielt wurden, die grade für die Sexualforschung von weittragendster Bedeutung waren. In Hirschfelds Buch »bildet die Lehre von der inneren Se-

254 D. Literatur.

kretion sozusagen das Leitmotiv. In fast jedem Kapitel tönt es wieder. Von dem ersten Hauptabschnitt an, dem Geschlechtsdrüsenausfall, der uns schon grundlegende Einblicke in das endokrine Walten verstattet, ist es der innere Chemismus ın quantitativer und qualitativer Hinsicht, auf den wir immer aufs neue zurückgreifen müssen, um Grad und Art der sexuellen Störungen zu ver- stehen: (S. VI). Wohl auf keinem Gebiete ist der Versuch, psychisches und somatisches Geschehen scharf zu sondern, so aussichtslos wie auf dem Gebiete der Sexualwissenschaft; Seelisches und Stoffliches stehen hier in allerengster Ab- hängigkeit.

Hirschfeld verfügt, wie hinlänglich bekannt, über eine ausgedehnte Er- fahrung in sexualpathologischen Fragen, die ihm möglich macht, sich immer wieder auf selbst gesehene und durchforschte, sehr oft eingehend begutachtete Fälle zu stützen. Er bedient sich dabei der rein klinischen Methode der Bearbeitung (Vor- geschichte, Untersuchung, Beobachtung), Die Einzelbeobachtungen wurden ge- sammelt, gesichtet und zum ersten Male auf diesem Gebiete systematisch geordnet. So behandelt der vorliegende erste Hauptteil zunächst die geschlecht- lichen Entwicklungsstörungen, während der zweite Teil den Störungen der Geschlechtsdifferenzierung und der dritte den geschlechtlichen Ein- drucks- und Ausdrucksstörungen gewidmet sein soll.

Es würde zu weit führen, hier eingehend die einzelnen Kapitel des vorliegen- den ersten Teiles zu würdigen. Nur ganz kurz seien einige Punkte hervorgehoben.

Kapitel I behandelt den Geschlechtsdrüsenausfall, sowohl den ange- borenen wie den erworbenen (Kastration, Sterilisation, Genitalverletzungen im Kriege), Kapitel II den Infautilismus. In Anlehnung an Lasögue, der den Infantilismus als eine durch die Fortdauer der physischen und seelischen Merkmale der Kindheit über die Reifezeit hinaus charakterisierte Hemmungsbildung bezeichnete, unter- scheidet H. vier (einzeln oder verbunden vorkommende) Grundformen: den genitalen, den somatischen, den psychischen und den psychosexuellen Infantilismus. In der gleichen Vierteilung wird im Ill. Kapitel die Frühreife besprochen. Hervorheben möchte ich hier die Unabhängigkeit der seelischen von der sexuellen Frühreife: »Die meisten Kinder mit vorzeitig erwachtem und betätigtem Geschlechtstrieb wiesen geistig nicht mehr als eine gute Durchschnittsbegabung auf, ja von vielen wissen wir, daß sie erheblich dahinter zurückblieben. Letzteres trifft noch in höherem Maße bei der frühzeitigen Entwicklung der primären und sekundären Ge- schlechtscharaktere zu. Hier finden wir sogar verhältnismäßig häufig eine an Schwachsinn grenzende Geistesverfassung vor. Auf der andern Seite sehen wir Falle psychischer Frühreife, bei denen weder der Geschlechtstrieb, noch die Ge- schlechtsteile dem geistigen Entwicklungsgrade, sondern durchaus dem Alter des Kindes entsprechend sind« (S. 80). H. weist darauf hin, daß das Sexualleben so- genannter Wunderkinder noch so gut wie unerforscht ist, ebenso wie wir auch über die eigentlichen Ursachen ihrer hervorragenden Begabung recht wenig wissen. Handelt es sich auch hier um Anomalien der inneren Sekretion? oder einfach um eine Überentwicklung gewisser Hirnpartien?

Im IV. Kapitel schließt sich dann die Besprechung der Sexualkrisen an, von denen hier besonders die Pubertätsneurosen und -psychosen hervorgehoben seien. Bei der Erörterung der Dementia praecox glaubt H., den Grund für ihr häufiges Auftreten in den Entwicklungsjahren darin suchen zu dürfen, »daß das innere Sekret der Geschlechtsdrüsen entweder qualitativ oder quantitativ ab- normal ist oder auf ein an und für sich fehlerhaftes Gehirn trifft, welches auf das als solches normale Sekret krankhaft reagiert« (S. 105).

Kapitel V handelt von der Onanie (eine zwar sehr eingebürgerte aber wissen- schaftlich wenig befriedigende Bezeichnung), für die besser die Bezeichnung »lpsation« allgemein angenommen würde, die eindeutig die Befriedigung von jemandem selbst an sich selbst ausdrücken würde. H. bespricht eingehend die Ursachen, Verbreitung und Häufigkeit, Formen, Diagnose, Folgen, Behandlung. Nach einer Statistik des Autors fällt der Beginn der Onanie vorzugsweise in das Alter von 12—14 Jahren. Mit dem Abschluß der Reifezeit und der Aufnahme regelmäßigen Geschlechtsver- kehrs läßt der onanistische Drang nach und verschwindet bald völlig. Mit allem Nachdruck betont H., daß es eine spezifische Folgeerkrankung der Onanie nicht gibt:

D. Literatur. 255

»die Entstehung irgend einer körperlichen, organischen oder geistigen Erkrankung durch sie ist in keiner Weise erwiesen« 5 162). In dem Abschnitt über die Behandlung der Ipsation erweist sich der Autor als ein feinsinniger Sexualpädagoge, dessen Ausführungen zu folgen ungetrübte Freude bereitet. Wohl betont er, daß die sexuelle Erziehung ein Teil der hygienischen Erziehung sein muß (S. 164), be- deutsamer aber dünkt auch ihm die »Diätetik der Seele« (S. 170). Sexuelle Selbst- beherrschung sich selbst und anderen gegenüber darauf kommt es an! Freilich: eine glatte Lösung des sexuellen Dilemmas, in das sich vor allem der Akademiker mit seinen ungünstigen Heiratsaussichten gebracht sieht, ist (mindestens jetzt noch) ganz ausgeschlossen: »Wir können nichts anderes tun, als im allgemeinen einer Sexualreform vorzuarbeiten, die endlich auf sexuellem Gebiet Biologie und Sozio- logie in Einklang bringt. Bis dahin muß Mann und Weib, jeder einzeln für sich die sexuelle Frage ohne Rechtsverletzungen dritter lösen. Nur wissend sollen sie sein« (S. 177).

Das VI. und letzte Kapitel des 1. Teiles ist dem Automonosexualismus ge- widmet, dem »Verliebtsein« in den eigenen Körper, wohl die verhältnismäßig harm- loseste der mannigfachen sexuellen Anomalien.

Aus diesem Referat geht zur Genüge hervor, von wie großer Bedeutung Hirschfelds Werk für die Pädagogik überhaupt wie insbesondere für die gesamte Anormalenpädagogik ist. Sie gehört nicht nur in die Hand des Arztes, namentlich des Sexologen und Psychiaters, sondern auch in die Hand der Lehrer und Erzieher unserer psychopathischen Individuen, die ja vor allem geschlechtliche Entwicklungs- störungen darbieten. Weiterhin glaube ich, daß man jedem Juristen und Sozial- politiker (im weitesten Sinne!) einen Dienst erweist, wenn man ihn auf das Studium dieses ausgezeichneten lebenswahren Werkes hinweist. Wohl darf der Verfasser im Vorwort mit Recht sagen: »Trotzdem wird man in diesem Buche nach Klage und Anklage vergeblich suchen. Ich habe mich befleißigt, alles zu vermeiden, was als Mangel an kühler Sachlichkeit angesehen werden könnte« (S. IX). Schon Krafft-Ebing mühte sich, das Pathologische im Sexualleben als solches zu all- gemeiner Anerkennung zu bringen. Bisher gelang das nicht, und fast könnte es scheinen, als ob man die unglücklichen pathologischen Geschöpfe nicht nur an ihrer Triebabweichung, sondern weit mehr poch unter der üblichen Verkennung weiter leiden lassen will, weil es Menschen gibt, die die Wahrheit nicht vertragen oder nicht vertragen zu können glauben. Vielleicht ist Hirschfelds »Sexualpathologie« berufen, hierin endlich Wandel zu schaffen: durch Verstehen führt der Weg zur Liebe, die wir jedem Mitmenschen schulden und entgegenbringen sollten.

Berlin-Lichtenberg. Karl Wilker.

Moede, Walther, Die Untersuchung und Übung des Gehirngeschädigien nach experimentellen Methoden. Beiträge zur Kinderforschung und Heil- erziehung. Heft 135. Langensalza, Hermann Beyer & Sölıne (Beyer & Mann), 1917. 125 Seiten. Mit 44 Textabbildungen. Preis 4,50 M.

Die beiden ersten grundlegenden Kapitel dieser Schrift sind den Lesern aus Jg. XXII, Heft 1, S. 1—27 bekannt. Im 3. Kapitel bespricht M. die Empfindungs- maße der psychologischen Praxis sowie ihre Bestimmung. Daran schließt sich dann die eingehende Besprechung der verschiedenen Untersuchungsmethoden. Den Schluß bildet eine kurze Literaturzusammenstellung.

M. bezeichnet sein Buch als einen Leitfaden, von dem er erhofft, daß durch ibn der psychologischen Praxis zahlreiche Freunde zugeführt werden. Er rechnet dabei besonders auf die Leiter und Lehrer von Hilfsschulen und Erziehungsanstalten für Schwachsinnige oder Psychopathen. Es wäre gewiß zu begrüßen, wenn das Interesse für die psychologische Praxis in diesen Kreisen durch M.s Arbeit belebt würde. Wünschenswert erscheint uns dann aber bei einer in Anbetracht der Wichtigkeit der Gehirngeschädigtenfürsorge sicher alsbald erforderlich werdenden Neuauflage eine Erweiterung: eine Darstellung des Gehirngeschädigten in allgemeinen Zügen erscheint uns für das Buch geradezu unentbehrlich. In seiner jetzigen Form gibt es nur eine bloße Methodendarstellung begrüßenswert wegen ihrer knappen und praktischen Anordnung.

Berlin-Lichtenberg. Karl Wilker.

256 D. Literatur.

Sickinger, Dr. A., Der Differenzierungsgedanke in seiner Anwendung auf die Genesendenkompagnie. Sonderabdruck aus der Zeitschrift für päda- gogische Psychologie. 17. Jahrg. Heft 9. Leipzig, Verlag Quelle & Meyer, 1917. 18 S. Preis 0,50 M.

Dörpfeld hatte einmal in jüngeren Jahren die Absicht, seinen Lehrerberuf in der Schule aufzugeben und Offizier zu werden; nicht, weil ihm der Lehrer- und Erzieherberuf zuwider war, sondern weil er ihn für so bedeutsam hielt, daß er, der vaterländisch für Preußen-Deutschland und seinen großen Führer Bismarck auch zu der Zeit, wo diesem eine deutsche Lehrerversammlung am Vorabend noch ein Pereat brachte so sehr Begeisterte, hoffte, unterrichtlich-erziehlichen Geist in das Militärleben hineintragen zu können und zu müssen, und wer früher selbst oder jetzt gelegentlich oder durch gute, gleichgesinnte Freunde einen näheren „Einblick in die Kaserne und das Kasernenleben mit der Rekrutenausbildung getan, der wird ohne Frage den Wunsch haben, neben allen bisherigen Maßnahmen der vortreff- lichen Ausbildung doch etwas mehr von wahrer Unterrichts- und Erziehungskunst unter die Soldatenbildner verbreitet zu sehen. Der große Krieg hat manchen Lehrer und Erzieher zum Unteroffizier und Offizier gemacht, und soweit Urteile über die militärische Tüchtigkeit der Lehrerwelt verlautbart wurden, hat sie sich um die militärische Ausbildung in der Tat besonders verdient gemacht.

Das vorliegende kleine Schriftchen ist auch ein Beweis dafür.

Prof. Dr. Sickinger, Stadtschulrat in Mannheim, hat seine organisatorischen Gedanken über das Schulwesen mit den verschiedenartig Begabten auf das Militär- wesen übertragen, und zwar auf die Genesendenkompagnie. Es ist interessant, das im Einzelnen in dem kleinen Schriftchen nachzulesen, und uns freut es, daß das stellvertretende Generalkommando des X1V. Armeekorps in einer eingehenden Ver- fügung die genannten pädagogisch-psychologischen Ideen Sickingers übernommen und sie für die Genesendenkompagnie fruchtbar gemacht hat. Und nicht minder interessant ist der Beschäftigungsplan, den Sickinger hier mit zum Abdruck bringt, und den er für die von ihm geführte Genesendenkompagnie entworfen hat.

Möge das kleine Schriftchen nicht bloß bei den »Schulmeistern«, sondern bei den Unteroffizieren, Offizieren und Arzten in Heer und Flotte die entsprechende Beachtung finden!

Wer sich aber für die Schulorganisationsarbeiten Sickingers näher inter- essiert, den verweisen wir auf folgende grundlegende Schriften Sickingers:

»Über naturgemäße Organisation des großstädtischen Volksschulwesens im all- gemeinen und über das Mannheimer Volksschulsystem im besonderen« (Selbstverlag des Frankfurter Lehrervereins 1913), »Das Mannheimer Schulsystem und der Auf- bau des Gesamtschulwesens der Stadt Mannheim« (in Petersen, »Der Aufstieg der Begabten.« Leipzig, B. G. Teubner), sowie auf die Kritik dieser Sickingerschen Bestrebungen durch unseren früheren Mitarbeiter auf der Sophienhöhe und jetzt in französischer Gefangenschaft in Südfrankreich sich leider befindenden Leutnant Dr. W. Heinecker, »Das Problem der Schulorganisation auf Grund der Begabung der Kinder« (Heft 113 der »Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung«. Langen- salza, Hermann Beyer & Söhne [Beyer & Mann]. 83 Seiten. 1,50 M).

Trüper.

Eingegangene Literatur.

Schulze, Eduard, Die Berufsbildung des Hilfsschullehrers. Ein Wegweiser durch die Vorarbeiten zur Hilfsschullehrer-Prüfung und durch die Literatur der Heil- pädagogik und ihrer Grenzwissenschaften. (Auf Grund der Prüfungsordnung vom 1. Okt. 1913.) Halle 1917. VIII und 207 8. 2,50 M.

Pädagogischer Jahresbericht und Pädagogische Jahresschau für 1914/15. Leipzig 1916. 70 S. 1,20 M.

Bericht des Fürsorgeverbandes Leipzig über das Jahr 1915.

Sellmann, Prof. Dr. Adolf, Das Seelenleben unserer Kriegsbeschädigten. Witten a.d. Ruhr, Verlag Eckart (H. Nijhuis), 1916.

Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.

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A. Abhandlungen.

1. Die Lehre vom Lernen.

Friedrich Wilhelm Dörpfelds Theorie des Neulernens und Einprägens, gemessen an den Forschungsergebnissen der neueren Psychologie.

Ein Beitrag zu den experimentellen Untersuchungen über den Lernprozeß. Von Dr. phil. Heribert Kley.

Friedrich Wilhelm Dörpfeld wurde am 8. März 1824 zu Selscheid (Kreis Lennep) als Sohn eines Hammerschmiedes geboren. Der Knabe besuchte zunächst die eine halbe Stunde entfernte Pohlhauser Bezirks- schule, vom elften Jahre ab jedoch die zu Burg an der Wupper. Bis zu seinem 16. Jahre verblieb er hier bei dem Lehrer vom Werth, »dem Musterbild eines wackern Lehrers«, wie ihn Dörpfeld selbst nennt, bei dem er auch Privatunterricht in Französisch, Mathematik, Zeichnen und Musik erhielt. 1840 bezog der Sechzehnjährige die Präparandenanstalt des Direktors Zahn auf Fild bei Mörs. Im folgen- den Jahre finden wir den angehenden Lehrer nach damaliger Ordnung als Hilfslehrer, und zwar bei seinem früheren Lehrer in Burg; er trat dann am 30. September 1842 in das Seminar zu Mörs ein. Nach Absolvierung desselben verblieb Dörpfeld vier Jahre am Knaben- institut seines Direktors Zahn, um anfangs Mai 1848 ohne sein Zutun und ganz unerwartet sein erstes öffentliches Schulamt auf dem Heydt anzutreten; seit 1849 war er Hauptlehrer, später Rektor zu Wupper- feld (Barmen). Im Herbst 1879 entschloß er sich auf ärztlichen Rat, um seine Entlassung aus dem Schuldienst einzukommen, und starb am 27. Oktober 1893 zu Ronsdorf bei Barmen.

Zeitschrift für Kinderforschung. 22. Jahrgang. 17

258 A. Abhandlungen.

Dörpfeld war ein Meister, der neben Comenius, Pestalozzi, Her- bart, Diesterweg u. a. in einer Reihe genannt zu werden verdient. Obwohl er nur die Volksschule und das Seminar besucht hatte, er- warb er sich eine tiefe philosophische Bildung und war einer der interessantesten und bedeutendsten Pädagogen, die Deutschland gehabt hat; daneben entwickelte er eine überaus fruchtbare schriftstellerische . Tätigkeit. Als wertvolle Beiträge zur pädagogischen Psychologie seien erwähnt seine beiden Werke: »Denken und Gedächtnise und »Die schulmäßige Bildung der Begriffe«.. Wichtig ist aber auch »Der di- daktische Materialismus«, ein Werkchen, das den Schriftchen Reins und den darin vertretenen Herbart-Zillerschen Ideen die Türen vor allem in den westlichen Provinzen öffnete (Vogelsang S. 8). Dörpfeld war nämlich, wenngleich er eine etwas freiere Stellung einnahm, ein entschiedener Anhänger Herbarts. »Herbarts Gedanken den an philo- sophische Spekulationen nicht Gewöhnten zugänglich zu machen, war eine schwere Aufgabe, die bis jetzt niemand besser und erfreulicher gelöst hat als Dörpfeld«, sagt der badische Oberschulrat Dr. von Sall- würk. Aber auch an höchster Stelle wurden Dörpfelds Arbeiten ge- würdigt, wie zur Genüge aus dem Beileidsschreiben des Kultusministers an die Tochter Dörpfelds vom 7. November 1893 hervorgeht: »... der Verewigte hat mit einer Hingebung und Treue für die Schule gewirkt, welche bleibende und gesegnete Früchte für dieselbe gezeitigt hat. Sein Andenken wird jederzeit bei der Schulverwaltung in hohen Ehren gehalten werden« (Carnap S. 414).

Meine Aufgabe ist es nun zu zeigen, wie weit Dörpfelds Lehre vom Lernen heute noch Gültigkeit hat, mit anderen Worten, wieweit seine Ansichten mit den Ergebnissen der experimentellen Psychologie in Einklang stehen, um so eine gesicherte und bestimmte Lehre vom Lernen zu gewinnen.

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Lernen ist nach Dörpfeld »ein psychischer Vorgang, der in streng naturgesetžlicher Weise verlaufen muß, wenn durch ihn der Beitrag zum Geistesieben des Zöglings erlangt werden soll, den man sich von ihm verspricht« (Didakt. Material. S. 73 f.). Seine Theorie des Lehr- verfahrens fußt zwar auf Herbart, geht aber, was die logische Gliederung und die Ausdrücke für die formalen Stufen betrifft, ihre eigenen Wege (Vogelsang, S. 8), Der Unterricht umfaßt nach Dörpfeld zwei Haupttätigkeiten:

A. das Neulernen, B. das Einprägen.

Kley: Die Lehre vom Lernen. 259 Beim Neulernen unterscheidet er wieder drei Hauptoperationen, Stationen oder Stufen: I. das Anschauen, I. das Denken, II. das Anwenden.

Seine Ausführungen über das Lernen knüpft er also zweifellos an die sogenannten Formalstufen an, wie er überhaupt die oben ge- forderte »streng naturgesetzliche Weise« nicht zuletzt mit ihrer Hilfe erreichen will (Denken und Gedächtnis S. 87 und Grundlinien einer Theorie des Lehrplanes S. 31 f.) Eine Betrachtung der Formal- stufen ist also in diesem Zusammenhange nicht zu umgehen.

Die erste Stufe, das Anschauen, umfaßt bei Rein zwei selbständige Operationen, die Vorbereitung und die Darbietung. Herbart und Ziller haben ebenfalls hier zwei Stufen, Analyse und Synthese, die sie aber unter den Begriff der Klarheitsstufe zusammenfassen. Die Bezeichnung Analyse hat Ziller deshalb für ersteren Unterakt gewählt, weil durch die einleitenden Vorfragen die gewünschten älteren Vor- stellungen aus ihren bisherigen Verbindungen herausgelöst, analysiert werden, während durch die Synthese, durch das Vorführen der neuen ° Anschauungen, ein neuer Gedankenkreis synthetisch zusammengesetzt und aufgebaut wird (Didakt. Material. S. 78). Auch Dörpfeld steht auf dem Standpunkt, daß, falls das Anschauen, ob sinnlich oder phantasiemäßig, gut und ganz gelingen soll, die neuen Vorstellungen nicht als etwas gänzlich Neues und daher isoliert im Geiste Platz nehmen dürfen, sondern sie müssen sich den vorhandenen Vor- stellungen, zu denen sie in näherer Beziehung stehen, richtig an- und einfügen (Didakt. Material. S. 78). Mit anderen Worten: Auch er fordert, daß in der Anschauungsoperation dem Darbieten des Neuen ein Vorakt, die Vorbereitung oder Einleitung, vorhergeht (Denken und Gedächtnis S. 97). Rein begründet diesen Vorakt ähnlich, indem er darlegt, daß der Zögling, falls dieser lebendige Hintergrund beim Unterricht fehlt, sich dem Unterricht gegenüber stumpf, gleichgültig, interesselos verhält. Bei der unvermittelten Darbietung des Neuen würde dem Kinde auch die eine oder andere von den apperzipieren- den Vorstellungen einfallen; ob aber allen auch gerade das Beste, Wichtigste einfällt, sei eine andere Sache; die Erfahrung spräche jedenfalls dagegen, und der Unterricht könne doch seine Erfolge nicht vom Zufall abhängig sein lassen (Rein, Pädagogik III S. 251 f.). Ebenso ist nach Busemann das beste Mittel, die Behaltfähigkeit zu steigern, die Fähigkeit alte Assoziationen zu benutzen (Busemann

17*

260 A. Abhandlungen.

S. 269). Meumann (Vorlesungen III S. 425) fordert nun zwar auch Anknüpfung an das, was dem Interesse- und Beobachtungskreis des Kindes entspricht, jedoch möge man sich hüten, diesen Gesichtspunkt zu einseitig material zu verstehen, als eine Anknüpfung an die heimatliche Umgebung des Kindes, woran aber weder Dörpfeld noch Rein gedacht haben. Viel wichtiger wäre seine formale Be- deutung: Anknüpfung an das, was das Kind von seiner Umgebung verstehen und verständnisvoll verarbeiten kann. Zudem dürfe aber auch nicht übersehen werden, daß der Erwerb des Neuen und des Unterscheidenden an den Dingen viel wichtiger und zugleich viel schwieriger für das Kind sei als die Weckung der Apperzeptionshilfen aus dem Bekannten. Letzterer Einwand ist jedoch ziemlich hinfällig, da diese Forderung sicherlich dem weiteren Unterricht vorbehalten bleibt und die Aufgabe der nächsten Stufe der Unterrichtseinheit ist. Ferner führt Meumann (Vorlesungen III S. 406) aus, daß die Ent- wicklung des Anschauens nur zum Teil von dem ausgeht, was vor die Sinne des Kindes gebracht wird, was wiederum für Dörpfeld etwas ganz Selbstverständliches war. Meumann aber sieht im Gegensatz zu Rein und Dörpfeld in der Anknüpfung an das Bekannte sogar etwas Gefährliches, weil u. a. an diesem Haften am Bekannten und Gewohnten bei der Sinneswahrnehmung eine allgemeine mensch- liche Trägheitstendenz der Wahrnehmung, eine Scheu vor dem eigent- lichen Beobachten hervortrete. Jene Anknüpfung vollziehe sich schon von selbst, weil der bloße Anblick der Dinge notwendig sofort alle früher erworbenen Reproduktionstendenzen aktuell mache (Meumann, Vorlesungen III S. 408 f.) Auch für Habrich steht es fest, daß bei frischer und aufmerksamer geistiger Tätigkeit die Apperzeption auch von selbst stattfindet, ohne daß sie erst vom Lehrer absichtlich ein- geleitet wird. Ich bin jedoch der Meinung, daß dieser Standpunkt Meumanns und Habrichs nur dann bis zu einem gewissen Grade Geltung hat, wenn man geweckte und reifere Schüler vor sich hat, daß aber sonst die obige Begründung Reins wohl die richtige ist, zumal wenn es auf Einheit und Genauigkeit, auf Klarheit und Zu- sammenhang im Unterricht ankommt und wenn der Lehrer seinen Unterricht als zielbewußte Kunst betätigen will. Im übrigen aber er- kennt auch Habrich (I S. 136 ff.) im großen und ganzen die Ansicht Reins und Dörpfelds an, wenn er lediglich bestreitet, daß eine solche absichtliche Vorbereitung stets unbedingt notwendig sei, also nicht für eine so streng stets zu befolgende Regel ist. Aber gerade dies ist auch stets mit Nachdruck von Dörpfeld betont worden. Meumann bleibt gegen ihn etwas zurück, da er mit seiner Kritik im Sinnlichen

Kley: Die Lehre vom Lernen. 261

stecken bleibt, wie die experimentelle Psychologie überhaupt die Sinneswahrnehmungen als ihr Hauptgebiet bearbeitet, während Dörp- feld in gleichem Maße an die innere Anschauung, an das Nicht- mehr-Sinnliche denkt.

Im zweiten Akte der Anschauung, der Darbietung des Neuen, ist eine möglichst anschauliche, in Einzelheiten eindringende Auffassung zu erstreben, wobei neben der erzählenden Darstellung auch die freie Unterredung mitwirken muß. Diese zwei Mittel der Dar- bietung, Erzählen und Unterreden, dürfen aber nur ein einigendes Ganzes bilden. Die didaktische Bedeutung der mitwirkenden Unter- redung liegt darin, daß die Selbsttätigkeit der Kinder in vollem Maße geweckt und herangezogen wird. Die Seele des Kindes muß die Vorgänge mit der vollsten Teilnahme begleiten, kurz, die Geschichte muß gleichsam mit durchlebt werden. Das Buch ist auf die Dauer ein Damm, der sich aufwirfi zwischen Lehrer und Schülern. Ver- fehlt ist es deshalb auch nach Dörpfeld, wenn der Lehrer auf der oberen Stufe die Erzählung von den Schülern lesen läßt und nicht selbst mündlich vorträgt. Alles Neulernen soll durch das lebendige Wort des Lehrers, nicht durch ein Buch geschehen (Denken und Gedächtnis S. 170 u. Didakt. Material. S. 112). Auf der Mittelstufe könne allerdings das Lesen eine namhafte Hilfe gewähren; jedoch dürfe auch hier das Lesen erst beginnen, wenn die Kinder mit dem Inhalte des Lesestücks vertraut gemacht sind (Ges. Schriften IV, S. 52). Nach Meumanns Versuchen (Ökonomie S. 204) ist aber das Lernen nach dem Lesen für Kind wie für Erwachsenen in der Regel leichter als das Lernen nach Vorsprechen, zu welchem Resultat er wiederum kommt durch das Mechanische, durch das, was das Experi- ment erfordert, durch die Übung mit sinnlosen Silben. Dörpfeld hin- gegen denkt ja gar nicht an ein bloßes Vor- und Nachsprechen: er will Geistbildendes. Eine gewisse Einschränkung erleidet allerdings auch nach Meumann jene Regel durch die Abhängigkeit des Lernens von der individuellen Begabung der Versuchsperson, insbesondere ob sie akustisch oder visuell ist. Aber auch dessen ungeachtet darf man, wie Meumann (Ökonomie S. 205) richtig bemerkt, nicht sogleich folgern, daß es auch für das Lernen einer Schulklasse vorteilhafter sei, die Kinder stets lesend lernen zu lassen, weil mancherlei sekun- däre Umstände dazukommen, die diese Regel erschüttern können, z. B. der Umstand, daß das hörende Lernen nach dem Vorsprechen des Lehrers mehr den Charakter einer gemeinsamen und gleichen Arbeit der ganzen Klasse trägt, während beim Lesen das einzelne Kind

962 A. Abhandlungen.

sich selbst überlassen ist. Mit anderen Worten: Auch Meumann muß Dörpfelds Ansicht bestätigen, wie es denn auch heute allgemeines Evangelium ist, nach Möglichkeit ohne Buch zu lehren bezw. den Kindern das Neue einzuprägen, und zweifellos wird die Aufmerksamkeit dadurch nicht wenig gesteigert. Die Bedeutung des Lesens in der Lektürstunde kann jedoch nicht genug gewürdigt werden. Das gute Lesen des Lehrers führt besser in das Verständnis des Stoffes ein wie alle Erklärungen. Es muß vor allem deutlich, logisch richtig und empfindungsvoll gelesen werden. Die Schüler sollen beim Lesen eben schauen und empfinden; der Inhalt soll von Geist und Gemüt auf- genommen werden. Bei wissenschaftlicher Prosa soll der Verstand den Gedankengang scharf erfassen.

Auf der Oberstufe fordert aber Dörpfeld, daß für die Durchführung der vollen Durcharbeitung des von unten auf Gelernten ein Frageheft den Mittelpunkt des Unterrichts bilden müsse, und zwar sei dieses Lehrmittel allseitig, sachlich und sprachlich auszunutzen (Ges. Schriften IV, S. 54). Er erläutert die Benutzung des Frageheftes an Hand des biblischen Unterrichts. Zuerst hat des Lehrers mündlicher Vor- trag der biblischen Geschichte die Benutzung des Frageheftes vorzu- bereiten, also freier mündlicher Vortrag, nicht an Hand des Buches. Die erste Wiederholung an der Hand des Frageheftes soll in der Schule geschehen, nämlich so, daß die Antworten aus dem Historien- buch gelesen werden. Für die häusliche Repetition sei das Frageheft unersetzbar. Zudem biete es Gelegenheit, die Schüler in nützlicher Weise schriftlich zu beschäftigen, und ferner habe es auch einen be- deutenden Gewinn für die Sprachbildung (Ges. Schriften II, S. 39 ff. und S. 114).

Die Frage ist ohne Zweifel ein wirksamer Erreger von Urteilen. »Wer richtige und treffende Fragen stellen kann, besitzt den an- gemessenen Fingersatz der Methodik« (Matthias). Nur die sogenannten W-Fragen sind zulässig. Alle Fragen haben mit dem Fragewort zu beginnen. Jedoch ist es nicht gut, von den Schülern allzu rasche Antworten zu verlangen, wie hinreichend aus der experimentellen Forschung hervorgeht (vergl. Meumann, Vorlesungen I S. 516 f.). Die rascheste Antwort stellt den ersten und wertlosesten Einfall dar. Obige Forderung hat Dörpfeld allerdings, wie wir noch sehen werden, auch stets mit Nachdruck vertreten. Das Fragen kann ferner im Unterrichte eine suggestive Nebenwirkung haben. Finden wir doch selbst bei erwachsenen Menschen nicht selten Individuen, die sich durch bloßes Fragen beeinflussen lassen, in ihren Ansichten sowohl wie in ihren Entschließungen. Für die so suggestible Kindes-

Kley: Die Lehre vom Lernen. 263

natur ist die Frage in den meisten Fällen nicht bloß der intellektuelle Reiz zu einer allein durch das Wissen und das Urteil bestimmten Antwort, sondern sie wirkt je nach der Persönlichkeit des Frage- stellers, nach der sprachlichen Form, ja nach dem bloßen Tonfall der Frage auch mehr oder weniger zugleich auf Gemüt und Willen, auf Zuversicht und Vertrauen des Kindes ein, sie kann die Vorgänge, die zur Bildung seiner Antwort führen, fördern oder hemmen, an- leitend oder irreführend beeinflussen (Meumann, Vorlesungen I S. 650).

Über Einzelfragen bei der Wiederholung und Neubehandlung der Unterrichtsstoffe hat Rektor Zimmermann in Jena soeben »Leit- sätze« aufgestellt, denen ich im großen und ganzen beipflichten kann: ganz entbehrt können Einzelfragen naturgemäß nicht werden, z. B. zur Herausarbeitung und Hervorhebung bestimmter Vorstellungen, zur Berichtigung, Aufklärung; sie sind unentbehrlich, »wenn das Denken stille steht oder in falsche Bahnen einlenkt,« und sie sind jedenfalls berechtigt in sprachlich-grammatischen Betrachtungen.

Die Häufung der Einzelfragen ist jedoch nachteilig, da es dem Kinde schwer wird,

l. Gedanken in geordneter Reihenfolge wiederzugeben,

2. diese oder jene Gedanken aus einem Ganzen auszulesen,

3. Gedanken, die es nicht besonders eingeprägt hat, zusammen- hängend wiederzugeben,

4. Gruppen von Gedanken zu überschauen,

5. die Beziehungen zu erkennen, in denen ein Gedanke zu andern

derselben Gruppe steht.

Die Häufung der Einzelfragen kann, ja sie muß vermieden werden, wenn es dem Kinde zur Gewohnheit geworden ist, eine Fülle von Begrifflichem zu verwenden.

Der bedeutende Wert der Frage im Unterricht ist über jeden Zweifel erhaben. Doch hat man in neuerer Zeit mit Recht auch die große Bedeutung anderer Unterrichtsimpulse, wie Befehle, Aufforde- rungen, Ellipsen u. dergl. mehr für die Schulung des Denkens er- kannt (Stößner S. 124), was aber Dörpfeld auch nicht bestreitet. Hin- ` weisen möchte ich aber vor allem auf die Wichtigkeit des Symbols, das so wenig im Unterricht verstanden und bewertet wird, z. B. nicht im elementaren Rechenunterricht, wo die Ziffer Symbol ist, ja auch Kugeln, Finger usw. es werden. Für alle Zeiten müssen auch hier Goethes Worte Gültigkeit haben: »Das ist die wahre Symbolik, wo das Besondere das Allgemeine repräsentiert, nicht als Treue oder Schatten, sondern als lebendige, augenblickliche Offenbarung des Un- erforschlichen.e Mit der Forderung eines eigentlichen Frageheftes,

264 A. Abhandlungen.

wie Dörpfeld es für die biblische Geschichte in seinem »Enchiridion « und in seinen Frageheften für Natur- und Gesellschaftskunde an- gelegt hat, kann ich mich aber nicht befreunden. Mit Recht sagt ein Ministerialerlaß, daß der Lehrer sich vor den zerpflückenden Fragen in Acht nehmen soll. Und die Fragen Dörpfelds sind, nament- lich in der neuesten Auflage (vergl. Ges. Schriften III, S. 115 f.) tatsächlich zu sehr ins einzelne gehend, die Antworten werden dem Kinde gleichsam in den Mund gelegt, das Denken wird wesentlich beeinträchtigt. Und doch will er gerade durch das Frageheft dem monotonen gedankenlosen Lesen biblischer Lesestücke wehren und ein sinniges und gutes Lesen fördern (Ges. Schriften III, S. 113). Es müßten denn auf alle Fälle die Fragen in der Hauptsache Auf- gaben enthalten und Gliederungen des Lernstoffes angeben, also zum logischen Nachdenken beim Lesen und Einprägen anhalten, was Dörp- feld grundsätzlich auch will, obwohl es ihm im einzelnen nicht immer gelungen ist. Für die einklassige Schule tut das Frageheft jedenfalls seine Dienste, wenn die Schüler schriftlich beschäftigt werden sollen.

Als eine besondere Form der Darbietung nimmt Rein (Pädagogik III S. 258 f.) den entwickelnd darstellenden Unterricht heraus. Dieser ist nun nach Herbart und Ziller in seiner Anwendung beschränkt: bei Herbart auf die Lehrstoffe, die sich besonders vorteilhaft in das Licht der eigenen Erfahrung des Schülers stellen lassen, bei Ziller auf die Lehrstoffe, für die eine klassische Quelle nicht vorhanden ist oder aus pädagogischen Gründen nicht durchweg benutzt werden kann oder dem kindlichen Verständnis nicht erreichbar ist. Dörpfeld aber geht weit über diese beiden hinaus, indem er den darstellenden Unter- richt nicht auf einzelne besonders hierzu geeignete Lehrstoffe be- schränkt, sondern auf den gesamten Unterricht, soweit er nicht ana- lytischer Anschauungsunterricht ist, angewendet wissen will. Der entwickelnd darstellende Unterricht ist für ihn die Normalform, die auch da anzuwenden ist, wo ein klassischer Text (wie z. B. biblische Geschichte) oder ein Gedicht vorliegt, indem der Inhalt zunächst dar- stellend zu entwickeln ist und dann erst in seiner klassischen Form an die Schüler herangebracht wird (Rein, Pädagogik III S. 262 f.). Der Schüler soll auf diese Weise immer »zu sehen glauben«, wie Herbart es ausdrückt; der Lehrer soll die Vorgänge und Dinge auch vor dem inneren Auge des Schülers »darstellen«.

Mit Recht legt Dörpfeld auf die Anschauung als das Fundament aller Erkenntnis den größten Wert. Die Anschauung ist es, wovon die Entwicklung des Denkens zuerst und zuletzt abhängt (Ges. Schriften I, S. 24).

Kley: Die Lehre vom Lernen.

265 Wir haben nun eine zweifache Anschauungsvermittlung, nämlich von solchen Stoffen, die sinnlich vorführbar sind und von solchen Stoffen, die nicht sinnlich vorgeführt werden können. Zur Vermittlung der sinnlich vorführbaren Stoffe gibt Dörpfeld sechs Mittel an die Hand: Zunächst führt der Lehrer dem Schüler die Objekte, womöglich in natura vor, und dieser schaut sie an. Der Lehrer zeigt auf jedes Merkmal und fragt nach demselben. Wo es zum Zwecke einer genauen Auffassung erforderlich ist, werden einzelne Teile des Objekts mit den entsprechenden Teilen eines anderen Objekts ver- glichen. Die Teile, die zu klein oder verdeckt sind, werden in ver- größertem Maßstab an die Tafel gezeichnet und vom Schüler nach- gezeichnet. Schließlich verhilft der Lehrer dem Schüler zu einer ge- ordneten Gesamtanschauung, indem er die einzelnen Teile in ihrem Verhältnis zueinander und zum Ganzen auffassen und in eine logische Disposition bringen läßt. Welche von diesen Mitteln in jedem ein- zelnen Falle angewendet werden können, ergibt sich aus der Natur des Unterrichtsgegenstandes. In ihrer Gesamtheit finden diese Maß- nahmen nur bei den Naturgegenständen ihre Anwendung (vergl. hier- zu auch Hindrichs S. 87).

Wie die Vermittlung der Anschauung bei sinnlich nicht vorführ- baren Stoffen geschehen soll, zeigt Dörpfeld an der biblischen Ge- schichte. Zu einer anschaulichen Darstellung gehören vier Stücke:

1. der Kern der Geschichte, die geschichtliche Handlung, 2. das Außenwerk der Geschichte, die geographischen, natur- kundlichen und kulturhistorischen Verhältnisse, 3. das innere Triebwerk, die psychologischen Vorgänge, 4. der religiös ethische Charakter der Gesinnungen. Diese vier Stücke bilden ein organisches Ganzes, müssen also auch in ihrem organischen Zusammenhang als Ganzes vorgeführt werden. Weil die Objekte sich nun nicht selbst darstellen, so muß die Lehr- kunst dieses Darstelfen so viel als tunlich zustande zu bringen suchen. Da das einzige Mittel hierzu die Sprache ist, so ergibt sich von selbst, daß hier nur die höheren und wirksameren Formen der sprachlichen Darstellung, nämlich das freie mündliche Lehrwort, in Anwendung kommen dürfen (Rein, Encyclopäd. Handbuch). Dörpfeld fordert darum (Didakt. Material. S. 131 f£f.): 1. nur das mündliche Lehrwort ist zulässig, 2. es muß sich frei bewegen können, 3. neben dem Vortrag, wo er nötig ist, muß auch, soviel als mög- lich, die Unterredung mitwirken, 4. die Darstellung muß detailliert sein,

266 A. Abhandlungen.

5. das Entlegene muß durch Vergleichungs- und Anschauungs- beispiele dem Standpunkt des Schülers näher gerückt werden, 6. die Kinder müssen soviel als möglich zum Selbstfinden heran- geführt werden. Mit diesen Forderungen stimmt auch Meumann (Vorlesungen III S. 428 ff.) im wesentlichen überein; auf einzelne Abweichungen soll im zweiten Teile dieser Arbeit eingegangen werden.

Die Anschauung wird also aufgefaßt als ein Prozeß der Apper- zeption; denn ihre beiden Stufen, Einleitung und Darbietung des Neuen oder Analyse und Synthese entsprechen ihren beiden Kom- ponenten: den »alten« uud den »neuen« Vorstellungen. Die Analyse kann jedoch nach Meßmer nie den Zweck haben, neu zu fällende Ur- teile der Synthese erst zu ermöglichen oder gar eine Unterrichtsstufe darzustellen, die von der Synthese psychologisch verschieden wäre. Der Begriff der Anschauung soll durchaus nicht als eine Stufe fest- gehalten werden, die allgemein für jeden Stoff gelten soll, sondern sie ist lediglich ein Prinzip, das den Ausgangspunkt alles Lernens festsetzt.!)

Gehen wir nunmehr zur zweiten Formalstufe über, dem Denken. Auch bei dieser Operation lassen sich wieder zwei Unterabteilungen unterscheiden, die Dörpfeld Vergleichen und Zusammenfassen oder aber auch Urteilsbildung und Begriffsbildung das ist die Zu- sammenfassung des Begrifflichen nennt. (Ges. Schriften I, S. 89 A.) Das Denken beginnt nämlich mit der Analyse und mit dem Finden der Identität oder Nichtidentität von Inhalten, die in der Wahrnehmung gegeben sind, und zwar das positive Gleichfinden anfänglich mit der Erkenntnis von Ähnlichkeiten allgemeinster Art (Dyroff S. 221), oder wie Dörpfeld sagt, mit einem Vergleichen, das ist mit dem Aufsuchen derjenigen Merkmale, die den betreffenden beiden Objekten gemein- sam sind. Hierin liegt nun die Aufgabe des ersten Aktes. Dann aber gilt es, das gefundene Allgemeine aus den konkreten Vorstellungen, mit denen es im Geiste des Schülers verbunden ist, bestimmter aus- zusondern und zusammenzufassen, in ein Begriffswort, in eine Regel u. dergl. (Didakt. Material. S. 77 f.). Ersterer Stufe liegt es also ob, die gewonnenen Vorstellungen und Vorstellungsreihen vielfach teils unter sich, teils mit älteren Gedanken im Bewußtsein zusammen- zustellen, zu vergleichen, zu verschmelzen. Durch diese Verknüpfung

1) Vergleiche Meßmer S. 4 uud S. 77; über die Analyse wie über die Wichtig- keit des Anschauungsunterrichtes überhaupt siehe auch Ziller S. 263 ft.

Kley: Die Lehre vom Lernen. 267 soll Zusammenhang, Übersicht, Einheit in den Gedankenkreis gebracht werden, und aus dem Besondern, Einzelnen, soll sich das Allgemein- gültige, Wesentliche aussondern (Rein, Pädagogik III S. 264 f.). Das Neue soll nicht vereinzelt in der Seele liegen wie ein abgerissener Faden neben einem Gewebe, das Kind soll im Gegenteil zu einer Ein- heit des Vorstellungskreises gelangen (Fröhlich, S. 125).

Da nun das Abstrakte noch mit dem Konkreten zusammenhängt, da eine gänzliche Aussonderung des ersteren aus dem letzteren noch nicht erfolgt ist, so hat dies auf der Stufe der Begriffsbildung zu erfolgen. Zweck dieser Stufe ist es also, den bei den beiden vorher- gehenden Akten schon eingeleiteten bezw. schon weitergeführten Ab- straktionsprozeß zum Abschluß zu bringen und die neuen begrifflichen Erwerbungen durch Einreihung in das bis dahin bereits gewonnene Begriffssystem zum sicheren geistigen Eigentum zu machen. Das Be- griffliiche und Gesetzliche muß durch einzelne geschickte Fragen so völlig rein und scharf aus dem konkreten Inhalt herausgelöst werden, daß es unabhängig von den Einzelvorstellungen für sich als Allgemein- vorstellung im Bewußtsein auftritt (Rein, Pädagogik III S. 266).

Herbart, Ziller und Rein haben bei diesen Operationen zwei selbständige Stufen, von ersteren Assoziations- und Systemstufe, von letzterem Verknüpfung und Zusammenfassung genannt.!)

Es bleibt noch die letzte Stufe zu betrachten übrig. In das Kind darf nämlich kein totes Wissen gepflanzt werden, sondern ein lebendiges; dieses soll zu einem Können werden. Ein neu er- »eugter Begriff ist aber nun in der Regel zunächst noch unvoll- kommen, nach seinem Umfange wie nach seinem Inhalt: seinem Um- fange nach, weil er nur aus wenigen, vielleicht zwei Anschauungs- beispielen, entstanden ist und daher nur wenige konkrete Vorstellungen umfaßt, dem Inhalte nach, weil die Merkmale, die denselben aus- machen, selten so scharf, so deutlich erfaßt sind, wie man es wünschen muß. Ein aus wenigen Beispielen hervorgegangener Begriff besitzt aber eben nur den Wert eines Wissens, nicht den eines Könnens, d. h. weil dieser Denkprozeß nur ein einziges Mal stattgefunden hat, so ist derselbe in seinem Bereiche noch nicht zur Fertigkeit, zur Ge- wandtheit gelangt. Noch einen weiteren Grund führt Dörpfeld an: Außer denjenigen Vorstellungen, aus denen der Begriff gewonnen worden ist, können auch noch andere in der Seele vorhanden sein,

1) Über die einzelnen Vorgänge sagt das Genauere Rein, Pädagogik III S. 264 ff. Einwände hiergegen, auch was die Reihenfolge beider Akte betrifft, macht u. a. Habrich, I S. 231 £.

268 A. Abhandlungen.

die unter: denselben gehören. Bleibt nun der Begriffsbildungsprozeß bei jenen wenigen Beispielen stehen, so bleiben die übrigen ver- wandten Anschauungen von der Wohltat des Durchdenkens aus- geschlossen; sie sind für die Intelligenz noch nichts anderes als Roh- material, noch keine höheren Erkenntnisprodukte (Ges. Schriften I, S. 87 f). Diese Lücke soll nun eben die dritte Stufe ausfüllen, die Methodenstufe nach Herbart, das Anwenden eines erworbenen Be- griffs. Dem Wissen muß ein Grad von Sicherheit und Beweglichkeit gegeben werden, der es dem Geiste möglich macht, in jedem gegebenen Falle völlig frei über das Gelernte zu verfügen, und ferner ist das- selbe fleißig durch Anwendung auf praktische Fragen in Gebrauch zu nehmen und in den Dienst des Lebens zu stellen (Rein, Päda- gogik II S. 269). Dem Schüler werden nacheinander mehrere neue Anschauungsbeispiele vorgeführt, damit er zusehe, ob diese auch unter den bereits bekannten Begriff fallen. Während jedoch beim ersten Mal der Lehrer mit tätig war, muß jetzt der Schüler den Denkakt selbst vornehmen. Überdies kann die Aufgabe desselben noch dahin gesteigert werden, daß er selbst neue Beispiele suchen soll (Ges. Schriften I, S. 88).

Die Anwendungsübung, »die fruchtbarste, die Krone der drei Lehroperationen«, soll das gesamte!) hierher gehörige Anschauungs- material, soweit es vom Schüler gekannt ist, mit den gewonnenen Begriffen durchleuchten. Und zwar soll hierdurch nach Dörpfeld (Gesellschaftskunde S. 33) ein Dreifaches erzielt werden:

1. die Klarheit der Begriffe wird erprobt und von der noch etwa anhängenden Trübung gereinigt,

2. die Begriffe werden mobil gemacht, während sie sonst leicht erstarren und wie tot in der Seele liegen,

3. das ganze einschlägige Kenntnismaterial, das sonst durch seine Menge und Mannigfaltigkeit den Blick verwirrt, wird lichtvoll geordnet und dadurch zugleich für den Gebrauch, für das Wiedererinnern, mehr bereit gemacht.

Gegen diese Folgerungen dürfte psychologisch kaum etwas ein- zuwenden sein.

Über die Benennung und Anzahl der formalen Stufen seien noch einige Erläuterungen gestattet. Die erste und zweite Stufe zerfallen bei Dörpfeld in je zwei Unterabteilungen, so daß wir also bei ihm folgendes Schema hätten:

1) »Gesamt« dürfte doch zu weitgehend sein; einige Beispiele genügten wohl auch.

Kley: Die Lehre vom Lernen. 269

I. Anschauen (empirisches Auffassen), a) Vorbesprechung (Einleitung), b) Darbietung des Neuen; OL Begriffserzeugendes Denken, a) Urteilsbildung, b) Begriffsbildung; II. Anwendung des gewonnenen Begriffs.

Je nachdem wir nun die beiden Unterakte des Denkens oder aber diese sowohl wie die beiden des Anschauens als selbständige Stufen auffassen, erhalten wir vier bezw. fünf Hauptoperationen, die der Einteilung Herbarts und Zillers bezw. Reins entsprechen, wenn auch unter anderen Bezeichnungen. Vergegenwärtigen wir uns dies kurz an nebenstehender Tabelle:

Dörpfeld Herbart u. Ziller Rein

I. Anschauen 1. Klarheitsstufe: 1. Vorbereitung a) Einleitung a) Analyse 2. Darbietung b) Darbietung des Neuen b) Synthese

II. Denken 2. Assoziationsstufe 3. Verknüpfung a) Urteilsbildung 3. Systemstufe 4. Zusammenfassung b) Begriffsbildung

II. Anwenden 4. Methodenstufe 5. Anwendung

so ergibt sich klar, daß Dörpfelds Einteilung keinen Gegensatz zu Herbart und Ziller einer- und zu Rein andererseits bedeutet, höch- stens dürfte seine Zählweise und Benennung übersichtlicher und klarer sein. Zu dieser Abweichung veranlaßten Dörpfeld hauptsächlich praktische Erwägungen, indem er fürchtete, mancher Leser möchte sich durch eine kompliziertere Zählung und weniger bekannte Be- nennung von dem Neuen und Besseren zurückschrecken lassen, zu- dem wollte er durch diese einfache Weise mit bekannten, auch auf dem Gebiete der älteren Pädagogik gebräuchlichen Benennungen die neuen Ideen den Anhängern der älteren Schule möglichst verständ- lich und mundgerecht machen (Didakt. Material. S. 76 ff.; vergl. hierzu auch Hindrichs S. 25 u. S. 87).

Alle wahre Intelligenz nun, nämlich Kenntnisse, die zugleich zur Erkenntnis geworden, Wissen, das zugleich ein Können ist, kann nach Dörpfeld (Ges. Schriften I, S. 88 f.) nur entstehen aus dem ver- einten‘ Wirken jener drei produktiven Lerntätigkeiten: Anschauen, Denken, Anwenden. Würde in einer dieser Beziehungen etwas ver- säumt, so wäre das ein Verlust, der sich von keiner Seite ersetzen ließe. Unerschütterlich beharrt Dörpfeld auf dem Grundsatz, daß die Anschauung der Ausgang alles Neulernens, das Denken oder Er-

270 A. Abhandlungen.

kennen die Blüte, der Gebrauch die Frucht desselben sei. Somit fordert er natürlich, daß die drei bezw. fünf Lehraktionen vorgenommen werden müssen in jedem Gegenstande, und zwar bei jedem Pensum, wobei er jedoch, wie es auch selbstverständlich ist, die Einschränkung macht, soweit sich Stoff und Stück dazu eignen. »Wo eine der Stufen dem Stoffe Zwang antut, gereicht sie zum Schaden, nicht zur Förderung des geistigen Prozesses.« Freiheit in der Anwendung fordert er also (Didakt. Material. S. 79).

Was sagt die Kritik hierzu? Meßmer, der ohne Zweifel manchen Irrtum innerhalb der formalen Stufen offen gelegt, der auch ihre Terminologie einer sehr scharfen Untersuchung unterzog, spricht sich sehr abfällig, wenn nicht ablehnend über diese Theorie aus. Er kommt aber zu diesem Resultat nicht zuletzt dadurch, daß er den Begriff der formalen Stufen tatsächlich enger umgrenzt wie ihre Ver- fechter und Vorkämpfer (vergl. Meßmer S. 144 ff, 154 ff. u. 157).

Die formalen Stufen haben allgemeine Gültigkeit, erleiden jedoch je nach den verschiedenen Stoffen, auf die sie angewandt werden, verschiedene Modifikationen (Rein, Encyklopäd. Handbuch und Habrich, I S. 232). In der Hand eines jeden Erziehungskünstlers nimmt diese Theorie besondere Formen an, weil sie eine ungemeine Beweg- lichkeit besitzt, bei allem Festhalten an den Grundlagen, die der nor- male Entwicklungsgang des Zöglings aufweist. Mit Recht sagt Rein wohl, daß, wer die Formalstufentheorie stürzen will, nachweisen muß, daß ihre psychologischen Grundlagen falsch sind und die Ansicht von der Entwicklung des geistigen Lebens, auf der sie fußt, verkehrt ist, und das ist Meßmer m. E. nicht gelungen. Die Anwendung der for- malen Stufen ist eine Kunst, welche neben tüchtiger Kenntnis des betreffenden Unterrichtsfaches ein gründliches Studium der Psycho- logie voraussetzt, aus welchem sodann bei fortgesetzter Übung der pädagogische Takt hervorwächst, der in dem gegebenen Falle das Rechte zu finden und zu treffen weiß. Ohne diese psychologische Kenntnis werden die formalen Stufen zur Schablone, die den Geist tötet, an- statt ihn lebendig zu machen (Just in Rein, Encyklopäd. Handbuch).

Die Theorie der Formalstufen bedeutet eben »den Versuch, das Lehrverfahren auf sichere psychologische Grundlage zu stellen. Es kann darum keine Fesseln anlegen dem, der sie versteht. Vielmehr kann sie den Lehrkünstler in die rechte pädagogische Freiheit hinein- führen und allen denen, die von ihrer Genialität nicht anderswohin getrieben werden, willkommene Hilfen für eine natürliche Unterrichts- weise bieten, die ihres Erfolges sicher ist.« Zudem besitzt diese

Kley: Die Lehre vom Lernen. 271

Theorie eine riesige Beweglichkeit, ja sie nimmt bei allem Festhalten an den Grundlagen, die der normale Entwicklungsgang des Zöglings aufzeigt, in der Hand eines jeden Erziehungskünstlers besondere Formen an.!)

Dörpfeld (Ges. Schriften I, 86 ff.) verlangt nun, daß auf jede der drei Operationen des Neulernens eine Operation folgt, die dem Memorieren dient. Memorieren, Einprägen, Befestigen, Einüben ist die Lehr- und Lernarbeit für das Gedächtnis. Zweck desselben ist die Reproduzier- fähigkeit der Vorstellungen, und zwar so, daß sie möglichst treu, schnell und vielseitig reproduziert werden können. Mit dem Worte Behalten ist in der Lehre vom Memorieren wenig gesagt; denn das Einprägen hat nicht lediglich eine einzige Richtung des Reproduzierens im Auge, sondern soll eine möglichst vielseitige haben. Solange eben Vor- stellungen unreproduzierbar bleiben, solange sind sie samt der darauf verwandten Mühe des Neulernens und Memorierens für die Intelligenz verloren. Demnach verhalten sich Denken und Memorieren in ihrem Dienst für die Erkenntnisbildung zueinander wie Erwerben und Be- ` wahren, welche beiden Tätigkeiten im Unterricht unbedingt zusammen- gehören. Alles, was auf die Reproduzierfähigkeit der Vorstellungen hinwirkt, es mag heißen, wie es will, und vorkommen, wo es will, gehört zum Memorieren.

Dörpfeld unterscheidet nun, indem er von den früher gewöhnlich angenommenen vier Reproduktionsgesetzen noch zwei beibehält (Ges. Schriften I, S. 34ff., zwei Arten der Reproduktion, die un- mittelbare nach dem Gesetz der Gleichartigkeit und die

1) Näheres hierüber bei Rein, Prinzip. Grundlagen S. 122f. und bei Ziller S. 291 ff. Eine Würdigung der Formalstufen siehe auch bei Stößner S. 49, 52, 127 und 129. Bereits Lessing läßt unzweideutig den großen Wert der Formal- stufen durchblicken. Man lese nur, was er in der fünften seiner »Abhandlungen über die Fabel«e (»Von einem besonderen Nutzen der Fabeln in den Schulen«) u. a. über das Hinabsteigen vom Allgemeinen zum Besonderen usw. sagt:

»Gott gibt uns die Seele, aber das Genie müssen wir durch Erziehung be- kommen. Ein Knabe, dessen gesamte Seelenkräfte man soviel als möglich beständig in einerlei Verhältnissen ausbildet und erweitert; dem man angewöhnt, alles, was er täglich zu seinem kleinen Wissen hinzulernt, mit dem, was er. gestern bereits wußte, in der Geschwindigkeit zu vergleichen und acht zu haben, ob er durch diese Vergleichung nicht von selbst auf Dinge kommt, die ihm noch nicht gesagt worden; den man beständig aus einer Scienz in die andere hinüber sehen läßt; den man lehrt, sich ebenso leicht von dem Besondern zu dem Allgemeinen zu erheben, als von dem Allgemeinen zu dem Besonderen sich wieder herabzulassen: Der Knabe wird ein Genie werden, oder man kann nichts in der Welt werden.« Ein wirklich klassisches Wort über die Wichtigkeit der Formalstufen!

272 A. Abhandlungen.

mittelbare nach dem Gesetz der Gleichzeitigkeit. Hieraus folgert er dann auch zwei »grundverschiedene« Arten des Memo- rierens: eine die die Vorstellungen nach ihrem Inhalt verknüpft und der unmittelbaren, und eine zweite, welche die Vorstellungen nach dem äußeren Moment der Gleichzeitigkeit verknüpft und der mittel- baren Reproduktion dienen soll. Von diesen beiden »fundamentalen Arten des Gedächtnisses oder des Memorierens« nennt er die eine, im Anschluß an Kant, das judiziöse (denkende) Gedächtnis, sonst wohl auch als logisches bezeichnet, und die andere das mechanische (Ges. Schriften I, 91 f.). Von einer dritten Art, der mnemonischen, wird w. u. zu reden sein.

Gegen diese Einteilung als solche ist nichts einzuwenden, wohl aber gegen die Ableitung aus zwei Grundgesetzen der Reproduktionen, die jedenfalls etwas gezwungen ist. Die moderne Psychologie nimmt nur mehr ein Grundgesetz der assoziativ bedingten Reproduktion an: »Die unmittelbare zeitliche Folge und die Gleichzeitigkeit zweier unterscheidbarer Bewußtseinsinhalte hinterläßt die Tendenz, daß auf Grund der durch besondere Ursache durch Reiz usw. hervor- gerufenen Erneuerung des einen der andere ohne solche Ursache te- produziert wirde (Dyroff S. 199). Auch so dürften sich die beiden Grundformen des Memorierens ergeben.

Jede Memoriertätigkeit, ob absichtlich oder unabsichtlich, muß nun den einen oder anderen Weg einschlagen, also die betreffenden Vorstellungen entweder judiziös oder mechanisch verknüpfen. Wenn nun das absichtliche Memorieren die Repetition zu Hilfe ruft, so muß auch diese entweder judiziös oder mechanisch sein (Ges. Schriften I, S. 92). Die Unterscheidung in absichtliches und unabsichtliches Memo- rieren ist durch die Beteiligung des Willens hervorgerufen (Ges. Schriften I, S. 95). Aus folgendem Schema ergeben sich die Grund- und Nebenformen des Memorierens, wie Dörpfeld sie darlegt.

Memorieren

en,

unabsichtlich absichtlich (vermittels der Repetition)

judiziös mechanisch mnemonisch

Mit seiner 1870 zuerst erschienenen Monographie über »Denken und Gedächtnise macht Dörpfeld einen ersten Versuch, Richtlinien

Kley: Die Lehre vom Lernen. 273

für die Pflege des Gedächtnisses zu geben.!) Sie entsprang vor allem dem Wunsch, die mechanische Memorierarbeit in den Schulen ein- zuschränken und entwickelt praktische Regeln und Ratschläge, um die Arbeit des mechanischen, aber noch mehr die des judiziösen Ge- dächtnisses zu erleichtern und ihre Wirkung zu verstärken (vergl. Braunshausen S. 13). Wie wir sehen werden, sind Dörpfelds Rat- schläge auch heute noch wertvoll.

Wie verhalten sich nun zunächst die beiden Memorierarten hin- sichtlich ihrer Memorierkraft, ihrer Leistungen für das Reproduzier- fähigmachen der Vorstellungen beim erst- und einmaligen Verknüpfen im Neulernen, also ohne Rücksicht auf eine später folgende Repetition ?

Erläutern wir uns beispielsweise die mechanische Verknüpfung einer muttersprachlichen und einer fremdsprachlichen Vokabel sowie die judiziöse von Quadrat und Rechteck durch den Begriff Parallelogramm.

Die Memorierkraft der beiden Verknüpfungsweisen mißt Dörpfeld (Ges. Schriften I, S. 93 ff.) in dreifacher Beziehung, nach ihrer inten- siven Stärke, nach ihrer Extension und danach, ob die erzielte Re- produzierbarkeit der Vorstellungen eine einseitige oder eine mehr- seitige it. Er kommt zu dem Ergebnis, daß die judiziöse Memo- rierkraft

1. intensiv viel stärker ist als die mechanische, 2. extensiv umfassender und 3. der Richtung nach eine allseitige.

Vergegenwärtigen wir uns, wie Dörpfeld (Ges. Schriften I, S. 92ff.) dies begründet. Was den ersten Punkt betrifft, so ist bei einem ein- maligen Zusammentreffen der Vorstellungen die mechanische Ver- knüpfung von sehr geringer Dauerhaftigkeit und allzuleicht lösbar. Anders bei der judiziösen Verknüpfung zweier oder mehrerer Vor- stellungen. Hierbei muß nämlich vorher ihre Gleichartigkeit oder bei Beziehungsbegriffen die kausale oder andere Zusammengehörigkeit erfaßt, mit anderen Worten, es muß eine vielleicht bloß natur- wüchsige Begriffsbildung, ein Denkakt vorhergegangen sein. Falls die konkreten Vorstellungen jedoch deutlich erfaßt sind und ihre Gleich- artigkeit deutlich erkannt ist, dann ist die Verknüpfung so stark, daß sie nicht noch stärker werden kann, mithin auch gar kein Repetieren zur Kräftigung derselben nötig sein würde.

Wie steht es nun mit der Extension? Beim mechanischen Ver-

1) Wie Herr Direktor J. Trüper die Liebenswürdigkeit hatte, mir mitzuteilen, hegte Dörpfeld den Plan, die ganze Psychologie monographisch bearbeiten zu lassen. Wie »Denken und Gedächtnis« sollten eine Reihe Abhandlungen erscheinen. Trüper besaß ein Verzeichnis von über dreißig Thematen von ihm.

Zeitschrift für Kinderforsehung. 22. Jahrgang. 18

274 A. Abhandlungen.

knüpfen reicht die Memorierarbeit bei einmaligem Auffassen meist kaum über eine Reihe von 3 oder 4 Vorstellungen hinaus; eine größere Zahl kann hier erst durch mehrmaliges Repetieren bewältigt werden. Die judiziöse Verknüpfung umfaßt dagegen vorab soviele konkrete Vorstellungen nebst ihrem Begriffe als beim Denkakt verglichen worden. Ferner kommt ihre Reproduktionskraft auch allen übrigen verwandten Vorstellungen zugute, die in der Seele vorhanden sind, und selbst denjenigen, die erst später in der Seele entstehen.

Schließlich ist die judiziöse Verknüpfung der Richtung nach eine allseitige, während die mechanische bloß eine reihenmäßige Reproduktion erzeugt und bei mehr als zwei oder drei Gliedern nur eine einseitige. In dem judiziös verknüpten Vorstellungskreis sind gleichsam Straßen für den Gedankenverkehr gebahnt vom Zentrum zu allen Peripherie- punkten und wiederum von jedem Peripheriepunkte zu allen übrigen Peripheriepunkten, kurz, alle Vorstellungen können mit allen Punkten in Verkehr treten.

Bisher war lediglich die Rede von dem einmaligen Zusammen- treffen von Vorstellungen. Nach Dörpfelds Darlegungen wird hierbei die mechanische Verknüpfung ganz in den Hintergrund gedrängt, und ein Repetieren, das bei der anderen Verknüpfungsart eine bedeutende Rolle spielt, ist bei der judiziösen kaum erforderlich.

Ehe wir zu diesen Resultaten Stellung nehmen, betrachten wir den Verlauf der Verknüpfung bei dem durch die Beteiligung des Willens hervorgerufenen Memorieren, dem absichtlichen und dem un- absichtlichen.

Das unabsichtliche, immanente, naturwüchsige Memo- rieren vollzieht sich in und mit dem Neulernen und kommt bei allen Operationen desselben vor (Ges. Schriften I, S. 95). Die Anschauungs- operation hat es ihrem Zweck nach mit dem Auffassen konkreter Vor- stellungen zu tun. Falls nun diese reihenmäßig aufeinander folgen, findet zwischen je zweien und demnach auch in der ganzen Reihe eine ein- malige mechanische Verknüpfung statt, und wenn sich Vorstellungen darunter befinden, die unter sich oder mit früher erworbenen verwandt sind, so hätten wir hier auch die Vorbedingung zur judiziösen Reproduk- tion. Diesen Anfang des Memorierens erachtet Dörpfeld als besonders wichtig, da das gute Gelingen der beiden Durcharbeitungsoperationen, Denken und Anwenden, wesentlich davon abhängt, wie die konkreten Vorstellungen ursprünglich gebildet sind. Damit diese lebhaft, kräftig und deutlich sind, müssen sie mit Interesse und mit Aufmerksam- keit aufgefaßt werden, und dies will er erreichen, indem er z.B. im Geschichtsunterricht den Stoff detailliert, ausführlich, ansehaulich und

Kley: Die Lehre vom Lernen. 275

lebensvoll vorführ. In dem Maße nun, wie die konkreten Vor- stellungen ursprünglich deutlich und kräftig erfaßt sind, in dem Maße werden sie auch kräftig und deutlich behalten und fest verknüpft (Ges. Schriften I, S. 96). Wichtig für das immanente Memorieren ist auch der Vorakt, welcher der Darbietung des Neuen voraufgeht, da dieser in zwiefacher Beziehung verstärkend auf das Memorieren ein- wirkt, indem er nämlich aus dem Erfahrungsleben des Kindes ver- wandte Vorstellungen ins Gedenken ruft, die selbstverständlich für das Kind mehr Interesse haben als schulmäßig gelernte; sie bewirken, daß auch den daran angeknüpften neuen Vorstellungen ein lebhaftes Interesse entgegengebracht wird. Ferner sind aber auch die Vor- stellungen des heimatlichen Erfahrungs- und Anschauungskreises wegen ihrer häufigen Wiederholung und wegen ihrer Beziehungen zum Ge- müte die dauerhaftesten, die der Geist haben kann.!) Dazu ist end- lich diese Verknüpfung, weil sie an verwandten Vorstellungen ge- schieht, eine judiziöse, und deshalb schon sehr stark (Ges. Schriften I, S. 97f.). Mit diesem immanenten Memorieren decken sich vielleicht die Lernhilfen, wie Busemann sie bezeichnet. Es sind stets Vor- stellungen, die während des Lernens auftreten, nicht im Lernstoff selbst unmittelbar gegeben sind, sondern erst von diesen reproduziert werden (hierüber vergl. Busemann S. 228ff. und S. 231 ff.).

Was die Denkoperation an Memorierarbeit, und zwar in der judiziösen Form leistet, haben wir bei der Vergleichung der judiziösen und mechanischen Verknüpfung bereits gesehen. Je mehr daher der konkrete Stoff denkend durchgearbeitet wird, desto mehr und desto vielseitiger ist er mit starken Reproduktionshilfen durchflochten. Da nun die judiziöse Verknüpfung eine so starke intensive Memorierkraft besitzt, so bedürfe der Begriffsbildungsakt nur einer geringeren Repe- tition. In größerem Maße trete sie bei dieser Operation nur in dem Falle auf, wenn das Resultat der Denkoperation sprachlich in eine wörtlich zu lernende Regel oder Maxime oder Sentenz Spruch, Liederstrophe gefaßt wird, weil dann auch mechanisch memoriert werden muß (Ges. Schriften I, S. 98).

In der Anwendungsoperation endlich tritt das darin eingeschlossene Memorieren ebenfalls deutlich hervor, da sich mit jedem neuen An- wendungsbeispiel die im Denkakt vollzogene Begriffsbildung wieder- holt (Ges. Schriften I, S. 98).

Da mithin das Neulernen, falls es methodisch richtig betrieben

1) Hierzu ist bereits im ersten Teile Stellung genommen, so daß hier nicht näher darauf eingegangen zu werden braucht. 18*

276 A. Abhandlungen.

wird, in allen drei Hauptoperationen auch ohne weiteres dem Einprägen dient in der ersten Operation teils mechanisch, teils judiziös, weil sie es nur mit konkreten Vorstellungen zu tun hat, in den beiden übrigen ausschließlich judiziös und zudem weder Zeit noch Mühe kostet, so schlägt Dörpfeld (Ges. Schriften I, S. 98) den Wert des im- manenten Memorierens höher an als den des absichtlichen, und behauptet, der Unterricht sei um so vollkommener, je mehr er in Lehrgang und Lehrverfahren so beschaffen sei, daß möglichst viel immanent memoriert werde. Am besten eigneten sich hierzu das Rechnen und der Sprach- unterricht, besonders der fremdsprachliche, und das Zeichnen. Drei große Vorteile räumt also Dörpfeld dem immanenten Memorieren vor dem absichtlichen ein: es kostet keine Zeit, es kommt ihm der Reiz des Neulernens zugute, und es ist meist judiziös.

Gehen wir nunmehr zum absichtlichen Memorieren über, dessen Hilfsmittel die Repetition ist. Dörpfeld (Ges. Schriften I, S. 99 ff.) unterscheidet zwei Formen des Repetierens, eine strengere, vollkommenere, die den ursprünglichen Erzeugungs- akt der betreffenden Vorstellungen und ihrer Verknüpfung noch ein- mal gibt, und eine weniger wirksame, die nur das mehr oder minder abgeblaßte Resultat dieses Aktes vorführt. Zusammenfassend definiert Dörpfeld: »Repetieren heißt, die betreffenden Vorstellungen wieder ins Bewußtsein rufen, entweder produktionsweise oder re- produktionsweise.« Beim erstmaligen Repetieren wird der Lehrer, zumal in den unteren und mittleren Klassen, in der Regel auf den ursprünglichen Lernprozeß zurückgreifen müssen.

Beim Worte Repetition ist nicht ohne weiteres an ein mechanisches Memorieren zu denken, da sie ein Hilfsmittel ist, das seinen Dienst anbietet, wo man ihn begehrt; im Falle der judiziösen Verknüpfung wird sie judiziös, im Falle der mechanischen Verknüpfung mechanisch genannt, obwohl sie in dieser Hinsicht an und für sich neutral ist. Das Verhältnis des Repetierens zum Memorieren charakterisiert Dörp- feld folgendermaßen: »Das Repetieren ist ein Mittel, das Memorieren ist sein Zweck, und der Endzweck des Memorierens ist die Reprodu- zierfähigkeit« (Ges. Schriften I, S. 101).

Welches ist nun die Wirkung, die Memorierleistung der Repe- tition? Zunächst wird jede der betreffenden Vorstellungen für sich und sodann ihre Verknüpfung verstärkt. Wird in der strengeren Form repetiert, so beträgt die Memorierleistung im wesentlichen soviel als sie beim Neulernen betragen hat. Eine kleine Abschwächung tritt allerdings dadurch ein, daß der Reiz des Neulernens fehlt, so daß

Kley: Die Lehre vom Lernen. 277

mit jedem folgenden Wiederholen diese Abschwächung zunimmt. Das reproduktionsweise Repetieren ist nicht so wirksam, hat aber gleichwohl auch seine Vorzüge, die allerdings in ihrem vollen Umfange nur bei geschichtlichen Stoffen zur Geltung kommen, nicht bei solchen, die sinnlich vorgeführt werden können, vor allem, wenn die strengere Form des Repetierens durch nochınaliges Vorerzählen oder durch Lesen ihr Schuldigkeit getan hat oder wenn überhaupt angenommen werden darf, daß der Stoff einstweilen sicher genug erfaßt ist. Hier- durch wird nämlich die Selbsttätigkeit der Schüler!) stärker in An- spruch genommen und die veränderte Form bringt auch einen neuen Reiz mit sich; falls ferner das Reproduzieren nach Fragen geschieht, so haben wir, wie früher dargelegt, noch einen weiteren Vorteil. Es kommt also alles darauf an, daß jede der beiden Repetitionsformen, die strengere wie die reproduktive, ihren richtigen Platz finden (Ges. Schriften I, S. 102). Hinsichtlich der praktischen Behandlung des Repetierens hebt Dörpfeld (Ges. Schriften I, S. 102) einen Punkt wegen seiner Wichtigkeit und seiner allgemeinen Bedeutung hervor: Man soll nie zuviel auf einmal lernen, da nichts einem schnellen, leichten und dauerhaftem Einprägen mehr im Wege stände, nicht zu- letzt infolge der Enge des Bewußtseins.

Aus dem Grunde bekämpft er mit aller Entschiedenheit den sdidaktischen Materialismus«, das heißt, jene oberflächliche pädagogische Ansicht, die den eingelernten Stoff, gleichviel wie er gelernt sei, ohne weiteres für geistige Kraft hält und darum das bloße Quantum des absolvierten Materials schlankweg zum Maßstab der intellektuellen und sittlichen Bildung macht. Der didaktische Materialismus kennt zwei Operationen, Dozieren und Einübe:n. Ist dies besorgt, so gut er es versteht, so meint er fertig zu sein; die Kenntnisse sind ja da, wie er sie haben will, folglich muß nach seiner Ansicht auch die Bildung von vornherein mit einbegriffen sein. Was an Gründlichkeit und Gediegenheit versäumt, sei ja reichlich an Aus- dehnung ersetzt (Didakt. Material. S. 6 und S. 42). Der Grundfehler des didaktischen Materialismus liegt in dem mangelhaften Durcharbeiten des Stoffes, nicht im Übermaß desselben (Ges. Schriften I, S. 156 A,). Mit dem sicheren Einprägen des Stoffes, dem steten Präsenthalten des Gelernten und dem möglichst textgetreuen Wiedererzählen der Kinder (Ges. Schriften III, S. 46; vergl. hierzu auch Meumann, Ökonomie S. 226) ist es doch keinesfalls getan. Die wahre Bildung bemißt sich,

1) Über die Wichtigkeit der Selbsttätigkeit vergl. u. a. Habrich II S. 286.

218 A. Abhandlungen.

wie Dörpfeld richtig hervorhebt, nicht nach der Menge der Kennt- nisse, sondern hängt vornehmlich davon ab, in welchem Maße die Schüler beim Lernen selbsttätig gewesen sind, oder wie er sich bild- lich so schön ausdrückt: »Wenn man soviel Brennmaterial auf ein Feuer häufen kann, daß es erstickt, so kann es auch mit der Lern- kraft und dem Lerneifer geschehen. Jedes über das rechte Maß hinausgehende Mehr ist in Wahrheit ein Weniger« (Vergl. Vogel- sang, S. 5 und S. 28). Getreu dem Zahnschen Prinzip will Dörpfeld nur das Saft- und Krafthaltige, das bleibend Nötige (Carnap, S. 53 und Hindrichs, S. 10). Natürlich ist der Kampf bei Dörpfeld haupt- sächlich gewendet gegen das Auswendiglernen von Unverstandenem. Dieses Prinzip legte er bereits in seiner Antrittsrede in Barmen dar. Kein bloßes Putzwerk wiil er lehren, nichts was den Kindern in ihrer Standessphäre nichts nutzt, aber auch nicht so will er lehren, daß die Kinder in der Schule es bloß wissen und dann vergessen; sie sollen im Gegenteil im Leben noch davon Gebrauch machen können. »Darum lieber ein weniges und das gut gelernt als vieles und das sclılecht« (Carnap, S. 86) Ein Minimum, ein Grundkapital des Wissens und Könnens, muß jedoch in jedem Fach so sicher und fest gelernt werden, daß es unter allen Umständen disponibel und geläufig ist (Rude, S. 67 und Höfler, S. 9). Dörpfeld duldete nicht, daß seine Schüler Worte lernten oder im Unterrichte durchgehen ließen, deren Sinn sie nicht verstanden. Kam ein Fremdwort vor oder ein sonst den Kindern unbekannter Ausdruck, so mußten sie, falls dies nicht von selbst im Unterricht erklärt wurde, darnach fragen (Carnap, S. 123 f.). Sinn- habender Stoff prägt sich schneller ein als sinnloser. Das Experiment hat hierüber noch genaueren Aufschluß gegeben, indem die Gedächtnis- spanne für Silben, Wörter, einzelne Sätze und größere Satzzusammen- hänge bemessen worden ist. Das ungefähre Verhältnis ist 10:1, eine ernstliche Mahnung für den Lehrer, nur Verstandenes auswendig lernen zu lassen (Stößner, S. 70). Als die wichtigste und unentbehrlichste Hilfe alles Lernens und Behaltens fand auch Kraemer (S. 70) über- all das volle Verständnis des Inhaltes, den klar sich aufbauenden Ge- dankengang, das durchsichtige Verständnis des logischen Zusammen- hangs.

Beim wörtlichen Auswendiglernen soll also, bevor das Einprägen der sprachlichen Darstellung beginnt, der sachliche Stoff erst schul- gerecht, d. i. nach Dörpfeld nach den formalen Stufen des Neulernens, durchgearbeitet sein, wobei unbekannte Ausdrücke genügend zu er- klären sind (Ges. Schriften I, S. 143 und 132). Wer eben gleich

Kley: Die Lehre vom Lernen. 279

zum wörtlichen Auswendiglernen schreiten läßt, ohne die derikende Verarbeitung vorhergehen zu lassen, der hemmt nach Habrich (I S. 171) die denkende, begrifflich erfassende Lerntätigkeit in hohem Maße, wie überhaupt das übertriebene Auswendiglernen hemmend auf die Denktätigkeit einwirkt. Erwägen wir weiter, daß nach einer Stunde der Prozentsatz des Vergessenen nach Ebbinghaus mehr als die Hälfte beträgt und nach Radossawljewitsch immer noch beinahe 30°/,, so ergibt sich zur Genüge, daß die Schule nicht allzu streng auf lücken- lose Reproduktion des Gelernten bestehen darf, da sie sonst möglicher- weise zu einer übergroßen Anzahl von Wiederholungen zwingt, die mit dem dauernd erzielten Nutzen in keinem Verhältnis stehen (vergl. Braunshausen, S. 159 f.). Ähnlich ist das leere Wortwissen bei so manchen nur die unvermeidliche Wirkung der aus dem Mangel an psychologischer Einsicht hervorgegangenen von nicht wenigen ver- tretenen Forderung der Schlagfertigkeit, der » Antwortblitzerei«,!) die auf viele imponierend wirkt. Der Inhalt allein soll bleiben und von ihm auch nur das Wichtige, das unseren Zielen Dienende (Offner, S. 39). Dörpfelds Ansicht entspricht auch ein Gutachten der wissen- schaftlichen Deputation für das Medizinalwesen vom 13. Dezember 1883, und die Lehrpläne von 1891 schreiben vor: »Der gedächtnismäßige Lehrstoff vermindert sich auf allen Gebieten« oder, wie es in den methodischen Bemerkungen zum Religionsunterricht von 1891 und 1901 heißt: »Der Gedächtnisstoff wird auf das Notwendige beschränkt, damit die ethische Seite des Unterrichts um so mehr in den Vorder- grund treten kann« (vergl. hierzu Wessely, S. 298). Ganz ist aber das wörtliche Auswendiglernen nicht zu verwerfen, da ein so durch den Wortlaut erlernter Stoff die Auffassung von Sinn und Bedeutung dieses Stoffes erleichtert, wenn sich nachträglich die Aufmerksamkeit mit ihm beschäftigt. Daraus leitet Meumann (Ökonomie S. 226) die »allerdings nicht ungefährliche pädagogische Folgerung« ab, daß man bei Schülern, die ein großes verbales Gedächtnis haben, aber ein ge- ringes Verständnis besitzen, zunächst ein wörtliches Auswendiglernen des Textes herbeiführen darf, da die gedächtnismäßige Beherrschung des Textes auch die sinngemäße Auffassung erleichtere. Jedoch sei wohl zu beachten, »daß es immer noch eine besondere Arbeit bleibt, die niemals unterlassen werden darf, den Sinn des auswendig ge- lernten Textes anzueignen«.

280 A. Abhandlungen.

Des weiteren verlangt Dörpfeld (Ges. Schriften I, S. 103), daß die Reihe der zu memorierenden Vorstellungen, falls sie zu groß ist, in kleinere Partien, Gruppen geteilt werde und dann beim Einprägen gruppenweise vorzugehen sei, so daß das ganze sich nur allmählich aufbaut, kurz es soll alles »stücklich« gelernt werden. Dies gelte für beide Arten des Memorierens, für das judiziöse und ganz besonders für das mechanische, und gerade hier, weil die mechanische Ver- knüpfung schon intensiv sehr schwach sei als auch, weil sie mit ihrer Vollkraft nur zwischen je zwei anschließenden Vorstellungen wirke, so daß über das dritte oder vierte Glied hinaus die Verbindung mit dem ersten nur sehr gering sein kann. Demgemäß teilt man dann z. B. eine Erzählung in kleinere Abschnitte, eine Reihe von Namen zwölf Stämme Israels, zwölf Jünger Jesu in Gruppen von je drei oder vier, eine Liederstrophe memoriert man sogar zeilenweise. Dörpfelds Forderung des stücklichen Repetierens ist besonders zu be- richtigen. (Vergl. S. 41f. u. 46 f.)

+ * *

Wir haben bereits gesehen, welche Vorteile Dörpfeld dem judi- ziösen vor dem mechanischen Memorieren zuweist bei einmaligem Er- fassen der Vorstellungen: es ist intensiv viel stärker, extensiv größer und überdies vielseitiger. Wie steht es nun um die Memorierkraft, wenn die Repetition hinzutritt, beim Wiederholen ?

Die drei Vorzüge des judiziösen Verfahrens bleiben beim Wieder- holen bestehen. Da jedoch bei der einmaligen judiziösen Verknüpfung auch jedesmal eine immanente mechanische mit vorkommt, so ver- vielfältigt sich diese natürlich bei jeder Repetition, und diese Zugabe beträgt dann bei gleichmäßiger Wiederholung auf beiden Seiten schon allein genau so viel als die gesamte Memorierkraft auf der rein mechanischen Seite. Vermöge ihrer immanenten mechanischen Memorierkraft steht somit die judiziöse Verknüpfung der Konkurrentin gleich, so daß die eigentümliche, judiziöse Memorierkraft selbst ein völliges Plus bildet. Dies gilt nur von der intensiven Stärke; von den beiden anderen Vorzügen des judiziösen Memorierens behauptet Dörpfeld glattweg, daß sie dem mechanischen Memorieren ohnehin, selbst beim fleißigsten Repetieren, für immer versagt blieben.

Aus der größeren intensiven Memorierkraft folgt nun, daß beim judiziösen Memorieren nur wenig repetiert zu werden braucht, beim mechanischen aber sehr viel, um die gewünschte Sicherheit und Ge- läufigkeit im Reproduzieren zu erreichen (Ges. Schriften I, S. 103 f.).

Kley: Die Lehre vom Lernen.

BB.)

An dieses fleißige Wiederholen bei der mechanischen Verknüpfung stellen sich ohne weiteres mehrere beachtenswerte Folgewirkungen ein. Ein Vorteil besteht darin, daß ein hoher Grad von Geläufigkeit im Reproduzieren erzeugt wird, geradezu eine maschinermmäßige. Doch auch diese Geläufigkeit ist nach Dörpfeld (Ges. Schriften I, S. 105) eigentlich kein prinzipieller Vorzug des mechanischen Memorierens, nicht bedingt durch die Natur dieses Verknüpfungsgesetzes, der Grund liege vielmehr lediglich im fleißigen Repetieren, im Einüben und Einprägen; denn bei der judiziösen Verknüpfung lasse sich diese Geläufigkeit noch viel leichter erzielen und das noch, eben wegen der größeren Intensivkraft, durch geringere Repetition.

Sonst aber sieht Dörpfeld (Ges. Schriften I, S. 105 f.) nur nachteilige Folgen im mechanischen Repetieren. Eine unangenehme Begleiterscheinung ist fürs erste eine recht ansehnliche Langweilig- keit; sie hat ihre Quelle zunächst im Repetieren als solchem, da ihm der Reiz des Neulernens fehlt, was sich bei fortgesetztem Wieder- holen als positiver Druck bemerkbar macht, dann aber in der me- chanischen Verknüpfung, weil sie bloß durch ein äußeres, zufälliges und darum interesseloses Moment bestimmt wird, womit das judiziöse Repetieren nichts zu tun hat.

Ein zweiter Übelstand kommt bloß beim Repetieren sprachlicher Darstellungen vor und auch hier nur, wenn diese wörtlich memoriert und von größerem Umfange sind. Er besteht darin, daß gerade dann, wenn im Reproduzieren der Worte eine recht maschinenmäßige Geläufigkeit erreicht ist, die einzelnen Gedanken in diesem Komplexe destoweniger mobil sind für die denkende Verwertung. Das ganze ist zwar sicher eingeprägt und in der gegebenen Reihenfolge auch leicht reproduzierbar, allein wie die einzelnen Sätze in dieser Reihe eingekeilt sitzen, so auch die einzelnen Gedanken. Soll einer derselben, der nicht gerade am Anfang steht, mobil gemacht werden, so muß dies erst mit den vorhergehenden Gliedern geschehen. Die Tatsache jener Versteifung und Verstarrung beim sogenanntem Auswendig- lernen größerer Sprachstücke ist am bekanntesten.

Eine weitere nachteilige Folgeerscheinung des mechanischen Repetierens, die ebenfalls beim wörtlichen Memorieren zwar nicht notwendig, aber im jugendlichen Alter häufig genug vorkommt, besteht darin, daß beim Hersagen solcher auswendig gelernten Stücke bloß an die Worte, nicht aber oder nur oberflächlich an den Inhalt gedacht wird, ja vielleicht auch nicht einmal mit Aufmerksamkeit an die Worte. Was nämlich memoriert wird, sind zunächst nur die Worte, ob ihr Sinn jedesmal mitgedacht wird, ist fraglich. Es geschieht daher nur

282 A. Abhandlungen.

zu leicht, daß der sachliche Inhalt nur flüchtig und oberflächlich mitgedacht wird, und dann haben wir schließlich ein Gewöhnen an ein besinnungs- und gedankenloses Hersagen.

Trotz seiner Schwächen räumt Dörpfeld dem mechanischen Me- morieren einige Berechtigung ein, da es an seinem Platze unersetz- bare Dienste zu leisten vermöge und deshalb auch nach dem Maß dieser Dienste geschätzt zu werden verdiene. An drei Stellen nun ist für ihn (Ges. Schriften I, S. 108 ff.) das mechanische Memorieren unersetzbar. Zunächst da, wo im Interesse der Geistesbildung Vor- stellungen verknüpft werden müssen, die eben nur mechanisch ver- knüpfbar sind, z. B. die Verknüpfung der muttersprachlichen Worte mit den fremdsprachlichen, wobei Dörpfeld selbst einräumt, daß das für die Geistesbildung so einflußreiche Erlernen einer Sprache seiner Grundlage nach auf dem mechanischen Memorieren ruht. Und doch läßt sich hier viel Mechanisches vermeiden, indem man hinweist auf die gemeinsame Abstammung der beiden Vokabeln, auf ihre Laut- oder Buchstabeneinheitlichkeit oder -verschiedenheit, auf ihren gemein- samen oder abweichenden Inhalt usw. Also selbst hier braucht das judiziöse Moment nicht zu fehlen.

Ferner ist das mechanische Memorieren unersetzbar, wo Vor- stellungen in einer bestimmten Reihenfolge eingeprägt werden sollen, die teilweise judiziös und teilweise nur mechanisch verknüpfbar sind, wie z. B. das wörtliche Einprägen sprachlicher Darstellungen; diese könnten zwar ausschließlich mechanisch eingeprägt werden, jedoch hält Dörpfeld es für das richtige, beide Memorierweisen vereint anzuwenden.

Endlich ist das mechanische Memorieren dort am Platze, wo judiziös verknüpfte Vorstellungen eingeprägt werden, die eine längere Reihe bilden, z. B. die zwölf Klassen der Säugetiere. Ein ausschließ- lich judiziöses Memorieren wäre hier möglich; falls aber eine gewisse Geläufigkeit im Reproduzieren gewünscht wird, so empfiehlt es sich wegen der Länge der Reihe, zum Schluß auch die mechanische Repe- tition ein wenig zu Hülfe zu rufen.

Hinsichtlich des richtigen mechanischen Repetierens stellt Dörp- feld (Ges. Schriften I, 5. 109 f.) drei Forderungen auf, die wir zum Teil schon kennen gelernt:

1. Es muß alles stücklich repetiert werden,

2. das wichtigste wäre, daß überall da, wo die judiziöse Memorier- weise mit eingreifen kann, diese stets mit herangezogen werde und dabei auch stets den Vortritt erhalte,

3. die Schlußreproduktion, namentlich das Vortragen wörtlich

Kley: Die Lehre vom Lernen. 283

memorierter Sprachstücke, stets so vorzunehmen, daß auch die

logische Disposition mit angegeben wird.

Eine vierfache Beeinträchtigung der intellektuellen Bildung sieht Dörpfeld (Ges. Schriften I, S. 130 f.) aber da, wo das judiziöse Repe- tieren durch das mechanische verdrängt wird. So weit dieses nämlich der Fall ist, wird das Denken aus dem Memorieren verdrängt, die Reproduzierfähigkeit vereinseitigt, die Wiederholung der begrifflichen Gedanken an dieser Stelle aufgehoben und endlich die Mobilisierung der konkreten Vorstellungen gehindert.

Nach Dörpfelds Darlegungen ist also jedenfalls das mechanische Memorieren ganz in den Hintergrund gedrängt und die wenigen Vor- züge, die er ihm schließlich einräumt, verblassen ganz durch die stete Gegenüberstellung des judiziösen Momentes.

Wie stellt sich nun hierzu die moderne Psychologie? Was ver- steht sie unter diesen beiden Memorierarten?

Nach Ephrussi (S. 76) wird beim rein mechanischen Lernen so ver- fahren, daß beim Lesen der Silbenfolgen der einprägende Vorgang mög- lichst nur darin besteht, daß die visuellen, akustischen oder motorischen Silbenvorstellungen unmittelbar, lediglich infolge ihrer Aufeinander- folge, miteinander oder mit ihren absoluten Stellen assoziiert werden. Kürzer drückt Lipmann (S. 199) sich aus, wenn er darunter das rein klangliche bezw. bildliche bezw. motorische Aneinanderreihen von sprachlichen Gebilden unter möglichster Vermeidung sinnvoller Asso- ziationen versteht. Meumann (Ökonomie S. 194 f.) sieht die mechanische Seite des Lernens in dem wiederholten Einprägen, bei dem sich der Wille und die Aufmerksamkeit nicht auf das Verständnis des Stoffes als solchen richten, sondern auf die Aneignung und Einprägung selbst, die dabei zum Zweck unserer Tätigkeit wird, während das Verstehen des Stoffes sich diesem Zweck als Mittel unterordnet. In diesen drei Definitionen liegt eine feine Unterscheidung, wesentlich ist aber, daß Meumann ein kleines judiziöses Moment auch im mechanischen Lernen durchblicken läßt, während umgekehrt Dörpfeld dem judiziösen ein immanent mechanisches Memorieren zugesteht. Am scharfsinnigsten hat aber Netschajeff den mechanischen Memoriertyp untersucht: Das judiziöse oder das rationelle Memorieren setzt nach ihm das Fest- stellen eines logischen Verhältnisses zwischen den erhaltenen Kennt- nissen voraus, während das mechanische, und hier ist ein großer Gegensatz zu Dörpfeld, eine Steigerung der Intensität der Ein- drücke und ihre möglichst häufige Wiederholung bewirkt. Demnach unterscheidet er bei letzterem von dem gewöhnlichen Einpauken die

284 A. Abhandlungen.

Steigerung der Intensität und Wiederholung der Vorstellungen, unter anderm auch veranlaßt durch eine Reihe sekundärer Hilfsmittel, die uns ein festes Behalten der als logische Vorstellungsverbindung aufgefaßten Eindrucksweise sichern. Für ein festes Behalten gewisser Vorstellungs- reihen ist eine Klarlegung der logischen Verhältnisse für Netschajeff (S. 6ff.) noch nicht genügend; zu dem Zweck wären noch einige andere Bedingungen nötig, die dazu beitragen müßten, daß Frage und Antwort, welche sich in diesen Verhältnissen ausdrücken, den zum dauerhaften Behalten nötigen Intensitätsgrad erreichen, und so sieht er jedes Memorieren, das auf einer Steigerung der Eindrucksintensität beruht, als eine mechanische Gedächtnistätigkeit an. Wichtiger ist aber das Festhalten von verschiedenen Gattungen des mechanischen Memorierens. Schon Müller und Schumann (besonders S. 298 ff.) be- obachteten bei ihren wertvollen Untersuchungen, daß einige Versuchs- personen ihre ganze Aufmerksamkeit auf das visuelle Bild richteten, andere hauptsächlich nach dem Gehör reproduzierten u. a. m. Während dies nur nebenbei beobachtete Eigentümlichkeiten des mechanischen Repetierens sind, unterschied Netschajeff (S. 15 ff.) auf Grund seiner Untersuchungen an 100 Schülern im Alter von 11—19 Jahren sieben mechanische Memoriertypen, und zwar einen visuellen bei 5°, der Versuchspersonen, einen motorischen bei 4°,,, einen akustischen bei 2°/,, einen visuell-akustischen bei 2°/,, einen visuell-motorischen bei 32°/,, einen motorisch-akustischen bei 5°, und einen gleichmäßig oder unbestimmten mit 40°/,. Wesentlich ist bei diesen Ergebnissen, daß nur 11°/, zum einseitigen Typ zählen, bezeichnend aber auch die Tatsache, daß die Schüler, die dem visuell-motorischen Typus an- gehörten, den Sprachunterricht für schwer und die Naturkunde für leicht erklärten und umgekehrt diejenigen, die zum motorisch-akustischen Typus gehörten, den Sprachunterricht leicht und die Naturkunde schwer fanden, jedenfalls ein Resultat von nicht zu unterschätzender Tragweite, das freilich Dörpfeld nicht kannte und das deswegen für seine Beweisführung auch wegfiel.!)

Aber auch hinsichtlich der Art des judiziösen Lernens sind die Ansichten zum Teil noch geteilt. Am wenigsten einleuchtend dürfte die von Balaban (S. 369 ff.) angeführte Art der logischen Ver knüpfung sein, wie er sie zu nennen pflegt. Er unterscheidet zunächst

1) Näheres hierüber siehe bei J. Cohn, Experimentelle Untersuchungen über das Zusammenwirken des akustisch-motorischen und des visuellen Gedächtnisses in Z. 15 Leipzig 1897 bes. S. 182; ebenso W. Frankfurther und R. Thiele, Über den Zusammenhang zwischen Vorstellungstypus und sensorischer Lernweise in Z. 62 1912, S. 96; ähnlich auch Braunshausen S. 89 f. und Meumann, Ökonomie S. 161.

Kley: Die Lehre vom Lernen. 285

zwei Hauptgruppen von Verbindungen, die er als solche der Wörter und solche der Wortbedeutungen oder als äußere und innere Einheits- bildungen bezeichnet. Aus den zu den einzelnen Typen angeführten Beispielen dürfte sich aber zur Genüge ergeben, daß der Begriff »logisch« nicht richtig umgrenzt ist, daß vielmehr die mnemotechnischen Mittel und zum Teil auch die mechanischen unter den Begriff logischer Verknüpfung zu fallen scheinen.

Gibt nun ‚die moderne Psychologie auch dem judiziösen Lernen den Vorzug, wie das Dörpfeld tut?

Bei Netschajeff nimmt die mechanische Memorierweise die Haupt- stellung ein. Er hält es für einen großen Irrtum zu behaupten, daß ein jeder, der den allgemeinen logischen Zusammenhang einer Abhandlung verstanden, denselben auch fest und deutlich behalten habe. Ein Ver- stehen der logischen Seite führt noch nicht das Behalten derselben mit sich, was schon Dörpfeld stets behauptet hat. Selbst wo das Behalten einer Reihe von Vorstellungsverhältnissen in Frage kommt, ist die Beteiligung des mechanischen Memorierens an dem Vorgange unumgänglich. Da zudem ein Behalten einzelner Vorstellungen außerhalb ihrer Beziehung zu anderen Eindrücken nur durch eine rein mechanische Memorier- weise zustande kommen könne, weil die rationelle und die mnemo- technische in einer Feststellung gewisser Verbindungen zwischen den Vorstellungen beständen, so läßt Netschajeff, abgesehen von den auf S. 35 f. angeführten Gründen eine rein rationelle Memorierweise nicht gelten, da bei jedem rationellen Memorieren ein Moment des me- chanischen beobachtet werden könne, wohl aber eine rein mechanische. Jedenfalls nimmt das mechanische Memorieren bei allen Arten des Studiums seine bestimmte Stelle ein (Netschajeff S. 5ff. und S. 19). Alles Lernen hat ebenso für Meumann (Ökonomie, S. 194) eine mechanische Seite, auch das Lernen, bei dem wir uns wesentlich durch das Verständnis der Lernstoffe, durch das Eindringen in ihre Be- deutung, ihre logische, ethische oder ästhetische Bedeutung, unter- stützen lassen. Ebenso ist aber auch nie da auf das mechanische Moment zu verzichten, wo eine genaue oder sogar eine wörtliche Wiederbelebung des Originals eines Gedächtnisstoffes stattfinden soll. Ja, nach Schoeneberger (S. 127) erfordert alles dauernde Behalten die Mitwirkung eines mechanischen Moments, das in der Wiederholung der Eindrücke oder wiederholten Einprägung zu suchen sei. Das mechanische Moment tritt um so reiner in Kraft, je bedeutungsloser im vollen Sinne des Wortes die Lernstoffe sind, z. B. Vokabeln und Jahreszahlen mehr als grammatische Regeln; am reinsten haben wir

286 A. Abhandlungen.

den Typus des mechanischen Memorierens bei Erlernung sinnloser Stoffe. Je sinnvoller aber der Stoff ist und je mehr Interesse ihm entgegengebracht wird, um so mehr kann das mechanische Element für das Bewußtsein zurücktreten, aber vorhanden ist es immer (Wessely, S. 300 und Meumann, Ökonomie S. 196). Es kann sich also nur um ein Vorwiegen des einen oder andern handeln. Jedoch ist es nicht zu leugnen, daß das mechanische Lernen von Stoffen, die in Worten wiedergegeben sind, leicht zum Verbalismus, zum »Maul- brauchen«, wie es Pestalozzi nannte, führt (Offner, S. 217), ein Übel- stand, den Dörpfeld vor allem zu unterbinden sucht, ja der ihn wobl überhaupt veranlaßte zum Abfassen seiner didaktischen und methodi- schen Schriften. Im übrigen aber treten uns bei diesen scharfsinnigen Untersuchungen jedenfalls Vorzüge des mechanischen Lernens in die Augen, die Dörpfeld nicht berücksichtigt hat, und vielleicht bei dem damaligen Stande der Wissenschaft auch nicht berücksichtigen konnte, Vorzüge, die er allerdings zum Teil auch als selbstverständlich be- trachtete und darum nicht weiter hervorhob.

Wie steht es nun mit dem judiziösen Memorieren? Sein be- deutender Wert erhellt besonders aus den Untersuchungen Balabans. Schon aus seiner ersten Tabelle (S. 360) ist ersichtlich, wieviel größer der Einprägungswert bei diesem Verfahren ist. In Prozenten aus- gedrückt, ergeben die logischen Reihen bei allen Versuchspersonen zusammen 39,30°/, Treffer, während die mechanischen nur 7,900), aufweisen. Aus den Tabellen 6—9 (S. 362 f.) geht deutlich hervor, daß das logische Verfahren nicht nur für schnelleres Lernen, sondern auch für besseres Behalten zu empfehlen ist. Zwei Versuchspersonen hatten bereits nach drei bezw. nach zwei Tagen die mechanische Reihe so vollständig vergessen, daß sie nicht einen einzigen Treffer mehr aufwiesen, während die logischen Reihen noch 50—60°/, Treffer ergaben. Ephrussi (S. 180 f.) weist zudem nach, daß das »unterstützte« Lernen die unterstützten Assoziationen auch den Vorteil hat, daß es durchweg eine größere Reproduktionsgeschwindigkeit ergibt wie das mechanische. Selbst der Zahlenkünstler Inaudi behält größere Zahlenmengen nicht mechanisch, sondern er merkt sich die Aufgaben, in denen sie vorkommen; seine ungewöhnliche Entfaltung des Zahlen- gedächtnisses wird also zumeist durch logisches Behalten vollbracht (Meumann, Ökonomie S. 167 f.). Das verständige Auswendiglernen kann nun erst dann eintreten, wenn eine verständige Erfassung des Stoffes, eine Erkenntnis der Gliederung desselben vorhergegangen ist, wenn also die Lernstoffe auf dem von Dörpfeld und den andern

Kley: Die Lehre vom Lernen. 287

Herbartianern gewünschten Wege des Neulernens erworben werden. Mit dem verständigen Auswendiglernen wird die begriffliche Auffassung und die Einteilung des Stoffes stets wiederholt. So ist das logische Merken von selbst mit steter Denkübung verbunden, muß also fördernd auf das Denken einwirken. Eine völlige Übereinstimmung mit Dörpfeld! (Habrich I S. 169, Stößner S. 76 u. Meumann, Ökonomie, S. 223 f.)

Zu welchen Folgerungen kommen wir auf Grund der einzelnen Untersuchungen? Netschajeff (S. 22) verlangt, daß das, was ein mechanisches Memorieren erfordert, mit Hülfe zweckmäßiger Übungen zu erlernen sei, welche die Schüler sowohl zum Wiederholen der Vorstellungen wie auch zur Feststellung gewisser logischer Verhältnisse zwischen den letzteren und früheren Fragen zwänge. Lernstoffe, die nach jeder Richtung hin gleich sicher und rasch reproduzierbar sein sollen, wie Geschichtszahlen und Ereignisse, Worte und Bedeutungs- vorstellungen, Vokabeln der eigenen und einer fremden Sprache, müssen in beiden Richtungen eingeübt werden (Offner, S. 42). Ist ein Text zu lernen, so sind die Wörter die scheinbar wichtigere Reihe, weil nur sie geprüft werden oder berzusagen sind. Aber in den meisten Fällen wird man wohl den Inhalt nicht ganz ignorieren, da er meist trotz des wörtlichen Lernens der wichtigere ist oder es doch wenigstens sein sollte (Offner, S. 217).

Die heutige Schulpraxis drängt nun mit Recht darauf, daß alles Memorieren und Behalten von einer möglichst gründlichen Inter- pretation des Erlernten ausgehen müsse, daß erschöpfendes Verständnis für den Sinn des Memorierstoffes die Basis alles Memorierens sei oder besser: daß die Darbietung und das Neulernen in der rechten Weise geschehen soll. Offenbar mit Rücksicht auf die Schwierigkeit, die das Unverstandene beim Lernen bietet, nennt Comenius den Lehrer, der eine Aufgabe gibt, ohne sie hinreichend erklärt zu haben, geradezu grausam (Offner, S.217 f.). Das rationelle Memorieren wird daher allem mechanischen vorgezogen. Je mechanischer und zwangs- mäßiger der Unterricht wird, destoweniger appelliert er überdies an die sittliche Selbstbestimmung des Kindes (Meumann, Vorlesungen IH S. 354 f. u. Ökonomie S. 229 ff.).

Das mechanische Moment ist jedoch nicht ganz zu umgehen und ein rein mechanisches Lernen ohne weiteres als schädlich für die Behaltfähigkeit anzusehen, wie Busemann (S. 269) es tut, ist etwas übertrieben. Allerdings soll anerkannt werden, dass das mechanische Auswendiglernen im reiferen Alter leicht schädigend und hemmend auf das Denken wirkt (Habrich I S. 169) Zu allem aber, was dauernder Besitz des Geistes werden soll, gehört ein wiederholtes

288 A. Abhandlungen.

Memorieren. Und wenn ein Text wörtlich auswendig gelernt werden soll, so muß dieses wiederholte Memorieren auch ein mechanisches Element enthalten, nämlich die bloßen Assoziationen der sinnlichen, optisch-akustischen und dergl. Elemente der gehörten und gesprochenen Worte (Meumann, Ökonomie S. 229 ff. Mit Unrecht glaubt man in der Schulpraxis alle Schwierigkeiten gelöst zu haben, wenn man vor dem bloßen mechanischen Lernen warnt und zum judiziösen mahnt (Wessely S. 300 f.).

Immerhin ist auch Dörpfelds Auffassung (Ges. Schriften I, S. 154), wenn auch verfehlt, zu verstehen, daß nämlich durch das judiziöse Gedächtnis das Memorieren, das als mechanisches Repetieren .eine subalterne Bedientenverrichtung sein würde, nunmehr in eine edle Herrenarbeit verwandelt sei. Dörpfelds Hauptfehler liegt lediglich eine Folge seines durchaus berechtigten Kampfes gegen das bloße Mechanisieren in der Unterschätzung des mechanischen Memo- rierens, weshalb er den Begriff judiziös vielleicht etwas zu weit faßt. Die Vorzüge, die er bei dem judiziösen, und die Nachteile, die er bei dem mechanischen Memorieren findet, erkennt auch die experimen- telle Psychologie im großen und ganzen an; jedoch ist nicht zu leugnen, daß er zeitweilig wohl etwas ins Extreme fällt, vielleicht allerdings absichtlich, weil er in allen seinen Schriften immer prak- tische Ziele im Auge hat und hier dem öden Verbalismus und Memoriermaterialismus scharf zu Leibe gehen will, wie er es schon 1869 begonnen hat in der Schrift: »Ein christlich pädagogischer Protest wider den religiösen Memoriermaterialismus.«< Die Behandlung und Beurteilung der Schüler soll auch auf ihren Vorstellungstyp Rück- sicht nehmen, wenn auch allerdings nicht das Lehrverfahren im allgemeinen, da jeder Schüler geübt werden muß, auch mit den ihm nicht geläufigen Vorführungsweisen zu arbeiten (Meumann, Öko- nomie S. 125). Jedenfalls ist das mechanische Element in seinen verschiedensten Variationen, das Dörpfeld teils unterschätzt, teils igno- riert, m. E. nie zu umgehen. Und ein Verstehen der logischen Seite bedingt ohne weiteres ein Behalten nicht. Eine feste Grenze zwischen den beiden Memoriertypen gibt es indessen wohl nicht (Toischer, S. 137). Das hat schon Dörpfeld unwiderleglich dargetan.

Kürzer können wir uns über die dritte Art des absichtlichen Memorierens fassen, die mnemonische, semiotische oder nach Kant ingeniöse genannt, da hier Dörpfeld ziemlich vollständig mit den modernen Ergebnissen einig steht. Die mnemonische Einprägungsweise,

Kley: Die Lehre vom Lernen. 289

welche die Erfindung von bestimmten symbolischen Verhältnissen zwischen den Eindrücken fordert, die behalten werden müssen und andere mehr oder weniger leicht zu reproduzierende Vorstellungen (Netschajeff S. 4), bei der man also völlig vereinzelte, unzusammen- hängende Vorstellungen mit Hilfsvorstellungen assoziiert (Dyroff S. 208), ist dem Stoffe nach eine Subspezies des mechanischen Memorierens, der Verknüpfung nach des judiziösen (Ges. Schriften I, S. 112), trägt also je nachdem mehr den Charakter des mechanischen oder den des judiziösen Memorierens (Wessely, S. 301).

Diese Gedächtniskrücken darf die Geistesgymnastik nicht syste- matisch gebrauchen, was nicht ausschließt, daß man in gewissen ein- zelnen Fällen, um z. B. einer Verwechselung vorzubeugen, dem me- chanischen Gedächtnis in freierer Weise künstlich zu Hilfe kommt, vielleicht auch deshalb, um die Schüler darauf aufmerksam zu machen, daß es ein solches Hilfsmittel gibt (Ges. Schriften I, S. 111). Auch Meumann (Ökonomie S. 233) und Habrich (I S. 170) sind der Meinung, daß einer gelegentlichen Anwendung von Gedächtnishilfen aus psychologischen wie aus praktischen Gründen nichts im Wege stehe, jedoch wäre es entschieden zu verwerfen, die ganze formale Gedächtnispflege darauf zu stützen. Ähnlich betont Ebbinghaus (I S. 707) mit Recht, daß solch künstliche Gedächtnishilfen, obwohl sie die Stiftung und Wiederholung besonderer Hilfsassoziationen nötig machen, doch unter Umständen die Arbeit erleichtern. Stößner (S. 77 f.) steht ebenso auf dem Standpunkte, daß manche von solchen Gedächtnisstützen gute Dienste leisten können, gleichwohl aber nur sparsam zu verwenden sind; am besten wäre es, wenn der Schüler sie nicht einem fertigen System entnimmt, sondern sich selbst bildet. Einen etwas ablehnenden Standpunkt nimmt Wessely (S. 301) ein, der der Ansicht ist, daß Dinge, die sich nur auf diesem Umwege behalten lassen, im allgemeinen die Einprägung nicht verdienen. Fast genau so drückt sich auch Dörpfeld (Ges. Schriften I, S. 111 f.) aus, daß die Schule nicht mehr Zahlen lernen lassen soll, als mit den natürlichen Gedächtnismitteln bewältigt werden können.

* * *

Erwähnt sei noch, daß Dörpfeld (Ges. Schriften I, S. 156) be- sondere Gedächtnis- und Denkübungen verwirft oder sie vielleicht höchstens an einem wertvollen Stoffe vornehmen lassen will. Doch ist seither die Wertschätzung der gedächtnismäßigen sicheren Einprägung in der pädagogischen Theorie wesentlich gestiegen und besondere Übungen

Zeitschrift für Kinderforschung. 22. Jahrgang. 19

290 A. Abhandlungen. des Gedächtnisses sind verlangt worden, da man anscheinend nach- wies, daß durch Übung wirklich eine Steigerung des Gedächtnisses eintritt (Toischer S. 137). Indes ist dies Ergebnis auch noch nicht so klar und Dörpfelds Meinung noch nicht endgültig abgetan. Ins- besondere wendet sich auch Meumann (Vorlesungen I S. 466 f.) gegen die formalen Gedächtnisübungen der Volksschule.

* * *

Genauer sei nunmehr auf Dörpfelds Forderung eingegangen, daß alles »stücklich« gelernt werden müsse (s. S. 280 f. u. 282), da sich mit dieser Frage die experimentelle Forschung neuerdings ganz be- sonders beschäftigt hat. Die Untersuchungen wurden zunächst nach zwei Verfahren angestellt, nach dem G-Verfahren globales Lernen, Ganzlernmethode, bei der der Lernstoff immer von Anfang bis zu Ende durchgegangen wird, bis man ihn ohne Stockung aufsagen kann und nach dem T-Verfahren, der Teillernmethode, wonach eben stücklich gelernt wird. Betrachten wir zunächst die Ergebnisse der letzteren Methode!

Die Teillernmethode wurde von Ephrussi (S. 80 u. S. 98 ff.) bei sinnlosen Silben als die vorteilhaftere gefunden, sowohl hinsichtlich der Trefferzahl wie auch der Reproduktionsgeschwindigkeit. Wichtig aber ist, daß sie hinzufügt, daß dies nur für die Fälle gilt, wo nicht eine mangelhafte Konzentration der Aufmerksamkeit vorhanden ist; denn in zwei Versuchen, wo die Aufmerksamkeit ermüdet war, trat das Gegenteil ein. Bei minderer Aufmerksamkeit stellte sie nämlich fest, daß T seinen Vorzug vor G verliert oder sogar ganz hinter G zurück- tritt. Bei G ist man nämlich durch die Neuheit und Ungeläufigkeit der Silbenfolgen viel eher veranlaßt, sich aufmerksam zu verhalten als bei T, wo die späteren der unmittelbar aufeinanderfolgenden Wiederholungen eines und desselben Silbenpaares die Versuchsperson leicht langweilen, weniger Aufmerksamkeit erfordern und sehr leicht eine wesentlich nur motorische Einprägung erfahren. Aber auch bei dem Lernen mit sinnschaffenden Stoffen erzielte Ephrussi (S. 89) nach dem T-Verfahren, wenn auch mit geringerer Schärfe als bei sinnlosen Stoffen, durchweg größere Trefferzahlen als nach G und führte zu einer größeren Reproduktionsgeschwindigkeit. Ähnliche Resultate er- zielte sie mit russisch-deutschen Vokabelpaaren, während bei der Einprägung von Zahlen oder von Wort- und Zahlenpaaren G bessere Werte ergab. Magneff (S. 22 f. und 32) konstatierte ähnlich den Vorzug von T beim Neulernen von Vokabeln, wofür nach diesem

Kley: Die Lehre vom Lernen, 291

Verfahren durchschnittlich nur 8,1, nach G aber 13,9 Wiederholungen erforderlich waren. Nach den Versuchen von Müller und Pilzecker ergab sich bei Kindern direkt eine Abweichung von Erwachsenen, in- dem für das Erlernen das »fraktionierende«e T—-Verfahren sich als weit ökonomischer zeigte als G, und zwar war dieser Vorteil um so größer, je weiter die »Fraktionierung« ging. Ähnlich fand Penschew bei Kindern, daß sie sinnlose oder schwierige Stoffe nach T besser lernten. Dies spricht an und für sich nicht für den Vorteil von T, da es lediglich in der ungeübten Kindesnatur liegt; bei geübteren Kindern ergaben sich andere Resultate.!) Ebbinghaus (I S. 670 ff.) ist der Meinung, daß sehr ungeläufige Stoffe, z. B. fremdsprach!iche Worte, sinnlose Silben, unter Umständen besser nach T gelernt werden. Wenn es ferner nicht auf die zusammenhängende Wiedergabe eines Stoffes, sondern auf die Einprägung seiner Glieder in Paaren oder kleineren Gruppen ankommt und dabei die Glieder solcher Gruppen nicht nur in der ursprünglich erlernten, sondern auch in der um- gekehrten Ordnung einander reproduzieren sollen, so sei T ebenfalls vorteilhafter, da durch G hier ein gar nicht beabsichtigter Zusammen- hang hergestellt würde, dessen Lockerung hinterher oft eine erheb- liche Arbeit nötig mache.

Wesentliche Mängel fallen einem aber sofort beim T-Verfahren in die Augen, wie u. a. besonders aus Steffens’ (S. 363 ff.) Versuchen hervorgeht: es stiftet direkt schädliche Assoziationen, die einzelnen Abschnitte der zu lernenden Strophen, Silbenreihen und dergl. werden im allgemeinen verschieden oft wiederholt, also ein hinlänglich gleich- mäßiges Eingeprägtwerden der verschiedenen Abschnitte wird nicht garantiert; endlich ist die Art und Weise, wie die einzelnen Wieder- holungen über die Zeit des Lernens verteilt werden, für die ver- schiedenen Abschnitte eine verschiedene. Wichtig ist aber auch, was Meumann (Ökonomie S. 248 f. und Vorlesungen III S. 98) hinsichtlich der Behaltfähigkeit des nach T Gelernten feststellt. Das Behalten von Stoffen nach der T-Methode ist weniger ausdauernd, das Ver- gessen tritt also wesentlich schneller ein (ähnlich Magneff, S. 38 f.).

Wie steht es nun mit der G-Methode? Sehr günstige Resultate erzielte Lottie Steffens (S. 352 ff.), die ihre Versuchspersonen, meist Erwachsene, neunzeilige Strophen lernen ließ. Im Durchschnitt wurden auf eine Strophe mit dem G-Verfahren 2 Minuten 47 Sekunden und

bekanntes oder sonstige Schwierigkeiten bieten. Weitere Gründe s. S. 293. 19*

292 A. Abhandlungen.

mit dem T-Verfahren 3 Minuten 3 Sekunden verwandt. Auch bei sinnlosem Material wies & sogar etwas günstigere Resultate auf; kurz, bei allen Versuchen von Steffens führte G schneller zum Ziel, wenn auch der Vorteil vor T vielfach nur gering war. Bei möglichst schneller Erlernung und wo es auf möglichst rasches Behalten an- kam, ist nach ihren Versuchen also das globale Verfahren vorteil- hafter. Ähnlich waren bei Magneff (S. 14) nach T durchschnittlich 10,9 Wiederholungen erforderlich, nach G nur 8,52, also 22 °/, weniger. Eine Ausnahme konstatiert Magneff, wie wir gesehen, beim Neulernen von Vokabeln, wo nach G 13,9 Wiederholungen nötig sind, nach T aber nur 81. Den Grund dieses Vorzugs von T sieht er mit Recht in der Natur des Stoffes, da es sich beim Lernen von Vokabeln nicht um die Herstellung einer kontinuierlichen Reihe aufeinanderfolgender Assoziationen handelt. Doch ist auch hier bemerkenswert die Diffe- renz von 17°/, zu Gunsten von G, wenn man das Vergessen in Be- tracht zieht (Magneff, S. 22 f. u. S. 32).

Bei G ist aber auch die Zahl und zeitliche Verteilung der Wiederholungen für alle Abschnitte des zu erlernenden Stückes ganz dieselbe, G garantiert also eine größere Gleichmäßigkeit der Ein- prägungen der verschiedenen Abschnitte, ebenso ist G gegenüber T im Vorteil wegen der Assoziationen durch mittelbare Folge, die sich zwischen den Gliedern verschiedener Abschnitte herstellen und wegen des Einflusses der absoluten Stellen der verschiedenen Abschnitte (Steffens, S. 363 f., 366 u. 358 ff.), während T immerhin alle Schwierig- keiten der einzelnen Glieder besser meistern kann; denn der Unter- richt muß auch darauf bedacht sein, durch passende Gliederung beim visuellen Darbieten sowohl wie beim sprachlichen Mitteilen die Lokali- sation der einzelnen Eindrücke zu ermöglichen und so die Arbeit des Gedächtnisses zu erleichtern (Braunshausen, S. 54), gewiß ein Vor- teil für das Neulernen wie Einprägen, den allerdings Dörpfeld, trotz der großen Bedeutung, die er den Frageheften beimaß, kaum genügend würdigte.

Bei Steffens’ Versuchen umfaßt das zu erlernende Stück nicht mehr als zwei neunzeilige Strophen oder eine 24silbige Silbenreihe. Wie die Resultate bei größeren Stoffen ausfallen würden, bleibt bei ihr unentschieden. Diese Lücke ergänzte Pentschew, indem er sogar bei fünf achtzeiligen Strophen der Äneis- Übersetzung von Schiller G ebenfalls als vorteilhafter kennen lernte.

Steffens und Pentschew finden also für sinnloses und sinnvolles Material: erstere für das Einprägen, letzterer sowohl für dieses wie für das Wiedererlernen G günstiger als T (vergl. Schoeneberger,

Kley: Die Lehre vom Lernen. 293

S. 121 £.); aber selbst beim Lernen von Stoffen, die kein zusammen- hängendes Ganzes bilden, z. B. Vokabeln einer Fremdsprache, Jahres- zahlen usw. zeigte sich bei Meumanns Versuchen (Ökonomie, S. 190 f.) G vorteilhafter als T.

Larguier des Bancels bestätigte ebenfalls Steffens’ Ergebnisse: »La méthode globale pure est plus économique que la méthode frag- mentaire«. Derselbe Autor hatte zwei Jahre später Gelegenheit, eine seiner Versuchspersonen, die inzwischen die gelernten Stücke nicht wieder zu Gesicht bekommen hatte, aufs neue zu prüfen, und sie konnte von den nach G gelernten noch 16,6, aber von den nach T gelernten nur mehr 9,4 Wörter wiedergeben (vergl. Braunshausen, S. 58). Ähnlich ergaben Magneffs Versuche (S. 12 ff.) bezüglich des Verbleibens im Gedächtnis für G ein um 9,1°/, höheres Resultat Neumann (S. 63, 75 u. 173), der die verschiedenen Methoden noch- mals prüfte, fand auch G besser sowohl hinsichtlich des Einprägens wie besonders hinsichtlich des Behaltens.

Die allgemein psychologische Überlegung und das Experiment zeigen also, daß G das psychologisch richtige und zugleich das bei weitem ökonomischere ist, d. h. es führt mit weniger Wiederholungen, meist auch in kürzerer Zeit zum erstmaligen Auswendighersagen und, was das wichtigste ist, es ermöglicht auch eine sichere Reproduktion und ein treueres und dauernderes Behalten als T (Meumann, Ökonomie S. 179).1) Bei G wird die Assoziation in derselben Reihenfolge ge- knüpft, in der sie reproduziert werden muß, und Ebbinghaus hat ge- zeigt, daß sogar zwischen entfernteren Gliedern einer Reihe Bande geknüpft werden, die auf das Behalten von Einfluß sind. Wird ein Gedicht strophenweise gelernt, so treten zwischen Ende und Anfang einer Strophe Assoziationen, die nachher wieder zerstört werden müssen, um das Ende der einen an den Anfang der folgenden Strophe zu knüpfen (vergl. Braunsbausen, S. 59). Den Hauptgrund des Vorzuges von G bei sinnvollen Stoffen sieht Braunshausen (S. 59) aber in der größeren Auf- merksamkeit, die durch das gesteigerte Interesse bei einem in sich zu- sammenhängenden und abgeschlossenen Gedankengang bedingt ist. Beim mechanischen Lernen führt anfangs T schneller zum Ziel als G, weil G die Kinder anfangs unlustig macht, weil sie längere Zeit keinen Fortschritt sehen. Da aber die Gefühlslage, die Stimmung für die Geistesarbeit des Kindes, namentlich der jüngeren Kinder, von aller- größter Bedeutung für den Erfolg ihrer Arbeit wird, so stellt sich,

1) Vergl. hierzu auch Schulze R., Aus der Werkstatt der experimentellen Psychologie und Pädagogik. Leipzig 1913, S. 225.

294 A. Abhandlungen. wenn das Thema zu groß und zu schwierig ist, leicht Mißmut und mangelndes Vertrauen ein, die das Lernen erschweren (vergl. Meu- mann, Ökonomie S. 189 f., Braunshausen, S. 59 f. u. Dyroff, S. 207 f). Ein Nachteil haftet aber immerhin dem G-Verfahren an. Schon Steffens (S. 355 f.) wies darauf hin, daß, wenn in der zu lernenden Strophe, Silbenreihe und dergleichen ein Abschnitt vorhanden ist, der sich besonders schwer einprägen läßt, wegen dieses Abschnittes alle übrigen eine Anzahl für ihre Einprägung ganz überflüssiger Wieder- holungen erfahren müssen, während bei dem stückweise vorgehenden Verfahren jener besonders schwierige Abschnitt ganz allein wieder- holt werden kann. Ferner ist zu bedenken, daß bei längerer Dar- bietung die Intensität der Aufmerksamkeit regelmäßig gegen die Mitte des Stoffes hin erlahmt und am Anfange und Schluß etwas größer ist, so daß der mittlere Teil des Erlernten manchmal eine gewisse Unsicherheit behält (Meumann, Vorlesungen III S. 96).

Die vermittelnde V-Methode, von Meumann und Ebert angeb- lich ersonnen, doch auch schon von Dörpfeld und allen nachdenkenden praktischen Didaktikern vor ihm befolgt, will nun die Fehler von G und T vermeiden und ihre Vorzüge vereinen. Sie schreibt vor, daß man den Stoff einerseits in Teile zerlegt und daß man nun nach jedem einzelnen Teile eine kleine Pause im Lesen einschaltet; trotz- dem aber lernt man, wie bei G, immer das Ganze, indem man es stets von Anfang bis zu Ende durchliest. Eine Modifikation der V-Methode besteht darin, daß man den Stoff nach der G-Methode auswendig lernt, bis daß die Versuchsperson das Bewußtsein hat, daß nur noch bestimmte Partien besondere Schwierigkeiten bieten. Diese werden dann vorübergehend allein gelernt, hierauf wird wieder zur G-Methode zurückgekehrt. Nach letzerer Art empfiehlt Meumann zu verfahren, wenn der Stoff ganz besonders große Ungleichheiten in der Schwierigkeit darbietet.

Die V-Methode hat tatsächlich ganz besondere Vorzüge. Der Stoff ermüdet die Aufmerksamkeit nicht zu sehr, man setzt nach jeder Silbengruppe oder Strophe nach der kurzen Pause mit frischer Aufmerksamkeit ein; aber auch die Schwäche der Assoziation der mittleren Partie eines Stoffes wird vermieden, und endlich ist man durch die Zerlegung in kleinere Abschnitte in der Lage, in einen Abschnitt, der besonders schwierig ist, mit neuer Frische der Aufmerksamkeit einzutreten und gleichwohl vor falschen Assoziationen behütet zu werden (vergl. hierzu Meumann, Vorlesungen DI S. 96 f) Zwar ergab V bei den Versuchen von Neumann

Kley: Die Lehre vom Lernen. 295

(S. 173) keine so günstigen Resultate, sie stand etwa zwischen G und T. Über das Verhältnis der G- und V-Methode gehen die Meinungen noch auseinander, jedoch läßt sich nach den Erfahrungen der meisten Experimentatoren mit V sowohl am schnellsten zum Ziel des erst- maligen Auswendighersagens gelangen als zum besten dauernden Behalten und zur fehlerlosesten Reproduktion. Meumann bezeichnet V als die am meisten ökonomische Lernmethode (vergl. Meumann, Vorlesungen III S. 98 und Ökonomie, S. 142 ff.).

Gegenüber so vielen übereinstimmenden Zeugnissen mutet einen das Urteil Busemanns (S. 255 f.) doch etwas sonderbar an, daß die Frage des ökonomischen Lernens zwischen globalem und fraktionieren- dem Lernen noch nicht entschieden sei. Das neben Dörpfeld von vielen Didaktikern empfohlene stückweise Lernen hat sich nicht als das beste, d. h. in der kürzesten Zeit und mit dem geringsten Kraft- aufwand zum Ziele führend, erwiesen. Wie weit er mit den auf S. 279£. angeführten Beispielen des allzu stücklichen Verfahrens beim mechanischen Memorieren übereinstimmt, ist nicht klar zu ersehen. Wenn er aber bei einer biblischen oder geschichtlichen Lektion diese nicht einfach in kleinere Portionen teilt, sondern in logische Ab- schnitte, die er wieder mit begrifflichen Überschriften versieht, so kommt diese Memorierart den heutigen Forderungen schon näher oder vielmehr: letztere folgen sogar Dörpfeld. Er bietet doch erst das Ganze, zergliedert das Ganze, ordnet die Teile logisch und befestigt dann die Teile und darnach wiederum die Teile im Zusammenhang. Vollends, wenn Dörpfeld (Ges. Schriften I, S. 114 ff.) unter dem »stücklich« Lernen mitunter einfach das Repetieren nach Fragen ver- steht, so dürfte hiergegen kaum etwas einzuwenden sein. Das Lernen im Ganzen ist aber zudem da zu vermeiden, wo nicht eine zu- sammenhängende Wiedergabe, sondern nur die assoziative Verbindung einzelner Vorstellungen zu paarweisen Gruppen erstrebt wird, z. B. beim Lernen von Vokabeln, Geschichtszahlen und dergl. mehr. In diesem Punkte bedarf Neumanns überraschendes Ergebnis, daß global, d. h. durch wiederholtes Durchlesen der ganzen Reihe gelernte Vokabelpaare auch beim Abhören außer der Reihe sich besser assoziiert zeigen als einzeln eingeprägte, wie auch die obenerwähnten Darlegungen Meumanns (s. S. 292) über das Erlernen von Vokabeln einer Nach- prüfung.

Wie soll nun das Wiederholen vor sich gehen? Dörpfeld (Ges. Schriften I, S. 89 f) verlangt, daß Neulernen und Einprägen streng parallel gehen müssen. Letzteres soll nicht so lange verschoben

296 A. Abhandlungen.

bleiben, bis alle drei Operationen des Neulernens beendigt sind. Denn je länger damit gewartet würde, desto mehr könnte schon von dem Aufgefaßten wieder verloren sein. So soll sich also an die An- schauungsoperation sofort ein Einprägen des Anschauungsstoffes und an die Denkoperation ein KEinprägen des Denkergebnisses an- schließen. Für gewöhnlich wird die Anschauung nicht einge- prägt, wodurch dann leicht das Endergebnis ein stark verbales wird. Nur beim Anwenden fällt die Einprägungsübung fort, weil sie an und für sich den Denkakt ständig wiederholt, mithin schon von selbst eine Einprägungsarbeit verrichtet. Dörpfeld stellt es nun anheim, an- statt dieser ausfallenden Memorierübung eine Schlußreproduktion der gesamten Lektion als Prüfung vorzunehmen, sei es mündlich oder schriftlich, in letzterem Falle vielleicht in Form eines selbständigen Aufsatzes.

Zunächst dürfte man sich daran stoßen, daß z. B. der kon- krete Anschauungsstoff in allen seinen Einzelheiten eingeprägt, ob- wohl er nicht in allen seinen Teilen durchgearbeitet wird, sondern vielleicht nur ein einziger Gedanke. Diesem Einwand begegnet Dörp- feld mit dem Hinweis darauf, daß das, was von dem Anschauungs- stoff bei dieser Gelegenheit nicht begrifflich verarbeitet wird, später bei einer anderen Lektion zur Verwertung gelangen kann. Die späteren Vergleichungs- und Anwendungsbeispiele könnten eben aus den vorhergegangenen Lektionen genommen werden, weshalb diese eben stets disponibel und präsent sein müßten. Was aber gleichwohl innerhalb des Schulunterrichts noch nicht zur begrifflichen Verarbeitung käme, das könne im späteren Leben dazu gelangen. Vor allen sind es zwei Erwägungen, die Dörpfeld (Ges. Schriften I, S. 89 f.) zu dieser Praxis führen. Sind die Anschauungen nicht eingeprägt, nicht disponibel gemacht, so wird die Denkoperation nur schwerfällig von statten gehen oder vielleicht gar nicht gelingen; ist das Denkergebnis nicht eingeprägt, so sieht sich das Anwenden gehindert. Der zweite Grund, den er anführt, ist der, daß alles Einprägen möglichst bald nach dem ersten Erfassen geschehen müsse; denn je länger damit ge- wartet wird, desto mehr kann schon von dem Aufgefaßten wieder verloren sein. Wenn die Repetition nötig wird, so käme sie zu spät. Daher dürfe auch die summarische Repetition nicht warten, bis be- reits viel vergessen ist (Hindrichs, S. 89 u. Ges. Schriften II, S. 50).

Vor allem also legt Dörpfeld großes Gewicht auf die erste Wieder- holung, die auch, wie die modernen Untersuchungen ergeben haben, von größter Kraft, die Hauptträgerin der Erlernungsarbeit und des Behaltens ist; die folgenden dienen nur noch einer letzten Be-

Z— nn en a a a

Kley: Die Lehre vom Lernen. 297

festigung (vergl. bes. die Untersuchungen von Knors, S. 308ff. und 314; ferner Meumann, Vorlesungen III S. 128, Offner, S. 61 f. u. a. m.).

Es ist nun unvorteilhaft, das Auswendiglernen eines größeren Stoffes durch Häufung der Wiederholungen mit einem Male erzwingen zu wollen, da ein Lernen, das nur bis zum erstmaligen Auswendigher- sagen fortgeführt worden ist, keineswegs ein dauerndes Behalten garantiert. Hierzu ist eine spätere Wiederauffrischung unentbehrlich, denselben Stoff muß man an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen wieder lernen. Man darf nämlich nicht annehmen, einen Stoff sicher zu haben, wenn man ihn sofort richtig reproduzieren kann. Aber selbst, wenn man einen Stoff mit einem Male so lernen will, daß er dauernd behalten wird, so bedarf es eines bedeutenden Mehraufwandes an Wiederholungen, desto geringer ist aber gleichwohl der Einprägungs- wert der einzelnen Wiederholung, wie die verschiedensten Experimente erwiesen haben (Meumann, Vorlesungen III S. 91 ff., Ökonomie, S. 204, Offner, S. 66; vergl. auch Dyroff, S. 205). Die Verteilung der Wieder- holungen beim Lernen ist eine ganz besonders wichtige Bedingung. Hierdurch wird zunächst vermieden, daß wir zu sehr ermüden und abstumpfen und daß die späteren Wiederholungen infolgedessen allzu wenig Wirkung für das Gedächtnis haben (Meumann, Vorlesungen IlI S. 91 f); ebenso stellt sich der Vorteil für die Festigkeit der durch die Verteilung gestifteten Assoziation als ein sehr bedeutender dar (Ebbinghaus I S. 658 ff. und Offner, S. 60). Bei regulärer Ver- teilung der Wiederholungen über einen gegebenen Zeitraum ist die ausgiebigere Verteilung zugleich die vorteilhaftere (Steffens, S. 368 ff.). Die Überlegenheit der sogenannten Verteilungsreihen d. i. Reihen, die mit verteilten Wiederholungen gelernt wurden über die so- genannten Kumulativreihen Reihen, bei denen die ganze Zahl der Wiederholungen auf einmal vorgenommen wurde ist durch die Ver- suche von Müller-Pilzecker (S. 232 ff.), Lottie Steffens (S. 368 ff.) u.a. gesichert. Hierauf fußend stellt Offner (S. 70 ff.) den Satz auf: »Ein sich wiederholender psychischer Vorgang, genauer: eine Mehrheit qualitativ identischer, Assoziationen stiftender und stärkender psychischer Vorgänge hinterläßt bei gleicher Gesamtzahl stärkere Assoziationen, wenn diese Vorgänge durch Intervalle in Gruppen Wiederholungsgruppen ge- trennt werden, als wenn sie alle unmittelbar nacheinander stattfinden.« Und zwar werden diese Assoziationen um so stärker, je. größer innerhalb gewisser Grenzen die Zahl der Wiederholungsgruppen ist; welche Intervalle allerdings hierbei am günstigsten sind, ist noch nicht festgestellt.

298 A. Abhandlungen.

Der Einprägungswert einer Wiederholung hängt eben davon ab, ob und in welchem Stärkegrade die betreffende Assoziation schon vor- her bestand. Eine Neuwiederholung wirkt auf diejenige Assoziation am stärksten ein, die zu einer beliebigen Zeit vorher am stärksten eingeprägt war (Lipmann, S. 195 f. und 225, vergl. dagegen auch Knors, S. 358). Nach Jost (S. 472) werden nun »ältere«, d. i. früher von uns erworbene Vorstellungsreihen leichter wieder befestigt als »jüngere«, kürzlich erworbene. Man kann also einen jungen Lern- stoff, auch wenn er ebenso gut sitzt wie ein viel früher angeeigneter oder sogar noch besser als dieser, nicht als einen gleich sicheren Be- sitz ansehen.

Es ist mithin dem Schüler anzuraten, statt gleich bei dem ersten Ansatz ein größeres Pensum bis zum völligen Erlernen zu wieder- holen, lieber nach einer bestimmten Anzahl von Lesungen, wenn vor allem die Einprägung nicht mehr recht vorwärts geht, damit ab- zubrechen und zu etwas anderem überzugehen und am Tage darauf das Erlernte fortzusetzen (Braunshausen, S. 75, Meumann, Vorlesungen II S. 126 ff). Die Erfahrung zeigt ja, daß das, was man durch un- mittelbare Aufeinanderfolge von Wiederholungen bis zur mecha- nischen Fertigkeit eingeübt hat, ein oder zwei oder mehrere Tage später sich als sehr unsicherer Besitz erweist, während ein zuerst nur zu mäßiger Sicherheit angeeigneter, dann aber in Abständen von je ein paar Tagen wieder eingeübter Lernstoff ein viel verlässigerer Gewinn ist (Offner, S. 67 und 73).

Auch Dörpfeld ließ sich eine Verteilung der Repetitionen an- gelegen sein. Er kennt ein dreimaliges, höchstens jeweilig ein vier- maliges Durchgehen der Geschichte: sie wird zuerst in der Schule gelesen, wo möglich nach Fragen; dann wird sie zu Hause nach- gelesen, sofern der Lehrer das auf der betreffenden Stufe für nötig findet, sei es behufs der sachlichen Repetition oder behufs der Lese- übung auf der Oberstufe wieder nach Fragen; zum dritten wird die Geschichte nach Fragen mündlich frei reproduziert, woran sich dann jeweilig ein zusammenhängendes Wiedergeben anschließt (Ges. Schriften IH, S. 43 ff. und Didakt. Material. S. 119 f.) Dörpfeld legt auf die erste Wiederholung auch großes Gewicht, und es emp- fiehlt sich wirklich, die ersten Wiederholungen zur Einprägung eines Lernstoffes im Unterricht selbst unter der straffen Schuldisziplin vornehmen zu lassen (Stößner, S. 68 f.) Nicht richtig dürfte es jedoch sein, wenn Dörpfeld auf jeder Formalstufe direkt den Stoff bis zur gewünschten Sicherheit und Geläufigkeit haben will, wenn von der ersten Auffassung noch nichts verloren sei. Freilich schreitet,

Kley: Die Lehre vom Lernen. 299

wie S. 279 dargelegt, das Vergessen ungemein schnell fort, aber das kann nach früheren Erörterungen nicht ausschlaggebend hierfür sein, sondern höchstens für die Einschränkung des wörtlichen Auswendig- lernens. Spätere Wiederholungen sind jedenfalls erforderlich.

Wiederholung ist nun aber nie allein das einübende Moment, sie bedarf vielmehr, um überhaupt wirksam zu sein, wahrscheinlich immer der Mitwirkung von Gefühls- und Willenselementen. Unlust und Widerwillen behindern den Erfolg der Einübung, ja, wenn sich Aufmerksamkeit, Wille und Interesse gar nicht beteiligen, so kann sie völlig wirkungslos bleiben. Je mehr Interesse aber einer Einübung entgegengebracht wird, desto wirksamer sind die einzelnen Wiederholungen, ja die Beteiligung des Interesses, des Willens, der Aufmerksamkeit kann ein gewisses Quantum von Wiederholungen er- sparen. Ohne Mitwirkung der Aufmerksamkeit fast kein Behalten! (Meumann, Vorlesungen III S. 54 und 150 und Offner, S. 59). Bei Kindern ist nun die Aufmerksamkeit weniger intensiv und konstant als bei Erwachsenen, weshalb sie auch mehr Wiederholungen vor- nehmen müssen (Braunshausen, S. 67 f. und Stößner, S. 67 f.). Je mehr wir über einen Gedächtnisstoff volle Herrschaft und freie Verfügung haben wollen, d. i. je leichter, sicherer und dauernder und je genauer und vollständiger er reproduzierbar werden soll, je weniger ferner aber auch ein Gedächtnisstoff Anhaltspunkte und Gelegenheit zur An- knüpfung weiterer Vorstellungsassoziationen, zur Einordnung des Stoffes in weitere Vorstellungskreise und zur logischen und verstandes- mäßigen Verarbeitung bietet, umsomehr tritt die aufmerksame Wieder- holung in Kraft, umsomehr wird sie sogar zum ausschließlichen Lern- mittel; sie tritt umsomehr zurück, je mehr ein Stoff die letztgenannten Eigenschaften hat, verliert aber niemals ihre Bedeutung (Meumann, Ökonomie, S. 194 ff... Immerhin läßt sich die Aufmerksamkeit nicht lange auf denselben Stoff gespannt halten. Nach Offner (S. 64 f.) ging das Lernergebnis bereits nach der dritten aufmerksamen Lesung zu- rück, teils infolge Ermüdung, teils aber, weil man das Interesse ver- liert, das gerade dem Anfang der Lernarbeit als etwas Anderem, vielleicht sogar Neuem, größere Aufmerksamkeit sichert.

Der Aufmerksamkeit weist Dörpfeld ihren gebührenden Rang zu, wenn er alle Repetitionsformen anzuwenden liebt: Lesen, Abfragen, zusammenhängende Darstellung usw., aber auch dadurch, daß er der Langweiligkeit vorzubeugen sucht, daß er endlich die Schüler sich stets besinnen läßt, die somit auf Inhalt und Ausdruck achten müssen (Didakt. Material. S. 119 ff.; vergl. auch S. 274 £.).

300 A. Abhandlungen.

Verschiedentlich wendet sich Dörpfeld gegen das Schnellernen, gegen die Antwortblitzerei u. dergl. mehr. Dem Schüler soll Zeit gelassen werden zu ruhigem Besinnen, da der Gewinn nicht darin zu suchen sei, daß die Antwort möglichst schnell, sondern daß sie denkend geschehe (vergl. u. a. Ges. Schriften I, S. 116). Was sagt hierzu die experimentelle Psychologie?

Epbrussis Versuche (Seite 63, 209 ff. und 221) wie die von Schöneberger (8. 45) u. a. haben gezeigt, daß die durch rascheres Lesen gestifteten Assoziationen mit der Zeit viel rascher abfallen als die bei langsamerem Lesen gestifteten, daß ferner das schnellere Lernen von einem gewissen Betrage an die Versuchsperson in ihrer Auffassungsfähigkeit und in der Bildung der die Einprägung und noch mehr die Reproduktion unterstützenden Komplexe stärker be- einträchtigt und durch Abhetzung mehr ermüdet als das Lesen mit geringerer Geschwindigkeit (Offner, S. 57). Ebbinghaus (I S. 672 ff.) behauptet jedoch auf Grund seiner Untersuchungen, ein möglichst schnelles Tempo sei im allgemeinen am vorteilhaftesten, wenn auch hierbei, absolut genommen, mehr Wiederholungen erforderlich sind als bei geringeren Geschwindigkeiten; aber dieser Mehraufwand würde doch noch überwogen durch die geringere Zeitdauer der einzelnen Wiederholungen. Doch bestätigten Külpes und Ogdens Versuche, daß es eine Täuschung sei, zu glauben, durch allzu schnelles Lernen Ar- beit zu ersparen. Je schneller man lernt, um so wirkungsloser wird tatsächlich die einzelne Wiederholung, weil sie zu flüchtig ist. Für das erstmalige Auswendighersagen ist der Effekt des schnellen Lernens in der Regel zwar günstiger, aber kein günstiger für das dauernde Behalten (vergl. Meumann, Vorlesungen III S. 79 f. und Busemann, S. 223). Dies ist jedoch das wichtigste, und Dörpfelds Ansicht trifft hier voll und ganz zu. Jedoch ist darauf hinzuweisen, daß sich keine für alle Menschen gültige Normalgeschwindigkeit des Lernens her- stellen läßt, sondern jeder wird je nach Veranlagung und nach Ver- trautheit mit dem zu Lernenden ein anderes Tempo wählen (so Brauns- hausen S. 48 £.).

*

Aus den vorausgegangenen Erörterungen ergeben sich als zweck- mäßig für den Unterricht vor allem die folgenden Forderungen: 1. Die formalen Stufen haben allgemeine Gültigkeit, erleiden je- doch, je nach den verschiedenen Stoffen, verschiedene Modi- fikationen.

Deo m EEE A

Bund

11.

12.

13.

14.

15.

Kley: Die Lehre vom Lernen. 301

Zur Vermittlung der anschaulichen Darstellung ist nur das mündliche Lehrwort zulässig, das sich frei bewegen können muß. Beim Vortrag soll möglichst die Unterredung mitwirken. Dabei sollen aber die Schüler möglichst zum Selbstfinden an- geleitet werden, wobei jedoch das Entlegene durch Vergleichungs- und Anschauungsbeispiele dem Standpunkt der Schüler näher zu bringen ist.

Nach Möglichkeit soll ohne Buch gelehrt werden.

Die wichtigste und unentbehrlichste Hilfe alles Lernens und Be- haltens ist das volle Verständnis des Inhalts. Nur Verstandenes ist auswendig zu lernen.

Die Antwortblitzerei, die auf so manche imponierend wirkt, hat nicht selten ein leeres Wortwissen zur Folge.

Dasselbe gilt vom Schnellernen; je schneller man lernt, um so wirkungsloser die einzelne Wiederholung.

. Der Gedächtnisstoff ist auf das Notwendige zu beschränken.

Das von Dörpfeld und anderen empfohlene »stückliche« Lernen hat sich nicht als das beste erwiesen. Immerhin kommt Dörpfeld durch seine logische Zergliederung des Stoffes der V-Methode, die heute als die am meisten ökonomische gilt, sehr nahe. Dörpfelds Forderung bezüglich des Frageheftes ist zu weitgehend. Das rationelle Memorieren zieht Dörpfeld mit Recht allem mechanischen vor. Doch ein Verstehen der logischen Seite be- dingt nicht ohne weiteres ein Behalten; das mechanische Element, von Dörpfeld teils unterschätzt, teils ignoriert, ist nie ganz zu umgehen.

Einer gelegentlichen nicht gewohnheitsmäßigen Anwen- wendung von Gedächtnishilfen (Mnemotechnik) steht nichts im Wege.

Dörpfelds ablehnende Haltung über besondere Gedächtnis- und Denkübungen ist heute noch nicht endgültig entschieden.

Beim Repetieren legt Dörpfeld mit Recht auf die erste Wieder- holung, die nach den neueren Untersuchungen tatsächlich als die Hauptträgerin des Behaltens gilt, das größte Gewicht.

Es ist unvorteilhaft, das Auswendiglernen eines größeren Ab- schnittes mit einem Male erzwingen zu wollen; das erstmalige Können verbürgt nicht das Behalten. Nach einer bestimmten Anzahl von Lesungen, wenn vor allem die Einprägung nicht mehr recht vorwärts geht, soll der Schüler abbrechen, zu etwas anderm übergehen und am Tage darauf das Erlernte fortsetzen. Mit der Forderung der häufigen Wiederholung hat also Dörp-

302 A. Abhandlungen.

feld zweifellos Recht; falsch ist es aber, wenn er auf jeder Formalstufe den Stoff gleich bis zur gewünschten Geläufigkeit und Sicherheit haben will.

16. Der Mitwirkung von Gefühls- und Willenselementen, besonders der Aufmerksamkeit, weist Dörpfeld den gebührenden Rang zu

Werfen wir nun zum Schluß noch einmal zusammenfassend einen Blick auf die inneren Bedingungen des Lernens, wie Meumann (Vorlesungen III S. 109 ff.; vergl. auch ebenda die Definierung des Ökonomiebegriffs beim Lernen S. 75) sie aufstellt: Regulierung der Aufmerksamkeit, Intensität der Konzentration, Gleichmaß der Konzen- tration während der ganzen Tätigkeit, die Ausdauer und die Hem- mungen der Aufmerksamkeit, die Anpassung der Aufmerksamkeit an die jeweils vorliegende Tätigkeit und endlich die Gefühlslage beim Lernen, so müssen wir unbedingt eingestehen, daß Dörpfeld allen Rechnung zu tragen suchte. Daß er hier und da einen scheinbar falschen Weg einschlug, ist ihm nicht zum Vorwurf zu machen. Die heutigen Fortschritte der experimentellen Psychologie standen ihm nicht zur Verfügung. Doch hat dieselbe die von ihm zuerst in Angriff genommenen Untersuchungen über Denken und Gedächtnis, über Neulernen und Einprägen und die daraus gefolgerte Ökonomie des Lernens fast in allen Punkten nur bestätigt und ist zu keiner neuen Forderung von Bedeutung gekommen.

Meumann und andere experimentellen Psychologen bleiben nicht selten durchweg an der Oberfläche der Sinneswahrnehmungen stecken. Dörpfeld ging doch entschieden tiefer. Aber keineswegs würde Dörp- feld jemals der experimentellen Forschung entgegen gestanden haben. Im Gegenteil! Aber Beobachtung, eigene Erfahrung, scharfes Nach- denken sind auch bedeutsame Werte in jeder Wissenschaft. Dörpfeld steht als Denker, ich möchte sagen als pädagogischer Architekt, meines Erachtens unter den Pädagogen des 19. Jahrhunderts mit an erster, Stelle.

Die öffentliche Kritik hat auch ausnahmslos anerkannt, daß Dörp- felds Schriften keine eilfertigen Machwerke sind; eigene Gedanken, die zudem wirklich durchgearbeitet sind, nicht bloße neue Einfälle bringen sie (Höfler, S. 16). Wir können uns wohl dem Nachruf anschließen, den die Pädagogische Zeitung, das Hauptorgan des deutschen Lehrer- vereins (22. Jahrg. Nr. 50 unterm 14. Dez. 1893) dem Verstorbenen widmete: »Die deutsche Lehrerschaft hat in Dörpfeld einen ihrer ersten verloren. Der Fülle von Gaben gegenüber, mit denen er sie be-

Kley: Die Lehre vom Lernen. 303

schenkt hat, wäre es unziemlich, der kleinen Schwächen zu gedenken, die auch ihm eigen waren und die sich aus seiner Entwicklung wie aus der eigenartigen Stellung, die er in seinem engeren Freundes- kreis einnahm, hinreichend erklären lassen.«

Benutzte Literatur.

Gesammelte Schriften von Friedrich Wilhelm Dörpfeld. 12 Bände. Gütersloh. In Betracht kommen besonders: i 1. Denken und Gedächtnis. (Eine psychologische Monographie.) 12. Aufl. Gütersloh 1911. (Gesammelte Schriften. I. Bd. 1. Teil.) 2. Die schulmäßige Bildung der Begriffe. 7. Aufl. Gütersloh 1910. (Gesammelte Schriften. I. Bd. 2. Teil.) 3. Grundlinien einer Theorie des Lehrplanes, zunächst für Volks- und Mittel- schulen. 5. Aufl. Gütersloh 1910. (Gesammelte Schriften. II. Bd. 1. Teil.) 4. Der didaktische Materialismus. (Eine zeitgeschichtliche Betrachtung und eine REN 5. Aufl. Gütersloh 1905. (Gesammelte Schriften. IT. Bd. . Teil.)

Religiöses und Religionsunterrichtliches. 2. Aufl. Gütersloh 1895. (Ge-

sammelte Schriften. III. Bd. 1. Teil.)

6. Zur Methodik des Religionsunterrichtes. Zwei Worte über Zweck, Anlage und Gebrauch des Schriftchens: Enchiridion der biblischen Geschichte. 5. Aufl. Gütersloh 1905. (Gesammelte Schriften. III. Bd. 2. Teil.)

7. Der Sachunterricht als Grundlage des Sprachunterrichts. Gütersloh 1895. (Gesammelte Schriften. IV. Bd. 1. Teil.)

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Anton: Zur Behandlung und Erziehung der zurückgebliebenen usw. Kinder. 305

Höfler E., Friedrich Wilhelm Dörpfeld. Aus seinem Leben und Wirken. Pädagog. à Sammelmappe. 130. Heft. Leipzig.

Rude A., Friedrich Wilhelm Dörpfeld. Pädagogische Studien. Neue Folge. 15. Jahrgang. Dresden 1894.

Trüper J., Friedrich Wilhelm Dörpfelds soziale Erziehung in Theorie und Praxis. Gütersloh 1901.

Vogelsang W., Rektor F. W. Dörpfeld. Kurze Darstellung seines Lebens und Wirkens. Hilchenbach 1894.

Zillich P., Zur Würdigung Dörpfelds.. Pädagogische Studien. Neue Folge. 15. Jahrg. Dresden 1894.

3. Zur Behandlung und Erziehung der zurück- gebliebenen und entarteten Kinder. (Vortrag, gehalten am 15. 5. 1917.)

Von

Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Anton - Halle.

Die freie Vereinigung der Jugendhilfe in Halle hat sich als Arbeitszweck gesetzt, den gefährdeten, der Verwahrlosung ausgesetzten, straffällig gewordenen Jugendlichen zu helfen, sich zurückzufinden und brauchbare Mitglieder unseres Volkes und der menschlichen Ge- sellschaft, der Familie zu werden. Diese Kinder sind zum großen Teile verunglückt durch ihre innere Veranlagung; denn die Verwahr- losung stammt zum großen Teile aus der mangelhaften Anlage, welche sich beim Kinde, aber auch schon bei den Eltern bemerkbar machen kann. Freilich darf nicht unbeachtet bleiben, daß das Kind auch ver- unglückt sein kann durch die Eindrücke der Umwelt, in welcher seine Fortentwicklung erfolgt.

Es ist ein natürlicher Vorgang, daß den Hilfsbedürftigen in höherem Maße die organisierte Fürsorge zuteil wird. Doch muß geradezu als Leitmotiv dabei das Gebot erfüllt sein, daß die hoffnungsvollen, besser qualifizierten Kinder dadurch in keiner Weise vernachlässigt werden.

Die Arbeit, welche für die Minderwertigen geleistet wird, rettet nicht nur diese, sondern die Arbeitsfähigkeit der Eltern und das Ge- deiben der übrigen Familienmitglieder. Die Jugendfürsorge ist nur ein Bestandteil der großen Kulturaufgaben, der Aufgaben der Er- ziehungspolitik, der Entwicklung, der Volksgesundheit und Volksmoral. Indem wir für die Hilfsbedürftigen sorgen, leisten wir Arbeit für die gesunde Familie, aber auch für die ganze Gesellschaft. Die Verwahr- losung der Jugend ist eben nichts anderes als die Verwahrlosung eines Teiles unseres Volkes überhaupt. Die Lage des Volkes hängt nach Adam Smith von dem Verhältnisse ab, welches zwischen der

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306 A. Abhandlungen. Anzahl jener besteht, die einer nützlichen Arbeit obliegen, und jener, welche nichts tun.

Wir können ärztlich vielfach vorbeugen bezüglich der Zukunft; unsere Aufgaben stehen aber auch vor der Gegenwart. Ich darf hin- zufügen, daß gerade das Studium der Entwicklungsstörungen uns in den letzten Jahrzehnten die schönsten Errungenschaften auf ärztlichem Gebiete gebracht hat, so daß wir dadurch die Bedingungen der Ent- wicklung und Gestaltung der vollwertigen Menschen näher kennen gelernt haben. Bereits liegen viele Tatsachen vor, welche der Auf- gabe der ärztlichen Vorbeugung gestörter Entwicklung Richtung geben und den Bestrebungen der Rassenhygiene wertvolle Waffen zuführen.

Das Schicksal des werdenden Menschen hängt zum großen Teile ab von den Qualitäten, welche ihm von den Eltern und Voreltern mitgegeben wurden, allerdings auch von den Einflüssen, welche während der Schwangerschaft und in der ersten Kindheit einwirken ' können. Die treibenden Kräfte, welche einen menschlichen Organis- mus aufbauen, körperlich und seelisch, sind zum Teil bekannt ge- worden, und wir brauchen uns nicht zu begnügen mit dem resignierten Schlagworte der Abartung, der erblichen Belastung. Bereits ist es voll anerkannt, daß besonders zwei Einwirkungen die Konstitution des werdenden Kindes schwer beeinträchtigen. Es sind dies folgende:

1. Vergiftung der Eltern durch organische und metallische Gifte wie Alkohol, Blei, Quecksilber, auch Morphium;

2. Vergiftung der Eltern durch infektiöse Krankheiten, insbesondere durch die Syphilis; aber auch Infektionen, welche während der Schwangerschaft die Mutter treffen, können für das Kind verhängnis- voll werden, z. B. Typhus.

Auch andere Stoffwechselerkrankungen der Eltern wie Zuckerharn- ruhr, Lebererkrankung sind für das Kind von übler Vorbedeutung. In dieser Beziehung muß das öffentliche Gewissen wach und rege ge- halten werden, daß nur gesunde Eltern zur Zeugung von Kindern be- rechtigt sind.

Die Forschungen der letzten Jahrzehnte haben Aufschluß ge- bracht, daß die Gestaltung und Konstitution des Kindes vielfach ab- hängig ist von der Entwicklung und Anlage einzelner Körperdrüsen. Bei Veränderung einer kleinen Drüse an der Basis des Gehirns, dem sogenannten Gehirnanhang, entsteht bei den Kindern ein auffälliges Wachstum des Fettgewebes, mitunter auch Riesenwuchs. Bei einzelnen solcher Kinder verkümmert die Geschlechtsdrüse; bei anderen wird sie schon zu vorzeitiger Funktion angeregt. Noch drastischer illustriert sich der Einfluß der Drüse am Halse (Schilddrüse), der auch durch

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Versuche an Tieren festgestellt ist. Durch die Entartung dieser Drüse wird der Kretinismus hervorgerufen; der Aufbau des Skelettes wird abgeändert, bleibt in der inneren Struktur auf kindlicher Stufe stehen; die Haut und das Zellgewebe wird pastös verändert; und meist, wenn auch nicht immer, wird Idiotie hervorgerufen. Selbst kleine Drüsen haben hierin Bedeutung, wie die hanfkorngroßen Epithel- körper in der Höhe des Zungenbeines. Ihr Fehlen bewirkt mitunter allgemeine Muskelkrämpfe. Selbst die Geschwülste der seit Descartes oft genannten Zirbeldrüse haben eine ganz eigenartige Umgestaltung zur Folge. Die geschlechtliche Entwicklung erfolgt da oft in den ersten Lebensjahren und damit auch eine artfremde Entwicklung der ganzen Persönlichkeit. Die Kinder zeigen nicht mehr den kindlichen Typus und haben bereits Neigung und Interesse viel höherer Alters- kategorien.

Besonders aber ist studiert der Einfluß der Geschlechtsdrüsen auf die Körpergestaltung und auf die Entwicklung der Persönlichkeit. Durch die Kastration besonders in Kinderzeit, ebenso durch krankhafte Störung der Keimdrüsen werden eigenartige Menschentypen geschaffen: langbeinig, mit abnorm kindlicher Stimme und meist von kindähn- lichem, infantilem Geisteszustande. Bemerkenswert ist auch, daß eine übermäßige Entwicklung der Geschlechtsdrüsen gleichfalls eintreten kann und daß schon Knaben beobachtet wurden, welche in den ersten Lebensjahren Bartwuchs und komplette Körperbehaarung aufwiesen; auch die Stimme wird bereits vorzeitig mannbar.

Dies geschieht mitunter bei Entartung der Nebennieren, eines kleinen Organes in der Bauchböhle, welches beim Fötus eine viel größere Entwicklung zeigt, das auch für die arteigene Anbildung des Nervensystems schon frühzeitig eine wichtige Rolle spielt. Bemerkens- wert ist auch das Verhalten der Thymusdrüse (bries), einer Drüse, welche normalerweise in der Zeit vom 7.—14. Lebensjahre zu schwinden pflegt. Diese Drüse ist bei Zurückgebliebenen mitunter auffällig ver- größert und gibt Anlaß zu einer krankhaften Konstitution, welche bis- weilen vorzeitigen Tod bewirkt. Diese Anomalie findet sich oft bei Epileptikern. Es ist eine eigenartige Tatsache, daß diese Drüse mit dem Wachstume des Gehirnes in Zusammenhang steht.

Alle diese Drüsen stehen miteinander im Tätigkeitsverbande. Sie werden bezeichnet als der vieldrüsige (polyglanduläre) Apparat. Hier liegt ein Apparat vor, dessen richtige Entwicklung und richtige Funktion für den ganzen Menschentypus, für seine Rasse und Qualität, wir können sagen, für das ganze Schicksal entscheidend wirkt.

Es darf hier hinzugefügt werden, daß auch die arteigene An-

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bildung der Nervenmasse, insbesondere des Gehirnes von da aus behindert oder gefördert werden kann. Bei Epileptikern findet sich mitunter eine übermäßige Anbildung des Gehirngewichtes. Wenn wir das normale Gehirngewicht auf 1350 g veranschlagen, so sind bei Epileptikern schon Gehirne gefunden worden mit 2400 g, also rund 1 kg Gehirn zuviel. Hier hat offenbar ein Mißverhältnis zwischen Hirn und Schädel Platz gegriffen.

Wir wissen, daß bei den geschilderten Störungen eben einzelne Gewebe übermäßig wachsen, wie Muskel, Nerven, Knochen, und daß die Harmonie der arteigenen Entwicklung größere Störungen er- fahren hat.

Im Gehirn selbst sitzt ein Organ, welches in neuerer Zeit als Drüse erkannt wurde, und welches die Aufsaugung und Regulierung der Flüssigkeit zu besorgen hat, die Gefäßknäuel. Ihre Absonderung wird bisweilen durch äußere und innere Gifte verändert. Sie sondern die Flüssigkeit ab, deren Vermehrung bei vielen Kindern mäßigen oder starken Wasserkopf hervorbringt. Die Absonderung erfolgt oft so stürmisch, daß wir bei unseren Operationen nach wenigen Minuten die Gehirnhöhlen wieder gefüllt sahen. Durch diese Vermehrung der Flüssigkeit wird aber auch das Gehirn in typischer Weise beeinträchtigt, und es werden eigenartige Störungen der Intelligenz hervorgerufen. Auf Kinderkliniken sah ich mitunter ein Vierteil der Kinder an mäßigem Wasserkopf erkrankt.

Bei allen diesen Entwicklungsstörungen ist es auffällig, daß der scheinbar starrste Bestandteil unseres Körpers, nämlich das Knochen- und Skelettsystem, ganz auffällig schnell reagiert und sich verändert. Dies hat den praktischen Erfolg, daß wir durch Röntgenbilder auch beim lebenden Kinde eine Konstitution illustrieren können sowohl an der ganzen Struktur des Schädels wie der peripheren Knochen. So können wir konstatieren Riesen- und Zwergwuchs, vielfache Verbil- dung des Schädels, welche äußerlich nicht sichtbar ist. Auch bei den sogenannten Psychopathen, wo wir körperliche Symptome nicht nach- weisen können, zeigt noch das Schädelröntgenbild die Geschichte einer mangelhaften Entwicklung.

Die Bedeutung der mineralischen Stoffe für den Organismus ist noch der Erklärung bedürftig. Aber gerade beim Kalkhaushalte des Organismus können wir oft bestimmte Tatsachen dafür erbringen, daß er bei Entwicklungsstörungen große Veränderungen zeigt.

Doch ich muß hier Halt machen und das interessante Kapitel der körperlichen Entwicklungsstörungen schließen, in welchem ja auch enthalten ist die Lebensfrage nach der Konstitution und nach der

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Artung des betreffenden Kindes. Vielleicht kann auf keinem Gebiete so gesetzmäßig die Zusammengehörigkeit von Geist und Körper, ebenso die gesetzmäßigen Beziehungen zwischen Störung der Körperentwick- lung und der geistigen Entwicklung dargetan werden wie gerade auf diesem Gebiete.

Beim fertigen Menschen gestaltet sich die Wechselseitigkeit ganz anders. Das seelische Organ gebietet allen Körperorganen. Vorher hat der Körper die seelischen Organe gebildet; jetzt aber werden durch die geistige Tätigkeit nicht nur die Muskeln, sondern auch die Drüsen des Körpers dirigiert., Durch richtige Hygiene, durch richtig regulierte Nerventätigkeit vermag die geistige Tätigkeit das ganze Drüsenleben zu beeinflussen. Eine neue Tätigkeit erscheint auf dem Plane, die Selbstregulierung, die Willenstätigkeit. Schon bei niederen Organismen hat Roux die Selbstregulierung als fundamentale Eigen- schaft erwiesen. Wir wissen, daß in der richtigen Selbstregulierung beim Menschen die höchste Funktion erreicht ist. Es ist bekannt, daß die ersten Symptome der geistigen Störung mit dem Verluste der Selbstregulierung beginnen.

Nunmehr wollen wir uns in die Lage versetzen, daß das Unglück durch irgend eine Ursache geschehen ist, und daß die Eltern und die Familie vor die Aufgabe gestellt sind, einen bildungsfähigen Schwach- sinnigen oder einen in Charakter oder Gefühlsleben Abgearteten zu versorgen und zu behüten. Ganz kurz seien hier die Verhältnisse in Halle geschildert.

Seitdem die Beratungsstelle unter werktätiger Beihilfe des Herrn Ambühl ins Leben getreten war, sind es bereits hundert Familien, welche mit schwierigen Kindern die Beratungsstelle aufgesucht haben. Sehr bald erwies es sich als nötig, einen Teil der Kinder wenigstens tagsüber in Obsorge zu nehmen, zu behüten und zu beschäftigen. Wie sehon die Statistik der Jugendhilfe zeigt, war ein größerer Teil der Väter zu militärischen Diensten eingerückt, ein großer Teil der Mütter außerhalb des Hauses auf Arbeit. Trotzdem erwies sich in allen Fällen, daß die Hauptursache der Sorgen in der Artung der Kinder gelegen war. Eine größere Anzahl ist vor den Richter ge- kommen und wurde vor dem Vollzug des Strafurteiles bewahrt. Die Anlässe dazu hörten nach der ständigen Kontrolle im Kinderhorte fast vollständig mit wenigen Ausnahmen auf. Insbesondere hörte auf das Ausrücken und Vagabondieren, auch die Diebstähle und die jugend- liche Prostitution.

Seither hat die Jugendhilfe den Hort in Verwaltung übernommen und für Verpflegung gesorgt Die Eltern durften ungehindert ihrer

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Arbeit nachgehen. Der Hort entwickelte sich weiter in dem Sinne, daß besonders schwierige Kinder Tag und Nacht dort Unterkunft fanden, was in diesen Fällen unabweislich notwendig war.

Dringend nötig ist das Bedürfnis, diese Kinder zu beschäftigen und in irgend einer Berufsarbeit fortzubilden. Für gerichtliche Zwecke mußte oft das Gutachten abgegeben werden. Ein größerer Teil von ihnen war deutlich krankhaft geartet; mehrere mußten der Fürsorge- erziehung übergeben werden. Was die Alterskategorien betrifft, so waren mit 3 Ausnahmen alle unterhalb des 14. Lebensjahres. Es ist mir bekannt, daß die deutsche Zentrale für Jugendfürsorge in Berlin rund 7000 solcher Schutz- und Pflegebedürftiger versorgt. Immerhin ist hier wie dort nur ein kleiner Ausschnitt des wirklichen Elendes evident geworden.

Die einzelnen Diagnosen will ich hier nicht anführen. Aber es schließt sich unmittelbar daran die Frage: was tun mit diesen zurück- gebliebenen und abgearteten Kindern und Jugendlichen ?

Es läßt sich nicht leugnen, daß der Krieg mit seinen Folgen mehrfache Einflüsse geschaffen hat, welche die Abwehr der Verwahr- losung dringender machen. Die Ursache braucht nur angedeutet werden. Sowohl die Arbeitslosigkeit, Not und Müßiggang, aber auch der jetzt reichliche Verdienst Jugendlicher hat sich als schädlich er- wiesen. Das Heranziehen Jugendlicher als Ersatzkräfte hat sie mehr- fach auf Vertrauensposten gestellt, deren Lockungen sie nicht ge- wachsen erschienen. Sind doch die Kinder und die Jugendlichen dem Einfluß der Kameraden und der Verführung gegenüber weniger widerstandsfähig als Erwachsene. Die lenkenden und beaufsichtigenden Einflüsse haben sich vermindert. Es ist nicht zufällig, daß der Jugend- hilfe häufig die Mitteilung kommt: Vater im Felde. Es ist eine alte Erfahrung, daß die Mütter mit ihren Söhnchen nicht fertig werden. Wir haben auf der Klinik geradezu einen Typus, welcher als Witwen- sohn bezeichnet wird, womit gewöhnlich auf das disziplinlose, aber auch das überhebende Verhalten gegenüber der Mutter hingewiesen wird. Wir empfinden auch die Abwesenheit vieler tüchtiger Lehrer und den Wegfall guter Einflüsse durch die Schule. Es ist bereits die Warnung von kompetenter Seite ergangen, daß den Fürsorge- anstalten nicht zuviel zugemutet werde, weil auch dort viele einge- arbeitete Personen im Betriebe fehlen. Es darf nicht unerwähnt bleiben, daß auch die Verminderung der behördlichen Aufsichtspersonen für die Zunahme der Kriminalität der Kinder und Jugendlichen in Betracht kommt.

Besonders aber soll unter den zahlreichen Erscheinungen eine

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kurz hervorgehoben werden. Es ist Tatsache, daß die Verwahrlosung während der Kriegszeit besonders bei den kleinen und jugendlichen Mädchen Platz gegriffen hat. Aus einzelnen Städten meldet die Sittenpolizei, daß sich während der Kriegszeit die Zahl der aufge- griffenen weiblichen Personen um 55°), vermehrt hat. Diese Mit- teilungen kommen aus allen den Städten, wo Evidenz gehalten wird. Die Fürsorgeerziehungsanstalten für Mädchen sind weit überfüllt. Die Prostitution der jugendlichen Mädchen nimmt rapide überhand. Was dies bedeutet, geht aus den einmütigen ärztlichen Berichten hervor, daß die Syphilis und die Geschlechtskrankheiten nur zum geringen Teile der gewerbsmäßigen Prostitution entstammen, weit mehr der heimlichen Prostitution der ganz jungen unerfahrenen Mädchen. Jeder Gebildete weiß, wieviel Kummer und Elend dadurch für die Betroffenen entsteht, aber auch wieviel progressives Elend für die nächsten Ge- schlechter wieder gesät wird. Gerade die Frauenseele nimmt bleiben- den Schaden, abgesehen von dem körperlichen Verderbnis. Die ver- wahrlosten Mädchen vermögen sich kaum noch wieder zu heben, wenn Sitte und gute Bräuche ihnen abhanden gekommen sind. Es ist eine alte Erfahrung, daß trunkfällige Frauen tiefer verkommen als trunkfällige Männer. Dazu muß bemerkt werden, daß die Sittenver- derbnis schon bei kleinen Mädchen im Kindesalter beginnt. Es ist ein Irrtum, daß sie erst in der Geschlechtsreife stattfinden kann. Aber auch in dieser Schilderung muß ich haltmachen.

Wir haben gesehen, wieviel lebenswichtige Fragen, wieviel Not- stand die Arbeitsziele der Jugendhilfe begründet haben. Hier gilt es, eine Festung zu verteidigen hinter der Front, welche für das Leben des Gesamtvolkes das beste Besitztum beherbergt. Unsere Brüder, welche vor dem Feinde Leben und Gesundheit einsetzen, haben ein Recht, von uns zu fordern, daß daheim ihr bestes Besitztum bewahrt wird. Die Zukunft der Nation steht auf dem Spiele, nicht allein die Rettung einzelner Minderwertiger. Jeder muß mithelfen; denn jeder steht am Webstuhle seiner Zeit. Alle Berufsstände sind aufzurufen. Auch hier heißt es: das Volk und das Vaterland sind in Gefahr.

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3. Jugendstrafrecht und Jugendrichteramt in Österreich.*) Rechtsgüterschutz durch Strafe oder durch Erziehung bei straffälligen Jugendlichen. Von Oberlandesgerichtsrat Franz Janisch, Leitmeritz.

Im Deutschen Reiche wurden den nordamerikanischen Beispielen folgend!) Jugendgerichte errichtet. Zu Frankfurt a. M. trat mit 1. Jänner 1908 der erste Jugendgerichtshof in Deutschland in Tätig- keit.?2) Als ich im Monate Mai 1908 aus eigenen Mitteln eine Studien- reise im Interesse der österreichischen Jugendfürsorge nach Deutsch-

1) Das erste Gesetz, welches Jugendgerichte in den Vereinigten Staaten Nord- amerikas einführte, kam im Staate Illinois im Jahre 1899 zustande, und Chicago war die Stadt, wo das erste Jugendgericht erstand.

2) In der Sitzung der Juristischen Gesellschaft zu Frankfurt a. M. v. 22. No- vember 1907 erfolgte nach einem Vortrage Professor Dr. Freudenthals über Jugendgerichte, die er 1905 in Amerika studierte, die Proklamierung des in Frank- furt errichteten ersten Jugendgerichtes, welches am 1. Jänner 1908 in Wirksam- keit trat. Die erste Jugendgerichtsverhandlung fand am 29. Jänner 1908 statt.

*) Seit dem Bestehen unserer Zeitschrift haben wir fortgesetzt dem Problem der jugendlichen Krimipalität nach der psychologischen, soziologischen, pädagogischen und strafrechtlichen Seite hin unsere Aufmerksamkeit gewidmet und auch die meisten in den nachstehenden Ausführungen neu aufgeworfenen Fragen wiederholt erörtert. Die Kriegsverhältnisse haben aber in so erschreckendem Maße zur sittlichen Ent- artung unserer Jugend beigetragen, daß nicht oft genug auf diese, einer dringlichen Lösung erheischenden Aufgaben hingewiesen werden kann.

Neben vielen Abhandlungen und Mitteilungen in der Zeitschrift beschäftigen sich folgende Hefte der »Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung« mit diesen Fragen, die wir unsern Lesern zur besonderen Beachtung empfehlen möchten:

1, Schinz, Die Sittlichkeit des Kindes. 5, Trüper, Zur Frage der Erziehung unserer sittlich gefährdeten Jugend. 7, Piggot, Die Grundzüge der sittlichen Entwicklung und Erziehung des Kindes. 8, Trüper, Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache von Gesetzesver- letzung Jugendlicher. 12, Polligkeit, Strafrechtsreform und Jugendfürsorge. 20, Trüper, Zur Frage der Behandlung unserer jugendlichen Missetäter. 21, Reicher, Die Verwahrlosung des Kindes und das geitende Recht. 22, Fiebig, Über Vorsorge und Fürsorge für die intellektuell schwache und sitt- lich gefährdete Jugend. 26, Kuleman, Die forensische Behandlung der Jugendlichen. 27, Baginsky, Die Impressionabilität der Kinder unter dem Einfluß des Milieus. 40, Damaschke, Wohnungsnot und Kinderelend. 41, von Rohden, Jugendliche Verbrecher. 48, von Torday, Das staatliche Kinderschutzwesen in Ungaın.

Janisch: Jugendstrafrecht und Jugendrichteramt in Österreich. 313

land unternahm, besuchte ich auch den Jugendgerichtshof zu Frank- furt a M. Da ich im österr.-ungar. Generalkonsulate zu Frankfurt die Nachricht erhielt, daß nach einer dort eingelangten amtlichen Verständigung am 21. Mai interessante Straffälle vor dem Frankfurter Jugendgerichtshofe verhandelt würden, wohnte ich an diesem Tage sechzehn Hauptverhandlungen bei. Bei dieser Sitzung des Jugend- gerichtshofes waren auch der preußische Justizminister von Beseler

51, Hemprich, Zur Literatur über Jugendfürsorge und Jugendrettung.

58, Kuhn-Kelly, Jugendschutzkommission als vollwertiger Ersatz für Jugend- gerichtshöfe.

59, Maennel, Das amerikanische Jugendgericht und sein Einfluß auf unsere Jugendrettung und Jugenderziehung.

64, Petersen, Das Beobachtungshaus der Erziehungsanstalten.

66, Birkigt, Straffällige Schulknaben in intellektueller, moralischer und sozialer Beziehung.

73, Moses, Die sozialen und psychologischen Probleme der jugendlichen Ver- wahrlosung.

75, Delitzsch, Ursachen der Verwahrlosung Jugendlicher.

78, Breitbart-Schuchmann, Die Behandlung der jugendlichen Rechtsbrecher im russischen Straf- und Strafprozeßrecht.

91, Schmidt und Delitsch, Das Jugendgericht in Plauen im Voigtland.

92, Ziemke, Die Beurteilung jugendlicher Schwachsinniger vor Gericht.

98, Schauer, Beobachtungen über die typischen Einwirkungen des Alkoholismus auf unsere Schüler.

99, Anton, Über die Formen der krankhaften moralischen Abartung.

104, Mönkemöller, Die Psychopathologie der Pubertätszeit.

105, Schmid, Ist die Entimündigung psychopathisch Minderwertiger ratsam, und wann soll sie eingeleitet werden ?

112, Ziehen, Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung bezüglich der sogennanten psychopathischen Konstitutionen.

116, Goddard-Wilker, Die Familie Kallikak.

117, Mönkemöller, Die Strafe in der Fürsorgeerziehung.

118, Russell-Struve, Junge Galgenvögel.

126, Förster, Autorität und Selbstregierung in der Leitung der Jugendlichen.

129, Wittig, Der Einfluß des Krieges auf die Kriminalität der Jugendlichen und auf jugendliche Sträflinge.

136, von Kármán, Ein kriminalpädagogisches Institut.

Zur Lösung dieser schweren und für die Zukunft unserer Staaten so sehr wichtigen Frage müssen Lehrer, Erzieher, Seelsorger, Ärzte, Straf- und Vormund- schaftsrichter wie Gesetzgeber Hand in Hand arbeiten. Wir sind mit den Fragen aber wenig weiter gekommen, weil jeder nur auf seinen Weg sah und zu wenig die Erwägungen und Bestrebungen der anderen Berufsstände und Berufswissen- schaften beachtete. Darum sei bei dieser Gelegenheit noch einmal nachdrücklich auf die von uns herausgegebenen Arbeiten hingewiesen. Wir würden mit den Fragen rascher weiterkommen, wenn einmal jemand die wesentlichen Gedanken und Vorschläge auf diesem Gebiete kritisch prüfen und übersichtlich zusammenstellen wollte. . Trüper.

314 A. 'Abhandlungen.

mit mehreren höheren richterlichen und staatsanwaltschaftlichen Be- amten, sowie eine auserlesene Zuhörerschaft anwesend. Die Jugend- gerichtsfrage wurde im Deutschen Reiche im Rahmen des bestehenden Rechtes durch die Geschäftsverteilung gelöst. Es war keine Gesetzes- änderung notwendig, um den Jugendlichen die ihnen gebührende strafrechtliche Behandlung zu sichern. Der Jugendrichter hat seine Stellung durch die Geschäftsverteilung dadurch erhalten, daß er die zur Zuständigkeit des Amtsrichters und des Schöffengerichtes gehörigen Strafsachen gegen Minderjährige, das sind Personen vom vollendeten 12. bis zum vollendeten 18. Lebensjahre, vereinigt und auch die vor- mundschaftlichen Geschäfte derselben führt.!) Österreich folgte in der Errichtung von Jugendgerichten Deutschland nach.

Die Verordnung des österreichischen Justizministeriums vom 21. Oktober 1908 hat nach dem in Österreich geltendem Rechte bis zur Erlassung neuer gesetzlicher Bestimmungen?) mit Wirksamkeit vom 1. Jänner 1909 Jugendgerichte geschaffen. Die Strafsachen Jugend- licher welche zur Zeit der Tat das 18. Lebensjahr nicht vollendet haben wurden hiedurch aus dem regelmäßigen Strafverfahren aus- gesondert. Die Verhandlungen vor den Jugendgerichten sind öffent- lich und erfolgen in besonderen Gerichtsräumen zu einer Zeit, wo eine Berührung der Jugendlichen mit erwachsenen Beschuldigten aus- geschlossen ist. Die Verhängung der Untersuchungshaft wird nach Möglichkeit vermieden oder zuweilen in Räumen von Fürsorgeanstalten vollzogen. Die Beihilfe von Kinderschutz- und Jugendfürsorgevereinen, Gemeindewaisenräten, an deren Stelle in Zukunft die 1914 gesetzlich festgelegten Vormundschaftsräte treten werden, und Vereinigungen von Frauen und Waisenpflegerinnen vor, während und nach der Hauptverhandlung wird in Anspruch genommen. Diese freien Kräfte der Gesellschaft leisten die notwendige und geradezu unentbehrliche Jugendgerichtshilfe.

Die österreichischen Jugendgerichte der Bezirksgerichte sind abgesonderte Abteilungen dieser Gerichte. Sie sollen zumeist von einem geeigneten, erfahrenen, mit dieser Rechtsprechung vertrauten Richter mit strafgerichtlicher und vormundschaftsbehördlicher Gewalt, der vermöge seines Interesses für Jugendfürsorge, seiner Umsicht und Erfahrung als Vormundschaftsrichter die Gewähr für die Erfassung und Lösung seiner Aufgabe als Richter über Jugendliche bieten soll,

1) Landesgerichtsrat Franz Janisch, »Das Strafverfahren gegen Jugend- liche ....« Leipa (Böhmen), Künstners Verlag, 1909.

2) Im Monate Mai 1917 hat die österreichische Regierung die Erlassung eines Jugendstrafgesetzes für das Kaisertum Österreich in Aussicht gestellt.

Janisch: Jugendstrafrecht und Jugendrichteramt in Österreich. 315 geleitet werden. In Wirklichkeit sollte dieser Richter als Jugend- richter Spezialist sein.

Bei den Gerichtshöfen erster Instanz hat sich ein ständiger Senat, der Jugendsenat, der meist aus früheren Vormundschafts- richtern bestehen soll, mit dem Strafverfahren gegen Jugendliche zu befassen. Dem Jugendsenate sollten ausschließlich die Erkenntnis- und Berufsverhandlungen gegen Jugendliche des Gerichtssprengels zugewiesen werden. Dies ist aber nicht immer der Fall. Mitunter sind bei einem und demselben Gerichtshofe erster Instanz die Er- kenntnisverhandlungen gegen Jugendliche einem Erkenntnissenate und die Berufungsverhandlungen gegen Jugendliche einem von dem ersteren Erkenntnissenate verschiedenen zweiten Senate, dem allgemeinen Be- rufungssenate, zugewiesen, was im Interesse der Jugendgerichtssachen, zumal die verschiedene Anzahl der Richter in beiden Senaten nichts zur Sache tut, nicht zu billigen ist.

Auf eine Auswahl der Richter der Jugendsenate sollte außer- dem vor allem anderen Bedacht genommen werden und nur solche Richter zu Mitgliedern der Jugendsenate ausgewählt werden, die nach erprobter Verwendung als Vormundschaftsrichter »vermöge ihres Inter- esses für Jugendfürsorge, Umsicht und Erfahrung«, wie der Erlaß des Justizministeriums sagt, ədie Gewähr für die Erfassung und Lösung der Aufgabe als Richter über Jugendliche bietene.. Denn hiervon hängt vor allem anderen der Erfolg der Jugendgerichtsverhandlungen jetzt und in Zukunft ab. Eine schablonenmäßige stets jährlich er- folgende Bestellung eines beliebigen Strafsenates als Jugendsenat in Gemäßheit der Geschäftsverteilung eines Gerichtshofes erster Instanz oder gar zwei solcher Strafsenate ohne jedesmalige sorgfältige Aus- wahl der einzelnen Richter zu Mitgliedern eines Jugendsenates ent- spricht in keiner Weise und bietet nicht immer die Gewähr dafür, daß die Jugendstrafsachen nach der Ministerialverordnung vom 21. Okt. 1908 ihre notwendige Behandlung und Lösung finden.

Von den jährlich bestellten Strafsenaten werden mitunter einem für eine Reihe von Bezirksgerichtssprengeln bestimmten Senate die Strafsachen der Jugendlichen mit zur Entscheidung überwiesen, ohne daß für diesen Senat nur Jugendrichter oder wenigstens der Mehrheit nach Jugendrichter ausgewählt würden. Das heißt eine einfache Zu- teilung der Jugendstrafsachen an einen in der Geschäftsverteilung näher bezeichneten Strafsenat treffen. Auf keinen Fall erhält dadurch dieser Strafsenat die Qualifikation eines Jugendsenates und kann auch niemals als »Jugendsenat« angesehen werden. Ein solcher Senat bleibt immer das, was er in Wirklichkeit ist, ein Strafsenat, der sich

316 A. Abhandlungen.

unter andern auch mit Jugendstrafsachen beschäftigt, ohne daß hier- durch eine Aussonderung der Strafsachen Jugendlicher aus dem ge- wöhnlichen Strafverfahren erfolgte. Von »Jugendsenaten« wird nur dann gesprochen werden können, wenn die Strafsachen Jugendlicher in die Hände von Richtern gelangen, die bei reicher Lebenserfahrung ein volles Verständnis für die Eigenart und strafrechtliche Behandlung Jugendlicher besitzen, so daß für die Strafsachen Jugendlicher jährlich neben den anderen gewöhnlichen Strafsenaten ein eigener Jugend- senat aus »Jugendrichtern« zusammenzusetzen ist. Denn »der Straf- richter befaßt sich nicht in erster Linie mit dem Charakter des jugend- lichen Täters, seiner ganzen sittlichen, intellektuellen und Gemüts- beschaffenheit, sondern überall nur mit einer strafbaren Tat. Über diese Tat wird Untersuchung gepflogen, diese Tat soll ihre Sühne finden und was diese Tat dem Richter sagt, ist maßgebend für das, was er, ohne Rücksicht auf Zweckmäßigkeit und das zukünftige Wohl und Wehe des Jugendlichen über ihn verhängen muß, nach den Be- stimmungen des Strafgesetzes und leider auch dann sogar, wenn es mit Bezug auf die vorliegenden Verhältnisse gegen seine Überzeugung geht. Er bringt den straffälligen Jugendlichen bis vor die Pforte der Strafanstalt und was weiter mit dem Verurteilten geschieht, darüber kann er sich nicht kümmern, bis der Zufall ihm denselben zum zweiten-, drittenmal in die Hände spielt. Nicht zu beneidender Richter!«!) Und der Staatsanwalt tut als öffentlicher Ankläger ein Gleiches. Auch das Amt des öffentlichen Anklägers muß in der Jugendgerichtsbarkeit eine Neuordnung erfahren. Wie beim Frankfurter und Münchener Jugendgerichte sollte das Amt des öffentlichen Anklägers beim Jugend- gerichtshofe durch nur einen Beamten der Staatsanwaltschaft, den Jugendstaatsanwalt, ausgeübt werden, so daß nicht nur auf dem Richterstuhle des Jugendgerichtshofes Spezialisten als Jugendrichter tätig sind, sondern auch auf Seiten des öffentlichen Anklägers, der Staatsanwaltschaft, ein Spezialist, wie dies für ein ersprießliches Wirken eines Jugendgerichtes erforderlich ist, tätig bleibt. Denn, wie nach den amerikanischen und deutschen Typen der Jugendgerichte untrüg- lich erhellt, hängt der Erfolg der Jugendgerichte in erster Reihe von ihrer Organisation und den Jugendrichtern und den Jugend- staatsanwälten, insbesondere ihrer Arbeitsfreudigkeit, ihrem Ge- schicke und Takte ab. In München war es eine helle Freude aus

1) Amtsgerichtsrat J. F. Landsberg und Kuhn-Kelly, Präsident u. Kinder- inspektor in St. Gallen in »Jugendschutzkommissionen ....« Beiträge zur Kinder- forschung und Heilerziehung. Heft 58. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1909.

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Janisch: Jugendstrafrecht und Jugendrichteramt in Österreich. 317

dem Munde des Jugendstaatsanwaltes selbst zu hören, daß straffällige Jugendliche öfter als nötig gerichtlich angezeigt und angeklagt werden.

Die bereits jetzt nach geltendem Rechte in Österreich geschaffenen Jugendgerichte und Jugendgerichtshöfe sind an und für sich schon nicht den anerkannt besten und erfolgreichen amerikanischen Jugend- gerichtssystemen, bei denen der Jugendrichter nur Jugendrichter ist, und auch nicht dem mustergültigsten Jugendgerichtshofe des deutschen Reiches, dem Frankfurter Jugendgerichtssysteme, gleich organisiert, so daß die großen Gefahren, die bei der Aufteilung der Funktionen des Jugendrichters an mehrere oder gar viele Richter auf amerikanischem Boden in empfindlicher Weise zutage getreten sind, auch bei den provisorischen österreichischen Jugendgerichten vorhanden sind. Es fehlt immerhin zum mindesten in der Regel die Einheit der Recht- sprechung in Jugendstrafsachen innerhalb der taktischen Einheit der Jugendfürsorge, dem Bezirke eines jeden Vormundschaftsgerichtes, und in vielen Fällen ein solcher Jugendrichter, der sich auf die Eigenart der Jugendlichen versteht, der Jugendrichter als Spezialist ist. Um so mehr erscheint es dringend geboten, die Bestellung der Jugend- richter und die Zusammensetzung der Jugendsenate in angeführter Weise zu veranlassen. Dann wird das Jugendgericht und der Jugend- senat zum Schutze und Nutzen der österreichischen straffälligen Jugend erfolgreich sich betätigen.

Es muß aber auch für einen ausgiebigen dauernden Nachwuchs von Jugendrichtern, deren Notwendigkeit außer allem Zweifel steht, Vorsorge getroffen werden. Die Mittel und Wege hierzu liegen in der praktischen Fortbildung der Richter selbst in erster Reihe. Zur Erreichung dieses hohen Zieles dürfte manche Änderung in der Ver- wendung und praktischen Ausbildung der Richter sich als notwendig ergeben. Zurzeit sind die Richter und Staatsanwälte für ihre Auf- gabe als Jugendrichter oder Jugendstaats- Anwälte im allgemeinen nicht gerüstet. Es ist dringend notwendig, daß die heutigen Richter und Staatsanwälte, wie auch der Nachwuchs zeitgerecht und gründ- lich über die Jugendfürsorge, Jugendstrafrecht und Fürsorgeerziehung unterrichtet werden, was bisher nur ausnahmsweise selten geschieht. Als Leiter der richterlichen Übungskurse beim Gerichtshofe in Eger in den Jahren 1909 bis 1914 habe ich den Richteranwärtern ge- wöhnlich 20 bis 30 an der Zahl im Übungskurse Vorträge über Kinderschutz, Jugendfürsorge und Jugendstrafrecht regelmäßig gehalten, die durch die Art des Vortrags Interesse fanden und Begeisterung für die Jugendsache bei den Kursteilnehmern brachten. Den Stamm für die Jugendrichter sollen die gewesenen Vormundschaftsrichter ab-

318 A. Abhandlungen.

geben. Der Vormundschaftsrichter erhält durch die Erfüllung seiner Berufsaufgabe den tiefsten und vielseitigsten Einblick in das mensch- liche Leben. Nicht alle Richter aber erhalten die Ausbildung als Vormundschaftsrichter. Manche Räte bei Gerichtshöfen haben nie einem Bezirksgerichte als selbständige Leiter vorgestanden, sondern haben ihre ganze richterliche Laufbahn bis zum Obergerichtsrate nur bei einem Gerichtshofe dienstlich vollendet. Außer Übersiedlungen mit ihren Auslagen blieb ihnen die Mühe der Arbeit, die neue dienst- liche Verhältnisse bringen, zwar erspart, doch sie kamen oft wenig mit dem fortschreitenden wirklichen Leben in direkte ständige dienst- liche Beziehungen, das Vormundschaftswesen haben sie nicht selb- ständig geführt, so daß ihnen eingehende und tiefe Erfahrungen hierin abgehen. In der praktischen Fortbildung und Verwendung der Richter ‚liegt in vielen Fällen kein System, fehlt die Organisation, was nicht immer eine gediegene allseitige, praktische richterliche Fortbildung bringt. Der Werdegang österreichischer Richter sollte deshalb eine Regelung erfahren. Hierzu dürfte jedenfalls auch die Einführung bei- tragen, daß jeder Richter eine Reihe von Jahren einem Bezirksgerichte als selbständiger Leiter vorstehen und dann erst in die Stelle eines Rates bei einem Gerichtshofe bei sonst gleichen Verhältnissen ein- rücken sollte, um sich in seiner Tätigkeit als Vormundschaftsrichter die reichen Erfahrungen zu sammeln, die jeder Richter, besonders aber jeder Rat eines Gerichtshofes und gar ein Gerichtshofpräsident, der außerdem nur dem Stande der Richter und nicht dem der Ge- richtsinspektoren und staatsanwaltlichen Beamten entnommen werden sollte, besitzen muß, um erfolgreich und ersprießlich wirken zu können. Bei solcher dienstlicher Verwendung wird auch ein tüchtiger Nachwuchs von Jugendrichtern hervorgehen, die die Jugendstrafsachen richtig zu erfassen und zu lösen imstande sein werden. »Das Grund- problem der ganzen Rechtsprechung dreht sich nur um die Persön- lichkeit des Richters. Hier muß angesetzt werden.«e Jeder moderne Richter, besonders aber der Jugendrichter, muß für ein gesundes Rechtsempfinden, den Leitstern aller richterlichen Entscheidungen ausgebildet sein, er muß überdies ein Mann von festem Charakter, menschenfreundlichem Sinne, reicher Lebenserfahrung und großzügigem Wesen sein, der die engste Fühlung mit dem wirklichen praktischen Leben derer hat, über deren Lebensinteressen er entscheiden soll. Eine Wiener Zeitschrift schreibt am 22. Jänner 1911, daß die Verordnung über die Jugendgerichte in Österreich nicht so gehalten wird, wie sie gedacht ist, denn: ».... kein Senat ist so strenge, wie der Jugendsenat; und dort, wo der gewöhnliche Erkenntnissenat über

Janisch: Jugendstrafrecht und Jugendrichteramt in Österreich. 319

Jugendliche drei bis vier Wochen angemessen findet, verhängt‘ das Jugendgericht ebensoviel Monate und schneidet einem solchen Kinde für ewige Zeiten die Möglichkeit der Besserung ab.«!) Die Straf- gesetzgebung der Staaten Europas ist noch nicht soweit wie in Amerika. Reicher hat bei den in Österreich bevorstehenden großen Reformen sich emsig bestrebt, die rein vorbeugende Arbeit und die Fürsorge- erziehung frei zu halten von Motiven aus dem Gebiete des Straf- rechtes und einen Vorstoß auch gegen die Beschlüsse des Herren- hauses, betreffend Entwürfe der Jugendstrafrechts- und Jugend- fürsorgegesetze, unternommen, wiewohl er glaubte, daß der Erfolg nur der sein wird, daß er das befriedigende Gefühl ernte, das Seinige getan zu haben, ohne in der Sache viel zu ändern. »Der grundsätz- liche und für das Jugendgericht maßgebende Standpunkt ist noch nicht anerkannt, nämlich daß ein Kind und eine in der Entwicklung begriffene Person ein Verbrechen nicht begehen könne, daß diese daher auch nicht als Verbrecher behandelt werden dürfen, daß hier statt Bestrafung Erziehung not tue,«?) und daß das Jugendgericht be- rufen ist, dem Kinde zu seinem Rechte auf Erziehung zu verhelfen. Statt den jugendlichen Übeltäter mit der Kriminalstrafe aus der menschlichen Gesellschaft auszuschließen, ist im Wege der Erziehung dessen Gefühl der Verantwortung zu heben und er für die staatliche Ordnung zu erziehen. Aber auch die Eltern und Erzieher sind zur Erziehung ihrer Pflichten zu verhalten und jene Eltern oder Erzieher, die an der Verwahrlosung ihrer ihnen anvertrauten Kinder Schuld tragen, nach dem Gesetze zur Verantwortung zu ziehen.

Die neue Gesetzgebung des Deutschen Reiches sucht da, wo nach der Lage der Sache nur Erziehungsmaßnahmen am Platze sind, eine Bestrafung zu vermeiden, die Bestrafung Jugendlicher nur auf solche Fälle, in denen erzieherische Anordnungen ohne Erfolg blieben, zu beschränken, und soweit ein Strafverfahren unvermeidlich ist, es den Interessen einer erfolgreichen Jugendfürsorge, der Schutzbedürftig- keit der Jugendlichen gemäß auszugestalten. Die Behörden, welche bei der Strafrechtspflege gegen Jugendliche beteiligt sind, erhalten Befugnisse, die über das gewöhnliche Maß hinausreichen, besonders qualifizierte Richter mit ausgedehnten Machtbefugnissen werden zu Jugendrichtern bestellt, so daß eine Gewähr für eine umsichtige und verständnisvolle Handhabung der Jugendgerichtsbarkeit gegeben ist.

1) Neues Wiener Journal: »Kostkinder. Ein Vorschlage von Dr. Viktor Rosenfeld.

2) Dr. Reicher, »Kiuderschutz und Jugendfürsorge in der alten und neuen Welt.«

320 A. Abhandlungen.

Vorbildlich für Deutschland und Österreich kann vielfach die Jugend- gesetzgebung Ungarns benutzt werden, so z. B. das ungarische Jugend- gerichtsgesetz von 1913, die Novelle zum Strafgesetzbuch von 1908 und das Jugendschutzgesetz von 1901, durch das der Jugendfürsorge öffentliche Mittel in großem Umfange zur Verfügung gestellt werden. !)

Die Gesichtspunkte, welche in Österreich von seiten der Jugend- gerichte und der Anklagebehörden für die Beurteilung der Straftaten Jugendlicher maßgebend sein sollen, führt zutreffend der Erlaß des Justizministeriums vom 15. 3. 1905 Z 5540 aus. Diese Gesichtspunkte für die Straftaten Jugendlicher sollten, solange nicht ein Jugendstraf- gesetz besteht, dauernd Anwendung in der praktischen Jugendgerichts- barkeit finden. Hiernach sind bei Straftaten Unmündiger für die Entscheidung »die Fragen, ob das mit der Tat verbundene Übel wirk- lich bedacht und beschlossen wurde, oder ob ein Irrtum in den Tat- sachen, Unwissenheit der Folgen der Handlung, unwiderstehlicher Zwang usw. einer solchen Annahme widerstreiten ($ 2, e, f, g St. G.) von Belang. Sie erheischen hier sogar größere Aufmerksamkeit, um so sorgfältigere Untersuchung, weil diese Momente bei Verfehlungen Unmündiger zum Teile in anderer Form als bei Straftaten Erwachsener auftreten und weil das schwächere Auffassungsvermögen, der be- schränktere Gesichtskreis und die noch nicht erstarkte sittliche Wider- standskraft, die sich bei so jugendlichen Personen leicht von äußeren Eindrücken übermächtig beherrschen läßt, in Betracht zu ziehen sind.« »Das Jugendstrafrecht bestimmt die Altersgrenzen, bis zu welchen Erziehungsmaßnahmen, von welchen an Strafmaßnahmen Platz zu greifen haben. Innerhalb des erziehbaren Alters da die Erziehung wohl die Voraussetzung strafrechtlicher Verantwortung schafft er- scheint daher auch die strafbare Handlung des Kindes nicht als das strafwürdige Delikt, sondern als das Anzeichen, das Symptom und der Erkenntnisgrund für einen schutz- und fürsorgebedürftigen Zustand, welcher dem Vormundschaftsrichter als dem zuständigen Erziehungs- richter Veranlassung geben sollte, die Erziehungsverhältnisse des Kindes zu prüfen und daran die entsprechenden Schutz- und Erziehungsmaß- nahmen zu knüpfen. Dem Verwahrlosten die Verwahrlosung als eigene Schuld anzurechnen, erscheint als ein Unrecht.«?)

Auch bei uns muß der Jugendrichter und der Jugendsenat, sowie

1) Vergl. von Kármán, Ein kriminalpädagogisches Institut. Beiträge zur Kinderforschung u. Heilerziehung. Heft 136. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

3) Dr. Reicher, »Die Erziehungspflichi der Gesellschafte im Jahrbuch der Fürsorge. 5. Jahrg. Dresden, Verlag von O. V. Böhmert, 1911.

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1. Militärdienst und geistige Eigenart der Rekruten. 321

der Jugendstaatsanwalt Mitleid und Liebe gegenüber straffälligen Jugendlichen aufbringen. Die gestrauchelten Kinder und Jugendlichen müssen von ihnen geführt und geleitet werden auf den Weg normalen Rechtes und in die Bahn fürsorglicher Erziehung. Die Möglichkeit der Besserung darf solchen Jugendlichen nicht durch zu kleinliche und häufige Anzeigen, zu strenge und häufige Anklagen und zu harte Strafen für alle Zeiten benommen werden. Eher soll Gnade für Recht ergehen. Denn die Strafe hat nicht als solche Wert, »sondern nur weil und insoferne sie die Bedingung des Wohles der Gesellschaft iste. Die Sittlichkeit muß über den bloßen Buchstaben des Gesetzes

siegen: »Ein Richter, der verdammt, Ist stark nur im Vernichten.« »Des echten Richters Amt ist: Wieder aufzurichten.«

Der Weltkrieg verlangt gebieterisch die richtige Pflege und Anwendung eines modernen Jugendstrafrechtes. Die vielen Tausende, die den Tod fürs Vaterland sterben, fordern im Staats- interesse ganz besonders den Schutz des menschlichen Lebens, be- sonders aber der Zukunft unseres Volkes, unserer Jugend. Ihr muß die Möglichkeit werden die durch Arbeit und Pflichterfüllung gesühnten Jugendirrungen, aus jugendlichem Unverstande, aus Not oder mangel- hafter Erziehung begangen, gutzumachen, auf daß restlose Nachsicht der Straffolgen und Erziehung an Stelle der Strafe aus ihnen tüchtige, patriotische Staatsbürger heranbildet. Darum Staat, Ankläger und Richter tut eure Pflicht gegenüber unserer verirrten Jugend!

B. Mitteilungen.

1. Militärdienst und geistige Eigenart der Rekruten. Von Franz Weigl, München-Harlaching.

In der Gegenwart, in der fast jede Familie ein Mitglied in militärischen Diensten hat, kommt all den Fragen, die hier auftauchen, erhöhtes Interesse zu. Wer aus einem ganz anderen Interessen- und Tätigkeitskreis in älteren Jahren plötzlich zur militärischen Dienstleistung eingezogen wird, kommt je nach seinem Beruf mit einer besonderen Einstellung an diese neue Tätigkeit heran. So ging es auch dem Verfasser dieser Abhandlung, der aus zwanzigjähriger praktischer Arbeit in der Schule und aus größeren psychologischen Arbeiten in den Soldatenrock schlüpfen mußte Wir haben besonders in der Münchner Arbeitsgemeinschaft für experimentelle päda- gogische Forschung der katholischen pädagogischen Vereine und auch im pädagogischen Universitätsseminar zuletzt die Fragen der Individualforschung

Zeitschrift für Kinderforschung. 22. Jahrgang. 21

322 B. Mitteilungen.

eingehenderen Untersuchungen unterzogen. Hat man den Blick so für die geistige Eigenart der Menschen eingestellt, so fällt sie natürlich nicht nur an Kindern, sondern erst recht an reiferen Erwachsenen, die ihre Entwicklung in der Hauptsache abgeschlossen haben, auf. Eine Fülle von psychologischem Material tritt dem Beobachter entgegen, der über den Mechanismus der Übungen und ihren geistigen Zusammenhang hinaus die Art der Menschen beobachtet, wie sie sich geben, wie sie zugreifen, wie sie neue Aufgaben anfassen und bewältigen.

Es kann hier natürlich nicht eine erschöpfende Psychologie des »Rekruten«, in diesem Falle des 35—40'jährigen zum Heeresdienst ein- berufenen Mannes, geschrieben werden, aber einige auffallende Tatsachen sollen zusammen getragen werden. Sie können einerseits dazu beitragen die von verschiedenen Seiten geforderte Militärpädagogik zu vertiefen, ander- seits ergeben sich wertvolle Anhaltspunkte für die Behandlung der Neben- menschen, besonders Untergebener, und auch für allgemeine pädagogische Arbeit, für eine Erziehung, die der Eigenart der Jugendlichen Rechnung tragen will.

Da fällt vor allem die experimentell einwandfrei festgestellte Unter- scheidung der Individuen nach der Seite ihrer allgemeinen Reaktion auf Eindrücke auf. In einer Reihe von Reaktionsversuchen auf verschieden- artige Sinneseindrücke wurde festgestellt, daß sich die Menschen in zwei mehr oder minder scharf abgegrenzte Gruppen unterscheiden innerhalb deren natürlich auch mannigfache Übergänge bestehen indem die einen geneigt sind auf Eindrücke sehr rasch, sogar vorgreifend zu reagieren, während andere eine zuwartende, zurückhaltende Stellung einnehmen. Die ersteren, bei denen der ganze Bewegungsapparat ständig bereit ist, auf einen Eindruck hin eine Reaktion auszulösen, zählt man zum motorischen Typus; die andern, die den Eindruck gleichsam zuerst auf sich wirken lassen, also in der Aufnahme beobachtend verharren, so daß der sensorische Apparat mehr in Anspruch genommen ist, zählt man zum sensorischen Typus. Diese Typen, die im täglichen Leben einerseits als die impulsiven, rasch mit dem Wort fertigen, schnell zugreifenden Menschen, anderseits als Menschen mit abwartender Haltung, überlegend, zurückhaltend bekannt sind und nur nicht immer als diese scharf typisch unterschiedenen Wesen in ihrer geistigen Eigenart erkannt werden, treten in der ersten militärischen Ausbildungszeit sehr deutlich zu tage. Was manchem militärischen Vor- gesetzten und auch schon dem bloßen Zuschauer wenig begreiflich erscheint, ist für den tiefer zusehenden Psychologen außerordentlich interessant und in der Erscheinung klar. Die vorreagierenden Leute sind geneigt, Kom- mandos auf Grund des Ankündigungskommandos, indem sie, wenn möglich, noch auf Augen oder Lippen des Befehlenden sehen, ein klein wenig vor dem eigentlichen Ausführungskommando zu erfüllen. Bei Gewehrgriffen, bei Wendungen, bei dem Kommando »Still gestanden«, bei dem Befehl zum Antreten beim Marsch und ebenso zum Halten tritt die Tatsache am deutlichsten in Erscheinung. Namentlich wenn vorher nicht bekannt ist, welches Kommando nun erfolgen wird, so daß sich der Ausführende nicht mit starkem Willensaufwand auf korrekte Ausführung vorbereiten kann,

1. Militärdienst und geistige Eigenart der Rekruten. 323

ist die Erscheinung festzustellen. Der Griff, das Antreten, das Halten »klappt« dann nicht, und zur Verwunderung des Befehlenden wird erst das wiederholte Kommando exakt durchgeführt. Die psychologische Er- klärung dafür, daß die Ausführung nicht klappt, liegt darin, daß die Re- kruten, wenn sie sich nicht ganz exakt eingestellt haben, teilweise vor- teilweise nachreagieren und so das in der miltärischen Disziplin so außer- ordentlich unangenehm empfundene, stark auffallende Nacheinander der Ausführung veranlassen. Besonders stark tritt der motorische Typus auch in Erscheinung bei den SchieBübungen, indem der Schütze abzieht, bevor er ruhig Druckpunkt genommen hat und zu einem sicheren Ziel gekommen war. Die sensorische Einstellung bietet hier Vorteile, wenn nicht etwa gleichzeitige Hemmungen und Ablenkungen die Sicherheit beeinträchtigen.

Von außerordentlichem Interesse ist weiterhin die Unterscheidung in der allgemeinen geistigen Struktur der Persönlichkeiten, insofern mehr sinnlich-anschauliche oder abstrakte Veranlagung gegeben ist. Schon im täglichen Leben tritt uns diese Unterscheidung ja auch sehr häufig entgegen. Es gibt Menschen, die vorwiegend mit dem geistigen Material arbeiten, das durch die Sinneseindrücke direkt erworben ist, deren Vor- stellungsleben und Denken fast völlig von den starken Reizen der Sinne erfüllt ist und geleitet wird, während andere vorwiegend geneigt sind alles in bestimmte Formen zu bringen, das Gesetzmäßige in den Erscheinungen zu beobachten, logische Zusammenhänge festzustellen, Abstraktionen zu bilden. In der Unterhaltung, in der Beurteilung von Handlungen, Ereignissen, im Interessenkreis der Menschen tritt diese Unterscheidung deutlich zu tage. Sie kann natürlich auch auf dem Gebiet der militärischen Ausbildung nicht fehlen. Während die einen Kommandos, die auf eine mit dem Auge erfaßte Ordnung und auf gewisse Marschrhythmen hinaus gehende Be- wegung bezwecken, sofort klar erfassen und ausführen, sind andere nicht hierzu imstande und vermögen erst dann die Durchführung richtig zu machen, wenn sie die Ausführung erst wieder noch einmal gesehen haben. Die Durchführung von Kommandos wie >Mit Gruppen rechts schwenkt, marsch« und im Gegensatz hierzu »rechts schwenkt« oder »links marschiert auf,«e »in Gruppenkolonne marschiert aufs macht den mehr abstrakt ver- anlagten Rekruten keine Schwierigkeit, während die anderen besonderer geistiger Sammlung bedürfen, um die Formel des Kommandos rasch in die Wirklichkeit zu übertragen. Interessant ist hier auch wie im Unterricht die Erfassung von Schemen z. B. der Vorpostenaufstellung oder der Posten- instruktion den zur abstrakten Veranlagung neigenden Leuten gar keine Schwierigkeiten macht, während andere erst die ganze Anordnung verstehen, wenn die im Unterricht noch so eingehend besprochene Sache in einer Gelände- oder Felddienstübung praktisch durchgeführt ist.

Eine große Rolle spielt sodann das weitverzweigte, bedeutungsvolle Aufmerksamkeitsproblem. Schon die grundlegenden Beobachtungen über die Teilung oder Streuung der Aufmerksamkeit treten uns hier wieder vor Augen, und man findet die in den letzten Jahren besonders von der experimentellen Psychologie festgestellten Anlagedifferenzen be- stätigt. Während die eine Gruppe von Menschen eine natürliche Anlage

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324 B. Mitteilungen.

dafür mitbringt, die Aufmerksamkeit zu teilen, sie gleichzeitig mehreren Erscheinuugen und Tätigkeiten zuzuwenden, gelingt dies anderen Indivi- duen außerordentlich schwer. Es sei hier aus dem täglichen Leben zur Veranschaulichung des psychologischen Tatbestandes daran erinnert, wie es Bureauvorstände gibt, die imstande sind, gleichzeitig Briefe zu diktieren, dabei aber eine Reihe von Schriftstücken zu verfolgen und mit ihrer Unterschrift zu versehen und noch die ein und andere Anordnung in dem großen Bureau nebenbei zu geben, während andere zu einer solchen Streuung ihrer Aufmerksamkeit absolut nicht imstande sind. Schon bei den allerersten Übungen, die übrigens auch schon vom Turnuntericht in Schulen, in Vereinen bekannt sind, ist diese Beobachtung zu machen. Das Abzählen wird bekanntlich in der Aufstellung in Linie, im »Rührt Euch« gemacht, und indem nun ein Mann nach dem anderen fortlaufend die ihm zufallende Nummer ruft, hat er den Kopf nach links zu wenden, gleich- zeitig das linke Bein zur Haltung im »Stillgestanden» anzuziehen und dann den Kopf in die gerade Richtung und das Bein in Ruhestellung zurückzubringen das ist ein ausgesprochener Fall von Aufmerksamkeits- teilung. Für den stillen Zuseher ist es belustigend, für den Befehlenden freilich weniger angenehm, hier nun die zu tage tretenden Schwierigkeiten beobachten zu können, wie der eine vergißt den Fuß beizuziehen, der andere den Kopf zu wenden, oder wie der eine oder andere bei der Hinwendung seiner Aufmerksamkeit auf diese Tätigkeiten plötzlich nicht mehr richtig zählen kann. Wenn man hier z. B. sieht, wie plötzlich das fortlaufende Abzählen stockt oder wie einer prompt auf 89 mit 100 weiter zählt, so wäre es natürlich falsch zu glauben, daß dieser Mann nicht bis 100 zählen könnte, die Störung ergab sich vielmehr aus der Unmöglichkeit oder doch größeren Schwierigkeit der Aufmerksamkeitsteilung. Aber nicht nur bei den Rekruten tritt diese Unterscheidung in der Einstellung der Aufmerk- samkeit zutage, sondern auch bei den Kommandierenden. Es gibt hier einerseits Vorgesetzte, die »alles sehen«, denen »nichts entgeht«; solche Vorgesetzte sind uns schon aus der Schule und der Erziehungszeit her bekannt, anderseits aber gibt es wieder Personen, die »nichts sehen« oder doch sehr viel übersehen. Es hängt dies mit der Eigenart der Aufmerk- samkeitsteillung zusammen. Der eine Vorgesetzte kann eben eine große Gruppe überschauen, ohne an den einzelnen Mann gebunden zu sein, er kann weiterhin jede Einzelheit der Stellung, der Bewegung an Kopf, Händen, Füßen beobachten, während der andere immer nur auf eine Person in der Reihe oder auf eine bestimmte Bewegung, einen Teil der Haltung mit seiner Aufmerksamkeit eingestellt ist. Der eine ist dann ein guter Befehlshaber, auch ein guter militärischer Erzieher, ein Mann, der leicht stramme Disziplin erzielt, während der andere dabei immer auf Schwierig- keiten stößt. Außerdem sei erwähnt, daß hierbei natürlich auch der Auf- merksamkeitsumfang eine Rolle spielt. Wer eine große Zahl von Ein- drücken auf einen Blick erfassen kann, ist in diesen Dingen gegenüber jenen mit beschränktem Aufmerksamkeitsumfang immer im Vorteil.

Eine weitere bedeutsame Seite des Aufmerksamkeitsproblems tut sich mit der Frage der Ablenkbarkeit vor uns auf. Auch hierin unter-

1. Militärdienst und geistige Eigenart der Rekruten. 325

scheiden sich die Menschen außerordentlich. Während die einen außer- ordentlich leicht durch alles abgelenkt werden, sind andere stark wider- standsfähig und lassen sich durch Störungen in der Umgebung, in der Nähe der Arbeitsstätte nicht beeinträchtigen. Man denke an Personen, die bei Straßenlärm oder Klavierspiel, Kindergeschrei geistig nicht arbeiten können oder denen es unmöglich ist, in einem größeren Bureau oder sonst an einem Ort, wo viele Menschen aus- und ein- und aneinander vorüber- gehen, zu arbeiten, während andere diese Dinge gar nicht als Störung empfinden. Bei unseren Rekruten tritt diese Differenzierung der Aufmerk- samkeitseinstellung zutage schon bei der einfachen Aufgabe, Gleichschritt zu halten. Während der eine schon durch das Gespräch mit dem Nach- bar oder durch seitwärts oder vor der Abteilung marschierende Truppen aus dem Schritt gebracht wird, behält der andere über alle Störungen hin- weg den festen Schritt bei. Ebenso werden die leicht ablenkbaren Naturen auf dem Exerzierplatz durch das Nebeneinander von vielen Gruppen, die durch verschiedene Kommandos geleitet werden, so gestört, daß häufig ein Versagen und eine falsche Ausführung der Kommandos zutage tritt. Und während der eine durch keinerlei Vorkommnisse, kaum durch einen an- segelnden Flieger, aus seiner Einstellung auf die gerade befohlene Übung gebracht wird, wird der andere davon außerordentlich stark beeinträchtigt. Bei der Ausbildung der älteren Mannschaft wird gerade jetzt in der Kriegs- zeit gerne das Kommando »Selbstübung« gebraucht. Um die Leute nicht zu überanstrengen, wird das Tempo der Ausführung, die Zahl der ge- machten Übungen dem Belieben des einzelnen bezw. der Anpassung an seine Leistungsfähigkeit überlassen. Das ist zweifellos eine sehr humane und erfreuliche Einführung im militärischen Ausbildungsdienst, aber auch hier tritt zutage, daß stark ablenkbare Naturen durch die Verschieden- artigkeit der Selbstübung beeinträchtigt werden und hier mitunter schlechte Arbeiten machen, während sie beim Exerzieren der Gruppe oder Abteilung nach einheitlichem Kommando flott arbeiten.

Mit der Ablenkbarkeit der Aufmerksamkeit hängen dann auch mancher- li Hemmungserscheinungen zusammen, deren eingehende psycho- logische Analyse außerordentlich verlockend wäre Wenn z. B. ein Mann des öfteren beim Kommando »links um« die Rechtsdrehung ausführt, so liegt das natürlich nicht daran, daß er etwa nicht imstande wäre, links und rechts zu unterscheiden, sondern unter dem Eindruck des plötzlichen Kommandos, in das sich der Gedanke einschiebt: Was war das nun eigent- lich? oder: Ich werde es doch nun recht machen, erfolgt eine Ablenkung, die hier als starke Hemmung empfunden wird, und dann im Glücksfall zur richtigen Lösung, im Unglücksfall zum Versagen führt. Solche Hemmungen treten besonders auf, wo es sich um die Durchführung von Kommandos handelt, die das erste Mal falsch ausgeführt oder schon öfters verfehlt wurden. Es braucht nicht gerade Angst zu sein, was hier hemmend wirkt, schon der Gedanke, daß es einmal falsch gemacht wurde, und daß es wieder falsch gemacht werden könnte, erzeugt die Ablenkung bez. Hemmung.

Die Vorstellungstypen lassen sich bei der militärischen Ausbildung

326 B. Mitteilungen.

ebenfalls nicht verleugnen. Man unterscheidet bekanntlich den visuellen Typus, der hauptsächlich mit Gesichtseindrücken arbeitet, den akustischen, der hauptsächlich auf Gehörseindrücken beruht, und den motorischen (hier in anderem Sinn als einleitend vorgeführt), der vor allem mit Tast- und Bewegungsempfindungen verknüpft ist. Es gibt da Rekruten, die auf den Klang des Kommandos ganz scharf eingestellt sind, und die die feinsten Nuancen im Kommando mit dem Ohr erfassen, andere, die immer- fort und wo immer möglich das Auge und den Mund des Befehlenden suchen, und wiederum solche, die in der richtigen Ausführung des Kommandos stark davon abhängig sind, daß sie die Übung mehrmals aus- geführt haben, so daß eine gewisse Mechanisierung der Bewegungen ein- getreten ist, die auf den Bewegungsempfindungen ruht. So haben dann manche für das Erklären bestimmter Aufgaben eines Kommandos gar nichts übrig und sind danach nicht imstande, die noch so eingehend, ja um- ständlich beschriebene Tätigkeit auszuführen. Andere machen die Übung glatt, wenn sie nur einmal etwa bei einer benachbarten Gruppe die Sache gesehen haben. Und die dritten versagen nicht mehr, wenn sie nur einige Male die Übung durchführen konnten. In umgekehrter Weise tritt der Typus zutage bei einem Kommandierenden, der z. B. recht wohl weiß, was er machen lassen will, der das vielleicht sogar in der Phantasie vor sich sieht, was ausgeführt werden soll, aber augenblicklich nicht das ent- sprechende Kommando, das passende Wort dazu findet.

Zieht man aus diesen psychologischen Tatsachen in knapper Weise Konsequenzen, so tritt demjenigen, der mit solcher psychologischer Ein- stellung die militärischen Übungen verfolgte, vor allem der außerordent- lich hohe Wert des sog. militärischen Drills vor Augen. Man sieht nämlich, wie durch die oft, ja immer wieder, vorgenommene Wieder- holung der Übungen, sodann durch die starke Anspannung des Willens unter der Wucht der militärischen Disziplin diese individuellen Anlagen überwunden werden, wie die mannigfachen geistigen Differenzen zwar nicht ausgeschaltet werden, aber doch so bezähmt werden können, daß gleichmäßige Leistungen zu stande kommen. Es liegt darin ein Stück Willenszucht von außerordentlicher Bedeutung für alle Erscheinungen des täglichen Lebens, insofern sie uns lehren, wie durch Aufwand von Willenskraft Schwierigkeiten überwunden werden können, die die individuelle Anlage dem einzelnen Menschen bereitet, was leider auch im Unterricht der Schule viel zu wenig beachtet wird. Ins- besondere für den Turnunterricht sind alle diese Beobachtungen auch recht lehrreich.

Aus den Erfolgen der militärischen Übungen bei jungen Leuten ist die Tatsache ja jedem bekannt, der auf dem Exerzierplatz einmal die Soldaten anfangs der Zwanziger exerzieren sah. Unter den jetzigen, außer- ordentlichen Verhältnissen sieht man aber, daß selbst bei älteren Leuten, die mit einer gewissen Reife ihre geistige Eigenart doch schon viel mehr ausgeprägt haben, in verhältnismäßig kurzer Zeit Differenzen überwunden werden können, deren Ausgleich mancher im bürgerlichen Leben für un- möglich gehalten hätte. Insofern liegt in den hier besprochenen Tatsachen

2. Die Hilfsschule in Hamburg. 3. Sozialakademie f. Frauen in Düsseldorf. 327

ein außerordentlich großes Stück Kriegsweisheit, eine Lehre von großem Wert, die uns der Krieg gibt. Denn schließlich ist im täglichen Leben mehr oder minder jeder Mensch angewiesen, seine Eigenart der Umgebung und den an ihn heran tretenden Forderungen anzupassen. Der große Ruf nach Selbstzucht, der von den Schlachtfeldern und Exerzierplätzen an uns ergeht, möge verstanden werden auch in der Zeit nach dem Kriege zum Segen eines willensstarken Volkes im neuen großen Deutschland!

2. Die Hilfsschule in Hamburg.

Am 13. Juni konnte die Hamburger Hilfsschule auf ein 25 jähriges Bestehen zurückblicken. 1892 wurde die erste Hilfsklasse eingerichtet. Frl. Hamfeld wurde mit ihrer Leitung betraut, und sie konnte jetzt die Glückwünsche der Oberschulbehörde, des Inspektors für das Hilfsschn]- wesen und des Hilfsschulvereins entgegennehmen.

Bald darauf entstand die erste selbständige Hilfsschule. Man ver- zichtete von vorneherein auf die Angliederung der Hilfsklassen an Normal- schulen, sondern baute sie zu selbständigen Schulen unter besonderer Leitung aus, in der richtigen Erkenntnis, daß die Hilfsschule einen Schul- organismus für sich bildet.

Besonders im letzten Jahrzehnt hat die Entwickelung der Hilfsschulen erfreuliche Fortschritte gemacht. 1911 wurde ein besonderer Lehrplan herausgegeben, der noch heute als einer der besten anzusehen ist, und der von neu erschienenen Lehrplänen anderer Städte noch nicht überholt wurde. 1912 wurde den Hilfsschullehrkräften eine Funktionszulage ge- währt. 1913 wurde der erste Hilfsschulneubau in der Finkenau bezogen, der bei Kriegsbeginn als Lazarett eingerichtet wurde und jetzt Kopfschuß- verletzte beherbergt, wo nunmehr Hilfsschullehrkräfte in veränderter Form ihre Arbeit wieder aufnehmen konnten.

Leider hat der Krieg in die Hilfsschullehrerschaft grausame Ernte gehalten, und gerade die Besten sind es, die ihm zum Opfer gefallen sind. Ihre Kraft wird bei der Fülle der zu erwartenden Arbeit noch oft schmerz- lich vermißt werden. Fr. R.

3. Sozialakademie für Frauen in Düsseldorf.

Seit 10 Jahren hat sich der Verein für Säuglingsfürsorge im Re- gierungsbezirk Düsseldorf u. a. der Aufgabe unterzogen, gut durchgebildete Kräfte für die sozial-hygienische Arbeit, die im Regierungsbezirk Düssel- dorf zu leisten ist, zu erziehen. Durch Unterricht in Wanderlehrkursen in der Säuglingspflege und Säuglingsfürsorge, durch Einzelvorträge und Vortragsreihen, durch eingehende mündliche und schriftliche Beratung, durch Einrichtung einer Beratungsstelle für Schulkinderpflege und Kinder- hortwesen, durch besondere Unterweisungen der anzustellenden Kräfte in rechtlichen und fürsergerischen Fragen hat er unausgesetzt Aufklärungs- und Einführungsarbeit in die soziale praktische Arbeit geleistet und seine Erfahrungen weitesten Kreisen zugänglich gemacht. So hatte sich dem Verein schon seit Jahren naturgemäß der Wunsch aufgedrängt, seine Er-

328 B. Mitteilungen.

ziehungs- und Unterrichtsarbeiten einesteils zusammenzufassen, anderenteils auszubauen, so daß, als im Winter 1916/17 die Gründung einer sozialen Ausbildungsstätte ernstlich in Erwägung gezogen wurde, der Plan alsbald allseitigen Beifall und die Zusage wertvollster Unterstützung fand. Den Verein leitete indessen bei seinen Überlegungen nicht nur das wachsende Bedürfnis nach gründlich ausgebildeten Berufsarbeiterinnen in den Stadt- und Landkreisen des Regierungsbezirks Düsseldorf, sondern die Einsicht, daß eine soziale Schulung der pflegerisch gut vorgebildeten Frauen dringend notwendig wurde bei der immer größer werdenden In- anspruchnahme durch die offene Fürsorgetätigkeit. So ist z. B. der wichtige Posten der Kreisfürsorgerin nicht anders mehr als durch praktisch und theoretisch gleich gut geübte Frauen zu besetzen. Die gründlichste, beste Ausbildung ist für den sozialen Beruf auch hier gerade gut genug.

Der Plan, eine Ausbildungsstätte für umfassende Berufsausbildung für Frauen in sozialer Arbeit zu geben, reifte somit schnell heran, aber gemäß der bisherigen Vereinsbetätigung beschränkte er sich nicht nur auf Berufs- ausbildung sozialer Beamtinnen, sondern ging zugleich auf Übermittlung und Vertiefung sozialer Lebensanschauung und Kenntnisse überhaupt aus. Er wendet sich somit auch an die sozial zu interessierenden Frauen, aber er beabsichtigt zugleich darüber hinaus, was sie zu ihren Berufsausbildungen und für sich brauchen, Bildungselemente zu vermitteln, die sie mensch- lich tiefer verankern und ihren Bedürfnissen Richtung geben. Nicht nur auf Befriedigung intellektueller, sondern auch gemütlicher Bedürfnisse ist es abgesehen, um jene innere Vereinheitlichung vorzubereiten, deren eine im Berufsleben auf sich selbst angewiesene Frau bedarf, um nicht allein an sich einen festen Halt zu besitzen, sondern ihn auch denen, die ihn bei ihr suchen, zu gewährleisten. Nach diesen verschiedenen Gesichts- punkten sollte dann der Lehrplan aufgestellt werden.

Am 19. Mai d. J. schritt der Verein für Säuglingsfürsorge der seinem Namen dabei den Zusatz »und Wohlfahrtspflege«e gab zur Gründung der in Aussicht genommenen »Sozial-Akademie für Frauen«. Durch das Zusammenwirken der im Verein als Zweckverband zusammen- geschlossenen sämtlichen Stadt- und Landkreise, der Teilnahme der Landes- Versicherungsanstalt Rheiuprovinz und der Anteilnahme der im Verein vertretenen Verbände, Werke und Persönlichkeiten, erhält die neue An- stalt eine breite und gesicherte Grundlage. Die Leitung erfolgt durch ein Kuratorium, an dessen Spitze der Regierungspräsident steht, und dem so- wohl der Oberpräsident der Rheinprovinz wie eine Reihe von Landräten und ÖOberbürgermeistern, der Vorsitzende der Landes-Versicherungsanstalt und schließlich noch eine Reihe sozial führender Persönlichkeiten ange- hören. Rechtlicher Träger wird der Verein für Säuglingsfürsorge und Wohlfahrtspflege im Regierungsbezirk Düsseldorf.

Der Eintritt in die Akademie ist an das zurückgelegte 18. Lebens- jahr geknüpft und an den Nachweis des Besuchs einer guten 10klassigen Mädchenschule, dazu tüchtiger, hauswirtschaftlicher Ausbildung und Übung. Die Akademie soll in zwei Jahren soziale Allgemeinbildung und soziale Berufsschulung übermitteln, daneben allen denen zur Anregung, Ergänzung

4. Preisausschreiben. 329

und Fortbildung verhelfen, die bereits praktisch tätig waren oder irgend eine andere gleichwertige Vorbildung aufweisen können.

Der normale Lehrgang teilt sich in die Grundlegung (1 Jahr) und die praktische Betätigung, besonders in der offenen Fürsorge (t/, Jahr), sowie in die theoretische Fachbildung (1/, Jahr). Im zweiten Besuchsjahr wird sich somit die Einteilung der Schülerinnen zu einem besonderen sozialen Arbeitsgebiet nach Neigung und Eignung vollziehen können, so- weit diese abzusehen ist. Die Ausbildung soll sich erstrecken auf sozial- hygienische Fürsorgearbeit für die verschiedenen der Fürsorge be- dürftigen Kreise; ferner auf solche im sozialen Verwaltungsdienst in öffentlichen und privaten Ämtern, Anstalten, Einrichtungen, Vereins- und Gemeindearbeit; und schließlich in sozialen Erziehungs- und Bildungsauf- gaben (Jugend- und Volkserziehung), in allgemeiner Wohlfahrtspflege. Durch die Heranziehung aller Wohlfahrtsanstalten und Bildungseinrich- tungen des ganzen Regierungsbezirks wird eine selten zu übertreffende Gelegenheit zur praktischen Vor- und Durchbildung geboten werden.

Die Leitung ‘der Akademie soll einer Frau von bewährter sozialer Erfahrung übertragen werden. Hauptamtliche Lehrkräfte sollen ihr zur Seite stehen, ergänzt durch Dozenten und Dezernenten der verschiedensten Anstalten und Ämter. Eine Abschlußprüfung wird die Berufsbefähigung ergeben. Das Ergebnis wird in einem Abgangszeugnis (Diplom) ausge- sprochen.

Der Verein hofft mit dieser Gründung, die die Frucht langjähriger eingehender Arbeit und praktischer Erfahrung ist, sowohl eine sozial- hygienische wie sozial-pädagogische Ausbildungsstätte für Frauen zu ge- währleisten, wie sie nicht nur die vermehrte Heranziehung der Frauen auf dem Gebiete der gesamten Wohlfahrtspflege fordert, sondern auch den Frauen im eigensten und im vaterländischen Interesse verbürgt werden sollte. Er unternimmt damit den Versuch, die geistige Durchbildung und die sozial-theoretische Schulung aufs engste zu verbinden mit den prak- tischen Anforderungen an die Ausbildung, die heutzutage das soziale Leben an die berufstätigen Frauen stellt.

Demnächst werden die Grundzüge des Lehrplanes und die näheren Aufnahmebedingungen bekannt gegeben werden. Bis dahin gibt die Ge- schäftsstelle des Vereins für Säuglingsfürsorge und Wohlfahrtspflege im Regierungsbezirk Düsseldorf, Düsseldorf, Werstenerstr. 150, Auskunft.

4. Preisausschreiben.

Die Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge setzt einen Preis von Eintausend Mark für die beste Arbeit über folgendes Thema aus: Vor- schläge für eine Neugestaltung des Deutschen Jugendrechts. Die Entscheidung über die Zuerkennung des Preises steht einem Preis- richterkollegium zu, das sich aus sieben Personen zusammensetzt, die seitens der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge gewählt werden.

Bewerber werden aufgefordert, die Arbeiten, mit Kennwort versehen,

330 B. Mitteilungen.

bis zum 1. April 1918 abends 8 Uhr dem Direktor der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge, Berlin N. 24, Monbijouplatz 3 einzureichen. Der Name und die Anschrift sind im verschlossenen Umschlage beizu- fügen.

5. Kurze Nachrichten.

Am 18. April 1917 starb der Generalgouverneur Freiher von Bissing, der allen Schul- und Erziehungsfragen ein großes Interesse entgegengebracht hat, das sich während des Krieges besonders in seinem Antrage betr. sexuelle Belehrung der älteren Schüler und Schülerinnen kund tat. Er war Mitarbeiter an dem von der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge herausgegebenen Handbuch für Jugendpflege.

Professor Erich Becher, 1882 als Sohn eines Remscheider Lehrers geboren, folgte einem ehrenvollen Rufe nach München. Er wurde 1909 Nachfolger Meu- manns’ an der Universität Münster. Im abgelaufenen Wintersemester hat er bereits seine Stellung in München als Nachfolger Külpes angetreten und die Leitung des psychologischen Instituts dort übernommen. Seine Werke sind: Philosophische Voraussetzungen der exakten Naturwissenschaften. Leipzig 1907. Die Grundfrage der Ethik. Köln o. J. Der Darwinismus und die soziale Ethik. Leipzig 1909. Ge- hirn und Seele. Heidelberg 1911. Naturphilosophie. Leipzig und Berlin 1914. Weltgebäude, Weltgesetze, Weltentwicklung. Berlin 1915. Die fremddienliche Zweckmäßigkeit der Pflanzenzellen und die Hypothese eines überindividuellen Seeli- schen. Leipzig 1917. u. a.; außerdem experimentell- und metaphysisch - psycho- logische, naturphilosophische u. a. Arbeiten in Zeitschriften. Er ist Herausgeber von philosophischen und pädagogischen Arbeiten bei Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza; daselbst erschien: Erziehung zur Menschenliebe und Helfer- system. Langensalza 1914.

Zur Förderung und Unterstützung würdiger Schüler ist in Berlin eine Be- ratungsstelle für Jugendförderung begründet worden. Die Idee stammt von Direktor Franz Hildebrand, der auch die Leitung der Beratungsstelle übernehmen wird. Es soll in ihr Rat und Unterstützung vermittelt werden für folgende Ge- biete: Ernährung, Bewegungsgelegenheit, Ferienerholung und -aufsicht, Kleidung, Familienanschluß bei ungünstigen häuslichen Verhältnissen, Anschluß an Jugend- vereinigungen, Schul- und Berufswahl, Sonderunterricht (Kunst, Musik usw.), Be- schaffung von Büchern für minderbemittelte Schüler.

Das Selbststillen bei den Berliner Müttern hat infolge des Krieges zu- genommen. Den stillenden Müttern werden durch die städtische Verwaltung noch besondere Zuwendungen an Nahrungsmitteln gewährt. Hoffentlich gelingt es nun, auch nach dem Kriege den Stillwillen und die Stillfähigkeit auf gleicher Höhe zu erhalten. Auf die große Bedeutung des Selbststillens ist auch in unserer Zeitschrift wiederholt von verschiedenen Seiten hingewiesen worden.

Eine landwirtschaftliche Erziehungsanstalt der Stadt Berlin ist am 1. April 1917 in Struveshof, dem Vorwerk des Rieselgutes Sputendorf, bei Groß- beeren eröffnet worden. In ihr sollen Fürsorgezöglinge im Alter von 14—18 Jahren in der Landwirtschaft ausgebildet werden. Die Auswahl der Zöglinge erfolgt in dem Beobachtungs- und Verteilungshaus des Erziebungshauses Lichtenberg. Die Hauptgruppe der Jungen kann in Struveshof in zwei Häusern mit je 60 Burschen wohnen. Aus erzieherischen Gründen kommen dazu zwei weitere Gruppen: die erste umfaßt 60 schulpflichtige Knaben in drei Heimen; die zweite setzt sich aus den schwer erziehbaren Burschen bis zu 21 Jahren zusammen, die in einem soge- nannten »festen Hause« untergebracht sind, das für 28 Jungen Platz bietet. Die Individualisierung ist in dem neuen Erziehungsheim in bester Weise durchgeführt. Überall wird das Familienpriuzip betont. Die ganze Anlage gehört zum Hervor- ragendsten. was in letzter Zeit an Einrichtungen auf diesem Gebiete geschaffen worden ist. Wir behalten uns deshalb vor, ausführlicher in einem illustrierten Auf- satz darüber zu berichten. Das Verdienst um die Durchführung des Ganzen in der

C. Zeitschriftenschau. 331

schwierigen Kriegszeit gebührt Herrn Direktor Knaut-Berlin. Die Leitung der neuen Anstalt liegt in den Händen von Herrn Direktor Rake.

Unter dem Titel »Heilpädagogik« erscheint monatlich als Beilage der unga- rischen Zeitschrift A Gyermek (Das Kind) in einem Umfange von einem Bogen eine neue Fachzeitschrift, deren Schriftleiter Johann Berkes, Direktor der staatl. heilpäd. Anstalt und Dr. phil. Josef O. Vértes, Leiter der staatl. Mittel- schule für nervöse Kinder, sind. Bisher erschienen 3 Doppelnummern, aus deren Inhalt wir folgende Artikel hervorbeben: Johann Berkes, Einige heilpädagogische Kriegsfragen. Peter Klug, Der Taubstumme und der Krieg. Dr. Josef O. Vértes, Zur Psychologie der Blinden. Auch wird in der Beilage über die heilpädagogische Fachliteratur sorgfältig referiert. Der kurzgefaßte Inbalt der Beilage erscheint auch in deutscher Sprache in der Zeitschrift A Gyermek (Budapest, Üllöistr. 16b). Be- zugspreis pro Jahr 8 Kronen.

C. Zeitschriftenschau.

Archiv für die gesamte Psychologie. Band 34. Anschütz, G., Theodor Lipps. Bd. 34. 1915. S. 1—13.

Bei anderen Wandlungen bleibt sich Lipps konsequent in seiner Betonung der introspektiven Methode für die Psychologie, in der Verfechtung des Einfühlungs- gedankens auf dem Gebiet der Ästhetik und in seiner Hinneigung zu einem all- gemeinen idealistischen Monismus auf dem Gebiet der reinen Philosophie. Den Psycho- logismus kann man ihm insofern mit Recht vorwerfen, als er sehr stark die Be- deutung der Psychologie für Erkenntnis-Theorie und Logik betonte. Dadurch gab er mit den Anlaß zur sog. Phänomenologie Husserls, obschon er später in Gegensatz zu dieser Richtung geriet. Auch die moderne Denkpsychologie ist indirekt auf seinen Einfluß zurückzuführen. Die Saat, die er ausgeworfen hat, brachte die em- pirische Einzelforschung zur Selbstbesinnung und machte die philosophische Speku- lation wieder auf den Wert empirischer Grundlagen aufmerksam.

Lehmann, Hugo, Sinnliche und übersinnliche Welt. Wundt und Kant. Bd. 34. S. 14—28. i

Was Kant von der erkenntniskritischen Seite aus versucht hat, eine Bestimmung der sinnlichen und der übersinnlichen Welt, das unternimmt Wundt vom psycho- logischen Standpunkt aus. Die Bedeutung von Wundts neuestem Werk für die Religionspsychologie wird eingehender gewürdigt.

Boden, F., Ethische Studien. Bd. 34. S. 29—52.

Der Ethik hat man vielfach Weltfremdheit zum Vorwurf gemacht. Um praktischer zu werden, muß sie ihre Aufgabe erweitern und das menschliche Handeln als solches, nicht mehr das Wollen allein, mit gewissen Einschränkungen allerdings, zum Objekt nehmen. Ihr Ziel ist dann nicht das Moralpredigen, sondern das, was schon Schopenhauer als viel schwieriger bezeichnet hat, das Moralbegründen. Hier- bei ist nun zu unterscheiden zwischen eudämonologischer und sozialer Ethik. Erstere hat die Glückseligkeit des Einzelnen zum Ziel und stand bei den Griechen seit Sokrates im Mittelpunkt der Philosophie. Letztere stellt Forderungen auf, um die Ziele einer größeren oder kleineren Gemeinschaft zu erreichen. Eine Harmonie beider Richtungen wird möglich durch die Zuhilfenahme des Gewissens, das gemäß

332 C. Zeitschriftenschau.

den Zwecken der Gemeinschaft im einzelnen erziehbar ist. Wie das nun am besten erreicht werden kann, darüber muß die Psychologie Auskunft geben, indem sie das Spiel der Motive und Triebe im Menschen klar legt. So kann eine harmonische Versöhnung egoistischer und altruistischer Bestrebungen erreicht werden.

Huther, A., Der Begriff des Ästhetischen psychologisch begründet. Bd. 34. S. 53—64.

Worauf beruht es, daß gerade die Kunst so starke Gefühlswirkungen hervor- ruft? Das kommt daher, daß beim künstlerischen Schaffen wie beim Nachschaffen sich alle psychischen Faktoren vereinigen, um uns eine Erhöhung unsres gesamten geistigen Seins erleben zu lassen. Ein Kunstwerk, das diesen Forderungen ent- spricht, wird, wie auch Volkelt es verlangt, einen menschlich bedeutsamen Gehalt aufweisen und nach Inhalt und Form ein harmonisches Ganzes bilden, so daß Ge- fühl, Phantasie, Wille und Intelligenz sich in der Auffassung desselben entfalten können. H. hält diese Erklärung des Ästhetischen für erschöpfend gegenüber den Begriffen vom Ästhetischen, die aus der Annahme eines bestimmten philosophischen Systems hergeleitet werden.

Müller-Freienfels, Rich., Studien zur Lehre vom Gedächtnis. Bd. 34. S. 65 tis 105.

Bei den Gedächtnisexperimenten wurde bisher nur die intellektuelle Seite der Gedächtnisinhalte berücksichtigt; es muß aber auch dem Gefühlscharakter derselben Rechnung getragen werden. Drei Arten des Gedächtnisses können unterschieden werden: 1. Das orientierende Gedächtnis, das sich auf Erinnerungsspuren bezieht, die nicht stark genug sind, um zur Reproduktion zu führen. Hierher gehört das weite Gebiet des Unterbewußten, dem M.-F. einen wesentlich gefühlsmäßigen Cha- rakter zuschreiben will. 2. Das reproduzierende Gedächtnis, das sensorisch und motorisch sein kann und das sich mit dem deckt, was man gewöhnlich Gedächtnis nennt. 3. Das produktive, freischöpferische Gedächtnis, dessen Tätigkeit sich mit der Phantasie im gebräuchlichen Sinne deckt. Die Assoziationspsychologie, auch mit den von Ziehen eingeführten Hilfsmitteln der assoziativen Verwandtschaft, der Deutlichkeit der Vorstellungen, dem Gefühlston und der Konstellation ist nicht im- stande, die teleologische Seite des Gedächtnisses zu erklären, wie sie sich in der größeren oder geringeren Verfügbarkeit einzelner Erinnerungen äußert.

Messer, August, Zur Wertpsychologie. Bd. 34. S. 157—188.

Bemerkungen zu einem Aufsatz von Th. Haering zur Psychologie der Wertung. H. hatte gefunden, daß der Wertbegriff sich niemals psychologisch restlos auflösen lasse, d. h. daß man bei der Analyse zuletzt immer einen Wert finde, den man als gegeben hinnehmen müsse. M. bat Bedenken dagegen. Er lehnt auch eine Identi- fizierung von Lust und Wertung ab. H. hat unter den Wertaıten auch die logi- schen Werte angeführt. Messer will von diesen nichts wissen. Um die Auffassung des vorwissenschaftlichen Bewußtseins über die Wertarten zu gewinnen, hat M. einer Anzahl Studenten die Frage vorgelegt: Welche Wertarten können Sie angeben? Die Antworten zeigen, daß eine Unterscheidung von Wertarten dem vorwissen- schaftlichen Bewußtsein nicht geläufig ist. Nur die Einteilung in geistige und materielle Werte findet sich bei 16 Versuchspersonen 9 mal. Windelband kennt bekanntlich nur ethische, ästhetische und logische Werte, nach den 3 Grundfunktionen des Bewußtseins. Er erklärt, daß in den religiösen Werten nichts inhaltlich Be- sonderes gegeben sei. Eine weitere Umfrage Messers über religiöse Werte liefert zwar viele Belege für die Auffassung Windelbands, aber auch Antworten, auf die das nicht zutrifft. Sie führen z. B. die Werte an, die aus dem Verhältnis zu der persönlich gedachten Gottheit entspringen, die für den Gläubigen in seiner Kirche

C. Zeitschriftenschau. 333

liegen u.ä. Allerdings wäre es notwendig, vorerst eine einwandfreie Definition des Phänomens der Religion zu geben, was bis jetzt noch nicht möglich war.

Becher, Erich, Über Schmerzqualitäten. Bd. 34. S. 189—208.

Verfasser nahm Versuche am eigenen Körper vor, indem er Schmerz auf der Haut hervorıief durch mechanische, thermische und chemische Reize. Er kommt zu dem Ergebnis: »Außer den von Thunberg und Alrutz festgestellten beiden Schmerzarten, dem hellen oberflächlichen und dem dumpfen, tiefer sitzenden Schmerz gibt es noch andere, qualitativ verschiedene Schmerzarten z. B. den im Gehörgang auslösbaren Schmerz. Auf der gewöhnlichen äußeren, stark, schwach oder nicht behaarten Haut ist der oberflächliche Schmerz überall von gleicher Qualität.«

Dürr, K., Ist es wahr daß 2 2 = 4 ist? Eine experimentelle Untersuchung von Fred Bon. 1. Bd. Von den Begriffen, den Urteilen und der Wahrheit. Bd. 34. S. 207—234.

Besprechung und Inhaltsangabe des genannten Buches.

Bernfeld, Siegfried, Zur Psychologie des Unmusikalischen. Bd. 34. S. 235 bis 253.

Psychoanalytische Erklärung zweier Fälle von Unmusikalischen. Ein Student gilt als extrem unmusikalisch und rühmt sich dessen, obschon er die Elemente musikalischer Begabung besitzt. Aufgefordert, aus der Zeit von 8—12 Jahren, während welcher er Musikunterricht genoß, alles zu erzählen, was ihm einfalle, be- richtete er mit einem gewissen Affekt: daß er im Alter von 7 Jahren Violinunter- richt bei einem Herrn X erhalten habe, und daß er diesen einmal mit seiner Mutter am Klavier überrascht habe, so daß er habe denken müssen, »mit den Beiden sei irgend etwas lose. Auf sein energisches Drängen habe man ihn im 12. Jahre vom Musikunterricht befreit, weil er darauf bestanden habe, daß er unmusikalisch sei. B. deutet den Fall so, daß der Wille, unmusikalisch zu sein auf eine Verschiebung von Affekten in der Jugend zurückgeht. Der zweite Fall liegt ähnlich.

Heinitz, Wilhelm, Experimentelle Untersuchungen über musikalische Repro- duktion. Bd. 34. S. 254—276.

Zur musikalischen Reproduktion sind erfordert: Konzentration, gute Auffassung, musikalisches Gehör, Rhythmus, Harmonieempfinden, Gedächtnis, Ruhe, Sicherheit und Geistesgegenwart, geeignetes Temperament, die Kunst des Notenlesens, günstige Anlage der Finger, Lippen, Zähne, Zungenfertigkeit sowie eine geschulte Atem- technik. Um sich Rechenschaft zu geben von der musikalischen Begabung einer Versuchsperson müßten demnach diese Einzelpunkte geprüft werden. H. prüfte sie in globo, aber unter den einfachsten Bedingungen. indem er seine Versuchspersonen eine Anzahl von leichten musikalischen Aufgaben auf dem Klavier, der Violine, einer Lippenpfeife und einer Zungenpfeife sowie mit Singstimme und Pfeifstimme wiederholen ließ. Um die Schwierigkeit für Geübte und Ungeübte im Notenlesen gleichzumachen, wurden diese in Zahlen oder Buchstaben auf Notenlinien dargeboten. Die Zeiten, welche erfordert waren zur richtigen Reproduktion, erlauben ein Urteil über die Befähigung der Versuchspersonen zur musikalischen Reproduktion, wobei allerdings die vorausgehende Übung zu berücksichtigen ist, da sie günstigere Re- sultate bietet.

Wittmann, Joh., Neuer objektiver Nachweis von Differenztönen erster und höherer Ordnung. Bd. 34. S. 277—315.

Conrad, Waldemar, Einstellung und Arbeitswechsel als pädagogische und all- gemein-psychologische Probleme. Bd. 34. S. 317—514.

334 C. Zeitschriftenschau.

Eine experimentelle Untersuchung der Aufmerksamkeit im Hinblick auf folgende Fragen: Ist die Zersplitterung der Arbeit, wie sie in unserem Schulbetrieb herrscht, einer Vertiefung der Aufmerksamkeit hinderlich? Wie wirkt die Zersplitterung der Tätigkeit bei der üblichen Form des fremdsprachlichen Übersetzens? Ist die will- kürliche oder unwillkürliche Aufmerksamkeit beim Unterricht in erster Linie heran- zuziehen? Gibt es verschiedene Typen der Einstellung der Aufmerksamkeit, die als Fingerzeige für den späteren Beruf benutzt werden können, wie etwa die Vertiefung des Gelehrten in ein Problem und die Geistesgegenwart, die beständige Bereitschaft des Offiziers? Wie weit hat eine experimentelle Tätigkeit in Schullaboratorien Aus- sicht, die Bereitschaft zu üben ?

Die Versuchsanordnung war folgende: Den Versuchspersonen wurden teils zusammenhängende Stücke, teils Einzelsätze während 10—15 Minuten dargeboten, wobei sie ihre Aufmerksamkeit voll auf das Verständnis des Gebotenen einzustellen hatten. Dazwischen wurden dann möglichst unerwartet Rechenaufgaben (Addieren von zweistelligen Zahlen) zu lösen gegeben und durch experimentelle Anordnung die Zeit für die Lösung dieser Rechenaufgaben gemessen. Vorher war die normale Zeit festgestellt worden, welche unter gewöhnlichen Umständen zur Lösung der gleichen Aufgaben erforderlich war. Es konnte nun durch einfache Vergleichung er- sehen werden, welche Verzögerung etwa die Einstellung auf das Lesen für die Tätigkeit des Rechnens bewirkt hatte. Das war ein indirektes Maß für die indivi- duelle Fähigkeit, die Aufmerksamkeit rasch von einer Tätigkeit auf eine andere ein- zustellen. Es zeigte sich nun, daß nach vorausgehender Lesung die Zeit für die Lösung der Rechenaufgabe immer verlängert war.

Der Verfasser kommt zu folgenden Ergebnissen: Willkürliche und unwillkür- liche Aufmerksamkeit sind kein sich ausschließender Gegensatz. Die Schule hat Ge- legenheit, beide heranzuziehen und muß es auch tun. Es ist energieökonomischer, mit der unwillkürlichen Aufmerksamkeit zu arbeiten, mit Heranziehung des Inter- esses also vor allem, es bleiben aber auch immer Fälle wo die Willenstränierung, wie sie in der Einstellung der willkürlichen Aufmerksamkeit vorliegt, geübt werden muß. Um auf die so verschiedenen Berufe des Offiziers und des Gelehrten, die nur als besonders auffällige Vertreter des Bereitschaftstypus und des Vertiefungs- typys stehen, vorzubereiten, muß die Mittelschule, wenigstens in den höheren Klassen, eine Gabelung aufweisen, die den verschiedenen Richtungen der späteren Bedürf- nisse Rechnung trägt. Der Verfasser betont aber, daß die Unterlagen einer all- gemeinen Bildung in keinem Fall fehlen dürfe, und daß andererseits ein gewisser Grad von Bereitschaft immer auch angestrebt werden muß.

Die Zersplitterung der Fächer hat sich nicht direkt als schädlich für eine Ver- tiefung der Aufmerksamkeit erwiesen. Die Reform der Odenwaldschule, die mehrere Wochen hindurch nur 1 oder 2 Fächer betreiben läßt, erscheint von diesem Stand- punkt aus nicht als notwendig. Nur für die oberen Klassen will der Verfasser eine größere Einheitlichkeit, um die Vertiefung besser zu trainieren, nachdem in den mittleren Klassen mehr die Bereitschaft geübt worden ist. Aus gleichen Gründen muß die Frage- und Übersetzungsmethode auf die unteren Klassen beschränkt bleiben.

Um den Wert der Laboratoriumsarbeit in den sogenannten Schülerübungen für eine etwaige bessere Ausbildung der Bereitschaft kennen zu lernen, hatte der Verfasser statt der Lesetexte seine Versuchspersonen ein Geschicklichkeitsspiel üben lassen. Dasselbe ergab eine solche Fesselung des Geistes im Sinne der Vertiefung,

‚daß der Verfasser die Schülerübungen nicht als ein Mittel gelten lassen will, das

D. Literatur. 335

ohne weiteres praktische Tätigkeit und Bereitschaft bewirken würde. Es kommt dabei alles auf die geeignete Beaufsichtigung an, weil sonst, besonders bei der Kerschensteinerschen Zusammenarbeit, diejenigen Schüler nicht gefördert werden, die es gerade am nötigsten hätten.

Die Arbeit enthält eine Fülle von Bemerkungen und Feststellungen päda- gogischen und allgemein psychologischen Inhalts, weil der Verfasser gerade am Bei- spiel der Aufmerksamkeit zeigen wollte, daß die Einzelprobleme einer Wissenschaft auf das ganze Gebiet ausstrahlen und ihrerseits vom Ganzen bedingt sind.

Luxemburg. N. Braunshausen.

D. Literatur.

Elsenhans, Theodor, Der Krieg als Erzieher. Dresden, A. Dressel (Hayno Focken), 1914. 31 Seiten. Preis 0,60 M.

Im Herbst 1914 hielt der Dresdener Philosoph und Pädagoge diesen Vortrag. Damals waren 2 Kriegsmonate vergangen, jetzt sind es mehr als 2 Kriegsjahre. Aber gerade jetzt tuen unserem Volke solche Worte not. Der Krieg als Erzieher: des Einzelnen, des Volkes, der gesamten Menschheit. Unsere Aufgabe: der Wille zum Sieg. Keine pädagogische Abhandlung, wohl aber eine volkserzieherische Schrift, die hier zu empfehlen unsere Zeit uns ein Recht gibt.

Berlin-Lichtenberg. Karl Wilker.

Poelchau, Gustav, Die wichtigsten chronischen Krankheiten des Schul- ` kindes und die Mittel zu ihrer Bekämpfung mit besonderer Berück- sichtigung der Tuberkulose. Zwanglose Abhandlungen aus den Grenzgebieten der Pädagogik und Medizin, herausgegeben von Th. Heller und G. Leubuscher, Heft 4. Berlin, Julius Springer, 1914. 128 Seiten; Preis geh. 3,60 M.

Der Verfasser besitzt ein besonderes Recht, eine derartige Arbeit zu veröffent- lichen, da er über eine ausgedehnte schulärztliche Erfahrung verfügt. Das in dieser Abhandlung verwertete Material ist zum Teil in den Charlottenburger Schularzt- berichten enthalten, vordem aber noch nicht veröffentlicht worden. Die Zahl der ärztlich überwachten Mädchen übertraf die der Knaben um ein geringes. Unter den Haltungsanomalien, die an erster Stelle besprochen werden, sind überwiegend leichte Fälle zu verzeichnen. Empfohlen wird die Einrichtung orthopädischer Schul- kurse sowie das Freiluftturnen (Nacktturnen, Spitzig). Mit dem Entstehen der sogenannten Schulanämien hat der Unterricht sehr weuig zu tun, sie beruhen zu- meist auf Ernährungsfehlern, woraus sich die Behandlung ohne weiteres ergibt. Die Zahl der herzkranken Kinder (Abschnitt IV) ist nach P.’s Erfahrungen nicht so ganz klein. An der Spitze stehen bei den Schulrekruten die Erkrankungen von Mund, Rachen und Nase; für unbemittelte Kinder ist daher unentgeltliche Behand- lung durch einen Spezialarzt zu empfehlen; zur Vorführung dieser Kinder und zu eventueller Hilfeleistung ist die Mıtwirkung einer Schulschwester kaum zu entbehren. Auch bei der augenärztlichen Untersuchung und Behandlung hat sich in Charlotten- burg die Heranziehung einer Schulschwester bewährt.

Der Hauptteil der vorliegenden Abhandlung ist wie im Titel bereits ar- gekündigt der Tuberkulose gewidmet. Die älteren Arbeiten werden kritisch referiert. Die eigenen Untersuchungen beweisen, »daß die Sehstörungen, die Er- krankungen der Rachenorgane, die inneren Leiden (mit Ausschluß der Tuber- kulose) eine viel größere Rolle in der Morbidität des Schulkindes spielen als die verschiedenen Formen der Tuberkulose und daß speziell die Tuberkulose der Lungen unter der Schuljugend nur verhältnismäßig selten vorkommt« (S. 107 Im Schluß-

336 D. Literatur.

abschnitt finden die Mittel zur Verhütung und Bekämpfung der Tuberkulose eine eingehende Würdigung. Poelchaus Abhandlung ist in erster Linie wohl für den Schularzt bestimmt; doch dürfte auch der Pädagoge reiche Anregung daraus schöpfen können. Berlin-Lichtenberg. Karl Wilker.

Hering, Ernst, Die Seele des sechsjährigen Kindes. Die psychologischen Grundlagen für den ersten Schulunterricht nach den Bestrebungen des päda- gogischen Individualismus dargestellt und gewürdigt. Pädagogisches Magazin Heft 616. Heft 14 der Sammlung pädagogischer Studien von W. Rein. Langen- salza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) 1916. 73 Seiten. Preis 1 M.

Die Psychologie des Kindes hat in den letzten Jahrzehnten gewaltige Fort- schritte gemacht; eine Fülle von Arbeiten sind erschienen. worüber wir unsern

Lesern regelmäßig berichteten. Die Beobachtungen, Erkenntnisse und Erfahrungen

der vielen einzelnen Kinderpsychologen faßte William Stern zusammen und ordnete

sie nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten zu einer »Psychologie der frühen

Kindheit.« Vor allem diese grundlegende Arbeit des Hamburger Psychologen

verwertet Hering in seiner vorliegenden Arbeit und folgert daraus für die Päda-

gogik und den Unterricht des sechsjahrigen Kindes. Damit leistete er eine gute, ergänzende Arbeit. Nicht nur. daß er die wichtigsten seelischen Erscheinungen des Sechsjährigen nach den Ergebnissen der Kinderpsychologen darstellt, sondern er gibt auch seine eigenen guten Beobachtungen und Schlüsse dazu, vergleicht sie mit anderen in der Literatur und gelangt so zu Forderungen für den Erstlings- unterricht, die sich mit denen W. Reins, des alten Psychologen und Pädagogen decken, die aber auch von anderen an vielen Orten Deutschlands seit Jahren, oft nach schweren Kämpfen erzwungen verwirklicht wurden. Herings Auseinander- setzung mit Berthold Ottos unbegrenztem Subjektivismus ist folgerichtig und wir begrüßen sie, da wir uns mit Hering darin eins wissen, weshalb wir auch nicht näher darauf eingehen. Das Büchlein empfehlen wir jedem Lehrer, besonders dem der Schulneulinge. Neben den wertvollen eigenen Erfahrungen Herings erkennt man umfassende Belesenheit, die sich auch in der erschöpfenden Literaturangabe ausdrückt, die zu weiteren, tiefergehenden Studium anleitet. Herings Wunsch, daß die neuen Reformer nicht die Achtung vor den Alten in der Pädagogik ver- gessen und ihnen gerecht werden möchten, findet unsern Beifall, da auch wir hier wiederholt zu dieser an sich selbstverstäudlichen. aber leider oft vergessenen literarischen Gepflogenheit und Anständigkeit gemahnt haben.

Meißen i. Sa. Kurt Walther Dix.

** Krieg und Kinderseele. Erinnerungen an 1870. Kempten und München, Jos. Köselsche Buchhandlung, 1916. 152 Seiten, Geheftet 2 M, geb, 3 M.

Ein für Eltern und Erzieher beachtenswertes Buch liegt vor uns.

Die Verfasserin hat als Kind von 8—9 Jahren die Eindrücke des Kriegs von 1870/71 aufgezeichnet, so wie sie sie in einer deutschen Festung erlebte. Ein außer- ordentliches Interesse an allen Vorgängen des Kriegs, eine echte Vaterlandsliebe, einen überraschenden Gerechtigkeitssinn und echt weıbliches Empfinden gegenüber allen körperlichen und seelischen Leiden, die die schwere Zeit mit sich bringt, be- wundern wir an dem begabten und geistig regen Mädchen, wie auch ein früh er- wachtes Pflichtgefühl gegenüber dem kleinen zarten Bruder, erklärlich wohl durch den frühen Tod der Mutter, der gleichzeitig eine gewisse Selbständigkeit begünstigte.

Die vorliegenden Aufzeichnungen mögen die Erwachsenen lehren, daß ein außergewöhnliches Kind auch eine besondere Behandlung verlangt; daß es vor allem ernst genommen werden muß, um die zarte Kinderseele nicht verkümmern oder vereinsamen zu lassen. Der beste Erzieher ist hier der eigne Vater. Er kennt sein Kind, er darf es gewähren lassen. Er bleibt nur der gütige verständnisvolle Leiter. Troizdem die Kriegszeit seine ganze Kraft erfordert, wenn auch in der- selben Stadt, trotzdem er kaum, oft nur nachts, zu Haus sein kann, verliert er nie die Verbindung mit seinem kleinen Mädel, gleichzeitig ein schönes Beispiel echter Liebe und Anhänglichkeit zwischen Vater und Tochter.

Jena. Hanna Queck-Wilker.

Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.

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BEER. 8;

A. Abhandlungen.

1. Wilhelm Rein zum 70. Geburtstage. Vom Herausgeber.

Am 10. August feiert Professor Rein seinen 70. Geburtstag. Jahrzehnte fruchtbaren und vielseitigen Wirkens liegen hinter ihm. Auch das Dasein dieser Zeitschrift und eine Reihe von Abhandlungen in derselben sind mit unter seinem Einflusse geworden und vertreten Anschauungen, die bald mehr, bald weniger sich decken oder ver- wandt sind mit denen der Herbartischen Schule, die in Professor Rein zurzeit wohl ihren einflußreichsten Vertreter besitzt. Wenn ich selbst auch meine tiefsten und nachhaltigsten pädagogischen, psychologischen und philosophischen Anregungen schon vor dem Auftreten Reins durch Dörpfeld bekommen habe, so bin ich doch seit dem Jahre 1878, wo Dörpfeld durch seine klassische Schrift »Wider den didaktischen Materialismus, eine zeitgeschichtliche Betrachtung und eine Buch- rezension«e uns jüngere Lehrer mit so hoffnungsfreudigen Worten auf Rein hinwies, ein ständiger Weggenosse von Rein geblieben. Um in nähere Fühlung mit Rein zu kommen, verließ ich 1887 mein Lehramt in Bremen und widmete mich in Jena dem Studium, unter Bevorzugung der Pädagogik und ihrer Grundwissenschaften, und wurde auch aktives Mitglied des pädagogischen Universitäts-Seminars. So hängt mein ganzer Werdegang in pädagogisch-philosophischer Beziehung seit der Zeit mit Rein und seinen Bestrebungen vielfach auf das innigste zusammen und auch das, was ich an literarischen Arbeiten veröffentlicht habe, wie einen großen Teil von dem, was unsere »Zeit- schrifte und unsere »Beiträge« aus anderen Federn brachten, stand

Zeitschrift für Kinderforschung. 22. Jahrgang. 22

338 A. Abhandlungen.

immer wieder in bald mehr bald weniger engeren Beziehungen zu alle dem, was Rein in Jena und außerhalb Jenas in Wort und Schrift die Jahrzehnte hindurch verkündete. Und da wir durch unsere Zeitschrift in Deutschland mit Kinderstudium, Kinderforschung, Jugend- kunde oder wie man es sonst nennen will, den Anfang machten und alle späteren deutschen Zeitschriften dieser Art der unseren nach- folgten, sich zum Teil sogar abzweigten, so ist auch in dieser Richtung hin Jena mit Rein von größerer Bedeutung, als man gewöhnlich weiß oder gar zugesteht, auch für diejenigen, die sich geflissentlich von Jena abwenden mit der freilich zutreffenden Bemerkung: »Jena ist ein Programm.« Zwar hat Rein unserer Sonderarbeit nicht sein größtes Interesse zugewandt, und er selbst hat meines Wissens keine besonderen Arbeiten über diesen Gegenstand geliefert. Aber ohne seine sonstigen Anregungen und ohne sein 1886 wieder neu be- gründetes pädagogisches Universitäts-Seminar mit der Übungsschule als pädagogische Experimentier- Anstalt würde schwerlich die Frage in einen solchen Fluß gekommen sein, wie dieser jetzt mit seinen vielen Verzweigungen nach 27 Jahren zutage tritt. So verdankt denn auch »die Lehre von den Fehlern der Kinder« oder »die päda- gogische Patbologie« mitsamt der »Hilfsschule« der Herbart-Ziller-Stoy- Dörpfeld-Strümpell-Reinschen Richtung mehr, als viele ihrer jetzigen Vertreter es anscheinend ahnen. Wurde doch z. B. unsere Zeitschrift für Kinderforschung (damals »Die Kinderfehler«) zum Organ des Ver- bandes Deutscher Hilfsschulen unter dem Vorsitz von Schulrat Wehr- hahn in Hannover erkoren, und sie ist es für viele noch bis heute geblieben, trotzdem der Verband sich seit Jahren ein eigenes Organ gegründet hat, allerdings ohne bis heute das Verhältnis zu uns förm- lich zu lösen, und wurde doch auch die erste, später durchweg tot- geschwiegene Schrift über die Hilfsschule von einem Schüler Reins, Dr. Männel, herausgegeben, wie denn auch eine lange Reihe der in Theorie und Praxis auf diesem Gebiete hervorragenden Schul- männer direkt oder indirekt Schüler Reins sind oder doch, wie z. B. Ufer, auf dem breiteren Boden der Herbartischen Schule heranreiften.

Gewiß gehören wir nicht zu denjenigen Schülern einer Richtung, »die nur auf einen hören und auf des Meisters Worte schwören« und die dadurch immer aufs neue eine philosophische Schule und ihre Meister in ihrem wahren Wesen und Werte beeinträchtigen, sondern wir haben es auch Rein und seinen Anschauungen gegenüber stets so gehalten, wie Dr. Mager dereinst, als er von Hegel zu Herbart fortschritt mit dem Bemerken: »Wir können ihm (Hegel) nicht dankbar genug sein für das, was er uns gewesen ist, wir dürfen aber nicht

Trüper: Wilhelm Rein zum 70. Geburtstage. 339

bei ihm stehen bleiben.« In diesem Sinne haben viele von Reins Schülern weiter gearbeitet und weiter gestrebt, auch über Rein hinaus, ohne sich von ihm loszusagen. Und wenn von vornherein der urkräftige, tiefgründige und aus der breiten Volksschicht empor- geschossene Dörpfeld, dieser »Herbartianer striktester Observanz«, wie er sich selbst nennt, mich schon vor Rein stärker beeinflußte, als Rein es hiernach vermochte, und ‚wenn ich dieser ersten päda- gogischen Liebe bis heute vier Jahrzehnte hindurch treu geblieben bin und aus innerster Überzeugung treu bleiben mußte, und wenn hin und wieder meine norddeutsche Art zu denken und zu empfinden, es mit sich brachte, daß ich hier und da der Thüringer Art wie der Reinschen Gedankenwelt kritischer gegenüberstand als mancher andere von seinen Schülern, die zunächst nur ihn hörten, so ist doch in den dreißig Jahren nie ein tieferer Gegensatz zwischen uns zutage ge- treten. Stets war mit Rein eine Verständigung möglich, stets fand man bei ihm auch ein Verständnis für Andersdenkende. Ja, seine Enzyklopädie gibt geradezu ein klassisches Beispiel dafür, wie sehr Rein selbst bemüht war, auch die Anschauungen wesentlich anders Denkender in seinem hervorragendsten Werke zur Geltung zu bringen. Wenn darum manche, die in ihren Anschauungen sich immer nur nach der Tagesmode richten oder die dem Herbartischen Boden ent- sprossen und nun plötzlich eine »neue Lehre« verkünden wollten, sich bemühten, ihn tot zu schweigen, ja mit unliebsamen und unsach- lichen Urteilen ihn abzuwälzen, so drängt es mich am heutigen Tage um so mehr, dem Siebenzigjährigen zum Ausdrucke zu bringen, daß auch wir nach wie vor treu zu ihm stehen und mit ihm festhalten wollen an der Grundlegung der wichtigsten Errungenschaften der Er- ziehungswissenschaft und Bildungspraxis unter seiner Führung.

Bei alledem stehe ich und steht mit mir wohl mancher Leser den Einzelforderungen und Einzelansichten kritisch gegenüber. Ja ich habe oft bedauert, daß mancher wohl ein warmer Anhänger und persönlicher Verehrer Reins, aber nicht ein kritisch prüfender wurde, und damit zum Nur-Apologeten der Herbart-Reinschen Rich- tung gegenüber anderen Richtungen, die neue Bahnen zu wandeln vorgaben, Rein und die Herbartsche Schule überhaupt beiseite schoben und sie totschwiegen oder sie in unsachlicher Weise kritisierten, auch wenn sie das Wesentlichste ihrer neuen Lehre von hier sich er- worben haben. Beide Teile sind schuld daran, daß die ungeheuer fleißige und geschlossene Arbeit, die in der ganzen Herbartischen Schule steckt, für Wissenschaft und Leben nicht die Früchte getragen hat,

die sie hätte tragen müssen. Nur in der besonnenen, frei forschenden 22*

340 A. Abhandlungen.

Weiterbildung historisch gegebener Ideen liegt der wahre Fortschritt beschlossen. Wie in der Politik in den Begriffen konservativ und liberal, im Erhalten und Fortschreiten, das wahre Gedeiben eines Staatswesens und aller Einzelnen begründet liegt, so auch in jeder Wissenschaft und Kunst. Das historisch Gewordene verständnisvoll konservieren und dabei alles Neue gewissenhaft prüfen und hinzu- fügen und eingliedern, das allein gibt sichere Gewähr für die Dauer. Hierin liegt die wahre Freiheit begründet, während der Radikalismus, der Hpyperliberalismus und der demokratisch-pädagogische Massen- geist, wie die Mode, oft von heute auf morgen ihre Lehre und deren Anwendung wechseln und so schließlich mehr auflösen als aufbauen.

Ich weiß, daß dies auch die Anschauung unseres Jubilars ist, und daß er seine mehr als vierzigjährige Berufstätigkeit in diesem Sinne ausgewirkt hat. Hält er doch auch selbst nur in diesem Sinne fest an den Lehren Herbarts, denn sie bilden auch für ihn und seine wahren Schüler nur den Ausgangs- und Beziehungspunkt, nicht aber das Dogma. Von hier aus wollte er prüfen. Es sollte ausgebaut, ergänzt, widerlegt werden, was vor ihm gedacht worden war. (Vgl. § 1 der Statuten des Vereins für wissenschaftliche Pädagogik.)

Der 70. Geburtstag Reins soll uns darum einen Anlaß geben, uns darauf zu besinnen, was denn eigentlich die ganze Richtung von Herbart bis Rein der Wissenschaft und der Schule an Anregungen, Neubelebungen und Fortschritt gebracht hat, ob die Eintagsfliegen recht haben, die alles das längst überholt und überwunden betrachten, oder ob doch Dörpfeld recht hatte und recht behalten wird, wenn er im Jahre 1879 Reins Erstlings-Arbeit begrüßte mit den Worten:

»Ich habe die Pflicht, die Leser auf das Schriftchen aufmerksam zu machen, selten ist mir die Rezensentenpflicht so angenehm ge- wesen wie in diesem Falle. Seit 1864, wo Zillers ‚Grundlegung zur Lehre vom erziehenden Unterricht‘ erschien, ist mir keine päda- gogische Schrift zu Gesicht gekommen, die mich so hoffnungsfreudig gestimmt hätte, wie dieses Büchlein für die Unterweisung der Kleinen.

Dörpfeld hoffte: »auf dem weiten Plane des Schullandes wird es einst überall grünen und blühen und aus vielen tausend hellen Kehlen werden Jubel- und Siegeslieder ertönen, und dann wird das Alte vergangen und vergessen sein.«

Diese Hoffnung hat sich zwar in vielen Stücken erfüllt: Reins »Schuljahre« und die Übungsschule in Jena haben wesentlich bei- getragen, die Schule, und vor allem die Volksschule, zu erlösen von dem didaktischen Materialismus, von jener oberflächlichen und so weit verbreiteten pädagogischen Ansicht, welche die verbale An-

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eignung der Lehrstoffe schon für seelische Kraft und geistigen Zu- wachs hält, welche nicht begreift, daß das Kind auch in geistiger Beziehung nicht gedeiht durch das, was es ißt, sondern nur durch das, was es wirklich verdaut. Aber ungeheuer viel bleibt noch zu tun übrig. »Wie untröstlich die Vergangenheit war und das Gesamtbild der Gegenwart noch ist die Hoffnung hat ein Recht, in die Zukunft zu schauen« sagte a. a. O. Dörpfeld. Rein hat nicht bloß diesen hoffnungsfreudigen Idealismus in den Herzen seiner Freunde und Schüler gepflegt, er hat selber sein redlich Teil zur Verwirklichung beigetragen. Er hat aber auch der Früchte dieses Lebens und Strebens sich erfreuen dürfen.

Reins und der Herbartianer Verdienste liegen aber keineswegs bloß auf didaktischem Gebiet, wenn auch nach dieser Seite hin durch Tausende von Schulmännern in eben so viel Schulen und Bildungs- anstalten segensreiche Anregungen getragen worden sind. Rein und die Herbartische Schule haben die Pädagogik aufgefaßt und be- arbeitet in ihrem vollen Umfang als eine Lehre von Unterricht, Regierung und Zucht. Und je länger je mehr beschäftigte sich auch Rein nach dem Vorbilde Dörpfelds mit der »Pädagogik im großen Stil«, der Gesamtpädagogik, welche nicht bloß die Unmündigen, sondern auch die Erwachseren umschließt und darum zugleich »An- thropogogik« heißen könnte, wozu nach Dörpfelds Meinung, um unten anzufangen, die Jugenderziehung in Haus und Schule, sodann die gesamte Wirksamkeit der Kirche, des Staates, der freieren Kultur- verbände usw. gehören, und zwar soweit als alle diese sozialen Ge- meinschaften in den Dienst der sittlichen Ideen treten, als es darauf ankommt, die Lehre von dem Wissen des Guten hier zu verwirk- lichen, das natürliche Wollen bier in ein sittlich geheiligtes Wollen umzuwandeln. Und so hat Rein nach Dörpfeld auch die ganze Schul- und Erziehungsarbeit zugleich unter diesen sozialen Gesichts- punkt gerückt. Er hat mit dazu beigetragen, daß die Erziehung des Kindes werde zur Erziehung der gesamten Jugend im Rahmen der Erziehung des gesamten Volkes und der göttlichen Erziehung des Menschengeschlechts zu einer Gemeinschaft, die »nicht von dieser Welt iste!). Wenn Rein darum z. B. in Elsaß-Lothringen durch Vorträge und durch Pflege einflußreicher Beziehungen deutsche Bildung und Ge- sittung stützte und schützte gegen Verwelschungsbestrebungen, wenn er als Mitführer im Deutschen Schulverein in gleichem Sinne wirkte für

!) Trüper, Friedrich Wilhelm Dörpfelds Soziale Erziehung in Theorie und Praxis. Gütersloh, Berthelsmann, 1901. Seite III und 17.

342 A. Abhandlungen.

die Deutschen im Auslande, wenn er im Bunde für Bodenreform zu wirken suchte für Schaffung besserer Heime der deutschen Volks- genossen, wenn er im Evangelisch-sozialen Kongreß evangelisch-christ- liche Gesinnung auf das Wirtschaftsleben anbahnen half, wenn er mit Friedrich Naumann uud anderen in lebhafte Tätigkeit trat zur Begründung einer national-sozialen Partei gegenüber den her- gebrachten einseitigen Interessentenparteien, wenn er durch Begründung der Jenaischen Ferienkurse Pfadfinder und Bahnbrecher wurde für die soziale Aufgabe der Universität, wenn er durch öffentliche Vorträge nicht bloß in Lehrervereinigungen, sondern auch in kaufmännischen und anderen Vereinen in Alldeutschland für Verbreitung unserer Ideen sorgte, ja wenn er den immer zahlreicher werdenden ausländischen Studenten und Pädagogen in seinem Universitätsseminar wie auf dem Katheder durch Wort und Tat zeigte, was deutsches Denken und deutsches Wollen sei, wenn er dem Rufe ins Ausland folgte und in England, Amerika, Schweden, Österreich und wo sonst seine Anschauung unter wärmster Zustimmung und Anerkennung vortrug: so war das alles stets eine pädagogische Arbeit in jenem Sinne Er suchte stets idealisierend und sozialerzieherisch anregend zu wirken und Volkserziehung im weitesten Sinne zu treiben. Und wenn er nach Dörpfeld und im Sinn und Geiste Dörpfelds eingetreten ist für eine freie Schulverfassung auf dem Boden einer freien Kirche im freien Staat,!) eingetreten auch für die Einheitlichkeit der Schule und die Einheitlichkeit des Lehrerstandes, ohne das Idol hyperdemokratischer Gleichmacherei dabei zu verfolgen: so hat Rein immer wieder bewiesen, daß die Pädagogik nicht in der Schule, geschweige denn in der Volksschule aufhört, und daß der Didaktiker immer erst nur ein Teilgebiet der Pädagogik beachtet; daß die Pädagogik Aufgaben hat, an die mancher Schulmann nicht einmal denkt, geschweige denn, daß eine naturwissenschaftliche Experimentalpsychologie, die mit dem Zielsetzenden, dem Normativen, keine Berührung hat, eine solche Pädagogik gar begründen kann.

Der 70. Geburtstag wird zeigen, wie zahllos die Freunde und Anhänger Reins sind, wird Anlaß geben, zu bekunden, wie segens- reich er und die ganze Herbartische Schule mit ihrem geschlossenen einheitlichen Gedankenkreis gewirkt hat.

1) »Freic selbstverständlich nicht im Sinne liberalistischer oder gar demago- gischer Ungebundenheit und Gleichmacherei, womit zurzeit unsere Feinde in auf- dringlichster Weise uns »beglücken« wollen. sondern im deutschen Sinne, wie Chamberlain uns ihn so treffend erläutert in seiner neuesten Schrift: »Demokratie und Freiheit.ce München 1917.

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Aber dieser Tag wird auch in Reins Erinnerung Wunden brennend heiß ihn schmerzen lassen, und an diesem Schmerze nehmen seine Schüler und Freunde innigen Anteil.

Das Schulwesen in zahlreichen feindlichen Ländern verdankt Rein außerordentlich viel. Rein war der Überzeugung, daß die von ihm vertretenen Ideen besonders geeignet seien, eine Verständigung unter den verschiedenen Kulturvölkern anzubahnen. Er glaubte mit deutschen Gedanken auch andere Völker anregen und beglücken zu können. Und in der Tat hat man in keinem Land wärmere An- erkennung für Rein bekundet, als z. B. in England und Nordamerika. Man hat in England nach dem Beispiel von Jena Seminare, Übungs- schulen und ähnliches eingerichtet, hat sie sogar nach ihm benannt, hat ihn zum Ehrendoktor in Manchester ernannt, bot ihm in Amerika den Lehrstuhl für Pädagogik und Philosophie in Philadelphia an, und ähnliches mehr. Das Volksschulwesen in Amerika, England, Serbien, Rumänien, Griechenland, Japan usw. trägt die sichtbarsten Spuren von Reins und seiner Vor- wie Mitarbeiter Theorie und Praxis. Seine Freunde und Verehrer zählten auch in den jetzt feindlichen Ländern nach vielen Hunderten, ja Tausenden.

Und nun der Zusammenbruch!

Die Länder, in denen man aus innerster Überzeugung am wärmsten die deutschen Erziehungsgedanken von Rein und den Herbartianern gepriesen, sie sind unsere erbittertsten Gegner geworden, und diese Ausländer, die ihn vordem so ehrten und feierten, ihnen hat er seine beiden so sehr hoffnungsvollen Söhne zum Opfer bringen müssen, während der dritte und letzte Sohn noch an der Front gegen sie kämpft. Da möchte man mit 70 Jahren irre werden an der Mensch- heit. Und doch hat Rein diese herben Schicksalsschläge mit be- wundernswerter Ruhe und Selbstbeherrschung getragen, hat sich da- durch nicht abbringen lassen weder von seinen Pflichten in seinem Beruf wie darüber hinaus für das deutsche Vaterland und sich nicht beirren lassen in seinem Glauben an dessen Zukunft, wofür er seine eigenen Söhne zum Opfer gebracht.

Wir aber wollen der Hoffnung leben, daß alle diejenigen, die in Feindesland inneren Segen für sich und ihr Volk aus dem Herzen Deutschlands dereinst als edle Friedensgabe mitgenommen haben in ihre uns jetzt feindliche Heimat, dort für den gerechten Frieden wirken und nach Friedensschluß diejenigen sein werden, die eine versöhnende und dankbare Hand uns aufs neue entgegenstrecken.

Möge Rein diese Freude als Segen seines Wirkens noch erleben.

344 A. Abhandlungen.

2. Wilhelm Rein und die Pädagogik der Gegenwart.

Lebensgang, Lebensarbeit und pädagogisches System Prof. Dr. W. Reins in Jena zu seinem 70. Geburtstage

dargestellt von Johannes Meyer, Bautzen (Sa.).

Vorbemerkung.

Die vorliegende Abhandlung will in das Leben und Wirken von Prof. Dr. phil. Wilhelm Rein in Jena, als das eines anerkannten Pädagogen unserer Zeit, einführen. Sie sucht mit diesem Beitrag zur Geschichte der Pädagogik der Gegenwart denen, die durch Rein reich- liches und wertvolles Gut persönlich empfangen oder aus seinen zahl- reichen Veröffentlichungen wertvolle Anregungen erhalten haben, ge- nauere Kenntnis über den Lebensgang, eine Übersicht über die viel- seitige, inhaltreiche und erfolggekrönte Lebensarbeit des führenden Gelehrten bis zu seinem 70. Geburtstage und ihr Verhältnis zu anderen Richtungen der Pädagogik zu geben; überdies möchte sie immer neue, zur Volkserziehung und -bildung Berufene zu ihm hin- leiten, ihnen eine Einführung in sein System bieten, da sie bei ihm sowohl nach der Seite der Theorie wie nach der Praxis hin mannig- fache, von vielen Seiten als maßgeblich anerkannte Belehrung er- halten können.

Den äußeren Anlaß zur Abfassung der Arbeit bietet der 70. Ge- burtstag Wilh. Reins, den inneren gibt das Bedürfnis, ihm schuldigen Dank abzustatten.

Wer keine Zeit findet, sein Interesse für Rein durch Eindringen in seine geistvollen Veröffentlichungen selbst zu bekunden, wofür er mehr als reichlich belohnt wird, dem will das von mir gleichzeitig eingeleitete und herausgegebene Bändchen »Erziehung und Leben«, Ausgewählte Abschnitte aus den Werken von Prof. Dr. Rein mit Bild, Ph. Reclam jun., Leipzig, Universal-Bibliothek 5932/5933, einen Ein- blick in seine pädagogische Gedankenwelt gewähren.

Weil Professor Rein in sich die reichen Erfahrungen und An- schauungen des praktischen Schulmannes mit der klaren Übersicht und meisterhaften Beherrschung des derzeitigen Standes der päda- gogischen Wissenschaft in der dem akademischen Speziallehrer eigenen Klarheit vereinigt, gilt für die Beschäftigung mit seinem Wirken sein eigenes Wort: »In das Leben und die Lehre eines bedeutenden Mannes sich zu vertiefen, gewährt dem Erzieher nicht bloß mannigfachen Ge- nuß, sondern bringt ihm reichen Gewinn. Aus der Fülle großer und guter Gedanken fließt umfassende Belehrung.«

Meyer: Wilhelm Rein und die Pädagogik der Gegenwart. 345

Prof. Dr. Wilhelm Rein ist seit Jahrzehnten einer der führenden Pädagogen unserer Zeit. Durch ihn, seine pädagogische Professur und das von ihm verdienstvoll geleitete pädagogische Universitäts- Seminar bildete Jena einen Brenn- und Sammelpunkt der bedeut- samsten Bestrebungen der wissenschaftlichen Pädagogik in Deutschland.

I. Wilh. Reins Leben und Wirken bis zu seiner Berufung nach Jena.

1. Sein Bildungsgang.

Georg Wilhelm Rein wurde in der kleinen Residenzstadt Eisenach am 10. August 1847 früh ®/,10 Uhr dem Professor am Carl-Friedrichs- Gymnasium Dr. phil. et jur. Wilhelm Rein (* 1809 zu Gera) und dessen Ehefrau Dorothea Luise Christiana geb. Voigt aus Salzungen (* 1815) als fünftes Kind geboren.!)?2) Am 12. September empfing er die Taufe. Auf geschichtlich denkwürdigem Boden stand sein Eltern- haus am oberen Markte neben der Fürstlich Thurn und Taxisschen Post. Im April 1857 trat er ein als Schüler in die Sexta des »guten alten kleinen Gymnasiums«, in die ehemalige Lateinschule des einstigen Dominikanerklosters, deren größter Besucher Luther gewesen war. Bis heute hat er im »Gefühl treuen Gedenkens« an die Stätte seiner Aus- bildung dem humanistischen Gymnasium eine lebhafte Anteilnahme erhalten und sich nicht zu denen gesellt, die in ihm eine unzeit- gemäße Schulgattung bekämpfen. Kurz vor dem Maturitätsexamen verlor der Achtzehnjährige 1865 den Vater durch einen jähen Tod. Der als Geschichts- und Altertumsforscher berühmt gewordene Pro- fessor konnte dem an ihn ergangenen Ruf als Direktor des Germanischen Museums in Nürnberg als Nachfolger von Professor Michelsen nicht mehr folgen.®) Aus der reichen Bücherei des Vaters schöpfte der Sohn Stoff zu Vorträgen aus der Geschichte seiner lieben Thüringer Heimat. In der freien Zeichenschule lag er fleißigen künstlerischen Studien ob. Auch dem Fußballsport, dem Kegeln und Schwimmen huldigte er als »echte Klosterratte«.*)

Wie seine Vorfahren, die zumeist im Lehr- und Predigtamte ihrer

1) Kirchenbuch der ev.-prot. Oberpfarrei Eisenach S. 103, Nr. 206.

?) Viele wertvolle Auskünfte erhielt ich aus der miı gütigst überlassenen »Stammtafel des Reinschen Geschlechts aus Ulm-Friedrichroda, zusammengestellt von Wilh. Rein in Eisenach 1851, ergänzt von Wilhelm Rein in Jena 1915«.

®) Er gab u. a. heraus Thuringia sacra, 2 Bände Urkunden aus der Geschichte thüringischer Klöster. Reuß-Geraer Ztg. 1915, 2. Beil. zu Nr. 96.

4) Vergl. A. Graf, Schülerjahre. Berlin-Schöneberg, Hilfe-Verlag, 1912.

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zweiten Heimat Thüringen gewirkt haben, in die (Friedrichroda) zur Reformationszeit 1546 die schwäbische Patrizierfamilie aus Ulm um des Glaubens willen ausgewandert war, so erwählte auch er einen gelehrten Beruf. 1)

Jena, Heidelberg und Leipzig sind die Stätten seines akademischen Studiums geworden, Karl Volkmar Stoy (1815—1885) und Tuiskon Ziller (1817—1882) seine einflußreichen, ihm unvergeßlichen Lehrer. Im Anfang galt seine Neigung geteilt der Theologie (Hase, Rückert K. Fischer) und der Philosophie (Drobisch). Der Zweiundzwanzig- jährige unterzog sich mit bestem Erfolg der theologischen Staats- prüfung. Von da ab beschäftigte er sich zumeist mit der Pädagogik, der noch heute seine nicht hoch genug einzuschätzende, unermüdliche Arbeit gilt.

Volkmar Stoy aus Pegau i. Sa., dessen Denkmal unweit der neuen Universität in Jena steht, genoß schon damals großes Ansehen durch seine »Encyklopädie der Pädagogik«?) und wegen seiner Bemühungen, eine wissenschaftlich begründete Pädagogik systematisch auszubauen. Die Beziehungen des jungen Rein zu dem geistreichen Herbartianer wurden nur noch inniger, als er mit ihm nach Heidelberg übersiedelte und ein Jahr lang bei ihm wohnte. 1869 zog Rein nach Leipzig, um die pädagogische Praxis kennen zu lernen. Hier wirkte Ziller bereits einundeinhalb Jahrzehnt und im selben Jahre begründete er den »Verein für wissenschaftliche Pädagogik« (vergl. Jahrbücher des V. f. wiss. P.)®. An dem 1862 von Ziller ins Leben gerufenen Päda- gogischen Seminar mit Übungsschule war Wilh. Rein praktisch tätig unter der erfahrenen Leitung des Gründers, versäumte aber auch nicht, sich in die durch diesen und Stoy vertretene Philosophie und Päda- gogik Johann Friedrich Herbarts (1776—1841) zu vertiefen, die richtunggebend für ihn wurden. Mit Herbarts Pädagogik befaßte sich auch seine Inaugural-Dissertation zur Erlangung der philosophischen Doktorwürde, indem sie in seinem Geiste die Hauptmittel behandelte, die der Schule zum Zwecke der Erziehung zu Gebote stehen: »Herbarts

1) Als eine »klassische Familie, in der die Gelehrsamkeit und die Beschäftigung mit der alten Philologie und verwandten Wissenszweigen erblich ist, darf die thüringische Familie der Reins bezeichnet werden, ein Geschlecht, deren Haupt- träger seit mehr als 150 Jahren zu den vornehmsten Repräsentanten des deutschen und besonders thüringischen Schulwesens gehören.«e Reuß-Geraer Ztg. a. a. 0.

?) Erschienen 1861 in Leipzig bei W. Engelmann, umfassend Encyklopädie, Methodologie und Literatur der Pädagogik, vergl. auch K. V. Stoys kleinere Schriften, 1898 herausgeg. von seinem Sohne Heinr. Stoy (siehe Abschnitt II, 2).

2) Dem Vorstande gehörten außer ihm an: K. V. Stoy, Th. Vogt, ab 1883 Vors., Fr. W. Dörpfeld, O. Willmann.

Meyer: Wilhelm Rein una die Pädagogik der Gegenwart. 347

Regierung, Unterricht und Zucht.«!) Das Verhältnis zu Stoy erkaltete etwas durch den engen Anschluß an Ziller, zu dessen Fortbildung von Herbarts Lebenswerk der Heidelberger Pädagog eine gegnerische Stellung einnahm. Hinsichtlich der Didaktik hatte der junge Rein viel von Ziller, hinsichtlich der Hodegetik besonders von Stoy gelernt.

2. Seine Tätigkeit im Schuldienste.

Die Realschule II. O. zu Barmen (Rektor Burmester) wurde für die Zeit vom 30. August 1871 bis 19. März 1872?) Reins erster Wirkungsort als wissenschaftlicher Lehrer. Im Volksschuldienste Barmens (B.-Wupperfeld) wirkte damals als Hauptlehrer der von ihm »zu den hervorragendsten Pädagogen des Jahrhunderts« gezählte Fr. Wilh. Dörpfeld (1824—1893), »ein Erzieher von Gottes Gnaden«.®) Ihm gab Rein 1879 durch Veröffentlichung des 1. Bandes von Rein, Pickel, Scheller »Theorie und Praxis des Volksschulunterrichts nach Herbartischen Grundsätzen«e Anregung zu seiner Reformschrift für den geistbildenden Unterricht »Der didaktische Materialismus, eine zeitgeschichtliche Betrachtung und eine Buchrezension«.t)

Von Ostern 1872 bis Ostern 1876 war Rein als erster Lehrer am Großherzoglichen Lehrerseminar zu Weimar unter Schulrat Ranitzsch tätig. Er unterrichtete in Deutsch, Geschichte, Religion und Erd- kunde.5) Bei Behandlung der kulturgeschichtlichen und erdkundlichen Stoffe kam ihm seine ausgezeichnete Veranlagung im Zeichnen zu statten, die z. B. rasch einen Grundriß, eine Seitenansicht, ein Portal, eine Säulenreihe an der Wandtafel entstehen ließ. Die Großherzog- liche Staatsregierung, durch seine Tätigkeit und seine Veröffentlichungen auf ihn aufmerksam geworden, übertrug dem neunundzwanzigjährigen Pädagogen das verantwortungsreiche Amt eines Seminardirektors als Nachfolger von Schulrat Eberhardt.

Von Ostern 1876 bis September 1886 führte es Rein mit großem Segen in seiner Vaterstadt Eisenach; das Seminar weist unter seiner Leitung die höchste Schülerzahl auf.) Er begründete am 22. März 1877 seinen eigenen Hausstand durch Verehelichung mit Marianne Heer- wart, Tochter des ehemaligen weimarischen Bundesratsbevollmächtigten

1) Erschienen in 3. Aufl. in Wien bei Pichler.

?) Laut Auskunft der Oberbürgermeisterei Barmen.

®) Vergl. Rein, Pädagogik in systematischer Darstellung II, S. 122.

*) R. und D. pflegten regen persönlichen Verkehr, gemeinsame Spaziergänge, später z. T. umfangreichen Briefwechsel.

č) Laut Auskunft der Großherzogl. Seminardirektion in Weimar.

€) Laut Auskunft der Großherzogl. Seminardirektion in Eisenach.

348 A. Abhandlungen.

Geh. Staatsrats v. Heerwart, Exzellenz (1828—1899), dem Nachkommen einer Augsburger Patrizierfamilie, deren protestantischer Zweig um des Glaubens willen wie die Reins nach Thüringen ausgewandert war. Der glücklichen Ehe sind fünf Kinder entsprossen: Katharina, Lehrerin und Theologin, Hans, Dr. Ing., der als Oberleutnant d. Res. April 1915 den Heldentod starb, Siegfried, aktiver Pionier-Hauptmann, 14 Tage später seiner Verwundung und einer Krankheit erlegen, Gustav Adolf, Privatdozent für Geschichte, als Art.-Offizier im Felde, Dorothea Marianne, Fürsorgeschwester. Die älteste Tochter, der älteste und der jüngste Sohn sind auch durch Veröffentlichungen aus ihren Fach- wissenschaften hervorgetreten.

Rein war an den rechten Platz gestellt worden. Ein Mann, den die Vorbildung wie die Weiterbildung, die wirtschaftliche Lage und die soziale Stellung der Volksschullehrer von jeher ernst und eifrig beschäftigten, dem mit Dörpfeld-Barmen und Horn-Orsoy die scharfe Trennung einer gründlichen harmonischen Allgemeinbildung von einer möglichst umfangreichen, gediegenen Berufsbildung als unbestreitbare Hauptforderung für die Lehrerbildung galt,!) war damit zum Seminar- direktor berufen.

Der Pädagogikunterricht, sein eigentliches Arbeitsfeld im Seminar, erhielt Herbart-Zillersches Gepräge.?) Psychologie und Methodik be- kamen im Lehrplan einen breiteren Raum auf Kosten der Geschichte der Pädagogik. Für diese hat er keine besonderen Lektionen angesetzt, empfahl aber den Schülern warm zum Selbststudium die pädagogischen Klassiker wie Comenius, Pestalozzi und Rousseau. Wie er überhaupt nie vortrug, so entwickelte er dann durch Frage und Antwort, in Rede und Gegenrede anschließend an diese Lektüre seine wertvollen Gedanken. Kurze schriftliche Zusammenfassungen folgten, langen häuslichen Arbeiten war er abhold. Pädagogische Themen wurden in den Aufsätzen der 1. Klasse bearbeitet und in Diskussionsabenden er- örtert. Die Fragen, die ihn bei Bearbeitung der »Schuljahre« bewegten, kamen auch im Methodikunterricht zur Sprache. »Wenn da die Fragen

1) Vergl. den V. Seminarlehrertag in Berlin Sept. 1881, Reins Ausführungen daselbst in Kehrs Päd. Blättern X, S. 302, 582. Gotha, Thienemann.

2) Dem Bestreben Dr. K. Häntschs in »Herbarts pädagogischer Kunst und von pädagogischer Kunst überhaupt« (Leipzig, Wunderlich, 1907), Herbart von Ziller abzurücken, weil Ziller Herbart verdunkelt und zwar ohne Absicht sein Ver- dienst geschmälert habe, können wir nicht zustimmen, auch nicht seiner starken Betonung der Pädagogik als Kunst gegenüber ihrem wissenschaftlichen Charakter, uns ist nur eines ihrer Teilgebiete das Unterrichten und Erziehen Kunst, die sich auf echte Wissenschaft gründet oder doch gründen sollte.

Meyer: Wilhelm Rein und die Pädagogik der Gegenwart. 349

der Konzentration des Unterrichts, die formalen und auch die kultur- historischen Stufen besprochen wurden, da war er in seinem Element, anregend, warmherzig, begeisternd .... Es ist da vorgekommen, daß aus einer Unterrichtsstunde unbemerkt zwei wurden, weder Lehrer noch Schüler hatten gemerkt, daß die nach der Pädagogik liegende Geschichtsstunde auch zur Pädagogikstunde geworden war.« !)

Weil Politik und Pädagogik sich eng und oft berühren und weil Rein innigen Anteil an allen politischen Fragen nahm, hielt er es für seine Pflicht, seine Schüler als zukünftige Wolkserzieher auch nach dieser Richtung hin mit einem geistigen Rüstzeug zu versehen. Des- halb führte er sie im letzten Seminarjahr ein in die Verfassung des Deutschen Reiches und stellte ihnen mit vollkommener Objektivität die Parteiverhältnisse des Reichstages u. ä. dar.

Stets auf die künstlerische Ausbildung bedacht, führte er, noch lange bevor man an Deutsche Kunsterziehungstage dachte, auch eine Reform des Zeichenunterrichts herbei,?2) indem er ihn in Überein- stimmung mit der Herbart-Zillerschen Richtung den drei didaktischen Grundprinzipien unterwirft, dem Aufbau des Stoffes nach den kultur- historischen Stufen, der Konzentration und der Durobaryeltang des Stoffes nach den formalen Stufen. >)

Bei Rein geht eine rührige, von feinem ästhetischem Empfinden geleitete Betätigung auf dem Gebiete der Kunst Hand in Hand mit seinem pädagogischen Schaffen. Hiervon legt seine eifrige Beteiligung an den Bestrebungen des Eisenacher Kunstvereins, vor allem aber sein rühriger Anteil an der Wiederherstellung der alten schönen Basilika seiner Heimatstadt, der Nikolaikirche, beredtes Zeugnis ab. Sein künstlerischer Idealismus hatte hierzu erst die Voraussetzungen geschaffen durch Begründung des Nikolai-Kirchbau-Vereins, wie er auch eifrig bemüht war, seinen Seminaristen bei Ausflügen ins Thüringer Land Anleitung zu geben zur sinnigen, verständnisvollen Betrachtung von künstlerischen Baudenkmälern und Bildwerken. »Die erste Vorstufe der künstlerischen Erziehung ist die Anleitung zum Sehen in der Natur.« (Rein.)

Der Seminarunterricht war gekennzeichnet durch einheitliches Zu-

1) Aus dem Briefe eines ehemaligen Schülers von Rein, jetzt Rektor in Thüringen.

2) J. Meyer, Das Problem der künstl. Jugenderziehung in der Päd. Prof. Dr. W. Reins, Schaffende Arbeit und Kunst. Leipzig, Prag, Haase, 1917. Heft 8.

3) J. Trüper, Einige Fundamentalsätze für den Zeichenunterricht vom Stand-

punkte des erzieh. Unterrichts im »Ev. Schulblatt« 1884, meines Wissens nach die erste monographische Bearbeitung d. Zeichenunterrichtsfrage nach Herbarts Prinzipien.

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sammenarbeiten mit seinen Seminarlehrern A. Pickel!) und E. Scheller ?), das sich auch in methodischen Veröffentlichungen widerspiegelt. 3)

Präparandenanstalt und Seminar, die bisher je zwei Klassen um- faßten, wurden auf je drei Klassen erweitert und damit ein be- deutungsvoller Schritt vorwärts getan in der Lehrerbildungsfrage.

Die Seminarübungsschule, eine ungegliederte Armenschule, wurde 1882 als vierklassige Volksschule eingerichtet und ihr Lehrplan neu aufgebaut, so daß er neue Wege ging in Auswahl, Anordnung und Durcharbeitung der Lehrstoffe.

Eisenach bot Rein außer der arbeitsreichen Tätigkeit als Seminar- direktor noch Gelegenheit zu weiterer pädagogischer Wirksamkeit als nebenamtlicher Leiter der städtischen II. Bürgerschule (Jakobsschule).*)

Neben dem vielseitigen Schaffen am Orte drängte Reins nimmer rastender Geist auch nach Einfluß auf einen größeren Kreis durch rege schriftstellerische Betätigung. In den von ihm herausgegebenen »Pädagogischen Studien« machte er mit anderen Schulmännern seine neuen didaktischen Bahnen bekannter. August Hermann Niemeyers?) 1796 erschienene »Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts für Lehrer, Hauslehrer und Schulmänner«, die Herbart angelegentlich empfohlen hatte, wurden neu 1878 und 1879 herausgegeben (3 Bände, 2. Aufl., Langensalza 1882), desgleichen des Mühlhausener Rektors Dr. Friedrich Otto »Pädagogische Zeichenlehre«, die zwischen der Pestalozzischen und der Schmid-Frankeschen Richtung vermittelte (Erfurt, J. C. Müller, 1837, neu 1884), nebenher ging die Bearbeitung der Geschichte des Zeichenunterrichts für die »Geschichte der Methodik des deutschen Volksschulunterrichtse von Karl Kehr (1830—1885), Königl. Seminardirektor zu Halberstadt (6 Bände, Gotha, Thienemann)‘) und an pädagogischen Fachzeitschriften. Von der Wartburgstadt aus sandte er sein volkstümlich gehaltenes Buch »Das Leben D. Martin

1) Geb. 1825, von 1865—1895 am Seminar in Eisenach, gest. 1896.

2) Geb. 1844, von 1869—1912 am Seminar in Eisenach, gest. 1915.

3) Vergl. hierzu Rein, Pickel, Scheller, Theorie und Praxis des Volks- schulunterrichts nach Herbartischen Grundsätzen. 1.—8. Schuljahr. Leipzig, Bredt, und die Lesebücher hierzu; Bliedner mit R., P. u. Sch., Ausgewählte Gedichte f. d. Geschichtsunterricht. Dresden 1886.

4) Laut Auskunft der Residenzstadt Eisenach durch den Großherzogl. Seminar- direktor daselbst.

5) Unter Niemeyer (1754—1828) in Halle wirkte der 1843 verstorbene Groß- vater Reins, Dr. August Gotthilf Rein, zuletzt Direktor des Rutheneums zu Gera, + 1843.

6) Über C. Kehr vergl. Dr. Schumann, Dr. Karl Kehr. Leipzig u. Neuwied, Louis Heuser, 1888.

Meyer: Wilhelm Rein und die Pädagogik der Gegenwart. 351 Luthers« als eine willkommene Jubiläumsgabe 1883 hinaus,!) das im Reformationsjubeljahr 1917 wieder besondere Beachtung verdient.

Seine überaus umfangreiche Eisenacher Tätigkeit hatte seiner an sich rüstigen Gesundheit doch geschadet, er war überanstrengt, so daß er sich 1886 einige Monate Ruhe gönnen mußte. Sie gaben ihm neue Spannkraft für die bevorstehende Wirksamkeit an der Universität Jena. Prof. A. Gleichmann, Oberlehrer am Seminar zu Weimar, wurde Reins Nachfolger in Eisenach, er ist der Verfasser folgender in Langen- salza erschienener Veröffentlichungen: »Der bloß.darstellende Unterricht Herbarts«e und »Über Herbarts Lehre von den Stufen des Unterrichts«. Daß der Lehrerbildung aber weiterhin Reins reges Interesse und seine besondere Aufmerksamkeit galten, zeigt sich neben mannigfachen anderen Erscheinungen in seinem 1897 in der weimarischen Lehrer- versammlung gehaltenen Vortrage »Die Forderungen der Gegenwart an die Ausbildung der Volksschullehrer«.

II. Wilh. Reins pädagogische Tätigkeit an der Universität Jena.

Schulrat Professor Dr. K. V. Stoy war am 23. Januar 1885 in Jena gestorben. Die Regierung konnte keinen würdigeren Nachfolger berufen als seinen einstigen Schüler Wilhelm Rein, wenn sie einen Mann benötigte, der mit der vollen wissenschaftlichen Befähigung für ein akademisches Lehramt die gereiften Erfahrungen eines praktischen Schulmannes vereinigen sollte. Er nahm die Gelegenheit gern wahr, seine ganze Lebensarbeit fortan der Pflege der wissenschaftlichen Pädagogik zu widmen. l !

Von nun ab kristallisiert sich Reins Schaffen in der Hauptsache um die drei Begriffe? Pädagogische Professur, Pädagogisches Uni- versitäts-Seminar, Ferienkurse. Was er in den drei Jahrzehnten von 1886—1917 von diesen Stellen aus gewirkt hat, läßt sich nur an- deutungsweise würdigen.

1. Die Pädagogische Professur.

Im Winter 1886/87 hielt Rein seine Antrittsvorlesung in Jena: Über die Stellung und Aufgabe der Pädagogik an der Universität. ?) Er traf unter anderen in der philosophischen Fakultät: Eucken, Häckel, Kluge, Abbe und Detmer, die zum Teil noch jetzt in Jena wirken.

Nur ein Dozent, der die Pädagogik zu seinem einzigen Arbeits- gebiete und zur geheiligten, verpflichtenden Lebensaufgabe erwählt

1) Erschienen 1883 in Leipzig bei Reichardt, übersetzt in fremde Sprachen. 2) Erschienen in Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

352 A. Abhandlungen.

hat wie Rein, kann maßgeblicher und zuverlässiger Führer durch alle Provinzen dieser weitverzweigten Wissenschaft sein. Seine Vor- lesungen umfaßten zunächst allgemeine und spezielle Didaktik, Ency- klopädie der Pädagogik, philosophische Ethik auf Herbartischer Grund- lage und empirische Psychologie, später kamen hinzu solche über Herbart (seit Winter 88/89), über das System der Pädagogik (seit W. 94/95) und über ausländisches Schulwesen (seit Sommer 98). Neben seinen Kollegs findet sich durch die 60 Semester ständig und sicher auch in Zukunft das Pädagogische Seminar verbunden mit praktischen Übungen in der Übungsschule, ein Kennzeichen für seine Wertschätzung der Umsetzung theoretischer Erkenntnisse in die Schul- praxis. Seit Sommer 1917 wird er im Seminar durch den neuen Jenaer Privatdozenten Dr. Georg Weiß!) unterstützt. Es dürfte auch zum guten Teile der Anregung Reins zu verdanken sein, daß seine eigenen Vorlesungen durch andere Hochschullehrer wirksam ergänzt werden, so las Heinr. Stoy, Sohn Karl V. Stoys, nebenher allgemeine philosophische Pädagogik u. a. im Wechsel mit Lektüre und Behand- lung von Herbaris » Allgemeiner Pädagogik, aus dem Zwecke der Er- ziehung abgeleitet« (1806) und »Umriß pädagogischer Vorlesungen« (1835) wie anderer pädagogischer Klassiker. Im W. 94/95, in dem Rein zum ersten Male sein System bot, machte Hofrat Dr. med. Gärtner den Anfang mit seinen Vorlesungen über Schulhygiene Im S. 98 las Detmer über »Methode und Aufgabe des botanischen Schulunter- richtse und Regel »Über Studium und Unterricht der Geographie« (verbunden mit geographischen Übungen) als wertvolle Ergänzung zu Reins spezieller Didaktik, von der der I. Teil die historisch-humani- stischen, der II. Teil die naturwissenschaftlichen Fächer umfaßt. Der W. 1904/05 brachte neu Rudolf Euckens »Geschichte der neueren Pädagogik im Zusammenhange der allgemeinen Kulturgeschichtes, ein bedeutendes Gegenstück historischer Pädagogik zu Reins systematischer Behandlung, und Nohl gab im S. 1913 seine erste Einführung in die Pädagogik. Das Sommersemester 1917 bringt von Weiß Allgemeine Didaktik mit Übungen und eine einstündige Vorlesung über päda- gogische Zeit- und Streitfragen.

So ist die Großherzoglich-Herzogliche Gesamtuniversität Jena stets eine hervorragende Pflegstätte der Pädagogik gewesen, nicht zuletzt

!) Dr. G. Weiß, Habilitationsschrift: Prolegomena zur Grundlegung eines neuen Bildungsideals (1916), Antrittsvorlesung: Der Sinn der nationalen Einheitsschule. »Die Unzulänglichkeit in Kerschensteiners Forderungen an die Organisation der obligatorischen Fortbildungsschule.« Leipzig 1914. Weitere Veröffentlichungen von ‚demselben unter II, 2.

Meyer: Wilhelm Rein und die Pädagogik der Gegenwart. 353

durch Rein. Seinem Ansehen und der durch ihn gewährleisteten ernsten Arbeit ist es auch zu danken, daß seit 1911 in Jena das Doktorexamen in Pädagogik in Verbindung mit Philosophie abgelegt werden kann.

Übersicht über Reins Dozententätigkeit in 60 Semestern:})

Sommer 1887: 1. Spezielle Didaktik (3 Stdn.), 2. Pädagogisches Seminar verbunden mit praktischen Übungen (5).

Winter 1887/88: 1. Ethik (2), 2. Spezielle Didaktik, Teil II?) (2), 3. Päd. Sem.®)

S. 1888: 1. Encyklopädie der Pädagogik (3), 2. P. S.

W. 1888/89: 1. Allg. Didaktik (2), 2. Leben und Lehre Joh. Fr. Herbarts (2), 3. P. 8.

8. 1889: 1. Empirische Psychologie (2), 2. Spez. Didaktik, Teil I (2), 3. P. S.

W. 1889/90: 1. Ethik (2), 2. Spez. Didaktik (2), 3. P. S.

S. 1890: 1. System der Päd. (3), 2. Emp. Psychologie (2), 3. P. S.

W. 1890/91: 1. Philos. Ethik (2), 2. Allg. Didaktik (3), 3. P. S.

S. 1891: 1. Grundzüge der Psychologie (2), 2. Spez. Didaktik (3), 3. P. S.

W. 1891/92: 1. Grundz. d. philos. Ethik (3), 2. Spez. Didaktik, Teil II (2), 3. P. 8.

S. 1892: 1. J. Fr. Herbarts Leben und Lehre (2), 2. Die Hauptpunkte der gegen- wärtigen Schulreform-Bestrebungen (1), 3. P. S.

W. 1892/93: 1. System der Päd. (8), 2. P. S,

8. 1893: 1. Grundzüge der emp. Psychologie (2), 2. Allg. Didaktik (2), 3. P. S.

W. 1893/94: 1. Grundz. der Sozial-Ethik (2), 2. Spez. Didaktik (2), 3. P. 8.

S. 1894: Grundz. d. emp. Psychologie (2), 2. Spez. Didaktik (3), 3. P. S.

W. 1894/95: 1. Herbarts Leben und Lehre (2), 2. System der Päd. (3), 3. P. 8.

S. 1895: 1. Emp. Psychologie (2), 2. Allg. Didaktik (3), 3. P. 8.

W. 1895/96: 1. Grundz. d. philos. Ethik (2), 2. Spez. Didaktik (3), 3. P. 8.

8. 1896: 1. Empir. Psychologie (2), 2. Spez. Didaktik, 3. P. 8.

W. 1896/97: 1. System d. Päd. (4), 2. P. S.

S. 1897: 1. Empir. Psychologie (2), 2. Allg. Didaktik (3), 3. P. 8.

W. 1897/98: 1. Grundz. der philos. Ethik (2), 2. Spez. Didaktik I (3), 3. P. 8.

S. 1898: 1. Spez. Didaktik (3), 2. Ausländisches Schul- und Bildungswesen (2), 3. P. S.

W. 1898,99: 1. Grundz. d. philos. Ethik (2), 2. System der Päd. (4), 3. P. S.

S. 1899: 1. Grundz. d. emp. Psychologie (2), 2. Allg. Didaktik (2), 3. P. S.

W. 1899/1900: 1. Herbarts Leben und Lehre (2), 2. Spez. Didaktik (3), 3. P. S.

8. 1900: 1. J. Fr. Herbarts Leben und Lehre (2), 2. Spez. Didaktik (2), 3. P. S.

W. 1900/01: 1. Grundzüge der philos. Ethik (2), 2. System d. Päd. (3), 3. P. 8.

8. 1901: 1. Grundz. d. emp. Psychologie (2), 2. Allg. Didaktik (2), 3. P. S.

W. 1901/02: 1. Spezielle Didaktik (3), 2. P. S.

S. 1902: 1. Grundz. d. emp. Psychologie (2), 2. Spez. Didaktik (2), 3. P. S.

1) Index scholarum aestivarum (hibernarum) publice et privatim in universi- tate litterarum Jenensi. Jenae prostat in libraria Ed. Fromani. Vorlesungen der Großherzoglich Herzoglichen Gesamtuniversität Jena 1887 bis 1917. Druck von G. Neuenhahn.

2) Teil I: histor.-human. Fächer, Teil II: naturwissensch. Fächer.

3) Künftighin nur mit P. B. abgekürzt.

Zeitschrift für Kinderforschung. 22. Jahrgang. 23

354 A. Abhandlungen.

W. 1902/03: 1. Grundz. d. philos. Ethik (2), 2. System der Päd. (3), 3. P. S.

S. 1903: 1. Leben und Lehre des Philosophen J. Fr. Herbart (2), 2. Allg. Didaktik (2), 3. P. 8.

W. 1903/04: 1. Spez. Didaktik (4), 2. P. 8.

S. 1904: 1. Grundz. d. philos. Ethik (2), 2. Spez. Didaktik (2), 3. P. 8.

W. 1904/05: 1. System der Päd. (4), 2. P. S.

S. 1905: 1. Grundz. d. philos. Ethik (2), 2. Allg. Didaktik (2), 3. P. S.

W. 1905/06: 1. J. Fr. Herbarts Leben u. Lehre (1), 2. Spez. Didaktik (3), 3. P. S.

S. 1906: 1. Grundz. d. emp. Psychologie (2), 2. Spez. Didaktik (2), 3. P. S.

W. 1906/07: 1. System der Päd. (3), 2. Das Bildungswesen in England, Frankreich und den Vereinigten Staaten von Amerika (1), 3. P. S.

S. 1907: 1. Grundriß der Ethik (2), 2. Allg. Didaktik (2), 3. P. S.

W. 1907/08: 1. Spez. Didaktik (3), 2. Ausländisches Schulwesen: Vereinigte Staaten von Nordamerika und die skandinavischen Länder (1). 3. P. S.

S. 1908: 1. Spez. Didaktik (2). 2. Leben und Lehre J. Fr. Herbarts (2). 3. P. &

W. 1908/09: 1. Grundriß der Ethik (2), 2. Allg. Didaktik (3), 3. P. S.

S. 1909: 1. Grundriß d. empir. Psychologie (2), 2. Allg. Didaktik (2), 3. P. S.

W. 1909/10: 1. J. Fr. Herbarts Leben und Lehre (2), 2. Spez. Didaktik (3), 3. P. S.

8. 1910: 1. Spez. Didaktik (3), 2. Ausländ. Bildungswesen (2), 3. P. 8.

W. 1910/11: 1. Grundz. d. emp. Psychologie (2), 2. Allg. Pädagogik (4), 3. P. S.

S. 1911: 1. Herbarts Leben und Lehre (2), 2. Allg. Didaktik (2), 3. P. S.

W. 1911/12: 1. Grundz. d. philos. Ethik (2), 2. Spez. Didaktik I (3), 3. P. 8.

S. 1912: 1. Grundz. d. emp. Psychologie (2), 2. Spez. Didaktik (2), 3. P. 8.

W. 1912/13: 1. Grundz. d. philos. Ethik (2), 2. System der Päd. (4), 3. P. S.

8. 1913: 1. Allg. Didaktik (2), 2. J. Fr. Herbarts Leben und Lehre (2), 3. Ausländ. Schulwesen (1), 4. P. S.

W. 1913/14: 1. Spez. Didaktik I (2), 2. Ausländ. Bildungswesen (2), 3. P. S.

8. 1914: 1. Grundz. d. emp. Psychologie (2), 2. Spez. Didaktik (2), 3. P. S.

W. 1914/15: 1. Grundriß d. philos. Ethik (2), 2. System der Pädagogik (4), 3. P. S.

S. 1915: 1. J. Fr. Herbarts Leben und Lehre (2), 2. Allg. Pädag. (2), 3. P. S.

W. 1915/16: 1. Grundzüge der emp. Psychologie (2), 2. Allg. Didaktik (2), 3. P. S.

S. 1916: 1. Grundriß der Ethik (2), 2. Spez. Didaktik (2), 3. P. S.

W. 1916/17: 1. Die Fragen der Schulreform (2), 2. Spez. Didaktik (2), 3. P. S.

S. 1917: 1. Empirische Psychologie (2), 2. System der Pädagogik (2), 3. P. S. zu- sammen mit Weiß.

Wertvolle Gedanken, ein von Überzeugung, Begeisterung und Wärme getragener Vortrag, große Klarheit und Übersichtlichkeit des Dargebotenen in bezug auf den Stoff und die sprachliche Form und eine genau festgelegte Terminologie kennzeichnen Rein als Hoch- schullehrer.

Die Wertschätzung, die er seitens seiner Regierung genoß, äußerte sich darin, daß er seit 1886 Honorarprofessor 1912 mit einem persönlichen Ordinariat für Pädagogik beauftragt wurde, nachdem der Senat der Universität wegen Errichtung einer ordentlichen Professur für Pädagogik vergeblich vorstellig geworden war. Noch immer ist Jena die einzige Universität Deutschlands, die einen Lehrstuhl für

Meyer: Wilhelm Rein und die Pädagogik der Gegenwart. 355

Pädagogik besitzt und Rein der einzige Ordinarius für Pädagogik.) Darin ist ein bleibendes Verdienst der betreffenden Regierungen dank- bar und freudig anzuerkennen. Im Sommer 1914 war Rein Dekan der philosophischen Fakultät.

Der Ruf, den er persönlich und den die wissenschaftliche Päda- gogik Deutschlands im Auslande —- wenigstens vor dem Weltkriege genoß, führte zu zahlreichen Aufforderungen außerhalb der Reichs- grenzen und jenseits des .Meeres Vorträge zu halten, denen er um so lieber nachkam, als er von diesen Veranstaltungen, wie auch vom internationalen Hörerkreis der Ferienkurse, ein stärkeres gegenseitiges Verständnis der Völker erhoffte. Man hat ihn mit Freuden begrüßt und um des Dargebotenen willen gefeiert in Wien, Budapest, Linz, Stockholm, in Oxford, in Cambridge (wiederholt), in Edinburgh, in Manchester (wo man ihm die Titel Doctor of lettres h. c., Litt. D. der Viktoria-Univ. M., verlieh, die Rein bei Kriegsausbruch ablegte, und daselbst auch Schulklassen »Reinklassen« nannte), in St. Louis und anderenorts.

2. Die Leitung des Pädagogischen Universitäts-Seminars mit Übungsschule.

Die Anfänge der Pädagogischen Universitäts-Seminare gehen zurück auf den Philosophen Johann Mathias Gesner, * 1691, von 1734--1761 in Göttingen, und im gewissen Sinne auf Im. Kants (1724—1804) Anregung zu Experimentalschulen, in der das Programm solcher Veranstaltungen enthalten ist,?) das J. Fr. Herbart (1776—1841), sein Nachfolger, in Königsberg verwirklichte. Wir unterscheiden gegen- wärtig neben rein-theoretischen Seminaren, z. B. in Göttingen, noch theoretisch-praktische Seminare. Sie bieten entweder ihren Mitgliedern Unterrichtsgelegenheit in irgend einer Lehranstalt des Ortes, so Leipzig, Gießen, Heidelberg, oder besitzen eine eigene Übungsschule wie Leipzig unter Ziller 1862—1883 und wie jetzt allein im Deutschen Reiche Jena unter Rein.

Den Gedanken des Päd. U.-S. hat der Herbartianer Heinr. Gust. Brzoska (1807—1839) vom Königsberger Seminar nach Jena mit- gebracht;®) seine Pläne verwirklichte K. V. Stoy durch Begründung

1) Vergl. hierzu Prof. Dr. Herm. Tögel, Die Notwendigkeit einer pädagogischen Fakultät an unsern Hochschulen. Dresden, Bleyl & Kaemmerer (Heft 31 »Zur Päda- gogik der Gegenwarte«).

?) Vergl. Kant, Über Pädagogik. Herausgegeb. v. Dr. Fr. Th. Rink. Königs- berg, Fr. Nikolovius, 1803, ferner in d. Päd. Klassikern. Langensalza, Beyer & Mann-

3) G. Brzoska, Die Notwendigkeit pädagogischer Seminare auf der Universität und ihre zweckmäßige Einrichtung. 1836. 2. Aufl. Leipzig 1887.

23*

356 A. Abhandlungen.

eines Seminars am 9. Dezember 1843 verbunden mit einer aus Volks- schulklassen bestehenden Übungsschule.!) Am 3. November 1886 über- nahm Rein die Leitung des von ihm neu organisierten Päd. U.-S. Er nahm ihm den privaten Charakter mit seinen nachteiligen Folgen, den es unter Stoy gehabt hatte, und verstaatlichte es durch das Ent- gegenkommen des Großherzoglichen Staatsministers Dr. G. Th. Stich- ling in Weimar, gestaltete es um als eine unbedingt notwendige Er- gänzung des pädagogischen Lehrstuhls und brachte seine Arbeit mit den Ideen der Herbart-Zillerschen Pädagogik in enge Berührung.

Dem Andenken des um das Seminar hochverdienten Staats- ministers D. Dr. Theodor Stichling (1814—1899), diesem Enkel Her- ders, mit einem gereiften pädagogischen Denken, einem festen, ziel- bewußten Wollen und einem warmen Fühlen für das gesamte Bildungs- wesen seines Landes ist von Rein, »der es mehr als einmal empfunden, mit welch’ feinem Verständnis er (Stichling) den vielseitigen Be- strebungen auf dem Gebiet des Schulwesens nachzugehen wußte,« das 4. Heft »Aus dem Pädagogischen Universitäts-Seminar zu Jena« (Langensalza 1892) gewidmet worden. ?)

Rein kennzeichnet die Aufgabe dieser einzigartigen akademischen Veranstaltung mit folgenden Worten: »Das Päd. U.-S. mit Übungs- schule hat eine doppelte Aufgabe. Einerseits will es der Fortentwicklung der pädagogischen Wissenschaft, andererseits der theoretischen und praktischen Ausbildung wissenschaftlich strebsamer Erzieher dienen. « ®)*)

Von hier aus haben mehr als 2000 Schulmänner wertvolle An- regungen für theoretische Forschung und schulpraktische Betätigung mitgenommen, von hier aus hat sich der Geist vieler Lehranstalten des In- und Auslandes und der Inhalt zahlreicher und wertvoller Veröffentlichungen orientiert. Von den ehemaligen Klassenlehrern der Übungsschule sind eine große Anzahl durch ihre nachfolgende Amts-

1) Dr. Bliedner, K. V. Stoy und das Päd. Universitäts-Seminar. Langen- salza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

?) Dr. Stichling, Aus 53 Dienstjahren. Erinnerungen aus meinem Leben. Weimar, Böhlau 1891: »Den Schlußstein in unseren Bestrebungen im Bereiche des Schulwesens bildet das in Jena errichtete Pädagogische Universitäts-Seminar mit der Bestimmung, einerseits den Studierenden der Theologie die nötige Vorbildung für ihren künftigen Beruf als Oberschulaufseher in der Volksschule zu geben, anderer- seits die künftigen Lehrer an höheren Lehranstalten mit der Methode des Lehrens vertraut zu machen, endlich auch einzelnen seminaristisch gebildeten Lehrern ihrem Wunsche entsprechend eine angemessene höhere Weiterbildung zu geben. Selbst- verständlich wird dieser Anstalt eine Übungsschule beigegeben.«

») W. Rein, Pädagogik in system. Darstellung. 2. Aufl. 1911. 2. Bd. 8.315.

*) Vergl. Reins Abschnitte Päd. Univ.-Seminar in s. Encykl. VI. Bd., S. 531 f. und Übungsschule IX. Bd., S. 363 f.

Meyer: Wilhelm Rein und die Pädagogik der Gegenwart. 357

tätigkeit wie durch ihre Werke in einem größeren Kreise bekannt und geschätzt geworden, so u. a. Edmund Reich, Bezirkschulinspektor in Apolda, Johannes Trüper, Besitzer und Leiter des Erziehungsheims und Jugendsanatoriums Sophienhöhe-Jena,!) Schulrat Dr. A. Reukauf- Coburg,?) Seminardirektor Ed. Scholz-Hildburghausen,®) Lic. Dr. Herm. Lietz‘), Gründer, Besitzer und Leiter der Landerziehungsheime Ilsen- burg, Haubinda, Biberstein, Rektor Gust. Döll®), Schuldir. A. Wölfing ®), Seminaroberlehrer Herm. Itschner-Weimar”) und Fritz Lehmensick- Dresden 8), Privatdoz. Dr. G. Weiß-Jena.?)

1) J. Trüper, Zeitschrift f. Kinderforschung. Langensalza, Beyer & Mann. Ders., Berichte des Vereins f. Kinderforschung, vergl. Prosp. d. Anstalt. Ders., Dörpfelds soziale Erziehung in Theorie und Praxis. Die Schule und die sozialen Fragen unserer Zeit. Gütersloh, Bertelsmann. Die Familienrechte an der öffent- lichen Erziehung. Ein Wort der Verständigung im schulpolitischen Kampfe. Mit einem Vorwort von Dr. W. Rein. 2. Aufl. Langensalza, Beyer & Mann, 1892. Tagebuch für Unterricht und Erziehang. Zur Theorie eines Unterrichts- und Erziehungsplanes. Psychopathische Minderwertigkeiten im Kindesalter. Gütersloh, Bertelsmann. Die Anfänge der abnormen Erscheinungen im kindlichen Seelen- leben. Zur Frage der ethischen Hygiene. Altenburg, O. Bonde.

2) Dr. Reukauf u. Prof. Heyn, Ev. Religionsunterricht. Grundlegung (2 Bde.), Präparationen (8 Bde.) und 2 Ergänzungshefte: Ev. Jugendlehre. Leipzig, Ernst Wunderlich. Dies., Ev. Religionsbuch. Kleinere u. größere Ausgabe. Ebenda. Dr. Reukauf-Schmauck, Bibl. Wandbilder. Stuttgart, Harlik. Dr. Reukauf, Religionsunterricht u. Schulpolitik. Leipzig, Wunderlich. Ders., Der Lehrplan des ev. Rel.-Unterr. an höheren Schulen, vom Standpunkte der wissensch. Päd. aus begründet. Langensalza, Beyer & Mann. Ders., Vorfragen zur Reform des Rel.- Unterr. in der Volksschule. Ein Beitrag zur Lösung der schulpolitischen Fragen usw. Göttingen, Vandenhoek & Rupprecht. Ders., Abnorme Kinder und ihre Pflege. Langensalza, Beyer & Mann. Ders., Leseabende im Dienste der Erziehung. Ebenda.

3) E. Scholz, Prof. Dr. W. Rein. Kurzgef. Darstellg. s. Lebens u. Wirkens. Leipzig, Koehler.

4) H. Lietz, Neue Aufgaben auf dem Gebiete des christlichen Religionsunter- richts. 6. Heft »Aus dem Päd. U.-S« 8.72 f. Ders., Die Erziehung in der Religion Jesu im Unterschiede zu der im dogmatischen Christentume. 7. Heft. S. 86 f. Prospekt!

®) G. Döll, Bd. VI aus Reukauf-Heyn, Geschichten aus d. Leben Jesu.

¢) J. Hofmann u. A. Wölfing, Beiträge zur didaktischen Technik. Stunden- typen, Lektionsschemata u. technische Hilfen. Leipzig, E. Wunderlich.

?) Herm. Itschner, Unterrichtslehre. Unterricht gefaßt als Entbindung ge- staltender Kraft. Leipzig. Band I: Erster allg. Teil. Band II: Der bes. Unterrichts- lehre 1. Hälfte. Band III: Der bes. Unterichtslehre 2. Hälfte. Ders., Lehrproben zur Länderkunde von Europa. Ein Beitrag zum Problem der Stoffgestaltung. Leipzig 1911. Ders., Über künstlerische Erziehung v. Standpunkte d. Erziehungsschule. Langensalza, Beyer & Mann. Ders., Bildungsnöte d. Volksschullehrer. Leipzig 1901.

2) Fritz Lehmensick, Kernlieder der Kirche in Stimmungsbildern. Dresden, Bleyl & Kämmerr. Ders., Anschaul. Rel.-Unterr.: Die 10 Gebote. Leipzig, Koehler. 2 Bde. Ders., Probleme u. Prinzipien des Geschichtsunterrichts. Straßburg, Bull. Ders., Das Prinzip des Selbstfindens in seiner Anwendung auf den ersten Sprach- unterricht u. in s. Durchführung in allen holländischen Schulen. Dresden.

°) Georg Weiß, Prof. Dr. Spranger über Herbarts Pädagogik. Dresden, Bleyl & Kämmerer. 1917. Ders., Die Anfänge d. Päd. Univ.-Seminars in Königsberg. Päd. Magazin Nr. 504. Vergl. hierzu II, 1. Langensalza, Beyer & Mann.

358 A. Abhandlungen.

Die Reihe pädagogischer Abhandlungen und selbständiger Schriften ließe sich noch bedeutend erweitern, wenn die Mitglieder des Seminars, von denen sehr viele in angesehenen Stellungen mit sichtlichem Er- folge wirken, mit ihren Veröffentlichungen registriert würden. Eine Kurve soll den Besuch des U.-S. unter Reins Leitung veranschaulichen, wobei zu einer Gesamtzahl vereinigt sind die ordentlichen Mitglieder, die als Praktikanten in der Übungsschule unterrichten, und die außer- ordentlichen Mitglieder, die zum mindesten an den wöchentlichen Versammlungen, umfassend Theoretikum, Praktikum, Konferenz, Kriti- kum, teilnehmen müssen. Ein weiteres Zeichen für den umfangreichen Wirkungsbereich des Seminars ist die große Menge der korrespon- dierenden Mitglieder im In-und Auslande, es waren bereits 15 Jahre nach der Wiedereröffnung durch Rein 150 im Deutschen Reiche und Österreich-Ungarn, über 20 im verbündeten Bulgarien, von den übrigen Ländern stand Amerika mit mehr als 30 an der Spitze.!)

Die Geburtstags- bezw. Weihnachtsfeiern des Seminars brachten zumeist eine Festvorlesung des Direktors, sie behandelten z. B.

1899: Die Stellung und die Aufgaben der Pädagogik an der Universität (vergl. Antrittsvorlesung).

1900: »Der Kaiserliche Erlaß zur Schulreform und die Forderungen der wissen- schaftlichen Pädagogik.« ?)

1901: Bildende Kunst und Schule. *)

1902: Gemeinsame Erziehung von Knaben und Mädchen. *)

1903: Das Problem der Seelenfrage in historischem Überblick.

1904: Das Schulwesen in den Vereinigten Staaten von Nordamerika.

1905: Über die Einheit im Bildungswesen Deutschlands.

1906: Eine Würdigung von Herbarts »Allgemeiner Pädagogik«, Fichtes »Grund- zügen des gegenwärtigen Zeitalters« und Hegels »Phänomenologie des Geistes« (zu deren 100. Erscheinungstage 1906—1806).

1908: Über die Gutachten der bayrischen Universitätssenate zur Frage der Er- richtung neuer pädagogischer Lehrstühle.

Dem Leiter des Seminars haben frühere Mitglieder in »dankbarer Verehrung aus Anlaß des 10jährigen Bestehens des durch ihn wieder- eröffneten Seminars« das 7. Heft » Aus dem Pädagogischen Universitäts- Seminar zu Jena« zugeeignet, in dessen II. Teil die Berichte ein an-

1) Schon diese äußeren Tatsachen wie auch der zahlreiche Besuch seiner Vor- lesungen und der Andrang zu seinem Kursus innerhalb der Ferienkurse, zu dem sich die Benutzung der Universitätsaula nötig macht, widerlegt die Behauptung von Dr. Kurt Kesseler (Charakterköpfe. Frankfurt, Diesterweg, 1916), Rein scheine ihm auf einem einsamen und verlorenen Posten zu stehen.

?) Abgedruckt in d. »Dtsch. Bl. f. erziehend. Unterricht« 1901, Nr. 3. Langen- salza, Beyer & Mann.

®) Erschienen als eine Studie zur Innenseite der Schulreform in Langensalza.

*) Abgedruckt in den » Wartburgstimmen«, Eisenach 1903.

359

Meyer: Wilhelm Rein und die Pädagogik der Gegenwart.

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360 A. Abhandlungen.

schauliches Bild vom gegenwärtigen Stand Herbart-Ziller-Reinscher Pädagogik in Amerika, Bulgarien, England und Serbien bieten. Der 14. Band, »Festschrift zum 50. Semester des Päd. Universitäts-Seminars unter Prof. D. Dr. W. Reine ist wiederum von früheren Mitgliedern herausgegeben und enthält neben zahlreichen Abhandlungen einen Abriß der Geschichte des P. U.-S. von A. Böhm,!) dem jetzigen Oberlehrer, und eingehende Berichte über die Verbreitung des Her- . bartianismus im Auslande, wobei stets deutliche Spuren auf Jena, das Seminar und Rein zurückgehen. Die übrigen bis jetzt erschienenen Hefte haben Rein selbst zum Herausgeber. Sie sind unentbehrlich für den, der sich Einblick verschaffen will in die Arbeit dieser päda- gogischen Zentralstätte, in die lebendige Wechselwirkung zwischen Wissenschaft und Schulpraxis in ihr. 2)

Der Fürsorge der Großherzoglichen Staatsregierung und des Weimarischen Landtages danken Seminar und Übungsschule ein eigenes neues Gebäude 1899 Jena, Grietgasse (Entwurf und Ober- leitung: Baurat Hosse), dem ganzen Betrieb damit die äußeren Be- dingungen für günstigen Fortgang und gesunde Weiterentwicklung gebend. Die Praktika werden im Schulsaale des I. Obergeschosses ab- gehalten, in dem auch die Schulfeiern stattfinden. Die drei Klassen- zimmer liegen im Erdgeschoß, das Schulmuseum im Dachgeschoß. 8)

Die Übungsschule umfaßt drei Volksschulklassen, die weitergeführt werden, mit höchstens 20 Schülern. Eine Musterschule will sie nicht sein, sie kann es auch nicht, dazu müßte sie ein vollständiger Schul- organismus sein. Von 1888—1891 bestand noch eine Gymnasialklasse, die nach Errichtung des Gymnasialseminars am Gymnasium Jenas, von dessen Direktor eifrig gefordert, in Wegfall kam.

Von den drei Klassenlehrern ist der Inhaber der ersten Stelle als ständiger Oberlehrer angestellt, die beiden anderen sind Stipendiaten.

Das Seminar entwickelt und pflegt in seinen Mitgliedern ernsten wissenschaftlichen Geist und dient so in hervorragender Weise durch glückliche Vereinigung von Theorie und Praxis einer Vertiefung der philosophischen Grundlagen des gesamten Bildungs- und Erziehungs-

1) A. Böhm, Die entwickelnd-darstellende Unterrichtsform. Osterwieck (Harz) 1913. Ders., Die Beziehungen zwischen Platos und Herbarts Pädagogik in Päd. Mag. Heft 596. Ders. mit G. Weiß, Eine Studienreise des Päd. Univ.-Sem. zu Jena. Ebenda Heft 498.

?) Vergl. Aus dem Pädagogischen Universitäts-Seminar zu Jena. 1.—15. Heft. Langensalza, Beyer & Mann. 1888—1913. Etwa 40 M.

3) Als Ehrung Reins seitens des V. f. wissensch. Päd. und des V. d. Fr. Herb. Päd. in Thür. wurde aus Anlaß des 70. Geburtstags seine Büste im P. U.-S. aufgestellt.

Meyer: Wilhelm Rein und die Pädagogik der Gegenwart. 361 wesens wie dem sorgfältigen Ausbau aller Zweige der Pädagogik, ins- besondere der Didaktik, getreu seinem Leitspruch:

In necessariis unitas, in dubiis libertas, in omnibus autem caritas.

3. Die Mitbegründung der Ferienkurse und die pädagogische Arbeit in denselben.

Wie Rein einerseits dem Auslande zahlreiche, wertvolle An- regungen für sein Schul- und Bildungswesen gegeben hat, so ist aber andererseits in bezug auf eine Maßnahme zur Popularisierung der Wissenschaften die Einwirkung des Auslandes!) auf ihn und Professor Detmer zu erkennen, nämlich in bezug auf die Begründung der Ferien- kurse in Jena. Beide Gelehrte konnten 1913 mit großer Befriedigung auf ein Vierteljahrhundert erfolgreicher Arbeit im Dienste der deutschen Schule und der des Auslandes geleistet in den Ferienkursen zurückblicken. Der Dank tausender dankbarer Hörer deutscher und fremder Zunge kam aus diesem Anlasse in verschiedener Form zum Ausdruck, nicht zum geringsten in der Festspende der Jenaer Ferienkurse. ?)

Anfang 1889 faßte der Naturwissenschaftler Professor Wilhelm Detmer den Gedanken, in Jena Fortbildungskurse für Lehrer der Naturwissenschaften zu begründen, Rein griff denselben gern auf. So fanden bereits im September '1889 die ersten »Fortbildungskurse an der Universität Jena für Lehrer Deutschlands, Österreichs und der Schweiz« statt. Volksschullehrer und Frauen wurden zunächst vom Kurator der Universität von der Teilnahme ausgeschlossen. Es wurden infolgedessen statt der Universitätsräume die eines Gasthauses und später die der Zeißstiftung benutzt, denn die Einheit der Schule sollte nicht preisgegeben werden. Ein bescheidener Anfang war getan mit diesen Kursen für Naturwissenschaften, Pädagogik und Literatur. Rein las: Psychologische Grundlagen des Unterrichtsverfahrens.

Seit 1894 sind die »Ferienkurse« für Angehörige aller Staaten und seit 1901 im vollen Umfange auch für Volksschullehrer zugängig. Die letztere Erweiterung ist vor allem Rein zu danken, der im selben Jahre die offizielle Regelung der Teilnahme von Volksschullehrern an den akademischen Vorlesungen und am Päd. U.-S. erreichte, wie er auch die Ablegung des Doktorexamens in Pädagogik durchsetzte.

1) University-Extension-Movement, Summer meetings. ?) Festschrift zum 25jährigen Bestehen der Ferienkurse in Jena. Jena, Eugen Diederichs, 1913.

362 A. Abhandlungen.

Die hervorstechenden Züge der Jenaer Ferienkurse sind der päda- gogische Charakter, die starke Betonung der Naturwissenschaften und die Internationalität der Hörerschaft. Der pädagogische Charakter wird gewahrt durch die Vorlesungen aus dem Gebiete der Pädagogik, durch die praktischen Übungen in spezieller Didaktik Herbart-Ziller-Reinscher Methode und durch die Zusammensetzung ihrer Gesamthörerschaft, in der z. B. 1912 von 746 Teilnehmern 459 Angehörige des Lehrer- standes waren.

Der 25. Kursus umfaßte: 14 pädagogische, 13 naturwissenschaft- liche, 6 religionswissenschaftliche bezw. -unterrichtliche Kurse, 7 aus dem Gebiete der Philosophie, Psychologie und Physiologie, 6 aus Literatur, Kunst, Geschichte, Nationalökonomie und 9 Sprachkurse. Nebenher gingen ein Sonderkursus für staatsbürgerliche Bildung und Erziehung mit 6 Vortragsreihen und Abendvorträge. Das Verzeichnis spiegelt den gewaltigen Fortschritt wieder, den das glückliche Unter- nehmen der beiden Jenaer Hochschullehrer aufweist. Um die päda- gogischen Kurse, um die Berufung der Dozenten dazu u. a. gebührt Rein ein besonderes Verdienst. Man kann weiter behaupten, daß das immer wachsende Ansehen Reins und seiner Pädagogik wesentlich beigetragen hat zu der glänzenden Entwicklung des Gesamtunter- nehmens, die durch eine auszugsweise gebotene statistische Tabelle veranschaulicht wird.

Zahl Zahl Zahl

Zeitpunkt der Dozenten der Kurse der Teilnehmer 1889 7 7 20 1900 16 26 174 1904 30 36 333 1907 34 43 528 1910 44 51 938 1912 52 59 746 1913 52 60 861

III. Wilh. Reins Anteil an der pädagogischen Literatur.

Es ist erstaunlich, in welchem Umfange Rein bei seiner aus- gedehnten Tätigkeit erst als Seminardirektor und dann als Hochschul- lehrer Kraft und Zeit gefunden hat, seine wertvollen Gedanken schrift- lich niederzulegen, um sie einem weiteren Kreise zugänglich zu machen.

Seine eigenen Werke kleineren und größeren Umfangs, seine Ab- handlungen in den Zeitschriften der Fachpresse wie auch die durch ihn bewirkten Neuausgaben früher erschienener Veröffentlichungen begegneten einem starken Interesse, erregten hier lebhaften Beifall

Meyer: Wilhelm Rein und die Pädagogik der Gegenwart. 363

und riefen dort die Kritik heraus, wie selbstverständlich stets Werke eines überzeugten, unbeirrt seine Ideen vertretenden Gelehrten es tun.

Weil es unmöglich erscheint, auf die Fülle wichtiger Erkennt- nisse und praktischer Anregungen der einzelnen Veröffentlichungen einzugehen, geben wir dem Versuch einer bibliographischen Darstellung den Vorzug vor einer Inhaltsangabe oder Kritik. Wir wollen nur das Werk einer Würdigung unterziehen, das den Namen Reins am bekanntesten gemacht hat, während wir gelegentlich der Darstellung seines Systems ein anderes, das am gründlichsten und sichersten in Reins Gedankenwelt einführt, inhaltlich wiederzugeben versuchen (vergl. Teil IV).

Die Anregung zu einer neuen Encyklopädie der Pädagogik ging von den Freunden des Pädagogischen Seminars aus. Daß die durch Rein unter ihrer regen Anteilnahme erfolgte Verwirklichung des an- fangs noch bescheidenen Planes dem steigenden pädagogischen Inter- esse in allen Schichten des Lehrerstandes, der Schulverwaltungen und auch bei Laien begegnete, geht am deutlichsten. aus der Tatsache hervor, daß die erste Auflage bei Vollendung bereits vergriffen war. Das großzügig angelegte Nachschlagewerk will dazu helfen, »daß wir Deutschen dessen eingedenk bleiben, worauf wahre Größe und echter Ruhm eines Volkes beruhen«e (Vorwort 2. Aufl). Es ist zu einem sicheren und darum unentbehrlichen Führer durch das weit verzweigte Gebiet pädagogischer Theorie und Praxis und deren Hilfswissenschaften geworden, das die vorher verbreitete »Encyklopädie des gesamten Er- ziehungs- und Unterrichtswesens« von Dr. K. A. Schmid, Rektor in Ulm, die dieser unter von Palmers und Wildermuths Mitarbeit (1859) herausgegeben hatte, bei weitem überholte. !)

Reins Encyklopädie ist ein Denkmal deutschen Geistes und Fleißes durch die gründliche Bearbeitung der alphabetisch aufgeführten Einzel- darstellungen und durch die eifrig sammelnde, sorgfältig ordnende Tätig- keit des Herausgebers. Rein hat einen Stab von über 300 pädagogi- schen und anderen Fachleuten um sich geschart, um zur maßgeblichen Be- antwortung jeder Frage, zur befriedigenden Klärung jedes Schlagwortes, zur gründlichen Beleuchtung wichtiger Probleme wie zur Schilderung der Entwicklung und Bedeutung führender Männer und wertvoller Maßnahmen aus dem Bereiche der Pädagogik jeweilig einen Fachmann von bereits anerkannter Bedeutung zu Worte kommen zu lassen. Er selbst hat folgende 40 Abschnitte in klarer, geistvoller Weise ge-

1) Das erste Werk dieser Art war Hergangs »Pädagogische Realenoyklopädie« (1843).

364 A. Abhandlungen,

schaffen: Abhängigkeit und Freiheit des Lehrers, Begeisterung, Bei- spiel, Charakter, Didaktik, Eklektizismus, Encyklopädie der Pädagogik, Erstes Schuljahr, Erziehender Unterricht, Macht und Grenzen der Er- ziehung, Erziehungsschule, Fortbildungskurse an der Universität, Lehr- plan, Methode, methodische Einheit, Militarismus und Schulerziehung, Ortsschulaufsicht, Philosophische Pädagogik, Päd. Universitäts-Seminar, Regierung der Kinder, Rezensententum in der Pädagogik, Schul- verfassung, Theorie und Praxis, Übungsschule, Universität, Verbalis- mus, Volkshochschule, Allgemeine Volksschule, Zeichenunterricht nach historischen Gesichtspunkten, Zielangabe im Unterricht. Überdies hat er vier deutliche Lebensbilder aus der Geschichte der Pädagogik bei- getragen: Heinrich Gustav Brzoska, Goethe als Pädagog, J. Fr. Herbart als Pädagog eine umfangreiche, maßgebliche Monographie und Aug. Herm. Niemeyer. Die Überschriften gewähren einen Einblick in den Umfang, die Lektüre in den Reichtum und die Tiefe der päda- gogischen Weisheit Reins. Mehr als 20 andere Einzeldarstellungen von A. Hug-Zürich +, von Horst Keferstein + und Herm. Schiller + bringt die 2. Auflage in seiner Überarbeitung. Wenn Rein kein Ver- dienst hätte als das des Herausgebers der Encyklopädie, es würde genügen, ihm einen Platz in der Geschichte der Pädagogik für alle Zeit zu sichern.

Bei einem Überblick über Reins Anteil an der pädagogischen Literatur sind zunächst die Neuausgaben früher erschienener Werke zu nennen, deren Verfasser inzwischen verstorben waren, deren Inhalt aber Anspruch auf erneute Verbreitung erheben kann:

1. Aug. Herm. Niemeyer,') Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts für Lehrer, Hauslehrer und Schulmänner. 1796. Mit Ergänzung des geschichtlich literarischen Teils und mit Niemeyers Biographie. 3 Bände. 2. Aufl. Langen- salza, Hermann Beyer & Söhne.

2. Dr. Friedr. Otto, Pädagogische Zeichenlehre. Erfurt, J. C. Müller, 1837. Neue Ausgabe 1884.?)

3. Gust. Brzoska, Die Notwendigkeit pädagogischer Seminare auf der Universität und ihre zweckmäßige Einrichtung. 1836, neue Ausgabe 1887, Leipzig. *)

Reins literarische Tätigkeit erstreckt sich aber auch auf die Mit- arbeit an Werken anderer. Es ist da ein zu einem maßgeblichen Führer

1) Vergl. hierzu Reins Abschnitt Aug. Herm. Niemeyer in s. Encykl. VI. Bd., S. 273 f.

®) Vergl. hierzu 3. Jahrb. d. V. f. wiss. Päd. (1871) von Prof. T. Ziller, Ottos Zeichenlehre siehe auch I, 2 —, sie umfaßt einen allgemeinen, einen be- sonderen Teil und einen Anhang, in dem sich auch ein Lehrplan für den Zeichen- unterricht befindet.

3) Vergl. hierzu Reins Abschnitt Gust. Herm. Brzoská in s. Encykl. I. Bd., S. 774 ff.

Meyer: Wilhelm Rein und die Pädagogik der Gegenwart. 365

in die Methodik der Volksschule gewordenes Werk zu nennen, für das er die lebendig geschriebene Geschichte des Zeichenunterrichts bearbeitete:

Dr. Karl Kehr, Geschichte der Methodik des deutschen Volksschulunterrichts.

Gotha, Thienemann. 6 Bände,

Besondere Erwähnung verdient sein hervorragender Anteil an zwei Sammlungen, von denen die erste bei ihrem Erscheinen be- rechtigtes Aufsehen erregte und wohlverdiente allseitige Anerkennung fand und heute noch einen guten Platz in der Literatur der Volks- schule sich behauptet: !)

W. Rein, A. Pickel, E. Scheller, Theorie und Praxis des Volksschulunterrichts nach Herbartischen Grundsätzen. 1.—8. Schuljahr. (1. Band 1878.) Leipzig.

Mit dazu gehör. Lesebüchern.

Bliedner, Rein, Pickel, Scheller, Ausgewählte Gedichte für den Geschichts- unterricht. Leipzig.

Der Pädagog und der Mediziner haben sich zu einer wertvollen Veröffentlichung vereinigt in:

W. Rein und H. Selter,*) Das Kind, seine körperliche und geistige Pflege von der Geburt bis zur Reife. Mit 186 Abbildungen im Text. Stuttgart, F. Enke,

1911. 2 Bände.

In Verbindung mit zwei Herbartianern, einem Herbartforscher und einem Methodiker dieser Richtung, bearbeitete er:

O. Flügel, K. Just, W. Rein, Herbart, Pestalozzi und P. Natorp. Langensalza,

Hermann Beyer & Söhne, 1899.

Wir kommen zur großen Zahl eigener Arbeiten verschiedensten Umfanges, die sich die Pädagogik selbst oder pädagogische Grenz- gebiete und Hilfswissenschaften zum Thema wählen, mit einer einzigen Ausnahme:

Dr. W. Rein, Das Leben D. Martin Luthers. Leipzig, Reichardt, 1883.

Diese Festschrift, ausgezeichnet durch volkstümliche Darstellung in sprachlich schönster Form, hat von der Wartburgstadt aus ihren Weg, freudig begrüßt durch Deutschland und ins Ausland gefunden.

Verleger der meisten Veröffentlichungen Reins ist die Firma Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), Herzogl. Sächs. Hofbuch- händler in Langensalza.

Die gesamte Lehrerschaft und alle schulisch interessierten Kreise danken Professor Rein folgende Werke und Schriften:

1) Vergl. hierzu: Paul Barth, Die Elemente der Erziehungs- und Unterrichts- lehre. Leipzig, J. A. Barth, 1906. 8. 273 ff.

2?) Dr. Hugo Selter, o. Pıof. f. Hygiene und Dir. des hygienischen Univ.- Instituts in Königsberg, früher in Leipzig bezw. Bonn, Verfasser des »Handbuchs der deutschen Schulhygiene.« Dresden u. Leipzig, Th. Steinkopff, 1914. 30 M.

B

A. Abhandlungen.

. Encyklopädisches Handbuch der Pädagogik. 1. Aufl. 7 Bände

Langensalza, Beyer & Mann, 1895—1909. 2. Aufl. 10 Bände. Ebenda.

1903—1910. Mit Generalregister 162,80 M, geb. 189 M.

Pädagogik. Ebenda 1906.

a) Systematische Pädagogik. Ebenda 1910.

b) Pädagogik in systematischer Darstellung. Ebenda 1911. 2. Aufl. 3 Bände.

Grundlagen der Pädagogik und Didaktik. Leipzig, Quelle & Meyer, 1909.

Sein und Werden im Reiche der Pädagogik. Aus Schule und Leben.

Straßburg, Bull, 1909.

Am Ende der Schulreform? Langensalza, Beyer & Mann.

Zur Schulaufsichtsfrage. Vortrag. Ebenda.

Deutsche Schulerziehung. München, Lehmann, 1907. 2 Bände. Volks-

ausgabe 1913.)

Grundriß der Pädagogik. Leipzig, Göschen. 1. Aufl. 1890. 5. Aufl. 1912.

. Kunst. Politik. Pädagogik. Gesammelte Aufsätze. 4 Bände. Langen-

salza, Beyer & Mann, 1914. (1. Bd. Kunst, 2. Bd. Politik, 3. u. 4. Bd. Päd.)

. Grundriß der Ethik mit Beziehung auf das Leben der Gegenwart. Oster-

wieck, Zickfeldt. 4. Aufl. 1911.

. Ethik und Volkswirtschaft. Soziale Zeitfragen von A. Damaschke.

Heft 13. Berlin, »Bodenreform«, G. m. b. H.

. Bodenreform und Schularbeit. Ebenda. Heft 51. . Herbarts Regierung, Unterricht und Zucht. Wien, Pichler. 3. Aufl. . Zur Aufgabe und Stellung der Pädagogik an den Universitäten.

Langensalza, Beyer & Mann. Päd. Mag. Heft 364.

. Goethe als Erzieher. Ebenda. Heft 495. . Bildende Kunst und Schule. Eine Studie zur Innenseite der Schulreform.

Langensalza, Beyer & Mann. Kirche, Staat und Schule. Berlin, Pan-Verlag, 1915. Mod. Zeitfragen Heft 2.

. Der Bund für Reform des Religionsunterrichts. Dresden, O. Scham-

bach, 1912 (Heft 33 »Zur Pädagogik der Gegenwart«). Bedeutung der Kriegerheimstätten für die Erziehung. Soziale Zeitfragen von A. Damaschke. Heft 61. Berlin, Verlag Bodenreform, 1915.

. Du but de l’öducation. Bibliotheque de philosophie contemporaine. 1913.

Paris, librairie Felix Alcan.

. Stimmen zur Reform des Religionsunterrichts. Langensalza, Beyer

& Mann. Päd. Mag. Hefte 237, 269, 335, 374, 401, 419.?)

. Die Herbartische Pädagogik im Lichte der Gegenwart. Langensalza,

Beyer & Mann, 1915.

. Zur Lehrerbildung in Deutschland. Beiträge zur Lehrerbildung und

Lehrerfortbildung. Heft 2. Gotha, Thienemann.

1) Vorschläge anerkannter deutscher Pädagogen zur Schulerziehung und An-

sichten ausländischer Pädagogen über vaterl. Erziehung zum Vergleiche gesammelt von Rein.

?) Rein führt hier unter anderen von deutschen Hochschullehrern, Geistlichen

und praktischen Schulmännern an: Baumgarten, Graue, Holtzmann, Lietz, Natorp, Paulsen, Reukauf, Rißmann, von Rhoden, Thrändorf, Traub, Witzmann.

Meyer: Wilhelm Rein und die Pädagogik der Gegenwart. 367

25. Die nationale Einheitsschule. Osterwieck, Zickfeld.

26. Krieg und Erziehung. Langensalza, Beyer & Mann, 1916.

27. Zur Neugestaltung unseres Bildungswesens. Jena, Diederichs, 1917. (Tat-Flugschriften Nr. 19.)

28. Die Schule, ein Mittel des inneren Friedens. Leipzig, S. Hirzel, 1916. (Sonderdruck.)

29. Die Volkserziehung nach dem Kriege. Betrachtungen. Wien, Urania- Bücherei, 1917. Band 10.

30. Krieg und Erziehung. Rede. Langensalza, Beyer & Mann, 1916.

Die Jahrbücher »Aus dem Pädagogischen Universitäts- Seminar zu Jena« bringen in den bis jetzt erschienenen 15 Heften,!) die Rein mit Ausnahme des 7. und 14. Heftes herausgegeben hat, außer dem von ihm geschriebenen Vorwort zum 2., 3., 4. und 9. Hefte, eine Anzahl seiner Ansprachen im Druck:

1. Heft: Ansprache, gehalten zum Seminargeburtstag 10. Dezember 1887 (aus Anlaß der Übernahme des Seminars durch Rein ein Überblick über pädag. Maßnahmen und Einrichtungen in Thüringen, besonders über die Entwicklung des Päd.U.-S.).

5. Heft: Ansprache, gehalten zur Seminarfeier 1892. (Als Standpunkt des Seminars: Individualistische und sozialistische Betrachtungsweise durchdringen einander.)

6. Heft: Ansprache, gehalten am 22. Dezember 1894. (Ein Bild von der Ent-

wicklung des Päd. U.-S.)

9. Heft: An der Wende des Jahrhunderts. Betrachtungen zur Seminarfeier 1899/1900.

13. Heft: Zur Aufgabe und Stellung der Pädagogik an unseren Universitäten mit Beziehung auf die Gutachten der Universitäten Erlangen, München, Würzburg.

Die »Pädagogischen Studien« (gegr. 1880, jährlich erst 4 und ab 1898 6 Hefte, Dresden, Bleyl & Kaemmerer, O. Schambach) hat Rein von Eisenach und dann von Jena aus von 1880 bis 1893 heraus- gegeben, später zeichneten als Herausgeber von 1894 bis 1898 Schulrat Prof. Dr. Klähr, Kgl. Seminardirektor in Pirna a. d. Elbe, und von da ab Schulrat Dr. Schilling, Kgl. Bezirksschulinspektor in Meißen a. d. Elbe.

Sie brachten an größeren Abhandlungen von Rein die folgenden:

1881: Über die Organisation der Lehrerbildung in Deutschland. Vortrag, geh. auf dem Seminarlehrertag zu Berlin, Herbst 1881.

1883: Einige Bemerkungen zu dem Referat des Herrn Dr. Frick: Inwieweit sind die Herbart-Ziller-Stoyschen didaktischen Grundsätze für den Unterricht an den höheren Schulen zu verwerten? Gegen Herbart.

1884: Herr Dittes und die Herbartische Schule.

1885: Bemerkungen zu der Schrift des Herrn E. von Sallwürk: Handel und Wandel in der pädagogischen Schule Herbarts.

1888: Gesinnungsunterricht und Kulturgeschichte.

1889: Ein neues Seminarbuch (Weimarisches Sem.-Buch).

1891: Rembrandt als Erzieher.

1) Ebenfalls in Langensalza, Beyer & Mann.

368 A. Abhandlungen.

Seit 1908 (40. Jahrgang) ist W. Rein auch Herausgeber der »Jahrbücher des Vereins für wissenschaftliche Pädagogik« (seit 1888 Verlag von Bleyl & Kaemmerer, Inh. O. Schambach, Dres- den), die Ziller 1869 begründet hatte und die nach diesem Professor Dr. Th. Vogt von 1883 an herausgab. Die Zusammenstellung des Inhalts der Jahrbücher, von denen jedes etwa ein Dutzend päda- gogischer Abhandlungen auf ungefähr 300 Druckseiten bringt, steht in enger Verbindung mit der Tätigkeit des jeweiligen Vorsitzenden des »Vereins für wissenschaftliche Pädagogik« (gegr. 1869). Dem Vor- stand gehören mit Rein zwei seiner treuen Mitarbeiter an, Dr. G. Weiß und A. Böhm.!) Die Jahrbücher des Vereins, eine Sammlung wert- voller Abhandlungen und Referate, enthalten vom derzeitigen Vereins- vorsitzenden Rein folgende Arbeiten:

1871 (3. Jahrb.): Prüfung der pädagogischen Zeichenlehre von Fr. Otto. (Erfurt, J. C. Müller, 1837. Neuausgabe von R. 1884).?)

1872 (4. Jahrb.): Über das Verhältnis der Regierung zur Zucht.

1874 (6. Jahrb.): Das stigmographische Zeichnen (Fortbildung des Netzzeichnens, indem die Linien zwischen den Punkten weggelassen werden, so daß nur das quadratische Punktnetz bleibt).

1885 (17. Jahrb.): Zur Synthese im historischen Unterricht. Einige Differenz- punkte zwischen Dörpfeld und der Zillerschen Schule.

1892 (24. Jahrb.): Zur Schulgesetzgebung. (Deutsche Rundschau von Rodenburg 1892, Windthorstsche Schulanträge und Gesetzentwurf.)

1894 (26. Jahrb,): Die künstlerische Erziehung der deutschen Jugend. (Ein Referat über Dr. Konrad Langes gleichnamiges Buch. Darmstadt, Bergsträsser, 1893).

1902 (34. Jahrb.): Zur Reform der Lehrerbildung, Leitsätze betr. die Organisation der Lehrerbildungsanstalten.

1912 (44. Jahrb., ab 40. Jahrb. Rein zugleich Herausgeber): Der Bund für Reform des Religionsunterrichts. ?)*)

1913 (45. Jahrb.): Bodenreform und Schulerziehung (Vortrag, gehalten auf der Jahresversammlung der Deutschen Bodenreformer in Posen).

1914 (46. Jahrb.): Die nationale Einheitsschule, Leitsätze.

Vom 1. Okt. 1917 bildet das »Jahrbuch des V. f. w. P.« (50. Jahrg.) den Kern zu der durch Rein von da ab herauszugebenden »Viertel- jahrsschrift für philosophische Pädagogik« (1. Jahrg. 1917/18). Mit

1) Mitgliederzahl 1915: 619.

2) Vergl. hierzu I, 2.

®) Den engeren Vorstand bilden außer Rein als 1. Vorsitzenden Professor Dr. H. Weinel-Jena, Direktor Heinr. Spanuth-Hameln, Herausgeber des Vereins- organs »Monatsblätter f. d. ev. Rel.-U.«, Göttingen, Vandenhoek & Rupprecht, Lehrer Krohn- und P. Steffen-Hamburg, dem erweiterten gehören u. a. an: Univ.-Professoren D. Niebergall-Heidelberg, D. Baumgarten -Kiel, Professor Dr. Thrändorf- Auerbach, D. Traub-Dortmund, Schulrat Dr. Reukauf-Coburg.

4) Bei der Gründung des Bundes 1911 in Jena hielt Rein einen Vortrag über die »Forderungen der Psychologie und der Pädagogik an den Religionsunterricht«.

Meyer: Wilhelm Rein und die Pädagogik der Gegenwart. 369

dem Wechsel in der äußeren Form geht Hand in Hand der des Ver- lages. Die im Dienste der Fortbildung der wissenschaftlichen Pädagogik stehende Vierteljahrsschrift erscheint im Verlage von A. W. Zickfeldt in Osterwieck a. Harz. t) Neben den Jahrbüchern gehen die sogenannten »Verhandlungen« des Vereins her.

Als Begründer des »Vereins der Freunde Herbartischer Pädagogik in Thüringen« (1892), der beinahe 1700 Mitglieder besitzt und all- jährlich eine Versammlung abhält, bearbeitet Rein auch die »Mit- teilungen« dieses der Verbreitung Herbartischer Gedanken dienenden Vereins (Langensalza, Beyer & Mann, 48 Hefte).

Von 1893 ab gab W. Rein mit dem bekannten Herbartforscher Pastor Dr. phil. h. c. Otto Flügel die »Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik« heraus (Langensalza, Beyer & Mann, jährl. 12 Hefte), von 1906 an teilte sich mit den beiden ein anderer bekannter Herbartianer Prof. Dr. Karl Just-Altenburg in die Bearbeitung. Im Oktober 1914 stellte die Zeitschrift, die in den 30 Jahren viele Beiträge Reins ge- bracht hatte, wegen des Krieges ihr Erscheinen ein.

Wenn meine Darstellung des Anteils, den Rein an der päda- gogischen Literatur hat, von vornherein keinen Anspruch auf Voll- ständigkeit erhebt, sondern nur ein bibliographischer Versuch sein will, so gilt das erst recht in bezug auf Reins mehr zufällige Mit- arbeit an verschiedenen noch nicht genannten pädagogischen Zeit- schriften und anderen Teilen unserer Presse. Es soll nur gezeigt werden, daß einmal die verschiedensten Fragen aus den weitverzweigten Gebieten von Erziehung und Unterricht, von Kunst und Politik durch ihn erörtert worden sind, zum andern, daß er sich gern und. freudig in den Dienst der Presse stellt, wenn es gilt, belehrend oder auf- klärend zu wirken. Auf der einen Seite konnten sich seiner Mitarbeit rühmen: die Deutschen Blätter für erziehenden Unterricht, Monats- blätter für den ev. Rel-Unterricht, die Freie Bayrische Schulzeitung, die Leipziger Lehrerzeitung, das Ev. Schulblatt, die Blätter für höheres Schulwesen, die Thüringer Lehrerzeitung, der Österreichische Schul- kalender u. a., auf der anderen Seite wurden mit Interesse gelesen seine Artikel in den Grenzboten, in der Deutschen Rundschau, in den Süddeutschen Monatsheften, im Tag, in der Woche, in der Weimarer Zeitung, in den Münchener Neuesten Nachrichten, in der Straßburger Post, in den Mitteilungen des Ev.-soz. Kongresses und der Bodenreform wie auch anderorts. Eine Auswahl aus der Fülle der veröffentlichten

1) Vergl. Vorwort z. Jahrb. d. V. f. wissensch. Päd., 49. Jahrg. Dem 50. Jahrb. wird ein Register d. Inhalts der 49 Bände beigegeben. Zeitschrift für Kinderforschung. 22. Jahrgang. 24

370 A. Abhandlungen.

Aufsätze hat Rein vor Jahren getroffen und sie unter dem Titel »Kunst, Politik, Pädagogik« in 4 Bändchen veröffentlicht (Langensalza, Beyer & Mann, 1914, 1. Bd.: Kunst, 2. Bd.: Politik, 3. u. 4. Bd.: Pädagogik), sie bietet dem Kunstverständigen, dem politisch Inter- essierten wie dem pädagogisch Gebildeten einen belehrenden Lesestoff.

Rein gehört auch dem geschäftsführenden Ausschuß des Bundes für Schulreform mit Kerschensteiner, Sickinger, Stern und Elsenhans an.

Ein ausgesprochenes soziales Gewissen läßt ihn zum treuen Mit- arbeiter Ad. Damaschkes an den Bestrebungen der Bodenreform werden und ihn mit Überzeugung und Bestimmtheit für Errichtung von Kriegerheimstätten eintreten: »Der Bund der Pädagogik und der Bodenreform ist aus innerer Notwendigkeit geboren« und »Heim- stättenpolitik ist zugleich Volkserziehungspolitik«.!)

IV. Wilh. Reins System der Pädagogik.

Rein erkennt die Pflicht des besonnenen Pädagogen darin, die prinzipiellen Grundlagen Herbarts als des Nachfolgers von J. H. Pesta- lozzi und J. Kant aufrecht zu erhalten, bis etwas Besseres an ihre Stelle gesetzt wird. Aus der Anerkennung der Tragfähigkeit dieses Unterbaues für Erziehung und Unterricht in der Gegenwart und aus der Beweglichkeit heraus, aus der Zeit geborene Forderungen in sich aufzunehmen und mit sich zu verweben, wurde Reins systematische Pädagogik?) »eine Art von Kodifizierung der modernen Bedürfnissen angepaßten Herbartischen Pädagogik«.®)

Rein ist ein maßgeblicher Vertreter der systematischen Pädagogik in Deutschland. »Die systematische Pädagogik will den geordneten Inbegriff aller der wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln geben, die für eine rechte Organisation und Leitung der Erziehung in allen Teilen unseres Volkes nötig sind.«*) Die Erwerbung einer

1) Vergl. Ad. Damaschke, W. Rein als Bodenreformer. Bodenreform 1917, Nr. 15. Berlin SW. 48.

1?) Wilhelm Rein, Pädagogik in systematischer Darstellung. 3 Bde. 2. Aufl. Langensalza, Beyer & Mann, 1911. Nicht eine Inhaltsangabe des ganzen Werkes (gegen 1000 Druckseiten) kann hier folgen, sondern nur ein Einblick in die Fülle der päd. Gedanken und Anregungen, wobei ich absichtlich die Einleitung und Grund- legung breiter berücksichtigte.

®) Eine Fülle wertvoller Gedanken Herbarts, Zillers, Stoys und Dörpfelds, sogar geradezu grundlegende Ideen dieser bedeutenden Pädagogen, sind erst durch Rein Allgemeingut geworden.

t+) R. hat besondere Neigung und ausgesprochenes Talent, zu ordnen, zu ge- stalten, zu organisieren, zu systematisieren.

Meyer: Wilhelm Rein und die Pädagogik der Gegenwart. 371

durch Spekulation und Erfahrung gleichmäßig durchgebildeten Theorie stellt er der Geschichte der voraufgegangenen Versuche voran.

Seine einleitenden Gedanken.

Die Zukunft eines Volkes hängt ab von seiner Arbeitskraft, nicht von der Masse und dem Reichtum seines materiellen Besitzes. Dieses National-Kapital zu stärken und zu mehren, weil von ihm Bestehen und Weiterentwicklung des Volkes abhängen, ist Aufgabe aller, denen Wohl und Fortschritt am Herzen liegen. Weil sich diese Arbeitskraft auf die Geistesschätze und auf die materiellen Güter richtet, bieten sich der Staatskunst zwei Beraterinnen an: die Pädagogik und die Nationalökonomie.

Die Führung im Volke haben die Erwachsenen. Die Art wie sie ihr Führeramt auffassen und ausüben ist wesentlich bedingt durch die geistige Verfassung, die ihnen die Jugenderziehung in Schule und Haus vermittelte. Somit ist die Volkszukunft davon abhängig, wie in der heranwachsenden Jugend die Arbeitskraft am zweckmäßigsten organisiert wird. Dazu sind Einrichtungen nötig, die der Jugend die Teilnahme am ideellen Erbgange, an der Weitergabe der überkommenen Kulturschätze aus Wissenschaft und Kunst, Religion und Sittlichkeit durch die Erwachsenen an die Unmündigen ermöglichen, ihnen die Überlieferung von Fertigkeiten, Kenntnissen und Gesinnungen sichern, durch die eine zweckmäßige Verwendung des materiellen Erbgutes bedingt ist.

Daß ein System der Erziehung im Zusammenhang mit dem Leben geschaffen werden muß, ergibt sich mit Notwendigkeit aus dem unbewußten Einfluß verschiedener Faktoren auf die Entwicklung des heranwachsenden Geschlechts, aus der Einwirkung der sogenannten verborgenen Miterzieher, wie sie die Natur, der Umgang mit den Kameraden,!) die herrschenden Zeitströmungen darstellen, und aus dem schon mehr bewußten Einfluß der Familie, wie endlich aus dem durchaus bewußten der Kirche und des Staates. Über dem Wider- streit dieser Faktoren im Volksleben muß das Erziehungssystem einen festen Standpunkt einnehmen, den zu finden gegenüber der Familie und besonders dem Staat und der Kirche schwierig ist. »Diesen Standpunkt hat das System der Pädagogik zu bestimmen, indem es klare Begriffe aus dem Wirrwarr bloßer Meinungen und Ansichten herausarbeitet.«

1) Vergl. hierzu: Dr. Johs. Prüfer, Kleinkinderpädagogik. Leipzig, O. Nem-

nich, 1913. S. 184. 24*

312 A. Abhandlungen.

Die Erziehungswissenschaft hat drei Stufen der Entwicklung ins Auge zu fassen: den Standpunkt der Naturvölker, den unsere Vor- fahren einnahmen, bevor sie mit der römischen Kultur und mit dem Christentum in Berührung kamen, die Übergangszeit, zu der wir noch Comenius, Ratke, Francke, Basedow und Jean Paul (Richter) rechnen, die Stufe der Systematisierung schließlich von da ab, wo man die Er- ziehung aus der Idee des Menschen abzuleiten und die Überlegungen über sie in ein wissenschaftliches System zu bringen sucht. Diese dritte Entwicklungsstufe, auf der die Pädagogik eine selbständige Wissenschaft wird, begründete Joh. Fr. Herbart (1776—1841), der in Joh. Heinr. Pestalozzi (1746—1827) seinen unmittelbaren Vorläufer hatte. Herbarts Stellung an so wichtigem Wendepunkte erklärt es, daß alle tief schürfende pädagogische Untersuchung sich an ihm orientiert, in ihm einen Beziehungspunkt sieht und zu ihm Stellung nehmen muß. Bei ihm finden wir zum ersten Male ein ethisch und psychologisch begründetes wissenschaftliches Erziehungssystem von überzeugender Kraft auf allgemein-menschlicher Grundlage, frei von politischen und kirchlichen Sonderinteressen.!) Für Herbart ist die Pädagogik der Teil der Philosophie, »in dem sich die allgemeine praktische Philosophie mit Psychologie und Erfahrung zur Kunstlehre der Jugendbildung verbindet und zwar so, daß die allgemeine prak- tische Philosophie als Fundamentallehre, die Psychologie als Hilfs- wissenschaft auftritt. Koordiniert sind ihr die Politik als Staatskunst- lehre und die Religionslehre«. ¿

Zahlreiche Philosophen und Praktiker nehmen Herbarts Gedanken auf und. bauen sie weiter aus. Als Verfasser umfangreicher päda- gogischer Arbeiten, als seine Schüler sind zu nennen: Theodor Waitz- Marburg (1821—1864), Ludw. Strümpell- Leipzig (t 1899) und K. V. Stoy-Jena (1815—1885) Von nachhaltigem Einfluß auf die Fort- bildung der wissenschaftlichen Pädagogik wurden dann u. a. Tuiskon Ziller- Leipzig (1817—1882), Fr. W. Dörpfeld-Barmen (1824—1893) und Wilh. Rein-Jena (geb. 1847), dessen Gedankengängen wir hier nachgehen. Außerhalb der Herbartischen Schule stellten sich in den Dienst der philosophischen Pädagogik Im. Kant, Joh. Gottl. Fichte, Friedr. D. E. Scheiermacher, G. Wilh. Friedr. Hegel und Fr. Ed.

1) Wir verkennen nicht, daß sich auch die Pädagogik Pestalozzis in ein System mit einem Grundprinzip bringen läßt, wie es auch tatsächlich durch Paul Natorp in Marburg geschehen ist. Von Pestalozzi selbst ist aber der Versuch hierzu nicht gemacht worden, weil Systematisieren seiner Art zu denken widersprach. Vergl. hierzu: Prof. Dr. Paul Natorp, Pestalozzi, sein Leben und seine Ideen. Leipzig, B. G. Teubner, 1909.

Meyer: Wilhelm Rein und die Pädagogik der Gegenwart. 373

Beneke. Als genialer Weiterbildner Pestalozzischer Ideen ist Friedr. Froebel!) (1782—1852) noch jetzt vun großem und weitreichendem Einfluß. Auf dem Boden der protestantischen Kirche erwuchs 1853 Chr. Palmers, o. Prof. d. Theol. in Tübingen, »Evangelische Pädagogik, « während von katholischen Pädagogen vor allem Otto Willmann-Prag als ursprünglicher Schüler von Herbart und Ziller, vertraut auch mit den Dörpfeldschen Ideen sich später dem Thomas von Aquino zugewandt, Bedeutung erlangte.

Der Teil der Pädagogik, der sich mit der Organisation des Schul- und Bildungswesens befaßt, wurde auch notwendig von seiten der Rechtslehrer in Bearbeitung genommen, vor allem hat sich der geist- volle Rechtslehrer Lorenz von Stein mit dem Problem befaßt, wie sich das Verhältnis von Staat und Bildungswesen zu gestalten habe.?2) Auch in der stillen Werkstatt dichterischer Arbeit pflegten bedeutende Männer unseres Volkes pädagogische Betrachtungen, so Lessing, Goethe, 8) Schiller, Herder.

Alles in allem erfuhr und erfährt die Pädagogik reichen Anbau, daß es kaum erklärlich erscheint, immer wieder die Frage aufzuwerfen, ob sie überhaupt eine Wissenschaft sei. Eine nähere Untersuchung ihrer Abweisung als Wissenschaft seitens der Universitäten und Staats- behörden führt auf wesentlich drei unberechtigte Vorurteile. Man spricht ihr den Charakter einer Wissenschaft ab und weist ihr den Platz einer Kunstlehre zu, man leugnet ihr eignes Forschungsgebiet und sieht in ihr nur eine Anwendung von Ethik und Psychologie, man verweigert ihr schließlich um ihrer praktischen Tendenz willen inkonsequenterweise den selbständigen Platz an der Universität, den z. B. Theologie und Medizin unbestritten innehaben, obgleich auch hier neben der Theorie die praktische Verwendbarkeit gelehrt wird. 4)

1) Nur wenig pädagogische Systeme sind so folgerichtig aus einer philosophi- schen Grundanschauung abgeleitet wie das Fröbels. Die wissenschaftliche Gesamt- ausgabe seiner Schriften, Manuskripte und Briefe bearbeiten Dr. Johs. Prüfer-Leipzig, Prof. Dr. Wächter-Keilhau, Prof. Dr. Lehmann-Posen. Fröbel nennt sich »einen Zweig der großen Pestalozzischen Eiche«.

2) Vergl. hierzu: Trüper, Schule und Gesellschaft. Jahrb. des Vereins für wissensch. Päd. Jahrg. 1890 und Vorlesungen Prof. Dr. Sprangers und Schriften von Joh. Tews, so dessen »Grundzüge der deutschen Schulgesetzgebung«. Leipzig, Voigtländer, 1913.

2) Vergl. W. Rein, Goethe als Pädagog. Ders., Goethes Wilh. Meister, Deutsche Blätter f. erz. Unterr. 1916/17, Nr. 13. Langensalza, Beyer & Mann.

4) Den wissenschaftl. Charakter und das Heimatrecht der Pädagogik an den Universitäten vertrat am 8. VI. 1916 Minister d. geistl. und Unterrichtsangelegen- heiten D. von Trott zu Solz kraftvoll im preuß. Herrenhause.

374 A. Abhandlungen.

An dem für die Erziehung nachteiligen Gegensatze zwischen pädagogischer Theorie und Praxis tragen die Theoretiker Schuld, wenn sie in die Schönheit und Folgerichtigkeit ihrer Theorie verloren, die Möglichkeit ihrer Durchführbarkeit außer acht lassen und die Prak- tiker, die in ihrem Hochmut die Theorie glatthin verwerfen gegenüber dem von ihnen übertriebenen Gewicht ihrer Erfahrungen, wobei sie übersehen, daß wirklich entscheidende und beweisende Erfahrungen nur hervorgehen aus einem theoretisch durchgebildeten Gedanken- kreise.!)

In der Pädagogik wiegt bald die Individual- bald die Sozial- betrachtung vor. Bedeutende Vertreter der Erziehungswissenschaft bahnen einen notwendigen Ausgleich und eine wünschenswerte Ver- einigung beider Standpunkte an. So suchte bereits Joh. Heinr. Pesta- lozzi als Pfadfinder einer naturgemäßen individuellen Erziehung und als Bahnbrecher einer gesunden sozialen Bildung den wechselseitigen Beziehungen nachzugehen, wie es auch die heutige Pädagogik tut.?)3)

Der systematischen Pädagogik dient bei der Bestimmung des Er- ziehungszieles die Ethik, bei der Erforschung der Mittel und Wege der Erziehungsarbeit die Psychologie als Grundwissenschaft. Von der Medizin (Physiologie und Hygiene) entlehnt die Pädagogik die Be- gründung aller Maßregeln und Gesetze, die sich auf die Grundlagen des geistigen Lebens, auf den Körper des Zöglings, auf sein Wachs- tum und Gedeihen, beziehen. Wie man die Pädagogik vom Stand- punkte der praktischen Philosophie aus bearbeiten kann, so auch von dem der Theologie und Religionsphilosophie aus. Die Logik, die uns die Bedingungen zeigt, denen das Denken entsprechen muß, um richtig zu sein, und die Ästhetik, die die Merkmale des Kunstwerkes auf- weist, sind ebenfalls bei den Erwägungen über Mittel und Wege der Erziehung heranzuziehen. 4)

1) Das Größte und Bewundernswerteste an Rein ist die Harmonie wissen- schaftlicher Theorie und pädagogischer Praxis in ihm, wie sie sich offenbart in seiner akademischen Tätigkeit (Vorlesungen Seminar) und in seinen Veröffent- lichungen (z. B. Pädagogik in syst. Darstellung die 8 Schuljahre).

?) Einen durchaus vermittelnden Standpunkt nimmt z. B. Prof. Dr. Gerh. Budde-Hannover ein in seinen Vorlesungen (Jena, Ferienkurs 1912) und in seiner »Sozialpädagogik und Individualpädagogik in typischen Vertretern«. Langensalza, Beyer & Mann, 1913.

®) Dörpfeld, Grundgebrechen der hergebrachten Schulverfassung. Gütersloh 1899. Trüper, Staat und Gesellschaft a. a. O. Ders., Fr. W. Dörpfelds Soziale Erziehung.

*) Vergl. Ernst Meumanns Definition: »Die Pädagogik ist die Wissenschaft von den Erziehungstatsachen. Mag sie noch soviel von den Resultaten der allg. Psychologie, Pathologie, Logik, Ethik, Ästhetik für ihre Zwecke gebrauchen, sie rückt

Meyer: Wilhelm Rein und die Pädagogik der Gegenwart. 375

Darin, daß innere Politik und Pädagogik sich in einem Kreise drehen, dessen Radien von dem einen Mittelpunkt der Moralität aus- gehen und einerlei praktische Philosophie beiden das Ziel und einerlei Psychologie beiden Mittel und Hindernisse zeigen, ist ihr enges Ver- hältnis zueinander gekennzeichnet.

Trotz des angedeuteten Zusammenhangs der Pädagogik mit ver- schiedenen anderen Wissenschaften ist ihr selbständiges Dasein be- rechtigt und eine Aufteilung ihres Gebietes nicht angängig.

Die Pädagogik faßt wie jede Wissenschaft eine doppelte Aufgabe in sich, eine historische und eine systematische. Die Erwerbung einer durch Spekulation und Erfahrung gleichmäßig durchgebildeten Theorie steht der Geschichte der voraufgegangenen Versuche voran. Ohne den Wert der vergangenen Erziehungszustände und großer Er- zieher zu verkennen, gezeichnet auf Grund wohlgesichteten Quellen- materials, geht die Frage, wie die Dinge zu gestalten sind, der voran, wie sie geworden sind.!) »Die Gegenwart bedarf vor allem fester Richtlinien für das erziehende Handeln.« Zwei Dingen gilt die Auf- merksamkeit in der Pädagogik zunächst: einem Überblick über das Ganze und einem Einblick in das Einzelne und seine Zusammenhänge.

Auf den angedeuteten Gedankengängen ist das viel und fein ge- gliederte System aufgebaut, das schematisch hier dargestellt werden soll.

(Siehe Seite 376.)

Die Stellung Reins als Systematiker gründet sich auf folgende Sätze:

1. Die systematische Pädagogik gibt den geordneten Inbegriff aller wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln, die für die rechte Organisation und Leitung der Erziehung in allen Teilen unseres Volkes und für jeden einzelnen nötig sind.

2. Sie orientiert über das gesamte Feld der Erziehung und des Unterrichts.

3. Sie schafft eine gemeinsame begriffliche Unterlage für alle päda- gogische Zusammenarbeit.

doch alle diese Resultate unter einen neuen nur von ihr angewandten Gesichts- punkt: den der Erziehung, und infolgedessen verändern sich auch alle scheinbar psychologischen, ethischen und anderen Probleme, wenn sie zu Erziehungsfragen werden.«

1) Auch im Seminarlehrplan verwirft Rein die Aufeinanderfolge: erst Ge- schichte und dann Systematik der Pädagogik. Anders z. B. Friedrich Paulsen; der in seinen Vorlesungen folgende Ordnung vertrat: Geschichte des Erziehungs- wesens und der Erziehungstheorien, die Bildung des Willens, die Unterrichtslehre, Fragen der Schulorganisation und der Schulpolitik.

376

A. Abhandlungen.

Systematische Pädagogik.!)

A. Grundlegung Aee ee ee To

1. Teleologie 2. Methodologie

Ethik Psychologie Lehre vom Ziel Lehre von der der Erziehung Verwirklichung

des Erziehungszieles

Lehre vom Bildungs- wesen

a Sn

1. Von den Formen der

Erziehung En nn nenn E nn m nn gen mn a) Einzel- b) Massen- erziehung erziehung Private Erziehung aa) Private An- bb) öffentliche Hauserziehung staltserziehung Schulerziehung

m Tome

1. Alumnate 1. Erziehungs- 2. Heilpädag. schulen Anstalten 2. Fachschulen

c) Private und öffentliche Fortbildung

1) Neben der systematischen Pädagogik steht die historische.

2. Von der Schul- verwaltung

au

1. Schulver- fassung

2. Schulaus- stattung

3. Schulleitung

4. Lehrerbildung

5. Lehrerfort- bildung

B. Ausführung

ee rer e e e

I. Praktische Pädagogik

Il. Theoretische Pädagogik Lehre von der Bildungs-

arbeit

Mn = 2222 1.2 ee ae ze

1. Didaktik Lehre vom Unterricht

nn a nn nn nn nn 1. Allgemeine 2. Spezielle Didaktik Didaktik Í e e

1. Theorie d. Lehr- Ziel, Auswahl und

plans Verbindung. 2. Theorie d. Lehr- Durcharbeitung in verfahrens den einzelnen

Unterrichtsfächern

2. Hodegetik Lehre von der Führung

a T— a) Lehre von der

Diätetik (Hy- giene)

b) Lehre von der Regierung d. Kinder

c) Lebre von der Zucht

Vergl. W. Rein, Pädagogik in systematischer Darstellung. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1911. I. Band. 8. 81.

Meyer: Wilhelm Rein und die Pädagogik der Gegenwart. 377

4. Sie gewinnt den kritischen Maßstab für die Beurteilung der reichen pädagogischen Literatur.

5. Das System spiegelt den gegenwärtigen Standpunkt der Päda- gogik wieder (»Verständnis des Gewordenen im Lichte des Zu-

künftigen«). 1. Reins Grundlegung.

Die Gewinnung des Erziehungszieles und die Verwirklichung des- selben bilden den Inhalt für grundlegende Betrachtungen der Päda- gogik.

Notwendigerweise hat das Bildungsideal im Laufe der Zeit Wand- lungen durchgemacht, weil sich in ihm die jeweilig vorherrschenden Strömungen in der Kulturbewegung und die mit ihnen zusammen- fallenden Ansprüche der zur betreffenden Zeit führenden Gesellschafts- klassen spiegeln: Das klerikale Bildungsideal, bis in das 17. Jahr- hundert herrschend als kirchlich -lateinisches, das staatliche oder höfische in französischer Aufmachung bis zum 19. Jahrhundert in Geltung, endlich das bürgerliche im vergangenen Jahrhundert. Gegenüber der Geschlossenheit der vorgenannten Ideale beobachten wir hier ein Auseinandergehen in drei Hauptgruppen: die humanistisch- hellenistische Gestaltung (1. Hälfte des Jahrhunderts), die naturwissen- schaftlich-realistische (2. Hälfte), das ästhetische (Beginn des Jahrh. und Neubelebung im 20. Jahrh.) und das moralische Bildungsideal (Kant, Herbart prakt. Philosophie).

Das Erziehungsziel bleibt unveränderlich, hält in allem Wechsel das unvergängliche des Menschenlebens fest, alles das, was den Einzelnen an die Ewigkeit bindet, wie auch die Bildungsideale wechseln mögen in ihrem Inhalte, sofern sie Gegenwartswerte in sich aufnehmen- Fest umrissen muß vor jedem Erzieher das Idealbild der charakter- vollen Persönlichkeit des sittlichen Charakters auf religiöser Grund- lage stehen!) (Herbart: Charakterstärke der Sittlichkeit).

1) Kaum noch an anderer Stelle werden wir einen so klaren Einblick in Reins tiefe Religiösität und seine sittliche Strenge gewinnen wie in seinen von heiligem Ernste und von starkem Verantwortungsgefühl getragenen Erörterungen über das absolute Erziehungsziel. Rein bildete Herbarts Ethik mit Beziehung auf das Leben der Gegenwart fort und suchte dessen fünf ethische Ideen, aus dem sittlichen Be- wußtsein des Einzelnen abgeleitet, historisch aus dem Gemeinschaftsleben heraus- zufassen, den Inhalt des Sittlichen auf 4 Individual- und Sozialideen zusammen- zudrängen und deren Wechselwirkung nachzuweisen. Vergl. Rein, Grundriß der Ethik mit Beziehung auf das Leben der Gegenwart. Osterwieck, A. W. Zickfeldt. 4. Aufl. Es ist geradezu ein Kennzeichen Reins und seiner Anhänger, daß er und sie dem Gesinnungsunterrichte, vornehmlich dem Religionsunterrichte (Mittel- und

378 A. Abhandlungen.

- Die Überzeugung von der Erreichbarkeit des Erziehungszieles weist uns an, auf die Macht und die Grenzen der Erziehung zu achten, dem Problem näher zu treten: Was ist in der Bildung des Menschen der Natur zuzuschreiben und was der Kunst, wieviel der Vererbung und was dem Erwerbe, wieviel ist Notwendigkeit und was ist Freiheit, wieviel selbständige Entwicklung und was kommt auf Rechnung äußerer Beeinflussung? Indem man es von Plato bis zur Gegenwart ausgesprochen hat, daß das Schicksal eines Volkes im tiefsten und letzten Grunde von der Jugenderziehung abhängig ist, hat man die Macht der Erziehung gepriesen, wenn auch nicht immer gleich laut und stark. Aber neben hochfliegenden Erwartungen sind auch nie die Zweifel ganz verstummt, genährt noch durch Tatsachenbeobachtung im täglichen Leben.

Die Erziehung findet ihre Grenzen in der Natur des Zöglings. Die Bildsamkeit und damit der erzieherische Einfluß sind am stärksten beim Durchschnittszögling, hier liegt deshalb für die Erziehung die erfolgversprechendste Aufgabe vor, während sie sich nicht vermessen kann, einmal das Genie zu meistern, zum andern den Stumpfsinnigen in geistige Regsamkeit zu versetzen, ohne aber wiederum jeglicher Einwirkung in diesen entgegengesetzten Fällen bar zu sein. Bine vieltausendjährige Erfahrung führt uns die Bildsamkeit der mensch- lichen Natur vor Augen. Wie weit sie reicht gegenüber den durch die Natur und die Umgebung festgelegten Zügen des Heranwachsenden ist in den verschiedensten Schattierungen beantwortet worden zwischen der Annahme der unbegrenzten Bildsamkeit einerseits und der Über- zeugung von der Machtlosigkeit der Erziehung andererseits.

Mit der Frage der Beanlagung stehen wir mitten in der Psycho- logie. Der Erzieher muß seinen festen Standpunkt suchen unter den psychologischen Ansichten der Philosophen und Naturforscher, von den Vertretern des naiven Materialismus an über die des theologi- schen und philosophischen Dualismus bis zu denen, die seit Spinoza die Hypothesen des materialistischen und dualistischen Monismus auf- stellen; er muß alles prüfen für seine pädagogische Orientierung.

Erst wer versuchte für die ethische und psychologische Begrün- dung der Pädagogik festen Boden zu gewinnen, kann den Fragen der praktischen Pädagogik und der Methodologie näher treten.

(Schluß folgt.)

Oberstufe), besondere Aufmerksamkeit und Sorgfalt zuwenden, eingedenk seines hervorragenden Anteils an der Verwirklichung des Erziehungszieles. Vergl. hierzu Reins Literatur und die s. Anhänger besonders über Religions- und Geschichts- unterricht (Abschnitt II, 2 u. II).

Saupe: Die Einheitsschule. 379

3. Die Einheitsschule. Von E. Saupe in Halle.

Die Jahre des Weltkrieges, des deutschen Krieges, haben, wie die große Zeit der Befreiungskriege, im geistigen Leben unseres Volkes eine tiefe Bewegung hervorgerufen. Wie vor nun mehr als 100 Jahren das Problem des deutschen Volkstums und des deutschen Staates in den Mittelpunkt der Betrachtung der edelsten Geister der Nation. gestellt und der Krieg zu einem Erwecker des höchsten geistigen und sittlichen Lebens wurde, so hat auch der Weltkrieg das geistige „Schaffen unserer besten deutschen Männer beeinflußt. Die deutsche. Wissenschaft, die Philosophie, die Rechtswissenschaft, die Theologie und auch die Pädagogik erörtern, welche Stellung das Deutschtum in der Zukunft einnehmen werde. Die Schule, die hinein- geflochten ist in das große nationale Leben, nimmt in dieser Er- örterung einen nicht geringen Raum ein. Das pädagogische Denken ist, wie Gaudig!) richtig sagt, kein un- und überzeitliches, noch viel weniger ein ewig-gestriges Denken, es muß zeitgemäß sein. Und kein Geringerer, als Prof. Dr. Wilhelm Rein, dem dieses Heft ge- widmet ist, hat auf die rechte Einstellung des pädagogischen Denkens hingewiesen, wenn er die Pädagogik als Kulturphilosophie bezeichnete. ?) Versucht man, die Hauptgedanken der pädagogischen Literatur zu- sammenzufassen, so kann man das mit den Worten Fischers?) tun: »Unser Schulwesen muß dazu verhelfen, den Geist ‘der inneren Einheit und Einmütigkeit des Volkes, wie er im Kriege aufflammte, zu erhalten, zu vertiefen und muß demgemäß selbst in seinem Aufbau den Stempel der Einheit tragen; für die Ausgestaltung der Lehrpläne und Lehrziele soll die gesteigerte Benutzung der im Deutschtum und deutscher Kultur steckenden Bildungswerte wichtig werden, dazu eine erhöhte Rücksicht auf Gesundheit und Körperkraft, auf die Steigerung der beruflichen Leistung des Volkes und den staatsbürgerlichen Willen des Einzelnen.«

In diesem Ziele der künftigen Erziehungsarbeit stecken alle wichtigen pädagogischen Forderungen der Gegenwart. Z. B. alle die

1) Gaudig, Die Schule im Dienste der werdenden Persönlichkeit. Leipzig, Quelle & Meyer. Vorwort S. VIII.

2) Rein, Zur Stellung und Aufgabe der Pädagogik. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

®) Fischer, Aufgabe und Entwicklung des deutschen Schulwesens nach dem Kriege. Leipzig, Jul. Klinkhardt.

380 A. Abhandlungen.

Aufgaben, die jetzt Baumgarten in seinem neuesten Buche »Er- ziehungsaufgaben des Neuen Deutschland«!) unter folgenden Über- schriften behandelt: Erziehung zu einem wehrkräftigen Volk, zu einem intellektuell starken Volk, zu einem Volk mit starker Elementar- bildung, zu einem einmütigen Volk, zum Staats- und Weltvolk usw.

Aus diesem Ziele wird vor allem die Forderung einer deutschen Einheitsschule abgeleitet. In dieser nationalen Einheitsschule sollen dann alle anderen oben angedeuteten Teilziele verwirklicht werden.

Gewiß wird der Krieg unser pädagogisches Leben beeinflussen, und das Schlagwort: Freie Bahn allen Tüchtigen! das unser früherer Reichskanzler am 28. Sept. 1916 als künftige Losung bezeichnet, hat der Förderung der Einheitsschule neue Kraft und neuen Schwung gegeben. Wir halten es aber nicht für richtig, pädagogische Fragen, also auch die Frage der Einheitsschule, lediglich und ausschließlich vom Standpunkte des Kriegs aus zu betrachten. Pädagogische Fragen erfordern eine grundsätzliche Stellungnahme und Lösung vom Stand- punkte der Pädagogik und ihrer Hilfswissenschaften. Also eine rein »bellozentrische« Pädagogik, die ausschließlich vom Kriege aus, nur auf den Krieg hin gerichtet ist, ist abzulehnen.

Als der große Krieg ausbrach und die Einigkeit und Einmütig- keit des deutschen Volkes so wunderbar zum Ausdruck kam, be- grüßten auch bisherige Gegner des Einheitsschulgedankens die Ge- staltung des Bildungswesens, die keine Rücksicht auf Sonderwünsche nimmt, sondern für alle das gleiche Recht auf Bildung festlegt. Ein bekannter freikonservativer Schriftsteller, Dr. A. Grabowski, schrieb ?): »Es soll der deutschen Lehrerversammlung in Kiel gedankt werden, daß sie in so würdiger Weise die Frage der besseren Auslese gepackt hat. In den Mittelpunkt einer künftigen Politik hat die Erziehungs- politik zu treten. Das ist das große Geschenk, das wir den vom Kriege Heimkehrenden machen müssen. Oder richtiger: kein Ge- schenk wird das sein, keine Gnadenerweisung, sondern nur die Erfüllung eines Rechts, das sie im Felde erkämpft haben. Ihr Sieg nach außen soll ein Sieg nach innen sein.« Je länger aber der Krieg dauert, je mehr sich im Innern alte Gegensätze zeigen, desto mehr treten auch die Gegner der Einheitsschule auf den Plan. Wer diesen Streit verfolgt hat, dem wird es aufgefallen sein, daß der Kampf oft unsachlich geführt wird. Man wirft dem Gegner unsittliche, un- wahrhaftige und unwissenschaftliche Kampfesweise vor. Es sind

!) Verlag von Mohr in Tübingen. ?) Vergl. Lang, Die Einheitsschule. Leipzig und Prag, Haase.

Saupe: Die Einheitsschule. 381

solche Kämpfe nur Vorspiele der Kämpfe, die sich entspinnen werden, wenn man erst nach dem Kriege in den Landtagen und anderen öffentlichen Körperschaften an die praktische Arbeit gehen wird. Wenn man im Burgfrieden, in der Zeit des großen Verstehens, dem Gegner nicht die Achtung und Sachlichkeit entgegenbringt, die er zu beanspruchen hat, so wird man erst recht später Herbarts Wort: »Heftiges Streiten ziemt sich nicht auf dem Felde der Pädagogik« vergessen.

Wie kommt es, daß dieser Streit nicht zu einem rechten Er- gebnis und zu einer sachlichen Polemik, die der Bedeutung der Frage und der Würde unseres Standes entspricht, führt?

Die Frage der Einheitsschule gehört dem Grenzgebiete zwischen Pädagogik und Politik an; über ihre Einführung haben letzten Endes nicht die Schulmänner, sondern die Politiker und Parteien und die Gemeinden zu entscheiden. Politische Fragen, insbesondere schul- politische Zeitfragen, sind fast immer Gegenstand heftigen Streites gewesen. Es sei nur erinnert an die Frage der Schulaufsicht und an den Schulgesetzentwurf von Zedlitz.

Wenn auch die Frage der Einheitsschule für die einzelnen Gruppen der Lehrerschaft keine reine Standesfrage ist, so spielen doch zweifellos Standesinteressen, ja persönliche Vorrechte, hinein. Solche Fragen werden aber selten ohne Leidenschaft behandelt. Unser Schulwesen hat sich gut bewährt; es erscheint manchem bedenklich, Änderungen einschneidender Art zu befürworten.

Mit der Frage der Einheitsschule hängen noch andere schul- politische und pädagogische Fragen zusammen, z. B. die Lehrer- bildungsfrage, die Berechtigungsfrage, die Unentgeltlichkeit des Unter- richts, die Frage der Staatsschule, die Konfessionalität des Unterrichts, der Charakter der Bildungsstoffe u. a. Die Frage ist also kompliziert, umfangreich und schwierig. Sie kann nicht durch Schlagworte wie: Sackgassenschule, Bildungssperre, Treibhausschule, Mischmaschschule gelöst werden.

Der Begriff der Einheitsschule ist endlich nicht eindeutig, Er wird auf verschiedene Schultypen angewandt. Manche Schriften reden von der Einheitsschule schlechthin, ohne auf das Wesen und den Begriff einer bestimmten Schulform einzugehen. So sind in letzter Zeit Schriften für und wider die Einheitsschule erschienen, die das Wesen der von ihnen bekämpften oder befürworteten Einbeits- schule nicht darstellen und deshalb nicht hinreichend würdigen können. Eine Schrift behauptet, daß sie von der anderen Einheitsschule ab- rücken wolle, sie stellt aber diese Einheitsschule nicht dar; eine

382 A. Abhandlungen.

andere Schrift konstruiert eine Einheitsschule und bekämpft sie mit einem Aufwande von Gelehrsamkeit, obgleich diese Einheitsschule von ernsten Pädagogen nicht vertreten wird; eine dritte faßt den Begriff der Einheitsschule nur im Sinne der Grundschule, des all- gemeinen Unterbaues für alle anderen Schulen; wieder andere fassen die soziale oder die konfessionelle Seite der Frage in erster Linie ins Auge.

Wir wollen zwar nicht von einer babylonischen Sprachen- verwirrung auf dem Gebiete sprechen, aber es ist klar, daß jede Abhandlung dem Lehrer Klarheit über das Wesen der von ihm ge- forderten oder bekämpften Einheitsschule geben muß. Sonst gilt das Wort, das der Abgeordnete Dr. Kaufmann im Preußischen Ab- geordnetenhause am 14. März 1916 sagte: »Unter der Einheitsschule kann sich jeder etwas anderes denken.« »Es ist ein nebelhafter Be- griff«, sagte ein anderer Abgeordneter.

Trotz der Fülle von Arbeiten und Schriften fehlt noch eine Schrift, die alle Teilprobleme in streng wissenschaftlicher Weise untersucht und zu lösen versucht. Der Deutsche Lehrerverein will eine solche herausgeben. Sie soll u. a. die Teilfrage: Herkunft und Begabung, Auslese der Tüchtigen, die Differenzierung in der Einheits- schule, die Einheitsschule und die Mittelschule, die Lehrerbildungs- frage u. a. behandeln. Sie ist noch nicht erschienen. Nur eine wissenschaftliche und sachliche Erörterung, verbunden mit tiefem sozialem Verständnis, kann diese Frage fördern.

Es wurde schon oben erwähnt, daß der Begriff der Einheits- schule in der pädagogischen Terminologie nicht eindeutig ist oder richtiger gesagt, eine geschichtliche Wandlung durchgemacht hat. Welches sind nun die verschiedenen Ausprägungen des Wortes Ein- heitsschule? (Bemerkenswert ist, daß das Enzyklopädische Handbuch von Rein den Begriff von Einheitsschule noch nicht behandelt.)

Unter Einheitsschule versteht man zunächst eine einheitliche höhere Schule, wie sie der »Deutsche Einheitsschulverein« anstrebte. Die höhere Einheitsschule wurde bei der Gründung des genannten Vereins (1886) wie folgt begründet: »Die historisch gewordenen großen Bildungsschichten unseres Volkes sollen besondere für sie geeignete allgemeine Bildungsschulen behalten, aber die Gleichartigkeit, welche die Geschichte innerhalb dieser Bildungskreise geschaffen hat, soll nicht durch parallele Schulen aufgehoben oder doch in Frage gestellt werden. Eine solche Scheidung der Bildungswege, besonders in den leitenden Ständen, ist eine nationale Gefahr. Denn die gleiche Jugendbildung ist eines der festesten Bande der Kulturgemeinschaft;

Saupe: Die Einheitsschule. 333

die Gegenwart aber hat schon soviel Zersplitterung und Spaltung gerade in die gebildeten Stände hineingetragen, daß doch wenigstens die Schule die Unterschiede nicht vertiefen sollte. Von der Bildung und Gesinnung der führenden Kreise hängt die Gesamthaltung des Volkes ab, und die Zerklüftung, welche sich bei ihnen bildet, wirkt auf alle Stände zurück.« Der Einheitsschulverein erstrebte nach seinen Satzungen »für die innere Berechtigung einer Gymnasium und Realgymmasium verschmelzenden höheren Einheitsschule mit Bei- behaltung des Griechischen für alle Schüler einzutreten und auf die Herbeiführung einer solchen Schule hinzuwirken«. Er verwarf aber ausdrücklich eine Einheitsschule, die die Volksschule mit der höheren so verschmilzt, daß jene den Unterbau für diese bildet; doch hatte der Einheitsschulverein bei seiner Gründung den Wegfall der Vor- schulen und die allgemeine Vorschule als Unterbau für die höheren Schulen verlangt.

Für die höhere Einheitsschule traten u. a. ein Rein, Frick, Schiller, Uhlig. (Vergl. Block, Einheitsschule S. 4. Leipzig, Quelle & Meyer.)

Diese Einheitsschulbewegung hat allerdings, nachdem 1900 die Gleichwertigkeit der drei höheren Knabenschulen anerkannt wurde, abgenommen. Aber auch heute noch hat sie Anhänger. In erster Linie gehört zu ihnen der bekannte Professor Dr. Budde, Privat- dozent für Pädagogik an der Technischen Hochschule in Hannover, der!) ein Einheitsgymnasium mit Latein und Englisch als Pflichtfächer und Französisch und Griechisch als Wahlfächer verlangt und daneben vor allem eine Nationalisierung und Ethisierung der höheren Schule im Sinne der Euckenschen Philosophie und damit die Schaffung einer höheren Einheitsschule anstrebt. Aber selbst auf dem Gebiete des höheren Schulwesens ist der Begriff der Einheitsschule nicht eindeutig. Einige Pädagogen begnügen sich damit, daß die unteren Klassen der höheren Schule (Sexta bis Quarta) gemeinsam sind und dann die differenten höheren Schulen von diesem gemeinsamen Unter- bau sich abzweigen sollen; andere wieder erstreben die Umwandlung der heute nebeneinanderstehenden von Anfang an nebeneinander herlaufenden selbständigen Typen in nacheinander einsetzende un- selbständige Etappen einer einzigen umfassenden höheren Schule. Der Stand der Frage ist gegenwärtig der, daß die höhere Einheits- schule im Sinne der Beschränkung auf eine einzige höhere Schule

1) Budde, Krieg und höhere Schule. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

384 A. Abhandlungen.

von der Mehrheit der Pädagogen abgelehnt wird und zwar mit Rück- sicht auf die Verschiedenheit der Natur der Schüler, ihre Anlagen und Neigungen und in Hinsicht auf die Differenzierung der mensch- lichen Kultur. Im Rahmen des Aufsatzes sollen diese Bestrebungen nicht weiter erörtert werden. (Es seien an dieser Stelle folgende Schriften genannt, die über die Fragen genauer unterrichten: Fischer, Der Einheitsgedanke in der Schulorganisation. Jena, Eugen Diederichs. Budde, Noologische Pädagogik, Budde, Die Pädagogik der preußischen höheren Knabenschulen. Beide in Langensalza bei Hermann Beyer & Söhne [Beyer & Mann].)

Eine zweite Deutung des Namens Einheitsschule beschränkt sich auf einen Teil der Volksschule, auf ihre Unterklassen. Der Deutsche Lehrerverein wünschte diese allgemeine Volksschule in Königsberg 1904. Nach einem Vortrage von Gutmann-München forderte die Deutsche Lehrerversammlung mit Rücksicht auf die nationale Zu- sammengehörigkeit, das gleiche Recht und die gleichen Pflichten aller Glieder des Volkes, die allgemeine Volksschule, die pädagogisch recht gestaltet, die zweckmäßigste Vorbereitung für die Oberstufe der Volksschule und alle anderen weiterführenden .Bildungsanstalten sei. Sie forderte weiter, daß den Vorschulen die staatliche Unter- stützung entzogen, die Vorschulen überhaupt aufgehoben werden. Die Forderung, jedes Kind muß mindestens bis zum 10. Lebensjahre die allgemeine Volksschule besuchen, ist in die schulgesetzlichen Bestimmungen der deutschen Bundesstaaten aufzunehmen. Der Elementarunterricht sei unentgeltlich. Das Wesen der Einheitsschule nach den Königsberger Beschlüssen besteht also in der Beseitigung der Vorschulen und in dem Besuch der allgemeinen unentgeltlichen Volksschule (1.—4. Schuljahr). Die Königsberger Deutsche Lehrer- versammlung wies die Erweiterung des Begriffes Einheitsschule ab, indem sie einen weitergehenden Antrag Köhnke-Hamburg ablehnte. Er lautete: »Das gesamte öffentliche Schulwesen ist als allgemeine Volksschule so zu gestalten, daß jedem Kinde unabhängig von den Vermögensverhältnissen seiner Eltern die Möglichkeit gewährt werde, sich diejenige Bildung anzueignen, die seinen Fähigkeiten und Neigungen entspricht. «

Erst durch die Deutsche Lehrerversammlung in Kiel 1914 bekam der Begriff der Einheitsschule durch den Deutschen Lehrerverein eine neue Ausprägung. Die Entschließung lautete:

»Die Deutsche Lehrerversammlung fordert die organisch ge- gliederte nationale Einheitsschule, die einen einheitlichen Lehrerstand zur notwendigen Voraussetzung hat, und in der jede Trennung nach

Saupe: Die Einheitsschule. 385

sozialen und konfessionellen Rücksichten beseitigt ist.« Das ist keine eigentliche Begriffserklärung, sondern nur eine allgemeine grund- legende Festlegung, wie der Vorsitzende des Deutschen Lehrervereins bemerkte. Sie enthält aber wichtige Merkmale des gegenwärtigen Begriffes der Einheitsschule.

Bevor wir das Wesen der Einheitsschule nach dem Kieler Be- schlusse und nach der jetzigen vorherrschenden Ansicht darstellen, sei auf zweierlei hingewiesen. Die Kieler Entschließung ist ver- schieden ausgelegt worden. Tews, der Wortführer des Deutschen Lehrervereins in dieser Frage, erläutert den Beschluß, jede kon- fessionelle Rücksicht solle beseitigt werden, indem er ihn auf den äußeren Aufbau bezieht, aber erklärt, der Deutsche Lehrerverein halte am konfessionellen Religionsunterrichte fest. Die Leipziger Lehrer- zeitung, die Zeitschrift des Sächsischen Lehrervereins, behauptete nach der Kieler Tagung, daß damit der Deutsche Lehrerverein einen allgemeinen interkonfessionellen Religionsunterricht gefordert habe. Es läßt sich natürlich nicht feststellen, in welchem Sinne die Ver- treter der Verbände ihre Stimmen abgegeben haben. Die Meinungs- verschiedenheit bleibt bestehen. Ferner ist darauf hingewiesen worden, daß die Kieler Entschließung selbst ein Hindernis zur Einführung der Einheitsschule schaffe, da sie einen einheitlichen Lehrerstand als Voraussetzung der Einheitsschule verlange. Da könne man lange warten. Die Einheitsschule sei auch bei der heutigen verschiedenen Lehrerbildung möglich.

Welches ist nun das Wesen der Einheitsschule in der gegen- wärtigen Bedeutung?

Den Begriff der Einheitsschule in ihrer neuen Auffassung dar- zustellen, ist nicht leicht, da die einzelnen Vertreter in ihren An- sichten auseinandergehen oder nur einige Seiten der Einheitsschule besonders betonen. Im wesentlichen sind folgende Gesichtspunkte und Forderungen ins Auge zu fassen: 1. Die Einheitlichkeit im Auf- bau der Lehrpläne aller Schulen, von der Volksschule (eigentlich vom Kindergarten) bis zur Universität; im Zusammenhange damit stehen: der gemeinsame Unterbau (es wird ein drei-, oder vier-, oder fünf-, oder sechs- oder achtjähriger Unterbau verlangt), das Verhältnis der Volksschule zur Mittelschule, der Mittelschule zur höheren Schule und zum mittleren Fachschulwesen, der höheren Schule zu den Hoch- schulen. 2. Die Ausschaltung der Rücksichtnahme auf die gesell- schaftlichen Unterschiede und die wirtschaftliche Lage der Eltern. 3. Die Ausschaltung der Rücksichtnahme auf das religiöse Bekenntnis -

Zeitschrift für Kinderforschung. 22. Jahrgang. 25

386 A. Abhandlungen.

der Eltern. 4. Einheitlichkeit des Lehrplanes der verschiedenen Volks- schulen. 5. Einheitlichkeit des Lehrerstandes. 6. Einheitlichkeit der Verwaltung der Schulen im Deutschen Reiche. 7. Betonung der inneren Einheitlichkeit und des nationalen Gepräges der Volkserziehung. Diese Gesichtspunkte deuten zugleich die Mängel an, die unser deutsches Schulwesen nach der Ansicht der Anhänger der Einheits- schule haben soll. Die deutschen Schulen sind in ihrer Gesamtheit ein Aggregat, kein System. Rein sagt in der Schrift: Zur Neu- gestaltung unseres Bildungswesens (Jena, Eugen Diederichs) S. 3: »Wenn wir auch mit einem gewissen Stolz auf die Entwicklung unseres Schulwesens blicken können, dessen reiche Ausgestaltung von vielen bewundert worden ist, so fällt doch ein tiefer Schatten auf diesen Reichtum. Es fehlt unserm vielgestaltigen Schulwesen an äußerem und innerem Zusammenhang. Sie leben gesondert neben- einander, ja schließen sich kastenmäßig voneinander ab, so daß der Übergang von einer Anstalt zur andern äußerst erschwert ist. Diese Exklusivität tritt ja auch in den persönlichen Verhältnissen der Lehrer- schaft hervor. Wie die einzelnen Schulgattungen für sich stehen, so leben auch Volksschullehrer, Gymnasiallehrer, Lyzeallehrer und Lehrerinnen, Realschullehrer, Seminarlehrer u. a. nebeneinander, jede Gruppe für sich, weil ihnen das Bewußtsein von der Einheit des Lehrstandes abgeht und jeder auf die Absonderung stolz ist.e Bei der Aufnahme der Schüler in die einzelnen Schulen entscheidet nicht die Begabung, sondern die wirtschaftliche Lage der Eltern. Jede Differenzierung der öffentlichen Schule nach ökonomischen oder sozialen Rücksichten ist nach Kerschensteiner!) eine Verletzung des Rechts- und Kulturstaates. Die Entscheidung über die Aufnahme in die höhere Schule fällt oft zu früh, mit dem Beginn der Schul- pflicht (6.—7. Lebensjahr). Die Vorschulen müssen deshalb ihren Unterricht von vornherein auf den der höheren Lehranstalten ein- stellen. Sie werden zu »Treibhausschulen«. Infolgedessen haben die höheren Schulen viele unbegabte Schüler, die sich nur Berechtigungen ersitzen. Sie sind ein Ballast für die Schulen und verteuern sie un- nötig. Die konfessionelle Gliederung und die Rücksicht auf den Stand der Eltern in der Schulorganisation ist ein Widerspruch gegen den Gedanken einer richtig verstandenen nationalen Erziehung und ein Hindernis für die Entwicklung sämtlicher im Volk liegenden Kräfte und ihre Dienstbarmachung für die Gesamtheit. Standesschulen werden zu Bildungssperren. Die starke Betonung fremder Sprachen und

!) Kerschensteiner, Deutsche Schulerziehung. Leipzig, B. G. Teubner.

Saupe: Die Einheitsschule. 387 Kulturen verhindert die größere Auswertung des deutschen Bildungs- gutes in der Schule. Die deutsche Schule soll Deutsche bilden.

Endlich wird als Fehler des deutschen Schulwesens der Mangel einer Schulgesetzgebung oder wenigstens das Fehlen eines Reichs- schulamtes, das für das gesamte Schulwesen Einheitlichkeit im Auf- bau und im Geiste herbeiführen könne, bezeichnet.

Demgegenüber verlangen nun die Freunde der Einheitsschule eine Neuorganisation des Schulwesens. Zu den wichtigsten Vertretern der Einheitsschule gehören Professor Dr. Rein-Jena, Oberstudienrat Stadtschulrat Dr. Kerschensteiner-München, Schriftsteller und Ge- schäftsführer der Gesellschaft für Volksbildung Joh. Tews-Berlin, Professor Natorp-Marburg; Gegner sind: Professor Dr. Ferdinand Jacob Schmidt-Berlin, Oberschulrat Professor Block-Darmstadt.

Wir wollen uns in der Darstellung des Begriffes und des Wesens hauptsächlich an Rein halten, der schon vor dem Beschlusse des Deutschen Lehrervereins die Grundzüge der Einheitsschule dargelegt und sie neuerdings in mehreren Schriften und Vorträgen dargestellt und für die Idee geworben hat. Wir folgen dabei der schon ge- nannten Schrift (bei Diederichs erschienen) und dem Büchlein: Krieg und Erziehung (Langensalza, Hermann Beyer & Söhne [Beyer & Mann)). Der Krieg hat Rein in seiner Forderurg der Einheitsschule bestärkt.

Nach seiner Meinung hat der große Krieg der Idee der vater- ländischen Einheitsschule eine willkommene starke Unterstützung ge- bracht. Und zwar nach zwei Richtungen. Das Bewußtsein aller Stände, aller Berufszweige schwoll unter Zurückdrängung der Gegen- sätze zu einem mächtigen Strome an. Das Einheitsgefühl überwand alle trennenden Schranken in aufwallender Begeisterung für den Be- stand unseres Volkes, das in der Flut unserer Feinde aber nicht untergehen will. Es ist zu einem fruchtbaren Boden für ein einheit- liches, vaterländisches Bildungswesen geworden. Dieses soll ein sicht- bares Zeichen des starken Gefühls der Gemeinsamkeit aller Volks- genossen sein. Ein Volk, eine Schule soll die Losung sein.

Aber noch eine andere Erwägung veranlaßt unsern Pädagogen zu seiner Forderung.

Der Krieg hat schwere Lücken gerissen. Ein gut Teil hoffnungs- froher tüchtiger Jugend ist uns genommen worden. Deshalb schauen viele mit Besorgnis in die Zukunft. Werden diese Lücken wieder ausgefüllt werden können? Wie soll namentlich der Ersatz für die klaffenden Lücken in den führenden Kreisen gewonnen werden, bei denen eine Zufuhr von frischen Kräften besonders not tut, weil sie in dem Gefühl der Verantwortung sich eher abnutzen. Nun hat der

25*

388 A. Abhandlungen.

frühere Reichskanzler von Bethmann-Hollweg erklärt: »Freie Bahn für alle Tüchtigen das ist die Losung!«e Das Wort lenkt den Blick unmittelbar auf die Jugend, die durch Unterricht und Erziehung zur Tüchtigkeit erzogen werden soll. Das Wort ist von Schulpolitikern und Pädagogen aufgegriffen worden; sie beide wollen es in die Tat umsetzen helfen. Die Zufuhr kann nur von unten her aus den breiten Massen erfolgen, und zwar durch eine sorgfältige Auslese. Gewiß haben sich schon bis jetzt begabte Männer aus den unteren Ständen durchgesetzt und sind Führer geworden (Kant, Gauß, Abbe, Dietrich Schäfer). Man darf aber nicht annehmen, daß nun alles in bester Ordnung sei. Das wäre verfehlt. Es handelt sich nicht darum, ob der Aufstieg der Begabten möglich ist, sondern ob die Wege für den Begabten so geordnet sind, daß sie ohne allzugroße Schwierig- keiten überwunden werden können. Das ist aber jetzt noch nicht der Fall, und zwar, weil, wie schon erwähnt, infolge der Zusammen- hanglosigkeit der deutschen Schulen der Übergang von der einen zur andern Schule erschwert und der Aufstieg der Begabten zu den ent- sprechenden Berufen mit mancherlei Hemmungen zu kämpfen hat. Diese Hindernisse sind zu beseitigen, wenn aus dem Nebeneinander ein Nacheinander unserer Schulen wird, wie es in Amerika der Fall ist. Wir haben ja früher schon Ansätze dazu gehabt bei Comenius und im Süvernschen Schulgesetzentwurf, der Humboldts Ideen durch- führen wollte. Und in Süddeutschland und in Westfalen haben wir keine Vorschulen. Das Frankfurter Schulsystem in seinen Reform- schulen bringt noch einen gemeinsamen Unterbau für die höheren Schulen. Schließen wir uns an diese Einrichtungen an, so ist kein gewaltsamer Umsturz notwendig.

Das Prinzip der Begabung rückt in den Mittelpunkt der Be- trachtung der künftigen Schulorganisation. Die vaterländische Arbeit wird am besten gefördert, wenn in allen Zweigen der kulturellen Betätigung unten und oben Männer eingestellt werden können, deren Begabung sich in ihrer Beschäftigung voll auswirken kann. Das Leben des Einzelnen erhält dadurch eine tiefe, innere Bedeutung. Der rechte Mann am rechten Platz! Das ist eine Forderung von nationaler und sozialer Bedeutung. Wenn wir nun alle produktiven Kräfte, die mit jeder neuen Generation unserm Volke zuwachsen, organisieren und die besten und tüchtigsten Kräfte für die weit- verzweigten Aufgaben einer höchstgesteigerten und differenzierten Kulturarbeit gewinnen wollen, so kommen wir zu einer Neuorganisation des Schulwesens, dessen Oberbau ein sorgfältig durchgebildetes Fach- schulwesen ist, dessen Unterbau von den Erziehungsschulen gebildet

= u

Saupe: Die Einheitsschule. 389

wird, die auf verschiedene Fachschulgruppen vorzubereiten haben. Rein hat seine Ansichten über die Einheitsschule in 4 Leitsätze zusammengefaßt. Sie lauten: =

1. Die nationale Einheitsschule bedeutet ein umfassendes System des vaterländischen Bildungswesens, das zu einem einheitlichen Orga- nismus ausgebaut werden soll, in dem die einzelnen Teile ineinander greifen und in lebendiger Beziehung zueinander stehen.

2. Es soll dies im Interesse des nationalen Kulturfortschritts ge- schehen, und zwar durch sorgfältige Berücksichtigung der Begabung der Jugendlichen unter Zurückstellung der Rücksichtnahme auf den Stand und den Besitz der Eltern.

3. Zu diesem Zweck werde zunächst eine allgemeine Grundschule eingerichtet, in der die Gelegenheit zur Prüfung der individuellen Begabungen in ausreichendem Maße gegeben ist.

4. Nach diesem gemeinsamen Unterbau erfolge die Teilung in drei Hauptgruppen, welche den sich anschließenden Berufsschulen vorzuarbeiten haben. In dem vielfach gegliederten Fachschulwesen ist der krönende Abschluß des deutschen Bildungswesens zu erblicken, das, aus einem gemeinsamen Stamm entsprossen, durch drei ver- schiedenartige Erziehungsschulgruppen hindurchführend in so viele Verästelungen ausläuft, als es die Teilung der deutschen Kulturarbeit fordert. Rein, Zur Neugestaltung s. o. S. 10.

Ein Gesamt-Überblick in Tabellenform zeigt den ganzen Einheits- schulplan Professor Reins. (Ebenda S. 20.)

(Siehe Seite 390.)

Tews, der den Standpunkt des Geschäftsführenden Ausschusses des Deutschen Lehrervereins vertritt und eine Rührigkeit und Werbearbeit wie kein anderer Freund der Einheitsschule, hat in seiner Denkschrift: Die Deutsche Einheitsschule (Leipzig, Jul. Klink- hardt) seine Anschaungen niedergelegt. Er berührt sich mehrfach mit Rein.

Seine Erklärung der Einheitsschule ist zunächst eine Worterklä- rung. >Wir verstehen unter der Einheitsschule das gesamte Gebiet des öffentlichen Unterrichts vom Kindergarten bis zur Hochschule mit allen seinen Gliederungen und Verzweigungen auf den verschiedensten Stufen des Unterrichtswesens, in eine lebensvolle Verbindung aller Teile zu einem Ganzen gebracht.«< Er gibt vier Kennzeichen der Einheitsschule an. Sie soll a) organisch gegliedert, b) ohne soziale Trennungen, c) ohne konfessionelle Trennungen aufgebaut sein, und sie soll d) einen einheitlichen Lehrerstand aufweisen. In seinem Organi- sationsplan ist Tews nicht so eingehend wie Rein. »Die allgemeinen

390

A. Abhandlungen.

Kulturarbeit des Volkes und dementsprechende Schul-

organisation.

A. Untere Be- rufsschicht: | Handarbeiter, Tagelöhner, Fabrikarbeiter, Kleinbauer,

ji | | Niederer Ver-

Soziale Schichtung des Volkes. C. Höhere Berufsschicht:

B. Mittlere Be-

rufsschicht: | Großkaufmannschaft, Großgrund-

Gewerbestand, | besitz, Großindustrie, Höheres Kleinhandel, | Beamtentum, Offiziersstand, Ge- Großbauer, lehrtentum und Lehrerstand

Mittlerer Ver-

waltungsdienst |

| waltungsdienst

Il. Ausführung: Das Bildungswesen im Anschluß an die soziale Schichtung.

A. Er

ziehungsschulwesen.

1. Vor der Schule

2. Gemeinsamer

Volkskindergarten, namentlich für die unbemittelten Kreise

ern Allgemeine Volksschule 1. bis 6. Schuljahr (Grundschule) für alle Kinder 3. Trennung | Oberstufe der Realschule, | Höhere Schulen 7. bis 12. Schuljahr der Kinder Volksschule Lyzeum | 1. 2, in drei 7. u.8. Schuljahr | 7. bis 10. Schul- a) Oberrealschule'a) Gymnasium Schulgruppen | (Knaben- und jahr = (Mädchen- Französisch Griech., Lat., Mittelschule Engl., Latein Franz. \ wahl- (wahlfrei) | Engl. f frei |b) Frauenschule b) Studienanstalt | 1c) Ober-Lyz. B. Fach- oder Berafsschulwesen. 4. Vielfache |1. Niederes Fach- |2. Mittleres Fach- |3. Höheres Fachschulwesen 13. bis Teilang schulwesen schulwesen 16. Schuljahr a) Argema ob- 11. bis 14. Schul- |a) Lehrer- u. Lehrerinnen-Seminar De jahr b) Akademie (Kunstakademie, Forst- Schule in $ èr- Technikum, akademie, Bergakademie usw.) bindung mit! EEE c) Handelshochschule der Oberstufe ne d) Technische Hochschule ER | schule, Bergbau- J schule usw.

b) Untere Fach- schulen, Hand-

5. Gemeinsame 12; Schuljahr

Ausbildung im Heere

(Allgemei

werkerschul., | Ackerbauschu- len usw., 9. bis |

Eintritt in den Heeresdienst ne Wehrpflicht Das weibliche Dienstjahr)

C. Freiwillige Fortbildung (Allgemeine Wahlpflicht) Volkshochschulen, Fortbildungskurse, Ferienkurse, Volksbüchereien, Lesehallen usw.

Saupe: Die Einheitsschule. 391

Bildungsanstalten gliedern sich, abgesehen von den Hoch , Fach- und Fortbildungsschulen, in drei Stufen. 1. Stufe die Grundschule vom 6. bis zum 12. Lebensjahre bezw. vom 1. bis zum 6. Schuljahre, 2. Stufe die Mittelschule vom 13. bis zum 15. Lebensjahre bezw. vom 7. bis zum 9. Schuljahre; 3. Stufe die Oberschule vom 16. bis zum 18. Lebensjahre, bezw. vom 10. bis 12. Schuljahre. Grund- und Mittelschule und ebenso Mittelschule und Oberschule können in demselben Schulkörper und unter derselben Leitung zusammengefaßt werden. Die bisherigen höheren Schulen können daneben bestehen bleiben. Für die Grundschule sind übereinstimmende Unterrichts- ziele festzusetzen. Nach diesem Plane arbeiten alle Grundschulen während der ersten vier Schuljahre in allen Orten und während der ganzen Unterrichtszeit in kleinen Orten, in denen nur eine Grund- schule vorhanden ist. Ebenso ist ein allgemeiner Plan für die Mittel- und Oberschule in der Weise aufzustellen, daß diese Schulen an den allgemeinen Plan der Grundschule sich anschließen.«

Die Einheitsschule glaubt er am kürzesten mit dem Hinweis auf unser Verkehrswesen gekennzeichnet zu haben. Die Einheitsschule will Anschluß und Weiterfahrt auf jeder Schulstrecke. Sie will die Kleinbahnen in die Knotenpunkte der Hauptbahnen einlenken, will ihnen Verbindungen unter sich und Anschluß an die großen, weiter- führenden Linien verschaffen. Es kann jeder sein Ziel erreichen und seine Fahrt beschließen, wann er will.

An die bereits bestehenden Verhältnisse, besonders an die in Bayern, knüpft Kerschensteiner!) an. Während Rein wissen- schaftlicher Pädagog, Tews, da er schon seit Jahren nicht mehr im Schuldienst steht, ebenfalls nur Theoretiker und zwar Schulpolitiker ist, ist Kerschensteiner, der als Schulverwaltungsbeamter an der Spitze eines großstädtischen und großzügigen Schulsystems steht Praktiker, der aber auch über eine tiefe, philosophische, pädagogische‘ und schulpolitische Bildung verfügt. Hier sein Plan.

(Siehe Seite 392.)

Doch kehren wir zu Professor Rein zurück. Er hat in den neueren Schriften nur seine grundsätzliche Stellung über den Aufbau dargelegt, aber einige Fragen ausgeschaltet, um die gegenwärtig der Streit geht, z. B. die Frage der Unentgeltlichkeit, der Form der Aus- lese, der Simultanschule u. a. Er ist wie Dörpfeld ein Gegner der unechten Simultanschule, die die Schüler in allen Fächern vereinigt,

1) Kerschensteiner, Grundfragen der Schulorganisation. Leipzig, Verlag von B. G. Teubner.

392 A. Abhandlungen.

Schulplan von Dr. Kerschensteiner.

Freie Schulen : Gelehrte Hochschule Volkshochschule

18. Realgym- Fort- 12. 17. Gymna- nasium Fach- T bildungs- 11. 16. sium und Real- schule schule 10. 15. schule 9.

Volksschule

Mittelschule

13. für für 7. 12. gelehrte praktische 6. 11. Berufe 5.

1. Schuljahr

aber im Religionsunterrichte auseinanderreißt. Er zieht ibr die echte Simultanschule mit gemeinsamem Religionsunterrichte vor. Doch er- kennt er den hohen Wert der Schule mit konfessionellem Charakter an und verlangt, gemäß seinen Ansichten über den Einfluß der Familie auf die Schulorganisation und Schulverwaltung, daß den Schülern keine Schulform aufgedrängt wird, die die Eltern ablehnen. Er ist für eine deutsche Schule. - Deutsch und deutsche Geschichte bilden mit Religion die Trias des Lehrplanes der deutschen Schule.

So finden sich bei Rein die drei Merkmale des Begriffes der Einheitsschule, die Brethfeld in der Pädagogischen Zeitung 1917, Nr. 21, als Hauptkennzeichen des Begriffes angibt:

1. Rein verlangt die Einheit des äußeren Aufbaues des gesamten Schulwesens.

2. Die innere Einheit des alle Schulen durchdringenden Geistes.

3. Die Einheit des Rechtes und der Pflicht in bezug auf mög- lichst beste Ausbildung jedes Volksgliedes nach Maßgabe seiner Be- gabung und Leistungsfähigkeit.

Reins Begriff der Einheitsschule deckt sich auch genau mit der

Saupe: Die Einheitsschule. 393

Begriffsbestimmung, die Matthias Meyer in dem Buche »Die Einheits- schule. Begriff und Wesen« Leipzig, B. G. Teubner, von dieser Schule gibt: »Die Einheitsschule ist eine Schulform, die auf ihrer Elementarstufe alle Kinder der Nation vereinigt, deren Eltern auf öffentlichen Unter- richt für sie Anspruch machen, und die so organisiert ist, daß jedem ihrer Zöglinge eine Bildung verbürgt wird, die seinen Neigungen entspricht und die seiner Befähigung erreichbar ist. Sie ist gleich- zeitig die Schule, die den Bildungswert unabhängig macht von der pekuniären Leistungsfähigkeit der Schüler.«

Ehe wir zur Beurteilung der Einheitsschule und zur Darstellung der gegen und für diese Schule geltend gemachten Gründe kommen, müssen noch einige Teilfragen des ganzen Problems kurz berührt werden, die Mittelschule und die Einheitsschule, der einheit- liche Lehrerstand, die Einheitsschule als deutsche Schule und die Reichsschulkonferenz.

Die Mittelschule,t) hier im preußischen Sinne gebraucht, fehlt in Reins Einheitsschulplan. Rein setzt an ihre Stelle die Real- schule. Die jetzige preußische Mittelschule nach den Bestimmungen vom 3. Februar 1910 will für das Handwerk, das Kunstgewerbe, den Handel, die Industrie und mancherlei Stellen im mittleren Verwaltungs- dienste vorbereiten. Die preußischen Mittelschulen sind in der Regel neunklassig oder, falls sie sich auf der Unterstufe der Volksschule aufbauen, sechsklassig. Sie sind außerhalb Preußens, z. B. in Sachsen, Bayern und Hamburg unbekannt, auch zahlreiche preußische Städte (z. B. Berlin, doch richtet es jetzt Mädchen-Mittelschulen ein) haben von ihrer Einrichtung abgesehen. Welche Stellung soll nun die Mittel- schule im Einheitsschulplan künftig einnehmen? Der Deutsche Lehrer- verein selbst hat in Kiel keinerlei Beschlüsse zur Mittelschulfrage gefaßt; aber der Zeitungsdienst dieses größten Lehrerverbandes hat sich wiederholt mit ihrer Gestaltung befaßt. Er denkt sich diese Schulgattung künftig anders als sie jetzt in Preußen organisiert ist. Die jetzige Mittelschule ist ein Zwitterding, das die bisherige un- befriedigende Entwicklung dieser Schulart mehr erklärt als das Fehlen wichtiger Berechtigungen. Der künftige regelmäßige Aufbau des Schul- wesens soll sich so gestalten, daß auf einer für alle Kinder gemein- samen sechsstufigen Grundschule, also unter Wegfall der Vorschulen und der Unter- und Mittelklassen der höheren Schulen sich eine drei-

1) Näheres in Männel, Rektor Dr. phil, Von der Schule des Mittelstandes (Mittelschule) in Preußen. Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung. Heft 120. (Langensalza, Hermann Beyer & Söhne [Beyer & Mann].)

394 A. Abhandlungen.

stufige, bis zum vollendeten 15. Lebensjahre reichende Mittelschule aufbaut, die ihre Schüler ins praktische Leben oder in Fachschulen und höhere allgemeine Bildungsanstalten abgibt. Die Mittelschule wird dadurch die gemeinsame Bildungsstufe für alle über das Volks- schulziel hinausgehenden Kinder beiderlei Geschlechts. Sie ist dann nicht mehr eine Volksschule erster und keine höhere Schule zweiter Güte wie heute, keine Nebenschule über der Volksschule, sondern der regelrechte Weg, den alle Höherbegabten zu den verschiedenen Lebensberufen gehen würden, die Schule, in der ein volkstümlicher, dem heutigen Mittelschulunterricht im wesentlichen gleicher Bildungs- gang, die Grundlagen für das bürgerliche Leben und für den weiter- führenden Unterricht geben würde. Wenn die Mittelschule so zum großen Mittelstück des gesamten Unterrichtswesens wird, so ist es auch möglich, ihre Verbreitung über die Groß- und Mittelstädte hinaus zu bewirken. Bei der jetzigen Einrichtung der Mittelschulen, die einen neunstufigen, mit dem Schuleintritt beginnenden Aufbau vor- sieht und damit umfangreiche Anstalten und eine große Kinderzahl verlangt, ist das Bedürfnis der ländlichen und auch kleinstädtischen Bevölkerung und auch der unbemittelten Schichten in den großen und und mittleren Städten außer acht gelassen. Ein Drittel, der Erwerbs- tätigen braucht eine über die Volksschule hinausgehende Bildung. Eine auf der sechsstufigen Grundschule sich aufbauende dreistufige Mittelschule, die sich auch in den kleinsten Landstädten und größeren Landgemeinden, zugleich für die umliegenden Dörfer, einrichten ließe, würde nach der Meinung des schulpolitischen Führers des Deutschen Lehrervereins jedem Kinde ohne Rücksicht auf seinen Wohnort die seiner Begabung entsprechende Bildung bis zum 15. Lebensjahre vermitteln und die für die Kinder in Land und Kleinstadt in der Wohnung und in Erwerbsverhältnissen liegende Sperre beseitigen. Die Mittelschule soll also aufhören, eine Standesschule zu sein und durchaus Begabungsschule werden, die Schule, in der alle dem prak- tischen Leben zusteuernden Höherbegabten den Abschluß ihrer all- gemeinen Bildung und die für wissenschaftliche Berufe Geeigneten die allgemeine Grundlage für den Unterricht in den höheren Lehr- anstalten erhalten. Sie soll also abschließenden und vorbereitenden Unterricht geben. Nach dem Standpunkt der Anhänger der jetzigen preußischen neunklassigen Mittelschule hat die Mittelschule ihren Selbstzweck, Vorbereitung für die in den amtlichen Bestimmungen genannten Berufe; doch soll nicht ausgeschlossen sein, daß begabte Schüler nach Vollendung der neunjährigen Schulpflicht in die Ober- realschule übertreten können. An der Mittelschule wären dann ent-

Saupe: Die Einheitsschule. 395

sprechende Einrichtungen zu treffen. (Wir kommen im zweiten be- urteilenden Teile der Arbeit auf die Stellung der Mittelschule zu- rück.)

Eine weitere wichtige Frage ist die Frage des einheitlichen Lehrerstandes.

Tews fordert diesen einheitlichen Lehrerstand, d. h. er verlangt »eine gemeinsame Grundlage in der Vorbildung auf Mittel- und Ober- schulen und pädagogischen Hochschulen und damit auch bei Lehrern die Möglichkeit der Betätigung nach der Eigenart von Begabung, Neigung und wissenschaftlicher und technischer Befähigung in den verschiedenen Schulgattungen und den Aufstieg aller besonders Be- fähigten in die höheren Lehrstufen, also größte Wirtschaftlichkeit in der Ausnutzung der geistigen und sittlichen Kräfte der Lehrenden für den Lehr- und Erziehungszweck.«e Tews hält die Scheidung in akademisch und seminarisch gebildete Lehrer für einen durch die Entwicklung des Schulwesens innerlich unhaltbar gewordenen Zu- stand. Eine einheitliche erziehungswissenschaftliche Vorbildung aller Lehrer sei längst eine Notwendigkeit geworden. Praktische Belehrung und fachwissenschaftliche Studien müßten sodann für das Aufrücken in die höheren Stufen des Lehramts mehr entscheidend sein als der Gang und die Art der Vorbildung. (Diese Forderung ist etwas unklar.)

Rein tritt ebenfalls für einen einheitlichen Lehrerstand ein. Er lehnt aber die gleiche Vorbildung, insbesondere die Vorbildung der Volksschullehrer auf den Universitäten ab. Es sollen nicht alle Lehrer den gleichen Bildungsgang durchlaufen; aber alle Glieder des Tehrer- standes müssen sich als zusammengehörende Glieder eines großen Lehrkörpers fühlen. Das Band, das alle Lehrer zusammenbindet, ist die wissenschaftliche Pädagogik; auf die pädagogische Ausbildung ist der Schwerpunkt zu legen. Dem Volksschullehrer ist die Universität zur Fortbildung zu öffnen.

Vor der Kieler Versammlung sprach man viel von der »nationalen« Einheitsschule, ohne daß man näher auf das Attribut einging. Es sollte wohl mehr ein Protest sein gegen die konfessionellen Schulen, denen gegenüber man eine Vereinigung aller Schüler in einer Schule verlangte. In der Gegenwart wird fast von allen Schriftstellern bezüg- lich der inneren Ausgestaltung der deutschen Schulen aller Gattungen die größere Pflege der deutschen Sprache, Geschichte und Kultur und die Förderung des Geistes der völkischen Solidarität gewünscht. In diesem Sinne soll .die Schule eine »nationale« und durch Ver- einigung der Kinder ohne Rücksicht auf soziale und konfessionelle Verhältnisse ein Bild der einigen Nation sein.

396 A. Abhandlungen.

Fischer!) will, daß die Schule, soweit sie kann, dazu verhelfen soll, daß aus Nachkommen von Preußen und Bayern, Sachsen und Reichsländern, aus Nachkommen von Katholiken und Protestanten Männer und Frauen werden, die sich als Bürger eines Reiches fühlen und betätigen. Es sollen Staatsbürger gleichen Rechts und gleicher Prägung werden, die sich in ihrer relativen Unentbehrlichkeit ver- stehen und als Diener am gemeinsamen Werk des Vaterlandes fühlen. Das sei der letzte Sinn der Einheitsschule.

Um diese bisher gekennzeichnete äußere und innere Einheit durchzuführen, verlangen die linksstehenden politischen Parteien eine reichsgesetzliche Regelung des Schulwesens und, falls diese nicht sogleich möglich ist, die baldige Einberufung einer Reichsschul- konferenz.

Der Abgeordnete Schulz-Erfurt beantragte eine solche im Reichs- tag am 22. März 1917. Sie wurde abgelehnt, besonders war auch Kerschensteiner dagegen. Kerschensteiner lehnt eine Reichsschul- behörde ab. Er ist für eine beratende, von Zeit zu Zeit zusammen- tretende, aus den besten Köpfen des Landes bestehende, unabhängige Körperschaft. Ihr soll die schwierige Aufgabe zufallen, dem Reichs- tage jene allgemeinen Bestimmungen zur Einfügung in die Deutsche Reichsverfassung zu unterbreiten, die das deutsche Schulwesen inner- lich so weit als möglich vereinheitlichen, ohne die reichste Mannig- faltigkeit in der äußeren Gestaltung dieses Schulwesens zu unter- binden. Auch Professor Rein ist für ein Reichsschulamt mit be- ratender Stimme, das die äußere und innere Einheit des Schulwesens fördern soll.

Das dürften die wesentlichsten Momente sein, die zum Wesen der Einheitsschule im gegenwärtigen Sinne ihrer Vertreter gehören.

(Schluß folgt.)

1) Fischer, Der Einheitsgedanke in der Schulorganisation. Jena, Eugen Diederichs.

1. Rein, Herbartianismus, Konfessionalismus und Liberalismus. 397

B. Mitteilungen.

1. Rein, Herbartianismus, Konfessionalismus und Liberalismus.

Im Oktoberheft 1907 der Rißmannschen »Deutschen Schule« finden wir folgenden Artikel:

»Am 6. und 7. September wurde in München der neubegründete »Verein für christliche Erziehungswissenschaft« aus der Taufe gehoben. Daß es seinen Urhebern nicht um Wissenschaft schlechthin zu tun ist, geht aus dem Namen hervor; daß es sich nicht um »christliche« Wissenschaft schlechthin handelt, lehren die Namen der Taufpaten: eines Willmann, eines Hornich, eines Pötsch, eines Habrich usw. Es handelt sich hier um eine Wissenschaft mit gebundener Marsch- route; die Schranken zieht das katholische Dogma. »Erziehungs- und Unterrichts- lehre« führte Willmann aus, »sind nur auf Grund des Verständnisses der geistigen Güter, wie es der christliche Idealismus gewährt, wissenschaftlich zu gestalten«. Und Hornich: Die Pädagogik muß zur »perennis paedagogica« werden; das bedeutet eine Pädagogik, »die nicht in jedem Kopfe neu ansetzt,« sondern »glaubensförmig und daher in den letzten und höchsten Fragen der Menschheit orientiert iste. Auf- gabe des christlichen Lehrstandes ist es, >in das Bildungschaos, das der Unglaube angerichtet hat, wiederum Harmonie und Ordnung zu bringen durch Geltendmachung der ewigen Wahrheiten«. Hauptzweck des Vereins ist, alle die Erziehung und Unterricht betreffenden Fragen »im christlichen Geiste mit den Mitteln der Wissen- schaft zu erforschen« und »alle Meinungen und Theorien in Erziehungsfragen, die mit dem Christentum nicht übereinstimmen, in ihrer Unhaltbarkeit nachzuweisen. « Befremden hat die Anwesenheit Professor Reins in dieser Versammlung hervor- gerufen, und noch mehr, daß er nicht nur von Willmann apostrophiert und von den Anwesenden mit einem »Beifallssturm« begrüßt wurde, sondern auch, daß er selbst das Wort nahm und den Wunsch nach Anknüpfung immer engerer Be- ziehungen zu dem neuen Verein aussprach. Die Hinneigung der Leiter des letzteren zum Herbartianismus scheint das verbindende Moment zu sein. Und doch, was würde Herbart selbst zu obigem Programm sagen

Gegen diesen von eigenartiger Duldsamkeit zeugenden Vorwurf wollten seiner- zeit mehrere Schüler und Freunde Reins eine gemeinschaftliche Erklärung ver- öffentlichen. Beim Umhersenden blieb sie aber bei einigen seiner Getreuen wohl wegen Bedenken, die mit ihrem eigenen landläufigen Liberalismus zusammenhängen, mehrere Monate liegen, so daß der Abdruck den Zweck verfehlte. Nun kommt sie jetzt zur Reinfeier mir wieder unter die Augen, und da will mir scheinen, als wenn die dort aufgeworfene Frage gegenwärtig wieder ganz besonders aktuell ge- worden ist, und darum mag die damalige Erklärung jetzt zur Reinfeier folgen. Persönliches gegen den Gegner Rein schaltet nunmehr erst recht aus, denn Rißmann, dessen Tüchtigkeit als Begründer und Herausgeber der »Deutschen Schule« wie als Schulmann und Pädagoge ich seit je sehr hoch schätzte, ist leider nicht mehr unter den Lebenden, und der Artikel erschien zudem anonym. Wir wenden uns äuch nur gegen die in dem Artikel offenbarten Anschauungen, hoffend damit etwas beitragen zu können zur Klarstellung von Gegensätzen in einer der bedeutsamsten Schulver- fassungsfragen, die in jüngster Zeit wieder ganz besonders hervortreten.

398 B. Mitteilungen.

Damit aber keine Unklarheit über meine eigene Stellung zu der großen und gegenwärtig so bedeutungsvollen Frage des Katholizismus innerhalb des deutschen Volkes und seiner Schulen bleibe, will ich im vorab als meine eigene persönliche Anschauung noch folgendes sagen:

Ich bin und war als nationalgesinnter Deutscher stets entschiedener Gegner des Römischen im Katholizismus. Die augenblickliche, ohne Frage aufrichtig gut gemeinte Friedensbotschaft des Papstes läßt wiederum schließen, daß dieser Italiener mit seiner welschen Mehrheit des Kardinal-Kollegiums vom deutschen Geiste, zumal in seiner religiösen Ausprägung, wahrscheinlich keine bessere Vorstellung und genauere Kenntnis hat, als die unglaublichen und obendrein brutal formulierten Be- griffe in den Encykliken des letzten Papstes. Sie wird darum von treudeutsch gesinnten Evangelischen nicht ohne tiefgreifendes Mißtrauen auch in politischer Beziehung be- trachtet, so stark auch die Sehnsucht nach Frieden bei ihnen sein mag.) Darum wünschen viele deutsche Mitbürger ein »Los von Rom!«, wenn auch nicht vom Papste als solchem, und sie sind Gegner des »Ultramontanismus«, der vom »Jen- seits der Berge« her unser deutsches Volk politisch wie in den Glaubensanschau- ungen in seinem Geist und Sinn mit dem Anspruch auf Unfehlbarkeit zu leiten strebt, Gegner des politischen und internationalen Katholizismus mit seinem durch die meist welschen oder doch internationalen Jesuiten vertretenen kirchlichen Militarismus. Was dieser internationale Einschlag bedeutet, hat der, wie behauptet wird, in der Schweiz wie in Wien vorberatene und auch wohl durch Rom gesegnete Erzbergerfriede uns zur Genüge deutlich gemacht, wie denn ja auch erfreulicher- weise die zunächst deutschgesinnten Katholiken mitsamt ihren Zeitungsorganen, wie die »Kölnische Volkszeitung«, ihn abgeschüttelt, ja einflußreiche Persönlich- keiten, wie Graf Stolberg-Stolberg sogar deswegen ihren Austritt aus der Zentrums- partei erklärt haben. Ich bin aber nicht Gegner des christlichen Katholizismus, gleichviel, wo und wer in der Welt dessen Spitze ist, sondern bekenne mich mit Luther auch zu der »ganzen Christenheit auf Erden« zu der »allgemeinen (= katho- lischen) christlichen Kirche«, und singe mit Luther: »Wir glauben all’ an einen Gott.ce Wenn in diesem Sinne der Papst der »Vater aller Gläubigen« sein möchte, dann liegen auch nach Luthers Bekenutnissen bis auf sein Sterbebett Rom und Wittenberg nicht so weit auseinander, um wenigstens ein großes Gemeinsames pflegen zu können.?) Von diesem Standpünkte aus ist es sehr wohl möglich, daß Evangelische und Katholiken, wenn nicht zu einer Vereinigung, so doch über tief- greifende Erziehungsfragen zu einer Verständigung gelangen. Im vorigen Jahre kam ich in eine Unterhaltung mit dem Vorstandsmitgliede und Geschäftsführer des »Vereins für christliche Pädagogik«, unserm Mitarbeiter Weigl, auf diese Frage. Ich stellte ihn zur Rede, warum sie sich »christlicher Vereine nennen, da sie nach der Auffassung vieler doch nur einen streng konfessionell-katholischen Verein bilden. Er hat mir nachdrücklich erklärt, daß ihr Verein nur die christliche Weltanschauung schlecht- hin vertrete und vertreten wolle und sie auch durchaus evangelische Bekenner mit

1) Den schärfsten und klarsten Ausdruck findet dieses Mißtrauen in einem in den »Leipziger N. Nachr.« zum Abdruck gekommenen Brief von Graf Albrecht zu Stolberg-Wernigerode an Seine Heiligkeit den Papst. Aber auch der der freisinnigen Volkspartei angehörige Dr. Traub brachte in der »Tägl. Rundschau« ähnliche Emp- findungen zum Ausdruck.

2) Vergl. Heft 80 der Beiträge z: Kinderforschung u. Heilerziehung: Trüper, »Zeitfragen«. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

1. Rein, Herbartianismus, Konfessionalismus und Liberalismus. 399

aufnehmen und einschließen. Ist das freilich nicht die Auffassung des Gesamt- vereins, dann müssen wir die Bezeichnung »christlich« schlechthin als eine bedenk- liche Anmaßung ablehnen. Aber auch Willmann gibt mir zu dieser Ablehnung keinen Anlaß. Willmann hat zwar in seiner »Didaktik als Bildungslehre« seine eigene pädagogisch-philosophische Herkunft totgeschwiegen: den evangelischen Ziller und seine Lehre mit seinem pädagogischem Seminar, seine Mitbegründung und Vor- standsmitgliedschaft des interkonfessionellen Vereins für wissenschaftliche Pädagogik, seine fünfjährige Tätigkeit an der ausgesprochen evangelischen Barthschen Er- ziehungsschule in Leipzig, wo er seine ersten so sehr anregenden pädagogischen Schriften verfaßt hat, totgeschwiegen auch Luther und Dörpfeld als Pädagogen, mutmaßlich nur mit Rücksicht auf den Jeserkreis, für den wohl in erster Iinie sein bedeutsames Werk berechnet ist; aber bei anderen Gelegenheiten hat Willmann seinen Werdegang 'bis heute nicht verleugnet; so hat er vor mehreren Jahren in einem Vortrag in Elberfeld in einem katholischen Verein über den evangelischen Dörpfeld gesprochen, ähnlich wie Kley in seinem Vorwort der Schrift: »Die Lehre vom Lernen«, hat Dörpfeld als eine besonders hervorragende charaktervolle Persön- lichkeit als Mensch, Pädagoge und Christ hingestellt. Ich selbst habe mit Willmann einmal korrespondiert über die Möglichkeit und Zweckmäßigkeit eines gemeinsamen Religionsunterrichts und einer gemeinsamen Andacht für Katholiken und Evan- gelische, und er hat sich nicht ablehnend geäußert. Soweit wir darum auch in unsern Glaubensanschauungen im einzelnen abweichen von Willmanns thomistischer Philosophie wie von Weigl und Genossen in kirchlichen Glaubenssachen, so sollten wir doch mit ihnen pflegen »die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens« zur gegenseitigen Annäherung, die wir als Pädagogen fertig bringen können, nicht aber die »Herren des Glaubens«, die stets das Trennende pflegten und auch während des Krieges vielfach nicht davon lassen konnten. Erfreulicherweise regen sich jedoch auch in theologischen Kreisen auf beiden Seiten die Bestrebungen zur Ver- ständigung über das Gemeinsame. Wenn nur der neue Luther käme, nicht ein ab- spaltender, sondern einer, der uns nochmals eine gemeinsame deutsche Sprache des religiös-sittlichen Geistes gäbe, die wie die Bibelsprache des alten Luther von allen verstanden, angenommen und anerkannt werde Dann wäre unserem deutschen Volke und dem Christentum in hohem Maße gedient.

Das Bedürfnis dafür macht sich aber auch im Liberalismus geltend. Vor mehreren Jahren tagte z. B. in Jona der jung-liberale Verein. Ich war als Zuhörer anwesend. Das interessanteste war ein nicht widersprochenes Bekenntnis eines Redners in einem Vortrage, daß der Liberalismus keine gemeinsame Weltanschauung habe, sie aber durchaus benötige. So erklärt es sich wohl auch, daß der landläufige Liberalismus in Bildungs- und Erziehungsfragen keine feste Stellung gewinnen kann, sondern diese Fragen immer wieder parlamentarisch-politisch oder sozial-politisch betrachtet und verhandelt und den Juden sich durchweg inniger verbunden fühlt, als den germanischen Christen. Suchende Liberalisten ’sind denn auch nicht bei dem A-Theismus und der A-Konfession stehen geblieben. Liberalistische Juden sind gewandert bis zum Zionismus und zum jüdischen Konfessionalismus, so daß man wieder weiß, wo man in tieferen Fragen auch mit ihnen Verständigung finden kann- Und der atheistische Reiseprediger der a-religiössen »Ethischen Kultur« kam von dieser seiner Missionsreise aus England und Amerika zurück mit Sehnsucht nach einer positiven religiösen Weltanschauung. Und er wanderte auf dieser Suche all- mählich in Deutschland und der Schweiz vom Protestantismus fast bis an die Pforte Roms. Ich meine Friedrich Wilhelm Förster. Das kommt von einem innern

400 B. Mitteilungen.

Aushungern, durch das uns der aus Frankreich stammende Liberalismus nach dieser Seite hin geführt hat; der französische, im Gegensatz zu dem englischen, der gott- gläubig geblieben wenigstens nie sich dagegen auflehnte und den wir in einigen Gegenden noch vertreten finden: im Nordwesten unsres Vaterlandes, wie im Bergischen (Dörpfeld), in Bremen (früher Gottfried Menken, Otto Funk u. A.), im Württembergischen und a. a. O., der also in religiöser Beziehung, wie in England, sogar sehr weit rechts stehen kann.

Der Marburger Geh.-Rat Professor Cohen ist vom alten Judentum und seiner Weltanschauung fortgeschritten zu der doch vom Christentum durch Luther, Schiller, Goethe, Kant, Fichte usw. stark beeinflußten deutschen, und er hat in einer sehr interessanten Schrift über »Deutschtum und Judentum« darzulegen versucht, daß beides fast identisch sei. Doch soweit wie Cohen es darstellt, hat sich unser christ- liches Deutschtum noch nicht gauz zurückgebildet. Es ist zwar erwachsen auf dem Boden des Judentums bis zu Jesus von Nazareth, aber von da ab trennen uns doch noch manche Wege. Auch schon durch vererbte Rassenempfindung. Dennoch aber ist es unsere religiöse und politische Pflicht, uns in gleicher Weise mit positiv ge- richteten Juden, wie Cohen oder die Zionisten, oder mit sonst formulierten Bekennt- nissen auf alles Gemeinsame zu besinnen, und dieses Gemeinsame zu pflegen durch Unterricht und Erziehung. Aber wie von dem römischen Katholizismus so trennt uns von einem gewissen Judentum, wie es vielfach in der liberalistischen Presse vorherrscht und die liberalistischen und sozialistischen Parteien, zum Teil auch große Lehrerkreise beeinflußt, doch gar Vieles, gegen das wir uns im Inter- esse einer deutschen und christlichen Bildung und Erziehung ablehnend verhalten müssen. Bei vielen Liberalisten ist leider kein faßbares positives Welt- und Lebens- anschauungsbekenntnis, das als Grundlage von Bündnisverhandlungen dienen könnte. Ein solches ist aber erforderlich zur Verständigung.

Solange aber die Lehrer und Erzieher in Schule und Leben sich auf gemeinsame Weltanschauungen, die als Bildungs- und Erziehungsziele gelten müssen, um von Einigen gar nicht zu reden, sich nicht verständigen können, solange soll man nach meinem Empfinden von einer »Einheitsschule«, erst recht von einer »nationalen Einheitsschule« lieber schweigen, zumal wenn sie im Namen der Freiheit und nicht des bürokratischen oder parlamentarisch -parteipolitischen Zwanges erhoben wird, wobei schließlich nicht die beste Einsicht und der beste Wille maßgebend sind, sondern die advokatorische Überredungskunst, welche die Massen für die Stimm- zettelabgabe suggestiv leitet. +)

Umsomehr aber tut es not, daß wir uns einmal besinnen auf das, was alle Kon- fessionen in Deutschland eint unter Zurückstellung des Trennenden für die Debatte. Wenn wir es aber nicht versuchen nach dem Beispiel des größten Menschheitspäda- gogen, dann wird es wohl überhaupt nicht gelingen. Und der sagt uns, daß wir von unten bei den Kindern, den Naiven, anfangen müßten: »Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so werdet ihr (überhaupt) nicht in das Reich Gottes kommen, « also nicht zu der besten Lebens- und Weltanschauung.

Und nun zu unserer Erklärung von damals. Sie lautete:

»Tatsächlich ist es so gewesen, wie die »Deutsche Schule« berichtet. Die Herbartschen Gedanken sind ein verbindendes Moment für Rein,

1) Vergl. Heft 45 der Beiträge z. Kinderforschung u. Heilerziehung: Trüper, »Zur Wertschätzung der Pädagogik in der Wissenschaft wie im Leben.« Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann). Ebenso Heft 80: Zeitfragen.

= = a ——

1. Rein, Herbartianismus, Konfessionalismus und Liberalismus. 401

Willmann, Habrich usw. Rein ist zufällig in München gewesen und von den Herren zu ihrer Versammlung eingeladen worden. Er ist dort leb- haft begrüßt worden, er hat wie sich das für jeden taktvollen Menschen schickt, für die Begrüßung gedankt und hat tatsächlich hervorgehoben, daß das Gemeinsame und Verbindende zu betonen wichtiger sei, als das Trennende hervorzuheben. Rein hat hier aber auch gehandelt mit dem Bewußtsein eines nationalgesinnten liberalen Mannes, der sich der Gemein- samkeit aller Deutschen auch auf erzieherischem Gebiet bewußt ist und den Spalt zwischen den Konfessionen nicht vergrößern sondern verringern möchte. Sonst, wenn es um politische oder andere Parteisachen sich handelt, pflegen die Liberalisten diese Gedanken durch Verfechtung des Simultanismus ja theoretisch sehr stark zu betonen. Wenn es sich aber einmal um eine simultane Betätigung handelt, wie Rein sie hier tat- sächlich ausgeübt hat, dann erheben sie sich und kehren den konfessio- nellen Gegensatz hervor. Es erinnert uns das an ein Erlebnis mit Herrn von Egidy und seinen Einigungsbestrebungen. Als in einer Unterhaltung mit ihm von mir das Wort vom »konfessionellen Charakter der Schule« fiel, da gebärdete er sich wie der Stier, dem man ein rotes Tuch vorhält. Auf die Frage, welche Weltanschauung denn in der Schule wie er sie wünschte herrschen sollte, hat er ohne weiteres bejaht, daß das die Weltanschauung des Herrn M. von Egidy sein solle. So geht es oft. Was man den Geist des großen, einigen Deutschlands, den »liberalen« Geist der gleichen allgemeinen Schule usw. nennt, damit ist immer nur der Herren eigener Geist gemeint.

Wir sind der Meinung, daß wir in der Gegenwart Grund genug haben, uns auf das Gemeinsame auch mit den Katholiken zu besinnen, anstatt die Verbindung mit ihnen abzuweisen, ob sie sie suchen oder nicht. Das ist eine Christen- wie eine nationale Pflicht. Auch aus pädagogischen Gründen sollte man solche Verbindung mit dem Katholizismus sorgfältig hegen und pflegen. Auch freuen wir uns dessen tatsächlich. An einem Pädagogen von dem Rufe Willmanns erlebt man es als eine Freude, daß der viel verschrieene und fast in jeder Nummer der »Deutschen Schule« angefochtene »Herbartianismus« so duldsam und weitherzig, also so liberal im wahrsten Sinne des Wortes seit je sich erwiesen hat, daß alle religiösen Bekenntnisse sich auf diesem Boden in pädagogischen Dingen wenigstens verstehen konnten, daß ein Katholik (Prof. Vogt) 25 Jahre den Vorsitz im »Verein für wissenschaftliche Pädagogik« führen konnte, ohne daß je ein Evangelischer genötigt war, seinen religiösen Glauben hier zu ver- bergen. Ebenso haben wir seit 20 Jahren im Pädagogischen Universitäts- seminar zu Jena unter Rein stets alle Konfessionen vereinigt gefunden. Rein hat niemals aus seinen liberalen evangelischen Anschauungen ein Hehl gemacht. Aber uns ist nicht bekannt, daß bei der hier herrschenden Bekenntnisfreiheit jemals ein solcher Spalt gähnte. wie zwischen den Freunden und Feinden der Simultanschule.e Auch sein großes, weit- verbreitetes Enzyklopädisches Handbuch der Pädagogik ist Beweis von vornehmer Duldsamkeit.

Es ist aber nicht bloß Rein mit den Herbartianern, der die Verbin-

Zeitschrift für Kinderforschung. 22. Jahrgang. 26

402 B. Mitteilungen.

dung mit ernsten Katholiken aufrecht erhalten will. Es gibt noch eine Reihe protestantischer und liberaler Männer, die ein gleiches wünschen und tun. Der alte linksliberale Theologe Professor Nippold in Jena stand in intimem brieflichen Verkehr mit Hermann Schell in Würzburg, dessen Ansichten von denen Willmanns nicht allzuweit abweichen, und Nippolds Vorgänger Haase hatte langjährige Beziehungen zum Vatikan. Auch der als liberal verschrieene Harnack pflegt Gemeinschaft mit katholischen Kreisen. In einem Artikel des »Tag«, überschrieben »Reform-Katholizis- mus«, tritt der evangelische Militär-Oberpfarrer R. Falcke ebenfalls ent- schieden für diese Verbindung ein. Er schließt seinen Artikel: »Wann dieser mächtige Strom einmal die Türe brechen und alles überflutend Ein- zug halten wird wie einst im 16. Jahrhundert, ist eine Frage, auf die niemand Antwort geben kann. Die Zeichen der Zeit aber deuten leider darauf hin. Doch bevor solche wirklich entstehen sollte, muß noch mancher Märtyrer entstehen, der mit der Drangabe seiner Stellung und seines Friedens der Freiheit eine Gasse bahnt. Sie alle wie der gesamte heutige Reform-Katholizismus sind der größten Sympathie und Unterstützung aller nicht katholischen Kreise wert.e!)

Daß Rein die entgegengestreckte Hand nicht einfach von sich stößt, das muß also ein liberales, den Simultanismus vertretendes deutsches Schulblatt tadeln und tun, als wenn Rein über Nacht seine Konfession gewechselt hätte.

Rein wird vielfach wegen seines Liberalismus von evangelischer Seite angefochten, selbst noch in national-liberalen Kreisen, in seiner näheren Heimat namentlich. Sogar liberale Lehrer fielen ihm wegen zu energischer Wahrung ihrer liberalen Interessen in den Rücken.?) Wenn jene Katholiken ihm trotz seines Liberalismus Beifall zollten, so beweisen sie dadurch, daß sie weit liberaler und duldsamer sind, als diejenigen, welche Rein hier wie dort tadeln.

Als Schüler und Freunde Reins müssen wir beides als ungerecht- fertigt im Interesse der guten Sache, die Rein in seiner ebenso versöhn- lichen als entschiedenen und seine Überzeugung nie verleugnenden Art stets vertreten, aufrichtig bedauern.«

Soweit die Antwort aus dem Jahre 1907.

Es dürfte nun mancher Leser noch fragen, was alle diese Erörterungen mit den Aufgaben dieser Zeitschrift zu tun haben, meinend, daß man sie den politischen und kirchenpolitischen Zeitungen überlassen solle. Aber sie fallen durchaus in den Rahmen unserer Aufgabe, und wir haben allen Grund, diese Probleme im Interesse der Kinderforschung und Heilerziehung

1) Sehr beachtenswert in dieser Frage ist eine Rede, gehalten zur Feier der akademischen Preisverteilung in Jena am 19. Juni 1915 von D. W. Thümmel, o. ö. Professor der Theologie, Prorektor der Universität: Volksreligion oder Welt- religion? Landeskirche oder Bekenntniskirche? Jena, Gustav Fischer, 1915.

?2) Vergl. Rein, Zur Frage der Rückständigkeit des W.eimarischen Schulweseus. Jena, Vopelius, 1907 und Dezemberheft 1907 der Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik. Langensalza. Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

2. Die Stellung der Thüringer Herbartfreunde unter Reins Vorsitz usw. 403

einer Betrachtung zu unterziehen, denn sie umfassen das wertvollste seelische Gut, was es für die Kinder wie für das Volk gibt, und viel zu wenig hat die Jugendkunde sich mit diesen seelischen Zuständen im Einzelwesen und im Volk ernstlich, d. h. ohne parteiliche Voreingenommen- heit, befaßt. Die Intelligenz ist ohne Frage hoch zu bewerten, aber höher noch das Gut, was der ganzen Persönlichkeit und der ganzen Gemeinschaft den höchsten und dauerhaftesten Wert verleiht. Neben den Intelligenz- prüfungen sollte man darum die Gesinnungs- und Weltanschauungsprüfung bei sich und den verschiedenen Gemeinschaften, Vereinigungen und Parteien unseres Volkes in Hinblick auf das, was diese der Jugend als innerstes Kulturgut zu vererben streben, nicht verabsäumen. Trüper.

2. Die Stellung der Thüringer Herbartfreunde unter Reins Vorsitz zur Schulverfassungs- und Lehrer- bildungsfrage.

Die heutige Schlagwortpädagogik: »Aufstieg der Begabten«, »Einheits- schule«e usw. veranlaßte einen älteren Freund, mir ein paar Zeitungs- nummern aus dem Jahre 1892 zuzuschicken, worin u. a. auch berichtet wurde über die Stellungnahme der Herbartfreunde in Thüringen zu diesen Fragen vor 25 Jahren. Er erinnerte mich damit an meine eigenen Thesen, die ich damals zu einer Besprechung über die Schulverfassungsfrage in Erfurt aufgestellt hatte.

Was ich zur Frage der Einheitsschule und ähnlichem mehr heute zu sagen habe, ist noch dasselbe wie damals.!) Wenn man Reformen wünscht, dann soll man an der Familie als dem wichtigsten Faktor in allen Bildungs- und Erziehungsfragen nicht so achtlos vorübergehen, wie der heutige Hyperliberalismus und demokratische Sozialismus es leider tun.

Sorgen wir zunächst für Aufstieg der Familien, d. h. für deren Ge- sunderhaltung und deren Pflichterfüllung, dann wird auch die Jugend vor- wärts gehen. Vernachlässigen wir sie, dann wird unser Volk trotz aller Schuluniformierung doch abwärts gehen.

Aber auch zum zweiten Gegenstande ist nach 25 Jahren nichts Be- deutsames hinzuzufügen. Denn mit der Volksschullehrerbildung ist nichts gewonnen, wenn sie an Stelle der seminarischen und akademischen eine uniforme akademische wird. Gerade die Volksschullehrer selbst haben so oft und nachdrücklich betont, daß sie den akademisch gebildeten Lehrern an didaktischem und erzieherischem Geschick überlegen seien, und darin nach ist meinen vielfachen Beobachtungen viel Wahres. Darum können wir uns auch heute nicht ohne weiteres für die Uniformierung der Lehrer- bildung nach dem Vorschlage mancher Einheitsschulwerber erwärmen.

1) Näheres in meiner Schrift, die auch aus einer Arbeit im Reinschen Päda- gogischen Universitätsseminar in Jena vom Jahre 1888 hervorgegangen ist: Die Familienrechte an der öffentl. Erziehung. Ein Wort der Verständigung im schul- politischen Kampfe. Mit einem Vorwort von Dr. W. Rein. 2. Aufl. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1892.

26*

404 B. Mitteilungen.

Ich gebe nun den Bericht der Magdeburgischen Zeitung aus einer Oktober-Nummer des Jahres 1892 im Wortlaut wieder, auch als einen Beitrag zu Reins Wirksamkeit. Trüper.

Versammlung der Freunde Herbartscher Pädagogik.

Die erste Hauptversammlung des Vereins der Freunde Herbartscher Päda- gogik hat am 24. 9. 92 in Erfurt stattgefunden. Wohl an 209 Schulmänner aus allen Teilen Thüringens, das der Verein überhaupt umfassen soll, hatten sich ein- gefunden. In der Vorversammlung am Sonnabend wurden die vorgelegten Satzungen mit kleinen Abänderungen angenommen. In den Vorstand wurden Prof. Rein-Jena, Realgymnasialdirektor Zange-Erfurt, Lehrer Brandt-Erfurt, Lehrer Heiland-Weimar und Pastor Rolle gewählt, Der Hauptversammlung lagen zwei Fragen zur Be- ratung vor: 1. Die Lehrerbildungsfrage (Berichterstatter Dr. Wohlrabe-Halle) und 2. Die Schulverfassungsfrage (Berichterstatter Direktor Trüper-Jena). Zu beiden Fragen waren viele Leitsätze aufgestellt, von denen die zur zweiten folgender- maßen lauteten:

l. Die Familien sind die natürlichen Träger der ersten und heiligsten Interessen der Erziehung. Die öffentliche Schule kann nur betrachtet werden als eine soziale Veranstaltung mehrerer Familien zu einer gemeinsamen Bildung ihrer unmündigen Glieder.

2. Eine Schulverfassung entspricht darum nur dann ihrer großen Aufgabe, wenn sie diesen Grundsatz anerkennt und die Familien als diejenigen Kräfte be- trachtet, aus deren geordnetem Zusammenwirken das Schulregiment hervorgehen muß.

3. Die Kinder gehören als unmündige Familienglieder nur mit der Familie der Kirche, der bürgerlichen Gemeinde und dem Staate an. Die Rechte dieser Gemeinschaften an der öffentlichen Erziehung können darum nur indirekte sein, so groß und bedeutungsvoll sie auch an sich sein mögen. Die bisherige ausschließliche Verwaltung und Leitung des Schulwesens durch Staat und Kirche (d. h. durch Staatsbeamte und Geistlichkeit) kann nur als eine vormund- schaftliche betrachtet werden, die um so mehr einzuschränken ist, je mehr die einseitigen Erziehungsinteressen der Staats- und Kirchenbeamten mit den viel- seitigen der Familie und der wahren Aufgabe der Erziehung in Widerstreit geraten.

4. In der Schulverfassung muß darum auch das Prinzip der Selbst- verwaltung und Interessenvertretung immer mehr zur Anwendung kommen.

5. Dies kann in der Weise geschehen, daß an Stelle der Schulbezirke wirk- liche Schulgemeinden treten. Im Rahmen dieser Schulgemeinden sind die Auf- sichts- und Verwaltungsrechte von Staat, Kirche und Kommunalgemeinde bestimmt zu begrenzen.

6. Weil eine Schulgemeinde eine Gemeinschaft für Erziehung ist, so wird naturgemäß auch die Erziehungswissenschaft und das Schulamt in allen Ver- waltungsinstanzen eine genügende Vertretung finden.

7. Die jetzt sowohl in der obligatorischen Konfessionsschule wie in der obligatorischen Simultanschule gefährdete Gewissensfreiheit der Familien läßt sich nur durch Gründung von echten Schulgemeinden auf dem Boden des Familienrechtes verwirklichen und sicher schützen.

8. Auch die wahre Einheit im gesamten Schulwesen, sowohl hinsichtlich der äußeren Gliederung wie des in den Schulen herrschenden Geistes, läßt sich nur durch den Ausbau der Schulgemeinden zu Kreis- und Provinzialgemeinden mit synodaler Verfassung erstreben, während bei dem hergebrachten staatlich-

3. Dem Philosophen Theodor Ziehen. 405

kirchlichen Schulregiment die Gefahr vorliegt, daß das Schulwesen immer weiter zerklüftet und konfessionell zertrennt wird.

Die Besprechung über alle Leitsätze war eine lebhafte und langandauernde; die Mehrzahl der Leitsätze wurde angenommen.

Rektor Dr. Wohlrabe-Halle wies in seinem Vortrage darauf hin. welche Stellung Herbart und seine Nachfolger, wie Ziller, Stoy, Rein usw. zu der Frage der Lehrerbildung einnehmen, und begründete darauf eingehend die von ihm auf- gestellten Leitsätze, von denen folgende angeführt seien: Herbart faßt die Pädagogik als » Wissenschaft«e und würdigt das erzieherische Tun als eine »Kunst«. Hiermit sind zugleich die Allgemeinforderungen an die Person des Erziehers und an die Vorbereitung desselben zu seinem Berufe bestimmt. Der Tendenz der früheren preußischen Regulativ-Pädagogik gegenüber ist vom Standpunkte der Herbart schen Pädagogik aus als Irrtum und Schaden zu bezeichnen die Ansicht, daß der Volks- schullehrer sich in dem Umfange seines Wissens nicht wesentlich über das Wissens- maß der Elementarschule zu erheben brauche und daß ihm eine vertiefte päda- gogische Bildung entbehrlich oder gar schädlich sei. Auch die nach den Falk schen »Allgemeinen Bestimmungen« dem Volksschullehrer zugewiesene Bildung kann weder nach der allgemein wissenschaftlichen noch nach der fachwisseuschaftlichen Seite hin als ausreichend erachtet werden. Das Festhalten an dem Doppelcharakter des Seminars, nach dem es die allgemeine und die speziell berufliche Bildung neben- einander zu vermittein hat, ist als ein Schaden der derzeitigen Seminarbildung zu betrachten. Größere Mängel noch als dem Seminar sind den Vorbereitungsanstalten zuzuschreiben (geringes Bildungsmaß, Fehlen des fremdsprachlichen Unterrichts usw.). Für Lehrer an den Seminaren muß eine akademisch-pädagogische Vorbildung ver- langt werden. Es ist zu wünschen, daß an allen preußischen Universitäten päda- gogische Seminare eingerichtet werden.

Die Besprechung der Wohlrabeschen Leitsätze nahm geraume Zeit in Anspruch und war sehr lebhaft. Wie die »Th. Ztg.« mitteilt, brachte sie zum allgemeinen Ausdruck, daß eine strenge Scheidung der allgemeinen von der beruflichen Bildung der Volksschullehrer unbedingt zu verlangen, daß ferner die bisherige Vorbildung auf den Präparandenanstalten unzulänglich und statt ihrer als Vorbereitung auf das Seminar (Ober-) Realschulbildung zu erstreben sei. (Magdeb. Ztg.)

3. Dem Philosophen Theodor Ziehen.

In Heft 9, Jahrgang 1912, widmete Richard Schauer dem von seinem Lehrstuhl in Berlin scheidenden und ins Privatleben sich zurück- ziehenden und doch wohl nur für die neue Lehrtätigkeit sich vorbereiten- den Geh. Med. Rat Prof. Dr. Ziehen einen Scheidegruß: »Theodor Ziehens pädagogische Bedeutung. «

Mit dem Nachstehenden aber möchten wir vom Standpunkte der Jugendforschung und Pädagogik aus ihm einen Willkommengruß nach Halle senden.

»Vom Mediziner zum Philosophen.« Unter dieser Überschrift schreibt das Ärztliche Vereinsblatt für Deutschland, XLVI. Jahrgang, Nr. 1138 —:

»Prof. Dr. Th. Ziehen, der ehemalige ausgezeichnete Vertreter der Gehirn- und Nervenkrankheiten der Berliner Universität, ist zum ordentlichen Professor der

406 B. Mitteilungen. Philosophie nach Halle berufen worden; ein Vorgang, wie er in dem wissenschaft- lichen Betriebe unserer Zeit zu den größten Seltenheiten gehört. Zuweilen haben Juristen ihre Lehrtätigkeit gegen die in der Philosophie vertauscht, oder Theologen sind in dieselbe Fakultät abgewandert. Aber daß Mediziner ihren ursprünglichen Lehrberuf gegen den in der Philosophie eintauschen, dürfte in der Neuzeit einzig dastehen. Von Ziehen war es freilich längst bekannt, daß er mit Vorliebe psycho- logische Studien betrieb, und als er vor einigen Jahren zur allgemeinen Verwunder- ung seine Stellung als Ordinarius aufgab, um in Wiesbaden seinen philosophischen Studien frei leben zu können, da mochten manche wohl ahnen, wohin sein Weg schließlich führen würde. Jetzt ist dem verdienstvollen Gelehrten, dem hinreißen- den Lehrer die Bahn für eine Tätigkeit eröffnet, die seinem idealen Geistesflug höchste Befriedigung verspricht.«

Mit dieser Anerkennung Ziehens sind wir voll einverstanden. Bei Ziehen ist die Liebe zur Philosophie, wie hervorgehoben wird, nicht neu. Schon im Jahre 1899, als man ihn ins Ausland nach Utrecht ziehen ließ, war Ziehen bereit, einen Lehrstuhl für Psychologie in Jena zu übernehmen. Man hatte damals aber kein Verständnis für die Bedeutung nicht bloß des jungen Dozenten Ziehen, sondern noch weniger #ür die Bedeutung eines solchen Lehrstuhles für die Universität Jena, wie ich seinerzeit an dieser Stelle!) andeutete und dadurch den Unwillen eines Bürokraten in auffallendem Maße erregte. An den Maßnahmen eines Großherzogl. Sächsi- schen Kultusministers für das Wohl und Wehe unserer, auch der Staats- bürger, Universität eine zarte Kritik zu üben, schien demselben etwas ganz Außergewöhnliches zu sein. Der Schade, den die Universität Jena durch Ziehens Fortgang gehabt, war groß. Denn Ziehen hatte schon damals nicht bloß als Psychiater sondern auch als Psychologe anerkannten Ruf. Er las unter anderem ein stark besuchtes Kolleg über physiologische Psy- chologie, welche Vorlesungen er dann in seinem bekannten Buche »Leit- faden der physiologischen Psychologie in 15 Vorlesungen« herausgab, das bis jetzt in vielen Auflagen erschienen und namentlich in Lehrer- kreisen außerordentlich viel gelesen worden ist und segensreiche Früchte für Schule und Erziehung getragen hat. Und wenn wir in diesem Heft der jahrzehntelangen Wirksamkeit Reins in Jena gedenken, dann ist es unsere Pflicht, Ziehen nicht dabei zu vergessen, wie ihn leider die meisten der Rein-Biographen unerwähnt lassen. Auf meine Veranlassung hin hat Rein Ziehen damals ersucht, eine Reihe von psychologischen und psycho- pathologischen Themata für die Encyklopädie zu bearbeiten. Rein hat meinem Wunsche gerne Folge geleistet und damit bekundet, daß das Ver- hältnis der Pädagogik zur Medizin doch nicht ein so dürftiges für ihn sein sollte, als es Dr. Dietering in der Festschrift »Das Lebenswerk Prof. Dr. Wilhelm Reins«, zu seinem 70. Geburtstag bearbeitet von Schülern und Freunden, herausgegeben im Auftrage des »Vereins der Freunde Her- bartischer Pädagogik in Thüringen« von B. Hofmann, Langensalza, Her- mann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) 1917, S. 30 mit siebzehn Zeilen darstellt, sondern daß Rein selbst der Medizin und namentlich der Psycho-

1) Trüper, Professor Dr. Th. Ziehen. Jahrgang V, Heft 5.

3. Dem Philosophen Theodor Ziehen. 407

pathologie einen bedeutsamen Platz in seiner Encyklopädie eingeräumt hat, wie denr auch meine wie Kochs Darlegungen in dem Artikel »Pädagogik und Medizine, Band VI, S. 494 bis 507 der Encyklopädie, eine viel- seitigere Beziehung beider Gebiete als eine Notwendigkeit dartun.

Ziehens Schrift über »Physiologische Psychologie« und diese Abhand- lungen in der Encyklopädie waren jedoch nur einige der vielen Arbeiten, die Ziehen im Laufe der Zeit als Dozent in Jena wie als Professor der Psychiatrie in Utrecht, Halle und Berlin nicht bloß der Medizin, sondern auch der Pädagogik geschenkt hat. Auch waren seine Kollegs stets zu einem großen Teil mit Lehrern gefüllt, und namentlich mit Volkschul- lehrern, die durchweg ein tieferes Verständnis für das Psychologische und Psychopathologische der Kindesnatur bekundet haben als die akademisch gebildeten Lehrer, wie ja auch die Mitarbeit an dieser Zeitschrift beweist. Es hat das seine besonderen Gründe, auf die näher einzugehen ich mir hier versagen will.

Ziehens Schrift über »die Ideenassoziation des Kindes«!), ist sogar aus dem Reinschen Seminar mit hervorgegangen. Die Kinder der Reinschen Seminar-Übungsschule waren Gegenstand seiner Untersuchung. Es wurde also schon damals vor Meumann experimentelle Psychologie auch in Jena getrieben, ohne daß wir hier jemals auf die doch immer sehr einseitigen Experimente allein unsere Schlüsse gebaut haben. Diese Be- ziehungen Ziehens zum Reinschen Seminar wie seine ärztliche Mitarbeit auf der Sophienhöhe hatten eine Reihe weiterer jugendkundliche Schriften ?), insbesondere über Intelligenzprüfungen, zur Folge, die leider viel zu wenig in der ganzen Frage der Intelligenzprüfungsmethoden beachtet worden sind, obgleich die Ziehensche Methode meines Erachtens die tiefgründigste ist und sich von dem leicht irreführenden und zur Oberflächlichkeit ver- leitenden Schematismus der Schule der Franzosen Binet-Simon samt dem ganzen amerikanisch-englischen und deutschen Anhang fernhält, auch die Persönlichkeit des Kindes entschieden vielseitiger faßt, als die genannte Schule. Hinzu kommt allerdings, daß Ziehen das Kind von vielseitigeren Gesichtspunkten kennen und betrachten gelernt hat als jene und die Kindesnatur in gesunden und kranken, normalen und abnormen Zu- ständen tatsächlich vielseitig und gründlich zu beurteilen verstand. Ich habe darüber wohl ein zuverlässiges Urteil, denn Ziehen hat von 1890 bis zu seinem Fortgange aus Jena alle Zöglinge der Sophienhöhe untersucht, die Diagnose und die Prognose gestellt und die Behandlung vorge- schrieben und kontrolliert. Ich habe noch keinen Kinder- und Nervenarzt

1) Die Ideenassoziation des Kindes, 2 Hefte, Sammlung von Abhandlungen aus dem Gebiete der pädagogischen Psychologie u. Physiologie, Berlin, Reuther & Reichard,

3) Die Prinzipien und Methoden der Intelligenzprüfung; 3. vermehrte Aufl. S. Karger, Berlin, 1911, ferner: Die Geisteskrankheiten im Kindesalter; Berlin, Reuther & Reichard, 2. Aufl. 1915 und 1916. Die Erkennung des Schwachsinns im Kindesalter, Berlin, S. Karger. Die Erkennung der psychopathischen Konsti- tutionen und die öffentliche Fürsorge für psychopathisch veranlagte Kinder, Berlin, S. Karger.

408 B. Mitteilungen.

kennen gelernt, so hoch ich auch viele von ihnen schätzen muß, die mit solcher Sicherheit, Genauigkeit und Bestimmtheit einen körperlich wie geistig pathologischen Zustand des Kindes beurteilten und eine genaue, auch von feinem pädagogischen Verständnis zeugende Behandlung vor- schlugen. Ziehen ist eben nicht bloß ein feiner, scharfer Beobachter, Ziehen ist auch ein klarer Denker und ein geborener Erzieher und Lehrer. Seine Vorlesungen, auch als Privatdozent, die ich selber mit gehört, zeugten von außergewöhnlichem didaktischen Geschick.

Kein Wunder, daß Ziehen darum zum zweiten Mal vor die Frage kam, in Jena einen Lehrstuhl für Philosophie und Psychologie zu besteigen, und zwar als Nachfolger von Otto Liebmann. Aber auch das ist wohl daran gescheitert, daß man die Eigenschaften nicht voll zu bewerten wußte, die wir ganz besonders hoch an ihm schätzen. In der Tat sieht eine Sache und ein Mensch ja auch immer wesentlich anders aus, ob man von unten her, von den praktischen Lebensbedürfnissen aus, an beiden hinauf- schaut oder aus den formalen Höhen herab sie beurteilen muß oder nur beurteilt. Die Pädagogik jedenfalls würde nicht bloß in Alldeutschland, sondern auch darüber hinaus Ziehens Berufung gerade nach Jena im Zu- sammenarbeiten mit Rein und als Ergänzung, ja als notwendige Ergänzung, zu Rein, ganz besonders freudig begrüßt haben. Der Zuzug nach Jena würde schon das erste Mal durch Ziehen bedeutend vermehrt worden sein, das zweite Mal aber erst recht. Der Zuwachs an Hörern an der Universität wäre jedoch nur etwas Äußerliches gewesen. In weit höherem Maße hätte die Universität aber einen Gewinn gehabt, wenn sie seit 1899 nicht vergebens hätte warten müssen auf das psychologische Laboratorium, das Ziehen damals kostenlos oder doch nur mit Hilfe von Abbe einrichten wollte. Jena wäre dann nach Leipzig die zweite Universität mit einem Lehrstuhl für Forschungspsychologie gewesen und hätte für die Behand- lung der Jugend in Familie, Kinderklinik, Schule, Erziehungsanstalt und Jugendgericht wahrscheinlich weit mehr geleistet als Leipzig, weil bei Ziehen hier der Schwerpunkt seiner Interessen lag, während er bei Wundt an anderer Stelle liegt.

St. Bürokratius hat für solche Reformen, die von außen her, aus den Lebensbedürfnissen heraus gefordert werden, selten Verständnis. Manches Schema muß seit dem Mittelalter getreulich konserviert werden. Oder die Reformen müssen erhoben werden von den radikalsten politi- schen Parteien, dann kriecht er auch vor Schlagwörtern, wie »Neu- orientierung«, »Aufstieg der Begabten«, »Einheitsschule« usw. ins Mause- loch. Es ist notwendig, daß das einmal gesagt wird und man die Kritik an Rückständigkeiten nicht diesen radikalen, nach Gleichmacherei strebenden und nur aus politischen Gesichtspunkten urteilenden Parteimächten überläßt.

Ziehen aber wünschen wir in Halle eine segensreiche Tätigkeit. Wir sind gewiß, nicht bloß die Studenten der Pädagogik mit Einschluß von Philosophie und Philologie, sondern auch schon im Amte stehende Schul- männer werden in großer Zahl seine Hörer werden.

Ziehen ist kein Herbartianer. Aber im Gegensatz zu etlichen Philo- sophen und Psychologen, die doch das meiste, was sie an geistigen Werten

3. Dem Philosophen Theodor Ziehen. 409

besitzen, Kant und dann Herbart und seinen Schülern verdanken, ohne es zu bekennen, hat Ziehen über Herbart ein Buch!) geschrieben, das das Wort Magers als Motto an der Spitze tragen könnte: »Wir können ihm nicht dankbar genug sein für das, was er uns gewesen ist, wir können aber nicht bei ihm stehen bleiben,«e und darum wird Ziehen die Ideen Herbarts und der Herbartianer in sehr zweckmäßiger Weise berichtigen, ergänzen und weiterbilden. Flügel hat auf Ziehens Kritik Herbarts an dieser Stelle?) geantwortet, doch ohne Ziehen voll gerecht zu werden. Wir begrüßen die Übernahme eines Lehrstuhles der Philosophie und insbesondere der Psychologie von dem Mediziner mit so reicher Erfahrung aber noch aus einem anderen Grunde ganz besonders. Wenn man manche Schriften von Philosophen, Psychologen und auch Pädagogen liest, so be- dauert man immer wieder die Lebensfremdheit, die Nur-Literatur. die Philosophie, welche nur am Studiertisch hinter Büchern entstanden ist. Ziehens Philosophie ist erwachsen aus den exakten naturwissenschaftlichen Beobachtungen des Menschenlebens, und er mußte vor allen Dingen mit diesen auch die Nöte und Sorgen desselben studieren, während der Nur- Philosoph sich gewöhnlich oder doch berufsmäßig davon fernhält. Je älter ich werde, je vielseitiger ich mit allen Lebensverhältnissen in Berüh- rung komme, und je weniger Zeit ich finde, mich mit der Nur-Gelehrsam- keit zu beschäftigen, desto tiefer prägt sich mir jener Gedanke ein. Und aus ähnlichen Erfahrungen heraus hat auch wohl Rein, obgleich er ja den Beobachtungen der Nöte und Sorgen der vielen Einzelmenschen wie der Gemeinschaften praktisch ferner steht, als ich seit je durch Herkunft wie in meinem Berufe stand, je länger je mehr sich der praktischsten Philosophie und Pädagogik zugewandt: der erzieherischen Lösung der sozialen Fragen nach den verschiedensten Seiten hin. Ziehen hat als Arzt tiefe Einblicke getan in das Einzelleben bei Klein und Groß, aber auch in die Zusammenhänge des Lebens nach der Seite der Vererbung und Erwerbung, in die Zusammenhänge der seelischen Zustände der einzelnen mit Vergangenheit und Gegenwart mit allen Mißständen und Nöten wie Üppigkeiten der Umwelt. Ich bin darum gewiß, daß seine Philosophie und namentlich seine Psychologie diesen Scharfblick für die Wirklichkeit überall bekunden und darum eine fruchtbringende Lehre für seine Hörer werden wird.®) Trüper.

1) Das Verhältnis der Herbartschen Psychologie zur physiologisch -experi- mentellen Psychologie, Berlin, Reuther & Reichard, 2. Aufl. 1911.

2) Jahrg. 17, Nr. 12, erschienen im Sonderabdruck in den »Beiträgen zur Kinder- forschung und Heilerziehung«, Heft 103, Ziehen und die Metaphysik. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

®) Ziehens philosophisches Hauptwerk ist seine 1913 bei Fischer in Jena er- schienene »Erkenntnistheorie auf psychophysiologischer und physikalischer Grund- lage«, eine Glanzleistung positivistischen Denkens, die sich würdig Kants »Kritik der reinen Vernunft« anreiht. Wie Kant zu dieser seine »Prolegomena« geschrieben hat, so bietet auch Ziehen eine logisch-systematische Auseinandersetzung hierzu in seiner meisterhaften Einführung »Zum gegenwärtigen Stand der Erkenntnistheorie«. Wiesbaden 1914.

410 B. Mitteilungen.

4. Adolf Matthias t.

Zu den Wegegenossen Reins gehörte auch der Wirkliche Geheime Oberregierungsrat Dr. phil. Adolf Matthias. Am 1. Juni feierte er noch seinen 70. Geburtstag, und auch unsere Zeitschrift wollte seiner an diesem Tage gedenken. Die Fertigstellung des Heftes verzögerte sich, der greise Gelehrte starb und aus dem Geburtstagsgruß muß ein Nachruf werden.

Adolf Matthias hat eine glänzende Laufbahn hinter sich, und wohin ihn auch die Pflicht rief, immer hinterließ er tiefe Spuren seiner Wirk- samkeit. Als er im Jahre 1898 Düsseldorf, wo er 13 Jahre Direktor des Gymnasiums und Realgymnasiums gewesen war, verließ, um seinen Weg in die Schulverwaltung einzuschlagen, der ihn über Koblenz schnell an einflußreiche Stelle in Berlin zu zehnjähriger gesegneter Wirksamkeit als rechte Hand Althoffs führen sollte, da wußte man, daß mit ihm mehr als ein geschickter Pädagoge und Philologe, daß hier eine begnadete Persönlich- keit ins preußische Ministerium zog.

Unter Matthias Verdiensten als Schulmann sei vor allem erwähnt, daß er in dem Streite um die Gleichberechtigung der verschiedenen Arten der höheren Schulen in seiner einflußreichen Berliner Stellung der guten Sache zum Siege verhalf, und daß er den Hauptanteil an der in freiheitlichem Sinne ausgebauten Umgestaltung der Lehrpläne von 1901 hatte.

Unter seinen didaktischen Schriften sind seine »Praktische Päda- gogik«e und seine verschiedenen Werke auf deutschkundlichem und alt- philologischem Gebiete von besonderer Bedeutung.

Nicht das aber war es, was Matthias Namen über die Kreise seiner Fachgenossen und über die engeren Stätten seiner Tätigkeit hinaustrug. Das war die Wirkung seiner weiteren schriftstellerischen Betätigung. Das Buch »Wie erziehen wir unseren Sohn Benjamin?« (C. H. Beck, München) ist ein Familienbuch ersten Ranges. Die schlichtvornehme, frohgemute und welterfahrene, von Vertrauen zu der Menschheit, zu dem Guten im Menschen und besonders im Kinde beseelte Natur des Verfassers findet hier, wo sie sich auf dem Gebiete bewegt, auf dem Veranlagung und reichste Erfahrung sie zum Meister machen, in den Worten, die er an Eltern als Erzieher richtet, reinen und schönsten Ausdruck.

Dieses Streben, das das Buch von »Benjamin« durchzieht, die Mensch- heit zu läutern, eignet auch dem zweiten, ihm nahe verwandten Werk: »Wie werden wir Kinder des Glücks?« (C. H. Beck, München). Ist der »Benjamin« ein pädagogisches Hausbuch, so hat dieses zweite Werk mehr einen philosophischen Charakter, und wird in dem ersten gesagt, wie wir unsere Kinder erziehen sollen, so erfahren wir aus dem zweiten, wie jeder von uns selbst ein Kind des Glücks werden und sich zu diesem durch tatkräftiges, zielbewußtes Wollen, sittlichen Ernst und Pflichttreue er- ziehen kann.

Matthias zählte nicht zu unseren Mitarbeitern. Aber er strebte mit uns nach demselben Ziele, nach verständnisvollem Erfassen der Kindes- natur, nach Verfeinerung der Lehrmethode, Verbesserung der Familien-

nn er I

5. Ein neues Ernährungssystem. 411

erziehung und Aufrüttelung der Eltern, ihrer Erziehungspflichten ein- gedenk zu sein.

Ein Mitkämpfer ist so von uns gegangen. Ehre seinem Andenken!

5. Ein neues Ernährungssystem.

Die Ernährung der Massen und insbesondere der heranwachsenden Jugend ist gegenwärtig nicht bloß auf kriegswirtschaftlichem, sondern auch auf dem Gebiete der Jugendfürsorge bei weitem die brennendste Frage, und sie in richtige Bahnen zu lenken, bedeutet auch ihre Lösung. Mit begreiflichem Interesse, so schreibt das »Wiener Journal«, wird man es daher aufnehmen, daß in Wien gegenwärtig an Vorbereitungen gearbeitet wird, ein neues Ernährungssystem, das von berufener wissenschaft- licher Seite aufgestellt und erprobt wurde, allgemein einzuführen. Das neue System, auf vergleichender Erforschung des Nährwertes der wichtigsten Nahrungsmittel beruhend, soll die falschen Begriffe vom »Nährwert«, die allzusehr verbreitet sind, beseitigen und jederzeit angeben, welche Speisen- stoffe wirklich notwendig und welche ohne weiteres ersetzt werden können. Der Autor des Systems ist Universitätsprofessor Dr. Klemens Freiherr v. Pirquet, Vorstand der Klinik für Kinderkrankheiten im Allgemeinen Krankenhause, der auf Grund einjähriger erfolgreicher Erprobung die Grundlagen der Reform aufstellte.

Dem System liegt das Wesen einer neuen »Nährwerteinheit« zugrunde. Diese hat Professor Freiherr v. Pirquet in der Milch festgestellt und damit ist die neue metrische »Einheit« für die Ernährung gegeben. Diese metrische Einheit bildet der Nahrungswert von einem Gramm Milch, die Bezeichnung im System für die Einheit lautet: »Nem« (Nahrungseinheit Milch). Das System ist auch auf größere (Quantitäten Nährmittel als »Hekto-Nem«e (100 Gramm Nahrungseinheit Milch) sowie »Kilo-Nem« (1000 Gramm) zur Berechnung des Nährwertes im Vergleiche zur Milch anzuwenden. In der Praxis werden Berechnungstafeln jederzeit leicht die Beurteilung ermöglichen.

So ist zum Beispiel nach dem neuen System folgender vergleichs- weiser Nährwert bei mehreren wichtigen, jetzt viel gesuchten Nährmitteln festgestelt worden:

1 g Schmalz entspricht im Nährwert 13 »Neme 13 g Milch 1 Butter m 3 = 12 w =42 mos

1 4 Mehl 4 5 » == u n

1 „Ei y 21/3 = 21/3 n

1 zubereitetes Fleisch , " y P ran...

1 Kartoffel 1 a = 1 t/a »

1 Kohlrūben 0,4 A

v » ”„ un Das »Nem« als »Einheit« ersetzt im neuen System die bisherige Be- zeichnung des bloßen physikalischen Wertes, die sogenannte »Kalorie» (Brennwert, Wärmeeinheit.. Die als Einheitsmaß nachgerade nicht bloß dem allgemeinen Verständnis fremd war, sondern auch nicht das ausdrückt,

412 B. Mitteilungen.

was das »Nem« sein soll: das Maß des gesamten Nährwerts im Vergleiche zur Milch.

Diese Grundlage einmal festgehalten, ergibt sofort ein klares Bild für die Wahl dieses oder jenes Nährstoffes. Bei den heutigen Verhältnissen fehlt häufig entweder der eine oder andere Artikel, der für »unentbehrlich« galt. Ihn restlos durch einen verfügbaren gleichwertigen in entsprechen- der Menge zu ersetzen, lehrt eben das neue System durch einen Blick auf die vergleichende Tafel. Wenn man zum Beispiel wissen wird, daß Rüben 0,4 »Nem«, Bohnen 6 »Nem«, trockene Bohnen 4 »Nem« an Nähr- wert, Zucker 6 »Nem« entspricht, wird eben ein oder der andere Nähr- stoff quantitativ höher oder geringer bemessen oder durch einen anderen ganz ersetzt werden können. Praktische Anweisungen werden die An- wendung im großen und im kleinen Küchenbetriebe unterstützen. Haupt- zweck ist, die Küche so billig als möglich zu gestalten, und besonders das Überflüssige auszuschalten. Das geht nur an, wenn man den eigent- lichen Nährwert der Speisen genau kennt.

Mit den Prinzipien dieses neuen Systems sollen Kurse über Ernährung vertraut machen. Sie finden in der Zeit vom 1. Oktober bis 24. No- vember 1917 und vom 7. Jänner bis 2. März 1918, unter der Leitung von Professor Freiherr von Pirquet in der K. k. Universitäts-Kinderklinik in Wien, IX/, Lazarettgasse 14, statt. Zugelassen sind nur Absolventinnen von höheren Töchterschulen, Haushaltungsschulen und gleichgestellten Lehr- anstalten und für staatlich diplomierte Pflegerinnen.

Der Kursus umfaßt an theoretischen Lehrgegenständen:

Ernährungslehre, Dozent Dr. Schick: Physiologie der Verdauung, Dr. v. Groer: Technick der Kinderernährung, Oberschwester Hedwig Brezina: Organisation und Leitung von größeren Anstalten und Haus- haltungen.

An praktischen Lehrgegenständen unter Leitung der Stationssch western der betreffenden Abteilungen:

Ernährung des einzelnen Kindes in verschiedenen Lebensstufen (Neu- geborene, Säuglinge, Kinder von 1—4 Jahren, Kinder von 4--14 Jahren), Arbeit in der Milchküche, Arbeit in der Schulküche. Ernährung einer Ge- meinschaft von 60 Kindern, Ernährung einer Familiengruppe (Erwachsene und Kinder).

6. Lehrgang für Kleinkinderfürsorge.

Vom 1.— 11. Oktober 1917 findet in Frankfurt a. M. ein Lehrgang statt, der die sozialhygienische und sozialpädagogische Fürsorge für Kleinkinder behandeln wird. Veranstalter ist der Deutsche Aus- schuß für Kleinkinderfürsorge, der in Form dieses Lehrganges sein gesamtes Arbeitsprogramm entwickeln wird, das eine planmäßige Aus- gestaltung der öffentlichen und freiwilligen Fürsorgebestrebungen auf diesem Gebiet in Stadt und Land bezweckt. Für den Lehrgang ist folgende Disposition vorgesehen:

I. Sozialhygienische Fürsorge: Verhütungsmaßregeln gegenüber Ernährungskrankheiten, ansteckenden Kinderkrankheiten und konstitutionellen

8. Kurze Nachrichten. 413

Erkrankungen. (Aufklärung durch Beratungs- und Fürsorgestellen, ärztliche

rwachung von Krippen und Kindergärten sowie von Kostkindern, gesundheitspolizeiliche Desinfektions- und Isoliervorschriften usw.) Fürsorge für erkrankte Kinder in Familie und Krankenhaus, namentlich bei über- tragbaren Krankheiten. Fürsorge für erholungs- und kräftigungsbedürftige Kleinkinder.

OD. Sozialpädagogische Fürsorge: Erziehungshilfe bei schwer erziehbaren und nicht vollsinnigen Kleinkindern, sowie bei sonstiger Er- schwerung der häuslichen Erziehung. Fürsorge für aufsichtsbedürftige Kleinkinder erwerbstätiger Mütter in Stadt und Land. Ersatzerziehung von Kleinkindern in der öffentlichen Armen- und Waisenpflege sowie in der Fürsorgeerziehung.

Wie bei dem im Vorjahre abgehaltenen ersten Lehrgange werden Vorträge von Vertretern von Wissenschaft und Praxis mit Besichtigungen einschlägiger Anstalten abwechseln. Eine wertvolle Bereicherung des Lehr- ganges liegt darin, daß die vom Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht zusammengestellte Wanderausstellung »Das Kleinkind« sich zur gleichen Zeit in Frankfurt a. M. befindet.

Anmeldungen zur Teilnahme an dem Lehrgange werden bis zum 31. August 1917 an die Geschäftsstelle des Deutschen Ausschusses für Kleinkinderfürsorge, Frankfurt a. M. Kottenhofweg 26. erbeten, bei der anch weitere Auskunft zu erhalten ist.

7. Kinderschutztagung.

Das Archiv deutscher Berufsvormünder, dem die bedeutensten Behörden und Vereine der Kinderfürsorge im Deutschen Reiche, Österreich-Ungarn und der Schweiz angehören, wird am 19.—20. September 1917 in Berlin seine 11. Tagung abhalten. Am 19. abends sprechen Prof. Klumker, Frankfurt a. M. und Stadtrat Rosenstock, Königsberg Über den Schutz der Unehelichen. In der Hauptversammlung wird vor allem, außer einer Reihe Einzelfragen, verhandelt Über die Organisation von Jugendämtern und Berufsvormundschaften. Es sprechen dazu Direktor Dr. Blaum, Straßburg und Assessor Kloke, Frankfurt a. M. Bei der großen Teilnahme, die Regierung und Parlament diesen Problemen gerade jetzt mit Recht entgegenbringen, wird ihre Erörterung im Kreise berufenster Fachleute von großer Bedeutung werden.

Näheres durch das Archiv deutscher Berufsvormünder E. V., Frank- furt a. M., Stiftsstr. 30 und beim ÖOrtsausschuß in Berlin NW. 6, Charité- straße 2, Kinderrettungsverein.

8. Kurze Nachrichten.

Geheimrat Prof. Dr. med. et phil. Paul Flechsig in Leipzig vollendete am 29. Juni sein 70. Lebensjahr. Seit dem 1. April 1878 wirkt er als Professor der Psychiatrie und hat sich als solcher einen klangvollen Namen verschafft. Besonders bekannt sind seine Forschungen über die Leitungsbahnen im Gehirn und Rücken- mark. Von weiteren Arbeiten heben wir hier hervor »Plan des menschlichen Ge-

414 B. Mitteilungen.

hirns« (1883), »Gehirn und Seele« (1896), »Die Lokalisation der geistigen Vorgänge« (1896), »Über die Untersuchungsmethoden der Großhirnrinde, insbesondere des Menschen« (1904).

Professor Albert Eulenburg ist 76 Jahre alt am 3. Juli in Berlin gestorben. Für die Ärztewelt hat er sich ein Denkmal gesetzt in seiner Real- Enzyklopädie. Die Anormalenpädagogik verliert in ihm einen hervorragenden Forscher auf dem Gebiete sexueller Fragen und insbesondere auf denı Gebiet der Bearbeitung des Themas »Der jugendliche Selbstmörder«.

Die Deutsche Gesellschaft zur Förderung häuslicher Erziehung E. V. hat in Leipzig die erste Elternberatungsstelle eröffnet, die besonders der Kleinkinder- pädagogik dienen will. Als Berater wirken an ihr Dr. Johannes Prüfer und Hilfs- schullehrer Richard Kretzschmar.

Die Zunahme der Fürsorgezöglinge im Kriege erhellt deutlich aus den folgenden Zahlen für Berlin: es betrug die Zahl der Zugänge 1913 745, 1914 698, 1915 1085 und 1916 1624. Die Zahl der Zöglinge unter 6 Jahren betrug 1901 bis 1914 53, 1916/17 aber 78. Die Zahl der schulpflichtigen Zöglinge im Berichtsjahr 1916/17 betrug 659.

Die Straffälligkeit der Jugendlichen ist in Österreich von 1913 bis 31. August 1916 von 8,9 °/, auf 26,9 °/, gestiegen. Unter den 3027 beim Landgericht Wien 1913 Verurteilten befanden sich 270 = 8,9 °,,, die bis zu 18 Jahren alt waren. 1914 waren unter 2631. Verurteilten 266 = 10,1 °/, Jugendliche, 1915 handelte es sich um 330 = 17,6°/, und die ersten drei Vierteljahre 1916 ergaben unter 1988 Verurteilten 590 = 26,9 °/, Jugendliche. Gegenüber 1913 hat sich die Straffällig- keit bis 1916 also verdreifacht.

9. Heilübungen.

Wir erhielten folgende Zuschrift:

»Auf der Universitätsbibliothek habe ich Gelegenheit gehabt, in die »Zeit- schrift für Kinderforschung«e, welche von Ihnen herausgegeben wird, Einsicht zu nehmen. Ich habe dabei im Oktoberheft 1916 eine Abhandlung von Dr. Walther Moede gefunden, welche mich ganz besonders interessierte. Die betreffende Ab- handlung ist betitelt: »Untersuchung und Übung des Gehirngeschädigten nach experimentellen Methoden.« Der Verfasser führt darin aus, daß es der experimen- tellen Psychologie gelungen sei, eine Übungstherapie auszubilden, welche die ver- schiedenen Bewußtseinsfunktionen durch systematische Übung entwickle. Ich bringe dieser Frage deshalb das lebhafteste Interesse entgegen, weil ich selbst unter der Schwäche einer Bewußtseinsfunktion, nämlich der Aufmerksamkeit, sehr zu leiden habe.

Um Ihnen einen deutlichen Begriff zu geben von der Art dieser Schwäche der Aufmerksamkeitsfunktion, welche bei mir vorliegt, erwähne ich, daß ich z. B. in einem Lesezimmer äußerst leicht durch Geschwätz und Unruhe der Anwesenden gestört werde. Ferner ist es mir unmöglich, an einem offenen Fenster, welches an der Straße liegt, zu lesen. Das Ticken der Uhr in meinem Studierzimmer empfinde ich als eine Belästigung. Die zahlreichen Geräusche, welche aus der anstoßenden Küche zu mir herüberdringen, verursachen mir eine fortwährende Qual. Der Ärger über solche Störungen hat meistens geradezu den Charakter eines Wutanfalls. Es ist eine ungeheuer wichtige Frage für mich, ob ich ein Mittel finde, diese Schwäche des Geistes zu überwinden. Da ich mitten im Studium bin, ist die Beseitigung dieses Übels sehr dringend. Es begann sich be- merkbar zu machen, als ich ca. 19 Jahre alt war und hat seitdem während langer Jahre angedauert. Ich befinde mich jetzt in meinem 30. Jahre. Der Aufsatz

D. Literatur. 415

von Dr. Moede hat in mir nun die Vermutung geweckt, daß die moderne Heil- pädagogik im Besitze von Methoden ist, welche gestatten, diese intellektuelle Schwäche durch Übungstherapie erfolgreich zu bekämpfen.

Ich habe lange geglaubt, das Turnen sei ein gutes Mittel, den Willen und damit die Konzentrationsfähigkeit zu trainieren, aber ich habe das nicht durch die Erfahrung bestätigt gefunden. Der Militärdienst mit seiner vielen körperlichen Übung und seinem Turn-Drill hatte keine günstige Wirkung auf meinen Zustand.

Ich bitie Sie deshalb höflich, mir auf Grund Ihrer reichen Erfahrung eine Übungstherapie zu bezeichnen, welche geeignet ist, diese Schwäche zu heilen. Vielleicht haben Sie oder einer Ihrer Kollegen sich mit solchen Fällen befaßt. Ich wäre Ihnen außerordentlich dankbar, wenn Sie mir mit Ihrem geschätzten Rat auf den rechten Weg helfen könnten. Ich erwähne noch, daß ich im übrigen von gesunder Konstitution und geistig sehr regsam bin. lch bin Abstinent und Nichtraucher.«

Gerne bin ich bereit, die Antworten von Sachkundigen dem Betreffen- den direkt oder auf diesem Wege zu übermitteln. Die Frage hat zudem eine allgemeine Bedeutung für den Unterricht. Aufmerksamkeitsstörungen solcher und ähnlicher Art spielen bei vielen Kindern eine bedeutsame Rolle.

Trüper.

AnAnananan

D. Literatur.

Tews, J., Die Deutsche Einheitsschule. Leipzig, Julius Klinkhardt, 1917. UL. Auflage. 108 Seiten. Preis geh. 1,20 M.

Nachdem wir im Heft 4/5 unserer Zeitschrift (8. 191) die erste Auflage dieser Schrift ausführlich besprochen haben, wollen wir es nicht unterlassen, auf die in- zwischen erschienene zweite Auflage erneut mit allem Nachdruck hinzuweisen. Diese Werbeschrift des Deutschen Lehrervereins hat eingeschlagen! Aber damit ist für ihre Verbreitung noch immer nicht genug geschehen; denn sie gehört in jedes Haus mit deutsch denkenden Menschen.

Gleichzeitig sei bemerkt, daß die Verhandlungen der Gesellschaft für Volks- bildung über die Einheitsschulfrage im Anschluß an die Vorträge von Tews und Sivkovich als Sonderabdruck in mäßiger Anzahl auf Wunsch kostenlos durch die Geschäftsstelle der Gesellschaft für Volksbildung in Berlin NW. 52, Lüneburger Straße 21, bezogen werden können.

Berlin-Lichtenberg. Karl Wilker.

Wunderle, Georg, Aufgaben und Methoden der modernen Religions- psychologie. Ein Beitrag zur Einführung. (I. Beiheft zur »Christlichen Schule«.) Eichstätt i. B., Verlag der »Christlichen Schule«, 1915. IV und 103 Seiten. Preis geh. 2,60 M.

Wenn der Verf. der vorliegenden Arbeit auch keineswegs seinen katholischen Standpunkt verleugnet, so muß man ihm doch zugeben, daß er sich strengster Ob- jektivität befleißigt, auch da wo er von der protestantischen Theologie spricht. Er

eabsichtigt nicht, einen bibliographisch vollständigen Überblick zu geben, sondern nur eine Einführung in ein noch junges Forschungsgebiet. Daraus ergibt sich ohne weiteres eine Gliederung in zwei Hauptteile. Der erste Teil gibt uns eine Dar- stellung der geschichtlichen Entwicklung der theologischen, genetischen und in- dividualisierenden Religionspsychologie, während im zweiten Teil die Hauptrichtungen der Religionspsychologie der Gegenwart charakterisiert werden, als deren Vertreter

Wobbermins, Wundt, Starbuck und Meumann zu nennen sind.

Zusammenstellend stellt W. fest: Die Religionspsychologie ist eine empirische Wissenschaft; ihr obliegt die Untersuchung der Religion als seelischer Wirklichkeit; sie hat die religiösen und die damit konkret verbundenen sittlichen Erlebnisse des

416 D. Literatur.

individuellen Bewußtseins nach ihrer psychischen Erscheinungsweise festzustellen und zu beschreiben, zu ordnen und zu erklären; sie muß den Einfluß des religiösen Lebens auf die körperliche und seelische Gesamthaltung des Menschen untersuchen. Über die individual-psychologische Aufgabe tritt selbstverständlich die völkerpsycho- logische. Die Methoden der Religionspsychologie sind die der Selbst- und Fremd- beobachtung; bei Kindern kommt vor allem die gelegentliche Beobachtung natür- licher, ungekünstelter, lebensechter Äußerungen in Betracht. Für die Ausmünzung des gewonnenen Materials in religionsphilosophischer und theologischer Hinsicht kommt nur der Theologe in Frage, Psychologe oder Pädagoge allein sind dazu nicht imstande. Der Pädagoge wird ihr aber wegen ihrer Bedeutung für die Theorie und Praxis religiös-sittlicher Erziehung seine volle Aufmerksamkeit zuwenden. Berlin-Lichtenberg. Karl Wilker.

Zschommler, G. Martin, Unser Körper. Praktische Menschenkunde. Ana- tomie, Physiologie und Hygiene des menschlichen Körpers. Mit Bemerkungen über Entstehung und Verhüten der häufigsten Krankheiten. Als Begleitschrift zu seinen buntfarbigen Röntgenbildern für Unterricht und Selbststudium bearbeitet und mit 160 Faustzeichnungen zum Nachbilden versehen. Leipzig, Verlag von Rudolf Schick & Co., 1914. 213 Seiten. Preis 4 M.

Es ist sehr viel, was uns der Verfasser in seiner Aufschrift verspricht: es ist aber durchaus nicht alles einwandfrei, was er es uns bietet. Am besten ist das Wie die Belehrungsart. Die Beobachtungen, die er mit den Schülern anstellt, sind gut und belehrend; die Faustskizzen ebenso, wenn auch nichts Neues und Be- sonderes. Was aber die Wissenschaft betrifft es sei erlaubt, so zu sagen! so haben wir in manchen Fällen starke Bedenken und bezweifeln oft nicht nur die Form, in der sie geboten wird, sondern auch die Tatsachen. Feststehende Erkennt- nisse der Wissenschaft werden mit zweifelhaften Beobachtungen und Meinungen von Laien vermengt, so daß ein verschwommenes Bild entsteht, ebenso werden oft noch höchst unsichere Behauptungen und Ansichten einzelner Ärzte als allgemein gültig hingestellt. so daß auch dadurch Verwirrung in dem unerfahrenen Leser ent- stehen muß. Es ist hier nicht der Raum gegeben, auf die fraglichen Einzelheiten einzugehen, die sich besonders in den Bemerkungen über Entstehung und Verhüten der häufigsten Krankheiten finden.

Man sollte sich bei Abfassung solcher »Lehrbücher« erst fragen, ob dazu eine Notwendigkeit vorliegt, und es würde uns die unangenehme Pflicht erspart, Arbeiten, die mit großem Fleiß zusammengestellt sind, auch vieles Gute enthalten und doch durch ihre Unklarheit Irrtümer bergen, ablehnen zu müssen. Für die Zwecke des vorliegenden Buches haben wir in der Literatur glänzende Arbeiten von Fachleuten, besonders für Pädagogen geschrieben.

Meißen i. Sa. Kurt Walther Dix.

Bericht des Fürsorgeverbandes Leipzig über das Jahr 1915.

Der Bericht enthält einen Reichtum von sehr wertvollen statistischen Mit- teilungen, durch Kurven und Karten illustriert, sowie interessante Berichte über das Erziehungsheim Mittweida von Direktor Seipt, über das Heilerziehungsheim Klein Meusdorf von Direktor Knauthe, Ergebnisse ärztlicher Beobachtungen an Fürsorgezöglingen von Privatdozent Dr. Adalbert Gregot, Oberarzt an der Heil- anstalt Dösen und am Heilerziehungsheim Kleinmeusdorf.

Eingegangene Literatur.

Rübenkamp, Wilh., Der Weltkrieg in den Jahren 1914, 1915 und 1916. Mit 9 Abbild. und 5 Karten. Hannover 1917. 44 S. 30 Pf.

Berger, K., Für Vaterland und Freiheit. Ergänzungsheft für Lesebücher katho- lischer Schulen. Hannover. 130 8. 50 Pf.

Wewer, J., Aus großer Zeit. Bilder aus dem Weltkriege. Eine Ergänzung in den Lesebüchern für die reifere Jugend. Hannover 1916. 98 S. 50 Pf.

Simon, Wilhelm, Kriegsgedichte für Schulen (Sammlung). Hannover 1916. 50 8. 25 Pf.

Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.

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ee

A. Abhandlungen.

1. Wilhelm Rein und die Pädagogik der Gegenwart.

Lebensgang, Lebensarbeit und pädagogisches System Prof. Dr. W. Reins in Jena zu seinem 70. Geburtstage

dargestellt von Johannes Meyer, Bautzen (Sa.). (Schluß.)

2. Reins praktische Pädagogik (Lehre vom Bildungswesen).

Die praktische Pädagogik im Sinne theoretischer Betrachtung der Lebensverhältnisse, unter denen die Erziehung stattfindet, will die Grundbestimmungen auffinden für rechte Gestaltung öffentlicher und privater Erziehung. Sie handelt zunächst von den konkreten Formen der Erziehung.

Formen der Erziehung

L Einzelerziehung ll. Massenerziehung A ——— ————n ————— Private Erziehung 1. Private Erziehung 2. Öffentliche Erziehung Familie Anstalt Schule Haus-Pädagogik Anstalts-Pädagogik Schul-Pädagogik

Die Hauserziehung ist die Urform aller Erziehung, ihre Stätte die Familie mit der ihr eignen Geschlossenheit und kleinen Gemeinschaft. In der Familienerziehung liegen die günstigsten Bedingungen für die Pflege und Ausbildung des körperlichen Organismus und für die An- fänge der Gemüts- und Charakterbildung. Die Ansicht, die Familie ge- höre bald zu den organisatorischen Schöpfungen der Vergangenheit, ist trostlos, aber auch höchstens gerechtfertigt im Hinblick auf wenige

Zeitschrift für Kinderforschung. 22. Jahrgang. 27

418 A. Abhandlungen.

Teile des Volkes in Großstädten und Industriezentren. Die Familie bleibt der Hauptträger der Erziehung mit den ursprünglichsten und natür- lichsten Rechten an die Jugenderziehung.!) Der Wert der »guten Kinder- stube« ist groß, und die Jugend von den Einflüssen einer »schlechten Kinderstube« zu befreien, hält für die Schule schwer. Da die Familie zwar die ganze Summe der Erziehungskräfte aber nicht den ganzen Umfang der Bildungsmittel umfaßt, bedarf sie, sobald die Kulturarbeit höhere Stufen erreicht, der Hilfe der Schule, und zwar der Erziehungs- schule, die sich den Einfluß auf die Familie zu sichern weiß und mit innerem Interesse an der Gesamtentwicklung der Zöglinge be- teiligt ist. Eine erweiterte Familie bildet das Alumnat, Schule mit Internat, mit seinen Vorzügen und Nachteilen, wobei im wesentlichen zu unterscheiden sind: Knaben- und Mädcheninstitute, Waisenhäuser, heilpädagogische Anstalten für körperlich oder geistig Abnorme und Berufsalumnate (z. B. Kadettenhäuser).

Neben den Alumnaten, zum Teil private Unternehmen, nimmt das öffentliche Schulwesen in Deutschland einen ungleich größeren Raum ein und ist daher von grundlegender Bedeutung für das ge- samte geistige und wirtschaftliche Leben des Volkes.

In seiner Gliederung hat, wenn auch mit Verschiebungen und Verkürzungen, die soziale Ordnung des Zeitalters ihr Abbild, wie sich auch in ihm die wechselnden Bildungsideale spiegeln. Das Eindringen in die Vergangenheit und Entwicklung des Schulwesens gibt wert- volle Winke für Gegenwart und Zukunft.

(Siehe Seite 419 und 420.)

Die deutsche Volksschule ergibt sich für Rein mit Notwendigkeit aus dem evangelischen Kirchenbegriff. Die innere Freiheit des Christen- menschen setzt Bildung voraus und damit ist ein tiefgehender, nach- haltiger und allgemeiner Anstoß zur Volksbildung gegeben wie nie zuvor. Die Reformation leitet die Demokratisierung der Bildung ein.

!) Trüper, Die Familienrechte an der öffentlichen Erziehung. Langensalza, Beyer & Mann, 1892. Vergl. Johs. Meyer, »Pädag. Gedanken Johann Gottlieb Fichtes in seinen Reden an die deutsche Nation« (Päd. Warte, XIX. Jahrg., Heft 10): Fichtes radikalster Vorschlag zielt auf Abschaffung der Familienerziehung; mit ihm steht sein Name auf einer Kurve, die von Plato bis zur modernen Sozialdemokratie geht. Er übersieht damit einmal das nicht wegzuleugnende Verfügungsrecht der Eltern über ihre Kinder als Erzeuger und darum natürliche Erzieher derselben, zum andern unterschätzt er den Einfluß des Elternhauses, der doch zum mindesten insofern wertvoll ist, als er Gelegenheit zum Empfang und zur Betätigung natür- licher Sympathie und Liebe bietet. Ferner derselbe: Die Fortbildung der aus der Volksschule entlassenen Mädchen. Langensalza, Beyer & Mann. Pädag. Magazin, Heft 410.

—e

Meyer: Wilhelm Rein und die Pädagogik der Gegenwart. 419

Übersicht über die Entwicklung des Schulwesens in Deutschland

A. Heidnische Zeit (Familie) B. Christliche Zeit (Schule) I. Bis ins 12. Jahrhundert 1. Adel, Bauernschaft (ohne Schule) 2. Geistlichkeit. Lat. Schule; Kloster, Dom- u. Kollegiatstift U. Bis zur Reformation

1. Geistliche Schulen 2. Städtische Schulen Deutsche Schule Bürgertum

Universität (Prag) 1348 III. Von der Reformation bis ins 18. Jahrhundert

1. Lateinschule 2. Volksschule IV. Von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis jetzt 1. Gymnasium 2. Realschule 3. Volksschule Latein., Griech., a) E e Mädchen-Volksschule 3u. 9J. 3u 9J 8J.

Neuhumanismus b) Oberrealschule Pr (Mädch.-Gymn.) 9J. 2:3

c) Realschule 38

6 (7) J. S Höh. Mädchensch.—| & =

Mädch. Mittelschule) = 5

Übersicht über die gegenwärtige Organisation des Knaben- und Mädchen-Schulwesens.

A. Das Knabenschulwesen. B. Das Mädchenschulwesen. ne | œ || M.-Volksschule | ij, 5 8 Klassen |

Kn.-Mittelschule Fi 2 9 Klassen

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27*

420 A. Abhandlungen. Neugestaltung unseres Bildungswesens.!) I. Grundlage: Soziale Schichtung des Volkes. A. Untere Berufs- B. Mittlere Berufs- C. Höhere Berufs- schicht. schicht, schicht.

Handarbeiter, Tagelöhner, | Gewerbestand, Kleinhandel, | Großkaufmann, Großbesitz, Fabrikarbeiter, Kleinbauer, | Großbauer, mittlerer Ver- | Großindustrie, Beamtentum, niederer Verwaltungsdienst

waltungsdienst

Offizier, Gelehrte, Lehrer

Il. Ausführung: Das Bildungswesen im Anschluß an die soziale Schichtung. A. Erziehungsschulwesen.

ee Volkakindergarten, namentlich für die unbemittelten Kreise 2. Gemeinsamer Womeniet- Allgemeine Volksschule 1.—6. Schuljahr (Grundschule)

für alle Kinder

3. Trennung | Oberstufe der Realschule, iid Schulen 7.—12. Schuljahr der Kinder in | Volksschule Lyzeum 2, 3 Schulgruppen | 7. u.8. Schuljahr | 7. 10. Schul- a) Oberes a) Gymnasium (Knaben- und jahr Französisch, Griech., Lat,, Mädchen- Engl., Latein | Franz. \ wahl- Mittelschule) (wahlfrei) Engl. f frei b) Frauenschule c) Ober-Lyzeum | B. Fach- oder Berufsschulwesen.

4. Vielfache |1. Niederes Fach-|2. Mittleres Fach-

Teilung

5. Gemeinsame Ausbildung im Heer

schulwesen a) Allgem. obliga-

torische Fort-|

bildungsschule in Verbindung mit der Ober- stufe derVolks- schule 9.—12. Schuljahr b)Untere Fach- schulen, Hand- werkerschulen, Ackerbauschu- len usw. 9. bis 12. Schuljahr

schulwesen 11.—14. Schulj.

Technikum, Handelsschule, Kunstgewerbe- schule, Kunst- schule, Forst- schule, Bergbau-

schule usw.

3. Höheres Fachschulwesen 13.—16. Schuljahr a) Lehrer- u. Lehrerinnen-Seminar b) Akademie (Kunst-, Forst-, Berg- akademie usw.) c) Handelshochschule d) Technische Hochschule c) Universität

ee ee ee Eintritt in den Heeresdienst (Allgemeine Wehrpflicht Das weibliche Dienstjahr)

C. Freiwillige Fortbildung (Allgemeine Wahlpflicht)

Volkshochschulen, Fortbildungs-, Ferienkurse, Volksbüchereien, Lesehallen usw,

1) Vergl. W. Rein, Zur Neugestaltung unseres Bildungswesens. Jena, Eugen Diederichs, 1917.

Meyer: Wilhelm Rein und die Pädagogik der Gegenwart. 421

Die Entwicklungslinie der Volksschule verläuft durch den die wirt- schaftliche, sittliche und geistige Arbeit vielfach unterbrechenden 30jährigen Krieg über Amos Comenius (1592—1670), Herzog Ernst den Frommen (1601—1675), Friedrich den Großen (1712—1786), das General- landschulreglement 1763, Johann Heinrich Pestalozzi (1746—1827), Joh. Fr. Herbart (1776—1841), Fr. Dinter (1760—1831), Wilh. Harnisch (1787—1864), Adolf Diesterweg (1790—1866), Fr. Dittes (1829—1896), Karl Kehr (1830—1885), Fr. W. Dörpfeld (1824—1893) u. a.

Das Mädchenschulwesen ist abgesehen von der Mädchenvolks- schule seine eigene Bahn gegangen, zumeist als Privatschulwesen. Das Fachschulwesen ist wie das Erziehungswesen von oben nach unten gebaut worden. Sein Beginn ist die Universität und die Technische Hochschule. Nach Aufnahmebedingungen, Art des Unter- richts und Lehrzielen unterscheidet man niedere, mittlere und höhere Fachschulen.

Die prinzipielle Auffassung der Schulorganisation erwächst aus dem Rückblick auf die geschichtliche Entwicklung unseres Schul- wesens und weist Richtlinien für die Weiterentwicklung, für die drei grundlegende Gedanken festzuhalten sind.

1. Es gilt festzuhalten an tatsächlich bewährten Einrichtungen.

2. Es gilt Vorschläge für eine sich der Entwicklung des gesamten Volkslebens anschließenden Fortbildung des Bestehenden, wobei eine einheitliche Organisation anzustreben ist.

3. Es gilt unser Bildungswesen als einen aus der Kulturarbeit des Volkes sich ergebenden, sich ihr anschmiegenden Aufbau darzu- stellen. Zusammengehörigkeit der einzelnen Teile und Einheit- lichkeit des gesamten Lehrerstandes ergeben sich daraus.

Die geschichtlich gewordene Gruppierung unseres Bildungswesens in Erziehungsschulwesen und Fachschulwesen ist als eine Haupt- errungenschaft festzuhalten. Sie ergibt sich daraus, daß jeder ernst denkende Mensch eine doppelte Aufgabe hat: charaktervolle Durch- bildung seiner Innenwelt bis zu einer einheitlichen Weltanschauung und kraftvolle Erfüllung seines Berufes. Die Allgemeinbildung muß in der Berufsbildung ihre Ergänzung suchen.

Die wirtschaftliche Konkurrenz drängt hin auf eine frühzeitig be- ginnende Fachbildung, deswegen muß der allgemeine Unterbau breit und tief angelegt sein, um eine möglichst feste Grundlage für die sitt- liche und religiöse Charakterbildung zu schaffen und der Gefahr einer frühzeitigen Einengung des geistigen Horizontes zu begegnen »Erst Menschen, dann Spezialisten!« »In der Ausgestaltung des erziehenden Unterrichts als Grundlage des Fachunterrichts ist, bis zu einem ge-

422 A. Abhandlungen.

wissen Grade wenigstens, die Bürgschaft gegeben, daß die Volks- genossen einander näher bleiben, daß sie trotz der verschiedenartigsten Stellungen und Beschäftigungen das Verständnis füreinander und ihre Arbeit bewahren, —.« Die Allgemeinbildung muß die einzelnen Kulturbestrebungen zusammenhalten.

Die Forderung der Vereinfachung betrifft die Gruppe der Er- ziehungsschulen, nicht das Fachschulwesen, dessen vielseitige Spaltung durch die differenzierte und spezialisierte Kulturarbeit bedingt ist. Echt demokratisch im Geiste einer idealen Volksgemeinschaft gedacht, spitzt sich diese Forderung zu der Frage zu: Ist es möglich, der Ein- heit des Volkslebens Ausdruck zu geben in einer einzigen umfassenden Erziehungsschulart? Hiergegen sprechen die notwendige Teilung der Arbeit und die Verschiedenheit der Anlagen (»das Prinzip der Be- gabung hat den Schwerpunkt der künftigen Schulorganisation zu bilden«), nach denen sich die Schularten richten müssen. Der Gedanke des einheitlichen Schulsystems im Interesse des Zusammenhalts des Volks- ganzen kann trotz aller in Natur und Kultur vorhandenen Differen- zierung nicht aufgegeben werden.

Wie sich die geforderte Gliederung mit der Einheitlichkeit des Schulsystems verträgt, wird klar aus der vorausgeschickten Übersicht vom organischen Aufbau des Schulwesens.'!)

Das Volksschulwesen umfaßt:

Volkskindergarten, allgemeine Volksschule und Oberbau der Volks- schule, den letzteren verbunden mit der Fortbildungsschule. ?)

1) Auch in Preußen, dem Lande der Vorschulen, scheint sich der Gedanke von der Entbehrlichkeit dieser und die Überzeugung von der Notwendigkeit des »Einheitsschulsystems« unter dem Eindruck der Kanzlerlosung: »Freie Bahn für alle Tüchtigen!« (28. 1X. 1916) durchzusetzen. So verhandelte Anfang 1917 das Berliner Stadtverordneten-Kollegium über Umwandlung der ersten Berliner Mädchen- Mittelschule zwecks Schaffung von Aufstiegsmöglichkeiten aus der Volks- zur Mittel- schule und von dort zum Lyzeum. Die Vorlage erhielt die grundsätzliche Zustim- mung aller Parteien. Die drei unteren Klassen gehen ein, die nunmehr unterste Klasse wird aus Gemeindeschülerinnen bezw. Privatschülerinnen gebildet. Die Zahl der Freistellen wird von 10°, auf 25°/, demzufolge erhöht. Das Köllnische Gymna- sium wird nach Magistrats-Beschluß in eine Schule für begabte Gemeindeschüler- (6j. Realgymn.-Kurs) umgewandelt. Das Friedrichsgymnasium erhält für Gemeinde- schüler einen dreijährigen Realschulaufbau, der Einjährigenprüfung und Eintritt in eine Oberrealschule ermöglicht. Zahlreiche Freistellen, Lehrmittelfreiheit und Jahres- zuschüsse im einzelnen Falle bis zu 300 M sind vorgesehen. Vergl. ähnliche Be- strebungen in Hamburg u. a.

?) Das bedeutet eine Umgruppierung zum vielerorts Bestehenden, z. B. zu den Arten der Volksschulen nach dem Kgl. Sächs. Volksschulgesetz vom 26. IV. 1873 $ 3: Zur Volksschule gehören: a) die einfache, mittlere und höhere Volksschule, b) die Fortbildungsschule.

Meyer: Wilhelm Rein und die Pädagogik der Gegenwart. 423

Die Aufgabe des Kindergartens besteht darin, die häusliche Er- ziehung der Kinder vorschulpflichtigen Alters zu unterstützen und zu ergänzen durch geregelte Übungen des Leibes und der Sinne und naturgemäße Bildung des Geistes für den Volksschulunterricht vorzu- bereiten.!) Auf dem Prinzip der Selbsttätigkeit, Fröbels Grundgedanken, beruht der Kindergarten wie schließlich die gesamte Erziehung. ?)

Wenn der Kindergarten zwischen der ungleichmäßigen geistigen Verfassung der Kinder der verschiedenen Stände ausgleichend wirkt, räumt er der allgemeinen Volksschule nicht zu verkennende Schwierig- keiten aus dem Wege.

Die allgemeine Volksschule muß nach Rein als breite, gesicherte Grundlage des gesamten Bildungswesens 6 Jahrgänge umfassen. Für sie sprechen sozialpolitische und pädagogische Gründe, gegen sie Vor- urteile der Eltern und die psychologisch-didaktische Tatsache der ver- schiedenen geistigen Verfassung. Die Vorurteile werden beseitigt und die allgemeine Volksschule wird lebensfähig durch Festsetzung niedrig bemessener Höchstzahlen für die Klassen, durch möglichst weiten Aus- bau (an Stelle von 3 und 4 Jahrgängen 6) sowie durch treffliche äußere und innere Ausgestaltung. ®) =

Eine Gliederung nach der Begabung liegt im Interesse der Jugend und des Volkes. Sie erfolgte durch Herbart angeregt zuerst im Mann- heimer System Sickingers, das an bereits vorhandene Hilfsklassen bezw. -schulen (Schöpfer: Stötzner, Dresden 1864) anknüpft. Zwischen Hilfs- und Normalklassen stehen die Förderklassen. So ergibt sich als Ergänzung der Höhengliederung der Schule, begründet in der Differenz der Leistungsfähigkeit der verschiedenen Altersstufen, eine Quergliederung auf Grund der Differenz der individuellen Fähigkeiten gleichaltriger Schüler. 4)

Das Volksschulwesen hat sich auf seiner religiösen und nationalen Grundlage in sicheren, ruhig fortschreitenden Bahnen entwickelt im

1) Vergl. Dr. Joh. Prüfer, Kleinkinderpädagogik. Leipzig. O. Nemnich, 1913. Dr. P. Dietering, »Herbarts Stellung zur vorschulpflichtigen Erziehung als Beitrag zur Theorie einer künftigen Kleinkinderpädagogik«. 47. Jahrb. d. V. f. wissensch. Päd. Dresden 1915. 8. 240f.

2) Fr. Fröbel ist der Vorläufer des zeitgemäßen Arbeitsschulgedankens, der eigentlich nur noch Gegner in den Kreisen findet, die ihn irrtümlicher Weise als rein manuelles Prinzip auffassen.

3) Rein fordert die gemeinsame Grundschule im Gegensatz zu Herbart, der alle Schularten von unten an selbständig entwickelt haben will. Er ergänzt somit die gegebene Schulorganisation im Geiste eıner zeitgemäßen Sozialpädagogik, in der er auch in vieler Beziehung auf Dörpfeld weiterbaut.

4) Vergl. Dr. Heinecker, Das Problem der Schulorganisation auf Grund der Begabung der Kinder. Heft 113 der »Beiträge z. Kinderforschung u. Heilerziehung«.

424 A. Abhandlungen.

Gegensatz zu den Kämpfen um den inneren Ausbau und Charakter der höheren Schulen. Der Lehrplan der Volksschule enthält im wesentlichen alle wichtigen Bildungsfächer der höheren Schulen nur im engeren Rahmen nach dem für alle a ta gültigen Lehrplan-Schema:

A. Menschenleben B. Naturleben Historisch-humanistische Fächer Naturwissenschaftliche Fächer DE m m eu E N nn I.Gesinnungs- 11.Kunst- III. Sprach- I. Erd- il. Natur- III. Mathe- unterricht unterricht unterricht kunde kunde matik [— m ——— —— a= um Í m —_—— —— 1.Bibl. Ge- 1.Gesang 1. Mutter- 1l. Astron. Erd- 1. Natur- 1. Rechnen schichte 2. Zeichnen sprache kunde geschichte 2. Raum- 2. Profan- 3. Model- 2. Fremde 2. Phys. Erdk. 2. Naturlehre lehre Gesch. lieren Sprachen : z 3: Literatar- 4; Tornen. Handarbeits-Unterricht

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a) die alt- klass.

b) die modernen

Aus dem pädagogischen Bedürfnis heraus, Unterricht und Schul- leben mit dem Geiste der Erziehungsschule zu durchdringen, erwuchs das Streben nach einer Verbesserung und Durchführung des Klassenlehrer- systems und einer Beschränkung eines einseitigen Fachlehrersystems.

Zwischen Volksschulen und neunstufigen höheren Schulen stehen die Realschulen, die eine höhere in sich abgeschlossene bürgerliche Bildung für die mittleren Berufszweige schaffen. In Preußen wurde ihr Aufblühen etwas gehemmt durch die daneben bestehenden neun- klassigen Mittelschulen (einschließlich der Elementarklassen), die kaum einem besonderen sozialen Bedürfnis entsprechen dürften. !)

Für das höhere Schulwesen bedeutet 1901 durch Einführung der Gleichberechtigung der drei neunstufigen höheren Schulen, huma- nistisches Gymnasium, Realgymnasium, Oberrealschule, den äußern Abschluß einer Schulreform.?) Viele Fragen der Innenausgestaltung er- warten noch ihre Beantwortung von einer gesunden Zukunftspädagogik.®)

Aus der prinzipiellen Anerkennung der Notwendigkeit einer gleichen Ausbildung für Knaben und Mädchen .ist der Gedanke des Verzichts auf eine doppelte Organisation des Knaben- und Mädchen-

!) Vergl. dagegen Dr. Männel, Von der Schule des Mittelstandes (Mittelschule) in Preußen. Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung. Heft 120. Langen- salza, Beyer & Mann.

2) Im Kampf um die Gleichberechtigung des hum. Gymnasiums und der Real- anstalten sind zeitgemäße Dokumente die sogenannte Leipziger Erklärung 1917 von dortigen Univ.-Professoren, die Anschlußerklärungen z. B. von Freiburg und die Gegenerklärungen.

2) Hierzu nimmt sehr bestimmte Stellung Prof. Dr. Gerh. Budde in »Weiter- führung der Schulreform auf nationaler Grundlage«. Langensalza, Beyer & Mann, 1913. Ders., »Das Gymnasium des 20. Jahrhunderts.< Ebenda 1911.

Gesch. u. Spiel

Meyer: Wilhelm Rein und die Pädagogik der Gegenwart. 425

schulwesens erwachsen. Die Ungleichartigkeit der Geschlechter tritt hinter dem vielen Gemeinsamen zurück.!)

Die allgemeine Fortbildungsschule ist das Schmerzenskind unserer Schulorganisation, obgleich die Notwendigkeit einer Fortbildung der männlichen und der weiblichen Volksschuljugend außer Frage steht. Soweit Fortbildungsschulen mit Pflichtbesuch vorhanden sind, bedürfen sie noch besserer Organisation und Ausstattung im Interesse der moralischen, intellektuellen und technischen Ausbildung.

Der Zweck der Mädchenfortbildungsschulen, um die es noch schlechter bestellt ist als um die der Knaben,°) hat zur Aufgabe neben der allgemeinen und gewerblichen Ausbildung noch die haus- wirtschaftliche Schulung.®) Der Periode der obligatorischen folgt die der freiwilligen Fortbildung, in der u. a. Ferienkurse (vergl. II, 3), Volkshochschulkurse, Volksvorlesungen, klassische Theateraufführungen und Volkskonzerte wirksam sind.

Die Frage, in welcher Weise die gegebenen und die vorge- schlagenen Organisationen des Bildungswesens zu verwalten sind, läßt die praktische Pädagogik eingehen auf die Schulverwaltung mit folgen- den Themen: 1. Die Schulverfassungstheorie, 2. Die Ausstattung der Bildungsanstalten, 3. Ihre Leitung, 4. Die Lehrerbildung, 5. Die Lehrer- fortbildung. i

Die Schulverfassungstheorie will die prinzipiellen Grundlinien ziehen für die Verwaltung des gesamten Schulwesens. In der Ant- wort auf ihre Zentralfrage: Wem soll die Schule gehören? treffen die Auffassungen über das Verhältnis zwischen Staat, Kirche, Gemeinde und Familie zusammen, die Kämpfe zwischen den verschiedenen ent- gegenstehenden Weltanschauungen hervorrufen. Sie sind nur vom Standpunkte der Wissenschaft zu schlichten.

Die Anfänge der Schulorganisation gehen in Deutschland von der Kirche aus, ihr folgte die bürgerliche Gemeinde als Vertreterin der Familie, daneben übernahmen als Beauftragte der Familie einzelne Personen und Korporationen die Einrichtung von Schulen, schließlich nahm sich der Staat der Schulengründung an, gewann gegenüber den anderen sozialen Faktoren ein nicht unberechtigtes Übergewicht und wurde so zum Schulherrn. Da sich die Reformation auf das Prinzip der Gewissensfreiheit gründet, die nicht ohne geistige Freiheit denk- bar ist, die wiederum nur durch tiefe und freie Bildung erlangt wird, so leitet sie zugleich den Prozeß ein, der in Deutschland zur Vor-

1) Vergl. die Meinung des Verfassers in: »Die Fortbildung der aus der Volks- schule entlassenen Mädchen«. Langensalza, Beyer & Mann, 1910. S.öf. 2) a. a. 0. S. 3, 9f. °)a.a.0.S. 7—9, 15f.

426 A. Abhandlungen.

herrschaft des Staates in Bildungsangelegenheiten führte. Überdies hat die Gesamtheit, die im Staate ihre politische Zusammenfassung besitzt, großes Interesse am möglichst hohen Stand der Gesittung und Bildung. Die Staatsgewalt hat in Deutschland organisierend einge- griffen, indem sie jeden zwingt ein gewisses Maß von Kenntnissen und Fertigkeiten sich anzueignen, Anstalten zu deren Erwerb errichtet und der geistigen und sittlichen Verwahrlosung entgegenarbeitet. Seit der Reformation haben wir eine fortlaufende Kette von Regierungs- vorschriften zur Regulierung der Schulverhältnisse.

Die Ansprüche der am Erziehungswesen interessierten sozialen Faktoren sind gegeneinander abzuwägen und vorurteilsfrei miteinander zu verbinden. Seit Entwicklung des Parlamentarismus ist die Schule zum Kampfobjekt geworden durch Festsetzung des Verhältnisses zwischen Kirche und Schule einerseits und zwischen Staat und Schule andererseits. Der Pädagogik bleibt es vorbehalten, objektiv zu prüfen, inwieweit die einzelnen Forderungen berechtigt und zweckmäßig sind, um schließlich dauernden Frieden anzustreben, ohne den das Er- ziehungs- und Bildungswesen nicht gedeihen kann. Trotz der De- zentralisation in der Schulorganisation ist ein Reichsschulamt als Zentralstätte zu fordern.

Zu den Aufgaben der Schulverwaltung gehört es ferner, die Be- dürfnisse der Schule in bezug auf die äußere Ausstattung und Ein- richtung aufzusuchen und festzulegen, die Ausstattung des Hauses und der Räume unter die Gesichtspunkte der Zweckmäßigkeit und der künstlerischen Wirkung und Beeinflussung zu rücken,t) überdies die Art und Verwendung der Lehrmittel und schließlich die Personen- frage, soweit sie die Besoldung betrifft, zu erörtern.

Die Leitung der Schulen umfaßt einmal die Leitung durch Direktor oder Rektor, zum andern die Schulaufsicht durch die Schulinspektion. Der Direktor hat die Beziehungen zur Regierung, zum Kollegium und zum Publikum, zur Jugend herzustellen und zu pflegen. Die Schul- aufsicht muß aus sittlichen Gründen, aus pädagogischen Erwägungen und kirchlichen Interessen Fachaufsicht sein. Die Ortsschulaufsicht kann durch Einführung kleinerer Schulaufsichtsbezirke fallen, anderen- falls muß den Geistlichen pädagogische Ausbildung werden. ?)

Neben der richtigen Organisation ist im Erziehungs- und Bildungs-

1) Vergl. vom Verfasser »Das Problem der künstlerischen Jugenderziehung in der Pädagogik Prof. Dr. Reins« in Heft 8 von Prof. A. Hergets »Schaffende Arbeit und Kunst in der Schules. Leipzig, A. Haase, 1917.

2?) Vergl. hierzu: Dörpfeld, Die Leidensgeschichte der Volksschule. Güters- loh 1882. Ders., Die Grundgebrechen der hergebrachten Schulverfassung. Ebenda 1869. (Ges. Schr. Band VIII u. IX.)

Meyer: Wilhelm Rein und die Pädagogik der Gegenwart. 427

wesen die Personenfrage, die Lehrerbildung und -fortbildung von großer Wichtigkeit. Für die Volksschullehrerbildung ist die »alte Seminarmethode« mit einem auf den Volksschulunterricht beschränktem Wissen und dem dazu gehörigen technisch-methodischen Können über- wunden durch getrennte Allgemein- und Berufsbildung.!) Die Bildung der Lehrer für höhere Schulen erfordert das Gymnasial-Seminar, die Trennung der theoretischen Ausbildung durch die Universität von der praktischen durch die höhere Schule, selbst.) Eine besondere Auf- gabe in der gesamten Lehrerbildung kommt dem Pädagogischen Uni- versitäts-Seminar zu (vergl. II, 2).

»Jeder einzelne, der zum Lehrerstand gehört, übernimmt die Ver- pflichtung, nicht stehen zu bleiben bei dem, was Seminar oder Uni- versität mitgegeben haben, sondern rastlos und unermüdlich an der eigenen Vervopllkonmnung weiter zu arbeiten, um der Jugend zu dienen.« Neben dem Bücherstudium bedarf es besonderer Veran- staltungen (vergl. II, 3).

3. Reins Methodologie (Lehre von den Mitteln der Erziehung).

Nachdem das Erziehungsziel erkannt ist, gilt es mit Hilfe der Psychologie die geeigneten Mittel aufzusuchen, die auf seine Verwirk- lichung gerichtet sind; sie sind der Unterricht und die Führung (Hodegetik), die als Regierung und Zucht auftritt.

Die Lehre vom Unterricht.

Seit Ratke (1571—1635) und Comenius (1591—1670) ist die Didaktik in den Gesichtskreis des Erziehers gerückt, seit Pestalozzi (1746—1827) ist sie ein so vielfach behandelter Gegenstand, daß man in ihr des sicheren Führers bedarf. Der allgemeinen Didaktik wird, nachdem sie Klarheit über das Unterrichtsziel geschafft hat, die doppelte Aufgabe einer Darstellung der Theorie des Lehrplans und der des Lehrverfahrens.

Allgemeine Didaktik

A. Lehre vom Unterrichtsziel B. Lehre von den Wegen Anne nen mn rn an nn N an nn mn I. Die Theorie des UI. Die Theorie des Lehrplans Lehrverführens mn ne en nn a ———— 1. Von der Reihenfolge der 2. Von der Anordnung der

Bildungselemente nacheinander Bildungselemente nebeneinander 1) Vergl. das Preußische System mit Präparandenanstalt und Seminar und das Sächsische System nach seiner Reform durch Geh. Rat Dr. Müller-Dresden mit 7 (5 + 2) Seminarjahren auf 7stuf. Volksschulunterbau mit Vorkenntnissen in Latein. »Das Seminar als höhere Schule« von Altenburger Seminarlehrern. Leipzig 1911. 2?) Vergl. W. Rein, Kunst, Politik, Pädagogik. Langensalza, Beyer & Mann, 1914. II. Bd. 8. 20f.

428 A. Abhandlungen.

Der Unterricht wird berechtigte Ziele verfolgen, wirklich zweck- mäßig und erziehend wirken, wenn er:

1. ein unmittelbar tiefgehendes, nachhaltiges, freies Interesse er- zeugt; 2. für Vielseitigkeit der Bildung sorgt unter steter Berück- sichtigung der individuellen Anlagen; dem sittlich-religiösen Interesse die nötige Stärke sichert und damit die Einheit des Bewußtseins er- hält, mit der für später das Recht der Kritik Interessen gegenüber festgelegt wird, die der Gemeinschaft zuwiderlaufen.

Die Ziele des erziehenden Unterrichts sind zusammengefaßt im Begriff des Interesses, der nahe Fühlung mit dem Erziehungsziele hat und nur von ihm aus verständlich ist.

Die Lehre von der Methode des Unterrichts weist die Wege, auf denen das Ziel zu erreichen ist. Die heutige Methode ist das Ergeb- nis jahrhundertelanger Erfahrung und Denkarbeit, denen didaktischer Zynismus zuweilen in höheren Lehrerkreisen —- nackten Empirismus und Personalismus entgegensetzt. Methode und Persönlichkeit müssen in Eins zusammengehen.

Die Theorie des Lehrplans.

Die Lehrplantheorie ist ihrer Schwierigkeit wegen wenig bearbeitet worden,!) überdies ist die Gestaltung der Lehrpläne von seiten der Re- gierung bestimmt. Der Aufbau der hergebrachten Lehrpläne ist eine ge- schichtlich gewordene Größe, er stellt einen Kompromiß der berechtigten Forderungen der Kirche, des praktischen Lebens, der Fachwissen- schaften und der politischen Parteien dar. Eine prinzipielle Auffassung des Unterrichtsplanes in seinen Beziehungen zum obersten Erziehungs- zweck kann allein die Lehrplanfrage vor falschen Bahnen bewahren.

Die wertvollsten Anregungen für Auswahl des Lehrstoffs unter Berücksichtigung des Nacheinander stammen von Herbart, der dabei von Pestalozzi angeregt der kulturgeschichtlichen Entwicklung des Menschengeschlechts folgt. Ziller hat sie namentlich auf die Volks- schulerziehung übertragen und die Überzeugung vom Parallelismus zwischen Gesamt- und Einzelentwicklung berücksichtigt.?) Die Haupt- stoffe jedes Jahres gelten zugleich als Konzentrationsstoffe. Der Entwick- lungsgedanke in eigenartig didaktischer Fassung als Lehrplanprinzip hat sich am ehesten noch in den historischen Fächern durchsetzen können.

1) Vergl. die bahnbrechende Abhandlung von Dörpfeld, Grundlinien einer Theorie des Lehrplans. 1. Aufl, 1872. (Ges. Schr. Bd. II. Gütersloh, Bertelsmann).

?) Dieser letzte Punkt hat vielfach eine Verwerfung des Zillerschen Lehrplans hervorgerufen, unter seinen Verteidigern aber sind besonders O. Willmann und Th. Vogt zu nennen. Vergl. Dissertation von J. A. Kleinsorge, Beiträge zur Ge- schichte der Lehre vom Parallelismus der Individual- und Gesamtentwicklung. Jena 1900, ferner Capesius im Enzykl. Handbuch, III. Band, S. 406.

Meyer: Wilhelm Rein und die Pädagogik der Gegenwart. 429

An Herbarts und Zillers Begriff des Interesses in seiner Bedeu- tung für die Lehrplantheorie anschließend, darf der Lehrplan einmal nur das enthalten, was das Interesse des Schülers hervorzurufen und festzuhalten vermag (individuelle Forderung Formal-Prinzip), zum anderen, was in der Kulturarbeit des Volkes lebendig und imstande ist, sie zu fördern (nationalsoziale Forderung Material-Prinzip).

Aus der Berücksichtigung des Formalprinzips ergeben sich folgende grundlegende Tatsachen für die Lehrplangestaltung:

1. Die Auswahl der geistigen Nahrung muß sich genau an die geistige Entwicklung des Zöglings halten. 2. Diese schreitet in 3 Schritten vorwärts

in theoretischer Hinsicht: in praktischer Beziehung: Vorherrschaft der Phantasie Gebundenheit des Willens an äußere Autorität PR des Gedächtnisses Unterwerfung unter das Gesetz (Legalität) sr des Denkens Herrschaft des Sittengesetzes (Moralität)

3. Diese Entwicklungsstufen des normalen Kindes treten uns in der

Geschichte der Völker entgegen. }

Die Richtlinien für Gewinnung des Materialprinzips weist der oberste Erziehungszweck: 1. da der sittliche Charakter auf religiöser Grundlage nur innerhalb der Gemeinschaft wirken kann, muß er deren Lebensinhalt und -form kennen und verstehen, somit ist Inhalt und Form der gegenwärtigen Entwicklungsstufe Hauptstoff, 2. da dieser aber Ergebnis langer Entwicklungsreihen ist, muß zu seinem Erfassen von den einfacheren, zurückliegenden Verhältnissen zu den ent- wickelteren jetzigen fortgeschritten werden (»Das, was zeitliche Ferne ist, bedeutet für das Kind die psychologische Nähe«), 3. am Werden des geistigen Besitzstandes der Gesamtheit will der Unterricht das Werden des Einzelindividuums vollziehen, das Werden interessiert mehr als das Gewordene, das Prinzip des Interesses entspricht zu- gleich dem Werdegang der Kultur.

Der historisch-genetische Gang steht in schroffem Gegensatz zu der Anordnung nach konzentrischen Kreisen.!) Diese ehrwürdige Ordnung ist in Wahrheit eine Unordnung und prinzipiell nicht haltbar.

Der Lehrplan ist normal, wenn er alle Bestandteile enthält, die

1) Die Nachteile der Anordnung nach konzentrischen Kreisen überwiegen bei weitem die Vorteile derselben, der Kampf zwischen dieser Anordnung und der fort- schreitenden erzeugt den vermittelnden Lehrplan. Vergl. die Literatur über den Kampf Zillers und der Zillerianer gegen die konzentrischen Kreise in Rein, Pickel, Scheller, das 1. Schuljahr S. 58. Vergl. ferner Zillers fortschreitenden Lehrplan (nach kulturhistorischen Stufen).

430 A. Abhandlungen.

notwendig sind zur Erfassung der Hauptaufgaben, die der Gegenwart in der Fortführung der Kulturarbeit gestellt sind, so bedeutet die Zu- weisung des Religionsunterrichts, dieses Kernstücks des Lehrplans, an die Kirche, einen tiefgreifenden, nicht zu rechtfertigenden Einschnitt in die Normalität des Lehrplans; um diese zu wehren, gehört, daß beide Seiten unserer Bildung, die humanistische und die realistische, zu ihrem Rechte kommen.

Die angedeuteten Gedanken müssen für Gestaltung der Lehrpläne aller Erziehungsschulen maßgebend sein.

Innerer Ausbau des Lehrplans der Allgemeinen Volksschule): Die Hauptfehler geltender Lehrpläne sind: 1. Der Lehrplan des ersten Unterrichts knüpft nicht sorgfältig genug an die geistigen, gemütlichen und künstlerischen Fäden der vorschulpflichtigen Zeit an, 2. der Schwerpunkt des 1. Schuljahres liegt im Sprachunterricht, 3. der An- schauungsunterricht ist bei dem Sprachunterricht untergebracht, 4. der Rechenunterricht verfolgt zu hohe Ziele, 5. der Religionsunterricht tritt verfrüht auf, 6. die Pflege der Sinne und des künstlerischen Interesses wird vernachlässigt.

.In den ersten Schuljahren soll an Stelle der biblischen Erzählungen ein anderer geeigneter Erzählstoff treten,?2) der dem kindlichen Vor- stellungskreis angemessen ist, den religiös-sittlichen Anschauungen dieser Altersstufe entspricht,?) einfache Verhältnisse in kindlicher Form darbietet und den Anforderungen an echte Jugenderzählungen gerecht wird. Für den Gesinnungsunterricht werden folgende Stoff- gebiete als diesen Grundsätzen entsprechend vorgeschlagen:

1. Eine Auswahl deutscher Volksmärchen I. Schuljahr 2. Die Robinson-Erzählung 1. Fr

3. Eine Auswahl Thüringer Sagen (Heimatsagen) II.

4. Nibelungen- und Gudrun-Sage IV. k

Aus dem Kunstunterricht gehören in den Lehrplan der Grund- schule: Gesang, Zeichnen,t) Modellieren, Bildbetrachtung, Turnen, Spiel. Vom Sprachunterricht kommt für den Grundschullehrplan nur die Muttersprache in Betracht. Das bisherige Ziel des 1. Schuljahrs

1) Sie ist hier von Rein in der Pädagogik in system. Darstellung noch 4stufig gedacht, jetzt wird sie von ihm 6stufig gewünscht.

?) Vergl. zu den positiven Vorschlägen: Rein, Pickel, Scheller, Theorie und Praxis des Volksschulunterrichts nach Herbartischen Grundsätzen. 1.—8. Schul- jahr. Leipzig, Bredt. (Die einzelnen Bände z. T. bereits in 8. Aufl.)

3) »Alle unsere Lehrpläne leiden neben der Überfülle an Stoff an bedenklichen Verfrühungen von unten bis oben hin« (Rein).

4) Vergl. W. Rein, Erziehung und Leben, ausgewählte Abschnitte. Reclams Univ.-Bibl. 5932/5933 S. 157 f.

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Meyer: Wilhelm Rein und die Pädagogik der Gegenwart. 431

ist aber an das Ende des zweiten zu rücken (Wegfall der Fibel, vergl. Lesebücher zu den ersten Schuljahren von Rein, Pickel, Scheller) und mehr »Singen und Sagen« zu pflegen.

In den naturwissenschaftlichen Fächern haben die ersten Schul- jahre durchaus Naturkunde der Heimat zu treiben mit reichlichem und gründlichem Anschauen der Naturgegenstände. Der geographische Unterricht nimmt im 2. Schuljahr nicht als gesonderter Unterrichts- gegenstand, sondern innerhalb der Naturkunde auf Grund heimatlicher Beobachtungen und Spaziergänge seinen Anfang, das 3. Jahr kann dann’ einen gesonderten Gang heimatlicher Erdkunde bringen (Thür. Sagen Bodenständigkeit!), das 4. muß in Rücksicht auf Nibelungen- und Gudrunsage an, Rhein und Donau führen. Ein systematischer Lehrplan für Naturkunde kommt für die Grundschule außer Betracht.

Aus dem Gebiete der Mathematik handelt es sich nur um das Rechnen; im 1. Schuljahr ist der Zahlenraum 1—10 (außer Malnehmen, Teilen, Messen) zu behandeln, im 2. der von 1—100 (4 Grund- rechnungsarten), im 3. dann 1—1000 und im 4. der unbegrenzte Zahlenraum.

Gartenarbeit, Blumenpflege, Fortsetzung der Fröbelschen Kinder- gartentätigkeiten sind als praktische Beschäftigungen zu pflegen. !)

Für den Lehrplan ist somit zu fordern: Einheitlichkeit und Zu- sammenhang, Vereinfachung, weniger Fach- mehr Erziehungsunterricht, Ausbildung der Gemütskräfte neben der des Intellekts, Berücksichti- gung heimatlicher Verhältnisse, individuelle Gestaltung nach Bedürf- nissen, Sitten, Gewohnheiten und Verhältnissen der Landschaft. 2)

Die Forderung des historisch-genetischen Aufbaus der Lehrplan- stoffe wird um so mehr für den weiteren Aufbau der Erziehungs- schulen auf der allgemeinen Grundschule gelten.

Die historisch-humanistischen Fächer: In der Erziehungsschule kommt nicht ein dogmatischer, sondern allein ein religionsgeschicht- licher Unterricht in Betracht, weil in der Geschichte die ganze Macht dessen wirksam ist, was Menschen je erfanden, erfuhren, erdachten. Vom 5. Schuljahre an treten die biblischen Stoffe auf, zunächst eine Auswahl aus dem Alten Testament, die mit den Patriarchengeschichten, einem klassischen Stoff, einsetzt. Mit dem gleichen Zeitpunkte be-

1) Vergl. die Lehrpläne von Trüpers Erziehungsheim Sophienhöhe b. Jena, von den Landerziehungsheimen von Dr. Herm. Lietz, vom Erziehungsstaat Rein- Fichte-Schule zu Darmstadt (Johs. Langermann).

2) Vergl. Grundlinien zu einem Lehrplan für die vierklassige Grundschule mit Beziehung auf Thüringen in Rein, Pädagogik in systematischer Darstellung. IH. Bd. S. 150, 151. Langensalza, Beyer & Mann,

432 A. Abhandlungen.

ginnt die Profangeschichte auf volkstüämlichem Boden, national betont; sie hat die Kenntnis der deutschen Geschichte von Hermann bis zum inneren Ausbau des neuen Deutschen Reiches zu vermitteln. In Fort- bildungs- und höheren Schulen empfiehlt es sich, die Geschichte unter kulturgeschichtliche Gesichtspunkte zu rücken. Der Volksschullehr- plan verzichtet auf einen selbständigen Lehrgang der Literaturgeschichte; die höhere Schule hat einen Entwicklungsgang der Nationalliteratur in typischen Beispielen zu bieten durch Einführung in die Quellen. Für sie ist auch philosophische Propädeutik zu fordern.

Der Gesangunterricht hat das geistliche und weltliche Volkslied und das volkstümliche Lied zu pflegen im innigen Zusammenhang mit den anderen Unterrichtsfächern und dem Schulleben. Dem Zeichen- unterricht kommt eine Einführung in die darstellende Kunst in auf- steigender Reihe durch Vorführung typischer Formen zu.

Die Herrschaft des Lateinischen ist in unserem Gymnasium ge- schichtlich zu erklären; zweimal ist es allerdings bereits gestorben, erst als Volks- und Staatssprache, dann als internationale Gelehrten- sprache, und ein Nachspiel in Unterricht und Erziehung erscheint als möglich und erwünscht, denn »das Griechische muß in den Vorder- grund treten, da die Bedeutung der römischen Literatur in päda- gogischer Hinsicht sich mit der griechischen nicht entfernt messen kanne. Die modernen Fremdsprachen haben in den höheren Schulen die Geistesschätze der fremden Literatur zu übermitteln und daraus Elemente für die eigene Persönlichkeitsbildung zu gewinnen, daneben den praktischen Zweck zu verfolgen, die Sprache bis zu einem ge- wissen Grade sprechen und schreiben zu lernen.

Der Geographielehrplan umfaßt die Fremde und hat die nationale Behandlung der Erdkunde zu berücksichtigen.

Die Naturkunde hat an Stelle der poetisch-sinnigen Naturbetrach- tung die wissenschaftliche treten zu lassen.

In der Mathematik ist die Geschichte derselben zu berücksichtigen bei Aufstellung des Lehrplans, damit aber das Streben zu verbinden, arithmetische und geometrische Sachgebiete aufzustellen, die als ge- eignete konkrete Grundlagen und Ausgangspunkte für die Entwick- lung von Begriffen und Regeln dienen können.

Aus dem Handarbeitsunterricht kommt für die Erziehungsschule in Betracht:

1. Gartenarbeit | 2. Werkstatt-Arbeit 3. Laboratorium

Schulgarten; An-| a) Ton b) Pappe c) Holz d) Metall | im Anschluß schluß an Botanik |Modellieren Buchbinder- Tischlerei Schlossereil an Physik und Zoologie | (Plastilina) - arbeiten und Chemie

Meyer: Wilhelm Rein und die Pädagogik der Gegenwart. 433

Das zweite Stück der Lehrplantheorie ist die Untersuchung über das Nebeneinander der Bildungsmittel: Die Verbindung der Lehr- fächer, die Konzentration.!) Wir erkennen mit Herbart und Ziller für Gestaltung eines konzentrierenden Lehrplans eine ethische und eine psychologische Forderung an. Zerrissenheit ist nicht ethisches Ideal; die Idee des sittlichen Fortschritts verlangt Konzentration der geistigen Kräfte, Zusammenhang des Gedankenkreises, weil auf der Einheitlichkeit des gesamten Geisteslebens und auf der Einheit des Bewußtseins die Einheit der Person beruht. Da unsere mannigfaltigen Vorstellungen sich gegenseitig aufeinander beziehen und alle in der Ich-Vorstellung sich vereinigen, haben wir in der Einfachheit der Seele den Grund zu suchen dafür, daß alles, was durch Gegensätze und Hemmungen nicht geschieden ist, zur Vereinigung hindrängt. Für die Didaktik ergeben sich die beiden Forderungen: 1. für jedes Schul- jahr einheitliche, geschlossene, der Altersstufe entsprechende Ge- sinnungsstoffe (klassische Erzählstoffe) aufzustellen, 2. die übrigen Fächer den Hauptstoffen in zweckentsprechender Weise einzuordnen. Von größter Bedeutung für die Durchführung der Konzentration ist das Lesebuch, das herkömmlich encyklopädisch eingerichtet ist, statt daß es konzentrierend wirkte.

Encyklopädisches Lesebuch. Konzentriertes Lesebuch. ?)

1. Innerlich unzusammenhängende Stücke | 1. Wohlgeordnete Ganze, unter sich und nur lose mit dem übrigen Unterricht mit dem übrigen Unterricht eng ver- verbunden. knüpft.

. Generalisierend. 2. Individualisierend (Heimat).

. Zu viel und zu wenig bietend. 3. Ein treuer Begleiter des Lehrplans.

Die Theorie des Lehrverfahrens.

Nach Pestalozzi und Kant sind Anschauung und Begriff die Angel- punkte des psychologischen Lehrverfahrens. Demnach zerfällt der Lernprozeß seiner psychischen Entwicklung nach in die beiden Haupt- akte: Gewinnung der Anschauungen, des konkreten Vorstellungs- materials, Entwicklung des Begrifflichen aus dem anschaulichen Stoffe. Der Lehrstoff jedes Faches ist innerhalb jedes Jahreskursus wieder in seine organischen Glieder, in methodische Einheiten zu zer- legen. Für den Unterricht ergibt sich innerhalb jeder methodischen Einheit folgender Verlauf nach Angabe des Zieles: 1. Einleitung und

wm

1) Es ist an dieser Stelle ausgeschlossen, auch nur andeutungsweise auf den ebenso so lehrreichen wie umfassenden historischen Rückblick Reins hierzu einzu- gehen, vergl. Päd. in system. Darstellung. III. Bd. S. 206—221.

3) Vergl. z.B. die mit Rein, Pickel, Scheller »Theorie und Praxis ...« in Verbindung geschaffenen: Märchen- und Robinsonlesebuch, Thüringer Land, Volk und Kind, Nibelungen und Gudrun, Ingo und Ingraban. Leipzig, H. Bredt, z. T. schon 10. Aufl.

Zeitschrift für Kinderforschung. 22. Jahrgang. 28

434 A. Abhandlungen.

Vorbereitung des neuen Abschnitts durch Vorbesprechung, 2. Dar- bietung des Neuen zur Bearbeitung, 3. Vergleichung desselben unter sich und mit Älterem und Verknüpfung, 4. Ableitung der begrifflichen Resultate und Zusammenstellung in systematischer Ordnung, 5. Über- führen des erlangten Wissens durch Anwendung in den Gebrauch, in Können. !)

Die Zählung der Stufen ist nur Äußerlichkeit, die Sache selbst bleibt davon unberührt: ?)

Theorie der formalen Stufen. (Methodische Einheiten. Zielangaben: Haupt- und Teilziele)

2 a) Apperzeption?) en Be 1. Akt: Vorbereitung (1) Analyse : S Se A. Anschauen {2 Akt: Darbietung (2) Synthese } Klarheitsstufe } I. Bi; 33 b) Abstraktion gt SE B. Denken 3. Akt: Vergleichung (3) Assoziation II. z

9" 4. Akt: Zusammenfassung (4) System II. 8

A |C. Anwenden 5. Akt: Anwendung (5) Methode (Funktion) iv.)

Spezielle Didaktik.

Ihre Aufgabe ist es, zu zeigen, wie die grundlegenden Prinzipien der Allgemeinen Didaktik ihre Wirkung auf die Gestaltung jedes einzelnen Unterrichtsfaches äußern, wie jedes Fach im methodischen Aufbau entsprechend der Eigenart seines Inhaltes den allgemeinen Grundlagen gemäß eingerichtet werden muß. Zwei Wege kann die Spezielle Didaktik gehen:

1. Weg: 2. Weg: Anweisung von jedem einzelnen Unter- | Ableitung aus den Gesetzen der Allge- richtsfache aus. meinen Didaktik.

Methode des einzelnen Unterrichtsfaches | Methode des einzelnen Unterrichtsfaches vom Standpunkt der betr. Fachwissen- | vom Standpunkt der Allgemeinen Di-

schaft aus. daktik aus im Zusammenhang mit der Lücke: Psychologische Grundlage, betr. Fachwissenschaft. Ethische Bezogenheit. Wissen im Dienst der Charakterbildung. Überlieferung eines bestimmten Wissens- quantums.

Bei jedem Lehrfach sind zu betrachten: 1. Geschichtlicher Rück-

1) Die Ausführung im einzelnen, siehe W. Rein, Päd. in syst. Darstellung. III. Bd. S. 248—274.

2) Dr. Rich. Seyfert unterscheidet für die formale Verarbeitung des Stoffes innerhalb der methodischen Einheit 4 Lernstufen: 1. Einstimmung, 2. Erarbeitung des Neuen, 3. Einarbeitung in das Bewußtseinsganze, 4. formale Verarbeitung. Siehe Seyfert, »Die Unterrichtslektion als didaktische Kunstform«. Leipzig, E. Wunder- lich, 1916. 4. Aufl.

3) Dr. Karl Lange, Über Apperzeption. Plauen 1895. L. ist Schüler Zillers, vergl. von ihm: Tuiskon Ziller, Blätter der Erinnerung. Leipzig, Heinr. Matthes, 1884.

Meyer: Wilhelm Rein und die Pädagogik der Gegenwart. 435

blick, 2. Stellung und Aufgabe des Faches im Lehrplan, 3. Auswahl und Anordnung des Stoffes, 4. Beziehung zu benachbarten Gebieten, 5. Psychologische Durcharbeitung. !) Die Lehre von der Führung, Hodegetik. Die Mittel der Erziehung sind: 1. Unterricht 2. Führung (Didaktik) (Hodegetik) a) Regierung b) Zucht

Die Scheidung in Regierung und Zucht hat nur theoretischen Wert, in der Praxis gehen die.Maßregeln beider ineinander über. »Der Zweck der Regierung liegt in der Gegenwart, während die Zucht in die Zukunft des Zöglings schaut.« Umfaßt die Regierung viele getrennte, einzelne Akte, die gleichsam an der Peripherie der Er- ziehung liegen, so bedeutet die Zucht die fortwährende innere Zu- sammenstimmung des kindlichen Gemüts mit dem führenden Geiste des Erziehers. ?)

Die Regierung umfaßt vorbeugende und Unordnung beseitigende Maßnahmen. Die Kinder sind angemessen zu beschäftigen, wobei die Aufsicht zwar nicht aufhören aber zurücktreten kann. Zur Aufrecht- erhaltung der Ordnung und Beseitigung der Unordnung ist nötig Autorität von seiten des Erziehers und Liebe von seiten des Kindes; das Vorhandensein beider erleichtert die Regierung. Der Erzieher darf nicht zuviel befehlen wollen, in seinen Befehlen aber muß Ein- heitlichkeit herrschen, sie müssen durchführbar, verständlich, kurz und bündig sein, Festigkeit und Beharrlichkeit muß ihnen inne wohnen, als unpraktisch erkannte Befehle muß er offen zurücknehmen. Wie die Erfahrung lehrt, kann die Erziehung nicht ohne Verweis, Drohung und Strafe auskommen. Ziel der Regierung ist es, die zur Herstellung und Aufrechterhaltung der Ordnung gehörigen, festen Gewohnheiten im Schulleben heranzubilden, die Ordnung vor dem Unterricht, während desselben und am Ende desselben zu bestimmen, wie auch das leib- liche Wohl und Wehe des Kindes, seine körperliche Pflege im Auge zu behalten. 8)

1) Rein behandelt die Spezielle Didaktik in seinem 3bänd. Werke nicht be- sonders. Hier ist meines Erachtens nach breiter Raum für die experimentell-päda- gogische Forschung (vergl. Abschnitt V); vergl. Dr. A. W. Lay, Experimentelle Didaktik, 2 Teile, Leipzig, Quelle & Meyer, sowie die übrigen wertvollen Bücher, Lays, ferner: A. Rude, Methodik d. ges. Volksschulunterrichts, 2 Bände, Oster- wieck, A. W. Zickfeldt; Zeißig u. Fritzsche, Prakt. Volksschulmethodik, Leipzig, Klinkhardt und die besonderen Werke für die einzelnen Unterrichtsfächer.

2) Vergl. W. Rein im 4. Jahrb. d. Vereins f. wissensch. Pädagogik (1872).

3) Hier berühren sich die Regierung und die von mir im System als neu auf- tretend vorgeschlagene Lehre vom Kinde auf empirischer Grundlage, zu der uns

28*

436 A. Abhandlungen.

Die Zucht!) sucht unmittelbar und tiefgehend in die Charakter- bildung einzugreifen. Die Schule wird durch die Festigkeit ihrer Ord- nung, durch die Regelmäßigkeit ihres Lebens, durch die Nötigung zum bestimmten, regelmäßigen Handeln zu einer Schule des Willens. Ihre Gemeinsamkeit ist ein diesem Zwecke besonders dienstbares Mittel. Ein gesundes Schulleben bietet Veranstaltungen, die dem Er- zieher ergiebigen Zugang zum Kinderherzen eröffnen, sie lassen sich in zwei Gruppen teilen:

a) Die als Ergänzung des Unterrichts die Arbeit als Prinzip haben: . Schulwanderungen und Schulreisen, . Schulgarten und Blumenpflege, Tierpflege und Tierschutz, . Schulwerkstatt, . Schülervereine, . Ämter. b) Die als Prinzip Erholung und Erhebung verfolgen:

1. Spiele,

2. Schulandachten,

3. Schulfeste.

In der Gestaltung eines frischen und frohen Schullebens kann sich der hingebende Eifer des Schulleiters und des Lehrerkollegiums zeigen und bewähren.

oe w N e

Im Vorstehenden sind Wilhelm Reins pädagogische Gedanken und Anregungen, wohl geordnet und aufgebaut in einem übersichtlichen System, von uns angedeutet, wodurch diejenigen, die über Rein urteilen wollen, nicht enthoben werden vom Studium an den Quellen selbst. Dem System Herbart-Ziller-Reinscher Pädagogik oder besser noch dem durch Rein auf Herbartischen, Zillerschen und Dörpfeldschen Gedanken- gängen selbständig durch Bereicherung und Inbeziehungsetzen zur Gegenwart geschaffenen System kann etwas Gleichartiges und Gleich- wertiges von keiner anderen pädagogischen Richtung wohl nicht an die Seite gestellt werden. Ein gut Teil der Gedanken und Anregungen ist” leider noch nicht hinreichend in die Praxis umgesetzt worden, so daß etwa dadurch ihre Lebensunfähigkeit erwiesen worden wäre, wohl aber sind sie

E. Meumann die Richtlinien gezogen und wertvolles Material geschaffen hat, auf dem weiterzubauen ist (vergl. Abschnitt V). Schon Stoy betonte in seiner »Encyklopädie« stark die Diätetik.

1) Vergl. Prof. Dr. Karl Just, Charakterbildung und Schulleben, die Lehre von der Zucht. Osterwieck, A. W. Zickfeldt, 1907, in der wir eine Ergänzung zu seines Meisters, Tuiskon Ziller, Veröffentlichungen »Die Regierung der Kinder« und »Grundlegung zur Lehre vom erziehenden Unterrichte« sehen.

Meyer: Wilhelm Rein und die Pädagogik der Gegenwart. 437

mehrfach ausprobiert und als brauchbar und wertvoll anerkannt worden, so vor allem in der Übungsschule des P. U.-S. Es wäre somit unwissen- schaftlich und zum mindesten voreilig, heute den scharfsinnigsten Denker der Pädagogik, J. Fr. Herbart, seine gewissenhaften und sich ergänzenden Fortbildner T. Ziller (bes. Didaktik) und K. V. Stoy (bes. Hodegetik) samt ihrem geistvollen, theoretisch wie praktisch gleich bedeutenden Interpreten Wilh. Rein abzutun und das von ihm selbständig ge- schaffene System zum Dasein einer nur geschichtlichen Größe zu ver- dammen. Wie wir in der Philosophie heute in mancher Beziehung über Kant hinausgewachsen sind, so sind wir selbstverständlich auch in der Pädagogik vielfach über Herbart, Ziller, Stoy und Dörpfeld hinaus- gegangen, und dort eben steht Rein. Wie das Wesen der Klassiker unserer Literatur letzten Endes darin besteht, daß sie in vollendeter Synthese die Errungenschaften ihrer bedeutendsten Vorläufer ver- einigten und die Gegensätze derselben in Harmonie ausklingeu ließen, so erscheint das System Reins nicht als Tat eines Epigonen, sondern als die Schöpfung eines selbständigen, bedeutenden Pädagogen, der das als gut bewährte Alte der Vorgänger mit seinen neuen Gedanken vermählte. Daß sich eine aus Voreiligkeit, Voreingenommenheit und geringer Achtung vor einem philosophisch begründeten, geschichtlich gewordenen System geborene Ablehnung desselben, bevor Ersatz dafür geschaffen ist, bitter rächen würde, ist die Überzeugung auch der- jenigen Herbartianer, die das letzten Endes auf Herbart fußende System Reins nicht kritiklos hinnehmen (vergl. Abschnitt V).

V. Das Verhältnis der Herbart-Ziller-Reinschen Pädagogik zur experimentellen Pädagogik bezw. zur Pädagogik als empirische Forschung.

Die Pädagogik ist eine selbständige Wissenschaft. Diese immer noch umstrittene Tatsache ist das A und O in der Überzeugung Wilhelm Reins und Ernst Meumanns.!) Sie ist damit zugleich die ge- meinsame grundlegende Erkenntnis in der philosophisch begründeten Herbart-Ziller-Reinschen Pädagogik wie in der experimentellen Päda- gogik, die ihren namhaftesten Vertreter durch Meumanns frühen Tod am 25. April 1915 verloren hat. Fast alles pädagogische Denken und

1) D. von Trott zu Solz am 8. 6. 16 im preuß. Herrenhaus: »Ich bin be- müht, dieser Auffassung (daß die Pädagogik eine Wissenschaft sei und als besonderes Fach ihren Platz an den Universitäten zu beanspruchen habe), die von der größten Bedeutung für unser Erziehungswesen ist, Geltung zu verschaffen und ihr die Wege zu bereiten.«

438 A. Abhandlungen.

Schaffen, soweit es wissenschaftlich begründet ist, steht in mehr oder weniger engem Zusammenhang mit diesen beiden Hauptrichtungen und mit einer dritten, über die sich noch kein abschließendes Urteil bilden läßt, mit der neuidealistischen, auf Pestalozzi zurückgreifenden Pädagogik,!) die in Rudolf Eucken, dem Philosophen des deutsch- nationalen Idealismus, ihre wesentliche Stütze sieht. Wir stellen aber fest, daß Eucken vermutlich an der Konstruktion einer Gegnerschaft seiner Richtung zu Herbart, den er sehr hoch einschätzt, nichts ge- legen sein dürfte, denn er sieht in ihm mit Recht einen Träger des deutschen Idealismus.?) Weil ferner Eucken in seiner Philosophie der ewigen, einheitlichen, geistigen Welt höchste Bedeutung zuschreibt, erhalten in seiner Pädagogik die Geisteswissenschaften eine zentrale Stellung und damit gebührt bei ihm wie in der Herbart-Ziller-Rein- schen Pädagogik den Gesinnungsfächern besondere Pflege. Die Herbartische Pädagogik mit der Hegelschen ohne weiteres als in- tellektualistisch zu brandmarken und abtun zu wollen, halten wir für ungerechtfertigt, weil wohl nirgend anderswo auf die ethische Seite so starkes Gewicht gelegt wird als bei Herbart, der geradezu als Ver- treter einer Tugend- und Gesinnungserziehung von wieder anderer Seite bekämpft wird. Übrigens nähern sich bisher Fernerstehende auch mehr der Tugendpädagogik, so G. Kerschensteiner in »Charakter- begriff und Charaktererziehung«. (Leipzig, Teubner, 1915.)

Wenn es verkehrt ist, das Problem: Pestalozzi oder Herbart? zu stellen, weil diese Formulierung des Verhältnisses zweier früherer Pädagogen zueinander nicht auf Grund wissenschaftlicher Unter- suchung, sondern aus einer von vornherein eingenommenen Kampf- stellung und einseitigen Beurteilung heraus entstanden ist,3) so glauben wir ein anderes Problem, das die Gegenwart oder die Zukunft stellen dürfte, aus ähnlichen Gründen ablehnen zu müssen: Rein oder Meu- mann? Herbart-Ziller-Reinsche Pädagogik oder experimentelle Päda- gogik?

1) Dr. Kurt Kesseler, Neuidealistische Pädagogik. Päd. Blätter v. K. Muthe- sius, 1916, Nr. 9. Grundlinien einer deutsch-idealistischen Pädagogik. Langen- salza, Beltz, 1916. Zur Schulreform im Geiste des deutschen Idealismus. Langen- salza, Beyer & Mann, Päd. Magazin Nr. 619. Dr. Gerhard Budde, Noologische Pädagogik. Entwurf einer Persönlichkeitspädagogik auf der Grundlage der Philo- sophie Rudolf Euckens. Ebenda 1910.

2) Vergl. W. Rein. Noch einmal: Herbarts Intellektualismus. Päd. Studien XXXVII (1916). S. 338—342.

3) Vergl. W. Rein, Pestalozzi und Herbart, in Kunst, Politik, Pädagogik. II. Bd. Langensalza, Beyer & Mann.

Meyer: Wilhelm Rein und die Pädagogik der Gegenwart. 439

Rein und Meumann sind führende Größen der wissenschaftlichen Pädagogik im Ausgange des 19. und im 20. Jahrhunderte, beide als deutsche Hochschullehrer für Pädagogik berufen, eine maßgebliche Stimme in Erziehungs- und Bildungsfragen zu erheben, beide sind aus dem Rahmen ihrer akademischen Lehrtätigkeit weit herausgetreten durch ihre Vorträge und ihre weit verbreiteten Veröffentlichungen, !) beide haben eine zahlreiche, begeisterte Gefolgschaft gefunden, beide marschieren getrennt, um schließlich vereint zu schlagen. Im ersten Teile der zuletzt angeführten Doppeltatsache liegt die Veranlassung zu der angedeuteten Problemstellung, zugleich aber im zweiten Teile die Begründung zur Ablehnung derselben.

Zur Charakterisiorung der experimentellen Pädagogik und zur Kennzeichnung der persönlichen Stellungnahme Meumanns stützen wir uns auf dessen Hauptwerk (Vorlesungen usw.), das eine Einführung in die empirisch-pädagogische Forschung ist, das aber kein System der pädagogischen Erkenntnisse aus der empirischen, besonders ex- perimentellen Behandlung sein will und sein kann. Um eine uns bereits angekündigte systematische Pädagogik, ganz und gar auf empirischer Behandlung der pädagogischen Fragen beruhend, hat uns der frühe Tod des wissenschaftlichen Vertreters der experimentellen Richtung (in Zürich, Münster, Leipzig, Hamburg) gebracht. Wir möchten allerdings anzweifeln, daß es empirischer Forschung allein jemals möglich sein wird, ein vollständiges System zu schaffen. Ihre Bedeutung für Bearbeitung einiger Teilgebiete der Pädagogik ist dagegen längst erwiesen. Aber selbst derjenige, der den Fleiß, die Gründlichkeit und auch den Nutzen, mit denen die experimentelle Richtung forscht, mit uns hoch anzuerkennen weiß, kann nicht leugnen, daß es Probleme gibt, die schlechterdings das Experiment nicht lösen kann. So bleibt z. B. die Frage nach dem Erziehungsziel wie nach dem realen Inhalt

1) Von Ernst Meumann sind zu nennen:

Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik und ihre psycho- logischen Grundlagen. Leipzig, Engelmann. 2. Aufl.

Ökonomie und Technik des Gedächtnisses. Leipzig, J. Klinkhardt.

Intelligenz und Wille. Leipzig, Quelle & Meyer (zu vergleichen hierzu von Dr. Georg Anschütz, Prof. a. d. Univ. Stambul, Die Intelligenz. Osterwieck, Zickfeld).

System der Ästhetik Ästhetik der Gegenwart. Leipzig, ebenda.

Pädag. Monographien (etwa 10 Bände). Leipzig, Otto Nemnich.

Zeitschrift für pädag. Psychologie und experimentelle Pädagogik (in Verbindung mit O. Scheibner), jährl. 12 Hefte. Leipzig, Quelle & Meyer.

Die Psychologie in Einzeldarstellungen. Herausg. von H. Ebbinghaus und E. Meumann. Heidelberg, C. Winter.

440 A. Abhandlungen.

der Unterrichtspläne in der Religion, der Gesellschaftswissenschaft und zuletzt der philosophischen Spekulation ein Domänium der Ethik. Demzufolge entstehen Lücken, die die Schöpfung eines geschlossenen Systems unmöglich erscheinen lassen. Dr. Heinr. Scholz (Beilage zur Tgl. Rundschau Nr. 174) sagt: »Man ist von dem Glauben an die Magie des experimentellen Verfahrens zurückgekommen; man hat ein- gesehen, daß genaue Beobachtung ein psychologisches Erkenntnis- mittel ist, das neben dem Experiment nicht entbehrt werden kann, ja diesem sogar vorangehen muß. Die phänomenologische Richtung, die die seelischen Tatbestände, ehe sie sie einer Theorie unterwirft, erst einmal wirklich und in ihrem vollen Umfange zu erheben ver- sucht, hat bahnbrechend gewirkt; und es ist zu hoffen, daß die große hier zu leistende Arbeit immer mehr in den Vordergrund rückt.e Wohl kann der forschende Teil der Pädagogik, der die Erweiterung der Tatsachenkenntnis nach Meumann zur Aufgabe hat, selbständig von der empirischen Forschung geschaffen werden, nicht aber der systematische (M. führt selbst diese Zweiteilung ein). Auf der anderen Seite halten wir es aber für nötig, daß eine philosophische Pädagogik, wie die von Herbart-Ziller-Rein, in ihrem System den Ergebnissen der experimentellen Psychologie und Pädagogik mehr Raum gewährt, als es ein Teil ihrer Verteter bisher getan hat. Wir glauben darum, daß wir sehr wohl an eine Versöhnung der an sich gegebenen Gegnerschaft beider Hauptströmungen zum Zwecke eines wissenschaft- lichen Ausgleichs zwischen ihnen und zur Herbeiführung eines Kom- promisses denken dürfen, ohne daß wir damit einem stets gefährlichen Eklektizismus Vorschub leisten möchten. Die psychologisch-experi- mentellen Forschungen sind zum Teil Fortführungen der von Herbart und seiner Schule erzielten Forschungsergebnisse, wovon auch die Jahrgänge der »Zeitschrift für Kinderforschung« zeugen.

Ernst Meumann wußte sich mit Rein und anderen stets eins in der Wertschätzung für Herbart, der erst, wie auch er dankbar an- erkennt, eine Behandlung der Erziehungs- und Unterrichtsfragen er- möglichte, die den Ansprüchen wissenschaftlicher Begründung nach dem damaligen Stande der pädagogischen Hilfswissenschaften, ins- besondere der Psychologie und Ethik, genügen konnte. An seinen Ideen festhalten, heißt ihm aber die Pädagogik zum Stillstand ver- urteilen. Nichts liegt aber auch der Herbartischen Schule ferner als das. Sie ist heute eifrig bemüht, als richtig und haltbar anerkannte Forderungen der Gegenwart in die bewegliche Pädagogik Herbarts ein- zufügen und sie mit ihr in Einklang zu bringen. Das geht klar und deutlich aus Reins Auffassung von der Schule hervor: »Die Schule

_— rer

Meyer: Wilhelm Rein und die Pädagogik der Gegenwart. 441

ist nicht eine Welt für sich. Was die Schüler und Schülerinnen von ihr empfangen sollen, richtet sich nach den Forderungen der nationalen Kultur, in der die Jugenderziehung mitten inne steht als ein wirk- sames Instrument der Aufwärtsentwicklung des Volkes.« Was aber an Herbarts Lehre vor der gegenwärtigen wissenschaftlichen Forschung und praktischen Erfahrung nicht mehr standhielt, ist bereits von ihren geistvollen Fortbildnern Stoy, Ziller, Dörpfeld und Rein beseitigt oder umgestaltet worden. Für den aber, der die Arbeit dieser großen Herbartianer kennt, gibt es deshalb heute keine überholte oder über- wundene Pädagogik Herbarts, sondern eine den Bedürfnissen der Zeit angepaßte, mit den Ergebnissen neuer Forschung in Einklang gebrachte Herbartische Pädagogik. Das unauslöschbare Gefühl der Dankbar- keit gegen den ersten wissenschaftlichen Pädagogen und scharfsinnigsten Erziehungstheoretiker und seine dauernd wertvollen Gaben läßt uns an seinem Namen festhalten und von Herbart-Ziller-Reinscher Päda- gogik sprechen. Sein Erziehungsziel und seine Lehre vom Interesse sind dem Vorurteilsfreien heute noch unüberwunden. Wäre seine Pädagogik tatsächlich vom Intellektualismus beherrscht, dem wider- spricht aber schon die starke Betonung seines Tugendzieles dann führte sie höchstens bis zur Stufe der Zivilisation, mit der wir uns, wie der gegenwärtige Krieg eindringlich lehrt, nicht begnügen können; sie erzieht und bildet aber zur Pflege der Kultur, in der wir mit Rein unsere höchste Aufgabe erblicken.

Ernst Meumann bezweifelt die Tragfähigkeit des ganzen Unter- baues für die Pädagogik der Gegenwart und hält deshalb eine neue Grundlegung für nötig. Sie muß »dem Stande unserer gegenwärtigen philosophischen, medizinischen und naturwissenschaftlichen Einzel- disziplinen entsprechen, in bezug auf die Beziehungen des Erziehungs- wesens zur menschlichen Gesellschaft sich auf die Sozialwissenschaften stützen und als Individualpädagogik sich die Forschungsmethoden der experimentellen Psychologie wie deren Resultate und die der Kinder- forschung dienstbar machen, desgleichen die Ergebnisse aus Logik, Methodenlehre, Ethik, Ästhetik und der Psychologie des religiösen Lebens verarbeiten«. Das ist eine Forderung, die schon vor und neben Meumann und seiner Schule Dörpfeld und eine Reihe anderer Herbartianer, vor allem aber Trüper und Ufer, zu erfüllen trachteten. »Die Pädagogik ist die Wissenschaft von den Erziehungstatsachen. Mag sie noch so viel von den Resultaten der allgemeinen Psychologie, Pathologie, Logik, Ethik und Ästhetik für ihre Zwecke gebrauchen, sie rückt doch alle Resultate unter einen neuen nur von ihr angewandten Gesichtspunkt: den der Erziehung, und infolgedessen verändern sich auch alle schein-

442 A. Abhandlungen.

bar psychologischen, ethischen und anderen Probleme, wenn sie zu Erziehungsfragen werden.<« 1)

Beide Richtungen, die Herbart-Ziller-Reinsche und die experi- mentelle, betonen den pädeutischen Gesichtspunkt der Pädagogik über- haupt, den der Erziehung, außergewöhnlich stark. Herbart hat be- kanntlich keinen Begriff von Erziehung ohne Unterricht, wie er auch keinen Unterricht anerkennt, der nicht erzieht, und Rein wie auch Dörpfeld betonen in der Pädagogik Unterrichtslehre und Erziehungs- lehre.

In der experimentellen Pädagogik sieht Meumann die einheitliche Zusammenfassung alles dessen, was wir bis jetzt empirisch-pädago- gische Forschung nennen können. Daß man am den Namen »ex- perimentelle Pädagogik« streiten würde, sah er voraus, er hielt aber an ihm fest, weil sich in der von ihm vertretenen Richtung alles um die Anwendung experimenteller und ähnlicher, z. B. statistischer Methoden, konzentriert. Bereits beim Erscheinen der 1. Auflage seiner Vorlesungen 1907 gab er der Vermutung Ausdruck, daß sich viel- leicht schon in wenigen Jahren die Bezeichnung empfehlen würde: Die Pädagogik als empirische Forschung.

Die Ablehnung blieb wie vorausgesehen nicht aus. In seiner Pädagogik in systematischer Darstellung lehnte Rein den Namen und zum Teil auch die Sache ab. Diese Ablehnung stützt sich auf folgende Sätze:

»1. Die ‚experimentelle Pädagogik‘ ist ihrem Wesen nach eine descriptive Wissenschaft. Wir aber weisen der Pädagogik einen normativen Charakter zu. Ohne diesen hat sie überhaupt keinen Sinn.

2. Die wichtigsten Partien der Pädagogik, wie z. B. Teleologie, ja auch teilweise die Methodologie, lassen die Anwendung des Ex- periments nicht zu. Es ist aus diesem Grunde ganz unerfindlich, wie man eine experimentelle Pädagogik schaffen will, da man nicht einmal von einer experimentellen Didaktik, höchstens von einer experimentellen Methodik sprechen kann. Als Material für weitere Bearbeitung ist der Pädagogik die Anwendung des didaktischen Experiments willkommen. Doch ist hierbei die größte Vorsicht ge- boten, da sich der Dilettantismus auf diesem Gebiete um so mehr breit macht, als allem Neuen die pädagogische Modetorheit unserer Tage entgegenkommt.<« 2)

1) Welche Stellung Rein der Medizin, Logik, ‘Ästhetik usw. neben der als Hilfswissenschaft auftretenden Psychologie und Ethik einräumt, ist zu ersehen aus seiner »Pädagogik in system. Darstellunge. I. Band. S. 60—72.

2) a. a. O. I. Teil, S. 212 f.

nom ——

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Meyer: Wilhelm Rein und die Pädagogik der Gegenwart. 443

Wenn wir aus der Unzulänglichkeit des Experiments heraus den Namen experimentelle Pädagogik ablehnen, müßten wir auch z. B. die Bezeichnung »philosophische Pädagogik« aufgeben,!) denn allein mit Hilfe der Philosophie kommen wir heute ebensowenig aus in den mannigfachen Gebieten der wissenschaftlichen Pädagogik wie unter alleiniger Anwendung des Experiments und der ihm verwandten Methoden. Beide Benennungen deuten nur auf die in bevorzugter Weise jeweils gebrauchte Methode, hier das Experiment, da die philo- sophische Spekulation. Allein derartigen, gar zu leicht zum schnell und kritiklos hingenommenen Schlagwort werdenden Namen haftet der Charakter einseitiger Berücksichtigung an. Auch eine systematische Pädagogik ist mit ihrer Bezeichnung nur nach einer Seite hin, nach der formalen, kenntlich gemacht.

Weit wichtiger als der Einwand gegen den Namen ist der gegen die Sache selbst. Es muß festgestellt werden, daß man im Anfang eine übermäßige, bisweilen ungerechtfertigte Betonung der Vorzüge des Experiments betrieben und es auf Gebiete angewendet hat, auf denen es tatsächlich maßgebliche Aufschlüsse nicht gewähren, leicht aber zu Trugschlüssen zumal bei unvorsichtiger Anwendung, verführen kann. Für eine beschränkte Verwendung des Experiments in den Händen eines gewissenhaften Forschers wie Meumann ist nichts zu befürchten, wohl aber in der Möglichkeit des allgemeinen Gebrauchs auch durch Stürmer und Dränger und ähnliche die Wissenschaft stets schädigende Elemente. In der allgemeinen Verwendungsmöglich- keit beruht der Vorzug dieser Technik, zugleich aber eine Gefahr für sie. Hinsichtlich des Charakters der Pädagogik geht meine unmaß- gebliche Ansicht dahin, daß sie zwar eine vorwiegend normative Wissenschaft ist, daß aber die descriptiven Partien in ihr einmal vor- handen und zum andern auch notwendig sind.

Der Hauptgrund für Reins ablehnende Haltung zu Meumanns Werk, dem er an sich bleibenden Wert zuerkennt, ist sicher und mit Recht die Verwerfung dessen, was Herbart geschaffen hat, als Unter- bau für die Gegenwarts-Pädagogik.?)

Wir stehen nicht an, in Reins System auf Herbart-Zillerscher

1) Vergl. z. B. Prof. Dr. August Stadler t, Philosophische Pädagogik (heraus- gegeben von Stadlers Freund und Kollegen J. Platter-Zürich). Leipzig, R. Voigt- länder, 1911.

?) Vergl. auch hierzu: Dir. Dr. P. Dietering, Die Herbartsche Pädagogik vom Standpunkte moderner Erziehungsbestrebungen gewürdigt. Leipzig, Meiner, 1908, und W. Rein, Die Herbartsche Pädagogik im Lichte der Gegenwart. Langen- salza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

444 A. Abhandlungen.

Grundlage für gesicherte Ergebnisse experimenteller Pädagogik mehr Raum für die Zukunft zu finden als ihnen bisher zugestanden werden konnte, wollte man nur unumstößliche Wahrheiten aufnehmen. Unser Vorschlag am Ende der Ausführungen wird dies veranschaulichen.

Meumann sieht die größte methodische und materiale Neuerung der Pädagogik darin, daß sie alle Probleme vom Kinde aus entscheidet, so auch über die Tätigkeit des Lehrers, über die Art und Verwendung der Lehrmittel, über die Organisation des Bildungswesens. Aus dieser Beschränkung der Pädagogik auf die Untersuchung des Schulkindes ergeben sich bei ihm folgende pädagogische Arbeitsgebiete, die aller- dings einen tief gegründeten und breit angelegten Ausbau erfahren haben bezw. erfahren können:

1. Erforschung der geistigen und körperlichen Entwicklung des Kindes Allgem. während der Schulzeit. Grund- f2. Erforschung der Entwicklung einzelner geistiger Fähigkeiten des Kindes legung de z. B. Sinneswahrnehmung, Gedächtnis, Wille. experim. |3. Erforschung der kindlichen Individualitäten.

Pädagogik |4. Untersuchung der individuellen Begabungsuuterschiede. 5. Untersuchung über das Verhalten des Kindes bei der Schularbeit.

Didakt. (6. Untersuchung über die Arbeit des Kindes in den einzelnen Schul- Unter- fächern. suchungen (7. Die Tätigkeit des Lehrers.

Die große Bedeutung einer möglichst gründlichen und sicher gültigen Beantwortung der Fragen aus den angeführten Gebieten für ein zeitgemäßes System der Pädagogik ist über jeden Zweifel erhaben, aber das steht umgekehrt auch fest, daß sie allein nie ein ganzes System ausmachen können, da sie sich im großen und ganzen nur “auf die Tatsachenforschung beschränken. Auch sollte jemand, der auf historische Kenntnis wie auf Gewissenhaftigkeit in seiner Darstellung Anspruch erhebt, nicht verschweigen, daß alle diese Probleme teils schon von Herbart, später von Dörpfeld, Stoy, wie von Ziller mit seinem Seminar, sowie von vielen anderen Psychologen und Pädagogen herbartischer Richtung schon vor und neben Meumann in Angriff genommen wurden.

Ohne Zweifel bringt diese Neuerung der Pädagogik dann eine Gefahr, wenn man behauptet mit dieser Richtung allein auszukommen: das individualistische Gepräge. Wir glaubten den Individualismus in der Pädagogik als das Erbe von Herbert Spencer (1820—1903),!) als die Richtung von Ludwig Gurlitt, Ellen Key, Heinrich Pudor, Arthur Bonus u. a. glücklich überwunden zu haben in einer Zeit, in der ein

1) Herbert Spencer, Pädagogik auf darwinistischer Grundlage. Deutsch von Dr. Fritz Schultze. Leipzig, Haacke, 1898, vergl. auch Stadler a. a. O., S. 108 f.

Meyer: Wilhelm Rein und die Pädagogik der Gegenwart. 445

führender Geist wie Friedrich Paulsen!) sagen kann »Alle Pädagogik ist Sozialpädagogik stets gewesen: Lehre von der Erziehung durch und für die Gesellschaft,< und in der Wilh. Rein sein Einheitsschul- system mit Recht und unter vielseitiger Anerkennung auf die soziale Schichtung des Volkes gründet, und in der überdies der Individualis- mus von seiten der sogenannten Willenspädagogen wie Fr. Wilh. Förster?) durch schroffste Verteidigung des Primats vom sittlichen Willen erfolgreich bekämpft wird.

Das Kind ist uns ein wesentlicher nicht aber der alleinige Be- ziehungspunkt. Die Lehre vom Kinde erhält für uns um so größere Wichtigkeit als das Prinzip der Begabung zum Schwerpunkt unserer Schulorganisation wird. Deshalb geht unser Vorschlag dahin, den bis- herigen Teilen des Reinschen Systems, seiner Grundlegung, seiner Lehre vom Bildungswesen und der von den Mitteln der Erziehung, einen vierten Teil nebenzuordnen: die von seinen eignen Schülern und Freunden längst in Angriff genommene Lehre vom Schulkinde auf Grund gesicherter empirischer Forschung.

Das System erfährt damit keine Veränderung im Wesen und Charakter, sondern nur eine in bezug auf seine Struktur, eine Er- weiterung. Die Empirie ist kein neues Moment für Reins Pädagogik, denn er vertritt empirische Psychologie. Die Bearbeitung der Lehre vom Schulkinde durch Rein und seine Anhänger dürfte von vornherein Interesse beanspruchen, weil für Rein auch dieses Gebiet kein Neu- land ist, wie aus dem zweibändigen Werke hervorgeht, das er in Ver- bindung mit dem bekannten Hygieniker Hugo Selter herausgegeben hat: Das Kind, seine körperliche und geistige Pflege von der Geburt bis zur Reife. Es zeugte somit von mangelhafter Kenntnis Reins, wollte man ihm zum Vorwurf machen, er sehe im Kinde keinen Hauptfaktor der Pädagogik.?) Auf dem Gebiete der Kinderforschung sind Experiment, exakte, systematische Beobachtung und Statistik eine vom Mediziner wie vom Pädagogen anerkannte und bewährte Technik und Schüler wie Freunde Reins sind auf diesem Gebiete bahnbrechend tätig gewesen, wie u. a. die Mitarbeiterschaft derselben in dieser »Zeit- schrift« nebst den »Beiträgen« bekundet.

Für die Methodik begrüßt Rein das Experiment als willkommene

1) Friedrich Paulsens Pädagogik. Herausgegeben von Dr. Willy Kabitz (Paulsens Schwiegersohn). Stuttgart und Berlin, Cotta.

2) Fr. W. Förster, Schule und Charakter. Beiträge zur Pädagogik und zur Reform der Schuldisziplin. Zürich, Schultheß & Co.

3) Rein beteiligte sich z. B. mit besonderem Interesse an dem Berliner »Kongreß für Kinderforschung und Jugendfürsorge« (1906).

446 A. Abhandlungen.

Neuerung und seine im System absichtlich nur angedeutete spezielle Didaktik läßt sich leichterhand auf den gesicherten Ergebnissen exakter Forschung E. Meumanns, A. W. Lays u. a. breit und fest gegründet ausbauen.

Unser Vorschlag ist somit der, Unterricht und Erziehung der Gegenwart zu gründen auf die philosophisch begründete Herbart- Ziller-Reinsche Pädagogik unter weitgehender Einbeziehung der ge- sicherten Ergebnisse der experimentellen Richtung:

Das System in seinem bisherigen Die Pädagogik als empirische For- Aufbau: schung eingefügt: A. Grundlegung. B. Lehre vom Kinde (bezw. auch von C. Lehre vom Bildungswesen. der Familie). D. Lehre von den Mitteln der Er- ziehung: a) Allgemeine Didaktik. b) Spezielle Didaktik. c) Lehre von der Führung. d) Lehre von der Zucht. , Was erwarten wir von diesem Ausgleich, von dieser Annäherung: 1. Die volle Entkräftung des irrtümlichen Vorwurfs, die Herbart- Ziller-Reinsche Pädagogik gehe selbstgefällig an den Ergebnissen neuer Forschungsmethoden vorüber. 2. Die Bewahrung vor einem neuen System allein auf Grund empirischer Forschung, das als ein lückenloses undenkbar ist. 3. Die Schöpfung eines Systems zeitgemäßer Pädagogik, das beiden Richtungen bis zu berechtigten Grenzen Rechnung trägt und der Gegenwart im besten Sinne zu dienen vermag.

Wir sehen in der Vereinigung der philosophisch begründeten Päda- gogik Herbart-Ziller-Reinscher Richtung mit der Pädagogik als em- pirische Forschung, wie sie sich vorläufig als experimentelle Päda- gogik betätigt, eine Parallele zu zwei anderen Erscheinungen im Ge- samtbereich der Wissenschaften, einmal zum Handinhandgehen der Naturphilosophie und der exakten Naturwissenschaften im Naturwissen- schaftler, zum andern in der Verquickung der Geschichtsphilosophie und der vergleichenden Universalgeschichte im Geiste des Geschichtlers unserer Zeit.

Nachschrift: Durch Verzögerung des Druckes der Arbeit kann ein Teil der aus Anlaß des 70. Geburtstages von Rein veröffentlichten Arbeiten der pädago- gischen Fachpresse, der unterhaltenden Zeitschriften und der Tageszeitungen ge- nannt werden. Solche finden sich z. B. in:

Deutsche Blätter für erziehenden Unterricht, XLIV. Jahrg., Nr. 46, Sächs. Schulzeitung 1917, Nr. 28, Deutsche Schulpraxis 1917, Nr. 31, Schaffende Arbeit und Kunst in der Schule 1917, Heft 8*, Pfälzer Lehrerzeitung 1917, Nr. 16, Boden-

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Saupe: Die Einheitsschule. 447

reform 1917, Nr. 15, Daheim 1917, Nr. 44* (157. Kriegsnummer), Leipziger Neueste Nachrichten Nr. 218, S. 2, Unterhaltungsbeilage der Tägl. Rundschau Nr. 185.

Die mit * bezeichneten bringen auch Reins Bild, ebenso Reclams Universum Kriegsausgabe, 33. Jahrg., Heft 41.

Ferner: Das Lebenswerk Prof. Dr. W. Reins. Zu seinem 70. Geburtstag be- arbeitet von Schülern und Freunden, herausgegeben im Auftrage des Vereins der Freunde Herbartscher Pädagogik in Thüringen von B. Hofmann. Langensalza, Beyer & Mann, 1917. Preis 5 M., für Mitglieder des Herbart-Vereins 4 M.

Desgl. soll an dieser Stelle noch dem neuesten, Ende September 1917 er- schienenen Werke W. Reins Erwähnung getan werden: Zur Neugestaltung unseres Bildungswesens. Rückblicke und Ausblicke. Leipzig, K. F. Koehler, 1917.

` 2. Die Einheitsschule. Von E. Saupe in Halle. (Schluß.)

In einem Aufsatze in der Preußischen Lehrerzeitung 1916, Nr. 146!) wurde die Frage der Einheitsschule von Heinrich Kem- pinsky als eine rein politische Frage bezeichnet, weil sie der Ge- samtheit, dem Staate und dem Einzelwesen zugleich diene. »Sie will einmal alle Schulanstalten des Landes in Zusammenhang bringen, um dem Volksschüler jederzeit den Anschluß für seine weitere Ausbil- dung zu ermöglichen. Erst dadurch wird die Schule, insbesondere die Volksschule zu einem Institut der Auslese. Daß sie als solches wirkt, das verlangt die Wohlfahrt des Staates.e Auch die zweite Bestimmung der Einheitsschule, die Nutzbarmachung aller Begabten, die ebenso notwendig sei wie die Umwandlung von Ödland in Acker- boden, sei politischen Charakters.

Die Einheitsschule ist keine rein politische Frage, wie schon in der Einleitung dieses Aufsatzes dargetan wurde; es fließen in ihre Begründung mehrere Motive ineinander. Im wesentlichen werden drei Gründe für die Forderung der Einheitsschule angeführt, der nationale, der pädagogische und der kulturpolitische (vergl. Lüttge, Das deutsche Bildungsideal S. 702).

Zunächst der nationale Grund.

Unser Schulwesen, das wie auch Rein beklagt, ein Bild bedauer- licher Zerrissenheit und Zerklüftung bietet, will bisher dem Bedürfnis der einzelnen Stände dienen. »Die gesellschaftliche Zerklüftung des

1) Verlag von Gebrüder Jenne in Spandau. 2?) Verlag von Ernst Wunderlich in Leipzig.

448 A. Abhandlungen.

deutschen Volkes werde also auf das Schulwesen übertragen, Kasten- geist und Standesdünkel, wofür meist schon in der Familie der Grund gelegt wird, werden dadurch begünstigt. Eine gemeinsame Grund- schule, in der das Kind des Armen mit dem des Reichen, das Arbeiter- kind mit dem des Fabrikherrn und des höheren Beamten auf einer Schulbank säße, würde dazu beitragen können, in der Jugend ein gegenseitiges Verstehen zwischen den verschiedenen Volksschichten anzubahnen und das Gefühl völkischer Gemeinschaft zu begründen. Sie würde sozial ausgleichend und damit national einigend wirken.« Das deutsche Reich stehe nach außen geeinigt da; im Kriege habe sich auch im Innern die Einigkeit herrlich gezeigt. Die Schule solle ein Spiegelbild der Einigkeit sein und bleiben. Die Einheitsschule, so behaupten ihre Befürworter, werde diese nationale Einigkeit im Innern fördern.

Zu diesem nationalen Grunde kommt der bereits mehrfach er- wähnte pädagogische Grund. Jetzt entscheidet, wie die Freunde der Einheitsschule sagen, nur der Geldbeutel der Eltern, welche Schule die Kinder besuchen, während die Begabung einzig und allein ent- scheiden solle. »Daher kommt es, daß die höheren Schulen so viele Unbegabte mühsam weiterschleppen müssen, viele Begabte aber in den niederen Schulen auf eine weitergehende Bildung verzichten müssen, weil sie den rechtzeitigen Anschluß verpaßt haben. Vom Standpunkte der Erziehung ist zu fordern, daß jedes Kind zur mög- lichst hohen Entwicklung seiner Anlagen und Kräfte gelange, und das ist nur bei einer Schuleinrichtung möglich, für die nicht Stand und Vermögen der Eltern, sondern die Begabung der Kinder den be- stimmenden Gesichtspunkt bildet.« (Lüttge, a. a. O. S. 71.)

Hier begegnet sich der pädagogische Gesichtspunkt mit dem kulturpolitischen, den Kerschensteiner in seiner Schrift »Deutsche Schulerziehung in Krieg und Frieden«!) S. 138 bei seiner Begrün- dung in den Vordergrund rückt. Unser Staat ist ein Rechts- und Kulturstaat. Der Kulturstaat würde sich selbst schädigen, der von seinen hohen Schulen die Kinder aus anderen Erwägungen ausschlösse als aus mangelnder geistiger oder sittlicher Begabung. Er muß, wie Paulsen im »Deutschen Bildungswesen«!) S. 190 sagt, jedem »zu einem Maximum persönlicher Kultur und sozialer Leistungsfähigkeit zu verhelfen versuchene. Die Einheitsschule würde alle die bis- herigen Schranken beseitigen.

Diese drei Gründe für die Einheitsschule kehren in dem neueren

1) Verlag von B. G. Teubner in Leipzig.

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Saupe: Die Einheitsschule. 449

erziehungswissenschaftlichen Schrifttum immer wieder. So einleuchtend sie für den Augenblick sind, so ist doch die Forderung der Neu- gestaltung der Schule in ihrem Sinne nicht unwidersprochen geblieben. Ja, es ist eine heftige Erörterung um das Für und Wider entstanden.

Unter den Gründen gegen die Einheitsschule steht in erster Linie der Hinweis, daß eine Schulorganisation mit Rücksicht auf die soziale Gliederung unseres Volkes notwendig sei, da eine Wechsel- beziehung zwischen sozialer Lage und Intelligenz bestehe. Je reicher oder besser, je günstiger bei sonst gleichen formalen Intelligenzeigen- schaften die materiale Seite der Intelligenz bedient wird, desto besser vermöge sich die Intelligenz zu entwickeln. Die reichere und be- wegtere Umwelt setze die geistigen Kräfte mehr in Bewegung und Übung, gebe zu Fragen Anlaß, auf die ein Kind in günstigerer Lage im allgemeinen befriedigende und bessere Antwort bekommt. Der gesamte Intelligenzkomplex, auch die formale Seite, gedeihe in günstigerer sozialer Umwelt ‚anders als in geringerer sozialer Lage. (Hartnacke in der weiter unten genannten Schrift) Direktor Sell- schopp hat in den Rostocker Schulen beobachtet, daß die Unterrichts- ergebnisse in den Rostocker Bürgerschulen, in denen 16 bis 28 M Schulgeld erhoben wird, wesentlich besser seien, als in den ganz gleich eingerichteten Volksschulen mit 4 bis 8 M Schulgeld. Nach Hartnacke haben Feststellungen in Bremer Volksschulen erwiesen, daß in den breiten niederen Schichten verhältnismäßig nur wenige Kinder mit höherer Leistungsfähigkeit stecken. Von den Knaben des 3. Schuljahres wurden ınit Denkfähigkeit besonders gut bewertet:

In den entgeltlichen (sie unterscheiden sich von den unentgelt- lichen nur durch 20 M Schulgeld) Volksschulen 11,52 v. H., in den unentgeltlichen 2,9 v. H. In den entgeltlichen bleiben auch sehr viel weniger sitzen als in den unentgeltlichen.

Nicht versetzt in den entgeltlichen Schulen: unentgeltlichen Schulen:

Ostern 1913 3,25 v. H. 9,18 v. H. 1914 3,54 v. H. 8,87 v. H.

1915 3,09 v. H. 8,05 v. H.

1916 2,29 v. H. 7,10 v. H.

Ein sehr viel höherer Prozentsatz tüchtiger Schüler sitzt in Bremen in den (übrigens privaten) Vorschulen. In diesen dürfte ein Prozentsatz zwischen 20 und 35 auf die Knaben mit guter Denkfähig- keit entfallon. (Hartnacke, Auslese der Tüchtigen. Veröffentlicht in der Zeitschrift für Pädagogische Psychologie 1915, 1—2 und in der Schrift gleichen Titels, beide bei Quelle & Meyer in Leipzig).

Zeitschrift für Kinderforschung. 22. Jahrgang. 29

450 A. Abhandlungen.

Und Professor Stern hat auf Grund exakter Beobachtungen bei Schülern aus verschiedenen Ständen und Schulgattungen folgendes festgestellt: »Die soziale Schichtung ist für das Begabungsproblem von großer Bedeutung. Vergleichende Intelligenzuntersuchungen an gleich- altrigen Kindern aus verschiedenen Schichten haben stets ein höheres Durchschnittsniveau bei den Kindern der gehobenen Stände ergeben. Dies beruht nicht etwa lediglich oder auch nur vornehmlich auf dem besseren Unterricht, den die Kinder der Bessersituierten empfangen, z. B. in der Vorschule; denn der Unterschied bestand auch bei Kindern aus gleicher Schule. Zur Erklärung sind vielmehr vor allem zwei Faktoren heranzuziehen: der äußere Faktor der geistigen Atmo- sphäre des Elternhauses, die von den ersten Lebensjahren an das Kind der höheren Schichten mit den mannigfachen intellektuellen Anregungen überschüttet der innere Faktor der erblichen Selektion. Denn schon jetzt ergänzen sich die höheren Schichten, wenn auch unregelmäßig, aus aufsteigenden Tüchtigen der niederen Schichten, so daß hierdurch bereits die Kinder der gehobenen Schichten mit durch- schnittlich höherem geistigen Erbgut begabt sind.« (Die Jugendkunde als Kulturforderung.!) Stern nimmt zwar im Zusammenhange mit diesen Ausführungen weder für noch gegen die Vorschule oder Ein- heitsschule Stellung, aber auf ihn berufen sich die Freunde der Vörschule.

Dieser Begründung wird von Freunden der Einheitsschule wider- sprochen. Die oft beobachteten Unterschiede der Kinder seien viel- fach solche der Geistesäußerung, nicht der Geistesanlage, Unterschiede in dem, was rezipiert wurde und dank der Umstände rezipiert werden konnte, nicht solche der produktiven Begabung. Aus der größeren Geläufigkeit und Korrektheit der Sprache, aus dem Reichtum der Sachvorstellungen, aus den leichten Vordringlichkeiten mit Wissen und Mitteilungen folge nicht, daß die Kinder der guten Kinderstube in ihren Fähigkeiten bereits höher stehen als ihre Kameraden von der Straße, sondern nur, daß sie schon wichtiger genommen seien wie jene. In Klassen mit Schülern ständiger Mischung sei zu be- obachten, wie sich hier die Begabungen scharf scheiden, und zwar nicht konform den Ständen und sozialen Schichten. Es sei durchaus nicht gesagt, daß das sich langsamer entwickelnde Kind auch in seiner Begabung nicht zu derselben Höhe aufsteigen könne, wie das schneller sich entwickelnde; es könne, wie die Intelligenzuntersuchungen ge- zeigt haben, zu der gleichen Begabungsstufe fortschreiten wie der Durchschnitt der Kinder der höheren Bevölkerungsschicht. Die Ver-

1) Verlag von Quelle & Meyer in Leipzig.

Saupe: Die Einheitsschule. 451

erbungsgesetze seien übrigens nicht so einfach, daß die Kinder alle Mängel der Eltern aufweisen. Sonst müßten die Kinder eines und desselben Elternpaares völlig gleich sein, in ein und derselben Genera- tion einer Familie kämen neben hoher Befähigung auch Mittelmäßig- keit und sogar Schwachsinn vor. Die Gesetze des organischen Lebens bergen nicht Erstarrung, sondern neue Variationen und neue Schöpfung. Das mangelhafte Milieu sei nicht immer entwicklungshemmend, sondern stärke oft die geistige und moralische Kraft des Menschen, während umgekehrt oft die Fülle äußerer Lebensgüter die Begabung verkümmern ließe und in unsoziale und kulturfeindliche Entwicklungsbahnen lenke. Dr. Karstädt-Nordhausen bespricht in der »Deutschen Schule« 1917, Heft 8 u. 9 (Leipzig, Julius Klinkhardt) »Die bisherigen Forschungen über Begabungsverteilung nach sozialen Schichten«. Er kommt zu dem Ergebnisse, daß die Folgerungen über die Begabungsverteilung nach sozialen Schichten bisher jeder sicheren Grundlage entbehren und darum grundsätzlich unzulässig sind. Wir verweisen auf die zusammenfassende Arbeit, leider können wir wegen Raummangel nicht näher darauf eingehen.

Im Zusammenhange mit dem Einwande, der auf das Verhält- nis von geistiger Befähigung und sozialer Herkunft zurückgeht, steht ein anderes Bedenken gegen die Einheitsschule, das besonders von dem bekannten Moralpädagogen F. W. Foerster, München im Hochland,!) Dezember 1916, gegen die Einheitsschule geltend gemacht wird. Es sei ein großer Irrtum, anzunehmen, jenes Zusammensitzen von Kindern aus sehr verschiedenen Gesellschaftsschichten müsse ohne weiteres veredelnd wirken, als ob die gebildeten Kinder durch ihre besseren Sitten erziehend auf die ärmeren Kameraden einwirken, während diese wiederum mit besonderen sittlichen Vorzügen, die in der Armut gedeihen, die reichen Kinder beeinflussen. Das seien Illusionen, die in Zeiten gedeihen, wo das gesammelte Beobachten des wirklichen Lebens ganz hinter dem Theoretisieren zurücktritt. Die Mischung sehr extremer Klassengegensätze in stundenlangem täg- lichen Verkehr wirke verwirrend auf beide Teile; auf dieser Alters- stufe sei das Kind der Verarbeitung solcher Eindrücke noch nicht gewachsen. Jede Eigenart müsse zu einer gewissen Abgeschlossenheit kommen, ihren eigenen Stil entwickeln, ehe sie erziehend auf die andern wirken könne. Es sei deshalb aus dem Grunde verkehrt, so verschiedene Lebenssphären in frühen Jahren zusammenzutun, eine gewisse Geschlossenheit der Atmosphäre sei durchaus angebracht.

1) Verlag von Joh. Kösel in Kempten. EN

452 A. Abhandlungen.

Übrigens habe gerade der Volksmann und Volkskenner Pestalozzi immer wieder eine Hineinbildung des Volkes in seine eigentümliche Lebenssphäre, eine Vergeistigung dieser Sphäre, nicht aber eine Heraus- bildung aus ihr, dringend empfohlen.

Kerschensteiner hat demgegenüber in dem obengenannten Buche wohl zugegeben, daß das Milieu auf die geistige und sittliche Entwicklung des Kindes einen großen Einfluß ausübt; aber das sitt- liche Milieu in der Familie eines gelernten Arbeiters sei nicht stets und unbedingt geringer als das sittliche Milieu in der Familie eines Geheimen Kommerzienrates. Das Milieu des Überflusses sei für viele zum Sumpf geworden, während die Entbehrung oft sittliche und geistige Kraft verleihe. Eine Vereinigung der Kinder verschiedener Stände wirke auch in moralischer Beziehung für alle Teile fördernd.

` Die Vorschule, so wendet man weiter ein, sei kein Produkt der einseitigen Standesbildung, sondern ein organisches Erzeugnis der auf Erkenntnisunterricht abzielenden höheren Lehranstalten, während die Volksschule nicht Erkenntnisse, sondern nur Kenntnisse vermitteln könne. Das Lehrverfahren der höheren Schule unterscheide sich grundsätzlich von dem der anderen Schulen. Das Lehrverfahren der unteren und mittleren Schulen ist auf die Verstandesbildung für den Erwerb von Kenntnissen und Fertigkeiten gerichtet, der höheren dagegen auf Erkenntnisbildung. (Ferd. Jacob Schmidt, Das Problem der nationalen Einheitsschule.t) Während der Volksschulunterricht auf das praktische Leben vorbereite, wollen die höheren Schulen ihre Schüler von unten herauf zu wissenschaftlichen Arbeiten erziehen. Gegen den ersteren Einwand wendet sich überaus scharf Professor Natorp- Marburg in seiner Schrift: Die Einheitsschule.?2) Er meint, mit dieser Begründung sei der deutschen Volksschule ein arger Schimpf angetan; denn das Streben nach wissenschaftlicher Pädagogik seit Pestalozzi habe betont, daß gerade in den Elementen die höchste erzeugende Kraft der Erkenntnis liege. Die Grundbedingung für jede fruchtbare Aneignung, für jede tiefere Durchdringung sei die Klarheit des Einzelnen. Die wissenschaftliche Pädagogik aller Richtungen stimme Pestalozzi zu, daß es nur eine richtige Unterrichtsform gibt, die auf den Gesetzen der Natur des Kindes beruhe; das gelte für Volksschule und höhere Schule zugleich. Auch die höhere Schule sei falsch ge- kennzeichnet, denn nur etwa 5 v. H. der Schüler der höheren Schulen besuchen die Vorschule, die übrigen vorher die Volksschule, diese

1) Verlag von Eugen Diederichs in Jena. 2) Verlag Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Berlin.

Saupe: Die Einheitsschule. 453

kämen also ohne Erkenntnisbildung zur höheren Schule. Es sei auch sehr bestreitbar, daß die sprachlichen Kunstausdrücke, die in der Vorschule gedrillt werden, ein hervorragender Bestandteil höherer Methode seien. Übrigens werde der »wissenschaftliche« Unterricht in den Vorschulen von seminarisch gebildeten Lehrern, also solchen ohne die sogenannte wissenschaftliche Bildung erteilt. Auch ginge ein großer Teil der Schüler der höheren Schule zu praktischen Berufen über; nur ein kleiner Teil gelange zur Hochschule.

Bei den Freunden der Einheitsschule, so hat man weiter einge- wandt, handle es sich nicht eigentlich um Einheit, sondern um Gleich- heit, diese Schule müsse also Gleichheitsschule heißen. Tews verlange für die ersten 6 Schuljahre gleiche Lehrpläne für alle Schulen. Es sei ein fundamentaler Irrtum der Gleichheitsschwärmer, daß sie glauben, durch die Gleichheit des Unterrichts eine nationale Erziehung zu ermöglichen. Dieser Grund gegen die Einheitsschule ist mit dem Nachweis zurückgewiesen worden, daß die maßgebenden Befürworter der Einheitsschule, z. B. Kerschensteiner in seinem Vortrage auf der Deutschen Lehrerversammlung in Kiel, es als eine unverzeihliche Torheit bezeichnet hätten, wenn man die Einheit der gesamten Or- ganisationen mit der Einzigkeit des Lehrplanes verwechselt habe. Die »Gleichheit« solle darin bestehen, daß jedes Kind im deutschen Reiche den gleichen Anspruch habe, nach Maßgabe seiner geistigen und sitt- lichen Begabung erzogen zu werden und nicht nach Maßgabe des Geldbeutels der Eltern. Die Schule habe einen Grund zur Einheit ebensowohl für den Verstand im Unterricht wie für den Willen in der Erziehung zu legen, dadurch würde eine Differenzierung nicht nur zugelassen, sondern geradezu gefordert. Und diese Differenzierung dürfe nie vom Einheitsgrunde sich loslösen, der in jedem Sinne eben- sowohl Einheitsgrund des Verstehens und des Wollens sei. Die Ein- heitsschule sei eine Organisationsform, die eine gewisse, freilich be- dingte Grundlage für die Gemeinschaft des Verstehens und Wollens biete und möglichst auch verwirklichen würde. Die Schule verdiene eher Gleichheitsschule genannt zu werden, die allen denen gleichen Unterricht biete, die den gleichen Geldbeutel haben oder von gleicher Geburt seien.

Als wichtigsten Einwand bezeichnen die Gegner der kinheits- schule: Die Einführung der Einheitsschule würde die Vergewaltigung eines der heiligsten Lebensgüter, eine Vergewaltigung der Familie zur Folge haben, da die Lehrer die Entscheidung darüber hätten, wer die mittleren und höheren Schulen besuchen dürfe. Die Familie dürfe sich aber die sittliche Verantwortung für die Bestimmung des

454 A. Abhandlungen.

Bildungszieles der Jugend nicht nehmen lassen, sonst höre sie auf. Familie im wahrhaften sittlichen Sinne zu sein. Die Freunde der Einheitsschule weisen demgegenüber darauf hin, daß die Schule nie etwas anderes tun könne, als den Eltern kraft ihrer Erfahrung einen guten Rat zu erteilen. Die Einbeitsschule wolle durch die Verpflich- tung zum Besuche einer Grundschule von mehreren Schuljahren den Eltern die Entscheidung für diese oder jene Schulart erleichtern, die Entscheidung für Beruf oder Schule habe dann größere Aussicht auf Richtigkeit. Ob die Eltern den Rat der Schule befolgen, bleibe ihrer Einsicht überlassen. In einer wohlgegliederten, nach Begabung diffe- renzierten Einheitsschule könne die Schule einen besseren Rat er- teilen, als in der heutigen Sackgassenschule. Die Gegner der Ein- heitsschule lassen diesen Rat nicht gelten. Sobald die Einheitsschule unentgeltlich sei, folge daraus die Zwangsauslese. Dann aber habe jeder das Recht, für seine Kinder einen Platz in einer höheren Schule zu beantragen. Es würde aber dadurch eine ewig fließende Quelle von Verdruß und Mißtrauen zwischen Schule und Elternhaus aufgetan. Wenn man einwandte, daß alle Auslese doch unsicher und es deshalb besser sei, gar nichts zu tun, als durch kostspielige Einrichtungen Ungeeigneten Mut zu machen, Unzufriedenheit und Streben über den Stand hinaus zu verbreiten und das Gelehrten-Proletariat zu vermehren, so hat man darauf erwidert, daß jede rationelle Auslese den einen oder den anderen Fehler mit sich bringen könne. Trotzdem müsse daran festgehalten werden, daß jede, auch eine mangelhafte, Auslese nach Begabung, Kenntnissen, Eignung und Würdigkeit besser sei als keine Auslese oder eine solche nach dem Besitz. Zur Sicherung der gesamten geistigen Haltung und Höhenlage ist die Auslese weder entbehrlich noch ersetzbar, auch wenn sie zu einzelnen Fehlern führe. Es fehle in unserm Leben doch auch nicht ganz an Einrichtungen, durch welche die Fehler der Auslese nachträglich wieder gut gemacht werden könnten. Die Auslese werde zur Erhaltung des deutschen Geistesniveaus und zur Steigerung der beruflichen Schaffenskraft unseres Volkes dienen. D. Baumgarten in Kiel hat in seinem oben- genannten Buche: »Erziehungsaufgaben des Neuen Deutschlands« als entscheidenden Einwand gegen die Einheitsschule die Gefährdung der soliden Berufs- und Fachbildung durch jene bezeichnet. (A. a. O. S. 83.) Es sei nämlich in keiner Weise erwiesen, daß die unbedingt zu fordernde intensive Pflege der humanistischen, zumal aber auch der realistischen Vorbildung für die höheren Berufe, die gelehrten zumal, sich ohne Schaden für ihre Gründlichkeit und sichere formale, metho- dische Schulung in der wesentlich verkürzten Zeit erreichen läßt, die

Saupe: Die Einheitsschule. 455

die Einheitsschule im Interesse des direkten Anschlusses an die niederen Stufen ihr nur übrig läßt. Die intellektuelle Kraft eines Volkes sei mehr bedingt durch eine intensive Höchstkultur führender, als durch die Hebung der Höhenlage mittlerer Geisteskräfte.

Darauf erwidern die Freunde der Einheitsschule, daß die höheren Schulen nur von hervorragend begabten Schülern besucht werden sollten, diese würden das Endziel in einer kürzeren Zeit leichter er- reichen als heute, wo auch viele Unbegabte in den höheren Lehr- anstalten sitzen.

Noch ein anderer Einwand wird erhoben. Man behauptet: Wenn jeder befähigte Schüler das Recht habe, die höhere Schule und die Hochschule auf Kosten der Allgemeinheit zu besuchen, so müssen daraus für alle Berufe die Folgerungen gezogen werden. Höhere Schulen und Universitäten seien zwar keine eigentlichen Berufsschulen, aber sie dienen doch der Berufsbildung. Nun ist nach Kerschen- steiner der ein guter Staatsbürger, der seinen Beruf voll und ganz ausfüllt. Wenn der Staat nur die Schulbildung und alle damit ver- bundenen Kosten bestreite, so müsse er für jeden anderen Beruf, auch für alle praktischen Berufe sämtliche Ausbildungskosten tragen. Jeder sei doch schließlich für einen Beruf beanlagt und befähigt, jeder Beruf sei für das Staatsganze von Bedeutung, und nieht alle Akademiker treten in Staatsstellungen. Die Folge der Auslese der Tüchtigen durch die Einheitsschule müsse sich also auf die Fach- schulen, auf die ganze Lehrzeit auch in den Berufen vom 14. Lebens- jahre an beziehen. Als Tews noch ein entschiedener Gegner der Einheitsschule war, hat er diesen Grund gegen diese Schulform geltend gemacht. Die Folge davon sei ferner eine Umbildung unserer Schulen, die heute Schulen für die allgemeine Menschenbildung seien, zu Berufsschulen. Auf beide Einwände sind unseres Wissens die Freunde der Einheitsschule nicht eingegangen.

Es sei überhaupt falsch, die Schule eines Kulturvolkes nach dem Gesichtspunkte sozialer Versöhnung organisieren zu wollen, »soziale Versöhnung«e könne höchstens eine erfreuliche Nebenwirkung sein, aber die Schulaufgabe sei doch Vermittlung von Kenntnissen. Und selbst wenn die gleiche Schule vereinigt habe, so werden später im Leben die sozialen Gegensätze doch entstehen. Man erwidert darauf, daß die Schule allein gewiß nicht die soziale Versöhnung erreichen könne, daß sie aber nicht so eingerichtet sein dürfe, daß die Klassengegen- sätze verschärft würden. Die gemeinsame Schule sei eine soziale, Macht. In allen Ländern, in denen beispielsweise die allgemeine

456 A. Abhandlungen.

Volksschule bestehe, seien die sozialen Gegensätze nicht so schroff wie in den anderen, die Standesschulen haben.

Die Einheitsschule soll, so wendet man weiter ein, einen großen Andrang zu den höheren Schulen bewirken und zur Entgeistigung der Grundschichten des Volkes führen. Stern beleuchtet diesen Ein- wand in seiner Arbeit: »Begabungsforschung und Begabungsdiagnose,« Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Jahrgang 1915, indem er sagt: Praktisch ergibt sich aus der Verteilung der Intelligenzgrade, daß diese Fälle hervorragender Intelligenz (Höchstbefähigte) sehr selten sind, daß sich schon mit größerer Häufigkeit Fälle einer recht guten, noch immer übernormalen und der besonderen Pflege bedürftigen Intelligenz (Hochbefähigte) zeigen. Spaltet man diese Zahl ist jetzt willkürlich gewählt, um nur ungefähr die hier vorliegenden Probleme der Schülerverteilung zu beleuchten nur 2 v. H. aller Volksschüler als Höchstbefähigte ab, so würde die Zahl der Ausgelesenen immerhin schon ungefähr so groß sein wie 25 v. H. der jetzigen Schüler höherer Lehranstalten, d. h. die Zuführung jener 2 v. H. zu den höheren Schulen würde eine Vermehrung dieser um ein Viertel ihres gegen- wärtigen Bestandes erfordern. Nur durch eine scharfe negative Aus- lese der ungeeigneten höheren Schüler, die ja ebenfalls dringend zu wünschen ist, würde dieses Zahlenverhältnis wesentlich verringert werden. Davon, daß alle über den Durchschnitt Begabten auf höhere Schulen übergeführt werden, kann keine Rede sein; und die Haupt- aufgabe der Berufsauslese wird darin bestehen, für jene weiteren auf die Höchstbegabten folgenden »Hochbegabten« schätzen wir sie wieder mit einer willkürlich herausgerissenen Zahl auf 10 v. H. aller Kinder der Volksschule erweiterte Ausbildungsgelegenheiten zu schaffen, die noch innerhalb der Volksschule ihren Platz haben oder zwischen der Volksschule und der höheren Schulen stehen; diese sind geeignet, einen gemächlicheren Aufstieg innerhalb der Kulturschichten zu be- dingen und auch den werktätigen Schichten die Führenden zu liefern. So decken sich die aus der Begabungsstatistik zu entnehmenden Leit- gesichtspunkte mit jener vielfach aus sozialen Motiven ausgesprochenen Forderung: »daß die Auslese der Begabten nicht zur Entgeistigung der Grundschichten unseres Volkes und der werktätigen Berufe führen müssee. Überall im Auslande, wo die Einheitsschule bestehe, sei diese Folge nicht eingetreten.

Im Zusammenhange mit diesem Einwurfe steht ein anderer, der auch in der sozialdemokratischen Presse, die doch sonst die Einheits- schule zur Parteiforderung macht, auftritt. Viel wichtiger als die Förderung einzelner Begabter ist die Forderung, die Gesamtheit des

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Volkes in ihrer Bildung zu heben. Deshalb baue man die Volks- ‚schule aus, gründe genügend Fortbildungsschulen. Nicht die Bildung einer Mittelschicht im Volk sei notwendig, sondern ein Volk mit starker Elementarbildung. Aus diesem Grunde verlangen diese Politiker auch eine mustergültige Volksschule, die jeder Staatsbürger 8 Jahre, also bis zur Erfüllung der gesetzlichen Schulpflicht, besuchen muß. Dieser Forderung gegenüber hat man auf die hohen Kosten ihrer Durchführung hingewiesen und betont, daß unser Wirtschafts- leben eine solche Emporbildung des Volkes nicht verlange, führend könne nicht die Masse, sondern nur einzelne Führer mit hervorragender Bildung sein. Verwandt damit ist ein weiterer Grund gegen die Einheitsschule. Unter der Einheitsschule müsse die Volksschule leiden, für die praktischen Berufe bleibe nur das Mittelgut. Die Freunde der Einheitsschule behaupten dagegen, daß diese Schulart allen Be- gabungen dienen will, da sie in ihrem Rahmen die verschiedensten Schularten für alle Berufe hat. Alle Tüchtigen, durchaus nicht nur die für gelehrte Berufe Geeigneten, sollen den Weg zu der ihnen zu- kommenden Stelle im Wirtschaftskörper unseres Volkes finden; gerade auch die Tüchtigkeit, die mehr praktisch gerichtet ist, werde in der Einheitsschule voll zur Entwicklung kommen. Die Einführung der Einheitsschule so sagen ihre Gegner würde die Gründung vieler Privatschulen zur Folge haben. Diesem Einwande wird mit dem Hinweis auf Berlin und München widersprochen. In München, der Stadt der allgemeinen Volksschule, bestehen weniger Privatschulen als in Berlin, das zahlreiche Vorschulen hat.

Weniger an Zahl und Bedeutung sind die Einwände, die aus schulpolitischen Erwägungen gegen die Einheitsschule erhoben werden. Die Theorie der Einheitsschule sei nicht pädagogischer, sondern sozialistischer Art. Man weist diesen Einwurf als einen ge- schichtlichen Irrtum zurück. Denn ehe es eine sozialistische Lehre gab, wurde die Idee der Einheitsschule von den großen Philosophen und Pädagogen des Altertums, später von Lehrern der höheren Schule, dann von Volksschullehrern und erst wesentlich später in einseitiger Ausprägung von den Sozialdemokraten vertreten.

Die Einheitsschule bringe endlich nur der Stadt Vorteile, den Landschulen Nachteile. Die Einheitsschule sei eine landfeindliche Forderung. Das sei ein großer Irrtum; denn die Einheitsschule wolle gerade auch das Landvolk, das ein Depot sei, aus dem sich die sinkenden Kräfte der Menschheit immer wieder ergänzen und auf- frischen, ausnutzen. Wenn der Unterbau für alle Schulen auf etwa sechs Jahre ausgedehnt werde und die mittleren Schulen in Klein-

458 A. Abhandlungen.

und Mittelstädten in den Rahmen der Einheitsschule eingegliedert werden, so hätten die begabten Landkinder, die später höhere Schulen besuchen, davon großen Vorteil. Ferner behauptet man, daß sich in der Einheitsschule streng gesonderte Standesgruppen bilden würden und die sozialen Klassengegensätze gesteigert würden. Es ist darauf erwidert worden, daß sich solche Gegensätze in München, wo Kinder aller Stände vom Arbeiterkind bis zum Sohne des Ministers die vier ersten Jahre der allgemeinen Volksschule angehörten, nicht gezeigt hätten. Auch haben führende Persönlichkeiten der Regierung gezeigt, daß es nach dem Kriege nötig sei, bei aller Verschiedenheit der Stände den inneren Frieden, den Geist der Einmütigkeit und des gegenseitigen Verstehens, die Annäherung der einzelnen Stände, zu fördern. Die Schule könne ein wichtiger Träger sozialer Versöhnung sein.

Ferdinand Jacob Schmidt hat in seinem vielerörterten Vor- trage in der Comeniusgesellschaft in Berlin behauptet: Gäbe es bereits die Pädagogik als wirkliche Wissenschaft, dann hätten nicht so weite Kreise von der gänzlich verfehlten Meinung ergriffen werden können, daß die Frage der Einheitsschule unseres nationalen Erziehungswesens durch das mechanische Gebilde einer Gleichheitsschule gelöst werden könne, daß der wahre Zweck der allgemeinen Grunderziehung nicht durch eine einzelne Schulart, sondern durch die Vereinigung aller Schulen zu einem nationalethischen Erziehungsorganismus verwirklicht werden kann. Der Sinn der Schmidtschen Behauptungen ist: Gäbe es eine wirkliche pädagogische Wissenschaft, so wäre die Idee der Einheits- schule längst abgelehnt worden und hätte nicht soviel Verbreitung gewonnen. Die Freunde der Einheitsschule werden Schmidts Forde- rung, daß die Erziehungswissenschaft weiter mehr Anerkennung an den deutschen Hochschulen finde und zur wirklichen Wissenschaft werde, gewiß zustimmen. Es ist aber bekannt, daß gerade in den letzten Jahren die Pädagogik in den Universitäten mehr Eingang ge- funden hat und daß sich ihre Vertreter mit der Einheitsschule be- schäftigt haben. Da ergibt sich die Tatsache, daß sich die Mehrheit der wissenschaftlichen Pädagogen für die Einheitsschule erklärt hat. Wir behalten uns vor, später darauf im einzelnen zurückzukommen. Hier nennen wir nur als Anhänger der Einheitsschule: Rein-Jena, Natorp-Marburg, Ziegler-Straßburg (jetzt in Frankfurt a. M.) Lehmann-Posen, Messer-Gießen, Budde-Hannover, Fischer- München, Weiß-Jena, Brahn-Leipzig. Gegner sind: Ferd. Jacob Schmidt-Berlin, Julius Ziehen-Frankfurt, F. W. Foerster-München. Ein vermittelnde Stellung nehmen Frischeisen-Köhler-Halle, Stern-Hamburg und Spranger-Leipzig ein.

Saupe: Die Einheitsschule, 459

So stehen sich heute die Meinungen über die Notwendigkeit und Möglichkeit der Einheitsschule noch schroff gegenüber. Eine so ein- schneidende Änderung, wie sie Rein und Tews vorschlagen, hat bisher noch kein Schulverwaltungsbeamter durchzuführen versucht. Doch sind schon mancherlei Versuche zur Förderung Begabter und zur Vereinheitlichung des Schulwesens unternommen. Der Gedanke: Jeder Schüler soll die Möglichkeit haben, diejenige Laufbahn einzu- schlagen, die ihm nach seiner Begabung zukommt, findet mehr und mehr grundsätzliche Zustimmung auch bei solchen Schulmännern, die die Durchführung des Gedankens nicht für möglich halten. Meu- mann nennt die Forderung im 2. Bande seiner Vorlesungen zur ex- perimentellen Pädagogik (Leipzig, Engelmann) eine so ideale und humane, daß ihr nur Vorurteil oder Beschränktheit widersprechen können. Unter allen Versuchen ist der bedeutendste der der Berliner Stadtverwaltung. Dort sollen hochbegabte Schüler, die 7 Jahre die Volksschule besucht haben, in eine höhere Schule gebracht werden und in 5 Jahren das Ziel eines Realgymnasiums oder Gymnasiums erreichen. In andern Städten werden Kurse eingerichtet, damit be- gabte Volksschüler zur Mittelschule übergeführt werden können. Eine einheitliche Form für den Aufbau des Schulwesens ist noch nicht in der Praxis durchgeführt worden. Über die wichtigsten Versuche werden wir später im einzelnen berichten. Für die Wissenschaft, die Lehrerschaft, die Schulverwaltungen ergeben sich neue große und verantwortungsvolle Aufgaben. Notwendig ist, die einzelnen Versuche vorher sorgfältig zu prüfen. Unsere Jugend ist uns zu wertvoll, um für unsichere Versuche Versuchsobjekte zu sein. Wer die päda- gogische Literatur kennt, weiß, daß gerade die Führer in ihren An- sichten hin und her schwanken. Ein Beweis, daß ein abschließendes Urteil noch nicht möglich ist.

Die Freunde der Einheitsschule blicken mit großer Hoffnungs- freudigkeit in die Zukunft, sie erhoffen nach dem Frieden eine starke Förderung der Einheitsschulfrage. Ob diese Hoffnungen sich erfüllen werden, wer kann das heute sagen? Gaudig gibt in der Zeitschrift »Die Arbeitsschule«!) 1916, Heft 1, die Bedingungen an, unter denen die Einheitsschule kommen und ein Segen sein kann: »Die Zukunft des deutschen Volkes fordert die Einheitsschule. Man erkenne aber, wo man es noch nicht erkannt hat, daß mit der bloßen Zusammen- führung der Kinder aller Schichten in einer Schule sehr wenig getan ist, daß es vielmehr einer gewaltigen Arbeit bedarf, damit die Ein-

1) Verlag von Quelle & Meyer in Leipzig.

460 B. Mitteilungen.

heitsschule ihre Aufgabe erfüllt. Eine mechanische Wirkung der äußeren Organisationen der Einheitsschule erwarte niemand. Es be- darf der Kräfte der Schule, der Elternschaft, der Gemeinde, des Staates, der pädagogischen Wissenschaft, ja aller pädagogischen Kräfte des Volkslebens. Und außerdem ist das Schicksal des Prinzips der Einheitsschule davon abhängig, ob sich im nationalen Leben die großen Einheitsbestrebungen durchsetzen. Vor allem muß sich die Lehrer- schaft darüber klar sein, daß sie nur dann erfolgreich den Einheits- schulgedanken durchführen kann, wenn sie die deutsche Schule zu einer Sphäre des Lebens umgewandelt hat, und wenn wir Lehrer sind, die ein tiefgründiges Verständnis des gesamten Volkslebens besitzen und in diesem Volksleben leben und walten.«

B. Mitteilungen.

Der Deutsche Verein für Psychiatrie

hält gegen Ende April 1918 eine außerordentliche Versammlung in Würz- burg ab. Auf der Tagesordnung stehen Vorträge, die die Folgen der Hirnverletzungen und ihre Behandlungen zum Gegenstand haben. Prof. Dr. C. Förster (Berlin, gibt eine Einführung in die allgemeine Patho- logie, Prof. Kleist (Rostock) in die Lokalisation, Prof. M. Reichardt (Würzburg) in die Hirnschwellung und Prof. K. Goldstein (Frankfurt a. M.) in die Behandlung und Fürsorge.

Wir stellen mit Genugtuung fest, daß sich die nächstjährige Versamm- lung des »D. V. f. Ps.« in der Hauptsache mit der Gehirnpsychiatrie be- schäftigen wird, sich also auf rein medizinischem Gebiet bewegt. Da- gegen wäre es richtiger gewesen, wenn ein »Pädagoge« den Vortrag über die Behandlung und Fürsorge der Hirnverletzten übernähme, weil diese Behandlung rein pädagogischer Natur ist. Durch die geduldige Arbeit der Pädagogen nämlich muß ganz allmählich das Gehirn erst wieder an seine primitivsten Funktionen und Leistungen gewöhnt werden. Übrigens liegen über die pädagogischen Arbeiten dieser Art schon umfangreiche Berichte vor aus den Hirnverletzten-Schulen in Graz, Köln, Leipzig, Mannheim usw. Nur meinen wir, daß der, der die Arbeit leistet, uns auch am besten darüber berichten kann. In diesem Falle wäre das also: »Der Pädagoge.«

Berlin-Wilmersdorf. Krassmöller.

Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.

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Zeitschrift für Kinderforschung

mit besonderer Berücksichtigung

der pädagogischen Pathologie

Im Verein mit

Dr. G. Anton Dr. E. Martinak Chr. Ufer Dr. Karl Wilker

Geh.Med -Ratu.Prof. 0.5. Prof. d. Philosophie Rekt.d.Süd-Mädchen- Dir.d.Städt Erziehungs- an der Univ. Halle u.Pädag. a.d.Univ.Oraz Mittelsch.i. Elberfeld haus. Berlin-Lichtenber;

herausgegeben von

J. Trüper

Direktor des Erziehungsheims und Jugendsaratoriums auf der Sophienhöhe bei Jena

| Zweiundzwanzigster Jahrgang, 12 | September-Heft

Langensalza

Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) Herzogl. Sichs. Hofbuchhändler

Wien Manz’sche k. u. k. Hof-, Verlags- u. Universitätsbuchhandlung 1917

Preis des Jahrgangs (12 Hefte) 6 M.

Inhalt.

Die im ersten Teile dieser Zeitschrift enthaltenen Aufsätze

verbleiben Eigentum der Verlagshandlung. "Ba

A. Abhandlungen:

1. Wilhelm Rein und die Pädagogik der erg Von Johannes Gehe (Schluß) . . .

2. Die Einheitsschule. Von =. ‘Banpo (Schluß) . B. Mitteilungen:

Der Deutsche Verein für Psychiatrie. Von Krassmöller .

. 447

. 460

Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.

Die Schule des Willens

als Grundlage der gesamten Erziehung.

Von

Dr. Ernst von Sallwürk, Staatsrat, a. o. Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Heidelberg.

VIII und 546 Seiten. Preis 10 M., eleg. geb. 12 M.

Zu beziehen durch jede Buchhandlung.

Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.

Zur Reformationsfeier!

Wie eine Vorbereitung in würdiger und nachhaltiger Weise gehandhabt werden kann, ist aus der Schrift

Graf Pestalozza,

Montagsandachten im Lutherjahr 1917.

zu ersehen. 35 Pf.

Als Festgabe eignet sich vorzüglich Bohnstedt, Lutherworte

für Jugend und Volk, daheim und im Felde. 60 Pf., 10 Stück 4,50 M.

Material zu Vorträgen findet man in Hoffmann,

Luther, Fichte und der deutsche Krieg. 5 5

Zeissig, Luther, der treue Diener seines Volkes als erster Prediger der Glaubensfreiheit, als Schöpfer der neu-

hochdeutschen Sprache u. als Vater allgemeiner Schulgedanken. 50 Pf.

Etzin,

Luther als Erzieher zum Deutschtum. 1 M.

Foltz, Luthers Persönlichkeit.

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Direktor J. Trüper:

Die Schule und die sozialen Fragen unserer Zeil,

1. Heft: Die Schule in ihrem Verhältnis zum sozialen Leben. 50 Pf. 2. Heft: Die Schule und die wirtschaftlich-soziale Frage. 80 Pf. 3. Heft: Die Aufgaben der öffentlichen Erziehung angesichts der sozialen Schäden der Gegenwart. 1 M.

Verlag von C. Bertelsmann in Gütersloh.

Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.

Die staatsbürgerliche Erziehung im Lehrplane der Volksschule

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R. Lambeck, Rektor. 55 Seiten. Preis 1 M.

Der Jugendhort

n

Karl König,

Kreisschulinspektor in Mülhausen i. E. 29 Seiten. 50 Pf.

Zu beziehen durch jede Buchhandlung.

zn a Te Se Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.

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Die deutsche Einheitsschule

und ihre pädagogische Bedeutung Dr. E. von Sallwürk sen., Staatsrat.

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Zu beziehen durch jede Buchhandlung.

Hierzu eine Beilage von Theodor Fliedner, Pastor, Eisenach, Moltkestraße 8, die wir der Beachtung empfehlen.

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