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THE UNIVERSITY OF ILLINOIS LIBRARY JTE OS

KI v.26

‚Zeitschrift für Kinderforschung

mit besonderer Berücksichtigung der pädagogischen Pathologie

Im Verein mit

Dr. G. Anton Dr. E. Martinak Chr. Ufer Dr. Karl Wilker

Geh.Med.-Ratu.Prof. Hofrat u. o. 8. Prof. d. Rekt.d.Süd-Mädchen- Dir. d. Städt. Erziehungs- an der Univ. Halle Pädag. a. d. Univ. Graz Mittelsch.i. Elberfeld heimsBerlin-Lichtenberg

herausgegeben von

J. Trüper

Direktor des Erziehungsheims und Jugendsanatoriums Sophienhöhe zu Jena

Sechsundzwanzigster Jahrgang

Langensalza

Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) Herzogl. Sächs. Hofbuchhändler 1921

Alle Rechte vorbehalten.

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Inhalt.

Zum Geleite . | + + A. Abhandlungen: Brennecke, Zur Frage der IR der Revolution und der Revo- lutionäre è une ri »Einzigen«, Zum Seelenleben des einigen Kindes E ent Hermann, Woher? Wohin? . y `a ET.

Huber, Elementarunterricht für niedere Sohwachainnetormen š ; Martin, Die Gefühlsbetonung von Farben und Farbenkombinationen bei Kindern Planner: Zingerle, Bericht über die fachärztliche Untersuchung der Zöglinge der Fürsorgeerziehungsanstalt des Grazer Schutzvereines in Waltendorf Wittig, Der Einfluß des Krieges und der Revolution auf die Kriminalität der Jugendlichen und ihre ERSTE 4 im se durch Willens- übungen . .... U EB

B. Mitteilungen: Zur Geschichte der Blödsinnigenbildung . Untersuchung der Schulneulinge f Bericht über die Vertreterversammlung dor vereinigten + dentschen n Prüfungs ausschüsse für Jugendschriften a š : š Elternbeirat und Schulgemeinde š Zur Frage der notleidenden Schuljugend Der 5. Breslauer Hilfsschulkursus .

Stetten i. R. . š Institut für Payohologio und “Pädagogik i in Mannheim š sya yy Sa av EE Zeitfragen . . . . 57.

Deutsche Kulturarbeit an den Schwachsinigen in n: der Tschechoslowakei Krüppel in eigner Sache! rg De a e “S, ak u wa y! Ein Vorkämpfer der Jugendfürsorge ? ;

> entscher Verein für Schulgesundheitspflege .

Dr. Karl Wilker und der »Lindenhof« .

Das Rauhe Haus in Horn bei Hamburg

Erziehungsmerkblätter . . .

Provinzialinstitut für praktische Psychologie, Halle : a. S.

»Die Kulturschande Europas vor dem Schwurgericht«

Das Taubstummenwesen in in Tas

Heilpädagogik . . - Das Institut f. Juganakupuqera an "der n.- „österr. Tandes-Lebrerakademie in "Wien

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Seite

IV Inhalt.

Über die Not der Erziehungs- und Kinderheilanstalten

Der Verband »Deutsche Hilfsschnle i. d. tsch.-sl. Rep.« .

Zweite Tagung über Psychopathenfürsorge . .

Über Badische Kindererholungsfürsorge im Jahre 1920

Zur Psychologie der Diktatanbahnung in der Hilfsschule . ;

Eine freie Sprachstunde in der 4c bei schwachbegabten Taubstammen ; Revue de l'Institut des Sociologies SN: Oa a O cZ ee S Gesundheitszustand der dentschen Jugend .

Die Wiederaufnahme internationaler Beziehungen

Ferienkurse in Jena vom 3.—17. August . .

Der 11. Würzburger schulgesangpädagogische Portildungskun. Schulkinder-Ausstellung in Düsseldorf . . . + ; Arms Be A qas a Kleinere Mitteilungen . . . De “v BO: Der suggestive Einfluß des Films auf die Kinder hanse WAR s wa eur Kindgemäße Erziehung und Gesetzesbestimmungen .

Fürsorge-Erziehung in Finnland š Dr

Zum Begriff »Heilpädagogik«e . . . 2.2...

€. Literatur:

Barth, Die Geschichte der Erziehung in soziologischer und ER licher Beleuchtung . a Da

Barth, Die Elemente der Erziehungs- und Unterrichtslehre

Beetz, Der Mann und sein Werk . .. ;

Bünnings u. Triebold, Erwerbsfürsorge für die Tangopkraaken ç

Delitsch, Soziale Fürsorge für die aus der Hilfsschule Entlassenen

Ebbinghaus, Grundzüge der Psychologie 1

Eggersdorffer, Die Schulpolitik in Bayern von der Revolution Di zum Ab- gang des Ministeriums Hoffmann er

Eingegangene Schriften . . KR 1m. 223. 270.

Festschrift zum 25jähr. Bestehen des freiwilligen Erziehungsbeirats für schul- entlassene Waisen in Berlin

Hartmann, Die Lösung des Problems der Einheitsschule im "Geiste Karl Volkmar Stoys . MT a dor E a fy a (Sp sQ Š

Haase, Angewandte Seolënkunqa: -

Heyn, Die Gartenbauschule oe

Külpe, Vorlesungen über Psycholgie `

Landsberg, Können wir Kriegswaisen der Armenpflogo überlassen? š

Literatur zur Kriminalitšt der Jugendlichen š

Mellin, Hauptschwierigkeiten der englischen Sprache.

Merk, Die Schriftfrage als Kulturfrage

Mönkemöller, Die Strafe in der Fürsorgeerziehung .

Petersen, Ein Gang durch das erste Schuljahr

Reh, Zur mittelalterlichen Kulturgeschichte .

Rosenhaupt, Reifealter und Schule

Siebs, Deutsche Bühnenaussprache . g

Trüper, Zur Schulgesetzfrage in Thüringen .

Ziehen, Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung bezüglich der sogenannten psychopathischen Konstitutionen .

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Zum Geleite.

Mit diesem Hefte beginnt ein neuer Jahrgang unserer Zeitschrift, der 26. Ein Vierteljahrhundert liegt hinter uns. Wir wollten ein Sach- und Stichwortverzeichnis bringen, um so diese 25 Jahrgänge und mit ihnen die fast 200 »Beiträge« zu einem bequemen Nach- schlagewerk der Psychologie und Psychopathologie des Kindes- und Jugendalters also der Seelenkunde des Kindes in gesunden und kranken Tagen wie der darauf sich gründenden naturgemäßen Bildung und Erziehung, und insbesondere der Heilerziehung, also zu einer Art Encyklopädie der Pflege, Bildung und Erziehung, und zwar in erster Linie der irgendwie abnormen Jugend zu gestalten. Die Zeitverhält- nisse brachten es mit sich, daß die Arbeit nicht ganz fertig geworden ist. Sie wird aber als Heft 200 unserer »Beiträge« erscheinen.

Immer wieder wurde ich im Laufe der Zeit von interessierten Lehrern, Ärzten, Juristen usw. um Literaturangaben ersucht, wenn sie irgend eine Spezialfrage für irgend einen Zweck bearbeiten wollten. Da wird das 200. Heft jedem sofort die nötigen Hinweise geben.

Ein geschichtlicher Rückblick wäre an dieser Stelle angezeigt. Er würde manches Interessante zur Entwicklung der genannten Pro- bleme bieten können. Fragen, die jetzt die pädagogischen wie medi- zinischen Schwalben auf dem Dache zwitschern, waren vor 25 Jahren etwas Außergewöhnliches.

Es war nur eine sehr kleine Schar von Pädagogen und Medi- zinern, die Verständnis hatte für unsere Fragen der »Kinderfehlers, wie wir zuerst unsere Zeitschrift nannten; ja, da Prof. Strümpell- Leipzig bei aller Freude über unseren Plan die Mitherausgabe und Mitarbeit seines Alters wegen ablehnte, so gelang es Koch, Ufer und mir im ganzen nur vier Mitarbeiter zu gewinnen. Aber die Arbeit trug dennoch ihre Früchte. Die Zahl der Leser und Er

Zeitschrift für Kinderforschung. _26. Jahrgang.

2 Zum Geleite.

vermehrte' sich zusehends. Aus allen Teilen der Welt meldeten sich im Laufe der Zeit Mitleser und Mitarbeiter. Auch mehrere Zeit- schriften mit ähnlichen Aufgaben entstanden im Laufe der Zeit im In- und Auslande.

In dieser trüben Zeit der nationalen Knechtung durch unsere zum Teil mit Sadismus behafteten Erzfeinde ist es am 50. Gedenktage der Gründung des Deutschen Kaiserreiches wohl am Platze, noch be- sonders hinzuweisen auf unsere Beziehungen zum Auslande.

Den Gruß »Deutschland in der Welt voran<, der uns während des Krieges aus Norwegen zuging, erwähnte ich schon im letzten . Hefte. Während des Krieges waren auch wir abgesperrt. Aber nach dem Waffenstillstand haben die Herausgeber verwandter Zeit- schriften aus der Schweiz, aus Holland, aus Nordamerika, aus Spanien, aus Ungarn, aus Serbien usw. uns wieder durch ihre Zusendung er- freut und unsere Verbindung aufs neue erbeten; daß selbst der Justiz- minister des uns jetzt so feindlichen Belgiens an mich ein Schreiben richtete, unsere Zeitschrift mit der »Revue de L’institut de Sociologie« wieder auszutauschen, sei ein besonderes Zeichen dafür, daß die Liebe zur heranwachsenden Menschheit doch noch einmal allen Haß über- winden werde.

Wir begrüßen alle diese Gesinnungsgenossen im neuen Viertel- jahrhundert herzlich und freuen uns, daß sie mit uns gemeinsam am Wohle der Jugend weiter arbeiten wollen. Denn der Krieg und seine Folgen, mehr aber noch die Denkungsart, aus der er hervorgegangen, hat Wunden an Leib und Seele geschlagen, die in einem halben Jahr- hundert kaum verheilen werden.

Bei dieser Gelegenheit aber möchte ich nicht verfehlen, einen kleinen Beitrag zu unserem »Unrecht an Belgien« gegenüber dem Lügenfeldzug unserer Erzfeinde zu liefern. Vielleicht trägt es bei den nichtdeutschen Lesern mit dazu bei, unsere »Schuld am Welt- kriege« von einer andern Seite zu betrachten und ihre Auffassung einer Revision zu unterziehen.

Nicht lange vor Beginn des Weltkrieges waren zwei hervor- ragende belgische Staatsmänner bei mir auf der Sophienhöhe. Die Namen will ich nicht nennen; es möchten ihnen sonst noch Un- annehmlichkeiten daraus erwachsen. Sie waren einen ganzen Nach- mittag bei mir. Der eine, ein Vertreter des Kultus, bat mich, einen Entwurf eines Erziehungsgesetzes für Belgien zu begutachten. Der Entwurf ist mir jedoch nie zugegangen. Der andere hatte eine her- vorragende Stellung im Militärwesen. Jener vertraute mir nun an, dieser wolle das deutsche Heerwesen studieren und das belgische dar-

Zum Geleite. 3

nach reorganisieren, Belgien wolle dann sein Heer verdoppeln und sich Frankreich gegenüber, das gegen uns Krieg plane, auf Deutschlands Seite stellen. Gleichviel, ob es aufrichtig gemeint war oder ich zu Spionagediensten benutzt werden sollte, die unantastbare Neutralität Belgiens wurde hier verneint. Auch das sei noch erwähnt: Wenn wir darum nicht in Belgien eingerückt wären, hätte Frankreich es getan, ja, hatte es ja schon vor uns getan. Und während des Krieges ging mir von einem hochangesehenen siebzigjährigen Belgier ein Schreiben zu, worin er sich freute, daß Deutschland die Flamen aus einer fünfundachtzigjährigen unerhörten Knechtschaft eines fremden Volkes befreit habe. Wir sind also im Deutschen Reich nicht die Einzigen, denen der Vernichtungskrieg mit oder ohne Waffen gilt. Diesem Greise, dessen Namen ich ebenfalls verschweigen muß, um ihn vor Einkerkerung zu bewahren, dem langjährigen Freunde unserer Zeit- schrift und Kainpfgenossen; für das Wohl der Jugend sei auf diesem Wege ein besonderer Gruß entboten.

Hoffen wir, daß der Krieg der historischen Erzfeinde Deutsch- lands gegen unser friedliches Volk bald aufhöre, zumal er in den beiden letzten Jahren grausamer gegen uns geführt worden ist, als der Waffenkrieg es je gewesen. !)

Hier liegen auch für unsere Zeitschrift noch ungelöste Aufgaben. Es gilt, nicht bloß einzutreten für Schutz und Pflege der Jugend, die durch Hungerblockade und ähnliche Mittel an Leib und Seele für ihr ganzes Leben verkümmert worden ist und wohl auch verkümmert werden sollte, sondern auch den Ursachen der leiblichen und seelischen Minderwertigkeiten dieser Jugend nachzuforschen in der moralischen Entartung ganzer Völker und großer politischer Klassenorganisationen innerhalb desselben Volkes, es gilt die Jugendkunde ins Auge zu fassen vom Standpunkte der Völker- psychologie, der Rassen- und der Klassengesinnung.

Ich wollte nun in diesem Hefte meine Betrachtungen über die Reichsschulkonferenz fortsetzen. Ich habe die Arbeit von Tag zu Tag, von-Woche zu Woche, von Monat zu Monat verschieben müssen. Auf mir lasteten zu viele Verpflichtungen. Hinzu kam, daß nicht

1) Während des Burenkrieges veröffentlichte der englische Politiker Henry Labouchere in seinem Wochenblatte »Truth« das Gedicht: »Where is the Flag of England?«. Die »Tägliche Rundschau« bringt preisgekrönte Übersetzungen, Wenn es wahr wäre, was die Feinde uns zum Vorwurf in der Schuld am Welt- kriege machen, dann wäre es doch nur ein Kinderspiel gegenüber dem, was der Engländer unwiderleglich den Engländern vorhält als eine stetige Handlung, als eine kriminelle Psychopathie der englischen Nation, unter der auch heute unsere Jugend schwer leidet.

1*

4 Zum Geleite,

der Krieg, wohl aber das Psychopathische, das nach dem Kriege im Innern unseres Volkes zutage trat und von unsern Todfeinden mit allen Mitteln begünstigt wird, ein freies kulturelles Unternehmen wie die Sophienhöhe in ihrer Existenz bedrohte und darum an den Leiter doppelte Anforderungen an Zeit, Kraft und Sorge stellte, die Heraus- gabe der Zeitschrift mir aber schon länger allein überlassen blieb, da wie früher Herr Ufer, so jetzt auch Herr Dr. Wilker durch sein neues Amt so in Anspruch genommen war, daß ich von keiner Seite auf besondere Mithilfe rechnen konnte. Herr Hofrat Prof. Martinak hat in Österreich-Ungarn sein Bestes getan und Herr Geh. Med.-Rat Prof. Anton in den Kreisen der Mediziner. Die Hauptarbeit aber blieb naturgemäß mir. Die Frage: »Was wird mir dafür?« habe ich in den 25 Jahren nicht gestellt und brauchte sie nicht zu stellen. Es galt: Wie kann man der Jugend und dem Volke dienen? Jetzt aber werden solche Fragen für uns alle ernster? Wie alle Privatanstalten ist auch die Sophienhöhe in ihrer wirtschaftlichen und damit ideell- kulturellen Existenz bedroht, dank dem »Unverstand der Massen«, worüber die Arbeiter-Marseillaise selbst klagt und den die Demagogen der Massen nicht aus Sozialismus, sondern aus Egoismus ausnutzen und dabei alle freien kulturellen Unternehmungen beseitigen oder in materiell-gewerbliche Zwangsanstalten verwandeln möchten.

So war von mir der Kampf nach zwei Fronten zu führen. Und diese Not drängte darum zur Herausgabe der Zeitschrift »Die freie Bildung und Erziehung in Haus, Schule, Kirche und Staat« als Organ der Landesverbände der freien (privaten) Schulen und An- stalten. 6 Doppelhefte sind davon im Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza erschienen. Sie seien neben meinen besonderen Schriften: »Die freien Erziehungs- und Bil- dungsanstalten nach ihrer ideellen und wirtschaftlichen Bedeutung für unser deutsches Volk der Gegenwart« (Ebenda 1919. 167 S. Preis 7 M) und »Zur Schulgesetzfrage in Thüringen« (Ebenda 1920. 28 S. Preis 1 M) auch unsern Lesern als Beiträge zur Sozial- psychologie und Sozialpsychopathologie wie nationaler Heilerziehung angelegentlich empfohlen.

Die Herausgabe des 2. Jahrganges jener Zeitschrift hat erfreu- licherweise der »Reichsverband deutscher freier (privater) Unterrichts- und Erziehungsanstalten E. V.« übernommen (Verlag Greiner & Pfeiffer- Stuttgart) und mich so wieder entlastet. Ich empfehle allen unsern Lesern, die noch Sinn für freie Kulturbetätigung gegenüber der heutigen scheindemokratischen und scheinsozialistischen Zwangskultur sich be- wahrt haben, sich dieser Sache mit anzunehmen. Ist doch die ganze

. I Zum Geleite. 5

Arbeit in den 25 Jahrgängen dieser Zeitschrift auch freie, private Arbeit, aus freier Initiative entsprossen. Ja, wenn die Wahrheit und die Freiheit in Gefahr stehen, dann gilt es zunächst die Freiheit zu retten, die Wahrheit kann dann für sich selber kämpfen“ Die Freiheit ist aber auf unterrichtlich-erziehlichem Gebiete weit stärker bedroht, als es im alt-bürokratischen Staatsleben je der Fall war. Hoffentlich be- greifen die Erziehungsberechtigten wie- -berufenen das nicht allzuspät.

Alle diese Verpflichtungen im außergewöhnlichen Kampfe um das wirtschaftliche wie ideelle Dasein der Sophienhöhe sind der Grund, warum dieses Heft verspätet erscheint. Ich habe es sogar wiederholt überlegen müssen, ob ich mit 66 Jahren bei allen diesen Verpflich- tungen die Zeitschrift überhaupt weiterführen könne und solle. Die Arbeit ist keine »lohnende« und wird von keiner »Gewerkschaft« geschützt und gestützt, und die Verantwortung eine große. Und im letzten Grunde reicht meine Zeit und Kraft nicht für die dafür not- wendige und durch die Zeitverhältnisse mir immer mehr zugefallene Arbeit. Aber dennoch.bin ich zu dem Entschluß gekommen, durch- zuhalten, auf bessere Zeiten und neue Mitärbeit in der Herausgabe hoffend, weil ich gerade im letzten Jahre mehr denn je eingesehen habe, daß unsere Zeitschrift einem besonderen Bedürfnis entspricht. Nur ein paar Beispiele: Als die in Berlin und Halle gehaltenen Vor- träge über jugendliche Verwahrlosung, jugendliche Psychopathie und „Jugendpflege einem weiteren Kreise zugänglich gemacht werden sollten, da konnten wir es ermöglichen. Und als ebenso im letzten Sommer in Jena die segensreichen Ferienkurse der Universität wieder neu ins Leben gerufen werden sollten, da wandte Prof. Rein sich ebenfalls an uns, bei den fehlenden Mitteln für Drucklegung des Programms in unserer Zeitschrift zu sorgen. Und aus zahlreichen Zuschriften zum Abschluß des 25. Jahrganges geht hervor, was die Zeitschrift für viele Jugendfreunde gewesen ist und was weiterhin von ihr er- wartet wird. Noch in diesen Tagen schreibt mir z. B. Prof. Klumker- Frankfurt, wie es viele vordem getan:

»Ihre Zeitschrift. habe ich mit großem Interesse verfolgt. Sie hat jedenfalls nicht geringe Verdienste für die Gestaltung der Kinder- fürsorge in Deutschland gehabt; ich würde es sehr bedauern, wenn sie in den allgemeinen Zusammenbruch, der ja leider eben erst ricbtig anfängt, mit hineingerissen würde. Ihre Zeitschrift war sicher ein wertvolles Mittel, neue, wichtige Gedanken zu erörtern, zu klären und gerade die Praktiker für sie zu erwärmen. Ich wünsche Ihnen von Herzen, daß es Ihnen gelingt, die Zeitschrift zu erhalten.«

6 Zum Geleite. I .

Ihm wie allen, die mich durch ihre Zuschrift erfreuten und die während der 25 Jahre uns durch ihre Mitarbeit unterstützt haben, sei hiermit der herzliche Dank von uns Herausgebern wie auch im Namen des Verlegers ausgesprochen mit der Bitte, uns auch im zweiten Vierteljahrhundert treu zu bleiben im Mitlesen und Mit- arbeiten.

Wir werden unsererseits tun was wir können, nicht um in alten ausgefahrenen Geleisen weiter zu fahren, auch nicht, um uns vor die modernen gewerkschaftlichen, parteipolitischen und scheinreformerischen Wagen spannen zu lassen oder aus Wolkenkukuksheim der ideologi- schen Theoreme am Hergebrachten herumzumodeln oder Luftschlösser ohne die sicheren Fundamente der gegebenen Tatsachen und Voraus- setzungen zu bauen, sondern wir wollen nach wie vor mit dankbarem Herzen für die Leistungen der Vergangenheit im Sinne der ersten der 95 Thesen Luthers zu wirken suchen, daß »das ganze Leben (auch das jugendkundliche und jugenderzieherische) eine stete Buße (oder Verbesserung, Reformation) sein soll. + Nur so kommen wir vorwärts, mehr als nach der Weise der Echternacher Springprozession, die die Zeit seit dem 9. November 1918 wie überall so auch auf unserm Gebiete nachzuahmen scheint, indem sie in der Richtung nach Utopien drei Schritte vorwärts hüpft und dann wieder zwei zurückspringen muß, um den Boden nicht unter den Füßen zu ver- lieren. Versuchten doch selbst Mitglieder der auserlesenen Reichs- schulkonferenz und manche moderne Schulgesetzgebung sich in diesem Sinne zu betätigen, wie wir in den nächsten Heften sehen werden.

Ich will nicht ungesagt lassen, daß die Arbeit auf unserm Gebiete in erster Linie leider ihren Lohn in sich finden muß. Im andern Falle hätte ich das Werk weder begonnen noch es lange fort- geführt. Das muß ich in der Zeit, wo alles um des materiellen Lohnes und um der Versorgung aus der Staatskrippe willen sich ge- werkschaftlich organisiert, doch zum Ausdruck bringen. Ich gehöre allerdings noch zu den alten Leuten, denen es gegen die Ehre ging, sich öffentlich in gesunden Tagen versorgen zu lassen. Von meinem 15. Lebensjahre an bin ich mein eigener Versorger gewesen. Zwar habe ich 14 Jahre als Lehrer dem preußischen und bremischen Staate treu gedient. Als ich Urlaub ohne Gehalt zum Zwecke des Uni- versitätsstudiums erbat, erhielt ich ihn nur für ein Jahr bewilligt. Für die Fortsetzung war ich genötigt, meine Entlassung zu nehmen. Und seitdem bin ich stolz darauf, nie einen Pfennig Beihilfe aus der Ge- meinde- oder Staatskasse erhalten zu haben, und wenn ich erwerbs- unfähig bin, winkt mir auch kein Pfennig Ruhegehalt, obgleich ich doch

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Zum Geleite. 7

in jenen 14 Jahren und durch die Herausgabe der 25 Jahrgänge und durch mein Lebenswerk auf der Sopltienhöhe auch Staat und Gesell- schaft gedient habe, noch dazu ohne Entgelt. »Auf sich selber steht er ganz allein.«c In diesem stolzen Schillerworte liegt meines Er- achtens darum auch weit mehr Heil für die Zukunft unseres darben- den Volkes und mehr wahrer Sozialismus als in dem fortwährenden Schreien und Organisieren, um sich vom Schweiße der Mitmenschen in Staat oder Gemeinde auch ohne hingebende Arbeit versorgen zu lassen.

In diesem Geist und Sinne bitte ich unser gemeinsames Werk verstehen zu wollen. So möchte ich es auch nur fortführen und es nicht »sozialisieren« lassen, um damit wahrhaft sozial wirken zu können, noch ganz im ‘Sinne meiner Schriften vor. 30 Jahren,!) zu dem ich mich trotz staatlicher wie volkswirtschaftlicher Evolutionen und Revolutionen noch heute bekennen muß, so daß ich gegenüber dem Marxismus, der die Gegenwart beherrscht, an Kants Auffassung festhalten muß: man kann die Menschen nicht glücklicher machen, wenn man sie nicht besser macht, oder an der jenes größten Sozia- listen vor 1900 Jahren: »Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt (an materielem und intellektuellem Besitztum) gewönne und nehme doch Schaden an seiner Seele?«

In diesem Geiste trotz aller unserer Schwachheit möge unser Werk auch im neuen Vierteljahrhundert weitergedeihen und für die Jugend erfolgreich wirken!

Dann werden Werte, an die wir »Alten« heute am 50. Jahres- tage der Reichsgründung mit Schmerzen zurückdenken, trotz des Ver- nichtungshasses unserer Feinde wieder von neuem hervorsprießen, aber auch nur dann.

1) Trüper: 1. Die Schulen und die sozialen Fragen unserer Zeit. I. Die Schulfragen und ihr Verhältnis zum sozialen Leben. 50 Pf. II. Die Schule und die wirtschaftlich-soziale Frage. 80 Pf. III. Die Angaben der öffentlichen Er- ziehung. 1 M. (Hierzu 60°/, Verlags- und 20°/, Sort.-Zuschlag.) 2. Friedrich Wilhelm Dörpfelds Soziale Erziehung in Theorie und Praxis. 3 M, geb. 3,60 M. (Dazu 60°/, Verlags- u. 20°/, Sort.-Zuschlag.) Beide bei C. Bertelsmann-Gütersloh. 3. Die Familienrechte an der öffentlichen Erziehung. Ein Wort der Verständi- gang im schulpolitischen Kampfe. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1893. 2. Aufl. 1,25 M (nebst 80°/, Teuerungszuschlag).

J. Trüper.

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A, Abhandlungen,

Der Einfluß des Krieges und der Revolution auf die Kriminalität der Jugendlichen. Von Anstaltslehrer K. Wittig, Bautzen i. Sa.

Soweit die Ausführungen die Kriegszeit betreffen, wurden sie ` im Herbst 1918 niedergeschrieben. Der bald darauf eintretende politische Umsturz verzögerte ihre Veröffentlichung um 2 Jahre und nahm ihnen damit das Wesen einer Gegenwartsschilderung. Sie sind nun nur noch als Zeitbild vergangner Tage zu werten und werden als solches der Kriminalpsychologie ihre Dienste leisten. Das Zeitbild wäre aber unvollständig, wollte es nur die Irrungen und nicht auch die Maßnahmen zur Bekämpfung der Kriminalität berücksichtigen. Die Ausführungen werden darum in dem für 1918 vorgesehenen Umfang und zur Erhaltung des Flusses und der Anschaulichkeit der Darstellung auch unter Beibehaltung der Gegenwartsform veröffent- licht. Erweitert sind sie durch die Darstellung der Wirkungen der Revolutionszeit auf die Kriminalität in Abschnitt IL

Der Leser wird aber sicher den dringenden Wunsch haben, zu erfahren, wie wir im Jugendgefängnis nun das Willensleben der kriminellen Jugend beeinflussen, zumal unsere Erfahrungen auch für Familie, Schule und öffentliche Jugendpflege einigen Wert haben dürften. Ich füge darum den Ausführungen einen III. Abschnitt hinzu, ‚indem ich ein für die Erziehungspraxis besonders wichtiges und interessantes Teilgebiet aus der Zahl der erziehlichen Maßnahmen des Jugendstrafvollzugs schildere, die Willensübung.

* *

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Wittig: Einfluß des Krieges und der Revolution auf die Kriminalität usw. 9

Bereits in Heft 129 der vorliegenden Sammlung wurde von mir das Thema »Der Einfluß des Krieges auf die Kriminalität der Jugend- lichene erörtert. Wozu nun nochmals? Jenes Mal konnte es sich nur um die Darstellung der Anfangswirkungen handeln; Licht und Schatten hielten sich die Wage. Die Länge des Krieges aber hat die ungünstigen Einflüsse nicht nur verstärkt, sondern auch neue, tiefer greifende geschaffen. Dazu baben die steigenden Schwierigkeiten der Zeit die in der Natur der Jugendlichen überhaupt, der Abnormen im besonderen liegenden inneren Ursachen der Verwahrlosung deutlicher hervortreten lassen. Das gibt der folgenden Darstellung ebenso ihre Berechtigung, wie die eingetretene Klärung der Kriminalstatistik in ihren Grundzügen wenngleich auch jetzt noch nur lokale Be- obachtungen vorliegen und ein gewisser Abschluß der Maßnahmen zur Hilfeleistung an unsern Jugendlichen.

I. Einfluß des Krieges.

A. Mag zuerst die Statistik das Wort führen! Wir blicken zu- nächst einmal Kinein in die Jugendabteilung der Strafanstalt Bautzen. Ist den Bestandszahlen auch nur lokale Bedeutung beizumessen, so können sie doch als Widerschein der auch anderwärts beobachteten Kriminalitätsbewegung gelten.

Übersicht I. Höchstbestand der Jugendabteilung der Bautzner Strafanstalt.

1914 1915 1916 1917 1918 Januar. . a. . 100 70 169 212 310 Februar . . . 96 75 183 214 310 März . + ion 94 76 176 209 293 April. : 2%; 94 76 169 198 291 Mi .... 96 75 173 196 297 Juni yos n 89 83 175 201 287 Jul: s 2 %: s SL 94 188 &12 294 August . . . 88! 100 197 229 281 September . . 59! 104 5 215 231 279 Oktober . . . 63 119 233 240 November . . 65 129 216 288 Dezember . . 62 157 223 322

Der Durchschnittsbestand der Friedenszeit war 90. Der Kriegs- beginn brachte infolge der Amnestie ein jähes Sinken auf 52. Aber schon 1915 begann das Steigen: im Juli war die durchschnittliche

10 A. Abhandlungen.

Friedensstärke wieder erreicht, im September die 100 überschritten. Und seitdem ging es unaufhaltsam aufwärts bis zur 322 im Dezember 1917, der 3!/,fachen Friedensziffer! War das der Höhepunkt der Krisis? Die folgenden Monate halten sich unter der Höchstziffer und lassen ein langsames, aber stetes Sinken spüren; doch weiß ich mangels neuster Zahlen aus andern Teilen Deutschlands nicht, ob dem all- gemeine Bedeutung beizumessen ist.

Als Vergleichsmaterial zu Übersicht I mag folgendes gelten:

Große Ähnlichkeit mit der Kurve der Übersicht I weisen die Zahlen auf, die die Jahresberichte der Leipziger Zentrale für Jugend- fürsorge über die straffälligen Jugendlichen mitteilen.

1913/14: 456, 1914/15: 292, 1915/16: 680, 1916: 883, 1917: 1260.

Im gleichen Rhythmus bewegt sich auch die Zählung der Dresdner Jugendhilfe; der Jahresbericht 1917 meldet, daß 1913: 581, 1914: 476, 1915: 880, 1916: 1176, 1917: 1400 Jugendliche abgeurteilt wurden, d. i. im Jahre 1917 gegen 1916 eine Steigerung von 19°/,, gegen 1913 aber 140°/,.

Die Jugendhilfe Halle a. S. berichtet 1913 über 338, 1914: 251, 1915: 445, 1916: 1461 straffällig gewordene Jugendliche. (Bericht 1916.) ? l

In Stuttgart betrug die Zahl der Bestraften

1914: 292, 1915: 508, 1916: 557, 1917: 789.

Der Berliner Jugendgerichtshilfe wurden überwiesen

1914: 1702, 1915: 2890, 1916: 4297 neue Fälle.

Die Zahl der Hauptverhandlungen an den Amtsgerichten Berlin- Mitte, Wedding, Tempelhof und der Jugendstrafkammer der Kgl. Landgerichte I, I, OI betrug

1914: 1131, 1915: 1413, 1916: 2681, 1917 (1. Halbjahr): 1533, 1918 (1. Halbjahr): 2658 (»Die Jugendfürsorge« XII, Nr. 11).

Nach Feststellungen der preuß. Justizverwaltung waren gegen

Jugendliche Strafverfahren anhängig

1914: 51500, 1915: 75785, 1916: 114620,

1917: 189483, 1918 (1. Vierteljahr): 42220 (das betrüge aufs ganze Jahr 168880 und ergäbe somit für 1918 einen Rückgang der Kriminalitäts-Ziffer, wie ihn Übersicht I andeutet).

Die durchschnittliche Tagesbelegung der Gefängnisse der Justiz- verwaltung mit männlichen Jugendlichen betrug

1913: 376, 1917: 835.

Wittig: Einfluß des Krieges und der Revolution auf die Kriminalität usw. 11

Das Jugendgericht Köln hatte sich mit Strafsachen gegen Jugend- liche zu befassen:

1913 in 903 Fällen, 1914 in 693, 1915 in 982, 1916 in 1612, 1917 in 2043, 1918 in 3000 Fällen.

In Wien waren die Jugendlichen 1910 mit 8,9%, an den Ver- urteilungen beteiligt, 1916 aber mit 29,6°/,; in den 7 Friedensmonaten 1914 zählte man 2072 Fälle, in den 5 Kriegsmonaten 1914 aber 2574 und im Jahre 1915: 6317. Und in England beobachtete man An- fang 1916 eine Steigerung der Kriminalität der Jugendlichen um 50°/,, in Petersburg um 100°/,.

Kehren wir hierauf zu Übersicht I zurück!

Außer dem stetigen Ansteigen der Ziffern gewahren wir keine Gesetzmäßigkeit. Ob Sommer oder Winter, ob Zeiten des Arbeits- wangels oder übergroßen Verdienstes die Jugendpsyche, als Teil der Volksseele gedacht, ermangelt infolge der Beweglichkeit und Suggestibilität ihrer Einzelseelen der Geschlossenheit in ihrer Reaktion auf klar zutage tretende Einzelerscheinungen der Zeit. Je nach seiner besonderen Anlage gibt der Jugendliche den mannigfachsten Reizen nach. (Im Gegensatz hierzu weist die Statistik der Stuttgarter Jugend- gerichtshilfe über das Jahr 1917 ein ruckartiges Steigen der Kriminalität mit dem 3. Vierteljahr auf, das mir sonst nicht wieder begegnet ist, und dessen Begründung mit der »Reife der Früchte« mir gewagt erscheint, da es sich auch im 4. Vierteljahr in erhöhtem Maße fortsetzt.)

Bezüglich der Beteiligung der Altersklassen an der erwähnten Steigerung bis Ende 1917 gibt Übersicht II Aufschluß.

Übersicht II.

Jahres- Davon Davon Davon Jahr zugang 12—14jähr. 14-—16jähr. 16—18jähr. 1913 30 18=6 % 697=24,%, 215=712,%, 1914 24 13=61, 3-17, 155=76 1915 326 16=5 83=25 227=70 1916 551 36=61,, 163=30 j, 352=63:Ü,, 1917 660 51I=7%/,, 210=318 399=—60,5

1918 (bis VII) 545 23=4 134—=248 38—=712

Man sollte aber eigentlich nicht die zufällige Grenze des 14. Jahres als Gliederungsgrund wählen, sondern sollte scheiden zwischen Schul- knaben und Schulentlassenen. Der Übertritt in geordnete Arbeits- verhältnisse bedeutet für viele auf Abwege Geratene das Heilmittel. Übersicht III erhält damit folgendes Bild:

12 A. Abhandlungen.

Übersicht II.

Volksschul- Schulentlassene Jahr pflichtige bis 16jähr. 16—18 jähr. 1913 71/3) 21 % -71/3 1914 62/, x” 17 1/s > 76 1915 T 1/3 22 ?/; 70 5 1916 113/;;5 235 ,„ 63 th 5 1917 121), 27%, y 1918 61/, 222/, 711/,

Bis Ende 1917 erkennen wir hiernach einesteils ein prozentuales Abnehmen der 16—18 jährigen von 76 auf 60°/,, andernfalls aber ein starkes Zunehmen der 12—14jähr. von 6?/, auf 121/,°/, und der 14—16jähr. von 171/, auf 272/,°/,. Auch hierzu mögen einige Ver- gleichszahlen folgen.

Die oben mitgeteilten Zahlen der Amtsgerichte Berlin-Mitte usw. setzen sich aus den Altersklassen so zusammen, daß die 12—14jähr. 1914 mit 110/,, 1915 mit 18°/,, 1916 mit 16%, 1917 mit 12 und 1918 mit 7°/, beteiligt sind; die 14—16jähr. mit 35, 43, 46, 31 und 32°%/,; die 16—18jähr. mit 54, 39, 38, 33 und 61°/,. Das jähe Ab- nehmen der 12—14jähr. und das jähe Zunehmen der 16—18jähr. im Jahre 1918 ist wohl der auffälligste Zug daran.

Weniger Schwankungen in der Beteiligung der Altersklassen weisen die oben angeführten Zahlen der Leipziger Zentrale auf:

12—14 jähr. 14—16jähr. 16—18jähr. 1913/14 18 9% 53 ° 1914/15 29) , 36 ,,. 4 , 1915/16 21%, , 97 5 A 1916 20 > 31!/, 481/3 > 1917 20 75 887 4 s

Der anfängliche Rückgang der 16—18jähr. zuungunsten der beiden jüngeren Klassen und ihre Wiederzunahme (hier bereits 1916!) sind aber unverkennbar.

Ähnliche Ergebnisse zeitigte die Statistik der Stuttgarter Jugend- gerichtshilfe:

12—14jähr. 14—16jähr. 16—18jähr. 1914 37 = 12? h 15=26 % 180=611/ h 1915 115—223/ 150=30 243=472%/,

1916 69=12! „p 145=26 343=611, , 1917 112=14?/o, BI, 445 = 563/0 »

Wittig: Einfluß des Krieges und der Revolution auf die Kriminalität usw. 13

In Wien endlich verteilten sich die »polizeilichen ie gas von Jugendlichen in folgender Weise:

bis 14jähr. 14—18jähr.

1914 a) 730 (7 Friedens-) a) 1342 b) 1473 (5 Kriegsmonate 270°/, Steigerung) b) 1101

1915 3193 3124

Als Grund für diese Verschiebungen der Altersklassen kann wohl die Einberufung der 18jähr. angesehen werden, ebenso ihre größere Verwendbarkeit in Fabriken und nicht zuletzt ihr reiferes Alter, das sie mehr zur Anpassung an die schwierige Zeit befähigt als die urteils- lose Jugend falls nur noch ein gesunder Kern vorhanden ist. Den jüngern Altersklassen gereichten dagegen zweifellos die veränderten Erziehungsverhältuisse in Haus und Schule am stärksten zum Nach- teile. Kenner der Großstadt versichern zudem, daß infolge der steigenden Proletarisierung der Städte die Jugendlichen nicht mehr wie früher im 14.—17., sondern schon im 11.—12. Jahr die Keime des sittlichen Verfalles in sich aufnehmen (Lic. Siegmund-Schultze). Und der Psycholog weist darauf hin, daß der kriminelle Komplex bei Abnormen meist im 14.—15. Jahr zur Entwicklung gelangt (Gregor) und sie darum den vermehrten Versuchungen in größerem Umfange unterliegen läßt.

Ob indessen das geschilderte Verhältnis der Altersklassen dauernd sein wird, muß bezweifelt werden. Schon liegen für das Jahr 1918 Anzeichen vor, daß die Steigerung der Kriminalität wieder alle Alter im früheren Verhältnisse zu erfassen beginnt (siehe Übersicht II u. HI. Der Ruhm der 16—18jähr. war also von kurzer Dauer; der steigende Verdienst mit der Verleitung zu Leichtsinn darf wohl als Hauptursache dazu bezeichnet werden, wie anderseits der Rückgang der 12—16jähr. als Frucht der erziehlichen Hilfsmaßnahmen angesprochen werden darf und uns damit einen tröstlichen Ausblick in die Zukunft eröffnet.

Die Frage nach der Herkunft der Straffällig-Gewordenen ist, wie nicht anders zu erwarten ist, zuungunsten der Stadt zu beantworten. Von den 273 gegenwärtig (d. i. Sept. 1918) in Bautzen befindlichen Sträf- lingen kamen nur 13 aus landwirtschaftlichem Dienst. Und ein Bericht des Jugendgerichts Köln kann gar bei einer Zahl von 3000 Strafsachen in diesem Jahr melden, daß Gemeinden, in denen sich ländliche Art noch rein erhalten hat, am Jugendgericht gar nicht vertreten sind. Leider greift aber die Gier und Hast des Lebens mehr und mehr auch aufs Land über, verdrängt die ruhigen, beständigen und in der Fürsorge patriarchalischen Verhältnisse und mehrt die Zahl der Landbewohner unter den jugendlichen Sträflingen ganz merklich. Fast ausschließlich

14 A. Abhandlungen.

durch Industriearbeiter, denn der Industrie danken wir in erster Linie die schwindende Reinheit unseres deutschen Dorfes.

Die Formen, deren sich die Kriminalität während des Krieges bedient, mögen durch Aufzählung einiger typischer Straf- taten gekennzeichnet werden. Die Motive bleiben dabei unberück- sichtigt, da sie den Gegenstand der weiteren Ausführungen bilden sollen.

a) Diebstähle; sie nehmen dem Umfange nach die 1. Stelle ein.

1. Bei einem zufälligen Zusammentreffen beschlossen M. und Ó., beim Bäcker B. zur Stillung ihres Hungers und auf Vorrat Brot zu stehlen. Sie erlangten 16 Dreipfundbrote und bei 3maliger Wieder- holung des Einbruchs 8 Brote, 40 Pfund und 50 Pfund Mehl. M.'s Mutter spielte dabei die Hehlerin.

2. Ei. hat in Dresden mit seinem Bruder und den Arbeits- burschen E. und S. am 3. Januar 1916 von einem Handwagen 25 kg Margarine, am 5. Januar aus einem Eisenbahnwagen für etwa 600 M Kaffee und für 20 M Kunsthonig gestohlen. Die Burschen wollten sich dann als Armierungssoldaten melden, wurden aber auf der Reise nach Aachen verhaftet.

3. Ende 1917 schnitt Kr. von einem seinem Arbeitgeber gehörigen Treibriemen ein Stück ab, um seine Schuhe ausbessern zu lassen, im April 1918 riß er sich von einer Wagenplane ein Stück ab, weil, seine Kleidung kaput war.

4. Um seinem Großvater, der Schuhmacher war und darüber klagte, daß er sich nicht ernähren könne, weil er kein Leder habe, solches zu verschaffen, brach der Schulknabe H. in die Ziegelei M. ein, nahm aus einem Regal einen zusammengerollten Treibriemen, zerschnitt ihn in ®/, m lange Stücke, nahm 4 davon mit, sich und brachte sie dem Großvater. Ebenso, verfuhr er am folgenden Tage. * 5. W. und W. sind bei ihren Beratungen, auf welche Weise sie am schnellsten und mühelosesten Gegenstände zum Verkauf erlangen. könnten, auf den Einfall gekommen, aus Kellern nach Erbrechen der Vorlegeschlösser jetzt in der Kriegszeit wertvolle und gesuchte Säcke zu stehlen, und haben diesen Entschluß in die Tat umgesetzt (4 Fälle). Die so erbeuteten Säcke haben sie verkauft und sich dabei schwerer Urkundenfälschung schuldig gemacht, als die Händlerin eine schriftliche Vollmacht zum Abschlusse des Kaufes verlangte.

6. Im Februar 1916 entwendete U. mit mehreren Burschen aus dem Lagerplatz des Rohproduktenhändlers R., in den sie durch Abreißen von Zaunlatten gelangten, einen Posten altes Eisen, das sie verkauften; im März 1916 eine größere Menge Altmetall und Gummi; im Juni 1916 Wollabfälle, Blei und Lumpen.

Wittig: Einfluß des Krieges und der Revolution auf die Kriminalität usw. 15

7. W. entwendete aus der Druckerei, in der er als Hilfsarbeiter beschäftigt war, Brotmarken (er habe gedacht, auf die paar Marken komme es nicht an; als eigentlichen Diebstahl habe er es nicht angesehen).

8. V. verabredete sich mit einer Anzahl Kameraden, Sonder- blätter zu verkaufen und dabei in Wohnungen und Läden zu stehlen; er entwendete 7 M aus einer Ladenkasse und erhielt dafür einen Verweis.

9. M. und P. verabredeten sich zur fortgesetzten Begehung von Diebstählen, und zwar wollten sie Geldtäschehen entwenden, in Ge- schäften und wo sich sonst Gelegenheit bot.

10. `H. tat sich mit 4 Burschen zum Bandendiebstahl zusammen, sie erbeuteten Brotmarken, Geld, Zigarren. ..

11. Der Kellaerlehrling R. stahl u. a. aus einer im Gastzimmer aufgestellten Sammelbüchse des Roten Kreuzes 8M (»mit den Fingern herausgekratzte). : é

b) Vertrauensbrüche im Beruf, Unterschlagungen.

12. Vom einberufenen Vater mit der Führung von dessen Ver- sicherungsgeschäft betraut, stahl N. Prämienquittungen, unterschlug einkassierte Prämien und fälschte Urkunden. So erlangte er 900 M, , die er mit Fußballklubfreunden vertat.

13. Pl., der Anfang Mai 1918 bei dem Fabrikanten W. als Lehr- ling angetreten war, erhielt am 1. Juni 1918 1246 M Bargeld und 2 ausgefüllte Postanweisungen ausgehändigt. Er zerriß die Post- anweisungen, wurde mit dem Gelde flüchtig und fuhr über Hof, Regensburg und München nach Tölz. Von da ist er dann nach Fall gelaufen, um sich nach Tirol zu wenden.

14. B. hat als Postaushelfer in Dr. in einer größeren Anzahl von Fällen Postpakete auf die Seite gebracht und den Inhalt ver- braucht bezw. vernichtet; überdies hat er in 6 Fällen Briefsendungen, die er zu bestellen hatte, unterdrückt, weil er zu faul war, die Treppen zu steigen.

15. L. war Wagenrücker an der Bahn und stahl als solcher während des Nachtdienstes wiederholt Gepäckstücke aus einem zur Weiterbeförderung bereitstehenden Gepäckwagen. Ebenso unterschlug er als Bahnbeamter einen ihm von einem Soldaten übergebenen Brief mit Gepäckschein und hob das Gepäck für sich ab.

16. K. behielt ein ihm zur Besorgung übergebenes Feldpostpaket mit 50 Stück Zigarren für sich.

17. B. behielt einen Brief, den ihm ein Soldat zum Einwerfen in den Briefkasten übergeben hatte, öffnete ihn, entnahm ihm den darin befindlichen Gepäckschein und holte das Gepäck von der Hinter- legungsstelle ab.

16 A. Abhandlungen.

e) Fälschungen, Schwindel zur Erlangung von Nahrungs- mitteln und Geld.

18. S. hat sich bei Vertrauensmännern des Lebensmittelamtes in Dr. dadurch mehr Brot- und Fleischmarken verschafft, daß er in 6 Fällen Zettel des Inhalts schrieb, daß irgend eine erdichtete Per- sönlichkeit in O. ihre Brot-, Lebensmittel- und Fleischkarten an einen dortigen Vertrauensmann abgegeben habe. Von den dadurch erlangten Brotmarken verkaufte er das Stück für 1,50 bis 2 M.

19. K. hat mittels Pausverfahrens vom Kommunalverband Dresden ausgegebene Brotmarken angefertigt und 5 mal mit Erfolg, das letzte Mal ohne Erfolg von ihnen zu Täuschungszwecken Gebrauch gemacht. Als Gründe gibt er an: die Not der Zeit, Krankheit der Mutter, Liederlichkeit seines jüngeren Bruders.

20. H. hat im März 1917 in Wulfen bei Bitterfeld, wo er in der Anilinfabrik beschäftigt war, 3 von dieser Fabrik zur Behebung des Kleingeldmangels ausgegebene Gutscheine über 5, 1 und 9 Pf. durch Vorsetzen einer 9 vor die bezeichneten Zahlen gefälscht und

„hat sie im Lohnbüro zur Auswechslung vorgelegt.

21. V. erschwindelte sich in der Zeit von Oktober 1917 bis An- fang 1918 von seiner Mutter insgesamt etwa 400 M dadurch, daß er ihr bewußt wahrheitswidrig angab, er könne ihr Mehl, Fleisch und Brot versorgen, wenn sie ihm das nötige Geld zum Ankaufe vorschieße.

22. R. hat zahlreiche Personen um erhebliche Beträge durch die Vorspiegelung geschädigt, daß er ihnen Gänse, Speck, Fleisch, Wurst u. dergl. billig beschaffen könne. Im ganzer handelt es sich um 506,90 M. Er war nicht in Not (hatte in Zeitungen von solchen Schwindeleien gelesen).

23. Sch. hatte gehört, daß Sanitäter bei einem bekannten Guts- besitzer der Umgegend gute Ergebnisse im Sammeln erzielt hatten; er nahm sich vor, gleichfalls hinzugehen, sich. als Sanitäter auszugeben und Blätter mit dem Bemerken anzubieten, daß der »Mehrbetrag« an den Bürgermeister in H. abgeliefert werde. Die Ausführung mißlang.

d) Wucher (Kriegsgewinnler).

24. Kr. hat in gahlreichen Orten Sachsens markenfreies kriegs- mäßig hergestelltes Seifenpulver, das er zu niedrigem Preis eingekauft hatte, zu hohem Preis verkauft. U. a. erzielte er bei einem Einkaufs- preis von 48 Pf. einen Verkaufspreis von 3 M. Die Käufer wußte er beim Verkauf auf raffinierte Weise zu täuschen.

e) Taten, die aus erregter Phantasie entsprangen.

25. Kr. stahl mittels Einbruchs aus einer Gartenlaube eine Hänge- matte. Er suchte mit Kameraden Stoff zum Zeltbau für das Soldatenspiel.

Wittig: Einfluß des Krieges und der Revolution auf die Kriminalität usw. 17

26. Die Schüler Schm. und F. haben auf dem Kirchhof die Grabgitter zertrümmert, aus den Gitterstäben Lanzen gemacht und damit nach den' Marmorfiguren auf den Gräbern geworfen. Das Schöffengericht berücksichtigte die Jugend der Übeltäter und ver- urteilte sie zu einer Geldstrafe von je 10 M.

27. Am 26. August 1916 kletterten H. M. und P. über die Mauer des ringsum eingefriedigten Grundstückes ..., stiegen in das Hausinnere ein, erbrachen ein Zimmer, in dem sie. Fechtsachen be- merkt hatten und eigneten sich 1 Fechtsäbel und 2 -hauben an.

28. Schm. gehörte der Jugendwehr an, stahl bei Einkäufen für Kameraden allerlei Ausrüstungsgegenstände, verkaufte sie und hatte außerdem seinen Wunsch nach einer Ausrüstung erfüllt. Wohl 10 bis 12mal verfuhr er so.

29. Um eine abenteuerliche Fahrt in die Türkei ausführen zu können, betrog G. 3 Frauen um Beträge von 40, 150 und 200 M durch Vorlegung einer gefälschten Darlehnsforderung.

30. W. hat, als er am 26. September 1917 vom Gutsbesitzer Kr. beim Kartoffelstehlen überrascht wurde, auf diesen mit dem Revolver geschossen und ihn an der rechten Schulter verletzt.

`.

31. Z. nahm an dem Aufruhr in L. teil und tat sich dabei ganz '

besonders hervor: er befreite einen Gefangenen aus der Gewalt des Schutzmannes, warf Fensterscheiben ein und beteiligte sich am Plündern; selbst verhaftet, leistete er Widerstand und rief der Menge zu: »Wenn ihr Arbeiter seid, rettet mich, macht mich frei.«

f) Gewalttaten (Raub, Mord).

32. W., K. und Z. nötigten 3 jugendliche Spaziergänger in der Dr. Heide, ihnen den Inhalt ihrer Rucksäcke zu überlassen. Z. (14!/, Jahr) hatte dabei ein aufgeklapptes Taschenmesser in der Hand und stieß die Drohworte aus: »Ich steche Dir die Augen aus.« >»Ich reiße Dir die Wange auf.<

33. B. lockte seinen 15jšhr. Mitarbeiter in ein abgelegenes Ge- bäude der Glashütte M., stürzte sich dort auf ihn, würgte ihn am Halse und schleuderte ibn zu Boden, daß er schließlich das Bewußt- sein verlor. Darnach raubte B. ihm das Geldtäschchen.

(Nach B.s eigner Angabe ist die Tat die Nachwirkung seiner Tätigkeit als Armierungsarbeiter in Ostpreußen.)

34. F. geriet mit seinem Bruder in Streit, als ihm dieser ver- wehren wollte, Quark aufs Brot zu streichen. In seiner Wut stach er mit dem aufgeklappten Messer .blindlings auf den Bruder ein und brachte ihm eine Verletzung am Unterleib bei, die eine Operation und den Tod des Verletzten zur Folge hatte.

Zeitschrift für Kinderforschung. 26. Jahrgang. 2

18 A. Abhandlungen.

35. Schw. hat am 19. Dezember 1917 seinen schwerverwundet- heimgekehrten Bruder während des Schlafs mit einem Beile erschlagen. Er fühlte sich gegenüber seinem Bruder zyrückgesetzt und war miß- gestimmt über die Ermahnungen, die dieser ihm, angedeihen ließ.

36. V. ermordete seine Mutter durch mindestens 12 Beilhiebe auf den Kopf, während sie Mittagsruhe hielt, und beraubte sie ihrer Barschaft von 22 M. Die Tat war wohlüberlegt und nur zur Er- langung von Geld bestimmt.

g) Übertretungen kriegswirtschaftlicher u. a. Verordnungen (ihre Zahl steigert die Kriminalitätsziffer ganz wesentlich; die Stutt- garter Jugendgerichtshilfe z. B. zählte 1917 unter 789 Verurteilungen 197 wegen Verfehlungen gegen Kriegsverordnungen).

37. .C. hat am 30. März den Br. Ortsbereich ohne polizeiliche Erlaubnis verlassen.

38. Fl. hat in 2 Fällen getragene Schuhe an eine zum Erwerb behördlich nicht zugelassene Person verkauft (Vergehen gegen $ 9 der Verordnung über die Regelung des Verkehrs mit Web-, Wirk-, Strick- und Schuhwaren).

39. T. hat seine Lebensmittelmarken im voraus verbraucht und

` erhält dafür 6 Tage Gefängnis.

Man wird in dieser Zusammenstellung vielleicht die Brandstifter vermissen. Ihre Zahl ist während des Krieges sehr klein und beschränkt sich auf Fahrlässige. Ob die Bösartigen das dunkle Gefühl abhält, daß sie sich selbst zu arg schaden würden durch die Verminderung von Vorräten und in Aussicht stehende erhöhte Bestrafung? Oder läßt der Mangel an Vorräten die beabsichtigte Schädigung zu gering erscheinen? Oder ist die Verminderung der landstreichenden Jugend die Ursache? Oder ist der asoziale Zug durch die Nahrungsnot in einseitig bestimmte Bahnen geleitet, denen selbst der Affekt folgt? Oder bilden schließlich die Kriegsbilder und das kriegerische Treiben unserer Tage das ableitende Moment für Abnorme, die es sonst »nur einmal brennen sehen wollten« ?

Auch die Zahl der Sittlichkeitsverbrecher ist geringer geworden.

(Berliner Jugendgerichtshilfe: 1914 von 1131 Straftaten 23 Sittl.-V.

1915 .. 1413 x 2 A š: 5 1916 ., 2681 3 20 Stuttgarter Jugendgerichtshilfe: 1917 “89 R TE y)

Dies ist sicher die Folge der reizloseren und knapperen Kost, auch kommt für Jugendliche wohl der Mangel an Alkohol in Frage.

* x

Wittig: Einfluß des Krieges und der Revolution auf die Kriminalität usw. 19

B. Versuchen wir zunächst einmal, diesen Zahlen und Tatsachen gegenüber einen festen Standpunkt zu gewinnen! Bei Beginn des Krieges stand das gesamte Volk, Krieger und Heimatbevölkerung, im Banne einer hehren Kriegsbegeisterung; der Kampf der Front füllte das Interesse völlig aus, und alles Streben in der Heimat galt ihm. Die jahrzehntelange Erziehung des Volksbewußtseins zu vaterländisch gerichtetem Altruismus trug reiche Früchte. Dann kam aber die Zeit, da der Blick der Daheimgebliebenen mehr und mehr von dem Schlachtfelde abgelenkt wurde: Wirtschaftliche Fragen machten sich mit der Kraft von Leitgedanken geltend, engten das Leben des ein- zelnen ein und legten dem bisher freiwilligen Altruismus die Fesseln des Zwanges an. Damit erhielt die Einheit des Volkes einen Riß: hinter der positiv wirkenden Kampffront entwickelte sich schrittweis eine negativ wirkende Heimatfront, deren Kampfmittel die Kultivierung des Egoismus wurde. Egoismus in normalen Zeiten in seiner häßlichen Form nur von vereinzelten Gliedern des Volkes geübt, der Volksseele aber zwar nicht fremd, doch von den in ihr herrschenden religiösen und sittlichen Kräften unterdrückt, im Unterbewußtsein gehalten er bricht mit der elementaren Gewalt einer Naturkraft hervor, durchbricht die Dämme sittlicher und religiöser Begriffe und Empfindungen und gibt einer ganzen Zeit sein Gepräge, mannigfaltig in seinen Formen vom harmlosen verschärften Kampf ums Dasein bis hin zu den widerlichsten und verabscheuungswürdigsten Ausschweifungen des Gewinnens und Genießens.

Ablösung des Bewußten durch das Unterbewußte nennt der Psycholog diesen Vorgang in der Volksseele.e Indem wir uns seine Auffassung zu eigen machen, gewinnen zwar die trüben Erscheinungen das Gepräge des Unerbittlichen einer Naturerscheinung; aber wir werden doch zu einer milderen und gefaßteren Beurteilung der Gegenwart gestimmt, und das Beste wir können hoffnungs- freudiger in die Zukunft schauen; denn der gegenwärtige Wechsel zwischen Bewußtem und Unterbewußtem ist nicht der erste und wird nicht der letzte sein.

Unsere Jugendlichen nun stehen inmitten dieses Webens der Volksseele. Nein, mehr, sind selbst ein Teil der Volksseele und werden den Zeitströmungen um'so mehr nachgeben, je mehr ihre persönliche Anlage sie dafür besonders empfänglich macht. Um ihre Verwahr- losung recht zu, verstehen, werden wir darum folgerichtig von äußeren und von den im Jugendlichen selbst liegenden inneren Ursachen zu sprechen haben. Von ersteren zunächst. Sie lassen sich bei näherem Zu-

sehen in 3 Gruppen bringen: Erziehungsnot, Wirtschaftsnot, Gewissensnot. 2 *

20 A. Abhandlungen.

1. Von den äußeren Ursachen.

a) Der Kernpunkt der Erziehungsnot ist nach wie vor das Fehlen des Vaters in der Familie. Hier ist er im Felde, da hindert ihn dringliche Arbeit an der Erfüllung seiner Erzieherpflichten, und dort veranlaßt ihn die Verteurung der Lebensführung, lohnenderen Verdienstes wegen der Familie auf Monate und länger fernzubleiben. Und wie fehlt seine straff zugreifende Hand! In nicht wenig Fällen hat die Frau mit ihrer Schwäche und Nachgiebigkeit, ihren Launen und Stimmungen als Vertreterin des Mannes versagt. Und wenn es noch eines Beweises für die Notwendigkeit des Zusammenwirkens von Mann und Frau in der Erziehung bedürfte, so erbrächte ihn die jetzige Zeit. ‚In andern Fällen wieder sind die Kräfte der Mutter durch die Erwerbsarbeit derart überanstrengt, daß sich ihrer eine Gleichgültigkeit bemächtigt, ihr Innenleben verkümmert und sie der Familie entfremdet. »Die Mutter in der Fabrike das ist wohl das traurigste Gegenstück zu dem »Der Vater im Felde«, das uns die Länge des Krieges gebracht hat. Störungen in der Lehre, in der Arbeit führen nur darum so oft zu Katastrophen, weil das Familienleben erschüttert ist.

Wir stimmen darum unbedingt dem zu, was Dr. Müller-Meiningen im Reichstag sagte: »An die Stelle des Strafrichters sollte vielfach der Vormundschaftsrichter treten!«

Gut! Aber wo sind die Erzieherkräfte zur Ausführung der vormundschaftlichen Anordnungen?

Klagen wir nicht über die Schulnot, die uns die Schulen schließen oder den Unterricht kürzen heißt, weil die Lehrer eingezogen sind? Ja, der nämliche Abgeordnete hat recht: »Man muß dafür sorgen, daß die Lehrer wieder zu ihren Schulen kommen, namentlich die älteren!«

` Und sind weiter unsere Fürsorgevereine, Fürsorgebehörden und Erziehungsanstalten nicht in einem Maße überlastet, daß sie oft in dringendsten Fällen nicht so helfen können, wie sie möchten ?

Und wenn unsere stellv. komm. Generäle und unsere Gemeinde- behörden allerlei wohlgemeinte Verordnungen erlassen macht nicht sofort die Erziehungsnot einen Strich durch die Rechnung? Wer überwacht die Ausführung? Dreiste Burschen lachen der Bestimmungen und haben nur Hohn und Spott für einen nicht mit behördlicher Vollmacht ausgerüsteten Warner. Und die wenigen Mutigen und ihrer öffentlichen Pflichten Bewußten ziehen sich gar bald zurück.

Unter solchen Umständen ist es doppelt bedenklich, wenn es der Erziehung gewidmete Verordnungen gibt, die an sich schon nicht mit

der gewünschten Schärfe zufassen. So ist es leider den Schundheften gegenüber der Fall; jenen Heften, die in der Entfesselung der niederen Instinkte der Masse das Mittel zu geschäftlichen Erfolgen suchen und finden; jenen Heften, die neuerdings die Geschehnisse des Weltkrieges in verzerrter Form der Jugend nahebringen, Gemüt und Willen in gleicher Weise verletzend! 200 Bände wurden in Sachsen behördlich verboten. Und Hunderte andrer erstanden dafür, eine Schmutzwelle, der sich jetzt Läden öffneten, die früher nicht an diesen Handel dachten, gegen die alle Kampforganisationen bisher wehrlos waren! Bedauerlicherweise bleibt für sie Papier übrig, während wertvolle und nützliche Bücher nicht gedruckt werden können. Ebenso machtlos oder tatenlos stehen wir dem Kino gegenüber. Zwar ist der Besuch durch Jugendliche beschränkt worden; aber der aben- teuerliche, verbrecherische und erotische Charakter des Kinos ist ge- blieben und hat durch den Krieg noch sattere und anziehendere Farben erhalten. Lüstern umlagern die Jugendlichen das Kino und kümmern sich wenig um gesetzliche Bestimmungen. Nur zu oft kommen sie erst im Gefängnis zur Besinnung!

Ja, und auch da sind sie nicht geschützt gegen die Erziehungs- not. Gesteigerte Zahl der Sträflinge verminderte Zahl der Erzieher- kräfte und darum eine Herabsetzung der Erziehungsmaßnahmen auf ein kaum noch wirksames Mindestmaß —, dazu den Erfordernissen des Krieges zuliebe Außenbeschäftigungen der Jugendlichen, so daß viele von ihnen auch der geringen erziehlichen Einwirkung so gut wie entzogen sind das gibt heute dem Jugendgefängnis das Ge- präge und erzeugt im Erzieher das drückende Gefühl des Helfenwollens- und-doch-nicht-Könnens. Den Jugendlichen aber beraubt es des nachhaltigen Eindruckes der Strafzeit. Die Rückfälle mehren sich. Und wir haben aufs neue einen Beweis dafür, daß mit Machtmitteln allein in der Erziehung nichts zu schaffen ist.

b) Bei solcher allgemeinen Erziehungsnot hat die Wirtschafts- not mit unsern Jugendlichen leichtes Spiel. Mangel an Nahrung, Kleidung, Heizmaterial und sonst begehrten Artikeln bildet die Quelle zu allerhand sittlichen Verfehlungen. Und wir dürfen nicht einmal den Stab über den Missetätern brechen, soweit sie in unverschuldeter Not stehen, ohne ungerecht zu werden. Wir wissen ja alle aus eigner Erfahrung, welche Bedeutung z. B. dem Essen fürs Seelenleben zukommt, wie die mit der besseren Nahrung verbundenen starken Gefühle den Menschen für das Gute und Schöne empfänglicher machen, wie dagegen das körperliche Unlustgefühl des Hungerns die geistige und sittliche Widerstandskraft vermindert und Trieb-

99 A. Abhandlungen.

vorstellungen die Herrschaft überläßt. »Durchhalten!« ist für alle, die weich gebettet sind, ein inhaltloses Wort; für Geld und Tausch- objekte ist ja alles zu haben. Den andern aber ist es der Inbegriff eines riesengroßen Opfers, dessen nur sittlich starke Personen und eine bestbehütete Jugend fähig sein können. Fehlen aber diese Voraussetzungen, so wehrt man sich auf seine Art: häufiger Stellen- wechsel, Abwanderung bezw. Flucht nach wirtschaftlich besser gestellten Landschaften, Entweichungen aus Anstalten, Betteln sind der Anfang, Diebstahl aber oft das traurige Ende dabei. Was uns die Selbsthilfe ohne Unehrlichkeit ist, ist ihnen eben der Diebstahl: ein vom Hunger ausgestellter Freibrief. »Du sagst«, schrieb jüngst eine Mutter an ihren Sohn ins Gefängnis, »daß es vom Arbeiten (d. h. vom unsteten) hergekommen wäre; das ist doch nicht der Fall; nein, es war der Hunger bei Dir und dein offnes Herze«. Da reichen sich permanente Erziehungsnot (uns von jeher bekannt) und Wirtschaftsnot des Krieges die Hand zu gar schlimmen Wirkungen.

Zur Wirtschaftsnot rechnen wir ferner die Erscheinungen auf dem Arbeitsmarkt. Förderte anfangs der Mangel an Arbeit die Ver- wahrlosung der Jugendlichen, so trat bald das Gegenteil ein: unsere Jugendlichen sind begehrte «Arbeitskräfte geworden. Das schwellt das Selbstbewußtsein mächtig und spornt viele zu sittlichem Ernste an; vielen aber ist es auch der Keim des Unglücks geworden. Lehr- linge werden die Stütze des Geschäfts, und man drückt gar zu gern ein Auge zu zu allem, was außerhalb der Arbeit liegt. In kauf- männischen Geschäften, an der Bahn und Post ist man genötigt, den Jugendlichen großes Vertrauen zu schenken; fast scheint es, als ob man sich dabei nicht einmal Zeit nehmen könnte, ihre Geeignetheit, ihr Vorleben zu prüfen; darum hörten wir so oft von Vertrauens- bruch. š

Und soll ich von unsern jugendlichen Fabrikarbeitern sprechen? Wir kennen sie in ihrer Anmaßung, die gar oft alle Schranken häuslicher und öffentlicher Zucht mißachtet. Eine Reihe äußerer Umstände begünstigen sie dabei. Da ist das im Gegensatz zur wohl- geordneten Lehre mögliche- -Wechseln und zeitweise Aussetzen der Arbeit. Schwachen ist es fast immer die Brücke zum Bummeln und zur Kriminalität. Da sind die Überstunden, die dem Haus die Kontrolle über die Jugendlichen so erschweren und von Leicht- fertigen sowohl als auch von solchen, deren Eltern sonst noch keinen Grund zu Mißtrauen gegen sie hatten, so gern zum Hintergehen der Eltern ausgenützt werden. Man hatte angeblich so lange in der Arbeitsstelle zu tun, und ging doch stehlen und vertat die Beute in

Wittig: Einfluß des Krieges und der Revolution auf die Kriminalität usw. 23

Kino und Automat. Da ist die Nachtschicht, die den Jugendlichen einesteils bei dem Zusammenarbeiten mit Mädchen reichlich sexuellen Gefahren aussetzt, andernteils die Versuchungen zur Unehrlichkeit häuft, da der Hemmungsgedanke des Gesehenwerdens fast ausgeschaltet wird. So vergreift sich der Bahnangestellte meist nachts am Bahngut, so steigt der jugendliche Fabrikarbeiter nachts in benachbarte Lager- räume ein. Da ist endlich der große Verdienst! Ach, wie hat doch ein großer Teil unsrer Jugend allen idealen Schwung eingebüßt! Geld ist Trumpf! Eine tolle Jagd ist im Gange: von Fabrik zu Fabrik; vom Land in die Stadt; aus der Heimat in die Industriezentren mit ihrem Barackenleben; aus der Heimat in die Ferne, um der lästigen Fortbildungsschule zu entgehen und sich als älter ausgeben zu können, wenn es sein muß mit Fälschung der Papiere! Das sind meist die Anfänge zum Unglück. Und dann? Zu rechtem Gebrauch des Geldes gehört geistige und vor allem gemütliche und sittliche Reife. Und sie fehlt so oft. Dazu wirkt entschieden die infolge der Teuerung eingetretene Gewöhnung an große Geldausgaben nachteilig. ‘So erklären sich die Ausschweifungen Jugendlicher namentlich in den Städten: Jugendliche sind die Besucher von Weinkellern und ver- jubeln natürlich mit »Damen« in wenig Stunden den Verdienst von Wochen; Jugendliche sind die besten Kunden der Zigarren- geschäfte; mit Geldstrafen etwa wegen Schulversäumnis kann man ihnen schon nicht mehr imponieren: »Auf den Taler kommt’s nicht an« ist ihre höhnende Antwort. In allen möglichen Schattierungen wiederholen sich solche Zeitbilder. Und wollen vernünftige Eltern soichem Treiben Einhalt gebieten, so kommt es zum Bruch: der junge Herr zieht in Schlafstelle, treibt es toller als zuvor, verrennt sich im Genußleben und greift schließlich, entnervt, zu Diebstahl und Unter- schlagung.

Leider ist es an dem, was gelegentlich der Justizetatberatung im preuß. Abgeordnetenhaus gesagt wurde: »Neben der Nahrungs- mittelnot sind die großen Vermögensverschiebungen mit dem augenfälligen Mißbrauch an Kriegsgewinnen eine Quelle der Verwahr- losung.«

c) Die 3. Gruppe der Verwahrlosungs-Ursachen umfaßt die Zeit- erscheimungen, die das sittliche Handeln der Jugendlichen am un- mittelbarsten beeinflussen. Wir fassen sie in dem Wort Gewissens- not zusammen.

Die wirtschaftliche Not hat uns eine Flut von Verordnungen gebracht. Das Verordnungsblatt, sonst jeder Jahrgang ein schmächtiger Band, ist heute zu einem stattlichen Folianten angewachsen mit schier

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unzähligen Verordnungen, Geld- und Freiheitsstrafen. Aber tragisch ist es, daß sie bestimmt, die Not zu meistern mit die Ursache zur gefährlichsten der Nöte geworden sind, zur Gewissensnot. Zum Teil direkt undurchfühıbar, stellen sie so tiefe Eingriffe in Lebens- weise und Eigentum der Staatsbürger dar, daß sie zum Widerstande reizen. Und das um so mehr, als man von vielen weiß, daß sie der Not nicht steuern. Daher die Rede: »Wir müßten verhungern, wenn wir die Verordnungen nicht übertreten würden.« Kommen dazu Er- fahrungen, daß so manches, was unrecht ist, doch stillschweigend geduldet wird, so verlernt man allmählich, sich aus der Übertretung ein Gewissen zu machen. Man wächst ins Notlügen hinein. Mehr noch: man brüstet sich wohl damit, daß man dem Gesetz ein Schnippchen geschlagen hat. So ist es leider an dem, was im Reichs- tag ohne Widerspruch gesagt werden durfte: »Durch die Ver- ordnungen wird das Rechtsgefühl im Volke untergraben... Welcher Staatsbürger, auch wenn er Staatssekretär und Minister ist, übertritt nicht täglich die Unmenge der Verordnungen?« Es ist kein Zweifel darüber, wie solcher Zustand unsere Jugend berühren muß. Daß sie täglich Zeuge sein muß von Reden und Taten, die von sittlicher Oberflächlichkeit zeugen; daß sie vielfach selbst tätigen An- teil am Umgehen der Gesetze nehmen muß, kann nicht ohne Nachteil für die Charakterentwicklung sein. Der gefährdete Teil der Jugendlichen mit seinem an sich schon mangelhaft entwickelten Autoritätsgefühl verliert jede Achtung vor dem Gesetz überhaupt und verliert vor allem auch gar leicht die Grenze zwischen sogenannten harmlosen und verbrecherischen Übertretungen der Gesetze.

Aber noch ein andrer Umstand trägt zur Erschütterung des Rechtsgefühls bei: die wirtschaftliche Not wird durchaus nicht von allen Teilen des Volkes gleichmäßig getragen. Mit und ohne Über- treibung spricht man davon, daß sich die wirtschaftlich Starken mit den nötigen Vorräten versehen konnten, wenn Beschlagnahmungen bevorstanden, während die Schwachen das Nachsehen hatten. Man erzählt sich Fabelhaftes vom Leben der Kriegsgewinnler u. a. das üppiger sein soll als in Friedenszeiten. In den Geschäften aller Art kann man täglich die Bevorzugung der Vermögenden erleben. Das Gefährlichste an diesen Dingen ist immer, daß sie den Ausgangspunkt zu Übertreibungen, ungerechten Verallgemeinerungen und weiter- gesponnenen Verdächtigungen bilden. »Äpfel sollten wir bekommen«, so schreibt eine Mutter, »bis jetzt haben wir noch keine bekommen; wer weiß, wer die bekommt, nur wir nicht!« Und eine andere: »Es ist eben traurig, daß den Landwirten nicht besser auf die Finger

Wittig: Einfluß des Krieges und der Revolution auf die Kriminalität usw. 925 gesehen wird. Was sie nicht brauchen, das wird an die Frauchen mit den Hütchen verkauft, da bekommen sie 4—5 M für das Stück Butter.« Immer derselbe Kehrreim: wir sind die Betrogenen. Und dann die traurigen Folgen: Eine Erbitterung greift Platz, die sich in heftigsten Angriffen gegen unsere Behörden entläd und sie sogar verdächtigt, die Förderer dieser Ungerechtigkeiten zu sein; man traut der Obrigkeit nicht mehr und verliert darüber Stück für Stück den Glauben an die Menschen überhaupt. Grimmiger Haß lodert auf gegen die Vermögenden, ein Haß, dem es eine Erquickung ist, in Zeitungen von Einbrüchen bei Besitzenden zu lesen, ein Haß, der schließlich selbst auf den Weg des Verbrechens führt. Gewissens- regungen unterdrückt man dann mit den Worten: »Es ist nun ein- mal Krieg! Ein jeder muß sehen, wo er bleibt!« Mehr und mehr schwindet der Ehrbegriff selbst bei Leuten, die sonst keine Hand nach fremdem Eigentum ausstreckten. Und die. Vaterlandsliebe? Nach Aufzählung ihrer Leiden haben viele unseres Volkes nur noch Hohn übrig: »alles fürs Vaterland.«

Ja, wir stehen in einer Verwirrung der sittlichen Begriffe. Wir sind der Moral des Faustrechts bedenklich nahe. gekommen, die der Vers kennzeichnete:

»Rauben und Reiten ist keine Schande, Das tun die Besten im Lande.«

Nur so ist es zu verstehen, wenn eine Mutter ihren im Gefängnis sitzenden Sohn also trösten kann: »Siehst Du, ich muß mich auch ins Gefängnis setzen. Aber immer Kopf hoch halten und Mut haben. Das ist jetzt im Kriege nicht was Neues. Wir sind nicht die ersten und nicht die letzten. Ich bin gar nicht ängstlich. Vertrau auf Gott und bete, so hilft er Dir Dein Los tragen.«

Die Wirkung solcher Sinnesart auf unsere Jugendlichen liegt wiederum auf der Hand. Auch sie machen sich den Trost zu eigen: »Es ist nun einmal Krieg,« schläfern damit das Gewissen ein und nähren die Gewissenlosigkeit.

Ganz besonders schmerzlich ist es, daß diese Begriffsverwirrung hineinreicht in die Reihen unseres ob seiner Treue in aller Welt gerihmten Beamtenstandes. Die Abnahme der Vertrauenswürdigkeit unserer Beamten ist eins der traurigsten Kapitel des Weltkrieges. Ihre wirtschaftliche Not ist groß; ihre. Gewissensnot größer. Der bayrische Kultusminister gab den sich daran knüpfenden Sorgen mit bewegten Worten Ausdruck; »Die Zukunft des deutschen Beamten- standes ist das, was’ mir am meisten Sorge macht. Der festbesoldete Beamte kann von dem, was er verdient, nicht mehr leben. Alle

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staatliche Hilfe kann unmöglich Schritt halten mit der Verteuerung der Lebenshaltung und dem Sinken des Geldwertes. Der Beamte zehrt seine letzten Ersparnisse auf oder hungert. So treibt man der völligen Proletarisierung des Beamtenstandes zu, und was das Schrecklichste ist, die Integrität wird auf eine schwere Probe gestellt. Der deutsche Beamtenstand, der ehrlichste der Welt, ist in allen seinen Schichten der Gefahr der Korruption ganz nahe, und man muß fast wehrlos zusehen.< Wir fühlen alle den Ernst dieser Worte, und fühlen ihn um so mehr, wenn wir hören, wie Eltern Kapital aus dem Beamtenunglück schlagen, indem sie ihren Kindern sagen: »Aber zürnen können wir auch nicht mehr so sehr; wir lesen immer in der Zeitung, daß Beamte und viel bessere Leute als ihr seid, denselben Fehler machen. Für solchen Trost ist die Jugend nur zu empfäng- lich. So zeugt ein Unglück das andere.

Mit dem sittlichen Niedergang geht Hand in Hand eine er- schreckende Gemütsverarmung. Wie viele unsrer Volksgenossen macht die Sorge um das eigne Ich hart und unempfindlich gegen die Not ihrer Brüder! Ein wirtschaftlicher Kampf aller gegen alle ist entbrannt, in dem .Preistreiberei und Wucher noch als harmlosere Mittel gelten, In den Fabriken bestehlen sich die Mitarbeiter, in sittlich wenig hochstehenden Familien die Angehörigen, Kameraden- diebstähle gab es zu allen Zeiten, nie aber so häufig wie jetzt.

Und der Kampf der einzelnen wird zum Klassenkampf. Wir haben heute den Haß zwischen Stadt und Land, zwischen Arm und Reich in schärfsten Formen.

Und selbst vorm Menschenleben macht der Kampf nicht Halt! Was gilt vielen heutzutage ein Menschenleben, wo sie draußen zu Tausenden geopfert werden müssen? Wie oft lesen wir von Raubmord! Und die Zunahme der jugendlichen Gewalttätigen und Mörder muß allen Menschenfreunden die Augen für die seelische, gemütliche Not unsrer Jugend öffnen.

Unsrer Zeit hängt ferner ein starker Zug zur Veräußerlichung des Lebens an. Mehr und mehr verfallen wir der Einstellung alles Strebens auf Schein und Glanz, auf Uniformen und Orden. Selbst Wobltätigkeitsveranstaltungen stehen in dem Rufe, nicht immer frei davon zu sein, und büßen damit an sittlichem und gemütlichen Ein- fluß ein, den sie gerade als Gegengewicht auf unsere Jugendlichen ausüben könnten und sollten. Eine Folge dieser Sinnesrichtung ist, daß oft von jugendlichen Köpfen die Heimatpflicht gering eingeschätzt und nur in dem Soldatendienst die einzige Möglichkeit des vaterländischen Dienstes gesehen wird. Und manch einer, der Soldat war, glaubt

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wohl, nun alles getan zu haben, und gar die Berechtigung zur Zucht- losigkeit in der Heimat zu haben. Mögen sich derartige Strömungen auch mehr versteckt halten, so sind sie doch vorhanden, gerade in den Kreisen, die uns die meisten Verwahrlosten liefern, und ihre Heimlichkeit hindert es nicht, daß sie den Sinn unsrer Jugendlichen mit trüben helfen.

Weniger scheu in ihren Auswirkungen ist die aus der wirt- schaftlichen Not erwachsene Herrschaft des Geldes. Sie hat uns die Kriegsgewinnler und -Wucherer gebracht, von denen der kalte Hauch der Gewinnsucht ausgeht. Eisig legt er sich um den Idealis- mus so vieler Staatsbürger und ertötet die Befriedigung an der Arbeit um ihrer selbst willen. Wie unsere Jugend davon erfaßt wird, wurde bereits erwähnt. Hier sei nur noch ergänzt, wie sie direkt zu Kriegs- gewinnlern zu werden streben. Vor dem Landgericht Zweibrücken ergab jüngst ein Prozeß gegen 2 jugendliche Fabrikarbeiter, daß Hehlereien von Leder im Auftrag von Fabrikanten und Händlern dort nichts Seltenes sind. In Berlin taten sich sogar Schulknaben zu solchem Treiben zusammen, indem sie die Entwendung und den Ver- kauf von Fleisch im großen und aufs Raffinierteste betrieben, meist Söhne achtbarer ' Eltern. Und von 12jährigen Gymnasiasten wird berichtet, daß sie auf ähnliche Weise zu Bankkonten und Vermögen von 50—60000 M gelangten. Was werden wir von solchen ver- steinerten Gemütern später zu erwarten haben? Der Gedanke drückt uns wie ein Alb. Fluch dem Krieg, der so ans Herz unsrer Jugend greift! s * = *

Warum, so fragen wir uns angesichts dieser Gewissensnöte, warum konnte die Not der Zeit unser Volksseelenleben derart erschüttern? Wenn schon die sittlichen Kräfte allein nicht stark genug waren, hätten dann nicht wenigstens die religiösen dem eingangs erwähnten Nuturgesetze Halt gebieten können? Die Religiosität! Dabei bleibt man stehen und meint, sicher zu sein, in ihrem Schwinden die letzte Ur- sache des Unglücks gefunden zu haben. Und wenn man sehen muß, wie gottentfremdet viele unsrer straffällig gewordenen Jugendlichen ins Gefängnis kommen, so glaubt man den Beweis für die Richtigkeit der Spur zu haben. Indessen dürfte wohl für die Allgemeinheit die Gültigkeit der Annahme nicht zutreffen. So sehr auch alle Abirrungen von der Norm des Gesetzes und Gewissens ihren einheitlichen Ur- sprung im Egoismus haben, so muß doch zwischen den Erscheinungen, die aus niedrigster Gesinnung und denen, die aus dem bloßen Er- haltungstrieb geboren sind, geschieden werden. Für erstere gilt zweifel-

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los die Religionslosigkeit als Urquelle; für letztere aber wohl ein sekundäres Mattwerden der Religiosität, im übrigen aber entspringen sie zu sehr einem Naturtrieb, der jenseits von Gut und Böse steht, und mit der allen Trieben eignen Stärke alle Normen einfach über- rennt, als daß man sie als Ausdruck von Religionslosigkeit ansehen dürfte. Das sei nicht gesagt, um pharisäisch unser Gewissen zu be- sänftigen; denn auch diese weniger groben Verirrungen werden schließlich bei längerer Übung eine religiös zerrüttende Wirkung aus- üben. Es sei nur gesagt, um einerseits die Religiosität vor ungerecht- fertigten Angriffen zu schützen, anderseits den Anteil des Trieblebens an den Nöten unsrer Zeit ins rechte Licht zu stellen. ` * * *

3 große Gruppen von Nöten sind es, denen wir nachspürten. Prüfen wir rückblickend, welche von ihnen die Verwahrlosung unsrer Jugendlichen am stärksten fördert, so werden wir in den meisten Fällen ein unheilvolles Zusammenwirken aller Momente erkennen. Soviel wird uns aber auch klar werden, daß die wirtschaftliche Not erst ihre verwüstende Kraft durch die Erziehungs- und Gewissensnot erhält und diese somit als die Hauptursachen der Verwahrlosung be- zeichnet werden müssen.

2. Von den inneren Ursachen.

Wenden wir uns hierauf den im Jugendlichen selbst liegenden inneren Ursachen der Verwahrlosung zu, so sehen wir uns vor die Frage gestellt: Wer wird von den Nöten betroffen?

Als völlig gefeit gegen alle Gefahren kann wohl niemand be- zeichnet werden. Die Jugend mit ihrem mehr auf Sinnlichkeit als Vergeistigung gerichteten Seelenleben, mit ihrem erst in der Ent- wicklung stehenden geistigen und sittlichen Urteil, mit ihrem Mangel an festgegründeten religiösen Anschauungen, .mit ihrem noch nicht auf Lebensaufgaben eingestellten Zielbewußtsein und Pflichtgefühl, mit ihrer selten im Sturm des Lebens erprobten Willenskraft sie ist noch zu sehr von allerlei äußeren Einflüssen bestimmbar, ist noch zu reizbar. So füllt denn mancher, der sich sonst makellos gehalten hätte und dem diese eine Lehre fürs ganze Leben genügt. Im übrigen aber wiederholt sich die Erscheinung beim Sturm: das Morsche, das. Anomale bricht zusammen, das Starke, das Gesunde hält stand. Auf- fallend ist die große Zahl der Minderwertigen und Psychopathen unter unsern straffällig gewordenen Jugendlichen. Während wir nun aber von den einen den Eindruck gewinnen, daß sie schließlich auch ohne die Wirkungen des Krieges früher oder später zu Fall gekommen

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wären (endogene Momente kommen für sie in 1. Linie in Betracht), kennen wir andere, für die die außergewöhnlichen Verhältnisse der Kriegszeit das auslösende Moment einer ruhenden und in friedlichen Zeiten vermutlich gebunden gebliebenen Anlage wurden. Die meisten der letzteren sind nicht eigentlich schlecht, aber überaus haltlos und leitungsbedürftig und darum unter exogenen Einflüssen sehr leidend.

Für unsere Zwecke empfiehlt es sich, alle diese Anomalen in 3 Gruppen zu gliedern und zu sprechen von den Geistes-, Gefühls- und Willensminderwertigen.

a) Der auffallendste Zug der Geistesminderwertigen ist ihre Unbeholfenheit, Unselbständigkeit, ihre große Beeinflußbarkeit. Er gefährdet sie in weit größerem Umfange als ihre Altersgenossen. Werden durch die Kriegsnot ‚gewisse Objekte ins Blickfeld des allgemeinen Interesses gerückt, so sind sicher diese Minderwertigen die ersten, die nach Kinderart ganz davon gefesselt sind. So werden Kaninchen gestohlen mit der einzigen Begründung: »Ich wollte viel haben. So wird Metall entwendet, nur um bei der Sammlung mit großer Menge glänzen zu können.

Berichten Zeitungen über Kriegsschwindeleien, so klingen diese Notizen sicher am längsten in der Seele des Minderwertigen nach; zunächst im Unterbewußtsein, um zu geeigneter Zeit die Schwelle des Bewußtseins zu übertreten und den Anstoß zur Nach- ahmung zu geben.

Das Wohlleben andrer, wie ihre Not reizt die Minder- wertigen in gleicher Weise zu Straftaten. Hier begründet ein Bursche seinen Diebstahl mit seiner Begehrlichkeit: »Weil andre Kerle so lebten;« dort mit seiner Gutmütigkeit: »Der bedrängte Schuster brauchte Leder die armen Soldaten hungerten die kranke Mutter fror!«

Suchen fragwürdige Elemente aus Heimat und Feld Genossen, so haben sie bei den Minderwertigen leichtes Spiel. Im Aufruhr stellen sie einen großen Teil der radaulustigsten Burschen. Sie folgen Agenten auf glänzende Versprechungen hin, geben gute Arbeit auf und sind dann die Enttäuschten. Sie schließen sich mit Freunden zum Kriegsspiel zusammen, aus dem sich oftmals Bandendiebstähle entwickeln.

Ein wenig Fernblick würde den Minderwertigen oftmals retten. Aber er ist ihm versagt. Seine Urteilslosigkeit läßt ihn immer erst >hinterher gescheit werden«. Und die Kriegszeit stellt ihm immer neue Fallen.

Fordert sie nicht trotz der Regelung aller Verhältnisse vom einzelnen Menschen Planmäßigkeit im Verbrauch des Zugeteilten? Der Minderwertige fragt wenig nach dem Morgen.

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Erschwert sie nicht den Arbeitswechsel durch den Abkehr- schein? Der Minderwertige geht auch ohne ihn aus seiner Arbeits- stelle und wird seine Torheit erst in der Not gewahr.

Gebietet sie nicht Vorsicht im Verkehr mit den Kriegs- gefangenen? Der Minderwertige vergißt den Nationalsfolz, ob er nun den Kriegsgefangenen bestiehlt oder für ihn stiehlt.

Vermehrt sie nicht die Möglichkeiten zu Fälschungen von allerlei Scheinen? Der Minderwertige fällt herein und begeht Fäl- schungen plumpster Art.

Zeigt sie dem Minderwertigen nicht eine ganze Reihe verführe- rischer, dicht an der Grenze des Unrechtes stehender Vorgänge, den Schleichhandel u. a.? Der Minderwertige kennt keinen Unterschied in der Gesetzesübertretung und ahmt das Erlebte in seiner Art nach.

Und ebenso geht es ihm mit giftigen Reden: sie finden bei ihm unbesehen stärksten Widerhall, werden verallgemeinert und leiten so sein Tun.

Wohl gibt es auch für den Minderwertigen Lichtblicke inmitten seines triebartigem Lebens; aber sofort schafft die Kriegszeit Vor- stellungen zur Hand, die alle Hemmungen zur Ohnmacht verurteilen. Etwa: Lebensmitteldiebstähle sind nichts Schlimmes Entwenden und Fälschen von Marken ist kein großes Unrecht, man nimmt ja niemand etwas andere tun’s auch man wird nicht ertappt werden...

So läuft denn das Triebleben weiter, und der 3. Grundzug des Geistesminderwertigen kommt dabei voll zu seinem Rechte: die Sinnlichkeit. Der egoistisch gerichtete Zug unsrer Zeit begünstigt sie ebenso, wie die Veräußerlichung des Lebens (Ordensschwindel, Tragen von Uniformen). Am stärksten aber wohl die Beherrschung der Zeit durch die Ernährungsfrage. Das stete Hungergefühl schwächt die Widerstandskraft des Minderwertigen gegen die Unehrlichkeit in starkem Maße. Dabei zeigt sich aber, daß er von Haus aus nicht zu der niedrigsten Sorte der Diebe gehört: entgegen der sonst zu machenden Beobachtung, daß an Stelle der Gelegenheitsvergehen die langer Hand vorbereitete Tat tritt, beginnt er sein Treiben meist mit Gelegenheitstaten, um seine sinnlichen Regungen zu befriedigen. In der Beharrlichkeit in seinem verwerflichen Tun zeigt er sich dann allerdings als Meister.

b) Von dieser Sinnlichkeit der Geistesminderwertigen ist es nicht weit zur 2. Gruppe, den @efühlsminderwertigen. Was bei jenen die Folge geistigen Unvermögens ist, wird bei diesen der Ausdruck gemütlicher Schwäche. Wir kennen die Gefühlsarmen, denen ihr

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liebes Ich über allem steht, selbst über ihren nächsten Angehörigen. Der kalte Hauch unsrer Zeit ist ihnen das Lebenselement, alles Warme, Erhebende findet ihre Herzen verschlossen. In ihren Reihen haben wir die Jugendlichen zu suchen, die ihren Mitarbeitern das Frühstück stehlen, dem Vater den Verdienst, der verwitweten Mutter die sauer ersparten Groschen; die Jugendlichen, die es übers Herz bringen, ihre Angehörigen darben zu lassen, weil sie sich selbst keine Entbehrung auferlegen wollen; die in Saus und Braus leben, während daheim eine kranke Mutter Tränen bitterster Not und Sorge weint; ja die kalt berechnend sich am Leben ihrer Angehörigen vergreifen, wenn sie ihnen hinderlich im Wege stehen.

Wir verlassen diese eisige Sphäre nur zu gern. Da sind uns denn doch die Minderwertigen mit gesteigerten Affekten lieber, wenngleich auch ihre Taten Richts weniger als erfreulich sind. Meist Psychopathen, werden sie ruckweis von den wechselvollen Stimmungen des Tages hin- und hergerissen. Bilder aus dem Kriegsleben, der Welt der Gewalt, häufen in ihnen ebenso den Feuerzunder, wie die Erlebnisse in der Heimat, wie Entbehrung, Verhetzung, gesteigert&s Selbstbewußtsein.. Es bedarf nur geringfügiger Anlässe zur unheil- vollen Entzündung; die gespannten Verhältnisse unsrer Zeit sind ja leider nicht arm daran. So wirft der Minderwertige bei unbedeutendem Streite seine gut lohnende Arbeit hin, wird arbeitslos und stiehlt. So läuft er im jäh auffahrenden Trotze aus dem Elternhaus, mag dann nicht den reuigen Sohn spielen und geht unter. So sticht der Bruder den Bruder mit dem Messer um des Essens willen. So erschlägt er den aus dem Felde heimgekehrten Bruder im Schlafe, weil er ihm Vorhaltungen wegen seines zügellosen Lebens machte.

Diesen gefährlichen Brauseköpfen verwandt, aber weit harmloser sind die Sanguiniker mit ihrer weit über die Kinderjahre hinaus herrschenden Strohfeuerbegeisterung. Alles wird unter ihren Händen zur Manie. Das Sammeln steigert sich zur Sammelwut und macht sie zu Dieben »aus lauter Begeisterung«. Beim Spenden von Liebesgaben wollen sie keinesfalls hinter anderen zurückstehen, lieber stehlen sie Schokolade, Wurst, Zigaretten alles für die Feldgrauen. Kaninchenzucht u. a. wird von ihnen sofort im großen betrieben. Sie fehlten natürlich auch nicht in den Tagen des Ansturms zum Freiwilligen-Dienst. Offenbarten sie sich aber dem Kundigen schon damals durch ihr Ungestüm, das am liebsten den Ereignissen voraus- geeilt wäre, durch ihre »massige Begeisterung«, die sie auch zu Fäl- schungen ihrer Papiere und elterlicher Einwilligungsscheine hinreißen konnte, so trat noch mehr später ihr wahrer Geist zutage durch das

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Umschlagen ihrer Begeisterung in krasseste Vaterlandslosigkeit: Schein- helden waren es, angesteckt von der Massensuggestion!

Oder waren es Abenteurer? Ihr Gefühlsleben leitet ihr Tun nicht weniger als ihre Phantasie. Überwertigkeit einer beschränkten Zahl gefühlsbetonter Vorstellungen ist eins ihrer psychischen Haupt- merkmale, so daß wir sie gleichfalls zu den Gefühlsminderwertigen rechnen können. Nie bot sich diesen Abenteurern günstigere Ge- legenheit, ihre aus Schundbüchern gelernte Weisheit in Taten umzu- setzen, als in der Kriegszeit. Leider versagten dabei oft die ein- fachsten äußeren Gegenmittel. Erstaunt und empört hörten wir von Schulknaben und blutjungen Burschen, die der kämpfenden Truppe bis in die vordersten Linien folgten, wohl gar Ordensauszeichnungen erhielten, und deren Bild unsrer daheimgebliebenen Jugend auch noch im Strahlenkranze reifen Heldentums vorgehalten wurde. Zur Nach- eiferung? Mancher Jugendliche mag es so verstanden haben.

Weniger tatkräftige Abenteurer begnügen sich mit Schanzarbeit und Hilfsdienst in der Etappe, sind dabei aber nicht weniger sittlichen Gefahren ausgesetzt. Erst kürzlich lernte ich einen 1917 konfirmierten Burschen kennen, der sofort nach seiner Schulentlassung 3/.Jahr in Frankreich beim Bau von Unterständen Verwendung fand, und den erst 1918 eine Verfügung in die Heimat zurückführte, daß Jugendliche unter 16 Jahren nicht mehr beschäftigt werden dürften. Die meisten dieser Burschen geben es effen zu: vom Kriege wollten sie etwas sehen, dem »ewigen Einerlei der Heimat« entgehen, Abenteuer erleben. Und wenn ihnen die Wirklichkeit zu wenig entgegenkam, so halfen sie ihr nach, indem sie Waffen und Munition stahlen, ein zügelloses Leben führten und schließlich zu Unterschlagung und Kameraden- diebstahl griffen. Als Schiffbrüchige oder doch von der freieren Moral des Feldiebens vergiftet kehren sie in die Heimat zurück. Opfer des Krieges infolge ihrer Gefühlsminderwertigkeit.

e) Sind schon Geistes- und Gefühlsminderwertige so vielen Ge- fahren ausgesetzt, wieviel mehr erst die Willensminderwertigen in einer Zeit, die so gewaltige Anforderungen an den Willen stellt.

Groß ist ihre Zahl, mannigfach ihre Art; vom harmlosen Moralisch- Schwachen bis zum bösartigen Asozialen herab stehen sie in den Reihen der Verwahrlosten. Nur einige Typen: seien namhaft ge- macht.

Da sehen wir die Haltlosen, die in gleicher Weise guten und schlechten Einflüssen zugänglich sind, die in bunter Folge Treue geloben und brechen. Ganz und gar von unwillkürlicher Auf- merksamkeit beherrscht, haftet allem Fühlen, allem Empfinden äußerste

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Flüchtigkeit an. Selbst Strafen vergessen sie über den Wider- wärtigkeiten dieser Zeit schnell. Ein typisches Beispiel ist der Jugend- liche, der Treibriemen stahl, weil er Leder für seine Schuhe braucht, und den gerichtliche Strafe keineswegs abhielt, schon in den folgenden Wochen eine Wagenplane zu zerschneiden, weil er eine Schürze brauchte. Ebenso bezeichnend ist das Verhalten eines andern Jugendlichen, der zum Diebstahl griff, als er auf Hamsterwegen keine Butter erhielt; die Faust in der Tasche zu ballen und sich dann zu bescheiden wie es der Gesunde tut war ihm versagt. Die Zahl solcher und ähnlicher Fälle geht ins Riesenhafte.. Die Häufung der Widerwärtigkeiten in unsrer Zeit ist das Unglück der Haltlosen.

Wir sahen ferner die Gewohnheitsdiebe, die schließlich auch trotz guter Leitung straucheln, weil ihr Vorstellungsverlauf förmlich unter dem Banne von Zwangsassoziationen erfolgt. Ihnen wird die Vermehrung der Gelegenheiten zu strafbarem Tun so gefährlich. Wohnungen, ja ganze Häuser, deren Inhaber verreist sind die Verminderung der Gefahr, bei einem Einbruch entdeckt zu werden das Gedränge in Geschäften die ständig sich bietende Gelegenheit zu Straßenraub, und wenn es nur 1 Brotmarke in der Hand eines Kindes ist das alles und manches andere reizt und nährt die ver- brecherischen Instinkte in diesen bedauernswerten Burschen. Und wie gewandt sie sind, immer neue Gelegenheiten zu entdecken! Sie machen sich an den Post- und Bahndienst heran, mit der bestimmten Absicht, reichlicher und ungestörter zu stehlen. Sie nützen die Vertrauensseligkeit der Feldgrauen aus die Opfer sind ihnen ja völlig gleichgültig, sie stehen in enger Verwandtschaft mit den Gefühls- armen —, spielen die Gefälligen, um dann den Gepäckschein aus dem ihnen übergebenen Brief zu entwenden und das Gepäck für sich abzuholen. Kein noch so verwerfliches Mittel stößt in ihrem so ein- seitig und niedrig abgestimmten Seelengefüge auf Widerstand.

Wir sehen ferner die Arbeitsscheuen, deren Willen der schlaff herabhängenden Sehne eines entspannten Bogens gleicht. Meist be- nützen sie die Erziehungsnot, um die längst widerwillig getragene Bürde der Pflicht von sich zu werfen. Und während der ins "Feld

_ ziehende Vater noch einmal ihr Pflichtgefühl anruft, schwelgen ihre Gedanken schon im Vorgenusse der Ungebundenheit. Sie werfen gut lohnende Arbeit von sich und schaffen sich künstlich wirtschaftliche Not. Sie lungern auf Bahnhöfen umher, finden von dort den Weg in die Herberge und Spitzbubenkneipe und bilden die modernen »Landstreicher«, die ihren Wirkungskreis von der Landstraße in die Stadt verlegt haben. Günstigstenfalls suchen sie eine Gelegenheit

Zeitschrift für Kinderforschung. 26. Jahrgang. 3

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zu mühelosem Verdienst der Verkauf von Sonderblättern lohnt auch heute noch, ebenso Gelegenheitsarbeit in Markthallen und auf Güterbahnhöfen —; meist aber schließen sie Bundesgenossenschaft mit den Gewohnheitsdieben. Je mehr pathologische Momente vor- handen sind (z. B. degenerative psychopathische Konstitution), desto schneller vollzieht sich dieser Abstieg.

Wir sehen ferner die Hochstaplernaturen, die Betrüger und Schwindler mit der Maske des feinen, edlen Mannes. Sie bleiben nicht beim Tragen von Uniformen und Orden aus Spielerei oder Großmannssucht, sondern suchen dabei ihren Vorteil, der vielleicht durch Anlegen eines Verbandes noch erhöht wird. Sie geben sich als Abgesandte des Roten Kreuzes aus. Sie locken ihren Mitmenschen das Geld aus der Tasche, indem sie angeben, Nahrungsmittel u. a. beschaffen zu können. Sie fälschen Papiergeld, Gutscheine und Marken. Und führen auf Kosten der Gutgläubigkeit und Not ihrer Mitmenschen ein üppiges, lustiges Leben. Die Wirtschafts- und Gewissensnot ist der Boden, auf dem ihr Geschäft blüht.

Wir sehen endlich die Asozialen mit der übergroßen Druck- empfindlichkeit des Willens. Nur keine Fessel, nur keine Einengung des Lebens! Die Verordnungen für Jugendliche reizen sie, wie den Stier das rote Tuch; und sie können sich bei ihren Übertretungen bis zur Beamtenbeleidigung vergessen. Den Beschränkungen des Markenzwanges begegnen sie mit Fälschungen; und haben sie gar in der Zeitung von einer Gegend gelesen, in der man keine Marken kennt, so läßt’s ihnen keine Ruhe, bis sie die Mittel in der Hand haben, um das Ziel ihrer Wünsche zu erreichen. Die Abstumpfung der Kriegsbegeisterung läßt in ihnen das letzte Fünkchen von Pflicht- bewußtsein erlöschen. Maßhalten, Einteilen, Entbehren? Ihre Antwort ist maßlose, ausschweifendste Genußsucht, sie kennen kein andres Gegengewicht gegen den Ernst der Zeit. Wie solche Regungen bis- weilen auch nur im Unterbewußtsein bestehen und dann durch irgend- einen Anstoß zur Geltung gelangen, zeigte mir neulich ein interessanter Fall: der degenerierte Sohn eines Trinkers träumt vom offenstehenden Geldschrank seines Herrn; Geld Genießen, diese Assoziation läßt ihn nicht wieder los, bis das Unterbewußte zur Tat, das Geträumte _ zur Wirklichkeit geworden ist durch Einbruch.

Selbst im Gefängnis verläßt diese Asozialen der Geist des Wider- standes nicht: sie träumen von der Zeit, da sie sich wieder schadlos halten wollen, und werden dann wohl schon am Tage ihrer Entlassung wieder rückfällig.

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C. Düstere Bilder sind es, auf die ich eben den Blick lenken mußte. Wenn sie wenigstens nur das Erzeugnis menschlichen Über- muts und menschlicher Bosheit wären! Aber nein, Naturkräfte (siehe S. 15/16) sind im Spiele? Da will schon die Hand zagend sinken, die sich eben zur Hilfe erhob: »Hier kann nur der Frieden der Retter sein!«

Bis er kommt, sollen wir die Hände in den Schoß legen und das Unglück weiter wachsen lassen? Nimmermehr! Ihr Menschen- freunde! Alle Mann an Bord! Wirken schon Naturkräfte, so versucht, Gegenkräfte wirksam zu machen! Und krankt ihr auch selbst an der Not der Zeit, so wahrt euch doch euern Idealismus, so gut es geht!

Es wäre nun ein Thema für sich: »Wie steuern wir der Ver- wahrlosung?« Wenn ich gleichwohl an dieser Frage nicht vorüber gehen möchte, so muß ich mich mit wenigen Andeutungen begnügen.

Der Blick richtet sich zunächst auf viele Maßnahmen äußerer Natur: auf die Verordnungen der Militär-, Staats- und Gemeinde- behörden, die das äußere Verhalten der Jugendlichen regeln; auf Veranstaltungen, die den natürlichen Freiheits- und Betätigungsdrang in gesunde Bahnen leiten wollen, wie Horte, Schülerwerkstätten, Gartenbau, vaterländische Sammelarbeit, Jugendvereine, die durch Selbstverwaltung zur Selbsttätigkeit erziehen; auf die Mittel zur Ab- leitung der Abenteuerlust, wie Schwimmen, Turnen, Wandern; auf Veranstaltungen zur Weckung edler Gedanken im Jugendlichen, wie Vorträge, Bildungskurse, Einrichtung von Lesehallen und Pflege der Geselligkeit in Jugendvereinen. Von diesen Einzelmaßnahmen geht dann der Blick weiter hin zu den Organisationen der freiwilligen Jugendfürsorge, hin zum Jugendgericht, zum Fürsorge-Erziehungs- Gesetz, ja bis hin ins Jugendgefängnis mit seinem Streben, der Er- ziehung immer mehr Eingang in den Strafvollzug zu verschaffen. Und im Schauen weitet sich der Blick mehr und mehr und wandert trotz der Vielgestaltigkeit der genannten Hilfsmaßnahmen nein, gerade durch sie geleitet in die Zukunft: er schaut eine große Organisation, die die Gesamtheit unseres Jungvolkes erfaßt; eine Organisation, die alle die genannten Maßnahmen und noch manche andere in sich schließt; eine Organisation, die Jugendpflege und Jugendfürsorge bis hin zum Strafvollzug in ein einheitliches, segens- volles System der. Jugendbewahrung und -rettung bringt, eine Organi- sation, deren Grundlage das schon lange sehnlichst erwartete Reichs- jugendgesetz sein wird.

Nicht wahr, wo der Wille zum Helfen da ist, da öffnen sich ihm auch hier gar viele Wege. Aber entscheidender als diese äußeren

Maßnahmen ist doch der Geist des einzelnen Helfers, seine ° 3*

36 A. Abhandlungen.

Persönlichkeit. Und damit werden wir wieder in die Gegenwart zurückgeführt. Es ist wohl recht und billig, wenn die folgenden Worte in erster Linie dem Berufserzieher, dem Lehrer gelten; die übrigen Freunde der Jugend werden mit Leichtigkeit das auch für sie Bedeutsame herausfinden.

Hüten wir uns, über der Schwere der Zeit Pessimisten zu werden! Mögen uns sonst trübe Gedanken anfechten: vor unserer Jugend müssen wir sie bannen! Das kann man in edler Hingabe an seinen Beruf, ohne unwahr zu werden. Wahren wir uns den Glauben an unser Volk, an unsere Jugend! Er allein wird unserem Worte Wärme, unserer Tat werbende Kraft verleihen. Selbst Mißerfolge sollen uns nicht kleinmütig machen; gelingt uns nicht die Rettung aller, so doch einiger hier gilt die einzelne Seele!

Von solcher Glaubensfreudigkeit getragen, wollen wir durch Vor- bild und Wort arbeiten an der Vertiefung der religiösen und sittlichen Anschauungen der Jugend, wollen ihr Gefühl der Pflicht und Ver- antwortlichkeit gegen Gott und Menschen wecken, den Sinn für Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit und Treue pflegen, und wollen so in der Brandung der sittlichen Verwirrung Seite an Seite mit der Kirche der ruhende Pol sein.

Was uns der Krieg dazu an Hilfsmitteln bietet, das sei uns doppelt willkommen, seien es nun Feldpostbriefe von Angehörigen

` unsrer Pfleglinge oder begeisternde Worte unsrer Heerführer, seien

es herzliche Worte unsrer kommandierenden Generäle ich denke an den von hoher pädagogischer Kuust zeugenden Aufruf an die Jugendlichen des Korpsbereiches Kassel oder Beweise von Opfer- freudigkeit in Feld und Heimat. Nur hüten wollen wir uns, den Jugendlichen »immer wieder die in ihren Einzelheiten scheußlichen Kriegsgreuel vorzuhalten, immer wieder den Haß gegen die Feinde zu predigen und die Phantasie durch Kriegsliteratur in dieselbe Richtung zu lenken«!

Die Grenzen für solches Wirken können räumlich und zeitlich gar nicht weit genugsein. Keinesfalls dürfen der Schluß der Unterrichts- stunde und die Wände des Schulhauses seinen Abschluß bedeuten. Stundenhalter haben nie, am allerwenigsten in unsrer Zeit die Be- deutung ihrer Aufgabe erfaßt. Die Lehrerschaft hat allezeit dem Vaterland ihre Kräfte freudig im Dienste der Jugendpflege ge- widmet. Ich meine aber, ebenso wichtig, nein wichtiger ist es in unsern Tagen, daß wir am einzelnen pädagogische Seelsorge treiben. Mindestens sollten alle notwendig werdenden Kürzungen des Unterrichts diesem Zweige der Fürsorge zugute kommen.

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Wittig: Einfluß des Krieges und der Revolution auf die Kriminalität usw. 37

In besonderem Maße bedürfen ihrer die Kinder unserer Krieger. Wir wollen ihre häuslichen Verhältnisse erforschen, wollen ihnen öfters als anderen das Gewissen schärfen, ' wollen den jüngeren zu rechter Ausfüllung ihrer freien Zeit, den älteren zu geregelter Arbeit

"behilflich sein. Solche vorbeugende Tätigkeit ist noch immer der

bessere Teil der Fürsorge gewesen. Sie erstrecke sich auch auf das Verhalten der Jugendlichen auf der Straße! Der Lehrer, der Menschen- freund muß sich berufen fühlen, ein Wächter der Jugend auch auf der Straße zu sein, nicht als Straßenpolizei, sondern als väterlicher Freund. Man klagt soviel über anmaßendes Auftreten junger Burschen. Der Lehrer scheue sich nicht, öffentlich für Anstand, gute Sitte und Ordnung einzutreten. Ein warmes Wort wird oftmals eine gute Statt finden. Und ein schöner Nebenerfolg wäre der, daß mancher aus Angst vor Unannehnilichkeiten zaghaft seitwärts stehende Erwachsene herzhaft mit zugreift. So wird 2 Teilen geholfen: der Jugend’ zur Zucht, den Erwachsenen zum Bewußtsein der Pflicht der Erziehung auf der Straße. I

Was aber, wenn der Jugendliche trotz soleh vorbeugender Sorge fehlgeht? Dann um alles nicht sofort nach der Polizei laufen! Den Weg zum Herzen der Jugend öffnen nicht zuerst behördliche Zwangs- mittel, sondern allein Worte aus dem Herzen des Helfers, seel- sorgerischer Zuspruch unter vier Augen, um den Gefallenen auf- zurichten und zu stärken. Oft wird auch eine in eben solchem Geiste geführte Rücksprache mit den Angehörigen den gewünschten Erfolg zeitigen. Unser Anschluß an Fürsorgevereine wird übrigens diesen Teil der Arbeit wesentlich erleichtern.

Erst zuletzt greife man zur Zwangsmaßnahme; dann aber auch herzhaft.

Da hat man neuerdings die Einführung eines Disziplinararrestes in den Schulen für die Übertretung polizeilicher Vorschriften und für andere Ungebühr außerhalb der Schule vorgeschlagen. Das Für und Wider ist geltend gemacht worden. Ich kann in der Einführung nicht eine Abstempelung der Schule zum Polizeiamt sehen, sondern eine Erhöhung zur Erziehungsanstalt. Die Beziehungen zwischen der Verfehlung und Bestrafung und den Lehren der Schule sind unschwer festzustellen. Und der den Arrest leitende Lehrer könnte in den stillen Stunden des Büßens sicher oftmals so ans Innerste des Jugendlichen, auch des verbissenen und frechen, herankommen, daß der Arrest der Anfang einer Wiedergeburt würde. Wer einmal die Befriedigung gefühlt hat, die solche Erfolge an jungen Seelen ge- währen, wird den Schularrest nicht ablehnen.

38 . A. Abhandlungen.

Wenn aber auch diese Liebesmühe vergebens war, dann heraus mit dem Jugendlichen aus der Heimat und den alten Verhältnissen! Dann versuche die Fürsorge-Erziehung seine Rettung! Vor dem Ge- fängnis aber wollen wir die Jugendlichen so lange als möglich bewahren. Und wenn auch schon ein Strafverfahren im Gange ist, so müssen wir alles daran setzen, daß der Jugendliche vor der Straf- anstalt der Erziehungsanstalt zugeführt werde. Das Jugendgericht ist

` der Ort, wo unser wohlmeinendes Wort geprüft werden wird und muß.

War die Gefängnisstrafe aber unabwendbar, so umgebe den aus der Strafanstalt Entlassenen unsere Fürsorge mit besonderer Herzlichkeit; die Freude, dem Zagenden das Selbstvertrauen, dem Schwankenden Beständigkeit, dem Unglücklichen das Glücksgefühl wiedergegeben zu haben, ist reicher Lohn. Lassen wir uns nur nicht durch den Ge- danken an ihr Vorleben abschrecken! Wahrlich, es ist nicht alles bodenlose Schlechtigkeit, was darnach aussah!

Schließen wir hiermit den Überblick über die möglichen Hilfs- maßnahmen ab, so regt sich wohl noch die Frage: wie lange wird diese Kriegsfürsorge nötig sein, d. h. wie lange wird die verstärkte Gefährdung unsrer Jugendlichen anhalten ?

Sicher ist wohl, daß wir auch nach Friedensschluß noch geraume Zeit mit ihr zu rechnen haben werden. Körperliche und sittliche Schädigungen von dem Umfang und der Tiefe unsrer Tage sind nicht

` im Nu wirkungslos zu machen.. Zum andern wird das im Felde ver- änderte Rechtsbewußtsein unsrer heimgekehrten Krieger die Jugend- lichen noch lange beeinflussen. »Es ist geradezu unmöglich, sich fern vom Feldheer eine Vorstellung von der Auflösung der sittlichen Normen zu machen, zu der es da kommt. Selbst der Gebildete, der Sittenstrenge, auch der Feldgeistliche verliert oft den Kompaß seines Handelns.< So schreibt ein Feldgeistlicher (Kirchl. Jahrbuch 1917, S. 38) und schützt uns damit vor jeder Illusion hinsichtlich der nächsten Zukunft. Und die fernere Zukunft? Wird sie‘ den für vor- übergehend gehaltenen Zustand des sittlichen Niederganges etwa zum dauernden gestalten? Solch trübe Gedanken entbehren jeder Be- rechtigung. Die Gerechtigkeit gebietet, jetzt auch des Gott sei Dank großen Teiles unsrer Jugendlichen zu gedenken, die im Kriege Beweise sittlicher Tüchtigkeit und Festigkeit erbracht haben. Von ihnen werden nach dem Kriege noch Ströme des Segens auf ihre Alters- genossen ausgehen, sie werden unsere Helfer bei der Wiederaufrichtung der alten Sittenreinheit unseres Volkes werden. Und unser gesamtes Volk? Unser Feldheer? Gibt es nicht auch noch andere Eindrücke von ihnen als den des getrübten Rechtsbewußtseins? »Es gibt,« so

1. Zur Geschichte der Blódsinnigenbildung. 39

sagt begeistert und tröstlich ein andrer Beobachter, »es gibt eine Seele des deutschen Volkes. Sie schlummert in Millionen von Leibern, und ist doch eins... In hohen feierlichen Augenblicken, da zuckt es durch alle, wie ein einziger Schlag. Da stehen sie beieinander wie ein geschlossener Block, da bröckelt keiner ab, sie sind alle nur Teile eines einzigen. Und das eben ist die starke, gütige, herrliche Seele des deutschen Volkes!« (Prof. Dr. Hedemann, Woche 1918/37. Truppenansprachen.)

Ja, die starke, gütige, herrliche Seele des deutschen Volkes! Sie ist's, auf die wir vertrauen. Sie wird unser Volk, unsere Jugend wie so manche Not schon auch die schwere Zeit der gegenwärtigen Prüfung überwinden lassen. Darum frisch ans Werk für unsre Jugend, und getrosten Mutes in die Zukunft geschaut!

Heil dem neuen Deutschland und seiner Jugend!

(Schluß folgt.)

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B. Mitteilungen.

1. Zur Geschichte der Blódsinnigenbildung. Von Dr. Paul Schumann in Leipzig.

Max Kirmsse setzt in seinem Abriß der Entwicklung der Schwachsinnigenfürsorge!) den Beginn der pädagogischen Behandlung Blödsinniger und Schwachsinniger in für sie bestimmten Instituten ins Jahr 1816, in dem Guggenmoos zu Hallein bei Salzburg ein Privat- institut gründete.

Aber in Deutschland selbst sehen wir schon viel früher Institute für Blödsinnige ins Leben treten, und ich möchte im Nachfolgenden einige dieser Gründungen vorführen, ohne behaupten zu wollen, daß damit die überhaupt ersten Gründungen erfaßt seien.

I. Heinrich Hauer als Erzieher Blödsinniger. (Reichsanzeiger 1802, Nr. 198.) »Institut für blödsinnige Knaben.

Mit Vergnügen habe ich immer in diesen Blättern die seit einigen Jahren häufig angekündigten Erziehungsinstitute für Knaben und Mädchen gelesen; es däuchte mir immer so wohl, wenn ich sah, daß Männer ihre ‘Kräfte und Erziehungskenntnisse denjenigen Eltern anboten, welchen Zeit und Gelegenheit fehlten, ihren Kindern die zu ihrem künftigen Wohl

1) Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger, 1913, Nr. 6 u. 7.

40 B. Mitteilungen.

so notwendige Erziehung und Unterricht zu geben. Denn ich selbst kenne den Wunsch guter Eltern, ihre Kinder einmal als vernünftige, gute und nützliche Menschen handeln zu sehen. Also in diesem Betracht sind es immer wohltätige Ankündigungen solcher Institute. Wem ist aber wohl nicht die traurige Lage solcher, Eltern bekannt, denen die Vorsehung blödsinnige Kinder anvertraut hat; und die nicht imstande sind, denselben die Geistesanlagen nur einigermaßen aus ihrer Dunkelheit hervorzulocken und zu entwickeln? Vergeblich habe ich mich schon einige Jahre nach einem solchen Institut für solche Kinder umgesehen. Wie bange ist solchen Eltern die Aussicht in die Zukunft bei heranwachsenden Jahren ihrer blödsinnigen Kinder. Wie mancher gute Vater wünschte seinem Sohne weniger Vermögen und nur etwas Verstand mitgeben zu können, aber vergebens. Sie mußten die Freude und Hoffnung entbehren, welche solche Eltern beleben, die gesunde, mit richtigen Körperorganen und har- monischen Sinnen begabte Kinder gezeugt hatten. Mich mit Kindern zu beschäftigen und an ihrer Bildung zu arbeiten, ist mir zum Bedürfnis geworden, daher schene ich auch das in jeder Hinsicht schwere Unter- nehmen nicht, indem meine Kinder erwachsen sind und ich alle meine müßigen Zwischenstunden gern recht nützlich auszufüllen wünschte. Daher erbiete ich mich sechs bis acht blödsinnige Knaben, jedoch nicht ünter fünf Jahren, denen auch nicht das Gehör und Gesicht ganz mangelt, zur Bildung des Herzens und Verstandes und zum Unterricht in den not- wendigsten Schulkenntnissen in Erziehung zu nehmen. Die sehr tief ver- borgen liegenden Geistesanlagen blödsinniger Kinder hervorzulocken, zu entwickeln und zu bilden ist nicht jedermanns Sache; nicht darum, daß dazu etwa große, weit um sich greifende oder tiefe Kenntnisse gehörten, sondern weil die dazu nötigen Eigenschaften nicht jedem Charakter eigen sind. Gesunder Menschenverstand und Menschenkenntnisse, sehr viel Geduld, anhaltender Fleiß und eine herablassende, freundliche Seelen- stimmung sind meiner Meinung und Erfahrung nach die dazu notwendigsten und erforderlichsten Fähigkeiten und Eigenschäften, worin mir gewiß jeder Menschenkenner Beifall geben wird, daß ohne dieselben die größte Gelehr- samkeit nicht allein nichts nützt, sondern noch schädlich ist bei solchen Kindern. Und wird jemand, der sie nicht hat, sich dieselben mit Gewalt erzwingen und verschaffen können? Da dieses Gaben sind, welche sich der Mensch, der sie hat, nicht selbst gab und im Gegenteil nicht selbst geben kann, so hoffe ich, kann es mir nicht zum Hochmut gerechnet werden, wenn ich mich durch äußere Umstände und inneren Ruf dazu aufgefordert finde, in der Zukunft an solchen Kindern, welche mir ganz überlassen werden, zu zeigen, daß ich wirklich mich der benannten Eigenschaften rühmen kann. Auch werden diejenigen vorurteilfreien Menschen, welche meine Erziehungsschriften, den ersten, zweiten und dritten Teil der Freuden der Kinderzucht gelesen haben!) oder noch lesen werden, mir die Fähigkeiten zu diesem Unternehmen nicht absprechen. Auch meine Gegend, eine der schönsten und gesundesten Niederharz-

1) Die Freuden der Kinderzucht. Quedlinburg, Ernst, 1800.

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]. Zur Geschichte der Blódsinnigenbildung. 41

Gegenden, welche ich mit den Kindern fleißig benutze, trägt sehr viel zur Bildung des Geistes und Körpers der Kinder bei. Reinliche gesunde Pflege und gute Aufwartung verspreche ich jedem Kinde, indem ich dieselben durch meine Frau und Töchter besorgen lasse. Die Eltern, welche mir ihr Zutrauen schenken wollen, können die näheren Bedingungen durch frankierte Briefe erfahren von

Suderode bei Quedlinburg, den 5. Juni 1802. Heinrich Hauer, Schullehrer.«

Diese Ankündigung war nicht nur eine papierne Heldentat. Wir wissen aus Hauers Selbstbiographie,!) daß er wirklich einige blölsinnige Kinder mit gutem Erfolge erzog, wir erfahren, daß er später einen viel weiterschauenden Plan zur Bildung Blödsinniger verfolgte. Er erzählt dort S. 170 f.: »Um eben diese Zeit (1806) wurde auch das Kloster Huysburg aufgehoben. Durch das Kloster Adersleben im Halberstädtischen, bei Wege- leben, meinem Geburtsort, wo ich in der Klosterschule die Jugend mit der Olivierschen Lesemethode bekannt gemacht hatte, war ich auch mit dem Kloster Huysburg in eine freundschaftliche Bekanntschaft geraten. Die herrliche romantische Lage, sowie die wirklich schönen Gebäude dieser reichen Abtei waren mir genau bekannt, und es tat mir im Herzen weh, dieselben im Geiste in einen Steinklumpen verwandelt zu sehen. Da es mir in Suderode mit zwei blödsinnigen Knaben durch beharrliche Geduld soweit geglückt war, dieselben auf eine ziemliche Stufe der Bildung und zu einer nützlichen Brauchbarkeit gebracht zu haben, wovon der eine verstorben, der andere aber noch immer ein sehr nützlicher und tätiger Mensch ist und einen solchen Knaben aus Obersachsen noch in der Bildung hatte, der ebenfalls schon etwas lesen, schreiben und zu vielen häuslichen Geschäften gebraucht werden konnte. So wagte ich es, durch den Herrn Geh. Kabinettssekretär Fontane einen Plan zu einer solchen Bildungsanstalt Ihrer Majestät der Königin Luise einzureichen. Allerhöchst dieselbe gab demselben Ihren Beifall und übergab ihn Sr. Majestät dem König. Aus dem Kabinett erhielt ich darauf ein Schreiben, in dem mir der Allerhöchste Beifall Sr. Majestät und daß Majestät die Regierung und Kammer zu Halberstadt beauftragt hätten, eine solche Anstalt in dem Kloster-Gebäude der Huysburg zu begründen, zu erkennen gegeben wurde, Die Kgl. Kammer zu Halberstadt übertrug die Untersuchung und Zu- lässigkeit einer solchen Anstalt und deren Ökonomische Einrichtung dem Herrn Landesdirektor von S. Dieser gewissenhafte Mann wünschte seinen Auftrag auf die reellste Art zu erfüllen. Er stellte mehrere örtliche Unter- suchungen an, darüber ging natürlich mehrere Zeit hin. Ehe aber das Geschäft beendigt war, da übereilte uns der leidige 14. Oktober 1606. Da lagen auch diese Wünsche wieder zertrümmert darnieder. Im November des Jahres erhielt ich nur noch ein Schreiben von der Kammer zu Halberstadt, worinnen ich auf bessere Zeiten vertröstet wurde. ...«

1) Selbstbiographie von Heinrich Hauer. Nebst dessen Bildnis, 2 Teile. Quedlinburg 1834.

49 B. Mitteilungen.

Heinrich Hauer ist kein Unbekannter. Er ist einer der Besten von den alten Schulmeistern, die aus dem Handwerkerstande hervorgingen. In ärmlichen Verhältnissen wurde er am 24. Februar 1763 zu Wegeleben geboren. Frühzeitig vaterlos, wurde er Zimmerer und brachte es bis zum Zimmermeister, der 40 Gesellen beschäftigte. Aber sein ganzes Herz hing an der Schule, und die Gemeinde Suderode wußte, was sie tat, als sie ihn 1792 zum Schulmeister machte. Später an verschiedenen Orten des Harzes als Lehrer und Kantor tätig, erwarb er sich hohes Ansehen und wurde ein eifriger pädagogischer Schriftsteller. Bis zuletzt war er jeder gesunden Reform zugänglich. Seine angeborene Erzieherseele machte ihn zum Lehrer der Ärmsten, der Blödsinnigen; seine praktischen Talente ließen ihn weitschauende Pläne fassen für die Bildung Blödsinniger. Äußere Umstände verhinderten, daß diese Seite pädagogischer Tätigkeit !) in seinem Leben in dem Maße epochemachend wurde, wie die Taubstummen- bildung, die er 1819 in Schadeleben anfing. Die Taubstummenbildung machte er von 1821 an zu seiner Lebensaufgabe, gründete das Privat- institut für Taubstumme zu Quedlinburg, das 1834 31 Schüler zählte, nach seinem Tode, am 9. März 1838 aber in der Halberstädter Anstalt aufging.

IL | Ritters Institut für Blödsinnige in Neu-Ysenburg. (Reichsanzeiger 1803, Nr. 57, Dienstag den 11. März.) »Nützliche Anstalten und Vorschläge.

Es haben schon mehrere Institute für Blödsinnige bewiesen, wieviel eine zweckmäßige Behandlung dieser Gemütskranken zur Verminderung ihres traurigen Zustandes und zur völligen Genesung derselben wirken kann. Mancher, den seine leidenden Anverwandten als ein für die menschliche Gesellschaft verlorenes Glied in der einzigen Absicht in solche Institute schickten, um daselbst die Wartung zu finden, die das Mitleid ihm zu gewähren gebot, und die sie ihm selbst nicht geben konnten, ging vollkommen hergestellt und vollkommen brauchbar für die Welt wieder zu ihnen zurück und ihre Freude konnte so groß sein als sein Dank. Aber es gehört soviel psychologische Kenntnis der Menschen überhaupt, soviel Beobachtung des einzelnen, soviel guter Wille, soviel Geduld und soviel Stärke des Geistes und des Herzens zu einer solchen zweckmäßigen Be- handlung, daß die Einrichtung solcher Institute nicht für leicht angesehen werden kann und nur wenige Gegenden können sich noch solcher verdienst- vollen Anstalten erfreuen. In der unsrigen bemühte sich ein Geistlicher, der alle Kräfte dazu besitzt, schon seit 13 Jahren ganz im stillen solchen Unglücklichen Hilfe zu leisten. Und seine Bemühung war so wirksam, daß alle, über die er sich erbarmte, ihm jetzt als Gerettete danken. Dieser glückliche Erfolg seiner Versuche und der eifrige Wunsch, soviel als möglich für das Wohl der Menschheit zu tun, bestimmten ihn, `

1) Es würde wertvoll sein den der Regierung eingereichten Plan ausfindig zu machen.

1. Zur Geschichte der Blödsinnigenbildung. 43

in die Aufforderung mehrerer unglücklichen Familien zu willigen und ein eigenes Institut für Blödsinnige und Schwache zu errichten. Um diesen Plan auszuführen, ist er genötigt, seine ganze Tätigkeit auf diesen Zweck zu richten und seine ükrigen Geschäfte zu beschränken oder ganz aufzugeben. Er kann dieses nicht, ohne gesichert zu sein, daß man sein Anerbieten mit Vertrauen annehme, und daß ihm Zöglinge genug über- geben würden, die ihn ganz beschäftigen können. Deshalb wird hier sein Erbieten öffentlich bekannt gemacht und einige Bedingungen, unter welchen er sich zur Einrichtung des Instituts versteht, vorläufig angezeigt. Das Lokal ist eine Stunde von Frankfurt a. M. in einer der angenehmsten Gegenden. Das Haus ist geräumig genug, daß eine beträchtliche Anzahl von Zöglingen eigene Zimmer erhalten können. Ein sehr großer Garten bietet Zerstreuung und Gelegenheiten zu zweckmäßigen Beschäftigungen dar. Ein geschickter Arzt wird die Kranken an bestimmten Tagen in der Woche besuchen und bei besonderen Fällen täglich. Seine Bemühung honoriert der Unternehmer des Instituts. Mehrere Freunde des Ortes sind erbötig, die Genesenden zweckmäßige Unterhaltung und Gewöhnung an menschliche Gesellschaft in ihren Zirkeln finden zu lassen und so gemeinschaftlich mit dem Direktor des Instituts für das Wohl der ihm Anvertrauten zu wirken.

Die Gattin des Direktors, die ihm bisher schon die kräftigste Unter- stützung in seinen Versuchen gewährte, wird bei der neuen Einrichtung mit gleicher Hilfe ihm beistehen. Sie wird immer für gute und zweckmäßige Nahrung, die der Arzt bestimmt, besorgt sein und alle übrigen Bedürfnisse, die von weiblicher Seite gefordert werden, mit gleicher Aufmerksamkeit befriedigen. Unsinnige, tolle und rasende Personen, von welchen die mindeste Gefahr zu befürchten steht, können nicht aufgenommen werden. Nur Wahnsinnige, Wahnwitzige, Aberwitzige, Tiefsinnige, Blödsinnige und andere, bei denen es möglich ist, daß ihr Gemüt wieder geheilt werden könne und von denen die sie Umgebenden nichts zu befürchten haben, sollen obne Unterschied des Alters oder des Geschlechts aufgenommen und jeder nach seiner eigenen Krankheit behandelt werden. Für einen Kranken wird jährlich 400 Fl. in vierteljährigen Terminen bezahlt; und dieses für die sorgfältige Behandlung und Wartung der Kranken, für den _ Beistand der Ärzte, für Kost und Wohnung gerechnet. Kleidung, Bettung, Wäsche, Reparatur der Wäsche usw., Medikamente, Holz und Licht muß für jeden besonders bezahlt oder für ihn gestellt werden. Im Falle, daß die Besorgung dieser Bedürfnisse dem Direktor aufgetragen wird, so legt er darüber genau Rechnung ab, oder kommt darüber vorher mit den Ver- wandten bestimmt überein. Für die Aufwartung wird den Domestiken jährlich drei neue Taler gereicht. Fordern Reiche für die dem Direktor übergebenen Anverwandten etwas besonderes in Hinsicht der Bedienung, des Ameublements, des Tisches usw., so werden sie sich auch zu etwas mehr verstehen, als im Durchschnitt für jede Person für ein Jahr verlangt wird. Ärmere dürfen sich hingegen versichert halten, daß der Direktor auf Bitten, die Umstände nötig machen, nach Möglichkeit Rücksicht nehmen werde.

44 B. Mitteilungen.

Aufkündigungen müssen ein Vierteljahr vorher geschehen, damit man die Stelle zu rechter Zeit andern anbieten kann. Den Namen des Geistlichen mit dem man sich über das Ganze in nähere Korrespondenz setzen kann, erfährt man von der Exped. des kaiserl. priv. Reichsanzeigers in Gotha oder von D. M. Röder und D. M. Christ in Frankfurt a. M.e

Erfahren wir hieraus den Ort der Gründung, die ungefähr 15 Jahre lang bestand, und den Namen des Gründers nicht, so geht er aber hervor aus einer Ankündigung seines Nachfolgers, der allerdings nur noch ein Verpflegungsinstitut einrichten und unterhalten wollte. Seine Ankündigung ist deshalb interessant, weil er von jedem Aufzunehmenden eine geschichtliche Beschreibung seines Übels fordert.

»Verpflegungsinstitut für Blödsinnige. (Reichsanzeiger 1805, Nr. 17.)

Da es der Unglücklichen so viele gibt, die mit leichten oder schweren Gemütskrankheiten behaftet sind, ohne darum eben zum Tollhaus qualifiziert zu sein, doch aber ihren Angehörigen zur Last fallen, so gedachte Unter- zeichneter durch sein Verpflegungsinstitut für Blödsinnige beiderlei Geschlechts allen denjenigen ein ernstes Bedürfnis zu befriedigen, denen es Pflicht ist, für solch ein gemütskrankes Snbjekt Sorge zu tragen. Der Unterzeichnete hat zu dem Ende von der Hochfürstlich-Ysenburgischen Regierung die Erlaubnis erhalten, das Rittersche Institut für Blöd- sinnige, das eine Zeitlang in Neu-Ysenburg unweit Frankfurt a. M. bestand, nun aber eingegangen ist, fortsetzen zu dürfen. Die große Ver- schiedenheit der Gemütskrankheiten und die unendlichen Modifikationen derselben machen es notwendig, daß allen Aufzunehmenden eine ge- schichtliche Beschreibung ihres Übels und eine darauf gegründete In- struktion zur Behandlung derselben mitgegeben werde. Körperliche Krankheiten, wenn etwa ein Aufzunehmender behaftet sein oder die ihm während seinem Aufenthalt im Institut zustoßen können, hat das Physikat zu Offenbach zu besorgen übernommen.

Wer Gebrauch von diesem Anerbieten zu machen gedenkt, wird sich überzeugen, daß niedrige Habsucht nicht unter meine Fehler gehöre.

Neu-Ysenburg bei Frankfurt. K. F. Opitz.«

2. Untersuchung der Schulneulinge.

Das Institut für experimentelle Pädagogik und Psycho- logie, Leipzig, Kramerstr. 4, Lehrervereinshaus II Tr., hat auf dem Gebiete der Intelligenzprüfung für Schulneulinge neue, einfache, dem kindlichen Verständnis naheliegende Hilfsmittel gebracht, die jedem auf diesem Gebiete Tätigen warm zu empfehlen sind.

Der Preis der »Hilfsmittel für die Untersuchung der Schulneulinge, bestehend aus 1 Arbeitsplan, 1 Farbtafel mit 14 farbigen Deckblättchen, 4 Kärtchen zum Zusammensetzen, 4 Bildern, 1 Baukasten (Kleiner Schwede) (im Sinne Fröbels), 3 Bauvorlagen« beträgt 7 M, für Mitglieder des Instituts 5 M.

3. Vertreterversammlung der vereinigten deutschen Prüfungsausschüsse. 45

Alle angeführten Dinge sind zusammen bequem in einem Geschäfts- umschlag untergebracht, so daß man sie gut in einer Tasche bei sich tragen und sich und den Kindern viele Freude damit machen kann, ohne umständliche Apparate bei einer Untersuchung zu benötigen. Erprobte praktische Ratschläge sind im Arbeitsplan gegeben. Die Prüfungsmittel sind wertvoll und es wäre zu wünschen, wenn sie in allen Instituten zur praktischen Einführung kämen.

Jena. H. Stahn.

8. Bericht über die Vertreterversammlung der vereinigten deutschen Prüfungsausschüsse für Jugend- schriften.

Am 1. und 2. Oktober fand in Jena eine Tagung der vereinigten deutschen Prüfungsansschüsse für Jugendschriften statt, zu der 27 Aus- schüsse aus allen Teilen des Reichs ihre Vertreter entsandt hatten. Die Vertreterversammlung hatte besonders die Aufgabe, das infolge der Wirren des Kriegs und der Revolution etwas gelockerte Zusammenwirken der Ausschüsse von neuem anzubahnen und die bisherigen Richtlinien ihrer gemeinsamen Arbeit am Maßstabe der »neuen Zeite auf ihre weitere Geltung hin zu prüfen. Und daher stand im Vordergrunde der Be- ratungen die Erörterung des Themas: »Die' neue Zeit uni die Jugend- schriftenfrage«, die nach einem tiefgründigen, zum Teil auf geschichts- . philosophischen Erwägungen fußenden Vortrage von W. Fronemann- Frankfurt a. M. zur einstimmigen Annahme der folgenden Leitsätze führte:

1.. Die Arbeit der Jugendschriften-Ausschüsse hat sich den ver- änderten politischen und sozialen Verhältnissen anzupassen, ihre grundsätzlichen Forderungen werden dadurch nicht berührt.

2. Die Jugendschrift in dichterischer Form sei ein Kunstwerk. Das belehrende Jugendbuch soll aus wissenschaftlichem Geist heraus geboren und von lauterer belehrender Absicht beherrscht sein.

3. Wir erstreben die Förderung der literarischen Kultur der Jugend aller sozialen Schichten, denn der neue Volksstaat braucht neben der sozialen notwendig die kulturelle Einheit unseres Volkes.

4. Wir fordern eine groß,ügige Literatur- und Kunstpflege, wozu

staatliche Mittel bereit zu stellen sind.

5. Wir verlangen eine allgemeine Regelung der Schülerbüchereifrage. Die Reinigung der Schülerbüchereien hat nach literarisch- päla- gogischen Gesichtspunkten, nicht nach Parteigrundsätzen und Welt- anschauaungen zu erfolgen. Tendenzschriften werden bei der Sichtung abgelehnt. Dichtungen, die bei voller Wahrung künstlerischen Ge- staltens zugleich eine religiöse, sittliche oder politische Wirkung ausüben, sind beizubehalten. Der vaterländische Gedauke in der Jugendschrift bedeutet innere Gebundenheit an Land und Volk. Der literarische Unterricht gründet sich auf eine gut eingerichtete Schüler- bücherei und auf das eigene Buch des Kindes. Die Schülerbücherei ist dem Unterrichtsganzen einzugliedern.

46 B. Mitteilungen.

6. Das Schullesebuch ist durch Einzelausgaben geeigneter Literatur- werke zu ersetzen. Solange die Zeitverhältnisse die Durchführung dieser Forderung nicht zulassen, sind die Jugendschriftenausschüsse verpflichtet, dahin zu wirken, daß planmäßig geordnete Auswahl- bücher deutscher Dichtung entstehen, die eine Führung zur deutschen Gemeinschaft durch die deutsche Dichtung verbürgen.

7. Die kapitalistische Ausbeutung der unteren Bildungsschichten und der unbehüteten Jugend durch Pseudokunst und Schund ist mit den schärfsten Mitteln zu bekämpfen. Das angekündigte Gesetz gegen die Schundliteratur soll die kapitalistischen Wurzeln der geistigen Volks- und Jugendvergiftung zu treffen suchen.

8. Bei der Ausarbeitung des Gesetzes verlangen die vereinigten Prüfungs- ausschüsse mitzuwirken.

Die Leitsätze zeigen, daß die Jugendschriftenausschüsse nach wie vor an den ihre kritische Tätigkeit bestimmenden früheren Grundsätzen fest- halten. Daher werden aie von ihnen herausgegebenen Verzeichnisse empfehlenswerter Jugendschriften in Hinsicht auf die künstlerische Eignung der ausgewählten Werke kaum einer Revision bedürfen. Notwendiger er- schien den Teilnehmern an der Tagung eine Nachprüfung der Verzeichnisse vom Standpunkte der psychischen Beschaffenheit des jugendlichen Lesers aus, also unter Berücksichtigung seiner geistigen Veranlagungen und Neigungen und nach eingehender Untersuchung der Triebkräfte, die das in ihm hervorgerufene Lesebedürfnis bis zur Lesewut zu steigern ver- mögen. Diese Nachprüfungsarbeit, die natürlich viel Zeit erfordert und in der Gegenwart durch die Schwierigkeiten der Bücherbeschaffung be- sonders erschwert ist, wird aüch zur Kinderforschung manchen wertvollen Beitrag liefern. Ihr Erfolg setzt ein Zusammenwirken der Einzelausschüsse nach einheitlichen Gesichtspunkten und bei planvoller Arbeitsteilung voraus, mit deren Gestaltung der Vorortausschuß der Vereinigung (Hamburg) beauftragt wurde. Die Nachprüfung wird sich auch in den Dienst der Auswahl geeigneter Lektüre für Hilfsschüler stellen, wie sie vom » Verband der Hilfsschulen Deutschlands« angeregt und in Frankfurt a. M. unter Mitarbeit des dortigen Prüfungsausschusses in Angriff genommen worden ist. Überhaupt wird die gesamte Tätigkeit der Ausschüsse die ganze Jugendschriftenfrage mehr als früher in Zusammenhang mit dem Schul- und Erziehungsproblem bringen und ihre pädagogische Seite nicht an letzte Stelle rücken. Das zeigen der Schluß von Leitsatz 5 und Leit- satz 6, die zum Ausdruck bringen, daß die Förderung der literarischen Kultur der Jugend immer mehr auf Unterricht und Erziehung zu gründen sei, und die durch den erstrebten organischen Einbau des Bücherlesens in die Schularbeit die Jugendschriftenfrage zu einer Angelegenheit machen, die alle Lehrer, nicht nur die für Jugendliteratur besonders Interessierten unter ihnen, angeht. Besondere Erwähnung verdient hier die Anregung, die der Oldenburger Ausschuß für Jugendschriften in der Jugendschriften- Warte vom Januar 1920 gegeben hat und die in der Forderung gipfelt, daß besonders auch die Vorstellungen und Kenntnisse, die das Kind durch seine Privatlektüre erwirbt, zum Ausgangspunkt des Unterrichts zu machen

3. Vertreterversammlung der vereinigten deutschen Prüfungsausschüsse. 47

sind. Die Durchführung dieser Forderung setzt die Führung des Schülers zu geeigneter Privatlektüre und daher die Bereitstellung von Begleitstoffen aus den Jugendschriften zur Belebung und Vertiefung des Unterrichts voraus, bei deren Auswahl, wie auf der Tagung betont wurde, die Aus- schüsse ihre Mithilfe nicht versagen werden. Ihre bisher erschienenen Jugendschriftenverzeichnisse bedürfen nach dieser Richtung hin einer weit- gehenden Ergänzung, besonders in bezug auf geschichtliche, erdkundliche und naturkundliche Darstellungen. Soweit hierbei der Geschichtsunterricht in Frage kommt, ist da und dort in Lehrerkreisen zu diesem Problem bereits Stellung genommen worden, so z. B. in Jena auf der Lehrer- konferenz im Herbste 1915, die eingehend die »szenenhafte« Darstellung im Geschichtsunterrichte erörterte und wertvolle Anregungen gab zur unterrichtlichen Ausbeutung der Geschichte in der Dichtung, also im historischen Drama, in Epik und Lyrik, im historischen Roman u. a., soweit diese in Hinsicht auf die politische Geschichte Ereignisse von Be- deutung und in Hinsicht auf die Kulturgeschichte Erscheinungen behandelt, die als typisch für die inneren Zustände einer Zeit gelten können. Stellt uns das deutsche Volksschrifttum die geeigneten Hilfsmittel für derartige szenenhaft gestaltete Darbietungen zur Verfügung, und zwar nicht nur für den Geschichtsunterricht, sondern auch für Erdkunde (Reisebeschreibungen) und Naturkunde (»Pflug und Schraubstock« v. Eyth u.a.), so würde ihre Verwendung Brücken schlagen können zum Gedankenkreise des Kindes. Sie würden, soweit sie Augenzeugen als Urheber oder Berichte von Augen- zeugen als Quellen haben, in höherem Maße das Ohr: der Kinder besitzen als der Lehrer und einen größeren Anspruch auf Glaubwürdigkeit machen können. Sie würden ferner eine größere Einheitlichkeit in Ort, Zeit und Handlung und dadurch ein leichteres Erfassen seitens der Schüler er- möglichen, ein stimmungsvolles Ausgestalten und dadurch eine größere Einwirkung auf das Gemüt erleichtern, eine ans Poetische grenzende An- schaulichkeit bieten, eine Auflösung des Zuständlichen in ein Werdendes herbeiführen, die Hervorhebung von Einzeltypen als Vertreter ganzer Ge- sellschaftsgruppen gestatten können. Sie würden, und das erscheint mir besonders wichtig, dem Lehrer manche Handhabe bieten, seine Schüler anzuregen, durch Zusammenfassung der gebotenen Einzelheiten die wesen- haften Linien selbst zu erkennen. Es. ist freudig zu begrüßen, daß die vereinigten Prüfungsausschfisse auch bei der Bereitstellung von Anschluß- stoffen aus der Jugendliteratur mithelfen wollen. Befreien sie doch auch dadurch die Jugendschrift von ihrer bisher mehr oder weniger isolierten Stellung neben der Unterrichtsarbeit. Ihre Arbeit auf diesem Gebiete würde gleichzeitig der literarischen Erziehung der Jugend zugute kommen. Auch die realen Stoffe können so mittelbar dieser Erziehung dienen. Drängt doch gerade ihre Darbietung sehr oft zur Vereinfachung der wissenschaftlichen Probleme und zur lebendigen Bezugnahme auf den Leser und Hörer. Mit Recht fordert daher auch Leitsatz 2 nicht in der Fachsprache geschriebene wissenschaftliche Bücher als belehrende Jugend- schriften, sondern ‘saus wissenschaftlichem Geist heraus geborene« und von lauterer belehrender Absicht beherrschte. Das sind solche, die als ver-

48 B. Mitteilungen.

ständliche Dolmetscher zwischen den gelehrten Fachmann und das Kind treten können, Bücher, die nicht im trockenen Leitfadenstil dem Kinde die fertigen Ergebnisse des Denkens auftischen, sondern die es mit teil- nehmen lassen am Werden des Ergebnisses und die, wie schon bemerkt, es ihm ermöglichen, aus der Fülle klargeschauter und klargeschilderter Einzelbeobachtungen sich selbst seinen Eindruck von dem Wesentlichen zu verschaffen. Daß derartige Schriften mit beitragen können, die Schüler nach und nach zu befähigen, das ihnen Gebotene mit kritischem „Auge zu prüfen und alles Unhaltbare, Widersinnige und Unwahrhaftige abzuweisen, also denkend zu lesen, liegt auf der Hand. Ist diese Fähigkeit bei ihnen angebahnt, so werden sie voraussichtlich nicht so leicht ein Opfer der so- genannten Schundliteratur werden. Das Mittel zum Kampfe gegen diese Literaturgattung wäre demnach weniger in den Maßnahmen zu ihrer fast unmöglich erscheinenden Ausmerzung als vielmehr in einer erzieherischen Aufbauarbeit zu suchen, die darnach streben muß, die Zöglinge gegen alle verderblichen Einflüsse des Schundes in Wort und Bild giftfest zu machen. Dieser Erkenntnis trug die Tagung der vereinigten deutschen Prüfungsausschüsse insofern Rechnung, als bei der Behandlung des Schundliteraturproblems mehr von der Verbreitung und Nutzbarmachung der guten als von der Zurückdrängung der schlechten und minderwertigen Schriften die Rede war. Über die Veranstaltung von Vortrags- und Dichterabenden, von Bücherausstellungen mit oder ohne anschließenden Büchervertrieb, von Kinderaufführungen usw. wurde eingehend gesprochen. Daneben wurde allerdings auch stark betont, daß der Angriff auf das verderbliche Schrifttum als wesentliches Mittel der Verteidigung gegen den Volks- und Jugendfeind nicht zu entbehren ist, und daher fordert Leitsatz 7 die Anwendung der schärfsten Mittel gegen die kapitalistische Ausbeutung der unteren Bildungsschichten und der unbehüteten Jugend durch Pseudokunst und Schund in reichsgesetzlichen Maßnahmen. Daß einer solchen Regelung der Schundliteraturbekämpfung große Schwierig- keiten entgegenstehen, wurde allseitig anerkannt. Wird es doch kaum ‚gelingen, die Literatur, die getroffen werden soll, in den notwendigerweise sehr gedrängten Wortlaut einer gesetzlichen Bestimmung klar zu fassen. Die Aufstellung von Listen verbotener Schriften, sogenannten Schundlısten, wie sie bereits während des Belagerungszustandes der Kriegsjahre von mehreren stellvertretenden Generalkommandos veranlaßt worden war, er- scheint unerläßlich. Diese Listen bedürfen aber einerseits fortwährender Ergänzung durch Neuerscheinungen, andrerseits offenbart die Proteusnatur der Schundschriften sehr oft ihre Lückenhaftigkeit. Daß sie während des Belagerungszustandes viel zur Zurückdrängung der Schundliteratur aus der Öffentlichkeit beigetragen haben, soll nicht verkannt werden. Die kapita- listischen Wurzeln der geistigen Volks- und Jugendvergiftung haben sie aber kaum getroffen und treffen können. Nach den im Laufe des Krieges von den militärischen Behörden auf Grund des Belagerungszustandes er- lassenen Verordnungen durften Druckschriften, die von dem Polizei- präsidenten in Berlin als Schundliteratur bezeichnet wurden und die deshalb gemäß $ 56 Ziff. 12 der GO. vom Feilbieten und Aufsuchen von

3. Vertreterversammlung der vereinigten deutschen Prüfungsausschüsse. 49

Bestellungen im Umherziehen ausgeschlossen waren, auch im stehenden Gewerbe nicht, und zwar auch nicht unter verändertem Titel, feilgehalten, angekündigt, ausgestellt, ausgelegt oder sonst verbreitet werden. Die Versuche reichsgesetzlicher Maßnahmen zur Bekämpfung der Schmutz- und Schundliteratur gehen noch weiter. zurück. Schon 1914 war dem Reichs- tage in dieser Angelegenheit ein Gesetzentwurf unterbreitet worden, der die Einführung eines $ 43a in die Gewerbeordnung vorsah. Nach diesem sollten Schriften, Abbildungen oder Darstellungen in Schaufenstern, in Aus- lagen innerhalb der Verkaufsräume oder an öffentlichen Orten nicht zur Schau gestellt werden dürfen, wenn die Zurschaustellung geeignet sei, Ärgeruis wegen sittlicher Gefährdung der Jugendlichen zu erregen. ` Der Gesetzentwurf ist damals nicht zur Verabschiedung gekommen. Gegen- wärtig hat sich eine ganze Reihe von Verbänden wiederholt an die Reichs- regierung mit der Bitte gewandt, einheitliche Bestimmungen auf dem Ge- biete der *Bekämpfung von Schmutz und Schund zu treffen. In der Nationalversammlung ist eine Interpellation eingebracht worden, ob die Reichsregierung gedenke, auf dem Gebiete der Schund- und Schmutz- literatur gesetzgeberisch vorzugehen. Die Frage ist also schon seit Jahren Gegenstand der Erörterungen innerhalb der zuständigen Ressorts; ihrer ` Lösung aber scheint man bisher kaum einen merklichen Schritt näher ge- kommen zu sein. Die an der erfolgreichen Bekämpfung der gröbsten Auswüchse der für den Massenvertrieb bestimmten Volks- und Jugend- literatur interessierten stältischen Behörden haben hier und da versucht, durch polizeiliche Bestimmungen örtlicher Art dem Übel zu steuern. So enthält die am 1. März 1919 über den öffentlichen Verkehr tür die Stadt Jena auf Grund des Landesgesetzes vom 7. Januar 1854 und unter Be- zugnahme auf 8 366 Ziff. 10 des Reichsstrafgesetzbuches*und § 28 des Landesgesetzes vom 27. Fehr. 1872, bezw. 27. Dez, 1870 erlassene Polizei- verordnung in $ 173 die Bestimmung: »Schriften, Abbildungen und Dar- stellungen, die an sich nicht unter $ 184 des Strafgesetzbuches fallen, aber auf jugendliche und unreife Gemüter verrohend oder verwirrend wirken können und das sittliche Empfinden verletzen, dürfen in Schau- fenstern, Scuaukästen u. Jdergl. nicht ausgelegt oder sonst ausgestellt werden; ebenso dürfen diese Gegenstände in offenen Verkaufsstellen und im Straßenhandel nicht feilgehalten werden«.

Die auf Grund dieser Bestimmung von der Polizei gemeinsam mit Vertretern des Jugendschriftenausschusses des Lehrervereins Jena und des Jugendausschusses der organisierten Arbeiterschaft wiederholt vorgenonmene Prüfung der in hiesigen Geschäften zum Kauf angebotenen Literatur hat immer wieder an gewissen Stellen das Vorhandensein zahlreicher Druck- schriften feststellen. müssen, deren Inhalt auf die niedrigsten menschlichen Instinkte berechnet ist, die Phantasie unheilvoll beeinflußt und das Denken und Handeln unreifer Gemüter auf gefährliche Abwege leiten kann, und dies trotz der Polizeiverordnung und trotz der von der Polizeiverwaltung an die in Frage kommenden Geschäfte gerichteten Ermahnungen, bei Auf- gabe von Bestellungen von Jugendliteratur gewissenhaft darauf zu achten, daß ihnen unter harmlosen Bezeichnungen nicht derartige Schundschriften

Zeitschrift für Kinderforschung. 26. Jahrgang. 4

50 B. Mitteilungen.

aufgehalst werden, und trotz der Drohung, bei Nichtbeachtung dieser Er- mahnung nach Maßgabe von $ 184 des Strafgesetzbuches sowie $ 23 des Preßgesetzes und $ 137 der Polizeiverordnung vorzugehen. Man sehe also von vornherein nicht alles Heil in der reichsgesetzlichen Regelung der Schundliteraturbekämpfung. Die Teilnehmer an der Tagung haben sich dieser Illusion keineswegs hingegeben. Sie werden aber diese Regelung, wenn sie eintritt, als Bundesgenossin im Kampfe willkommen heißen und sind gewillt, ja fordern, bei,Ausarbeitung des angekündigten Gesetzes mitzuwirken. Ein gewählter engerer Ausschuß der Vereinigung (Vertreter aus Berlin, Frankfurt a. M. und Hamburg) wurde beauftragt, einen Gesetzentwurf auszuarbeiten und rechtzeitig bei der Reichsregierung einzureichen.

Den Schluß der Tagung bildeten Verhandlungen geschäftlicher Art. Aus dem Bericht über die »Jugendschriften- Warte«, die Zeitschrift der Vereinigung, sei noch erwähnt, daß sie leider auch durch den allgemeinen Notstand der Presse in Mitleidenschaft gezogen wird. Doch gedenkt sie, wie ihr Schriftleiter hervorhob, aller Schwierigkeiten Herr zu werden, wenn es gelingt, ihr Verbreitungsgebiet zu erweitern, und wenn sie auf weitergehende Unterstützung der Lehrervereine, der an der Jugendpflege arbeitenden Organisationen und noch zu werbender Freunde rechnen kann. Die Vertreterversammlung tagte unter der Leitung des jetzigen 1. Vor- sitzenden der Vereinigung J. Barfaut- Hamburg.

Jena. Karl Brüger.

4. Elternbeirat und Schulgemeinde.

Über dieses zeitgemäße Thema verhandelte in Elberfeld der » West- deutsche Verein für wissenschaftliche Pädagogik«. Den Mitgliedern lagen die in der 65. Einladungsschrift bereits anfangs Juli veröffentlichten Leit- gedanken des Vortrags vor, den Mittelschullehrer Achinger am 31. Juli hielt.

»Unter Schulgemeinde verstehe ich« so etwa führte der Vortragende aus, mit Dörpfeld den geordneten Verband aller derer, die zur Erziehung der Kinder einer Einzelschule berufen sind, also in erster Linie der Eltern; also nicht die Gesamtheit der Schüler- und Lehrerschaft einer Schule, wie ` Wyneken es tut, der doch hätte wissen müssen, daß Dörpfeld dem Begriff »Schulgemeinde« einen bestimmten Inhalt gegeben hatte.

Solche Schul- und Erziehungsgemeinden die früher im Bergischen bestanden, gibt es heute rechtlich nicht mehr; aber es sind Ansätze dazu in den Elternbeiräten vorhanden, bei deren Wahl zum erstenmal die Elternschaft des Bezirks durch behördliche Anordnung in Wirksamkeit getreten ist. Wenn demnächst die Eltern auf Grund des Artikel 149 der Verfassung über den religiösen Charakter der Schulen entscheiden werden, so haben wir dem Wesen nach »gewissenseinige« Schulgemeinden und die Elternbeiräte werden dann ebenfalls einheitlich, gewissenseinig sein und die Fehler und Mißgriffe vermeiden, die aus der jetzigen partei- politischen Zusammensetzung herrühren. Über den Wert der ausgebauten Schulgemeinden sprach sich der Vortragende etwa so aus:

4. Elternbeirat und Schulgemeinde. 51

1. Da hier nicht bloß die Eltern, sondern auch die Lehrer, ferner die sonst vorhandenen erziehlichen Kräfte der Kirche und andrer Gemeinschaften vereinigt sind, so können sich diese Faktoren gegenseitig beleben und stärken, was im Blick auf die heute sittlich geschwächte, ja fast verwahrloste Jugend sehr nötig ist.

2. In den bisherigen Kämpfen um die Schule handelte es sich fast nur um die Ansprüche des Staates und der Kirche; so wurde die Schule zum Zankapfel der politischen Parteien. Dabei wurde das Recht des Hauptbeteiligten (»Vollinteressenten« Dörpfeld) ganz übersehen: Die Eltern hatten nur Pflichten, aber keine Rechte. Die Eltern in ihrer Vereinzelung können keine Berücksichtigung ihrer Forderungen und Anliegen durch- setzen, wohl kann dieses durch geordneten Zusammenschluß in einer Schulgemeinde geschehen. So wird die Schulgemeinde zum Hort des Eltern- und Familienrechtes. Der in Artikel 146 der Verfassung vorgesehene Willensentscheid der Erziehungsberechtigten stellt eine staats- rechtlich grundlegende Anerkennung dieses Rechtes dar. Die sittlich stark geschwächte Familie kann nur gesunden, wenn man sie voll in ihre Rechte und Pflichten einsetzt.

3. Je höher ein Mensch sittlich steht, um so bestimmter ist seine Überzeugung, um so mehr gilt ihm die Gewissensfreiheit als ein hohes Gut. Die Eltern haben natürlicherweise den Wunsch, daß ihre Kinder nach ihrer religiösen Überzeugung, nach ihrer Weltanschauung unterrichtet und erzogen werden; sie fordern erziehliche Gewissensfreiheit. In dieser Beziehung haben sich bisher manche Eltern vergewaltigt gefühlt und sind mit Mißtrauen und Widerwillen gegen die Schule erfüllt worden. Jetzt wird die Möglichkeit geschaffen, daß jeder sein Kind in die Schule, die seiner Überzeugung gemäß ist, in die Schule seines Vertrauens schicken kann. Dadurch wird dem Streit um die Schule gewehrt, und die Schule kann eine Stätte stiller, dem Parteihader entrückter und gesegneter Arbeit werden. Die gewissenseinige Schulgemeinde ist ein Hort der erziehlichen Gewissensfreiheit und des Friedens,

4. Die Bevormundung durch Staat und Bürokratie soll aufhören, an ihre Stelle soll Selbstverwaltung treten. Aber wer ist das »Selbst«? Eben die in der Schulgemeinde geordnete Vereinigung der Elternschaft mit den übrigen Erziehungsbeteiligten.

5. Diese neuen Erziehungsaufgaben erinnern die Eltern zugleich an die eigene häusliche Erziehungspflicht, der Blick wird geschärft für eigene Mängel und Fehler. So werden die sittlichen Kräfte des Hauses gestärkt und belebt. Dann wird auch eine Öffentliche Erziehung im weiteren Umfange möglich. »Jugendwüste« (Dörpfeld), öffentliche Sitten- aufsicht der Jugend, Erziehung als Volkssachel

Im 3 Teil seines Vortrags wurde die Frage beantwortet:

Was muß geschehen, um die Schulgemeinde voll zu entwickeln?

1. Die Schulgemeinde muß durch Gesetz oder Verordnung festgelegt werden. Die Elternschaft wählt eine Vertretung, etwa den Eltern- beirat (bei den alten Bergischen Schulen Schulvorstand, Schulrepräsentation).

müssen in diese Körperschaft neben den Eltern als gleichberechtigt

4*

52 B. Mitteilungen.

noch eintreten Vertreter des Schulamtes, der Bürgerlichen Gemeinde, und bei Bekenntnisschulen Vertreter der Bekenntnisgemeinschaft. Der Staat, den man bisher an die erste Stelle setzte, wird vielleicht selbst wünschen, außer Betracht zu bleiben. Er kann sich ja durch die bürgerliche Gemeinde mit vertreten lassen. Diese Körperschaft würde also ein ganz anderes Aussehen haben als der jetzige »Elternbeirat«, der nur einen Rumpf darstellt.

2. Politischer und anderer Hader soll nach Möglichkeit fern gehalten werden. Hier ist der Grundsatz der Gewissenseinigkeit von größter Bedeutung, dadurch sollen Eltern, Schüler, Lehrer und Schul- vorstandsmitglieder auf einen gemeinsamen Boden gebracht werden. Wem sein eigenes Recht völlig gesichert ist, der ist auch geneigt, das suum cuique für andere gelten zu lassen. Man muß, um die Schule zu »entpolitisierene, das Gegenteil von dem tun, was man bei Einführung des Elternbeirates getan hat.

3. Die Vertretung des Hauses darf nicht abschließen bei der Einzel- schule Es sind nach dem Vorschlage Dörpfelds auch für die höheren Stufen der Verwaltung neben den Dienststellen beratende Körper- schaften anzuordnen, in denen auch die Schulgemeinde vertreten ist. So gewinnt diese den ihr zustehenden Einfluß auf das Ganze der Schulver- waltung und der Schulgesetzgebung. Dadurch entsteht eine gute Rück- wirkung anf die unteren Stellen (Ortsschulgemeinde), indem bei ihnen der Blick erweitert und das Verantwortungsgefühl gestärkt wird.

4. Die Rechte und Befugnisse des Elternbeirats sind so un- bestimmt, daß sehr viele Fehlgriffe die Folge waren. Eine Erweiterung der Pflichten würde darin liegen, daß diese Körperschaft auch die außer- balb der Schule wirksamen erziehlichen Einflüsse überwacht (Miterzieher im Öffentlichen Lebən, Straße, Schaufenster, Anschlagtafeln, Kinos, Wirts- häuser usw.) Auch eine Mitbeteiligung der Lehrerwahl müßte zu- gestanden werden; sie folgt als Selbstverständlichkeit aus dem Grundsatz der Gewissenseinigkeit der Schulgemeinde.

5. Es ist besonderes Gewicht auf die erzieherische Mitbeteiligung der ganzen Schulgemeinde zu legen, in dieser Beziehung würde die in dem Min.-Erlaß geforderte Elternversammlung von großer Bedeutung werden können. Die ganze Gemeinde muß durch ihre Vertretung“ fort- gehend an ihre Erziehungspflicht gemahnt werden. Dadurch wird vor- gebeugt, daß sich die Elternvertretung vorzugsweise als ein Werkzeug der Schulaufsicht betrachtet und sich durch Tadeln und Besserwissen lästig macht, anstatt das Augenmerk auf die Schulpflege zu richten.

Sollte es gelingen, durch den Ausbau der Schulgemeinde in dem hier dargelegten Sion die öffentliche Teilnahme an der Erziehung zu beleben und das Verantwortlichkeitsgefühl zu stärken, das Haus zu seiner so schönen und so wichtigen Aufgabe einer von sittlichem Geiste getragenen Kindererziehung zurückzuführen, so könnte von hier aus ein sittlicher Wiederaufbau des ganzen Volkes vor sich gehen. Nur von innen heraus können die Kräfte der Erneuerung kommen; unsere Rettung liegt nicht in der Hilfe oder der Milde unserer Feinde, sondern in uns selbst.

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4. Elternbeirat und Schulgemeinde. 53

Das Ergebnis der eingehenden Besprechung waren folgende Sätze:

1. Der Elternbeirat muß zu einer Schulpflegschaft ausgebaut werden, bei der alle an der Schulerziehung beteiligten Kreise vertreten sind. Es müssen also zu den Eltern noch als gleichberechtigt hinzukommen: Vertreter des Schulamtes, des Staates, der bürgerlichen Gemeinde und der Bekenntnisgemeinschaften (es seien dies kirchliche oder außerkirchliche Organisationen),

2. Damit politischen und religiösen Streitigkeiten der Boden entzogen wird, ist die Schnlgemeinde gemäß Artikel 146 der Reichsverfassung auf den Boden gleicher Weltanschauung und gleicheg Bekenntnisses zu stellen.

3. Der Elternbeirat in seiner jetzigen Form verdankt seine Entstehung parteipolitischen Rücksichten, er ist ein Werkzeug des Mißtrauens, der Feindseligkeiten; er muß eine Stätte friedlichen Zusammenarbeitens und Aufbauens werden. Nichts ist für unsere sittlich aufs schwerste gefährdete ‚Jugend so notwendig, wie einmütiges Zusammenwirken aller erziehlichen Kräfte in Haus, Schule, Kirche und öffentlichem Leben.

4. Diese Schulpflegschaften sind in der Weise auszubauen, daß auch für die höheren Stufen der Schulverwaltung bis zum Ministerium hin neben die einzelnen Dienststellen beratende Körperschaften treten, die aus der Elternschaft und sonst erziehungskundigen Männern und Frauen gewählt werden, also ein Gesamtelternrat in jedem Ort, in jedem Regierungs- bezirk, bezw. der Provinz und im Staat (Landeselternrat).

5. Die Rechte und die Zuständigkeit des Elternrates der Einzelschule sind bestimmter zu fassen, damit er weiß, wozu er da ist; sie sind zu erweitern in der Richtung der erziehlichen Mitwirkung (Schnlpflege), vor allem in der Richtung einer Erfüllung des Hauses und des öffentlichen Lebens mit erzieherischer Verantwortlichkeit, so daß gegenüber den sittlich vergiftenden Einflüssen der Straße und der Kameradschaft ein Gegen- gewicht durch erzieherische Beseelung der ganzen Volksgemeinschaft geschaffen wird.

6. Auch auf die Lehrerwahl muß der Schulpflegschaft ein Einfluß verstattet werden, vielleicht durch Gewährung eines Einspruchsrechtes; eine unmittelbare Einwirkung auf das Technische der Schularbeit steht ihnen nicht zu.

7. Wenn durck rechte Gestaltung und Ausübung dieser Schulpflege die Schulgemeinde und weiter die ganze Öffentlichkeit immer wieder an ihre Erziehungspflicht erinnert und dafür in Dienst genommen wird, so kann diese Körperschaft zu einem wichtigen Werkzeug bei dem so not- wendigen sittlichen Wiederaufbau unseres Volkes werden.

In der Weihnachts-Versammlung gedenkt Mittelschullehrer Fick über ein erdkundliches Thema zu sprechen. Von einer Erhöhung des Beitrags wurde vorläufig abgesehen.

Barmen. Vogelsang.

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5. Zur Frage der notleidenden Schuljugend.

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56 B. Mitteilungen.

6. Der 5. Breslauer Hilfsschulkursus.

Vom 4.—30. Okt. d, J. fand in Breslau der fünfte Hilfsschulkursus statt. Der bisherige Kursnsleiter, Kreis- und Stadtschulinspektor Schulrat Kionka, mußte wegen Überlastung mit Amtsgeschäften sein Amt nieder- legen. An seine Stelle trat Geheimer Regierungsrat Volkmer. Zu dem Kursus hatten sich über 100 Teilnehmer gemeldet. Es konnten jedoch nur 84 zugelassen werden. In der innern Organisation des Kursus waren gegen früher keine wesentlichen Änderungen eingetreten. Die ganze Aus- gestaltung des Kursus fand die freudige Zustimmung der Teilnehmer, wie dies vor allem am Abschiedsabende wiederholt zum Ausdruck gelangte.

A. Schenk.

7. Stetten i. R.

Die hiesige Anstalt für Schwachsinnige und Epileptische hat wieder einen Wechsel der leitenden Persönlichkeiten erlebt. Vor Jahresfrist hat Dr. Gmelin das Amt des ärztlichen Vorstehers übernommen, am 1. Juli trat Oberlehrer Thumm in den Ruhestand und der Inspektor, Pfarrer Sick, wurde an die Pfarrstelle für die akademischen Krankenhäuser in Tübingen berufen. Unlängst fand zu seiner Verabschiedung und zur Begrüßung der neuen Männer eine schlichte Anstaltsfeier statt. In- spektor wurde Pfarrer Dr. Otto Kieser, zuletzt ein Jahr in Brackenhein, vorher 15 Jahre in der österreichischen Diaspora mit seiner Frau tätig und dort erprobt. Die Leitung des »Mädchenhauses« und zugleich eine Schulstelle erhielt der frühere Basler Missionar Erne mit seiner Frau, der vor 5 Jahren von Kamerun vertrieben in den württ. Schuldienst trat und nun, wie sein Amtsbruder von der Goldküste Schöllmann, der Ver- treter des Inspektors ist, den Zusammenhang von Innerer und Äußerer Mission zeitgemäß verkörpert. Leiter der derzeit 7 klassigen Anstaltsschule ist jetzt Oberlehrer Altenmüller.

8. Institut für Psychologie und Pädagogik in Mannheim.

In Ergänzung der Mitteilung über dieses Institut in der vorigen Nummer dieser Zeitschrift geben wir einen Überblick über die Vorlesungen und Übungen im abgelaufenen Sommersemester,

Prof. Dr. Peters: Vorlesung: Die geistige Entwicklung des Menschen mit Besprechungen und Ütungen. Psychologische Übungen zur In- telligenzprüfung. Pädagogisch - psychologische Arbeitsgemeinschaft. Anleitung zu psychologischen und pädagogischen Untersuchungen. Selbständige psychologische und pädagogische Untersuchungen für Fort- geschrittene.

Dr. med. Moses: Das abnorme Kind mit Besprechungen und Übungen.

Ernst Krieck: Über Volkserziehung.

Für das kommende Wintersemester sind folgende Kollegs angezeigt:

Prof. Dr. Peters: Geschichte der Pädagogik mit Besprechungen und Übungen. Untersuchungen und Übungen wie im Sommersemester.

Dr. Moses: Soziale Psychopathologie des Jugendalters mit Be- sprechungen und Übungen.

9. Zeitfragen. 57

9. Zeitfragen. 1. »Unabhängige« Erziehung.

In Düsseldorf, Solingen und Remscheid hat die Vereinigung der Fort- bildungsschüler (!) Forderungen an die Stadtverwaltung gestellt, die für den Geist eines Teils der heutigen Jugend bezeichnend sind. Unter den Forderungen steht: Anerkennung der Schülerräte, Vertretung der Räte im Schul- vorstande, Aufstellung des Schulplans durch die Schülerräte, Umarbeitung der Schul- und Hausordnung durch die Schulräte, Abschaffung des Züchtigungsrechtes und Amtsentsetzung der Lehrer, die sich den Beschlüssen der Schulräte nicht fügen.

2. Zum Kampf um den Religionsunterricht.

In dem Streit zwischen Reichsregierung und dem Fıeistaat Sachsen über die Frage der Erteilung des Relisionsunterrichts in den Volksschulen ist die Ent- scheidung des Reichsgerichts dahin ergangen, daß die Bestimmung des sächsischen Übergangs-Schulgesetzes, wonach vom 1. Aprit 1920 in den staatlichen Volksschulen kein Religionsunterricht mehr erteilt werden sollte, mit den Vor- schriften der Reichsverfassung im Widerspruch steht. In gleicher Weise hat das Reichsgericht auch die Verordnung der A.- und S.-Räte in Hamburg und Bremen, durch die der Wegfall des Religionsunterrichtes in allen staatlichen Schulen vom Januar 1919 angeordnet ist, als mit der Reichsverfassung unvereinbar erklärt. Da nach Artikel 13 der Reichsverfassung Reichsrecht Landesrecht bricht, so stellt dadurch die mit Gesetzeskraft ausgestattete Entscheidung des Reichsgerichts endgültig fest, daß die landesgesetzlichen Bestimmungen in Sachsen, Hamburg und Bremen über die gänzliche Abschaffung des Religionsunterrichts mit dem Inkraft- treten der Reichsverfassung ihre Wirksamkeit verloren haben und daß nun- mehr in diesen Ländern der Religionsunterricht als ordentliches Lehr- fach gemäß Artikel 149 der Reichsverfassung in den Schulen wieder eingeführt oder beibehalten werden muß. |

Nun bleibt die Frage, welche Religion maßgebend sein soll. Die eines Jesus von Nazareth? oder die durch das mittelalterliche Rom veränderte? oder die durch Luther oder Calvin reformierte? Oder die der modernen Juden Karl Marx, Kautsky und Genossen, deren Anhänger den Glauben an die alleinseligmachende Kraft des Materiellen zu einer Art Religion gemacht haben?

3. »Gegen Blüher.:

Unter dieser Überschrift bringt die »Jen. Ztg.« folgende Artikel:

»Von dem moralischen Tiefstand, mit dem unser Volk in der Gegenwart ringt, bringen die Tagesblätter täglich neue, erschreckende Beweise. Es handelt sich bei ihnen zumeist um Diebstähle, Veruntreuungen, Schiebereien usw. Weit schlimmer aber sind die Verfehlungen, die sich auf dem sexuellen Gebiet abspielen. Die Vor- kommnisse in Wickersdorf,'!) von denen ebenfalls die Zeitungen berichteten,

1) Zu Wickersdorf hat sich inzwischen die Dürerschule in Hochwaldhausen gesellt, deren Leiter Neuendorff geflüchtet ist und deren Schüler entlassen worden sind aus gleichen Ursachen. i t.

Das ist »die Jugend von heute«, vor der wir wiederholt und eindringlich warnten, Die Männer der Revolution hatten ja zuerst Wyneken sogar ins Ministerium

58 i B. Mitteilungen.

werfen ein scharfes Licht hierauf. Sie sind eine Folge der Blüherschen Schriften, in denen eine Art von Erotik verherrlicht wird, an der das griechische Altertum zugrunde gegangen ist. Wer sich in den Dienst dieses Geistes stellt, ist ein Ver- derber unseres Volkes, wie er schlimmer nicht gedacht werden kann. Prof. Plenge in Münster hat sich ein großes Verdienst erworben, als er in seiner Broschüre »Antiblüher« die Schamlosigkeit dieser in ein idealistisches Mäntelchen gehüllten Erotik rücksichtslos aufdeckte. Sie wird demnächst in einer neuen Auflage aus- gegeben und in ganz Deutschland verbreitet werden mit der Wirkung, daß die An- hänger Blühers, wenn nicht zu einem Besseren bekehrt, doch mit Angst vor dem betreffenden Paragraphen unseres Bürgerlichen Gesetzbuchs erfüllt werden, um in sich zu gehen und von einem Verführer der allerschlimmsten Sorte sich abzuwenden. Schlimm genug, daß solche Bücher überhaupt einen Verleger in Deutschland finden konnten! Noch aber ist es Zeit, dem Übel zu begegnen. Alle, die ihr Volk lieben und an seine Zukunft glauben, werden zu seiner Bekämpfung aufgerufen. Vor allem die Jugend, die gesund an Leib und Seele sich erhalten hat, wird die schleichende Seuche, die das Tageslicht scheut, an den Pranger stellen, wo sie sich findet, um sie endgültig zu unterdrücken. Die Blüherschen Schriften aber gehören auf den Scheiterhaufen.«

Der Verleger, Herr Eugen Diederichs, suchte sich in einer Entgegnung zu rechtfertigen. Darauf antwortete dann Prof. Plenge selbst in folgendem Artikel unter der Überschrift: »Wickersdorf und Blüher!«

»Unter dieser Überschrift hat Herr Eugen Diederichs eine Feststellung ver- öffentlicht, in der er meinen »Antiblüher« als »Verleumdunge und »Schmähschrift« bezeichnet, und in der er, leider als Verleger, nahe legt, man müßte »Blühers Werke im Original lesene. Das geht in dieser Sache wirklich zu weit, auch wenn man eine literarische Besprechung Blüherscher Schriften an der Hand hat, die damit schließt, nichts könne »die innere Krgriffenheit abschwächen, die nach der Lektüre dieses reinen und schönen Buches zurückbleibt«.

Dieses reine und schöne Buch!!

Zwei Sätze aus Blühers »Rolle der Erotik« werden zeigen, daß der Leser meines »Antiblüher«e trotz Eugen Diederichs freundlicher Empfehlung den Blüher im Original nicht zu lesen braucht, um einen Begriff von seiner »reinen Schönheit«. zu bekommen: »Es kann kein Zweifel sein, daß die O..... die großartigste Er- findung des Menschen auf sexuellem Gebiet ist.e Der Anhänger dieses Gedaukens braucht nur ins Affenhaus zu gehen, um die wahren Entdecker zu finden. Oder: »Um ein Gegenstück zu geben« (zu dem Freimaurerbunde nämlich), >sei hier an eine andere typische Form der männlichen Gesellung erinnert, an die Kegel- und Skatklubs und an die gelegentlichen sogenannten Herrenausflüge. Diese Gesellungen sind zu deuten als Wiederbelebung der jugendlichen O..... bünde unter Ver- drängung der o............ Handlungen« Wie er moderne Nachahmungen des Platonschen Gastmahls dementsprechend beurteilt, hat Blüher nicht gekennzeichnet.

Das ist der Grundgehalt des ganzen »schönen und reinen Buches« von Blüher.

berufen, damit er das ganze Schulwesen in diesem Geist und Sinne »revolulioniere«. Er zog ja auch von Stadt zu Stadt mit dieser Aufgabe, worüber ich meine Meinung schon vor 2 Jahren nachdrücklich gesagt habe in meiner Schrift »Die freien (privaten) Bildungs- und Erziehungsanstalten nach ihrer ideellen und wirtschaftlichen Bedeutung« (Heft 155 der »Beitr. z. Kdf.«) S. 143—155.

9. Zeitfragen. 59

Eugen Diederichs hat als Verleger festgestellt, daß es in Wickersdorf zu keinen Verfehlungen infolge der Verblüherung gekommen ist. Wir wollen gern annehmen, daß sein Tatsachenmaterial verläßlicher ist, wie sein sittliches Urteil im Falle Blüher selbst.

Wie aber stellt sich Eugen Diederichs zu folgenden Sätzen aus dem Briefe eines angesehenen Schulinaunes, der über die Vorgänge in der Dürerschule Hoch- waldhausen schreibt: »Die Vorgänge der Dürerschule sind so entsetzlich, daß man sie gar nicht weiter zu berichten wagt. Unter dem Deckmantel Blüherscher ‚Erotik‘ und Kurellaschen ‚Trieblebens‘ sind hier die schlimmsten Verbrechen an Schülerinnen und anderen Personen verübt worden. Der Leiter der Dürerschule, Herr Neuen- dorf, hat sich, bevor der Staatsanwalt ihn festnehmen lassen konnte, nach der Schweiz in Sicherheit gebracht. Die ganze Angelegenheit wurde aufgedeckt durch den Selbstmord einer Schülerin, der Anlaß zu einer gerichtlichen Untersuchung gab.«

Will er sich auch da der Verantwortung für die Verbreitung Blühers ent- ziehen? Oder kommt die Stunde der Einsicht über eine große Verschuldung?

Mir geht heute eine Besprechung des »Deutschen Bücherboten«, 1. Jahrgang, Nr. 21/22, über »Drei neue Bücher aus dem Diederichs-Verlage« zu, deren Ver- fasserin, Frau Maria Gröner, ich völlig fernstehe. Diese Besprechung kann vielleicht vereint mit meiner Kennzeichnung des Blüher Eugen Diederichs einmal sagen, wie es bei dieser Sache um ihn steht, zumal die Verfasserin jener Kritik großes Wohlwollen für seinen Verlag hat.

Ich führe folgende Stellen an: »Eine solche zähe Arbeit ist auch aller Kampf gegen das Unreine, damit das Reine wachsen könne. Ein solch unerbittlicher Kampf ist vor allem geboten gegen den Helden des Diederichs-Verlags Hans Blüher.« »Da er (Blüher) mit Worten handelt, so hat er eine geradezu überbetonte Vornehm- heit in Dingen des Wortes und des Satzes. Dies letztere ist die Kraft Blühers, das Schmutzige in raffiniertester Weise als ein Vornehmes uns überbetont vor Augen zu stellen. Das Schmutzige ist aber dennoch da« »Der sinkenden (Wandervogel- bewegung) aber auf solch gemeine Weise den Todesstoß zu geben, wie Hans Blüher das getan hat und wie mit breitem Mephistolachen das Zuwerkegehen zu diesem Todesstoß in Kapitel V (seiner ‚Werke und Tage‘) er darstellt. das ist so schamlos wie empörend. Wer das nicht fühlt, der ist kein Deutscher mehr.«

Der Verlag Diederichs hat gegen sich selbst die Pflicht, die Blüherschriften auszumerzen. Soll man Eugen Diederichs umsonst zur »Tat« aufrufen ')

Erfreulicherweise haben auch jetzt die »Süddeutschen Monatshefte« eine ganze Nummer »der Jugend« gewidmet und nehmen auch scharfe Stellung gegen die individual- wie sozıal-psychopathologischen Erscheinungen, gegen die bedenkliche Entartung des Ethos der Jugend und ihrer Führer oder Verführer. Sie sei unsern Lesern zur Beachtung bestens empfohlen.

Zu dieser sittlichen Entartung kommt nun

4. Die leibliche Verelendung und Verwahrlosung der Jugend. So berichten die Tageszeitungen: Die Verlausung unter den Schulkindern nimmt in verschiedenen Großstädten immer größeren Umfang an. Aber auch in Mittelstädten zeigt sich die

1) Vgl. auch: Antiblüher Affenbund oder Männerbund? Ein Brief von Johann Plenge. 3. Tausend. Greifenverlag, Herbenstein i. Sa., 1920. 32 8.

60 B. Mitteilungen.

Lauseplage. So wurde in Dessau durch den Schularzt festgestellt, daß in vielen Klassen der Volksschulen 40°, und darüber der Schulkinder, vornehmlich Mädchen, verlaust sind. Vom Magistrat ist eine Besprechung mit den Schulvorständen unter Heranziehung der Elternbeiräte und von Vertretern der Lehrerschaft anberaumt zur Prüfung, wie diesem schweren Übelstand am besten zu begegnen sei.

Und dann

5. Die Wirkung der Hungerblockade.

Vor Vertretern der Presse gab Gaheimrat Krohne ein Bild üker das Elend der deutschen Kinder. Durch die Hungerblockade hat Deutschland 800000 Menschen verloren und außerdem einen Verlust an Geburten von vier Millionen gehabt. Seit Kriegsende hat sich der allgemeine Eruährungszustand nicht gebessert. Geradezu erschütternd ist er bei den Kindern. Skrofulose, Tuberkulose und Rachitis treten in erschreckendem Maße auf, wobei der Mangel an Milch sich besonders ungünstig bemerkbar macht. Katastrophal ist der Zustand der kleinen Kinder und der Schul- kinder. Hier nehmen Anämie, Skrofulose und Tuberkulose in ihrer schwersten Form und die englische Krankheit immer mehr zu. Seitdem hat die Sterblichkeit an Tuberkulose schrecklich zugenommen und wir verzeichnen wiederum 23 Todes- fälle im Jahre auf 10000 Einwohner. Während man in Deutschland im Jahre 1915 eine Sterblichkeit von 13 auf 10000 von Tuberkulosen hatte, betrug sie im Jahre 1919 23 auf 10060, und wird auch in diesem Jahre nicht weniger sein. Aber nicht nur die Sterblichkoit hat zugenommen, sondern infolge der Wohnungsnot auch die Durchseuchung des Volkes mit Tuberkulose. Schwere Sorge macht die Zunahme der Rachitis, eine Erscheinung, die wohl auf den jahrelangen Mangel an Milch für die Kinder zurückzuführen ist. Nicht nur bei kleinen Kindern, sondern auch bei Jugendlichen von 14 bis 18 Jahren treten Knochenverbiegungen und Knochen- verkrümmungen plötzlich ein und Kinder brechen ohne Anlaß auf der Straße oder zu Hause mit gebrochenen Beinen zusammen. ` Die Schulkinder im Alter von 8 bis 12 Jahren sind im Wachstum vielfach um 2 bis 3 Jahre zurück. Infolge der Blut- armut hat auch die geistige Veranlagung der Kinder zum Teil schwer gelitten.

Auch auf dem im Wohlfahrtsministerium zusammengetretenen deutschen Kongreß für Säuglingsschutz erklärte der Vorsitzende, Geheimrat Bumm, Präsident des Reichsgesundheitsamts, es gebe Völker, die für unser Kinder- elend kein Gefühl hätten, die sogar unseren hungernden und kränklichen Kindern, unseren werdenden und stillenden Müttern die geringe Milch, die wir noch haben, unbarmherzig wieder entziehen wollen. Das seien gerade die Nationen, die von Völkerbund, Völkerverbrüderung und alles umfassender Menschenliebe sprächen. Nichts könne den unauslöschlichen Haß und das nimmer verschwindende Gefühl größten Unrechts in einem Volke so hervorrufen, als wenn Mütter und Väter ihre hilflosen Kinder durch derartige Maßnahmen zugrunde gehen sehen.

Zur Bekämpfung dieser traurigen Erscheinungen hat sich eine neue Organi- sation gerründet, die deutsche Kinderhilfe, und diese veranstaltete im ganzen Reiche vom 28. November bis 31. Januar Sammlungen. Sie sei auch unsern Lesern angelegentlichst empfohlen.

Wichtig sind darum auch genaue statistische Erhebungen über -alle diese Jugend- nöten und deren Ursachen. Darum ist besonders beachtenswert div sorgfältige Forschung von Frl. Dr. Gertrud Moses in Mannheim über die Ursachen der Ver-

C. Literatur. 61

wahrlosung,!) ein sehr beachtenswertes Ergänzungsstück zum Sickingerschen »Mannheimer Schulsystem«, auf dessen Einscitigkeit in der Sorge für wahres Jugendheil ich bereits im Jahre 1899 im Dörpfeldschen »Evang. Schulblatt« unter der Überschrift »Wider das moderne Schulkasernentum« nachdrücklich hingewiesen habe.

Sehr zweckmäßig sind darum Erhebungen,’ wie ein früherer Mitarbeiter auf der Sophienhöhe, der jetzige Stadtrat und Leiter des Jugendamts in Jena Woldemar Döpel sie hier vornehmen läßt nach dem auf S. 54 abgedruckten Schema. Tr.

C. Literatur.

Külpe, Oswald, Vorlesungen über Psychologie. Herausgegeben von Karl I Bühler, Professor der Philosophie an der Technischen Hochschule in Dresden. Leipzig, S. Hirzel, 1920. 304 S. Preis geh. 13 M.

Eiver der bedeutendsten Schüler Külpes und ein führender Vertreter der Denkpsychologie, Prof. Bühler, der unsern Lesern nicht unbekannt ist, wurde mit dem nicht leicht zu erfüllenden Auftrage betraut, oben angeführte Vorlesungen aus dem Nachlaß Külpes herauszugeben. Bühlers persönliche Ergänzungen erfolgten, wie er selbst schreibt, nicht derart, daß er seine eigenen Gedanken und Ansichten hineintrug, sondern »daß er kleine Inkongruenzen ausglich und nur Angedeutetes aussprach, soweit dies nach seinem Wissen im Geiste Külpes schon feste Formen angenommen hatte«e. Aus der Empfindungslehre sind vier nur flüchtig skizzıerte Paragraphen über die Sinnesorgane und das Zustandekommen von Gesichts-, Gehörs- und Geruchsempfindungen usw. weggelassen, da sie sich? sorgfältig ausgeführt in Nagels Handbuch der Physiologie finden.

Külpe führt "seine Horer in mustergültig klarer Weise an der Hand er- schöpfender Beispiele in die Psychologie ein. Angeführte Literatur bildet einen sicheren Wegführer zum eingehenden Studium. Unter den Methoden der Psycho- logie würdigt er besonders die Bedeutung des »inneren Experimentes«, das für die »Würzburger Schule« typisch ist. Objekiv stellt er Vor- und Nachteile dieses Ver- fahrens dar, gegen das sich sein Lehrer Wundt energisch wandte, z. B. im An- schluß an Bühlers bedeutungsvoller Arbeit »Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge« (Archiv f. Psych. 9 [1907], 12 [1908]). Besonders zum Nachdenken weisen wir auf Külpes Ausführungen in 88 23/28 hin, wo er sich in seiner Darstellung der Vorsteliungsbilder von Wundt entfernt; ebenso in seiner Lehre vom Gefühl zeigt es sich, daß er selbständig als tief- schürfeuder Denker seine eigenen Wege geht, dieihn wiederum von W undts Auffassung führen. »Unter Gefühlen verstehen wir die elementaren Inhalte der Lust und Un- lust, die sich von den Empfindungen und Vorstellungsbildern zunächst dadurch unterscheiden, daß sie keine spezifische Abhängigkeit von Sinnesorganen aufweisen und durch beliebige Reize und Motive veranlaßt werden können (Universalität), ferner dadurch, daß sich keine Vorstellungsbilder von ihnen bilden lassen und sie

1) Dr. G. Moses, Zum Problem der sozialen Familienverwahrlosung unter be- sonderer Berücksichtigung der Verhältnisse im Krieg. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann). 79 8. Preis 3,50 M.

62 C. Literatur.

darum stets denselben’ Wirklichkeitscharakter tragen (Aktualität). Alle sonst noch angeführten Kriterien, wie die Subjektivität, Polarität, Einheitlichkeit, Unbeachtbar- keit, Unlokalisierbarkeit, sind entweder sekundär oder entbehren der allgemeinen Geltung. Die Gefühle können mit aktiven oder passiven Zuständen des psycho- physischen Subjekts verbunden sein und heißen deshalb selbst aktiv und passiv Lust und Unlust, und sie können an einzelnen Empfindungs- und Vorstellungsinhalten für sich haften oder das ganze Bewußtsein erfüllen und werden mit Rücksicht darauf in Einzel- und Gemeingefühle unterschieden.«

Mit dieser wörtlichen Darstellung führen wir als Beispiel eins der nach Inhalt und Form ganz vorzüglichen Külpeschen Vorlesungsdiktate an, die der Heraus- geber den zahlreichsten einzelnen Abschnitten voranstellte und damit dem Studie- renden wertvolle Merkskizzen bietet.

Persönlich war ich beim Studium des Buches enttäuscht, als ich nichts von einer erwarteten systematischen Darstellung der Denkpsychologie fand. Damit stehe ich wohl nicht allein da. Aber Prof. Bühler teilt im Vorwort mit, daß Külpe über Willen und Denken überhaupt nicht gelesen und leider auch nichts Auf- _ gezeichnetes hinterlassen hat. Der führende Geist war hier für seine Schüler nur anregend und zielgebend, und so erhoffen wir dies bald von Karl Bühler, der ja schon in seiner, in dieser Zeitschrift Jahrg. 25, 3/4 besprochenen, Kinderpsychologie wertvolle Gedankengänge und Problemstellungen dazu bietet.

Külpes Vorlesungen seien aufs wärmste allen Studierenden und Lehrern zur unbedingten Durcharbeitung empfohlen. Der Fachpsycholog wird sie begrüßen, da Külpes »Grundriß der Psychologie«, der einer vollkommnen Umarbeitung be- durft hätte, von dem leider zu früh Verstorbenen nicht neu herausgegeben werden konnte, die Vorlesungen aber den Kern des neuen Werkes dargestellt hätten. Dem Herausgeber, Bühler, gebührt aber für die Übernahme dieser verantwortungsreichen Arbeit der Dank aller psychologisch Interessierten.

Meißen 1920. Kurt Walther Dix.

Bünnings, R., Hauptmann, u. Triebold, Karl, Lehrer, Erwerbsfürsorge für die Lungenkranken. Ein Beitrag zur Tuberkulose- Bekämpfung und Kriegs- beschädigten-Fürsorge für Lungenkranke. Berlin S.-W. 68, Verlag Fürsorge für Kriegsteilnehmer.

Das Schriftchen mit dem Untertitel »Das Arbeitsgenesungsheim« verdient in hohem Maße die Beachtung aller, die sich zur Überzeugung durchgerungen haben, daß die Behandlung in unseren Lungenheilstätten trotz ihrer trefflichen Methode zur Erzielung körperlicher Gesundheit viel zu wenig auf das Seelenleben des Kranken einwirkt. Man wird der Forderung der Verfasser nur beistimmen können, daß mit der Heilbehandlung des Körpers eine Seelenbehandlung einhergehen müsse, um die im Gefolge des Krankheitszustandes auftretenden hemmenden psychologischen Momente (Verzagtheit, Mangel an Selbstvertrauen) einzuschränken, das Normal- bewußtsein in bezug auf den Körper und Geisteszustand wiederherzustellen und be- sonders den Willen zu kräftigen. Die Ausführungen gelangen konsequenterweise zu dem Ergebnis, daß dieser Wılle nicht nur auf die Befolgung einer gesunden Lebensweise gerichtet sein müsse, sondern auf angemessene Arbeitsbetätigung in der früheren oder in veränderter Form und auf Wiedererlangung der hierfür er- forderlichen Arbeitsfähigkeit. Diese Fulgerung führt wiederum dazu, die Mittel an- zuwenden, um, sobald dies ärztlicherseits verantwortet werden kann, schon in der letzten Periode der Heilbehandlung durch planmäßige Übungen und durch ärztlich überwachte Arbeit die Körpermuskeln und die geistige Spannkraft auf die Aufnahme

C. Literatur. 63

der früheren oder anderen Berufstätigkeit vorzubereiten und einzustellen. Mit Recht machen die Verfasser geltend, daß hierfür die Kraft des leitenden Arztes nicht aus- reiche und daß seine Tätigkeit, so geschickt und zielbewußt sie sein mag. doch einer Ergänzung durch die Arbeit eines auf dies Spezialfach eingeschulten Päda- gogen (Heilerziehers) bedürfe, ebenso wie das geforderte »Arbeitsgenesungsheim« eine notwendige Ergänzung der eigentlichen Heilbehandluny darstelle. All dies habe im besonderen Maße für die Kriegsbeschädigtenfürsorge zu gelten, deren Aufgabe es sei, nach Heilung der körperlichen Verletzungen und Krankheiten die wirtschaft- liche Gesundung durch Erziehung zu nutzbringender Arbeit herbeizuführen,

Es ist zu beklagen, daß die schwierigen Verhältnisse, mit denen die Wohifahrts- einrichtungen, insbesondere aber auch die Träger der sozialen Versicherung jetzt zu kämpfen haben, der Verwirklichung dieser Pläne ernste Hemmnisse bereiten. Unsere Wünsche müssen sich darauf beschränken, daß es bald gelinge, wenigstens im kleinsten Ausmaße Einrichtungen zu schaffen, um die Pläne des »Arbeits- genesungsheims« in die Tat umzusetzen. Wer sich im übrigen auf dem Gebiet der Heilbehandlung des Seelenzustandes der Tuberkulose näher umsehen will, dem seien die Ausführungen der neuerdings im Druck erschienenen Denkschrift von Triebold, »Heilpädagogische Veranstaltungen für tuberkulöse und tuberkulose-gefährdete Kinder«, Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1920 zur Beachtung emp- fohlen. Sie dürfen für unsere Kriegerwaisen Interesse beanspruchen.

Berlin. Dr. Freudenfeld, Geh. Reg.-Rat.

Ziehen, Prof. Th., Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung bezüg- lich der sog. psychopathischen Konstitutionen. (»Beiträge z. Kinderf.

u. Heilerziehung«, Heft 112.) Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer

& Mann), 1914.

An der Fürsorgeerziehung Minderjähriger haben vor allem auch die Ärzte ein hervorragendes Interesse, weil gemäß der Statistik von nunmehr 2 Jahrzehnten viele Fürsorgezöglinge krankhaft veranlagt oder krankhaft verändert sind und für diese die Fürsorgeerziehung geradezu auch als therapeutische Maßregel betrachtet werden muß. Leider hat sich die Fürsorgeerziehung in ihrer jetzigen Form als un- zureichend erwiesen, besonders für die sogenannten psychopathischen Konstitutionen. Ziehen erörtert kurz Wesen und Bedeutung dieser pathologischen Zustände und be- spricht dann ausführlich ihre Beziehung zur Fürsorgeerziehung im Hinblick auf eine Reform der letztern.

Vom psychiatrischen Standpunkt schlägt er dann folgende Abänderungen der Fürsorgegesetzgebung und ihrer Ausführung vor:

1. Herstellung einer Übereinstimmung zwischen $ 1666 B.G.B. und Fürsorge- erziehungsgesetz und damit auch Regelung der Kostenfrage.

2. Bei Zugrundeleguug des Fürsorgeerziehungsgesetzes ausdrückliche Erwähnung der Heilanstalten und vor allem ausdrückliche Hinzufügung der »öffentlichen Aufsicht in der eigenen Familie«.

3. Ausdehnung und Unterscheidung der antragberechtigten und antragverpflich- teten Personen im Sinne einer Verpflichtung des Gerichts bezw. der Polizei- behörde zur Prüfung der Fürsorgeerziehungsbedürftigkeit.

4. Sonderung in Spezialanstalten für.psychopathische, debile und einfach sitt- lich verkommene Fürsorgezöglinge, vor allem also auch BegrünJung besondrer Heilerziehungsheime für psychopathische Kinder.

Man kann die von ganz hervorragender Sachkenntnis zeugenden Ausführungen und Forderungen des Verfassers nur unterstreichen. Wir vermissen jedoch die

64 C. Literatur.

`

Forderung von Sonderanstalten für bloß sittlich Gefährdete. Im übrigen können wir das treffliche Schriftchen allen Fürsorgeerziehern und -behörden sowie den Psychiatern nur angelegentlichst empfehlen.

Cochem. _ Heinrich Ehlinger.

Delitsch, Joh., Soziale Fürsorge für die aus der Hilfsschule Ent- lassenen. (»Beiträge z. Kinderf. u. Heilerziehung«, Heft 102.) Langensalza,

Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1912.

»Freie Bahn den Tüchtigen!« lautet das Schlagwort des Tages, das sich in der pädagogischen Oligarchie der Begabtenschulen auswirkt. Wahre Demokratie aber schafft freie Bahn den Untüchtigen, den Schwachen, den Halben. Soziale Gesinnung hat bereits zur Gründung von Hilfsschulen gefühıt: das war eine päda- gogische Tat. Nun hebt auch die Fürsorge für die aus der Hılfsschule Entlassenen an: das ist eine soziale Tat. Im vorliegenden Schriftchen erstattet Delitsch Bericht über die Fürsorgetätigkeit in Plauen. Ein anschauliches, lehrreiches, trostvolles Bild ist's: ein Denkmal christlicher Gesinnung. Ein solches Muster müßte überall Nacheiferung wecken: es wäre Trumpf und Triumph des wahren Sozialismus, der echten Demokratie. Für die soziale Fürsorge stellt Delıtsch aus der Praxis heraus folgende Grund- und Leitsätze auf:

- 1. Eingehende Unterstützung der Eltern durch die Schule bei der Berufs- und

Stellungswahl.

2. Anglıedernng von Fortbildungsschulk'assen an die Hilfsschule.

3. Jähilich wiederkehrende statistische Erhebungen über Arbeitsverhältnis und

sittliche Führung der ehemaligen Hılfsschüler bis zur Mündigkeit.

Gründung von Arbeitslehrkolonien für männliche und weibliche halbe Kräfte. Prämäerung von Arbeitgebern, die halbe Kräfte mit gutem Lehbrerfolge dauernd beschäftigen und menschlich behandeln.

6. Übertragung der Schutzaufsicht über die geistig.beschränkten Jugendlichen an geeignete freiwillige Fürsorger, in erster Linie an Hilfsschullehrer. Antrag auf Bevormundung, ja Fürsorgeerziehung gefährdeter ehemaliger Hilfsschüler.

Diese soziale Fürsorge ist echt soziale Arbeit, soziale Versöhnung, soziale Er- neuerung. Die aber jener halben Menschen mit soviel Liebe und Erfolg sich an- nehmen, das sind wahrhaft ganze Menschen.

Cochem. Heinrich Ehlinger.

Petersen, Agnes, Ein Gang durch das erste Schuljahr. Langensalza, Her- >

mann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1920. 194 S. 7,50 M.

In geradezu vorbildliicher Weise werden die Bausteine des Wissens von . den Kindern seıbst und zwar. unmerklich zusammengetragen gerade dann, in dem Augenblick, wenn für den Baustein Interesse vorhanden ist. Dieses Buch ist nicht nur geschrieben, es ist erlebt von Anfang bıs zu Ende. Hier finden wir ein tiefes Verstehen des Kindesherzens, ein Sichhineindenken und Hineinleben in die Anschauungswelt des Kindes, wie sie sich ihm in diesem Alter darstellt. Agnes- Petersen zeigt, wie sie durch lückenloses Vorwärtsgehen, durch äußerste An- Schaulichkeit und Klarheit eiu hohes Ziel erreicht. Aus diesen und den oben- genannten Gründen erscheint mir dies Buch auch in hervorragendem Maße geeignet, den Eltern und Erziehern ein Wegweiser zu werden, die es mit schwachbegabten oder geistig zurückgebliebenen Kindern zu tun haben. Ich wünsche dem Buche im

Interesse gerade dieser Kinder im Kreise meiner Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen die weiteste Verbreitung. Flensburg.

ap

Sophia Lassen.

Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Maun) in Langensalza.

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A, Abhandlungen.

1. Der Einfluß des Krieges und der Revolution auf die Kriminalität der Jugendlichen. Von Anstaltslehrer K. Wittig, Bautzen i. Sa.

(Schluß.)

II. Einfluß der Revolution.

Die Erschütterungen der Revolutionszeit haben den Glauben an die »gütige herrliche Seele des deutschen Volkes« arg ins Wanken gebracht, wenn sie ihn auch nicht vernichten konnten. Noch einmal sind die trübsten Kräfte in unserm Volke zur Herrschaft gelangt. Unter dem Zeichen weitergehender Wirtschaftsnot, unter der Herrschaft krassesten Materialismus und Egoismus, unter den Wirkungen des Revolutionsfiebers durchleben wir eine Zeit voll Sinnlichkeit, Rücksichts- losigkeit, Betrug, Wucher, ja Raub und Mord. Unsere Zeitungen sind voll von Zeugnissen eines so beklagenswerten moralischen Tiefstandes. Und ein Seufzen geht durch die Lande: wo will’s noch hinaus mit unserm Volk? Und ein Sehnen nach der alten deutschen Treue und dem alten deutschen Idealismus macht vieler Herzen schier wund.

Nicht zuletzt ist's die Sorge um unsere Jugend, die uns das Herz beschwert. Wir hofften, von der Kriegskriminalität zu genesen, und haben statt ihrer die Revolutionskriminalität, die uns die Ge- fängnisse aufs neue füllt, kaum daß sie durch die Amnestie geräumt waren. Die Fortsetzung der S. 9, Heft I/II begonnenen Lokalstatistik mag das bestätigen:

Zeitschrift für Kiiderforschung. 26. Jahrgang. 5

66 A. Abhandlungen.

Höchstbestand in der Jugendabteilung zu Bautzen:

1918 1919 1920 Januar. . 2.222200 39 163 Februar . . 2.2.2200 64 166 März 98 153 April 116 158 Mai 121 161 Juni 123 159 ul ne &. re 131 143 Ausueb, Q srra < a a 281 138 132 September . . . . . 279 155 131 Oktober . . . . . . 260 172 143 November . . . . . 224 176 Dezember . . . . . 21 (Amnestie) 177

Die Zahlen sprechen vernehmlich genug. Und doch bedeuten sie nur einen kleinen Ausschnitt aus der Masse der Verurteilungen im Freistaat Sachsen, denn sie lassen alle die kleinen Strafen unter einen Monat und die Fälle mit Bewährungsfrist unberücksichtigt.

Forschen wir nach den Ursachen der Revolutionskriminalität, so finden wir, daß einerseits ein großer Teil der Ursachen der Kriegs- kriminalität auch jetzt noch wirksam ist, daß anderseits aber der Um- wälzung entwachsene neue Ursachen in die Erscheinung getreten sind,

An erster Stelle sei die Arbeitslosigkeit genannt. Ein Heer von arbeitslosen Jugendlichen unter der Führung arbeitsscheuer Elemente jeden Alters füllt die Städte. Nicht wenige sind darunter, die jetzt schon bitter bereuen, ihre Lehre dem größeren Verdienst zuliebe seinerzeit aufgegeben zu haben. Was ist ihnen davon geblieben? Nichts als ein leichter Sinn, der ihnen das Entbehren so schwer macht, sie leicht auf die Straße, in die Herbergen und dem Verbrechen in die Arme führt. Nicht wenige auch, die als Vorbestrafte Teil an der Amnestie hatten und unerwartet aus dem Strafhaus entlassen werden mußten. Man würde vielen von ihnen unrecht tun, wollte man ihnen von vornherein den Arbeitswillen absprechen. Aber wochen-, monatelang konnten sie vergeblich nach Arbeit suchen. Wenn sie nicht elterliche Fürsorge stützte, war's um sie geschehen. Um so schneller, je willens- schwächer sie waren.

‚Die Arbeitslosenunterstützung kann als Hilfsmittel gegen diese Übelstände nur in geringem Maße anerkannt werden. Wieviele haben sie sich verscherzt, indem sie eigensinnig und anspruchsvoll ihnen zugewiesene Arbeit ablehnten! Wieviele haben sie auch ausgenützt,

Wittig: Einfluß des Krieges und der Revolution auf die Kriminalität usw. 67

haben damit am Ehrgefühl gelitten und sind dann um so leichter die Opfer einer zuchtlosen Soldateska geworden!

Wenn als Hilfe gegen diese Arbeitslosigkeit etwa die Beteiligung an den Wiederaufbauarbeiten in Frankreich angesehen wird, so können sich daran für uns auf Grund der trüben Erfahrungen mit dem Hilfs- dienst Jugendlicher im Feindesland nur die schlimmsten Befürchtungen für die Kriminalität knüpfen.

Eine Verschärfung der Arbeitslosigkeit brachten die zahlreichen Streiks, die ebenso viele Arbeitswillige in Not führen, wie sie

schwachen Elementen die Brücke zu dauerndem Bummeln wurden.

Ihr Hauptschaden ist aber damit noch nicht gekennzeichnet. »Die wichtigsten Aufgaben der Gegenwart liegen auf dem Gebiete der Erziehung und der Jugendfürsoıge. Die Erzieher müssen ihre Kräfte einzig und allein diesen Aufgaben zuwenden können. Statt dessen vergeudet man sie im aufreibenden Lohnkampfe. Und als Folge sinken wir sittlich immer tiefere (Sächs. Schulzeitung 1919, S. 376). Da haben wir also die Erziehungsnot es haben sich ohnehin nicht alle an die Rückkehr der Väter geknüpften Hoffnungen erfüllt in neuer Auflage!

Aber auch direkten Schaden erleidet die Jugend: sie ist ja so empfänglich für die durch die Streiks ausgestreute Saat der Un- zufriedenheit und Aufsässigkeit! Nichts weniger als Autorität und Pietät stehen auf dem Spiele. Die Streiks in Volks- und Fortbildungs- schulen in den ersten Monaten der Revolution könnte mau allenfalls noch als Dummejungenstreiche ansehen. Wenn aber die Erwachsenen diesem Treiben biliigend zuschauen und es wohl gar noch schüren ? Es wäre an der Zeit, von Bescheidenheit und Pflichten zu den Jugendlichen zu sprechen, nachdem ihre Selbstherrlichkeit während des Krieges so ins Kraut geschossen ist. Statt dessen verkündet die Zeitung, daß »die Lehrlinge der.... Fabrik wegen Lohndifferenzen in den Streik eingetreten sind«. Sie durften es?! Wie wichtig mögen sich doch diese Herren Lehrlinge dünken! Ihr Autoritätsgefühl wird ebenso leiden, wie das der höhern Schüler, die bald da, bald dort von Erwachsenen zu Schülerstreiks aufgepeitscht werden. Ein Stück Politisierung der Jugend, aber eine Versündigung an ihr, begangen von Parteien aller Richtungen! Selbst die Regierung nährt dieses unheilvolle Feuer. Zwar werden über die vom preuß. Kriegsministerium angeordneten Schülerräte nicht alle so hart urteilen, wie Dr. Amelung im »Theol. Zeitblatt«, indem er sagt: »Die von dem preußischen Kultusministerium angeordneten Schülerräte werden bald genug jede gesunde Disziplin unterminiert haben. Ihre Verdienste werden denen

5*

68 A. Abhandlungen.

unserer A.- und S.-Räte völlig ebenbürtig sein. Vor allem werden die jungen Herrchen wohl Abschaffung aller häuslichen Arbeiten, aller Strafen und aller Zensuren verlangen, vielleicht auch ein gewisses Aufsichtsrecht über die Lehrer... In einer Zeit der mutwilligsten, sinnlosesten Streiks, allgemeinster Unruhe und Unordnung hat auch unsere Jugend wenig Neigung zu gewissenhafter Arbeit« (mitgeteilt nach dem »Rheinischen Fürsorgeerziehungs - Blatte 1919, Nr. 5). Aber den Höhepunkt der Verirrung scheint es uns zu bedeuten, daß unsere Reichsregierung Jugendliche sogar in der Reichsschulkonferenz zu Worte kommen ließ. Was für dreiste, überhebende Worte mußten dort im Dienst der Jugenderziehung ergraute Männer über sich er- gehen lassen! Der Regierungsvertreter aber hatte keine andere »Zurecht- weisung« als die, daß die Jugend das Recht zur Unduldsamkeit habe.

Es sind dies Zeiterscheinungen, die für die Jugenderziehung einen Boden schaffen, der uns ungeeignet scheint für das, was wir bisher unter sittlicher Förderung verstanden. Den Beweis dafür liefert der Aufruf der »entschiedenen Jugendbewegung« an die Jugend Deutschlands: »Kameraden! Wir sind uns einig im Haß der Ein- richtungen dieses Lebens und dieser Zeit! Wir fragen uns: wer ist schuld an diesem Leben, diesen Einrichtungen, dieser Kultur? Wer hat diese Staaten, diese Schulen, diese Kirchen, diese Politik, diese Presse und vieles andere auf dem Gewissen? Die Erwachsenen. Sie allein! Und darum wendet sich unser Kampf und Haß gegen dies Leben und diese Zeit, mit gegen sie, gegen die Erwachsenen als Gesamtheit, gegen ihren unglückseligen Geist... Wir bejahen den Klassenkampf der Jugend. Wir sind entschlossen, ihn durch- zukämpfen auf allen Gebieten jugendlichen Lebens und einzutreten für das Selbstbestimmungsrecht der Jugend in Schule, Hochschule, ° Elternhaus, im Staat, in Religion und Erotik(!!)... Wir planen die Gründung eines Zentraljugendrates für Deutschland, der alle, die im Klassenkampf der Jugend stehen, umfassen soll. ..« (mitgeteilt nach der »Zeitschrift für Kinderforschunge XXIV, Heft 11/12). Wir fragen dazu mit Trüper: »Sind unsere Parteiführer, die die Regierung an sich gerissen und damit die Verantwortung für das Fortbestehen unseres Volkes übernommen haben, national und moralisch blind, daß sie die Gefahren nicht sehen können, oder feige, daß sie nicht den Mut zum Einschreiten haben, oder schon so weit entartet, daß sie solche Strömungen als Ideale betrachten

Fehlt in dem Programm der »entschiedenen Jugendbewegung« nur noch die Forderung der Freiheit auch fürs Verbrechen! Erübrigt sich aber! Dafür tritt Spartakus ein! Menschliches Leben und Gut

Wittig: Einfluß des Krieges und der Revolution auf die Kriminalität usw. 69

sind für vogelfrei erklärt. »Nicht arbeiten! Von andern leben!« ist

` der Grundsatz einer Kommunistengruppe, deren Mitglied sich der

Jugendliche L. (2 Vorstrafen!) nannte und unter deren Führung er Einbrüche verübte.

Wir. lesen’s-ja immer wieder, welchen Anklang diese Apostel einer neuen Weltordnung gerade bei jugendlichen Wirrköpfen finden. Erst kürzlich bekannte ein Jugendlicher, der Erpresserbriefe an einen Fabrikanten geschrieben hatte, daß er durch die Berichte über die Hölzschen Erpresserbanden dazu veranlaßt worden sei. Sind nicht Jugendliche ein wesentlicher Bestandteil der Massen bei jedem Auf- ruhr? Schon besteht eine »internationale Verbindung sozialistischer Jugendorganisationen«, die jüngst in Leipzig über das gesamte Stadt- gebiet Anschläge verbreitete und gegen die Reichsregierung und für eine kommunistische Weltrepublik agitierte. Und es finden sich auch stets Jugendliche zur Werbung für Spartakus bereit: so wurden eben- falls in Leipzig erst kürzlich 8 Jugendliche im Alter von 16—20 Jahren wegen Verbreitung spartakistischer Flugblätter festgenommen.

Als Vorschule für solche Betätigungen der Jugend sind aber die Schundhefte anzusehen, die ja bekanntlich an beinahe allem Unglück beteiligt sein müssen, das unsere Jugend trifft. Aufklärend schreibt der Vorwärts hierzu: »Zu der Gehirnbenebelung, die in den Spartakus- putschen ihren Ausdruck findet, hat zweifellos auch die Nachwirkung der »Heldenliteratur«e der Straße beigetragen. Mancher der un- verantwortlichen Jugendlichen, die jüngst sich hierbei austobten, hat seine Begeisterung für die Gewalttaten aus dem trüben Fusel der blutrünstigen Groschenhefte gesogen. Nicht das kommunistische Mani- fest, sondern die namenlose Schundliteratur hat den Nährboden für das Aufkeimen politischer Phantastereien geschaffen. ... Jetzt, da die Revolten und Straßenkämpfe in den jugendlichen Herzen nachhallen, da ihre überhitzten Köpfe voll sind des Echos wilder Gewalttaten, wäre es auch doppelt an der Zeit, diese gedruckte Gewaltpropaganda auszurotten. Aber gerade das Gegenteil ist der Fall. Die Schund- literatur der Straße, die sich bisher auf Indianerdistrikte, ferne Gold- küsten und amerikanische Phantasieländer beschränkte, erobert sich den Tag und die Stunde. In den kleinen Straßenbuchhandlungen und bei den Zeitungsverschleißern liegt ein 20 Pfennig-Büchelchen aus, das sich seinen Platz an der Sonne erobern will. »Will, der junge Revolutionär,« steht in schreienden Buchstaben auf dem bunt bemalten Titelbild, das einen fanatischen Knaben darstellt, der gerade ein Maschinengewehr auf seine lieben Mitmenschen richtet. Und als

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Unterschrift unter dieser erbaulichen Tätigkeit liest man: > Will hielt als Letzter an seinem Maschinengewehre aus.«

Gott sei Dank, daß der Name Spartakus nur eine Minderheit unseres Volkes umfaßt! Aber eine andere Seuche vergiftet die große Mehrheit: die starke Sinnlichkeit. Arbeitsunlust, Glücksspiel, Genuß, Tanz, Wollust sind die Begriffe, die leider den Lebensinhalt so vieler unreifer Erwachsener und Jugendlicher ausmachen. Das fällt uns schwer aufs Herz. Sind wir doch überzeugt, daß Friedrich Naumann das Rechte traf, als er sagte: »Obwohl wir ärmer, mühseliger und gebundener sein werden, müssen wir unser Haupt hochhalten im Glauben an den Menschheitswert unseres Volkes. Der hohe Schwung des Idealismus, wie ihn Kant, Fichte, Schiller und Schleiermacher . hatten, muß jetzt erst ganz Nationaleigenschaft werden.« (Hilfe.)

Greifen wir aus den Strömungen, die diese Sinnlichkeit fördern, nur zwei heraus!

Einen starken Anteil messe ich den Auswüchsen der kirchen- und religionsfeindlichen Bewegung bei. Gewiß braucht sie nicht un- bedingt zur Demoralisierung zu führen; ihre ehrlichen Vorkämpfer wenigstens wollen es nicht. Aber sie muß dahin führen, wenn sie in der Weise propagiert wird, wie die » Allgem. Evang.-Luth. Kirchen- zeitung« (52, Nr. 45) berichtet: »Die Neuköllner Beratungsstelle für Kirchenaustritte, die sich im Rathause (!) befindet, ermahnt die Ein- wohnerschaft Neuköllns, die freie Zeit für die Kirchenaustrittserklärung, die ja bekanntlich persönlich bewirkt werden muß, zu verwenden und zu diesem Zweck die durch die jetzt an der Tagesordnung stehenden Streiks erzwungenen freien Arbeitstage auszunützen. In großen gelben Plakaten an den Neuköllner Anschlagsäulen mit der Überschrift »Heraus aus der Landeskirche« wird von den beteiligten Kreisen, die die Kirchenaustrittsbewegung in N. mit aller Macht zu fördern streben, hierzu aufgefordert.« Das ist Geschäftsreklame, das ist Aufreizung und Verhetzung, unwürdig einer Angelegenheit, in der einzig und allein der Grundsatz der Gewissensfreiheit gelten sollte. Ein Nieder- reißen ohne Aufbau! Die Antwort der Masse, zumal der Jugend, der ja leider Selbstbestinnmungsrecht in dieser ernstesten Angelegenheit mit dem 14. Jahre verliehen ist, wird darin bestehen, daß sie alles verneint, was seelische Werte schafft. »Es lösen sich alle Bande frommer Scheu, ... und alle Laster walten frei'« Der Materialismus in seiner krassesten Form wird auf den Schild erhoben, und wir müssen das vernichtende Urteil über uns ergehen lassen: »Eine ekel- hafte Nation!«, das ein Ausländer aussprach, als ihn das niedere Treiben Deutscher anwiderte.

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An der Pflege der Sinnlichkeit in engerem Sinne nimmt lebhaftesten Anteil das Kinounwesen. Für die Predigt der Unkeuschheit gibt es ja jetzt ein so bequemes Deckmäntelchen, den Aufklärungsfilm. Aber man darf’s ungestraft auch ohne dieses wagen und braucht sich nicht zu scheuen, offen, unverblümt und schamlos die Unkeuschheit zu verherrlichen in »Fräulein Mutter«e u. a. Der Reichsminister schob in der Nationalversammlung der Polizei die Schuld daran zu, die von den Machtmitteln nicht überall Gebrauch gemacht habe. Aus demselben Empfinden gehen wohl Eingaben wie die des Leipziger Bürgerausschusses hervor: »An den Plakatsäulen, in den Zeitungen werden tagtäglich unter dem Namen Aufklärungsfilm sexuelle und Prostitutionsprobleme in Wort und Bild in Formen erörtert, die allein schon genügen, die an und für sich gesunkene Moral noch weiter zu schädigen. Geradezu verheerend aber wirken die Filme selbst auf die Moralbegriffe jugendlicher und wenig urteilsfähiger Personen ein. Die einsichtsvolleren Verleiher und Kinohausbesitzer sträuben sich selbst gegen diesen Filmschund, sind aber wegen der Konkurrenz und der Wünsche der breiten Masse gezwungen, diese Art Filme zu verbreiten und vorzuführen. Da ein Appell an den guten Geschmack, ein Appell an das Gewissen zu nichts führt, bittet der L. B. im Interesse des allgemeinen Volkswohls dringend darum, eine städtische Filmzensur in Leipzig einzuführen.«e Die gesittete Jugend aber wendet sich unmittelbar an die Regierungen. Nachdem sich kürzlich in Leipzig auf Grund einer Anregung aus den dortigen Wandervogelkreisen eine große Zahl von Jugendvereinigungen zu einem Abwehrbund gegen Schund und Schmutz, namentlich im Kino- wesen, unter den Namen »Kämpfende Jugend Leipzigse zusammen- geschlossen haben, ist es nun auch in Dresden zu einem ähnlichen Schritte gekommen. Unter dem Namen »Jugendring Dresden« hat sich dort eine Vereinigung fast aller Jugendverbände Dresdens voll- zogen. Die Vertreter von rund 20000 Jugendlichen beschlossen, gemeinsanıes Vorgehen gegen allen Schund und Schmutz im öffent- lichen Leben.

Das alles hätte freilich schon längst geschehen müssen. Die Vergiftung ist schon weit vorgeschritten. Was ein 16jähriger Jugend- licher einem andern zuraunte: »Geschlechtsverkehr ist erst das richtige Leben!« ist jetzt vielfach der Leitgedanke des verirrten Teiles unsrer Jugend. Diesem Trugbild :opfert sie nicht nur ihre körperliche Ge- sundheit nach der Zahl Geschlechtskranker unter den jugendlichen Sträflingen zu urteilen, müssen die Opfer dieser Volksseuche auch unter der Jugend recht zahlreich sein —; nein, auch ihre Seele, ihr

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Gewissen, ihre Ehre: Die liederlichen Weiber kosten Geld; dazu reicht selbst höchster Arbeitsverdienst nicht aus, dazu braucht man ge- stohlenes, unterschlagenes Gut!

In solchen Zeiten umfassendste Amnestien? Das ist wie ein Faustschlag ins Gesicht! »Wir haben,« schreibt Geh. Rat Dr. Meyer in der deutschen Strafrechtszeitung 1419 Heft 1/2, »in Deutschland einen Niederschlag von Amnestien erlitten, wie noch nie. Es ist aber falsch, mit vielen Amnestien auf die Dauer politische Erfolge erzielen zu wollen. Zuviele Begnadigungen und namentlich Niederschlagungen enthalten einen Anreiz zur Begehung strafbarer Handlungen. Sie werden für den Verbrecher ein sicherer Rechnungsfaktor in seiner strafrechtlichen Kalkulation.«e Ja, man rechnet mit der Amnestie, wie die einen auf neuen Umsturz hoffen. »Bei den Unruhen, die im Reiche herrschen, kann ja alles über Nacht anders werden. Wenn die Regierung gestürzt wird, dann kommen wir sicherlich alle heraus, «< so schrieb ein Jugendlicher —, so bauen die andern auf neue Massen- begnadigungen. Und es gibt genug Eltern, die ihrem gefallenen Sohn keinen bessern Trost zu sagen haben als den: »Bei Friedensschluß kommt sicher eine Amnestie, und da bist Du auch dabei!« Daß solche Gedankenkreise den Jugendlichen die innere Ein- und Umkehr vergessen lassen, ist leicht zu ermessen.

Wer damit aber noch nicht von den Nachteilen der Amnestie überzeugt ist, der denke an die große Zahl Unwürdiger oder auch "nur Unreifer, die ungerüstet in eine Welt voll der schwersten Ver- suchungen gestellt werden, ohne daß die so nötigen Maßnahmen der Fürsorge getroffen oder durchgeführt werden können!

Die letzten Zweifel wird aber sicher ein Bericht der unabhängigen Zeitschrift »Das freie Wort« beseitigen, in dem es heißt: »Vor der Strafkammer (Berlin) hatte sich eine Bande jugendlicher Räuber zu verantworten, die im Osten Berlins wochenlang wohlorganisierte Raubzüge unternommen hat. Es handelt sich zumeist um junge Burschen im Alter von 15 bis 20 Jahren, die einen regelrechten Verbrecherverein unter dem Namen »Kolonne Jost« gegründet hatten. Fast ausnahmslos waren die Mitglieder dieses ehrenwerten Vereins arbeitsscheue Elemente, die unter den Einwirkungen des Krieges mehr und mehr der elterlichen Autorität entglitten waren und schließlich ganz in den Abschaum der Verbrecherwelt gerieten. Die Burschen hatten sich vollständige Satzungen ausgearbeitet, in denen sogar über die Verwendung der »Einnahmen« aus Diebstählen und räuberischen Überfällen » Bestimmung getroffen war. Nach den Satzungen sollte ein Teil dieser »Einnahmen der Vereinskasse« ausgesprochen zu dem

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Zwecke überwiesen werden, davon einen fulminanten Maskenball zu veranstalten. Das Treiben jener Kolonne spottet einfach jeder Be- schreibung. Am hellen Tage drangen die Mitglieder in die Wohnungen ein und stahlen wie die Raben. Schaukästen wurden mit der größten -Frechheit unbekümmert um Straßenpassanten zertrümmert und in der Eile zusammengerafft, was man den Kästen entreißen konnte. Selbst friedliche Spaziergänger wurden auf der Straße überfallen, mißhandelt und beraubt... Die Klubmitglieder, die sich jetzt vor der Berliner Strafkammer zu verantworten hatten, standen unter der Anklage des versuchten schweren Raubes. Sie hatten von einem »Fuhrwerk, das Talg zu transportieren hatte, den Kutscher mit Gewalt vom Bock gezerrt und niedergeschlagen, um sich dann in den Besitz des wert- vollen Fettes zu setzen. Diesmal war ihnen der Raubüberfall nicht geglückt. In der Gerichtsverhandlung brachte es aber ihr Verteidiger fertig, nachzuweisen, daß nicht Raub, sondern nur Körperverletzung und versuchter Diebstahl in Frage komme. Da diese Verbrechen, wenn es sich um Jugendliche Täter handelt, unter den Amnestieerlaß fallen, so könne es nicht zur Verurteilung der Angeklagten kommen. Ferner vertrat der Verteidiger die merkwürdige Auffassung, daß die Angeklagten sicher nur aus Leichtsinn, wahrscheinlich aber aus »Note gehandelt hätten!... Das Gericht sah wohl keine Möglichkeit, der Argumentation des Verteidigers zu entrinnen, und mußte sich auf Grund der Amnestie deshalb zu einer Einstellung des Verfahrens entschließen. Die Straßenräuber konnten also höcherhobenen Hauptes das Gericht verlassen und sich eins ins Fäustchen lachen über die sogenannte Justiz im neuen Deutschland, die infolge des Amnestie- erlasses nun ja geradezu freie Bahn für die Verbrecher geschaffen hat. . (mitgeteilt nach dem Rhein. Fürsorgeerziehüngs-Blatt« 1919 Nr. 1). - * * .*

Finster ist die Gegenwart! Wird die Zukunft noch schwärzer sein? Wollen wir verzweifeln? Wir, die wir an Jugendlichen arbeiten, dürfen’s nicht was wäre unsere Arbeit ohne Hoffnung! Wir können’s aber auch nicht! So reich an Enttäuschungen unsere Arbeit auch ist, da und dort dürfen wir sie doch spüren: die gütige, herrliche Seele des deutschen Volkes. Noch verdeckt sie dicker Schmutz, viel Gemeinheit; aber sie ist da! Und wenn wir erst wieder: wirtschaftlich und politisch geordnete Verhältnisse haben werden, dann werden die guten Geister in unserm Volke wieder die Führung er- langen. Dies unser Glaube! :

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III. Die Willensübung im Jugendgefängnis.

Mit dem Eintritt des Jugendlichen ins Gefängnis hört sein Selbst- bestimmungsrecht fast ganz auf. Nun wird jeder Schritt überwacht, die ganze Lebensführung durch eine strenge Hausordnung geregelt. Das wird als schwerer Druck empfunden und hat gar manchen Leicht- fuß heilsam berührt. Es liegt darin aber auch die, ernste Gefahr, daß an sich schon Willensschwache noch unselbständiger werden und schließlich als weltfremde, wenig lebensgeübte Menschen entlassen werden.

Darf die Strafe solche Folge zeitigen? Vergelten soll sie, nicht zum Leben nötige Fähigkeiten zerstören.

Der genannten Gefahr vorzubeugen, gibt es nur ein Mittel: der erziehliche Strafvollzug darf sich nicht aufs Beraten des Jugendlichen mit Worten beschränken, sondern muß ihm Gelegenheit geben, in Taten mögen sie noch so schlicht sein seine Willenskräfte zu stärken, d. h. Willensübungen zu treiben.

Was wir unter Willensübungen verstehen? Übungen der Selbst- beherrschung (im Entsagen, Ausdauern usw.), angeregt durch väter- lichen Rat des Erziehers, ausgeführt aus innerem Drange des Jugend- lichen nach Besserung und Lebensglück. Nicht um blinden Gehorsam soll sich’s dabei handeln, sondern um überzeugtes, zielbewußtes Tun. Äußerer Druck (Strafe) darf darum nie die treibende Kraft werden; die bei Zögernden immer wiederholte Beratung wird man nicht als solchen bezeichnen dürfen. Ebensowenig darf das Üben aber auf eine Lohnhascherei hinauslaufen; das Vertrauen des Erziehers soll als einziger idealer Lohn Berechtigung haben.

Welche psychologischen Voraussetzungen uns “dabei leiten?

Zuerst die Auffassung, daß jede echte Willenshandlung drei Vor- gänge in sich begreift: ein Ziel wird aufgestellt; unser Urteil stimmt ihm zu; wir führen die Handlung (i. e. S.) aus und erlangen dadurch das Bewußtsein der Aktivität. '

Zweitens die Überzeugung, daß gute Gewohnheiten nur dann allen Fährnissen des Lebens standhalten, wenn sie entweder aus solchen echten Willenshandlungen entspringen oder nachträglich nach ihrem Maße geprüft werden.

Drittens das psychische Gesetz, daß der Mensch auch auf dem Gebiet des Wollens nur das kann, was er geübt hat, geübt bis zur Gewohnheit.

Viertens das Gesetz von der selbsttätigen Mitübung der Fähig- keiten, die einem bestimmten ins Auge gefaßten Willensübungsgebiete verwandt sind.

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Für die besonderen Verhältnisse des Strafhauses scheint mir das zuletzt genannte Gesetz von erhöhter Wichtigkeit zu sein. Die Ge- legenkeiten zu Willensübungen können im Gefängnis infolge der gleichbleibenden, engbegrenzten Lebensführung nicht eben reichlich sein. Die Selbstbeherrschung in allen ihren Spielarten zu üben (Ent- sagen, Überwinden, Sparen, Ausdauern, Verzeihen, Wohltun usw.) wird darum nicht möglich sein. Ist aber wie das Gesetz sagt auch nicht nötig. Es genügt, daß zunächst eine Form der Selbst- beherrschung (etwa Sparen bez. Einteilen) geübt wird; die andern Formen werden dabei im Stillen vorbereitet und werden später sicher mit um so geringerem Aufwand von Übungskraft von statten gehen, je größer die Konzentration auf die Urform war. So darf die im Gefängnis gebotene Beschränkung auf Weniges geradezu als ein Vorteil angesprochen werden. Um uns diesen ganz zu eigen zu machen, lenken wir die Aufmerksamkeit des Jugendlichen zunächst vornehmlich auf die Übung des Broteinteilens; andere Übungen, wie Zielstellen im Arbeiten über das geforderte Pensum hinaus, selb- ständige Pflege der Sauberkeit u. a., empfehlen wir nur nebenbei.

Ein Blick in die Praxis möge nun über die Gestaltung der Willens- übungen und über ihre Wirkungen auf die Jugendlichen unterrichten !

Zuerst gilt es, die Jugendlichen einzuführen ins Wesen der Übungen. Dem dient eine Unterrichtsstunde, an der alle Zugänge der letzten Woche teilnehmen. Ein Appell ans Ehrgefühl soll zunächst die Gefühlsgrundlage schaffen, auf der die nun folgenden verstandes- mäßigen Beratungen sicherer ruhen werden. Was ich von diesen letzteren mitteile, ist nur als Skizze aufzufassen, vor allem auch wegen der Unmöglichkeit, die Wärme des Tones zu Papiere zu bringen. Ich fahre also etwa fort:

»Mein junger Freund! Daß es ein schlechter Tausch war, Deine Ehre für einen flüchtigen Genuß hinzugeben, das ist Dir jetzt bewußt geworden. ‚Besser soll es werden!“ klingt es sicher in Dir. Aber wie erreichst Du das? Das ist die Lebensfrage für Dich. Ich will sie Dir beantworten: Der Weg zur Besserung führt nur durch die Tat! Zu ihr stärke Deinen Willen! ....

Heldentaten werden’s freilich nicht sein; es wird Dir wie allen Braven gehen, die in den täglichen tausend Kleinigkeiten ihre Tüchtig- keit und Treue beweisen. .. Solche Kleinigkeiten allein wirst Du auch im Gefängnis finden. Ich will Dir eine nennen:

Dein tägliches Brot sei Dir ein Gegenstand der Willens- übung. (Die Sträflinge erhalten ihre Tagesration Brot in einem Stück nachmittags um 4 Uhr.)

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Wie ich das meine? Teile es ein, und gehe nicht ab von dem Vorsatz, bis zur Abendmahlzeit (o. š.) ein Stück des Brotes aufzu- heben! Mag die Lust zum Essen sich regen, mag dich Hunger quälen bleibe fest!

Aber wisse: nicht nur einen Tag sollst Du also tun, nein, Tag für Tag, bis es Dir zur Gewehnheit geworden ist. Dann wird Dir mit dem Gefühle der Heftigkeit der Stolz eines Siegers kommen.

Auch nicht eines Aufsehers wegen oder aus Angst vor Strafe sollst Du also tun. Wir strafen Dich nicht, wenn Du unsern Rat mißachtest: wir wollen keinen Sklavensinn in Dir großziehen; denn er verfliegt, wenn Du die Gefängnistür hinter Dir haben wirst. Dein Herz soll Dich treiben. In aller Stille sollst Du Selbsterziehung üben...

Was Du so gewinnen wirst? Die Kraft der Selbstbeherrschung und mit ihr Lebensglück. Schaue in die Zukunft! Der Tag Deiner Entlassung ist gekommen! Wie ist Dein Herz so voll son guten Vorsätzen! Deine Eltern sollen Dir von jetzt an mehr gelten als Freunde so gelobst Du Dir. Sieh, da macht sich bald der und jener frühere Genosse böser Tage wieder an Dich heran und lockt und spottet, bis Du ihm folgst oder er sieht, daß ein neuer Geist in Dir wohnt. Nicht wahr, die Selbstbeherrschung wird die Ent- scheidung bringen. Was Du beim Essen lerntest, kommt Dir jetzt zustatten auf einem weit wichtigeren Gebiete.

Ist’s nicht so: am Stückchen Brot hängt Dein Glück!?

(Im selben Sinne werden die Arbeit, die Reinlichkeit und das Schweigen als Willensübung besprochen.)

Junger Freund! Du stehst am Scheidewege. Du hast meinen Rat gehört Du kennst auch die Ansicht der Leichtfertigen, die da meinen, man brauche seine Strafe nur abzusitzen und solle sich’s da- bei nur nicht zu schwer machen. Wollte Gott, Du folgtest mir! Will Dir’s schwer werden, so denke an Deine Eltern, und falte die Hände zu einem andächtigen ‚Walt’s Gott!‘ Und Du wirst spüren, welcher Segen über den’kommt, der sein Leben unter den Wahlspruch stellt: Bete und arbeite! «

Der Samen ist ausgestreut. Wird er auch Frucht bringen? Wenn man sonst jemand das Glück anbietet, so greift er fröhlich darnach, Werden wir das von unsern Willensschwachen und sittlich Herunter- gekommenen auch erwarten dürfen?

Wir suchen sie in ihren Zellen auf; nicht Tag für Tag, denn wo bliebe die Freiheit des Übens, wenn sie mit Sicherheit uns jeden Tag erwarten müßten? Als Druck soll ja unser Besuch nicht emp-

O . a - —— nn M

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funden werden, sondern nur als Zeichen persönlicher Anteilnahme am Geschicke des Jugendlichen. Schon unser erster Gang wird lehrreich sein. Wir lernen sie kennen, die unsern Rat genau so leicht hin- nahmen, wie alles, was ihnen seither von Angehörigen u. a. gesagt wurde: zum einen Ohre hinein, zum andern heraus. Wir lernen sie aber auch kennen, die ungesäumt an das Üben herangehen. Aus welcher Gesinnung, das werden freilich erst die folgenden Tage zeigen. Es wird gut sein, wenn wir unsere Erwartungen nicht zu hoch spannen. Der erste Gang wird uns vielleicht lebhaft an die voran- gegangene Unterrichtsstunde erinnern und‘ zu Vergleichen zwischen dem zur Schau getragenen Wesen der Schüler und diesen ersten Er- gebnissen anregen. Hatten wir nicht von diesem Jugendlichen er- wartet, er werde seiner eifrigen Beteiligung an der Unterredung ent- sprechend begeistert ans Werk gehen? Und siehe wir finden ihn lässig. Ein Schaumschläger, ein Blender! Und jener, der still vor sich hinschaute und kaum ein Wort beisteuerte, zeigt sich als einer der Willigen. »Die Stillen im Lande« sind eben auch im Gefängnisse oftmals nicht die Schlechtesten.

Mit jedem weiteren Besuche klären sich unsere Urteile über unsere Pflegebefohlenen. Bald sind wir unterrichtet üßer einige Haupttypen unter ihnen. Die Aufzeichnungen über die Übungs- ergebnisse lassen in die Seele schauen.

Wir stehen den Gleichgültigen gegenüber, von denen wir wohl gar hören müsseu, daß sie ihren Mitgefangenen gegenüber unsere Rat- schläge als »Mist« bezeichnen. Sie begegnen unseren immer wieder versuchten Annäherungen mit der geringschätzigen Rede: »Weil ich das bißchen Broteinteilen unterlasse, würde ich wieder zum Vagabund Oder sie fertigen uns kurz ab: »Ich werde mich auch ohne das Brot- einteilen hüten, wieder ins Gefängnis zu kommen!« Alle Künste der Überredung, alle Wärme des Herzens müssen wir aufwenden, unser ganzes psychologisches Wissen müssen wir ihnen nahebringen. Glück- licherweise ist die Zahl derer nicht groß, die dauernd bei dieser Ab- lehnung bleiben. Unsere Beharrlichkeit führt uns meist zum Ziel. »Die Kurve« der Willensübungen zeigt dann etwa folgendes Bild:

= = =s ER ee a TU

Es ist dann aber auch ein Sieg auf der ganzen Linie: die offen Ablehnenden sind oftmals Charaktere und bewähren sich dann auch als solche nach ihrer Bekehrung.

Lieber sind sie uns mit ihrer Offenheit als jene kühl Berechnenden, denen innerer Drang fehlt, die nur der Aufsicht wegen üben, aber sofort aufhören, sobald sie sich unbeachtet wissen. Die Plumpen

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unter ihnen lassen uns ab und zu in ihre Karten sehen: »Ich dachte, heute würde nicht nachgesehen.« Die Geriebeneren aber entziehen sich ihrer Pflicht sogar durch Betrug. Sie höhlen etwa ihr Brot aus, zeigen es aber nur von der unversehrten Seite; oder sie heben ein Reservestück auf, mit dem sie den oberflächlich Prüfenden immer wieder täuschen. Die Kurve ihres Handelns zeigt immer ein wechseln- des Bild und erhält meist sehr spät Stetigkeit. Als Beispiel gebe ich den Anfang der Übungsergebnisse des Jugendlichen N. wieder:

= Sr ar i == pee e = ——uswWs

6 Monate hielt dieses Schwanken an, ehe die Wendung zum Guten eintrat.

Der Gruppe der Ablehnenden steht die der Willigen gegenüber. Aber in wieviel Schattierungen präsentieren sie sich! Hier die Ent- schiedenen, die vom ersten Tage an ohne Unterbrechung üben. Sie machen uns wenig Mühe; ihre Zahl ist freilich gering. Da die Schwächlinge, die einen Anlauf nehmen, aber vor den ersten Schwierig- keiten flüchten, vielleicht hinter eine sinnliche Frömmigkeit, die den lieben Gott nur als Nothelfer kennt und von ihm allein auch die sittliche Besserung erwartet: Oder die Schwächlinge, die immer wieder ihren niederen Gefühlen erliegen und sich entschuldigen: »Ich hatte heute gerade solchen Hunger«, oder: »Ich habe erst hinterher dran gedacht, als das Brot schon aufgegessen war.« Dort endlich, die von wechselnden Stimmungen hin- und hergeworfen werden zwischen feurigem Streben und kühler Nachlässigkeit. Strohfeuer und Frost- wetter in wunderlichem Gemisch! Die Kurve ihres Übens ähnelt der der Berechnenden, zeigt aber mehr Periodenbildung, etwa so:

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Erziehertreue muß ihnen allen nachgehen und sammelt die zur Festigkeit Gelangten aus allen Lagern in der Gilde der Vertrauens- leute. Man vertraut ihnen, daß sie selbständig die Willensübungen fortsetzen und verringert darum die Kontrolle. Das wird gar hoch eingeschätzt vom Jugendlichen. Es ist ihm ein Wohlgefühl, nach so langer Zeit der Mißachtung wieder Vertrauen zu genießen und den Eltern einen Erfolg seiner Taten melden zu können. Er fühlt: es ist ein Schritt vorwärts! Wer noch nicht zu den Vertrauensleuten gehört, meldet sich darum nach Ablauf der Probezeit oft selbst mit der Bitte um Vertrauen. Und ein Rückständiger gibt sich wohl einen Ruck: »Das nächste Mal mußt Du auch dabei sein!« und er ist ‚dabei. Der Stolz eines Siegers strahlt aus seinen Augen; den Er- zieher aber überkommt dann jedesmal Erntestimmung, die alle Mühen und Enttäuschungen vergessen läßt.

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GewiB, die Willensübungen geben der Strafzeit einen gediegenen Inhalt. Sie bringen dem Sträfling in seine trostlose Lage das Be- wußtsein erfüllter Pflicht und damit ein Kraftgefühl, das Gegenwart und Zukunft in einem freundlicheren Lichte erscheinen läßt. Ich will das durch einige Selbstzeugnisse Jugendlicher belegen, die sämt- lich unaufgefordert niedergeschrieben wurden.

Sch. meldete den Eltern: »Ich gehöre zu den Vertrauensleuten. Und das hat mich sehr gefreut. Es war mir, als ob die Sonne gleich einen helleren und wärmeren Schein in meine Zelle sandte als erst. Es hat mir aber erst manche schwere Stunde gekostet« Ähnliche Empfindungen beglückten F. Er schrieb: »lch habe noch eine Freude Euch mitzuteilen: daß ich zu den Vertrauensleuten gehöre. Ich bin gewillt, es weiter zu treiben, ich gebe mir die größte Mühe. Schimpft der Vater immer noch so? Laßt ihn nur schimpfen, er wird es schon sein lassen, wenn er sieht, daß ich anders geworden bin.« Es war derselbe F., dem anfangs der Rat zu Willensübungen das Gefängnis. derart verekelte, daß er in einem seiner ersten Briefe schrieb: »Hierher: komme ich nicht wieder; hier heißt es nur immer, pflichttreu sein!« Beide, Sch. und F., sind brave Menschen geworden.

Ich hoffe es auch vom Schreiber der folgenden Rückschau sein Name ist mir leider entfallen —: »Da ich diese Woche entlassen werde, taucht mir unwillkürlich der Gedanke auf: Was brachte mir das Gefängnis? Antwort: Vieles, ja sehr vieles. Z.B. das man mit wenigen gut auskommt. Da denke ich an das Essen: Täglich 3 mal Essen und 200 g Brot! So dachte ich, ist ja für mich viel zu wenig; da muß ich ja verhungern. So dachte ich, als ich die Strafe hier antrat, und jetzt? Wie schön ist es gegangen? 9 Wochen lang habe ich mein Brot, das mein Stolz ist, ohne Fehler verbraucht. Soll man sich da nicht als ein glücklicher Mensch fühlen. Als am Sonnabend beim Ausspeisen das Brot geprüft wurde und ich mein Brot einem Aus- speiser zeigte und sagte: Na da kann man sich freuen, es soweit ge- bracht zu haben, das Brot bis zum andern Tag unberührt zu lassen! Das ist mein Stolz und Freude? Der sagte nur höhnisch lächelnd: Na da kannst Du Dich ja prahlen mit Deinem Brote! Ich habe ihn nur scharf angesehen und kein Wort gesagt!« Bedeutet solche Freude nicht ein köstliches Erlebnis und als solches eine Bereicherung der Seele, selbst wenn es später vergessen würde? Infolge der Gefühls- stärke wird sich aber sicher in vielen Fällen das Erlebte im Schatz der Erinnerungen behaupten und früher oder später wichtige Ent- scheidungen im Leben des Jugendlichen herbeiführen. Auch dafür habe ich Belege.

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Schon im Gefängnis kann man bjsweilen solche Mitübung ver- wandter Tätigkeiten beobachten. Kommt da eines Tages Sch. zu mir und erzählt mir glaubhaft, wie er in Versuchung gewesen sei, seinem Nachbar in einem unbeobachteten Augenblick das Brot zu stehlen. Er habe es nicht getan im Gedanken an meinen Rat zur Selbst- -erziehung und Willensübung. Ich weiß nicht, wer sich in diesem Augenblick des vertrauensvollen Aussprechens glücklicher fühlte, ob er oder ich.

Bisweilen senden Entlassene Gruß und Bericht über ihr Ergehen, und immer bilden die Willensübungen den Unterton.

N. war lange ein wankelmütiger Mensch, den nicht einmal ein ‚elterlicher Brief über den Bruder im Felde zu ernstem, ausdauerndem Wollen trieb. Von seinen acht Monaten Strafzeit verliefen sechs unter ständigem Schwanken zwischen Pflichterfüllung und -vergessenheit. Schon hatte ich die Hoffnung nahezu aufgegeben. Da stand er eines 'Tages mit strahlendem Gesicht vor mir und zeigte mir sein auf- gehobenes Brot. Er blieb fortan beständig und schied als Vertrauens- mann von mir. Aus dem Felde schrieb er mir wiederholt dankbare Worte und gedachte dabei auch der Willensübungen: »... ich sehe mich immer noch vor ihnen’ stehen mit leeren Händen.«e Zu sagen, daß er der »vollen« Hände gedenke, verbot ihm wohl seine Be- scheidenheit. Unvergeßlich werden sie ihm ebenso sein, wie ihm die Kraft der Selbstbeherrschung eine treue Gefährtin geblieben ist.

W. war seit seinem elften Jahre in der Erziehungsanstalt. Aber der Zug nach den Eltern ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Selbst vor Entweichungen und Diebstahl schreckte er nicht zurück; immer verbissener und böswilliger wurde er. Dreimal kam er zu uns ins Gefängnis und machte uns mit seiner wechselnden Führung viel Mühe und Sorge. Bis zum Vertrauensmann brachte er es wohl während seiner ersten Strafzeit nach zweimonatigem Schwanken; dann aber nicht wieder. Immer litt sein. Verhalten unter der Verbitterung wegen wieder zu erwartender Unterbringung in der Erziehungsanstalt. Gleich- wohl hinterließ er beim dritten Abschied den Eindruck, daß er trotz seiner Psychopathennatur doch einen gutmütigen, zutraulichen Zug habe, der sich väterlicher Fürsorge offenbarte, und daß er sogar zu stärkeren Regungen des Willens zum Guten noch fähig und zu Erfolgen in der Pflichtübung zu führen sei. Die letzte Willensübung, die ich ihm ans Herz legte, war: auszuhalten in der Erziehungsanstalt. Er wolle es versuchen; fest versprechen könne er es nicht... Wir blieben in brieflicher Verbindung. Und siehe: er hielt aus... Jetzt ist er schon seit ®/, Jahr zu den Eltern beurlaubt, ist arbeitsam, sparsam

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Zum Seelenleben des einzigen Kindes. 81

und wundert sich über sich selbst. Neulich schrieb er mir: »Das danke ich Ihnen.« Ich übersetzte: ... den Willensübungen, zu denen ich ihm nur Führer sein durfte.

Ich will mit diesem erfreulichen Bild meinen Bericht über die Willensübung im Gefängnis schließen. Nicht‘"Ruhmredigkeit führte mir die Feder; mehr schon das Bedürfnis, kleiner Erfolge wieder einmal bewußt zu werden und aus ihnen Stärkung für meine an Ent- täuschung nicht eben arme Arbeit zu schöpfen; am meisten aber die Hoffnung, den Freunden der verwahrlosten Jugend an einem kleinen Ausschnitt der Rettungsarbeit die Früchte der Erziehung zur Tat und der Geduld zeigen zu können.

2., Zum Seelenleben des einzigen Kindes. Von einem »Einzigen«.

In der Besprechung des Buches von Dr. Neter »Das einzige Kind und seine Erziehung« (Zeitschrift für Kinderforschung, Jahrgang 1916, Heft 9) wurden erwachsene »Einzige« aufgefordert, sich im Interesse einer allseitigen und gründlichen Erörterung dieser psycho- logisch und pädagogisch nicht unwichtigen Frage vom Standpunkt ihrer persönlichen Erfahrungen aus über die Neterschen Ausführungen zu äußern. Dies veranlaßte mich, das in Rede stehende Schriftchen zu lesen und meine eigene werte Person unter das Netersche Urteil über die einzigen Kinder zu stellen.

Neters Gedankengang ist kurz folgender. Die einzigen Kinder weisen, nicht regelmäßig aber doch in überraschend häufiger Wieder- kehr, eine Reihe typischer Charaktereigentümlichkeiten auf, durch die sie sich mehr oder weniger unvorteilhaft vom Durchschnitt der nicht- einzigen Kinder unterscheiden. Sie sind verwöhnt, verzogen, ver- zärtelt. Sie zeigen vielfach auf der einen Seite ein altkluges, früh- reifes, vorwitziges Wesen und auf der andern Seite eine oft geradezu bemitleidenswerte Unselbständigkeit, Hilflosigkeit und Ungeschicklich- keit in praktischen Dingen. Ganz besonders aber fallen sie durch ihren Egoismus, ihren Eigennutz, ihre Ehrsucht und Empfindlichkeit, ihre Unverträglichkeit, ihre Rechthaberei und Unversöhnlichkeit auf. Alle diese geistigen und sittlichen Eigenschaften und Untugenden lassen sich zum großen Teil aus den eigentümlichen Verhältnissen, unter denen einzige Kinder groß werden, erklären, aus der isolierten Erziehung, dem ungeteilten Besitz der elterlichen Liebe, dem ge- schwisterlosen Aufwachsen usw. Einzige Kinder werden verwöhnt,

Zeitschrift für Kinderforschung. 26. Jahrgang. 6

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nur die Öde des Alleinseins, sondern auch die Mühe und Last der Arbeit vergessen lassen. Aber auch auf den Spielplätzen überkam mich häufig das Gefühl des Isoliertseins, namentlich wenn bei ge- wissen Anlässen (Unfällen, Streitigkeiten) unter anwesenden Ge- schwistern in der Form von Hilfsbereitschaft, brüderlichem Beistand ganz plötzlich und unmittelbar Äußerungen selbstloser Geschwisterliebe hervorsprangen. Dann kam ich mir immer als ein Außenstehender, als ein von schönen Heimlichkeiten Ausgeschlossener vor.

Später, als ich dank dem Eingreifen eines Wohltäters eine höhere Bildungsantalt besuchte, empfand ich es als etwas besonders Schmerz- liches, die neuerworbenen Kennntnisse und Ideen nicht auch im ver- trauten Verkehr mit Geschwistern erörtern und austauschen zu können. Mir war, als müßte eine Geistesgemeinschaft mit Geschwistern ein ungleich höheres und köstlicheres Gut sein als alle noch so idealen Freundschaftsbündnisse. Schließlich verdichtete sich (zum Teil wohl unter dem Einfluß berühmter Beispiele!) das Verlangen nach Ge- schwisterliebe zu dem bestimmten Wunsch, eine Schwester zu be- sitzen. Selbstverständlich spielte dabei mehr oder weniger unbewußt das Erwachen erotischer Gefühle mit, aber daß diese sich in jenen Wunsch kleideten, ist ein Beweis für den wohltätigen Einfluß, den Schwestern in diesem Alter auf Brüder ausüben können. Jedenfalls mochte die leidvoll-selige Stimmung, di@ junge Leute in dieser Ent- wicklungsperiode erfaßt, schwerer auf mir gelastet haben als auf denjenigen meiner Kameraden, die im Genuß natürlicher Schwestern- liebe eine lösende Milderung ihrer Gefühlsspannungen erlebten.

Aber auch noch in den reiferen Jahren empfand ich den Mangel an geschwisterlicher Gemeinschaft recht oft als eine Lücke in meinem Dasein. Nicht als ob ich mich einsam und verlassen im buchstäb- lichen Sinne des Wortes gefühlt hätte. Von den in der Jugendzeit geschlossenen Freundschaften hatten nicht nur die meisten den Stürmen des Lebens stand gehalten, sondern sie hatten sich vielfach auch ver- innerlicht und vertieft und außerdem fand ich im Kreise gleich- gesinnter Kollegen und ihrer Familien viel gemütliche und seelische Erquickung und Auffrischung. Daneben aber erlebte ich sowohl in äußerer wie in innerer Beziehung recht viele Situationen, in denen ich den treuherzigen Rat eines .Bruders, den tröstenden Zuspruch einer Schwester schmerzlich vermißtee Auch bei glücklichen Er- eignissen hatte ich recht häufig das Gefühl, daß die Mitfreude von Geschwistern natürlicher und darum reiner und beglückender gewesen wäre als die von noch so aufrichtigen Freunden. Blutsverwandtschaft ist nun einmal ein festerer Kitt als bloße Seelenfreundschaft: Das

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Wörtchen »unsere Eltern« verbindet mehr als alle noch so ehrliche und echte Begeisterung für gemeinsam verehrte Ideale. Besonders schmerzlich kam mir mein Einzigsein am Grabe meiner Eltern zum Bewußtsein. Da hatte ich die Empfindung, als lastete der Kummer über den erlittnen Verlust doppelt und dreifach schwer auf mir, nur weil ich ihn allein tragen mußte. Welche Erleichterung wäre es für mich gewesen, in dieser Lage die Hand eines mittrauernden Bruders drücken oder meinen Schmerz mit demjenigen einer Schwester zu- sammenfließen lassen zu können! Und in wie vielen Stunden, glück- lichen und unglücklichen, quält mich die ungestillte Sehnsucht nach einer Menschenseele, die die Erinnerung an dasselbe Elternhaus und dieselbe Kindheit wie ich als stilles Heiligtum im Herzen trägt! Ganz besonders aber drückte mich in diesen Jahren, in denen die schwärmerischen, kosmopolitisch angehauchten Jugendträume all- mählich dem nüchternen Verlangen nach Ruhe und Behaglichkeit Platz zu machen pflegen, meine Familienfremdheit, und dies um so mehr, als es mir selbst nicht gelungen war vielleicht zum Teil die Folge meines isolierten Aufwachsens! —, eine eigene Häuslichkeit zu gründen. Die Familien sind nun einmal im Leben das, was in der Wüste die Oasen sind. Im Lichtkreis eines glücklichen Familien- lebens empfangen alle Freuden und Genüsse des Daseins ihre be- sondere Farbe und Weihe, und alle Sorgen und Schmerzen lindernde Dämpfung ihrer brennenden Pein. Durch die Familie wird der Einzelne aber auch inniger und vielfältiger mit der Allgemeinheit verknüpft und verknotet. Diese Vorzüge und Werte der Familie lernte ich je länger je mehr gerade auf dem Wege des Entsagens kennen. Zwar standen und stehen mir die Häuslichkeiten verschiedner Freunde zu jederzeitigem, willkommnem Besuche offen. Aber trotz aller Aufrichtigkeit und Unbefangenheit auf der meinen und der andern Seite geht die Vertraulichkeit nie über einen gewissen Temperatur- grad hinaus; über die Schwelle der »guten Stube« hinweg in das Alltagsbereich der Familien gelange ich nur selten; das trauliche »Zu Hause« klingt wohl oft an mein Ohr, findet aber in meinem Herzen nur ausnahmsweise den echten, tiefen Widerhall. Dabei bin ich mir wohl bewußt, daß der Weg in die Gemütlichkeit der Familien vor allem durch die Herzen der Kinder geht, und bei diesen habe ich im großen ganzen auch viel Glück. Aber es gibt eben Grenzen, die sich künstlich nicht überbrücken lassen. Ich habe das Gefühl, daß, wenn ich mich an Weihnachten, Ostern und bei ähnlichen festlichen Anlässen in die Häuslichkeiten von Geschwistern flüchten und wenn ich Taufen, Konfirmationen, Geburtstagsfeste usw. als wirklicher Onkel

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mit Neffen und Nichten feiern könnte, daß dann mein Leben wärmer und reicher wäre.

Gewiß, vielleicht sehe ich diese Dinge alle in zu idealer Be- leuchtung, wie ja dem Entbehrenden das Entbehrte stets in ver- klärendem Schimmer erscheint. Vielleicht wachsen auch am Rosen- strauch der Geschwisterliebe viel mehr Dornen, als ich mir vorstelle. Allein das Vorhandensein von Dornen kann doch höchstens nur die Freude an den Rosen herabmindern, aber nicht deren Farben- und Duftreize auslöschen. Darum gebe ich Neter recht, wenn er sagt, daß das Leben der Einzigen besonders nüchtern, kalt und arm sei.

Was nun Neters Schilderung der typischen geistigen und sitt- lichen Eigenarten der einzigen Kinder betrifft, so muß ich unum- wunden gestehen, daß sich tatsächlich sehr viele dieser mehr oder weniger erwünschten Züge auch in meinem Charakterbild befinden. Aber sind diese Eigenschaften nun ganz oder auch nur in erster Linie die Folgen meines geschwisterlosen Aufwachsens und meiner isolierten Erziehung? Das kann ich nicht ohne weiteres zugeben. Erstens glaube ich, daß auch viele Nichteinzige, sofern es ihnen nicht an der nötigen Selbsterkenntnis fehlt, in dem Neterschen Bild das mehr oder weniger getreue Konterfei ihres eignen Ichs entdecken würden. Wer z. B. hätte den Mut, im Blick auf das treffende Kapitel über den Egoismus einziger Kinder zu sagen: Das geht mich nichts an? Erlebt nicht jeder sittlich strebende Mensch im Kampf mit Eigenliebe und Selbstsucht Augenblicke, wo er in den Paulinischen Seufzer ausbricht: »Wollen habe ich wohl, aber Vollbringen des Guten finde ich nicht; ich elender Mensch, wer wird mich erlösen vom Leibe dieses Todes?« Zweitens: All die physischen und psychischen Eigenarten, die sittlichen Schwächen und Gebrechen, die sich nach Neter unter dem Einfluß meines Einzigseins entwickelt haben sollen, fand ich, oft in geradezu komischer Übereinstimmung, bei meinen Eltern vorgebildet, und diese sind beide in sehr großen Geschwister- kreisen (8- und 7köpfig) aufgewachsen. Das legt doch die Vermutung nahe, daß bei der Gestaltung meines Charakters die Vererbung und Beanlagung ‚sowie der erzieherische Einfluß meiner Eltern eine ent- scheidendere Rolle gespielt haben als der Faktor meines Alleinseins. Ich gebe ohne weiteres zu, daß mein geistiger und namentlich sitt- licher Habitus in seiner äußern Ausprägung ein etwas andrer ge- worden wäre, wenn ich mich frühzeitig in das Zusammenleben mit Geschwistern hätte schicken müssen. Daß er dadurch aber in seinen wesentlichen Grundzügen eine Änderung erfahren hätte, glaube ich nicht. Fast alle, die viel und ernstlich mit ihrer Natur ringen und

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nach sittlicher Vervollkommnung streben, kommen früher oder später schließlich zu der schmerzlichen Erkenntnis, daß man bei aller äußern Seelenpolitur im Innern seines Wesens doch derselbe bleibt und daß man sich in dieses Schicksalslos ergeben und sein Streben nur darauf richten muß, mit den anvertrauten Pfunden geistiger und sittlicher Anlagen möglichst treu und fleißig zu wirtschaften. Aus einer Distel wird sich höchstens eine Edeldistel, niemals aber eine Rose entwickeln lassen. Deshalb glaube ich, daß Neter die Wirkung der passiven wie der aktiven Erziehung überschätzt. Darin bestärkt mich auch die be- kannte Tatsache, daß unter Geschwistern, obwohl sie alle in demselben Milieu aufzuwachsen und nach denselben Grundsätzen erzogen zu werden pflegen, vielfach nicht nur ganz auffällige Charakterunterschiede, sondern auch völliges »Aus-der- Art-Schlagen« zu finden ist.

Als hervorstechendstes Merkmal der Erziehung einziger Kinder betrachtet Neter die körperliche und sittliche Verwöhnung und Ver- weichlung. Einzige Kinder seien meistens empfindliche, eigenwillige Muttersöhnchen, die stets mit Handschuhen angefaßt sein wollten und vor jeder ernsten Tätigkeit und Anstrengung wehleidig zurückscheuten. Dabei kann sich Neter auf das Urteil des Volkes berufen, das be- kanntlich auf die einzigen Kinder, und zwar gerade wegen ihres an- spruchsvollen, unverträglichen Charakters, nicht gut zu sprechen ist. Ohne Zweifel liegt in dieser Vox populi viel Wahres. Allein gibt es denn nur verzogene einzige Kinder, gibt es nicht auch unter Ge- schwistern massenhaft verwöhnte Lieblinge, und kommt es nicht sehr oft vor, daß schwache oder kurzsichtige Eltern ihre gesamte Kinder- schar systematisch verweichlichen und verziehen? Sicher ist das Vor- handensein nur eines Kindes sehr häufig die Ursache einer über- mäßigen Ängstlichkeit und Nachsicht in der Pflege und Erziehung. Allein dies doch nur dann, wenn den Eltern oder speziell der Mutter genügend Zeit, Kraft und Geld zur Verfügung stehen, um die über- spannten Wünsche und Launen ihrer überzärtlichen Liebe zu be- friedigen. Dieser Umstand scheint mir viel häufiger die Ursache verkehrter Kindererziehung zu sein als das Einkindersystem an sich. Es ist sicher kein Zufall, wenn Neter wiederholt von Dienst- mädchen, Kinderfräulein u. dergl. spricht, die das Einzige auf Schritt und Tritt bedienen und bewachen müssen, von Theater- und Konzert- besuch, die den Einzigen aus schwächlicher Nachgiebigkeit viel zu früh gestattet werden, vom Hausarzt, der bei der leisesten Gesundheits- störung gerufen wird usw. Daraus folgt, daß Neter offenbar nur gut- situierte Leute im Auge hat und daß er sich verwöhnte und ver- zogene einzige Kinder instinktiv eben nur als im Milieu solcher Leute

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aufwachsend vorstellt. Nun gibt es aber auch in den untern Volks- schichten, wo Dienstmädchen und Hausfräulein unbekannte Leute sind, wo man Konzerte und Theater nur vom Hörensagen kennt und wo der Arzt nur im alleräußersten Fall gerufen wird, einzige Kinder (wenn auch nicht so viele wie in den mittlern und obern Kreisen), und da merkt man von unmittelbarer Verwöhnung in der Regel nicht sehr viel. Ich selbst stamme, wie bereits angedeutet, aus solchen Kreisen und kann also aus Erfahrung reden. Die ganze Führung des elterlichen Haushaltes war in jeder Hinsicht so einfach, daß schlechterdings in keinem Punkte, weder im Essen noch in der Kleidung, noch bezüglich der Vergnügungen von einem Verwöhnt- werden die Rede sein konnte. Eiserne Sparsamkeit war und mußte die Losung meiner Eltern sein, und davon wurde auch mir zuliebe kein Haar breit abgewichen. Die Mahlzeiten waren von puritanischer Einfachheit. Mehlspeisen und Gemüse (Kartoffeln) bildeten die Haupt- bestandteile. Milch und Eier wurden höchst sparsam verwendet, da wir diese nicht selbst zogen. Fleisch gab es nur alle 8 oder 14 Tage und dann nie mehr als ein halbes Pfund (für 3 Personen!) Wurst, die ich leidenschaftlich gern aß, kam noch seltner ins Haus und dann mußte ich mich stets mit einem bescheidnen Wurstzipfel und der Wursthaut begnügen. Einen Kuchen gab es nur ausnahmsweise an hohen Festtagen. Andere Leckereien kamen überhaupt nie auf den Tisch. Geburtstage blieben völlig unberücksichtigt. Einmal erhielt ich an meinem Geburtstag eine Tracht Prügel, da ich heulte, weil es bei Tisch an diesem Tage etwas gab, das ich nicht mochte. Kondito- reien waren mir noch fremder als Apotheken. Geld für Guts aus- zugeben etwas ganz Unerhörtes! Als ich mit 14 Jahren in eine interne höhere Bildungsanstalt kam, war ich erstaunt über das feine und gute Essen, während die Mehrzahl meiner Kameraden darüber schimpfte. Noch weniger wurde ich in der. Kleiderfrage verwöhnt. Bei Neuanschaffungen gaben ausschließlich die Güte des Stoffs und die Preislage die Entscheidung. Zugeständnisse an die Mode oder an meine Wünsche wurden grundsätzlich nicht gemacht. Nach meinem Urteil hatten meine Nachbarskinder und Schulkameraden durchschnitt- lich stets »schönere« Sachen als ich. Und später auf der höhern Schule trug mir manches altväterliche Kleidungsstück den Hohn und Spott meiner Klassengenossen ein. So sah meine »Verwöhnung« in Bezug auf äußere Lebenshaltung aus, und ich glaube, daß mein Fall für die untern ländlichen Volksschichten ziemlich typisch ist. Nicht das Einzigsein, sondern die wirtschaftliche Lage der Eltern ist der in erster Linie entscheidende Faktor.

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Ebensowenig wurde ich dadurch verwöhnt, daß meine Eltern mir zu viel Beachtung und Interesse geschenkt hätten. Der Vater war den ganzen Tag im Geschäft, d. h., von Hause abwesend, und die Mutter hatte, da sie neben der Haushaltung noch eine kleine Acker- wirtschaft besorgte, nur wenig Zeit, sich um mich zu kümmern. Ich spielte, solange ich nicht selbst Hand mit anlegen konnte, viel eher die Rolle eines lästigen Hindernisses als die eines alle Aufmerksam- keit auf sich ziehenden Mittelpunkts. Unmittelbare Zärtlichkeitsbeweise (Liebkosungen u. dergl.) gab es überhaupt nicht. Das lag nicht in der Natur meiner einfach und nüchtern fühlenden Eltern. Soweit mein Bewußtsein zurückreicht, kann ich mich nicht erinnern, von Vater oder Mutter geküßt worden zu sein. Dagegen stehen Szenen, wo ich Prügel erhielt, sehr zahlreich in meinem Gedächtnis. Nament- lich vor dem Vater, einem heftigen, aufbrausenden, jähzornigen Mann, hatte ich höllischen Respekt. Also auch in dieser Hinsicht wurde- ich nicht verwöhnt. Allerdings war das weniger durch die soziale Lage als durch die seelisch-gemütliche Verfassung meiner Eltern be- dingt. Meines Erachtens gibt es unter den nichteinzigen Kindern prozentual ebensoviele verhätschelte Muttersöhnchen wie unter den einzigen. Mir ist ein Fall bekannt, wo eine Mutter ihre vier Söhne so total verzog, daß später nur mit Mühe und Not etwas Rechtes aus ihnen geworden ist. Und wie viele Väter sind so vernünftig wie jener zwei- bis dreifache Millionär, der seine acht Kinder nicht nach Maßgabe seines Vermögens, sondern nach Maßgabe der diesen später zu- fallenden Erbteile erziehen ließ? Ob Kinder verwöhnt oder einfach erzogen werden, scheint mir darum weniger von der Zahl der Ge- schwister als vielmehr vom Grad der Wohlhabenheit der Eltern und von deren erzieherischer Einsicht und Fähigkeit abzuhängen. Wenn aber zu diesen beiden Faktoren noch die Beschränkung der Kinder- zahl tritt, dann wird sich allerdings mit unfehlbarer Sicherheit das von Neter gezeichnete beklagenswerte Bild der Einzigenverwöhnung ergeben.

Viel rückhaltloser kann ich Neter zustimmen, wenn er behauptet, einzige Kinder seien vielfach wehleidige, um ihre Gesundheit ängst- lich besorgte, hypochondrische Naturen. Denn in dieser Hinsicht habe auch ich einen Knacks, trotz meiner puritanisch einfachen Er- ziehung. So wenig mich meine Eltern mit Zärtlichkeitsbeweisen ver- wöhnten, so übertrieben ängstlich waren sie stets um mein gesundheit- liches Ergehen besorgt. Nicht etwa in der Weise, daß sie mein leib- liches Befinden beständig überwacht oder mich auf Schritt und Tritt mit fürsorglichen Ermahnungen und Ratschlägen gegängelt hätten, wohl

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aber durch ihr allzu bereitwilliges und sofort mit dem Schlimmsten rechnendes Eingehen auf Klagen meinerseits. Sobald mir nur das ‘Geringste fehlte, wurde ich ins Bett gesteckt und mit Umschlägen, warmen Tüchern, Tränklein usw. behandelt. Hatte ich irgendwo Muskel-, Gelenk- oder andere Schmerzen, so trat sofort eine Batterie Fläschchen mit Einreibemitteln in Aktion. Jeder Schnitt in den Finger, jede Hautabschürfung, jede Beule wurde mit Arnikatinktur ‚ausgewaschen und umständlich verbunden. Auch Salben, Heftpflaster spielten eine große Rolle. Das war für mich zwar kein Vergnügen, allein die übertriebene Ängstlichkeit meiner Eltern steckte auch mich an. Ich gewöhnte mich daran, alle Unpäßlichkeiten und Unregel- mäßigkeiten im Befinden mit hypochondrischer Wichtigkeit zu be- ‚obachten. Hinter jedem leichten Unbehagen fürchtete ich den Beginn ‚einer schweren Erkrankung. Bei jedem Schnitt in den Finger stieg ‚die Furcht vor Blutvergiftung auf, bei jedem ernstlichen Falle quälte mich die Vorstellung von bösartigen Knochenverrenkungen, nach jedem leichtsinnigen Trunk wartete ich angstvoll auf das erste Anzeichen ‚der heraufbeschworenen Erkältung. Während die meisten meiner Kameraden körperliches Unwohlsein namentlich aber Verletzungen, die sie sich durch Übermut und Leichtsinn auf der Gasse zugezogen hatten, aus Furcht vor Bettbehandlung oder Strafe zu Hause zu ver- heimlichen suchten, trieb es mich im Gegenteil immer, mich den Eltern anzuvertrauen und wehleidig und ängstlich ihre beruhigende Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ferner bildete ich mir vielfach Krank- heiten ein, die mir aus der Unterhaltung Erwachsener bekannt wurden. Eine Warze im Gesicht gab mir einmal Anlaß zu der fixen Idee, das sei der Anfang einer Krebsgeschwulst. Ein andermal lief ich infolge starker Leibschmerzen mit der selbstquälerischen Vorstellung herum, ich "hätte Darmverschlingung und müßte unfehlbar daran sterben. Auf einem Spaziergang stillte ich meineg brennenden Durst aus einem etwas sumpfigen Wiesenbächlein. Da ich hinterher in diesem ver- dächtige Pflanzen entdeckte, überfiel mich die Angst, ich hätte ver- giftetes Wasser getrunken. Solche und ähnliche Erlebnisse könnte ich aus der Zeit vor meinem 14. Lebensjahr! eine ganze Reihe erzählen. Dieser hypochondrische Zug ist mir leider fürs ganze Leben geblieben und ich habe seine Krankhaftigkeit. erst sehr spät eingesehen. Zwar glaube ich nicht, daß ich von diesem Gemütsfehler verschont geblieben wäre, wenn ich Geschwister gehabt hätte. Schwarzseherei und Schwermütigkeit sind Erbübel in unserer Familie, namentlich in bezug auf das Kranksein, deshalb wäre ich meinem Schicksal kaum ganz entgangen. Hätten meine Eltern aber !/, Dutzend oder mehr

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Kinder gehabt, dann hätten sie sicher ein gut Teil ihrer übertriebenen Ängstlichkeit von selbst verlernt. Sie hätten dann nicht Zeit und Aufmerksamkeit gefunden, jedem einzelnen soviel Beachtung zu schenken wie mir, sie wären auf Grund ihrer Erfahrungen bei der wiederholten Kinderaufzucht zu der Erkenntnis gelangt, daß »Unkraut nicht verdirbt« und ich wäre eher daran gewöhnt worden, Unregel- mäßigkeiten im Befinden mit robuster Gleichgültigkeit hinzunehmen. In diesem Punkt muß ich Neter unbedingt recht geben.

Nicht einsehen kann ich aber, weshalb einzige Kinder sich durch Unselbständigkeit, Ungeschicklichkeit und unpraktisches Verhalten vor nichteinzigen auszeichnen sollen. Zunächst &laube ich, daß auch hier die Beanlagung die wichtigste Rolle 'spielt. Ob ein Kind geschickte oder ungeschickte Finger hat, das zeigt sich meist schon beim ersten Spielzeug, das man ihm in die Hände gibt. Noch deutlicher kommt der Grad des praktischen Sinnes zum Ausdruck, wenn die Kinder an- fangen, selbst ihre Spielbeschäftigungen zu wählen. Das eine wünscht sich mehr Dinge zum beschaulichen Betrachten, das andre zum ‘Hantieren und Basteln. Ebenso wissen die Mütter! zu erzählen, wie das eine Kind sehr früh aus eignem Antrieb anfing, sich die Strümpfe aus- und anzuziehen, und Kleider auf- und zuzuknöpfen, während andre diese Kunstgriffe sehr spät und nur auf Aufforderung ver- suchten. Auch daran ist zu erinnern, daß z. B. Jungen, die grund- sätzlich frühzeitig zu praktischer Beschäftigung angehalten wurden, doch zeitlebens unbeholfene Gesellen, lebensfremde Stubenhocker blieben, während umgekehrt andre trotz einer vorwiegend thecretischen Erziehung und trotz der Ausübung eines einseitig geistigen Berufes bei jeder sich bietenden Gelegenheit praktischen Sinn, rasche Ent- schlußfähigkeit und zielbewußte Tatkraft bekunden. Besonders lehr- reich in dieser Hinsicht erscheint mir das Verhalten eines jetzt’ die Quarta besuchenden Zwillingspaares aus einer sehr wohlhabenden Familie, dessen Entwicklung ich seit seiner Geburt zu verfolgen Ge- legenheit habe. Obwohl hier naturgemäß die äußern Erziehungs- bedingungen bis ins Kleinste dieselben waren, entwickelte sich zwischen den beiden Jungen doch sehr früh ein auffallender Gegensatz hin- sichtlich ihrer Neigungen: der eine ein leidenschaftlicher Hantierer mit Spielobjekten und Handwerkzeugen, der andre ein ebenso leidenschaft- licher Geschichtenhörer und Sinnierer; der eine eine (im guten wie im bösen) vorwärtsstrebende Anführernatur, der andre ein anschmiegender, lenksamer, gutmütiger Nachläufer; während sich der eine bis heute noch nicht ein einziges Buch gewünscht hat, verfügt der andre be- reits über eine kleine Bibliothek; während dem einen alle Schreib-

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arbeit verhaßt ist, fing der andre sehr früh an, Geschichten zu er- sinnen, Verse zu machen usw. Die Beanlagung scheint mir demnach für die Entwicklung der praktischen Befähigung doch eine ent- scheidendere Bedeutung zu haben als Neter annimmt.

Setzen wir aber einmal den Fall, der Grad der praktischen Ge- schicklichkeit hänge tatsächlich ebensosehr von der Gewöhnung und Erziehung wie von der Beanlagung ab, dann könnten dabei doch auch nur wieder die einzigen Kinder wohlhabender Eltern in,Frage kommen, die nicht nur von einer ängstlich besorgten und ausschließlich ihrem Kinde sich widmen könnenden Mutter, sondern auch von so und so viel-Dienstpersonal überwacht, geleitet, geführt und bedient werden. Bei den einzigen Kindern der untern und zum Teil auch der mittlern Volksschichten besteht in dieser Hinsicht kaum eine besondere Gefahr der Verwöhnung. Wenigstens bei mir hat die Erziehung zu prak- tischer Betätigung durch mein Alleinsein in keiner Weise Not ge- litten. Daß meine Mutter zur »Bedienung« ihres Einzigen nicht viel Zeit übrig hatte, wird mir der Leser nach dem' oben Angedeuteten ohne weiters glauben. Im Gegenteil, ich wurde sehr früh dazu an-” gehalten sei es durch direkte Aufforderung der Mutter, sei es, daß ich einfach mir selbst überlassen blieb —, mir beim Aufstehen, Waschen, Ankleiden, Knöpfeannähen, Hosenflicken usw. selbst zu helfen. Und sobald es ging, mußte ich auch im häuslichen Betriebe mithelfen. Ich entsinne mich noch recht gut, wie mich meine Mutter beim Bettenmachen, Reinkehren der Stube, Spülen des Eßgeschirrs, ja selbst im Kochen anwies und wie mir gewisse Geschäfte (Wasser- holen, Versorgen der Küche mit Brennholz, Schuhputzen usw.) zur selbständigen regelmäßigen Erledigung übertragen wurden. Als es .einmal wochenlang regnete und die Mutter keine Arbeit für mich hatte, mußte ich sogar das Stricken lernen. Von einer Vernachlässigung meiner Erziehung zu praktischer Betätigung kann also keine Rede sein. Ja ich glaube, daß ich, wenn ich mehrere namentlich ältere Geschwister gehabt hätte, viel mehr bedient und zur Mithilfe im Haushalt viel weniger herangezogen worden wäre. Denn dann hätten jene mich nicht nur betreuen, sondern auch einen großen Teil der häuslichen Arbeiten, die ich als Einziger allein zu tragen hatte, auf ihre Schultern nehmen müssen. Insofern war also mein Einzigsein geradezu die Ursache einer besonders intensiven Gewöhnung an prak- tisches Arbeiten.

Nun darf ich jedoch nicht verschweigen, daß ich bei manchen meiner Bekannten und Freunde im Ruf eines unpraktischen ‚Menschen stehe. Auf die Gefahr hin, damit einen Beweis für die eigenliebige

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Rechthaberei Einziger zu liefern, möchte ich hinter diese Beurteilung aber doch ein Fragezeichen setzen. Tatsache ist allerdings, daß ich mich nach meinem 14. Lebensjahr, als ernste Studienziele vor mir standen, und auch später nach Eintritt in meinen Beruf, wo ich es mit meinen unmittelbaren beruflichen Pflichten sowie mit meiner Weiterbildung sehr ernst nahm, zu regelmäßigen technischen Be- schäftigungen nicht mehr entschließen konnte. Nicht als ob ich keine Neigung dazu besessen hätte. Der Trieb zum Basteln, dem ich als Volksschuljunge zum großen Verdruß der Eltern in ausgedehntem Maße gefröhnt hatte, regte sich bei jeder Gelegenheit. Aber ich hatte das Gefühl, als sei das gegenüber meinen direkten und indirekten Berufsaufgaben eine törichte Zeitvergeudung und Kräftezersplitterung. Ein gediegenes Buch zu studieren, schien mir wichtiger und wert- voller,als allerhand »Kinkerlitzchen« zu verfertigen. Das war natür- lich eine einseitige Auffassung. Aber ich dachte und fühlte nun einmal so. Dies (und Sparsamkeit!) war auch der Grund, warum ich im Gegensatz zu vielen meiner Bekannten keinem der verschiednen Modehandfertigkeitssporte erlag, die in den beiden letzten Jahrzehnten einander ablösten (Modellkleberei, Holzschnitzerei, Brandmalerei, Photo- graphieren usw.) Dieses Nichttun ist jedenfalls die Ursache, die mir den Ruf des Nichtkönnens verschaffte. Heute, wo ich den Wert des theoretischen Wissens viel nüchterner beurteile als früher, gehe ich auch nicht mehr mit jenem dünkelhaften Hochmut Aufgaben des praktischen Alltags aus dem Wege. Und ich glaube, darin voll- kommen meinen Mann zu stellen. Dafür spricht wenigstens der Um- stand, daß ich in dem Haushaltungsbetrieb, dem ich jetzt eingegliedert bin, fast täglich als Helfer in allen Nöten, als Arzt für alle kranken Sachen in Anspruch genommen werde. Sollte .aber trotzdem meine Befähigung im praktischen Tun unternormal sein, so ist daran ganz sicher nicht die isolierte Erziehung im Elternhaus, sondern eine mehr aufs Theo- retische und Spekulative zielende Beanlagung schuld.

Ganz ähnlich verhält es sich meines Erachtens mit der angeb- lichen Unselbständigkeit einziger Kinder. Es mag sein, daß es einem großen Teil der einzigen Kinder an der wünschenswerten Selb- ständigkeit im Denken und Handeln fehlt, aber dann dürfte dies doch vielmehr eine Wirkung der Wohlhabenheit der Eltern sein, die eine der Bequemlichkeit der Kinder fröhnende und deren Schritte bis ins Kleinste regelnde und überwachende Erziehung gestattet, als eine Wirkung des Einzigseins an sich. Bei mir waren jedenfalls Er- ziehungseinflüsse, die meine Entwicklung zur Selbständigkeit nieder- gehalten hätten, völlig ausgeschlossen. Das Umgekehrte war der Fall.

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Ich glaube behaupten zu können, daß mein Alleinsein im Elternhaus gerade eine besonders wirksame Schulung zur Selbständigkeit war. Sobald meine Mutter das Haus verließ, war ich in meinem Tun und Lassen ganz auf mich selbst gestellt. Da waren keine Geschwister, die mir beim Ankleiden usw. halfen, die mich auf die Straße und den Spielplatz führten, mich dort unter ihre Fittiche nahmen und mir als Wegweiser und Vorbilder dienten. Den Weg zur Schule mußte ich vom zweiten Tag an allein machen. Bei der Erledigung der Schulaufgaben zu Hause konnte ich auf keine Unterstützung rechnen. Ich habe später oft die Beobachtung gemacht, daß sich Kinder in den Unterrichtsstunden bequem gehen ließen, weil sie wußten, daß ihnen ihre ältern Geschwister zu Hause bei den Schularbeiten auf Befehl der Mutter helfen würden. In mir dagegen entwickelte sich frühzeitig das Gefühl der Selbstverantwortlichkeit.

Namentlich auf einen Punkt möchte ich hinweisen. Wie oft kann man erleben, daß Geschwister, denen eine gemeinsame Arbeit aufgefragen ist, ihre Arbeitsanteile sich gegenseitig offen und ver- steckt, bewußt und unbewußt zuzuschieben suchen. Es begleitet sie bei ihrer Arbeit der Gedanke: Ich brauche ja nicht alles zu machen, die andern sind auch da! Und aus dieser Stimmung ent- wickelt sich sehr leicht die Neigung zu einem bequemen Sich - auf- andre-Verlassen, einer zaudernden Unentschlossenheit beim Anfassen neuer Aufgaben, ein instinktives Ausschauen nach fremder Hilfe und Unterstützung. Bei mir aber hieß es vom ersten selbständigen Schuh- anziehen bis zu den Hilfeleistungen in Stube, Scheune und Feld, vom Schreiben des i bis zum Abfassen des letzten Aufsatzes, vom Ver- wahren des alleinstehenden Hauses bis zur Abwicklung kleiner Gemüse- verkäufe: Hier tritt kein andrer für dich ein, auf dir selber stehst du da ganz allein! Aber ich mußte die Arbeiten nicht nur allein tun, ich mußte auch die Verantwortung allein tragen. Ich konnte nicht die Folgen meiner Nachlässigkeit oder Faulheit auf andre ab- . laden, wie es unter Geschwistern meist der Fall ist. So kam es, daß ich frühzeitig lernte, Pflichten mit entschlossener Energie anzufassen und für das Geleistete ohne Ausflüchte die Verantwortung zu über- nehmen. Es mag sein, daß die Keime zu diesen Eigenschaften von Geburt an in mir steckten (meine Mutter war eine resolut-entschlossene, energisch -zufassende, zäh ihre Ziele verfolgende Person), aber ihre Entfaltung wurde sicher durch meine Geschwisterlosigkeit begünstigt.

Das viele Alleinsein einziger Kinder, d.h. den Mangel an Ver- kehr mit gleichaltrigen Spielkameraden betrachtet N. als einen für die Entwicklung des Charakters besonders nachteiligen Umstand. Ich

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frage zunächst: Ist der Mangel an kameradschaftlichem Umgang tat- sächlich so durchgehend mit dem Einzigsein verknüpft, wie N. an- nimmt? Mir scheint, N. denkt auch hier wieder nur an die einzigen Kinder in den sogenannten bessern Kreisen, wo das freie Umher- laufen der Kinder auf der Gasse als etwas Unfeines, Unschickliches betrachtet wird, wo man davor zurückschreckt, den Liebling sich in einer »gewöhnlichen« und zufällig zusammengewürfelten Kinderschar- austummeln zu lassen und wo, wenn das Kind überhaupt mit andern zusammenkommt, dieser Verkehr peinlichst ausgewählt, überwacht und dirigiert wird. Kürzlich gestand mir ein neunjähriges »besseres« Mädchen zu meinem Erstaunen, daß ihm der Sonntag der langweiligste- Tag der Woche sei. »Aber da hast du doch keinen Unterricht?« »Gewiß, aber ich gehe gern in die Schule, weil ich da mit meinen Freundinnen zusammenkomme.« »Aber kannst du denn mit diesen Sonntags nicht erst recht vergnügt und lang spielen?« »Nein, denn diese wohnen in der ganzen Stadt zerstreut. Und mit unsern Nachbars- kindern darf ich nicht verkehren, das wünscht Mama nicht. Darum muß ich Sonntags immer zu Hause bleiben.e »Aber du hast doch noch zwei Brüder und ein Schwesterchen. Mit diesen kannst du doch auch spielen. Und außerdem steht euer Haus in einem ganz wundervollen Garten.« »Ja, aber das ist lange nicht so schön; ich spiele lieber mit Schulkameradinnen.«c Kann man angesichts eines solchen Geständnisses noch im Zweifel darüber sein, was der wahre Grund ist, wenn einzige Kinder in völliger Abgeschlossenheit auf-- wachsen müssen? In den mittlern und untern Volkskreisen wie überhaupt auf dem Lande dürfte eine solche unvernünftige Ab- sperrung kaum vorkommen. Ich wenigstens hatte, wie ich schon an- deutete, unter Mangel an kameradschaftlichem Verkehr nicht zu leiden. Erstens wurde ich auch wieder eine Folge der wirt- schaftlichen Lage meiner Eltern sehr früh in die »Verwahr- schule« (Kindergarten) geschickt, eine Einrichtung, zu deren Benutzung: man die untern Volksschichten gewöhnlich nicht extra zu ermuntern braucht. Als ich sodann die »rechte« Schule besuchte, vermittelte- mir diese einen unbegrenzten Anschluß an Kameraden und Spiel- genossen. Daneben stand ich bis zu meinem Abschied vom Eltern- haus mitten im Strom des zwischen Nachbarskindern üblichen Gassen- verkehrs. Das fröhliche Treiben in Hof und Garten, Feld und Wiese, das N. so anmutig schildert als ein den einzigen Kindern meist ver- schlossenes Paradies, war mir also keineswegs fremd.

Dagegen muß ich zugeben, daß ich bei schlechtem Wetter und in der kalten Jahreszeit, wenn die Witterung einen Aufenthalt im

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Freien nicht gestattete, namentlich aber in kranken Tagen die Ein- samkeit meiner Lage nicht nur oft recht schmerzlich empfand, son- dern in ihr auch vielfach in ungesundes, schwermütiges Grübeln und Sinnieren verfiel. Trotz allem Spielverkehr hatte ich doch noch viel zu viel Zeit, mich mit mir selbst zu beschäftigen und in hypo- chondrischer Weise mein leibliches und seelisches Befinden zu be- spiegeln. Namentlich das einsame Verrichten häuslicher und land- wirtschaftlicher Geschäfte, die wegen ihrer mechanischen Gleichförmig- keit nicht viel Überlegung erfordern, bot sehr bequeme Gelegenheit zu hypschondrischen Selbstquälereien. Hätte ich Geschwister gehabt, so wären mir diese in solchen Situationen sicher als lästige Störenfriede erschienen, aber sie hätten doch für eine kräftige Ablenkung der Ge- danken gesorgt und es wäre mir dadurch nicht nur der lähmende Druck, sondern auch das verborgen fortwirkende Gift mancher trüb- seligen Stunde erspart geblieben.

Andrerseits glaube ich aber, daß das Alleinsein im Elternhaus auch eine günstige Wirkung auf mich ausübte. Es erzog mich zu einer gewissen Konzentration und Produktivität. Weil ich allein war, wurde ich bei meinen Spielen nicht abgelenkt, beim Ausarbeiten der Schulaufgaben nicht gestört, es fehlte mir jede äußere Versuchung zu zeitvertrödelnden Allotria.. Als einzigem Kind standen mir nur wenige Spielzeuge zur Verfügung (nicht auch diejenigen von so und so viel andern Geschwistern), diese wenigen lernte ich aber um so genauer kennen und um so geschickter und mannigfaltiger gebrauchen und anwenden. Auch neue Spielzeuge erfand und schuf ich unter dem Druck des Alleinseins. Den Mangel an häuslichen Spielkameraden mußte mir meine Phantasietätigkeit ersetzen. Inmitten eines lärmenden Geschwisterkreises wäre mir eine solche gesammelte Selbstbeschäftigung nicht möglich gewesen. Ich möchte aber nicht falsch verstanden werden. Ich rede dem Alleinsein der Kinder durchaus nicht das Wort. Ich behaupte nur, daß es neben unbestreitbar nachteiligen Folgen auch günstige Wirkungen hat oder haben kann. Gewiß sind Leute, deren gesellige Fähigkeiten infolge einer isolierten Erziehung entweder unentwickelt blieben oder verkümmerten, zu beklagen; die Aufgabe, sich in ihre Nebenmenschen zu fügen, wird ihnen schwer fallen und viel Verdruß und Enttäuschungen verursachen. Umgekehrt sind aber auch die zu bedauern, die so sehr an Verkehr und Gesell- schaft gewöhnt sind, daß sie sich ohne diese tödlich langweilen. Ein- samkeit vertieft die Seele, führt aber leicht zu menschenscheuer Selbst- genugsamkeit. Geselliger Umgang weckt und übt die sozialen Tugenden, birgt aber auch die Gefahr seelischer Verflachung in sich.

(Schluß folgt.)

1. Deutsche Kulturarbeit an den Schwachsinnigen in der Tschechoslowakei. 97

B. Mitteilungen.

1. Deutsche Kulturarbeit an den Schwachsinnigen in der Tschechoslowakei.

In der tschecho-slowakischen Republik hat sich ein Verband »Deutsche Hilfsschule in der tschecho-slowakischer Republik« mit dem Sitz Reichen- berg gebildet. Er bezweckt: Weckung und Belebung des Interesses und Verständnisses für die Erziehung und Ausbildung schwachsinniger Kinder; Ausbau und größere Verbreitung der Hilfsschulen und Anstalten für schwachsinnige Kinder und Anstreben der ordnungsmäßigen Systemisierung der bestehenden und zu errichtenden Hilfsschullehrstellen; - Förderung der Heilpädagogik und ihrer Hilfswissenschaften; Fortbildung der der Schule entwachsenen Schwachsinnigen; ausreichender Rechtsschutz der Schwach- sinnigen im Militärwesen, Staats-, Gemeinde- und wirtschaftlichen Leben; Vertretung der gesamten Interessen und beruflichen’ Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte an Hilfsschulen und der Lehr- und Erziehungspersonen an Anstalten für Schwachsinnige.

Als Mittel zur Erreichung dieses Zweckes sollen dienen: Auf- klärungsarbeiten in Versammlungen und zweckdienlichen Veranstaltungen sowie zweckentsprechende Veröffentlichungen in der Presse; Jährliche Verbandstage; Verfassung von Eingaben und Denkschriften; Herausgabe geeigneter Lehr- und Lernmittel und pädagogisch wissenschaftlicher Werke; Anschluß an eine das Jugendwohl vertretende Zeitschrift, welche ständig einen Teil des Blattes den Verbandsinteressen zur Verfügung stellt; Er- haltung der Auskunftsstelle in Reichenberg, welche unentgeltlich Auskünfte in Schwachsinns- und Hilfsschulfragen an Einzelpersonen, Behörden usw. erteilt und Untersuchungen Schwachsinnverdächtiger und Schwachsinniger vornimmt.

Wie der Verband seine Aufgaben anfaßt, das bekundete eine Eingabe an das Ministerium für Schulwesen und Volkskultur in Prag über den »Ausbau des Hilfsschulwesens«:

>Der Verband »Deutsche Hilfsschule in der qkaqapalawakiaqhan Republik< erhebt folgende dringende, einem modernen Schulwesen ent- sprechende Forderungen:

Das Ministerium für Schulwesen und Volkskultur möchte dafür sorgen, daB das Hilfsschulwesen in der tschecho-slowakischen Republik dieselbe Höhe erreicht, wie in anderen Kulturländern, damit nicht Milliarden von Volksgut auf eine zum größten Teil ungerechtfertigte Armenpflege, für in Wirklichkeit schwachsinnigen Insassen von Besserungsanstalten, Arresten, Arbeits- und Züchthäusern verschwendet werden müssen.

In der tschecho-slowakischen Republik dürften schätzungsweise 120000 Schwachsinnige, davon in Böhmen allein über 25000 schwach- sinnige Schulkinder leben. Überwiegend davon gehört die große Zahl in Hilfsschulen, nur ein kleiner Teil (in Böhmen an 1500 Kinder)

Zeitschrift für Kinderforschung. 26. Jahrgang. 7

98 B. Mitteilungen.

in Anstalten. Das Beispiel anderer Länder zeigt, daß durch die Hilfs- schul- und Anstaltserrichtung rund 85°/, der Schwachsinnigen erwerbsfähig gemacht werden können, die ohne dieselben der Familie, der Gemeinde, dem Lande oder dem Staate 'zur Last fallen würden.

Deshalb ist die Erziehung und Ausbildung bildungsfähiger schwach- sinniger (schwachbefähigter) Schulkinder baldigst durch ein eigenes Hilfs- schulgesetz zu regeln. Dieses ist im Verein mit dem Ministerium für soziale Fürsorge durchzuberaten.

I. Dieses Hilfsschulgesetz muß enthalten:

1. Die Hilfsschulen sind selbständige öffentliche Schulen unter eigener fachmännischer’Leitung. Sie haben einen aus dem praktischen Hilfsschul- ‚dienste hervorgegangenen Hilfsschulinspektor und bei genügender Anzahl eine fachmännische Vertretung bei der in Frage kommenden Schulbehörde.

2. Der Aufwand für die Erhaltung und Errichtung der Hilfsschulen und ‚Hilfsklassen wird vom Staate getragen.

3. In Orten mit 500 Schulkindern muß wenigstens eine einklassige Hilfsschule, in größeren Orten, entsprechend der Schülerzahl, eine mehr- stufige Hilfsschule errichtet werden. Der Hilfsschulsprengel darf nicht bloß den Hilfsschulort, sondern muß auch die umliegenden Ortschaften umfassen. Die Schülerzahl für eine einklassige Hilfsschule darf nicht mehr als 10—12, für die zweite 12—15, für jede weitere Klasse 15—20 betragen. Trennung der Geschlechter ist nie zugunsten der Mehrstufigkeit einer Hilfsschule durchzuführen. A

4. Die Hilfsschule eines Sprengels ist für die bildungsfähigen schwach- sinnigen (schwachbefähigten) Kinder desselben Pflichtschule. Die Auf- nahmen der Schüler zum Besuche der Hilfsschule, eventueller Ausschluß oder eventuelle Rückversetzung, die Dauer des Hilfsschulbesuches, die Ent- lassung aus der Hilfsschule, die Form der Klassenbücher, Kataloge, Schul- nachrichten und Schülerbeschreibungen muß in moderner, den Formen der Heilpädagogik gemäßer Form für alle Hilfsschulen vereinheitlicht werden.

5. In kleineren Orten mit zu geringer Schülerzahl und zu großer Entfernung von einer Hilfsschule oder Hilfsklasse ist für einen fachmäßigen bezahlten Nachhilfsunterricht der schwachsinnigen Schüler zu sorgen. Das setzt wieder voraus, daß

6. schon in dem 3. u. 4. Jahrgange der Lehrerbildungsanstalt eine entsprechende Unterweisung in der Heilpädagogik erfolgt, welche zum Einzelunterrichte eines schwachsinnigen Kindes ausreicht und gleichzeitig den Grund zu einem späteren Studium der Hilfsschulwissenschaften legt.

7. Zur Ausbildung der Hilfsschullehrer müssen zweijährige staatliche Kurse errichtet werden, in denen Lehrer mit der Lehrbefähigungsprüfung, die ein besonderes Interesse am Hilfsschulfache haben, im ersten Jahre theoretisch, im zweiten Jahre praktisch auf die Hilfsschullehrerprüfung vorbereitet werden.

8. Die Lehrstellen an Hilfsschulen und Hilfsklassen müssen bis zur Übernahme durch den Staat ordnungsmäßig systemisiert werden. Die Hilfsschullehrerprüfung muß der Lehrbefähigungsprüfung für Bürgerschulen gleichgestellt werden und den Hilfsschullehrkräften und Hilfsschulleitern

2. Krüppel in eigner Sache! 99

müssen auf Grund ihres eingehenden Studiums, der weit über das Maß eines anderen Lehrers hinausgehenden heilpädagogisch - wissenschaftlichen Ausbildung und ihrer anstrengenden, nervenaufreibenden Tätigkeit die Bezüge und Rechte der Bürgerschullehrer und -Direktoren (Vorrückung, Hilfsschullehrer Hilfsschuldirektor) zuerkannt werden. j

9. Ebenso wie für die Lehrkräfte für Hilfsschuleinrichtungen eine eigene Befähigung verlangt werden muß, so müssen auch die Hilfsschul- ärzte über eine besondere psychiatrische Ausbildung verfügen.

10. Für die der Schule entwachsenen Hilfsschüler müssen in größeren Orten selbständige Hilfsfortbildungsschulen, in kleineren Orten Kurse zur Fortbildung ehemaliger Hilfsschüler errichtet werden. I

11. Ferner möge das Ministerium für Schulwesen und Volkskultur mit dem Ministerium für soziale Fürsorge die bestehenden und zu errichtenden Hilfsschulen und Hilfsklassen zu Tagesheimen ausbauen und ebensolche Bestrebungen privater Natur ausreichend unterstützen.

12. Das Ministerium für Schulwesen und Volkskultur möge mit dem Ministerium für soziale Fürsorge an Hilfsschulen und Hilfsklassen Auskunfts-, Beratungs- und Berufsvermittlungsstellen für schulmündige Schwachsinnige errichten.

IL Das Ministerium für Schulwesen und Volkskultur möge im Verein mit dem Ministerium für soziale Fürsorge Schritte zu einer regelmäßigen Zählung aller Schwachsinnsgrade einleiten, durch welche nicht nur die Zahl der Schwachsinnigen, sondern auch die jeweiligen (wenigstens mut- maßlichen) Ursachen, sowie allenfalls auch Mittel und Wege zur Verhütung des Schwachsinns gegeben würden.«e

Wir wünschen unsern deutschen Brüdern den besten Erfolg. »Deutsch- land in der Welt voran« mögen unbere gemeinsamen Kulturziele überall bleiben, wo nur die »deutsche Zunge klingt«e. Dann wird einmal auch wieder das Morgenrot einer besseren Zeit in national-politischer und wirt- schaftlicher Hinsicht innerhalb dər Reichegrenzen anbrechen.

2. Krüppel in eigner Sache! Von Hans Förster, Zehlendorf.

Im 4. Beiheft zu dieser Zeitschrift,!) erschienen 1901, sagt Prof. Dr. A. Hoffa am Schluß seiner wertvollen Ausführungen über »Die medizinisch-pädagogische Behandlung gelähmter Kinder« wörtlich:

»Arzt sowohl wie Erzieher haben jeder noch ein großes Arbeits- feld vor sich, das der Erledigung harrt. Indessen, der Ausblick in die Zukunft ist ein tröstlicher, seit sich so allgemein die Erkenntnis Bahn gebrochen hat, daß nur von einmütigem Zusammenarbeiten von Päd- agogen und Ärzten die größten Erfolge zu erwarten sind.«

1) Beiträge zur Kinderforschung, Heft 4. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann). 7*

100 B. Mitteilungen.

Nicht alle Krüppelheimfachärzte können heute schon Hand in Hand mit einer gutgeleiteten und gutausgestatteten Krüppelschule arbeiten und nicht alle tüchtigen Krüppelheimpädagogen Hand in Hand mit einer vor- bildlich ausgebauten ärztlichen Abteilung. Wenn man, wie Schreiber dieser Zeilen, sich innerhalb einiger Jahre anderthalb Dutzend Heime für Krüppelhafte ansehen konnte, findet man überall bastätigt, daß noch alles im Suchen und Werden ist. Dicht neben Unvollkommenem findet sich überall wenigstens ein wertvoller Arbeitsausschnitt, der in seiner Art vorzügliche Erfolge zeitig. Aber wo Heimschule und Klinik ver- ständnisvoll beide die Mittel (es handelt sich hier nicht zuletzt um Geld- mittel) bereitgestellt finden, da fühlen beide um so schmerzlicher, an wie- viel anderen Stellen alles das erst noch erkämpft werden muß, besonders von Pädagogen.

Weshalb das so ist, findet seine Erklärung u. a. im Heft 6 der »Bei- trägee: Dr. med. Hermann Krukenberg: »Über Anstaltsfürsorge für Krüppel.« »Vom Schönen fühlt der Mensch sich angezogen, das Häß- liche aber stößt er ab« beginnt Krukenberg seine Ausführungen. Er hält sich nicht wie Hoffa an die Wissenschaft, sondern berichtet die aus ver- schiedenen Quellen stammenden Tatsachen über Krüppeltum und die Ur- form der Krüppelanstaltsfürsorge. Er beschäftigt sich eine ganze Weile mit den Idioten, und geht dann auf »die Krüppel im engeren Sinne« ein, welche den Helfer vor dankbarere und einfachere Aufgaben stellten. So sehr steckt er in den Anschauungen der ersten Krüppelhilfe, daß er gar nicht merkt, wie falsch das Bild vom Krüppel ist, welches er zeich- net und welches leider, leider, dank des halb fürsorgerlichen, halb wirt- schaftlichen Einschlags der deutschen Krüppelanstaltsfürsorge auch heute noch in weiten und maßgebenden Kreisen für richtig gehalten wird.

Wohl gemerkt, wir haben es hier nicht mit Unfallkrüppeln und nicht mit Kriegsbeschädigten zu tun, sondern mit dem jugendlichen Krüppeltum, angeboren oder durch Krankheit in früher Jugend erworben. Hoffas Schüler Prof Dr. Biesalski entnahm 1906 aus der Reichsstatistik, daß sich in Deutschland damals rund »200 000 Krüppel der ärmeren Bevölkerung befanden, davon die Hälfte etwa unter 15 Jahren«e. Die Rechnung würde heute anders ausfallen für dasselbe Flächengebiet. Die Zahl wäre größer. Aber nehmen wir einmal 200000 an, und zählen 50000 Krüppel der wohlhabenderen Schichten dazu, so haben wir eine Viertelmillion Hilf- linge, die noch niemals als ein Ganzes in die Erscheinung treten konnten. Die Fürsorger hatten eine Scheidewand aufgerichtet durch den Begriff vom »bilfsbedürftigen Krüppel«, der für die behördliche Armenversorgung nötig ist. Auch das fortschrittliche preußische Krüppelfürsorgegesetz, vom 6. Mai 1920, in Kraft seit 1. Okt. ds. Jahres, kennt nur diese Begriffs- bestimmung, nach der ein Beinloser oder Armloser, wenn er reichliche Geldmittel zur privaten Entkrüppelung hat, für die Fürsorge gar nicht als Krüppel in Frage kommt. Diese Scheidung ist auf alle Fälle ein Unglück!

Auf dem Boden aller dieser Tatsachen stehend, wurde am 10. März 1919 in Zehlendorf bei Berlin auf Anregung einiger sehr schwer Krüppel- hafter von Krüppeln und Gesunden der »Bund zur Förderung der Selbst-

2. Krüppel in eigner Sache! 101

hilfe der körperlich Behinderten« gegründet, nach dem Namen eines seiner Anreger der Kürze hatber zubenannt: »Otto Perl-Bund«; Geschäfts- stelle Zehlendorf-Mitte bei Berlin, Berlinerstraße 21 bei dem Verfasser dieses Aufsatzes, der selbst seit seinem 6. Lebensjahre Krüppel ist. Der Bund ist eine Arbeitsgemeinschaft Krüppelhafter und Gesunder, sein Tätigkeitsgebiet örtlich unbegrenzt, frei von parteipolitischen oder kon- fessionellen Tendenzen. Satzungen und anderes Werbematerials und jede Art Auskunft durch die Geschäftsstelle und die Mit- arbeiter.

Der derzeitige 1. Vorsitzende, 1. Schriftführerin, 1. Schatzmeister sind Pädagogen, auch ihre Vertreter sind pädagogisch auf Spezialgebieten tätig gewesen oder noch tätig. Der 2. Vorsitzende, 1. Schriftführerin, 2. Schrift- führer, 2. Schatzmeisterin sind körperlich sehr schwer behindert, d. h. Krüppel. Erweiterter Vorstand und die Arbeitsausschüsse setzen sich zu- sammen aus Krüppeln, Fachärzten für orthopädische Chirurgie, Päda- gogen, Volkswirten, Sozialbeamtinnen, sowie Angehörigen von Handwerk, Handel und Industrie, und zwar Leuten jeder politischen Schattierung. Wir können natürlich bei’unserer Arbeit nur idealgläubige Tatmenschen brauchen, keine rentenverärgerten Krüppel, keine Schwarzseher, keine Partei- fanatiker und keinen, der sich gewöhnt hat, die Krüppel als »bemitleidens- werte und bleibender Bevormundung bedürftige arme« Hascher anzusehen und zu behandeln. Solche Mitmenschen halten wir uns vom Leibe. Obenan stehen uns die Leidens- und Lebenserfahrungen der Schicksals- gefährten aller Stände, weil nur ein gedanklicher Austausch unter ihnen das Bild vom Krüppel so wiedergeben kann, wie es wirklich ist. Es ist viel erfreulicher, wie die Fürsorge, und noch weit erfreulicher, als der Laie glauben will. Und wir haben die Hoffnung, daß es uns gelingen könnte, über den Rahmen unserer Krüppelselbsthilfe hinaus durch unsere Arbeit auch allgemein am Wiederaufbau mitzuwirken. Vieles, was Millionen Gesunder erst im letzten Jahrfünft gelernt haben, haben Tausende von uns einsam und unbeachtet lernen müssen, an Entsagung, Vertiefung und: Überwindung von innen heraus. Wir haben oft den Eindruck, als sei die Nation zum Krüppel geschlagen. Wird sie sich pflegen lassen, wird sie eine Masse von Unzufriedenen, revoltieren oder stumpf werden? Oder wird sie zur Selbsthilfe erstarken und sich auf die Pflicht des eigenen Wiederaufbaues besinnen: »Einer für alle, alle für einen.e?

Wer es kann, der lese noch einmal die beiden Beihefte 4,und 6, schalte in Hoffas Worte die Krüppelmitarbeit ein und die eigene, wenn möglich. Das kann auch in Form eines Jahresbeitrages geschehen oder durch einmaligen Beitrag (Postscheckkonto Berlin NW. 7, Nr. 63240), denn Aufklärung und Hilfeleistung kosten heute viel Geld. Aber vor allem möchten die Erzieher sich bereitfinden, zu helfen, zwischen Krüppeln und Gesunden und den Krüppeln aller Stände ein gesundes Verhältnis her- zustellen, damit unsere Arbeit von Segen ist für lange Jahrzehnte, damit wir die Krüppel an die Arbeit bringen, jeden nach seinen Fähigkeiten und Kräften, denn ohne nutzbringende, redliche Tätigkeit verkrüppelt seine Seele.

102 C. Literatur.

C. Literatur.

Literatur zur Kriminalität der Jugendlichen. A. Zahlen und Ursachen.

Die Entwicklung der Kriegskriminalität der Jugendlichen. Von Dr. Hellwig. Deutsche Jugendgerichtsarbeit, II. Jhrg., Nr. 6.

Verfasser stellt die bis jetzt erkennbaren allgemeinen Grundzüge der Jugend- kriminalität zusammen und wendet sich dann den Jugendschutzbestimmungen zu und ihrer Verwendung für die Friedenszeit.

Tätigkeit der Berliner Jugendgerichtshilfe. Von Ruth v. der Leyen. Jugendfürsorge XII, Nr. 4 und »Deutsche Jugendgerichtsarbeit.«

Die Verfasserin berichtet über die Jahre 1914—18 bez. 1916, bringt Zahlen, die eine rund vierfache Steigerung der Aburteilungen erkennen lassen, unterrichtet über die Beteiligung der Geschlechter, über die Schwere der Strafen und betont die Forderungen, die vom erziehlichen Standpunkt aus für die Behandlung jugend- licher Straffälliger geltend gemacht werden müssen.

Zur Statistik der Jugendgerichtshilfen. Berliner JGH.-Arbeit im 1. Halb- jahr 1918. Von Ruth v. der Leyen. Jugendfürsorge XIII, Nr. 11 (Beilage -»Deutsche Jug.-Gerichts-Arbeite«).

Die Ergebnisse des 1. Halbjahres 1918 werden mit denen von 1917 ver- glichen; das Ganze will die einheitliche Führung einer Statistik über die deutsche Jugendgerichtstätigkeit fördern und enthält darum auch allgemeine Richtlinien. Umfrage (der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge) über die Tätigkeit der

deutschen Jugendgerichtshilfen. Von Dr. Käthe Mende. Die Jugend- fürsorge XU, Nr. 4.

Neben statistischem Material werden auch die in den verschiedensten Gegenden Deutschlands beobachteten Ursachen der Kriminalität mitgeteilt.

Eine Betrachtung zugunsten der straffälligen Jugend. Von Staatsanwalt Dr. Nagel. Deutsche Strafrechtszeitung V, (1918), Heft 9/10.

Die große Mehrzahl der deutschen Jugend sei nicht sittlich verderbt. Die hohen Kriminalitätsziffern würden weniger Schrecken einflößen, wenn sie auch Aus- kunft über die Art der Straftaten geben könnten, vor allem über die große Zahl von Felddiebstählen, Entwendung von Mundvorrat, verbotenem Rauchen usw. Jedenfalls sei die Jugend weniger verwahrlost als die Erwachsenen mit ihrem Kriegswucher, Schleichhandel und sonstigem Eigennutz.

Die Jugendstraffälligkeit in Bayern im Frieden und im Kriege. Von Landgerichtsrat Rupprecht. Deutsche Strafrechtszeitung III, (1916), H. 3/4.

Ein lehrreicher Vergleich der Statistiken der drei großen Städte München, Nürn- berg und Augsburg, dessen praktisches Ergebnis die Erkenntnis ist, daß es sich bei der Kriegssteigerung vorwiegend um Mängel in Aufsicht, Zucht und Leitung handelt. Kriegskriminalität der Jugendlichen in Bayern. Von Landgerichtsrat

Rupprecht. Zentralblatt f. Vorm.-Wesen VIII, (1916), 15/16.

Die Kriminalitätsverhältnisse von München, Nürnberg, Augsburg, Ludwigs- hafen und Würzburg werden erörtert. Da die Eigenart des wirtschaftlichen und volklichen Aufbaues dieser Orte untereinander sehr abweichend ist, bieten sich günstige Vergleichsmöglichkeiten. Im allgemeinen zeigen sich aber überall die gleichen Wirkungen des Krieges.

EL RE EEE TE nn =

C. Literatur. 103

Die Kriminalität der Jugendlichen in Stuttgart während des Krieges. Zentralblatt f. Vorm.»Wesen VIII, (1916), 2.

Kurze Mitteilungen der Stuttgarter Jugendgerichtshilfe, die dadurch wertvoll sind, daß sie sich mit sämtlichen Gesetzesübertietungen Jugendlicher befassen. Die Zahlen reichen zwar nur bis Ende 1915, bestätigen aber die anderwärts gemachten Beobachtungen: die ungünstige Wirkung der Länge des Krieges, die Hauptsteigerung der Eigentumsvergehen, das spätere Zunehmen der 16—18jährigen.

Einfluß des Krieges auf die Kriminalität der Jugendlichen. Mitteil. d. Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge. 1. Dez. 1915.

Ergebnisse einer von der Zentrale veranstalteten Umfrage in den größeren Städten Deutschlands; das Material reicht bis Mitte 1915.

Ansteigen der Kriminalität Jugendlicher in Wien, Zeitschrift f. Kinder- schutz u. Jugendfürsorge (Wien) VIII, Nr. 4.

Die Darstellung umfaßt die Zeit bis Ende 1915 und läßt erkennen, daß die sittliche Not der Jugendlichen auch in unserm Nachbarstaat groß ist.

Der Krieg und die Kriminalität der Jugendlichen. Von Dr. A. Hellwig. Halle a. S., Buchhandlung des Waisenhauses, Preis 6 M.

Das Buch ist die bisher umfangreichste Sammlung alles Materials, das sich auf die Kriminalität der Jugendlichen bezieht, sowohl statistisch als auch fürsorge- risch. Es umfaßt die Zeit bis Anfang 1916 und behandelt: I. Die Erscheinungs- formen der Jug.-Krim. während des Krieges. II. Die Ursachen der Kriegskrimi- nalität. III. Maßnahmen gegen die Jug.-Krim. IV. Vermutliche Entwicklung der Kriminalität nach dem Kriege.

Die ethisch minderwertigen Jugendlichen und der Krieg. Von K. Wittig. Heft 1 (70 S.) der Neudrucke zur Psychologie. Bd. 3: Der Krieg und die komplementäre Kulturpsychologie. Herausgeg. von Dr. Giese. Langen- salza, Wendt & Klauwell, 1918.

Jugendliche Sträflinge kommen selbst zum Wort und schildern die Wirkungen des Krieges auf ihre Seele. Eine kurze Einführung des Bearbeiters stellt die Nieder- schriften zu Gruppen zusammen und weist auf ihr charakteristisches Gepräge hin. Dies und jeder Niederschrift vorangestellte Materialien über Alter, Erziehung, Vor- leben und Eigenart des Schreibens werden dem Forscher das Lesen zwischen den Zeilen erleichtern. ` Der Einfluß des Krieges auf die Kriminalität der Jugendlichen und

auf jugendliche Sträflinge. Mit einem Überblick über den Stand der Kriminalität der Jugendlichen bis zum Jahre 1914. Von K. Wittig. Heft 129 der Beiträge zur Kinderforschung und Heilerziehung. Herausgeg. von J. Trüper. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann). Preis 60 Pf.

Den Hauptinhalt des Heftchens bilden Beobachtungen des Lehrers an der Strafanstalt darüber, wie der Krieg einerseits soviele Jugendliche ins Gefängnis führt (gesteigerte Kriminalität), wie er aber anderseits unter der Hand des Erziehers zum Heilmittel für viele Sträflinge wird; von bespnderem Werte ist, daß diese Be- obachtungen durch Äußerungen der Jugendlichen selbst bestätigt werden. Die Be- obachtungen erstrecken sich aber nur auf den Anfang des Krieges. »Gefährdete Kriegerkinder.« Von Dir. A. Pietzsch, Dresden. Sächs. Schul-

zeitung 1917, Nr. 26.

Ein Blick auf die schädigenden Wirkungen des Krieges auf die Jugend; be- sonders wertvoll ist die Aufstellung der durch den Erzieher und Menschenfreund möglichen Maßnahmen der Hilfe,

104 C. Literatur.

Die Kriminalität der Jugendlichen in Dresden unter dem Einfluß des Krieges. Von Dr. A. Hellwig. Annalen des Deutschen Reichs für Gesetz- gebung, Verwaltung und Volkswirtschaft 1916, Nr. 7, 8, 9.

Verfasser entwirft auf Grund von Berichten der Polizeireviere ein Gesamtbild der Jug.-Kriminalität in den ersten drei Kriegsjahren in einer Großstadt und geht dem ‚ursächlichen Einfluß der Kriegszeit nach. Er stellt fest, daß die Wirkung des Krieges auf die Kriminalität der Jugendlichen im allgemeinen eine ungünstige sei, hofft aber auf eine nur vorübergehende Schädigung, da viele der Ursachen mit dem Ende des Krieges verschwinden würden.

Die Kriminalität der Jugendlichen. Kritischer Literaturbericht von Dr. A. Hellwig. »Soziale Kultur« 1916, Aug./Sept.

Der Bericht bringt Auszüge aus bemerkenswerten Aufsätzen über die Jug.- Kriminalität mit wertvollen Urteilen des Kritikers. Er berücksichtigt kein Zahlen- material, bespricht dafür aber ausführlich alle die mit der Kriminalität in ursäch- lichem Zusammenhange stehenden Sachgebiete, wie Kinderpsychologie, Erziehungs- und Schulreferm, Schund in Kunst‘ und Literatur, Alkoholfrage u. a.

Die Wirkung des Krieges duf die Jugendlichen. Von Dr. W. Bloch. Zentralblatt für Vormundschaftswesen VII, (1915), 4.

Verfasser schildert auf Grund seiner eigenen Erfahrungen u. a. die bekannten üblen Folgen des Krieges auf die Jugendlichen, möchte aber der Jugend Gerechtig- keit widerfahren lassen und weist darum auch auf das Gute hin, das der Krieg ge- schaffen hat. Das war bis Anfang 1915 bis dahin gelten die Ausführungen noch leicht möglich.

Zur gegenwärtigen Strafbarkeitssteigerung bei der Jugend. Von M. Brethfeld. Sächs. Schulzeitung 1917, Nr. 30.

Die durch die wirtschaftliche Not verminderte sittliche Widerstandsfähigkeit

und die Verwirrung des Rechts- und Pflichtbewußtseins werden als tief wirkende Ursachen der steigenden Kriminalität dargestellt.

Die Prostitution jugendlicher Mädchen in München im Kriegsjahr 1915. Von Landgerichtsrat Rupprecht. Zentralblatt für Vormundschaftswesen VIII, (1916), 3/4. ç

Der Krieg habe wenigstens soweit die Ergebnisse der Tätigkeit des

Münchner Jugendgerichts in Frage kämen hinsichtlich der Prostitution

einen nachweisbaren sittlichen Niedergang der jugendlichen weibl. Bevölkerung

nicht zur Folge gehabt. Insonderheit sei kein ursächlicher Zusammenhang zwischen

Unzucht und Kriegsnot zu erkennen (1915!) was z. B. aus der Tatsache erhellt,

daß Dienstmädchen und Ladenangestellte die Hauptmasse der Dirnen bilden.

»Unsere Jugend im Kriege« Von Geh. Justizrat Prof. Dr. Schumacher. Sonntagsbeilage der »Köln. Zeitung« vom 14. April 1918. Verfasser bekennt sich trotz der, gegenwärtigen Zunahme der Verwahrlösung zu einem frohen Glauben an die Zukunft unsrer Jugend und unsres Volkes.

Kriegserfahrungen im Strafvollzug. Von Dir. Ellger i. Wittlich. 89. Jahres- bericht der Rheinisch- Westfälischen Gefängnisgesellschaft. Selbstverlag der Ge- sellschaft.

Neben den Wirkungen des Krieges auf die Ausgestaltung des Strafvollzugs

im Jugendgefängnis zu Wittlich wird der Einfluß auf die Beschaffenheit des Ge-

fangenenpersonals besprochen, nach der günstigen und ungünstigen Seite hin.

C. Literatur. 105

Die Jugendlichen und der Krieg. Von Geh. Justizrat Dr. Köhne. Deutsche Strafrechtszeitung, III. Jahrg., (1916), H. 1/2.

Aus der Betrachtung der neuen Typen der Straffälligen gelangt Verfasser zur Überzeugung, daß das Wesen unsrer Jugendlichen sich nicht erheblich verändert oder gar verschlechtert hat, sondern daß die äußeren schädlichen Einflüsse im Kriege nur größer geworden sind. Der Steigerung der Kriminalität sei nicht durch Schaffung neuer Deliktsformen und nicht durch die Polizei zu begegnen, sondern nur durch intensive Erziehungsarbeit.

Die zunehmende Verwahrlosung der Jugend. Von Landgerichtsdirektor Minde. Deutsche Strafrechtszeitung II, (1915), H. 11/12.

In knapper Form bietet der Verfasser eine Übersicht über Tatsache, Gründe der Verwahrlosung und Mittel zur Besserung, als deren wirksamstes er Verord- nungen der kommandierenden Generäle ansieht; er stellt einen Verordnungsentwurf auf (1915), der ja später in vielfachen Formen zur Tat geworden ist.

Zur Kriminalität der Jugendlichen im 4. Kriegsjahr. Von Dr. Noppel. ` Deutsche Jugendgerichtsarbeit, II. Jhrg., Nr. 1.

Eine knappe Skizzierung der Belastungsprobe, der unsere Jugendlichen in der Kriegszeit ausgesetzt sind. Auf statistische Angaben ist verzichtet.

Der Krieg und die Kriminalität der Jugendlichen. Von Prof. Dr. Liszt. Zeitschr. f. die gesamte Strafrechtswissenschaft, XXXVII. Bd., (1916), S. 496.

Verfasser stellt die gesteigerte Zahl der Straffälligen fest, verzichtet aber vor- erst auf die Beantwortung der Frage nach der gesteigerten Kriminalität und spricht dafür nur von der Zunahme der Verwahrlosung unter den Jugendlichen. Nach kurzer Darstellung der Verwahrlosungs-Ursachen behandelt er dann die Frage, ob und wieweit Strafdrohungen notwendig und zweckmäßig sind, um der drohenden Gefahr einer Zunahme der Kriminalität der Jugendlichen zu ions: Diese Aus- führungen dienen hauptsächlich juristischen Interessen.

Krieg als Ursache und als Heilung von Verwahrlosung. Von Landsberg. Zentralblatt f. Vormundschaftswesen VI, (1914), Nr. 13/14.

Landsberg sieht in der Hauptsache günstige Wirkungen des Krieges und konnte sie Oktober 1914 sehen. Heute würde auch er seine Sätze nicht mehr auf- recht erhalten können, daß die materiellen Ursachen der Verwahrlosung vermehrt, die sittlichen vermindert seien, daß von Kriminalität Jugendlicher in seinem Bezirk

überhaupt nichts mehr gemeldet worden sei usw. Evangelische Fürsorgeerziehungskonferenz. Rheinisches Fürsorge- Erz.-

Blatt XV, (1917), Nr. 2. Die Fürsorgeerziehung im Jahre 1916 (in Preußen). Rhein. Fürs. -Erz.- Blatt XV, (1917), Nr. 6. Die Kriegsverwahrlosung nach den Überweisungsakten schulent- ‚lassener Burschen. „Rhein. Fürs.-Erz.-Blatt XV, (1917), Nr. 6 Der Krieg und die Fürsorgeerziehung. Rhein. Fürs.-Erz.-Blatt XV, (1917), Nr. 4.

»Die Verwahrlosten von heute sind die Verbrecher von morgen und die Un- verbesserlichen von übermorgen« (Liszt). Die angeführten Aufsätze aus dem Ge- biete der Fürsorge-Erziehung haben darum auch Wert für das Thema der Kriminalität. Krieg und Jugendverwahrlosung in Österreich. Von Amtsrichter Dr. A.

Hellwig. Zeitschr. f. Kinderforschung. 24. Jhrg., (1919), H. 9/10. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

106 C. Literatur.

Verfasser gibt einen Überblick über den Inhalt der Arbeit »Krieg und Jugend- verwahrlosung« des Österreichers Golias und findet bestätigt, daß das Problem der Kriegskriminalität Jugendlicher bei allen am Weltkrieg beteiligten Staaten annähernd gleichartig aufgetreten ist.

Über Nahrungsmittelschwindel von Fürsorgezöglingen als Kriegsfolge. Von Prof. Dr. A. Gregor. Bericht des Fürsorgeverbandes Leipzig 1918.

An 12 Fällen zeigt Verfasser das Zusammenwirken von inneren und äußeren Ursachen und die psychische Artung der Täter. Durchgehend handelt es sich um Individuen von endogen bedingter Abartung, die vorwiegend eine psychopathische Konstitution mit moralischer Schwäche oder Minderwertigkeit aufweisen.

»Die Jugend von heute.« Von Dir. J. Trüper. Zeitschr. f. Kinderforschung. Jhrg. 24, (1919), H, 11/12. Langensalza, Herm. Beyer & Söhne (Beyer & Mann). Trüper warnt vor der radikalen Jugendbewegung, die,er mit Recht als be- denklichste Entartung bezeichnet, deren Umsichgreifen die größten völkischen Ge- fahren mit sich bringe. Der mitgeteilte Aufruf des »Zentraljugendrates für ent- schiedene Jugendbewegung« beweist die Dringlichkeit von Gegenmaßnahmen.

»Der Einfluß des Krieges auf die Kriminalität und unsere Seelsorge an den Strafgefangenen.« Von P. Vogel. Vortrag, gehalten 1916. Blätter für Gefängniskunde, 1918, Bd. 52.

Ein Blick auf frühere Kriegszeiten zeigt, daß im Krieg immer die Kriminalität nach anfänglichem Sinken sich erhöhte und daß die Folgen um so übler zu spüren waren, je länger der Krieg dauerte. Der gegenwärtige Krieg bestätigt diese Er- fahrungen im wesentlichen. Der Verfasser belegt das u. a. mit seinen Beobachtungen als Anstaltsgeistlicher und gibt dann einen Ausblick auf die nach dem Krieg zu er- wartenden Schwierigkeiten (durch Arbeitslosigkeit, Nerven-, Geschlechtskrankheiten, Kriegsmoral u. a.) und die Notwendigkeit treuester Seelsorge.

Kommunistische Schuljugend. Ztschr. f. Kinderf., Jhrg. 25, (1920), H. 5/6. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

Der Herausgeber bringt Proben aus den zwei neuen Zeitschriften der kom- munistischen Jugend, die erschreckend deutlich zeigen, welches Gift vom »Zentralrat der entschiedenen Jugend« ins Volk gespritzt wird.

»Der Einfluß der Revolution auf die Fürsorgeerziehung.« Von P. Back- hausen. »Innere Missione 1920.

Die Sorgen und Pflichten werden besprochen, die den Anstalten erwuchsen durch heimkehrende Väter, die die Entlassung ihrer Kinder verlangten; durch Ver- ordnungen, die die Teilnahme der Zöglinge an religiösen Handlungen freistellte ; durch die Notwendigkeit, gerade in dieser schwankenden Zeit die Jugend zu sitt- lichem Handeln zu führen; u.a.

»Aus Strafanstalten.« Blätter für Gefängniskunde 1917, Bd. 51.

Aus Jahresberichten verschiedener Strafanstalten werden allerlei Zahlen und Erfahrungen über die Kriminalität mitgeteilt, die auch immer Rücksicht auf die Jugendlichen nehmen.

Die Einwirkung des Krieges auf die Kriminalität. Von Dr. Kohlrausch. Zeitschr. f. d. gesamte Strafrechtswiss., Bd. 41, (1920), H. 12.

Verfasser meint, daß die kriminelle Signatur der Zeit nach dem Kriege weniger durch gesteigerte Brutalität und geminderte Achtung vor fremdem Leben und Eigentum bestimmt werde, als vielmehr durch die politischen und wirtschaftlichen Begleit- und Folgeerscheinungen des Krieges, die zu einer Abschwächung der moti-

C. Literatur. 107

vierenden Kraft des Strafgesetzes führten und damit die bürgerliche Moral ins Wanken brachten. Belebung des sozialen Gewissens kann darum auch nur zur Besserung führen.

Hilfsmittel gegen die Kriminalität. Die Verordnungen der Militär- und Zivilbehörden gegen die drohende Verwahrlosung der Jugend. Zentralblatt f. Vorm.-Wesen VII, (1915), 24.

Das Ergebnis einer Rundfrage der Zentralstelle des Deutschen Städtetages über die Aufenthaltsbeschränkungen für Jugendliche auf öffentlichen Straßen und Plätzen der Städte und systematische Übersichten über die von den stellvertretenden Generalkommandos unter Strafe gestellten Tatbestände werden mitgeteilt.

Die richterliche Verwarnung Jugendlicher. Von Amtsrichter Dr. Philipp. ` Zentralblatt für Vorm.-Wesen. VII, (1915), 24.

Es läge ein Armiftszeugnis für die Strafrechtspflege darin, auf ein an sich wirkungsvolles Strafmittel, wie der Verweis es ist, zu verzichten, weil die Voll- streckung versagt. Die Erfahrung lehrt aber, daß die Verweiserteilung wirkungs- voll gehandhabt werden kann. Verfasser macht dazu Vorschläge.

Der Sparzwang für Jugendliche in Berlin. Von Magistratsrat Dr. Schön- berner. Zentralblatt für Vorm.-Wesen VIII, (1916), 5/6.

Nach Schilderung der in der Verordnung selbst liegenden und der von der Bevölkerung bei der Durchführung bereiteten Schwierigkeiten stellt Verfasser fest, daß nach einem zweimonatigen Bestehen des Sparzwangs nur von einem vollen Er- folg gesprochen werden kann.

Der Sparzwang für Jugendliche. Von Dr. Blaum. Zentralblatt für Vorm.- Wesen IX, (1917), 1.

Durch den Sparzwang ist eine erzieherische Beeinflussung beabsichtigt. Daraus ergibt sich der Grundsatz strengster Individualisierung von selbst. Allgemeiner Zwang ist keine glückliche Maßnahme, weil er einesteils die moralisch Besten und Fleißigen trifft, die Jugendlichen mit wechselnden Stellen und die auf Trinkgeld angewiesenen aber gar nicht erfassen kann.

Der disziplinare Arrest für Jugendliche. Von Geh. Justizrat Fränkel. Deutsche Strafrechtszeitung 1918, 5/6 und Zentralbl. f. Vorm.-Wesen VIII, 7/8.

Ungebührliches, bestehenden Verordnungen widersprechendes Betragen der Jugendlichen soll durch einen in-der Schule und zwar am Sonntag Nachmittag zu verbüßenden Arrest unter Aufsicht des Lehrers geahndet werden. In Breslau hat man damit gute Erfahrungen gemacht.

Kriegsschundliteratur. Von Paul Samuleit. Berlin, Carl Heymanns Verlag, 1916. Preis 1 M.

Ein Vortrag, der die Nichtigkeit und Schädlichkeit der Schundhefte darlegt und als nötiges Mittel neben den geistigen behördliche Maßnahmen bezeichnet. Zur Bekämpfung der Sehundliteratur. Zeitschr. f. Kinderf. XXIII, (1918),

H. 10/11. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

‚Wieder einmal weist der Herausgeber der Zeitschrift für Kinderforschung durch Zusammenstellung einiger Zeitungsnotizen auf die sittlichen Gefahren hin, die unsrer Jugend durch den Schmutz in Wort und Bild drohen.

Der Kampf gegen die Schundliteratur im Kriege. Von Prof. Dr. Brunner. Deutsche Strafrechtszeitung III, (1916), H. 3/4.

Verfasser beschäftigt sich mit den Verboten der Generalkommandos und ver-

tritt den Standpunkt, daß der amtliche Begriff »Schundliteratur« sich nur an die

108 C. Literatur.

Gewerbeordnung halten könne und daher auf das moralisch Anfechtbare und Ordnungswidrige beschränkt bleiben müsse, nicht aber literarische und ästhetische Gesichtspunkte umfassen dürfe.

Hort und Fürsorgeerziehung. Von Dir. P. Remppis. Zentralblatt f. Vorm.- Wesen VIII, (1916), 3/4.

Verfasser zeigt die Notwendigkeit des Hortes als Kriegsmaßnahme, beweist mit Zahlen die allgemeine Anerkennung der Bedfirfnisfrage, schlägt zur Verbürgung des Erfolges die Einführung des Zwanges zum Besuch des Hortes vor und gibt die Mittel an, durch die auch trotz des Fehlens einer gesetzlichen Einführung der Hort- erziehung ein Zwang ausgeübt werden kann.

Die Fürsorgeerziehung in Kriegs- und Friedensschulheimstätten für schulpflichtige, übertags zeitweise aufsichtslose und infolge des Krieges verlassene Kinder. Von Oberlandesgerichtsrat Janisch, Leitmeritz. Zeitschr. f. Kinderforschung XXIII, (1918), H. 1. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

Verfasser fordert den Ausbau der Fürsorgetätigkeit in Gemeinden und Be- zirken durch eine Vermehrung der Horte, Kindergärten und vor allem der Tages- und Schulheimstätten, deren Einrichtung er ausführlich schildert. Bevormundung der durch den Krieg der väterlichen Aufsicht ent-

zogenen Kinder. Von Amtsgerichtsrat Bartolomäus. Zentralblatt für Vorm.- Wesen VII, (1915), 11.

Da die Mütter den Aufgaben des Vormundes nicht allenthalben gewachsen sind, die Einzelbestellung von Personen im Kriege erschwert ist, wird die Ein- richtung der Generalvormundschaft empfohlen.

Aufgaben der Jugendfürsorge nach dem Kriege. Von Lic. Siegmund- Schultze. Zentralblatt für Vorm,.-Wesen VII, (1915), 17.

Von dem Gedanken ausgehend, daß Jungen. die selbständig werden d. s. die älteren Schuljungen der Großstadt —, über die Einzelfürsorge hinaus eines Kreises von Altersgenossen bedürfen, in dem sich ihre Ideale bilden können, rät Verfasser zur Einrichtung von Jungenklubs mit Selbstverwaltung und zur Pflege der Arbeit in der Werkstatt und auf dem Laubenlande. Doch sei dabei stets zu bedenken, daß es keine Jugendfürsorge geben dürfe, die nicht zugleich auch Familienfürsorge sei.

Weltkrieg und Erziehung. Von Dir..Trüper. Zeitschrift für Kinderforschung XX, (1915), S. 241, 364, 418, 549; XXI, (1916), S. 67, 76, 80, 83, 84. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

Nach Türmerart hält der Verfasser Umschau nach lobenswerten und ver- dammungswürdigen Zeiterscheinungen. Was er da bietet, sei es über Schund- literatur, sei es über Alkoholismus und Sexualismus usw., entbehrt nie des inneren Zusammenhanges mit der Frage der Kriminalität.

Was kann von den beschränkten Kriegsmaßnahmen auf dem Gebiete der Jugendpflege in den Friedenszustand übernommen werden? Von Pastor Heim. Rhein. Fürs.-E:z.-Blatt XV, (1917), Nr. 2.

Die Darstellung hält sich an die drei Gesichtspunkte: 1. nichts verbieten, was man nicht kontrollieren kann, 2. die Wirksamkeit negativer Bestimmungen (Verbote) nicht überschätzen, 3. gegen Jugendliche nicht Strafgesetze, sondern Erziehungs- maßnahmen.

C. Literatur. 109

- Metzer Kriegsjugendfürsorge. Zentralblatt f. Vorm.-Wesen IX, (1918), 7/8.

Der Bericht zeigt, wie das Jugendfürsorgeamt, eine Gründung der Kriegszeit,

sich innerhalb von zwei Jahren zum Brennpunkt sämtlicher Fürsorgebestrebungen in Metz entwickelt hat.

Ein deutsches Jugendgesetz. Von Dr. Felisch. Deutsche Strafrechtszeitung II, (1916), H. 11/12.

Die sittliche Not unsrer Jugend im Kriege hat den Ruf nach einem Reichs- jugendgesetz stärker denn je erschallen lassen. Verfasser stellt darum die Richt- linien und den Inhalt eines solchen Gesetzes dar.

Wie schafft man in Großstädten leistungsfähige Jugendämter? Von Rechtsanwalt Kuß Beschlüsse des Rechtsausschusses des A. F.- E.-T. zu dem Entwurf eines Gesetzes, betr. Jugendämter Zentralblatt für Vorm.-Wesen X, (1918), Nr. 9/10.

Als wichtige Maßnahmen gegen die Verwahrlosung sind die Jugendämter auch ein Mittel, der Kriminalität zu steuern. Der Aufsatz von Kuß ist besonders wert- voll, weil er die zweckmäßigste Organisationsform angibt, die organisatorischen Einzelheiten bespricht und eine klare Scheidung der Begriffe Jugendfürsorge und Jugendpflege vornimmt.

»Eine bedeutsame Maßnahme zum Schutze der gefährdeten Jugend.« Rhein. Eürs.-Erz.-Blatt XVI, (1918), 6.

Der Erlaß des preuß. Justizministers vom 18. II. 18 wird mitgeteilt, der die Schutzaufsicht als vorbeugende Maßnahme des Vormundschaftsgerichtes empfiehlt und für ihre Anwendung das bei einem Amtsgericht eines westlichen Industrie- bezirks bereits geübte Verfahren als vorbildlich anführt.

Der Schutz der Jugend vor erziehungswidrigen Einflüssen. Von Amts- richter Dr. A, Hellwig. Zeitschr. f. Kinderforschung, 24. Jahrg, (1919), H. 5/6 und erweitert als Heft 151 der Beiträge zur Kinderforschung u. Heilerziehung. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1919. 1248. AM.

Der Zweck der Schrift ist, die Gestaltung der Kriminalität der Jugend während des Krieges sowie die Maßnahmen mit kriminalpolitischen Charakter darzustellen. Da Bedenken gegen den Erlaß neuer Strafandrohungen gegen Jugendliche vorliegen, werden solche gegen die in Frage kommenden Gewerbetreibenden und die Aufsichts- pflichtigen vorgeschlagen.

Zum Problem der sozialen Familienverwahrlosung unter besonderer’ Berücksichtigung der Verhältnisse im Kriege. Von Dr. Gertrud Moses. Heft 175 der »Beiträge zur Kinderforschunge Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann). 79 8. 3,50 M.

Der soziale Wert der Ausführungen liegt darin, daß sie genaueste Familien- beobachtungen zur Grundlage haben.

Entstehung und Leitgedanken des Entwurfs eines Reichsjugend- wohlfahrtsgesetzes. Von Geh. Ober-Reg.-Rat Prof. Dr. O. Köbner. Zentr. f. Vormundschaftswesen ... 11. Jhrg., (1919), 23./24. H.

Die Verfasser sind Referenten über den Entwurf im Reichsministerium des Innern und belehren über den Grundgedanken des Gesetzes, daß jedes deutsche Kind ein Recht auf körperliche, geistige und sittliche Erziehung hat, und über die Entstehungsgeschichte und den Inhält einzelner Paragraphen. Am Ende des Heftes ist der »vorläufige Entwurf eines Reichs-Jugendwohlfahrtsgesetzese im Wortlaut wiedergegeben.

Ein Reichsjugendwohlfahrtsgesetz. Von Unterstaatssekretär Heinrich Schulz.

110 ; C. Literatur.

Soziale Regelung des Hortwesens. Von Dr. K. Blaume. Zentralblatt f. Vorm.-Wesen... 11. Jhrg., (1919), 1./2. H.

«Das Hortwesen sei in den gesamten Bau der sozialen Fürsorge zweckmäßig einzugliedern; die Leitung der Horte müsse Aufzabe des Jugendamtes werden. Verfasser versäumt aber nicht, darauf hinzuweisen, daß der Hort nur eine Behelfs- maßnahme sein müsse, die uns einer vorausschauenden Familienhilfe nicht ent- heben solle.

Die Schutzaufsicht gegenüber kriminell gewordenen Jugendlichen in ihrem planmäßigen Zusammenhange mit bedingter Begnadigung. Vom Amtsgerichtspräsident Dr. Becker. Zentr. f. Vorm. X, (1918), 3/4.

Der Versuch, die Bewilligung von Strafverfolgungs- und Strafvollstreckungs- aufschub davon abhängig zu machen, daß sich der Jugendliche der Schutzaufsicht des Verbandes für Jugendhilfe in Dresden unterstellt, hat zu recht beachtenswerten Erfolgen geführt. 78°,, haben sich gut oder »sich bessernd« geführt, 17°/, nur wenig befriedigend. Die weitere Durchführung des Systems empfiehlt sich darum.

Psychiatrie und Fürsorgeerziehung in Hannover im Krieg und in der Revolution. Psych.- neur. Wochenschrift 1919/20, Nr. 5/6, 10.

»Mönkemöller schildert das Verhalten der psychisch minderwertigen Fürsorge- zöglinge der Provinz Hannover während des Krieges und der Revolution, und die Einrichtungen für ihre Unterbringung und Erziehung.«

Zum Kampf gegen Schund und Schmutz in Wort und Bild. Zeitschr. f. Kinderforschung. Jahrg. 25, (1920), H. 7,8. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

Nachdem der Herausgeber bittere Worte über die neuen Führer unseres Volkes wegen ihrer Duldsamkeit gegenüber dem »unsittlichen Kapitalismus« (vor allem Lichtspiel- und Schmutzliteraturunternehmungen) gesprochen hat, bietet er den Be- richt der 100. Sitzung der Nationalversammlung. um den Lesern ein Bild zu geben, wie sich die einzelnen Parteien zur sozialsten Frage der Jugend und des Volkes stellen.

Tagung über Psychopathenfürsorge am 19. Oktober 1918 in Berlin. Zeitschrift f. Kinderforschung. Jhrg. 25, (1920), H. 1/2. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

Die auf der Tagung gehaltenen Vorträge sind im Wortlaut abgedruckt: Über die Bedeutung der Psychopathenfürsorge (auch als Heft 160 der Beiträge) Er- kennung und Behandlung der Psychopathie bei Kindern und Jugendlichen (Heft 161 der Beiträge) Psychopathische Veranlagung und Straffälligkeit im Jugendalter (Heft 162) Bedeutung der Psychopathen im öffentlichen Leben und öffentliche Fürsorge für Psychopathen (Heft 164). Wege und Ziele der Fürsorge für psycho- pathische Kinder und Jugendliche. Beobachtungsheime für jugendliche Psycho- pathen (Heft 165). Schutzaufsicht für jugendliche Psychopathen (Heft 166). Berufsberatung für psychopathische Jugendliche (Heft 167).

Kinderschutz, Jugendgericht und Jugengerichtshilfe. Von Dr. Heisen- berger. Zentr. f. Vormundsch. 9. Jhrg., (1917), Nr. 9/10.

Die Arbeit der Jugendgerichte wird dem Faß der Danaiden vergleichbar sein, wenn das Augenmerk nicht in 1. Linie auf die vorbeugende Jugendhilfe gerichtet wird. So muß die strafrichterliche Tätigkeit hinter der vormundschaftsrichterlichen zurücktreten, die Jugendgerichtshilfe vornehmlich eine Hilfe des Vormundschafts- gerichtes sein, und die wahre Vorbeugung darin bestehen, den Jugendlichen gar nicht erst mit dem Gericht in Berührung kommen zu lassen,

Bautzen i. Sa. . K, Wittig.

C. Literatur. 111

Ebbinghaus, Hermann, weiland Professor d. Philosophie a. d. Universitšt Halle, Grundzüge der Psychologie. Erster Band mit zahlreichen Figuren im Text und einer Tafel. 4. Auflage bearbeitet von Karl Bühler, Professor der Philosophie an der Technischen Hochschule Dresden. Leipzig,: Verlag von Veit & Comp., 1919. 791 S. Damaliger Preis 33,80 M, geb. 41,60 M.

Ebbinghaus’ bedeutungsvolles Werk wurde in dritter Auflage von Ernst Dürr herausgegeben, der leider bald darauf starb. Die vorliegende Neuausgabe unternahm Prof. Dr. Karl Bühler, der Ebbinghaus nahe stand und der als Freund von Dürr und nach seiner ganzen Bedeutung als ernster Forscher auf dem Gebiete der Psycho- logie geeignet war, die schwere Aufgabe der Lösung eines »Dreiautorenproblems« zu vollbringen. Wenn man bedenkt, wie sich von Jahr zu Jahr die Psychologie als selbständige Erfahrungswissenschaft ausbaut, wie sich ihre Erkenntnisse be- refchern, ergänzen und korrigieren, wie erkenntnistheoretische Kategorien und Axiome anders bestimmt und umgestellt werden, gewinnt man einen Einblick in die schwere Aufgabe des Herausgebers, der darum am Ende seines Vorwortes emp- pfiehlt, das letzte Urteil über die eine oder die andere Änderung, die er vielleicht nach manches Lesers Ansicht nicht genügend motiviert vornahm, zu fällen, wenn er den zweiten Band herausgegeben habe, den er vollkommen neu gestalten wird.

Der Wert des vorliegenden umfangreichen Werkes ist unbestritten, und es erübrigt sich, auf das schon in früheren Auflagen besprochene System des Psycho- logen Ebbinghaus einzugehen, ganz abgesehen von der Beschränkung, deren wir uns in der Not der Zeit befleißigen müssen. Ebbinghaus ist einer der Besten, der die gewonnenen Erkenntnisse methodisch einwandfreier Untersuchungen unter- einander und zum übrigen Bestand des Wissens und der wissenschaftlich be- gründeten Hypothesen in ein widerspruchsloses Verhältnis zu bringen suchte. Gerade darum muß man dieses Werk zum eingehenden Studium und Nachdenken empfehlen. Psychologie ist Erfahrungswissenschaft geworden. Und doch unterliegen die Ergebnisse der exakten Untersuchungen in vielem dem philosophischen Stand- punkt des Psychologen. Von dortaus wird er an die Deutung und Problemstellung herantreten. Bühler bringt darum auch das 1. Buch, wo Ebbinghaus als glänzender Verfechter des psychophysischen Parallelismus auftritt, vollkommen unverändert, obwohl Bühler selbst mehr zur Wechselwirkungshypothese neigt. Wo liegt die Wahrheit? Diese Paragraphen mit Ebbinghaus durchzudenken und dabei das Vor- wort von Ernst Dürr mit zu bewerten, ist empfehlenswert.

Hier liegt uns noch daran, unsere Leser darauf aufmerksam zu machen, wie dieser erste Band durch die Bearbeitung von Bühler neu gestaltet und wertvoller wurde. Der Herausgeber begründet seine Änderungen in der Abschnittsfolge im Vorwort selbst. Er schied aus, was streng genommen nicht in den 1. Band gehört, und nahm auf, was wertvolle Bereicherung der Elementarlehre bedeutete, z. B. die Kraft- und Bewegungsempfindungen $ 32 u. a. Besonders schätzen wir die vom Herausgeber gemachten Bemerkungen und Zusätze, die die Fortschritte der Psycho- logie bringen, Zweifelhaftes mit der Sicherheit des ernsten Forschers vorsichtig durchdenken und scharf abgrenzen von dem, was als psychologisch gesichert gilt. Die Literatur wurde ergänzt und bewertet. So liegt vor uns die Arbeit eines Psycho- logen, die wir, wenn wir damit so manche an uns gerichtete Frage beantworten wollen, zum grundlegenden Studium der Psychologie unbedingt warm empfehlen. Der Verlag hat sich mit der Herausgabe dieses klassischen psychologischen Werkes und des in Aussicht gestellten zweiten Bandes in der Zeit »der geistigen Not« un- bedingt auch ein Verdienst erworben.

Meißen. Kurt Walther Dix.

112 C. Literatur.

Siebs, Theodor, Deutsche Bühnenaussprache. 12. Aufl. Bonn, Ahn, 1920.

Die Anzahl der Auflagen, die das vorliegende Buch bisher erlebt hat, bürgt für seine Brauchbarkeit. Mag man darnach trachten, die bisher in den: literarischen Denkmälern mit mehr minder großer Eindeutigkeit festgelegte Aussprache des Deutschen festzuhalten, oder mag man auch der Ansicht sein, es müsse der Ent- wicklung der Sprache, wie sie sich z. B. in den Dialekten offenbart, ihr natür- licher Lauf gelassen werden: auf alle Fälle fordert das ästhetische Empfinden eine künstliche Regelung dieser Verhältnisse. Die Durchführung dieser nicht leichten Aufgabe hat Siebs unter Mitwirkung hervorragender Fachleute in ausgezeichneter und maßvoller Weise bewerkstelligt. I:n einzelnen seien folgende Bemerkungen vorgebracht: Es ist richtig, daß die deutschen Vokale im Anlaut mit festem (harten) Einsatz gesprochen werden. Die Forderung, ihn sowohl beim Sprechen als auch beim Singen nicht zu übertreiben, muß als hygienisch besonders unterstrichen werden. Dem Sänger darf er nicht einmal ausnahmsweise gestattet werden, da er wie Siebs richtig bemerkt, die Stimme schädigt (eine Lähmung kann er wohl nicht herbeiführen!). Andererseits ist er auch unnötig, denn der harte Einsatz darf nicht, wie dies bisher geschehen ist, mit dem Staccato identifiziert werden. Dieses wird vielmehr vom geschulten Sänger und Sprecher hervorgebracht, indem wie experimentelle Untersuchungen Fröschels ergeben haben, die Luft unterhalb der Stimmritze gestaut wird, ohne daß es zu einem Verschluß im Sinne des harten Einsatzes käme (s. Fröschels, Untersuchungen über den harten und den weichen ‚Stimmeinsatz bei Natur- und Kunststimmen. Sitz.-Ber. d. Wiener Akad. d. Wiss. : 1920, 129. Bd.). Ebenso unhygienisch wie die Anwendung des harten Einsatzes ist die Verwendung des uvulären R (hervorgebracht durch Artikulation der Hinter- zunge mit dem Gaumensegel und Schwingung des letzteren). Was die Vorschrift betrifft, das L nicht zu weit hinten im Munde zu bilden, muß die Einschrankung gemacht werden, daß die Artikulationsstelle in hohem Grade von den umgebenden Vokalen abhängig ist; dasselbe gilt für die Lippenrundung beim Sch. Es geht aber auch nicht an, das L ganz vorn am Zahnfleisch bilden zu lassen, denn dieses (z. B. dem Albanischen eigene) L ist im Deutschen nicht gebräuchlich. Der Abschnitt über die Aussprache des S bedarf der Ergänzung. Die unreine Artikulation, die ungemein häufig ist und vor der gewarnt wird, kann sich folgendermaßen kund- geben. Normalerweise wird’ das Š gebildet, indem die Zungenspitze sich den Schneidezähnen nähert, so daß zwischen ihr und ihnen nur ein kleiner Raum frei bleibt, durch den die Luft streichen kann; sie geht durch eine längs der Mittel- linie der Zunge gebildete Rille. Jede Abweichung von dieser Vorschrift erzeugt einen unschönen Laut; wird die Zunge an die Zähne angedrückt, so wird das S unscharf (Sigmatismus addentalis, »Anstoßen«); schiebt sie sich gar zwischen die Zahnreihen, so entsteht der Sigmatismus interdentalis (Lispeln, engl. th); hebt sich die Zunge auf einer Seite, so verläßt die Luft den Mund an einem seiner Winkel, wodurch der Sigmatismus literalis (»S:hlürpsen«) zustandekommt. Fehlt endlich der Abschluß des Mundes von der Nase durch mangelhafte Hebung des weichen Gaumens, so entsteht das häßliche nasale S. Die Beseitigung dieser Störungen ist Sache des Sprucharztes. In der ganzen Anlage ist das Buch jedoch vorzüglich geeignet, jedem der irgendwie mit der Korrektur der Sprache zu tun hat, ein verläßlicher Führer zu sein.

Wien. L. Stein,

Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.

Bern

ae a A A E a

A. Abhandlungen,

1. Zum Seelenleben des einzigen Kindes. Von einem »Einzigen«.

(Schluß.)

Als weitere typische Wirkung des isolierten Aufwachsens nennt Neter dieSchüchternheit. Tatsächlich habe ich an diesem Charakter- fehler in sehr hohem Maße gelitten. Als Knabe war ich gegen- über erwachsenen fremden Personen so scheu und verzagt, daß mein Vater darüber oft sehr ungehalten war und mich von dieser » Albern- heite durch Strenge und Prügel zu kurieren suchte. Kam fremder Besuch ins Haus, so drückte ich mich ängstlich in eine Ecke oder machte mich ganz aus dem Staube, nur um nicht Rede und Antwort stehen zu müssen. Die üblichen Gänge zum Metzger, Bäcker, Kolonial- warenhändler usw. besorgte ich zwar ohne Anstand. Wurde ich je- doch in ein fremdes Haus geschickt oder zu Bekannten, in deren Wohnung ich noch nicht gewesen war, dann fiel mir das Herz in die Hosen und ich stellte mich so blöde an, daß sich meine Mutter meist selbst zur Erledigung solcher Kommissionen entschließen mußte. Noch als junger Mann bekam ich beim Betreten fremder Geschäfte Herzklopfen; besondere aus dem Rahmen der Gewohnheit fallende Wünsche vorzubringen, war mir rein unmöglich; noch mehr fehlte mir der Mut, mir nicht zusagende Artikel zurückzuweisen; unzähligemal habe ich infolge meiner Schüchternheit das Gegenteil von dem ein- gekauft, was ich haben wollte; ein Friseur, der mich jahrelang be- diente, gestand mir später, er habe mich lange Zeit für einen blöden Menschen gehalten. In öffentlichen Versammlungen freie nn

Zeitschrift für Kinderforschung. 26. Jalırgang.

114 A. Abhandlungen.

zu halten oder auch nur aus dem Stegreif in eine Diskussion einzu- greifen, habe ich bis heute nicht fertig gebracht, obwohl in privaten Unterhaltungen Sparsamkeit im Reden durchaus keine Tugend von mir ist. Die Behauptung Neters, einzige Kinder seien im öffentlichen Leben vielfach schüchterne Naturen, trifft bei mir also völlig zu. Aber ist diese gesellschaftliche Befangenheit ausschließlich oder auch nur in erster Linie die Folge meines isolierten Aufwachsens? Das glaube ich in Abrede stellen zu müssen. Zunächst dürfte auch hier wieder die Beanlagung die wichtigste Rolle spielen. In all den an- geführten Punkten gleiche ich meinem Vater aufs Haar und unter meinen Vettern und Basen und deren Kindern befinden sich sehr viele Schüchterlinge meines Schlags. Zweitens fehlte es mir sehr an einer positiven Erziehung zu einem sichern Benehmen gegenüber Erwachsenen. Meine Eltern waren dank ihrer bäuerlichen Ab- stammung ganz unfähig, mir die zu einem gewandten und selbst- bewußten Verkehr unter Fremden unbedingt nötigen Anstandsformen . beizubringen. Wenn ich heute sehe, wie in den obern und mittlern Kreisen der Großstadtbevölkerung Kinder (und auch einzige Kinder!) schon im frühesten Alter angehalten werden, Besuchen hübsch guten Tag zu sagen, das Händchen zu reichen, Knickse zu machen, stets artig »bitte« und »danke« zu sagen usw., und mit welcher Selbstverständ- lichkeit und Leichtigkeit diese kleinen Knirpse ihre ersten Anstands- künste ausführen, dann besteht für mich gar kein Zweifel mehr über die Ursachen meiner gesellschaftlichen Schwerfälligkeit und Schüchtern- heit. Wenn ein einziger Junge von Geburt aus couragiert ist und die Eltern ihn frühzeitig an die üblichen Umgangsformen und an den Verkehr mit Erwachsenen gewöhnen, dann wird er sich ganz sicher trotz seines isulierten Aufwachsens zu einem umgänglichen Menschen entwickeln.

Der Schwerpunkt der Neterschen Schrift liegt in der Behauptung, die charakteristischste Eigenschaft einziger Kinder sei die Eigenliebe, die Selbstsucht, der Egoismus. Dies rühre hauptsächlich davon her, daß einzige Kinder von Jugend auf daran gewöhnt seien, alles die Liebe und Aufmerksamkeit ihrer Eltern, die ihnen gereichten Speisen und Leckereien, Spielsachen, Geschenke u. dergl. allein zu besitzen, daß ihnen das Teilenmüssen, das Verzichtleisten zugunsten andrer eine völlig fremde Sache sei und daß sich bei ihnen wegen Mangel an geschwisterlichem Verkehr die altruistischen und sozialen Gefühle und Tugenden nur schwer oder gar nicht entwickelten. Nie hätten sie Gelegenheit, sich in Verträglichkeit, Nachgiebigkeit und . Versöhnlichkeit zu üben, wohl aber schössen bei ihnen Empfindlich-

Zum Seelenleben des einzigen Kindes. 115

keit, Wehleidigkeit, Rechthaberei üppig ins Kraut. Diese Charakter- entwicklung pflege sich bei einzigen Kindern mit fast unfehlbarer Sicherheit ‚einzustellen, weil der Ausfall der mit dem Vorhandensein von Geschwistern verbundenen aktiven und passiven Erziehungs- einflüsse nur schlecht oder gar nicht ersetzt werden könne.

An diesem Gedanken ist sicher sehr viel Wahres, und nirgends stimmt Neters Schilderung des einzigen Kindes so vollkommen mit dem Ergebnis meiner Selbstprüfung überein, wie in diesem Punkte. Tat- sächlich müßte es auch wunderbar zugehen, wenn die Verschiedenheit des häuslichen Milieus, wie sie durch das Fehlen oder Vorhandensein von Geschwistern bedingt ist, ganz ohne Einfluß auf die Entwicklung ' des sittlich-sozialen Fühlens und Denkens bliebe. Trotzdem kann ich aber auch hier N. nur bedingungsweise zustimmen.

Zunächst frage ich: Ist das Gegenteil von Egoismus, der Altruis- mus, vielleicht eine typische Tugend der nichteinzigen Kinder? Zeigt nicht das Leben tausendfach, daß eitle Selbstgefälligkeit, empfindliche Eigenliebe und herzloser Egoismus auch bei solchen Leuten zu finden sind, die in einem großen Geschwisterkreise aufwuchsen? Wohl pflegen Poeten von der Geschwisterliebe mitunter in den höchsten Tönen zu reden, aber die nackte Wirklichkeit ‚nimmt sich doch meist viel nüchterner aus. Solange Geschwister in einem Neste leben und aus einer Schüssel essen und solange sie ihr persönliches Wohl und Wehe als etwas ausschließlich vom Ergehen der ganzen Familie Ab- hängendes erleben, solange pflegt, von den üblichen harmlosen Necke- reien und Zänkereien abgesehen, Eintracht und Liebe unter ihnen zu berrschen (wobei aber nicht übersehen werden darf, daß neben wahrer Geschwisterliebe sehr wohl auch ein Familienegoismus bestehen kann). Wie häufig aber geht dieser Geschwisteraltruismus in die Brüche, wenn die äußere Familieneinheit sich aufgelöst hat und jedes Glied in einem eignen Haushalt wurzelt. Es gibt ein böses Wort, das heißt Erbschaftsstreitigkeiten. Eine ganze Reihe von Sprichwörtern gehen darüber im. Volke um. Sind nun diese Erbschaftsstreitigkeiten, die doch nur zwischen Geschwistern entstehen können, etwa ein Zeichen von besonders hoher Uneigennützigkeit der Nichteinzigen? Ebenso ge- reicht die namentlich in den untern Volkskreisen gang und gäbe Lebens- weisheit, daß Eltern wohl acht Kinder, aber umgekehrt acht Kinder nicht ihre Eltern ernähren könnten, den Nichteinsigen doch wohl auch nicht zum Ruhme. Und wenn N. an einer Stelle behauptet, einzige Kinder sträubten sich häufig gegen den Gedanken, der Storch könnte ihnen noch eine Brüderchen oder Schwesterchen bringen, so exemplifiziert er dabei sicher nur auf Ausnahmefälle. Im allgemeinen

8*

116 A. Abhandlungen.

werden sich Kinder, solange sie noch Kinder sind, stets über Familienzuwachs freuen, und dies um so mehr, je einsamer sie sich fühlen. Das liegt nun einmal in der kindlichen Natur, und wo es nicht zutrifft, da sind sicher verkehrte Suggestionseinflüsse Erwachsener mit im Spiel. Ich wenigstens kann mich recht gut entsinnen, wie es lange Zeit mein höchster Wunsch war, der Storch möchte auch mal bei uns Einkehr halten. Sobald »Kinder« aber in der Lage sind, die wirtschaftliche Kehrseite der freudigen Familienereignisse zu er- fassen, dürften neuankommende Geschwisterchen von einzigen und nichteinzigen Söhnen und Töchtern in gleicher Weise mit gemischten Gefühlen begrüßt werden. ` Nun ist allerdings richtig, daß, wie Neter durch den Hinweis auf gewisse Sprichwörter zeigt, im Volk eine gewisse Abneigung gegen einzige Kinder besteht, und daß sich diese Abneigung hauptsächlich auf den angeblich eitlen und selbstsüchtigen Charakter der Einzigen gründet. Ob jedoch hier des Volkes Stimme tatsächlich Gottes Stimme ist? Ich bin weit davon entfernt zu behaupten, die Einzigen ` böten zu einer solchen Beurteilung gar keinen Anlaß. Aber um- gekehrt scheint mir auch das Volk in dieser Frage ein nicht völlig vorurteilsfreier Richter zu sejn. Erstens fürchte ich, daß die ein- seitige Bevorzugung und blinde Vergötterung, die einzigen Kindern vielfach von ihren Eltern zuteil wird, die Umgebung unwillkürlich zu doppelt scharfer Kritik reizt. Zum andern kann ich den Verdacht nicht unterdrücken, daß sich hinter der abfälligen Beurteilung Einziger, namentlich wenn diesen eine ansehnliche Erbschaft in Aussicht steht, häufig auch Regungen des Neides und der Mißgunst verbergen. Ich habe nicht wenige einzige Söhne und Töchter kennen gelernt, die in jeder Hinsicht prächtige Menschen waren, die aber doch viel unter dem unfreundlichen und harten Urteil ihrer lästersüchtigen Neben- menschen zu leiden hatten. Es ist eben eine bequeme Sache, über andre zu Gericht zu sitzen und in deren sittlichen Schwächen die eigne Vortrefflichkeit zu spiegeln, wenn einem eine so billige Be- gründung zu Gebote steht wie die: Es ist halt ein Einziger! Ich selbst habe dieses Urteil recht oft über mich ergehen lassen müssen, namentlich in der Jugend, wo ich nach meiner Auffassung von den Nachbarsleuten immer mit anderm Maß gemessen wurde als meine Kameradeti. Aber auch in den spätern Jahren fehlte es nie an guten Freunden, die mich mein Einzigentum bald direkt, bald in- direkt in mehr oder minder wohlwollender Weise fühlen ließen. Dabei waren dies meist solche, die meines Erachtens dazu am aller- wenigsten moralische Berechtigung hatten. Die, die wirklich besser

Zum Seelenleben des einzigen Kindes. 117

waren als ich, gebrauchten jenes gedankenlose Wort nicht. Ich meine also: Die kritische Beurteilung und Verurteilung der Einzigen durch den Volksmund beruht zu einem guten Teil auf Voreingenommenheit und pharisäischer Splitterrichterei, wobei ich noch dahingestellt sein lasse, ob in dem Sprichwort

»Eine einzige Tochter soll man frei’n,

Einen einzigen Sohn soll man scheun« nicht in erster Linie einzige Töchter unter mehrern Brüdern und einzige Söhne unter mehrern Schwestern gemeint sind.

Ferner darf nicht außer acht gelassen werden, daß der Egoismus eine allgemeine, im natürlichen Selbsterhaltungstrieb wurzelnde Eigen- schaft des Menschen ist. Ganz frei von selbstsüchtigen Regungen, sei es eitle Selbstgefälligkeit oder Ehrgeiz oder materieller Eigennutz, dürfte überhaupt niemand sein. N. führt eine Stelle aus einem Auf- satz an, wo mit ergreifenden Worten das schmerzliche Ringen ge- schildert ist, das sich in den zur Erkenntnis ihrer Schwäche gelangten einzigen Kindern zwischen den egoistischen Trieben und dem sitt- lichen Pflichtgefühl abspielt: »Wie unendlich tief muß ihnen der Widerspruch in die Seele schneiden, den sie empfinden, wenn sie die eigne Selbstsucht in ihrer ganzen Erbärmlichkeit und Häßlichkeit er- kennen, sie verabscheuen und mit brennehdem Verlangen nach Heilung dürsten, dabei aber zu dem schmerzlichen Bewußtsein kommen, die Wurzeln dieses giftigen Unkrauts nie vollständig ausmerzen zu können. Äußerlich mag es ihnen vielleicht gelingen, ihrer Leidenschaft Zügel anzulegen, um so wütender tobt aber der Kampf im Innern. Wenn dem lieben Freund ein unerwartetes Glück begegnet, und statt der aufrichtig gewollten Mitfreude erwachen im Herzen nur die nagenden Gefühle des Neides und der Mißgunst —. Ist das nicht der bitterste Kampf, der sich im Menschenherzen abspielen kann? Und gerade die einzigen Söhne und Töchter werden davon am meisten zu erzählen wissen.« Nur die einzigen Söhne und Töchter? Sind das nicht vielmehr Erfahrungen, die jeder ernst gesinnte Mensch täglich in sich selbst erlebt? Der bekannte Romanschriftsteller Walter Bloem erzählt in seinem »Vormarsch«, einer tagebuchartigen Darstellung eigner Kriegserlebnisse, wie er im September 1914 als Verwundeter auf dem Heimtransport im gleichen Eisenbahnabteil mit einem be- freundeten ebenfalls verwundeten Offizier reiste, der aber im Gegen- satz zu ihm bereits mit dem Eisernen Kreuz geschmückt war. Als sie nun den ersten Etappenort erreichten, wo ihnen zum erstenmal wieder helle, frohe, gütige Frauenstimmen entgegenklangen, »da er- füllt mich des Freundes Eisernes Kreuz auf einmal, so sehr ich’s ihm

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gönne und so sehr er’s verdient hat, mit heftigem Neid: es läßt ihm alle Blicke, alle Herzen, alle Zigarettenpakete zufliegen. Das ist wirk- lich ein Wermutstropfen im Becher des Behagens, den diese Stunde uns kredenzt.e Man sieht, gegen Eifersucht und Neid ist kein Sterb- licher gefeit. Oder sollte Walter Bloem auch ein »Einziger« sein?

. Nun gibt es allerdings große Unterschiede hinsichtlich des egoisti- schen Verhaltens. Der eine steht mehr im Banne einer selbstischen Willensrichtung als der andre. Beim einen äußert sie sich mehr in der Form eines verfeinerten Ehrgeizes, beim andern mehr in der Ge- stalt grob’ sinnlichen Genusses oder derb materiellen Eigennutzes. Dem einen gelingt es nicht oder nur unter unsäglichen Kämpfen, Selbstverleugnung zu üben, dem andern ist das nur ein peinlicher im übrigen aber wenig anfechtender Akt der Selbstzucht. Woher rühren diese Unterschiede? Auch hier wieder scheint mir die Be-' anlagung eine entscheidendere Rolle zu spielen als Erziehung und Gewöhnung. Ob einer zum Stamme »Nimm« oder zum Stamme »Gib« gehört, ist doch meist schon bei seiner Geburt entschieden. Das zeigt sich nirgends deutlicher als bei Geschwistern, wo sich gerade hin- sichtlich der Grundrichtung des Willens oft die schärfsten Gegensätze einander gegenüber stehen. Und was noch wichtiger ist: Diese Ver- schiedenheit der sittlichen Beanlagung pflegt sich meist durch das ganze Leben hindurch gleich zu bleiben. Wie oft hört man in be- sonders krassen Fällen egoistischer Eutartung Eltern und Geschwister sagen: So war X schon als kleiner Junge, immer dachte er nur an sich und seinen Vorteil, stets wollte er nur das Beste haben, nie gönnte er den andern etwas. Und wer sich ehrlich prüft, der kann sich kaum der Erkenntnis verschließen, daß er bei aller sittlichen Willens- anstrengung im Grunde seines Wesens doch derselbe geblieben ist, der er von Anfang an war. Man wird also daran festhalten müssen, daß in erster Linie die Beanlagung über den Charakter des Menschen entscheidet. Diesem Gesetz sind aber nichteinzige Kinder genau so unterworfen wie einzige. Höchstens könnte geltend gemacht werden, was N. auch andeutet, einzige Kinder seien im Punkte der Selbst- sucht insofern erblich mehr belastet als nichteinzige, als ihre Eltern durchschnittlich egoistischer veranlagt seien als die Eltern mehrerer Kinder, was gerade in ihrer Neigung zum Einkindsystem zum Aus- druck komme.

Neben der Beanlagung spielen die unmittelbaren und mittelbaren Erziehungseinflüsse eine zwar nicht entscheidende aber immerhin sehr wichtige Rolle. Und zwar ist hier die sittliche Gesinnung der Eltern und die dadurch bedingte sittliche Atmosphäre des Familienlebens

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entschieden der einflußreichste Faktor. Eltern, deren eignes Fühlen, Denken, Wollen und Handeln sich ganz im egoistischen Fahrwasser bewegt, werden ihre selbstsüchtige Gesinnungsweise unfehlbar auch ihren Kindern einimpfen, einerlei ob sie nur eines oder mehrere . haben. Umgekehrt halte ich es für ausgeschlossen, daß es Eltern, denen für ihr eignes Leben die selbstlose Nächstenliebe als das höchste Ziel alles sittlichen Ringens vor Augen steht, nicht gelingen sollte, ihre Kinder vor einer einseitig selbstsüchtigen Charakterentwicklung zu bewahren, vorausgesetzt natürlich, daß dem in der Form angeborner Neigungen keine unüberwindlichen Hindernisse im Wege stehen.

Sehr wichtig ist auch die Miterziehung durch Geschwister. N. hat vollkommen recht, wenn er zeigt, wie einzige Geschwister durch den Alleinbesitz aller Genüsse und Schätze der Kinderstube, durch den Mangel an häuslichem Spielverkehr, durch die nie eintretende Not- wendigkeit, sich mit Geschwistern vertragen und vergleichen zu müssen, und viele ähnliche Umstände der Gefahr ausgesetzt sind, sich zu kalten, engherzigen, rechthaberischen, unversöhnlichen Egoisten auszuwachsen. Aber nach meiner Erfahrung steht dieser Faktor erst an dritter oder höchstens an zweiter, jedenfalls aber nicht an ent- scheidender Stelle.

Wie ich schon angedeutet habe, besitze ich tatsächlich einen ausgesprochen eigenliebigen, rechthaberischen, selbstsüchtigen Cha- rakter. Ich habe das sehr früh eingesehen, habe dann aber auch zu meinem Leidwesen erfahren müssen, wie unendlich schwer es ist, sich aus den Ketten der Ichsucht frei zu machen und wieviel bittre Erfahrungen ein solches Ringen um sittliche Freiheit in sich schließt. In meinem Tagebuch bildet der Kampf mit dem Drachen der Ehr- sucht, des Neides, der Eigenliebe den Leitgedanken der Niederschriften durch viele Jahre hindurch. Als Beispiel führe ich den letzten Vers aus einem kleinen Weihnachtsgedicht an, der selbstverständlich auf poetischen Wert keinerlei Anspruch machen kann, der aber doch meine damalige Stimmung anschaulich kennzeichnet:

O, sieh auch mich in qualvoll heißem Ringen,

Ein Menschensohn, an deiner Krippe knien,

Der aufwärts möchte und den tausend Schlingen

Doch immer wieder zu der Erde ziehn.

Laß auch in mir der Sünde Macht zerstieben,

Nimm von mir alle Schuld und bittre Reu:

Ach, von der Qual, nur immer mich zu lieben, Vom Bann der öden Selbstsucht mach mich frei!

Nicht minder charakteristisch ist die Tatsache, daß ich den Schlußvers eines damals viel gesungenen Volks-Liebesliedes (Abschied

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von einer untreu gewordenen Geliebten) als Ausdruek einer fast über- irdisch idealen, für mich unerreichbar hohen Gesinnung über alles bewunderte und liebte:

Schließt dereinst mein Auge sich, Ruh’n die müden Hände,

Will ich noch vom Himmel dich Segnen ohne Ende.

Brauchst nicht Tränen mir zu weih’n, Kann vergessen werden

Mögest du nur glücklich sein

Immer hier auf Erden!

Daß verschiedene meiner Freunde den aus diesem Verse sprechenden Edelmut für etwas ganz Natürliches und Selbstverständliches hielten, war mir völlig unfaßlich. Mein Sinn hätte in der Rolle des Ver- schmähten auf Wiedervergeltung und Rache gestanden. Ich hatte das Gefühl, als gehörte ich in diesem Punkt zu einer recht niedrigen Menschensorte. Ein besseres Beispiel als meine Person könnte N. für seine Behauptung vom Egoismus einziger Kinder also kaum finden. Nur bezweifle ich, ob ich durch das Aufwachsen in einem Geschwister- kreis ein wesentlich andrer geworden wäre. Die Gesinnungsweise in den beiden Familienkreisen, aus denen ich hervorging, ist durch- gängig von einem in Anbetracht der sozialen Lage zwar durchaus entschuldbaren, an sich aber doch im höchsten Maße hedauerlichen, krassen, materiellen Eigennutz beherrscht, so daß für mich gar kein Zweifel über den Ursprung meiner egoistischen Willensrichtung besteht.

Dazu kam dann zweitens eine die Entwicklung der egoistischen Triebe nicht nur nicht hemmenden, sondern geradezu begünstigenden direkten häuslichen Erziehung. In meinen Eltern hatte ich Urbilder eines unermüdlichen Fleißes und eiserner Sparsamkeit, aber auch eines nur auf den eignen Vorteil bedachten harten Erwerbssinnes vor Augen. Diesen Geist sog ich mit der Muttermilch ein, in ihm wuchs ich auf, ganz von selbst ging er in mein eignes Fühlen und Denken über. Ich wußte einfach nichts andres, als daß die Sorge um das liebe Ich immer und überall im Vordergrund stehen müsse, und wenn sich bei mir altruistische Empfindungen regten, so wurden diese von meinen Eltern absichtlich unterdrückt. Meine Spielsachen durfte ich nur für mich allein in Gebrauch nehmen, weil sie mir durch Spielkameraden hätten verdorben werden können und meine Eltern »diese teuren (?) Dinge für mich und nicht für andre gekauft hattene. Aus demselben Grunde wurde ich gescholten, wenn ich meinen Wagen, meinen Schlitten, meine Schlittschuhe usw. leih- weise Kameraden überließ. Häufig kamen Jungen aus der Nachbar-

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schaft zu mir, um sich beim Anfertigen der Schulaufgaben helfen zu lassen oder sie kurzer Hand abzuschreiben, was ich stets gutmütig: gewähren ließ; aber die Eltern sahen es nie gern, weil sie fürchteten, die andern könnten sich dadurch in der Schule auf meine Kosten in ein gutes Licht setzen. Machte ich für Nachbarsleute Botengänge, so erntete ich dafür zu Hause nicht selten scharfen Tadel: es sei höchst überflüssig, daß ich meine Schuhe im Dienste fremder Leute zerrisse. Wollte ich Kameraden kleine Gefälligkeiten erweisen, so. mußte ich das heimlich tun. Dagegen sahen es meine Eltern;durchaus nicht ungern, wenn ich etwas Geschenktes oder etwas durch List er- rafftes mit nach Hause brachte. Bettler wurden fast immer scharf abgewiesen mit der Begründung, wir hätten selber nichts. Sehr er- freuliche aber auch sehr unerfreuliche Fälle im häuslichen Wirtschafts- betrieb wurden den Nachbarn peinlichst verschwiegen; man fürchtete sowohl den Neid als auch die Schadenfreude der Nächsten. Dem« entsprechend wurde ich angehalten, auch meinerseits reinen Mund zu halten und vor allem durch neugierige Nachbarn nichts aus mir herauslocken zu lassen. Ich bemerke ausdrücklich, daß ich diese- Gesinnungsweise meiner Eltern durchaus verstehe und entschuldige. Wer die untersten Volksklassen, namentlich diejenigen der ländlichen Bevölkerung genau kennt, wer aus eigner Anschauung weiß, wie da um jeden Groschen mit Leidenschaft gesorgt, gekämpft und geschachert. wird, der ist über diese sich völlig naiv und ungeniert gebärdende Selbstsucht durchaus nicht erstaunt, der hat im Gegenteil Verständnis dafür, wie die Härten des Kampfes ums Dasein auch die Herzen und die Hände hart machen. Aber braucht man sich zu wundern, wenn unter solchen Umständen in einer Kindesseele die egoistische Gefühls- und Willensrichtung die Oberhand gewinnt? Und muß man da noch nach andern Ursachen der selbstischen Charakterentwicklung suchen? Ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß unter dem Einfluß meines isolierten Aufwachsens meine egoistischen Anlagen besonders üppig ins Kraut schossen und daß sich im Umgang mit Geschwistern manche Kante meines einseitigen Wesens etwas abgeschliffen hätte. Allein daß mein Charakter von Grund aus ein andrer geworden wäre, das. glaube ich nicht. Dagegen bin ich fest überzeugt, daß, wenn in meinen Eltern eine tiefe Sehnsucht und ein ernstes Ringen nach dem Ideal der Nächstenliebe und der Selbstlosigkeit lebendig gewesen wäre, daß dann auch meine sittliche Entwicklung trotz meines Einzig- seins einen andern Weg genommen hätte. Und dann wären mir tatsächlich im Leben viele bitteren, friedenraubenden Kämpfe im Innern und viel peinliche Konflikte nach außen erspart geblieben.

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Weiter behauptet N., der Umstand, daß einzige Kinder innerhalb der Familie nur auf den Verkehr mit ihren Eltern (Erwachsenen) angewiesen seien, bewirke, daß sie einerseits viel zu früh ihre naive Kindlichkeit verlören und andrerseits vorzeitig in die ernste Sorgen- welt des Lebens hineingespannt würden.

Ob ich in meiner Jugend den unerfreulichen Eindruck einer unnatürlichen Frühreife machte, “vermag ich nicht zu sagen. Jeden- falls kann ich mich nicht entsinnen, daß ich einmal in dieser Hin- sicht getadelt worden wäre. Und als ich in meinem vierzehnten Lebensjahr mit 47 aus allen Landesteilen und Volksklassen zusammen- gewürfelten Altersgenossen in die erwähnte Anstalt eintrat, da hatte ich wegen meiner ländlichen Schüchternheit, Unerfahrenheit und Ein- falt lange Zeit unter dem Gespött meiner Mitschüler zu leiden. Durch Altklugheit scheine ich mich demnach nicht hervorgetan zu haben. Dagegen hat die mir angeborene Neigung zu schwermütigen Grübeleien sicher eine unheilvolle Förderung erfahren dadurch, daß ich schon sehr früh in die täglichen Familiensorgen eingeweiht und mit ihnen belastet wurde. An Widerwärtigkeiten, Unglücksfällen, Nahrungs- sorgen fehlt es ja in den hart ums Dasein ringenden Bevölkerungs- schichten nie. Bei uns brachte namentlich häufiges Kranksein des Vaters viel Not und Kummer ins Haus. Schon die Niedergeschlagen- heit der Eltern drückte schwer auf mich. Noch mehr aber die viel- fach verzweifelten Klagen der Mutter, für die ich die einzige Instanz war, wo sie ihr Herz ausschütten konnte. Ihre Tränen fielen denn auch wie sengendes Blei in mein junges Gemüt, und dies um so mehr, als immer auch ein leiser bittrer Ton des Vorwurfs mitklang, daß ich die Schwere der gegebenen Lage nicht in derselben Schärfe fühlte wie die Mutter. In solchen Zeiten wagte ich nach keinem Spielzeug zu greifen, geschweige denn die Mutter mit meinen An- gelegenheiten zu behelligen. Das Schlimmste aber war, daß mich meine Eltern unabsichtlich in einen jahrelangen häßlichen Streit mit einem Nachbar hineinzogen, mich ganz zu ihrem Parteigänger machten und mir so das Gift des tödlichen Hasses einträufelten. Ich war über die behauptete Schlechtigkeit des Gegners nicht minder’ empört als meine Eltern. Ich zitterte vor Aufregung, wenn es zu Zusammen- stößen kam und schimpfte aus vollem Halse und aus tiefster Über- zeugung mit. Ich ärgerte mich genau so wie meine Eltern über er- littene Unbille und Schmähungen und konnte nachts vor Wut und Rachsucht kaum schlafen. Hätte ich Geschwister gehabt, so wären meine Eltern vielleicht davon abgehalten worden, mich in solch weit- gehendem Maße an ihren Sorgen und Verdrießlichkeiten teilnehmen

Zum Seelenleben des einzigen Kindes. 123

zu lassen. Außerdem wäre ich diesem bedenklichen Einfluß kaum so leicht erlegen; mein kindliches Fühlen und Denken hätte instinktiv im Verkehr mit Geschwistern Ablenkung, Schutz und Zuflucht ge- sucht und gefunden.

Andrerseits glaube ich aber, daß mein frühes Hineinwachsen in den Interessenkreis meiner Eltern doch auch etwas Gutes hatte. Ich nahm nicht nur ihre ernste, pessimistische Denkweise sondern auch ihren Erwerbseifer und Sparsamkeitssinn in mich auf, und zwar Spaf- samkeit nicht zu meinen Gunsten, söndern zugunsten unsrer Familien- gemeinschaft, mit der ich mich durch Leid und Freud innigst ver- wachsen fühlte. Der Begriff »Mein« im Gegensatz zum Begriff »Unser« kam bei, mir kaum zur Entwicklung. Jeden geschenkten Groschen lieferte ich gewissenhaft ab. Der Gedanke, persönliche Geschenke ohne Erlaubnis der Eltern zur Befriedigung eigner Wünsche zu verwenden, lag mir völlig fern. Was ich bekam, betrachtete ich nicht als mein, sondern als unser Eigentum. Und wenn ich etwas ausgab, so hatte ich das Gefühl, als entnähme ich dies angesichts der ernsten Blicke meiner Eltern der gemeinschaftlichen Kasse. Diese Denkweise haftete mir auch während meiner ganzen Ausbildungszeit an. Daß meine Anstaltskameraden beim Empfang ihrer Taschengelder jubelten und um so mehr jubelten, je höher diese ‚ausfielen, war mir etwas völlig Unverständliches. Ich gab jeden Pfennig mit demselben Verantwortlichkeitsbewußtsein aus, mit dem ihn auch meine Eltern ausgegeben hätten. Je länger ich mit meinem Taschengeld aus- reichte und je weniger mir die Eltern zu schicken brauchten, desto . mehr freute ich mich. Ob ich viel oder wenig erhielt, machte auf mich gar keinen Eindruck. Ich fühlte mich dadurch nicht veranlaßt, auch nur einen Pfennig mehr oder weniger auszugeben. Ob sich dieser Charakterzug beim Vorhandensein von Geschwistern in der- selben Weise herausgebildet hätte? Ich bezweifle es. Denn dann hätte mich der Gedanke an den eignen Vorteil im Gegensatz zu dem der Geschwister ganz sicher dazu geführt, auf eigne Rechnung zu wirtschaften und mein persönliches Besitztum scharf von dem der Geschwister und Eltern zu unterscheiden. Es hätte sich beim Vor- handensein weiterer Teilhaber kaum diese innige Interessensolidarität‘ zwischen mir und meinen Eltern entwickelt. Doch gebe ich gerne zu, daß diese Art Sparsamkeit auch als Eigennutz, Geiz’ und Hab- sucht gedeutet und dann als Beweis für die Richtigkeit der Be- hauptung Neters vom Egoismus einziger Kinder angeführt werden könnte. Allein wo ist eine Tugend, die nicht auch ihre Schatten- seiten hätte?

124 A. Abhandlungen.

Und noch etwas glaube ich durch die einseitige Beschränkung meines häuslichen Verkehrs auf den Umgang mit meinen Eltern ge- lernt zu haben. Schon als Knabe aber auch als Mann konnte ich recht oft die Erfahrung machen, daß Geschwister, sobald sie ein ge- wisses Alter erreicht haben, unter sich Bündnisse und Komplotte schließen, um den Eltern ihre Sünden und Streiche zu verheimlichen. »Aber daß ihr das der Mutter nicht sagt! Daß der Vater nichts er- fährt!«, wie oft hörte ich diese vielsagenden Worte Geschwister einander zuraunen. Und später in der Anstalt galt es bei den meisten meiner Klassengenossen als Regel, den »Alten« zu Hause je nach Bedarf hinters Licht zu führen und zu bemogeln. Am meisten erstaunt war ich aber über das gelegentliche Bekenntnis einer Dame, daß sie und ihre drei übrigen Geschwister in ihrer Jugend einen förmlichen Ring gebildet hätten zu dem Zweck, ihre Heimlichkeiten gegenseitig vor der elterlichen Kontrolle zu verbergen. Tatsächlich brachten sie es auf diese Weise z. B. auch fertig, sich eifrig mit freigeistigen Ideen zu befassen, ohne daß die streng orthodoxen Eltern etwas davon erfuhren. Für eine solche Unaufrichtigkeit gegenüber den Eltern fehlte und fehlt mir noch heute jedes Verständnis. Hatte ich innerhalb des Hauses aus Dummheit oder Leichtsinn irgend ein Unheil angestiftet, das nicht verborgen bleiben konnte, so war es völlig zwecklos, mich aufs Leugnen zu verlegen. Denn wer anders als ich konnte der Übeltäter sein? Ich wartete darum das Entdecktwerden meiner Misse- taten gewöhnlich gar nicht ab, sondern beichtete schon vorher (ein

. Verhalten, dem allerdings auch feige Angst vor der Strafe und schlaue Berechnung auf ein gnädiges Gericht zugrunde liegen kann). Allein auch diejenigen Unarten, denen keine Entdeckung drohte, vertraute ich jederzeit der Mutter an. Dazu trieb mich ein ganz unmittelbares instinktives Bedürfnis. Das Bewußtsein, vor den Eltern etwas ab- sichtlich verschwiegen zu haben, war mir unerträglich. Zwischen mir und ihnen mußte jederzeit volle Klarheit bestehen, das war für mich etwas ganz Selbstverständliches. Ob ich anders fühlen gelernt hätte, wenn ich nicht als Einziger aufgewachsen wäre? Ich vermag hierauf keine Antwort zu geben. Und die zweite nicht minder ‘wichtige Frage, ob sich bei mir der Trieb zur unbedingten Auf- richtigkeit gegen meine Eltern auch zur Wahrhaftigkeit und Ehrlich- keit schlechthin erweiterte, will ich nicht beantworten. Ich bilde mir zwar ein, daß Unaufrichtigkeit und Unehrlichkeit die letzten meiner Fehler sind, aber wer will sich rühmen, auch in den kleinsten Dingen niemals den Pfad der Wahrhaftigkeit verlassen zu haben? Eins aber weiß ich sicher: Die raffinierteste und schamloseste Ver-

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logenheit, die mich mit Ekel und Staunen zugleich erfüllte, lernte ich an einem aus kinderreicher Familie hervorgegangenen Manne kennen.

Zum Schluß wirft N. noch die Frage auf, ob das isolierte Auf- wachsen einziger Kinder nicht auch deren sexuelle Entwicklung nach- teilig beeinflusse. Einzige Kinder schnappten von (unvorsichtigen) Eltern viel leichter gefährliche Bemerkungen auf als Geschwister. In ihrem vielen Alleinsein liege eine große Gefahr zu frühreifen Grübeleien, ausschweifendem Phantasieren und zu geschlechtlichen Verirrungen. Umgekehrt wäre es aber auch verständlich, wenn die verweichlichende, überzärtliche elterliche Erziehung abnorme Gleich- gültigkeit gegen geschlechtliche Liebe, psychische Impotenz hervor- riefen. Jedenfalls, meint N., würde es nicht wunder nehmen, wenn sich herausstellte, daß die einzigen Kinder einen auffallend hohen Prozentsatz unter den Sexuell-Abnormen ausmachten. Die letzte Ver- mutung ist sicher übertrieben. Denn es ist doch eine bekannte Tat- sache, daß die meisten geschlechtlichen Verirrungen aus dem Verkehr mit schlechten Kameraden entspringen, also aus einem Umstand, dem (nach Neters 'Theorie) die Einzigen viel weniger ausgesetzt sind als die Nichteinzigen. Trotzdem läßt sich die Möglichkeit nicht von der Hand weisen, daß das geschwisterlose Aufwachsen, namentlich das Aufwachsen ohne Schwestern, dem geschlechtlichen Fühlen eines Jungen ein ganz besonderes Gepräge geben kann.

Zunächst werden, einzige Söhne alles das, was mit der Ankunft kleiner Kinder zusammenhängt (Schwangerschaft der Mutter, Vor- bereitungen zum Empfang des neuen Erdenbürgers, Nacktheit des kleinen Kindes, dessen Stillung durch die Mutter, äußere Geschlechts- unterschiede usw.) mit weniger harmlosen Blicken ansehen als Kinder, denen das von Jugend auf gewohnte Eindrücke sind. Ich kann mich noch gut entsinnen, wie das Geheimnisvolle, das für mich über diesen Dingen lag, mein Interesse in ganz besonderm Maße reizte und meine an sich lebhafte Phantasie erhitzte und mit schwülen Bildern erfüllte. Als ich, es mochte etwa in meinem 7. oder 8. Lebensjahr sein, von einem Schulkameraden zum erstenmal auf den körperlichen Unter- schied zwischen Knaben und Mädchen aufmerksam gemacht wurde, da ließ mich diese mir kaum faßbar erscheinende Tatsache tagelang nicht los, obwohl ich damals von der Bedeutung des Geschlechts- unterschiedes noch keine Ahnung hatte. Und so war es auch mit den andern Eindrücken der Kleinkinderstube Woran meine Kame- raden als an etwas Selbstverständlichem gleichgültig vorübergingen, das bedeutete für mich jedesmal eine mehr oder weniger starke seelische Erschütterung.

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Besonders tief und nachhaltig waren diese Erschütterungen, als ich dank der Belehrung frühreifer Gassenkameraden über das letzte Geheimnis des Geschlechtslebens aufgeklärt war, zumal da sich jetzt auch der Geschlechtstrieb in mir zu regen anfing. Wie im Traume grübelte ich über die neuerlangte Offenbarung nach, und von da ab stand meine geschlechtliche Phantasie sofort in hellen Flammen, sobald von außen. her eine zufällige Beobachtung oder ein zweideutiges Wort als zündender Funke hineinfiel. Und dank der Ungewohnheit der Eindrücke wirkten bei mir schon an und für sich harmlose Er- fahrungen als solche zündende Funken. Ein nicht völlig angekleidetes Mädchen, ein nackter Mädchenarm oder Mädchenfuß, gewölbte Brüste, ein intimes weibliches Bekleidungsstück u. dergl. konnten in mir die heftigste Glut innerlicher Vorstellungen entzünden. Als ich im 20. Lebensjahr zum erstenmal ein Gemäldemuseum besuchte, brachte mich der Anblick der nackten weiblichen Gestalten namentlich: eine aus dem Bade steigende Bathseba dermaßen aus dem Gleich- gewicht, daß ich tagelang meine Gedanken nur mit Mühe zu ernster Arbeit zwingen konnte. Kurz es entwickelte sich bei mir je länger je mehr eine erotische Überempfindlichkeit und Reizbarkeit, wie ich sie bei andern jungen Männern nicht beobachten konnte und die mir heute als durchaus ungesund erscheint. Daß diese mächtige Leidenschaft nicht die ethischen Dämme durchbrach und auf natür- lichen oder unnatürlichen Irrwegen Befriedigung suchte, daran war einerseits ein hohes Maß sittlicher Selbstbeherrschungsfähigkeit, andrer- seits aber eine fast unüberwindliche Schüchternheit gegenüber dem weiblichen Geschlecht schuld.

Diese Schüchternheit entwickelte sich mit der beginnenden Ge- schlechtsreife. Ich verlor die Fähigkeit und Sicherheit, mit dem: andern Geschlecht unbefangen und harmlos zu verkehren. Jede Be- gegnung mit einem Mädchen meines Alters verursachte bei mir tiefes Erröten und versetzte mich in lächerliche Verwirrung und Verlegen- heit. Dabei umkleidete meine Phantasie alles Weibliche mit einem mystischen Heiligenschein. Die Vertreterinnen des schönen Geschlechts erschienen mir durchweg als überirdische Wesen, zu denen ich in scheuer Verehrung kaum die Augen aufzuschlagen wagte. Unbegreif- lich erschien es mir, wie meine Kameraden über ihre Schwestern oder andre Weiblichkeiten in burschikos lieb- und respektlosem Tone reden ja sie sogar zum Gegenstand ihres trivialen Spottes machen konnten. Diese übertriebene Verehrung und Idealisierung, die gerade wegen meiner Schwesternlosigkeit durch reale Erfahrungen in keiner Weise korrigiert wurde, trug erst recht zur Steigerung meiner

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Schüchternheit gegenüber dem andern Geschlechte bei. So sehr es mich einerseits zum Weibe hinzog, so scheu und verzagt ging ich ihm andrerseits aus dem Wege. Gegen die mir wiederholt gestellte Zumutung, bei der Hochzeit Bekannter die Rolle eines Brautführers zu übernehmen, wehrte ich mich mit Händen und Füßen. Ebenso konnte ich mich nicht entschließen, ñas Tanzen zu erlernen. Der Gedanke, mit einem weiblichen Wesen in so nahe Berührung zu kommen, wie sie im Tanzsaal üblich ist, hatte etwas Fürchterliches- für mich. Lieber hätte ich mich in das Fegfeuer einer weiteren Staatsprüfung als in eine solche Situation begeben. Aus diesen Gründen galt ich allgemein als kalter, gefühlloser Michel und un- verbesserlicher Weiberfeind, und doch glich ich in Wirklichkeit einem im Verborgenen glühenden erotischen Vulkan. Wohl hatte ich bis. zu meinem 25. Lebensjahr mein Herz mindestens ein halbes Dutzend mal an irgend einen Stern aus meiner Umgebung verloren und in un

zähligen Gedichten meinem liebeglühenden Herzen Luft gemacht, aber- keiner der in der Stille Vergötterten wagte ich auch nur durch einen Blick geschweige denn durch ein Wort oder Zeichen meine Gefühle- zu offenbaren. Und als es dann nach dem 25. Lebensjahr infolge- des ermunternden Engegenkommens von der andern Seite zum ersten- mal zu einer Verständigung kam, da trat in meinem Empfinden nicht nur eine Ernüchterung und Abkühlung, sondern eine (von mir als. krankhaft empfundene) Gefühlserstarrung ein.

Heute bin ich der Überzeugung, daß ich als Sproß einer kinder- reichen Familie der Weiblichkeit gegenüber in ein nüchterneres und gesünderes Verältnis gelangt wäre. Der intime äußerliche und seelische Verkehr mit heranwachsenden Schwestern in der ausgleichenden Gemütsatmosphäre der Familiengemeinschaft hätte mich sowohl vor der abnormen Überhitzung und Spannung des geschlechtlichen Emp- findens als auch vor einer ungesunden schwärmerischen Überschätzung- des Weiblichen bewahrt. Ich hätte dann vielleicht gelernt, auch so kühl und illusionslos wie meine Kameraden über die »Gebilde aus. Himmelshöhen« zu urteilen und ebenso unbefangen mit ihnen zu ver- kehren. Vielleicht hätte ich dann allerdings schon vor dem 25. Lebens- jahr die »Gefühlsstarre« kennen gelernt. Aber am Ende wäre das. nur ein Glück für mich gewesen. Denn Kinderkrankheiten sind be- kanntlich am gefährlichsten, wenn sie erst im Alter auftreten.

* * *

Damit bin ich mit dem, was es mich zu Neters Schriftchen zu sagen drängte, zu Ende. N. geht nach meiner Auffassung in einzelnen Punkten entschieden zu weit. So schlimm, wie er es schildert, steht:

128 A. Abhandlungen.

es mit de einzigen Kindern nur in besondern Fällen und unter bestimmten” Bedingungen. Aber nichtsdestoweniger sind seine Hin- weise auf die den Einzigen drohenden Gefahren und seine sich daran knüpfenden Belehrungen und Mahnungen vollauf berechtigt, und als Einziger wünsche ich, daß das Büchlein von recht vielen Eltern einziger Kinder gelesen und beherzigt werden möchte. Ihre Spröß- linge werden ihnen das später gewiß danken. Von meinen Zeilen dagegen wünsche ich, daß sie ein klein wenig zur Klärung der Psy- chologie der Einzigen beitragen möchten, sei es schließlich auch nur, daß sie weitern psychologischen Erörterungen als Beispiel für die Denkweise Einziger dienten.

2. Die Gefühlsbetonung von Farben und Farben- kombinationen bei Kindern. Von Dr. Anna Martin - Halle.

Vorbemerkung.

Die folgenden Untersuchungen über die Gefühlsbetonung der Farben sind von Frl. Martin in meinem psychologischen Laboratorium ‚an der hiesigen Universität angestellt worden. Die Ergebnisse sind nicht nur vom theoretisch-psychologischen Standpunkt, sondern auch vom Standpunkt der angewandten Psychologie, insbesondere der Päda- gogik äußerst interessant. Nur zwei Punkte seien hier hervorgehoben. Die Auswahl der Farben für die Abbildungen der Kinderfibel muß, ‚abgesehen von der Naturtreue, offenbar so getroffen werden, daß einer- seits die Aufmerksamkeit und das Interesse durch den Gefühlston der Farben geweckt wird, und daß andrerseits in zweckmäßiger Weise die Grundvorstellungen der Farben dem Kind eingeprägt werden. Die bis jetzt gebräuchlichen Fibeln tragen diesen Forderungen nur zum Teil. Rechnung. Nicht weniger wichtig ist im vorgeschrittenen Kindes- alter die ästhetische Erziehung des Farbensinns, deren Rückständigkeit in Deutschland von Lichtwark vor einiger Zeit wieder so eindringlich betont wurde. Für eine solche Erziehung ist es ganz unerläßlich, ‚daß wir genau wissen, auf welchen Faktoren die Gefühlsbetonung ‚der Farben bei den Kindern beruht und nach welchen Richtungen sie zurzeit entwickelt ist. In diesen und vielen anderen Beziehungen scheint mir die Martinsche Arbeit geeignet, sehr wertvolle Anregungen :zu geben.

Halle a. S., Januar 1921. Th. Ziehen.

* *

Martin: Die Gefühlsbetonung von Farben usw. 129

Seitdem in den letzten Jahrzehnten die experimentelle Ästhetik, als deren Begründer G. Th. Fechner angesehen werden muß, sich immer mehr entwickelt hat, ist auch das Problem der Gefühlswirkung von Farben und Farbenkombinationen vielfach Gegenstand experi- menteller Untersuchung gewesen. Speziell auch mit Kindern, bei denen ja die Freude am Farbigen, die dem Menschen überhaupt ur- eigen zu sein scheint, besonders deutlich in die Erscheinung tritt, sind derartige Untersuchungen!) angestellt worden. Trotz mancher guten Resultate und wichtigen Aufschlüsse, die gewonnen wurden, blieben aber noch eine Reihe bedeutsamer Fragen unerörtert, und so sind die vorliegenden Versuche angestellt worden, um die Wohl- gefälligkeit von Farben und Farbenkombinationen bei Kindern noch genauer zu prüfen, als das bisher geschehen ist.

Indem ich bei meinen Experimenten jedes einzelne Kind unter tunlichst vollkommener Konstanz der objektiven Versuchsbedingungen (Beleuchtung, Untersuchungsraum, Lage der Farben, Stellung der Kinder usw.) nach verschiedenen Methoden und unter verschiedenen Gesichtspunkten prüfte, hoffte ich durch Vergleiche einerseits die aus den einzelnen Methoden etwa entspringenden Fehler leichter erkennen und eliminieren und, damit für meine Schlüsse eine größere Sicher- heit erreichen zu können. Andererseits aber und in erster Linie hoffte ich, der individuellen Begründung der Gefühlsbetonung der Farben näherzukommen. Durch Wiederholung der Versuche nach gleichem Schema bei Kindern beiderlei Geschlechts und verschiedener Altersstufen und Gesellschaftsklassen ergaben sich weitere Vergleichs- möglichkeiten, und so glaubte ich, geeignetes Material zu gewinnen für die Beantwortung der beiden mir vorschwebenden Hauptfragen:

1. Gibt es eine allgemein von Kindern bevorzugte Farbe? 2. Welche Faktoren bestimmen das Urteil der Kinder über den

Gefühlswert von Farben und Farbenkombinationen ?

1) Ich verweise besonders auf: N. C. Schuyten, Über den Farbensinn bei Schulkindern. Die experim. Pädagogik, 1907, Bd. III, S. 74. Chr. Aars, Der ästhetische Farbensinn bei Kindern. Zeitschr. f. pädag. Psychologie, 1. Jahrg. 1899, 4. Heft. Dobbie, Experiments with school children on colour combination. Univers. of Toronto Studies, Psychological Series ed. by Kirschmann, 1900, Vol. 1, p- 251. M. Lobsien, Über Farbenkenntnis bei Schulkindern. Zeitschrift für Psychologie, 1904, Bd. 34, S. 29. E. Meumann, Ästhetische Versuche mit Schuikindern. Die experim. Pädagogik, 1906, Bd. II, S. 74. Engelsperger u. Ziegler, Weitere Beiträge zur Kenntnis der psych. u. phys. Natur des sechs- jährigen, in die Schule eintretenden Kindes. Die experim. Pädagogik, 1906, Bd. II, 8. 49. D. Katz, Studium zur Kinderpsychologie. Wissensch. Beiträge zur Päd. w. Psycholugie v. Deuchler & Katz, 1913, 4. Heft.

Zeitschrift für Kinderforschung. 26. Jahrgang. 9

130 A. Abhandlungen.

Ehe ich an Hand der gewonnenen Resultate eine Antwort auf die gestellten Fragen zu geben versuche, will ich eine Beschreibung der Versuchsanordnung geben. Es wurden für die Experimente mit farbigem Papier beklebte, rechteckige Täfelchen aus starker Pappe in der Größe von etwa 4,5 x 7 cm verwendet. Die Stärke der Pappe bewirkte, daß die Täfelchen nicht biegsam waren und glatt auf ihrer Unter- lage auflagen, was im Interesse einer gleichmäßigen Beleuchtung der ganzen Ober- fläche notwendig ist. Die gewählte Größe der Täfelchen erwies sich deshalb als praktisch, weil sie einerseits vollkommen genügte, um einen deutlichen Eindruck von der Farbe zu geben, andererseits aber wieder gering genug war, um eine Er- müdung und Abstumpfung des Sehapparates zu vermeiden, wie sıe bei der Be- trachtung großer einfarbiger Farbflächen leicht eintritt. Auch gestattete die Größe, was für einige Teile der Untersuchung wünschenswert war, mehrere Täfelchen gleichzeitig vor dem Kinde auszubreiten, ohne daß die bequeme Überschaubarkeit dadurch beeinträchtigt wurde. Als Hintergrund diente ein mit schwarzem Tuch bespannter Holzrahmen (50 >< 50 cm), der vor dem Kinde wagerecht auf dem Tisch lag, und auf den die Täfelchen genau in die Mitte von der Seite her gelegt wurden. Alle Versuche wurden bei Tageslicht in demselben Raum vorgenommen und dabei nach Möglichkeit auf gleichmäßige Beleuchtung geachtet. Helleinfallendes Sonnen- licht wurde selbstverständlich vermieden und an trüben, dunklen Tagen die Unter- suchungen lieber ausgesetzt. Die Versuche, die sich über ein Jahr erstreckten, fanden ebenfalls im Interesse der Beleuchtung während des Sommers meist am Nachmittag zwischen 3 und 6 Uhr, im Winter am Vormittag zwischen 10 und 12 Uhr statt, Sicherlich wird man trotz dieser Vorsichtsmaßregeln Zweifel hegen können, ob eine absolute objektive Gleichmäßigkeit der Beleuchtung für alle Unter- suchungen erreicht ist, und da bei einer Abnahme der objektiven Lichtstärke sich der subjektive Eindruck der Farben durchaus nicht für alle Qualitäten in gleicher Weise ändert, so könnte hier in der Tat eine nicht unerhebliche Fehlerquelle vor- liegen. Aber demgegenüber ist zu sagen, daß das eingeschlagene Verfahren immer- hin. genügt, um starke Beleuchtungsschwankungen zu vermeiden. Die Vornahme der Untersuchungen im Dunkelzimmer bei konstanter künstlicher Beleuchtung hätte namentlich auf die jüngeren Kinder ungeheuer verwirrend gewirkt, und so glaubte ich, ein geringes Schwauken der Beleuchtungsverhältnisse im Interesse der größeren Unbefangenheit der kleinen Versuchspersonen in Kauf nehmen zu sollen. Was die verwendeten Farbpapiere selbst betrifft, so handelt es sich um die von der Firma Zimmermann in Leipzig hergestellte Serie. Zur genauen Bestimmung habe ich die Papiere mit den Tafeln des großen Farbenatlas von Wilh. Ostwald verglichen. Dieses Werk, daß 1918 in Leipzig erschienen ist, umfaßt etwa 2500 Farbentafeln. Zugrunde liegt ihm ein hundertstufiger spektraler Farbenkreis, dessen Einteilung auf Grund des Prinzipes der inneren Symmetrie nach dem Gesetz der Gegenfarben vorgenommen ist, d. h, so, daß je zwei Komplementärfarben auf demselben Durch- messer liegen, also um 50 Stufen voneinander entfernt sind. Zu jeder einzelnen von den 100 »reinen« Farben gehört eine Gruppe von »gebrochenen« Farben, die eine stärkere oder geringere Zumischung von Schwarz und Weiß enthalten. Dadurch entstehen eine ganze Reihe von soweit es die technische Horstellung erlaubt vollständigen Farbenkreisen, deren jeder einen für alle Glieder konstanten Schwarz- Weiß-Gehalt hat. Diese Kreise werden durch zwei Buchstaben bezeichnet, von denen der erste nach einem bestimmten Schema den Weißgehalt (a = Maximum, p = Minimum von W) und der zweite den Schwarzgehalt (p = Maximum, a = Minimum) angibt. Die Kreise pa, pb, pe usw. stehen also auf gleicher

Martin: Die Gefühlsbetonung von Farben usw. 131

Weiß-, aber verschiedener Schwarzstufe, bei pa, oa, na ist es umgekehrt. Das Verhältnis der drei Faktoren: reine Farbe (r), Weiß (w), Schwarz (s), in Hundertsteln ausgedrückt, ergibt die Kennziffern der einzelnen Farbentafeln, wobei aber r als aus w und s leicht zu ergänzen weggelassen und statt dessen die Nummer des Farbentones eingesetzt wurde. So bezeichnet 00 04 40 ein Gelb mit 4°/, Weiß- und 40°, Schwarzgehalt. Folgende Tabelle gibt die Einordnung der Zimmermann- schen Papiere in das Ostwaldsche System:

Zimmer- Ostwald Ostwald mann Farbenkreis Kennziffern f w s Purpur. . . a pe 35 35 04 62 Rot . b 25 25 02,5 62 Rot . c 25 25 02,5 26 Rot . d 25 25 03 —- 15 Orange . e ne 17 17 0 40 Gelb. g la 04 04 10 12 Gelb. h kb 00 00 13 30 Grün š i le 89 8 10 45 Blaugrün . 1 ic 8 - 8 16 47 Blaugrün . m le 67 67 10 43 Blau. n oc 54 54 -- 07 48 Blau.,. o oc 50 50 06 50 Violett . p pe 46 46 04 68

Die Farben m, o und p ließen sich nur annähernd bestimmen. Was die Farben b, c und d anbetrifft, so fallen diese, wie eine Anfrage bei dem Verfasser des Farbenatlas ergab, aus dem Umfange des Werkes heraus, weil sie einen so geringen Weißgehalt aufweisen, wie er für die andern Farbtöne, Blau und Grün z. B. technisch nicht herstellbar gewesen wäre, so daß sich nur ein ganz unvollständiger Farbenkreis auf dieser Weißstufe ergeben hätte. Die oben angeführten Kennziffern wurden von Hern Professor Ostwald nach demselben Maßverfahren'), das zur Bestimmung der Täfelchen im Atlas gedient hatte, freund'ichst hergestellt.

Die Zimmermannschen Farbpapıere sind matt und deshalb gut verwendbar, deun der Glanz stört leicht die Wirkung des Farbtons, weil sich durch ihn geringe Schwankungen der Beleuchtung und kleine Veränderungen des Gesichtswinkels sehr fühlbar machen. Außerdem mischt sich mit dem Glauz ein ganz neuer ästhetischer Faktor ein, dem eine besondere Gefühlsbetonung eignet. Zwar wurde versucht, eine Vergleichung zwischen stumpfen und glänzenden Papieren gleicher Qualität anzustellen, doch gelang es erstens nicht, eınwandfreies Material für alle Nüancen zu beschaffen, und zweitens stellte sich auch bald heraus, daß, um den ästhetischen Wert des Glanzes zu analysieren, genaue und methodisch schwierige Untersuchungen notwendig gewesen wären, die sich nicht wohl noch in die Reihe der Experimente einfügen ließen, und aus diesen Gründen wurden -die Vergleiche nicht fortgesetzt. Diese Forderung der Glanzlosigkeit der Farben bringt es mit sich, daß die Ober- fläche der Papiere nicht völlig glatt sein darf. Aber auch zu große Rauhheit und vor allen Dingen Unregelmäßigkeiten der Oberfläche stören die Wirkung der Farben bedeutend. Die Zimmermannschen Papiere genügen den in dieser Hinsicht zu

1) Vgl. W. Ostwald, Beiträge z. Farbenlehre. Abhandlungen d. Kgl. Sächs. Gesellschaft d. Wissensch. Math.-Phys. Klasse 1917, Bd. XXXIV, S. 533 ff. 9*

132 A. Abhandlungen.

stellenden Anforderungen, zumal bei einer Betrachtung aus mittlerer Entfernung kleine Ungenauigkeiten verschwinden. Es sei auch noch bemerkt, daß Täfelchen, die durch den Gebrauch beschädigt waren, natürlich sofort erneuert wurden.

Im ganzen sind zu den Versuchen 177 Kinder herangezogen worden, darunter

85 Knaben im Alter von 7 bis 16 Jahren, 41 Mädchen im Alter von 11 bis 13 Jahren und 51 Kinder (26 Knaben und 25 Mädchen) im Alter von 4 bis 6 Jahren. Das Hauptgewieht lag auf der Untersuchung der 85 Knaben. Bei den Mädchen be- einflußten leicht gewisse Assoziationen, wie die Erinnerung an Kleider und Putz das Urteil, und da in diesen Dingen doch meistens viel mehr der suggestive Einfluß der Mode und der Geschmack der Eltern zur Geltung kommen als das eigene ästhetische Gefühl der Kinder, so erschien das Sichaufdıängen derartiger Assoziationen in der Tat störend. Aus diesen Gründen waren Knaben, in deren Vorstellungs- und Gefühlsleben die Kleidung und ähnliches namentlich hinsichtlich der Farbigkeit eine geringere Rolle zu spielen pflegt, geeignetere Versuchspersonen. Bei den jüngeren Kindern konnten Knaben und Mädchen unbedenklich etwa in gleicher Zahl herangezogen werden; denn in diesem Alter macht sich der oben erwähnte Unterschied noch wenig bemerkbar, und außerdem handelte es sich um Zöglinge eines Kindergartens, in dem alle Kinder in gleicher Weise durch Spiele und Arbeiten mit farbigen Gegenständen beschäftigt und so mit den Farben vertrant gemacht wurden. Zu den Versuchen sind Kinder aus verschiedenen Ständen herangezogen worden, und in jedem einzelnen Fall wurde der Beruf des Vaters notiert. Hierfür war der Gedanke maßgebend, daß die ständige Umgebung einen entscheidenden Einfluß auf das gesamte Vorstellungsinventar eines Kindes im allgemeinen und auf die Kenntnis und Bewertung der Farben im besonderen ausübt, und es wurde ver- mutet, daß sich von hier aus Eıklärungen finden lassen möchten für individuelle Eigentümlichkeiten. Ein eklatantes Beispiel für die Richtigkeit dieser Vermutung kann ich aus meinen Protokollen anführen: Der Sohn eines Friseurs bevorzugt konsequent ein helles, lebhaftes Gelb (h oder g) und denkt dabei nach seinen eignen Angaben an das blanke Messingbecken des väterlichen Geschäftes. Unter den Knaben waren Schüler der hiesigen Latina, des Realgymnasiums, der Oberrealschule, der Mittel- schule und der Volksschule. Die Mädchen gehörten ausnahmslos der 3. Klasse der Volksschule an. Um Anhaltspunkte zu gewinnen, in welcher Richtung individuelle Begabung und Liebhaberei eines Kindes zu suchen sei, pflegte ich die Kinder nach ihrem Lieblingsfach in der Schule, nach dem künftigen Beruf u. dergl. zu fragen. Besonders wurde bei jedem Kinde die Zensur im Zeichnen festgestellt und nach einer etwaigen privaten Beschäftigung mit Zeichnen und Malen gefragt. Auch von hier aus ergaben sich öfter wichtige Aufschlüsse für die Beurteilung der experi- mentellen Ergebnisse. Die Zensuren der Hauptschulfächer, die ebenfalls notiert wurden, gaben einen gewissen, aber oft nicht zuverlässigen Anhalt für die Be- urteilung der Intelligenz der Kinder. Ich stütze mich daher in meinen diesbezüg- lichen Angaben auf die mir freundlichst zur Verfügung gestellten Resultate von Intelligenzprüfungen, die Herr Geheimrat Ziehen an den meisten Kindern vornahm. Diese Prüfungen waren besonders deshalb für die weiteren Farbenexperimente wert- voll, weil durch sie Abnormitäten festgestellt werden konnten, deren Nichtbeachtung die Exaktheit der Resultate aller weiteren Versuche wesentlich gefährdet hätte. Spezielle Abweichungen auf dem Gebiete des Farbensinnes, etwa im Sinne partieller oder totaler Farbenblindheit wurden nicht beobachtet. Wohl aber fanden sich namentlich unter den jüngeren Schülern der Volksschule einige Individuen mit aus- . gesprochener Debilität. Es ist nun nicht gesagt, daß diese von den ästhetischen

Martin: Die Gefühlsbetonung von Farben usw. 133 Experimenten hätten ausgeschlossen werden müssen. Nach Möglichkeit wurden sie in genau derselben Weise untersucht wie die anderen Kinder, aber die Resultate dieser Untersuchungen wurden getrennt von den anderen bearbeitet. Möglicher- weise würden genau und in größerem Umfang an Debilen ausgeführte Experimente über die Gefühlsbetonung von Farben ganz besonders interessante und wissen- schaftlich und praktisch wertvolle Resultate liefern. Versuche, die ich selbst, außer an den erwähnten einzelnen Individuen, in der hiesigen Hilfsschule gemacht hätte, mußten wieder abgebrochen werden, um das Gebiet dieser Arbeit nicht allzusehr zu erweitern.

Für das Gelingen psychologischer Experimente, namentlich mit Kindern, ist es von größter Wichtigkeit, daß der Versuchsleiter, abgesehen von den Antworten oder sonstigen Reaktionen, die die Versuchsanordnung als solche fordert, auf das genaueste alle Symptome besonderer psychischer Zustände bei den Versuchspersonen beobachtet, weil dadurch Störungen erkannt und abgestellt und Aufschlüsse ge- wonnen werden. Bei einigen der von mir untersuchten Kinder zeigten sich . Ängstlichkeit und Aufgeregtheit, hervorgerufen durch die Fremdheit der Räume,

Personen usw. Zuweilen tauchte auch der beängstigende Gedanke auf, wie ich durch Fragen erfuhr, daß es sich bei den Versuchen um ein mit der Schule im Zusammenhang stehendes Examen handele. Solche Mißverständnisse müssen natürlich zu Beginn der Untersuchungen beseitigt und alle Scheu überwunden werden. Bei älteren und beherzteren Kindern löste übrigens die Neuheit der ganzen Sache eine dem Gelingen des Experimentes wohl zuträgliche Spannung und gesteigerte Auf- merksamkeit aus. Um die Kinder nicht zu ermüden, wurden die Beobachtungen nicht zu lange ausgedehnt und in jede Gesamtuntersuchung, die höchstens °/, Stunde dauerte, eine längere Pause eingeschoben, in der sich die Kinder mit einem Spiel oder Geschichtenbuch unterhielten. Machten sich trotzdem Spuren von Ermüdung, Unlust oder Zerstreutheit bemerkbar, so wurden die Untersuchungen abgekürzt oder verschoben. Während der Untersuchungen selbst wurde auf das Mienenspiel oder sonstige Ausdrucksbewegungen des Kindes genau geachtet und gegebenenfalls eine Bemerkung darüber dem Protokoll eingefügt. Es kam gar nicht selten vor, daß besonders wohlgefällige Farben mit wohlgefälligem Lächeln begrüßt wurden, während andere ein mißbilligendes Kopfschütteln hervorriefen. Für die Methode der gegenwärtigen Untersuchungen hatten diese Notizen natürlich nur den Wert gelegentlicher Unterstützungen oder Erläuterungen des von dem Kinde gefällten Urteils; daß aber die Ausdrucksbewegungen auch mit gutem Erfolg zum Ausgangs- punkt von experimentellen Untersuchungen des Gefühls genommen werden können, zeigen die Arbeiten von R. Schulze!), der u. a. auch die Gefühlswirkung einer Reihe von Bildern und auch einzelner Farben dadurch prüfte, daß er von den Kindern während der Betrachtung ohne ihr Wissen kinematographische Aufnahmen machte.

Außer den Beobachtungen über mimische und andere Ausdrucksbewegungen wurde auch Wert darauf gelegt, spontane Äußerungen wörtlich zu Protokoll zu nehmen. Häufig geben solche natürlich willkommenen eigenen Bemerkungen Ver- ‚anlassung zu kleinen individuellen Erweiterungen und Veränderungen des Versuches. Im übrigen wurden den Kindern stets im Anschluß an ihr Uıteil bestimmte Fragen vorgelegt, deren Inhalt im einzelnen später noch zu behandeln sein wird. Nur das

5 R. Schulze, Aus der Werkstatt d. experimentellen Psychologie und Päda- gogik. Leipzig 1913, 3. Auflage, S. 128.

134 A. Abhandlungen

möchte ich hier schon hervorheben, daß, sowohl was die Form als auch den Ton der Frage betrifft, jede Suggestion nach Möglichkeit vermieden wurde. Auch in meinem übrigen Verhalten war ich während des ganzen Versuches aufs sorgfältigste bemüht, die Kinder in keiner Weise zu beeinflussen, und ich glaube, daß man in dieser Beziehung kaum vorsichtig genug sein kann, denn ich habe namentlich auch bei jüngeren Kindern die Eıfahrung von Katz!) bestätigt gefunden: »Manche Kinder sind in einem überraschend hohem Grade durch den Ausdruck, den sie den Mienen und Gebärden des Versuchsleiters entnehmen zu können glauben, beeinflaßbar, ja, manche versuchen in geradezu raffinierter Weise durch eine Beobachtung des Versuchsleiters herauszubekommen, welches Verhalten man wohl von ihnen erwartet.« Um eine gegenseitige Beeinflussung der Kinder zu vermeiden, wurden alle Experi- mente selbstverständlich als Einzelversuche ausgeführt, so daß nie ein anderes Kind bei den Untersuchungen zugegen war, auch nicht solche, bei denen die Unter- suchungen schon beendet waren.

Alles, was ich bisher auszuführen versucht habe, gilt natürlich mit geringen Abweichungen für die Schulkinder sowohl als auch für die jüngeren Kinder des Spielgartens. Doch möchte ich, was die letzteren anbetrifft, noch auf einige be- sondere Schwierigkeiten hinweisen. Die Gefahr der Ablenkung und Verwirrung ist bei diesen Kindern natürlich besonders groß. Deswegen fanden die Versuche nicht im psychologischen Laboratorium der Universität, sondern in den Räumen des Kindergartens selbst statt. Um der großen Ermüdbarkeit der kleinen Versuchs- personen Rechnung zu tragen, wurden die Untersuchungen durchschnittlich nicht über 10 Minuten ausgedehnt.

Was nun die Anordnung der Versuche selbst betrifft, so zerfiel die Gesamt- untersuchung eines Kindes in eine Reihe von Einzelversuchen, Nachdem für jedes Kind die oben erwähnten Notizen über Alter, Klasse, Stand des Vaters usw. gemacht waren, begannen die Untersuchungen mit einer paarweisen Vergleichung von sechs Farben. Die Kinder saßen auf einem ihrer Größe entsprechend eingesteliten Drehstuhl in bequemer Haltung am Tisch. Dem Kinde wurden dann je zwei Täfelchen gleichzeitig so vorgelegt, daß sie einen Abstand von etwa 4 cm voneinander hatten. Dazu wurde gefragt: »Welche Farbe gefällt dir besser?«e Gewöhnlich er- folgte die Antwort schnell und bestimmt, öfters lautete sie auch: »Alle beide gleich« oder einige Male: »Gar keine.« Selbstverständlich wurden diese Antworten sofort zu Protokoll genommen, ohne das Kind zu einer Wahl zu drängen. Die für diesen Teil der Untersuchungen verwandten Farben waren Rot d, Gelb g, Grün i, ein Braun?), Violett p und Blau o. Diese Reihenfolge entspricht der im Versuch ver- wendeten, sie war zunächst willkürlich, blieb aber für alle Versuche konstant. Jede Farbe wurde mit jeder anderen verglichen, indem zuerst Rot mit je einer der übrigen fünf Farben vorgelegt wurde, dann Gelb usf. Die in einer Reihe konstant bleibende Farbe soll im folgenden als Hauptfarbe, die übrigen wechselnden und mit ihr verglichenen als Vergleichsfarben bezeichnet werden. Es ergibt sich aus diesem Schema, daß jedes Farbenpaar im Laufe der Untersuchung zweimal vorgelegt wurde, aber mit Umkehrung des Verhältnisses von Haupt- und Vergleichsfarbe derart, daß

1) D. Katz, Studien zur Kinderpsychologie. Wissenschaftl. Beiträge zur Pädag. u. Psycholog. von Deuchler u. Katz. Leipzig 1913, 4. Heft, S. 34.

2) Es handelt sich dabei um ein mittleres Braun von ziemlich geringer Sättigung und eher gelblicher als rötlicher Beimischung. Es ist nicht in der Zimmer- mannschen Serie enthalten.

s Martin: Die Gefühlsbetonung von Farben usw. 135

z. B. bei Rot und Blau zunächst Rot als Hauptfarbe und Blau als Vergleichsfarbe auftrat, später Blau Hauptfarbe und Rot Vergleichsfarbe wurde. Diese Umkehrung des. Verhältnisses war gleichzeitig mit einem Wechsel der Lage verbunden, da die Hauptfarbe immer rechts, die Vergleichsfarbe immer links (vom Beschauer) lag. Was die Antwort der Kinder betraf, so wurde ihnen völlige Freiheit gelassen; sie zeigten mit der Hand oder nannten den Namen der Farbe. Das erstere war bei den Kindern des Spielgartens die Regel. Die beschriebene Methode, die ich zur Unterscheidung von einer anderen gleich zu erwähnenden die paarweise Ver- gleichung mit Hauptreiz nennen möchte, hat den Vorteil, daß eine vollständige und allseitige Vergleichung erreicht wird. Um aber ein günstiges V.ergleichsmaterial zu gewinnen und etwaige in dieser Methode begründete Fehlerquellen aufzudecken, wurde mit denselben Farben eine ähnliche Untersuchung auch nach der Methode der paarweisen Vergleichung mit absolutem Wechsel ausgeführt. Dem Kinde wurden alle fünfzehn Farbenpaare in buntem Wechsel nacheinander zur Wahl vor- gelegt und zwar so, daß keine der eınzelnen Farben zweimal hintereinander auftrat. Selbstverständlich war aber die Reihenfolge der Farbenpaare für die Untersuchung bei allen Kindern konstant. Dabei wurde auch hier, nachdem das Kind sein Urteil abgegeben hatte, die Lage der Tafeln vertauscht und das Kind aufgefordert, aber- mals zu wählen.

Bei der paarweisen Vergleichung in ihren beiden Varianten konnte leicht, obwohl die Farben ja nicht unmittelbar nebeneinander dargeboten wurden, und ob- wohl durch die Aufforderung der Auswahl eine isolierende Betrachtung der Farbe gegeben war, doch ein gewisses Moment der Wechselwirkung, also der Farben- kombination, mitspielen. Außerdem erschien es wünschenswert, den Kindern eine größere Zahl von Farben vorzulegen, als es bei der immerhin umständlichen und zeitraubenden und daher ermüdenden paarweisen Vergleichung möglich war. Aus diesen Gründen wurden weitere Teiluntersuchungen nach der zuerst von Major!) für Versuche mit Erwachsenen angewandten Methode der absoluten Prädikate an- gestellt. Ihr Wesen besteht darin, daß die ästhetischen Objekte einzeln dargeboten werden, und der Versuchsperson die Aufgabe gestellt wird, durch bestimmte Prädi- kate, z. B. sehr schön, schön, gleichgültig, häßlich, sehr häßlich ihr ästhetisches Urteil zum Ausdruck zu bringen. Die Zahl der zur Verfügung gestellten Prädikate schwankt bei den einzelnen Forschern, Major verwendet deren sieben, Baker?) nur vier und L. Martin°) vierzehn, Es besteht aber die große Gefahr, daß die Versuchspersonen mit den einzelnen konstanten Prädikaten nicht immer das gleiche ästhetische Werturteil verbinden, so daß die Resultate aller Protokolle untereinander nicht ohne weiteres vergleichbar sind. Um den Kindern nun die Methode leichter verständlich und vertraut zu machen und um eine Skala von Prädikaten zu ge- winnen, die wenigstens eine gewisse Gleichmäßigkeit für alle hatte, sagte ich den Kindern: »Du sollst den Farben nun einmal Zensuren geben, wie ihr sie in der Schule bekommt«, und stellte dann durch Fragen fest, ob dem Kinde die Möglich- keiten des Urteils entsprechend den Nummern 1 bis 5 mit ihren Zwischenstufen

Y

1) Major, On the affective tone of simple sense-impressions. Americ. Journal of Psychol. 1895. Vol. 7, p. 57.

2) E. S. Baker, Experiments on the aestetic of light and colour. Univ. of Toronto Studies, Psychol. Series ed. by A. Kirschmann, 1900. Vol. I., p. 201.

®) J. L. Martin, Über ästhetische Synästhesien. Ztschr. f. Psycholog. 1909. Bd. 53, S. 1.

126 A. Abhandlungen. a

gegenwärtig waren. Nach einem anfänglichen Staunen fanden sich die Kinder meistens schnell in die Aufgabe des Versuches hinein. Doch muß schon hier bemerkt werden, daß diese Methode nur bei größeren und intelligenteren Kindern Aussicht auf Er- folg hat; im Kindergarten wurde sie selbstverständlich nicht verwandt, nnd bei schwachbegabten Kindern war die Differenzierungsfähigkeit so gering, daß mit der Methode der absoluten Prädikate keine Resultate erzielt werden konnten. Geprüft wurde nach dieser Methode die ästhetische Wertung von 15 Einzelfarben und von einzelnen Farbenkombinationen.

Die dritte bei den Teiluntersuchungen angewandte Methode ist die Auswahl aus einer größeren Reihe von gleichzeitig vorgelegten Objekten. So wurde den Kindern die Aufgabe gestellt, aus den 15 ihnen gleichzeitig in willkürlicher An- ordnung vorliegenden Farbentafeln die hellste, dann die dunkelste, die lustigste und die traurigste herauszusuchen., Ferner wurde zum Schluß der Untersuchung den Kindern Proben der 15 Zimmermannschen Farbpapiere gezeigt mit der Aufforderung, die schönste auszusuchen. Die Farben waren in schmalen Streifchen nach spektraler Anordnung auf weißes Papier geklebt, auch ein Streifchen Weiß und Schwarz ihnen beigefügt. Die Schwächen dieser Darbietungsweise liegen auf der Hand, doch glaubte ich sie in diesen Fällen ohne Bedenken anwenden zu können, da es sich um Ergänzungsversuche handelte. Um die ästhetische Wirkung der tonfreien Farben kurz zu prüfen, ließ ich die Kinder aus der bekannten Ebbinghausschen Schwarz- Weiß-Reihe mit geometrischer Progression ') der Helligkeitsstufen die wohlgefälligste Stufe auswählen. Doch wurden diese beiden letzten Untersuchungen nur im Sinne einer Zusatzprüfung verwendet, wenn das Interesse der Kinder und die Dauer des Versuches es tunlich erscheinen ließen.

Größere Wichtigkeit hatte eine andere Teiluntersuchung, die den Einfluß der Beleuchtung auf die ästhetische Beurteilung der Farben feststellen sollte. Hierzu diente der Hering-Ruppsche Nüancierungsapparat.?) Er besteht aus einem recht- eckigen, geschwärzten Kasten von 70 cm Höhe, dessen eine senkrechte Seite offen ist. In der oberen, auswechselbaren Deckplatte befinden sich 1 bezw. 2 Löcher zum Hindurchsehen, darüber in 20 cm Abstand ein Bügel zum Auflegen des Kopfes. Im Innern des Kastens sind zwei durch eine senkrechte, mattschwarze Pappscheibe getrennte Rahmen angebracht, deren jeder sich vermittels einer seitwärts befind- lichen Schraube derart um eine horizontale Achse drehen läßt, daß eiue darauf gelegte Farbplatte bald heller, bald dunkler erscheint. Die Stellung der Platte wird mit Hilfe eines Zeigers an einer Skala abgelesen, wobei 90° die genau wagerechte Lage der Platte angibt. Da bei den Untersuchungen mit diesem Apparat die durch das wechselnde Tageslicht bedingten Beleuchtungsveränderungen einen erheblichen Einfluß haben, und auch selbst bei geübten Versuchspersonen Schwankungen in den eingestellten Werten unvermeidlich sind, so muß von vornherein auf allzu strenge zahlenmäßige Genauigkeit bei den Resultaten verzichtet werden, namentlich, wenn es sich um eine Untersuchung von Kindern handelt. Für die Untersuchung wurde der Apparat in einer Entfernung von etwa 60 cm vom Fenster aufgestellt. Die Kinder sahen mit beiden Augen durch die Öffnung auf die Farbplatte und waren angewiesen, beliebig hin- und herzudrehen, bis sie die schönste Nüance herausgefunden hätten. Geprüft wurden auf diese Weise Rot c und d, Gelb h, Grün m, Blau o und Violett p.

1) Ebbinghaus, Grundzüge der Psychologie. Leipzig 1911. I. Bd., S. 600. 2) Abb, u. Beschreibung vergl. Bericht über den 4. Kongreß für experimentelle Psychologie von Schumann. Leipzig 1911. S. 302.

Martin: Die Gefühlsbetonung von Farben usw. 137

Der letzte größere Teil der Gesamtuntersuchungen galt der Feststellung von etwaigen bei dem ästhetischen Urteil mitwirkenden Assoziationen, also dem indirekten Faktor Fechners. Ich legte zunächst den Kindern alle in den vorigen Unter- suchungen benutzten Nüancen eines jeden Farbtones gleichzeitig vor mit der Frage: »Hast Du vorhin, als Du diese Farben ansahst, an irgend etwas gedacht, was so aussieht?« Die Antworten wurden wörtlich zu Protokoll genommen und Fragen gestellt, um die Gefühlsbetonung des genannten Objektes möglichst genau fest- zustellen. Blieb die Antwort auf die erste Frage aus, oder lautete sie negativ, so wurde weiter gefragt: »Fällt dir jetzt etwas ein, was so aussieht?« Das geschah aus der Annahme heraus, daß vielleicht besonders lust- oder unlustbetonte Vor- stellungen, die dem Kinde vorher nicht zum Bswußtsein gekommen waren, doch als latente Erinnerungsbilder von Etnfluß gewesen sein könnten, und es sollte ver- sucht werden, sie auf diese Weise noch nachträglich festzustellen. Aus demselben Gedanken heraus wurde noch ein Assoziationsversuch mit verbalem Reiz an- geschlossen, bei ‘dem die Farbennamen Rot, Gelb,‘ Grün usw. zwischen anderen Reizwörtern auftauchten. Die Anordnung und der Verlauf dieser Untersuchung entsprach ganz der bekannten Methode der Assoziationsversuche!), und es gelang den Kindern mit wenigen Ausnahmen sehr schnell, sich den Versuchsbedingungen anzupassen, so daß gute Resultate erzielt wurden,

Zum Schluß der Untersuchungen endlich pflegte ich die Kinder zu fragen, ob sie eine Farbe besonders gern eine Lieblingsfarbe hätten, um auch diese Antwort mit dem Ergebnis aus dem Gesamtprotokoll vergleichen zu können. `

Was nun die Reihenfolge der Teiluntersuchungen betrifft, so mußte sie sorg- fältig geregelt werden und natürlich für alle Versuchspersonen konstant bleiben, damit nicht eine Beeinflussung des Folgenden durch das Vorangegangene eintreten konnte. So mußte z. B. der Assoziationsversuch möglichst weit an den Schluß ver- schoben werden, damit nicht durch die Fragen eine bestimmte Vorstellung be- sonders deutlich ins Bewußtsein trat und nun die weiteren Urteile modifizierte. Auch mußten sowohl zwischen den eben erwähnten beiden Versuchen zur Fest- stellung der Assoziation, als auch zwischen der paarweisen Vergleichung mit Haupt- reiz und der mit absolutem Wechsel ein genügender. zeitlicher Abstand bleiben, weil sonst die Urteile vielleicht einfach gedächtnismäßig ‘wiederholt worden wären. Die lateinischen Ziffern der nachfolgenden Tabelle sind dem Schema der Protokolle entnommen und geben die nach den dargelegten Gesichtspunkten geordnete Reihen- folge der Teiluntersuchungen an:

I. Paarweise Vergleichung mit Hauptreiz.

Il. Absolute Prädikate.

II. Kombinationen. IV. Paarweise Vergleichung mit absolutem Wechsel.

V. Erster Assoziationsversuch.

VL Hellste, dunkelste, lustigste, traurigste Farbe? VIL Nüancierungsapparat. VIII. Zweiter Assoziationsversuch.

Zwischen Nr. lII u. IV schob sich die oben erwähnte längere Pause ein.

Diese ausführlichen Untersuchungen konnten natürlich nicht in ihrem vollen Umfange bei den Kleinen des ‚Kindergartens angewendet werden. Ich beschränkte

1) Vergl. Th. Ziehen, Leitfaden der physiologischen Psychologie. Jena 1920. 11. Auflage, S. 377 ff. u. 401 ff.

138 A. Abhandlungen.

mich dort darauf, eine paarweise Vergleichung mit Hauptreiz (Nr. I) und einen Assoziationsversuch (Nr. V) in der angegebenen Weise zu machen und einige Kombinationen paarweise vergleichen zu lassen. Dazu kam noch im Zusammenhang mit einer kurzen Intelligenzprüfung eine Prüfung der Farbenunterscheidung nach der bekannten »Methode der Zuordnung«!) derart, daß die Kinder aus einem Haufen von farbigen Objekten (hier Papierblättchen) alle heraussuchen mußten, die »aus- sahen wie ein ihnen vorgelegtese. Danach ließ ich auch noch die einzelnen Farben benennen. Bei den kleinen Kındern wurden alle diese Untersuchungen in ent- sprechenden Zeitabschnitten wiederholt. Denn erst aus einem Vergleich zweier oder mehrerer Protokolle von demselben Kind konnte sich ergeben, ob die Resultate wirklich auf ästhetischer Lustbetonung beruhten oder von anderen zufälligen Fak- toren abhingen. Auch bei den älteren Kindern wurden häufig Wiederholungen der Versuche angestellt, um die Konstanz der Urteile zu prüfen oder Unklarheiten und

Widersprüche im Protokoll aufzuklären. =.

Nachdem so die Methode der Versuche dargelegt ist, werde ich zunächst die Frage zu beantworten suchen: Gibt es eine allgemein von Kindern bevorzugte Farbe und läßt sich vielleicht eine Reihe für die Wohlgefälligkeit der Farben aufstellen ?

Auf Grund der paarweisen Vergleichung mit Hauptreiz ließ sich durch Addition der auf die einzelne Farbe entfallenen Vorzugsurteile folgendes Resultat gewinnen: bei den Knaben liegt das Maximum des Wohlgefallens bei Blau, auch Violett und Rot sind beliebt, während Gelb und Grün weniger anziehend erscheinen und Braun eine minimale Bevorzugung hat. Dabei ist allerdings immer zu be- denken, daß es sich ja hier speziell um ein im populären Sinne un- gesättigtes Braun handelte. Bei den Mädchen verschiebt sich die Reihenfolge insofern, als Rot und Violett bedeutend über Blau stehen. Die paarweise Vergleichung mit absolutem Wechsel ergab im wesent- lichen dasselbe Resultat, nur wurde von Knabea sowohl als von Mädchen hier Rot häufiger gewählt als bei den erstgenannten Ver- suchen. Das ist wohl darauf zurückzuführen, daß bei der paarweisen Vergleichung mit Hauptreiz Rot an eıster Stelle steht und also zu- nächst sechsmal hintereinander als Hauptfarıbe und dann erst als Vergleichsfarbe auftritt, während Blau umgekehrt erst zum Schluß mehrmals hintereinander erscheint. Es wäre denkbar, daß durch diese Konstellation eine gewisse Abstumpfung der Lustbetonung das Rot eingetreten ist, und daß also für diese Farbe das Ergebnis der paarweisen Vergleichung mit absolutem Wechsel den Grad der Wohl- gefälligkeit besser ausdrückt. In der Tat zeigen Wiederholungs- protokolle, bei denen die Reihenfolge der Farben unter Nr. I um-

1) Peters, Die Entwicklung d. Farbenwahrnehmung nach Versuchen an ab- normen Kindern. Fortschritte d. Psychol. herausg. von Marbe 1915, Bd. 3, S. 150.

Martin: Die Gefühlsbetonung von Farben usw. 139

gekehrt worden war, durehweg etwas günstigere Resultate für Rot als die ersten Untersuchungen. >

Um diese Ergebnisse noch genauer zu charakterisieren, wurde die Zabl der Individuen festgestellt, die einzelne Farben maximal oder minimal bevorzugten. Das konnte folgendermaßen geschehen: da bei den Vergleichungen jede Farbe zehnmal in verschiedenen Verbindungen zur Beurteilung vorlag, so konnte die Zahl der Vor- zugsurteile zwischen 0 und 10 schwanken, und es wurden nun die Zahlen 7—10 und 0—3 als Zeichen einer maximalen bezw. mini- malen Bevorzugung zusammengefaßt. Berechnet man nun die Zahl der Individuen, die eine Farbe maximal bezw. minimal bevorzugt haben in Prozenten zur Gesamtzahl der untersuchten Kinder, so er- gibt sich folgende Tabelle:

Rot Gelb Grün Blau Violett % % % o % Maximale Bevorzugung: Knaben . . . . 20(41)!) 20(34) 19(24) 61(48) 43(37) Mädchen . . . 12(61) 19(29) 41(22) 27(22) 63(46) Minimale Bevorzugung: Knaben . . . . 15(11) 25(24) 25(37) 3 (4) 6 (24) Mädchen . . . 12(7) 19(19) 15(17) 2 (24) 2 (2)

Braun wird bei Knaben sowohl wie bei Mädchen fast nie maximal, wohl aber mit überwiegender Mehrheit minimal bevorzugt. Das Er- gebnis einer derartigen Berechnung bestätigt in ausgezeichneter Weise das vorhin Gesagte: Nicht nur die -Summierung aller Urteile ergibt bei den Knaben ein Maximum der Wohlgefälligkeit für Blau, sondern eine große Zahl der Individuen zeigt eine besonders starke Bevor- ` zugung gerade dieser Farbe. Bei den Mädchen sind Individuen mit ausgeprägter Vorliebe für Rot und Violett in der Überzahl.

Die Untersuchungen an den Kindern des Spielgartens ergaben eine überwiegende Bevorzugung von Violett: 64°/, aller Vorzugs- urteile entfielen auf diese Farbe, die maximale Bevorzugung betrug 27%/,, die minimale war gleich 0. Auffallenderweise wird aber auch Braun relativ gut bewertet mit 47°, aller Vorzugsurteile.

Die von Knaben und Mädchen geforderte Bewertung der Farben nach absoluten Prädikaten bestätigte die Bevorzugung von Blau

1) Die ersten Zahlen beziehen sich auf die paarweise Vergleichung mit Haupt- reiz, die in Klammern gesetzten auf die paarweise Vergleichung mit absolutem Wechsel. Bezüglich der Divergenz der Werte verweise ich auf das oben Gesagte.

140 A. Abhandlungen.

bezw. Rot!) und Violett und ergab als besonders wichtige Tatsache ein starkes Schwanken der Urteile über Gelb, eine Erscheinung, die sich in den früheren Berechnungen schon insofern andeutete, als die Zahl der Individuen, die Gelb maximal und die es minimal bevor- zugten, annähernd gleich war.

Zuletzt kommt unter den Versuchen bei der Frage nach der allgemeinen Bevorzugung einer Farbe noch die Auswahl aus der Zimmermannschen Reihe in Betracht. Für die Knaben ergab sich auch hier die schon bekannte Bevorzugung von Blau, für Mädchen die von Rot. Auffallend ist aber, daß Violett von beiden Geschlechtern hier seltener als man nach dem bisherigen erwarten sollte, gewählt wurde. Ich glaube, daß Violett bei diesen Versuchen durch die Stellung zwischen einem stumpfen Schwarz und dem ganz besonders satten und leuchtenden Blau beeinträchtigt ist. Auch braucht Violett vielleicht zur Entfaltung seiner Wirkung eine größere Fläche, als hier in dem schmalen Streifen gegeben war. Einige Probeuntersuchungen, die ich mit Erwachsenen machte, schienen diese Vermutung zu be- stätigen, doch war es nicht möglich, im Rahmen dieser Untersuchungen die ästhetische Wirkung einer Farbe hinsichtlich ihrer Abhängigkeit von Form und Ausdehnung der Farbfläche eingehend zu untersuchen.

Eine wesentliche Divergenz der Urteile für die einzelnen Alters- stufen der Knaben war nach meinen Protokollen nicht festzustellen, dagegen ergibt sich ein wichtiger Unterschied, wenn man die Schüler der höheren Schulen und die der Volksschulen einander gegenüber- stellt. Zwar bleibt die Reihe der Wohlgefälligkeit im ganzen unver- ändert (vgl. jedoch S. 12 Anm. 1), wohl aber ist die Differenzierung in der Bewertung der einzelnen Farben bei den Volksschülern durchschnittlich geringer als bei den Knaben der höheren Schulen. Nun ist diese Tatsache sicher nicht aufzufassen als ein Kennzeichen verschiedenen Intelligenzgrades. Der Unterschied ist wohl vielmehr in der Richtung des Gegensatzes zu deuten, den man kurz mit den Worten gebildet und ungebildet bezeichnet. Charakteristisch für ungebildete Personen ist die Beurteilung eines Kunstwerkes nach dem dargestellten Inhalt. ?) Eine solche Haltung ist den einfachen ästhetischen Objekten gegen- über nicht möglich. Es bedarf vielmehr gerade hier einer gewissen

1) Interessant ist nur, daß die Bevorzugung des Blau vor dem Rot, die bei Knaben sonst vorherrscht, bei den Volksschülern zurücktritt. Wie weit die Ver- wendung von rosagefärbten bezw. blauen Bändern im frühesten Kindesalter von Einfluß ist, lasse ich dahingestellt.

2) Fried. Müller, Ästhetisches und außerästhetisches Urteilen des Kindes bei der Betrachtung von Bildwerken. Diss. Halle 1911, bes. S. 32°

Martin: Die Gefühlsbetonung von Farben usw. 141

Abstraktionsübung, um zu einem ästhetischen Genuß überhaupt zu kommen, und allem Anschein nach sind zu solcher abstrahierenden Geistestätigkeit die geistig geschulteren und angeregteren Kinder der höheren Lehranstalten mehr disponiert, als die in dieser Hinsicht weniger begünstigten Kinder der Volksschule (siehe Katz, l. c.S. 58).

Die vierzehn von mir untersuchten schwachsinnigen Kinder zeigten durchgehends eine Vorliebe für Blau, aber auch Braun steht verhältnismäßig hoch in der Lustbetorung. Die Differenzierungs- fähigkeit pflegte bei diesen Individuen gering zu sein.

Die Frage: Gibt es eine bestimmte, allgemein bevorzugte Lieblings- farbe der Kinder, muß ich auf Grund aller vorausgegangenen Unter- suchungen verneinen und kann eine Reihe der Wohlgefälligkeit nur insofern aufstellen, als ich glaube, daß Violett, Blau und Rot durch- schnittlich vor Gelb, Grün und Braun stehen.

Viel aussichtsreicher erscheint es, an der Hand der einzelnen Protokolle nach der individuellen Bevorzugung einer Farbe zu forschen und nach den Faktoren, von denen eine solche Bevorzugung abhängt. Die Übereinstimmung der Ergebnisse aus den Teiluntersuchungen eines Protokolles (paarweiser Vergleich mit Hauptreiz, mit absolutem Wechsel, absolute Prädikate usw.) galt mir als Zeichen der Vorliebe für eine bestimmte Farbe. Eine solche Übereinstimmung war durch- aus nicht selten. Kleine Abweichungen deuten darauf hin, daß zu- fällige Ablenkungen die Vorliebe für eine Farbe, wenn sie nicht stark ist, zeitweise zurückdrängen konnten. Häufig beseitigten auch Wieder- holungen Widersprüche und Unklarheiten, und so läßt sich meistens aus den einzelnen Protokollen eine mehr oder minder starke indivi- duelle Bevorzugung bald dieser bald jener Farbe ablesen.

Es wird nun nicht möglich sein, in jedem Fall die besonderen Ursachen für das Entstehen von Widersprüchen im Protokoll fest- zustellen. Aber es treten gewisse allgemeine Erscheinungen auf, die teilweise solche Widersprüche erklären und deshalb hier besprochen werden müssen. Da ist zunächst an die früher erwähnte Abstumpfung des Gefühlstons einer Farbe durch die Reihenfolge der Darbietung zu erinnern (vergl. S. 138 dieser Arbeit). Ferner scheint die Ver- gleichsfarbe oft ein wenig vor der Hauptfarbe begünstigt zu sein, unabhängig von ihrer sonstigen Gefühlsbetonung. Durch diese Be- obachtung wird Schuytens!) Erfahrung bestätigt, daß gerade die Variation bei den Kindern einen wesentlichen Faktor darstellt für die

1) N. C. Schuyten, Über den Farbensinn bei Schulkindern. Die experim. Päd. 1907. Bd. OI, S. 74.

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Erregung ästhetischen Lustgefühls, und zwar scheint das namentlich bei jüngeren, etwas weniger stark bei älteren Kindern der Fall zu sein.

Auch ein Einfluß des Raumfehlers kommt in diesem Zusammen- hang in Frage. Besonders bei den jüngeren Kindern, die mit der Hand 'auf die gewählte Farbe zu zeigen pflegten, wurde wie die Protokolle deutlich erkennen lassen die der zeigenden Hand, sei es die rechte oder die linke, zunächst liegende Farbe oft bevorzugt. Aber auch bei älteren Kindern, ja sogar bei Erwachsenen begünstigt zuweilen die Lage die Bevorzugung der einen oder anderen Farbe wesentlich, selbst wenn keine Zeigebewegung ausgeführt wird. Im ganzen glaube ich meinen Protokollen entnehmen zu können, daß die Einwirkung des Raunfehlers mit höherem Alter und größerer Intelli- genz abnimmt. Durch die Anordnung der Versuche jede Farbe erscheint ebenso oft rechts wie links ist vermieden worden, daß eine einzelne Farbe für die Berechnung des Gesamtsresultates be- nachteiligt wurde. Für die einzelnen Individuen aber bedeutet es jedenfalls einen geringen Grad von ästhetischer Urteilsfähigkeit bezw. Empfindlichkeit, wenn sie dem Einfluß des Raumfehlers stark unter- liegen.

Sehr interessant ist auch die Frage nach einer generellen kon- stanten Gefühltstendenz der Kinder den Farben im allgemeinen gegenüber. Die Höhe des Zentralwertes, der aus allen von einem Kinde abgegehenen absoluten Urteilen berechnet wurde, war unter diesem Gesichtspunkt bedeutungsvoll. Es ergaben sich auf Grund der Berechnung zwei Gruppen von Individuen: C (d. h. der Zentral- wert) der absoluten Prädikate ist niedrig, es liegt also die Neigung vor, alle dargebotenen Farben positiv zu bewerten, und man kann in einem solchen Falle gewissermaßen von »ästhetischem Optimismus« reden; C ist hoch, also sind alle Farben relativ schlecht . beurteilt, und im Gegensatz zur ersten Gruppe würde man hier »ästhetischen Pessimismus«e annehmen. Ans dem größeren oder kleineren Wert der mittleren Variation, die nach der Feststellung des Zentralwertes für die übrigen Urteile berechnet wurde, ließ sich darauf schließen, ob der ästhetische Optimismus bezw. Pessimismus mit großer oder kleiner Differenzierungsfähigkeit verbunden war. Eine bestimmte Be- ziehung dieser angeführten Gruppen zu besonderen Begabungs- oder Bildungsstufen ließ sich auf Grund meiner Protokolle nicht feststellen, wenigstens soweit es sich um ästhetischen Optimismus und Pessimis- mus handelt. Die Differenzierungsfähigkeit ist bei intellektuell be- gabteren Kindern meist höher als bei Unbegabten. Doch ist auch diese Korrespondenz nicht absolut. Die größte ästhetische Begabung

Martin: Die Gefühlsbetonung von Farben usw. 143

wird man wohl bei den Individuen suchen, deren ästhetischer Opti- mismus sich mit einer starken Differenzierungsfähigkeit verbindet, während man wohl den Optimismus viel geringer zu werten hat, der ohne wesentliche Differenzierungsfähigkeit auftritt. Dabei ist sicher zuzugeben, daß vielleicht gerade eminent künstlerisch begabte und feiu empfindende Menschen Freude haben können an allen Farben und Farbenkombinationen, weil sie die Fähigkeit haben, sich in den spezifischen Gefühlswert jeder einzelnen hineinzusehen und einzu- leben, aber, um nicht selber einem unberechtigten Optimismus zu ver- fallen, muß ich doch sagen, daß es sich in den mir vorliegenden Fällen vielmehr um einen generellen, ziemlich oberflächlichen Opti- mismus zu handeln scheint, der in fröhlicher Kritiklosigkeit alles Dar- gebotene bestaunt und hoch einschätzt, aber von tieferem ästhetischen Verständnis und Gefühl weit entfernt ist. Gerade auch unter den debilen Kindern, die ich untersucht habe, befanden sich einige mit solchem ausgeprägten Optimismus, wenn allerdings auch ein indiffe- rentes Verhalten dort noch häufiger vorzukommen scheint.

Im folgenden soll versucht werden, den Einfluß darzustellen, den verschiedene Faktoren anscheinend im einzelnen auf die Bevorzugung bezw. Zurücksetzung bestimmter Farben bei den Kindern ausgeübt haben, und zwar sollen zunächst die aus dem Vorstellungsleben stammenden Einwirkungen behandelt werden, damit dann der sen- sorielle Faktor möglichst isoliert betrachtet werden kann.

Zuerst suchte ich über das Verhältnis der Bekanntheit oder Neu- heit einer Farbe zur Gefühlsbetonung!) an der Hand der Protokolle Aufschluß zu gewinnen. Als einen Maßstab für die Bekanntheit kann man wohl mit bestimmten Vorbehalten -die Geläufigkeit der Benennung verwerten, wie auch Lobsien?) das tut. Dazu kamen noch ergänzend spontane Äußerungen, etwa Urteilsbegründungen wie: »Das gefällt mir, weil ich’s oft gesehen habe« und endlich die Antwort auf die Frage: »Hast du diese Farbe schon öfter gesehen«?, die den Kindern immer im Assoziationsversuch vorgelegt wurde, wenn keine Vor- stellungen auftauchten. So ließ sich die Bekanntheit oder Neuheit einer Farbe vielfach mit großer ‚Deutlichkeit aus dem Protokoll ab- lesen und in ihrem Einfluß auf die Gefühlsbetonung verfolgen. Menon Beobachtungen nach scheint die Neuheit einer Farbe bei den

9 Vergl. Th. Ziehen, Leidfaden der NE Psychologie. 11. Aufl. Jena 1920. Vorl. VII. O. Külpe, Grundriß der Psychologie. Leipzig 1893. 8. 178. Avenarius, Kritik der reinen Erfahrung. Leipzig 1890. Bd. II, S. 32.

2) M. Lobsien, Über Farbenkenntnis bei Schulkindern. Zeitschr. f. Psycho- logie. Leipzig 1904. Bd. 34, 8. 34.

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Kindern besonders geeignet, eine Gefühlserregung hervorzurufen, und zwar in positiver wie auch in negativer Richtung, wenn auch mit einem Überwiegen der ersteren Richtung. Die Vertrautheit einer Farbe dagegen begünstigt offenbar.von sich aus eine positive, seltener eine negative Gefühlsbetonung.

Wichtiger noch als das »Notal« d. h. die Bekanntheit einer Farbe ist für deren Gefühlsbetonung der Einfluß von Assoziationen. Um einen Überblick über die Häufigkeit und die Verteilung der Asso- ziationen zu geben, ist die Zahl der Individuen, bei denen sich eine Assoziation auf die einzelnen Farben feststellen ließ, im prozentualen Verhältnis zur Gesamtzahl der Veruchspersonen berechnet, Knaben: Rot 68°/,, Gelb 46°/,, Grün 60°,, Blau 57°/,, Violett 48°/,. Mäd- chen: Rot 81°/,, Gelb 63°/,, Grün 66°/,, Blau 59°/,, Violett 66°/,. Kindergarten: Rot 61°/,, Gelb 41°%/,, Grün 49°/,, Blau 41°/,, Violett 27°/ Aus diesen Zahlen geht zunächst das eine klar hervor: Asso- ziationen treten bei Kindern durchaus nicht so spärlich auf, wie das bei Beginn der Untersuchungen angenommen wurde. Ferner ist auf- fallend, daß bei allen drei Gruppen das Maximum der Assoziationen im Gebiet des Rot liegt. Die meisten Assoziationen waren positiv gefühlsbetont; diese verteilen sich auf die einzelnen Farben fast genau in demselben Verhältnis wie die oben gekennzeichnete Menge der Gesamtassoziationen. Indifferente Assoziationen kommen bei allen Farben etwa gleichmäßig vor, nur Braun scheint an ihnen besonders reich zu sein. Negativ gefühlsbetonte Assoziationen sind verhältnis- mäßig selten und treten am häufigsten bei Grün auf, wobei aber vielleicht in Betracht zu ziehen ist, daß das von mir hauptsächlich verwendete Zimmermannsche Grün i eine ziemlich helle, leicht gelb- liche Nüance darstellt und die in einzelnen anderen Versuchen heran- gezogenen Schattierungen k und 1 schon wieder leicht bläulich sind. Daß von allen Farben Rot bei den Kindern die stärkste Tendenz zu ‚assoziativen Verknüpfungen hat, scheint besonders bemerkenswert, namentlich wenn man daran erinnert, daß nach der übereinstimmen- den Ansicht aller Forscher auf diesem Gebiete auch meine Ver- suche zeigten das gleiche Ergebnis unter allen Farbenbenennungen jedenfalls Rot als eine der ersten beim kleinen Kinde sicher fixiert zu werden pflegt. Auf meine hier sich anschließende Frage: »Hast Du eine Farbe besonders gern, hast Du eine Lieblingsfarbe?« wurde am häufigsten Rot genannt. Von den Mädchen gaben 37°/,, von den Knaben 23°/, gerade diese Farbe an. Auf die übrigen Farben ver- teilte sich die Wertung als Lieblingsfarbe folgendermaßen: Mädchen: Gelb 13°/,, Violett 10% Blau 10°/,, Grün 8°, Rosa 3°/,, Hell

Martin: Die Gefühlsbetonung von Farben usw. 145 blau 2°. Knaben: Blau 19°/,, Gelb 17°/,, Violett 11°/,, Grün 3%,, Hellgrün 2°/,, Schwarzbraun, Weiß, Orange je 1°/,. Wesentlich bei der Lieblingsfarbe ist, daß es sich hier um die Idealvorstellung einer Farbenqualität handelt, um ein Ideal, das sich die Kinder auf Grund von gehabten Empfindungen gebildet haben, dem aber unter den vor- gelegten Farben nichts zu entsprechen braucht, obwohl aus ihnen eine »schönste« ausgewählt werden kann. Deswegen ist es durchaus nicht verwunderlich und kein Widerspruch, wenn in einem Protokoll bei allen Versuchen usw. konsequent eine Farbe z. B. Violett vorgezogen ist, und als Lieblingsfarbe etwas anderes z. B. Rot genannt wird. Vielleicht liegt hierin ein Grund für das verhältnismäßig häufige Auftreten von Gelb als Lieblingsfarbe und seiner tiefen Stellung in der Reihe der Wohblgefälligkeit. Der Idealvorstellung von der Qualjtät des Gelb entsprach das vorgelegte Täfelchen offenbar häufig nicht, vielleicht deshalb nicht, weil das schönste Gelb wohl fast immer mit Glanz vorgestellt wird und eben dieser den Papieren fehlte. Zum Charakter der Lieblingsfarbe gehört auch, daß diese nicht alltäglich sein darf, sondern etwas Sonntägliches, Festliches an sich haben muß. Allerdings darf sie auch wohl nicht völlig ungewöhnlich sein, weil sonst die Vorstellung der Farbe nicht die genügende Deutlichkeit hat, und der Farbenname fehlt: das so häufige Grau und Braun wird nie, das seltene Orange nur ganz vereinzelt als Lieblingsfarbe genannt.

Vergleicht man nun den Gefühlston der assoziierten Vorstellung und den der entsprechenden Farbe miteinander, so ergeben sich so- wohl Fälle der Übereinstimmung als auch des Gegensatzes. Ein außerordentlich deutliches Beispiel für das letztere lieferte ein Knabe. Er erinnerte sich bei der gelben Farbe (h) an einen mit klappernden Glöckchen besetzten Maskenanzug seiner Mutter von derselben Farbe, der ihm sehr gut gefallen hatte. Trotzdem beurteilte er die Farbe negativ und erklärte ausdrücklich: »ich kann sie nicht leiden« Um- gekehrt tauchte bei einem Mädchen im Anschluß an Orange. die Vor- stellung einer seidenen Bluse auf. Die Gefühlsbetonung war negativ, weil die Bluse »so feurig gewesen sei«, das Farbentäfelchen aber er- hielt das Prädikat 2. Diese Beispiele sind aus einer Fülle ähnlicher herausgegriffen, leider kann ich hier keine weiteren anführen, aber aus meinen Protokollen geht klar hervor, daß Assoziationen sowohl mit negativem wie positivem wie neutralem Gefühlston sich an- schließen können an wesentlich anders bewertete Farben. Der Haupt- grund für diese Erscheinung ist wohl der, daß sich der Gefühlston der assoziierten Vorstellung auf eine andere Eigenschaft des Objektes stützt als die Farbigkeit. In vielen Fällen mag auch die Assoziation

Zeitschrift für Kinderforschung. 26. Jahrgang. ` 10

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nur vermittelt sein durch eine Wortvorstellung, also in diesem Falle dem beim Anschauen des Täfelchens gedachten Namen der Farbe. Bei einer derartigen Divergenz der Gefühlstöne ist offenbar die vor- gelegte Farbe unabhängig von der Vorstellung beurteilt worden. Die Assoziation war für die ästhetische Gefühlsbetonung der Farbe ohne wesentliche Bedeutung, und wirksam war daher in erster Linie der sensorielle, d. h. der direkte Faktor. Das Gleiche wird man wohl auch in allen den Fällen annehmen können, wo eine Assoziation auf eine Farbe nicht festzustellen war, auch nicht im Assoziationsversuch. Immerhin bleibt dann stets die Möglichkeit, daß latente Erinnerungs- bilder mitgewirkt haben können, deren experimentelle Feststellung nicht gelungen ist.

Demgegenüber stehen Protokolle, aus denen eine Übereinstimmung des ästhetischen Urteils mit dem Gefühlston der assoziierten Vor- stellung deutlich hervorgeht. Ein Knabe z. B. zieht Grün allen Farben bei weitem vor, es erinnert ihn an den Rasen am Graben- rand, wo er in den Sommerferien zu Hause zu spielen pflegte. Ein anderer, außerordentlich intelligenter Junge bevorzugt in auffallender Weise auch im Wiederholungsvetsuch das sonst allgemein mißachtete Braun. Als assoziierte Vorstellung gibt er an: »Butter und Zimte. Beachtenswert sind auch besonders solche von mir mehrfach be- obachteten Fälle, wo bei einem Wiederholungsversuch mit dem Auf- tauchen einer Assoziation gleichzeitig die Gefühlsbetonung der Farbe sich änderte oder deutlicher zum Vorschein kam. Im folgenden ist angegeben, in wieviel Prozent aller Protokolle eine besonders starke Gefühlsbetonung der vorgelegten Farbentafel im Sinne der früher er- wähnten maximalen und minimalen Bevorzugung mit einer gleich gerichteten, starken Gefühlsbetonung der assoziierten Vorstellung zu- sammenfällt: Positiv: Mädchen Rot 37%,, Gelb 8°/,, Grün 8%/,, Blau 14°/,, Violett 31°/,. Knaben, Rot 13%, Gelb 12°),, Grün 5°/,, Blau 20°/,, Violett 10°,. Braun bei den Mädchen 0°/,, den Knaben 20/,. Negativ: Mädchen Rot 2%/j Gelb 2°/,, Grün 0°%/,, Blau 0%, Violett 0%/,, Braun 10°/,. Knaben Rot 30/,, Gelb 1°/,, Grün 5%, Blau 0°/,, Violett 1°/,, Braun 10°,. Bei den Kindern des Spiel- gartens ließ sich nur selten eine Beziehung zwischen maximaler Ge- fühlsbetonung und positiver Assoziation feststellen, ich glaube aber nicht, daß man deswegen den Einfluß der Assoziation hier allzu gering anschlagen darf. Doch gebe ich zu, daß sich in diesem Punkte aus meinen Versuchen noch keine sicheren Schlüsse ziehen lassen. In bezug auf die Schulkinder ist wohl aber klar, daß Assoziationen im Farbenversuch nicht nur häufig auftreten, sondern daß sie allem An-

Martin: Die Gefühlsbetonung von Farben usw. 147

schein nach die Gefühlsbetonung der Farben in sehr vielen Fällen erheblich beeinflussen. Bedenkt man dazu noch, daß ja bei dieser Berechnung auf Grund der maximalen und minimalen Bevorzugung nur die besonders eklatanten Fälle erfaßt werden, so wird man den Einfluß von Assoziationen eher noch höher einschätzen müssen, als er nach den berechneten Werten erscheint. Der große Wert solcher Untersuchungen bei Kindern bleibt dabei doch erhalten, da die auf- tretenden Assoziationen ungemein einfach sind.

Was den Grad dieser Einwirkung anbetrifft, so glaube ich auf Grund meiner Protokolle annehmen zu können, daß unter dem Ein- fluß der Assoziation eine völlige Umkehrung der Gefühlsbetonung der Farbenempfindung an sich stattfinden kann, daß es sich aber meistens um eine Verstärkung oder Abschwächung des Gefühlstones nach der positiven oder negativen Seite hin handelt.

Analysiert man im einzelnen soweit als möglich die Struktur der Gefühlsbetonung der assoziierten Vorstellung und die Art der oben erwähnten Einwirkung, so lassen sich zwei Gruppen von Fällen unterscheiden. Für die Gefühlsbetonung einer assoziierten Vorstellung kann die Farbe des entsprechenden Objektes nebensächlich sein. Wenn z. B. in dem oben erwähnten Fall der Knabe Braun vorzieht, weil es ihn an Butter und Zimt auf süßem Brei erinnert, so beruht hier die Lustbetonung auf der assoziierten Geschmacksvorstellung, nicht auf der Farbe an sich. Ebenso ist, wenn Rot abgelehnt wird, weil dabei die Vorstellung eines brennenden Hauses auftaucht, das Schreck- hafte der Situation, nicht die Farbe ausschlaggebend. Wichtig ist nun aber, daß hier eine Irradiation der Gefühlsbetonung stattgefunden hat: weil gleichzeitig mit dem Anblick des Braun, des Rot ein leb- haftes Lust- bezw. Unlustgefühl aufgetreten ist, werden diese Gefühle auf die Vorstellung der Farben übertragen und von da aus wiederum durch Reversion!) auf die Farbenempfindung. Damit ergibt sich die komplizierte Sachlage, daß zu dem sensoriellen Gefühlston einer gegen- wärtigen Rotempfindung etwa ein ideativer Gefühlston der Vorstellung Rot hinzutritt, der aber durch Irradiation von einer anderen Vor- stellung und letzten Endes Empfindung übernommen ist. Wesentlich einfacher liegt nun der Fall, wenn der Gefühlston der Vorstellung auf der Farbe beruht; z. B. ein Mädchen erinnert sich beim Anblick des Blau eines Kleides, an dem ihm eben diese Farbe auch ‚schon besonders gefallen hatte. Hier wird offenbar der gegenwärtige sen-

1) Vergl. Th. Ziehen, Leitfaden der physiologischen Psychologie. 11. Aufl. Jena 1920. S. 327 ff. Ç 10*

14S A. Abhandlungen.

sorielle Gefühlston durch den ideativen Gefühlston verstärkt, aber es fehlt ein komplizierter Irradiationsvorgang, denn die zugrunde liegen- den Empfindungen sind identisch. Immerhin gewann ich den Ein- druck, daß in den meisten Fällen, wenn eine Beeinflussung des ästhe-- tischen Urteils durch eine assoziierte Vorstellung vorlag, auch der Vorgang der Irradiation in mehr oder minder entscheidender Weise beteiligt war.

Nachdem der Einfluß von Assoziationen auf die Gefühlsbetonung der Farben dargestellt worden ist, muß die Wirkung des sensoriellen Faktors, der Farbenempfindung an sich, geprüft werden. Zunächst der Einfluß der Sättigung! Die von mir verwendeten Farbpapiere haben verschiedenen Sättigungsgrad. Blau o, Rot d und c, Purpur a und Violett p machen einen besonders gesättigten Eindruck, während Braun und Blaugrün m und 1 ziemlich ungesättigt erscheinen. Ein Vergleich mit der Zahl der auf die einzelnen Farben entfallenen Vorzugsurteile ergibt, daß die gesättigten Farben durchweg besonders wohlgefällig erscheinen, während die ungesättigten durchaus negative Gefühlsbetonung aufweisen. So bestätigen also meine Versuche das Resultat von Chr. Aars!) völlig, daß gesättigte Farben eher geeignet sind. bei den Kindern Wohlgefallen zu erwecken als ungesättigte. Spontane Äußerungen der Kinder zeigen, wie sie den eigentümlichen Gefühlseindruck, den die gesättigte Farbe macht, und der in der Ästhetik zuweilen mit dem Ausdruck »Kraft«2) umschrieben wird, auffassen: Urteile wie »kräftig«, »lebhaft« bedeuten im Sinne der Kinder Lob, »matt«, »leblos«, »da müßte mehr Farbe drauf« Tadel. »Grelle wenn es gelegentlich‘ von einer Farbe ausgesagt wird, be- gründet meist Ablehnung, in einem Falle allerdings auch Bevorzugung einer Farbe.

Der zweite wichtige Faktor, von dem der subjektive Farben- eindruck bestimmt wird, ist die Helligkeit. Helligkeit und Sättigung stehen in enger Beziehung zueinander, doch muß auf jede nähere Erörterung hier verzichtet werden, weil sie allzuweit in das Gebiet der physiologischen Optik führen würde. Wenn ich den Kindern die Farbentäfelchen bei gewöhnlicher Tagesbeleuchtung vorlegte mit der Frage: » Welches ist die hellste resp. dunkelste Farbe«, so wurde ein Urteil über den subjektiven Helligkeitseindruck im populären Sinn gefordert, und nur von diesem soll im weiteren die Rede sein. Als

1) Chr. Aars, Der ästhetische Farbensinn bei Kindern. Zeitschr. f. pädag. Psychologie. I. Jahrgang 1899. 4. Heft.

2) Vergl. Th. Lipps, Grundlegung der Ästhetik. Hamburg u. Leipzig 1903. S. 441,

Martin: Die Gefühlsbetonung von Farben usw. 149

hellste Farbe wurde von den Kindern am häufigsten Gelb g und h und Grün l bezeichnet, also Farben, die in der Reihe der Wohl- gefälligkeit durchaus nicht besonders hoch stehen. Daraus folgt, daß ‘die subjektive Helligkeit jedenfalls nicht in erheblichem Maß geeignet ist, eine positive Gefühlsbetonung der betreffenden Farbe. anzuregen. Das Maximum der subjektiven Dunkelheit fällt bei Knaben sowohl wie bei Mädchen in ausgeprägter Weise dem Violett zu, daneben werden auch Blau o (besonders von den Knaben) und Rot b (be- sonders bei den Mädchen) öfters als dunkelste Farbe genannt. Die früheren Untersuchungen haben aber gezeigt, daß Blau und Violett besonders wohlgefällig sind und auch Rot b behauptet einen ver- hältnismäßig guten Platz. So scheint es, als ob die subjektive Dunkel- heit einer Farbe eine positive ästhetische Gefühlsbetonung bei Kindern durchaus nicht hindert. Diese Beobachtungen werden durch das Er- gebnis der Auswahl aus der Ebbinghausschen Schwarz-Weiß-Reihe insofern bestätigt, als auch dort das Schwarz dem Weiß bedeutend vorgezogen wurde, wenn auch Weiß in der Wohlgefälligkeit über den Graustufen stand.

Doch am wichtigsten für diese ganze Frage sind die Versuche am Rupp-Heringschen Nüancierungsapparat. Durch die Drehung der Schraube konnte jedes Kind eine ganze Reihe von helleren oder dunkleren Schattierungen einer Farbe an sich vorüberziehen lassen und sich die schönste auswählen. Natürlich war es Sache der Ver- suchsleiterin dafür zu sorgen, daß weit genug gedreht wurde und alle Nüancen zur Prüfung gelangten. Gelegentlich waren auch kurze Vor- versuche nötig, bis die Kinder sich mit der Aufgabe vertraut gemacht hatten. Am häufigsten wurden nun Werte eingestellt, die zwischen 111° und 125° lagen, und besonders auffallend ist, daß dieses Maximum bei allen Farben wiederkehrt, also sowohl bei dem dunklen Violett wie auch bei dem hellen Gelb h. Wenn man sich vergegenwärtigt, daß eine Zeigerstellung. von 90° der wagerechten Lage der Platte entspricht, und daß die Einstellung kleinerer Werte Aufhellung, die größerer Werte Verdunklung bedeutet, so erkennt man, daß im all- gemeinen bei diesen Versuchen helle Schattierungen sehr häufig an Wohlgefälligkeit weit hinter dunklen zurückstehen.

Um aber für eine genauere Festlegung der Versuchsresultate ge- eignetes Vergleichsmaterial zu erlangen, habe ich mit fünf geübten erwachsenen Versuchspersonen Feststellungen über das Maximum der subjektiven Helligkeit an demselben Nüancierungsapparat vorgenommen. Ich benutzte zu diesem Zwecke eine mit glanzlosem, weißen Papier überzogene Glastafel und eine Deckplatte aus neutralgrauem Karton-

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papier mit quadratischer Öffnung (1 qem). Beim Hindurchsehen er- schien auf konstantem grauem Grund ein kleines Quadrat, dessen Helligkeit so variiert werden konnte, daß es in allen Schattierungen der Schwarz-Weiß-Reihe erschien. Der Versuchsperson wurde die Aufgabe gestellt, das Maximum der Helligkeit zu suchen. Besondere Schwierigkeiten erwachsen diesem Versuch aus der Wirkung des sukzessiven Kontrastes (bei dem Fortschreiten von hellen zu dunklen Schattierungen und umgekehrt) und komplizierter Induktionsvorgänge. Es mußte demnach von vornherein mit einer gewissen Schwankungs- breite in den Resultaten gerechnet werden, und nur 'eine größere Zahl von Einstellungen (ich ließ von jeder Vp. 40—50 machen) gibt Aussicht auf Klarheit. Folgende Zentralwerte und mittlere Variationen ergaben sich: C 50, m. V.3; C53, m. V.6; C 48,m.V.7; C 55, m. V.8; C46, m.V.6. Die Verschiedenheit der m. V. erklärt sich wohl leicht aus der ungleichen Geübtheit der Versuchspersonen in solchen op- tischen Versuchen. Aus den jC ergibt sich, daß das Maximum der subjektiven Helligkeit im Rupp-Heringschen Nüancierungsapparat unter den angegebenen Bedingungen etwa bei 50° liegt. Außerdem ließ ich von diesen Versuchspersonen das Maximum der Sättigung einstellen, die Werte häuften sich für alle Farben zwischen 100 und 130°. Vergleicht man mit diesen Werten die bei den Kindern ge- wonnenen Zahlen, so ergibt sich, daß offenbar für die Wohlgefällig- keit der Farben bei Kindern mehr die Sättigung als die Helligkeit ausschlaggebend ist.

Zu den bisher besprochenen Faktoren: Sättigung und Helligkeit kommt als dritter sehr wichtiger die Qualität hinzu, das farbige Element in der Farbe, vielfach auch Farbenton genannt. Man muß annehmen, daß z. B. die Qualität Gelb an sich eine andere Gefühlsbetonung auf- weist als die Qualität Blau usw. Zahlreiche Urteilsbegründungen der Kinder beziehen sich auf den Farbenton und bezeugen damit die Wichtigkeit gerade dieses Faktors.

Wir kommen damit auf die Frage zartck, ob aus der kontinuier- lichen Reihe der Farbenqualitäten, wie sie der Farbenkreis darstellt, eine bestimmte Gruppe herausgegriffen werden kann, die einen be- sonders starken, durchweg positiven Gefühlston trägt. -Exner!) glaubte seinerzeit feststellen zu können, daß eine Farbe um so schöner ist, je mehr sie sich den Young-Helmholtzschen Grundempfindungen nähert. Mit der jetzt fast allgemeinen Ablehnung der Dreifarben-

1) F. Exner, Zur Charakteristik der schönen und häßlichen Farben. Wiener Sitzungsberichte 1902, Math. naturw. Klasse. 111. Bd., Abt. 2a, S. 901.

Martin: Die Gefühlsbetonung von Farben usw. 151

theorie haben diese Ausführungen ihre Grundlage verloren, aber es liegt der Gedanke nahe zu untersuchen, ob den Urfarben der jetzt meist anerkannten Farbentheorie von Hering eine besonders starke positive Gefühlsbetonung mit überwiegender Häufigkeit zukommt. Durch einen Vergleich der Zinimermannschen Farben mit. den Täfelchen des Ostwaldschen Farbenatlas und weiter auf Grund von Ostwalds Ausführungen in seinen Beiträgen zur Farbenlehre!) (S. 483), komme ich zu der Annahme, daß Blau o, Rot d und Gelb h den Heringschen Urfarben etwa im Farbton gleichen, während für das Urgrün eine: entsprechende Ausfürbung in der Serie fehlt. Es ist nun nicht zu verkennen, daß die Farben o und d zu den von den Kindern bevorzugten gehören, doch würde es eingehender Unter- suchufgen mit Spektralfarben bedürfen, um Entscheidendes in dieser Frage festzustellen. Näher liegt es dem ganzen Aufbau der Versuche nach zu untersuchen, ob etwa die Hauptfarben, die das naive Bewußt- sein als solche unterscheidet, eine besonders starke Gefühlsbetonung tragen. Gekennzeichnet sind diese Hauptfarben in erster Linie da- durch, daß für sie einfache, allgemein gebräuchliche Namen existieren. Es wären also hierher zu rechnen: Rot, Gelb, Grün, Blau, Braun und vielleicht auf der Grenze stehend Violett mit seiner weißlichen Nüance Lila und Rosa, der weißliche Purpur. Unter den Zimmer- mannschen Farben sind als Übergangsfarben in erster Linie anzu- sprechen die Orangetöne (also e und f) und die blaugrünen k, l, m, n. Der Versuch der Auswahl aus der Zimmermannschen Reihe zeigt nun eindeutig, daß gerade diese Farben stark an Wohlgefälligkeit hinter den anderen zurückstehen. Mit Bezug auf Braun wurde ein kurzer Ergänzungsversuch angestellt. Da das verwendete Täfelchen eine sehr ungesättigte Farbe zeigte, auch eine etwas rauhe Oberfläche batte, wurde durch starke Verdunkelung des Orange e im Nüancierungs- apparat ein gesättigstes, schwach rötliches Braun hergestellt und den Kindern zur Beurteilung gezeigt. In entsprechender Weise wurde eine helle Schattierung von Purpur vorgeführt. ‘Das Braun erfuhr auch in dieser Form meist eine Ablehnung, das Purpur gewöhn- lich von den Kindern Rosa oder Lila genannt wurde durchweg positiv bewerte. Nach dem allen scheint es also, als ob im großen und ganzen die Hauptfarben von den Kindern etwas häufiger gewählt werden als die Übergangsfarben. Zur Erklärung dieser Tatsache muß man ohne Zweifel auf die Häufigkeit gerade dieser Farben in der

1) Abhandlungen d. Kgl. Sächs. Ges. d. Wissenschaften, Math.-phys. Klasse 1917. 34. Bd. `

152 A. Abhandlungen.

Natur hinweisen und auf ihre Eindeutigkeit, die eine Erleichterung der Identifikation bedingt, doch kann ich hier auf diese Fragen nicht näher eingehen.

Bei den bisherigen Untersuchungen sind ausschließlich die ein- fachen Gefühlstöone der Lust und Unlust behandelt worden. Doch mit den Begriffen Lust und Unlust und den entsprechenden Prädi- katen schön und häßlich läßt sich bei weitem das nicht er- schöpfen, was die Farben für unser Gefühlsleben bedeuten. Durch sehr komplizierte Assoziations- und Irradiationsvorgänge, deren Ur- sprung und Verlauf uns durchaus nicht bewußt zu sein braucht, hat sich für uns eine Fülle von qualitativ sehr verschiedenen Gefühlen auf die Farben übertragen, und so entsteht das, was ich die spezifische Gefühlsbetonung der Farben nennen möchte.!) Ich habe aus der Fülle aller dieser Gefühlstöne speziell die Gefühle des Lustigen und Traurigen herausgegriffen, weil ich erwarten konnte, daß diese bei der Mehrzahl der Kinder auch in Beziehung auf Farben vorhanden sein würden. Das Ergebnis der eingangs geschilderten Versuche läßt sich kurz dahin zusammenfassen, daß in bezug auf die Lustigkeit Rot d für Knaben und Mädchen obenan steht, auch Gelb g und noch mehr h werden häufig als lustigste Farben bezeichnet, Grün i und Grünblau 1 sehr selten, etwas öfter Blau o und Violett p. Als traurigste Farbe kommen für die Mädchen überhaupt nur drei in Frage: Blau o, Violett p, Rot o, unter denen Blau o am häufigsten genannt wird. Die Knaben bezeichnen in überwiegender Mehrzahl Violett als traurigste Farbe, seltener Rot b und Blau o und schließlich ausnahmsweise einmal Grün 1 und Gelb g. Wichtig ist nun, durch Vergleich mit dem Ergebnis der früheren Versuche und durch die. Prüfung der einzelnen Protokolle festzustellen, daß die lustigste Farbe keineswegs immer mit der wohlgefälligsten und umgekehrt die traurigste Farbe durchaus nicht immer mit der mißfälligsten zusammenfällt. Anders ausgedrückt würde das heißen: Eine Farbe kann von Kindern als traurig empfunden werden und doch bevorzugt sein. Tatsächlich ist in vielen Fällen nach dem Versuch noch ausdrücklich die Frage gestellt worden: »Die Farbe ist traurig, aber sie gefällt dir doch?e, und die Kinder bejahten das obne Zögern. Dennoch handelt es sich meinen Beobachtungen nach bei der generellen und der spezifischen Gefühlsbetonung nicht um zwei völlig getrennt wirkende Faktoren,

1) Über die den einzelnen Farben zugeschriebenen spezifischen Gefühlstöne und Stimmungen vergl. E. Utitz, Grundzüge der ästhetischen Farbenlehre. Stutt- gart 1908. S. 18. ;

Martin: Die Gefühlsbetonung von Farben usw. 153 vielmehr möchte ich zwischen beiden eine komplizierte Wechselwirkung annehmen, die für die einzelnen Farben von sehr verschiedener Be- deutung sein kann. Bei Rot z. B. kommt zu der generellen Lust- betonung die spezifische des Lustigen hinzu, beide Faktoren steigern offenbar einander in der Wirkung. Ganz anders liegt der Fall bei Blau o. Diese Farbe hat in den Augen der Knaben das Maximum der Wohlgefälligkeit inne, als lustig wird sie aber von nicht allzu vielen empfunden, beinahe ebenso oft erscheint sie traurig. Bei den ` Mädchen dagegen steht Blau nicht sonderlich hoch, es wird im Ver- gleich zu den Knaben häufiger als traurig und etwas seltener als lustig angesprochen. Daraus ergibt sich zuerst die Beobachtung, daß . der spezifische Gefühlston bei Blau zwischen lustig und traurig schwankt. Ferner ließe sich vielleicht annehmen, daß bei den Knaben die starke generelle Lustbetonung häufig die Einschätzung als traurig verhindert, die als lustig begünstigt hat, während bei den Mädchen die mäßig starke positive Bewertung die Häufigkeit der Auswahl als traurigste nicht auffallend erscheinen läßt. Selbstverständlich könnte man aber hier im Sinne der vorhin angenommenen Wechselwirkung auch fragen, ob nicht etwa die spezifische Gefühlsbetonung des Traurigen, die dem Blau offenbar in der Auffassung der Mädchen anhaftet, die generelle Lustbetonung herabgesetzt hat. Von den Fak- toren, die die Übertragung der spezifischen Gefühlsbetonung auf die Farben beeinflussen, ist an erster Stelle auf die Helligkeitsgrade zu verweisen. Dunkelheit begünstigt den Charakter des Tuaurigen, Hellig- keit den des Lustigen. Häufig begründen die Kinder ihre Wahl: traurig, weil dunkel, lustig, weil hell.

Zur Prüfung der Wohlgefälligkeit von Farbenkombinationen habe ich versucht, solche mit verschiedenen Intervallen darzubieten, kleinen sowohl wie großen.!) Im folgenden gebe ich eine Reihe von Farbenpaaren, wobei die in Klammer gesetzten Buchstaben die Be- zeichnung bei Zimmermann, die beigefügte Zahl aber das auf eine Dezimalstelle abgerundete arithmetische Mittel der abgegebenen ab- soluten Prädikate ergibt. Knaben: Purpur und Violett (p—a) 1,9; Blau und Gelb (0—g, annähernd komplementär) 2; Blau und Gelb (o—h, komplementär) 2; Gelb und Rot (g—d) 2,1; Rot und Violett (d—p) 2,1; Rot und Grün (d—i) 2,1; Gelb und Rot (h—c) 2,1; Rot

1) Das Problem der Wohlgefälligkeit von Farbenkombinationen hat in der Literatur bereits eine ausgiebige Behandlung gefunden; gute Überblicke über die Geschichte des Problems und die wichtigste Literatur finden sich u. a. bei E. Utitz a. a. O. und bei E. S. Baker, Spectrally pure colours in binary combination. Uni- versity of Toronto Studies. Psychol. Series ed. by A. Kirschmann 1907. Vol. II, p. 27.

154 A. Abhandlungen.

und Violett (c—p) 2,1; Gelb und Orange (g—e) 2,3; Dunkelrot und Violett (b—p) 2,3; Gelb und Orange (h—e) 2,3; Rot und Grün (c—l, annähernd komplementär) 2,4; Rot und Orange (c—e) 2,4; Rot und Orange (d—e) 2,5. Mädchen: Rot und Violett (c—p) 1,5; Grün und Rot (i—d) 1,6; Blau und Gelb (o—g, annähernd komplementär) 1,6; Rot und Violett (d—p) 1,6; Blau und Gelb (o—h komplementär) 1,6; Gelb und Rot (g—d) 1,7; Gelb und Rot (h—c) 1,8; Gelb und Orange (h—e) 1,9; Purpur und Violett (a—p) 2,0; Gelb und Orange (g— e) 2,0; Rot und Orange (c—e) 2,0; Rot und Grün (c—1, annähernd komplementär) 2,0; Rot und Orange (d—e) 2,1. Für'die Kinder des Spielgartens stellte sich das Gesamtresultat so, daß bei einem Ver- gleich der Kombinationen Rot-Grün (d—i) mit Gelb-Orange (g—e) ersteres 40°/,, letzteres 60°/, der Vorzugsurteile erhielt, in analoger Weise Blau-Gelb (o—g) 57°/, und Rot-Orange (d—e) 43%, und schließlich Blau-Violett (0—p) 64 °/, und Rot-Grün (d—i) 36°/ An der Hand der angeführten Zahlenreihen läßt sich feststellen, daß bei den von mir untersuchten Kindern eine erhebliche Bevorzugung der Kombinationen mit großen Intervallen einschließlich der komple- mentären Verbindungen nicht vorliegt. Ebensowenig aber kann man von einer allgemeinen Vorliebe der Kinder für Farbenpaare von sog. kleinem Intervall sprechen. Um die Regellosigkeit der Ergebnisse zu erklären, müssen die von den Kindern gegebenen Begründungen der Urteile herangezogen werden. Offenbar kreuzen sich nämlich die verschiedensten, Faktoren in ihrer Wirkung, weil ganz verschiedene Betrachtungsweisen vorkommen. Zunächst fallen bei der Durchsicht meiner Protokolle Urteile über Kombinationen auf, die auf einer isolierten Wertung beider Komponenten beruhen. Eine Farbe, (die ganz besonders negativ oder positiv gefühlsbetont ist was sich ja aus dem Protokoll leicht feststellen läßt —, bestimmt von sich aus den Gefühlston der Kombination. Die typischen Begründungen zu solchen Urteilen über Kombinationen lauten etwa: »Weil Rot dabei iste, »wegen Gelb« usw. Zuweilen scheint auch in anderer Art eine Isolation vorzuliegen. Jede Farbe wird für sich betrachtet, das Urteil aber über die Kombination ist vom Gefühlston beider abhängig etwa im Sinne einer Addition, natürlich nicht in streng mathematischer Auffassung. Das läßt sich feststellen durch einen Vergleich der Be- wertung der Einzelfarben mit der ihrer Kombination. So erhalten z. B. Farbenpaare, deren einzelne Komponenten in der Bewertung wischen den Zensuren 2 und 3 schwanken, die Zensur 2/3 oder 3. Typische Begründungen: »Purpur ist schön, Violett auch«; »Lila ge- fällt mir, Rot nicht ganz so.«

Martin: Die Gefühlsbetonung von Farben usw. 155

Der isolierenden Betrachtungsweise steht eine synthetische gegen- über, bei der die Urteile auf das Zusammenwirken beider Farben ge- - gründet sind. Es liegt hier also eine Gestaltauffassung im psycho- logischen Sinn vor! Die Noten der Kombinationen weichen in diesen Fällen oft erheblich von denen der Einzelfarben, bezw. deren Summen ab, z. B. bei einem Knaben: Rot e Zensur 2, Orange e Zensur 2 und Kombination beider 5. Typische Begründungen: »Die Farben passen zusammen«, »passen nichte, »sehen schön aus zusammen«, usw.

Als dritte Gruppe glaube ich die Urteile aussondern zu können, die auf einem Vergleich beider Komponenten beruhen, und bei denen Kontrast oder Ähnlichkeit etwa in folgenden Begründungen hervor- gehoben werden: »das eine ist dunkler (heller) als das andere«; »beide sind helle; »sie stechen ab«; »sie sind nahe zusammen«. Qualitativer Kontrast ruft anscheinend bei den Kindern ebenso häufig positive wie negative Gefühlsbetonung hervor, während Gleichheit der Hellig- keitsstufen entschieden bevorzugt wird.

Als letzte Art der Beurteilung, die von den bisher erwähnten völlig verschieden ist, kommt noch eine von Assoziationen bestimmte in Betracht. Es handelt sich hier um Fälle, in denen besondere Vor- stellungen sich gerade an das Nebeneinander der bestimmten Farben, nicht etwa an eine einzelne von ihnen anknüpfen. Namentlich die Erinnerung an Fahnen kam hier häufig vor.

Zusammenfassung.

Am Schluß der gesamten Untersuchungen und Betrachtungen ergeben sich also folgende Resultate:

1. Eine Lieblingsfarbe der Kinder in dem Sinne, daß eine einzelne Farbe allgemein und konstant bevorzugt würde, gibt es nicht. Doch scheinen Rot, Blau und Violett beliebter zu sein als Gelb, Grün und Braun. Gelb neigt anscheinend zu einer starken, aber schwankenden Gefühlsbetonung.

2. Ein Unterschied der Altersstufen konnte hinsichtlich der Be- vorzugung von Farben nicht festgestellt werden, wohl aber sind die Grade der Gefühlsbetonung bei Kindern aus ungebildeten Ständen weniger differenziert als bei denen aus gebildeten.

3. Die Mädchen ziehen im allgemeinen das Rot dem Blau, die Knaben das Blau dem Rot vor, wofür die Erklärung vielleicht in den die Empfindung begleitenden Assoziationen zu suchen ist.

4. Die Neuheit einer Farbe scheint bei Kindern besonders ge- eignet, eine Gefühlserregung hervorzurufen und zwar sowohl im posi- tiver als auch im negativer Richtung, wenn auch mit leichtem Über-

156

B. Mitteilungen.

wiegen der ersteren. Andererseits scheint auch die Vertrautheit einer Farbe eine positive, selten eine negative Gefühlsbetonung zu be- günstigen.

5. Assoziationen treten im ästhetischen Farbenversuch bei Kindern häufig auf, sie pflegen aber nicht kompliziert zu sein. Ihre Ein- wirkung auf die Gefühlsbetonung der Farben ist in vielen Fällen un- verkennbar. Das größte assoziativre Moment hat für beide Ge- schlechter Rot.

6. Der Eindruck besonders starker Sättigung scheint die Bevor- zugung einer Farbe bei Kindern außerordentlich zu begünstigen. Da- gegen führt bei einzelnen Kindern der Eindruck der Grellheit zur Ablehnung der Farbe.

7. Die subjektive Helligkeit einer Farbe scheint nicht geeignet, eine positive Gefühlsbetonung hervorzurufen.

8. Die Hauptfarben (im populären Sinn) werden im allgemeinen den Übergangsfarben etwas vorgezogen.

9. Die spezifische Gefühlsbetonung des Lustigen und des Traurigen fällt nicht zusammen mit der generellen Gefühlsbetonung der Lust und Unlust. Rot erscheint als die lustigste, Violett bezw. Blau als die traurigste Farbe. f

10. Die Farbenkombinationen werden von den Kindern auf ver- schiedene Weise betrachtet und beurteilt. Es läßt sich eine isolierende, eine komparative, eine synthetische und eine assoziative Beurteilungs- weise unterscheiden.

B. Mitteilungen.

1. Ein Vorkämpfer der Jugendfürsorge. Von Berta Bünzli, St. Gallen.

In St. Gallen starb den 23. Oktober 1920 im 89. Lebensjahre Jakob Kuhn-Kelly, der unermüdliche Vorkämpfer auf dem Gebiete der Jugend- fürsorge und des Kinderschutzes in der Schweiz. Könnten sie alle herbei- eilen, die ungezählten verwaisten, mißhandelten, verwahrlosten und ver- irrten Kinder, denen er ein liebevoller Beschützer und Verteidiger und ein gütig ernster Vater war, ein endloser ans Herz greifender Kinder- zug hätte den Hingeschiedenen zum Grabe geleitet. Noch sehe ich ihn wenige Wochen vor seinem Ableben das schneeweiße Haupt leicht vornübergeneigt, über die Straßen eilen und in ein ärmliches Haus eintreten, um seine Fürsorgepflicht auszuüben. Bis in sein höchstes Alter, bis zu seinen letzten Lebenswochen hinderten ihn weder Sturm noch

1. Ein Vorkämpfer der Jugendfürsorge. 157

Kälte, scheute er keine Zeit und Mühe, um mit seinen besten Herzens- und Geistesgaben den Enterbten unserer Gesellschaft Licht und Wärme ins- dunkle Dasein zu tragen. Seine reichen Erfahrungen verarbeitete er in ca. 20 Jugendfürsorgeschriften, die alle ein flammender Appell an den Staat, an den Einzelnen sind, das göttliche Recht aller Kinder zu wahren. Also »allen Kindern die gleiche Milde, das gleiche Wohl- wollen, die gleichen Rücksichten, die gleichen humanen Gefühle, die gleiche Gerechtigkeit, ohne Ausnahme, ohne Kategorien, ohne Unterschiede zwischen Reich und Arm.«

Jakob Kuhn-Kelly wurde den 2. September 1832 in Buchen bei Thal im Kanton St. Gallen, geboren. Sein Vater, ein intelligenter Mann, war Lehrer in dem freundlichen Dörfchen, seine Mutter eine Frau von reichem Gemüt. Der begabte Sohn widmete sich dem Lehrerberufe in Trogen und der evangelischen Schule in Tahlat, St. Gallen. Hier verheiratete er sich 1860 mit Berta Kelly, die ihm 60 Jahre lang eine treu besorgte, vorzügliche Lebensgefährtin war. Vier Kinder entsprossen der glücklichen Ehe, von denen zum tiefgn Schmerze der Eltern die beiden Knaben früh starben. Die große musikalische Begabung Kuhn-Kellys führte ihn vom Lehrerberufe als Geschäftsführer in die Musikalienhandlung Gebrüder Hug & Cie. in St. Gallen. Unter Liszt und Wagner spielte er die zweite Geige. Mit feinem musikalischem Verständnis rezensierte er Opern und Abonnementskonzerte. Sein reger Geist und klarer Verstand führten ihn auch in den Gemeinderat der- Stadt St. Gallen.

1896 zog er sich ins Privatleben zurück, um um sich nun un- eingeschränkt mit der ganzen Hingabe seines Wesens in den Dienst der Gemeinnützigkeit und Jugendfürsorge zu stellen. Als Präsident und Kinderinspektor der städtischen Gemeinnützigen Gesellschaft, Begründer von Kindergärten und des Brockenhauses St. Gallen, suchte er nach Möglichkeit die soziale Not und Bedrängnis veriassener und gefährdeter Kinder zu hindern. Als im Jahre 1912 das neue schweizerische Zivil- gesetzbuch in Kraft trat und die Kantone ihre Einführungsgesetze aus- zuarbeiten hatten, ruhte und rastete der damals 80 jährige Greis nicht, bis die Amtlichen Jugendschutzkommissionen in die St. Gallische Gesetzgebung aufgenommen wurden. In Wort und Schrift, mit un- widerstehlicher Überzeugungskraft legte er dem Staate und den Behörden die Pflicht der Fürsorge für die verlassenen und bedrohten Kinder ans Herz. Kuhn-Kelly ist der Begründer der amtlichen Jugendschutz- kommissionen in der Schweiz. Er propagierte auch in Vorträgen und Auf- sätzen die Jugendgerichte. Der erste deutsche Jugendrichter Lands- berg war sein Freund. Die bittere Anklage: »Ihr fünrt uns in das Leben ein, ihr laßt den Armen schuldig werden, dann übergebt ihr ihn der Pein. Denn jede Schuld rächt sich auf Erdene, war ihm der Impuls, auf der ganzen Linie der Jugendgerichtsbarkeit an Stelle des alten starren Vergeltungsstrafrechts das humane Jugendfürsorgerecht zu fordern. Als Präsident der 33 Amtlichen Jugendschutzkommissionen des Kantons und der Stadt St. Gallen hatte er Gelegenheit, kindliche und jugendiiche Ver- brecher zu verhören und sie nachher in seine Fürsorge zu nehmen. Nie

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158 B. Mitteilungen. werde ich den Eindruck vergessen, den er auf sie ausübte. Sie mochten noch so verstockt und gassenflegelhaft vor ihn treten, der Anblick der ehrwürdigen Gestalt mit den silberweißen Haaren und den gütig ernsten Augen, die eindrucksvollen Worte und Ermahnungen trafen das Innerste und Beste der Kindesseele. Alle gestanden und gelobten unter Tränen der Rene Besserung. Jeden Sonntag vormittag empfing er seine Schütz- linge, versuchte das Unkraut zu zerstören und edlen Samen zu säen.

Er stand auch als Führer in dem jahrelangen Kampfe für das Kino- verbot der Jugend bis zum zurückgelegten 16. Lebensjahre und er- lebte noch die große Freude, daß das Kinoverbot für die Jugend im St.. Gallischen Gesetz niedergelegt wurde.

Der bejahende Mensch ist der starke, der siegende Mensch. Diese Kraft strahlte Kuhn-Kelly aus in seiner täglichen Fürsorgearbeit, in seinen von jugendlichem Feuer getragenen Keden und Vorträgen und seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Deshalb erreichte er auch immer sein Ziel. So kämpfte er auch ohne Unterlaß, daß die Rettungsanstalten in der Schweiz ihre Namen in Erziehungsanstaltgn, die Armerhäuser in Bürgerasyle, die Armenerziehungsvereine in Erziehungsvereine sich umwandeln sollten. »Mit dem Wörtchen ‚arm‘ ist gewöhnlich eine ge- wisse Minderwertigkeit ausgedrückt, die der echt christlichen Auffassung nicht entspricht.«e Mit Nachdruck wies er darauf hin, daß ein armes Kind schon deshalb zu bedauern sei, weil sein idealstes Gut, die Familien- bande, zerrissen sind und wir deshalb die heilige Pflicht haben, die der Öffentlichkeit überbundeuen Kinder mit doppelter Liebe und Schonung zu behandeln, ihnen das drückende Gefühl des Arm- und Abhängigseins zu ersparen, statt es ihnen einzubrennen durch einen Namen, der innerlich und äußerlich den größten Schatten auf ihr Leben werfen kann. Es ist denn auch erfreulich, daß viele fortschrittliche Gemeinden das ominöse Wort »arm« in »Fürsorge« umsetzten, wie z. B. Armensekretariat in Fürsorgesekretariat usw. usw. °

Die Jugendfürsorgeschriften Kuhn-Kellys kennzeichnen alle den menschen- freundlichen Geist des Verfassers. Zu den wertvollsten gehören das »Vor- postengefecht«e, »Mißhandlung der Kindesseele«, »Lüge und Ohrfeiges, »Amtliche Jugendschutzkommissionen«, »Jugend- gerichte«.!) Die feinsinnigen Dichterworte: »Was eine Kindesseele aus jedem Blick verspricht, so reich an Hoffnung ist ein ganzer Frühling nicht«, könnte man als Motto zu all seinen Schriften setzen, und sie klingen aus in den warmherzigen gebieterischen Appell an Eiterfi und Behörden, Gesell- schaft und Staat, diesen lichten, sonnigen Tempel der Kindesseele nicht

zu zerstören. Eine reiche Auslese von handschriftlichen, tiefgründigen Aphorismen über Jugendfürsorge, Jugenderziehung und Jugendstrafrecht befinden sich im Nachlasse des Verfasers der Drucklegung wert.

1) In unserer »Zeitschrift« wie den »Beiträgens erschien von ihm: 1. Jugend- schutz- Kommissionen als vollwertiger Ersatz für Jugendgerichtshöfe (Heft 56). 2. Lüge und Ohrfeige (Heft 68). 3. »Über das Problem des sog. Versehens der Frauen (Muttermale) und Mutmaßliches über Vererbung und Beeinflussung des Kindes in körperlicher und seelischer Beziehung vor der Geburt« (Heft 134).

2. Deutscher Verein für Schulgesundheitspflege.

159 Im 79. Altersjahre feierte er noch im Kreise seiner Familie die goldene Hochzeit, die ihn mit seiner inniggeliebten Gattin nach Italien führte. Aber auch das persönliche Leid blieb ihm nicht ferne. 1899 erlitt er den schweren Verlust seines Schwiegersohnes, des Historikers Dr. Rudolf Maag und 1918 den Verlust dessen einzigen, hochbegabten Sohnes Dr. O. Maag. Die letzten sechs Lebensjahre wurden noch insbesondere getrübt durch die sich zusehends steigernde Geistesumnachtung seiner ge- liebten Gattin. Nur wenige Monate nach ihrem Tode folgte er ihr nach kurzer, schwerer Krankheit. š 24 Jahre lang war Kuhn-Kellys Leben eine Hingabe, eine auf- opternde, unermüdliche, geistesklare und herzenswarme Arbeit im Dienste der enterbten Kinder unserer Gesellschaft. »Wer sein Leben verdient um meinetwillen, der wird es gewinnen.« Bis in das selten hohe Alter von 88 Jahren hielt die werktätige Liebe zu den auf der Schattenseite des Lebens Darbenden Kuhn-Kellys Geist und Seele lebendig, Er gewann das Leben, währenddem es bei den meisten dieses Alters langsam ab- stirbt oder bereits erloschen ist. Sein Leben ist auch heute nicht ver- loren. Seine Saat ward Ernte und keimt und sproßt weiter in tausend Kinderherzen, im ewig lebendigen Universum.

2. Deutscher Verein für Schulgesundheitspflege.

Am 11. u. 12. September vorigen Jahres tagte in Cassel die 17. Jahres- versammlung, wie auch die 9. Versammlung der Vereinigung der Schul- ärzte Deutschlands. Die Verhandlungen sind veröffentlicht in der »Zeit- schrift für Schulgesundheitspflege«, herausgegeben von Medizinalrat , Dr. Stephani, Stadtschularzt in Mannheim. Leipzig, Verlag von Leopold Voß, 1920.

Über »Die Hebung der deutschen Volkskraft namentlich durch Anwendungen der Leibesübungen in der Jugend« sprach Geh. Medizinalrat Dr. Beninde-Berlin, Er stellte’ folgende Leitsätze auf:

1. Um die im deutschen Volk vorhandene Volkskraft zielbewußt heben zu können, ist deren genaue Kenntnis nötig.

2. Dazu gaben uns bisher in Ermangelung einer Konstitutionsstatistik die Ergebnisse der Rekrutierungsstatistiken einen, wenn auch unvoll- kommenen Anhalt.

3. In Zukunft ist nach Wegfall der Rekrutierungsstatistiken eine ausreichende Konstitutionsstatistik, besonders auch mit Rücksicht auf die als notwendig anzuerkennende erweiterte systematische Forschung auf dem Gebiete der Leibesübungen, unentbehrlich.

4. Aus den Rekrutierungsstatistiken wie aus den Leistungen des deutschen Volkes während des Weltkrieges ist der Schluß berechtigt, daß Degenerationserscheinungen beachtenswerter Art am deutschen Volkskörper nicht vorliegen.

5. Aus den Gründen für die Militäruntauglichkeit ergibt sich der Schluß, daß ein großer Teil der deutschen Jugend an allgemeiner Schwäch- lichkeit des Körpers leidet.

160 B. Mitteilungen.

6. Diese läßt sich im jugendlichen Alter in den allermeisten Fällen durch zielbewährte Körperübungen ausgleichen. Für eine allgemeine Hebung der Volkskraft sind letztere unentbehrlich.

7. Der Umfang der bisher im deutschen Volke gepflegten Leibes- übungen ist hierzu richt ausreichend.

8. Für die Pflege der Leibesübungen unter der Schaljugend ist die Einführung einer täglichen Turnstunde unbedingt anzustreben. Daneben ist ein Spielnachmittag, am besten in der Mitte der Woche, von mindestens 3 Stunden Dauer für die Schüler und Schülerinnen vom 10. Lebensjahre ab und monatlich einmal ein Wandertag und zwar ein halber für die ‚Jugend bis zum 12. Lebensjahr und von da ab ein ganzer als pflicht- mäßige Leibesübung einzurichten.

9. Für einen ersprießlichen und ernsten’ Turnbetrieb in den Schulen ist die Anerkennung der Leibesübungen als Hauptfach, deren entsprechende Wertung in den Zeugnissen und bei Abgangsprüfungen sowie die Auf- stellung genau geordneter Lehrpläne Erfordernis,

10. Leistungsprüfungen und Wettkämpfe sind wie Schulturnen ein- zuführen.

11. Für die durch die Leistungsprüfungen als körperlich rückständig Erkannten sind nach Möglichkeit Förderklassen im Turnen. einzurichten. Y 12. Mit Rücksicht auf die Vielgéstaltigkeit der Turnübungen und Spiele sollten Befreiungen womöglich nur von einzelnen Übungen aus- gesprochen werden. Für die Befreiung vom Turnen überhaupt ist die Vorlegung eines schul- oder amtsärztlichen Zeugnisses erforderlich. Be- freiungen sind im allgemeinen nur auf Zeit auszusprechen.

13. Für die Fortbildungsschüler sind 3 Turnstunden und ein freier Spielnachmittag wöchentlich einzurichten.

14. Zur Hebung der Volkskraft ist namentlich mit Rücksicht auf den Ausfall körperlicher Jugendpflege durch die Beseitigung der all- gemeinen Wehrpflicht die pflichtmäßige geordnete systematische Be- tätigung der Jugend in: Leibesübungen, etwa bis zum 20. Lebensjahr, un- bedingt erforderlich. Die dazu erforderlichen gesetzlichen Bestimmungen sind mit möglichster Beschleunigung zu treffen.

15. Durch ein Spielplatzgesetz ist für die Bereitstellung der er- forderlichen Spielplätze sobald als möglich zu sorgen,

16. Die Beteiligung in Leibesübungen jst in angemessenem Umfange auch auf die weibliche Jugend auszudehnen.

Über »Hygienische Erziehung in der Schule« berichteten: 1. Prof. Dr. H. Selter, Direktor des hygienischen Instituts der Universität Königsberg i. Pr, 2. Rektor E. Hertel-Berlin, 3. Dr. Karl Roller, Schuldirektor und Privatdozent für Pädagogik in Gießen.

Auch ihre Leitsätze mögen unsere Leser zum weiteren Nachdenken anregen.

1. Leitsätze von Prof. Selter:

1. Die hygienische Erziehung in der Schule ist notwendig zur Ver- besserung der gesundheitlichen Lebensbedingungen und als Voraussetzung -der gesundheitsgemäßen Lebensführung der Schüler selbst.

2. Deutscher Verein für Sehulgesundheitspflege. 161

2. Sie ist die Grundlage der Verbreitung hygienischer Lehren im Volk, der Bekämpfung der Volkskrankheiten und der Hebung der Volkskraft.

3. Die hygienische Erziehung der Schüler ist daher in allen Schulen und auf allen Stufen durchzuführen.

4. Sie hat in der Schule durch die Lehrer zu erfolgen. Der Schul- arzt ist in geeigneter Weise heranzuziehen.

5. Die hygienische Erziehung der Schüler setzt die hygienische Vorbildung aller Lehrer voraus, die möglichst nach einheitlichen Grund- sätzen für die Lehrer aller Lehranstalten durchgeführt werden muß.

6. Diese hygienische Ausbildung umfaßt die allgemeine Hygiene, die Bekämpfung der ansteckenden Krankheiten und insbesondere die Schul- hygiene. Sie ist durch eine Prüfung nachzuweisen.

7. Erwünscht ist ein vorhergehender Unterricht in Anatomie und Physiologie, der für die Kandidaten der naturwissenschaftlichen Fächer als Pflichtfach einzurichten wäre.

8. Es ist Vorsorge zu treffen, daß in der Übergangszeit, bis die ordnungsmäßige hygienische Vorbildung der Lehrer allgemein durchgeführt ist, auch die bereits im Amte befindlichen Lehrer in geeigneter Weise zur hygienischen Erziehung der Schüler befähigt werden.

2. Leitsätze von Rektor ‚Hertel:

1. Die hygienische Erziehung in der Schule gründet sich auf Be- lehrung; ihr Ziel ist die Gewöhnung an eine gesundheitsgemäße persön- liche Lebensführung und Verständnis für sozial-hygienische Einrichtungen,

2. Die hygienischen Belehrungen erfolgen: `

a) als gelegentliche in allen Klassen; sie schließen sich b) an ge- eignete Unterrichtsfächer an; sie bilden c) einen selbständigen Lehrgang als Zweig des naturkundlichen Unterrichts im 8. Schul- jahre.

3. In allen Klassen ist darauf hinzuw@rken, daß die Gesundheitslehre zur Gesundheitspflege und schließlich zur gesundheitlichen Gewöhnung führt.

4. Der hygienische Unterricht als selbständiger Lehrgang behandelt Bau, Leben und Pflege des menschlichen Körpers; er sucht ein allgemeines Verständnis für die wichtigsten sozial-hygienischen Einrichtungen zu ver- mitteln und gewährt seine Unterstützung bei der Berufswahl. In Mädchen- schulen führt er auch in die Säuglings- und Kleinkinderpflege ein.

5. Der hygienische Unterricht beachtet die für den naturkundlichen Unterricht von den modernen pädagogisch aufgestellten Grundsätzen, be- sonders des biologische Prinzip und die Forderungen der Arbeitsschule. Er wird von einem hygienisch genügend vorgebildeten Lehrer erteilt.

6. Die Schule muß in allen ihren Einrichtungen und Veranstaltungen den Forderungen der Hygiene entsprechen.

3. Leitsätze von Dr. Roller:

1. Die hygienische Erziehung ist für den Menschen zur Erhaltung seiner Gesundheit und damit zur Förderuug der gesundheitlichen Lebens- bedingungen der Gesellschaft (Familie, Staat) erforderlich ; ; sie wird da- durch zu einem sozialen Erziehungsfaktor.

Zeitschrift für Kinderforschung. 26. Jahrgang. 11

162 B. Mitteilungen.

2. Die Schule, als eine der wichtigsten sozialen Einrichtungen, muß deshalb in ihren erziehlichen und unterrichtlichen Maßnahmen von hygieni- schem Geiste beseelt sein.

3. Sie kann dies dadurch, daß sie

a) durch ihre Einrichtungen und äußeren Anordnungen den Kindern unmwittelbar die Augen für den Wert der Hygiene öffnet;

b) innerhalb des Unterrichts für eine entsprechende Belehrung ihrer Pfleglinge Sorge trägt.

4. Diese Belehrung kann zunächst eine gelegentliche sein und sich an jedes geeignete Unterrichtsfach, insbesondere an die naturwissenschaft- lichen Fächer anlehnen.

5. Sie kann außerdem in systematischer Weise mit einer gewissen Selbständigkeit betrieben werden.

6. Die gelegentliche hygienische Belehrung hat sich über alle Klassenstufen zu erstrecken.

7. In den höheren Klassen ist außerdem in der Biologie die Gesundheits- lehre systematisch im Anschluß an die Behandlung des Menschen zu betreiben.

8. Die hygienische Belehrung hat durch den Lehrer zu erfolgen; in geeigneten Fällen kann der Schularzt oder der beamtete Arzt dabei mitwirken.

9. Die hygienische Erziehung und Belehrung der Schuljugend setzt eine entsprechende Vorbildung der Lehrerschaft voraus.

10. Dieselbe hat für den akademisch gebildeten Lehrer auf der Universität zu erfolgen und sich über folgende Gebiete zu erstrecken: allgemeine Hygiene, Schulhygiene, Bekämpfung der ansteckenden Krank- heiten. Für den Biologen sind diese Gebiete entsprechend zu erweitern und durch Anatomie und Physiologie zu ergänzen.

11. Für die gegenwärtig im Amte befindliche Lehrerschaft wäre eine nachträgliche Ausbildung in allen einschlägigen hygienischen Fragen durch besondere Kurse erstrebenswert.

12. Die in die Schuljuga gelegten hygienischen Grundsätze sind zum Zwecke der Vertiefung und praktischen Verwertung in geeigneter Weise auch in das Elternhaus zu tragen.

Auf die anregenden Vorträge und Aussprachen näher einzugehen, fehlt uns der Raum. Wir verweisen auf die angegebene Veröffentlichung. .

Nur der einstimmig angerommene Antrag von Rektor Hertel sei noch erwähnt. Er lautet:

»Der Deutsche Verein für Schulgesundheitspflege beauftragt seinen Vorstand, an die Unterrichtsministerien der deutschen Staaten ein Gesuch zu richten, in dem gebeten wird, bei der bevorstehenden Neu- organisation des deutschen Schulwesens in allen Schulen eine ziel- bewußte und planmäßige hygienische Erziehung sicherzustellen.«

3. Dr. Karl Wilker und der »Lindenhof«.

Auch manche unserer Leser werden wie ich aus den Tageszeitungen über den Konflikt unseres Mitherausgebers Dr. Karl Wilker mit den

4. Das Rauhe Haus in Horn bei Hamburg. 163

Berliner Bürokraten und den sogenannten »Alten« im »Lindenhof« nur ganz kurze Notizen gelesen haben. Sehr viel mehr weiß ich auch heute noch nicht, da eine persönliche Aussprache uns beiderseits noch nicht möglich geworden ist. Einiges brachten Wilkers junge Freunde, Schüler von Mitarbeitern in den Blättern des Lindenhofes. Jetzt geht mir Heft 51, 1920 des »Tagebuch« (herausgegeben von Stefan Großmann, Verlag Ernst Rowohlt, Berlin) zu. Darin bringt Wilker selbst einen Artikel »Der Lindenhof und ich«. Der Herausgeber leitet ihn mit folgenden Worten ein: »Dr. Karl Wilker war fast vier Jahre lang Direktor der Fürsorge- Erziehungsanstalt der Stadt Berlin in Lichtenberg. Er hatte den Mut und die Kraft, aus einem trüben Gefängnis eine entgitterte Heimstätte für junge, reizbare Menschen zu machen. Das ist weniger das Er- gebnis einer Theorie, als vielmehr die Folge einer glücklichen Natur gewesen. Vor Jahren, als ich mit einer Erlaubnis des österreichischen Ministerpräsidenten v.Koerber die Jugendgefängnisse Österreichs studierte, gewahrte ich zu meiner Verblüffung, daß ein ehemaliger K. und K. Oberst der idealste Verwalter seines Amtes war. Er hatte für sein Amt eine gewisse praktische Geschicklichkeit, Neigung zu handwerklicher Tätig- keit und eine angeborene frohe, gläubige Liebe und Solidarität mit seinen Jünglingen. Eine pädagogische Staatsprüfung hatte er, minde- stens in den ersten Jahren seiner Arbeit, nicht bestanden. Ich weiß nicht, wieviel theoretische Verbindungen der frühere Leiter des Linden- hof erfüllt, aber das ist gewiß, daß es ihm gegeben war, den Weg zum Inneren der gefährdeten Jugend zu finden, und daß sie ihm folgten, weil sie ihm zugetan waren. Der normale Bürokrat zischelte hinter seinem Rücken und dies Gezischel ist sogar in einer Sammelschrift festgehalten worden, die heimlich, als nicht zu den Akten gehörig, der Gattin des Stadtverordnetenvorstehers Dr. Weyl zugesteckt worden. Wilker selbst hat die Klatschschrift nicht zu sehen bekommen, man findet es nur ehrenwert, geheimnisvoll auf sie zu weisen. Die Taktiken der Philister sind eben überall dieselben, ob die regierenden Bürger nun grellrot oder schwarz- weiß-rot kostümiert sind. Zuweilen möchte man sogar glauben, daß die Herzensdürre der Unentwegten die größere sei, aber das rührt vielleicht daher, daß das Tun dieser Redemenschen mit ihrem humanitären Vokabularium so gar nicht zusammenhängt.« Sobald sich die Konfliktsfrage genügend geklärt hat, werden wir Weiteres berichten. (Vergl. auch S. 175 und Jahrgang 23, S. 49—60: Jugendgefängnisse von Dr. Karl Wilker.) Tr.

4. Das Rauhe Haus in Horn bei Hamburg, die Geburtsstätte der Inneren Mission im ev. Deutschland hat auch harte, sorgenvolle Zeiten. Der verstorbene Leiter D. Hennig, über dessen Leben und Wirken wir im nächsten Hefte berichten werden, klagt ähnlich wie von Bodelschwingh in Bethel: »Unser Gott führt uns dunkle Leidenswege, deren Ende wir noch nicht absehen. Die Schwere dieser Zeit hat sich wie ein.lastender Druck auf zahlreiche Anstalten und Arbeiten der christ- 11*

164 B. Mitteilungen.

lichen Liebestätigkeit gelegt und viele in ihrem Bestande gefährdet. Auch unser liebes Rauhes Haus, diese Schöpfung des Herolds der Inneren Mission, Joh. Hinr. Wichern, leidet schwer unter diesem Druck. Die Aus- gaben wachsen ins Unermeßliche, die Einnahmen aber steigen nicht in demselben Maße, und ringsum keine Möglichkeit, sie auch nur notdürftig miteinander in Einklang zu bringen! Dabei alte und neue Arbeit in Fülle! Die Not der Zeit stellt auch uns fast täglich vor neue Aufgaben. Unsere Kinderanstalt füllt sich, aber es fehlen die Mittel, um all der äußeren und inneren Not zu steuern, die durch die Zerrüttung des Familien- lebens über zahlreiche Kinder hereingebrochen ist. Unsere Handwerker- und landwirtschaftlichen Abteilungen dürfen wohl zahlreichen Jünglingen wertvollen Dienst tun. Die Arbeit in der Werkstatt, das frische, frohe Schaffen in Gottes freier Natur, auf Wiese und Feld, in Scheune und Stall ist ein Jungbrunnen für viele gefährdeten jungen Leute, Aber die Sorge um das tägliche Brot lähmt auch bier oft die Freudigkeit zur Arbeit. Unsere Brüderanstalt darf zwar dankbar sein, daß wieder junge, fromme Männer bereit sind, sich in den Dienst ihres Meisters zu stellen, sie darf einer großen Zahl von tüchtigen, für das Werk der Inneren Mission be- geisterten jungen Freunden das Rüstzeug schmieden, mit dem sie dereinst den Kampf mit den Mächten der Finsternis in unserem Volke aufnehmen sollen. Gerade diese Arbeit aber leidet Not! Sie, die so wichtig ist, bedarf eines Zuflusses großer Mittel, wenn das Werk nicht eingeschränkt werden soll. Wer aber wollte heute, wo die Not unseres Volkes gen Himmel schreit, das verantworten? Wir nicht, wir rechnen vielmehr auf die großen Schatzkammern unseres Gottes, deren Schlüssel in den Herzen und Gewissen seiner Kinder liegen.

Wir erheben daher unsere Stimme und bitten freimütig und zu- versichtlich alle Freunde christlicher Nächstenliebe hin und her im lieben deutschen Vaterlande: Helfen Sie durch große und kleine Gaben mit, daß das in 86 Jahren treuer Arbeit so reichgesegnete Liebeswerk des Rauhen Hauses nicht eingeschränkt werden muß, sondern daß es auch fernerhin seinen Dienst an unserem Volke tun darf, zum Heile der Brüder und zur Ehre Gottes.«

5. Erziehungsmerkblätter.

Das Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht, Berlin, Potsdamer- straße 120, gibt soeben gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft zur Förderung häuslicher Erziehung in Leipzig acht Merkblätter heraus, die Fragen der häuslichen Erziehung des Kleinkindes behandeln. Es wird da- durch einem Bedürfnis entsprochen, das in Kreisen der Kinderfürsorge, Jugendwohlfahrtspflege und Volkserziehung von Jahr zur Jahr stärker hervor- tritt, nachdem auf dem Gebiete gesundheitlicher Fürsorge Merkblätter ein unentbehrliches Hilfsmittel der Volksbelehrung geworden sind. Die Merk- blätter sind von hervorragenden Fachleuten bearbeitet und beantworten folgende Fragen: Wie werde ich ein guter Erzieher? (Dr. Prüfer, Leipzig). Wie erhalte ich mein Kind in den ersten Jahren ge- sund? (Prof. Pfaundler, München). Wie ernähre ich mein Kind?

6. Provinzialinstitut für praktische Psychologie, Halle a. S. 165

(Geh. Sanitätsrat Maier, München). Wie kleide ich mein Kind? (Annemarie Pallat-Hartleben, Berlin. Wie beschäftige ich mein Kind? (Nelly Wolffheim, Berlin. Warum fragt mein Kind und wie soll ich ihm antworten? (Lehrer Scheibner, Leipzig. Warum lügt mein Kind und wie kann ich das verhüten? (Dr. Prüfer, Leipzig). Soll ich mein Kind in den Kindergarten schicken? (Wally Zerler, Berlin).

Um den Blättern eine große Verbreitung zu sichern, werden sie zum Herstellungspreise 100 Stück 7,— M abgegeben. Einzelblätter kosten 10 Pf.

An alle Mutterberatungsstellen, Kindergärten und verwandten Ein- richtungen, Schulen und Fortbildungsschulen, an die Kirchengemeinden, Wohlfahrts-, insbesondere Jugendfürsorgevereine, sowie Volkshochschulen, Gewerkschaften und Müttervereine ergeht durch das Institut die Bitte, für die weitere Bekanntmachung und Verbreitung der Merkblätter zu sorgen.

6. Provinzialinstitut für praktische Psychologie, Halle a. 8. i

In der Provinz Sachsen und Anhalt ist als Mittelpunkt praktisch- psychologischer Arbeit zu Halle eine eigene Forschungsstelle begründet worden. Diese ist angegliedert der dort befindlichen Landesheilanstalt, welche unter der Direktion von Dr. med. Pfeifer steht. Fachpsychologischer Leiter ist Dr. Giese, bisher Berlin. Ursprünglich befand sich in Halle nur das kleine Laboratorium für Rentenbegutachtung von Hirnverletzten. Die Notwendigkeit der Gewinnung von Normalien durch Prüfung gesunder Personen führte von allein zur schnellen Erweiterung des Interessenten- kreises. Heute arbeitet das Institut für das Landesarbeitsamt der gesamten Provinz, Behörden, wie das Postministerium, die Schulen, Provinzialblinden- anstalt, das Militär, für die Stadt Halle, die jährliich einen gewissen Zu- schuß zahlt, für Private. Das Arbeitsgebiet umfaßt 1. Eignungsprüfungen an Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen, Gesunden, wie Invaliden und Patho- logischen. 2. Psychotechnische Eichungen von Gegenständen und Dingen der Umwelt (z. B. Prüfung von Maschinenkurbeln, Geräfsitzen, Schildern, Kartenformularen, Signalen u. a. m.). 3. Psychologische Übungsbehandlung für Hirmverletzte, Hysteriker usw. nach zurzeit neu versuchten Grundsätzen (Steigerung der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses, der Willensimpulse usw.). 4. Forschungsabteilung zur Gewinnung neuer theoretischer wie praktischer Erkenntnisse. Außer Dr. Giese selbst beteiligten sich der Direktor der Landesheilanstalt, Ärzte, Lehrer, Ingenieure, Berufsberater „und sonstige Spezialisten an den Untersuchungen. Hinzu treten die üblichen Hilfskräfte an Laborantinnen, Volontärassistenten, Büropersonal, sowie einem Tischler- und einem Schlossermeister, um die tägliche Arbeit zu erledigen. Das Institut wurde bereits in vielen seiner Laboratoriums- und sonstigen appa- rativen Einrichtungen Vorbild für andere Unternehmungen, nicht nur im engeren Rahmen der Landesgebietete, sondern auch auswärts. Sonder- forschungsinstitute für Spezialfragen z. B. in Cöthen, an dessen Poly- technikum und Handelshochschule Dr. Giese als Dozont für Psychotechnik

166 B. Mitteilungen.

zugleich berufen wurde, in Erfurt und Magdeburg sollen Hand in Hand mit dem Halleschen Institut die Organisation moderner Arbeitswissenschaft betreiben helfen. Der Vertrieb der neuen Universalapparate, welche im Halleschen Institut erdacht und erprobt wurden, hat das Institut für Präzisionsmechanik Polikeit, Halle, Promenade, für In- und Ausland über- nommen, um die Früchte der Forschungen auch gerade solchen ‚Kreisen zugänglich zu machen, die nicht fachpsychologisch vorgebildet sind, aber durch den Mangel an Spezialisten zurzeit noch gezwungen werden, berufs- wissenschaftlich tätig zu bleiben. Auf diesem Wege hofft man dem Dilet- tantismus hinsichtlich der Untersuchungsverfahren und der Unvwirtschaftlich- keit eigener mühevoller Probeversuche zu steuern. Der Führungsvortrag durch das Institut erschien im Verlage Wendt & Klauwell in Langensalza. Anschrift für Anfragen usw. Halle, am Weinberg.

7. »Die Kulturschande Europas vor dem Schwurgericht.«

Unter diesem Titel ist im Selbstverlag von »Österreichs Völkerwacht« (Verein zur Bekämpfung der öffentlichen Unsittlichkeit, Graz, Richard- Wagner- gasse 36, I), ein interessantes Kulturdokument erschienen. Es ist die Ver- öffentlichung des stenographischen Protokolls der zehnstündigen Schwur- gerichtsverhandlung im Prozeß Polland-Ude, in welcher Prof. Ude, der Vorsitzende von »Österreichs Völkerwacht« glänzend freigesprochen worden ist. Die Broschüre liest sich wie ein Zeitroman. Die Kulturschande der staatlich reglementierten und bordellierten Prostitution hat in ihren Ver- tretern eine schwere Niederlage im Schwurgerichtssaal erlitten, während .die Gegner dieser Kulturschande durch den Wahrspruch der Geschworenen glänzend gerechtfertigt hervorgingen. Eine entsprechende Einleitung, ein Nachwort und die wörtliche Wiedergabe der von Prof. Ude verfaßten Broschüre »Universitätsprofessor und Bordellbesitzer« in 2. Auflage, sowie eine Anzahl glänzender medizinischer Original-Fachgutachten, machen diese Broschüre zu einer überzeugenden Rechtfertigung und liefern gewaltiges Material zur Scheidung der Geister in dem Riesenkampf zwischen Sittlich- keit und Unsittlichkeit. Die umfangreiche Broschüre kostet 15 Kr., bezw. 5 M., 2 Fr.’oder 1 Gulden holländisch und kann durch jede Buchhandlung, sowie direkt von »Österreichs Völkerwacht« bezogen werden.

8. Zeitfragen. A 1. Bekämpfung der Schundliteratur.

Das Jugendamt in Jena teilt mit:

»Nach wiederholten Verhandlungen zwischen Vertretern der Volks- und höheren Schulen unserer Stadt, des Vorstandes und Hörerrates der Volkshochschule, des Zentralelternrates, des Bildungsausschusses des Ge- werkschaftskartells, des Jugendringes und sämtlicher Jugenägruppen wurde am 3. Dezember ein Ortsausschuß zur Bekämpfung der Schundliteratur gegründet, der sofort seine Tätigkeit nach folgenden Richtlinien auf- nehmen wird:

8. Zeitfragen. ! 167

1. Der dem städtischen Jugendamt angegliederte Ortsausschuß zur Bekämpfung der Schundliteratur überläßt die Werbearbeit für das gute Buch und die Maßnahmen zu seiner Verbreitung, also die Veranstaltung von Bücherausstellungen und Vortragsabenden, die Herausgabe von Bücher- verzeichnissen, den Vertrieb von Büchern in Jahrmarktsbuden usw. den staatlichen, gemeindlichen und freien Erziehungs- und Bildungsorganisationen, beschränkt seine Tätigkeit lediglich auf die Mitarbeit bei der Zurück- drängung schlechter und minderwertiger Literatur, und versteht darunter Schriften, von denen eine schädliche Einwirkung auf die sittliche und geistige Entwicklung der Jugend oder eine Überreizung der Phantasie zu besorgen ist.

2. Im besonderen sieht er seine Mitarbeit: a) in der Überwachung der Auslagen und des Vertriebes von Jugendschriften in hiesiger Stadt; b) in der eingehenden Prüfung aller im Buchhandel erscheinenden Schriften, die seinen Mitgliedern als der Schundliteratur verdächtig auffallen; c) in der Zusammenstellung der als Schund erkannten Schriften zu »Listen der Schundliteratur«, die der Polizeiverwaltung bei Anwendung der 88 137 und 138 der Polizeiverordnung vom 1. März 1919 als zuverlässiger Führer dienen können; d) in der Öffentlichkeit über die Wertlosigkeit und Gefahren der bereits vorhandenen und neu erscheinenden Schund- schriften; e) in der Unterstützung der Polizeiverordnung bei der Nach- prüfung der Druckschriftenbestände in den hiesigen Geschäften; f) in der Besprechung von Vorschlägen für die gesetzliche Bekämpfung der Schund- literatur, -

3. Die Ausmerzung der Schundliteratur ist eine polizeiliche An- gelegenheit. «

Die in Heft I u. II berichteten Verhandlungen der Vertreterversamm- lung der vereinigten Deutschen Prüfungsausschüsse für Jugendschriften sind somit in Jena auf fruchtbaren Boden gefallen. Hoffentlich auch anderswo. Ob aber das Jugendamt etwas erreichen wird, ist eine andere Frage. Der Kino- und Schundbuchkapitalismus pfeift auf Erlasse der Jugendämter. Und der Kampf des sogenannten Sozialismus gegen den Kapitalismus richtet sich in praxi doch nur gegen das echte Werte, wirt- schaftlicher wie ideeller Art, schaffende Kapital.

2. Politisierung der Säuglinge?

In meiner Schrift »Die freien Erziehungs- und Bildungsanstalten< habe ich mit’ Nachdruck auf die Gefahren einer Politisierung der Jugend hingewiesen, und wiederholt haben wir über die so beeinflußte »Jugend von heute« hier berichtet. Unter obiger Überschrift schreibt nun die »Jen. Zeitunge:

»Bis jetzt hatte man nur satirisch davon gesprochen, aber es ist doch wohl nicht Satire, sondern blutiger Ernst, was man auf dem Anschlag- brett des »Dürerhauses« Jena liest. Danach tut es nicht mehr die Stimm- zettelabgabe der 20jährigen, tun es nicht mehr die Jugendgruppen der Halbflüggen. Dort wird bekannt gemacht:

»Sozialistische Kindergruppe Jena. Jeden Montag im Löwen

168 B. Mitteilungen.

Fremdenzimmer von 1/,4—1/,6 Treffen der 5- bis 13jährigen. Jeden Dienstag .. . Erste Besprechung nur mit Konfirmanden...«

Ist das etwas anderes als Einpflanzen des Klassenkampfgedankens und Klassenhasses in das kindliche Gemüt? Sind die Kräfte der Volks- gemeinschaft auf dem Posten, diesen volkszersetzenden Bestrebungen ent- gegenzuarbeiten I

Im Gegensatz dazu ist es von der Staatsregierung selbst den Schülern der Oberklassen höherer Schulen hier verboten, irgend eine politische öffentliche Versammlung zu besuchen, was wiederum den aus der Volks- schule entlassenen Vierzehnjährigen gestattet ist. Diese sollen politisch »reifer« sein, weil sie schon im wirtschaftlichen Erwerbsleben stehen. Der wahre Grund wird aber wohl der sein, daß jene gegen die Ver- herdung unseres Volks, was man fälschlich Demokratisierung nennt, infolge der Einflüsse der Schule und des Elternhauses Partei nehmen könnten, diese aber den »Unverstand ‚der Masse« (Ausdruck der Arbeiter-Marseillaise) und damit ihre leichtere Ausbeutung seitens der Führer verstärken werden.

3. Die wachsende Genußsucht der Jugend.

Aus Sondershausen wird einer hiesigen Zeitung geschrieben: »Bei den letzthin stattgefundenen Unterhaltungsabenden und Vereinsbällen mußte man leider feststellen, daß in großer Anzahl schulpflichtige Kinder, bleich und schmalwangig, bis herunter zu 7—8 Jahren, in später Nachtstunde teilnahmen. Auf dem Tanzstunden-Maskenball konnte man sogar 12jährige Realschüler im Maskenballkostüm das Tanzbein schwingen sehen. Angesichts der schrecklich in Zunahme begriffenen Tuberkulose ist das Verhalten der in Betracht kommenden Eltern ganz unverständlich. Und unsere Gesetzgeber? <

Ein geradezu erschreckendes Bild jugendlicher Verwahrlosung ent- rollte eine Verhandlung, welche nach den Berichten der Tageszeitungen das Schöffengericht in Berlin beschäftigte. Wegen Unterschlagung war der Kellner Bruno G. angeklagt. Der Angeklagte wurde beschuldigt, einen Pelz, der ihm als Pfand übergeben war, widerrechtlich verkauft zu haben. Welche Bewandtnis es da mit diesem Pelze hatte, ging aus einer Schilderung des Angeklagten vor Gericht hervor: G. ist als Keliner in einer sogenannten Luxusbar im Westen angestellt, in der ein recht eigenartiger weiblicher Gast verkehrte. Es war dies die erst 13jährige Tochter Margot eines Pfandleihers J., welche häufig bis 5 Uhr morgens in der Bar saß, in der Nacht über: 50 Zigaretten rauchte und in wenigen Tagen etwa 5000 Mark Zeche gemacht hatte. Eines Tages war Margot wieder mit einem jugendlichen »Kavalier« er- schienen, für den sie stets zu bezahlen pflegte, und machte eine Zeche von 420 M, die sie nachher nicht bezahlen konnte. Wie der Angeklagte behauptet, habe ihm »Margot« dafür ihren Pelz verkauft, den er selbst am nächsten Tage weiterverkaufte. Wie die Zeugin vor der Polizei erklärte, habe sie dem Angeklagten den Pelz, den sie aus den Versatz- stücken ihres Vaters entnommen hatte, nur verpfändet. Vom Rechts- anwalt Alfred Grün wurde unter Beweis gestellt, daß Margot J. nach

8. Zeitfragen. 169

keiner Richtung Glauben verdiene. Die Verteidigung behaupte, daß die Dreizehnjährige das Geld zu ihren Lebedamenallüren aus der Kasse nehme, daß sie fast täglich im Hippodrom im Tiergarten etwa 100 M für ein Pferd ausgebe. Ihr eigener Vater habe in Zeugengegenwart erklärt, daß das Mädchen in Fürsorgeerziehung gehöre. Zu der Verhandlung war Margot nicht erschienen; sie war gerade »auf dem Bummel« und noch nicht in die elterliche Wohnung zurückgekehrt. Das Gericht “war mit dem Verteidiger R.-A. Grün der Ansicht, daß ein derartig moralisch ver- dorbenes Mädchen keinerlei Glauben verdiene und anerkannte auf Frei- sprechung auf Kosten der Staatskasse. Und das Mädchen?!

4. Kinderelend überall.

Der Bericht des Stadtschularztes über das Ergebnis einer Untersuchung an den Offenbacher Schulkindern bietet einen traurigen Einblick in den Gesundheitszustand unserer Jugend. Unterernährt waren in den Volks- schulen 42°/,, in den höheren Schulen 31°/,. Mittelmäßig ernährt waren in den beiden vorgenannten Schulkategorien je 50°/,. Gut ernährt waren 6 und 17°/) Das blasse und schlechte Aussehen sowie die kränkliche Beschaffenheit der Kinder dieser Industriestadt ist besonders auffallend. Direkt krank waren 30°/, der Volksschüler und 25°/, der Kinder an den höheren Schulen, gesund sahen nur 15 und 28°/, aus. Zusammenfassend wnrde bei 40°/, der Volksschulkinder der Gesundheitszustand für gefährdet erklärt.

5. Die Jenenser Studentenschaft für UBNDBRICEINEN. und gegen den Vergnügungstaumel.

Am Dienstag, 8. Februar, fand in den akademischen Rosensälen die erste Vollversammlung der Jenenser Studentenschaft statt, bei überaus zahl- reicher Beteiligung. Von der Dozentenschaft waren anwesend der Rektor der Universität, Geh. Hofrat Linck, der künftige Rektor, Geh.-Rat Weinel und Prof. v. Zahn.

Beachtenswert auch für unsere Bestrebungen sind folgende Punkte unter den dort 'verhandelten.

Es wird angeregt, die Hamburger Universität wegen ihres neuen, bildungsfeindlichen, aufoktroyierten Hochschulgesetzes, das die Freiheit der Wissenschaft bedroht, als deutsche Universität zu boykottieren.!)

Nach eindrucksvollen Worten des 2. Vorsitzenden, Herrn Schneyer, wird folgende Entschließung zur außenpolitischen Lage einstimmig von der Vollversammlung angenommen:

1) Gegen dieselbe Bedrohung der Bildungsfreiheit auf dem Gebiete der Grund- und Mittelschulen wie in den Familien richtete ich meine Schriften: »Die freien Erziehungs- und Bildungsanstalten in ihrer Bedeutung für unser deutsches Volk der Gegenwart.« Heft 155 der Beitr. z. Kdf. 173 8. 7 M. »Zur Schulgesetz- frage in Thüringen.« Heft 746 des Päd. Mag. 28 S. 1 M. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

170 i C. Literatur.

»Die Studenteuschaft Jena richtet an die Regierung und den Landtag von Thüringen die dringende Bitte, sich mit einem unerschütterlichen Niemals! hinter die Reichsregierung zu stellen. Die Studentenschaft versichert, daß sie dann in jeder Weise für diesen Gedanken eintreten und wirken wird. Sie bitten aber auch, die Abhaltung von Vergnügungen aller Art in dieser ernsten Zeit strengstens zu verbieten und immer und immer wieder auf den Ernst der Lage unseres Volkes und Vaterlandes hinzuweisen.«

Ferner gelangte folgender Zusatzantrag aus der Versammlung heraus ebenfalls einstimmig zur Annahme:,

»Die Jenenser Studentenschaft erklärt, als Zeichen der Trauer ihrerseits, alle Stiftungsfeiern und Festlichkeiten nicht ernsten Charakters, auf ein viertel Jahr zu unterlassen.«

Mögen die deutschen Studenten sich dauernd bewußt bleiben, daß das übertriebene Genußleben sie zur nationalen Führerschaft ungeeigneter macht. Tr.

C. Literatur.

1. Buchbesprechung.

1. Eggersdorfer, Prof. Dr. Franz Xaver, M.d. L, Die Schulpolitik in Bayern von der Revolution bis zum Abgang des Ministeriums Hoffmann. Grund- sätzliches, Texte, Erläuterungen. München, Verlag der Politischen Zeitfragen Dr. Franz A. Pfeiffer, 1920. IV und 280 S. Preis 21 M.

Eine sehr beachtenswerte Schrift auch für den, der wie ich nicht mit dem Verfasser auf dem Boden der römisch-katholischen Weltanschauung steht. Ja wir können nur bedauern, daß die Zerklüftung jer Evangelischen in so viele Richtungen und Parteien für Preußen und die übrigen vorwiegend evangelischen Staaten in Mittel- und Norddeutschland keine derartige umfassende und die nachrevolutionäre Schulpolitik in ihren Grundsätzen oder Grundsatzlosigkeit beleuchtende Schrift ge- zeitigt hat, daß also Dörpfeld für die letzten Jahrzehnte überhaupt keinen eben- bürtigen Nachfolger gefunden hat. Ich habe in meinem Vortrage »Die Familien- rechte« (2. Aufl. 1893. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne: [Beyer & Mann]) vor 30 Jahren und nach der Revolution in der Schrift: »Die freien Erziehungs- und Bildungsanstalten« (Beitr. z. Kdf. Heft 169) mit Nachdruck auf die Ge- fährdung der wertvollsten Kulturgüter unseres Volkes hingewiesen. Und die auf meine Anregung herausgegebene Schrift von Dr. Reh, damals Mitarbeiter auf der Sophienhöhe, über »Die belgische Volksschule im Parteikam pf« (1806—1914), (Päd. Mag., H. 730. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne [Beyer & Mann]) ist auch als Warnung für uns kaum beachtet, geschweige denn entsprechend be- wertet worden. Eine geschlossene Front hat sich auf evangelischer Seite leider nicht gebildet. Der Rest von Glaubens- und Gewissensfreiheit, der uns der Reichs- wie in den einzelnen Staatsverfassungen noch geblieben ist, verdanken wir darum dem geschlossenen, zielbewußten Zentrum.

Daß die Freiheit für die Weltanschauung des egoistisch -utilitarisch - materia- listischen Marxismus mit der Forderung der sogenannten weltlichen Schule ohne religiös-sittliche Grundlage wie die für die römisch-katholische Kirche größer ge-

C. Literatur. 171

worden ist, als für das evangelische Christentum, auch in vorwiegend evangelischen Ländern, wie Thüringen, ist darum begreiflich, obgleich mancher Politiker dieses Be- kenntnisses das nicht einmal ahnt, auch wenn er es im Parlament selbst mit be- schlossen hat.

Die vorliegende Schrift hat es sich zur Aufgabe gemacht, »kritisch das Werden und den Inhalt des neuen Schulrechtes zur Darstellung zu bringen«. Sie bringt darum alle einzelnen Gesetzesbestimmungen und Verordnungen und bewertet sie. Die grundsätzlichen Ausführungen sollen dagegen so heißt es im Vorwort »der Durchdringung des Gegenstandes und der zukünftigen Gestaltung des Schul- rechtes dienen. Sie verwerten dabei den verfassungsrechtlichen Begriff der »Gewissensfreiheit«. Dieses geschieht, um mit den Gegnern unserer Schul- forderungen einen geineinsamen, unbestrittenen Boden zu gewinnen. Wohl wäre zu wünschen, es könnte der leere Begriff der Gewissensfreiheit mehr und mehr ersetzt werden durch den der Gewissenspflicht. Es ist die Verantwortung gegenüber dem Rechte des Kindes auf eine Erziehung, die zum zeitlichen und ewigen Glücke führt, die die gläubigen Kreise nötigt, dem staatlichen Er- ziehungszwang die Freiheitsforderung der Kinder Gottes entgegenzuhalten. Weil sie aber meinen, daß sich auch der Staat von heute und die Verfechter seiner Ansprüche des Widersinns bewußt werden könnten, die darin liegt, daß unsere Verfassungen zwar für alle Weltanschauungsgrundlagen der Erziehung schrankenlose Freiheit verkünden, die Schulerziehung selbst aber dennoch unter Zwang stellen wollen, so erinnere auch sie an ihr Verfassungsrecht der »Gewissensfreiheite.

Da, wie gesagt, uns in den mittel- und norddeutschen Staaten e’ne derartige Zusammenstellung mit grundsätzlicher Beleuchtung fehlt, so kann man nur wünschen, daß jeder, der in Presse oder Parlament seine Ansicht kund gibt über eine der bedeutungsvollsten Kulturfragen unseres deutschen Volkes sich zuvor ver- gleichend in diese Schrift über die Schulpolitik in Bayern vertiefen möge.

2. Festschrift zum 25jährigen Bestehen des freiwilligen Erziehungs- beirats für schulentlassene Waisen in Berlin. Im Auftrage des Vor- standes herausgegeben von Dr. J. Stern, Landgerichtsrat in Berlin 1921.

Inhalt: 1. Dr. Felisch, Aus der Vereinsgeschichte. 2. Weginer, Die pflegerische Tätigkeit. 3. Dr. Nast, Die Gruppenorganisation. 4. Frau Felisch, Mädchenerholungsheim. 5. Frau Kaufmann, Knabenerholungsheim. 6. Sruck, Jugendpflege. 7. Stock, Jugendgerichtshilfe. 8. Dr. Stern, Jugendrecht und Jugendgesetzgebung, 9. Münz,. Amtliche und private Wohlfahrtsarbeit. 10. Tabelle über die Ausgaben.

Der von Felisch begründete Verein ist, wie in der kurzen Darstellung seiner Geschichte dargelegt wird, derart erstarkt, daß er von den sich auf die Anhänger aller Bekenntnisse erstreckenden Jugendvereinen der größte Deutschlands geworden ist; so hat er mehr als 27000 ‘Waisenkindern den Weg ins Erwerbsleben geebnet und sie je vier Jahre betreut, so ist er wissenschaftlich und praktisch führend in allen Fragen der Schulentlassenen geworden, so ist aus ihm der große deutsche Er- ziehungsbeirat hervorgegangen, der als Verbahd die deutschen, sich den Schul- entlassenen widmenden Vereine umfaßt.

In dem Artikel von Dr. Stern heißt es mit Recht:

»Jugendrecht und Jugendgesetzgebung diese Worte führen uns hinein in das Gebiet des Rechts, dessen wir nun einmal nicht entbehren können, wenn es gilt, feste Grundlagen für die Beziehungen der Jugend, soweit sie rechtlicher Natur sind, zu gewinnen. Aber nicht deshalb ist diesem Gegenstande in der Festschrift

172 C. Literatur.

besonderer Raum gewährt, sondern weil der Erziehungsbeirat mit dem berechtigten Gefühl des Stolzes auf seine Arbeiten und seine Erfolge im Kampf um ein deutsches Jugendrecht und seine planmäßige Verarbeitung in einem ein- heitlichen Reichsjugendgesetze, also auch auf eine wissenschaftliche Tätigkeit, hinweisen darf.

In der Geschichte der deutschen Jugendrechtsbewegung ist Felisch eine führende Stelle gesichert. Seine jahrzehntelange Arbeit fand einen gewissen Ab- schluß in der zusammfassenden Schrift »Ein deutsches Jugendgesetze im Frühjahr 1917, ihre Geschichte ist zum guten Teil auch die Geschichte der Jugendrechts- bewegung. Zugleich aber wurde diese Schrift der Ausgangspunkt neuer, unmittelbar auf das praktische Ziel der Verwirklichung des Jugendgesetzgedankens gerichteter Bestrebungen im engsten Zusammenhange mit dem Freiwilligen Er- ziehungsbeirat.«

In die Reichsschulkonferenz berief man die un-eife sozialistische und kom- munistische Jugend. Für Männer wie Felisch hat man kein Ohr mehr. Sie sind Hänisch und Genossen sicher zu selbstlos, zu sozial. Tr.

2. Eingegangene Schriften. I. Zeitschriften. . 1. Die Innere Mission im övangelischen Deutschland. 16. Jahrgang. Heft 1.

Inhalt: An der Jahreswende! Von Oberpräsident a. D. D. von Hegel-Berlin- Halensee. »Unsere Monatsschrift.«e Von Lio. Füllkrug. Welche .Aufgabe hat die Deutsche Christliche Studentenvereinigung in der Gegenwart? Von Pastor Joh. Kühne-Berlin. Rundschau. ç

Die Zeitschrift ist am 1. Januar 1921 in den Wichern-Verlag beim Zentral- Ausschuß für Innere Mission in Berlin-Dahlem, Altensteinstr. 51, übergegangen. Einst als »Fliegende Blättere aus dem Rauhen Hause von Joh. Hinrich Wichern gegründet, hat das Monatsblatt dann den Namen die »Innere Mission im evangelischen Deutschland« erhalten und ist über 70 Jahre lang bei der Agentur des Rauhen Hauses in Hamburg gedruckt und verlegt worden. Das bleibt das Verdienst des Rauhen Hauses, da es 7 Jahrzehnte hindurch die »Fliegenden Blättere im alten und neuen Gewande in die deutschen Gaue hinausgehen ließ. Der neue Herausgeber Lie. Füll- krug klagt: Die Unkosten des Blattes im letzten Jahre waren sehr hoch, nur durch eine größere Gabe, die wir von privater Seite erhielten, war es möglich, den Fehl- betrag für Druck, Papier und andere Kosten zusammen mit der Agentur des Rauhen Hauses zu decken. Nun übernehmen wir das Monatsblatt in den eigenen Verlag. Es soll in Zukunft das Organ des Zentral- Ausschusses und des Zentral-Verbandes sein, im ersten Teil größere grundsätzliche Aufsätze und Berichte aus den ver- schiedenen Arbeitsgebieten der Inneren Mission und im zweiten Teil eine sorgfältig zusammengestellte Rundschau bieten. Weun das Blatt weiter bestehen soll, ist nötig, daß alle Vereine, Anstalten, Berufsarbeiter und -arbeiterinnen der Inneren Mission es halten. Der bisherige Bezugspreis genügt natürlich bei den heutigen Löhnen und Preisen bei weitem nicht mehr. Wir mußten ihn deshalb auf 10 M im Jahr bei freier Versendung durch Kreuzband erhöhen.«

2. Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. Herausgeg. von der Zentralstelle für Kinderschutz u. Jugendfürsorge in Wien. XII. Jahrg. Wien, Jänner 1921. Nr. 1.

C. Literatur. 173

Inhalt: An unsere Leser! Artikel: Jugendfürsorge im Schoße der Eltern- vereinigungen. (Von Eduard Golias, Wien.) Die Pädagogische Klinik in Budapest. (Von Käthe Zalán.) Säuglingsschutz und Jugendhygiene: Zur Berufswahl der Mädchen. (Von Dr. med. Else Voik- Friedland, Wien). Eine Mutterberatungs- stelle in Bregenz. Volksbelehrung über Mutter- und Säuglingspflege. Die Berliner Müttersiedlungen. Jugendfürsorge im Inlande: Zentralstelle für Kinder- schutz und Jugendfürsorge. Die Kinderfürsorgesektion der katholischen Frauen- organisation für Niederösterreich. Zur Richtigstellung. Das Kinderwohlfahrts- werk des Ministers Dr. Resch. Eine Ausstellung von Wiener Kinderarbeiten in England. Ein Jahr »Rädda Barnen«e. Fürsorge für körperlich geschädigte

Kinder und Jugendliche usw. Jugendfürsorge im Auslande: Ein internationaler Kinderschutzkongreß in Belgien. Errichtung eines! Institutes für Jugendkunde in Reichenberg. Ein neues Jugendstrafgesetz in Kroatien usw. Gesetzgebung

und Verwaltung. Die Vollzugsanweisung zum Gesetz über die bedingte Verurteilung. Literatur: Bücherschau. Zeitschriftenschau. `

Auch diese Zeitschrift klagt wie die der Inneren Mission und mancher anderen über die Schwierigkeit des Weiterbestehens und richtet an ihre Leser u. a. folgende Worte:

»Die finanziellen Schwierigkeiten, hauptsächlich durch die ununterbrochen steigenden Papier- und Druckkosten verursacht, haben das Weitererscheinen unseres Blattes ernstlich in Frage gestellt. Die letzthin abgehaltene Generalversammlung der Zentralstelle hat sich jedoch mit Einmütigkeit für die Aufrechterhaltung und Weiterführung der Zeitschrift ausgesprochen, eine Entscheidung, die wie wir wohl voraussetzen dürfen auch bei unseren Lesern voller Zustimmung begegnen wird. Bei ihnen liegt es nun, uns die Durchführung des schwerwiegenden Be- schlusses zu ermöglichen und zu erleichtern. Das erheischt von dem Einzelnen keine fühlbaren Opfer. Wir können nach unseren bisher gemachten Erfahrungen wohl darauf rechnen, daß unsere Abonnenten uns auch weiter Treue bewahren, aber viele unter ihnen müssen wir daran erinnern, daß unser Drucker allmonatlich seine Rechnung vorlegt, daß wir Gehalte, Postwertzeichen usw. bezahlen müssen und daß wir außerstande sind, allen dissen Verpflichtungen nachzukommen, wenn unsere ‘Abnehmer mit der Überweisung der Abonnementsgebühr, die im Inlande wie bisher 30 K jährlich beträgt, monatelang im Rückstande bleiben. Die möglichst umgehende Einsendung derselben nach Erhalt unseres Erlagscheines, der stets einem der ersten Hefte des neuen Jahrganges beiliegt, wird die Verwaltung vieler Sorgen entheben und den Weiterbestand des Blattes am besten sichern.«

3. Mitteilungen des Volksgesundheitsamtes im Bundesministerium für soziale Verwaltung. Herausgeg. und verlegt vom Volksgesundheitsamt. Jahr- gang 50 Kronen. Wien, Jänner 1921. Nr. 1.

Inhalt: Gesetz: Vorbereitende Maßnahmen zur Neuregelung der Kranken- versicherung der Arbeiter. Verordnuugen: Die Abänderung der achten Ausgabe der Arzoeitaxe zu der österreich. Pharmakopöe Ed. VIIL. Die Abänderung der vierten Ausgabe der Arzneitaxe zu der österr. Pharmakopöe Ed. VIII für begünstigte Parteien (Krankenkassentaxe). —- Die Abänderung der achten Ausgabe der Arznei- taxe zuder österreich. Pharmakopöe Ed. VIII. Die Abänderung der vierten Aus- gabe der Arzneitaxe zu der österreichischen Pharmakopöe Ed. VIII für begünstigte Parteien (Krankenkassentaxe). Erlässe: Nachtrag zur vierten Ausgabe der Arznei- taxe für begünstigte Parteien (Krankenkassentaxe); Erhöhung der Arbeitstaxe. Nachtrag zur vierten Ausgabe der Arzneitaxe für begünstigte Parteien (Kranken- kassentaxe); Erhöhung der Arbeitstaxe. Nachtrag zur achten Ausgabe der Arznei-

..

"174 C. Literatur.

taxe; Erhöhung der Arbeitstaxe. Wiener öffentliche Fondskrankenanstalten; Be- züge der Hilfsärzte, Regelung. Staatliche Beihilfe zu den Kosten der Epidemie- tilgung. Artikel: Dr. Otto Burkard, Über Berufsberatung. Referate. Wochen- ausweise vom 21. bis 27. November, vom 28. November bis 4. Dezember und vom 5. bis 11. Dezember 1920. Kleine Mitteilungen: Von Ärzten, Amtsärzten und Beanıten. Von den übertragbaren Krankheiten. -Vermischte Nachrichten. Freie Stellen. Inserat.

Während zahllose pädagogische Zeitschriften eingegangen sind, fängt die Jugend an, neue zu gründen. U. a. ist uns zugegangen die Zeitschrift:

4. Jugendarbeit. Monatshefte f. deutsche Jugendarbeit, Erziehung u. Unterricht. Herausgeg. vom D.-ö. Jugendbund. Geleitet von Dr. Robert Möckel. 1. Jahrg. 1. Oktober 1920. 1. Heft. Halbjährlich 16 Kr., Einzelheft 3 Kr.

Inhalt: Jugendarbeit. Dr. A. Laßmann, Sinn und Geist der deutschen Jugendbewegung. Dr. Robert Möckel, Hermann Lietz. -- Prof. William Stern, Leitsätze zur Schülerauslese. Jugend und Parteipolitik. Die südmärkische Jugendgemeinschaft. Elternrecht. Spielplatzgesetze. Vorlesungen an der n.-ö. Landes-Lehrerakademie. Ortsgruppe Wien des Deutschen Bundes für Er- ziehung und Unterricht.

Herausgeber und Schriftleitung geben ihr folgendes Geleitwort mit auf den Weg:

»Mit dem Worte »Jugendarbeit« soll die Arbeit der Jugend an sich selbst, wie sie z. B. in der Jugendbewegung zutage tritt, zusammengefaßt werden mit aller Arbeit für die Jugend, wie sie in der gesamten Jugendfürsorge und der sogenannten Jugendpflege sich betätigt. Dazu gehört folgerichtig auch das gesamte Gebiet der Erziehung und des Unterrichtes und als maßgebende Beraterin die wissenschaftliche Jugendkunde. Sprachlich Feinfühligen "wird es nicht entgehen, daß für diese um- fassende Bedeutung das Wort Jugendarbeit nicht einwandfrei gebildet ist, da man unter solcher Zusammensetzung nur »die Arbeit der Jugend« zu verstehen gewohnt ist. Je mehr jedoch die oben genannten Bemühungen und Betätigungen und je be- wußter sie in ein einziges mächtiges Strombett zusammenstreben, desto unentbehr- licher wird eine handliche einheitliche Bezeichnung, schon für die Werbung (Propaganda) in den weiten Volkskreisen, die heute noch und hier ohne Unter- schied des Standes, der Bildung und des Geldvermögens die entscheidende Wichtigkeit dieser opfervollen Mühe völlig übersehen. Soll aber das Hoffnungs- wort vom »Wiederaufbau« wahr werden, dann müssen, wie es Dr. Gertrud Bäumer einmal vom »Deutschen Bund für Erziehung und Unterricht« sagte, »alle Laien- kreise unseres Volkes an unseren Fragen innersten Anteil nehmen und diese Fragen nicht nur für ‚irgendwelche fachmännische Manipulationen‘ ansehen«. In Wirklich- keit ist diese innerste Teilnahme nicht einmal noch für die Nicht-Laienkreise all- gemeine Tatsache. Dieser Aufklärungs- und Nachrichtentätigkeit widmete’ sich seinerzeit der seit dem Kriege leider nicht mehr erscheinende »Säemann« (Leipzig, B. G. Teubner), in dessen Aufruf im Jahre 1910 bereits das Sammelwort »Jugend- arbeit« erscheint. In einem zunächst recht bescheidenen Maße nimmt diese Auf- gabe die vorliegende Zeitschrift wieder auf, zu deren Herausgabe sich der »D.-ö. Jugendbund« auf Anregung der Ortsgruppe Wien des »Deutschen Bundes für Erziehung und Unterricht« entschlossen hat trotz der erheblichen Schwierigkeiten in Er- kenntnis der dringenden Notwendigkeit eines solchen Werkzeuges. Die neue Zeit- schrift soll das gesamte Gebiet der deutschen Jugendarbeit, d. i. Erziehung und Unterricht, Jugendbewegung, Jugendfürsorge und Jugendpflege, mit besonderer Be- rücksichtigung der Jugendkunde durch Beiträge tüchtiger Fachleute, Meinungs-

C. - Literatur.

175 äußerung und Stellungnahme teilnehmender Laien, in erster Linie von Eltern und von Jugendlichen selbst, beleuchten, aufklärend und ‚beratend wirken. Durch ständige Berichte soll sie als Rundschau und Nachrichtenblatt dienen. Der Anfang ist bescheiden, aber schon heute leiden wir unter Raummangel. Eine Ausgestaltung der »Jugendarbeit« wird von der Aufnahme in den weiten Kreisen abhängen, für die diese Monatshefte bestimmt sind.«

5. Lindenblätter, Lindenhofer Monatsblatt. Mit Elternbeilage. Herausgeg. von Dir. Dr. Karl Wilker. Buchdruckerei des »Lindenhofes«, Erziehungsheims der Stadt Berlin u. Berlin- Lichtenberg. Die Zusendung erfolgt nur durch das Er- ziehungsheim »Lindenhof« und seine Angehörigen und Freunde und’zwar kostönlos.

Bis jetzt sind 6 Jahrgänge erschienen. Sie zeugen von dem eigenartigen Wirken und Schaffen unseres früheren fleißigen Mitarbeiters und Mitherausgebers, der die Zwangsanstalt der jugendlichen Verwahrlosten Berlins in einem Lindenhof mit »Bäumen, Blumen, Bach und Hain und heit’ren Himmel und Sonnenschein« für diese Jugend umgewandelt hat und mißverstanden in seinen Bestrebungen und viel- leicht auch etwas über das Ziel hinausschießende Reformen am 1. Noy. v. J. die Anstalt zu verlassen sich genötigt sah.

Vor mir liegt das Novemberheft v. J. Zur Charakteristik des Blattes wie des Wirkens von Dr’ Wilker mag auch für unsere Leser der Schlußartikel dieser Nummer dienen:

»Vom September und Oktober.

Sturm zerrte alle Blätter von den Linden. Kahl standen sie da, als ich wiederkam. Unheimlich fast. ragten sie in die mondlichen Nächte. Sturm... Winter kommt ... Sturm, Sturm ..... ;

Da ging’s hitzig und scharf her. Und wêr den 16. Oktober in unserm Heim erlebt hat, der wird ihn nie vergessen.

Und nun hat sich der Sturm gelegt .... wenigstens scheint es so... Ruhe

. Ruhe ... Winter ... Frühling ... Neues Leben, neues Blühen, neues

Jauchzen ...

Wir Jungen ziehen hinaus ins winterliche Land, hierhin, dorthin, heimatlos vielleicht: Fritz Kabbert und Walter Hermann, Franz Diehl und ich; und Jupp- Schmidt geht, um an anderer Stelle in Berlin zu schaffen, und Egon Behnke wird uns auch nachfolgen, wenn es soweit ist.

Jungens, wir grüßen Euch heut in all unserm Freundesgefühl, wir grüßen Euch mit all unserer Liebe für Euch, wir grüßen Euch als Kameraden und wissen, wie Ihr innerlich mit uns geht!

Wir haben geschenkt, was wir Euch schenken konnten. Wir wollen keinen Dank dafür! Wir wollen nur das frohe Leuchten Eurer Augen, das uns sagt: Euer Wollen lebt in uns!

Wir wollen Euch jung wie wir es waren, und wie wir es sind. Es ist kein Verzweifeln an unserm Wollen, es ist kein Fliehen vor Euch und der Arbeit an Ench uns treibt die innere Not in die weite Welt hinaus, zu neuem Schaffen, zu neuem Aufbau wie sie auch Euch eines Tages hinaus treiben wird. Und dann, ja dann ... Jungs, dann denkt an uns und unsern Weg! Dann zaudert nicht und zagt nicht und überlegt nicht tausend und mehr mal dann tut, was wir tun jetzt: folgt der Stimme in Euch! Und nur der! Geht Euern Weg, wie- wir den unsern gehn! Und nun lebt wohl!

In der Oktober-Vollmondnacht 1920 Euer Karl Wilker.<

176 C. Literatur.

6. Erziehung und Bildung. Wissenschaftliche Beilage d. Preußischen Lehrer- zeitung. Verantwortlicher Schriftleiter: E. Saupe, Halle a. S., Karlstr. I. Er- scheint monatlich einmal. Magdeburg, Druck: Fabersche Buchdruckerei. Nr. L Januar 1921. 2. Jahrgang.

Inhalt: 1. Die Kulturschule. 2. Das Erziehungsziel der Kultur- u. Ge- meinschaftsschule. 3. Die Wege zur Kultur- u. Gemeinschaftsschule. 4. Kleine

Beiträge u. Mitteilungen.

7. »Die Neue Erziehung.« Zeitschrift für entschiedene Schulreform und frei- heitliche Schulpolitik, zugleich Organ des Reichsbundes entschiedener Schul- reformer, unter Mitwirkung von Prof. Paul Oestreich-Schöneberg, Prof. Otto Braun-Basel und Rektor Adolf B! m-Charlottdnburg. Herausgegeben von Unter- staatssekretär z. D. M. M. H. Baege und Dr. Siegfried Kawerau. 2. Jahrgang. Verlag Gesellschaft und Erziehung G. m. b. H., Berlia-Lichtenau, 1920.

3. Tijdschrift voor Buitengewoon Onderwijs. Orgaan van de Vereeniging van Onderwijzers en Artsen, werkzaam aan Inrichtingen voor Onderwijs aan achterlijke en zenuwzwakke Kinderen. Redactie: P. H. Schreuder, G. J. Vos, Dr. E. de Vries. le Jahrgang. No. 9. Abonnementsprigs 13 fl. 8er jaargang.

Inhoud: Onze Inspecteur. Onderwijs voor nerveuze kinderen. Onze salarissen. Ver. v. Spraakleeraren. Van het H. B. Verslagen Afd. ver- gaderingen. Berichten en Mededeelingen.

9. La Pediatria Española Revista “mensual de Higiene, Medicina y Cirugia in- fantil. Fundador: Dr. Aurelio M. Arquellada. Director: Dr. D. Jesús Sarabia y Pardo (Decano). Año IX. Madrid 20 de Octubre de 1920. Núm. 98.

Sumario: El Fimosis congénito comó causa de estreñimiento, por el Dr. J.

Garrido-Lestache. Algunas consideraciones sobro una traqueotomia en un caso

de crup con difteria traqueobronquial, por el Dr. Enrique Ortega Diez. Con

motivo de 300 inyecciones de neosalvarsán on el seno longitudinal superior, por el

Dr. Eduardo de Miguel. Un caso de falso Hermafroditismo, por el Dr. Enrique

Mafeo Milano. Tumor de la carúncula lagrimal, por los Dres. F. Couce y F.

Poyales. Revista de Pediatria: I. Las hipertermias funcionales de la infancia;

Il. Seroterapia: III. Los vómitos en la segunda infancia, Noticias.

10. 26. u. 27. Jahresbericht der Heil- und Pflegeanstalt für Epilep- tische in Kork (Baden). Erstattet von den Anstaltsvorstehern: Dir. Pfarrer Wiederkehr und Anstaltsarzt Dr. med. Vortisch. Kehl, A. Morstadt, 1920.

11. Schweizer Pädagogische Zeitschrift. Redaktion: Dr. Willibald Klinke, Zürich 6, unter Mitwirkung von Rektor A. Hengherr, Aarau, Prof. Dr. O. Braun, Basel, Dr. A. Schrag, Sekundarschulinspektor, Berlin, Karl Führer, Lehrer, St. Gallen, Dr. W. Nef, Dozent, St. Gallen, Seminardirektor, E. Schuster, Kreuz- lingen, Rektor E, W. Ruckstuhl, Luzern, Dr. med. E. Sigg, Nervenarzt, Zürich und Dr. J. Suter. Privatdozent, Zürich. Zürich, Druck u. Verlag Art. Institut Orell Füssli. 31. Jahrgang. Heft 2. Februar 1921.

Inhalt: Von den Ursachen des jugendlichen Verbrechertums. II. Von H. Hiestand. S. 33. Entwicklung und Ergebnisse der experimentellen Pädagogik und ihre Bedeutung für die Schule. Von Prof. Dr. O. Braun. S. 46. Das mathematische Praktikum. Von Dr. A.*Fisch. S. 51. Aus dem englischen Schul- leben. Von Alfred Löhrer. S. 55. Kleine Mitteilungen. S. 58, Literatur, S. 60.

Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.

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Vorbemerkung der Schriftleitung.

Wir widmen dieses Heft vor allem den Fragen der leiblich wie seelisch notleidenden Jugend. Der Hinweis auf diese Nöte und ihre Ursachen ist um so dringlicher, als in all den vielen, leider nicht selten mehr aus parteipolitischen und lehrergewerkschaftlichen Gründen bewußt oder unbewußt entspringenden Reform- und Umwälzungs- bestrebungen auf pädagogischem Gebiete für diese Fragen ebenso- wenig Interesse wie Verständnis bekundet wird.

A. Abhandlungen,

. Bericht über die fachärztliche Untersuchung der Zöglinge der Fürsorgeerziehungsanstalt des Grazer Schutzvereines in Waltendorf. !)

Von Dr. Karl Planner, Amtsarzt des städt. Jugendamtes und Univ.-Prof. Dr. Hermann Zingerle.

Zweck und Art der Untersuchung.

In den Schriften des ersten österreichischen Kinderschutz- kongresses vom Jahre 1906 hat der damalige Direktor des statistischen Landesamtes, Prof. Mischler eine eingehende statistische Unter- suchung über die verwahrlosten und sittlich gefährdeten Kinder der Steiermark veröffentlicht,?2) welche auf einem, durch Fragebogen im

1) Aus dem städtischen Jugendamte in Graz. 2) Tatsachen der Verwahrlosung. Hof- und Staatsdruckerei. 1907. Zeitschrift für Kinderforschung. 26. Jahrgang. 12

178 A. Abhandiungen.

Jahre 1899 gewonnenen Materiale beruht. Obwohl an dieser Er- hebung fast keine Ärzte beteiligt waren, ergab dieselbe dennoch eine beträchtliche Zahl von geistig Geschädigten unter den Eltern und Kindern. Mischler, der sich auch als Laie der Bedeutung dieser Tatsache nicht verschließen konnte, hob zusammenfassend hervor, »in welchem Umfange sich aus dem Probleme der Erziehung der Ver- wahrlosten, beziehungsweise der Behütung der Gefährdeten das wichtige Problem der Gebrechlichenfürsorge abzweigt, mit dessen Lösung für diese Klasse von Unglücklichen die Verwahrlosungsfrage von selbst erledigt wäre«.

Er stand mit seinem Ergebnisse in voller Übereinstimmung mit den ärztlichen Erfahrungen in Deutschland, welche 40—60°/, der Fürsorgezöglinge als geistig abnormal erwiesen und angeborene Charakteranlagen als eine der wichtigsten Ursachen der Unerziehbar- keit feststellten. (Scholz.!)

Seit Mischlers Arbeit ist der Frage der verwahrlosten Kinder in Steiermark nicht näher getreten worden, weder von Seite der Be- hörden, noch durch Ärzte. Im besonderen sind bisher noch in keiner der Fürsorgeanstalten die Zöglinge psychiatrisch - neurologisch unter- sucht worden, trotzdem eine solche Untersuchung aus ‚mehrfachen Gründen schon längst dringend notwendig gewesen wäre. Wir stellten uns zur Aufgabe, das Tatsachenmaterial Mischlers durch ärztliche Befunde zu ergänzen und zu vertiefen, festzustellen, welchen zahlen- mäßigen Anteil krankhafte Nerven- und Geisteszustände an der Ver- wahrlosung in Steiermark haben und wie sich dieselben zu den sozialen Ursachen dieses Übelstandes verhalten. In Hinsicht auf die engen Beziehungen der Tuberkulose zur Verwahrlosung wurde auch diese Erkrankung bei der Untersuchung besonders berücksichtigt.

Erst aus einem derart gewonnenen, unfassenderen Aufschlusse über die Quellen und die Art der Verwahrlosung ergibt sich eine sichere Grundlage für die so dringend nötige Neuorganisation des Fürsorgeerziehungswesens in Steiermark, welche zu allererst mit den Anstalten für Knaben beginnen muß.

Es wurden 129 Zöglinge der Waltendorfer Anstalt,?2) welche für’ die Aufnahme verwahrloster Knaben im Alter von 8—14 Jahren be- stimmt ist, untersucht. Wir stellten fest die körperlichen krank-

1) Anormale Kinder. Berlin 1912.

2) Die Untersuchung wurde durch das dankenswerte Entgegenkommen der Landesbehörden ermöglicht; sie fand auch weitgehende Förderung durch das bereit- willige Verständnis des Lehrkörpers der Anstalt, bes. des Herrn Dir. Ziervogel.

Planner-Zingerle: Bericht über die fachärztliche Untersuchung usw. 179

haften Abänderungen, welche zum Teil Ursachen geistiger Schädi- gungen sind, zum Teil dieselben begleiten, und innerhalb gewisser Grenzen einen Rückschluß auf die Gehirnanlage erlauben. Sodann verwerteten wir die Ergebnisse der pädagogischen Intelligenz- prüfung und Beobachtungen über den Geisteszustand, wie sie aus den Schulzeugnissen und Angaben der Lehrer vorlagen; schließlich nahmen wir die psychologische Intelligenzprüfung nach der Methode von Binet-Simon vor, die sich für die Erkennung kind- licher Geistesdefekte gut eignet. Abgesehen von den Defektzuständen stellten wir durch die übrige psychiatrische Untersuchung fest, ob sonstige krankhafte Geisteszustände und psychopathische Konstitution vorlagen. Wir haben aber auch den Rahmen der rein ärztlichen Untersuchung überschritten und sind den sozialen Ursachen der Ver- wahrlosung in unseren Fällen nachgegangen. Aufschluß darüber boten uns die Akten und insbesondere die persönlichen Schilderungen der Zöglinge.

Die Mehrzahl der Knaben wurde von den Behörden überwiesen; nur die geringere Zahl ist von den Eltern und Vormündern in die Anstalt gebracht worden.

Die Familienverhältnisse.

Diese gewähren Aufschluß über die sozialen, der Verwahrlosung zugrundeliegenden Ursachen, sodar.ı aber auch über die in den Familienbeständen selbst liegenden Krankheitsursachen, welche die Abartung oder geistige Erkrankungen der Kinder anbahnen.

Man darf nicht erwarten, diese beiden Faktoren in der Regel getrennt für sich in Wirksamkeit zu sehen. Meistens vereinigen sie sich zu gemeinsamer schädlicher Wirkung und werden die nachteiligen Folgen der sozialen Übelstände besonders schwerwiegend bei den schon durch die Anlage oder durch Krankheiten geschädigten Kindern.

Von den sozialen Einflüssen sind diejenigen, für die Entstehung der Verwahrlosung am wichtigsten, welche eine ‚Lockerung des Familienbandes, und damit eine Schwächung des elterlichen Erziehungs- einflusses bewirken, wie ungünstige Berufsverhältnisse der Eltern, Arbeitszwang für beide Eltern, schlechter Einfluß minderwertiger Eltern und uneheliche Geburt.

Nach der Statistik der Fürsorgeerziehung in Bayern!) stammt die Mehrzahl der Verwahrlosten von Eltern, die in Gewerbe, Industrie,

1) Fürsorge-Erziehung in Bayern 1904—13 v. Rupprecht. Mitteil. d. deut- schen Zentrale f. Jugendfürsorge 1916. 12*

180 A. Abhandlungen.

Handel und Lohnarbeit tätig sind. Auch Mischler ist geneigt, den gewerblich-städtischen Berufen eine größere Bedeutung zuzuerkennen, als den landwirtschaftlichen.

Unsere Zahlen fügen sich widerspruchlos den Erfahrungen in Bayern an und erweisen das überwiegende Zurücktreten der land- wirtschaftlichen Berufe. Nur 14 der Knaben stammen aus rein ländlichen Berufskreisen (4 von Besitzerinnen, 10 von landwirtschaft- lichen Dienstboten. Die Eltern von 65 gehören ausschließlich städtisch-gewerblichen und industriellen Berufen an (25 Gewerbe- meister und Gehilfen, 19 Großindustriearbeiter, 4 Bergarbeiter und 17 städtische Dienstboten. Dazu kommen noch 15 Hilfsarbeiter, 26 andere, ebenfalls fast durchgehends städtische Berufe (Kaufleute, Bahn-, Postangestellte, Gastwirte). Zusammen also 106 (82,1°/,) Berufe vorwiegend gewerblich industrieller und städtischer Art gegen 10,1°/, reine Landwirtschaftsberufe; bezeichnenderweise handelt es sich bei letzteren fast ausschließlich um nicht verheiratete ländliche Dienst- boten und Besitzerinnen. Klarer kann nicht zum Ausdruke kommen, daß an den bäuerlichen Kreisen nicht so sehr dar Beruf, als das Fehlen des Familienbandes und der Erziehung infolge der un- ehelichen Geburt die Hauptrolle bei der Verwahrlosung spielt. Die große Bedeutung dieses Umstandes zeigt sich auch im all- gemeinen dadurch, daß mehr als ein Drittel aller Kinder (39,5%;,) unehelich geboren ist. Durch diese Zahl, die auch mit der von Mischler gefundenen übereinstimmt, übertrifft Steiermark Bayern, wo ein Viertel bis ein Fünftel der Fürsorgezöglinge unehelicher Her- kunft sind.

Der Einfluß der gewerblich-industriellen Berufe ergibt sich auch daraus, daß die Hauptmasse der Verwahrlosten aus dem Be- zirke Graz und Umgebung Graz, sowie aus den ober- steirischen Bezirken, also aus den Hauptindustriegebieten Steier- marks stammt (62,2%,). Die Oststeiermark tritt ganz zurück, merk- würdigerweise auch die Weststeiermark, trotz ihrer Industrie- und Bergwerksbetriebe.e Wir müssen daraus schließen, daß unsere Zahlen wohl nicht die ganz genaue Verteilung der Verwahrlosten im Lande ausdrücken; es ist sicher, daß ein großer Teil derselben aus Scheu vor den Anstalten oder aus sonstigen Gründen nicht in dieselben gebracht wird. Das Überwiegen der Grazer und obersteirischen Gebiete dürfte jedoch dadurch in seiner Geltung nicht beeinträchtigt werden. Auch Mischler berichtet, daß diese Gebiete selbst zu seiner Zeit, als noch die durch den Alkoholmißbrauch für unsere Frage wichtigen südsteirischen Gebiete mitgezählt wurden, im Verhältnis zu

Planner-Zingerle: Bericht über die fachärztliche Untersuchung usw. 181

ihrem Bevölkerungsanteil eine stärkere Quote an der Verwahrlosung aufwiesen.

Den ungünstigen Folgen der unehelichen Geburt gleich kommen die Mißstände der engeren Familienverhältnisse durch Tod beider oder eines Teiles der Eltern, Trennung der Ehe, Kriegsdienst- leistung und Gefangenschaft des Vaters. Als besonders nachteilig erweist sich der Tod der Mutter. In nahezu der Hälfte aller Fälle (42,6°,) war durch die genannten Umstände die Vernachlässigung der Erziehung mit beeinflußt. Dazu kommt noch in 21 Fällen (16,2°/,) eine Geschwisterzahl von drei bis vierzehn, wodurch natürlich, noch dazu bei der nicht seltenen Berufsbeschäftigung beider Eltern die Vernachlässigung der einzelnen Kinder umso größer ist. Von auffällig geringer Bedeutung ist in unserer Statistik allerdings sind die Berichte sehr mangelhafte der ungünstige Einfluß sittlich verkommener Eltern. Im ganzen ist viermal moralische Minder- wertigkeit, meistens der Mütter, und dreimal schlechte Behandlung sowie Verleitung zu Kriminalhandlungen ausdrücklich erwähnt, wozu noch die trunksüchtigen Eltern kommen, welche ihre sittliche Ver- kommenheit regelmäßig auch auf die Kinder übertragen.

Sicherlich äußerst lückenhaft sind die Zahlen, die über die erbliche Belastung und Familienerkrankungen vorliegen und können dieselben nur mit allem Vorbehalt verwertet werden. Die Akten enthalten leider nicht regelmäßig und nur sehr dürftige Berichte; die Angaben der Kinder selbst sind unverläßlich und un- genau. In 32,5%, aller Fälle sind Alkoholmißbrauch und Verdacht auf solchen (20 Fälle), Nerven- und Geisteskrankheit, Selbstmord (11 Fälle) und Lungentuberkulose der Eltern (10 Fälle) angegeben. Mischler fand eine viel größere Anzahl kranker und abnormer Eltern (221 bei einer Zahl von 878 Kindern). Von diesen waren allein 127 Trinkereltern. Fast völlig fehlt in unserem Materiale ein Bericht über soziale Konflikte und Vorstrafen der Eltern.

Die tabellarische Übersicht der Fälle gibt einen Einblick, wie oft sich die Verwahrlosungsmomente, besonders in einzelnen Fällen häufen, und wie oft der Familienbestand durch Krankheit, Alkoholmißbrauch, elende Vermögenslage und die sonstigen angeführten Umstände zer- rüttet ist und mit Notwendigkeit ohne entsprechende Fürsorge zur Verwahrlosung führen mußte.

Die körperliche und geistige Artung der Zöglinge.

Wurden bisher die äußeren Verwahrlosungseinflüsse für sich, ohne Rücksicht auf die Kinder selbst betrachtet, sollen nun diese

182 À. Abhandlungen.

in ihrer Organisation und ihrer BErziehungsfšhigkeit untersucht werden.

Dem Alter nach sind am stärksten vertreten die 12jährigen (31 Fälle) und 14jährigen (25 Fälle); die Altersklassen 10, 11 und 13 sind ziemlich gleichartig mit 18 und. 19 Fällen beteiligt. Ein starker Abfall erfolgt gegen 9 (13 Fälle) und 8 (4 Fälle). Man könnte daraus schließen, daß die gefährdeten Alter die von 10 aufwärts sind wie dies Mischler und andere angegeben haben und unter diesen insbesondere das 12. Lebensjahr, in welchem das erste Selbständig- werden vom häuslichen Einflusse und das Beispiel der Kameraden wirksam wird, sowie das 14. mit dem Beginn der Geschlechtsreife. Es ist aber nicht unwahrscheinlich, daß auch diese Zahlen nicht die völlig richtigen Verhältnisse angeben und daß die Beteiligung der jüngeren Altersklassen vermutlich eine größere wäre, wenn eine recht- zeitige Einweisung der Zöglinge in die Fürsorgeerziehung erfolgen würde. Sichergestellt ist durch anderweitige Erfahrungen, die Ab- nahme der Verwahrlosung vom 6. Jahre abwärts.

Früher durchgemachte Erkrankungen ließen sich bei 17°/, der Zöglinge feststellen. Die Rachitis (11 Fälle) ist in der Regel mit

Verbildungen des Kopfske- 35 Fälle lettes verbunden. 2 Knaben hatten Kopfverletzungen er- litten, 2 in früher Kindheit 25 eineGehirnerkrankung durch- gemacht, einer hatte an Veits- tanz gelitten, 3 an Fraisen; 15 eine ganze Reihe hatten

Lungenentzündungen oder die i gewöhnlichen Kinderkrank- heiten mitgemacht. In 7 Fällen kam als ursächliches Moment Alkoholmiñbrauch durch Ver- führung trunksüchtiger Eltern in Betracht.

Bieten demnach die Berichte aus der Vorgeschichte über Krank- heitsanlagen und -Ursachen, sowie über früher durchgemachte Er- krankungen recht dürftige Anhaltspunkte, so sind die Befunde um so reichhaltiger, die sich aus der Untersuchung der Knaben selbst er- geben.

Zunächst fällt, abgesehen von dem, durch die mangelhafte Ernährung crzeugtem, elendem Körperzustande die durchgehend zurückgebliebene

30

Alterskurvo.

Planner-Zingerle: Bericht über die fachärztliche Untersuchung usw. 183

Alters-

Wirkliches Körper-Gewicht[Länge?)| Wirkliche Körper-Länge

17—24

103—121

8 (3 unter 120) (4 Fälle) Durchschn.-Gew.: 20.2 Durchschn. Länge: 112,5 17—27 105—120,5 9 (2 unter 20) (5 unter 120) (13 Fälle) Durchschn.-Gew.: 22,4

Durchschn. Länge: 117,8

16—30 (1 unter 20, 10 unter 25) Durchschn.-Gew.: 24,1

110—135 3 unter 120, 7 unter 125)

Durchschn. Länge: 123

111—140 (3 unter 120, 10 unter 130) Durchschn. Länge: 125.7

16—33 (1 unter 20, 1 über 30)

Durchschn.-Gew.: 23,8

21—36 121—140 (24 unter 30) 140 |(21 unter 130, 5 unter 135) Durchschn.-Gew.: 26,6 Durchschn. Länge: 125,1

117—150 (2 unter 120, 6 unter 130, 7 unter 140) Durchschn. Länge: 133,8

Durchschn.-Gew.: 28,7

23—35 (17 unter 30) Durchschn.-Gew.: 27,8

121—157 (4 unter 130, 14 unter 140)

Durchschn. Länge: 135,2

körperliche Entwicklung auf. Diese Entwicklungshemmung be- trifft sowohl das Körperwachstum, als das Gewicht und ganz besonders die Entwicklung der Geschlechtsurgane. Nur eine kleine Minderzahl der lAjährigen Knaben zeigt ein dem Alter entsprechendes Reife- stadium; aber auch bei den 10—13jährigen ist die Entwicklung der Geschlechtsteile mit wenigen Ausnahmen sehr gehemmt und erscheinen solche Knaben wie 6—7jährige. Das weitgehende Zurückbleiben im Längenwachstum und im Gewichte zeigt übersichtlich obenstehende

1) Die Normalzahlen sind den in den öffentlichen Ämtern Münchens ver- wendeten Tabellen entnommen. Siehe: Die öffentliche Gesundheitspflege. 1916. 6. Heft.

184 A. Abhandlungen.

Tabelle. Nur 12 aller 129 Kinder erreichen die Durchschnittslänge oder darüber und nur 7 das entsprechende Altersgewicht. Die Unter- zahlen sind zum Teile sehr bedeutende. Beim Längenwachstum selbst bis zu 28 em bei einem 13jährigen und 30 cm bei einem 14jährigen. Diese weitgehenden Hemmungen lassen einen über einfache Ernährungs- schäden hinausgehenden Entwicklungsstillstand erkennen, welcher in den Bereich des Infantilismus gehört. Es zeigen sich auch an der Tabelle deutlich, wie sich diese Fälle mit zunehmendem Alter häufen, weil eben der Stillstand mit diesem immer deutlicher wird. Die Mehrzahl dieser Fälle gehören zum dystrophischen Infantilismus (Typ Lorain) und zeigen auch geistig ein Stehenbleiben der seelischen Entwicklung. Wir hatten bei der Häufigkeit des Kretinismus in Steiermark erwartet, daß wir auch eine größere Zahl dysthyreogener Infantiler finden würden. Zu unserer Überraschung wurden wir trotz genauer darauf gerichteter Untersuchung enttäuscht. Typische Kretinenformen fehlen vollkommen; da sich die kretinistische Degeneration nicht immer durch die klassischen Zeichen äußert und in manchen Fällen nur durch die Verkleinerung des Längenwachstums und das Zurückbleiben der Ge- schlechtsentwicklung kennzeichnet, ist wohl nicht auszuschließen, daß unter unseren Infantilen einzelne Kretinen sind. In 26 Fällen ist auch die Schilddrüse deutlich vergrößert. Groß kann jedoch die Zahl dieser Kretinen nicht sein, und es spielt diese Erkrankung bei der Verwahrlosung anscheinend keine große Rolle. Die Ursache hierfür liegt wohl in der von allen Beobachtern hervorgehobenen Eigenart der Geistesveränderung der Kretinen, bei der in der Regel eine große Stumpfheit mit Trägheit und Langsamkeit aller Reaktionen vorherrscht, welche nur vereinzelt durch Perioden mit stärkeren Affekten und Tätigkeitsbetrieb unterbrochen wird.

Abgesehen von diesen Wachstumsstörungen bestehen bei der großen Mehrzahl der Knaben (89 Fälle, 68,9 °/,), körperliche Degenerations- zeichen, welche auf eine krankhafte Anlage schließen lassen oder eine frühzeitige Erkrankung anzeigen. Unter diesen sind die haupt- sächlichsten eine ungewöhnliche Behaarung des Kopfes und Körpers, insbesondere zwischen den Schulterblättern (26 Fälle), Verbildungen der Ohren, Kiefer und Zähne (16 Fälle), Skelettverbildungen an Rumpf und Gliedern (6), Verbildungen am Schädel, unregelmäßige Form, Turmschädel, Wasserkopf, Verkleinerung des Kopfes, rachitische Form- veränderungen (46), Pigmentflecken (1), Leistenhoden (14). Als Folge abgelaufener Gehirn - Rückenmarkserkrankungen zeigen sich einseitige Blindheit (1), Nystagmus (1), Schielen (3), Gleichgewichtsstörungen (4), Reflexstörungen (4). Zu den morphologischen Abartungszeichen kommen

iter:

al-

rn; fang

Planner-Zingerle: Bericht über die fachärztliche Untersuchung usw. 185

48 48,5 49 49,5 50 50,5 81 51,5 52 52,5 58 53,5 54 54.5 5b 55,5 56 56,5 57 57,5 cm

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noch Erscheinungen angeborener oder frühzeitig erworbener funktio- neller Minderwertigkeit, wie Bettnässen (5), Zittern, Muskelunruhe und Zuckungen (29), erhöhte Gefäßerregbarkeit (34), Steigerung der Sehnen- und Beinhautreflexe (13), Sprachfehler (3), Krampfanfälle (1).

Zu den schon erwähnten Schädelverbildungen ist bezüglich der Größe des Kopfes noch folgendes zu bemerken: Trotz der großen Zahl der geistig Minderwertigen und der körperlichen Entwicklungs- hemmungen ist die Zahl der zu kleinen Köpfe sehr gering. Der Kopfumfang ist der sonstigen Wachstumshemmung des Körperskelettes nicht gleichmäßig verkleinert. Nur unter den 12jährigen finden sich 2 Fälle unter 50cm. Von den 9- und 10jährigen haben nur 3 einen unter dem Durchschnittsmaß stehenden Umfang, in den Alterklassen 11 und 12,5 bezw. 4, von den 13- und 14jährigen 5 bezw. 6. Wie zu erwarten, macht sich der Stillstand des Schädelwachstums mit zu- nehmendem Alter kenntlicher, ist aber im ganzen nicht sehr auffällig. In jeder Altersstufe sind dagegen viel mehr zu große Schädel, was mit den rachitischen und hydrozephalen Veränderungen zusammen- hängt.

Um Einblick zu gewinnen, inwieweit Beziehung zwischen Er- krankung an Tuberkulose und Verwahrlosung bestehen, wurden die Zöglinge der Fürsorgeerziehungsanstalt Waltendorf zu diagnostischen Zwecken bezüglich ihrer Reaktion auf Tuberkulin geprüft; dieser Prüfung wurden 98 Zöglinge unterworfen.

Dabei wurde in der Weise vorgegangen, daß am ersten Tage sämtliche Kinder mit eingedickten Tuberkulin eingerieben und die

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nicht reagierenden am nächsten Tage mit 1/100 Mille Tuberkulin in- jiziert wurden, welche Injektion bei den abermals nicht reagierenden nach einer Woche wiederholt und dann bis auf 1 Cent. Tuberkulin gesteigert wurde. Hierbei reagierten 81 Kinder positiv, mithin also 821/,%/,. Von den 81 reagierenden zeigten 25 auch einen positiven klinischen Befund (Verkürzung und Zurückbleiben einer Brustseite, harte Drüsen über der Clavicula chr. Blephartitis, hochgradige Magerkeit, einmal feuchtes klein- bis mittelblasiges Rasseln an der Lungenbasis); unter den auf Tuberkulin nicht reagierenden gab es auch einzelne fettarme, dürftige Individuen aber nicht einen einzigen klinischen Befund, der auf tuberkulöse Erkrankung hingewiesen hätte. Von den 25 Kindern mit positiven klinischen Befund reagierten 9 Kinder also 36 bereits nach der ersten Einreibung, nur 2 also bloß 8%, erst auf 1 Cent. Tuberkulin; von den Fällen ohne klinischen Befund reagierten nur 4 auf die erste Einreibung (7°/,) hingegen 9 (16°/,) erst auf 1 Cent. Tuberkulin.

Aus den so gewonnenen Resultaten können wir ersehen, daß in der Anstalt Waltendorf der Tuberkulose-Befund häufiger als sonst durchschnittlich bei den Kindern in Graz Steiermark (50—60°/,) gefunden wird, sind aber deshalb nicht berechtigt, Schlüsse von der Tuberkulose auf die Verwahrlosung zu ziehen, um so mehr als der Vergleich mit anderen Anstalten (Waisenhäusern, usw.) fehlt. Immer- hin wird, da ja meistens die Kinder von den Eltern (familär) infiziert werden, ein vorsichtiger Rückschluß auf diese gestattet sein und man wird annehmen können, daß auch unter den Eltern der Verwahrlosten die Tuberkulose sehr verbreitet ist. Dem entspricht auch unsere anderweitige Erfahrung. Inwieweit aber gerade Kinder tuberkulöser Eltern zur Verwahrlosung neigen, muß einer weiteren Arbeit über- lassen werden, die ihr Augenmerk insbesondere auf die Eltern richten wird Daß eine Krankheit wie die Tuberkulose, die in hohem Maße »degenerativ« wirkt, auch bei der Nachkommenschaft in Ver- wahrlosungstypen zum Ausdrucke gelangt, wir verfügen wie er- wähnt anderwärts über Belege dafür war übrigens zu erwarten.

Wir fanden also eine ziemliche Auswahl krankhafter Störungen bei einer beträchtlichen Zahl der Knaben, welche klar zeigt, wie klein die Summe der ganz Gesunden unter ihnen ist. Irgend eine Ab- weichung ist fast bei allen vorhanden, auch bei denen, welche wir nur unter der Diagnose »Verwahrlosung« führen.

In diesem Sinne sprechen auch die sowohl von den Lehrern mit- geteilten, als auch in den Akten berichteten Beobachtungen über die seelische Eigenart der Kinder. Diese beziehen sich auf die ver-

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schiedensten Formen von Gemütsverstimmungen mit trauriger Hemmung, Reizbarkeit bis zur Gewalttätigkeit und periodischen Schwankungen. Die Pychopathen kennzeichnen sich durch die übertriebene Empfind- samkeit, die Neigung zu phantastischen Gedankengängen, zum Teil durch Apathie mit Schüchternheit, zum Teil durch boshafte Charakter- anlagen mit dem Grundzuge der Unerziehbarkeit. Die sittliche Stumpfheit ist bei vielen Kindern dieser Formen besonders hervor- stechend. Die große Zahl der geistig Geschwächten verrät sich durch die Schwerfälligkeit der Auffassung, durch Trägheit, allgemeine Ver- geßlichkeit oder Gedächtnisstörung auf einzelnen Sinnesgebieten (schlechtes Zahlengedächtnis, Leseschwäche); weiter aber durch die allgemeinen, kaum genügenden'oder ganz ausbleibenden Lernerfolge, das erschwerte Ausdrucksvermögen und die Verlangsamung aller Reaktionen.

Die Äußerungen der Verwahrlosung selbst, welche die Anstaltserziehung notwendig machten, sind sehr einförmige, der kindlichen Eigenart und seiner Betätigungsmöglichkeit angepaßt. In fast allen Fällen wiederholt sich gleichmäßig Schulstürzen, Neigung zum Herumstrolchen, Diebstahl und Lügen. Etwas seltener sind Rohheitsrergehen (Raufen, Mißhandlung) und Betteln. Sexuelle Ver- gehen und Brandiegung kommen je dreimal vor, und sind unter diesen sowohl Schwachsinnige als Psychopathen vertreten.

Nach der klinischen Diagnose geordnet sind von den 124 Zög- lingen: 35 Schwachsinnige (19 Imbecille, 16 Debile),

1 Epileptiker,

7 durch frühzeitigen und andauernden Alkoholgenuß Ge- schädigte,

34 Psychopathen und Infantile,

2 infolge körperlicher Erkrankung geistig Zurückgebliebene,

50 normale Verwahrloste.

Mithin sind 61,3%, der Knaben als geistig nicht gesund zu bezeichnen, eine Zahl, welche den bisherigen Erfahrungen auf diesem Gebiete ziemlich entspricht. Dabei ist wohl die wirkliche Zahl der Abnormen noch größer, da zweifelhafte Fälle, die erst mit Zunahme des Alters sicher zu unterscheiden sind, nicht mitgezählt sind, besonders jene Fälle, bei denen erst später die Gemütsstumpfheit und moralische Unerziehbarkeit als sicher krankhaft erweisbar sind. Auffällig groß ist die Zahl der Geistesschwachen; merkwürdig gering die Beteiligung der Epilepsie, sowie der ausgesprochenen Formen der Hysterie. Die Alkoholstörungen äußern sich, wie bei der Trunksucht der Erwachsenen durch sittliche Verödung, geistige Trägheit und Schwerfälligkeit und Neigung zu Brutalität.

1S8 A. Abhandlungen.

Die Verhütung und Behandlung der Verwahrlosung.

Unsere und Mischlers auf anderem Wege vor 20 Jahren gewonnenen Untersuchungsergebnisse stimmen in den wesentlichen Punkten überein und ist man daher wohl berechtigt, aus dem dadurch gewonnenen Einblicke in die Quellen und die Erscheinungsformen der Verwahrlosung in Steiermark Folgerungen zur Bekämpfung und Behandlung derselben zu ziehen.

Die Untersuchungen bieten den Vorteil, den Hebel an ganz be- stimmten Schäden ansetzen können; zunächst verweist die Tatsache, daß die Masse der Knaben aus den Industriegebieten und der gewerblich tätigen Bevölkerung von Graz und Umgebung sowie von Obersteiermark stammt, die Jugendfürsorge darauf, diesen Landesteilen besonderes Augenmerk zuzuwenden. Es muß vom Landesjugend- amte die Jugendfürsorge zunächst in den Städten und größeren Orten nach dem vorbildlichen Muster des Grazer städtischen Jugend- amtes organisiert werden. Es muß ferner die Errichtung von Tagesheimen, Horten, Fortbildungsschulen und sonstigen Bewahr- einrichtungen für die Kinder aller der Berufe in Angriff genommen werden, welche häufige Abwesenheit des Vaters oder der Eltern vom Hause verlangen und die Kinder dadurch der Zucht und Aufsicht berauben. Derartige Forderungen sind verhältnismäßig leicht zu er- füllen, da irgend welche Einrichtungen meist schon vorhanden sind, die nur des Ausbaues bedürfen und da man zur Errichtung solcher auch die Betriebe und Unternehmungen wird heranziehen können. Durch entsprechende Aufklärung läßt sich gewiß das Verständnis für die Wichtigkeit der Sache in weiten Kreisen verbreiten. Die Schulen und Behörden kommen dadurch in die Lage unbeaufsichtigte und gefährdete Kinder rechtzeitig einer Fürsorge zu überweisen, was be- sonders bei sehr kinderreichen Familien und bei moralisch ver- dächtigen Eltern von ausschlaggebender Bedeutung ist. Unbedingt notwendig ist ferner eine vermehrte Obsorge für die unehelichen Kinder, welche mit einem so großen Prozentsatz an der Verwahrlosung beteiligt sind, Die mangelhafte Kleinkinderfürsorge auf dem Lande ist auch schuld an vielen gesundheitlichen Schäden, welche die Kinder geistig minderwertig machen. Die angebahnte Regelung des Kost- und Ziehkinderwesens wird zweifellos vieles bessern, ebenso wie die Einwirkung von sozial arbeitenden Ärzten.

So lange man damit rechnen muß, daß die Mehrzahl der Kinder in ungünstigen Verhältnissen, teils zu Hause, teils an Kostorten bleiben müssen und die vorhandenen Fürsorgeeinrichtungen auch

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nicht im entferntesten alles Notwendige zu leisten imstande sind, kann nur durch die Anstellung von Berufskinderfürsorgerinnen eine wirkliche Vorbeugung der Verwahrlosung erhofft werden. Diese sollen das Verbindungsglied zwischen den Behörden, Schulen, und Fürsorgeeinrichtungen und Familien bilden und sind ebenso wie in allen Märkten und Städten auch in den Landgemeinden notwendig. Sie müssen von den Behörden und Schulen auf alles aufmerksam gemacht werden, was auf zur Verwahrlosung führende Mißstände in der Familie schließen läßt. Durch den Augenschein soll die Für- sorgerin feststellen, ob Krankheiten, moralische Schäden, Ehezwistig- keiten oder schlechte soziale Verhältnisse die Kinder gefährden. Man berücksichtige nur, um die Wichtigkeit einer solchen Feststellung zu ermessen, die verhältnismäßig große Zahl von 7 durch Alkoholmißbrauch geschädigten Kindern unseres Materiales, die alle von trunksüchtigen Eltern verführt worden sind. Eine besondere Überwachung verlangen die in Armenpflege stehenden Familien, sowie die in Familienpflege gegebenen Kinder. Die Fürsorgerinnen müssen aber auch aus Eigenem mit der Bevölkerung in Berührung treten, Schäden nachspüren, und haben sodann ihre Beobachtungen mitzuteilen und bestimmte Anträge zu stellen. Es ist sodann Sache der Behörden, die nötigen An- ordnungen zu treffen, denen Folge geleistet werden muß. Auf diese Weise kann erreicht werden, daß die rechtzeitige Unterbringung in Anstalten und Entfernung aus den Familien durchgeführt wird, was ja vielfach das Notwendigste ist. Durch die Tätigkeit der Fürsorge- rinnen werden auch andere Fürsorgezweige Nutzen ziehen und wird eine Bekämpfung der Kinder- und Jugendschäden eingeleitet werden, die sozial von der größten Bedeutung ist. Im Grazer städtischen Jugendamte sind Kinderfürsorgerinnen schon seit zwei Jahren mit besten Erfolgen tätig. Die Forderung, diese Einrichtung in das Landesjugendamt zu übernehmen ist deshalb berechtigt und es ist Sache des Landes, dieselbe unter Heranziehung der Gemeinden durchzuführen.

Sehr zu wünschen wäre weiterhin eine ständige ärztliche Beratung der Eltern, Familien und der Behörden durch ärztlich geleitete Fürsorgestellen, nach dem Muster der in Graz errichteten. Diese können gleichzeitig auch den Aufgaben der allgemeinen Geisteskrankenfürsorge dienstbar gemacht werden, und lassen sich mit den anderen Fürsorgestellen (Tuberkulose, Säuglinge) ganz gut ver- einigen. Es wird Sache des Landesgesundheitsamtes sein, auch auf diese Organisationen befördernd einzuwirken.

Durch die vorgeschlagenen Maßnahmen soll den sozialen Ursachen

190 A. Abhandlungen

der Verwahrlosung entgegengearbeitet werden. Nun liegen aber, wie unsere Untersuchung lehrt, die Verhältnisse so, daß über 60°/, der Kinder in irgend einer Art geistig geschädigt sind, also abgesehen von den sozialen Schäden durch ihre Organisation zum sozialen Ent- gleisen neigen. Diese Störungen der Organisation gründen sich zum Teil auf erbliche Verhältnisse, auf welche wir heute infolge der fehlenden Einrichtungen noch schwer Einfluß nehmen können, zum Teile gehen sie auf frühzeitige kindliche Erkrankungen und Schäden zurück, welche vollkommen ebenfalls nicht ausgeschaltet werden können. Man wird also auch von dieser Seite her immer wieder mit einer gewissen Zahl von Verwahrlosten rechnen können und es handelt sich bei diesen darum, was mit ihnen zu geschehen hat. Zu- nächst halten wir es für unbedingt notwendig, daß das Land mit allen Mitteln an den Ausbau der so eng mit der Verhütung der Verwahrlosten zusammenhängenden Krüppelfürsorge herangeht, und weiterhin das Hilfsschulwesen für die geistig geschwächten Kinder in ganz anderem Ausmaße pflegt, als bisher. Die geistes- schwachen Kinder können in den Normalschulen nicht vorwärts- kommen, werden mit Notwendigkeit zum Schulstürzen und Vaga- bundieren gedrängt und deshalb gehören zum mindesten in alle größeren Orte irgend welche Hilfsschuleinrichtungen. Die dringende Notwendigkeit ergibt am besten ein mündlicher Bericht eines Lehrers aus dem Bezirk Eibiswald, daß in diesem nahezu zweihundert Kinder nicht das Lernziel der ersten Volksschulklasse erreichen können. Die Hilfsschuleinrichtungen sind auch für die Fürsorgeerziehungsanstalten infolge der großen Zahl der geistig Geschwächten unter den Verwahr- losten unbedingt notwendig und ist dieser Forderung in Deutschland fast allgemein schon Rechnung getragen worden. In Waltendorf müssen die Geistesschwachen mit den nicht Schwachsinnigen in den- selben Schulklassen erzogen werden. Man findet in den einzelnen Klassen alle Altersstufen durcheinander gemengt und es werden durch die geistig Minderwertigen die Schulerfolge der übrigen sehr behindert. Die Lehrer sind vor Anforderungen gestellt, welchen sie kaum mehr gerecht werden können. Eine Entlastung der Anstalt und eine Er- leichterung ihrer Aufgaben kann nur durch Angliederung von Hilfsklassen an die bestehenden Schuleinrichtungen erfolgen, von denen zunächst mindestens zwei notwendig sind. Eine Anzahl der Zöglinge ist infolge der Höhe ihres Schwachsinns auch nicht mehr für die Hilsschalerzichung geeignet und soll in eine Schwachsinnigen- anstalt abgegeben werden, sobald eine solche geschaffen ist.

Die große Zahl der geistig Geschädigten mit zum Teil körper-

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lichen nervösen Erkrankungen zeigt ferner die große Bedeutung der anstaltsärztlichen Tätigkeit, auch auf dem Gebiete der psychiatrischen Untersuchung und Behandlung. Diese Abnormen bessern sich häufig durch Behandlung ihres Körperzustandes, wie zum Beispiel die Kretinen und Epileptiker, sie bedürfen der ärztlichen Überwachung bei den periodisch auftretenden Störungen. Auch der Erziehungsplan hängt von dem geistigen und sonstigen Körperzustande ab. Weiteres muß bei der Entlassung der Zöglinge festgestellt ‚werden, welche Berufstätigkeit ihr Allgemeinzustand erlaubt. Aus allen diesen Gründen bedarf es eines engen Zusammenarbeitens der Lehrer mit dem Anstaltsarzte und müssen die pädagogischen Maßnahmen vom psychiatrischen Standpunkte aus ergänzt werden. Die Lehrer können erst dann mit Erfolg arbeiten, wenn sie das Krankhafte rechtzeitig erkennen, und in seiner Bedeutung richtig einschätzen. Es ist deshalb zweckmäßig, die Neuaufgenommenen und zu Entlassenden psychi- atrisch zu untersuchen, und sie auch ständig fachärztlich weiter zu beobachten.

Durch die vorgeschlagenen Maßnahmen würde das Störende der Abnormen im Betriebe der Anstalt sicher mehr ausgeglichen werden, als es bisher der Fall ist.

Es ist schon an anderer Stelle dargelegt worden,!) daß die An- stalt Waltendorf als solche aus baulichen und örtlichen Gründen für die Zwecke der Jugendfürsorge ungeeignet ist. Dieser Erkenntnis Rechnung tragend strebt das Land selbst den Erwerb neuer Baulich- keiten zur Unterbringung der Anstalt an. Damit ist es jedoch nicht getan; der innere Betrieb der Anstalt verlangt grundsätzlich eine durchgreifende Umgestaltung und Erweiterung. Der Anstalt fehlen derzeit, abgesehen von den Schuleinrichtungen, die von den Lehrern unter den schwierigsten Verhältnissen mit Aufopferung imstande ge- halten werden, alle Einrichtungen hygienischer Natur zur Behebung der körperlichen Verwahrlosung sowie zur Durchführung der Arbeits- erziehung und der gerade für diese Kinder so wichtigen Vorbereitung für einen Beruf. Unbedingt notwendig sind dazu Werkstätten für Handwerkerbetriebe und Schaffung landwirtschaftlicher Einrichtungen. Eine derartige Erziehungsanstalt bedarf neben der Verstandeserziehung auch der Mittel, um auf das Gemüt einzuwirken und den Charakter zu bilden. Die Ausgestaltung aller darauf hinzielenden Einrichtungen, wie Pflege der Musik, Spiele, Theateraufführungen sollen die Kinder

2) Der Notstand der Fürsorgeerziehuug in Steiermark. Bl. f. A. u. Jugend- fürsorge 1919.

192 A. Abhandlungen.

über die Alltägliche erheben und ihnen als Grundlage für die Gesamt- erziehung Frohsinn und Lebensfreude vermitteln. Für ganz besonders wichtig halten wir es aber, daß in einer derartigen Anstalt eine er- zieherisch tüchtige Frau tätig ist, die den vielen ohne elterliche Liebe aufgewachsenen Kindern mütterliche Teilnahme zuwendet und an ihrer Gemüts- und Charakterbildung mitarbeitet. In allen Jugend- erziehungsanstalten haben sich solche Frauen auf das Beste bewährt und sollte auch in Waltendorf dieser wichtige weibliche Erziehungs- einfluß Verwendung finden. Zusammenfassend stellen wir daher folgende

Anträge:

1. Zur Bekämpfung der Verwahrlosung müssen besonders in den ober- und mittelsteirischen Bezirken die Jugendfürsorgeeinrichtungen durch Errichtung von Jugendschutzämtern, Schaffung von Kinder- asylen, Tagesheimen und Fortbildungsschulen ausgebaut werden. Die größten Erfolge verspricht die Anstellung von’ Berufskinderfürsorge- rinnen, sowie die Organisation von ärztlich geleiteten Beratungs- und Fürsorgestellen.

2. Der innere Betrieb der Erziehungsanstalt in Waltendorf ver- langt eine Reihe durchgreifender Änderungen; zu diesen gehören die Angliederung von mindestens zwei Hilfsklassen an die bestehenden Schuleinrichtungen; die Berücksichtigung psychiatrischer Gesichts- punkte bei der Untersuchung und Behandlung der Zöglinge; der Ausbau der Körperfürsorge und Arbeitserziehung, sowie Ausgestaltung der auf die Gemütsbildung hinzielenden Einrichtungen.

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204 B. Mitteilungen.

B. Mitteilungen.

1. Das Taubstummenwesen in Thüringen.

In Thüringen überließ man bis etwa Mitte des vorigen Jahrhunderts die Taubstummen ihrem Schicksal. Da wurden, veranlaßt durch Männer, die im Geiste Pestalozzis wirkten, auch für sie Taubstummenschulen 1835 in Coburg, 1843 in Hildburghausen, 1847 in Schleiz und 1858 in Weimar gegründet. Während die beiden Anstalten in Hildburghausen und Schleiz mit dem Lehrerseminar verbunden waren, wurde diejenige in Weimar sogleich selbständig gemacht. In Schleiz wurde die Verbindung mit dem Seminar bald, in Hildburghausen erst Ostern v. J. gelöst. Infolge der Kleinstaaterei war aber nicht nur die Organisation der vorhandenen Taub- stummenschulen verschieden, sondern es herrschte überhaupt in der Für- sorge für die Taubstummen in den einzelnen Staaten Thüringens die größte Verschiedenheit. Meiningen, Weimar, Reuß hatten eigene Schulen, Gotha brachte seine taubstummen Kinder nach Coburg, infolge eines Zerwürf- nisses mit dem Bruderstaat im letzten Jahrzehnt aber nach Erfurt. Einige Kinder von Schwarzburg-Rudolstadt wurden nach Hildburghausen, andere nach Schleiz gebracht, wieder andere erhielten gar keinen sachkundigen Unterricht. Wie und wieweit Altenburg und Schwarzburg-Sondershausen für ihre taubstummen Kinder gesorgt haben, entzieht sich unserer Kenntnis. Nach dem Zusammenschluß der Gliedstaaten zu einem Bundesstaat ist die Vereinheitlichung des Taubstummenbildungswesens und eine einheitliche Fortentwicklung desselben dringendes Bedürfnis.

Der Verein der Thüringischen Taubstummenlehrer erstrebt nun diese Vereinheitlichung und hat der Staatsregierung eine Denkschrift über diese Frage eingereicht, aus der wir folgendes als die Kernpunkte seiner Be- schlüsse auch hier mitteilen wollen.

Da in Thüringen immer noch Taubstumme ohne eine ihrer Eigenart angepaßte Ausbildung aufwachsen, erklärt der Verein thüringischer Taub- stummenlehrer die sofortige Einführung des in den Freistaaten Weimar, Meiningen und Gotha bestehenden Schulzwanges für Taubstumme auch in den übrigen thüringischen Gliedstaaten für unbedingt erforderlich.

Es wird empfohlen, solange nicht für Thüringen ein einheitliches Volksschulgesetz und damit in Verbindung einheitlich gesetzliche Be- stimmungen betreffs Fürsorge für gehörleidende und sprach- gebrechliche Kinder geschaffen sind, solange das Schulzwangsgesetz für Taubstumme von Sachsen, Meiningen oder Weimar auf die in Frage kommenden Gliedstaaten zu übertragen.

Es ist dringend notwendig, daß alle taubstummen Kinder in Thüringen schon von Ostern nächsten Jahres ab des Segens eines sachkundigen Unter- richts teilhaftig werden.

Um einen Überblick darüber zu erhalten, wieviele solcher Kinder iu den Staaten, in denen kein Schulzwang eingeführt ist, vorhanden sind,

1. Das Taubstummenwesen in Thüringen. 205

bittet der Taubstummenlehrerverein darum, in den Gemeinden dieser Staaten Erhebungen vornehmen zu lassen, ob in der Gemeinde . taubstumme oder später ertaubte Kinder vorhanden sind, die in der Zeit vom 1. April 1907 bis 1. April 1915 geboren sind. In diesem Falle ist der Name, der Geburtstag, das Geburtsjahr, der Geburtsort der Kinder, der Name der Eltern und außerdem anzugeben, in welcher Weise seither für den Unterricht der betreffenden Kinder gesorgt wurde.

Für die berufliche Ausbildung der Taubstummen wird verlangt:

1. An den bestehenden Taubstummenanstalten ist für solche schul- entlassene taubstumme Zöglinge, die am Anstaltsorte oder in einem nicht weit davon entfernten Orte ihrer Berufsausbildung obliegen, Fortbildungsschulunterricht einzuführen.

2. Ausgebildete Taubstumme, die im fortbildungsschulpflichtigen Alter stehen, aber eine Taubstummenfortbildungsschule nicht besuchen können, haben wenigstens am Zeichenunterricht der Fortbildungs- schule ihres Ortes teilzunehmen, möglichenfalls auch an anderen Unterrichtsfächern, z. B. Rechnen und Geschäftsaufsätzen.

3. Die entlassenen taubstummen Mädchen sollen verpflichtet werden, an den in ihrem Orte für fortbildungsschulpflichtige Mädchen be- stehenden Haushaltungs- und Kochkursen teilzunehmen.

4. Auch die Einrichtung von mehrwöchigen Fortbildungskursen für Taubstumme, für die keine Fortbildungsmöglichkeit besteht, ist in Erwägung zu ziehen, die in den Anstaltsorten abzuhalten wären.

5. Um den schulentlassenen taubstummen Zöglingen die Erlernung eines Handwerks zu erleichtern, ist solchen Handwerksmeistern, die einen taubstummen Lehrling soweit fördern, daß er seine Gesellen- prüfung besteht, eine einmalige Geldprämie zu gewähren.

Auch für die geistige Weiterbildung des Taubstummen ist zu sorgen. Es wird darum beantragt:

»Da es als Aufgabe der Taubstummenschule anerkannt wird, auch zur Förderung der geistigen Weiterbildung der erwachsenen Taubstummen beizutragen, bitten die Taubstummenlehrer um die Gewährung von Mitteln, um diese Aufgabe erfüllen zu können.«

Ebenso ist für die wirtschaftliche Unterstützung für hilfs- bedürftige Taubstumme zu sorgen. Es sind darum amtliche Er- hebungen anzustellen, wo überall erwachsene Taubstumme wohnen, wer von diesen dringend der Unterstützung bedarf und wer von ihnen durch den Fürsorgeverein von Provinz Sachsen, Anhalt und Thüringen schon unterstützt worden ist.

Nicht minder wichtig ist die Fürsorge für die gehörgeschädigten und sprachleidenden Kinder der Volksschule. Sie hängt mit dem Taubstummenbildungswesen eng zusammen, denn bei manchen von ihnen ist die Schwerhörigkeit so hochgradig, daß sie der Taubstummenschule zugewiesen werden müßten. Die Erfahrung lehrt, daß oft die Hörfähigkeit von Volksschülern so gehemmt ist, daß sie geistig zurückbleiben, weil sie dem Unterricht nicht zu folgen vermögen. Nicht selten werden sie ver-

206 B. Mitteilungen.

kannt, für beschränkt gehalten und Klassen für Schwachbefähigte zu- gewiesen. Erhalten diese Kinder einen Sonderunterricht, der sich gleich- zeitig an Auge und Ohr wendet, so wachen sie geistig auf. Einzelne derartige Schüler, die verständige Eltern hatten, wurden seither schon den Taubstummenanstalten zugeführt, wo die Deutlichkeit ihrer Sprache er- halten wurde, und wo sie das Atsehen vom Munde anderer erlernten. Da diese Schüler schon über eine Sprache verfügten, so gehörten sie eigentlich in eine Schwerhörigenschule, wo sie auch wie in jener das Absehen lernen, aber rascher als in der Taubstummenschule geistig ge- fördert werden. Solche Schwerhörigenschulen haben schon verschiedene Großstädte, z. B. Berlin (4), Charlottenburg, Breslau, Chemnitz, Köln, Dort- mund, Dresden, Hamburg und Magdeburg. Die von der Sophienhöhe ab- gezweigte Schwerhörigenschule von Brauckmann in Jena ist eine Privat- anstalt. In Thüringen mit einer Einwohnerzahl von 1!/, Millionen Menschen wird es wohl, nach dem 5mal größeren Bayern zu schließen, etwa 80 und mehr solcher schwerhörigen Volksschüler geben, die eines Sonder- unterrichts bedürfen, denn dort wurden deren 405 ermittelt. Damit die Eltern auch solcher Kinder gezwungen werden können, diese einer ge- eigneten Schule zuzuführen, hält der Verein folgende Maßnahmen für erforderlich:

1. Es ist in Thüringen ein einheitliches Schulzwangsgesetz zu schaffen, das sich nicht nur auf alle körperlichen und geistig schulreifen gehör- und sprachlosen, sondern auch auf jene schwerht erstreckt, die wegen ihres Gehörfehlers eineu erfolgre schulunterricht nicht erhalten können.

2. Wenn anzustellende Erhebungen das Bedürfnis nach einer Schwer- hörigenschule ergeben sollten, so ist diese zu schaffen.

3. Darin sind auch diejenigen Schüler unserer Taubstummenanstalten aufzunehmen, die erst ertaubten, als sie schon über eine gute Sprache verfügten.

4. Solange diese neue Schule nicht gegründet ist, müssen die hoch- gradig schwerhörigen Kinder, die am meisten der Hilfe bedürfen, den in Thüringen bestehenden Taubstummenschulen zugeführt werden. In der Übergangszeit können im Bedürfnisfall Schwerhörigenklassen an Taubstummenschulen angeschlossen werden. š Die Erfahrung hat gezeigt, daB sich unter den Volksschülern Kinder befinden, die infolge von Schwerhörigkeit dem Unterricht nicht zu folgen vermögen und deswegen geistig zurückbleiben. Über diese Schüler sind Erhebungen anzustellen und es ist ein kurzer Bericht einzusenden. Ins- besondere muß bei Feststellung der Hörfähigkeit des Kindes mitgeteilt werden, auf welche Entfernung vom Ohr des Kindes dieses noch Flüster- sprache hört. Auch sind Geburtstag, Geburtsjahr, Schuljahr und Klasse der Kinder, sowie der Name der Eltern anzugeben.

Die eingegangenen Nachrichten müssen an einer Stelle gesammelt und dann bearbeitet werden, damit ein Überblick über Vorkommen und Schwere des Fehlers gewonnen werden kann. Wenn die Fürsorge für die sprachleidenden, d. h. stammelnden und stotternden Kinder der Volks-

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1. Das Taubstummenwesen in Thüringen. 207

schule auch nicht in direkter Beziehung zum Taubstummenbildungswesen steht, so bitten doch die Taubstummenlehrer, die die Nöte dieser Kinder kennen, die Staatsregierung, die zum Besten der sprachgebrechlichen Kinder der Volksschule seither getroffenen Einrichtungen immer weiter auszubauen, und diesbezügliche Bestimmungen in dem zu schaffenden einheitlichen Schul- gesetz aufzunehmen.

Die Taubstummenlehrer erklären sich zur Förderung dieser guten Sache gern bereit.

Die gehörgeschädigten Kinder seien folgendermaßen zweckmäßig unterzubringen:

1. in einer vollklassigen, mindestens 8klassigen Schule für normal be- gabte Taubstumme;

2. in einer vollklassigen Schule für Schwerhörige und später Er- taubte; und

3. in einer Schule für schwachbefähigte Taubstumme, die wahrschein- lich Aklassig werden dürfte.

Auch sei ein 9. Schuljahr für alle gehörgeschädigten schulpflichtigen Kinder notwendig.

Was nun die Ausbildung der Taubstummenlehrer anbelangt, so müsse mit Nachdruck gefordert werden, daß sie künftig planmäßig theoretisch und praktisch gründlich auf den schweren Beruf vorbereitet werden und durch eine Nachprüfung die Befähigung desselben nachweisen. In Preußen geschieht diese Ausbildung gesetzlich durch einen zweijährigen Kursus an einer in der Universitätsstadt vorhandenen Taubstummenlehrer-Bildungs- anstalt, gewöhnlich der staatlichen Taubstummenschule in Berlin, sowie durch Hören von Vorlesungen an der Universität. Nach dem einstimmigen Urteil der deutschen Taubstummenlehrer sei aber eine dreijährige Aus- bildungszeit eines Lehrers, der die Lehrerprüfung bestanden habe, not- wendig.

In Hinblick auf die Anwendung einer einheitlichen Methode, auf die Erzielung einer guten Aussprache der Schüler und eines lückenlosen Auf- steigens im Aufbau ihrer Sprache hält der Verein Thüringischer Taub- stummenlehrer die verantwortliche Leitung durch einen Direktor für besser als die kollegiale Schulleitung. Ein Hauptnachteil der letzteren ist, daß für einen Mißerfolg einer Anstalt der Leiter, der kein Recht hat, sich von der Mitarbeit seiner Mitarbeiter zu überzeugen, nicht verantwortlich ge- macht werden kann. Auch vom verantwortlichen Kollegium wird niemand die Schuld tragen wollen. Eine gute Ausbildung ist für die Taubstummen aber so wichtig, daß eine Person die Hauptverantwortung dafür über- nehmen muß.

Gewünscht wird aber, daß vor der Ernennung die Ansicht des Lehrerkollegiums gehört wird. Notwendig sei auch in einer Dienst- anweisung die Befugnisse des Direktors und die Rechte der Lehrer in der Schulangelegenheit genau zu bestimmen. Und endlich wünscht der Verein, daß das Referat über das Taubstummenbildungswesen Thüringens einem Fachmann, einem der Direktoren der Thüringischen Taubstummen- anstalten im Nebenamte übertragen werde.

208 B. Mitteilungen.

Wir als Vertreter der gesamten Heilpädagogik wünschen von Herzen, daß diese Forderungen, die sich durch Warmherzigkeit und Besonnenheit auszeichnen, nicht bloß in den Thüringischen Staaten, sondern überall Tatsache werden mögen. Tr.

2. Heilpädagogik.

Unter dieser Überschrift schreibt Göpfert-München in den »Blättern für Taubstummenbildung«, 33. Jahrg. Nr. 21, 1. November 1920:

»Wir soliten wirklich aufhören, unsere Pädagogik als Heilpädagogik zu bezeichnen« (Schumann, Nr. 8 der Blätter, S. 120).

Es muß schon überraschen, daß dieses Wort unwidersprochen blieb. Verwundern muß um so mehr, daß nun der Presseausschuß des Vereins Preußischer Taubstummenlehrer zustimmt. »Wir sind keine Heilpädagogen« (Wollermann, Nr. 10 der Blätter S. 144 ff.).

Die Frage, ob der Taubstummenlehrer Heilpädagoge ist oder nicht, hat grundsätzlich nichts zu tun mit Fragen vereinspolitischer Art, insbesondere nicht mit den Bestrebungen anderer Gruppen von Heilpäda- gogen, sich in bezug auf Vorbildung und wirtschaftliche Stellung den Taub- stummenlehrern anzugleichen, auch nichts mit Schulaufsichts- und Ver- waltungsfragen. Diese Gesichtspunkte scheinen in den Ausführungen von Wollermann sehr zu Unrecht mitzuwirken. Es sei mir gestattet, gerade weil ich nicht mehr unmittelbar in der Reihe stehe, als Mitglied des Bundes einige kurze, keineswegs erschöpfende Überlegungen zu dem Satz: »Wir sind keine Heilpädagogene vom gegnerischen Standpunkte aus zur Erörterung zu stellen.

> Wir heilen nichts, weil nichts vorhanden ist, das zu heilen wäre.<

Einige Schlußfolgerungen aus diesem Satz, die man immerhin machen kann: dann ist also die Taubstummenbildung überflüssig, dann gibt es also wohl gar keine Taubstumme, dann waren also Tausende von Menschen in einer unwahrscheinlichen Täuschung befangen? Wollermann meint es nun natürlich nicht so. Er faßt den Begriff der Heilung offenbar nur etwas eng. »Wir können das Gehör nicht herstellen oder verbessern.« Allerdings nicht. Demgegenüber sei nur festgestellt, daß auch die Ärzte nicht heilen können, sondern daß sie, sofern dies überhaupt möglich ist, für den Heilungsprozeß, der sich aus den Heilkräften der Natur ent- wickelt, die günstigsten Bedingungen schaffen. Trotzdem können wir mit Fug und Recht »sagen« (Sprachgebrauch!), daß die Ärzte heilen. Das Gleiche gilt in ganz ähnlichem Sinne für alle jene Arbeit, welche die schweren Schädigungen psychischer Art zu vermindern sucht, die sich aus irgend einer Ursache oder auch aus einer Kette von Ursachen er- geben haben. Um eine Heilung (völlige Heilung!) wird es sich nur in den seltensten Fällen in den für die Heilpädagogik zuständigen Arbeits- gebieten handeln, etwa bei nervösen Sprachstörungen. Aber auch das teilweise Eindämmen der aufgetretenen psychischen Störung oder schon der erfolgreiche Versuch, wenigstens das zu erhalten, was noch vorhanden ist und einem weiteren Zerfall entgegenzuarbeiten, wie in manchen Fällen

2. Heilpädagogik. 209

von schweren Hirnverletzungen, ist heilpädagogische Arbeit. Auch der Arzt kann in den meisten Fällen nicht »heilen«, nur eindämmen, hinaus- schieben. Tod und Krankheit werden ihren Meister nie finden. Nur der vom Standpunkt der Naturwissenschaften (Völkerpsychologie, Menschheits- geschichte usw.) eingestellte Beobachter wird für den Verlauf der Ent- wicklung, trotz fortwährenden, alltäglich nachweisbaren Zerfalls einen’ genügend überschauenden optimistischen Standpunkt einnehmen können.

Im weitesten Sinne gefaßt, ist jede geistige Bildungsarbeit auch am gesunden jugendlichen Menschen heilpädagogische Arbeit, denn sie führt von einem relativ unvollkommenen, also verbesserungsfähigen Zustand zu einem nächsthöheren mit im wesentlichen gleichen, nur entsprechend ab- gestuften Methoden. Es sei hierbei abgesehen von der bunten Mischung der Intelligenzen, Einzelleistungen nnd Einzelstörungen, die wir in jeder beliebigen Volksschule in bunter Staffelung nachweisen können. Darum ist übrigens auch für Volksschullehrer eine gewisse heilpädagogische Schulung zu fordern.

Es ist aber selbstverständlich zweckmäßig und notwendig, wenn man den Begriff der heilpädagogischen Beeinflussung wie bisher, auf die deutlicher herausfallenden Störungen beschränkt, auf alle jene Störungen, die erheblich unter der Norm liegen und normalen Verhältnissen möglichst angeglichen werden sollen. Für heilpädagogische Beeinflussung kommen alle jene geistigen Störungen (Ausfälle, Defekte, Abnormitäten) in Betracht, die beeinflußbar sind und sei es auch nur in dem Sinne, daß man einem weiteren Zerfall der geistigen Persönlichkeit entgegen- arbeitet.

Die Taubstummenbildung aus dem Rahmen der Heilpädagogik heraus- heben wollen, hieße Tatsachen leugnen. Als Folge der Taubheit ergibt sich zunächst als offensichtlichster und schwerster Defekt Stummheit und dazu eine ganze Reihe geistiger Minderleistungen, insbesondere auf dem Gebiete der Sprache, die, im Vergleich mit dem normalen vollsinnigen Kinde nach den besten bisher vorhandenen Untersuchungsmethoden ge- wertet, sehr erhebliche Nachteile für die gesamte geistige Struktur des taubstummen Kindes, nicht nur in intellektueller Hinsicht, bedingen. Ich verweise nur auf die so wichtige Erziehung des Gefühls- und Willens- lebens der taubstummen Kinder, auf ihre Eingliederung in die Sozietät, auf die besondere Wichtigkeit sozial-ethischer Fragen im Gesamtkreis der Heilpädagogik der Taubstummenschule, Dinge, die zu allen Zeiten richtig gewertet wurden, in besonderer Weise aber in den Blütezeiten der Taubstummenbildung.

Es wäre eine dankbare und wissenschaftlich äußerst wertvolle Arbeit, wenn sich die deutsche Taubstummen -Lehrerschaft, insbesondere nach dem Vorbilde der amerikanischen Psychologen, für die psycho- logische Untersuchung der taubstummen Kinder mehr als bisher inter- essieren würde. Es wäre eine Arbeit, die auf Jahrzehnte hinaus ganz glänzendes wissenschaftliches Forschungsland öffnet.

Die. Taubstummenbildung ist klassisches Land der Heilpädagogik, der Sprach-Heilkunde zum Beispiel, siehe Gutzmann, Kußmaul. Sie wird

Zeitschrift für Kinderforschung. 26. Jahrgang. 14

210 B. Mitteilungen.

es auch bleiben, obwohl sich heute in ihr anscheinend in verschärfter Weise stagnierende Momente geltend machen. Das Taubstummenbildungs- wesen ist geradezu hohe Schule der Heilpädagogik, auch wenn wir nicht daran denken, daß mit Taubheit auch Schwachsinn, Blindheit, Sprach- störung, körperliches Krüppeltum verbunden sein kann und oft ver- bunden ist.

Die Taubstummenbildung wird stets Meister der Schularbeit, wissen- schaftlich sorgfältig geschulte Lehrer und für die aufbauende schöpfe- rische Leistung Künstler bester Art, vor allem als Artikulationslehrer, erfordern. Der Taubstummenbildung ist schon als ältestem Glied der Heilpädagogik in deren Rahmen für alle Zeiten ohne weiteres ein gewisser Vorrang gesichert. Durch Schaffung besonders günstiger wirtschaftlicher Verhältnisse für die Lehrer muß das Werk der Taubstummenbildung mög- lichst vollkommen unterbaut werden.

Die Einheit aller Lehrenden, insbesondere auch der im engeren Kreis der Heilpädagogik tätigen, darf in ihrem tatsächlichen Zusammen- hang nicht übersehen werden. Die Frage, was aufreibender sei, die Arbeit in der Taubstummenschule oder in der Hilfsschule, kann wohl nicht ohne weiteres beantwortet werden. Von Klasse zu Klasse wird sich ein anderes Bild ergeben. Außerdem sind gerade hier auch die starken Individual- unterschiede (Neigung, nervöse Widerstandskraft) bei den Lehrkräften zu berücksichtigen. Alle Lehrer müssen jedenfalls für ihre besondere Arbeit in besonderer Weise interessiert und »berufen« sein.

Das geforderte Seminer für Heilpädagogik und Jugendpflege in Jena faßt seine Aufgabe viel zu eng, wenn es tatsächlich die Pädagogik der Nichtvollsinnigen ausschließt. 1)

3. Das Institut für Jugendkunde an der n.-ö. Landes- Lehrerakademie in Wien, III.

Das alte »pädagogisch-psychologische Laboratorium« der n.-ö. Landes- Lehrerakademie hat trotz der schweren Zeit, in der wir leben, nicht nur ein neues Kleid angezogen, sondern hat seine Räume vergrößert und ist als »Institut für Jugendkunde« dem das »Seminar für Heil- pädagogik«?) angegliedert ist, am 3. Februar 1920 in das neue Ge- bäude (ehemalige Landwehrakademie) III. Bonrhavegasse 15, eingezogen.

Es hat sich aber nicht nur äußerlich verändert, sondern auch seine innere Ausgestaltung hielt mit ersterer gleichen Schritt.

1) König und mir, die wir gemeinsam die ın der von König herausgegebenen Schrift («Die Notwendigkeit eines Seminars für Heilerziehung und Jugendpflege.« Beitr. f. Kdf. Heft 157) zum Ausdruck gekommenen Gedanken erwogen haben, lag, es fern, die Göpfertschen Wünsche abzuweisen. Im Gegenteil. Uns lag nur daran, überhaupt auf eine bedenkliche Lücke in der Lehrerbildung- hinzuweisen, die leider von allzuvielen garnicht empfunden wird. Tr.

3) Siehe: Karl Hilscher, »Ein Seminar für Heilpädagogik in Wien.« Zeitschr. für Kinderforschung 1919/20, Heft 9/10.

.3 Das Institut für Jugendkunde an der n.-ö. Landes-Lehrerakademie in Wien. 211

Der Leiter desselben, Univ.-Dozent und Akademie-Direktor Dr. Willibald Kammel hat seinem Institute die aus wissenschaftlichen Gründen not- wendige medizinisch-pädagogische Abteilung angefügt, welche durch den bewährten Fachmann Dr. med., jur. et phil. Ferdinand Winkler geführt wird. Dep vorgenannten stehen Herr Seminarprofessor A. Simonie und Hilfslehrerin Frl. M. Sladek als Volontärassistenten zur Seite.

Im Berichtsjahre erwarb das Institut folgende neue Lehrmittel: 2 Formenbretter nach Goddard, eine Labyrinth-Auskehrprobe nach Schymanski, Rechenhefte und Buchstabentafeln nach Schulze, Leipziger Erziehungs- bogen, ein montiertes und ein zerlegtes Skelett vom Menschen, einen zer- legbaren Menschenschädel und Knochenteile, einen Demonstrationswiderstand, einen Stromunterbrecher, ein Modell eines Mikroskopes, eines terrestrischen Fernrohres, eines Galileischen Fernrohres, ein Radiometer, einen Gram- mophon-Aufnahmeapparat, einen Spiegel, ein Geißlerrohr u. a.

Für die medizinische Abteilung stellte Herr Dr. Winkler einen voll- ständigen Röntgenapparat und ein Zeiß-Mikroskop zur Verfügung.

Trotzdem das Institut erst kurzen Bestand hat, verfügt es derzeit schon über 23 Instrumente für Zeitmessungen, 6 Apparate für Reaktions- versuche, 25 Apparate zur Untersuchung des Raum- und Farbensinnes, 23 Instrumente zur Untersuchung der Aufmerksamkeit, der Suggestibilität des Gedächtnisses usw. 12 Apparate zur Untersuchung der haut- und kinästhetischen Empfindungen, 26 Apparate für akkustische und phonetische Untersuchungen, 5 anthropometrische Meßapparate, 15 Hilfsapparate und über 100 Werkzeuge und Behelfe.

In sehr umsichtiger Weise verwaltet der Bibliothekar Herr Prof. Hans Zeman die aus beiläufig 800 Bänden und 11 Fachzeitschriften be- stehende Handbibliothek. Den Hörern werden aber auch Werke aus der Staats- und der Universitätsbibliothek zur Verfügung gestellt.

Das Archiv besteht derzeit aus 69 Protokollen, von denen 10 im verflossenen Studienjahre neu angelegt und 10 vervollständigt oder er- weitert wurden.

Die 10 neuen Protokolle befassen sich mit folgenden Themen:

Nr. 60: »Untersuchungen über die Psychologie des Wunderkindes«; Nr. 61: »Die Psychologie der Erzieherpersönlichkeit«; Nr. 62: »Prüfung der Anschauungs- und Beobachtungsfähigkeit«; Nr. 63: »Die Stellung Huartes und Gawes zum Begabungsproblem«; Nr. 64: »Prüfung der Ein- fühlungsfähigkeit von Schulkindern«; Nr. 65: »Koedukation und Ko- instruktion«; Nr. 66: »Die Begabung der Siebenjahrkinder« (nach H. Sw o- boda’s Buche »Das Siebenjahr«, Bd. I., 1917, S. 362); Nr. 67: »Prüfung der gebundenen (sprachlichen) Kombination (Lückentext, Ebbinghaus) bei Volksschülern«e; Nr. 68: »Die Bedeutung des Zwanges in der Erziehung«; Nr. 69: »Prüfung der Fähigkeit zur freien Kombination« (Masselon).

An der Ausarbeitung dieser Themen beteiligen sich Volks“ und Bürgerschullehrer, Hilfsschul-, Taubstummen- und Blindenlehrer, sowie auch Hörer der Philosophie und Anstaltslehrer und es ist eine Freude, bei den einzelnen Wechselreden die Meinungen dieser verschiedenartigen Hörer aufeinander prallen zu sehen. Mit Genugtuung kann festgestellt

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912 B. Mitteilungen.

werden, daß sowohl dieses Institut als auch das ə»Seminar für Heil- pädagogik« von vielen Hörern eifrigst besucht wurde.

Seit der Gründung des Institutes im Jahre 1913 sind bereits 25 Arbeiten des Vorstandes und der Mitglieder desselben im Druck erschienen und zwar von Dr. Kammel 15, Blindeninstitutsdirektor K. Bürklen 1, Dr. Winkler 6, Landesschulinspektor L. Battista 1, Volksschullehrerin Fritzi Pittner 1, Hilfsschulleiter K. Hilscher 1; 9 fertige Arbeiten sind für den Druck vorbereitet und harren besserer Zeiten, in denen es leichter ist, selbe dem Drucke zuzuführen.

Im Institut für Jugendkunde wurden Kurse abgehalten durch:

1. Univers.-Doz. Direktor der Lehrerakademie Dr. W. Kammel:

a) Einführung in die experimentelle Pädagogik (2stündig).

b) Einfache psychologische Versuche zum Begabungsproblem (2 stündig). 2. Dr. med., jur. et phil. F. Winkler:

a) Ärztliche Erziehungskunde (2stündig).

b) Ärztliche Berufsberatung (2stündig).

e) Schulgesundheitspflege (1 stündig).

3. Seminarprofessor L. Battista:

a) Einführung in die Kinaerpsychologie (2 stündig).

b) Psychologische Berufsberatung (1 stündig).

4. Direktor J. Fiala: Experimentelle Didaktik des Rechnen- und Lese- unterrichtes (1stündig).

5. Seminarprofessor H. Kolar: Psychologische Grundlagen des Ele- mentarunterrichtes (1stündig). `

Außer diesen Kursen hielt Prof. Simonie an mehreren Lehrerbildungs- anstalten einführende Vorträge über das Wesen und die Bedeutung der experimentellen Psychologie und Pädagogik u. a.

Unter Leitung des Seminarprofessors R. Smola und des Hilfsschul- leiters Dozenten K. Hilscher wurden in verschiedene Anstalten Ex- kursionen unternommen.

Welch hohes Ansehen dieses junge Institut genießt, beweisen die vielen Besuche, welche dieses von Korperationen und Einzelpersonen emp- fangen hat. Von letzteren sind zu nennen: Frau Elalia Migliardi (Alessandria, Italien), Herr Direktor M. Stania (Görz), Herr Ingenieur Dr. Domansky (Barcelona, Spanien), Herr Unterrichtsminister Dr. Strecker (Hessen) samt Gemahlin und Herr Unterstaatssekretär A. Glöckel (Wien).

Aus dem Gesagten entnehmen wir, daß diesem »Institute für Jugend- kunde« ein an Arbeit reiches Jahr beschieden war, die, dank der an- eifernden und unermüdlichen Tätigkeit des Leiters des Institutes, von den Besuchern desselben gern geleistet wurde. Ein Beweis für seine Not- wendigkeit ist die stetig steigende Frequenz desselben, so daß die zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten sich bald als zu klein erweisen werden.

Hilscher.

4. Über die Not der Erziehungs- und Kinderheilanstalten. 913

4. Über die Not der Erziehungs- und Kinder- heilanstalten schreibt Dr. Käthe Mende-Berlin in der Sozialen Praxis und Archiv für Volkswohlfahrt 1921 XXX. Nr. 8:1)

In zahlreichen Aufsätzen ist die jetzige Not der Kinder aufs ein- gehendste beschrieben, gründliche Untersuchungen über ihren körperlichen und geistigen Zustand sind durch Ärzte, Sozialhygieniker und Sozial- pädagogen angestellt worden. Noch fehlt uns aber eine ähnliche Unter- suchung über eine andere Not, die ebenfalls auf das Wohl unserer Kinder verheerend einwirkt, das ist die der Waisenhäuser, Erziehungsanstalten, Erholungsheime und anderer Häuser, die zur Aufnahme unserer verwaisten, obdachlosen, kranken und bedürftigen Kinder dienen. Es liegt zwar schon eine systematische Arbeit solcher Art in bezug auf die Säuglingsheime, Krippen usw. vor, im ÖOrganisationsamt für Säuglingsschutz veranstaltet?); aber die Einheitlichkeit in der Art dieser Anstalten ebenso wie ihre ziem- lich weitgehend durchgeführte Organisation zu Verbänden ließ diese Arbeit eher durchführen als es etwa der Fall in bezug auf sämtliche oben- genannte Anstalten ist. Immerhin ist es dringend notwendig, über die Lage der Anstalten einiges zu wissen. Die Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge hat deshalb im Einvernehmen mit dem Zentralausschuß für die Auslandshilfe und mit seiner Unterstützung derartige Berichte ge- sammelt, die Stichproben ergeben sollen. Brauchbare Auskünfte liegen zurzeit von etwa 100 Anstalten vor und zwar befinden sich darunter solche aller Art und Größe aus ganz Deutschland für die Altersstufen von 0—20 Jahren, für alle Arten anstaltsbedürftiger Kinder sowohl aus den arbeitenden Schichten als aus denen des Mittelstandes.

Ein großer Schrei der Not tönt uns aus all den Berichten entgegen. Die Anstalten stehen fast ausnahmslos vor der Notwendigkeit zu schließen, falls nicht bedeutende Hilfsquellen erschlossen werden. Es ist mit aller Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß nur ganz ausnahmsweis wenige Anstalten in Deutschland sich in besserer Lage be- finden, als die Stichproben, die wir erlangen konnten; daß aber die über- große Mehrzahl sich in fast genau derselben Lage befindet.

Bei den Klagen der Anstalten handelt es sich einmal um die Schwierig- keit, die laufenden Ausgaben zu decken, zweitens aber die anscheinend im Moment bei weitem größere Sorge, die Deckung der entstandenen Schulden sowie die Bezahlung für unaufschiebbare Anschaffungen.

Zunächst seien einige Proben für die Steigerung der laufenden Kosten angeführt.

So berichtet eine Anstalt, daß die Beköstigung vor dem Kriege jährlich 29000 M, 1919 71000 M betragen habe. Die Zahl für 1920 war nicht errechnet, ist aber ohne Zweifel wenigstens um das Doppelte

1) Wegen der Bedeutung dieser Betrachtung für alle, die an der Jugend und insbesondere an der notleidenden Jugend arbeiten, bringen wir dieselben im Ein- verständnis mit der Verfasserin auch hier zum Abdruck. Die Schriftleitung.

2) Prof.Dr. Rott, Die Not dergeschlossenen Säuglingsfürsorgeeinrichtungen. 1920.

214 B. Mitteilungen.

gegenüber der von 1919 gestiegen. Eine andere gibt an, daß im Laufe des Jahres 1920 die Verpflegungskosten um 170°/, gestiegen waren. Ein Haus in Süddeutschland hat im Jahre 1915 jährlich 18000 M ausgegeben, 1920 hatte es ca. 130000 dafür einzusetzen.

Ein großes Heim schreibt, daß seine Ausgaben jetzt jährlich 268000 M betragen, davon gebraucht die Verpflegung 96000, Heizung und Be- leuchtung 60000 M.

Während mehrere Anstalten berichten, daß die Lebensmittel um etwa das 10—12fache gestiegen seien, also jetzt pro Monat so hoch sind, wie früher im Jahr, kommen noch viel mehr Klagen darüber, daß der Preis für Heizung um das 20fache gestiegen sei, so daß die Ausgaben hierfür selbst die größten Einnahmen verschlingen.

Es schreibt eine Anstalt aus Bayern, daß sie 1917 für 800 M Feue- rung gebraucht habe, 1920 für 16000 M. Ein Heim berichtet, daß es im Jahr 1920 allein für Kohlen mehr ausgegeben hatte, als 1918 die Ge- samtkosten betrugen.

Eine große Organisation, die 5 Waisenhäuser unterhält, hatte vor dem Kriege jährlich insgesamt 300000 M Kosten, jetzt bedarf ein Waisenhaus laut Voranschlag für das Jahr 1921 400000 M, die übrigen 4 noch etwa 11/, Millionen. Das Vermögen der Stiftung, das im ganzen 2 Millionen beträgt, wird in einem Jahr völlig aufgebraucht sein; dabei muß man noch bedenken, daß die Flüssigmachung große Verluste birgt.

Die Ernährung ist überall auf das Einfachste zurückgesetzt worden. Eine Anstalt für schulentlassene Knaben gab früher täglich ihren Zöglingen Suppe (Haferflocken). Jetzt würde ein solches Gericht allein ein Drittel der täglichen Verpflegungskost betragen. Eine Kinderanstalt in einer Industriestadt berichtet, daß sie für 30 voll verpflegte Kinder wöchentlich nur 21/, Pfd. Fett verbrauchen könne. Eine Anstalt für tuberkulöse Kinder kann für 40 Kinder nur täglich 15 1 Milch bekommen. Fleisch und Mehl- speisen sind überall seltene Genüsse geworden. Trotz dieser Beschränkung sind die Unterhaltskoster besonders im letzten Jahre enorm gestiegen. Ein privates Kinderheim in Westfalen, das im Jahre 1914 18000 M Kosten, 1918 54000 M hatte, im Voranschlag für 1920 100000 M einsetzte (diese waren aber schon nach einem t/, Jahre verbraucht), berichtete: Während ein Kind in den Sommermonaten 1920 täglich 19 M kostete, betrug dies in den Wintermenaten 1920 bereits 20 M und mehr. Diese Angaben entsprachen den von Statistikern berechneten Steigerungszahlen.

Ein Badisches Erholungsheim setzt aus seinen Haushaltungsbüchern interessante Vergleichsziffern zwischen 1916 und 1920 hin. Danach hat das Heim ausgegeben im Jahre:

1916 1920 pro 1Ztr. Kks . . . . 125M 23,50 M y t. 5. Bäfer 27 v 50 am 150,— .. L kg Brot a ¿< A. S s. ur 00242 2,30 ., 1 DO Milch, e ç sva os S ` 2089: 0,30 1. Pfid. Reis. : =: 2. < x ¿009 8,— ,,

1 Kaffeetasse . 2 . . . 0,55, 3,80 ,,

4. Über die Not der Erziehungs- und Kinderheilanstalten. 215

Nun zu den obenerwähnten notwendigen Neuanschaffungen! Allgemein sind die Berichte über den schlechten Zustand der Kleidung. Die Zög- linge, meist aus unbemittelten Familien stammend, kommen schon mit schlechter Ausstattung in die Anstalten und müssen fast alle neu ein- gekleidet werden. Aus Sparsamkeitsrücksichten haben die Anstalten während des Krieges wenig Neues angeschafft, sondern sich mit dauerndem Flickwerk bezw. mit dem Kauf von irgendwelchen Restbeständen, also micht vollwertigem Material, begnügt. Die Folge davon ist, daß jetzt alles in heillosem Zustand ist, daß trotz sorgsamer und hingebendster Arbeit des Personals kein Stück mehr seine Bestimmung hat erfüllen können. Allein die Oberkleidung für etwa 50 Zöglinge würde ja 9—10000 M, die Wäsche mindestens ebensoviel kosten. Ebenso dringend sind die An- ‚schaffungen von Stiefeln. Viele Anstalten klagen darüber, daß nicht ein- mal jeder Zögliug ein Paar Stiefel besitzt. Eine Neuanschaffung für 50 Kinder würde 6—7000 M kosten. Dabei wird in vielen Anstalten durch das Personal das Schuhwerk angefertigt bezw. ausgebessert. In „unsagbarem‘“ Zustand ist ebenfalls die Bettwäsche. Vielfach mußten An- stalten dazu übergehen, die Kinder auf und unter wollenen Decken ohne jedes Leinenzeug schlafen zu lassen. Ein höchst unsauberer und un- gesunder, aber von der Not aufgezwungener Zustand. Ebenso sind die Matratzen zum großen Teil unbrauchbar geworden. Neue Füllung neue Überzüge sind kaum erschwingbar.

Riesige Kosten werden ferner verursachen die nunmehr dringlich und unaufschiebbar gewordenen Reparaturen in Haus und Hof. Auch hiermit ist während des Krieges nach allen Kräften gespart worden, was sich jetzt “bitter rächt. Dächer, Wasserleitungen, Wandanstrich, Küchengeschirr, Treppen erfordern Tausende von Mark zur sofortigen Reparatur, falls sie, die jetzt schon gesundheitsbedrohend sind, durch ihre Schadhaftigkeit nicht zu einer großen Gefahr für die Insassen des Hauses werden sollen. Man denke an das Durchlaufen des Regens durch schadhafte Dächer und Dach- traufen, an die kalten Winde, die durch zerbrochene und nur mit Holz oder Pappe verschalte Fenster ziehen, an die zerrissenen Linoleumbelege der Steinfußböden, über deren Löcher die Kinder dauernd hinfallen.

In besonders schlimmer Lage sind diejenigen ziemlich zahlreichen Häuser, die im Kriege Lazarette gewesen sind und nun für die Rück- verwandlung zu ibrem eigentlichen Zweck Kosten brauchen. Besonders schwer getroffen ist in dieser Hinsicht eine große Kinderheilstätte im be- setzten Gebiet, die von Franzosen als Lazarett benutzt worden war. Allein 1919 mußten für die Wiederinstandsetzung 25000 M ausgegeben werden, ein großer Rest stand für 1920 noch aus.

Wir haben in Deutschland eine große Reihe von Anstalten besonders für schulentlassene Zöglinge, die sich früher durch landwirtschaftliche Be- triebe (oft zugleich Lehrbetriebe) sehr gut erhalten konnten. Diese sind durch die Kriegsjahre erheblich uud schwer geschädigt. Die Abgabe- verpflichtungeu insbesondere auf Vieh, die einfallenden Seuchen, der Mangel an Kraftfuttermitteln ‚haben den Viehstand arg reduziert. So berichtet eine Anstalt in Mitteldeutschland, daß bei ihr 32 Rinder enteignet worden

216 B. Mitteilungen.

seien, und daß durch Seuchen der Viehstand so geschädigt sei, daß jede Nachzucht auf 2—3 Jahre fehle. Die Anstalt muß jetzt Obst, Gemüse, Kartoffeln usw. zu teuren Preisen kaufen, während sie in früheren Jahren alles selbst produzierte.

Ein Direktor solcher Anstalt schreibt:

„Wir sparen am Kunstdünger und bekommen geringere Ernten, wir sparen Kraftfuttermittel und erhalten weniger Milch; wir sparen Futter- mittel überhaupt und unterlassen jegliche Schweinemast. Sonst hielt die Anstalt 16 Mastschweine; 8 davon und 1 Rind wurden im Herbst, die anderen 8 und 1 Rind wuden bei beginnendem Frühjahr geschlachtet. Was der Anstalt durch diese aufgenötigte Einschränkung entgeht, mögen die folgenden Zahlen erkennen lassen: 18 Schweine = ca. 32 Ztr, 2 Rinder = ca. 8 Ztr. zusammen 40 Ztr. Berechnet man den Zentner Fleisch mit 1000 M, so verlieren wir 40000 M.

Korrespondierend mit den landwirtschaftlichen Anstalten mit meist männlichen Zöglingen sind diejenigen für weibliche Zögliuge mit Wäscherei, Näherei und anderen hauswirtschaftlichen Betrieben. Obwohl die Mädchen in diesen Betrieben niemals ganz die Kosten erarbeiten konnten, bot ihr Erwerb doch immerhin einen gewissen Zuschuß zur Anstalt. Jetzt hat sich das durchaus gelegt, die Arbeit deckt vielleicht nur noch 1/, oder 1/, der Verpflegungs-, abgesehen von anderen Kosten, vor allen Dingen sind die Mädchen viel weniger arbeitsfähig, zum Teil krank und die Arbeits- lust hat stark nachgelassen.

Die allgemeine pekuniäre Lage der Anstalten ist infolge all dieser Notstände geradezu trostlos. Die Angaben über das jährliche Defizit um- fassen mindestens 5—6-, ab und zu auch bei großen Anstalten 7 stellige Zahlen. Es hätte bei den überaus verschiedenen Berechnungsmethoden der verschiedenartigsten Anstalten keinen Wert, hier die Zahlenangaben zu wiederholen. Der ursprüngliche Reichtum vieler Anstalten in Gestalt von Stiftungen und Legaten ist ganz aufgezehrt, nachdem die Zinsenerträge nicht mehr ausreichen konnten. Überhaupt klagen die Heime vielfach darüber, wie große Verluste die Realisierung der Vermögensbestände stets mit sich trüge. Die Schulden müssen zu 51/, und mehr Prozent verzinst werden.

Ein großes Waisen- und Erziehungshaus für Töchter des Mittelstandes in der Nähe von Berlin berichtet, daß es von seinen 81/, Millionen- Stiftungen dauernd riesige Summen während des Krieges habe abnehmen müssen, zuletzt habe es sich nur durch Aufnahme eines großen Darlehns, dessen große Zinsenlast schwer drückt, bei Verpfändung seiner Wert- papiere mit Verlusten noch halten können, mußte aber trotzdem mehrere Teile der Anstalt völlig schließen. Im Jahre 1920 ergab sich ein Fehl- betrag ven 400000 M. Ähnlich lauten weitere Berichte.

Eine weitere Einnahmequelle der Heime, sofern sie Vereinen an- gehören, die Mitgliederbeiträge sind dauernd in erschreckendem Maße zurück- gegangen. Die Pflegegelder aber können unmöglich mit den gesteigerten Kosten auch nur entfernt Schritt halten. Angaben von Anstalten, daß sie das Pflegegeld von täglich 1,20 M auf 5 M, oder von 3 M zu Anfang 1920 auf 7 M zu Ende desselben Jahres oder von 2,50—3 M auf 18 M

4. Über die Not der Erziehungs- und Kinderheilanstalten. 917

täglich (Tuberkuloseheime) oder von 0,60 auf 6 M wöchentlich, von 800 M jährlich im Jahre 1917 auf 3500 M 1919 gesteigert hätten, sprechen dafür, daß die Anstalten sich alle Mühe gaben, hier das Möglichste heraus- zuholen.. Besonders im Laufe des Jahres 1920 haben sich überall Er- höhungen um mindestens 50—1000°/, notwendig gezeigt. Ein Mutter- und Kinderheim im Badischen nahm vor dem Kriege für die Zeit von 6 Wochen für Mutter und Kind 120 M, jetzt muß es täglich 10 M fordern, dabei betragen die Kosten 16 M. Unmöglich ist es für die Anstalten, die Pflegegelder für private Zöglinge noch weiter zu erhöhen, da sie sonst ihre Pforten gerade für die der Anstalt bedürftigsten Kinder schließen müßten. Sie würden ihren Charakter als Wohlfahrtseinrichtungen völlig verlieren und die Absicht ihrer Gründer ins Gegenteil verkehren. Eng hiermit zusammen hängt auch, daß die früher so freigebig gewährten Er- mäßigungen oder unentgeltlichen Aufnahmen jetzt fast gar nicht mehr ge- währt werden können. Eine Tuberkuloseheilstätte konnte früher dank großer Stiftungsgelder 27 /, aller Plätze unentgeltlich, 44°/, zu ermäßigtem Preise abgeben, jetzt kann sie bei der sehr reduzierten Anzahl von 144 Zöglingen im ganzen nur 13 Freiplätze geben.

Was haben nun die Anstalten bisher getan? Der Notstand ist schon seit etwa 1918 in dauerndem Steigen. Es sind zunächst, wie gesagt, die vorhandenen Kapitalien, oft bis zum letzten Notgroschen, aufgezehrt worden. Äußerliche Sparsamkeit in allen Anstalten, Redaktion der Belegzahlen, haben nur wenig geholfen, so haben fast alle Anstalten schon vor der Notwendigkeit des Schließens gestanden. Vielfach wurde dann durch ein- malige oder auch wiederholte Spenden hilfsbereiter Persönlichkeiten des In- und Auslandes die Gefahr noch abgewendet. Wo die Stifter der An- stalten noch lebten und in der Lage waren, haben auch sie vielfach der mit soviel Liebe gehegten Einrichtung nach Kräften weitergeholfen. Aber diese Spenden haben ihre Grenzen. Zudem wirken sie wirklich meistens nur wie eim Tropfen auf den heißen Stein. Was aber geschieht, wenn keine neuen mehr zu erschwingen sind? Einige Städte haben sich zu starken und laufenden Zu- bezw. Vorschüssen verstanden, die aber auch binnen kurzem nicht mehr ausreichen werden und angesichts der elenden Finanzlage der deutschen Städte überhaupt nicht mehr in derselben Höhe weitergeführt werden können. So ist in einer westdeutschen Industrie- stadt der Magistrat, der 2 private Kinderheime übernommen hatte, nach- dem die Grundstücke ihm geschenkt wurden, im Jahre 1920 zu Zuschüssen von je 100000 M gezwungen gewesen. Andere Heime sind ganz und gar verkauft worden und ihrer Bestimmung verloren gegangen. Aber auch da, wo der neue Käufer, z. B. die Stadtgemeinde, das Heim weiter in eigene Regie genommen hat, ist eine Fortführung aufs schwerste ge- fährdet. Eine weitere Beihilfe seitens der Städte, nämlich die angeregte Erhöhung der Pflegegelder, kann auch nur bis zu einer gewissen von der Finanzkraft der Städte ziemlich enggezogenen Grenze ausgedehnt werden.

Aus der zu Eingang erwähnten Arbeit des ÖOrganisationsamtes für Säuglingsschutz geht hervor, daß ein großer Teil der Anstalten für Säug- linge bereits geschlossen hat oder vor der Schließung steht. Anstalten

218 B. Mitteilungen.

für dieses Kindesalter müssen damit schneller zum Entschluß kommen als die für größere Kinder, da bei jenen ohne die notwendige Milch, Wäsche und Heizung sofort ein derartig schädigender Einfluß auf die Pfleglinge eintritt, daß ein Fortbestehen ohne eine entsetzliche Erhöhung der Sterblich- keitsziffer absolut nicht möglich wäre. Anders ist es mit den übrigen Anstalten, die die Schließung soweit wie möglich aufschieben und kraft der aufopfernden Weiterarbeit ihres Personals mit großer Mühe und unter Entbehrungen aufrecht erhalten.

Eine Schließung würde die schlimmsten Folgen für Tausende von Kindern haben, würde sie obdachlos, aufsichtslos machen oder in ge- fährdende Familienverhältnisse zurückwerfen. Besonders bedenklich für tuberkulöse und tuberkulosbedrohte Kinder!

Dabei ist jetzt gerade die Zahl der tatsächlich anstaltsbedürftigen Kinder stark im Steigen. Während für normale Kinder die Unterbringung in Pflegefamilien das absolut Wünschenswerte ist, bildet eine solche heute doch große Schwierigkeiten; aber vor allen Dingen zählen wir sehr viel mehr Kinder aus zerrütteten Familien, Psychopathische, Kranke, welche eben unbedingt in eine Anstalt aufgenommen werden müssen. Sehr viele Anmeldungen mußten wegen Überfüllung oder der finanziellen Unmöglich- keit, die volle Zahl der Plätze zu belegen, abgewiesen werden. Besonders bedürftig auch hier wieder die Kinder des Mittelstands. Bei einer Schließung würde ferner das jetzt aufopferungsvoll tätige Personal zu Hunderten stellenlos werden, mit äußerst geringer Aussicht, neue Stellungen zu finden,

Der von einigen Seiten empfohlene Weg der Kommunalisierung würde, wie verschiedene Erfahrungen beweisen, unverhältnismäßig teuer für die Städte sein (vgl. hierzu die Arbeit von Rektor Jaspert, „Richtlinien für eine Neuordnung der öffentlichen und privaten Fürsorge in Frankfurt a. M.).“ Ähnliche Angaben sind den „Mitteilungen aus der Armen- und Waisen- pflege der Stadt Mannheim“ 1920 Nr. 8 zu entnehmen. Es wird darin ausgeführt, daß die Städte zunächst nur diejenigen Betriebe - übernehmen, deren Fortführung dringend notwendig ist (Säuglingsheime, Mütter- und Säuglingsheime). Die Stadt bekommt zwar bei dieser Kommunalisierung meistens Haus und Grundstück in Besitz, die oft. höheren Wert besitzen als zu Buche steht, aber die laufenden Ausgaben sind so bedeutend, daß die Städte zu arg belastet werden. So berechnet die Stadt Mannheim die jährlichen Mehrausgaben für eine Krippe jetzt mit 100000 M, für eine Krippe mit Mütterheim mit 230000 M. Ein städtischer Betrieb verteuert sich schon darum, weil die Mitgliederbeiträge fortfallen und statt der ehrenamtlichen nur noch besoldete Kräfte tätig sind, die hier nur zu höheren Kosten arbeiten, als etwa in konfessionellen oder humanitären Be- trieben. Bedenkt man, das z. B. in der weiblichen Diakonie in Deutsch- land nach einer neueren Angabe etwa 25000 Kräfte tätig sind, zum großen Teil ia Erziehungsanstalten und Kinderheimen, abgesenen von den übrigen evangelischen Organisationen, auf katholischer Seite vielleicht deren noch mehr, die alle ihre Arbeit als Liebesdiensi auffassen, so kann man ermessen, zu welchen riesigen Summen eine Übernahme in städtische Betriebe die Gehälter steigern würde.

5. Der Verband »Deutsche Hilfsschule in der tsch.-slowak. Republik.« 219

Aus diesem Grund ist eine Fortführung der Heime in der bisherigen Bewirtschaftungsform sicher die zweckmäßigste, sie ist aber nur zu er- möglichen, wenn die Gemeinden die Pflegegelder für die von ihnen unter- gebrachten Kinder nach Möglichkeit heraufsetzen würden, wenn sofort Summen in ganz großem Maße den Heimen zur Verfügung gestellt werden können. Mit gelegentlichen Spenden, vor allen Dingen mit den in so dankenswerter Weise geschenkten Nahrungsmitteln oder Kleidungsstücken ist den Anstalten kaum noch weiter zu helfen. Solche Zuwendungen decken vielleicht einen Wocheubedarf, günstigenfalls den Bedarf für mehrere Wochen; angesichts der ungeheuren Gefährdung, daß das Heim völlig schließen muß, bedeutet das so gut wie nichts.

Aus Mangel an genauen Unterlagen müssen wir es vermeiden, irgend- welche Summen anzugeben, die notwendig wären, um auch nur die augen- blickliche Notlage der von uns besprochenen Anstalten zu decken. Bedenkt man, daß der Karitasverband laut einer Mitteilung die bei ihm gemeldeten unterstützungsbedürftigen Anstalten mit über 800 zählte (davon die Hälfte Waisenhäuser) mit ca. 68000 Plätzen, daß auf evangelischer Seite sicher ebensoviel derartige Anstalten sein werden, zu denen ferner noch die jüdischen und die paritätischen hinzukommen; bedenkt man ferner, daß jede Anstalt durchschnittlich etwa wenigstens 30000—40000 M (die nur bei kleineren geringer sein können, bei größeren enorm erhöht sein müßten) braucht, um vor der Schließung bewahrt zu sein, so kommt man auf schier schwindelhafte Summen.

Die Lehre, die wir aus diesen bedrückenden Darlegungen ziehen müssen, ist die, daß nur außerordentliche Hilfsquellen uns noch helfen können, damit wir mehrere 100 000 deutsche, aufs äußerste der Anstaltsunterbringung bedürftige Kinder vor unsagbarem Elend schützen und eine unübersehbare Summe seit Jahrzehnten aufgewendeter wirtschaft- licher, sozialer und pädagogischer Liebesarbeit vor dem völligen Unter- gang retten können.

5. Der Verband »Deutsche Hilfsschule in der tschecho- slowakischen Republik« schickt uns folgenden Entwurf eines Hilfsschulgesetzes. EL

Die Hilfsschulen sind selbständige öffentliche Schulein- richtungen.

§ 2.

Der Aufwand für die Errichtung und Erhaltung der Hilfs- schulen wird auf dieselbe Weise beschafft wie bei den öffentlichen Volks- und Bürgerschulen (event. vom Staate getragen).

$ 3.

Hilfsschulen werden in Schulgemeinden errichtet, in denen der dreijährige Durchschnitt 10 oder mehr schwachbefähigte Kinder ergibt.

Der Hilfsschulsprengel soll nach Tunlichkeit nicht nur den Hilfs- schulort, sondern auch die nächsten umliegenden Ortschaften umfassen.

220 B. Mitteilungen.

Wo die Zahl der schwachbefähigten Kinder für die Errichtung einer Hilfsschule nicht hinreicht, werden mit Hilfe des Kreises Kreishilfs- schulen mit Internaten und Tagesheimen errichtet.

$ 4.

Der Hilfsschule sind alle bildungsfähigen schwachbefähigten (schwachsinnigen) Kinder zuzuweisen. Die Hilfsschule ist für solche- Kinder Pflichtschule.

Die Hilfsschulpflicht beginnt frühestens mit dem vollendeten 6. und endet spätestens mit dem vollendeten 16. Lebensjahre.

Die private Beschulung schwachbefähigter (schwachsinniger) Kinder darf nur durch Lehrkräfte besorgt werden, die für den Unterricht schwach- sinniger Kinder die Lehrbefähigung besitzen.

$ 5.

Die Aufnahme in die Hilfsschule erfolgt über Antrag der zuletzt besuchten Schule, der Eltern oder Erzieher nach Beschluß der Schul- behörde auf Grund eines Berichtes der Hilfsschule über die gemachten Beobachtungen und vorgenommene Intelligenzprüfung event. noch eines Gutachtens des Hilfsschularztes.

Spätestens nach zweijährigem erfolglosem Besuche der ersten Klasse oder nach erfolglosem Wiederholen der zweiten Klasse muß ein Beschluß. einer Hilfsschule herbeigeführt werden, ob das betreffende Kind der Hilfs- schule zuzuweisen ist. °

§ 6.

Zur Aufnahme sind die einheitlichen Auínahme-, Begut- achtungs- und Prüfungsbogen zu verwenden, aus deren Aufzeichnungen und späteren fortlaufenden Beobachtungen eine Schülerbeschreibung anzufertigen ist, die vom Hilfsschulkinde über die Hilfsschulzeit hinaus auch im praktischen Leben durch Aufzeichnungen vervollständigt wird.

Bei der Umschulung eines Hilfsschulkindes wird es von der Schüler- beschreibung begleitet.

Die Schülerbeschreibungen dürfen nie in die Hände der Verwandten. des Kindes kommen und sind nur für den Amtsgebrauch bestimmt.

$ 7. Ausgeschlossen von der Aufnahme in die Hilfsschule sind: a) blinde, taube und taubstumme Kinder; b) epileptische Kinder, deren Anfälle den Unterricht stören, c) schwachsinnige Kinder, die durch den Hilfsschulunterricht nicht ge- fördert werden können; d) stark schwachsichtige und schwerhörige Kinder; e) sittlich verwahrloste und häuslich vernachlässigte Kinder. $ 8.

Die Schülerzahl für eine einklassige Hilfsschule darf nicht mehr als 10, für die erste Klasse einer mehrstufigen Hilfsschule 10 bis höchstens 12, für die 2. Klasse 12—15, für jede weitere Klasse höchstens 15 betragen.

Trennung der Geschlechter ist nie zugunsten der Mehrstufigkeit einer- Hilfsschule durchzuführen.

5. Der Verband »Deutsche Hilfsschule in der tsch.-slowak. Republik. 221

s 9.

Die Hilfsschulen stehen unter eigener fachmännischer Leitung, haben ein eigenes Gebäude mit Turnsal, Spielplatz, Werkstätten, Bade- räumen, Übungsfeldern und -Gärten und haben eigene Lehrmittel, be- sondere Schulnachrichten, Entlassungszeugnisse, Kataloge und Klassenbücher.

§ 10.

Als Lehrer werden Lehrer (Lehrerinnen) nach den gesetzlichen Vor- schriften, welche für die Stellenbesetzung an Bürgerschulen gelten, er- nannt, welche das Lehrbefähigungszeugnis für den Unterricht schwachsinniger Kinder besitzen.

Direktor kann nur ein gut qualifizierter Lehrer (Lehrerin) einer Hilfsschule werden.

Zur Beaufsichtung in der unterrichtsfreien Zeit und zur Aushilfe beim Unterrichte, besonders bei der Handarbeit, werden Assistentinnen mit fachlicher Ausbildung für die Werkstättenarbeit, event. solche Werk- meister bestellt.

$ 11.

Die Rechte und Dienstbezüge der Hilfsschullehrer und Direktoren sind die gleichen wie die der Fachlehrer und Direktoren an Bürgerschulen.

Die Funktionszulagen für Direktoren ein- und zweiklassiger Hilfs- schulen betrugen K. 350,—, drei- und vierklassiger K. 450,—, fünf- und mehrklassiger K. 600,—.

Zur Ausbildung von Hilfsschullehrkräften werden staatliche Kurse abgehalten.

$ 12.

Die Hilfsschulärzte sollen nach Möglichkeit psychiatrisch ge-

schult sein. $ 13.

An Hilfsschulorten bilden Hilfsfortbildungsschulen und Fort- bildungskurse für ehemalige Hilfsschüler mit der Hilfsschule ein Ganzes. Für den Personen- und Sachaufwand gelten für Fortbildungsschulein- richtungen für ehemalige Hilfsschüler alle Bestimmungen der Fortbildungs- schulen für Normale.

8 14.

FürSehwachsinnige werden teilweise Pflege- und Erziehungsanstalten

errichtet, teilweise humanitäre Privatanstalten durch den Staat unterstützt.

8 15.

Soll die Hilfsschule zu einem vollen Erfolge führen, so muß sie von einer ausgebreiteten sozialen Fürsorge unterstützt werden, die teilweise durch den Staat, teils durch private Vereinigungen unter Beihilfe des Staates ausgeübt wird.

$ 16.

Die Inspektoren der Hilfsschulen müssen aus dem praktischen Hilfsschuldienste hervorgegangen sein.

Für jedes Land wird für jede Nationalität ein Hilfsschulinspektor ernannt.

In den zuständigen Schulbehörden haben die Hilfsschulen ihre eigene fachmännnische Vertretung.

299 B. Mitteilungen.

6. Zweite Tagung über Psychopathenfürsorge.

Für den 17. und 18. Mai d. J. (Dienstag und Mittwoch nach Pfingsten) ist eine Tagung über Psychopathenfürsorge nach Köln a. Rh. ein- berufen, welche von dem Deutschen Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen, der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge (Gesundheits- ausschuñ und Ausschuß für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen) und dem Allgemeinen Fürsorge-Erziehungs-Tag veranstaltet wird. Die Tagung findet statt im Zusammenhang mit einem Bevölkerungspolitischen Kongreß, der durch den Oberbürgermeister der Stadt Köln für die Woche nach Pfingsten einberufen worden ist.

Das Thema der Tagesordnung lautet: »Heilbehandlung und Er- ziehung psychopathischer Kinder und Jugendlicher mit besonderer Be- rücksichtigung der Fürsorgeerziehung.« Es sind Referate vorgesehen über die Zusammenarbeit zwischen dem Psychiater und den Organen der offenen Fürsorge (Kleinkinderfürsorge, Schulkinderfürsorge, Ermittlung und Schutz- aufsicht, Fürsorge für vagabundierende Jugendliche) und zwischen Psych- iator und Fürsorgeərziehung (Beobachtungsstationen, Anstaltserziehung).

Als Referenten sind in Aussicht genommen die Herren Prof. Dr. Kramer-Berlin, Kreisarzt Dr. Fels-Lennep, Kreisschulrat Fuchs-Berlin, Stadtschularzt Prof. Dr. Thiele-Chemnitz, ferner Fräulein Nohl-Berlin, Frl. Dittmer (Polizeipräsidium Berlin), Prof. Gaupp-Tübingen, Pastor Back- hausen-Hannover, Prof. v. Düring-Steinmühle, Oberarzt Dr. Redepennig- Göttingen, Dr. Mönkemöller-Hildesheim, Dir. Knaut-Berlin.

Die Teilnehmerkarte kostet 20 M, Anmeldungen bis 10. Mai an den

Deutschen Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen, Berlin N. 24, Monbjjouplatz 3.

Programme und Unterkunftsbeschaffung durch denselben.

Tm Anschluß findet eine Tagung des Allgemeinen Fürsorge-Erziehungs- Tages statt.

7. Über Badische Kindererholungsfürsorge im Jahre 1920 schreibt die Badische Presse: »Über die Erholungsfürsorge badischer Kinder im Jahre 1920 liegen jetzt genauere Zahlen vor. Ihnen entnehmen wir, daß durch Vermittlung der Schweizerfürsorge insgesamt 1017 Kinder in schweizerischen Familien oder Heimen untergebracht worden waren. Nach Schweden kamen durch Vermittlung des Badischen Frauenvereins ins- gesamt 78 Kinder. Durch Vermittlung der caritativen Verbände und durch städtische Organisationen in Baden haten insgesamt 1049 Kinder in ein- zelnen Familien auf dem Lande Aufnahme gefunden. Die Zahl der badischen Kinder, die in Kolonien und Heimen einschließlich der neuen Erholungsfürsorge auf dem Heuberg innerhalb Badens untergebracht waren, beläuft sich auf insgesamt 11147, davon auf den Heuberg allein rund 5000. Außerdem haben noch 856 kleine Badener in dem Stahlbad Imnau in Hohenzollern (durch den Caritasverband), in dem Heim des Badischen

C. Literatur. 223

Landesvereins für Innere Mission in Langenbrand (Württ) und in dem von der Stadt Pforzheim in Wimpfen (Württ.) errichteten Erholungsheim Erholung gefunden. Somit konnten mehr als 14000 badischen Kindern im Jahre 1920 Erholungsfürsorge gewährt werden.«

Das ist hier wie überall alles gut und schön. Aber wie würde es sein, wenn alle diese Liebe, Mühe und Aufwendung an Geld sich auf die Besserung des Familienlebens mit Einschluß der Kinder erstreckt hätte? Das düstere Bild, welches Frl. Dr. Moses als Gegenstück zu dem als Allheilmittel so viel gepriesenen »Mannheimer Schulsystem« zeichnet, redet Bände. !)

C. Literatur.

1. Buchbesprechung.

1. Heyn, August, Gartenschulleiter in Berlin-Neukölln, Die Gartenbauschule. Mit einer Einführung von Stadt- u. Kreischulrat Dr. Artur Buchenau. 808. mit 16 Abbildungen u. 2 Plänen. Breslau, Verlag Ferdinand Hirt, 1921. Preis geh. 4,80 M u. 100°, Teuerungszuschlag.

Die Gartenarbeitsschule in Berlin-Neukölln gliedert sich an 6 Neuköllner Volks- schulen an und gibt den Kindern, die dort unterrichtet werden, Gelegenheit an ein resp. zwei Vormittagen ihre eigenen Beete zu bearbeiten, draußen zu turnen, zu spielen und dabei ihren Unterricht zu erhalten. Es scheint dort seit 1918, der Gründung dieser Schule, ein beträchtliches Stück Arbeit geleistet zu sein.

Diese vorangegangene Praxis gibt dem Buch seinen Wert vor vielen, die sich auch mit dem Problem der Arbeitsschule beschäftigen. Es spricht nicht nur Forde- rungen aus, sondeın bietet etwas Positives. Jeder Lehrer, besonders aber der, welcher so glücklich ist, ein Stück Land zur Verfügung zu haben, wird daraus viel Anregung entnehmen können. Naturkunde, Naturlehre, Raumlehre und Rechnen können nur gewinnen, wenn sie so gelehrt werden, wie die Gartenarbeitsschule es möglich macht. Auch andre Fächer werden Nutzen davon haben, wenn sie in diese enge Verbindung mit dem Boden und der praktischen Arbeit gebracht werden. Ob es allerdings gut wäre, wenn die Gartenarbeitsschule, wie der Verfasser am Schlusse hofft, die »Hauptsache des Ganzen«, sein »Angelpunkt« würde, das ist mir zweifelhaft. Wenn auch das Prinzip der Selbsttätigkeit in dem modernen Schulbetrieb noch lange nicht genug durchgeführt worden ist, so gibt es doch neben den Dingen der Gartenarbeitsschule noch eine geistige Welt, die in keine enge Be- ziehung zu ihnen zu bringen ist.

Jena-Sophienhöhe, Dr. Margret Eyser.

2. Stange, Carl, Waldemar Bonsels. Seine Dichtung und seine Weltanschauung (Studien des Apologetischen Seminars in Wernigerode, 6. Heft.) Gütersloh, C. Bertelsmann. 5 M.

Der Name Waldemar Bonsels ist jetzt in vieler Munde. Seine Dichtungen

»Die Biene Maja und ihre Abenteuer« und »Himmelsvolk. Ein Buch von Blumen,

Tieren und Gott« sind in mehr als 500000 Exemplaren verbreitet. So ist es eine

große Gemeinde, an die sich die vorliegende Studie wendet. Sie kommt aus be-

rufener Feder: der Verfasser ist der bekannte Universitätsprofessor Carl Stange in

Göttingen.

1) Dr. Gertrud Moses, Zum Problem der Familienverwahrlosung unter be- sonderer Berücksichtigung der Verhältnisse im Kriege. (Beitr. z. Kdf. Heft 175.) Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann). Tr.

10. 11.

Leitsätze zur Errichtung Deutscher Volkshochschulen teilt die »Volkshochschul-Gemeinschaft« mit, das neue Organ der Deutschen Volkshoch- schul-Gemeinschaft. Es heißt da: »Die deutsche Volkshochschule erwächst aus dem Grunde deutschen Volkstums. Deutsches Volkstum und seine Zukunft sind Voraussetzung und Ziel ihrer Arbeit.«c Das heißt, klar auf ein bestimmtes Ziel losgehen, den Aufbau von innen heraus gestalten wollen. Für die Durchführung der Arbeit leisten Gewähr die in der Gemeinschaft zusammen- geschlossenen Namen und Verbände: Deutschbund unter Prof. Langhans, der Deutsche Orden unter Dr. Scheffer, das Hochstift für deutsche Volksforschung unter Prof. M. Kloss, die deutsche Bauernhochschule unter Bruno Tansmann. Die Zeitschrift selbst wird herausgegeben von Dr. Scheffer, als dem Leiter der Berliner Arndt-Hochschule. (Sie erscheint im Verlag der Volkshochschul-Gemeinschaft, Berlin-Lichterfeld, Steinäckerstr. 17, Jahrespreis 10 M.)

2. Eingegangene Schriften:

. Prof. G. Anton, Das Kopf-Röntgenbild bei sogenannter genuiner Epilepsie. Be-

deutung des vergrößerten Kleinhirnprofils. (Jahrbuch für Kinderheilkunde und physische Erziehung. Sonderabdruck aus Bd. 93, Heft 2, 1920. Berlin, Karger.)

. Ders., Was bedeutet die Entwicklungsmechanik von W. Roux für den Arzt?

(Sonderabdr. aus der Psychiatr.-Neurol. Wochenschrift. XXI. Jahrg. Nr. 13/14. 3. Juli 1920. Halle a. S., Verlag Carl Marhold.)

. Ders., Über neuere druckentlastende Operationen des Gehirns nebst Bemer-

kungen über Ventrikelerkrankungen desselben. (Sonderabdr. aus Bd. XIX der »Ergebnisse der innern Medizin u. Kinderheilkunde«. Berlin, Julius Springer, 1920.)

. Prof. Dr. Anton und Prof. Dr. Voelcker, Halle a. S., Vorschläge zur Be-

freiung des Venenkreislaufes und zur direkten Desinfektion des Gehirns. (Sonder- abdr. aus der Münchner med. Wochenschrift 1920, Nr. 33, S. 951—953. Mün- chen, Verlag J. F. Lehmann.)

. Die Deutsche Volkshochschul- Gemeinschaft. Nachrichtenblatt der Deutschen

Volkshochschul-Gemeinschaft. Herausgegeben von Dr. Th. Schefffer, Leiter der Arndt-Hochschule in Berlin. 1. Jahrgang, 1. Hartungs 1921, 1. Folge.

. Die Brüdergemeinde und ihre Werke. Von H. W. Reichel, Bischof d. Brüder-

kirche. 24 S.

. Schiner, Miklas, Tremel u. Frimberger, »Mein Lesebuch.« 1. Stufe, Preis

2 Kronen 60 Heller. 2. Stufe, 1 Kr. 20 Heller. 3. Stufe, 1 Kr. 70 Heller. Wien, Schulbücherverlag, 1919.

. »Jahrbuch des Bundes Deutscher Frauenvereine 1921.< Im Auftrage des

Bundes Deutscher Frauenvereine, herausgegeben von Dr. Elısabeth Altmann- Gottheiner. Leipzig u. Berlin, Verlag und Druck von B. G. Teubner, 1921.

. Adrian, Dr. theol. Jos., Seele und Glaube, Psychologie des christlichen Glaubens

nach der Darstellung der Hl. Schrift. 2. Aufl. Mergentheim, Verlagsbuch- handlung Karl Ohlinger. 126 S. Giese, Dr. Fritz, Aufgaben und Wesen der Psychotechnik. Langensalza, Wendt & Klauwell. 32 S. »Die Neue Erziehung«, Zeitschrift für entschiedene Schulreform und freiheit- liche Schulpolitik, zugleich Organ des Bundes entschiedener Schulreform, heraus- gegeb. v. Unterstaatssekretär z. D. Dr. M. H. Baegeu. Dr. Siegfried Kawerau. mit der Beilage: Internationale Erziehungsrundschau, im Auftrage der Liga für Völkerbund herausgegeben von Dr. Elisbeth Rotten, ist am 1. Januar in den Verlag von C. A. Schwetschke & Sohn (Verlagsbuchhandlung*gegründet 1729), Berlin W 30, Freisingerstr. 5a übergegangen. Bezugspreis vierteljährlich 8 M. 3. Jahrgang 1921, 1. Heft.

Inhalt: Paul Gärtner, Neues Volk? Neue Schule? Paul Oestreich,

Mitten im Kampf. Ludwig Gurlitt, Die geschwätzige Schule. C. H. Müller, Der Geist ist's, der lebendig macht. E. Schwartz, Die Einheitsschule differenziere nicht die Schüler nach gradueller Begabung, sondern den Unterricht nach der Ver- anlagung der Schüler. Rundschau: Schulpolitische Rundschau. Von der Schule. Lehrerbewegung. Verschiedenes. Mitteilungen des Bundes entschiedener Schulreformer.

Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.

Br SERIE

= n 55

A. Abhandlungen,

1. Zur Frage der Psychopathologie der Revolution und der Revolutionšre. Von Dr. med. Hans Brennecke, Hamburg.

Bereits in zwei Aufsätzen!) habe ich darauf hingewiesen, daß nach den übereinstimmenden Ansichten der verschiedensten psychiatrischen und psychologischen Autoren die Mehrzahl der Führer revolutionärer Putsche Psychopathen und geistig Minderwertige seien. Kahn hatte von 56 Führern der Münchener Unruhen im April 1919 16 ethisch-defekte und fanatische Psychopathen, Minderwertige und Schwachsinnige einer eingehenderen psychiatrischen Prüfung unter- ziehen können, und glaubte mit Berechtigung den Schluß ziehen zu dürfen, daß unter den übrigen 40 Führern sich sicher noch weitere psychopathische Persönlichkeiten würden finden lassen. Ich selbst konnte im Februar 1920 der forensisch-psychologischen Gesellschaft in Hamburg 3 Führer der Hamburger Revolten im Juni 1919 vor- stellen; und zwar war der eine von ihnen ein schwachsinniger Psycho- path, der zweite ein hysterisch Degenerierter, der dritte ein psycho- pathischer Alkoholiker. Außerdem vermochte ich im gleichen Vortrag 5 Mitläufer der revoltierenden Menge zu demonstrieren, von denen einer ein Psychopath, die 4 anderen angeborene Schwachsinnige waren. Die Fälle sind angeführt in meiner für das Archiv für Psychiatrie bestimmten Arbeit.

1) 1. »Debilität, Kriminalität u. Revolution. Erschienen in Bd. 63. Heft 1 des Archivs für Psychiatrie und Nervenkrankheiten. 2. »Psychopathie und Revolution.e Deutsche Strafrechtszeitung, 8 Jahrg., Heft 1/2.

Zeitschrift für Kinderforschung. 26. Jahrgang. 15

226 A. Abhandlungen.

Die weitere Beschäftigung mit dem Problem: Psychopathologie und Revolution hat nun mehr und mehr zwei Fragen als besonders wichtig nur erscheinen lassen und immer konzentrierter herausgeschält. Die erste betrifft die Revolution als krisenhaftes Geschehen im Leben eines oder mehrerer Völker; die andere ist rein sozial-praktischer Natur und beschäftigt sich mit den Schutzmaßnahmen, die wir gegen anti- und asoziale, in Revolten und Revolutionen besonders gemein- gefährliche, zu ewigen kriminellen Rückfällen neigende Psychopathen treffen können und müssen.

Für die erste Frage: Ist die Revolution als Großes und Ganzes ein psychopathologisches Geschehen? verdanke ich ganz besonders zwei darüber erschienenen Arbeiten klärende Anregung, und zwar Kraepelins »Psychiatrischen Randbemerkungen zur Zeitgeschichte« (Süddeutsche Monatshefte, 16. Jahrg., 9. Heft), und Hans Freimarks psychologischer Studie: »Die Revolution als psychische Massen- erscheinung« (erschienen in den Grenzfragen des Nerven- und Seelen- lebens 1920). Die objektive, völlig unparteiliche und äußerst klare Darstellung Freimarks ist eines der besten Bücher, die über die Revolution geschrieben wurden.

Schon in meinem Aufsatz in der deutschen Strafrechtszeitung hielt ich eine gegenteilige Ansicht gegen Kraepelin für notwendig. Kraepelin führt das Zustandekommen der Revolution auf eine unter dem lang dauernden Druck, den die Not und Entbehrungen der Kriegsjahre auf die Volksseele ausgeübt hatten, hervorgerufene »hysterische Massenpsychose« zurück und betont fast einseitig stark den psychopathologischen Charakter der Revolutionen. Meiner Ansicht nach übersieht Kraepelin dabei aber erstens, daß Revolutionen langer Hand in einem Volke sich vorbereiten, daß z. B. die Anfänge der russischen Revolution bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts, die der unseren bis in die ersten Jahrzehnte nach dem siegreichen deutsch-französischen Kriege sich mühelos zurückführen und volks- psychologisch begründen lassen. Und zweitens nimmt er dem Volks- ganzen einen an psychologischen Wert nicht zu unterschätzenden Faktor, wenn er Krisen in den innervölkischen Spannungen psycho- pathologisch bewertet: die völkische Selbstverantwortung.

Schon früher präzisierte ich meinen Standpunkt dahin, daß ich die psychologische Begründung der Revolutionen in dem tief wurzelnden Egoismus des Einzelindividuums und dem summierten brutaleren Egois- mus der Masse ersehe. Aus diesem entstehen sie gleich Naturgewalten, durch Änderungen der Spannungsverhältnisse in den einzelnen Schichten eines Volkes und sind im Grunde nichts als Machtfragen, die in diesen

Brennecke: Zur Frage d. Psychopathologie d. Revolution u. d. Revolutionäre. 227

verschiedenen Schichten so lange ausgetragen werden, bis sich das inner- völkische Gleichgewicht wieder hergestellt hat. Zweifellos ist es richtig, ja zu einer richtigen psychologischen Wertung des Lebens eines ganzen Volkes, unbedingt notwendig, die sogenannte Masse als psychologische Einheit aufzufassen, und in der Beurteilung der »Kollektivseele« der Masse und ihre psychologischen Qualitäten herrscht bei den psychi- atrischen und psychologischen Autoren im allgemeinen Einigkeit. Die Masse ist ein Konglomerat von Durchschnittsmenschen des verschie- densten Bildungsgrades und der verschiedensten sozialen Schichten der menschlichen Gesellschaft. Auf Grund des psychologischen Gesetzes der Trägheit wirkt sie niveliierend und homogenisierend auf die sie zusammensetzenden Einzelindividuen und erhält so die ganz einheitlich erscheinende Massenseele. Dieselbe ist primitiv und unkompliziert und zeichnet sich durch erheblichen intellektuellen Tiefstand, Kritik- und Urteilsschwäche, primitives Gefühlsleben, hemmunglose, zu ele- mentaren Entladungen neigende Affekte, und durch große Sugges- tibilität gegenüber guten und schlechten Einflüssen aus. Aus dem summierten Egoismus der Masse entstehen unter langdauerndem Druck zunächst dumpfe Unlustgefühle und eine stetig wachsende, unzufriedene Begehrlichkeit, die die animalischen Instinkte der Masse begleiten und unter gegebenen Umständen dahin führen, daß die Massen- instinkte sich in bestialischer Weise geltend machen. Gewiß, auf den jahrelangen Druck, den der Krieg, die Not, Entbehrung und Ent- täuschung auf die Seele unseres Volkes ausübten, läßt sich das ex- plosionsartige Entstehen des revolutionären Umsturzes der bis dahin bestehenden Staatsordnung zurückführen, aber trotz alledem ist und bleibt die Revolution als solche und als Ganzes betrachtet mehr ein physiologischer als ein pathologischer Vorgang im Körper eines Volkes. Sonst könnte man ja mit demselben Rechte auch die gewaltige, große, ursprünglich und echte Begeisterung des gesamien deutschen Volkes in den Augusttagen 1914 als pathologisch mißdeuten, und täte damit dem Volksganzen kein schlimmeres Unrecht, als wenn man seine revolutionäre Bewegung als rein krankhaft beurteilt und abtut. Zweifelsohne lassen sich in Revolutionszeiten hier und da epidemische psychiatrische Masseninfektionen von episodenhaftem Charakter be- obachten. Sie sind aber nicht imstande, das Recht der Selbst- verantwortung des Volkes als Ganzem zu schmälern. Auf diesem Recht aber beruht die Pflicht für Volk und Einzelindividuum, vor allem für die intellektuell berufenen, echten Führer des Volksganzen, alle Kräfte für den Ausgleich der die Revolution bewirkenden inner- völkischen Spannungen einzusetzen, die sozialen und wirtschaftlichen 15*

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Schäden, die in einzelnen Schichten Zündstoff und Reibungsflächen hervorriefen, zu beseitigen und die völkische Krise zu einer neuen Vorwärtsentwicklung auszunützen.

Und nun zur zweiten Frage: Wie können wir die Allgemeinheit wirksam vor gemeingefährlichen, anti- und asozialen psychopathischen Persönlichkeiten und geistig Minderwertigen schützen? Die Lösung dieser Frage ruht in gleichem Maße beim Strafrecht wie bei der praktischen Psychiatrie.

In Kürze sei mir auch an dieser Stelle noch einmal gestattet, die hauptsächlichen, allen Psychopathen gemeinsamen, psychopatho- logischen Symptome herauszuheben. Psychopathen sind stets dis- harmonische, unausgeglichene Persönlichkeiten mit mehr oder weniger betonter Überwertigkeit des Ich-Komplexes, d. h. erhöhtem Selbst- gefühl, einer > Verbindung von Empfindlichkeit, Rücksichtslosigkeit und Anmaßung« (Kraepelin). Mit geringer individueller und gradueller Abstufung findet sich bei allen Psychopathen: Schwäche der Kritik- und Urteilsfähigkeit, Unsachlichkeit, Neigung zur Bildung ver- schwommener, unklarer Ideen, defekte Willenstätigkeit und affektive Insuffizienz. Infolge dieser Eigenschaften befinden sich die Psycho- pathen stets in einem Zustande innerer Unrast und Spannung, die im Keime mit der affektiven Ansprechbarkeit die meisten Psychopathen zu einem steten Betätigungsdrang führt. Erfahrungsgemäß verlegen alle Psychopathen, ebenso wie die halluzinierenden oder paranoiden Geisteskranken, die Ursache ihrer intrapsychischen Disharmonie nach außen, schieben die Schuld bisweilen, oder besser, teilweise nicht ganz ohne Berechtigung ihrer Umgebung, in der menschlichen Gesellschaft herrschenden Mißständen zu und fühlen sich unverstanden und verkannt. Die Unsachlichkeit und die Schwäche ihrer Kritik vermehrt die Gefahr der Bildung falscher Begriffe und Urteile, die Verschwommenheit ihrer Ideen macht sie weltfremd und phantastisch, und so werden die psychopathischen Persönlichkeiten leicht zu stets kampfbereiten Feinden der menschlichen Gesellschaft. Infolge der Überwertigkeit des Ichgefühls und der affektiven Insuffizienz schieben sie kämpfend und mit brutaler Rücksichtslosigkeit die eigene, ver- kannte Persönlichkeit überall in den Vordergrund. Bestehen außer- dem, wie in den meisten Fällen, daneben noch moralische Defekte, so scheuen die Psychopathen auch vor Verbrechen und Konflikten mit dem Strafgesetz nicht zurück und neigen infolge ihrer psycho- pathologischen Beschaffenheit zu Rückfällen.

Die Begründung, wie gerade Psychopathen in Zeiten revolutionärer Umwälzungen zu Führern revoltierender Massenteile werden können,

Brennecke: Zur Frage d. Psychopathologie d. Revolution u. d. Revolutionäre. 229

habe ich in meinen oben erwähnten früheren Arbeiten eingehend aus- geführt. Hier genüge die Erwähnung der von anderen und mir be- obachteten Tatsache, daß Psychopathen und Debile als Führer bei Revolten und Putschen in höchstem Grade gemeingefährlich werden können.

Gehört nun schon die Behandlung der nicht kriminellen Ppsycho- pathen und Minderwertigen zu den schwierigsten Aufgaben der Psychiatrie und der Jugendfürsorge, so erhöhen sich diese Schwierig- keiten bei den psychopatischen Kriminellen noch ganz wesentlich.

Nur in den wenigsten Fällen psychopathischer Konstitution wird der psychiatrische Sachverständige die Zuständigkeit des $ 51 Str. G.B. skrupellos bejahen können. Abgesehen davon, daß die klinische Psychiatrie die Psychopathen nicht zu den Geisteskranken sui generis rechnet, ist forensisch nur mit ganz seltenen Ausnahmen eine Auf- hebung der freien Willensbestimmung, eine Störung der Geistes- tätigkeit im Sinne des Strafgesetzes für die Psychopathen anzuerkennen. Dagegen legen die medizinisch unabweisbaren psychischen Defekte und Abweichungen von der Norm bei der Psychopathie dem Richter bei der Strafzumessung die Zuerkennung mildernder Umstände nahe. Endlich aber beruht eine weitere Schwierigkeit in der Erfahrungs- tatsache, daß eine Bestrafung bei den meisten Psychopathen eine Verstärkung ihrer antisozialen und asozialen, bezw. kriminellen Tendenzen bewirkt. Nach Verbüßung einer, durch die mildernden Umstände auf das Mindestmaß beschränkten Freiheitsstrafe entsteht in den freigelassenen Psychopathen der Allgemeinheit eine stetig sich vergrößernde Gefahr. Auf der anderen Seite ist eine dauernde Freiheitsberaubung durch Unterbringung solcher Individuen in Irren- oder in Arbeitsanstalten bislang gesetzlich nicht zulässig, und die Entmündigung und Stellung unter Polizeiaufsicht ist, wie mir von juristischer Seite mehrfach bestätigt wurde, wirkungs- und daher zwecklos.

Die Allgemeinheit aber hat das Recht, einen wirksamen Schutz vor gemeingefährlichen Schädlingen zu fordern, auf der anderen Seite aber auch die Pflicht, den psychopathologisch Veranlagten unter ihnen einen sicheren Selbstschutz zu gewähren.

Einen solchen ersehe ich wie ich auch früher schon kurz angedeutet habe in der Einrichtung von Sonderanstalten für gemeingefährliche und kriminelle Psychopathen, Sonderanstalten in dem Sinne, daß sie eine Zwischenstufe zwischen Korrektionsanstalt bezw. Gefängnis und Irrenanstalt einnehmen. In diesen, unter sach- verständige, psychiatrische Leitung zu stellenden Zwischenanstalten müssen die kriminellen Psychopathen gesetzlich für unabsehbare Zeit

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untergebracht werden können. Auf ebenfalls gesetzlich festzulegendem Wege muß, unter anderen mit disziplinarischen Mitteln, ein Arbeits- zwang für die Insassen streng durchgeführt, auf der anderen Seite aber den psychopathologischen Eigenschaften der Insassen ärztlicher- seits jederzeit Rechnung getragen werden können. Dem leitenden Arzte wäre am besten eine juristische Persönlichkeit zur Seite zu stellen. Da in derartigen Anstalten nur ganz wenige und kleine eigentliche Krankenabteilungen notwendig wären, die übrigen Wohn- und Arbeitsräume sich nicht wesentlich von denen in Korrektions- und Gefangenenanstalten zu unterscheiden hätten, so würde der Betrieb solcher Anstalten sicher nicht so kostspielig sein, wie die einer Irrenanstal. Durch wirtschaftliche Auswertung der Arbeits- kraft der Insassen ließen sich sicherlich noch weitere Mittel für Ver- hütung von Unkosten ermöglichen.

Sache der Anstaltsleiter und der ihnen unterstellten sachverständigen Hilfskräfte wäre es, unter gewissenhaftester Berücksichtigung der in- dividuellen psychologischen und psychopathologischen Qualitäten des einzelnen Insassen die zeitliche Dauer des Anstaltsaufenthaltes der Betreffenden zu bestimmen. Wie in den Irrenanstalten, so auch hier ließen sich, nach genügend langer beobachteter guter Führung unter allen Kautelen vorgenommene Beurlaubungsversuche vornehmen. Über die definitive Entlassung jedoch müßte ein gemeinsam gefaßter Ent- schluß der Anstaltsleitung mit dem für den einzelnen Fall zuständigen Gerichte, das seinerzeit die Verurteilung aussprach, entscheiden.

Für die Einrichtung derartiger Zwischenanstalten, wie ich sie oben in groben und keineswegs als definitiv gelten wollenden Um- rissen hinzeichnete, gehören aber wieder zwei Dinge. Erstens: Mittel im Staatshaushaltsplan und zweitens: eine Erweiterung der Macht- befugnisse der Strafjustiz. Zum Ersten glaube ich, daß die not- wendigen Geldmittel nicht so ungeheuer sind, wie sie zunächst zu sein scheinen. Infolge des numerischen Rückgangs der Insassen der Heil- und Pflegeanstalten im ganzen Deutschen Reiche durch die Wirkung der Hungerblockade während des Krieges ließen sich meines Erachtens mit nicht zu großer Mühe eine oder mehrere der ent- völkerten oder gar ganz entleerten Anstalten für die eben erwähnten notwendigen Zwecke umgestalten.

Das Zweite, die Rückenstärkung und die Erweiterung der Macht- befugnisse der Strafjustiz ist aber Sache der gesetzgebenden Körper- schaften, d. h. in letzter Linie eines gesunden, sich seiner Ver- antwortung bewußten Volkswillens, dessen Strebungen nicht, wie jetzt leider gar zu sehr, durch grundfalsche Humanitätsduselei, von der

Huber: Elementarunterricht für niedere Schwachsinnsformen. 231

vor allem die durch und durch materialistisch verseuchte Sozial- demokratie trieft, irregeleitet werden. 1)

2. Elementarunterricht für niedere Schwachsinns- formen. Von Oberlehrer Huber- Winnenden.

Wenn es möglich ist, den Unterschied in den Entwicklungs- bahnen des normalen und des schwachsinnigen Kindes klipp und klar auf den Begriff zu bringen, so ist die besondere Aufgabe der unter- richtlichen Beeinflussung des schwachsinnigen Kindes leicht zu er- kennen. Halten wir uns bezüglich der Grundanschauung über die normale kindliche- Seele an Pestalozzi und erkennen als die Urkraft der menschlichen Seele den Trieb zur Eigenbetätigung, die Kraft der Spontaneität, die Kraft der unbewußten Zielstrebigkeit zur Verwirk- lichung des individuellen Menschenideals, so wird uns ein Unter- schied in den beiden Entwicklungstendenzen ohne weiteres klar. Es liegt auf der Hand, daß die Umwelt den Reichtum ihrer Bildungs- faktoren allen Menschenseelen in gleicher Weise zugute kommen läßt. Daß heißt: die objektive Umwelt läßt diesen ganzen Reichtum an den Sinnesapparaten aller Menschen gleich freigebig, gleich unbekümmert, gleich unpädagogisch regellos vorüberströmen. Es gibt in dieser Hin- sicht keinen schlechteren Pädagogen als die (äußere) Natur. Daß aber die kindliche Seele aus der Unmasse der Sinneseindrücke auswählt, diese und jene Erscheinungen ins bewußte Blickfeld rückt, diese und jene Eindrücke zu klarer Anschauung erhebt und sie in der subjek- tiven Erfahrungs- und Vorstellungswelt verankert, das entspricht der Natur der menschlichen Seele, das ist das, was Pestalozzi unter >Natur« versteht. Ganz in diesem Sinn ist auch seine »Naturgemäß- heit« aufzufassen. Wie das Erdreich seine sämtlichen chemischen

1) Der Verfasser hat im Vorstehenden im wesentlichen nur die ausgereiften Psychopathen im Auge. Wenn wir bedenken, daß trotz der genannten Humanitäts- duselei, die nach Bismarcks Worten Mitleid hat mit dem Verbrecher, aber nicht mit den Unschuldigen, die ihm zum Opfer fallen, und die sich überall, insbesondere auch in den Gerichtssälen, den Jugendlichen gegenüber geltend macht, wir dennoch jetzt fünfmal mehr jugendliche Kriminelle als vor dem Kriege haben und daß in allen revolutionären Erscheinungen insbesondere die Jugendlichen im Alter von 16, ja 14 bis 20 Jahre hervortreten, so wird es eine sehr bedeutungsvolle nationale und soziale Aufgabe, den psychopathischen Erscheinungen bei den jugendlichen Revolutionären in Familie, Schule, Gesellschaft und Staat aber auch ihren wesent- lichen Ursachen in der Pathologie der Gegenwartsethik mehr Aufmerksamkeit zu widmen und auf deren Heilerziehung bedacht zu sein, anstatt sie regierungsseitig zu begünstigen. Trüper.

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Bestandteile den auf und aus ihm wachsenden Pflanzen darbietet, diese aber stets eine ihrer Natur gemäße strenge Auswahl treffen und auch die brauchbaren Stoffe nie ohne subjektive Veränderung assi- milieren, ganz genau so verfährt auch die menschliche Seele mit dem objektiven Bildungsmaterial. Nicht jeder erwachenden Kindesseele stehen ganz dieselben Bildungsmittel zur Verfügung. Die äußeren Verhältnisse sind nicht überall dieselben. Aber wo nur die Kraft der Spontaneität einer Menschenseele innewohnt, da kann sie nicht um- gebracht werden. Die Anlagen müssen zu relativer Entfaltung kommen (insbesondere die intellektuellen) auch unter hemmenden Verhältnissen. »Nicht die Umstände machen den Menschen, sondern der Mensch macht auch die Umstände.« In allen Verhältnissen liegen Bildungs- möglichkeiten für den Menschen; die Frage ist nur, ob er sie findet und zu verwenden weiß.

Der Unterschied zwischen dem normalen und dem schwach- sinnigen Kind ist nun eben wesentlich darin zu suchen, daß dem Schwachsinnigen diese Kraft der Spontaneität fehlt. Auch ihm stehen die zahllosen Bildungsmomente der objektiven Umwelt uneingeschränkt zur Verfügung, falls nicht ein Teil seines Sinneslebens organisch oder funktionell gestört ist. Daß diese objektiven Bildungswerte beim schwachen Kind ungenützt bleiben, ist der Beweis der mangelnden Kraft der subjektiven Aktivität. Einem seelenlosen Spiegel, einem Lichtbildschirm ist ein solches Innenleben zu vergleichen, wo mit der zeitlichen Beendigung des äußeren Reizes jede Spur desselben schwindet.

Die Kraft der subjektiven Aktivität hat drei Voraussetzungen: 1. Die Kraft des Vergleichens und Unterscheidens zeitlich und räumlich ver- bundener Sinnesreize. 2. Die Kraft des Festhaltens und unbewußten Deponierens der empfundenen Eindrücke. 3. Die Kraft des Ver- gleichens neu perzipierter und reproduzierter früherer Eindrücke. Das eine ist immer die unbedingte Voraussetzung des folgenden. Es liefert sozusagen die materialen Grundlagen, ohne die sich das nächste nicht aufbauen kann. Freilich sind die drei Prozesse nicht etwa als zeitlich gesonderte Phasen anzusehen. Sie treten von Anfang an in innigster Verkettung und Wechselwirkung auf als gegenseitig sich dauernd steigernde Faktoren. Aber unter dem Gesichtswinkel der Entstehung und ersten Entwicklung der kindlichen Seele werden sie stets auch zeitlich in genannter Folge und Wertung erscheinen.

Nicht zu allen Zeiten hat diese Anschauung bestanden. Die überkommenen Bezeichnungen psychischer Abnormitäten im Kindes- alter deuten darauf hin, daß für Intelligenzdefekte andere Ursachen angenommen wurden. Man suchte die primären Hemmungen im

Huber‘ Elementarunterricht für niedere Schwachsinnsformen. 233

Sinnesapparat und bezeichnete die Betroffenen als schwachsinnig. Wir wollen nicht verkennen, daß in vielen Fällen herabgesetzter Ver- standestätigkeit der Grund in Störungen im Sinnesapparat oder in anderen oft unscheinbaren physischen Einflüssen zu suchen ist. Aber in sehr vielen Fällen sind sämtliche organische Voraussetzungen für eine normale Sinnestätigkeit vorhanden. Daß sich trotzdem kein geistiges Leben entwickelt, liegt eben daran, daß die oben genannte Voraussetzung für die Verstandestätigkeit fehlt. Ich brauche nicht zu sagen, daß diese Tatsache wiederum auf organische Störungen (im Zentralorgan) zurückzuführen ist. Das ist aber eine Frage, die den Mediziner weit mehr als den Pädagogen interessiert, und die meines Er- achtens noch viel Aufmerksamkeit und Studium von jener Seite erfordert.

Uns Pädagogen liegt die Frage der Bildungsfähigkeit hinsichtlich ihrer Grenzen und der Art ihrer Ausnutzung viel mehr am Herzen. Wenn wir aber darüber nachdenken wollen, so müssen wir im voraus darüber klar sein, daß wir die Entwicklung des abnormen kindlichen Geistes wenigstens in den ersten Stadien gar nicht in Parallele setzen können zur Entwicklung des normalen Kindes. Wie schon oben an- gedeutet wurde, sind ja die Bildungsmöglichkeiten für jede Kindes- seele grundsätzlich dieselben. Daß das normale Kind sie von Anfang an für die Emporbildung seiner Kräfte auszunützen versteht, das ab- norme aber nicht, ist eben der klare Beweis dafür, daß des letzteren Bildungsgang nicht etwa gleich und nur verlangsamt, ja vielleicht nicht einmal ähnlich sein kann dem Bildungsgang des normalen Kindes. Wo die Voraussetzungen grundverschieden sind, können die Folgerungen nicht übereinstimmen.

»Das Unbestimmte, Allgemeine ist früher als das Bestimmte, das deutlich und klar erfaßte Konkrete, obwohl ja von den Objekten aus betrachtet das Einzelne, Konkrete immer das Erste ist. Das Chaos, das Durcheinander, das Ungeschiedene ist früher als die Ordnung, welche Scheidung und Sichtung voraussetzt« (Kretschmer, Die Ideale und die Seele). Der kindliche Geist arbeitet, ganz allgemein ge- sprochen, ursprünglich vorwiegend mit Gesamteindrücken. Erst all- mählich nimmt die Anschauung mehr analytischen Charakter an. Dieses Prinzip fortgesetzter Differenzierung ist für die spon- tane Entwicklung der kindlichen Psyche typisch. Das normale Kind hat das Bestreben, »das zeitlich und örtlich Geschiedene, wohl auch qualitativ Unterschiedene, bei mehr oder weniger Übereinstimmung, Ähnlichkeit oder Gleichheit in den einzelnen Eigenschaften oder Merkmalen wiederum zu einer Einheit zusammenzufassen, zu dem, was man am besten Allgemeinvorstellung nennt. Ja diese Ver-

234 A. Abhandlungen.

schmelzung vieler halbwegs ähnlicher Wahrnehmungen zu einem Gesamtbild oder Schema oder Typus einer Sache geht zeitlich einer genaueren Unterscheidung des Einzelnen vorhere (Kretschmer). So bilden sich ‘sehr frühe natürliche Begriffe, »die auf rein zufällige und willkürliche Weise entstehen im Unterschied von den viel schärferen Begriffen der Wissenschafte.

Und nun machen wir bei Schwachsinnigen oft ganz andere Er- fahrungen. Sie reagieren auf psycho-physische Reize, die bei nor- malen Kindern mit Sicherheit Allgemeinvorstellungen ins Bewußtsein rufen, überhaupt nicht. Das läßt ohne weiteres den Schluß zu, daß ihr Seelenleben solche Allgemeinvorstellungen gar nicht enthält, oder wenigstens mit solchen nicht als mit mobilen Gebilden arbeitet. Es fehlen also die natürlichen oder naturwüchsigen Begriffe. Das sind aber eben diejenigen geistigen Produkte, die als eigenste Ergebnisse der angeborenen »Natur« anzusprechen sind. Wo Pestalozzi von »Natur« spricht, da meint er immer die Kraft des Menschen, die spontan aus dem objektiven Bildungsmaterial ein eigenes Geistesleben aufbaut mit ausgesprochen subjektiver Eigenprägung.

Diese spontane Geistesarbeit der ersten Begriffsbildung fehlt dem schwachen Kind. Es bleibt bei Einzelwahrnehmungen, auf niederen Stufen sogar bei elementaren Empfindungen stehen. Die unter- scheidenden und daher auch die gemeinsamen Merkmale der Einzel- wahrnehmungen werden nicht genug verdeutlicht und können daher auch nicht als mobile Werte im Sammelbecken des Unterbewußtseins aufgespeichert werden. Damit fehlt die Grundvoraussetzung für den Aufbau eines geistigen Lebens.

Wie das normale Kind sich selbst sein Innenleben subjektiv schafft und steigert, wie stark bei ihm neu perzipierte Eindrücke sub- jektiv gefärbt und verarbeitet werden, möge folgendes Beispiel zeigen: Mein 5jähriger Sohn erzählt mir, in der Kinderschule habe die Kinder- schwester 2 Glocken, eine große und eine kleine. Die Sache scheint damit erledigt zu sein; denn er spielt ruhig weiter. Nach geraumer Pause sagt er auf einmal: »Das ist gerade, wie wenn der Vater ge- storben wäre.« Da ich diesen Satz nicht auf die vorausgegangene Mitteilung beziehe, so frage ich, wo es denn so sei. »Bei den Glocken doch«, erwidert er; »da ist die große die Mutter, die kleine das Kind, und der Vater ist scheints gestorben.«e Von solch virtuoser Ausnutzung alter und neuer Vorstellungen ist beim schwachen Kinde keine Rede.

Höchst merkwürdig ist aber, daß schwache Kinder oft auf Reize reagieren, die beim normalen Kind schon logisch gegliederte Vor- stellungen voraussetzen. Ich denke in erster Linie an die Unter-

Huber: Elementarunterricht für niedere Sohwachsinnsformen. 935

scheidung geometrischer Formen. Ein normales Kind von 1!/, Jahren hat unter andern schon einen größeren Reichtum von Begriffen als ein schwachsinniges Schulkind. Es kann schon das Tick-tack zeigen, es kennt das Hotti-Gäule, den Wagen, seine Schuhe, den Wau-wau, das Katze-mulle, seine Puppe; es weiß, wo die Gasse ist und sein Bettchen und seine Händchen und sein Näschen. Es kennt auch manche dieser Sachen schon in seinem Bilderbuch. Aber an geo- metrischen Formen hat es nicht das geringste Interesse. Hingegen habe ich schon oft die Erfahrung gemacht, daß schwachsinnige Kinder, die noch nicht einmal Verständnis für Bilder haben, sich aber gerne mit den geometrischen Formen beschäftigen.

Das ist wirklich auffallend. Es lohnt sich, dieser paradoxen Tat- sache etwas nachzuspüren. Ein Beispiel: Die Allgemeinvorstellung »Uhr« wird vom normalen Kind zweifellos recht einseitig und sprung- haft gebildet. Drei Merkmale sind es hauptsächlich, die ausschlag- gebend sind: 1. Der akustische Eindruck des Tickens. 2. Der optische Eindruck der Pendelbewegung. 3. Der optische Eindruck des weißen Zifferblatts. So kommt es, daß das Kind eine Sanduhr, die doch als Chronometer ebenfalls unter die Allgemeinvorstellung »Uhr« einbezogen werden müßte, durchaus nicht als Uhr ansieht, wogegen aber leicht die Federwage in der Küche mit ihrem weißen Zifferblatt als Tick-tack angesprochen wird. Das Kind hält sich eben an das nächste gemein- same Merkmal, das sich ihm genug verdeutlicht hat.

Wenn das schwachsinnige Kind keine Beziehungen findet, so ist klar, daß ihm die gemeinsamen und unterscheidenden Merkmale nicht deutlich genug werden. Dies kann schon der Fall sein bei zeitlich und räumlich verbundenen Objekten. Erschwerend tritt aber noch hinzu räumliche und zeitliche Trennung, örtliche Umlagerung und Häufung der äußeren Merkmale, Änderung der Größenverhältnisse, Verschiedenheit der Farbeneindrücke. Wenn wir nun die Beobachtung machen, daß schwachsinnige Kinder, die an der Grenze der Idiotie stehen, auf geometrische Formen eingehen, so ist das der Beweis für die Richtigkeit folgender Erkenntnis: Je vielgestaltiger das wahr- zunehmende Objekt ist, desto mehr macht sich der Mangel an ele- mentarer Verdeutlichungskraft geltend, desto weniger ist es geeignet, zu einer Allgemeinvorstellung erhoben zu werden. Umgekehrt: Je einfacher die Merkmale des Objekts sind, je geringer sie zahlenmäßig daran vertreten sind, je näher sie räumlich und zeitlich verbunden sind, je weniger Größenunterschiede und Farbenverschiedenheiten ab- lenken, je weniger räumliche Verschiebungen der Einzelteile das Ge- samtbild zu beeinflussen vermögen, desto eher haben die unter-

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scheidenden und ähnlichen Merkmale Aussicht, zur deutlichen Wahr- nehmung erhoben zu werden. Diese psychologische Tatsache müssen wir scharf ins Auge fassen.

Nun läßt sich das Ziel der Arbeit an Schwachsinnigen im Gegen- satz zum Bildungsziel des normalen Kindes genau festlegen. Für die Bildungsarbeit am normalen Kind mag gelten: harmonische Empor- bildung aller seiner geistigen Kräfte durch Schaffung. des für seine geistige Entwicklung günstigsten Nährbodens. Es handelt sich also um ein fortgesetztes Herbeischaffen von Nahrungsstoffen für die geistige Aktivität des Kindes. Beim schwachsinnigen Kind aber ist eben diese Aktivität erst das Ziel der Bildungsarbeit. Das formulierte Bildungsziel muß etwa heißen: Erzielung begriffsbildender Kraft, die freilich in ihrem Keimzustand schon vorhanden sein muß, die in diesem embryonalen Zustand aber aus Mangel an aktiver Eigen- betätigung verharren würde, wenn sie nicht durch geeignete Maß- nahmen aus ihrer Passivität zu aktiven Formen heraufgearbeitet werden könnte.

Nach allem, was bis jetzt gesagt ist, ist leicht ersichtlich, daß die besten ersten Übungsobjekte solche Dinge sind, die wenige, aber typische und gleichbleibende Merkmale haben. Es gibt eine ganze Reihe solcher Objekte. Insbesondere sind es die geometrischen Formen der Formenbretter. Wir haben es hier im Grund mit abstrahierten Einzelmerkmalen zusammengesetzter Eindrücke zu tun. Ihre Linien, Ecken, Winkel und Kurven, die so scharf und klar heraus- treten, finden sich in der Umwelt in millionenfacher Häufung und oft wunderlicher Verschlingung. So kämen wir auf die guten, alten Formenbretter zurück. Also Sinnesübungen, wie sie weiland die Schwachsinnigen nötig hatten! Oder gar einseitige Betonung der Ausbildung des Formensinns! Das wäre freilich den Nagel nicht auf den Kopf getroffen. Wir wollen ja keine Sinnesübungen, sondern wollen Abstraktionsfähigkeit, Urteil, Gedächtnis mit einem Wort Verstandesübungen treiben. Nach den obigen Ausführungen sind die Übungen an den Formenbrettern auch durchaus nicht als Sinnes- übungen aufzufassen. Es sind vielmehr die geeignetsten Mittel, die elementaren Denkprozesse anzubahnen. Ich wüßte kaum etwas, was die Elemente der Denkqualitäten so drastisch, so aufdringlich, so sinnenfällig gestalten würde. !)

1) Wegen Raummangel müssen wir es uns leider versagen, hier in der Zeit- schrift die umfangreiche und für den Unterricht bei Schwachsinnigen sehr beachtens- werte Arbeit ganz zum Abdruck zu bringen. Sie erscheint in Heft 174 der »Bei- träge« und sei dər Beachtung der Leser angelegantlichst empfohlen. Trüper.

1. Zur Psychologie der Diktatanbahnung in der Hilfsschule. 237

B. Mitteilungen.

1. Zur Psychologie der Diktatanbahnung in der Hilfsschule.

Von Hugo Schmidt, Leiter der Hilfsschule in Wernigerode.

Im Vordergrund der Unterklassenarbeit steht in der Hilfsschule die Sprachpflege, der Artikulationsunterricht. Die meisten Hilfsschulneulinge sind mit Sprachgebrechen behaftet. Vom leichten Stammeln bis zu aus- gedehnteren aphasischen Störungen kann man Sprachstörungen auffinden. Die Sprachheilerziehung der Hilfsschule begnügt sich nicht mit den üblichen Methoden der Sprachtherapie, sie greift gewöhnlich schon nach wenigen Wochen zum optischen Zeichen des Lautes, zum Buchstaben, zur Schrift. Die assoziative Verknüpfung zwischen Wortklang und entsprechendem Vorstellungsinhalt einerseits, sowie Wortbild, Sprachbewegungsbild und Schreibbewegungsbild anderseits ermöglicht die Ausbildung einer günstigen Disposition für den gesamten Sprachvorgang, ja, für das Sprachleben des Individuums überhaupt. Die Entstehung einer derartigen Disposition ist in hohem Grade abhängig vom Einübungsmodus. Je nach dem die Übungsweise die einzelnen psychischen und psychophysischen Bedingungen stetig verknüpfend berücksichtigt, wird der Erfolg nach Intensität, Er- giebigkeit und Dauerhaftigkeit beschaffen sein. Die Sprachstunden der Hilfsschulunterklassen werden also einer solchen Übungsweise einen breiten Raum im praktischen Arbeitsplan zu gewähren haben.

Im Verlaufe einer 15-jährigen heilerzieherischen Arbeit bin ich zu der Überzeugung gelangt, daß eine psychologisch wohlbegründete An- bahnung des Diktates schon während des ersten Hilfsschuljahres vor- zügliche Dienste für die gesamte Sprachpflege zu leisten vermag. Welche psychologischen Gesichtspunkte mich während dieser Praxis leiteten und welche psychologischen Ausblicke sich während der Versuche und Übungen eröffneten, soll im folgenden dargetan werden.

Von den beiden Diktatarten, Probediktat und Übungsdiktat, inter- essiert hier aus naheliegenden Gründen nur das Übungsdiktat. Wenn es seinen Zweck erreichen soll, wird es derart vorbereitet werden müssen, daß der Lehrer mit ziemlicher Bestimmtheit auf ein gutes Ergebnis, d. h. auf eine geringe Fehlerzahl rechnen kann. Der Übungscharakter kommt nur dann zu seinem Recht, wenn möglichst jedes Kind durch die Nieder- schrift im wesentlichen eine Befestigung seines Wortbildschatzes, also ein Sicherheitsgefühl, nicht aber eine Steigerung der Unsicherheitsgefühle erlangt. Wir wollen nun eine doppelte Vorbereitung des Diktatstoffes unterscheiden. Durch planmäßige Artikulationsübungen, Lese- und Schreib- übungen wird der Diktatstoff mittelbar vorbereitet. Solche Übungen liegen gewöhnlich zeitlich weiter zurück. Sie erfolgen in anderer Reihenfolge als während der Diktatübung selbst. Ihr Ablauf ist auch apperzeptiv nicht beeinflußt durch eine bewußte Zweckbestimmung in Hinsicht auf eine

238 B. Mitteilungen.

Diktatleistung. Deshalb nennen wir diese Diktatvorbereitung die indirekte. Anders die direkte Diktatvorbereitung, die sich un- mittelbar vor der Niederschrift vollzieht. Jedes Kind ist mit der Zweckbestimmung dieser Übung durch seine Erfahrung vertraut. Die vor- bereitende Übung steht im Zeichen der Schreibleistung als spannungsgefühlsbetonte Zielvorstellung. Der Auffassungs- prozeß erfolgt in der gleichen Laut- bezw. Wortfolge als im Diktat selbst. Daher sprechen wir hier von einer direkten Vorbereitung. Nur mit dieser direkten Diktatvorbereitung haben wir es hier zu tun.

Ehe wir der eigentlichen Diktatanbahnung nähertreten, wollen wir die Hauptschwierigkeiten ins Auge fassen, die der Perzeption und der psycho- physischen Umschaltung einer Lautreihe in eine sprachmotorische und schreibmotorische Reihe begegnen. Die Schwachsinnsforschung ergibt ja mehr und mehr, daß die Schädigung der psychischen Reihen- bildung eine Hauptursache für die Herabminderung der höheren Denk- funktionen darstellt. Diese Schädigung tritt natürlich beim Lesen und Schreiben, also bei assoziativen Nötigungen zur Verwendung der Lautreihe, hindernd in den Weg. Reihenumkehrungen und Gliedverstellungen sind während der Lese- und Schreibübungen in der Hilfsschule bekannte Er- scheinungen. Besonders das Schreiben ohne optische Vorlage, wie es bei Niederschriften, also auch beim Diktat gefordert wird, läßt die Schädi- gung deutlich erkenren, ist doch das Kind im Anfang gezwungen, während des Aneinanderfügens der Lautbilder die gedankliche Reihe mit der ge- zeitigten visuell wahrnehmbaren immer wieder zu vergleichen, um auf diese Weise die Teilaufgabe zu vollenden. Die gedankliche Reihe ist vor- zugsweise visuell-akustisch fundiert, gestützt wird sie jedoch weiter durch sprachmotorische und andere kinästhetische Empfindungsgruppen. Besonders. die letzteren kinästhetischen Elemente, die z. B. durch die visuelle Auf- fassung des räumlichen Nacheinander bedingt sind, spielen eine wichtige Rolle. Sind doch diese psychischen Elemente eine wesentliche Vor- bedingung für die Entstehung des zeitlichen Nacheinander, das sowohl beim Lesen, als auch zeim Schreiben erst zur Reihenauffassung führt. Feine und feinste Augenmuskelbewegungen während der Reihenglied- wahrnehmung, unter Umständen auch kleine Drehbewegungen des Kopfes, sorgen für die Bereitstellung des kinästhetischen Materials. Die asso- ziative Verknüpfung dieses Materials mit Empfindungsreihen der Hand- bewegung während des Schreibens ermöglicht günstige Dispositionen für die Gesundung der Lautreihenauffassung. "

Eine weitere Schwierigkeit besteht in der Herabsetzung der Merkfähigkeit. Die gebräuchliche Forderung, den Schüler beim Diktat- schreiben allein durch akustische Empfindungsgruppen zum Schreiben zu veranlassen, ist für den Hilfsschüler zum mindesten im Verlaufe der Diktatanbahnung fast unerfüllbar. Die assoziative Verknüpfung mit anderen Sinnesgebieten ist auch aus diesem Grunde notwendig.

Diese psychologische Sachlage gibt uns brauchbare Hinweise für die praktische Diktatanbahnung. Am Beispiel eines Fibelsatzes soll gezeigt werden, wie sich die psychologische Situation auswirken kann.

1. Zur Psychologie der Diktatanbahnung in der Hilfsschule. 339

Der Satz »Ma-ri-a schnei-det sich« ist einem verarbeiteten Lehrinhalt aus denm ersten Vierteljahr des zweiten Hilfsschuljahres ent- nommen. Die Vorstellungen bedürfen also nur einer kurzen Erwähnung, um disponibel zu werden. Die Kinder sind schreibfertig und sehen nach dem Munde des Lehrers. In etwas übertriebener Artikulation spricht der Lehrer zunächst den ganzen Satz. Darauf wird auf die voll- ständig gereinigte Wandtafel das erste Wort

Ma-ri-a groß und deutlich geschrieben. Sprechkundigere und dann sprachschwache Kinder lesen das Wort silbenweise in gleicher zeitlich gehemmter Arti- kulation. Der eben tönende Laut wird gleichzeitig mit dem Zeigestock gezeigt. Nachdem der Lehrer ebenfalls silbenweise das Wort muster- gültig vorgelesen hat, die Kinder im Chor unter scharf kontrollierter Blickeinstellung auf die jeweilig gelesene Silbe das Wort nochmals lesend zu Gehör gebracht haben, wird das Wort weggewischt. Das Buch- stabenbild ist von diesem Zeitpunkt ab bis zur Schreibhandlung den Augen der. Kinder entzogen. In der Zwischenzeit vom Wegwischen bis zum Schreiben wird jedoch der Gesichtssinn auch weiterhin als Stütze ver- wendet. Diese Zwischenzeit wird auf einige Minuten ausgedehnt. Während dieser Zeit soll das Buchstabenerinnerungsbild verblassen, damit der Charakter des Abschreibens auf ein Minimum zurückgedrängt wird. Nach dem Wegwischen tritt einige Sekunden Pause ein. Ein kurzes Signal veranlaßt die Kinder, wieder scharf nach dem Munde des Lehrers zu sehen. Der Lehrer spricht das Wort mit deutlich erkennbaren Mundbewegungsbildern silbenweise noch zweimal vor, und zwar das erste Mal mit dem Blick nach der Klasse, das zweite Mal mit dem Blick zur Seite, so daß die Schüler das Mundbewegungsbild im Profil sehen. Dieses scharf artikulierte und rhythmisierte Silbensprechen erfährt jedoch noch eine weitere Modifikation: Während des Sprechens bewegt sich der Lehrer von rechts nach links, so daß die Kinder die Bewegung von links nach rechts sehen. Die Bewegungsgröße beträgt für die drei Silben etwa 50 cm. :

Was soll durch diese Bewegung erreicht werden? Wir haben oben in unserer psychologischen Auseinandersetzung gesehen, daß die Laut- vorstellung bei schwachen Schülern vorwiegend auf Symptome der Reihen- schädigung zurückzuführen ist. Die assoziative Verknüpfung zwischen Buchstabenreihe, Sprachbewegungsreihe, Lautreihe und Schreibbewegungs- reihe bedarf also zweifellos einer intensiven Festigungsübung. Ist diese assoziative Ausschleifung durch weitere gedanklich verwandte Empfindungs- reihen verknüpfbar, so ist das natürlich für die Gesundung der Reihen- auffassung und Reihenwiedergabe sehr erwünscht. Diese psychologische Möglichkeit ist durch die soeben geschilderte Bewegung des Vorsprechenden ohne weiteres gegeben. Die Bewegung wird natürlich sowohl während des der Klasse zugewandten als auch während des der Klasse seitlich ab- gewandten Vorsprechens zur Anwendung gebracht. Die Kinder bedienen sich nach meiner Erfahrung sehr gern der gebotenen Stütze, benutzen sie sogar spontan selbst, indem sie durch ihren suggestiblen Nachahmungstrieb die Bewegung mehr oder weniger deutlich gleichzeitig mit ausführen. Daß

240 B. Mitteilungen.

für Kinder mit Störungsmerkmalen der psychischen Reihenbildung diese Hilfe von praktischer Bedeutung ist, unterliegt für mich nach meinen bis- herigen Erfahrungen keinem Zweifel. Das in dieser Weise vorgesprochene Wort wird nun von den Kindern nachgesprochen, so daß die erwähnten Minuten auf diese Weise verstreichen. Nun erfolgt die Aufforderung zum Schreiben des Wortes. Das Wort »Ma-ri-a« bereitet wegen der offenen Silben keine besonderen Schwierigkeiten. Dagegen ist die konsonantische Folge zu Beginn des Wortes »schnei-det« für viele Kinder ein Stein des Anstoßes. Die eben gekennzeichnete assoziative Hilfe läßt jedoch diese Schwierigkeit leicht schwinden.

Besondere Beachtung verdient das dritte Wort »sich«. Der kurze Vokal wird erfahrungsgemäß leicht von schwachsinnigen Kindern ver- stellt. Deshalb empfiehlt es sich, während des deutlich artikulierten Sprechens nach dem kurzen »i« eine Kunstpause einzuschieben und erst dann den Reibelaut als deutlichen Dauerlaut also mit Vokalcharakter folgen zu lassen. Die Rechts-links-Bewegung wird während der Kunst- pause fortgesetzt, damit der Kontinuitätscharakter betont wird und so die Reihenauffassung nicht leidet. Die scheinbare Gefahr, daß das Wort durch die Kunstpause als zweisilbiges aufgefaßt werden könnte, erweist sich als unbegründet, weil später die langwährende Schreibweise des Silbentrennens in der Hilfsschule die richtige Silbenkenntnis genügend fördert und festigt.

Es bedarf kaum einer Erläuterung, daß diese Weise der Diktat- anbahnung nur solange zur Durchführung kommen kann, als ausschließlich lauttreue Schreibweise natürlich nicht im streng phonetischen Sinne zur Verwendung kommt. Die Einführung der Dehnungszeichen usw. bedarf einer wesentlich anderen psychologischen Auffassung und Deutung. Mit dem Eintritt dieser neuen Diktataufgabe tritt die lautreihenmäßige An- eignung zurück und die visuell-kinästhetische Gesamtauffassung der Wortbilder fordert in stärkerer Weise ihr Recht. Damit ist gesagt, daß diese letztere methodische Durchführung sich der Normalschuldidaktik nähert.

2. Eine freie Sprachstunde in der 4c bei schwach- begabten Taubstummen. Skizze von J. Herden, Breslau.

I

Ein trüber Himmel schaute heute durch die blankgeputzten Scheiben meines zweifenstrigen Parterreklassenzimmers herein, darin in kleinem Halbkreise acht Schüler, unsere Ärmsten am Geiste, sieben Knaben und ein Mädchen, im Alter zwischen elf und siebzehn Jahren plaziert sind. Recht unfreundlich ist es draußen, und ... wie spaßig.... mit einem Male regnen... ich täusche mich doch nicht, in der Tat, regnen einzelne schäbige Schneeflöckchen durch die kalte Luft hernieder. Oh, oh... sie werden sogar ganz zahlreich. Aber da stimmt just im rechten Moment eine Drossel ein lustiges Spottliedlein an, da, auf dem grünschimmernden Bäumchen im grasigen Vorgarten, dicht vor unseren Fenstern, und gleich.

2. Eine freie Sprachstunde in der 4c bei schwachbegabten Taubstummen. 241

wie weggeblasen, ist auch der faule Winterspuk zu Ende. Oben in dem schweren Wolkengrau hat sich langsam ein ansehnlicher stahlblauer Himmelssee aufgetan, Frau Sonne riskiert ein mattes Lächeln, durch die Stubendecke klingt gedämpft das stimmungsschöne Mendelssobnsche Frühlings- lied ohne Worte an mein kundiges Ohr, gemeistert von den Händen einer jungen Dame, der Tochter des Direktors, und so denke ich bei alledem, mehr kann man zu dieser Stunde an Schönheit nicht verlangen. Meine etwas sonntagsmüde Seele lebt auf,.lernhungrig sitzt die kleine Gesell- schaft vor mir und so beginne ich denn den Unterricht, aber, das sage ich ganz im Vertrauen, heute einmal stundenplanmäßig mit »freier Sprache«. Wir wollen die wechselnden Erscheinungen der vor uns liegenden Straße ins Auge fassen, und einige davon mündlich und schriftlich alsdann zu fixieren. Ich werde den Blick der Kinderzahl auf ein von mir bestimmtes Bild dirigieren, sie auffordern, sich nach einigem Überlegen lautsprachlich über das Gesehene der Reihe nach selbständig zu äußern, in unterricht- licher Form die passende sprachliche Einkleidung vornehmen und zum Schluß die kleinen Bilder aus dem Gedächtnis aufschreiben lassen.

Ich befehle: Steht auf! Geht ans Fenster! Schaut hinaus! Im Nu ist dies geschen. Spionierend sind acht Augenpaare auf das zwischen dem Schulhause und dem herrlichen Botanischen Garten, unserem vis a vis, vorbeiführende Stück der Sternstraße gerichtet. Wie das interessiert hin- und heräugelt, wie gemimt, gezeigt, gelacht wird, und auch der Neck- und Streitteufel in einigen sich zu regen beginnt. Mit dem Zeigefinger suche ich die kreuz- und quergehenden Augen, den zerflatternden Sinn auf den jungen, schmucken Offizier zu lenken und zu heften, der unter anderen drüben am Gartenzaune eben vorbeigeht. Es ist meine Nummer eins. Die Hände vergräbt er in den schützenden Manteltaschen. Das reine Rot der Mütze und das helle, silbrige Grau des Paletots stechen einem förmlich in die Augen ... Er ist vorbei.

Der siebenzehnjährige, stark schwachsinnige F. W., seit ca. vier Jahren in der Anstalt, mit kleinen Gehörresten begabt, äußert sich also: Der Soldate ging auf der Straße. š

Nr. 2. Ein flacher Wagen rollt vorüber. Darauf stehen Kisten mit Brunnenflaschen. Der blaubemützte Kutscher raucht, phlegmatisch auf dem Bocke sitzend. Fahrende Kutscher rauchen bei uns immer.

Die Schüler... den Finger an die Nase, das tiefsinnige: Ich glaube ... bedeutend, spielt dabei eine gar beliebte Rolle... sprechen: Ein Man sitzt auf dem Wagen... Der Wagen fahren auf der Straße... Das Pferd zieht auf dem Straßen Bier und Wein... Der Wagen ist ein Straßen u. a. m.

Nr. 3. Eine ärmliche Arbeiterfrau trägt vier große zusammen- geschnürte Pappschachteln, die ihr das Gehen augenscheinlich recht erschweren. š

Die acht Köpfe produzieren: Die Frau auf dem Hute... Die Frau hängt auf dem Pakete... Die Frau gingen auf dem Papier... Die Frau tragen mit dem Pakete... Eine Frau trägt auf dem Paket... Die Frau geht auf der Straße... Die Frau ist ein Hut, '

Zeitschrift für Kinderforschung. 26, Jahrgang. 16

343 B. Mitteilungen.

Nr. 4. Ein halboffener, mit zwei Schimmeln bespannter Wagen der Paketfahrtgesellschaft kommt daher... Ein einsames rotes Plüschsofa trauert im Innern dem neuen Heim entgegen.

Die Schüler: Zwei Pferde waren auf der Straße... Zwei Pferde und zwei Mann gingen mit dem Paketwagen (letzteres Wort etwas vorstümmelt ausgesprochen)... Zwei Männer sitzt auf dem Wagen... Der Mann peitschte den Pferd... Zwei Pferde sitzt auf den Wagen.

Nr, 5. Ein dienstfreier Briefträger, rauchend, passiert. Die Hände in den tiefen Taschen des offen leicht hin- und herflügelnden Mantels. Vollste Zufriedenheit im Gesicht. So gefällt ihm das Leben. Unsere Blicke begegnen sich.

Die Schüler: Der Briefträger ging auf der Straße. Der B. hat eine neue Mütze. Der Mann aufbewahren Briefe.

Nr. 6. Ein einfacher Mann rennt der elektrischen Straßenbahn nach, erreicht sie und schwingt sich geschickt hinauf.

Die Schüler: Der Mann hüpfte auf dem Straße. Der Mann... laufen

. auf der Straßenbahn...

So, und Schluß für heute. Wir setzen uns auf die Plätze, und in diesem Augenblicke bricht ein breiter Sonnenlichtstrahl aus dem winter- lichen Gewölk mit Macht hervor und überflutet unsere Köpfe... alle... die kleinen und den großen. Habe Dank, du ewiges Licht von oben.

IL

Anschauungsuntericht. In der verflossenen Stunde ist die an der Wand hängende, geschmackvolle, holzumrahmte Schlaguhr, die dem Nebenschulgebäude unserer Anstalt zugleich als maßgebender Chronometer dient, kurz beschrieben worden. Heute soll mit kleinen Erholungspausen zum Ablesen der Zeit, Minute für Minute verwendet werden. Dieses Pensum stand schon früher auf der Tagesordnung. Entdeckte Unsicher- heit, klaffende Lücken haben mich zur nochmaligen gründlichen Behand- lung bestimmt. Zu meiner Freude kann ich konstatieren, daß dieses etwas einförmige Tun die Aufmerksamkeit, das Interesse der Kinder keineswegs ermüdet, der ins Laufen geratenen Mechanismus sie bald erfaßt hat, so daß auch die Schwächsten der Schwachen binnen Kurzem mutig und eifrig sich von selbst zu Rede und Schrift drängen. Nur einer ist unter der Schar, der von der Heerstraße abzubiegen, seinen beweglichen Geist auf eigene Wegelein spazieren zu führen, alleweil geneigt ist: Fritz Better- mann. Ein kleines, zierliches, blondes Bürschlein von elf Jahren. Der Vater ist Grubenschmied bei Waldenburg. Mit seinen braunen, pfffigen Augen guckt er wie ein munteres Füchslein in die stille Welt hinein, die zu groß geratenen Ohren stehen weit ab von dem kindlichen Kopfe. Nie ist es in ihm ruhig, die Aufmerksamkeit verpufft beständig, mit ganzem Herzen ist er bei Lachen, Plaudern, Späßen, Allotria. Auch Neigung zu drolligem Zorn, Trotz und Widerstand habe ich beobachten können, doch ist er im Grunde seines Wesens sicher äußerst gutmütig und harmlos. Freilich muß man täglich eine anständige Portion strenger zurechtweisender Blicke für ihn speziell bereithalten. Aber böse kann man ihm nicht sein,

2. Eine freie Sprachstunde in der 4c bei sehwachbegabten Taubstummen. 243

obgleich die Leistungen nicht gerade berühmt sind. Auch heute versucht ` er wiederholt seinem Temperamente ungeniert zu fröhnen.

Während die anderen die Blicke fest auf die Uhr oben geheftet halten, schaut das Fritzchen dreist zum Fenster hinaus, läßt seine fidelen Äuglein draußen umherfliegen, hin zu den in leichtem Winde sich auf- und niederwiegenden Rusen, hinauf in die grüne, lichte Blätterpracht der Bäume, wo es emsig ein- und ausfliegt und höher hinauf in glühendes Sonnengold und blauen Himmelsduft. Der verzückte Blick, das volle Herz fließen sich auslösend in seine winzigen Hände, die sich nicht enthalten können, den Kameraden und mir mit herzlichem Lachen zuzumimen und armselig zu stottern: »der Frühling ist schön.«e »Da hast Du recht«, er- widere ich ihm, »aber Du sollst doch aufpassen, hier... auf die Uhr. Sonst muß ich Dich einmal strafen.«e Er lacht ungläubig ob meiner Drohung.

Ich sinne einen Moment nach, ersinne mir rasch eine schalkhafte Strafe extra für Fritz Bettermann. Und beginne ihn und die gespannt an mir hängenden anderen Schüler mit gespieltem Ernst fest und energisch anblickend.. »Wenn Dn fortfährst, den Unterricht zu stören, dann werde ich Dich« ... dies alles in natürlicher, langsamer, deutlich greifbarer und einfacher stummer Gebärde ... sin meine große rechte Faust hier packen, Dich mit einem Ruck entsesseln und mit voller Kraft durchs offene Fenster hoch hinein in den blauenden Äther schleudern. Dort wirst Du dann von selbst angstvoll weiter, immer weiter fortschwimmen, an die große Sonne kommen, von ihren Riesenflammen erfaßt und zu nichts, zur Null verbrannt werden.»

Eine Pause, keine Miene verzieht sich, und noch einmal führe ich diese Mimik vor. »Habt Ihr das verstanden«, frage ich nun... »Ja«, schreit der den Lesern schon vorgeführte F. W. »Sie machen Spaß«, und lacht laut dazu. Andere lächeln ebenfalls, schneiden zweifelhafte Gesichter und mimen sich gegenseitig lebhaft zu.

Ich will mir doch die kleinen Seelen aus den einzelnen Individuen einmal genauer herausheben und vor die forschenden Augen hinlegen. Der von meiner Improvisation eigentlichst betroffene Fritz Bettermann, den ich mir zuerst heranlotse, vermag sich merkwürdigerweise weder durch Geste noch durch ein einziges Wort mir gegenüber zu äußern, er lächelt nur vergnügt, sagt mit Achselzucken und sprechender Handgebärde: »Ich weiß nicht« und wendet sich fragend, hilfesuchend an die Gesichter der anderen. Doch nach einer Weile, in der ich von ihm weggesehen, öffnet sich sein Mund zu den Worten: »Der liebe Gott ist gut.« Der alte, vor der Konfirmation stehende F. W. spricht und mimt selbstbewußt: »Better- mann ... heben ... Fenster .. . Himmel... dann die Sonne ...leer.« Ein anderer: »Bettermann... Hölle... verbrannt.« Weiter: »B. in die Grube werfen... Der Himmel ist sehr heiß«... Ein seit kurzem in meine Klasse verpflanzter schwerhöriger, schwachsinniger, früherer Volksschüler antwortet mir laut, schulmäßig: Gott hat Himmel und Erüe erschaffen.«

Nach diesem kleinen Intermezzo hielt ich es doch an der Zeit, wieder an unsere Zeit zu gehen. Und wir hatten glücklicherweise noch Zeit ge- nug, rechtzeitig mit der Zeit fertig zu werden.

wr 16*

244 B. Mitteilungen.

3. »Revue de l’Institut des Sociologies.«

Es ist eine bedauernswerte Tatsache, daß gegenwärtig unser deutsches Volk so jammervoll zerfällt in Parteien, Erwerbsklassen, Vereine und Ver- einigungen allerlei Art, die alle einander wie Todfeinde befehden, so daß unlängst ein mehrheitssozialistisches Tageblatt in einem Leitartikel noch zielbewußt zu betonen wagte, der »Genosse« in Frankreich und England stünde den sogenannten »Arbeitern« näher als der eigene Fabrikherr, der doch mit ihnen derselben Nation angehört und an demselben Werke, das ihnen ihr Dasein ermöglicht, leitend mitarbeite. Eine Zerklüftung und eine gehässige Bekämpfung, die auch tief eingreift in den Kampf um die Jugend durch Schule und Erziehung.

Eine der inneren Ursachen für diese Erscheinung ist die mangelhafte soziologische Bildung aller Volksschichten. Die deutsche Universität in ihrer oft starr konservativen Weise hat in ihrem Bereiche diese Lücke auch nicht oder nur selten erkannt. Nur hier und da taucht einmal die Frage einer »Soziologie« oder die Ankündigung einer Vorlesung darüber auf neben »Staatswissenschaft« und »Nationalökonomie« oder > Volkswirtschaft«.

Die soziologischen Forschungen sollten das ganze Gebiet der mensch- lichen Gemeinschaft umfassen. Wir haben aber leider in Deutschland kein Institut dafür, und darum stehen bei uns die einzelnen Teilforschungen des gesellschaftlichen Lebens zu sehr getrennt voneinander, die Psychologie, die Ethik, die Pädagogik, die Geschichte, die Volkswirtschaft, die Rechtswissen- schaft usw., und alle diese soziologischen Wissenszweige in ihrer Beziehung zueinander. Nur eine Persönlichkeit hat meines Wissens alle diese Pro- bleme in ganz elementarer Weise verstanden und sie sogar zum Gegen- stande des Elementarunterrichts in der Volksschule zu machen angestrebt. Andere haben dann später unter der Bezeichnung »Staatsbürgerkunde« ein ähnliches in einseitigerer Weise versucht, ohne dabei auch nur den Namen dieses Mannes Friedrich Wilhelm Dörpfeld zu nennen. Ich verweise auf dessen »Repetitorium der Gresellschaftskunde«, auf seine »Theorie des Lehrplanese vom Jahre 1872 und ähnliche Schriften mehr.t) Hätte man seinen Ratschlägen Folge geleistet, daun würden wir sicher nicht eine solch gesellschaftliche Verwirrung haben, wie Karl Marx und seine Gegner sie angerichtet haben, insbesondere auch durch die traurige Hervorrufung von Klassenhaß und Klassenkampf, wobei die Menschen, die desselben Blutes sind, derselben Gemeinde, demselben Staate usw. an- gehören und an ein und demselben Werk gemeinsam arbeiten, einander nicht mehr verstehen, sondern bekämpfen und hassen.

Ich möchte darum nicht verfehlen, auf ein soziologisches Unter- nehmen des Auslandes nachdrücklich hinzuweisen. Ich will dabei er- wähnen, daß in dem in der Überschrift genannten Organ, das es herausgibt, seit je in der Zusammenstellung der gesamten Literatur auf diesem Gebiete auch die deutschen Arbeiten nicht fehlen, ja, daß ich

1) Dörpfeld, Ges. Schriften. Bd. IV. Gütersloh, Bertelsmann. Vergl. auch Trüper, Dörpfelds Soziale Erziehung in Theorie u. Praxis und: Die Schule und die sozialen Fragen unserer Zeit (1890). Ebenda.

3. Revue de l'Institut de Sociologies. 245

hier eine Zusammenstellung solcher Arbeiten gefunden habe, wie sie mir sonst in der deutschen Literatur in dieser Vielseitigkeit kaum entgegen- getreten ist. Ich halte darum dieses Institut in mancher Hinsicht für vor- bildlich, auch in seiner Bedeutung für Erziehung und Unterricht. Erleben wir es doch sogar auch auf unserem eigenen Gebiete, wie nach und nach man von den Aufgaben, die z. B. unsere Zeitschrift sich gestellt hat, ein Fach nach dem anderen sich abspaltet, und nun so auch hier so manches isoliert besteht und nicht die nötige und mögliche Wirkung ausüben kann. Die Deutschen neigen leider, und das ist unser Unglück, nicht bloß auf politischem und kirchlichem, sondern auf allen Gebieten zu stark zum sozio- logischen Individualismus. Ein jedes Persönchen erstrebt hier überall ein neues Konfessiönchen. Es liegt gewiß in der Sonderarbeit ein großer Vorteil, aber die Gesamtwirkung wird dadurch wesentlich beeinträchtigt.

Zwar fällt der Hinweis auf jenes Problem nicht ganz in den Rahmen der Aufgabe unserer Zeitschrift. Da aber diese Lücke anderswo nicht gesehen wird, wollen wir uns dieser Aufgabe um so weniger entziehen, als es sich doch dabei auch um eine psychopathologische Erscheinung in unserem Volksleben handelt. Auch verpflichtet uns das freundliche Ersuchen des belgischen Justizministers nach dem Kriege, wieder unsere Zeitschriften auszutauschen mit der in der Überschrift genannten »Revue«. Ich glaube, dieser Aufgabe am besten gerecht werden zu können, indem ich die Ver- treter des »Instituts de Sociologie« in Brüssel selber reden lasse durch die ins Deutsche übersetzte Wiedergabe des Vorwortes im 1. Heft.

Vorwort der »Revue de l’Institut de Sociologie«.,

Das Werk E. Waxweilers und die Orientierung der »Revue de Y’Institut de Sociologier.

I. Nach einer fast 6jährigen Unterbrechung erscheint heute wieder die Zeitschrift des Instituts für Sociologie »Solvays für die gelehrte Welt und für alle diejenigen, welche ein Interesse daran haben, den Geistesbewegungen auf dem Gebiete der reinen und angewandten Sociologie zu folgen, und zwar unter einem neuen Titel und mit veränderter Entwicklung. Diese Veränderungen sind nicht nur hervorgerufen worden durch das Aus- scheiden des. hervorragenden Leiters Emil Waxweiler, der die Seele und der Hauptförderer der sociologischen Archive war; sie wurden in erster Linie bedingt durch die entsetzlichen Umwälzungen, die der Krieg für die Geister und für den Aufbau der Gesellschaft mit sich gebracht hat. Und indem wir den Forderungen der sozialen Ereignisse Rechnung tragen, braucht das Institut nur der Tradition treu zu folgen, die ihm sein aus- gezeichneter Begründer, Ernst Solvay, ebenso vorgeführt hat, wie sein erster Mitarbeiter Emil Waxweiler, dessen bewunderungswürdige Tätigkeit ein tragisches Ereignis beendete. Auch können wir nicht die neue Rich- tung, die unsere »Revue« einschlagen will, besprechen, ohne der geistigen Bedingungen zu gedenken, unter welchen das Institut gegründet und bis jetzt geleitet worden ist.

Der Titel der schönen Abhandlung, welche F. van Langenhove, bis- heriger Sekretär des soz. Institutes, Emil Waxweiler gewidmet hat: »Von

246 B. Mitteilungen,

der Wissenschaft zur Tate, charakterisiert auf ergreifende Weise das Leben des sehr beklagten Gelehrten.

Im Anfang, als er den Auftrag empfing, den ihm E. Sulvay an- vertraute, bezeugte Waxweiler gleiches Interesse für Theorie und Praxis. Im Sinne seines Gründers sollte das Institut nicht nur beitragen zum Fortschritt der sozialen Wissenschaften, sondern es sollte noch mehr er- mutigen und organisieren die Anwendung der Forschungs- und Lehr- Methoden der modernen Wissenschaft betreffs der wirtschaftlichen und sozialen Probleme, welche dis zeitgenössischen Vorurteile beherrschen. Um die Verwirklichung seiner Absichten zu sichern, stellte E. Solvay selbst, ohne wissenschaftliche Arbeiten von abweichender Anschauung aus- zuschließen, einen Plan für die soziologische Orientierung auf, der einen theoretischen Abschnitt enthält: der Begriff von allem, was die Sociologie vom energetischen Standpunkt aus umfaßt und einen praktischen Ab- schnitt: die Durchführung der sozialen Reform vom produktiven Stand- punkt aus gesehen.

Als Verkünder der- Ideen des Gründers entwickelte Waxweiler in glänzender Weise diese zwei Gesichtspunkte, welche das Werk im Auge be- halten mußte, in seinem Programm der »sozialen Verhältnisse«e:

»Wir glaubten nicht, daß es möglich sei, die Tätigkeit des ‚Instituts für Sociologie‘ auf das Gebiet der sozialen Forschung zu beschränken. Das gesamte Gebiet der sozialen Forschung ist zu allgemein menschlicher Natur, als daß man dies könnte Man kann nicht, indem man alles das übergeht, das Interesse an einer Sache verlieren, welche auf der einen Seite das persönliche Gefühl jedes Einzelnen, auf der anderen Seite ein solidarisches Gefühl für gemeinsame Hoffnungen, Interessen und Leiden teansprucht. Eine Einrichtung, die dem unparteiischen Studium der sozialen Erscheinungen dienen soll, ist der öffentlichen Meinung gegen- über verantwortlich. Diese würde es nicht verzeihen, wenn Beobachtungen zum alleinigen Vorteil einer Minderheit von Forschern und Eingeweihten aufgehäuft würden, wenn man Probleme unbeachtet ließe, welche die All- gemeinheit beschäftigen und mit Sorge erfüllen, ohne irgendwie Licht hineinzubringen.<

Indessen nehmen in den ersten Jahren seines Wirkens doch haupt- sächlich Fragen rein wissenschaftlicher Natur die Tätigkeit E. Waxweilers in Anspruch. Verleitet durch den energetischen Gesichtspunkt: (»Socio- logie betreiben, heißt zweifelsohne ‚soziale Energetik‘ betreiben«), dachte er daran, in der Sociologie eine Reform einzuführen, welche die Methoden und Untersuchungen der physiologischen und chemischen Wissenschaften in den anderen Zweigen der Wissenschaft schon durchgeführt hatten. Er wollte die formale, äußerliche, nur beschreibende Methode unter diesen Gesichtspunkten waren die Erscheinungen des sozialen Lebens ge-

1) Dazu gehören auch die Erziehungsprobleme, wie ich schon 1890 im »Jahr- buch für wissenschaftliche Pädagogik« in einer Abhandlung über »Schule und Ge- sellschaft« sowie in »Dörpfelds Soziale Erziehung« und in den 3 Abhandlungen »Die Schule und die sozialen Fragen unserer Zeit« (Gütersloh, Bertelsmann) dargelegt habe. Vergl. auch die Besprechung: Schumann von Barthel, Geschichte der Erziehung.

3. Revue de l’Institut de Sociologies. 247

wöhnlich betrachtet worden -— überholen, und sich wie es in den weiter entwickelten Wissenschaften geschieht der genetischen, ver- innerlichten, erklärenden Forschungsart anschließen. Im Vorwort zu den »Archives sociologiques« schrieb er: »Indem man von einem solchen Ge- sichtspunkt ausgeht, hebt man weniger die einzelnen Züge der Dinge heraus, als den Mechanismus, durch den sie erst das werden, was sie sind. Man ordnet die Erforschung der Ursachen der vollen Kenntnis unter, die man von den einzelnen Phasen der Entstehung hat. Bei der Analyse läßt man die Tatsachen an ihrer natürlichen Stelle, wo sie der Beobachtung zugänglich sind. Man muß sich hüten, dieser naturgemäßen Anordnung künstliche und willkürliche Kombinationen zu unterschieben, welche auf Suggestion und Einbildung zurückgehen.« —- Da er mehr darauf ausgeht, den Gang der Kräfte zu entdecken, als die bestehenden Formen, nannte er seine Methode: »funktionel«.

In einem ersten Abschnitt, worin er die suggestiven Kräfte, be- sonders in der Biologie und den mit ihr zusammenhängenden Wissen- schaften aufsuchte, kam Waxweiler dazu, die Sociologie in den Rahmen der allgemeinen Biologie einzureihen. Er sagt: »Den biologischen Wissen- schaften ist es durch die Zuverlässigkeit ihrer Konstruktionen und durch die feste Verkettung ihrer Ergebnisse gelungen, sich allen wissenschaft- lich Arbeitenden aufzudrängen als die einzigen Quellen für die Erklärung der menschlichen Erscheinungen. «

Diese zwei charakteristischen Erscheinungen des sozialen Lebens die Anpassung des Menschen an sein Milieu und andererseits die Ver- arbeitung durch seinen Geist, welche dem Akt der sozialen Anpassung einen imperativen Charakter verleiht, waren das letzte, was mehr und mehr die Aufmerksamkeit Waxweilers auf sich zog. Er leitete von der Reihe: »Handlung Gewohnheit Brauch Norm feste Ein- richtung« den eigentlichen Mechanismus der sozialen Organisation ab:

»Wenn aus einer Gewohnheit des täglichen Lebens ein Brauch ge- worden. ist, so meinen wir damit, daß bestimmte Individuen, indem sie sich der Allgemeinheit dieser Erfahrung bewußt werden, die Ursache einer solchen Erscheinung, sei es nun die wirkliche oder nur eingebildete, festgelegt haben und sie beobachten. Wenn ein Brauch sich zu einer Norm umgebildet hat, so heißt das: bestimmte Individuen haben den Ge- danken gehabt, diesen Brauch zu systematisieren, d. h. gesetzlich zu regeln. Wenn Normen sich endlich zu festen Einrichtungen kristallisiert haben, so heißt das: bestimmte Individuen haben rein begriffllich und dann auch in anderer Weise eine logische Einheit entworfen und auf- gebaut, welche sie fest begründet haben durch das gesamte Knochen- gerüst der geregelten Anwendung in der Verwaltung.«

Waxweiler beschäftigte sich also eingehend mit der Erfassung jener grundlegenden Reihe der sozialen Organisation in ihrer eigentlichen Tätig- keit und kam auf diese Weise naturgemäß zu einer Aualyse sehr kon- kreter und unmittelbarer sozialer Begebenheiten. Und wie seine er- klärende Methode auf diese Erscheinungen ein Licht warf, das gestattete, ihre inneren Beziehungen aufzudecken, ihre tiefere Bedeutung zu enthüllen

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und nötigenfalls schwierige Situationen aufzuklären, so wurde War- weiler dadurch zu einer wirklichen praktischen Mitarbeit, zur Tat geführt. In dem Maße, wie die wirtschaftlichen und sozialen Fragen dringender wurden, sehen wir ihn vom Reich der Ideen, mit dem er wie schon er- wähnt, zu Anfang seiner Laufbahn begonnen hatte, zur Tat fortschreiten. Er organisierte Untersuchungen, veranstaltete regelmäßige Konferenzen und Studien-Untersuchungen über die brennendsten Fragen. Endlich rief er 1912 die »soziale Hochschul-Woche« ins Leben, welche die Jugend für die Erfüllung ihrer bürgerlichen Aufgaben vorbereiten sollte. Um den politischen Leidenschaften und doktrinären Vorurteilen entgegenzuarbeiten, hoffte er, durch das Studium der konkreten Wirklichkeit der Jugend die Möglichkeit einer wahrhaft nationalen Betätigung vor Augen zu halten, einer Betätigung, die zugleich vermittelt zwischen entgegengesetzten Forderungen und widerstreitenden Wünschen.

Während des Krieges hatten wir Gelegenheit, die große Hingebung zu würdigen, die Waxweiler dem Wohl seines Vaterlandes erwies, und ebenso den großen Nutzen, den Belgien aus seinem ungeheueren Wissen zog. Er schrieb zwei Bücher, die große Verbreitung fanden. 1915: »Das neutrale und loyale Belgien«, und 1916: »Die Entwicklung der belgischen Neutralität«, worin er sein Vaterland gegen den Verleumdungsfeldzug seines Bedrängers verteidigte.!) Schon bereitete er auf Wunsch seiner Regierung ein neues Werk vor, in welchem er in großen Linien die Wirtschaftspolitik der nach dem Kriege neu entstehenden Welt zeichnen wollte, als er uns plötzlich entrissen wurde.

II. Das Institut folgt nur dem Geist, in dem es gegründet wurde, wenn es sich jetzt mit eingehender Aufmerksamkeit den schweren Fragen der Wiederherstellung zuwendet, welche die große Katastrophe der ge- bildeten Welt auferlegt. In diesem Sinne ändert sich in der Folgezeit nun auch die Bestimmung seiner Zeitschrift.

Schon während der deutschen Okkupation hat das Institut bis in die Einzelheiten der Verwirklichung die Gruppen der brennendsten Fragen zusammengestellt, welche Belgien nach seiner Befreiung zu lösen haben würde. Und dank seiner objektiven Tradition, die sich auch in der Art der Zusammenstellung dieser Gruppen zeigte, konnte die Lösung der wirt- schaftlichen, politischen und sozialen Probleme bisher mit der aufrichtigen Toleranz durchgeführt werden, ohne die jede rechtliche Befugnis unwirksam ist.

Dieses Werk der Klärung wirtschaftlicher und sozialer Zeitumstände und der vorbereiteten Lösung, die sie notwendig hervorrufen, will das Institut in seiner Zeitschrift besprechen und festlegen, unter Mitarbeit aller derer, denen Wissen und Erfahrung ein klares Bewußtsein der

1) Diese Ansicht ist aktenmäßig mehrfach widerlegt worden. Belgien hatte die Neutralität bereits vor dem Kriegsausbruch gebrochen, worauf auch ich in Heft 1/2 v. J. nach eigenem Erleben hingewiesen habe. Vergl. auch: von Wris- berg, Die Frage der Schuld am Kriege. Deutschnationale Flugschrift 105. Berlin 1921. 24 S. Preis 1,50 M. Und: Freiherr von Lersner, Versailles! Volks- kommentar des Friedensdiktator. 104 S. Preis 4,40 M. Berlin, Verlag für Politik und Wirtschaft, 1921. Zwei für Freund und Feind sehr beachtenswerte Schriften

3. Revue de l'Institut de Sociologies. 249

Methode gegeben hat, durch deren Befolgung eine soziale Erscheinung be- handelt werden muß.

Die »Revue« ruft darum alle Zuständigen auf, die eigentlichen Grundfragen, welche die Welt mit Sorge erfüllen, zusammenzustellen, um den Austausch zu erleichtern, der den Überblick und die Lösung dieser Fragen betrifft. Im Namen der Solidarität, welche sich so wunderbar zwischen den Nationen entwickelt hat, in Anbetracht auch der Über- einstimmung bestimmter Situationen, wird jede Forschung, woher sie auch komme, unter der Bedingung, daß sie vom Geiste reiner Objektivität ge- tragen ist, für die Leser aller Länder nicht nur einen Weg zur Kultur finden, sondern ebenso ein Mittel zur Erforschung und Verbreitung alles dessen, was nützlich ist für das wirkliche Leben. Die »Revue« will also ein Organ von größter Toleranz sein, sie will alle Anschauungen beachten, um die sozialen Verhältnisse beurteilen zu können, sie will bestrebt sein, Mittel zu finden, durch welche alle Länder allmählich wieder in ruhigere Bahnen einlenken können.

Dennoch soll diese Duldsamkeit und Unparteilichkeit von seiten des Institutes keinen Dilettantismus befördern. Schon 1904 verkündete Wax- weiler die Notwendigkeit, Klarheit in Haltung und Anschauung walten zu lassen. Und ohne Winkelzüge erklärte er, daß der Zweck seiner »Actu- alités Sociales« der sei, die besondere Anschauung von den Verhältnissen frei zu machen, welche E. Solvay als »Produktivismus« bezeichnet hatte. Es schien ihm schon damals, daß ein solcher Gesichtspunkt vorzüglich geignet sei, die Lehren von den sozialen Forschungszweigen zu verknüpfen, um für sie einen gemeinsamen Ausgangspunkt zu finden und die prak- tische Tat nach einem geeigneten Zweck zu orientieren, um so die all- gemeine Zustimmung zu gewinnen.

Bestimmte Mitarbeiter des Institutes, die sich angezogen fühlten durch die produktivistische Methode, werden sich bemühen, sie zu recht- fertigen und durchzuführen, indem sie die Probleme behandeln, welche das soziale Leben aufwirft.

III. Wir möchten nun noch einige Worte über den Hauptgedanken des Produktivismus sagen. Ohne die Existenz des Problems sozialer Gerechtigkeit leugnen zu wollen, ohne die Notwendigkeit einer besseren Verteilung des Besitzes aus dem Auge zu verlieren, aber in Anbetracht der schädlichen Folgen, zu welchen eine Einseitigkeit dieser Art führen könnte, hat E. Solvay vor mehr als 30 Jahren den Vorrang des Problems der Produktion in der sozialen Frage ausdrücklich betont. Er hat ver- sichert, daß das gemeinschaftliche Handeln, und besonders die Öffentlichen Gewalten, auf deren Errungenschaft die Sozialisten es abzielten, als Haupt- richtlinie das Bestreben haben müßten, der Tätigkeit der Menschen den höchsten Ertrag zu sichern.

Zu diesem Zweck mußte die Instandsetzung der einzelnen Individuen verbunden werden mit der Einrichtung von Organen zur Coordination der wirtschaftlichen und auch anderer Betätigungen,!) deren Nützlichkeit sich

1) Wozu auch Unterricht und Erziehung 'gehören.

250 B. Mitteilungen.

mehr und mehr enthüllt. Wir werden Gelegenheit haben, das Programm zu studieren, welches er in seinen Berichten mit den objektiven und sub- jektiven Bedingungen des Tages vorgeschlagen hat.

Aber indem der Begründer des Institutes die Frage ‘der Besitz- verteilung derjenigen der Produktion untergeordnet hat, verlor er trotzdem nicht den Gesichtspunkt der sozialen Gerechtigkeit. Im Gegenteil war er der tiefen Überzeugung, daß durch eine methodische Vervollkommnung der verschiedenen Faktoren der Produktion ein Regiment größerer sozialer Gerechtigkeit erreicht werden müsse, unter voller Sicherung der Gesell- schaft gegen demagogische Verirrungen. Soziale Gerechtigkeit für das Individuum: in der Tat müssen die öffentlichen Gewalten, indem sie sich die Bildung und bessere ‘Instandsetzung der. Individuen zur Aufgabe setzen,!) folgerichtig Verfügungen treffen, die jedem einzelnen die Ent- wicklung seiner Fähigkeiten gestatten; sie werden alles das zu unter- stützen haben, was darauf ausgeht, die persönlichen Einkünfte auf die Produktivität der persönlichen Arbeit zu gründen. Sie müssen das Schmarotzertum und die Privilegien bekämpfen, welche schon einen all- gemeinen Charakter angenommen haben und allen Begabten und wahrhaft Tüchtigen den Weg versperren.

Soziale Gerechtigkeit auch für die Massen: Die öffentlichen Gewalten sollen sich verpflichtet fühlen zur Erforschung der für das allgemeine Wohl günstigsten Maßnahmen, sie sind ‚berufen, das Werk der Gleich- stellung und Vereinigung der Interessen zu vollbringen, sie müssen ver- bessernde und weitsichtige Einrichtungen ins Leben rufen. Sie müssen die Schwachen gegen die Übergriffe der Starken schützen, sie müssen Mittel finden gegen gewisse physiologische und moralische Wirkungen der Regimes.

Beachten wir das jetzt, um diejenigen zu beruhigen, die die hin- reißende Gewalt der Solidarität und gegenseitigen Vermittlung fürchten: Wenn man den höchsten menschlichen Ertrag erreichen will, so ist als Haupt- regel die Ermutigung der individuellen Initiative zu beachten. Man könnte die Tätigkeit der öffentlichen Gewalten gemäß der produktivistischen An- schauung kennzeichnen, indem man sagt: Sie müssen den Individuen helfen, daß diese in höchstmöglichem Grade ihre soziale Funktion erfüllen und gleichzeitig ihre Lebensbedingungen verbessern. Ihre Aufgabe wird sein, die Freiheit zu organisieren.

Wenn endlich der Produktivismus sich entschlossen auf das Gebiet der reinen Nützlichkeit begibt, und die Probleme von der rein technischen Seite zu fassen sucht, so gehorcht er damit doch nicht den materialistischen Tendenzen der modernen Wirtschaft, sondern er tut es, weil er und das ist eine seiner bezeichnendsten Seiten alle jene parasitischen Fragen von moralischer und intellektueller Forderung ausscheiden will, die bisher die Lösung der unmittelbaren Aufgaben so sehr gehindert und unsere modernen Demokraten vergiftet haben.

1) Damit wird auch die Jugendbildung und -Pflege als Glied des Gesellschafts- organismus richtig bewertet.

4. Gesundheitszustand der deutschen Jugend. 251

IV. So sehr das Institut auch durch das Studium der sozialen Ver- hältnisse gebunden sein mag, es verliert trotzdem in dieser Periode der Verwirrung nicht das Interesse an rein wissenschaftlicher Forschung. Es bedenkt, daß die soziale Arbeit sich auch mit der Entwicklung der Kennt- nisse und wissenschaftlichen Methoden beschäftigen muß. Das Werk der sozial-praktischen Betätigung erfordert, um gut durchgeführt, wohl verstanden und richtig aufgefaßt zu werden, ein paralleles Werk: nämlich die Verarbeitung unserer treibenden Ideen.

Zweifelsohne kann der häufige Kommentar der jeweiligen sozialen Ereignisse zu dieser theoretischen Seite viel beitragen. Die mannigfaltigen Berührungen mit den Schwierigkeiten und Problemen des sozialen Lebens würden es möglich machen, Verirrungen zu vermeiden. Aber diese Lehre kommt nicht zu voller Wirkung, wenn die Geister nicht fähig sind, die Tatsachen zu ordnen und sich Urteile zu bilden, die unabhängig sind von persönlichen Vorzügen. Diese Fähigkeit zu objektiver Beurteilung wächst in dem Maße, wie die Fortschritte theoretischer Forschung in das Gebiet menschlichen und sozialen Lebens eindringen.

Auf diese Weise befähigen also die praktische Tätigkeit des Institutes ebenso wie die theoretische es dazu, mit allen Kräften zur Verbreitung -der kulturellen Fortschritte beizutragen. Es beatsichtigt, selbst für die »Revue« Beiträge aus dem Gebiet der theoretischen Soziologie beizusteuern und es wird, mit ihrer Erlaubnis, für die Zeitschrift Arbeiten von Ge- lehrten jeder Schule aufnehmen, die, ohne unmittelbare Verwendung ins Auge zu fassen, soziologische Probleme behandeln.

Soweit das Vorwort. Ich will nur noch hervorheben, daß die Revue seit je auch unsere Arbeit mit berücksichtigt und die deutsche Literatur auf pädagogisch-psychologischem Gebiete umsichtig mit verarbeitet hat.

Tr.

4. Gesundheitszustand der deutschen Jugend.

I. Über die Folgen der Unterernährung bringt der »Lüne- burger Anzeiger«e folgende sehr beachtenswerte Zusammenstellung.

»Mit erschreckender Deutlichkeit führt uns eine auf Grund einer amt- lichen Umfrage im Reichsgesundheitsamt erfolgte Zusammenstellung die Folgen der Unterernährung während und nach der Kriegszeit für den Gesundheitszustand der deutschen Kinder vor Augen.

1. Das Jahrhundert des Kindes ist das Jahrhundert des Kinderelends geworden.

2. Zahl der Sterbefälle in 9 deutschen Großstädten im Alter von

5—10 Jahren im Jahr 1913 insgesamt 1734, an Tuberkuloge 372, an Magen-

und Darmkatarrh, Brechdurchfall 32;

im Jahr 1916 insgesamt 2196, an Tuberkulose 422, an Magen-

und Darmkatarrh, Brechdurchfall 53;

im Jahr 1919 insgesamt 1828, an Tuberkulose 535, an Magen- und Darmkatarrh, Brechdurchfall 38.

252 B. Mitteilungen.

10—15 Jahren

im Jahr 1913 insgesamt 884, an Tuberkulose 246, an Magen- und Darmkatarrh, Brechdurchfall 3;

im Jahr 1916 insgesamt 1185, an Tuberkulose 264, an Magen- und Darmkatarrh, Brechdurchfall 7;

im Jahr 1919 insgesamt 1214, an Tuberkulose 541, an Magen- und Darmkatarrh, Brechdurchfall 13.

3. Die Unterernährungs- und Blutarmutszustände im schul- pflichtigen Alter haben in der letzten Zeit eine gefahrdrohende Ver- schlimmerung erfahren. In einigen Industriegegenden ist beinahe die Hälfte aller Kinder, in einzelnen deutschen Großstädten etwa 70°/, der gesamten Schuljugend stark unterernährt.

4. Bei den Schulanfängern ist die allgemeine körperliche Be- schaffenheit im Vergleich mit den Vorjahren erheblich schlechter geworden. In einer deutschen Großstadt mußten Ostern 1920 in einer Schule von den zum Schulbesuch angemeldeten 120 Kinder nicht weniger als 25 als »schulunfähig« bezeichnet werden. Unter den Aufgenommenen befanden sich verschiedene Kinder von 7 Jahren, die nach ihrer körperlichen Ent- wicklung wie vierjährige Kinder aussahen.

5. Die Längenmaße der Kinder sind in fast allen Altersklassen kleiner als den Normallängen entspricht. Die vorgenommenen Messungen in deutschen Großstädten ergaben, daß gegenüber den Untersuchungen vom Jahre 1913/14 die gleichaltrigen Knaben und Mädchen der Jahre 1919/20 um 2—3 cm kleiner waren.

6. Das Körpergewicht der Kinder ist ebenfalls sehr merklich zurückgegangen. Gegenüber den Wägungen der Jahre 1913/14 betrug bei den Kindern einzelner deutscher Großstädte der Gewichtsunterschied bis 5 Pfund; besonders fielen in diesem Punkt die Knaben und Mädchen der höheren Schulen auf. In der Kinderheilstätte einer deutschen Groß- stadt blieb das Durchschnittsgewicht der Kinder hinter dem Normalgewicht gleichgroßer Kinder bis 14 kg zurück.

7. Die geistige Regsamkeit, die Lernfähigkeit der Kinder haben wesentlich abgenommen; allgemein sind schnelle geistige Ermüdung und Gedächtnisschwäche der Schüler wahrnehmbar.

8. Eine große Zahl der Kinder in einer deutschen Großstadt etwa 1/, vermag infolge allgemeiner Schwäche und Schwäche der Rückenmuskulatur die Wirbelsäule nicht mehr aufrecht zu tragen und leidet infolgedessen an schlechter Haltung oder beginnender Rückgrat- verkrümmung.

9. Die Kindertuberkulose hat an Umfang und an Schwere der Krankheitserscheinungen ganz außerordentlich zugenommen. Durch Probe- impfungen mit Tuberkulin wurde in einzelnen deutschen Großstädten bei etwa 40°), der Kinder im Alter von 0—15 Jahren eine tuberkulöse In- fektion festgestellt.

10. Skrophulose (Tuberkulose der Drüsen) findet sich in einigen deutschen Großstädten bei ungefähr !/,—!/, aller Schulkinder.

4. Gesundheitszustand der deutschen Jugend. 253

11. Die Behandlung der. Krankheiten im Kindesalter wird durch den anhaltenden Mangel an Fleisch, Butter und Milch in ungewöhnlichem Maße beeinträchtigt.

12. Die Rachitis (englische Krankheit), insbesondere aber die ge- fürchtete Barlowsche Krankheit (kindischer Skorbut) mit ihren schmerz- haften Knochenschwellungen, Haut- und Schleimhautblutungen sind all- gemein weit verbreitet und mancherorts sogar in Zunahme begriffen. Von der Rachitis werden neuerdings nicht nur die kleineren Kinder, sondern auch viele ältere bis zum 16. Lebensjahre betroffen. «

I. Am 8. Febr. d. Js. stellte im Thür. Landtag der unabhängige Abgeordnete Lehrer Brill eine Anfrage, den Gesundheitszustand der Volksschulkinder in Thüringen betreffend.

Das Ministerium für Volksbildung hat in Gemeinschaft mit dem Wirtschaftsministerium, Abteilung für Arbeit und Wohlfahrt, zwecks Be- antwortung dieser Anfrage eine eingehende Untersuchung aller einschlägigen Verhältnisse veranstaltet. Zur Beantwortung der gestellten Fragen sind die Gebietsregierungen, die statistischen Ämter, die Schulaufsichtsbehörden, ferner Ärzte, Fürsorgestellen und Gemeindebehörden herangezogen worden. Auf Grund dieser Ergebnisse ist folgendes festzustellen:

2a) Gesundheitszustand der Jugend:

Eine Zunahme der Infektionskrankheiten und auch der Todesfälle ist, selbst wenn man den Rückgang der absoluten Zahl der Kinder infolge Abnahme der Geburten während des Krieges in Rechnung zieht, nicht eingetreten. Wegen der Todesfälle seien folgende Zahlen zum Vergleich herangezogen.

Es starben im Alter bis zu 15 Jahren:

1913 1919 In Weimar. s U s < Gaco % 0 ar cn. 2180 1547 x Schwarzburg-Sondershausen. . . . 546 409

Hingegen ist eine Zunahme der Blutarmut, Skrofulose und Tuberkulose festzustellen. Auch die Zahl der durch Tuberkulose verursachten Todes- fälle ist gestiegen. So starben im Gebiet Weimar an Tuberkulose 1913 78. 1919 94 Kinder unter 15 Jahren. Aus Jena wird geklagt, daß die ungünstigen Wohnungsverhältnisse die Ansteckungsgefahr und somit die Verbreitung der Tuberkulose beförderten.

Eine Abnahme des Ernährungs- und Gesundheitszustandes der Kinder ist überall zu bemerken, besonders in den Industriegebieten, aber auch in rein landwirtschaftlichen Gegenden. So wird aus einem rein landwirt- schaftlichen Bezirk in Gotha berichtet, daß von 901 untersuchten Kindern 355 = 39,4 v. H. unterernährt oder mit Leiden behaftet befunden worden seien. Auch aus dem überwiegend landwirtschaftlichen Kreise Sonders- hausen wird gemeldet, daß von 6350 untersuchten Kindern 48,9 v. H. krank seien. In den landwirtschaftlichen Gegenden wird die Verschlechte- rung des Gesundheitszustandes weniger auf die mangelhafte Ernährung, als auf die durch die Kohlennot verschärften ungünstigen Wohnungsverhält- nisse geführt.

254 B. Mitteilungen.

Diese ungünstigen Wohnungsverhältnisse tragen auch in den Städten wesentlich zur Verschärfung der Folgen der Unterernährung bei. Nach der uns von Jena zugegangenen Statistik hielten sich tagsüber 4384 Kinder in der Küche, 1475 in der Wohnstube, 52 in der Schlaf- stube, 66 bei fremden Leuten, 57 in einer Anstalt, 52 auf der Straße und 4 im Laden und in der Werkstatt auf.

Die Folgen der Unterernährung zeigen sich überall. Auf der einen Seite soll dies an einem Orte nachgewiesen werden, der im Kohlengebiete liegt und infolgedessen verhältnismäßig günstige Erwerbsverhältnisse auf- weist. In diesem verteilen sich die Schulkinder, wie folgt, auf 4 Er- nährungsklassen:

Gruppe 1: normal ernährte Kinder . . . . 106= 6,12 v. H., + 2: unterernährte Kinder . . . . . 421=24,27 v. H. á 3: schwer unterernährte Kinder . . 876=50,49 v. H.,

$ 4: ganz heruntergekommene u. dringend der Kräftigung bedürftige Kinder . 338 =18,90 v. H.

Auf der anderen Seite sollen die Verhältnisse in den Gebietsorten des Gebiets Gotha gezeigt werden. Hier schätzt man die Zahl der unterernährten Kinder auf 50—60 v. H. In Zella-Mehlis waren es von 1500 Kindern sogar 1350.

Man hat die Bemerkung gemacht, daß die Unterernährung in den mittleren Volksschulklassen sich am sichtbarsten macht.

b) Verelenäung der Jugend. Der Mangel an Wäsche, Kleidung und Schuhwerk macht sich überall bemerkbar. Da vielfach alle Mittel durch die Anschaffung von Lebensmitteln aufgezehrt werden, bleibt zumeist nichts für die Anschaffung für Wäsche, Kleidung und Schuhwerk.

Nach den übereinstimmenden Berichten ist es keine Seltenheit, daß Kinder nur ein oder überhaupt kein Hemd haben. Im Gebiet Sonders- hausen hat es sich bei den schulärztlichen Untersuchungen gezeigt, daß in vielen Fällen bei den Schulkindern der Zustand der Hemden ein ganz trostloser ist. G$

Ein großer Nachteil für die Gesundheit der Kinder ist auch, daß viele nicht im eigenen Bett schlafen.

Von den Jenenser Schulkindern schliefen 2406 in einem be- sonderen Bett, 3041 hatten kein eigenes Bett.

Auch aus Apolda wird über den schädlichen Einfluß des Zusammen- schlafens von Kindern geklagt.

Die vorstehenden Verhältnisse ergeben ein sehr trübes Bild. Wie soll Hilfe geschaffen werden? Die allgemeine Not spiegelt sich wieder in der Not der Schulkinder. Nur wenn der allgemeinen Not abgebolfen wird, wird auch die Not der Schulkinder beseitigt werden können. Besse- rung der Ernährungsverhältnisse, bessere Heizungsverhältnisse, bessere Wohnungsverhältnisse sind die Voraussetzungen, von denen eine Besserung auch der Lage der Schulkinder wird erwartet werden können. Nicht minder wichtig ist bessere Versorgung der Bedürftigen mit Wäsche, Kleidern und Schuhen, sowie die Beschafiung einer würdigen und ge- sundheitsgemäßen Schlafgelegenheit. Es ist selbstverständlich, daß alle

4. Gesundheitszustand der deutschen Jugend. 255

diese Fragen von ‘den zuständigen Stellen seit geraumer Zeit sorgfältig erwogen und im Auge behalten werden. Was Landtag und Regierung zur Behebung der allgemeinen Not getan haben, bedarf hier keiner näheren Darlegung, ebensowenig, weshalb die bisherigen Maßnahmen nicht von durchgreifendem Erfolg gekrönt gewesen sind. Im Verhältnis zu der ge- schilderten allgemeinen Aufgabe ist das, was die Schule tun kann, nur wenig. Zunächst kommt im Unterricht in Betracht:

Es muß eine Überbürdung der Kinder verhütet werden. Das Stunden- ausmaß und das Maß der häuslichen Schularbeiten muß sich der Leistungs- fähigkeit der Schulkinder anpassen. Durch ‚genügende Pausen in Ver- bindung mit regelmäßigen Atem- und Turnübungen muß den Kindern die nötige Erfrischung während der Schulzeit zuteil werden.

Die Schulverwaltungen der Gebiete haben durcli entsprechende An- ordnungen die Erfüllung dieser Forderung angestrebt; das Thüringische Ministerium für Volksbildung wird die Angelegenheit im Auge behalten und, soweit nötig, eine einheitliche Regelung herbeiführen.

Weiter ist das Schularziwesen auszubauen. Es sollte ermöglicht werden, daß alle Schulkinder nicht nur bei der Schulaufnahme untersucht, sondern während der ganzen Schulzeit unter ärztliche Beobachtung ge- stellt werden.

Von großer Wichtigkeit ist es, daß kränklichen und unterernährten Kindern Gelegenheit zu einer Heilkur in einem Solbad oder dergleichen oder zu einem Erholungsaufenthalte in geeigneter Umgebung verschafft wird. Es liegt in der Natur der Sache, daß solche Hilfe immer nur verhältnismäßig wenigen zuteil werden kann und so kostspielig ist, daß die Unterstützung gemeinnütziger Vereine nicht zu entbehren ist. Wie weit öffentliche Mittel dazu verwendet werden können, hängt wesentlich von der Finanzlage des Staates und der Gemeinde ab. Von besonderem Werte ist auch die in manchen Orten Thüringens eingeführte Schulspeisung solcher Kinder, die von Hause nicht genügend mit Nahrung versorgt werden können. Es wird darauf hinzuwirken sein, daß noch mehr solche Schulspeisungen eingerichtet werden und insbesondere Gemeinden dazu angeregt werden, soweit nicht schon entsprechende Einrichtungen bestehen.

Für Schulkinder, die unbeaufsichtigt sind, weil ihre Eltern beide auf Arbeit gehen, sind Kinderhorte einzurichten, sei es in Verbindung mit der Schule oder losgelöst von dieser.

Für tuberkuloseverdächtige Kinder sind besondere Fürsorgestellen ein- zurichten, wie dies vereinzelt schon geschehen ist.

Soweit es den heutigen Verhältnissen angemessen ist, sind Schul- wanderungen einzuführen.

Können diese Maßnahmen auch diese Verhältnisse nicht von Grund aus ändern, so werden sie doch manches zur Linderung der Not der Schulkinder beitragen.«

HI. Kranke Großstadtkinder. Die Abteilung »Mutter und Kind« äes »Deutschen Roten Kreuzes« hat in 43 deutschen Großstädten von über 100 000 Einwohnern die Zahl der tuberkulösen, kranken und unter-

256 B. Mitteilungen.

ernährten Kinder und die Milchbelieferung feststellen lassen. In Hessen- Nassau wurden die Städte Wiesbaden, Kassel, Frankfurt a. M. statistisch miterfaßt und es ergaben sich folgende interessante Zahlen: In Wiesbaden waren von 10569 Kindern 230 tuberkulös, 4566 krank und unterernährt. Für die Kinder bis zu 6 Jahren standen nur 54 Prozent der erforderlichen Milchmenge zur Verfügung. In Kassel wurden 41485 Kirder unter- sucht, davon waren 1500 tuberkulös, über 4000 stark unterernährt und über 12000 überhaupt unterernährt. Für die kleineren Kinder standen nur 33,9 Prozent der erforderlichen Milchmenge zur Verfügung. In Frank- furt a. M. wurden 126 300 Kinder untersucht, von denen 275 tuberkulös waren. Für werdende und stillende Mütter stand Milch nur in 78,8 Prozent der erforderlichen Menge zur Verfügung. Dabei muß aber darauf hin- gewiesen werden, daß die Zahlen für die tuberkulösen Kinder nur sehr ungenaue sind. Eine gründliche Untersuchung aller Kinder würde bei - 1 Million Großstadtkindern mehr als 5 Millionen Mark Kosten verursachen. Die Tuberkulose des Kindesalters zeigt aber nur dann Neigung zum Fort- schreiten, wenn der Organismus unterernährt ist. Eine solche Schädigung ist die langandauernde Unterernährung der Kriegsjahre gewesen, und ist sie teilweise auch heute noch, und sie ist zweifellos imstande, den latenten Charakter der stattgehabten Ansteckung, die jetzt viel früher als im Frieden eintritt, in eine wirkliche Tuberkulose umzubiegen. Die Scheidung zwischen wirklich tuberkulosekranken, tuberkuloseverdächtigen und tuber- kulosegefährdeten Kindern ist unendlich schwer, um so mehr müssen wir alle Vorsicht walten lassen, müssen wir dafür sorgen, daß reichlich Milch in die Großstädte kommt, daß Kinder aus der Stadt auf das Land kommen. Die Mitteilungen des Reichsgesundheitsamtes wie die des Thüringer Ministeriums und des »Roten Kreuzes« sind sehr beachtenswert für die Jugendkunde wie für die erziehliche und unterrichtliche Behandlung der Jugend in Haus und Schule. Leider wird aber Wesentliches dabei übersehen. Entsprechend dem materialistisch-intellektualistischen Weltanschauungs- bekenntnis der Führenden verschweigt man oder wird übersehen, daß viele dieser wirtschaftlichen Notstände geistig-sittliche Ursachen haben. Sehr wichtig ist es darum, daß sich ein »Bund der Erneuerung wirtschaftlicher Sitte und Verantwortung« (Berlin W 30) gebildet hat, der diese Ursachen und damit eine volle Gesundung der Jugend zu erstreben sucht. In seiner Geschäftsstelle kann jeder Näheres erfahren, so daß wir auf das Einzelne hier nicht einzugehen brauchen. Nur ein paar Dinge seien hervorgehoben, die jedem auffallen müssen, der mit offenen Augen und mit empfindendem Herzen durch die Straßen der Städte geht, oder in den Anzeigenteil der neueren Zeitschriften oder der nach neuzeitlichen Anschauungen verjüngten alten hineinblickt, auch, wenn es das im Scherl- Verlag erschienene und sich auf dem Titel nennende »Blatt der guten Gesellschafte, »Sport im Bild« ist. In jeder Nummer erscheinen mindestens 10000 M kostende Anzeigen von Zigarettenfirmen, Champagner- und Weinfirmen, Schokoladenfirmen, Schönheitsmittelfirmen usw. Schon mit den Kosten dieser Anzeigen könnte manches Kinderelend beseitigt werden. Wenn aber, diesen Anzeigen entsprechend, das Eintrittsgeld in einer

4. Gesundheitszustand der deutschen Jugend. 957

Berliner Weinkneipe pro Person 1000 M kostet, wofür jeder nach Be- lieben essen und trinken, nein fressen und saufen kann, was er will, und wenn man nach dem Kriege auch in den kleinsten Städten eine neu- entstandene Kneipe und »Tanzdiele«e an die andere sich reihen sieht, einen Zigarettenladen neben dem andern, wenn die Kinos sich verzehn-

facht haben, dann sind das alles Stätten der Verseuchung und Ver- .

armung des nachwachsenden Geschlechts. Wie ungeheuerlich die Ge- schlechtskrankheiten auch infolge dieser Anregungsstätten gewachsen sind und damit das ganze nachwachsende Geschlecht mit einem Fluch beladen worden ist, ist allbekannt. Zigarren und Zigaretten rauchten früher nur die Männer, jetzt schon Knaben und Mädchen, daheim wie auf offener Straße. Die Wohnungsnot ist entsetzlich groß, wenn nun in einem Zimmer ohnehin schon mehr Menschen beieinander wohnen müssen, als gesund- heitlich zuträglich ist, wie werden dann erst die tuberkulösen Kinder geschädigt, wenn die Väter und älteren Geschwister sie ihr Zigarettengift noch mit einatmen lassen. Und alle diese schädigenden Luxusgifte be- ziehen wir aus Feindesland und zahlen damit einen Tribut an die Feinde, viele Milliarden im Jahre.

Unter der Überschrift »Hillers Kognak« gibt die »Magdeb. Ztg.« u.a. folgendes bekannt: »Einem Berliner Weinrestaurant ist es gelungen, zwei Waggons Kognak aus Frankreich einzuführen. Viele Deutsche haben gefunden, daß wir in einer Zeit, in der wir unter dem schärfsten fran- zösischen Druck stehen, unser armes deutsches Geld besser verwenden könnten, als es den französischen Kognakproduzenten in die unersättlichen Taschen zu werfen. Zu diesen Kritikern der beiden importierten Kognak- Waggons gehörte auch der frühere sozialistische Staatssekretär Dr. August Müller, der in einer Berliner Zeitung eine bittere Glosse darüber schrieb. Darauf hat sich bei ihm der Importeur der Waggons gemeldet und sich als der Inhaber des weltbekannten Restaurants Hiller, Unter den Linden, vorgestell. Er hat erklärt, es gehöre einfach zu seinem Geschäftsbetrieb, den Gästen, die das wünschen, auch französischen Kognak zu verschänken. Und er hat den Nachweis erbracht, daß er von den zuständigen Regierungs- stellen ganz ordnungsgemäß die Erlaubnis für die Einfuhr von zwei Waggons französischen Kognak erhalten habe...

Hier sind keine Worte der Verurteilung hart genug. Wo die Schulden Reich, Staat, Gemeinden und Einzelnen zum Zusammenbruch führen, wo Hunderttausende von Kindern wegen Mangel an notwendigster Nahrung dahinsiechen müssen, da versäuft man in einer Wirtschaft 2 Waggons Kognak unter Zustimmung einer Regierung, die sich sozial, nein sogar sozialistisch nennt!

Alle diese Ursachen sind aber im letzten Grunde nicht physisch- materielle, sondern es sind innere, sittliche, es ist der Mangel an Selbst- beherrschung des Trieblebens und an Verantwortlichkeitsgefühl für Mit- menschen und für das. deutsche Vaterland, ein Mangel, der im letzten Grunde Haupischuld an unserm Jugendelend ist, und wo darum nach dem Vorbilde der amerikanischen Regierung auch die unsere zuerst feste Hand anlegen sollte, ohne das übrige zu vernachlässigen, liegt klar.

Zeitschrift für Kinderforschung. 26. Jahrgang. 17

IBERI

258 B. Mitteilungen.

Bei allem Geschrei nach Reform und Revolution der Jugendbildung bleiben diese Dinge ganz unbeachtet. Aber alle Bemühungen werden nicht zur Gesundung führen, wenn man nicht mit allem Nachdruck die Hand an die sittliche Erneuerung bei Jung und Alt, in Haus und Schule, in Gemeinde und Staat legt. Tr.

5. Die Wiederaufnahme internationaler Beziehungen.

In meinem Wort »Zum Geleite« des neuen Jahrganges in Heft 1/2 mußte ich auch unsere internationalen Beziehungen berühren. Da möchte ich noch folgende Kundgebung deutscher Professoren aus Berlin vom 5. November als Ergänzung nachtragen:

»Zehn dem Deutschen Reichstag angehörige Universitätslehrer haben folgende Antwort auf die Kundgebung der Oxforder Gelehrten beschlossen:

Die unterzeichneten deutschen Universitätslehrer im Deutschen Reichs- tag glauben im Namen deutscher Wissenschaft zu sprechen, wenn sie, auch nach Kenntnisnahme der Erklärung des Vizekanzlers der Universität Oxford, auf den in den ‚Times‘ vom 18. Oktober veröffentlichten Brief Oxforder Gelehrten in gleicher Gesinnung wie folgt antworten:

Die Wissenschaft kennt nur ein Ziel, die Erforschung der Wahrheit. -Zur Lösung dieser einzigen Aufgabe bedarf sie der ge- meinsamen Arbeit über alle Grenzen der Staaten hinaus. Der Welt- krieg hat die gemeinsame Arbeit unterbrochen und viele persönliche Bande gelöst. Wir sind bereit, sie wieder zu knüpfen und durch ge- meinsame Arbeit vergessen zu machen,. was in beiden Lagern Ver- letzendes geschrieben und gesprochen war. Auch unser Hoffen richtet sich auf die Zukunft. Ihre Aufgaben sind nach den bitteren Erfahrungen der Menschheit in der Vergangenheit größer und dringlicher als je. Möge die wissenschaftliche Arbeit das ihrige dazu tun, den Geist der Gerechtigkeit, der Versöhnlichkeit und der gegenseitigen nationalen Achtung zu fördern, ohne den der Wiederaufbau der zusammen- gebrochenen Welt unmöglich ist.

Dr. Beyerle. Dr. Graf zu Dohna. Dr. Goetz. Dr. Kaas. D. Dr. Kahl. Dr. Moldenhauer. Dr. Radbruch. Dr. Rießer. D. Dr. Schreiber. Dr. Schücking.«

Dieser Erklärung schließen auch wir uns gerne an. Tr.

6. Ferienkurse in Jena vom 3.—17. August.

Auch dieses Jahr finden wieder die Ferienkurse in Jena statt, und ein reichhaltiges Programm auf allen Gebieten ist angekündigt. Ich bin zwar auch dieses Jahr wieder ersucht worden, das ganze Programm hier in der Zeitschrift zum Abdruck zu bringen und selbst einen Vortrags- kursus über abnorme Erscheinungen im kindlichen Seelenleben zu halten. Leider war es mir nicht möglich, diese Opfer wieder zu bringen. Die privaten Unternehmungen leiden jetzt überall Not und werden von

6. Ferierkurse in Jena vom 3.—17. August. 959

denjenigen, die aus Öffentlichen Mitteln, wozu auch die Privatanstalten ihr reichlich Teil beitragen, besoldet werden, noch obendrein mit Gering- schätzung, als nur ein notwendig zu duldendes Übel, angesehen. Wir müssen darum den Raum dieser Zeitschrift in dieser ernsten Zeit für unsere besonderen Zwecke ausnutzen. Das ausführliche Programm der Kurse ist aber zu beziehen, und zwar kostenfrei, durch das Sekretariat, Frl. Clara Blomeyer, Jena, Karl-Zeiß-Platz 3. Es ist außerordentlich reichhaltig und bringt eine Fülle interessanter Themen. Über 70 ver- schiedene Kurse werden gehalten, teils 6, teils 12 stündig, dazu kommen noch eine Reihe von Einzelvorträgen. Im vorigen Jahr wurde die Teil- nehmerzahl 500 erreicht. Dieses Jahr wird sie sicher nicht geringer sein. Auf dem Gebiete, auf dem ich die Vorträge übernehmen sollte, sind auch mehrere angekündigt. Herr Prof. Dr. Strohmayer, Jena, der, wie er in dem Vorwort zu seiner bekannten Schrift auch selber angibt, durch seine Arbeit . als Arzt auf der Sophienhöhe zur Psychopathologie des Kindesalters gekommen ist, wird in 12 Stunden sprechen über »Seelisch-abnorme Kinder und Jugendfürsorge«. Direktor Karl Brauckmann, Jena, früher Taubstummenlehrer in Soest und Anfang der 90er Jahre Lehrer auf der Sophienhöhe, bis er mit zwei Schülern der Sophienhöhe seine eigene Privatanstalt für schwerhörige und ertaubte Kinder gründete, wird in 6 Vorlesungen sprechen über »Gehörleidende Kinder«. M. Breitbarth, Rektor der Pestalozzi-Hilfsschule in Halle 12 stündig über die Frage »In welchem Umfang und in welcher Weise unterscheiden sich Unterricht und Erziehung beim minderwertigen und normalbegabten Kinde?« Und Herr J. Hacker, Lehrer an einer Bürgerschule in Jena und zugleich Sprachheillehrer, der lange Jahre auf der Sophienhöhe mit arbeitete und dann auf meine An- regung hin sich der Sprachheilkunde zuwandte, wird sprechen in 12 Stunden über »Sprachentwicklung und Sprachstörung beim Kinde«, und wiederum in 12 Übungsstunden zeigen: »Wie lerne ich gesundheitsgemäß sprechen«.

So ist also für unser Spezialgebiet in reichem Maße gesorgt. Alles weitere wolle der Leser durch Einforderung des Programms ersehen.

Ich habe von Anfang an an allen Kursen teils als Hörer, teils als Vortragender, lebhaften Anteil genommen, und bedaure, daß ich dieses Jahr diese Zeit notwendig zu meiner Erholung bedarf. Auch diese Ferienkurse sind wieder etwas, was nur die freie (private) Tätigkeit schaffen konnte. Die Universitäts- und Staatsbureaukratie, die sich aus öffentlichen Mitteln besolden läßt, wollte anfangs nicht gestatten, daß die Universitätsräume durch diese Kurse entweiht würden, denn es war ja auch den »Volksschullehrern« der Zutritt gestattet. Wir mußten, Rein und Detmer an der Spitze, die auch jetzt noch die Kurse leiten und dort Vorlesungen halten, Tanz- und Kneipsäle eines Gasthauses benutzen. Doch St. Bureaukratius hat sich von Jahr zu Jahr mehr bekehren lassen und ein- sehen gelernt, daß die Universitätsräume nicht durch einen wirklichen gesunden Bildungsdrang geschändet, sondern nur geweiht werden. Mögen aber auch alle Teilnehmer, die von den Öffentlichen Schulen kommen, in

17*

260 B. Mitteilungen.

der heutigen Zeit der geistigen Zwangswirtschaft nicht vergessen, daB die Ferienkurse wie auch die Volkshochschule mit zu den von St. Burokratius und Demokratius dem Untergange zu weihenden Privatbildungsanstalten gehören, und mögen sie bei den Landes- und Reichsgesetzgebungen wie in den Gewerkschaftskreisen darauf hinwirken, daß alle Freiwilligkeit nicht bestraft und gelähmt, sondern anerkannt und unterstützt werde. Tausende von solchen freien (privaten) Anstalten sind aber durch den heutigen Zwangssozialismus der Staatskrippengenießer in ihrem Dasein ernstlich bedroht. Trüper.

7. Der 11. Würzburger schulgesangpädagogische Fortbildungskurs

findet Mitte Juli statt. Dauer 3 Tage, Leitung: Schulgesangpädagoge Raimund Heuler, Würzburg, Harfenstraße 2. Die Würzburger Kurse sind von Abgeordneten aller deutschen Unterrichtsministerien besucht worden. Näheres durch die Kursleitung.

8. Schulkinder-Ausstellung in Düsseldorf.

In Düsseldorf ist eine sehr wertvolle Schulkinderausstellung geplant, nach folgendem Programm:

I. Das Schulkind als bevölkerungspolitischer Faktor: Zahl der Schulkinder absolut und relativ.

IL Gesundheitliche Entwicklung: Wachstum, Gewicht, Körper- proportionen, Ernährung, Kleidung, Schlaf, allgemeine Hygiene.

IH. Geistig-sittliche Entwicklung. Entwicklung des Intellekts, der Sinne und Phantasie, Willensbildung, Ästhetische Erziehung. Experi- mentalpsychologie. Erzeugnisse des Kindes in Spiel und Arbeit.

IV. Fürsorgebedürftigkeit: a) gesundheitlich: Unterernährung, Wohnungsverhältnisse, Tuberkulose, sonstige Gefährdung gesundheitlicher Art, Sterblichkeit. b) geistig-sittliche Gefährdung: Verwahrlosung, Krimi- nalität, Fürsorgeerziehung.

V. Offene Fürsorge: Schularzt und Schulzahnpflege, Wohlfahrts- pflegerin, Schulpflegerin, Schulschwester.

VI Ernährungs- und Ernährungsfürsorge: Schulspeisungen, Schwimmbäder, Luft- und Lichtbäder, Solbäder, Schülergärten, Wald- erholungsstätten, Waldschulen, Ferienkolonien, Stadtkinder aufs Land, Seehospize, Kinderheilstätten.

VH. Pädagogische Fürsorge: Lesestuben, Werkstätten, Horte, Heime, Lichtspiele.

VII. Grenzfragen zur Schulpädagogik: Arbeitsschule, Werk- unterricht, Reformschulen, Hilfsschulen, Schulkindergarten.

IX. Grenzfragen zur Jugendpflege und Jugendbewegung: behördliche, konfessionelle und sonstige Jugendpflege, Klubs, Jugend- bewegung, Wandervogel usw., Jugendringe.

9. Kleinere Mitteilungen. 261

Anscehauungsmittel: Statistiken, Tabellen, graphische Darstellungen, Fragebogen, Tagebücher, Beobachtungsmethoden und Resultate, Listen- führung, Dienstanweisungen, Berichte, Arbeitspläne, Stundenpläne, Bro- schüren, Prospekte, Lichtbilder, Büchereien, Inneneinrichtung, Be- schäftigungsmittel, Musterschrank, Handwerkzeug, Modelle, Gegenbeispiele.

9. Kleinere Mitteilnngen.

1. Internationales Kinderschutzamt. Der Kongreß für Kinderhilfe in Genf nahm mehrere Entschließungen an, darunter eine, die den Wunsch ausdrückte, daß unter dem Schutz des Völkerbundes und mit Unterstützung des internationalen Roten-Kreuzkomitees sowie der Liga der Roten-Kreuz-Organisationen und der internationalen Organisationen zum Schutz der Kinder ein internationales Kinderschutzamt geschaffen werde.

2. Die Zeitung »Le Peuple« veröffentlicht im Febr. d. J. Statistiken über das Kinderelend in Mitteleuropa. In Deutschland gibt es eine Million kranker Kinder; in Österreich sterben 700000 Kinder Hungers; in Ungarn sind von 100000 im Vorjahre gebornen Kinder 45000 krank und in Polen hungert eine Million Kinder im wahren Sinne des Wortes.

So wollen es die »christlichen« Feinde des festländischen Germanen- tums. Vor allem muß mit allen Mitteln das deutsche Volk vermindert und geschwächt werden.

3. Ein Oberster Geburtenrat in Frankreich. Der Rückgang der Geburtenziffer, durch die sich Frankreich sehr bedroht fühlt, hat die französische Regierung veranlaßt, im Anschluß an das neugeschaffene Ministerium für Volksgesundheit und soziale Fürsorge einen Öhersten Geburtenrat zusammenzustellen. Der Rat besteht aus dreißig Mitgliedern und tagt mindestens einmal im Monat. Seine Aufgabe ist, alle Maßnahmen in Erwägung zu ziehen, die geeignet sind, die Kinderfürsorge zu unter- stützen, die kinderreichen Familien zu fördern und Gesetzesvorschläge auf ihre Bedeutung für die Geburtenziffer zu prüfen.

4. Kinderelend in Räterußland. Unter der Überschrift: »Wo ist der Ausweg?« bringt die bolschewistische »Jswestija« einen Artikel, in dem sie das furchtbare Los der Kinder in Räterußland beklagt. Das Blatt gibt zu, daß das Leben der Kinder zu Hause und in den An- stalten infolge des Mangels an Heizung, Kleidung und Lebensmitteln geradezu schrecklich ist. Durch das Fehlen jeglicher Aufsicht werden sie vollständig dem Laster ausgeliefert. Im frühesteu Alter schon haben sich die Kinder alle »Vorzüge« des Lasterlebens angeeignet, wie Raub und Diebstahl, Kokain und Prostitution. »Gewöhnliche Maß- nahmen zu ergreifen, ist unzureichend«, sagt das Blatt; es sei unbedingt notwendig, ganz außerordentliche Verfügungen zu treffen. Aber was für welche? Darauf gibt der Artikelschreiber keine Antwort.

5. Kinderhölle. Ein ungarisches Blatt »Uj Nemzedek« teilt das Ergebnis einer Umfrage in einer Budapester Volksschule des 10. Bezirkes

262 B. Mitteilungen.

mit, die bei 450 von den 500 Kindern der betreffenden Schule feststellte, daß sie vor dem Schulbeginn bloß ein Stück trockenes Brot gegessen hatten, ohne auch nur einen Schluck Kaffee, Tee oder sonst etwas Warmes in den Magen zu bekommen, bei den restlichen 50, daß sie vollkommen hungrig in die Schule gegangen waren.

6. Leitsätze zur Bekämpfung der Tuberkulose im Kindes- alter. Auf der 2. Vollversammlung des Landesausschusses zur Be- kämpfung der Tuberkulose vom 27. März 1920 sind auf Grund der ge- haltenen Vorträge Leitsätze zur Bekämpfung der Tuberkulose im Kindes- alter ausgearbeitet worden, die im Verlag der C. Rich. Gärtnerschen Buch- druckerei (Heinrich Niescher) in Dresden erschienen sind. Sie beschäftigen sich mit der erforderlichen Aufklärung über Ansteckungsfähigkeit, Ver- meidbarkeit und Heilbarkeit der Krankheit, vor allem aber mit der auszuübenden Fürsorge. Bezüglich der letzteren wird ausgeführt, wie sie im allgemeinen, sei es privat, sei es Öffentlich, sodann wie sie im Säuglingsalter, im Kleinkindesalter, im Schul- und im Fortbildungsschulalter zu gestalten ist. Ein Nachtrag enthält die für die Belehrung über den Kampf gegen die Tuberkulose im Kindesalter wichtigen Zeitschriften, Merkblätter, Belehrungs- und Anleitungsschriften, soweit sie vom Deutschen Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose in Berlin, dem Verein zur Bekämpfung der Schwindsucht in Chemnitz, dem Freien Ausschuß zur Bekämpfung der Sch vindsucht in Dresden und der Vereinigung zur Krankenfürsorge zu Leipzig herausgegeben worden sind.

7. Sterblichkeitsbekämpfung oder Geburtenvermehrung? In einer Sitzung der »Berliner Medizinischen Gesellschaft« fand nach einem Bericht der »Leipziger Neuesten Nachrichtene ein Vortrag und daran anschließend eine Aussprache über das Thema »Arzt und Bevölkerungspolitik« statt. Aus den auch für die Allgemeinheit bemerkens- werten Ausführungen des Vortragenden Dr. Hamburger möchten wir hier einiges herausgreifen: Seit 1914 verlor das Deutsche Reich etwa den zehnten Teil seiner Einwohner, 1. durch die blutigen Verluste des Krieges, 2. durch die Bewohner der abgetretenen Gebiete, 3. durch die un- menschliche Hungerblockade und 4. durch den Geburtenrückgang. Diese Verluste zu ersetzen, ist jetzt eine der dringlichsten Aufgaben der Be- völkerungspolitik. Ein Ersatz ist möglich einmal durch Steigerung der Geburtenziffer und durch wirksame Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit. Die Wissenschaft ist in zwei Lager gespalten: Der eine Teil fordert Geburtenvermehrung: Jeder Mann habe mindestens drei Kinder zu zeugen oder entsprechende wirtschaftliche Zubußen zu leisten. Das andere Lager (auch der Vortragende) meint: Mit zunehmender Geburten- ziffer steige auch die Verlustziffer ganz ungemein. Bei den Verhältnissen der Vorkriegszeit war es nötig, daß fünf Kinder geboren wurden, damit drei leben blieben. In Arbeiterfamilien, wo Kinder in größerer Anzahl zumeist als empfindliche persönliche und wirtschaftliche Belästigung empfunden werden mußten, waren die Verluste etwa dreimal so hoch wie bei wohlhabenden Kreisen. Die Verluste waren teils durch Fehl- geburten, teils durch Verluste an Kleinkindern und nicht zuletzt an

9. Kleinere Mitteilungen. 263

Müttern selber herbeigeführt. Seit dem Kriege hat nun die Zahl der Fehlgeburten um mehr als die Hälfte zugenommen; trotz Rückganges der Geburtenziffer steige die Zahl in den preußischen Entbindungsanstalten noch immer. Nun habe sich zwar die Zahl der Eheschließungen ver- doppelt; die Männer kamen jedoch oft mit Geschlechtskrankheiten behaftet vom Felde‘ zurück, und die Folge war eine erschreckende Zunahme der Totgeburten. Demselben Umstande ist auch die starke Sterblichkeitsziffer unter den Säuglingen und Kindern zuzuschreiben, weniger der Tuberkulose, teilweise freilich auch dem Umstande, daß die Mütter heute mehr körperlich arbeiten müssen als früher, wodurch der Nachwuchs in seiner Lebensfähigkeit beeinträchtigt wird. Die Verluste an Müttern sind vor- wiegend der Tuberkulose zuzuschreiben, einer Folgeerscheinung der Hunger- blockade. Aus dem Gesagten ergibt sich jedoch zweifelsfrei, daß im Augenblick eine Geburtenvermehrung unmöglich, ja nicht einmal erwünscht sein kann. "Der Redner streifte dann noch die Schwierigkeit der heutigen Wohnungsverhältnisse, die auch dem Heranwuchs im Wege stehen. Haben doch nach einer Aufstellung der Berliner Allgemeinen Ortskrankenkasse im Jahre 1918 über 1500 Hauskranke ihr Bett mit anderen Personen teilen müssen. Der Volkskörper sei krank und bedürfe der Schonung. Die Forderung nach Geburtenvermehrung sei daher verfehlt oder wenigstens verfrüht. Sehr dringlich sei die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten und eine andere Ordnung des Wohnungswesens.

8. Das Zwickauer Krüppelheim in großer Gefahr. Nach dem : veröffentlichten Jahresberichte des Krüppelfürsorgevereins zu Zwickau, ist der Verein infolge des ungeheuren Anwachsens der Kosten, die ihm der Betrieb des rühmlichst bekannten Krüppelheims verursacht, mit einem Fehlbetrage von 164000 Mark in das neue Ge- schäftsjahr eingetreten. Eine weitere Erhöhung der von jetzt ab 12 Mark betragenden täglichen Verpflegkosten ist unmöglich, wenn nicht vielen armen Krüppelkindern und nur solchen steht die Anstalt offen der Eintritt in diese versperrt werden soll. Vom Staate ist bei dessen Finanzlage eine weitere Hilfe als die schon gewährte nicht zu erwarten, und dasselbe gilt von den Gemeinden der beiden Regierungsbezirke Chemnitz und Zwickau, aus denen dem Krüppelheime seine Pfleglinge zu- strömen. Nimmermehr aber darf der Verein die Anstalt eingehen lassen. Das wäre ein großes Unglück für soviele beklagenswerte Kinder, die in dem Krüppelheime Heilung von schweren Gebrechen finden können, ein bedeutender Schaden für die Allgemeinheit, weil das Krüppelheim sehr wohl imstande ist, die meisten seiner Pfleglinge arbeitsfählig zu machen, während sie andernfalls zeitlebens der öffentlichen Fürsorge zur Last fallen müßten. Viele hundert Kinder haben bisher in dem Krüppelheime, das seit nahezu 20 Jahren besteht, Heilung gefunden. Allein im Jahre 1920 sind dort 146 als geheilt ent- lassen und 153 neu aufgenommen worden.

9. Die Luisenheilanstalt (Kinderklinik) Heidelberg schloß für das Jahr 1920 mit einem Fehlbetrage von 316000 M ab. Davon will der Staat 155 000 M. übernehmen, während den verbleibenden ungedeckten

264 B. Mitteilungen.

Betrag Stadt und Kreis Heidelberg zuschießen sollen. Der Kreisausschuß will 40000 M. beisteuern und der Stadtrat hat sich grundsätzlich bereit erklärt, ebenfalls einen Zuschuß zu leisten.

10. Dem anhaltischen Landtage ist soeben der Antrag auf Auflösung der Landeserziehungsanstalt für schwachsinnige Kinder in Dessau unterbreitet worden. Infolge des Krieges haben sich sowohl ip der Beschaffenheit der Gebäude als auch in der Erziehung der Kinder mannigfache Mängel herausgebildet, deren Abstellung eine Umgestaltung der Anstalt erforderlich machen würde. Das aber würde ganz be- trächtliche Kosten verursachen. Der einzige Ausweg, die Umgestaltung zu umgeben, liegt in dem Anschluß der Dessauer Landeserziehungsanstalt an die Neinstedter Anstalten bei Thale. Dadurch würden nicht nur be- trächtliche Kosten erspart, sondern auch Räume zur anderweitigen Miets- benutzung frei. Der Landtag soll einen entsprechenden Vertrag mit dem Neinstedter Elisabethstift genehmigen.

11. Der Vorstand des Vereins Kinderheim hat leider, durch die finanzielle Notlage in der sich das Nossener Kinderheim befindet, und nicht zuletzt in Rücksicht auf den dauernd schwachen Besuch des Heims, dasselbe am letzten März schließen müssen.

12. Ein dringender Hilferuf für ein Hilfs- und Liebeswerk kommt von dem Vorstande der Alsterdorfer Anstalten:

»Der bevorstehende 100jähr. Geburtstag des verdienstvollen ham- burgischen Pastors D. Dr. Sengelmann (25. Mai 1921), dessen welt- bekannte Alsterdorfer Anstalten schon über 41/, Tausend ham- burgischen und auswärtigen Schwachsinnigen und Epileptischen ein schützendes Heim geboten haben, findet dieses sein Lebenswerk infolge der Zeitverhältnisse in ernster Bedrängnis. Seit mehreren Jahren schlossen die Jahresrechnungen mit bedeutenden Fehlbeträgen ab. Er- schreckender Mangel herrscht besonders an Kleidung, Wäsche, Strümpfen und Fußzeug für die etwa 736 Pflegebefohlenen. Größere Anschaffungen sind ebenso unumgänglich wie unerschwinglich. Für die Angestellten können nur knappe Löhne, weit zurückstehend hinter den vom Staate ge- zahlten, ausgeworfen werden. Schnelle und großzügige Hilfe aller, denen die Notwendigkeit der Fortführung des gesegneten Liebeswerkes klar ist, tut dringend not und wird von dem unterzeichneten Vorstande angelegent- lichst erbeten.«

In der heutigen Zeit, wo von Sozialismus viel geredet, ja geschrien wird, aber auf unserem Gebiete, ja überhaupt im Öffentlichen Leben uns viel eher das Gegenteil entgegentritt, der egoistische Materialismus, möchten wir das Studium der Lebensgeschichte von Sengelmann besonders ange- legentlichst empfehlen. Anläßlich des goldenen Amtsjubiläums Sengelmanns im Jahre 1896 ist im Verlage von Lucas Gräfe & Sillem in Hamburg erschienene, mit 4 Bildern geschmückte Buch: Pastor Heinrich Matthias Sengelmann, Dr. Eine biographische Skizze, herausgegeben von Senior D. Behrmann. Die erste Hälfte, bis zur Moorflether Amtszeit einschließ- lich reichend, ist von Sengelmann selbst verfaßt, das Ganze ein sehr an- ziehendes und empfehlenswertes Buch.

9. Kleinere Mittəilungen.

B...

13. 50 Millionen Sammelergebnis der Kinderhilfe Die Sammlung für die Deutsche Kinderhilfe hat ihren Abschluß gefunden. Einige Landesteile wie Bayern und Schlesien stehen zwar noch am Anfang ihrer Sammeltätigkeit, trotzdem kann schon jetzt ein gewisser Überblick über den Erfolg der Gesamtaktion gegeben werden. Danach ist trotz der Un- gunst der Verhältnisse und trotz der Sammlungen für andere Zwecke das Ziel etwa fünfzig Millionen Mark für die Deutsche Kinderhilfe ein- zubringen nicht nur erreicht, sondern voraussichtlich überschritten worden. An der Spitze der Spenden steht Berlin mit 10850000 M., wozu Provinz Brandenburg mit 1000000 M. kommt, die Rheinprovinz brachte 5000009 M. auf, Bayern 4000000 M., Sachsen 3600000 M., Baden 2000000 M., Württemberg 2500000 M., Bremen 3000000 M. und Hamburg-2000000 M. Insgesamt erreichten die Spenden 48933 000 M. Hierzu kommt eine Spende der deutschen Schokoladen-Industrie in bar und in Waren von etwa 6300000 M. Die Verteilung des Sammlungs- ergebnisses liegt in den Händen der einzelnen Orts-Ausschüsse Der Reichsausschuß wird demnächst mit Vertretern der Länder und Provinzen feststellen, wie die Mittel des Reichsausgleichsfonds zu verwenden sind. Ein sehr erheblicher Betrag wird zentralen Einrichtungen für Kinder- versendung an die See und ins Gebirge zugutekommen. Ferner sind mit besonderen Zuwendungen zu bedenken die Notstandsgebiete in Ober- und Mittelschlesien, Ruhr- und Saargebiet, Sachsen und Thüringen.

14. »Zur Lesebuchfrage« schreibt der Berliner, ins Kultus- ministerium als Rat berufene Rektor C. L. A. Pretzel im »Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen«, daß die Entfernung aller Stücke, an denen man jetzt Anstoß nimmt, nicht so leicht möglich sei. Der Erlaß hätte sich einfach nicht durchführen lassen, weil ihm unüber- windliche, sachliche Hindernisse entgegenständen. Die Millionen von Lesebüchern, die sich jetzt in den Händen der Schüler befinden, müßten mit einem Schlage wertlos, unbrauchbar gemacht werden und in kürzester Zeit ebenso viel neue hergestellt und gekauft werden. Diese alten Bücher verbieten, hieße einfach fordern, daß die Schule auf Bücher überhaupt verzichten soll. Pretzel ist einsichtsvoll genug, um zu betonen, daß die gewünschte Neugestalt Zeit haben muß, um zu wachsen und nicht durch einen Ministerialerlaß angeordnet und befohlen werden kann. Erfreulicher- weise wünscht Pretzel auch, daß nicht in erster Linie das alles »im üblichen Sinne politisch Bedenkliche, sondern noch weit mehr vieles andere Rückständige, worüber die Lehrer aller Richtungen sich längst einig wären, umgestaltet werden müsse. Pretzel meint, eine sachgemäß vorgehende Unterrichtsverwaltung wird Vorsorge treffen, daß jede Richtung die Möglichkeit erhält, die Richtigkeit ihrer Gedanken im Handeln zu erproben und nur darauf bedacht sei, Schäden zu verhüten. Sie wird denen Freiheit gewähren, die statt des Lesebuchs oder neben ihm Einzel- schriften mit den Schülern lesen wollen, und zwar Freiheit nicht nur den Schulen eines Ortes, auch nicht bloß der geschlossenen Schule, sondern auch dem einzelnen Lehrer. Nur wird diese Sicherung dabei zu schaffen machen, daß dabei die Wahl von Minderwertigem ausgeschlossen ist.

266 B. Mitteilungen.

> Was hier zu tun ist, kann nicht von der Behörde allein getan werden. Es gilt, die in der Lehrerschaft vorhandenen, für die Arbeit geeigneten Kräfte heranzuziehen. Gute Vorarbeit ist schon von den Jugendschriftenprüfungsausschüssen geleistet worden. Sie würden gewiß gern auch bei der Lösung der hier gestellten Aufgabe mitarbeiten. Aber vielleicht wäre es doch nötig, den Kreis der Arbeitenden über die Schulleute hinaus zu erweitern durch Heranziehung von anerkannten Kunstrichtern, von Männern der Wissenschaft, schließlich von Vätern und Müttern, die aus den Erfahrungen des Familienlebens heraus darüber mit entscheiden, was Kindern gemäß und genehm ist. Ein Hauptlesebuchausschuß, zu dem auch Mitglieder der Unterrichtsverwaltung vom Minister abgeordnet werden, würde die Aufgabe haben, für die Einzelarbeit eine regelnde, sammelnde und zuweilen auch entscheidende Mittelstelle zu bilden.«

In diesen Ausführungen Pretzels, dem Herausgeber der »Deutschen Schule«, wird wahre Freiheit verlangt gegenüber der Scheinfreiheit von Hänisch und Genossen auf anderen Gebieten.

15. Das Recht zur religiösen Erziehung der Kinder. Zu dieser Frage schreibt der Evang. Pressedienst: »Die gesetzgebenden Körper- schaften des Reiches werden demnächst den von Vertretern verschiedener Parteien eingebrachten Gegenentwurf beraten, nach dem die Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches über das Erziehungsrecht, unter Aufhebung entgegenstehender landesrechtlicher Bestimmungen, künftig auch für die religiöse Erziehung der Kinder gelten sollen mit der Einschränkung, daß Vormund und Pfleger die Religion oder den Bekenntnisstand ihres Mündels oder Pfleglings nicht ändern dürfen, und daß die Kinder mit 14 Jahren religionsmündig werden.

Dieser Gesetzentwurf bedeutet einen Fortschritt insofern, als er für das ganze Reich einheitlich festsetzt, wer Religion und Bekenntnisstand eines Kindes und damit laut Reichsverfassung über dessen religiöse Unter- weisung bestimmt, das ist bei Bestehen der Ehe der Vater. Ein Mangel des Entwurfes liegt also darin, daß er dem erst nach Inkrafttreten des B. G. B. in der neuesten Gesetzgebung maßgebend gewordenen Grundsatze der rechtlichen Gleichstellung der Frau mit dem Mann nicht Rechnung trägt, denn wenn Mann und Frau in dieser Frage uneins sind, so ent- scheidet nach den Erziehungsvorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs der Mann allein; sein Wille bestimmt über Religion, Religionswechsel oder Religionslosigkeit des Kindes, demnach auch über Teilnahme am Religions- unterricht oder Abmeldung davon. Ob auf Anrufung durch die Mutter das Vormundschaftsgericht in solchen Maßnahmen des Vaters immer einen Mißbrauch der väterlichen Gewalt oder eine Gefährdung des geistigen Wohles des Kindes sehen würde, ist mindestens zweifelhaft, und eine Klage der Mutter vor dem ordentlichen Richter dürfte kaum mehr Aus- sichten bieten.

Bei der heutigen Verschärfung der Gegensätze zwischen den ver- schiedenen Weltanschauungen, religiösen und religionslosen, und den häufigen Aus- und Übertritten wandeln sich viel mehr Ehen zwischen

€. Literatur. 967

zwei Personen derselben Konfession, Religion oder Weltanschauung zu Mischehen um als früher. Beim Abschlusse einer Mischehe war schon stets eine bindende Vereinbarung über die religiöse Erziehung künftiger Kinder möglich, die auch der Frau einen maßgebenden Einfluß sicherte; ähnliche Erziehungsverträge müßten jetzt auch bei nicht gemischten Ehen anwendbar werden, darüber hinaus aber sind Vorschriften erforderlich, die auch in Ermangelung dessen den Ehemann hindern, ein Kind gegen den Widerspruch der Frau in einer anderen, als der zur Zeit der Eheschließung den Eheleuten gemeinsamen Konfession oder Religion oder gar religionslos zu erziehen.

Über den rechtsförmlichen Gesichtspunkt der Gleichberechtigung von Mann und Frau hinaus spricht noch eine sachliche Erwägung für eine solche Regelung: in den meisten deutschen Familien ist es gerade die Mutter, von der die Kinder religiöse Erziehung empfangen, und nicht der Vater. Die Bestimmungen des neuen Gesetzentwurfs würden also gerade dem in dieser Sache tätigeren und vor dem andern sachverständigen Teile der Eheleute die Mitbestimmung über die religiöse Erziehung der Kinder vorenthalten. Das muß unbedingt vermieden werden. Man folge also dem Beispiele von Württemberg; die dort in der Ausarbeitung be- griffene Gesetzgebung über die Trennung von Kirche und Staat sieht aus- drücklich die Gleichberechtigung von Mann und Weib hinsichtlich der religiösen Erziehung der Kinder vor.«

C. Literatur.

I. Buchbesprechungen. Beetz, K. O., Der Mann und sein Werk. Osterwieck, Verlag A. W. Zickfeld. 10 8.

Dies kleine Schriftehen ist mutmaßlich vom Verleger herausgegeben worden infolge der Schulrevolutionen im Gothaischen. In dem voranstehenden kurzen, aber interessanten Lebenslauf von Beetz heißt es:

»Die jüngsten Ereignisse in der Laufbahn dieses bewährten Schulmannes sind den Lesern der von Beetz herausgegebenen Pädagogischen Warte bekannt. Die Gothaer Regierung, die sich nach dem Umsturze, aber nicht mehr lange, aus Kommunisten zusammensetzt, war mit der nur von Pflichttreue und starkem Ver- antwortungsgefühle bestimmten Amtstätigkeit des Schulrats Beetz nicht zufrieden und verfügte seine Amtsenthebung. Ein Schulstreik im ganzen Lande mit dem Ziele, Beetz wieder in sein Amt einzusetzen, war das von tiefster Empörung über das gewaltsame und gehässige Vorgehen der von einem Herrn Jacobi geführten Gothaer Schulverwaltung bewirkte Ergebnis. Bei dem Abschlusse dieser Schrift war noch nicht bekannt, ob der von vielen Seiten unternommene Versuch, Schulrat Beetz Genugtuung zu verschaffen, gelungen sei. Sicher aber ist: Recht muß Recht bleiben, und das kann nur das Recht auf Geistesfreiheit bedeuten.«

Ein ungenannter H. R. bringt zunächst einen interessanten Artikel mit der Überschrift: »Die Masse und der Einzelne.« Es ist darin manches gesagt,

268 C. Literatur.

worauf ich seit 30 Jahren schon wiederholt hingewiesen habe. Einiges sei darum hier wörtlich daraus wiedergegeben:

»Des echten Lehrers, namentlich aber des Junglehrers Stellung zu bestimmten Bewegungen kann eigentlich nur die sein: Soweit er sich an dem wissenschaftlichen Leben beteiligt fühlt, wird er es ablehnen, irgend eine fremde, besonders aber eine öffentliche Meinung ohne weiteres zu teilen. Er, der Hirte sein will, kann un- möglich sich selbst in eine Herde einordnen. Denn dadurch würde der Begriff des Lehrers für ihn selber aufgehoben sein. Er ist verpflichtet, jede Frage, die er sich selbst stellt, nach dem Vorgange der Wissenschaft zu beantworten. Nur dieses ständige Schöpfen von Werturteilen führt zur Bildung einer eigenen Lebensanschauung, die der Beeinflussung von außen her genügenden Widerstand zu leisten vermag.

Zu den wenigen Schulmännern, die in dieser Hinsicht als vorbildlich genannt werden können, gehört K. O. Beetz. Als ein Aufrechter geht er durch diese Zeit, unbeirrt von allem Tagesgeschrei, allein erfüllt von dem Gedanken, wie die Schule in dem Sturme der Meinungen vor Schaden bewahrt werden könne. Nicht als ob er sich vor den Notwendigkeiten des Tages verschlösse und ablehnte, was sich nicht mit überkommenen Überzeugungen verträgt, aber er ist ein echter Mann ohne jeden weiblichen Einschlag in seiner Gesinnung. Es fehlt ihm der Wille, sich den ver- gänglichen Forderungen der Stunde hinzugeben. Diese Stärke der Gesinnnng ist heute selten. Die Lehrerschaft darf stolz sein, einen Mann in ihren Reihen zu wissen, dessen Pflichtgefühl alle anderen Rücksichten überwindet, vor allem die, der öffentlichen Meinung gefällig zu sein,

So haben die Hefte der Pädagogischen Warte seit dem Umsturze der- alten Ordnung immer wieder eine Persönlichkeit gezeigt, was nicht hoch genug anzuerkennen ist in einer Zeit, die eine merkwürdige Überschätzung der Mittel- mäßigkeit kennzeichnet, Diese ist allerdings begreiflich bei Bestrebungen, die aus öffentlichen Meinungen erwachsen und sich als Volkswille kundgeben. Niemals ist ein Gedankenfortschritt anders bewirkt worden als durch den Einzelnen, eine Tatsache, an die nicht oft genug erinnert werden kann.

Die Schule ist ein Politikum nur insoweit, als sie dazu zu dienen hat, eigene Urteilsfähigkeit und ein sittliches Verhältnis des Bürgers zum Staate vorzubereiten und eine möglichst hohe Durchschnittsbildung zu erreichen. Sicher lassen sich die äußeren Formen der Jugenderziehung in gewissen Grenzen ändern. Bestimmte Lehraufgaben werden sich den neuen Anschauungen anpassen können. Aber im Wesentlichen muß das Ziel der Schule bestehen bleiben, wie es ist, nämlich: ein lebensfreudiges und freimütiges Geschlecht heranzubilden, in dem die Eigenart der Tüchtigen zur Geltung kommt und die hervorragenden wie die mittelmäßigen Be- gabungen der Ehre und dem Nutzen des ganzen Volkes bewußt und willig dienen. Und das ist gut so: in der Flucht der Erscheinungen kann sie beharren, verschont von dem Hasse der Parteien, die an ihr Kulturfreundlichkeit beweisen müssen. Sie ist berufen, der Kristallisationskern zu sein, um den sich der Staat zu neuer Ordnung bildet. Deshalb kann die Schule nicht die politischen Formungen außer acht lassen, schon um zu verhindern, daß sie sich an ihrem Rechte der Selbst- verwaltung vergreifen. Dieses liegt in der Hand ihrer Vertreter, der Lehrer, die allein berufen sind, die Richtung der Entwicklung unseres Schulwesens zu bestimmen. Aber wer darüber hinaus die Schule zu politisieren versucht, versündigt sich aufs schwerste an seinem Volke. weil er die Grundlagen der Kultur untergräbt. Wie echte Wissenschaft immer unpolitisch sein wird, so sollte auch die Schule, die auf sie vorbereitet, niemals Sache des Kampfes der Parteien werden.«s

C. Literatur. 969

Es werden des weiteren mit Beziehung auf die Beetzschen Schriften noch ver- schiedene Fragen besprochen, so von Gymnasialdirektor Dr. A. Graf von Pesta- lozza: »Istdie Kenntnis der Geschichte der Psychologie fürden Lehrer notwendig?« Pestalozza gibt darauf an der Hand einer Schrift von Beetz eine sehr beachtenswerte Antwort, auf die näher einzugehen wir uns des Raumes halber wegen versagen müssen, ihm in der Bejahung der Frage voll zustimmend. Dann folgt eine Arbeit: »>Neue Wege im Religionsunterricht« von H. R. und schließlich eine Betrachtung über »Selbständige und korrekte Amtsführunge in Anschluß an Beetz’ Schrift »Der Führer im Lehramt« von Dr. Franz Schnaß. Wenn Schnaß S. 16 sagt:

»Wurde schon der Krieg auch in dem Schulwesen der Vater neuer Dinge, so zerrt der Revolutionssturm an alten Blättern und wirbelt neue daher. Eine Ver- fügung drängt die andere. Je mehr Verwirrung nörgelnde, schrille Stimmen Un- berufener anrichten, um so reger wird das Bedürfnis nach zuverlässiger Führung durch einen im Dienst ergrauten, aber doch im Herzen jungfühlenden, besonnen- fortschrittlichen Schulmann. Ein solcher ist Beetz. Und sein »Führer« läge nicht schon in siebenter, starker Auflage vor, wenn er nicht längst ungezählten Lehrern ein unentbehrliches Nachschlagewerk geworden wäre. Längst hat er Bücher ähnlichen Inhalts in den Schatten gestellt und sich den Platz an der Sonne errungen. Wer ihn besitzt, gibt ihm einen bevorzugten Platz, so daß er ihn wie den Duden jederzeit bequem zur Hand hat.«

So wollen wir nur hinzufügen: Die sozialistische Regierung brachte »Freiheit, Frieden, Brote (Scheidemann) Psychopathen und Kriminellen und erhob sie zu Amt und Würden, Männer aber wie Beetz wurden wie Verbrecher ihres Amtes entsetzt. Tr.

Reh, Dr. phil. H., Zur mittelalterlichen Kulturgeschichte. Bücherei der Volkshochschule. Bd. I. Heft 5. Preis4 M. Würzburg, Kabitzsch & Mönnich. Die Erweckung des historischen Sinnes gehört mit zu den wesentlichsten Auf- gaben der Volkshochschule. Nur wer die großen Linien der historischen Entwick- lung übersieht, kann seine eigene Persönlichkeit in den Boden des Geschehenen einwurzeln und sich auf diese Weise davor bewahren, von gegenwartsstarken aber zukunftsschwachen Zeitströmungen heimatlos umhergetrieben zu werden. Dazu sind aber historische Studien nötig, die sich freilich nicht in Einzelheiten verlieren dürfen, sondern den großen Zusammenhang des historischen Geschehens klar vor Augen führen sollen. Für das Verhältnis von Staat und Kirche im Mittelalter ver- sucht die vorliegende Arbeit dieses Ziel zu erreichen, indem sie nach allgemeinen einleitenden Betrachtungen die großen Auseinandersetzungen zwischen Kaisertum und Papsttum von Karl dem Großem bis zum Untergang der Hohenstaufen vor Augen steilt. Tr.

Mellin, Prof. Josef, Hauptschwierigkeiten der englischen Sprache. Sammlung von Beispielen zu den wichtigsten Regeln der Grammatik zum Selbst- abfragen. Heidelberg, Verlag Jul. Groos, 1920. 184 S.

Der Vorzug des Buches ist, daß es der hauptsächlichsten idiomatischen Wen- dungen der englischen Sprache streng nach grammatischen Gesichtspunkten geordnet und daher sehr übersichtlich darbietet. Die Hilfsmittel verschieden starken Drucks, überhaupt optische Mittel sind in glücklicher Weise verwertet, so daß die gram- matischen Regeln nur selten ausdrücklich formuliert zu werden brauchen, weil sie ohne weiteres aus der Art, wo die Beispiele gedruckt und angeordnet sind, hervor-

970 C. Literatur.

gehen müssen. Was den Stoff betrifft, so ist er durchweg dem modernen Leben entnommen, ohne aber ins Triviale zu verfallen. Es fällt auf, in wie starkem Maße den Weltkrieg betreffende Redensarten verwendet sind: sicherlich sind solche mit aktuellem, oder kürzlich noch aktuellem Interesse verbundene Stoffe den sonst wohl üblichen, in entlegene Geschichtsperioden zurückführenden Beispielsätzen vorzu- ziehen. R. von Rohden,

Merk, Dr. Walther, a. o. Prof. a. d. Univ. Straßburg i. E., »Die Schrift- frage als Kulturfrage«. (Flugblatt des Bundes für Deutsche Schrift Nr. 3.) Zweite unveränd. Auflage. Berlin-Steglitz, Verlag des Bundes für Dtsch. Schrift. Preis 30 Pf. Teuerungszuschlag 10 Pf.

Durch die Fibelfrage ist diese Schriftfrage wieder sehr akut geworden. Ich habe bereits vor 30 Jahren in meiner Schrift »Psychopathische Minderwertigkeiten im Kindesalter«e auf die Bedeutung der Schriftfrage im ersten Unterricht« hinge- wiesen, in der Zeitschrift haben wir eine längere Abhandlung von Soennecken für die Antiqua gebracht und in Heft 149 der »Beiträge« für die Fraktur-Schrift von Marx Lobsien (»Über Lesbarkeit von Fraktur und Antiqua«, 32 S., 80 Pf). Wir empfehlen auch obige Schrift der Beachtung unserer Leser. Tr.

Il. Eingegangene Schriften.‘)

1. Kühnel, Prof. Dr. Johannes, Thieme & Schlossers Rechenübungen für Volks- schule. Ausgabe A. neubearb. 1. Heft (für Schüler). 2,40 M. Ausgabe A. Beiheft zum 1. Schülerheft (für Lehrer). 6 M. Dresden, Verlag Alwin Hahle.

2. Meyer, Johannes, Schulleiter, unter Mitarbeit von Marta Hartmann, gepr. Nadelarb.-, Koch- u. Haushalts-Lehrerin, Stoffpläne für Mädchen - Fortbildungs- schulen in Stadt und Land, Ebenda. 2,60 M.

3. Fröhlicher Anfang, eine neue deutsche Fibel von Karl Eckhardt u. Adolf Lüllwitz, Frankfurt a. M., mit Bildern von Arpad Schmidhammer und anderen, Ausgabe E. für Hilfsschulen, tearbeitet unter Mitwirkung von A. Verleger, Hilfsschullehrer in Frankf. a. M. Frankfurt a. M. u. Berlin, Verlag von Moritz Diesterweg, 1914.

4. Kartoi, W., Übungsstoff für den Rechtschreibeunterricht in Hilfsschulen. eft 1 u. 2.

5. Ders., Lesebuch für Deutsche Jünglinge. Unter Mitwirkung von Lehrer Hein- rich Seebaum- Hannover herausgegeben zum Gebrauche in B- Abteilungen und Vorklassen sowie in der allg. Fortbildungsschule und als Ergänzungslesebuch in Berufsklassen. Ebenda 1913.

6. Ders., Rechenbuch für Hilfsschulen. Unter Mitwirkung von Heinrich Ebrecht, Hauptlehrer der Hilfsschule in Linden herausgegeben. Erstes Heft. Unterstufe. Für das 1. u. 2. Hilfsschuljahr. 4. Aufl. Zweites Heft. Mittelstufe. Für das 3. u. 4. Schuljahr. 2. u. 3. Aufl. Drittes Heft. Oberstufe (für das 5. u. 6. Schul- jahr [Hilfs-schule]). 2. u. 3. Aufl. Ebenda 1914.

7. Neuschaefer-Verleger-Wagner, Lesebuch für Fortbildungsschulen, Frank- furt a. M, Verlag von Moritz Diesterweg. Dasselbe zum Gebrauch in Hilfs- und Vorklassen. Unter Mitwirkung von H. Neuschaefer, Direktor der städt. oblig. Fortbildungsschule zu Frankf. a. M., Bar von A. Verleger und H. Wagner, Hilfsschullehrer in Frankf. a. M. enda 1914.

t) Wegen Raummangel können wir nicht den Inhalt jeder Nummer der uns zugehenden Zeitschriften mitteilen. Wir müssen uns darum mit der Inhaltsangabe einzelner Nummern als Probe begnügen.

.

C. Literatur. 271

8. H. Otto, Schulrat, Einrichtung der Volkshochschule im Regierungsbezirk Stade. 56 S. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann). 2,10 M.

9. Schmied-Kowarzik, Dr. W., Die Bekämpfung des Intellektualismus im Volks- bildungswesen. Ebenda. (U. d. Pr.)

10. Muhs, Dr. Karl, Grundfragen der Volkswirtschaftslebre. Ebenda. 1 M.

11. Ude, Dr. Johann, Universitätsprofessor in Graz, Phantasie und Sittlichkeit. Ein Mahnwort an die deutsche Jugend. 22 S. Graz, Selbstverlag von »Öster- reichs Völkerwacht«, Heinrich Stiasny - Graz.

12. Dorn Freie Liebe oder Einehe mit lebenslänglicher Treueverpflichtung? 248.

nda.

13. Ders., Eigenheim und Eigenland für jede Familie. 26 S. Ebenda.

14. Giese, Dr. Fritz, Aufgaben und Wesen der Psychotechnik. Langensalza, Wendt & Klauwell. 32 8.

15. Dr. Reh, Die Anarchie in Kultur- und Bildungsfragen. Nachrichtenblatt über Ostfragen und ihre politisch-wirtschaftlichen Auswirkungen in Deutschland. Vom 8. 10, 20.

16. Deutsches Institut für ärztliche Mission, Jahresbericht 1919/1920. Er- stattet von Prof. Dr. Olpp.

17. Jugendarbeit, Monatshefte für deutsche Jugendarbeit, Erziehung und Unter- richt. Herausgeg. v. D.-ö. Jugendbund. Geleitet v. Dr. Rob. Möckel. Schrift- leitung u. Verw. Wien I, Annagasse 5. Jährlich 12 Hefte. Preis 12 M.

18. Nachrichtendienst des Bundes zur Förderung der Selbsthilfe der körperlich Behinderten. (Perlbund.) Berlin W. 57, Jahrg. 1921, Nr. 4.

19.|jRing-Flugschriften. : Berlin SW. 61, Der Ring, Vertriebsstelle politischer Schriften. Jedes Heft Preis 2 M.

Heft 1. E. Stadler, Die Revolutionsgefahr 1921.

Heft 2. M. H. Boehm, Der Verrat des Ostens und das gefährdete Preußen. Heft 3. M. Spahn, Die deutsche Arbeiterschaft und der Aufbau.

Heft 4. B. Leopold, Deutsches Industrievolk.

Heft 5. K. Hoffmann, Sozialdemokratische Verwaltungsreform in Preußen. Heft 6. O. Alberti, Preuß. Landwirtschaft unter sozialistischer Verwaltung.

20.International Conciliation, Published monthly by the American Association for International Conciliation. Entered as second-class matter at Greenwich, Conn., Post office, July 3, 1920, under the Act of August 24, 1912. March, 1921, No. 160: 1. Central European Relief, by Herbert Hoover. 2. Relief for Europe, by Herbert Hoover. 3. Intervention on Behalf of the Children in Countries Affected by the War, by the Swiss Delegation to the Assembly of the League of Nations. 4. The Typhus Epidemie in Central Europe, by the Right Hon. A. J. Balfour. 5. Report of the Special Commissiou on Typhus in Poland, to the Assembly of the League of Nations. (Motto: Pro Patria per orbis Concordiam.) American Association for International Conciliation Editorial Office: 407 West 117 th Street, New York City Publication Office: Greenwich, Conn.

21.La Infancia anormal. Boletin fundado en enero de 1907 Y consagrade al estudio de los nifios mentalmente anormales y de su education especial. Marzo 1921. Núm. 1.

Sumario: Proyecto de organización de una escuela especial en Madrid, apro- bado en junio del último año por el Patronato Nacional de Anormales mentales. Habrá en España niños mentalmente anormales? por Amador Pereira. Bases para un proyecte de ley de enseñanza especiel, acordadas por la Asamblea de represen- tantes de la Asociación de las Escuelas auxiliares de Alemmania, celebrada en Han- növer en el mes de agosto de 1920. Información. Bibliografia.

22.The School Review, a Journal of Secondary Education, edited be the Faculty of the School of Education the University of Chicago and published in con- junction with the Elementary School Journal and Supplementary Educational Monographs. Vol. XXIX. April 1921. No. 4.

272 C. Literatur.

Table of Contents: Educational News and Editorial Comment. Franklin Bobbitt, The Actual Objektives of the Present-Day High School. H. V. Church, Attendance Procedure. H. N. Goddard, The Portion of the High-School Program that may advantegeously be given to vocational Work. Carter Alexander, Motives utilized in successful Publicity cam aigns for better School Support. Edith A. Lathrop, Bormitories in Connection with Public Secondary Schools. Educational Writhgs: Reviews and Book Notes. Publications Received. The University of Chicago. Chicago, Illinois, U. S. A. 23.Pro Juventute. Schweizerische Zeitschrift für Jugendfürsorge und Jugend-

pflege. Fortsetzung der »Jugendwohlfihrt«e. Herausgegeben im Auftrage der Stiftungskommission der Schweizer. Stiftung »Für die Jugend« vom Zentral- sekretariat Pro Juventute in Zürich. Zweiter Jahrgang. Heft 4, April 1921.

Inhalt: Ernst Tanner, Die Pflege d. schulentlassenen Jugend. Oeuvres des patronage des apprents de la maison Sulzer frères, S. A. a’ Winterthour. Erina Rossi, Importanza dell'economia domestica nel governo della casa. Frau Dr. med. Imboden-Kaiser, Der Rückgang der Säuglingssterblichkeit i. d. Schweiz. Nos foyers d'enfants. Umschau. Zeitschriften. Bibliographie. Fragen und Antworten. Mitteilungen.

24.Praktische Psychologie. Monatsschrift für die gesamte angewandte Psy- chologie, für Berufsberatung und industrielle Psychotechnik. Herausgeber: Dr. W. Moede u. Dr. C. Piokowski-Berlin. Leipzig, Verlag S. Hirzel. 2. Jabr- gang 1921, Heft 8. Inhalt: Piokowski, Gedächtnisschulung auf natürlicher Grundlage. II Teil. Tramm, Arbeitswissenschaftliche Untersuchung der menschlichen Geräte und Arbeitsverfahren. II. Teil. Rundschau: Die Ergebnisse der Intelligenzprüfungen an Jugendlichen u. die pädagogische Praxis. Einrichtung einer psychotechnischen Versuchsstelle bei der Rololbase séntahin, Psychotechnik im Ausland: Finnland, Schweden.

25.Jugendfürsorge. Mitteilungen der »Deutschen Landeskommission für Kinder- schutz und Jugendfürsorge in Böhmen« und des »Reichsverbandes für deutsche Jugendfürsorge in der Tschechoslowakischen Republik«. Geleitet von Dr. Hugo Heller. Das Blatt erscheint monatlich. Bezugspreis: Inland 20 Ko. Deutsch- land 20 M jährlich. Schriftleitung und Verlag: Reichenberg, Waldzeile Nr. 14. 5. Jahrgang. April 1921, Heft 7. Inhalt: Hauptbericht für 1920. Anleitungen zur Einbringung von Sub- ventionsgesuchen. Unsere praktische Fürsorgetätigkeit. Mitteilungen.

26.Revue de l’institut de Sociologie. Instituts Solvay. Comité de Direction de l'Institut: G. Barnich, G. Hostelet, A. Solvay, E. Vandervelde. Directeurs: G. Barnich, G. Hostelet. Administrateur: G. de Leener. Premiöre annee 1920 1921. Tome II. No. 3. Mai 1921.

Table des maties: J. Leseure, professeur à la Faculte de Droit de Bordeaux, lauréat de l'Institut, Les conséquences sociales de la baisse des prix. B. S. Chlepner, chargé de cours à l'Université de Bruxelles, Le nouveau régime fiscal de l’Allemagne (suite et fin. R. Michels, professeur à l'Uni- versité de Bâle, Quelques traits de la sociologie de Paris. (Tradiut par M. St. de Battaglia.) Chronique du mouvement scientfique (D. Warnotte), voir sommaire. 27. Zeitschrift für Tuberkulose, herausgegeben von M. Kirchner, F. Kraus,

W. von Leube, J. Orth, F. Pentzold. Redaktion: Geh. San.-Rat Prof. Dr. A. Kuttner, Berlin W 62, Lützowplatz 6, Prof. Dr. Lydia Rabinowitsch, Berlin- Lichterfelde, Potsdamerstr. 58a. Leipzig, Verlag von Johann Ambrosius Barth, Dörrienstr. 16, erscheint in zwanglosen Heften.

Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.

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A. Abhandlungen,

Woher? Wohin? Beitrag zu den 25 Jahrgängen der Trüperschen Zeitschrift für Kinderforschung (Kinderfehler). Von 4 Dr. med. Hermann, Oberarzt der rhein. Prov.-Heil- u. Pflegeanstalt Johannistal.

Als vor mehr denn 30 Jahren Trüper hervortrat, um auf Grund der Lehren seines Freundes, des Psychiaters Koch, eine besondere Pädagogik (wissenschaftliche Erziehungskunst) für seelisch abweichende Kinder und eine besondere Erziehungsanstalt für sie zu begründen, konnte er die weitere Entwicklung nicht vorauswissen. Heute darf er gewiß mit Freude auf sein Lebenswerk blicken, denn aus dem Samenkorn ist ein stolzer Baum geworden.) Alle, die ein Herz für Kinderseelen und Kinderleid haben, dürfen dem verehrten Meister der Heilpädagogik danken für das, was er an den Kleinen, den Lieb- lingen des Heilandes, getan hat. Wer sich noch nicht klargemacht hat, welches unermeßliche Liebeswerk durch die Heilpädagogik ge- schehen ist, der möge, soweit ihm die Literatur über Kindermißhand- lungen nicht zur Verfügung steht, wenigstens in dem Büchlein »Über den moralischen Schwachsinn«e von Schäfer?) nachsehen oder vor allem den kurzen Abschnitt in Scholz Lehrbuch »Anormale Kinder« (Verlag Karger) (in der 1. Aufl. S. 335, unter »Behandlung« Ib: Familie oder Anstalt) sich ins Herz gehen lassen. Hier treffen wir nur die körperliche Not, wer beschreibt aber die seelischen Leiden

1) Es ist natürlich unmöglich, alle verdienten Heilpädagogen hier aufzuzählen. 2) Halle, Verlag Marhold. Zeitschrift für Kinderforschung. 26. Jahrgang. 18

274 A. Abhandlungen.

der Schwachen an Geist in ihren Zusammenstößen mit der oft rück- sichtslosen Umgebung? Diese Tragödie unschuldiger Leiden ist noch nicht geschrieben. Nicht einmal der Schandfleck der rohen Kinder- mißhandlungen durch verständnislose Eltern oder Pflegeeltern ist aus dem uns umgebenden Leben ausgelöscht, obwohl die Befreiung davon schon großenteils mit der richtigen Erkennung und fachmännischen Erziehung seelisch abweichender Kinder zusammenfallen würde. Leider hört man immer noch Klagen, daß Sonderschulen, Hilfsschularbeit und Abnormenfürsorge auf Verständnislosigkeit stoßen, ja es werden von Gebildeten noch in geringschätzigem Ton die hier heißbrennenden Kulturaufgaben herabgewürdigt. Hilfsschullehrer mußten erst noch in diesem Jahre Zeugnisse von Fachleuten und Beweise beibringen, daß sie Heilpädagogen seien und nicht etwa eine Art Aushilfslehrer oder Gehilfen der »eigentlichen« Lehrer. Mit Staunen liest man heute,!) daß einen ähnlichen Kampf der Volksschullehrer vor einigen Jahrzehnten zu bestehen hatte, als ein angesehener Gelehrter seiner Überzeugung Ausdruck gab, daß die Arbeit eines Handwerkers weit mehr »Verstand« erfordere als der Beruf, »den Kindern« die »so ein- fachen« Kenntnisse, »das bischen Lesen und Schreiben« zu vermitteln. Wir Jüngeren wissen nicht mehr, daß die Erziehungswissenschaft erst ihre Anerkennung erkämpfen mußte. Trüper wirkte bis heute für diese grundlegende Notwendigkeit, vor allem auch im Interesse der Heilpädagogik, die auf die allgemeine Pädagogik angewiesen ist. Wir verstehen nun auch den begeisterten Kampf für Herbart und die andern Begründer der Pädagogik als Wissenschaft, der nicht nur ein Akt der Pietät und Dankbarkeit ist, sondern auch heute noch sach- ` lich begründet ist. Auch in dieser Grundfrage der Pädagogik nimmt Trüper eine führende und tätige Stellung ein, nicht um bei Herbart stehen zu bleiben, sondern um den festen Boden zu bewahren, den gerade als Pädagogen die Altmeister doch geschaffen haben. Man sagt jetzt hier und da Herbart nach, er habe über den Vorstellungen, dem »Gedankenkreis« das Willensleben vergessen (!). Kann man nicht umgekehrt gerade von manchen neueren Pädagogen, die sich als Psychologen und Pädagogen des »Willens« fühlen, sagen, daß sie, wenn auch nicht psychologisch, dann doch pädagogisch hinter der Herbartschen Auffassung zurückstehen? Die Lücke, die die Psycho- logie lassen muß, wird bei Herbart von einer Form und Gewalt der Ethik, Religion und Ästhetik ausgefüllt, wie sie dem Lehrer auch heute noch mehr zusagt als manche neuzeitliche, auf andere Grund-

1) Hartmann, Die Analyse des kindlichen Gedankenkreises. Leipzig, Kessel- ring, 1896.

Hermann: Woher? Wohin? 275

lagen oder gar nur auf das, was wir heute Psychologie und Natur- wissenschaft nennen dürfen, aufgebaute Pädagogik. Nicht nur hier, sondern auch anderwärts wird der heutigen Psychologie vorgehalten, daß ihre Lehren unser Sehnen nach Erkenntnis auf den höheren und höchsten Gebieten des Seelenlebens nicht befriedigen, in allzu natur- wissenschaftlichem Bestreben. Der alte Lehrer hat ein rechtes Gefühl dafür, daß die Menschenseele doch noch nicht in allen ihren Tiefen und Höhen für Naturwissenschaft und Psychologie faßbar ist, und hält sich an seine alten pädagogischen Klassiker, die ihm darin ent- gegenkommen. So erklärt sich vielleicht die zunächst so befremdliche Ablehnung, die manche »Moderne« erfahren. Was den Einwand der Überbewertung der Vorstellungen anlangt, so kann doch wohl nur ein Mißverständnis vorliegen.) Herbart hat doch gewiß gewußt und gelehrt, daß die Bereitschaft zur Gesinnung, die Empfänglichkeit des Gemüts, zunächst beim Schulkinde vorausgesetzt werden muß. Er schreibt ja nicht über Heilpädagogik. Wie ergreifend schildert Salzmann diese Bereitwilligkeit der kindlichen Seele, die er mit dem bildsamen weichen Wachs, der wahren Jungfernerde vergleicht. Den alten Pädagogen war das, (da sie ja nicht wie die moderne Schul- kinderpsychologie das tut, die vielen unterschiedlichen und ab- weichenden Veranlagungen in ihre Betrachtungen einbezogen, da sie also für ihre Darstellungen normale Willensverhältnisse voraussetzten), so selbstverständlich, daß sie unter diesen Voraussetzungen ganz gut von Gesinnungsstoffen, von der Entwicklung des Gedankenkreises in sittlich-erzieherischem Sinne reden durften. Das Problem, warum bei einigen Kindern dieselben Stoffe das angestrebte Interesse und die erhoffte Umsetzung in Willenskraft, in »Charakterstärke der Sitt- lichkeit« nicht erzielen, wie sie es doch durchschnittlich tun, steht ja auf einem ganz andern Blatt und ist noch heute nicht gelöst, ja kaum in seiner Bedeutung begriffen, wie wir nachher sehen wollen. Auch wir glauben heute, daß Gefühlsanlagen und Triebfedern des Charakters über die Bildsamkeit und erzieherische Empfänglichkeit des Zöglings entscheiden,?) deshalb darf aber doch auch Bleuler, ein führender Psychologe und Arzt, unsre Moral die »Gefühlsbetonung einer überaus feinentwickelten Intelligenz« nennen und Cramer von der »Krönung des Gedankengebäudes« sprechen. Es sind hoch- entwickelte Urteile, denen wir mit unserm Gefühl Wert und eine be-

1) Vgl. Flügel, Über das Verhältnis des Gefühls zum Intellekt in der Kind- heit des Individuums und der Völker. (Beitr. z. Kdf. Heft 10.) 2 Hermann, Dr. Klages Entwurf einer Charakterkunde. Für Heilerzieher besprochen. Leipzig, Verlag von Ambrosius Barth, 1920. Preis 15 M. 18*

276 ; A. Abhandlungen.

stimmende verpflichtende Kraft verleihen (determinierende, zielsetzende Willenskraft). In diesem Sinne hat auch Sokrates recht, wenn er sagt: Tugend ist Wissen, und wir kennen die Bitte des Heilandes: »Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.e Durch diese innige Berührung der logischen Urteile mit den Werturteilen ist es auch erklärlich, wie Ziehen die unverbesserliche sittliche Mangel- haftigkeit unter »Debilität« unterbringt, trotzdem man sich wohl ver- geblich fragt, was gerade die sittlichen Urteilsleistungen von der ihnen der Regel nach zukommenden Gefühlsbetonung ausschließt, während auf anderen Gebieten wenigstens in manchen Fällen gar keine Urteilsschwäche nachweisbar ist. Sollte-es einen Psychologen geben, der sich über das Problem der »Debilität« klar geworden ist, so würde er sich ein großes Verdienst erwerben, wenn er das Er- gebnis mitteilen würde. Es gibt eine richtige Debilität (Schwäche der Urteilsfähigkeit), aber nicht alles, was mit dieser Bezeichnung an seelischen Grenzzuständen geschmückt wird, ist im logischen Sinne »Urteilsschwachsinne Schäfer!) sowohl wie Ziehen, auch Meu- mann?) schildern den wirklichen Urteilsschwachsinn am besten. Schäfer zeigt vor allem die Schwierigkeit seiner Erkennung. Er ist in seinen schwierigsten Gestaltungen der experimentellen Prüfung nicht leicht zugänglich,®2) um so mehr könnte ihn aber der psycho- logisch beobachtende Lehrer, zumal im Rechnen und vor allem im Benehmen (Schäfer!) bemerken. Da die letzten und feinsten Urteils- leistungen sich wohl schon weit in dem Gebiet der ästhetischen und ethischen Werturteile bewegen, so erklärt sich wohl die Möglichkeit des Zusammentreffens mit sittlicher Minderwertigkeit, aber das ist keine Notwendigkeit und folglich keine Erklärung. Ob die Urteils- schwäche die sittliche Entwicklung stört oder nicht, hängt nicht von ihr, sondern von jenen seelischen Anlagen ab, die den Gefühlswert an die verschiedenen Urteile verteilen (übertriebene Gutherzigkeit mancher »Dummen«). Vielleicht ist es also mehr ein zufälliges Zu- sammentreffen, wenn beide Anlagen, Urteil wie Wertverteilung, ab- weichend und schadhaft sind. Die Beobachtung aller Schwachsinns- grade beweist, daß zunächst einmal die Charakteranlage über die sittliche Erziehbarkeit (Empfänglichkeit und Spontaneität) entscheidet Die Sittlichkeit ist insofern sicher keine Leistung des Verstandes. Und trotzdem ist es wieder ganz klar, daß durchschnittliche

1) Schäfer, Der moralische Schwachsinn. Halle, Marhold.

2) Meumann, Vorlesungen. Bd. II.

3) Schüssler, Über Schlußversuche an Kindern. Zeitschr. f. pädag. Psychol. Jahrg. 21.

Hermann: Woher? Wohin? 277 Trieb- und Willensanlagen vorausgesetzt Vorstellungen, Urteile, Belehrungen unsere erweckbaren sittlichen Gefühle und Strebungen zu dem verfeinern, was schließlich daraus zu werden vermag. Wer, ohne sich dagegen zu sperren, in der Nachfolge Christi ‘des Thomas von Kempen regelmäßig liest, oder auch Försters »Jugend- lehre« auf sein »natürliches Gefühl« wirken läßt, oder sich christlicher Predigt hingibt, und wer, wie Thomas von Kempen sagt, »das heilige Feuer auf seinem Herd nicht ausgehen läßt«, dabei vielseitige Inter- essen erweckt, der wird auf Grund der Selbstbeobachtung nicht mehr daran zweifeln, daß auch Unterrichtsstoffe und Gedankenkreise, die ein ihnen entsprechendes Interesse und Streben erregen sollen und können, eine Gesinnung hervorrufen, und die Gesinnung bringt je nach ihrer Beschaffenheit ihre tausendfältigen Früchte, von denen Christus sagt: »An ihren Früchten sollt ihr sie (die Gesinnung, den sie erzeugenden Geist) erkennen.< »Bildung« macht nicht frei unter allen Umständen, aber trotzdem verdanken wir ihr hohe Ent- wieklungsformen und feine Arten sittlichen Strebens. Die Gegenprobe wird leider zu häufig gemacht: Man ergebe sich dem Müßiggang (dem Gegenteil vielseitiger Interessen). Man verschließe den Gesinnungs- stoffen und Vorstellungen erhebender Art das Herz, lähme ihre Ge- fühlswirkung durch Einwände, man biete der Seele frivole, rohe oder lüsterne Kost durch Lektüre, »Aufklärung« und Schaustellungen, man nähre die Phantasie mit begierlichen Vorstellungen: »An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.«e Und das gilt in gleicher Weise für die normalsten wie für krankhafte Gemüts- und Willensverhältnisse.

Die Fragestellung: Beruht das Wesen der Sittlichkeit, die sitt- liche oder gottesfürchtige Gesinnung auf Vorstellungen, Gefühlen oder Gewöhnung des Willens? ist eine verfehlte, weil sie auf allen dreien beruhen muß. Hier gibt es nicht den Gegensatz wie in der modernen Psychologie: Hie Vorstellungen hie Wille! —, die Seele vollbringt in der Sittlichkeit zusammengefaßte (sog. komplexe) Höchstleistungen, an denen alle seelischen Funktionen beteiligt sind. Viele Psychologen lehren überhaupt diese »Einheitlichkeit« des seelischen Geschehens. Mag Streben zunächst aus sich entstehen (z. B. aus Hunger, Sexual- trieb oder Instinkten) es belädt sich alsbald mit Vorstellungen und entfacht Gefühle mag es Gefühle »unbewußter« Art geben, sie erwecken alsbald »erklärende« Vorstellungen. Der »Wille« im höheren, den Menschen allein auszeichnenden Vernunftsinn, ist ohne Vorstellungen undenkbar, daher auch seine Erziehung ohne Vor- stellungen undenkbar. Ja er entsteht geradezu, abgesehen von Ge- fühlsübertragungen (Beispiel), Suggestionen und Übungen, ganz wesent-

278 A. Abhandlungen.

lich auch durch erziehlichen Unterricht, Erweckung vom Schlechten ablenkender, edler Interessen (Hauptheilmittel auch der Heilpädagogik !), Aufklärung und Belehrung, natürlich immer wieder unter der selbst- verständlichen Voraussetzung, daß in der betreffenden Seele die all- gemeinen psychologischen Grundbedingungen dafür gegeben sind (Problem des sittlichen Irreseins!).!) Die gewaltige Einwirkung von Vorstellungen auf Gefühle und Strebungen erwähnten wir vorhin schon. Die einzige Vorstellung, für Christus zu leiden, nach seinem Gebot Schmähungen zu erdulden,?) vermag Gefühle und Stimmungen zu erwecken und lebenslang zu befestigen, die ohne diese Vorstellung ganz undenkbar wären. Ich weiß wohl, daß es für den Erfolg darauf ankommt, welche Resonanz in der Seele geweckt wird, aber es sind doch Vorstellungen, die diese Resonanz wecken. Als der Pädagoge und Priester Don Bosco) zusammen mit seiner Mutter eine große Schar heimatloser, verkommener Kinder in einem Hause ernährte und lehrte, und diese die wenigen zusammengebettelten Decken fort- schleppten und besonders der frommen Mutter auf mancherlei Art das Leben sauer machten, wollte eines Tages die Mutter nicht mehr mittun. Don Bosco zeigte nur auf das Kreuz des Heilandes, der Mutter stürzten Tränen aus den Augen, sie verstand die stumme Sprache: Das tat ich für Dich was tust Du für mich?, und sie ertrug fortan mit Frohsinn die schwerste Last. Sind es nicht auch Vorstellungen, die andrerseits die Münchner Operationswärter ver- anlaßten, die kranken Kinder nicht mehr zum Operationssaal zu bringen, denn »das sei ihrer nicht würdig?« Die Zahl der Beispiele ließe sich beliebig vermehren, ein jeder kennt solche aus seinem Leben, wo er auf einmal etwas »in einem ganz andern Lichte« sieht. Förster führt die Gesinnungsänderung der Kinder in Dostojewskis »Der Idiot« auf Belehrung zurück: Während die Kinder sich nicht genug tun konnten in Schmähungen und Kränkungen einer »Aus- gestoßenen«, wurden sie durch Worte bewogen, sie nun mit Beweisen des Mitleids zu überschütten. (Pestalozzis Anregung werktätigen Mitleids durch Belehrung der Kinder bei Gelegenheit des Brandes von Altdorf.) Ganz allgemein und selbstverständlich erwecken Unter- richt und damit Vorstellungen die ethischen Gefühle und Willens- kräfte in der »Christenlehre« wie im »Moralunterricht«. Deshalb »er-

1) Hermann a. a. O.

2) Förster, Jugendlehre. S. 261: Wie soll man Böses vergelten. a) Die Öhrfeige.

3) Habrich, Aus dem Leben und der Wirkamkeit Don Boscos. Missions- druckerei Steyl (Post Kaldenkirchen, Rheinl.).

Hermann: Woher? Wohin? 979

zeugen« sie nicht die Moral, sie sind als Vorstellungen blasse, kraft- lose Schemen »sie wecken aber uns noch unerforschliche seelische Kräfte, verfeinern und ordnen sie, sei es zu zusammengesetzten psy- chischen Gebilden«e (Wundt), »Willenskräften«, »gefühlsbetonten Vor- stellungsgruppen« (Bleuler), »>Summationszentren der Gefühle« (Störring), oder sei es zu Auswirkungen eines dem Menschen angeborenen »moralischen Sinnes«, »sozialen Sinnes«, »selbstgegebenen verpflichten- den Sittengesetzes«e (Kant). Nach Cathreins Moralphilosophie ist auch das Gewissen vorwiegend und zunächst im Verstand, in Vorstellungen und Denken begründet, und es kommt ganz darauf an, ob es seiner- seits Gefühle weckt und welche. Es gibt uns die logische Anwendung der Sittengesetze auf den vorliegenden Einzelfall, vor oder nach der Tat. Der große Psychologe Shakespeare schildert im Othello die Wirkungen weniger Worte des mißgünstigen Jago, die. imstande waren, ein Meer von Leidenschaften aufzuwühlen. Aus naiven Vor- stellungen (von geheimnisvollen Kräften) entspringt das Wunder der Hypnose und Suggestion, Vorstellungen entzünden die Massen und die Leidenschaften der Menge. Wer beschreibt die Wirkungen des gesprochenen und geschriebenen Wortes!

Mögen wir somit die Frage des Urteilsschwachsinns vornehmen, oder die Mittel zur sittlichen Erziehung und ihre Hemmnisse (in der Psychologie der Hemmunisse liegt das ungelöste Problem des »sitt- lichen Irreseins«e mit vergraben!), wir sehen überall »wie wir in psychologischen Dingen aneinander vorbeireden« (Bleuler). Darum bringe ich hier ohne besondere Wahl einige solche heilpädagozische Beispiele. Es widerstreiten sich oft scheinbar grundverschiedene An- sichten und doch hat jede in ihrem Sinne, in Beziehung zu ihren Voraussetzungen recht, wie Friedrich der Große von seinem Sekretär »Recht« bekam, als er nach Anhörung der streitenden Parteien frug: »Der hat recht der hat auch recht wer hat denn nun eigentlich recht?«e Kann man sich darüber streiten, ob Herbart recht hat, wenn er die vom Interesse unterhaltene Aufmerksamkeit lobt, oder Meumann, wenn er ihm vorhält, die als Pflicht erzwungene, durch Willensspannung unterhaltene sei die wertvollere? Selbst- verständlich haben »beide recht«. Meines Erachtens kann man gar nicht sagen, welche von beiden »wertvoller« ist, weil der Wert sich nach miteinander ganz unvergleichbaren Größen richtet, man kann diese gar nicht »auf einen gleichen Nenner bringen«. Einmal geht es um die Aufgabe und Kunst des Lehrers mit ihren natürlichen

1) Bleuler, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 76, 8. 135.

280 A. Abhandlungen

Grenzen, das anderemal um die auch notwendige Pflicht des Kindes, um eine tatsächlich »höherwertige« Leistung des Schülers, und wir möchten doch gewiß weder das eine noch das andere an seinem Platze entbehren, weniger bewerten oder eins gegen das andere aus- spielen. Habe ich nun auch recht?

Ich möchte aber jetzt ein noch gewaltigeres Beispiel unsrer babylonischen Sprachverwirrung etwas ausführlicher heranziehen, weil ich persönlich glaube, daß es sich in der Zukunft zu einem Angel- punkt für die heilpädagogische Weiterentwieklung gestalten lassen kann und gestalten muß. Es ist das »Willensproblem«. Insbesondere geht die Heilpädagogik, abgesehen von Lays, Sallwürks u. a. Be- strebungen, sehr nahe an das Problem der »Willensfreiheit«. Ich gebe ihm allein die Schuld, daß wir in manchem noch nicht weiter gekommen sind, insbesondere untereinander zu fremd sind, um wirk- lich gemeinsam, innerlich gemeinsam in gegenseitiger Ehrung und Liebe, an dem schweren Forschungsgebiet und Notland zu arbeiten. Viele, die darüber streiten, verständigen sich untereinander gar nicht, was sie unter »Wille« verstehen. Wer sich in der »Psychologie« Rat holen will, ohne größere Erfahrung in der Literatur, möchte wohl nicht immer befriedigt von dannen ziehn. Es ist vor allem schwer, wem man glauben soll, da man fast nichts als ein Hin- und Her- und Durcheinanderreden vernimmt, geschürt durch das Ringen von Weltanschauungen. Es handelt sich also zunächst darum, was wir vom Willen »wissen< und was wir von ihm »glauben«. Das »glauben« ist der übersinnliche (»metaphysische«) Teil, der unsre heilpädagogische Betrachtung und Einigung gar nicht zu berühren braucht. Das »psychische Kausalitätsprinzip« oder das »ursachlose Geschehen« sind letzte Problemstellungen spekulierender Philosophie oder Angelegen- heiten des Glaubens. Für die Seelenforschung lautet eine ihr viel näherliegende Frage: »Inwieweit kann der vernünftige (auf die Er- kenntnisse der Vernunft gestützte) Wille frei wählen zwischen ver- schiedenen Arten des Tuns und Lassens im Gegensatz zu einem der ‚Vernunft‘ baren Trieb- und Instinktwesen?« In dieser Frage liegt durch das Wort »inwieweit« gleich das relative, das individuelle, und zwar in voller Übereinstimmung mit der religiösen Literatur.

Insofern bestätigt Ach, unser führender experimenteller Er- forscher des Willens, die »Willensfreiheit«, und so meint sie auch der Š 51 des Strafgesetzbuches, den noch immer einige meinen ausbeuten zu müssen, um die letzten metaphysischen Fragen vor dem Straf- richter aufzurollen.

Ich persönlich finde die beste mir bekannte Darstellung päda-

Hermann: Woher? Wohin? 281

gogischer Art in Försters »Schuld und Sühne«,!) insbesondere durch die dankenswerte Zitierung des Mathematikers Pochhammer. Förster ist hier vielleicht einer pädagogischen Lösung im Sinne der wirklichen, affektlosen Wahrheit nach allen Seiten hin recht nahe gekommen. Das hier geschilderte Auswirken der freiheitlichen mit. den unfreien Bestandteilen des Willens ist etwas wesentlich anderes als das »Spiel der Motive«, bei dem die Seele lediglich der erleidende Teil wäre, gleichgültig ob dieses Spiel sie zum Aufopferungs- tod oder zum Müädchenhandel, zu Gott oder zum Teufel treibt. Ach sagt etwa, nicht nur die vernünftige Auswahl des Motivs sei im all- gemeinen frei, sondern auch die Kraft, das gewählte durchzuführen falls nicht, und darin sind sich alle einig, die unfreien Willens- bestandteile (das sind alle seelischen und körperlichen Anlagen und Bedingtheiten, für die einer »nichts kann« und die er nicht wesent- lich ändern kann) eine solche Kraft unmöglich machen bezw. ihnen gegenüber die Durchsetzung des »freiheitlichen« Willensbestandteils billigerweise nicht mehr zugemutet werden kann. Das ist das Problem des freien Willens, in der Heilpädagogik, in der Schülerpsychologie, bei »Hysterischen«, Charakterentarteten, Triebhaften, Perversen, »sitt- lich Irren< und Schwachsinnigen, aber auch bei Affekt- und Aus- nahmezuständen Normaler, bei Vererbungsfehlern, Leidenschaften, Ver- nachlässigungen usw. Für die Heilpädagogik möchte ich folgende Fassung vorschlagen: »Der Wille als vernünftige Wahl- und Handelnsfreiheit gegenüber den Trieben ist insofern frei, als bei der überwiegenden Mehrzahl der Kinder der- artige psychologische Voraussetzungen (trefflich geschildert von Pigott?) gegeben sind, daß wir, in kindlichen Ausmaßen natürlich, einen wirksamen und erzieherisch faßbaren frei- heitlichen Willensbestandteil im Sinne von Pochhammer, Ach, Huber, Klugt) annehmen können. Selbstverständlich ist diese »Freiheit« aber außerordentlich eng gebunden eben an die psychologischen (und körperlichen) Grundlagen, die richtig zu erkennen und einzuschätzen leider der schwerste Teil der Schüler- und Kinderpsychologie ist.e Bessmer°), ein führender Willenspsychologe und Theologe, der

1) München, Verlag Beck.

2) Pigott, Die Grundzüge der sittlichen Entwicklung und Erziehung des Kindes. Beitr. z. Kdf. Heft 7. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

®) Huber, Die Hemmnisse der Willensfreiheit. Münster, Schöningh.

+) Klug, Der Mensch und die Ideale. Paderborn, Schöningh.

5) Bessmer, S. J., Das menschliche Wollen. Freiburg, Herder.

282 A. Abhandlungen.

dringend vor der voreiligen Annahme bösen Willens bei Kindern warnt, sagt treffend: Einen »Willen«, der zwar vorhanden, aber un- frei wäre, könne es nicht geben. Das sei ein Widerspruch in sich selbst. Es sei also ein Wille im Sinne von Vernunft und Wahl- freiheit ganz unmöglich, wenn seine psychologischen Voraussetzungen im Denken, Fühlen und Streben (dem niederen »Wollen«) gar nicht und nur verzerrt und verkümmert gegeben sind. Der Wille wächst also gleichsam aus den seelischen Anlagen und Vorbedingungen heraus wie andere hohe Fähigkeiten auch, er wird von der Erziehung erst aus ihnen herausgearbeite. Ob die Baumaterialien »Friedensware« oder »Kriegsersatz« sind, kann unmöglich gleichgültig sein. Ich ver- gleiche die Willensleistung mit der Leistung einer schlagfertigen Truppe, der nicht ein ausgebildeter erfahrener Offizier vorgesetzt wurde, sondern an der sich ein Fahnenjunker selbst zum Offizier und Führer herangebildet hat. Halfen ihm seine Untergebenen, fügten sie sich ihm, so wächst auch seine Einsicht und Gewalt. Hat er aber Verbrecher, Intriganten, Aufrührer unter seinen Leuten oder solche, die ihn hindern und lähmen in seiner eignen Fortbildung, so wird er selbst mit verkümmern, er wird seiner Aufgabe immer weniger gewachsen sein, ja es kann geschehen, daß er verprügelt und davongejagt wird.

Eine schlagfertige brauchbare Truppe wird so aber nie zustande kommen, ebensowenig ein führender höherer Wille, dessen »freiheit- licher« Bestandteil in unserm Vergleich von dem Fahnenjunker dar- gestellt wird. Das aufrührerische und aufsässige Treiben der Soldaten ist kein Wille in unserm Sinne. Das sind die »unfreien Willens- bestandteile«, die »Hemmnisse der Willensfreiheit«.1) Und wenn der denkbar beste Offizier käme, er kann mit einer solchen Truppe nichts leisten, sie wird eher auch ihm »das Genick brechene. In der Lage des unglücklichen Fahnenjunkers in der Verbrecherkompagnie befindet sich aber der »Wille«, von dem wir so Vieles und Strenges verlangen, bei vielen charakterentarteten Kindern. Das wäre auch alles leicht annehmbar, wenn wir nur immer gleich wüßten: wann ist eine Entartung der Gefühls- und Triebanlagen vorhanden und wann bloß strafbare, schuldhafte Ungezogenheit und Nachlässig- keit? Das ist es, worüber wir uns bisher nicht einig werden konnten, und daher habe ich wohl ein Recht, wenn ich die Frage der Willens- freiheit als die brennendste für den weiteren Fortschritt der Heil-

!) Siehe auch die bildlichen Vergleiche bei Klug, Der Mensch und die Ideale. Paderborn, Schöningh.

Hermann: Woher? Wohin? 283 pädagogik bezeichne. Gewöhnlich fragt man ja: Ist das nun abnorm oder noch normal? Das heißt aber dem pädagogischen Sinne nach: Willenszucht, Strafe, Schuld und Sühne oder »Heil«erziehung, die wesentlich in einem »Kompromiß«, dem Nachgeben, dem Sichfügen in das Naturnotwendige (als durch des Kindes eignen »Willen« gar nicht, vielleicht durch besondere Hilfsmittel noch abänderungsfähig Erkannte) besteht. Diesen Schritt von der »Konsequenz«!) zum »Kompromiß« tut der Pädagoge natürlich nur gern, wenn er sichere Unterlagen dafür hat, aus denen die Berechtigung dazu abgeleitet werden kann. Ist nicht das ganze Leben ein solches Schwanken zwischen Konsequenz und Kompromiß? Ich habe den Eindruck ge- wonnen, als ob es mit zu den feinsten.Zeichen von Intelligenz und Lebenskunst, aber auch der Erziehungskunst gehöre, ob einer immer weiß, wo er mit Konsequenz oder mit Kompromiß das Richtigste und Beste tut. Wie ist es in der Ehe? Im Umgang mit aufsässigen Schülern oder Klassen? In der Behandlung von erregbaren Menschen, von Verbrechern durch Beamte? Bei einem größeren Aufruhr im Industrierevier erhielt eine Kompagnie den Auftrag, einige Straßen der Stadt zu entwaffnen. Unheimliche Spannung, das Schlimmste war nach der Sachlage zu befürchten. Da bat ein alter ortsansässiger ` Gendarmeriewachtmeister den Offizier (der mir den Vorfall erzählte), ihn allein hingehen zu lassen. Und er brachte Waffen und Waffen, den ganzen Tag, der Streik flaute ab, es fiel kein Schuß. Erreichte der alte Beamte (ähnliche Vorfälle kennt wohl jeder) das mit dem Prinzip der »Konsequenz« oder des »Kompromisses«? Die wenigsten Strafen und die beste Klasse, oder Truppe und umgekehrt —: Mit Konsequenz oder Kompromiß? oder wann das eine, wann das andere? Wann drücken wir ein oder beide Augen zu? Hier hat jeder Lehrer tagtäglich seine eignen, teils bitteren, teils erhebenden Erfahrungen gemacht. In der Heilpädagogik spielt .das Prinzip des Kompromisses (des Ausweichens, des planmäßigen Nachgebens) eine größere Rolle als in der Erziehung unter normalen Willensverhältnissen. Gerade wegen dieses Unterschiedes ist eine möglichste Aufklärung der Willensverhältnisse so notwendig. Bedenken wir aber, daß auch in der alltäglichen Erziehung normaler Kinder immer viele Stimmen laut geworden sind,‘ die dem »Recht« des Kindes, seiner »freien« Entwicklung, seiner schonenden, das Ehrgefühl hebenden Behandlung das Wort reden, bis zu sicheren Übertreibungen hin. Ich: glaube,

1) Dolles, Der Lausbub und »Rowdy« als psychobiologische Rolle. Zeitschr. f. pädagog. Psychol. Jahrg. 21, S. 170.

984 A. Abhandlungen.

daß eine wirkliche Klarkeit und Einigkeit unter den Erziehern noch nicht besteht, wieweit man nach der einen (Konsequenz, Strenge) oder andern Richtung (Kompromiß, Nachgiebigkeit) gehen darf. Natürlich kann es auch hier nur »relative« Wahrheiten geben, die »in der Mitte« liegen. Aber um die Mitte kann man doch weitgehend nach der einen oder andern Richtung »ausschlagene. Auf die vortrefflichen Ausführungen in Försters »Schuld und Sühne« sowie in »Schule und Charaktere möchte ich hier nochmals hinweisen. Man möge mich aber nicht mißverstehen: Kompromiß ist nicht schwächliches Kleinbeigeben, Laufenlassen, Nachlässigwerden, Kompromiß ist ein psychologischer Schachzug, ein Kunstgriff, zu dem oft mehr Hemmungs- kraft des Willens und mehr Verstand gehört, als zum »rohene, oft eigensinnigen, unbelehrbaren Festhalten und Erzwingenwollen. »Kon- sequenze kann ein schwererer Fehler sein als Inkonsequenz. Die Konsequenz verlangt, einen Schlag zu erwidern, der Kompromiß an höhere Ideen!) rät, auch die andere Wange hinzuhalten. Die Kon- sequenz verlangt, vom Mann wie von der Frau, ihr »Recht« und ihr Ansehen in der Ehe zu wahren, der Kompromiß rät ihnen, sich in erster Linie zu vertragen. So ist, was man manchmal Konsequenz nennt, auch in der Erziehung, nicht immer die geistig höher stehende Reaktionsform. Daß frühere Generationen mit »Konsequenz« bessere Erfolge in der Erziehung hatten, als jetzt alle »Kompromißeideen, wird wohl von vielen Erziehern angenommen. »Wer sein Kind lieb hat, der züchtigt es.« Die ganze Verwirrung und Unklarheit kommt natürlich von der Eigenart der näheren Umstände und Situationen, die ein Fernstehender manchmal gar nicht beurteilen kann, weil er sie nicht genügend kennt. Was hörte man alles über die Beendigung des Krieges vom Durchhalten oder von der »Liquidierung« von Leuten, die sicher die feineren und näheren Umstände, die der obersten Heeresleitung uad Regierung bekannt waren, nicht kannten. Auch mit Wortspielen läßt sich viel Verwirrung machen. So läßt sich etwa sagen: Gerade die Konsequenz beherrscht die Heilerziehung, denn es wäre inkonsequent, einmal erkannte Fehler (Defekte) noch wie normale behandeln zu wollen; das ist kein Nachgeben, sondern An- erkennung der wirklichen Verhältnisse in allen ihren Konsequenzen. Wer also spricht, hat auch recht, aber ich gebrauchte die beiden Worte vorher in einem andern Sinn.

Wo sind wir nun bei unseren Betrachtungen angelangt? Wir hatten als heilpädagogisch wesentlich die Fragestellung erkannt: In

1) Förster, Jugendlehre a. a. O.

Hermann: Woher? Wohin? 285

welchem Verhältnis stehen bei diesem und jenem einzelnen Kind die freiheitlichen zu den unfreien Willensbestandteilen? Die Antwort lautete: »Sie stehen zueinander in demjenigen Verhältnis, welches die allgemeinen psychischen Anlagen und Voraussetzungen, die bei dem betreffenden Kinde vorliegen, naturnotwendig bedingen.« Es wäre nun eine falsche Frage: Sind denn die Anlagen und Voraus- setzunger normal oder krankhaft? »Gehört das Kind dem Arzt oder dem Pädagogen?« Diese Frage ist solange falsch, bis nicht die zu- nächst viel näherliegende Frage geklärt ist: Wie sind denn die im betreffenden Einzelfall vorliegenden psychologischen Voraussetzungen, Beschaffenheiten, Seelenvorgäinge und Zustände, Leistungsfähig- keiten usw.? Derjenige, der die psychologische Beschaffenheit der kindlichen Persönlichkeit klargestellt hat (nicht mit Affekt oder Ein- bildung, sondern entsprechend dem Stande unsrer heutigen Wissen- schaft der »differentiellen«!) und pädagogischen Psychologie sowie der Psychiatrie [!]), der hat die Hauptarbeit für die Wissenschaft und für sein ihm anvertrautes Kind geleistet. Der Lehrer, der den be- sonderen, zumal den etwa hier oder da abweichenden Seelenzustand bis hierhin aufgeklärt hat, wird nun das Bedürfnis nach dem An- schluß an die seelenärztliche Wissenschaft lebhaft empfinden. Hier stoßen wir auf die Quelle von Irrungen und Mißverständnissen. Ganz unabgrenzbar verlaufen sich die Charakter- und Verstandeserscheinungen (wie wir schon am Beispiel der »Debilität« sahen) in das Gebiet, das sich dem praktisch erfahrenen Kenner seelischer Abweichungen und Krankheiten in wesentlich anderem Lichte darstellen muß, als es sich ausmacht in der pädagogischen oder ethischen Zielrichtung. Man hat den Ärzten sehr übelgenommen, daß einige von »moralinfreiere Be- urteilung der Kinder sprachen und dergleichen. Wenn derartige Äußerungen gegen die Grundlagen der sittlichen Erziehung gerichtet wären, wären sie des Abscheus würdig. (Gemeintsist etwas anderes und leider sehr Richtiges: Psychologische Feststellung von Indivi- dualitäten, Charakteranlagen und Besonderheiten, Abweichungen und krankhaften Störungen ist nur möglich, wenn man die gewiß heilige und erhabene Ethik nicht hineinbringt, mit andern Worten: Eine psychologische Charakterbezeichnung soll möglichst kein ethisches Werturteil sein, sie soll keinen Vorwurf enthalten. Sonst kommen wir nicht aus den Irrungen heraus. Der Vorwurf richtet sich gegen den freiheitlichen Willensbestandteil, der dann in einer Form und Kraft vorausgesetzt wird, wie er unter allgemeinen Verhältnissen wohl

1) Meumann u. a.

286 A. Abhandlungen. da sein könnte, aber im vorliegenden Einzelfall unter krankhaften Umständen vielleicht überhaupt nicht da ist. Daher versagt auch der mit Sträfen, Strenge usw. übliche Appell an den nicht vorhandenen. Wir kämen so also niemals auch nur einen Schritt weiter. Ein jeder Lehrer möge sich aus seiner Erfahrung fragen, ob man nicht sozu- sagen alles beim Kinde als Frechheit, Verstocktheit, Lüge,!) Bosheit, Anmaßung usw. auffassen und mißverstehen kann, und ob nicht auch alles dies sich manchmal ganz anders aufklärt und noch öfter aufklären würde, wenn wir bessere Erkenntnismöglichkeiten hätten. Man muß Entartete und hysterische Charaktere in den Irrenanstalten jahrelang beobachtet haben, ihren Lebensgaug, den Erfolg der Er- ziehung und der Strafen verfolgt haben, ihre scheinbar »ungezogene« Natur im Lichte der Geisteskrankheiten durchdacht haben,?) um sie auch im Kindesalter von »einfachen, böswilligen« Ungezogenheiten zu unterscheiden, wie man »aus der Kralle den Löwen« erkennt. Durch -kein Bücherstudium ist die praktische Menschenkenntnis, der »Blick« oder »Instinkt« zu ersetzen, beim praktischen Pädagogen so wenig wie beim Beurteiler abnormer Seelenzustände. Ich würde das nicht erwähnen, wenn hier nicht ein Haupthindernis für heilpäda- gogischen Fortschritt läge. Die »verstehenden Einfühlungsvorgänge« in seelische Verhältnisse lassen sich so überaus schwer in überzeugende Worte fassen, zumal auch die ganze »apperzipierende Vorstellungs- masse« bei dem Nichtfachmann fehlt, also der gesamte wissenschaft- liche Apparat und Erfahrungsbestand, mit dem die klare Verständi- gung arbeiten müßte. Dazu: Ringen nicht die Fachpsychologen noch immer um die grundlegendsten Anschauungen und Erkenntnisse über die Eigenschaften und Vorgänge in der Menschen- und Tierseele?! Einer stellt sich den Menschen als eine Niederlage von Erinnerungs- ‚bildern empfangener Sinneseindrücke vor, die nun ihr naturnotwendig bedingtes Spiel untereinander treiben der andere sieht im Men- schen eine Kraftquelle, die sich mehr zufällig mit diesen und jenen Vorstellungen belädt und damit wirkt und handelt! Einer nimmt Selbständigkeit des Wollens an, andere erklären es als Zustände oder Begleiterscheinungen bestimmt gearteter Vorstellungen oder bestimmt gerichteter Gefühle! Ganze psychologische Schulen schweigen das geheimnisvolle, zum Teil unterbewußte Wühlen und Drängen und

1) Siehe die reiche pädagogisch - psychologische Literatur über »Lüge« u. a. Trüper, Die »Lüge« in Reins Enzyklop. Handbuch der Pädagogik. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

2 Anton, Über die Formen der krankhaften moralischen Abartung. Beiträge zur Kinderforschung. Heft 99. Ebenda.

Hermann: Woher? Wohin? 287

Geschiebe in der Seele tot, weil es nicht in ihr System paßt oder den (materialistischen) Anschauungen ungreifbar ist. Andere schweigen es tot, soweit es sich um »niedere<, d. h. sittlich verwerfliche Vor- gänge handelt, und beachten nur die sittlich hochwertigen Triebfedern und Anlagen, wenn solche vorhanden sind. So schön das für die praktische Ethik ist, so irreführend wäre es, wie wir sahen, für eine wirkliche Heilpädagogik. Diese Mangelhaftigkeit der wissenschaft- lichen Voraussetzungen muß ja die Verständigung so sehr erschweren Bessmer!) erkennt die ärztlichen Schilderungen sittlicher Defekt- zustände als richtig an, bemerkt aber, daß sich aus den Darstellungen oft nicht genau entnehmen lasse, worin nun der Unterschied gegen- über denjenigen Zuständen sittlicher Verwahrlosung oder des »Sich- gehenlassens« bestehe, die als Folge schlechter Erziehung oder fehlen- den, mehr oder minder mit Absicht verworfenen sittlichen Haltes (den Religion oder wenigstens Wunsch nach gesellschaftlicher Achtung bieten müßten) leider so häufig sind. Gemacht wird der Unterschied natürlich auch von den Ärzten; Gregor,?) Gruhle,?) Siefert, Mönke- möller und viele andere trennen ihre Fälle genau, sie wissen, daß »moral«e und »normal« nicht dasselbe ist, ebensowenig wie »anormal« und »amorale. Gruhle und Gregor geben genaue Zahlen über das Verhältnis zwischen den äußeren und den inneren Formen der Ver- wahrlosung bei psychisch Normalen und bei Abnormen. Ich habe vor einem großen Lehrerkreis den Fall eines 13jährigen ungezogenen, triebhaften, gewalttätigen usw. Knaben, an dem alle Arten Kuren, auch Prügelkuren und Unterbringungen total versagten, der die Auf- gaben der Berliner Begabtenprüfungen (Moede-Piorkowski) löste und dennoch wegen Frechheit und Faulheit schulunfähig war, der wegen Gefährlichkeit jetzt schon in der Irrenanstalt ist und wohl darin bleiben wird, in allen psychologischen Einzelheiten und Beobachtungen besprochen. Andere Krankheitserscheinungen als solche der »Un- gezogenheit« bestehen nicht, er ist auch in der Anstalt ein lieber, williger Junge. Der Unterschied von normaler Ungezogenheit war wissenschaftlich schwer zu begründen,‘) und doch erklärten nach genauer Anhörung aller Einzelheiten und Abwägung aller Verhältnisse sämtliche Lehrer ohne Ausnahme, daß nach ihrer Überzeugung der Knabe geisteskrank sei und mit Recht in die Irrenanstalt gehöre.

1) Bessmer a. a. 0.

2) Gregor, Die Verwahrlosung. Berlin, Karger.

3) Gruhle, Die Ursachen der jugendlichen Verwahrlosung und Kriminalität, Studien zur Frage: Milieu oder Anlage, Berlin, Springer. 2

4) Anton, a. a, O., Überaus wichtige Parallele mit Formen des Jugendirreseirs!

298 A. Abhandlungen.

Der Arzt fügt einen solchen Fall ein in jene abnormen Menschen- typen, die er als »hysterisch degenerierte«, »abnorm triebhafte« oder auch »sittlich Irre« in allen Abstufungen und Schattierungen gesehen hat. Was überzeugt aber den Nichtarzt, dem diese Namen nichts als zweifelhafte Verlegenheitsausdrücke bedeuten, wenn er die »offen- bare« bodenlose Frechheit« bei dem »klugen« Menschen sieht? Warum haben die Lehrer einstimmig den von mir dargelegten Fall für krank und willensunfrei erklärt, oder: worin besteht der kennzeichnende Unterschied von »gewöhnlicher« Ungezogenheit? Die Massenhaftigkeit seiner Frechheit? Oder daß er bereits in der Irrenanstalt war? Sicher nicht, denn ich hatte ausdrücklich gebeten, alles Erdenkbare als Be- weis beizubringen, daß es sich um Frechheit infolge falscher Erziehung oder aus bösem Willen handle. Beides wurde von den Lehrern ab- solut abgelehnt wie gesagt: nach genauester Abwägung aller psychologischen Einzelheiten. Das bringt uns vielleicht auf den Zusammenhang mit dem bisher Gesagten und den folgenden Aus- führungen: Der wirkliche Unterschied von andern frechen Kindern bestand bei unserm Knaben darin, daß er wohl unter gewissen Be- dingungen (z. B. in der sachgemäßen Verwahrung der Irrenanstalt) sich »zusammennehmen« konnte (das tun sozusagen alle Geisteskranken, als Folge richtigen Umgangs) —, aber die verkehrten Triebhaftigkeiten, die zwangsartigen Erregungen, die perversen Reaktionen auf erziehe- rische Maßnahmen, die abnormen Interessenrichtungen, die Mitleid- losigkeit und vieles andere konnte er durchschnittlich nicht ändern, und andere, dem normalen Kind reichlich zur Verfügung stehende Ausgleichsmöglichkeiten, standen weder ihm selbst noch seinen Er- ziehern innerhalb seiner defekten Seele zur Verfügung. So kommt er sich jetzt selbst, ein 13jähriger hochintelligenter Knabe von un- gewöhnlicher Einsicht in seinen eignen Seelenzustand, in der Irren- anstalt als am richtigen Platze befindlich vor. Zu irgend einer nütz- lichen Beschäftigung ist er vollkommen »unfähig«, d. h. uninteressiert und ungeschickt. Er verbringt die Zeit mit Schachspielen.

Was dieser Knabe an freiheitlichen Willensbestandteilen hat, ist gegenüber den vielen unfreien (übrigens aus erblicher Belastung stammenden) derartig unzuverlässig und minderwertig, daß der Er- zieher unter solchen Umständen Heilbehandlung in Form ärztlicher Verwahrung für geboten erachtet nach Scheitern aller Erziehungs- versuche. Es ist aber kein Widerspruch, wenn man vom Gericht einen derartigen Fall verurteilen ließe, denn $ 56 und $ 51 des Straf- gesetzbuchs haben eine ganz bestimmte Fassung, die genau eingehalten werden muß. Die Strafe als Sühne ist zwar meistens psychologisch

Hermann: Woher? Wohin? 289

schlecht begründet, und als »Besserungs«- oder Abschreckungsstrafe ist sie meist, wie die Lebensschicksale derartiger Fälle zeigen, schwächer als die finsteren Mächte der triebhaften oder willensschwachen Ver- anlagung. Aus praktischen Gründen nimmt man immer wieder vor Gericht bei einzelnen Straftaten Entarteter oder auch Schwachsinniger an, daß sie noch genügend »freie« Willensbestimmung besaßen, um die Straftat zu unterlassen. Sogar zahlreiche krankhafte Erschei- nungen lassen sich unter günstigen ausgleichenden Umständen dem höheren Vernunftwillen (wenn die übrigen Anlagen ihn ermöglichen) unterwerfen, auch u. U. erzieherisch niederhalten, ausschalten, wenn man es richtig anfängt. "Nicht alle krankhaften Abweichungen be- reiten der Erziehung Schwierigkeiten, zumal wenn sie erkannt und berücksichtigt werden. Darum ist auch das gleichzeitige Bestehen von Krämpfen, Wutanfällen, Schwachsinn oder dergleichen bei sittlich Schwererziehbaren wohl ein warnendes Zeichen, daß das höhere Seelen- leben auch krankhaft gestört sein kann, aber ein psychologischer Zu- sammenhang des »nervösen« Zeichens mit der sittlichen Mangelhaftig- keit ist nicht ohne weiteres ersichtlich (am ehesten natürlich noch bei Schwachsinn, daher die gewaltsamen Bestrebungen, beim »sittlichen Irreseine nur ja immer, wenn auch nur in unmerklichen Spuren, »Schwachsinn« nachzuweisen).

Wir stellen also hier an unsre psychologischen Beweise ziemlich hohe Ansprüche. Doch es handelt sich da um schwerste und letzte Probleme der Heilpädagogik, deren Inangriffnahme bisher noch kaum möglich war. Sobald einmal die Pädagogen ihre reichen Erfahrungen in der Charakterbeobachtung auch der wissenschaftlichen Charakter- erforschung -zugute kommen lassen werden,!) wird auch über die Rolle der freiheitlichen Willensbestandteile in den unfreien Charakter- zerrbildern »sittlichen Irreseins« Einigung und Klarheit gewonnen werden. Denn hier gibt es keine »Konsequenz«, kein »Entweder- oder«e, sondern hier herrscht der Kompromiß, die Verständigung, wie man im Einzelfall freie und unfreie »Bestandteile des Willens« (das sind die psychologischen Zustände in der betreffenden Seele) gegen- einander einschätzen will.

Wenden wir uns jetzt einmal zu einfacheren und praktischen Fragestellungen aus der heutigen Schülerseelenkunde. Aus fast allen Städten hört man von Neuerungen in der Gruppierung der Schüler nach ihrer seelischen Beschaffenheit, und es ist infolgedessen das

1) Hermann, a. a. 0. Zeitschrift für Kinderforschung. 26. Jahrgang 19

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290 A. Abhandlungen. Interesse der Lehrer für die psychologischen Grundlagen dieser Maß- nahmen in Stadt und Land sehr rege. Es fehlt nicht an Bedenken und Gegengründen, aber der innige Wunsch, die Seele des Schülers klar vor sich zu sehen, in ihren nützlichen und schädlichen Anteilen, aus denen etwas herauszuholen ist oder die man mit gewöhnlichen Methoden verderben würde, sowie der Wunsch, nichts Ungerechtes vom Schüler zu verlangen und ihm kein Unrecht zu tun, ihn viel- mehr aufs beste zu fördern dieser Wunsch lebt im Herzen eines jeden Lehrers. Hier erfordert nun aber-einmal die »Konsequenz«, ohne Vorurteil und ohne Affekt zu prüfen, wie das möglich sei, ob das leicht und selbstverständlich, oder überaus schwierig sei usw. Natür- lich kommt es ganz auf. die Ansprüche an, die wir einmal an die wissenschaftliche Erkenntnis objektiver Wahrheit stellen und andrer- seits an unser Gewissen. Affekte und Temperament, diese großen Lügner und Fälscher unsres Urteils, können so schwere Fragen nicht entscheiden. Es gehört schon alle Ruhe und aile Denkkraft und Heranziehung reichlicher Wissenschaft dazu, um hier eine ob- jektive Wahrheit zu erkennen. Man kann auch sagen: Heraus mit den Ärzten und Psychologen aus den Schulen! Sie verweichlichen die Kinder, da wird alles »Willenshemmnis«, wo früher eine Tracht Prügel half, da hört das Pflichtgefühl und der Gehorsam auf, usw. oder: es geht doch bisher auch ohne das tadellos. Das wissenschaftliche Mäntelchen wird nie die pädagogische Praxis ersetzen können usw.

Es wäre verkehrt, das Richtige an diesen Gedanken zu verkennen. Man muß das eine tun und das andere nicht lassen. Sind nicht gerade die belesensten und wissenschaftlich erfahrensten Lehrer auch diejenigen, die sich die meisten Gedanken über die seelischen Eigen- schaften und Besonderheiten ihrer Schüler machen? Ja mit den Kenntnissen wachsen die Schwierigkeiten, die vor einem auftauchen, fort bis ins Unendliche. Aber Gott sei Dank auch die richtigen Erkenntnisse. Das geht auch uns Ärzten so, z. B. in der Er- kennung und Verkennung von »Simulanten«. Wir armen Menschen sollen uns doch nicht der Allwissenheit vermessen nur Gott ist allwissend, das Irren dagegen menschlich. Welcher Lehrer glaubt, seine Schüler immer zutreffend beurteilt zu haben? Wir müssen freilich anerkennen, was in Stadt und Land, oft ohne Beistand von Fachleuten, Lehrer alles kennen und erkennen an »Hemmnissen der Willensfreiheit«e und es zum Segen der Kinder unschädlich machen. Einfluß von Schwerhörigkeit, Kurzsichtigkeit, Unterernährung, Skrofu- lose, Blutarmut, fieberhafter Erkrankung, Nasenrachenraumwuche- rungen usw. auf Aufmerksamkeit, Lernfähigkeit; auffällige Schreib-

Hermann: Woher? Wohin? 291

Sprach- oder Lesestörungen infolge fehlerhafter Gehirnanlage, un- gewöhnliche Unruhe, Zuckungen, Zerstreutheit, Verstimmungen, Veits- tanz, Denkschwäche, Auffassungsstörungen, Gedächtnismängel, Lern- und Rechnenschwierigkeiten durch schwache Begabung, erschwerte Auffassung; Ungeschick jeglicher Art und ungewolltes Mißgeschick, leichter Sinn und schwerer Sinn, Temperamente usw. usw.

Der Laie hat gar keine Ahnung, welche Fülle psychologischer Feinarbeit, zumal hinsichtlich differentieller Psychologie, Begabungs- unterschieden, Charakterspielarten, der Lehrer leistet, neben der ge- waltigen und abspannenden Aufgabe, durch suggestive Gewalt seiner Persönlichkeit viele Stunden lang eine man kann sagen gefährliche Masse von Seelen in Interessenspannung und möglichst gutwilliger Disziplin zu erhalten. Rechnen wir noch hinzu, daß sich die fach- männische Erziehungskunst (Regierung und Zucht im Sinne Herbarts), die Gewinnung edler dauernder und anregender, vielseitiger Interessen, die vornehme Führung des Willens der Zöglinge unter möglichstem Verzicht auf gewaltsame Unterdrückung und Verfeindung (»Der Weg zum Herzen des Schülers!«) auch mit der vorbeugenden und erzieh- lichen Behandlung vieler Psychopathen deckt (insbesondere der »Willensschwachene und zu abnormen Zornaffekten neigenden), so nimmt es nicht wunder, daß z. B. selbst Fürsorgeerziehungsanstalten mit seelisch über die Hälfte krankhaftem Kindermaterial ohne nennens- werte Schwierigkeiten auskommen, ja denkbar Gutes mit ihnen zu- stande bringen. Wie ich schon sagte, verlangen aber gerade diese besten und erfolgreichsten Lehrer immer mehr nach weiteren psycho- logischen, sagen wir einmal »naturwissenschaftlichen« Aufklärungen, um von den manchmal irreführenden Werturteilen frei zu werden. Die Lehrerschaft vieler großen Städte hat sich jetzt »psychologische Beobachtungsbogen« 1) ausgearbeitet. Nach unsern vorstehenden Dar- legungen muß das ein richtiger Weg sein, der da betreten wird, richtig im wissenschaftlichen Sinne. Denn wir waren zu der Fragestellung gelangt, die die Grundlage aller unsrer Erkenntnis ist: »Welche psychologischen Grundbedingungen bestehen bei dem oder jenem einzelnen Kinde«? Das ist die sogenannte »differentielle Psycho- logie<. D. h. also »wie beschaffen ist sein Körper (»gesunde Seele in gesundem Körper«), wie seine einzelnen Sinnesorgane, wie seine Emp- findungen, wie Wahrnehmen, Auffassen, seine Willensspannung im Auf- merken und Denken, seine Ermüdbarkeit und Erholungsfähigkeit, seine

1) Auch auf Trüpers Personalienbuch (Beitr. z. Kinderforsch., Heft 84) und

Horrix Fragebogen für Hilfsschulen sei hier hingewiesen. 19*

509 A. Abhandlungen.

Anpassungsfähigkeit, die Konzentrationsfähigkeit und die Ablenkbar- keit, wie seine Willensspannung in der Beharrlichkeit, was leistet sein Gedächtnis, welche Sinnesbilder haften bei ihm am besten und mit welchen lernt und arbeitet es (Vorstellungstypus, z. B. wichtig für Rechtschreibung, Zeichnen, Rechnen, Auswendiglernen usw. [Lay]); welche Fähigkeiten und Anlagen hat es und welche nicht; wie ist die allgemeine Begabung, das allgemeine Niveau seiner Fähigkeit selb- ständig zu denken und neue Beziehungen aufzufinden, anzuwenden, Schlüsse zu ziehen; denkt es phantasievoll, gefühlsmäßig, subjektiv oder mehr objektiv, sachlich wirklich? Welche Interessen und ‘Triebfedern hat es? Wie ist sein angeborenes und wie sein erworbenes Pflichtgefühl, wie sein Gemüt (roh oder edel, grob oder fein, religiös hingebend oder selbstsüchtig, angreifend) usw.!) Wer einmal zu fragen anfängt, der möchte wohl kaum aufhören können, zumal wenn er sich an Meumanns, Sterns, Lays u. a. Lehrbüchern die Erkenntnis- fähigkeit erweitert hat.

Man kann natürlich immer wieder fragen, worin denn der Unter- schied zu der von jeher üblichen Lehrerbeobachtung bestehe. Es ist richtig, die Lehrer sind ja durch ihren Beruf schon ohne weiteres viel mehr echte und oft unübertreffliche Psychologen, als viele vielleicht selbst wissen; Voraussetzung ist aber, daß sie wirklich objektiv in den (auch wissenschaftlich) richtigen Vorstellungen vom kindlichen Seelenleben denken und beobachten, daß sie sich des Unbewußten klar bewußt werden, das gelegentlich Erworbene wissenschaftlich exakt durchdenken lernen. Die Psychologie ist, gerade wie die Päda- gogik, die auf ihr ruht, die große Erzieherin zur Sachlichkeit, zum realen, d. h. der Wirklichkeit nahekommenden, Denken und Be- obachten. Der psychologisch denkende Lehrer sieht gleichsam die niederen Apparate des Gehirns, die Schreib-, Sprech- und Lesemaschine arbeiten und vermag so auch ihre Defekte zu erkennen, er merkt, ob die schlechte Leistung an der Maschine selbst liegt oder an dem kleinen Geist, der sie bedient. Er erkennt, wo die Mängel angeborener Fähigkeiten z. B. des Gedächtnisses, des Denkens und Begreifens, der Spannkraft, des Willens usw. unter Nachhilfe durch den freiheitlichen Willensbestandteil des Kindes selbst überwunden werden, bis zu welcher Grenze das möglich und pädagogisch empfehlenswert ist, oder wo eine Einwirkung auf einen »freien« Willen (z. B. beim Schwach- sinnigen, der schlecht schreibt und rechnet) widersinnig wäre, weil die abnorme Erscheinung dem höheren Willen, falls ein solcher auf

1) Hermann, a. a. 0.

Hermann: Woher? Wohin? 293

andern Gebieten etwa da wäre, nicht erreichbar ist. Er weiß, daß selbst bei scheinbar gutem Verstand dennoch auch in den seelischen Höchstleistungen, den sittlichen und ästhetischen Werturteilen und Grundsätzen, dem Pflichtgefühl, der Kraft und Nachhaltigkeit sitt- licher Selbstgesetzgebung, der Hingabefähigkeit an Glauben und Mit- leid usw. Mißstände krankhafter Höhe in Betracht kommen, deren Folgen für das Betragen und deren Behandlung mit andern Maßen gemessen werden müssen, als wenn bei natürlichen, normalen Grund- lagen der Willensverhältnisse aus freiem Willen Schlechtigkeit und Bosheit, Laster und Sünde gewählt wird. Er wird bei Zweifel »an der pädagogischen vollen Zurechnungsfähigkeit«, wenn es geht, für Rat und Abhilfe sorgen oder sich im Notfall zu helfen wissen. Selbst ausgesprochen geisteskranke Kinder kommen manchmal in Fürsorgeerziehung statt in ärztliche Behandlung. Dabei sind selbst die schwersten Geisteskrankheiten oft genug nur sehr mühsam zu er- kennen und von Ausgelassenheiten, Flegeleien, Bosheiten usw. zu trennen. Der weitere Verlauf sowie untrügliche Zeichen machen dem Arzt die Feststellung sicher. Weil in allen denkbaren schwierigen Fällen die erste Erkennung vom Lehrer der Normalen ausgehen muß, ist es so verkehrt zu sagen: Psychologie und Kenntnis seelischer Ab- weichungen ist für die pädagogischen Spezialisten; der Lehrer der Normalen braucht sie nicht. Welche Volksschulklasse besteht denn heute aus »Normalen«? Wyenbergh!) stützt sich auf die Ergebnisse aus zahlreichen Massenuntersuchungen, indem er den »Durchschnitt« mit etwa 50°/, einschätzt. Darüber stehen Gut- und Hochbegabte, darunter Schwachbegabte und Anwärter für die Hilfsschule. Die Einführung von B-Klassen (für die Sitzenbleiber, Lernschwachen, Auf- fassungsschwachen, Willensschwachen usw., die nicht in die Hilfs- schule gehören, aber um mitzukommen, den Lehrer zuviel beanspruchen, so daß der Durchschnitt und gar erst die Begabten darunter leiden) scheint sich auch praktisch als ein Segen zu bewähren.2) Muß es für den Lehrer nicht eine Erlösung sein, mit annähernd ähnlichen Begabungsgraden in seiner Klasse rechnen zu können? Ich weiß,

1) Wyenbergh, Die Organisation der Volksschule auf differentiell-psycho- logischer Grundlage. Praktische Psychologie. Jahrg. 1, 8. 263.

2 Blum, Zur Psychologie einer Charlottenburger »B-Klasse«e. Zeitschr. f. pädag. Psychol. Jahrg. 21.

Darnach scheint sich auch das Märchen aufzuklären, als ob die Hilfsschulen nicht Schwachsinnige, sondern nur Schwachbegabte beherbergten. Die Unter- scheidung spielte bisher eine große Rolle, da der Arzt strenggenommen nur an Schwachsinnigen interessiert sein soll.

294 A. Abhandlungen.

welche Qual es für meinen Vater war, zwischen der Fürsorge für die Lernschwachen und Begriffsstutzigen und den Interessen für die Übrigen der Klasse das richtige Maß zu finden. Er setzte aber seinen Stolz darein, mit allen das Klassenziel zu erreichen und keinen Schüler »sitzen« zu lassen. Der Psychologe weiß zu würdigen, was das bedeutet an übermenschlicher Kraftanstrengung des Lehrers und auch manches Schülers. Ein Glück noch, wenn bei solchen unmög- lichen Leistungen der Faden der Geduld nicht reißt. Am Ende seines Lehrerlebens schrieb mein im Jahre 1913 verstorbener Vater in den »Umriß pädagogischer Vorlesungen«e Herbarts: >... In keiner deut- schen Schule sind so heterogene Elemente zusammengestellt als in der städtischen Volksschule. Hier gilt nicht bloß eine allgemein- pädagogische und psychologische Behandlung als ausreichend, hier sprechen Not und Elend, Verkommenheit und Laster mit. Die höheren Schulen sind die Hotels, die Reisenden auf dieser Erde einen an- genehmen Aufenthalt bieten. Unsere Volksschule aber ist ein allzu- großes Lazarett, in dem Unglückliche geheilt werden wollen. Und da stellt man uns hinein, drückt unser Ehrgefühl, beschränkt unsre Tätigkeit, hemmt unsere Bildung wo bleibt da die ästhetische Forderung, die moralische Bildung des Volkes? ....« Durch die Er- folge der Sonderbehandlung ist auch praktisch bewiesen, daß eine sittliche Gefahr der Verweichlichung mit der psychologisch richtigen Bewertung der Schülerseele nicht verbunden ist. Meines Erachtens wird es wohl keinen Lehrer mehr geben, der bewußt die Willens- hemmnisse aus schwächerer Veranlagung oder allerlei Krankheiten mit Nichtachtung oder scharfer Unterdrückung als Äußerungen bösen Willens behandeln möchte. Die »Erfolge«, die der Nichtpädagoge damit erzielt, sind abschreckend genug (Kindermißhandlungen, da das »Verharren« im Ungehorsam doppelt und zehnfach geahndet wird und schließlich im Affekt kein Ende mehr ist). In der religiösen Literatur und Praxis wird jedenfalls in einer geradezu erhebenden Weise, feinfühlig und barmherzig, von Willenshemmnissen unfreier Art gesprochen nicht nur in den »ärztlichen« Fällen, sondern noch viel weitergehend selbst bei gewissen menschlichen Schwächen, An- lagefehlern, Leidenschaften, Affekten usw. (siehe das für eine ethische Heilpädagogik hervorragend geeignete Buch von Pfarrer Dr. Huber, Hemmnisse der Willensfreiheit, Verlag Schöningh, Münster). Das heißt nicht, diejenigen Fälle, wo Strenge psychologisch und päda- gogisch gerechtfertigt ist und wenigstens Erfolg nicht ausschließt, mit unangebrachter Milde zu verderben. Ob der Erfolg die Mittel rechtfertigt, wird der Pädagoge in solchen Fällen fein ab-

Hermann: Woher? Wohin? 295

wägen.!) Gewöhnlich sind es die Eltern, die, entgegen pädagogischem Rat, ein willensschwaches oder träges Kind, dem niemals Eifer und Interesse eingebläut werden wird, oder ein unbegabtes Kind zu An- strengungen zwingen, deren Ergebnis sehr fragwürdiger Natur ist- Gerade die Fälle leidlicher Begabung, aber nachlassender Willens- spannung oder Lernfaulheit, müßten einmal an der Hand der modernen Willenspsychologie (insbesondere Achs und Lindworskys Experi- mentelle Ergebnisse!) vom Standpunkt praktischer pädagogischer Er- fahrungen (über Wirkung der Strafen, Erzielung wirklichen Fleißes und Lerneifers trotz anfänglich fehlender Spannung und Inter- essen usw.) bearbeitet werden. Das sorgenvollste Kapitel der »krank- haften« Willensschwäche, sich äußernd in Arbeitsunlust, Planlosigkeit und auch Unmöglichkeit, nach festen sittlichen Grundsätzen dauernd zu handeln (»schwankendes Rohr«), würde dadurch endlich einmal etwas Licht erhalten. Es ist mir nicht zweifelhaft, daß Achs »deter- minierende Tendenzen«, insbesondere die determinierende (bis zum Erfolg die Spannung haltende) Kraft der Aufgaben und Entschlüsse, eine Teistung seelischer Energie sind, zu der keineswegs alle Kinder gleichmäßig befähigt sind. Sie machen aber einen Hauptbestandteil des freien Willens aus. Hat doch Ach ganz einwandfrei experi- mentell gezeigt, wie sich die Temperamente dabei ganz verschieden verhalten, und er teilt in anschaulicher Weise seine Versuchspersonen ein nach »starkem, abgekürztem (spielend leichten), schwachem« Wollen, d. h. determinierender (zielspannender) Kraft des »Wollense. Das Wollen in seiner persönlichen individuellen Eigenart wird von Ach?) an dem sogenannten »assoziativen Äquivalent« gemessen. Dieses richtet sich nach der Zahl der Silbenerlernungen, die nötig sind, da- mit das Wollen gerade nicht mehr imstande ist, die eingelernte Ver- knüpfung durch eine neue Aufgabe (z. B. statt die in der gelernten Reihe folgende Silbe zu nennen, eine der gelernten Silben, die vor- gezeigt wird, umzustellen oder zu reimen) zu überwinden. Je nach- dem, wie das Wollen sich dabei bewährt, hat Ach interessante Unter- schiede festgestellt. In der Anleitung zum Beobachtungsbogen der Frankfurter Schulbehörden (von Eckhardt & Schüssler) heißt es: »Der Wille, etwas zu erreichen, macht das Schicksal des Menschen« (Meu-

1) Siehe die interessante Schilderung zweier Fälle, in denen vermutlich Halt- losigkeit bezw. schwache Begabung vorlag, und der Prügelwirkung, in Kiefer, Die Pıügelstrafe in der Erziehung. Beiträge z. Kinderforschung. Heft 49, S. 35—37. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

2) Ach, Über den Willensakt und das Temperament. Eine experimentelle Untersuchung. Leipzig, Quelle & Meyer.

296 A. Abhandlungen.

mann). Die augenblickliche Höhe der Willenskonzentration läßt sich durch geschickt ersonnene Experimente ohne Zweifel messen (Lind- worsky, Der Wille, seine Erscheinung und Beherrschung. Leipzig 1919). Viel wichtiger ist aber die Kenntnis der Dauerspannung einer Willens- energie, die durch das Experiment nicht erfaßt werden kann. Aus der Übersehung dieses wichtigen Faktors erklären wir uns zum Teil den Rückschlag, den die Berliner Begabtenschule gleich im ersten Jahre ihres Bestehens erlitt. Diese Lücke kann nur ausgefüllt werden durch einen geschickt angelegten und sorgfältig geführten Beobachtungs- bogen (sc. des Lehrers!)...« In Frankfurt hat der Arzt, der Lehrer, der Psychologe jeder seinen Bogen für sich. Aber auch der Lehrer beobachtet psychologisch. Ist es dasselbe, wenn es in der An- leitung heißen würde: »Die Berliner Psychologen haben nicht mit der Faulheit gerechnet, was nützt alle Begabung, wenn Bummelei, Gleichgültigkeit, Ungezogenheit die Ausnützung unmöglich machen Gewiß kann die »Dauerspannung einer Willensenergie« durch schlechte Neigungen gelähmt, durch Strenge und Prügel aber gehoben werden. Sieht es sich da nicht wie ein Wunder an, daß Interesse, ja Lern- eifer und Trieb nach Wissen, Lob und Fortschritt, auch unter An- spannung des Pflichtbewußtseins, unter den heutigen Schulverhältnissen doch der Regel nach ohne Mittel, ohne Zwang und Strafen, erreicht wird? Wenn das aber die Regel ist, welche Rolle spielen dann die »Faulen«? Die Psychologie dieser Kinder ist noch zu schreiben, und zwar von den Lehrern. Soviel läßt sich aber heute schon sagen: Eine ganze Menge von scheinbarer Faulheit ist vorgetäuscht, sie hat körperliche oder seelische, uns noch unbekannte Gründe, und es fragt sich nur in erster Linie, ob diese Widerstände von dem freiheitlichen Bestandteil des Willens überwunden werden können und wie, und ob es sich lohnt, Gewalt anzuwenden oder statt Gewalt Kunst, oder ob es sich nicht lohnt, weil vielleicht soviel freiheitliches im Seelen- leben gar nicht da ist bei genauerem Zusehen —, daß man daran appellieren könnte. In der Medizin stellt man zuweilen eine Krank- heit fest saus dem Mittel, welches hilft« (ex juvantibus). Als eine ideale Krankheitsfeststellung wird das nicht gerade gelten. In der Pädagogik der Willensschwäche (auch in der Rechtspflege) sind wir noch nicht viel weiter. Es gibt aber, das ist sicher, abgesehen von überwindbaren Faulheitsformen, von leicht aufrüttelbarer natürlicher Trägheit auch unverbesserliche, willensunfreie, d. h. weder aus eignem noch aus fremdem Willen dauerhaft überwindbare, angeborene krank- hafte Willensschwäche. Ein großer Schaden ist es ja vielleicht nicht, wenn auch ein unerziehbarer Willensschwacher Prügel bekommt oder

Hermann: Woher? Wohin? 297

Gefängnisstrafen (letztere freilich hart für die Eltern!), aber den Forderungen an eine wissenschaftliche Pädagogik entspricht es doch, auch die Störungen des zu schwachen und unbeständigen Wollens sowie ihre richtige Behandlung in das Forschungsgebiet einzubeziehen. Daher hat die Anleitung zum Frankfurter Beobachtungsbogen recht, daß sie die nähere psychologische und ethische Ausdeutung, die Be- stimmung des freiheitlichen Anteils an der »fehlenden Dauerspannung des Willens« zunächst offen läßt.

Ich möchte diesen flüchtigen Rückblick und Ausblick nicht schließen ohne die Bitte auszusprechen nach herzlicher Vereinigung aller Stände und Berufe, die an der Fürsorge für seelisch abweichende Kinder Anteil nehmen müssen. Von den Geistlichen hat Herr Pastor Backhausen, der eifrige Förderer der Verständigung und Forschung auf unserm Grenzgebiet,1) schon länger die gleiche Bitte ausgesprochen. Die Gemeinsamkeit der pädagogischen Interessen wurde in vorstehenden Darlegungen reichlich betont. Es läßt sich in der Tat ein Betreten »fremden« Gebietes nicht immer vermeiden, da anerkanntermaßen ohne jede feste Grenze die alltäglichen Abweichungen sich in solche hinüberverlaufen, die schon nicht mehr alltäglich sind. So wie es lange Zeit war, daß nur gefragt wird: »Ist das Kind abnorm oder nicht?«, kann es unmöglich bleiben, sonst kommen wir nicht weiter. Wenn wenigstens ein Urteil möglich wäre, das besonders in seinen Folgerungen (Fürsorge, Behandlung usw.) eindeutig und all- seitig anerkannt wäre! Aber wer soll das geben? Der Arzt? oder eine gemischte Kommission? Das Urteil geben kann nur »Die Wahr- heit«, und diese zu erkennen, muß unser aller eifrigstes Streben sein. Dazu gehört aber, daß ein jeder, der nicht anderen das Urteil überlassen will, die heute möglichen wissenschaftlichen Grundlagen heranziehe. Da sich dieselben auf unserm Grenzgebiet, abgesehen von den praktischen Interessen, so vielfach verzweigen, bleibt gar nichts anderes übrig als ein einmütiges, herzliches und daher nicht empfindliches, u. U. auch verzeihendes Zusammenarbeiten. Müssen denn die Weltanschauungen im Wege stehen? Müssen und können denn Naturwissenschafter entscheiden, was der Seele des Menschen in ihren höchsten Fähigkeiten und Bedürfnissen nottut? Dürfen wir gar der Ausbreitung des Reiches Gottes unter den Menschen, der christlichen Liebesbotschaft, den mannigfachen, frommen und poesie-

1) Schriften des Allgemeinen Fürsorgeerziehungstages, sowie Merkblatt für die pädagog. Beurteilung eines Zöglings. (Sehr billige Heftchen, überaus empfehlens- wert!) Geschäftsstelle zu Kronsberg vor Hannover-Wülfel.

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vollen Äußerungen der Verehrung allerheiligster Güter, dem Inbegriff und Symbol der wahrhaft edelsten Anlagen des Menschengemüts, das sich bisher noch je in den Religionen verdichtet hat, hindernd in den Weg treten?!) Was hat das Glaubensleben des Gemütes, das innige Liebesleben der Seele mit ihrem Schöpfer und Erlöser, voller Heim- lichkeit und Innigkeit, mit den nüchternen Forschungsaufgaben der Naturwissenschaften gemein? Oder mit den freilich durch reales, logisches Denken zu bekämpfenden Äußerungen des schädlichen Aber- glaubens, des gefühlsmäßigen Irrens? Es ist letzthin auch eine psycho- logische Frage, wie die so schwache, vun Trieben‘ widersprechender und häßlicher Art hin- und hergezerrte Gemütsseele zu einem höheren, würdigen, wohlwollenden Menschendasein geführt und darin erhalten werden kann nicht die Seele einzelner Pflichthelden oder Philo- sophen, die noch großenteils von der Sittlichkeit ihrer Umgebung leben sondern die Menschenseele in den Völkern, in der Masse, in all ihrer Armut und Erbärmlichkeit. »Nie wird, solange die Erde bleibt, die Menschheit aus ihrer sittlichen Schwäche soweit herauskommen, daß sie auf sich selber, ohne göttlichen Halt, stehen kann. Was das sittliche Bedürfnis der Natur sei, erkennt man darum nicht an den wenigen Privilegierten, sondern an den gewöhnlichen Menschen.«?) Die Annahme, daß eine Religion nur Wert hat, wenn sie Gemüt und Herz ganz ausfüllt und der Glaube ersetzt, was wir von den letzten Zwecken und Bedingungen unseres Daseins unmög- lich wissen können, rechtfertigt psychologisch den gläubigen Anschluß an die Kirche. Denn es ist ausgeschlossen, daß jeder Einzelne mit fortwährenden Zweifeln und Grübeleien sich eine Religion macht. Um dem Gemüt Frieden und dem schwachen Willen Halt zu ver- leihen, muß sie eine über dem Geist stehende Macht sein. Jedenfalls hat der Glaube an Gott bisher die edelsten seelischen Erscheinungen, von denen auch die Ungläubigen zehren, hervorgebracht, während der Unglaube, der auch nur ein Glauben, aber kein Wissen ist, sich dessen nicht rühmen kann. »Die Atheisten behaupten, die Wahrheit sei dem Volk niemals schädlich. Ganz recht: Eben deshalb glaube ich nicht, daß das, was sie dem Volke sagen, die Wahrheit ist.« 3) Die Notwendigkeit des Glaubens gegenüber den Ansprüchen weltlicher Weisheit hat der Philosoph und Apostel Paulus am schönsten

1) Wie es z. B. auch ein viel empfohlener kleiner »Abriß der Psychologie für Pädagogen (!)« für angezeigt hält.

2) Zimmermann, Das Gottesbedürfnis als Gottesbeweis. Freiburg, Herder.

3 Zimmermann, a. a. O.

Hermann: Woher? Wohin? 599

vor den heidnischen Gelehrten bewiesen (Areopagrede und in seinen Briefen). Das erste Kapitel des Römerbriefs ist eine glänzende psycho- logische und ethische Kennzeichnung des Religionsproblems, und Paulus schämte sich der christlichen Botschaft nicht, denn er hatte erkannt, daß es eine Kraft ist, die selig macht. Christus selbst hat einen wichtigen Hinweis für solche gegeben, denen das »Glauben« hart ankommt, weil sie wenigstens was das Heil ihrer Seele an- geht sich auf das reale, irdisch engbegrenzte Denken versteifen möchten (in andern Dingen denken auch sie nicht immer in »Tat- sachen«): Johannesevangelium Kapitel 6: Jesus redete vor den zweifel- süchtigen und spitzfinden jüdischen Gelehrten in auffälligen Bildern und Vergleichen, so daß es selbst seinen Jüngern »eine harte Rede« dünkte. »Da Jesus aber bei sich selbst merkte, daß seine Jünger darüber murrten, sprach er zu ihnen: Ärgert Euch das? ... Der Geist ist es, der da lebendig macht; das Fleischliche ist ja nichts nütze. Die Worte, die ich rede, die sind Geist und,sind Leben ...e Von dem an gingen seiner Jünger viele hinter sich, und wandelten hinfort nicht mehr mit ihm. Da sprach Jesus zu den Zwölfen: Wollt Ihr auch weggehen? Da antwortete ihm Simon Petrus: »Herr, wohin sollten wir gehen? Du hast Worte ewigen Lebens. Und wir haben geglaubt, und haben es erkannt, daß Du der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes bist!« Seitdem haben die Apostel und die von ihnen gegründete Kirche die christliche Betschaft zu allen Menschen gebracht, Christus selbst und sehr viele Jünger haben Martern aller Art und den Tod dafür erduldet, und das kostbare Gut hat bis heute die Seelen unsrer Kinder, der Armen und Betrübten, erwärmt und erleuchtet, und gibt Millionen Menschen die Kraft, das Erdenleid in Würde zu tragen und das Tierische zu überwinden. Bedenken wir wirklich, was wir tun, wenn wir irgendwelchen Ge- dankengängen zulieb alles mögliche anfangen, um den Schein dieses Lichtes zu verdunkeln? Ich glaube, die heutige Zeit spricht laut genug, daß viele von uns da manches gutzumachen haben, vielleicht ist es noch Zeit dazu.

Wir sahen, daß Religion,. Ethik, Philophie, Medizin, Psychiatrie, Rechtspflege, Naturwissenschaft, Psychologie gemeinsam mit der päda- gogischen Wissenschaft und Praxis an großen Aufgaben zu arbeiten hätten, daß sie dies auch in gegenseitigem Verständnis tun können und müssen. Möge es Herrn Direktor Trüper, dem verdienstvollen Herausgeber dieser Zeitschrift und Begründer der Heilpädagogik, noch lange ver- gönnt sein, uns auf diesem Wege mit seinem Rat und seiner Er- fahrung zu geleiten und zu führen. Mögen die von ihm gegründeten

300 B. Mitteilungen.

wissenschaftlichen Einrichtungen, seine Zeitschrift für Kinderforschung und die Beiträge -zur Kinderforschung, weiterhin eine Quelle des Segens und gemeinsamer Liebesarbeit an den enterbten Stiefkindern der Menschheit bleiben. Das walte Gott.

B. Mitteilungen.

1. Der suggestive Einfluß des Films auf die Kinder. Von Dr. David Lund, Hall, Södertälje, Schweden. In Deutsche übersetzt von Faimi Blom.

Bekanntlich sind ganz besonders junge Menschen der Suggestion aus- gesetzt, weil sie in höherem Grad als Ältere sich von ihren Gefühlen leiten lassen, da ihre Erfahrung und ihr Verständnis der nötigen Kritik nicht gewachsen sind, und da sie nicht in genügendem Grad über Gegen- vorstellungen verfügen. Die suggerierten Vorstellungen korrigiert das Kind wenig oder gar nicht. Am deutlichsten macht dies sich bemerkbar im Nachahmen der Handlungen anderer Menschen. Man sehe z. B. den Knaben an, der sich als erwachsen stellt, wie er spuckt, flucht und raucht, oder das Mädchen in den Backfischjahren, welches als Dame gelten möchte. Nicht selten ist es ein Zerrbild von dem Auftreten, das am besten zur Nachahmung geeignet scheint. Sowohl in Peking als auch in Paris, Stock- holm mund Trosa hat man zur Genüge Burschen beobachtet, welche ver- suchen, Chaplin zu spielen.

In einem Artikel »Jugendpsyche und Kinematograph« in der Zeit- schrift für Kinderforschung (Sept. 1911) beleuchtet O. Götze besonders den Einfluß des schlechten Films auf das in Entwicklung stehende Seelen- leben der Jugend und hebt u.a. hervor, wie das Vorstellungsleben ver- wirrt wird, denn es werden Szenen und Ereignisse auf dem Film gezeigt, die im wirklichen Leben nicht vorkommen. Eine unwahre verzerrte Welt wird das Gemütsleben des Kindes beherrschen. Was im wirklichen Leben, Stunden, Tage, Wochen, selbst Jahre gebraucht, wird auf. dem Kino vielleicht in einigen Minuten abgespielt. Unaufhörlicher Szenen- wechsel, oft unbegreifliche Situationen, die in unlogischer Gedankenfolge hervortreten, bringen Zweifel und Verwirrung in des Kindes ganzes Vor- stellungs- bezw. Begriffsvermögen. Der erwachsene und erfahrene Mensch erkennt sofort das Unwahre und Phantastische im Film, aber fürs Kind wird es zur Wirklichkeit und sein Vorstellungskreis wird durch falsche Vorstellungen abnorm erweitert. Das Erleben von Raub- und Mord- geschichten usw. bringt für das Kind rohe Vorstellungen und Abstumpfung des Gefühls mit sich. Durch Sensationsdramen mit schnellem Wechsel von Sentimentalität, Roheit usw. verliert der junge und unerfahrene Mensch das wahre Mitfühlen bezw. den Abscheu, und nicht selten stellen sich Gefühlsverirrungen ein.

1. Der suggestive Einfluß des Films auf die Kinder. 301

Man könnte auch mit gewisser Berechtigung sagen, daß des Kindes Willen beeinflußt wird, denn die emotionalen Bilder in den Willensmotiven können ja ebenso ausschlaggebend sein wie das intellektuelle Element des Bewußtsein. Der Erfahrung gemäß scheint es ohne Zweifel zu sein, daß ein durch schlechte Literatur, schlechte Filmkunst usw. zerstörtes Vorstellungs- und Gefühlsleben eine nicht unbedeutende Ursache zu all- gemeinen asozialen Taten ist. Man könnte ja behaupten, daß jede Vor- stellung ihren besonderen Gefühlston hätte, der bei jedem Individuum je nach Art, Intensität und Dauer verschieden wäre, Eine und dieselbe Vor- stellung löst bei dem einen positive, bei dem anderen negative Gefühle aus; der dritte bleibt vielleicht indifferent. Bei dem einen sind die Ge- fühlstöne schwach, bei dem anderen stark, gar übermächtig. Gesteigerte Gefühle können gesteigerte Willensäußerungen (== Handlungen) hervor- bringen. Abnormale Gefühle perverse Handlungen. Bei gesteigerten Ge- fühlen wird die Verstandstätigkeit mehr oder weniger ausgeschlossen und ungehemmt wachsen die Gefühle in solchem Grad, daß sie in Handlungen ausgelöst werden müssen.

Die Erfahrung hat auch zur Genüge gezeigt, daß die Literatur und der Film eine große Einwirkung auf die Phantasie der Jugend ausüben, Der Stoft der Phantasie besteht ja aus produktiven Bewußtseinselement, die vorher die sinnlichen Wahrnehmungen bildeten. Wenn z. B. diese Wahrnehmungen in ethischer Beziehung hauptsächlich schlecht sind, so wird die Folge, daß die Phantasie in Bildung neuer Vorstellungskomplexe hauptsächlich ethisch verwerfliche Vorstellungen und Vorstellungsserien als Baumaterial gebraucht und das Phantasieleben wird von dem ethisch Verwerflichen beherrscht. Ebenfalls kann man sich auch denken, daß die Wahrnehmungen und Vorstellungen allzu zahlreich und von zu wechselnder Art werden, so daß die Phantasietätigkeit gar zu lebhaft und ausschweifend wird. '

Es ist selbstverständlich, daß der suggestive Einfluß, wie ihn z. B. der Film hervorbringen kann, nicht nur von verwerflicher Art ist, sondern er kann auch nützlich zum Kenntnisbeibringen sein, einen erweiterten Blick auf das Leben und des Lebens Erscheinungen geben und vor allem nützen im Erhalten moralischer Impulse, um das Willensleben in rechter Richtung zu leiten. Läßt man moralisch gefallene Menschen solch einen Film sehen wie »Stormyrtösen«, d. h. das Mädchen aus dem Groß-Sumpf (von Selma Lagerlöf), so glaube ich, daß niemand von diesem wirklich künstle- rischen und veredelten Film weggeht, ohne im Herzen die Sentenz mit- zutragen: »Und nun wurde Helga der Maßstab, womit er andere Menschen maß.« Ja, man braucht vielleicht nicht allzu moralisch gefallen oder ver- fallen zu sein, um von diesem Film mächtig beeinflußt zu werden. Die Relativität in den Begriffen spielt natürlich hier eine Rolle. Auch die wirklich guten und edlen Menschennaturen müssen durch solch einen Film, wie der hier angesehene einen Impuls zur gesteigerten Seelenhoheit und zu guten Handlungen bekommen.

Selbstverständlich sind auch Ausnahmen zu machen, auch in Hinsicht auf die wirklich guten Filme: Aus Gründen, die im vorhergehenden

302 B. Mitteilungen.

betont sind, ist es sicherlich nur zum Schaden für Kinder von 5 bis 10 Jahren, Filme zu sehen, mit Ausnahme nur für Schilderungen geo- graphischer oder dgl. Art oder möglicherweise Filme mit Märchenmotiven. Die Filme mögen sonst noch so gute sein, den ebengenannten Alters- stadien sind sie doch nicht entsprechend. Verfasser dieser Zeilen ist selber bei solch einer Kindervorstellung zugegen gewesen, wo »Dunungen« (von Selma Lagerlöf) gegeben wurde. Das Lokal war bis zum letzten Platz mit Kindern, hauptsächlich von Mädchen unter 12 Jahren, besetzt. »Dies ist ein sehr schöner Film«, sagte meine Begleiterin, »aber es werden wohl keine Flaumkinder aus diesen Kindern werden, die so frühzeitig das Leben der Heldin in der Phantasie durchleben dürfen«. Sicherlich lag in diesen Worten viel Wahrheit.

Da der Film eine große Rolle im Vergnügungsleben des heutigen Kindes spielt, und es sich immer wieder zeigt, daß gerade die verwahr- losten Kinder sich der Diebstähle schuldig machen, um sich die Mittel zum Besuch von Kinematographen zu verschaffen, veranstaltete Verfasser im Jahre 1916 unter kriminellen Knaben eine Untersuchung, um einen Begriff zu bekommen, welcher Inhalt der verschiedenen Filme diesen Knaben am besten gefallen hatte. Zu diesem Zweck wurden an die Knaben leichtfaßliche Fragen betreffs der Filme gestellt: welche Filme ihnen am meisten gefallen haben und welcher sie sich am besten er- innerten. An der Untersuchung nahmen 169 Knaben teil. Von diesen aber hatten 18 nur selten Kinematographen besucht, so daß ausführlichere Antworten nur von 151 abgegeben werden konnten. Unter diesen 151 hatten 109 sehr häufig Kinematographen besucht, einige jeden Tag, einige- jeden zweiten und eine geringere Anzahl Knaben aus größeren Städten hatten mehrere Vorstellungen an demselben Tage beigewohnt. In den schriftlichen Antworten hatten einige ziemlich ausführlich den Inhalt der Filme geschildert, die ihnen: am besten gefallen hatten, während andere die Filme nur bei Namen nannten. Auf dieser Grundlage hat man dann eine Gruppierung vom Inhalt der Filme und deren Tendenz unter- nommen. Eine gleichartige Untersuchung wurde ungefähr gleichzeitig von Dr. G. Brandell in den Volksschulen in Södertälje unternommen, wobei die Verfahrungsweise ungefähr dieselbe wie die eben genannte war. Die Kinder, die an der Untersuchung teilnahmen, gehörten der dritten und vierten Klasse der Volksschule an. Das Alter dieser Kinder ist teil- weise niedriger als das der verwahrlosten Knaben. Infolgedessen sind die Resultate der beiden Untersuchungen nicht ganz vergleichbar. Da jedoch bei der Untersuchung den in der Fürsorgeerziehungsanstalt internierten Knaben ausdrücklich betont wurde, daß nur solche Filme in Betracht kämen, die die Knaben vor ihrer Aufnahme in die Anstalt gesehen hätten, also nicht solche, die ihnen im Anstalts-Kino gezeigt wurden, wo strenge Zensur nötig ist, und da das Maximalalter bei der Aufnahme in die An- stalt 15 Jahre (das Durchschnittsalter ist 13 Jahre) ist, kann die eben- genannte Differenz von Vergleichsgesichtspunkten aus als relativ gering angesehen werden.

In welchem Grade das eine oder andere Motiv von den Jungen bevor-

2. Kindgemäße Erziehung und Gesetzesbestimmungen. 303

zugt wurde, wird aus der folgenden Vergleichstabelle ersichtlich: (die erste Kolumne bezieht sich auf die Volksschulkinder, die zweite auf die verwahrlosten Knaben):

Detektiv- und Verbrecherdramen . . . 15 % 39,7%,

Abenteuerdramen anderer Art. . . . 23,8. 19,2 ., Scherzbilder. ` < monot J 0. = 251% 11,9 Indianerdramn. . » 2 2 222.064, 5,9 Kriegsdramen und Kriegsbider . . . 75, 5,9 Trauerspiele. . s a 2 a 200020. 134 53, Geographische Bilder. . . . , . . 112. 3,3 ,, Erotische Motive . . . + 2 + + + 5.5. 3.3, Historische Dramen . . + + + +. . 26n 1,9 ,, Altruistische Motive . . . + + + + LL, 1,9 Soziale Bilder s . x J 2 2 maa 139

Die oben angeführten Filmmotive sind nach dem Grad der Beliebt- heit bei den 151 kriminellen Knaben angeordnet. Detektiv- und Verbrecher- àramen kommen hierbei an erster Stelle und dann Abenteuerdramen anderer Art. Nicht weniger als 58,9°/, der kriminellen Knaben haben diese Motive bevorzugt. Der Grad der Beliebtheit nimmt dann rasch im selben Maße ab, in dem der die Phantasie anregende Einschlag im Filmmotiv verschwindet. Bei einem Vergleich zwischen 161 Knaben aus der Volks- schule und den 151 kriminellen Knaben ist es interessant zu sehen, daß die Scherzbilder bei den erstgenannten den höchsten Grad von Beliebtheit (25,1°/,) aufweisen, während Detektiv- und Verbrecherdramen nur von 159/, unter diesen bevorzugt wurden, d. h. von nicht einmal einer halb so großen Anzahl wie bei den kriminellen Knaben. Überhaupt findet man in den Schilderungen der letzteren über den Inhalt der Abenteuerdramen bei den meisten eine große Ausführlichkeit, und dies scheint darauf hin- zudeuten, daß der Inhalt die Gefühlsbetonung besessen hat, welche zur Entstehung einer intensiven Phantasietätigkeit notwendig ist. Ohne Zweifel dürfte diese abnorm gesteigerte Phantasietätigkeit der intellektuellen und moralischen Entwicklung den Jungen zum Schaden gereichen. Wenigstens hätte das Letzte der Fall sein können, ja, die oben angegebene Vergleichsziffern sind wohl dazu geeignet, zu beleuchten, daß der suggestive Einfluß in mehreren Fällen die direkte Ursache der asozialen Handlungen gewesen sind. Besonders scheint die Differenz zwischen den Ziffern der beiden Kinderkategorien betreffs des Grades von Beliebtheit der Detektiv- und Verbrecherdramen sehr klar und deutlich solch eine Annahme zu stützen.

2. Kindgemäße Erziehung und Gesetzesbestimmungen. Von Direktorin Dr. Matz, M. d. R,

Wir leben im Jahrhundert des Kindes, wir suchen das kindliche Seelenleben in seinem gesamten Umfange, in seiner Bedingtheit, in seinen Grenzen zu erfassen. Wir reden und schreiben unendlich viel über kind-

304 B. Mitteilungen.

gemäße Erziehung, wir bemühen uns, dem Kinde als solchem gerecht zu werden und durch das Jugendwohlfahrtsgesetz jedem Kinde eine körper- liche, geistige und sittliche Erziehung zu sichern. Es sind lebhafte Be- strebungen im Gange, in einem besonderen Jugendrecht alle die Jugend vom Kindesalter bis zur Reife betreffende Gesetzesbestimmungen nach ein- einheitlichen, kindgemäßen Gesichtspunkten zusammenzufassen und um- zuformen.

Und nun kommen in der gleichen Zeit Gesetzesbestimmungen zu- stande, die bei jedem, der die kindliche Seele kennt, schwerste Bedenken hervorrufen müssen und eine Rücksicht auf die kindlichen Entwicklungs- stufen vermissen lassen. Im Rechtsausschuß des Reichstages ist vor kurzem in dritter Lesung der Entwurf eines Gesetzes über die religiöse Kindererziehung verabschiedet worden, der diese schwierige Frage nach dem Grundsatz der Einigung zwischen den beiden Elternteilen regelt, damit die Gleichberechtigung zwischen Vater und Mutter herstellt und mit der gegenüber dem heutigen Zustande stärkeren Betonung des Rechts der Mutter, auch nach dem Tode des Vaters, bei dieser schwierigen Erziehungsfrage das Verlangen weiter Volksklassen entgegen kommt. In strittigen Fällen, insbesondere bei Änderung des Bekenntnisses, die durch das Vormundschaftsgericht entschieden werden, ist eine Mitwirkung des Kindes vorgesehen. Es heißt wörtlich in $ la: »Das Kind ist zu hören, wenn es das 10. Lebensjahr vollendet hat.e Ähnlich noch einmal bei Festsetzung der Rechte des Vormundes. Weiter in $ 3: »Nach Voll- endung des 14. Lebensjahres steht dem Kinde die Entscheidung darüber zu, zu welchem religiösen Bekenntnis es sich halten will. Hat das Kind das 12. Lebensjahr vollendet, so kann es nicht gegen seinen Willen in einem anderen Bekenntnis als bisher erzogen werden.« Also 10, 12, 14 Jahre! Es ist, als ob die Gestalten der mittelalterlichen Bildwerke herabsteigen, in denen das Kind als der verkleinerte Erwachsene dar- gestellt wird. Mit 10 Jahren Anhörung des Kindes, mit 12 Jahren keine Änderung ohne seinen Willen, mit 14 Jahren Recht der religiösen Selbst- bestimmung. Das ist in allen drei Lesungen im Ausschuß beschlossen worden, obwohl der den Beratungen zugrunde gelegte Antrag D. Dr. Kahl den ersten Fall gar nicht, für den zweiten ein Alter von 13 und für den dritten Fall ein Alter von 16 Jahren vorsah und obwohl auch im Ausschuß lebhafte Bedenken gegen diese Festsetzung geltend gemacht worden sind.

Vom Standpunkt des Erziehers aus muß betont werden, daß alle drei Festsetzungen um etwa 2 Jahre verfrüht erscheinen und geeignet sind, in ihrer praktischen Anwendung das kindliche Seelenleben zu schädigen, die kindliche Unbefangenheit zu zerstören und jene Frühreife zu befördern, die uns in so erschreckender Weise aus den alt erscheinenden Gesichtern mancher Jugendlichen entgegenstarrt und jedem ans Herz geht, der die Jugend lieb hat. Diese Vorwegnahme schwerwiegender Äußerungen und Entscheidungen treibt das subjektive Recht des Kindes auf die Spitze und bedeutet für die Gesamtheit der Kinder in den meisten Fällen eben so einen Schaden, wie die Erteilung des Wahlrechtes an die 20jährigen, denen so oft die körperliche und sittliche Reife mangelt, um als voll-

2. Kindgemäße Erziehung und Gesetzesbestimmungen. 305

wertige Staatsbürger durch ihren Stimmzettel über die Geschicke des Vaterlandes mit zu entscheiden. Man stelle sich dieses 10jährige Kind vor, das vor dem Vormundschaftsgericht »zu hören« ist. Zu hören, wie es sich zur Frage der Änderung oder Beibehaltung seines Bekenntnisses stellt. Der kindliche Unverstand dieser Jahre und die kindliche Einfalt, auch im guten Sinne, wird die Bedeutung dieser Frage nicht erfassen und entweder durch Verstummen oder törichte, aber mit Rücksicht auf das Alter berechtigte Antwort der Würde der Sache nicht entsprechen, oder unter starker Beeinflussung durch eine Seite in nachgesprochener eingelernter Antwort unrkindliche Weisheit vortragen. Eine eigene Ansicht über diese Fragen kann das zehnjährige Kind noch nicht haben, und auch das 12jährige Kind noch nicht, das nicht gegen seinen Willen in einem anderen Bekenutnis erzogen werden soll. Was weiß ein Kind dieser Jahre in dem geordneten Verfahren über sein Bekenntnis zu sagen? Die selbständige Entscheidung über das Bekenntnis, die dem 14jährigen Kinde zugesprochen wird, entspricht der Zeit der Konfirmation der evangelischen Kirche, die nach Ansicht vieler Geistlicher später zu legen wäre, wenn für die Volksschüler der Eintritt in das Erwerbsleben dies zuließe. Wenn aber der Ausschuß in seinen historischen Betrachtungen auf die Entscheidungen des Reichskonvents des Jahres 1651 zurückgeht und entsprechend dem corpus catholicorum das vollendete 14. Lebensjahr gegen eine starke Minderheit, die das 16. Jahr forderte, annahm, so wäre zu bedauern, wenn man sich bei dieser Entscheidung mehr von historischen als psycho- logischen Erwägungen hat leiten lassen. Man lasse das Kind das sein und darstellen, was es ist, ein Kind, und stelle es nicht vor Erwägungen in Lebensjahren, die diesen Überlegungen noch nicht gewachsen sind. Es ist dringend zu wünschen, daß bei Beratung des Gesetzes im Plenum des Reichstages eine Heraufsetzung der Altersgrenzen erfolgt.

Nachschrift: Wer wie ich länger als 30 Jahre sich mit dem kind- lichen Seelenleben theoretisch und praktisch als Lebensaufgabe beschäftigt hat, vor allen Dingen auch mit seinen abnormen Erscheinungen beim Kinde wie deren Eltern und um abnorme Erscheinungen handelt es sich in den im Gesetzentwurf geäachten Fällen durchweg der ver- steht die Mehrheitsbeschlüsse einfach nicht, sondern möchte die Klage in der revolutionären Arbeiter-Marseillaise auch auf den Reichstag anwenden, die Klage über den »Unverstand der Masse«. In der Tat, Schiller be- hält auch hier recht: »Die Mehrheit ist der Unsinn, Verstand ist nur bei wenigen gewesen.«e Bei solchen aus irgend einem Grunde schwer er- ziehbaren Kindern ist gerade das Alter um 14 das kritischste, wo alles zu revolutionieren beginnt, wo manchmal alles, was sonst heilig war, über Bord geworfen wird, wo auch die religiösen Zweifel bis zur Verspottung des Religiösen auftreten, noch begünstigt durch die religiösen Konflikte der Eltern, und da soll das Kind, umworben von Vertretern zweier Kirchen und wohl noch mehr vom fanatischen Dogmatismus des jüdischen Marxismus selbständig entscheiden? Wie ist ein solcher Beschluß möglich?

Zeitschrift für Kinderforschung. 26. Jahrgang. 20

306 B. Mitteilungen.

In der parteidemokratischen »Allgemeinen Thüringischen Landeszeitung Deutschland« schreibt über dieses Gesetz über die religiöse Kindererziehung Frau oder Frl. Dr. Marie Elisabeth Lüders, M. d. R. u. a.:

»Der Rechtsausschuß des Reichstages hat iu eingehenden vom Geiste gegenseitiger Duldung und Verständigung getragenen Beratungen den Entwurf zu einem Gesetze, betreffend die religiöse Kinder- erziehung fertiggestellt. Es ist zu hoffen, daß dieser Entwurf noch vor dem Eintritt in die Sommerferien die Zustimmung des Reichstages finden und damit endlich einem unerträglichen Zustande der Rechts- zersplitterung und Rechtsunsicherheit ein Ende machen wird, auf einem Gebiete, auf dem Stetigkeit und Einheitlichkeit im Interesse des kon- fessionellen Friedens ganz besonders erwünscht sind.«

Den zwei Spalten langen kritiklosen Artikel schließt sie: »Sollte was dringend zu hoffen ist der Entwurf in der vorliegenden Fassung Gesetz werden, so wird er unseres Erachtens dazu beitragen, den konfessionellen Frieden zu fördern, die Gewissensfreiheit zu wahren und die für uns selbstverständliche Gleichberechtigung der Ehegatten in dem zurzeit überhaupt möglichen Umfange zur Geltung zu bringen.«

Als Jugendfreund muß man auch hier sagen: »Sie wissen nicht, was sie tun.« I Trüper.

3. Fürsorge-Erziehung in Finnland. Von Julius Herden, Breslau.

Oft und gern gedenke ich in stillen Stunden der Erinnerung an einstige frohe Wanderfahrten, auch an Finnland, an Suomi, das berühmte Land der tausend Seen und seiner geistig hochstehenden Bevölkerung, die bis zu ihrer Befreiung durch eine deutsche Heeresgruppe erst unter der zaristischen Herrschaft und dann unter dem roten Terror so furchtbar ge- litten hatte.

Im Geiste sehe ich mich dann wieder lustwandeln in den sauberen Straßen seiner schönen, prächtig am Meere gelegenen Hauptstadt Helsingfors (Helsinki); durchstreife ich wieder endlose, schweigende Urwälder, wo noch Bär und Elche hausen; kehre ich wieder zu kurzer Rast in einer Pörte ein, einem rohgezimmerten Blockhause, darin mir, gleichwie Sieg- linde dem wegmüden Siegmund das gefüllte Methorn, eine blühende, blonde Bäuerin mit freundlichem Blick aus seeblauen Augen einen mächtigen, blitzblanken Blechnapf voll köstlicher Milch zur Labung entgegenreicht; wieder übergleite ich, eingesponnen in den Zauber weißer Mondnächte, ein winziger Punkt im winzigen Fahrzeuge, Riesenseen, von finsteren Tannenwäldern dicht umstarrt, schaue ich gruselnd hinab in den Imatra- fall, die in sinnbetörender Wildheit dahinschießende größte Stromschnelle Finnlands; schwelge ich für lumpige drei Mark Pensionspreis an märchen- haft reich besetzter Tafel in der lieblichen Sommerfrische Kongasala; wieder ...., doch genug des Erinnerns! Tauchet ins Vergessen. all ihr lieben Nordlandbilder! Schweige in der Brust auch du, große Finnlands- sehnsucht! ....

3. Fürsorge-Erziehung in Finnland. 307

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Bisher gab es kein umfassendes Werk über dieses eigenartige Land, die jetzige Republik, das ehemalige Großfürstentum Finnland. Im Auf- trage des Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten ist nun seit kurzem in der Druckerei der Finnischen Literaturgesellschaft in Helsingfors ein Buch erschienen: Finnland im Anfange des XX. Jahrhunderts, 672 S. stark, mit 102 Abbildungen und einer Karte, auch in deutscher Sprache. Dieses Werk ist im wesentlichen zusammengesetzt aus Artikeln, die in dem eben zum Abschluß kommenden ersten finnischen Konversationslexikon »Tietosanakirja« enthalten sind und sich auf Finnland beziehen. Da jene Aufsätze also ursprünglich nicht zu einer einheitlichen systematischen Be- schreibung bestimmt waren, hat das genarnte Buch vor allem den Cha- rakter eines Nachschlagewerkes. Es behandelt in ausführlichen Kapiteln Natur, Volk, Wirtschaftsleben, Industrie, Verkehr, Handel, soziale Fragen, geistige Kultur, Staatswesen und die Geschichte des Landes. Damit ist es eine, die erste, Enzyklopädie Finnlands geworden. Die geistige Kultur ist in Kapitel V erschöpfend dargestellt. Aus dem Abschnitt über Unter- richtswesen lasse ich nun nachstehend den kleinen Aufsatz über die Für- sorge-Erziehung in Finnland folgen:

II

Die vof der Allgemeinheit eingerichtete Kinderfürsorgearbeit ist bis zum 14. Januar 1918 zwei staatlichen Organen anvertraut gewesen, so daß die Behörde für Gefangenenpflege für alle Verbrecher unter 15 Jahren gesorgt hat, die von einem Gericht zur Erziehung in sogeuannten all- gemeinen Erziehungsanstalten bestimmt wurden. Die schlecht gepflegten, sittlich verwahrlosten oder entarteten Minderjährigen sind auf Grund der Verordnung vom 7. Oktober 1912 einem sogenannten Inspektor der Für- sorgeerziehung unterstellt. Gemäß der Verordnung vom 14. Januar 1918 wurde jede auf die Minderjährigen bezügliche Fürsorgearbeit sowie auch die oben genannten Wirksamkeitsformen dem Oberschulamte übertragen. In der Verordnung vom 2. August 1918, die die Umgestaltung dieser Behörde betrifft, wird für die Verwaltung und Leistung dieser Angelegen- heiten eine besondere Abteilung, die sogenannte Kinderfürsorgeabteilung, eingerichtet. Ihr unterstehen die allgemeinen staatlichen Erziehungs- anstalten, die staatlichen und privaten Kinderfürsorgeanstalten, die Er- ziehungs- und Fürsorgeanstalten für Taubstumme, Blinde und Idioten, so- wie die Lehrervorbereitungsanstalten für diese. Ordentliche Mitglieder der Kinderfürsorgeabteilung sind außer dem Generaldirektor des Oberschulamtes der Abteilungsvorsteher, drei andere Schulräte, von denen zwei die Kinder- fürsorgearbeit, einer die Erziehung der Taubstummen, Blinden und Idioten vertritt, nebst einem juristisch gebildeten Schulrat. Außerdem stehen der Abteilung Inspektoren für Turnen, Gesundheitspflege, Zeichnen, Hand- arbeiten und Gesangunterricht zur Verfügung, die für alle drei Abteilungen gemeinsam sind. Ordentliche Kinderfürsorgeanstalten gibt es folgende: 1. für 7—15jährige Verbrecher: sog. allgemeine Erziehungsanstalten 5, wovon 4 für Knaben (340 Zöglingsstellen) und 1 für Mädchen (60 Zöglings- stellen; 2. für schlecht gepflegte und entartete Minderjährige staatliche

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308 B. Mitteilungen.

Schutzheime; 4 für Knaben (zusammen 180 Zöglingsstellen) und 1 für Mädchen; private oder kommunale Schutzheime, die staatliche Unterstützung genießen: 5 für Knaben (170 Zöglingsstellen) und 7 für Mädchen (165 Zöglingsstellen), 8 Ferienkolonien für 180 Knaben und 2 Heime, das eine für Knaben, das andere für Mädchen. Die Kosten des Monates für Unterhaitung und Unterstützung dieser Anstalten sind im Budget von 1918 auf 1770300 Fmk. geschätzt worden. Besondere Schulen gibt es für Taubstumme 7 (mit 400 Zöglingsstellen), für Blinde 2 (mit 140 Zöglings- stellen) und eine für Idioten (mit 100 Zöglingsstellen). Die Kosten für diese sind 1918 auf 1502900 Fmk. geschätzt worden.

Auf dem Gebiete der Gesetzgebung gibt es vorläufig nur Gesetz- entwürfe, nämlich ein von dem 1902 eingesetzten staatlichen Komitee aus- gearbeiteter Entwurf zur Regelung der Fürsorgeerziehung vom Jahre 1905 und ein vom Gesetzvorbereitungsausschuß ausgearbeiteter Entwurf vom Jahre 1914, ‚der durch das untertänige Gesuch des Landtages vom Jahre 1909 um Einführung eines allgemeinen Gesetzes für die Kinderfürsorge veranlaßt wurde. Zur Ausarbeitung eines neuen Entwurfes ist vom 25. November 1918 ein neues staatliches Komitee eingesetzt worden, das schon mit der Arbeit begonnen hat. Außerdem hat der Landtag seiner- seits eine Gesetzesvorlage angenommen, die die Rechte und Erziehung der unehelichen Kinder betrifft. Obgleich ein Gesetz für Kinderffirsorge noch nicht besteht, sind in Städten und Landkommunen besondere kommunale sogenannte Erziehungsausschüsse eingesetzt worden, die auf Grund von bestätigten Statuten arbeiten.

4. Zum Begriff »Heilpädagogik«.

Die von meinem Ausspruch: »Wir sollten endlich aufhören, uns als Heilpädagogen zu bezeichnen!« ausgehenden Erörterungen Göpferts in Nr. 21 zwingen mich zu einer Aussprache über den Begriff Heilpädagogik, die freilich durchaus nicht alle Fragen dieses in sich problematischen Be- griffes erörtern wird. Dr. Richter-Homberg sieht in den Taubstummen- anstalten nicht Schulen, sondern Kliniken und Sanatorien für heilbedürftige Kinder, in ihrer Lehrweise eine didaktische Therapie. Jeder Zögling ist ihm ein individuelles Krankheitsbild, nach dessen diagnostischer Zer- gliederung sich die didaktische Therapie einrichten müsse. Mir erscheint die Aufgabe der Taubstummenbildung als eine rein pädagogische. Sie geht nicht von der Frage aus: Was fehlt dem Kinde?, sondern von der Frage: Was ist vorhanden? Vorhanden sind ein sprach- und denkfähiger Geist, eine bildsame Seele. Sie zu gestalten und zu bilden ist die Auf- gabe der Taubstummenanstalten, die also nicht als Kliniken, sondern als Schulen aufzufassen sind. Ihr Verfahren ist kein Heilverfahren, sondern eine Bildungslehre. Von jener einseitigen Auffsssung unterscheiden sich Göpferts Ausführungen stark, und ich stehe nicht an, ihnen in vielem zu- zustimmen. Ich weiß auch, daß die Taubstummenpädagogik nicht bloß historisch-zufällig, sondern sachlich-tatsächlich der Ausgangspunkt der so- genannten »Heilpädagogik« gewesen ist. Trotzdem muß ich meinen Aus-

4. Zum Begriff »Heilpädagogik«. 309

spruch aufrecht erhalten. Nicht der Sachinhalt allein macht den Begriff sondern auch der herkömmliche Gebrauch, ein Begriff wird insbesondere zum Fachausdruck nur durch seine Anwendung.

Was versteht man unter »Heilpädagogik« ?

Das »Enzyklopädische Handbuch des Kinderschutzes und der Jugend- fürsorge«, Leipzig 1911: Heilpädagogik, ein Grenzgebiet der Pädagogik, das in mancher Beziehung zur Medizin, insbesondere zur Psychiatrie und zur Nervenheilkunde steht. Theoretisch bezweckt sie die Erkenntnis jener pädagogischen Mittel, die den Ausgleich gestörter psychischer Funktionen bewirken können, praktisch die Anwendung bestimmter Methoden für Er- ziehung und Unterricht geistig abnormer Kinder und Jugendlicher. Die weitere Fassung des Begriffes, welche auch die pädagogische Behandlung Sprachgestörter, Blinder, Taubstummer und selbst Krüppelhafter begreift, hat wegen der Verschiedenheit der in Betracht kommenden Methoden nach Wesen und Richtung wenig Berechtigung. Die Voraussetzung für die heilpädagogische Tätigkeit ist die psychologische Erkenntnis der abnormen Geisteszustände in Kindheit und Jugend.

Das »Enzyklopädische Handbuch der Heilpädagogik«, Halle 1911, berücksichtigt Blinde und Taubstumme nur insoweit, als sie zugleich Schwachsinnsmerkmale aufweisen. Dr. Hellers »Grundriß der Heil- pädagogik«, 2. Aufl. 1912, sagt in der Einleitung (S. 2 u. 3): »Der Begriff Heilpädagogik ist keineswegs eindeutig bestimmt. Nicht selten faßt man unter dieser Bezeichnung die Bestrebungen des Blinden-, Taub- stummen- und Schwachsinnigenunterrichts zusammen. Eine Berechtigung dazu besteht tatsächlich weder in thoretischer noch in praktischer Hin- sicht. Hier scheint die alte Ansicht maßgebend zu sein, daß das Wesen des Schwachsinns in einer Abschwächung der Sinnesfunktion zu suchen sei, wodurch eine oberflächliche Analogie zum psychischen Verhalten der Blinden und Taubstummen künstlich hergestellt wurde ... Blinden-, Taub- stummen- und Schwachsinnigenunterricht sind pädagogisch streng ge- sonderte Gebiete, und es kann bloß zu Mißverständnissen Anlaß geben, wenn man sie unter einem Begriff zusammenfaßt.< Die ausführliche Arbeit von Dr. Vert&s in dieser Zeitschrift 1918, 6/7, »Begriffsbestimmung der Heilpädagogik auf psychologischer Grundlage«, weist nach, daß eine Einbeziehung der Blinden und Taubstummen nur möglich ist, wenn man viel allgemeiner die Abnormität und damit verbundene Minderwertigkeit als Grundlage annehme. Er setzt somit Heilpädagogik gleich Abnormen- pädagogik, kommt damit zu einer nur äußerlichen Begriffsfassung und bezieht Krüppelerziehung, Taubstummen- und Blindenpädagogik in den Kreis ein.

Das »Handwörterbuch des Volksschulwesens«, Leipzig und Berlin 1920, nimmt diese Begriffsfassung auf. Aber die eigentlichen Fachleute stimmen ihr nicht zu. Dies geht deutlich hervor aus den programma- tischen Ausführungen der »Hilfsschule«e (1919, Heft 5): >Der Begriff Heilpädagogik umfaßt in erster Linie geistig abnorme Kinder aller Art, deren Entwicklungshemmung auf dem Gebiete des Intellekts, des Willens und des Gemütes liegen, nicht aber auf dem Gebiete der Sinnesdefekte,

810 B. Mitteilungen.

und er wird in der Literatur durchaus in diesem Sinne gebraucht. . . . Es besteht kein Anlaß, diese scharfe Begriffsbestimmung zu verwischen.« Auch für uns besteht kein Anlaß, den durch den Gebrauch fest- gewordenen Begriff der Heilpädagogik umzuwerfen. Wir müssen die uns von der führenden pädagogischen Literatur zuerkannte Sonderstellung nicht nur wahren, sondern in die Tiefe unterbauen. Wir haben dann die Mög- lichkeit, die Ergebnisse der sogenannten Heilpädagogik zu nutzen, wir haben aber auch die Freiheit der durchaus selbständigen Entwicklung. Dr. Paul Schumann.

5. Kleinere Mitteilungen.

1. Der gesundheitliche Verfall des deutschen Volkes. Ein erschütterndes Bild von dem schlechten Gesundheitszustand unseres Volkes entwarf vor längerer Zeit Prof. Dr. Langstein, der Direktor des Kaiserin- Auguste - Viktoria - Krankenhauses in Charlottenburg, auf der nach Frank- furt a. M. zusammenberufenen Tagung des Reichsverbandes der privaten gemeinnützigen Kranken- und Pflegeanstalten Deutschlands. Prof. Lang- stein wies an der Hand einer bisher noch nicht veröffentlichten Statistik nach, daß das deutsche Volk infolge der Wohnungsnot und des Eiweiß- mangels einem rapiden gesundheitlichen Verfall entgegengeht. Der Ge- sundheitszustand der Säuglinge vom ersten Jahre ab ist trostlos. Im Jahre 1915 hatte sich die allgemeine Sterblichkeit in Deutschland gegen 1913 um 9,5°/,, im Jahre 1918 bereits um 37°/, erhöht. Die Todesfälle in- - folge Kindbettfiebers betrugen 1918 50°/, mehr als im Jahre 1913. Die Sterblichkeit der Kinder im Alter von 1—5 Jahren erhöhte sich 1918 um 49,30), gegenüber dem Jahre 1913, die der Kinder im Alter von 5—15 Jahren um 55°,. Die tuberkulös infizierten Berliner Waisenkinder im Alter von 1—3 Jahren machten im Jahre 1913 ein Zwölftel, dagegen im Jahre 1918 ein Drittel der Berliner Kinder aus. Im ganzen Reich war im Jahre 1918 die Zahl der tuberkulösen Kinder vom 1.—4. Lebens- jahre um 134°/,, die Zahl der Kinder im 5. Lebensjahre um 300%, größer als im Jahre 1913.

2. Kinderheime. Im früheren Florabad in Halle will man ein Luft- und Lichtbad für Kinder einrichten. Kosten 9700 M. Ferner sollen in Altscherbitz 20 Betten für psychopathische Kinder aus Halle bereitgestellt werden, was 8400 Mark kostet. Vormittags sollen kleine Kinder, nachmittags Schulkinder in dem Luft- und Lichtbad Aufnahme finden, und zwar jedesmal 100 Kinder, die 5 bis 6 Wochen dort zu- gelassen werden. Auf diese Weise genießen 590 Kinder die Wohltat. Für Kinder in Altscherbitz wird ein Tagespreis von je 5 Mark gezahlt, was recht vorteilhaft ist gegenüber den Sätzen in privaten Anstalten, die jetzt 9. bis 13 Mark betragen. Die erforderlichen Mittel wurden bewilligt.

Auch die frühere Flugstation Wiek (Rügen) ist als Kinder- erholungsheim von der Stadt Chemnitz auf mehrere Jahre gepachtet worden. Einschließlich des Personals zählt das Heim jetzt etwa 700 Personen.

5. Kleinere Mitteilungen. 311

3. Zunehmende Verwahrlosung der Jugend. Der Ausschuß der Breslauer Zentrale für Jugendfürsorge hielt, wie die Schles. Ztg. berichtet, am 27. Mai seine Jahresversammlung ab, in der der Vorsitzende Geh. Justizrat Fränkel und die Leiterin der Geschäftsstelle nnd Ehrenvorsitzende Frau Geheimrat Schüler den Tätigkeitsbericht für 1920 erstatteten.

Darnach sind im Berichtsjahre 2390 neue Fälle (gegen 1994 im Vorjahre) an die Zentralstelle gelangt und außerdem hatte diese noch mit 2169 Fällen aus früheren Jahren zu tun. Gegen 1739 Jugendliche war Anklage erhoben, und zwar meist wegen Eigentumsvergehen, wobei die _ Wahrnehmung wiederkehrte, daß obgleich in Breslau die Zahl der weiblichen Jugendlichen die der männlichen um 3000—4000 übersteigt, der Anteil der weiblichen an der Gesamtzahl der Straftaten nur ein Sechstel trägt. Die Strafverfahren führten zu 1429 Verurteilungen; von den Frei- sprechungen erfolgten 98 wegen mangelnden Beweises und 58 wegen mangelnder Einsicht. Den größten Anteil an der Zahl der Straffälligen hatten wie immer die ungelernten Arbeiter, aber auch die Zahl der Schüler war auffällig hoch (237 Schüler, 24 Schülerinnen). Eine der Hauptursachen der Kriminalität bildet die ungeheure Vergnügungs- sucht; die Jugendlichen werden durch das Beispiel der Erwachsenen verleitet und verschaffen sich die Mittel durch Diebstähle, zu denen sie sich nicht selten sogar bandenmäßig zusammenschließen. Aber nicht Straf- fälligen allein widmete die Zentrale ihre Tätigkeit, sondern wandte sie auch 431 Jugendlichen wegen Gefährdung und 220 Jugendlichen wegen bereits eingetretener Verwahrlosung zu. , Es wurden 1311 Ermittelungen ansgeführt, 273 neue Schutzaufsichten eingerichtet und dem Vormund- schaftsgericht 65 Vormünder, 38 Pfleger und 29 Beistände vorgeschlagen. Ferner wurden 104 Kinder in Familienpflege, Anstalten und Heimen unter- gebracht und 59 Schulentlassenen Lehrstellen und ländliche Dienststellen beschafft. Der Bericht beklagt es u. a. daß sich zur Übernahme von Vormundschaften so wenig Frauen melden, obgleich einst so sehr um “isses Frauenrecht gekämpft wurde,

Der erste Strafanstaltsarzt, Nervenarzt Dr. Sossinka, hielt einen Vortrag über »Psychopathenfürsorge«. Laut statistischen Feststellungen sind von den in Fürsorgeerziehung gelangenden Jugendlichen 1/, bis fast 2/, psychopathisch veranlagt, d. h. krankhaft abnorm in bezug auf den Intellekt oder das Gefühls- und Willensleben. Der Vortragende kenn- zeichnete die Quellen und das Wesen der Psychopathie, die Grundtypen und die verschiedenen Gruppen der psychopatbischen Konstitutionen, ging dann auf die Methoden der Behandlung und die Frage der Borufsberatung psychopathischer Jugendlicher ein und besprach zum Schluß die Stellung der Kriminalpraxis zu den psychopathisch Veranlagten.

Dem mit allgemeinem Beifall aufgenommenen Vortrage folgte eine rege Aussprache, an der sich u. a. Geh. Med.-Rat Dr. Puppe und Oberarzt Dr. Chotzen beteiligten. Da Dr. Sossinka es als auch für die Psychopathischen sehr ungünstig erklärt hatte, wenn sie keinen Beruf und keine Einordnung in eine regelmäßige organisierte Tätigkeit gelernt

312 B. Mitteilungen.

hätten, erneuerte Fabrikbesitzer Freund seinen schon vor Jahren ge- stellten Antrag, daß der Ausschuß bei der Regierung auf gesetzliche Ein- führung einer mindestens einjährigen Berufslehrzeit für alle Schulentlassenen hinwirken möge, und fand lebhafte Zustimmung; der Vorstand wird die Angelegenheit erneut beraten. Auf eine Frage nach der Wirkung der verschiedenen Amnestien der letzten Jahre erwiderte der Vorsitzende, die Folgen seien leider äußerst traurige, weil viele Jugendliche, die nach Verurteilung mit bedingter Strafaussetzung sich befriedigend führten, durch die vollständigen Straferlasse zu der Auf- fassung verleitet wurden, man brauche Bestrafungen nun überhaupt nicht mehr zu fürchten, da man ja von ihnen keinen Nachteil habe.

4. Ein Beitrag zur Psychologie der Kinderaussagen und der kindlichen Verkommenheit. Erschütternde Verderbnis bei einem neunjährigen Mädchen kam so berichtet der »Vorwärtse in einer Verhandlung vor der Strafkammer des Landgerichts I zutage. Angeklagt wegen Sittlichkeitsverbrechens war der bisher unbestrafte Arbeiter L. Der Angeklagte war auf Grund der Beschuldigung eines 9 jährigen Schul- mädchens Alinda S. verhaftet worden, das behauptet hatte, daß sich der Angeklagte eines Verbrechens gegen den $ 176,3 StGB. schuldig gemacht habe.

Die Angaben des Mädchens waren detailliert und enthielten eine Reihe von Ausdrücken, die sonst nur in den tbelsten Kaschemmen in Dirnenkreisen üblich sind. Eine ärztliche Untersuchung ergab außerdem, daß das Mädchen schwer infiziert war. Vor Gericht bestritt der Angeklagte auf das entschiedenste, sich vergangen zu haben und behauptete, daß das 9jährige Mädchen sittlich so verdorben sei, daß es ihn sogar falsch beschuldige. Zum Beweise hierfür legte’ der Verteidiger dem Ge- richt einen Brief vor, den die 9jährige Zeugin an einen 12jährigen »Freund« geschrieben batte und diesen mit dem deutlichsten Hinweis auf den Zweck des Besuches aufforderte, sie während der Abwesenheit der Eltern zu besuchen. Trotz mehrfachen Vorhalts bestritt das Kind, den obszönen Teil des Briefes geschrieben und behauptete, nur den harmlosen Teil geschrieben zu haben. Rechnungsrat Drogolin erklärte dagegen, daß nicht der geringste Zweifel an der Übereinstimmung der Handschrift bestehe.

Der Staatsanwalt beantragte trotzdem 2 Jahre Zuchthaus gegen den Angeklagten, da man nicht annehmen könne, daß ein 9jähriges Kind sittlich und moralisch so verdorben sein könne. Das Gericht entsprach jedoch dem Antrage des Verteidigers und erkannte auf Freisprechung auf Kosten der Staatskasse.

5. Der Maler ohne Hände. Ein vierzehnjähriger Wunderknabe in London. Ein Mitarbeiter der »Tit-Bits« macht der Welt Mitteilung von einem vierzehnjährigen Londoner Knaben, namens Tom Clark, der ohne Hände geboren wurde und doch, wie die beigegebenen Reproduktionen von Bildern beweisen, ein hervorragendes malerisches Talent besitzt. Der Knabe versuchte schon im Alter von fünf Jahren einen Bleistift in den

C. Literatur. 313

Arm zu zwängen, und es gelang ihm, alles, was auf ihn einen besonders tiefen Eindruck machte, treffend nachzuzeichnen. Als er später in die Schule kam, vermochte er alle Schreibarbeiten zu machen und hervorragend gut zu zeichnen. Bei einem Wettbewerb um die schönste Zeichnung, den seine Schule veranstaltete, erhielt Tom Clark schon im Alter von 10 Jahren den ersten Preis. Die Jury wurde keineswegs von Mitleid bewogen, denn die Namen der Bewerber waren ihr zunächst unbekannt. Einen zweiten Preis, der wesentlich wertvoller und bedeutungsvoller war als der zuerst ihm zuerkannte, erhielt Tom für ein Bildnis seiner Schwester von dem London County Council zuerkannt.

- Tom Clark ist nicht nur ein großer Künstler, sondern auch ein her- vorragender Sportsmann. Er spielt vorzüglich Fußball, schwimmt gut, und seine Leistungen als Läufer sind in besonderem Maße anerkannt worden.

6. Der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München sind nach einem Bericht des Geh.-Rats Prof. Dr. Kraepelin seit dem Vurjahre über anderthalb Millionen Mark an Stiftungen und Geschenken zugewendet worden, darunter 500000 M von Herrn James Loeb, 70000 M von Herrn Heinsheimer, 50000 M von Frau Geh.-Rat Schwabach (Berlin) usw., ferner ein gıößerer Betrag aus den Erträgnissen des Branntwein-Monopols; auch die Sammlungen und die Bibliothek haben wertvolle Bereicherungen erfahren.

C. Literatur.

I. Buchbesprechungen.

Hartmann, A., Die Lösung des Problems der Einheitsschule im Geiste Karl Volkmar Stoys. (Päd. Mag., Heft 732.) Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1919. 30 S. Preis 1 M.

Einheitsschule ist »die« pädagogische Zeit- und Streitfrage. Ihr hehres Ziel kann sie nur dann erreichen, wenn sie auf dem festen Grund der Mutterschule ruht; wenn Lehrkräfte mit tiefer pädagogischer Bildung in ihr arbeiten; wenn eine Schulverfassung eingeführt wird, die alle Schulinteressenten Familie, Gemeinde, Kirche, Staat als Mitberater und Mitarbeiter am Erziehungswerk einstellt. Reform der Schule ist nur durchführbar durch Reform des Lehrerstandes.. Es müssen darum an allen unsern Universitäten pädagogische Lehrstühle in Verbindung mit Seminaren und Übungsschulen errichtet werden. Das sind so einige Grund- und Leitgedanken zu Stoys Schrift »Reform der Schulverfassung«, die sich in folgende Abschnitte gliedert: 1. Geschichtliches, 2. Motive, 3. Flügge, Haesters u. Dittes, 4. Grundzüge. Eingangs gibt Stoy einen Überblick über Schulreform- und Schul- verstaatlichungsversuche von Humboldt 1792, Schleiermacher 1814, Mayer 1847, die Züricher Schulverfassung 1853—1859, Thiersch 1854. Alle sind mit Dahlmann der Überzeugung: »Kein Staat hat, ohne Schaden am besten Teile des Volkes anzu- richten, sich die Kinder zugeeignet, um sie nach seinem Gefallen zu bilden für Staatszwecke... Schutz und Wartung des menschlichen Sprößlings gehört der Familie an.e Im zweiten Abschnitt kommt Verfasser zu dem Ergebnis: »Es ver-

314 C. Literatnr.

langt die Ethik wie die Pädagogik wie die Geschichte: Nicht jer Staat ist Schul- herr, sondern ich, d. h. die Gemeinschaft der Väter in der Gemeinde und Kirche (Elternbeirat!); wir sind die -Schulherren, kraft unsres Gewissens; der Staat aber ist für das Gebiet der Schule der Schutzherr, nichts weitere Der 3. Abschnitt ist eine Polemik gegen die genannten »Staatspädagogene. Im letzten entwirft Stoy die Grundzüge einer Schulverfassung. »Die Tätigkeit des Schulregiments be- zieht sich auf drei Dinge: Organisation, Dotation, Inspektion. Die »Schulgemeinden« (Elternbeiräte) sollen das Recht haben 1. über alle das Schulwesen betreffenden Maßregeln und Veranstaltungen vorher sich gutachtlich zu äußern und 2. nach den genannten drei Richtungen Wünsche und Beschwerden auszusprechen. In natürlichem Zusammenhang mit obigem tritt nun zweitens die Beteiligung der Schulgemeinde bei der Schulverwaltung, in der neben dem Direktor, dem technischen Rate und den gewählten Vertretern der Konfessionen auch eine Anzahl frei gewählter Vertreter der Schulgemeinde in Gestalt von Vätern und Lehrern Sitz und Stimme haben... Wir fordern wohlorganisierte Lehrerkonferenzen für alle Lehrer der Provinz, ge- schieden nach dem Charakter der Schulen. Wir fordern solche Konferenzen als beratende Versammlungen im innigen Zusammenhang mit dem obersten Schul- regiment, zur Bearbeitung ganz bestimmter Aufgaben periodisch zusammenberufen. ausgestattet mit dem Recht der Antragstellung und Beschwerdeführung unter solchen Formen, durch welche das Hervorgehen solider Resultate gesichert ist.

Stoys »Reform der Schulverfassung«e würde auch dem modernsten Schul- reformer Ehre machen; das erhellt schon aus einem bündigen Überblick. Und doch ist sie bereits vor mehr als 40 Jahren geschrieben worden. Auch inhaltlich ist sie mancher Schulreformschrift der Gegenwart um ein bedeutendes überlegen: einmal durch die vorurteilsfreie Allseitigkeit der Betrachtungen und Begründungen, sodann bei aller Standpunktfestigkeit durch vornehme Sachlichkeit. Sie be- kundet gründliches Fachwissen und eine meisterhafte Vorausahnung und Darstellung der pädagogischen Entwicklung. Möchte die in jeder Beziehung treffliche Abhand- lang des berühmten Pädagogen als Flugschrift in Millionen von Exemplaren in allen Landen deutscher Zunge weiteste Verbreitung finden, damit ihr guter Geist das deutsche Volk vor jeglicher Mißgeburt von Einheitsschule bewahre.

Cochem. Heinrich Ehlinger.

Mönkemöller, Dr., Die Strafe in der Fürsorgeerziehung. (»Beiträge zur Kinderf. u. Heilerziehung«, Heft 117.) Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1914. 36 S. Preis 60 Pf.

Obschon Fürsorgeerziehung und Stıafpädagogik für den Juristen wie für den Pädagogen kontradiktorische Begriffe bezeichnen, bildet »die Strafes das heikelste Problem in der ganzen Fürsorgeerziehungstätigkeit und Fürsorgeliteratur. Vorliegende Abhandlung nun stellt die langjährigen Erfahrungen eines medizinisch und psychi- atrisch geschulten Fürsorgeerziehers betreffend »die Strafe in der Fürsorge- erziehung« dar.

Eingangs erhebt und begründet Mönkemöller gegen die »sentimentalen Pädagogen und übereinstimmend mit Förster die Forderung: Strafe und Er- ziehung. Sodann kreuzt er die Klinge mit Förster und Spencer für die grundsätz- liche Beibehaltung der Körperstrafe in der Fürsorgeerziehung. Nichtsdestoweniger führt er gegen die Körperstrafe sehr gewichtige ärztliche und psychiatrische Be- denken ins Feld. Unbedingt müssen imbezille, degenerierte, paranoische, hysterische, nervöse und psychopathische Fürsorgezöglinge von der körperlichen Züchtigung aus- genommen sein, zumal psychiatrische Untersuchungen die Voraussetzung jedweder

C. Literatur, 315

Strafe, die Zurechnungsfähigkeit, stark in Zweifel ziehen. Ferner mögen Molls Argumente für die Verursachung von Masochismus und Sadismus durch die körper- liche Züchtigung jeden Fürsorgeerzieher zu äußerster Vorsicht gemahnen. Sehr wohl vermag eine maßhaltende Kostbeschränkung, wenn sie auf den Entzug wesent- licher Nahrungsmittel verzichtet, bei dem materialistisch gesinnten Erziehungs- material Frucht zu erzielen. Erfolg versprechen auch nach psychiatrischen Grund- sätzen durchgeführte Isolierungen. Bettruhe kann als Strafe in der Fürsorge- erziehung nicht in Frage kommen, weil sie einer Verführung zur Onanie gleich- käme. Hingegen stellen Bäder ein alterprobtes, durchaus nicht »zum Behandlungs- armentarium einer überlebten Fürsorgeerziehung« gehörendes Strafmittel dar. Eins wissen wir uns mit dem Verfasser in der unbedingten Ablehnung jeglicher Haft- strafe als Erziehungsmaßnahme. U. E. ist überhaupt ideale Fürsorgeerziehung die - beste Fürsorge für die gefährdete Jugend.

Im ganzen: Aus Mönkemöllers Büchlein spricht eine langjährige und viel- seitige Erfahrung in der Fürsorge- und Heilerziehung. Wenn wir auch nicht in allem Einzelnen die sehr persönlichen Ansichten des Verfassers und seiner lite- rarischen Gewährsmänner teilen, so anerkennen wir die (im Rahmen einer 36seiligen Abhandlung eben mögliche) Gründlichkeit und Gediegenheit der Behandlung. Möge das Schriftchen zu vertiefter Auffassung und neuzeitlicher Ausgestaltung der heute so sehr bedeutungsvollen Fürsorgeerziehung anregen.

Cochem. Heinrich Ehlinger.

Rosenhaupt, Dr. med., Reifealter und Schule. (Päd. Mag., H. 734.) Langen- salza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1919. 17 S. Preis 60 Pf.

Gewiß ist keine Lebensperiode lehrreicher in ihren Äußerungen und ent- scheidender in ihren Wirkungen als die Pubertätszeit, das »Reifealter«e. Ebendarum ist auch ohne eindringende Kenntnis der physischen und psychischen Eigentümlich- keit des reifenden Jugendlichen eine wirksame Erziehung desselben kaum möglich. Aufklärung über die Pubertät, ihre Begleit- und Folgeerscheinungen, tut heutigestags gar bitterlich not. Dieses Büchlein nun will Handreichung und Handhabe dazu sein. Seinem Vater, einem Großstadtarzt, verdankt es medizinische und psychi- atrische Wissenschaftlichkeit und Verlässigkeit; in der Rolle des Pädagogen trägt es der Menschenireundlichkeit wohl ein kleines zuviel zur Schau. Sei dem, wie ihm wolle. Jedenfalls stellen des Verfassers Ausführungen über die körperlichen Veränderungen der Pubertät ein treffendes Bild der Umwälzung dar, die sich ähn- lich und gleichsam parallel auch in der Seele des Reifenden vollzieht. Sturm und Drang, Übererregtheit, Hysterie, Jugendirresein suchen sie heim. Welches sind die von Rosenhaupt empfohlenen Erziehungsmaßnahmen in der Pubertät? Meisterung des Leibes durch Turnen, insbesondere schwedische Gymnastik; Sport als Ab- lenkungsmittel. Soviel betreffs der körperlichen Erziehung. Inbezug auf Geistes- pflege fordert Rosenhaupt u. a. während der Pubertät Schutz vor Überbürdung, also Verminderung in erster Linie des Gedächtnisstoffes. Weil mit und nach der Pubertät die Memorierfähigkeit, das mechanische Gedächtnis, mehr und mehr nach- läßt, wünscht der Verfasser den Beginn des Fremdsprachurterrichts im 5. Schul- jahr bereits, statt, wie bisher, im 6. Ingleichem möchte er die Schulzeit bis zum 15. Lebensjahr hinausrücken, weil dann, nach Überwindung der Pubertät mit Hilfe der Schulerziehung, der Jugendliche für den Lebenskampf gefestigter sei. Das ist, fürwahr, reichlich Optimismus. Gemäß der Erfahrung steht der durchschnittliche Fünfzehnjährige meistens im Zeichen der »Revolution«. Seltsamer- oder vielleicht bezeichnenderweise hat Rosenhaupt die religiös -ethischen Erziehungsmaßnahmen

316 C. Literatur.

ganz außer Betracht gelassen. Geschah’s, weil Verfasser keine Ahnung oder Er- fahrung davon hatte, daß Religion allein die sicherste, oft die einzige Schutzwehr gegen die sexuelle Gefahr ist?

So wie es ist, bietet das Büchlein immerhin doch Leitgedanken und Richtlinien genug für die gemeinsame Arbeit von Schulärzten, Lehrern und Eltern, und, was sein Daseinsgrund gewesen sein mag, für Erfahrungs- und Wissensaustausch an Elternabenden.

Cochem. Heinrich Ehlinger. Trüper, J., Zur Schulgesetzfrage in Thüringen. (Päd. Mag., Heft 746.) Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1920. 28 8. Preis 1 M.

Das neue Reichsschulgesetz steht vor der Tür. Die Parlamente hallen wieder vom Lärm der Schuldebatten; Partei- und Standesforderungen werden Gesetzes- vorlagen und Gesetze; die schulpolitische Gesetzgebungsmaschine arbeitet mit Hoch- druck. Eins ist sicher: Wie auch das kommende Schulgesetz aussehen mag, es bringt eine durchgreifende Sozialisierung des Schulwesens. Bildungs- und Er- ziehungsfreiheit stehen darum auf dem Spiel, ja in Frage; dem gesamten Privat- Bildungswesen droht der Untergang.

Im Interesse der freien Bildungs- und Erziehungsanstalten, zugleich im Namen der verfassungsgemäß gewährleisteten Bildungs- und Erziehungsfreiheit erhebt hier der bekannte Pädagoge Trüper Protest gegen die Verstaatlichungswut auf dem Gebiet der Schule, nachdem er schon Anfang 1919 seine mahnende Stimme erhoben hatte in der umfangreicheren Schrift: »Die privaten (freien) Erziehungs- und Bildungsanstalten in ihrer Bedeutung für unser deutsches Volke (Heft 155 d. Beitr. f. Kdf. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne [Beyer & Mann], 1919. 169 S. Preis 7 M). In diesem Schriftchen nimmt er zu all den schul- politischen und schulreformerischen Bestrebungen in der »pädagogischen Provinz« Thüringen kritisch Stellung. Die Anwendung auf andere Staaten überläßt er dem Leser. Das von rühmenswerter Standpunktfestigkeit und hervorragender Sachkenntnis zeugende Schriftchen kann man allen Schulfreunden nur angelegentlichst empfehlen. Möchte es ebenfalls mit dazu beitragen, ein kräftiges Bollwerk zu errichten gegen die Verstaatlichungswut auf dem Gebiet des Schul- und Erziehungswesens.

Cochem. Heinrich Ehlinger. Landsberg, J. F., Können wir Kriegswaisen der Armenpflege über-

lassen? (»Beiträge zur Kinderf. u. Heilerziehung«, Heft 124.) Langensalza,

Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1915. 12 S. Preis 25 Pf. ; Im Weltkrieg haben Tausende von Braven Blut und Leben fürs Vaterland dahingegeben. Unsre Helden starben ihre Kinder aber leben: die ungezählten Kriegswaisen. Heilige Pflicht ist es für uns Lebende, für die Kinder der Gefallenen zu sorgen. »Können wir sie der Armenpflege überlassen?« fragt Landsberg. Er antwortet: »Nein!« Denn fürs erste gehöre die Kriegswaisenfürsorge, wenigstens in Preußen nach dem Wortlaut des Gesetzes, nicht zum Aufgabenkreis der Armen- pflege. Und dann müßte diese einen Unterschied machen zwischen den Kindern, die durch den Krieg elternlos geworden sind und jenen, die ohnehin aus armen- unterstützten Kreisen kommen, was auf die Dauer nicht angehe. Zudem erscheine ihm der Typ der »Anstaltswaise« als unvollständig und halb; lebenslang fehle dem Waisenkind ein eignes Kinderland. Die Unterbringung in der Fürsorgeerziehungs- anstalt schließlich scheint dem Verfasser das ungeeignetste zu sein. Die Atmosphäre der Fürsorgeerziehung sei viel zu rauh und zu roh. Überhaupt fehlt selbst der idealsten Anstalt eben die Familie. Wahre Kriegswaisenfürsorge aber muß Familien- leben und Familienliebe schaffen. Das ist indes nur teilweise möglich bei den

C. Literatur. 317

Kindern, die von der Armenbehörde oder Fürsorgeerzichungs-Verwaltung in Familien gegen Entgelt untergebracht sind. Denn in der bezahlten Stelle keimt selten Kindesliebe, seltner Elterugefühl. Das glücklichste Los für eine Kriegswaise kann nach dem allem nur die Annahme an Kindes Statt sein. Und hier habe das Scherz- wort, man müsse bei der Wahl seiner Eltern vorsichtig sein, eine in Wirklichkeit zu übersetzende Bedeutung. D. h. es muß eine Stelle, ein Amt geschaffen werden, welches die Unterbringung in Familien übernimmt. Anı nächsten liegt die Über- nahme der Vermittlung, Auswahl und Aufsicht durch die ohnehin mit Jugendpflege befaßfen Organisationen.

Vorliegendes Büchlein ist eine Schutzschrift zugunsten unsrer Kriegswaisen. Von pädagogischem Takt zeugt es, daß Landsberg als beste Kriegswaisenfürsorge die Annahme an Kindes Statt empfiehlt. Die verwickelte Rechtslage bei der Kriegs- waisenfürsorge im allgemeinen, bei der Adoption im besondern setzt er mit der Kundigkeit des vielerfahrenen Juristen dar. Endlich legt er großen Nachdruck auf die sittliche Pflicht aller Deutschen, für die »Heldenkinder« zu sorgen. Armen- behörden, Waisenhaus- und Fürsorgeerziehungsleitern, Vormundschaftsrichtern und Jugendpflegeorganisationen kann das treffliche Büchlein ein zweckdienlicher Rat- geber sein.

Cochem. Heinrich Ehlinger.

Barth, Prof. Dr. Paul, Die Geschichte der Erziehung in soziologischer und geistesgeschichtlicher Beleuchtung. 3. u. 4., wiederum durch- gesehene und erweiterte Auflage. Leipzig, O. R. Reisland, 1920. VII, 776 S. Preis brosch. 36 M, geb. 46 M.

Schon das bekannte Werk von Otto Willmann, »Didaktik als Bildungslehre«, das in der Jugend meine historisch-didaktische Bildung weitete, setzte die Bildungs- ideale in Verbindung zur Geisteskultur der verschiedenen Zeiten und auch Paulsens »Geschichte des gelehrten Unterrichts«e suchte die Bedingheit der pädagogischen Strömungen aus allgemeinen geistesgeschichtlichen zu erweisen. Aber erst Barths umfassendes Werk untersucht zum ersten Male im vollen Umfange die Wechsel- beziehung zwischen Erziehung und Gesellschaft, geht grundsätzlich immer von ge- sellschaftlichen Zuständen und geistigen Bewegungen aus und zeigt uns damit ein ganz neues Bild der Entwicklung. Hervorgewachsen aus Aufsätzen »Über die Ge- schichte der Erziehung in soziologischer Beleuchtung« in der »Vierteljahrsschrift für Philosophie« 1903—1911 ist erst in der Buchausgabe die dort schon vorhandene geistesgeschichtliche Beziehung gleichwertig zum Ausdruck gekommen und in den nachfolgenden Auflagen noch verstärkt worden. Barth sieht in der Erziehung die Fortsetzung der jeweiligen Gesellschaft. Dadurch wird sie selbstverständlich ab- . hängig von deren Wandlungen und Tätigkeit. Zum anderen spiegelt der Unterricht immer den gegenwärtigen Stand der Weltanschauung und der Einzelwissenschaften wieder. Wer also die Triebkräfte der pädagogischen Bewegung erkennen will, muß auf die soziale und die geistige Bewegung zurückgehen. Wenn ich auch kein An- hänger der sogenannten »sozialen« Pädagogik bin, sondern in der Persönlichkeits- bildung das Ziel der Erziehung sehe, indem ich von der Persönlichkeit erwarte, daß sie von selbst in der Gesellschaft sich auswirke, so bin ich doch von der histori- schen Bedingtheit der Pädagogik in der Soziologie überzeugt und finde über Barths Grundsätze hinaus nicht rur den Unterricht, sondern auch die Erziehung im engern Sinne im weiten Umfange bestimmt durch geistesgeschichtliche Momente.

Nach einer Einleitung, in der das Wesen und die Aufgaben der Soziologie und ihr Verhältnis zur Pädagogik erörtert werden, beschäftigt sich der erste, der

318 C. Literstur.

Natur der Sache nach kurze Teil mit der Erziehung in den Naturformen der Ge- ` sellschaft, der zweite, viel umfassendere Teil mit der Erziehung in den Kunstformen der Gesellschaft. Er schließt mit weitschauenden und hoffnungsvollen Ausblicken in die Zukunft, die auch Stellung nehmen zu den neuen politischen Verhältnissen.

Mit besonderer Ausführlichkeit ist die Periode der Aufklärung behandelt. Mit vollem Recht, denn in der Aufklärung liegen, entgegen der allgemeinen Annalıme, noch die Grundlagen auch unserer Kultur. Es ist schade, daß Barth hierbei nicht der Entstehung des Taubstummen-, Blinden- und Abnormenunterrichts gedacht hat, die nicht zufällig ist, sondern ein wesentliches Produkt der Aufklärung ist. Die veränderte Auffassung der Menschen als des Zentrums des Interesses verursachte eine neue Wertung alles Menschlichen, an die allgemeine Definition des Menschen als animal rationale schloß sich die Lehre von der grundsätzlichen Wesensgleichheit der menschlichen Anlagen an und die Meinung von der Allmacht der Erziehung ließ alle Hemmnisse verschwinden. Mehr als jemals wird in Zukunft die Erziehung als Ausfluß der Gesellschaft erscheinen, in einer Zeit, die den Sozialismus nicht mehr als Parteirichtung, sondern als Wesensbestimmung auffaßt. Um so not- wendiger, auch rückwärts den Gang der Entwicklung zu verfolgen, wie er durch soziale und geistige Kultur bestimmt ist.

Leipzig-R. Dr. Paul Schumann.

Barth, Prof. Dr. Paul, Die Elemente der Erziehungs- und Unterrichts- lehre. Auf Grund der Psychologie und der Philosophie der Gegenwart dar- gestellt. 7. und 8., wiederum durchgesehene und erweiterte Auflage. Leipzig, J. A. Barth, 1921. XII, 713 S. Preis brosch. 44 M, geb. 52 M.

Die bei Besprechung der 6. Auflage ausgesprochene Erwartung, daß Barths Buch trotz des wesentlich erhöhten Preises seinen Weg gehen werde, ist über- raschend schnell erfüllt worden. Schon liegt die 7. u. 8. Auflage$vor mir, wiederum in vielen Einzelheiten verbessert und im Ganzen fortgeführt. Man erkennt dies am deutlichsten bei aktuellen Kapiteln: Denkpsychologie, Begabungsproblem, Moral- unterricht u. a. Bei der ungeheuren Breite der pädagogischen Literatur ist es natürlich nicht ausgeschlossen, daß manche Untersuchungen und ihre Ergebnisse unberücksichtigt blieben. Trotzdem wird das Werk immer mehr zum Handbuch psychologisch -pädagogischen Wissens, und es steigt der Wunsch auf, auch die Pädagogik der Mindersinnigen und Abnormen eingearbeitet zu sehen.

Aber auch ohne daß dies der Fall ist, ist das Werk zu empfehlen für jeden, der eine sichere Grundlage für sein Tun gewinnen, für jeden, der seine Erfahrung im Lichte der Theorie prüfen will. Sehr empfehlenswert ist das Werk auch zur Behandlung in Arbeitsgemeinschaften von Junglehrern.

Leipzig-R. Dr. Paul Schumann.

Haase, Studiendirektor Dr. Karl, Angewandte Seelenkunde. (Hilfsbücher für Volkshochschulen, Heft 5.) Preis 5 M. Gotha, Verlag Friedrich Andreas Perthes A.-G.

In rascher Folge erscheinen die handlichen Bändchen dieser auf die in den Arbeitsgemeinschaften der Volkshochschule gewonnenen Erfahrungen unmittelbar gegründeten Sammlung. So will auch dieses trotz seiner dem neuesten Stand der psychologischen Wissenschaft Rechnung tragenden Gründlichkeit keineswegs nur eine gewisse Summe festen Wissens übermitteln, sondern in erster Linie zu planmäßiger Beobachtung anleiten und in kritischer Übersicht die reichen Anwendungsmöglichkeiten neuzeitlicher Seelenforschung aufzeigen,

C. Literatur. I 319

wie sie vor allem auf dem Gebiete der Fähigkeitsprüfung und Berufsberatung zu höchster Bedeutung gelangt sind. Dadurch, daß in der Darstellung die fremd- sprachlichen Fachausdrücke tunlichst vermieden werden nur die auch für den Laien zu tieferem Eindringen in die Literatur unentbehrlichen sind in einem ausgezeichneten knappen Wörterbuche am Schluß erläutert —, erreicht das Buch die Allgemeinverständlichkeit, die ihm zum Zwecke weitester Ver- breitung in Anbetracht der Wichtigkeit der Fragen nach der theoretischen und praktischen Intelligenz für Elternhaus, Lehrerschaft und Berufsämter not- wendig ist.

Sowohl die wissenschaftlichen Grundlagen als auch die praktischen Anleitungen zu Beobachtungen, Eignungsprüfungen usw. werden allgemeiner Beliebtheit sicher sein. Die Lektüre ist genußreich, von sittlichem Ernst getragen und zum Denken anregend, sowie die andrerseits durch die ungewöhnliche Klarheit und Schärfe der Darstellung Schwierigkeiten behebt, die auch mancher in der Literatur Erfahrenere noch nicht überwunden hat. Das sehr preiswerte reichhaltige Buch stellt nach meiner Ansicht ein Ideal volkstümlicher Werke dar: Nicht nur die Elemente einer Wissenschaft bieten, sondern das Höchste was sie überhaupt zum Verstehen von Lebensfragen beizutragen vermag aber in einer Form der Wiedergabe, die nicht mehr in dem Stoff, sondern über dem Stoff steht und daher auch von Seele zu Seele Verstehen erweckt. Dr. Hermann.

IL. Eingegangene Schriften.

Scheffer, Dr. Th., Leiter der Arndt-Hochschule in Berlin, Zur Geschichte der Arndthochschule, die geistigen Grundlagen einer deutschen Volkshochschule. Berlin-Lichterfelde, Verlag der Volkshochschul-Gemeinschaft. Preis 6 M.

Dannenberg-Dressler-Mertelsmann, Rechenaufgaben für deutsche Hilfs- schulen. In zwei Heften. 1. Heft: Mittelstufe. Breslau, Ferdinand Hirt. Preis geheftet 4 M einschließlich Teuerungszuschlag.

Frenkel-Heiden, Prof. Dr. med., Nervenarzt in Berlin, »Die Nervosität des Kindes im schulpflichtigen Alter.< 3. Aufl: Berlin, Vaterländischer Frauen- verein, 1913.

Fiebig, Dr. Max, »Beitrag zur Klinik der infantilen Pseudobulbärparalyse.« Sonderabdruck aus »Archiv für Kinderheilkunde«, LXVIII. Bd. Stuttgart, Ver- lag von Ferdinand Enke. Aus dem Universitäts-Ambulatorium für Stumm- und Sprachstörungen der Charité (Berlin). (Leiter: Dr. H. Gutzmann.)

Siegmund-Schultze, Lic. Friedr., erster Direktor des Berliner städt, Jugend“ amts, »Die Wirkungen der englischen Hungerblockade auf die deutschen Kinder.e Sonderheft der »Eiche«, Mai 1919.

Zeitschrift für Kinderschutz und Jugendfürsorge. Herausgeg. von der Zentralstelle f. Kindersch. u. Jugendfürs. Schriftleitung u. Verwaltung: Wien ], Hofgartengasse Nr. 3. Erscheint monatlich. Bezugspreis für das Inland ganz- jährlich 30 K, für Deutschland ganzjährig 12 M. Einzelnummern 3 K.

Was die vorzüglich geleitete Zeitschrift bietet, mag beispielsweise der Inhalt von Nr. 6 u. 7 v. J. bekunden:

Artikel: Zum Gedächtnis. Das Pflege- und Fürsorgeamt in Leipzig. Von Emilie Gedliczka. Wien. Deutschösterreichs Kinderelend und seine Bekämpfung. Von Rosina Elschnig, Graz. Jugendberatungsstellen. Von Ministerialvizesekretär Dr. Viktor Rannicher, Wien. Säuglingsschutz und Jugendhygiene: II. Deutsch- österreichische Tagung für Fragen der Kinderaufzucht. Jugendfürsorge im ln- land: Das städt. Jugendschutzamt in Graz. Wirkungskreis der Bezirksjugend- ämter in Wien. Neue Bezirksstellen für Mütter und Säuglingsfürsorge in Tirol. Verein Heimat. Ein vorbildliches Kriegskinderheim in Wien usw. Jugerd-

320 C. Literatur.

fürsorge im Auslande: Das städt. Jugendamt in Reichenberg. Eine Internordische Kinderschutz-Konferenz. Erweiterung der Krüppelfürsorge im deutschen Reiche. Eine Anstalt zur Verhütung und Bekämpfung nervöser Entwicklungsstörungen bei Kindern. Wohnungen für kinderreiche Familien. Mütterpensionen in Lyon. Die Baseler Schulzahnklinik. Mutterschutz für die Kranken- und Unfall- versicherung in Ungarn. Eine Stiftung für kinderreiche Familien. Gesetz- gebuug und Verwaltung. Sprechsaal. Literatur: Bücherschau. Zeitschriften- schau.

Publications from the Research Laboratory of the Training school at Vineland, N. J.:

Intelligence and Social Valuation. A Practical Method for the Diagnosis of Mental Deficiency and Other Forms of Social Inefficiency. By R. J. A. Berry, Professor of Anatomy, University of Melbourne, and S. D. Porteus, Director of Research at Vineland. 8 vo, 100 pp., paper. $1.50, postpaid.

Porteus Tests—Vinelang Revision, By S. D. Porteus, Director of Research, Vineland. 44 pp., paper. 30 cents, postpaid.

Psychology of the Normal and Subnormal. By Henry H. Goddard, Ph. D., Director of the Ohio Bureau of Juvenile Research, late Director of the Vineland Laboratory. Cloth, 8 vo., 349 pp. $5.00, postpaid,

Feeble-Mindedness, Its Causes and Consequences. By Henry H. Goddard. Cloth, 8 vo., 599 pp. $5.00, postpaid.

Clinical Studies. By Edgar A. Doll, Ph. D., Psychologist to the Department of Institutions and Agencies, State of New Jersey, formerly Assistant Psychologist, Vineland. Cloth, 225 pp. $2.50, postpaid.

School Training of Defective Children. By Henry H. Goddard. Cloth, 98 pp. $1.60, postpaid.

The Criminal Imbecile. An Analysis of Three Remarkable Murder ‘Cases. By Henry H. Goddard, Ph.D. Cloth, 8 vo., 157 pp. $1.60, postpaid.

The Development of Intelligence in Children (The Binet-Simon Scale). By Alfred Binet, Sc.D., and Th. Simon, M.D. Translated by Elizabeth S. Kite, with introduction by Henry H. Goddard. 8 vo., 336 pp. $2.00, postpaid.

The Intelligence of tho Feeble-Minded, Including a Study of Their Language and a Comparison of Feeble-Mindedness with Dementia. By A. Binet, Sc.D., and Th. Simon, M.D. Translated by Etizabeth S. Kite. Cloth, 8 vo., 328 pp. $2.00, postpaid.

Anthropometry as an Aid to Mental Diagnosis. A Simple Method for Examination of Subnormals. By Edgar A. Doll, Ph.D. 8 vo., 91 pp., paper. 75 cents, postpaid.

The Kallikak Family. By Henry H. Goddard, Ph.D. Cloth, 8 vo., 121 pp. $1.60, postpaid. +)

Condensed Guide to the Binet Tests. Part One—Binet Tests and Diagnosis. By 8. D. Porteus. Part Two Tests and Test Procedure. By S. D. Porteus and Helen F. Hill. 40 pp., papei. 40 cents, postpaid.

Educational Treatment of Defectives. By Alice M. Nash. Principal of the School Department, Vineland, and S. D. Porteus, Director of Research. 24 pp. 25 cents, postpaid.

Cephalometry of Feeble-Minded. By S. D. Porteus. 24 pp. 15 cents, postpaid.

2) Übersetzt von Dr. Karl Wilker, Die Familie Kallikak. Heft 116 der Beiträge f. Kinderforsch. Mit 14 Tafeln. 73 S. 1,65 M. Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann).

Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.

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Inhalt.

Die im ersten Teile dieser Zeitschrift enthaltenen Aufsätze

verbleiben Eigentum der Verlagshandlung. >Z

A. Abhandlungen: Woher? Wohin? Von Dr. med. Hermann.

B. Mittellungen: 1. Der suggestive Einfluß des Films auf die Kinder. Von Dr. David Lund. Ins Deutsche übersetzt von Faimi Blom š 2. Kindgemäße Erziehung und Gesetzesbestimmungen. Von “Direktorin Dr. Matz, M. d. R. . : ee Fürsorge-Erziehung in Finnland, Yon Julius Herden Dia: @ Zum Begriff »Heilpädagogii« . . . z ER ae Kleinere Mitteilungen . . oo s s + + + + + + + x

C. Literatur: I. Buchbesprechungen . . Hartmann, A., Die Lösung des Problems” der Kinheitssohule i im "Geiste Karl Volkmar Stoys. Von Heinrich Ehlinger. . . Mönkemöller, Dr., Die Strafe in der Fürsorgeorzichung, Yon Heinrich Ehlinger . . Rosenhaupt, Dr. med., Reifealter und Schule. Von Heinrich Ehlinger Trüper, J., Zur Schulgesetzfrage in Thüringen. Von Heinrich Ehlinger Landsberg, J. F., Können wir Kriegswaisen der ee überlassen ? Von Heinrich Ehlinger : TE Barth, Prof. Dr. Paul, Die Geschichte der Erziehung in ETENE und geistesgeschichtlicher Beleuchtung. Von Dr. Paul Schumann. . . Barth, Prof. Dr. Paul, Die Elemente der Erziehungs- und Unterrichtslehre. Von Dr. Paul Schumann . S ee a Haase, Studiendirektor Dr. Karl, Angowandta "Beelenkunde, "Von Dr. med. Hermann . . š a SS ae ee) ee Ta II. Eingegangene Schriften $

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273

Alle Beiträge sind an Direktor J. Trüper, Jena, Sophienhöhe zu senden und

werden vom Verleger mit 40 M. für den Druckbogen honoriert,

Verlag von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.

Neuerscheinungen über

brennende Gegenwartsiragen

ergänzt bis zum 15. 9. 1921:

Prof. Dr. G. Weiß, Die Grundschule nach den Bestimmungen der Reichs- verfassung. 1. u. 2. Aufl. Preis 1,50 M.

R. Mütze, Der psychol. Beobachtungsbogen in der Volksschule. Pr. 80 Pf. Prof. Dr. G. Weiß, Reichsverfassung und Arbeitsunterricht, Preis 80 Pf. H. Heußmann, Der Schüler-Arbeitsgarten im Dienste des Werkunter- richts. Preis 2 M.

A. Wolff, Das Prinzip der Selbsttätigkeit in der modernen Pädagogik. Preis 5,40 M.

C. Geisel, Durch Selbsttätigkeit zur Selbständigkeit. 2. Aufl. Preis 1,75 M. Dr. G. Rinck, Die Erziehung zur Selbsttätigkeit bei A.H. Niemeyer. Pr.3M. R. Hahn, Staatsbürgerliche Erziehung nach dem Verhältnis zwischen

Seele und Staat. Preis 80 Pf. Prof. Dr. @. Weiß, Das deutsche Gymnasium als die höhere deutsche Schule. Preis 4,20 M. Pıof. Dr. R. Stölzle, Universität und Lehrerbildung. Preis 3,60 M. H. Burhenne, Elternbeiräte. 2. Aufl. Preis 1,30 M. G. Metscher, Die öffentliche Unterrichtsstunde. Preis 75 Pf. Dr. A. Graf von Pestaloxza, Die Schulgemeinde. Preis 7,50 M. Dr. Edm. Neuendorff, Wider den Intellektualismus und von seiner Über- windung durch die Schulgemeinde. Preis 1,70 M. Dr. Erich Stern, Über den Begriff der Gemeinschaft. Preis 1,80 M. Hanna Gräfin von Pestalosza, Erziehung und Berufswahl. ` Preis 75 Pf. Dr. Franziska Baumgarten, Berufswünsche und Lieblingsfächer begabter Berliner Gemeindeschüler. Preis 7,50 M. Dr. P. @. Müller, Berufsberatung und Stellenvermittlung bei Schwach- begabten. Preis 2 M. Mathilde Mayer, Welche kulturellen Strömungen bestimmen die Ent- wicklung der Fortbildungsschule? Preis 3,20 M. A. Eichhorn, Die Charakterentwicklung der männlichen Jugend im Fort- bildungsschulalter. Preis 1,70 M.

J. Tews, Sozialdemokratie und öffentl, Bildungswesen. 7. Aufl. Pr. 3,60 M. Mod. von Tiling, M. d. L., Psyche und Erziehung der weiblichen Jugend. Preis 1,80 M.

Freiherr v. Freytag-Loringhoven, Zur Erkenntnis deutschen Wesens. Pr. 2,70M. K. Brüger, Erziehung im Geiste des deutschen Volkstums durch die volkstümlichen Überlieferungen der erzählenden Dichtung unserer

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Der Kampf um die Schule

mit Beziehung auf die Verhältnisse Thüringens. Von Prof. Dr. W. Rein

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