THE UNIVERSITY OF ILLINOIS

LIBRARY

372:05

KT V24

Zeitschrift für Kinderforschung

mit besonderer Berücksichtigung der pädagogischen Pathologie

Im Verein mit

Dr. G. Anton Dr. E. Martinak Chr. Ufer Dr. Karl Wilker

Geh.Med.-Ratu.Prof. Hofrat u. o. ö. Prof. d. Rekt.d.Süd-Mädchen- Dir. d.Städt.Erziehungs- an der Univ. Halle Pädag.a.d. Univ. Graz Mittelsch.i. Elberfeld heimsBerlin-Lichtenberg

herausgegeben von

J. Trüper

Direktor des Erziehungsheims und Jugendsanatoriums Sophienhöhe zu Jena

Vierundzwanzigster Jahrgang

Langensalza Hermann Beyer & Söhne

(Beyer & Mann) Herzogl. Sächs. Hofbuchhändler ~

1919

Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt.

A. Abhandlungen:

Hellwig, Der Schutz der Jugend vor erziehungswidrigen Einflüssen

Höper, Was bedeutet Intelligenz? < » . ° mal i ai Jane

Knauthe, Die Püdagogi im Heilerziehungsheim -. - * " nd Jugi . 268.

König, Die Notwendigkeit eines Seminr;s-tür Heilerziehung und Jugendpflege®

Preisausschreiben der Dörpfeldstiftung” . EEE

Trüper, Die privaten Erziehungs? und Bildungsanstalten in ihrer Bedeutung für unser deutsches Volk. - -o i rn a u 0

Vogelsang, Bilderreden aus Työrpfelds Schriften - +, ° 2 01 5, ° 2. 82.

Widmann Das Krankheitsbil‘4 der amnestischen Aphasie mit Alexie, Agraphie ana > ohwachen Spuren, yon Ataxio . 7 70 A e

B. arane

Musikalische Waunderkinder ý, .

Ein neuer Karl May-Rum'mel? .

Theobald Ziegler T -_- TEEN e e

Geh. Med.-Rat Prof. Dr. @. Anton zum 60. Geburtstag

25 Jahre Plauener Hilfefschule - FEN

Kurze Nachrichten - foohule < >o. O. S © Yang ma höheren Schulen

Nationale Einheitsscht/fle, Jugendkunde und Berufsberatung a0 höheren, Bonka

rbandes der privaten Schulen und Erziehungsanstalten In T E RER EE A RET AS wend $ gkeit eines allgemeinen Rechenunterrichts in der Schule Aus der Praxis dips Hilfsschullehrers - a IDEA Y T a

Krebssehäden Ir "ne Fürsorgeerziehung 2

Niek Carter \ DartakU8 © -o iur Jugendfürsonge -

Änderungen in dér Deutschen dentrale für Jugendfürsorg® -

Die Auskur > für Kleinkinderfürsorg® na N

Der Bayerische Hilfsschul- Verband ee ER n

Ein deutscher Ja er”fürsorget2g über Jugendämter . 3

Über Jugendnotf, mer Rerchshauptstadt - - "nr.termale) -

er ser (E3408. „Versehen der Frauen« (Muttermale) -

Dörpfeld und“ SER EEE RER ` | | 281. Bausteine zur ] | ‚ologie des Diohtets e c aa A a 2 Die Arbeitslehr. $. ‚ie und Beobachtungsanstalt Steinmühle -

Zur Frage des "mÄSSEnS - * "an iah FEN Die Stammlerku , in Breslau im Schuljahre 1918

Öst PEN mt ak en E

Noch ein Wort, über Zulässigkeit und Zweckmäßigkeit der Entmündigung

í N a Minderjäh: Cri Wied

riger => th d d Universită en ai ginn der, (freien) Akademischen Forienkurse a. d. Universität Leipzig

Die Psychologische Gesellschaft Basel EEE Fristverlängerung \für das Preisausschreiben der Dörpfeldstiftung -

Bericht des Fürsor-geverbandes Leipzig über das Jahr 1918. - Vergleich zwischen orientalischer und abendländischer Erziehung - Wider den heiligen Bürokratius für ein bedauernswertes Kind ‚Die Jugend von heinte - te UNE Hauserziehung

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93821

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IV Inhalt.

Seite C. Zeitsehriftensehau: . . . 2: 2 . . . . . 56.122. 241 D. Literatur: Barth, Die Notwendigkeit eines systematischen Moralunterrichts . . . . . 317 Barth. Elemente der Erziehungs- und EBEN. ee ee 18 Barth, Der Lebensführer . . RE}. Blüher, Führer und Volk in der "Jugendbewegung . 25 = 2300) Die freie Bildung und Erziehung in Haus, Be Kirche und Staat . . . 368 Diix, Brauchen wir Elternschulen? . . s y a = 206 Eltern und Kind. . Ne er en ae 9 OD Fröschels, Kindersprache und Aphasio x 247 Gonser u. 'Flaig, Welche alkohnlischen Gesetzgebungs- und Verwaltungs- maßnahmen sind für die Zukunft erforderlich? . 63 Gregor u. Voigtländer, Die ee klinisch - psychologische Bewertung und ihre Bekämpfung . 61 Hagen u. Günther, Jugendgesetz und Jugendbev ng ee re a ADS Hahn, Weltkrieg und Volksschule A Be ee na a Teen RI Hemprich, Die Organisation der Jogendpflege En BEE ne ar ae 367 Hirschfeld, Sexualpathologie . . ee er NDR Kegel, Die Erziehung der Jugend im Volke Israel en Sa aA Klemm, Sinnestäuschungen . . 315 Kraft, Die Prov.-Taubstummenanstalt zu Königsberg i. Pra ‚in ihrer Entwicklung 127 Krohn, Debora . . 126 Krukenberg-Conze, Die Erziehung des Kindes zur 'ass'nndneiť u. "Arbeits- freudigkeit . . \ 64 Kühnhagen, Die Einheitsschule im In- und Auslande . a ya ee LO v. Künßberg u. Eberhard, Einarm-Fibel . . 126 Langstein, Wie ist die Bevölkerung über Sänglingspilogo und I Säuglinge ernährung zu belehren? . . . 64 Lehmensick, Krieg und Lied . . De a a ae \ tr 316 Liese, Die Volksschule nach dem Kriege . E 60 Lietz, Die ersten drei deutschen Landerziehungsheime 20 Jahre \nach der Be- "gründung. Ders., Die ersten drei deutschen Landerzı\ehungsheime bei Ilsenburg im Harz, Haubinda in Thüringen, Biebersteiı 255 Meyer-Rüegg, Die Frau als Mutter . ! 251 Minck, Die Jugendgerichtshiife, ihre rechtliche Grundlage, ` ihre A ihre Organisation ` . ; 367 Neuerscheinungen zu den Tagesfragen der Schulreform 3 188 Piorkowski, Die psychologische Methodologie der wirtsc haftl. B 364 Rehs u. Witt, Fibel auf phonetischer Grundlage mit besonderer gung der neusten Forderungen auf dem Gebiete des ersten Le 253 Rein, Krieg und Erziehung er 256

Roloff, Lexikon der Pädagogik ʻ Rzesnitzek, Die psychologische Formung des Unterrichtes Saupe, Die Einheitsschule mit besonderer POTER, des

Begabten . . 59

' Tugendreich, Die Mutter- und Säuglingsfürsorge 250

Ufer, Schulerziehung nach dem großen Kriege . 2 |

Willmann u. Fritzsch, Johann Friedrich Herbarts Pädagogiscl Sohriften 251 Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht Berlin,

fürsorge . . 12%

Ziehen, Über das Wesen der Beanlagung "und ihre methodische ug 128

Ziele und Wege des Unterrichts .

Ziehen, Über die allgemeinen Beziehungen zwischen Gehirn und. Syomlaben 254 Zur Besprechung eingegangen s Er

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A. Abhandlungen.

1. Preisausschreiben der Dörpfeldstiftung.

Nachdem das Vermögen der Dörpfeldstiftung die in den Satzungen vorgesehene Summe von 10000 M erreicht hat, soll in diesem Jahre, bei der 25. Wiederkehr von Dörptelds Todestage (27. Oktober 1893), zum erstenmal ein Preisausschreiben erfolgen.

Es werden zwei Preisaufgaben zur Wahl gestellt:

1. Aufgabe: Dörpfelds Schulverfassung in ihrer Bedeutung für die Gegenwart. Unter Berücksichtigung der betreffenden Ar- beiten Dörpfelds ist zu zeigen, wie die Schulverfassung zu ordnen ist, damit alle Beteiligten Familie, bürgerliche Gemeinde, Staat, Kirche, Pädagogik und Lehrerstand zu ihrem vollen Rechte kommen und die Schule unbelästigt und unbeschädigt vom Streit der politischen Parteien ihr stilles Werk tun kann.

2. Aufgabe: Dörpfelds Erziehungsgedanken und die mo- derne Juzendbewezung und Jugendfürsorge.

Die Arbeiten im Umfange von 3—4 Druckbogen sind bis zum 1. Juli 1919 an den Unterzeichneten einzusenden. Sie sind mit einem Kennwort zu versehen; in einem geschlossenen Umschlage ist unter diesem Kennwort die Anschrift des Verfassers beizufügen.

Preise: Unter den als genügend anerkannten Arbeiten werden die drei besten mit 400, 250 und 150 M ausgezeichnet. Sie werden verlagsrechtlich Eigentum der Dörpfeldstiftung und sollen nach ihrem Ermessen veröffentlicht werden.

Preisrichter sind: Mittelschullehrer Achinger, Konsistorialrat D. Dr. G. von Rhoden, Herausgeber der Gesammelten Schriften Dörp- felds, Dir. Joh. Trüper.

Barmen-Wichlinghausen, den 27. Oktober 1918.

Rektor W. Vogelsang, Vorsitzender der Dörpfeldstiftung. Zeitschrift für Kinderforschung. 24. Jahrgang. è 1

2 A. Abhandlungen.

2. Bilderreden aus Dörpfelds Schriften. Von Rektor Vogelsang in Barmen.

Am 27. Oktober 1918 jährte sich zum 25. Male der Tag, an dem F. W. Dörpfeld zu Ronsdorf bei Barmen »im Frieden Gottes und der getrosten Hoffnung des ewigen Lebens« heimging.

Den Schriften,!) die kurz nach seinem Tode über ihn und sein Wirken erschienen, sind im Laufe dieser 25 Jahre eine Reihe anderer gefolgt, die sich die Aufgabe stellten, die deutsche Lehrerschaft mit seinem Lebenswerk oder einer besonderen Seite seines bedeutsamen und vielseitigen Wirkens bekannt zu machen. Ich erinnere nur an das vortreffliche Lebensbild Dörpfelds von seiner Tochter A. Carnap, an die Trüpersche Schrift: Dörpfelds soziale Erziehung in Theorie und Praxis, an Prof. Paulsens wertvollen Aufsatz über Dörpfeld, mit dem die »Deutsche Schulee zum erstenmal an die Öffentlichkeit trat, an Rißmanns Abhandlung über Dörpfeld in seinem Buch: Die Pädagogen des 19. Jahrhunderts, an D. Hackenbergs Aufsatz in den Comenius-Blättern: Eines Schulmeisters Testament.

Auch haben außer dem Ev. Schulblatt, das leider infolge des Krieges 1916 eingegangen ist, manche pädagogische Zeitschriften, z. B. die »Deutsche Lehrerzeitung«, die »Einladungsschriften des Westd. Vereins für wissenschaftliche Pädagogik«, die »Blätter für erziehenden Unterrichte und das »Pädagogische Magazine, die »Zeitschrift für Kinderforschung« und die Trüperschen »Beiträge«, die »Schulpflege«, die »Pädagogische Warte«, die »Volksschule« u. a. je und dann Auf- sätze aus dem Gedankenkreise Dörpfelds veröffentlicht.

Doch hätte meines Erachtens bei der Erörterung so mancher wichtigen Zeitfragen: Staat und Gemeindeschule, Simultan- oder Konfessions- schule, Schulaufsicht und Schulunterhaltung, Jugendpflege u. dergl. Dörpfeld viel mehr zu Worte kommen müssen, als es tatsächlich ge- schehen ist. Selbst bei der Erörterung politischer Fragen: parlamen- tarische Regierung, Wahlrecht, Schule und politische Parteien, soziale Frage u. dergl. hätte man von Dörpfeld lernen können. Ja, Dörpfeld

1) Hindrichs, E., F. W. Dörpfeld. Sein Leben und Wirken und seine Schriften. Gütersloh 1894. Kasten, H., F. W. Dörpfeld, Sein Leben und seine Schriften. Pädagogische Zeit- und Streitfiagen. Heft 40 und 41. Wiesbaden, Behrens. Rude, A., F. W. Dörpfeld, Pädagogische Studien. 15. Jahrg. Dresden 1894. Vogelsang, Rektor W., F. W. Dörpfeld, Kurze Darstellung seines Lebens und Wirkens. Hilchenbach 1894. Zillig, P., Zur Würdigung Dörpfelds. Päda- gogische Studien. 15. Jahrg.

Vogelsang: Bilderreden aus Dörpfelds Schriften. 3

könnte sogar in dem heutigen politischen und nationalen Wirrwarr als Wegweiser, Pfadfinder und Tröster dienen.

Die 12 Bände der »Gesammelten Schriften« Dörpfelds bergen näm- lich eine Fülle von Gedanken, die bis jetzt nicht gebührend gewürdigt und viel zu wenig Gemeingut der deutschen Lehrerschaft geworden sind, die ihm doch als ihrem Vorkämpfer im Juli 1903 in den Barmer Anlagen ein würdiges Denkmal gesetzt hat.

Auch Dörpfeld will weniger erhoben und fleißiger gelesen sein.

Gerade in letzter Zeit scheint aber in dieser Beziehung eine Wendung zum besseren einzutreten. Nicht weniger als drei Bücher sind mir bekannt geworden, die sich eingehend mit Dörpfeldschen Vorschlägen, Forschungen und Ansichten beschäftigen; nämlich:

1. Dr. W. auf der Haar, Oberlehrer in Hattingen, Dörpfelds Theorie der Schulverfassung, historisch und kritisch beleuchtet mit Beziehung auf L. von Stein, Gneist und Natorp. (Doktor- Arbeit.)

2. Dr. Kley, Dörpfelds Theorie des Neulernens und Einprägens, gemessen an den Forschungsergebnissen der neueren Psychologie. (Heft 140 der »Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung«.)

3. H. Itschner, Lehrerbildung und Volkstum.

Die Verfasser dieser Schriften haben alle eine sehr hohe Meinung von ‘dem Denker und Pädagogen Dörpfeld; Dr. Kley sagt u. a.: »Ein durchaus bedeutendes Wissen war ihm eigen, seine Schriften atmen jene Klarheit, die nur einem wissenschaftlich durchgebildeten Geiste eigentümlich sein kann, Dörpfeld wäre zweifellos eine Zierde auf dem Lehrstuhle einer Universität gewesen.«

Jedenfalls werden diese Schriften, sowie die Abhandlungen über pädagogische Preisfragen, die die Dörpfeld-Stiftung vom kommenden Jahre ab herauszugeben gedenkt, wesentlich dazu beitragen, das Inter- esse für unseren bergischen Pädagogen neu zu beleben und zu ver- tiefen.

Dieser Absicht sollten auch die aus Dörpfelds Schriften ent- nommenen Gleichnisse und Bilder dienen, die ich im ersten Viertel- jahr des laufenden Jahrgangs der »Deutschen Lehrerzeitung« ver- öffentlicht habe. Von ihren Lesern ‚sehr beifällig aufgenommen, ist inzwischen der Wunsch laut geworden, sie auch noch einem andern Kreise zugänglich zu machen, und sie zugleich in Heftform erscheinen zu lassen. Indem ich diesem Wunsche.nachkomme, bemerke ich, zur Rechtfertigung des Titels, daß sie nach einem Gesichtspunkt ausgewählt worden sind, der mit einer Eigentümlichkeit der Dörpfeldschen Schreib-

weise zusammenhängt. 1*

4 A. Abhandlungen.

Dörpfelds Stil ist nämlich außerordentlich reich an Bildern und Gleichnissen. Sie standen ihm jederzeit zur Verfügung; sei es als Mittel, Schwieriges verständlich zu machen, sei es als schneidende Waffe im Kampf mit dem Gegner. »Ein Gleichnis wird am schnellsten deutlich machen, was ich meine.« Diese Bemerkung findet sich sehr häufig in Dörpfelds Schriften. Mit dieser Eigenart seiner Schreibart befindet sich Dörpfeld in guter Gesellschaft. Denn auch Luther, Goethe und Bismarck, Comenius und Herbart reden oft in Gleich- nissen, und sie werden die Gleichnisse nämlich von Urteils- fähigen geradezu als ein Kennzeichen und ein Vorzug eines guten Stiles angesehen.

Auch bei Vorträgen und Verhandlungen standen sie Dörpfeld reichlich zu Gebote.

Als in der Ministerial-Konferenz, die dem Erlaß der »Allgem. Bestimmungen« (1372) vorausging, das Übermaß des Memorierstoffs zur Sprache kam und es Dörpfeld nicht gelang, den Teilnehmern klar zu machen, daß die falsche Prüfungsweise, die das zusammenhängende Wiedergeben aller durchgenommenen biblischen Geschichten forderte, das ursächliche Übel sei, »da nahm ich, schreibt Dörpfeld (I, 134), in der Verzweiflung meine Zuflucht zu Gleichnissen und sagte: ‚Meine Herren, was kann es nützen, das mechanische Einlernen zu verbieten, wenn die verkehrte Prüfungsweise unverboten bleibt? Das Präsent- halten der biblischen Geschichten fordern und daneben das mechanische Einlernen verbieten, das ist ganz dasselbe, als wenn man einem den Befehl gäbe, in zwei Stunden von Berlin nach Potsdam zu laufen und zugleich hinzufügte: Wehe dir aber, wenn du dabei in Schweiß kommst! Das heißt nicht anders, als ein Pferd hinten spornen und zugleich vorn zügeln, und das ist Torheit und Unrecht zugleich. Das schien endlich verständlich genug zu sein, wenigstens wurde von keiner Seite widersprochen, und einer fragte mich nachher, wie ich denn zu meinen vielen Gleichnissen käme.«

Nun, er war sich bewußt, daß durch ein treffendes Gleichnis das Verständnis des Gelesenen oder Gehörten wesentlich erleichtert wird. Das geht aus einer Bemerkung hervor, die sich in »Denken und Ge- dächtnis« findet, wo er schreibt:

»Der Dienst, den der Mittelbegriff beim Schlußfolgern leistet, er- innert auch an die Hilfe, welche die Gleichnisse allemal dem Verständ- nisse leisten. Nehmen wir an, ein vorgetragener Gedanke wäre einem Hörer nicht völlig verständlich, oder nicht sofort einleuchtend, was dann anzeigt, daß zwischen seinen Anschauungen und den neuen, vielleicht auch sehr abstrakten Gedanken noch eine zu große Kluft

Vogelsang: Bilderreden aus Dörpfelds Schriften. 5

liegt. In solchem Falle bedarf es häufig bloß, daß ein treffendes Gleichnis eingeschoben wird, und siehe da, was vorhin nur wie im Dämmerlicht erschien, steht in der hellsten Beleuchtung da« Das Gleichnis wird von dem bereits vorhandenen Gedanken freudig be- grüßt, es entsteht nicht etwa eine Hemmung, sondern eine gegenseitige Verstärkung der Vorstellungen (I, 46).

Wenn nun auch, wie ein indisches Sprichwort sagt, »ein gutes Gleichnis oder Beispiel besser ist, als 100 Worte«, weil es das Ver- ständnis einer Sache ermöglicht oder erleichtert, die sonst nur dadurch verständlich wird, daß man den ganzen Gedankengang durchläuft, der zu ihrem Verstehen erforderlich ist, so wird sie doch völlig verständ- lich nur dem, der die Sache ohnedies bereits begriffen hat. Darum sagt auch Jesus, der unübertroffene Meister der Gleichnisrede zu seinen Jüngern: »Euch ist es gegeben, das Geheimnis des Reiches Gottes zu wissen; denen aber draußen widerfährt es alles durch Gleich- nisse, auf daß sie es mit sehenden Augen sehen und doch nicht er- kennen und mit hörenden Ohren hören und doch nicht verstehen.« (Marc. 4, 11.)

Und daß sie Dörpfeld jederzeit in so reichem Maße zur Hand waren, lag daran, daß er ein begabter selbstdenkender Kopf war, der

“gich in den Natur- wie in den Geisteswissenschaften ein reiches, sicheres und wohlgeordnetes Wissen erworben hatte, das dank der judizjäsen Verknüpfung seiner Vorstellungswelt sehr erinnerungsfähig und zwar vielseitig erinnerungsfähig war.

»Es war mit seiner Gedankenfabrik

wie mit einem Webermeisterstück,

wo ein Tritt tausend Fäden regt,

die Schifflein herüber, hınüber schießen, die Fäden ungesehen fließen,

ein Schlag tausend Verbindungen schlägt.«

Von Dörpfelds reich besetzter Tafel habe ich schon in meiner kurzen Darstellung seines Lebens und Wirkens 30 Gleichnisse dar- geboten. Eine zweite Sammlung findet sich im August-Heft des Evang. Schulblattes 1903, das der Einweihung des Dörpfeld-Denkmals am 18. Juli 1903 gewidmet ist. Inzwischen habe ich beim Durchlesen der wichtigsten Bände der »Gesammelten Schriften« noch eine so stattliche Zahl von Gleichnissen gefunden, daß ich glaube, mit einem Seitenstück zu den von O. Foltz herausgegebenen »Bilderreden aus Herbarts Schriften« vielen älteren Freunden Dörpfelds eine Freude zu machen und in jungen Amtsgenossen, die ihn aus diesen Gleichnissen erst kennen lernen, den Wunsch aufsteigen zu lassen, mit Dörpfelds Schriften nähere Bekannschaft zu machen.

6 A. Abhandlungen.

I. Schulverwaltung. !)

Vom geschichtlichen wie vom praktischen Standpunkt aus er- kannte Dörpfeld die Einordnung des Unterrichtswesens in den Staat nicht bloß als berechtigt, sondern als notwendig und als einen un- leugbaren Fortschritt an. »Es gibt aber noch eine höhere Orduung des nationalen Schulwesens, als die reine Staatsschule sie darstellt. Die Kulturangelegenheiten und besonders die Schulen dürfen ebenso- wenig wie die Religion, die Volkswirtschaft und die Gesundheitspflege schlechthin für Staatsangelegenheiten erklärt und unbedingt den terri- torialen Genossenschaften einverleibt werden:

1. weil sie dort nicht die Freiheit finden können, die sie zu Es

Leben und ihrer Entwicklung bedürfen;

2. weil die territorialen Gewalten nicht verstehen, sie ihrer zarten

Natur gemäß zu behandeln;

3. weil sie neben dem Heere, der Diplomatie und der Justiz höchst wahrscheinlich nicht satt zu essen bekommen würden, un- gerechnet, daß der Staat für Kulturverdienste auch nicht die

rechte Ehrentaxe haben kann.«e IX, 331.

Die Schule den bürgerlichen Gemeinden auszuliefern, ist nach Dörpfeld auch nicht richtig. »In die Schullasten mögen Staat und Ge- meinde sich so teilen, wie es am zweckmäßigsten ist; der Träger der Schullasten braucht aber deswegen nicht der Inhaber aller Schulrechte zu Sein.«

Darum ist die Schulverfassung so zu ordnen, daß alle Inter- essenten, Familie, bürgerliche Gemeinde, Kirche, Staat, Pädagogik und Lehrerstand zu ihrem vollen Rechte kommen und die Schule unbe- lästigt und ungeschädigt von dem Kampfe der politischen Parteien ihr .stilles Werk tun kann.

Dies ist nach Dörpfelds Meinung nur durch die Organisation der Schulbezirke zu Schulgemeinden möglich. Diesem Gedankenkreise sind E doigende Gleichnisse entnommen:

1) Ihr sind folgende Schriften Dörpfelds gewidmet:

1. Die freie Schulgemeinde auf dem Boden der freien Kirche im freien Staate. 1863. VIII. Band. 1. Teil.

2. Die drei Grundgebrechen der hergebrachten Schuiverfassungen. (1. Die bureaukratische Form des Schulregiments. 2. Mangel an Einheitlichkeit zwischen Schulverwaltung und Schularbeit, 3. Mange! einer gebührenden Mit- wirkung des Lehrerstandes.) VIII Band. 2, Teil.

3. Die Leidensgeschichte der Volksschule. 1881. 1X. Band.

4. Das Fundamentstück einer gerechten, gesunden, freien und friedlichen Schul- verfassung. 1892. VII. Band.

Vogelsang: Bilderreden aus Dörpfelds Schriften. 7 Staat und Schulwesen. Es ist ein großes Übel und eine große Dummheit, so ohne allen Unterschied vom Staat und vom Staatsschulwesen zu reden; ist doch der Unterschied zwischen Staat und Staat nicht minder groß, wie der unter den Säugetieren zwischen einem Pferd und einem Schoßhündchen. Freie Schulgemeinde 145. Schulgesetz. Ein einiges Deutschland ist wenigstens möglich (1863), wenn man ihm soviel Blut opfern will, wie dem einigen Italien; aber eine allgemeine preußische Schulordnung, die alles Nötige ordnet und wirklich zum Guten ordnet, ist unmöglich, solange ein Großstaat Großstaat und das Schulwesen Schulwesen, und sein Schicksal an das der politischen Parteien gebunden bleibt. Es vermag nun einmal kein Mensch über seinen eigenen Schatten zu springen. Freie Schulgemeinde. Staatsschule. Will der moderne Staat ohne die. Kirche Schule halten, erziehen und zwar den ganzen Menschen erziehen, so traut er sich mehr zu, als er vermag. Der Stier ist bekanntlich ein nütz- liches Tier; aber melken kann man ihn nicht. Der Staat kann der Schule viele treffliche Dienste leisten, aber Vater- und Mutterstelle kann er bei ihr nicht vertreten. So wenig der Staat die Aufgabe hat, Kirche zu halten, Ehen zu schließen, Handel zu treiben, ebensowenig hat er den Beruf, Schule zu halten, Bildungsideale aufzustellen und ihre Durchführung zu befehlen. Sein Interesse am Schulwesen ist allerdings groß, aber sein Beruf geht nur dahin, die Schulen und alle andern Bildungsbestrebungen zu überwachen, zu schützen und zu pflegen. Freie Schulgemeinde 81 und 221.

Staatsschule und Lehrerstand. Wir begehren vom Feigen- baum nicht, daß er Trauben trage, beanspruchen auch nicht vom Staate, was er seiner Natur nach nicht leisten kann, also auch keine vollgültige Würdigung des Volksschuldienstes. In seiner amtlichen Stellung rangiert der Lehrer nach der Staatstaxe mit dem Polizei- diener, er ist stantspädagogischer Unteroffizier. Wir vermögen auch nicht abzusehen, wie er nach dem Staatsaugenmaß anders eingeschätzt werden könne, wenigstens in einem Großstaat, der aus guten Gründen erst für Heer und Diplomatie, dann für Wissenschaft und Kunst, für Verwaltung, Polizei und Kirche, für Gewerbe, Ackerbau usw. sorgt, dem alle diese Dinge unter einen größeren Gesichtswinkel erscheinen müssen, als die hinten am Staatshorizont stehende niedrige Volksschule.

Politische Parteien. Die alten Parteien »konservative und »liberale sind falsche Gegensätze. »Fortschreiten« und »feststehen« gehört zusammen wie rechtes Bein und linkes Bein. Soll das eine

8 A. Abhandlungen. :

Bein vorschreiten, so muß das andere eben derweil recht fest stehen; wer mit beiden Beinen fortschreiten will, kommt nicht vorwärts. IX.

Beide Stücke konservieren und reformieren dürfen nicht auseinandergerissen werden. Nur vereinigt sprechen sie eine Wahr- heit aus. wie Heft und Klinge nur in ihrer Vereinigung ein Messer darstellen. X. 258.

Wegen des fortwährenden hitzigen Parteikampfes kommt die Nation aus dem Fieberzustande nicht heraus. Sie gleicht einem Menschen, der am Wechselfieber leidet. Wie das auf den Kräfte- bestand wirkt, kann man bei den Ärzten erfragen. IX. 265.

Politische Parteien und Schule. Jede der großen politischen Parteien möchte die Schule beherrschen und für ihre Zwecke in Dienst nehmen. Zwischen ihnen sitzt die Schule eingeklemmt. Sie ist der Zankapfel der Parteien und kann ob sulchem Kampfe weder zur Ruhe, noch zu ihrem Rechte kommen. Und wie es gewöhnlich beim Kriege geht, daß das streitige Gebiet zum Kampfplatz wird und am meisten zu leiden hat, so auch hier. Aber wie schlimm es der Ärmsten dabei ergehen mag, so hat noch obendrein auch niemand Mitleid mit ihr. IX. 2.

Die nationale Politik, die in eine Sackgasse geraten war, hat in Bismarck einen Durchbrecher gefunden. Die in eine ähnliche Sack- gasse geratene Schulreform harrt noch auf einen solchen Durchbrecher. Aber wenn auch ein Mann sich fände, der die Einsicht und den Mut dazu besäße was könnte er ausrichten? Vier Schlachten müßten auf dem parlamentarischen Felde geschlagen werden; die Armee, auf die er müßte rechnen können, wäre doch nur die liberale Partei. Solange diese aber ihren Grundirrtum nicht einsieht, hat die Schul- reform keine Hoffnung, aus ihrer Sackgasse herauszukommen. Dieser Irrtum besteht darin, daß man zwar das wirtschaftliche Leben, die Gesundheitspflege und die Gewissenssachen nicht von den territorialen Gewalten beherrscht sehen will, aber auf dem Bildungsgebiete die Schulen als Staats- und Kommunalsache ansieht. IX. 328.

Wie Adhäsion und Kohäsion das Steigen der Flüssigkeit in einem Haarröhrchen bewirken, gerade so naturnotwendig erzeugen die Parteien die Steigerung der Zentralisation und des Uniformierens. Da gibt’s kein Aufhalten, kein Hemmen, es sei denn, daß die Parteien beider- seits ihren Irrtum einsähen und das Schulwesen seiner Natur gemäß behandeln lernten. Mit jedem Ministerwechsel hat das Uniformieren und überhaupt das Vielregieren zugenommen, und wo es einmal im Zuge ist, da nimmt es auch in unteren Kreisen fortwährend zu

Vogelsang: Bilderreden aus Dörpfelds Schriften. 9

mit jedem Wechsel der Regierungspräsidenten und der Schulräte, selbst mit jedem Wechsel in der Kreisaufsicht. IX. 287.

Schulgesetzgebung. Wer eine Maschine erdenken will, darf, wie pfiffig er auch sei, nicht wähnen, seine Pfiffigkeit erlaube ihm, sich um die Gesetze der Physik nicht zu kümmern. In ähnlicher Weise muß sich die Schulgesetzgebung um Pädagogik und Ethik, die die Grundgesetze zu erfoıschen haben, kümmern. Soweit sie verletzt werden, wird das Werk mit schweren Mängeln behaftet sein. VII. 56.

Im lieben Deutschland gilt ein von einem Schulmeister erdachter Schulorganisationsplan praktisch nicht mehr als ein Schlag ins Wasser oder ein ÖOrganisationsversuch der Wolken zum Besten der Landwirt- schaft. Freilich, hätten wir Schulsynoden, so würde die Sache anders liegen aber die haben wir ja eben nicht.

Aus einem Briefe an Diesterweg. Biogr.!), 373.

Schulgemeinde. Das Schulgemeindeprinzip ist ein soziales Samenkorn, das die Keime und Triebkräfte zu mancherlei wichtigen Freiheiten und Verwaltungsreformen in sich schließt. Es verbürgt 1. Mündigkeit der Familie; 2. Unbedingte Gewissensfreiheit in Er- ziehungssachen; 3. Selbstverwaltung durch alle Instanzen; 4. Voll- berechtigung des Lehrerstandes; 5. Selbständigkeit des Schulwesens,

VII. 228.

Eine Landes-Schulordnung, in welcher die Schulgemeinde fehlt, würde nicht bloß ein unvollkommenes, sondern ein verpfuschtes Werk sein, ein Ding, das in Zeug und Zuschnitt verfehlt wäre. Ein Keimpflänzchen ist allerdings noch lange kein ausgewachsener Baum allein wer einen Baum haben will, muß doch zu allererst für einen Keimling sorgen. Wie uun ohne Keimpflänzchen der betreffende Baum überhaupt nicht zu haben ist, so ist ohne die Schulgemeinde keine richtige Schulverfassung zu haben.

Von Staat und Kirche eine naturwüchsige, eifersüchtige Liebe zur Schule begehren, eine Liebe, wie die Mutter sie für ihre leib- lichen Kinder hegt, das wäre zu viel verlangt. Weder die bürger- liche, noch die kirchliche Gemeinde kann die rechte Schulmutter sein. Die wahre Schulgemeinde darf nur um der Schule willen da sein und wird von ihr den Namen haben. Die Schule ist ihr wahrhaftes Kind, nicht Stiefkind oder ein aufgedrungener Pflegling. Wenn der Staat dahin zu bringen wäre, zunächst einmal die Volksschule einer wahr- haften Pflegemutter auf den Schoß zu setzen, d. h. jeder einzelnen Schule eine rechte Schulgemeinde zu geben, so würde das für das

1) A. Carnap, Dörpfelds Leben und Wirken.

10 A. Abhandlungen.

öffentliche Unterrichtswesen ein Fortschritt sein, dessen Bedeutung gar nicht abzuschätzen ist. Dann wäre die Schule aus ihrer unbehag- lichen Lage zwischen zwei Stühlen dem Anfange nach herausgehoben; sie hätte festen, eigenen Grund unter den Füßen. Es würde für die Entwicklung des Schulwesens das bedeuten, was in einem Kriege die Eroberung der ersten Festung gilt. Hätten wir Schulgemeinden, so könnten meinetwegen alle Bittschriften der Lehrer, die seit 25 Jahren mühsam ausgearbeitet wurden, samt und sonders an der tiefsten Stelle des Meeres versenkt werden. VIII. 82. Schul-Vorstand. Mit dem Regierungs-Erlaß, der die Schul- Repräsentation aufhob und die Lehrerwahlen dem Schul-Vorstand übertrug (1871) wurde der Schulgemeinde die Axt an die Wurzel ge- legt; sie glich jetzt einem Baume, dessen Stamm bereits zur Hälfte durchgesägt war und bei dem es nur eines feindlichen Windstoßes bedurfte, um ihn vollends zu Fall zu bringen. VIL 49. Schulverwaltung und Bildungsinteresse Nur das Unkraut wächst von selbst, alle Kulturpflanzen. dagegen bedürfen einer sorg- samen Pflege. Das Bildungsinteresse und die Mündigkeit in Erziehungs- sachen gehören unzweifelhaft nicht zum sozialen Unkraut, das von selber gedeiht, sondern zu den Kulturgewächsen und zwar der edelsten Art. Und wenn das, so bedürfen sie der freien Luft, des Lichts, der Anregung, der Belehrung, der Möglichkeit, der Selbstbetätigung, kurz, der Pflege. Woher müßte diese Pflege kommen? Abgesehen von dem, was die Schulgesetzgebung dafür zu tun hat, jedenfalls zuerst von den Kreisschulinspektoren, den Pfarrern und Lehrern. Was ist aber in den Gegenden, wo die Lehrer und Bureaukraten über die Teil- nahmlosigkeit und Unmündigkeit des Volkes in Erziehungsangelegen- heiten klagen, zur Weckung des Schulinteresses und der inneren Mündigkeit planmäßig und eifrig geschehen? VI. 115. Schulaufsicht. Solange das Schulregiment halb geistlich, halb weltlich ist, kann es zuweilen einem Lehrer ergehen wie einem Pferde, das hinten zum Galoppieren gespornt und vorne zum Stillstehen ge- zügelt wird. Freie Schulgemeinde 82. Der Kreisschulinspektor ist für die Belebung und Fortentwick- lung des innern Schulbetriebes die einflußreichste Instanz der Schul- verwaltung, weil er nicht bloß mittelbar durch Verfügungen, sondern unmittelbar von Person zu Person wirken kann. Hauptsache ist, daß er imstande sei, ein reges pädagogisches Leben, d. i. ernste Gesinnung, ideale Berufsauffassung und ein eifriges Streben nach theoretischer und praktischer Fortbildung zu pflegen. Die Kreisinstanz ist das Schwungrad der ganzen Schulverwaltungsmaschine.

Vogelsang: Bilderreden aus Dörpfelds Schriften. 11

Freie Bahn dem Tüchtigen auch in der Schulverwal- tung. Kann man es sich als möglich denken, daß ein akademisch gebildeter Theologe, Philologe usw., der von der Steuermannskunst nicht mehr versteht, als er etwa vom Volksschuldienst versteht, sich einem Schiffsherrn als Steuermann (oder Kapitän) anzubieten wagte? Und wenn es doch einmal geschähe, würde wohl dieser Schiffsherr einem solchen akademisch Ganzgebildeten, aber im besten Falle see- männisch nur Halbgebildeten den Vorzug geben vor einem nicht- akademisch Gebildeten, aber seemännisch Ganzgebildeten? Und wenn auch dieses Unmögliche einmal passierte: würden sich wohl, wenn die seemännische Befähigung des Gewählten bekannt wäre, Matrosen und Fahrgäste finden, die Lust hätten, ihr Leben einem solchen Steuer- mann anzuvertrauen? Freilich, die Volksschüler und ihre Lehrer müssen vorlieb nehmen, was für einen Kreis-Schulsteuermann ihnen das Schicksal beschert; das geht einmal nicht anders. Da aber die Seele doch wohl soviel wert ist wie der Leib: sollte man da nicht wünschen dürfen, daß bei der Wahl der Kreis-Schulinspektoren die- selben Grundsätze maßgebend sein möchten, die bei der Wahl der Schiffsführer seit Menschengedenken gelten? IX. 135.

Doppel-Aufgabe der Schulverwaltung. Die wichtigste Auf- gabe der Schulverwaltung besteht darin, 1. für die geeignete Vor- bildung der Lehrkräfte zu sorgen und 2. die im Dienst stehenden zu leiten und zu beaufsichtigen. Diese regierende Leitung hat aber, ähn- lich wie die Erziehung, zwei Seiten, eine, die auf Abwehr eines Schadens gerichtet ist und daher beschränkend negierend auftritt: die Disziplin, und eine andere, die auf Hebung (Veredelung und Steige- rung) der arbeitenden Kräfte, also auf positive Förderung gerichtet ist: die Pflege. Beide Stücke gehören zusammen, keins darf fehlen. Aber damit ist doch nur die halbe Wahrheit gesagt. Die andere Hälfte heißt: Wie das »Evangelium« höher steht als das »Gesetze«, so steht auch die Pflege höher als die Disziplin. Eine Schulverwal- tung, die das nicht weiß oder, wenn sie es weiß, nicht darnach tut, ist ihrem Posten ebensowenig gewachsen, wie es einem Erzieher sein würde, der seine Aufgabe durch Gebieten, Verbieten und Strafen er- füllen zu können meint. Leidensgeschichte der Volksschule XI, 21.

II. Schuleinriehtung.

Zwei wichtige Fragen aus der Theorie der Schuleinrichtung be- spricht Dörpfeld in den zwei pädagogischen Gutachten im 3. Teil des VIIL Bandes. Betreffs der Klassenzahl kommt er zu dem Ergebnis

12 A. Abhandlungen.

(S. 54), daß den 5 Vorteilen der 8klassigen 10 Vorzüge der 4klassigen gegenüberstehen. Die Simultanschulfrage ist meines Wissens von keinem so allseitig und gründlich erörtert worden, wie von Dörpfeld, der als echter Liberaler von einer zwangsweisen Durchführung der Simultanschule nichts wissen will, vom pädagogischen Standpunkte aus aber nachweist, daß sie die Einheit der Schule in den persön- lichen Verhältuissen im Lehrplan und im Schulleben aufhebt, daß ihr wertvolle Lehrstoffe verloren gehen, daß ihr Lehrplan kein einheitliches, organisches Ganzes sein kann, wie die Pädagogik fordert, daß sie die Reform des Religionsunterrichts in Kirche und Schule aufhält und die Berufsfreudigkeit vieler Lehrer vermindert. Ferner bestreitet er mit guten Gründen, daß die Simultanschule vorzugsweise die Pflanzstätte der Bildung, der Duldsamkeit und der Vaterlandsliebe sein soll.

Ihr Vorbild. Je weiter eine Schuleinrichtung sich von der Familienordnung entfernt, desto weiter entfernt sie sich von Gottes Ordnung und desto geringer ist ihr christlich-erziehlicher Einfluß. Die Familie ist und bleibt der wahre Mutterboden der Erziehung in der Schulgemeinde, die Pfahlwurzel eines nationalen Schulwesens.

Fundamentst. 48.

Kleine oder große Schulsysteme. Wenn irgend etwas un- zweifelhaft feststeht, dann ist es dies, daß die Bildungsanstalten, zumal die Volksschule, nicht die Groß-Industrie sich zum Muster nehmen dürfen, sondern die kleine Werkstatt des Handwerkers und des Künstlers.

IX, 318.

Die Geschlechtertrennung ist auch ein pädagogischer Ge- danke, in dem Sinne nämlich, wie das Unkraut ein Kraut ist. VII.

Konfessionelle Schule. Eine Familie und eine Schule ohne kirchliches Bekenntnis ist wie ein Mensch ohne Charakter. Kon- fessionsloser Religionsunterricht kann in Wirklichkeit ebensowenig existieren, als ein abstrakter Baum, der nicht Apfel-, nicht Birn-, nicht Eichbaum, sondern eben nur ein Baum wäre. Wenn die Kirche sich nicht auf die wahre Natur der Schule und ihre Verwandt- schaft mit dem Hause besinnt, und wenn sie die Eltern und Lehrer nicht zu Mitstreitern gewinnt, so wird ihr- Stand gegen die Vertreter des konfessionslosen Schulwesens von Tag zu Tag schwieriger werden. Man sorge daher, daß es Schulgemeinden gibt, und daß diese wie die Kirchengemeinden einen Mund haben; dann muß die kirch- liche Verwahrlosung und Verwüstung den höchsten Grad erreicht haben, bevor die Fanatiker der Religionslosigkeit unter der Schul- dienerschaft es wagen werden, mit Anträgen auf konfessionslose Schulen der Familie ins Gesicht zu schlagen.

Vogelsang: Bilderreden aus Dörpfelds Schriften. 13

Simultanschule. Wäre die Simultanschule die rechte, so müßte auch die gemischte Ehe die rechte sein. Gemischte Ehen sind zwar nicht alle unglücklich, aber ınan weiß doch, daß sie so wenig Normal- ehen sind, als ein Mensch mit einem langen und einem kurzen Fuße normal gestaltet ist. Wo die Not eine Simultanschule zuläßt, da ist sie etwas relativ Gutes, wie es ja immer besser ist, ein Auge zu haben, als blind zu sein. Wer wird aber die Not als Tugend preisen? Wo die Anhänger der Simultanschule die Majorität haben, da wollen sie der Minorität die Mischschule mit Gewalt aufzwingen; man führt die Gewissensfreiheit im Munde und übt doch unverfroren Ge- wissenszwang und das soll erlaubt sein, wenn es im Namen der »Auf- klärung« geschieht. Die Simultanschule ist dreimal unpädagogisch: denn während nach richtiger Pädagogik der Religionsunterricht im Mittelpunkte stehen muß, wird er hier abseits gestellt, isoliert; während die Erziehung Einigkeit der Faktoren fordert, ist bei der Simultan- schule alles gespalten: die Schulgemeinde, das Lehrerkollegium und der Unterricht, und endlich: indem der Religionsunterricht streng konfessionell erteilt wird, der übrige Unterricht aber antikonfessionell ist, so pflanzt man absichtlich einen Zwiespalt in die Kinderseele hinein. VII, 200.

Die formale Pädagogik, die als formale von Religion, Nationalität usw. abzusehen hat, sagt: Die Schule muß, wenn sie erziehlich wirken soll, einheitlich sein, je einheitlicher, desto besser; je weniger ein- heitlich, desto minderwertiger. »Die gespaltene Glocke hat bösen Ton.« Nun ist die konfessionelle Schule durchaus einheitlich; die gemischte Schule dagegen ist gespalten und zwar in jeder Beziehung: im Lehr- plan, in den Lehrpersonen, den Schülern, den Eltern und im Schul- vorstande. Ohne daß die Kirche ein Wort mitgesprochen hat, ist also ausgemacht, daß nicht die simultane, sondern nur die konfessionelle Schule die Musterschule heißen kann. VII, 87.

III. Psychologisches.

»Psychologisches« findet man vor allem in »Denken und Ge- dächtnise der ersten psychologischen Monographie, die unser päda- gogisches Schrifttum aufzuweisen hat. Die erste Auflage erschien 1866 (Langes »Apperzeption« 1879). Was ihn schon damals zur Bearbeitung dieser Themata bewog, war der Wunsch, die Lehrerarbeit von der niedrigen Stufe handwerksmäßigen Tuns zur Kunst zu er- heben, seine Amtsbrüder zur wissenschaftlichen, d. h. auf Gründen ruhenden Erfassung ihres Berufs zu verhelfen. Dem Leitfaden gegen-

14 A. Abhandlungen. über hat Dörpfelds Buch, das in 5. Auflage vorliegt und ins Englische, Holländische und Ungarische übersetzt worden ist, wichtige Vorzüge: 1. Es bespricht ein Thema, das für alle Lehrgegenstände und selbst für die Gesinnungs- und Charakterbildung von größter Bedeutung ist. 2. Die psychologischen Vorgänge werden nicht knapp, sondern an- schaulich-ausführlich beschrieben und erklärt. 3. Die Anwendung der psychologischen Gesetze auf die Praxis, die dem Leitfaden ganz fehlt, macht fast die Hälfte des Buches aus und wird an Beispielen aus den wichtigsten Lehrfächern erläutert. 4. Dörpfeld verfährt nicht deduktiv, sondern induktiv-genetisch, d. h. er läßt die Untersuchung, von der Erfahrung ausgehend, den Weg gehen, den die ursprüngliche Forschung mutmaßlich eingeschlagen hat oder hätte einschlagen können, so daß der Leser sich vorkommt, als wenn er selbst der erste Forscher in dieser Frage wäre.

Wie Dr. Kley in seiner eingangs erwähnten Schrift (S.54) nachweist, »hat die experimentelle Psychologie die Dörpfeldschen Er- gebnisse über Neulernen und Einprägen und die daraus ge- folgerte Ökonomie des Lernens in fast allen Punkten nur bestätigt und ist zu keiner neuen Forderung von Bedeutung gekommene,

Herbart und die Verknüpfung der Vorstellungen. Herbart gebührt das Verdienst, das unübersehbar wechselnde Seelengetriebe auf ein Prinzip, das der Verknüpfung zusammengehöriger Vor- stellungen, zurückgeführt zu haben. Er hat damit in der Welt des Geistes eine Entdeckung gemacht, der an Großartigkeit höchstens die von Kopernikus, Kepler und Galilei vorbereitete und von Newton klar gestellte Entdeckung des die Körperwelt zusammenhaltenden und be- wegenden Gravitationsgesetzes an die Seite gestellt werden kann. Ja, dies Verdienst ist noch bedeutsamer als die Entdeckung der wahren Bewegungen der Himmelskörper, nämlich um deswillen, weil der Geist mehr gilt als der Leib, und die Geisteswissenschaften für uns Menschen wichtiger sind als die Naturwissenschaften. I, 39 und 128.

Gedankenverkehr. Bei der Verknüpfung der Gedanken handelt es sich zunächst um die Bildung kleiner, wohlzusammengefügter Vor- stellungsgruppen, die im Gedankenverkehr ungefähr das bedeuten, was im wirtschaftlichen T,eben die Städte sind, nämlich Verkehrsmittel- punkte. Indem dann diese Hauptorte des geistigen Verkehrs wieder unter sich in Verbindung gesetzt werden, vielleicht anfänglich nur bei einigen Wegen, so spinnt sich auf diese Weise doch ein voll- ständiges Netz von Verkehrswegen und Leitungsdrähten über das

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Vogelsang: Bilderreden aus Dörpfrlds Schriften. 15

ganze Gedankengebiet, vermöge dessen nun auch jede einzelne Vor-

stellung zu allen anderen hingelangen kann, wenn ihr das dient. I, 136.

In dem judiziös verknüpften Vorstellungskreise sind Straßen für

den Gedankenverkehr gebahnt vom Mittelpunkt zu allen Punkten des

Umfangs und wiederum von jedem Umfangspunkt zu allen übrigen;

kurz, jede Vorstellung kann mit allen anderen in Verkehr treten. Die Reproduzierfähigkeit ist somit allseitig. I, 95.

Wie der Baumeister bei einem Holzbau das Fachwerk fest, sicher und zuverlässig macht, indem er senkrechte, wagerechte und schräge Balken so zusammenfügt, daß sie sich gegenseitig halten und stützen, so will auch der Gedankenbau errichtet sein. Die Vor- stellungen müssen nach den verschiedensten Richtungen sachlich logisch verknüpft werden, mit anderen Worten der Lehrstoff muß denkend durchgearbeitet werden, dann hält das Erkenntnisgebäude fest zusammen. I, 132.

Während aber beim Holzbau in eben dem Maße, als das Fach- werk fester zusammengefügt wird, das Ganze samt seinen Teilen starrer und unbeweglicher wird, so werden beim Erkenntnisbau die Vorstellungen desto freier und beweglicher, je kunstgerechter und vielseitiger sie logisch verknüpft werden; denn die logischen »Bande«, die mancherlei Reflexionen, welche einerseits die Vorstellungen im Gedenken befestigen, sind andrerseits gleichsam die elektrischen Leitungsdrähte, durch welche sie sich gegenseitig ins Bewußtsein rufen. I, 135.

Vergessen. Vorstellungen, die nicht mehr reproduzierbar sind, bedeuten nichts mehr als ein totes Kapital oder als ein Besitztum auf dem Monde, und solange sie unreproduzierbar bleiben, solange sind sie samt der darauf verwandten Mühe des Neulernens und Einprägens für die Intelligenz verloren. I, 87.

Einzel- und Gesamt-Vorstellung. Wie in der menschlichen Gesellschaft der Einzelne zunächst als Einzelwesen vorhanden ist, da- neben aber gleichzeitig Gatte, Familienvater, Sohn, Bruder, Lehrer, Staatsbürger, Vereinsmitglied usw. sein kann, so besteht auch die Einzelvorstellung z. B. rund, lang, bitter, klug, gerecht in der Seele nur einmal, um bald hjer, bald da einen Begriff oder eine Phantasie- vorstellung oder irgend eine Gesamtvorstellung bilden zu helfen. Alle Vorstellungskomplexe sind nur phänomenale Gebilde und bestehen in der Seele nicht als besondere Wesen außer und neben den einfachen Vorstellungen den eigentlichen psychischen Wesenheiten, da

16 A. Abhandlungen.

sonst jede der letzteren sovielmal vorhanden sein müßte, als sie Ver- bindungen eingegangen ist, I, 18. Wie beim Photographieren das Lichtbild mit einem Male ganz zustande kommt, so denkt man sich die Anschauung von einem zu- sammengesetzten Gegenstand (Berg, Pflanze) als ein Gebilde, das von vornherein sofort in dieser Zusammengesetztheit zustande käme. Eine solche Anschauung ist aber nicht als Bild aus einem Gusse zu denken, sondern als ein Seelengebilde, das aus mehreren einfachen oder Einzel- Vorstellungen besteht und zwar aus so vielen, als Merkmale gemerkt worden sind, kurz als ein Vorstellungskomplex. I, 15. Den Anschauungsstoff nicht vergessen lassen. Der An- schauungsstoff ist zwar an sich nur ein Rohstoff, aber falls er im Ge- dächtnis bleibt, ein solcher, der sich fort und fort zu neuer und immer neuer Verwertung anbietet gleich einem Baume, der un- aufhörlich Früchte trägt, wobei es nur darauf ankommt, ob ein denkender Kopf da ist, der sie zu pflücken versteht. Den Anschau- ungsstoff vergessen lassen, heißt einen Fruchtbaum umhauen, nachdem eine einmalige Ernte gehalten worden ist. I, 90. Steigen der Vorstellungen. Wie der ruhende Stein alsbald seine Fallbewegung zeigt, wenn die hemmende Unterlage wegfällt, oder wie eine niedergedrückte Spiralfeder in eigener Kraft aufschnellt, wenn der Druck nachläßt, so werden alle unbewußten Vorstellungen, die mit einer neueintretenden nicht im Gegensatz stehen die gleichen, die ähnlichen und die disparaten sofort von dem auf ihnen lasten- den Hemmnis frei und können wieder bewußt werden. I, 52. Wesen des Denkprozesses. Es gibt weder vier, noch drei, noch zwei Denkprozesse, sondern nur einen einzigen, der seinem Ziele nach »Begriffsbildung«e heißen mag, aber in mehreren Akten verläuft ähnlich wie bei einer Blume Knospe, Blüte und reife Frucht auf- einander folgen. I, 60. Denken und Anschauung. Bei einer einzigen Anschauung, solange sie isoliert bleibt, steht das Denken so gut still, wie die Ver- dauungstätigkeit des Magens, wenn er keine Speise bekommt, oder wie ein Körper sich nicht chemisch verwandeln kann, wenn kein

zweiter hinzutritt. I, 124. Ein Denken ohne »Gedächtniskram« ist so wenig möglich, wie ein Bauen ohne Baumaterial. . X, II, 34.

Im Unterricht gehören Denken und Memorieren so notwendig zusammen wie im wirtschaftlichen Leben Arbeitsamkeit und Sparsam- keit, Erwerben und Bewahren, oder wie beim Marschieren die beiden Beine, oder wie in der Politik Reformieren und Konservieren. Ge-

Vogelsang: Bilderreden aus Dörpfelds Schriften. 17

hören sie aber zusammen, so müssen sie auch zusammenhalten, treu, unverbrüchlich so treu und unverbrüchlich wie im Haushalt und Familienleben Mann und Frau. I, 87. Vergleichen und Denken. Das Vergleichen ist dêr Vorgang, aus dem alle übrigen Denkakte wie die Pflanze aus dem Samenkorn herauswachsen. Zunächst das Urteilen, einerseits über die gemein- samen, andrerseits über die verschiedenen Merkmale; daraus die Be- griffsbildung, einerseits in aufsteigender Richtung (auf Grund der gemeinsamen Merkmale), andrerseits in abwärts gehender Richtung (auf Grund der verschiedenen Merkmale) als Begriffsspaltung, woraus die untergeordneten Begriffe entstehen. td, 4 Wesen des Begriffs. Der Begriff ist gleichsam ein Band, eine Klammer, wodurch die betreffenden Vorstellungen fest zusammen- gehalten werden. Dies Band, mit andern Worten die judiziöse Ver- knüpfung, dauert genau solange, wie der Begriff dauert, also solange, wie die Vorstellungen überhaupt als solche bestehen, d. i. solange ihr Inhalt nicht verloren geht. Falls also die konkreten Vorstellungen deutlich erfaßt sind und ihre Gleichartigkeit deutlich erkannt ist, so ist die Verknüpfung so stark, daß sie nicht noch stärker werden kann. I, 93. Der Begriff ein Monarch. Nachdem der Begriff einmal da ist, kommt sein Licht, seine Reproduktionskraft, auch allen übrigen verwandten Vorstellungen, die in der Seele vorhanden sind und sogar denen, die erst später entstehen, zugute. Auch sie sind, je nach dem Grade ihrer Verwandtschaft, erinnerungsfähiger geworden, als sie es ohnehin vermöge der Gleichartigkeit schon waren und gehören dem- nach mit zu dem Reproduktionskreise, in dessen Mittelpunkt der Be- griff als Monarch steht. Dies kann man z. B. daran erkennen, daß die Schüler nach dem Begriffsbildungsakt imstande sind, selbständig neue Beispiele zu suchen. I, 5 und 94. Beim Schließen ist das Denk-Hilfsmittel das Einschieben des Mittelbegriffs zwischen die weit auseinander liegenden Begriffe ganz ähnlich jenem bekannten Hilfsmittelchen, zu dem man seine Zuflucht nimmt, wenn ein Bach oder ein Graben überschritten werden soll, der für einen Sprung zu breit ist. Gelingt es, etwa einen Stein in die Mitte des Baches zu werfen, auf dem der Fuß ruhen kann, so daß statt des einen großen Sprunges zwei kleine zu machen sind, so ist das Unmögliche möglich geworden. I 11. Begriffsbildung und Anwenden. Solange die Begriffsbildung nur bei wenigen Beispielen stehen bleibt, aus denen der Begriff ge- wonnen wurde, sind die übrigen verwandten Anschauungen von der Zeitschrift für Kinderforschung. 24. Jahrgang. 2

18 A. Abhandlungen.

Wohltat des Durchdenkens ausgeschlossen; sie sind für die Intelligenz noch nichts anderes als Rohmaterial, noch keine höheren Erkenntnis- produkte, keine ausgeprägte Münze und keine Denkwerkzeuge. Eine Intelligenz? die bloß aus Anschauen und Denken als einmaligem Akt hervorgegangen ist, bleibt in mehrfacher Beziehung mangelhaft, solange nicht das sogenannte Anwenden hinzukommt. I, 88. Steigerung der Intelligenz. Wie die Leistungsfähigkeit eines Geschäftsmannes auf zwei Stücken, nämlich darauf beruht, daß seine Gelder einerseits sicher und andrerseits verfügbar sind, so steigt auch die Intelligenz, die Fähigkeit des Geistes im reflektiven Denken, in dem Maße, als die erworbenen Vorstellungen ein sicheres und zu- gleich verfügbares Besitztum in der Seele bilden, mit andern Worten als sie einerseits fest und treu im Gedanken haften und andrerseits nicht minder beweglich, d. i. zum Aufsteigen im Bewußtsein (zum Gebrauche) bereit sind. I, 131.

Denkkraft und Logik. So wenig die Kenntnis der Grammatik die Sprachkraft und das ethische Wissen die moralische Kraft stärkt, so wenig stärkt die Kenntnis der Vorschriften der Logik die Denk- kraft. Sie sind auf ihren Gebieten nur insofern förderlich, als sie auf die möglichen Fehler (Mängel) aufmerksam machen, nicht mehr und nicht weniger. Auf jenen schlimmen, ja bösartigen Iırtum hat ein Weiser des Altertums schon von 1900 Jahren hingewiesen: Aus dem Gesetz (der Ethik, der Logik, der Grammatik) kommt nur Erkenntnis der Sünde, nichts weiter. I, 169.

Wert des mechanischen Memorierens. Die mechanische Verknüpfung steht an Memorierkraft hinter der denkenden weit zu- rück, und ihre Wiederholung hat, gerade in dem Maße, als sie fleißig betrieben wird, mehrfache Übelstände im Gefolge; dürfen aber um deswillen ihre Leistungen verachtet werden? Auf dem wirtschaft- lichen Gebiete wissen wir, daß jeder Arbeiter seines Lohnes wert ist, und daß jede Arbeit, die an ihrem Platze unersetzlich ist, sogar un- schätzbaren Wert hat, wie mechanisch und untergeordnet sie auch sein mag. Gewiß kann der gewöhnliche Soldat nicht die Arbeit eines Feldherrn verrichten; aber wehe dem Feldherrn, der keine Soldaten hinter sich hat. I, 108.

Wenn jemand dächte, weil der Daumen sich zu den übrigen Fingern wie 1 zu 4 verhalte, darum spiele er bei den Handgriffen auch nur eine kleine, etwa eine Viertels- und Fünftels-Rolle, so be- ginge er dieselbe Torheit, wie der, der das mechanische Einprägen für wenig nütze hielte und im bildenden Unterricht möglichst be- schränken wollte. Vorab darf noch nicht vergessen werden, daß der

Vogelsang: Bilderreden aus Dörpfelds Schriften. 19 "Bereich des mechanischen Memorierens ein sehr ausgedehnter ist. Er begreift in sich das Lernen von Vokabeln, Zahlen, Melodien, sprach- lichen Darstellungen, geographischen Kartenbildern, mathematischen und chemischen Formeln usw. Sodann ist zu merken: das mechanische Einprägen ist eine dienende Operation. Für sich allein leistet es für die Intelligenz wenig; aber wenn es sich der Reflexion dienend unterordnet, so leistet es viel, nicht aus eigenem Vermögen, sondern weil nun das Denken ein neues Hilfswerkzeug erhält. I, 136. Mnemonik. Für gewisse Fälle namentlich für das Behalten der Zahlen, ist die Mnemonik ebensowenig zu verachten, wie Krücken, hölzerne Beine und Arme für den Fall, wo die natürlichen Beine und Arme fehlen oder den Dienst versagen. I, 111.

IV. Ethik.

Neben den »psychologischen« hat Dörpfeld auch Kränzchen zum Studium der »Ethik« geleitet und hier einige »Grundfragen der Ethik« besprochen, die man im XI. Bande findet. Dieser Band ent- hält auch die namentlich für Theologen bedeutsame Abhandlung: »Ge- heime Fesseln der Theologie,« die nach Dörpfeld darin bestehen, daß zwei wichtige Wahrheiten teils verkannt, teils nicht vollständig durchgeführt werden: 1. Die Ethik muß rationell und dazu un- abhängig von jedem andern Wissen (auch von der Bibel bezw. der Dogmatik) entwickelt und gelehrt werden. 2. Die göttlichen Offenbarungen in Schöpfung und Erlösung sind nicht Doktrinen, Lehrsätze, Worte, sondern Werke, Taten, Geschehnisse. Diese Schrift sollte eine Trostschrift für Ange- fochtene und Zweifelnde werden, die in Sachen des Glaubens sich nicht ohne weiteres unter Autoritäten beugen können. Die wenigen, hier gebotenen Gleichnisse lassen leider nicht die Fülle von Gedanken erkennen, die Dörpfeld bietet.

Wahre und falsche Ethik. Die falsche Ethik (Eudämonismus) hat mit der wahren soviel Ähnlichkeit wie ein faules Ei mit einem gesunden.

Nie ist die Moral lauter”gerähmt”worden als im 17. und 18. Jahr- hundert, und nie erfuhr sie eine schlimmere Verunstaltung. Die Philosophen schnitten ihr das Herz’aus dem Leibe und pflanzten da- für ein Nützlichkeits- oder Glückseligkeitsprinzip ein, zum Teil viel- leicht in der Meinung, sie dadurch besser an den Mann bringen zu können. X1, 202.

So wenig wie die Enten zu Schwänen werden, wenn ein schlauer

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0 A. Abhandlungen.

Geflügelhändler seine Schnattertiere als Schwäne anpreist, so wenig wird die Glückseligkeitstheorie zur Ethik dadurch, daß ihre Anhänger es für Nützlich finden, das Nützliche für das Gute auszugeben. Das Wissen vom Nützlichen mag für uns Menschen so nötig sein, wie és will und so wichtig, wie es will, aber es ist nun einmal keine Ethik; denn diese ist die Lehre vom Guten, d. h. von dem, was an sich gut ist. XI, 205.

Ethik und Psychologie. Die Ethik hat mit der Frage vom Ursprung des Bösen nichts zu tun. Wenn der Feigenbaum Feigen bringt, so hat er genug geleistet; daß er daneben auch Trauben tragen soll, darf man nicht von ihm fordern. Will jemand über die Her- kunft des Bösen etwas erkunden oder wenigstens über sein derzeitiges Auftauchen in jeder Menschenseele, so mag er die Wissenschaft be- fragen, die die Aufgabe hat, die psychischen Erscheinungen genetisch zu erklären, die Psychologie. Die Ethik hat es allein mit dem Kennen, mit dem Wissen zu tun; wer mehr von ihr fordert, tut ihr Unrecht; und wer von dem Spiegel verlangt, daß er auch das Waschen . besorgen soll, ist ein Tor. XI, 188.

Gewissen. Wie beim häufigen Spielen auf einem verstimmten Musikinstrument das musikalische Gehör auf die Dauer so abgestumpft wird, daß es zuletzt die falschen Töne nicht mehr merkt, so ergeht es auch beim häufigen und andauernden Nichtachten auf die Stimme des Gewissens in irgend einem Punkte: das moralische Gefühl wird in der betreffenden Richtung abgestumpft und schließlich vielleicht so sehr, daß aus dem Nichthören ein Nichthörenkönnen entsteht.

Ethik und Theologie. Die Ethik ist der Vorhof, in dem die Kirche mit den ihr Entfremdeten zusammenkommen kann.

Anfänge der Ethik. Bei den Naturvöikern steht das sittliche Gewerk noch auf einer niederen Stufe, gerade wie die übrigen geistigen Fähigkeiten, die über das sinnliche Auffassen hinausgehen. Allein, so gewiß ein solcher Naturmensch eine Ohrfeige von einer Liebkosung unterscheiden kann, so gewiß muß ihm allmählich merkbar werden, daß es unterschiedliche Gesinnungen gibt.

V. Pädagogik als Wissenschaft.

Daß die Pädagogik eine selbständige Wissenschaft und an jeder Hochschule eine pädagogische Fakultät mit 3 Lehrstühlen samt einem pädagogischen Seminar einzurichten sei, dafür ist Dörpfeld zeitlebens eingetreten. Diese Forderung war sein ceterum censeo. »Welch ein Schandfleck für unsere hochgepriesene Kultur und welch schwere

Vogelsang: Bilderreden aus Dörpfelds Schriften. 21 Anklage wider die bisherige vormundschaftliche Schulverwaltung, deren Fürsorge sich zwar auf das Spiel der Kinder mit Streichhölzchen und auf die Störungen der Telegraphenleitungen durch sogenannte Wind- vögel, auf das Schwämmchen an der Tafel usw. erstreckt, die aber für die erste und wichtigste Voraussetzung eines guten Schulwesens, für die Wissenschaft der Erziehung, kein Auge und kein Herz zu haben scheint«e (Fundamentstück S. 273).

»Die Pädagogik muß sich damit begnügen, neben ihren be- günstigten Schwestern die Rolle des Aschenbrödels zu spielen. Soweit hat es der deutsche Kulturstaat am Schlusse des 19. Jahrhunderts gebracht. «

Mit solchen und ähnlichen fast harten Worten beklagt er oft das Fehlen pädagogischer Lehrstühle. Daß man neuerdings auch im preußischen Kultusministerium ernstlich darauf bedacht ist, diesem rätselhaften Mangel abzuhelfen, würde Dörpfeld als ein Zeichen, daß der Schulnebel zu weichen beginne, mit Freuden begrüßt haben.

Wertung der Pädagogik. Daß keiner Medizin lehren kann, ohne etwas Gründliches davon zu verstehen, ist keinem zweifelhaft; ebenso daß keiner schon deshalb die Kriegskunst versteht, weil er selbst Soldat gewesen ist. Von Unterricht und Erziehung aber glaubt jeder ein gut Teil zu verstehen, weil er ja selbst auf der Schulbank gesessen hat. Man hält das Lehren und Erziehen nicht für eine Kunst, geschweige für eine schwierige, sondern für eine Art Hand- weık und zwar für ein recht leichtes, und die Pädagogik gilt dem- nach nicht für eine Wissenschaft, sondern für eine bloße Handwerks- theorie, die eigentlich gar nicht eine Theorie zu heißen verdiene, es sich um etliche leicht zu lernende Handwerksgriffe handele. Daß es nicht einerlei ist, ob der Schüler mit Unlust lernt, langsam, bloß halb und halb, oder aber schnell und gründlich; daß das Wissen, selbst ein reiches und sicheres, an und für sich noch nicht wirkliche Bildung ist, daß Kenntnisse noch lange nicht ohne weiteres zu Geistes-, Gemüts- und Willenskräften werden, und daß zum Erziehen noch etwas anderes gehört als kommandieren und eine Rute abschneiden können das alles wird nicht bedacht, obwohl jedermann es aus seinem eigenen’ Schulgang wohl wissen könnte und an seinen eigenen Kindern tagtäglich vor. Augen hat. Wenn die Erziehung eine so leichte Sache wäre, wie wollte man es dann erklären, daß so hervor- ragende Denker wie Comenius, Kant, Pestalozzi, Herbart ihr Leben lang über pädagogische Fragen nachgedacht haben. VII, 274.

Pädagogische Fakultäten. Unsere Pädagogie ist, was die Chemie vor hundert Jahren war, als es noch keine ausgebildete

22 A. Abhandlungen.

chemische Theorie gab, eine Probier- und Experimentierkunst, und das wird sie bleiben, bis es eine Wissenschaft der Pädagogik geben wird; sie kann aber nur durch die Gründung pädagogischer Fakul- täten kommen.

Die auf unsern Seminaren gebildeten Lehrer sollen Handel treiben, sie haben aber kein hinreichendes Kapital; die auf unsern philosophi- schen Fakultäten gebildeten Lehrer haben Kapital der eine mehr, der andere weniger sie haben aber vom Handel nichts gelernt, den sie treiben wollen und sollen. Man kann denken, welche Geschäfte die meisten von ihnen machen. VI, 271.

Pädagogische Seminare. Was neben Leipzig und Jena an den Hochschulen, besonders den preußischen, unter dem Namen »pädagogisches Seminars vegetiert, ist nichts anderes, als was eine Klinik sein würde, in der die Studenten die Kranken nur zu sehen bekämen. VH, 35.

Seminare. Unsere Seminare sind Fachschulen und Bildungs- anstalten zugleich, ein Zustand, so musterhaft, wie der, in dem die an sogenannten »Doppelten Gliederne Leidenden sich befinden. (1847.)

XI, 2, T. 72.

Pädagogische Idee und Praxis. Eine pädagogische Idee, welcher die methodischen Anweisungen fehlen, ist nichts anderes, als ein Paragraph der Staatsverfassung, der auf die Ausführungsgesetze wartet ein »legislatorischer Monolog«. I, 2, T. 41.

Pädagogische Theorie und Psychologie Wie der ge- schulte Arzt am Krankenbette unzweifelhaft mehr sieht als der Laie, so weiß der pädagogische Theoretiker, dessen Blick durch die Psycho- logie geschärft ist, mehr als der gesunde Menschenverstand, z. B., daß es sehr schwierig ist, aus den Lebensaufgaben genau herauszulesen, wie die fürs Leben vorbereitende Schularbeit beschaffen sein müsse, und daß man sich dabei leicht täuschen kann. I, 159.

VI. Allgemeine Methodik.

Daß Dörpfeld in Fragen der Allgemeinen Methodik ein guter Ratgeber ist, hat der Kultusminister Falk dadurch bezeugt, daß er ihn zu der Min.-Konferenz einlud, die dem Erlaß der »Allgem. Be- stimmungen vom 15. Okt. 1872« vorausging. Sein Vertrautsein mit der Geschichte der Methodik sowie seine eigenen Untersuchungen über die Theorie des Lehrplans, die genetische Methode insbesondere auf dem Gebiete des Religionsunterrichts, über die »darstellende Methode«, über formale Stufen, über »dringliche Reformen im Real-

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Vogelsang: Bilderreden aus Dörpfelds Schriften. 23

und im Sprachunterricht« usw. hätten ihn, falls er-das ihm angebotene Amt eines Seminar-Direktors nicht seiner Gesundheit wegen hätte ab- lehnen müssen, vorzüglich befähigt, angehende Lehrer in die Methodik einzuführen. Auch auf diesem Gebiet lassen die wenigen hier mit- geteilten Gleichnisse nicht ahnen, wie reich die Ausbeute für die- jenigen ist, die Dörpfelds Schriften studieren. Die Lehrkunst ist etwas anderes als das Handwerk des geistigen Wurststopfens, i I, 124. Genetische Methode. Wie die Bilder dem Text, so kommt die geschichtliche Betrachtung der theoretischen Darstellung eines Problems zu Hilfe! VII, S. 8. Vorbereitung. Bei der Darbietung des Neuen muß eine kurze einleitende Unterredung vorangehen, aus ähnlichen Gründen, warum der Prediger seiner Rede eine Einleitung vorausschickt oder warum man beim Springen über einen Graben einen Anlauf macht. Ev. Sch. 82/146. Werden in der Vorbereitung die neuen Vorstellungen an die aus dem heimatlichen Anschauungs- und Erfahrungskreis, d. h. an die dauerhaftesten, die der Geist haben kann, angeknüpft, so erhalten jene eine kräftige Stütze ähnlich wie das schwache Baumstämm- chen, Jas man an einem wohlbefestigten, starken Pfahl bindet. Dabei will nicht übersehen sein, daß diese Verknüpfung, weil sie zwischen verwandten Vorstellungen geschieht, eine judiziöse ist, also auch schon um deswillen stark ist. I, 97. Perzeption und Apperzeption. Vergleicht man die Per- zeption mit dem Essen, dem bloßen Aufnehmen der Nahrungsstoffe so entspricht die Apperzeption dem Verdauen und Assimilieren. I, 2, T. 34. Lehrformen. Un- und antipsychologische Lehrformen engen ein, aber nicht die wahrhaft psychologischen; diese machen vielmehr die Lehrkraft frei, ihre Kraft zeigen zu können. Was sollte aus der Heilkunst, dem Maschinenbau usw. werden, wenn die Ärzte, die Ingenieure usw. sich darüber beschweren wollten, daß man ihnen zu- mute, die bezüglichen (physiologischen usw.) Naturgesetze nicht bloß zu studieren, sondern sich auch in ihrer Praxis an sie zu binden? Und was sollte aus unsern schnellen Eisenbahnreisen werden, wenn die Lokomotive eines Tages erklärte, daß ihr Freiheitssinn sich in das schablonenhafte Geleise platterdings nicht mehr schicken könne? Wann wird doch der närrische Wahn aussterben, daß die Tätigkeit auf geistigem Gebiete sich von der Kenntnis und Befolgung der Ge- setze des Geistes dispensieren dürfe? Sch. 1882/151.

24 A. Abhandlungen.

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Neulernen und Einprägen. Wie im wirtschaftlichen Leben nur derjenige es zu etwas bringt, der mit der Arbeitsamkeit die Spar- samkeit, mit dem Erwerben das Bewahren verbindet, so gehören auch im Unterricht die beiden Tätigkeiten des Neulernens und des Ein- prägens notwendig zusammen. I, 30.

Ziller und seine Schüler setzen in ihrem Normalverfahren der Anschauungsvermittelung, bei der Darbietung des Verlaufs einer Ge- schichte sechs wichtige Forderungen beiseite:

1. Nur das mündliche Lehrwort ist zulässig. è

2. Es muß sich frei bewegen können.

3. Neben dem Vortrag, wo er nötig ist, muß auch, soviel als tun- lich ist, die Unterredung mitwirken.

4. Die Darstellung muß detailliert sein.

5. Das Entlegene muß durch Vergleichungs- bezw. Veranschaulichungs- beispiele dem Standpunkt des Schülers näher gerückt werden.

6. Die Schüler müssen soviel als möglich zum Selbstfinden ange- regt werden.

Wenn die Zillersche Schule hinterher, beim 2. und 3. Durchlaufen der Geschichte behufs »KRlarstellung des Tatsächlichen< und »näherer Betrachtung der religiös-ethischen Seite«, also nachträglich wenigstens soviel von diesen sechs Forderungen ausführt, als jetzt noch möglich ist, so gleicht sie einem Reisenden, der, weil der gerade Weg zu seinem Ziele etliche kleine Krümmungen hat, nun erst einen weiten und be- schwerlichen Umweg macht, um dann in gerader Linie zum Ziele zu gelangen. (Schluß folgt.) lI, 2, T. 137.

3. Das Krankheitsbild der amnestischen Aphasie mit Alexie, Agraphie und schwachen Spuren von Ataxie. ' Von Nikolaus Widmann- Mannheim.

Unsere Sprache ist das Ergebnis aus Bewegungen, welche das Denken, Fühlen und Wollen in zeichnenden Gebärden, in lauten oder geschriebenen Worten ausdrücken. Alle unsere Bewegungen gehen auf Nerventätigkeit zurück. Damit sich ein Organ in Bewegung setze, damit es also eine gewisse Stellung einnehme, muß aus dem motori- schen Zentrum der Reiz in das betreffende Organ gelangen; es muß aus dem Zentrum innerviert werden. Wenn man bedenkt, wieviele Muskel- und Nervenfasern bei der Bildung eines einzigen Lautes mit- tätig sind man hat für den Sprachlaut »m« 10000 Muskel- und

Widmann: Das Kränkheitsbild der amnestischen Aphasie mit Alexie usw. 25

Nervenfasern ausgerechnet welch kurze Zeit verstreicht, um die Absicht einer Lautbildung auszuführen und mit welcher Schnelligkeit der nächstfolgende Laut sich an den vorhergehenden anschließt, so wird man ermessen können, mit welcher Genauigkeit unser Sprech- apparat arbeitet. Durch die motorischen Nervenstränge werden die Sprechwerkzeuge in Bewegung gesetzt und zur Äußerung der Sprach- laute befähigt; die sensorischen Nerven dagegen ermöglichen es, daß die Laute in unser Bewußtsein kommen können. Die sensorischen Nerven besorgen die Vermittlung der Empfindung unserer eigenen Bewegungen ins Zentrum. »Nur wenn wir diese Empfindung im Be- wußtsein haben, können wir die Bewegung rasch und leicht wieder- holen. Wir müssen uns nämlich darüber klar sein, in welcher Lage ein Organ sich befinden muß, um eine bestimmte Wirkung auszuüben, dann können wir diese Wirkung rasch bewerkstelligen. Wir müssen das Lagegefühl haben. das. Gefühl für die Lage der Organe in ihren verschiedenen Stellungen. Sonst gilt es, sie zu suchen; einem Kinde, das noch nicht sprechen kann, fehlt das Lagegefühl für die ver- schiedenen Organstellungen. Man rufe sich ins Gedächtnis, wie tausend- mal ein- Kind einen Laut lallt, seine Organe übt, bis es dazu gelangt, mit bewußter Absicht einen bestimmten Laut zu sprechen.« Die Empfindungsnerven haben noch eine andere Aufgabe. Sie sind auch die Vermittler. zwischen dem, was von außen kommt und dem Be- wußtsein.

Für die Sprache kommt als Aufnahmestelle äußerer Eindrücke vor allem das Gehör in Betracht. Die Luftwellen setzen das Trommel- fell in Schwingungen, die duıch die Gehörknöchelchen weitergetragen werden zu den Hörnerven. Durch diese wird der Eindruck ins Hör- zentrum weiter geleitet. Das Gehörte wird aber erst als gehörter Sprachlaut empfunden, wenn es ins Bewußtseinszentrum gelangt und als Sprachlaut verstanden wird. Wenn sich nun im transkortikalen Zentrum, das man sich über die ganze Rinde ausgebreitet denkt, der Gehörseindruck mit einer Vorstellung verbindet, empfängt der hörende Mensch eine Mitteilung. Der Gehörseindruck weckt die Vorstellung, welche der Hörende mit dem Lautkomplex zu verbinden sich ange- wöhnt hat; er bewirkt, daß der Hörende sich etwas vorstellt. Manch- mal werden durch die sensorischen Nerven die Gehörseindrücke bis zum akustischen Zentrum geleitet und kommen doch nicht zum Be- wußtsein; denn unsere Aufmerksamkeit fehlt; wir haben nicht darauf gehört, nicht zugehört, nicht perzipiert.

»Um einen Sprachlaut vollständig zu verstehen, müssen wir ihn selbst nachbilden. Wir empfangen also vom sensorischen Zentrum

26 A. Abhandlungen.

her den Gehörseindruck, leiten ihn weiter, so daß die Vorstellung des Sprachlautes ins Bewußtseinszentrum dringt, veranlassen das motorische Zentrum, den Laut nachzubilden, erhalten dadurch erst den vollen Eindruck des Sprachlautes im Zentrum und verknüpfen ihn mit der Vorstellung, die wir gewohnheitsmäßig mit dem betreffenden Sprach- laute verbinden.< (Dr. E. Richter.)

Die Sprache wird nur ermöglicht, indem der Mensch in Gesell- schaft anderer lebt, fühlt, nachahmt und denkt. Sprechen heißt ver- stehen, sich selbst und andere. Da alles Sprechen als Trieb nach Mitteilung aufgefaßt werden kann, so ist das Aufnehmen der Sprach- laute für die Sprache ebenso von Bedeutung wie das Hervorbringen. Zum Sprechen gehören immer zwei; der eine gibt, der andere faßt die Gedanken auf. Den Gesamtweg der Sprache von einem Bewußt- seinszentrum zum andern möge folgendes Schema veranschaulichen:

P. hat die Vorstellung Geige im Bewußtsein Tr. Durch ge- wohnheitsmäßige Assoziation ist ihm unmittelbar auch das Wortklangbild Geige gegenwärtig, weshalb eine Verbindung mit dem Wernickschem Zentrum W angenommen werden muß; P. holt also zu dem be- zeichnenden Begriffe Geige aus W das Wortklangbild heraus. Es erfolgt die Reizung des motorischen Zentrums Br. (Broca). Vom Lage- gefühlszentrum T. (in der linken Zentralwindung gelegen) kommt noch eine Reizzuleitung nach Br., wodurch das Gefühl der veränderten Lage der Sprachwerkzeuge im Augenblick des Sprechens zum Bewußtsein kommt. In Br. wird also das Wortklangbild plastisch umgedacht.

E Tan m

Widmann: Das Krankheitsbild der amnestischen Aphasie mit Alexie usw. 927

Von Br. geht der Reiz in die Rindenstationen Z W derjenigen Nerven, welche in die Sprechmuskeln ziehen und die Innervation der Organe zur Bildung eines G eig e bewirken. Der Erfolg ist das Aussprechen des Wortes Geige.

Bei jeder Artikulation werden Schallwellen in Bewegung gesetzt. Sind diese außerhalb des Mundes in Bewegung gesetzte Luftwellen stark genug, so wird ein akustischer Reiz im Trommelfell des Ohres von L. erweckt. Die sensorischen Nerven leiten den akustischen Reiz ins sensorische Zentrum W; dort wird der Schallreiz als Wortklang- bild Geige erfaßt und gelangt von da ins Bewußtseinszentrum Tr. Somit hat der Sprecher P. den Hörer L. veranlaßt, sich eine Geige vorzustellen.

Hat der Hörende die Sprechbewegung des andern mit seinen Augen verfolgt, so ist das für die Nachahmung beim Sprechen für das Kind eine wesentliche Stütze und für den normalen Erwachsenen eine Er:ieichterung in der Aufnahme der Gedanken durch das Wort. Es führt also eine wichtige Bahn vom Auge über den Sehnerv zum optischen Zentrum im Hinterhauptslappen und von dort nach Br., von wo der Reiz in die Rindenstationen derjenigen Nerven geht, welche in die Sprechmuskeln zıehen und diese innervieren. Dieses Gebiet liegt in der vordern Zentralwindung Z W. So kommen wir auf dem Wege über das Sehzentrum zu ganz derselben Tätigkeit der Sprach- organe wie auf dem Wege über das Hörzentrum. Nach Exner ist anzunehmen, daß der Hauptreiz von Br. nur zu einer Hemisphäre geht, obwohl beide befähigt seien, die Sprachmuskeln zu innervieren, dürfte bei der Tätigkeit des Sprechens nur eine Hirnhälfte beteiligt sein. Er sagt: »Die Deutung dieser Verhältnisse liegt nahe; wenn sich die Mundwinkel auseinanderziehen, um zu lachen, so ist es gleichgültig, ob der eine Mundwinkel dem andern in seiner Bewegung um ein Zehntel einer Sekunde voraneilt. Nicht so, wenn ich dieselbe Bewegung im Gespräche ausführe, um ein »i« zu artikulieren. Zur prompteren Arbeit ist eben die Abhängigkeit von einem Zentralorgan vorteilhafter als die Abhängigkeit von zwei örtlich getrennten.«

Das transkortikale Zentrum Tr. denkt man sich über das ganze Rindengebiet ausgebreitet und aus vielen Teilbegriffszentren zusammen- gesetzt. Das gleiche Wort »Geige« wirkt bei verschiedenen Personen verschieden. »Die Gründe für dieses verschiedenartige Reagieren auf denselben Reiz liegen teils primär in der einzelnen Person, teils sind sie in die Person hineingelangt, teils liegen sie in der Außenwelt. Die primär dem Individuum angehörige Ursache dafür ist der Sinnes- typus, welcher bei ihm vorherrscht.«e Liebmann unterscheidet den Ge-

28 ; A. Abhandlungen.

sichts-, den Gehör-, den motorischen und den Tasttypus. Je nach dem vorherrschenden Typus wird in einem Begriffe diese oder jene Eigen- schaft den einen mehr reizen und deshalb gut im Gedächtnisse fest- gehalten. Beim Erwecken des Gesamteindrucks wird darum auch diese Teilvorstellung besonders hervortreten. Jeder Teilbegriff steht mit dem Zentrum W in Verbindung und vermag auch allein das Wortklangbild in unser Bewußtsein zu rufen. Ich höre den Ton einer Geige aus der Ferne; ohne das Instrument zu sehen, tritt das Wort- klangbild Geige ins Bewulitsein. Taste ich Saiten ab, so gibt mir als Geigenspieler dieser Eindruck von einer E-Saite plötzlich das Wort- klangbild Geige. Beim Lesen kommen folgende Zentren in Betracht: der Weg der Erregung geht vom Auge durch die Nerven über Q nach Br. Derjenige, der die Kunst des Lesens lernt, hat mit dem optischen Bilde des Buchstabens das Lautklangbild zu verbinden und es dann auszusprechen. Von Bu ist also eine Bahn über W nach Br.

Über die Bahnen und Zentren, die beim Schreiben in Anspruch genommen werden, sagt Dr. Fröschels: »Das spontane Schreiben geht von Tr über Br und W nach Bu und von da über Z W weiter. Denn wenn ein Kind auf Diktat schreiben lernt, und das ist ja eine Vorstufe des Spontanschreibens, so hört es erst den vorgesprochenen Laut, spricht ihn nach, um erst dann das Buchstabenbild zu suchen und niederzuschreihen. So entwickelt sich ein inniger Zusammenhang zwischen dem Lautklangbild und dem Lautbild einerseits und dem Schreiben anderseits.«

In kurzen Zügen ist versucht worden, darzustellen, welche Nerven- bahnen und Zentren tätig sind, wenn normalerweise das Sprechen, das Aufnehmen des sprachlichen Ausdrucks, das Lesen und Schreiben erfolgt. Treten aber durch Krankheitsfälle Veränderungen ein, so daß die Nervenleitungen unterbrochen sind, dann ergeben sich die ver- sehiedensten Störungen der Sprache, die man als Aphasien bezeichnet. Verfolgt man die gesamte Sprachbahn vom Ohr bis zu den Ausdrucks- organen Mund, Hand, Muskulatur für die Mimik, so zeigen sich nach Prof. Dr. Fröschels Zusammenstellung folgende Krankheitsbilder:

1. Durch Verlust des Gehörs oder bei hochgradiger Herabsetzung der Hörschärfe kann Stummheit eintreten, wenn die Wortklang- bilder noch nicht genügend festsitzen und nur durch immer- währende Erneuerung von außen zur Reproduktion gebracht werden können.

2. Ist eine Erkrankung zwischen dem akustischen und Wernicke- schen Zentrum nachgewiesen, so spricht man von subkort- sensorischer Aphasie. Das Wortklangbild kann nicht aufgefaßt

Widmann: Das Krankheitsbild der amnestischen Aphasie mit Alexie usw. 29

1.

[u 217

werden; also ist Nachsprechen nicht möglich. Spontansprache, Lesen und Schreiben ist nicht ausgeschlossen.

. Bei Störungen im Wernickeschen Zentrum ist nachzusprechen

nicht möglich. Da zwischen Wortklangbildern und Schrift und Wortklangbildern und Lesen eine innige Verbindung vorhanden ist, so wird die Läsion des Wernickeschen Zentrums Störungen im Lesen und Schreiben verursachen (kortikale sensorische Aphasie).

. Ist die Verbindungsbahn zwischen Wernickeschen und trans-

kortikalen Zentrum erkrankt, so werden die Worte wohl gehört, aber nicht verstanden. Für den Begriff werden also die ent- sprechenden Worte mangeln. Da das Wernickesche Zentrum und die Verbindung gegen das motorische Sprachgebiet intakt ist, so ist Nachsprechen möglich.

. Bei einer Störung in der Verbindungsbahn zwischen Wernicke-

schen und Brocaschen Zentrum würde der Kranke alles Ge- sprochene hören und verstehen können. Spontansprache wäre nicht gestört, wohl aber das Nachsprechen.

. Transkortikale motorische Aphasie wird man annehmen müssen,

wenn die Bahnen zwischen dem kortikalen und Brocaschen Zen‘rum Schaden gelitten haben. Eine schwere Störung ent- steht bei Erkrankung des Brocaschen Zentrums. Das Sprach- vermögen ist aufgehoben. Sprachverständnis ist vorhanden. Der Kranke ist unfähig, etwas zu schreiben und zu lesen; nur Buch- staben vermag er abzumalen.

. Von subkortikaler motorischer Aphasie spricht man, wenn die

kortikalen und subkortikalen Bahnen: der Sprechmuskeln erkrankt sind:. Die sprachlichen Störungen sind ähnlich wie bei trans- kortikaler motorischer Aphasie; nur das Schreiben ist intakt. In Wirklichkeit zeigt die Aphasie folgende Krankheitsbilder: Sensorische Aphasie: Worttaubheit und Verlust des Verständ- nisses für Klang und Sinn der Worte. Paraphasie in bezug auf Laute, Silben und Wörter. Schädigung des Verständnisses für Gelesenes. Diktatschreiben unmöglich. Spontanschreiben fehler- haft. Abschreiben möglich.

Kortikale motorische Aphasie: Sprachverständnis intakt; fast voll- ständige Stummheit. Lautes Lesen und Schreiben nicht mög- lich. Leseverständnis vorhanden. Abschreiben möglich.

. Sensorische und motorische Aphasie miteinander verbunden. > Inselaphasie: Wortfindung erschwert; häufiges Versprechen. . Subkortikale sensorische Aphasie: Kein Sprachverständnis und

Schädigung im Diktatschreiben.

30 - A. Abhandlungen.

6. Subkortikale motorische Aphasie: Krankheitsbild ähnlich wie bei kortikaler motorischer Aphasie; aber die Schriftsprache ist er- halten.

7. Transkortikale Aphasie: Vergessen der Worte. Sprachverständ- nis erhalten.

Über die ausgeprägteste Form der transkortikalen Aphasie, nach Liebmann amnestische oder verbale Aphasie, soll im folgenden auf Grund von Beobachtung und Untersuchung ein Krankheitsbild ent- worfen werden. Daran wird sich eine Darstellung der therapeutischen Maßnahmen anschließen, um zu zeigen, wie dem unglücklichen Sprach- kranken Hilfe geleistet werden kann.

Patientin W., 25 Jahre alt, stammt von gesunden Eltern. Als Kind bis zu 4 Jahren verlief -die Entwicklung normal. Die sprach- liche Entwicklung zeigte auffallend frühe urd rasche Fortschritte. Das Sprechen eilte vor dem Gehen her; mit nicht ganz einem Jahre konnte das Kind gehen. Im 4. Lebensjahre wurde an dem sehr lebhaften und geistig geweckten Mädchen plötzlich ohne vorherige Erkrankung eine Art Lähmung beobachtet: Verdrehung der Augen, Erschlaffung der Gesichtsmuskeln, Zusammensinken des Körpers. Eine Arsenikkur in dieser Zeit und nochmals im 7. Lebensjahre nach einem Rückfalle besserte den Zustand rasch. Nach einem längeren Aufenthalte im Gebirge war die Krankheit behoben, so daß selbst die sehr frühe ein- tretende Menstruation mit 12 Jahren keinen nennenswerten Einfluß auszuüben vermochte und die Schularbeiten ungestört fortgesetzt werden konnten. Von den Kinderkrankheiten verliefen die Masern gutartig. Später erkrankte W. an Gelenkrheumatismus, der einen leichten Herzfehler zurückließ. Vor 1!/, Jahren erlitt sie 10 Tage nach einer schweren Entbindung starke Blutungen einen Schlag- anfall mit rechtseitiger Lähmung des Körpers, längerer Bewußtlosig- keit und völligem Sprachverluste. Der Zustand besserte sich langsam, so daß der Fuß zuerst wieder in Aktion trat; das Gehen ist jetzt fast normal; doch scheint noch eine gewisse Schwäche zu bestehen, da das Schlittschuhlaufen nicht gelingen wollte wegen fortwährenden Um- kippens des rechten Fußes. Die Lähmung des rechten Armes Patientin ist rechtshändig und der Hand bestand weiter; durch fachmännische Massage wurde beschränkte Armbewegung erzielt, während die Lähmung der Hand und Finger bis jetzt nicht behoben werden konnte. Den schwersten Defekt zeigt die Sprache. Der Ver- lust der Sprache beeinflußt naturgemäß die Stimmung der Patientin. Der gedrückte Gemütszustand findet in heftigem Weinen die ent- sprechende Auslösung. Das ist wohl verständlich, wenn man sich

Widmann: Das Krankheitsbild der amnestischen Aphasie mit Alexie usw. 31

vorstellt, wie die ehemals sprechlustige Patientin nun durch die Er- nährungsstörungen des Gehirns, indem die Blutzufuhr an einzelnen Stellen unterbrochen ist, gleichsam ihre Gedanken in einem Gefäng- nisse eingesperrt sieht und bei vollem Bewußtsein sich nicht zu helfen vermag. Unversehrt ist nur die Gebärde geblieben. Welch sprach- licher Schaden durch den Schlaganfall verursacht wurde, erkennt man erst, wenn man zusammenstellt, was seit 1!/, Jahren bei völliger Sprachlosigkeit allmählich nur wieder in der Erinnerung auftauchte. `

Der Gedächtnisverlust mag er allgemein oder teilweise sein befolgt ein Gesetz, welches Ribot das Gesetz des Rückschritts oder der Umkehrung genannt hat. Dieses Gesetz stellt fest, daß die Amnesie stufenweise vom Unbefestigten zum Befestigten herabgehe. Das Unbefestigte ist die neue Tatsache, »die noch wenig befestigt in den Nervenelementen, selten wiederholt ist, und die also die schwächste organische Grundlage hate. »Das Beständige ist im Gegenteil der fast automatisch gewordene Akt; im Gehirne befestigt, in die Ab- hängigkeit von niederen Zentren eingetreten, überlebt er das Schwinden der Hirnrinde und der weißen Substanz. Der automatische Akt hat also die der Trennung am meisten widerstehende, organische Basis;« deshalb gilt auch der Satz: »Die Amnesie folgt der Linie des ge- ringsten Widerstandes, d. h. der schwächsten Organisation.«

Die am meisten untersuchte Art der teilweisen Zerstörungen ist das Vergessen der Zeichen. Unter Zeichen versteht man alle Mittel, deren sich der Mensch bedient, um seine Gefühle und Gedanken auszudrücken, also Worte, Schrift und Gebärden. Die Amnesie der Zeichen geht von den Eigennamen zu den Gattungsnamen, von da zu den Eigenschafts- und Zeitwörtern. Es findet also zuerst Zerstörung der Denksprache statt. Von dieser schreitet die Amnesie fort zur Ge- mütssprache oder der Sprache der Gefühle, von dieser endlich zu den Gebärden. Auch hier geht also die Auflösung wieder vom weniger zum höher Organisierten, vom Zusammengesetzten zum“ Einfachen, vom weniger zum mehr Automatischen. Bei der Wiederkehr der ver- gessenen Zeichen findet die stufenweise Wiederherstellung in um- gekehrter Richtung statt wie die Zerstörung. Wie oben erwähnt, sind die Gebärden erhalten geblieben. Dann kehrten aus der Sprache der Gefühle zurück:

1. Das Vater unser.

2. Wünsche und Formeln in der Umgangssprache: Guten Tag! Guten Morgen! Guten Appetit! Viel Vergnügen! Danke gut! Herein! Abräumen! (Auftrag dem Mädchen, den Tisch abzu- decken.) Darf man nicht! (Dem Kinde wehren.)

32 A. Abhandlungen.

3. Kleines Gedicht aus den ersten Tagen der Kindheit: Pitsche, patsche Kuchen. .... (Die Mutter lehrt das Sprüchlein ihrem 5/,jährigem Kinde.)

4. Sämtliche Wochentage und Monatsnamen, aber nur in der Reihen- folge von Montag bezw. Januar ab.

5. Zahlennamen von 1 ab. Alphabet nicht ganz sicher. Die Patientin vermag auf Fragen Aufschluß zu geben über ihren Namen, ihre Wohnung, Heimat; über Eigentümlichkeiten bei ‘diesen Antworten erfolgt weiter unten genauere Daıstellung. Ehe wir Untersuchungen über die Sprachstörungen anstellten, vergewisserten wir uns über die normale Beschaffenheit und Funktions- fähigkeit der Sprachorgane. Es gelang, die Lippen zu öffnen, zu schließen und vorzuschieben. Die Zunge zeigte volle Bewegungs- fähigkeit. Der Gaumen wies keine Abnormitäten auf. Die Hör- prüfung ergab normales Gehör; auch das Sehvermögen war intakt,

zur

I. Versuche über das Sprechvermögen.

a) Das Nachsprechen der Vokale aei erfolgte lautrein; nur o und u konnten nicht scharf in der Nachahmung unterschieden werden. Die Konsonanten wurden lautrein nachgesprochen. Silben und Worte ba, fi, se, Mama, Papa, Erwin zeigten beim Nachsprechen unversehrte Lautbildung. Selbst schwierige Wörter wie Individuum, Kanonade, Artilleriebrigade wurden deutlich und ziemlich mühelos nachgesprochen. Merkwürdig verhielt sich die Kranke beim Nachsagen der Worte: Bad, das immer ın Bart oder Band ausklang und Bild, das als Birld vou meinem Öhre aufgefaßt wurde. Die Silben fu, fo, su, so zeigten beim Nachsprechen ebenfalls Veränderungen. Über die Übungen mit diesen Silben erfahren wir Näheres im Unterrichtsverfahren.

Sobald beim Nachahmen die optische Stütze ausgeschaltet wurde, waren die Ergebnisse ungünstig, Da zeigten viele Wörter Ent- stellungen durch Einschiebsel: sitzen = sintzen, durch ungenaue Vokali- sation: Mund = Mond, und durch falsche Konsonantenbildung: Tisch = Tis; Tasse = Tasche. Einen vollständigen Satz nachzusprechen, selbst wenn das Auge an der Aufnahme teilnehmen durfte, gelang nicht: Die Uhr steht beim Fenster = Die Uhr Fenster.

Also: Patient spricht Einzellaute nach; einige Vokale sind ge- trübt. Selbst konipliziertere Wörter werden lautrein nachgesprochen. Einzelne Wörter sind durch Einschiebsel, durch ungenaue Vokalisation oder falsche Konsonantenbildung verunstalte. Ganze Sätze können

Widmann: Das Krankheitsbild der amnestischen Aphasie mit Alexie usw. 33

nicht nachgesprochen werden. Patientin benützt zur Auffassung und Unterstützung des Gehörten das optische Bewegungsbild; andernfalls ist die Auffassung bezw. das Nachsprechen gehemmt. Nach dem Schema wäre also die Bahn Ohr-A-W und seine Verbindung gegen die motorische Sprachregion Br-ZW, sowie die Bahn Auge O gegen Br intakt; dagegen scheint im Zentrum W eine gewisse Schwäche zu bestehen.

b) Die Prüfung der Spontansprache zeigte bei der Aufnahme der Personalien folgende Auffälligkeit: Wie ist Ihr Name? Antwort er- folgte lautrein und fließend. Wo wohnen Sie? Litera 1; um die Nummer 3 angeben zu können, erfolgte die Zahlenreihe in Flüster- sprache von 1 bis 3.

In welchem Stocke? Antwort 1. 2. 3. erfolgte auf ähnliche Weise.

In welcher Stadt? Mannheim.

Wo liegt Mannheim? Am Rhein und Neckar.

In welchem Lande liegt Mannheim? Baden.

Die Vorlage eines Bildes vermochte die Patientin zu keiner sprachlichen Äußerung zu veranlassen; auch eine kleine von mir aus- geführte Betätigung war nicht imstande, die Patientin zum Sprechen zu reizen.

Also: Sehr gestört ist das spontane Sprechen. Die Vorstellungen wecken das Klangbild nicht mehr.

II. Untersuchungen über das Sprachverständnis.

a) Da die rechte Hand gelähmt ist, werden alle Betätigungen mit der linken Hand ausgeführt. Schauen Sie auf die Uhr, die Türe, zum Ofen! Zeigen Sie nach dem Fenster, nach der Decke, nach dem Sopha! Gehen Sie zum Nähtische, zur Kredenz, zum Vorhange! Holen Sie den Hut Ihres Mannes im Gange! Ihren Schirm! Den Stock Ihres Mannes!

Bei den drei letztgenannten Aufforderungen, die nötig machten, daß die Patientin das Zimmer verließ, sprach sie im Gehen murmelnd in Erregung: »Hut, Hut ....«. bis der Gegenstand erfaßt war; in ähnlicher Weise wurde bei der Herbeiholung des Schirmes und Stockes verfahren. Alle Betätigungen wurden pünktlich ausgeführt. Leider war es nicht möglich festzustellen, ob Patientin imstande gewesen wäre, die letzten Aufträge auszuführen, wenn sie das laute Wieder- holen des Wortes hätte unterdrücken können.

b) Die Aufforderung »in die Hand zu klatschen«, »Hände falten,« slange Nase machen,« »Faust machen« wurde korrekt ausgeführt.

Zeitschrift für Kinderforschung. 24. Jahrgang. 3

34 A. Abhandlungen.

»Finger spreizen« und »Zeigefinger strecken« wurden nicht auf münd- liche Aufforderung hin, sondern erst bei Vormachen ausgeführt.

c) Die Aufforderung »die Nase zeigen«, »das linke, rechte Auge zeigen«e, »das linke, rechte Ohr zeigen«, »den linken, rechten Fuß zeigen«e wurde erfaßt und ohne Hemmung ausgeführt; nur bei links und rechts war nicht immer Sicherheit. Bei geschlossenen Augen wurden zeitweise Störungen beobachtet; dann konnte die Kranke ihre Nase und Augen nicht zeigen; verlangte ich aber Zweckbewegungen »Nase putzen«, » Augen ausreiben«, dann erfolgte richtige Ausführung des Befehles.

Betrachten wir die fehlerhaften Handlungen, das Handspreizen und das Strecken des Zeigefingers. Die Kranke kann die Tätigkeiten ausführen, wenn ich sie vormache oder wenn die mündliche Auf- forderung erfolgt: »Zeigen Sie auf das Bild!« Also: »Bestimmte Innervationen können ausgeführt werden, können aber nicht von über- all erweckt werden.e Die Kranke kann ihre Nase und ihre Augen zeitweise nicht zeigen; daß die reflexiven Bewegungen nicht immer gelingen, mag daran liegen, daß diese nicht gesehen werden. Mache ich die Bewegung vor oder schaut die Kranke in den Spiegel, so ge- lingt die Handlung. »Die Erregung von außen her durch Sinnen- reiz ist stärker als eine bloß zentral erweckte Vorstellung.« Warum aber gelingt die Tätigkeit, wenn ich sie als Zweckbewegung fordere: »Putzen Sie die Nase! Reiben Sie sich das Auge!«? Naseputzen und Augenreiben sind automatisch gewordene Akte, »die Trennung am meisten widerstehende, organische Basis haben«.

III. Versuche über die Verknüpfung von Wort und Begriff.

a) Substantiva.

Ich bat die Kranke, mir den Hut von der Garderobe zu holen. Erwähnt wurde schon, daß das Wort Hut solange wiederholt wurde, bis das Objekt in den Händen der Patientin war. Als der Auftrag richtig ausgeführt war, erfolgte meinerseits die Frage nach dem Gegen- stande. Statt der Antwort erfolgte eine Bewegung der linken Hand zum Kopfe, die Tätigkeit des Hutaufsetzens markierend. Das Gesicht wies den Ausdruck des »Sichbesinnens« und des unangenehmen Ge- fühls, daß das Wort verloren war. Hätte ich noch länger auf die Antwort gewartet, so würde sich das unangenehme Gefühl zu einer hochgradigen Erregung gesteigert haben, der dann eine starke De- pression mit Weinkrampf gefolgt wäre. Ich sagte das Wort; mit sichtlicher Freude, daß es das gesuchte Wort wäre, wurde es von der

Widmann: Das Krankheitsbild der amnestischen Aphasie mit Alexie usw. 35

Patientin aufgefaßt, gesprochen, um im nächsten Augenblicke wieder vergessen zu werden.

b) Verba.

Ich führte folgende Tätigkeiten aus:

schreiben, zeichnen, aufstekan, Bi; lesen. Gestört war die

Assoziation von Begriff und Wort Zah, sitzen, aufstehen; für letztgenannte Tätigkeit erfolgte die Bezeichnung: fertigmachen. In heftige Erregung geriet die Kranke als die Worte zeichnen und sitzen nicht einschossen.

c) Adjektiva.

Bei der Beantwortung folgender Fragen waren keine Fehlleistungen und keine Hemmungen zu beobachten. Ich deutete auf ein Gemälde an der Wand. Wie ist das Bild? schön. Wie gefällt Ihnen die Uhr? gut.

d) Pronomina und Präpositionen und Artikel sind in der Erinne- rung gänzlich geschwunden. Die Numeralia werden im Rechnen Er- wähnung finden.

Also: Die Amnesie beruht hier nicht auf einem Ausfall der Vor- stellungen sondern auf einer bloßen Hemmung der Reproduktion der in Wirklichkeit virtuell noch vorhandenen Vorstellung. Im Vorder- grunde steht das Nichtsprechenkönnen, daher amnestische Aphasie, Sprachlosigkeit, die auf Erinnerungslosigkeit beruht. Die Amnesie hat die Sprachvorstellungen ausgelöscht.

IV. Störungen im grammatikalischen Baue.

Deklination und Konjugation sind der Kranken völlig entschwunden. Nur die Deklination des männlichen Hauptwortes in der Einzahl ist nicht gestört. Die richtige Anwendung des Artikels mit dem ent- sprechenden Hauptworte gelingt selten; das Benehmen der Kranken erinnert an einen Ausländer, dem die Verwendung des Artikels Schwierigkeiten bereite. Das Zeitwort erscheint im Satze in der Nennform. »Ich aufstehen.«

V. Versuche über das Lesevermögen (Mechanisches Lesen).

Seit einem Vierteljahre machte der Mann der Patientin eifrige Versuche, damit die Frau das Lesen wieder erlernen sollte. Bei diesen Übungen wurde eine Fibel mit synthetischem Aufbau verwendet. Nach vierteljährigem erfolglosen Bemühen wurden die Übungen wieder ein- gestellt.

Bei meinen Versuchen fand ein kleiner Lesekasten Anwendung.

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36 .. A. Abhandlungen.

Die einzelnen Lauttäfelchen habe ich in senkreehten Reihen geordnet nach Vokalen und Konsonanten; letztere sind wieder nach den drei Artikulationsgebieten gruppiert.

a) Ich legte einen Buchstaben vor und ließ die Kranke den be- treffenden Buchstaben aus dem Lesekasten suchen; meist erfolgte richtige Auswahl; pur bei w und 1l waren Fehlgriffe zu verzeichnen. Das ist um so auffälliger als die Kranke später das Wort Amelie mit diesen Täfelchen richtig legte.

b) Nun sollte auf mündliche Aufforderung hin das Aussuchen der Lauttafeln erfolgen. Um die Aufgabe einfacher zu gestalten, war für die Patientin nur eine Reihe zu sehen. Aus der Vokalreihe wurde mit Sicherheit i, e, a.gefunden; bei o und u war Unsicherheit (Siehe I. a). Schlecht war es mit den Konsonanten bestellt; gefunden wurde b, d, g, t, k, z; nicht aufgefunden s, m, n, p, l, f, w. Ich sprach

kleine Worte vor: i8, so, mir, ab, für, am. Nur same glückte, wahr- AES o

scheinlich weil dis der iatan eines bekannten Vornamens ist Amelie. Bei den Mißerfolgen geriet die Kranke in hochgradige Er- regung und murmelte dabei die Buchstaben des Alphabets herunter, meistens über den betreffenden Buchstaben hinwegeilend, ohne ihn als den gewünschten zu erkennen.

VI. Versuche zur Beurteilung des Leseverständnisses (Wörter).

Da die Patientin in gesunden Tagen die lateinische Schrift be- vorzuęgte, legte ich folgende Wortreihen vor; ließ nur ein Wort beim Lesen zum Vorschein kommen und fragte: Wer ist das?

A. Lateinschrift B. Schreibschrift C. Druckschrift Bad Bad 1. Tischlampe Erwin Erwin 2. Messer Lampe Lampe 3. Schere Amelie Amelie 4. Kinderwagen Markt o Marft o 5. Nähmaschine Kaufhaus o Kaufhaus o 6. Rasiermesser Schule o Shule a 7. Taschenmesser Bahnhof o Bahnhof o Tisch o Tiih o ich o ih o du o du o

Die Worte mit dem Zeichen o wurden nicht gelesen, weckten aber doch Vorstellungen; durch Gebärden oder direktes Deuten nach

Widmann: Das Krankheitsbild der amnestischen Aphasie mit Alexie usw. 37 dem Gegenstande wurde ausgedrückt, daß durch das Schriftbild der Sinn erfaßt wurde. Beiti Anblick des Wortbildes Bahnhof gelesen wurde es nicht wurden die charakteristischen Laute sch-sch wie bei Kindern vernehimbar, wenn sie eine Lokomotive sehen. Die übrigen Worte würden ziemlich lautrein gelesen, ausgenommen Bad = Band = Bart; Tiseh erweekte auch keine Vorstellung und wurde nieht gelesen.

Reihe ©. wies Druckschrift auf. Gelesen wurde:

“Misch sure 2. Gabel, aber die Handbewegung ausgeführt als wollte sie die fo zum Munde führen. 3. Schere. 4. M...... wagen: 5. Näh....schine. 6. Rasiermesser, aber das Sehriftbild weckte die Gebärde de kainis h Tahan

o

Nun legte ich die Abbildungen der ? Gegenstände, die aber in anderer Reihenfolge als die gedruckten Wörter auf dem Tische lagen. Von der Patientin wurden die Schriftbilder 1, 2, 4, 5, 6, 7 richtig gezeigt; nur 3 wies eine Falschleistung auf.

Leseverständnis bei Sätzen.

Vorlage Was gelesen wurde 1. Erwin ist im Bade. l. Erwin Bade. 2. Erwin sagt schon Papa. 2. Erwin Papa. 3. Papa und ich haben Erwin lieb. 3. Papa Erwin Hause fort. 4. Er ist jetzt 1!/, Jahre alt. 4. ein Jahr (lange Pause) Monat. 5. Ist Erwin auch böse? ' 5. Erwin patschelt.

Die Kranke fuhr mit dem Zeigefinger der linken Hand, ähnlich wie Kinder zeigend lesen, unten an den Worten hin und las obige Sätze mit Auslassungen. Verstanden wurden Satz 1, 2. Bei Satz 3 wurde 2 Worte zugesetzt. In Satz 4 fand nach dem Worte Jahr eine lange Pause statt, vermutlich weil das Wort !/, nicht flott wurde; die Patientin wollte nun in Monaten das ausdrücken; so wäre das nachgeschobene Wort Monat zu verstehen. In Satz 5 läßt das an- gehängte Wort patschelt die Vermutung aufsteigen, daß es als Ant- wort gilt. Wenn Erwin patschelt, spritzt Wasser aus der Wanne; der Boden wird naß. Erwin ist böse.

Also: Die Kranke liest Worttypen. Sind in einem Satze gė- nügend im Gedächtnisse erhaltene Typen vorhanden, so ist das Ver- ständnis des Gelesenen erreicht. Formwörter kann sie keine lesen.

38 A. Abhandlungen.

VII. Das Schreibvermögen.

a) Die Kranke vermochte alle Schriftzeichen linkshändig abzu- schreiben. Niemals zeigte sich Neigung zur Spiegelschrif. Beim Übertragen der deutschen in Lateinschrift wurde s, f, sch, P, d, B, E nicht gefunden. Die Übersetzung von Druck- in Schreibschrift gelang, von kleinen Fehlern abgesehen: »Zum Tode des Erafen;« auf den falschen Buchstaben deutete die Patientin, aber sie vermochte nicht den richtigen zu finden.

b) Die Aufgabe wurde erschwert, indem nach genauem Betrachten der Buchstabe bezw. das Wort entfernt und erst nach !/, Minute niedergeschricben werden durfte. Die Niederschrift einzelner Buch- staben erfolgte ohne Fehler. Kleine Worte zeigten dagegen schon Unrichtigkeiten: ich = ih, Erwin = Ewin.

c) Rasche und große Ermüdung zeigte das Schreiben nach

Diktat: i m r e o f ldwngz s Niederschrift: h b k h Diktat: ab ich am so wo. Josef Niederschrift: ab am ut —. Jo = 1

Bei vielen vorgesprochenen Wörtern zeigte die Kranke vollständige Unfähigkeit im Niederschreiben und steigernde Erregung. Sobald das Wort oder der Laut vorgesprochen war, begann während der Nieder- schrift ein fortwährendes Nachsagen des Wortes. © Also: Das Abschreiben, das Übertragen von deutscher in Latein- schrift, das Übersetzen der Druckschrift in Schreibschrift gelingt ziemlich gut. Das Schreiben nach Diktat weist starke Störungen auf.

d) Verhalten der Kranken bei Vorlage von verstümmelten Worten.

Jos—f. Ba—. —eiß. Josef. Bad. —.

Sofort wurde die Verstümmelung bemerkt, der Stift genommen und die Alphabetreihe von a bis e murmelnd durcheilt und dann der Buchstabe e eingesetzt; ähnlich erfolgte die Vollendung des Wortes Bad. Beim Worte Weiß gelang die Ergänzung nicht; die Kranke kam sprechend in der Alphabetreihe nur bis s und blieb stecken.

Also: Die Kranke vermag verstümmelte ihr bekannte Schriftbilder nur zu ergänzen, wenn sie sprechend die Reihe des Alphabets durch- läuft.

e) Verhalten der Kranken bei fehlerhaft geschriebenen Worten.

1) Die Ziffern deuten an, in welcher Reihenfolge die Buchstaben geschrieben wurden.

Widmann: Das Krankheitsbild der amnestischen Aphasie mit Alexie usw. 39

1. Disch. 2. Oven. 3. Bat. 4. Erwien. 5. Jesof. 6. Amilie. 7. Ofn. In Nr. 1, 3, 5 vermochte die Patientin die Korrektur nicht vorzu- nehmen. Bei den übrigen Wörtern wurde der Fehler sofort erkannt und verbessert ohne 'mündliches Durcheilen des Alphabets.

Durch den Schlaganfall sind Zentren in Mitleidenschaft gezogen, wodurch die Erinnerung für Schriftbilder starke Störungen aufweist. Manche Buchstabenzeichen sind ganz vergessen; nur ganz wenige Schriftwortbilder tauchen noch in richtiger, andere in verstümmelter Gestalt aus dem Gedächtnisse auf.

VII. Störungen beim Buchstabieren.

a) Das Buchstabieren gelang nur mit optischer Stütze; nur kleine Wörter »am, Bad, du, mir« konnten notdürftig und schwerfällig buch- stabiert werden. Erwähnenswert ist die Art des Buchstabierens. Die Kranke mußte bei jedem neuen Buchstaben die ganze Reihe von A bis zum betreffenden Buchstaben durchlaufen; aber das glückte nicht immer; oft ging das Herunterleiern über den gewünschten Buchstaben weg, und dann konnte der Buchstabe nicht benannt werden.

b) Vorgesagte Wörter, selbst nur zweilautige Verbindungen zu buchstabieren, war für die Kranke eine Unmöglichkeit.

Also: Bei Sinneseindruck vom Auge her über das optische Zen- ' trum O direkt nach Br ist das Buchstabieren möglich aber unter er- schwerten Bedingungen, indem vom Zentrum W die Verbindung des Klaugbildes mit dem optischen Bilde in Br nicht sofort hergestellt werden kann, sondern erst nach jedesmaligem Durcheilen der Buch- stabenreihe.

IX. Versuche im Rechnen. 1. Zahlbegriffe.

a) Das Nachlegen von Stäbchen gelang ohne Fehler.

b) Ich deutete auf Punktgruppen,; das Legen der gleichen An- zahl von Stäbchen bereitete keine Schwierigkeiten.

c) Ich legte Stäbchen in Reihen (1—10), und sofort konnte die Patientin das Zahlbild als Gruppe zeigen.

Also: Zahlbegriffe haben in Klarheit und Sicherheit keine Störung erlitten.

d) Bei der Verwendung des Zahlwortes für den Begriff waren starke Hemmungen zu beobachten. Legte ich 6 Stäbchen, so war die Kranke nicht imstande, das Zahlwort sofort zu geben, sondern sie mußte mit dem Finger nach den Stäbchen deuten und laut zählen: 1, 2, 3. Dann sagte sie: »da dreie.

40 A: Abhandlungen.

Also: Die Namen für die Zahlbegriffe 1—10 sind vorhanden, aber sie werden erst gefunden, wenn mit Zählen von 1 an begonnen wird bis zur geforderten Zahl. Analogie zum Verhalten der Kranken, wenn sie ihr bekannte aber von mir verstümmelte "Worte riehtig stellen soll (Versuch VIId) oder beim Büchstabieren (Versuch VHI) Die Prüfung auf rückläufige Assoziation ergibt; daß die Kranke die Zahlen- reihe von 5 abwärts nieht bilden kani:

2. Operationen mit Anschauung.

a) Ich lege zu 4 Stäbchen 2 Stäbchen. Die Kranke kann nur die Summe bilden durch Zählen von 1 an bis 6: Ähnlieh wird durch Zählen die Differenz bestimmt.

b) Große Mühe und rasche Ermüdung verursachten die Opera- tionen, wenn die Kranke nach mündlicher Aufforderung ausführen soll: 5 Stäbchen + 3 Stäbchen = ?

Während sie nun zu zählen beginnt 1, 2, 3, 4, 5, um den ersten Summanden zu legen, ist ihr der 2. Summand aus dem Gedächtnisse entschwunden, Ba nur durch meinen Zuruf ist es ihr möglich, den 2. Summanden (wieder ‚sprechend 1, 2, 3) zu legen. um dann die Summe, ebenfalls von eins an zählend, festzustellen.

3. Operationen ohne Anschauung.

Addition und Subtraktion gelangen nicht, selbst die leichte Auf- gabe 1+2=? 6— İ =? konnte nicht gelöst werden. Die Kranke vermochte weder die Lösung in Worten noch an den vorge- legten Stäbchen oder Gruppen zum Ausdruck zu bringen.

Multiplikation und Division. Das Einmaleins ist gänzlich vergessen; demgemäß verliefen auch alle Versuche in Multiplikation und Division resultatlos. Also: Addition und Subtraktion mit Anschauung im Raume 1—10 vermögen notdürftig und mit viel Kraftaufwand ausgeführt werden, wenn das Zählen von 1 an erlaubt ist.

4. Kenntnis des Geldes. a) Das Sortieren der Münzen und auch das Gruppieren nach dem Werte wird rasch und sicher ausgeführt. b) Geben Sie mir 29,8 F, 15 F, 5 A 3 A 5! M 2 .% werden ohne Zählen vorgelegt. 8 Æ zu legen war trotz allen Bemühens nicht möglich. Sie zählte 1, 2, 3, 4, 5; dann legt sie ein 2 stück dazu und zählt wieder von vorn bis 7. Weiter

Widmann: Das Krankheitsbild der amnestischen Aphasie mit Alexie usw. 41

weiß sie sich nicht zu helfen, obgleich noch %stücke genug daliezen. Zuletzt sagt sie: »Ich weiß. nicht |, 2, 3, 4, 5, 6, 7.« Die Forderung 15 bringt ähnliche Fehlleistung. 5 .% 3 Æ zu geben, machte ihr sehr viele Mühe; ich mußte durch Wiederholung der Forderung das Gedächtnis unterstützen, während die Kranke selbst immer die Forderung 5 .%4 3 Æ für sich hin murmelte. Als ich 51, 4 wünschte, holte sie sofort den 5 .#-Schein mit gleichzeitigem Sprechen: 50 7; doch holte sie das 50 stück nicht. Ich forderte: 5 æ und 1/, A. Nun holte sie aber nicht das 50 stück, sondern 20 Z und 6.5.9. Ich sage: Bitte vorreehnen! Sie zählt 20, 40, 60, 80, 90 Stimmt nieht! Endlich: 10, 20, 30, 4,509, F, Z.

e) Ich Schreibe folgende Forderungen:

2 B, 8 P, 209,563, 5 AAR, 001.4, 0,08 A, 080.4 5504 Y M; h A.

Sehr flott und ohne scheinbare Ähstrengung verlief diese Übung. Jede Aüfgabe wurde ohue Fehler ausgeführt. Bei !/, æ ünd i/, A würden die Werte in verschiedenartigster Zusammenstellung und oline Mitsprechen zusammengestellt.

d) i $, 2 B, å Z, 1 Ẹ, 10 Z, 60 Z, 5.# 4P. Ich legte obige Geldwerte auf den Tisch und veranlaßte die Kranke, diese Werte schriftlich darzustellen. Die Darstellung geschah ohne jede Hemmung sowohl in’ ganzen Zahlen wie auch in Dezimalbrüchen fehlerlos. Anders verhielt sich die Kranke, als sie die Werte münd- lich ausdrücken sollte. 1 2, 2 J konnte sie bekommen. Ich legte 4 in È %stücken vor. Die Kranke vermochte den Wert nicht sofort anzugeben, sondern zählte dabei so und fuhr mit dem Finger in der Riehtung der Pfeile:

Bei Vorlage von 7% (5 + 2) zählte die Kranke unter dem Tische mit den Fingern der linken Hand still von 1 bis 7.

10 Æ wurde sofort benannt. Die Kranke spielt gern Karten, und da wird nur in 5 2 und 10 Zstücken ausbezahlt; durch diese Übung ist 5 von 10 sicher.

Als ich 60 2 vorlegte, begann die Zählung laut an den Fingern

. der linken Hand 1, 2, 3 bis 30, um dann nach 21 zu entgleisen; ich springe durch Zuruf von 31 helfend bei, und nun geht es weiter bis

42 A. Abhandlungen. 40, um dann in Zehnern 50, 60 empor zu klimmen und den Wert richtig zu benennen.

5 M 4 in Worten auszudrücken, gelingt nicht. Es bleibt bei dem Versuche 1, 2, 3, 4, 5 A 1,2, 3, 4 7, und wiederholt die Kranke nur »% FZ, A F, geht nichte.

Also: Das Unvermögen beruht wohl darauf, daß für die Zahl- begriffe 5 und 4 nicht sofort das Wortklangbild aufflammt. (Mangel- hafte Assoziation.)

5. Ziffernkenntnis und Ziffernwerte.

a) Ich schrieb folgende Ziffern 1, 6, 4, 5, 7, 8, 3, 0, 10, 2; auf Papptäfelchen gedruckte Ziffern konnten sofort aufgefunden werden.

b) Ich deutete auf die einzelnen Ziffern, und die Kranke zeigte sicher und rasch an Stäbchen (durch Zählen) und an Gruppen sofort den durch die Ziffer ausgedrückten Wert.

c) Für vorgelegte Stäbchen (Reihe) und Punkte (Gruppen) ver- mochte die Kranke ohne Fehler und ohne Zählen sofort den Wert durch Niederschrift der Ziffer darzustellen.

d) Beim Diktat der Ziffern zeigten sich Eigentümlichkeiten. Die Ziffern 1, 4, 10, 12, 20, 42 wurden sofort niedergeschrieben. Die Ziffer 5 vermochte die Kranke nicht zu finden. Bei der“Niederschrift von 2, 3, 6, 7, 8, 9 wurde die Zahlenreihe zählend durchlaufen und dann erfolgte erst der Schreibakt.

Für die diktierte Zahl 24 36 63 wurde geschrieben: 56 65 70

Ein Durcheilen der Zahlenskala faud bei diesen Zahlen nicht statt

Also: Die Kranke kennt Ziffern und deren Werte von 1—10. Sie kann die entsprechende Ziffer nur lesen, wenn sie zählend mit 1 beginnt und sprechend bei der gewünschten Ziffer angelangt ist. Ähnlich vollzieht sich das Niederschreiben der Ziffern nach Diktat, indem sie die Ziffernreihe entsprechend durchläuft bis zur diktierten Zahl. 10, 12, 20 haften fest in der Erinnerung. Bei der Zahl 42 wurde das Zahlwort so oft sprechend wiederholt, bis die Ziffern ge- schrieben waren. (Schluß folgt.)

1. Musikalische Wunderkinder. 43

B. Mitteilungen.

1. Musikalische Wunderkinder. Von Wilhelm Rinne.

Wunderkinder sind nicht, wie gewisse Berliner Kreise durch ihre jüngsten Schaustellungen uns glauben machen wollen, jene Dressierten, bei denen durch unablässigen Drill Zungen- und Fingerfertigkeit, Bein- gewandtheit und Gedächtniskraft zu solch »erstaunlichen« Leistungen ge- bracht werden, daß Onkel-, Tanten- und Dienerschaft in bewundernde Verzückung. Beifallsraserei und Blumenkoller geraten. Diese Züchtungen zeigen nichts Wunderbares, und den mit %®lcher Erziehungsweisheit Be- glückten fehlt das Erfrischende und Entzückende der Kinder: die Unbe- fangenheit, die unbeirrbare Selbstsicherheit, die sich immer dann ergibt, wenn man nicht mehr vorstellen will, als man ist.

Wunderkinder sind allein die Begnadeten, bei denen schöpferische . Entfaltung des Geistes in den Jahren in Erscheinung tritt, die gemeinhin als Entwicklungszeiten des Körpers und Geistes gelten. Dabei ist es be- langlos, ob sich die Schöpferkraft in produktiver oder künstlerisch-reproduk- tiver Weise äußert. Wer sich in das künstlerische Schaffen hat vertiefen können, wer Kunstwerke mit voller Hingebung zu genießen vermag, wer die Fähigkeit besitzt zur Wiederbelebung der Bewußtseinsinhalte, die bei der Entstehung einer Kunstschöpfung wirksam waren, der wird zugeben, daß Produktion zum großen Teil Reproduktion, Reproduzieren auch Produ- zieren ist.

Die frühentwickelte schöpferische Gestaltungskraft zeigt sich fast aus- schließlich in der Musik. Selten wird in andern Kunstgebieten vor Ab- schluß der körperlichen Reife Bedeutendes geleistet. Raffael, dessen Zeit- genossen seine künstlerische Frühreife hervorheben, malte seine ersten be- deutenderen Bilder im 15. und 16. Jsebensjahr, und sie lassen den Ein- fluß seines Lehrers Perugino in so starkem Maße erkennen, daß sie nach Vasaris Angaben von den Originalen Peruginos nicht zu unterscheiden waren. Rembrandt, ebenfalls als Frühreifer genannt, schuf seine ersten selbständigen Werke (Paulus im Gefängnis, Schlafender Greis) als 21 jähriger, und Van Dyck, bei dem alles früh kam, Reife, Ruhm und Tod, ist in den Bildern seiner Frühzeit (Krenztragung, Verspottung Christi) noch ganz von Rubens’ Auffassung bestimmt.

Noch seltener begegnen wir schöpferischer Frühbegabung in der Ge- schichte der Wissenschaft. Nur die Jugendarbeiten berühmter Mathematiker (Gauß, Abel, Galois, Bolyai) verraten neben mathematischem Sinn reifes Talent. Das deutet auf Verwandtschaftsbeziehungen zwischen der Mathema- tik und der Musik hin. Beim musikalischen Hören zeigt sich eine durch- aus mathematische Nervenfunktion, nämlich eine Auffassung von Verhält- nissen und Verhältnisreihen und ein ständiges Variieren der Reihen. Man kaun Kurella beipflichten, wenn er sagt, »daß das Musizieren ein Ober-

44 B. Mitteilungen.

bau über einer unbewußten Differential- und Integralrechnung ist, und daß die Fluxionenlehre und die Funktionstheorie uns nur entschleiert, was beim Musikhören äußerem oder innerem unbewußt von uns ge- leistet wirde. So ist es erklärlich, daß viele Mathematiker (Pythagoras, Plato, Galilei, Descartes, Leibniz, Newton, Fechner, Helmholtz, Stumpf u. a.) große reproduktive und produktive, rezeptive tind Kritische musikalische Begabung zeigen. Dazu stimmt auch die Beobachtung, daß sich mathema- tisches Talent des Vaters bei den Söhnen kundgibt, während die Töchter ausgeprägte Liebe zu Musik, Rhythmus und Tanz zeigen, aber ihren Kindern die mathematischen Fähigkeiten der ersten Generation vererben, daß also Mathematik und Musik was sie auch im Licht des Bewußt- seins und der Kritik sein mögen hereditäre Äqnivalente sind.

Musikalische Wunderkinder zeigen in früher Jugend in den meisten Fällen nur künstlerisch-reprodigktive Begabung, erst gegen Ende des Kindes- alıers gibt sich auch die kompositorische Richtung zu erkennen. J. S. Bach (1685— 1750) spielte schon als Knabe meisterlich Violine und Orgel, schrieb aber erst, wenn wir von der noch sehr primitiven E-moll Fuge der Ohrdruffer Zeit absehen, als 18jähriger die ersten Orgelwerke. Händel (1685—1759), der bereits als 8jähriger ein ausgezeichneter Orgelspieler war, schuf vielleicht 1696 die sechs Sonaten oder Trios für zwei Oboen und Baß. Beethoven (1770 —1827) bezeichnete als seine ersten Werke die Moll-Variationen und die drei Sonaten in Es, F-moll und D, die aus seinem 13. Jahre stammen, und erst nach seiner Übersiedlung nach Wien (1792) kam seine kompositorische Kraft zu voller Entfaltung. Haydn (1732—1809) dagegen begann schon als 6jähriger zu komponieren, und Mozart (1756—1791) schenkte uns in seinem 6. Lebensjahr eine Reihe von Menuetten, die große schöpferische Begabung kundtun. Auch von Richard Strauß (geb. 1864) wird berichtet, daß er mit 6 Jahren kompo- niert habe. Chopin (1810—1849) soll schon im 8. Lebensjahr Klavier- stücke geschrieben haben, und sicher ist, daß das als Opus 1 bezeichnete Rondo in C-moll, das er 1827 veröffentlichte, eine Anzahl Kompositionen zu Vorgängern hatte, die erst später im Druck erschienen. Schubert (1797—1828), der ebenso wie Meyerbeer (1791—1864) und Brahms (1883—1897) schon vor dem 10. Jahre komponierte, zeigte neben der Frühbegabung einen erstaunlichen Reichtum des Schaffens, der uns auch bei Mendelssohn (1809—1847) überrascht.

Voraussetzung für mnsikalische Frühreife ist zunächst die musi- kalische Invention, die aus einer selbständigen, lediglich der Musik eigenen Quelle gespeiste Schöpferkraft der Seele. Dann die Musikalität, nach Géza Röv&ß (Erwin Nyiregyhäzi. Leipzig, Veit & Co.) der Sinn für musi- kalische Formen und den Autbau des musikalischen Satzes, das Verständnis für die strenge Ordnung des musikalischen Ideenganges, die Fähigkeit, zu den Stimmungen der Musik in innige B:ziehung zu treten, das Wunder- bare im Kunstwerk mit solcher Eindringlichkeit zu empfinden, daß man sich als Schaffender fühlt. »Die Musikalität ist eine ursprüngliche Wesen- heit, wie etwa der sogenannte Kunstsinn im Gebiete der bildenden Künste. Sie kann nicht anerzogen, nur entwickelt werden, sie ist eine angeborene

1. Musikaiische Wunderkinder. 45

und fundamentale Eigenschaft der psychischen Organisation des damit be- gnadeten Menschen und ein charakteristischer Zug der Individnalität.« Die dritte Voraussetzung ist der Ausdruckstrieb, der Drang, das innere Leben mit seinem träuınerischen Suchen nach den tiefen Zusammenhängen zwischen unserm Schicksal und der großen Welt mit ihren Sternen, ihrem Sterben und Geborenwerden, mit seiner Sehnsucht nach dem Urvater und Allwalter, seiner stolzen Freude und seinem verzweifelnden Ringen mit dem Leid in Töne zu bannen.

Begünstigt wird das frühe Erscheinen der schöpferischen Veranlagung durch die Natur der Musik. Sie ist in Form und Inhalt wenig abhängig von der sinnlichen Welt, wird nicht von ihr genährt, kanm angeregt. Als die subjektivste aller Künste, die ihre Kräfte aus dem Innern empfängt, steht sie jenseits der empirischen Welt, zeigt uns nicht »v6ritös de fait«, sondern »vérités de raison«. Und die musikalische Invention steht zu Er- fahrnng und Übung in viel lockerer Wechselbeziehung als die schöpferische Arbeit in den übrigen Künsten und in den Wissenschaften.

Bei der Beurteilung der Leistungen von Wunderkindern dürfen wir uns nicht blenden lassen durch Sicherheit und Eleganz des Spiels, durch die oft überraschende Leichtigkeit der Überwindung technischer Schwierig- keiten, die auch wenig Musikalische sich aneignen können; dürfen aber ebensowenig zum Maßstab nehmen die Reinheit der Harmonie, die Durch- sichtigkeit des Satzes und die kontrapunktische Sicherheit, die sich er- lernen lassen. Entscheilend sind allein Erfindungsgabe und Musikalität.

Geniale Naturen haben Anspruch auf ganz besondere Pflege. Das besagt nicht, daß wir möglichst rasch die vorhandenen Fähigkeiten in ein- seitiger Weise entwickeln sollen, um die Kinder mit denkbarster Beschleuni- gung aus der von zarter Innigkeit durchwebten Sphäre der Hausmusik in den Konzertsaal bringen und ihre Kraft finanziell ausbeuten zu können. Solche Treibhauskultur rächt sich durch vorzeitigen Verbrauch der Fähigkeiten, führt in nicht wenigen Fällen zu sittlicher Entartung, ist also Raubbau mit den kostbarsten Schätzen der Natur. Werden, Erstarken und Reifen erfordern Zeit und Ruhe. Wir wollen bei der Erziehung auch keineswegs alle Schwierigkeiten aus dem Wege räumen. Damit ist den Begabten wenig gedient im Leben, das auch für sie reich sein wird an Widerwärtigkeiten, die überwunden werden wollen. Es gilt vielmehr, alle seelischen und sittlichen Kräfte zu ent- wickeln, damit die künstlerischen Leistungen immer mehr durchtränkt werden von der geistigen Ernte aufwäıts führender seelischer Entfaltung. Dann wird aus dem Wunderkinde eine vollwertige Persönlichkeit empor- wachsen, die in sittlicher Reinheit und Größe ein machtvoller Verkünder des Göttlichen und ein seherischer Denter des Alls sein kann, von dem die Worte gelten, die Geibel bei Mendelssohns Tode fand:

Du wußtest, welch ein ringend Lichtverlangen Von Blatt zu Blatt im Fıühlingswalde klingt, Was auf der Flut mit wundersamem Bangen Der Geist der Nacht an Meeresgrotten singt.

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46 B. Mitteilungen. An deine Seele klang des Herbsttags Trauer, Wenn leise rieselnd in der Dämmrung Schauer Vom abgestorbnen Baum das rote Laub

Gleich blut'gen Tränen hinsinkt in den Staub. In der zerriss’'nen Weise, die die Schwinge Des Sturmes in der Äolsharfe wühlt,

Hast du das ganze Klagelied der Dinge,

Die ganze Sehnsucht der Natur gefühlt.

2. Ein neuer Karl May-RummelP

Es ist merkwürdig, daß neuerdings ein Karl May-Rummel schlimmster Art wieder zu beginnen scheint und mitgemacht wird von Leuten, die bisher ernst genommen werden wollten, wenn sie über Fragen der Schund- literatur schrieben oder sprachen. Wenn hier und da vom Felde aus Karl May neu entdeckt worden ist, so hat das nicht viel zu bedeuten; denn da draußen wird manches literarische Werk ausgegraben, das bei uns längst vergessen oder verurteilt war. Und daß dieser oder jener Fürsprecher sich mit einem kleinen Aufsatz für den deutschen »Helden- Schriftstellere Karl May in einer Armeezeitung einen Namen zu ver- schaffen sucht, ist auch noch nicht sehr verwunderlich. Wenn aber Herr Professor Ludwig Gurlitt!) in einer Zeitschrift, die den Kampf gegen den Schund auf ihre Fahnen geschrieben hat, im Jahre 1918 noch oder wieder ein Loblied auf Karl May singt, so steht man doch kopf- schüttelnd da und überlegt, ob man einen neuen langen Aufsatz schreiben oder ihm mein vor acht Jahren erschienenes Heft »Karl May ein Volkserzieher?« (Langensalza, Hermann Beyer & Söhne [Beyer & Mann]. Preis 90 Pf.) in die Hand drücken soll.

Ist es Gurlitt wirklich ernst, wenn er schreibt: »Einen Schrift- steller hat es in unseren Tagen gegeben, der den romantischen Hunger und die idealen Träume der deutschen Jugend, zumal der Knaben, aber doch auch der Mädchen, wirklich nachgefühlt und zu stillen verstanden hat: Karl May« (S. 88)? Und lustig fährt er fort: »Während mehrerer Jahrzehnte hat er ihre Herzen besessen und noch heute ist er unbe- streitbar ihr Lieblingsschriftsteller.« Ich glaube zwar, daß G. sich hier doch sehr irrt; daß er die heutige Jugend nicht mehr kennt; daß er seine Ansichten aus der Zeit vor zehn bis zwanzig Jahren ganz einfach auf die heutige Jugend überträgt. Ja, damals gab es beinahe etwas, was man eine Karl May-Epidemie nennen konnte. Aber heute denkt unsere Jugend doch gesunder und lacht über den alten Dresdener Phantasten, dessen Vergangenheit, wie ich in meiner Schrift nachgewiesen habe, eine recht dunkle war.

Gurlitt meint nun jetzt allen Ernstes, daß sich diejenigen, die Karl

1) Ludwig Gurlitt, Zur Jugendschriftstellerei. Die Hochwacht. Jahrg. VII, Heft 4/5, S. 83—94.

2. Ein neuer Karl May-Rummel? 47 May als Schundliteraten abtun wollten, selbst in Mißkredit gebracht hätten, daß die Jugend sich dadurch habe gar nicht beirren lassen; denn sie »liebt nun einmal ihren Karl May«.

Gurlitt geht sogar soweit, von Mißgriffen zu sprechen, die man ge- macht habe. Vielleicht rechnet er meine damalige Schrift auch dazu. Und im übrigen wird er sich dadurch ja auch nicht belehren lassen; denn er nimmt eigentlich alle Kritik vorweg, indem er erklärt: »Wie die angeblich richtige Jugendschrift aussehen muß, darüber lasse ich mich nur ungern von Volksschullehrer-Kollegien und von der Tagespresse belehren.«e Und nachdem er erklärt hat, was er alles über die Kritiker weiß, versichert er uns, er glaube deshalb, »daß auch das heute gültige gelehrte Urteil über May nicht von Bestand sein wird, zumal schon jetzt der Wandel sich an- kündigte.

Man schüttelt nur erstaunt den Kopf; und malt sich aus, wie einst, wenn der May »frei wirde, ein Schundheftchen nach dem andern Winnetou und Old Shatterhand wieder aufleben lassen wird, diesmal nur für einen Zehner, wenn wir was wir doch alle hoffen wieder in unseren alten Friedensverhältnissen leben sollten; und man hört schon im voraus die Stimmen der Schundverkäufer, die einem dann sagen werden: Was fällt Euch denn eigentlich ein. einen Mann anzugreifen, von dem ein ehe- maliger Gymnasialprofessor in einer Zeitschrift zur Bekämpfung der Schund- literatur allen Ernstes schreibt, in der Sintflut der Schundliteratur ist »als Zuflucht und Rettung Karl May geradezu ein Segen: bei ihm findet sie (die Jugend) wenigstens freie Luft, große Bilder, Menschen mit heroi- schen Gedanken und Taten, von edlerem Streben, vom Suchen nach Wahr- heit, nach Freundschaft, Erhebung und nach Frieden der Seele. ... Das ist es, wodurch Karl May zum Ergänzer und Berichtiger der herrschenden, verstandesklaren und verstandeskalten Erziehung geworden ist. Er hat die Seelen in Bewegung gesetzt.«

Meint Gurlitt, der früher wenigstens mal ernst genommen werden wollte, nun wirklich, daß er damit das Rätsel gelöst habe? Oder fragt man sich nicht eher: Was gibt die Entwicklung dieses Mannes, nämlich Ludwig Gurlitts, einem für Rätsel zu lösen auf?

Und in seiner Verhimmelung Mays geht G. immer noch weiter. Er brirgt es glatt fertig, zu dozieren: Karl Mays Richtung stand im Gegen- satz zur herrschenden naturwissenschaftlich - mammonistischen Strömung. Er stieg selbst aus dem Sumpfe auf, um andere davor zu bewahren.

Man staunt immer weiter! Und man liest die wunderbarsten Ver- gleiche zwischen Rosegger und Karl May.

Man liest und liest ... und staunt und staunt ... und vernimmt, daß G. sich noch nicht mal mit diesem einen traurigen Wiederbelebungs- versuch eines schon tot geglaubten zufrieden geber will. Nein, er kündigt eine Untersuchung über das Problem an, wıe May ein Liebling des deutschen Volkes werden konnte. (Fürwahr: es gäbe wichtigere Kriegs- aufgaben, auch für Professor Gurlitt! Und bessere Papierverwendungs- möglichkeiten.) Und er mahnt uns, May nicht Feindschaft und Verfolgung, sondern Dank und. Unterstützung zuteil werden zu lassen. Denn »er hat

48 B. Mitteilungen.

wie kein zweiter ganze Generationen der deutschen Jugend vor dem Ge- meinen bewahrte. Nein, Herr Professor Gurlitt, es ist schon so: Karl May hat durch seinen Schund ganze Scharen von Jugendlichen auf falsche Wege getrieben. 2

Aber Gurlitt merkt gar nicht, wie weit er sich verrennt in seine Verhimmelung Mays. Er bringt es fertig, ganz unabhängig von aller Philosophie, in Karl May den Vorkämpfer des neuerwachenden Idealis- mus zu entdecken. Man lese (S. 94): »Es ist überraschend und erfreu- lich, daß gerade in diesen Tagen tiefer seelischer Erschütterung in Deutsch- land der Geist neu erwacht, dem May sein Leben lang gedient hat. Man ist einmal wieder des teils trockenen, teils frechen Tones gründlich satt und entdeckt von nenem das deutsche Gemüt, die deutsche Seele. Jetzt wird May vermutlich sogar einen großen Aufschwung erleben; denn man wird ihn als einen der Vorkämpfer des neuerwachenden Idealismus an- erkennen, ihm viel Unrecht abzubitten haben, hoffentlich ihn auch weit übertreffen. Er ist ein Anfang, kein Ende.«

Nein, Herr Professor Gurlitt! Von Karl May her kann unserer Jugend kein Idealismus mehr kommen. Unsere Jugend hat heute mehr denn je selbst erkannt, womit ich seinerzeit meine Schrift gegen Ihren Liebling schloß: »Erst die Persönlichkeit macht den Erzieher!« Sie rennen diesen Grundsatz, der vermutlich vor zehn bis zwanzig Jahren Ihre leb- hafteste Zustimmung gefunden hätte, nunmehr einfach über den Haufen? Das verstehe ein anderer! Versichern kann ich Ihnen als ein Mann, der das Glück hat mit der Jugend aus allen Volksschichten, der notleitenden Jugend wie der freien und führenden Jugend, in enger Verbindung zu stehen: unsere heutige Jugend weiß, daß nur wahre und echte und reine Menschen ihr Führer sein können. Unsere heutige Jugend weiß und empfindet auch, daß der neue Karl May-Rummel, den Sie durch Ihren hier kritisierten Aufsatz in so unverantwortlicher Weise zu fördern suchen, nur eine Mache gewisser Kreise ist, denen im Grunde gar nichts, rein gar nichts, am Wohle dieser Jugend gelegen ist.

Man mag den Fehler begangen haben, unseren Helden da draußen ‚aus alten Büchereien den Karl May wieder in die Hände gespielt zu haben. Gut dann besinne man sich darauf, daß nicht ausgeräumte und ab- gelegte Bücher für den Schützengraben gut genug sind, sondern daß auch da hinaus nur das Gute und das Beste gehört, wenn wir den Geist in unserem deutschen Volke hoch halten wollen, der bisher uns als tener galt: den Geist der Wahrheit und der Reinheit, den Geist echten Menschen- tums, den Geist aufrichtigen Heldentums.

Berlin-Lichtenberg. Karl Wilker.

3. Theobald Ziegler t. Von Johannes Meyer in Bautzen (Sa).

Von der Kampffront, von der im Laufe des Krieges so manche Kunde vom Heldentode jüngerer Gelehrter eintraf, kam in den ersten September- tagen die Nachricht vom plötzlichen Ableben eines greisen deutschen

3. Theobald Ziegler +}. 49

Denkers. Während einer Frontvortragsreise starb in einem oberelsässischen Feldlazarette der 72jährige Theobald, Ziegler an der Ruhr. Ein selt- sames Zusammentreffen, daß der Mann, der als Kritiker und Polemiker. so oft, anf wissenschaftlichem Gebiete mit scharfen Waffen. kämpfte, nicht, zu- letzt gegen uns Herbart- Zillerianer, gerade in Tagen heißer Entscheidurigs- schlachten . unter, dem Donner der nahen Geschütze sein. Leben enden mußte, Seine Kampfnatur gab er offen zu, so im Vorwort der seinem Straßburger Kollegen und Freund H. J. Holtzmann. gewidmeten. »All- gemeinen Pädagogik« !): »Wo es sich um so ernste .Fragen wie die der Bildung unseres Volkes handelt, darf man seine Meinung nicht vorsichtig upd rücksichtsvoll zurückhalten. . Übrigens habe ich ...: aus meinen pädagogischen Anschauungen: kein Geheimnis gemacht. «

Ein Württemberger, zu Göppingen 1846 geboren, dankt er seine gründliche klassische und dialektische Bildung zum guten Teil dem be- rühmten Tübinger Stifte ebenso wie Schelling und Hegel, D. Fr. Strauß, dessen eifriger. Interpret er wurde, und Fr. Th. Vischer, Baur und Weiz- säcker, Hölderlin und Mörike. Erst mit 38 Jahren ließ sich Ziegler als Privatdozent für Philosophie und Pädagogik in Straßburg nieder, nach lang- jähriger schulpraktischer Tätigkeit zuletzt am dortigen Gymnasium, vorher an, denen zu Winterthur und Baden-Baden. 1886 wurde er Ordinarius in S'raßburg als ‚Nachfolger von Ernst Laas. Bis 1911 blieb er in dieser akademischen Würde, in der ihm Störring folgte. Den Ruhestand ver- lebte Ziegler in Frankfurt a. M., wo seine Aufsatzsammlung »Menschen und . Probleme« ihrer Vollendung entgegenreifte.e Dem noch rüstigen, deutsch gesinnten Manne wies aber der anbrechende Weltkrieg einen neuen Platz. Er übernahm am Wöhler-Realgymnasium zu Frankfurt ehren- amtlich eine Lehrerstelle und zugleich die Leitung des damit verbundenen pädagogischen Seminars. Frontreisen zu Vorträgen boten nene Arbeit, willkommene Abwechselung. Von Frankfurt aus gab er 1914 seine be- kannten »10 Gebote einer. Kriegspädagogik«.?2) Eine seiner beachtlichen Mahnungen daraus ‚lautete: »Du sollst noch interessanter unterrichten, als es sonst schon deine Pflicht war; denn die Gedanken der Schüler gehen jetzt gar zu leicht ihre eigenen Wege Deshalb setze allen Unterricht in Beziehung zu den Ereignissen des Tages und der Stunde. Wo es sich leicht macht, da laß dir die Gelegenheit ja nicht entgehen, wo es schwer ist, da ziehe sie an den Haaren herbei.« Ziegler vertrat also Kriegskunde els Unterrichtsprinzip. »Und du sollst sie sachte hinweisen auf ‚das Schreiten der Gottheit in .der Geschichte, das sich heute so wunderbar und wundervoll unter uns offenbarte,« mahnte der Vertreter der äußersten Linken in Fragen des konfessionellen Religionsunterrichts an derselben Stelle.. »Du sollst noch mehr als bisher jede Stunde zu einer deutschen Stunde machen und deine Schüler lehren den Stil des. Generalquartier-

1) Allg. Pädagogik. 6 Vorträge von Dr. Theob. Ziegler. 2. Aufl. Leipzig, B. G. Teubner, 1905. ı 3) Vergl. Schwäb. Merkur v. 10. Sept. 1914 und Zeitschr. für den deutschen Unterricht. 29. Jahrg. 1. Heft. Zeitschrilt für Kinderforschung. 24. Jahrgang. 4

50 B. Mitteilungen.

meisters v. Stein,« das ist eine Forderung, die sicher jeder, der sich ver- antwortlich fühlt für das kommende Geschlecht, getrost unterschreibt. Zur Beherzigung sei eine weitere Forderung daraus anempfohlen: »Du sollst dir überlegen, ob nicht wirklich ein Unterschied ist zwischen Mann und Frau ..., deshalb darfst du dir die Frage der Koedukation wohl wieder zum Problem werden lassen ... denn wir brauchen männliche Männer und frauliche Frauen. ...«

Die Hauptschaffensgebiete Zieglerss waren Ethik und Pädagogik. +) Er ging darin seine eigenen Wege, sicher aber zumeist beachtliche auch für diejenigen, die anderer Anschauung sind. Ziegler wird vielfach mit dem unglücklichen Schlagwort »Reformpädagog« gekennzeichnet, sofern man unter »Reformpädagogik« die Reaktion auf Herbart und Ziller meint, als ob diese Schule !n ihren besten Vertretern, es seien nur Dörpfeld und Rein genannt, reformunfreundlich sei. Übrigens wußten die beiden führenden Geister deutscher Erziehungswissenschaft trotz der Verschiedenheit ihrer Anschauungen einander zu schätzen, wie die starke Mitarbeit Zieglers an Reins »Enzyklopädischem Handbuch der Pädagogik« beweist. Die um- fassenden Beiträge über »Idealismus«, »Sozialismus und Individualismus« sind von ihm geschaffen, wie die Würdigung vom Leben und Wirken W. v. Humboldts und Johann Sturms, des ersten Straßburger Rektors.

Über dem Grab ist Frieden. Wir wollen nicht das Trennende be- tonen, nicht von den Kämpfen zwischen ihm und uns Herbart-Zillerianern sprechen, wir wollen deshalb auch nicht ausschließlich den Pädagogen in ihm sehen, sondern ihn als Menschen würdigen. Was er als solcher ge- dacht und gefühlt hat, das tritt uns klar entgegen in seinen »Menschen und Problemen«, einer ganz subjektiven Sammlung von »Reden, Vorträgen und Aufsätzen,« seiner lieben Frau. der ersten Hörerin, Leserin und Kritikerin dieser Arbeiten zugeeignet.2) 1914 bescherte uns den ersten Band »Menschen«, damals schrieb er im Vorwort: »Mit den Problemen bin ich noch nicht fertig, und so kämen sie auch jetzt noch zu früh.« Wir kennen den einen Band und darum bedauern wir, daß ihm der zweite nicht mehr folgen kann. »Neben Gewichtigerem« findet Leichteres und Kürzeres eine Stelle, so ziehen sie denn in bunter Reihe an unserm geistigen Auge vorüber, Menschen aus dem 15. bis 20. Jahrhundert, von Gutenberg bis zu Gerh. Hanptmann, die er schätzte, darunter Württem- berger in nicht geringer Zalıl und Menschen zugleich, aus denen wir und aus dem, was er über sie schreibt, den Menschen Ziegler selbst kennen und verstehen wollen. Thomas Morus, Luther, Melanchthon, Sturm, Kant, Schiller, Pestalozzi, Humboldt, Fichte, schließlich Bismarck. Hegel, Feuer- bach, Strauß und andere wurden ausgewählt und in ihrem Leben und Wirken gewürdigt. Läßt schon eine derartige Auswahl mancherlei Schlüsse

1) Vergl. seine Geschichte der Pädagogik. München, C. H. Becksche Verlags- buchhandlung.

2) Menschen und Probleme. Reden, Vorträge und Aufsätze von Theobald Ziegler. Erste Reihe: Menschen. Berlin, Druck und Verlag von Georg Reimer, 1914. Brosch. 7 M.

3. Theobald Ziegler t. 51

auf den zu, der sie besorgte, so noch weit mehr die Art wie er diese Menschen gerade schaute. Daß Goethe und Schleiermacher fehlen, er- klärt Ziegler mit den der Sammlung vorangegangenen Vorträgen über »Goethes Welt- und Lebensanschauung« !) und der beabsichtigten besonderen Veröffentlichung über Schleiermacher. Wir lassen ihn ohne Kommentar reden nach seinem 1. Band »Menschen und Probleme«:

ə Vaterländische Erinnerungsfeiern sind Sonntage im Leben der Völker. Man läßt auf eine Stunde die Werktagsarbeit und Werktagsstimmung hinter sich und versetzt sich im Geiste rückwärts in eine andere größere Zeit und in eine festlich gehobene Stimmung, aber nicht bloß ästhe- tisch, gefühlsmäßig, um sich im Glanz der Vergangenheit zu sonnen und zu spiegeln und spielerisch sich selber zu gefallen, sondern um ernsthaft etwas mit hinauszunehmen in das Leben und in die Kämpfe des morgen wieder beginnenden Alltags, um den Willen zu stärken zu neuer Arbeit und zu neuer Tat, Mut zu gewinnen zu tapferen Entschlüssen und zu kühnem Wagen und den Glauben zu festigen an die Kraft und an die Zukunft des Volkes: (a. a. O. S. 149).

>Seine (Schillers) Freiheit ist Innerlichkeit, sie stammt nicht von außen her, das Innere nur gibt von ihr Kunde, und darum ist Freiheit nur da, solange und soweit der Wille frei zu sein und frei zu werden da ist, sie ist nichts anderes, als dieser Wille selbst, ein von Äußerlich- keiten unabhängiger, äußeren Bedingungen nicht rettungslos und hoffnungs- los unterliegender Wille. Freiheitsgefühl ist Kraftgefühl, ist Stärke und Größe, der freie Mensch ist der große Mensch, und nur der große Mensch ist wirklich frei. Und der freie Mensch ist der sittliche Mensch, und nur der sittliche Mensch ist wirklich frei. So ist ihm Freiheit zugleich Sitt- lichkeit, sein kategorischer Imperativ heißt: wolle frei sein und mache dich freil« (a. a. O. S. 83).

»An eine Wiederkehr der Fichteschen Philosophie glaube ich nicht; ?) die Versuche, die mit einer solchen Neubelebung in den letzten Jahren gemacht worden sind, ermutigen nicht zur Fortsetzung. Sie gehört der Geschichte an, in ihr freilich wird Fichte als einem Hauptwortführer des Idealismus stets sein Platz gewahrt und er in Ehren genannt und ge- kannt bleiben. Dagegen ist Fichtes Pädagogik modern, jung fast wie am ersten Tag, und aktueller,3) weniger utopistisch, besser verstanden und besser zu verstehen heute als vor 100 Jahren; denn unter ihren Ge- danken voll Zukunft, steht die uns heute erfüllende und bewegende Idee der allgemeinen Volksschule und die Forderung einer Arbeitsschule obenan« (a. a. O. S. 142).

1) Goethes Welt- und Lebensanschauung von Th. Ziegler. Ebenda. 2,40 M.

2) Vergl. hierzu: Dr. Ernst Bergemann, Fichte, der Erzieher zum Deutsch- tum. Leipzig, F. Meiner, und Dr. H. Schwarz, Fichte und wir. Osterwieck, A. W. Zickfeldt.

2) Erziehungsstaat. Stein-Fichte-Schule zu Darmstadt (Johs. Langermann). Vergl. vom Verfasser, Fichtes pädagogische Gedanken in Pädag. Warte 1912 und Deutsche Schulpraxis 1914.

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52 B. Mitteilungen.

Das letzte Wort soll Ziegler der Pädagog haben —, wie er es bei der Feier von Pestalozzis 150. Geburtstag in den Lehrervereinen zu Frankfurt a. M. sprach (a. a. O. S. 113 u. 115):

»So feiern wir Pestalozzi heute auch als Sozialisten, ... feiern ihn als den Vater und Verkündiger einer wahrhaft sozialen Pädagogik und zu- gleich als den großen Proletarierfreund, der selbst auch Proletarier ge- wesen ist und mit seinem Herzen voll Liebe aus eigener Not heraus fremde Not zu verstehen befähigt und ihr Hilfe zu bringen gewillt war...

»Das meiste ist noch ungetan, das beste ist noch immer Idee, Ideal, Aufgabe, nicht Wirklichkeit. Dahin rechne ich neben den allgemeinen und prinzipiellen Forderungen einer sittlich-sozialen Reform, die unser ganzes inneres und äußeres Leben allmählich umgestalten soll, auf dem uns hier besonders naheliegenden Gebiete der Pädagogik dreierlei: die Durchführung des Gedankens einer wirklich allgemeinen Volksschule, die Unabhängigkeit auch der Elementarbildung von konfessionellen, überhaupt von anderen als rein menschlichen und rein pädagogischen Rücksichten, und endlich zum dritten die fortschreitende Hebung und Bildung aller derer, die berufen sind, an dem großen Werk der Volkserziehung mit- zuarbeiten.«

4. Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Anton zum. 60. Geburtstage.

Am 28. Aug. d. J. beging, wie wir leider verspätet erfuhren, unser hochgeschätzter Mitarbeiter und Mitheransgeber der Zeitschrift für Kinder- forschung, Herr Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Anton, seinen 60. Geburts- tag. Aus Dentsch-Böhmen gebürtig, verlebte er seine Jünglings- und ersten Mannesjahre in Österreichischen Kronländern. Seine Neigung führte ihn zur Medizin, und zwar wollte er den Ärmsten der Armen, den Be- lasteten und Enterbten am Geiste, ein Helfer sein. Wir finden daher bald seinen Namen unter den hervorragenden Psychiatern. 1889 erwarb er sich die venia legendi und wurde Privatdozent in Wien. Seit 1905 be- kleidete er den hochangesehenen Lehrstuhl der Psychiatrie in Halle. Hier wirkt er in Segen zugleich als Direktor der psychiatrischen und Nerven- klinik der Universität. Bei seinem großen engeren Pflichtenkreise hat er Zeit gefunden, sich auch schriftstellerisch bei der Lösung sozialer Auf- gaben (Alkoholismus, Jugendfürsorge usw.) praktisch zu betätigen.

Der Gelehrte veröffentlichte außer Aufsätzen in wissenschaftlichen Fachzeitschriften (Zeitschrift für Heilkunde, Wiener medizinische Jahrbücher, Jahrbuch für Psychiatrie, Wiener klinische Wochenschrift. Mitteilungen des Vereins der Ärzte in Steiermark, Prager medizinische Wochenschrift, Psych- iatrische Wochenschrift, Archiv für Psychiatrie, Monatsschrift für Psych- iatrie, und Neurologie, Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie, Beiträge zur Kinderforschung . und Heilerziehung. Zeitschrift für Kinderforschung u. a.) an selbständig erschienenen Schriften: Angeborene Erkrankungen des Zentralnervensystems, 1890; Aufgaben der Psychiatrie und von der Ver- erbung, 1892, ein Werk, das sich an weitere Kreise wendet; Über die

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5. 25 Jahre Plauener Hilfsschule. 53

hygienischen und psychologischen Aufgaben des Nervenarztes. Antritts- rede bei Übernahme der Klinik für Nerven- und Geisteskrankheiten in Graz, 1895; Über geistige Ermfidung der Kinderim gesunden und kranken Zustande, 1900; Bau, Leistung und Erkrankung des menschlichen Stirn- hirnes.. 1. Teil. . Festschrift der Grazer Universität, für 1901 (mit H. Zingerle), 1902; Über den Wiederersatz der Fnnktion bei Erkrankungen des Gehirns. Vortrag bei Übernahme der Klinik und Lehrkanzel, 1906; Ärztliches über Sprechen und Denken, 1907; Forensische Psychiatrie, 1908, 10. 2 Bände; Vier Vorträge über Entwicklungsstörungen beim Kinde, 1908; Fortsetzung unter dem Titel: Psychiatrische Vorträge für Ärzte, Erzieher und Eltern. 2. Serie 1911, 3. Serie 1914; Über Geistes- und Nervenkrankheiten in der Schwangerschaft, im Wochenbett und in der Säuglingszeit, 19)0; Über krankhafte und moralische Abartung im Kindes- alter und über den Heilwert der Affekte, 1910; Die sexuelle Frage im Leben: des Studenten. Referate (mit E. Loening und G. von Bodelschwingh), 1910; Über die Formen der krankhaften moralischen Abartung, 1912; Be- handlung der angeborenen und erworbenen Gehirnkrankheiten mit Hilie des Balkenstiches (mit Fritz von Bramann), 1913; Wohlfahrt und Wieder- genesung der deutschen Rasse, 1915. Anton ist ferner Mitarbeiter an dem Handbuch der pathologischen Anatomie des Nervensystems. Durch die Schrift »Über geistige Ermüdung der Kinder im gesunden und kranken Zustande« ward Anton auch unserem Leserkreise besonders teuer und wert. Nach dem Tode Kochs versuchte darum die Schriftleitung, ihn nicht nur als Mitarbeiter, sondern auch als Mitherausgeber unserer Zeit- schrift zu gewinnen. ' Als solcher und als beliebter Sprecher in größeren Vereinen (Hallischer Lehrerverein, Bund zur Erhaltung und Mehrung der Volkskraft) wirkt er auch für Lehrer und Erzieher erfolgreich. Wir hoffen, noch manches Forschungsergebnis von ihm erfahren zu können und wünschen ihm noch viele Jahre ıüistiger Schaffenskraft, sowie weiteres, förderliches Interesse für unsere Zeitschrift und für das Wohl der Menschheit. Halle a. S. : Dr. B. Maennel.

5. 25 Jahre Plauener Hilfsschule.

Die Sorge um das Wohl der Kinder, die geistig zurückgeblieben waren, die man als »dumm« beiseite schob, gar wohl verlachte und be- schimpfte, veranlaßte vor nunmehr 25 Jahren den jetzigen Direktor der Hilfsschule, Johannes Delitsch, die ersten Hilfsschulklassen ins Leben zu rufen. Eine Klasse reihte sich an die andere, und vor dem Kriege be- stand die Schule ans sechs aufsteigenden Doppelklassen und einer Vor- stufe. Welch ein Segen ist in dieser Spanne Zeit ausgeströmt auf die Kinder, die ihr zugeführt werden mußten! Sie soweit zu fördern, daß sie fähig werden, einen Beruf zu ergreifen, der sie durchs Leben zu führen vermag, das ist das Ziel, das rein praktische Ziel der Hilfsschule, abgesehen von den gar vielen Aufgaben, die sie an den Kindern zu lösen hat: Pflege der Kranken, Schonung.und Gesundung der Nervösen, Operation der Gebrechlichen, Übung der Spracharmen und Ungeschickten.

54 N B. Mitteilungen.

Die Hilfsschule ist in vielem bahnbrechend vorgegangen und die übrigen Volksschulen Plauens haben von ihrer Arbeiten Früchte ernten dürfen. So hatte die Plauener Hilfsschule den ersten Schularzt, gab zuerst kranken, schwächlichen Kindern Milch, nahm in besonderen Fällen den

Spezialarzt in Anspruch und führte zuerst für Rückgratverkrümmte den .

orthopädischen Turnunterricht ein. Nachdem durch sie der Boden vor- bereitet war, erreichten diese Wohltaten auch die übrigen Schulen. Delitsch hat sich ganz in den Dienst der Schwachen gestellt und ist durch seine eingehende Beobachtung der Schwachsinnsformen und Schwachsinnsursachen, veröffentlicht in den Fachzeitschriften, im weiten Fachkreise bekannt ge- worden.

Ganz besonders hat er der Zeitschrift für Kinderforschung die Treue gehalten und in ihr auch einen treuen Leserkreis gefunden. War doch diese Zeitschrift das bahnbrecheude Verbandsorgan der Hilfsschulen Deutsch- lands, bis dieser Verband seine eigne Zeitung »Die Hilfsschule« herausgab. Delitsch suchte in der Begründung der Heilpädagogik auf die allgemeine Kinderforschung tiefe Anregungen für Theorie und Praxis seiner Lebens- aufgabe.

Von seinen Beiträgen für »Die Kinderfehler« seien folgende erwähnt: Sein für wissenschaftliche Erfassung der Hilfsschulpädagogik bedeutsamer Hinweis auf Hammarbergs »Studien über Klinik und Pathologie der

Idiotiee (IV, 203) sein anerkannter Vortrag »Über Schülerfreund- schaften in einer Volksschulklasse«, gehalten in der I. Versammlung des deutschen Vereins für Kinderforschung (V, 150) seine warmherzige

Rede über »Wohnungsnot und Volkserhaltung«, die er einer Tagung der Dresdner Jugendfürsorgezentrale geboten hatte (XXIII, 236). Größere Arbeiten fanden auch als »Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung« in Heftform Veröffentlichung. !)

Aus der Arbeit an den geistig Schwachen entsprang die Liebe und das Sorgen um die hilflosen Kinder ganz allgemein. Vor 10 Jahren gründete Direktor Delitsch den Plauener Jugendfürsorge-Verein, der unter seinem Vorsitz großen Segen stiftete. 7308 Kinder hat er umfaßt und 320127,96 M. sind für sie ausgegeben worden.

Die Plauener Hilfsschule veranlaßte die Gründung des Vereins zur Förderung sächsischen Hilfsschulwesens und stand dem Trüperschen deutschen Verein für Kirderforschung nicht fern. Auch steht sie mit dem Verbande deutscher Hilfsschulen in enger Verbindung. Was aber die Plauener Jugendfürsorge durch Direktor Delitsch an Arbeit geleistet und welche Anregung sie für viele Vereine, die sich um die Jugend bemühen, gegeben bat durch seine Merkblätter (Bekämpfung der Rhachitis allein über !/, Million verkauft), Neugründungen und Veranstaltungen, darüber

1) Heft 37: Über individuelle Hemmungen’ der Aufmerksamkeit im Schulalter, Heft 75: Ursachen der Verwahrlosung Jugendlicher. Heft 91: Das Jugendgericht in Plauen i. Vgtl. Von Amtsrichter Schmidt und Dir. Delitsch. Heft 102: Soziale Fürsorge für die aus der Hilfsschule Entlassenen.

6. Kurze Nachrichten. 55

berichtet ausführlich der Tahrzehntbericht, der unentgeltlich durch das Sekretariat des Vereins, Plauen i. V., Querstr. 4, abgegeben wird.

Möge es Direktor Delitsch vergönnt sein, zum Wohle der Jugend in seiner Hilfsschule und in seiner Jugendfürsorge noch recht viele Jahre arbeiten zu dürfen.

Plauen. —rts.—

6. Kurze Nachrichten.

1. Hindenburg und Ludendorff über die Bedeutung der Kinemato- raphie. Die kinematographische Fachzeitschrift »Der Filme veröffentlicht zwei riefe von Hindenburg und Ludendorff über Wert und Bedeutung der Kinemato-

graphie. Generalfeldmarschall Hindenburg schreibt:

ə»Die Bedeutung der Kinematographie für Zwecke der Aufklärung und Be- lehrung weiß ich voll und ganz zu wurdigen. Diese Würdigung hat neuerdings in der Schaffung des Bild- und Filmamtes ihren greifbaren Ausdruck gefunden. Die Tatigkeit dieser Stelle ist bestimnit, die deutsche Filmindustrie auf die Wege zu führen, die im Interesse des deutschen Volkes und unseres Vaterlandes beschritten werden müssen.«

Der Brief des Generalquartiermeisters Ludendorff lautet:

»Ich habe Gelegenheit gehabt. besonders auf Grund der Tätigkeit der militäri- schen Filmtrupps und der von ıhnen geschaffenen Aufnahmen mich von der hohen Bedeutung der Fılmindustrie im Sinne der Belehrung und Aufklärung zu überzeugen. Aus diesem Grunde lasse ich durch das Bıld- und Filmamt der Kinematographie in Deutschland die weitgehendste Förderung zuteil werden, soweit sich diese Industrie auf Bahnen bewegt, dieeiner im Sinne der Volksbildung und Volkserziehung günstigen Beeinflussung unserer Truppen an der Front und einer erwünschten Unterhaltung für sie dienlich sind. So sehr ich alle Aus- wüchse und minderwertigen Produkte der Kinematographie für schädlich erachte, so sehr bin ich von dem Kulturwert dieser Industrie in dem oben umschriebenen Sinne überzeugt. «<

2. Über eine geradezu skandalöse Verschwendungssucht, die weite Kreise unseres Volkes, besonders auch unsere Jugend, ergriffen hat, wird namentlich aus den Großstädten geklagt. In den Fabrıken arbeiten die Mädchen mit den feinsten und teuersten Damenstiefeln, durchbrochenen Florstrümpfen, die nicht zu reinigen, geschweige denn zu flıcken oder zu stopfen sind. Modern frisiert, mit teuren Hüten, die mit Reihern und Paradiesvögeln usw. aufgetakelt sind. Die Kino sind überfüllt. In den Bierlokalen wird mehr denn je Trinkgeld gereicht. Nicht selten fährt man 2. Klasse. Die Konzerte und Theater sind stets gut besucht, sogar von weiblichen Personen in Trauerkleidung. In den Warenhäusern sind die Mädchen die besten Kundinnen. Pralines, das Stück zu 60 Pf., sind ihnen nicht zu teuer. Helle Blusen, frische Blumen, sowie Handschuhe, moderne Parfüme, Schmucksachen, Kämme und Leckereien gehen fort wie warme Semmeln. Aus den Großstädten breitet sich dieser Geist übers ganze Land aus und macht sich auch unter uus be- merkbar. Wenn viele jetzt mehr verdienen als früher, dann sollten sie an die Zu- kunft denken und sich dafür etwas zurücklegen. Es wird nicht immer so bleiben, wie es jetzt ist. Mit dem Aufhören des Krieges werden Arbeitsstockungen unaus- bleiblich sein. Wie gut, wenn man da einen Notpfennig hat. Darum spare in der Zeit, so hast du in der Not!

3. Was erreicht der Sparzwang für Jugendliche? In einer Veröffent- lichung des »Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke« berichtet der Leiter des Vormundschaftsamtes Berlin, Dr. Schönberner, über die Erfahrungen, die mit dem Sparzwang für Jugendliche gemacht wurden. Es wurde der wirtschaftliche Er- folg erzielt, daß bei der Berliner Jugendsparkasse nach zwei Jahren bei einer Ge- samteinzahlung von etwa 9 Millionen Mark ein Bestand von rund 5100000 Mark angesammelt war. Der wirtschaftliche Nutzen des Sparzwangs erweist sich für den

56 C. Zeitschriftenschan.

Sparer, sobald die Notwendigkeit für größere Anschaffungen eintritt. Viele Jugend- liche, die. freiwillig niemals gespart haben wiürden,. erkennen dann den Segen des Spargeldes an. Der Hauptzweck der Verordnung ist, aber ein, erzieherischer, Big will die Jugend vor Vergeudung und vor solcher Verwendung bewahren, die ge- sundheitlich und sittlich schädigend wirkt. Dieser Zweck sei, wenn man die breite Masse der Jugendlichen betrachte, im wesentlichen erreicht worden. Der Spar- zwang erzieht zum freiwilligen Sparen, denn die Freude an wachsenden Kapital ist der beste Antrieb zum Weıtersparen. Es sei also ein dauernd nutzbringender Er- folg des Sparzwangs festzustellen, und es wäre zu erwägen, ob ähnliche Einrich- tungen in freierer Form sich für Friedenszeiten treffen ließen.

C. Zeitschriftenschau,

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Jugend- und Schulgesundheitspflege. ole

Kronacher, Berthold, Die Beratungsstelle für krüppelhafte Kinder in Nürnberg. Zeitschrift für Krüppelfürsorge. VII, 2’ (April 1914), S. 78—81.

' Die Beratungsstelle besteht seit vier Jahren. Außer der eigentlichen Beratungs- stelle hat man noch eine Geschäftsstelle und eine klinische Station eingerichtet. Die durchschnittlichen Kosten beliefen sich für das einzelne Krüppelkind auf ca. 57 Mark, während Biesalski 1908 die erforderliche Summe für die Behandlung usw. „eines Krüppelkindes auf 1200 Mark berechnete.

Kulka, Wilhelm, Wachstumsphysiologie und Körpererziehung. Zeitschrift we Kinderschutz und Jugendfürsorge. 5, 4 (April 1913), S. 111—116.

An den Zöglingen der Infanteriekadett-nschule in Königsfeld bei Brünn wurdet sehr sorgfältige Messungen vorgenommen, deren Ergebnisse mit anderen in Betracht kömmenden Untersuchungen verglichen werden. Dem Entwicklungsstadium der Pubertät entspricht eine lII. Periode lebhaften Aufschießens, eine II. Periode ge- steigerter Zunahme des Brustumfangs. Die Arbeit enthält verschiedene beachtens- werte Tabellen, aus denen hervorgeht, daß die untersuchten Zöglinge in gewisser Weise eine Elite darstellen. Der Verfasser weist zum Schluß darauf hin, wie not- wendig es ist, daß Lehrer und Arzt zum Besten der Jugend zusammenarbeiten. Künne, Bruno, Fortschritte der Orthopädie in den letzten 2 Jahren. Zeitschrift

für Krüppelfürsorge. 6, 4 (Oktober 1913), S. 253—273.

-Eine Übersicht über die Fortschritte mit zahlreichen Literaturnachweisen.

Lange, Fritz, Die Kgl. orthopädische Klinik in München. Münch, Med. Wochen- schrift. 61, 22 (2. Juni 1914), S. 1233 - 1235.

Überblick über Entstehung und Beschreibung. Baumodell, Lageplan, Orand»

riß des 1. Obergeschosses sind abgeb:ldet.

Leubuscher, G., Erkrankungen der Lehrerschaft im Herzogtum ee Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. XXVII, 7 (Juli 1914). S. 529—-537.

Der Verfasser referiert kurz über frühere Untersuchungen anderer Autoren. Nach seinen eigenen Untersuchungen ist im Herzogtum Sachsen-Meiningen der Ge- sundheitszustand der Lehrerschaft ein durchaus günstiger. Die Haupterkrankungen sind solche der Atmungsorgane und des Nervensystems. Ein wesentlicher Unter- schied zwischen Lehrern und Lehrerinnen ist nicht wahrzunehmen. (Allerdings ist die Verhältniszahl gering: 1913 kamen auf 813 Lehrer 139 Lehrerinnen.) Als

7

C. Zeitschriftenschau. 57

pikie Siinain BE sich: 'Strengste Auswahl bei der Aufnahme ins Seminar (besonders hinsichtlich nervöser Belastung), schulärztliche Überwachung int ‘Seminar, ärztliche Kontrolle der’ l,ehrerschaft, "praktische und theoretische Be- rütksichtigubg' der Gesundheitslebre in den Seminaren. Lobsien, Marx, Die Wirkung des Antikenotoxin’ auf den Menschen. Die Päda- gogische Forschung. 11, 4 (Juli 1914), S. 429—433. ` 5 ‘` Lobsien gibt einige kritische Bemerkungen und Richtigstellungen zu Hackers Schulversuchen und den bei deren Veröffentlichung gemachten kritischen Aus- stellungen an Lobsiens Untersuchungen. Lorenz, Adolf, Verbesserung der Sitzhygiene durch die Hebellehne. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfursorge. 5, 5 (Mai 1913), S. 148. e> Der Verfasser empfiehlt eine um 20—25° rückwärts geneigte Lehne, die als zweiarmiger, annäheınd gleicharmiger Hebel zu gestalten ist, dessen quere Dreh- achse dem oberen Ende des Lendensegments der Wirbelsäule entspricht. Lorentz, Friedrich, Die Bekämpfung der Tuberkulose unter den Schülern und Lehrern. Deutsche Blätter für erziehenden Unterricht. 40, 42 (11. Juli 1913), 8. 425—427; 43 (18. Juli), S. 436—438; 44 (25. Juli), S. 447—449. Es werden unter fortwährendem Hinweis auf die große Tuberkulosegefahr die Maßnahmen angegeben, die die Schule zum Schutze von Schülern und Lehren er- greifen ‘kann und muß.

Lorentz, Friedrich, Die Hygiene im 'Lehrplan der Schulen und der Lehrer- bildungsanstalten. Die Pädagogische Praxis. II, 10 (Juli 1914), S. 529—536; 11 (August), S. 588 - 595.

Die Hygiene fındet bei der Ausbildung der Lehrer noch immer nicht die ge- bührende Berücksichtigung. In einzelnen Staaten sind zwar Ansätze zur Besserung vorhauden. Anzustieben ist aber eine gebührende Würdigung der Hygiene ın den Prüfungen. Der Hygieneunterricht soll den Schülern eine eingehende, gründliche biologische Behandlung unseres Körpers auf experimentell-beobachtender Grundlage geben unter innigster Verknüpfung der Gesundheitslehren wit der Funktion der Organe. Die Grundlage für den Unterricht bietet die Anthropologie. Verschiedene Anweisungen für den Unterricht werden gegeben. Betont wird, daß die Frage nach der hygienischen Belehrung keine Personal-, sondern nur eine reine Prinzipien- frage sein darf.

Mayer, E., Wirbelsäulenverkrümmung und Schule. Zeitschrift für Schulgesund- heitspflege. 27, 8 (August 1914), S. 554—562.

" Nach kurzen allgemeinen Darlegungen behandelt die Arbeit die Entstehungs- ursachen der Wiıbelsäulenverkrümmungen, Erkennen und Verhüten. Besonders schädliche Einflüsse sieht M. in dem Sitzen in schlecht gelüfteten Schulräumen, in unpässenden Schulbänken und in der Lage des Schreibheftes. Die Prophylaxe be- steht in einer Unterstützung aller Maßnahmen, die auf eine Kräftigung der Kinder binauslaufen. Turnübungen in den Pausen empfehlen sich nicht. Als Schrift ist überall die Steiischrift einzuführen. Sämtliche Kinder sind von einem Orthopäden womöglich mehrmals im Jahr nackt zu untersuchen. Orthopädische Turnkurse müssen unter Aufsicht des Arztes eingerichtet werden. Alle schwereren Fälle sind der’ Anstaltsbehandlung zu überweisen.

Menzi, A., Über den Alkoholgenuß Baslerischer Volksschüler. Internationale Monats- schrift zur Erforschung des Alkoholismus. XXIV, 6 (Juni 1914), S. 194—201.

Der Verfasser suchte in sehr vorsichtiger Weise den Zusammenhang zwischen Alkoholgenuß und Schulleistungen (Lesen, Sprache, Rechnen) festzustellen. Seine

58 C. Zeitschriftenschau.

Untersuchungen erstrecken sich auf verschiedene Klassen (15) in 5 verschiedenen Schulhäusern. Das Gesamtergebnis ist: die 167 abstinenten Schüler hatten die Durchschnittsnote 1,80, die 170 mäßigen 1.92 und die 323 öfter trinkenden 2,18. Menzi weist darauf hin, daß man diesen Zahlen nicht einen allzu großen Wert bei- messen darf. Wertvollere Aufschlüsse ließen sich erst gewinnen, wenn man die Eltern mit berücksichtigen könnte. Und das wird kauın mö,lich sein.

Metzl, Adolf, Über die Erfolge der Hebammenprämien im Beziske Friedland in Böhmen. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. VI, 6 (Juni 1914), S. 164--166.

Es gelang, durch derartige Prämien die Hebammen zu nachdrücklicher Forde- rung des Selbststillens zu veranlassen. Dadurch wurde die Analia in _

beachtenswerter Weise herabgesetzt. è

Meyrich, O., Die Leipziger Schulzahnklinik. Neue Bahnen. 24, 11 (August 1913), S. 502 —509.

Die Leipziger Klinik ist wahrscheinlich die größte in Deutschland. Es sind an ihr tätig: 1 Direktor, 4 Assistenten, 4 Gehilfinnen, 2 Buchhalterinnen, 1 Auf- wartefrau. Die Kosten sind nicht übermäßig groß (die Beträge sind angeführt). Für die Behandlung zahlen Volksschulkinder 1 Mark, Bürgerschulkinder 2 Mark vom ersten Tage des Eintritts in die Behandlung an für ein Jahr. 1912 wurden 5896 Patienten aufgenommen, die in 19775 Sitzungen behandelt wurden. Es wurden 31335 Gesamtmaßnahmen getroffen, darunter 10779 Extraktionen. Der Verfasser meint zum Schluß: »Man müßte in ähnlicher Weise, wie es bei den Zahnkliniken ge- schehen ist, Kinderklinıken schaffen, in denen direkt eine Behandlung stattfände, Erst dann würde sich die schulärztliche Tätigkeit voll entfalten können.«

Moll, Leop., Die Stillstuben in den österreichischen Fabriken. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. VI, 7 (Juli 1914), S. 188—193; 8/9 (August), S. 238—243.

Nach einer Darstellung der in anderen Ländern und Staaten getroffenen Ein- richtungen für die früheste Kinderfürsorge werden die in österreichischen Fabrıken mit Stillstuben usw. gemachten Erfahrungen auf Grund der Ergebnisse von Rund- fragen mitgeteilt. Aus den Stillstuben erwachsen den Kindern große Vorteile. Die Bedenken, die dagegen vorgebracht werden, lassen sich leicht widerlegen. Die Still- stuben sollen vor allem die Mütter zum Selbststillen erziehen.

Ders., Die Säuglingssterblichkeit im Herzogtum Salzburg. Zeitschrift für Kinder- schutz und Jugendfürsorge. 5, 8/9 (August/September 1913), S. 249—254.

Die Säuglingssterblichkeit ist eine relativ hohe, was mit der geringen Still- dauer zusammenhängen dürfte. Moll sieht einen wesentlichen Grund für die Still- not ın der Zunahme des Frauenerwerbs, der Mütter vom Stillen abhält. (Ob nicht auch der Alkoholismus wesentlich mitspielt? Schweighofers Untersuchungen lassen das für Salzburg vermuten.) Zur Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit sind gute Ansätze vorhanden. von Müller, Karl, Die erste Russische Ssergiusschule für Nüchternheit. Die

Enthaltsamkeit. 15, 6 (Juni 1913), S. 39—40.

Die Schule wurde 1906 eingeweiht. Ihr Programm entspricht dem der elementaren kirchlichen Volksschulen. Die Besuchszeit ist vierjährig. Die Schule will vor allem Kinder trunksüchtiger Eltern aus der schädlichen Umgebung heraus- reißen. Als Erfolg der Schule wird die Abnahme der Zahl der Verbrechen und Vergehen in ihrer Umgebung hervorgehoben.

D. Literatur. 59

Müller, P. Johannes, Die Breslauer umlegbare Schulbank und die Rettigbank. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 27, 6 (Juni 1914), S. 421—430. Der Verfasser tritt für seine Rettigbank ein. In einer Erwiderung betont Dr. Oebbecke die Vorteile der von ihm konstruierten Breslauer umlegbaren Schul- bank, die sich in Breslau seit etwa sechs Jahren durchaus bewährt.

Muskat, Fußerkrankungen bei Schulkindern. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 26, 10 (Oktober 1913), S. 641—656.

Derartige Erkrankungen sind sehr häufig, vor allem der Plattfuß. Eine Qnelle für die Entstehung des Plattfußes ist im Turnunterricht geboten. Die Fußspitzen müssen geradeaus, nicht auswärts gerichtet werden. Zweckmäßig wäre die Verteilung von Merkblättern.

Myrio, M., Turnstunden für kleine Kinder als Vorbereitung für die Schule. Zeit- schrift für Kinderpflege. IX, Sept./Ukt. 1914, S. 167—169.

Die Turnstunden sollen den Übergang von der ungebundenen Freiheit zur

Schuldisziplin vermitteln, indem sie die Kinder an unbedingten Gehorsam gewöhnen.

Nager, F. R., Über die Ausbildung und Pflege der Stimme. Schweizerische Blätter für Schulgesundheitspflege. 11, 8 (September 1913), S. 113—119; 9 (Oktober 1913). S. 129—135.

Ratschläge für Ausbildung und Gesunderhaltung der Stimme, zum Teil mit

Berücksichtigung des Singens in der Schule.

D. Literatur.

Saupe, E. Die Einheitsschnle mit besonderer Berücksichtigung das Aufstiegs der Begabten. Heft 143 der Beiträge zur Kinderforschung und Heilerzienung. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1918. 69 S. Preis 1,80 M.

»Noch haben wir die Einheitsschule nichte so erklärt ihr unermüdlicher Herold im »Tag« vom 9. 10. 18. »Aber sie soll kommen. Werft ihr nur nicht Steine in den Weg, ehe Ihr Euch die Mühe gegeben habt, ihren wahren Sinn zu ergründen.«e Diese Erklärung und Anregung von Prof. W. Rein-Jena könnte als Motto dienen für E. Saupes Büchlein. In 35 Seiten hebt er in der Tat dem Leser Steine vom Wege der Erkenutnis auf und macht ihn bald vertraut mit dem in der pädagogischen Literatur vielgedeuteten Inhaite des Begriffs »Eınheitsschule«. Es sind auch die Gründe für und gegen vorsichtig abgewogen, so daß die Schrift überall da, wo dıe umstrittene Frage auf der Tagesordnung steht, dazu beiträgt, die Meinungen zu klären. Gewissermaßen zur Ermunterung der noch fern von zeit- gemäßen Schulorganisationsversuchen stehenden Schulverwaltungen und zur Über- zeugung von unentschiedenen Schulleuten fügt Verfasser drei Nachträge an, die in nahezu gleicher Seitenanzahl bringen:

1. Versuche zur Lösung der Einheitsschulfrage und zur Förderung begabter Schüier. 2. Herbart und die Einheitsschule. 3. Die Vertreter der wissenschaft- lichen Pädagogen an den deutschen Hochschulen. (Stimmen zur Einheitsschulfrage.)

Verfasser bekundet in seinen Darlegungen eine große Beltsenheit; er über- zeugt, da er frei bleibt von jeder leidenschaftlichen Stellungnahme. Gern wird sich der Leser de: auf S. 49 zum Ausdrucke kommenden Bekenntnisse des Verfassers

60 D. Literatur.

stıw

anschließen: Die ganze Bewegung ist noch im Fluß. Erst, wenn die verschiedenen Versuche in ihren Ergebnissen mehrere Jahre beobachtet worden sind, wird sich ein, endgültiges Urteil fällen lassen. Deshalb muß auch jeder Versuch reiflich über- legt werden, und im Sinne Reins muß bei einer, Neugestaltung unseres Schul- wesens überall mit der Hebung der Volksschule zur Förderung der Volksbildung begonnen werden. Möge das belehrende Büchlein recht viel geleseu werden! Halle a. S. k , Dr. B. Maennel. |

Kegel, Dr. M., Die Erziehung der Jugend im, Volke Israel., Zweite Reihe der Zeitfragen evangel. Pädagogik zur Förderung christlicher Erziehungswissen- schaft. Berlin C. 19, Verlagsbuchhandlung Fr. Ziliessen, 1917. 260 S. 1,80 M.

Dem Leser ist ein gut Stück Kulturgeschichte Israels geboten von einem zu- verlässigen Bibelkenner und Bibelforschungskundigen. Nicht wird ein System auf- gebaut, zu welchem Stellung zu nehmen ist; auch ist nicht versucht worden, die israelitische Pädagogik wissenschaftlich abzustempeln; nein, Aus reichen Einzel-

Notizen aus der Bibel, sowie aus Parallelen, die aus der Külturgeschichte der Israel

benachbarten Völker entnommen sind, wird ein Gesamtbild zu geben versucht, das

bei aller Gefahr des vorschnellen Generalisierens schon um seiner Gründlichkeit willen interessieren kann. Dazu kommt der Reiz, den der wohl gegliederte Stoff an und für sich bietet. Vor allem wird wohl der Religionslehrer als Kenner jüdischer und sonstiger orientalischer Altertümer gern die Arbeit Kegels zur Hand nehmen, wenn ihm O. Willmanns vortreffliche kurze Auseinandersetzung in W. Reins Enzyklopädischem Handbuche, Bd. IV, ausreichende Aufschlüsse über die Israelitische Erziehung nicht bieten kann. A Halle. ` Dr. B. Maennel.

Liese, Dr. Ernst, Die Volksschule nach dem Kriege. Halle a.d. S. Päda- gogischer Verlag von Hermann Schroedel, 1917. 8°. IV u. 312 S.

Es liegt in der Natur der Sache und der Zeit, daß sich viele Freunde dor Volksschule mit den wichtigen Fragen der Umgestaltung der Schulverwaltung, der Schulzucht und des Unterrichts befassen. Das vorliegende Buch des nassauischen Schulrates Dr. Liese befaßt sich mıt dem wichtigsten der drei Probleme: wie ist die praktische Schularbeit zu gestalten, um die Wunden zu heilen, die die Kriegsnot der Schule geschlagen hat? In Anlehnung an die » Allgemeinen Bestimmungeu« ver- sücht der Verfasser mitten aus der Praxis heraus, unter Beiseitelassen des Aller- modernsten weil vielfach eben noch nıcht erprobt -- uns ein Bild seiner Ge- danken zu geben, wie er sich die Gesundung und Weiterentwicklung der Volks- schule in der kommenden Zeit denkt. Seinen Ausführungen liegen dıe Schulverhält- nisse einer bestimmten Provinz zugrunde, dıe aber für alle deutschen Schulen mehr oder weniger zutreffen werden. X

Will man das Prinzip kennzeichnen, das sich wie ein roter Faden durch das umfangreiche Buch hindurchzieht, so läßt es sich kurz mit den Worten um- schreiben: Die deutsche Schule ist eine Erziehungsanstalt für sittlich hochwertige Menschen zum Besten des Vaterlandes. Von diesem Ge- sichtspunkte aus, dem alles andere sich unterzuordnen hat, entwirft Dr. Liese seinen Plan, führt er uns in die praktische Arbeit hinein und zeigt er uns, wie wir unter Heranzıehung aller geeigneten Mittel das Ziel erreichen können und sollen, das alle Erzieher ım Heizen tragen: das Hinauffuhren der Jugend »zu den Höhen, wo der Deutsche sich zu Hause fühlt, zu den Zinnen des deutschen Idealismus«, Um aber dieses Ziel zu erreichen, ist viel Aıbeit nötig, denn als echter deutscher Führer der Lehrerschaft stellt der Verfasser große Anforderungen, die sich nur erıeichen lassen, wenn hohe Berufsfreudigkeit den Lehrer eignet: »Wohl dem deutschen Volke, daß es sich eines Volksschullehrerstandes rühmen kann, dessen Glieder in der Mehrheit wegen ihrer Pflichttreue und idealen Hingabe an die Be- rufsarbeit ohne Rückhalt Anerkennung veraient!« Er fordert aber nicht nur, sondern er zeigt auch aılenthalben den Weg, wie es gemacht wird. Das erste Kapitel wendet sich in der Hauptsache an die Träger der Schule, die Lehrer, als die »Ver- antwortlichen«, und die Worte, die er da findet, um sie anzuspornen, sind wirklich

D. Literatur. 61

beherzigenswert und geeignet, den ideal gesinnten Lehrer zu erheben, Im nächsten Kapitel lauteı die Frage: Wo hinaus? und sie wird beantwortet mit der Gewißheit, die sich jedem auflıängen muß, daß die Schule der Zukunft eine Erziehungs- schule sein wird. Das dritte Kapıtel, das umfangreichste, behandelt den Stoff der Volksschule, und zwar in, einer Weise, die überall Stichproben gibt, um zu zeigen, wie ein fruchtbringender Unterricht zu gestalten ist. Auf die einzelnen Fächer kann hier leider nicht eingegangen werden, da dies zu weit führen würde, Ein weiteres Kapitel befaßt sich mıt der Betonung des Heimatlichen, in dem ja unend- lich viele gemütbildende Werte stecken, der hochragenden Persönlichkeiten, an denen sich die Schüler begeistern können, des Lichtes, das die Schule ausstrahlen soll, damit dereiost die, Kinder, wenn sie ihr entwachsen sind, draußen im Leben für sich und andere das erringen, wozu die Schule eine gediegene Grundlage gelegt hat. Im fünften Kapitel gelangen methodische Fragen zur Erörterung Hier bekennt sich Dr. Liese ais ein Anhänger Herbarts, dessen Formalstufensystem von ihm als besonders brauchbar, weil psychologisch begründet, empfohlen wird. da jener die Schablonisierung des Unterrichts vermieden wissen will, und seine vier Stufen ın besouderer Weise das Interesse und eine vielseitige Bildung zu vermitteln geeignet sind. Daneben bleibt selbstredend die Anschauung das Fundament aller Erkenntnis im Sinne Pestalozzis. Ein gutes Gelingen des Unterrichtes hängt aber auch viel vom rechten Vormachen ab, da dessen Wirkung auf der Kraft der Nachahmung beruht. Bemerkenswert sind die Ausführungen in diesem Kapitel über den »Fall«. Anknüpfend an die Forderung, daß das anormale Kind in Hılfsschule und Anstalt stets als ein besonderer Fall zu beobachten und zu behandeln sei, weil Zweck der Sonderbehandlung, wobei natürlich alle io gleicher Liebe umfaßt werden müssen, wünscht Verfasser, daß es nicht geduldet werden dürfe, wenn die »Schulen zu Versuchsstationen für kinderpsychologische Forschungen gemacht und somit der Ge- fahr ausgesetzt werden, daß der Herzschlag zwischen Schüler und Lehrer erkältet und ertötet wirde. Dem ist voll zuzustimmen, aber im übrigen sind die »Spezialisten ür Kinderpsychologie« doch notwendig, auch wenn Verfasser das reichliche Spezia- listentum ın der Pädagogik bedauert. Eiuer kann eben heute nicht mehr alles leisten; diese Teilung der Arbeit aber bedeutet logischerweise eine Förderung des Spezialistentums, mithin kann dieses heute nicht mehr entbehrt werden, denn die Arbeit des Spezialisten ist eia Schritt mehr zur Forderung unseres Autors, daß nicht jede Schulstube zur Versuchsstation herabsinkt. Im letzten Kapitel endlich werden die besonderen Erzie hungsaufgaben der Kriegsjugend gegenüber besprochen. Alles in allem, das Buch bedeutet ein Programm, das volle Beachtung verdient. ldstein i. T. Max Kirmsse.

Gregor, A., und Voigtländer, Else, Die Verwahrlosung, ihre klinisch- psychologische Bewertung und ihre Bekämpfung. Berlin, S. Karger, 1918. 585 S. 22M.

Die Arbeit ist hervorgegangen aus Beobachtungen an einem umfangreichen Material verwahrloster Zöglinge des Heilerziehungsheims Kleinmeusdorf. Sıe lenkt die Aufmerksamkeit wieder einmal auf diese sehr wichtigen sozialen Probleme: die Gesellschaft, die einen großen Teil der Schuld an der Verwahrlosung mittragt, hat auch die Aufgabe, an ihrer Bekämpfung mitzuarbeiten. Für eine rationelle Be- kämpfung aber ist eine genaue Kenntnis der Formen der Verwahrlosung, ihrer Ursachen und Entwicklung erforderlich. Eingehend ist das Schicksal von 100 Knaben und 109 Mädchen geschildert; wir müssen uns bei der Besprechung naturgemaß auf die Hauptzüge des sehr umfangreichen Werkes beschränken.

Der erste Teil. den Gregor allein bearbeitet hat, behandelt die Verwahrlosung der Knaben. Er geht aus von den klinischen Hauptgruppen der Verwahrlosung und unterscheidet hıer Geisteskranke. Epileptiker. Psychopathen und Normale; den größten Raum nehmen dabei die Psycho athen ein. Nach dem Grade der moralı- schen Entwicklung unterscheidet er moralisch Intakte, moralisch Schwache, moralisch Minderwertige, Asozıale und moralisch Indifferente; hier überwiegen die moralisch Minderwertigen. Er bespricht dann einige der praktisch wichtigen ahnormen Seelen- erscheinungen, den moralischen Schwachsinn und besonders die Psychopathie. Über die Intelligenz der Zöglinge sucht er sich auf experimentellem Wege ein Bild zu

62 D. Literatur.

verschaffen, und zwar verwendet er die Definitionsmethode. Man kann hier stark im Zweifel sein. ob eine einzige derartige Methode ausreicht, um die Intelligenz zu rüfen; wir möchten das bestreiten. Bei der Schilderung der Beziehungen zwischen elikt und Verwahrlusung hebt er hervor, daß eine Bestrafung für den Zögling weniger schädlich sei, als wenn man ihn frei ausgehen ließe, eine Aufstellung, der wir auch in dieser Allgemeinheit keine Geltung zusprechen möchten. Richtig ist hingegen, daß diejenigen Formen, bei denen die Verwahrlosung sich in frühem Alter otfenbart, als besonders schwer aufzufassen sınd, da sich hierin der Grad der Veranlagung deutlich ausspricht. Eine besonders große Zahl von Fällen zeigt die ersten Zeichen der Verwahrlosung in der Pubertätszeit, und zwar handelt es sich bier meist um Psychopathen. Wenig befriedigt der Abschnitt über die äußeren Anomalien bei Verwahrlosten; man vermißt ein tieferes Eingehen auf, die ein- schlägige Literatur, wie überhaupt die Literaturnachweise etwas dürftig sınd. Bei Erörterung der Ursachen der Verwahrlosung hebt Gregor hervor, daß diese in der Regel in der Konstitution des Individuums zu suchen sind, ein Umstand, der aber nicht zu Untätigkeit verleiten darf, sundern der uns auffordern sol'!, mit aktiv er- zieheiischen Maßnahmen eine Umgestaltung der vorhandenen Dispositionen anzu- streben. Im wesentlichen handelt es sıch aber doch immer um ein Zusammen- wirken von Anlage und Milieu; aus derselben Anlage kann unter den verschiedensten Lebensbedingungen etwas ganz Veischiedenes werden. Richtige Prognosestellung und Bekämpfung erfordern ein Erkennen der Eigenart eines jeden Falles, Individuali- sieren der Maßnahmen, rechtzeitige Unterbringung in dıe Fürsorgeerziehung, Aus- dauer und richtige Auswahl des Berufes. Der Schluß gibt noch eine Zusammen- stellung der Erfolge, die sich jedoch, wie auch der Autor einschränkend bemerkt, bei der Kürze der seit der Entlassung verflossenen Zeit noch nicht rıchtig über- sehen lassen.

Der zweite, von Gregor und Voigtländer bearbeitete Teil behandelt die Verwabrlosung der Mädchen. Die Art der Einteilung des Stoffs ist die gleiche. Einige Verschiedenheiten ergeben sich gegenüber den Knaben. so überwiegt z. B. bei den Mädchen im Gegensatz zu den Knaben die Verwahrlosung der Schulentlassenen gegenüber der der Schulpflichtigen, eine Tatsache, die in den verschiedenen Ur- sachen der Verwahrlosung ihre Eıklärung findet. Unter den äußeren Ursachen der Verwahriusung kommen dabei in eıster Linie in Betracht: ungünstige häusliche Ver- bältnisse, Mangel an elterlicher Erziehung und Aufsicht. Mangel an Verständnis für die Eigenart des Kindes, dıe Moralauffassungen der niederen Stände, vor allem aber das Geschlechtsleben der Mädchen. Die folgenden von Else Voigtländer be- arbeiteten Abschnitte bringen sehr feine Analysen des weiblichen Liebes- und Ge- schlechtslebens und seiner Beziehung zur Veıwahrlosung. Sehr eindringlich weist die Verfasserin darauf hin, daß es nicht die Not ist. die die jungen Mädchen der Prostitution in die Arme treibt, sie leitet in sehr scharfsinniger Weise das Dirnen- tum aus einer ganzen Reihe von sozialen Faktoren ab, sie betont die Rolle, welche die weibliche Verführerin, die erfahrenere »Freùndine spielt, und sie hebt hervor, eine wie große Schuld dem mangelnden Wissen um die Folgen zufällt. »Die jungen Männer werden vor ‚übelen Frauenzimmern‘ gewarnt, aber man warnt die jungen Mädchen nicht, solche üblen Frauenzimmer zu werden.« Die Verfasserin tritt daher waım für eine Reform der sexuellen Erziehung ein. Interessant ist noch die Fest- stellung, daß die Prostitution nicht als Aquivalent des Verbrechens des Mannes auf- zufassen ist. Auch gegen manche der Freudschen Lehren wendet sich auf Grund ihres Materials die Verfasserin mit Recht. Weıtvoll erscheint auch die Schilderung der Typen der Verwahrlosung -und der charakterologische Exkurs, der manche An- regungen bietet.

Überblickt man das ganze Werk, so muß man sagen, daß es einen wertvollen Beitrag nicht nur zur F'sychopathologie, sondern auch zur Sozialpsychologie darstellt, es rollt Fragen auf, die jeden interessieren müssen, der sich ınit sozialen Problemen beschäftigt, und es bietet eine Fülle von Anıegungen. Etwas austührlicher hätte man sich allerdings die Darstellung der prophylaktischen und therapeutischen Maß- nahmen, dıe leicht auf Kosten mancher Länge hätte erreicht werden können, ge- wünscht.

Straßburg i. E. Erich Stern.

D. Literatur. 63

Gonser, Professor I., Generalsekretär des Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke, und Flaig, Dr. J., 2. Geschäftsführer des D. V. g. d. M. g. G., Welche alkoholischen Gesetzgebungs- und Verwaltungsmaßnahmen sind für die Zukunft erforderlich? (Unter Berücksichtigung der Kriegs- erfahrungen.) Sonderabdruck aus »Die Alkoholfrage«, Wissenschaftlich-praktische Vıerteljahrsschrift. Berlin W. 15, Maßigkeits-Verlag, 1918. 108 8. 3 M.

Zur Prüfung obiger Frage hatte der Deutsche Verein g. d. M. g. G. eine be- sondere Kommission einberufen: Vertreter der Staats- und Gemeindebehörden, der Kirche und Schule, der Parlamente, der Wohlfahrtspflege u. a., welche das weit- schichtige Gebiet in gründlicher Beratung bearbeiteten. Die vorliegende Denkschrift enthält die Antıäge der Kommission und die Berichte berufener Sachkenner, welche die einzelnen Anträge erläutern und begründen. Es sind folgende:

I. Konzessionsreform.

a) Allgemein (insbesondere Regelung der Bedürfnisfrage). 1. An- träge; 2. Bericht von Wirkl. Geh. Oberreg.-Rat Dr. h. c. von Gescher Münster i. W.

b) Entwurf einer Polizeiverordnung betreffend die Schankwirt- schaften mit weiblicher Bedienung. 1. Anträge; 2. Berichte von Oberverwaltungsgerichtsrat Dr. Lindenau, Berlin, und Frau L. Gerken- Leitgebel, Berlin-Grunewald.

II. Polizeistunde. 1. Anträge; 2. Bericht von Geh. Kommerzienrat Julius Vorster, Köln.

DI. Einschränkung der Herstellung geistiger Getränke.

a) Staatliche Regelung der Herstellung, Beschaffung und Be- steuerung des Branntweins. 1. Antrage; 2. Bericht von Geh. Kom- merzieprat Dr. Möller, brackwede i. W.

b) Einschrankung der Herstellung geistiger Getränke Reichs- brantweinstelle Branntweinmonopol. 1. Anträge; 2, Bericht von Prof. Dr. Trommershausen, Marburg a. L.

IV. Steuerreform und geistige Getränke. 1. Anträge; 2. Bericht von Assessor Dr. Maier, Fraukfurt a. M. -

V. Vorschläge und Anregungen für Heer, Flotte, höhere Schulen, Hochschulen. 1. Anträge; 2. Bericht von Oberverwaltungsrat Dr. Wey- mann, Berlin.

VL a) Maßnahmen für Jugendschutz. 1. Anträge; 2. Bericht von Pastor

Pfeiffer, Berlin.

b) Maßnahmen für Jugendpflege. 1. Anträge; 2. Bericht von Fräulein Dr. Siemering, Berlin.

Die Hinübernahme des Kriegssparzwanges als Sparversiche-

rung in den Frieden. Von Magistratsrat Dr. Schönberner, Berlin.

VII. Maßnahmen für die Umgestaltung des Stiafgesetzbuchs. 1. An- trage; 2. Bericht von Oberverwaltungsgerichtsrat Dr. Bovthke, Berlin.

VUI. Maßnahmen für die Trinkerfürsorge. 1. Anträge; 2. Bericht von

Landesrat Dr. Schellmana, Düsseldorf.

IX. Maßnahmen fürVerkehrswesen, Gasthausreform, Gemeindehäuser, Trinkbrunnen usw. 1. Anträge; 2. Bericht von Pastor Dr. Stubbe, Kiel. Literatur zu den vorstehenden Auträgen und Berichten.

Diese Gegenstände werden zurzeit von Regierungsstellen und in Parlamenten, æf Versammlungen und in der Presse erörtert. Die Herausgeber hoffen nun, mit | der Dameichung dieser Vorschläge und dieses Stoffs für solche Erörterungen allen in Betracht kummenden Stellen einen Dienst zu leisten, insbesondere den Staats- und Gemeindebehörden, den Organen der Gesetzgebung und Verwaltung, der Kirche und Schule und der Sozialversicherung, den sozialen Verbänden und Vereinen, über- | haupt allen Körperschaften 'und Persönlichkeiten, denen die Pflege der Volksgesund- | beit und Volkswohlfahrt obliegt. | Da ein Drittel aller irgendwie körperlich oder seelisch minderwertigew Kinder oder Jugendlichen direkt oder indirekt unter den Folgen des Alkohol-Mißbrauches leiden, so sollten Schriften wie die vorliegende von jedem Lehrer, Erzieher und

64 Literatur.

Kinderforscher mit besonderer Sorgfalt studiert werden, und sie alle sollten mit ein- treten in den Kampf gegen eine Ursache, die uns auch im Kriege mindestens ‚um ein Armeekorps geschwächt hat. ' wen

Krukenberg-Conzc, Elsbeth, Die Erziehung des Kindes zur Gesund- heit und Arbeitsfreudigkeit. Mit 39 Bildern auf 16 Tafeln. Stuttgart- Leijzig-Berlin, Union Deutichd' Verlagsgesellschaft. ‘226 Seiten. Preis 4’M.

Der Büchermarkt weist eine außerordentliche große Zahl ‘von Büchern’ auf,

die geschrieben ‘wurden, um Frauen und Mütter über Erziehung aufzuklären und zu belehren, sie zu erzieben zum überlegenden Handeln. Die Erfahrung lehrt leider, daß sich Frauen nicht gern in solch belehrende Bücher hineinlesen. Mag es’ sein, daß es sie langweilt, solch scheinbar alltägliche Erlebnisse zu lesen, mag andrerseits die Belehrung zu spröde wirken und ihnen schließ ich nach des Tages Last und Mühe die Lust fehlen, nach solchem Lesestoff zu greifen, Tatsache ist, daß Erziehungs- bücher wenig gelesen werden, selbst im Kreise gebildeter Frauen. Wir hoffen aber durch den einzufuhrenden Unterricht in Kindeskunde die Mädchen darauf einzu- stellen und so vorzubılden, daß sie später zur Selbstbildung übergehen, und so ist es auch für den Lehrer wertvoll, Bücher zu kennen, die er den Mädchen und Müttern empfehlen kann. Dazu gehört Krukenberg-Conze. In diesem Buche spricht eine Mutter, eine denkeude Frau zur Frau Aus ihren Erfahrungen, die sie in ihrem arbeıtsreichen Leben vou höherem Standpunkt aus gewann und bewertete, stellt sie in fließendem Stile die wertvollsten zusammen, um ihre Mitschwestern zu erziehen zu denkenden, mitfühlend‘n Erzieherinnen, die für die Kindesseele Ver- ständnis haben. Ihre Ausführungen über das schulpflichtige Alter. besonders über cie Erziehung zur Freiheit und Selbstbe-timmung, über sexuelle Erziehung brachten uns vollen Genuß. Wenn auch dıe Überlegungen dem Fachmann nichts Neues bieten, so wird er doch gern die »Höhenwege« der Verfasserin mitgehen, und ihre Anregungen für Neuaufbau der Familien und Anstalten als Familienersatz ent- halten so manches Gute, das aus der Praxis hervorging. An praktischen Lebens- auffassungen ist eine Fülle im Buche vorhanden.

Literaturangabe fehlt, was wir jederzeit als einen Mangel bezeichnen.

Meıßen i. Sa. Kurt Walther Dix.

Langstein, Leo, Wie ist die Bevölkerung über Säuglingspflege und Säuglingsernahrung zu belehren? Ein Wegweiser für Ärzte, Behörden und Fürsorgerinnen. 2. umgearbeitete und erweiterte Auflage. Berlin, Verlag von Julius Springer. 53 Seiten Preis 1 M.

Das Interesse an Belehrung und Aufklärung der Mütter und Mädchen als künftige Mütter über Säuglingspflege und Säuglingsernährung ist jetzt außerordent- lich gesteigert, dem wir in dieser Zeitschrift sowohl in den Abhandlungen, als anch im Literaturbericht jederzeit gerecht wurden. Darum empfehlen wir dıe vor- liegende zusammenfassende Schrift Langsteins allen, die an diese Arbeit heran- treten wollen. Mittel und Wege sind hier augegeben. Die Bedeutung der Merk- blätter, der Belehrungsschriften, Flugblätter, die Arbeit der Fürsorgestellen und die aufklärende und belehrende Tätigkeit des Arztes werden sowohl nach der erfolg- reichen, als auch verfehlten Handhabung beleuchtet. Besonders warm tritt Lang- stein aber hier auch dafür ein, die Säuglingspflege und Kleinkindererziehung als Unterrichtsfach zunächst vorbereitend in die Mädchenschulen und später vertiefend in die Mädcherfortbildungsschulen einzuführen. Damit tritt der Arzt den Pädagogen, die dies, wie die Geschichte der Pädagogik beweist, schon immer forderten, zur Seite. Und wie es scheint, wird jetzt endlich die so vernünftige Forderung all- gemein erfüllt werden. i

Als Anhang finden sich zwei »Merkblättere des Kaiserin Auguste Viktoria- hauses zur Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit im Deutschen Reiche.

Schließlich gibt Langstein ein Literaturverzeichnis der einschlagenden \rbeiten an, was aber lückenhaft ist. So erwähnt er auch z. B. die Vorarbeit der Pädagogen, die in dieser Zeitschrift seit 1908 veröffentlicht wurde, nicht.

Meißen i. Sa. Kurt Walther Dix.

Dtuck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.

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A. Abhandlungen.

1. Die privaten Erziehungs- und Bildungsanstalten in ihrer Bedeutung für unser deutsches Volk.!) Vom Herausgeber.

Wir stehen zurzeit in der bedeutsamsten kulturellen, nationalen, sozialen wie parteipolitischen Bewegung seit der Reformation. Und durch diese furchtbaren äußeren wie inneren Kämpfe und Um- wälzungen wird in hervorragendem Maße auch die Schule in Mit- leidenschaft gezogen. »\Ver die Schule hat, der hat die Zukunft.« Davon sind vor allem die neuen Regierungen mit ihrem parteipoliti- schen Anhange überzeugt und handeln dementsprechend.

Innerhalb des gesamten Schulwesens ist es aber vor allem das, was wir als Besitzer, Leiter und Lehrer von privaten Schulen und Erziehungsanstalten der verschiedensten Arten vertreten, was nach allen Seiten hin auf das tiefste davon berührt, ja in Frage gestellt wird.

Es ist darum notwendig, daß wir jene Strömungen mit den Zielen und Methoden in ihren Umwälzungen und Abänderungen, ihren Revolutionen und Evolutionen näher betrachten und versuchen, eine grundsätzliche Stellung zu gewinnen, und zwar nicht bloß im Hinblick auf das Sein oder Nichtsein, das Fortbestehen oder Untergehen, das Erhalten oder Erneuern der Privatanstalten an sich, sondern vor allem auch im Hinblick auf die Bedeutung aller dieser Fragen für unser Volk, also in ihrer sozialen Bedeutung im wahren, allgemeinsten Sinne des Wortes.

1) Die Abhandlung erscheint in erweiterter Form als Heft 155 unserer »Bei- träge zur Kinderforschung usw.« Langensalza, H. Beyer & Söhne (Beyer & Mann). Die »Nachträge«, auf die hier in Fußnoten hingewiesen wird, kommen wegen Raummangel in der Zeitschrift nur dort zum Abdruck. Zeitschrift für Kinderforschung. 24. Jahızang. 5

66 A. Abhandlungen.

I.

Wie in den gesamten sozialen und politischen Umwälzungen, so ist Preußen, oder genauer besehen, seine Millionenstadt Berlin, auch hinsichtlich des Unterrichts und der Erziehung tonangebend und führend, wie in zweiter Linie München mit dem früheren Königreich Bayern als Anhang. Darum ist es angezeigt, uns die in Preußen führenden Organe wie die von ihnen erstrebten Ziele und bereits vorgenommenen Änderungen in erster Linie ins Auge zu fassen.

Das preußische Kultusministerium nennt sich jetzt »Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildunge. Kultus- und Gesinnungs- pflege liegt in dieser Benennung ausgeschlossen. An dessen Spitze sind die sozialdemokratischen Abgeordneten Adolf Hoffmann und Konrad Haenisch getreten. Es hat, wie die anderen Zentralstellen der sozialistischen Regierung, zwar den alten Beamtenapparat vor- läufig bestehen lassen, um damit eine geordnete Geschäftsführung zu gewährleisten; doch ist dieses neue Kultusministerium die einzige Zentralstelle, die sofort ihre Entschlossenheit mitgeteilt hat, den vor- handenen Beamtenkörper wie es ja auch sonst jede Regierung zu machen pflegt sobald als möglich durch einen ihrer sozialistischen Weltanschauung innerlich zugeneigten zu ersetzen. Auch hat es in Leitsätzen, deren amtlicher Charakter allerdings noch umstritten wird, bekannt gegeben, daß es eine Reformation oder eine Revolution des gesamten Unterrichts-, Erziehungs- und Bildungswesens an Haupt und Gliedern von der Universität bis zum Seminar für Kindergärtnerinnen und zum Kindergarten verfolgt und die Sozialisierungsbestrebungen, die in der Volkswirtschaft vorläufig an der Sprödigkeit des Objekts scheitern müssen, !) in den einfacheren Verhältnissen der Schule mög- lichst sofort durchführen will.

Die besten Kreise in Kirche und Schule bis hinein ins sozia- listische Bayern haben es als eine Herausforderung, ja als eine Ver- höhnung aller bisher anerkannten Kulturkräfte erkannt und es als »Burleske« bezeichnet, daß Adolf Hoffmann, der Führer der kirchlichen Austrittsbewegung, zum Sachverwalter der Schulen und des Kirchengutes gemacht wurde.2) Wir müssen deshalb als den einzigen für uns verhandlungsfähigen Minister den ruhigeren und be- sonneren früheren Abgeordneten Konrad Haenisch ansehen. Ob- wohl gewiß nur wenige unter unseren Lesern politisch mit ihm einig sein werden, so muß man doch wohl das langjährige Mitglied der Unterrichtskommission des preußischen Abgeordnetenhauses, das

1) Siehe Nachtrag 1. *) Siehe Nachtrag 2.

Trüper: Die privaten Erziehungs- und Bildungsanstalten usw. 67

sich als solches der vollen Wertschätzung auch seitens anderer politischer Parteien erfreute, unter den doch nun einmal vorhandenen Verhältnissen als einen relativ vertrauenswürdigen Anwalt päda- gogischer Interessen anerkennen. !)

Das preußische Ministerium hat sich zudem in diesen Reform- bestrebungen die Solidarität des bayerischen Ministers gesichert.

In Preußen und Bayern wird nun das neue pädagogische Zeit- alter durch sogenannte fachpädagogische Beiräte vertreten. Als solche sind z. T. Persönlichkeiten berufen worden, die bisher einen entschiedenen Individualismus verfochten haben soweit sie ihn für ihre allerpersönlichsten pädagogischen Ideale und Gründungen oder ihre politischen Strebeziele für fördersam hielten und die dabei jede Duldsamkeit, sogar gegenüber verwandten Strömungen, ver- missen liessen, eben aus Individualismus.2) Auch Titel werden dabei verliehen: So ist der bisherige Gemeindeschullehrer G. Menzel sofort zum »Geheimen Regierungsrat und Vortragenden Rat im Ministe- rium für Wissenschaft usw.« ernannt worden.

Es darf uns darum nicht wundern, wenn für die Formen und das Maß der Sozialisierung, die wir für die Schule, Staats- und Privat- schule, als einzig mögliche und nutzbringende ansehen, den neuen Herren Stimmung und Gesinnung abgehen sollte, es sei denn, daß die große Verantwortlichkeit ihrer jetzigen Stellung sie, wenigstens Haenisch und einen Teil seiner Räte, schon jetzt davon überzeugt hat, daß man nur reformieren kann, wenn man den Mut hat, das vorhandene Gute gerne anzuerkennen, auch wenn es nicht mit eigenen persönlichen Anschauungen und Bestrebungen oder mit Parteidogmen im Einklang steht. Und in diesem Falle wird möglicherweise auch zwischen uns eine Verständigung möglich sein. 8)

Ip unseren Thüringer Kleinstaaten hat sich erfreulicherweise eine ruhigere Umwälzungsbewegung geltend gemacht. Doch Preußen wird wohl auch hier maßgebend werden. Und darum müssen wir doch zu oberst Preußen und Bayern im Auge behalten. Aus Sachsen wiederum bringen die Zeitungen am 16. 12. 18. folgende Nachrichten:

»Auf einer Lehrerversammlung im Schulaufsichtsbezirke Bautzen kündigte der Volksbeauftragte für Kultus- und Unterrichtswesen Buck eine Verordnung an, die grundlegende Reformen auf dem Gebiete des Volksschulwesens anordnet. Unter dem 1. Januar 1919 wird der Ortsgeistliche als solcher aus

1) Sehr beachtenswert ist seine jüngst herausgegebene letzte Rede zum Kultus- etat im Preußischen Abgeordnetenhause. Haenisch vertritt darin in maßvoller Weise Forderungen, die sich im wesentlichen mit denjenigen der wissenschaftlichen Pädagogik decken, wenn sie auch hin und wie ler mit einer sozialistischen Etikette versehen sind.

2) Siehe Nachtrag 3. °) Siehe Nachtrag 4.

5e

68 A. Abhandlungen.

dem Schulausschuß auszuscheiden haben. Die geistliche Schulaufsicht wird aufgehoben. Schulen, die keinen Direktor haben, unterstehen direkt der Ortsschulinspektion. Von Ostern 1919 ab wird in Volks- und Fortbildungs- schulen Schulgeldfreiheit eingeführt und das gesamte Volksschulwesen zur allgemeinen Volksschule nach dem Prinzip der Einheitsschule umgestellt. Der Religionsunterricht wird künftig so erteilt, daß keine Religionsgemeinschaft verletzt wird, also nach dem Prinzip der Simultanschule. Die Genehmigung zur Errichtung von Privatschulen wird nicbt mehr erteilt werden. Für die Schulvorstände haben Neuwahlen stattzufinden, und zwar auf Grund eines demokratischen Wahlrechts. Im übrigen regelt die Verordnung rechtliche Fragen, sowie die Obliegenheiten der leitenden Lehrer über Stundenzahl, Nachhilfeunter- richt durch die Gemeinden, Staatsbeihilfe usw.«

»Derartig einschneidende Änderungen im Schulwesen Sachsens vorzunehmen, meinen zwar die L. N. N., ist Sache der sächsischen Nationalvessammlung. Nicht nur aus rechtlichen, sondern auch aus formalen Gründen. Genau so wie die Reichsleitung muß auch die sächsische Regierung, die ja nur ein Provisorium darstellt, erst durch eine demokratische Volksvertretung ihre Legitimation zu Maßnahmen erhalten. Die Erfüllung der Forderung nach einer sächsischen National- versammlung ist viel dringlicher als die Schulreform. Hat doch der Beschluß des Chemnitzer A.- und S.-Rats auf Rücktritt der gegen- wärtigen sächsischen Regierung gezeigt, daß auch die Mehrheits- sozialisten eine andere Zusammensetzung der Regierung wünschen. Doch was bedeutet Gesetz und Recht?«

Was haben wir nun von den politischen Parteien zu erwarten?

Die Revolution hat uns zwei Hauptparteien gegeben, die sich wieder in Unterparteien gliedern: die sozialistische und die bald mehr, bald weniger individualistische oder privatwirtschaftliche, ge- wöhnlich aber fälschlich bürgerliche genannt.

Wenn man von den Mehrheitssozialisten häufiger betonen hört, daß sie sich vorläufig nur mit dem für die Sozialisierung reifen Unternehmungen befassen wollen und Kommissionen untersuchen

-sollen, welche Unternehmungen dafür reif sind, so darf nicht über- sehen werden, daß, sobald einmal entschiedene Gegner ihnen ent- gegentreten, sie nachdrücklich betonen, daß sie eine große und ge- schlossene Partei bilden mit ein und demselben Ziel, und daß die einzelnen Gruppen sich nur unterscheiden in Hinblick auf den Weg, d. h. die einen wollen schrittweise sozialisieren und die anderen sofort alles und gewaltsam vergesellschaften.!)

Die Mehrheitssozialisten haben ja auch immer wieder von vorn- herein bekundet, daß sie ihre Programme immer mehr nach links und

1) Siehe Nachtrag 1.

Trüper: Die privaten Erziehungs- und Bildungsanstalten usw. 69

nicht nach rechts ändern, daß sie immer mehr besorgt sind, die Ver- bindung mit den Radikalen aufrecht zu erhalten als mit den Bürger- lichen.!) Das würde aber, auf unsern Gegenstand bezogen, bedeuten, daß unter dem Sozialisten-Regiment entweder recht bald und gewaltsam oder allmählich sämtliche Privatschulen und -Anstalten verschwinden würden, wie die obigen Mitteilungen aus Sachsen ja schon bekunden.

Wenn wir nun die Privatschulen für notwendig und nützlich halten, so dürfen wir darum von den sozialistischen Parteien kein hinreichendes Verständnis für sie erwarten, wenn auch ein Teil der Mehrheitssozialisten heute Praktiker ist und, wo sie die Verant- wortung tragen und sich derselben bewußt sind, die wirklichen Ver- hältnisse prüfen und darum duldsam gegen Privatschulen sein können. Aber wir müssen uns ein für allemal darüber klar sein, daß die Privatschulen und die radikale Verwirklichung der sozialistischen Ideen unserer sozialdemokratischen Parteien unvereinbar sind, worübcr weiter unten noch das Nähere gesagt werden wird.

Eine andere Partei, die politisch mit der Sozialdemokratie gern zusammen geht, einmal weil sie dieselben sogenannten demokratischen Ziele voranstellt: Republik, parlamentarische Regierung, Massenherrschaft durch das gleiche allgemeine Stimmrecht u. ä. m., ist die bürgerlich- demokratische Partei mit wandelbaren Bezeichnungen (Deutsche Fort- schrittspartei, Deutsch -freisinnige Partei, Deutsch-freisinnige Volks- partei, Freisinnige Vereinigung, Demokratische Vereinigung, Fort- schrittliche Volkspartei), die sich unter Theodor Wolffs Führung als erste der bürgerlichen Parteien nach der Revolution als »Deutsche demokratische Partei« bildete. In ihr ist vor allem das internationale Judentum und der Pazifismus vertreten. Auch der frühere jüdische Führer der Nationalliberalen, Staatsıninister Friedberg, ging mit seinem Anhange zu ihr über. Th. Wolff, Hauptschriftleiter des Berl. Tage- blattes, war früher Vertreter dieses Blattes in Paris. Während des Krieges wurde er in einer englischen Schrift besonders gelobt und u.a. wurde hervorgehoben, daß er eine Pariserin zur Frau habe, und daß 152 Provinzialzeitungen von ihm und dem Verleger Mosse ab- hängig seien. Da in der Erziehung und Bildung das Nationale wie das Konfessionelle einen hervorragenden Gegenstand des schulpolitischen Streites bilden, so muß dies hervorgehoben werden, gleichviel wie man sich zum Semitismus stellt.

Im Westen ist die Frankfurter Zeitung führendes Organ dieser

1) Erfreulicherweise scheint jedoch in der letzten Zeit eine Wandlung in ent- gegengesetzter Richtung an mehreren Plätzen eingetreten zu sein, und das wäre im Interesse der Jugenderziehung und damit des künftigen Volkes sehr zu begrüßen.

70 A. Abhandlungen.

Partei. Nach dem Einzug der Franzosen in Elsaß-Lothringen stellte sich ein Hauptmitarbeiter derselben sofort den Franzosen zur Verfügung und bekämpft jetzt in Straßburg das Deutschtum in schanılosester Weise. Er verdient also ebenfalls das Lob jenes Engländers mit Recht.

Unter der Überschrift »Unsichere Kantonisten« urteilt die nationalliberale (jetzt die die »Deutsche Volkspartei« vertretende) »Tägl. Rundschau« über diese Partei u. a.:

»Die ‚Demokratenparteı: des Herrn Wolff gibt sich jeden Tag Mühe, der Sozialdemokratie zu beweisen, daß man nichts anderes sein wolle, als der Schleppenträger der Sozialdemokratie. Aber Herr Scheidemann und seine Leute winken ab. Ihr seid ja doch nur unsichere Kantonisten.

Die Demokratenpartei des Herrn Wolff will eine Phalanx von Wolff bis Haase schaffen, und Agitatoren sind dafür tätig, u. a. Herr Hans Vorst vom »B. T.« Diese Leute sind röter als selbst die »Vorwärts«- Redakteure. Stampfer vom »Vorwärts« lehnt einen Teil der Unabhängigen ab, indem er schreibt:

»Die Unabhängigen müssen solche Elemente von sich ab- schütteln, die sich, kaum daß sie ein Zipfelchen der Macht erlangt haben, wie größenwahnsinnige Despoten und wie dıe frechsten aller Junker be- nehmen. Im Interesse der Demokratie und des Suzialismus muß die sozial- demokratische Partei jede Gemeinschaft mit derartigen Elementen aufs aller- schärfste ablehnen. Gar nicht zu reden von jenen Tollhäuslern, die das, was

ihnen zur Majorität fehlt, durch Maschinengewehre ersetzen möchten.«

»Von der Wolff-Gruppe hat man nie so etwas gehört. Sie biedert sich an, obwohl man ihr nicht über den Weg traut.«

Durch die Vereinigung der früheren Nationalsozialen Partei (unter der Führung des aus der Inneren Mission hervorgewachsenen Pfarrers Friedrich Naumann) mit den »Freisinnigen« im Jahre 1903 kam ihr ein bedeutsamer deutsch - christlicher Zuwachs mit idealistisch- sozialen Anschauungen. Doch war es auffallend, daß Naumann wohl gestattet wurde, über Antiqua oder Frakturschrift und ähnliche für alle Parteien hochinteressante Dinge Parteireden im Reichstage zu halten, daß aber im übrigen doch der Berliner Tageblatt-Geist der führende blieb und die Naumannsche »Hilfee immer liberalistischer sich an- paßte, so viel Verständnis und Interesse sie auch stets für die Fragen der Erziehung und des Unterrichtes und der sozialen Fürsorge be- kundete. Es blieb darum bei einem großen und bis jetzt führenden Teile dieser Partei, die mit der doktrinären Sozialdemokratie gemeinsame Weltanschauung in Theorie und Praxis als vorherrschende: die materia- listisch -utilitaristische. Aus diesen Gründen betrachtete und behandelte sie darum Bismarck schon als eine »Vorfrucht der Sozialdemokratie.«

Jene auch anderswo vergebliche Anbiederung bei nachdrücklichem Absagen, ja Kampfansagen gegen alle rechts von ihr stehenden Par- teien, ist ebenfalls ein Grund, warum auch wir sie für unsere Frage in inniger Gemeinschaft mit der Sozialdemokratie bewerten müssen.

Trüper: Die privaten Erziehungs- und Bildungsanstalten usw. 71

Obgleich diese bürgerliche Demokratie, wie eigentlich auch die Sozialdemokratie, die Freiheit als erstes auf ihre Fahne gesetzt hat, hat sie doch dieselbe nur konsequent verlangt auf dem Gebiete des materiellen Erwerbes und Besitzes. Neuerdings sind jedoch auch hier Stimmen, wie Walter Rathenau, durch bestechende Schriften dafür eingetreten, daß die Produktionsmittel sozialisiert’ mindestens in Gewerbs- verbänden unter staatl. Aufsicht und Mitwirkung zusammengefaßt werden müssen, wobei er alleıdings weise verschwiegen hat, wer dann bei dieser Sozialisierung der Besitzer des Gläubigerkapitals dem Staat gegenüber werden wird und werden soll, und wer dadurch im letzten Grunde individualistisch und kapitalistisch Herr des ganzen staatlich soziali- sierten Wirtschaftsbetriebes und damit Herr des Staates wird. Wer ein wenig nachdenken kann über diese Frage, wird sich sagen müssen, daß das deutsche Vaterland dann gar bald Schuldner irgend einer nicht-deutschen Rasse (Amerikaner, Engländer, Franzosen, internatio- naler Juden usw.) werden und durch die Sozialisierung der Betriebe es auch bleiben wird.

Im Hinblick auf die Sozialisierung der Kultur haben seit je ähnliche Bestrebungen, wie Walter Rathenau sie für seinen Wirt- schaftsbetrieb erstrebt, vorgelegen, wenn sie auch nicht immer als grundsätzliche ausgesprochen wurden. Nur die Religion soll für diese bürgerliche wie für die Sozialdemokratie angeblich »Privatsache« bleiben. Darum verlangen die Sozialdemokraten, und viele bürger- liche Demokraten mit ihnen, die Trennung der Kirche vom Staat, zu- gleich aber die restlose Verstaatlichung der Schule in Form der so- genannten »Einheitsschule« und damit auch völlige Trennung der ver- staatlichten, also staatlich sozialisierten Schule von der Kirche ich denke nur an die innere Verbindung, nicht an die zufällig damit verknüpfte Standesbevormundung der Lehrer durch die Geistlichen und infolgedessen die Durchführung eines konfessions-, ja meistens religionslosen Schulunterrichts, wie Fernhaltung jeder Pflege des religiös-sittlichen Lebens in der Schule. Das bedeutet, genau besehen, aber eine staatliche oder gar nur partei-politische Sozialisierung und Monopolisierung der Pflege der Glaubens-, Welt- und Wertauschau- ungen bei der heranwachsenden Jugend und damit beim zukünftigen Volke im materialistisch-intellektualistischen Sinne. Denn bei der Aus- schaltung jener Gesinnungsbildung bleibt für den Unterricht und das Schulleben nur noch Materielles und Intellektuelles, da auch der Moral- unterrichtsersatz im wesentlichen Realunterricht wird und keine nach- haltige, tiefer verankerte Gefühls- und Willensbildung zu zeitigen vermag.

72 A. Abhandlungen.

Ich hebe die Sozialisierung und Monopolisierung des religiös-sitt- lichen Unterrichts auch deshalb noch besonders hervor, weil mit der Pflege dieser Kultur starke Gefühle zusammenhängen, die Willens- impulse geben und zum Handeln führen. Die gegenwärtige Revolution bekundet das ja auch deutlich: auf der einen Seite die rein materia- listische Auffassung, sowohl nach der theoretischen wie praktischen Seite, und daher das brutale Streben nach Durchsetzung der äußeren Macht, und auf der anderen Seite die inneren Umwälzungen, die sich bei den gewordenen Zuständen auseinandersetzen müssen mit den Ge- fühlen der Treue, der Hingabe an das Ganze, überhaupt des ganzen Idealismus.

Außerdem bedeutet die Ausschaltung der religiös-sittlichen Be- lehrung im Unterricht und in ihrer Betätigung im Schulleben während 8 bis 12 Jahren des Jugendlebens einen ungeheuren Wissens- defekt, da das Religiös-Sittliche in der Entwickung der Menschheit eine Hauptrolle spielte. So war z. B. bei den Juden, die doch Haupt- träger der Kultur mit gewesen sind, sogar das ganze Leben, auch in Wirtschaft, Gesundheitspflege und Gesetzgebung, durchaus religiös be- stimmt, und auch die christlichen Völker sind seit 1900 Jahren nur durch das Christentum zu ihrer Kulturhöhe gekommen und erlitten bei Mißachtung und Mißbrauch desselben stets einen bedenklichen Rückgang. Das hat auch der Zusammenbruch des gegenwärtigen Krieges uns allzu deutlich wieder gelehrt. Bemüht sich doch sogar auch Herr Adolph Hoffmann als Sozialdemokrat in der genannten Schrift!) den »Kapitalistene und ihrem bürgerlichen Anhang nach- zuweisen, daß sie religiös so schwer sündigen und deswegen durch den Sozialismus enterbt werden müßten.

Die Sozialdemokratie befindet sich darum mit ihrem Dogma: »Die Religion ist Privatsache« in einem Grundirrtum, denn die Religion war und ist das Sozialste, was es gibt. Sie formte sogar bei den Ahnen der so zahlreichen Führer dieser Partei, bei den Juden, den Staat, wie alles, was damit zusammenhängt und was diese Partei jetzt sozialisieren möchte, und bei den ersten Christen finden wir einen Sozialismus, ja Kommunismus, auf den manche heutigen Sozialisten sich als gute Vorbilder beziehen.

Der Jenenser Kirchenhistoriker Prof. D. Nippold sagte einmal öffentlich zu dem großen Jenenser Demokraten Ernst Abbe, er nenne sich Atheist und sei genau besehen doch der beste Christ, und Abbe hat das zugegeben, daß sein ganzes soziales Denken, Fühlen und

1) Nachtrag 2.

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Handeln vom Geiste des Christentums beseelt sei. Genau besehen ist | aber auch der Materialismus und Atheismus eine Art Religion oder | Religionsersatz, vielfach leider ein negativer, jedoch nicht immer. Und so ist im letzten Grunde die Forderung der religionslosen Schule nur eine Täuschung: ihre Vertreter wollen vielmehr, daß die Jugend nur in ihrer Weltanschauung (oder Religionsauffassung) gebildet und erzogen werde, und sie wird damit zu einer durchaus illiberalen gegen- über Andersdenkenden. Ich habe mir schon vor 20 Jahren diesen Religionsersatz in den holländischen Staatsschulen näher angesehen. Das Totschweigen einer vieltausendjährigen Innenkultur mit einer Literatur, der auch Goethe und Schiller nach eigenen Aussagen ihr Bestes verdanken, und der Ersatz durch Betrachtung von Natur- erscheinungen und ähnlichem (wie z. B. der »gold’nen Abendsonne«) machte auf mich einen bedauernswerten Eindruck. Auch erklärte mir ein befreundeter Schulinspektor, der übrigens ganz meine Anschauung teilt, daß das Religiöse gar nicht ganz ferngehalten werden könnte. Man könne doch z. B. nicht die Volkslieder und die Geschichte des Volkes aus dem Unterrichte auch ausschalten oder etwa gar singen lassen: »Wem X will rechte Gunst erweisen usw.«e oder: »Den lieben Y laß ich nur walten.e Auch könne man aus dem Liede »Gold’ne Abendsonne« nicht den letzten Vers: »Schuf uns ja doch beide eines Schöpfers Hand usw.« streichen, ohne der Poesie, der >Kunst«, Gewalt anzutun.!)

Diesen sozialistisch-liberalistischen Auffassungen gegenüber sind die meisten Privatschulen immer die Vertreter der Freiheit auch für Andersgläubige und für Andersdenkende gewesen, von den Phil- anthropen und Pestalozzi an bis zur Gegenwart. Nur das sind wahr- haft freigesinnte Soziale, die nicht bloß für ihren Glauben und ihre Bestrebungen Freiheit und Duldsamkeit kennen und verlangen, sondern sie anderen in gleichem Maße zuteil werden lassen wollen. Zudem kann sich die Privatschule nur als Beauftragte und Vertreterin der Familie fühlen und wird sich darum bemühen, auch diese Frage im Einvernehmen mit denselben zu lösen. Und anders sollte es freilich auch bei den sozialisierten (öffentlichen) Schulen nicht sein. In diesem Sinne gilt es, die Politik (als Machtstreben) wirklich von der Religion (als Innenkultur) zu trennen.

Aus dem Gesagten wird klar, warum die neuen Schulprogramme der Sozialisten wie der mit denselben Hand in Hand arbeitenden bürgerlichen Demokraten gar keinen Platz gefunden haben für die

1) Nachtrag 5.

74 A. Abhandlungen.

Privatschulen und Privat-Erziehungsanstalten. Sie sind bis jetzt ein- fach totgeschwiegen worden oder man droht sogar sie zu verbieten.!) Begünstigt wurden allerdings diese die Glaubens- und Welt- anschauungen vergewaltigenden oder doch überstark bevormundenden Bestrebungen schon lange vor Ausbruch der Revolution, und zwar von den Gegnern der Demokratie, von einem Sozialismus, der zwar nie sv bezeichnet worden, aber doch ein bedenklicher Sozialismus war: von dem Sozialismus unserer Bürokraten, der Sozialaristo- kratie. Sie redeten bekanntlich zwar immer vom »Staal« und meinten dann nur das Beamtentum, ihre Beamtenhierarchie und ihre Beamten- macht, wenn jedoch Steuern und ähnliches gefordert wurden, dann wurde freilich der Begriff Staat mit den Steuerzahlern identifiziert. Auch die Privatanstalten gehörten dann zum Staat und zur Gemeinde. Die bisherigen parlamentarischen Vertretungen der Staatsbürger in Staat und Gemeinde haben dieses Streben überall nicht oder selten klar erkannt, auf alle Fälle es nicht grundsätzlich bekämpft. Die Parteien, die in Opposition standen zu dem Beamtensozialismus, oppo- nierten ‘meistens anscheinend nur deshalb, weil sie sich selbst diese Macht aneignen wollten, wie das der Ausdruck »parlamentarische Re- gierung« usw. schon bekundet, und wie die Praxis der neuen Regierung es bestätigt. Die jetzige Revolutionsregierung gibt in der Tat der alten Beamtenregierung an Autokratie und Uniformität und Monopoli- sierungssucht nichts nach. Im Gegenteil, sie ist weit autokratischer, bürokratischer und unduldsamer. In dieser Hinsicht war somit auch die hergebrachte Bürokratie Schrittmacher der Revolution, so hoch anderer- seits die technische Tüchtigkeit wie vor allem auch die Gesinnungs- tüchtigkeit im Rahmen dieser Munopolisierung unseres, und nament- lich des preußischen, Beamtentums vor dem Kriege aller Welt gegen- über bewertet werden muß. Ja, ohne die Verwertung eines solchen konservativen Beamtenheeres wäre die neue Regierung gar bald völlig zusammengebrochen. Daß aber ein Teil dieses Beanıtentums wie der Offiziere unseres Heeres nach der Revolution hierin versagte, zeigt, wie wir auch hier auf den Lorbeeren des großen Schöpfers des heutigen preußischen Beamtentums, Friedrichs des Großen, eingeschlafen sind, trotzdem Bismarck schon auf den ersten Seiten seiner »Gedanken und Erinnerungen« so nachdrücklich vor dem Bürokratismus warnte. Man darf auch nicht meinen, daß diese Bürokratenherrschaft in Preußen allein vorhanden war. In den kleinen Staaten bis hinab in die kleinen Städte und mit Einschluß der allgewaltigen demokratischen

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Trüper: Die privaten Erziehungs- und Bildungsanstalten usw. 75

Gemeindevertretungen herrschte vor der Revolution derselbe Geist, hier mehr, dort weniger, und in Demokratien wie Frankreich weit ge- fährlicher als im Deutschen Kaiserreiche. Es sind außerdem drastische Belege dafür beizubringen, daß sich das Auge des Gesetzes und der Verwaltung Privilegien und anderen Schutz- und Trutzmaßnahmen für Vergnügungsunternehmungen, zum Teil bedenklichster Art, liebevoller zuwandte, als den ebenfalls nicht sozialisierten, also privaten Unter- richts- und Erziehungsanstalten, daß der praktische Materialismus und Utilitarismus also keineswegs nur der Sozialdemokratie eigen war;

‚auch liegt es mir fern, dieser. jeden Idealismus abzusprechen. Ich

kann mich bei der Beurteilung aber nur an die Parteigrundsätze und an das tatsächliche politische Handeln halten.

Die Privatanstalten werden nach dem Gesagten darum - Schutz suchen müssen bei den Parteien und politischen Richtungen, die die Freiheit und das Mitwirken der Volksglieder, die sogenannte Demo- kratie, nicht bloß auf ihre Fahne, sondern auch in ihren Kopf und ihre Herzen geschrieben haben, und die die Freiheit nicht mutwillig loslösen vom Geist der Sittlichkeit, der Ordnung und der Ge- setzmäßigkeit. Möglich aber wäre es ja, und dann um so erfreu- licher, daß auch ein großer Teil der sozialistischen Demokratie durch ihre jetzıge Verantwortung zu dieser Überzeugung kommt, und sie dann auch Freiheit gewährleistet für die Produktion und den Konsum geistig-sittlicher Güter durch: Schule und Erziehung.

Rein theoretisch betrachtet, könnte man ja vielleicht diese Frage für die beiden Parteien der sozialistischen und individualistischen Demokratie bejahen, sofern die geplante Sozialisierung mindestens die- selbe Gedanken-, Glaubens- und Gewissensfreiheit gesetzlich und tat- sächlich gewährleisten soll, wie die Beamtenhierarchie mit ihrem Staats- (d. h. Beamten-)Sozialismus es tat. Wer aber etwas historische Kenntnisse auf pädagogischem Gebiet besitzt und diese Kenntnis nicht bloß als einen wechselnden Schmuck seiner politischen Überzeugung zur Schau trägt, sondern sie mit sozialwissenschaftlichem Nachdenken und sozialem Gewissen auch praktisch zu bewerten weiß, der wird diese Frage mit aller Entschiedenheit verneinen müssen.!)

Wie das Weltall zusammengehalten wird und nur in Harmonie bleibt durch das Gleichgewicht der Zentripetal- und Zentrifugalkraft, so bleibt auch jede menschliche Gemeinschaft, ob klein, wie die der

1) Das »national-soziale« oder »evangelisch - soziale« Einschiebsel in diese Parteien betrachte ich dabei als nicht ausschlaggebend, sondern mehr als Fremd- körper, wıe denn ja auch so bedeutende Köpfe wie Traub und Maurenbrecher aus diesen Gründen wieder rückwanderten.

76 A. Abhandlungen.

Familie, oder größer, wie die der Gemeinde oder im Umfange eines Staates und einer Volkswirtschaft, nur gesund durch das Gleichgewicht von Individualismus und Sozialismus, von Privatwirtschaft und Ge- meinwirtschaft auf materiellem wie kulturellem Gebiete. Wird dieses Gleichgewicht beeinträchtigt, gleichviel an welcher Stelle, so leidet das Einzelwesen wie die ganze Gemeinschaft darunter. Hiernach kann es kein Entweder-oder, sondern nur ein Sowohl-als auch als Norm geben. Vernachlässigt und beeinträchtigt die Gesellschaft mit Gesetzen und Maßnahmen die Einzelwesen, so leidet auch sie selbst Schaden. Darum halten wir fest an dem Ideal der KEinzelpersönlich- keit mit der Mahnung: »Ihr seid das Salz der Erde,« der Gemein- schaft. Umgekehrt kann ein Einzelwesen sich nur harmonisch und gesund . entwickeln und nach allen Seiten hin seine Kräfte ent- falten, wenn die Gemeinschaft zu ihrem Rechte kommt und Einzel- wesen nicht "die Gemeinschaft beeinträchtigen dürfen. Kulturwille bleibt darum immer die Summe aller Einzelideale, aber auch jede Einzelkultur hängt mit tausend Fasern festgewurzelt im Boden aller menschlichen Gemeinschaften, mit denen der Träger in Berührung kommt, und aus der er entstammt. Und darum gilt für jedes Einzel- wesen wie für jede Gemeinschaft die Losung als die beste: »Einer für alle, und alle für einen!«

Diese einfachen Sätze, die man jedem Volksschüler klar und be- greiflich machen kann, scheinen aber in den Köpfen unserer Partei- politiker, und vielleicht gerade, weil sie Parteipolitiker sind, wie in den Phrasen der Massen nicht willkommen zu sein. Wären sie das, dann hätten wir heute nicht Revolution, sondern wir wären seit Gründung des Reiches, auf alle Fälle aber seit Bismarcks Abgang, in einer steten Reformation auf allen Gebieten geblieben. Denn dieser zusammengebrochene monarchische Staat hat im Hinblick auf das sog. »Volk«, um dessen Gunst und Gnade jetzt jede Partei bald mehr, bald weniger geradezu buhlt, nicht bloß uns, sondern der Welt die soziale Gesetzgebung geschenkt, und bis zur Mißachtung oder Außer- dienststellung jener simplen Ideen in unserer machthabenden Bürokratie und Parteistreberei auch hervorragende Einzelwesen hervorzubringen vermocht, freilich infolge der Mißachtung dieses sozialen Naturgesetzes leider in deu letzten Jahrzehnten in ganz ungenügendem Maße, so daß unser Reich weniger durch den Krieg als vielmehr wegen Mangel an wahren Führern, namentlich im Innern, zusammenbrach.

Von pädagogischer Seite ist auf diese Voraussetzung einer ge- sunden Staats- und Volksentwicklung nachdrücklich immer wieder hingewiesen worden. Man lese doch die für Volksschullehrer ge-

Trüper: Die privaten Erziehungs- und Bildungsanstalten usw. 77

schriebene kleine Gesellschaftskunde !) von Dörpfeld und das für Volks- schüler dazugehörende kleine Frageheftchen.?) Er schrieb darum auch schon im Jahre 1867 über die soziale Frage, nicht wie heute nur für eine Kaste aus der Gesellschaft, in der die Harmonie zerstört ist, sondern betitelte sein Schriftchen: »Die soziale Frage, ein Mahnwort für alle Stände,e und er hat seit der Zeit immer wieder gegen den sprachlichen Unfug protestiert, daß eine wirtschaftliche Klasse der Gesellschaft sich die Arbeiter nennen dürfe, und daß die anderen hervorragenden Arbeiter unserer sogenannten Gebildeten dazu ihr Einverständnis geben konnten, auch, daß man die Bezeichnungen »soziale« und »Sozietät« (»Gesellschaft«) wie »Volk« und »Arbeitere nur noch beziehen darf auf die untere Schicht, die breite Masse der Gesellschaft und des durch dieselbe Abstammung und Sprache geeinten Volkes, anstatt auf die ganze Gesellschaft, das ganze Volk und die gesamte Arbeiterschaft vom Universitätsprofessor bis zum Straßen- kehrer®), daß darum z. B. soziale Fürsorge nicht bloß dem ärmsten Arbeiter, sondern unter Umständen auch einem Monarchen noch ge- bührt. Wäre das letztere begriffen und darnach gehandelt worden, dann würden wir wahrscheinlich nicht den monarchischen Zusanımen- bruch erlebt haben.

Und wenn wir dieses auf die Schule anwenden, dann haben wir nicht eine freie Schulverfassung in Theorie oder Praxis dargeboten bekommen von denjenigen, denen die Freiheit Schlagwort geworden ist, von unseren Radikalen der sozialistischen und liberalistischen Parteien, sondern eine Schulverfassung, die wahrhaft frei genannt werden darf, finden wir wiederum bei dem Individual- und Sozialpädagogen oder vielleicht besser: Anthropagogen Dörpfeld von seiner »Freien Schul- gemeinde und ihre Anstalten auf dem Boden der freien Kirche im freien Staate« (1863)* an bis zum Erscheinen seiner letzten Schrift, die er erst auf seinem Sterbebette als wahrer Arbeiter noch zu vollenden strebte, dem sich aus guten Gründen dann auch die ganze Herbartsche Richtung in der Pädagogik bald mehr, bald weniger eng angeschlossen hat.5)

1) Die Gesellschaftskunde. Eine notwendige Ergänzung des Geschichtsunter- richts. Gütersloh, C. Bertelsmann.

?) Repetitorium des naturkundlichen und humanistischen Unterrichts 1. Heft: Naturkunde und Gesellschaftskunde. 4. Aufl. Ebenda.

®) Auch ich habe vor drei Jahrzehrten schon darauf hingewiesen in den ge- nannten Abhandlungen über die Schule und die sozialen Fragen.

4) Bd Ill, I. Teil der Ges. Schr. Gütersloh, C. Bertelsmann,

5) Das Fundamentstück einer gerechten, gesunden, freien und friedlichen Schulverfassung. 2. Aufl. Bd. VLI der Ges. Schr.

78 A. Abhandlungen.

Nur solche Schulverfassungen gewährleisten, daß bei aller Einheit und Einheitlichkeit doch die Eigenart der Einzelpersönlichkeiten, der verschiedenen und verschiedenartigen Familien, religiösen Gemein- schaften (Kirchen), Volksstämme, Landschaften usw. zum eigenen wie zum Segen von Staat und Reich sich entwickeln kann.

In einer solchen Schulverfassung ist darum auch Freiheit für die Privatschule.

Demgegenüber verlangt die Mehrzahl nicht bloß der sozialistischen, sondern auch der individualistischen Demokraten die Einheitsschulet), die zudem fast nur nach intellektualistischen Gesichtspunkten organisiert werden soll. Wenn dieses Streben nach Gleichmacherei und dieses Unberücksichtigtlassen der Eigenart, wie sie Charakteranlage, Familien- vererbung und Familienerziehung wie auch die religiös-sittliche und wirtschaftliche Umgebung mit sich bringen, mit einer so großen Leb- haftigkeit in den weitesten Kreisen ihre Vertreter findet, so ist die Ursache wohl mit darin zu suchen, daß die rechts von der Demokratie stehenden Parteien ebensosehr nach kultureller Ungleichheit und un- natürlicher Klassendifferenzierung wie nach Pflege der Gegensätzlich-

1) Aus der Flut der Literatur über die Einheitsschule sei auf folgende Schriften verwiesen: E. Saupe, Die Einheitsschule mit besonderer Berücksichtigung des Auf- stiegs der Begabten. 2. Aufl. Heft 143 der Beitr. f. Kdf. (mit reicher Literaturangabe). Dr. W. Heinecker, Das Probiem der Schuloıganisation auf Grund der Begabung der Kinder. Ebenda Heft 113. E. Scholz, Daıstellung und Beurteilung des Mannheimer Schulsystems. Dr. G. Weiß, Der Sinn der nationalen Einheitsschule. 2. Aufl. Dr. E. von Sallwürk, Die deutsche Einheitsschule und ihre päda- gogische Bedeutung. Ders., Die Entwicklungsfreiheit. Prof. Dr. R. Stölzle. Professor F. W. Foerster-München als Gegner der Eınheitsschule. Dr. Graf von Pestalozza, Betrachtungen zum Aufstieg. B. Clemenz, Beobachtung und Berücksichtigung der Eigenart der Schüler (Freie Bahn dem Tüchtigen!). 2. Aufl. Dr. Arndt, Der Aufstieg begabter Mittel- und Volksschüler, auch solcher, die nicht Lehrer werden wollen, durch das Volksschullehrerseminar, als höhere deutsche Schule ein Beitrag zur Lösung gegenwärtiger nationaler und sozialer pädagogischer Forderungen. Moede-Piorkowski- Wolff, Die Berliner Begabtenschulen, ihre Organısation und die experimentellen Methoden der Schülerauswahl. 2. Aufl. Dr. H. Lemke, Die Theorie der Begabungsauswahl vom pädagogisch- medizinischen Standpunkt. Prof. Dr. Th. Ziehen, Über das Wesen der Beanlagung und ihre methodische Erforschung. Dr. Scheer, Neudeutsche Arbeitsweise und Arbeits- gemeinschaft im Organisätionsstaat. Eine sozial-ökonomische Studie. Dr. W. Popp, Neuorientierung der Volksschule. Dr. H. Mosapp, Die Neuorientierung unserer Pädagogik nach dem Kriege. E. Scholz, Die deutsche Schule nach dem Welt- krieg. H. Kühn, Kulturaufgaben des deutschen Volksschullehrers nach dem Kriege. Prof. Dr. W. Mann, Schulstaat und Selbstregierung der Schüler als Mittel der Willensbildung und des Unterrichts. Sämtlich zu beziehen vom Verlag Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.

Trüper: Die privaten Erziehungs- und Bildungsanstalten usw. 79

keit unter den wirtschaftlich-sozialen Schichten trachteten, also das ebenso einseitige Gegenteil erstrebten und dafür die Macht besaßen und benutzten. Hat diese Tendenz, die diesen beiden Parteirichtungen und sozialen Schichten innewohnt, es doch noch nicht dahin kommen lassen, daß alle Jugendbildner uud Erzieher sich als ein einheitlicher, aber nach ihren Aufgaben und ihrer Vorbildung wohl differenzierter und notwendig zu differenzierenden Stand fühlen, so daß die neue Einheitsschule und der durch eine fast unüberbrückbare Kluft ge- spaltene Lehrerstand sich eigentlich zueinander verhalten wie Feuer und Wasser. i

So sehr man darum vom nationalen Standpunkt aus für diese rechtsgerichteten Parteien eintreten muß, so bedauerlich bleibt es, daß sie für das soziale Mitempfinden gegen die unteren Schichten nicht immer das genügende Verständnis wie die zureichende Freudigkeit hatten, wie ich schon vor 28 Jahren in meinen drei Schriften über »Die Schule und die sozialen Fragen unserer Zeit«!) dargetan habe, und deren wesentlichen Inhalt nicht bloß ich, sondern auch andere noch heute oder gerade heute für zeitgemäß halten, so daß ich hier kaum etwas Neues ausspreche.

Selbstverständlich läßt sich das nicht von allen Gliedern dieser Parteien sagen, denn wir haben z. B. in den konservativen Parteien Männer von hervorragender Bedeutung, die für die soziale Hebung der unteren Schichten durch Gesetzgebung und praktische Arbeiten Vorbildliches für die ganze Kulturwelt geleistet haben. Es ist darum auch in diesen Parteien ein Nachwuchs vorhanden, der uns hoffnungs- freudiger in die Zukunft schauen läßt. Ich will nur hinweisen auf einen unlängst erschienenen Artikel im Roten Tag Nr. 274 vom 24. November: »Wir jungen Konservativen« ein Aufruf von Ulrich von Hassell, wie auch auf einen zweiten in derselben Nummer von Arthur Brausewetter: »Die Jugendpflege des neuen Deutsch- lande. Ja, diese christlich- konservativen Gruppen sind es lange Zeit hindurch allein gewesen, die mit einer großen Hingabe an der Hebung der unteren Schichten positiv arbeiteten und sich namentlich der Schwächsten nach jeder Seite hin annahmen. Ich will nur er- innern an die Bestrebungen der Inneren Mission von Wichern über Bodelschwingh bis Graf Posadowsky?), aber auch in gleicher Weise an die Caritas- Vereinigungen der katholischen Mitbürger. Begründete

1) Verlag C. Bertelsmann, Gütersloh 1890. Heft I—III.

?) Dietrich von Oertzen, Von Wichern bis Posadowsky. Zur Geschichte der Sozialreform und der christlichen Arbeiterbewegung. 2. Aufl. Hamburg, Verlag des Rauhen Hauses.

80 i A. Abhandlungen. doch ‘auch Bismarck seine sozial- politische Gesetzgebung damit, daß wir »praktisches Christentum« in konservatirem Sinne zu betreiben hätten, wobei er u. a. sagte: Völker vergehen nicht wie einzelne Menschen von heute auf morgen, aber einmal gewiß. Welches Volk wird vor dem Untergange bewahrt bleiben? Nicht dasjenige, welches die stärksten Heere hat, sondern dasjenige, welches das höchste Maß sittlicher Kraft entfaltet. An sich und für andere arbeiten in Demut und Selbstverleugnung, so nur werden wir bestehen, und im anderen Falle untergehen.

Aus diesen Kreisen sind ja auch die Idealisten der sozialistischen wie individualistischen Demokratie hervorgegangen. Ich will nur er- innern an Friedrich Naumann, Dr. Max Maurenbrecher, Fräulein Dr. Gertrud Bäumer, Paul Göhre u. a. Sie sind auch »das Salze dieser Erdenbürger geworden.

In diesen Kreisen mit Einschluß der »aufgeklärten Monarchie«e haben auch die Privatanstalten ihr besonderes Verständnis und Inter- esse gefunden. Sie hatten Verständnis auch für die Eigenart der Einzelmenschen wie der sozialen Gemeinschaften. Ja, es ist kaum eine öffentliche volkserzieherische Einrichtung zu einer gesetzlichen, also einer staatlich-sozialen geworden, die nicht hier in diesen Privat- betätigungen ihren Ursprung hatte.. Doch ich will einen Staatsbeamten, den Direktor der Hilfsschule in der Industriestadt Plauen i. Vgt., der jetzt auch Leiter des Jugendamtes ist, und sich in diesem amtlichen (also bereits sozialisierten) Staatsdienste besondere Verdienste erworben hat, Herrn Joh. Delitsch sprechen lassen. Derselbe urteilt:

»Alle öffentlichen Einrichtungen für Jugendwohl, das viel- gestaltige öffentliche Schulwesen eingeschlossen, sind erst private Unter- nehmungen gewesen. Die bewährten Versuche der freien Liebes- tätigkeit auf dem Gebiete der Jugendfürsorge wurden Vorbilder für die Schöpfungen der Gemeinde und des Staates. In den Anregungen der Behörde ist immer eine Anordnung, ein Gesetz ein Zwang verborgen, der zu freier Tätigkeit im Gegensatz steht. Es liegt im Sinne der öffentlichen und privaten Leistung, daß die private Jugend- fürsorge die anregende Kraft sein muß. Fehlt es ihr doch schon an Geld, um mit den großen Gemeinden oder dem Staate in Wettbewerb zu treten. Die öffentliche Korporation findet immer Gründe und Mittel, das von ihr in Angriff genommene Arbeitsfeld für sich allein zu gewinnen. Der vorher auf ihm tätige Verein hat sich dann anderen Aufgaben zu widmen, die von der öffentlichen Fürsorge noch vernachlässigt werden. Er muß also die Mängel und Lücken der- selben finden und durch seine freie Liebestätigkeit zu beseitigen und

Trüper: Die privaten Erziehungs- und Bildungsanstalten usw. 81

auszufüllen suchen. Die private Jugendfürsorge bahnt also den Fort- schritt, die Behörde führt ihn aus. Daher die Anlehnung des preußi- schen Gesetzentwurfes an das sich in der privaten und dann in der öffentlichen Praxis Bewährte. Darin liegt zugleich der Wert und das Verhängnis der freien Liebestätigkeit. Ihr segensreiches Wirken ist Kritik und Vorbild für das behördliche Walten. Auch die treffende Kritik wird von der Behörde oft genug als unberechtigt, als Anmaßung empfunden und getadelt, bevor sie zur Anerkennung ge- langt und ihren Einfluß auf die öffentlichen Veranstaltungen ausüben kann. Dann aber nimmt man der privaten Jugendfürsorge ihr ge- liebtes Kind aus den Händen und versorgt es von Staats wegen. Sie darf darüber nicht klagen; sie wird sich glücklich schätzen, dem Kinde das Leben gegeben zu haben.«

Wir sprechen hier nur als Pädagogen, als Bildner und Erzieher im einzelnen wie der Gesellschaften, nicht aber als Parteipolitiker. Wir können darum den Vertretern der Privatanstalten wie den Päda- gogen überhaupt keinen Rat geben, welcher politischen Parteibildung sie sich anzuschließen haben, wohl aber müssen wir von diesem Ge- sichtspunkte aus jedem Mitarbeitenden an unserem gemeinsamen Werk auf das Dringendste raten, die Frage nach der Freiheit in der kultu- rellen Betätigung, soweit sie sich auf gesetzlicher, und zwar nicht bloß auf staatsgesetzlicher, sondern auch auf allgemein menschlicher, sittengesetzlicher Basis bewegt, an die einzelnen Parteien zu stellen. »Wenn die Wahrheit und die Freiheit in Gefahr stehen«, sagt Johann Gottfried Menken, »dann rette ich die Freiheit, die Wahrheit kann dann für sich selber kämpfen.«e Das gilt aber auch von der Gleich- heit und der Brüderlichkeit. Es ist ja bedauerlich genug, daß unser ganzes Öffentliches Leben in Staat, Kirche und Schule bald mehr, bald weniger durch Parteien und Parteiische geregelt und geführt wird, anstatt zuvörderst das Gemeinsame aller Parteien hervor- zusuchen und höhere, über die Parteien hinausreichende Ge- sichtspunkte maßgebend sein zu lassen. !) (Schluß folgt.)

1) Näheres in Nachtrag 7.

Zeitschrift für Kinderforschung. 24. Jahrgang. 6

82 A. Abhandlungen.

3. Bilderreden aus Dörpfelds Schriften. Von Rektor Vogelsang in Barmen.

(Fortsetzung.)

VII. Lehrplan.

- Unter dem unanfechtbaren Leitwort »Eine richtige Theorie ist das Praktischste, was es gibt« entwickelt Dörpfeld 6 Grund- sätze über den organischen Zusammenhang der Lehrfächer:

1. Der Lehrplan muß qualitativ vollständig sein, also drei sach- unterrichtliche Fächer umfassen. 2. Die Zweigfächer jedes Haupt- faches müssen zu einer einheitlichen Schulwissenschaft zusammen- gefaßt werden, woraus auf jeder Stufe von unten auf etwas Ganzes zu lehren ist. 3. Nicht der Sprachunterricht, sondern der Sachunter- richt muß die Grundlage des gesamten Unterrichts bilden. 4. Die Sprachbildung muß ihrem Kern nach in und mit dem Sachunterricht erworben werden. 5. Im Sprachunterricht hat sich die Hauptsurge auf ein geläufiges und sicheres Können im Reden, Lesen und Schreiben zu richten. 6. Auch in den rein formunterrichtlichen Fächern müssen ihre eigentümlichen Beziehungen zum Sachunterricht beachtet und zum Besten beider Teile unterrichtlich verwertet werden. Über die Begründung und die Tragweite dieser Reformgedanken geben die »Grundlinien einer Theorie des Lehrplans« im II. Bande der Ges. Schr. Aufschluß. Die Schrift war bei ihrem ersten Erscheinen ein »Novum« in der pädagogischen Literatur. »Man kann sich bei ihrem Studium des Bedauerns nicht erwehren«e so urteilt Riß- mann —, »daß sie erst ein Jahr nach den Allgemeinen Bestimmungen t) herausgekommen iste.

Der Lehrplan einer auf Bildung und Erziehung zielen- den Schule, ’gleichviel ob sie eine höhere oder eine Volksschule ist, muß ein Ganzes und zwar ein organisch gegliedertes Ganzes sein. Fehlt in einem solchen Lehrorganismus ein solches Glied, so ist das nicht anders, als wenn dem menschlichen Leibe ein Arm oder ein Bein fehlt; es entsteht nicht nur eine Lücke, sondern die andern Glieder können nun ebenfalls nicht leisten, was sie leisten sollen.

IL 2, T. 9.

1) Wie die Allgemeinen Bestimmungen vom Dörpfeldschen Standpunkt aus zu reformieren wären, habe ich in meinen »Vorschlägen zur Reform der Allgemeinen Bestimmungen« zu zeigen versucht. Pädagogisches Magazin Heft 318. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

Vogelsang: Bilderreden aus Dörpfelds Schriften., 83

Die Lehrpläne der verschiedenen Bildungsanstalten ver- halten sich zueinander wie Figuren, die in der Form (qualitativ) ähn- lich, aber in der Größe (quantitativ) ungleich sind. Das ist eine Kardinalwahrheit der Pädagogik, die oberste in der Theorie des Lehr- plans. I, 1, T. 162.

Der Leib eines Kindes ist beträchtlich kleiner als der eines Er- wachsenen; nichtsdestoweniger kann jener ebensu gesund sein wie dieser. Dasselbe gilt von der Schulbildung: mag sie dem Umfange nach, wie es ja bei der Volksschule der Fall ist, sehr eingeschränkt sein, so kann und soll sie doch normal und gesund sein.

Meine sechs Lehrplangrundsätze zeichnen ein Gebäude, das in der Zahl und Ordnung seiner Teile eine fest geschlossene Einheit hat, aus der auch kein Stein verrückt oder herausgenommen werden kann. Der Schlüssel zu dieser Ordnung liegt in dem dritten Grund- satz: Nicht Lesen und Schreiben, überhaupt nicht der Sprachunter- richt, sondern die drei sachunterrichtlichen Fächer müssen die didak- tische Basis des gesamten Unterrichts bilden. lI, 85.

Sachunterricht und Sprachunterricht gehören zusanımen wie rechtes Bein und linkes Bein, wie rechte Hand und linke Hand, wie Mann und Weib, wie Vernunft und Sprache. Vernunft und Sprache, denken und reden, Sachverstand und Wort sind zu gleicher Zeit auf die Welt gekommen darum wollen sie auch zusammen- geschult sein. T, 43. .

Wie das Gezweig des Baumes von selber fällt, wenn der Stamm abgehauen wird, so sind die zahlreichen Verirrungen des isolierten Sprachunterrichts alle abgetan, wenn der Grundsatz der Isolierung verworfen ist. II, 50.

Sach-, Sprach- und Formunterricht. Der Sprachunterricht, die Sprache der objektiven Darstellung sowohl, wie die belletristische Literatur, Gesang. Rechnen und Zeichnen sind gleichsam fünf Lichter, die die sachunterrichtlichen Fächer umstehen und deren Gebiet je von einer besonderen Seite her durchleuchten oder fünf Organe —; denn jedem dieser Fächer entspricht eine besondere Veranlagung des Geistes, zum Teil auch des Leibes —, welche die Wissensstoffe in eigentümlicher Weise für die Gesamtbildung verarbeiten und ver- werten. 3 Il, 83.

Der Sachunterricht in seinem Verhältnis zum Sprachunterricht und den übrigen Fächern gleicht einer Schraube mit drei Windungen, deren erste voraufdringend den Weg bahnt, während die beiden andern nachschieben und festhalten helfen, doch aber durch jenes Wegbahnen

nun auch selbst leichter vordringen können. U, 141. 6*

84 A. Abhandlungen.

Die Sprachbildung gleicht einem Baume, der in den Boden des Sachunterrichts gepflanzt ist und zwar so, daß er in jedes der drei Gebiete Religion, Menschenleben, Natur je eine starke Nähr- wurzel hinein senkt; jedoch die stärkste, die Pfahlwurzel in die Natur- kunde, und daß jede dieser drei Nährwurzeln drei Zweig- oder Saug- würzelchen hat.

Die ethischen Fächer müssen im Mittelpunkt des gesamten Unterrichts stehen. Wie die Halbmesser dem Mittelpunkt ihres Kreises zustreben, so können und müssen alle Lehrgegenstände mit vereinten Kräften auf das eine höchste Ziel, die Gesinnungs- und Charakterbildung hinwirken. U, 142.

Sie müssen den Kern des Lehrstoffs bilden. Wie in dem Ur- stoff des Eies eine bestimmte Stelle ist, wo die feste Gestalt des neuen Geschöpfs ihren Anfang nimmt, so schaffen die. ethischen Fächer die Vorstellungswelt, in welcher das Werden und Wachsen des sittlichen Charakters beginnen kann; aber nur unter der Bedingung, daß hier, wie dort, die Kernstoffe mit den peripherischen zu einem Ganzen verbunden bleiben. II, 143.

Wie im menschlichen Leibe die Nerven, vom Gehirn und Rücken- mark ausgehend, den ganzen Organismus so durchdringen, daß sie ihn beherrschen können, so muß der erziehliche Unterricht dahin streben, daß die religiös sittlichen Wahrheiten in ähnlicher Weise und zu dem- selben Zweck den gesamten Gedankenkreis des Zöglings durchziehen.

Menge der Lehrstoffe und Überbürdung. Angenomnen, eine Hausfrau verwende für eine gewisse Art von Kuchen zur Hälfte Weizenmehl, zur Hälfte Buchweizenmehl, dazu Milch und Wasser; eine andere backe ihre Kuchen bloß aus Buchweizenmehl und Wasser. Wird nun jemand glauben, weil jener Kuchen aus mehrerlei Stoffen bestehe als dieser, so werde eine bestimmte Menge desselben mehr Masse enthalten? Gewiß nicht. Wohl kann dort eine Überladung des Magens stattfinden; aber nicht auch hier? Und wenn sie stattfindet sei es dort oder hier —, so wird doch schon ein Kind begıeifen, daß der Fehler in jedem Fall nicht in der Küche begangen worden ist, sondern im Speisezimmer; nicht bei der Bereitung der Speisen, sondern bei der Verteilung. I, 1, T. 149.

VIII. Lehrverfahren.

Einer der zahlreichen Kränze, die bei der Einweihung des Dörp- feldschen Denkmals niedergelegt wurden, trug die Widmung: »Dem Meister der Lehrkunst.« Daß er’s in der Tat war, haben viele Sach- verständige, z. B. Dr. von Sallwürk, kürzlich noch Dr. Kley, be-

Vogelsang: Bilderreden aus Dörpfelds Schriften. 85

stätig. Hier sei nur an Rißmann erinnert: »Als Lehrer genoß er die uneingeschränkte Anerkennung aller, die ihn in seiner Schule be- suchen konnten (z. B. Prov.-Schulrat Dr. Landfermann). Sein Unterricht zeichnete sich durch Klarheit, Einfachheit und Gründlich- keit aus. Kurzum, er war ein Meister der Schule. Seine Schrift: »Denken und Gedächtnis« steht nach Gehalt und Form bis jetzt un- erreicht da. Wenn das pädagogische Interesse in den letzten Jahren einen ersichtlichen Aufschwung genommen hat, so ist dies zu einem großen Teile Dörpfelds Verdienst. Wenn der Sinn für wissenschaft- liche Behandlung von Unterrichts- und Erziehungsfragen allgemeiner als früher wahrzunehmen ist, so gebührt besonderer Dank dafür dem Verstorbenen.«

Vorbereitung auf den Unterricht. Ein Lehrer, der im ersten Jahrzehnt nicht mit der Feder in der Hand sich vorbereiten mag zumal in den unteren Klassen, wo das Unterrichten am schwierigsten ist ist genau dem Pfarrer gleich, der von der Kandidatenzeit an seine Predigten improvisieren wollte. Wie bei letzterem, wenn nicht eine außergewöhnliche Begabung und nebenher gehende gründliche Studien das Predigtschreiben ersetzen, die Vor- träge auf die Dauer leer und langweilig werden, so wird der Lehrer es nie zu einer solchen Ausrüstung im Lehrfache bringen, die im Urteil und im Können auf allen Stufen sich sicher fühlt, es sei denn auf einem Umwege und mit viel größerer Mühe. Die schrift- liche Vorbereitung ist in der Tat der kürzere und leichtere Weg und überdies für ein erfolgreiches Fortschreiten zu immer höheren Zielen die beste Bürgschaft. VII, 241.

Lernkraft. Wie man soviel Brennstoff auf ein Feuer häufen kann, daß es erstickt wird, so kann es auch mit der Lernkraft und dem Lerneifer geschehen. Jedes über das rechte Maß hinausgehende Mehr ist in Wahrheit ein Weniger. III, 217.

Lernerfolg. Es geht auf dem Schul- wie auf dem Naturacker: etlicher trägt 100fältig, etlicher 60fältig, etlicher 30fältig. Bei allen Schülern einen reichen Bildungsertrag anstreben zu wollen, wäre Tor- heit, ihn von allen fordern oder bei den schwächeren erzwingen zu wollen, wäre Versündigung. III, 215.

Gründliches Lernen. Was von leiblicher wie von geistiger Speise nicht in Fleisch und Blut verwandelt, nicht zum völligen Eigentum gemacht wird, mag dem augenblicklichen Begehr, dem Hunger, der Neugier, dem Zeitvertreib usw. ein Genüge getan haben; aber für die Zukunft, fürs Leben ist es bedeutungslos. Und das nicht bloß: eine gestörte Verdauung, leibliche und geistige, kann bei

86 A. Abhandlungen. fortgesetzter undiätetischer Lebensweise chronisch werden; das Ende aber ist die Schwindsucht. X, 2, T. 18.

Stückliches Lernen. Beim Auswendiglernen ist das Teilen des Stoffes in kleinere Abschnitte, »das stückliche Lernen« (Ratich) nicht bloß nützlich, sondern meist unbedingt nötig; nämlich dann, wenn der zu verspeisende »Brocken« für den kleinen Mund zu groß ist. I, 136.

Maßhalten beim Erklären. Das maßlose Erklären (bei der Behandlung eines Psalms oder eines Kirchenlieds) muß auf den Ver- stand und das Gemüt des Schülers die Wirkung ausüben, die man auch erzielt, wenn man auf ein kleines Feuer soviel Brennstoff häuft, daß der Luftzug gehemmt wird. Es gilt, mit möglichst wenigen und kurzen Erläuterungen das Wortverständnis und mit möglichst ange- messenen geschichtlichen Beispielen das Sachverständnis zu ermitteln.

X, 2, S. 49.

Wenig aber gründlich. In einen Topf mehr hineinzu- gießen als hineingeht, das hat bis jetzt noch niemand fertig gebracht. Was aber mehr hineingeschüttelt wird, das ist verloren. Der Mensch lebt nicht von dem, was er ißt, sondern von dem, was er verdaut; wer mehr ißt, als er verdauen kann, hat nicht nur keinen Nutzen davon, sondern läuft auch Gefahr, daß die Verdauungskraft geschwächt und die Gesundheit geschädigt werde. Das gilt unzweifelhaft auch von der geistigen Ernährung.

Bei dem eilfertigen Lehren ergeht es dem Lernen, wie es einem geht, der ein wohlfeiles Kleidungsstück oder Werkzeug kauft, das übereilt fertig gemacht worden ist. Weil fort und fort daran geflickt werden muß und ebenso häufig die Benutzung sich aufgehalten sieht, so verwandelt sich der vermeintlich wohlfeile Kauf in einen recht kostspieligen. Was beim Lernen dem anschaulichen Verstehen und dem Interesse abgebrochen wird, ist in der Tat schwerer Zeitverlust. Wie nach dem Sprichwort ein guter Umweg nicht verzögert, so ist auch der Lehrweg, der die drei Lehr- und Lernoperationen treulich innehält, nicht länger, sondern kürzer als der, der am ersten Stück vorbeigeht.

Das Übermaß des Lehrstoffs ist nur eine der Folgen, eins der Anzeichen, worin das innerliche Übel äußerlich zutage tritt; ge- rade wie die Verdorbenheit der Säfte im menschlichen Körper sich etwa in irgend einer Hautkrankheit kundgibt. Die Ermäßigung des Lehrstoffes wäre somit eine Pfuscherkur, die den wirklichen Grund der Krankheit unbelästigt ließe. Die didaktisch-materialistische Lehr- weise bliebe im Prinzip unangetastet; ebenso unangetastet bliebe ferner

Vogelsang: Bilderreden aus Dörpfelds Schriften. 87

die starke Nährquelle, die der didaktische Materialismus in der Uni- versitätspädagogik und in der Lehrpraxis der höheren Schulen hat, sowie die hergebrachte Aufsichtsordnung; unangetastet bliebe, was an didaktisch - materialistischen Irrtümern in den üblichen methodischen Lehrbüchern nachgeschleppt und durch die Volksschulpraxis befördert wird, unangetastet endlich, was von diesen Irrtümern in der gegen- wärtigen Lehrerwelt wurzelt, blüht und Früchte trägt. II, 2, T. 28.

Der didaktische Materialismus scheint in der Tat nicht minder schwer vertilgbar zu sein, als die berüchtigte Herbstzeitlose, die im Spätsommer die Wiesen mit ihren bestechend schönen Blüten schmückt, während ihre giftigen Früchte erst im Frühjahr zum .Vor- schein kommen.

Der Geist des didaktischen Materialismus liegt wie eisige Kälte auf dem Schullande und hält seine edelsten Kräfte und frucht- barsten Wahrheitskeime in Bann und Fesseln. Er wird aber weichen, wie der Winter mit seinem Frostbann und seinen trüben Tagen weichen muß, soBald die Sonne höher und höher steigt.

Wenn jene »Sehnsuchte, die den edlen Schweizer trieb und trotz aller Hemmnisse und Kümmernisse nicht ruhen ließ, in den Herzen der deutschen Schulmänner wieder recht warm sich regt, und wenn die Wahrheitskeime, die er und seine echten Nachfolger in den deutschen Kulturboden eingesenkt haben, alle zu sprießen beginnen, dann ist ein wahrhaftiger Schulfrühling da. II, 2, T. 51.

»Das erste Schuljahr« von Rein ist gleichsam der Schlüssel, der die einer Reform bisher verschlossenen Türen aufschließt, auch deshalb, weil diese kleine praktische Schrift das Verständnis der theo- retischen erleichtert. II, 2, T. 5.

Es ist eine echte Primulaveris, die sich an einer sonnigen Stelle, am Fuße der Wartburg, hervorgedrängt hat und uns mit ihren vollen Blüten sonnenhell entgegenlacht. I-25 TESE

Einprägen. Wird über dem Dozieren das Memorieren versäumt, so ist das nicht klüger, als wenn der Schneider vergißt, einen Knoten in seinen Faden zu machen. Wer das, was er lernt, nicbt einprägt, ist nicht weiser als einer, der sein Geld in eine durchlöcherte Tasche steckt. - (Schluß folgt.)

88 A. Abhandlungen.

3. Das Krankheitsbild der amnestischen Aphasie mit Alexie, Agraphie und schwachen Spuren von Ataxie. Von Nikolaus Widmann - Mannheim.

(Schluß.)

X. Vom Formensinn der Kranken.

a) Nachstehende Formenplättchen in dreifacher Zahl wurden von der Patientin mit Sicherheit und Gewandtheit sortiert und gruppiert.

IT EINER er

Also: Der Formensinn ist erhalten.

b) Nach der Gruppierung lagen die Formen wie folgt: Looo Wir hatten die Formen benannt. Nun LA AA erging die Aufforderung an die Kranke: o Legen Sie o ad aufeinander. ar

zn ewünschte Form wurde nicht gefunden. KENCA Genen Woru Begriff Quadrat zeigte

v./ J L£] I] sich gute Verknüpfung. Das Wort Rechteck

VEL > E weckte den Begriff Dreieck. Ahnlich war die Falschleistung bei Kreisfäche, auf welche ein Rhomboid gelegt wurde.

Also: Die Assoziation von Wortklangbild und Begriff ist sehr lose; deshalb viele Fehlleistungen. Die Falschleistungen zeigen, daß die schlechte Assoziationsfähigkeit auch Begriffsverwirrung hervor- rufen kann.

c) Die Aufforderung, obige Formen in Deckungslage zu bringen, erfolgt nun mittels des Schriftbildes.

Richtige Leistungen wurden erzielt: Rhomboid, Kreis, Quadrat und Dreieck; verwechselt wurde das Rechteck mit Quadrat und Dreieck.

Also: Die Verknüpfung von Schriftbild und Begriff ist inniger als die Verbindung von Wortklangbild und Begriff. Doch zeigen sich auch da Störungen.

d) Ich bringe die Plättchen in Deckungslage in der oben an- gegebenen Reihenfolge I—VI. Bei richtiger Assoziation müßte die Antwort erfolgen: Quadrat auf Quadrat usw.

Widmann: Das Krankheitsbild der amnestischen Aphasie mit Alexie usw. 89

Die Leistungen der Kranken aber waren:

Richtige Leistung Fehlleistung Falschleistung L -— Kreis, und zählt dabei die Ecken 1, 2, 3, 4. II. ja II. ja IV. ja V. ja VL ja

Bei Form II. sprach die Kranke das Wort Zirkel mehrmals und ahmte dabei die Handbewegung nach bei der Fertigstellung eines Kreises mittels Zirkels, dann erst wurde das Wort Kreis flott gemacht. Bei Ansicht der Formen IV. und VI. erfolgte ziemlich rasch die mündliche Wiedergabe. Formen III. und IV. weckten gar kein Klang- bild. Bei Form I. erfolgte eine Falschleistung. Kaum hatte die Kranke das Wort Kreis ausgesprochen, merkte sie den Fehler, begann die vier Ecken abzuzählen, konnte aber zur richtigen Bezeichnung nicht gelangen.

Gab die Kranke die Antwort mittelst Schriftbilder, so erzielte sie lauter richtige Leistungen.

Richtige Leistung Fehlleistung Falschleistung I ja —- I. ja TI. ja IV. ja N. ja? —- yI. ja —-

Nur bei Form V fand ein längeres Zögern statt. Zu schreiben vermochte die Patientin keines der Worte, ebenso wenig zu lesen.

Also: Die Störung im Lautbildzentrum W ist weit größer als im Schriftbildzentrum.

XI. Stäbchenlegen für Zeichenversuche.

a) Nach Vorlagen gelangen folgende Figuren mit Stäbchen zu legen sicher, rasch und ohue Ermüdung.

LEI A

Se er: 7 8 9 0 n Eine spontane Äußerung erfolgte nur bei 8. Kreuz.

A

90 A. Abhandlungen.

b) Ich fordere Patientin auf, obenstehende Figuren zu legen ohne Vorlage. Es waren auffallend gute Leistungen durch das Wortklang- bild erzielt. War die Kranke nicht so ermüdet, oder hatten die Übungen mit den Formtäfelchen einen Einfluß ausgeübt?

Es gelang: Nr. 1, 3, 2, 4, 8, 11, 5, 9; 10.

Fehlleistung: Nr 7.

Falschleistung: Für Nr. 6 wurde Nr. 4 gelegt.

c) Bei schriftlicher Aufforderung wurden nachstehende Figuren richtig gelegt. Die darunterstehenden Buchstaben zeigen an, ob das Wort richtig, nicht oder falsch gelesen wurde.

Es gelang: 8, 10, 1, 5, 4, 6.

ra m nd

Fehlleistung: —.

Falschleistung: für 9 wurde 5 gelegt. 2 y 5 ; ”„ ao T 2

Also: Bei mündlicher Aufforderung wurden beim Stäbchenlegen bessere Resultate erzielt als bei Vorlage des Schriftbildes. d) Ich legte, und die Kranke gab folgende Antworten:

Richtige mündliche Leistung: 8, 3, 11, 7.

schriftliche „, durch Schriftbild: 8, 3, 4, 7, 5, 9. Mündliche Fehlleistung: 4, 1. Schriftliche s —, —.

Mündliche Falschleistung: Für 2 wurde 1 gesprochen. 5 » a l A

a Falschleistung durch Deuten auf das Schriftbild: Für 11 wurde 9 gedeutet. er A o8 :

XII. Prüfung des Tastvermögens.

Die Prüfung auf das Tastvermögen, d. h. die Fähigkeit, durch Betasten Gegenstände zu erkennen, wurde so vorgenommen, daß es sich hierbei nicht bloß um ein Erkennen der Formen, sondern um Verwertung einer Reihe anderer Merkmale wie weich, hart, glatt, rauh, feucht, trocken, kalt, warm handelte. »Bei dem komplizierten Akt des Betastens spielen sämtliche andere Qualitäten des Haut- und Muskelsinnes mit. Die Hauptrolle spielt wohl »Lage- und Bewegungs- empfindung.< Nach Wernicke kann, auch wenn diese einzelnen Qualitäten leidlich erhalten sind, eine Tastlähmung, d. h. Unfähigkeit des Identifizierens der getasteten Gegenstände bestehen, wenn infolge

Widmann: Das Krankheitsbild der amnestischen Aphasie mit Alexie usw. 9]'

kortikaler Läsion die Tastvorstellung des Gegenstandes nicht geweckt werden kann.

Die Untersuchungen, die sich auf die linke Hand erstreckten, er- gaben durchweg vorzügliche Resultate: nicht eine Fehlleistung wiesen die vielen Versuche auf, ein Beweis dafür, daß die Tastvorstellungen sehr deutlich und lebendig sind. Ich stellte die eine von den zwei gefertigten Sammlungen der Versuchsgegenstände auf dem Tische auf. Die Gegenstände der andern Kollektion wanderten von der Patientin nicht beobachtet der Reihe nach in ein Säckchen; nach dem Abtasten dieses Gegenstandes wurde als richtige Antwort auf das gleiche Objekt auf dem Tische gedeutet. Diese Versuche machten der Patientin augenscheinlich wegen des dauernden Gelingens eine gewisse Freude, die sich einige Male in spontanem Sprechen äußerte: spitz, stumpf, rund, glatt.

Bei einer späteren Prüfung suchte ich festzustellen, eb durch das Tastvermögen auch noch die Namen der Gegenstände geweckt werden. Im Säckchen waren aufbewahrt:

Gummi, Knopf, 10 Pfennigstück, Uhr, Bleistift, Dominostein. Durch Zuruf vermochte die Kranke mittels Tastens sämtliche Gegen- stände richtig herauszufinden.

Dann wurde der Reihe nach nur ein Gegenstand im Säckchen verborgen: nach Abtasten durch die Patientin wurden folgende Namen ohne Hemmungen gesprochen: 10 Pfennig, Uhr, Bleistift; die übrigen Worte wurden erst reproduziert, als ich den ersten Laut (G, K, D) vorsprach.

Also: Die Störung zeigt sich auch hier als Verlust des Wortes für eine durch Tasten deutlich hervorgebrachte Vorstellung.

XIII. Versuche über Farbensinn der Kranken.

a) Das Sortieren der Farben gelang mit sichtlicher Freude der Kranken. A b) Das Gruppieren der Farben nach den Regenbogenfarben aus der Erinnerung wurde sehr rasch und ohne irgend welche Hilfe ausgeführt.

Also: Der Sinn für Farben ist erhalten geblieben. Das Gedächt- nis für Farbengruppen ist unversehrt.

c) Gruppieren von Farben nach dem Geschmack der Patientin zeigt Natürlichkeit in der Farbenkombination.

] schwarz + weiß dunkelrot -+ violett grün + rot dunkelgrün + violett gelb + schwarz

92 A. Abhandlungen.

d) Wie ist die Zuordnung der Farbnamen und Farbempfindung? Ich gebe den Namen. Patientin sucht die Farbe. Richtige Leistung bei: weiß, schwarz, braun, silber, rosarot, dunkel- rot, hellgrün. Fehlleistung: keine. l Falschleistung: beim Worte blau wurde grün gezeigt.

n rot 1 G gelb blau

5 blau rot

v violett „silber

Ich gebe das Schriftbild, Patientin suchte das Farbenplättchen dazu.. Richtige Leistung: gelb, rot, blau, grün, braun, weiß, schwarz, violett.

Keine Fehlleistung; aber kein Farbwort konnte gelesen werden.

e) Ich lege die Farbe. Die Benennung erfolgt seitens der Kranken.

Richtig: weiß, blau.

Fehlleistung: grün, schwarz, gelb, rot, violett.

Keine Falschleistung.

f) Ich lege die Farben. Patientin suchte das Schriftbild.

Richtig: weiß, schwarz, violett, gelb, rot, grün, braun, blau; hell- blau, hellrot, hellgrün, dunkelgrün, dunkelrot, dunkel- blau. - :

Keine Fehl- und Falschleistung.

g) Ich lege, und Patientin versuchte zu schreiben.

Richtig geschrieben: weiß.

Verstümmelt: —ot, —ett.

Fehlleistungen: blau, grün, schwarz, braun, gelb.

Also: Die Verknüpfung von Schrittbild und Begriff ist fester

von Klangbild und Begriff.

XIV. Das musikalische Gedächtnis für Melodien ist unversehrt.

1. Die von mir begonnenen Melodien »Morgenrot«; »Ich hatt’ einen Kameraden«; »O Straßburg« wurden sofort weiter gesummt, als ich mitten in der Melodie aufgehört hatte. Die Melodien wurden ton- rein und sicher bis zu Ende durchgeführt.

2. Nun stimmte ich Lieder »Deutschland über alles«; »Es braust ein Ruf«; »Heil unserm Fürsten heil« an. Die Melodie wurde wieder sicher durchgeführt; aber der von der Kranken unterlegte Text ließ an Klarheit sehr zu wünschen übrig; manche Worte konnten nicht mehr verstanden werden.

Widmann: Das Krankheitsbild der amnestischen Aphasie mit Alexie usw. 93

3. Ich summte die Melodie von »Stille Nacht«; »Morgenrote; »O Straßburge. Die Kranke erkannte die Lieder sofort, vermochte aber den Text nicht zu sprechen.

Also: Das Vermögen, musikalische Gefühle auszudrücken, ist ganz unabhängig von der Lautsprache, die bei der Kranken starke Störungen aufweist.

4. Sie vermag die Töne der Tonquellen von Glocken, Gläsern, Metalldeckeln, Pfeifen und auch Geräusche, berührend durch Klopfen an Türe, Ofenrohr, Lampenglocke, mit abgewandtem Gesichte zu er- kennen.

5. Sie vermag zwei Töne genau nachzusingen und zu unter- scheiden nach Höhe, Stärke und Dauer.

6. Ich lege ihr Noten vor zu kleinen Treffübungen, die nicht gelingen, obgleich die Kranke musikalisch ist. Weder auf la la noch nach den Notennamen vermochte sie zu singen.

7. Klavier zu spielen nach Noten gelingt nicht; aber Melodien nach Gehör mit der linken Hand soll die Kranke noch auf dem Klavier zusammenstellen können.

8. Sämtliche Notennamen sind vergessen; sie macht auch keine Versuche, die Notenskala ähnlich wie das Alphabet zu durcheilen; beim Schreiben der Noten auf Diktat wird nicht eine Note auf den richtigen Platz gesetzt.

Die Unversehrtheit des musikalischen Gedächtnisses ermöglicht bei den Übungen im Sprechen durch Anwendung des musikalischen und dynamischen Akzents die festere Verknüpfung des Wortklang- bildes mit dem Begriffe.

XV. Merkfähigkeit der Kranken.

Die Fähigkeit, frische Eindrücke festzuhalten in allen geprüften Qualitäten ist intakt.

Für Optisches: Die Kranke vermag mit Sicherheit am Ende der halben Stunde, das Stückchen farbiges Papier, das sie zuerst heraus- gesucht hat, wieder herauszufinden.

Im Akustischen scheint eine gewisse Schwäche zu bestehen. Eine ihr vorgesagte Zahl oder Silbe vermochte sie nach einigen Minuten nicht immer sicher unter andern Zahlen oder Silben namhaft zu machen. Ich erinnere an den Versuch mit dem Hute, wobei das Wort immer gesprochen wurde, bis die Handlung ausgeführt war. Das war anfangs der Übungszeit vor drei Monaten. Ich erwähne noch einen Versuch, der zeigt, wie durch den gebesserten Gesundheitszustand

94 A. Abhandlungen.

‚und die unterrichtlichen Maßnahmen die Merkfähigkeit sich gebessert hat. Nach einmaliger Aufforderung war die Patientin imstande, nach Verlauf von 3 Minuten ohne jedes Murmeln die zusammengesetzte ‚Handlung korrekt auszuführen: Teller aus dem Büfett zu holen mit ‚Messer, Löffel, Gabel, den Teller auf den Tisch zu stellen, Gabel rechts, Messer links, Löffel in den Teller. Getastetes mit der linken Hand rechte ist nicht gebrauchsfähiig erkennt die Patientin nach etlichen Minuten noch.

Prüfung des Gedächtnisses.

Als ich nach etlichen Wochen fragte, welche Aufträge die Kranke bei meinem ersten Besuche auszuführen hatte, war sie imstande, alle diese Tätigkeiten zu wiederholen. Die Erinnerungen aus der gesunden Vergangenheit sind vorhanden; es besteht keine Lücke in Bezug von persönlichen Erlebnissen. Aus der Unterhaltung mit der Patientin geht hervor, daß in ihrer Jugendzeit beim Lernen vorzugsweise das Ohr weniger das Auge eine Rolle spielte; es ist anzunehmen, daß sie vorwiegend einen akustischen Gedächtnistyp darstellt, freilich nicht in -ganz reiner Form.

XVI. Spiele.

Durch den Ausfall der Wörter wird auf den Gang der Rede wie ‚auch auf die Bewegung der Gedanken eine hemmende Wirkung aus- geübt. Je stärker sich diese Störung bemerkbar macht, desto schwieriger ist ein lautes geordnetes Denken; damit ist aber nicht gesagt, daß ein stilles Denken nicht stattfinden kann. Es gibt geistige Verbindungen, die sich wortlos vollziehen. So vermag die Patientin sehr gut Karten, Domino, Dambrett und Mühle zu spielen.

Diagnose. Aus all den Versuchen, die wegen der raschen Ermüdung auf Wochen sich ausdehnten, ergibt sich folgende Diagnose: Amnestische Aphasie mit Alexie und Agraphie. Schwache Spuren von Ataxie.

Prognose.

In seinem Buche »Störungen der Sprache« gibt Prof. Kußmaul bei Aphasie die Andeutung des Ausgangs der Krankheit mit ‘folgenden ‚Worten: »Die Prognose der disphatischen Störungen, die man unter ‚Aphasie begreift, in feste Sätze von praktischem Werte zu bringen, ist trotz der großen, nicht mehr zu bewältigenden Masse des casuisti-

Widmann: Das Krankheitsbild der amnestischen Aphasie mit Alexie usw. 9A

schen Materials nicht möglich. Jedenfalls hängt die Heilbarkeit der- selben teils von der Natur der sie bedingenden Läsion, teils von der lädierten Örtlichkeit ab. Heilbare Zustände versprechen auch bei gänzlicher Sprachlosigkeit einen guten Ausgang, während unheilbare Affektionen auch bei leichten Formen keine Aussicht auf Heilung der Sprachstörung eröffnen. Von den destruierenden Prozessen geben die diffus fortschreitenden eine schlimmere Prognose, als die auf eine um- schriebene Gegend sich einengenden. Bei diesen hängt sie davon ab ob sie nur durch einen reparablen Eingriff die Funktion der Sprach- bahnen und Sprachzentren lahm legen, oder ob sie dieselben direkt und unheilbar beschädigen. Im letztern Falle hängt alles wieder davon ab, in welchem Umfange dies geschieht und ob die Ausdehnung der Läsion eine Ausgleichung durch stellvertretende Bahnen und Ganglien- netze zuläßt. Leider läßt sich das Wenige, was wir hierüber wissen, noch kaum in praktisch verwertbare Formeln bringen. Eines wird man sagen dürfen, daß für die Ausgleichung der Störungen das Alter ein wichtiger Faktor ist. Kinder sah man bei erstaunlichen, ausge- dehnten Störungen der linken Sprachregion und selbst des ganzen linken Hemisphären-Mantels doch die Sprache erlernen, während bei alten Personen mitunter auffallend kleine Herde zerstörter Hirnsubstanz dauernde Aphasie zur Fulge haben. Zweifellos spielt auch die indivi- duelle Gelehrigkeit eine Rolle. Sehr wünschenswert wäre es, der disphatischen Störung selbst Anhaltspunkte für die Prognose ent- nehmen zu können, doch läßt sich auch was man hierüber sagen darf in wenigen Sätzen zusammenfassen. Mitunter heilen anscheinend schwere Aphasien, andere Male weichen leichtere Störungen nie mehr. Im ganzen scheinen aber die einfachen Erinnerungs-Aphasien und die Paraphasien mit dem Charakter der Zerstreutheit die beste Prognose ‘zu geben, während die ataktischen Aphasien, die amnestischen mit -Lockerung und gänzlichem Verluste der Wortbilder und die choreati- schen Formen der Paraphasie als weit schlimmer anzusehen sind. Je länger eine Störung bereits andauert, ohne sich zur Heilung anzu- schicken, oder wenn sie gar einen unter Lähmungen fortschreitenden Gang einhält und die Intelligenz dabei mehr und mehr mitleidet und verfällt, desto übler steht es, und in den Fällen letzter Art sehen wir ‚gewöhnlich das Leben selbst bedroht.«

Therapie.

Mediziner und Pädagoge teilen sich in die Arbeit, Aphatische zu ‚heilen. Sache des Arztes ist es vor allen Dingen, die Ursachen zu heben, die sich beseitigen lassen, wie z. B. die Schwäche bei Inanition,

96 A. Abhandlungen.

die Syphilis, die Hysterie usw. Wenn nach Ablauf des Krankheits- pruzesses im Gehirne die Sprachstörung eine Behandlung verlangt, so erweist sich überall da, wo überhaupt noch eine Ausgleichung möglich ist, ein methodischer Unterricht im Sprechen sehr vorteilhaft. Das ist das Feld, das der Pädagoge beackern soll. Die Arbeit ist mühe- voll und zeitraubend. Wenn auch nicht immer eine vollständige Heilung die aufgewendete Mühe lohnt, so wird doch eine Besserung der Sprachstörung in vielen Fällen dem Kranken Linderung, innere Ruhe und einen gewissen Frohsinn verschaffen, so daß die trüben Stunden des Niedergeschlagenseins für immer verbannt werden. Über . den methodischen Unterricht bei amnestischer Aphasie äußert sich Prof. Kußmaul kurz: »Bei amnestischer Aphasie läßt man die fehlen- den Wörter täglich aufsagen, indem man durch Vorsagen derselben oder ihrer Anfangssilben und Buchstaben nachhilft, und muß zugleich, wenn möglich, Wörterbücher anlegen und auswendig lernen lassen.«

In dem im Jahre 1913 erschienenen bedeutsamen Werke »Lehr- buch der Sprachstörungene hat der Verfasser Dozent Dr. Emil Fröschels-Wien über das methodische Verfahren folgende Bemerkung: »Bei amnestisch Aphasischen erstrebt die Behandlung das Ziel, daß die Patienten bein Spontansprechen die richtigen Ausdrücke finden. Man geht dabei am besten so vor, daß man einzelne Bilder vor den Kranken hinlegt, und nun. eines nach dem andern bezeichnet; dann muß er, wenn der Arzt den Namen nennt, das richtige Bild heraus. finden und dann das Bild selbst benennen. Es wird auf diese Weise gelingen, das Gedächtnis des Patienten bis zu einem gewissen Grade zu stärken; in schwereren Fällen kann man jedoch nicht jenen Wort- reichtum schaffen, welcher für die einfachsten Lebensbedürfnisse des Patienten genügt, und dann kann man ihm nacb dem Vorschlag Kuß- mauls ein Wörterbuch zur Verfügung stellen. Das wird jedoch nur dann einen Zweck haben, wenn er sich wenigstens des Anfangsbuch- stabens entsinnt. Sonst wäre es ratsam, eigene Wörterbücher anzu- legen, welche Bilder der betreffenden Gegenstände nebst den Namen enthalten würden. Voraussetzung ist dabei natürlich, daß nicht gleich- zeitig eine Alexie besteht.«

Weiteren Ausbau in der Methodik zeigt eine von Cornelius Rothe-Wien veröffentlichte Arbeit in der Zeitschrift »Neue Bahnen«, betitelt: »Die Bedeutung der Sprachheilkunde im Kriege«. Märzheft, 3, 1917. Ehe ich meinen Arbeitsplan entwarf und die methodischen Maßnahmen ausarbeitete, legte ich mir auf Grund der bei der Kranken gemachten Beobachtungen die Frage vor: Welche Erfahrungeu machen wir Gesunden an uns selbst beim Vergessen von Personen- und Sach-

Widmann: Das Krankheitsbild der amnestischen Aphasie mit Alexie usw. 97

namen? Zunächst empfinden wir die Assoziationsstörungen als etwas Unangenehmes; häufig sind wir ohne lange Hemmung in der Lage, durch eine geschickte Wendung im Satze oder durch Umschreibung den kleinen Mangel zu verdecken. Das vermag die Kranke nicht. Sie bleibt an dem Worte, das nicht frei wird, hängen, müht sich ab und gerät in Erregung, die sich bei jeder neuen Hemmung steigert. Die Patientin wird sich ihres Krankheitszustandes stärker bewußt und fühlt sich tief unglücklich. Lassen wir unsern Gedankenlauf durch das vergessene Wort hemmen, so spielt sich folgendes ab: Zunächst zeigt sich in voller Klarheit und Schärfe das Bild der Person oder des Gegenstandes vor unserm innern Auge; das Wort flammt nicht auf. Andere Hilfen tauchen auf: Ort, Zeit, nähere Umstände, Ge- spräch mit der Person. Unser inneres Ohr läßt noch einzelne Laute aus dem vergessenen Worte erklingen; wir suchen durch Schreiben das vergessene Wort zu erfassen. Wir zermartern unser Gehirn; doch endlich geben wir das Grübeln auf mit dem Wunsche, der Name werde später schon »einfallen«. Manchmal wandern wir kaum hundert Schritte, und das vergessene Wort hat sich selbst eingestellt. So ist das Vergessen von Personennamen noch in den Breiten der Gesund- heit ein sehr häufiges Ereignis. Aus dieser Selbstbeobachtung er- geben sich für die Behandlung des Kranken in bezug auf die psy- chische Einwirkung folgende Forderungen:

Lasse den Kranken nie nach dem Worte suchen, sondern springe helfend bei, indem du in der ersten Zeit das ganze Wort, später kleine Teile vorsagst!

Vermeide alles, was den Kranken in heftige Erregung bringen könnte!

Rothe erwähnt, daß sich das Nachsprechen sinnloser Lautverbin- dungen sehr bewährt habe. Er will segar im größern oder geringern Nachsprechen ein Maß für den Fortschritt erkennen. Diese Annahme mag ihre Richtigkeit haben, weil das Nachsprechen ja besonders ge- eignet ist, das geschwächte Klangbildzentrum zu kräftigen. Nach- sprechen ist ja die erste Stufe der mehr bewußten Sprachentwicklung. Mit diesen Übungen verbinde ich durch Vor- bezw. Nachsprechen die Klärung der bei der Patientin getrübten Laute o, u, ei, au, s, f, ch. Dabei spielen Spiegel wegen des optischen und gesunde linke Hand wegen des taktilen Bewegungsbildes eine ganz wichtige Rolle. Auch verunstaltete Wörter werden durch diese Übungen geklärt. Zu be- merken ist, daß zwischen Vor- und Nachsprechen eine Pause einzu- schieben ist, deren Zeitdauer man allmählich zu verlängern sucht.

Zeitschrift für Kinderforschung. 24. Jahrgang. 7

98 A. Abhandlungen.

Das Resultat dieser Übungen soll sein, daß die Kranke auf akustischem Wege (also Nachsprechen von Verbindungen, welche hinter ihrem Rücken gesprochen wurden) mit immer größeren Pausen solche Ver- bindungen lautrein öfters nachzuahmen vermag. Die Pause dauerte anfänglich !/, Minute und wurde bis 1 Minute gesteigert. Das Nach- sprechen gelang mit um so größerer Deutlichkeit, wenn ich die Laut- verbindung in einem gewissen Tonfall (musikalischer und dynamischer Azent) vorsprach. Beim Nachsprechen war ein öfterer Wechsel des Akzents zu bemerken. Einige Übungsreihen die Verbindung wurde immer 10mal nachgesprochen mögen die fehlerhaften Bil- dung vorführen:

bodo SOSO fuso suso fodu dofu bondo schoso sufo sosong fodo dufu bondo schoscho saufo fudo dofong aufo auchso seilo losei gaufo

ochso salo losa gaufu

salong lusa gaufong

mosu guso gausei geifo auchof moso gusong gusei geifong aufoch mosong gusa aufonch

Nach den »Untersuchungen aus der Psychiatrischen Klinik in Würzburg des Privatdozenten Dr. Reichardt« im 5. Heft »Über Apparate in dem Gehirn« von Prof. Konrad Rieger wird die Patientin zu den Kranken mit unbrauchbarem Sprechapparat aber normalem räum- lichen Apparat gerechnet. Patientin führt alle gewünschten Aufträge aus und vermag die gewünschten Dinge zu zeigen. Im Räumlichen ist also keine Störung vorhanden; dagegen füllt sie die Pause zwischen Auftrag und Ausführung durch stete Wiederholung des Stichwortes aus. Das Sprachverständnis ist intakt, aber die Verbindung der räum- lichen Vorstellung bezw. des Begriffes mit dem Worte ist gestört, weil das Klangbild alsbald wieder ins Unbewußte versinkt. Wenn Verworn recht hat, der behauptet, daß die im Neuron vorhandene Entladungs- masse durch Übung gemehrt wird und so Gedächtnis entsteht, so ist das Klangbild durch Unterernährung geschwächt und muß durch Übung wieder gestärkt werden.

Der besondere Fall hier ließ es ratsam erscheinen, von dem her- gebrachten Wege der »Bilder-Methode« abzuweichen. Ich stützte mich auf ein Fundamentalgesetz der neuern Psychologie, das besagt, daß nur das, was wir gefühlsmäßig erfaßt haben, unser sicheres geistiges

Widmann: Das Krankheitsbild der amnestischen Aphasie mit Alexie usw. 99

Eigentum wird. »Ein durch rein intellektuelle Momente bestimmtes, völlig affektloses Wollen ist ein psychologisch unmöglicher Begriff.« »Die Sinne richten sich mehr dem Geschehenden und Wechseln- den zu als dem Beharrenden, also der Sache mehr als dem Bilde.« Damit soll nicht gesagt sein, daß das Bild ganz verbannt werden solle; aber die zentrale Stellung, die man ihm in diesem Spezialfache einräumt, möchte ich ihm nehmen, da ja bekannt ist, daß eine größere Zahl von Teilbegriffen bei dem Umgang mit den Dingen sich mit dem Wortklangbild verknüpft. Der Unterricht wurde in der Wohnung der Kranken erteilt. Das Nächstliegende war jetzt, die Patientin wieder vertraut zu machen mit den Namen der im Zimmer befindlichen Gegenstände, die ihr lieb und teuer sind. So wurden Baustoffe für das Gedächtnis geliefert durch direkte Führung an die Dinge selbst und mittels Vor- und Nachsprechens der Namen neue Verbindungen hergestellt. Auf Grund der Tätigkeiten des Gehens, Stehens, Sitzens wurden die Gegenstände sprechend gruppiert und mit musikalischem Akzente die Ortsbestimmung als das Wichtige hervorgehoben.

Ich gehe: zum Büfett, zum Tische, zum Fenster, zum Stuhle .

Ich stehe: beim Sopha, beim Stuhle, beim Vorhange ...

Ich sitze: auf dem Stuhle, auf dem Sopha, am Tische, am Ofen .

Wenn bei Neuerwerbung des Sprachschatzes die Patientin auch nicht alle Stufen der Sprachentwicklung des Kindes durchläuft, emotionell - volitionale Stufe, Intellektualisierung der emotionellen Sprache oder assoziativ-reproduktive Stufe, logisch-begriffliche Sprach- stufe so ist doch hervorzuheben, daß Sätze mit Wunschcharakter anfangs eine Rolle spielen:

Gehe zum Büfett! Stehe zum Spiegel! Sitze auf den Stuhl! Bitte, gehen Sie zum Fenster! Bitte, stehen Sie zum Ofen! Bitte, sitzen Sie auf das Sopha!

Diese Forderungen bereiteten der Kranken augenscheinlich großes Vergnügen; denn jetzt hatte die Sprache für sie wieder praktische Bedeutung erhalten.

Dann folgten Übungen im Satzsprechen, wobei die Patientin immer noch genötigt war, auf die betreffende Person zu deuten, um eine rasche Assoziation des Fürwortes zu erzielen; die entsprechende Ausführung der Handlung ging dem Sprechen immer noch voraus:

Du stehst beim Fenster. Ich sitze am Tische. Sie gehen zum Ofen. Wir gehen zur Türe.

Als Patientin eine gewisse Sicherheit des mündlichen Ausdrucks für die Gegenstände im Zimmer erlangt hatte, wurde versucht, ein

7*

100 A. Abhandlungen.

logisches Ganzes mit vorausgehender Handlung sprachlich darzustellen. Das Thema lautete: Vorbereitung für den Frühstückstisch.

Ich gehe zum Büfett. Ich hole den Schlüssel. Dann stecke ich den Schlüssel hinein. Ich drehe den Schlüssel herum. Ich öffne das Büfett. Dann hole ich die Tasse. Ich stelle die Tasse auf den Tisch. Dann stelle ich die Zuckerdose auf den Tisch. Bitte bringen Sie Kaffee! Bitte die Milch! Der Löffel liegt bei der Tasse.

sitzen stehen gesessen essen . gestanden

Der Kaffee, die Milch, der Zucker.

Die Tasse, der Löffel, die Kanne, die Dose.

Die Kaffeekanne, die Zuckerdose.

Der Stuhl, der Tisch, das Tischtuch

auf dem Tische, auf dem Stuhle, beim Tische.

Ich sitze am Tische. Bitte, sitze auf den Stuhl! Du stehst beim Stuhle Sie sitzen am Tische. Wir essen. Bitte ab- |

räunen! |

Hilfe mußte meist gebracht werden zum richtigen grammatischen Fügen der Wörter im Satze: Falsche Anwendung des Artikels und Deklination; häufige Verwendung des Infinitivs statt des abgewandelten Zeitwortes.

Mit der Besserung des Sprechvermögens machte sich auch das

Widmann: Das Krankheitsbild der amnestischen Aphasie mit Alexie usw. 101

Bedürfnis geltend für Lese- und Schreibversuche. Im engsten An- schluß an den Sprachstoff entstand bezw. entsteht eine Fibel; über die Art der Durchführung möge eine Seite davon als Beispiel zur Darstellung kommen. In den Vordergrund stelle ich das Lesen der Wortbilder; doch werden kleine synthetische Übungen nicht außer acht gelassen; diese finden mehr bei den Schreibübungen Verwendung.

Dem Nachsprechen kleiner Silben schließen sich Diktate an: ab, af, fa, ba... Dabei sind die beim Diktat zur Verwendung kommenden 3 oder 4 Buchstaben der Patientin vorgelegt, so daß dem akustischen Gedächtnis die Aufgabe zufällt, aus dem Silbenklang die richtige An- einanderreihung der einzelnen Buchstaben zu bewerkstelligen. Links- händig ist die Kranke jetzt so weit, daß sie manchmal schon 2 Worte Artikel mit Substantiv aus dem Sprachunterricht auffaßt und niederzuschreiben vermag, wenn sie kurz vorher sich noch der opti- schen Stütze bedienen durfte. Neben den Sprech-, Lese- und Schreib- übungen geht der Versuch, durch das Dominospiel die Verknüpfung von Zahlbegriff und Zahlwort von 1—10 fester und rascher zu ge- stalten, so daß das Durchlaufen der Zahlenreihe nicht mehr nötig ist.

Diese erfolgreichen Übungen lassen auf Grund der bisherigen Fortschritte der Kranken die Hoffnung aufsteigen, daß durch die unterrichtlichen Maßnahmen voraussichtlich eine gänzliche Heilung oder doch eine wesentliche Besserung des Zustandes in sprachlicher und gemütlicher Hinsicht zu erwarten ist.

Quellenangabe.

. Richter, Dr. Elise, Wie wir sprechen. Leipzig, G. Teubner.

Kußmaul, Prof. Dr. Ad, Die Störungen der Sprache. Leipzig, Vogel.

Beßmer, Jul., S. J., Störungen im Seelenleben. Freiburg, Herder.

. Meumann, E, Entstehung der ersten Wortbedeutung. Leipzig 1902.

. Reichardt, Privatdozent Dr. M., Über Apparate im Hirn. Arbeiten aus der Psychiatrischen Klinik Würzburg. 5. Heft. 1909. Leipzig, Fi cher.

6. Fröschels, Dr. E., Lehrbuch der Sprachheilkunde. Leipzig und Wien, Franz Deuticke, 1913.

7. Rothe, K. Cornelius, Bedeutung der Sprachheilkunde im Kriege. Neue Bahnen. Heft 3. 1917.

. Liepmann, Dr. H., Das Krankheitsbild der Apraxie.

. Zeitschrift für Kinderforschung. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer

& Mann).

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102 B. Mitteilungen.

B. Mitteilungen.

1. Nationale Einheitsschule, Jugendkunde und Berufs- beratung an höheren Scnulen.!)

Von Oberlehrer Dr. W. Krassmöller, Berlin- Wilmersdorf.

In der gegenwärtigen Bewegung?) auf dem Gebiete des Schnlwesens treten drei Hauptströmungen deutlich hervor: die Forderung der nationalen Einheitsschule, die Jugendkunde mit besonderer Berücksichtigung der Be- rufseignung und die Berufsberatung an den höheren Schulen. Daneben gehen auch TInterströmungen, wie z. B. die Nenregelung des Berechtigungs- wesens, die neue Jugendbewegung, die (durch die Revolution einstweilen in Frage gestellte) militärische Ausbildung unserer Schuljugend, der Kampf um die Existenz des Gymnasiums usf., Probleme, die mit den ersteren in engstem Zusammenhang stehen. Sie haben nicht etwa in dem gegen- wärtigen Weltkriege ihren Ursprung, sondern sie standen schon recht lange vor dem Kriege zur Diskussion; nur drängt dieser mit Macht zur Ent- scheidung. Auch finden sich mancherlei Unterschiede zwischen der päda- gogischen Bewegung von heute und der früheren. Während ehedem die Wünsche und Forderungen immer nur einen Teil des Schulwesens betrafen, gehen sie heutzutage auf die Gesamtheit unserer Schulorganisation aus und streben ein einheitliches, deutsches Erziehungswesen an. Vor dem Kriege traten in der Hauptsache nur vereinzelt die Fachmänner in die Schranken, heute ist das anders: Pädagogen, Politiker, Mediziner, Theologen, Offiziere, Nationalökonomen, Eiternkreise, ja selbst die Jugendlichen, um die es sich handelt, wie überhanpt ein größeres gebildetes Laientum er- scheint auf dem Plane, um an den großen Reformen mitzuarbeiten. Der Politiker fordert eine Schnle, die mehr dem Leben angepaßt ist, und vor allem seinen Parteiforderungen Rechnung trägt, der Offizier die militärische Ertüchtigung unserer Jugend, der Mediziner tritt für die Verbesserung und Hebung der Schulhygiene ein, der Nationalökonom rechnet mit jedem Schüler als einem ökonomischen Faktor unseres Wirtschaftslebens usw. Diese erneute regere Beteiligung der weitesten Kreise ist an sich eine erfreuliche Erscheinung und spricht jedenfalls für die außerordentlich große Bedeutung und Notwendigkeit der Reform; auch schafft sie große Klärung, kann aber auch Verwirrung und Disharmonie hineinbringen und so die Einheitlichkeit des Reformwerkes gefährden. Eine andere Gefahr ist viel- leicht in dem gegenwärtigen Kriege selbst zu finden. Man hüte sich davor zu glauben, daß er mit seinen Folgen einen zu großen Einfluß auf die gegenwärtigen Strömungen ausübt. Der Krieg ist eben ein Ausnahme- zustand, in ihm allein ist nicht der Maßstab für die pädagogischen

1) Vergl. Saupe, Die Einheitsschule mit besonderer Berücksichtigung des Auf- stiegs der Begabten. Zweite, vermehrte Auflage. 102 S. 3,60 M. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann)

2) Die Arbeit wurde vor der politischen Krisis niedergeschrieben.

1. Nationale Einheitsschule, Jugendkunde und Berufsberatung usw. 103

Neuerungen zu suchen, für sie sind vielmehr die Verhältnisse nach dem Kriege ausschlaggebend, die man freilich heute nur schwerlich übersehen kann. Die Forschungen und Debatten können daher jetzt noch nicht zum Abschlnß gebracht, wohl aber im Flusse gehalten werden. Dabei dürfen wir auch jene Probleme, die schon lange vor dem Kriege in Angriff ge- nommen, durch ihn aber leider in den Hintergrund gedrängt worden waren, nicht außer acht lassen. Ich denke da in erster Linie an die Frage der Erziehung unserer sittlich gefährdeten Jugend, die Fürsorge unserer schulentlassenen Jugend, den Ausbau unserer Hilfsschulen und des gesamten Heilerziehungswesens. !)

Zur Orientierung über die reichen und vielseitigen Bestrebungen unserer Schulreforiner ziehen wir drei Sammelwerke heran: 1. Die Schule der Zukunft (8 Vorträge, gehalten auf der Versammlung des Goethebundes in Berlin am 31. Dezember 1911, Berlin-Schöneberg 1912), 2. Die deutsche höhere Schule nach dem Weltkriege, Beiträge zur Frage der Weiter- entwicklung des höheren Schulwesens, gesammelt von Dr. J. Norrenberg, (Leipzig, Tenbner, 1916) und 3. Die Deutsche Schule und die deutsche Zukunft (Leipzig, Verlag von Otto Nemnich, 1916).

Einleitend bemerkt Ludwig Fulda in dem erstgenannten Buche, daß der Goethebund in Berlin für eine freiere und frohere Schule ins Feld zieht und somit eine nationale Pflicht erfüllt. Die Forderungen des Goethebundes formuliert Professor Gerhard Helmers, Bremen, folgender- maßen. Die dentsche Schule bedarf

1. der einheitlichen, alle äußeren Standesvorrechte ausschließenden Organisation von der Volksschule bis zur Universität,

2. der Durchführung des konfessionslosen Unterrichtsplans in dieser großen nationalen Schule und,

3. um in ihr das freie Aufwärtsdringen aller Volkselemente, auch der unbemittelten, zu sichern, der Unentgeltlichkeit des gesamten staat- lichen Unterrichts. i

In einem weiteren Vortrag »Schule und Idealismus« macht Wilhelm Ostwald Front gegeu die rückständigste aller Schulformen, das philologische Gymnasium, das mit der Zeit nicht Schritt gehalten hat. Das wichtigste Postnlat unserer gegenwärtigen Schnlverhäitnisse ist nach seiner Meinung die Tatsache, daß jeder Mensch nichts Dringenderes in seinem ganzen Leben zu tun hat, als das Glück zu suchen. Die Schule muß daher für das Glück der ihr anvertrauten Jugend sorgen, was sie bisher nicht getan hat. Die Direktiven für eine zukünftige deutsche Schule, die Wilhelm Bölsche in seinem Vortrag über Schule und Vererbung gibt, sind zwar an sich ideal gedacht, aber leider zur praktischen Durchführung wenig geeignet. Dasselbe gilt auch von den Vorschlägen, die Dr, Gustav Wyneken in seinem Vortrag »Die freie Schulgemeinde«e macht. ?)

1) Vergl. hierzu: Chr. Ufer, Schulerziehung nach dem großen Kriege, Heft 2, 8. 9—13 aus der Sammlung: Das neue Deutschland in Erziehung und Unterricht. Leipzig, Veit & Comp.. 1918.

?) Siehe auch: Trüper, Zum Verständnis Berthold Ottos, Ztschr. f. Kdf. 22. Jahrg., Heft 4/5, S. 160, 1917. Langensalza, H. Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

104 B. Mitteilungen.

Dr. Petzoldt verlangt eine unmittelbare Weiterbildung der heutigen höheren Schule und die Sondererziehung der Begabten.

Über die deutsche Volksschule spricht der bekannte Generalsekretär J. Tews. Nach seiner radikalen Auffassung ist die von ihm gewünschte Volksschule eine Schule, die wir überhaupt noch nicht haben. Die wirk- liche Volksschule soll und will dasselbe, was jede andere Schule für Kinder desselben Alters will. Sie soll unsere Kinder einführen in die Kultur der Gegenwart. Mit aller Schärfe polemisiert er gegen die Vor- schulen als Standesschulen, neben denen die Volksschulen nur »Armen- schulen« sind. Diese Degradation der Volksschule ist ein großes Unrecht gegen die große Menge der Bevölkerung. Es fehlt den begabteren Volks- schülern die Möglichkeit, sich eine höhere Bildung anzueignen. Der Volksschullehrerstand gehört dahin, wo überhaupt die Kultur lebt, er ge- hört mit seiner allgemeinen Vorbildung in die allgemeinen Bildungs- anstalten, er gehört mit seiner Fachbildung dahin, wo die gebildeten Be- rufe überhaupt .ihre Fachbildung erhalten, in die Universität oder in die pädagogische Hochschule. Die Volksschule ist frei zu machen von der geistlichen Schnlanfsicht. Seine Forderungen gipfeln in den Worten: »Wir müssen diesen Gesindetlisch aus dem Schulhause beseitigen. Wir dürfen nicht den Millionen unseres Volkes Armelentekost reichen, und wir dürfen nicht Barrieren aufrichten, die auch den Fähigsten, die von unten kommen, den Aufstieg unmöglich machen. Freie Bahn jedem Talent, auch dem Talent, das aus der Tiefe kommt.«

In seinem Schlußwort faßt Professor Dr. Alfred Klaar die Wünsche des Goethebundes dahin zusammen, daß der neue freie Geist, der schon lange um unsere Schulen wirbt, mit Hilfe aller vorwärtsstrebenden Kräfte sich ihrer bemächtigt, daß in unseren Schulen das Lebendige an Stelle des Mechanischen, das geistige Können an Stelle des toten Wissens, daß Liebe und Vertrauen an Stelle von Furcht und Pein treten, und daß die Bildung zu freier, tüchtiger Menschlichkeit an die Stelle der Abrichtung gesetzt werde.

Gegeniber manchen dieser »modernen« Forderungen des Goethebundes- muß doch hingewiesen werden auf die alten »konservativen« Schulverfassungs- und Schulorganisationsvorschläge, wie sie mit einer seltenen Gründlichkeit, Umsicht und Weitblick F. W. Dörpfeld in einer Reihe umfangreicher Schriften (Ges. Werke, Gütersloh, Bertelsmann) seit dem Erscheinen seiner »Freien Schulgemeinde auf dem Boden der freien Kirche im freien Staate« im Jahre 1863 bereits und immer wieder vertreten hat. Sie sind leider in keiner Weise bis jetzt überholt, so notwendig auch ihre Ergänzung und Fortbildung ist. !)

In dem zweiten von uns oben erwähnten Sammelwerk von Norrenberg werden uns auf 269 Seiten 27 Aufsätze, meist aus der Feder praktischer Schulmänner vorgelegt, die die innere Neugestaltung des Unterrichts auf der höheren Schule behandeln. Wie das in der Natur eines solchen

1) Siehe auch: J. Trüper, Friedrich Wilh. Dörpfelds Soziale Erziehung in Theorie und Pıaxis, Gütersloh 1901 und »Die Familienrechte in der Öffentlichen Erziehung«e. 2. Aufl. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann),

1. Nationale Einheitsschule, Jugendkunde und Berufsberatung usw. 105

Sammelwerks liegt, kann es keinen Anspruch anf Einheit und Geschlossenheit machen, wohl aber soll es, wie der Herausgeber meint, »zu frischem und frohem Schaffen auf dem Gebiete der Erziehung und des Unterrichts neue Anregung« geben. Ich will nur einige Aufsätze heransgreifen, wie sie mir für unsere Zwecke dienlich zu sein scheinen. Fischer (München) wirft die beiden Fragen auf: »Was sollen wir aus der Kriegszeit für unsere höhere Schule lernen? Was im Hinblick anf die durch den Krieg vor- bereitete künftige Lage Deutschlands für sie fordern?« und findet die Antwort in folgender Formel: »Die dentsche Erziehung muß aus dem Kriege lernen, stärker und planmäßiger als bisher für die körperliche Widerstandsfähigkeit, die Berufstüichtigkeit und Berufsfreude und das wache verantwortliche Standesbewußtsein der kommenden Geschlechter zu sorgen. Sie darf dabei die religiöse und im besten Sinne dieses Wortes humanistisch- ethische Grundlage nicht verlieren oder preisgeben, die sie bisher schon hatte. Sie muß festhalten an dem Glauben an ein überindividuelles Reich der Vernunft und Werte, das allmählich zu verwirklichen die Aufgabe des Menschengeschlechts ist, wie dies gerade uns Deutsche unsere Größten, Luther. Goethe, Kant, gelehrt haben.« (S. 14.) Man strebt »nach natio- naler Grundlage, nationalem Charakter, äußerer höherer Bildung, nach einer deutschen höheren Schule, deutsch nicht nur in ihrem Erfolg, sondern auch in ihrem Bildungsinhalt und Bildungsmitteln« (S. 22). Von ganz besonderer Bedeutung sind die Darlegungen Ferdinand Jakob Schmidts über das Verhältnis der Universität zur höheren Schule. Sehr richtig be- merkt Schmidt, daß die Universität »den höheren Lehrerstand heute zwar mit dem nötigen fachunterrichtlichen Wissen, jedoch nicht mit dem wichtigsten, nämlich dem hinreichenden wissenschaftlichen Verständnis für die erzieherische Berufstätigkeit ausrüstet. Fachlehrer, nicht wissenschaft- lich gerüstete Pädagogen übergibt die Universität der Schule, und darum hat sich diese auch immer mehr zu einer fachunterrichtlichen statt zu einer geisteserzieherischen Bildungsanstalt entwickelte. (S. 39.) Die höhere Schule muß nicht nur Unterrichtsschule, sondern auch zugleich Erziehungsschule sein. Die Universität hat die Aufgabe, tüchtige Pädagogen der Schule zu schicken, und zu dem Zweck muß die Pädagogik zu einem wirksamen Gliede des wissenschaftlichen Universitäts- körpers erhoben werden, eine Forderung, die die Behörde endlich einmal zu erfüllen hat. Hierbei möchte ich an die so richtigen Ausführungen Trüpers erinnern, die jener treffliche, von Energie und heißer Liebe zu Volk und Staat erfüllte Pädagoge, der ein gründlicher Kenner der deutschen Schule ist, vor mehr als 11 Jahren gemacht hat:

»Blicken wir in ein Vorlesungsverzeichnis der Universitäten hinein. Ich greife dafür dasjenige der Universität Jena vom Wintersemester 1906/7 heraus. Es belehrt uns, daß es 4 Fakultäten gibt. Die eine Fakultät widmet sich dem religiösen Leben des Menschen, nach Theorie und Praxis: es ist die theologische mit 9 Dozenten. Die zweite beschäftigt sich in gleicher Weise mit den Rechtsverhältnissen der Menschen und zählt 10 Dozenten, die dritte befaßt sich mit den menschlichen Krankheiten und zählt 33 Lehrer. Die vierte, die philosophische Fakultät, ist mehr ein

106 B. Mitteilungen,

Sammelbegriff für verschiedene besondere Zweige der Wissenschaften mit 60 Dozenten.

Die Wissenschaften, welche die drei erstgenannten Faknltäten ver- treten, sind sämtlich angewandte Wissenschaften. Die vierte Fakultät, die philosophische, beschäftigt sich dagegen fast ausschließlich mit Grund- wissenschaften, mit Geschichte, Nationalökonomie, Geographie, Naturwissen- schaften, Sprach wissenschaften und mit der Wissenschaft aller Grund wissen- schaften: der eigentlichen Philosophie. Allerdings sind in dieser philo- sophjschen Fakultät auch die werdenden Kinder der angewandten Wissen- schaften mit untergebracht. So hat die Landwirtschaft, also die Pflanzen- und Viehzucht, ihre besonderen Lehrstühle und ihre besonderen Institute, Laboratorien, Versuchsfelder usw. In dieser philosophischen Fakultät hat auch die Pädagogik ihren dürftigen Un‘erschlupf gefunden. An manchen Universitäten nimmt sie hier aber keinen anderen Platz ein, als wie schon Dörpfeld vor einem halben Jahrhundert betonte das Tanzen und Fechten, das so nebenbei gelehrt und gelernt wird, obgleich es damals schon eigene Fechtlehrmeister gab, aber -hente an vielen Universitäten noch keine eigenen Pädagogen, denn Pädagogik wurde damals und wird noch heute an einigen Universitäten von einem anderen Professor nur nebenbei gelesen.« 1)

In den folgenden Aufsätzen wird über die einzelnen Lehrfächer von Fachpädagogen Rechenschaft gegeben. Sie alle tragen ihre Anschauungen mit Begeisterung und Liebe für ihr Fach vor, stellen höhere Forderungen und betonen die Wichtigkeit ihres Faches usw. Dadurch aber wird nur das Lehrziel der höheren Schule höher gesteckt und das Erziehnngsziel weiter zurückgedrängt. Keiner aber von den gewiß hoch zu schätzenden Fachpädagogen kommt anf den Gedanken, die Schäden der Schule aufzu- decken, Mittel und Wege anzugeben, sie zu beseitigen. Es mutet einen geradezu merkwürdig an, wenn man in dem Schmidtschen Aufsatz den Satz liest, die Ziele des fachwissenschaftlichen Unterrichts dürfen nicht Selbstzweck werden, sondern sie müssen nach dem Zentralzweck der geistigen Persönlichkeitserziehung bemessen werden, oder an anderer Stelle, die Unterrichtsschule mnß zur Erziehnngsschnle ausgestaltet werden, und dann einem noch in ungefähr 13 Aufsätzen eingehend auseinandergesetzt wird, wie das Fachgelehrtentum auf der Schule weiter ausgebreitet werden kann.

Das letzte der drei genannten Sammelwerke bietet mehr Interesse und ist auch seiner ganzen Anlage nach inhaltlich reicher als die beiden andern, insofern nämlich, als hier Probleme berührt werden, die tief in das deutsche Erziehungswesen eindringen. U. a. behandelt J. Tews die Familienerziehung und macht wohl in der richtigen Erkenntnis ihrer hohen Bedeutung den Vorschlag, zur wirtschaftlichen Sicherung der Familie Er- ziehungsbeihilfen in der Weise zu geben, daß das Einkommen sich mit der Zahl der Kinder erhöht. Andere Aufsätze weisen auf das Versagen der Erziehung in der Familie hin und versuchen diese Lücke auszufüllen.

1) Zur Wertschätzung der Pädagogik in der Wissenschaft wie im Leben. Bei- träge z. Kdf. Heft45. Langensalza, Beyer & Söhne (Beyer & Maun), 1907. 8.9 u. 10.

1. Nationale Einheitsschule, Jugendkunde und Berufsberatung usw. 107

In dieser Richtung empfiehlt Lilli Droescher die Kindergärten, Kühne die Volksschule mit Handfertigkeitsunterrichtt und E. Gnanuck-Kühne nach der Schulentlassung, eine Art Dienstjahr der Frau, in dem die Mädchen gemeinschaftlich erzogen werden sollen. Mit der Frage des Dienstjahres der Frau beschäftigt sich Agnes Gosche, indem sie die Notwendigkeit betont, daß bei den Frauen in erster Linie der Blick für die wirtschaftlichen Erfordernisse des Volkshanshalts zu schärfen ist. Helene Lange stellt Vergleiche an zwischen dem Dienstjahr des Mannes und dem der Frau und fordert eine einjährige Ausbildung der deutschen Frau in Hauswirtschaft, Gesundheitspflege, Kinderpflege und Bürgerkunde, Vermehrung der landwirtschaftlichen Haushaltungsschulen und Errichtung von Frauenschulen. Die Forderungen sind nicht gering; wie sie aber praktisch durchführbar sind, wird nicht weiter gezeigt. Nach der psycho- logischen Seite hin ist der Aufsatz von Marie Martin recht lesenswert. Sie spricht von den Gefahren, die sich durch die Nengestaltung des Mädchenschnlwesens gezeigt haben: noch mehr wie bei den Knaben tritt bei den Mädchen das leidenschaftliche Haschen nach dem »Interessanten« hervor. Diese nicht geringe Gefahr ist nach ihr durch Schulung in der Logik und stramme Führung zu beseitigen. Was sie ferner über die noch heute bestehende »doppelte Morale und die gesellschaftlichen Mißbränche sagt, die immer noch in der Mälchenschule eine Stütze finden, ist richtig und verdient, gehört zu werden. Anch das Problem der Einheitsschule nimmt in diesem Buche einen größeren Raum ein; da wir diese Frage in einem andern Zusammenhang behandeln, so wollen wir hier nur auf die Vorschläge und die Meinungen bekannter Pädagogen wie Rein, Lietz, Laner, v. Riepel, Gandig, Hillebrand und Rudolf Lehmann hin- weisen. Interessant und echt konservativ ist der Aufsatz des bekannten Abgeordneten v. Heydebrand. Er warnt davor, an den Grundlagen des preußischen Schulsystems, das sich seit hundert Jahren bewährt habe, etwas zu ändern; die Grundlage müsse unbedingt stehen bleiben, allenfalls könnten nach reichlicher und gründlicher Erwägung am System kleine Änderungen vorgenommen werden. Weitere Aufsätze aus der Feder von Fachpädagogen fordern mehr Raum in dem Lehrplan für das Deutsche wie für Geschichte und Philosophie.

So haben wir in kurzen Umrissen ein Bild von der gegenwärtigen pädagogischen Page zu zeichnen versucht. Aus der Fülle der Forderungen und Wünsche heben sich drei Probleme stark ab: 1. die nationale Einheits- schule, 2. die Jugendkunde mit besonderer Berücksichtigung der Berufs- eignung und 3. die Berufsberatung an höheren Schulen.

Die nationale Einheitsschule.')

Die Einheit einer Nation ist Lebensbedingung für sie. In den frühesten Zeiten suchte man sie sich durch gesetzliche Maßnahmen zu

1) E Saupe hat in verdienstvoller Weise das Problem von der Einheitsschule nach allen Seiten hin gründlich beleuchtet (Beitr. zur Kinderf. Heft 143. Langen- salza, Hermann Beyer & Söhne [Beyer & Mann]); die folgenden Ausführungen stellen nur einige Ergänzungen vom Öberlehrerstaudpunkt dar.

108 B. Mitteilungen.

erzwingen wie z. B. im alten Sparta, im Mittelalter verkörperte die Kirche die Einheit in sich, indem sie alle Kräfte des Volkes in sich vereinigte und auch alle Heilsmittel von sich ausgehen !ieß. Seit der Kirchenspaltung ist es uns mit dem Fortschreiten aller kulturellen Bestrebungen immer mehr zum Bewußtsein gekommen, daß die Einheit einer Nation von der einheitlichen Erziehung des Volkes abhängt. Diese nationale einheit!iche Erziehungsarbeit will nun die Einheitsschule leisten. Damit ist das Problem von der nationalen Eiuheitsschule gestellt und seine Berechtigung für ihre Anhänger erwiesen. Dagegen herrschen tiber ihre Organisation bei Freunden und Gegnern die mannigfaltigsten Auffassungen, so daß sich in der Haupt- sache zwei wesentliche Punkte als allen Anhängern gemeinsam heraus- schälen lassen: 1. daß die ganze Jugend ohne Unterschied der Konfession, Abstammung und des sozialen Ursprungs dem Unterricht in ein und der- selben Schule (Grundschule) zugeführt werden soll, 2. daß der Unter- richtsplan dieser allgemeinen Schule sich möglichst einheitlich aufbaue, so daß sie der Unterbau für jede höhere Schule ist und den Übergang zur höheren Schule besonders für die Begabten ohne weiteres und ohne jeden Zeitverlust ermögliche. Gerade in dem letzten Punkte gehen aber die Meinungen der Fachmänner weit auseinander, ja sie laufen sich sogar häufig zuwider. Um nun einige Klarheit in das Problem hineinzubringen, müssen wir es zunächst vom historischen, dann von dem pä-lagogischen, sozialpolitischen, wirtschaftlichen und schließlich vom schulhygienischen Standpunkt aus beleuchten.

Der historische Standpunkt. Schon im alten Attika zur Zeit des Perikles gab es eine Einheitsschule, wenn auch nicht in unserem heutigen Sinne, insofern als nur die Söhne höherer Stände unter gleichen Be- dingungen zu dem gleichen Ziele geführt wurden; freilich trug diese Schule privaten Charakter, einen Schulzwang gab es noch nicht. Der Homer und nebst ihm Hesiod waren die Einheitsfibeln, aus denen man alles erlernen zu können glaubte, was man fürs Leben nötig hatte: Häuser- und Flottenbau, Landwirtschaft, Kunst und Musik, Staats- und Feldherrn- kunst, ja sogar Religion; »von ihnen kam die gesamte Bildung und schließ- lich auch die Wissenschaft in das Leben«.!) Diese‘ Schule sollte ähnlich wie die deutsche Volksschnle ohne fremde Sprachen eine gediegene, all- gemeine Volksbildung verbreiten. Die Einheit der Schule entsprach damals auch völlig dem demokratisch regierten Staate Attikas, in dem Gleichheit und Freiheit als höchste Güter einer Nation angesprochen wurden. Ein Wechsel der Verfassung mußte natürlich auch eine Änderung im Schul- system zur Folge haben. Soll der Staat von den Besten der Nation regiert werden (Aristokratie), so muß es auch eigene Schulen geben, in denen die Kunst des Regierens gelehrt wird. Die Schüler aber müssen die Be- gabtesten, die Willensstärksten und die Mutigsten (Platos Politeia). sein. Damit ist im alten Attika die erste Differenzierung der Schule eingetreten.

Den Gedanken einer Einheitsschnle griff dann erst wieder Comenius zur Zeit des dreißigjährigen Krieges auf. Die von ihm aufgestellte Schul-

1) Dionys v. Halikarnaß an C. Pompeius $ 13.

1. Nationale Einheitsschule, Jugendkunde und Berufsberatung usw. 109

organisation ist durchaus einheitlich und gliedert sich in 4 Stufen von je sechsjähriger Dauer: die Mutterschnle, die Muttersprachschule, die Latein- schule und die Akademie; nicht der Stoff ist verschieden, sondern nur die Art der Behandlung, und zwar dienen die beiden ersten Stufen der gesamten Jugend und sind auch für die, welche höhere Ziele verfolgen, Zugangsstufen. Mit dieser Forderung tut Comenius bewußt einen Schritt über seinen Herborner Lehrer Alstedt hinaus, der aus praktischen Gründen einst solche Einheitsschulen verworfen hatte: soziale Gesichtspunkte ver- anlaßten Comenius zu diesem Schritt; denn so verliert die Volksschule »das Gepräge einer Armen- und Proletariatsanstalt« (H. Hoffmeister, Comenins und Pestalozzi als Begründer der Volksschule, Leipzig 1877) und wird vermieden. »daß durch Verschiedenheit der Anfänge eine Kluft verschiedener Grundbildung zwischen den Gliedern und Ständen des Volkes gerissen wirde. (P. Kleinert, A. Comenius in »Theologische Studien und Kritiken«. 1878. S. 7—48.) !)

Die Bestrebungen des Comenius wurden später von den heißblütligen französischen Pädagogen der Revolutionszeit aufgenommen, Die Formel von einer einheitlichen französischen nationalen Erziehung wurde aber nur ein bekanntes Schlagwort, ohne daß es über eine bloße Theorie hinaus- gekommen wäre. Dagegen dringt der Gedanke des Comenius tief in das Innere des größten Volkserziehers. Pestalozzi, worauf wir wohl nur hinzuweisen brauchen. Die Zeit der Wielergeburt Preußens ließ nun wieder laut den Ruf nach einer nationalen Einheitsschule erklingen, und diese fand in Johann Gottlieb Fichte einen eifrigen Vertreter. Die Familienerziehung ist nach ihm aufzuheben, alle Erziehung müsse eine öffentliche sein, wie bei Plato, nur solle nicht, wie bei diesem, eine geringe Anzahl der Bildung teilhaftig werden, sondern die Erziehung müsse eine allgemeine sein. Diese allgemeine und öffentliche Erziehung sei zunächst eine National-, sodann aber auch eine Staatsangelegenheit. Nur Begabung entscheidet, wenn ein Zögling für eine führende Stellung im Staate aus- gebildet werden soll. Der Staat mit seinen Zwangsmitteln leitet die Nationalschule, und den Eltern ist jede Einmischung in die Erziehung ihrer Kinder untersagt. Das ist die schroffste Form des Vorschlages einer einheitlichen Nationalerziehung, die die Geschichte der Pädagogik kennt. Fichte verlangt also nicht bloß eine nationale Einheitsschule, sondern eine nationale Zwangserziehungsanstalt. Sie findet ihre Erklärung in Fichtes Überzeugung, daß das preußische Volk aus der Fremdherrschaft des Korsen zu einem eigenen nationalen Dasein sich nur dadurch retten könne, daß Staat und Volk durch staatliche Erziehungsarbeit zusammen- geschmolzen würden. Unterstützt wurde Fichte zum Teil von dem Frei- herrn von Stein. »Wirde, sagt dieser, »durch eine auf die innere Natur des Menschen gegründete Methode jede Geisteskraft von innen heraus ent- wickelt und jedes edle Lebensprinzip angeregt und genährt, alle einseitige

1) Nach W. Rein, Encyklopädisches Handbuch der Pädagogik. 2. Aufl. (Artikel von A. Nebe, Bd. I, S. 920.) Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1903.

110 B. Mitteilungen.

Bildung vermieden, und werden die bisher oft mit größter Gleichgültigkeit vernachlässigten Triebe, auf denen die Kräfte und die Würde des Menschen beruht, sorgfältig gepflegt. so können wir hoffen, ein physisch und moralisch kräftiges Geschlecht aufwachsen und eine bessere Zukunft sich auftun zu sehen.e Ferner heißt es in Süverns Gesetzentwurf (1819), »die öffent- liche allgemeine Schnle solle mıt dem Staat und seinem Endzweck in dem Verhältnis stehen, daß sie als Stamm- und Mittelpunkt für die Jugend- erziehung des Volkes die Grundlage der gesamten Nationalerziehung bilde«. Weiter heißt es in dem Eutwurf, es solle sich die Schule in drei Stufen gliedern: allgemeine Elementarschule, allgemeine Staatsschule und Gymna- sium. »Diese drei sind als eine einzige Anstalt zur Nationalerziehung zu betrachten und in inneren organischen Zusammenhang zu bringen.e Es blieb aber damals bei dem Entwurf; die Volkserziehungsgedanken waren noch zu unbestimmt und unvollständig, als daß sie hätten zur Durch- führung gelangen können. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahr- hunderts wurde im Deutschen Reich nach 1871 eine praktische Ver- wirklichung der Volkserziehungspläne wieder aufgenommen, aber nicht in der Weise, daß es zur Gründung einer nationalen Einheitsschule gekommen wäre, sondern andere Organisationen traten zur Pflege der Volksbildung ins Leben. So wurde im Jahre 1871 die »Gesellschaft zur Verbreitung der Vulksbillung« gegründet, die noch heute besteht und deren Generalsekretär der bekannte Berliner Volksschullehrer Johannes Tews ist. Andere Volksbildungsvereine wurden gegründet, Volksbibliotheken gestiftet usw. Am 6. Oktober 1886 wurde auf Anregung von Professor Dr. Koschwitz (Greifswald) der deutsche Einheitsschulverein gegründet. Erst seit Aus- bruch des gegenwärtigen Krieges tritt der Vorschlag einer nationalen Einheitsschule wieder in den Brennpunkt der pädagogischen Diskussion. Im Sommer 1915 ist dem deutschen Reichstag ein Antrag zugegangen, betreffend einen Gesetzentwurf, »der das gesamte dentsche Schulwesen auf Grund der Einheitlichkeit, Unentgeltlichkeit und Weltlichkeit und nach den Richtlinien einer zeitgemäßen wissenschaftlichen Pädagogik regeln« sollte. Bei allen diesen pädagogischen Bestrebungen wird immer wieder das Recht der Familie an der öffentlichen Erziehung entweder mit Füßen getreten oder ganz totgeschwiegen; nur selten denkt die Behörde oder ein Lehrer an die wohlbegründeten, ja angehorenen Rechte der Familie an dem ge- samten Öffentlichen Erziehuingswesen. Es ist höchst bedauerlich, daß die warnenden Stimmen Dörpfelds und Trüpers!) bis jetzt so wenig gehört worden sind. Liegen doch in der Familie die starken Wurzeln der Kraft unseres Volkes, und der Kampf um die Schule wird nicht eher aufhören, als bis diese verbrieften Rechte der Familie in weitgehendster Weise be- rücksichtigt werden. (Forts. folgt.)

1) Hierzu J. Trüper, Die Familienrechte an der öffentlichen Erziehung. 2. Aufl. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1892.

2. Ein Weckruf an die Lehrerschaft. 111

2. Einen Weckruf an die Lehrerschaft

laßt Prof. Rudolf Eucken durch die Tagespresse ergehen, der auch für unsere Leser beherzigenswert ist:

Hochgeehrte Herren Lehrer! Werte Freunde!

So darf ich Sie zusammen wohl nennen, hat uns doch ein gemein- sames Streben durch eine längere Reihe von Jahren verbunden, und fühlen wir uns darüber hinaus dauernd in geistigem Zusammenhang. Es gehört zu meinen angenehmsten Erinnerungen, durch eine große Anzahl von Vortragsreihen enge Beziehungen und persönliche Berührungen zu den meisten thüringer Lehrervereinen gewonnen zu haben; an den ver- schiedensten Orten habe ich in dieser Weise gewirkt, vom Osten bis zum Westen, vom Süden bis zum Norden, von der Höhe des Thüringer Waldes bis zu den Grenzen unseres schönen Landes, überall fanden sich zahlreiche Lehrer und Lehrerinnen gazu ein; ich durfte sie auf weitausgedehnten Wanderungen begleiten. die uns bald in die Lebensanschanungen der großen Denker, bald zu den Hauptreligionen, bald zu den wichtigsten Problemen des Sinnens und Wertes des Menschenlebens führten, wir haben manche anregende und förderliche gegenseitige Aussprache gepflogen, überall fand ich die regste Teilnahme und die gespannteste Aufmerksamkeit. Der Ernst und Eifer, der offene und geweckte Sinn, die Tüchtigkeit des Strebens, die Unverdrossenheit, auch größere Mühen und Anstrengungen im Interesse der Sache willig zu ertragen, weder Hitze noch Kälte zu scheuen, hat mich mit aufrichtiger Hochachtung erfüllt; augenscheinlich war, daß hier ein echter Hunger und Durst nach geistigen Gütern waltet, daß hier eine Frische des Lebens und Strebens wirkt, die nicht selten in anderen Berufs- kreisen vermißt wird. Ohne Zweifel sind die Lehrer heute in einem schönen Aufstieg begriffen, ihr ganzes Land wird die Früchte dessen ge- nießen. An dieser Bewegung durch eigene Anschauung teilnehmen zu können, war mir eine herzliche Freude, ich habe mich in diesen Kreisen sehr wohlgefühlt. Wenn der deutsche Idealismus in einem besonderen Kreis tief wurzelt, so ist es dieser Kreis.

So haben wir denn die großen Fragen der Gegenwart und des deut- schen Volkes oft lebhaft miteinander besprochen, und wir haben uns dabei bei aller Freiheit der individuellen Überzeugungen in engem Zusammen- hang miteinander gefühlt, es war eine wohltuende geistige Atmosphäre, die uns umfing. Zugleich war es damals eine Zeit der Ruhe, sie ge- währte zu friedlicher Arbeit und für die hohen Aufgaben der Menschen-

. bildung genügende Muße.

Nunmehr aber sind unruhige Zeiten über uns gekommen, bewegen die Gemüter aufs äußerste, sie müssen jeden, der sein Vaterland liebt, aufs tiefste erschüttern. Und bei solchen Unruhen und Sorgen ist es mir ein wohltuender Gedanke, mich mit trefflichen und bewährten Männern, wenn auch nicht im Rahmen der Parteistellung, so doch in dem Hauptzug der Gesinnung und Überzeugung, mehr zusammenzufioden; so können wir uns gemeinsam in den Sorgen und Nöten der Zeit stärken. In diesen

112 B. Mitteilungen.

Kreisen herrscht eine warme Liebe zum deutschen Vaterland und zur Heimat, hier ist ein offener Sinn für alles Große und Edle, was das Menschen- und Geistesleben enthält, ein offener Sinn aber auch für die praktischen Aufgaben und die Notwendigkeiten des Lebens, auch die reichste Erfahrung der mannigfachsıen Verhältnisse des bürgerlichen Lebens; wenn irgendeiner berufen ist, seine Mitbürger mit aufklärendem Rat zu fördern, so ist es der Lehrer, namentlich der Volksschullehrer, der mitten im Leben steht, zugleich aber seiner Umgebung die Fackel der Bildung voranträgt.

Jetzt nun steht die Sache auf des Messers Schneide, nun darf keinen, Augenblick gezögert werden, nun gilt es alle Kraft zu sammeln, nun gilt es, alles Hemmende und Scheidende gegenüber deu großen Grundlinien des nationalen Lebens zurücktreten zu lassen, nun gilt es, der einen großen Sache ausschließlich zu dienen. Wenn irgendwo, so ist jetzt Schillers Mahnung berechtigt: »Was man von der Minute ansgeschlagen, gibt keine Ewigkeit zurück.« So vertrauen wir daranf, Jaß unsere werten Freunde sich einig mit uus fühlen, und daß wir zusammen, soweit es in unseren Kıäften liegt, unser teures Vaterland aus den drohenden Gefahren retten. Denken wir alle mit Schleiermacher, diesem freien und tiefen Geist: »Alle, die Gott zu etwas Großem berufen hat, in dem Gebiete der Wissen- schaften, in den Angelegenheiten der Religion, sind immer solche gewesen, die von ganzem Herzen ihrem Vaterland und ihrem Volk anhingen und dieses fördern, heilen, stärken wollten.«

3. Mitteilungen des Verbandes der privaten Schulen und Erziehungsanstalten in Großthüringen.

Auf Einladung des Herrn Direktors Trüper-Sophienhöhe hatten sich am 14. Dezember 1918 im Saale des Weimarschen Hofes in Jena eine Anzahl von Vertretern der privaten Schul- und Erziehungsanstalten ver- sammelt, um im Hınblick auf die Neuordnung der politischen Verhält- nisse im Staate und die damit zusammenhängende Umgestaltung des Bildungswesens über die Gründung eines Verbandes zum Schutze der gemeinsamen Interessen der Privatanstalten zu beraten.

Nachdem Dir. Trüper die Anwesenden begrüßt hatte und anf die Notwendigkeit einer entschiedenen Stellungnahme zu der gegenwärtigen politischen und pädagogischen Lage hingewiesen hatte, wurden von ihm die beiden Fragen aufgeworfen:

1. Inwiefern werden die privaten Unterrichts- und Erziehungs-

anstalten durch die Revolution und ihre Folgen bedroht?

2. Wie schützen wir uns dagegen?

Um gleich nach Kräften beizutragen zur Beantwortung dieser Fragen, verlas Dir. Trüper den ersten Teil einer Abhandlung, die unter dem Titel »Die privaten Schulen und Erziehungsanstalten-in ihrer Bedeutung für die Gemeinschaft« demnächst in der »Zeitschrift für Kinderforschung« wie im Sonderdruck als selbständiger »Beitrag«e erscheinen wird.

3. Mitteilungen des Verbandes der privaten Schulen und Erziehungsanstalten. 113

Er wollte dadurch wenigstens eine Anregung geben, über die uns gemeinsamen Fragen bis zur nächsten Zusammenkunft nachzudenken.

Es begann sodann die Aussprache über die Frage eines Zusammen- schlusses.

Herr Direktor Endeman-Bad Berka wies darauf hin, daß es keine Vereinigung aller deutschen Privatanstalten gebe. Der bestehende deutsche Privatlehrerverein Magdeburg habe den Zweck, die Rechte der Privatlehrer gegenüber den Direktoren und Besitzern von Privatanstalten zu sichern. Es sei ihm der Gedanke gekommen, (diese Bewegung für unsere Zwecke nutzbar zu machen. Von einer Vereinigung der Privatanstalten zur Pflege idealer Aufgaben verspreche er sich nichts. Derartige Unternehmungen würden an den materiell gerichteten Interessen vieler Anstalten scheitern. Er befürchte nicht, daß eine von idealen Gedanken getragene Anstalt untergehe. Doch sei es an der Zeit, einen Verband zu gründen, der uns wirtschaftlich stärke. Nur ein Zusammenschluß auf wirtschaftlichem Ge- biet gebe Macht. Er empfehle die Anregung des Herrn Bumann zu einem solchen zu beachten.

Herr Dr. Adrian-Erfurt regte zur Abfassung von Berichten an, ans denen deutlich ersich'lich sein müsse, welche Kosten die Privatschulen der Gemeinde und dem Staat abnehmen. Wır würden nach dem Kriege arm sein und Gemeinde und Staat würde jede Unterstützung gebrauchen können. Man müsse versuchen, das Publikum an Hand von Zahlen von den wirtschaftlichen Leistungen der Privatschulen zu überzeugen. Herr Dr. Adrian legte gleich einen entsprechenden Bericht seiner Schule vor.

Herr Direktor Brauckmann-Jena hob hervor, daß es sich in erster Linie darum handele, daß bei der Uniformierung der Schule ein Sicher- heitsventil für die Privaranstalten bleibe. Je mehr die Staatsschule Zwangs- schule werde, desto mehr werde sich das Bedürfnis nach privater Er- ziehung geltend machen. In den Privatanstalten müsse volle Freiheit herrschen. damit sie all denen gerecht werden können, die bei der Gleich- macherei übersehen würden. Die Privatanstalten müßten Freiheit auf individuellem Gebiete erstreben. Zu diesem Zwecke seien Verbände zu gründen. Er schlage einen Zusammenschluß der Thüringischen Privatschulen vor. An diesen Verband könnten sich dann andere Verbände anschließen.

Herr Dr. Sommer-Jena pflichtete den Ausführungen des Herra Dir. Brauckmann bei. Die wichtigste und vorläufig einzige Aufgabe sei die, für das Recht der Familie und für die Freiheit der Schule einzutreten. Die Eltern müßten das Recht behalten, ihre Kinder in ihrem Sinn erziehen zu lassen. Er halte die Gründung eines Vereins der Thüringischen Privat- anstalten für das zweckmäßigste und bitte Herrn Dir. Trüper, die Sache in die Hand zu nehmen.

Herr Pastor Siedentrop-Gerstungen schung vor, die Ziele des Vereins weiter zu stecken und eine Gleichberechtigung der Privatschul- lehrer mit den Staatslehrern namentlich in bezug auf die Pensionsverhält- nisse und die Anrechnung der Dienstjahre beim Übertritt in den Staats- dienst zu erstreben.

Zeitschrilt für Kinderforschung. 24. Jahrgang. 8

‚114 l B. Mitteilungen.

Es wird sodann die Gründung eines Verbandes der Thüringi- schen privaten Schul- und Erziehungsanstalten beschlossen. -Herr Dir. Trüper-Jena wird zum Vorsitzenden, Herr Mittelschullehrer Hollewede-Sophienhöhe und Frl. Marta Groh- Weimar werden zu Schrift- ‚führern und Herrn Günther, Lehrer der Stoyschen Anstalt zu Jena, wird das Amt eines Rechnungsführers übertragen. Herr Pfarrer Hilden erbietet sich zur Mitarbeit bei der Zusammenstellung der Berichte.

Als Aufgaben des Verbandes werden festgesetzt:

. Pflege der ideellen Aufgaben der Privatschule.

. Aufklärung der Öffentlichkeit über Ziele, Aufgaben und Leistungen der Privatschulen.

Politische Vertretung in Gemeinde, Staat und Kirche.

Soziale Fürsorge für Angestellte an Privatanstalten.

. Rechtsschutz der Privatanstalten.

Als Beitrag wird für die Erziehungsheime pro Kopf der Zöglinge -1 M für das Jahr festgelegt. Den sogenannten Familienschulen wird der Beitrag freigestellt.

Die erste Arbeit des Verbandes wird sein, die Berichte der einzelnen Anstalten über ihre wirtschaftlichen Leistungen zu sammeln und das Gesamtergebnis zum Zwecke der Veröffentlichung zusammenzustellen.

Jena-Sohienhöhe, Hollewede.

DO m

4. Über die Notwendigkeit eines allgemeinen Rechts- unterrichts in der Schule

. schreibt Rechtsanwalt und Notar Dr. Bruno Beyer in Pr. Eylau in der Zeitschrift: »Deutsches Recht«!) (7. Jahrg., März 1918):

Im Hinblick auf den Zweck der Schule, einem jeden die allgemeinen, für das Leben erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln, ist die Notwendigkeit eines allgemeinen Rechtsunterrichtes in der Schule eine Selbstverständlichkeit, welche eigentlich weitere Ausführungen und Be- gründungen entbehrlich machen sollte. Wenn aber trotz dieser Notwendig- keit ein solcher Unterricht bisher im allgemeinen nicht in dem erforder- lichen Maße und in der zweckmäßigen Weise erteilt wird, so müssen die Gründe für die Notwendigkeit dargelegt werden. Jedermann muß wenigstens die allgemeinsten Pflichten, die ihm obliegen, kennen, wenn ein im all- gemeinen pflichtgemäßes Verhalten der Glieder einer Rechtsgemeinschaft gewährleistet sein soll. Der Entwicklungsfortschritt verlangt selbst vom einfachen Manne die Beobachtung zahlreicher, nicht ohne weiteres erkenn- barer Pflichten, deren Erfüllung nicht schon durch das allgemeine Streben, sich rechtschaffen zu führen, gesichert ist. Dies ist nur in den Anfängen der Rechtsentwicklung der Fall, in denen nur die grundlegenden sittlichen

1) Eine gemeinverständliche Zeitschrift für Rechtskunde und zur Erlangung eines -volkseigenen Rechts. Herausgegeben von Anitsgerichtsrat Geh. J.-R. Kade, Waid- mann»lust b. Berlin, unter ständiger Mitwirkung des Amtsrichters Dr. Helwig und der Rechtsanwälte Dr. v. Damm und Dr. Spilier.

4. Über die Notwendigkeit eines allgemeinen Rechtsunterrichts in der Schule. 115

Pflichten, vor allem Unterlassungspflichten, anch Rechtspflichten gefordert sind. In entwickelteren Verhältnissen erhöhen sich die Rechtspflichten in einem Grade, daß sie keineswegs für jeden geistig durchschnittlich Ver- anlagten ohne weiteres erkennbar sind. Dies liegt vor allem daran, daß der Staat nicht nur die Aufgabe der Sicherung seiner Glieder gegen Ge- fahren und schädigende Handlungen, sondern auch eine Menge von eigent- lichen Kulturförderungsaufgaben übernommen hat. Gleich der Kenntnis der eigenen Rechtspflichten sind auch die Rechtspflichten Dritter von wesentlicher Bedeutung für die allgemeine Rechtspflichtbefolgung. Die Kenntnis der Bestrafungspflicht der Staatsbehörden wird z. B. besonders geeignet sein, denjenigen, der in die Versuchung kommt, eine strafbare Handlung zu begehen, vor der Begehung dieser Handlung abzuschrecken. Auch die Rechtsfolgen, die sich aus eigenen rechtlich freigestellten Hand- lungen für den Handelnden oder Dritte ergeben, müssen diesem möglichst bekannt sein, wenn er sich in einer seinen Zwecken entsprechenden Weise betätigen will. Er muß z. B. möglichst den allgemeinen Zuständigkeits- umfang der Staatsbehörden kennen, deren Tätigkeit er durch ihm recht- lich freigestellte Anträge in Anspruch nehmen kann und will. Diese hiermit ganz allgemein umgrenzte Aufgabe des allgemeinen Rechtsunter- richtes wird gegenwärtig nur zu einem kleinen Teile und in unvollkommener Weise erfüllt.

Wenn im Fortbildungsschulunterricht die Versicherungspflichten der Angestellten und Arbeiter, im Unterricht der höheren Schulen die Ver- fassung des Staates erörtert wird, so sind das nur Ansätze zu einem all- gemeinen Rechtsunterricht, wie er, gleich einem allgemeinen hygienischen Unterricht, den Notwendigkeiten des Lebens entspricht. Der Junge, der einmal Soldat wird, das Mädchen, das in ihrem häuslichen Wirkungskreise in eine Fülle rechtlicher Beziehungen geraten wird, der zukünftige Arbeit- nehmer, der bestimmte Rechte und Pflichten gegenüber seinem Arbeitgeber haben wird, der Handwerker, der oft Streitigkeiten mit seiner Kundschaft auszukämpfen hat, der Mieter, der Käufer, der Staatsbürger, der seine Steuern zahlen muß, der Ehegatte, der Erbe, sie alle brauchen eine Fülle von Rechtskenntnissen, die wegen der Allgemeinheit der Lage jener Per- sonen auch allgemein vermittelt werden müssen. Die Neigung der Rechts- gelehrtheit, eine Geheimwissenschaft zu sein, muß endgültig der Vergangen- heit angehören.

Die Notwendigkeit eines allgemeinen Rechtsunterrichtes in der Schule schließt die Notwendigkeit einer entsprechenden Vorbildung der Lehrer ein. Diese Vorbildung erfordert naturgemäß eine Beschäftigung mit den wichtigsten Fragen der Rechtswissenschaft. Wenngleich der schwierige und umfangreiche Stoff einem Fachstudium und daher die eingehende Be- schäftigung mit den Streitfragen im Recht den Juristen überlassen bleiben muß, soll doch derjenige, der anderen grundlegende Rechtskenntnisse ver- mitteln soll, wenigstens mit den Grundzügen der Rechtswissenschaft ver- traut sein. Diese Unterweisung kann naturgemäß nur durch Juristen erfolgen. Den sich auf das höhere Lehrfach vorbereitenden Oberlehrer müßte deshalb der Besuch einiger juristischer Vorlesungen (Einführung in

8r

116 B. Mitteilungen.

die Rechtswisseuschaft, Rechtsphilosophie), die schon üblicherweise gehalten werden, und einiger, die besonders zu diesem Zwecke gehalten werden müßten, zur Pflicht gemacht werden. An den höheren Lehranstalten müßte ein Jurist einen allgemeinen juristischen Unterricht auf wissen- schaftlicher Grundlage, wenn auch unter ausschließlicher Berücksichtigung der Notwendigkeiten des täglichen Lebens erteilen. Auch für das Ver- hältnis dieses Unterrichtes zu verschiedenen anderen Unterrichtszweigen ist es klar, daß jenem der Vorzug vor anderen weniger wichtigen vor- geschriebenen Unterrichtszweigen gebührt.

5. Aus der Praxis des Hilfsschullehrers. Von K. Bartsch, Plauen i. V.

W. war Jahr für Jahr von der Volksschule, selbst von der Hilfs- schule zurückgewiesen worden und hatte inzwischen das 8. Lebensjahr vollendet. Nun sollte er in einer Anstalt untergebracht werden. Nach der Erfahrung, die mit der Anstalt gemacht worden war, wäre er un- bedingt als bildungsunfähig abgewiesen oder nach kurzer Zeit zurück- geschickt worden. So wurde er mir übergeben.

W. ist das einzige Kind seiner Eltern. Vater und Mutter sind ge- sund. Auch unter den Verwandten liegt kein ähnlicher Fall vor. Der Geburtsakt vollzog sich normal, Jie körperliche Entwicklung war regelmäßig.

So stand der Junge vor mir, gesund. äußerlich normal, fast kräftig entwickelt. Der Schädel ist regelmäßig geformt, Degenerationszeichen siud nicht zu bemerken.

Zwei Defekte treten augenfällig in Erscheinurg: das Nichtsprechen- können und seine Unruhe.

Stumm ist W. nicht. Seine Sprechwerkzenge funktionieren bis zu einem gewissen Grade. Nur das sinngemäße und artikulierte Sprechen fehlt ihm; doch nicht vollständig, denn er spricht ganz deutlich: »Vater Mutteres, und mich (ich kam als Soldat zu ihm) nannte er ganz spontan Huië. Alles, was er sonst sprach, war vollständig unartikuliert.

W. ist körperli=h unruhig. Er ist Erethiker, freilich nicht in stärkstem Maße, ich habe schlimmere Fälle kennen gelernt, immerhin stark genug.

Eine genanere Untersuchung stellte nun Folgendes fest: Der Junge kennt seine Umgebung und faßt Gesprochenes auf. Z. B. führt er aus: Geh ans Fenster komm her setze dich auf den Stuhl mache die Türe zu! Nachsprechen aber konnte er keins der Worte, die er in- haltlich doch aufgefaßt hatte.

Damit war zunächst festgestellt, daß das sensorische Nervensystem intakt war, das motorische aber gestört. Es handelt sich also nicht um Worttaubheit, nicht um sensorische Aphasie, sondern um Wortstummheit, motorische Aphasie. Im Laufe der Behandlung zeigte es sich auch, daß Störung der Merkfähigkeit und des Gelächtnisses, also amnestische Aphasie vorliegt.

Schließlich sind die feineren Bewegungen gestört. Die groben Be-

5. Aus der Praxis des Hi.fsschullebrers. 117

wegungen kann W. ausführen, kann also laufen, seine Arme und Hände im allgemeinen gebrauchen. Die feineren Bewegungen kann er aber nicht ausführen. So kann er hente noch nicht mit dem Kopfe nicken oder schütteln, es wird stets der ganze Oberkörper in Bewegung gesetzt. Heute noch zieht er beim Abwärtssteigen der Treppe den 2. Fuß nach, Er kann nicht auf eine Fußbauk steigen, ohne sich anzuhalten, und vor allem hat er seine Sprechwerkzeuge nicht in seiner Gewalt, kann Lippen und Zunge z. B. nicht in die rechte Lantstellung bringen. Beim Üben konnte man beobachten, wie er sich abqnälte, die Lippen in die rechte Stellung zu bekommen.

Zahlenbegriffe hatte W. nicht, kannte auch keine Farben.

Erzogen war der Junge sehr gut, war ständig unter Aufsicht seiner Mntter. Der Vater ist Stuhenmaler, ist tagsüber dem Hause fern und kann sich wenig um den Knaben kümmern. Unterrichtliche Versnche hat die Mutter nicht angestellt. sie glaubte. der Junge würde sich noch entwickeln, wenn nicht, dann sei er eben bildungsunfähig.

Auf Grund der Beobachtung darf angenommen werden, daß irgend eine Störung der linken Hirnpartie vorliegt. Da eine Beschädigung von außen nicht stattgefunden hat, darf eine Störung in der Entwicklung des Gehirns angenommen werden. Unbrauchbar ist die betreffende Partie nicht, denn sie zeigt Leben, arbeitet also. Dieses Leben zu entfalten und die Hirnpartie anzuregen, sich nach Möglichkeit noch zu entwickeln, muß Aufgabe der Behandlung sein und zwar Hauptaufgabe. Darum das Sprechen fördern! Da auch die Hirnpartien, von denen die feineren Bewegungen ausgehen. in der Entwicklung zurückgeblieben sein müssen, darf Üben der feinen Bewegungen nicht versäumt werden, zumal nach Meinung ver- schiedener Physiologen dadurch auch das Sprachzentrum gestärkt wird, und zwar durch die Betätigung der rechten Hand in der linken Hirn- hälfte und durch Betätigung der linken Hand in der rechten Hirnhälfte, das im allgemeinen ganz minimal ausgebildet ist. meist schlummert.

Die Übungen im Sprechen setzten mit dem Üben einzelner Laute ein und zwar mit den Selbstlauten a e i o -- u, da sie das Ge- rippe der Worte bilden. Hier schon zeigte sich, daß die Störung feiner Bewegung das Sprechenkönnen ungemein hindert. Die verschiedenen Mundstellungen, beim a weit offen, beim u fest geschlossen, beim i breit- gezogen, bereiteten dem Jungen große Schwierigkeiten. Man sah es ihm an, wie krampfhaft er sich bemühte, dıe Lippen in die erforderliche Stellung zu Lringen. Lange Zeit verstrich, ehe die Selbstlaute einiger- maßen gelänfig gesprochen wurden. Große Erfolge waren nicht zu sehen, doch bedeutet ein kleiner Schritt schon ein Stück vorwärts.

Beim Sprechen der Selbstlaute ist im wesentlichen die Mundhöhle als Ganzes tätig. Die übrigen Laute verlangen zu ihrer Bildung ent- weder Einstellen der Lippen oder der Zunge oder beider zusammen. Die Laute, die die Zunge in Anspruch nehmen. mußten zunächst zurückgestellt werden, denn über die Zunge hatte der Knabe gar keine Gewalt, konnte er sie doch nicht einmal zum Munde herausstrecken. So blieben mir vorläufig m, w, b übrig. Auch das r war nicht schwer zu bekommen,

118 B. Mitteilungen.

nachdem ich wußte, daß der Knabe schon lange zum täglichen Gurgeln angehalten war. Freilich war es kein rechtes Gurgeln, und das r läßt viel zu wünschen übrig, es ist aber ein r.

Das f scheint leicht zu sein, man setzt einfach die Unterlippe an die oberen Schneidezähne. Für Willi war das aber sehr schwer. Die Unter- lippe hatte eine Abneigung gegen die oberen Schneidezähne, so daß immer die Finger zu Hilfe gerufen werden mußten. Also blieb das f vorläufig liegen, dafür wurden die Selbstlaute mit m, w, b verbunden, dazu das h neu hinzugenommen. Und zwar wurde vom Selbstlaut in den Mitlaut und vom Mitlaut in den Selbstlaut gegangen. Merkwürdigerweise be- reitete das mi große Schwierigkeiten.

Das reine 1 mochte lange Zeit nicht gelingen. Ein Vierteljahr ist mindestens geübt worden, und heute noch versagt es, wenn es im Wort auftritt. Leichter bewältigt wurde n, t, g, k. Mitten im Wort wird das t zum g.

Nicht sprechen kann Willi heute s, sch, ng, nk, auch dann nicht, wenn sie allein gesprochen werden.

Wenn ich behaupte, die übrigen Laute könne der Junge sprechen, so soll das nicht heißen, daß nichts an ihnen auszusetzen sei. Besonders im Wortklang versagt der einzelne Laut gar oft, und das Wort wird mehr oder weniger undeutlich. Doch begnüge ich mich vorläufig mit einem undeutlich gesprochenen Worte, kommt es doch zunächst darauf an, daß der Junge für eine Sache ein Wort hat. So ist’s ja auch bei den kleinen Kindern, die sprechen lernen. Es ist ein mehr oder weniger großes Stammeln. Mugaer ist für mich gleichbedeutend mit Mutter und Nopf gilt für Knopf. Nur wenn man das Stammeln gelten läßt, kann man das spontane Sprechen fördern, das ja anfangs vollständig fehlte. Und ohne das spontane Sprechen kann’s in der allgemeinen geistigen Entwicklung nicht vorwärts gehen.

Spontan sprechen kann W. aber erst dann, wenn er das Wort fest aufgenommen hat. Darum galt es, auf der 2. Stufe Wort und Sache fest miteinander zu verankern. Er sieht z. B. den Hund, hört das Wort Hund und sagt es nach, sagt es also nicht von selbst, sondern spricht eben nach. Er spricht das Wort »warm« und spürt am Ofen, was warm be- dentet. Dieses Verknüpfen hat vieler Wiederholung bedurft, ehe der Junge zur Sache das Wort fand. Heute noch kommt es vor, daß er bei einer Sache 3—4mal daneben rät, ehe er den rechten Ausdruck findet.

Ist aber das Wort mit der Sache recht verknüpft, dann ist der erste Schritt zur 3. Stufe erreicht. Ich zeige den Hund im Bild, W. spricht das Wort »Hund« aus, ich lege seine Hand an den warmen Ofen, er spricht »warme. Der Knabe spricht also spontan. Antwortete er anfangs nur mit einem Worte, so jetzt in einzelnen Fällen schon mit mehreren, z. B. sagt er: ein große Hund zwei Hennen usw.

Drei Stufen also: Nachsprechen des einzelnen Lautes, Wortes; Nach- sprechen des Wortes’ und Verknüpfen des Wortes mit der Sache und schließlich spontanes Sprechen.

Man erwartet vielleicht nach dem Worte den Satz. Das wäre zuviel verlangt. Der Satz kommt bei einem normalen Kinde in der Sprach-

-p « Pe a ne

6. Nick Carter und Spartakus. 119

entwicklung ziemlich spät. Ein Satz ist nicht ein einfaches Aneinander- reihen der Wörter, sondern ein sinngeräßes Verbinden derselben, und ehe man imstande ist, die Worte sinngemäß zu einem Satze zu verbinden, muß man sie schon oft in verschiedener Beleuchtung gesehen haben.

Diese 3 Stufen stehen nun aber nicht abgeschlossen nebeneinander, sondern gehen ineinander über, sind anfangs eng begrenzt und erweitern sich nach und nach, nehmen also an Umfang allmählich zu.

Wird das Nachsprechen geiibt, so läßt man einfach alles nach- sprechen, auch Unverstandenes, es handelt sich jetzt einfach um einen psychischen Mechanismus. Wie in einer Streckmaschine die versteiften Finger auf und nieder bewegt werden, ohne eine produktive Arbeit zu leisten, so werden Nerven und Muskel gespannt, um ihnen eine Bewegung zur Geläufigkeit werden zu lassen. Auf der 2. und 3. Stufe wird man sich an die Umwelt des Kindes halten und berücksichtigen, was in seinem Erfahrnngskreise liegt, wird an Tätigkeiten und Eigenschaften anknüpfen, wird die Zahl berühren, die Farbe usw., also den geistigen Horizont er- weitern.

Daß die feineren Bewegungen bei W. gestört sind, erschwert das Sprechen. Diese Störung kommt aber auch sonst zum Ausdruck, wie schon beim Ergebnis der ersten Untersuchung klar gelegt wurde. Darum: neben Sprechübungen Bewegungsübungen, und zwar Übungen feinerer und gröberer Art, wie Treppensteigen, Steigen auf die Fußbank, Steigen von der Fußbank, Vorstrecken der Arme, Kreuzen der Arme auf dem Rücken usw. Kriechübungen, Rumpfbeugen und -strecken kurz: Freiübungen mit allen Körperteilen. Neben dieses Turnen tritt das Spiel: Banen mit Banhölzern, Schneiden mit der Schere, Aufstellen und Umstellen der Blei- soldaten, Kugelspiele usw.

Diese Betätigungen lassen sich natürlich wieder in den Dienst der Geistesentwicklung stellen: Lege eine, zwei Kugeln auf den Tisch suche solche (rote) Blättchen heraus lege das Holz vor das Haus, lege es hinter das Haus usw.

Bei allem ist zu beachten, daß die Anfmerksamfähigkeit des Knaben ganz gering ist. Darum nicht übermüden, alles vermeiden, was seine schon vorhandene große Erregtheit und Lebhaftigkeit noch steigern könnte! Maßhalten und Geduld haben nur dann kann ein Erfolg erwartet werden.

6. Nick Carter und Spartakus.

»Zu der Gehirnbenebelung, die in den Spartakusputschen ihren Aus- druck findet, hat zweifellos auch die Nachwirkung der »Heldenliteratur« der Straße beigetragen. Mancher der unverantwortlichen Jugendlichen, die jüngst sich hierbei austobten, hat seine Begeisterung für die Gewalttaten aus dem trüben Fusel der blutrünstigen Groschenhefte gesogen. Nicht das Kommunistische Manifest, sondern die namenlose Schundliteratur hat den Nährboden für das Aufkeimen politischer Phantastereien geschaffen. Der Kapitalismus vergiftet noch weiter diese Rekrutierungsscharen des Sozialis- mus mit seinen aufpeitschenden Tränklein.

120 B. Mitteilungen.

Immer noch blüht, bescheiden und verborgen die 10 Pf.- Abentener- Literatur. Heldentum und Totschlag sind zwar, dem allgemeinen Preis- bildungsgesetz folgend, auch um 100°/, gestiegen, und eine heroische Verbrecherlaufbahn kostet jetzt 20 Pf. Aber die Jungens verschlingen nach wie vor mit wahrem Heißhunger all die Nick- Carter - Hefte; ver- schlingen sie nm so gieriger, als der Spartakusterror der Straße ihre Phantasie in eine doppelt und dreifach anfnahmefähige Stimmung versetzt hat. Dieses gedruckte Jugendgift bedarf nicht erst der Anpreisung. es empfiehlt sich von Mund zu Mund und die unterschiedlichen Greuel- geschichten, die seit Generationen verrohend gewirkt haben, werden nach wie vor mit heißen Augen gelesen. Noch immer wird es auf grell hin- geklexten Teilbildern als erstrebenswertes Ziel hingestellt: »Er schlug mit dem Bootshaken auf den Sehädel des Feindes ein, bis, dieser blutüverströmt in den Fluten versunk.« Jetzt, da die Revolten und Straßenkämpfe in den jugendlichen Herzen nachhallen, da ihre überhitzten Köpfe voll sind des Echos wilder Gewalttaten, wäre es auch doppelt an der Zeit, diese ge- druckte Gewaltpropaganda auszurotten. Aber gerade das Gegenteil ist der Fall. Die Schundliteratur der Straße, die bisher sich auf Indianerdistrikte, ferne Goldküsten und amerikanische Phantasieländer beschränkte, erobert sich den Tag und die Stunde. In den kleinen Straßenbuchhandlungen und bei den Zeitungsverschleißern liegt ein 20 Pf.-Büchelchen aus, das sich seinen Platz an der Sonne erobern will. »Will, der junge Revolutionäre, steht in schreienden Buchstaben auf dem bunt bemalten Titelbild, das einen fanatischen Knaben darstellt, der gerade ein Maschinengewehr auf seine lieben Mitmenschen richtet. Und als Unterschrift unter dieser erbaulichen Tätigkeit liest man: »Will hielt als letzter an seinem Maschinengewehr aus.«

Die heranwachsende Jugend vor dieser Raubromantik zu bewalıren, ist eine Aufgabe, die kein Verantwortlicher von sich weisen .kann.«

So lesen wir im »Vorwärts«. Hoffentlich steht die nene Regierung mit Kraft und Nachdruck hinter dieser Forderung, für die wir an dieser Stelle 23 Jahre vergeblich kämpften, weil weder die Staatsregierungen noch die demokratischen Oligarchien der Gemeinden genügend Verständnis und Interesse für sie bekundeten, letztere sogar nicht selten am Getdeihen der volksmoralzerstörenden Unternehmungen ein besonderes Interesse hatten.

Tr.

7. Änderungen in der Deutschen Zentrale für Jugend- fürsorge. .

Seit dem 1. Mai 1918 ist die bisherige Fürsorgestelle der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge beim Polizei-Präsidinm Berlin zur Wohlfahrtsstelle erweitert worden. Hierdurch ist ein besonderes Dezernat für Wohlfahrtspflege beim Polizei- Präsidinm geschaffen worden, das (im Gegensatz zu den anderen Dezernaten) weiblicher Leitung unter- steht. Als Leiterin ist die bisherige Fürsorgedame, Fräulein Margarete Dittmer, vom Staat übernommen worden. Ihre Tätigkeit stützt sich aber nach wie vor auf die Mitarbeit der Berliner Vereine, aus deren Reihen sie ihre Vertretung und ihre Mitarbeiterinnen entnehmen darf.

8. Auskunftstelle usw. 9 Der Bayerische Hilfsschul- Verband, 121

Ende Oktober 1918 ist laut Vereinbarung mit der Stadt Berlin die Beratungsstelle der Deutschen Zentrale für Jngendfürsorge an das Städtische Jugendamt übergegangen, wo sie in nnveränderter Weise ihre Tätigkeit (Rat- und Anskunfterteilung für Fälle körperlicher, geistige: und seelischer Not und Gefährdung, Vermittlung mit den zuständigen Be- hörden und Vereinen) ausüben wird.

Der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge, von deren praktischer Tätigkeit diese Stelle ungefähr den dritten Teil (mit 6400 nenen Fällen unter fast 17000 im ganzen) ausmachte, verbleiben nnn folgende Abteilungen:

Die Referate und Ausschüsse der Abteilung Deutsches Reich:

Auskunftstelle, Adoption und Pflegewesen. Gesundheitsansschuß. Ausschuß für Jugendgerichte und Jugenderichtshilfen.

Der Abteilung Groß-Berlin:

Jugendgerichtshilfe. Anstalts- und Familien pflege, Pflegestellenvermittlung, Sühnestelle, Vorort- fälle, Ärztliches Referat.

8. Die Auskunftstelle für Kleinkinderfürsorge im Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht, Berlin W. 35, Potsdamer- straße 120, versendet nene Verzeichnisse ihres Leihgutes. In 30 Lese- mappen sind Richtlinien, Beschreibungen und Berichte vorbililicher Ein- richtungen der Kleinkinderfürsorge gesammelt, Anregungen z. B. für die Veranstaltung von Mütterabenden, sowie Lehrpläne, von Ausbildungsstätten für Pflegerinnen und Erzieherinnen des Kleinkindes zusammengestellt worden. Die Mappen stehen gegen Ersatz der Portokosten zur Verfügung. Eine Ausnahme bilden Lehrpläne, Baupläne, Zeichnungen von Kindergarten- möbeln und Bildermappen, für die geringe Leihgebühren erhoben werden. Für aufklärende Vortiäge über die Entwicklung, Pflege und Erziehung des Kleinkindes in Anstalt und Familie werden Lichtbilder verliehen.

9. Der Bayerische Hilfsschul-Verband fordert im Interesse der Volksgesundung:

1. Die gesamte Erziehung und Versorgung der geistig abnormen Jugend ist durch ein Hilfsschulgesetz zu regeln.

2. Die Hilfsschule umfaßt die gesamte schwachbegabte Jugend größerer Orte. Sie ist eine selbständige Schulgattung mit eigener Leitung nnd fach- männischer Vertretung bei allen in Betracht kommenden Schulbehörden.

3. Für die Schwachbegabten aus kleineren und ländlichen Orten sind Staatserziehnngsanstalten zu errichten. Mit letzteren sind Arbeits- lehrkolonien zu verbinden.

4. Das Hilfsschulgese‘z bestimmt außerdem: Gliederung und Ausbau der Hilfs- und Fortbildungsschnle für Schwachbegabte.

Ausbau des Fürsorgewesens, Gründung von Arbeitskolonien für dauernd erwerbsbeschränkte Schwachbegabte einschließlich hirnverletzter Krieger.

Ausbildung der Abnormenlehrer in Heilpädagogik an der Hochschule, sowie Amtszulagen für dieselben; Mitarbeit psychiatrisch gebildeter Ärzte.

122 . C. Zeitschriftenschau.

C. Zeitschriftenschau.

Jugend- und Schulgesundheitspflege.

Näray-Szabö, Alexander, Pädagogische Ziele in der Kinderforschung. A Gyermek.

“VII, 1914, 3, S. 243—244.

Jeder Pädagoge soll sich mit dem physiologischen und dem psychologischen Organismus des Kindes bekannt machen, er muß die Unterschiede der Indıviduali- täten, die Veränderungen der Fähigkeiten, der Temperamente, des Charakters kennen, ferner die Gewohnheiten des Kindes uud sein Verhalten zur Umwelt und in ver- schiedenen Lebenslagen, seine Suggestibilität, körperliche Veränderungen usw. Neter, Eugen, Der Obstgenuß im Kindesalter. Zeitschrift für Kinderpflege.

IX, 8 (August 1914), S. 147—150.

Anregungen zur Darreichung rohen Obstes an Kinder vom frühen Alter an. Angaben über die Art der Darreichung.

Neumann, B., Körperliche Erziehung im nachschulpflichtigen Alter. Der Säemann. 1913, 4 (15. April 1913), S. 172—173,

Bei der Beratung der obligatorischen Fortbildungsschule in Hamburg ist auf die Turnübungen gar kein Wert gelegt. von Niedner, Das Kaiser Wilhelm-Kinderheim in Ahlbeck. Deutsche Med..

Wochenschrift. 39, 39 (25. September 1913), S. 1888—1890.

Das am 15. Mai 1913 eröffnete Heim nimmt monatlich 150 Kinder der ärmsten Bevölkerungsschichten Berlins auf, denen anderweitig ein Seeaufenthalt nicht ermöglicht werden kann. Die ganze Anlage kostete etwa 300000 Mark, die der deutsche Kaiser zur Verfügung stellte. Die Holzbauten sind Döcker-Baracken, die sich gut bewähren. Die Arbeit bringt Abbildungen uud Notizen üker die Bauten. Hauptaufgabe des Heims soll es sein, den Pfleglingen Licht und Luft bei zweckmäßiger Ernährung zu bieten unter gleichzeitiger Erziehung zu Ordnung Reinlichkeit und Frohsinn.

Nußbaum, H. Chr.. Welchen Fußboden soll man für die Klassenzimmer der Volksschulen verwenden? Zeitschritt für Schulgesundheitspflege. 26, 10 (Oktober 1913), S. 668—671.

; Als bester Fußboden bewährt sich aus dem Holze der Pechfichte Pitschpine)

hergestellter Dielenboden. Er ist dauerhaft und verursacht geringe Unterhaltungs-

kosten. ;

Oppelt, Der Ausschluß offentuberkulöser Kinder vom Schulbesuch und die Be- kämpfung der Tuberkulose in diesem Alter überhaupt. Zeitschrift für Schul- gesundheitspflege. 26, 8 (August 1913), S. 513—531; 9 (September), S. 577—593.

Im ersten Teil der Arbeit werden geschichtliche Mitteilungen über Einrich- tungen zur Bekämpfung der Kındertuberkulose gegeben. Der zweite Teil erörtert die Häufigkeit der Tuberkulose im Kindesalter, über die noch die größte Unklarheit herrscht, die sich durch Einführung der Meldepflicht für alle tuberkulösen Erkran- kungen leicht beheben ließ. Der dritte Teil bespricht die Entstehung einer Tuber- kulose im späteren Alter unter Berücksichtigang der Ansteckung im Kindesalter: die Ansichten der Forscher gehen darüber auseinander; unzweifelhaft ist, daß es gerade während der Kinderjahre viele Ansteckungsmöglichkeiten gibt, daß die er- worbenen Ansteckungen oft erst im späteren Alter offenbar werden, und daß die

C. Zeitschriftenschau. 123

Prognose der Tuberkulose im Kindesalter bei vielen Erkrankungsarten eine günstigere

ist als in späteren Lebensjahren. Der vierte Teil der Arbeit behandelt endlich die

Verhütung der Übertragung und die Behandlung erfolgter Ansteckung im Kindes-

alter. Die Bekämpfung muß bereits mit der Säuglingsfürsorge und dem Ziehkinder-

wesen einsetzen. Die Schule hat vor allem zur Verhütung der Ansteckung beizu- tragen und latente Herde zu berücksichtigen und wenn möglich ausheilen zu lassen.

Die Leitsätze Thieles und Graubners vom Sächsischen Tuberkulosetag (15. X.

1911) werden im Wortlaut mitgeteilt und besprochen. Einzelne Schulleitungen der

Stadt Chemnitz haben dem Ausschluß offentuberkulöser Kinder vom Schulbesuch

Widerstand entgegengesetzt. Ihr Ausschluß ist im Interesse der gesunden Kinder

dringend zu fordern. Skrofulöse und tuberkulös gefährdete Kinder sind dauernd der

Aufsicht des Schularztes zu unterstellen, wenn sie nicht unter hausärztlicher Auf-

sicht stehen. Die Frage nach der Zweckmäßigkeit von »Tuberkuloseklassen« bleibt

noch eine offene.

Peters, Über sexuelle Belehrung der Jugend, besonders in der Schule. Zeitschrift für Sexualwissenschaft. I, 5 (August 1914), S. 193—198; 6 (September), S. 249 bis 256. ,

Während der Verfasser eine ethische Belehrung von Schulkindern hinsichtlich der sexuellen Frage für schwierig hält, befürwortet er eine biologische unter Ände- rung der Naturgeschichtslehrpläne. Namentlich sollen die 14jährigen Volksschul- kinder über die gesundheitlichen Gefahren vorzeitigen Geschlechtsverkehrs unter- richtet werden. Die Arbeit berücksichtigt in Halle (Saale) gemachte praktische Er- fahrungen. ;

Peters, Süßigkeiten Alkohol und Kinder. Zeitschrift für Kinderpflege. 1X, Sept./Okt. 1914, S. 163—168.

Peters warnt die Mütter in sehr eindringlichen Worten, ihren Kindern Süßig- keiten zu geben oder Alkohol. ganz einerlei in welcher Form, zu verabreichen. Pleier, Franz, Zur Tageslichtmessung in Schulen. Zeitschrift für Schulgesund-

heitspflege. 26, 8 (August 1913), S. 531—537.

Photometer und Raumwinkelmesser leisten nicht, was man von ihnen fordern muß. Der Verfasser gibt einen Weg an, auf dem man, wie er hofft, den bestehen- den und von ihm angedeuteten Schwierigkeiten zu entgehen vermag.

Prausnitz, Wilhelm, Säuglingsfürsorge und Wohnungsreform. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. V, 10 (Oktober 1913), S. 295—219.

Wohnungsklima und Wohnungseinrichtung sind von größtem Einfluß für das Wohl des Säuglings. Der Kampf gegen die Säuglıngssterblichkeit muß sich daher vor allem gegen das Wohnungselend richten.

Prinzing, F., Die Statistik der Fehlgeburten. Archiv für Frauenkunde und Eugenik. 1, 1 (25. März 1914), S. 21—33. `

Die Arbeit stelit die wichtigen Zahlen kritisch zusammen und weist Richtungen für eine weitere Entwicklung der Statıstik der Fehlgeburten.

Quirsfeld, Eduard, Der Handarbeitsunterricht vom gesundheitlichen Standpunkte. Zeitschriit für Kinderschutz und Jugendfürsorge. 5, 8/9 (August/September 1913), S. 254—255. i

Es fehlt für den Handarbeitsunterricht vielfach an geeigneten Räumen mit günstigen Sitzgelegenheiten. Auch sind die Lehrerinnen nicht genügend vorgebildet {ohne anatomische und physiologische Kenntnisse). Unter diesen Uniständen muß man beinahe wünschen, daß der Handarbeitsunterricht unterbieibe. Quirsfeld untersuchte fortlaufend 559 Schulmädchen am Ende jedes Schuljahrs und fand, daß

124 C. Zeitschriftenschau.

die Anämie . . . . von 12,70°, im 1. Schuljahr auf 16,75 °/, im 8. Schuljahr die Rückgratsverkrüm- =

mungen. 2 22.20.1896 n » T E a nn Mn die Kurzsichtigkeit. . 679% u s y P L ee 5

anstiegen. Für das Ansteigen dieser Ziffern ist der Handarbeitsunterricht natürlich

nicht allein verantwortlich zu machen, aber er ist sicher daran mitbeteiligt.

Riecke, Erhard, Der Mediziner und die sexuelle Frage. Zeitschrift für Sexual- wissenschaft. I, 3 (Juni 1914), S 97—113.

Wichtig für den Kinderforscher und Pädagogen ist namentlich der erste Teil dieses Vortrags, in dem die sexuelle Erziehung besprochen wird. Diese muß das Schamgefühl unangetastet lassen. Der Arzt ist ein sehr wohl geeigneter Lehrer zur geschlechtlichen Aufklärung; auch er vermag es, die ethischen Momente ge- bührend in den Vordergrund zu rücken. Man soll deskalb nicht immer den Arzt als nur geeignet für die rein körperliche Sexualhygiene betrachten, wie das in vielen Lehrerkreisen noch aus einem gewissen Mißtrauen heraus geschieht. Die Arbeit gehört auch vom Stanipunht des Pädagogen mit zum besteu, was auf dem Gebiet der sexnellen »Aufklarungs geschrieben worden ist. A Riemer, Die Tuberkulose. Der Rettungshausbote. 34, 8 (Mai 1914), 8. 175—181.

Kurze Leitsätze, wie sie sich für ein Merkblatt eignen.

Rolffs, E., Die Abstinenz der Jugend als Erziehungsfaktor. Die Abstinenz. XIII, 7 (l. Juli 1914, S. 109—111.

In kurzen Zügen wird der positive Wert der Enthaltsamkeit von allen alkohot- haltigen Getränken in der eigentlichen Kindheit und in der sugendzeit gezeichnet. Besunders wird auch der Wert der Jugendabstinenzvereine, vor allem der Wehr- logen des Guttemplerordens, betont. Sie tragen nicht wenig zur Charakterbildung bei.

Schanz, A., Zur Berufswahl rückenkranker Kinder. Zeitschrift für Krüppelfürsorge. VII, 2 (April 1914), 8. 76—78.

Na:h dem Verlassen der Schule erkranken viele junge Leute an Rückgrat ;- verkrümmungen (Lehrlingsskoliusen) gerade in den Berufen, die Gelegenheit zum »Ausarbeitene geben. Man soll rückensehwache und rückenkranke Kinder daher von solchen Berufen fernhalten (landwirtschaftliche Arbeiten, Dienstmädchen. Ver- käufer, Kellver, Schlosser, Laufbursche usw.) und sie solchen Berufen zuweisen, die ein Aufstützen der Arme und ein Anlehnen des Rückens während der Arbeit gestatten (Bureauberufe),

Schein, Albert, Ein Mahnwort an alle Schnlärzte. Zeitschrift für Schulgesund- heitspflege. 26, 8 (August 1913), S. 562—568.

»Wahrlich, heute scheint alle schulärztliche Aıbeit zu einer Art ‚statistischer Psychose” entartet! Ziffern. Ziffern, nichts als Ziffern!« Warnung davor. Aufforde- rung, sich endlich zu einigen über eine vernünftige einheitliche Methodik. Schelble, H., Die Tuberkulose im Kiudesalter. Deutsche Med. Wochenschrift-

39, 23 (5. Juni 1913), S. 1083— 1087.

Bebandelt Verbreitung, Diagnose, Prognose, Therapie und Prophylaxe. Wichtig sind vor allem folgende therapeutische Maßnahmen: besonders in den ersten vier Jahren muß das Kind vor dem Umgang mit Personen, die Bazillen aushusten, be- wahrt bleiben (nicht nur Bewahrung vor einer Infektion, sondern vor jeder mög- lichen!). Nach dieser Zeit genügt die allgemeine Prophylaxe (kräftige eiweißreicha Ernährung, viel Aufenthalt in frischer Luft). »Der Schwerpunkt der Prophylaxe gegen die Phthise ist ins Pubertätsalter zu legen und nicht ins frühe Kindesalter.

D. Literatur. 125

Das ist zu betonen gegenüber üheıtriebener Bewertung der tuberkulösen Infektion im Kindesalter für die Phthiseogenese. Es ist für Ausbildung eines gut gewölbten Thorax zu sorgen. Alle schwächenden Momente sind in diesen Jahren fernzuhalten, darunter besonders Dumestikation, zu wenig Schlaf und Alkobolmıßbrauch.«

D. Literatur.

Rzesnitzek, Franz, Die psychologische Formung des Unterrichtes. Den deutschen Lehrern gewidmet Eine Handreichung Zweite, erweiterte Auflage. Breslau, Franz Goerlich, 1914. 83 S. Preis geb. 1.40 M.

Der Verfasser will in seinem Werke dem Lehrer unter Berücksichtigung und Verwertung der Ergebnisse der experimentellen Psychologie eine Handreichung zu einer rationellen Gestaltung des Unterrichtes bieten. Eine solche ist nur auf psy- chologischer Grundlage möglich. Darum bespricht er zunächst Jie Seelenerschei- nangen, deren Kenntnis für einen eıfulgreichen Unterricht unerläßlich ist. Der Verfasser zeigt dann, wie der Unterricht den Gesetzen des Seelenlebens gemäß ge- staltet werden muß, um die einzelnen Seelenkräfte zu pflegen und zu fördern »Die Feststellung der geistigen Leistungsfähigxkeit der Kinder«e und »Die apperzeptive Unterrichtstätigkeit« mit ihren praktischen Fingerzeigen müssen dem strebenden Lehrer dabei höchst willkommen sein. Für einen erfolgreichen Unterricht ist aber auch die Arbeit des Schülers vun wesentlicher Bedeutung. Darum betont R. neben der Wichtigkeit der lehrmethoden die der Lernmethoden. Dir weitere Ausgestal- tung solcher Methoden wırd eine wichtige Aufgabe der Didaktik sein. Der Ver- fasser prüft und verwertet die Ansichten Meumanns, der uns hierin die Wege gewiesen bat. Dem unterrichtlichen Erfolge sind aber Schranken gesetzt in den »Grenzen der geistigen Aufnahmefähigkeit«e der Schüler, denen R. eine besondere Abhandlung widmet. Das Werk sei hiermit zu ernstem Studium angelegentlichst empfohlen.

Danzig-Langfuhr. Franz Matschkewitz.

Hahn, Ernst, Weltkrieg und Volksschule. Preisgekrönt. Dresden, O. und R. Becker. 1918 588. 1 M.

Ein im Volksschuldienste ergrauter Pıdagog, dem die Arbeit in ihm je länger je mehr zur Herzenssache, zur vaterländischen Sache geworden ist, sieht es als ge- boten an, aus dem zeitgemäßen Riesenproblem Weltkrieg und Weltkultur die Be- ziehungen zwischen Weltkrieg und Volksschule zu behandeln. Seme Aus- führungen sind mit Recht durch die »von Amman-Stiftung Dresdene preisgekrönt worden, denn sie e:fassen nach einer Würdigung der Problemstellung das Thema in seinem ganzen Umfange und seiner Tiefe, wenn natürlich auf su beschränktem Raume vielfach nur andeutungsweise. Vom Verhältnis zwischen Kulturstaat und Volksschule im allgemeinen ausgehend, werden Weltkriegsverluste, Ersatz und Steigerung der individuellen Kulturkrafte. die Behandlung der kulturelien Individual- kräfte durch die Volksschule, Weltkriegsgedanken als treibende Ideen für die deutsche Zukunftsschule beleuchtet, und der Weltkrieg wird in seinen Beziehungen zum Volksschulunterricht, zur Volksschulerziehung und zur körperlichen tflege durch die Volksschule gewürdigt. Weil E. Hahn im Reformationsjubeljahr seine inter- essanten Betrachtungen anstellt, weist er zum Schluß auf das Verhältnis der not- wendigen »Neuorientierung« der Vulksschularbeit zum Liberalismus und Sozialismus Luthers hin. Im »freien Christenmenschen« Luthers das Schulprogramm aller Zeiten zu sehen, dürfte aber ein etwas einseitiger Standpunkt sein. S. 55 ist zu lesen: »Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemand untertan« (nicht »jedermann untertan«e). Mauchus Fremdwoit hätte sich leicht vermeiden lassen.

Bautzen (Sa.). Johannes Meyer.

126 D. literalar,

:Krohn, Aug. E., Debora. (Bausteine für den Religionsunterricht, herausgegeben von Aug. E. Krohn, 1. Reihe, 5. Heft.) Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1916. 50 Pf. Bei Bezug der ganzen Sammlung 40 Pf.

Der Verfasser macht uns in diesem neuen Hefte unter glänzender Verwertung unserer heutigen Siegeszuversicht und -Begeisterung förmlich zur eigen erlebten Gegenwart, wie Debora die verzagten Israeliten mit Glaubenskraft und unwidersteh- licher Kampfbegeisterung erfüllt und zum Siege treibt. Die Losung in der beutigen Reiigionspädagogik heißt »Leben« aus der richtigen religionspsychologi- schen Erkenntnis heraus, daß religiöses Leben sich nur an religiösen Leben ent- zünden kann. Diesem Ziele dienen auch die »Bausteine für den Religionsunterrichte. Sie stellen in anschaulicher Schilderung die entscheidenden Augenblicke im Leben der großen religiösen Persönlichkeiten den Kindern so lebensvoll vor die Sinne, daß sich ihnen nicht nur unmittelbar ein Verständnis dafür erschließt, daß Religion Kraft ist, sondern darüber hinaus bringen sie durch die Macht des Erlebens in der kindlichen Seele jenen Funken zum Glimmen, der sich dann später durch die Wucht eigener Lebenserfahrungen zum Feuer eigener Reli- giosität entfacht. Die »Bausteine« zeigen den Weg zu eirer Vereinfachuug des immer mehr anschwellenden Stoffes, da sie sich auf die Typen aus den Ent- wicklungsstufen der Religion beschränken. Sie sind für die Hand des Lehrers bestimmt; dıe Sanımlung umfaßt jetzt 11 Hefte. Ausführliche Verzeichnisse sendet der Verlag Vandenhoeck & Ruprecht in Göttiugen kostenfrei.

Freiherr v. Künßberg, Prof. Dr. Eberhard, Einarm-Fibel. Ein Lehr-, Lese- und Bilderbuch für Einarmer. Karlsrube, G. Braunsche Hofbuchdruckerei und Verlag, 1917. Dritte vermehrte Auflage. gr. 8°. VI und 138 Seiten mit 179 Abbildungen. Preis 2,25 M.

So groß dıe Schrecken des Krieges auch sind, noch größer sind die Errungen- schaften, die er uns bringt in bezug auf die Neuertüchtigung unserer Kriegs- beschädigten, und von einer Gruppe der letzteren, den Einarmern, gibt die nun schon in dritter Auflage vorliegende Einarm-Fibel einen neuen ausführlichen Rechenschafts- bericht über die gesammelten wertvollen Erfahrungen ab. Die Fibel pliedert sich in zwei Teile. Der erste enthält zahlreiche, aus der Praxis hervorgegangene Winke und Anregungen, unterstützt durch ein zahlreiches Bildermaterial. Der zweite gibt Lesestücke aus den Lebensbeschreibungen besonders geschickter und hervorragender Einarmer. So wird das Buch auch weiterhin Nutzen stiften und das Interesse wachbalten bei allen, den eine sachgemäße Ausbildung der Einarmer nicht gleich- gültig ist; und dazu gehören auch die Leser unserer Zeitschuift.

Idstein i. T. Max Kirmsse.

. Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht Berlin, Kleinkinder- fürsorge. Einfuhrung in ihr Wesen und ihre Aufgaben. Mit 34 Abbildungen auf 24 Tafeln und im Text. Leipzig und Berlin, Verlag von B. G. Teubner, 1917. 8°. VII u. 231 u. 64 u. 27 Seiten. Preis 5,20 M.

Vorliegende Schrift ist das Resultat einer vom Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin veranstalteten Sonderausstellung für Kleinkinderfürsorge, welcher die Aufgabe zugefallen war, die sozialen, bygienischen und erziehlichen Momente allen Interessenten anschaulich vorzuführen. Dieses Bestreben scheint voll und ganz erreicht worden zu sein, denn auch Referent hat seiner Zeit die Aus- stellung besucht und hat sie mit Befriedigung verlassen. Daß das Zentralinstitut das wertvolle Material, das sich zurzeit als Wanderausstellung in anderen Städten zur Belehrung und Vertiefung darbietet, auch in Form eines Buches noch weiteren Kreisen zugänglich macht, ist sehr erfreulich. Dieses verbreitet sich zunächst ein- gehend über Entwicklung. Umfang und Ziele der Kleinkinderfürsorge, wobei in zahlreichen Kapiteln kurz das Notwendigste an die Hand gegeben wird über die körperliche und seelische Entwicklung, Erziehung, Statistik, Lebensbedrohung, Ge- fährdung des Kleinkindes usw. Eın geschichtlicher Rückblick, sowie Abschnitte über das abnorme Kind fehlen ebenfalls nicht. Sorgfältig ausgewählte Abbildungen er- gänzen den Text in gediegener Weise. Ein eingehendes Literaturverzeichnis über Kleinkinderfürsorge, der Katalog der Ausstellung, ferner ein Sach- und Namen-

nen. S ame

d

D. Literatur. 127

. verzeichnis vervollständigen die Brauchbarkeit des Buches in wünschenswerter Weise, so daß dieses für alle Interessenten mit gutem Gewissen empfohlen werden darf. Idstein i. T. Max Kirmsse.

Ufer, Christian, Rektor, Schulerziehung nach dem großen Kriege. Heft 2 der Sammlung »Das neue Deutschland in Erziehung und Unterricht«. Leipzig, Veit & Co., 1918. 144 S. Geheftet etwa 4,20 M.

; Der frühere Mitbegründer und Mitherausgeber dieser Zeitschrift bietet der

Schulweit eine Arbeit dar, die nicht eine vollständige Anleitung zur Schulerziehung

sein will, sondern nur eine Reihe von Punkten behandelt, auf die es nach dem

Kriege ankommen wird.

N Der Leser findet in dem Buche Klarstellungen über anstehende Tagesfragen, wie u.a. Einheitsschule, militärische Ausbildung der Jugend, Psychoanalyse, Kon- fessionsschule, konzentrische Kreise, Selbstregierung der Jugend und über ate ‚Kernfragen, wie Spiel und Turnen, Religion und Sittlichkeit, Privat- und Staats-

moral, Wissenschaft und Leben u.a m.

Der Verfasser hat viel gelesen, mit eigenem Urteil gelesen, so daß er den Leser zu einer sachlichen Urteilsbildung ungezwungen führen kann. Er ist im Grunde ein Herbartianer und Zillerianer, der sıch nicht scheut, das Verdıienstvulle aus jenen rührigen Kreisen rückhaltslos hervorzuheben. Ihm ist aber auch die Literatur der neueren und neuesten Psychologie wohl vertraut. Ferner hat er als Herausgeber einer internationalen pädagogischen Bibliothek mit den Arbeiten des pädagogisch interessierten Auslandes bisher enge Fühlung gehabt. Da kann es selbst in der jetzigen Zeit nicht Wunder nehmen, wenn Verfasser des eng- lischen Philosophen Herbert Spencers Erziehungsbuch natürlich mit gewissen Einschränkungen als dasjenige Buch bezeichnet, aus dem wir für unsere nächste Zukunft manches lernen köunen. Er vermeidet bei diesem Hinweise jede »grund- sturzende Neuordnung«e und empfiehlt als erfahrener Schulmann: »Man wird an das Bestehende anknüpfen müssen, Veraltetes beseitigen und durch Neues ersetzen, wo es erforderlich ist.«

Mit dieser Parole wird man Ufers durch Klarheit und Scharfblick sich aus- zeichnende Auseinandersetzungen, die nach einer Einleitung sich befassen mit der Hauptgliederung des Schulwesens, mit dem Rechte der Schwachen und Tüchtigen, mıt der körperlichen und geistigen Erziehung wohl zustimmen können.

Den Arbeitern in der Schule, wie im Schulregimnente, sei das Ufersche Buch warm empfublen.

Halle a. 8. B. Maennel.

Kraft, Otto, Die Provinzial-Taubstummenanstalt zu Königsberg i. Pr. in ihrer Entwicklung aus der Königlichen Taubstummenanstalt (1817—1875) und in ihrem Fortbestehen nach der Vereinigung mit der Anstalt des ostpreußi- schen Zentralvereins für Erziehung bedürftiger taubstummer Kinder (Vereins- anstalt). Festschrift zur Hundertjahrfeier der Anstalt 1817—1917. Mit 39 Ab- bildungen auf 30 Tafeln. Ein Beitrag zur Geschichte der ostpreußischen Taub- stummenbildung im allgemeinen. Herausgegeben vom Landeshauptmann der Provinz Ostpreußen, von Brünneck. Königsberg i. Pr. 1918. Im Selbstverlag der Anstalt. 4°. III u. 262 Seiten.

Man sollte es kaum für möglich halten, daß nach mehr als drei Jahren Krieg und der durch ihn bedingten Papiernot und sonstigen Schwierigkeiten ein solch um- . fangreiches Werk erscheinen konnte. Mag dem nun sein, wie ihm wolle. Jeden- falls hat der Landeshauptmann von Ostpreußen recht gehandelt, und der Geschichte der Taubstummenbildung einen schätzenswerten Dienst erwiesen, wenn er das wert- volle Buch dennoch jetzt herausgegeben hat. Dieses ist ja auch ein weiterer Be- weis für den deutschen Kulturidealismus, der mit der einen‘ Hand seine höchsten Güter verteidigt und mit der andern neue Werte schafit. In dem Buche selbst gibt uns der Verfasser eingehende Kenntnis über das Werden und Wacksen einer hervorragenden deutschen Taubstummenanstalt, deren Keime ın jener vor 100 Jahren von dem Kultusminister Wilhelm von Humboldt eingeleiteten großen, allgemeinen Schulreform liegen. Der erste Direktor der Anstalt, Dr. Ferdinand Neumann,

128 D. Literatur.

ein vorzüglicher Pädagog und bedeutsamer Schriftsteller —- dessen gediegene Schrift: Die Taubstummenanstalt zu Paris im Jahre 1822 Königsberg 1827 gılt heute noch als ein unühertroffener Beitrag zur Geschichte der Taubstummenerziehung wurde leider durch den Tod allzufrüh aus seinem Wirkungskreise abgerufen, noch ehe er sein Talent für seine Berufsarbeit voll zu: Reife hatte bringen können. Unter seinen Nachfolgern hat sich aber die Anstalt günstig weiterentwickelt, und namentlich auch der gegenwärtige Direktor, Schulrat Kraft, der verdieustvolle Verfasser vor- liegender Geschichte, gilt mit Recht als ein kenntnisreicher und erfahrener Taub- stummenbildner, der sich insbesondere als einsichtiger Beurteiler der Medizin in ihrem Verhältnis zur Taubstummenbildung einen Namen gemacht hat. Wie viele andere Anstalten, so beteiligt sich auch das Königsberger Taubstummeninstitut in weitgehendstem Maße an der Neuertüchtigung unserer gehörbeschädigten Krieger. Im übrigen erhalten wir in dem Werke wertvolle Aufschlüsse über das gesamte Schul- und Erziehungsleben der Anstalt während ihres hundertjährigen Bestehens und der mit ihr verbundenen ehemaligen ostpreußischen Privatanstalt für arme taubstumme Kinder. Der reiche mit Bedacht ausgewählte Bılderschinuck des Buches verdient besondere Beachtung wegen der eingangs erwähnten Gründe. Moge die Anstalt auch ferner blühen und gedeihen zum Wohle der ostpreußischen Taub- stummen! Idstein i. T. Max Kirmsse,

Ziehen, Th., »Über das Wesen der Beanlagung und ihre methodische Erforschung.e Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

Die von Th. Ziehen auf 32 Seiten zusammengestellten Leitsätze über das Wesen der Beanlagung und ihie methodische Ei forschung lenken die Aufmerksamkeit weiter Kreise auf die Schwierigkeit des Problems, das in der Gegenwart so leicht durch die Einheitsschule gelöst werden soll.

Die Leitsätze erklären den Begriff der Beanlagung in ‚weiterem und engerem Sinn. Div Annahme emer allgemeinen Verstandesfähigkeit oder Gesamtbegabung wird abgelehnt. Es wird hingewiusen auf die verwickelten Zusammenhänge der zahlreichen Anlagen untereinander, die durch die Zahlenspielerei der Korrelations- forschung nicht dargestellt werden können. Hier spricht der Psychiater, der die einzelnen Anlagen scharf tiennt und beobachtet und die fü: die Schule wichtigen Anlagen heraushebt, das Gedachtnis in seinen mannizsfaltıgen Unterarten, die Be- griffsbildung und die sogenannte Kombination: Anlagen, die man zweckmäßig unter der Bezeichnung Intelligenz zusammenfaßt.

Der zweite Teil handelt in 12 Leitsätzen über die experimentelle Untersuchung der Beanlagung. Ihre Notwendigkeit wird betont; aber die Anwendung der soge- nannten Tesimethode auf die Gesamtbegabung zurückgewiesen und die Tests nur als spezielle Prüfungsmethode für einzelne Anlagen anerkannt. Wert und Bedeutung der Tests wird wesentlich eingeschränkt.

In den Abschnitten 3—6 weden für die mathematische und musikalische Be- gabung, für die für den mechanischen Webstuhl und für das Maschinensetzen er- forderliche Begabung die in Betracht aommenden Funktionen und die wichtigsten zugehörigen Tests zusammenzestellt. Der letzte Abschnitt gibt literarische Nachweise.

Diese kleine inhaltsreiche Schrift kann allen denen, die in der Schule dem Tüchtigen die Bahn frei machen wollen, zum Bewußtsein bringen, wie leichtfertig und äußerlich oft ein Schüler beurteilt wird, wie schwer es aber auch ist, die wirk- lich Begabten herauszufinden, wieviel der Methodenforschung hier noch zu tun bleibt, wie wenig Aufmerksamkeit die Lehrerschaft in ganzen diesen Fragen bisher geschenkt hat.

Halle. Oberlehrer Dr. H. Apel.

Zur Besprechung eingegangen:

Fritz Georg Iwand: Erziehungsheime f. krüppelhafte Kinder höherer Stände, əZusammenstellung der Verordnungen über Jugendpfiege u. Jugendschutz.e Heraus- gegeben vom stellv. Generalkommando XL Armeekorps in Cassel, Sept. 1917. Dr J. Reichert: Aus Deutschlands Waffenschmiede, mit zahlr. Bildern u Tafeln.

Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.

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A. Abhandlungen.

1. Die privaten Erziehungs- und Bildungsanstalten in ihrer Bedeutung für unser deutsches Volk.

Vom Herausgeber. (Schluß.)

II. Wenn die Privatschulen nun aber von diesen öffentlichen Faktoren

‘gerecht bewertet werden sollen, dann müssen sie denselben klar

machen, welche Aufgaben die privaten Erziehungs- und Unterrichts- anstalten für Einzelne wie im öffentlichen Leben erfüllen.

Wie viele Einzelwesen wären wohl schulisch verkommen ohne Privatunterricht, sei es, daß es sogenannte Nachhilfestunden waren, sei es, daß sie für besondere Arbeitsgebiete besonders vorgebildet wurden? Wie mancher Begabte hat es nicht durch die öffentliche Schule er- reicht, sondern durch Privatunterricht, dazu oft noch neben seiner täglichen Berufsarbeit, daß er es zu Leistungen brachte, wie diejenigen, welche bis zu 10 Jahren und länger auf der Schulbank saßen, sie nicht erreichten! Auch die Führenden des gegenwärtigen Deutschlands, Scheidemann und Ebert, die ohne Frage an sich Hervorragendes leisten, haben kein Gymnasium und keine Hochschule gesehen. Sie sind auf privatem Wege bis zur höchsten Stufe des Reichsdienstes emporgekommen.

Zeitschrift für Kinderforschung. 24. Jahrgang. 9

130 A. Abhandlungen.

Aber ohne die fördernde Freundschaft des Privatlehrers würden auch solche Begabte selten den Weg zur Höhe finden. So wird mir von verläßlicher Seite berichtet, daß der hochbegabte Marburger Setzer- gehilfe Scheidemann dem Pädagogen Paul Natorp gelegentlich bekannt ° geworden ist, der dann durch tägliche honorarfreie Privatstunden ihm den Weg zunächst zu den Höhen der geistigen Arbeit und dann zu den Höhen einer vergeistigten Berufsauffassung und damit zum Führer seiner Berufsgenossen und endlich zum Beauftragten des ganzen Volkes bereitet hat. Ähnliche Beispiele lassen sich ja mehr finden, bis hinab zu dem Schwachbegabtesten der öffentlichen Schule, der nur durch Privatunterricht noch das hat werden können, was er geworden ist, für sich wie für die menschliche Gesellschaft.

Wegen dieses Einzelunterrichts bedürfen wir jedoch keines sonder- lichen Zusammenschlusses, denn er wird meist erteilt von solchen, die in Amt und Würden stehen und von uns Steuerzahlern, also aus öffentlichen Mitteln, bis an ihr Lebensende versorgt werden, und über deren Tätigkeit als Privatlehrer selten etwas über die engsten Kreise hinausgeht. Sie werden auch kein Interesse haben, sich unseren Bestrebungen anzuschließen. Wir müssen darum übergehen zu der Untersuchung, welche Bedeutung die Privatschulen und -Anstalten für das Einzelwesen und die Allgemeinheit haben.

Die ersten und bis heute noch die bedeutsamsten Privaterziehungs- Anstalten und -Schulen sind dem Christentum entsprungen, nach dem Vorbilde seines Gründers, der seine Privatschule schuf mit dem Rufe: »Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken« und dem für Erzieher und Lehrer so wichtigen und vorbildlichen Bekenntnis: »Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, daß er sich dienen lasse (also auch nicht nach . Beherrschung der Masse wie Massenherrschaft strebe), sondern daß er diene und gebe (wenn es sein muß, auch). sein Leben zu einer Erlösung für viele.«

Ja, diese beiden Worte des Stifters der christlichen Religion könnten als Motto über allen diesen Erziehungs- und Bildungs- An- stalten stehen, von den Anstalten der alten Mönche an bis zu den hohen wie niedrigen Schulen und Bildungsanstalten allerlei Art, zu den Rettungshäusern, Schwachsinnigen - Anstalten, Blinden - Anstalten, Kinderkrippen, Bewahranstalten usw.

Eine Hauptaufgabe aller dieser Bestrebungen war, den Einzel- seelen nachzugehen, ihnen ein Stück Seligkeit, irdisches wie himm- lisches (oder inneres) Glück zu bereiten, und es gibt heute keine Jugendpflege, Fürsorgeerziehung und ähnliches mehr, von staatlicher

Trüper: Die privaten Erziehungs- und Bildungsanstalten usw. 131

wie kommunaler Seite, denen diese Privatanstalt - Unternehmungen nicht Pfadfinder und Bahnbrecher gewesen sind, wie auch Delıtach es oben darlegte.

Aber im Laufe der Zeit traten außer diesen religiösen oder von religiösen Empfindungen bestimmten Erziehungs- und Bildungs- bestrebungen andere kulturelle Bedürfnisse hervor, welche Staat und Gemeinde nicht befriedigen konnten oder wollten aus irgend welchen Gründen, oder es nicht in genügendem Maße konnten. Und diese Bildungs- und Erziehungsbedürfnisse führten dann immer wieder zu Gründungen von neuen privaten Erziehungsanstalten und Schulen mit neuen, besonderen Aufgaben.

Als Beispiel darf ich wohl als das mir bekannteste, mein eigenes Erziehungsheim, anführen. Ich stand wohlversorgt bis zu meinem Lebensende im Staatsdienst und hatte gar nicht die Absicht, irgend eine Privatstelle und -Aufgabe zu übernehmen. Nur erkannte ich; welche Mißstände im öffentlichen Bildungswesen auch eines nicht bürokratisch geleiteten Staates,- wie es der Bremer Freistaat war, lagen, and das führte mich zu der einzigen akademischen Bildungsstätte für Pädagogik in Deutschland, nach Jena. Hier trat während meines Studiums von meinem früheren Nachbarn die Bitte an mich heran, für seinen psychopathischen Sohn irgend ein geeignetes Unterkommen zu suchen. Wir haben gemeinsam gesucht und keine geeignete Schule oder Anstalt gefunden. Da wurde ich schließlich ersucht, den Knaben aufzunehmen. Und ähnliche Gelegenheiten suchten mich öfters, anstatt daß ich je eine Gelegenheit suchte, meine mit 2 Zöglingen begonnene Anstalt zu erweitern, auszubauen und zu gliedern. Auf diese Weise ist schließlich das geworden auf der Sophienhöhe, was bis jetzt tausende gesucht und gefunden haben. Und ähnlich so ist es vielen anderen gegangen: Wichern in Hamburg, von Bodelschwingh in Bielefeld, Werner in Reutlingen, Salzmann in Schnepfenthal, Fröbel in Blankenburg und Keilhau, Stoy in Jena, Lietz in Isenburg usw. Immer galt es, ein nicht zu befriedigendes Bedürfnis zu befriedigen. Und wo das der Fall war, da hatten die Privatanstalten eine für Staat und Gesellschaft nicht nur nützliche, sondern notwendige Aufgabe. Alles, was so mit Herz und Kopf gesucht und gegründet wurde, das hat dann allmählich der Staat oder die Gemeinde nachahmend über- nommen und durchweg nicht einmal der Pfadfinder gedacht, ge- schweige denn ihnen gedankt, wovon ich selbst auch ein paar Liedlein singen könnte.

Ich will nur die Beispiele aus der nächsten Nähe nennen. Die

Oberrealschule in Jena ist aus dem Pfeifferschen Institut hervor- 9*

132 A. Abhandlungen.

gegangen. Den letzten Besitzer, der sich vorher hatte in den Gemeinderat wählen lassen, hat die Gemeinde zwar loyal behandelt, hat Gebäude und Inventar zum vollen Wert übernommen und dazu die Lehrer mit der Verpflichtung der Altersfürsorge;: daß man aber dabei des ursprünglichen Gründers dieser Realschule gedacht hat, des Privat- dozenten Stoy, ist mir nicht bekannt geworden. Das war also be- der Verstadtlichung schon vergessen. Und wie hier, so an vielen Stellen. Neben diesem Stoy-Pfeifferschen Institut mit Realschule konnte ein zweites erblühen, das noch jetzt den Namen des Gründers Stoy trägt. Das jetzige Stoysche Institut ist die einzige Realschule ‘Jenas; da es hier keine Mittelschule wie in Preußen gibt, muß es also dicse Mittelschule mit ersetzen. Es hat zurzeit etwa 200 Stadt- schüler. Damit wird der Stadt mindestens eine Ausgabe von 40000 M. -jährlich erspart, möglicherweise auch die doppelte Summe. Daß es dem Unternehmen irgendwie gedankt wird, ist mir nicht bekannt ge- worden. ich weiß nur, daß lange, unerfreuliche Verhandlungen wegen geringer Unterstützung geschwebt haben. Eine dritte Anstalt in Jena war die Ludewigsche höhere Mädchenschule, anfangs die einzige Schule für höheren Mädchenunterricht in Jena. Als sie sich gut ent- wickelt hatte, da nahm man die Sozialisierung vor. Und nicht alle Eltern sind erfreut über das, was an Innerlichkeit damit geschwunden ist und was kein äußerer Prachtbau ersetzt. Häufiger habe ich statt dankbarer Anerkennung für die Bahnbrecherarbeit undankbare ‚Nörgeleien gegenüber den dort tätig gewesenen Kolleginnen ver- nommen. Sie taten ohne Unterstützung, was sie konnten. Aber für dieses reine Geschenk habe ich selten von einem Dank gehört. Es sind zudem im Laufe der Zeit der Stadt mindestens eine Million Mark an Ausgaben durch diese Privatschulen erspart worden.

i Einen undankbareren Fall habe ich in Bremen kennen gelernt. Dort gab es seinerzeit 3 Realschulen. Die private Realschule von Debbe hatte etwa 100 Schüler mehr wie jede der beiden staatlich- städtischen: Schulen, trotzdem sie keinen Pfennig öffentliche Unter- stützung bekam. Die Eltern, welche die freie Wahl hatten, haben sie also trotz des höheren Schulgeldes, wohl aus triftigen Gründen, stark bevorzugt. Der Untergang wurde dieser Schule bereitet nicht durch den Staat Bremen, den Welt-Weitblick und Welt-Betätigung vor engherziger Bürokratie bewahrte, sondern nur durch die einzige ‚bürokratische Schuleinrichtung, die das alte Reich hatte, durch die Reichs-Schul-Kommission mit ihren bürokratischen Vorschriften über Lehrberechtigung. Als Debbe nicht mehr seine Lehrer wählen konnte nach ihrer wahren Tüchtigkeit, sondern sie wählen mußte

Trüper: Die privaten Erziehungs- und Bildungsanstalten usw. 133

nach ihrer schulbürokratischen Abstempelung, da konnte er mit den öffentlichen Schulen nicht mehr konkurrieren und mußte seine Anstalt bald eingehen lassen. Der Unterricht an der Debbeschen Schule ist zugleich ein Beispiel dafür, daß eine Privatschule büro- kratische Bevormundung nicht ertragen kann, daß sie lechzt nach freiem Licht, freier Luft. Nicht wehrt sie sich gegen behördliche Auf- sicht, wenn die Aufsicht sich ihrer wahren Aufgabe, nämlich ihrer Schulpflege bewußt sein will, die liebevoll sich in das Verständnis der Eigenart vertiefen will und sie von der Eigenart her bewerten mag. Aber jede Privatschule echter Art hat einen wahren Horror. vor bürokratischer Bevormundung, denn sie bedeutet oft, wie die Bei- spiele lehren, wahre Dolchstöße für sie. Nicht selten läuft sie darauf hinaus, daß nur der äußeren Form Genüge geleistet und daß kontrolliert werde, ob die Lehrkräfte in bürokratisch hergebrachter Weise richtig abgestempelt worden sind, während sie für die wahren Qualitäten eines Lehrers und vor allen Dingen für die eines Er- ziehers oft wenig Verständnis und Interesse bekundet. Damit soll aber keineswegs der Leichtfertigkeit der Privatschulen das Wort ge- redet werden, sondern wir müssen wünschen, daß zu uns nur die Privatschulen sich halten, die ihren Ehrenschild in jeder Hinsicht blank zu halten suchen, und mit Entrüstung muß man sich darunı dagegen wenden, wenn sich Privatschulen zu einem privat-wirtschaft- lichen Gewerbe erniedrigen, als ob Kinder eine Ware wären, zumal wenn solche Spekulanten dabei Vertrauen, Treue, ja Ehrenwort miß- achten, und wenn dann selbst Aufsichtsbehörden und andere sonst‘ Hochgestellte an solchen pädagogischen G. m. b. H. und ähnlichen Schiebungen keinen Anstoß nehmen. Ein Beispiel zugleich dafür, wie die Privatschule ohne ein ethisierendes Korrelat bedenklich werden kann.

In letzter Zeit hat der Sozialismus eine sehr starke Stütze in Universitätskreisen gefunden. Forderungen, wie zwangsmäßig einzu- richtende Einheitsschulen mit Schulgeldfreiheit, forcierter Aufstieg der Tüchtigen usw. sind in Universitätskreisen zum reinsten Steckenpferd geworden. Demgegenüber darf aber wohl daran erinnert werden, was wohl die Universität ohne Privatschullehrer und Privatschulen wäre. Nicht selten sind Leistungen der Privatdozenten bedeutsamer als die- mancher geheimrätlicher und Exzellenzdozenten, obgleich diese uns Steuer-; zahlern viel und jene nichts oder wenig kosten. Aber auch schulische Ein-. richtungen würden wahrscheinlich ohne Privatarbeit nicht an deutschen’ Universitäten vorhanden sein. Ich will nur an zwei uns Pädagogen’ sehr wertvolle, ja einzigartige Finrichtungen erinnern. “Der Privat-

134 A. Abhandlungen.

dozent Volkmar Stoy gründete in Jena ein Privat-Seminar für Pädagogen und errichtete eine Privatschule als pädagogische Klinik, und ebenso machte es der Privatdozent Ziller in Leipzig. Die soziali- sierten Universitäten haben zwar alle ohne Ausnahme Lehrstühle und Kliniken, Laboratorien und Probierfelder und Übungsstätten für Pflanzen- und Tierzucht, ja sogar Lehrstühle und Übungsstätten für ¿as Studium am Leichnam und am zu früh geborenen Menschen; aber ohne jene Unternehmen hätte keine deutsche Universität Lehr- siühle und Übungsseminare für die lebendigste Menschheit, für die Jugend.!) Die Universität hätte darum allen Grund, die Privatschulen und ihre Bestrebungen mit der größten Aufmerksamkeit zu verfolgen, nicht bloß diejenigen, welche gehorsamste Schüler ihrer Lehrer gründen. In Summa: Staat und Gesellschaft würden sich selbst den größten Schaden zufügen, wenn sie der Fahne des nivellierenden und ein- deutigen Sozialismus folgen würden, “gleichviel, ob er von unten unter der roten Fahne oder von oben auf bürokratischem Wege erstrebt wird. i Warum kann denn nun aber eine Privatschule und -anstalt in manchem mehr leisten als eine öffentliche Schule, da doch die Privatschule ganz auf sich selbst gestellt ist, während die öffent- liche Schule nach jeder Seite hin aus dem Staatssäckel erhalten wird und die Privatschule von oben und unten so oft mit Geringschätzung, ja Mißachtung und offenbarem Übelwollen behandelt wird, die öffent- liche Schule aber mit besonderem Wohlwollen und besonderer Gunst? Das liegt einfach daran, daß im Sozialbetrieb gewöhnlich nur das geleistet wird, ja, oft nur geleistet werden darf, was vorgeschrieben ist, ja ein weiteres oft ungern gesehen wird. Ich will nur daran erinnern, welches Übelwollen Professor W. Rein in Jena erfahren hat, seitdem 'er in einer sehr berechtigten kritischen Schrift von der »Rückständigkeit im Weimarischen Schulwesen« sprach.?) Diese Schrift hätte. seinerzeit mehr wirken können als ein gedrucktes Wort, denn sie war eine Tat, obendrein eine mutige Tat. Treffendes sagte Ernst Abbe über Sozialisierung der Betriebe in einer Rede vom 15. Dezember 1897: > »Sie werden mir nun freilich sagen, wenn ich behaupte, in Hinsicht auf die Regelung der wirtschaftlichen Interessen sei die Firma (d. i. Carl Zeiß) eine

1) Näheres in Trüper, Zeitfragen. Beiträge z. Kdf. Heft 80. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann). Ders, Zur Wertschätzung der Päda- gogik in der Wissenschaft wie im Leben. Beitr. z. Kdf. Heft 45. Ebenda. Ders., Zur Frage der ethischen Hygiene unter besonderer Berücksichtigung der Internate. Altenburg. Oskar Bönde. 1904.

2) Jena, Vopelius.

Trüper: Die privaten Erziehungs- und Bildungsanstalten usw. 135-

Produktivgenossensohaft: das ist mir eine schöne Genossenschaft, bei der die Ge- nossen in wichtigen Dingen, in bezug auf Leitung und Verwaltung des Ganzen nichts zu sagen haben.

Ich bin weit entfernt, Sie über diesen Unterschied hinwegtäuschen zu wollen. Im Gegenteil, wenn ich Veranlassung genommen habe, zu sagen, daß die Firma hinsichtlich der Regelung ihrer wirtschaftlichen Interessen eine Produktivgenossen- schaft geworden ist, so habe ich ein besonderes Interesse, gleich hinzuzufügen, aber nur hinsichtlich der Regelung der wirtschaftlichen Interessen, nicht auch in Hinsicht auf die Verwaltung der Leitung.....

Alle die Schritte, welche seit 20 Jahren zum Wohl der Firma unternommen worden sind, würden niemals getan worden sein von dem gewählten Genossen- schaftsvorstand einer Generalversammlung, weil es schon Schwierigkeiten genug gemacht hat, nur 2 bis 4 Petitionen zu übereinstimmenden Entschließungen zu bringen. Alle diese Entschließungen wären nicht zustande gekommen, wenn auch nur 10 Personen dabei mitzuwirken gehabt hätten.

Wir sind keine Genossenschaft in bezug auf Leitung und Ver- waltung der Aktion. Und im Vertrauen sage ich Ihnen: Seien sie froh darüber. ....

Es ist gelungen, in unserm Kreise alle Vorteile der genossenschaftlichen Organi- sation hinsichtlich der Regelung der wirtschaftlichen Organisation zu erreichen und in weiter Ferne die Klippen zu lassen, an denen alle Versuche bisher ge- scheitert sind, weil der einfältigste Unternehmer immer noch der ge- scheitesten Genossenschaft voraus ist.«!)

Das gilt auch für die Betriebe, die geistig-sittliche Werte er- zeugen, für Schulen und Erziehungsanstalten.

Die Privatschulen sind außerdem Ergänzungen und leisten wertvollen Ersatz für das, was an den öffentlichen Schulen fehlt und nielit geleistet wird oder geleistet werden kann.

Die große Anzahl von Privatschulen, namentlich die mit Einjährigen- Berechtigung, sind fast restlos gefüllt mit Schülern, die auf der öffent- lichen Schule versagten oder in der Familie Schwierigkeiten bereiteten, ohne daß diese Schüler deswegen immer minderwertig zu sein brauchen. Im Gegenteil sind aus Instituten dieser Art Persönlichkeiten hervor- gegangen, die nachher im Leben, im Staat und in der Gesellschaft, ganz ihren Mann -standen oder gar Hervorragendes leisteten. Ich will nur erinnern an Bismarck, den Zögling des Plamannschen Instituts in der Hasenheide; an Zeppelin, der einem Privatinstitut anvertraut war; an Mackensen, der auf der öffentlichen Schule nicht gut tun wollte, und an den Heldenflieger Freiherrn von Richthofen, der ein Pressier in des Wortes übelster Bedeutung war. Auch aus eigener Erfahrung auf der Sophienhöhe darf ich reden. Ich habe eine Reihe von Schülern gehabt, die sich im Kriege auf Führerposten durchaus bewährt, ja sogar ausgezeichnet haben und andere, die infolge eines längeren Aufenthaltes

1) Jenaische Ztg. v. 10. I. 19.

136 A. Abhandlungen.

bei uns noch mit guten und sehr guten Zensuren z. B. durch Referendar-, Doktor- und Assessor-Prüfung gegangen sind, und sie bringen auch diese Erfolge bis zum heutigen Tage in Dankbarkeit mit ihrem Aufenthalt auf der Sophienhöhe als Ursache ihres Fortschreitens in engste Beziehung. Die öffentliche Schule und vor allem die Schulbürokratie haben dieser vielen, die aus irgend einer körperlichen, geistigen oder ethischen Ursache von ihr selbst aufs tote Gleis geschoben waren und die durch die Privatanstalten brauchbar gemacht wurden, in keiner Statistik wieder erwähnt. Sie erfahren höchstens einmal davon, wenn sie im Leben Hervorragendes geleistet haben und ein Biograph den Quellen der Kraft nachgespürt hat. Von denjenigen, denen eine dauernde Für- sorge nur durch Privatanstalten zuteil geworden ist, wollen wir voll- ständig schweigen. Das Herz für das Bemitleidenswerte lag nie auf dem Wege der Vergesellschaftung, sondern stets bei Privatpersonen und in den freien Vereinigungen solcher Personen. Es sei hier noch einmal an die Innere Mission und die kathölische Caritas erinnert. Soeben sehe ich in einem Dankesschreiben an meine Kinder für ihre Pfennigsammlung für Bethel, daß dort jetzt 8000 privatim versorgt werden, wofür weder der alte Staat noch die Sozialdemokratie irgend ein Herz durch die Tat bekundet hatte. Der Schrei nur nach »dem Aufstieg der Begabten« muß sogar als ein antisozialer nach dieser Seite hin betrachtet werden.

Doch nicht bloß für die Einzelwesen hat die Privatschule ihre Bedeutung, ja wird zu einer Notwendigkeit, sondern sie hat gleiche Bedeutung auch für die Gemeinschaft. Wir haben davon vorhin schon eine Reihe von Beispielen angeführt. Ich will an dieser Stelle nur noch einiges anführen, um die Allgemeingültigkeit und Allge- meinheit meiner Behauptung darzutun.

Wie würde es wohl in der heutigen Schulwissenschaft und Schule bestellt sein ohne lebenslängliche Privatarbeit in Schule und Erziehung eines Pestalozzi? Die Wiedergeburt Preußens ist von keiner geringeren als der Königin Luise zurückgeführt worden auf die ungeheuren Ein- flüsse, die auf der Stube beruhen, in der Gertrud ihre Kinder lehrte. Wilhelm von Humboldt, Freiherr von Stein, Friedrich Wil- helm Jahn, Scharnhorst und Schoen haben für ihre staats- männische Reformarbeit in Staat und Gemeinde den Willen genährt im Studium des großen Schweizers.

Ja, um wie viel besser würde es heute wohl um die ganze Jugenderziehung stehen und mit welchem Bruchteil an jugendlicher Verwahrlosung an Geist, Seele und Leib hätten wir es wohl nur zu tun, wenn »Lienhard und Gertrud« maßgebend geworden wären für

Trüper: Die privaten Erziehungs- und Bildungsanstalten usw. 137

die sozialistische Arbeit an der Jugend in Staat und Gemeinde mit dem Hauptgedanken: »Die Wohnstube muß Rettungsanstalt werden«, als individuelle Erziehung vor und neben der Sozial- erziehung ?

Was eine auf diesem Boden erwachsene Pädagogik für die Staats- pädagogik werden kann, beweist z. B. die Tatsache, daß Friedrich Wil- helm Jahn, indem er die Berliner Jungen zum Turnen anhielt, damit zugleich der Inspirator der allgemeinen Wehrpflicht geworden ist, also der Begründer der wahren Demokratie und der organisierten Kraft unseres Heeres. Wir wollen in diesem Zusammenhange auch daran erinnern, daß dieser »Privatlehrer« Jahn und nicht der König Friedrich Wilhelm III. der Gründer des Eisernen Kreuzes gewesen ist, jenes un- vergleichlichen Wahrzeichens für Treue, Christentum und Kampf, das wir uns trotz Revolution und Republik nicht nehmen lassen wollen.

Würden wir in unseren öffentlichen Schulen Handfertigkeits- betätigungen und ähnliches haben, sei es in Praxis, sei es nur in theoretischer Forderung, ohne Fröbel mit den Kindergärten, Klauson Kaas, Götze und andere mit ihrem Privat-Handfertigkeitsseminaren ? usw.

Und würden wir öffentliche Kindergärten und wiederum öffent- lichen Handfertigkeitsunterricht haben ohne Fröbels und Blaschke- Gutsmuths -private, theoretische und praktische Bestrebungen, ohne ihre sieten durch die Tat wirksam gewordenen Hinweise, daß das Tun, das Handeln den höchsten Bildungswerf” besitze und nicht die Bücherweisheit von der Fibel bis zum Gelehrtenbuch?

Das mag genug sein, um nur anzudeuten, daß ohne Privat- betätigung, sei es in der Studierstube und der Werkstatt, sei es in der Schule oder Erziehungsanstalt, der öffentliche Schulbetrieb mit- samt der Jugendpflege einem inhaltsarmen Schematismus verfallen sein würde, in weit höherem Maße, als es jetzt schon der Fall ist. Der frühere vortragende Rat im preußischen Kultusministerium Waezoldt schrieb darum mit Recht einmal an einen Freund, damals Privatrealschuldirektor in Hamburg, später Kreisschulinspektor in Westfalen, daß ohne die Privatschule der öffentliche Schulbetrieb zum Handwerk hinabsinken würde. Diese Anerkennung seitens eines so hohen Staats-Schulmannes dürfte besonders beachtenswert sein. Auch daran sei erinnert, daß der Geheimrat Matthias in seinen Schriften stets ein Verfechter der Jungbrunnenarbeit war, wie sie in der Familie und in den Privatanstalten zu leisten ist.

Wenn wir nun so die Bedeutung der Privaterziehung und Bildung in Haus und Schule und Anstalt hervorgehoben haben, so wollen wir nicht verfehlen, daran zu erinnern, daß der naturgemäße Weg nicht

138 A. Abhandlungen.

der sprunghafte von diesem Individualismus zum weitesten, schablonen- haftesten Staatssozialismus ist, sei er bolschewistischer, mehrheits- sozialistischer, freisinnig-demokratischer oder bürokratischer Art, sondern daß der gesunde Weg zwischen Individualismus und Sozialismus auf erzieherischem Gebiete durch kleine Gemeinschaften führt, bei Be- rücksichtigung aller Eigenart der kleineren Gemeinschaften, allerdings unter vollster Beachtung der höchsten Aufgaben für das Vaterland. Leider ist es aber zum Unglück der Volkserziehung geschehen, daß die große Lehrermasse nichts Eifrigeres zu erreichen strebte, als reine Staatsbeamte zu werden und den ganzen Schulgeist staatlich zu uni- formieren, womit dann zwangsläufig eine verschärfte Geringachtung alles Privatschullehrertums verknüpft war. Allerdings, ein bestimmter Kreis Lehrer niederer wie höherer Schulen hat sich von dieser Tendenz bald mehr, bald weniger freigehalten. Es sind diejenigen, die grund- sätzlich die Pädagogik als Politikum ablehnten und für die Pädagogik ein eigenes Gedinge verlangten, sie als eine selbständige :an- gewandte Wissenschaft neben Theologie, Jurisprudenz und Medizin reklamierten.!) Sie hatten sich vereinigt in dem durch Ziller be- gründeten Verein für wissenschaftliche Pädagogik. Aber der rector spiritus war der bergische Volksschullehrer Dörpfeld neben Mager und -Diesterweg. Seine Schulverfassungsschriften halte ich auch für die gegenwärtige Zeit der Revolution von hervorragender Bedeutung für alles, was Erziehung und Bildung heißt, ja auch für alle politi- schen und konfessionellen Wirren.

Der frühere freisinnige Abgeordnete Eugen Richter stellte ein- mal im preußischen Landtag den Antrag, daß die Privatschulen ge- setzlich zu verbieten seien. Und das von der Berliner Tageblatt-An- schauung beherrschte Berliner Stadtparlament wollte einmal einer Privatmädchenschule in Berlin die Konzession nicht erteilen, weil sie keine Juden mit aufnehmen, also eine deutsch-christliche Schule sein wollte. In dieser Verweigerung liegt ein unbefugter Eingriff in die Elternrechte.. Wer die nicht mit Füßen treten will, muß in der Zwangskonfessionslosenschule, aber auch ebenso in der Zwangs- konfessionsschule eine Vergewaltigung der Familienrechte erblicken. Näheres darüber in meiner Schrift »Die Familienrechte an der öffent- lichen Erziehung usw.«

Auch ein großer Teil der Volksschullehrer, denen die links- stehenden Parteien seit je immer besondere Versprechungen gemacht

1) Trüper, Zeitfragen. Beitr. z. Kdf. Heft 80. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann). Ders., Zur Frage der ethischen Hygiene unter be- sonderer Berücksichtigung der Internate. Altenburg, Oskar Bonde. 1904.

Trüper: Die privaten Erziehungs- und Bildungsanstalten usw. 139

baben, die sie nie erfüllen konnten, kam so je länger je mehr in diese Bahn des illiberalen Liberalismus. Sie blieben ohne jedes Verständ- nis für die Berechtigung der Privatschulen, und die Uniformierung der Schule unter den Schlagworten: »Staatsschulen« mit Lehrern als »Staatsbeamten«, »Simultanschule«, »Einheitsschule« usw. wurde auch für sie mehr ein parteipolitisches als ein pädagogisches Programm. Es hat wohl niemand schärfer, allerdings bei größter Sachlichkeit, die hergebrachten Grundgebrechen der preußischen Volksschule kriti- siert als Dörpfeld in seinen Schriften: »Die drei Grundgebrechen der hergebrachten Schulverfassuungen nebst bestimmten Vor- schlägen zu ihrer Reform (1869, 1. Aufl.!) und »Ein Beitrag zur Leidensgeschichte der Volksschule (1882, 1. Aufl.2). Aber niemand hat auch schärfer sich dagegen gewandt, daß die Schule ein Politikum und vor allem ein Objekt des politischen Parteihaders werde. Nicht dringend genug kann geraten werden, das Kapitel über »die Schule und die politischen Parteien« in der letztgenannten Schrift gerade jetzt mit aller Sorgfalt zu beachten. Hier kann man lernen, was wahre Glaubens- und Gewissensfreiheit heißt.

Dörpfeld verlangte nun auch die Schul- und Erziehungs-Anstalten nicht uniformistisch, sondern organisch aufgebaut. »Die Wohnstube muß Rettungsanstalt werden«, wie Pestalozzi sagt, aber auch erste und letzte Bildungsanstalt für jedes Kind. Aus den Familien - Ge- meinschaften baut sich für ihn darum die Schulgemeinde auf, ohne daß er sie dem Individualismus der kleinen Gemeinschaften preisgeben will, denn in ihr sollen in gleicher Weise vertreten sein die politische Gemeinde, der Staat und die Kirche. Eine wahre Einheitsschule, oder richtiger gesagt, ein wahres organisch aufgebautes Einheitsschulwesen, kann meines Erachtens auch nur zustande kommen, wenn man sich an diese Dörpfeld schen Schulverfassungsschriften anlehnt, selbstverständ- lich unter Berücksichtigung der heutigen Zeit, die während der 50 Jahre manchem Wandel nach der negativen wie positiven Seite hin unter- worfen gewesen ist. Was heute an neuen Vorschlägen in Jugend- pflege, Familienrat, Schülerselbstverwaltung usw. auftaucht, ist fast alles schon von Pestalozzi und Dörpfeld in zum Teil weit zweck- mäßigerer Weise in Vorschlag gebracht worden. Immer finden wir bei Dörpfeld, was er auch in seinen »Drei Grundgebrechen der her- gebrachten Schulverfassung« gesagt hat, zielbewußt vereint: das Einzel- wesen als Person, als Familie, als Familiengemeinschaft (Schulgemeinde),

') 2. Aufl. Ges. Schriften, Bd. VII. ?) Spätere Auflage daselbst Bd. IX.

140 nr A. Abhandlungen.

als Stadtschulwesen, Staatsschulwesen usw. muß voll zu seinem Recht kommen gegenüber jeder höheren oder allgemeineren sozialen Gemein- schaft. Es behält bei ihm jede Familie, jede Gemeinde, jede religiöse Gemeinschaft, jede Landschaft, jeder Volksstamm und jeder Staat im Reiche seine Eigenart gewahrt, gegenüber der heutigen Forderung einer sozialistischen Uniformierung, möge sie durch den monarchisch- bürokratischen Staat oder durch die sozialistisch- demokratischen Um- wälzungen erstrebt werden. !)

Soviel zunächst über die Bedeutung der privaten Schulen und Erziehungsanstalten für die Einzelnen wie für die menschlichen Ge- meinschaften nach ihrer ideellen Seite.

Il.

Um den wirtschaftlichen Wert der privaten Anstalten für Staat und Gemeinde festzustellen, fehlt es leider bisher an jeder statistischen Unterlage, was die große Verständnislosigkeit weiter Kreise gegenüber der privaten Schulen erklärlich macht. Darum veranstaltet der Vor- stand der Vereinigung privater Schulen und Erziehungsanstalten in Thüringen folgende, auch für weitere Kreise bedeutsame Umfrage, um gegenüber den Sozialisierungsbestrebungen die wirtschaftliche Bedeutung der Privatschulen zunächst für Großthüringen darlegen zu können.?) Es wäre zu wünschen, daß auch in andern Teilen des deutschen Reiches ähnliche Erhebungen gemacht werden. Der besseren Verarbeitung wegen empfiehlt es sich das nachfolgende Schema mit zu verwenden. Sollten aber wichtige Fragen übersehen sein, dann wären wir sehr dankbar für Mitteilung derselben.

1. Welche Aufgaben hat sich Ihre Anstalt gestellt? a) im allgemeinen? b) welche besonderen, namentlich im Vergleich zu den öffent- lichen Schulen? c) Welche Lehrziele sind der Anstaltsschule gesteckt? 2. Wieviel Zöglinge hat die Anstalt als Internat? a) wie viele schulpflichtige Schüler sind unter diesen? 3. Wie viele auswärtige (Stadt)-Schüler besuchen (außerdem) die Anstaltsschule ?

1) Dörpfelds vortrefflichste Gedanken über alle diese Fragen hat Vogelsang zusammengestellt in den Kapiteln »Schulverwaltung« und »Schuleinrichtung« S. 11 bis 18 seiner Schrift »Bilderreden aus Dörpfelds Schriften«. Heft 154 der »Bei- träge z. Kinderforschunge. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

?) Die Angaben werden vertraulich behandelt, sofern es dabei vermerkt wird. Es kommt darauf an, Gesamtziffern für Gemeinde und Staat zu gewinnen. Es ist darum der Durchschnitt der letzten 3 Jahre erwünscht.

4.

13.

14.

Trüper: Die privaten Erziehungs- und Bildungsanstalten usw. 141

Wie viele Zöglinge bezw. Schüler besuchen Ihre Anstalt, die einer ganz besonderen erziehlichen oder unterrichtlichen Be- handlung bedürfen und worin besteht die Behandlung? a) Wie viele Schüler werden mutmaßlich befähigt werden, sich später einem ausgesprochen geistigen Berufe zuzuwenden ? b) Wie viele werden voraussichtlich nur einen praktisch-manu- ellen Beruf ausfüllen können? c) Wie viele bleiben berufsunfähig? Wie viele Angestellte, Bedienstete und sonstige Hilfskräfte sind dort tätig, und was wird für sie an Gehältern oder Löhnen ver- ausgabt? Auch das Gehalt der Leitung ist mit zu veranschlagen. a) Lehrpersonen, aa) Akademiker, bb) Seminariker, cc) sonst Vorgebildete (Kindergärtnerinnen, technische Lehr- kräfte usw.), b) nur für häusliche Erziehung und Pflege Beschäftigte, c) im Wirtschaftsbetrieb Angestellte, d) Bedienstete, e) in Tagelohn Beschäftigte. f) Summe der Gehälter und Löhne (Wohnung, Verpflegung usw. sind abgeschätzt mit zu verrechnen). Wie viele Geschäfte der Gemeinde haben einen wesentlichen Erwerb durch die Anstalt? (Bäcker, Buchhändler, Ärzte usw.) und welche Jahressummen werden an dieselben gezahlt? Welchen ‘Jahresumsatz hat die Anstalt? Welche Summen an Steuern und Abgaben jeder Art werden von Leitern, Angestellten, Bediensteten, Lieferanten usw. der Gemeinde wie dem Staat bezw. dem Reich zugeführt?

. Könnte die Anstalt oder Schule durch eine öffentliche hin-

reichend ersetzt werden bezw. aus welchen Gründen nicht?

. Wie viele Lehrkräfte würde der Staat einstellen müssen, um

die Schüler vorschriftsmäßig zu unterrichten, und welcher Auf- wand wäre dafür nötig?

Was müßte er außerdem noch unbedingt aufwenden, um die Zöglinge, die ohne Anstaltserziehung nicht gedeihen, zu versorgen, (durch Waisenhäuser, Fürsorgeerziehung, Heilanstalt usw.)? Wie viele Schulräume wären erforderlich, und was würden sie an jährlicher Miete kosten?

Was würden diese Schulräume samt allem Inventar (auch Bibliothek u. Lehrmittel), sowie Beleuchtung, Heizung, Reinigung usw. kosten ?

142 A. Abhandlungen.

15. Wie viele Personen würden unbedingt erwerbslos, wenn die Anstalt oder Schule infolge einer etwaigen Sozialisierung ge- schlossen werden müßte?

16. Welche ideellen wie materiellen Werte würden unbedingt da- durch verloren gehen?

17. Weitere Angaben, welche das Interesse der Privatanstalten be- rühren, sind uns sehr erwünscht. !)

2. Bilderreden aus Dörpfelds Schriften. Vor Rektor Vogelsang in Barmen. (Schluß.)

IX. Religionsunterricht.?)

Wenn man bedenkt, daß Dörpfeld eine tief religiöse Natur war, daß er mit besonderer Vorliebe über religiöse Fragen nachdachte (und seine Amtsgenossen in den Bibelkonferenzen dazu anleitete) und daß ihm die Förderung des Reiches Gottes bei den Erwachsenen wie bei den Unmündigen ein Herzensanliegen war, so wird man verstehen, daß er sich um die Methodik des Religionsunterrichts besonders ver- dient gemacht hat. Überall war er bemüht, selbst auf Umwegen den in alten Geleisen laufenden Religionsunterricht zu reformieren.

Seine Notwendigkeit. Wer den Religionsterricht aus der Schule verbannt, der nimmt den Frühling aus dem Jahre.

Ein Ausscheiden des Religionsunterrichts aus der Schule ist eine so große Abirrung von den pädagogischen Grundsätzen, daß sie eigent- lich gar nicht mehr qualifizierbar ist; es ist eine pädagogische Sünde, und zwar eine solche, die vor dem Forum der Schulmänner hienieden nicht mehr vergeben werden kann.

Seine Isolierung. Wenn die Einheitlichkeit der Schule nicht mehr wie jetzt eine bloße Redensart ist, sondern Wahrheit und Wirklichkeit, dann kann ein Schulmann ebensowenig die Iso- lierung des Religionsunterrichts gutheißen, als ein Mathematiker das Dreieck für ein Viereck erklären kann. Biogr. 376.

1) Ein weiteres über die Stellung der Schule zu den Gegenwartsströmungen in Heft 155 der »Beiträge« wie unter den »Mitteilungen« dieses und der folgenden Hefte. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

®) Vergl. Dörpfelds Verdienste um den Religionsunterricht, Von Rektor Vogelsang. Ev. Schulbl. 1899, 8. 249 ff.

er

Vogelsang: Bilderreden aus Dörpfelds Schriften., 143

Anschauliche Vorführung der biblischen Geschichte. Beim Religionsunterricht muß das lebendige Anschauen zugleich ein erbauliches Betrachten sein; das Angeschaute muß auch einen Ein- druck auf Gemüt und Gewissen machen. Um diesen Eindruck handelt es sich vor allem, er ist bei der Heilsunterweisung die Blüte, der erste Ansatz zur Frucht. Das nachfolgende Einprägen wird und kann in der Regel nur. das Wissen befestigen, nicht den Gemüts- eindruck; es ist sogar möglich und leider zu oft wirklich, daß dabei der ursprüngliche Gemütseindruck abgeschwächt wird, ja daß durch das Verleiden der Sache die Blüte samt der Frucht verloren geht. Das lebendige Vorerzählen ist deshalb die überwichtige Hauptsache.

III, 58.

Zum anschaulichen Vorerzählen gehört ferner, daß alle unbe- kannten Sachen und alle unverständlichen Ausdrücke sofort kurz er- klärt werden, was in vielen Fällen so geschehen kann, daß erst die verständliche kindliche Ausdrucksweise gebraucht und dann der un- bekannte Ausdruck hinzugefügt wird. Geschieht dies nicht, so ist das nicht anders, als wenn einer in sein Erzählen absichtlich unverständ- liche fremdsprachliche Worte hineinflickte und sie erst lange nachher, am Schlusse, übersetzen wollte. III, 226.

Im Religionsunterricht gehören beide Stücke, der rechte Ver- anschaulichungsstoff und das rechte Wort zum Aussprechen der reli- giösen oder sittlichen Wahrheit, die er veranschaulicht, genau so not- wendig zusammen, wie bei einem Gewebe der Aufzug (die Kette) und der Einschlag. I, 1, T. 116.

So wenig ein Hausvater, dessen Kinder ihr Gemüse ganz ver- zehrt haben müssen, bevor sie das Fleisch essen dürfen, behaupten darf, die Kinder eines andern, die Gemüse und Fleisch in der her- kömmlichen Weise zusammen speisen, bekämen gar kein Fleisch, ebensowenig darf Dr. Rein sagen, bei mir fände bei der anschau- lichen Vorführung keine Unterredung statt. Ich fordere viel- mehr, daß der mündliche Vortrag des Lehrers und die vertiefende Unterredung von Anfang bis zum Ende Hand in Hand gehen: Bei mir sollen Vortrag und Unterredung ein einiges Ganzes bilden, so daß also das Unterreden den erzählenden Vortrag von Schritt zu Schritt begleitet. Um eine möglichst anschauliche Auffassung zu erzielen, muß neben der erzählenden Darstellung auch die freie Unterredung mitwirken. Diese hat aber nicht bloß die bekannten Zwecke des Verdeutlichens, des Prüfens, ob alles richtig gefaßt ist und der Belebung, sondern namentlich auch den, die Selbsttätigkeit

144 A. Abhandlungen.

der Schüler zu wecken, damit sie selber erdenken oder erraten, was vom Verlauf der Geschichte erraten werden kann. Dies Gleichnis richtet auch den wahrhaft kolossalen Irrtum Dr. Reins, bei mir geschehe zur tieferen Erfassung der religiös- ethischen Innenseite der Geschichte nichts. Daß wider mich, den alten Eiferer für die Gewissenspflege, dieser Vorwurf erhoben werden würde, das hätte mir nicht einmal im Traume einfallen können. II, 2, T. 108. Der Religionslehrer kein Spediteur, sondern ein Zeuge. Wer kein Herz für die Sache hat, mit seinem Gewissen nicht dabei . ist und nicht sprechen kann: Ich glaube, darum rede ich, der ist kein rechter Religionslehrer, sondern ein religiöser Spediteur, der an fremden Gütern sein Geschäft treibt, also nur ein Handlanger des eigentlichen Religionslehrers, der ein lebendiger Zeuge sein muß. Dabei ist zu beachten, daß es, wie unter den kaufmännischen, so auch unter den pädagogischen Spediteuren zweierlei Leute geben kann: treue, die die anvertrauten Güter pünktlich und richtig besorgen und un- treue, die sie unpünktlich oder verdorben oder verfälscht abliefern. III, 132. Lehrer des Christentums und christliche Lehrer. Jener gleicht einem blinden hölzernen Wegweiser, der mit seinem steifen Arm da und dorthin zeigt, aber auf seiner Stelle stehen bleibt; dieser ist ein lebendiger Reisegeführte, der den zu Unterweisenden freund- lich an der Hand nimmt und geleitet, so weit es gehen mag. Jener ist ein Spediteur, der fremde Sachen, deren Wert er nicht einmal kennt, weiter befördert; ein Makler, der die Waren andrer bloß um des Maklerlohnes willen, vielleicht mit Aufwand aller möglichen Bered- samkeit anpreist; ein Referent, der wohl zu erzählen weiß, was andere Leute von Adam bis St. Johannes von Gottes Herrlichkeit und Tugend gesehen und erfahren haben, aber aus eigener seliger Er- fahrung nichts zu zeugen weiß; während dieser, als einer, der die köstliche Perle, den Schatz im Acker gesucht und gefunden, von eigenem geschätztem Besitztum reden und von dem, was seine Augen gesehen und gehört haben, mit vollem Brustton ein lebendiges Zeug- nis ablegen kann. So weit ein tönendes Erz und eine klingende Schelle von einer beseelten, lebendigen Menschenstimme unterschieden ist, so weit und groß ist auch der Unterschied zwischen einem bloßen »Christentums-Lehrer«e und einem wahrhaft christlichen Lehrer. V, 2, T. 96 (1858). r

Vogelsang: Bilderreden aus Dörpfelds Schriften. 145

X. Andere Unterrichtsfächer.

Was die anderen Unterrichtsfächer betrifft, so beziehen sich Dörpfelds Gedanken und Reformvorschläge!) namentlich auf den Ge- schichtsunterricht, zu dessen Ergänzung er als erster (vor 1872) die Gesellschaftskunde (staatsbürgerlichen Unterricht)?) forderte, auf den naturkundlichen, den Deutsch-, den Rechen- und den Zeichenunterricht. Folgendes sei daraus wiedergegeben:

Aus der Weltgeschichte ein Schulpensum zu machen, kommt einem vor, wie die Beschäftigung jenes Bübleins in der Legende, das mit einer Muschel das Weltmeer in ein Sandgrübchen schöpfen wollte.

I, 1. T. 23.

Die Leitfäden der vaterländischen Geschichte, wie sie so häufig den Volksschülern in die Hände gegeben werden, während doch der Lehrer voraussichtlich nicht die Zeit hat, durch ausführ- liches, mündliches Erzählen diese Skelette mit Fleisch und Blut zu bekleiden, sind mir geradezu ein Greuel. T, 1. T. 24.

Die Einfügung der Realien in den Lehrplan gleicht der Einfügung des Schlußsteins in ein Gewölbe, wo die andern Steine nicht eher völlig leisten können, was sie sollen, bis jener eine, der die Schließung herstellt, eingefügt ist.

Selbständigen Realunterricht erteilen sollen, aber dabei kein angemessenes Lesebuch gebrauchen dürfen das lautet ja in Wahrheit wie jener Befehl an Israel unter der Fremdherrschaft: Stroh wird euch hinfort nicht mehr geliefert werden; aber euer Maß Ziegeln müßt ihr dennoch erfüllen. I, 1. T. 27.

Real-Lesebuch. So wenig das belletristische Lesebuch beim Religionsunterricht ein besonderes Lehrbuch ersetzen kann, ebenso- wenig kann es im Realunterricht ein solches ersetzen. Ein Feder- messer ist ein nützliches Werkzeug, aber zum Brotschneiden taugt es nicht. »Eins für eins«e hat darum schon Aristoteles gesagt. (Zwei dringliche Ref.) Das belletristische Lesebuch zugleich als Reallesebuch benutzen wollen, heißt dem Rasiermesser zumuten, sich auch als Brotmesser benutzen zu lassen, oder einem Lastträger, der einen stützenden Stab begehrt, statt dessen einen schweren Balken in die Hand geben. L 2: T2:

Wer die drei sachunterrichtlichen Lesebücher ersetzen zu können

1) Vergl. Vorschläge zur Reform der Allgemeinen Bestimmungen von Rektor Vogelsang. Päd. Mag. Heft 318. Langensalza, H. Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

2) Vergl. Lambeck, Die staatsbürgerliche Erziehung im Lehrplan der Volks- schule. Beitr. z. Kdf. Heft 81. Langensalza, H. Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

Zeitschrift für Kinderforschung. 24. Jährgang. 10

146 A. Abhandlungen.

meint durch die realistischen Stücke des schönsprachlichen Lesebuchs, der schielt nicht bloß mit einem Auge, sondern mit beiden; denn er kennt weder die Eigenart des fachwissenschaftlichen Stiles recht, noch die des belletristischen. Die sachunterrichtlichen Lesebücher vertreten die fachwissenschaftliche Literatur, die sprachlichen Lese- bücher dagegen die belletristische.

In den drei- und mehrklassigen Schulen halten die Behörden

' einen Realien-Leitfaden für nützlich, in den ein- und zweiklassigen

hingegen für überflüssig. Unter günstigeren Verhältnissen soll also ein Wiederholungsbuch rätlich sein, unter weniger günstigen dagegen unnötig. Das klingt doch gerade so, wie wenn jemand sagte: Wer gesunde und starke Beine hat, mag sich beim Marschieren eines stützenden Stockes bedienen; der Schwächliche oder Lahme dagegen bedarf einer solchen Stütze durchaus nicht; sie muß ihm verboten werden. Merkwürdige Logik!

Was die mündliche Sprachfertigkeit betrifft, so läßt sich nur dann etwas Namhaftes erreichen, wenn tagtäglich die Zunge ge- übt wird, wie beim Musikunterricht die Finger. Was beim münd- lichen Unterrichten, beim Lesen und Vortragen des Auswendig- gelernten zur Lösung der Zunge bewirkt wird, gilt kein Haar breit melır, als was die musikalischen Lesestunden zur Erzielung der Finger- fertigkeit bewirken. Da auch das Chorsprechen nur in beschränktem Maße dienen kann, also innerhalb der Schulstunden keine durch- schlagenden Redeübungen möglich sind, so muß man sie da suchen, wo der Musiklehrer die Fertigkeitsübungen sucht: Der Sprachlehrer muß dem Schüler zumuten, zu Hause sich ordnungsmäßig im Reden zu üben, nämlich durch lautes Lesen und Memorieren, das besonders wichtig ist und wenigstens halblaut geschehen sollte II, 1. T. 62.

Tritt bei freien Produktionen das Sprachgesetz mit seiner Kor- rektur auf, bevor die Leistung zu einer gewissen Sicherheit gelangt ist, so geht es ihm, wie einem Briefe, dessen Empfänger nicht er- mittelt werden kann, es findet kein Gehör. II, 1. T. 57.

Zeichenunterricht. Hat sich im Gesangunterricht je einer großes Kopfzerbrechen darüber gemacht. ob neben den Stimm- und Treffübungen auch für die Kirchen- und Volkslieder Platz wäre? Läßt nicht der Klavierlehrer neben den Etüden und Fingerübungen auch Sonaten und Lieder spielen? Kommen nicht in allen Klassen viele schriftliche Arbeiten vor? Hat das jemals eine Schule unter- lassen aus Besorgnis, es möchte dadurch der Schönschreibe-Kursus aus dem Geleise geraten? Was man nun an diesen Stellen weiß und tut, das tue man auch im Zeichenunterricht: man benutze die

Vogelsang: Bilderreden aus Dörpfelds Schriften. 147

in den drei Wissensgebieten vorkommenden körperlichen Dinge, die behufs des anschaulichen Verstehens in Abbildungen oder in natura vorgezeigt werden müssen, auch zu Zeichenübungen, dann ist er auf dem rechten Wege. Er gewinnt an Interesse und bildender Kraft. I, 1.°T. 80.

XI. Kirche.

Von Männern der Kirche ist Dörpfeld »ein christlicher Charakter erster Größe«, sein Lichtmensch, ein Mann der Sehnsucht wie Comenius« genannt worden »Mit Taulerus«, bekennt er einmal, >und Thomas von Kempen bin ich gut katholisch, mit Luther und Joh. Arnd gut ' lutherisch, mit Tersteegen gut reformiert und mit Melanchthon, Spener und Oetinger gut unionistisch, kurz, ein guter deutscher evangelischer Christ.<e In ihm waren »die beiden Richtungen im geistigen Leben seiner Heimat: Innigkeit und Gemütstiefe und Klarheit und Schärfe des Denkens verbunden mit dem Streben, alles, was das Innere er- füllt, ins werktätige Leben zu übertragen, zu einer höheren Einheit verschmolzen. »Dem Bekenntnis der Kirche wie auch den verschiedenen kirchlichen Richtungen gegenüber bewahrte er seine Selbständigkeit. Andersdenkenden gegenüber war er weitherzig. Wer ihn ohne weiteres zu den Positiven oder gar Orthodoxen zählt, kennt ihn nicht. Wer ihm wegen seiner Bekämpfung der geistlichen Schulaufsicht eine ge- wisse Verstimmung gegen die Kirche oder vielmehr gegen das Pfarr- amt unterschiebt, befindet sich im Irrtum. »An der Kirche halte ich wegen des Schatzes, den sie birgt, in allen Treuen fest; allein dies hindert mich nicht, treibt mich vielmehr an, nachzufragen, wo jener Schatz durch die Gebrechen und Schäden der Kirche verdeckt oder entstellt werden möchte. !)«

Gottsucher und Kirche. Es gibt unter mannigfacher Form und Gestalt viele natürlich ehrliche, nach Wahrheit suchende Gemüter, die vielleicht nur darum die »eine, köstliche Perle« nicht finden können, weil die menschliche Torheit in ihrer Umgebung sie in allerlei Hüllen verpackt hat; oder die unter der Verpackung wohl einen Schatz ahnen, aber dadurch wieder irre werden, daß man ihnen zu- mutet, auch die menschliche Umhüllung als göttliche Ware zu schätzen. Vor Menschen sind sie freilich nicht immer offenbar; Gottes Auge aber, das Herzen und Nieren prüft, kennt sie. X, 2. T. 44.

1) Näheres in meinem Aufsatz: Dörpfelds Bedeutung für die Kirche, im »Geisteskampf der Gegenwart«. 1914. 9. Heft und in der »Kirchlichen Rund- schau« von P. Döring. Märzheft 1914.

10*

148 A. Abhandlungen.

Bibelkritik. Bei einem reichgedeckten Tische ist es besser, sich an dem, was einem schmeckt und wohlbekommt, recht satt zu essen, damit man Lebenskräfte gewinne, und was einem nicht mundet, ruhig stehen zu lassen, als über den verschiedenen Geschmack zu streiten oder darüber, wie die betreffenden Speisen in der Küche zu- bereitet worden sein möchten und infolge dieses Streites das eine, was not ist, das Essen zu vergessen. Das ist die praktischste Aus- gleichung oder Annäherung zwischen den Parteien, die sich über den Wert der Bibel nicht vollständig einigen und. doch auch beide die Bibel nicht fahren lassen wollen. Die Philologen sind gescheit genug gewesen, durch die Streitigkeiten über die Entstehung der homerischen Schriften sich von dem Genusse und bildenden Gebrauche dieses Klassikers in den Schulen nicht abhalten zu lassen. Zu dieser Klug- heit müssen wir Pädagogen hinsichtlich der Bibel auch noch fortzu- schreiten suchen.

Die Bibelkonferenzen kommen, wenn sie rbcht eingerichtet, d. h. klein und vertraut sind den zweifelnden, suchenden Seelen entgegen, wie dem Wüstenwanderer eine wasserreiche, blühende Oase. Sie sind lebendige Bastionen und Forts der Kirche gegen die Angriffe des Unglaubens, Zufluchts- und Pflegestätten für die von Zweifeln bedrängten Gemüter. X, 2. T. 102.

Wie die Zellen die Urform des Pflanzenleibes, so sind die Bibel- konferenzen die Urform gemeinsamer Erbauung. X, 2. T. 101.

Verfall der Kirche und philosophischer Schulen. Wie eine religiöse Gemeinschaft, so erhält und stärkt sich auch eine philo- sophische Schule nicht so sehr durch ängstliches Bewachen der »reinen« Lehre, als vielmehr durch fortgehende Verbesserung (Reformation oder »stetige, unaufhörliche Buße« wie Doktor Luther sagen würde) durch angelegentliche Ausbildung der wichtigsten praktischen (angewandten) Lehrzweige, also in unserm Falle der Pädagogik und durch fleißiges Missionieren, was hier zugleich heißt: Übung in der schwierigsten Art des Lehrens. Eine Kirche wie eine philosophische Schule, die diese dreifachen Arbeiten versäumt, gerät in Verfall nicht bloß trotz der reinen Lehre, sondern gerade durch dieselbe, und zwar so gewiß, als der Leib bei dauernder Untätigkeit gerade durch nahrhafte Speisen am ersten krank wird. VI, 142.

Liberalismus und Kirche. Als das politische Denken in Deutschland erwachte, war auch die Reformationskirche innerlich und äußerlich arg heruntergekömmen. Zur Zeit des reformatorischen Epi- gonentums, der streit- und ketzersüchtigen Rechtgläubigkeit, war den Kirchenbäumen der Saft ausgegangen. Ihr Gezweig stand noch da,

Vogelsang: Bilderreden aus Dörpfelds Schriften. 149

aber zumeist herbstlich gealtert oder bereits kahl. Als dann schließ- lich der scharfe Wind der rationalen und rationalistischen Theologie hindurchfegte, hatte er mit dem dürren Laube leichtes Spiel. Es brauchte niemand zu sagen: »Wir wollen nicht mehr im Schatten der Kirche leben,e denn es war in weiten Strecken kein nennens- werter Schatten mehr vorhanden. Unter diesen Umständen ist es also nicht zu verwundern, wenn der damals aufkommende Liberalismus das richtige Verhältnis zu Religion und Kirche nicht finden konnte. Die meisten Glieder der liberalen Partei verhalten sich zu den reli- giösen Gedanken und Einrichtungen, den wichtigsten, die ein Volk haben kann, vorwiegend teilnahmslos und gleichgültig; ein nicht kleiner Bruchteil sogar entschieden feindselig. IX, 268. Die Liberalen gleichen einer Armee, der einige der wichtigsten Generalstabskarten fehlen; denn es ist ihnen entgangen, daß seit den Befreiungskriegen in einem großen Teile des Volkes eine bedeutende Belebung des religiösen Interesses stattgefunden hat. Mit diesen Kreisen haben sie so gut wie gar keine Fühlung, wissen daher auch nicht, was dort eigentlich vorgeht. IX, 288. Kirchliche Einrichtungen. Feste Formen sind einer kirch- lichen Gemeinschaft notwendig, vorab und hauptsächlich in päda- gogischer Hinsicht, sodann in einem zweiten Sinne so nötig, wie das Skelett dem Leibe und in einem dritten, wie die Rinde dem Baume und wie die Schwielen der Hand des Arbeiters. X, 2. T. 69.

XII. Soziales.

Im Jahre 1866 gab Dörpfeld unter dem angenommenen Namen Dr. German »Die soziale Frage« heraus. Von dieser Schrift (X. Band) schrieb er an seinen Sohn, Professor Dörpfeld in Athen: >In hiesiger Gegend ist es weder ein Hof- noch ein Dorfprediger, weder ein Liberaler noch ein Konservativer gewesen, der den Kampf wider die Sozialdemokratie zuerst aufgenommen hat, sondern ein einfacher und dazu kranker Schulmann.« »Dörpfeld war«, wie Trüper bei der Denkmals-Einweihung hervorhob, »Politiker und Sozialreformer, weil er »>unser Volk lieb hatte«, weil er berufs- und pflichtmäßig Volkserzieher war.« Er war nicht nur in der Pädagogik, sondern auch in der Philosophie, der Theologie und der Nationalökonomie zu Hause. Gerade auf dem letzteren Gebiet bekundete er kritischen Scharfblick mit glaubensstarkem Seherblick. !)

1) Näheres bei Trüper: Schule u. soziale Frage. Ev. Schulbl. 1900, S. 93 ff. Ders., Dörpfeld u. die Sozialdemokratie. Ev. Schulbl. 1902, S. 519. Ders., Dörpfelds Theorie und Praxis einer sozialen Erziehung. Gütersloh, Bertelsmann.

150 A. Abhandlungen.

Bei der Hebung des Arbeiterstandes müssen neben den äußeren Hilfsmitteln und der geistigen Geschicklichkeit auch sittliche Kräfte mitwirken. Lassalle schien die moralische Willigkeit und Be- fähigung als selbstverständlich anzunehmen, und doch versteht sich das so wenig von selbst, als ein Acker, der Frucht tragen soll, sich selbst kultiviert. X, 1. T. 47.

Einem sittlich ruinierten Geschlecht ist durch äußere Mittel allein so wenig aufzuhelfen, als ein hart getretener, steinichter Weg bei der günstigsten Witterung Frucht zu bringen vermag. X, 1. T. 45.

Selbständigeit des Arbeiterstandes. Der Arbeiter heißt selbständig; aber solange er nicht das geringste Kapital besitzt, kann er im Grunde nicht besser aufrecht stehen, als ein leerer Sack. Er heißt unabhängig, allein der Macht der sozialen Verhältnisse gegenüber ist er nicht unabhängiger als der Luftballon, den der Wind treibt, wohin er will. Der heutige Arbeiter ist frei; aber gleichsam wie ein Schiffbrüchiger, der nackt und bloß an eine einsame Insel geworfen wird und nun zusehen muß, wie er sich weiter hilft.

X, 1. T. 33.

Aufklärungsarbeit der Bildungsvereine. Daß die kräftige deutsche Eiche äußerst langsam wächst und nur das leichte, lockere Pappelgehölz so wunderbar schnell emporschießt, diese alte naturpädagogische Schrift vermochten die modernen naturkundigen Volksbildner nicht mehr zu lesen; meinten sie doch durch ein paar wöchentliche, populär-wissenschaftliche Vorträge in den Bildungs- vereinen in kurzem ergänzen zu können, was die achtjährige mühsame Arbeit der Volksschule an Aufklärung rückständig gelassen hatte und rückständig lassen, mußte. ID, 2. T. 10.

Vaterlandsliebe. Wie der leibliche Organismus nur in dem Maße gesund bleibt, als das Blut in den äußeren Gliedern kreist und sie warm hält, während starker Blutandrang nach dem Kopf einen bösen Krankheitszustand anzeigt, so hängt auch die Gesundheit des Volksorganismus, des Staates davon ab, ob in den kleinen, den ört- lichen Genossenschaften, wo die Mitglieder persönlich sich berühren, der Gemeinsinn geweckt, warm und tätig erhalten wird. Die Vater- landsliebe muß aus der schlichten Mitarbeit an den gemeinsamen Auf- gaben der engeren und engsten Kreise herausgewachsen sein, andern- falls sind die hochtönenden Worte von Vaterlandsliebe usw. leichtlich mehr bloßes Gerede als Wahrheit. VI, 24.

Vogelsang: Bilderreden aus Dörpfelds Schriften. i 151

XIII. Verschiedenes.

Volksschul- und höhere Bildung. Die Bildung, die die Volksschule geben kann, mag sich zur Bildung der höheren Schulen etwa verhalten, wie eine bescheidene Arbeiterwohnung zu einem statt- lichen Bürger- und Patrizierhause. Zwischen einer solchen Arbeiter- wohnung und diesen stattlichen Gebäuden ist ja ein großer Unter- schied; aber jene ist immer etwas anderes als der ruinenhafte Rumpf eines halbfertigen Bauwerks, das weder Dach noch Verschluß hat und durch den#alle Winde pfeifen; sie gewährt jedenfalls ihren Insassen ein sicheres und behagliches Daheim. F I, 1. T. 4.

Die Schulen sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den sie nach ihren Lehrplänen zu erreichen sich vorgesetzt haben. Davon machen auch die höheren Schulen keine Ausnahme, obgleich von dem bezeichneten Ruhmesmangel in ihren Programmen und auf Landtagen nach altem Brauch nicht viel geredet zu werden pflegt. Sieht man näher zu, wieviel Zöglinge dieser Anstalten endlich bei dem vor- gesteckten Ziel der Reifeprüpfung glücklich ankommen, so ergibt sich bald, daß es schon viel zu hoch gegriffen wäre, wenn man das Schüler- korps solcher Schulen mit einem Kappuskopf vergleichen wollte, an dem bekanntlich erst eine Anzahl Blätter zu allerlei Gebrauch ab- gezweigt wird, aber doch immer noch ein ansehnlicher Kopf für den eigentlichen Zweck übrig bleibt. Es ist wirklich wahr, die Kohlköpfe erreichen ihr Bildungsziel vollkommener, als die mit reichen Kräften höherer Wissenschaftlichkeit ausgerüsteten Gymnasien und Realschulen das ihrige.

Wer auf höheren Schulen nicht taugen will, wird fortgejagt. Die Schulpflicht versetzt aber den Volksschullehrer in die Lage eines Gefängnisdirektors; er muß aufnehmen und behalten, was kommt.

Schulleben und Erziehung. Das ganze Schulleben soll so eingerichtet und geleitet sein, daß es erziehend wirkt. Je weniger Auffallendes in diesem Betracht dem Besucher in einer Schule ent- gegentritt, desto besser ist's. Was auffällt, gleicht dem Krachen und Kreischen einer Maschine. Je stiller diese in ihrem Gange ist, desto vollendeter ist ihre Einrichtung und ihr Zustand. Freilich ist das für die Schule ein Ideal; ohne gelegentliches Stocken, Kreischen und Seufzen geht es einmal nicht ab. Aber das Ideal muß doch ins Auge gefaßt und angestrebt werden.

Pädagogisches Klima. Wie der Ertrag des Feldes nicht bloß von dem Geschick und dem Fleiß des Landmannes abhängt, sondern auch von der Beschaffenheit der Luft, die die Pflanzung

152 A. Abhandlungen.

umspielt und von der Gunst oder Ungunst des Wetters, so hat auch das Erziehungswerk in Haus und Schule bestimmte gesellschaftliche Voraussetzungen. Soll es gelingen, dem jungen Geschlecht Gottes- furcht, Vaterlandsliebe, Gemeinsinn usw. einzuflößen, es an Ordnung, Zucht, Reinlichkeit, Fleiß usw. zu gewöhnen, so darf das Leben und Treiben der Erwachsenen nicht das nackte Widerspiel dieser Ge- sinnungen und Gewohnheiten zur Schau stellen. Freilich sind für die Schule die sozialen Zustände etwas Gegebenes, gerade wie für den Kriegsmann das Gelände, auf dem er kämpfen soll; auch hat der Jugendlehrer keinerlei amtlichen Beruf, in das private und öffentliche Leben der Alten sich einzumischen. Allein damit ist nicht gesagt, daß er sich gleichgültig und teilnahmlos verhalten solle. . Vielmehr gilt auch ihm, was Rückert sagt:

»Wer etwas Böses sieht geschehn,

Der wend’ es mit seiner Hand sofort;

Und sollt’ er sich das nicht unterstehn, So wend’ er es mit seinem Wort; 2

Und so er das auch nicht gewinne,

So wend’ er es mit seinem Sinne;

Und wem dazu die Kraft gebricht,

Des Herze hat den Glauben nicht.

A. Carnap. S. 325.

Polemik. Streitschriften sollten nicht auf die Parteigenossen, sondern auf die Gegner berechnet sein und lediglich bezwecken, sie zu überzeugen bezw. eine Verständigung anzubahnen. Dazu gehört _ aber, daß man dem gegnerischen Standpunkt möglichst nahe trete, d.h. mit Fleiß die Grundsätze aufsuche, worin beide Teile einig sind und dann von hier aus die Verhandlung beginne. Solche Einigungs- versuche müßten von beiden Seiten gemacht werden; aber nicht bloß etliche Male, um abzubrechen, wenn die Verständigung nicht sofort gelingen will, sondern immer wieder von neuem. So und nur so wird wirklich der Sache, d. i. der Wahrheit und dem Frieden gedient. Im andern Fall gleicht die Auseinandersetzung einem Zwei- kampf, bei welchem die Kämpfer auf zwei auseinander- liegenden Bergen stehen. IX, 278.

In einer Streitsache kann es kaum etwas Wichtigeres geben, als die Stellung des Gegners nach ihren starken und ihren schwachen Seiten genau kennen zu lernen. Wer sie nicht kennt, marschiert in den Nebel hinein und ist geschlagen, ehe er zum Fechten kommt.

Bekanntlich läßt sich ein Garnstrang sehr leicht und schnell in ein verwirrtes Knäuel verwandeln, während seine Entwirrung viel Zeit, Muße und Geduld kostet. So lassen sich auch irrige oder halb-

Vogelsang: Bilderreden aus Dörpfelds Schriften, 153

irrige Behauptungen leicht dutzendweise hinwerfen, aber ihre Wider- legung oder die Ausscheidung des Irrigen ist in der Regel recht lang- weilig und beschwerlich.

Konferenzen. Wer mit ganzem Herzen Lehrer ist, hat auch ein Herz für die Konferenzen; er weiß, daß er ihrer ebenso bedarf, wie der frischen Luft.

Regierung. Äußere Ordnung in der Schule ist hoch zu schätzen, so hoch, wie die Windstille beim Säen.

Theorie und Praxis. Zur Praxis gehört die Theorie ebenso gut, wie zu den Trauben der Weinstock.

Pädagogische Klassiker. Die nachdenksame Lektüre der pädagogischen Klassiker, besonders der Schriften Pestalozzis, wirkt wie frische Alpenluft und wie ein kräftiges Seebad; sie wird um so inter- essanter und die Achtung vor dem »Manne der Sehnsucht« steigt um so höher, je mehr einer vermöge der modernen Psychologie imstande ist, die Entwicklungsprozesse des menschlichen Geistes sich klarer vorzustellen, als es Pestalozzi gelang, der sich so häufig mit Gleich- nissen aus dem äußern Naturleben behelfen mußte.

XIV. Nachtrag.

Die Wissenschaften sind an den Irrungen nicht schuld, sondern die unklaren Köpfe.

Das klare Denken ist keine angeborene Fähigkeit, nicht einmal bei Begabten und Gelehrten.

Die Denkfaulheit gehört auch zur Erbsünde.

Nur harmlose Naturen halten ein großes Maul für das sicherste Kennzeichen eines großen Gehirns.

Gott hat seine Werke und Worte nicht gegeben, daß man sich vor ihnen bücke, sondern sie studiere, von ihnen lerne.

Die Denkfehler gescheiter Leute haben in der Regel mehr wissen- schaftlichen Wert als die Denkrichtigkeit in denselben Punkten bei solchen, denen die Wahrheit nur als ein Erbstück zugefallen ist; denn hinter jenen Fehlern steckt gewöhnlich irgend eine wichtige Beob- achtung, welche die Wahrheitserben trotz ihres wichtigeren Wissens auch hernach noch nicht einmal entdecken.

Aller Fortschritt geschieht nicht in gerader Linie, sondern auf Umwegen.

Tatsachen sind nie geringfügig. Geschichten und Tatsachen sind die ersten Lehrmeister. Nur auf Grund von Tatsachen läßt sich eine Theorie bauen.

Vergleiche sind immer lehrreich.

154 A. Abhandlungen,

Das Licht wirkt immer zugleich befreiend, wie alle Finsternis bindend.

Vor nichts in der Welt habe ich mehr Angst, als vor der geistigen Flachheit.

Man kann nicht alles in einem Atem sagen.

Man kann nicht anerkennen, was man nicht kennt.

Abschreiben ist bequemer als argumentieren.

Zweierlei Maß und Gewicht ist unter Umständen vom Übel und ein Unrecht.

Ideale lassen sich nicht durch Reden verwirklichen, sondern durch ‚Arbeiten, dem sich allmählich auch das Reden zugesellen mag.

Jede Aufgabe wird nicht durch Bedenklichkeiten, sondern durch Anfassen gelöst.

Durch Mitarbeiten wird das Interesse erweckt und Einsicht in die Sache gewonnen.

Im Handeln gilt Einmütigkeit, wenn man auch beim Verhandeln seine Selbständigkeit wahrt.

Man kann kein Neues bauen, wenn man nicht vorher den alten Schutt wegräumt.

Wer sein Gebäude gegen den Einsturz sichern will, muß vor allem für ein festes Fundament sorgen.

Das Lehrinteresse hat wahrlich keinen Überfluß an Aisian.

Zum Advokaten gehört noch etwas mehr als guter Wille.

Gediegene Gesinnung und beharrliches Streben haben überall eine sichere Verheißung.

Wer einem großen Manne gegenüber nicht seine eigene Kleinheit fühlt, hat keine Befugnis, dessen Größe zu loben.

Die ganzen Leute, die Leute aus einem Guß, sind selten. Mit Diamanten pflastert man keine Straßen.

Erziehliches Wirken ist keine Fabrikarbeit.

Mit Einsicht und Geschicklichkeit allein lassen sich keine Men- schen erziehen.

Die Liebe ist des pädagogischen Gesetzes Erfüllung.

Gute Lebensbeschreibungen sind die nützlichsten und wirksamsten Bücher, die es gibt.

Die besten Bücher haben meistens erst spät die rechten Leser gefunden und zu wirken angefangen.

Bei einem Gedanken, der nicht zu Ende gedacht wird, bleibt gewöhnlich die Hauptsache seines Inhaltes dahinten.

Wer mit seiner eigenen Gedankenarbeit noch nicht im reinen ist, hat auch nicht den Beruf, darüber zu schriftstellern.

Vogelsang: Bilderreden aus Dörpfeids Schriften. 155

Einem Schriftsteller soll vor allem daran gelegen sein, daß die Wahrheit an den Tag komme; darum müssen ihn gerade die kritischen Stimmen interessieren.

Wenn die starken gegnerischen Stellungen erobert sind, so fallen die schwachen von selber.

Wer eine Frage leicht nimmt, hat nicht den Beruf, darüber mit- zusprechen.

Der Kern der Bildung hängt davon ab, daß der Unterricht einen würdigen Inhalt habe.

Das Streben nach Einheitlichkeit im Wissen führt von selbst zur Vereinfachung im Lehren.

Die Lehrer an den einklassigen Schulen haben die schwierigste und mühevollste Arbeit.

Lust und Liebe zur Sache sind bekanntlich gewaltige Hebel der Tätigkeit bei Großen und Kleinen; sie beim Lernen zur Mitwirkung heranzuziehen, ist das erste Hauptstück der pädagogischen Kunst.

Wie die Anschauungsoperation zeitlich die erste ist, so ist sie auch pädagogisch die wichtigste und praktisch die schwierigste.

Nichts schädigt das Interesse der Schüler so sehr, wie das zu frühe Verlassen des Anschauungsbodens und das zu frühe Auftreten der abstrakten Denkformen.

Die Anwendungsübung ist die fruchtbarste, die Krone der drei Lehroperationen.

Jedes gute Werk ist gleichsam eine Blume, die nicht nur durch ihre eigene Schönheit erfreut, sondern auch Samen zu neuen Blumen ausstreut.

Wer das Gute liebt, muß auch zeigen, daß er das Böse haßt.

Alle Privilegierten sind konservativ, zum wenigsten im Festhalten ihrer Vorrechte.

Wenn die Wahrheit deutlich und aus lauterem Sinne bezeugt wird, so darf man ihr immer viel zutrauen.

Naturgesetze wollen bekannt und beachtet sein. Sie aufzuheben oder andere an ihre Stelle zu setzen, oder ihnen zu widerstreben oder sie zu verleugnen, das wäre ebenso unverständig, wie wenn einer mit seinen schwachen Kräften einem daherbrausenden Eisenbahnzuge sich in den Weg stellen oder seine Hand ins Feuer stecken wollte.

Die Selbsttätigkeit muß in allen Lehroperationen zur Geltung kommen, namentlich auch in der so wichtigen Anschauungsoperation. Die Selbsttätigkeit ist der Kern- und Kardinalpunkt der ganzen Didaktik.

156 A. Abhandlungen.

Nicht Kenntnisse sind das Ziel des Unterrichts, sondern Bildung, d. i. die denkende Beherrschung des Stoffes und, was noch mehr gilt, die Fähigkeit zum selbständigen Weiterlernen und, was noch höher steht, die Lust zu solchem Weiterlernen. Die wahre Bildung bemißt sich eben ganz und gar nicht nach der Menge der Kenntnisse, son- dern sie hängt vornehmlich davon ab, in welchem Maße der Schüler beim Lernen selbsttätig gewesen ist.

Im Geschichtsunterricht können hochtönende bombastische Phrasen oder die Klänge der Poesie nicht ersetzen, was den Schülern an Kenntnis und Verständnis der Kulturgüter, um welche sich doch die Geschichte allein dreht, fehlt. Nur wenn Geschichte und Gesellschafts- kunde zusammenwirken, wird in Kopf und Gemüt des Schülers der Grund gelegt, auf dem (unter Mitwirkung der religiösen Unterweisung) eine echte, gesunde und wurzelkräftige Liebe zum Vaterlande, Dank- barkeit gegen die verdienten Männer der Vorzeit und Pietät gegen- über den vaterländischen Einrichtungen erwachsen können und er- wachsen werden.

Die Volksschule wird schwach, unkräftig, ungesund und trägt ungesunde Frucht, sobald sie sich dem Volksleben entfremdet. Im Interesse einer gesunden Volksbildung und eines gesunden Volks- lebens, zum Heile des einzelnen Staates wie des gesamten deutschen Vaterlandes muß jede Volkstümlichkeit, hafte sie nun an Familie, Sprache, Sitte, Schule oder Kirche usw. sofern sie die Ausgestaltung des Volkslebens nach den Grundsätzen des Himmelreichs nicht auf- hält, mit Eifer und Eifersucht bewacht, bewahrt und gepflegt werden.

Die Standeswünsche der Lehrer werden in Erfüllung gehen, wena ihre Zeit gekommen ist, sei es so oder so; allem Anschein nach auf Unkosten der Kirche, durch ihre eigene Schuld.

Wie die andern Stände, so hat bekanntlich auch der Lehrerstand seinen gebührenden Anteil an Beschwerden empfangen. Die Lehr- arbeit an und für sich ist dagegen in jedem Betracht so anziehend und befriedigend, wie vielleicht keine andere, insbesondere in der Volksschule, wo der Lehrer es mit sämtlichen Lehrgegenständen und daher mit der ganzen Persönlichkeit des Schülers zu tun hat. Denn welche Arbeit wäre dem Zwecke nach bedeutender und edler? Welche bietet mehr Raum, die Technik immer wissenschaftlicher und künstlerischer zu erfassen? Welche hat in ihren Verrichtungen mehr Mannigfaltigkeit und Abwechselung? Dazu rechne man die Freude, die sich dem Lehrer anbietet, wenn er sieht, daß die Schüler und selbst die Schwachen, noch freudig zugreifen und rechne endlich hinzu das Belebende und Erfrischende. was im Umgange

Hellwig: Der Schutz der Jugend vor erziehungswidrigen Einflüssen. 157

mit der blühenden, munteren Jugend liegt. Fürwahr, ein Schulmann, der für diese verschiedenen Vorzüge seines Berufes Sinn hat, der wird das Lehramt mit ganzer Seele lieb haben und es ohne Nct nie mit einem andern vertauschen mögen.

Das erste und oberste Kennzeichen eines evangelischen Christen ist stete, unaufhörliche Buße und stetes, unaufhörliches Reformieren der eigenen Persönlichkeit. Wahrhaft und sieghaft wird nur die Partei, die den. Mut hat, sich fort und fort selbst zu reformieren, kurz, die bußfertig ist. Mit dem Artikel hat 1527 die deutsche Refor- mation begonnen, und mit dem allein kann sie wachsen und siegen.

Die pädagogische Theorie ist auf einem gefährlichen Irrwege, die nur von Verbesserung der Methode, der Lehrgänge und der Lehr- mittel, aber niemals ernstlich von Besserung der Personen redet. Das Geheimnis jeder guten Erziehungsanstalt beruht in der charaktervollen Persönlichkeit.

8. Der Schutz der Jugend vor erziehungswidrigen Einflüssen.') Von !

Amtsrichter Dr. Hellwig, Frankfurt a. O.

Die vierundeinhalb Jahre Krieg haben bekanntlich auch auf unsere Jugend vielfach außerordentlich unheilvoll gewirkt. Die Kriminalität der Jugendlichen ist im allgemeinen außerordentlich ge- stiegen, jedenfalls in den größeren Städten. Schon vor gut zwei Jahren habe ich an Hand eines umfangreichen Materials in meinem Buche »Der Krieg und die Kriminalität der Jugendlichen«e (Halle 1916) darauf aufmerksam gemacht und kurz die geeigneten Gegenmittel erörtert.

In den fast zwei Jahren, die vergangen sind, seit ich jene Fest- stellung gemacht habe, sind mir zahlreiche weitere Materialien be- kannt geworden, die im großen und ganzen das Bild bestätigt haben, das ich damals von der Gestaltung der Kriegskrimirfalität der Jugend- lichen und ihrer Ursachen entworfen habe. Jugendrichter und Polizei- verwaltungen haben mir manche weitere wertvolle Auskunft gegeben. Die deutsche Zentrale für Jugendfürsorge in Berlin hat mir schätzungs- weise gegen tausend Zeitungsausschnitte aus allen Teilen des Reiches zugesandt, in denen über Straftaten Jugendlicher berichtet wird, auch

1) Aus der gleichbetitelten Schrift: Beitr. z. Kdf. u. Heilerziehung, Heft 151. Iangensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1919. 124 S. Preis 4 M.

158 A. Abhandlungen.

sind zahlreiche mehr oder minder wertvolle Veröffentlichungen über das uns hier beschäftigende Problem erschienen.

Wenn man diese neuen Materialien durchsieht, dann kommt man meines Erachtens zu folgenden wesentlichen Feststellungen. Die Altersgliederung der kriminell gewordenen Jugendlichen hat sich teil-. weise von der jüngsten Altersklasse zuungunsten der älteren ver- schoben. Die weiter unten des näheren zu erörternden Maßnahmen der Militärbefehlshaber gegen die erziehungswidrigen Einflüsse haben vielfach sehr günstig gewirkt, indem sie die Ursachen vieler Straftaten. der Jugendlichen beseitigt haben; anderseits haben sie eine Steigerung der Ziffern der Kriminalität der Jugendlichen zur Folge, sofern. Jugend- liche, die gegen diese Strafbestimmungen sich vergangen haben, be- straft werden. Die wirtschaftliche Not ist im dritten und vierten Kriegsjahr vielfach gestiegen, insbesondere herrscht häufig ein Mangel an Lebensmitteln; Diebstahl und Entwendungen von Nahrungs- und Genußmitteln haben infolgedessen stark zugenommen. Viele Straf- taten sind von entwichenen oder entlassenen Fürsorgezöglingen ver- übt worden. Raubüberfälle, Mordtaten und andere schwere Ver- brechen scheinen beträchtlich zuzunehmen.

In dem ersten Teil meines soeben erschienenen Buches »Der Schutz der Jugend vor erziehungswidrigen Einflüssen« (Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehunge, Heft 151, Langensalza, h..mann Beyer & Söhne [Beyer & Mann], 1919) habe ich einige weitere Einzel- heiten über die Frage der Kriegskriminalität der Jugendlichen bei- gebracht, insbesondere auch über die Veränderungen der Kriegs- kriminalität, die man in den letzten beiden Kriegsjahren hat be- obachten können. Ergänzende Materialien finden sich ferner in meinen Aufsätzen »Über die Entwicklung der Kriegskriminalität der Jugend- lichen« (»Die Jugendfürsorge«, Jahrg. 13, S. 12 ff.) und über »Die Kriminalität der Jugendlichen in Hamburg unter dem Einflusse des Krieges« (in dem letzten Heft der »Zeitschrift für Sozialwissenschafte) sowie in Abhandlungen, die in den nächsten Heften des » Archivs für Kriminologie«, des »Archivs für Strafrecht< und des »Gerichtssaal« erscheinen werden.

Wenn man diese Tatsachen richtig würdigt, so wird man sie für recht bedenklich erklären müssen.

Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die Kriminalität und die Verwahrlosung der Jugendlichen im Kriege zu ernsten Besorg- nissen Anlaß gibt. Muß man auch mit Recht darauf hinweisen, daß die Klagen über eine zunehmende Verwahrlosung der Jugend nicht erst von heute stammen, sondern schon Jahrzehnte alt sind, muß man.

Hellwig: Der Schutz der Jugend vor erziehungswidrigen Einflüssen. 159

r

auch mit Recht bemerken, daß doch immerhin nur ein Teil der Jugend- lichen verwahrlost sei, daß es daher nicht angehe, alle Jugendlichen dafür verantwortlich zu machen, muß man vor allem auch mit Recht betonen, daß es sich bei der Kriegskriminalität der Jugendlichen um Fälle handelt, die nicht zu ernst genommen werden dürfen und nach Wiederkehr friedlicher Zeiten zum guten Teil fortfallen werden, so darf man doch auch anderseits nicht übersehen, daß es für den Ein- zelnen und für die Gesamtheit ein kaum wieder gut zu machendes Unheil bedeutet, daß eine große Anzahl Jugendlicher infolge der eigenartigen Kriegsverhältnisse mit dem Strafgesetz in Konflikt ge- raten ist. Es muß alles getan werden, um dafür zu sorgen, daß künftig ein Kriminellwerden der Jugendlichen vermieden wird.

Man darf nicht warten, bis die Jugendlichen kriminell geworden sind, sondern muß durch Beseitigung der Ursachen des Kriminell- werdens nach Möglichkeit vorbeugend wirken. Dies kann nicht nur durch erzieherische Einwirkungen oder durch sozialpolitische Maß- nahmen geschehen, sondern auch durch Maßnahmen mit Zwangs- charakter, insbesondere auch durch den Erlaß von Verboten, deren Beachtung durch Strafandrohungen gesichert wird.

Es handelt sich da um die sogenannten präventiven Strafbestim-. mungen.!) Ihnen ist eigen, daß Spezialmaßnahmen der Verbrechens- vorbeugung unter einen Rechtsbefehl gestellt werden und die so ge- schaffene Norm durch die Strafdrohung verstärkt wird. Präventive Strafbestimmungen haben allerdings notgedrungen eine unerwünschte Steigerung der Kriminalität zur Folge. Die durch sie geschaffenen, Übertretungen werden aber reichlich aufgewogen durch die Verhinde- rung von Diebstählen, Körperverletzungen und anderen eigentlichen Straftaten. Â

>Es wäre aber eine ganz äußerliche, an der Oberfläche haften bleibende Betrachtungsweise, wenn man darüber den grundlegenden Unterschied übersehen wollte, daß die Übertretung dieser Hilfsdelikte diese Handlungen, die nur um der Erreichung eines weiterliegenden, dem Mann aus dem Volke nicht ohne weiteres einleuchtenden Zweckes willen, vom Staate für strafbar erklärt werden, jenen eigentlichen De- likten, die man gerade durch die Schaffung der Hilfsdelikte als eines. unentbehrlichen Bestandteils des Verbrechensbekämpfungsrechtes ver- mindern will, gleichstellen will! Überdies darf nicht vergessen wer- den, daß durch Belehrungen in der Presse usw. manches getan werden kann, um allmählich auch den breiten Volksmassen die Bedeutung

1) Nagler, »Verbrechensprophylaxe und Strafrecht« (Leipzig 1911), 8. 179 f..

160 A. Abhandlungen.

dieser Strafvorschriften klar zu machen und ihnen die Verwerflichkeit ihrer Übertretung zu zeigen. Freilich geht das nicht von heute auf morgen. Nach einer längeren oder kürzeren Übergangszeit aber wer- den auch die Übertretungen dieser neu geschaffenen Strafbestimmungen seltener werden und sich dadurch die Sachlage noch mehr zugunsten der Schaffung derartiger Strafbestimmungen verschieben.« !)

Nur zu einem kleinen Teile sind vorbeugende Maßnahmen gegen die Ursachen der Kriminalität der Jugendlichen während des Krieges möglich. Soweit wirtschaftliche Not als Verbrechensursache in Frage kommt, können wir soviel wie gar nichts tun. Auch die in der Über- tragung von Vertrauensstellungen an Jugendliche liegende größere Versuchung zu Unterschlagungen und anderen strafbaren Handlungen kann jedenfalls der Staat nicht bekämpfen, sondern nur der einzelne, indem er diese Versuchung auf das geringst mögliche Maß herabzu- setzen versucht. Die schädliche Wirkung des hohen Arbeitsverdienstes dagegen läßt sich, wie wir weiter unten sehen werden, durch geeignete Gegenmaßnahmen sehr erheblich bekämpfen. Auch bei den erziehungs- widrigen Einflüssen läßt sich nur zum Teil vorbeugen. So kann die Abwesenheit des Vaters und der erwerbstätigen Mutter durch ge- eignete Maßnahmen der Jugendpflege wenigstens zum Teil wett ge- macht werden. Den verschiedenen erziehungswidrigen Einflüssen, die aus der Einwirkung konkreter Gegenstände, wie des Alkohols, des Nikotins, der Schundliteratur usw. drohen, läßt sich zum guten Teil beikommen, und zwar sowohl durch positive Maßnahmen, wie etwa Verbreitung von guter Literatur, Sorge um Einführung einwandfreier Lichtspielvorführungen, als auch durch präventive Strafbestimmungen.

Die Hauptaufgabe besteht in der Schaffung präventiver Straf- bestimmungen, da eg gegenwärtig auf diese Weise am besten möglich ist, gegen die Verbrechensursachen anzukämpfen. Daß die vorbeugen- den Maßnahmen ohne Zwangscharakter, soweit das irgend möglich ist, zu bevorzugen sind, ist selbstverständlich.

Die Ministerien der verschiedenen Bundesstaaten haben bald ein- gehender, bald nur einzelne Punkte berührend, in einer Reihe von Erlassen den Kampf gegen die Verwahrlosung der Jugendlichen auf- genommen, teils durch vorbeugende Maßnahmen ohne Zwangscharakter, teils durch präventive Strafbestimmungen. So beachtenswert das Vor- gehen der Ministerien auch ist, so war es doch von Anfang an klar, daß der Erfolg nicht allzugroß sein konnte. Vorbeugende Maßnahmen

1) Hellwig, »Strafrecht und Jugenderziehunge (»Preußische Jahrbücher«, Bd. 170), S. 90 £.

Hellwig: Der Schutz der Jugend vor erziehungswidrigen Einflussen. 161 ohne Zwangscharakter sind nur zum kleinen Teile möglich, und prä- ventive Strafbestimmungen sind nach Lage der Gesetzgebung auch nur in sehr beschränktem Umfange zulässig.

Dagegen ist den Militärbefehlshabern durch das Belagerungs- ` zustandsgesetz im weiten Umfange ein freies Ermessen eingeräumt, das ihnen die Möglichkeit gegeben hat, im großen Umfange präven- tive Strafbestimmungen zu erlassen. Von dieser Ermächtigung haben auch fast alle stellvertretenden Generalkommandos Gebrauch gemacht.

Die Einzelheiten der Erlasse habe ich, nach bestimmten sach- lichen Gesichtspunkten geordnet, in einem im »Volkswart« 1917 8. 65 ff. erschienenen größeren Aufsatz zusammengestellt und aus- führlich kritisch erörtert. Auch in meinem erwähnten Buche findet sich auf S. 19 ff. eine kurze Übersicht über diese Erlasse, von denen im Anhang desselben einige besonders bemerkenswerte zum Abdruck gebracht worden sind.

Die Zweckmäßigkeit derartiger Präventivstrafbestimmungen zum Schutze der Jugendlichen vor erziehungswidrigen Einflüssen hat man nicht selten in Abrede gestellt, aber meines Erachtens nicht mit aus- reichenden Gründen.

Man hat zunächst einmal geltend gemacht, es handele sich hier im Grunde um eine Bildungsfrage oder um eine Erziehungsfrage, und solche Fragen könnten nur durch Auf- klärung und durch sachgemäße Erziehung gelöst werden, nicht aber durch Polizeigewalt und Strafandrohungen. Daran ist soviel richtig, daß das große Problem, um das es sich auch bei diesen Erlassen der Militärbefehlshaber handelt, sich keineswegs in der zwangsweisen Zurückdrängung erziehungswidriger Einflüsse durch Strafnormen erschöpft. Gewiß handelt es sich im Grunde um ein Erziehungsproblem, damit ist aber keineswegs gesagt, daß auch jene Erlasse nicht geeignet seien, die Lösung dieses Problems zu fördern, ja daß sie nicht vielleicht sogar erst die Möglichkeit zu einer sach- gemäßen erfolgreichen Inangriffnahme der Lösung des Erziehungs- problems schaffen könnten. Wir geben uns keineswegs dem Wahne hin, als sei es mit Hilfe jener Strafverordnungen möglich, jenes Er- ziehungsproblem in seinem ganzen Umfange zu lösen, oder als seien die Erlasse auch nur imstande, die Hauptarbeit hierbei zu tun. Die Aufgabe, welche derartigen Erlassen zukommt und nur zukommen kann, ist weit kleiner: diese sogenannten negativen Maßnahmen sollen lediglich die Vorbedingung schaffen, um eine ungestörte förderliche Einwirkung der sogenannten positiven Maßnahmen zu ermöglichen.

Zeitschrift für Kinderforschung. 24. Jalırgang. 11

162 ` A. Abhandlungen.

Tausendfältige Erfahrungen haben nämlich gezeigt, daß alle positiven Maßnahmen wirkungslos bleiben, wenn sie nicht durch die negativen Maßnahmen, von denen wir hier handeln, wirksam unterstützt werden.

Selbst Kreise, die ihren politischen und sonstigen Ansichten nach nichts weniger als dazu neigen, überall nach der Polizei und nach Zwangsmaßnahmen zu rufen, hahen sich durch bittere Erfahrungen zu der Anschauung durchgerungen, daß es das Weltfremdeste wäre, wenn 'man verkennen wollte, daß es ohne einen gewissen Zwang hier nicht geht, wenn man sich dem Wahne hingeben wollte, durch Auf- klärung und Belehrung allein sei es möglich, dieses Bildungsproblem zu lösen.

So sagt beispielsweise Samuleit in seinem am 25. März 1916 in der öffentlichen Versammlung der »Zentralstelle zur Bekämpfung der Schundliteratur« in Berlin gehaltenen Vortrag, die Erziehung der Jugend und des Volkes zum guten Buch, die Erziehung zum Lesen, sei eine vielgliedrige, große und ernste Aufgabe, an der Jahrzehnte mühsam gearbeitet werden müsse, ehe die geistige Höhenlage der ganzen Jugend, des ganzen Volkes auch nur um ein kleines Teil ge- hoben werden könne, eine Arbeit, die wie seither so auch in Zukunft mit unermüdlicher Liebe und Treue in allen deutschen Schulen und Häusern weitergetan werden müsse, aber eine Arbeit, von der wir nicht eine baldige Befreiung von dem schlimmsten Kriegsschunde er- warten‘ dürften. Gegen den helfe, das habe tausendfältige Erfahrung nun leider genugsam erwiesen, nur ein Mittel, die obrigkeitliche Ge- walt: »Es ist ja freilich ganz richtig, daß Volkserziehungsfragen nicht einfach durch Polizeiverfügungen zu lösen sind, ja daß eine solche Lösung meist selbst da nicht wünschenswert ist, wo sie an sich mög- lich wäre. Geistige Entwicklung will und muß durch geistige Kräfte und Mittel geregelt und gefördert werden. Aber das Recht und die Pflicht kann der staatlichen Gewalt nie bestritten werden, daß sie die Möglichkeit einer geistigen Erziehung der noch nicht zu voller Selb- ständigkeit herangewachsenen Staatsglieder sicherstellt, und daß sie Erziehungseinrichtungen trifft. Daraus folgt dann doch wohl auch ihr Recht und ihre Pflicht, Erscheinungen entgegenzuwirken, welche die zum allgemeinen Wohl unerläßliche Erziehungsarbeit an den Jungen und Jugendlichen untergraben und unmöglich machen.« !)

Auch Tessendorf macht die gleiche Bemerkung, daß die beste Wirkung im Kampfe gegen die Kriegsschundliteratur zwar nur durch eine Mobilmachung aller inneren Kräfte erreicht werden kann, daß

1) Samuleit, »Kriegsschundliteratur« (Berlin 1916), S. 31.

Hellwig: Der Schutz der Jugend vor erziehungswidrigen Einflüssen. 163

damit aber ein Feind nicht zu treffen sei: »Mit geistigen Waffen ist gegen die kriegswucherische Gewinnsucht der Schundverleger nichts auszurichten. Dagegen hilft nur ein Mittel: die obrigkeitliche Gewalt. Die staatliche Gewalt hat das Recht und die Pflicht, Einflüsse, welche die Erziehungsarbeiten untergraben, unschädlich zu machen.« !)

Ganz ohne inneren Zusammenhang mit den Erziehungsproblemen stehen übrigens auch jene Strafandrohungen keineswegs. Schon an anderer Stelle?) habe ich darauf hingewiesen, daß auch Strafandro- hungen zweifelsohne zu den erzieherischen Mitteln gehören, indem sie den Gewerbetreibenden, den Erziehungspflichtigen und den Jugend- lichen, gegen die sie sich richten, ihre Pflichten gegen die Gemeinschaft mit besonderem Nachdruck zum Bewußtsein bringen, dadurch gar manchen auf den richtigen Weg bringen und andere wenigstens durch die Furcht vor den Folgen veranlassen, die sozialschädlichen Hand- lungen zu unterlassen. Selbst die Verhängung von Strafen kann in hohem Maße erzieherisch wirken, allerdings weniger auf die Allge- meinheit wie die Strafandrohungen, wohl aber mit besonderem Erfolg auf den Verurteilten. Durch Veröffentlichung der Urteile in den Ge- richtsberichten der Zeitungen kann übrigens auch die Verhängung der Strafen allgemein abschreckend wirken.

Mit besonderer Vorliebe hat man in liberalen Kreisen oder in Kreisen, die wenigstens glauben, liberal zu sein, den Einwand erhoben, es handele sich um eine unzulässige Beschränkung der persönlichen Freiheit. Es ist nicht immer klar, ob man bei diesen Klagen über »polizeiliche Bevormundung«, wie man das zwangs- weise Einschreiten gegen Erziehungswidriges zu nennen pflegt, vor allem es auf die darin liegende Einmischung in das Erziehungsrecht der Eltern absieht oder ob man das Hauptgewicht auf die Eingriffe in das freie Selbstbestimmungsrecht der Jugendlichen legt.

Die treibende Kraft, welche bewußt oder unbewußt hinter diesem Einwand steht, scheinen mir aber weniger unvernünftige Eltern oder unvernünftige Jugendliche zu sein, als vielmehr Schundverleger, Schundfilmfabrikanten, Alkoholinteressenten und andere gewissenlose Geschäftsleute, -die skrupellos genug sind, aus schmutzigsten Beweg-

1) Tessendorf, »Die Kriegsschundliteratur und ihre Bekämpfung« (Halle 1916), 8. 12 f.

2) Hellwig, »Der behördliche Sparzwang als kriminalpädagogische Maßnahme« (Preußisches Verwaltungsblatt 38), S. 264. Dazu noch Felisch, »Ein deutsches Jugendgesetz« (Berlin 1917) S. 63 f. und Hellwig, »Zur Frage der kriminalpäda- gogischen Bedeutung des behördlichen Sparzwangs« (Archiv für Strafrecht Bd. 65,

S. 526 ff.). 11*

164 A. Abhandlungen.

gründen zu wünschen, daß nach wie vor möglichst wenig geschieht, um wenigstens die Jugend vor den vergifteten Einflüssen dieser er- ziehungswidrigen Umstände zu bewahren. Wer beispielsweise die Entwicklung der Kinematographenfrage in den letzten Jahren vor dem Kriege aufmerksam verfolgt hat und insbesondere auch sich die Mühe nicht hat verdrießen lassen, eine Reihe von sogenannten kinemato- graphischen Fachzeitschriften ständig aufmerksam zu verfolgen, wird immer wieder Gelegenheit gehabt haben, darüber zu staunen, mit welcher geradezu naiven Offenheit Schundfilmfabrikanten und Schund- filminteressenten es als das Selbstverständlichste von der Welt an- sehen, daß vor ihren Geldinteressen alle Gesichtspunkte der öffent- lichen Ordnung zurückzutreten hätten. So 'sonderbar dies einem sachlich nicht interessierten unbefangenen Beobachter auch scheinen mußte, so konnte man sich doch oft des Eindrucks nicht erwehren, daß jene Schundfilminteressenten in ihren schmierigen Erwerbsinter- essen so sehr befangen waren, daß sie sich ehrlich über alle noch so gelinden Eingriffe der Staatsgewalt in ihr Schmutzgewerbe ent- rüsteten.

Daß man auch nicht vom Standpunkte der unvernünftigen Jugend aus diese Frage behandeln kann, dürfte gleichfalls ohne weiteres ein- leuchten. Wollte man anders verfahren, so könnte man mit gleichem Recht auch es den Jugendlichen überlassen, ob sie die Schule be- suchen wollen oder nicht. Die Erfahrung hat gezeigt, daß Leute über das schulpflichtige Alter hinaus im wesentlichen noch unerfahrene, unfertige Menschen sind, die einer weiteren Anleitung und Erziehung gar sehr bedürfen, ja daß sogar sehr viele Erwachsene Zeit ihres Lebens im Grunde über den Standpunkt eines Kindes kaum hinaus kommen. Da werden wir also, wenn wir die Zweckmäßigkeit von Zwangsmaßnahmen gegen Jugendliche prüfen wollen, nicht auf den Gedanken kommen, bei Jugendlichen eine Umfrage zu veranstalten, sondern vielmehr das Urteil verständiger Männer zugrundelegen, die mit dem Charakter der Jugendlichen ebensowohl vertraut sind als mit den gefährlichen Versuchungen, die in Gestalt jener erziehungs- widrigen Umstände an die Jugend herantreten und das ganze bis- herige Erziehungswerk zunichte zu machen drohen.

Man könnte nun meinen, daß also insbesondere das Urteil der Eltern zugrunde gelegt werden müsse. Dagegen läßt sich auch in der Tat nichts sagen, wenn man nämlich von dem Urteil verständiger Eltern ausgeht. Über derartige Eingriffe in ihr sogenanntes Erzie- hungsrecht pflegen aber fast ausnahmslos nur solche Eltern zu klagen, die immer nur auf ihr Erziehungsrecht pochen, sich dessen aber nicht

Hellwig: Der Schutz der Jugend vor erziehungswidrigen Einflüssen. 165

bewußt sind, daß es sich hierbei in erster Linie im Grunde um eine Erziehungspflicht handelt, um eine Erziehungspflicht nämlich, welche die Eltern sowohl gegenüber ihren Kindern als auch gegenüber der Allgemeinheit haben. Diese Gedanken hier näher auszuspinnen und die sich aus ihnen ergebenden Folgerungen zu ziehen, würde zu weit führen. Es mag nur kurz mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, daß es an der Zeit ist, mehr als es bisher im allgemeinen geschehen ist, ernstlich das Hauptgewicht auf die Erziehungspflicht zu legen und weniger das Erziehungsrecht zu betonen.

Da verständige Eltern einsehen müssen, daß man die Gefahr der erziehungswidrigen Einflüsse nur dann mit einer gewissen Wahr- scheinlichkeit von den Jugendlichen fernzuhalten vermag, wenn man durch Zwangsmaßnahmen danach trachtet, diese erziehungswidrigen, Umstände auszuschalten, so scheint mir der Einwand, es handele sich hier um einen unzulässigen Eingriff in die persönliche Freiheit, es handele sich um eine polizeiliche Bevormundung, die zwar in den alten Polizeistaat passe, aber nicht in unsere heutige Zeit, nicht als begründet.

Auch von Liszt!) vertritt in seinem in der juristischen Gesell- schaft zu Berlin am 12. Februar 1916 gehaltenen Vortrag denselben Standpunkt, allerdings mit einer Begründung, die zum mindesten eine allgemeine Geltung nicht beanspruchen kann. Er sagt nämlich, es handele sich hier allerdings darum, daß eine Beschränkung der per- sönlichen Bewegungs- und Entschließungsfreiheit der Jugendlichen angestrebt werde. Man müsse aber fragen, ob wir denn nicht alle unter denselben Verhältnissen ständen, ob wir nicht alle unter dem Belagerungszustand in unserer persönlichen Freiheit, in der Freiheit des Wortes und der Freiheit der Schrift, beschränkt seien; »und wir ertragen das, wir ertragen es mit Leichtigkeit regelmäßig, weil wir uns sagen, daß diese Beschränkung erforderlich ist im Interesse der Gesamtheit, und auch glauben, was den Erwachsenen recht ist, das kann den Jugendlichen billig sein«.

Wer sich der Aufgabe des Staates, das öffentliche Interesse zu schützen, bewußt ist, wer sich der Pflicht bewußt ist, die ihm die Er- ziehungspflicht seinen Kindern gegenüber auferlegt, der pflegt bei derartigen wohlberechtigten Maßnahmen nicht von polizeilicher Be- vormundung und von Beschränkung der persönlichen Freiheit zu reden. Es muß bei dieser Gelegenheit mit Nachdruck darauf hingewiesen

1) v. Liszt. »Der Krieg und die Kriminalität der Jugendlichen« (Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 37). S. 514 f.

166 A. Abhandlungen.

werden, daß gerade auch die sozialdemokratische Partei, welche doch zweifellos keinerlei Vorliebe für polizeiliche Eingriffe hat, seit langem erkannt und immer mit Entschiedenheit betont hat, daß beispielsweise die Bekämpfung der Schundliteratur und der Schundfilme, aber auch anderer erziehungswidriger Umstände, so beispielsweise des Alkohol- genusses Jugendlicher, nur dann von Erfolg gekrönt sein kann, wenn hier der Staat scharf und rücksichtslos zupacke.

Ein mehrfach auch von Fachmännern vorgebrachtes Bedenken bezieht sich darauf, daß durch diese Erlasse die Strafandrohungen, insbesondere auch die Strafandrohungen . gegenüber Jugendlichen wesentlich vermehrt würden.

Kein Geringerer als Binding!) hat vor Jahren schon gelegent- lich einer Besprechung des Buches von Aschaffenburg über das Ver- brechen und seine Bekämpfung dieses Bedenken grundsätzlich formu- liert: »Das Verbot des Branntweinverkaufs von Sonnabend mittag bis Montag würde eine große Fülle von Polizeikontraventionen aus- lösen usw. Wir bezahlen die Aussicht auf Verbrechensminderung sehenden Auges sehr oft mit dem Kaufpreis sicherer Verbrechens- vermehrung. Bei allen solchen Geschäften kann der Preis auch größer sein als der Gewinn! Und so ist große Vorsicht geboten.« Mir will scheinen, daß dies ein ganz formeller Standpunkt ist, den man höchstens dann für berechtigt erklären könnte, wenn jede straf- bare Handlung jeder anderen gleichwertig wäre, wenn also, um ein krasses Beispiel zu gebrauchen, ein Mord soviel wiegen würde wie eine Polizeiübertretung. Sicherlich ist es richtig, daß durch alle Poli- zeiverordnungen, die der Verbrechensbekämpfung dienen, eine ganze Reihe strafbarer Handlungen neu geschaffen werden, zum mindesten in der Übergangszeit in erheblichem Maße. Es würde aber auf einer völligen Verkennung der Tatsachen beruhen, wenn man diese Steige- rung der Kriminalität in Bagatellsachen für ebenso wichtig oder gar für noch wichtiger ansehen wollte, als die durch wirksame Bekämp- fung der Verbrechensursachen herbeigeführte Verminderung schwererer Straftaten.

Diese Bemerkungen sind auch von: Bedeutung für das uns hier beschäftigende Problem.?2) Gerade auch mit Beziehung auf die Erlasse der Militärbefehlshaber über Jugendschutz hat man sich nämlich mehr- fach in ähnlicher Weise grundsätzlich gegen die Zweckmäßigkeit der-

1) Binding, »Grundriß des deutschen Strafrechts«. Allgemeiner Teil. 7. Aufl. Leipzig 1907. Vorwort 8. VII. ;

?) Vgl. Hellwig, »Strafrecht und Jugenderziehung« (Preußische Jahrbücher Bd. 170), 5. 88 ff.

Hellwig: Der Schutz der Jugend vor erziehungswidrigen Einflüssen. 167

artiger Strafverordnungen ausgesprochen, wie ich aber glaube zu unrecht.

Fränkel!) beispielsweise sagt in seinem am 22. Mai 1916 in der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Sektion der Schlesischen Ge- sellschaft für vaterländische Kultur gehaltenen Vortrag, es sei durch- aus verfehlt, durch Schaffung neuer Deliktsformen der Zunahme der Kriminalität unserer Jugend entgegenwirken zu wollen. Nicht zu wenig werde gestraft, sondern zu viel. Es würde dies offensichtlich, wenn man in Betracht ziehe, daß im Jahre 1915 von dem Breslauer Jugendgericht 836 Jugendliche verurteilt seien, und zwar 261 von ihnen nur zu einem Verweise. Viele von ihnen seien wegen Ent- wendung eines Schnapsgläschens, einer leeren Flasche, eines Liefe- rungsheftes, eines Spielzeuges im Werte von 10 Pfennigen und wegen ähnlicher Straftaten zur Verantwortung gezogen.

Gewiß wird kein vernünftiger Mensch es als zweckmäßig oder auch nur als gerecht empfinden, daß Jugendliche wegen solcher Kleinigkeiten vor den Strafrichter gebracht werden, und jeder wird dem Verfasser in dem Wunsche beistimmen, daß endlich dem Staats- anwalt und dem Richter das Recht eingeräumt werden müßte, in der- artigen Bagatellsachen von einer Anklage und von einer Verurteilung absehen zu dürfen. Dieses Problem aber, über das sich so ziemlich alle in der Jugendfürsorge tätigen und erfahrenen Personen einig sind, hat mit der uns hier beschäftigenden Frage nichts zu tun.

Im übrigen will Fränkel sich nur dagegen wenden, daß in den Verordnungen auch Strafbestimmungen gegen die Jugendlichen ge- schaffen wurden, nicht aber dagegen. daß Strafbestimmungen zum Schutze der Jugendlichen gegen gewissenlose Gewerbetreibende und gegen pflichtvergessene Eltern und andere Erziehungspflichtige ge- schaffen würden. Dies ergibt sich klar aus seiner an einer anderen Stelle seines Vortrags gemachten Bemerkung: »Unseren Jugendlichen gegenüber wollen wir aber keine neuen Deliktsformen schaffen; es wäre eine durchaus unangebrachte Beruhigung, die wir auf Grund einer solchen neuen Verordnung empfänden, während doch bestenfalls durch sie nur die krankhaften Symptome, nicht aber die Krankheit selbst getroffen würde. Hier kann lediglich nur unsere vor keiner Schwierigkeit zurückschreckende Erziehungsarbeit helfen, in der wir nicht erlahmen dürfen, in der wir durchhalten müssen.« ?)

1) Fränkel, »Maßnahmen zur Bekämpfung der Verwahrlosung der Jugend« {2. Aufl. Breslau 1916), S. 22 f. 21) Fränkel, S. 15.

168 A. Abhandlungen.

Diesen Standpunkt teilt auch Noppelt), indem er bemerkt, die überraschende Springflut der Jugendvergehen habe einen großen Nach- teil im Gefolge gehabt. Die an sich schon ungünstige Grenzlinie zwischen Erziehungsmaßnahmen und krimineller Strafe sei noch mehr zuungunsten der Erziehung verschoben worden. Wäre das neue Ver- fahren gegen Jugendliche vor dem Kriege Gesetz geworden, dann wären wir besser auf den Krieg gerüstet gewesen, denn dann hätte Staatsanwalt und Jugendrichter für die vielen Vergehen, in denen es sich nur um Erziehungsfehler, Unarten und Übermut gehandelt habe, dem Erziehungsamt, dem Vormundschaftsgerichte zur erziehlichen Be- handlung überweisen können. Dies gelte besonders von den Über- tretungen der zum Schutze der Jugend erlassenen Verordnungen der stellvertretenden Generalkommandos.

Ferner ist auch noch der Kammergerichtsrat Kronecker zu nennen, der gleichfalls meint, daß Strafandrohungen gegen Jugend- liche, auch wenn sie nach dem Vorbilde mancher Erlasse auf die Jugendlichen über 14 Jahren beschränkt würden, erheblichen Bedenken unterlägen. Wenn die Strafverfolgung so selten eintrete, wie dies bei derartigen Vorschriften vermutlich der Fall sein werde, so versage allmählich die vorbeugende Wirkung der Strafvorschriften. Ferner mangele auch ein geeignetes Strafmittel. Dagegen sei es gerecht- fertigt, die Aufsichtspflichtigen unter Strafandrohung zu verpflichten, den Alkohol- und Tabaksgenuß und den Wirtshausbesuch der ihrer Obhut unterstellten Jugendlichen nach Möglichkeit zu verhindern. Mindestens ebenso wichtig erscheine eine Bestrafung der gegen diese Be- stimmungen verstoßenden Gewerbetreibenden. »Das Strafrecht kann hier nur sehr wenig tun. Das Hauptmittel gegen diese Verwahrlosung der Jugend wird stets eine liebevolle und sachkundige Jugendpflege bleiben.«

Besonders aber ist es der kürzlich leider verstorbene bekannte Berliner Jugendrichter Köhne, der wiederholt diesen Standpunkt mit Nachdruck vertreten hat,?2) so auch bei einem Vortrag, den er auf der 7. Jugendpflege-Konferenz der Zentralstelle für Volkswohlfahrt®) ge- halten hat. Er forderte aus pädagogischen Gründen, daß bei Über- nahme der in den Erlassen der Militärbefehlshaber enthaltenen Be- stimmungen über. Jugendschutz in das Friedensrecht keine neuen Strafandrohungen für Jugendliche geschaffen würden. Was aus jugend-

1) Noppel, »Die Jugend unseres Volkess (Stimmen der Zeit 3, 91), S. 124.

2) Köhne, »Die Jugendlichen’ und der Kriege (Deutsche Strafrechts-Zeitung 1916), Sp. 17 ff.

3) Nach dem Bericht von Klaer, »Die Jugendpflege in und nach dem Kriege« (Magdeburg 1917), S. 37 £.

Hellwig: Der Schutz der Jugend vor erziehungswidrigen Einflüssen. 169

lichem Übermut geschehe, dürfe nicht mit den Mitteln der Ver- brechensbekämpfung geahndet werden.

Demgegenüber vertritt von Liszt!) den entgegengesetzten Stand- punkt, allerdings wiederum mit einer Begründung, die ich nicht für stichhaltig halte, er sagt nämlich, gegenüber der unübersehbaren Menge von neuen Strafandrohungen, die unser Kriegsrecht schon geschaffen habe, würden die vier oder fünf Tatbestände, die den Jugendlichen gegenüber neuaufgestellt würden, überhaupt keine Rolle spielen.

Dies ist meines Erachtens ein Standpunkt, der sich nicht halten läßt. Wenn man davon ausgeht, daß überflüssige Strafandrohungen immer schädlich seien, so wird man die Prüfung der Frage, ob die in den Erlassen der Militärbefehlshaber im Interesse des Jugend- schutzes angedrohten Strafen zweckmäßig sind oder nicht, nicht da- durch umgehen können, daß man sich damit tröstet, daß schlimmsten- falls ja nur die erhebliche Anzahl zweckwidriger Kriegsgesetze durch einige wenige neue zweckwidrige Strafbestimmungen vergrößert wer- den. Es muß vielmehr sorgsam geprüft werden, ob Strafverordnungen im Interesse des Jugendschutzes erforderlich sind oder nicht, und, falls diese Prüfung zur Bejahung der Frage führt, ob solche Straf- verordnungen nur gegen Erwachsene gerichtet werden sollen gegen Gewerbetreibende und gegen Aufsichtspflichtige oder auch gegen Jugendliche.

Die oben erwähnten Schriftsteller, denen Sachkenntnis nicht ab- gesprochen werden kann, vertreten in dieser Beziehung den Stand- punkt, daß jedenfalls Strafandrohungen gegen Jugendliche zur Be- kämpfung erziehungswidriger Einflüsse nicht zweckmäßig seien.

Während ich früher die Frage, ob kriminelle Strafandrohungen gegen Jugendliche erforderlich seien, oder ob man sich mit diszipli- naren Maßnahmen begnügen könne, nicht genügend auseinander- gehalten habe?), möchte ich jetzt mit Nachdruck betonen, daß es mir allerdings gleichfalls als erwünscht erscheint, neue kriminelle Straf- normen für Jugendliche, soweit irgend vermeidbar, nicht zu schaffen. Wenn man aber durch energische Strafandrohungen gegen die Ge- werbetreibenden, ferner auch durch Strafandrohungen gegen die ihre Aufsichtspflicht verletzenden Erziehungsberechtigten dafür sorgt, daß den Jugendlichen erziehungswidrige Einflüsse nur selten zugänglich gemacht werden, so wird man sich damit begnügen können, den Jugend- lichen gegenüber, die gegen die Verbote verstoßen, mit Disziplinar-

1) v. Liszt, S. 514. 3 Hellwig, »Der Krieg und die Kriminalität der Jugendlichen«, S. 228 ff.

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170 A. Abhandlungen.

maßnahmen aufzutreten, also von einer kriminellen Strafe mit ihren oft für das ganze Leben verhängnisvollen Folgen abzusehen. !)

Fränkel?) schlägt als eine wirksame Disziplinarstrafe insbesondere “en Sonntagnachmittag-Arrest vor, doch sind auch zahlreiche andere praktische und brauchbare Disziplinarmaßnahmen möglich. ,

Eingehender habe ich mich mit der Widerlegung der gegen jene Erlasse vorgebrachten Bedenken in meinem erwähnten Buche befaßt. In einem anderen kürzlich erschienenen Buche »Entwurf eines Jugend- schutzgesetzes nebst Begründung« (Halle 1918) habe ich den Versuch gemacht, als Ergebnis meiner kritischen Darlegungen selbst einen Gesetzentwurf auszuarbeiten, in welchem ich nach dem Muster der Erlasse der stellvertretenden Generalkommandos, aber unter Ver- meidung einiger von ihnen gemachter Fehler zu zeigen versuche, in welcher Weise man durch präventive Strafbestimmungen den Jugend- schutz betreiben kann.

Seitdem ich diese Schriften veröffentlicht habe, ist der Krieg zu Ende gegangen, in einer Weise freilich, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Die große Masse unseres Volkes hat sich in den letzten Monaten als so urteilslos, als so leicht betörbar durch Schlag- worte erwiesen, daß kaum zu hoffen ist, daß in absehbarer Zeit es gelingen wird, Gesetze durchzubringen, die eine solche »Bevormundung« der Freiheit richtiger wäre: Zügellosigkeit der Jugendlichen ent- halten. Dafür werden schon die durch ihren Geldbeutel daran inter- essierten Gewerbetreibenden sorgen! Das kann mich aber nicht an meiner Ansicht irre machen, daß es im Interesse eines ausreichenden Jugendschutzes sehr erwünscht gewesen wäre, wenn ein Jugendschutz- gesetz dieser Art über dessen Einzelheiten sich selbstverständlich reden ließe erlassen wäre Wohin die Zügellosigkeit, welche die Revolution mit sich gebracht hat, führen wird, das läßt sich zurzeit noch nicht absehen. Rosig sind die Aussichten sicherlich nicht. Die äußeren und inneren Anreize zur Verbrechensbegehung, die schon in den Kriegsjahren an Umfang und an Stärke beträchtlich zugenommen hatten, haben noch weiter zugenommen, statt, wie wir hoffen konnten, abzunehmen. Ob in absehbarer Zeit wieder geordnete Zustände ge-

1) Hellwig, »Strafrecht und Jugenderziehung« a. a. O. S. 96ff. Dazu die Bemerkung Fränkels in einem Brief an mich vom 2. November 1917: »Auch Ihnen ist es offenbar, gleich mir, schwer gefallen, sich zu diesem Standpunkt durch- zuringen, gegenüber den vielfachen kriminellen Strafandrohungen der stellv. General- kommandos und dem Erfahrungssatze, daß man einem Verbote nur durch Androhung einer Strafe und zwar einer nicht zu geringen Gehör verschaffen kann.«

®) Fränkel, S. 121.

1. Nationale Einheitsschule, Jugendkunde und Berufsberatung usw. 171

schaffen sein werden, das steht noch dahin. Soviel ist jedenfalls sicher, daß auch in den nächsten Jahren der Vormundschaftsrichter und der Jugendrichter mit den kriminellen Folgeerscheinungen der Verwahrlosung großer Teile unserer Jugend mehr beschäftigt werden wird, als ihm lieb sein wird. Wir dürfen aber heute weniger denn je die Hände in den Schoß legen, sondern müssen, unbeirrt durch Tagesströmungen, unser Ziel, die Erziehung der Jugend zu nicht nur körperlich und geistig, sondern auch sittlich gesunden Persönlichkeiten, fest im Auge behalten und dürfen uns auch bei der Erörterung und Würdigung der Maßnahmen, die wir [ür geeignet halten, dies Ziel zu erreichen, durch das Geschrei der Menge nicht beeinflussen lassen. Auf die rein wissenschaftliche Arbeit darf die Staatsumwälzung keinerlei Einfluß ausüben, wenn anders es um die wissenschaftliche Forschung nicht schlecht bestellt sein soll. Die praktische Arbeit freilich wird sich der Tagesströmung nicht ganz entziehen können. Wer darauf angewiesen ist, daß seine Vorschläge von der herrschen- den Staatsgewalt unterstützt und verwirklicht werden sollen, der muß notgedrungen der öffentlichen Meinung einen gewissen Einfluß auf die Gestaltung seiner Vorschläge zugestehen. Wenn nicht alles, was erwünscht und notwendig erscheint, erreicht werden kann, so ist das doch. kein Grund, nicht wenigstens zunächst das durchzusetzen, was schon jetzt zu erreichen ist. Das wird auch auf unserem Gebiete gelten.

B. Mitteilungen.

1. Nationale Einheitsschule, Jugendkunde und Berufs- beratung an höheren Schulen.

Von Oberlehrer Dr. W. Krassmöller, Berlin- Wilmersdorf. Fortsetzung.)

Der pädagogische Standpunkt. Es wird von allen Seiten, sowohl von den Verfechtern als auch von den Gegnern der Einheitsschule zu- gegeben, daß die Volksschule und die höhere Schule in der Erziehung ein gemeinsames Ziel haben, nämlich das einer jeden Schule: ihre Zöglinge zu sittlich reifen und charaktervollen Staatsbürgern heranzubilden, bei denen sittliche Urteile und Charakterstärke in dem Verhalten zur Familie, Gemeinde (Kirche), Staat und Volk ausgeprägt seien. Nur, so behaupten die Einen, sei das Ziel des Unterrichts bei der Volksschule und der höheren Schule grundverschieden. Die Volksschule bereite für das prak- tische Leben vor, die höhere Schule für die wissenschaftliche Arbeit, nnd

172 B. Mitteilungen.

daraus ergab sich dann auch ohne weiteres die Verschiedenheit der Lehr- methode beider Schulen. Die Volksschule »sucht bereits Erkanntes ver- ständlich zu machen und seine Verwendbarkeit im praktischen Leben darzutun, das Lehrverfahren der höheren Schule erstrebt Erkenntnisbildung:. So die Gegner der Einheitsschule. Aus diesem verschiedenen Lehrverfahren folgt nun aber noch lange nicht die Notwendigkeit der Trennung gleich von vornherein. Im Gegenteil, die Trennung kann. nicht weit genug hinausgeschoben werden; denn der Schüler der höheren Lehranstalt muß ebenso wie der Volksschüler mit praktischen Kenntnissen fürs Leben aus- gestattet werden; leider fehlen diese oft, und dieser Mangel erschwert er- heblich den Unterricht in der Erkenntnisbildung, besonders in den realen Fächern. Ein solideres Wissen in den praktischen Dingen tut unseren Schülern der höheren Schule bitter not. Es wäre endlich an der Zeit, daß die Klagen über die Weltfremdheit unserer Gelehrten ein Ende nähmen. Ein weiterer Einwand gegen die gemeinsame Beschulung ist der, daß die Lehrer in der Einheitsschule bestrebt sein werden, möglichst viele Schüler zur höheren Schule zu bringen und daß sie dementsprechend nur mit den begabteren Schülern besonders in den Prüfungsfächern Deutsch und Rechnen zum Nachteile aller derjenigen Kinder arbeiten werden, die aus den niederen Volksschichten mit geringeren Vorstellungen und Er- fahrungen kommen, und daß auf diese Weise schließlich ein schlecht heran- gebildetes Schülermaterial die Oberklasse der Volksschule füllt. Hiergegen ist folgendes zu sagen: Nur ein gewissenloser Lehrer arbeitet lediglich mit den begabteren Schülern seiner Klasse und verstößt damit gegen den ersten Grundsatz seiner Dieustanweisung. Diese Lehrer sind Gott sei Dank in der Minderheit, die Mehrheit hat eine andere Auffassung von ihrem Berufe. Übrigens gibt es für die vorgesetzte Schulbehörde Mittel und Wege, diesem Unfuge einen anderen Ausdruck habe ich nicht dafür zu begegnen. Jedenfalls aber kann aus der mangelhaften Berufs- betätigung einzelner gewissenloser Lehrer kein allgemeingeltender Grund für die Schädlichkeit einer gemeinsamen Beschulung hergeleitet werden. Aber auch für die höhere Schule fürchten die Gegner der Einheits- schule Gefahr von ihr: Die höhere Schule müßte sich zu sehr nach ihrem Unterbau richten und büße somit an Freiheit in ihrer inneren Entwicklung ein. Die Richtung des höheren Schulwesens würde also nicht mehr von innen heraus und im Dienste des Ganzen bestimmt werden, sondern sie würde von vornherein durch die notwendige Rücksichtnahme auf das einseitige Gleichheitsprinzip eine gebundene Marschroute empfangen.!) Dagegen ist zu bemerken, daß wir Lehrer auch in der heutigen höheren Schule nach einer gebundenen Marschronte marschieren. Es existieren bekanntlich amtliche Lehrpläne, die die Pensen in den einzelnen Lehr- fächern für die verschiedenen Stufen vorschreiben und nach denen die Lehrenden zu arbeiten haben. Nur die Methode und die Art und Weise, wie die vorgeschriebenen Pensen zu erledigen sind, bleibt dem Lehrer vorbehalten und hängt von seinem jeweiligen Lehrgeschick ab. Diese

') F. J. Schmidt, Das Problem der nationalen Einheitsschule. S. 14.

1. Nationale Einheitsschule, Jugendkunde und Berufsberatung usw. 173

amtlichen Vorschriften scheinen mir deshalb getroffen zu sein, damit ein gewisses Gleichheitsprinzip in das höhere Schulsystem der Gegen wart hinein- kommt, um Schülern, die infolge eines Wohnungswechsels ihrer Eltern ihre Anstalt verlassen müssen, das Fortkommen auf derselben Stufe der neuen Anstalt nicht unmöglich zu machen. Eine Freiheit in der inneren Entwick- Inng der höheren Schule hat es bis auf den heutigen Tag noch nicht gegeben, und deshalb kann sie auch nicht durch die Einheitsschule Einbuße erleiden.

Ein weiterer Einwand, dem man oft begegnet, lautet: Die jetzige Vorbildung der Lehrer auf der Präparandenanstalt und im Seminar reicht dann nicht mehr aus, wenn die Volksschule ihre Aufgabe erfüllen soll, jedermann aus dem Volke die nötige Bildung zu vermitteln, ge- schweige denn für die Ziele der Einheitsschule. Dagegen ist zu erwidern, daß die Lehrer anerkanntermaßen bisher ihre Aufgabe, die die Volksschule an sie stellte, im großen und ganzen gelöst haben. Es ist daher auch anzunehmen, daß sie den Unterrichtsanforderungen einer gemeinsamen Grundschule genügen werden, und wenn das nicht der Fall sein sollte, so wäre es Pflicht der Behörde, hier Abhilfe zu schaffen. Bei einem großen Teil der Lehrerschaft ist stets das Streben nach wissenschaftlicher Ausbildung vorhanden gewesen, nur hat man ihm nicht nachgegeben.

Noch ein letzter Vorwand, der vielleicht einen Schein von Berechti- gung hat, sei erwähnt. Bei Einführung der sechsklassigen Grundschule verbleiben der höheren Schule nur noch sechs weitere Jahre bis zur Reife- prüfung, eine Zeit, die nicht mehr zùr Ausbildung in den drei Sprachen genügt. Auch müßte die Gründlichkeit des Unterrichts leiden und der Bildungsstand sinken. Dieser Einwand wird aber hinfällig, wenn man die höhere Schule in der Weise entlastet, daß in die letzten Klassen der Grundschule ein konzentrierter Unterricht in Deutsch, Mathematik und Naturwissenschaft gelegt und so der höheren Schule eine große Vorarbeit geleistet würde.

Man sieht, daß von den zahlreichen pädagogischen Bedenken nicht viel übrig bleibt, daß vielmehr bei: einigem guten Willen die Einführung der nationalen Einheitsschule ohne Gefährdung der höheren Schule sehr wohl möglich ist. Damit wäre allerdings das Todesurteil über die viel- umstrittene Vorschule als »Standesschule« gefällt.

Der sozialpolitische Standpunkt. Von der nationalen Einheits- schule erhoffen ihre Freunde einen völligen Ausgleich der sozialen Gegen- sätze und Versöhnung aller Gesellschaftsschichten, so behauptet man im gegnerischen Lager und versucht nachzuweisen, daß das Gegenteil davon eintreten werde, nämlich eine »schärfere, schon in der Jugend beginnende Spannung«e. Das ist aber eine durchaus irrige Meinung. Die Vertreter der Einheitsschule stehen zunächst auf dem Standpunkt, daß durch die einheitliche Erziehung unseres freien Volkes eine geschlossene Staatseinheit eher zu erzielen ist als bei der gegenwärtigen zerrissenen Schulorganisation. Die sozialen Gegensätze werden stets bleiben, solange persönliches Schaffen und individuelle Charakter- und Willensveranlagung im Staate bewertet werden und die Voraussetzung für jedes Vorwärtskommen bilden, auch das Familien- und soziale Leben sich nicht zwangsweise uniformieren und

174 B. Mitteilungen.

schablonisieren läßt. Es kann sich daher nur darum handeln, daß in der gemeinsamen Grundschule alle Zöglinge von vornherein Gelegenheit haben, durch eigenes Können und Wissen sich unterrichtlich emporzuarbeiten. Freilich wird das Arbeiterkind, das neben dem Fürstenkind sitzt, um den oft erwähnten krassesten Gegensatz heranzuziehen, recht bald den Standes- unterschied fühlen, Neid und Haß werden vielleicht in seine Seele ein- ziehen, aber oft wird ihm auch schon bewußt werden, daß ihm hier die Gelegenheit geboten ist, nach Absolvierung der Schule sich aus seinem niederen Stand in einen höheren emporzuarbeiten. Diese recht frühzeitig gewonnene Erkenntnis wirkt auf das kindliche Gemüt versöhnend und erleichtert dem Lehrer die Arbeit. Übrigens sei noch bemerkt, daß die Kinder, schon lange bevor sie zur Schule kommen, von Standesunter- schieden wissen, und sie werden sich in der Einheitsschule allmählich daran gewöhnen, und das um so leichter, als sie bald erfahren, daß hier ein Rangunterschied keine Rolle spielt. Es ist dann zu hoffen, daß die oft von Erwachsenen gehörten Klagen, wie z. B. ich hatte keine Gelegen- heit oder keine Mittel, mir bessere Schulbildung anzueignen, verstummen werden. Der reife Mann wird erkennen, daß er die Schuld für den etwaigen Mangel an Schulbildung selbst trägt. Jedenfalls aber wolle man die Lösung der Einheitsschulfrage als Teillösung in der Förderung der allgemeinen sozialen Frage anstreben.

Die Einheitsschule, so behauptet man weiter, führt zur Vergewaltigung der Familie, indem sie ihr das Recht nimmt, nach freiem Ermessen die Schule für ihre Kinder zu wählen. Fragen wir uns zunächst, wie es bei den gegenwärtigen Schulverhältnissen mit dem Recht der Eltern auf Auf- nahme ihrer Kinder in eine höhere Schule steht. In Wirklichkeit haben sie nur das Recht der Anmeldung. Die Aufnahme selbst ist abhängig erstens von einer Aufnahmeprüfung, also von dem Urteile der Lehrer und zweitens von der leidigen Platzfrage, besonders in deu Großstädten. So liegen die Verhältnisse tatsächlich und nicht anders. Von einem Recht der Familie auf Aufnahme des Kindes in eine höhere Schule oder gar von einem Anrecht auf einen Platz in derselben kann durchaus keine Rede sein. Wo also die Familie in dem betrachteten Sinne bisher überhaupt kein Bestimmungsrecht gehabt hat, kann es ihr auch durch die Einheits- schule nicht genommen werden. Ich bin vielmehr der Ansicht, daß gerade dadurch, daß ein ganzes Kollegium von Fachmännern sein Gut- achten darüber abgibt, ob es Zweck hat, ein Kind die höhere Schule be- suchen zu lassen oder nicht, die Eltern in ihrer freien Eutschließung von seiten der Schule eine Unterstützung und in ihrer Erziehungsarbeit eine Erleichterung finden, keineswegs aber eine Beschränkung ihres Rechts.

Der wirtschaftlich ökonomische Standpunkt. »Wir verlangen für unsere Verwaltungen und unsere Betriebe nur erstklassiges Material in den leitenden Stellungen, wollen ein Überangebot unserer Kräfte ver- mieden wissen und wünschen eine richtige Verteilung der Kräfte auf die einzelnen Berufe.«!) Mit diesen Worten spricht Kuckhoff, ein genauer

aussichten und Berufsberatung für Schüler höherer Lehranstalten, Volksvereins- Verlag G. m. b. H., M.-Gladbach 1916.

1. Nationale Einheitsschule, Jugendkunde und Berufsberatung usw. 175

Kenner des deutschen Wirtschaftslebens und praktischer Schulmann, die wirtschaftliche Forderung der Öffentlichkeit an die höhere Schule aus und deutet an, daß die Einheitsschule da helfen nnd sicherer zu diesem Ziele führen kann. Die Schule wird daher künftighin ganz bedeutenden Wert darauf legen müssen, das erstklassige Material zunächst zu ergreifen und dann in gesundem Streben heranzubilden. Das vermag aber nur die Einheitsschule in vollem Umfange zu leisten; denn sie bekommt zunächst sämtliches Schülermaterial in die Hände, sichtet es nach bestimmten Grundsätzen und öffnet damit auch den Intelligenzen aus den wirtschaft- lich schwächeren Volksschichten die höheren Bildungswege. Freilich wird es vorkommen und vielleicht auch recht häufig, daß ein Schüler für die höhere Schule empfohlen wird, später aber daselbst vollständig versagt, und umgekehrt, daß einem Schüler der Zutritt zur höheren Schule ver- sagt wird, der sich vielleicht später gut entwickelt hätte. Das wird nie zu vermeiden sein, aber es ist doch anzunehmen, daß das immer die Ausnahme bleiben wird, und aus ihr darf man keinen Grund gegen die Existenzberechtigung der Einheitsschule herleiten. Die Regel wird viel- mehr bleiben, daß die Schule die wirklichen Talente findet und ihnen freie Bahn macht. Gewiß hat das auch seine Bedenken. Mit Recht weist Kuckhoff darauf hin, daß es vielleicht nicht gnt ist, dem Arbeiter- stande und Mittelstande alle Intelligenzen zu entziehen; denn auch diese Erwerbsgruppen bedürfen durchaus tüchtiger Kräfte, aber der andauernde Verlust geistig Befähigter bedeutet für die Entwicklung unseres wirtschaft- lichen Lebens ein viel folgenschwereres Hemmnis als der Schaden, der ihm durch den Ausfall weniger bedeutender Intelligenzen im Erwerbsleben erwächst. Auch hierin wird man durch zweckdienliche Maßregeln eine Regulierung herbeiführen können. Von einer völligen Entgeistigung des Volkes aber hier zu sprechen, geht durchaus nicht an. Die Einheitsschule hat also an der Erfassung und richtigen Verteilung der Kräfte auf die einzelnen Berufe an erster Stelle mitzuwirken und somit den erhöhten Anforderungen unseres Wirtschaftslebens Rechnung zu tragen, und gerade hierin besteht ihre wichtigste Bedeutung.

Der schulhygienische Standpunkt. Von dieser Seite her hat sich der im vorigen Jahr verstorbene Geh. Medizinalrat Dr. Adolf Baginsky über die Einheitsschule in einem Vortrage geäußert.!) Er spricht sich im Grunde genommen gegen die neue Schulform aus, ohne sie gänzlich abzulehnen; er argumentiert folgendermaßen: »Nach dem vorliegenden statistischen Material der Ärzte ist die Minderwertigkeit unter den Schul- rekruten nicht auf ursprüngliche Minderwertigkeit der Keimstoffe, sondern auf die Ungunst der äußeren Verhältnisse zurückzuführen. Ist diese Voraussetzung richtig, so liegt »also eine gleichsam sich von selbst er- gebende Gruppierung der Kinder nach der sozialen Lage vor ..... eine freilich unfreiwillige, aber tatsächlich bestehende Differenzierung, die von Hause aus dem Gedanken der Einheitsschule sich gegenüberstellt«. Dazu

1) Der Vortrag ist in einer Sonderausgabe bei Ferd. Enke, Stuttgart 1917, er-. schienen.

176 B. Mitteilungen.

ist zu bemerken, daß die Voraussetzung, die dem Baginskyschen Ge- dankengang zugrunde liegt, in dieser Allgemeinheit sicherlich nicht zu- trifft. Es soll damit natürlich nicht bestritten werden, daß die Umgebung, Ernährung usw. von großem Einfluß auf die Entwicklung der Kinder sind, aber man darf sich auch andererseits der Tatsache nicht verschließen, ` daß es auch in den sozial tiefer stehenden Volksschichten eine große Mehr- heit von Kinderkonstitutionen gibt, die sich noch recht gut mit den Degenerierten aus den besseren und besten Volksschichten messen kann. Ebenso, wie wir aus den Söhnen aller Volksschichten ein gesundes und leistungsfähiges Volksheer, das gegenwärtig so herrliche Taten vollbringt, gegründet haben, wird es auch möglich sein, aus denselben Volksschichten ein Heer von Schulrekruten aufzustellen, das den Aufgaben der Einheits- schule geistig und körperlich gewachsen ist. Es hieß aber die Kraft unseres Volkes gering einschätzen, wollten wir daran zweifeln. Minder- entwickelte und Rückständige können ja, wie das bisher immer geschehen ist, durch schulärztliche Untersuchung zeitlich zurückgestellt oder schließ- lich ganz von dem Besuche der Einheitsschule ausgeschlossen werden. Für derartige Kinder müßten heilpädagogisshe Anstalten in Betracht kommen, wodurch die Einheit des Schulwesens nicht beeinträchtigt würde, da hier nur von der Einheit der Normalschulen die Rede sein kann. Freilich müßten dann bedeutend mehr Mittel zur hygienischen Ausgestaltung der heilpädagogischen Anstalten zur Verfügung gestellt werden. Auch Baginsky kommt zuletzt zu dem Schlusse: »Im großen wird die Grund- lage der ersten Einheitsschule erst dann zu legen möglich sein, wenn wir mit der Förderung der sozialen Frage .... ein ganzes Stück noch weiter werden vorgeschritten sein.«e Er lehnt also den Gedanken einer Einheitsschule von seinem ärztlichen Standpunkte aus nicht glatt ab, sondern er hält seine Verwirklichung nur für verfrüht, eben weil wir in der allgemeinen sozialen Frage noch nicht weit genug vorgeschritten sind. Weiter betont Baginsky, daß beim Übergang von der Einheitsschule zur höheren Stufe plötzlich eine außerordentlich schwere und deshalb un- hygienische Belastung der Kinder unvermittelt einsetzte. Auch dieser Einwand ist hinfällig, wenn man bedenkt, daß es gerade im Wesen der Einheitsschule liegt, einen allmählichen und bequemen Übergang zur höheren Schule zu schaffen. Eher trifft der Baginskysche Einwand für die jetzigen Schulverhältnisse zu, bei denen der Übergang von der Volksschule zur höheren Schule selbst für Begabte recht schwierig ist. Schließlich sieht Baginsky in dem Umstand, daß der Aufstieg von der Einheitsschule in die höhere Schule gerade in die Pubertätszeit fällt, eine ernste Gefahr für die Gesundheit der Schüler. Berücksichtigt man aber, daß die höhere Schule sich organisch auf die Einheitsschule aufbaut und gewissermaßen nur eine Fortsetzung derselben bildet, so kann von einem Schulwechsel, der eine Mehrbelastung der Schüler in der kritischen Zeit der Pubertät zur Folge hätte, wie Bagiusky meint, keine Rede sein. So gründlich und in mancher Beziehung auch überzeugend der Mediziner von seiner Wissenschaft aus gegen die Einheitsschule sich ausspricht, so glaube ich doch gezeigt zu haben, daß mancher Einwand hinfällig ist oder

1. Nationale Einheitsschule, Jugendkunde und Berufsberatung usw. 177

doch mindestens für die heutigen Schulverhältnisse eben solche Geltung hat wie für die zukünftige Einheitsschule. Durch sie entsteht sicherlich für die Gesundheit unserer Schuljugend keine neue ernstliche Gefahr. Diese liegt vielmehr anderswo.

Wenn wir uns nunmehr die Frage vorlegen, ob schon greifbare Ziele in der Einheitsschulbewegung hervorgetreten sind, so läßt sich sagen, daß die Durchführung der Einheitsschule bis zu den letzten Schlußfolgerungen bisher noch nirgendswo erfolgt ist, wohl aber hat man ihren Grund- gedanken, den einer inneren Verbindung aller Schulgattungen, hier und da aufgenommen und einen gleichen, wenn auch nicht gemeinsamen Unterbau für alle Schulen geschaffen.) Den größten Widerstand leistet die Oberlehrerschaft. Sie befürchtet unter anderem, daß, wenn die Ein- heitsschule eine Zwangsschule ist, die Leistungen der höheren Schule da- durch niedergedrückt werden, und daß der Anschluß von der Einheits- schule auf die höhere Schule auf jeder Stufe verlangt wird. Man über- schätzt hier in hergebrachter Weise die Gelehrtenbildung und verschließt sich immer noch den dringenden Forderungen unserer Zeit, in der unser soziales, politisches, wirtschaftliches, überhaupt unser gesamtes Öffentliches Leben einen nie geahnten Aufschwung genommen hat, dem die Schule Rechnung zu tragen hat. Solange aber noch das stille Gelehrtentum in überwiegender Mehrheit in der Oberlehrerschaft vertreten ist und ihr da- mit eine gewisse Weltfremdheit anhaftet, wird dem fortschrittlichen Geist dringender Reformen der Einzug in diesen Kreisen verwehrt sein. Wohl gibt es in der Öberlehrerschaft, namentlich unter ihren jüngeren Ver- tretern, hervorragende Persönlichkeiten, die den berechtigten Forderungen der Neuzeit volles Gehör schenken, ja sogar eine führende Stellung in den modernen pädagogischen Bestrebungen einnehmen, aber sie sind leider in starker Minderheit, so daß ihr Einfluß meist nicht den erwünschten Erfolg hat. In den Kreisen der Volksschullehrerschaft herrscht dagegen ein frischer Geist, vielseitiges Interesse für alle modernen pädagogischen Fragen und gesundes, fortschrittliches Streben. Freilich hat man hier manchmal mit seinen radikalen Forderungen weit über das Ziel hinaus- geschossen, aber immerhin hat das Zusammengehörigkeitsgefühl und die frische Kampfesweise, die ich in diesen Kreisen stets fand, mir ein hohes Maß von Achtung abgenötigt. l

Und nun noch ein Wort zur Forderung des einheitlichen Lehrer- standes, die die deutsche Lehrerversammlung zu Kiel mit der Begründung ausgesprochen hat, daß die organisch gegliederte nationale Einheitsschule einen einheitlichen Lehrerstand zur notwendigen Voraussetzung haben müsse. Hier wird von gewisser Seite den Lehrern der Vorwurf gemacht, daß sie mit dieser Forderung nichts anderes beabsichtigten, als ihren eignen Aufstieg in die höheren Lehrstufen. Das sei einmal zugegeben; aber man muß doch sagen, daß das ihr gutes Recht ist, nur fragt es

1) Hierzu: E. Saupe, Versuche zur Lösung der Einheitsschulfrage und zur Förderung begabter Schüler. Ztschr. f. Kinderforsch. 23. Jahrg. Heft 4/5 u. 6/7. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

Zeitschrift für Kinderforschung. 24. Jahrgang. 12

178 B. Mitteilungen.

sich, ob sie auch die Vorafissetzungen erfüllen wollen, auf Grund deren die Möglichkeit des Aufstiegs gegeben ist. Und da muß man doch zu- geben, daß die Lehrerschaft allzeit bereit war, nicht nur die Forderungen ihrer vorgesetzten Behörde zu erfüllen, sondern daß sie wiederholt selbst höhere Anforderungen in Vorschlag gebracht hat, eben um eine geistige und materielle Besserstellung zu erzielen. Es muß zukünftig jedem Lehrer möglich sein, wenn er es will, zum akademischen Lehrer aufzusteigen. Man möge, um mit Ufer zu reden (l.c. pag. 29), weniger darauf achten, wo sie ihr Wissen und Können erworben haben, als vielmehr darauf, daß sie überhaupt etwas Ordentliches wissen und können.!) Dadurch werden die besten Kräfte mobil gemacht, von denen eine jede in unserer heutigen Zeit wertvoll ist. Nie und nimmermehr aber dürfen Kastengeist und Standes- dünkel aufstrebenden Kräften ein Hindernis sein. (Schluß folgt.)

2. Ein deutscher Jugendfürsorgetag über Jugendämter. Bericht und Erwägungen von Johannes Delitsch.

Am 19.—21. September tagten in Berlin Organisationen der Jugend- fürsorge, der Armenpflege und der Volkswohlfahrt mit ihren zahlreichen Gästen, insgesamt fast 1400 Personen, und berieten über

Jugendämterals Träger der öffentlichen Jugendfürsorgeim Reich.

Es handelte sich um Regelung der wechselseitigen Beziehungen zwischen der öffentlichen und privaten Jugendfürsorge. Alle deutschen Regierungen waren vertreten.

1) Hierzu erzählt Ufer (29) einen Fall aus dem Lehrerleben, der nicht un- erwähnt bleiben darf. »Bis zur Neuregelung des höheren Mädchenschulwesens in Preußen geschah es ... vielfach ..., daß nicht nur in den obersten Klassen der höheren Mädchenschulen, sondern auch in den .... Lehrerinnenbildungsanstalten seminarisch vorgebildete Lehrer, die die Mittelschullehrer- und fast immer auch noch die Rektorprüfung abgelegt hatten, und Lehrer mit Hochschulbildung neben- einander arbeiteten, und zwar zur wiederholt bekundeten Zufriedenheit der höchsten Aufsichtsbehörde. Mit der Neuregelung wurde das wesentlich anders, und ins- besondere aus den Lyzeen, den jetzigen Oberlyzeen ....., würden Lehrer, die nicht Hochschulbildung hatten, wenn irgendwie angängig, hinausgedrängt, bisweilen in nicht gerade sanfter Weise. Wie mir der Direktor eines Lyzeums und Oberlyzeums in einer größeren westdeutschen Stadt mitgeteilt hat, kam er in Verlegenheit, weil er einem zwar laut Zeugnis zum Seminardirektor befähigten, aber nicht akademisch gebildeten Lehrer, der viele Jahre lang und mit gutem Erfolge den Unterricht in der pädagogischen Psychologie erteilt hatte, dieser Unterricht genommen wurde, obwohl nach dem Urteil des Direktors eine in gleichem Maße geeignete Lehrkraft mit Hochschulbildung nicht zur Verfügung stand. Eine Eingabe an die Aufsichts- behörde hatte keinen Erfolg, und ein junger, in diesem Fach wenig kundiger und gänzlich unerfahrener Akademiker mußte den Unterricht übernehmen, nachdem ihn der bewährte abtretende Lehrer auf Bitten des Direktors in seine neue Arbeit not- dürftig eingeführt hatte!»

2. Ein deutscher Jugendfürsorgetag über Jugendämter. 179

I. Die Einberufer der Versammlung.

Sechs deutsche Vereine wirken für Zusammenschluß der behördlichen und privaten Jugendfürsorg. In dem Sinne will man Gründung von Jugendämtern. Man ersehnt erhöhte Anteilnahme und Unterstützung der bundesstaatlichen Regierungen für die freie Liebestätigkeit, auch erhöhten Einfluß derselben auf die Regierungen. Die allgemeine Jugendfürsorge soll zum starken Strome anwachsen, damit das kommende Geschlecht das gegenwärtige ausreichend und würdig ergänze, die großen und schweren Aufgaben der Zukunft zu lösen vermöge. Man erwartet von den Jugend- ämtern jedenfalls keine Einschränkung, sondern Förderung der privaten Jugendfürsorge; die Ämter sollen die Selbständigkeit der Vereine unan- getastet lassen.

Der »Deutsche Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit« mit seinem mehr öffentlichen als privaten Charakter hat geschichtlichen Anteil an der Entwicklung der Jugendfürsorge. Diese ging aus der Armenpflege hervor, und die Armenpflege nimmt sich heute noch mehr als früher der Pflege und Erziehung armer Kinder an. Auch ist die Jugendfürsorge immer noch wirtschaftlich von der Armenpflege abhängig, nicht zur Freude der heutigen Volkspartei. Der Sozialdemokratie widersteht ja grundsätzlich der Annahme jeder Wohltätigkeit. Denn Armut ist ihr nur die bedauerliche Folge einer falschen Gesellschaftsordnung, nicht das Ergebnis persönlicher Minderwertigkeit oder Schuld; so sollen die Armen nicht bitten, sie haben zu fordern. Wir geben der Sozialdemokratie recht, wenn sie verlangt: Armenpflege und Jugendfürsorge dürfen sich nicht zufällig dem oder jenem Notleidenden zuwenden; sie dürfen kein Ausfluß von Gunst oder Gnade sein; sie sollen vielmehr der Verpflichtung des Ausgleiches dienen. Das kam auf der Versammlung zum Ausdrucke und zur Anerkennung.

Auch darin hat die Sozialdemokratie recht, daß sie einen großen Teil der Schuld an Vernachlässigung und Verwahrlosung der Jugend auf Rechnung der elterlichen Armut und Halbbildung setzt, denen durch eine gerechtere Gesellschaftsordnung glücklich begegnet werden könnte. Freilich, selbst bei stärkster Betonung dieses ursächlichen Zusammenhangs läßt sich das persönliche Verschulden der Eltern keineswegs unbedingt ver- neinen. Denn aueh nach Vermögen und Bildung bevorzugte Eltern handeln oft genug unverständig und pflichtvergessen und geben ein schlechtes Vorbild, von erblicher Belastung ganz abgesehen. Und umgekehrt.

Das »Archiv deutscher Berufsvormünder« trägt weniger die Eigenart eines Vereins als einer Person. Professor Klumker in Frankfurt a. M. ist Schöpfer und Träger. Die alte freie Reichsstadt Frankfurt wahrt auch als hessische Stadt ihren Ruf des sozialen Fortschritts. So schenkte sie Deutschland das erste Jugendgericht. Im Anschlusse daran gründete Klumker die erste Zentrale für freiwillige Jugendgerichtshilfe, deren Leitung er dann Dr. Polligkeit überließ, später die Anstalt Steinmühle (ein Beobachtungs-, Behandlungs- und Beratungshaus für straffällige, psycho- pathische männliche Jugend) und schließlich das »Archiv für deutsche Berufsvormünder« und die früher gleichnamige Zeitung, welche jetzt unter

12*

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dem Titel: Zentralblatt für Vormundschaftswesen, Jugendgerichte und Fürsorgeerziehung erscheint. Der seit 20 Jahren rastlos für die Jugend Tätige widmete sich also nicht dem ganzen Gebiete der Jugendfürsorge, sondern bevorzugte die Rettung der sittlich Gefährdeten und vollzog bahn- brechend wesentliche praktische Folgerungen. Er beschränkte sich schließ- lich. auf ein Teilgebiet der Jugendrettung, um hier Meister zu sein.

Die »Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge« zu Berlin trat bald an die Seite der Frankfurter und tiberholte deren Bedeutung durch ihren Einfluß auf Reichs- und Landtag, auf die Regierungen des Deutschen Reiches und seines größten Bundesstaates. Ihr standen auch allererste autoritative Intelligenzen als ehrenamtliche Kräfte und.größere Mittel zu Gebote. Dazu gab ihr die Berliner Jugend das reichste Material mit den verschiedenartigsten, auch mit den ausgeprägtesten Fällen. Doch konnte es ihr anderseits nicht gelingen, ihre vielen einzelnen Schützlinge dauernd im Auge zu behalten, so dringend nötig das auch meist gewesen wäre. Trotz dieses in der Millionenstadt selbstverständlichen Mangels sammelt und ordnet sie einen Schatz von Erfahrungen, gehen von ihr wertvollste Belehrungen aus. Sie sucht das ganze Gebiet der allgemeinen Jugend- fürsorge zu umfassen.

Die »Zentralstelle für Volkswohlfahrt« gab 1906 ihren privaten Charakter auf und wurde zu einem öffentlichen Regierungsorgane. ~ Als privater Verein war sie nach Erlaß der sozialen Gesetze Ende 1901 zur Förderung der Arbeiterwohlfahrt gegründet worden. Jetzt widmet sie sich in fünf Abteilungen namentlich der Wohnungsfrage, der Jugendpflege und der Betreuung von zu- und abwandernder Jugend, der Volksbildung und der Bevölkerungspolitik. Ihrem Bestreben gemäß, die zahlreichen Organi- sationen der Volkswohlfahrt in ihrer Entwicklung zu verfolgen, den Regierungen darüber zu berichten und Vorschläge zu unterbreiten, wie die Vereine und ihre Verbände zu fördern, beschickte sie im letzten Jahre nicht weniger als 52 fremde Tagungen und Veranstaltungen. Sie gibt auch drei Zeitschriften heraus: Die Concordia, den Ratgeber für Jugend- vereinigungen, die Korrespondenz für Kriegswohlfahrtspflege.

Der »Allgemeine Fürsorgeerziehungstag« ist ein Verband der privaten Fürsorgeerziehungsanstalten Deutschlands. Diese »Rettungshäuser« der Vergangenheit wurden infolge des Fürsorgeerziehungsgesetzes und der Kostenübernahme für Pflegegelder der Zöglinge durch die Fürsorgeverbände wirtschaftlich auf eine gesunde Grundlage gestellt; sie lebten nun nicht mehr von den Almosen reicher Leute. Allein sie entfremdeten sich auch ihrer früheren Aufgabe, sittlich gefährdete Jugend vor Zwangserziehung zu bewahren. Sie gaben damit ein Ideal preis, das die Zukunft neu beleben sollte. Denn viele Kinder sind zu Haus schlecht aufgehoben oder beginnen aus eigenem Antriebe zu entarten, ohne daß man schon Fürsorgeerziehung für sie beanspruchen möchte. Da fehlt es an a nn zwischen beiden.

Der »Deutsche Kinderschutzverband« trat erst in diesem Jahre mit seiner Magdeburger Tagung in die breite Öffentlichkeit, obwohl er schon seit 1909 bestand. Das ist kein Zufall. Kinderschutz ist ein Teil der

2. Ein deutscher Jugendfürsorgetag über Jugendämter. 181

allgemeinen Jugendfürsorge und wurde von allen bestehenden Vereinen von jeher mehr oder weniger geübt. Kinderschutz geht auch in der Praxis unmerklich in Jugendrettung und Jugendförderung über; der Name sichert dem Verbande und seinen Vereinen keine klare Abgrenzung. Aber Kinder- schutz ist ein Grundsatz, der gegenwärtig infolge einseitiger Betonung der Jugendrettung hohe Bedeutung erlangte. Die Kinderschutzbestrebungen dringen heute auf eine gesunde und nötige Kritik des Fürsorgeerziehungs- wesens.

Man kann nicht behaupten, daß die sechs zusammengetretenen deutschen Vereine sich bisher einander dahin ergänzt hätten, das gesamte Jugend- fürsorgegebiet zu umfassen. Zwei von ihnen, der Verein für Armenpflege und die Zentralstelle für Volkswohlfahrt, berühren es nur. Und die vier anderen bilden auch nicht etwa die vier notwendigen und erschöpfenden Kapitel eines Themas, geben also auch keine Gewähr für allseitige Er- wägung, wenn ihnen auch der Ernst der Stunde höchste Verantwortlichkeit auf die Schultern legte.

II. Die Aufgaben der Jugendämter.

Ehe man über die Einrichtung von Jugendämtern bestimmen kann, sind deren Aufgaben festzusetzen. Nun bestehen schon hier und da städtische Jugendämter. Ihr Betrieb bildet eine erwünschte Vorlage für die gesetzliche Verallgemeinerung. Es bestehen aber auch Wohlfahrts- ämter, die der Volkswohlfahrt, also jedem Lebensalter dienen, während die neuen Ämter eben bloß die Jugend betreuen sollen. Letztere lassen sich den Wohlfahrtsämtern gewiß als Abteilungen einordnen. Denn Jugend- fürsorge ist ein ganz wesentlicher Teil der Volkswohlfahrt. Sie ist ihre nötigste, einflußreichste und aussichtsvollste Aufgabe nötig, weil für die noch unselbständige Jugend gesorgt werden muß; einflußreich, da die Jugend ja in der Entwicklung steht; aussichtsvoll, denn die Jugend be- deutet des Volkes Zukunft. A R

Diese Einordnung von Jugendämtern in schon bestehende Amter für Volkswohlfahrt sieht auch der Entwurf eines preußischen Jugendfürsorge- gesetzes!) von 1918 vor, der sich überhaupt an die schon bestehenden Einrichtungen anlehnt und nicht über sie hinausgeht. Er begnügt sich damit, daß in Einzelversuchen Bewährte im ganzen Lande einzuführen.

So hebt er in $2 und 3 wichtige Aufgaben der Jugendämter hervor. Allein man gewinnt nicht den Eindruck, daß damit die Bedeutung der Jugendämter erschöpft sei. Arbeiten doch die verschiedenen Vereine und Behörden nicht mit wissenschaftlicher, das Ganze umfassender Übersicht- lichkeit. Die Forderungen der Stunde und nicht das Wesen der Jugend mit der Vollzahl ihrer Bedürfnisse bestimmt ihre Wirksamkeit. Man prüfe nur den Wortlaut der beiden Paragraphen, um diese Unsicherheit mit zu empfinden,

8 2. Das Jugeädamt ist zugleich Gemeindewaisenrat. $ 3. Das Jugendamt ist ferner berufen:

1) Fr. Schlosser, Jugendfürsorgegesetz. Berlin, Carl Heymann’s Verlag, 1918.

182 B. Mitteilungen.

1. darüber zu wachen, daß den gefährdeten Minderjährigen der erforderliche Schutz gewährt und deren Verwahrlosung entgegengewirkt wird,

2. Berufsvormundschaften über uneheliche Kinder einzurichten und die

Fürsorge für diese tunlichst schon vor der Geburt zu übernehmen,

bei Einleitung und Ausführung der Fürsorgeerziehung mitzuwirken,

die Pflege der Haltekinder zu beaufsichtigen,

die Justizbehörden bei Strafrechtspflege gegenüber Minderjährigen zu

unterstützen,

6. die freie Liebestätigkeit in der Jugendfürsorge anzuregen, sowie auf einen planmäßigen Aufbau und ein zweckentsprechendes Ineinandergreifen der gesamten Säuglings-, Kleinkinder- und Schulkinderfürsorge hinzu- arbeiten,

7. die staatlichen Schul- und Kommunalbehörden bei den ihnen sonst durch Gesetz oder Verwaltungsvorschriften zugewiesenen oder von ihnen über- nommenen Aufgaben zu unterstützen, die die Fürsorge für die Jugend in körperlicher, geistiger und sittlicher Hinsicht betreffen.

Bei Erfüllung dieser Aufgaben, sowie auf dem weiteren Gebiete der Jugendfürsorge hat das Jugendamt mit den diesem Zwecke dienenden Vereinen und Veranstaltungen unter Wahrung von deren Selbständigkeit zusammenzuwirken.

Dem fügt Schlosser u. a. in seiner Einleitung zum Gesetzentwurf hinzu: »Was das Verhältnis des Jugendfürsorgegesetzes zu der Jugend- pflege betrifft, so hat deren Selbständigkeit nicht angetastet werden sollen. Der Gesetzentwurf sieht eine unterstützende Tätigkeit des Jugendamtes in dieser Beziehung vor. Das schließt nicht aus, daß in einzelnen Fällen nähere Beziehungen des Jugendamtes zur Jugendpflege hergestellt werden, derart, daß die Jugendpflege als eine Aufgabe des Jugendamtes mit über- nommen wird oder daß Einrichtungen für die Jugendpflege als Jugendamt ausgestaltet werden. Es kann das namentlich dann in Frage kommen, wenn die Persönlichkeiten, die zur ehrenamtlichen Arbeit in das Jugend- amt berufen werden können, dieselben sind, die in der Jugendpflege wirken.«

Um diese Frage gleich zu erledigen, ist jetzt festzustellen: Der Ent- wurf hat gegen Einordnung der Jugendpflege unter die Jugendfürsorge begrifflich nichts einzuwenden, bloß diplomatisch. Es heißt dort: »Die Selbständigkeit der Jugendpflege soll nicht angetastet werden.« Es handelt sich hier um Schonung des etwaigen Vorurteils der Jugendlichen, sie könnten als Glieder der Jugendpflege mit Fürsorgezöglingen verwechselt werden. Aber diese Gefahr besteht wirklich nicht, und das ist auch nicht der Grund, weshalb die allermeisten Jugendlichen aus dem Volke der staatlich unterstützten Jugendpflege fernblieben und fernbleiben. Sondern die Gewerkschaften befürchten eine parteipolitische Entfremdung ihrer Söhne; die sollen in ihrem Fahrwasser treiben, und die sozialdemokratische Jugendpflege blüht. Die ist auch weniger einseitig gerichtet, räumt der Belehrung und Erziehung weiteren Raum ein, als die Jugendwehr. Möglich, daß der Gesetzentwurf die Jugendpflege nicht in das Gebiet des Jugend- amtes einbezirken wollte, um Reibungen zwischen ihm und den Gewerk- schaften aus dem Wege zu gehen. Jedoch das müßte durch den partei- losen, rein sachlichen Charakter der Jugendämter an sich vermieden

am

u

2. Ein deutscher Jugendfürsorgetag über Jugendämter. . 183

werden. Die demokratische Richtung unserer Zeit ist parteilosen Jugend- ämtern günstig. Das ist als Fortschritt zu begrüßen. ° Die Jugendämter sind anderseits ohne starke Vertretung der Sozialdemokratie nicht lebens- fähig, weil sie nur dann vom gesamten Volke gewürdigt und nicht als Zwang empfunden werden.

Auf der Tagung verlangten die dort vertretenen regierungsfreund- lichen Jugendpflegevereine lebhaft nach Eingliederung in das Jugendamt. Ein »Wandervogel« sprach es klar und deutlich aus, daß man von solcher Betreuung durch die Regierung eine wesentliche Verstärkung der eigenen Mitgliederzahl erhoffe. Das war nun freilich kein unparteiischer Grund. Auch die deutsche Turnerschaft, die sich, trotz ihrer langjährigen Be- treuung der Jugend von der großen Bewegung für Jugendpflege zurück- gedrängt und kaltgestellt fühlt, äußerte den gleichen Wunsch.

Man suchte in den letzten Jahren die ursprüngliche Bedeutung der Jugendpflege als Vorbildung auf den Heeresdienst umzuwandeln, indem man diese Fürsorge auch auf das weibliche Geschlecht ausdehnte und nun von der bisher vernachlässigten körperlichen Ertüchtigung der Schul- entlassenen sprach. Und man fand Wohlgefallen an dem. neuen Ziel. Durch diese Wendung wird die Sonderung der Jugendpflege von den Auf- gaben des Jugendamtes geradezu unverständlich. Ein Debatteredner sprach es unverhohlen aus: Man überweist dem Jugendamte die körperliche Er- tüchtigung der Säuglinge, Kleinkinder und Schulkinder, weshalb nicht auch die der Schulentlassenen? Das Jugendamt ist doch nicht bloß für die Kinder. sondern auch für die Jugendlichen gedacht. Es soll das gesamte junge Geschlecht von Geburt bis Mündigkeit betreuen.

Die große Verschiedenheit der Aufgaben des Jugendamtes läßt eine Verquickung derselben in der Praxis nicht in Frage kommen. Im Leben sollen und werden sie ohne Berührung untereinander gelöst. Das Jugend- amt aber faßt sie alle zusammen, um zu erwägen, ob dem jungen Ge- schlecht mit diesen Bemühungen auch in jeder Weise und in genügendem Maße gedient sei, ob keine Bevorzugung von Einzelanfgaben die harmonische Entwicklung unserer Jugend störe oder gar gefährde. So verlangt gerade die starke Betonung der Jugendpflege ihre Einbezirkung. Macht man ihr doch schon heute den nicht ganz ungerechtfertigten Vorwurf, sie entziehe die Jugendlichen allzusehr ihrer freien geistigen Fortbildung, ihrem Eltern- hause, auch ihrer Kirche.

Anlehnung der Jugendämter an die schon bestehenden privaten und öffentlichen Jugendfürsorgeeinrichtungen ist vorteilhaft: Die Jugendämter werden damit auf den Boden der Praxis gestellt, sie können sich also ohne theoretische Erwägungen vom grünen Tische aus von Anbeginn praktisch betätigen. Darf ihnen jedoch um dieses Vorteils willen die begriffliche Klarheit und Übersicht über ihr Gebiet abgehen ?

Es fällt schon unangenehm auf, daß der Entwurf, der in $ 2 vom Gemeindewaisenrat handelt, dann erst in $ 3 unter Ziffer 2 von der Berufsvormundschaft über uneheliche Kinder und wieder erst unter Ziffer 4 von der Haltekinderpflege spricht. Man sollte meinen, die drei sich innerlich berührenden Aufgaben müßten wenigstens in einer Folge genannt werden.

184 B. Mitteilungen.

- In $ 3 handelt Ziffer 1 vom Schutze gegen Verwahrlosung, Ziffer 3 von der Fürsorgeerziehung, Ziffer 5 vom Jugendgerichtswesen. Das ist wieder eine zerrissene Kette verwandter Maßnahmen.

Wenn unter Ziffer 7 desselben Paragraphen der Mitarbeit von »staat- lichen Schul- und Kommunalbehörden« gedacht und dabei die körperliche, geistige und sittliche Betreuung der Jugend erwähnt wird, so denkt man gewiß daran, daß dieser Zusatz ja eigentlich die Gesamtaufgaben der Jugendfürsorge und der Jugendämter umfaßt und deshalb an die Spitze vorliegender Aufzählung gehörte. Dieselbe trägt ohne begrifflichen Eingang den Charakter des Zufälligen. Man ahnt schon von Anfang an die Un- vollständigkeit der Reihe. Man vermißt dann bei weiterer Durchsicht z. B. die Berufsberatung, die Sorge für den Aufstieg der Begabten, wie für die Berufsbildung der Minderwertigen, auch die ausdrückliche Betonung der Bekämpfung von Tuberkulose und Syphilis im Kindesalter und die Rachitisbekämpfung, auch die Beziehung der Jugendämter zur Unterbringung von Kindern auf das Land, in Ferienkolonien und Genesungsheime wie in allerhand Erziehungsanstalten ohne Zwang.

Das Jugendamt hat sich gewiß den bestehenden Jugendfürsorge- einrichtungen anzupassen, es hat sich aber auch begrifflich zu begrenzen und zu gestalten. Beide Wege sind zu gehen. Jenen weist die Praxis, diesen zeigen die Hilfswissenschaften: Pädagogik und Pädiatrie, Psycho- logie und Psychiatrie. Wohl kann das Jugendamt diese Wissenschaften nicht selbst treiben, aber es muß für Sammlung und Verbreitung des übersichtlich geordneten Materials mit tätig sein; es darf auch die wert- vollen Erfahrungen der Jugendfürsorgepraxis nicht brachliegen lassen. Große Versammlungen mit uferlosen Debatten haben sich als vergebliche Versuche erwiesen, diesem Mangel abzuhelfen.

Klumker wies in einer Vorbereitungsschrift für den Berliner Jugend- fürsorgetag darauf hin, daß die Öffentliche Jugendfürsorge nicht selbst erziehe, sondern nur Stellen für Ersatzerziehung auswähle und letztere dann beaufsichtige;- deshalb müßten die Beamten der Jugendfürsorge die Eigenart des einzelnen Kindes wie die rechte Weise seiner Erziehung verstehen. Klumker hätte noch weiter gehen sollen. Das Jugendamt muß sogar für bessere Vor- und Fortbildung der Ersatzerzieher sorgen helfen, ja vorbeugend bemüht sein, in Fröbels Sinne Mütter zu bilden. Das sind freilich sehr weittragende Aufgaben, die auf der Berliner Tagung zwar berührt, aber nicht durchdacht und bestimmt genug gefordert wurden.

Die Berliner Versammlung kam auf Vorschlag ihrer Leitung zu folgender Entschließung:

Der Deutsche Jugendfürsorgetag hält die Errichtung von Jugendämtern in Stadt und Jand als Träger der öffentlichen Jugendfürsorge (Fürsorge für Armen- kinder, Waisenkinder, Kost- und Haltekinder, uneheliche Kinder, Fürsorgezöglinge) für unerläßlich. Ihre verwaltungsmäßige Organisation muß unter Ermöglichung weitgehender Mitarbeit der auf den gleichen Gebieten arbeitenden Körperschaften der freien Liebestätigkeit einheitlich durchgeführt werden. In Verbindung damit ist die Übert:agung der Berufsvormundschaft an die Jugendämter und die Über- nahme der Kosten für hilfsbedürftige Kinder auf größere Gemeindeverbände vor-

zusehen. .

2. Ein deutscher Jugendfürsorgetag über Jugendämter. 185

Den letzten Satz wird Prof. Klumker, der Vater des Archivs deutscher Berufsvormünder, in der Vorbesprechung der Versammlungs- leitung besonders betont haben. Auch die ersten Sätze entsprechen ganz dem Sinne der rettenden Jugendfürsorge, die Klumker persönlich vertritt. In der ganzen Entschließung sind die Aufgaben des Jugendamtes noch enger gefaßt als im preußischen Gesetzentwurf, insofern sie die Jugend- pflege grundsätzlich nicht erwähnt, aber ‘auch die Pflege der Säuglinge, Kleinkinder und Schulkinder stillschweigend ausschließt. Ebenso wird jede Beziehung zur Schule geflissentlich übergangen; es werden auch keine Erweiterungen des Arbeitsfeldes durch etwaige Neuaufgaben als möglich hingestell. Man muß es aussprechen: die Leitung des Jugendfürsorge- tages hat mit ihrer Entschließung nicht ein Jugendamt, sondern ein Jugend- rettungsamt charakterisiert. Wie konnte die große Versammlung diese einseitige Abfassung, welche dem Inhalte der Vorträge und Debatten keineswegs entsprach, einstimmig zum Beschluß erheben? Sie war zu müde zur Erwägung und Entgegnung. Auch das war nicht glücklich, daß die Entschließung die Jugendämter zu Trägern der öffentlichen Jugend- fürsorge stempelte. Damit kam die Bedeutung der privaten Jugendfürsorge für das Jugendamt garnicht zum Ausdrucke.

Es ist verständlich, daß auch der Gesamtausschuß des allgemeinen Fürsorgeerziehungstages noch vor der großen Versammlung in seiner Einigung über die Aufgaben der Jugendämter die rettende Jugendfürsorge betonte. Aber er erklärte sich doch ausdrücklich für »Handhabung der gesamten Jugendfürsorges durch das Jugendamt. Besonders dankenswert aber war seine vielseitige Begründung der Notwendigkeit, den Jugend- ämtern der städtischen und ländlichen Bezirke Landesjugendämter über- zuordnen.!) Er wies denselben folgende Aufgaben zu:

1. Erarbeitung gemeinsamer Grundsätze für gleichmäßige Erfüllung der Aufgaben der Jugendämter.

2. Beratung der Jugendämter und Vermittelung der gesamten Erfahrungen auf dem Gebiete der Jugendfürsorge an die einzelnen Jugendämter.

3. Vermittlung von Anregung für die freie Liebestätigkeit in der Jugendfürsorge.

. 4. Schaffung gemeinsamer Einrichtungen und Veranstaltungen.

5. Vermittlung bei der anderweitigen Unterbringung Minderjähriger, insbesondere durch Zusammenschluß aller dem Schutz Gefährdeter und Verwahrloster, dienenden Organisationen der Provinz.

6. Erteilung von Auskunft und Abgabe von Gutachten an Staatsbehörden.

Wenn der Gesamtausschuß des Fürsorgeerziehungstages: » Vermittlung von Anregungen für die freie Liebestätigkeit in der Jugendfürsorge« als dritte Aufgabe des Landesjugendamtes hinstellt, so wird er damit dem anregenden Charakter der freien Liebestätigkeit nicht gerecht, Alle öffentlichen Einrichtungen für Jugendwohl, das vielgestaltige öffentliche Schulwesen eingeschlossen, sind erst private Unternehmungen gewesen. Die bewährten Versuche der freien Liebestätigkeit auf dem Gebiete der

. 1) Vergl. auch die Sonderschrift: Landes-Jugendämter von Dir. P. Seiffert- Straußberg. Carl Marholds Verlag.

186 B. Mitteilungen.

Jugendfürsorge werden Vorbilder für die Schöpfungen der Gemeinde und des Staates. In den Anregungen der Behörde ist immer eine Anordnung, . ein Gesetz ein Zwang verborgen, der zu freier Tätigkeit im Gegen- satze steht. Es liegt im Sinne der öffentlichen und privaten Leistung, daß die private Jugendfürsorge die anregende Kraft sein muß. Fehlt es ihr doch schon an Geld, um mit den großen Gemeinden oder dem Staate in Wettbewerb zu treten. Die öffentliche Korporation findet immer Gründe und Mittel, das von ihr in Angriff genommene Arbeitsfeld für sich allein zu gewinnen. Der vorher auf ihm tätige Verein hat sich dann anderen Aufgaben zu widmen, die von der öffentlichen Fürsorge noch vernach- lässigt werden. Er muß also die Mängel und Lücken derselben finden und durch seine freie Liebestätigkeit zu beseitigen und auszufüllen suchen. Die private Jugendfürsorge bahnt also den Fortschritt, die Behörde führt ihn aus. Daher die Anlehnung des preußischen Gesetzentwurfes an das sich in der privaten und dann in der öffentlichen Praxis Bewährte. Darin liegt zugleich der Wert und das Verhängnis der freien Liebestätigkeit. ` Ihr segensreiches Wirken ist Kritik und Vorbild für das behördliche Walten. Auch die treffende Kritik wird von der Behörde oft genug als unberechtigt, als Anmaßung empfunden und getadelt, bevor sie zur An- erkennung gelangt und ihren Einfluß auf die Öffentlichen Veranstaltungen ausüben kann. Dann aber nimmt man der privaten Jugendfürsorge ihr geliebtes Kind aus den Händen und versorgt es von Staals wegen. Sie darf darüber nicht klagen; sie wird sich glücklich schätzen, dem Kinde das Lieben gegeben zu haben. z

Aber der Berliner Jugendfürsorgetag, einberufen von Vertretern der freien Liebestätigkeit, hätte ihrer eignen anregenden Bedeutung für die Behörden allgemeine Anerkennung verschaffen sollen. Diese ‚Pflicht, diese Selbsterhaltungspflicht hat er nicht erfüllt. Selbst der letzte Vortrag von Lic. Sigmund-Schulze über das Thema: Wie kann die freie Liebes- tätigkeit zu einem vollen Erfolge der Jugendämter beitragen? brachte den anregenden Charakter der privaten Jugendfürsorge für die öffentliche nicht zur Geltung, beschränkte sich vielmehr auf Darlegung der Einrichtung und des Wirkungskreises des Berliner Jugendamtes. So versagte auch die Debatte. Ich bin der festen Überzeugung: Die sechs Einberufer des Jugendfürsorgetages werden das Versäumte in ihren Vereins- zeitungen nachholen, und ich fühle mich verpflichtet, in meiner Weise dazu beizutragen.

Eine Zusammenstellung aller Aufgaben der Jugendämter wird durch ihre Gliederung in Landes- und Bezirksjugendämter wesentlich erleichtert. Denn die Über- und Unterordnung der beiden Arten gliedert auch ihre Aufgaben. Die Kreisämter sind die Organe des Landesamtes. Sie sollen seine Ziele auf die örtlichen Verhältnisse übertragen. Sie sind also praktisch gerichtet, beschäftigen sich weniger mit theoretischen Erwägungen und fernen Zukunftsplänen, als mit Durchführungen der Gegenwartsideale für Aufziehung der Jugend einer größeren Stadt, einer Gruppe kleiner Nach- barstädte oder eines Landkreises, immer aber eines Bezirks von mindestens 10000 Einwohnern. Dem Gesetzentwurfe fehlt deshalb eine begrifflich

3. Über Jugendnot in der Reichshauptstadt. 187

durchgebildete Fassung, weil er mit einem übergeordneten Landesjugend- amte gar nicht rechnet.

Unterdessen sind auf dem Schlachtfelde die Würfel gefallen. Der Weltkrieg ist für unser geliebtes Vaterland verloren. Das schändet nicht. Unser Selbsterhaltungswille ist ungebrochen. Unsre Kraft wendet sich neuen Zielen zu. Ungestüm verlangt das Volk nach der Republik. Da gibt der deutsche Idealismus die Monarchie preis.

Sozial ist der Zeitgeist. Sozial ist der Jugendamtsgedanke.

Hoffentlich läßt er sich jetzt noch vollendeter durchführen als bei dem aufgegebenen vorsichtigen Haften am Altliergebrachten.

‚Unsre Arbeit gilt dem Wohle unsrer Jugend, hilft eine glückliche Wendung für das Schicksal unsres Volkes bahnen. Ich.kenne keine höhere Aufgabe der Gegenwart. Wer hilft mit bauen!

3. Über Jugendnot in der Reichshauptstadt

klagt der Christliche Verein junger Männer in Berlin SW 48, Wilhelm- straße 34. Er führt aus:

»Die Verwilderung der Jugend hat während der langen Kriegszeit erschreckend zugenommen. In Preußen zählte man 1914 schon 51520 jugendliche Verbrecher; 1915 bereits 75785; 1916 aber 116141 und im Jahre 1917 ist die Zahl auf 177000 emporgeschnellt!!! Davon stellte Berlin einen großen Prozentsatz, denn je größer die Städte, desto größer die sittliche Jugendnot und das Jugendelend! Man spricht und schilt viel über die Verkommenheit der Jugend und den Sumpf der Großstadt. An- klagen ist billig, der Not steuern, ist wichtiger ist Gewissenspflicht! In dem Maße, wie die Jugendnot während der Kriegszeit zunahm, nahmen die Werke christlicher Jugendarbeit ab.«

Über seine eigene Tätigkeit berichtet der Verein: »Mit frischer Kraft haben wir die Arbeit jetzt wieder in Angriff genommen; schon blüht die erste Jugend-Abteilung auf, ebenso mehren sich die Besucher der 3 Knaben- Abteilungen und 4 Sonntagsschulen in verschiedenen Gegenden der Stadt, der Kaufmännischen-, Bäcker-, Techniker- und Handwerker - Abteilungen ; -eine verheißungsvolle Arbeit unter Schülern höherer Lehranstalten wurde in Angriff genommen. Aber noch ist der Friedensstand des Werkes längst nicht erreicht! Dabei harren unserer bei der bevorstehenden Aufhebung des Religionsunterrichts in den Schulen und der wahrscheinlichen Trennung von Staat und Kirche weitere wichtige Aufgaben. Wer hilft. sie uns er- füllen?? In den uns feindlichen anglikanischen Ländern ist die Be- deutung der christlichen Jugendarbeit längst erkannt. So ergab eine einzige Sammlung für die Christlichen Vereine junger Männer in den Vereinigten Staaten in den letzten Monaten die Summe von 35 Millionen Dollar. 36 Jahre gesegneter Jungmännerarbeit liegen hinter uns. Die Art unserer Arbeit hat sich bewährt, denn wir erfassen den ganzen Menschen nach Leib, Seele und Geist. Wir treiben soziale Arbeit durch

188 C. Literatur.

Wohnungs- und Stellenvermittlung für junge Männer. Ein schönes, großes Heim mit verschiedenen Bibliotheken (über 10000 Bände!) und Lesezimmer (250 Zeitungen), Erfrischungssaal, Spielzimmer und Turnhalle bietet an- genehmen Aufenthalt für junge Männer ohne Familienanschluß. Durch Vorträge, Unterricht, Redeübungen, Diskussionen, Gesang- und Instrumental- chöre erhalten die zahlreichen Besucher geistige Anregung und Förderung. Daß eine sittlich- religiöse Beeinflussung in unserer Zeit dringend nötig ist, steht wohl außer Frage. Hauptzweck des Vereins ist: Heranbildung sittlich-christlicher Charaktere. Mehr denn je braucht sie unser Vaterland.

Wem die Jugendnot zu Herzen geht und wer eine Erneuerung unseres Volkslebens ernstlich anstrebt, der helfe uns.«

C. Literatur.

Neuerscheinungen zu den Tagesfragen der Schulreform.

Geschichtliches Werden vollzieht sich immer in organischen Formen, auch dann, wenn es durch die Impulse einer Revolution, scheinbar zusammenhangslos mit dem Alten, Neues gebiert. Ja, man könnte fast behaupten, daß die deutsche Revolution, in der wir heute stehen, und deren Tragweite noch nicht abzusehen ist, ausschließlich von dem Alten lebt. Was die »neuen« Tage fordern, ist alt, zum Teil sehr alt, aber es war von vergangenen Zeiten und führenden Männern nicht oder nicht genügend beachtet, auch nicht amtlich abgestempelt und fand sich im Strome des Geschehens nur am Rande, nicht als tragender und fließender Teil in der Mitte, wozu es heute geworden ist.. Wer deshalb die Revolution richtig ein- schätzen und vor allen Dingen auch nicht überschätzen will, muß versuchen, sich die Linie.der Entwicklung klarzulegen. Nicht jedem bleibt die Zeit, das an der Hand umfangreicher Werke zu tun, so z. B. Zieglers Geschichte der Pädagogik, oder seine »Geistigen und sozialen Strömungen Deutschlands im 19. und 20. Jahrhunderte. (Neue, vollständig überarbeite Volksausgabe. Erschienen in Berlin 1916 bei Georg Bondi. 21.—23. Tausend) oder ähnliche Werke zu lesen, Deshalb wird die kleine Abhandlung von Dr. Weller, Plauen i. V. von vielen, die sich rasch orientieren möchten, gern gelesen werden: »Die geistigen Strömungen des 19. Jahrhunderts und ihr Niederschlag auf das Gebiet der Päda- gogik.« Sonderabdruck aus den »Pädagogischen Studien, XXXVII. Jahrg., Heft 3, 4 und 5«. Heft 41 der Sammlung von Abhandlungen und Vorträgen zur Pädagogik der Gegenwart. Dresden-Blasewitz, Bleyl & Kämmerer (Inh. O. Schambach), 1916. Preis 0,90 M.

Im ersten Teile seiner Arbeit gibt der Verfasser im Anschluß an das oben er- wähnte Werk von Ziegler (Geistige und soziale Strömungen) einen kurzen, klaren Überblick über die geistige Entwicklung im 19. Jahrhundert und sucht dann in einem zweiten Hauptteil dereu Einfluß auf die Pädagogik nachzuweisen, wobei zu- erst die wissenschaftliche Pädagogik in ibren Erseheinungsformen und dann die damit zusammenhängenden praktischen Ausgestaltungen des Schulwesens behandelt werden. Das Schlußkapitel bildet ein Überblick über die pädagogischen Gegenwarts- und Zukunftsfragen. Das kleine Büchlein will nichts mehr sein als eine Einführung in das historische Verständnis des 19. Jahrhunderts und diesem Zwecke dient es recht gut. Man kann von ihm aus sich entweder weiter in historische, aber auch in Gegenwartsfragen vertiefen. Diesem letztgenannten Zweck dient eine kleine, aber sicherlich sehr wertvolle und notwendige Bibliographie, die alle wesent- lichen Erscheinungen auf schulpolitischem Gebiete angibt:

C. Literatur. 189

Zum Studium der Schulpolitik. Ein Literaturnachweis. Zweite, veränderte und vermehrte Auflage. Aus der Sammlung: „Broschüren zur Schulpolitik, heraus- gegeben von der Vereinigung für Schulpolitik zu Berlin. Leipzig u. Berlin, Verlag von Julius Klinkhardt, 1914. 40 S. Preis 0,75 M,

Das Büchlein bringt u. a. wertvolle Literatur über die Stellung der einzelnen Parteien zu Schulfragen. Darüber hat sich auch die Sozialdemokratie geäußert, außer den in dem oben genannten Verzeichnisse angeführten Titeln seien noch erwähnt: Bozialdemokratische Flugschriften. Il. Volksbildung, Wissenschaft, Kunst

und Sozialdemokratie. Berlin, Verlag Buchhandlung Vorwärts, 1917. Berlin S. W. 68. (Hans Weber, Berlin.) 16 S. Preis 0,15 M.

Wer die einschlägigen Schriften von Schulz, Rühle und anderen kennt, findet darin keine neuen Gedanken.

Rein agitatorischen Zwecken dient die Arbeit:

Beamtenschaft und Sozialdemokratie Ein Mahnwort an alle Beamten. Sozialdemokratische Flugschriften VII. Ebenda. 16 S. Preis 0,15 M.

Dann ist neuerdings in »fünfter, vermehrter und verbesserter, aber auch sagen wir einmal: in gemäßigterer«e Auflage Tews bekanntes Buch erschienen: Sozialdemokratie und öffentliches Bildungswesen. Friedrich Manns

Pädagogisches Magazin. Abhandlungen vom Gebiete der Pädagogik und ihrer Hilfswissenschaften. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1919. 75 S. Preis 1,80 M.

Tews erwähnt darin auch die neuesten Erscheinungen auf dem Gebiete sozial- demokratischer Schulreform (Ära Hoffmann!), ohne sich allerdings prinzipiell’ damit auseinanderzusetzen.

Ä Sehr zu begrüßen ist es, daß nun auch die deutsche demokratische Partei

sich ausführlicher, als es ihr bisher möglich war, zu Schulfragen geäußert hat, sie

erwählte dazu immerhin bezeichnend Professor Dr. Stern:

Flugschriften der Deutschen demokratischen Partei, Hamburg. Heft 2:

Verjüngung. Von Dr. Stern, Professor der Philosophie und Pädagogik am All- gemeinen Vorlesungswesen Hamburg. Hamburg, Verlag von C. Boysen, 1919. Herausgeber: Carl Minckeberg. Sonderabdruck aus der »Zeitschrift für pädagog. Renee: Herausgegeben von O. Scheibner u. W. Stern. Bd. 20. Heft 1/2. 1919. 19 S.

Stern glaubt, daß der deutsche Geist infolge des Krieges und der Abgabe vieler auf dem Höhepunkt ihres Schaffens stehender Intelligenzen zu einer geistigen »Überalterung« geführt habe, die uns von vornherein geistig in die Defensive drängte. Eine Wiedergeburt, deren Träger die Jugend sein muß, ist nötig, das kam schon in der »Jugendbewegung« ihrem Streben nach Freiheit und Selbsttätigkeit zum Aus- druck. Die Jugend ist zwar noch politisch unerfahren, aber auch politisch unbelastet. Diese von der Jugend erstrebte Selbsttätigkeit und Selbstverwaltung wird ihr den Übergang von der Gebundenheit der Schule in die Freiheit des Lebens erleichtern. So kommt Stern zur Idee der »Schulgemeinde« und des »Schülerrates«, ohne sich deshalb auf das Wickersdorfer Vorbild festzulegen. Neben diese Verjüngung der Erziehungslehre und Didaktik stellt er dann noch die soziale Schichtenverjüngung, welche vor allem durch die einzuführende Einheitsschule erreicht werden soll. So wertvolle Anregungen Stern auch im einzelnen gibt, es fehlt uns das, speziell schul- politisch-demokratische Programm in seiner Arbeit, auf das wir heute zwecks näherer Prüfung noch warten, und wesentliche Fragen, wie die der Trennung von Kirche und Schule sind gar nicht oder nur andeutungsweise berührt. Über diesen letzten Punkt spricht sich übrigens in einem ausgezeichneten Vortrage Hans Gehrig aus: Die nationalen Ziele der Deutschen Demokratischen Partei. Vortrag,

gehalten im Vereinshaus am 6. Januar 1919 von Professor Dr. rer. pol. Gehrig. Verein der Deutschen Demokratischen Partei für Dresden und Umgegend.

Er verlangt Scheidung der Befugnisse von Staat und Kirche, insbesondere im Hinblick auf das Herrschaftsstreben der katholischen Priester.

Sehr erfreulich ist ferner zu lesen, was Prof. Rathgen über die uns inter- essierenden Fragen schreibt:

*

190 C. Literatur.

Die künftige Verfassung des Deutschen Reiches. Von Prof. Dr. Kart Rathgen, Hamburg. Flugschriften der Deutschen Demokratischen Partei, Ham- burg, Heft 1. Hamburg, Verlag von C. Boysen, 1919. Darin heißt es u. a.:

»Am wenigsten ist Gleichmäßigkeit auf dem Gebiete der geistigen Inter- essen wünschenswert oder gar erforderlich. Ihre Einheitlichkeit kann am aller- wenigsten dekretiert werden. Sie kann nur aus der Überzeugung erwachsen. -Höchstpersönliches kann nicht reglementiert werden, und nichts wäre gefährlicher als Unduldsamkeit auf Gebieten, die mit größter Zartheit berührt werden müssen. Nur gewisse Grundfragen unserer Organisation kann das Reich regeln, z. B. im Aufbau des Unterrichtswesens und für das Berechtigungswesen, das ja leider nicht

anz zu entbehren ist. Schon der Wegfall des »Einjährigen« ist ein erfreulicher ortschritt. Aber auch, wo das Reich regelnd eingreifen muß, ist größte Vorsicht und Zurückhaltung geboten. Auf dem Gebiete der geistigen Interessen ist recht eigentlich der freie Raum nötig für den gesunden Wetteifer der Einzelstaaten und

Gemeinden. Die deutschen Hochschulen haben sich nicht schlecht dabei gestanden.«

Sehr schön aber die von den Demokraten erstrebte Einheitsschule?

Ganz besonders brennend steht die Frage der Trennung von Kirche und Schule. der Neugestaltung des Religionsunterrichts vor den pädagogischen Neuerern. Dann hat sich zunächst Tews auseinandergesetzt, und zwar besonders im Hinblick auf die Ansprüche der katholischen Partei.

J. Tews, Staats- oder Kirchenschule? Broschüren zur Schulpolitik, heraus- gegeben von der Vereinigung f. Schulpolitik zu Berlin, Nr. 5. Leipzig u. Berlin, Verlag von Julius Klinkhardt, 1913.

Erinnert sei bei dieser Gelegenheit noch an das schon 1906 erschienene, aber in seiner Art ausgezeichnete Schriftchen:

A. Richter. Taubstummenlehrer, Religionsunterricht oder nicht? Ein päda- gogisches Gutachten über den Antrag der Bremer Lehrerschaft auf Abschaffung des Religionsunterrichts. Pädagog. Magazin, Abhandlungen aus dem Gebiete der Pädagogik und ihrer Hilfswissenschaften, herausgegeben von Friedrich Mann. 2 NE Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1906. 798.

reis 1 M.

Vom Standpunkte der fortschrittlichen Partei aus hat die Fragen der Schul- und Kirchentrennung erörtert:

August Pfannkuche, Staat und Kirche. Grundzüge eines kirchenpolitischen Programms für den entschiedenen Liberalismus. Berlin-Schöneberg, Fortschritt (Buchverlag der »Hilfe«) G. m. b. H., 1912. 128 S.

Aus der übergroßen Zahl der Schriften, die sich mit der Neuorganisation des deutschen Schulwesens und vor allem mit seiner einheitlichen Ausgestaltung beschäftigen (Einheitsschule), seien erwähnt:

Artur Buchenau, Die deutsche Schule der Zukunft. Reichls Deutsche Schriften. Berlin, Verlag Otto Reichl. 58 S. Preis 1,50 M.

Hugo Kühn, Seminarlehrer in Weimar, Kulturaufgaben des deutschen Volksschullehrers nach dem Kriege. Friedrich Mann’s Pädagogisches Magazin. Heft 628. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1915. 35 S. Preis 50 Pf.

Scholz, Seminardirektor in Hildburghausen, Die deutsche Schule nach dem Weltkrieg. Friedrich Mann’s Pädagogisches Magazin. Abhandlungen aus dem Gebiete der Pädagogik und ihrer Hilfswissenschaften. Heft 624. Ebenda 1916. Preis 60 Pf.

Der in der modernen pädagogischen Literatur wohl bewanderte Verfasser sucht in seinem mit warmer Anteilnahme am Schicksal des deutschen Volkes ge- schriebenen Schriftchen den Nachweis zu führen, daß die deutsche Schule es unter dem Eindrucke des Weltkrieges nicht nötig hat, ihr altbewährtes Erziehungsziel, nämlich die Heranbildung sittlicher Charaktere irgendwie bedeutungsvoll zu ändern. Die Richtigkeit dieser Anschauung hat sich mittlerweile zum zweiten Male dem denkenden Volksbildner offenbart, der den Mangel an Charakterstärke und die Un- reife des ethischen wie nationalen Denkens während des Revolutionstrubels be- obachten konnte. So möge es also beim alten Ziele bleiben ob auch beim alten

C. Literatur. 191

Wege? Denkend durchprüft der Verfasser diese Frage und findet im Anschluß an die pädagogische Reformliteratur neue Bahnen. Im Interesse der deutschen Zukunft wünscht er eine intensivere Durchbildung der Jugend zur Wchrtüchtigkeit des Körpers und des Geistes, eine gesteigerte allgemeine Durchbildung des Körpers und der Sinne unter maßvoller Anpassung an die Forderungen der künftigen Dienst- pflicht, einen mit den Gedanken des Deutschtums vollgesaugten Geschichts- und Geographieunterricht. Der »deutsche Gedanke in der Welt« soll seine Geburtsstätte in der Schulstube haben und bestimmend auf sämtliche Unterrichtsfächer einwirken. Das alles hofft der Verfasser innerhalb des Rahmens der nationalen Einheitsschule zu erreichen. ;

Dr. Hermann Mosapp, Schulrat in Stuttgart, Die Neuorientierung unserer

Pädagogik nach dem Kriege. Ebenda 1917. Heft 668. 31 S. Preis 50 Pf.

Eine interessante Debatte über die Einheitsschule ist zwischen den bekannten Pädagogen Seyfert und W. Foerster ausgefochten worden.

Schulrat Dr. Richard Seyfert u. Prof. Dr. F. W. Foerster, Für und wider die allgemeine Volksschule. Das neue Deutschland in Erziehung und Unterricht. Heft 1. Herausgegeben von Prof. Dr. Bastian Schmid in München und Privatdoz. Dr. Max Brahn. Leipzig, Verlag von Veit & Comp., 1918. 67 8S.

Dazu vergleiche man:

Geh. Hofrat Dr. Remigius Stölzle, Prof. F. W. Foerster als Gegner der Einheitsschule. Friedrich Mann’s Pädagogisches Magazin. Heft 700. Langen- salza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1919. Pädagogische Forschungen und Fragen. Neue Folge, herausgegeben von Prof. Dr. R. Stölzle in Würzburg. 54 S. Preis 175 M.

Einen guten Überblick über die Frage der Einheitsschule gibt übrigens:

Dr. Hans Espe, Die Idee einer deutschen Nationalschule. Zeitgenössische

Bestrebungen. Deutsche Lehrerzeitung. 31. Jahrgang. Nr. 46. Ebenda. Lebhaftes Interesse beansprucht auch in der neueren pädagogischen Literatur die Frage der Volkshochschule, grundlegend dafür ist folgendes Werk:

Dr. Rönberg-Madsen, Grundtvig und die dänischen Volkshochschulen. Pädagogisches Magazin. Abhandlungen vom Gebiete der Pädagogik und ihrer Hilfs- wissenschaften. 253. Heft. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann),. 1905. Preis 1,60 M.

Es war ein glücklicher Gedanke des Verfassers, das Volkshochschulproblem und die Persönlichkeit seines bedeutenden Organisators, Grundtvig, aus der Zeit- eg und aus dem Schicksale des dänischen Volkes heraus aufzubauen. Er

t das bestens verstanden und uns ein Lebensschicksal vorgezeichnet, das in seiner nordischen Tiefe und Härte, mit seinen festumrissenen äußeren Linien und mit seinem, meerestiefen Gefühlsleben in Klarheit und Deutlichkeit vor unser Auge tritt. Bichter, Philosoph, Naturkind, Kämpfer, Patriot, Beter und Grübler so steht im bunten Wechselspiel des Lebens Grundtvig vor uns. Er kämpft für seine

Ideale und leidet mehr als einmal aus diesem Grunde äußeren Schiffbruch. Das-

spätere Mannesalter bringt ihm erst /ıe Erfüllung seines Sehnens. Das Schicksal

hämmert gegen seinen Glauben aber er ist felsenfest. Endlich kommt sie die Volkshochschule, und mit ihr kommt die Erneuerung des Volksgeistes, die Auf- frischung des Volkslebens, das Wiedererwachen des Nationalbewußtseins. Nun hofft

Grundtvig, seinem Volke die wahre Aufklärung geben zu können, die, basierend

auf die Erziehung in deı Natur und im Leben. fern vom toten und unendlich

schädlichen Buchstabengeist der offiziellen Knabenschulen, jedem Menschen dazu verhelfen soll, daß er zu seiner Arbeit tauglicher und in seiner Lage glücklicher werde. Dann soll diese Volkshochschule auch mit helfen, die Kluft zwischen den

Gebildeten und Ungebildeten zu überbrücken und den Heranwachsenden eine bessere

Vorbereitung für das politische Leben zu geben. »Die Hauptsache aber, das

Lebendige, das Gemeinsame und das Allgemeine, was die Seele und das Ziel einer

solchen ‚Hochschule sein muß, ist: Die zweckmäßige Entwicklung der Volksnatur

und die Belehrung in der Muttersprache zum Nutzen des Vaterlands und zur Freude des Königs.« (S. 53.) »Wir sind alle von einem Blute, dieselben Anlagen zur Bil-

dung finden sich in Hütten und hohen Sälen.« (S. 72.)

192 C. Literatur.

Diesen Grundgedanken entsprechend wird dann der »Lehrplan« der neue Volkshochschule ausgearbeitet, der interessante Einzelheiten und kluge Vorschriften gibt. Den Schluß der bemerkenswerten Abhandlung von Madsen bildet dann eine Übersicht über die Durchführung der Grundtvigschen Ideen in der Praxis.

Mit der Übertragung dieses Volkshochschulgedankens nach Deutschland be- schäftigen sich dann drei Schriftchen:

1. Dr. W. Rein, Die »dänische« Volkshochschule. Pädagogisches Magazin.

Heft 694. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1919. 33 S.

Preis 1,25 M. Die deutsche Volkshochschule, Sammlung von Beiträgen, heraus-

gegeben von Prof. Dr. W. Rein in Jena. Heft 1. 1919.

Haus von Lüpke, Windischleuba, Die deutsche Volkshochschule für

das Land. Ebenda. Heft 617. 30 S. Preis 1,25 M. Beiträge-Heft 2. 1919.

3. Konrad Maß, Oberbürgermeister, Diestädtische Volkshochschule. Ebenda.

Heft 698. 16 S. Preis 0,65 M. Beiträge-Heft 3. 1919.

Die im folgenden angeführten Bücher beschäftigen sich mit der Frage der Begabungsauswahl von den verschiedensten Standpunkten aus:

Dr. phil. August Graf v. Pestalozza in Halensee, Betrachtungen zum Auf- stieg. Friedrich Mann’s Pädagogisches Magazin. Heft 650. Langensalza, Her- mann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1917. 16 S. Preis 30 Pf.

Dr. Arndt, Regierungs- und Oberschulrat in Dessau, Der Aufstieg begabter Mittel- und Volksschüler, auch solcher, die nicht Lehrer werden wollen, durch das Volksschullehrerseminar, als höhere deutsche Schule ein Beitrag zur Lösung gegenwärtiger nationaler und wo pädagogischer Forderungen. Ebenda. Heft 675. 35 S. Preis

Z ;

Dr. Hermann Lemke, Die Theorie der Begabungsauswahl vom päda- gogisch-medizinischen Standpunkt. Ebenda. Heft 696. Sammlung päda- gogischer Studien. Herausgeg. von Prof. Dr. W. Rein. Heft 18. 1919. 46 S. Preis 1,50 M.

Prof. Th. Ziehen in Halle, Über das Wesen der Beanlagung und ihre methodische Erforschung. Ebenda 1918. Heft 683. 32 8, Preis 0,75 M.

Dr. E. von Sallwürk, sen., Staatsrat, Entwicklungstreibeit. Ebenda. Heft 695. 26 S. Preis 0,75 m.

Rektor Bruno Clemenz in Liegnitz, Beobachtung und Berücksichtigung der Eigenart der Schüler. (Freie Bahn dem Tüchtigen!) Ebenda 1917. Heft 307. 46 S. Preis 0,90 M.

Dr. jur. et phil. Scheer, Königl. Kreisschulinspektor in Saarbrücken, Neudeutsche Arbeitsweise und Arbeitsgemeinschaft im Organisationsstaat. Eine sozialökonomische Betrachtung. Ebenda 1917. Heft 663. 69 S. Preis 1,20 M.

Dr. Wilh. Mann, Professor der Philosophie und Pädagogik am Instituto Pedagojico und Direktor des Liceo de Aplicacion zu Santiago de Chile, Schulstaat und Selbstregierung der Schüler als Mittel der Willensbildung und des Unterrichts. Kritische Würdigung und praktische Anregungen. Ebenda 1914. Heft 553. 91 S. Preis 1,20 M.

Zum Schlusse sei noch verwiesen auf:

Amitsrichter Dr. Albert Hellwig, Entwurf eines Jugendschutzgesetzes nebst Begründung. Halle a. S., Verlag von Hermann Gesenius, 1918. 56 S. und auf die Veröffentlichungen des Gesundheitsausschusses der deutschen Zentrale f. Jugendfürsorge. Nr.1: Tagung des Gesundheitsausschusses am 2. April 1918, abends 7'/, Uhr im Herrenhause zu Berlin. Berlin 1918. 40 8. (Forts. folgt.) Jena-Sophienhöhe. Dr. H. Reh.

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Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.

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A. Abhandlungen.

Die Notwendigkeit eines Seminars für Heilerziehung und Jugendpflege. Von Schulrat Karl König, Seminardirektor aus Straßburg i. E., zurzeit auf der Sophienhöhe in Jena.

s Vorbemerkung.

Die unfreiwillige Muße, die mir meine Vertreibung aus Straß- burg gebracht hat, ließ mancherlei Pläne und Gedanken aus der Vor- kriegszeit in mir wach werden. Die Not der Zeit und unserer Kinder trieb mir mit besonderer Kraft und Farbenfrische meine frühere theo- retische und praktische Arbeit auf dem Gebiete der sozialen Hilfs- einrichtungen der Schule in Jena und Mülhausen ins Bewußtsein. Dort hatte ich einige Jahre hindurch auf den Ferienkursen Vorträge über diese Fragen gehalten; hier durfte ich als Kreisschulinspektor manche meiner Pläne verwirklichen. Die Gründung der Waldschule und die Reform der Hilfsschulen in Mülhausen, dann aber auch der Ausbau des Hortewesens und die eingehende Beschäftigung mit der praktischen Jugendfürsorge zeigte mir auf der einen Seite die Größe der Hingabe, den rühmlichen Eifer um tieferschürfende Fortbildung der Lehrer und Leiter dieser sozialen Hilfseinrichtungen; aber sie ließ mich doch anderseits auch erkennen, wie notwendig für diese Arbeit eine gründlichere Ausbildungsmöglichkeit ist. Sorgsam ver- folgte ich daher alle Bestrebungen, die auf Vor- und Fortbildung der Lehrer, Leiter und Mitarbeiter auf dem Gebiete der Heilerziehung und der Jugendpflege hinausliefen. Es wurde sicherlich in den letzten

Zeitschrift für Kinderforschung. 24. Jahrgang. 13

ane-

194 A. Abhandlungen.

Jahrzehnten in dieser Hinsicht Anerkennenswertes geleistet. So z. B. durch den Verein und den Kongreß für Kinderforschung, durch Ein- richtung von Kursen aller Art, vor allem aber durch die einschlägige Presse. Was z. B. Trüpers »Zeitschrift für Kinderforschung« mit samt ihren »Beiträgen« geleistet hat, das wird lange nicht genugsam ge- wertet und für die Praxis ausgebeutet. Es liegen unschätzbare Arbeiten in Fülle darin aufgespeichert. Zum Teil ist auch dieser Mangel in der nicht genügend tiefen und allgemeinen Vorbildung der in Frage kommenden Lehrer und Erzieher begründet.

Der Haß der Franzosen trieb mich aus meiner Heimat und gut- deutsche Freundestreue nahm mich auf der Sophienhöhe auf. Und in gemeinsamen Gesprächen und Arbeiten mancherlei Art kamen Freund Trüper und ich bald auch auf die brennende Frage der gründ- licheren Vorbildung der Lehrer und Erzieher von Abnormen aller Art zu sprechen. Und wunderbar war es, wie unsere Gedanken sich deckten. In vielen eingehenden Unterredungen besprachen wir die Einzelheiten des nachstehenden Planes, den ich, um die Frage in rascheren Fluß zu bringen, auf Anregung von Freund Trüper der Öffentlichkeit übergebe. Der leichteren Übersichtlichkeit wegen wählte ich die Form der Leitsätze mit kürzeren oder längeren Zwischen- bemerkungen. Wohl weiß ich, daß manches noch zu erörtern wäre; aber die Hauptsache ist, daß die Arbeit in Angriff genommen wird. Die Praxis wird dann schon über Einzelheiten Klarheit und Ver- ständigung schaffen. Und nun der Plan selbst.

Ein Seminar für Heilerziehung und Jugendpflege.

A. Für wen soll es bestimmt sein?

1. Für Lehrer und Leiter von Hilfsschulen, Leiter von Beobach- tungsstationen.....

2. Für Jugendpfleger, Schulschwestern, Generalvormünder. ..

3. Für Waisenpfleger, Vorsteher von Waisenhäusern. . .

4. Für Vorsteher, für Lehrer und Erzieher von Erziehungsheimen, Besserungsanstalten. ..

5. Für Leiter, Erzieher, Lehrer an Zwangserziehungsanstalten, Jugendgefängnissen. ..

Diese Aufzählung kann und will nicht die Zahl derer erschöpfen, die Nutzen aus einem solchen Heilerziehungsseminar ziehen könnten. Sie will nur andeuten. Wer auch immer mit der Seele der Jugend beruflich zu tun hat und nicht bereits wie der Lehrer über eine an- gemessene Berufsbildung verfügt, soll hier genauer vertraut gemacht

König: Die Notwendigkeit eines Seminars für Heilerziehung u. Jugendpflege. 195

werden mit den Ergebnissen, die eine wissenschaftliche Durchforschung seines Arbeitsgebietes ihm zur Förderung in seinem Beruf zu bieten vermag. Sehr empfehlenswert ist der Besuch des Seminars aber auch für Lehrer, die an Volks-, Mittelschulen und Seminaren arbeiten oder in den Verwaltungsdienst einzutreten gedenken, ja selbst für Lehrer an höheren Schulen, die sich der Abnormen in der Regel auf sehr bequeme Weise zu entledigen wissen. An jedem größeren Schul- system sollte ein so ausgebildeter Lehrer tätig sein. Er wäre von großer Bedeutung nicht bloß für die Anormalen, sondern könnte auch für schwierigere schulpsychologische Arbeiten Verwendung finden.

B. Warum ist es nötig?

1. Die Zahl der Heilerziehungsbedürftigen, besonders der geistig und der sittlich Gefährdeten ist infolge des Krieges und seiner unüberschaubaren nationalen, sozialen und individualen Wir- kungen in raschem Zunehmen begriffen.

Wem der Blick in die Zusammenhänge erschlossen ist, der schaut wohl mit Bangen, ja mit Grausen in die Zukunft des kommenden und aufwachsenden Geschlechts; denn der Zusammenbruch unserer nationalen Kraft, ganz besonders der sittlichen Mächte, des Willens zur Ordnung, zur Reinheit, zur Emporentwicklung lastet in seinen Folgeerscheinungen am schwersten auf der Jugend. Die neueren Forschungen auf dem Gebiete des Alkoholismus und der Unzucht haben erschreckende Tiefblicke in das unverschuldete Leiden der Jugend eröffnet und haben den überzeugenden Nachweis gebracht, daß das zahllose Heer der Jugendleiden und Jugendfehler in weitem Umfang den elterlichen Verfehlungen zuzuschreiben ist.

Im Nachfolgenden seien einige der traurigen Zeiterscheinungen aufgezählt, die eine Herabminderung, ja zum Teil sogar eine restlose Zerträmmerung der elterlichen, körperlichen, geistigen und sittlichen Gesundheit und ihres Verantwortlichkeitsgefühls heraufbeschworen haben. Auch diese Aufzählung erhebt keinen Anspruch auch nur auf annähernde Vollständigkeit. Die Liste der Ursachen ließe sich leider ohne große Mühe beträchtlich verlängern. Um den mir zur Ver- fügung gestellten Raum nicht zu überschreiten, habe ich die Form der Stichwortmethode gewählt. Jedes einzelne Wort umfaßt ein tief- trauriges Kapitel der Leidensgeschichte unserer Zeit und unserer Jugend.

a) Verwahrlosung der Väter: Ungeregeltes Geschlechtsleben; Arbeitsunlust; Widerwille gegen jede Autorität; Verwirrung des sittlichen Eigentumsbegriffes; ablehnende Stellung gegen-

13*

196 A. Abhandlungen.

über der Religion, mindestens der Kirche; Genußsucht; Ge-

neigtheit zur Abwälzung der Erziehungspflicht auf den Staat... b) Verwahrlosung der Mütter: Genußsucht, Zügellosigkeit (Wirtschaft, Tanz, Kino), Putzsucht, Entwöhnung vom Haus und von häuslicher Arbeit; Erziehungsunlust; auch geschlecht- liche Zügellosigkeit und dadurch besondere Gefährdung der Gesundheit und infolgedessen zu erwartende größere Degene- rationszunahme. .. Zeitumstände: Hungerblockade, Arbeitslosigkeit, geistiger und sittlicher Zusammenbruch; mißverstandener Freiheits- begriff; gefährliche Schwächung des Verantwortungs- und Solidaritätsgefühls oder doch mißwegige Äußerung des Ge- meinschaftssinnes; hochgradige Nervenüberreizung; gegen- seitige Beschuldigung (die Fehler werden immer auf der anderen Seite gesucht); trotz alles Diesseitssianes mangel- hafte Kenntnis der Wirklichkeit...

Ein trauriges Bild der Not entrollen dem Sachkenner die auf- gezählten Stichwörter. Das Betrübendste ist aber, daß die Mittel zur Behebung dieser Nöte vielfach, soweit sie bekannt sind und zur Ver- fügung stehen, so wenig Verwendung finden, finden können. Die Gründe hierfür sind teils äußerer, teils innerer Art. So könnte eine zweckmäßige Ernährung der körperlichen und seelischen Verkümme- rung der geschädigten Kinder einen kräftigen Riegel vorschieben, viele erst aufkeimende Übel ersticken. Aber die Hungerblockade dauert fort, wird noch lange für unsere Kinder fortdauern, nicht bloß, weil der Haßdurst unserer Feinde auch nach Friedensschluß immer wieder Möglichkeiten finden wird, unsere körperliche Wiedergeburt zu hemmen, sondern auch weil Arbeitslosigkeit, Arbeitsunlust, vor allem der elter- liche egoistische Genußwille noch auf lange hinaus dem schwächlichen Kinde die so dringend nötige kräftigere Ernährung vorenthalten wird. Dazu kommt aber als innerer Grund, daß der kreiten Öffentlichkeit trotz alles sozialen Umschwungs nicht von heute auf morgen, auch nicht durch .gesetzgeberische Maßnahmen das richtige soziale Emp- finden, das opferbereite Solidaritätsgefühl und vor allem das rechte Verständnis für die uns beschäftigenden Fragen eingeimpft werden kann. Endlich fehlt, wie bereits anfangs angedeutet, den berufenen Kindervormündern, im weitesten Sinne des Wortes, noch immer die genügende Einsicht in die Bedeutung ihrer Aufgabe und in die Zweckmäßigkeit und die Zahl der zur Verfügung stehenden Mittel. Und doch muß um der Kinder, um unseres Volkes willen der Kinder-

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König: Die Notwendigkeit eines Seminars für Heilerziehung u. Jugendpflege. 197

not mit aller Entschlossenheit und mit dem rückhaltlosesten Hilfs- willen gesteuert werden.

2. Wohl sollen in erster Linie die Gesunden und Tüchtigen die nötige Förderung erfahren; denn von ihnen hängt vornehmlich Gedeih und Verderb des Vaterlandes ab; aber in der Zeit der Not, der wir entgegengehen und die auf lange hinaus unser Volkstum in harte Fron zwängen wird, ist jede, auch die kleinste Kraft von Wert.

_ Zudem stecken in den Verwahrlosenden und Verwahrlosten oft genug bedeutsame Geistes-, Gemüts- und Willenswerte, die, in die rechten Bahnen gelenkt, dem Vaterlande von allergrößter Bedeutung sein können, sowohl nach der negativen, wie nach der positiven Seite.

Jede Erstarkung schwacher Kräfte ist bei unserer finan- ziellen Trostlosigkeit wirtschaftlich und damit auch national hoch bedeutsam.

Die Pflege und die Berücksichtigung. der geistig und sittlich Schwachen ist auch noch aus einem andern Grunde bedeutsam. Es ist mit Bestimmtheit zu erwarten, daß uns die nächsten Jahre eine starke Auswanderung bringen werden. Nun ist es eine bekannte Tat- sache, daß die in die Weite Strebenden vornehmlich die Geistes- und Willensstarken unserer Volksgenossen sind. Sie werden in erster Linie unter dem Druck der kommenden finanziellen, sozialen, geistigen und gemütlichen Nöte leiden und ihr wilder Trotz wird sich dagegen auf- bäumen, wird über die Grenzen des unglücklichen Vaterlandes hinaus- drängen. So wird die Heimat, die schon eine schwerersetzliche Ein- buße an edelster Volkskraft erlitten hat, aufs neue einen tiefbedauer- lichen Blutverlust zu beklagen haben. Um so mehr ist es dringende Pflicht aller Volksgenossen, sowohl des Einzelnen als der Gesamtheit, keine Kosten und keine Mühe zu scheuen, um die Zurückbleibenden zu höchst möglicher körperlicher, geistiger and sittlicher Leistungsfähig- keit emporzuentwickeln.

3. Die gehemmten Werte geistiger und sittlicher Art können aber nur dann befreit und in den Dienst der Allgemeinheit gestellt werden, wenn sachkundige Männer die Befreiungs- arbeit in die Hand nehmen. Reichliche Mittel, ein gutes Herz und ein guter Wille allein tun’s nicht. Sie setzen oft manchen Stümper ans Werk. Stümper aber reißen oft mehr nieder als sie aufbauen. Dies gilt für das gesamte Bildungs- und Er- ziehungswesen, insonderheit aber für die Arbeit der Heil-

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A. Abhandlungen.

erziehung und Jugendpflege. Handelt es sich hier doch um Einwirkung auf Menschenseelen, dazu vielfach um verkümmerte, verbogene Menschenseelen. Bietet die Entwicklung und Führung gesunder, aufrechter Menschen fast unüberschaubare Schwierig- keiten, so bedarf es zur Pflege, Leitung und Bildung Anormaler eines solchen Maßes von Einsicht und Hingabe, daß nur große, sich selbst entäußernde Liebe die allerdings nicht erlernbar ist und eine umfassende und tiefschürfende Vorbildung zur Meisterschaft emporführen können. Auch in den Händen des besten Wollens zerbricht oft das zarte Wesen Menschenseele, wenn sich dêm Willen nicht die tiefgegründete, weitschauende Einsicht zugesellt.

In der Gegenwart wird jedoch vielfach die Heilerziehungsarbeit Männern und Frauen ohne jede oder doch ohne Spezialvorbildung übertragen. Es bleibt dann vielfach ihrer Einsicht, ihrem guten Willen, ihrer Lehr- und Erziehungsgabe überlassen, wie weit sie durch Ausnutzung autodidaktischer theoretischer Studien, eigener und fremder Erfahrung sich nachträglich das erforder- liche Wissen und Können aneignen, oder ob sie sich bloß rein empirisch, so gut es eben geht, durch die Wirmisse und Hemmnisse der Aufgabe durchzuwinden versuchen.

Es soll und darf nicht geleugnet werden, daß der große Idealismus, der gerade die in Frage stehenden Erzieherkreise beseelt, eine gewaltige Summe erfolgreicher, wegbahnender Arbeit geleistet hat. So ist z. B. der weitaus größte Teil der Methodik des Hilfsschulwesens auf autodidaktischem Wege ent- standen.

Anderseits läßt sich nicht leugnen, daß wie auf allen, so auch auf diesem Gebiete die Autodidaktik neben hellen Licht- seiten doch auch unleugbare Schattenseiten aufweist: Manche Gebiete wurden einseitig gründlich bearbeitet, andere mehr oder minder vernachlässigt; da und dort wurde zu rasch ver- allgemeinert, an anderer Stelle blieb es bei der ungeordneten und unbearbeiteten Materialsammlung; Hauptfragen blieben un- beachtet, wichtige Umstände wurden in engherziger Kurzsichtig- keit übersehen, während Nebensächliches in falscher Bewertung weitschweifige Erörterung fand.

Ferner ist doch auch zu bedenken, daß das Studium der Werke über das kranke Kind i. a. und über das psychopathische insbesondere vielfach für den Autodidakten’ fast unüberwind- liche Schwierigkeiten bietet; denn diese Bücher greifen oft

König: Die Notwendigkeit eines Seminars für Heilerziehung u. Jugendpflege. 199

genug ins medizinische Gebiet über, zu deren Verständnis die mitgebrachte Vorbildung nicht immer ausreicht. Schon allein die vielen technischen Ausdrücke, zumeist noch in fremder Sprache, ferner die oft gedrungene, knappe, abstrakte Ausdrucks- weise, der gewöhnlich nicht leichte Satzbau erschweren, ja ver- leiden das Studium außerordentlich. Diese Bücher setzen zu- dem zu ihrem Verständnis sehr oft das Begleitwort des führen- den Meisters voraus, der aus der Schatzkammer seiner Erleb- nisse leicht veranschaulichende, verdeutlichende Beispiele bieten kann. So wird statt eines lebensvollen, auf anschaulicher Grundlage sich aufbauenden Wissens infolgedessen vielfach nur Wortwissen gewonnen, das unmöglich der Praxis hin- reichende Triebkräfte und zweckfördernde Fingerzeige geben kann.

Weiterhin kann auch gutes Anschauungsmaterial, wie es die Praxis bietet, ohne zweckentsprechende praktische Anleitung nicht in seiner vollen Bedeutung ausgewertet und für Theorie und Praxis fruchtbar gemacht werden. Das lehrt die Er- fahrung täglich und stündlich. Wessen Geistesaugen nicht ge- öffnet sind, der sieht vor lauter Bäumen den Wald nicht. Die Erfahrung führt nicht ohne weiteres zu Erkenntnissen, sonst müßte jeder Bauer ein Naturforscher sein oder doch sich eines Schatzes wertvollster naturkundlicher Einsichten erfreuen und sich leicht und schnell auf dem Gebiet der theoretischen Land- wirtschaft zurechtfinden können. In Wirklichkeit benimmt. sich aber selbst der tüchtigste Praktiker höchst unbeholfen, wenn er seinen Fuß ins Land der Theorie setzt. Es gehört viel Übung dazu, in den Erfahrungen des Alltags den Begriff, die Regel, das Gesetz zu erkennen, von ihnen zur theoretischen Einsicht aufzusteigen und aus dieser Einsicht wieder Regel und Richtschnur für die Praxis abzuleiten. Die naturgemäßen Folgen zeigen sich dann in nicht seltenen Fällen in verfehlten Maßnahmen, in stümperhaftem Hin- und Hertasten, in un- sicherem Zugreifen, was statt Besserung oft genug Verschlimme- rung des krankhaften Zustandes herbeiführt und letzten Endes auch eine Herabsetzung der gesamten Heilerziehung im An- sehen weiter Kreise mit sich bringt. Wie mancher jugendliche Verbrecher könnte für die Gesellschaft gerettet werden, wenn seine Erzieher mit den Ergebnissen der modernen Individuali- tätserforschung und den daraus sich ergebenden Heilmethoden genauer vertraut wären. Durch die rohe Empirie, die sich aber

an

A. Abhandlungen.

noch immer im Fürsorge- und Heilerziehungswesen bemerkbar macht, wird oft ein leichtwurzelndes Gebrechen zum lebens- langen Fehler, der sich immer weiter in die Seelentiefen ein- frißt und andere Gewebe in Mitleidenschaft zieht.

Dies macht es zum Teil verständlich, wenn z. B. Zwangs- erziehungsanstalten nicht selten über erschütternde Mißerfolge klagen müssen. Zöglinge, um die anscheinend feste Gewöhnungen einen Schutzwall aufgebaut haben, die auch über wohlverankerte sittliche Einsichten verfügen, die Proben des besten Wollens abgelegt haben, werfen alle guten Vorsätze über Bord, sobald sie das Ruder ihres Lebensschiffleins wieder in die eigene Hand genommen haben. Und Hilfsschüler, denen der Star ihres Geistesauges gestochen worden war, erblinden und ver- blöden, nachdem sie ins freie Leben hinausgetreten sind. Warum? Der Gründe gibt es viele. Sicherlich aber wirkt der Mangel an Sachkunde, an genauem, methodisch geschultem und geschärftem Tiefblick für die Eigenart des Kindes und seine wirkliche Stellung zu den sittlichen Ideen, zu der Welt draußen, ferner der Mangel an Vertrautheit mit den besten Erziehungs- wegen wesentlich an diesem beklagenswerten Zusammenbruch mit. Und der hat seinerseits wieder zur Folge, daß weite Kreise nur mit Mißtrauen auf die Heilerziehungsanstalten schauen oder sie rundweg ablehnen. So oft sie die aus den verschiedenen Anstalten entlassenen Zöglinge auch in ihrem weiteren Entwicklungsgang verfolgen, so oft sehen sie sich Miß- erfolg an Mißerfolg reihen. Daß in dieser Behauptung, wie man sie immer wieder hört, außerordentlich viel Übertreibung, Kurzsichtigkeit, ja wohl auch Böswilligkeit liegt, bedarf keiner weiteren Erörterung. Soviel man aber auch von dieser Be- hauptung als unzutreffend abstreichen mag, es bleibt genug Berechtigtes übrig. Und dies ist zum großen Teil auf die un- geeignete Vor- und Ausbildung der Berufsarbeiter in der Heil- erziehung zurückzuführen.

So hoch auch die Wirkung der neueingeführten Prüfungs- ordnungen und da und dort vorhandener kürzerer Kurse ein- zuschätzen ist, so können sie doch die genannten Mißstände nicht aus der Welt schaffen, da sie für den gewollten Zweck nicht zureichend sind. Es sind Notbehelfe, aber auch nur Notbehelfe. Kurse können nur einführen, nur fortbilden; aber all die Unsummen von Kenntnissen, Erkenntnissen und Fertig- keiten, die erworben werden müssen, wenn das gesteckte Ziel

König: Die Notwendigkeit eines Seminars für Heilerziehung u. Jugendpflege. 201

wirklich erreicht werden soll, können wenigwöchige Kurse nie- mals vermitteln. Auch schon die Hast, mit der in Kursen, die über große Gebiete orientieren, in sie einführen sollen, dar- geboten und aufgenommen werden muß, verhindert gründliches Einleben in die Stoffgebiete und Vertrautwerden mit den Pro- blemen und den theoretischen und praktischen Forschungs- methoden. Wirkliche Abhilfe kann nur ein Seminar bieten.

C. Wie soll dies Seminar eingerichtet werden?

1. Die Hauptarbeit sollte durch den Besuch von Universitäts- vorlesungen geleistet werden. Die Schüler sollten lernen, aus den unmittelbaren Quellen zu schöpfen. Das Wort des Meisters, der über ein reiches und wohlverarbeitetes Erfahrungs- und Anschauungsmaterial überlegen verfügt, die auf sicherer und umfassender Beherrschung der Literatur beruhenden Hinweise des Professors, die reichen Hilfsmittel der Universität geben dem nach Erkenntnis Strebenden reiche Anregung, Belehrung und Förderung, wie sie durch autodidaktisches Studium nur in den seltensten Fällen erreichbar ist.

Besondere Erwähnung verdient noch das hinreißende Bei- spiel des Meisters der Forschung, der keine Mühe scheut, um zu dem Quellpunkt der Wahrheit vorzudringen, der mit aller Vorsicht Schritt für Schritt vorwärtsschreitet, oder wenn es sein muß, vorwärtstastet, der sich aber auch nicht scheut, einen zurückgelegten Weg aufzugeben, wenn er ihn als falsch er- kennt. Gerade diese Vorsicht im Vorwärtsschreiten, diese Kraft der Selbstentsagung im Aufgeben des als falsch Erkannten tut dem Leiter und Lehrer der anormalen Jugend besonders not; denn nirgends schaden falsche Auffassung und Formulierung der Tatbestände und daraus abgeleitete falsche Schlußfolgerungen mehr als auf dem Gebiete der Erziehung, wenn auch diese Schädigungen nicht immer sofort und sonnenklar zutage treten.

Ferner ist von besonderem Werte die Möglichkeit der Be- nutzung von Sammlungen und besonders der allgemeinen und Fachbüchereien der Universität. Gerade da hapert’s gewöhn- lich bei der Autodidaktik. Dem auf dem einsamen Dorf oder in der Kleinstadt in stiller Abgeschlossenheit Arbeitenden fehlt es zumeist an den Büchern, mithin an dem notwendigen Hand- werkszeug. Wohl weiß er von dem Vorhandensein der großen Bibliotheken an den Universitäten. Aber es fehlt ihm vielfach die Kenntnis der rechten Art der Benutzung. Wie oft gelangt

202

A. Abhandlungen.

er bei Anfragen aus Ungeschick nicht ans Ziel, oder er greift in seinen Bestellungen fehl. Infolgedessen verzichtet er allzu leicht auf weitere Versuche. Und die Folgen machen sich bald genug unangenehm bemerkbar. Er sucht und forscht und gerät nach vieler Mühsal auf längst entdeckte und schon längst wieder verlassene Pfade. Ihm aber bedeutet es heiliges Neu- land, an dem er mit zähem Starrsinn allen theoretischen und erfahrungsmäßigen Gegenbeweisen zum Trotz festhält. Daß die Universität ihn lehrt, die Arbeiten anderer kennen zu lernen, sie zu prüfen, auf ihnen sorgfältig weiterzubauen und so Um- und Abwege zu meiden, dann aber auch liebgewordene Mei- nungen aufzugeben, wenn Theorie oder Praxis den restlosen Gegenbeweis erbringen, das ist gerade für die in Frage stehen- den Jugendführer von besonderem Werte. Das mußte hier ge- sagt werden, obgleich es ja nicht meine Aufgabe sein kann, an dieser Stelle in voller Ausführlichkeit die Bedeutung der Universität für die Ausbildung der Heilerziehungs- und Jugend- pflegearbeiter darzustellen und zu beweisen.

Deshalb muß das Seminar in einer Universitätsstadt liegen. Nur nebenbei soll bemerkt werden, daß dadurch der unerläßlichen Erweiterung und Vertiefung der Allgemeinbildung reicher Vorschub geleistet werden kann. Diese Vertiefung der Allgemeinbildung ist eine Grundforderung für alle Jugend- führer, ganz abgesehen von der Bedeutung für den Ausbau der eigenen Persönlichkeit. Die Erweiterung, Vertiefung und Verinnerlichung der Bildung ist für die Berufsarbeit unerläß- lich. Es muß unbedingt der Hunger nach idealer Geistesspeise wach gehalten werden, sonst verkümmert in der Enge der Berufsarbeit der Mensch, es geht ihm die Feinfühligkeit, der innere Weit- und Tiefblick verloren. Die Brücke, die seine Kleinwelt mit der großen Welt draußen verknüpft, zerbricht. Es soll aber doch seinen Zöglingen, auch den geistig und sitt- lich Schwächsten ein Wegweiser sein in die Welt. Zudem soll er in der Lage sein, aus dem Neuen und Alten, was unsere großen Führer der Welt geschenkt haben, immer wieder aus- zuwählen, was er als Geistesnahrung seinen Schülern darbieten kann, damit auch in ihnen der. Hunger und der Durst nach dem Schönen, Wahren und Guten erweckt und befriedigt werden, oder daß sie doch eine schwache Ahnung von dem erhalten, was das Glück und der Gewinn vieler Millionen ist. Somit muß der Jugendführer selbst gelernt haben, zu schöpfen

König: Die Notwendigkeit eines Seminars für Heilerziehung u. Jugendpflege.. 203

aus dem reichen vollen Quickborn der Bildung, wie er an der Universität so silberhell und unerschöpflich flutet.

An der Universität sollen selbstverständlich auch die päda- gogischen Vorlesungen gehört und eifrig benutzt werden; es ist dies eine Grundvoraussetzung für den endgültigen Erfolg. Auch wenn sich der Jugendführer bereits auf dem Seminar ein gewisses Maß pädagogischen Wissens angeeignet hat, ja gerade dann, wird er das Bedürfnis fühlen, seine Kenntnisse zu erweitern und zu vertiefen. Und wenn er je vom Seminar mit dem Bewußtsein abgegangen sein sollte, in Pädagogik alle Wissensquellen ausgeschöpft zu haben welche Ansicht. ja bei jüngeren Lehrern noch immer nicht ausgestorben ist dann wird ihn der Besuch der pädagogischen Vorlesungen und die Teilnahme an pädagogischen Übungen bald eines Besseren belehren. Er wird sehen, wieviel er noch zu lernen hat, wie- viel noch zu erforschen übrig bleibt. Und mit dem Lern- willen wird auch die Lern- und Forschungsgeschmeidigkeit wachsen. Dieser Gewinn wird aber sowohl seiner theoretischen Ausbildung, als seiner späteren praktischen Tätigkeit von Nutzen sein. Er wird vor allem auch lernen, seine Arbeit in dem Rahmen des ganzen Erziehungsgeschäftes zu stellen, seine Ziele nicht zu kurz zu stecken, sondern auch dann nach den ewigen Zielen der Pädagogik, der Menschenerziehung hinzustreben, wenn ihm auch nur ein kleines Teilgebiet dieser Arbeit zu- gewiesen ist.

2. Die speziell methodische Anleitung wird im Seminar ge- geben werden und zwar wird diese Anleitung die Bildungs- und Erziehungsarbeit des gesamten Heilerziehungswesens im weitesten Umfange zu umfassen haben. Diese Aufgabe darf unter keinen Umständen übersehen oder unterschätzt werden. Auf sie kommt es vornehmlich an; denn wenn irgendwo im Unterrichtswesen, so ist gerade auf dem Gebiete der Heil- erziehung die methodische Kleinarbeit hochbedeutsam. Jeder Kunstgriff muß erfaßt, durchgearbeitet, durchgeprobt und für die Einzelarbeit bereitgestellt werden. Darum ist auch dieser Seite der Einführung in die Berufsarbeit besonderes Augen- merk zuzuwenden, darum muß ihr auch ein vollausreichendes Zeitmaß zugewiesen werden, und darum muß auch großes Gewicht auf die zweckmäßige Auswahl des Leiters und der Lehrer dieses Zweiges der Vorbildung gelegt werden.

204

A. Abhandlungen.

Diese Arbeit wird alle Mittel der Erarbeitung und Ver- tiefung zu benutzen haben: Vorträge des Seminarleiters, der Seminarlehrer und der Kursteilnehmer, ferner bewährter Fach- männer und Reformer; gründliche Diskussionen im Anschluß an diese Vorträge oder an ausführliche Leitsätze; Besprechung von einschlägigen Büchern, Aufsätzen, Dissertationen usw.; Be- sprechung eigener früherer Beobachtungen und Erfahrungen, eingesandter Berichte früherer Kursteilnehmer; Besprechung von älteren und neueren Lehr- und Lernmitteln; Besprechung der bekannt werdenden Reformvorschläge; Besprechung der Leistungen des Auslandes, die sehr sorgfältig zu verfolgen und ohne Voreingenommenheit zu beurteilen sind; Besprechung der Individualitätsfragen und Schülerbeobachtungen ...

Der Seminarleiter muß diese Arbeit mannigfach zu ge- stalten suchen und vor allem selbst gern Anregungen zur Aus- gestaltung der Arbeitsweise entgegennehmen. Um keinen Preis darf Arterienverkalkung eintreten, sonst wirkt gerade dieser so notwendige Teil der Vorbildung lähmend, abschreckend, er- tötend. So begeisternd das Durchwandern großer Gedanken- kreise wirkt, so leicht fühlt sich der forschende, hochstrebige Geist von der Kleinarbeit der Methodik zurückgestoßen. Sie steht im Geruche der Pedanterie, und in der Tat verengt sie allzuleicht den Sinn, legt dem Auge Scheuklappen, dem Geiste hemmende Zügel an. Darum muß gerade auf diesem Sonder- gebiete ein recht frischer Geist wehen, es muß das Kleine immer wieder auf große Gesichtspunkte zurückgeführt oder von ihnen abgeleitet werden. Weckung und Mehrung des Interesses, Anregung zum Selbstforschen, das Hin- und Her- weben des Einschlags der Theorie in die Kette der Praxis, aber auch die unermüdliche Betonung des Rechtes der Schüler- und der Lehrpersönlichkeit, die Befreiung des Unterrichts aus dem Kleingeist des Handwerks und seine Hinüberleitung in die weitschauende und innerlich belebende Sphäre der Kunst. Dies und manches andere noch muß Hauptgrundsatz der Seminararbeit sein.

Um die praktische Bildung zu fördern, sind Unterrichts- proben nach gründlicher Vorbesprechung und mit darauf- folgender eingehender Kritik in geeigneten Anstalten abzuhalten. Darum muß unbedingt gefordert werden, daß sich an dem Seminarort oder in leicht erreichbarer Nähe größere Heil- erziehungsanstalten vorfinden, die sich bereit erklären, Unter-

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König: Die Notwendigkeit eines Seminars für Heilerziehung u. Jugendpflege. 205

richtsübungen an ihren Zöglingen zuzulassen. Diese Forderung dürfte bei den Beteiligten auf wenig Widerstand stoßen, da die Praktikanten ja in der Regel nicht Anfänger sind, sondern bereits eine reiche schulische Erfahrung hinter sich haben; da sie ferner sicher eine reiche Förderung ihrer Arbeit mittel- bar oder unmittelbar zu erwarten haben. Eine Schädigung wird um so eher vermieden und der angedeutete Gewinn wird um so sicherer eintreten, je mehr Sorgfalt auf die Vorbereitung der Unterrichtsgestaltung durch die Methodiklehrer und die Praktikanten verwendet wird.

Bemerkt sei ferner, daß die praktische Ausbilduug sich nicht bloß auf den 'Unterricht beschränken darf, sondern in ihren Arbeitsbereich auch die gesamte spätere Betätigung ein- beziehen muß. Es sind so z. B. Individualitätsbilder unter Zuhilfenahme der wissenschaftlichen Beobachtung und experi- menteller Hilfsmittel zu schaffen, es sind Übungen in der Auf- stellung statistischer Listen vorzunehmen, es sind Vorschläge über die Behandlung fiktiver oder wirklich beobachteter Kinder- fehler oder disziplinarischer Vergehungen anzufertigen, es sind Berichte an Eltern, Behörden ... über einzelne Kinder, über einzelne Disziplinarfälle u. dergl. abzufassen, es sind Lehrpläne, Hausordnungen ... aufzustellen, es sind Übungen im Anleiten von Jugendspielen, Werkstätten- und Gartenarbeiten vorzu- nehmen usw. usw.

Vor allem sei aber noch darauf hingewiesen, daß dieser Kreis der Vorbildungsarbeit vornehmlich auch jene Unterrichts- mittel umfassen muß, die unter dem Begriff Arbeitsunterricht im weitesten Sinne, des Wortes zusammengefaßt werden. Ich denke da z. B. nicht bloß an den Werk-, Werkstätten- und Hand- arbeitsunterricht, sondern auch an den Unterricht im Freien, an die Belehrungen im Anschluß an Garten- und Feldarbeit ... Vor allem aber soll dieser praktisch-methodische Teil des Seminarunterrichts immer wieder lehren, wie der Unterricht sich gestalten muß, um auch bei den geistig und sittlich Schwachen die Aktivität zu wecken, das geringe Flämmchen des Interesses zu größerer Leucht- und Wärmkraft anzufachen. Man zeige dem Heilerzieher die Wege und übe ihn im richtigen Gebrauch der Mittel, die auch die der pädagogischen Heil- behandlung bedürftigen Zöglinge zu eigenen Erfahrungen auf allen Gebieten des Alltags, des geistigen, sozialen, nationalen, sittlichen, religiösen Lebens führen. Man lasse die Kurs-

ss

A. Abhandlungen.

teilnehmer auf dem Wege sorgfältiger Selbstbeobachtung und Selbstkritik unzweideutig erkennen und lasse ihnen diese Er- kenntnis als Gruudsatz für ihr gesamtes Lehren und Erziehen in Fleisch und Blut übergehen, daß Autorität allein, so wert- voll und unerläßlich ihr Einfluß auch sein mag, gerade bei den Heilzöglingen zur Bildung und Festigung des Innenlebens nicht ausreicht. daß vielmehr hier mehr noch als bei gesunden Kindern die Eigenaktivität geweckt und überall als vornehm- lichster Hilfsfaktor herangezogen werden muß. Man lehre sie, mit geübtem Blick auf alle die »Verteidigungsreflexe des geistigen Organismus« achten, die sich bei den Heilzöglingen im allgemeinen so rasch einstellen und deren dauernde Nicht- beachtung zu einem unfehlbar eintretenden Zusammenbruch der Bildungs- und Erziehungsarbeit führen muß. Höchst be- deutungsvoll ist ferner der praktische Nachweis, wie der Feuer- funke eines einseitigen Interesses zur Entzündung latenter Interessen benutzt werden kann; auch hier liegt wieder eine besondere Aufgabe der Heilerziehung vor, die sich so oft ver- geblich abmüht, um die gefährliche Einseitigkeit im Geistes-, Gemüts- und Willensleben ihrer Zöglinge zu überwinden. Endlich muß die »Übungsschularbeit« zeigen, daß bei der »Ausbildung des seelischen Organismus gemäß den Grund- sätzen einer weisen Kraftersparnise scheinbarer Zeitverlust oft unschätzbaren Zeitgewinn bedeutet.

Unbedingt erforderlich sind ausgiebige Besuche mustergültig eingerichteter und geleiteter Erziehungsanstalten, wobei Ge- bäulichkeiten, Einrichtungen, Lehrmittel, Unterrichts- und Er- ziehungspläne, Unterrichts- und Erziehungsgrundsätze eingehend zu erforschen, gegebenenfalls an Ort und Stelle in Gegenwart des betreffenden Anstaltsleiters zu besprechen sind; desgleichen Besuch von mustergültigen landwirtschaftlichen Betrieben, eventuell auch von gewerblichen Betrieben, soweit sie für die Heilerziehungsheime von Belang sind.

Es muß eben unbedingt die bloße Theorie vermieden werden. Die wenigstündige Besichtigung einer vorbildlich ein- gerichteten und geleiteten Anstalt erzeugt in der Regel tiefere theoretische Einsicht, lebendigeres Interesse und befruchtet vor allem nachhaltiger das praktische Wollen und Können, die selbstschöpferische Kraft als monatelanges bloßes Theoretisieren. Diese weitgreifenden Erfolge werden besonders dann zu er- zielen sein, wenn das Geschaute in Vorträgen, durch Be-

: Die Notwendigkeit eines Seminars für Heilerziehung u. Jugendpflege.. 207

sprechungen, durch schriftliche Ausarbeitungen von seiten der Kursteilnehmer und durch häufige Hinweise der Seminarlehrer verarbeitet und immer mehr verankert wird.

. An das Seminar ist sobald als möglich eine Beobachtungs-

station anzugliedern, die gründliche Gelegenheit zur Indivi- dualitätserforschung bietet und für die Teilnehmer, die beob- achteten Schüler, die Erziehungsanstalten, die Gemeinde und den Staat, höchst wertvoll ist. Die wenigen bereits vor- handenen Beobachtungsstationen haben den unwiderleglichen Beweis für ihre Notwendigkeit und Bedeutung erbracht. Eine solche Einrichtung ist aber gerade für das beabsichtigte Seminar von besonderem Wert, vornehmlich im Hinblick auf die theoretische und praktische Ausbildung der Kurs- teilnehmer. Hier können sie praktische Individualitäts- forschung treiben; denn hier bieten sich in reicher Fülle und Mannigfaltigkeit die mehr oder minder scharf ausgeprägten Typen abnormer Kinder. Und gerade die hier gegebene Mög-

` lichkeit wird Veranlassung zu den mannigfachsten Übungen

und Erwägungen geben.

. Das Seminar muß Gelegenheit bieten oder schaffen, daß sich

die Kursteilnehmer die für das Heilerziehungswesen erforder- lichen technischen Fertigkeiten aneignen können: Fröbel- arbeiten, Zeichnen, Malen, Formen, Knabenhandfertigkeit, Turnen, Spiel und Sport, Handhabung des Lichtbildapparates; landwirt- schaftliche, zum Teil auch gewerbliche Kenntnisse und Fertig- keiten. Dieser Teil der Vorbereitungen kann nicht genugsam betont werden. Schon aus allgemein nationalen und sozialen Gründen. Die technische Seite unserer Kultur muß weit mehr als bisher in den Vordergrund unserer Interessen gerückt werden, wenn wir uns wieder aus der Not der Erniedrigung zum Licht emporringen wollen. Vor allem aber ist die Hand- und Körperbetätigung im Heilerziehungswesen nötig, weil dies erfahrungsgemäß oft genug der einzige Weg ist, der aus der Dumpfheit des Empfindens, der Mattigkeit, Verzagtheit, Un- schlüssigkeit, Unfähigkeit des Wollens zu relativer Klarheit und Kraft führen kann. Gerade die aktiven Naturen unter den Zwangszöglingen schreien nach körperlicher Arbeit und können vielfach nur auf diesem Umweg zu den Quellen geistigen und sittlichen Lebens geführt werden. Und die Arbeit in den Hilfsschulen ist nur deswegen oft noch so erfolgarnm, weil sie die Geistesbildung statt auf dem längeren Umweg über

208

A: Abhandlungen.

die Hand, über das Tun vielmehr durch unmittelbare Ein- wirkung auf den Geist, wie sie für die Normalen am Platze ist, zu erreichen sucht. Die Ursache für diese bedauerliche Tatsache ist zumeist weniger in dem Mangel an theoretischer Einsicht als vielmehr an dem praktischen Unvermögen des Lehrers und Erziehers zu suchen, der diese technischen Hilfs- mittel selbst nicht beherrscht.

. Auch sind Kurse zur Heilung von Sprachgebrechen an das

Seminar anzugliedern, oder wenn solche am Orte bereits be- stehen, ist auf deren Benützung hinzuwirken. Jeder Hilfsschul- lehrer müßte eigentlich mit den Grundzügen der Lehre von der Heilung der Sprachgebrechen vertraut sein; denn diese sind mit der geistigen Anormalität aufs engste verquickt. Sie stehen oft genug in dem Verhältnis von Ursache und Wirkung. Und die Heilung der geistigen und der sprachlichen Gebrechen gelingt oft nur dann, wenn die Arbeit an beiden Hand in Hand miteinander geht. Es ist zumeist wenig erfolgfördernd, wenn der Kampf gegen die Sprachgebrechen von einem Lehrer ge- führt wird, der sonst keinerlei Beziehung zu der Klasse hat, der das sprachkranke Kind angehört, oder wenn gar der Klassen- lehrer jenem so notwendigen Kampf verständnis-- und interesse- los gegenübersteht. Darum ist unbedingt zu verlangen, daß sich jeder Hilfsschullehrer an einem Kursus zur Heilung von Sprachgebrechen beteilige.

Wünschenswert wäre auch die Schaffung einer Möglichkeit zur Aneignung der Grundlagen der Krankenpflege, der Hilfe bei Unglücksfällen. Gerade unsere geistig und auch die sitt- lich Schwachen sind für Krankheiten infektiöser Art in hohem Grade anfällig. Aber auch Krankheiten der Ernährung, des Blutumlaufs, ferner Lähmungen aller Art stellen sich bei ihnen recht häufig ein, sind oft die eigentlichen und letzten Ursachen ihres Leidens. Übrigens werden ja viele Kursteilnehmer zur Leitung und Mitarbeit an Internaten berufen, wo ja ein ge- wisses Maß von Krankenpflege und die Fähigkeit zur ersten Hilfe bei Unglücksfällen unerläßlich ist, zumal dann, wenn die Erziehungsanstalten auf dem Lande, fern ab vom ärztlichen Wohnsitz liegen. Endlich erfordert ja auch die Anpassung der unterrichtlichen, erzieherischen und pflegerischen Maßnahmen an den individuellen Gesundheitszustand der Kinder eine über den Alltagsdurchschnitt hinausgehende Vertrautheit mit der Eigenart des erkrankten Kindes.

König: Die Notwendigkeit eines Seminars für Heilerziehung u. Jugendpflege.. 209

9. Notwendig ist die allmähliche Schaffung von Sammlungen

und einer größeren Fachbücherei, wobei auch die Leistungen

des Auslandes sorgfältig zu berücksichtigen sind:

a) Alle einschlägigen Bücher, Dissertationen, Broschüren, Zeit- schriften, Aufsätze, Programme, Pläne. ... E

b) Samralung aller möglichen Lehr- und Lernmittel; Schul- museum. ...

c) Sammlung von Bau-u. Einrichtungsplänen, Kostenanschlägen....

d) Sammlung von experimentellen Apparaten, die für das Heil- erziehungswesen von Bedeutung sind. ...

Diese Aufzählung will wieder und wieder betonen, daß das Seminar die praktische Arbeit unter keinen Umständen zu kurz kommen lassen darf. Sie muß durchaus gleichberechtigt neben der theoretischen Ausbildung stehen, sie muß vor allem immer wieder zu selbständiger Forschung anregen und An- leitung geben, wie die Wirklichkeit immer mehr in den Unter- richt hineingezogen werden kann. Letzterem Zwecke soll z.j B. der Ausbau des Schulmuseums dienen. Es handelt sich hier weniger um kostspielige Apparate, Präparate, Bilder u. dergl. als vielmehr um Dinge des alltäglichen Lebens, die im Unter- richt Stunde für Stunde vorkommen, als da sind: Heimische Holz- und Steinarten, Früchte, Vögel, Hörner, Hühner-, Gans-, Entenfüße, Hufe, kleinere Haus- und Küchengeräte usw. usw. Wohl sollen alle diese Dinge draußen im Freien, an Ort und Stelle beobachtet und besprochen werden; aber sie müssen auch in der Schule selbst immer wieder gezeigt werden können, wenn sie wirklich in den inneren Anschauungsbesitz der Hilfs- schüler übergehen sollen.

D. Welche Bedeutung könnte solch ein Seminar erlangen?

Schon aus dem Vorausgegangenen geht mit aller Klarheit und

eindeutiger Bestimmtheit die weittragende Bedeutung eines solchen Seminars hervor. Doch dürfte es der Sache dienen, wenn hier die Vorteile übersichtlich zusammengestellt werden, um die Herbei- führung einer vollen Überzeugung zu erleichtern. Die bedeut- samsten Vorteile sind:

1.

Gründliche ‚theoretische und praktische Durchbildung der Kurs- teilnehmer auf allen Gebieten, besonders auch seiner Fein- fühligkeit für die zarteren Geistes-, Gemüts- und Willens- regungen der schwachen und kranken Kindesseele, seiner schnellen und zweckmäßigen Anpassungsfähigkeit an die jeweiligen Verhältnisse, an die Stimmungen seiner Zöglinge,

Zeitschrift für Kinderforschung. 24. Jahrgang. 14

210

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A. Abhandlungen.

die Hebung und Mehrung seines altruistischen Hilfswillens gegenüber all den Armen und Elenden, die seiner Obhut und Leitung anvertraut werden sollen.

. Förderung des Heilerziehungswesens

a) durch eingehende und wiederholte Verarbeitung seiner Grund- lagen;

b) durch Aufdeckung neuer Probleme und neuer Wege;

c) durch Sammlung, Sichtung und Bearbeitung eines großen Erfahrungsmaterials (Sammelstelle);

d) durch Anregung und Befähigung zur selbständigen Samm- lung, Bearbeitung von Einzelmaterial durch Kursteilnehmer;

e) durch sorgfältiges Verfolgen der praktischen Leistungen und theoretischen Forschungen des Auslandes;

f) durch Hebung der Leistungsfähigkeit und des theoretischen Interesses der Kursteilnehmer;

g) durch besondere wissenschaftliche Erforschung der Jugend- lichen und der Mittel zu ihrer Heilung;

h) durch tatkräftige Mithilfe an der Aufdeckung der Ursachen des Elends und der Not und durch Freimachung der Bahn zur Abhilfe; s

i) durch den mit zwingender Überzeugungskraft gelieferten Nachweis, daß im Heilerziehungswesen das Differenzieren unerläßliche Vorbedingung für jeden Erfolg ist;

k) durch Schaffung und Ausbildung einer Reihe geschulter Be- obachter im Armen- und Fürsorgewesen, in den Schulen und den Gerichten.

l) durch Einwirkung auf die Öffentlichkeit zur Hebung des theoretischen und praktischen Interesses für die Arbeit.

. Förderung des Erziehungswesens und der psychologischen For-

schung im allgemeinen, da gründliche Erforschung pathologischer Zustände und die praktische Arbeit an geistig und sittlich Unternormalen oft ungeahnte Aufschlüsse über das normale Kind und seine Erziehung geben können.

. Das Beobachtungsheim kann vielen Behörden, staatlichen und

kommunalen, vielen Vereinen in einem weiten Umkreis von hoher Bedeutung sein, insofern dann die Kinder richtig be- urteilt und der geeigneten Anstalt zugeführt werden ‘können.

. Zahlreiche Kinder können geheilt und gerettet der Gesellschaft

zurückgegeben werden. Andere erlangen doch eine relative Selbständigkeit des geistigen, sittlichen, finanziellen Lebens und fallen somit der Allgemeinheit nicht zur Last oder bedürfen

König: Die Notwendigkeit eines Seminars für Heilerziehung u. Jugendpflege. 211

nur geringerer, leicht zu gewährender Nachhilfen, oder sie

bilden keine Gefahr mehr für ihre Weggenossen. Wieder

andere werden durch die Anbahnung und zweckmäßige Ge- staltung fürsorgerischer Hilfe vor der völligen Zerrüttung und

Zermürbung ihrer geistigen und sittlichen Kräfte bewahrt.

6. Durch Zusammentragen von reichlichem Material wird die Not- wendigkeit nachschulischer Pflege der geistig und sittlich Schwachen, die Reform ihrer zivil- und strafrechtlichen Stellung und Behandlung immer deutlicher bewiesen und dadurch all- mählich auch das soziale Gewissen der Allgemeinheit geweckt.

T. Es werden Grundsätze und Wege zur Beratung unserer hilfs- bedürftigen Zöglinge für die Berufswahl und für die zweck- mäßigste Berufsausbildung festgestellt. Dadurch wird vielem Elend gesteuert und der Erfolg der Heilerziehungsarbeit ganz wesentlich befestigt.

E. Was ist für den Anfang unerläßlich?

Die Ausführung eines solchen Planes wird natürlich ohne be- trächtliche Geldopfer nicht möglich sein; denn es werden Unkosten sächlicher und persönlicher Art zu bestreiten sein, mit der Zeit wachsende Ausgaben. Zumal es gehen wird wie mit allen guten Dingen: Ist das Werk einmal ins Leben gerufen, dann wachsen die Anforderungen, dann zeigt sich erst die Bedeutung und der Um- fang der Arbeit in umfassendem Maße. Aber dürfen in unserer Zeit die Kosten für sozial-erzieherische Aufgaben gescheut werden? Gehören nicht gerade sie zu den dringlichsten Erfordernissen der Zeit? Vor allem deswegen müssen diese Geldopfer gebracht werden, weil es sich hier um bedeutsame Leistungen nicht bloß der Therapie, sondern vor allem der Prophylaxe handelt. Je energischer die geplante Arbeit betrieben wird, um so mehr werden sich mit der Zeit die Leistungen der Heilerziehungsanstalten in der Jugend- pflegeorganisation heben und ihre Ausgaben werden reiche Zinsen bringen; ja es darf mit Bestimmtheit erwartet werden, daß die Ausgaben für Zwangserziehung, für Jugendgefängnisse, für Zucht- häuser sich mit der Zeit wesentlich verringern werden. Ist es doch eine vielfach belegte Tatsache, daß sich aus den Jugend- lichen vornehmlich die Gewohnheitsverbrecher rekrutieren. Und ebenso sicher ist es, daß mancher Schwachsinnige, auf der Grenze der intellektuellen und sittlichen Gesundheit Stehende ge- rettet und für das Wohl der Allgemeinheit nutzbar gemacht werden kann, wenn sein Manko rechtzeitig erkannt und mit den rechten Mitteln bekämpft oder behoben wird. Das soll aber durch

das Seminar für Heilerziehung und Jugendpflege erreicht werden. 14*

212 A. Abhandlungen.

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F.

Was ist also zunächst unerläßlich ? I. an sächlichen Ausgaben:

1. Kauf oder Miete eines erweiterungsfähigen Anwesens;

a) mit einem größeren Lehrsaal,

b) mit einem kleineren Lehrsaal,

c) mit einem Bibliotheks- und Sammlungssaal, der als Lese-

saal einzurichten ist,

d) mit einer Kleiderablage,

e) mit einem Amtszimmer,

f) mit einer Schuldienerwohnung,

g) mit einem Garten (Schulgarten und mit etwas Feld). . Beschaffung der notwendigsten Bücher, Zeitschriften, An- schauungsmittel. ... Heizung, Reinigung, Beleuchtung, Unterhaltungskosten. Bürokosten, Reisekosten; ... persönlichen Ausgaben: Gehalt des Direktors, Gehalt zunächst mindestens zweier Seminarlehrer, Gehalt des Schuldieners; Einrichtungen: ein auf zwei Semester berechneter Lehrplan; Abschlüsse mit Anstalten, mit Handfertigkeitskursen, mit Sprachheilkursen, besonders mit.der Universität;

3. eine Abschlußprüfung. Wie sind die Kosten hierfür aufzubringen?

Wenn es nicht möglich ist, von vornherein durch Übernahme der persönlichen und sächlichen Ausgaben auf den staatlichen oder städtischen Etat den Bestand der Anstalt zu sichern, so müssen die Kosten auf andere Weise gedeckt werden. Jedenfalls sollte die Pension des Leiters und der Lehrer durch einen Staat ge- sichert werden. Als Hilfsquellen kämen mit einem größeren ein- maligen und einem kleineren jährlichen Beitrag in Betracht: die einzelnen Bundesstaaten,

2. die Großstädte,

3. die Vereine für Hilfsschulen, Jugendpflege, Kinderfürsorge . 4. größere Verleger, Kapitalisten, große Industriewerke usw., 5. Einzelpersonen,

6. größere Erziehungsanstalten,

7. das Schulgeld der Kursteilnehmer.

In Erwägung zu ziehen wäre ferner als Träger der Anstalt 1l. ein zu gründender Verein,

D9

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T

König: Die Notwendigkeit eines Seminars für Heilerziehung u. Jugendpflege. 213

. 2. die Gemeinde,

3. der Staat.

G. Warum wäre Jena besonders geeignet zur Aufnahme dieses Seminars?

Es kann natürlich auch manch andere Universitätsstadt zur Gründung eines solchen Seminars in Aussicht genommen werden. Aber Jena hat doch eine Reihe von Vorteilen, die es mir für den in Aussicht genommenen Zweck besonders geeignet erscheinen lassen : 1. Die in Betracht kommenden Disziplinen sind in Jena gut ver-

treten. .

2. Es verfügt über eine pädagogische Professur mit Übungsschule.

3. Trüpers Erziehungsheim, das in hervorragender Weise die praktische Unterweisung des Seminars unterstützen könnte, stände zur Verfügung.

4. In Jena oder in leicht erreichbarer Nähe der Stadt sind eine Reihe altbewährter Lehranstalten, deren Besuch sehr einsichts- fördernd und willensanspornend ist.

5. Die zentrale Lage Jenas und der Ruf Jenas würde den Be- such der Anstalt begünstigen.

H. Welche Bedenken stehen dem Plan entgegen?

1. Werden sich genügend Teilnehmer einstellen?

a) Die Kosten für den Einzelnen sind nicht unbeträchtlich, für viele in der gegenwärtigen Zeit unerschwinglich; denn außer den Kosten für Wohnung und Nahrung sind noch die Kosten für Vorlesungen, Schulgeld und Reisen aufzubringen.

b) Die Einsicht der Notwendigkeit dieser Art der Vorbildung ist nicht genügend verbreitet.

c) Die Kosten rentieren sich zu wenig für den Einzelnen.

Darauf läßt sich erwidern:

a) Die Einsicht in die Notwendigkeit dieser Art der Vorbildung wird sich durch geeignete Propaganda in Fachzeitschriften, bei Behörden, durch die entsprechenden Vereine leicht er- zielen lassen.

b) Staat und Städte, sowie Vereine und Anstalten werden sicher diese Art der Vorbildung durch Gewährung von Stipendien unterstützen.

c) Vielleicht lassen sich bald schon Stipendienstiftungen schaffen.

d) Wenn die Schlußprüfungen vom Seminar von allen Bundes- staaten voll anerkannt werden, so werden sich sicher auch genügend Teilnehmer finden.

2. Wie lassen sich die verschiedenen Ziele erreichen? Liegen

214-

A. Abhandlungen.

nicht z. B. die Aufgaben der Hilfsschulen und der Besserungs-

anstalten zu weit auseinander?

Dies Bedenken darf nicht als unwesentlich beiseite ge- schoben werden. Es liegt hier tatsächlich eine gewisse Gefahr vor; immerhin läßt sich dagegen bemerken:

a) Jeder besucht auf der Universität die Vorlesungen, die ihm für seinen späteren Besuch wichtig sind. Das gleiche gilt für die Teilnahme an den technischen Übungen.

b) Die methodischen Übungen und Vorträge lassen sich leicht differenzieren, so daß es neben obligatorischen Fächern auch fakultative gibt.

c) Es ist dies übrigens auch eine Sache des Stundenplanes. So können verschiedene Aufgaben auf die beiden Semester ver- teilt werden.

d) Mit der Zeit werden sich wohl auch scharf voneinander ab- gegrenzte Sonderkurse für die einzelnen Gebiete schaffen lassen. Das vorgeschlagene Zusammenarbeiten empfiehlt sich aber doch für den Anfang, um die Kosten nicht auf eine scheinbar unerschwingliche Höhe zu treiben und so die in Frage kommenden Kreise von der Gründung abzuschrecken.

. Warum ist ein Seminar notwendig; für Mittelschulprüfungen

lehnt die Lehrerschaft doch besondere Studienanstalten ab?

Es handelt sich hier um ein besondersartiges Wissen, das nicht in den Rahmen der allgemeinen Seminarbildung aufge- nommen werden kann. Gemeinschaftliche Arbeit mit der Mög- lichkeit eingehender Diskussionen ist gerade auf diesem Ge- biete von höchstem Werte.

Die Hauptarbeit vollzieht sich auf der Universität.

Man richtet besondere Zeichenkurse, Turnkurse, Spielkurse von längerer Dauer ein, besucht das Handfertigkeitsseminar u. a. Warum soll ein Seminar für das viel schwierigere und wohl noch bedeutsamere Heilerziehungswesen keine Daseinsberechti- gung besitzen?

Es wären natürlich noch mancherlei Bedenken zu besprechen;

aber die genannten dürften wohl die schwerwiegendsten sein. Wir sind uns wohl bewußt, daß die Verwirklichung dieses Planes auf große Schwierigkeiten stoßen wird; aber dies darf uns nicht abhalten, den Plan der Öffentlichkeit zu übergeben. Die Idee wird sich mit der Zeit durchsetzen, in dieser oder jener Form. Im Interesse unserer Jugend und unseres Volkes möchten wir wünschen, daß sie bald ins Leben gerufen werden möchte.

1. Nochmals über das sog. »Versehen der Frauen« (Muttermale). 215

B. Mitteilungen.

1. Nochmals über das sog. »Versehen der Frauen: (Muttermale). Ein ganz friedliches, offenes Wort an Herrn Dr. med. Brandenberg, Kinderarzt in Winterthur von

Kuhn- Kelly in St. Gallen.

Vorbemerkung des Herausgebers.

Die nachstehende Entgegnung Kuhn-Kelly’s wurde uns bald nach dem Erscheinen des Artikels von Dr. Brandenberg zugeschickt. Des Umfanges wegen mußte sie infolge von Raummangel bisher zurückgestellt werden, so leid es uns auch war, im Hinblick auf das ehrwürdige Alter des noch so jugendfrischen Verfassers, der bereits sein 87. Lebensjahr vollendete. 6

Es stehen hier zwei Anschauungen einander gegenüber, die wir gerne unmißverständlich zu Worte kommen lassen. In etwas reden zwei solche Gegner gewöhnlich aneinander ‘vorbei; gleichviel in welchem Maße das auch hier zutrifft, so handelt es sich doch um zwei tiefgreifende Gegen- sätze in ihrer Weltanschauung wie in der Ausdeutung der Wirklichkeit. Im letzten Grunde wird es sich auch hier nicht um ein Entweder- oder, sondern ein Sowohl-als auch handeln. Und es sollte mich freuen, wenn so beide Anschauungen ihr Teil beitragen würden, für die Erscheinungen der Wirklichkeit eine befriedigende Ausdeutung zu finden. Tr.

In Nr. 7/8, April/Maiheft 1916 ist in dieser Zeitschrift »Kinder- forschung und Heilerziehung« (Langensalza, Hermann Beyer & Söhne [Beyer & Mann])!) eine größere Abhandlung unter nachfolgendem Titel erschienen :

»Gewisses und Ungewisses über das Problem des sogenannten Versehens der Frauen (Muttermale) und Mutmassliches über Vererbung und Beeinflussung des Kindes in körperlicher und seelischer Beziehung vor der Geburt.« Beobachtungen und persönliche Erlebnisse aus 20jähriger Kinder- und Jugendfürsorgepraxis an Hand von einschlägigen Beispielen erörtert von Kuhn-Kelly,

Präsident der »Amtlichen Jugendschutzkommission der Stadt St. Gallen«. Mit einer Vorbemerkung von J. F. Landsberg t, Amtsgerichtsrat und Jugendrichter in Lennep (Rheinpreußen),

1) Beiträge zur Kinderforschung u. Heilerziehung. Heft 134. 27 S. 60 Pf. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

216 B. Mitteilungen.

E

In dieser Publikation habe ich, Verfasser, den Wunsch geäußert, sie möchte andere zum Nachdenken über diese, meines Erachtens hochinter- essanten Probleme anregen, zu Vernehmlassungen für und gegen und zu weiteren Forschungen veranlassen, weil in diesen Gebieten die Ansichten und Meinungen bei Gelehrten und Laien noch sehr weit auseinander gehen.

Zu meiner großen Freude ist mein Wunsch, zum Teil wenigstens, in Erfüllung gegangen, indem Herr Dr. med. Brandenberg, Kinderarzt in Wintherthur in Nr. 2/3, November/Dezemberheft 1916 genannter Zeit- schrift nicht nur in tadellos netter Form Kritik an meiner Arbeit aus- geübt, sondern auch Veranlassung genommen hat, eine Exkursion in das verwandte Gebiet der »Mißbildungen« zu unternehmen.

Da aber von diesem Gebiete in meiner Abhandlung nicht die Rede war und aus dem Grunde nicht die Rede sein konnte, weil mir dieses Gebiet ziemlich ferne liegt, so muß ich mich damit begnügen, mich über den Teil seiner Entgegnung zu äußern, in dem er Kritik ausgeübt und das » Versehen«, die »Vererbung« und die »vorgeburtliche Er- ziehung«, im Gegensatze zu meiner mehr erzieherischen und psychischen Auffassung vom ärztlichen, physiologisch-biologischen Standpunkt aus be- leuchtet, wobei seine Anschauung mit der meinigen wesentlich kontrastiert.

Ich gehöre nicht zu den akademisch gebildeten Männern, aber ich habe in meinem Leben, das zwar erst 87 Jahre gedauert hat, eine Menge Beobachtungen und Erfahrungen gemacht, auch Erfolge und Täuschungen erlebt, daß ich bei gewissen Anwandlungen den Mut und die Lust emp- finde, mich mit Fragen zu befassen, die an die Wissenschaft streifen. Mein Arbeitsgebiet liegt vorzugsweise in der Erziehung der gefährdeten Jugend, und gerade da habe ich reichlich Gelegenheit, Beobachtungen zu machen, die mich veranlaßten, zur Feder zu greifen und ein recht heikles, unabgeklärtes Thema zu bearbeiten, mit dem ich mit der exakten Wissen- schaft unversehens ein bischen in die Quere gerate, und das ist nun gerade das, was ich erwartet habe, und ich bin Herrn Dr. Brandenberg außerordentlich dankbar, daß er sich veranlaßt sah, die kritische Sonde an meine diesbezüglichen Darstellungen anzusetzen.

Er beruft sich auf ein Buch von Welsenburg über das »Versehen«, in dem folgendes angeführt sei: »Der Glaube daran gehört zu jenen ele- mentaren Völkergedanken, die überall die Menschheit von den dunklen Träumen der Kindheit bis zu den klaren Erkenntnisstufen, auf denen die Zivilisation beruht, begleiten. Er ist über die ganze Erde verbreitet und bei Völkern heimisch, die niemals miteinander in Berührung kamen.« Nach Ploß-Bartels glauben an das »Versehen« die Chinesen, die Indianer am Orinoko, die Wakamba in Ostasien.

Wenn aber ungezählte Millionen Mütter und andere in unsern Kulturstaaten an der Möglichkeit des »Versehens« festhalten, so ist der Glaube daran trotz aller Ablehnung seitens der exakten Wissenschaft, die ich im höchsten Grade verehre, unter gar keinen Umständen aus der Welt zu schaffen.

1. Nochmals über das sog. »Versehen der Frauen« (Muttermale). 217

Sollte nun diesem Glauben, der wohl schon solange bestehen mag, solange es Menschen gibt, alle und jede Berechtigung abgesprochen werden, weil manche wissenschaftliche Autoren, gebildete und ungebildete Laien denselben als Fabel, Aberglauben, dummes Zeug usw. erklären?

Da ich, veranlaßt durch meine Publikation über das »Versehen«, eigentlich ungesucht zu Tatsachenmaterial gekommen bin, so erlaube ich mir eine Anzahl Fälle von sogenannten »Versehen« zu erwähnen, die mir teils mündlich, teils schriftlich mitgeteilt worden sind. Ich führe sie an, genau wie sie mir erzählt wurden, und die schriftlichen wörtlich:

1. Eine ziemlich gut situierte und anständige Witwe mit einem ein- zigen, damals etwa 16jährigen schwachsinnigen Sohn ist bekümmert und weiß nicht, was sie mit ihm anfangen soll, und wie sie ihn be- schäftigen könne. Auf meine Frage, ob der Schwachsinn des Knaben vielleicht vererbt sei, ob der Vater etwa allzugroßer Alkoholfreund ge- wesen sei, verneinte sie dies. Ihre Ehe sei eine recht glückliche gewesen, aber sie erinnere sich noch lebhaft, daß sie, als sie sich Mutter fühlte, in einem Hause eine Wohnung inne hatten, in dessen Parterreräumen eine Familie wohnte, die ein sich sehr widerwertig benehmendes' hochgradig schwachsinniges Mädchen hatte, dem sie. oft begegnete, und das ihr stets einen höchst widerwärtigen Eindruck gemacht habe, und sie sei nie ohne einen empfindlichen Widerwillen bei ihm vorbeigegangen, und dieses seelische Unbehagen möchte schlimmen Einfluß auf das zu erwartende Kind ausgeübt haben. Dies ist Ansicht und Glaube dieser bekümmerten Mutter.

2. Ein mir seit vielen Jahren bekannter Herr erzählte mir anläßlich eines Urteils über meine Broschüre das »Versehen« betreffend, Folgendes: Er hatte seinerzeit ein großes Parketteriegeschäft. Eines Tages hatte er in der Küche einen Hafen voll Bodenwichse aus Wachs und Terpentin gesotten, wie er solche zum Wichsen der Parkettböden verwendete. Im Zimmer neben der Küche hielt sich seine Frau auf, die sich Mutter fühlte. Infolge zu starker Feuerung sei das Kochende ins Brennen geraten und habe eine mächtige Flamme erzeugt. Da der erschrockene Mann Unheil befürchtete, dachte er zuerst an die Sicherheit seiner Frau, der er laut zurief, sie solle schleunigst das Zimmer verlassen. Da aber aus diesem Zimmer zufällig kein anderer Ausweg, als der durch die Küche vorhanden war, so mußte sie durch diese hindurchgehen, und erblickte, höchlich er- schreckt, die große Flamme, die fast bis an die Decke reichte, und eilte davon. Die Flamme konnte der Mann durch Zudecken des Hafens glück- licherweise löschen. Die Frau mußte rechts neben dem Feuer vorbeieilen. Kurze Zeit darauf sei sie mit einem toten Knäblein niedergekommen, dessen ganze linke Seite vom Kopf bis zum Fuß mit einem Muttermal bedeckt gewesen sei. Wahrscheinlich infolge Absterbens des Kindes im Mutterleib sei das Muttermal nicht, wie gewöhnlich, von roter, sondern von schwarzer Farbe gewesen. Es habe Frühgeburt stattgefunden.

3. Eine arme Frau, die in Erwartung war, bewohnte mit ihrem Manne und einigen Kindern eine Mansardenwohnung. Es war Sonntag Vormittag. In einer untern Wohnung seien St. Galler Bratwürste ge-

218 B. Mitteilungen.

braten worden, und da die Küchentüre offen gewesen sei, so sei der Wohlgeruch von den gebratenen Würsten in die Höhe gestiegen und habe der armen Frau so sehr in die Nase gestochen, daß sie sich geäußert habe: »Wenn ich mich doch auch einmal an gebratenen St. Gallerwürsten so recht nach Herzenslust erlaben könnte!« und habe zur Bekräftigung mit der flachen Hand auf den Bauch geschlagen. Das Kind, das sie ge- boren habe, soll auf dem Bauche ein Muttermal in der Form einer Wurst aufgewiesen haben.

4. Ein mir Unbekannter aus dem Norden berichtet mir über folgen- den Fall: »Es wurde aus Spaß oder Übermut einer Frau eine tote Maus nachgeworfen. Diese Mans traf sie am Hals und fiel dann auf den Boden. Die Frau grschrak heftig darüber (was gar nicht verwunderlich ist, wenn man bedenkt, welch großen Abscheu viele Frauen vor Mäusen haben). Als sie einem Kinde das Leben geschenkt hatte, habe sie, nicht zu ihrer Freule, am Halse desselben in Form einer Maus ein Muttermal entdeckt.«

5. Einer meiner Bekannten im Kanton Bern schreibt mir wörtlich: »Da ist mir noch ein Fall in frischer Erinnerung aus meinen Sommer- ferien. In der gleichen Pension war ein Ehepaar mit einem lieben 7jährigen Mädchen, das so ausgesprochen rotes Haar hatte, daß es als unschön auffallen mußte. Das Elternpaar war dunkelhaarig. Da habe ich einmal die Mutter befragt, die mir erklärte, sie habe täglich im Nachbar- hause ein solches Kind sehen müssen, das ihr unangenehm aufgefallen sei während der Schwangerschaft. Auch dieser Fall deckt sich ganz mit Ihren Ausführungen in Ihrer Broschüre. «

6. Ein unbekannter Leser meiner Broschüre meldet mir: »Eine Mutter wurde von einer Biene gestochen, worüber sie sich aufregte. Ihr später geborner Knabe habe an der Stichstelle ein Muttermal in Form einer Biene nachgewiesen.«

7. Der Direktor einer Heilanstalt hat mir Folgendes geschrieben: »In unserm Institut hatten wir im Verlauf der Zeit so manche Gelegenheit, mit Staunen sehen zu müssen, wie nervenerregende Störungen, Affektionen und Schrecken die seltsamsten und schwersten Störungen in Körper und Psyche zur Folge haben.«e Er meldet wörtlich: Wir haben gegenwärtig eine Patientin in Behandlung. die von ihrem dreijährigen Mädchen ge- legentlich begleitet wird. An Stelle der rechten Hand hat das Kind einen konischen Stumpf, ähnlich dem Kopf eines Schweinchens. Als wahrschein- liche Ursache dieser Abnormität erzählt die Mutter das »Erschrecken«. Sie sei während der Schwangerschaft heftig erschrocken, weil sie eine Maus vor ihren Füßen über den Boden springen sah. Dabei habe sie einen Schrei ausgestoßen und einen Arm in die Höhe gehoben. Der rechte Ellenbogen ist beim Kinde vorhanden, aber dann nur noch etliche Zentimeter über den Ellenbogen hinaus der Arm. Bei der Geburt seien die Fingeransätze soweit vorhanden gewesen, daß Nägelchen sichtbar waren. Heute sind nur noch drei Ansätze sichtbar, zwei so zurück- gegangen, daß sie kaum noch zu sehen sind. Ihr Arzt habe ihr erklärt, der »Schrecken« sei »dummes Zeuge.

»Das erste Kind dieser Frau starb fünf Stunden nach der Geburt,

1. Nochmals über das sog. » Versehen der Frauen« (Muttermale). 219

hatte Hasenscharte, nur ein Nasenloch, keine Pilgern, nur geschlitzt und auf einer Seite ohne Fleischansatz bis zum Nasenloch. Der Schwieger- vater hatte Hasenscharte, aber zugedeckt mit Schnurrbart. Der Vater des Kindes kam immer zu Hause und verlangte zu trinken. (Alkoholiker.) Darob ärgerte sich die Frau.«e »Möglicherweise«, so äußert sich mein Ge- währsmann, >hat dieser, mir etwas kompliziert erscheinende Fall etwelche Bedeutung in Ihren Augen«.

8. Ein mir unbekannter Herr aus Schweden teilt mir folgenden Fall mit: »Mein Aussager war ein junger Gärtner, der im Dienste eines Arztes war. Schon lange hatte er bemerkt, daß die eine von den zwei Töchtern der Familie die linke Hand etwas merkwürdig führte. Wenn sie etwas greifen wollte, mußte sie immer mit der rechten Hand die linken Finger zusammenbiegen. Einmal fragte er sie, warum sie so tue und bekam zu wissen, daß es eine künstliche Hand war. Ihre Mutter hatte während der Zeit, in der sie in Erwartung war (der Fötus war ungefähr 20 Wochen alt), einmal unter großer Erschreckung gesehen, wie ihr Mann «eine Amputation eines linken Armes vorgenommen hatte. Die Tochter wurde mit amputiertem linken Arm geboren.«

9. Ein in der Schweiz und im Ausland bekannter Prähistoriker und Naturforscher, der auch ın anthropologischen Materien bewandert ist, schreibt mir bezüglich eines »Versehens« in seiner Familie wörtlich:

»Es ist durchaus kein wissenschaftlicher Lapsus, wenn Sie als ver- dienstvoller Nestor der praktischen Jugendfürsorge in der Schweiz mit dem hochwichtigen Problem der »vorgeburtlichen Erziehung«, die zu einer der dringendsten Forderungen künftiger Rassen- und Menschheitsverbesse- rung in physischer und psychischer Hinsicht werden muß, auch die in- trauterine Beeinflussung des menschlichen Fötus durch das sog. »Ver- sehen der Frauen« in eine bestimmte Verbindung bringen, wobei Sie in sehr anerkennenswerter Weise keine aprioristischen Behauptungen aufstellen, sondern Beispiele aus Ihrer eigenen Erfahrung bringen. Meines Erachtens, d. h. soweit meine Kenntnis in der Fachliteratur reicht, ist dieses letztere Problem des »Versehens«, so sehr es von einzelnen Autoren (Schwalbe, Ploss, Bartels u. a.) in das Gebiet der Fabel und des Aberglaubens ver- wiesen wird, genau wie jenes über die Ursachen der Mißbildung (Terato- logien), der Vererbung und insbesondere jener der erworbenen Eigen- schaften, der willkürlichen Vorbestimmung des Geschlechtes u. a. zur Stunde größtenteils im Studium des Problems geblieben.

Überall stehen sich Meinungen und Behauptungen teilweise diametral gegenüber. je nachdem die biologische Forschung und ihre Vertreter die rein mechanistische (physikalisch-chemisch- physiologische) Betrachtung als allein gültig anerkennen, oder ob sie in der Interpretation der Kausalitäten dem psychischen Einfluß auf den menschlichen Organismus eine gewisse Rolle zugestehen. Die neuere biologische Forschung kann sich aber mit dem rein mechanistischem Prinzip der Entwicklungs- möglichkeiten kaum restlos abgeben.

Was nun das »Versehen der Frauen« anbelangt, so ist sicher, daß gerade infolge kritikloser Zusammenwürfelung aller nur möglichen

220 B. Mitteilungen.

Mißbildungen und Vererbungserscheinungen und deren Identifizierung mit dem »Versehen« die Sache selbst zum Teil in Mißkredit geraten ist, wenn auch von Vertretern der rein mechanistischen Auffassung des Lebensgeschehens zugestanden wird, daß psychische Beeinflussungen der keimplasmatischen Substanzen, namentlich in den allerjüngsten Stadien des menschlichen Embryos, in den Bereich der Möglichkeiten gehören, insbesondere, wenn man der »Disposition« des Individuums ein gewisses Recht einräumt. Mit dem Fortgang der exakten Forschung auf dem Ge- biete der Psyche und der Wechselwirkung von Physis und Psyche aber wird auch hier noch mehr Licht geschaffen. So ist es durchaus nur zu begrüßen, wenn auch das viel umstrittene Problem des »Versehens der Frauen« aus der Sphäre der Verwechslung mit der Vererbung und vom Gebiete des Aberglaubens übergeführt werde in dasjenige der vor- urteilslosen, genauen Untersuchung an Hand von großem Tatsachenmaterial und selbst des Experimentes, unter Ausschaltung aller Fehlerquellen und der Voreingenommenheit. In diesem Sinne rechne ich es Ihnen als un- bestrittenes Verdienst an, ein altes Problem aufs neue aufgegriffen zu haben. Möge die biologische Forschung unsers und der kommenden Jahr- hunderte dasselbe zu einer restlosen Abklärung bringen! In nachfolgendem möchte ich Ihnen noch einen Beitrag leisten za den von Ihnen auf- gezählten und beschriebenen Fällen, die man in Ermanglung anderer Inter- pretationen dem Gebiete des »Versehens« zuzuschreiben sich berechtigt fühlt.

Für die Echtheit des Tatsachenbestandes kann ich insofern persönlich einstehen, da derselbe meine eigene Familie angeht und ich demselben aus anthropologisch-biologischem Interesse daran meine volle Aufmerksam- keit gewidmet habe. Dabei ist es mir nicht gelungen, den Vorgang in die Reihe der Vererbungen oder sonstigen pathologischen Erscheinungen unterzubringen.

Wir, meine Frau und ich, besitzen zwei, in körperlicher und geistiger Hinsicht normale und gesunde Kinder, einen Knaben von 5 und ein Mädchen von 31/, Jahren, die bis zur Stunde gar keine Krankheiten, auch nicht die bekannten Kinderkrankheiten durchgemacht haben. Dabei ist interessant, daß, soweit es sich heute beurteilen läßt, der Knabe in seiner physischen Konstruktion und im Aussehen (Gesicht) vollkommen ins Ge- schlecht meiner Frau. nach den psychischen Anlagen aber in mein Ge- schlecht geschlagen hat. Das Mädchen aber ist physisch der Vater, psychisch akurat die Mutter.

Der Knabe hat rotbraun-goldglänzende Haare. Die rotbraunen Haare aber sind ein ausgesprochenes Merkmal der Mutterfamilie, was, so- weit ich es bis in die 4. Generation rückwärts verfolgte, mit auffallender Konstanz dominierend ist.

Ich, der Vater, aus fremder, in keiner Weise mit der Familie der Frau verwandten Familie, bin Träger von dunkelbraun-schwärzlichen Haaren. Meine Ahnenreihe väterlicher- und mütterlicherseits zeichnete sich durch typisch dunkle bis glänzend schwarze Haare aus. Und nun unser Töchterchen kam mit weißem, mit starkem Stich ins Gelbe ver-

1. Nochmals über das sag. »Versehen der Frauen« (Muttermale). 2>1

mischtem Kopfhaar zur Welt. Diese Farbe hielt sich beim Kinde bis etwa zum 25. Lebensmonate, dann aber trat langsam eine Verdunkelung der Haare ein, ganz in der Richtung der dunkelbraunen Haare von mir, und es ist vorauszusehen, daß sie noch dunkler werden, obschon auch heute die ursprüngliche weißgelbe Farbe noch deutlich zu erkennen ist. Weiße und weißgelbe Haare aber sind in keiner Linie der vier väterlichen oder mütterlichen Vorfahren nachzuweisen.

Woher stammen nun die »weißen« Haare des Mädchens? Mit dem sogenannten »Albinismus« (die Iris der Augen ist von Geburt an schön hellblau) läßt sich die Erscheinung nicht identifizieren und ein patho- logischer Defekt ist an dem Kinde nirgends nachzuweisen.

Und nun das Vorkommnis: Eine uns befreundete Familie besitzt zwei hübsche, reizende, damals ca. 3 und 4jährige Mädchen mit »schnee- weißen« Haaren, das Erbstück aus der Familie ihres Vaters, doch ohne Konstanz.

Diese 2 Kinder waren öfters bei uns, und meine Frau hatte ganz besondern Gefallen an diesen weißhaarigen Mädchen und ich erinnere mich des Bestimmtesten, und meine Frau bestätigt es zur Stunde noch, daß sie sehr oft mit voller Absicht den lebhaftesten Wunsch vor und während der Zeit der Konzeption ihres zweiten Kindes geäußert hatte, ein Mäd- ehen mit solch schönen, weißen Haaren zu bekommen. Zu ihrer großen Freude sollten gleich beide Wünsche in Erfüllung gehen. Das Mädchen entstammte nach unserer Berechnung aus etwa der vierten Woche nach den Menses. Meine Frau behauptet heute mit aller Bestimmtheit, die »weißen« Haare des Mädchens rühren von ihrem »starken Wunschee und ihrer »stets lebhaften Vorstellung« der beiden lieblichen weißhaarigen Mädchen her. Wie groß war die Enttäuschung meiner Frau, als sie die Abdunkelung der Haare ihres Kindes konstatieren mußte.«

Ich glaube, daß, gestützt auf dieses frappante, aus eigener Erfahrung und Beobachtung genommene Beispiel eine psy- chische Beeinflussung des menschlichen Embryos nicht schlank- weg geleugnet werden darf.«

Diesen Mitteilungen des durch und durch zuverlässigen Gewährs- mannes und Wissenschafters möchte ich noch beifügen, daß sie, obschon damit ein haarscharfer, absolut sicherer physiologisch-biologischer Beweis für das Vorkommen des » Versehens der Frauen« nicht geleistet ist, meine Anschauung über das »Versehen« bestätigen und meinen Glauben daran befestigen. Wo eben »Beweise« fehlen, beansprucht der »Glaube« ‚sein Recht, und wenn alles, was mangels Beweises auf dem Gebiete der Psyche!) geglaubt werden muß, erst bewiesen werden sollte, so dürfte ein Harren darauf ziemlich viel Geduld erfordern.

1) Wenn Einer z. B. nach Schreck, schwerem Kummer, Zerknirschung, Selbst- anklage, tiefer seelischer Depression in wenigen Tagen, sogar über Nacht, graue oder weiße Haare bekommt, worüber Tatsachen vorliegen, so wird zweifelsohne die Psyche an der Veränderung der Haarfarbe ihren Anteil haben.

222 B. Mitteilungen.

10. Einem ganz ähnlichen Fall bin ich vor einigen Wochen auf die l

Spur gekommen. Als amtlicher Patron eines etwas schwierigen Knaben österreichischen Bürgerrechtes bin ich in dessen Familie gekommen, um mich über sein Betragen zu erkundigen. Bei diesem Anlasse hat mich ein liebliches, etwa 5jähriges Mädchen mit schönem schneeweißen Haar außerordentlich angenehm überrascht, und da fragte ich die dunkelhaarige Mutter, ob in ihrer oder des Vaters Familie so weißhaarige fernere oder nähere Nachkommen vorhanden gewesen seien oder noch seien, was sie mir verneinte Auf meine Frage, ob sie irgend welchen Anhaltspunkt habe, woher es wohl kommen möchte, daß das Mädchen so auffallend schöne schneeweiße Haare bekommen habe, erzählte sie mir, als sie sich so ziemlich im Anfang der Schwangerschaft befunden habe, sei sie in einer Außengemeinde St. Gallens wohnhaft gewesen, und dort habe sie in der Nachbarschaft zwei so weißhaarige Mädchen stets mit Wohlgefallen beobachtet, aber habe besondere Wünsche dabei nicht empfunden. Erst nach der Geburt des Mädchens sei ihr der Gedanke gekommen, der lieb- liche Anblick dieser beiden weißhaarigen Mädchen möchte Einfluß auf das Vorkommnis ausgeübt haben. Eine schwache Verdunkelung der weißen Haare mache sich bemerkbar. Dieser analoge Fall dürfte zu analogen Schlüssen Veranlassung geben.

11. Ein Beispiel von der großen Wahrscheinlichkeit des »Versehens« ist Folgendes: Anläßlich meines Besuches in einer Familie wegen einem gefährdeten Mädchen habe ich kürzlich einen hübschen, intelligenten Knaben von 15 Jahren getroffen, der mir sofort aufgefallen ist. Er hat feingebildeten Kopf. Der rechte Arm, der Rumpf, die Beine bis zu den Knien sind ganz normal. Der linke Arm reicht ein kleines Stück über den Ellenbogen hinaus und dann aber ist nur ein aus lockerm Fleisch herausgewachsener Finger (Daumen) mit normalem Nagel vorhanden. Mit diesem Einzelfinger weiß der Knabe außerordentlich geschickt zu ope- rieren. Die Mutter erzählte, ziemlich im Anfang der Schwangerschaft sei hie und da ein Hausierer mit Kurzwaren zu ihr gekommen, dessen linker, kurzer Arm nur einen Finger gehabt habe, den sie anschauen mußte, und sie habe erst nach der Geburt daran gedacht, daß der Anblick dieses ein- fingerigen Armes Einfluß auf das Kind möchte ausgeübt haben. Der Knabe ist ferner an beiden Beinen vom Knie abwärts sehr schwach ent- wickelt. Beide Füße sind verkrüppelt, der linke Fuß hat nur den großen und die zwei nächsten Zehen, und steht seitwärts nach außen. Der rechte

ist rechtwinklig nach außen mit der Sohle nach vorne gerichtet, der--

gestalt, daß der Knabe mit diesem Fuß auf der Sohlenkante steht. Er kann im Zimmer mühsam gehen. Um ausgehen zu können, stehen ihm eiserne Schienen mit Lederverband zur Verfügung, die er mit Hilfe des ein- fingrigen Arms geschickt anschnallen kann. Die Mutter berichtet weiter, in der kritischen Zeit habe sie in einer Mühle oft Milch geholt. In der Nähe der Mühle haben sich einige, wie es scheint, bösgeartete Gänse anf- gehalten, die ihr unbemerkt nachgelaufen und sie hinten am Rock un- versehens gepackt und gerissen haben, und da sei sie sehr erschrocken. Einmal habe sie eine an der Hand angepackt, an der sie das Gefäß (ein

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1. Nochmals über das sog. »Versehen der Frauen« (Muttermale). 223

Kesseli) mit Milch getragen habe. Es wäre allerdings möglich, daß die Gänse ihr deshalb nachgelaufen seien, weil sie ihnen im Hingehen hin und wieder ein Stücklein Brot zugeworfen habe, und sie sie anbetteln wollten, so vermute sie. Auch sei sie einmal in der Küche unversehens ausgeglitten und jählings auf Rücken und Hinterkopf gefallen und habe nach diesem Fall längere Zeit Schmerzen im Leib verspürt. Sie habe 9 Kindern das Leben geschenkt und dabei 6mal Frühgeburten erlebt. Die »Mutterfreuden« habe sie durchgekostet. Ein düsteres Bild.

12. Eine Frau, Mutter einer Tochter, die ich in einer Heilanstalt ver- sorgt habe, erzählte mir anläßlich einer Unterredung von ihrem sogenannten »Versehen«e. Sie habe in der kritischen Zeit einen unausstehlichen Heißhunger nach dem Genuß von Äpfeln empfunden. Sie wohnte damals in einem badischen Dorfe und befand sich etwa im vierten Monat der Schwangerschaft um die Osterzeit herum, aber Äpfel seien im Dorfe nicht erhältlich gewesen. Da haben ihr Mann und sie einen Gelegenheitsbesuch beim Gemeindevorsteher gemacht, und da sei von ihrem heißen Glust nach Äpfeln auch gesprochen worden. Die Frau des Vorstehers habe eine Anzahl Äpfel zur Ausschmückung einer Palmsonntagspalme aufbewahrt, habe Mitgefühl für diese Mutter empfunden und ihr einige Äpfel aus dem Keller geholt. Sie habe sich sofort mit wahrem Heißhunger hinter einen Apfel, ohne ihn vom Staube zu reinigen, hergemacht und ihn mit Wollust verzehrt. Ihr später gebornes Mädchen, heute eine stattliche Jungfrau, habe eine Blutgeschwulst (Muttermal) an der linken Weichseite des Leibes etwa in der Größe einer Baumnuß aufgewiesen. Ob sie vielleicht jene Stelle mit der Hand berührt habe, könne sie nicht sagen, denn ihre ganze Aufmerksamkeit sei auf den Apfel gerichtet gewesen. Diese Blutgeschwulst sei langsam gewachsen und habe im Verlauf eines Jahres Form und Größe- eines Apfels angenommen, an dem sogar der Stiel nach unten gerichtet und der sogenannte Rutzen oben erkennbar gewesen seien. So behauptet diese Frau mit aller Bestimmtheit. Nachdem das Kind gut ein Jahr alt gewesen sei, und an jener Stelle Beschwerden und Schmerzen empfunden habe, hätte das Gewächs operativ entfernt werden müssen. Der Operateur habe entdeckt, daß 24 Blutäderchen in demselben ausgemündet haben. Die Tochter habe heute noch an jener Stelle eine etwa 12 cm lange Narbe. Die Mutter schwört mit dem Brustton innigster Überzeugung auf ihr Versehen.

13. In einem Wirtshaus im Toggenburg erscheint eines Tages ein Gast mit einem entsetzlich häßlichen Angesicht. Die Wirtin hatte kritische Zeit, bediente diesen Gast und empfand heftige Abneigung, beinahe Schrecken, beim Anblick dieses häßlichen Gesichtes und habe sich nicht mehr blicken lassen. Nachher habe sie mit ihrem Manne darüber gesprochen und sich geäußert, wenn nur dieser Anblick nicht schlimme Folgen zeitige! Zu ihrem Schrecken seien sie doch eingetroffen, denn ihr Knäblein, das sie geboren habe (jetzt ein Mann in den Dreißigern), habe im Gegensatz zu ihren andern Kindern ein auffallend häßliches Gesicht.

Ich kann mir sehr lebhaft vorstellen, daß die Einen der Leser diese »Versehensfälle« für glaubwürdig, Andere für möglich halten. Einigen

224 B. Mitteilungen.

mögen sie zweifelhaft erscheinen und wieder Andere werden sie mit aller Bestimmtheit als Aberglaube und Fabeln erklären. Die betreffenden Mütter aber schwören ausnahmslos auf das Tatsächliche dieser Vorkommnisse. ???!!!

Ein ausgesprochener Gegner des » Versehens« ist beispielsweise Dr. Ernst Schwalbe, Professor der allgemeinen Pathologie und patho- logischen Anatomie, der sich im I. Teil seines bedeutenden Werkes über »Allgemeine Mißbildungslehre« (Teratologie) über das »Versehen« auf Seite 177 folgendermaßen ausdrückt: »Das psychische Trauma, der Schreck, wird von Laien mit noch größerer Vorliebe als eine Ursache von Mißbildungen angenommen, als Stoß oder Schlag. Nun läßt es sich kaum bestreiten, daß heftige gemütliche Erregungen bei sensiblen Naturen zum Abort oder zu Frühgeburt führen können. Dementsprechend ist die Möglichkeit, daß eine Entwicklungsstörung auf diese Art zu- stande kommt; nicht von der Hand zu weisen. Das ist aber auch das Weitgehendste, was dem Glauben an ein »Versehen« der Schwangern als Ursache von Mißbildungen zugestanden werden kann. Niemals ist durch eine bestimmt geartete Er- regung auch eine bestimmte Mißbildung erzeugt. Im ganzen wird das »Versehen« in eine viel zu späte Entwicklungszeit verlegt, um überhaupt als Ursache nur in Betracht zu kommen. Das, was im Volke eigentlich nur als »Versehen« bezeichnet wird, das »Versehen« an be- stimmten Gegenständen, die dann ihren Ausdruck in der entsprechen- den Mißbildung finden solleu, ist als Aberglaube absolut von der Hand zu weisen.«

Auf Seite 178 aber sagt er: »Ich bin zwar überzeugt, daß auch mein Protest gegen die Annahme des » Versehens« mit der am Anfang gegebenen Einschränkung wirkungslos sein wird, denn solche Rudi- mente frühern festen Glaubens pflanzen sich im Aberglauben nach Gene- rationen fort; aber auch ich mußte zu dieser Idee Stellusg nehmen, da ich selbst von schr intelligenten Kollegen die Meinung gehört habe, daß am »Versehen doch wohl etwas dran seie.

Diese Universitätskollegen. Professoren, zählen zu den gelehrten. Männern und es geht daraus zur Evidenz hervor, daß die Einstimmigkeit unter den Wissenschaftern über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit des »Versehens« einstweilen noch nicht vorhanden ist, und daß Laien sich zurzeit nicht der Lächerlichkeit aussetzen, wenn sie die Möglichkeit dieses sehr umstrittenen, rätselhaften Vorkommens nicht ablehnen.

II.

Nun wolle man mir noch gestatten, eine Auslese von Ansichten und Gedanken über das »Versehen«, die mir in Zuschriften mitgeteilt worden sind, zur Kenntnis zu bringen. Es geschieht dies gewiß, nicht aus Eitel- keit, denn über die bin ich in meinem hohen Alter längst hinaus, sondern nur der Sache wegen. Ein Professor der Naturwissenschaften, den ich um Beurteilung meiner Publikation ersuchte, hat mir in einem 7seitigen, maschinengeschriebenen Briefe u. a. folgendes mitgeteilt:

1. Nochmals über das sog. »Versehen der Frauen« (Muttermale). 225

1. »Was zunächst die Frage des »Versehens« ganz allgemein an- betrifft, so glaube ich nicht, daß irgend eine einläßliche Behandlung des ganzen Problems vom Standpunkt der heutigen exakten Vererbungslehre aus besteht. «

2. »An den von Ihnen gegebenen Daten über den Fall Ihrer Frau ist natürlich nicht zu zweifeln. Die Frage ist nur die, ob dieser Einzeln- fall etwas beweist, ob wirklich ein ursächlicher Zusammenhang besteht zwischen dem Vorfall von jenem Sonntag und dem Muttermal in Form einer Himbeere auf dem Arm Ihres Kindes. Es kann sich auch nur um einen Zufall handeln. Dieser Einwand wird Ihnen stets entgegen gehalten, aber eben so sicher von Ihnen nie anerkannt werden.«

3. »Es frägt sich nun, ob die moderne Vererbungslehre die Möglich- keit des »Versehens« zugeben kann. Ich glaube, sie wird sich zurzeit noch ziemlich absolut ablehnend verhalten, und zwar hauptsächlich deswegen, weil die zuverlässigen experimentellen Beweise für die Be- einflussung der sich im Mutterleib entwickelnden Frucht in bestimmter Richtung durch psychische Beeinflussung der Mutter noch fehlen.«

4. »Wird ihr aber einmal eine größere Anzahl sicher festgestellter Fälle von »Versehen« gegenüber gestellt, so wird sie sich experimentell auch dieser Frage bemächtigen.«

5. »Wenn der Nachweis geführt wäre, daß »körperliche Mutter- male« wirklich in kausalem Zusammenhang mit bestimmten Einwirkungen auf die Psyche der Mutter bestehen, dann wäre das natürlich auch anzu- nehmen für geistige, denn die moderne Vererbungslehre hat längst den exakten Nachweis geführt, daß die geistigen Eigenschaften den gleichen Vererbungsgesetzen gehorchen wie die körperlichen. «

6. »Es ist in den Fällen von »vorgeburtlicher Erziehung« zu betonen, daß die vorhandene Anlage das Wichtigste ist. Wenn keine An- lage dafür da ist, kann kein »Glust« der Mutter, kein »Diebstahl aus Note, kein »Erschrecken« das Kind nach gewissen Dingen »glustig« machen, Kleptomanie oder Schreckhaftigkeit auslösen. Aber eines ist auch immer wieder zu betonen; eine Anlage, die da ist, braucht nicht unter allen Umständen zur Entwicklung zu kommen, sie kann rezessiv bleiben.«

7. »Es wäre vielleicht denkbar, daß durch eine solche äußere Be- einflussung der Mutter eine sonst rezessive Anlage zur dominierenden würde. So wären die beiden von Ihnen angeführten Fälle eventuell doch Beispiele für die Wichtigkeit der »vorgeburtlichen Erziehung«.«

8. »Sie sehen, ich stehe zwar Ihrer Deutung der namhaft gemachten Fälle skeptisch gegenüber. Wir sind heute noch nicht so weit, eine be- stimmt gerichtete Beeinflussung der sich entwickelnden Frucht, speziell psychische, der Mutter erklären zu können und darum eher geneigt, ihre Möglichkeit abzulehnen, aber ich möchte sie doch nicht absolut ab- lehnen.«

9. »Sei dem nun aber so oder so, die Forderung einer »vorgeburt- lichen Erziehung« fällt auch bei Ablehnung einer direkten Beeinflussung der Leibesfrucht nicht dahin. Die Ernährung derselben, ihr ganzer Stoff-

Zeitschrift für Kinderforschung. 24. Jahrgang. 15

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226 B. Mitteilungen.

wechsel ist von großer Bedeutung für die Gesundheit und den Entwick- lungszustand des daraus hervorgehenden Menschen. Nun ist aber der Stoffwechsel des Embryos abhängig von dem der Mutter und dieser hin- wiederum nicht nur von ihrer Ernährung, sondern auch von ihrem psy- chischen Zustand. Starke psychische Einflüsse, die die schwangere Mutter treffen, können also auch den Stoffwechsel der Frucht beeinflussen, so daß das Kind mehr oder weniger »gesund« zur Welt kommt. Ein gesundes Kind wird aber den Wechselfällen besser trotzen können, als ein krankes, So läßt sich wohl manches, was wie »Vererbung« oder » Versehen« aussieht, relativ sehr einfach erklären. Eine Beeinflussung der Anlagen des Keimes ist dabei gar nicht nötig.«

10. »Es bleibt in diesen Fragen noch sehr vieles problematisch. Und wir werden unter allen Umständen in der Praxis besser fahren, wenn wir mit Ihnen die Möglichkeit einer direkten Beeinflussung an- nehmen und dafür eintreten, Verhältnisse zu schaffen, in denen die schlimmen Einflüsse möglichst ausgeschaltet sind. Lieber etwas zu viel tun in der »vorgeburtlichen Erziehung«, als zu wenig.«

11. »Es ist schade, daß die Praktiker so selten ihre Erfahrungen der Allgemeinheit zugänglich machen. Der Theoretiker könnte daraus oft manche Anregung schöpfen. Sollte Ihre Arbeit von der Wissenschaft in verschiedenen Punkten ablehnend begutachtet werden, so dürfen Sie doch sicher sein, daß sie auch anderen, wie mir, Anlaß zum Nachdenken und neuer Fragestellung über das Vererbungsproblem und speziell die Möglichkeit der Beeinflussung der Frucht durch das »Versehen« geben wird.

12. »Ich bin mir sehr gut bewußt, daß ich aus der Theorie heraus die Dinge betrachte. Hätte ich solange praktische Erfahrungen wie Sie, würde ich vielleicht manches etwas anders ansehen.«

13. Wenn dieser hochverehrte Herr Professor schließlich noch bei- fügt: »Auf diesen wichtigen Punkt wieder einmal recht deutlich hinge- wiesen zu haben, ist ein schönes Verdienst Ihrer Arbeit,« so ist dies eine Versuchung für mich, meinen verabschiedeten Ehrgeiz zu neuer Entwick- lung zu bringen. Ich will mich anstrengen, darauf zu verzichten, aber im Interesse der angetönten Probleme sollte es mir Genugtuung sein, wenn sie positive Resultate zur Folge hätten.

Ein sehr bedeutender und namentlich in Erzieherkreisen hochange- sehener deutscher Kriminalpsychologe schreibt mir: »Mit großem Interesse habe ich Ihren Aufsatz über das »Versehen« gelesen und teile Ihren Standpunkt vollkommen. Ganz richtig, die eigentliche Wissenschaft ist hier noch sehr ungläubig, weil eben die Gesetze noch verborgen sind. Gleichwohl sind sie aber zweifellos vorhanden und der Psychologe sieht hier tiefer als der Biologe oder Anthropologe.«

Ein schweizerischer Frauenarzt schreibt auf einer Karte: »Diese Lek- türe hat mich sehr befriedigt, da Ihre Arbeit wirklich wissenschaftlich ge- halten ist; das Problem ist in glücklicher Weise behandelt. Sie haben ganz recht: Die Wissenschaft weiß noch lange nicht alles zu erklären, hat ja eigentlich das »Innere der Natur«, den Urgrund des »Werdens und Seinse noch nicht erfaßt.«

1. Nochmals über das sog. »Versehen der Frauen« (Muttermale). 227

Ein anderer Arzt schreibt mir: »Was das »Versehen« anbelangt, werden alle Mütter, wenn man sie befragt, warum ihr Kind dieses oder jenes »Muttermal« zur Welt gebracht hat, immer die stereotype Antwort geben, sie seien erschrocken. Selbstredend wird nicht jedes Erschrecken während der kritischen Zeit zu einer oben erwähnten Auslösung führen; es wird auch sein wie überall, auf die Disposition, in der sich die Mutter im gegebenen Momente befindet, wird sehr viel ankommen, da erwiesenermaßen diese eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt.«

Der psychiatrische Direktor einer großen schweizerischen Heil-, Pflege- und Versorgungsanstalt schreibt: »Mit Ihrer Arbeit über das »Versehen« haben Sie einen überaus interessanten Gegenstand zur Sprache gebracht. Wenn auch die Art und Weise, wie es zustande kommt, noch nicht klar gelegt werden kann, so muß doch die Tatsache anerkannt werden. Sie haben aber den Gegenstand noch interessanter gestaltet dadurch, daß Sie nicht nur das »Versehen« mit Beteiligung des körperlichen Gebietes behandeln, sondern auch mit Beteiligung des seelischen, und indem Sie das auf das Gebiet der Erziehung anwenden, gestalten Sie auch die Sache für weitere Kreise sehr lehrreich und nutzbringend.«

Ein schweizerischer Universitätsprofessor meldet mir lakonisch: »Vielen Dank für die freundliche Übersendung Ihrer interessanten Arbeit über das »Versehen« der Frauen und die »vorgeburtliche Kindererziehung«. Ich stimme Ihnen in allen Teilen und ganz vorbehaltlos zu.«

Ich betone nochmals ausdrücklich, daß es mir bei An- führung aller dieser Zitate ausschließlich darum zu tun ist, darzulegen, welche Verschiedenheit in der Auffassung und Be- urteilung der Probleme zum Ausdruck gelangt und bemerke, daß die Originalbriefe Interessenten bereitwillig zur Ver- fügung stehen.

Meines Erachtens muß zwischen > Verbildungen« im allgemeinen, »Vererbungen« im besondern und dem »Versehen« unterschieden werden. Mißbildungen der verschiedensten Art kommen auch bei Pflanzen und Tieren vor. »Versehen«, namentlich bei den letztern, wird schwer- lich jemand zutrauen. Auch zweifle ich daran, daß das »Versehen« als Vererbung im gewöhnlichen Sinne zu betrachten sei.

Mir scheint es die Folge entweder eines plötzlichen Aufwallens des psychischen Zustandes der Mutter oder aber eines temporären Anschauens eines gewissen Gegenstandes zu sein, der angenehmen oder unangenehmen Eindruck wachruft, zielbewußten Gedankengang auslöst, eventuell gleich- gültig, absichtslos betrachtet, aber doch dem Gedächtnis eingeprägt wird. Es kommt dabei auf die soziale Stellung und den Bildungsgrad der Mutter wesentlich an. Das geheimnisvolle Werden des Muttermals aber gebietet uns einstweilen nur »Staunen« und »Schweigen«. »Nach- denken« und nochmals »staunen« über das geheime, stille und verborgene Walten in der Natur.

Die Mißbildungen beim »Versehen« unterscheiden sich von den durch andere Ursachen veranlaßten dadurch, daß an der sogenannten Blut- geschwulst eine Nachmodelung des Originals zum Vorschein kommen kann,

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2928 B. Mitteilungen.

an dem die Mutter sich, wie man zu sagen pflegt, »versehen e hat. (Himbeere, Maus, Käfer, Flamme, Hasenscharte u. dergl.)

Die Blutgeschwulst (die ja an und für sich als etwas recht Inter- essantes erscheint) an meinem Kinde hatte ausgesprochene Ähnlichkeit in ‘Größe und Form mit einer Himbeere, sogar die kugeligen Erhöhungen an der Beere waren erkennbar.

Wenn aber Wissenschafter und Andere die Ansicht vertreten, die un- gefähre Nachahmung des Originals in Blutgeschwulst und Gliedmaßen usw. gehöre in das Reich der Fabeln, so ist es denjenigen, welche diese Mög- lichkeit zugeben, nicht zu verargen, wenn sie von ihrem Standpunkt nicht ablassen. Jedem das Seine, denn »nix Gewisses weiß ma nit gwiße.

Und nun muß ich es Gelehrten und Ungelehrten, Pessimisten und Optimisten überlassen, wie sie sich zu den genannten Problemen stellen. Mich beruhigt nur der Gedanke, daß Männer der exakten Wissenschaft und Andere in diesen Fragen ganz entgegengesetzte Ansichten haben. Und wenn ich so ungeniert gewesen bin, auch der meinigen Ausdruck zu ver- ‚schaffen, so werde ich damit hoffentlich nicht der Gefahr der Steinigung ausgesetzt sein. Es sind schon ungezählte Hypothesen von namhaften Autoren aufgestellt worden, die von spätern Gelehrten der fortgeschrittenen wissenschaftlichen Erkenntnis halber zum Opfer gefallen sind. Und wie mancher, ehedem hochangesehene und berühmte Forscher und Begründer von Systemen auf dem Gebiete der exakten Wissenschaften ist von spätern Gelehrten und Forschern nicht mehr »ernst genommen« worden.

Das wird voraussichtlich auch in Zukunft mehr oder weniger der Fall sein, und es ist ein großes Glück für die Allgemeinheit, daß der menschliche Geist sich nie zur Ruhe begeben kann und wird, und so ist es auch nicht ausgeschlossen, daß das Licht der Erkenntnis einstens auch in das dunkle Labyrinth des »Versehens der Frauen« leuchtend eiv- gedrungen sein wird.!)

Dixi et salvavi animam meam.

I.

Und nun noch zum »ganz friedlichen Gefechte mit Herrn Dr. Brandenberg, und da beginne ich gleich mit etwas Humor. Er erzählt, um die Mitte des 18. Jahrhunderts habe die kaiserliche Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg als Preisaufgabe folgende Frage auf- gestellt: »Welches ist die nächste Ursache, die eine Veränderung ar dem Körper des Fötus hervorbringt, nicht aber an dem der Schwangern, wenn deren Seele aus irgend einem Grunde heftig erregt wird, und warum geschieht dies an dem Teile des fötalen Körpers, den die Mutter an ihrem Körper mit der Hand berührt hat?«

1) Ich wäre Interessenten zu großem Dank verpflichtet, wenn sie die Güte haben möchten, mir ihnen bekannte Fälle von sogenannten »Versehen« schriftlich oder mündlich mitzuteilen, damit ich weiteres Material zur Verfügung hätte,

1. Nochmals über das sog. »Versehen der Frauen« (Muttermale). 229

Es ist nicht ganz uninteressant, daß damals schon in Rußland dieser »böses Aberglaube die dortige »Akademie der Wissenschaften« beschäftigte. Ein Beweis, daß das » Versehen« schon vor Jahrhunderten Anlaß zu Meinungsverschiedenheiten geboten hat. Nach Welsenburg habe der Leip- ziger Anatom Karl Christian Krause den Preis »trotz des gänz- lichen Mangels an Sachkenntnis und Urteilsvermögen« zuerkannt erhalten. Er habe eine Nervenverbindung zwischen Mutter und Kind an- genommen und die Möglichkeit des »Versehens« bejaht.

Das muß ein famöser Anatom gewesen sein, der die Nervenverbindung angenommen hat, aber dies nicht sicher wußte und »trotz des gänzlichen Mangels an Sachkenntnis und Urteilsvermögen« den Preis erhalten hat. Hätte ich damals gelebt und mit ihm konkuriert, so ist 10 gegen 1 zu wetten, daß höchstwahrscheinlich nicht ihm, als Anatom, sondern mir als Nichtanatom der Preis von den »serleuchteten« Preisrichtern zuerkannt worden wäre, denn ich hätte zweifelsohne schon damals an der Möglich- keit des »Versehens« nicht gezweifelt.

Und nun vom Spaß zur Sache: Herr Dr. Brandenberg zitiert 8 Gründe Försters, die gegen eie Möglichkeit des »Versehens« sprechen sollen. Sie lauten:

1. »Dieselben Mißbildungen, welche in einzelnen Fällen durch das Ver- sehen entstanden sein sollen, kommen viel häufiger auch ohne Ver- sehen vor« »Auch ohne Versehen kommen sie vor.« Damit ist zugestanden, daß sie auch »mit Versehen« vorkommen können.

2. >Dieselben Mißbildungen kommen auch bei Tieren vor, und zwar unter Umständen bei solchen Tieren, bei denen an ein »Versehen« gar nicht zu denken ist.« Dies ist nicht zu leugnen, nur besteht zwischen » Mißbildungen« im gewöhnlichen Sinne und solchen durch das »Versehen« veranlaßten, ein wesentlicher Unterschied.

3. »Alle Mißbildungen entstehen in den ersten Monaten, ja die meisten in den ersten Wochen der Schwangerschaft, zu einer Zeit, in welcher viele Frauen noch gar keine Ahnung davon haben, daß sie schwanger sind; während die meisten Fälle von » Versehen« in den letzten Schwangerschaftsmonaten vorkommen (also doch vorkommen?), in welchem der Fötus vollständig ausgebildet ist und eigentliche Miß- bildungen gar nicht mehr vor sich gehen können.«e Wenn eine Frau noch keine Ahnung hat, daß sie schwanger ist, so schließt dies das »Versehen« nicht aus, denn wenn ihre Psyche durch irgend welche Verumständungen, durch Schreck, Furcht, schauer- lichen Anblick usw. in große Aufregung gerät, so kann dies doch Wirkung auf den Fötus ausüben, auch wenn er sich noch nicht entschlossen hat, der Mutter sein Dasein bekannt zu geben.

4. »Dieselbe Mißbildung kehrt bei mehrern Kindern derselben Frau wieder, bei dem einen soll sie sich versehen haben, beim andern nicht.e Dazu möchte ich bemerken, daß es auf die rezessive An- lage und die Disposition der Mutter sehr viel ankommen kann, und die Natur sich erlaubt, gelegentlich Bocksprünge zu machen, damit das Verblüfftsein nicht ganz aus der Mode kommt.

230 B. Mitteilungen.

5. »Alle Mißbildungen sind nach einem gesetzmäßigen, der psycho- logischen Entwicklung entsprechenden Typus gestaltet und nicht dem zufälligen Gegenstand des Schreckens der Mutter nachgemodelt.« Der erste Satz entspricht der Theorie, der zweite widerspricht der Erfahrung, denn Nachmodelungen, wenn auch nicht gerade künstle- rische, sind konstatiert.

6. »Bei Zwillingen ist oft nur der eine mißgebildet, der andere nicht, während man doch erwarten sollte, daß das Versehen auf beide zu- gleich einwirken sollte.« Warum sollte die - Einwirkung beide Zwillinge treffen? »Man sollte doch erwarten« ist eine Redens- art, über die sich die Natur aus Lust an der Ungebundenheit fröh- lich hinwegsetzt.

7. »Es findet keine direkte Nervenverbindung zwischen Mutter und Kind statt.« Das habe ich mit eigenen Augen noch nicht gesehen, aber ich glaube es ohne Bedenken und bin überzeugt, daß dies anatomisch festgestellt ist. Sollte aber der Stoffwechsel im Blut, das zwischen Mutter und Kind unaufhörlich pulsiert, und die phy- sische und psychische Allgemeinverfassung der Mutter aller und jeder Einwirkung auf den Fötus entbehren? Wissenschaft und Glaube stehen sich da gegenüber, und weder die eine, noch der andere hat den Wahrheitsbeweis geleistet.

8. »Heftige psychische Affektionen, insbesondere Schreck, kommen bei Schwangern ziemlich häufig vor, Mißbildungen aber sind selten.e Das mag vollkommen richtig sein, aber das eine ist dabei in Be- tracht zu ziehen, daß Zufälligkeiten und Verumständungen und nicht wenig das körperliche und seelische, soziale und wirtschaftliche Be- finden und Bewußtsein der Mutter eine entscheidende Rolle dabei spielen. Die Natur und die Einflüsse sind nicht feindliche Schwestern.

Und nun noch einige Bemerkungen zu den Aussetzungen des Herrn Dr. Brandenberg. Er sagt: »Sein (Kuhn-Kelly’s) eigener erster Fall hat gewiß für jeden Laien etwas Frappierendes, nicht des Auftretens der kleinen Blutgeschwulst wegen, das treffen wir ja in 1000 und aber 1000 Fällen, sondern der Lokalisation wegen.« »Ist Frau Kuhn-Kelly so ganz sicher, daß sie gerade auf den Punkt hingewiesen hat, wo das Blutgeschwulstchen entstanden ist? Handelt es sich da nicht doch viel- leicht um eine Rekonstruktion, bei der dem frommen Glauben mehr Spiel- raum gewährt wird, als dem absoluten Tatbestand

Darauf kann ich mit aller Bestimmtheit erwidern, daß sein Zweifel nicht standhält. Als ich das Gespräch der Mutter des Kindes mit meiner Frau gehört habe, befand ich mich noch im Innern der Laube und hatte das Muttermal noch gar nicht gesehen. Dann aber bin ich hinaus ge- treten, um mich von demselben selbst zu überzeugen, weil mich die Sache interessierte. Meine Frau befand sich mir gegenüber und zwischen uns beiden stand das Kindswägelchen, und ich konnte ihre Bewegungen genau beobachten. Nun habe ich deutlich wahrgenommen, daß sie mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf ihren linken Oberarm drückend, deutete.

1. Nochmals über das sog. »Versehen der Frauen« (Muttermale). 931

Ich flunkere sicherlich nicht, und die Frage der Lokalisation wäre damit erledigt.

Mit dem Schwabenkäfermuttermal hat es seine volle Richtigkeit. Ich stehe mit dieser gebildeten und ernstgesinnten Witwe und Mutter jenes Knaben seit längerer Zeit in näherer Beziehung. Sie hat mit ihrem ver- storbenen Gatten viele Jahre in Ihrer Stadt, in Winterthur, gewohnt.

Ihr Gegenbeispiel mit dem Fabrikarbeiter, der an Hals und Ohren- gegend ein ausgebreitetes Muttermal hatte, und dessen Frau befürchtete, sie möchte sich daran versehen, beweist mir gerade, daß auch sie zu den Frauen gehört, die Ahnung von der Möglichkeit des »Versehens« hatte und sogar Angst davor empfand. Daß sich diese bei ihr als überflüssig erwiesen hat, da ihre Kinder ohne Muttermal zur Welt gekommen sind, scheint denn doch nicht so verwunderlich zu sein, wenn man bedenkt, daß die Natur ihre eigenen Wege zu gehen beliebt und nicht jede Furcht einer hoffenden Mutter das Befürchtete in die Tat umsetzt. Da können Ursachmomente vorliegen, die zu enträtseln dem Gelehrtesten aller Ge- lehrten noch einiges Kopfzerbrechen verursachen dürfte.

Wenn Herr Dr. Brandenberg mitteilt, eine Frau sei mit ihrem Kinde zu ihm gekommen, das nach Ansicht der Mutter eine Blutgeschwulst, zwar nicht in Form einer Himbeere, sondern einer Erdbeere, aufgewiesen habe, und dies damit begründe, daß sie während der Schwangerschaft einen »schrecklichen Glust« nach Erdbeeren empfand, aber ihn, der Jahreszeit halber, nicht befriedigen konnte, so wäre es, da er sich darüber nicht ausspricht, interessant, zu erfahren, ob er, wie die Mutter, an diesem Muttermal die ungefähre Nachmodelung einer Erdbeere entdeckte oder nicht.

Herr Dr. Brandenberg äußert sich, »der junge Student Kuhn-Kelly’s, der die »reinste Kopie seines Vaters war, gehört ins Kapitel der Vererbung«e, und ich vermute, es habe dies den Sinn einer Korrektur. Sollte es der Fall sein, so liegt ein Irrtum vor, denn ich habe genau das- selbe mit den Worten gesagt: »Ich habe den jungen Mann von Kindes- beinen an (er ist mein Großsohn) vielfältig und aufmerksam beobachtet und oft Staunen über die auffallenden Wirkungen des Vererbungs- gesetzes empfunden.e »Versehen« kann da nicht in Frage kommen.

Wenn Herr Dr. Brandenberg die Möglichkeit der »vorgeburtlichen Beeinflussung«e des 15jährigen Knaben, der eine ganz unwiderstehliche Sucht zum »Schnipfen« hatte, so ablehnt: »Kommt bei der Belastung des Knaben (Vater Alkoholiker) wissenschaftlich nicht in Betracht«, so muß ich gestehen, daß ein näheres Eintreten interessanter gewesen wäre als nur die Äußerung: »Wissenschaftlich komme das nicht in Betracht.« Wäre Schwach- oder Blödsinn des Knaben als erbliche Belastung vom Vater (Alkoholiker) nicht näher gelegen, als das »Schnipfen«? Ich habe die Meinung, daß gerade dieser Fall wissenschaftliches Interesse nicht entbehrt und der psychische Dauerzustand dieser bekümmerten Mutter Anlaß zum Nachdenken und zur nähern Auseinandersetzung bietet. |

»Die Erklärung Kuhn-Kelly’s«, sagt Herr Dr. Brandenberg, »daß sich die Mutter zu ihrem noch nicht gebornen Kinde in einem

232 B. Mitteilungen.

ähnlichen Kontakte befinde, wie eine Telephon- oder Tele- graphenstation zur andern, fällt mit dem anatomisch nachgewiesenen Fehlen von Nervenbahnen zwischen Mutter und Kind dahin, denn das Blut wird wohl von keinem Physiologen als Träger des Intellektes an- gesehen.«

Zwischen »ansehen« und »bewiesen sein« muß denn doch unter- schieden werden. Ferner muß ich bemerken, daß das von mir keine »Er- klärung« war, denn ich habe nur gesagt: »es sei kein Hirngespinst«, wenn »angenommen werde, daß eine Mutter zu ihrem noch nicht ge- bornen Kinde sich in einem ähnlichen Kontakt befinde usw. ...« Gerade über diesen Punkt habe ich mit einem Arzt verhandelt, der mir wörtlich Folgendes geschrieben hat: »Ist denn die Frage nicht erlaubt, ob es nicht möglich wäre, daß eine Mutter zu ihrem noch nicht gebornen Kinde sich in einem ähnlichen Kontakte befindet ... usw.,« »>ob es nicht möglich sei, daß der Impuls, der von der mütterlichen Zentralstation aus auf die Keimzellen des Kindes ausgeübt werde, eine verlangte, vielleicht auch eine nicht gewollte Wirkung auszuüben imstande sei.«e Daraus ist ersichtlich, daß also nicht ich der Vater dieses Gedankens bin, sondern der betreffende Arzt, der ihn mir nahe legte, und ich wasche daher da meine Hände in Unschuld.

Wenn übrigens Anatomen, Physiologen und Biologen in diesem speziellen Punkte andere Anschauungen vertreten als Psychologen, so ist das nicht befremdend, denn beide Standpunkte fußen nicht auf dem strikten Beweis, sondern einstweilen noch auf Annahme und Voraus- setzung.

Ich habe vermutet bei dem Mädchen, das an so außergewöhnlich auffallender Schreckhaftigkeit und Schüchternheit leidet und sich zu ver- stecken sucht, wenn es jemand die Stiege herauflaufen höre, es möchte »vorgeburtlich« beeinflußt sein, weil sich seine Mutter vor Aufregung und Angst vor einer Szene mit ihrem verärgerten Mann hinter einer Scheiterbeige versteckt hielt, um etwas Beruhigung ihres Mannes abzu- warten, und sich erst hervorgetraute, als sie ihn die Stiege hinauflaufen hörte. Herr Dr. Brandenberg ist der Meinung, das Mädchen sei nicht »vorgeburtlich« beeinflußt, sondern es sei die »leibliche Tochter einer psychisch nicht sehr starken Mutter, sonst hätte sie sich nicht hinter einem Holzstoß verkrochen«. Daraus glaube ich folgern zu sollen, daß er damit immerhin einen gewissen Einfluß des psychischen Zustandes der Mutter auf ihre Leibesfrucht zugibt, vorgeburt- liche Beeinflussung gleichwohl aber ablehnt.

Was nun die Mutter, den heisern Vater und ihr Kind beim Brand- fall der Mühle anbelangt, so mag es sein, daß das Nichtsprechenkönnen des Knaben, wie Herr Dr. Brandenberg vermutet, nicht die Folge des psychischen Traumas der schwangern Mutter, sondern der »abnormen Schädelbildung und einem Entwicklungsfehler der Hirnanlage« zuzu- schreiben sein möchte, aber das wird er mir eingestehen, daß es wegen des plötzlichen Schreckens der Mutter beim Anblick der brennenden Mühle und des Sprunges ihres Mannes aus dem Feuer durch das Fenster, er-

2. Nationale Einheitsschule, Jugendkunde und Berufsberatung usw. 233

klärlich erscheint, daß sie im ersten Momente des so großen Schreckens sprachlos dagestanden ist und diese so plötzliche seelische Erschütterung verderblichen Einfluß auf Gehirn und Schädelbildung des Fötus haben konnte und es daher nicht ausgeschlossen ist, daß der ganz abnorm ge- staltete Knabe das bedauernswerte Opfer der so plötzlichen und großen Erregtheit der Psyche der schwangern Frau, angesichts des Brandes, ge- worden ist.

»Wenn das Blut, nach Kuhn-Kellys Ansicht, wirklich Träger des Intellektes wäre, welchem Verdummungsprozeß wäre da der Mensch, denken wir vorerst an die gebärende Mutter nach starkem Blutverlust ausgesetzt!«

So äußert sich Herr Dr. Brandenberg. Daß das Blut »Träger des Intellektes« sei, habe ich in meiner Abhandlung nirgends erwähnt. Wohl aber bin ich der Meinung, daß das Blut das alles beeinflussende Medium zwischen Mutter und Leibesfrucht darstellt. Die Redewendung bezüglich »Verdummungsprozeß« und »Blutverlust« läßt zweierlei Deutungen zu. Es können entweder die Verluste während der kritischen Zeit ver- standen sein, die aber nach Aussagen erfahrner Hebammen ziemlich selten auftreten, oder solche vor oder nach der Geburt, die hin und wieder vor- kommen sollen. Im erstern Falle dürfte Verdummungsprozeß nicht absolut ausgeschlossen sein, da die Entwicklung des Fötus dadurch gehemmt wird, Unterernährung stattfindet, allgemeine Schwäche eintritt, infolge derselben der Intellekt kaum ganz ungeschlagen davonkommen dürfte. >

Blutverluste vor oder nach der Entbindung könnten aber unmöglich rückwirkenden Einfluß auf den Intellekt des eben gebornen, ausgetragenen Kindes ausüben und bei ihm Verdummungsprozeß veranlassen. Wenn der entbundenen Mutter ihr Kind in die Arme gelegt wird, so darf sie die freudige Hoffnung hegen, daß der Intellekt ihres Kindes Schaden nicht erleiden wird.

Schließlich benutze ich die Gelegenheit, Herrn Dr. Brandenberg, ungeachtet. dieser Kontroverse, meiner Hochachtung und Wertschätzung zu versichern, und ich darf wohl annehmen, daß er mein »freies Wort« nicht im Sinne einer gehässigen, persönlichen Polemik auffasse.

2. Nationale Einheitsschule, Jugendkunde und Berufs- beratung an höheren Schulen. Von Oberlehrer Dr. W. Krassmöller, Berlin- Wilmersdorf. (Fortsetzung.)

Die Jugendkunde.

Wie wir gesehen haben, hat die nationale Einheitsschule von seiten der Oberlehrerschaft eine glatte Absage erfahren, dagegen steht man in diesen Kreisen der Frage näher, in welcher Weise die Ergebnisse der experimentellen Pädagogik und Psychologie und insbesondere der modernen Jugendkunde die praktische Schularbeit zu beeinflussen und zu reformieren

234 B. Mitteilungen. haben, wohl in der richtigen Erkenntnis, daß jede praktische Arbeit durch die jeweiligen Ergebnisse der experimentellen Wissenschaften bedingt ist, Bisher konnten die Lehren der genannten Wissenschaften in unseren höheren Schulen im allgemeinen noch keinen Boden gewinnen und zwar in der Hauptsache aus zwei Gründen: erstens waren die Oberlehrer reichlich mit der Lösung didaktischer Probleme in Anspruch genommen, und zweitens schienen ihnen die Ergebnisse der experimentellen Pädagogik und Psycho- logie noch zu unsicher zu sein, oder auch man glaubte, daß schon längst Bekanntes nur in exaktere Form gebracht worden war. Diese Gründe sind nun bei der heutigen Lage der Dinge nicht mehr stichhaltig, und die Oberlehrerschaft muß zu den genannten Disziplinen Stellung nehmen, schon allein deshalb, weil ganz neue Aufgaben, wie z. B. die Berufsberatung, an die höheren Schulen herantreten. Wollen wir Oberlehrer uns ein ab- geschlossenes Urteil darüber bilden, wie weit die Ergebnisse der neueren experimentell-pädagogischen und psychologischen Forschungen im Unter- richt zu verwerten sind, so müssen wir zwei Arbeiten in den Kreis unserer Betrachtung ziehen: Meumanns Abriß der experimentellen Päda- gogik (Leipzig 1914) und Sterns Jugendkunde als Kulturforderung (Leipzig 1916). Wir wenden uns gerade an diese Autoren, weil sie die wichtigsten Vertreter der gegenwärtigen experimentellen Psychologie ge- wesen sind und es zum Teil noch sind und die Oberlehrer geradezu zur Mitarbeit auffordern. Allerdings waren sie nicht die ersten, die hier bahn- brechend gewesen sind, vielmehr reichen die ersten Anfänge einer wissen- schaftlichen, pädagogischen Psychologie auf Herbart und seine Anhänger zurück. In Friedrich Wilhelm Dörpfeld haben dann Herbarts Gedanken einen klassischen Interpreten gefunden, wiewohl dieser noch lange nicht genug geschätzte Pädagoge seine eignen Wege ging und die Ergebnisse der späteren experimentellen Psychologie mit intuitivem Blick voraussah. Dörpfelds Lehre vom Lernen hat noch heute Gültigkeit und steht mit den Ergebnissen der modernen experimentellen Psychologie in völligem Einklang. Das haben leider die gegenwärtigen Forscher noch lange nicht hinreichend anerkannt, ja man hat sogar Dörpfeld totgeschwiegen. Nur einmal hat ihn selbst Meumann in seinen »Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik und ihre psychologische Grundlagen« oberflächlich erwähnt, wie Kley (Beiträge zur Kinderforschung, Heft 140, Langensalza, Hermann Beyer & Söhne [Beyer & Mann], 1917) erwähnt. Nach Meumann hat als erstes Arbeitsgebiet der experimentellen Pädagogik die exakte »Jugendkundes zu gelten, deren Gegenstand das physische und psychische Leben des Kindes, sein Entwicklungsgang, seine Individualität, die Grenze seiner Leistungsfähigkeit und seine Abhängigkeit von der Umgebung sind. Zweitens soll in der Erziehungsarbeit der Ver- such entscheiden, wo eine solche Entscheidung iiberhaupt erwünscht ist. Diese ist nach Meumann überall da möglich, wo man die verschiedenen unterrichtlichen Methoden und Prinzipien durch ein vergleichendes Aus- probieren auf so einfache und kontrollierbare Bedingungen bringen kann, daß sie einer Messung zugänglich sind. So können wir also messen, bei welcher Methode des Rechtschreibeunterrichts der Schüler am wenigsten

2. Nationale Einheitsschule, Jugendkunde und Berufsberatung usw. 235

Fehler macht und umgekehrt. Nun aber lassen sich meines Erachtens nicht immer so einfache und kontrollierbare Bedingungen herstellen, daß eine Messung möglich wäre. Lasse ich z. B. ein Kind eine einfache mechanische Rechenoperation vollziehen, so weiß ich doch niemals, ob die gewählte Methode oder die Unaufmerksamkeit, Unlust, Krankheiten, Inter- esselosigkeit oder andere Hemmungen die Schuld an etwaigen Fehlern tragen. Es bleibt mir also nichts anderes übrig, als liebevoll den Ursachen und Hemmungen nachzugehen, die die Rechenfehler verschuldet haben. Eine grundsätzliche Schranke findet also die exakte Methode der Messungen an der Individualität des Schülers. Gleichwohl bleibt Meumanns For- derung, so weit wie möglich die Erscheinungen zu erklären, bestehen, niemals aber kann sie restlos durch die Messung erfüllt werden. Hier muß vielmehr der Lehrer sich in die Seele seines Zöglings hineinfühlen und hineinverstehen. Dazu gehört aber Takt und Anlage. Ist der Lehrer ein guter Psychologe und als solcher auch vertraut mit den Methoden der experimentellen Psychologie, so kommen ihm seine Kenntnisse sehr zu statten. Aber auch sie nützen ihm nichts, wenn er nicht von Hause aus die Kunst des Unterrichtens und des Sichhineinfühlens mitbringt. Diese Kunst hat ihre Wurzeln mehr in dem Herzen als in dem Gehirn des Lehrers. Es gibt Lehrer, die nie ein Lehrbuch der Psychologie in der Hand gehabt haben und dennoch einen hervorragenden, psychologisch wohldurchdachten Unterricht geben, eben weil sie die Seele und den Geist der Jugend verstehen und sich in diese hineinleben können. Bisher wurde zweifellos zu großer Wert auf die Methode des Lehrens gelegt und zu wenig auf die Ökonomie und Technik des Lernens: wir müssen eine durch- gängige Psychologisierung des Unterrichtsbetriebes der höheren Schule fordern. Hierzu zeigt uns Meumann den Weg. Wir wollen uns daher noch einmal seine acht allgemeinen Bedingungen der Lerntechnik vor Augen halten:

1. die Größe und Leserlichkeit der Schrift,

2. die Schwierigkeit oder Leichtigkeit der Aussprache der einzelnen Silben eines Wortes,

3. die Schnelligkeit oder Langsamkeit der Lerntempos,

4. der Rhythmus des Lernens,

5. das Leise- oder Lautlernen,

6. die Verteilung der Wiederholungen auf den Lernstoff,

7. die Wirkungen einer großen Anhäufung der Wiederholungen auf den gleichen Stoff und

8. die Lernmethoden, von denen Meumann folgende unterscheidet:

die Ganzlernmethode, die Teillernmethode und die vermittelnde Methode, und die akustische und visuelle Methode.

Zu diesen äußeren Bedingungen der Lerntechnik kommen noch die inneren. Dazu gehören die Gefühlslage des Lernenden, der Willensantrieb, das Interesse usw. Wenn uns auch Meumann mit diesen psychologischen Untersuchungen nicht allzuviel Neues bietet, so zeigen sie uns doch, wieviel körperliche und geistige Kraft unsere Jugend auf das Lernen verwenden muß, Man sollte daher den Memorierstoff erheblich verkürzen, das Verbal-

236 B. Mitteilungen.

wissen möglichst aus der Schule entfernen und das Sachwissen in den Vordergrund stellen. Dadurch würde zweifellos viel Schulelend ver- schwinden. Hierfür ein Beispiel. Bekanntlich werden immer noch auf der Sekunda einer Realanstalt eine Unmenge von goniometrischen und trigonometrischen Formeln gelernt, die im Grunde genommen für viele Schüler nur einen Ballast bedeuten. Ich habe bisher von dem Auswendig- lernen dieser Formeln stets Abstand genommen und mehr Gewicht auf die richtige Anwendung derselben gelegt. Diese wurde dadurch ermöglicht, daß die Formeln dauernd während des ganzen Schuljahres an der Tafel stehen blieben allerdings gehören dazu mehrere Tafeln in der Klasse; überhaupt gehört es zur modernen Ausstattung eines Klassenzimmers, daß die Wände mit mathematischen Formeln, wichtigen Geschichtszahlen usw. von der Hand des Malers versehen sind. Hierüber werde ich mich an anderer Stelle noch aussprechen. Jedenfalls aber müssen wir unserer Jugend das Lernen erleichtern und sie lehren, wie sie am bequemsten und besten mit dauerndem Erfolg lernt. Das zeigt uns aber Meumanns Kapitel über Ökonomie und Technik des Lernens aus seiner experimentellen Pädagogik, wie vor Meumann schon der alte psychologische Pfadsucher Dörpfeld in seinem »Denken und Gedächtnis«.

Wenden wir uns nunmehr Meumanns Nachfolger auf dem Hamburger Lehrstuhle, William Stern, zu, der in seiner Schrift über »Die Jugend- kunde als Kulturforderung« (Leipzig, Quelle & Meyer, 1916) den Grund- gedanken ausspricht, daß zwei Kulturgebiete, das Erziehungswesen und das Berufsleben, das tragende Knochengerüst unseres Volkskörpers bilden und jetzt nach psychologischer Bearbeitung rufen. »Das Erziehungs- und Unterrichtswesen hat es fast ausschließlich mit den ersten 2 Lebens- jahrzehnten des Menschen zu tun; ebenfalls in das Jugendalter fällt meist die Berufswahl, die über das ganze Lebensschicksal des Menschen ent- scheidet, fällt auch die Vorbereitung auf den Beruf, und so spezialisiert sich hier das Verlangen nach angewandter Psychologie zu einem solchen nach Psychologie des nichterwachsenen Menschen, kurz nach Jugendkunde.« von Stern betrachtet kritisch die bisherigen Arbeitsgebiete der Jugendkunde, denen das erste die früh-kindliche Entwicklung bis zum 6. Lebensjahre umfaßt, das bisher hauptsächlich von Eltern an ihren eigenen Kindern studiert wurde. Das zweite allerdings weit ausgebaute Gebiet der Jugend- kunde betrifft die Sorgenkinder, das Gebiet der Heilpädagogik, in deren Dienst die »Zeitschrift für Kinderforschung mit besonderer Berücksichtigung der pädagogischen Pathologie (Herausgeber J. Trüper, Jena, Hermann Beyer & Söhne [Beyer & Mann] in Langensalza)« beinahe 25 Jahre bahn- brechend gearbeitet hat. Das dritte bisher ausgebaute Gebiet ist die so- genannte experimentelle Pädagogik, sie betrieb allerdings in erster Linie die Psychologie des Lehrens und Lernens und konnte wegen dieses vor- herrschenden didaktischen Interesses nur eine innere Angelegenheit der Berufspädagogik sein, die moderne Jugendkunde dagegen tritt aus dieser Reserve heraus: sie will das gesamte Schulwesen dem Gedanken einer deutschen Nationalerziehung unterstellen, die allen wertvollen Kräften des Volkes zur höchsten Ausbildung ver-

2. Nationale Einheitsschule, Jugendkunde und Berufsberatung usw. 237

hilft, die eine vaterländische Menschenökonomie treibt, und die eine möglichst fruchtbare Berufsgliederung im Volke vor- bereitet und sichert. Zu diesem Zwecke muß die Jugendkunde nach zwei Seiten hin eine Erweiterung erfahren, erstens nach der, die auf dem Berührungsgebiet von Schule und allgemeiner Volkswohlfahrt wirksam ist, und zweitens nach der, die ein Hinausschieben der Altersgrenze der zu erforschenden Jugend dringend benötigt. Es handelt sich hier um’ die Jugendschicht im Alter zwischen 14 und 18 Jahren, und hierbei macht Stern den Oberlehrern den Vorwurf, daß sie der Jugendkunde mit kühlem Interesse gegenübergestanden haben und bedauert lebhaft, daß bei ihnen ein feineres und tieferes Verstehen der Jugendpsyche nicht durchgehends vorhanden gewesen war. Stern hat mit seiner Behauptung leider recht, aber er geht zu weit, wenn er diesem Mangel an Interesse für die Jugend- kunde jene Kampfesstellung weiter Schuljugendkreise gegen Schule und Lehrerschaft zuschreibt, wie sie in manchen Erscheinungen der »Jugend- kulturbewegung« zum Teil so unerfreulichen Ausdruck fand. Sehr richtig bemerkt hierzu Buchenaut), daß die Angriffe gegen die höhere Schule ‚auch bei Abstellung dieser Mängel nicht aufhören werden, denn, was lebt, wird stets angefeindet werden. Leider haben sich die Oberlehrer nur vereinzelt an der Mitarbeit der Jugendkunde bisher beteiligt, während sich die Volksschullehrer eifriger mit den kinderpsychologischen und jugend- kundlichen Problemen beschäftigt haben, freilich nicht immer mit ge- nügender wissenschaftlicher Kritik. Wie dem auch sei, wir Oberlehrer müssen nunmehr zur Jugendkunde Stellung nehmen, denn sie ist, wie Stern in der genannten Schrift überzeugend nachgewiesen hat, eine dring- liche Kulturforderung, die nicht nur pädagogisches, sondern auch nationales und volkswirtschaftliches Interesse hat. Wir kommen in der Frage der Jugendkunde ein gutes Stück weiter, wenn wir an die Psychologisierung des gesamten Unterrichts mit aller Energie herantreten. Den Unterricht psychologisch einzustellen, war ja von jeher ein starkes Gebot der Pädagogik nnd wurde mit ganz besonderem Nachdruck von Herbart und seiner Schule betont.?) In ganz hervorragender Weise hat Martinak in einem Vortrag, den er am 3. Oktober 1906 in der all- gemeinen Sitzung des Kongresses für Kinderforschung und Jugendfürsorge in Berlin gehalten hat, die grundlegenden Richtlinien einer Schülerkunde niedergelegt. Die Schülerkunde®) hat nach Martinak die Aufgabe, das

1) Deutsches Philologen-Blatt, Heft 4, 24. Jahrg., S. 719.

?) Bereits im Jahre 1893 hat schon Trüper in seiner Schrift »Psychopathische Minderwertigkeiten im Kindesalter (Gütersloh, Bertelsmann)« einen umfangreichen Personalbogen zusammengestellt. Derselbe erschien später als besonderes Heft, zu- letzt in 2. Aufl. im Jahre 1911 als Heft 84 der »Beiträge zur Kinderforschung u. Heilerziehunge. (XX u. 31 S. Preis 80 Pf.) Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

®) Wesen und Aufgaben einer Schülerkunde von Dr. E. Martinak, Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung, Heft XXV. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1907.

238 B. Mitteilungen.

gesamte körperliche und geistige Leben des Schülers zu durchforschen mit besonderer Betonung aller jener Erscheinungen, die mit dem Schul- leben als solchem in irgend welchem kausalen Zusammenhang stehen und zwar beiderseitig, d. h. a) durch dasselbe verursacht sind oder b) auf das- selbe beeinflussend wirken. Die zeitliche Abgrenzung dieses Arbeits- gebietes ist nach unten durch den Beginn der Schulpflicht klar gegeben, nach oben läßt sich die Grenze nicht fest abstecken; jedenfalls reicht sie aber bis zur Beendigung der höheren Schule; ein brauchbarer, äußerlich klar markierter Grenzpunkt wäre die erreichte Wehrhaftigkeit bezw. Wehr- pflicht. Hier spricht Martinak 10 Jahre früher als Stern die dringende Forderung aus, daß die Erforschung der jugendlichen Psyche ein päda- gogisches und kulturelles Interesse hat. »Wer erzieht und unterrichtet«, sagt er, »solle das Objekt seines Wirkens, die Jugend, in ihrer psychischen Eigenart gewiß ebenso gut kennen und zum mindesten studiert haben, wie man bei dem Arzte Kenntnis und Studium der Anatomie und Physio- logie des menschlichen Körpers als ganz selbstverständlich voraussetzt« (a. a. O., S. 6). Mit dem Vorwurf, daß bisher die Psychologie meist gerade das so schwierige, aber auch interessante und für die Oberstufe der höheren Schule einzig in Betracht kommende Übergangs- und Jünglingsalter ver- nachlässigt hat, weist Martinak den Weg, den Stern später beschritten hat. Während dieser das Problem der Jugendkunde im weitesten Sinne faßt, will Martinak mit dem Betrieb einer Schülerkunde im engeren Sinne zu »eingehender Beobachtung, Durchforschung und Kenntnis der jugendlichen Psyche anregene. Dementsprechend wendet er sich auch an alle die, welche es mit der Erziehung zu tun haben, wie an einzelne Erzieher, Lehrer, Väter, Mütter, Ärzte und Seelsorger. Fordert Stern die Ober- lehrerschaft zur Mitarbeit an der Jugendkunde auf, so zeigt ihr Martinak den praktischen Weg, den sie betreten muß, um den jugendlichen Forderungen zu genügen. Wir werden uns daher eng an die trefflichen Ausführungen Martinaks anschließen, wenn wir mit unsern folgenden Ausführungen An- regungen ganz allgemeiner Natur geben wollen, die sich auf eine psycho- logische Beobachtung des Außen- und Innenlebens unserer Schüler, be- sonders der Jugendlichen, beziehen, Ausführungen, wie sie der Lehrer, auch der Nichtpsychologe, praktisch verwerten kann. Das im folgenden entworfene Schema eines Schülerbildes muß sich daher für den praktischen Gebrauch des Lehrers eignen. Es können in ihm nur solche Punkte Auf- nahme finden, die ein Lehrer im Unterricht auch wirklich zu beachten und zu beurteilen imstande ist. Daher wird auch das Schema keinen Anspruch auf Vollständigkeit machen können; man darf sich nicht so sehr in Einzelheiten verlieren, da der Lehrer häufig wegen anderweitiger Über- bürdung tiefgründige Beobachtungen psychologischer Natur nicht zu liefern vermag, andererseits aber die psychologische Beobachtung der Schüler eine Aufgabe ist, die er unter allen Umständen lösen muß; wie der Arzt den Körper seines Patienten kennen muß, wenn er ihm helfen soll, so muß auch der Lehrer den Klassenkörper seiner physischen und psychischen Struktur nach genau kennen, wenn er auf die Jugend einwirken, ihr ein Führer und ein Wegweiser für die Zukunft sein will. Der Lehrer selbst

2. Nationale Einheitsschule, Jugendkunde und Berufsberatung usw. 239

Schülerbild. Name: ............ . geb. ee REED as en Eltern, Stand d. Vaters: . By: Wohnung: ....

Körperliche Gebrechen:....................... er ER

L Der Schüler im Verhältnis zum Lehrer: a) im Lernen: b) im persönlichen Verkehr: 1. Offenheit: 2. Vertrauen: 3. Unaufrichtigkeit: 4. Trotz: 5. Aussagen: II. im Verhältnis zu seinen Mitschülern: a) Freundschaften: b) macht den Klassengeist mit oder nicht: c) Spielverderber: d) beliebt oder nicht, und worin zeigt sich das?

IH. im Verhältnis zu den Lehrstoffen: a) Interesse: b) Leistungsfähigkeit: c) Fleiß: d) spontanes oder erzwungenes Arbeiten: e) privates Mittun, Sammeln, Lektüre: IV. Rückwirkung des Schullebens der Familie gegenüber: Divergenz oder Convergenz zwischen Schule und Haus:

V. im Verhältnis zur Natur: wie wirkt auf ihn a) der naturwissenschaftliche Unterricht: b) die Schönheit der Landschaft: c) Klima, Witterung und Jahreszeit: VL im Verhältnis zur Kunst und zum Zeichnen und anderen Handfertigkeiten:- a) Musik: b) Theater: c) etwaige berufliche Neigungen und Fähigkeiten: VII. im Verhältnis zu seinen Nebenmenschen: a) Egoismus: b) Altruismus: c) gegenüber Arm und Reich: d) > Alt und Jung:

e) y Hoch und Nieder: f) " Kranken und Krüppeln: g) soziale Regungen:

Besondere Bemerkungen:

240 B.. Mitteilungen.

wird durch die Pflege der Schülerkunde nicht nur seinen Unterricht be- fruchtender gestalten, sondern auch seinem Gesamtwirken ein größeres Interesse abgewinnen. Außerdem wird er eine Fülle von Material sammeln können, dessen die Psychologen der Universitäten harren, um es weiter zu verarbeiten. Von größter Wichtigkeit schließlich ist der Betrieb einer Schülerkunde für den Schüler selbst. Sobald dieser merkt, daß der Lehrer bemüht ist, sich in seine Seele hineinzuverstehen, gewinnt er Vertrauen zu ihm und zu seiner Schule, was unerläßlich ist, zumal dann, wenn in Zukunft die Oberlehrerschaft in die Berufsberatung eintreten soll. Daß ferner ein solches Schülerbild für den Zögling auch nach Zurücklegung seiner Schulzeit von Bedeutung werden kann, z. B. bei Gerichtsverfahren oder beim Militär, liegt klar auf der Hand.

Die psychologischen Beobachtungen der Lehrer müssen auch schriftlich niedergelegt werden. Die Schüler gehen häufig von Hand zu Hand. Der Lehrerwechsel ist leider noch immer sehr groß, und da ist es ganz be- sonders wertvoll, wenn ein Lehrer durch die schriftlichen Aufzeichnungen seines Vorgängers schnell im Bilde ist. Das Schülerbild muß daher den Schüler durch die ganze Anstalt hindurch begleiten, es kommt ihm aber niemals zu Gesicht. Was die Handhabung anbetrifft, so brauche ich wohl kaum zu bemerken, daß strengste Wahrheit und Objektivität unter Bei- seitelassung vorgefaßter Meinungen und Kleinlichkeiten am Platze sind.

Bei der Aufstellung eines solchen Schülerbildes liegt es nun zunächst nahe, den Schüler 1. im Verhältnis zu seinem Lehrer, 2. zu seinen Mit- schülern und 3. zu dem dargebotenen Lehrstoff zu beobachten. Sodann müßten Aufschlüsse über die Rückwirkungen des Schullebens auf die Familie und umgekehrt der Familie auf das Schulleben, ferner über das Verhältnis des Schülers zur Natur, zur Kunst, zum Zeichnen und anderen Handfertigkeiten und ganz allgemein zum Erwerbsleben und schließlich über sein Verhältnis zu den Mitmenschen gewonnen werden. Nach diesen Gesichtspunkten ließe sich ein Schülerbild ungefähr folgendermaßen ent- werfen: (Siehe Schülerbild S. 239.)

Zur Gewinnung von sicheren Daten für das Schülerbild hat der findige Lehrer reichlich Gelegenheit. Nicht nur der Unterricht, sondern ‚auch sein persönlicher Verkehr mit den Schülern und Eltern, sein direktes Befragen der Schüler, die Mitteilungen ehemaliger Schüler, freie Arbeiten, insbesondere selbstgewählte und auch wirklich selbstverfaßte Aufsätze können sichere Angaben für die Schülerbilder liefern. Diese können dann, wenn sie reichlich mit Daten versehen sind, in den Konferenzen, bei den Versetzungen, bei den Besprechungen mit den Eltern und den Berufs- beratungen zugrunde gelegt werden und können häufig treffliche Auf- schlüsse über die Berufseignung eines Schülers liefern. (Schluß folgt.)

3. 5 + 2=9. In der letzten Zeit hat uns die Uhr zu allerhand Gesprächen Anlaß gegeben, und Reinhart, fünfjährig, wollte nun die Bedeutung der römischen Zahlen erfahren. I, II, III stellten sich ja leicht dar, denn zählen kanm

C. Zeitschriftenschau. 241

er bis 20000 und darüber hinaus. Danach ließ ich erst die V voran- treten und erklärte ihm die Lesart für VI V + I und IV = V I; nach der VI sollte die VII kommen. Also nun kommt sage ich fünf und zwei wieviel ist das? Danach Reinhart nach kurzer Über-

legung: 9. Was? 9! 9? Wie rechnest du denn das? Ja, 2 + 2 ist 4, das weiß ich schon; und 5 und 2 ist neun. Na, das mußt du mal genauer erzählen, so versteh ich das nicht. Ja, 2 und 2

ist 4; 5 ist 1, 6 ist 2, 7 ist 3, 8 ist 4, 9 ist 5; und 5 und 2 ist 9!

Welche schnelle Überlegung! 5, als die erste Zahl hinter 4, setzt er =— 1, 6 als die zweite 2 usw.; 9 als die fünfte 5; die Über- legung ist also die: ich suche mir hinter der bekannten (2 + 2 = 4) eine Zahl, in der die 5 steckt; zähle die 2 dazu und habe dann 9! Wenn aber 5 hinter der 4 die 1., 6 die 2, 7 die 3., 8 die 4., 9 die 5. Zahl ist, dann ist die 9 die Zahl, in der die 5 steckt; also ist 9 die Vereinigung von 2 und 5 auf der Grundlage 2 + 2 —= 4. 2 und die 5. Zahl hinter 4 (= 9) ist 9.

Reinhart’s Antwort auf meine Frage erfolgte nach vielleicht 3 bis 4 Sekunden; sein Gehirn hat also in der Schnelligkeit eine Überlegung angestellt, die Konsequenz aus ihr gezogen und zwei Zahlenreihen neben- einander herlaufen lassen, um sie miteinander in Beziehung zu bringen: Kardinalzahlen wurden mit Ordinalzahlen bezeichnet und so entstand mit logischer Schärfe eine richtig-unrichtige Antwort, die mich (ich habe wohl eine Stunde gebraucht, mir das zurechtzulegen) mehr in Erstaunen setzte als sonst schon erstaunliche Proben seiner Rechenkunst.

Dr. Th. Scheffer.

C. Zeitschriftenschau,

Jugend- und Schulgesundheitspflege. Schilow, Alexis, Der Kampf gegen den Alkoholismus in Moskau. Deutsche med. Wochenschrift. S. 251—257.

Seit Dezember 1910 wirkt hier besonders der Moskauer Verein gegen den Schüleralkoholismus, der sich bei seiner Arbeit von dem Gedanken leiten läßt, daß vor allem der in Rußland stark verbreitete Schnapsgenuß unter den Schulkindern bekämpft werden muß, wenn man gegen die Trunksucht des russischen Volkes an- kämpfen will. Als wichtigste Maßnahme gilt der obligatorische Antialkoholunter- richt. Für die Lehrer sollen besondere Vorlesungen gehalten werden. Neben der Arbeit an der Jugend wird in einem ärztlich geleiteten Ambulatorium mit Erfolg praktische Trinkerrettung getrieben.

Schlossmann, Die Ernährung des Säuglings. Zeitschrift für Kinderpflege. 8, Juli 1913, S. 181—185.

Stillregeln und auch Vorschriften über die Kost der stillenden Mutter usw.

Schreiter, O., Der Familienstammbaum. Deutsche Elternzeitschrift. V, 10 (Juli 1914), 8. 168. Zeitschrift für Kinderforschung. 24. Jahrgang. 16

242 C. Zeitschriftenschau.

Ideal wäre es, wenn für jedes Schulkind ein Stammbaum mit eingereicht würde, in dem alle wichtigen Vererbungsmomente berücksichtigt wären. Für die Aufstellung werden einige Richtlinien gegeben.

Schultze, Ernst, Kind oder Dollar. Die Deutsche Schule. 17, 4 (April 1913), S. 210—217.

Die Arbeit zeigt sehr gut, wie in Amerika die schulischen Verhältnisse doch recht oft sehr mangelhaft sind, wie sich aber der Amerikaner recht geschickt, wenn auch in etwas sensationeller Aufmachung eine Reform zu verschaffen versteht. Es werden auch schulhygienische Fragen in dem Aufsatz berührt. Es handelt sich um die Stadt Greenwich, etwa 45 Kilometer von New York, im Staate Connecticut. Schumacher, Henny, Die Fröbelsche Unterrichtsweise und ihr Einfluß auf die

phys. Entwicklung des Kindes. Ztschr. f. Kinderpflege. IX, Juli 1914, S. 133—137.

»Wir wissen heute, wie stark der Einfluß des Geistes auf den Körper ist. Er- halten wir daher den Geist des Kindes gesund und machen wir ihn durch natür- liche Nahrungszufuhr stark und weit, so fördern wir einerseits seine Herrschaft über den Körper, und so kräftigen wir andererseits diese Wohnung des Geistes.« Gerade die Fröbelsche Unterrichtungsweise ist dafür nach Ansicht der Verfasserin besonders geeignet.

Schutte, Friedrich, Das Erholungsheim, Ferienkurhaus, Schülerheim, Pädagogium, unter besonderer Berücksichtigung der hygienischen Anforderungen. Zeitschrift für Schulgesundheitsptlege. 25, 6 (Juni 1913), S. 369—376; 7 (Juli), S. 436 bis 444; 8 (August), S. 537—546. ` Das Alumnat Gummersbach, das Schülerheim des Gymnasiums Fridericianum

zu Laubach (Oberhessen), das Nordseepädagogium zu Föhr-Südstrand werden an der

Hand von Pläuen und Bildern besprochen.

Seifert, R., Von unsern kleinen Schulanfängern. Deutsche Elternzeitschrift. 4, 5 (1. Februar 1913), S. 79—81; 6 (1. März), S. 95—96; 7 (1. April), 8. 111—113.

Der Verfasser bespricht Fragen der Schulhygiene, wie Beginn der Schulfähig- keit und dessen Einfluß auf die Konstitution; Schulanfang; Analyse des kindlichen Gedankenkreises; endlich unterrichtsmethodische Fragen.

Seitz, C., Säuglingsfürsorge und Geistlichkeit. Zeitschrift f. Kinderpflege. 8, Juni 1913, S. 161—168.

Die Geistlichkeit ist schon seit je auf dem Gebiete der Säuglingsfürsorge tätig gewesen, wie die historische Betrachtung lehrt.

Selter, Staatliche Schularztorganisation in Württemberg. Deutsche Med. Wochen- schrift. 39, 30 (24. Juli 1913), S. 1467 u. 1468.

Durch das Oberamtsarztgesetz vom 12. Juli 1912 wurde die Schularzteinrich- tung in Württemberg auf das ganze Land und auf sämtliche Schulen ausgedehnt. Die Gemeinden bezahlen für die Schularzttätigkeit 40 Pfennig für das Kind an die Staatskasse. Der Schularzt wird von den Lehrern als Mitarbeiter begrüßt (von den akademisch gebildeten Lehrern allerdings nicht in dem Maße wie von den Volks- schullehrern).

Seydel, Otto, Halsentzündungen und Diphtherie in der Schule. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 26, 7 (Juli 1913), S. 444—457.

»In einer Zeit, in der Diphtherie in Berlin ziemlich verbreitet war, fanden sich unter 16 Kindern, deren Halskrankheit ohne ärztliche Behandlung und Kontrolle verlaufen ist, 8, also genau die Hälfte, deren Krankheit sich nachträglich bakterio- logisch oder klinisch als Diphtherie erwies.« Daraus ergibt sich, daß den Hals- entzündungen der Schulkinder, wenigstens zu Zeiten von Epidemien, erhöhte Auf-

C. Zeitschriftenschau. 243

merksamkeit geschenkt werden muß. Der zweite Teil der Arbeit weist nach, daß die nicht erkannten Fälle von Diphtherie eine große Gefahr für die Schule be-

deuten. Auch von seiten der Rekonvaleszenten besteht eine gewisse Gefahr. Um

das Eindringen von Bazillenträgern in die Schule zu erschweren, müßte bei der

Rückkehr in die Schule ein amtlicher Nachweis über die Bazillenfreiheit vorliegen.

Sieveking, G. H., Die Milchversorgung der Schulen. Zeitschrift für Schulgesund- heitspflege. Jg. 26, 10 (Oktober 1913), S. 689—694.

Auf Grund von Erfahrungen in Hamburg ist festzustellen, daß eine zentrali- sierte Schulmilchlieferung durchführbar ist, wenn man nur nicht allzuhohe hygie- nische Anforderungen stellt.

Sörgel, Paul, Körperfehler und Gebrechen der deutschen Volksschuljugend. Die Pädagogische Forschung. II, 1 (Oktober 1913), 8. 91—96.

Unter Zugrundelegung der bayerischen Statistik für das Jahr 1911/12 berechnet der Verfasser Zahlen für das Deutsche Reich, die auf relative Richtigkeit Anspruch erheben dürften. Zu begrüßen wäre die schulärztliche Überwachung der Schul- pflichtigen auch in kleineren Städten und in den Landgemeinden.

Sperk, Bernhard, Über die ärztliche Kontrolle der Säuglinge in der Fürsorge- stelle des Vereines »Säuglingsschutz«. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugend- fürsorge. 5, 7 (Juli 1913), S. 202—206.

Der Verein »Säuglingsschutz« hat in Wien eine Schutzstelle eingerichtet, die vor allem Prophylaxe treiben will. Der Aufsatz orientiert über sie.

Stroede, Gerhard, Über die Ausatemluft. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 26, 11 (November 1913), S. 735—749.

In der Ausatemluft sind außer der Kohlensäure noch andere schädliche Stofte enthalten. Zu ihrem Nachweis gibt es verschiedene Verfahren, die kurz beschrieben werden.

Teich, Moritz, Soll die Anstellung besonderer Schulaugenärzte empfohlen und angestrebt werden? Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 26, 6 (Juni 1913), S. 417—428. ;

Die Arbeit weist nach, daß die Anstellung besonderer Schulaugenärzte not- wendig ist und bereits jetzt angestrebt werden sollte.

Temme G., Der alkoholgegnerische . Unterricht in der Volksschule. Die Enthalt- samkeit. 15, 4/5 (April/Mai 1913), S. 30—33; 6 (Juni), S. 37—39.

Obligatorischer Abstinenzunterricht ist für die Volksschule abzulehnen. Auf der Unterstufe sollte, ohne die Einheitlichkeit des Unterrichts zu stören, gelegentlich auf die Schädlichkeit der geistigen Getränke hingewiesen werden. In der Mittel- stufe sollen 6, in der Oberstufe 6—8 Lektionen jährlich im Unterricht in der Ge- sundheitspflege alkoholgegnerischen Belehrungen gewidmet werden. Als Übergang dazu käme von Wanderlehrern und -lehrerinnen erteilter Unterricht in Betracht. Gewöhnung und Beispiel werden als wichtige Momente betont.

Thiemich, M.. Die sozialen Beziehungen und Aufgaben der Kinderheilkunde. Deutsche Med. Wochenschrift. 39, 36 (4. September), S. 1737—1740.

Eine Fülle von Aufgaben werden der Kinderheilkunde gewiesen, darunter auch die ihr während des Schulalters erwachsenden. Für die Regelung des Schul- und Erziehungswesens sind die Untersuchungen der wissenschaftlichen Kinderheilkunde von größter Bedeutung.

Trott, M., Wie soll ein Kinderzimmer beschaffen sein. Zeitschrift für Kinderpflege. IX, Juni 1914, 8. 110—112.

Brauchbare Ratschläge für die Einrichtung eines Kinderzimmers.

- 16*

244 C. Zeitschriftenschau.

Über Säuglingssterblichkeit. Deutsche Elternzeitschr. 4, 10 (1. Juli 1913), S. 164/165.

Referat und Auszug aus einem Aufsatz Huberts im »Archiv für Kinderheil- kunde«, Bd. 57, 1912, S. 351, über die Kindersterblichkeit in Rußland. Brust- ernährung ist sehr selten (aus mannigfachen Gründen), daher ist die Sterblichkeit eine erschreckend große.

Weinberg, Marg., Die Resultate der Rachenmandel-Operationen an amerikanischen Schulkindern. Ztschr. f. Schulgesundheitspflege. 17, 8 (August 1914), S. 564—566.

Aus einem Bericht von Gerhard Hutchison Cocks vom 18. Dezember 1913 (New Xork Medical Journal, 17. Januar 1914). Durch die Operation sollen viel- fach die Schulleistungen der Kinder gebessert sein. Die Ausführung der Operation und die Vornahme bedarf in vielen Fällen noch mehr Sorgfalt.

Weinberg, Marg., Was Eltern, Erzieher. Lehrer und Lehrerinnen von den haupt- sächlichsten Kinderkrankheiten wissen müssen. Zeitschrift für Schulgesundheits- pflege. XXVI, 5 (Mai 1914), S. 363—366.

Wiedergabe einer Tabelle aus dem städtischen Gesundheitsamt zu Lyon (Dr. Lesieur). Derartige Tabellen sollten in Krippen, Kindergärten, Schulen, auch in den Kinderzimmern der Privathäuser an sichtbarer Stelle angebracht sein. Sie könnten den Eltern bei der Geburtsanmeldung kostenlos verabfolgt werden. Weinberg, Wilhelm, Die Kinder der Tuberkulösen. Deutsche Med. Wochen-

schrift. 39, 28 (10. Juli 1913), S. 1366 u. 1367.

Die äußerst schwierigen, aber sehr gewissenhaft durchgeführten Untersuchungen ergaben u. a., daß, wenn die Tuberkulose lediglich auf Vererbung beruhen würde, sie infolge der verminderten Fruchtbarkeit Tuberkulöser längst ausgestorben sein müßte. Die Sterblichkeit der Kinder Tuberkulöser betrug bis zum 20. Jahre etwa

7°, gegen 40°/, bei Kindern Nichttuberkulöser. Zu bemerken ist auch, daß die

Tuberkulose Erwachsener nicht lediglich von der Infektion im Kindesalter abhängt.

Wilker, Karl, Arbeitsfreudigkeit und Leistungen in Schule und Beruf. Die päda- gogische Praxis. II, 8 (Mai 1914), S. 417—430.

Der Verfasser verlangt eine ausgedehnte Individual- und Sozialhygiene, durch die allein Arbeitsfreudigkeit und Leistungen gesteigert werden können. Er weist besonders darauf hin, daß in der Jugend selbst die gleichen Forderungen vielfach erhoben werden. Ders., Aufklärungsarbeit in der Schule. Die Enthaltsamkeit. 15, 9 (Sept. 1913), S. 66.

Der Verfasser wendet sich gegen den Versuch, in der höheren Schule (im besonderen Fall an einem humanistischen Gymnasium) Aufklärung der älteren Schüler über die Gefahren des Alkoholismus und über sexuelle Probleme zu verbieten oder zu vermeiden.

Ders., Die Bedeutung der Alkoholfrage für den künftigen Lehrer. Evangelisches Schulblatt. 57, 8 (August 1913), S. 337—350.

Der Aufsatz gibt den Vortrag wieder, den der Verfasser im Herbst 1912 in den Evangelischen Lehrerseminaren Württembergs hielt. In kurzen Zügen gibt er ein Bild von der Bedeutung des Alkoholismus für unser ganzes Volk. Daran schließt sich eine Schilderung des durch den Alkoholgenuß hervorgerufenen Jugendelends. Die Lehrer werden aufgefordert, durch Taten, durch das eigene Beispiel zu wirken. Ders., Die Kleidung des Kindes. Deutsche Elternzeitschrift. 5, 1 (1. Oktober

1913), 8. 8—11.

Die Kleidung des Kindes sei einfach und gesund. Wie sie diesen Forderungen entsprechend gestaltet werden kann, zeigt der kleine Aufsatz.

Ders., Die Stellung der höheren Schulen zur Aufklärung ihrer Schüler über sexuelle Fragen. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 26, 7 (Juli 1913), S. 458—466.

C. Zeitschriftenschau. 245

Bei der augenblicklichen Sachlage bleibt die Notwendigkeit, die Schüler von dritter Seite aus zu beeinflussen, womöglich im Einverständnis mit der Schulleitung, daß sie den Alkoholgenuß meiden; das könnte durch Vorträgs außerhalb der Schule stehender Abstinenten oder durch Verteilen von Druckschriften geschehen. Der Versuch, Poperts Broschüre »Was will unsere Zeit von der deutschen Studenten- schaft?« (Jena, Gustav Fischer, 1908) an einem Gymnasium zu verteilen, wurde unmöglich gemacht durch ablehnenden Bescheid des Direktors der Anstalt, der »an einigen Stellen, die das Geschlechtsleben berühren«, Anstoß nahm. W. teilt diese »anstößigen« Stellen aus der Schrift mit und knüpft daran weiter Gedanken über die dringende Notwendigkeit sexueller Belehrung in den höheren Schulen an. Wenn die Schule sich dagegen weigert, »ist das ein bedauerliches Zeichen dafür, daß sie ihre größten Aufgaben verkennt«.

Wimmenauer, Die Schularztfrage in Österreich. Zeitschrift für Schulgesundheits- pflege. 26, 9 (September 1913), S. 634—638.

Die Schularztfrage hat in Österreich erst geringe Fortschritte gemacht. Prof. von Pirquet stellte die Wiener Kinderklinik für schuihygienische Zwecke zur Ver-s fügung, was bei der Ärzteschaft sehr verstimmend wirkte. Eine einberufene Enquöte lehnte dieses Vorgehen denn auch ab. Es ist zu hoffen, daß auch in Österreich, dank dem Eingreifen der Wiener Ärztekammer, bald bessere Verhältnisse ge- schaffen werden.

Ders., Die Ernährung der Schulkinder. Deutsche Elternzeitschrift. V, 6 (1. März 1914), 8. 94—97; 7 (1. April), S. 112—114.

Ein allgemeingültiges Schulkinder - Nahrungsschema läßt sich natürlich nicht aufstellen, wohl aber lassen sich Anhaltspunkte und Richtlinien geben, die der Ver- fasser an theoretische Erörterungen anknüpft. Das sonst Wissenswerte wird bei Be- sprechung der einzelnen Mahlzeiten erörtert. Eine Fülle beachtenswerter Ratschläge. Wittner, Karl, Schulbygienisches aus Oberschlesien. Zeitschrift f. Schulgesund-

heitspflege. 26, 11 (November 1913), S. 769—777.

Eine Rundfrage bei 68 Verwaltungen ergab, daß in 16 Städten und 15 In- dustriedörfern Schulärzte noch nicht angestellt waren. In 36 Ortschaften bestanden schulärztliche Einrichtungen verschiedener Form. Die oberschlesischen Schulärzte wirken alle nebenamtlich. Es scheint, daß zu viel statistisch gearbeitet wird, während die Arbeit mehr in einer direkten Beeinflussung der Schüler- und Elternmassen bestehen sollte. Allerdings ist ohne Schulschwester keine Schulhygiene möglich; diese fehlt in Oberschlesien aber fast überall. Sehr mangelhaft scheint auch die ärztliche Überwachung der Hilfsschulen und deren Einrichtung überhaupt. Wyneken, G., Alkohol und Jugendkultur. Die Freie Schulgemeinde. 3, 3 (April

1913). S. 65—81. )

Wyneken ist von dem ersten Kongreß für alkoholfreie Jugenderziehung nicht befriedigt und glaubt, eigene neue Gesichtspunkte in die Erörterung bringen zu können, die allerdings schon recht oft vorgebracht sind: er faßt die Enthaltsamkeit für die Jugend nicht so sehr als eine individual-hygienisch gebotene Notwendig- keit auf, sondern als eine Aufgabe rassehygienischen und sozialen Verantwortlich- keitsgefühls.

Zander, R., Wirkungen der Leibesübungen auf die Atmung des jugendlichen Körpers. Deutsche Elternzeitschrift. 4, 6 (1. März 1913), S. 93—95.

Die Atmung des Kindes ist für die Gesunderhaltung seines Körpers sehr wichtig. Durch Bewegung des Körpers im Spiel wird die Atmung wesentlich ge- fördert. Spiel und Bewegung im Freien müßten auch durch die Schule gefördert

246 C. Zeitschriftenschau,

werden als Gegengewicht gegen das schädliche Stillsitzen. Auch das Turnen ist ein

wertvoller Faktor für die Gesunderhaltung durch Atmung. »Die Beurlaubungen

vom Turnen gereichen vielen schwächlichen Kindern nicht zum Segen.«

Ziegler, Die Stellung einiger Schul- und Lehrbücher zur Alkoholfrage. Internationale Monatsschrift z. Erforschung des Alkoholismus. 23, 8 (Aug. 1913), S. 299—304.

Geprüft wurden einige Lehrbücher zur Gesundheitspflege und für verwandte Gebiete (hauptsächlich für die Schweiz in Betracht kommende). Einzelne Proben werden mitgeteilt. Gewisse Lehrbücher geben gute Anhaltspunkte zu Besprechungen über die Alkoholfrage.

Zollinger, F., Einiges über die Erkrankungen der Lehrpersonen. Schweizerische Blätter für Schulgesundheitspflege. XII, 5 (Mai 1914), S. 67—72.

Referat über eine Arbeit Theodor Altschuls in »Das österreichische Sanitäts- wesen«, 1913, Nr. 23 und 24, in dem zahlreiche Zahlen usw. wiedergegeben sind. Es bedarf dringend einer genauen Kenntnis der Krankheitsverhältnisse der Lehrer. Zucker, Gertrud, Über die Mitwirkung des Schularztes bei der Berufsberatung.

Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 27, 6 (Juni 1914), S. 417—420.

Für die Zwecke der Berufsberatung wäre es am besten, wenn ärztlicherseits eine genaue Orientierung über die körperliche Konstitution eines jeden Berufs- beratungs-Kandidaten und eine Information über die gesundheitlichen Anforderungen der Berufe den wirtschaftlichen Beratern zur Verfügung gestellt würde. Zweck-

mäßig dürfte es sein, den Berufsberatungsstellen die Gesundheitsbogen der Schule zu überlassen.

Erster deutscher Kongreß für alkoholfreie Jugenderziehung am 26., 27 u. 28. März 1913 im Preußischen Abgeordnetenhaus, Berlin. Deutsche Schulpraxis. 33, 17 (27. April 1913), S. 130—134.

Die Leitsätze der einzelnen Referenten werden ausführlich mitgeteilt.

Dasselbe. Deutscher Guttempler. 22, 8 (11. April 1913), S. 117—121.

Ziemlich ausführlicher Bericht auch über die Diskussion.

W. W., Die Lehrer an die Front. Schweizerische Blätter für Schulgesundheits- pflege. 9, 8 (September 1913), 8. 119—123.

Schulz, Otto, Kongreß für alkoholfreie Jugenderziehung. Neue Bahnen. 24, 8 (Mai 1913), S. 374—377.

Kemsies, F., Erster deutscher Kongreß für alkoholfreie Jugenderziehung. Zeit- schrift für Pädagogische Psychologie. 14, 4 (April 1913), S. 234—236.

Kürzere Berichte.

Lorentz, Friedrich, Dasselbe. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 26, 6 (Juni 1913), S. 396—406.

Würtz, Hans, Zum ersten deutschen Kongreß für alkoholfreie Jugenderziehung in Berlin. Zeitschrift für Krüppelfürsorge. 6, 3 (August 1913), S. 237—240.

Betont besonders die Wichtigkeitder Antialkoholbewegung fürdie Krüppelfürsorge.

R. B., Aus den Verhandlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Schulgesund- heitspflege. Zeitschrift für Jugenderziehung und Jugendfürsorge. 3, 17 (15. Mai 1913), S. 501—504.

Kurzer Bericht über die Verhandlungen vom 3. und 4. Mai 1913.

XIV. Jahresversammlung der Schweizer. Gesellschaft für Schulgesundheitspflege. Schweizerische Blätter für Schulgesundheitspflege und Kinderschutz. 11, 6 (Juni 1913), S. 81—87.

Etwas ausführlicherer Bericht.

AAN

D. Literatur. 947

D. Literatur.

Fröschels, Dr. Emil, Kindersprache und Aphasie. Gedanken zur Aphasie- lehre auf Grund von Beobachtungen der kindlichen Sprachentwicklung und ihrer Anomalien. Beibeft 3 zur Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Berlin, 8. Karger, 1918.

Die Pathologie stellt seit langem schon die verschiedenen Erscheinungsformen der Krankheiten in Parallele zu phylogenetischen Entwicklungsstufen. Dieser frucht- bare Gedanke hat auch Fröschels zahlreiche Anregungen gegeben; in seinem neuen Buche über »Kindersprache und Aphasie« bringt er uns eine Dar- stellung der Analogien zwischen der in Entwicklung begriffenen Sprache des Kindes und der Sprache des Aphatischen, der gleichsam von einer höheren Etage aus die- selben Stadien durchlaufen muß.

Derartige Parallelen eröffnen nicht nur dem Spracharzte, sondern auch der allgemeinen Sprachwissenschaft weite Ausblicke. Balassa!) hat z. B. seinerzeit derartige kurze Bemerkungen über Analogien zwischen Lautwandel und Sprach- störung gemacht. Man erinnere sich weiter an die Parallelen, die Helga Eng’) zwischen der Sprache der Kinder und der der Primitiven aufstellte.e Fröschels Gedanke, in einer Monographie die derzeit überlieferten Kenntnisse auf dem Gebiete der Kindersprache und der Aphasie vergleichend darzustellen, ist gewiß ein glücklicher zu nennen. Um das Buch auch in seinen Mängeln würdigen zu können, maß man sich nur vor Augen halten, welche außerordentlichen Anforderungen die Bearbeitung dieses Stoffes an das Wissen, die methodische Schulung in so verschiedenen, zum Teil disparaten Wissenschaften wie Psychologie, Gehirnpatho- logie, Linguistik und nicht zuletzt reine Philosophie und Erkenntuistheorie stellt.

Fröschels geht nun »keineswegs so weit, eine völlige Identifizierung beider, der nicht völlig entwickelten und der zerstörten Sprache, anzunehmen«. Er glaubt vielmehr nur, »daß bei genauer Kenntnis des Sprachaufbaues, wie er sich mit aus dem Studium der infantilen Sprachstadien ergibt, auch der Blick für Feinheiten in der Aphasieforschung sich verbessern dürfte. Man wird, wenn man die einzelnen Entwicklungsstadien der Funktion kennen lernt und wenn man der Ansicht huldigt, daß diese Stadien auch im ganzen in mehr oder weniger veränderter Form weiter- bestehen, nach ihnen suchen, wenn durch ein schädigendes Ereignis die Funktion zerrissen wurde. Daß die einzelnen Stadien sich in anderer Gestalt als vor ihrem Eingehen in die Beziehung zu den zeitlich nachfolgenden zeigen werden, ist sehr wahrscheinlich, denn eben durch das tätige Verbundensein mit anderen wird sich ein Ausgestalten, ein Reifen, ein Abgeschliffenwerden eingestellt haben, so daß die Teilfunktion, wird sie durch eine Krankheit isoliert oder doch nach einer Seite frei- gelegt, dem Bilde ihrer Kindheit nicht mehr gleichen wird.

Nun hat ja Fröschels seit jeher versucht, der Erklärung sprachlicher Er- scheinungen, seien sie nun physiologisch oder pathologisch, auf anderem Wege als dem der Gegenüberstellung von anatomischen Befunden und Beobachtungen am Lebenden beizukommen, und zwar von Überlegungen ähnlicher Art ausgehend, wie dies die moderne Psychopathologie will, ein Vorgehen, dem sich ja auch die be- sonnenen Psychiater angeschlossen haben, und das von Drinstsreller Wichtigkeit ist. »Denn bis vor nicht gar zu langer Zeit befand sich die Lehre von den zen- tralen Sprachstörungen ...... in einem Zustande der Stagnation, weil man unter dem Eindrucke der Ergebnisse der modernen Hirnpathologie die Sprachstörungen immer in Parallele mit den Sektionsbefunden setzen zu müssen glaubte, Gewiß hat diese Methode viel Gutes gezeitigt, man denke nur an die Entdeckungen Brocas und Wernickes. Heute jedoch sehen wir nur die eine Möglichkeit eines Fort- schrittes gerade auf unserem Gebiete, nämlich: uns von der einseitigen Einstellung

1) »Vox«, 1914. 2) Abstrakte Begriffe im Sprechen u. Denken des Kindes. Leipzig, Barth, 1914.

248 D. Literatur.

auf das Gehirn, also von dem materialistischen Dogma der epiphänomenalen Natur des Psychischen freizumachen (man lese hierzu die einleitenden Aufsätze im 1. Bande der Zeitschrift für Pathopsychologie von Specht und Münsterberg).!)

Aber hier begegnet uns bereits eine Hauptschwierigkeit: Die Stellungnahme zur Psychologie. Gerade auf dem Gebiete der Sprache muß ja die Berührung, bezw. Durchdringung mit der Psychologie eine besonders innige sein. Eben deshalb muß auf möglichst eindeutige Festhaltung der methodischen Prinzipien Gewicht ge- legt werden. Hier vermissen wir aber nähere Andeutungen über den erkenntnis- theoretischen Standpunkt des Autors. Eine solche erscheint um so notwendiger, als ja Fröschels stillschweigend einer bestimmten psychologischen Richtung den Vorzug gibt, ohne die Notwendigkeit und Berechtigung dieser Auswahl darzutun. Nach einer kurzen Kritik einiger der herrschenden psychologischen Anschauungen sagt sich der Autor nämlich von der Assoziationspsychologie los, um sich auf den Boden der neuestens von Müller-Freienfels?) vertretenen Reflexbogen- psychologie zu stellen. Diese Psychologie verlangt von dem Leser, daß er sich von der alten Terminologie und Denkungsweise vollständig frei mache. Begriffe wie »Vorstellunge, »Gefühl«, »Wille« u. a. stellen sich uns in ganz anderem Lichte dar. Eben darum und weil sie in der Sprachwissenschaft von größter Wichtigkeit sind, ist ihre erkenntnistheoretische Klarlegung zu fordern.

Von welcher Bedeutung besonders die Annahme des Begriffes der »Ein- stellung« ist, zeigt Fröschels unter anderem im Abschnitte über die Echolalie. Diese hat die ausführliche Besprechung, die der Autor ihr widmet, wirklich ver- dient. Es ist sicher sehr zu bedauern, daß es uns an einer genügenden Anzahl zuverlässiger und genau analysierter Beobachtungen fehlt, die uns die Möglichkeit bieten würden, hier zu einer Lösung zu kommen: ein Forschungsfeld für den Lehrer und Kinderforscher. Fröschels meint nun, daß die Echolalie von dem Ver- hältnis zwischen motorischem Sprechdrang und Sprachverständnis abhänge. Hiermit hat er jedoch keineswegs die zwischen Meumann und Sully einerseits, Preyer und Stern andererseits bestehende Meinungsdifferenz bezüglich der physiologischen Natur der Echolalie beseitigt. Die Lösung könnte nur durch umfangreiche experimentell-psychologische Versuche (bes. über Assoziation, Repro- duktion, Abstraktion u. ä.) herbeigeführt werden. Mehr Beachtung muß hier auch die Annahme Liepmans, die Echolalie sei die älteste und einfachste Sprachfunktion (Fröschels bringt sie nur als Anmerkung) finden, besonders im Hinblick auf die Reflexbogentheorie.

Indem Fröschels seine mehr oder weniger apriorische Annahme näher be- gründet, begibt er sich zugleich auf das schwer gangbare Feld der Definition des Willens. Wir begegnen da den Schwierigkeiten, die sich uns bei der Definition anderer Begriffe der Psychologie, wie Bewußtsein, Unterbewußtsein, Ichproblem, Denken, Fühlen entgegenstellen. Die auf dem Gebiete des Willensproblems be- stehenden Lösungsversuche zu erörtern, überschreitet den Rahmen dieser Rezension.

Ebenso wie Wundt unbekümmert um die seinerzeit gangbaren Methoden und Theorien seine neue Definition des Willens aufstellte, scheint jetzt Fröschels sich zwischen der medizinischen (im Sinne der materialistischen Schule) und der rein psychologischen (im Sinne der Untersuchungen Achs) Richtung durchringen zu wollen. Ausgehend von der heute vielfach bestehenden Annahme, daß der Willens- akt eine Fortbildung des Reflexes ist, stellt er folgende Definition auf: »Willens- handlungen sind solche, die immer einer bestimmten spezifischen seelischen Ein- stellung bedürfen und mit einer solchen ablaufen.« Da nach Wundt die Trieb- bewegung auch nichts anderes ist als eine Reflexbewegung und in letzter Linie affektiv bedingt ist, scheint dem Rezensenten die Formulierung des Autors, welche die Prinzipienfrage wegläßt, sowie die Verbindung der »Einstellung« mit materialistisch-physiologischen Begriffen eine glückliche zu sein. An Hand einer Krankengeschichte wird Fröschels Auffassung schön entwickelt.

1) L. Stein, Diskussion in der österr. Gesellschaft f. experim. Phonetik vom 5. Februar 1918. Wiener medizinische Wochenschrift, 1918, S. 1001. 2) Das Denken und die Phantasie. Leipzig, Barth, 1916.

D. Literatur. 249

Auf den eben nur skizzenhaft dargestellten Überlegungen weiterbauend, macht Fröschels im weiteren Verlaufe verschiedese andere Sprachstörungen: Stammeln, Agrammatismus, die Aphasien usw. verständlich und »erklärlich«. Und zwar nimmt Fröschels an, »daß erst bei einer gewissen Ausbildung des Hörhirus beim Eintreffen neuer Reize überschüssige Kräfte frei werden, welche die motorische Sphäre anregen. Jedenfalls kann man annehmen, daß die erste Anregung zum Nachsprechen bei Kindern die Folge eines hohen Ladezustandes des akustischen Gehirnes ist, und daß es ohne motorische Einstellung vor sich geht. Ins Negative übersetzt, würde dieser Satz lauten, daß keine Hemmungen tätig sind, welche das Abfließen des akustischen Überflusses in die motorische Sphäre verhindern.« Klinische sowie biologische Beobachtungen rechtfertigen diese Annahme.

Einen weiteren Angelpunkt zur Lösung der verschiedenen Probleme bildet für Fröschels die Sternsche Definition des Satzes: »Eın Satz ist der Ausdruck für eine einheitliche Stellungnahme zu einem Bewußtseinsinhalt.< Ihre Richtigkeit zeigt der Autor an folgendem phonetischen Experiment: »Nimmt man nämlich .... ein Pneumogranım eines gesunden Sprechers auf, so kann man sich von der Tatsache überzeugen, daß die Versuchsperson am Schlusse eines Satzes oder doch eines zu- sammengehörigen Satzteiles mit ihrem Atem zu Ende ist. Dies... ist nur so zu erklären, daß der normale Sprecher schon zu Beginn des Satzes ein gewisses Ge- fühl von seiner zukünftigen Beschaffenheit haben muß, während es doch ander- seits jedermann klar ist, daß er besonders beim Ausdruck schwieriger Gedanken nicht gleich zu Beginn des Sprechens alle Worte einwandfrei zur Verfügung hat.« Es ist eine Mahnung zur Vorsicht an viele Sprachforscher, die gar zu oft im Be- griffe sind, über der »Lautlehre« daran zu vergessen, daß Laute logische Abstrak- tionen sind, daß jede sprachliche Veränderung nur als innerhalb eines Satzes auftretend betrachtet, begriffen und erklärt werden kann und darf.

Interessant ist die Fröschelssche Ansicht über die Akzente. Ihre Be- deutung »liegt darin, daß der Sprecher die Aufmerksamkeit des Hörers auf einen Satz, ein Wort oder eine Silbe dadurch lenkt, daß er diese in einer für den Hörer ungewohnten (auffälligen) Weise spricht.«e Die Tragweite dieser Definition, »welche sowohl auf den Sprecher als auf den Hörer Rücksicht nimmt«, hier darzulegen, würde zu viel Raum beanspruchen. Ebenso können die interessanten Ausführungen über transkortikale Aphasie, Stottern bei Kindern und bei Aphasie hier lediglich hervorgehoben werden. Der Frage des Agrammatismus, des Sprechens im »Tele- grammstil«, die den Lehrer und den Kinderforscher in hohem Maße interessieren muß, hat der Autor, wie mir scheinen will, zu wenig Platz eingeräumt.

Im Anhange gibt Fröschels zunächst die Krankengeschichte eines Patienten mit sensorischer Aphasie. Es ist zu begrüßen, daß der Autor hierin mit gutem Beispiel vorangeht. Denn nur dann kann ein gedeihliches Fortschreiten der Aphasie- forschung erwartet werden, wenn wir über ein zahlreiches Material von derartig verfaßten Krankenprotokollen verfügen werden. Es kann dabei nicht genug betont werden, welche Werte der Lehrer durch seine Beteiligung an ihrer Abfassung der Wissenschaft zuführen kann.

Bemerkenswert ist die gleichfalls im Anhange beigefügte Anweisung zur Prüfung der Sinnestypen nach Baerwald mit vier Beispielen. So notwendig und bedeutsam solche Prüfungen sind, so vorsichtig muß man dabei aber auch sein. Dem Rezensenten dünkt es, als ob das Schema nur in Ausnahmefällen mit Erfolg verwendet werden könne. Derartige Schemen sind meistens nur auf experimentell- psychologisch geschulte Versuchspersonen anwendbar. Eine dankenswerte Aufgabe wäre es daher, das Schema in die Sprache des Naiven zu »übersetzen« und es in ein umfangreiches Intelligenzprüfungs-Schema einzureihen. Damit ist aber nicht gesagt, daß die Fragen in der Form, wie sie Fröschels nach Baerwald unver- ändert wiedergibt, nicht wertvolle Streiflichter auf die Vorstellungstypen gerade der gebildeten Aphatiker werfen können. Immerhin ist aber der Vergleich mit denen der Ungebildeten, Naiven wünschenswert. Für seine Anregung dürfen wir dem Autor unsere Dankbarkeit und Anerkennung nicht versagen. Genau be- sonders in bezug auf die Sinnestypen analysierte Aphasien und seien es auch nur wenige Fälle werden uns zweifellos der Erkenntnis des zentralen Mecha- nismus der Sprache um ein gut Stück näher bringen,

250 D. Literatur.

Wir haben hier eine Schrift vor uns, die eine neue Richtung der Sprach- betrachtung anbahnt, eine Schrift, die historisches Verständnis des Autors, verbunden mit glücklich gepaarter biologisch-psychologischer Kenntnis verrät, ohne die in hohem Maße nötige Kritik vermissen zu lassen. Es soll nicht verhehlt werden, daß die Lektüre von »Kindersprache und Aphasie«, soll sie von Wert sein, eingehendes Vertiefen in den Gegenstand und Konzentration verlangt. Für den denkenden Leser bietet dieses Buch eine Fülle von Anregungen. Man wird es oft bei Be- arbeitung eines sprachwissenschaftlichen Themas zur Hand nehmen. ‚Weder der Spracharzt noch der Kinderforscher, noch der Linguist (selbst der in historischer Richtung forschende) wird es entbehren wollen.

Wien. i L. Stein.

Tugendreich, Dr. Gustav, Die Mutter- und Säuglingsfürsorge. Kurz- gefaßtes Handbuch. Mit Beiträgen von Amtsgerichtsrat J. F. Landsberg und Dr. med. W. Weinberg. Mit 2 Tafeln, 13 Textabbildungen und zahlreichen Tabellen. Stuttgart, Ferd. Enke. 455 Seiten. 12 M., geb. 13,40 M. ohne Kriegs- zuschlag.

An der Lösung des sozialen Problems der Mutter-, Säuglings- und Klein- kinderfürsorge sind vor allem auch die wissenschaftlich richtig eingestellten Lehrer die Berufspädagogen interessiert. Diese Ansicht haben wir jederzeit ver- treten. Es ist durchaus kein fernliegendes Gebiet, und jeder, der den inneren Auf- bau der wissenschaftlichen Pädagogik kennt, weiß, daß dieses soziale Problem für Lehrer und Lehrerinnen ein weites Gebiet erschließt, wo sie segensreich wirken können und sollen. Daß der Verfasser den Pädagogen außer bei der unmittelbaren Schularbeit zur Vorbereitung der Mädchen nicht erwähnt, wundert uns. Was von Pädagogen auf diesen Gebieten der sozialen Fürsorge geleistet wurde, ‚beweisen auch die Jahrgänge unserer Zeitschrift. Das kommende Gesetz für die Mutter-, Säuglings- und Kleinkinderfürsorge wird Behörden vor neue Aufgaben stellen, wo ihnen die Mitarbeit der Pädagogen willkommen sein wird. Es ist dazu nötig, daß sie die richtigen Quellen kennen, wo sie Kenntnisse schöpfen können, um bereits angebahnte Wege zu gehen, weiter auszubauen. Dazu möchten wir das Handbuch von Tugend- reich warm empfehlen. Es gibt einen zusammenfassenden Überblick über die Arbeit, die seit vielen Jahrzehnten vereinzelt und geschlossen geleistet wurde.

Dem Verfasser erwuchsen besondere Schwierigkeiten, die darin bestanden, daß er für die verschiedensten Berufsklassen schrieb, und so mußte er die richtige, all- gemein verständliche Darstellungsweise eines für einzelne oft fremden oder fern- liegenden Stoffes finden. Das ist ihm geglückt. Für zwei Abschnitte gewann er bekannte Fachmänner; so für den 4. Abschnitt »Rechtsstellung und Rechtsschutz der ehelichen und unehelichen Mutter, sowie des ehelichen und unehelichen Kindes«e und für den 6. Abschnitt A »Ausbildung der Juristen im Hinblick auf die Mutter- und Säuglingsfürsorgee den Amtsgerichtsrat J. F. Landsberg, Lennep, und für Abschnitt 2 »Mutter- und Säuglingsstatistik«e Dr. med. Weinberg. Stuttgart. Es wäre vorteilhaft gewesen, wenn der Verfasser auch für den 8. Abschnitt: »Schulung der Mütter« einen Pädagogen gewonnen hätte, der über allgemeine Kenntnis der deutschen Schulverhältnisse verfügte. So wären wohl einige Urteile milder aus- gefallen oder auf bestimmte Gegenden begrenzt worden; denn so ferne stehen alle Pädagogen gerade der Lösung dieses Problems nicht; vielmehr haben sie schon früher mit mehr oder weniger Erfolg daran gearbeitet, und daß jetzt im Weltkrieg die Idee der Mutterschulung neu belebt wurde, wissen die Leser dieser Zeitschrift aus unseren Referaten und den Abhandlungen, die die Schriftleitung zu diesem Thema regelmäßig brachte.

Das Handbuch von Tugendreich wird wertvoll dadurch, daß zu jedem Ab- schnitt reiche Literatur angeführt wird. In einer Neuauflage, diè dem Buche im Interesse der kommenden sozialen Arbeit zu wünschen ist, wäre es zu empfehlen, Mitarbeiter für die mühsame Arbeit einer lückenlosen Bibliographie zu gewinnen. Es war für den Verfasser eine außerordentlich schwere Arbeit, die verstreut in verschiedensten Zeitschriften und Büchern vorhandene Literatur aus den Gebieten der Hygiene, Medizin, Pädagogik usw. zusammenzutragen und daher die Lücken, die von ihm selbst zugegeben werden, aber bei einem Handbuch störend wirken.

D. Literatur. 251

Diese Wünsche, die wir äußern, sollen den Wert des Buches durchaus nicht herab- setzen; wir halten es für ein Handbuch, das in keiner Bücherei der Behörden und interessierten Kreise fehlen darf, was schon ein Auszug aus dem Inhaltsverzeichnis bestätigen wird: 1. Begriffsbestimmuüng und kurzer geschichtlicher Abriß der Mutter- und Säuglingsfürsorge. 2. Mutter- und Säuglingsstatistik. 3. Über Berechtigung und über die Träger der Mutter- und Säuglingsfürsorge. 4. Das oben erwähnte Kapitel von Landsberg. 5. Der sozialgesetzliche Mutterschutz und die Mutter- versicherung. 6. Ausbildung der Juristen und Arzte auf die Fürsorge. 7. Aus- bildung des ärztlichen Hilfspersonals Hebammen Wochenpflegerinnen Säuglingspflegerinnen Ländliche Mutter- und Säuglingsfürsorge. 8. Schulung der Mutter. 9. Rechtsschutzstellen für Frauen. 10. Offene Fürsorge für Schwanger- schaft, Entbindung und Wochenbett. 11. Stillung. 12. Offene allgemeine Säuglings- fürsorge (Mutterberatungsstellen usw.). 13. Versorgung der Säuglinge mit Kinder- milch. 14. Anstaltliche Fürsorge. 15. Fürsorge für Kinder, deren Mütter tagsüber außerhäuslich erwerbstätig sind (Krippen, Mütterheime usw.). 16. Anstaltliche Ver- sorgung kranker Säuglinge. 17. Fürsorge für besonders gefährdete Säuglinge Das Ziehkinderwesen Ammenwesen. 18. Zentralisationsbestrebungen. Meißen i. Sa. Kurt Walther Dix.

Meyer-Rüegg, Prof. Dr. H., Die Frau als Mutter. 6. Auflage. Mit 53 Ab- bildungen. Stuttgart, Ferdinand Enke. 335 S. 4,40 M., geb. 5,40 M. Ohne Kriegszuschlag.

Es ist ein Buch, das von einem bekannten Züricher Kinderarzt für Laien Eltern geschrieben wurde, worin vom Standpunkt der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnis aus, abgeklärt durch jahrelange Erfahrung, beste Ratschläge gegeben worden und sowohl anatomische physiologische Aufklärungen über den Kindes- körper, als auch Vorschriften für die Pflege, Ernährung und erste Hilfe bei Er- krankungen allgemein verständlich geboten sind. Es reiht sich den von uns früher besprochenen Werken von (Biedert) Selter Rein, Trumpp u. Stratz an, die wir Lehrern und Lehrerinnen für den Unterricht in Kindeskunde empfahlen. Sie werden es mit Gewinn lesen. Einiges aus dem Inhalt soll interessieren: I. Teil: Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett. II. Teil: Pflege und Ernährung des Neu- geborenen Entwicklung und Pflege Stillen an der Mutterbrust Ammen- ernährung künstliche Ernährung gemischte Ernährungsweise »Ersatzmittel der Milch«e und Beinahrung. Zeichen gesunder Entwicklung. Anhang: Die Er- nährungsstörungen. Verdauungsstörungen bei Kindern mit krankhafter Anlage.

Meißen i. Sà. Kurt Walther Dix.

Willmann, Otto, und Fritzsch, Theodor, Johann Friedrich Herbarts Pädagogische Schriften mit Einleitungen, Anmerkungen und Registern sowie reichem bisher ungedruckten Material ays Herbarts Nachlaß. Dritte Ausgabe. 3 Bände, zusammen etwa 30 Lieferungen. Ermäßigter Zeichnungspreis bis zum unmittelbar bevorstehenden Abschluß des Werkes, 60 Pf. für die Lieferung, 6 M f. d. brosch., 8 M f. d. geb. Band. Osterwieck/Harz u. Leipzig, A. W. Zickfeldt.

Weil wir belieben, Herbart kurzweg als den größten Erziehuugstheoretiker zu preisen, haben wir es selbst verschuldet, daß von gegnerischer Seite seine prak- tischen Erfahrungen gering geschätzt werden. Vor einseitiger Beurteilung dieses’ großen Geistes, durch den jeder Pädagog zum mindesten hindurchgegangen sein muß, bewahrt nur das gründliche quellenmäßige Studium aller seiner pädagogischen

Schriften, wie es eine anerkannte Herbart- Ausgabe ermöglicht. Wir standen vor

der großen Gefahr, daß die von Paulsen als die beste gerühmte, von Ziller u. a.

freudigst begrüßte Willmann-Ausgabe Herbarts vollkommen vom Büchermarkte

verschwinde Daß wir nun unmittelbar vor dem Abschluß einer Neu-Ausgabe einer auf 30 Lieferungen berechneten (29 liegen im Buchhandel vor) der Will- mann- Bearbeitung stehen, ist das ein bedeutsames Ereignis für die ganze pädagogische

Welt. Auf dieses hinzuweisen gibt mir besondere Veranlassung der 50. Geburtstag

(2. Okt. 1918) des verdienstvollen Mitherausgebers, Dr. Theodor Fritzsch, Bezirks-

schulinspektor in Rochlitz (Sa). Wer kennt nicht den tief schürfenden Forscher

und darum gründlichen Kenner und zuverlässigen Beurteiler der ganzen pädagogi-

2592 D. Literatur.

á

schen Entwicklung vom Philanthropismus bis einschließlich Herbart und Ziller. Als Fritzsch an die Neuausgabe der Willmannschen Herbart- Ausgabe herantrat, war er bereits eine anerkannte Größe auf diesem Forschungsgebiete durch seine Ver- öffentlichung der etwa 1000 Briefe von und an Herbart (Bd. XVI—XIX dor Kehr- bach-Flügel-Ausgabe). Wie groß das Verdienst Fritzschs um die nun fast voll- endet vorliegende Ausgabe von J. Fr. Herbarts pädagogische Schriften«e zu ver- anschlagen ist, kann wohl am besten Willmann, der Senior der deutschen Päda- gogen, selbst beurteilen. Er schreibt mir u. a.: »Fritzsch hat das Unternehmen durch Gewinnung des Verlegers (Zickfeldt) überhaupt erst in Fluß gebracht. Die Beschaffung des reichen bisher ungedruekten Materials!) ist ausschließlich ihm zu danken. .... Die ganze redaktionelle Arbeit, einschließlich der Korrekturen ruhte auf seinen Schultern allein. Die Heranziehung der Herbartliteratur in den Vor- bemerkungen und Anmerkungen besorgte er ebenfalls. .... Mit seinen anderen Veröffentlichungen teilt die Ausgabe die große Exaktheit. In Summa seine Arbeit ist eine wissenschaftliche Leistung, die auch Fernerstehende würdigen.« Wir müssen demzufolge in Zukunft von der Willmann-Fritzsch-Ausgabe reden, nur so können wir annähernd dem gewaltigen Anteil des Fünfzigjährigen gerecht werden. Das ganze Werk, nach sachlichen Gesichtspunkten geordnet nach Aufgabe der zeitlichen Anordnung, umfaßt: Vorarbeiten,?) Allgemeine Pädagogik, Umriß pädagogischer Vorlesungen, Zur psychologischen Pädagogik, Zur praktischen Pädagogik,°) Zur zeitgenössischen Pädagogik,*) Anhang mit Schemata zu den Vor- -lesungen, Auszügen, Exzerpten, Entwürfen, Aphorismen. Ein ausführliches Namen- und Sach-Register wird die Einteilung nach Sachgebieten noch unterstützen. Auf Einzelheiten einzugehen, verbietet sich bei einer Veröffentlichung von über 1500 Druckseiten. Gleich hier sei bemerkt, daß die gediegene Ausstattung, die deutlichen, leicht lesbaren Schriftzeichen wie das treffliche Bildnis Herbarts dem Verlage nur zur Ehre gereichen, der auch die Unkosten der Veranstaltung einer Liebhaberausgabe nicht scheute. Alle, die wir Dr. Fritzschs exakte Forscherarbeit seit langem schätzen und die wir seine Fähigkeit und Ausdauer in den dabei viel- fach auftretenden Schwierigkeiten rückhaltlos bewundern, wünschen zu seinem »Fünfzigstene der Willmann-Fritzsch-Herbartausgabe, die für ihn ein gut Stück Lebensarbeit bedeutet, einen Siegeszug. Tiefe, einwandfreie Herbartkenntnis ver- breiten, wie es durch diese 3 Bände geschieht, heißt unbedingt den Kreis der Herbartanhänger erweitern. Bautzen (Sa.) Johannes Meyer.

Hirschfeld, Magnus, Sexualpathologie. Ein Lehrbuch für Ärzte und Stu- dierende. Zweiter Teil: Sexuelle Zwischenstufen. Das männliche Weib und der weibliche Mann. Mit 20 Photographien auf sieben Tafeln. Bonn, A. Marcus & E. Webers Verlag (Dr. jur. Albert Ahn), 1918. X und 279 Seiten. Preis ge- heftet 14 M. (mit Teuerungszuschlag 15,40 M.), gebunden 16 M. (mit Teuerungs- zuschlag 17,60 M.).

Im 22. Jahrgang dieser Zeitschrift wurde auf den Seiten 253—255 der erste

Band dieses Werkes von mir besprochen. Ich betonte damals, daß Hirschfelds

Buch vor allem auch in die Hände des Anormalen-Pädagogen gehöre. Ich möchte

1) Zum 1. Male erscheinen hier im Druck: Diktate Herbarts zur Pädagogik, W.-8. 1802/03, erster Entwurf zur Allgemeinen Pädagogik, ein Lehrplan für Gym- nasien, ein Gutachten über Realschulen, die Aphorismen zur Pädagogik und Psycho- logie (in Originalgestalt) usw.

‚°) Z. B. der für die Beurteilung der praktischen Arbeit Herbarts äußerst wichtige Abschnitt: Aus Herbarts Erziehertätigkeit, ferner einige als »neu« bereits angeführte Stücken.

8) Aus der Göttinger päd. Gesellschaft. Das Königsberger päd. Seminar. Aus Herbarts sonstiger praktisch -pädagog. Tätigkeit in Königsberg (sehr wichtig für die Kenntnis der Herbartschen Praxis!)

4) Pestalozzi, Fichte, Schwarz und andere zeitgenöss. Literatur. Rezensionen über Turnschriften.

D. Literatur. 253

das, wenn auch vielleicht etwas weniger stark betont, auch von diesem zweiten Bande vorausschickend gleich sagen. Ich verhehle dabei allerdings nicht, daß gerade dieser Band doch wohl in der Hauptsache nur für ärztlich geschulte und vorgebildete Leser geschrieben worden ist, daß er vielleicht sogar in unrichtigen Händen verkehrt wirken kann. Ich denke dabei an eine Äußerung meines ver- storbenen Lehrers Cramer in Göttingen, der wiederholt betonte, wie Krafft-Ebbings »Psychopathia sexualis«e in den Händen der Medizin-Studierenden oft genug Unfug angerichtet habe, wie man sie deshalb nur solchen Medizinern ın die Hand geben solle, die sich speziell mit den darin behandelten Fragen befaßten. Hirschfelds Werk über die sexuellen Zwischenstufen ist ein in sich geschlossenes Werk, das wohl, soweit ich beurteilen kann, als das beste seiner Art bezeichnet werden darf. Wenn man bedenkt, daß Hirschfeld selbst hier bahnbrechende Arbeit geleistet hat, so ist das beinahe selbstverständlich. Denn kaum irgend ein anderer Arzt wird über ein gleich reichhaltiges wie interessantes Material verfügen. Und die vielen ausführlichen Krankengeschichten und Gutachten beweisen immer wieder, wie un- geheuer wichtig das Studium der sexuellen Zwischenstufen ist. Sie sind es auch, die das Durcharbeiten des Buches zu einer wirklich angenehmen Aufgabe machen.

Das erste Kapitel behandelt den Hermaphroditismus, das zweite die Androgynie, das dritte den Transvestitismmus, das vierte die Homosexualität, das fünfte den Meta- tropismus. Auf die einzelnen Kapitel berichterstattend einzugehen, würde zu weit führen. Sie enthalten eine Unmenge interessanter Darstellungen und Erwägungen. Auch hier ist überall wieder der größte Wert auf die Forschungen über die innere Sekretion gelegt. Steinachs epochemachenden Untersuchungen haben eine aus- führliche Wiedergabe gefunden.

Dem Pädagogen werden in dem Werk außerdem noch verschiedene kleine Bemerkungen Anlaß zum Nachdenken geben: z. B. das, was über das Hänseln jugendlicher Hermaphroditen in der Schule wegen ihrer tiefen Stimme gesagt ist, was von der Vorliebe jugendlicher Transvestiten zu weiblichen Handarbeiten und opein gesagt wird, was von jugendlichen Homosexuellen und ihrem Seelenleben handelt.

Gerade derartige Punkte sind es, die einem klar werden lassen, wie wichtig es ist, daß auch Nicht-Arzte sich mit den Fragen beschäftigen, die Hirschfeld in so meisterhafter Weise darzustellen versteht.

Berlin-Lichtenberg. Karl Wilker.

Rehs, E., und Witt, E., Fibel auf phonetischer Grundlage mit be- sonderer Berücksichtigung der neusten Forderungen auf dem Ge- biete des ersten Leseunterrichts. Leipzig, Druck und Verlag von B. G. Teubner, 1916.

Die Fibeln von Rehs und Witt sind speziell für den Leseunterricht in Hilfs- schulen bestimmt. Ausgehend von dem Gedanken, daß die Lesefertigkeit nicht alleiniger Zweck des ersten Leseunterrichts ist, sondern in den Dienst der lebendigen Sprache zu treten hat, betonen die Verfasser, gegenüber einer einseitigen Schulung des Auges beim Erfassen der Lautbilder eine vermehrte Übung des Gehörs und eine gründliche Schulung der Sprechwerkzeuge. Um dieses zu erreichen, fordern sie ein längeres Verweilen bei den Sprachelementen, um eine gute Artikulation zu erzielen. Sie ordnen daher den Lesestoff der Fibel anfangs nicht nach der Schreib- leichtigkeit, sondern nach der Schwierigkeit der Laute und deren leichteren oder schwereren Verschmelzbarkeit. Da in den meisten Fibeln der eng zusammen- gedrängte Stoff für die Hilfsschüler eine zu große Häufung von Schwierigkeiten auf einmal bietet, haben die Verfasser den Fibelstoff auf drei gesonderte Bändchen ver- teilt, von denen der erste den Namen »Artikulationsfibele führt. Die Laute und Lautverbindungen sind hier streng nach Artikulationsschwierigkeiten geordnet. Be- nutzt wird die Fibel erst, nachdem durch voraufgehende Artikulationsübungen eine reine Aussprache erzielt und das Leben genügend vorbereitet ist. Ein besonderer Vorzug dieses ersten Bändchens ist der reichhaltige Übungsstoff der nach unserer Erfahrung wohl geeignet ist, neben der Befestigung des Gewonnenen, die Geschmeidig- keit und Kräftigung der Sprechorgane zu heben.

Daß die Verfasser bei der Zusammenstellung der Silben und Wörter, in denen

254 D. Literatur.

sich derselbe Laut häufig wiederholt, doch von inhaltlosen Verbindungen nur einen beschränkten Gebrauch machen, gereicht der Fibel zum Vorurteil, obwohl wir des öfteren beobachtet haben, daß die häufige Wiederkehr ähnlich klingender Laut- verbindungen in Reihen unserer schwachen und sprachbehinderten Kindern immer eine besondere Freude bereitete, auch wenn die betreffenden Silben und Wörter keinen Gedankeninhalt darstellen. Während das erste Bändchen des Fibelwerkes nur die leichtesten Lautverbindungen unter Benutzung der kleinen Schreib- und Druckschrift bringt, folgen in dem zweiten Bändchen, der »Lesefibel« die Grog- buchstaben, die Dehnung, die Schärfung und die Konsonantenhäufungen. Von der phonetischen Anordnung wird jetzt Abstand genommen, da es sich in erster Linie um eine neue Schreibweise handelt. Im dritten Bändchen, im »Lesebuch« werden zusammenhängende Lesestücke geboten.

Wir haben die Fibel von Rehs und Witt mit gutem Erfolg benutzt und sind von ihrer praktischen Brauchbarkeit überzeugt. Besonders wertvoll für den Unterricht unserer schwachen mit Sprachgebrechen behafteten Schülern scheint uns die Artikulationsfibel zu sein, die nach unserer Meinung auch neben, oder besser vor jeder anderen Fibel benutzt werden kann.

Jena-Sophienhöhe. Hollewede.

Eltern und Kind. Vierteljahrsschrift im Auftrage der Deutschen Gesellschaft zur Förderung häuslicher Erziehung E. V. herausgegeben von Dr. Joh. Prüfer, Verwaltungsdirektor der Hochschule für Frauen in Leipzig. Leipzig, B. G. Teubner. Jg. 1, Doppelheft 1/2, ausgegeben am 11. Oktober 1918. (Der laufende Jahrgang erscheint in zwei Doppelheften und kostet 5 M. Das Einzelheft kostet 3 M.)

Diese neue Zeitschrift nimmt ohne daran zu erinnern in gewisser Weise das Programm auf, das Küppers in seiner »Deutschen Elternzeitschrift« (Hermann Beyer & Söhne [Beyer & Mann], Langensalza) verwirklichen wollte und bis zum Kriegsausbruch und seinem Heldentode auch verwirklicht hat. Mir will scheinen, daß nicht einmal die glückliche Form gewählt worden ist, die sich bei Küppers’ Zeitschrift bewährt hat. Die Absicht ist _gewiß lobenswert: Steigerung der Er- ziehungskraft und Erziehungsleistung des deutschen Hauses und der deutschen Familie. Soll diese Absicht aber verwirklicht werden, dann muß die dafür be- stimmte Zeitschrift (und natürlich auch die »Deutsche Gesellschaft zur Förderung der häuslichen Erziehung«) ganz entschieden eine volkstümlichere werden, als sie es in der jetzigen Form werden kann.

Die Zeitschrift soll wertvolle pädagogische Arbeiten der Gegenwart bringen, sie will auf die Werke pädagogischer Denker der Vergangenheit durch kurze Abschnitte immer wieder hinweisen, sie will Erfahrungen und Anregungen aus der praktischen Erziehungsarbeit bringen und wertvolle Schriften besprechen.

Es ist natürlich schwer, auf Grund des ersten vorliegenden Heftes ein Urteil darüber abzugeben, wie die vorgenommenen Aufgaben erfüllt werden. Am wert- vollsten erscheinen mir die 7'/, Seiten »Erziehungserfahrungen«, zu denen eigent- lich auch noch der Aufsatz Walter Thielemanns gehört, in dem die Frage be- sprochen wird, wie Eltern ihre Kinder bestrafen sollen.

Die letzten Seiten des Heftes (S. 39—48) enthalten ausführliche Mitteilungen über die Deutsche Gesellschaft zur Förderung häuslicher Erziehung, deren Haupt- arbeitsgebiet in Leipzig liegt, die aber auch aus Meißen und Meiningen über wert- volle Arbeit zu berichten weiß.

Berlin-Lichtenterg. Karl Wilker.

Ziehen, Th., Über die allgemeinen Beziehungen zwischen Gehirn und Seelenleben. Dritte, umgearbeitete Auflage. Leipzig, Johann Ambrosius Barth, 1912. 72 S. Preis 2,20 M.

Eines Wortes der Empfehlung bedürfen Ziehens Schriften für unsere Leser kaum mehr. Sie alle kennen und schätzen ihn und seine Arbeiten.

Diese Schrift gibt einen älteren Vortrag wieder. Sie betont mehr als sonst den historischen und erkenntnistheoretischen Standpunkt. Sie bringt außerdem ein reichlich und sorgfältig zusammengestelltes Literatur-Material,‘ wie es nicht viele sonst haben. Und grade die Anmerkungen, in denen dieses enthalten ist (S. 58—72),

D. Literatur. 255

lassen von neuem Ziehens Vielseitigkeit und ungeheuren Fleiß erkennen. Die Lösung über das Wesen des Zusammenhangs des Gehirns mit den psychischen Prozessen wird man aus Ziehens Schrift darlin nicht erhalten. Wohl gibt er eine kritische Darstellung der wichtigeren Anschauungen darüber. Und er fordert seine Leser auf: »Sie müssen also selbst wählen oder noch besser sich selbst an der fortschreitenden Lösung beteiligen« (S. 57). Nach Ziehens eigner Anschauung führt uns die immanente Philosophie einer Lösung der schwierigen Fragen wirklich näher. Die Weiterarbeit an dieser jüngsten Erkenntnistheorie ist also wohl das, was am meisten zu empfehlen sein dürfte. Berlin-Lichtenberg. Karl Wilker.

Lietz, Hermann, Die ersten drei Deutschen Land-Erziehungsheime zwanzig Jahre nach der Begründung. Ein Versuch ernsthafter Durch- führung deutscher Schulreform. Veckenstedt am Harz, Verlag des Land-Waisen- heims an der Ilse, 1918. 104 Seiten. Geheftet 2 M.

Lietz, Hermann, Die ersten drei Deutschen Landerziehungsheime bei Ilsenburg im Harz, Haubinda in Thüringen, Bieberstein i. d. Rhön. Entwicklung, Grundsätze, Einrichtungen, Ordnung und Bestimmungen. Ebenda. 40 S.

Aus einem kurzen »Prospekt« wurde das erste Buch. Einen »Prospekt« dar- stellen soll vielleicht das zweite Büchlein. Aber beide bieten weit mehr. Das erste könnte man fast als einen Grundriß der Pädagogik der Land-Erziehungsheime be- zeichnen. In die knappste Form ist darin alles zusammengefaßt, was zu sagen war. Und in welcher Weise ist das gesagt! Ehrlich, aufrichtig, zielsicher, bewußt der geleisteten Arbeit mit einem Wort: in deutschester Weise. Heute nach 20 Jahren mühevoller Arbeit darf Lietz sagen: die Zukunft der Deutschen Land-Erziehungsheime ist gesichert. Selbstlos, wie seine ganze Arbeit war, hat er, da es sich bei ihnen nicht um seine Person, sondern um eine öffentliche Angelegen- heit handelte, sein ganzes Eigentum in Form einer Stiftung der Öffentlichkeit über- lassen mit der Bestimmung, daß seine Arbeit über seinen Tod hinaus in gleichem Geiste zum Nutzen der Allgemeinheit fortgeführt werde.

Du deutscher Idealist! So möchte man ihm zurufen. Und ängstlich-schüchtern wird man fragen: Wer wird es Dir nachtun? Denn das wissen wir Kundigen alle, daß wir hunderte oder gar tausende von Heimen nötig haben wie die Deinen.

Das zweite Büchlein, gleich dem ersten mit schönen Federzeichnungen Lina Burgers geschmückt, enthält einleitend einen Brief Lietzs, den er zum zwanzig- jährigen Gründungstage seiner Heime an die früheren Schüler richtete, dann kurz das Notwendigste über die Grundsätze und Einrichtungen der Heime. In zehn Ge- boten sind die erstrebten Ideale zusammengefaßt, die jedes Glied der Heime an- erkennen soll, und die gleich der 1913 verfaßten Ordnung geradezu vorbildlich für alle Heime und Schulen, für die ganze Jugend überhaupt sein könnten. Einige Worte über das für die Eltern Wissenswerte das einzige, was etwa als zu einem »Prospekt« gehörig aufzufassen ist; und das man doch auch nicht missen möchte, da es das Gesamtbild für den, der die Heime nicht kennt, vervollständigen wird beschließen das Heft.

Den beiden Schriften wünsche ich Tausende von Lesern, damit ihre Ideen unser ganzes deutsches Volk durchdringen zu seinem eigenen Besten.

Berlin-Lichtenberg. Karl Wilker.

Hagen, Wilhelm, und Günther, Gerhard, Jugendgesetz und Jugend- bewegung. Ein Aufruf und Arbeitsplan für die freideutsche Jugend zur Ge- staltung deutschen Lebens. Unter Mitarbeit mehrerer Freideutscher zusammen- gestellt. Hamburg, Freideutscher Jugendverlag Adolf Saal, 1918. 45 S. 50 Pf.

Eine Art Programmschrift wird uns da vorgelegt. Man lernt aus ihr mit aller Deutlichkeit wieder einmal die vielfache Verzweigung unseres Arbeitsgebietes kennen. Der kurze Überblick ist trefflich. Was in der Schrift gesagt wird, wird vielfach zu Widerspruch herausfordern. Aber was schadet das! Klingt doch aus allem der beste Wille, der Jugend aus ihrer Not zu helfen. Und zwar der Jugend durch die Jugend zu helfen. Wer die Gedanken der Jugend, die wirklich am Auf- bau unseres deutschen Volkes werktätig mithelfen möchte, kennen lernen will, der nehme sich dieses Heft vor.

256, D. Literatur.

Eins zwar durfte nicht vorkommen: wenn ich allein ein Buch schreibe, dann kann ich zwar überall von meiner Überzeugung reden. Schreibe ich’s mit einem Kameraden zusammen unter Mitarbeit weiterer Kameraden, dann ist es für den Leser wenig erfreulich, so oft Ich-Sätze lesen zu müssen, über deren Verfasser man sich dann den Kopf zerbrechen kann. Im allgemeiner gewinnt man wohl den Eindruck, daß Wilhelm Hagen die meisten dieser Ich-Sätze geschrieben hat. Aber man hat doch das Gefühl, daß sorgfältige Durcharbeit des Heftes so- etwas hätte nicht durchgehen lassen dürfen. Auch die Quellenübersicht will mir nicht sehr gefallen. Auffallend ist ferner die Verherrlichung Wynekens (die mehr oder weniger zwischen den Zeilen zu lesen ist) und die völlige Verkennung von Lietz’ Arbeit, die ich und andere für viel bedeutender (wenn auch viel bescheidener in ihrem Schrifttum) halten als die Dialektik eines, Wyneken. i

Quellenstudium zu treiben, ist eine vornehme Pilicht jedes, der der Öffentlich- keit ein Werk unterbreiten will. Es engt nicht ein, wie so mancher fürchtet, aber es schützt vor dem Einseitigwerden, das bis zum gewissen Grade auch dieser Programmschrift vorgeworfen werden kann. Hätten die Verfasser und Mitarbeiter sich noch mehr umgeschaut und umgehorcht in Leben und Schrifttum manches wäre anders geschrieben, milder oder härter, manches anders gefordert.

Berlin-Lichtenberg. Karl Wilker.

Rein, Wilhelm, Krieg und Erziehung. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1916. 28 S. 70 Pf.

Eine Stuttgarter Rede aus dem Februar 1916. Man liest sie jetzt mit eigen- artigen Gefühlen. Wesentlich neue Gedanken bringt sie dem Kenner von Reins Schriften nicht, wie denn ja auch im Anhang auf recht viele derselben und auf einzelne Aufsätze, kaum aber auf andere Arbeiten verwiesen ist. In aller Kürze bespricht Rein die »aktuellen« Fragen in der ihm eigenen Art. Und man liest sie

gern. Auf S. 13 ist wohl ein Fehler stehen geblieben: statt »dieser Zeitraum« ist wohl zu lesen diese Jahre«. Berlin-Lichtenberg. Karl Wilker.

Dix, Kurt Walther, Brauchen wir Elternschulen? Pädagogisches Magazin Heft 693. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1918. 53 S. Preis 1 M. '

Die Notwendigkeit der Elternschulen braucht in dieser Zeitschrift nicht mehr und nicht besonders betont zu werden. Kurt Walther Dix bat immer wieder darauf hingewiesen, und andere mit ihm. In einer Werbeschrift hat er seine Ge- danken noch einmal zusammengefaßt. Seine Forderungen sind uns nicht neu. Aber wir freuen uns, daß er sie zusammengefaßt weiteren Volkskreisen vorlegt. Was mich am meisten interessiert hat, das sind die Ausführungen über den inneren Be- trieb der Elternschule, sind insbesondere die Lehrgänge. Erfreulich wäre es, wenn zunächst wenigstens mal eine Elternschule diese ganzen Pläne in die Tat umsetzen würde, damit man danach urteilen könnte. Als Lehrer für solche Schule denkt Dix vor allem an Lehrerinnen und Gewerbelehrerinnen. Auch ein Arzt muß dem Lehr- körper angehören. Die Leitung muß ein erfahrener Pädagoge haben. Dix meint, daß man die Elternschule schaffen könne durch Vereinigung und Ausbau der sozialen Fürsorgeeinrichtungen. Er rechnet dabei sehr stark auf die private Wohl- tätigkeit. Wohl betont er, daß der Staat auch sehr viele Vorteile von derartigen Einrichtungen haben werde nach dem Gesichtspunkt: gesunde Eltern erzeugen und erziehen gesunde Kinder.

Es liegt allerdings heute ganz besonders nahe, die Anregungen dieses kleinen Büchleins in die Tat umzusetzen. Und doch kommen mir oft Zweifel, ob Dix’ Pläne nicht zu kühn, sein Vertrauen in die Einsicht unserer führenden Männer und Frauen nicht zu groß ist. Aber schließlich kommt es darauf nicht an! Er nennt seine Arbeit selbst eine »Werbeschrifte, und als solche muß sie erst mal in viel hunderttausend Heften den Weg zu allen Männern und Frauen gefunden haben.

Berlin-Lichtenberg. Karl Wilker.

Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.

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A. Abhandlungen.

1. Was bedeutet »Intelligenz«P'!) Von Dr. W. Höper, Hamburg.

Intelligenzprüfungen nenne ich solche Prüfungen, deren letzter Zweck es ist, nicht das Wissen des Kindes, sondern möglichst seine Fähigkeiten zu erfassen.

Weitere Einschränkungen und Bestimmungen der Grundsätze, nach denen zu verfahren ist, vorzunehmen, dürfte schwierig sein. Jaspers sagt: »Wir müssen im Prinzip unterscheiden zwischen dem Prüfen des Inventars mit der Frage, ob alle die geforderten Kategorien im geistigen Besitzstande vertreten sind, von dem Prüfen der Fähigkeit, in den einzelnen Kategorien neu ‘dargebotene Gedanken zu begreifen oder auf Fragen selbst etwas Bestimmtes zum erstenmal zu denken. Fragen letzterer Art gelten nicht als Inventarfragen, sondern als Mittel, die eigentliche Intelligenz zu unter- suchen.« Ähnlich drückt sich Kosog aus: »Nach der Sternschen Intelligenzdefinition müßten die Kinder bei jedem Test vor etwas Neues gestellt werden. Das ist aber bei Binet-Simon oft nicht der Fall. Kann man dann noch von der Darbietung von etwas Neuem reden, kann man dann nach obiger Definition noch von I. Pr. sprechen?

1) Aus der gleichzeitig erscheinenden logisch - psychologischen Abhandlung: »Über den objektiven Wert von Intelligenzprüfungen. Unter besonderer Berück- sichtigung der Methode Binet-Simon.« Beiträge z. Kinderforschung u. Heilerziehung. Heft 158. XII und 112 Seiten. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1919. Preis 4,50 M.

Zeitschrift für Kinderforschung. 24. Jahrgang. 17

258 A. Abhandlungen.

Findet dann nicht vielmehr gewissermaßen eine Prüfung darüber statt, ob das Kind etwa früher Dargebotenes auch erfaßt und behalten hat? Dichtet man nicht in solchen Fällen dem Kinde unter Umständen eine Intelligenz an, die es in Wirklichkeit nicht besitzt?« Aus diesen Ausführungen wird deutlich, daß die Forderung, das Kind solle bei der I. Pr. etwas zum erstenmal denken, wohl billig ist, daß man aber bei Unkenntnis der Umwelt des Kindes und seines Bildungs- ganges nicht garantieren kann, daß diese Forderung auch erfüllt wird. Bei dieser strengeren Fassung würde z. B. die Methode Binet-Simon aus dem Rahmen dieser Untersuchung ausscheiden. Daher mag es bei der ersten Annahme sein Bewenden haben.

Es wird aber gut sein, nicht einfach das Wort Intelligenz durch »Fähigkeiten« zu übersetzen, sondern sich darüber klar zu werden, was man unter dem Worte zu verstehen hat. Nur eine vorherige logische Klärung kann Aufschluß über die Berechtigung der Prüfungs- arbeit geben. Ohne logische Grundlagen arbeiten heißt auf Sand bauen. Freilich ist Bobertags Paradoxon: »Man kann eine I. Pr. veranstalten, ohne zu wissen, was die Intelligenz ist,«!) nicht ganz so schlimm, wie man zunächst glauben möchte. Er vertritt damit nur das, was Binet und: seine Anhänger und Nachfolger ausgeübt haben. Er fährt fort: »aber nicht, ohne zu wissen, was dabei vorgeht«. Was Bobertag meint, geht aus einer anderen Stelle derselben Arbeit hervor: da will er diese >nun einmal in der Anlage verpfuschten Begriffe« (er spricht von Intelligenz, Aufmerksamkeit) ganz aus der Psychologie verbannt wissen. Da dies aber noch nicht erreicht ist, da vielmehr über die Intelligenz starke Bände geschrieben sind und noch immer nicht von »Fähigkeits-«, sondern von »Intelligenzprüfungen« geredet und geschrieben wird, so ist zu untersuchen, was sich hinter diesem Worte verbirgt bezw. ob sich überhaupt etwas dahinter verbirgt.

Zunächst: was haben die einzelnen Forscher unter »Intelligenz« verstanden?

Binets Ausspruch »à propos de la définition de l’intelligence« aus dem Jahre 1908 ist oben?) berichtet worden. Aber so hat Binet nicht immer gedacht. 1905 schreibt er: »Mais il faul s’entendre sur le sens à donner à ce mot si vague etsi compréhensif: l’intelligence. Presque tous les phénomènes dont s’occupe la psychologie sont des phénomènes

1) Ähnlich Stern. Dagegen Anschütz: »Wir müssen uns auch eine Meinung über das zu bilden haben, was wir Intelligenz nennen wollen, ehe wir daran- gehen, praktisch die Intelligenz bei eineın bestimmten Individuum zu untersuchen.«

2) Binet bezeichnet die Frage als »un probleme effrayant de complexite« und versucht daher ihre Lösung gar nicht.

_Höper: Was bedeutet »Intelligenz« ? 259 d’intelligence; une sensation, une perception, sont des manifestations intellectuelles, autant qu'un raisonnement. Devrons-nous mettre en tests toute la psychologie? Ce serait bien du temps perdu. Il y a dans l'intelligence, nous semble-t-il, un organe fondamental, celui dont le défaut ou l’alt6ration importe le plus pour la vie pratique, c'est le jugement, autrement dit le bon sens, le sens pratique, l'initiative, la faculté de s'adapter. Bien juger, bien comprendre, bien raisonner, ce sont les ressorts essentiels de l'intelligence. Une personne peut être débile ou imbécile, si elle manque de jugement; avec un bon jugement, elle ne le sera jamais.« Und weiter: »Ce qui nous importe le plus de connaitre, c'est l'exactitude de leur jugement.« Über das Verhältnis von Intelligenz und Gedächtnis sagt er in derselben Schrift: »La mémoire est distincte et indépendante du jugement. Dans l'échelle nous accordons la première place au jugement. Mais malgré lexac- titude de cette idée directrice, il nous a été impossible de lui faire régler exclusivement notre examen. Nous ferons donc figurer sur notre liste des épreuves de mémoire; mais autant que nous pourrons, nous donnerons à ces épreuves une allure telle quelles puissent in- viter les gens à faire des réponses absurdes, et ainsi nous aurons, sous le couvert d'une expérience de mémoire, une appréciation de leur jugement. «

Nach allen diesen Erklärungen müßte man also annehmen, daß Binet die Intelligenz aufgefaßt habe als Urteilsfähigkeit, die sich wiederum äußert als Anpassungsfähigkeit, als »Initiative« (Aktivität), als gesunder Menschenverstand, praktischer Sinn; oder, wie er noch sagt: die Intelligenz zeigt sich im verständigen Auffassen, Erwägen, Beurteilen. Was ist mit einer solchen Intelligenzdefinition anzufangen ? Augenscheinlich nicht viel. Die »Anpassungsfähigkeit« geht zurück auf Binets Anschauung vom Jahre 1900 (»Adaptation der Aufmerk- samkeit«), die »Initiative« kommt als neues, zweifelhaftes Merkmal hinzu, und vollends der »gesunde Menschenverstand« ist nur eine Umschreibung, keine Deutung des Begriffes Intelligenz.

Auch die 1905 angedeutete und 1909 ausgeführte Einteilung der Intelligenz in sensorielle und verbale führt nicht weiter, denn man erfährt nicht, was eigentlich eingeteilt werden soll.

Eine »synthetische Theorie der Geistesfunktion« gibt Binet in den »Neuen Gedanken über das Schulkind«e und zwar soll diese zeigen, »daß der Geist trotz der Mannigfaltigkeit eine Einheit ist, daß ihm eine wesentliche Funktion zukommt, der alle andern untergeordnet sinde. Er sagt: »Nach unserer Ansicht ist die Intelligenz als unab-

hängig von den Phänomenen der Sinneswahrnehmung, dem Gefühls- 17*

260 A. Abhandlungen.

leben und dem Willen zu betrachten, und sie stellt vor allem eine Fähigkeit des Erkennens dar, die gegen die Außenwelt gerichtet ist und die mit Hilfe der uns gegebenen kleinen Fragmente an ihrer vollständigen Wiederaufbauung arbeitet. Was wir von der Außenwelt aufnehmen, ist das Element a, und die ganze so komplizierte Arbeit unserer Intelligenz besteht darin, dieses erste Element mit einem zweiten, dem Element b, zu verbinden. Alle Erkenntnis ist also im wesentlichen eine Hinzufügung, eine Anknüpfung, eine Synthese Bemerken wir aber sehr wohl, daß bei dieser Hinzufügung zum Element a bereits eine Menge von Fähigkeiten arbeiten: die Auffassung, das Gedächtnis, die Vorstellung, das Urteil, und vor allem das Wort. Behalten wir nur das Wesentliche im Auge und nennen wir, da ja nun einmal alles auf die Auffindung eines Elementes b hinausläuft, die ganze Arbeit eine ‚Erfindung‘, die nach einer ‚Auffassung‘ stattfindet. Wir haben dann zur Vervollständigung unseres Schemas nur noch zwei wesentliche Züge hinzuzufügen. Die beschriebene Arbeit kann nicht rein zufällig stattfinden, ohne daß man weiß, wovon die Rede ist, ohne daß man eine gewisse Linie annimmt, von der man nicht abweicht; es bedarf also der ‚Richtung‘. Die Arbeit kann sich nicht weiter vollziehen, ohne daß nicht die Gedanken, die sie wachruft, in dem Maße beurteilt würden, in dem sie auftreten, und ohne daß sie verworfen würden, im Falle sie nicht zur Erreichung des angestrebten Zieles dienlich waren; es bedarf also einer ‚Zensur‘. Auffassung, Erfindung, Richtung und Zensur, das sind also die 4 Werte, in denen sich die Intelligenz ausdrücken läßt.«

Aus der Gleichung:. Intelligenz Fähigkeit der; Synthese geht allerdings noch kaum, wie Binet meint, hervor, daß die Intelligenz eine einheitliche Funktion ist. Am besten wird dies wohl an folgendem klar: Als wesentliche und hauptsächliche Teilfunktion nennt Binet die »Erfindung«. Was sagt das aber, daß die Haupttätigkeit der Intelligenz das Finden, das Erfinden ist? Das sagt nichts, wenn nicht hinzugefügt wird, was gefunden werden soll, was der Gegenstand des Findens ist. So bringt Binets Definition nur die Hälfte von dem, was man erwarten müßte. Wenn aber das zu Findende keine Einheit ist, dann ist auch die Intelligenz als »das Erfinden, Symnthesieren« keine einheitliche geistige Funktion braucht es wenigstens nicht zu sein.

Wesentlich ist noch Binets Stellung zu der Auffassung der Intelligenz als »general ability« und von der Art der Korrelationen der Einzelfähigkeiten (Spearman). Er stimmt ihr so wenig bei wie der entgegengesetzten von Thorndike und meint: »Alles in allem handelt es sich hier um extreme Thesen, und es gibt so etwas wie

Höper: Was bedeutet »Intelligenz« ? 961

eine Wahrheit, die gerade in der Mitte steht und derartige Gegensätze auf sich beruhen läßt.« Binet tritt dann für mehrere Sätze ein, »die richtig bewiesen sind, mag nun die äußerste These, um die man sich streitet, sein, wie sie wolle«. Als solche Sätze nennt er:

»Niemals findet man eine fast vollkommene Unabhängigkeit zwischen einem Unterrichtsstoff und der Gesamtheit der anderen Stoffe.

Es bestehen Wechselbeziehungen nicht in dem Sinne, daß, wenn man in einem Fache etwas leistet, man in einem andern Fache schwach sein müsse. Die Anlagen schließen sich nicht gegenseitig aus.

Es gibt eine Fähigkeit, welche im umgekehrten Sinne als die Anlagen wirkt, das ist die allgemeine Anpassung an die Arbeit.

Aus diesen Sätzen geht eine Anschauung hervor, die man wohl für die richtige halten muß, weil sie die Erscheinungen des Lebens am ehesten erklärt: die der »Mitübbarkeit«e der nicht besonders begünstigten geistigen Tätigkeiten, im übrigen der Unabhängigkeit der einzelnen geistigen Tätigkeiten voneinander. Ob dafür jemals ein Beweis möglich ist, bleibe dahingestellt. Fraglich ist, ob bei Unab- hängigkeit der geistigen Fähigkeiten voneinander von einem »general intelligence« gesprochen werden kann, ob es dabei möglich ist, die Gesamtheit der intellektuellen Fähigkeiten als Einheit aufzufassen, Binet befürwortet es, und das ist von seiner I. Pr.-Methode aus selbstverständlich. Denn wie steht es mit der von ihm so sehr geringgeschätzten »thöorie«? »Point de thöorie« kann man immer wieder lesen, sowohl in den Schriften über seine Methode als auch z. B. in seiner »Etude expérimentale de l’intelligence«, wo er die Theorie verwirft als »toujours un peu vague«. Bei tieferem Eindringen aber zeigt sich, daß eine solche I. Pr.-Methode ohne Theorie nicht möglich ist, und daß sie, wie sie fertig, aufgebaut auf reiner Erfahrung, vor uns steht, doch eine Theorie voraussetzt: die der Intelligenz als einheitlicher psychischer Funktion, als »general intelligence«.

Spearman geht von einer »Korrelationspsychologie« aus. Er versucht in seiner Arbeit die allgemeine geistige Fähigkeit des Indi- viduums, die er »general intelligence« nennt, in Beziehung zu setzen zur sinnlichen Unterschiedsempfindlichkeit und sie in objektiver Weise zu bestimmen und zu messen. Die Untersuchungen, die Spearman an zusammen ungefähr 120 Kindern vorgenommen hat, bezogen sich auf die Unterscheidung von Unterschieden in Tonhähe, Helligkeit und Gewicht. Aus ihnen will er schließen, daß man ebenso wie von einer allgemeinen Intelligenz auch von einer allgemeinen Unterschieds- empfindlichkeit sprechen kann. Die allgemeine geistige Fähigkeit der Kinder, deren Rangordnung er aus Schätzungen gewonnen hat, teilt

262 A. Abhandlungen.

er ein in 4 Arten: tatsächliche Schulleistung, Schulleistungsfähigkeit ohne Rücksicht auf das Alter, Leistungsfähigkeit außerhalb der Schule, >common sense« in der Schätzung der Kameraden, so daß die Kinder von 3 verschiedenen Personen auf ihre »Intelligenz« geschätzt sind: vom Lehrer, von einem außerhalb der Schule Stehenden und von dem ältesten Schüler. In diesen Fähigkeiten befindet sich wie in der Unterschiedsempfindlichkeit der verschiedenen Gebiete je ein gemein- samer Faktor, die Spearman bezeichnet als »general intelligence« bezw. »general diserimination«. Durch Korrelationsrechnung findet er dann, daß ihrer beider Korrelation nahezu eine absolute ist und daß der Schluß auf den erwähnten gemeinsamen Faktor berechtigt ist.

Diesen gemeinsamen Faktor sah Spearman auf dem 6. Kongreß für experimentelle Psychologie 1914 begründet in der freien Energie der ganzen Hirnrinde. Daß eine solche besteht und wirksam ist, ist eine Hypothese, der man nicht zu widersprechen braucht. Daß sie aber in solcher Weise wirkt, daß sie allen Fähigkeiten gleichmäßig zugute kommt, ist ein Schluß, der nur aus den Korrelationsrechnungen Spearmans stammt, die ihrerseits auf ihre logische Berechtigung hin untersucht zu werden verdienten. Andere Untersuchungen von anderen haben andere Resultate ergeben, und die Erfahrungen des Lebens widerlegen eine solche Annahme. Wenn oben im Anschluß an Binet von einer »Mitübbarkeit« gesprochen worden ist, so kann eine solche nicht als Kraft aufgefaßt werden. Das würde ein Rückfall in die überwundenen Vermögenstheorien sein. Den Grad der Mitübbarkeit wuß man sich lediglich abhängig denken von dem Kräfteverhältnis, wenn man so sagen darf, der einzelnen Fähigkeiten. Ob diesem mit Korrelationsrechnung beizukommen ist, bedarf, wie gesagt, der logischen Untersuchung. Ich glaube es nicht. Und wie man in der umgebenden organischen und anorganischen Welt einen gemeinsamen Faktor, eine Lebenskraft bisher vergeblich gesucht hat, so wird auch im psychischen Geschehen wahrscheinlich jede Bemühung nach der Richtung hin unfruchtbar bleiben. Erscheinungen der Umwelt wie die Fähigkeiten, die darauf reagieren, bilden nicht eine Einheit, sondern eine Vielheit. Die Einheit zu konstruieren versucht immer wieder der rastlos strebende Menschengeist, aber was ihm auch gelingt, es bleibt Kon- struktion.

Doch die Erschöpfung dieser Fragen, wenn sie überhaupt möglich ist, geht weit über den Rahmen dieser Arbeit hinaus. Ich wende mich zu dem, was andere Forscher unter »Intelligenz« verstanden haben.

Meumann geht wie ja auch Binet bei seiner Auffassung der Intelligenz vom »intelligenten Menschen« aus. Das ist immer

Höper: Was bedeutet »Intelligenz«? 263

bedenklich, weil dabei ein Zurückgehen auf den gewöhnlichen Sprach- gebrauch unvermeidlich ist und dieser an wissenschaftlicher Klarheit oft alles zu wünschen läßt. Das ist bei dem Fremdwort Intelligenz besonders der Fall, und hier fragt sich vor allem, ob man dem Begriff als solchem im Sprachgebrauch eine Wertbetonung beilegt oder ob man ihn gewissermaßen neutral auffaßt. Als Parallele erinnere ich an das deutsche Wort »Humor« und das französische »humeur«. Wenn man von einem Menschen sagt, er sei intelligent, und man bildet dann das Substantiv, so erhält es den Sinn eines besonderen Grades der geistigen Begabung. Diesen Sinn hat der Begriff auch bei Meumann: »Der intelligente Mensch ist der hochbegabte Mensch.«e »Mit dem Begriff der Intelligenz bezeichnet der Sprach- gebrauch ein höheres Gesamtniveau des intellektuellen Lebens oder einen qualitativ höheren Gesamttypus der Begabung.« Die Beziehung auf den »intelligenten Menschen« hat Meumann nicht mehr beiseite gelassen. Die kürzeste Formulierung lautet: »Intelligenz ist die Fähigkeit zum Denken und Urteilen, und der intelligente Mensch ist der denkende Mensch.e Das Denken wiederum bezeichnet Meumann als seine eigenartige beziehende Tätigkeit, durch welche zu der bloßen Aufeinanderfolge der Vorstellungen in unserem Geiste eine neue und eigenartige Arbeit der Seele hinzutritt, bei welcher die Vorstellungen in bestimmter Form aufeinander bezogen werdene. Als Eigenschaften der Intelligenz bezw. des Denkens nennt Meumann: Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Denkens, und er unterscheidet die ana- lytische und die kombinierende Intelligenz. Die Beziehung auf den »intelligenten Menschen« kommt besonders da zum Ausdruck, wo Meumann dafür eintritt, daß »das höhere Begabungsniveau auf der Fähigkeit zum selbständigen und produktiven Denken beruht. Je mehr sich bei unseren Schülern die Fähigkeit zu einem- synthetischen Denken zeigt, zum planmäßigen Zusammenfassen von Eindrücken oder von erworbenen Kenntnissen, desto intelligenter erscheinen sie«.

Der Begriff Intelligenz hat aber nach Meumann einen Doppel- eharakter: »Intelligenz ist einerseits eine bestimmte psychische Verfassung, eine psychologisch bestimmbare Art der Begabung des Menschen, andererseits eine Fähigkeit, in der Kunst, in der Wissenschaft oder im praktischen Leben etwas zu leisten d. h. der Begriff der Intelligenz trägt ebensowohl psychologischen wie praktisch- teleologischen (nach gewissen Zweckgesichtspunkten bestimmten) Charakter.«< In dieser Feststellung liegt ein Hinweis auf die Beziehung zur Außenwelt. Man muß sie als richtig anerkennen; doch kommt die Art der Beziehung nicht klar genug heraus, und andererseits fällt der

264 A. Abhandlungen.

Begriff der Leistungsfähigkeit, der Fähigkeit, Werte zu schaffen, zum Teil nicht mehr unter den Begriff der rein intellektuellen Fähigkeiten.

Letzteres wird noch klarer an der Auffassung von Anschütz, die eine Weiterführung der Meumannschen darstellt. Er sagt: »Der Weg der Analyse und Zerlegung der Intelligenz in funktionelle Einheiten geht nur durch eine exakte Analyse der Aufmerksamkeit und ihrer einzelnen funktionellen Elemente.« Hier kommt also das Willensphänomen noch deutlicher als bei Meumann zum Vorschein; das zeigt, daß die Grenze der rein intellektuellen Fähigkeiten damit überschritten ist. Im phänomenologischen Teil seiner Definition aber ist Anschütz klarer als Meumann, wenn auch Meumann dasselbe meint wie Anschütz: er bezeichnet es als Wesen der Intelligenz, Beziehungen aufzufinden und herzustellen. Wenn Anschütz allerdings von niederer und höherer Intelligenz spricht und versucht, eine Rangordnung von wesentlichen und unwesentlichen Faktoren aufzustellen, so liegt darin eine Willkür, die weder unbestreitbare Berechtigung besitzt noch zu einem Ziele führen kann. Über den Wert einer Definition des Intelligenzbegriffes gibt sich Anschütz keinen Illusionen hin: »Die allgemeinen Beschreibungen und Analysen dessen, was man unter Intelligenz verstehen kann oder darf, werden uns nicht weiter- führen als die allgemeine Begriffsspalterei und angebliche Phäno- menologie auf dem Gebiete der allgemeinen Psychologie.«

Eine populäre Auffassung, der auch manche von denen nahestehen, die die Einheit der Geistesfunktionen vertreten, begreift unter Intelligenz einfach die Summe aller intellektuellen Funktionen, ohne sich mit der Frage nach der Zusammensetzung dieses Sammelbegriffs und nach einer möglichen Einheit näher zu beschäftigen. Diese dehnbare Auffassung ist vielleicht auf den ersten Blick die annehmbarste, zugleich aber auch die gefährlichste, weil am wenigsten tiefe und alle Deutungen erlaubende Die Bezeichnung von Verschiedenem unter einem Sammelnamen wird immer dazu verführen, das so Bezeichnete als Einheit zu fassen, und wenn man wirklich die Frage, ob Einheit oder nicht, als noch ungelöst betrachten will, so sollte man der Lösung nicht durch eine mißverständliche Bezeichnung vorgreifen.

Eine Definition, die von vielen für die zur Zeit beste gehalten wird, stammt von William Stern. Dieser faßt das Problem von der teleologischen Seite an und definiert folgendermaßen: »Intelligenz ist die allgemeine Fähigkeit eines Individuums, sein Denken bewußt auf neue Forderungen einzustellen: sie ist allgemeine geistige An- passungsfähigkeit an neue Aufgaben und Bedingungen des Lebens.«

Li

Höper: Was bedeutet »Intelligenz«? 96;

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Es ist Stern zu danken, daß er in der Frage der I. Prn. die praktische Seite hervorhebt. Nicht in Wissen und Können zeigt sich der Wert des Menschen, sondern in deren Betätigung, und Betätigung gehört zu der Anpassung an neue ‚Forderungen des Lebens. Auch die praktische Seite in anderem Sinne betont Stern mit seiner Definition: er wendet sich, während I. Pr. und Schule bisher die theoretischen Naturen bevorzugten, mit seiner Definition an die praktischen Kindes- naturen. Aber auch diese Definition befriedigt nicht ganz, wie eine eingehende Zergliederung zeigt. Freilich hat die bewußte Einstellung des Subjekts auf neue Forderungen ihren Grund in seiner »Intelligenz«, aber damit ist weder der Begriff »Einstellung« bezw. » Anpassung« noch der andere »Intelligenz« vollkommen erschöpft. Durch den zweiten Teil seiner Definition erweitert Stern den ersten Teil: ich kann die Fähigkeit der Einstellung auf neue Forderungen des Lebens besitzen; wenn ich aber aus irgendeinem inneren Grunde nicht zur Betätigung gelangen kann, so wird eine tatsächliche Anpassung unmöglich. Das ist überall da der Fall, wo wegen einer besonderen Beschaffenheit von Temperament und Gemüt die Willensimpulse fehlen. So gehört zur Anpassungsfähigkeit mehr als nur Intelligenz, nur Intellektuelle. Aber auch der Begriff »Intelligenz« wird durch den der Anpassungsfähigkeit an. neue Forderungen des Lebens nicht völlig wiedergegeben. Der nachschaffende Künstler (Rezitator, Sänger) hat zum Nachschaffen des Kunstwerks sicher ein gut Teil »Intelligenz« nötig. Es ist ein Unterschied, ob der Sänger das Lied »einfach heruntergesungen« oder »geistig durchdrungen« hat. Man wird zwar behaupten können, daß das Nachschaffen niemals unter denselben (äußeren) Bedingungen geschieht, aber nicht diese sind es ja, die die Anwendung der »Intelligenz« nötig machen; die Forderung dazu erfolgt aus dem Kunstwerk selbst. So ist hier Intelligenz nötig, wo neue Aufgaben und Bedingungen des Lebens gar nicht vorliegen oder, wie gezeigt ist, nicht zur Auswirkung kommen. Damit wird deutlich, daß diese Definition nicht leistet, was sie nach Absicht ihres Urhebers soll: »die Intelligenz nicht nur gegen Gemüts- und Willensbeschaffenheiten des Individuums abgrenzen, sondern ihr auch innerhalb der geistigen Funktion einen deutlich umgrenzten Platz anweisen.«

Stern meint, diese Aufgabe könnte eine Definition nur nach einem teleologischen, nicht nach einem phänomenologischen Gesichts- punkte lösen, und so geht seine Fragestellung nicht auf das, worin Intelligenz besteht, sondern er fragt nach der »Intelligenz wozu?« Die Fähigkeit der Anpassung an Neues kommt aber der Lebensfähigkeit

206 A. Abhandlungen.

des Individuums im Lebenskampfe gleich, so daß die Frage nach der Intelligenz sich schließlich zuspitzt zu der andern: »Welche Fähigkeiten setzt das Leben voraus und verlangt es, damit das Individuum im Lebenskampfe bestehen und gewinnen kann?« Die Antwort würde dann lauten: Intelligenz. !)

Mir scheint, es liegt hier ein Zirkel vor, aus dem es kein Ent- rinnen gibt. Und zu gleicher Fruchtlosigkeit sind wohl alle Definitionen des Begriffs »Intelligenz« verdammt. Bei der letzten mußte wegen der Bedeutung, die ihr zugeschrieben wird, und vor allem wegen der Bedeutung ihres Urhebers auf dem Gebiete der Intelligenzprüfungen etwas länger verweilt werden. Im ganzen aber darf man wohl Bobertag in der erwähnten grundsätzlichen Ablehnung dieses Begriffes recht geben. Wenn man das tut, so sollte man jedoch weitergehen als Ziehen, der) zwar ein »general intelligence« ablehnt, aber doch den nun einmal vorhandenen Begriff Intelligenz erklären will als »Gedächtnis in seinen mannigfachen Unterarten, die Begriffsbildung und die sogenannte Kombination«.

Um das Wesen dessen, was unter dem Worte Intelligenz zu verstehen möglich ist, zu erkennen, genügt es nicht, etwa das Wort zu verdeutschen, nicht zu fragen, wozu sie dient, nicht die eine oder die andere Seite dessen, was man darunter verstehen könnte, hervor- zuheben. Entweder man teilt den Standpunkt, es gebe ein »general abilitiy«, oder man tut es nicht. Im letzteren Falle kann es nur helfen, den Begriff Intelligenz von seiten der Wissenschaft grund- sätzlich abzulehnen.

Da das Wort vorhanden war, so mußte allerdings klargestellt werden, was darunter zu verstehen war und was nicht bezw. ob es überhaupt eine wissenschaftlich verwertbare Bezeichnung darstellte. Das Gerede vom intelligenten Menschen aber trägt ganz das Gepräge der Oberflächlichkeit. Was ist es denn, das uns einen Menschen als intelligent erscheinen läßt? Die Urteilskraft? Nur wenn sie an mehreren Sachgebieten des Lebens gleich gut orientiert ist, denn sie kann sich auf verschiedenen Gebieten verschieden äußern. Die Kombinationsgabe? Von ihr gilt das gleiche. Das Gedächtnis? Es pflegt meist mit der »Intelligenz« verbunden zu sein. Ein intelligenter Mensch ist also ein solcher, bei dem größere Kraft der Einzel- begabungen mit einer genügenden Vielseitigkeit zusammentrifft. Dabei ist zu erinnern an einige Aussprüche von Herbart:

1) Veral. hierzu Meumann, Vorlesungen. 2. Bd. S. 720. Zur Anpassungs- fähigkeit bemerkt Anschütz, daß sie auch Tieren zukommt, während die Intelli- genz doch gerade den Menschen vom Tiere unterscheiden soll.

Höper: Was bedeutet »Intelligenz« ? 267

1. »Der Erzieher vertritt den künftigen Mann beim Knaben; folglich, welche Zwecke der Zögling künftig als Erwachsener sich selbst setzen wird, diese muß der Erzieher seinen Bemühungen jetzt setzen; ihnen muß er die innere Leichtigkeit im voraus bereiten. Er darf die Tätigkeit des künftigen Mannes nicht verkümmern: folglich sie nicht jetzt an einzelnen Punkten festheften; und ebensowenig sie durch Zerstreuung schwächen. Es darf weder an der Intension, noch an der Extension etwas verloren gehen, das nachher von ihm wieder- gefordert werden könnte.«

2. »Die Kraft im Zögling kann sich ausbilden hinsichtlich der Intension, der Extension und der Konzentration. Die Intension ist aber größtenteils Naturgabe; die Konzentration der Kraft ist erst im späteren Alter möglich und zweckmäßig: so bleibt die Extension der Kraft.«

3. Als Grundforderung der Pädagogik: »Man erhalte dem Zögling die Kräfte, die er hat.«

4. »Das Ziel, welches dem Unterricht insbesondere muß ge- steckt werden, läßt sich durch den Ausdruck: Vielseitigkeit des Interesse angeben.« 3

Aus diesen Aussprüchen wird deutlich, daß Herbart das Wesen des »intelligenten Menschen« in umfassender Weise erkannt hat. Auf weitere Ausführungen darüber würde er aber wohl wenig Wert gelegt haben.

Was oben schon berührt worden ist, das möge noch einmal in positiver Weise hier vertreten werden: will man darüber Auskunft haben, was unter Intelligenz, Begabung oder wie man es sonst nennen möge, zu verstehen ist, so kann nur ein Weg zur Klarheit führen: von erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten und den vorhandenen ` Theorien der Begabung aus müßte versucht werden, ein System der Begabung aufzustellen. Dadurch würde der so unklare und vieldeutige Begriff Intelligenz von selbst überflüssig werden. !) Wann das erreicht werden mag, bleibe dahingestellt. Für möglich müßte man es wohl halten.

Wenn Stern die Notwendigkeit einer vorherigen Begriffsbestimmung der Intelligenz bestreitet und dabei auf die Schwierigkeit einer solchen aufmerksam macht, so stimme ich ihm in diesem letzteren Punkte durchaus bei. Auch von Sterns Standpunkt aus enthält eine endgültige Bestimmung des Begriffes Intelligenz die ganze Begabungs-

1) Man würde dann also nicht mehr »Intelligenz-«, sondern »Fähigkeits- prüfungen« anstellen. Das wäre ein Fortschritt. Von da bis zur »Tüchtigkeits- prüfung« ist aber auch dann noch ein weiter Weg.

268 A. Abhandlungen.

forschung in nuce. Aber die Schwierigkeit darf vor dem Werke nicht zurückschrecken. Bevor aber die Grundlagen klar sind, ist ein Weiterbauen unsicher, ist eine Anwendung auf das Leben gefährlich. Die »angewandte Psychologie« ist eine nützliche und notwendige Wissenschaft, wenn sie sich bemüht, die Ergebnisse der Forschung in der Anwendung zu bestätigen oder zu berichtigen dann aber unter ausdrücklicher Hervorhebung dieses Zweckes. Sie muß sich aber hüten, mehr Anwendung als psychologische Wissenschaft zu sein.

Nach allem kann es natürlich nicht meine Absicht sein, die Definitionen des Begriffes Intelligenz noch um eine zu vermehren. Wenn ich eine Äußerung darüber abgebe, was ich unter dem viel- gebrauchten Worte Intelligenz verstehe, so kann sie nur so beschaffen sein, daß sie den Begriff als solchen aufhebt. Ich würde sagen: Intelligenz nenne ich die Fähigkeit des Individuums, Beziehungen aufzufinden und herzustellen. Diese Fähigkeit ist orientiert an den Sachgebieten des Lebens. Sie kann sich äußern in mehr produktiver oder mehr rezeptiver Weise, mehr analysierend oder mehr synthetisch.

Durch die Notwendigkeit des ÖOrientiertseins an den Sach- gebieten des Lebens wird deutlich, daß »Intelligenz« bei jedem andern Menschen etwas anderes bedeutet, und daß eine Richtung des menschlichen Geistes auf Beziehungen schlechthin eben nicht an- zuerkennen ist.

Auf diese Weise könnte man wirklich von einer formalen und materialen Begabung sprechen, insofern als die Form sich bezieht auf die mehr produktive, die mehr analysierende oder mehr synthetische Art der Betätigung, die Materie auf die Orientiertheit an den Sach- gebieten des Lebens. Man müßte sich nur darüber klar sein, daß eine solche Scheidung lediglich theoretischen Wert hat, daß sie tatsächlich nicht vorkommt.

2. Die Pädagogik im Heilerziehungsheim. Von Fr. Knauthe, Direktor des Heilerziehungsheims Kleinmeusdorf in Leipzig- Dösen. Vorbemerkung.

Die vorliegende Arbeit faßt 2 Vorträge zusammen, deren einer sich mit der pädagogischen Beobachtung der Fürsorgezöglinge befaßte und im Herbst 1917 in der Vereinigung für das Hilfsschulwesen Leipzigs geboten wurde, während der andere die pädagogische Be- handlung im Heilerziehungsheim zum Gegenstand hatte und am 29. Mai 1918 in der Vereinigung für Anstalts-Fürsorgeerziehung in Dresden

Knauthe: Die Pädagogik im Heilerziehungsheim. 269

gehalten wurde. Nach beiden Vorträgen wurde der Wunsch geäußert, daß sie im Druck erscheinen möchten. Ich komme diesem Verlangen um so lieber nach, als ich schon wiederholt mündlich und schriftlich aufgefordert wurde, über die pädagogischen Aufgaben der jungen An- stalt und ihre Lösung mich zu äußern.

Das Heilerziehungheim Kleinmeusdorf in Leipzig-Dösen, das erst kurz vor dem Kriege, am 3. April 1914, eröffnet wurde, ist als Be- obachtungshaus und Heilerziehungsanstalt eines Gemeindeverbandes für Fürsorgeerziehung pädagogisches Neuland, das immer weiter an- und auszubauen ist. Diese neue Art der Heilpädagogik eingehend darzustellen, wäre verfrüht und würde weit über den Rahmen dieser Arbeit hinaus gegangen sein. Es kam vor allem darauf an, die päda- gogischen Leitgedanken gerade für dieses Heilerziehungsheim darzu- bieten, auf die in der Heranbildung begriffenen besonderen Methoden hinzuweisen und zum lebhaften Gedankenaustausch anzuregen.

Die tiefere Begründung dieser stark konzentrierten »Pädagogik im Heilerziehungsheim« und die Auseinandersetzung mit anderen Arbeiten bleibt vorbehalten.

Dankbar anerkannt soll werden, daß aus der Fülle des auf diesem Gebiete bereits Geleisteten manche wertvolle Anregung geschöpft wurde. Besonders reich und schon sehr lange quillt ja der Brunnen der Zeitschrift für Kinderforschung, und Direktor Trüper gebührt vor allem das Verdienst, auf die Notwendigkeit der Heilerziehung für die verwahrloste Jugend als Erster laut und eindringlich hingewiesen

zu haben. .* *

. »Echte Bildung ist harmonische

Entwicklung unserer Kräfte; sie nur

macht uns glücklich, gut und gesund.«

Feuchtersleben.

Das Heilerziehungsheim Kleinmeusdorf steht als Aufnahme- und

Beobachtungshaus für alle Fürsorgezöglinge des Leipziger Kreises am

Anfang der öffentlichen Erziehung, als Erziehungsheim für schwere

Psychopathen unter ihnen dicht vor dem Ende aller pädagogischen

Kunst. Diese Doppelaufgabe gibt der Anstalt einen einzigartigen

Charakter. So scheinbar weit auseinanderstrebende Gegensätze so

eng aneinandergerückt und miteinander verbunden macht das Heil- erziehungsheim auch dem Kundigen interessant.

Der Streit der Meinungen über den richtigen Platz für das Be-

obachtungshaus und für die psychopathischen Fürsorgezöglinge war

noch nicht zur Ruhe gekommen, da trat der Fürsorgeverband Leipzig

270 A. Abhandlungen.

auf den Plan und löste das Problem durch Schaffung des Heil- erziehungsheims Kleinmeusdorf. Die Gründer kannten das Berechtigte der gegenteiligen Anschauungen, sie erbauten das Heim in unmittel- barer Nähe einer größeren Heilanstalt für Geisteskranke und setzten es gleichzeitig in engste Verbindung zur eignen größeren Erziehungs- anstalt. Man übertrug die Leitung einem Pädagogen und stellte ihm einen Psychiater als Berater an die Seite.

Die leitenden Gedanken für die Errichtung der neuen Anstalt hat Oberregierungsrat Dr. Dietrich in einem Vortrag, betitelt »Das Beobachtungshaus« !) eingehend dargestellt. Darnach soll das Heil- erziehungsheim folgenden Zwecken dienen:

»sofortige Unterbringung aller Fürsorgezöglinge des Fürsorge- verbandes Leipzig (Bezirk der Kreishauptmannschaft Leipzig),

körperliche Untersuchung, psychiatrische, psychologische und pädagogische Beobachtung und Begutachtung der Fürsorgezöglinge nach einheitlichen Grundsätzen,

Vorschlag für Unterbringung und Verteilung der Fürsorge- zöglinge auf Krankenhäuser, Erziehungsanstalten, Familienpflege, Lehr- und Dienststellen,

Pflege und Erziehung schwererziehbarer psychopathischer Für- sorgezöglinge unter ständiger Mitwirkung des Psychiaters.«

Die: nachstehenden Ausführungen wollen Rechenschaft ablegen über die bisher geleistete pädagogische Arbeit des Heilerziehungsheims und zugleich das Programm geben, nach welchem diese Arbeit fort- zusetzen und weiter auszubauen ist.

Der Krieg, das sei gleich eingangs erwähnt, war der Entfaltung der Pädagogik unserer jungen Anstalt nicht besonders förderlich. Er trieb die Zöglinge in Scharen herein, $o daß die Anstalt nur mehr Beobachtungshaus und Durchgangsstelle war, und nahm die gut aus- gewählten Erzieher fort, so daß mancherlei Maßnahmen pädagogischer Art unterbleiben oder doch aufgeschoben werden mußten. Unsere pädagogischen Grundsätze und Absichten hat er nicht erschüttern, unseren kräftigen Willen zu heilpädagogischem Handeln nicht lähmen können.

I.

Für die pädagogische Beurteilung und Behandlung gleichwichtig ist eine klare Erfassung des Begriffs der Psychopathie.

1) Zentralblatt für Vormundschaftswesen, Jugendgerichte u. Fürsorgeerziehung. VII. Jahrgang, Nr. 24.

Knauthe: Die Pädagogik im Heilerziehungsheim. 271

Der Ausdruck erscheint uns nicht recht glücklich gewählt und ist leider zum Schlagwort geworden. Er verschweigt die Hauptsache, nämlich das, was der Psyche fehlt, welcher Art die krankhafte Seelen- schwäche ist, und läßt Schlimmeres vermuten, als wirklich vorhanden ist. Auch die Einteilung in schwere, mittlere und leichte Psycho- pathen hilft nicht darüber hinweg. Das Wort Psychopath ist also, besonders vom ärztlichen Laien, mit großer Vorsicht zu brauchen.

Ich habe alle irgendwie erreichbaren Erklärungen des Begriffs durchgesehen und fand eine erfreuliche Übereinstimmung in der Aufzählung der wesentlichen Merkmale Darnach versteht man unter Psychopathie eine Reihe von Abweichungen von der geistigen Normalität, die selbst in schlimmen Fällen noch keine Geisteskrankheit darstellen, aber auch im günstigsten Falle das Vorhandensein voller geistiger Gesundheit aus- schließen.!) Sie liegen also hart an der scharfen Grenzlinie oder doch in der breiten Grenzzone geistiger Gesundheit und Krankheit. Es besteht meist die Anlage oder doch die Neigung zu geistiger Erkrankung, letztere besonders in den kritischen Zeiten der geistleiblichen Entwicklung, worunter nieht nur die Pubertätszeit zu begreifen ist, und beim Zusammentreffen mehrerer ungünstiger Momente.

Die Regelwidrigkeiten finden sich vornehmlich auf dem Gebiete des Fühlens und Wollens, aber auch der Intellekt ist nicht selten in Mitleidenschaft gezogen.

Psychopathie äußert sich in patbologischen Verstimmungen, in dem Mißverhältnis zwischen Reiz und Reaktion, in der krankhaften Steigerung an sich schätzenswerter oder auch tadelnswerter Charakter- eigenschaften, in einem vollständigen Mangel an seelischer Wider- standskraft (Insuffizienz der psychischen Energie). Man könnte diese Aufzählung noch lange fortsetzen. Die Symptome der Psychopathie sind so mannigfaltig, wie die Äußerungen des körperlichen und seeli- lischen Lebens überhaupt, und es ist oft ungemein schwierig, festzu- stellen, ob sie wirklich Ausdruck einer krankhaften oder angekränkelten Psyche sind oder nur natürliche Begleiterscheinungen kindlicher Ent- wicklungsstufen, normale Wirkungen einer einseitigen oder verkehrten oder gänzlich fehlenden Erziehung, ins Pathologische verzerrte Flege- leien, Charakterfehler. Was bei dem einen Kinde als Krankheit be- zeichnet werden muß, kann bei dem andern noch als durchaus gesund gelten. Kinder sind immer bis zu einem gewissen Grade und auf

1) Koch Ziehen Gregor.

272 x A. Abhandlungen.

gewissen Gebieten noch intellektuell eingeschränkt und charakter- schwach, noch im Physischen steckende Naturwesen, die auf Kultur und Ausreifung warten. Unarten und Torheiten, auffällige Neigungen und ungebändigte Triebe sind bei Kindern, zumal bei unerzogenen und wild aufgewachsenen, durchaus nichts Krankhaftes, bei ihnen wäre eher das Gegenteil abnorm. Auch einsichtige Psychiater sind der Ansicht, »daß nicht jeder von der Norm abweichende Zug als Ausdruck einer anormalen oder psychopathischen Veranlagung gelten darf«.!) Sie wissen, daß es sich um Jugendliche, um »große Kinder« handelt, die noch in der Entwicklung begriffen sind und unter recht eigenartigen Verhältnissen aufwachsen. Sie räumen ein, »daß auch der Erwachsene seine schwachen Stunden, seine Angewohnheiten, Fehler und Schwächen, seine Idiosynkrasien (Fehlreaktionen) hat, aber mit Recht auch nicht nach einzelnen Zeichen, sondern nach dem Ge- samtverhalten der Persönlichkeit beurteilt sein will«.?)

Andererseits treten »Kinderfehler«, d. h. Zustände und Vorgänge, die im Hinblick auf die erstrebte Jugendbildung als ungenügend, be- denklich und schädlich aufgefaßt werden müssen, besonders oft auf echt psychopathologischer Grundlage auf, so die »unfertigen psycho- pathischen Zustände Jugendlicher, die eine gewisse Bildungsfähigkeit nicht nur nicht ausschließen, sondern sogar in ihrer Behandlung weitgehende pädagogische Maßnahmen erfordern«.?)

I.

Nachdem wir uns über den Begriff der Psychopathie hinreichend verständigt haben, sind wir in die Lage versetzt, die erste und wich- tigste Folgerung abzuleiten.

Es handelt sich, wie wir gesehen haben, bei der Psychopathie um krankhafte Abweichungen der Kinderpsyche, und es sind, wie später noch eingehend gezeigt wird, auch nach den Meusdorfer Er- gebnissen fast 50°/, aller Fürsorgezöglinge Psychopathen, nur etwa 17°/, waren im Durchschnitt der Jahre 1914—16 psychisch intakt.

Es ist mithin bei der Durchführung der Fürsorgeerziehung wie bei der Behandlung der psychisch Abnormen ohne fachärztliche Be- ratung und Hilfe nicht auszukommen. Nur der Psychiater kann ein- wandfrei feststellen, ob die Äußerungen der kindlichen Psyche in jenes Grenzgebiet fallen, ob Kinderfehler der Ausdruck krankhafter

1) Scholz, Anormale Kinder. S. 189. 2) Gregor, Psychiatrische Diagnostik. S. 149. 3) Strohmeyer, Psychopathologie des Kindesalters. S. 3.

Knauthe: Die Pädagogik im Heilerziehungsheim. 273 geistiger Veranlagung sind, ob leichte oder schwere Störungen zu er- warten, bereits in der Entwicklung begriffen oder in eine Psyeho- pathie schon übergegangen sind.

Wir haben es darum immer mit Dank begrüßt, daß ein Facharzt in der Anstalt täglich ein bis zwei Stunden anwesend ist und die Zöglinge auf ihren Geisteszustand eingehend untersucht. Aber der Psychiater wird die Diagnose nicht stellen können, wenn er vom Päda- gogen nicht genügend unterstützt wird, wenn ihm dieser gegebenen- falls nicht alles zur Verfügung stellt, was seiner Meinung nach für die Gesunderklärung des Zöglings oder eine Änderung der Diagnose spricht. Der Arzt benutzte in Kleinmeusdorf darum jederzeit gern und mit Vorteil die Ergebnisse der pädagogischen Beobachtung.

Für die Frage, ob und wieweit der Jugendliche, auch der psycho- pathische, erziehungsfähig und bildsam ist, wo, in welchem Grade und auf welche Weise seine Erziehung und Ausbildung nachgeholt und Heilerziehung eintreten kann, bleibt der Pädagoge zuständig. Er wird sich dabei jederzeit gern vom Arzte mit beraten lassen, wird insbesondere bei Erscheinungen und Vorfällen, die pädagogisch oder psychologisch nicht ohne weiteres zu erklären sind, eine Teildiagnose veranlassen.

Es kam mitunter in unserer Anstalt zu einem edlen Wettstreit um die Seele eines Jugendlichen, jeder, Arzt wie Pädagoge, wollten ihr aufhelfen, durch Heilbehandlung jener, durch Heilerziehung dieser. Die Meinungsverschiedenheit fand noch immer rasch ihr Ende durch das gleichzeitige Eingeständnis, daß nur das Wohl des Jugendlichen den Ausschlag geben darf.

Im übrigen finden beide, Psychiater und Pädagog, wie das nur natürlich ist, fortgesetzt sich zusammen auf dem Boden der Psycho- logie, die jeder bei Ausübung seines Berufs so dringend nötig hat.

Arzt und Pädagog arbeiten im Heilerziehungsheim Hand in Hand, Kompetenzstreitigkeiten gibt es nicht.

Die Erziehung der Psychopathen und die Beobachtung aller, auch der normalen Fürsorgezöglinge in einer Anstalt zu vereinigen, war ein glücklicher Gedanke: Eins dient dem andern, die wissen- schaftliche Durchforschung der Kinderpsyche fördert die praktische Erziehungsarbeit; die Heilerziehung erleichtert die Beobachtungstätig- keit und korrigiert sie. Vorsicht in der abschließenden Beurteilung noch zu entwickelnder und zu erziehender Jugend ist ja immer ge- boten. (Schluß folgt.)

Zeitschrift für Kinderforschung. 24. Jahrgang. 18

274 B. Mitteilungen.

B. Mitteilungen.

1. Nationale Einheitsschule, Jugendkunde und Berufs- beratung an höheren Schulen. Von Oberlehrer Dr. W. Krassmöller, Berlin- Wilmersdorf. (Schluß.)

Berufsberatung an höheren Schulen.

Eine Berufsberatung hat es natürlich schon von jeher an höheren Schulen gegeben, aber nur in einzelnen Fällen, auch trug sie privaten Charakter. Ein wohlwollender Lehrer hat seinen Schülern, besonders den Abiturienten, stets mit Rat und Tat zur Seite gestanden, wenn es galt, einen Beruf für sie ausfindig zu machen, aber eine organisierte Beratungs- stelle an höheren Schulen hat es noch nie gegeben. Dagegen ist an den Volksschulen schon seit längerer Zeit die Berufsberatung und Lehrstellen- vermittlung eine segensreiche Einrichtung. Nach Dr. J. Altenrath (Berufs- beratung und Berufsvermittlung für die Volksschuljugend, Flugschriften der Zentralstelle für Volkswohlfahrt, Heft 11, Berlin 1914) ist »das Ziel der Berufsberatung die Einordnung der Jugend in das Berufsleben, je nach Neigung und Eignung unter dem Gesichtspunkte der Verschaffung eines Berufs, in dem sie mit innerem Interesse, mit echter Berufsfreude tätig sein könne«. Das eigentliche Beratungssystem an den Volksschulen beginnt mit der Aufklärung der Jugendlichen und Eltern, setzt sich dann fort in der individuellen Beratung des Einzelfalles und findet seinen Ab- schluß in der teils summarischeh, teils individualisierenden Vermittlung. Schule, Arbeitsnachweis und gewerbliche Organe, wie Handelskammer, Innungen und Jugendämter und schließlich die Ärzte sind die wichtigsten Faktoren, die sich an der Lösung der gemeinsamen Aufgabe beteiligen. Die Schule erzieht zur Werktätigkeit, gibt allgemeine Aufklärungen über das Handwerk auf Elternabenden und in Einzelberatungen und überweist die Jungen dem Arbeitsnachweis, der sie den einzelnen Meistern zuführt, nachdem noch der Arzt sein Urteil über den Gesundheitszustand des Lehr- lings abgegeben hat. Das weitere Vorwärtskommen desselben überwachen dann noch die Jugend- oder Pflegeämter. Man sieht, das Ganze ist eine wohlgefügte Berufsorganisation, in deren Brennpunkt die Schule steht, in- sofern, als von ihr erwartet wird, daß sie in die jungen Herzen der Schüler die Lust und Liebe zum Handwerk oder irgend einem andern Berufe sät und die Neigung und Eignung derselben erkennt, um sie dann nach richtiger Berufswahl dem Leben zuzuführen.

Es lag nun nahe, die Berufsberatung auch auf die höhere Schule auszudehnen. Schon auf der Konferenz des Allgemeinen Deutschen Realschulmänner-Vereins in Frankfurt a. M. am 28. Oktober 1912 war man der Ansicht, daß die Organisation der Berufsberatung auch auf die Schulentlassenen der höheren Lehranstalten ausgedehnt und an die be- stehende allgemeine Berufsberatung und Lehrstellenvermittlung angegliedert werden soll, aber die Gründe, die damals eine Ausdehnung der Berufs-

1. Nationale Finheitsschule, Jugendkunde und Berufsberatung usw. 275

beratung auch auf die höheren Schulen angezeigt erscheinen ließen,. waren meist nur formaler Natur. Die schon vorhandenen kaufmännischen Be- ratungsstellen und Lehrstellenvermittlung griffen auch auf die höheren Berufe und in die höhere Schule über, und so strebte man seitdem eine Verallgemeinerung und Zentralisierung des gesamten Berufsberatungs- wesens aller Schulen an, sowohl der männlichen als auch weiblichen Schüler. Erst J. Kuckhoff hat das Problem von der Berufsberatung an höheren Schulen in größerem Zusammenhang behandelt und ihm mit weitschauendem Blick das Wort geredet. Sein schon vor Beginn des Krieges vollendetes Buch »Höhere Schulbildung und Wirtschaftsleben, Er- werbsaussichten und Berufsberatung der Schüler höherer Lehranstalten, München-Gladbach 1916« führt zunächst aus, daß die Berufsberatung nicht etwa die Freiheit der Berufswahl unterbinden soll, sondern eine möglichst schadenverhütende werden müsse; denn darüber ist sich auch Kuckhoff klar, daß schon in der Wahl der höheren Schule eine Beschränkung in der Berufswahl und eine starke Berufsbestimmung liegt. Um so mehr muß nach ihm die höhere Schule viel rücksichtsloser und strenger bei der Auf- nahme und den Versetzungen, besonders in den unteren Klassen, vorgehen, denn die Mißstände in der Art der Berufszuführung nach Besuch der höheren Schule sind mannigfacher Art. Nicht nach dem sozialen Stand der Eltern, oder deren Vermögen hat sich die Berufswahl zu richten, sondern lediglich nach dem Wirtschaftsleben. Hierin muß die Schule Wandel schaffen. Das kann sie in doppeltem Sinne leisten, einmal im negativen, indem sie das Schülermaterial, das sie von vornherein als un- geeignet erkannt hat, durch Verweigerung der Aufnahme fernhält, und im positiven Sinne, indem sie durch eine wohlorganisierte Berufsberatung die Jugendlichen nach ihrer Neigung und Fähigkeit in das Berufsleben ein- führt, den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes entsprechend möglichst hoch- wertiges Material, aber nicht über den Bedarf hinaus zu schaffen sucht und zu dem Zwecke nach Möglichkeit auf jeder Stufe der höheren Bildung, sobald der Schüler das Maß seines Könnens erreicht hat, ihn an die richtige Stelle im Leben abgibt.

Wohl im Zusammenhang mit dem Kuckhoffschen Buche stehen dann auch die ersten Veranstaltungen, die zur Berufsberatung an höheren Schulen manchen Ortes getroffen wurden, und auch die Vorschläge, wie die Berufsberatung an den Schulen eingerichtet werden könne. Die hier- über bei den Provinzialschulkollegien eingegangenen Berichte veranlaßten dann die preußische Unterrichtsverwaltung zu der ministeriellen Verfügung vom 28. März 1918, in der es heißt: »Es ist .... eine für das gesamte: Leben der Nation wichtige Aufgabe, daß die jungen Leute, die die Schule auf irgend einer Altersstufe verlassen, um sich für einen Beruf vorzu- bereiten, vor einer verfehlten Wahl geschützt und auf den ihren Fähig- keiten und Anlagen entsprechenden Lebensweg hingeleitet werden. Jeder verfehlte Beruf bedeutet den Verlust eines Teiles der Volkskraft.« Erst jetzt hat sich die Oberlehrerschaft in Versammlungen und Konferenzen mit der hier in Frage stehenden Materie eingehender beschäftigt, und dabei hat es sich gezeigt, daß die Mehrheit sich gegen die Einführung der

18*

276 B. Mitteilungen.

Berufsberatung an den höheren Schulen ausgesprochen hat. Man hielt sie zunächst für unnötig, indem man darauf hinwies, daß alle wirklich Be- rufenen keinen Rat nötig hätten. Das mag hier und da wohl richtig sein, trifft aber niemals ganz allgemein zu. Es wird immer Berufene geben, die sich den Rat der Fachleute einholen werden. Man denke nur an Beethoven, der stark in sich den Drang zur Musik fühlte und ganz genau wußte, daß er nichts anderes als Musiker werden würde und doch zu Mozart ging, um sich dessen Rat zu erbitten. Ähnlich erging es auch Jean Jaques Rousseau und Anselm Feuerbach. Alle drei bedurften der Berufsberatung. Man erklärte ferner, daß sich diese auch schon deshalb erübrigt, weil sich die Eigenart des Schülers erst nach der Schulzeit ent- wicklee Das trifft wieder nicht allgemein zu, denn vielfach tritt eine intellektuelle oder manuelle Differenzierung der Kinder schon sehr früh ein, so daß eine Erziehung und Beratung nach der einen oder andern Seite hin wohl am Platze ist, zum mindesten aber eine individuelle Berücksichtigung von seiten des Lehrers dringend notwendig erscheinen läßt. Eine Berufsberatung, so hört man weiter, ist überhaupt nicht mög- lich, denn dazu fehlen noch die notwendigsten Grundlagen, wie eine wissenschaftliche Berufspsychologie, Berufskunde, Berufsbilder und der- gleichen. Was nun die Psychologie der Berufe angeht, so ist bei ihrem gegenwärtigen Stande eine Berufsberatung schon möglich. Man lese nur bei A. Fischer (Über Berufe, Berufswahl und Berufsberatung als Erziehungs- fragen, Leipzig 1918, Quelle & Meyer) nach, und man wird sich leicht überzeugen, daß die Wissenschaft der psychologischen Berufsforschung weit über die ersten Anfänge vorgeschritten ist und bald auf einen voll- ständigen Ausbau zu rechnen hat. Ebenso steht es mit den psychischen Berufsbildern. Nach Fischer (S. 58) sind zwar auch sie noch nicht voll- ständig gewonnen, aber immerhin verdanken wir schon den National- ökonomen und Statistikern das wirtschaftliche, den Soziologen und Juristen das gesellschaftliche und den Technikern und Praktikern das fachliche Berufsbild, das sehr wohl mit Erfolg in den Dienst der Berufsberatung gestellt werden kann. Freilich hat die Berufsforschung in ihren wichtigsten Zweigen, wie in der Kulturgeschichte, Statistik und Psychologie der Berufe uns noch viele Ergebnisse zu liefern, deren wir dringend in der Berufs- beratung bedürfen, aber dennoch kann sich die höhere Schule nicht mehr länger der wichtigen Aufgabe entziehen, ihre Zöglinge so schnell wie möglich auf den richtigen Lebensweg zu führen. Weiter wendet man ein, daß »Umsattlungen« doch nicht zu vermeiden sind, weil sie durch eine innere Umwandlung des Menschen oder, wie das häufig bei Studierenden der Theologie zu geschehen pflegt, durch Gewissensbedenken zustande kommt. Hier helfe auch die gewissenhafteste Berufsberatung nichts. Ich bin nun anderer Meinung, allerdings unter der Voraussetzung, daß die meisten jungen Leute deshalb umsatteln, weil sie sich von ihrem zu- künftigen Studium von vornherein eine ganz falsche Vorstellung machen und die Erwerbsaussichten und die vielen Schwierigkeiten, die das Studium mit sich bringt, nicht kennen. Wird nach dieser Richtung hin der Abi- turient hinreichend aufgeklärt und beraten, so wird sich meines Erachtens

1. Nationale Einheitsschule, Jugendkunde und Berufsberatung usw. 277

die Zahl der Umsattlungsfälle vermindern, oder es ist mindestens zu hoffen, daß sich bei diesen jungen Leuten die bessere Einsicht frühzeitiger ein- stellt und ihnen mancher Zeitverlust erspart bleibt, jedenfalls aber ent- bindet der Mangel an durchschlagendem Erfolg der Beratung die Schule niemals von der Pflicht, den Abiturienten vor Enttäuschung zu schützen.

Einen anderen Einwand, den wir auch widerlegen können, macht Paul Hildebrandt (Deutsches Philologenblatt Nr. 21/22, 26. Jahrgang, 8.174). Er sagt: »Zunächst dürfte der alte Satz der Erziehung noch nicht ganz vergessen sein, daß die eigene Erfahrung ein tausendmal besserer Lehrmeister ist als alle theoretischen Lehren. Dann aber ist ja ganz ver- gessen, was denn eigentlich solche Erfahrung Gutes für den hat, der ihren Schlag fühlt. Und hier kommen wir denn zu einer Wurzel des Erlasses. Er möchte um alles in der Welt solche Erfahrungen den Schülern er- sparen, obwohl doch diese behütende, betreuende Erziehung mit der Ober- prima ihr Ende erreicht hat, obwohl nun doch das Leben die Schule ab- löst, das gottlob! über allen Schulreformen stehend die jungen Leute nicht in Watte einpackt, sondern scharf und fest anfaßt. Vergessen wir doch nicht, daß die Zensuren wohlwollender, die Knaben von Klasse zu Klasse mildherzig weiter schiebender Lehrer da draußen nichts mehr gelten, daß da ein Wind bläst, der die nur »Berechtigten« umbläst und nur die stehen läßt, die etwas können. Vergessen wir doch nicht, daß, wenn etwas an den Vorwürfen unserer Feinde zu Recht besteht, es die Behauptung ist, daß man sich bei uns viel zu viel um Papiere und Zeug- nisse kümmert und zu wenig um den Menschen selber. Und worauf kommt es denn für unser Volk in Zukunft an? Darauf, daß sich noch mehr Wisser finden, noch mehr Spezialisten? Nein, es kommt darauf an, daß sich eigne Menschen zeigen, die vermöge dieser Eigenheit Führer ihres Volkes werden. Das sind natürlich immer nur wenige, aber wenn solch Gottesgeschenk nicht so häufig gegeben wird, dann wird unser Volk wenigstens das eine verlangen können: Charaktere! Gerade die Charakter- bildung aber, die »im Strom der Welte vor sich geht, wird ja der Erlaß, noch über die Schule hinausgehend, verhindern! Haben wir nicht als junge Studenten begeistert gesungen: »Wer die Folgen ängstlich zuvor erwägt, der beugt sich, wo die Gewalt sich regt«? Nun gut, es braucht nicht die Gewalt eines »Tyrannen« zu sein, auch das Leben hat seine Gewalten, die man im gewöhnlichen Leben Enttäuschungen und ähnlich nennt. Auch da heißt es, daß nur der wirklich »freie, wirklich ein Charakter wird, der sich mit ihnen selber auseinandersetzt, nicht auf dem Wege über einen vorbeugenden Berufsberatungserlaß! Es geschieht heutzutage auf der Uni- versität schon gerade genug, um die wirkliche akademische Freiheit ein- zuengen. Da gibt es bereits für jede Fakultät nur die philosophische macht noch immer eine Ausnahme davon, aber wie lange noch? einen festgeregelten Studienplan: Im ersten Semester hört »man« das und im zweiten das, und so geht es fort, ohne daß bedacht wird, daß auf diese Weise die Universität allmählich auf den Standpunkt der Schule hinunter- geschraubt wird! Und die Studenten kommen allmählich in eine Unfrei- heit hinein, zu der zwar der Berufsberatungserlaß, nicht aber die Er-

278 B. Mitteilungen.

fahrungen des Krieges, der nur durch ungeheure Willensanspannung ge- wonnen werden kann, passen! Der Erlaß sagt, daß »jeder verfehlte Beruf den Verlust eines Teiles der Volkskraft bedeutete. Man wird ihm bei- stimmen können und trotzdem behaupten müssen, daß es für den einzelnen und damit für die Gesamtheit einen noch schwereren Verlust bedeutet, wenn dem jungen Menschen jeder Anstoß aus dem Wege geräumt, jede Möglichkeit, eigene Erfahrungen zu machen, genommen wird. Die Wohl- tat, Entschlüsse unter eigener Verantwortung fassen. zu dürfen, soll ihm nicht entzogen werden; sie ist wahrhaft charakterbildend.e Hildebrandt macht hier in ganz einseitiger Weise Gebrauch von dem Begriff »Erfahrung«. Es kann gar keine Rede davon sein, daß durch die Beratung »jede Mög- lichkeit, eigene Erfahrungen zu machen,« dem jungen Menschen genommen wird, vielmehr geht die Beratung von der Tatsache aus, daß die Jugend- lichen auf der Schule überhaupt keine Gelegenheit haben, Erfahrungen zu machen, ganz besonders nicht in der heutigen Lernschule; die Beratung will nur das Tatsachenmaterial ihren Schülern vorlegen, um sie anzuregen und bei der richtigen Wahl des Berufes zu unterstützen, denkt aber auch nicht im entferntesten daran, ihnen »jeden Anstoß aus dem Wege zu räumen« oder sie gar zu verweichlichen. Bei aller Wertschätzung der Erfahrungen muß doch gesagt werden, daß die Erfahrung eines verfehlten Berufes besser den jungen Leuten erspart bleibt, weil das eine Erfahrung ist, die nicht mehr den Charakter bildet, sondern zugrunde richtet. Warum sollen wir solche Erfahrungen einem jungen Menschen nicht er- sparen? Verhelfen wir ihm, so gut es eben geht, zu einem rechten Platz im Leben, so wird er die vielen Erfahrungen, die er dort macht, besser verstehen und verwerten können. Und nun noch ein weiteres, scheinbar das schwerste Bedenken! Man befürchtet, daß durch die Hineintragung wirtschaftlicher Gesichtspunkte in die Schule diese in ihrer vornehmsten Aufgabe, der Pflege des deutschen Idealismus, Abbruch erleidet. Ein be- rechnender Materialismus wird seinen Einzug halten und dem Ansehen der Schule schaden. Um diesen Einwand zu widerlegen, müssen wir uns zunächst nach dem Wesen und Zweck unserer Zukunftsschule fragen. Sie soll doch, und das ist der Endzweck einer jeden Schule, Männer heranbilden, die den Kampf mit dem Leben siegreich aufnehmen können. Da braucht man als Waffe neben einem gesunden und nicht verstiegenen Idealismus einen starken Realismus und Materialismus, nur darf dieser nicht zu einem niedrigen Utilitarismus herabsinken. Der blinde Idealismus im Bunde mit dem unglücklichen Optimismus sagen wir es mit aller Offenheit war nicht ohne Schuld an unserm gegenwärtigen National- unglücke. Etwas von dem englischen Materialismus und Realismus kann unserer Schule nichts schaden, sie braucht deshalb ihre Ideale nicht preis- zugeben. Ich kann mir sehr wohl denken, daß ein Mensch an sich ein Idealist ist, aber auch, wenn es sein muß, ein starker Realist sein kann. Was aber für den Einzelnen gilt, das trifft auch für die Gesamtheit der Nation zu. Von ihr erwarte ich mehr realistische Erkenntnis der Dinge und weniger idealistischen, ja ideologischen Optimismus. In diesem Sinne muß auch die Schule helfen.

1. Nationale Einheitsschule, Jugendknnde und Berufsberatung usw. 279

In dieser Weise ließen sich noch mehr Einwänae widerlegen, aber sie sind meist zu schwach und hinfällig gegenüber der Grur.dforderung heutiger Erziehung, »den Menschen so zu bilden, daß er als beruflich Schaffender glücklich und anerkannt sich fühlen kann«. Ich bin der Meinung, daß durch die Berufsberatung, falls sie in den Unterricht auf- genommen wird, dieser nicht nur gehoben wird, sondern auch uns Lehrern der Weg zum Herzen der Schüler gezeigt wird. Dadurch, daß wir beraten, werden wir vielen Dank ernten, und der Stand der Oberlehrer kann nur noch gehoben werden. Vergessen wir niemals, daß die Mehrheit unserer Schuljugend mit der Schule unzufrieden ist, weil wir der Jugend manches schuldig bleiben. Dadurch hat die Schule schon viel an Vertrauen ein- gebüßt, hier ist ihr aber Gelegenheit geboten, dasselbe wieder zu erwerben; denn gibt es eine herrlichere Aufgabe für die Schule, als das Glück dem Einzelnen zu verschaffen? Freilich wird es möglich sein, daß wir eine verkehrte Auskunft geben, aber im allgemeinen können wir bei richtiger Objektivität die Jugend vor Illusionen schützen, während die Eltern meist zu subjektiv im Beraten sind.

Es erhebt sich nunmehr die Frage, in welcher Weise und mit welchen Mitteln die Berufsberatung in der höheren Schule einzusetzen hat. Der oben erwähnte ministerielle Erlaß spricht sich auch hierüber, allerdings nur in groben Umrissen, aus: »Sie kann in allgemeinen Besprechungen geschehen, besonders da, wo Eltern- oder Schülerabende eingerichtet sind, wie in persönlichen Unterredungen; auch Vorträge von Fachmännern und Freunden der Schule sollen stattfinden. Der Leiter der Anstalt soll die Fragen der Berufsberatung verarbeiten oder, wenn er selbst es nicht über- nehmen kann, hat die Wahl eines Vertrauensmandes oder die Einsetzung eines Ausschusses zu erfolgen. Den Mitgliedern desselben müssen die be- deutenderen Werke über die Frage der Berufsberatung zur Hand sein. Ein Verzeichnis der einschlägigen Literatur wird das Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht, Berlin W. übermitteln.«e Die Berufsberatung hat sich nach zwei Richtungen hin zu bestätigen, in theoretischer und praktischer. Auf den sogenannten Eltern- und Schülerabenden haben be- lehrende Vorträge und Aussprachen stattzufinden, die nicht etwa von den Lehrern der Anstalt, sondern von Fachleuten und Freunden gehalten werden. Sie haben sich über die verschiedensten Berufe, wie z. B. das Handwerk, Bank- wesen, Landwirtschaft, Post- und Eisenbahnwesen, Zeitungswesen, Technik, Industrie, Kunst und Musik und schließlich über die akademischen Berufe zu verbreiten, auch müssen sie die Licht- und Schattenseiten der Berufe, ihre Erwerbsmöglichkeiten, ihre soziale Lage, ihre Einkommens- und An- stellungsverhältnisse usw. anschaulich darstellen. Neben diesen Vorträgen können auch in den Klassen weitere Belehrungen gegeben werden, die den einen oder andern Schüler, der bisher überhaupt noch nicht über seinen Beruf nachgedacht hat, der Berufsfrage näherbringen, und schließ- lich kann die Berufswahl auch zum Gegenstand von persönlichen Einzel- besprechungen zwischen den Eltern, Lehrern und dem Schüler unter etwaiger Hinzuziehung eines Vertreters des einen oder des andern Berufes gemacht werden, wobei man sich über persönliche Dinge, wie die pekuniäre

280 B. Mitteilungen.

Lage der Familie, die Gesundheit des Schülers usw. wohl besprechen kann. Neben diesen unmittelbaren Beratungen dürfte es sich auch empfehlen, die Berufskunde in den Unterricht selbst hineinzuziehen. In der Ge- schichte und Erdkunde z. B. bietet sich häufig Gelegenheit, auf das Wirt- schaftsleben der Völker einzugehen, im Rechenunterricht können Beispiele aus der Wirtschafts- und Verkehrsstatistik gewählt werden, wie das über- haupt in jedem Fache leicht möglich ist. Aber auch nach der praktischen Seite hin kann die Schule ihre Zöglinge auf einen zukünftigen Beruf hin- weisen. Die Schüler müssen an jene Stätten geführt werden, wo sie durch eigene Anschauung die Berufe kennen lernen. Ich denke da in erster Linie an die großen Fabrikunternehmungen, wie Gasanstalten, Elektrizitäts-, Schiffs-, Säge-, Berg- und Hüttenwerke, ferner an die Banken, Gerichte, Zeitungsverlage, Buchdruckereien usw. Hier gewinnen die Schüler nicht nur einen, wenn auch nur oberflächlichen, Einblick in die Berufe, sondern sie kommen auch mit den maßgebenden Personen in Berührung, die ihnen weitere Ratschläge beruflicher Art erteilen können. Auch ließe sich leicht eine Bibliothek zusammenstellen, die Bücher ent- hält, welche in einer für die Jugend passenden Form diese mit den Be- rufen bekannt machen.

Das ist die positive Arbeit, die die Schule zu leisten hat, wenn sie sich die Aufgabe stellt, ihre Schüler auf den richtigen Lebensweg zu führen. Sie muß aber auch im negativen Sinne wirken, wenn sie ihrer Aufgabe gerecht werden will; sie muß genau und auf jeder Stufe orientiert sein über die Fähigkeiten ihrer Zöglinge und gegebenenfalls die geeignete Scheidung des Materials frühzeitig vornehmen. Schüler, deren Unfähigkeit sich bereits auf den unteren Klassen unzweideutig gezeigt hat, müssen, sofern sie noch schulpflichtig sind, der Volksschule, andernfalls der Fach- schule und schließlich dem Handwerk zugeführt werden. Geradezu ein Verbrechen ist es, solche Kinder bis zum Einjährigen zu pressen. Das mögen sich diejenigen Eltern gesagt sein lassen, die in ihrem grenzenlosen Ehrgeiz mit ihren Kindern zu hoch hinaus wollen. Das Mittelgut ist bis zum Einjährigen zu fördern und dann dem kaufmännischen Beruf oder dem mittleren Beamtendienst zuzuführen. Die Befähigten aber, die mit dem Reifezeugnis die Schule verlassen, wird man bei der gegenwärtigen Überfüllung vor dem Studium warnen und, wenn irgend möglich, auf die technischen oder Handelswissenschaften hinweisen müssen, denn im Handel

und in der Industrie bietet sich noch in erhöhtem Maße die Möglichkeit `

des Vorwärtskommens.

Unsere Betrachtungen haben gezeigt, daß die drei hier in Frage stehenden Probleme: die nationale Einheitsschule, die Jugendkunde und die Berufsberatung für unser zukünftiges nationales Leben von ungeheurer Bedeutung sind. Es hat sich auch herausgestellt, daß ein innerer Zu- sammenhang zwischen ihnen besteht. Die nationale Einheitsschule will sämtliche Intelligenzen erfassen und ihnen den etwa nötig gewordenen Übergang von einer Schulgattung zur andern ohne Zeitverlust sicherstellen. Die Jugendkunde erfordert eine psychologische Durchdringung des Unter- richts und gibt die Mittel und Wege an, in welcher Weise die Schule

2. Dörpfeld und die Einheitsschule. 281

die Fähigkeiten und Neigungen ihrer Schüler festzustellen und zu beein- flussen hat, während die Berufsberatung in fürsorglicher Weise den rechten Mann an den rechten Platz stellen will. Freilich tritt dann erst nach der Schule der wahre Lehrmeister an den Zögling heran, nämlich das Lebeu mit all seinen Enttäuschungen und Widerwärtigkeiten, aber auch seinen Hoffnungen und Freuden. Dabei kann es sich herausstellen, daß die Schule manche Erziehungsfehler gemacht und manchen Zögling verkannt hat, das wird nie zu vermeiden sein; denn die Erziehung ist eine für- sorgliche Tätigkeit, die wie jede andere menschliche Tätigkeit Irrtümern unterworfen ist, aber ein so allgemeiner Widerspruch, wie er sich bisher zwischen Schule und Leben zeigte, dürfte dann nicht mehr in die Er- scheinung treten. Das ist der Sinn der zukünftigen Lebens- und Er- ziehungsschule, die wir anstreben: sie soll im Leben fürs Leben wirken.

2. Dörpfeld und die Einheitsschule. Von Rektor Vogelsang-Barmen.

Im Schlußabschnitt seines neuesten, sehr lesenswerten Buches: »Ein Volk eine Schule« führt Tews eine Reihe von Zeugnissen an, die den einen oder den andern der in dem Wort »Einheitsschule«e zusammen- gefaßten Gedanken mehr oder weniger unterstützen. Leider fehlt darunter das Zeugnis eines Schulmannes, auf dessen Urteil er im übrigen Wert legt und mit dem er in seinen Gedankengängen vielfach übereinstimmt, nämlich das Zeugnis Dörpfelds.!) Zwar spricht Tews mit anerkennenden Worten von Dörpfeld im 6. Kapitel seines Buches, wo vom Aufstieg der Begabten die Rede ist. Er pflichtet Dörpfeld darin vollkommen bei, daß die Aklassige Schule in diesem Punkt vor den einstufigen Klassen der 8klassigen wesentlich im Vorteil sei, empfiehlt deshalb Dörpfelds Schrift über diese beiden Schularten als »auch heute noch lesenswert« und sagt sogar, ganz im Sinne Dörpfelds »daß er dem freien Aufstieg einzelner auf der Klassenleiter der Aussonderung von Begabtenklassen gegenüber den Vorzug gebe.« S. 88.

Dagegen erwähnt Tews unsern rheinischen Schulmann nicht in der Reihe derer, die sich gegen die Vorschule ausgesprochen haben. (Kultus- Min. Bosse und Prof. Ziegler werden nur aus diesem Grunde als Zeugen für den Gedanken der Einheitsschule angezogen) Um J. Tews Gelegen- heit zu geben, das Versäumte nachzuholen, verweise ich darauf, daß Dörpfeld schon im Jahre 1853 in seiner Abhandlung »Der Mittelstand und die Mittelschule«, der ersten aus seiner Feder, die als selbständige Schrift erschien, schreibt: »Bis zum 10. Jahre kann vernünftiger- weise der Unterricht für alle Kinder derselbe sein; bis dahin gehören füglich die Kinder aller Stände in die Elementarschule; in diesem Sinne als die Jugend des ganzen Volks umfassend, kann dieselbe auch mit einigem Recht Volksschule heißen.«

1) Gerade sein Zeugnis müßte ihm besonders wertvoll sein, weil es seinen eigenen Gedankenbau von mehreren Seiten her stützt.

282 B. Mitteilungen.

Ferner erinnere ich daran, daß Dörpfeld in seinem Bericht über die von Falk 1872 einberufene Ministerial-Konferenz im Jannar-Heft des Er. Schulbl. 1873 schreibt: »Fast überall haben die höheren Schulen ihre eigenen Elementarklassen (Vorschulen). Ihre Schüler sind alle schon von Jugend auf von den Volksschülern geschieden schwerlich zum Vor- teil des Friedens und des Zusammenhalts unter den Ständen. Darf man nun wohl dazu raten, daß auch obendrein die Mittelschulen sich obne Not besondere Elementarklassen anhängen? Ich will nicht prophezeien allein mir ahnt schon lange, daß die sozialen Unruhen, die bis jetzt vornehmlich um wirtschaftliche Interessen sich drehen, über kurz oder lang sich auch auf das Unterrichtsgebiet werfen werden. Daß auch dort Nährstoffe vorhanden sind, wird niemand leugnen können, (X. Bd. 2. T., S. 229.) x

Wer die vorhin erwähnte erste Schrift Dörpfelds genauer durchliest, sie ist der Hauptsache nach im Ev. Schulblatt 1914, S. 125 ff. ab- gedruckt wird erstaunt sein, in ihr eine Schuleinrichtung beschrieben zu finden, in der, wie Tews sich auf S. 295 ausdrückt, »die Einheits- schule zum Teil verwirklicht erscheinte«.

Dörpfeld fordert nämlich, daß nach einem vierjährigen Besuch der »Elementarschule«, der Tewsschen Grundschule, eine Gabelung eintrete. Wer eine über die übliche Volksschulbildung hinausgehende Bildung, die auch eine fremde Sprache umschhließt —, beansprucht, möge die Mittel- schule besuchen. Diese soll aber nicht eine neue Art der höheren Schule, in der Regel nicht einmal eine selbständige Anstalt sein. Sie ist vielmehr in Dörpfelds Augen nur der vollsaftigere Zweig des Schulbaums, als dessen Stamm die Grundschule, und als dessen schwächerer Zweig die Volks- schule von Dörpfeld Unterschule genannt anzusehen ist.

Aber noch mehr. Nicht nur die Förderung der Begabten, die Ab- schaffung der Vorschulen und die Einrichtung einer Grundschule, sondern auch der Gedanke, daß von der Volksschule Wege zur höheren Schule führen müssen, findet sich bei Dörpfeld. Freilich noch nicht in der 1853 erschienenen Schrift, sondern in den »Drei Grundgebrechen der her- gebrachten Schulverfassungen«, die er 1869, also vor genau 50 Jahren, zum erstenmal herausgab. Auf S. 9 (VIIJ. Bd., 2. T. der Ges. Schriften Dörpfelds) macht er nämlich dem bürokratischen Schulregiment unter andern auch den Vorwurf, daß es »die Aufgabe, für ein zweckmäßiges Ineinandergreifen der Schulen zu sorgen, unerledigt gelassen habe.« Er sei grundsätzlich der Meinung, »daß in einem wohlgeordneten Bildungswesen die niederen und die höheren Schulen (und teil- weise auch die Fachschulen) zweckmäßig ineinandergreifen, in einem gewissen Verkehr stehen und soweit ihre Arbeit sich gleicht, dieselben pädagogischen Gesetze befolgen müßten.e Daran fehle aber noch viel: »ein Verkehr unter diesen Anstalten, zumal ein amtlich geleiteter, fehlein denengeren und weiteren Kreisen gänzlich.

Aus dem Gesagten ergibt sich: Wenn man Tews mit vollem Recht den Vater des Einheitsschulgedankens in seinem vollen Umfange nennt, so verdient Dörpeld sein Vorläufer genannt zu werden, und zwar

3. Bausteine zur Psychologie des Dichters. 283

weit mehr, als all die Schul- und Staatsmänner, die Tews im letzten Kapitel seines Buches aufzählt. Er wird deshalb freundlichst gebeten, in der 2. Auflage seines Buches Dörpfeld volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und nicht nur im 6., sondern auch im 14. und im 18. Abschnitt im Sinne vorstehender Ausführungen auf ihn Bezug zu nehmen.

Daß Dörpfeld, was die Vereinigung von Kindern verschiedenen Be- kenntnisses in der Einheitsschule betrifft, Tews nicht zustimmen würde, kann man sich wohl denken. So ernstlich er die Möglichkeit eines gemeinsamen Religionsunterrichts in seinem letzten Werk, dem Fundamentstück einer »gerechten, gesunden, freien und friedlichen Schulverfassung« erwägt, so entschieden hat er sich stets aus pädagogischen Gründen für die konfessionelle Schule, natürlich nicht für ihre zwangsweise Einführung ausgesprochen. Übrigens sei hier hervorgehoben, daß auch Diesterweg (Tews, S. 320) nur die Unterschiede in Rang und Stand, Vermögen und Beschäftigungsweise unberücksichtigt lassen will, daß er aber nicht fordert, wie Tews und der Deutsche Lehrer-Verein es tun, daß man auch über die Unterschiede im Bekenntnis hinwegsehen soll.

Auch in andern Punkten bestehen zwischen Tews und Dörpfeld be- züglich der Auffassung des Einheitsschulgedankens Verschiedenheiten, die Mittelschullehrer Achinger, als Herausgeber des Ev. Schulbl. in seinem Aufsatz: »Dörpfeld über Mittelschule und Volksschule« (1914, S. 125) erörtert.

Trotzdem glauben wir berechtigt zu sein, Dörpfeld als den Vorläufer Tews’ auf dem Gebiete der Einheitsschule zu betrachten.

3. Bausteine zur Psychologie des Dichters. Von Wilhelm Rinne-Bremen, Red. der Weserzeitung.

Mit einer Fülle von Reizen stürmt die Außenwelt von den Tagen frübster Kindheit an auf unsre Sinne ein, pgcht an die Tore der Seele und begehrt Einlaß. Die Seele antwortet auf die Reize mit Empfindungen und Vorstellungen, Gefühlen und Strebungen und nimmt in dieser um- gestalteten Form die Umwelt in sich auf. Bei der Aufnahme neuer Ein- drücke verblassen die älteren, geraten von der Bewußtseinshelle in einen Dämmerzustand, klingen unter die Schwelle des Bewußtseins ins Unterbewußtsein ab. Dadurch werden sie zwar unbewußt, aber keines- wegs unwirksam, bilden vielmehr eine schier unerschöpfliche Erfahrungs- sparkasse, ein Kräftezentrum, das unserm Seelenleben Reichtum und Tiefe, Zusammenhang und den Schwung der Sicherheit verleiht.

Beobachte das Kind beim Spiel, uud du wirst staunen über den kleinen Zauberer, der aus den unscheinbarsten Stoffen alles gestaltet, was die sehnende Seele wünscht, der durch die Phantasie seine Welt mit Leben und Gestalten erfüllt. Der Stock wird zum Pferd, zur Eisenbahn der Stuhl, das Bündel Lumpen gilt als Puppe, das Kind ziert einen Königs- thron. In diesem Tun offenbart sich die Dichterkraft, die in jedem von uns schlummert, die in der Seele des Erwachsenen durch des Werkeltags

284 B. Mitteilungen.

Fron und des Berufes Nüchternheit verdrängt wird und in der hintersten Herzenskammer ein Aschenbrödeldasein führt, uns aber doch im Traum in königlicher Gebelaune beschenkt, unsern Wünschen und Sehnsüchten Er- füllung verleiht und zu Glanz und Hoheit erhebt, was in Danke und Niedrigkeit zu ersticken drohte.

Aus dem Unterbewußtsein schöpft das Kind beim Spiel seiner Phan- tasie, der Erwachsene im Traum, aus dem Unterbewußtsein holt auch der Dichter seine besten Kräfte. Sehr fein drückt Franz Werfel das aus in den Versen:

»[ch trage viel in mir.

Vergangenheit früherer Leben,

Verschüttete Gegenden,

Mit leichten Spuren von Sternenstrahlen.

Oft bin ich nicht an der Oberfläche,

Hinabgetaucht in die fremdeigenen Gegenden bin ich.«

Und Norbert Jacques meint in seinem neusten Roman »Land- mann Hal«: »Auch im Wachen werfen manchmal die Regungen, die uns durchbeben, sich in uns aus Ahnungen und Vorstellungen füllen, die aus andern Erlebnissen herüberströmen, ohne daß wir es sehen, durch unser waches Hirn ein Schattentheater fremder rätselvoller Spiele. Diese Spiele sprechen von unsern innersten Vorgängen nur in Umbildungen, weil ihre Quelle so aus aller Tiefe heraufdrängt, daß unsre Vorstellungskraft ihnen nicht bis zum ersten Tropfen zurück zu folgen vermag.«

Was im eigenen Leben und im Sein vergangener ‚Geschlechter an unerfüllbaren Hoffnungen, an törichten Wünschen, an verbotener Lust, an Affekten und gefühlsbetonten Ideen aus der Bewußtseinshelle entschwand, das schließt sich im Unterbewußtsein zu neuen Einheiten zusammen, die zur Stunde der Reife durch eine Beobachtung, ein Erlebnis, eine Ge- dankenverbindung gerufen aus ihrer Verdunklung herausdrängen wie die Glutmassen der Erde durch die sie bergende feste Rinde und voll sieghaften Kraftgefühls die Herrschaft über die Seele erstreben. Von diesen. Stunden, die ans Licht bringen

»Was, von Menschen nicht gewußt Oder nicht bedacht,

Durch das Labyrinth der Brust Wandelt in der Nacht«,

gelten Schillers Worte in den »Idealen«: »Es dehnte mit allmächt’gem Streben Die enge Brust ein kreißend All, Herauszutreten in das Leben, In Tat und Wort, in Bild und Schall.«

Sie versetzen den Dichter in einen traumhaften Erregungs- oder Rauschzustand, in dem sich starke Ergriffenheit des Gefühlslebens mit einer ans Halluzinatorische grenzenden Klarheit und Deutlichkeit der aus dem Unbewußten stammenden Vorstellungen paart. »Es geht eine Stimmung voraus«, sagt Otto Ludwig, »eine musikalische, die wird mir zur Farbe,

l

3. Bausteine zur Psychologie des Dichters. 285

dann sehe ich Gestalten, eine oder mehrere in irgend einer Stellung und Gebärdung für sich oder gegeneinander, und dies wie einen Kupferstich auf Papier von jener Farbe, oder genauer ausgedrückt, wie eine Marmor- statue oder plastische Gruppe, auf welche die Sonne durch einen Vorhang fällt, der jene Farbe hat. Wunderlicherweise ist jenes Bild oder jene Gruppe gewöhnlich nicht das Bild der Katastrophe, manchmal nur eine charakteristische Figur in irgend einer pathetischen Stellung, an diese schließt sich aber sogleich eine ganze Reihe, und vom Stück erfahre ich nicht die Fabel, den novellistischen Inhalt zuerst, sondern bald nach vor- wärts, bald nach dem Ende zu von der zuerst gesehenen Situation aus schießen immer neue plastisch mimische Gestalten und Gruppen an, bis ich das ganze Stück in allen seinen Szenen habe; dies alles in großer Hast, wobei mein Bewußtsein sich ganz leidend verhält und eine Art körperlicher Beängstigung mich in Händen hat.«

Vielfach ist der Wirklichkeitssinn nach Pierre Janet die Fähigkeit, sich geistig der Umgebung anzupassen, den Augenblick zu ge- nießen und in einer jeden Situation die ihr entsprechenden Gefühle zu äußern ungenügend entwickelt oder verdrängt durch Psychasthenie: Unbestimmte Langeweile und trauriges Hindämmern verbinden sich mit dem Herrschendwerden von Erinnerungs- und Phantasievorstellungen. Typisch für diese seelische Einstellung ist Flaubert. Welch träumerische Langeweile klingt durch seinen klassisch realistischen Roman »Madame Bovary«, welch Ausschalten des Wirklichkeitssinnes kennzeichnet sein ganzes Schaffen! »Il fuyait«, schreibt Henri Le Savoureux, »le prösent d'une façon plus active encore par la création d’oeuvres d’imagination. Mais ä dire vrai, tandis qu’il peinait sur Salammbö, il songeait incessam- ment au plaisir d’6crire un roman moderne de moeurs bourgeoises. Et ainsi de même toujours, il tendait vers ce qui n’était pas l’occupation forcée du moment. Pendant le labeur de Madame Bovary, il rêve de Salammbö; pendant celui de Salammbö il songe â l'Éducation sentimen- tale; ce dernier roman n’est pas plutôt fini qwil voulait écrire Saint- Julien-l Hospitalier et Hérodias; et, tout en copiant les traités anciens de vénerie, â la Bibliothèque nationale, il désire déjà entâmer Bouvard et Péruchet. Entre deux ouvrages, lorsqu’il est livré à lui-méme et au spectacle des bourgeois de Rouen, il s’enfuit dans la Thébaïde se déroule la Tentation de Saint-Antoine.«e Psychasthenische Hingabe an das Spiel der Phantasie verrät auch Baudelaires Gedicht

Spleen.

Quand le ciel bas et lourd pèse comme un couvercle Sur l'esprit gémissant en proie aux longs ennuis,

Et qu de l'horizon embrassant tout le cercle

Il noys verse un jour noir plus triste que les nuits;

Quand la terre est changée en un cachot humide, l’Esperance, comme une chauve-souris,

S'en va battant les murs de son aile timide

Et se cognant la töte à des plafonds pourris ;

286

B. Mitteilungen.

Quand la pluie étalant ses immenses trainees D'une vaste prison imite les barreaux,

Et qu'un peuple muet d’infämes araignées

Vient tendre ses filets au fond de nos cerveaux, Des cloches tout à coup sautent avec furie

Et lancent vers le ciel un affreux hurlement, Ainsi que des esprits errants et sans patrie

Qui se mettent à geindre opiniâtrément.

Et de longs corbillards, sans tambours ni musique, Defilent lentement dans mon âme; l’Espoir. Vaincu, pleure, et l’ Angoisse atroce, despotique, Sur mon crâne incliné plante son drapeau noir.

Als letztes Beispiel psychasthenischer Ausschaltung des Wirklichkeits-

sinnes stelle ich hierher Stefan Georges

Juli-Schwermut. Blumen des sommers duftet ihr noch so reich: Ackerwinde im herben saatgeruch Du ziehst mich nach am dorrenden geländer Mir ward der stolzen gärten sesam fremd.

Aus dem vergessen lockst du träume: das kind Auf keuscher scholle rastend des ährengefilds In ernte-gluten neben nackten schnittern Bei blanker sichel und versiegtem krug.

Schläfrig schaukelten wespen im mittagslied

Und ihm träufelten auf die gerötete stirn Durch schwachen schutz der halme-schatten Des mohnes blätter: breite tropfen blut.

Nichts was mir je war raubt die vergänglichkeit Schmachtend wie damals lieg ich in schmachtender flur Aus mattem munde murmelt es: wie bin ich Der blumen müd... der schönen blumen müd.

Der Dichter ist aber mehr als Träumer, als Halluzinant, er ist auch

Denker, der durch seine Gestaltungskraft die Schemen zu anschaulichen Bildern zusammenfaßt, in lebendiger Darstellung den flüchtigen seelischen Gebilden Geltungsdauer verleiht. Treffend heißt es in den Meistersingern:

»Mein Freund, das grad ist Dichters Werk, Daß er sein Träumen deut’ und merk’. Glaubt mir, des Menschen wahrster Wahn Wird ihm im Traume aufgetan:

All’ Dichtkunst und Poeterei

Ist nichts als Wahrtraum-Deuterei.«

Das Denken gibt dem Dichter das Beherrschen der Technik, läßt ihn

aus der Fülle der Gesichte die tragende Idee des Werkes herausfinden und zur Wirkung bringen. »Beharrlich ringend unterwerfe der Gedanke sich das Elements, ist eine von jedem Dichter zu erfüllende Forderung;

3. Bausteine zur Psychologie des Dichters. 287

denn das Schöne entsteht nur, wenn wie Hebbel sagt »die Phan- tasie Verstand bekommt«.

Wenn im Dichter Träumer und Denker aufs innigste verschmolzen sind, dann wird in der Poesie das Höchste erreicht. Ist der Traumcharakter zu ausgeprägt, so wird trotz reicher Griffe ins blühende Leben das Werk der zwingenden Klarheit und plastischen Kraft entbehren; bestenfalls ent- stehen solch musikalische Dichtungen, für die die Charakterisierung aus den »Fragmenten« des Novalis zutrifft: »Erzählungen ohne Zusammenhang, jedoch mit Assoziation, wie Träume. Gedichte, bloß wohlklingend und voll schöner Worte, aber auch ohne allen Sinn und Zusammenhang höchstens einzelne Strophen verständlich wie lauter Bruchstücke aus den ver- schiedenartigsten Dingen«. Dagegen kann eine zu große Verstandesschärfe die Anschauung verderben, die Naivität der Phantasie rauben; ja, das denkende Beobachten der eigenen Erlebnisse, das Darüberstehen über seinen Zuständen kann für den Dichter zu beklemmender Pein werden. So klagt Grillparzer: »Ich wollte was schuldig sein, um einen Schmerz, ein Unglück, eine Verzweiflung zu haben, die und wär’s nur für eine Stunde mein Wesen ganz aufgehen machte in eine Empfindung, und mich nur für eine Stunde von dieser dauernden Verstandeskälte frei machte, die wie ein hohnlachender Narr hinter jedem Vorhang hervor- guckt.«e Und Kleist schreibt an seine Braut: »Vielleicht hat dir die Natur jene Klarheit zu deinem Glücke versagt, jene traurige Klarheit, die mir zu jeder Miene den Gedanken, zu jedem Wort den Sinn, zu jeder Handlung den Grund nennt.«

Aus erschütternder seelischer Not wird das Ewigkeitswerte bergende Kunstwerk geboren, mit dem Herzblut des Dichters wird es genährt. Oder um dasselbe mit Grillparzers formvollendeten Worten aus dem »Abschied aus Gastein« zu sagen:

»Und was euch so entzückt mit seinen Strahlen,

Es ward erzeugt in Todesnot und Qualen...

Was ihr für Lieder haltet, es sind Klagen, . Gesprochen in ein freudenloses All;

Und Flammen, Perlen, Schmuck, die euch umschweben, Gelöste Teile sind’s von seinem Leben.«

Aber im Schaffen liegt auch Befreiung von der Not, liegt Erlösung. Darauf wies Hebbel hin, als in einem Aufsatz der »Grenzboten« aus- geführt worden war, er würde einmal wahnsinnig werden: »Übrigens ist ein solches Urteil nicht ohne allen Grund, indem es doch auf einiger Einsicht in die schöpferischen Prozesse des dichterischen Geistes beruht, und es nur darin versieht, daß es die befreiende Kıaft des Darstellungs- vermögens, die doch im subjektiven wie im objektiven Sinne damit ver- bunden ist, nicht in Anschlag bringt.« Und an anderer Stelle heißt es bei ihm: »Mein Gott, wenn alles das, was wir sein, was wir tun und leisten könnten, in den Kreis unseres Bewußtseins fiele, so würde unser Leben in Zeit und Ewigkeit nur ein ununterbrochen fortgesetzter Selbst- mord sein. Es würde also kein Leben mehr, nur noch ein stetes Um- und Wiedergebären vorhanden sein, eine Art von Chaos. : Zum Teil hat

388 B. Mitteilungen.

eine solche Stellung zum Weltall der Künstler, daher die ewige Unruhe in einem Dichter, alle Möglichkeiten treten so nah an ihn heran, daß sie ihm alle Wirklichkeit verleiden würden, wenn die Kraft, die sie beran- beschwört, ihn nicht auch wieder von ihr befreite, indem er ihnen dadurch, daß er ihnen Gestalt und Form gibt, selbst auf gewisse Weise zur Wirklich- keit verhilft und so ihren Zauber bricht. Es gehört aber ungeheuer viel, und mehr als irgend ein Mensch, der es nicht in sich erlebt, ahnen kann, dazu, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und Naturen, denen das wahre Formtalent abgeht, müssen gebrochen werden , woraus denn viel Schmerz und Verrücktheit entspringt.«

»Gelöste Teile sind’s von seinem Leben,« und darum wird das Dichten zur Offenbarung seines Wesens, zur großen Beichte seines Lebens. »Nie- mand schreibt, der nicht seine Selbstbiographie schriebe, und dann am besten, wenn er am wenigsten darum weiß,« sagt Hebbel, und Jean Paul meint: »Das kranke Innerste eines Dichters verrät sich nirgends mehr, als durch seinen Helden, welchen er immer wieder mit den ge- heimen Gebrechen seiner Natur wider Willen befleckt.« Da erkennen wir, daß ein reiches Triebleben, das in bunten Phantasiegestalten ein selbst- herrliches Leben führt, und sich austobt, dem Dichter eignet, ein Trieb- leben, das sich schon in der Jugend in starken Auswirkungen bemerkbar macht. Rousseau gesteht in seinen »Bekenntnissen«: »Groß ist die Macht meiner Leidenschaften, und wenn sich dieselben in mir regen, kenne ich keine Rücksichten und keine Liebe mehr . . . Sehe ich einen Gegenstand, so bin ich in Versuchung, mir denselben anzueignen.«e Im »Grünen Heinrich« berichtet Gottfried Keller von seinem Stehltrieb, Swift schrieb Bekenntnisse eines Diebes, und Dostojewsky, dessen Bruder von des Dichters Neigung zum Falschspielen erzäblt, klagt in einem Briefe: »Am schlimmsten aber ist es, daß meine Natur in der Tat niedrig und zu leidenschaftlich ist.« Hebbel sagt von sich: »Wenn ich oft schon den Schlüssel zu meinem Herzen in der Hand habe, so schaudere ich zurück, « und von Byron: »Er wäre vermutlich kein so großer Dichter geworden, wenn er kein so großer Sünder gewesen wäre.« Norbert Jacques er- zählt: »Am nächsten Tage geschah dann in der Schule die Begebenheit, die so häßlich war und die ich doch nie bedauern und bereuen konnte, obschon Bereuen meine Stärke gewesen ist... die rätselhafte Begebenheit, daß ich einen armen alten betrunkenen Mann einer schmutzigen Handlung, die er im Schulhof begangen haben sollte, beschuldigte, obgleich ich nichts Derartiges gesehen hatte. Ich hielt stand mit meiner Lüge vor allen, vor dem Lehrer, dem Geistlichen, dem Richter.« Erschütternd ist Grill- parzers Geständnis: »Ich lüge, und nicht etwa des Scherzes willen, nein, es ist Neigung, Wohlgefallen an der Lüge. Ich habe einen beinahe un- überwindlichen Hang zum Diebstahle, den nur mein Ehrgefühl, das so fein ist, daß es fast in Unsinn ausartet, bezähmen kann ... Ich bin rachgierig, und zwar so, daß ich außer mir selbst komme, wenn ich diese Leidenschaft nicht in vollem Maße befriedigen kann. Ich glaube, daß nach mir zugefügter Beleidigung Unmöglichkeit der Rache mich töten würde. Diese Leidenschaft äußert sich besonders, wenn Eifersucht ins Spiel kommt.

3. Bausteine zur Psychologie des Dichters. 289

Diese letzte ist trotz allen übrigen dennoch die heftigste in meinem Herzen, so daß weder Liebe noch Wollust, die doch von außerordentlicher Stärke sind, ihr die Wage halten können. Eifersucht schließt bei mir ganz den Gebrauch der Vernunft aus, und ich schäme mich, wenn ich zurückdenke auf einige Beispiele, die mich wirklich zur Klasse der wilden Tiere herab- setzen ... . Einer meirer Hauptfehler ist auch noch der Neid; und seiner schäme ich mich am meisten. Der Neid äußert sich besonders dann, wenn ich ein gutes Gedicht eines -andern oder überhaupt eine vollkommene Schrift lese; jedes Wort, jeden Gedanken suche ich niedrig kleinlich zu schmähen. «

Früh erwacht der Sexualtrieb. Gleich Alfred de Musset und Byron verliebte sich Hebbel in seinem vierten Jahre. »Sie hieß Emilie und war die Tochter eines Kirchspielschreibers. Ein leidenschaftliches Zittern überflog mich, das Blut drang mir zu Herzen, aber auch eine Regung von Scham mischte sich gleich in mein erstes Empfinden, und ich schlug die Augen so rasch zu Boden, als ob ich einen Frevel begangen hätte. Seit dieser Stunde kam mir Emilie nicht aus dem Sinn, die vorher so gefürchtete Schule wurde mein Lieblingsaufenthalt, weil ich sie dort nur sehen konnte; die Sonn- und Feiertage, die mich von ihr trennten, waren mir so ver- haßt, als sie mir sonst erwünscht gewesen sein würden, ich fühlte mich ordentlich unglücklich, wenn sie einmal ausblieb. Sie schwebte mir vor, wo ich ging und stand, und ich wurde nicht müde, still vor mich hin ihren Namen auszusprechen, wenn ich mich allein befand; besonders waren ihre schwarzen Augenbrauen und ihre roten Lippen mir immer gegen- wärtig, wogegen ich mich nicht erinnere, daß auch ihre Stimme Eindruck auf mich gemacht hätte, obgleich später gerade hiervon alles bei mir ab- hing.«e Dante verliebte sich mit zehn, Rousseau mit elf Jahren, und Goethe entbrannte als Zehnjähriger in leidenschaftlicher Liebe zu der Schwester seines Freundes Derones. Häufig begegnen wir Inzestgedanken, und die Weltliteratur zeigt eine fortlaufende Kette von Geständnissen der Dichter über diesen Gegenstand, wern auch nirgends mit solcher Offen- heit darüber gesprochen wird, wie in Stendhals »Bekenntnissen eines Egoisten«: »Ich war in meine Mutter verliebt. Ich wollte meine Mutter immer küssen und wünschte, daß es keine Kleider gäbe. Sie liebte mich leidenschaftlich und schloß mich oft in ihre Arme. Ich küßte mit soviel Feuer, daß sie gewissermaßen verpflichtet war, davon zu gehen. Ich ver- abscheute meinen Vater, wenn er dann kam und unsere Küsse unterbrach ; ich wollte sie ihr immer auf die Brust geben. Man geruhe sich zu ver- gegenwärtigen, daß ich sie verlor, als ich kaum sieben Jahre alt war.«

Werden die sexuellen Wünsche durch den Willen verdrängt, so

sinken sie ins Unterbewußtsein, aus dem sie dem Arzt als Eigenart der Neurotiker wohlvertraut als Angstgefühle ins Bewußtsein zurück- kehren. Dahin zielen auch die Worte des Zacharias Werner:

»War das Gelüst mein Taggenoß,

Mein Nacht esell das Grauen.« Diese Angstgefühle tr len wir auch bei Goethe und Grillparzer, bei Strindberg und Maupassant. Hoffmann fürchtete sich vor den Ge-

Zeitschrift für Kindorforschung. 24. Jahrgang. 19

290 B. Mitteilungen.

stalten seiner eigenen Phantasie und bei Musset erzeugte die Angst die gräßlichsten Halluzinationen.

Im Verliebten werden Kräfte geweckt, die sonst schlummerten. Deshalb darf man aber keineswegs den Sexualtrieb als Ursache des dichte- rischen Schaffens bezeichnen. Wo die künstlerische Veranlagung fehlt, da wird auch die stärkste Liebesleidenschaft kein Werk entstehen lassen. Es scheint sogar fraglich, ob der Liebesgenuß die Schaffenskraft hebt. Von Hebbel z. B. wissen wir, daß seine Sexualität schwieg, wenn er produzierte, und die großen Meisterwerke entstanden nicht zur Zeit stärkster Sexualität sondern später. Zuzugeben ist indes, daß die Liebe, die nicht körperliches Begehren ist, einen dem Schaffen günstigen Rauschzustand verursacht, der durch die Sehnsucht machtvoll verstärkt wird, aber im Genuß entschwindet.

»So bringst du mich um meine Liebe,

Unseliger Genuß?

Nimm sie, den Wunsch so mancher Lieder,

Nimm sie zurück, die kurze Lust!

Nimm sie, und gib der öden Brust,

Der ewig öden Brust, die bessere Liebe wieder.« Die »bessere Liebe«, die Lessing in diesen Versen zurückersehnt, schafft durch die Glut der Einbildungskraft aus der Geliebten ein Wesen mit allen Vorzügen, ein Idealbild, welches das hohe Feuer der Begeisterung erhält. »>Und die, die du liebst? Sie ist kein irdisches Wesen, sie lebt nicht auf der Erde, aber in dir selbst als hohes, reines Ideal deiner Kunst, das dich entzündet, das aus deinen Werken die Liebe aushaucht, die über den Sternen wohnt,« sagt Hoffmann.

Das starke Triebleben wird nicht selten vom Dichter als etwas Sünd- haftes empfunden, von dem er sich durch Frommsein zu befreien sucht. Fromm wurden, um nur einige Namen herauszugreifen, Börne, Heine, Huysmans, Kleist, Novalis, Friedrich Schlegel, Graf Stolberg. Zacharias Werner sucht nach einem tollen Leben den Frieden seiner Seele in Rom, fällt in Zerknirschung nieder vor Gott:

»Ich weiß es, Herr (o, werd ich’s einst vergessen ?),

Daß wert ich bin, im Abgrund zu versinken,

Den ich mir grub; die Wellen, die dort blinken,

Sind Mutterzähren, die ich aus tat pressen;

Dieweil den Taumelbecher ich vermessen

Geziert, zur letzten Neige auszutrinken,

Sind die Sirenen, die nach unten winken,

Mir jetzt Harpyen, die am Mark mir fressen.« Es sei erinnert an Strindbergs »Nach Damaskus«e, an Tolstois »Auf- erstehung«, an die erschütternde Klage:

»Ich blickte hinauf in die Nacht, in die Nacht.

Ich biickte hinunter aufs neue:

O wehe, wie hast du die Tage verbracht,

Nun stille du sacht

In der Nacht, in der Nacht,

Im pochenden Herzen die Reue.«

u.

4. Die Arbeitslehrkolonie und Beobachtungsanstalt Steinmühle. 291

Stark ist bei vielen Dichtern die Reizbarkeit. Lenau wurde nach seinem eigenen Geständnis durch einen kleinen Ruck der Mütze aus seiner Stimmung gebracht, eine schlechte Zigarre verstimmte ihn wie ein körper- liches Unwoblsein. Er war so sehr von Kleinigkeiten abhängig, daß er gleich Byron nicht ohne großes Gepäck reisen konnte, »eine Menge kleiner Kästen, Necessaires, Stöcke, Schirme, kurz, woran er gewöhnt war, das mußte auch mit auf die Reise.« Karl von Holtei schreibt: »Jedes Geräusch erschreckt, jede Fliege stört, jedes rührende Wort bewegt mich.« Hebbel meint: »Oft entsetze ich mich über mich selbt, wenn ich erkenne, daß in mir die Reizbarkeit, statt abzunehmen, immer mehr zunimmt,« und Goethe sagt: Ein starker Schall war mir zuwider, krankhafte Gegenstände erregten mir Ekel und Abscheu; besonders ängstigte mich ein Schwindel, der mich jedesmal befiel, wenn ich von einer Höhe herunterblickte.«e Er fürchtete unangenehme Eindrücke, ging nach Möglichkeit allem aus dem Wege, was Trauer erregte, weil er leicht zum Weinen kam. Schon vier- zehn Tage vor seiner Abreise aus Rom weinte er »täglich wie ein Kind«, er vergoß Tränen beim 5. Akte der »Iphigenie«, beim Vorlesen von »Hermann und Dorethea«, und in einem Briefe an Frau von Stein be- richtet er: »Zuletzt führte ich meine Lieblingssituation in Wilheim Meister wieder aus. Ich ließ den ganzen Detail in mir entstehen und fing zu- letzt so bitterlich zu weinen an, daß ich eben zeitig genug nach Gotha kam.«

Der Dichter ist anders geartet, als gewöhnliche Sterbliche. Das gibt uns aber kein Recht, das dichterische Genie in enge Beziehung zum Wahn- sinn zu bringen, wie Lombroso nach dem Vorbild des Aristoteles es wagte. Der Dichter ist kein Geisteskranker; sein Geist arbeitet in durch- aus normalgesetzmäßiger Weise. Auch von Psychose kann nicht gesprochen werden, weil diese eine Krankheit des Intellekts und der Affektivität ist, während sich beim Dichter nur eine Änderung des Gefühllebens zeigt, eine Abweichung vom »Normalmenschen«, die manches Unverständliche enthält, das aber im Unterbewußtsein logisch motiviert ist.

4. Die Arbeitslehrkolonie und Beobachtungsanstalt Steinmühle.

Ein Wort der Richtigstellung. Von Prof. Dr. E. von Düring.

Im Februar/März-Heft dieser Zeitschrift, S. 179, nennt Delitsch (in »Ein deutscher Jugendfürsorgetag über Jugendämter«) die Anstalt Stein- mühle, eine Schöpfung Prof. Klumkers (in Gemeinschaft mit Herrn Karl Stiebel): ein Beobachtungs-, Behandlungs- und Beratungshaus für straffällige, psychopathische männliche Jugend.

Diese Bezeichnung ist nur zum Teil richtig und umfaßt durchaus nicht Zweck der Anstalt und Wesen bei ihrer Gründung. Es sei gestattet, aus dem 10. Jahresbericht, 1917, folgendes hier zu wiederholen.

Der erste Zweck der Anstalt, ein praktisches Bedürfnis, aus dem heraus die Anstalt erwuchs, war, für die dem »Kinderschutz« anvertrauten

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N

292 B. Mitteilungen.

Hilfsschüler eine Stätte der Beobachtung, des Reifens, der Vorbereitung für das praktische Leben zu schaffen.

Es heißt im Jahresbericht, S. 5 ff. :

»Hervorgegangen ist die Anstalt aus zwei Bedürfnissen, die sich in der Mitarbeit mit dem Verein Kinderschutz im praktischen Leben ergaben: eine Übergangsstelle zu schaffen für Hilfsschüler, d. h. Minderbegabte und Psychopathen —, in der sie arbeiten iernen sollten, und eine Beobachtungs- stelle für solche Zöglinge, deren Anlagen und Aufführung ihnen das Fort- kommen im Leben nach der Schulentlassung erschweren und unmöglich zu machen scheinen. Unter den letzteren würden selbstverständlich einer- seits viele Psychopathen, andererseits schon solche Jünglinge sein, die mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind. Die ganze Gruppe zu beobachten, nach ihren Eigenschaften sie entweder in der Anstalt auf ihre soziale Brauchbarkeit zu prüfen, sie in die Anfänge der gewählten Berufsarbeit einzuführen, oder sie möglichst bald in geeignete Lehrstellen zu bringen, oder für die anderweitige Unterbringung in Anstalten zur Versorgung, für Epileptiker, oder bei ausgesprochener Unfähigkeit, vorläufig im freien Leben fertig zu werden, ihre Aufnahme in Handwerkerbildungs- oder andere ge- schlossene Anstalten mit Gelegenheit zu Ausbildung in Gärtnerei oder in Landwirtschaft oder in Handfertigkeiten zu veranlassen das ist der Zweck der Arbeitslebrkolonie und Beobachtungsanstalt Steinmülle.

Es ist selbstverständlich, daß das Überwiegen der unserer Anstalt zu- gewiesenen Zwangszöglinge das schon mit dem Gesetz in Widerstreit ge- ratene Element in der Überzahl auftreten läßt. Wir wollen nicht vergessen, daß darin immerhin eine Erschwerung des ersten Zieles der Anstalt, Hilfsschüler aufzunehmen, liegt. Gerade die letzteren sind durch das Milieu, aus dem sie kommen, aus Anlage (erbliche Belastung), größerer Beeinflußbarkeit, vermindertem Unterscheidungsvermögen bei herabgesetzter Intelligenz, körperlicher und geistiger Unreife, durch die häufig keineswegs minderintelligenten, vielfach schon in allen möglichen Dingen unangenehm erfahrenen, oft auch körperlich kräftigen Jungen durch deren Überlegenheit immer gefährdet. Wir müssen deshalb streng darauf halten, daß die beiden Gesichtspunkte: Beobachtung und Arbeitsanleitung mit Einbeziehung des Begriffes: Erziehbarkeit, unbedingt im Auge behalten bleiben. Wir dürfen einerseits nicht zur Anstalt für Unterbringung von ausgesprochen schwachsinnigen oder geisteskranken Zöglingen werden; besonders die Schwachsinnigen höheren Grades sind sogar möglichst ungünstig bei uns untergebracht, da uns gerade die Unterrichtsgelegenheiten fehlen, die für diese Zöglinge unentbehrlich sind. Ebensowenig dürfen wir ausgesprochen kriminell veranlagte Zöglinge, selbst wenn sie debil und Psychopathen sind, über die zur Entscheidung nötige Beobachtungszeit hinaus behalten, da wir damit gerade die wichtigste Arbeit: Beobachtung und Anleitung der Hilfsschüler außerordentlich erschweren und schädigen.

Das Zurücktreten der Zahl der durch den Verein »Kinderschutz« oder durch die Eltern der Hilfsschüler überwiesenen gegenüber den Für- sorgezöglingen machte sich schon vor dem Kriege geltend. Während des Krieges hat sich das Verhältnis noch weiter zuungunsten der Hilfsschüler verschoben.

4. Die Arbeitslehrkolonie und Beobachtungsanstalt Steinmühle. 293

Die Arbeitskräfte, selbst minderer Güte, sind so gesucht und so gut bezahlt, daß die Eltern unbefähigter Kinder schwer dazu zu bewegen sind, ihren Kindern noch die Wohltat weiterer Behütung, Entwicklungsmöglich- keit und Ausbildung zu gewähren die Kinder sollen verdienen. Und tatsächlich finden halbe Idioten gegen erstaunlich hohe Löhne Anstellung! Es ist zu hoffen, daß nach dem Kriege gerade diese, der Beobachtung und Arbeitserziehung so sehr bedürftigen und als Objekte unserer Arbeit so dankbaren Elemente wieder in großer Zahl der Wohltat der Anstalts- überleitung ins Leben teilhaftig werden.

Dafür nimmt die Zahl der anderweitig schwer ertragbaren oder in den Stellungen nicht aushaltenden Zöglinge mit psychopathischen Anlagen bedeutend zu; und damit steigt, wie gesagt, selbstverständlich die Zahl der kriminell gewordenen. Weiter werden uns zeitweilig ausgesprochen Schwachsinnige höheren Grades in größerer Zahl zugewiesen, als es uns nach oben Gesagtem lieb ist.

Soweit wir hier als Beobachtungsstation unsere Pflicht erfüllen können, ist es selbstverständlich, daß wir derartige Zöglinge aufnehmen müssen und auch gern aufnehmen. Man hat hier oft eigenartige Überraschungen. Zöglinge, deren Intelligenz auf so niederer Stufe zu stehen scheint, daß man es im Anfang für fast verlorene Mühe hält, hier noch zu »beobachten«e, entwickeln sich unerwartet und werden ganz brauchbare Elemente. An- fänglich besonders schwierige, mit Gott, sich und der Welt zerfallene Burschen, die in der ersten Zeit entweder verbissen und verstockt voller Widerstand sind, oder hin und wieder hartnäckig durchzubrennen suchen, werden unter Umständen besonders willige und DERE Menschen, die in Stellungen sich sehr brauchbar erweisen,

Aber andererseits kommen doch auch Fälle zur ` Einlieferung, die zum längeren Aufenthalt in unserer Anstalt keineswegs geeignet sind. Bei diesen sind entweder die Anomalien, d. h. entweder Schwachsinn, Idiotie oder Psychopathien so ausgesprochen, daß andere Anstalten die Zöglinge nicht behalten konnten oder wollten, oder es sind Zöglinge, deren Ver- fehlungen mit mehr oder minder Berechtigung den Verdacht erweckt haben, es handle sich um Psychopathen: Zöglinge, die ausgesprochene Verbrechernaturen sind und deren Aufenthalt in der Anstalt um so gefähr- licher ist, als ja ein großer Teil unserer Zöglinge besonders leicht be- einflußbar ist.

Diesen verschiedenen Typen gegenüber müssen wir, darüber müssen wir uns klar sein, immer wieder den oben betonten Zweck unserer Anstalt: »Beobachtung und Arbeitserziehung« festhalten und durchführen. Fälle, an denen nichts mehr zu beobachten und deren Erziehung zur Arbeit aussichtslos ist und unter anderen Bedingungen besser erfolgen kann, oder die den Zweck der Erziehung zur Arbeit an anderen Zöglingen erschweren, gehören nicht in unsere Anstalt. Es wäre mein Wunsch für zwei Gruppen: Schwachsinnige, die erst spät in Lehrstelle können, die mindestens bis zur Volljährigkeit in der Anstalt bleiben müssen und für Psychopathen mit ausgesprochen kriminellen Anlagen, die man aus diesem Grunde mög- lichst lange vor dem freien Leben bewahren möchte, zur Vermeidung der

294 B. Mitteilungen.

Schädigung unserer Zöglinge, getrennte Zweiganstalten zu haben. Solange aber diese Gruppen nicht abgesondert werden können, müssen die in Be- tracht kommenden Zöglinge möglichst bald in andere Anstalten verlegt werden.

Die ganze Fürsorgearbeit wird mit der Zeit, davon bin ich fest über- zeugt, immer mehr auf Spezialisierung hinführen, wenn sie wirklich Er- sprießliches leisten will. Anstalten, die alle möglichen Arten der Zöglinge selbst in getrennten Betrieben aufnehmen wollen, sind nach meiner Über- zeugung auf falschem Wege.«

Die Eigenart und Berechtigung unserer Anstalt beruht auf dem Fest- halten ihres ersten, ich betone nochmals, so selbstverständlich aus den Bedürfnissen der Erfahrung herausgewachsenen Zweckes.

Es liegt uns daran, diesen Zweck unserer Anstalt zu betonen. Sollten es die Verhältnisse erlauben, so werden wir der Vorstand ist in diesem Sinne tätig in absehbarer Zeit eine Erweiterung erfahren, die uns er- laubt, Psychopathen schwerer Art länger zu behalten, vielleicht zu ver- wahren vorläufig ist der Zweck Arbeitslehrkolonie und Beobachtungs- anstalt strenge festzuhalten. Wir müssen uns hüten, als Zufluchtsstätte für die Psychopathen angesehen zu werden, die andere Anstalten bei uns dauernd unterbringen möchten.

5. Krebsschäden in der Fürsorgeerziehung. Von A. Ott-Frankfurt a. M.

Wer an Fürsorgeerziehungsanstalten am Wohle der gefährdeten (schul- entlassenen) Jugend gearbeitet hat, weiß, welch eine Verschiedenartigkeit von Elementen in die Anstalt zur Einweisung gelangen.

Wir finden unter diesen unserer Fürsorge Bedürftigen die verschiedensten Formen des Schwachsinnes mit und ohne Kombinationen. In der großen Gruppe der Psychopathen finden wir nahezu jede Art vertreten. An- gefangen mit dem Alter. der Schulentlassung bis hart zur Volljährigkeit haben wir Zöglinge beisammen. Solche, die ob schwerer Vergehen längere Zeit Insassen der Gefängnisse waren, die grundverdorben, routiniert sind, wechseln mit solchen, die ob kleinerer Vergehen mit dem Strafgesetz in Widerstreit geraten, aber sonst leicht zu erziehende, beeinflußbare Jungen sind. Auch die Gruppe der sogenannten »guten Kinder schlechter Eltern « ist vertreten. Mit einem Wort ein Sammelsurium von Menschenkindern.

Ohne Zweifel muß hier Änderung geschaffen werden, die Gründe dafür lassen sich doch wohl schon aus der vorangegangenen Aufzählung herauslesen.

Will ich ein Kind erziehen, so muß ich vor allem seine physischen und psychischen Anlagen eingehend studieren bezw. kennen lernen, und dazu gehört in einer Fürsorgeerziehungsanstalt eine Beobachtungsstation. Hierfür sind aber besonders vorgebildete Erzieher notwendig und als be- sonderer Leiter dieser Station sollte ein psychiatrisch gebildeter Mediziner fungieren, der sich eingehend mit Pädagogik befaßt hat, oder aber ein

5. Krebsschäden in der Fürsorgeerziehung. 295

Pädagoge mit gründlichen psychiatrischen Kenntnissen. Diese Station wird naturgemäß sehr kostspielig werden, auch in der Hinsicht, daß man hier mehr und besonderes Personal benötigt. Glaubt man die Beobachtungs- zeit genügend lang ausgedehnt zu haben, so sollte der Zögling in einer Abteilung seiner Gattung untergebracht werden. Ich möchte da vor allem die sexuell Anormalen, routinierten, älteren von den jüngeren, unerfahreneren getrennt sehen. ;

Es ist doch unverantwortlich, daß man kaum die Schule Verlassene durch das Zusammensein gerade mit den in sittlicher Hinsicht verkommenen Subjekten der Gefahr des Verderbtwerdens aussetzt. Die Schäden die hieraus erwachsen, sind gar nicht zu übersehen und hören nicht auf am Mark des Volkes fortzufressen Generationen hindurch.

Auch die Trennung der Graden des Schwachsinns und der Psycho- pathen, die das Zusammenarbeiten mit den Normalen erschweren, halte ich im Interesse der Erziehung der Anomalen für geboten. Dadurch werden wir manchem Vertreter dieser beiden anomalen Gruppen einen Stein vom Herzen nehmen dadurch, daß sie das Gehänsel und die Schikanen ihrer Kameraden los geworden sind. Diese Gruppen vermögen nicht das zu leisten, was Normale zu Wege bringen und sollte dieser Abteilung weniger schwere Arbeit zur Erledigung gegeben werden. Unter dem Personal suche man die für den jeweiligen Charakter der Abteilung ge- eignetsten Erzieher heraus.

Über dem Ganzen aber schwebe eine humane Anstaltsleitung voll Güte und Liebe. Machen wir doch nicht die Fürsorgeerziehungsanstalt zur Strafanstalt und behandeln wir nicht die Zöglinge als Verbrecher, sondern als unserer Fürsorge Bedürftige.

Es wird soviel darüber gestritten, soll der Pädagoge oder der Theo- loge, der Mediziner oder der Beamte eine Anstalt leiten. Nach meinem Dafürhalten kommt es in erster Linie darauf an, daß der Leiter der An- stalt die Jugend zu nehmen weiß, daß er Ihnen als Vater und Helfer erscheint und nicht zuletzt, daß er das Vertrauen der Jugend gewinnt. Andererseits aber möchte ich bemerken, daß Anstaltsleiter ohne jede Vor- bildung an diesem verantwortungsvollen Posten ungünstig wirken können, auch wenn im Nebenamt gelegentlich ein Arzt tätig ist. Wie mancher Zögling ist so und so lange in der Anstalt und man erkennt seine Krank- heit nicht, da der Anstaltsleiter und seine Mitarbeiter keine Ahnung von Psychopathologie haben und das Wort Psychopathische Konstitution kaum dem Namen nach kennen, geschweige denn etwas von der Behandlung solcher Individuen wissen. Diese Leute arbeiten jahrelang an der Jugend, aber sie sind mit sehenden Augen blind. Es genügt noch lange nicht ein Buch über Psychopathologie des Kindes zu lesen. Es gehört vielmehr eine Erfahrung auf diesem Gebiete dazu, welche unter fachmännischer Leitung gemacht worden sein sollte.

Es ist betrüblich zu sehen, daß die Behörden schon dann voll be- friedigt sind, wenn nur die Akten in Ordnung gehen, und die Anstalts- leitung finden sie für geeignet, wenn die Abrechnungen stimmen und ja nicht mehr wie im Etat vorangeschlagen ausgegeben worden ist.

296 B. Mitteilungen.

Krebsschäden, habe ich meine Arbeit betitelt und ich glaube nicht mit unrecht. Sorgen wir alle dafür, daß sich die Erkenntnis bahnbricht, daß mehr wie bisher Wert auf die ausführende Fürsorgeerziehung ge- legt werden muß, und daß Anstalten ins Leben gerufen werden, die hin- sichtlich ihrer Leitung und Einrichtung dem neusten Stand der Wissen- schaft entsprechen. !)

6. Zur Frage des Bettnässens.

Auf die Umfrage des Ev. Erziehungsamtes bezüglich des Bettnässens sind eine Reihe von Antworten eingegangen, deren Resultat wird nach- stehend bekannt geben:

Nicht überall ist eine Zunahme des Bettnässens beobachtet worden, wohl aber in sehr vielen Anstalten. Zumeist findet es sich bei den schul- pflichtigen Zöglingen. Je nach der Ursache des Leidens werden die Mittel verschieden sein, die angewendet werden müssen. Ein Allgemein- mittel gibt es nicht. Bei Zöglingen vorgeschrittenen Alters kommt meist nur noch starker persönlicher erzieherischer Einfluß in Betracht. Häufig verliert sich das Übel bei dem ausgereiften Menschen.

. 1. Ursachen des Bettnässens.

a) krankhafte und degenerative, neuropathische Veranlagung (nervöse, hysterische Störungen, schwache Blase, Darmleiden, Phimose, das Vorhandensein von Eingeweidewürmern, Skrophulose usw.). Eine Anstalt schreibt: Der weitaus größte Teil von Bettnässern, wenigstens unter den Schulpflichtigen leidet an behinderter Nasenatmung, die Kopfdruck und Dämmer- bezw. Traumzustände während der Nacht zur Folge hat, in denen dann das Nässen erfolgt. Zudem ist be- obachtet worden, deß Bettnässen sich am häufigsten bei schlecht be- leumundeten, vorbestraften, widersetzlichen und geistig beschränkten Zöglingen findet. In einem Bericht heißt es: Die unverbesserlichen Bettnässer waren die psychisch stark abnormen Zöglinge.

Neuerdings ist als Ursache des Leidens in einzelnen Fällen eine

Spaltung des untersten Teiles des Rückenmarkes festgestellt worden.

b) insbesondere mangelhafte Erziehung und Gewöhnung in früher Jugend, infolgedessen Willensschwäche,

c) Während des Krieges trägt die reichliche flüssige Nahrung (Kohlrüben, Kartoffeln) mit dazu bei, daß die Zahl der Bettnässer sich gesteigert hat. Knaben nässen häufiger ein als Mädchen.

2. Bekämpfung und Besserung des Leidens durch a) ärztliche Maßnahmen (waren von wenig Erfolg).

aa) Elektrisieren hat wenig geholfen.

Dagegen ist Suggestion häufig von dauerndem Erfolg gewesen.

bb) Täglich 1—3 mal 15 Tropfen Tinctura Rhois aromatica (hat

eine Anzahl von Fällen bei längerer Fortsetzung günstig beein- flußt; in anderen Fällen war kein Erfolg zu spüren.)

1) Darum verlangen wir Seminare für Heilerziehung. (Vergl. König, Die Notwendigkeit eines Seminars für Heilerziehung und Jugendpflege. 27 S. IM. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne [Beyer & Mann].) Die Schriftleitung.

6. Zur Frage des Bettnässens. 297

cc) Einspritzung von physiologischer Kochsalzlösung in den Epidural- raum hat bei Spaltung des untersten Teiles des Rückenmarkes gut gewirkt.

dd) Operation bei behinderter Nasenatmung: Entfernung der Nasen- Rachenmandel und der Gaumenmandel, Resektion der unteren Nasenmuscheln, Entfernung der Nasenwucherungen oder Ab- meiselung der Verbildungen des Nasenbeines. Dadurch wurden in einer Anstalt eine Reihe von Bettnässern, die für unheilbar galten, völlig von ihrem Übel befreit.

ee) Schafgarbente. Tee von durchlöchertem Johanniskraut. (Nur vorübergehender Erfolg.)

Auf die in Zeitungen angegebenen Heilmittel ist nichts zu geben; die wirken höchstens durch Suggestion. durch b) äußere Mittel.

aa) Fußende der Bettes hochstellen. Zöglinge sollen nicht auf dem Rücken liegen.

bb) Warmhalten des Körpers: (Leibbinde, Unterhosen) und des Schlaf-

zimmers. (Eine Anstalt berichtet: So bald der Schlafraum der ärgsten Bettnässer wieder gut durchwärmt werden konnte, hatten von 14 ständigen Bettnässern nur 3 bezw. 4 genäßt.

Körper an Regelmäßigkeit gewöhnen in jeder Beziehung.

Regelmäßige Mahlzeiten einhalten ohne starke Gewürze und ohne Getränke (Trinken überhaupt vermeiden).

Zeitig Abendbrot essen. (Die Kinder dürfen nicht früher als zwei Stunden nach dem Abendbrot ihre Lagerstätte aufsuchen.)

Keine flüssige Nahrung des Abends; keine Kartoffeln, Kohlrüben. (Geht schwer durchzuführen.)

Zuführung von Fett in Form von Brotaufstrich u. dgl. wie

überhaupt reichliche gute Ernährung, da die damit behafteten Kinder häufig skrophulös und unterernährt sind. (Jetzt gar nicht durchzuführen.) Regelmäßiges Wecken eine Stunde nach Schlafengehen: viel- leicht in einer Stunde nochmals. (In Treysa wachen ständig zwei ältere verständige Zöglinge die ganze Nacht hindurch. Sie haben die Aufgabe, alle Bettnässer nachts rechtzeitig zu wecken. Ganz schlimme Bettnässer werden alle paar Stunden aus dem Bett geholt. Das Bettnässen ist ınfolgedessen fast völlig aus dem Rettungshaus verschwunden.)

Zu häufiges Wecken ist nicht zu raten, da dieses die Kinder nervös macht.

Regelmäßiges Austreten am Tage (nicht zu häufig).

Morgens nach dem Wecken augenblicklich zum Aufstehen zwingen,

da das Bettnässen meist beim Aufwachen, nicht während des

Schlafes erfolgt.

ee) Zu warnen ist vor Apparaten, die den Urin absperren; ihre Ver- wendung ist sehr bedenklich in gesundheitlicher und ethischer

Beziehung.

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298 B. Mitteilungen.

ff) Zur Schonung der Betten dienen Torfmullbetten und Betten mit einer Traufe (in Klausheide eingeführt). Schlafen auf Strohsack, der oft erneuert werden muß.

durch c) pädagogische Mittel.

aa) Weckung des Scham- und Ehrgefühls (Familie, die keinen Bett- nässer hat, darf bei der Arbeitsverteilung drei Schritt vortreten).

bb) Belohnungen (in Aussicht gestellter Urlaub. Arbeitsfreier Tag für die Familie, welche nur Saubere hat. Letzteres hat sich in den letzten zwei Jahren in Neinstedt ganz vorzüglich bewährt. Die Zahl der Bettnässer ist um mehr als die Hälfte zurück- gegangen).

cc) Strafen bei grober Nachlässigkeit (aber: nicht Entziehung der Nahrung, die gerade bei körperlichen Mängeln das Gegenteil be- wirken kann. Fortgesetzte Strafen wirken abstumpfend).!)

7. Die Stammlerkurse in Breslau im Schuljahre 1918. Von Rektor Plevschinski-Breslau.

In Breslau sind die Sprachheilkurse seit 1887 eine ständige Schul- einrichtung. Während aber in den meisten Städten Deutschlands reine Stottererkurse eingerichtet wurden, traten hier in Breslau seit 1897 neben die Stottererkurse auch Stammlerkurse. Die Entwicklung der Stotterer- kurse drängt zur Errichtung von Sprachheilklassen. Zur Heilung der stammelnden Volksschulkinder wird die Kursusbehandlung immer genügen, da es sich hier um die Erreichung der mechanisch-richtigen Lautbildung, nicht um Heilung von psychischen Erkrankungen handelt.

Nachfolgende Ausführungen und Tabelle sollen einen Überblick über die Stammlerkurse Breslaus im Schuljahre 1918 vermitteln.

Im Mai 1918 meldeten 61 ev. Volksschulen 199 und 35 kath. Volks- schulen 106 stammelnde Kinder an. Von 25 ev. und 25 kath. Volks- schulen waren keine Meldungen eingegangen. Aus 3 höheren Schulen wurden 5 Stammler für die Kurse angezeigt. Die gemeldeten 305 stammelnden Volksschulkinder betrugen 0,48°/, des Volksschülerbestandes der Stadt am 1. Mai 1918.

Es wurden 21 Kurse eingerichtet. Im Vorjahre waren es 24. Sie begannen nach den Sommerferien und endeten vor den Herbstferien. Die Unterrichtszeit umfaßte 30 Stunden bei wöchentlich 3 Doppelstunden.

Von den gemeldeten 310 Stammlern traten nur 277 an. Die fehlenden 33 wurden durch Landaufenthalt, Aufnahme in Heilstätten und Zurück- stellung vom Schulbesuch bis Ostern 1919 entschuldig. In 4 Fällen verweigerten die Eltern den Besuch; auch waren in einzelnen Fällen Krankheit, Tod und Wegzug eingetreten. Am Schlusse zählten die Kurse noch 274 Teilnehmer, so daß die Durchschnittsstärke der einzelnen Kurse 13 Kinder betrug.

Unter den 274 Stammlern waren 65,3°/, Knaben und 34,7),

1) Weitere Mitteilungen sind sehr erwünscht. Zugleich sei verwiesen auf Heft 15 unserer »Beiträge«: Zur Frage des Bettnässens. Von Dr. med. Hermann.

7. Die Stammlerkurse in Breslau im Schuljahre 1918, 299

Mädchen. Das Geschlechterverhältnis der Stammler hat sich in den Volks- schulen während der Kriegszeit zuungunsten der Knaben verschoben.

1910 55,0%, Knaben 45,0°/, Mädchen

1911 54,0, n 46,0 = 1912 587, 41.8, 7 1913 565, , 43,5 5 1914 584, , 41,6 x 1915 578. 42,2 S 1916 641, n 35,9 K 1917 65,6, , 34,4. x 1918 65,3, 34,7, >

Es scheint, daß die uanzeihe Erziehung im Elternhause während der Kriegszeit der Sprachentwicklung der Knaben mehr geschadet hat, als derjenigen der Mädchen, die von Natur geschmeidigere und geläufigere Sprachorgane besitzen als die Knaben.

"Zu den Lernanfängern (Kl. 7) gehörten 73,6°/, der Stammler. Aus den 6. Klassen kamen 18,2°/,, so daß auf beide Unterklassen 91,8%, aller Kursisten entfielen. Die restlichen 8,2°/, waren aus den 5. (5,6°/,), 4. (1,5°/,) und 3. Klassen (1,1°/,). Aus den 2. und 1. Klassen wurden keine Stammler gemeldet.

Auch das Alter der Stammler fällt nach oben hin stark ab. 6 jährige Stammler zählten die Kurse 49°/,, 7jährige 31,30/,, 8jährige 8,8°%/,, 9jährige 4,8°/,, 10jährige 4,30%, und 11—13jährige 1,8°/,.

Diese stark sinkenden Klassen- und Alterszahlen zeigen, daß das Stammeln nach oben hin abnimmt und schließlich verschwindet. Die Kursusarbeit und die Schule bekämpfen das Sprachübel erfolgreich und nur einzelne Fälle, denen organische Mißbildungen der Sprechorgane zu- grunde liegen, dringen vereinzeit in die oberen Klassen und Jahrgänge ein. Hier würde auch eine Sprachheilschule keine anderen Erfolge erringen.

Die sprachliche Erziehung der Kinder im vorschulpflichtigen Alter zeigt in den Familien, aus denen unsere Volksschulkinder stammen, große Mängel. Bei 20°/, konnte festgestellt werden, daß Familienglieder an Sprachfehlern litten. Diese verteilen sich auf Väter 3,2°/,, Mütter 1,8%,, ältere Geschwister 14°/, und Verwandte 1°/,. Die stammelnden Kinder sind namentlich jetzt bei den allgemeinen Hemmungen der Kriegszeit gekürzte Unterrichtszeit, Landaufentbalt, schlechter Schulbesuch, wenig Lehrkräfte ein großes Hemmnis des unterrichtlichen Fortschrittes, sowohl des einzelnen Schül/.s wie der ganzen Klasse. Schickten doch 7 Anfänger- klassen je 4, 2 Ky ssen je 5, 3 Klassen je 6, 2 Klassen je 7 und 1 Klasse 8 Stammler in /ıe Kurse. Da bewiesen die Stammlerkurse wieder ihre notwendige HiV., der es in den meisten Fällen gelang, die sprachlichen Mängel wegzr sumen.

Der Krv susbesuch, welcher ein freiwilliger ist, war leider nur bei 30°/, rege) ‚äßig, 48,1°/, der Teilnehmer fehlten bis 3mal und 21,9, bis 10maf Die Kriegszeit mit den wirtschaftlichen Nöten der Eltern- häuser le/,te sich lähmend auf den Besuch.

300 B. Mitteilungen.

Übersicht der Stammlerkurse

Zahl ke En nr Von letzteren waren Defekte

Schulen

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7. Die Stammlerkurse in Breslau im Schuljahre 1918,

im Schuljahre 1918.

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302 B. Mitteilungen.

Was den Erfolg der Kurse betrifft, so konnten 63,1°/, der Kursisten als geheilt und 20,5°/, als gebessert entlassen werden. Bei 16°/, war nur ein geringer Erfolg zu erzielen. Wenn der Erfolg kein durchweg befriedigender war, so lag das einmal an dem mangelhaften Kursusbesuch, , dann aber auch an der Schwere des Stammelns (31,4°/,) und an der schwachen Begabung (19,7°/,). Ferner verhinderten organische Fehler der Sprachwerkzeuge (Gaumenspalte, schlechte oder mangelhafte Zahnbildung) die Heilung. Etwa 28,8°/, werden die Stammlerkurse wiederholen müssen, wenn es nicht unterdessen der Schnlarbeit gelingt, den Fehler ganz weg- zuräumen oder die sich bessernde Zahnbildung die richtige Lautbildung er- möglicht.

Bei den diesjährigen Besuchern waren 59— 21,5°/, Wiederholer, von denen 10 das 3. Mal und 3 das 4. Mal erschienen. Bei diesen hart- näckigen Fällen handelt es sich ausschließlich um Mißbildungen der Sprechorgane.

Wenn die »Heilungen« der Stottererkurse Scheinerfolge genannt worden sind, da meistens nach einiger Zeit das Übel sich wieder einstellt, so ist das bei den geheilten Stammlern nicht der Fall. Hier sind Rück- fälle selten. Die Heilung wird durch die Richtigstellung der mechanischen Lautbildung erzielt, während bei den Stotterern diese äußere Heilung nicht genügt, sondern die psychische Ursache des Übels durch eine psychische Dauerbehandlung überwunden werden muß.

Die Kursisten wurden wie alle Jahre im Allerheiligen - Hospital in der Poliklinik für Nasen-, Ohren- und Halsleiden und. Sprachstörungen durch Assistenzärzte unter der Öberleitung des Primärarztes Herrn Dr. Goerke unentgeltlich untersucht. Da kein Zwang ausgeübt wird, erschienen 82,4°/, (226) zu diesen ärztlichen Untersuchungen, denen auch die Eltern beiwohnen dürfen. Von den Untersuchten hatten 27°/, einen hohen Gaumen, 28°/, vergrößerte Gaumen- und Rachenmandeln, 17°/, schlechte Zähne, 2,6°/, Gaumenspalte und Hasenscharte; Schwerhörig bis 3 m Hörentfernung der Flüstersprache waren nur 3,7°,. Infolge dieser Untersuchungen unterzogen sich 7 Kinder einer weiteren ärztlichen Be- handlung ihrer Nasen-, Ohren- und Halsleiden. Ein Mädchen litt an Hör- stummheit; ein Knabe sprach nur zeitweise.

Von den Lauten wurden die S-Laute von 30°/, der Kursisten falsch oder schlecht gebildet; ein ebenso großer Prozentsatz zeigte eine mangel- hafte oder falsche Bildung der S-Laute im Verein mit unvollkommener, falscher oder fehlender Bildung von G und K. Reine G- und K-Stammler gab es 4°/,. Die Bildung von J und Ch mußte bei 8,40/, verbessert, richtig gestellt oder neu gebildet werden.: Zu den D- und T-Stammlern gehörten 4,4°/,, während ein falsches oder schlechtes R 16°/, aufwiesen und die richtige Bildung des F bei 5,1°/, erarbeitet werden mußte.

Die Stammlerkurse werden als eine unentbehrliche Hilfseinrichtung der Volksschule immer ihre Notwendigkeit behalten. Die einzelnen Ein- richtungen der Kurse werden verbessert werden können, die Kursusbehandlung relbst wird zur erfolgreichen Bekämpfung des Stammelns immer aus- seichende Hilfe gewähren,

8. Zur Frage der Einheitsschule. 303

8. Zur Frage der Einheitsschule.

Die Einheitsschule kommt. Darüber herrscht wohl kein Zweifel mehr. Den größten Widerstand haben bisher einzelne Lehrergruppen, wie die Mittelschullehrer und Oberlehrer geleistet. Man hing wohl noch so sehr am Alten und glaubte, priviligierte Standesrechte nicht aufgeben zu dürfen. Doch die Zeit schreitet vorwärts und mit ihr die Schule. In zahlreichen Beratungen hat sich die schulpolitische Kommission des Berliner Philologen-Vereins mit der Frage der Einheitsschule beschäftigt. Es stand von vornherein fest, daß über dieses grundlegende Problem keine Einmütigkeit und Übereinstimmung zu erzielen war. Vier wichtige Vor- schläge wurden von der Kommission dem Plenum der Öberlehrerschaft gemacht, und man erwartet nun eine rege Aussprache. _ Der erste Vor- schlag von Oberlehrer Dr. Erich Schönebeck sieht eine Grundschule mit einem Lehrgang von vier Jahren für besonders Befähigte drei Jahre vor, in dessen Mittelpunkt reicher Anschauungsunterricht, Handfertigkeit, Zeichnen, Modellieren und jede Betätigung besonders starker Bewegungs- triebe steht. Auf der Grundschule bauen sich Unter- und Mittelschule auf. Die Schüler, die sich für .den Aufstieg in eine Mittelschule nicht eignen, treten nach Erledigung der Grundschule in die vierklassige Unter- schule ein und erhalten hier einen der heutigen Volksschule entsprechenden Unterricht. Die übrigen, einschließlich der Begabten, besuchen die Mittel- schule, die vier Jahre umfaßt. Auch hier können wiederum besonders Befähigte den Lehrstoff in drei Jahren erledigen. Als besonderes Lehr- fach tritt Englisch hinzu, das ebenso wie Mathematik wissenschaftlich zu lehren ist. Nach im ganzen achtjähriger Schulzeit treten sowohl die Unter- schüler als auch der Durchschnitt der Mittelschüler in die vier Jahre um- fassenden Fortbildungs- oder Fachschulen ein. Diese zerfallen in zwei Parallelabteilungen, von denen die Unterabteilung mit leichteren An- forderungen und die andere, schwerere Oberabteilung den ehemaligen Mittelschülern dient. Die tüchtigeren und begabteren Mittelschüler gehen in die Oberschule über, die in sechs Jahren ähnlich den heutigen Reform- anstalten bis zur Universität führt. Hier treten die Richtungen hervor: die gymnasiale, die realgymnasiale und die oberreale Richtung. Sonder- kurse vermitteln den leichteren und schnelleren Übergang aus der einen Art zur anderen der Oberschule. Dieser Vorschlag von Schönebeck zeigt zwar den fest in sich geschlossenen und organischen Aufbau unseres Schulwesens, paßt aber nicht ganz für die bisherige Schulorganisation Groß-Berlins. In seinem Plane finden die Berliner Realschulen, die Pro- gymnasien und Realprogymnasien keine Unterkunft.

Mehr dagegen knüpft Studienrat Rommel an die bestehenden Schul- verhältnisse an, indem er in seinem Plane sämtliche seither bestehenden Schularten zu einem einheitlichen System zusammenschweißt, dabei aber jede »Gleichmacherei« vermeidet. Nach ihm ist das Schulwesen auf eine vierjährige Grundschule aufzubauen, die so eingerichtet sein muß, daß auf dem Wege der Differenzierung begabte Schüler nach dem zweiten Schul- jahr ausgesondert und in drei Jahren an die Schwelle der höheren Schulen geführt werden. Der Lehrgang der Volksschule ist um ein Jahr zu er-

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weitern und durch die Pflichtfortbildungsschule, die des Anbaues bedarf, sowie die niedere Fachschule zu ergänzen. Der zweite sich auf die Grund- schule aufbauende Lehrgang, die Mittelschule, soll vornehmlich auf die praktische Betätigung in den mittleren Berufen vorbereiten. Der dritte Lehrgang bildet die höhere Schule, die einen Kursus von acht Jahren umfaßt. Dieser gründet sich auf einen gemeinsamen Unterbau von zwei Jahren. Dann gabelt sich die höhere Schule in einen realen und einen gymnasial-realgymnasialen Zweig, dieser wieder von der jetzigen Unter- sekunda ab in einen rein gymnasialen und einen realgymnasialen Zweig. Auch ist ein einheitlicher Lehrerstand zu fordern; alle künftigen Lehrer müssen eine höhere Schule besuchen, so daß jederzeit jedem Lehrer das Studium und die Universitätsprüfungen ermöglicht werden.

An dritter Stelle spricht Direktor Dr. Otto, Berlin-Reinickendorf, seine Grundsätze für die Einführung der Einheitsschule etwa so aus: 1. Es muß in Zukunft jedem Kinde die volle Möglichkeit gewährt werden, die- jenige Ausbildung zu erlangen, die seinen Fähigkeiten und Neigungen entspricht. Alle Schüler gehen daher durch die Grundschule, diese um- faßt vier, für die Befähigten drei Jahre. 2. Der Lehrplan der höheren Schule muß auf allen Stufen der geistigen und körperlichen Entwicklung der zu bildenden Jugend angepaßt sein. Es ist auf der untersten Stufe der Mittel- und höheren Schule mit einer Fremdsprache (Englisch!) zu beginnen. Noch zwei Jahren kann auf der höheren Schule die nächste Sprache und späterhin eine dritte Fremdsprache einsetzen. Ziel und Auf- gabe des Unterrichtes auf der Oberstufe der höheren Schule ist die wissen- schaftliche auf einigen Gebieten, die eine organische Einheit bilden.

Schließlich referiert noch Direktor Dr. Louis über den Gesamtbau des öffentlichen Schulwesens; er vermeidet dabei das Wort »Einheits- schule«.. Nach ihm sind Volksschule, Mittelschule und höhere Schule gleichberechtigte Organe des gesamten Bildungswesens der Nation. Sie dienen verschiedenen, aber für das Wohl des Ganzen gleich bedeutungs- vollen Aufgaben. Daher hat jede dieser Schularten ihren inneren Aufbau lediglich nach den ihr wesentlichen Aufgaben zu bestimmen und ihren Lehrplan, um Übergangsmöglichkeiten zu bieten, nur da einer anderen Schulart anzunähern, wo es mit ihrer Eigenart verträglich ist. Die Art der Ausbildung, die einem Kinde zuteil wird, wird sich nach seiner Begabung richten. Deswegen ist es erforderlich, daß sich die verschiedenen Schultypen aus einer Grundschule entwickeln. Man erkennt, daß Louis zur Neuordnung des Schulwesens keine wesentlichen Änderungen in Vorschlag bringt.

Wir werden später über die Debatten, die sich über die vorstehenden Thesen im Plenum des Berliner Philologen-Vereins abspielen werden, näher berichten. !)

Berlin-Wilmersdorf. Krassmöller.

1) Augenblicklich ist das Problem von der Einheitsschule wieder in den Hinter- grund getreten. Die Kämpfe zwischen Oberlehrerschaft und Lehrerschaft sind aufs Neue entbrannt. Während die Lehrerschaft eine gemeinschaftliche Lehrerkammer für alle Lehrer, auch für die akademischen, haben will, strebt die Oberleliverschaft eine Oberlehrerkammer an, in der sie ihre Interessen besser vertreten zu können glaubt.

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9. Krieg und Jugendverwahrlosung in Österreich. Von Amtsrichter Dr. Albert Hellwig (Frankfurt a. O.).

Der Einfluß des Krieges auf die Verwahrlosung der Jugendlichen; insbesondere auch auf ihre Kriminalität, ist bei uns vielfach untersucht worden, und zwar so eingehend, wie wohl kaum in irgend einem der anderen an dem Weltkrieg beteiligten Länder. Trotz alles dessen, was bisher bei uns zur Erkenntnis des Problems geleistet ist, dürfen wir uns doch nicht dem Wahne hingeben, als sei das Problem nun vollständig gelöst. Gerade wer sich eingehender mit den vielfach verwickelten Fragen befaßt hat, welche zu diesem Problem gehören, wird sich dessen bewußt sein, daß hier noch gar viel zu tun ist, Das gilt schon für die krimi- nologische Betrachtung der Kriegskriminalität der Jugendlichen, d. h. für die Untersuchung über ihre Gestaltung und ursächliche Entwicklung. Das gilt in noch weit höherem Grade aber für die kriminalpädagogische Seite des Problems, für die Frage, welche besonderen Gegenmittel als ge- eignet erscheinen, um den erkannten Ursachen der Verwahrlosung und des Kriminellwerdens entgegenzutreten und inwieweit sie unter den ge- gebenen Verhältnissen durchführbar sind.

Für diese Fragen werden wir in erster Linie zwar unsere heimischen Verhältnisse heranziehen müssen, werden mit Nutzen aber auch die Verhält- nisse in anderen Kulturländern erforschen, in denen die Sachlage eine ähnliche ist wie bei uns. Über die Kriegskriminalität in den feindlichen und in den neutralen Ländern, ja, selbst in den Ländern unserer früheren Bundes- genossen, ist bisher bei uns nicht viel bekannt geworden. Es handelt sich mehr um gelegentliche Notizen und Bemerkungen als um gründliche um- sichtige Untersuchungen.!)N Um so verdienstlicher ist es, daß Eduard Golias, der uns schon durch seine Studien über »Die Kinder und der Kriege (Wien und Leipzig 1915) vorteilhaft bekannt ist, soeben einen größeren Beitrag über »Krieg und Jugendverwahrlosung« ?) veröffentlicht. Diese Arbeit bestätigt uns, daß es sich bei dem Problem der Kriegs- kriminalität der Jugendlichen offenbar um ein europäisches Problem handelt, um ein Problem, das in annähernd gleichartiger Weise bei allen in irgend einer Weise an dem Weltkriege beteiligten Staaten aufgetreten ist und das auch bei ihnen allen dringend Lösung heischt. Ein kurzer Überblick über den Inhalt dieses trefflichen Büchleins mag das zeigen.

Die vielen die Erziehung und die Pflege der Jugend hemmenden Umstände, die Golias S. 3f. erwähnt, sind die gleichen, wie sie auch bei uns hervorgehoben werden. Bemerkenswert ist der Hinweis auf die Zu-

1) Vgl. Hellwig, »Jugendschutz während des Krieges in Österreich« (Soziale Kultur 1917, S.481£.); »Verwahrlosung infolge des Krieges in England« (Ztschft. f. Sozialwissenschaft, N. F. VIII, S. 739 f£.). .

2) Eduard Golias, »Krieg und Jugendverwahrlosung.«e Sonderabdruck aus Nr. 8/11 der »Zeitschrift für das österr. Volksschulwesen«. Leipziz 1919, Neuer Akademischer Verlag. Es handelt sich um einen erweiterten Abdruck seines am 3. Februar 1917 in der Wiener »Urania« gehaltenen Vortrages.

Zeitschrift für Kinderforschung. 24. Jahrgang. 20

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nahme der Kinderarbeit sowie auf die großen Verdienstmöglich- keiten der Jugendlichen mit ihren bekannten traurigen Folgeerscheinungen.

Namentlich auf Grund von Mitteilungen der »Zeitschrift für Kinder- schutz und Jugendfürsorges wird die Steigerung der Kriminalität der Jugendlichen auch statistisch zu erfassen versucht. Es sind das freilich nur einige wenige Angaben, die einen Rückschluß auf die Be- wegung der Kriminalität der Jugendlichen in ganz Österreich und Ungarn nicht zulassen, da es an genügenden Anhaltspunkten fehlt, um beurteilen zu können, ob überall die Verhältnisse wenigstens ungefähr gleich liegen. Immerhin scheint aus den beigebrachten Daten doch soviel hervorzugehen, daß auch in Österreich»Ungarn die Kriminalität der Jugendlichen erheblich zugenommen hat. Es wäre sehr erwünscht, daß diese Ziffern, die nur bis 1916 reichen, auch für das dritte und vierte Kriegsjahr baldmöglichst zugänglich gemacht würden.

Auch die Ausführungen über die Ursachen der Kriegskriminalität der Jugendlichen ergeben das gewohnte Bild. Benutzt werden außer den schon von mir herangezogenen Erörterungen des polizeilichen Jugend- referenten in Graz, Dr. Rudolf Glesinger in den »Blättern für Armen- wesen und Jugendfürsorge« (Jahrg. 1919, Nr. 1) noch die Angaben des Wiener Jugendrichters, Bezirksrichters Dr. Wüstinger, in der Wiener »Zeit« vom 24. August 1916. Einige Zeitungsberichte über Gerichtsver- handlungen gegen Jugendliche, denen ich viele ähnliche anreihen könnte, vervollständigen das Material.

Sehr dankenswert. ist der Hinweis auf die verschiedenartige Behand- lung derselben Handlungen, welche die Großstadtjugend begeht und welche die Landjugend verübt. In seiner »Großstadtpädagogik« (Leipzig) weist nämlich Tews zutreffend darauf hin, daß viele Handlungen, die das Großstadtkind in Berührung mit dem Strafrichter bringen, auf dem Lande rein gesellschaftlich geahndet werden: »Kleine Diebstähle von ‘Nahrungs- mitteln, Obst usw., werden z. B. auf dem Lande, wenn sie überhaupt ge- ahndet werden, nach den Regeln der Lynchjustiz behandelt. Ein Bauern- bursche, der einen ganzen Apfelbaum geplündert hat, erhält vielleicht die Bezahlung dafür in handgreiflicher Form an Ort und Stelle, und wenn’s hoch kommt, daheim eine zweite Auflage. Stiehlt dagegen ein Berliner Arbeiterkind einer rabiaten Gemüsekrämerin einen halbverfaulten Apfel, so wird es in der Regel vor den Kadi geschleppt; der Fall kommt in die Gerichtsakten, es erfolgt Verurteilung, und das Deutsche Reich zählt einen neuen Verbrecher mehr.« Das ist eine Beobachtung, die bei allen Studien über die Kriminalität der Jugendlichen Beachtung heischt, insbesondere soweit es sich darum handelt, die Kriminalität der Stadtkinder mit der Kriminalität der Landkinder zu vergleichen. Von Bedeutung ist diese Bemerkung auch für das noch nicht genügend beachtete Problem der Hemmungen der Strafrechtspflege, d. h. derjenigen Momente, die es bewirken, daß nicht jeder Verbrecher verurteilt wird, der dem Gesetz nach schuldig ist. Es gibt absichtliche Hemmungen und unabsichtliche, erfreuliche und unerfreuliche. Gerade bei der Behandlung der Jugendlichen, die kriminell geworden sind, spielen derartige Hemmungen eine bedeutende

9. Krieg und Jugendverwahrlosung in Österreich. 307

Rolle. Es will mir sogar scheinen, als ob sie die Neigung haben, weiter zu gehen als im Interesse einer wirksamen Verbrechensbekämpfung wünschenswert is. Über den Mängeln des heutigen Strafverfahrens namentlich für Jugendliche hat man vielfach übersehen, daß es auf die Jugendlichen nicht minder erziehungswidrig einwirken muß, wenn ihre Straftaten überhaupt nicht bestraft werden und daß daher nicht nach einer Beseitigung der Bestrafung jugendlicher Krimineller gestrebt werden muß, als vielmehr nach einer pädagogisch verfeinerten, nicht er- ziehungswidrig wirkenden besonderen Jugendstrafe.

Trefflich ist, was Golias S. 20f. über die psychologischen Vor- bedingungen der Kriminalität der Jugendlichen ausführt, über die kriminellen Triebe, welche in der menschlichen Seele mehr oder minder vorhanden sind. Ihre Bekämpfung durch richtige Erziehung ist die Haupt- aufgabe der Kriminalpädagogik.

Interessant sind auch die Bemerkungen über die Bekämpfung der Kriminalität der Jugendlichen durch hypnotische Suggestionen im Anschluß an das Buch von Karl Picht über »Hypnose, Suggestion und Erziehung« (Leipzig). Diese Materialien sind es wert, von Fachleuten eingehend nachgeprüft zu werden, da wir in der Beeinflussung in der Hypnose, falls sie sich bewahrheiten, ein ausgezeichnetes pädagogisches Hilfsmittel besitzen würden. Soweit mir bekannt, steht die Wissenschaft derartigen kriminalpädagogischen Versuchen aber ziemlich skeptisch gegen- über, indem eine wirklich nachhaltige Beeinflussung in Abrede gestellt wird!) und außerdem die Befürchtung ausgesprochen wird, daß die hyp- notische Beeinflussung nach anderer Richtung hin erziehungswidrig wirken könne durch Schwächung der Willenskraft des Kindes.

Sehr angebracht ist die Warnung von Golias S. 23f., nicht zu oft einen krankhaften Ursprung anzunehmen, insbesondere die erbliche Be- lastung nicht zu überschätzen. Dankenswert ist auch der Hinweis auf die im »Pädagogischen Jahrbuch« erschienene Studie von Tluchor über »Suggestion des Objektse.. Hier macht Tluchor, dessen vortreffliche Arbeitsmethode ich seiner Zeit bei der Bearbeitung des Einflusses von Schundliteratur auf die Kriminalität der Jugendlichen schätzen gelernt habe, auf die suggestive Wirkung des Gegenstandes, des Milieus und der Situation aufmerksam. Durch sie wird das Wollen unmerklich beeinflußt und manche Tat als Zwangshandlung charakterisiert. Aufgabe der Erziehung ist es daher, den Willen von den einschränkenden Einflüssen der Umwelt nach Möglichkeit frei zu erhalten.

Unbekannt war mir auch der Aufsatz von Barth: über »Zuchtlosigkeit der Jugend und die Gesellschaft als Miterzieher«e (»Neue Bahnen«, Jahrg. 27, Heft 1), den Golias S. 28f, zitiert. Barth tritt darin meines Erachtens mit Recht dafür ein, daß unter Umständen auch dritte Personen be- rechtigt sein sollen, gegen Zuchtlosigkeiten Jugendlicher, die sie gewahr werden, mit erzieherischer Züchtigung vorzugehen. Im Gegensatz

1) Vgl. z.B. Hans Groß, »Handbuch für Untersuchungsrichter«. 6. Auflage. München 1914. S.251. 20*

308 B. Mitteilungen.

zu ihm bin ich allerdings der Meinung, daß es einer, besonderen gesetz- lichen Regelung nicht bedarf, daß vielmehr schon gegenwärtig die Rechts- sprechung in allen geeigneten Fällen die Rerhtswidrigkeit eines solchen Tuns verneinen muß. Ich verweise in dieser Beziehung auch auf die kürzlich erschienene Arbeit von Geider.!)

Bei Erörterung der Gegenmaßnahmen gegen die Kriminalität der Jugendlichen erwähnt Golias S. 33 auch den Erlaß der k. k. nieder- österreichischen Statthalterei vom 23. Juni 1916 gegen die Schundliteratur, sowie denjenigen des k. k. Statthalters im Erzherzogtume Österreichs unter der Enns vom 13. Juni 1916 über Polizeiverbote im Interesse des Jugendschutzes. Verschiedene ähnliche Erlasse im Interesse des Jugend- schutzes sind mir vergangenen Sommer von dem Ministerium für soziale Fürsorge in Wien dankenswerterweise übermittelt worden. Ihre Grund- gedanken, die denen unserer Militärbefehlshaber im großen und ganzen ähneln, werde ich demnächst systematisch darstellen, vermutlich in den »Blättern für vergleichende Rechtswissenschaft«,

Auch Golias, S.38, klagt darüber, daß die gesetzlichen Be- stimmungen vielfach nicht inne gehalten würden, daß insbesondere auch Jugendlichen der Zutritt zu Lichtspielvorführungen, die nur für Er- wachsene bestimmt seien, nicht verwehrt werde. Es ist dies das alte Lied! Was helfen die schönsten und besten Bestimmungen im Interesse des JugendSchutzes, wenn die Kraft und oft bei untergeordneten Polizei- organen wohl auch der gute Wille fehlt, sie durchzuführen. Hier könnte viel erreicht werden, wenn man mehr als bisher sich der Hülfe ehren- amtlicher Helfer aus dem Publikum bediente, insbesondere auch aus Kreisen der Geistlichen, der Lehrer, der Jugendpfleger und anderer an dem Jugend- schutz besonders interessierter Personen. Der Gedanke der Bürgerpolizei,

der in den letzten Jahren schon hier und da Fuß gefaßt hatte, sollte doch‘

eigentlich unserer demokratisch angehauchten Zeit nahe liegen!

Den Sparzwang, wie er bei uns durch Erlasse der Militärbefehls- haber verschiedentlich eingeführt worden war, hält Golias S. 44 für sehr verdienstlich und nachahmenswert. Leider ist unter den heutigen Verhält- nissen nicht damit zu rechnen, daß der Gedanke einer Sparpflicht, noch dazu einer zwangsweisen Sparpflicht, wieder Boden gewinnt: Heute sieht Jung und Alt nur zu, möglichst schnell und möglichst leicht Geld zu verdienen, am liebsten mit »Arbeitslosigkeit«, die ja mehr einbringt als gar manchem Geistesarbeiter angestrengte zehn- und mehrstündige Arbeit. Das schnell erworbene Geld wird dann meistens ebenso schnell wieder verjubelt oder auf sonstige unnütze Weise vertan. Was aus eıner Jugend werden soll, die auf solche Weise geradezu systematicch zu Verschwendern erzogen wird, das mag der liebe Himmel wissen. Die unausbleiblichen sozialen Kämpfe der nächsten Jahre, die nimmer müde werdende Gier der unteren Schichten, die schon gegenwärtig nicht nur relativ, sondern auch absolut mehr verdienen als die mittleren und höheren Beamten und die

1) Geider, »Die Strafbarkeit des Erwachsenen bei Züchtigung des ungezogenen Jugendlichen.« (Breslau 1918.)

10. Noch ein Wort über Zulässigkeit und Zweckmäßigkeit der Entmündigung. 309

übrigen Geistesarbeiter, die furchtbare Verwahrlosung der Jugend, gegen welche die Kriegsverwahrlosung noch ein Kinderspiel sein wird, werden eine nur allzu deutliche Sprache sprechen!

Trotzdem oder gerade deshalb aber, weil diese Gefahr so überwältigend groß ist, dürfen wir doch nicht die Hände in den Schoß legen. Was an uns liegt, das müssen wir auch unter den neuen Verhältnissen tun, um das unserer Jugend und damit unserem ganzen Volke drohende Unheil abzuwenden oder doch zu mildern. Hierzu bedarf es aber der Hilfe und tätigen Teilnahme aller, denen das Wohl der Jugend am Herzen liegt. Es bedarf keiner neuen Vereine und keiner neuen Methoden; es genügt vielmehr, wenn jeder an seinem Platze das Seine tut, um der Verwahr- losung der Jugend und ihren unheilvollen Folgen zu steuern. Darüber hinaus mag, wer sich dazu berufen fühlt, dazu beitragen, daß die Erkenntnis der Jugendnot und die Erkenntnis der der Volksgemeinschaft aus dieser Verwahrlosung entstehenden Gefahr in immer weitere Kreise dringt, daß der Wille zu helfen und das Verständnis für die rechten Mittel immer mehr Allgemeingut des deutschen Volkes wird. Denn darüber müssen wir uns klar sein: Unser Ziel erreichen können wir nur dann, wenn unsere Bestrebungen geistiges Eigentum des Volkes geworden sind, wenn wir von dem Willen des Volkes getragen werden. Möchte diese Erkenntnis sich allen Widerständen zum Trotz doch noch durchsetzen: Nur dann noch ist eine Rettung möglich!

10. Noch ein Wort über Zulässigkeit und Zweck- mäßigkeit der Entmündigung psychopathischer Minderjähriger.

Von Amtsgerichtsrat Dr. F. Schmid-Jena.

In einem früheren Aufsatz der Beiträge f. Kinderf.!) bin ich dafür eingetreten, daß die Entmündigung psychopathisch Minderwertiger zeitig eingeleitet werde, und zwar möglichst schon während der Minderjährigkeit. Ich habe dabei auf die Gefahren hingewiesen, welche sich daraus ergeben, ' daß der seiner Geistesverfassung nach Unmündige mit Eintritt der Voll- jährigkeit die Rechte der Mündigen erlangt; ferner darauf, daß die elter- liche Fürsorgepflicht es gebietet, diesen Gefahren vorzubeugen.

Es war mir eine Genugtuung, daß meine Darlegungen praktischen Erfolg hatten, daß meine Anregungen fruchtbaren Boden fanden.

Wenn ich heute nochmals auf die Angelegenheit zurückkomme, so geschieht es wegen der Stellungnahme eines Amtsgerichts, das dem An- trag eines Vaters auf Entmündigung seines schwachsinnigen, noch minder- jährigen Sohnes Bedenken entgegen hält. Das Amtsgericht trägt Bedenken, einen Unmündigen zu entmündigen, und hält die Hinausschiebung der Antragstellung deshalb für geboten, weil jetzt alles im Fluß ist.

1) Siehe Heft 105 der »Beitr. z. Kdf.«: Ist dle Entmündigung psychopathisch Minderwertiger ratsam, und wann soll sie eingeleitet werden?

310 B. Mitteilungen.

Über die grundsätzliche Frage der Zulässigkeit sollte keinerlei Zweifel bestehen. Sie wird auch im Schrifttum kaum gestreift. So wird sie in Staudinger, Kommentar zum B.G.-B. $ 6 unter A mit der kurzen Be- merkung abgetan: »Die Entmündigung ist’ ein Akt der freiwilligen Ge- richisbarkeit, der die Geschäftsfähigkeit beschränkt, oder ihren Eintritt verhindert.«e Damit wird die Zulässigkeit der vorbeugenden Entmündigung vor Eintritt in die, die Geschäftsfähigkeit bedingende Volljährigkeit an- erkannt. (So auch Hacker, Deutsche Juristenzeitung 1912, S. 686.)

Das B.G.-B. selbst gibt allerdings keine ausdrückliche Entscheidung. Eine Entscheidung der Frage ist aber eigentlich schon damit gegeben, daß das Gesetz in $ 6 die Entmündigung wegen Güterkrankheit, Geistes- schwäche usw. für zulässig erklärt, ohne sie auf die, Volljährigen zu be- schränken. Freilich enthalten die Worte »einer Unmündigen zu ent- mündigen« etwas Befremdendes. Das Befremdende beruht aber lediglich auf der Hereinziehung eines unserer Gesetzessprachen fremden Wortes. Das B.G.-B. unterscheidet nicht Unmündige und Mündige, sondern Voll- jährige und Minderjährige, Geschäftsfähige und Nicht- oder nur beschränkt Geschäftsfähige.. Bei der Gegenüberstellung des Minderjährigen und des Entmündigten ergibt sich ein anderes Bild; ihre Rechtsstellung ist nach dem B.G.-B. durchaus nicht die gleiche. Das zeigt sich z. B. darin, daß der Minderjährige, der das 16. Lebensjahr vollendet hat, nach $ 2229 Abs. 2 B.G.-B. ein Testament errichten kann, während der nach Absatz 3 dem Entmündigten versagt ist; ferner darin, daß bei der Eheschließung der Kinder, welche das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, neben der nach $ 1304 B.G.-B. erforderlichen Einwilligung der gesetzlichen Vertreter nach $ 1305 weiter die Einwilligung des Vaters von der Mutter erforderlich ist, während für die entmündigten Volljährigen nur die Eiu- willigung des gesetzlichen Vertreters in Frage kommt. Ein weiterer Unter- schied ist der, daß das minderjährige Kind unter elterlicher Gewalt steht, der entmündigte Volljährige dagegen stets unter Vormundschaft ($ 1626, 1896 B.G.-B.), auch wenn Vater und Mutter noch leben. Das aus der elterlichen Gewalt über Minderjährige sich ergebende Nutzniesungs- und Verwaltungsrecht ($ 1649 B.G.-B.) erlischt mit der Volljährigkeit, auch im Falle der Entmündigung.

Noch augenfälliger wird der Einfluß der Entmündigung auf die recht- liche Stellung, wenn bei einem über 7 Jahre alten Minderjährigen die Entmündigung wegen Geisteskrankheit in Frage kommt. Sie vernichtet u. a. die ihm nach $ 106 B.G.-B. zustehende beschränkte Geschäftsfähig- keit, und macht ihn völlig geschäftsunfähig, stellt ihn dem Kinde unter sieben Jahren gleich.

Mit einem Schein von Berechtigung kann gegen die Entmündigung der Minderjährigen eingewendet werden, der Kreis ihrer Angelegenheiten sei ein so enger, daß auch ein schwachsinniger Minderjähriger zur Be- sorgung dieses engen Geschäftskreises fähig sei. Doch geht auch dieser Einwand in doppelter Beziehung fell. Allerdings hat der Minderjährige noch kein Vermögen zu verwalten, und es wird von Eltern und Vormund in den verschiedensten Richtungen für ihn gesorgt. Allein schon eine

10. Noch ein Wort über Zulässigkeit und Zweckmäßigkeit der Entmündigung. 311

oberflächliche Beobachtung zeigt, daß ein pathologisch Minderwertiger, der mit 20 Jahren etwa auf der Stufe einer 12 jährigen steht, den Auf- gaben nicht gewachsen ist, die der Vollwertige im gleichen Alter selbständig erledigen kann und muß.

Jeder Leiter einer Erziehungsanstalt für Minderwertige weiß, wie schwer es oft ist, den Minderwertigen unter ständiger Aufsicht dem Ziele der Volksschule nahe zu bringen, wie es vor allem meist schwer fällt, eine nur einigermaßen richtige Einschätzung der Lebensverhältnisse zu er- wecken, und ihn zu selbständiger Arbeit zu erziehen; ferner daß die Stellung des Minderwertigen auch gegenüber den einfachsten Anforderungen des Lebens eine höchst unsichere ist, vor allem wird in der Regel jedes Verständnis für die Berufswahl fehlen,

Ganz anders ist die Stellung der Vollwertigen im gleichen Alter: er wird sich vielfach schon in der Vorbereitung zu einem selbstgewählten Beruf frei bewegen, und aus eigner Entschließung alle damit zusammen- hängenden Angelegenheiten ordnen; sein Geschäftsireis wird daher meist schon ein recht umfangreicher sein.

Außerdem aber ist zu beachten, daß unter »seinen Angelegenheiten« nicht nur diejenigen zu verstehen sind, deren Besorgung den Minderjährigen schon augenblicklich obliegt. Es sind auch die Angelegenheit zu be- achten, die in absehbarer Zeit, besonders auch in Folge des Eintritts in die Volljährigkeit, an den Minderwertigen herantreten werden.

Nebenbei mag darauf hingewiesen werden, daß aus dem Wortlaut des - Gesetzes: »Entmündigt kann werden ...« nicht herzuleiten ist, daß der Richter gegenüber einem nachgewiesenen nach $ 6 B.G.-B. die Entmündigung begründenden Tatbestand noch Zweckmäßigkeitserwägungen anstellen dürfe; er darf die Entmwündigung nicht etwa aus Zweckmäßigkeitsrücksichten als vorläufig noch entbehrlich ablehnen. Die Gesetzesworte bedeuten zu- nächst blos, daß die Entmündigung nur aus den in $ 6 angeführten Gründen zulässig ist. Die Entmündigung ist nur in sofern fakultativ, als sie von der Stellung eines Antrags abhängt, und es dem freien Entschluß des Antragsberechtigten überlassen ist, ob er von seinem Antragsrecht Ge- brauch machen will oder nicht. Ist der Antrag aber einmal gestellt, so muß der Richter auf die Feststellung des Entmündigungsgrundes hin auch die Entmündigung aussprechen (so Staudinger, Kommentar zum B.G.-B. $ 6 IV. D. 1 u. 2, Planck, Kommentar $ 6, Anm. 8.)

Die hier vertretene Ansicht, die Zulässigkeit der Entmündigung Minderjähriger, findet ihre Betätigung auch in der Gesetzgebung, die neben dem B.G.-B. steht. Mit Recht weist Hacker a. a. O. darauf hin, daß in § 646 Z.P.O., das Recht der Verwandten zur Antragstellung gegenüber einem unter elterlicher Gewalt stehenden Interdizenden ausgeschlossen wird. Mit dieser Vorschrift, die das anderen Personen, dem gesetzlichen Vertreter und dem Staatsanwalt zustehende Recht der Antragstellung unberührt läßt, wird die Zulässigkeit der Entmündigung Minderjähriger denn nur solche stehen unter elterlicher Gewalt —, anerkannt. Den Hacker- schen Ausführungen ist noch hinzuzufügen, daß aus $ 6 B.G.-B. und $ 636 Z.P.O. keineswegs auf eine Unstimmigkeit zwischen beiden Gesetzen

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zu schließen ist, $ 686 Z.P.O. regelt nicht etwa überflüssigerweise die Antragstellung für einen Fall, der nach dem B.G.-B. garnicht eintreten kann. Der den $ 595 der alten Z.P.O. umgestaltende $ 646 ist gerade mit Rücksicht auf die durch das B.G.-B. geschaffene Lage eingefügt worden.

Endlich entspricht die hier vertretene Ansicht der schon in den Motiven zum I. Entwurf des B.G.-B. klar ausgesprochenen Absicht der Gesetz- gebung.

Die Motive führen zu $ 28 aus:

»Die Entmündigung ist nicht auf Volljährige beschränkt. Liegt auch bei Minderjährigen in geringerem Maße das Bedürfnis vor, da dieselben schon an sich unter gesetzlicher Vertretung stehen, so muß doch dafür gesorgt werden, daß bei herannahender Volljährigkeit die Entmündigung so zeitig erfolgen kann, daß ein Zwischenzustand mangelnder Vertretung ausgeschlossen ist (Mot. I, S. 61 unter 3).«

Allerdings hat das Gesetz dem I. Entwurf gegenüber sehr weitgehende Änderungen erfahren, doch lassen diese nicht auf eine Änderung der Stellung des Gesetzgebers in dem hier fraglichen Punkt schließen.

Damit kann die Erörterung über die Zulässigkeit der Entmündigung Minderjähriger wohl geschlossen werden.

Was deren Zweckmäßigkeit anlangt, so soll der Übereilung ebenso- wenig das Wort geredet werden wie der Säumnis. Es hat allerdings in der Regel keinen Zweck, schon einen 6jährigen Knaben wegen Geistes- schwäche entmündigen zu lassen. Die Sache verhält sich eben hier ähn- lich wie bei der Errichtung eines Testamentes. Diese ist, wie die Herbei- führung der Entmündigung, ein über die Lebenszeit des Vaters hinaus- wirkender Akt der Fürsorge. Übereilung kann zu einem Widerstreit mit der späteren Entwicklung führen, zaghaftes Hinausschieben aber zum Unterlassen des notwendigen Schrittes; letzteres dürfte aber. in der Regel das größere Übel sein.

Es sei hier nochmals auf die Gefahren hingewiesen, die sich daraus ergeben können, daß der volljährig gewordene Psychopath Ausbeutern in die Hände fällt. Das kann nur durch ständige scharfe Aufsicht, etwa in einer Anstalt, mit einiger Sicherheit verhütet werden. Die rechtzeitige Entmündigung aber gibt die Möglichkeit, dem Psychopathen solchen Zwang zu ersparen, ihn freier zu stellen.

Jedenfalls sollten auch, wenn ein erhebliches Vermögen in Frage kommt, die Schwierigkeiten beachtet werden, die sich aus einer Testaments- errichtung durch den Psychopathen ergeben können. Wie schon gesagt, kann der Minderjährige, der das 16. Lebensjahr vollendet hat, ein Testament errichten. Diese Fähigkeit fällt erst durch einen erfolgreichen Antrag auf Entmündigung weg ($ 2229, Abs. 3, B.G.-B.) Ist ein Testament vor der Stellung des Antrages errichtet, so bleibt es in Kraft, auch wenn fest- gestellt wird, daß die Geistesschwäche schon zur Zeit der Errichtung be- stand. Wird dann der Antrag gestellt, so ist es recht zweifelhaft, ob die Aufhebung eines Testaments, von dessen Vorhandensein der Antragsteller vielleicht garnichts wußte, überhaupt noch möglich ist. In der Form des

11. Wiederbegion der (freien) Akademischen Ferienkurse. 313

$ 2254 B.G.-B., durch Errichtung eines neuen Testaments, kann die Auf- hebung nicht mehr erfolgen, denn die Unfähigkeit zur Testamentserrichtung tritt ja, falls die Entmündigung erfolgt, schon mit dem Zeitpunkt der An- tragstellung ein. Allerdings läßt $ 2256 B.G.-B. die Aufhebung des Testa- ments durch dessen Zurücknahme aus der amtlichen Verwahrung zu. Darüber, ob ein Entmündigter diesen Schritt etwa mit Einwilligung seines gesetzlichen Vertreters tun kann, sagt das Gesetz nichts. Da aber diese Zurücknahme ebenso wie die Errichtung eines Testaments die Bedeutung einer Verfügung von Todes wegen hat, und da eine solche dem Ent- mündigten versagt ist, darf aus dem Schweigen des Gesetzes auf die Ver- neinung geschlossen werden. Das einmal errichtete Testament würde nur durch die Feststellung entkräftet werden können, daß schon zur Zeit der Errichtung eine die freie Willensbestimmung ausschließende Geisteskrank- heit bestanden hat ($ 104 2.2 B.G.-B.). Das ist aber eine Feststellung, die nachträglich oft schwer zu treffen ist, die man dem Psychopathen vielleicht auch ersparen möchte.

In diesem Zusammenhang mag auch ein Hinweis auf die Bestrebungen Platz finden, die darauf hinausgehen, unter Ein- schränkung des gesetzlichen Erbrechts an Stelle der Seiten- verwandten den Staat als Erben einzufügen, falls nicht ein Testament vorliegt. Die Eltern eines Psychopathen werden also gut tun, ihrerseits ein Testament zu errichten, durch welcher der Anteil des Psychopathen den Geschwistern gesichert wird; etwa dadurch, daß sie einen Nacherben einsetzen, oder nur eine Rente aussetzen.

Wenn endlich der jetzige Fluß der Dinge als Grund gegen eine früh- zeitige Antragstellung geltend gemacht wird, so ist dem entgegen zu halten, daß gerade dieser Umstand eine Säumnis bedenklich erscheinen läßt. Nach der neuen Wahlordnung kann schon der Zwanzigjährige wählen. Dem naheliegendenp Vorwurf, daß dadurch das Geschick des Vaterlandes in die Hand Unmündiger gelegt werde, wird man voraussichtlich damit begegnen, daß die Grenze der Minderjährigkeit herabgesetzt wird. Selbst wenn das in der Weise geschieht, daß die Volljährigkeit, auch wenn das zwanzigste Lebensjahr schon früher vollendet war, erst, mit der Verkündung des neuen Gesetzes eintritt, so kann sich ein Vater, der mit der Stellung des Entmündigungsantrags gezögert hat, doch eines Tages in sehr unliebsamer Weise vollendeten Tatsachen gegenüber sehen.

11. Wiederbeginn der (freien) Akademischen Ferien- kurse!) an der Universität Leipzig.

Der Sächsische Lelırerverein veranstaltet vom 6.—25. Oktober an der Universität Leipzig zum 1. Male wieder nach einer Pause von 5 Jahren

1) Auch diese Ferienkurse sind freie oder Privatschulen. Sie wurden zuerst in Jena durch Rein und Detmer eingerichtet, unter Widerspruch der sozialisierten Professoren und Minister durften sie nicht einmal in den Universitätsräumen ab- gehalten werden, sondern mußten sich ins Gasthaus flüchten.

314 B. Mitteilungen.

seine Akademischen Ferienkurse. Die Teilnahme steht allen Lebrern und Lehrerinnen ohne Unterschied der Staatszugehörigkeit, ausnahmsweise auch Angehörigen andrer Berufe, frei. Das Sächsische Kultusministerium hat genehmigt, daß von den Bezirksschulinspektoren der dazu nötige drei- wöchige Urlaub gewährt wird. In den Kursen werden die für die Neu- zeit besonders wichtigen Gebiete, wie Experimentelle Pädagogik, Moral- unterricht, Religionswissenschaft, Volkswirtschafts- und Staatslehre in erster Linie Berücksichtigung finden. Im Vordergrunde stehen die Veranstaltungen des bekannten Psychologischen Instituts des Leipziger Lehrer- vereins. Es bietet »Psychologische Übungen« (geleitet von Rud. Schulz, P. Schlager und Dr. Hardrick), eine Vorlesung über Begabungs- forschung (Dr. Handrick), über Didaktik des Arbeitsunterrichts (0. Scheibner), über Schulpraktische Probleme (P. Vogel und O. Erler) und ein Praktikum über Begabungsforschung (J. Schlag). Es lesen ferner: Prof. Dr. Spranger über Grundfragen der ethischen Erziehung, Prof. P. Barth über Vergangenheit und Zukunft des Moral- unterrichts, Dr. Brahn über die wirtschaftlichen und politischen Grund - lagen der Pädagogik, Prof. Dr. th. H. Haas über Einführung in die vergleichende Religionswissenschaft, Prof. Dr. W. Goetz über die innere Entwicklung Deutschlands von 1370 1914, Dr. Ernst Schulze über die Hauptfragen der Sozialpolitik, Prof, Dr. Rassow über den Stickstoff und seine Bedeutung für Deutschlands Technik und Wirtschaft (mit Demonstationen und Lichtbildern).

Anmeldungen und Anfragen sind zu richten an Lebrer P. Friedemann, Leipzig, Bayersche Straße 77, II.

12. »Die Psychologische Gesellschaft Essen 1919«< hat sich jüngst in Essen gebildet.

Sie hat sich die Pflege der Psychologie zur Aufgabe gemacht und zwar sowohl nach der theoretischen als auch vor allem nach der prak- tischen Seite hin. Sie geht aus von der Tatsache, daß psychologische Probleme in fast allen Fragen des heutigen Wirtschafts- und Kulturlebens enthalten sind. Sie beschäftigen den Lehrer, den Arzt, den Anwalt, den Geistlichen, den Künstler, den Verkäufer, den Politiker, den Volkswirt- schaftler. Alle Schöpfungen des menschlichen Geistes, alle komplizierten Tatsachen aus dem Denken, Fühlen und Wollen sind zunächst psychologisch zu betrachten. Ferner darf man beim Einzelmenschen und bei Arbeits- verbänden die geistigen Kräfte und Leistungen (ebenso wie die mecha- nischen) nur in verstehender, zweekmäßig pflegender Weise auswerten. Die Psychologische Gesellschaft ist unbedingt parteilos; ‘daher ist bei der Verfolgung des Vereinszweckes jede kirchliche (religiöse), staatliche (politische) und gesellschaftliche (soziale) Paıteibestrebung aus- geschlossen. Die Gesellschaft will ihre wissenschaftlichen und prak- tischen Zwecke erreichen: 1. durch Veranstaltung von Vorträgen und Aus- sprachen, 2. durch praktische Arbeit in Arbeitsgemeinschaften, (gegebeuen- falls nach Sondergebieten), 3. durch Bekanntgabe und Besprechung der

C. Literatur. 315

psychologischen Literatur, 4. durch allgemein verständliche Volksvorträge über psychologische Gegenwartsfragen und 5. durch Ausschreiben psycho- logischer Preisaufgaben.

Die Mitglieder bilden zwei Gruppen; solche, die mitarbeiten (Arbeits- mitglieder, Jahresbeitrag 20 M.) und solche, die nur hörend teilnehmen (Hörer 8 M.). Das Eintrittsgeld ist freiwillig, jedoch Mindestbetrag 2 M. Versammlungsort und -zeit z. Z. Aula der Viktoriaschule (Kurfürstenplatz, Linie 9, 1i, 12, 13,) zweimal monatlich, Donnerstag !/, 8 Uhr. Unsere Leser dürften die Veranstaltungen im Sommersemester 1919 am besten über Zwecke und Ziele der Psychologischen Gesellschaft orientieren.

Vorgesehen sind u. a.: Schwer erziehbare Kinder. Psychologische Grundfragen der modernen Kunstwissenschaft. Lernen und Behalten. Zur Psychologie des Willens. Linkshändigkeit. Über das Gefühl als Faktor in Unterricht und Erziehung, Zur Kinderpsychologie. Zur Völkerpsychologie. Über die Begabung der Frau. Methoden der Begabungsprüfung. Psychologie im Geschäftsleben. Psychologie der Demagogik. Zur Psychologie der Arbeit.

13. Fristverlängerung für das Preisausschreiben der Dörpfeldstiftung.

In Anbetracht der Zeitverhältnisse und nach dem bisherigen Ergebnis des Preisausschreibens erscheint es wünschenswert, die mit dem 1. Juli 1919 ablaufende Frist zur Einsendung der Preisarbeiten für die Dörpfeldstiftung bis zum 1. Oktober 1919 zu verlängern. Wir hoffen damit denen entgegen zu kommen, die durch den Druck der Zeit verhindert worden sind, die Arbeit zu dem gesetzten Termin zu vollenden.

Barmen-Wichlinghausen. Rektor W. Vogelsang, Vors. d. Dörpfeldstiftung.

C. Literatur.

Klemm, Otto, a. o. Prof. a. d. Univ. Leipzig, Sinnestäuschungen, Leipzig, Verlag der Dürrschen Buchhandlung, 1919. Preis geh. 3,20 M mit 20°), Teue- rungszuschlag, geb. 4 M mit 30°, Teuerungszuschlag.

Rud. Schulze, Brahns Nachfolger in der Leitung des Instituts f. experim. Psychologie und Pädagogik des Leipziger Lehrervereins, begann vor Jahren eine Veröffentlichungsreihe von Einzeldarstellungen aus Psychologie und exp. Pädagogik. Dem 1. Bande W. Wundt, Einführung in die Psychologie ist nun der zweite gefolgt. Otto Klemm, ein Schüler Wundts, greift in seinem Abriß einer Lehre von den Sinnestäuschungen 'auf seine einstigen Übungen im Leipziger Institut zurück. ‘Gerade die Sinnestäuschungen sind nicht nur ein an sich sehr lehrreiches, dem Experimente im besonderen zugänugliches, sondern auch ein in pädagogischer und pathologischer Hinsicht so wertvolles Forschungsgebiet der Psychologie, daß sie eine

316 C. Literatur.

monographische Behandlung verdienen. Ausgehend von der allgemeinen Bedeutung der Sinnestäuschungen, besprichtt O. Klemm die Methoden und Theorien der psychologischen Versuche bei Erforschung dieses Teilgebiotes, bevor er die peripheren Bedingungen der Sinnestäuschungen darstellt. Die folgeuden Abschnitte sind Asso- ziation, Angleichung und Kontrast gewidmet. Im Schlußkapitel wird die Aufmerk- samkeit in ihrem Verhältnis zu den Sinnestäuschungen behandelt. Die allgemein- faßliche Darstellung vermeidet es, besondere Vorkenntnisse aus der Arbeit mit dem Experimente vorauszusetzen und wird wirksam unterstützt von über 20 Textfiguren. Im Literaturnachweise S. 105—107 konnten wegen militärischer Dienstleistung des Verfassers im Kriege nur die bis 1914 erschienenen Arbeiten vermerkt werden. Möchten Herausgeber und Verlag weiterhin in den mit den ersten beiden Bändchen beschrittenen Bahnen gehen, d. h. von anerkannten Forschern geschaffene Einzel- darstellungen folgen lassen. ‚Bautzen (Sa.). Johannes Meyer.

Kühnhagen, Oskar, Die Einheitsschule im In- und Auslande. Kritik und Aufbau. Gotha, Friedr. Andreas Perthes, A.-G., 1919. 168 S. 5,50M.

Seitdem der Dresdener Gymnasiallehrer Dr. Köchly 1848 auf der Deutschen Lehrerversammlung die Einheitsschule kritisch beleuchtet hatte und für sie ein- getreten war, ist die Frage nach ihr und ihrem Auf- und Ausbau nicht wieder zur Ruhe gekommen. Wenn wir die Einheitsschulliteratur überschauen, ist festzustellen, daß sie sehr reichhaltig, aber nicht durchweg sehr tiefschürfend ist. Eines fehlte uns aber trotz der zahlreichen Äußerungen für und wider die Einheitsschule das zuverlässige Nachschlagebuch über die gesamte Bewegung im In- und Aus- lande. Jetzt liegt es vor in der technisch-sachlichen Darsteliung von Prof. Dr. Kühnhagen, deren Wert durch ein reiches Quellenverzeichnis, ein umfassendes Namen- und Sachverzeichnis wie einen Übersichtsplan erhöht wird. Ein gründlicher Kenner alles dessen, was über die Einheitsschule veröffentlicht wurde, läßt unvor- eingenommen Freunde und Gegner selbst sprechen und ermöglicht es so dem Leser, sich leichter Hand ein eignes Urteil zu bilden. Die beiden gleich umfangreichen Teile bieten: I. Stimmen zur Einheitsschule (A. Freunde, B. Gegner, C. Ausland), II. Aufbau unseres Schulwesens (Anfangsunterricht, Unterstufe 4.—6. Schuljahr, Mittel- und Oberstufe). Wie im ersten Teile die meısten bedeutsamen Stimmen an- geführt sind, wir vermißten z. B. nur Georg Weiß, so überrascht im zweiten die Fülle der Fragen, die angeschnitten, wenn auch auf so engem Raume nicht er- schöpfend behandelt wurden, so u.a. Ausbildung der Hand, Schulbank, Gesundheits- lehre, Aufstieg, Überbürdung, Erholungswerte des Turnens, Alkoholismus und Ge- schlechtskrankheiten (diese beiden in einer Ansprache an abgehende Schüler ge- schickt dargestellt), Gabelung oder Sonderkurse? Kühnhagens gründliche Sammel- arbeit erscheint zur rechten Zeit, da wir uns anschicken, dem neuen Staate die neue Schule zu bauen, in der wir mit dem Verfasser schon lange eine sozialpädagogische, sozial- und kulturpolitische Notwendigkeit erkannten.

Bautzen (Sa.) Johannes Meyer.

Lehmensick, Fritz, Krieg und Lied. Stimmungsbilder aus dem Weltkriege, Dresden, Bleyi & Kaemmerer, 1918. 94S. 3,65 M.

Wer Lehmensicks Kernlieder der Kirche in Stimmungsbildern (ebenda, 3. Aufl.) kennt, der wird von vornherein geneigt sein, den neuen Stimmungsbildern aus der letzten Vergangenheit besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Dem geschickten, erfahrenen Schulpraktiker gelingt es hier wie dort, für die Worte der Lieder in der

C. Literatur. 317

Seele des Kindes wertvolle Inhalte zu schaffen, an Stelle nüchterner Erklärungen und trockner Zergliederungen klare, deutliche Anschauungen zu erzeugen, lebendige Bilder vor dem geistigen Auge erstehen zu lassen. Lehmensick schreibt nicht Präparationsbücher im alten Sinne von Frage- und Antwortspielen, sondern solche, die zu eigener Arbeit, zu selbständiger Gestaltung sorgfältig gesammelten Stoffes geschickt anleiten. Ein solches sind auch die 12 Stimmungsbilder zu Harre meine Seele —, O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit —, Weh denen, die’s begonnen —, Wir treten zum Beten usw. Wir können nie den Krieg verherrlichen, leichtfertig vom frisch-fröhlichen Kriege reden, weil wir ihn in seinen furchtbaren Folgen am eignen Leibe spürten, aber wir wollen dankbar das in seinem Verlaufe seitens unserer unvergleichlichen Feldgrauen und vieler Daheim- gebliebenen offenbarte Heldentum anerkennen. Hierzu weist uns einer Mittel und Wege, unter dessen Händen die Unterrichtslektion zur didaktischen Kunstform aus- reift. Schade nur, daß der Verlag sehr wenig entgegenkommend war, denn zu der sehr kriegsmäßigen äußeren Ausstattung stimmt nicht der entschieden viel zu hoch bemessene Preis. Bautzen ($a.) Johannes Meyer.

Barth, Paul, Die Notwendigkeit eines systematischen Moralunter- richts. Eine Denkschrift für Lehrer, Eltern und Schulbehörden. Leipzig, Dürr, 1919. 8°. IV u. 1168.

Paul Barth, der ordentliche Professor für Philosophie und Pädagogik an der Leipziger Universität hat schon seit länger als einem Jahrzehnt für die Ein- führung eines systematischen Moralunterrichts neben dem historisch-ethischen Reli- gionsunterricht sich eingesetzt. Die großen Neuerungen im Schul- und Erziehungs- wesen, die eingetreten sind oder noch bevorstehen, geben ihm Veranlassung, seine Ansicht ausführlicher darzustellen und zu begründen.

Die vielfach verbreitete Meinung, daß Moral ohne Religion nicht möglich sei, wird ebenso heftig bestritten, es muß deshalb das Problem genetisch, nach seinem Ursprung und Wachsen durchdacht werden. Aus der geschichtlichen Betrachtung aber ergibt sich, daß eine Moral ohne Religion nicht nur möglich ist, sondern in der Vorgeschichte der Menschheit wirklich vorhanden war. Später aber hat die Moral mit der Religion einen engen Bund geschlossen, weil sie in ihrem Ausbau einen Erkenntnisgrund in einer Weltanschauung brauchte, die nur die Religion geben konnte. Im Laufe der Entwicklung ist die Weltanschauung philosophisch begründet worden, und die Moral kann sich nun einen neuen Baugrund aussuchen.

In jeder Religion sind Elemente aus allen drei Grundphänomenen des Seelen- lebens zu einer Einheit verschmolzen, vorstellungsmäßige Bestandteile neben Gefühls- und Willenselementen. Im Religionsunterricht sind bisher Gefühl und Willen zu kurz gekommen, Kenntnisse, der objektive Teil der Religion, sind durch Worte über- tragen worden. Einzelne Ausnahmen und Versuche, es zu ändern, bestätigen die Regel. Dazu kommt, daß auch in der Umwelt der Kinder nicht mehr wie früher eine einstimmige und lebendige religiöse Überzeugung vorhanden ist, noch auch ein- deutige und bestimmte religiöse Grundsätze im Handeln zutage treten. Es sind in der Weltanschauung der Gegenwart viele Elemente enthalten, die der Religion wider- streiten, Bestandteile, die teils noch der Aufklärung entstammen, teils der Entwick- lungslehre und dem historischen Materialismus. Und ebenso wie die Weltanschau- ungen nicht mehr harmonisch mit der Lehre der Kirche sich vereinigen, so wider- streben ihr auch die herrschenden T,ebensanschauungen, die Moralsysteme. Sowohl die Ethik Kants, als die evolutionistische Ethik Spencers und der Utilitarismus

318 C. Literatur.

weichen vielfach von der christlichen Ethik ab. In diesem Zwiespalt hat sich neuer- dings Fr. W. Förster für die Ethik der Kirche und ihre Autorität entschieden. Diese Entscheidung wird von Barth mit guten Gründen bekämpft. Die Autorität zerstört den schöpferischen Trieb im Menschen, sein Vorwärtsstreben, wäre sie die Heilkraft für die Schäden der Zeit, so hätte sie längst sich als solche erweisen müssen, denn sie ist lange genug am Ruder gewesen. Es hat sich aber gezeigt, daß altgläubiger und dogmatischer Religionsunterricht kein dauerndes Ergebnis haben- kann, wenn die Weltanschauung der Umgebung nicht mehr mit ihm übereinstimmt. Daraus erklären sich die radikalen Bremer Forderungen von 1905, die Zwickauer Thesen von 1908. Aus dem Begriff des Staates, der über den Parteien und Kon- fessionen steht und selbst konfessionslos sein muß, folgert, daß er entweder auf den Religioneunterricht verzichten oder ihn interkonfessionell erteilen lassen muß. Der neue Religionsunterricht wird darum kein System geben und keine Dogmatik, er wird rein geschichtlich sein, große religiöse Persönlichkeiten vorführen, die er geschichtlich und ethisch würdigt. Aber für die Leitung des Lebens bedarf der heranwachsende Mensch eines Systems. Nur ein systematischer Unterricht wird einen sittlichen Charakter schaffen können. Der vielfach empfohlene »gelegentliche« Unterricht, auch die Vereinigung der Ethik mit der Bürgerkunde, die als Teil der Politik erst ihren Sinn von der Ethik erhält, sind unzureichend. Es muß ein Unter- richt gefordert, werden, systematischer noch und logisch begründeter als der Moral- unterricht der Franzosen, dessen gute Wirkung, trotz mancher Mängel, sich in der unerwarteten Ausdauer der Franzosen im Weltkriege gezeigt hat. Dieser syste- matische Unterricht kann eklektisch sein, er kann verschiedenen Systemen seine Elemente entnehmen, wenn sie sich nur nicht widerstreiten und wirksame Motive der Lebensführung enthalten.

Selbstverständlich darf der Moralunterricht auch dem noch bleibenden Reli- gionsunterricht nicht widerstreiten, er muß hierin vielmehr die Sanktion finden, die Begründung auf das Unvergängliche. In der Lehre vom höchsten Zweck, in der Wertsetzung werden Moral und Religion übereinstimmen.

Freilich wird der Moralunterricht ergebnislos sein, wie der alte Religions- unterricht, wenn er nicht getragen wird von der mitfühlenden und willensstarken Person des Lehrers, wenn er nicht in der Umgebung Widerhall findet und Nähr- boden, wenn nicht in dem Gemeinschaftsleben der Schule schon moralische Ge- wöhnungen sich erzielen lassen.

So hofft Paul Barth, daß der Moralunterricht verbunden mit dem Schul- gemeinschaftsleben die Wissenschaft der Ethik zur bewegenden Kraft umgestalten wird und schließt tröstlich mit Goethes »Symbolum«: Wir beißen euch hoffen.

Leipzig. Paul Schumann.

Barth, Paul, Elemente der Erziehungs- und Unterrichtslehre. Auf Grund der Psychologie und der Philosophie der Gegenwart dargestellt. Sechste, wiederum durchgesehene und erweiterte Auflage. Leipzig, J, A. Barth, 1919. gr. 8°. XI u. 716S. 22M. broschiert.

Vor 13 Jahren, im Jahre 1906, erschien das Werk Paul Barths zum ersten Male. Es hat seither 6 starke Auflagen erlebt, es ist ins Italienische, Russische Spanische und Schwedische übersetzt worden und hat alle neueren Handbücher der Pädagogik maßgebend beeinflußt. Aus einem schlanken Bande ist ein umfangreiches, schweres Werk geworden, das auch in sich selbst sich entwickelt hat. Es ist ein- heitlicher im System und die wissenschaftliche Begründung ist umfassender geworden. Immer ist der Verfasser bestrebt gewesen, es auf der Höhe der Zeit zu erhalten.

nn ——

C. Literatur. 319

Die psychologische Grundlage ist im Grunde die Wundts, doch ist es als Handbuch eklektisch, an kein System gebunden. Philosophisch ist es an dem Neu- kantianismus Riehls orientiert, in der Sozialogie ist Paul Barth eine eigene ge- wichtige Autorität. Pädagogisch ist im großen und ganzen der Herbartsche Stand- punkt maßgebend, aber mit besonnenem Freisinne weiß der Verfasser auch andere Richtungen zu schützen und zu nützen.

Eine Einleitung setzt Erziehung und Unterricht in ihrem Verhältnis und in sich selbst fest, weist in Psychologie, Ethik, Logik und Ästhetik die Grundlagen der Erziehungs- und Unterrichtslehre auf, schildert in einem blendenden Abriß die Macht der Erziehung und gliedert das System. Nach den Grunderscheinungen des menschlichen Bewußtseins scheidet Barth die Bildung des Willens, die Bildung des Gefühls, die Bildung des Geistes und gewinnt so eine allgemeine Erziehungs- und Unterrichtslehre, der im II. Teile die spezielle Erziehungs- und Unterrichtslehre nachfolgt. Selbstverständlich ist das Buch nach dem Unterricht Normaler bestimmt, aber auch für den Lehrer Abnormer und Nichtvollsinniger ist es wünschenswert, sich immer wieder an der pädagogischen, psychologisch und philosophisch begrün- deten Wissenschaft aufzufrischen. Vor allem die Kapitel über die psychologischen Bedingungen eines erfolgreichen Unterrichts, die Anschauung, Aufmerksamkeit, Ge- dächtnis und Denken behandeln, sind wahre Sammelbecken psychologischen Wissens in sachgemäßer Auswahl und praktischer Anordnung und Darstellung. In der Denk- lehre möchten in Zukunft auch die neueren an Husserl und die Würzburger Schule anknüpfenden Auffassungsweisen dieser Probleme in Erscheinung treten.

In dem Abschnitt von den organisatorischen Bedingungen des erfolgreichen Unterrichts, Lehrplan und Lehrgang, ist neu eingeordnet ein Kapitel über die Be- gabungsforschung, das einen guten Überblick über das weite, viel bearbeitete und auseinanderstrebende Gebiet vermittelt. Neu hinzugekommen ist auch das Kapitel über Psychanalyse (S. 96—98). Barth sieht ebenso wie W. Stern in der Psych- analyse Freuds und seiner Nachfolger eine bedenkliche Abirrung. Hier hätte neben Pfister auch Hug-Hellmuths Schrift »Aus dem Seelenleben der Kinder«, eine psychoanalytische Studie, Wien 1913, genannt werden dürfen. Auch sonst merkt man vielfach die bessernde und nachhelfende Hand des Verfassers.

Die neue Auflage ist unter außerordentlichen, durch die Zeitverhältnisse ver- anlaßten Schwierigkeiten herausgebracht worden. Sie ist leider ganz wesentlich teurer geworden. Aber sie wird trotzdem ihren Weg gehen, die pädagogische Er- kenntnis fördern und das pädagogische Tun befruchten. Die Vorrede zur ersten Auflage schloß Paul Barth mit den Worten: »Den Arbeitern an der Menschen- bildung, Künstlern mit dem Willen und dem Geiste lege ich dieses Buch vertrauensvoll in die Hände, in der Hoffnung, daß sie, was an der Theorie etwa unvollkommen oder unvollständig ist, aus den Eingebungen ihrer Erfahrung ergänzen werden.« Wir wollen dieses Vertrauen in Dankbarkeit rechtfertigen.

Leipzig. Barth, Paul, Der Lebensführer. Ein Sittenlehrbuch für die oberste Klasse der Volksschule und für Fortbildungsschulen. Leipzig, Dürr, 1919. 8°. 208.

Gleichzeitig mit der eben besprochenen Grundlegung erscheint ein moralisches Lehrbüchlein, ein Lebensführer. Es ist in Gesprächsform zwischen Lehrer und Schüler abgefaßt und soll anregen, die Grundsätze der Moral denkend zu durch- dringen und zum inneren Besitz der Kinder zu machen. Im Laufe des Jahres soll noch ein Kommentar, für den Lehrer bestimmt, unter dem Titel »Ethische Jugend- führung« erscheinen.

Paul Schumann.

320 C. Literatur.

Auch an die Pforten der Schulen und Anstalten für Abnorme und Nichtvoll- sinnige klopft die neue Zeit mit neuen, Forderungen. Zur Einführung in die Grund- sätze, aus denen heraus die Entscheidungen über die schwebenden Fragen zu fällen sind, nicht zur unmittelbaren Übertragung, möchte ich beide Schriften den Fach- genossen empfehlen.

Leipzig. Paul Schumann. Blüher, Hans, Führer und Volk in der Jugendbewegung. Jena, verlegt bei Eugen Diederichs, 1918. 32 S. Preis 1,45 M.

Ein kleines Buch, aber so voll von tiefgreifender Forderung, daß sich eine ausführliche Auseinandersetzung lohnt.

Nach dem Führer schlechthin ruft Hans Blüher. In welchem Denkenden brennt nicht das gleiche Verlangen und Sehnen nach der überragenden Persönlich- keit, die aus dunklem Chaos zu lichtvoller Klarheit führt? Es ist eine erzfeste und steinharte Gestalt, die uns Hans Blüher als Idealführer vorstellt. Er läßt die Welt der herrschenden Mittelmäßigkeiten hinter sich, streift alle demagogische Gleichmacherei wie ein allzuoft benutztes Werktagskleid ab und erklärt: Führer werden nicht durch Begabtenauslese und dererlei Mittel erzogen, sondern geboren, Der Führer bedarf nicht des Volkes, um Führer zu sein. Er schafft in genialischer Einsamkeit für sich und fliegt seinem Stern zu, ohne zu fragen, ob die Masse ihn als Führer anerkennt und verherrlicht oder seine Führerideale unter ihren Füßen zertritt. Diese Masse ist schlechtweg das Geführte, und erst indem sie den hohen Idealen folgt, wird sie Volk, »bekommt sie Seele«. Diese Masse hat nicht zu be- urteilen, nicht zu denken, sondern nur zu glauben, zu vertrauen und zu folgen. Ihr Führer ist ein asketischer Idealist und ein intoleranter Herrscher. So fordert der Verfasser inmitten einer Zeit der Räte und der Demokratien den Absolutismus des Geistes. Die Jugend, einst berufen an der Regierung des Landes teilzunehmen, einst auserwählt, selbständig ihre Lebenskultur zu schaffen, sie wird in der Zeit ihres Emporwachsens in die Autonomie eines herrschenden Geistes gezwungen! Wie lange? Nicht fragen folgen. folgen. Der Führer führt! Aber wohin? Wir suchen die Antwort bei Hans Blüher vergeblich. Er braucht sie nicht, denn

- in ihm lebt ein unsagbar großes Vertrauen zu jedem wahrhaften Führer. Er ver- sinkt in einem berechnungs- und urteilslosen Geniekult des Führertums. Aber die anderen? Wir wollen und müssen Klarheit haben, welchen Weg der Führer- Messias der Jugendbewegung zu gehen gedenkt, nicht deshalb, weil wir Steine‘ und Aufstieg fürchten, wie Hans Blüher nur allzuleicht annimmt, sondern weil wir ein Ziel vor unseren Augen sehen wollen, weil wir ethische Normen zu erkennen bestrebt sind, unter deren Leitung wir vorwärts zu streben gedenken. Wie nun, wenn der Führer sie selbst nicht hat? Es gibt auch schrankenlose Genies, vor deren nur zersetzender Arbeit uns graut. Die Jugend führen heißt aufbauen und nur der, welcher Neues und Besseges zu schaffen gewillt und dazu iu der Lage ist, hat Anspruch auf Gefolgschaft. Daß Hans Blüher Dr. Wyneken als seinen Führer ausruft, ist seine Privatsache, über die wir an dieser Stelle nicht mit ihm rechten wollen.

Jena. Dr. Reh. Zur Besprechung eingegangen. Siegmund-Schultze, Friedrich Lycens, die Wirkungen der englischen Hunger- blockade auf die deutschen Kinder. Sonderheft d. Eiche, Mai 1919, Viertel- puesirn für Freundschaftsarbeit der Kirchen, Sonderheft. Berlin, Friedr.

Zillessen.

Druck von Hermann Beyer & Sühne (Beyer & Mann) in Langensalza.

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E

A. Abhandlungen.

Die Pädagogik im Heilerziehungsheim. Von

Fr. Knauthe, Direktor des Heilerziehungsheims Kleinmeusdorf in Leipzig- Dösen. (Schluß.)

II.

Die pädagogische Beobachtung erstreckt sich zunächst auf den Jugendlichen selbst und zwar nimmt sie ihn so, wie er sich gegen- wärtig gibt, also ohne Vorurteil, wie es etwa der Antragsteller, die Eltern, die Akten usw. einflößen könnten. Die Betrachtung seiner Vergangenheit, der Umwelt, aus der er kommt, tritt erklärend, be- richtigend und ergänzend, aber erst später hinzu. Um zu verhindern, daß man sich über den Jugendlichen täuscht, wird ihm der Übergang aus der Freiheit des Straßenlebens in die Gebundenheit der Anstalt möglichst leicht gemacht: er wird freundlich empfangen, ruht sich im Bette körperlich und seelisch einige Tage aus, wird möglichst bald nach einer Woche etwa einer Zöglingsfamilie, einer Schul- klasse, einer Arbeitsgruppe zugeführt, und darf sich ziemlich frei be- wegen. Absichtlich blieben die Fenster ohne Gitterstäbe, lassen wir die Türen der Erziehungsabteilungen offen, beseitigen wir nicht alle Möglichkeit zum Entweichen, zum Naschen und Stehlen usf., gleichen wir die Anstalt dem Leben draußen möglichst an. Der Ankömm- ling fühlt, daß ihm noch einmal rückhaltlos Vertrauen geschenkt wird. Die mitunter verschlossene Psyche öffnet sich und gibt sich ganz natürlich. Alle Äußerungen der jugendlichen Seele in Wort

Zeitschrift für Kinderforschung. 24. Jahrgang. 21

322 A. Abhandlungen.

und Handlung werden sorgfältig gebucht. Auf diese Weise- wird ein einwandfreies Beobachtungsmaterial gewonnen. Wo Zweifel auftauchen, veranlassen die aus der Vergangenheit bekanntgewordenen Tatsachen meist ohne weiteres die nötige Korrektur, andernfalls muß die Be- obachtungszeit entsprechend verlängert werden.

Zum Zwecke der Durchforschung der Jugendlichen wurden bis- her Prüfungen und Untersuchungen vorgenommen, Erhebungen und Dauerbeobachtungen angestellt. Die Intelligenz der schulpflichtigen Zöglinge wurde nach der Binet-Simon-Methode, die der schulentlassenen nach der Definitionsmethode Dr. Gregors geprüft. Die Ergebnisse wurden vor allem für die ärztliche Diagnose, aber auch bei der päda- gogischen Beurteilung verwertet.

Daneben findet noch eine eingehende rein pädagogische Intelligenz- prüfung statt. Es handelt sich dabei um Feststellung der Fähigkeiten des Auffassens und Aufmerkens, des Gedächtnisses, des Urteils und Schließens, um die Fertigkeit im Sprechen, Rechnen, Lesen und Schreiben, um das Vorhandensein der Vorstellungen von Formen, Farben, Tönen, der Raum-, Zeit-, Maß- und Gewichtsvorstellungen, von moralischen und religiösen Begriffen. Der Zögling wird gefragt, wie er seine Lage und seine neue Umgebung und seine Zukunft be- urteilt. Er schreibt möglichst ausführlich selbst seinen Lebenslauf und beantwortet noch folgende Fragen: Was würdest du tun, wenn du etwa 10 M Geld hättest? Warum ist lügen, warum stehlen verboten? Welche Persönlichkeit hast du dir zum Vorbild erwählt und warum gerade diese? Was ist deine Lieblingsbeschäftigung, und aus welchem Grunde ist sie es?

Das Ergebnis dieser Prüfungen ist die Feststellung des Allgemein- wissens und der Schulkenntnisse, der Intelligenz nach der Anlage und Entwicklung, ihrem Rückgang und ihrem Vorsprung. Hierbei ergeben sich ohne weiteres das Maß der intellektuellen Kräfte, der geistigen Ermüdbarkeit und Erholungsfähigkeit. die Grade der Bildungs- fähigkeit, die Zugehörigkeit des Zöglings zur Gruppe der geistig Zurückgebliebenen, der Debilen, der Imbezillen oder Idioten.

In ähnlicher Weise wird das Gefühlsleben und das Trieb- und Willensleben untersucht. Hierzu ist dauernde Beobachtung im täg- lichen Verkehr mit den Zöglingen erst recht notwendig. Doch werden hin und wieder auch kleine Proben und Prüfungen absichtlich an- gesetzt. Es wird festgestellt, in welcher Gemütsstimmung der Zögling lebt, welche Affekte ihn packen, auf welchen Reiz hin und wie stark sie auftreten, wie weit höhere Gefühle vorhanden, von welcher Art und Stärke sie sind. Es werden die Fragen beantwortet: Welche

Knauthe: Die Pädagogik im Heilerziehungsheim. 323 triebhaften Erscheinungen sind hervorgetreten, welche von ihnen waren krankhaft entartet, wie war das sexuelle Verhalten. Das Wollen und Handeln wird besonders genau analysiert: die Motive und Ziele des Handelns werden bloßgelegt, die Zähigkeit im Festhalten der Pläne und Vorsätze und die Ablenkbarkeit von ihnen, die Schwäche, die Energie und das Tempo des Wollens und Handelns werden fest- gestellt, das Verhalten zur Anstaltsordnung und zum Sittengesetz wird beobachtet. Die Charaktereigenschaften werden zu einem Bild zu- sammengefaßt, hierbei wird auch ein Urteil über den Zusammenhang der Persönlichkeit, über Einfachheit, Einseitigkeit, Harmonie und Disharmonie des Wesens gewonnen.

Alle Antworten auf diese Fragen trägt der pädagogische Hilfs- arbeiter in den Personalbogen III ein. Die täglichen Wahrnehmungen werden in den Führungsheften von den Erziehern gesammelt. Im übrigen ist jeder Angestellte gehalten, Auffälliges in Zustand und Verhalten des Zöglings zu notieren. Um die verschiedenen Beurteiler an eine einheitliche Ausdrucksweise zu gewöhnen, wurden die sprach- lichen Formen in einem Schlüsselbogen festgelegt.

Mit psychologischen Apparaten und ohne sie viel zu experi- mentieren, war bei der soeben geschilderten eingehenden Durch- forschung der jugendlichen Psyche nicht weiter nötig, Wovon man sich im tagtäglichen Umgang mit den Zöglingen klar überzeugt, das braucht man nicht nachträglich noch durch das Experiment exakt beweisen zu lassen. Bei dem starken Zulauf an Zöglingen während des Krieges und der unaufhörlichen Abgabe von männlichen Beamten zum Militärdienst wären Zeit und Kräfte auch kaum vorhanden ge- wesen. Es besteht aber die Absicht, nach Kriegsende einige Einzel- erscheinungen an allen Zöglingen experimentell zu prüfen und das Experiment auch anzuwenden, wenn sich das Vorhandensein gewisser psychischer Momente nicht oder nur nach längerer Zeit feststellen läßt. Wir denken dabei an eine eingehende Prüfung der Sinnes- organe, an Untersuchungen des Gedächtnisses und der Aufmerksamkeit, der Ermüdbarkeit und des Arbeitsrhytimus und der Eignung für ge- wisse Berufe.

Wie schon erwähnt, wird auch die Vergangenheit gründlich durch- forscht. Wie notwendig, aber auch wie zeitraubend das ist, erhellt aus dem Umstande, daß mitunter die Angaben, die wir von ver- schiedenen Seiten erhalten, durchaus nicht übereinstimmen. Das Kind hat unter einem besonderen seelischen Drucke stehend in der Schule sich ganz anders gegeben als anderwärts. Der Gerichtsbeschluß ist auf den viel schärfer klingenden Gesetzesparagraphen abgestimmt,

21*

324 A. Abhandlungen.

Die im Ermittlungsverfahren zu Protokoll gegebenen Aussagen der Nachbarn oder des Anzeigenden sind stark übertrieben. Väter und Mütter stellen im ersten Ärger die Handlungsweise des Jungen in viel schlimmerem Lichte dar, oder möchten ihn weiß waschen oder aber und das ist leider oft der Fall sie bekämpfen sich gegen- seitig in ihren Anschauungen. Oft möchte man ausrufen: »Wo ist denn die Wahrheit?« Für die Beurteilung des Jugendlichen ist es aber von unvergleichlichem Wert, die Tatsachen unverfälscht zu be- kommen. Die Akten enthalten mitunter noch keine ausführlichen Angaben, oft treffen sie erst später ein. Es bleibt also nichts übrig, als erneut Erhebungen anzustellen.

Wie schon erwähnt, werden die Zöglinge bald nach ihrem Ein- tritt veranlaßt, einen Lebenslauf niederzuschreiben. Fällt er zu kurz aus, oder enthält er Unwahrheiten, wird ein zweiter einwandfreier angefertigt oder ein gesprochener Lebenslauf von dritter Seite zu Papier gebracht. Die Eltern oder nächsten Angehörigen werden regel- mäßig bestellt und vernommen. Ihre Mitteilungen werden einge- tragen in einen besonderen Bogen über Herkunft und Entwicklung und auf der ärztlichen und pädagogischen Personalkarte. Es wurde gefragt nach dem Personenstand, dem Gesundheitszustand, dem Charakter und Lebenswandel, den Wohn- und Erwerbsverhältnissen, nach dem häuslichen Frieden und der Erziehungsweise der Eltern; nach dem Personeustand, der Gesundheit, dem Beruf und dem Leu- mund der Großeltern und der Geschwister; nach der Geburt und der körperlichen und seelischen Entwicklung unseres Zöglirgs, nach seinen Vorzügen und Fehlern, nach dem bisherigen Erziehungsgange, nach seinem Schulleben und seinem Beruf, nach Beginn, Art und Ursachen der Verwahrlosung, nach gerichtlichen Bestrafungen und dem Ge- schlechtsleben. In letzter Zeit ist ein verkürzter, sogenannter Hilfs- fragebogen verwendet worden, der ausführliche Bogen wird erst nach Kriegsende wieder voll beantwortet werden.

Manche Eltern entrollen fast ungefragt erschütternde Bilder häuslichen Elends, andere kommen nur widerwällig und in hellem Zorn über die Wegnahme des Kindes. Aber auch sie öffnen endlich, nachdem sie unser auf das Wohl ihres Kindes gerichtetes Streben er- kennen, gern Mund und Herz zu einer erklärenden Aussprache. Die Angaben der Eltern werden an Hand der Akten oder der Aussagen Dritter nach Möglichkeit nachgeprüft. In den meisten Fällen ist doch eine Vererbung oder ein schuldhaftes Verhalten der Eltern festzustellen. Wie weit erbliche Belastung bei unseren Zöglingen vorhanden war, darüber gibt nachstehende Übersicht Auskunft:

Knauthe: Die Pädagogik im Heilerziehungsheim. 325

Knaben Mädchen mn mn m —— oe Es waren schulpfl. schulent. schulpfl. schulentl. Sa. m —— —— u ——

abs. h abs. %, abs. % abs %, abs. I 1914 erbl. belastet 98 95,1 95 90,5 51 911 40 952 284 809 unbe. 5 49 10 95 5 89 2 48 2 63 Belast. unbek. 14 18 5 8&8 45 128

117 123 61 50 351

1915 erbl. belastet 111 97,4 75 904 38 95 62 886 286 81,7 o unbe. 3 26 8 96 2 5b 8 l1l4 21 6 Belast. unbek. 17 15 4 7 43 123

131 98 44 77 350

1916 erbl. belastet 136 94,4 104 92 40 952 71 91 351 84,4 unbel. 8 56 9 8 2 48 7 9 26 6,2 Belast.

unbek. 14 20) 1 4 39 94

158 133 43 82 416

Das Ergebnis unserer Beobachtungen ist festgehalten in der Statistik über die erzielten Diagnosen, die ja die pädagogischen Be- obachtungen mit verwertet. Sie liegt für die Jahre 1914, 1915 und 1916 vor und umfaßt insgesamt 1116 erstmalig aufgenommene Zög- linge. 1)

1) Es sei an dieser Stelle hingewiesen auf das Anfang 1918 erschienene erste größere wissenschaftliche Werk: Die Verwahrlosung, ihre klinisch - psychologische Bewertung und ihre Bekämpfung von Professor Dr. A. Gregor, Oberarzt an der Landesheilanstalt Dösen und am Heilerziehungsheim Kleinmeusdorf und Dr. Else Voigtländer, wissenschaftliche Assistentin am Heilerziehungsheim Kleinmeusdorf, Berlin, Verlag Karger. Es bietet in Lebensläufen von je 100 schulpflichtigen und schulentlassenen Knaben und Mädchen das in Kleinmeusdorf gesammelte ärztliche und pädagogische Beobachtungsmaterial, gruppiert und bespricht es nach klinischen und psychologischen Gesichtspunkten, untersucht die Beziehungen zwischen Verwahr- losung und Kriminalität, zwischen Verwahrlosung und Sexualleben der weiblichen Zöglinge und bringt Vorschläge zur Ausgestaltung der Fürsorgeerziehung und der Heilerziehung.

326 A. Abhandlungen.

Knaben Mädchen a mn u Es waren schulpfl. schulentl. schulpfl. schulentl. Sa. ——— ———— abs. % absa % abs % abs. °% abs Y

1914 Psychop. 56 487 73 594 20 328 20 40 169 48,28 Debilität 32 27,3 30 244 16 262 16 32 94 26,86

Imbez. 13 11,1 9 74 11 18:10 20 43 12,29 Geisteskr. P 09 3- 24 LOT 12.2 6 171 Epilepsie 2 115 A 7T 200 Psych. int. 12 10,3 3 24 13 213 3 6 31 886 116 123 61 50 350 1915

Psychop. 60 45,7 60 61,2 20 Debilität 24 18,4 16 163 10 227 21 273 71 20,29 Imbez. 9 69 11 112 2 Geisteskr. 2 15 3 31

Epilepsie 1 08 - 1 0,29 Psych. int. 35 26,7 8 82 12 273 18 234 73 20,86 131 98 44 77 350 1916

Psychop. 66 41,8 82 61,7 19 443 26 31,6 193 46,40 Debilität 36 228 21 158 9 209 12 147 78 18,75

Imbez. 16 01 0 75 1 23 8 98 35 841

Geisteskr. 1 06 3 22 4 48 8 192

Epilepsie 2 15 = = 1 12 3 072

Psych. int. 39 247 15 113 14 325 31 37,9 99 23,89 158 133 43 82 416

\

Aus dieser Übersicht ist ohne weiteres abzulesen, daß !/, bis 4, aller hier eingelieferten Zöglinge psychisch-intakt waren. Hiervon macht nur das Jahr 1914 eine Ausnahme, wir zählen nur !/,, psychisch Normale. Grund dafür ist der Umstand, daß man im 1. Jahre nach der Eröffnung des Heilerziehungsheims doch zunächst nur die Auslese, die schlechten Elemente, einlieferte.

Die Zunahme an Normalen ist in allen Altersgruppen zutage ge- treten, wie die absoluten Zahlen beweisen. Die Zahl der psychisch Intakten ist am gräßten bei den schulpflichtigen Knaben 1915 und 1916, und 1916 auffälligerweise auch bei den schulentlassenen Mädchen.

Kn«uthe: Die Pädagogik im Heilerziehungsheim. 327

Die vermehrte Zuführung psychisch-intakter Elemente ist ein er- freulicher Beweis dafür, daß von der Fürsorgeerziehung mehr als bisher im vorbeugenden Sinne Gebrauch gemacht wurde, insbesondere stellten häufig die Eltern selbst den Antrag, mitunter der im Felde befindliche Vater aus Sorge um die Verwahrlosung seines Kindes. Andererseits wurden infolge der Kriegsbegeisterung und der schwierigen Lebensverhältnisse sonst normale und geordnete Jugendliche wirklich gefährdet und von der Verwahrlosung ergriffen.

Prozentual am meisten zurück blieben unter den psychisch In- takten in jedem Jahre die schulentlassenen Knaben (2,4; 8,2; 11,2%,). Der Grund dafür liegt auf der Hand: 1914 und 1915 treffen viele zum Militärdienst ein, und die übrigen, vor allem auch jüngeren Jahr- gänge mußten die Lücken in den Arbeitsstätten füllen helfen.

Auffallend groß bleibt die Zahl der psychisch nicht völlig gesunden Zöglinge 1914: 91°/,, 1915: 79°/,, 1916: 76°,. Hierbei ist wieder erfreulich, daß die Zahl der Geisteskranken und Epileptiker in jedem Jahre und auf allen Stufen auffallend gering war: 1915 und 1916 1,71 und 1,92°/, Geisteskranke, 0,29 und 0,72°/, Epileptiker. Hyste- rische sind eingerechnet in die Gruppe der Geisteskranken, Neu- rastheniker zählen zu den Psychopathen.

Der pathologische Schwachsinn leichten und schweren Grades, Debilität und Imbezillität (die leichteren Formen reduzierter Intelligenz sind in die anderen Gruppen mit aufgeteilt), war 1914 mit 39°/,, 1915 mit 29°/,, 1916 mit 27°/, vertreten. Wie schon gesagt, wurde 1914 zunächst alles Abnorme gebracht, daraus erklären sich die hohen Ziffern in diesem Jahre (schulpflichtige Mädchen 44°/,, schulentlassene 54/,). 1916 stellen die schulpflichtigen Knaben den höchsten Prozentsatz (32,9°/,), die übrigen Gruppen sind erheblich zurückgegangen. Im Jahre vorher war das Verhältnis genau umgekehrt.

Den weitaus größten Teil Anormaler bilden die Psychopathen. Hierbei ist von besonderem Interesse, daß die Prozentzahlen sich fast völlig gleich bleiben (48,28, 48,28, 46,40). Das gilt aber nur von den Prozentzahlen und von der Gruppe der Schulentlassenen, letztere über- ragt gleichzeitig bei weitem den Durchschnitt (59—61°/,). Bei den Schulknaben und schulentlassenen Mädchen war Psychopathie ständig in der Abnahme begriffen (48, 45, 41, 40, 37, 31%/,), bei den schul- pflichtigen Mädchen in der Zunahme (32, 45, 44°/,).

Die Ergebnisse der rein pädagogischen Beobachtungen sind in den pädagogischen Gutachten niedergelegt, sie lassen sich nicht ohne weiteres statistisch zusammenfassen. Es seien aber einige charakte- ristische Wahrnehmungen hier mitgeteilt:

328 A. Abhandlungen.

1. Es fällt immer wieder auf, daß die günstigsten Bedingungen, in die die Zöglinge bei Aufnahme ins Heilerziehungsheim versetzt werden, eine überraschende Wirkung ausüben. Die ausreichende Er- nährung, die Arbeit in freier Luft, die Pflege und Sauberkeit, das streng geregelte Leben überhaupt, ließ die Kinder in der Regel rasch zunehmen und körperlich aufblühen. Auch der psychische Zustand und das Gesamtverhalten stehen oft im Gegensatz zu dem Benehmen des Zöglings vor der Einlieferung. Diese Beobachtungen wurden auch in der Anstaltsschule gemacht. Während draußen und gewiß mit Recht der Lehrer über Betragen und Leistung der Schüler zu klagen hatte, konnten hier sehr bald geordnetes Verhalten, Fleiß und gute Fortschritte festgestellt werden, auch die Schulunlust schwand. Eine Erklärung ist wohl nur in dem Umstande zu finden, daß das Eltern- haus die Schularbeit in keiner Weise unterstützte und die Schule ihrerseits gegen die beginnende Verwahrlosung machtlos blieb.

2. Erziehbarkeit und Bildsamkeit waren bei Psychopathen nur selten auszuschließen. 1917 mußten wir in einigen wenigen Fällen Aufhebung der Fürsorgeerziehung vorschlagen, weil weitere Erziehungs- erfolge nicht zu erwarten waren.

3. Es zeigt sich Rückständigkeit auf allen Gebieten des psy- chischen Lebens mit Ausnahme weniger Fälle, die gut angelegt waren. Am meisten trat hervor eine fast kindliche Schwäche und Unreife auch bei schulentlassenen Zöglingen. Manche Mängel gehen bis auf die Zeit vor Eintritt in die Schule zurück. Dabei war nicht selten auch die Ursprünglichkeit und Naivität des Kindesalters erhalten geblieben.

4. Es trat ein Mißverhältnis zwischen Frfahrungswissen und Schulkenntnissen immer wieder zutage. Guter intellektueller Anlage fehlte die ausreichende Entwicklung. Was man auf der Straße und auf verbotenem Wege und sonst außerhalb der Schule bequem und ungesucht sich aneignen kann, darin waren die Schüler gut beschlagen. Die Leistungen im Rechnen und in der Rechtschreibung waren immer wieder auffällig gering, ebenso fehlten die einfachsten Anschauungen und Kenntnisse, die die Schule vermittelt, Logik und Ethik. Man wird an längst vergangene Zeiten erinnert und möchte mit Luther und Comenius über die Unbildung der Jugend klagen und wieder wie jene einst die elementarsten Kenntnisse, Rechnen, Schreiben, gemeinnütziges Wissen und ein wenig religiösen Memorierstoff ver- langen.

5. Das Gefühlsleben war in den meisten Fällen auf sehr niedriger Stufe stehen geblieben. Wiederum war die Anlage für höhere

Knauthe: Die Pädagogik im Heilerziehungsheim. 329 Empfindung vorhanden, aber wenig oder gar nicht zur Entfaltung gebracht.

6. Im Willensleben tritt neben großer Schwäche und Ablenkbar- keit, Willkür und Zerfahrenheit hervor. Das äußerlich gute Verhalten konnte nicht über die moralische Schwäche und Minderwertigkeit hinwegtäuschen. Dabei war oft ein Mißverhältnis zwischen Intelligenz und Charakter festzustellen. Den guten Vorsätzen und besseren Er- kenntnissen entspricht in keiner Weise das Tun. Die Einsichtsfähig- keit war vorhanden, die sittliche Reife aber fehlte vollständig. Mit- unter haben sich die sittlichen Begriffe völlig verschoben.

Ich fasse zusammen:

Die pädagogische Beobachtung bevorzugt die Frage- bogenmethode vor den Methoden der experimentellen Psy- chologie. Durch Prüfung der Intelligenz, Erforschung des Gefühls- und Trieblebens und Analyse des Wollens und Handelns wird ein möglichst klares Bild vom psychischen Zustand gewonnen. Es wird erklärt, ergänzt und berichtigt durch die Erhebung über Herkunft und Entwicklung des Zöglings.!)

Wir sahen, daß mindestens 4, aller Zöglinge erblich belastet sind. Welch großer Einfluß auf die Verwahrlosung der Umwelt beizumessen ist, war daraus zu erkennen, daß die Versetzung in die günstigen Lebensbedingungen der Anstalt an sich schon genügten, um eine erste Besserung in Zustand und Verhalten herbeizuführen.

Erziehbarkeit und Bildsamkeit waren bei Psychopathen nur selten auszuschließen. Rückständigkeit und Ungleichheit waren auf allen Gebieten psychischen Lebens festzustellen.

IV.

1. Das Heilerziehungsheim muß sich mit seinen Er- ziehungsmethoden anlehnen an den Betrieb anderer An- stalten. Diese erste an die pädagogische Behändlung zu stellende Forderung ergibt sich aus folgenden Erwägungen:

Das Heilerziebungsheim ist zunächst eine Fürsorgeanstalt, für alle Jugendlichen eines bestimmten Gebietes die erste, die sich ihnen auftut. Die Zöglinge gehen zum größten Teil sehr bald in andere Anstalten über. Sie dürfen hier nichts wesentlich anders finden, als

1) Es werden im Heilerziehungsheim in der Hauptsache 3 Fragebogen benutzt: Fragebogen I über Herkunft und Entwicklung, Fragebogen II über die ärztliche Untersuchung und Fragebogen III über die pädagogische Untersuchung und Be- vbachtung. Sie sollen mit anderem Fragematerial demnächst veröffentlicht werden.

330 A. Abhandlungen.

was ihrer dort wartet. Die Rede, es gäbe in Kleinmeusdorf weniger Arbeit, besseres Essen, angenelimere Behandlung, ist Zöglingsgeschwätz, das ganz, wie es gebraucht wird, heute gegen die eine, morgen gegen die andere Anstalt sich wendet. Auch daß die Jugendlichen durch die krankenhausähnlichen Räume und geschmackvollen Einrichtungen gefesselt würden, ist eine Täuschung. Je länger sie in einer Anstalt sich eingebürgert haben, desto größer wird die Abneigung gegen eine Verlegung, desto schwerer gewöhnen sie sich in der neuen Anstalt ein. Das ist verständlich. Es ist darum dringend nötig, die Zöglinge nicht zu lange in Kleinmeusdorf zu behalten und möglichst bald an die Stätte ihrer dauernden Krziehung zu bringen.

Nicht jeder sogenannte schwere Psychopath ist ohne weiteres schwer erziehbar oder reagiert etwa immer krankhaft auf Erziehungs- reize. Die große Mehrzahl der Psychopathen ist einer maßvollen all- gemein-pädagogischen Behandlung nicht nur zugänglich, diese ist ihnen sogar sehr heilsam. Das gilt besonders für jene gewiß ernst zu nehmenden Psychopathen, die daran gehindert werden müssen, sich kränker zu fühlen, als sie wirklich sind, die Gefahr laufen, eingebildete Kranke zu werden.

Wie nützlich auch sonst die Betonung der allgemein-pädagogischen Maßnahmen ist, zeigt die Tatsache, daß in den ersten Jahren einzelne Zöglinge den »wilden Mann« spielten, um nach der Heilanstalt Dösen verlegt zu werden. Wir haben ihnen diese Unart sehr bald und sehr gründlich ausgetrieben, und ich kann nur empfehlen, das gleiche zu tun, wenn Zöglinge in anderen Anstalten sich als schwere Psycho- pathen gebärden, um die Rückverlegung nach dem Heilerziehungsheim zu erzwingen.

Es gelten also auch bei der Heilerziehung zunächst die ander- wärts erprobten Grundsätze einer guten Allgemeinpädagogik. Sie heute ausführlich zu besprechen, erübrigt sich

2. Für die Erziehung der psychopathischen Fürsorge- zöglinge ist von ausschlaggebender Bedeutung ihre Gruppierung nach psychologischen Gesichtspunkten. Im Heilerziehungsheim trennen wir in Pfleg- und Erziehungsabteilungen und weisen den ersteren zu alle Neuanfnahmen und alle, bei denen die Krankheitszeichen ihrer Psyche stark hervortreten. Die Gefahr der psychischen Ansteckung, die bei psychopathischen Jugendlichen im allgemeinen nicht so groß ist, wie meist angenommen wird, ist in diesen Beobachtungsabteilungen am ehesten möglich. Sie wurde bisher dank der vorhandenen Einzelzimmer und des ausreichenden Pflege- personals verhütet. Es wird aber künftig die Schaffung fester »ge-

Die Pädagogik im Heilerziehungsheim. 331

schlossenere Abteilungen neben den Aufnahme- und Erziehungs- abteilungen nicht mehr zu umgeben sein. Psychisch wirklich Er- krankte und pathologisch Schwachsinnige werden möglichst bald anderen Anstalten zugewiesen. Die Schwerasozialen, die geborenen Verbrecher und die pathologischen Schwindler und Lügner sind, wenn sie im vorgerückten Alter, also zu spät, in Fürsorgeerziehung kommen, mög- lichst bald wieder auszuscheiden und besonderen Verwahrungsanstalten zuzuweisen. Sie spotten auch jeder heilpädagogischen Behandlung und bilden allerdings eine ständige Gefahr psychischer Ansteckung. Solange sie im Heilerziehungsheim bleiben, müssen sie isoliert werden. Glücklicherweise waren sie bisber immerhin in der Minderzahl. Unsere Psychopathen nach den moralischen Qualitäten oder nach Verwahr- losungstypen in besondere Erziehungsabteilungen zu gruppieren, empfiehlt sich nicht. Ebensowenig können die verschiedenen Er- scheinungsformen der Psychopathie den Einteilungsgrund abgeben. Es wäre pädagogisch verkehrt, und auch gar nicht durchführbar, bei- spielsweise alle Kriminellen, die Lügner und Diebe, die Triebhaften, die Haltlosen, die Affektmenschen, die Depressiven und die Manischen, die aktiven und die passiven Naturen immerfort getrennt zu behandeln. Es sollen ja gerade die Gegensätze ausgeglichen, die Fehler'auf ein vernünftiges Maß zurückgeführt werden. Man kann darum auf den günstigen Einfluß der Mitzöglinge von der entgegengesetzten Artung nicht ganz verzichten. Man verfährt nur heilpädagogisch, wenn man Wohn-, Lern- und Arbeitsgruppen zusammenstellt, in denen die Geister zueinander passen und einander ergänzen und die Erziehungsarbeit nicht hindern, sondern fördern. Es ist darum notwendig, eine Mischung nach psychologischen Gesichtspunkten vorzunehmen. Die Gruppen können, je nach Alter und Art der anwesenden Zöglinge, verschieden groß und mehr oder minder zahlreich sein, immer aber erfordern sie Arbeits- und Bildungsgelegenheiten und damit die Bereitstellung von Räumlichkeiten und von Personal. In den Kriegsjahren war die Durchführung dieses Grundsatzes naturgemäß nur in beschränktem Maße möglich. Die bisher beobachteten individuellen Differenzen ließen übrigens die Bildung verhältnismäßig großer Gruppen zu.

3. Die Behandlung im Heilerziehungsheim kann nicht individuell genug sein. Hier gilt es, einen Aufgeregten zu be- ruhigen, dort einem Verstimmten über seinen Zustand hinwegzuhelfen, die aktiven wollen gezügelt, die passiven Naturen angespornt sein. Der eine braucht und verträgt gütigen Zuspruch und Worte der Anerkennung, der andere eine entschiedene Abweisung, einen harten Tadel. Es ist mitunter auch nötig, einen Zögling für längere oder kürzere Zeit

332 A. Abhandlungen.

in Einzelseelsorge zu nehmen, sich ganz ihm allein zu widmen. Er kommt dann mit seinen Kameraden wenig in Berührung und kann innerhalb kurzer Frist weit mehr gefördert werden, als wenn er in der Gemeinschaft erzogen würde. In manchen Fällen ist es zweck- mäßig, daß auch der Erzieher gänzlich zurücktritt und der Zögling sich selbst überlassen wird. Dieses völlige Nichtbeachten wirkt besser als alles bewußte Behandeln. Solche Erziehungspausen sind stille Stunden der Beruhigung und Sammlung, in denen die jugend- liche Seele zu sich selbst kommt, d. h. auf ihren gesunden, nor- malen Teil sich zurückfindet und von ihm aus erstarkt. Was etwa versäumt wurde, kann später mit um so besseren Erfolgen nach- geholt werden; der Zögling ist dann erziehlicher Einwirkung viel leichter zugänglich. Ziel bleibt natürlich, daß der Jugendliche sich eingliedern lerut in die Gemeinschaft, in die kleinere Gruppe, in die Zöglingsfamilie, in die Gesanıtheit der Zöglingsschar.

4. Bei der Heilerziehung wird naturgemäß auf eine gute Pflege großer Wert gelegt. Die Zöglinge kommen bekannt- lich oft in einem bedenklichen Zustande körperlicher Verwahrlosung in die Anstalt, aus den ungünstigsten häuslichen Verhältnissen oder aus anderer schlimmster Umgebung, die auch die Psyche bereits an- gegriffen hat. Sie waren draußen eben gänzlich ungepflegt. Die Verpflanzung in die hygienisch-günstigen Anstaltsverhältnisse tut ihnen wobl. Der Aufenthalt in den weiten sonnendurchleuchteten Räumen, die Sauberkeit und Ordnung, die Ruhe und Abgeschiedenheit, die richtige Ernährung, der ausreichende Schlaf, das streng geregelte Leben führen, wie schon erwähnt, in der Regel sehr bald zu einer körperlichen und seelischen Erholung und Kräftigung der Zöglinge.

Mit den psychopathischen Zuständen ist oft eine körperliche Minderwertigkeit verbunden; es muß daher der Körper auch weiterhin gepflegt und behandelt werden. Am intensivsten geschieht das in den ärztlichen Überwachungsabteilungen, soweit irgend möglich, auch in den Erziehungsabteilungen und in allen Betrieben. Strenge Über- wachung, auch während der Nacht, und manche andere pflegerische und ärztliche Maßnahme dient diesem Zwecke. Es ist hier nicht der Ort, auf die Beseitigungen körperlicher Mängel und Krankheiten ein- zugehen. Nur soll der falschen Auffassung entgegengetreten werden, als könnte das Heilerziehungsheim Zöglinge nur zu diesem Zwecke aufnehmen.

Die Äußerungen der krankhaften Kinderpsyche, so nervöse Reiz- barkeit, hysterische Erregungszustände, leichtere geistige Störungen, länger anhaltende psychopathische Reaktionen usf., werden sachgemäß

Knauthe: Die Pädagogik im Heilerziehungsheim. 333

behandelt. In diesen Fällen ist selbstrerständlich nur der Arzt tätig. Die pädagogische Einwirkung tritt hier fast ganz zurück, oder besteht höchstens in einer schonenden Rücksichtnahme und Vorbeugung und hat sich jedenfalls ganz den ärztlichen Anordnungen anzupassen. -

5. Die krankhaften Erscheinungen der Psychopathie treten zwar, wie bereits erwähnt, vorzugsweise auf dem Gebiete des Fühlens und Wollens zutage, oft sind aber Schwachsinn oder doch eine deutliche Einschränkung des Intellekts mit Psychopathie verbunden. Insbesondere wirken eben die Abweichungen im Fühlen und Wollen auf den In- tellekt zurück und hemmen die Entwicklung, die Seelenschwäche greift schließlich auf alle Funktionen über. Das hysterische Kind ist zerstreut, das Denkvermögen des jugendlichen Neurasthenikers erschwert. Leichte Ermüdbarkeit, heftige Antipathie,. Mangel an Konzentrations- fähigkeit halten die Verstandesbildung des Psychopathen auf. Der Disharmonie der Gesamtpsyche entspricht meist eine Ungleichmäßig- keit der intellektuellen Begabung.

So war denn auch bei den Psychopathen in Kleinmeusdorf, wie schon oben ausgeführt, ein höchst einseitig gespeistes Erfahrungswissen neben einem starken Ausfall von Schulkenntnissen immer wieder fest- zustellen. Gute intellektuelle Anlagen lagen förmlich brach, was bei der verbreiteten Schulunlust, Schulangst und dem Schulschwänzen nicht weiter verwunderlich ist. Auffassungsgabe und Denkfähigkeit, Auf- merksamkeit und Gedächtnis waren oft garnicht geübt. Im Deutsch und Rechnen, in gemeinnützigen, ethischen und religiösen Kenntnissen klaften große Lücken.

Es liegt mir fern, den Schulunterricht als Allheilmittel anzupreisen; fördert man aber eine Seite des Seelenlebens, so kommt das der ganzen Seele zugute, und der verständige Mensch wird seiner krankhaften Zustände leichter Herr werden, als der unverständige. Ein den besonderen Verhältnissen angepaßter, die Schüler packender, immer in Tätigkeit haltender Unterricht muß zugleich heilerzieherisch wirken, wird z. B. dazu beitragen, die Phantasie einzuschränken, den Sinn für Wahrhaftigkeit zu wecken, die Zerstreutheit zu be- seitigen, vernünftige Lebens- und Weltanschauung zu vermitteln usw. usw.

Eine psychologisch gegliederte Schule hebt die Intelli- genz psychopathischer Fürsorgezöglinge und unterstützt damit die Heilerziehung. In Kleinmeusdorf besteht eine solche Schule. Neben 4 Normalklassen laufen 2 Hilfs- oder Förderklassen und eine Abschlußklasse für Zurückgebliebene. Die Ziele sind herab- gesetzt, der Lehrstoff beschränkt, auf Übungen wird der Hauptwert

334 A. Abhandlungen.

gelegt. Versetzungen in niedere oder höhere Klassenstufen sind auch für einzelne Fächer (Deutsch und Rechnen) möglich. Fortbildungs- schulunterricht für Burschen, hauswirtschaftlicher Unterricht für schul- entlassene Mädchen ist angegliedert.

6. Weit größer sind die Rückstände und Ungleichheiten in dem Gefühlsleben der Psychopathen. Der unmotivierte Stimmungswechsel, Gefühlsstumpfheit und Gefühlsüberschwang, abnorm gesteigerte Affekte sind krankhafte Äußerungen der jugendlichen Psyche. Ihnen wird soviel als möglich vorgebeugt oder mit Ruhe und Gleichmut entgegen- getreten. Heiterkeit ist ein Zeichen psyehischer Gesundheit. Damit beides sich auch bei unseren psychopathischen Zöglingen einstelle, sorgen wir jederzeit für eine gehobene Stimmung. Froher Lieder- sang auf dem Wege nach oder von der Arbeitsstätte, wo es angeht auch während der Arbeit selbst, hilft über manche Depression hin- weg und erhöht die Leistungsfähigkeit. Ein Spiel, ein Scherz in der Freizeit, die Darbietungen und Veranstaltungen am Sonntag und in den Ferien erhalten und vermehren den Frohsinn. Wir lassen die Schönheit der Umgebung im Hause wie in der Natur auf die Zög- linge wirken und suchen ethische und religiöse Empfindungen in ihnen zu wecken.

Diese höheren Gefühle sind in Psychopathenscelen nur aufzu- pflanzen und zur Blüte zu bringen, wenn ein Hauch warmer Liebe durch Haus und Herzen weht. Man muß ein paar freundliche Worte für den einen oder anderen immer bereit haben, sie müssen es fühlen, daß man mit ihnen empfindet, ihnen Vater und Mutter sein, eine zweite Heimat schenken will. Heilerziehung ist nicht denkbar obne Nachreifen und Emporbilden des Gefühlslebens.

7. Willensschwäche, Zwangsherrschaft der Triebe, Einstellung auf bedenkliche Willensziele, Mangel an Entschlußkraft, an Willens- beharrung und an Selbstbeherrschung sind Kennzeichen psychopathischer Minderwertigkeit oder die naturgemäße Begleit- und Folgeerscheinung jahrelanger Erziehungslosigkeit und Unkultur. Wieviel gibt es da zu überwinden und nachzuholen! Wir stehen hier vor dem schwierigsten Teil unserer Aufgabe. Die krankhaften und gesellschafts- feindlichen unmoralischen Neigungen sind zu beseitigen, einwandfreie Strebeziele aufzustellen, die vernünftigen Willensimpulse zu kräftigen, die schlimmen Regungen zurückzudrängen, der Wille ist zielsicher, zäh und fest zu machen.

Das Hauptstück auch der Heilerziehung bleibt die Schulung des Willens.

Es scheint mir angebracht, im Anschluß hieran einige Maß-

Knauthe: Die Pädagogik im Heilerziehungsheim. 335

nahmen der Zucht zu besprechen, mit denen Kleinmeusdorf vielleicht von anderen Anstalten abweicht, die bei der Heilerziehung aber un- erläßlich sind und sich auch durchaus bewährt haben.

a) Alle Zöglinge, auch die ausgeprägtesten Psychopathen, .en sich ziemlich frei bewegen. Ihre Eigenart fordert das ja föo..nlich heraus. Die zu Angstzuständen neigenden Zöglinge dürfen den Zwang des Eingesperrtseins nicht fühlen, und Affektnaturen würden reagieren mit einer Haftpsychose, dem sogenannten »Zuchthausknall«. So stehen denn meist Fenster und Türen offen, die Zöglinge dürfen sich an Sonntagen und in der Freipause in kleinen Gruppen im Garten ergehen, wurden bei Kriegsspielen auf Streifen ausgeschickt, erhalten Vertrauensposten und kleine Aufträge, die sie längere Zeit den Augen des Erziehers entziehen, und doch sind die Entweichungen verhältnismäßig gering. Auch vom letzten Urlaub kamen wie sonst alle 70 Zöglinge prompt zurück. Wir sind überzeugt davon, daß manche Krankheitsäußerung und auch manche törichte Handlung nur unterbleibt, weil wir den Zöglingen mit einem gewissen Vertrauen entgegenkommen. Erzieher und Pfleger haben die Anweisung, die Jugendlichen strengstens zu überwachen und nie ganz ohne Aufsicht zu lassen, Tag und Nacht hinter ihnen her zu sein, aber es nicht auffällig und mit Schärfe zu tun. Die Zöglinge fühlen sich wohl, geben sich ganz natürlich, bleiben gern in der Anstalt, sind schwer gestraft, wenn ihnen als Folge einer unerlaubten, auch nur unschick- lichen Handlung die freie Bewegung auf nur kurze Zeit beschränkt wird.

b) Auch sonst wird auf die Eigenart der psychopathischen Naturen eine gewisse Rücksicht genommen. Wir stecken die Ziele möglichst niedrig und nahe, erwarten also nicht allzuviel an gutem Betragen und starken Leistungen und werden dann oft recht angenehm ent- täuscht. Wir halten störende Einflüsse fern, so gegebenenfalls das Elternhaus oder auch Mitzöglinge. Wir respektieren die sonderbare psychische Anlage und behandeln, wie schon ausgeführt wurde, den jungen Menschen pfleglich. Wir suchen Konflikte und Affektaus- brüche zu verhüten, lassen sie das Krankhafte, Triebhafte, Wilde und Boshafte vergessen und entwöhnen sie von derartigen Äußerungen, indem wir ihnen zuvorkommen durch rechtzeitige Ablenkung.

c) Mit dieser Rücksichtnahme verbinden wir eine entschiedene Konsequenz. Das sind zwei Dinge, die ganz unvereinbar erscheinen. Ist es nicht so: Wenn man rücksichtsvoll ist, wird man leicht in- konsequent, und konsequentes Handeln kennt keine Rücksichtnahme? Nur der natürliche Mensch kann diese Meinung haben, der wohl- erzogene und gebildete Erzieher kann beides recht wohl verbinden.

2m n: a m

336 A. Abhandlungen.

Wir setzen trotz aller Rücksicht unseren Erzieherwillen durch und geben auf jede Zöglingstat die für uns einzigmögliche, nämlich die naturgemäße und folgerichtige Antwort. Wir steigern allmählich unsere Ansprüche an den Zögling und sein Verhalten, lassen die Rücksicht mehr und mehr zurücktreten und die Konsequenz stärker fühlbar werden, denn es gilt, ihn fürs Leben festzumachen, und das Leben ist nichts weniger als rücksichtsvoll.

d) Verstöße gegen die Zucht und Ordnung des Hauses und Ver- gehen gegen das Sittengesetz werden daher auch im Heilerziehungs- heim streng bestraft. Auf die Entdeckung und Behandlung des ersten Rückfalls in der Anstalt kommt außerordentlich viel an. Es gilt, die Stimme des Gewissens zu wecken und wirken zu lassen, die Last der Schuld aber auch zu erleichtern und bald oder allmählich wieder abzunehmen, niederzubeugen, aber auch aufzurichten, zu strafen, so hart und streng, als der pathologische Zustand es zuläßt, aber die Hoffnung auf Wiedererlangung des Vertrauens nie ganz zu ertöten. Wir halten es mit Wichern, der sagte: »Was einer verdient, ist noch nicht, was ihm hilft.« Unsere Strafordnung ist ebenso maßvoll als wirkungsvoll. Sie schließt die körperliche Züchtigung nicht aus, wird konsequent gehandhabt, reicht aber völlig zu. Es kommt auch nicht so sehr darauf an, womit man straft, als vielmehr darauf, daß und wie man straft. Unseres Erachtens besteht die Auf- fassung Paulsens zu recht: »Strenge, d. h. ruhige Festigkeit und Stetigkeit, kommt mit wenig Strafen aus.«

e) In der Überzeugung, daß der Mensch nur mit dem Rest des Guten, das in ihm steckt, zu bessern ist, suchen wir das Gesunde und Tüchtige, auch wenn es noch recht gering ist, zu stärken und zu vermehren. Wir gewöhnen unsere Zöglinge au Ordnung und Pünktlichkeit, an körperliches und geistiges Arbeiten, an Zuverlässig- keit im Reden und Handeln, an moralisches Verhalten usw. »Der Jugendliche muß beizeiten erfahren, daß es doch auch schon für ihn Pflichten gibt. Er muß den größeren Mut der Wahrheit, der Ehr- lichkeit, der Selbstüberwindung wieder zeigen, anstatt den Ver- suchungen zu erliegen. Er muß die Kraft haben, die Folgen eines Streiches auf sich zu nehmen, statt zum Strick oder der Pistole zu greifen.«!) Daß bei Psychopathen dies viel mühevoller ist, und mehr Geduld erfordert, ist wohl unbestritten. Der Wille dieser Art Zög- linge ist so wenig geschult, zeitweise durch Gefühlsmomente so außer

1) Fr. Knauthe, »Grenzen der Jugendfürsorge?«. Langensalza, Greßlers Pädagogische Blätter, Heft 23.

Knauthe: Die Pädagogik im Heilerziehungsheiun. 337 Gang gesetzt oder durch Intelligenzdefekte dauernd beeinträchtigt, daß sie, sollen sie später auch nur durch ungeschicktes Verhalten nicht wieder zu Fall kommen, förmlich auswendig lernen müssen das richtige Wollen und Handeln. In der Tat wächst der Wille nur durch fortgesetzte, nach der Schwierigkeit zu steigernde Übungen. Es müssen Regeln und Richtlinien für das Wollen und Handeln all- mählich gesammelt und festgehalten werden in einem »Gedächtnis des Willens« (Herbart. Im Heilerziehungsheim muß darum eine Willensgymnastik getrieben werden, und zwar sind zu unter- scheiden Antriebs- und Hemmungsübungen, Übungen zur Förderung der Entschlußkraft, der Konzentration, der Willensbeharrung und der Geläufigkeit der Willensvorgänge. Das Anstaltsleben bietet hierzu eine Fülle von Gelegenheiten, schließlich kann man alle Aufgaben, die gestellt werden, die Bestimmungen der Hausordnung, Unterricht und Arbeitsdienst, Unterhaltung und Spiel, Gebot und Verbot, Lob und Tadel, Strafen und Belohnungen dazu benützen, kurz die Klein- arbeit des Alltags in den Dienst dieser Willensschulung stellen. Der- artige Übungen schließen von selbst kleine Prüfungen, Erprobungen des Willens in sich und führen, mit pädagogischem Takt und mit Vorsicht betrieben, dazu, daß der Zögling selbst sich auf das Problem einstellt, an der eigenen Erziehung bewußt mitarbeitet, Selbst- bestimmungsfähigkeit sich anbildet. Gelingt dies, dann haben wir das Spiel gewonnen, denn »gegen seinen Willen wird bekanntlich kein Mensch erzogen«. Man wende nicht ein, daß eine derartige maßvolle »Behandlung« dem psychopathischen Kinde, etwa dem leicht reizbaren nervösen, schädlich werden könne. Allzugroße Nachgiebig- keit gegenüber dem Pathologischen ist der Tod aller Er- ziehung und beschleunigt nur die Degeneration. Übung, Be- festigung und Veredelung des Willens ist die beste pädagogische Therapie und das einzige Mittel zur Bekämpfung der moralischen Minderwertigkeit.!) Auch die Heilerziehung hat die Aufgabe, soviel als möglich sittlich-starke und fromme junge Deutsche heran- zubilden. Grundzüge deutschen Wesens das ist die Erfahrung

1) In der Debatte wurde zu dieser Willensgymnastik mehrfach des Wort ge- nommen. Von einer Seite wurde betunt, daß in Strafanstalten die Strafe fühlbar bleiben müsse und nicht durch Erziehungsmaßnahmen verwischt werden dürfe, gleichwohl seien auch dort Willensübungen möglich und in Anwendung. Oberreg.- Rat Böttcher von der Landeserziehungsanstalt Bräunsdorf vertrat die Meinung, daß Übung des Willens nur in der Freiheit. nicht unter dem Zwang der Strafe oder auch nur ihrer Androhung denkbar sei. Weiter wurde darauf hingewiesen, daß

Zeitschrift für Kinderforschung. 24. Jahrgang. 22

338 A. Abhandlungen.

auch dieser Kriegszeit, die uns noch an den Sieg unserer Sache glauben läßt, sind die Pflichttreue und die Gottesfurcht.!)

Führen wir darum unsere Psychopathen heraus aus ihrer Willens- schwäche und Unmoral, machen wir sie tüchtig, den Härten und Ge- fahren des Lebens zu widerstehen, bei redlicher Arbeit sich selbst zu behaupten und sich rechtschaffen durchzuschlagen, aber vergessen wir darüber nicht, sie zu einem frohgemuten Tatchristentum zu er- ziehen. Regelmäßige Gottesdienste und Kindergottesdienste, Haus- andachten, Wochensprüche usw. helfen die richtige religiöse Atmo- sphäre schaffen. Lange Moralpredigten und erzwungene Gebetsübungen treiben bei psychopathischen Jugendlichen zumal die Frömmig- keit aus. Die Evangelien bergen ohne allen Zweifel heilpädagogische Kräfte, sie werden am besten wirksam bei der ungesuchten Aussprache unter vier Augen. Auch dabei ist noch große Vorsicht geboten, denn gar zu leicht spielen abnorme Jugendliche mit dem frommen Schein,

Von entscheidender Bedeutung für das Gelingen der Heilerziehung ist die Eigenart der Erzieherpersönlichkeit und ihr Einfluß auf den Zögling.

Der Wert der Persönlichkeitspädagogik ist längst anerkannt. Im Verkehr mit psychopathischen Jugendlichen wirkt gewiß auch das gute Beispiel und Vorbild, die Suggestion des Erzieherwillens, die zielbewußte Leitung, aber es handelt sich noch um mehr:

Der Erzieher muß der krankhaften Psyche die Gesundheit seines Wesens, den Erregungszuständen seine eiserne Ruhe, den Schwankungen und Verstimmungen seinen Gleichmut, der Disharmonie des Zöglings seine Harmonie, dem Triebhaften seine Geistigkeit entgegensetzen, mit seiner Persönlichkeit die Zöglingspersönlichkeit ausgleichen. Wenn irgendwo, so sind hier vor allem Menschen mit pädagogischem Takt und pädagogischer Erfahrung notwendig, Der Erzieher muß ins- besondere mitbringen und sich immer mehr aneignen

einen klaren, psychologisch geschulten Blick, mit dem er bei rich- tiger Einstellung, durch das Äußere hindurchdringend, das Krank-

Willensübungen vorzunehmen sind auf Gebieten, die dem Zögling besonders liegen und ihm besonders nötig sind, und daß ältere und verständige Kinder bei den Willens- übungen der jüngeren gut zu verwenden seien.

Die rechte Willensbildung ist tatsächlich das Hauptstück auch der Heilerziehung, sie wird immer, je nach dem Alter, dem psychischen Zustand und dem Verhalten des Zöglings, beide Mittel, Zwang und Freiheit, verwenden müssen.

1) Mittlerweile ist der Krieg verloren, ohne Zweifel: weil diese Hauptstützen brachen. Nur wenn zuerst sie allerorten wieder aufgerichtet werden, wird es einen Neubau Deutschlands geben.

Knauthe: Die Pädagogik im Heilerziehungsheim. 339

hafte vom Gesunden zu scheiden vermag, ein warmes, kinderfreund- liches Herz, das in starker Güte und Geduld alle Schwächen und Fehler mitträgt und immer Zuflucht gewährt, und eine feste, sicher- führende Hand, die dauernd die Leitung behält und zur rechten Zeit und in der rechten Weise eingreift. 1)

Wie andere Anstalten mußte leider auch das Heilerziehungsheim erfahren, daß das Verhalten der zur halben Freiheit beurlaubten Zög- linge oft in einem argen Mißverhältnis steht zu ihrer guten Führung in der Anstalt. Das ist keineswegs eine Folge zu nachsichtiger Be- handlung, sondern scheint besonders Psychopathen eigentümlich zu sein. Man wird zugeben, daß auch die beste Anstaltserziehung, selbst wenn sie sich noch so sehr den Rauheiten des Lebens anpaßt, nicht immer und in jedem Falle zu einem vollen Erfolg kommen kann, derart, daß der Entlassene nun in allen Stücken fertig wäre und un- tadelig bliebe. Die Erziehung kann in der Anstalt meist gar nicht abgeschlossen werden, sie muß draußen fortgesetzt werden, und es ist darum nötig, etwas vom Geist der Anstaltspädagogik hinauszutragen in die neue Umgebung des Zöglings. Störende Einflüsse, unbeschränkte Freiheiten, wirtschaftliche Schwierigkeiten, Unbeholfenheit neuen Ver- hältnissen gegenüber können den Erfolg der Erziehung ernstlich ge- fährden. Die Anstalt muß darum in enger Fühlung mit dem ent- lassenen Zögling bleiben, und auch eine zeitweise Rücknahme ist nicht ohne weiteres als Mißerfolg zu buchen.

Psychopathen bedürfen mehr als andere Fürsorgezög- linge der sorgfältigsten Nachbehandlung nach Entlassung aus der Anstalt. i

Ich fasse zusammen:

Die Heilerziebung stimmt vielfach überein mit den all- gemein pädagogischen Grundsätzen.

Sie weicht von ihnen insofern ab, als sie einerseits hinter eine mehr pflegliche Behandlung öfters zurücktritt, andererseits eine erhebliche Steigerung und Vertiefung aufweist und möglichst alle Gebiete des seelischen Lebens zur Nachreife zu bringen sucht.

Sie bewegt sich nurscheinbarin Gegensätzen, verbindet vielmehr Rücksicht mit Konsequenz, Zwang mit Milde.

Von entscheidender Bedeutung ist der Einfluß psycho- logisch geschulter, warmherziger und sicherführender Er-

1) Die dringend notwendige besondere Ausbildung der Erzieher in besonderen Kursen ist für das nächste Sommersemester in Aussicht genommen. 22r

340 A. Abhandlungen.

zieherpersönlichkeiten. Die Heilerziehung will aus den gesunden Bestandteilen der jugendlichen Seele eine charakterfeste, lebenstüchtige, harmonische Persönlichkeit aufbauen, will also positivste Pädagogik sein.

Aus dem Feuer des Weltkriegs geht, wills Gott, die deutsche Volksseele geläutert und gefestigt hervor. Viel Allzuschwächliches, Krankhaftes und Schlechtes ist abgestorben, Gesundes und Starkes erhalten geblieben und kräftig emporgewachsen. Das dünkt uns ein Stück Heilpädagogik einer höheren Macht, dem wir andächtig still- halten müssen. Es treibt uns hinein in den Kampf unseres Lebens, in unseren Beruf, zu retten, soviel als möglich, von dem kostbarsten Gut der Nation und bereitzustellen dem neuen Deutschland eine ge- sunde, in allen Seelenkräften erstarkte geistig und moralisch gehobene Jugend.

Pädagogik im Heilerziehungsheim.

Leitsätze: I.

1. Unter Psychopathie versteht man Abweichungen von der geistigen Normalität, die selbst in schlimmen Fällen noch keine Geistes- krankheit darstellen, aber auch im günstigsten Falle das Vorhandensein voller geistiger Gesundheit ausschließen, also in der Grenzzone zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit liegen und die Anlage oder doch die Neigung besitzen, in geistige Erkrankung überzugehen.

I. 2. Die Diagnose »Psychopathie« stellt der Psychiater unter Ver- wendung der Ergebnisse der pädagogischen Beobachtung. Die heilpädagogischen Maßnahmen bestimmt der Pädagog, soweit nötig, mit Unterstützung des Arztes, Die ärztliche und die pädagogische Arbeit gründen sich vor allem auf die Psychologie-und die Psychopathologie.

I.

3. Die pädagogische Beobachtung gewinnt an Hand eines Frage- bogens ein möglichst einwandfreies Bild vom psychischen Zustand des Zöglings, das erklärt, ergänzt und berichtigt wird durch Erhebungen über seine Herkunft und Entwicklung. Die Ergebnisse der Beobachtung werden in einem kurzen pädagogischen Gutachten zusammengefaßt und statistisch verwertet.

4. Es zeigt sich, daß die jugendliche Psyche meist auf einer kindlichen Stufe stehengeblieben ist, Erziehbarkeit und Bildungsfähigkeit

Koanthe: Die Pädagogik im Heilerziehungsheim. 341

bei Psychopathen aber nur selten auszuschließen sind. Erbliche Be- lastung und Milieueinflüsse sind meist von ausschlaggebender Be- deutung.

IV.

5. Die Heilerziehung muß sich mit ihren Methoden anlehnen an den Betrieb anderer Anstalten.

Sie stimmt darum vielfach mit allgemein-pädagogischen Grund- sätzen überein.

6. Für die Erziehung der Psychopathen Ist besonders wichtig ihre Gruppierung nach psychologischen Gesichtspunkten.

Die Behandlung kann nicht individuell genug sein.

7. Auf gute Körper- und Seelenpflege wird naturgemäß großer Wert gelegt.

8. Die Intelligenz psychopathischer Zöglinge wird am besten gehoben durch einen guten psychologisch gegliederten Schulunterricht.

Das Gefühlsleben bedarf des Nachreifens und der Emporbildung.

Durch Übungen und Prüfungen wird der Wille gekräftigt, be- festigt und veredelt.

9. Freie Bewegung und Rücksichtnahme werden serbunden mit strengster Überwachung und fühlbarer Konsequenz, der Zwang mit einer gewissen Milde.

10. Von entscheidender Bedeutung ist der Einfluß psychologisch geschulter, warmherziger, sicherführender Erzieherpersönlichkeiten.

11. Psychopathen bedürfen mehr als andere Fürsorgezöglinge sorgfältigster Nachbehandlung nach der Entlassung aus der Anstalt.

12. Die Heilpädagogik will aus den gesunden Bestandteilen der jugendlichen Psyche eine charakterfeste, lebenstüchtige, harmonische Persönlichkeit aufbauen.

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Frankfurter Städtischen Irrenanstalt. Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie, 64. Band, 2. u. 3. Heft. P. Seiffert-Strausberg, Wie weit ist die Mithilfe des Psychiaters in der Fürsorge- erziehung notwendig? Psych. neurol. Wochenschrift, 12. Jahrgang, Nr. 39. Oberregierungsrat Müller-Chemnitz-Altendorf, Wohin mit den psychopathischen Fürsorgezöglingen. Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger, 32. Jahr- gang, Heft 6.

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342 A. Abhandlungen.

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Ders., Psychopathisches im Kindesleben. Reins Enzyklop. Band 7. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

Koch-Trüper, Pädagogik und Medizin. Ebenda.

Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung, herausgegeben von J. Trüper. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann). Heft 5: Zur Frage der Erziehung unserer sittlich gefährdeten Jugend. Von Dir. J. Trüper. . 8: Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache von Gesetzesverletzungen Jugendlicher. Von Dir. J. Trüper. „» 22: Über Vorsorge und Fürsorge für die intellektuell schwache und sittlich gefährdete Jugend. Von Dr. M. Fiebig.

29: Psychasthenische Kinder. Von Dir. Dr. Th. Heller.

64: Das Beobachtungshaus der Erziehungsanstalten. Von Dir. J. Petersen.

66: Straffällige Schulknaben in intellektueller, moralischer und sozialer Be- Beziehung. Von C. Birkigt.

67: Grundlagen für das Verständnis krankhafter Seelenzustände (psychopathi- scher Minderwertigkeiten) beim Kinde in 30 Vorlesungen. Von Dr. med. Hermann.

73: Die sozialen und psychologischen Probleme der jugendlichen Verwahr- losung. Von Dr. J. Moses,

75: Ursachen der Verwahrlosung Jugendlicher. Von J. Delitsch.

84: Personalienovuch. 2. Aufl. Von Dir. J. Trüper.

„104: Die Psychopathologie der Pubertätszeit. Von Dr. Mönkemöller.

112: Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung bezüglich der sogen. psycho- pathischen Konstitutionen. Von Prof. Ziehen.

1. Dörpfeld und die Einheitsschule. 343

Heft 117: Die Strafe in der Fürsorgeerziehung. Von Dr. Mönkemöller. 146: Die Beobachtungsstation mit Obdachlosenheim im Rahmen der Fürsorge- erziehung. Von Dr. P. Cosler. » 150: Begriffsbestimmung der Heilpädagogik auf psychologischer Grundlage. Von Dr. plil. O. Vértes.

Zeitschrift für Kinderforschung, herausgegeben von J. Trüper. Langensalza, Her- mann Beyer & Söhne (Beyer & Mann). '

Zeitschrift für Pädagogische Psychologie und exper. Pädagogik, herausgegeben von E. Meumann und O. Scheibner. Leipzig.

Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger, herausgegebn von R. Gürtler und Dr. Meltzer. Halle.

Die Hilfsschule. Organ des Verbandes der Hilfsschulen Deutschlands, herausgegeben von Stadtschulinspektor A. Henze. Frankfurt a/M.

Zeitschrift für die Erforschung und Behandlung des jugendlichen Schwachsinns, herausgegeben von Prof. Dr. Weigandt und Dr. Kleefisch. Jena.

Zentralblatt für Vormundschaftswesen, Jugendgerichte und Fürsorgeerziehung, her- ausgegeben von Dr. A. Grabowsky. Berlin.

Der Rettungshausbote. Korrespondenzblatt für christliche Erziehungs- u. Rettungs- arbeit an der Jugend, herausgegeben von P. Kirstein. Eckartsberga.

Die Jugendfürsorge. Mitteilung der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge. Berlin.

Geh. Regierungsrat Dr. Dietrich, Das Beobachtungshaus. : Zentralblatt f. Vormund- schaftswesen, Jugendgerichte und Fürsorgeerziehung, VIII. Jahrgang, Nr. 24,

Prof. Dr. A. Gregor und Dr. Else Voigtländer, Die Verwahrlosung und ihre klinisch-psychologische Bewertung und ihre Bekämpfung. Berlin 1918.

Jahresberichte des Fürsorgeverbandes Leipzig 1914—1917 mit Sonderberichten und Statistiken des Heilerziehungsheims Kleinmeusdorf.

B. Mitteilungen.

1. Dörpfeld und die Einheitsschule. Von Rektor Vogelsang in Barmen.

Für die Geschichte der Einheitsschule ist es bedeutsam zu wissen, daß Dörpfeld (1824—1893) schon vor 50 Jahren für drei der Neuerungen, die mit dem Wort »Einheitsschule« zusammengefaßt werden, eingetreten ist, nämlich ;

1. für die Aufhebung der Vorschule, 2. für ein Ineinandergreifen der Volks- und der höheren Schulen, 3. für die Förderung der Begabten.

1. Was zunächst die Aufhebung der Vorschule anbetrifft, so schrieb er schon 1853 in einer Abhandlung über den »Mittelstand und die Mittel- schulee: »Bis zum 10. Jahre kann vernünftigerweise der Unter- richt für alle Kinder derselbe sein; bis dahin gehören füglich die

344 B. Mitteilungen.

Kinder aller Stände in die Elementarschule; und in diesem Sinn, als die Jugend des ganzen Volkes umfassend, kann sie auch mit einigem Recht Volksschule heißen.«

Auch als Teilnehmer der von Falk im Jahre 1872 einberufenen Schulkonferenz vertrat er diesen Standpunkt. Denn im Januarheft des Ev. Schulbl. 1873 schreibt er: »Fast überall haben die höheren Schulen ihre eigenen Elementarklassen (Vorschulen). Ihre Schüler sind also schon von Jugend auf von den Volksschülern geschieden, schwerlich zum Vorteil des Friedens und des Zusammenhalts unter den Ständen. Darf man nun wohl dazu raten, daß auch obendrein die Mittelschulen sich ohne Not besondere Elementarklassen anhängen? Ich will nicht prophezeien allein mir ahnt schon lange, daß die sozialen Unruhen, die bis jetzt vornehmlich um wirtschaftliche Interessen sich drehen, über kurz oder lang sich auch auf das Unterrichtsgebiet werfen werden. Daß auch dort Nährstoffe vorhanden sind, wird niemand leugnen können.«

Sein Schriftchen über die Mittelschule!) diese Bezeichnung für die unter diesem Namen in Preußen bekarnte Schulart stammt von D. ist das erste in unserm pädagogischen Schrifttum, worin eine Schul- einrichtung dargestellt wird, in der um mit Tews zu reden »die Einheitsschulforderung zum Teil verwirklicht erscheint«.

Dörpfeld verlangt nämlich, daß nach einem vierjährigen Besuch der Grundschule, die er Elementarschule nannte, eine Gabelung eintrete. Für die Schüler, die eine über die übliche Volksschulbildung hinausgehende, auch eine fremde Sprache umfassende Bildung beanspruchen, fordert er die Mittelschule. Diese soll aber nicht eine neue Art der höheren Schulen, in der Regel nicht einmal eine selbständige Anstalt sein; sie ist vielmehr nur als der kräftigere Zweig des Schulbaumes anzusehen, dessen Stamm die Grundschule, dessen schwächerer Zweig die Volksschule vun D. Unterschule genannt sein sollte. j

2. Über das Ineinandergreifen der niederen, mittleren und höheren Schulen hat sich D. in dem genannten Schriftehen nicht geäußert, weil er ausdrücklich darauf verzichtete,’ »auch die höheren Schulen in den Kreis seiner Betrachtung zu ziehen«. Aber in den genau vor 50 Jahren, im Jahre 1869 erschienenen »Drei Grundgebrechen der hergebrachten Schulverfassungen« (VIII. Band, 2. Teil) schreibt er auf S. 9: »Grund- sätzlich bin ich der Meinung, daß in einem wohlgeordneten Bildungs- wesen die niederen und die höheren Schulen (und teilweise auch die Fachschulen) zweckmäßig ineinandergreifen, in einem gewissen Verkehr stehen und, soweit ihre Arbeit sich gleicht, dieselben pädagogischen Grundsätze befolgen müßten.« Daran fehle aber noch viel; »ein Verkehr unter diesen Anstalten, zumal ein amtlich geleiteter, fehlt in den engeren und weiteren Kreisen gänzlich«.

1) Darunter versteht er eine »Schule für die Kinder des Mittelstandes, die bis zum vollendeten 15. Jahre besucht wird, eine geringere Klassenfrequenz hat als die Volksschule, mit ihr unter demselben Leiter organisch verbunden ist und außer den Unterrichtsgegenständen der Volksschule auch Unterricht in einer fremden Sprache erteilte,

1. Dörpfeld und die Eirheitsschule. 345

»Ist diese Isolierung nicht ebenso unnatäürlich wie ver- derblich?«, so fragt er und meint, daß das bürokratische Schulregiment schuld daran sei, daß die Aufgabe, für ein zweckmäßiges Ineinandergreifen zu sorgen, unerledigt gebliehen sei.

3. Die Förderung der Begabten und Tüchtigen ist D. stets ein wichtiges Anliegen gewesen, In den zweistufigen Klassen der von ihm empfohlenen Aklassigen Schule glaubte er ihnen besser gerecht werden zu können, als es in den einstufigen Klassen der Sklassigen Schulen möglich ist. Das muß auch Tews anerkennen. Er empfiehlt deshalb auch die Dörpfeld sche Schrift über die einklassige Schule als »noch heute lesenswert« und stimmt auch darin mit D. überein, daß er »dem freien Aufstieg« einzelner auf der Klassenleiter den Vorzug gibt gegenüber der Aussonderung von Be- gabtenklassen.

Mit der Vereinigung von Kindern verschiedenen Bekenntnisses in der Einheitsschule, wie Tews, der Deutsche Lehrer-Verein und die demo- kratischen Parteien es wünschen, würde D. nicht einverstanden gewesen sein, so ernstlich er gelegentlich (S. 140 des Fundamentstückes, VII. Bd.) die Möglichkeiten eines gemeinsamen Religionsunterrichts erwogen hat.

Die Konfessionen waren ihm Gegebenheiten, an deren Bestand man durch Schuleinrichtungen, die auf Versöhnung der Gegensätze gerichtet sind, nichts ändern kann. Schon deshalb wollte er von einem Zusammen- werfen der Konfessionen, wie es in der (unechten) Simultanschule ge- schieht, nichts wissen. Ausschlaggebend war aber für ihn der Umstand, daß sie aus Gründen der Pädagogik der Konfessionsschule gegenüber minderwertig ist. Stellt sie doch den Religionsunterricht, der nach einer richtigen Theorie des Lelrplans im Mittelpunkt des Unterrichts stehen sollte, abseits. Zudem läßt sie die Einheitlichkeit, eine der wichtigsten Bedingungen erfolgreicher Erziehung, in der Schulgemeinde, im Lehrkörper, im Unterricht und im Schulleben vermissen. Und obendrein gehen ihr im Geschichts-, im Deutsch- und im Gesangunterricht wertvolle Stoffe verloren.

Trotzdem war er als Verfechter des Elternrechts und der Gewissens- freiheit in Erziehungsfragen gern bereit, den Eltern, die für ihre Kinder eine Simultanschule wünschten, dazu zu verhelfen. Eine zwangsweise Einführung der simultanen Einheitsschule durch Mehrheitsbeschlüsse der Landes- oder Gemeindevertretungen war ebensowenig nach seinem Sinn, wie eine zwangsweise Durchführung der Bekenntnisschule Das erste Schulkompromiß vom 23. Juli, das den Erziehungsberechtigten die Ent- scheidung darüber zusprach, ob sie für ihre Kinder eine konfessionelle, eine simultane oder eine religionslose Schule wünschten, entsprach ganz den Dörpfeldschen Grundsätzen, wie er sie schon 1863 in seiner »Freien Schulgemeinde« begründet hatte.

Nach‘ Dörpfelds Tode hat meines Wissens kein andrer führender Schulmann diese Gedanken so oft und so nachdrücklich in Wort und Schrift dargelegt, als der Herausgeber dieser Zeitschrift; man erinnere sich nur der Ausführungen in seiner letzten Schrift: Die freien Erziehungs- und Bildungsanstalten oder der Schrift: Die Familienrechte in der öffent- lichen Erziehung.

346 B. Mitteilungen.

Wie die Konfessionen, sn betrachtete Dörpfeld auch die ständische Gliederung 4ls eine einmal gegebene Tatsache innerhalb des gesellschaft- lichen Körpers, die man nicht dadurch aus der Welt schafft, daß man sie übersieht. Er wollte, ähnlich wie Rein in seinem Plan der Einheits- schule!) die soziale Schichtung des Volkes berücksichtigt, jedem Stande die zu seinem Bestehen und Wohl nötige Schulbildung verschaffen, und jeden einzelnen befähigen, »als Erwachsener nach Beruf und sozialer Stellung zum gemeinen Besten mittätig sein zu können und zu wollene, während die demokratischen Schulpolitiker mehr darauf bedacht sind, alle geistig besser Befähigten in höhere Schulen, womöglich in die Hoch- schule und so in führende Stellungen zu bringen.

Aus vorstehenden Darlegungen dürfte jedenfalls hervorgehen, daß man Dörpfeld nicht übersehen darf, wenn von der-Einheitsschule die Rede ist.

Tews, den ich in einem von mehreren pädagogischen Fachblättern veröffentlichten »Offenen Briefe gebeten hatte, ihm bezüglich der drei eingangs erwähnten Punkte volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, hat sich zu meiner Freude gern bereit erklärt, »gelegentlich auf D.’s Stellung zur Einheitsschule hinzuweisen«e, und so ist zu hoffen, daß auch die Mit- glieder des Deutschen Lehrer-Vereins erfahren werden, daß D. ein Vor- läufer der Einheitsschulbewegung gewesen ist, als deren Väter Rein und Tews anzusehen sind.

2. Bericht des Fürsorgeverbandes Leipzig über das Jahr 1918.

Die Jahresberichte dieses Fürsorgeverbandes sind durch ihre sorg- fältige und wissenschaftlich exakte Bearbeitung immer außerordentlich wert- voll und anregend. Zunächst erfolgt ein eingehender Bericht von dem Vorsitzenden des Fürsorgeverbandes an das Ministerium des Inneren zu Dresden. Die dort aufgeführte Statistik gibt uns ein erschreckendes Bild von der Zunahme jugendlicher Verwahrlosung. 1909 wurden 110 Für- sorgeerziehungsfälle im Verband Leipzig angemeldet; im Jahre 1917 683. Der Erziehungsaufwand betrug im Jahre 1909 21500,46 Mk., im Jahre 1917 war er allmählich angewachsen auf 1077638,06 Mk. Etwas trägt allerdings ja die Verteuerung der Lebensverhältnisse dazu bei, denn im Jahre 1909 betrug der Aufwand für einen Fürsorgeerziehungsfall 207,41 Mk., 1917 350,24 Mk. Interessant sind auch die graphischen Darstellungen, welche das Anwachsen der jugendlichen Verwahrlosung uns veranschau- lichen. So z. B. die Kurve, nach der im Jahre 1909 110 angemeldete Fälle vorlagen, die im Jabre 1917 insgesamt auf 3805 angewachsen ist. Nicht minder interessant sind die Karten, welche die Verteilung auf die einzelnen Bezirke verarschaulichen. So kommen z. B. auf je 10000 Ein- wohner der Bezirke Pegau und Groitzsch 5 Fälle, auf Borna über 40,

1) Saupe, Die Einheitsschule. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann). 3. Aufl. S. 19.

2. Bericht des Fürsorgeverbandes Leipzig über das Jahr 1918. 347

und Leipzig 29,92. Pädagogisch und psychopathologisch beachtenswert sind die Berichte über das Erziehungsheim Mitweida und vor allem über das Heilerziehungsheim Kleinmeusdorf. Auf die Einzelheiten wollen wir hier nicht weiter eingehen. Besonders hinweisen möchte ich nur auf den Beschäftigungsplan für die Schuljugend in den Sommerferien 1917 und auf das Kapitel »Zur Abgrenzung von Clıaraktertypen für Verwahrloste«. Es wird für die meisten unserer Leser besonders anregend und zum Teil auch praktisch verwendbar sein. Wir bringen es darum auch hier mit Zustimmung des Verfassers zum Abdruck. Trüper.

Zur Abgrenzung von Charaktertypen bei Verwahrlosten.

Das Streben nach genauer psychologischer Charakteristik des einzelnen Zöglings und nach einer übersichtlichen Ordnung eines größeren Materiales auf Grund psychologischer Merkmale, welche besondere Beziehungen zur Entwicklung der Verwahrlosung haben, führt vor die Frage, ob und wie weit das der Beobachtungsstation zugeführte Material von Fürsorgezöglingen einer charakterologischen Klassifizierung zugänglich ist. Die Lösung ist darin gelegen, daß aus den verschiedenen Äußerungen, welche das Indivi- dium als körperliche und psychische Persönlichkeit bietet, die charakter- bildenden Grundzüge erfaßt und zur Abgrenzung von Typen verwendet werden. Es bildet keine müßige Arbeit, neben der Analyse des Einzel- falles dessen Charakter-Typus zu studieren, vielmehr scheinen sich diese beiden Aufgaben zu ergänzen. Der einzelne Fall kann uns infolge der Kompliziertheit äußerer und innerer Ursachen, aus denen sich seine Ver- wahrlosung zusammensetzt, oft nur einen Hinweis auf die Beziehung be- stimmter psychischer Momente zur Verwahrlosung liefern. Die endgültige Feststellung ergibt sich dann erst mit der begrifflichen Fassung des Typus; außerdem wird mit der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Typus auch das Verständnis für die Besonderheit des Falles wesentlich erleichtert.

Freilich begegnen uns gleich am Ausgangspunkt der Untersuchung zwei Schwierigkeiten, nämlich der Mangel einer auch für Jugendliche ver- wertbaren Einteilung der Charaktertypen und ferner das prinzipielle Be- ‚denken Individuen, welche verschiedenen klinischen Formen angehören, zu dem gedachten Zwecke einheitlich zu betrachten. Bei dem hohen Prozent- satz, welchen die Psychopathen unter den Fürsorgezöglingen ausmachen, wollen wir daher zunächst bei dieser Gruppe die Frage aufwerfen, welcher Raum dem, Charakter im Gssamtbilde der psychopathischen Konstitution zukommt.

Man könnte bei oberflächlicher Prüfung unseres Materiales geradezu zu der Ansicht gelangen, daß Psychopathen im allgemeinen der »Charakter« abzusprechen wäre. In diesem engeren Sinne als fester, konstanter oder auch als guter und zuverlässiger Charakter ist der Begriff aber wissen- schaftlich überhaupt nicht zu fassen; zudem stellt unser Material nur eine Seite der Psychopathie vor. Bildet Zuverlässigkeit wohl auch häufig einen Mangel im Charakterbild der von uns betrachteten Individuen, so schließt Psychopathie an sich Zuverlässigkeit doch nicht aus. . Unter Charakter darf nach allgemeinem Sprachgebrauch Art und Zusammenhang komplexer

348 B. Mitteilungen.

psychischer Funktionen, insbesondere Willens- und Gefühlserscheinnugen, welche für das Handeln bedeutungsvall sind, verstanden werden. Nach beiden Richtungen können wir im Gebiete der Psychopathie Anomalien finden. Man pflegt dann von pathologischen Zügen des Charakters und bei größerem Umfange solcher Anomalien, auch vom pathologischen Cha- rakter zu sprechen. Dieser ist allerdings in der Handlung nicht ohne weiteres ausgesprochen. Die Äußerungen des Charakters in besonderen Handlungen stellen einheitliche Momente dar, bei denen die Frage, ob normal oder pathologisch nicht mehr am Platze ist; vielmehr setzt diese Bezeichnung immer erst eine Analyse, also ein Zurückgehen auf die Ur- sachen voraus, die normal geartet oder pathologisch verändert sein können. Die moralische Bewertung, welche mehr den Effekt ins Auge faßt, hat mit dieser Untersuchung nichts zu tun. Eine moralisch hochstehende Handlung kann «aus pathologischen Momenten zustande kommen, eine niedrige Gesinnung der Ausdruck eines vollkommen normalen psychischen Mechanismus sein.

Das Pathologische der Psychopathie stellt sich einmal als quantitative Änderung psychischer Größen dar, ferner als Störung der Beziehungen zwischen Reiz und Reaktion; Psychopathie erhöht oder vermindert die Reizschwelle für gefühlsmäßige Reaktionen und führt in letzterem Falle zu Reizsamkeit. Eine qualitative Anomalie ist in der psychopathischen Reaktion gegeben. Anomalien in der Intensität von Gefühlszuständen bildet die Depression und Exaltation, abnorme Verlaufsformen sind nament- lich in der Perseveration von Gefühlstönen und im raschen Wechsel ent- gegengesetzter Gefühlsqualitäten gegeben, was als die Eigenart des psycho- pathischen Temperamentes bezeichnet werden kann. Endlich zeigt die Psychopathie auch Änderungen der Beziehungen zwischen psychischen Funktionen im Sinne elner Inkonstanz. Es gibt zwar auch im Gebiet des Normalen Charakterformen, die als sprunghaft, impulsiv, unberechenbar bezeichnet werden, aber hier gehen die Abweichungen nicht ins Maßlose, Schwankungen sind affektiv begründet, treten nicht rein periodisch oder ohne äußeren Anlaß auf (endogen). Unter diesen Umständen müssen wir bei der Psychopathie eigenartige Charakterformen erwarten; jedenfalls werden wir aber solche auf diesem Gebiete abgrenzen dürfen, weil die vom Normalen bestehenden Abweichungen etwas Bleibendes vorstellen. Wesentlich anders liegt der Fall bei fortschreitenden Krankheitsprozessen, die Geistesstörungen zugrunde liegen, mit denen wir es ebenfalls bei Ver- wahrlosten zu tun haben. So sehen wir etwa durch das Jugendirresein eine Persönlichkeit von bestimmtem Charaktergefüge zerstört werden; sie begeht Handlungen, welche ihrem früheren Charakter fremd sind. Es findet also eine Abänderung psychischer Funktionen und eine Lösung ihrer Beziehungen statt. Hat sich dann später wieder ein neues Gleichgewicht gebildet und lassen die psychischen Kräfte nach Ablauf der Geistesstörung wieder eine bestimmte Richtung erkennen, so kann wieder von einem Charakter des Individuums gesprochen werden, der, weil oder soweit er den Effekt eines krankhaften Prozesses vorstellt, pathologisch ist. Oder genauer: Es liegt eine Abweichung vom normalen Typus vor, der uns

2. Bericht des Fürsorgeverbandes Leipzig über das Jahr 1918. 349

früher in derselben Persönlichkeit gegeben war. Wir sprechen hier von einem pathologischen Charakter und können dieses Urteil ohne weiteres durch den Krankheitsprozeß begründen. Es liegt nun nahe, auch dort von krankhaften Charakteren zu reden, wo eine Abweichung von der Norm vorliegt, die sich nicht im individuellen Leben vollzieht, sondern wie beim Psychopathen in der Anlage begründet ist, wo das Individuum also von vornherein Züge aufweist, die wir in anderen Fällen unter Einfluß von krankhaften Prozessen sich entwickeln sehen. Wir kommen so zu dem Ergebnis, daß die Bearbeitung psychopathischen Materiales zur Unter- scheidung von pathologischen Charakterformen führen muß, und daß es somit einen guten Sinn und auch praktische Bedeutung hat, auf diesem Gebiete überhaupt Charakterformen abzugrenzen. Es ist ja durchaus natür- lich, auch beim: Psychopathen im einzelnen Falle zu fragen, wie seine gemütliche Anlage bestellt ist, ob und in welcher Weise höhere Gefühle differenziert sind, eine altruistische oder egozentrische Veranlagung besteht, ob der Wille schlaff oder energisch ist, hohe oder niedrige moralische An- schauungen vorliegen. Das populäre Empfinden erscheint durchaus be- rechtigt, das einen Psychopathen als gutmütigen, bösartigen oder ge- meinen usw. Charakter bezeichnet. In der gleichen Lage befinden wir uns aber auch bei den anderen klinischen Formen, welche wir unter Ver- wahrlosten vorfinden können. Wir wollen auch die Eigenart des Schwach- sinnigen genau erkennen, welcher der Verwahrlosung verfällt, denn zum Begriff des Schwachsinnes gehört ja keineswegs Verwahrlosung; wir stehen also vor der Frage, ob sich auf dem Gebiet des Schwachsinnes besondere Typen mit eigenartiger psychischer Struktur unterscheiden lassen, welchen die Beziehung zur Verwahrlosung eigen ist; und ganz besonderes Interesse wird diese Frage für jene Verwahrlosten finden, welche als psychisch normal zu gelten haben. Auch hier liegen bei Jugendlichen besondere Seiten des Wesens vor, welche Verwahrloste von moralisch normal Ge- arteten unterscheiden. Es bildet dann eine weitere Frage, ob diese Züge sich zu einem bestimmten Charaktertypus vereinigen und in welchem Ver- hältnis derselbe zu den beim Normalen vertretenen Typen steht. Leider bietet uns die Psychologie heute noch keine derartigen scharfumrissenen Typen. Wir kommen damit auf die zweite der eingangs erwähnten Schwierigkeiten, nämlich auf das Fehlen eines geschlossenen Systems von Charakterformen des Normalen. Dieser Mangel kann uns aber natürlich nicht der Aufgabe entheben, dem auch aus praktischen Rücksichten, näm- lich zur Bekämpfung der Verwahrlosung erwünschten Ziele nachzustreben. Nur müssen wir uns zunächst mit der Ermittelung von bestimmten Charakterzügen bei unserem Material begnügen, welche später zu be- sonderen Charaktertypen zu gruppieren sein werden.

Die Feststellung derartiger wesentlicher Charaktermerkmale von Ver- wahrlosten hat eine psychologische Durchdringung ihrer seelischen Struktur zur Voraussetzung. Damit ist aber jenen Kreisen, die um die Erziehung von Fürsorgezöglingen bemüht sind, eine wichtige Aufgabe gestellt. Für sie ist die Kenntnis von Charaktertypen Verwahrloster, die auch eine ge- wisse Übereinstimmung äußerlich im Gepräge ihrer Handlungen aufweisen,

350 B. Mitteilungen.

darum von besonderem Wert, weil die einzelnen Formen auch ihre be- sonderen Erziehungsmaßnahmen erheischen. So bildet die Kenntnis des Charaktertypus den Ausgangspunkt für ein Erziehungswerk, das sich auf der Besonderheit des kindlichen Wesens aufbaut.

Die hier aufgestellte Forderung, nach Abgrenzung besonderer Typen von Verwahrlosten, ist nur auf breiter Basis, nach Verarbeitung eines größeren Materiales denkbar und läßt das Zusammenwirken verschiedener, wissenschaftlich interessierter Persönlichkeiten und Institute erwünscht er- scheinen. Man muß daher die weitere Forderung nach einem über ver- schiedene Anstalten, die demselben Zweck dienen, hinausgreifenden System methodischer Beobachtung von Zöglingen aufstellen. So dürfen wir auch die Hoffnung hegen, daß der wissenschaftliche Geist in Erziehungsanstalten erwache, die Erfahrungen der Einzelnen weiteren Kreisen nutzbar werden und man auf dem angedeuteten Wege zu Erziehungsmethoden von all- gemeiner Geltung vordriogt. Zu all dem fehlt es heute namentlich noch an Mitteln der Verständigung. Verfasser hat sich daher in seinen früheren Werken bemüht, den dringendsten Bedürfnissen, welche auf dem Gebiete der Fürsorgeerziehung liegen, abzuhelfen und ein einfaches Festhalten der Momente zu vermitteln, auf welche es bei der Fürsorgeerziehung in erster Linie ankommt, nämlich die moralische Entwicklung des Zöglings und sein Verwahrlosungstypus. Einen weiteren Schritt bildet die hier an- geregte, systematische Beobachtung des Seelenzustandes, welche durch ge- meinsame Arbeit zur Erforschung der seelischen Struktur der Fürsorge- zöglinge führen und auch die Besonderheit verschiedener Volksstämme und sozialer Schichten abzugrenzen ermöglichen soll. Die vorgeschlagene Analyse kann ganz unabhängig von der psychiatrischen Untersuchung vor- genommen werden. Wie oben für den Psychopathen dargetan, kann auch bei jeder anderen psychischen Anomalie, selbst Geisteskranken nicht aus- geschlossen, die Frage nach Persönlichkeit und Charakter aufgeworfen werden. Auch ist an eine erwünschte Ergänzung beider Richtungen zu denken, indem die psychologische Analyse dem Psychiater Beobachtungs- material zur Prüfung und diagnostischen Verwertung bietet, andererseits die psychiatrische Auffassung des Falles Licht auf die Besonderheiten der Charakterstruktur wirft.

Aus diesen Überlegungen wurde der charakterologischen Bewertung des Individuums neben der ärztlichen Untersuchung auf der Beobachtungs- station des Heilerziehungsheims Kleinmeusdorf von vornherein besondere Aufmerksamkeit geschenkt und vor Jahresfrist gelegentlich eines über dieses Thema gehaltenen Vortrages von mir ein Thema entwickelt, welches ich nunmehr auch wetteren Kreisen zu dem gedachten Zwecke zugänglich machen möchte. Dieses Schema, das bei seiner durchsichtigen Anlage keiner weiteren Erläuterung bedarf, soll nachstehenden Aufgaben dienen:

1. Lehrer und Erzieher zu umfassender und systematischer psycho- logischer Beobachtung des Zöglings anzuregen, sich über Zustände und Veränderungen der psychischen Persönlichkeit des Zöglings klar zu werden und sie prägnant zu erfassen.

2. Bericht des Fürsorgeverbandes Leipzig über das Jahr 1918. 351

. Verwertbares Material für die ärztliche Diagnosenstellung zu liefern. . Die seelische Struktur des einzelnen Individuums klar zu legen, um eine individualisiererde Erziehung zu ermöglichen.

. Die eigentümliche Verhaltungsweise, welche die Verwahrlosung aus- macht, aus der psychischen Struktur des Zöglings zu erklären.

. Die Grundlagen zur Abgrenzung von Charaktertypen Verwahrloster zu liefern.

A. Komplexe psychische Funktionen.

+1.

Intelligenz. Gedächtnis. Auffassung (schwer leicht)

a) Anlage Interessen, Vorstellungsreichtum -armut (Phantasie)

b) Kenntnisse Denken (oberflächlich tief, langsam rasch)

c) Fähigkeiten,

. Gemütliches Verhalten.

a) Stimmungslage heiter traurig gehoben gedrückt gleichmäßig wechselnd begründete unbegründete (endogene) Verstimmungen, deren Art und Dauer. b) Affekte erregbar stumpf dem Reize entsprechend ungewöhnlich oder abnorm in Stärke und Art. c) Höhere Gefühle dem Alter entsprechend entwickelt, soziale und moralische Gefühle.

. Triebleben.

a) Triebhafte Erscheinungen (naschen, stehlen, ausreißen usw.) b) Sexuelles Verhalten c) Krankhafte Trieberscheinungen und Perversitäten.

. Wollen und Handeln,

(aktiv-passiv, schlaff, energisch, brutal, überlegt, zielbewußt, zerfahren) Eifer, Ausdauer, Fleiß.

B. Die Persönlichkeit.

1.

2.

Psychische Struktur

fein, empfindlich, derb, niedrig organisiert.

Ablauf psychischer Funktionen

anregbar, ansprechend, stumpf, nachhaltig, intensiv, flüchtig, matt. ?

. Der äußere Mensch r

gehalten, geordnet, nachlässig, unsauber.

. Benehmen

gesittet, höflich, grobschlächtig.

352 B. Mitteilungen.

5. Beziehungen zur Umwelt offen, zurückhaltend, verschlossen, gut, bösartig, wahr, lügnerisch, prahlerisch, beeinflußbar, anstiftend. 6. Haltung energisch, schlaff, konstant, wechselnd, schwankend, selbst- bewußt, kindlich-naiv. 7. Stellungnahme zum eignen Schicksal, Kritik und Urteil zu eigenem Handeln und Verfehlungen. 8. Zusammenhang der Persönlichkeit harmonisch, einseitig, verbildet. C. Einfluß des Anstaltsaufenthaltes. 1. Beurteilung der Lage. 2. Vorsätze und Reue. 3. Wiederauftreten alter Fehler, Ansätze oder tatsächliche Besserung. 4. Erfolge des Unterrichts. D. Körperliche und psychische krankhafte Erscheinungen. E. Ergänzung durch fortlaufende Beobachtung.

Prof. Dr. Gregor, Oberarzt an der Heilanstalt Dösen und am Heilerziehungsheim Kleinmeusdorf.

3. Vergleich zwischen orientalischer und abend- ländischer Erziehung.

Von Hugo Piffl, Oberstleutnant.

24 Jahre ‚hatte ich in Bosnien zugebracht, hiervon 21 als Lehrer an einer Militärunterrealschule, hätte auch im Urwald gelebt und auch ein wenig Montenegro und dessen neuen albanischen Besitz kennen gelernt und schließlich zwei Jahre in Ungarn und Österreich meiner Lehrertätig- keit obgelegen. Schon in Sarajewo hatte ich Gelegenheit gehabt, Kinder aller Nationalitäten, Konfessionen und Stände zu unterrichten und muß zu meinem größten Leidwesen gestehen, daß man wird es mir kaum glauben können die Orientalen tüchtigere Schüler waren. Sie waren es nicht nur in den Schulen, sondern auch später als Offiziere und Be- amte. Von den wenigen meiner ehemaligen Zöglinge, die den schreck- lichen Krieg überlebten, ist jeder mit zahlreichen Dekorationen zurück- gekehrt, ja ein bosnischer Serbe erkämpfte sich sogar den Maria-Theresien- orden. Mohammedaner, die bereits wegen Kränklichkeit außer Dienst waren, meldeten sich freiwillig zur Dienstleistung und fochten tapfer für das Habsburgerreich; sie waren also nicht etwa scheinheilige Duckmäuser in der Schule gewesen, sondern bewährten sich auch vor dem Feinde.

Meine orientalischen Jungen waren vor allem keine nervösen modernen Großstadtkinder. Die Söhne der Muslimanen kannten den Alkohol nur vom Hörensagen und die christlichen Bosnier kamen sehr selten zu einem Gläschen Schnaps. Bier- und Weingenuß bürgert sich erst in den Städten ein, und der Orientale zieht stark gezuckerten schwarzen Kaffee oder honig-

3. Vergleich zwischen orientalischer und abendländischer Erziehung. 353

süße Limonade den geistigen Getränken vor. Der Türke haßt jedes allzu- temperamentvolle Benehmen und erzieht dementsprechend schon die Jugend zu würdevollem Auftreten, was zur Folge hat, daß sich seine Kinder im Unterrichte in der Regel ruhig verhalten und selbst auf dem Spielplatze nie derart ausarten, wie ich es bei den abendländisch erzogenen Knaben beobachtete. Das allzuwilde beim Spielen lernten sie erst von den Söhnen der Österreicher. Es war auffallend, daß die externen Schüler, die also nicht in der Schule wohnten, sondern bloß den Unterricht besuchten, während der Erholungspausen förmlich außer Rand und Band gerieten, und unter ihnen waren keine Bosnier, sondern nur Söhne aus besseren Familien, die in Sarajevo wohnten. Ein einzigesmal gab es unter den Mohammedanern einen unbändigen Rangen, dieser wohnte aber in der Hauptstadt und war väterlicherseits Waise förmlich verwildert, ob- wohl sein Vater ein reicher angesehener Adeliger gewesen war. Er und seine Brüder gerieten nämlich zu früh in Gesellschaft liederlicher Occi- dentalen.

Meine bosnischen Schüler bemühten sich nach besten Kräften zu ent- sprechen, obwohl sie ohne jede Kenntnis der deutschen Vortragssprache in die Realschule eintraten. Sie waren zumeist sehr begabt, verfügten über eine sehr leichte Hand, waren also vorzügliche Kalligraphen und Zeichner. In der Rechtschreibung überflügelten sie sehr oft die deutschen Kameraden und nicht selten errangen sie die beste Zensur in der Klasse. Für gütige Behandlung waren sie außerordentlich dankbar. Sie waren selbstverständlich nicht so gut abgerichtet im Komplimentemachen wie die Herren Geheimrats- und Generalssöhne, standen aber viel seltener beim Rapporte wegen boshaftem Benehmen, Ungehorsam oder Unsauberkeit. Ganz unbegreiflich war es mir oft, daß sich die sogenannten Schmier- finken so ziemlich ausschließlich bei den Abendländern fanden, ja mir fiel es oft auf, daß grrade die Bosnier durch ihre reinen Uniformen von den Übrigen abstachen. Auch im Ordnunghalten in den Schreibheften waren sie weitaus sorgfältiger als die Kinder der Nichtbosnier. Als Raufer oder als unerträgliche Burschen taten sie sich nie hervor, waren aber dabei kühne Turner. Gewisse Fehler, die auch bei unserer Jugend vorkommen, hafteten ihnen ja auch an, und überzart waren sie schließlich im Be- nehmen auch nicht immer. Man muß sich aber bei der Beurteilung vor allem folgendes vor Augen halten. Für die Einflußnahme auf die Er- ziehung der Jugend außerhalb der Schule stand den Orientalen nichts zu Gebote. Weder Jugendschriften, noch Bilderbücher, weder Märchensamm- lungen noch sonst etwas ähnliches. Die Eltern lasen selbst nichts, konnten dem Kinde also auch wenig erzählen, überließen es fast ausnahmslos sich selbst und legten sich in Gesprächen wenig Zurückhaltung auf. Knaben von 6 Jahren sah man in Gesellschaft Erwachsener sitzen, wohl voll Be- scheidenheit schweigend, aber doch horchend. Die Kinder -- namentlich jene der Muslimanen waren daher ihren Österreichischen Altersgenossen an praktischer Verwendbarkeit bedeutend überlegen.

Der Umstand, daß die Söhne speziell der Türken, fast nie Alkohol- freunde oder Kinder von Alkoholisten waren, konnte nur günstıg auf dio

Zeitschrift für Kinderforschung. 24. Jahrgaar. 23

354 B. Mitteilungen.

Gehirnfunktionen wirken. Die bosnischen Kinder hatten früher nie Spiel- sachen gekannt, die mohammedanischen schon aus dem Grunde nicht, weil Mohammed weder Bilder noch Figuren, also keine Puppen und Hampel- männer duldete, da ein Nachahmen von Geschöpfen Gottes sündhaft sei. Der bosnische Knabe gewöhnte sich sehr bald an das schweigsame Sitzen mit unterschlagenen Beinen und ward auch als Erwachsener in Gesellschaft kein Schwätzer, zumindest war er nie von aufdringlicher Lebhaftigkeit, also ein angenehmer Gast, der auch nie zu lang zur Last fiel, und mit Besuchen niemanden überlief. Der christliche, vor allem der serbische Jüngling hat schon manche Untugend von uns Kulturträgern angenommen. Sehr angenehm fiel es mir auf, daß man Krüppel,‘ komische alte Leute oder fremde Kinder stets in Ruhe ließ. Ich habe während der 24 Jahre meines Aufenthaltes in Bosnien auch nicht ein einzigesmal bemerkt, daß irgend jemand’ von türkischen Knaben gehöhnt wurde. Wenn ich meine Zöglinge spazieren führte, so suchte ich am liebsten die stillen Türken- viertel auf denn dort war ich sicher, unbelästigt zu bleiben, dagegen ich in anderen Stadtteilen hören mußte, daß meine Schutzbefohlenen mit Spott- namen bedacht wurden. In unseren Großstädten kann man solche Gassen- bubenroheiten täglich beobachten.

Ich wohnte jahrelang in der Nähe zweier Knabenkonvikte, eines mohammedanischen und eines kroatisch -katholischen. Aus dem erst- genannten hörte man nie Lärm, dagegen aus dem andern oft brüllerden Gesang. Welch überlauten Lärm verursachten die europäisch erzogenen Knaben in den Höfen der Schulgebäude während der Erholungspausen, wie ruhig ging es dagegen in der Koranschule zu, die gleichfalls in der Nähe meiner Wohnung lag. Es gab absolut kein atemloses Herumhetzen, ja ein Teil der Kinder verrichtete, gegen Mekka gewendet, das vor- geschriebene Gebet oder die rituelle Waschung.

Weibisches Tratschen, Hänseln, Zanken, dies gab es bei den Orientalen seltener, vielleicht eben deshalb, weil die Knaben sehr bald flügge werden. Aufgeklärt sind sie schon mit 6 Jahren, wohl auch noch früher. Sie finden Dinge natürlich, über die bei uns erwachsene Kinder im Unklaren gehalten werden.

Soviel ich wahrgenommen habe, fand sich bei den Bosniern nie ein Buch unflätigen Inhalts, dagegen mußte verhältnismäßig oft, sehr unpassende Lektüre den Söhnen der vornehmsten abendländischen Familien abgenommen werden. !

Der Bosnier singt schon als Kind Liebeslieder, aber spricht davon vielleicht weniger als unsere Kinder, die doch selten eines der ungezählten Märchen lesen, ohne daß darin der verliebte Prinz und die schöne Prin- zessin fehlen würde,

Gewiß gab es unter den abendländisch erzogenen Kindern sehr viele außerordentlich brave, aber wenn man den Riesenapparat, der bei uns für die richtige Erziehung arbeitet, mit jenem »Nichts« vergleicht, das der Orientale aufwendet, so sind die Endergebnisse bei uns Europäern wahr- haft klägliche. Die Zahl deutscher pädagogischer Schriften ist eine ganz unglaublich große, und in jedem Tageblatte, in jedem Wochenblättchen

3. Vergleich zwischen orientalischer und abendländischer Erziehung. 355

gibt es erziehliche Ratschläge die schwere Menge; in der Türkei wird man solche vergeblich suchen. Haben die Orientalen in diesem unseligen Kriege nicht ihren Mann gestellt? Die Leistungen der bosnischen Truppen der österreichischen Armee waren kaum zu überbieten.

Der bosnische, vor allem der türkische Schulknabe hat Achtung vor seinen Lehrern, er wird sich niemals jene Frechheiten erlauben wie solche von unseren Jungen begangen werden. In den letzten Jahren hatte die Disziplin unter den Mittelschülern Bosniens stark nachgelassen, es hat hier die nationale Agitation zu stark Wurzeln gefaßt und die moderne Kultur hat den früher so ruhigen Orientalen sehr ungünstig beeinflußt, so daß er zuweilen ausartet. Immerhin scheint der Umsturz in Bosnien keine solchen Wirkungen hervorgebracht zu haben wie in andern Ländern, es wickelt sich vorläufig alles recht ruhig ab.

Ewig schade, wenn die Grundsätze der Moslims ins Wanken geraten würden. Ich habe gefunden, daß der Fatalismus keine so üble Über- zeugung ist; denn er machte den Türken zufriedener als den Abendländer.

»Kako Bog da«. Wie es Gott gibt.

Bei Beginn des Krieges mußte ich leider für immer von der Sarajevoer Schule Abschied nehmen und kam in eine Schule in der Nähe Wiens, in der fast ausschließlich Großstadtkinder saßen, d. h. sie saßen nicht, es war ja alles in fortwährender nervöser Unruhe; die Hände fanden immer ein Spielzeug, die Füße fanden stets irgend einen Gegenstand, an den sie an- stoßen konnten; Nase, Augen, Zunge und Lippen schienen nur dazu da zu sein, um Grimmassen zu schneiden. Schwätzen, den Nachbar sekkieren, Unaufmerksamkeit, kurz ich war oft starr vor Staunen. Sie waren ja keine schlechten Jungen, hatten Vertrauen zu mir und waren dankbar, daß ich keinen durchfallen ließ, obwohl ich Mathematik unterrichtete, aber sie waren zur Nervosität erzogen, diese armen, bedauernswerten Großstadt- pflanzen, die ein idyllisch ruhiges Landleben nicht kennen und vielleicht gar nicht lieben, weil sie im Lärm der Metropole aufwachsen, auf Schritt und Tritt hundertfache meist ungünstigste Einwirkung auf das junge Ge- hirn erdulden müssen, sie hören noch im Schlaf das Straßengetriebe, die Musik der Nachtlokale, und träumen von Auslagen, in denen von der Ansichtskarte bis zur Aktstudie des Ölgemälde für ungesunden Sinnenreiz gesorgt wird. Die Großstadtkinder sind Zeugen von Streiks, Tumulten und Roheiten aller Art und lesen leider Tageszeitungen, deren Spalten alles enthalten, was die Gedanken der Kinder vom ernsten Studium ablenkt.

Von all diesem blieb bisher der orientalische Knabe verschont. »Schwabska besposlitza«c, schwäbische Überflüssigkeit, nennt der Bosnier alle die oft zweifelhaften Mittel, mit denen man in seiner Heimat Kultur verbreitete, und er hat nicht so unrecht. Wir haben viel unnötiges Geld für die Erziehung unserer Kinder ausgegeben. Hat es Früchte getragen? Der Bosnier spendete hiefür sehr wenig, ist er deshalb ein schlechterer Mensch als die Spartakisten, Kommunisten u. a., die er nur vom Hören- sagen kennt? »Wir Wilden sind doch bessere Menschen«, könnte er mit Seumes Kanadier ausrufen.

23*

356 B. Mitteilungen.

4. Wider den heiligen Bürokratius für ein bedauernswertes Kind.

Von K. Bartsch.

Das Kind, nennen wir es Max, besucht die Hilfsschule, d. h. die Schule für Schwachbefähigte, ist 12 Jahre alt und sitzt in der 5. Klasse, in der zweiten Klasse von unten. Dort ist er nicht etwa eine Leuchte, sondern gehört zu den schwächsten der Schwachen. Seine Glanzleistung ist, daß er seinen Namen schreiben kann. Ais nun seine Mutter starb und die ältere Schwester die Erziehung nicht übernehmen konnte, wurde Anordnung von Fürsorgeerziehung beantragt und vorgeschlagen wurde Unterbringung in eine Staatsanstalt für Schwachsinnige.

Dabei ereignete sich folgendes:

1. Zur Begründung des Antrages wurde geschrieben: Der Vater starb im Krankenhause. Die Mutter, die lange Zeit krank ans Bett ge- fesselt war, starb wenige Monate darnach. Die Erziehung des Jungen hat zweifellos gelitten. Der Vater war nicht gut beleumundet, die Mutter durch ihre Krankheit gehindert, sich um die Kinder und ihr Hauswesen zu kümmern. :

Der Junge, der etwas schwachsinnig ist, lügt, umläuft die Schule, treibt sich bis spät abends herum und spielt auch gern mit feuergefähr- lichen Gegenständen. Auf die Schwester, die den Haushalt führt, hört er nicht. Gelegentlich verdient er sich auch durch Kohlenschaufeln u. dergl. Geld, das er dann in Kinos oder zu Straßenbahnfahrten verausgabt.

Gegen ihn muß behördlicherseits eingeschritten werden, soll seine Verwahrlosung verhütet werden.

Alle Bemühungen der Schwester, den Jungen auf bessere Wege zu bringen, sind umsonst gewesen. Sie selbst hat Antrag auf Fürsorge- erziehung gestellt, denn sie sieht sich außerstande, ihn noch erzieherisch zu beeinflussen. Ebenso steht ihm die Schule machtlos gegenüber und hält bei der Schwachsinnigkeit des Jungen die Ukterbringung in die Landesanstalt zu ..... für erforderlich.

2. Nachdem der Antrag gestellt ist, erfolgt Vernehmurg der Schwester im Fürsorgeamte und sie gibt dort zu Protokoll:

»Mein Bruder Max, geb. 7907, geht seiner Verwahrlosung entgegen, denn er folgt nicht, umläuft zeitweise die Schule und spielt außerordent- lich gern mit Streichhölzern und sonstigen brennbaren (Gegenständen. Die Eltern sind verstorben, der Häuslichkeit stehe ich vor. Auf mich hört mein Bruder nicht, wohl hat er schon öfter versprochen, sich zu bessern, sein Wort hält er jedoch nicht. Auch lügt er gern und ver- breitet das Gerücht, er bekäme nicht genug zu essen und werde zurück- gesetzt, was aber durchaus nicht der Fall ist. (Zusatz des Verfassers: Eines Tags kam er zu spät zur Schule, zur Rede gestellt, fing er an zu weinen und behauptete, seine Schwester sei gestorben, was natürlich nicht der Fall war. Sie war gesund wie ein Fisch im Wasser.)

Ich bitte, daß mein Bruder an Amtsstelle zunächst einmal verwarnt wird, ebenso, daß seine fernere Führung überwacht wird, nötigenfalls soll

4. Wider den heiligen Bürokratius für ein bedauernswertes Kind. 357

er im Armenhause untergebracht werden (Anm.: ist geschehen); denn er bildet für seine jüngeren Geschwister eine ernste Gefahr. Vom Herrn Pfarrer ist er auch schon verwarnt worden.«

3. Nun bemüht sich der Erkunder des Fürsorgeamtes um diese Angelegenheit und schreibt nieder: »Personalien des Vaters. Er ist wegen verschiedener Vergehen, u. a. wegen fahrlässiger Tötung vorbestraft. Sein Leumund ist nicht besonders gut gewesen, hat verschiedene Liebes- verhältnisse unterhalten.«e Nun folgen die Personalien der Mutter und der größeren Kinder. Dann heißt es weiter: »Die älteste Schwester des Max führt schon jahrelang die Wirtschaft und ihr lag auch schon lange und größtenteils die Erziehung ihrer Geschwister ob, zumal der Vater der Arbeit nachgehen mußte und sich auch in seiner Freizeit nicht besonders und vor allen Dingen nicht um den in Frage kommenden Max, den er anscheinend nicht so leiden konnte, wie die andern Kinder, kümmerte. Die Tochter führt das Hauswesen gut und steht sie in einem guten Rufe. Ihre Geschwister folgen ihr auch bis auf den beschuldigten Max, für diesen ist das Mädchen zu nachsichtig, er braucht eine festere, straffe, Erziehung. Die von der Schwester vorsichtig angegebenen Fehler des Max bestätigen sich. Der Junge umläuft fortgesetzt die Schule, was der Direktor bestätigt. Dieser gibt auch noch an, daß sich Max auch spät abends noch herumtreibt. So wurde er gegen 11 Uhr abends noch mit seinem Schulranzen laufen gesehen. Der Junge ist sehr schwachsinnig, be- sucht die Hilfsschule, er wird wohl von seinem Vater erblich belastet sein. Dieser versprach auch oft, seine Verhältnisse mit andern Frauens- personen zu lösen, hatte wohl auch momentan dazu den festen Vorsatz, aber nie konnte er sein Versprechen länger halten. Genau so ist es bei Max. Er lügt dreist, schwänzt die Schule, verbreitet unwahre Gerüchte, wie z. B. daß er weniger als seine Geschwister zu essen bekommt, und wird deshalb von seiner Schwester gewarnt, auch gestraft und verspricht Besserung, die bei ihm aber nur von kurzer Dauer ist. Zu Hause hat der Junge schon Kleinigkeiten gestohlen, vor einiger Zeit auch bei einem Gemüsehändler. So wenig gehorsam Max gegenüber seiner Schwester sich zeigt, so willig ist er öfters gegen andere. Er verdient sich gern einige Pfennige Geld mit Einschaufeln von Kohlen, den Erlös vertut er, meist durch Besuch eines Kinos oder er fährt Straßenbahn.

Nach den Verhältnissen zeigt Max zweifellos Hang zu allerlei Schlechtigkeiten, die aber wohl auch auf seinen Schwachsinn zurück- zuführen sind (! vom Verf.). Die Schwester ist zu schwach und will da- zu den Haushalt auflösen. Hierdurch können die erzieherischen Ver- hältnisse leicht noch schlechter werden. $

Der Schuldirektor hat sich für Fürsorgeerziehung und vorläufige Unterbringung ausgesprochen, was nach der Sachlage auch ernst zu er- wägen ist. Ich schlage vor, ein Schulurteil einziehen zu wollen und vielleicht auch ein ärztliches Gutachten über den geistigen Zustand des Max, ehe eine bestimmte Entscheidung getroffen wird.«

4. Die Schule gibt ihr Urteil: »Die Schulerziehung hat unter den Kriegsverhältnissen gelitten. Die Lehrerin war der Ungezogenheit und

358 B. Mitteilungen.

Verschlagenheit des Bengels nicht gewachsen. Max stört den Unterricht fortgesetzt und führte im übrigen ein zügelloses Gassenleben. Als. ich (der Direktor) dann die Klasse selbst übernahm, gelang es mir zwar, den Jungen wieder in Ordnung zu halten, mußte aber nach Schulschluß stets vor das Haus treten, um den Knaben abzuhalten, beim Heimwege die entgegengesetzte Richtung einzuschlagen. Max bedarf eben fortgesetzter strenger Aufsicht.

Nun sind ihm die Eltern gestorben und die große Schwester ist ihm keine Autorität. Die Schule aber kann ihm das Elternhaus nicht ersetzen. Seine Trägheit hat ihn auch in den Schulfortschritten auffallend gehemmt, so daß er vorige Ostern wieder sitzen bleiben mußte, und nun bloß noch die 3. Klasse der Hilfsschule erreichen könnte. So gehört er jetzt zu dem schlechtesten Bestand seiner Klasse. Deshalb ist seine Unterbringung nach ..... wegen drohender gänzlicher Verwahrlosung dringend zu empfehlen.«e (Es gibt eben keine andre Anstalt. Der Verf.)

5. Das Amtsgericht hat zu entscheiden, ob Fürsorgeerziehung aus- gesprochen werden soll. Darüber wird folgendes Protokoll aufgenommen:

»Heute erscheint der Schulknabe Max, z. Z. im Armenhause durch Vorlegung der Bestellkarte ausgewiesen und erklärt, nachdem er vom Akteninbalt Bl. 7, 10 flgd. (d. i, was oben ausgeführt it. Anm. d. Verf.) in Kenntnis gesetzt worden war:

Diese Angaben sind richtig (! Verf.) Ich verspreche, daß ich mich bessern werde (! Verf.) Mit meiner Unterbringung in die Staatsanstalt RE bin ich einverstanden (! Verf.)

Vorgelesen, genehmigt und mitunterschrieben. Max ..... <

6. Zu berichten wäre noch über das ärztliche Gutachten. Nach diesem ist »der Minderjährige geistig vollkommen gesund. Darüber be- stehen keine Zweifel. (! Verf.)

Er leidet nicht an epileptischen Krämpfen, es besteht auch kein Ver- dacht (Anm. d. Verf. Gehört dazu nicht lange Beobachtung? Verf. hat starke Stimmungsschwankung bei Max beobachtet). .

Er scheint (! Verf.) etwas beschränkt zu sein.

Er ist Bettnässer.«

Was lehrt dieser Fall?

Es fehlt an maßgebenden Stellen pädagogisches Verständnis. Man bedenke, ein geistig minderwertiges Kind bekommt alles vorgelesen, was über Vater, Mutter, Elternhaus und Geschwister bekannt ist, soll z. B. bestätigen, daß es richtig ist, daß sein Vater wegen fahrlässiger Tötung vorbestraft, daß er schlecht beleumundet war, daß er mit anderen Frauen Liebesverhältnisse angeknüpft hatte, daß er willensschwach war. Nachdem aus den Akten genau bekannt war, daß Max wohl verspricht, aber sein Versprechen nie hält, muß er als Abschluß des Verfahrens noch einmal Besserung versprechen. Und schließlich muß er seine Einwilligung zur Unterbringung geben. Es fehlt an maßgebenden Stellen rechtes Ver- ständnis für die Verwahrlosung, bezw. die Ursachen der Verwahrlosung. Man beachtet nicht, daß es neben einer exogenen Verwahrlosung eine

5. »Die Jugend von houte«. 359

endogene Verwahrlosung gibt. Von psychopathischen Konstitutionen scheint man nichts zu wissen. Darum kennt man nur eine Besserungsanstalt, nicht aber eine Heilerziehungsanstalt. Und schließlich ist das Armenhaus als der Ort erkannt worden, dahin man den Max einstweilen bringen kann.

Was muß deshalb gefordert werden?

Die Regierung hat Heilerziehungsheime zu errichten und sie in Hände heilpädagogisch erfahrener Lehrer zu geben.

Diese Heime haben die Kinder aufzunehmen, die als psychopathische Konstitutionen erkannt oder als solche verdächtigt sind, damit .sie recht- zeitig behandelt werden können und nicht erst soweit verwahrlosen müssen, daß sie unrettbar verloren sind. Diese Anstalten sind zugleich Beobachtungs- stationen.

Jeder Fürsorgeverband, auch jede Großstadt, hat mit der Behand- lung der Fürsorgefälle nicht allein einen Juristen zu betrauen, sondern in erster Linie einen heilpädagogisch erfahrenen Lehrer.

Juristen, die Jugendliche vernehmen und aburteilen, haben pädagogische und psychologische Studien nachzuweisen.

Der Lehrer, besonders der Hilfsschullehrer, ist als Sachverständiger ausführlich zu hören, nicht nur über die schulischen Leistungen des Jugendlichen.

5. »Die Jugend von heute«.

Am 26. bis 29. August d. J. tagte in Jena die »entschiedene Jugendbewegung«.

Als die Judensklaven sich aus der Knechtschaft Ägyptens befreit hatten und unter ihrem großen Führer und Religionsstifter Moses am Fuße des Sinai lagerten, da wurde ihnen als göttlicher und menschlicher Befehl unter Donner und Blitz u. a. eingeschärft: »Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf daß es dir wohlgehe und du lange lebest im Lande, das dir der Herr, dein Gott, gibt.e Dieses Gebot ist seitdem der jüdischen Jugend immer wieder als ein göttliches eingeschärft, ja bei allen nicht entarteten Juden ist es zur unantastbaren Sitte geworden. Wir Deutsche und Christen haben es von ihnen übernommen. Doch nein: bei jedem gesunden Volk ist es eine Instinktäußerung der Natur. Sogar bei Tieren läßt sich das noch beobachten. Und wenn bei den Juden das ganz besonders zum Ausdruck gekommen und es im Laufe der Jahrtausende ganz besonders, mehr als bei uns Germanen, beachtet worden ist, so erblicke ich darin eine der Hauptursachen, warum dieses staaten- lose und vaterlandslose Volk dennoch trotz so mancher bedenklicher Rassen- eigenschaft so mächtig in der Welt, so einflußreich und machtvoll geworden ist, daß es z. B. zurzeit einen sehr großen Teil unseres deutschen Volkes auf wirtschaftlichem und parteipolitischem Gebiete, vor allem aber auf dem Gebiete des Handels, der Presse, des Theaters usw. völlig beherrscht, uns also fast unterjocht hat. In erster Linie hat es der Familiensinn so stark werden lassen. Wenn auch ein großer Teil jetzt damit gebrochen hat, soweit gebrochen, daß sie sich ihres elterlichen Namens schämen und

360 B. Mitteilungen.

unter abgeändertem Namen ihr demagogisches Spiel treiben und gerade dieser Teil die Führerschaft der Demagogie, der Revolution, der extremen Parteien, der zersetzenden Literatur usw. an sich gerissen hat, und dieser Teil auch seinem Untergange entgegengehen wird, so wird das Gesagte dennoch weiterhin Wahrheit bleiben, und es wäre gut, wenn die Deutschvölkischen sich einmal etwas mehr in die positiven Ursachen der Stärke und der Macht des uns beherrschenden Judentums vertiefen wollten, anstatt in erster Linie das Entartete als Ursache zu bewerten.

Man wird einwenden, das sei doch gerade das Entartete des Juden- tums, das auch bei uns wiederum alles Perverse und Entartete auf so vielen Gebieten, vielfach sogar diktadorisch, beherrscht, wofür die Revo- lutionsputsche täglich die Beispiele lieferten, da immer wieder an der Spitze radikalster Auflehnungen der Juden und Judengenossen stehen. Aber dennoch bleibt die Tatsache: die Stärke des Judentums liegt in der Erfüllung jenes göttlichen Gebotes. Diese Entarteten sind die Unter- gehenden, die andere mit in den Abgrund reißen.

Als die bedenklichste Entartung, deren Umsichgreifen die größten völkischen Gefahren in sich birgt, muß ich darum unsere radikale Jugendbewegung betrachten. Als Beispiel dieser Erscheinung mag der Aufruf für die Jenenser Tagung des »Zentraljugendrats in Deutsch- land« dienen. Er lautet:

»Aufruf an die Jugend Deutschlands zur Jenaer Tagung der entschiedenen Jugendbewegung vom 26.—29. August 1919.

Kameraden! Wir sind uns einig im Haß der Einrichtungen dieses Lebens und dieser Zeit. Wir fragen uns: Wer ist schuld an diesem Leben, diesen Einrichtungen, dieser Kultur? Wer hat diese Staaten, diese Schulen, diese Kirchen, diese Politik, diese Presse und vieles andere auf dem Gewissen? Die Erwachsenen. Sie allein! Und darum wendet sich unser Kampf und Haß gegen dies Leben und diese Zeit, mit gegen sie, gegen die Erwachsenen als Gesamtheit, gegen ihren unglück- seligen Geist.

Die Kämpfe unserer Tage (z. B. um den Sozialismus, den Völker- bund, die Freiheit der Meere) werden zu Ende gefochten werden, unser Kampf, der Kampf der Jugend gegen das Alter, der Klassenkampf der Jugend nie! Das ist uns klar.

Wir bejahen den Klassenkampf der Jugend. Wir sind ent- schlossen, ihn durchzukämpfen auf allen Gebieten jugendlichen Lebens und einzutreten für das Selbstbestimmungsrecht der Jugend in Schule, Hochschule, Elternhaus, im Staat, in Religion und Erotik.

Wir wissen, daß in diesem Kampf Brüderlichkeit und enger Zusammen- schluß vor allem nötig sind. Und zwar einen Zusammenschluß über alle Erwachsenen, über alle jene Personen hinweg, die wir für schuldig am gegenwärtigen Leben halten, gegen die sich unser entschiedener Kampf richtet. Wir brauchen 'einen starken Zusammenschluß auch gegenüber den Teilen der Jugend, die den Sinn und die Notwendigkeit unseres Klassenkampfes noch nicht begriffen haben.

5. »Die Jugend von heute«.

361

Die Jugend, die unsere Ziele bejaht, ist groß, die Personen und Gruppen, die auf allen Linien im Klassenkampf der Jugend stehen, sind unzählbar in aller Welt. Es gilt sie zusammenzufassen!

Die einigende Grundlage sei dabei der entschiedene Klassen- kampf der Jugend. Er allein wird die Möglichkeit bieten, die Jugend über die politischen, philosophischen, ständischen, besonderen Interessen hinweg zu einer großen, kamerailschaftlichen Weltgemeinschaft, zur Welt- jugendgemeinde zusammenzufassen. Das allein kann auch die ent- schiedene »bürgerliche«e Jugendbewegung in Einheitsfront bringen mit der sozialistischen und proletarischen Jugend-Internationale.

Die Sammlung der Jugend eines Landes, einer Sprache ist die Vor- bedingung für einen Weltkampf der Jugend. Wir wollen unsere Aufgabe für Deutschland in Jena erfüllen, indem wir alle die unzählbaren Menschen, die heute in Deutschland noch einzeln oder in kleinen Gruppen vereint ihren Kampf führen, indem wir die revolutionäre Jugend Deutschlands, die freie Arbeiterjugend, die Wandervögel, die Freideutschen, die von den Sprechsälen und den freien Hochschulgemeinden und alle Jugendgruppen zusammenfassen.

Wir planen die Gründung eines Zentraljugendrates für Deutsch- land, der alle, die im Klassenkampf der Jugend stehen, umfassen soll. Wir brauchen dazu die Mitarbeit aller wirklichen Jugend, die Mitarbeit der Jugend, die in den Schulen und Hochschulen den Kampf um die Selbstverwaltung aufgenommen hat, der Jugend, die für die wirtschaftliche und politische Befreiung aller ihrer Kameraden eintritt. Wir brauchen die Mitarbeit aller Jugendbewußten im Kampf um jugendliche Freiheit und jugendliches Leben.

Wir wollen eine Verjüngung der Welt!

Für Jugendkultur, für das Recht der Jugend und ihre Gesellschaft!

Es lebe die Jugend!

An die Studenten!

Auch die Kommilitonen rufen wir auf!

Streitet mit im Kampf der Jugend! Helft die geistigen Waffen der Jugend schmieden und schärfen!

Macht euch frei von dem Geist der alten Universität! Helft die neue Universität der Jugend, der neuen Gemeinschaft des werktätigen Volkes aufbauen!

Warum waren die Universitäten tot? Warum waren sie nicht Ge- wissen der Wahrheit und des Guten während der letzten 5 entsetz- lichen Jahre?

Weil ihr Geist rückwärts gewandt und in kleinen Techniken, geistigem Privatbesitz vergleichbar, verrannt war, weil ihre Professoren meist Zünftler und Beamte und ihre Studenten unjugendliche Gesellen waren, deren Ideale einer matten bürgerlichen Ideologie entstammen !

Wir wollen nicht lange uns der Ausnahmen erinnern. Wir wollen auch nicht richten, nicht lange auf Reformen warten, wir wollen unseren Weg gehen und die Universität der Jugend aufbauen! Wir wollen Arbeits-

362 B. Mitteilungen.

kreise bilden, die aus Geist und Ziel der neuen Universität, der werktätigen Volksgemeinschaft gestaltet sind!

Und diese wollen wir aufbauen trotz der alten Universität in ihr und neben ihr. In freien Hochschulgemeinden wollen wir uns zur selbst- erziehlichen Arbeit zusammenfinden mit der Jugend der Schule, die uns verjüngt, mit dem werktätigen Proletariat, mit den lehrenden und führerischen Menschen, denen wir vertrauen.

Kommilitonen, kommt und helft uns!

Der provisorische Zentraljugendrat in Deutschland.«

* * *

Die Unterzeichner lasse ich fort. Aus naheliegenden Gründen. Diesem Aufruf fügten sie dann noch einen »Arbeitsplan« bei, der wie folgt eingeleitet wurde:

»Kameraden! Es ist uns bekannt, daß in allen Teilen Deutsch- lands die entschiedene Jugendbewegung an der Arbeit ist. Wir stehen mit den einzelnen Vertretern der entschiedenen Jugendbewegung, den Sprechsälen, den Vertrauensleuten des Bundes für Freie Schulgemeinden, den Vertrauensleuten des Bundes Aufbau, den Vertrauensleuten des Zentraljugendrates für Deutschland, mit revolutionären Freideutschen und Wandervögeln in persönlicher und schriftlicher Verbindung. Auch mit den radikalen Studenten, den freien Hochschulgemeinden, den sozia- listischen und internationalen Studentengruppen sind überall Beziehungen angeknüpft. Vielfach stehen wir in Arbeits- und Tatgemeinschaft mit der Freien proletarischen Jugend. Es gilt sich kennenzulernen. Es gilt sich anf das uns Gemeinsame zu besinnen. Es gilt aber auch: sich für den Klassenkampf der Jugend zu organisieren.

Wir rufen Euch deshalb zu einer Arbeits- Tagung zusammen. Sie findet vom 26. bis 29. August in Jena statt. Wir teılen den Arbeits- plan mit.

Damit ein gründliches Arbeiten gewährleistet wird, sollen die Be- ratungen in Vollversammlungen und gründlichen Kommissionsberatungen geteilt werden. Grundsätzlich ist der Vormittag den Referaten und der allgemeinen Aussprache, der Nachmittag den Kommissionen vorbehalten; am Abend können dann Einzelbesprechungen stattfinden. «

+ x *

Wir sehen, es ist Wynekenscher Geist, wie icb ihn näher charakte- risiert habe in meiner Schrift: »Die freien Unterrichts- und Erziehungs- anstalten in ihrer materiellen und ideellen Bedeutung für unser deutsches Volke S. 143 ff.

Unsere Reichsregierung, d. h. die herrschenden Parteien, hat unter der Fahne der »Freiheit« in den letzten Monaten die »Deutsche Zeitunge, die sittenrein ist, aber diese Regierung scharf kritisiert hat, wıederholt verboten. Die Kinder von etwa 12 Jahren an dürfen aber ungetadelt und ungestraft den Aufruhr predigen, wie ja auch die verheerendste Jugend- schundliteratur nebst den Schundfilms perversester und ekelerregendster

6. Hauserziehung. 363

Art ungetadelt und ungestraft Jugend und Volk vergiften und verderben dürfen trotz allem parteipolitischen Geschrei nach »Schule und Bildunge«, nach Volkshochschulen, Einheitsschule, Jugendpflege usw.

Sind unsere Parteiführer, die die Regierung an sich gerissen und damit die Verantwortung für das Fortbestehen unseres Volkes übernommen haben, national und moralisch blind, daß sie die Gefahren nicht sehen können, oder feige, das sie nicht den Mut zum Einschreiten haben, oder schon so weit selbst entartet, daß sie solche Strömungen als Ideale betrachten? Trüper.

6. Hauserziehung.

Im Verlag von Greiner & Pfeiffer, Stuttgart erscheint eine Monats- schrift für häusliche Bildung und Erziehung die »Hauserziehung« unter der Schriftleitung von Schulrat Karl König. Die Zeitschrift wird auch unsere Bestrebungen wiederholt berühren. In der Ankündigung wird u. a. gesagt:

Den Elternsorgen und Elternfragen werden wir einen möglichst weiten Spielraum gewähren und aus ihnen zu Nutz und Frommen unserer Jugend lebensstarke Erziehungsweisheit schürfen und Grundsätze zur Überwindung der erzieherischen Alltagsnöte prägen.

Nicht nur der Geistesbildung und der Willenserziehung soll aber unser Augenmerk zugewendet sein, auch die körperliche Ertüchtigung soll einen ständigen Gegenstand unserer Erwägungen und Beratungen bilden; denn ewig wahr bleibt der richtig verstandene alte Satz: Mens sana in corpore sano. Alles, was das weite Reich der kindlichen Körper- pflege umfaßt, also auch Nahrung und Kleidung, wird von sachkundiger Hand in Wort und Biid beleuchtet werden.

Immer und immer wieder wird dabei der Ruf ertönen: Tod aller Weichlichkeit! Unsere Zukunft verlangt ein hartes Geschlecht. Weich- linge sind Feiglinge. Und Feiglinge können unser Volk aus dem Sumpf der Erniedrigung nicht herausführen. Landgraf, werde hart! Das müssen sich Väter und Mütter stündlich zurufen. Und unsere »Haus- erziehung« wird diesen Gewissensruf mit scharfem Trompetenton ins Haus hineinrufen. :

Elternhaus und Schule, als engverschlungenes Freundespaar, das sind die Hauptförderer des unterrichtlichen und erziehlichen Erfolges. Und doch gehen immer noch Schule und Haus achtlos nebeneinander her, ja bekämpfen sich wohl bewußt oder unbewußt. Das darf so nicht weiter gehen. Die Not der Zeit schreit nach Besinnung, Verständigung, Ver- söhnung. Darum wollen wir Brücken schlagen. Hinüber und herüber. Das Haus soll wissen, was die Schule will und wie sie ihre Ziele zu er- reichen sucht. Und eifrig wollen wir die Frage erörtern: Wie soll und kann das Haus die Arbeit der Schule unterstützen?

Aber auch die andere Frage soll eingehend besprochen werden: Wie gelangt das Elternhaus zu seinem unbestreitbaren Recht auf

364 C. Literatur.

zweckfördernde Beeinflussung ddr Schularbeit? Brennend heiß geht die Erörterung dieses Problems heute durch die deutschen Lande. Das Haus darf und will sein Recht auf die Kindererziehung nicht rauben lassen. Sie muß es mit Löwenmut und Zähwilligkeit verteidigen. Sie muß es aber auch ausüben.

Darum wird es auch zum dringenden Bedürfnis werden, die Tätig- keit der Gemeinde- und Landesversammlnngen und die Stimmen der Presse Schritt für Schritt zu verfolgen und entschieden Stellung zu ihren Beratungen, Beschlüssen urd Ausführungen zu nehmen.

Unter keinen Umständen darf das Recht der freien (privaten) Bildung und Erziehung gefährdet werden. Wir sind die letzten, die den Wert und die Notwendigkeit der öffentlichen Schule herabsetzen oder auch nur geringachten möchten. Ganz im Gegenteil. Aber neben der Öffentlichen Schule muß auch der Bestand der freien (privaten) Schule gegen alle An- läufe der Gegner gesichert sein. Um unserer Jugend, um der Pädagogik, um des Staates willen! Um der Gewissensfreiheit willen; denn mit der Lehr- und Gewissensfreiheit steht und fällt unser deutsches Vaterland.

Und gehören die Kinder nicht in erster Linie den Eltern?

Auf diesen lastet am schwersten Segen und Fluch einer guten oder schlechten Erziehung, und ihr Bestand oder Zerfall hängt wesentlich ab von der größeren oder geringeren Gewissens- und Gesinnungseinheit der Familienglieder. Unter keinen Umständen darf mithin das Eltern- recht auf die Bestimmung der Erziehungsrichtung verkümmert werden. f

Finden die Eltern, daß die Seele ihrer Kinder in der öffentlichen Schule notleidet oder daß die innere Familieneinheit durch sie gefährdet wird, so darf ihnen unter keinen Umständen der Zugang zur freien Schule versperrt werden. Dies Recht werden wir stets nachdrūcklich ver- treten.

C. Literatur.

Piorkowski, Curt, Die psychologische Methodologie der wirtschaft- lichen Berufseignung. Zweite, vermehrte und bis zum gegenwärtigen Stand durchgeführte Auflage. (Beiheft 11 zur Zeitschrift für angewandte Psychologie.) Leipzig, Joh. Ambr. Barth, 1919. 106 S. 7,20 M.

Als die erste Auflage des vorliegenden Werkes im Jahre 1915 erschien, be- fand sich die Psychologie der Berufseignung und Berufsberatung noch in den aller- ersten Anfängen, zum mindesten, was ihre praktische Verwendbarkeit anbelangt. Damals existierten nur einige wenige Untersuchungen, die sich mit dieser Frage beschäftigten, und auch diese hatten eine größere praktische Bedeutung nicht er- langt. Da kam der Krieg und mit diesem eine gesteigerte Beanspruchung der Menschen. Es hatte sich gezeigt, daß bei den Spezialtruppen nicht alle Mann- schaften gleich gut verwandt werden konnten, weil sie den Ansprüchen, die der

C. Literatur. 365

Dienst an sie ‚stellte, nicht in gleichem Maße gerecht werden konnten. Der an- gewandten Psychologie fiel nun die Aufgabe zu, die Eignung der einzelnen Leute für die verschiedenen Truppengattungen (Kraftfahrer, Flieger, Schallmesser, Funker usw.) festzustellen. Dadurch empfing die Berufspsychologie die wertvollsten An- regungen, und sie nahm einen raschen Aufschwung. Der Verfasser selbst hat an diesem einen wesentlichen Anteil, arbeitete er doch in Gemeinschaft mit Moede die Methoden zur Kraftfahrerprüfung aus.

Die ersten fünf Kapitel des Buches sind im wesentlichen unverändert ge- blieben. Der Verfasser behandelt zunächst die Entwicklung der experimentellen Psychologie und unternimmt dann einen Versuch, die Berufe nach psychologischen Gesichtspunkten zu klassifizieren; er teilt sie ein in niedere unqualifizierte Berufe, in spezialisierte industrielle Berufe, in mittlere und in höhere Berufe. Bei der Gruppe der spezialierten industriellen Berufe sind in der Hauptsache neben einem gewissen allgemeinen Intelligenzniveau nur besondere Verhaltungsweisen der Auf- merksamkeit und spezielle Reaktionstypen erforderlich, wobei die Übung bis zu einem gewissen Grade eine Rolle spielt, jedoch nicht die individuellen Unterschiede zu verwischen imstande ist. Bei den mittleren Berufen ist neben einer höheren Allgemeinintelligenz »eine bestimmte Kombination von psychischen Fähigkeiten er- forderlich, deren Entfaltung aber durch einen festgegebenen Rahmen in mechanischer Weise bestimmt und beschränkt ist«. Die höheren Berufe erfordern im Gegensatz hierzu gerade eine Selbständigkeit im Entscheidungtreffen, im Auf- finden neuer Möglichkeiten usw. Diese einzelnen Gruppen von Berufen werden nun in dem IIl. bis V. Kapitel eingehend untersucht, wobei kurz auf einige Methoden zur Untersuchung der Berufseignung hingewiesen wird. Das sechste Kapitel end- . lich, das eine völlige Neubearbeitung erfahren hat, schildert die Einrichtungen, die bisher geschaffen worden sind, um eine bessere Berufsauslese zu ermöglichen. Piorkowski geht zunächst auf die Differenzierung des Schulwesens auf Grund experimentell-psychologischer Prüfungen ein, wie solche bisher in erster Linie in Berlin und in Hamburg eingeführt worden sind. Er behandelt dann die Neu- seeländer Einrichtungen, an denen er mit Recht auszusetzen hat, daß ein Kind von 14 Jahren noch nicht in der Lage ist, sich selbst psychologisch zu analysieren. Die beiden letzten Abschnitte dieses Kapitels behandeln die in der Industrie bisher in Deutschland angewandten Verfahren, so vor allem die Lehrlingsprüfungen, und die im deutschen Heere erprobten Methoden der Auslese der Mannschaften für ver- schiedene Spezialtruppen. Der Verfasser setzt sich dabei mit den verschiedenen Methoden, der Fragebogenmethode und der experimentellen Methode auseinander. In einem Schlußwort gibt er eine Übersicht über das bisher erreichte und einen Ausblick auf die Psychotechnik, vor allem auch auf ihre Bedeutung für das wirt- schaftliche und politische Leben, sowie für das Leben des schaffenden Menschen selbst.

Die Arbeit des Verfassers gibt somit einen kurzen Überblick über das Gesamt- gebiet der wirtschaftlichen Berufseignung. Wir hätten allerdings eine etwas breitere Darstellung der Methoden der Eignungsprüfung und ihrer Ergebnisse für wünschens- wert gehalten. Darüber liegen doch jetzt auch bereits zahlreiche Arbeiten vor, und es wäre ganz nützlich gewesen, dieselben an einer Stelle zu vereinigen. Wir hoffen, daß die Schrift des Verfassers auch den bisher noch skeptischen Kreisen ‚die Be- deutung der Berufeignungsforschung dartut und so zu einer Verbreitung der Kenntnis der Methoden und des Wesens dieser jungen Wissenschaft beiträgt.

Hamburg. Erich Stern.

366 C. Literatur.

Ziele und Wege des Unterrichts. In Verbindung mit O. Boelitz, P. Diel- bow, L. Pallat, A. Preising, J. Rosenberg, F. Schickhelm, 8. Schwarz, M. Siebourg und O. Wendiroth, bearbeitet von Richard Jahnke. (Hand- buch für höhere Schulen.) Leipzig, Quelle & Meyer, 1918. 274 S. Geb. 6,80 M.

Das vorliegende Werk bildet den ersten einleitenden Band einer Sammlung von Werken aus dem Gebiete der Pädagogik und ihrer Hilfswissenschaften. Es enthält eine Reihe von Aufsätzen anerkannter Fachmänner, welche die verschiedenen Unterrichtsgegenstände behandeln. Von besonderer Wichtigkeit erscheint mir der erste, programmatische Aufsatz von Jahnke, der ganz auf dem Boden der An- schauungen steht, daß die Aufgabe der Schule in erster Linie die Erziehung zur Persönlichkeit sei, ohne dabei den Wert der wissenschaftlichen Allgemeinbildung zu unterschätzen. Im einzelnen führt Jahnke aus, daß mit der Aufhebung des Unterrichts die Grundlage unserer gesamten Kultur wegfiele und damit der Mensch der Welt fremd und hilflos gegenüberstehen würde; zu Wissen und Können käme er trotz vorausgesetzter Begabung nur mit einer Schwierigkeit, die weit größer wäre als bei einem durchschnittsmäßig Begabten, dessen geistige Entwicklung durch den Unterricht geleitet ist. Die Hauptaufgabe des Unterrichtes beruht eben darin, den Menschen zu Wissen und Können zu führen. Der Wert einer allgemeinen Bildung darf durchaus nicht unterschätzt werden.

Mit dem Wissen allein aber ist es nicht getan, wenn sich ihm nicht Können, eigenes Denken und Kritik hinzugesellen; denn dadurch erst gelangt man zu neuen Erkenntnissen, die zur Tat umgesetzt werden. Der Kernpunkt des Unterrichtes beruht in der Heranbildung des Menschen zu einem brauchbaren, tüchtigen Mitglied der Menschheit; je planmäßiger, vom Leichteren zum Schwereren fortschreitend, der Unterricht geleitet ist, um so sicherer wird er sein Ziel erreichen.

Schwierig ist es, die Grenzen für den Umfang des Unterrichtes zu bestimmen und richtig zu erkennen, was als wichtig bestehen und als überflüssig ausgeschaltet werden kann. An den Beispielen der Geschichte, ihren Begebenheiten, an den Dichterwerken und seinen Helden muß der Schüler sein eigenes Urteil schärfen lernen, wie auch die Selbständigkeit in der Arbeit und Auffassung nach Möglichkeit entwickelt werden muß. All das zu erreichen, wird durch ein Weglassen der so leicht geübten Pedanterie und einem unnötigen Zwang der Weg geebnet. Bei mündlichen und schriftlichen Arbeiten suche man eine möglichst freie Darstellung zu erhalten und nicht die Eigenart einer persönlichen Note im Stil ersticken zu wollen.

. Zusammenhängende Darstellungen berger wiel Wichtiges in sich. Dinge, die in ihrer Zerstückelung wertlos bleiben, werden hier folgerichtig und zu einem ab- geschlossenen Ganzen zusammengefügt. Im kleinen ist hier dem Schüler der Be- weis erbracht, wie eng die Beziehungen der verschiedenen Fächer zueinander ge- stellt sind, und diese Erkenntnis ist von großer Bedeutung.

Die Ausübung der körperlichen Kräfte bedingt der Turnunterricht; aber auch seelische Schwächen wegzuräumen (Schüchternheit, mangelndes Selbstvertrauen usw.), liegt in der Macht der Pädagogen.

So mannigfaltig die Fächer sind, die in den Schulen getrieben werden, ein Ziel haben sie alle gemeinsam: Die Ausbildung der Schüler zu Menschen, die den Willen haben, kenntnisreiche, schaffensfreudige und urteilsfähige Mitmenschen zu werden.

Die weiteren Aufsätze behandeln die Wege und Ziele des Unterrichts in den einzelnen Fächern und geben einen guten Überblick über das betreffende Gebiet.

C. Literatur., 367

Überall gehen die Verfasser nicht nur auf die Unterrichtsmethoden ein, sondern erörtern auch die Stellung des betreffenden Fachs (nicht nur die wissenschaftlichen Fächer sind behandelt, sondern auch die technischen: Turnen und Zeichnen) in ihrer Bedeutung für die Gesamtausbildung und Entwicklung des Schülers. So ist das Werk von Einseitigkeiten ziemlich frei und trägt, trotz der Vielheit der Mitarbeiter und der behandelten Gegenstände, einen durchaus in sich geschlossenen Charakter; es verdient die wärmste Empfehlung. Hamburg. Erich Stern.

Hemprich, Seminaroberlehrer, »Die Organisation der Jugendpflege«. Langensalza, Julius Beltz, 1918. 938. gr. 8. 3M.

Minck, Kreisschulinspektor, »Die Jugendgerichtshilfe, ihre rechtliche Grundlage, ihre Aufgabe und ihre Organisation«e. Ebenda 1918. 308. gr. 8. 150M.

»Hefto des Merseburger Lehrgangs für Jugendpfleger und Jugendpflegerinnen«. Heft 2 und 6.

Das Buch von Hemprich, der selbst Bezirksjugendpfleger ist, hat Wert, weil es aus der Praxis der Jugendpflege erwachsen und geeignet ist, praktische Er- fahrungen zu übermitteln. Es sind durchweg praktische Winke in gedrängter Dar- stellung, die gegeben werden, keine allgemeinen lediglich theoretischen Ausführungen. Das Buch ist daher inhaltreicher als sein Umfang vermuten läßt. Es wird Jugend- pflegern und solchen, die es werden wollen, die besten Dienste leisten.

Auch das Büchlein von Minck kann warm empfohlen werden, nicht nur Jugendgerichtshelfern, sondern auch Jugendrichtern, Staatsanwälten, Polizeibeamten und allen jüngeren Juristen. Es gibt uns ein Bild von den Aufgaben der Jugend- gerichtshilfe vor, während und nach der Hauptverhandlung. Im Anhang sind einige Muster, Listen und Register aus der Jugendhilfe von Halle abgedruckt. Dadurch wird die Einrichtung neuer Jugendgerichtshilfen erleichtert. Es ist wirklich höchste Zeit, daß die Jugendgerichtssachen nicht nur von den Gerichten besonders behandelt werden das ist bei weitem noch nicht überall der Fall, auch dort nicht, wo es möglich wäre sondern daß auch überall Jugendgerichtshilfen entstehen, welche die Arbeit des Jugendrichterss zum mindestens sehr wünschenswerterweise er- gänzen, wenn nicht gar überhaupt erst richtig ermöglichen.

Frankfurt a. O. Amtsrichter Dr. Albert Hellwig.

Roloff, Lexikon der Pädagogik. 3. Band. Freiburg i. Br., Verlag Herder. Gesamtpreis 90 M.

Ein Lexikon gleicht einem großen Kaufhaus, man trifft darin eine Menge Dinge und Stoffe an; es ist wie ein Adreßbuch, mit dessen Hilfe man sich in einer fremden Stadt bald zurechtfindet. Im Frieden wurde es begonnen, im Kriege be- endet. Heute wäre man kaum in der Lage, ein solches umfangreiches und großes Werk in Angriff zu nehmen und so wird dieses auf viele Jahre hinaus das neueste Lexikon sein. Wenn auch die allerneueste Zeit umgestaltend wirkt und auch in der Pädagogik sich vieles ändern wird (selbst die rechtsstehenden Parteien veränderten ihr Schulprogramm), so werden jene Teile, welche von vornherein auf objektiv- wissenschaftlicher Grundlage stehen, vorerst noch immer neu bleiben. Gerade dieses auf konfessioneller Grundlage stehende Werk wird angegriffen werden und vielleicht atmet das nächste Lexikon den entgegengesetzten Geist. Der Kampf wird der Päda- gogik nie schaden, nur wäre der Sieg radikaler Übertreibung ebenso schädlich, wie das Festhalten am überwundenen Veralteten. Vom Standpunkte der Zeit, in welcher dieser 3. Band verfaßt wurde, muß gesagt werden, daß die Verfasser sich bemühten, in ihren Urteilen ruhig und objektiv zu bleiben. Wesentliche Kapitel sind: Kon-

368 C. Literatur.

fessionelle Schule, Konzentration, Kultur, Kunst, Lehrer, Lehrplan, Lehrverfahren, Lesebuch, Luther, Lehrervereinigungen, Methodik, Moralunterricht, Pädagogische Presse usw. Egenberger.

Die freie Bildung und Erziehung in Haus, Schule, Kirche und Staat. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann). Preis pro Heft 1,80 M. Inhalt des Heftes 1/22. A. Abhandlungen: Adrian, Der wirtschaftliche Wert unserer freien (privaten) Schulen und Erziehungsanstaltenı. König, Die Notwendigkeit der freien (privaten) Schulen und Anstalten in den neuen Staaten. B. Mitteilungen: Bericht über die Versammlung des Verbandes privater (freier) Schulen und Erziehungsanstalten in Thüringen. Satzungen des Verbandes der privaten (freien) Schulen und Erziehungsanstalten in Thüringen. Zur Reichs- verbandsfrage. Mitteilungen über den Verband hessischer Privatschulen. Verein der Privatlehrer u. Lehrerinnen Württembergs. Darf die Privatschule aufgehoben werden? Kleinere Mitteilungen. C. Bücherschau.

Inhalt des Heftes 3/4. A. Abhandlungen: Andreesen, Hermann Lietz {t}. Zimmer, Die Rechtsreform des Reichsverbandes Deutscher Privatschulen. Adriau, Schulgemeinden. Haase, Hauslehrer und Hauslehrerin, ihre Stellung gegenüber der Zukunftsschule. Goebel, Über die Errichtung freier Volkshoch- schulen. B. Verhandlungsberichte der Privatschulverbände: Der Verband der Privatschulen Badens E. V. Eine Beratung in Privatschulangelegenheiten in Riesa in Sachsen den 30. Mai 1919. Protokoll über die Sitzung des Verbandes Hess. Privatschulen. Aus Hessen. Aus Württemberg. Der Reichsverband Deutscher Privatschulen i. E. Protokoll über die Sitzung des Reichsverbandes i. E., in Berlin am 6. Juli 1919. Protokoll über die am 19. Juli 1919 in Weimar stattgefundenen Verhandlungen der Vertreter von Landes- und Fachverbänden Deutscher Privat- schulen zur Stellungnahme zum Reichsverband deutscher Privatschulen i. E. Zur Entschädigungsfrage bei Aufhebung privater Vorschulen. C. Mitteilungen: Die Lösung der Schulfrage durch die Nationalversammlung. Die Stellung des Branden- burger Philologen-Vereins zur Schulreform. Auch ein Philologe. Thesen zu einem Entwurf eines allgemeinen Schul- und Bildungsgesetzes auf dem Boden des Erfurter Programms. Protest der deutschnationalen Lehrerschaft. Zur Politi- sierung der Schule. Freie oder private Anstalten der Sozia!demokratie. Das Christentum als freier Volkserzieher. Das Stephansstift bei Hannover. Er- ziehung zur Moral. Eine politische Notwendigkeit. Sächsische Bilderbogen. Die Privatschulfrage in Sachsen. Das kollegiale Rektorat. Sozialisierung der Volkshochschulen. Bildungs- und Gewissensfreiheit im bayrischen Freistaate. Gegen die demokratisch-sozialistische Unterdrückung des freien didaktischen Schaffens. Die Stellung der Tageszeitungen zur Frage der freien Bildung und Erziehung. Wiederbeginn der (freien) Akademischen Ferienkurse an der Uni- versität Leipzig. Privatschullehrer sind von Preisbewerbungen ausgeschlossen! Stimmen zur Bewertung der freien Schulen. Der Verein der Freunde Her- bartischer Pädagogik i. Thüringen u. die Schulfrage. Schädlinge. Bestrebungen zur Sozialisierung der freien Pflege, Bildung und Erziehung der psychopathisch Minderwertigen durch Mediziner. Entschädigung bei Sozialisierung der Privat- schulen. D. Bücherschau.

Inhalt des Heftes 5/6. A. Abhandlungen: Adrian, Neuordnung des deut- schen Schulwesens. Trüper, Zur Schulgesetzfrage in Thüringen. Trüper, Bildung und Schule in der Nationalversammlung. B. Verhandlungsberichte der Privatschulverbände: Entwurf von Satzungen für einen Reichsverband freier (priv.) Schulen und Erziehungsanstalten. C. Mitteilangen. D Bücherschau.

Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.

Zeitschrift für Kinderforschung

mit besonderer Berücksichtigung der pädagogischen Pathologie

Im Verein mit

Dr. G. Anton Dr. E. Martinak Chr. Ufer Dr. Karl Wilker

Geh.Med.-Ratu.Prof. Hofrat u. o. ö. Prof. d. Rekt.d.Süd-Mädchen- Dir. d. Städt.Erziehungs- an der Univ. Halle Pädag. a. d. Univ. Graz Mittelsch.i. Elberfeld heimsBerlin-Lichtenberg

herausgegeben von

J. Trüper

Direktor des Erziehungsheims und Jugendsanatoriums Sophienhöhe zu Jens

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Vierundzwanzigster Jahrgang, 11/12 August/September- Heft

Langensalza

Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) Harzogl. Süchs. Hofbuchhändler 1919

Pıeis des Jahrgangs (12 Hefte) 7.20 M.

Inhalt.

KÆ- Die im ersten Teile dieser Zeitschrift enthaltenen Aufsätze verbleiben Eigentum der Verlagshandlung. "=

A. Abhandlungen:

Die Pädagogik im Heilerziehungsheim. Von Dir. Fr. Knauthe. (Schluß.) .

B. Mitteilungen: Dörpfeld und die Einheitsschule. Von Rektor Vogelsang. Bericht des Fürsorgeverbandes Leipzig über das Jahr 1918 r Vergleich zwischen orientalischer und abendländischer raea. ' Von

Hugo Piffl. e eca a : EHER

Wider den heiligen Bürokratius für ein "bedanernswertes "Kind. Von K. Bartsch . ë

»Die Jugend von heute«. Von J. Trüper

Haüserziehüung: e ya. a8. o e en

C. Literatur:

Piorkowski, Curt, Die psychologische Methodologie der wirtschaftlichen

Berufseignung. Von Erich Stern .

Ziele und Wege des Unterrichts. Von Erich Storm Fe Hemprich, Die Organisation der Jugendpflege. Von Dr. Albert Hellvig Minck, Die Jugendgerichtshilfe, ihre rechtliche Grundlage, ihre > und

ihre Organisation. Von Dr. Albert Hellwig .

Roloff, Lexikon der Pädagogik. Von Egenberger . Die freie Bildung und Erziehung in Haus, Schule, Kirche und Staat”

Alle Beiträge sind an Direktor J. Trüper, Jena, Sophienhöhe zu senden

werden vom Verleger mit 40 M. für den Druckbogen honoriert,

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und

Literatur über die brennenden Gegenwartsfragen

aus dem Verlage von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.

Prof. Dr. J. Cohn, Erziehung zu sozialer Gesinnung. ca. 40 S. Preis ca. 1,25 M. Dr. A. Richter, Religionsunterricht oder nicht? 2.Aufl. 2178. Preis 4,80 M. Dr. J. Ulmer, Der katholische Religionsunterricht und die seelische Lage der Gegenwart. 114 Seiten. Preis 3,50 M.

Dr. A. Reukauf, Freiheitlicher Religionsunterricht. 53 S. Preis 1,70 M. D. Friedrich Naumann, Das Christentum. 33 Seiten. Preis 1.20 M. Dr. W. Rosenkranz, Die Moralpädagogik im heutigen Deutschland. VIII u. 154 Seiten. Preis 4,50 M.

A. Böhm, F. W. Foersters moralpädagogische Ansichten. Darstellung und Kritik. 2. Auflage. 36 Seiten. Preis 1,20 M.

Dr. E. von Sallwürk, Die deutsche Einheitsschule und ihre päda- gogische Bedeutung. 2. Auflage. 48 Seiten. Preis 1,50 M. Prof. Dr. R. Stölzle, Professor F. W. Foerster-München als Gegner der Einheitsschule. 2. Aufl. 55 Seiten. Preis 1,75 M.

E. Saupe, Die Einheitsschule mit besonderer Berücksichtigung des Auf- stiegs der Begabten. 3. Auflage. 102 Seiten. Preis 3,60 M. Prof. Dr. Th. Ziehen, Über das Wesen der Beanlagung und ihre metho- dische Erforschung. 32 Seiten. Preis 75 Pf. Prof. Dr. W. Mann, Schulstaat und Selbstregierung der Schüler als Mittel der Willensbildung und des Unterrichts. 2. Aufl. 112 S. Preis 3 M. Prof. Dr. F. W. Foerster, Autorität und Selbstregierung in der Leitung der Jugendlichen. 26 Seiten. Preis 50 Pf. Prof. Dr. E. Becher, Erziehung zur Menschenliebe und Helfersystem. 49 Seiten. Preis 60 Pf. Prof. Dr. A. Messer, Die freideutsche Jugendbewegung. 2. Aufl. 62 Seiten, Preis 1,80 M.

Dr. E. Schultze, Volksbildung und Halbbildung. 16 Seiten. Preis 25 Pf. Prof. Dr. W. Rein, Die „Dänische“ Volkshochschule. 2. und 3. Auflage. 38 Seiten. Preis 1,40 M.

D. H. v. Lüpke, Die deutsche Volkshochschule für das Band: 30 Saten: Preis 1,25 M.

K. Maß, Die städtische Volkshochschule. 2. u. 3. Aufl. 25 S. Preis 80 Pf. Br. Clemenz, Frieden Heimat Volkshochschule. 2. Aufl. 37 Seiten. Preis 1,50 M.

Dr. A. Buchenau, Die deutsche Volkshochschule nach Idee und Organi- sation. 2. u. 3. Auflage. 42 Seiten. Preis 1,65 M.

H. Harms, Die deutsche Volkshochschule. Lehrplan und Lehrweise. 33 Seiten. Preis 1,35 M.

Dr. H. Lietz, Das deutsche Volkshochschulheim. Warum und wie es werden muß. 66 u. 8 Seiten. Preis 2,50 M.

O. Planck, Das Bildungsideal der Volkshochschule. 73 Seiten. Preis 1,70 M. P. Stürner, Die Eigenart des Erwachsenenschulunterrichts. I. Die Heimat- kunde. Il. Die deutsche Kulturgeschichte. 45 Seiten. Preis 1.75 M.

Dr. A. Kleinicke, Ein Besuch in der dänischen Volkshochschule zu Valle- kilde. 21 Seiten. Preis 80 Pf.

P. Stürner, Deutsche Erwachsenenschulen. Grundgedanken und Ideale. l. u. 2. Auflage. 36 Seiten. Preis 1,40 M.

Dr. K. Muhs, Volkshochschule und Volkswirtschaft. 49 Seiten. Preis 2 M. Dr. Graf v. Pestalozza, Die Kulturaufgaben der Volkshochschule. Preis 3 M. Prof. Dr. D. H. Weinel, Die Religion in der Volkshochschule. Preis 1,20 M.

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Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.

Soeben erschien in 3. Auflage

Die Berliner Begabtenschulen,

ihre Organisation und die experimentellen Methoden der Schülerauswahl. Von Moede-Piorkowski- Wolff.

Mit 3 Textabbildungen und 2 Tafeln. 262 Seiten. Preis 6 M.

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\ gegen die Berliner Begabtenprüfungen sowie ihre

kritische Würdigung. Von Dr. Moede und Dr. Piorkowski. 30 Seiten. Preis 1,50 M. f = Zu beziehen durch jede Buchhandlung.

Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.

Die freien Erziehungs- und Bildungsanstalten nach ihrer ideellen und wirtschaftlichen Bedeutung

für unser deutsches Volk der Gegenwart.

. Von Dir. J. Trüper. 173 Seiten. Preis 7 M.

Der wirtschaftliche Wert unserer freien (privaten) Schulen und Erziehungsanstalten. Von Dr. Adrian.

13 Seiten. Preis 50 Pf. Die Notwendigkeit der freien (privaten) Schulen und Anstalten in den neuen Staaten.

Von Schulrat Karl König. 35 Seiten. Preis 1,20 M.

30°, Teuerungszuschlag.

Zu beziehen durch jede Buchhandlung.

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